Erzählkultur
Herausgegeben von Rolf Wilhelm Brednich
Walter de Gruyter
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Erzählkultur
Herausgegeben von Rolf Wilhelm Brednich
Walter de Gruyter
Erzählkultur
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Erzählkultur Beiträge zur kulturwissenschaftlichen Erzählforschung Hans-Jörg Uther zum 65. Geburtstag Herausgegeben von
Rolf Wilhelm Brednich
Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-021471-0 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Laufen
Vorwort Die kulturwissenschaftlich-volkskundliche Erzählforschung wird in der Öffentlichkeit vielfach immer noch verstanden als eine Wissenschaft, die sich vor allem mit Märchen und Sagen, d. h. mit historischen Formen des traditionellen Erzählens befasst. Dieses Forschungsgebiet haben die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm in der deutschen Wissenschaft als historisch-vergleichende Disziplin im frühen 19. Jahrhundert etabliert, und seitdem haben weitere hervorragende Forscherpersönlichkeiten wie Theodor Benfey, Reinhold Köhler, Johannes Bolte, Albert Wesselski bis hin zu Max Lüthi, Kurt Ranke, Lutz Röhrich und Hermann Bausinger daran mitgewirkt, dass dieser Forschungszweig eine Domäne der deutschsprachigen Volkskunde geblieben ist. Er hat von Mitteleuropa ausgehend in nahezu allen Ländern der Welt Fuß gefasst und ist auf Internationalität, Interdisziplinarität und Komparatistik ausgerichtet. Inzwischen hat das elektronische Zeitalter mehr oder weniger alle Bereiche der Wissenschaft revolutioniert und vor neue Aufgaben gestellt. Auch die Erzählforschung hat den Übergang von der volkskundlichretrospektiv ausgerichteten Analyse von vorwiegend mündlich überlieferten Traditionen zu einer kulturwissenschaftlichen Analyse von Narrationen im weitesten Sinn erfolgreich vollzogen. Sie präsentiert sich heute als eine moderne, kulturanthropologisch orientierte Disziplin, in der die Menschen in ihren historischen und gegenwärtigen Lebenswelten mit den von ihnen hervorgebrachten und sie umgebenden narrativen Botschaften im Mittelpunkt der Forschung stehen. Einen wichtigen Schritt in dieser Richtung stellte es dar, als der amerikanische Forscher Dan Ben Amos in den 1970er Jahren die Folklore als künstlerische Kommunikation in kleinen Gruppen („artistic communication in small groups“) definierte, was zu einer grundsätzlichen Neubewertung und in einem zweiten Schritt auch Ausweitung der Forschungsgegenstände führen sollte. Die Assoziation mit „künstlerisch“ verlieh der Folklore ihre eigene Würde und evozierte Begriffe wie Kreativität, Fantasie, Ideenreichtum, Gestaltungskraft und Variabilität, der Begriff Kommunikation öffnete den Blick für Kontexte, für die Einbettung der Kommunikationsinhalte in kulturelle und soziale Netzwerke, für Erzählerpersönlichkeiten und Erzählkreise und insbesondere auf die Medien in ihrer Bedeutung für das Erzählen.
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Ohne sich von ihren Wurzeln in der historisch-vergleichenden Textanalyse zu trennen, hat sich die Erzählforschung mittlerweile dem Kulturphänomen Erzählen in seiner ganzen Breite und Vielfalt geöffnet und neue Wege zur Erforschung des homo narrans eingeschlagen. Der Eintritt in das Informationszeitalter bedeutete für diese Disziplin, in einer globalisierten Welt die Bedingungen des Erzählens neu zu bestimmen und zu definieren. Dazu gehört vor allem, die Lebensbereiche und Erscheinungsformen des Erzählens und die Welt der Medien stärker als bisher geschehen einander anzunähern und die gegenseitigen Einflüsse zum Forschungsgegenstand zu machen. Die Erzählforschung hat sich diesen neuen Herausforderungen gestellt und durch die Neuorientierung ihrer Perspektiven bereits Wesentliches zu einer narrativen Theorie der Kultur beigetragen. Der vorliegende Band fasst diese Entwicklung unter dem Begriff Erzählkultur zusammen und verleiht dem Erzählen damit eine neue Bedeutung, gemäß dem als Leitmotiv dienenden Satz von Paul Ricœur, wir hätten „keine Vorstellung von einer Kultur, in der man nicht wüsste, was Erzählen heißt“. Zur Mitarbeit an dem vorliegenden Band waren Forscherpersönlichkeiten eingeladen, die in den letzten Jahren an dieser Neuorientierung der Erzählforschung mitgewirkt haben und bereit waren, an einem Gemeinschaftswerk teilzunehmen, indem sie ihren Beiträgen Handbuchcharakter verliehen. Ihre Aufsätze demonstrieren die heute vorherrschende Spannweite einer Erzählforschung, die ihren Mittelpunkt in der grundlegenden Erkenntnis findet, dass narrative Strukturen für das menschliche Leben und Kommunizieren von grundlegender Bedeutung sind. Die 29 Beiträge verteilen sich auf sieben Kapitel, in denen jeweils ein Aspekt zur Erforschung narrativer Kultur in den Vordergrund gestellt wird. In Kapitel I findet sich Grundsätzliches zur Theorie der Erzählforschung zusammengefasst, während in Kapitel II die neue kulturwissenschaftlich orientierte Narrativistik im Blick auf zeit- und lebensgeschichtliche Zeugnisse bis hin zum Erzählen im Internet vorgestellt wird. Das Kapitel III öffnet neue Perspektiven auf die Analyse des klassischen Erbes an historischen Volkserzählungstexten, wohingegen kontrastierend dazu in Kapitel IV neue Wege zur Erforschung von jüngeren Erzählüberlieferungen erprobt werden. Visuelle Medien in ihrer Bedeutung für das Erzählen und die Erzählforschung stehen im V. Kapitel zur Diskussion. Der Narrativgehalt von Kleinformen der Volksdichtung wie Zaubersprüchen, Sprichwörtern und Verseinlagen in Märchen wird im Kapitel VI behandelt. Ein eigenes Kapitel VII ist schließlich der Enzyklopädie des Märchens (EM) gewidmet. Dieses im Untertitel als Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung betitelte Editionsunternehmen hat seit dem
Vorwort
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Erscheinen seines erstes Bandes im Jahr 1977 in besonderer Weise an der Profilierung dieses Forschungsgebietes mitgewirkt und die neuen Entwicklungen in seinen Artikeln nicht nur begleitet, sondern oft auch initiiert und unterstützt. Ebenfalls daran beteiligt war die mit der EM eng verschwisterte Fabula. Zeitschrift für Erzählforschung. Die Gründungsväter dieses weltweit anerkannten EM-Projektes hatten bei der Anlage des Stichwortverzeichnisses den Weitblick, den sich anbahnenden neuen Trends in der Narrativistik Raum zu geben und Einträge für zahlreiche neue Aspekte der Erzählkultur einzuplanen. So enthielt das Verzeichnis beispielsweise u. a. schon Artikel über Bildquellen, Comics, Computeranalyse, Conduit Theorie, Film, Hörspiel, Illustrierte, Inhaltsanalyse, Kommunikation, Kriminalroman, Parodie, Patriotismus, Phantastik, Rundfunk, Sensation, Superman, Television, Trivialliteratur, sämtlich Stichworte, die man von außen gesehen nicht unbedingt in einer Märchenenzyklopädie erwartet hätte. Alle an dem vorliegenden Band Beteiligten haben über viele Jahre hinweg als Autorinnen und Autoren mit ihren Artikeln zum Ansehen und Erfolg der EM beigetragen. Sie bekunden durch ihre Mitarbeit an dem vorliegenden Band ihre Verbundenheit mit einer Persönlichkeit, die als langjähriges Mitglied der EM-Redaktion in besonderen Maße die Geschichte dieser Enzyklopädie mitbestimmt hat: Hans-Jörg Uther. Ihm als dem herausragenden Vertreter und Kenner der international-vergleichenden Narrativistik ist diese Festschrift gewidmet als Ausdruck des Dankes für seine rastlose und so ertragreiche Tätigkeit für die Enzyklopädie und seine großen Verdienste um die Edition und Erforschung von Volkserzählungen. Rolf Wilhelm Brednich
Inhaltsverzeichnis Vorwort.............................................................................................................. VII I. Grundsätzliches zur Erzählforschung Ingo Schneider Über das multidisziplinäre Interesse am Erzählen und die Vielfalt der Erzähltheorien ............................................................................................... 3 Helmut Fischer Schriftlichkeit in der Erzählforschung ............................................................ 15 Siegfried Neumann Erzähler-Forschung im Rückblick auf ältere Quellen .................................. 27 Ulrich Mölk Zweimal „Stilisierung“: Gerhard Gesemann und Hans Robert Jauß ........ 47 II. Kulturwissenschaftliche Erzählforschung heute Albrecht Lehmann Homo narrans – Individuelle und kollektive Dimensionen des Erzählens ...................................................................................................... 59 Siegfried Becker Vom Erzählen des Nicht-Erzählbaren ........................................................... 71 Gudrun Schwibbe „Wir müssen die Auseinandersetzung mit unserer Geschichte endlich selbst anpacken“ – Rechtfertigung und Verantwortung im Kontext der „Geschichte der RAF“ ............................................................................... 85 Klaus Roth Erzählen im Internet........................................................................................ 101
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Inhaltsverzeichnis
III. Erforschung des klassischen Erbes Ruth B. Bottigheimer From Printed Page to Thrice-Told Tales......................................................121 Dorota Simonides Der Einfluss der Brüder Grimm auf die Sammlung und Erforschung der slawischen Volksdichtung ........................................................................133 Thomas Geider Zur Geschichte der interdisziplinären Erforschung afrikanischer Volkserzählungen .............................................................................................145 Ines Köhler-Zülch Hans Christian Andersen und die Harzer Sagentopographie....................173 Wilhelm Solms Grimms Schwankmärchen..............................................................................191 IV. Case Studies zur historisch-vergleichenden Erzählforschung Mirjam Mencej Narrating About Witches ................................................................................207 Carme Oriol Thumbling (ATU 700), a Folktale From Early Childhood...........................223 Stefaan Top Der Höllenwächter ...........................................................................................245 Harlinda Lox Kaiser Karl V. in der flämischen Erzählkultur ............................................263 Christine Goldberg The Wolf and the Kids (ATU 123) in International Tradition .......................277 Alfred Messerli Blaubarts Wiederkehr oder: (Weiter-)erzählen ist erklären ........................293
Inhaltsverzeichnis
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V. Erzählforschung und visuelle Medien Helge Gerndt Mit Bildern erzählen ........................................................................................ 309 Luisa Rubini Messerli The Death of the Royal Dwarf ...................................................................... 327 Werner Bies Traditionelles Erzählen in der Werbung: Gattungen und Themen, Medien und Prozesse, Methoden und Theorien, Irritationen und Chancen ..................................................................................................... 353 Ulrich Marzolph Jamais Calife! Der orientalistische Comic als narrative Matrix ................. 381 VI. Kleinformen der Volksdichtung Klaus Düwel Der Erste Merseburger Zauberspruch – ein Mittel zur Geburtshilfe?............................................................................ 401 Christine Shojaei Kawan Grimms Verse................................................................................................... 423 Wolfgang Mieder „Viele Wege führen zur Globalisierung“. Zur Übersetzung und Verbreitung angloamerikanischer Sprichwörter in Europa............... 443 VII. Erzählforschung und die Enzyklopädie des Märchens Wolfgang Brückner Über die Anfänge der Enzyklopädie des Märchens aus persönlicher Sicht ...................................................................................... 465 Vilmos Voigt Konzepte der volkskundlichen Erzählforschung in der Enzyklopädie des Märchens ........................................................................................................ 487
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Inhaltsverzeichnis
Rolf Wilhelm Brednich Der Erzählforscher Hans-Jörg Uther............................................................501 Abkürzungen .....................................................................................................513 Namenregister ...................................................................................................515 Sachregister........................................................................................................531 Adressen der Autoren/innen..........................................................................539
I. Grundsätzliches zur Erzählforschung
Ingo Schneider
Über das multidisziplinäre Interesse am Erzählen und die Vielfalt der Erzähltheorien Zwei oder drei Konjunkturen? Auch Wissenschaften unterliegen immer wieder Modeströmungen. Diese an sich banale Feststellung gewinnt an Bedeutung, wenn man nach den Hintergründen solcher Entwicklungen fragt, wenn man versucht zu ergründen, weshalb bestimmte Themen und theoretische Ansätze quer über die Geografie der Disziplinen hinweg zu bestimmten Zeiten gleichsam in der Luft liegen. Gegenwärtig erlebt das Thema Erzählen eine Aufmerksamkeit, wie wohl noch nie in der Geschichte der neuzeitlichen Wissenschaften.1 Vom Erzählen und von Erzählungen, Narrativen und Narrationen, Narratologie, Narrativistik, narrativer Kompetenz und Grammatik und immer wieder von Narrativität ist seit verhältnismäßig kurzer Zeit in verschiedenen, nicht nur geisteswissenschaftlichen Fächern die Rede. Selbst die Wirtschaftswissenschaften scheinen das Potential des Erzählerischen – ich nenne nur die Stichworte narratives Management und corporate storytelling – für sich nutzen zu wollen.2 Und beinahe überall geht es auch sehr schnell um die Entwicklung erzähltheoretischer Ansätze. Wir beobachten gegenwärtig also eine zumindest doppelte Konjunktur, eine erste des wissenschaftlichen Interesses am Kulturphänomen Erzählen im Allgemeinen und eine zweite der Entwicklung von Erzähltheorien. Aus der Perspektive der Kulturwissenschaft Volkskunde/Europäischen Ethnologie ist diese Entwicklung aus mehreren Gründen von Interesse. Nicht nur, weil wir uns von der auffallend gestiegenen Wertschätzung des Erzäh1
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Ein Indiz unter vielen für dieses auffallende Interesse war eine im Dezember 2007 in Innsbruck ausgerichtete Tagung zum Thema „Erzählen – Medientheoretische Reflexionen im Zeitalter der Digitalisierung. Tagung des Interfakultären Schwerpunkts Innsbruck Media Studies“, auf der die folgenden Überlegungen erstmals, allerdings nicht im Kreis von Erzählforschern, vorgetragen wurden. Dieser Beitrag stellt eine überarbeitete Fassung des Innsbrucker Vortrags dar. So fand im November 2007 in Salzburg bereits der „3. Europäische Kongress für Storytelling und narratives Management“ statt.
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lens in anderen Fächern neue Erkenntnisse für die kulturwissenschaftlichvolkskundliche, vergleichende Erzählforschung erhoffen, sondern nicht minder, weil wir uns für diese zunächst doppelte Konjunktur als ein kulturelles Symptom interessieren. Beide Konjunkturen werfen die Frage auf, ob dahinter nicht noch eine dritte, das wäre dann eigentlich die erste Konjunktur stehe: eine Konjunktur des Erzählens selbst. Es gilt also zunächst zu erörtern, ob sich das Erzählen selbst gegenwärtig im Aufwind befinde und die Wissenschaften lediglich dieser Entwicklung Rechnung tragen oder ob das Gegenteil der Fall sei, es also um das Erzählen schlecht bestellt sei und die Wissenschaften eben darauf reagierten, oder ob, das wäre eine dritte Möglichkeit, sich nicht so manche Disziplin einfach von einer Modeströmung habe mitreißen lassen. Freilich beginnt auch eine Mode nicht voraussetzungslos und man müsste in diesem Fall nach den auslösenden Faktoren fragen. Wie steht es also um das Erzählen zu Beginn des dritten Jahrtausends?
„Keine Zeit ohne Erzählung“ – Erzählen in der Informationsgesellschaft Damit ist ein weites Feld angesprochen, dem man in wenigen Sätzen keineswegs gerecht werden kann. Ich möchte stattdessen versuchen, zwei aus meiner Sicht zentrale Tendenzen miteinander ins Gespräch zu bringen. 1. Seit den Brüdern Grimm ertönt immer wieder die Klage vom vermeintlichen Niedergang des Erzählens. Diese kulturpessimistische Rede, die von der Krise oder gar dem Entschwinden des Erzählens spricht, ist bis heute nicht verstummt und hat gerade im Kontext der Globalisierung neue Nahrung erhalten. 2. In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts setzte eine Debatte über die Bedeutung des Erzählens bzw. der Erzählungen auf einer ganz anderen Ebene ein. Jean François Lyotard verkündete 1982, unter anderem mit Blick auf das marxistischleninistische Weltbild und die Grenzen unseres Wissens das Scheitern der großen Erzählungen der Moderne (Lyotard 1982) und forderte, diese durch eine Vielzahl kleiner Erzählungen, die durchaus im Widerspruch zueinander stehen könnten, zu ersetzen. Und 1984 schrieb Paul Ricœur, dass wir „keine Vorstellung von einer Kultur, in der man nicht mehr wüsste, was Erzählen heißt“ (Ricœur Bd. 2, 1988, 51) hätten. Nun mag man einwenden, dass da ja von ganz verschiedenen Dimensionen des Erzählens geredet wird. Das ist schon richtig. Ich meine aber, dass man das Spektrum des Narrativen eben genau so weit fassen sollte und dass es unumgänglich ist, darüber insgesamt nachzudenken.
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Sprechen wir vom Erzählen in einem weiten anthropologischen Sinn, möchte ich die These aufstellen, dass es weder früher noch heute eine Krise des Erzählens gab bzw. gibt, mehr noch, dass es keine solche Krise geben kann, denn das Erzählen ist zweifellos eine der, wenn nicht die grundlegendste Kulturtechnik überhaupt (Bendix 1996, 181). So gesehen weist Robert Musils Formulierung in seinem Mann ohne Eigenschaften: „Die meisten Menschen sind im Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler“ (Musil 1994, 650) wohl in die richtige Richtung. Musils Gedanke muss jedoch noch präzisiert werden. Mit Wilhelm Schapp lässt sich sagen, dass der Mensch eine durch und durch narrative Existenz führt, dass er in allen seinen Handlungs- und Lebensvollzügen „in Geschichten verstrickt“ ist und dass Geschichten das grundlegende Medium sind, in dem uns überhaupt Sinnhaftes zugänglich ist (Schapp 1953). Mit dieser These ist im Grunde alles über die elementare Rolle von Erzählungen gesagt. Ich möchte jedoch noch einige Bemerkungen über die besondere Stellung des Erzählens in gegenwärtigen Gesellschaften hinzufügen. Wir haben uns daran gewöhnt, in einer zunehmend globalisierten Welt zu leben, die den Übergang von der industriellen zur Informationsgesellschaft vollzogen und in der das Internet eine dominierende Rolle in der Vermittlung von Informationen übernommen hat. Im Zusammenhang mit diesen Entwicklungen begegnet uns immer wieder die Unterstellung fortschreitender Nivellierung regionaler Kulturen und damit letztlich eines Rückgangs von Kultur insgesamt. Ulf Hannerz hat dieser Auffassung überzeugend widersprochen, indem er sagt, die Globalisierung habe auf unterschiedliche Weise eine Zunahme von Kultur zur Folge, allein schon weil es immer weniger „haphazard forgetting of culture“ gebe (Hannerz 1996, 24). Hier möchte ich nun erstens die Frage nach den Auswirkungen von Globalisierung und Internet auf das lebendige Erzählen anschließen. Ich vertrete die These, dass die Globalisierung zu einer Zunahme des Erzählens geführt hat und dass dem Internet dafür die Hauptverantwortung zukommt. Daran schließt sich zweitens die Frage, ob bzw. inwieweit das Internet die Erzählkultur verändert habe. Das Internet hat, so meine ich, der Kulturtechnik Erzählen zumindest ganz neue Möglichkeiten eröffnet. Die/der Erzähler/in – das ist nur ein Aspekt – hat potentiell ihr/sein Publikum, ihre/seine Adressaten auf der ganzen Welt. Und sie/er findet, auch dies ist eine Veränderung, zu jedem auch noch so spezifischen Erzählthema ihr/sein ganz spezielles Publikum, mit dem sie/er sich austauschen kann. Ich denke an die vielfältigen neuen Möglichkeiten des Erzählens auf einschlägigen Webseiten (etwa zu den Gattungen contemporary legend, Gerücht oder Witz), in newsgroups oder mailing lists, in Foren oder Blogs und vor allem immer wieder via e-mail. Ich denke
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aber auch an Einrichtungen, wie z. B: das Center for Digital Storytelling (http://www.storycenter.org), das weltweit Serviceangebote und Workshops zum digitalen Erzählen anbietet. Was sich gegenwärtig an lebendiger Erzählkultur abspielt, das hätte wohl noch vor 25 Jahren kaum jemand geahnt. Bleibt noch eine dritte Frage, nämlich ob die mannigfaltigen digitalisierten Formen des Erzählens zu dessen Virtualisierung geführt haben, und zwar in doppeltem Sinne eines Verlusts von Körperlichkeit und eines Verlusts von Realitätsbezug. Beides ist meinen Untersuchungen zum Erzählen im Internet zufolge nicht der Fall (Schneider 1996, 2004, 2006, 2009). Gegenüber dem Erzählen in face-to-face Kommunikationssituationen ist beim digitalisierten Erzählen fraglos eine Veränderung in der Qualität der Sinneserfahrung zu konzedieren. Es ist schon etwas Anderes, ob ich als Zuhörer dem Erzähler in die Augen schaue, seine Gestik und Mimik unmittelbar verfolge oder ob ich einen Text am Bildschirm lese, die Stimme des Erzählers höre und/oder Bilder und Videosequenzen von ihm in unterschiedlichen Lebenssituationen sehe. Dennoch: selbst bei der Lektüre von Texten am Bildschirm muss kein Verlust der Körperlichkeit stattfinden. Der Literaturwissenschaftler Erhard Schütz spricht in einem Sammelband über die Renaissance des Erzählens durchaus auch mit Blick auf die allgegenwärtige Elektronisierung von einer rapide zunehmenden Somatisierung von Informationen und er betrachtet auch das Erzählen „wie alle Mitteilung“ als „eine Form der Somatisierung von Information“ (Schütz 1998, 116 f.). Ich teile diese Einschätzung gerade auch in Bezug auf die neuen Möglichkeiten des Erzählens in digitalen Umgebungen, denke aber, dass man beim Erzählen allgemein immer dessen physische und psychische Wirkungen zusammen sehen muss. Man muss also das Erzählen in seinen psychosomatischen Aspekten analysieren. Und hier lässt sich ohne Zweifel sagen, dass die Erzählsituationen im Internet vielfältige sowohl psychische als auch physische Reize und emotionale Betroffenheit und deren physische Konsequenzen auslösen können. Auf einer zweiten Ebene liegt die Frage des Realitätsbezugs. Fasst man das weite Feld interaktiver Rollenspiele – ich denke etwa an diverse Fantasy-Rollenspiele oder an Second Life – auch als eine Sphäre des Fabulierens bzw. Erzählens auf, und das muss man, sind gewisse Tendenzen des Realitätsschwunds zweifellos gegeben. Für andere Bereiche des Erzählens in digitalen Umgebungen, etwa in newsgroups oder Diskussionsforen, in denen über ein breites Spektrum alltäglicher Nöte erzählt und diskutiert wird, lässt sich keinesfalls von Realitätsferne sprechen.
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Das multidisziplinäre Interesse am Erzählen und die Inflation der Theorien Der wissenschaftliche Diskurs über das Erzählen, über Erzählungen und Erzähltheorien hat in den letzten Jahren in einem Maße zugenommen, dass es schwer ist, darüber einen Überblick zu behalten bzw. zu vermitteln. Für unsere Überlegungen geht es aber ohnehin nicht um Details, sondern um das Aufzeigen großer Tendenzen, da das eigentliche Interesse dahinter liegenden Motiven, d. h. konkret: möglichen Ursachen des Phänomens gilt. Auch wenn das Hauptaugenmerk auf den Entwicklungen der letzten Jahre liegt, darf man nicht übersehen, dass es Fächer gibt, die bereits auf eine unterschiedlich lange Tradition der Erzählforschung zurückblicken. Dies trifft zunächst für die Kulturwissenschaft Volkskunde zu, die nicht nur auf eine gut 200-jährige Beschäftigung mit einem breiten Spektrum von Volkserzählungen, mit Problemen der Stoff- und Motivgeschichte und Fragen der individuellen und kollektiven Bedeutung von Erzählungen in sozialen Systemen verweisen kann, die in den letzten Jahrzehnten mit der „Entdeckung“ der contemporary legends einen erneuten Aufschwung erlebte. Die kulturwissenschaftlich-volkskundliche Erzählforschung erstreckte ihr Forschungsinteresse schon seit den 1950er Jahren auch auf das weite Feld des Alltäglichen Erzählens (Bausinger 1958, 1977) und bald auch auf jenes des (auto)biografischen Erzählens, für welches, um lediglich ein theoretisches Modell anzuführen, Albrecht Lehmann den Ansatz der Bewusstseinsanalyse des Erzählens entwickelte (Lehmann 2007). Alles andere als neu ist das Thema Erzählen weiter in Disziplinen, die sich mit frühen Hochkulturen befassen, wie die Alte Geschichte, Altorientalistik oder Iranistik, ebenso in Theologie und Religionswissenschaft, die es ja bei ihren zentralen Texten – man denke etwa an das AT und NT – mit Erzählsammlungen par excellence zu tun haben. Aber auch in der Philosophie ist die Beschäftigung mit dem Erzählen nicht neu. Von Wilhelm Schapp, der bereits 1953 von einem narrativen In-der-Welt-sein sprach, war bereits die Rede (Schapp 1953). Davon ausgehend entwickelte sich eine spannende Debatte über die Zusammenhänge von Erzählung und Leben, in der im Wesentlichen zwei Positionen aufeinander trafen. Die eine behauptet, das Leben, also Erleben und Handeln besäße(n) keine narrative Ordnung, es handle sich nur um nachträgliche Stilisierung. Narrativität solle folglich nur auf explizit mündliche oder schriftliche Formen des Erzählens beschränkt bleiben, in den Worten von Norbert Meuter: „Geschichten würden nicht gelebt, sondern erzählt“ (Meuter 2004, 142). Die zweite Position besagt, narrative Strukturen seien nicht erst das Produkt von Schriftstellern oder Geschichts-
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schreibern, die Ereignisse zusammenführen, die ohne sie keine Ordnung hätten. Vielmehr würden bereits in Handlungen und Lebensvollzügen Geschichten ausgeformt. „Geschichten würden gelebt, bevor sie erzählt werden“ (Meuter 2004, 142). Diese Sichtweise vertritt unter Bezugnahme auf Wilhelm Schapp etwa Siegfried J. Schmidt (2003). In seinem Versuch einer theoretischen Neubegründung des Konstruktivismus aus sich selbst ohne Zuhilfenahme von Befunden aus Biologie, Psychologie oder Kognitionswissenschaften nimmt das Begriffspaar Geschichten und Diskurse eine zentrale Stellung ein. Es ist nicht möglich, Schmidts dichtes theoretisches Modell in Kürze vorzustellen. Wir müssen uns auf für unseren Zusammenhang wesentliche Aspekte beschränken. Geschichten und Diskurse sind für Schmidt „symbolische Ordnungsmechanismen“ (Schmidt 2003, 48), die jeder Mensch für sich selektiv erstellt, indem er sich auf Handlungen und Kommunikationen aus seinem Erfahrungsbereich bezieht und dabei auch seine Selektivität reflexiv mitdenkt. Geschichten werden dabei auf die Handlungsebene bezogen und als „unter einer Sinnkategorie“ geordneter „Zusammenhang von Handlungsfolgen eines Aktanten“ verstanden (Schmidt 2003, 49). Diskurse bezeichnet Schmidt dagegen als „Selektionsmuster für die interne Ordnung unserer Kommunikation in jeweiligen Geschichten“ (Schmidt 2003, 52). „Jeder Aktant“ formuliert Schmidt in Anlehnung an Schapp, „lebt seine und lebt in seiner Geschichte aus Geschichten, also in einem von ihm selbst bewusst geordneten oder aber sich in seiner Lebenspraxis gleichsam selbst ordnenden Zusammenhang von Handlungsfolgen, den er durch Bezug auf sich zu für ihn sinnvollen Geschichten synthetisiert“ (Schmidt 2003, 49). Auch wenn jeder Mensch in erster Linie in seiner eigenen Geschichte lebt, besteht die Möglichkeit, dass mehrere Menschen für eine gewisse Zeit partiell eine gemeinsame Geschichte leben, auch wenn diese jeweils nicht identisch sind (Schmidt 2003, 49). Als Ergebnis von Reflexion sind sie jeweils gemacht, in den Worten Schmidts „wir lassen sie entstehen“ (Schmidt 2003, 49). Sie sind daher – wie freilich auch Diskurse – für die Bildung von Identität von großer Bedeutung. Schmidts schlüssige, wenn auch nicht leicht zugängliche Theorie stärkt eindeutig die Position einer narrativen Strukturierung unserer Lebenswelt. Geschichten bzw. Narrativität sind bei ihm eindeutig Kategorien der Lebenspraxis. Einen vermittelnden Standpunkt vertritt unter Bezug auf Paul Ricœur Norbert Meuter. Lebensweltliches Handeln weise „aufgrund seiner symbolischen und zeitlichen Aspekte eine pränarrative Struktur“ auf (Meuter 2004, 143). Auf der Basis von Arthur C. Dantos Modell der „narrativen Erklärung“ (Danto 1965) spricht er Erzählungen überhaupt eine zentrale Funktion für die Kulturwissenschaften zu, da „die spezifische Rationalität und Wissenschaftlichkeit kulturwissenschaftlicher
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Erklärungen unmittelbar mit dem narrativen Schema verbunden“ sei (Meuter 2004, 145) Dieser Sichtweise kann nur zugestimmt werden. Ich möchte sie aber durchaus auf sämtliche Wissenschaften ausdehnen und behaupten, dass alle Wissenschaften im Grunde genommen auf der Grundlage narrativer Schemata erklären. Wenden wir uns nun weiteren erzähltheoretischen Überlegungen innerhalb der historisch-kulturwissenschaftlichen Disziplinen zu. In einem nahen Verhältnis zu den philosophischen Überlegungen stehen jene der Geschichtswissenschaften. Bereits Dilthey hatte auf die besondere Affinität narrativer Formen wie der (Auto)biografie und historisch wissenschaftlicher Darstellung hingewiesen (Meuter 2004, 141). In den 1970er Jahren stellte dann Hayden White die ebenso simple wie überzeugende These auf, dass reale Ereignisse der Vergangenheit durch die Tätigkeit des Historikers mit einer „künstlichen“ narrativen Struktur oder Form überzogen würden, die ihnen einen bestimmten Sinn verleihe (White 1973; Meuter 2004, 141). In der Folge traten mehrere Historiker – ich nenne lediglich Jörn Rüsen (2001) – für die herausragende Rolle von Erzählungen zur Beschreibung und Erklärung historischer Vorgänge ein. Zu nennen ist ferner die Ausbildung einer eigenständigen narrativen Psychologie, vertreten etwa durch Jerome Bruner und seinen Vorschlag der Unterscheidung zwischen einem paradigmatischen und einem narrativen Modus des Denkens, aber auch durch Ansätze der Entwicklungs- und Kognitionspsychologie, die nach dem Verhältnis von Erfahrung und Erzählung und gemeinsam mit Hirnphysiologen nach den Leistungsmöglichkeiten des Gedächtnisses, zeitlich disparate Ereignisse in sinnhafte Ereignisfolgen zusammenzufügen, also nach narrativen Strukturen im Gehirn, fragen (Wolf 2001, Lehmann 2007, 13). Dass dem Erzählen in der Psychoanalyse von Anfang an zentrale Bedeutung zukam, braucht an sich gar nicht gesagt werden. Aber erst in jüngerer Zeit zeichnet sich eine narrativ orientierte Psychotherapie deutlicher ab (Schafer 1995; Boothe 1994; vgl. Meuter 2004, 142.). Lediglich erwähnt sei, dass mittlerweile auch in der Medizin das diagnostische und therapeutische Potential von Erzählungen in zunehmendem Maße (wieder)erkannt wird und es, soweit ich das sehe, von den USA ausgehend zur Ausbildung einer narrativen Medizin gekommen ist (Greenhalgh/Hurwitz 2005). Ich komme somit zu jenem Feld der Auseinandersetzung mit dem Thema Erzählen, auf dem die Theorien am dichtesten sprießen, zu den modernen Kulturwissenschaften. Hier sind es vor allem die Literaturwissenschaften, die sich seit kurzem intensiv mit Erzähltheorie befassen (Herman 2004). Freilich beginnt auch dort die Beschäftigung mit Erzählungen nicht voraussetzungslos. Ich nenne nur die strukturalistischen und semiotischen Ansätze von Bachtin, Propp oder Barthes oder für die
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deutsche Philologie die erzähltheoretische Einführung Stanzels (11979). Das Interesse galt aber ausschließlich dem literarischen Erzählen, insbesondere dem Roman. Unübersehbar erlangte das Thema Erzählen jedoch im Zuge der Rezeption der cultural studies und der Entdeckung des anthropologisch-ethnologischen Kulturbegriffs eine neue Stufe. Zu den Wegbereitern dieser Entwicklung zählt die holländisch-amerikanische Literaturwissenschafterin Mieke Bal, die sich schon vor 1980 um eine weiter gefasste Theorie des Erzählens bemühte (Bal 1980). Erst in den späten 1990er Jahren scheint der deutschsprachige Wissenschaftsbetrieb die „große anthropologische Bedeutung“ und „existentielle lebensweltliche Relevanz des Erzählens“ erkannt zu haben (Nünning/Nünnning 2002a, 1). 2002 erschienen zwei von Vera und Ansgar Nünning herausgegebene Sammelbände, in denen ein Einblick in das weite Feld literaturwissenschaftlicher, postklassischer Erzähltheorien gegeben wird (Nünning/Nünning 2002a + b). An dieser Stelle sei lediglich ein durchgehendes Moment daraus hervorgehoben: die perspektivische Erweiterung auf kontextuelle Aspekte des literarischen Erzählens. In der germanistischen Literaturwissenschaft sind für die letzten Jahre unter anderem die Arbeiten von Matías Martinez und Michael Scheffel zu nennen (Martinez/Scheffel 1999). In der Einleitung eines von beiden herausgegebenen Hefts der Zeitschrift Der Deutschunterricht zum Thema „Erzählen. Theorie und Praxis“ lesen wir den doch bemerkenswerten Satz: „Tatsächlich spielen Erzählungen nicht nur in der Literatur, sondern auch in Religion, Kunst, Wissenschaft und nicht zuletzt auch im Alltag eine fundamentale Rolle“ (Scheffel 2005, 2) Diese Aussage ist vielleicht symptomatisch für den Hipe des Erzählens in den Philologien, für die das außerliterarische Erzählen doch tatsächlich etwas Neues und somit im Prinzip Beachtenswertes darzustellen scheint. Bei diesem im Prinzip bleibt es allerdings zumeist, denn das Hauptaugenmerk der philologisch-kulturwissenschaftlichen Erzählforschung gilt freilich weiterhin der Literatur. Dasselbe trifft im Übrigen auch auf die jüngsten Ansätze einer intermedialen Erzähltheorie zu (Mahne 2007).
Für eine narrative Theorie der Kultur Wie können wir nun diese erstaunliche Vielfalt der Erzähltheorien, die leider jeweils meist innerhalb disziplinärer Grenzen verhaftet bleiben und die Vorleistungen anderer Fächer nicht rezipieren, verstehen? Woher kommt das plötzlich so starke Interesse am Erzählen? Und worauf könnte beides verweisen? Erzählen und Erzähltheorien, wie Theorien überhaupt, sind gegenwärtig zweifellos in, und als Wissenschafter ist man, das wurde
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bereits gesagt, in seiner Tätigkeit nolens-volens, wie im Leben, in Moden verstrickt. Die Konjunktur des Erzählens und der Erzähltheorien hat zweifellos mit der Anthropologisierung und Kulturalisierung der Geisteswissenschaften allgemein zu tun hat, der immer weitere Kreise ziehenden Erkenntnis von der Breite und Tiefe des Kulturellen insgesamt und der Einsicht, dass das Schöne und Erhabene, das Ästhetisch-Künstlerische nur ein kleines Segment davon einnimmt. Die logische Folge solcher Einsicht wäre, dass man nicht mehr nur den Blick auf das literarische Erzählen werfen würde und sich dann konsequenterweise ganz andere Dimensionen der Kulturtechnik Erzählen eröffneten. Aber gerade die modernen Literaturwissenschaften, die sich gegenwärtig ganz besonders als Kulturwissenschaften verstehen und in den letzten Jahren so viele turns erlebt haben – ich nenne nur einmal: linguistic, cultural, cognitive, interpretative, performative, reflexive, postcolonial, spatial, iconic (Bachmann-Medick 2006) und nun auch narrative turn, dass den Beobachter allein beim Zusehen schon der Schwindel befällt. Gerade die Literaturwissenschaften klammern bis dato den weiten Bereich des Alltäglichen Erzählens weitgehend aus und beschränken sich, wie bereits gesagt, trotz aller Erzähltheorie und Bekenntnisse zu einem weiten Kulturbegriff und einer Hinwendung zu kontextuellen Fragen letztlich in erster Linie doch auf literarische Texte und allenfalls noch auf andere mediale Erzählweisen (z. B.: Film, Comic, Hypertext) Dies lässt sich sicher nicht mit einer Renaissance des Erzählens im literarischen Betrieb (historischer Roman, Autobiografie, Erzählung) rechtfertigen, die, wenn sie überhaupt da wäre, natürlich zu einem guten Teil vom Buchmarkt herbeigeredet, also gemacht wäre. Aber nehmen wir einmal an, es gäbe eine solche Renaissance des literarischen Erzählens, dann würde dies die Frage aufwerfen, ob darin nicht, neben anderen Faktoren, ein mögliches Indiz auf dahinter liegende kulturelle bzw. gesellschaftliche Befindlichkeiten zu sehen sei. Was die fundamentale Rolle des Erzählens in seiner ganzen Bandbreite betrifft, habe ich dzu bereits alles gesagt. Es bedarf dazu keiner großen Argumentationslinien, schon gar nicht aus der Ecke konservativ-modernisierungskritischen, kompensationstheoretischen Denkens. Was die vielschichtige wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Erzählen und die Entwicklung von Erzähltheorien angeht, ist die Sache schon diffiziler. Die These von der Modeströmung, auch wenn sie ein Stück weit trägt, reicht letztlich nicht aus. Ich denke, wir müssen da schon auch die Möglichkeit einräumen, dass dahinter die grundlegende Erkenntnis der konstitutiven Bedeutung narrativer Strukturen für das menschliche Dasein insgesamt stehen könnte. In diese Richtung verstehe ich z. B.: den Geschichten-&Diskurse-Ansatz von Siegfried J. Schmidt (2003). Bei ihm geht es allerdings nicht per se um die Entfaltung einer weiteren Erzähltheorie, sondern, wie
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bereits gesagt, um den Versuch einer Neubegründung des Konstruktivismus im Rahmen einer Theorie der Kommunikation, man könnte aber auch sagen: um eine narrative Theorie der Kultur. In diese Richtung müssen wir, das ist meine feste Überzeugung, weiterdenken. Und zu einer solchen narrativen Theorie der Kultur hat die volkskundliche Erzählforschung ohne Zweifel Wesentliches beizutragen. Dazu gehört freilich auch die Erkenntnis, dass alle Wissenschaft, wie bereits gesagt, unausweichlich selbst narrativ strukturiert ist, dass also wir als Wissenschaftler auch nur und nichts anderes als Geschichten erzählen.
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Helmut Fischer
Schriftlichkeit in der Erzählforschung Voraussetzungen schriftlicher Äußerungen Die Erzählforschung, die sich mit Volkserzählungen befasst, untersucht das Phänomen des Erzählens in größtmöglicher Breite. Ihr Augenmerk richtet sich insbesondere auf den Erzähler, den Erzeuger und Verwender von Erzählungen und auf das Produkt seiner Tätigkeit, auf die Volkserzählungen (Dégh 1984; Röhrich 2001, 515). Der Erzähler formuliert Texte, die vor allem seit dem 19. Jahrhundert in Märchen, Sage, Schwank, Legende, Witz und andere Gattungen unterschieden werden (Gerndt 1981, 35). Sie gehören zur Volksliteratur, die vom Volk getragen, gestaltet und überliefert wird. Von der Volksliteratur hebt sich die Hochliteratur der Dichter und Schriftsteller ab (Lüthi 1970, 9). Ein wesentliches Kennzeichen der Volkserzählungen ist ihre Mündlichkeit, an der alle Sprachteilhaber mitwirken (Kosack 1971). Sie geht der Speicherung durch die Schrift voraus. Die mündlichen Erzählungen werden im Gedächtnis von Menschen eingelagert, weitererzählt, verändert und gegebenenfalls dem Vergessen ausgeliefert. Das Bedürfnis nach Tradierung findet jedoch in der Schrift vor der Erfindung der elektronischen Konservierungsgeräte das Mittel, das Vergangene für die Zukunft in Erinnerung zu halten (Günther 1997, 68). Erst wenn die Volkserzählungen aufgezeichnet und schriftlich festgehalten sind, werden sie ein Gegenstand der nachvollziehbaren Weitergabe und der wissenschaftlichen Untersuchung (Wienker-Piepho 2002, 333). Die Schriftlichkeit ist nach wie vor das wichtigste Mittel der Speicherung und Überlieferung von Volkserzählungen. Der schriftliche Text existiert unter der Bedingung der mündlichen Äußerung und bezieht sich auf zwei Erzählergestalten. Der primäre Erzähler erzeugt den mündlichen Text, indem er Gedankengänge und Erlebnisse, Ereignisse und Erinnerungsbestände subjektiver Art oder genereller Erfahrung in Worte fasst oder aus dem Gedächtnis entnimmt und verbal umsetzt. Der sekundäre Erzähler dagegen zeichnet den mündlichen Text auf. Er bearbeitet, literarisiert und stellt ihn der Öffentlichkeit alphabetisiert zur Verfügung (Fischer 2006, 74). Während der primäre
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Erzähler einen natürlichen, bei der Erzählwiederholung veränderlichen Text äußert, formuliert der sekundäre Erzähler einen idealen Text, der sich an den formalen und stilistischen Mustern schriftlicher Anverwandlung für Leser ausrichtet (Fischer 1993, 115). Dieser Text besitzt die konstitutiven Eigenschaften der Schriftlichkeit, und zwar Stabilität, Permanenz, Objektivität, Distanzierbarkeit von Personen und Vergleichbarkeit (Schlieben-Lange 1983, 111). Die Verschriftlichung ist deshalb notwendig, weil sich der mündliche Text, der einer ständigen Veränderung und dem Vergessen unterliegt, der Edition und Analyse entzieht. Die erzähltheoretischen Überlegungen sind noch weiter zu spezifizieren. Die Versprachlichungsstrategien, ob mundartlich oder standardsprachlich, im Hinblick auf Leser oder für Themen und Medien, erwachsen aus den Bedingungen der Kommunikation. Der Text ist ein Exemplar von vielen möglichen, der aus der Sprechsituation, aus dem mündlichen Erzählen herausgelöst, mit der Hilfe der Schrift für andere Sprachsituationen fixiert, gespeichert und dort wieder realisiert, das heißt gelesen wird. Denn der schriftliche Text ist monologisch angelegt und zumeist auf einen oder viele Rezipienten ausgelegt. Von entscheidender Bedeutung ist der Tatbestand der Wörtlichkeit. Der schriftliche Text ist im Gegensatz zur mündlichen Äußerung ein Sprachprodukt, dessen Form von Dauer ist und ständig wiederholt werden kann. Gerade im Rahmen der Schriftlichkeit kommt dem genauen Wortlaut einiges Gewicht zu. Er ist das Ergebnis der Reflexion beim Schreiben, fügt sich einem Textmodell und unterwirft sich der Schreibökonomie. Er verlangt nach Kompaktheit und Elaboriertheit der sprachlichen Mittel und drängt danach, ein kontextfreies Verstehen abzusichern (Günther 1997, 68). Bei der Umsetzung des Mündlichen in das Medium der Schrift verändert sich die Sprache (Scheerer 1993, 142). Dieser Vorgang wirkt ebenso auf die Inhalte der Äußerung und ihre Gestaltung ein. Der mündliche, der primäre Erzähler erzeugt einen auditiven Text, den der schriftliche, der sekundäre Erzähler in eine visualisierte Fassung überträgt. Der schriftliche Text fungiert als externes Gedächtnis, das für viele Leser, für Benutzer, zur Verfügung steht. Er befolgt eine Ausdrucksweise, die distanzierend und unterordnend, analytisch und ökonomisch verfährt, ein auf Abstraktion zielendes Denken anregt und ein sachlich-unpersönliches Verhalten herausfordert (Goetsch 1991, 121). Der Text ist jedoch nicht unantastbar. Im folkloristischen Gebrauch wird die kanonische Gebundenheit an Form und Wort aufgehoben. Der sekundäre Erzähler kann den Inhalt in andere Formen gießen und andere Worte benutzen (Assmann 1983, 180). Die von ihm geprägte konzeptionelle Schriftlichkeit schafft Literarisierung, stellt Textstabilität und Textgestalt her und bringt definierte Erzählgattungen hervor (Raible 1991, 9). Diese
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sind als zivilisierte Gattungen zu bezeichnen, deren ursprünglicher, vom primären Erzähler artikulierter Rohstoff oft kaum noch zu erkennen ist (Schenda 1989, 33). In der Gestalt des Buchs, als gedruckte Sammlung, wird die Schriftlichkeit zu einer autoritären Kraft (Müller-Funk 2002, 173). Sie ist in der Lage, Volkserzählungen für Rezipienten mit neuen ästhetischen und kommunikativen Perspektiven durchzusetzen.
Schriftgebrauch in der Erzählforschung Im Prozess der sich entwickelnden Schriftkultur haben Volkserzählungen nur eine Rolle am Rande gespielt. Der pragmatische Nutzen der Schriftlichkeit im Alltag, im Geschäftsleben, im Rechtswesen, in der Historik und ähnlichen Feldern stand im Vordergrund des Interesses, nicht die Aufbewahrung mündlicher Äußerungen mit Vorstellungen, die an der Wirklichkeit wenig messbar waren (Stein 2006, 18). Die mittelalterlichen Aufzeichnungen volkläufigen Erzählens befassen sich weniger mit auffälligen alltäglichen Ereignissen als vielmehr mit herausragenden Gestalten und ihrer bemerkenswerten Wirksamkeit. Geistliche, vor allem die Mönche schrieben das auf, was sie gehört oder selbst erlebt hatten. Ihre Aufmerksamkeit galt zum Beispiel den göttlichen Gnadenerweisen, die durch die Vermittlung heiliger Gestalten geschahen. Die Wundergeschichten wurden in lateinischer Sprache aufgeschrieben. Durch Predigt, Katechese und Vortrag vermittelten die Kleriker die wunderbaren Nachrichten an die nicht lesefähigen Bittsteller und Pilger an Wallfahrtsorten und verbreiteten den Ruhm der Wundertäter im Sinne der Kultwerbung. Sie sahen ihre Aufgabe nicht nur in der Speicherung von Merkwürdigkeiten, sondern in der Belehrung durch das Vorbild (Fischer 2006a, 46, 62). Dass in das lateinische Sprachgewand nicht bloß entsprechende Textmodelle übernommen wurden und auch literarische Inhalte einflossen, verdeutlicht die intensiven Wechselwirkungen zwischen mündlicher und schriftlicher Volkskultur des Mittelalters (Röhrich 1987; 1988, 99). Die lateinische Schriftlichkeit ermöglicht den Übergang von Erzählungen und Erzählstoffen in andere Sprachräume (Curtius 1965, 34). Dabei ist der Austausch keineswegs einseitig. Seit dem 12./13. Jahrhundert bildete sich allmählich eine deutschsprachige schriftliche Überlieferung neben der lateinischen Tradierung heraus (Neumann 1999, 195). Die Geistlichen verwendeten mehr und mehr die Volksprache und verzeichneten Sonderbares und Geschichtliches aus ihrem eigenen Erleben und vom Hörensagen in Aktenstücken, Chroniken und Kirchenbüchern. Bürgerliche Beamte notierten Geschichten im Deutsch ihrer Zeit. Schreibkundige Laien zeigten ihr erzählerisches
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Geschick, indem sie Tagebücher und sonstige Aufzeichnungen verfassten, in die sie Erzählungen einstreuten. Die Erfindung des Buchdrucks und die wachsende Lesefähigkeit vor allem der städtischen Bevölkerung beförderten die Schriftlichkeit (Lübben 1995, 24; Strobach 1999, 21). Die Zahl der Drucke, die Volkserzählungen enthalten und dem Publikum anbieten, stieg an (Strobach 1981, 54–64; Ehlich 1993, 177–215). Die geistliche Erzählliteratur förderte im 17. und 18. Jahrhundert nicht allein die Diffusion schriftlicher Erzählstoffe, sie wirkte vielmehr über Predigt und Katechese unmittelbar auf das mündliche Erzählen ein (Tüskés 2001, 1–21). Der Druck ermöglichte darüber hinaus die weite und stabile Verbreitung von Volkserzählungen. Die Printmedien, zunächst Flugblätter und Zeitungen, berichteten von bemerkenswerten Ereignissen. Blätter mit wechselnden Titeln veröffentlichten allerlei Erzähltes aus den Bereichen der Kuriositäten und Sensationen, des Alltags und der Geisterwelt, darunter Erzählungen, die mit dem Begriff Sage zu fassen sind. Bauern, Gewerbetreibende und Handwerker vermerkten seit dem 17. Jahrhundert handschriftliche Nachrichten über auffällige Vorgänge und alltägliche Ereignisse in privaten Tagebüchern und Papieren (Ottenjann 1982; Schikorsky; Ziessow 1990). Gerade die kleinen Leute zeigten mit ihren Darlegungen, welche erzählerischen Fähigkeiten sie durch die Schriftlichkeit gewannen (Fischer 1995; Peters 2000; Peters 2003). Einen wesentlichen Einfluss auf das individuelle Schreiben hatte der schulische Aufsatzunterricht, der Textmodelle anbot und einübte (Ludwig 1988, 149–165; Lindig 1989, 163–176). Verstärkend wirkte das Lesebuch (Tomkowiak 1993). Als Chrestomatie stellte es mustergültige Texte und Erzählstoffe bereit. Mit dem Übergang in das 19. Jahrhundert gewannen die Erzählungen des Volkes an stetiger Aufmerksamkeit. Die sekundären, die schreibenden Erzähler gingen auf Distanz zu den Erzählgegenständen und bemühten sich um einen wissenschaftlichen Zugriff. Geschichtsfreunde und Literaturbegeisterte, Gelehrte und Schriftsteller, Historiker und Altertumsforscher trugen Erzählungen zusammen, fügten sie oft zur Dekoration und Belebung in ihre Arbeiten ein und stellten sie in zum Teil umfänglichen Druckwerken den Lesern bereit (Fischer 1989/90, 9). Im Geiste der Romantik begab man sich auf die Suche nach dem Volk und hoffte, in den Volkserzählungen eine mythologische Hinterlassenschaft und einen uralten Glauben ermitteln zu können. Dichter und dichtende Professoren prägten Volkserzählungen in Gedichte, insbesondere in Sagenballaden und Sagengedichte um (Röhrich 2002, 23–89; Fischer 2006 b, 152). Die Reiseliteratur verwendete Volkserzählungen zur Illustration historischer Auffälligkeiten (Bönisch-Brednich 2004, 522). Die Herausgeber und Verfasser bedienten sich zumeist aus gedruckten Sammlungen (Schenda 1983). Nach und nach traten Lehrer, Privatlehrer und höhere Lehrer, die
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sich schriftstellerisch betätigten, häufig die Volksschullehrer als eifrige Sammler, Bearbeiter und Verbreiter hervor. Die Volksschullehrer fanden aus den Gedanken der Heimatbewegung bis in das 20. Jahrhundert hinein am ehesten den Zugang zu den Erzählern vor Ort (Fischer 2006 a, 59). Sie waren es, die die Auseinandersetzung über die schriftlich-gedruckte Darstellung von Volkserzählungen und das Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit der Volkserzählungen auf Grund ihrer Erfahrungen entschieden (Köhler-Zülch 1999). Sie nahmen Erzählgut in ihrem Umfeld auf, bemühten sich um eine dem Erzählen nahe schriftliche Wiedergabe und betrachteten die Schule auf dem Land als Mittelpunkt einer Gemeinschaft mit eigenen Überlieferungen (Berg 2001, 23). Auf diese Weise kritisierten sie die gedruckten Volkserzählungen des 19. Jahrhunderts, die häufig typische Schreibtischerzeugnisse darstellten. Mit der Zahl der Sammlungen von Volkserzählungen wuchs im 20. Jahrhundert das Bedürfnis, die Frage nach der Überlieferung, ob schriftlich, ob mündlich zu beantworten. Die Auseinandersetzung um die Ausschließlichkeit des einen oder anderen Prinzips markierte zwar theoretische Positionen, führte jedoch nicht zu einer pragmatischen Lösung (Fischer 2007 a, 206). Die Vorstellung von der rein mündlichen Überlieferung wurde in der Erzählforschung ebenso aufgegeben wie die allein beherrschende Auffassung von der Schrift (Schenda 1993, 217–238); Assmann/Assmann 1988, 26). Das kommunikative Gemisch wird als erzählerischer Spannungsträger erkannt, der das Erzählen antreibt (Schenda/ten Doornkaat 1988, 17). Schriftliches und Mündliches wirken aufeinander ein.
Praxis der schriftlichen Verarbeitung Aus der Sicht der Erzählforschung sind mehrere Aspekte der Verschriftlichung und des Umgangs mit schriftlichen Volkserzählungen zu bedenken. Die Texte werden durch ihre Überführung in die Schriftlichkeit und durch die Tatsache, dass der sekundäre Erzähler sie als Schreiber und Sammler, Bearbeiter und Herausgeber für die Textherstellung und Textverarbeitung nutzt, zu zeitbezogenen, individuell geformten und sozialabhängigen Quellen (Schutte 1985, 16; Rathmann/Wegmann 2004). Die Quellen, in die mündliche Erzählungen durch die Verschriftlichung umgewandelt werden, treten in der Gestalt literarischer Werke hervor, als Bestandteile chronikalischer und landeskundlicher Darstellungen, geistlicher und betrachtender Zusammenstellungen und ähnlicher Aufzeichnungen und Veröffentlichungen. Noch im 19. Jahrhundert und darüber hinaus ist es die Absicht, Geschichte durch Volkserzählungen dem Volk nahe zu bringen. Meistens handelt es sich um Einzeltexte oder Text-
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gruppen, die thematisch zusammengehören und landschaftlich angebunden sind (Fischer 1989/90, 9–11). Diese Textbelege werden häufig nachverwendet. Mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts wurden Sammlungen von Volkserzählungen aus schriftlichen Quellen zusammengestellt und in Buchform veröffentlicht (Jeske 2002, 19). Den Sammlern und Kompilatoren ging es vor allen Dingen um die Ermittlung und Formulierung der Stoffe. Sie schränkten ihre Auswahl auf bestimmte Inhalte wie mittelalterlich – heldische Gestalten und romantisch-nationale Geschehnisse ein und bearbeiteten die Erzählungen nach ihrer Vorstellung von den Textsorten, meistens der Sage. Hemmungen wegen des geistigen Eigentums der ursprünglichen Verfasser kannten sie nicht. Diese Buchsagen erlauben es kaum, aus ihnen auf echte Volkserzählungen zu schließen (Röhrich 1976, 124). Ähnliches gilt für die Poetisierungen, an denen sich nach wie vor Heimatdichter versuchen (Fischer 1989/90, 10). Nichtsdestoweniger werden Texte aus den Sammlungen leserfreundlich aufgearbeitet und popularisiert, indem man sie neu erzählt oder nacherzählt. Die Thesaurierung der Volkserzählungen erlaubt auf der anderen Seite den wissenschaftlichen Zugriff auf Motive und regionale Differenzierungen sowie auf die Variationsbreite und die Konstanz der Motive (Raible 1988, 14). Von einer quellenkritischen Ausgabe ist man indessen noch weit entfernt. Einen Sonderfall stellen die Anthologien der alten oder schönsten Märchen und Sagen dar (Bark/Pforte 1969 f.). In ihnen wird eine Auswahl von Texten aus verschiedenen Sammlungen thematisch, historisch oder geographisch miteinander verknüpft. Wissenschaftliche Ziele streben die Editionen an, die philologische Verfahren anwenden (Fischer 2002). Ihre Gegenstände sind die schriftlichen Texte, die kritisch behandelt werden in der Absicht, den möglichsten Grad an Authentizität herzustellen. Die Textkritik beginnt mit der Textermittlung, mit dem Auffinden und der Durchsicht der vorhandenen schriftlichen Textzeugnisse (Kraft 1990). Die dabei gewonnenen Erkenntnisse werden für die Textgeschichte genutzt, die bestrebt ist, Varianten aufzuspüren, Veränderungen aufzudecken und die Entstehung zu klären. Auf dem Wege der Textherstellung wird der für die Veröffentlichung bestimmte Text erzeugt (Graber 1998, 11). Das Ergebnis dieses Vorgehens bei der Arbeit am Text ist der kritische Text, der sich im historischen und soziokulturellen Umfeld der sekundären Erzähler, der Schreiber und Bearbeiter, der Sammler und Herausgeber befindet und für die weitere wissenschaftliche Beschäftigung und für die Interpretation zur Verfügung gestellt wird (Fischer 1975; Schenda/ten Doornkaat 1988; Fischer 2006c; Fischer 2007b). Denn die Erzählforschung ist auf die Verlässlichkeit des schriftlichen Textes angewiesen.
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Dieselben Kriterien gelten im Grundsatz für die mündlichen Texte, die durch die Verschriftlichung eine visuelle Existenz erlangen. Der Anspruch der Authentizität findet indes dort eine Einschränkung, wo die mündliche Rede sich der angemessenen Wiedergabe entzieht und eine leserfreundliche Bearbeitung, die Übertragung aus der Mundart in die Standardsprache, die Beseitigung von Verständnisschwierigkeiten, Streichungen, Ergänzungen und Umstellungen sowie eine Vermehrung der Wörterzahl wegen der fehlenden Gestik und Mimik notwendig erscheinen (Fischer 1988). Im Gegensatz dazu werden die bei einer Texterhebung auf einem Tonträger gespeicherten mündlichen Erzählungen möglichst unbestechlich dokumentiert. Allerdings bereitet die Umwandlung des auditiven Textes in eine verschriftlichte Fassung enorme Schwierigkeiten. Das Transkript liefert, selbst wenn eine spezielle Lautschrift verwendet wird, nur ein näherungsweises Abbild der Redeäußerung. Kommentare enthalten die Sachinformationen, die zum Verständnis nötig sind (Fischer 1978). Nur wenige Publikationen von Erzähltexten genügen den textkritischen Anforderungen. Da sie ihrer weithin dialektalen Abfassung und ihrer Abweichung von den gebräuchlichen Textgestaltungsmodellen wegen schwer rezipierbar sind, finden sie zumeist nur die Aufmerksamkeit der Erzählforschung. Die Schriftlichkeit trägt wesentlich das Erzählen und die Volkserzählungen. Durch den Druck, der eine fast beliebige Vervielfältigung erlaubt, ist die Reichweite der Texte außerordentlich vergrößert worden. Die Printmedien greifen Volkserzählungen in vielfältiger Weise bis hin zur Einfügung in serielle Zusammenhänge auf (Gerndt 1995; Fischer 1999a; Fischer 1999b). In den Zeiten der Reise- und Wanderbegeisterung werden Volkserzählungen zu textuellen Hilfsmitteln des Tourismus mit zahlreichen Begleitbüchern für die Bewegung von Ort zu Ort (Schwarz 1995). Ihr papiernes Dasein ist überall gegenwärtig (Schenda/Doornkaat 1988, 17). Die Beobachtung, dass das schriftliche Erzählen auf die mündliche Verwendung, auf das Nacherzählen einwirkt, ist eine Folge des allgemeinen kommunikativen Austauschs (Brednich 1989). Mündlichkeit und Schriftlichkeit verschränken sich. Der sekundäre Erzähler, der Schreiber, Aufzeichner, Sammler, Bearbeiter und Herausgeber greift in das Verlorengehen der mündlichen Aussagen ein. Er baut Erinnerung auf, sichert sie in einem schriftlichen Archiv, offeriert sie einer vielfältigen Verwendung, dem Lesen, dem Vortrag, der Wiederholung, der poetisch-literarischen Umgestaltung, der wissenschaftlichen Analyse, der erzählerischen Illustration von Sachverhalten und Gegenständen und der medialen Verbreitung (Assmann 1983). Als Schriftbeherrscher nimmt er drei grundlegende Tätigkeiten wahr: Er schreibt zunächst persönlich Wahrgenommenes, Erlebtes und Gehörtes
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nach seinen Eindrücken, Einsichten, Fähigkeiten und Urteilen auf. Zum Zweiten greift der Aufzeichner und Sammler, Bearbeiter und Herausgeber auf diese Vorlagen zurück, bearbeitet sie, gestaltet sie aus und um für seine Verwendung in unterschiedlichen Zusammenhängen. Schließlich prägt er als Dichter die schriftlichen Erzählungen zu neuen Gebilden, zu Gedichten (Fischer 2005). Die nachschaffenden Schreiber sichern das Leben der Volkserzählungen, indem sie die Kulturtechnik des Schreibens benutzen und bis zur Zeit der Entwicklung der elektronischen Medien allein die schriftlichen Texte einem Lesepublikum vor die Augen bringen. Der Anteil des primären Erzählers an der Leistung des sekundären Erzählers oder Schreibers ist unterschiedlich. Am größten ist er bei der empirischen Erhebung und wortwörtlichen Wiedergabe der Erzählung. Er ist am geringsten beim Gedicht, wofür er nur den Stoff liefert (Fischer 1988). Die Volkserzählungen spiegeln die Landschaft im Blick des primären Erzählers mit Sprache, geschichtlichen Sachverhalten und behandelten Gegenständen. Sie demonstrieren, wie sich die Menschen mit der Wirklichkeit und mit ihrer Umwelt auseinandersetzen (Schmidt 1963; Hain 1971). Die sekundären, schreibenden Erzähler wählen aus der Menge der vorhandenen Erzählstücke aus. Dabei fügen sie sich den geistig-kulturellen Strömungen ihrer Zeit. Die mediale Umsetzung der Volkserzählungen von den mündlichen Äußerungen des primären Erzählers in die schriftlichen Fassungen des sekundären Erzählers ist abhängig von den jeweiligen Bedingungen. Nicht umsonst wuchs die Zahl der Veröffentlichung von Volkserzählungen seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts stetig an.
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Helmut Fischer
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Siegfried Neumann
Erzähler-Forschung im Rückblick auf ältere Quellen Als Friedrich Ranke auf dem Zweiten Deutschen Volkskundetag in Weimar (9. Oktober 1933) seinen berühmt gewordenen Vortrag „Aufgaben volkskundlicher Märchenforschung“ hielt, wurde die internationale Erzählforschung noch weitgehend von Untersuchungen einzelner Erzählstoffe nach der geographisch-historischen Methode dominiert (Röhrich 1987, 1012–1030). Demgegenüber postulierte er: „Volkskundliche Märchenforschung hat als vornehmste Aufgabe, dort, wo es noch möglich ist, das Märchen in seinem heutigen Leben im Volk und in seiner Bedeutung für das Volk zu erforschen“ (Ranke 1933, 203), und forderte die Erfassung „einwandfrei volksechter Märchentexte“ sowie „ausführliche Berichte über die Lebensbedingungen und Lebensformen des Märchens im Volke selbst“. Dabei dachte er „in erster Linie an Wisser, der uns seine ostholsteinischen Gewährsleute [Wisser 1926] mit ihrem Erzählungsrepertoire und in ihrer Verschiedenheit so deutlich vor Augen stellt, oder an Frau Grudde, die in ihrem Bericht über die Erlebnisse beim Märchensammeln [Grudde 1932] auch das Bild der Erzählerinnen vor uns entstehen läßt“ (Ranke 1933, 206). Was Ranke hier anregte, war in der russischen Folkloristik längst gängige Forschungspraxis. Dort hatte sich die Sammlung von Erzähltexten bereits seit dem späten 19. Jahrhundert zu einer Art Erzähler-Forschung entwickelt, die den einzelnen Erzähler, sein Erzählrepertoire und das Erzählen vor seinen Zuhörern in den Mittelpunkt der Betrachtung stellte (Čistov 1985, 195–205). Und Mark Asadowskis Studie „Eine sibirische Märchenerzählerin“ in den FFC (Asadowski 1926) hatte diese Forschungsrichtung auch im Westen Europas bekannt gemacht und fiel namentlich in Ungarn auf fruchtbaren Boden, wie die sich dort entwickelnde Erzähler-Forschung auswies, die mit Gyula Ortutays Erzählermonographie „Fedics Mihály mesél“ (Ortutay 1940) einen ersten Höhepunkt zeitigte und eine Vielzahl ähnlicher Monographien im Lande zur Folge hatte (Dégh 1962, 63–65). Doch auch im deutschsprachigen Raum gab es entsprechende Ansätze. So finden sich schon bei dem volkskundlich engagierten Gymnasial-
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lehrer Ulrich Jahn Angaben über den sozialen Status der Erzähler, die Umfänge ihrer Repertoires und die Erzählgelegenheiten in Pommern (Jahn 1891, Einleitung). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte der Lehrer Johann Bünker im deutschsprachigen Westungarn das ganze Erzählrepertoire des Straßenkehrers Tobias Kern aufgezeichnet und mit einem dem Erzähler gewidmeten Kommentar veröffentlicht (Bünker 1906). Franz Heyden war in einer Studie auf die Rolle des Volksmärchen-Erzählers und -Nacherzählers eingegangen (Heyden 1922); und Otto Brinkmann hatte in seiner Doktorarbeit die Erzähler einer Dorfgemeinschaft mit ihren Zuhörern dokumentiert (Brinkmann 1933). Das waren zumindest Schritte in der von Ranke vorgeschlagenen Richtung. Wenig später legten dann die nebenberuflich tätigen Erzählforscher Gottfried Henßen (1935), Matthias Zender (1935) und Wilhelm Bodens (1937) ihre im Münster- und Rheinland neu aufgezeichneten Textsammlungen vor, in denen sie auch relativ ausführlich die von ihnen angetroffenen Erzähler vorstellten und näher auf deren Erzählgemeinschaften eingingen. Die eigentliche Erzähler-Forschung, die die Erzähler in den Mittelpunkt der Untersuchung stellte, setzte jedoch außerhalb Russlands und Ungarns, wo sie weiterhin ihre Zentren hatte (Čistov 1985, 205–213; Dégh 1962, passim), im Grunde erst nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Nun entstanden auf der Grundlage intensiver Feldforschung, bei der das ganze Repertoire begabter Volkserzähler/innen erfasst wurde, ausgesprochene Erzählermonographien – nicht nur im deutschsprachigen Raum (Henßen 1951; Neumann 1968, 1974; Eichler 1971; Moser 1974; Cammann 1975; Tolksdorf 1980), sondern auch in den skandinavischen Ländern (Tillhagen 1948; Pentikäinen 1978; Kvideland/Sehmsdorf 1999) sowie in der Schweiz (Uffer 1945, 1955), in Irland (Delargy 1945, 1948, 1956), Wales (Gwyndaf 1976/81), Tschechien (Satke 1958), Rumänien (Faragó 1978), Israel (Noy 1963) usw., von den zahlreichen kürzeren Erzähler-Studien in Aufsatzform einmal ganz abgesehen (siehe das Literaturverzeichnis). Die mit Blick auf eine baldige monographische Darstellung wiederholte Aufzeichnung von Teilen des vollständig erfassten Erzählrepertoires talentierter Erzähler bot die Möglichkeit, Konstantes und Variables im Sujetfundus und in der Erzählwiedergabe zu erfassen. Eingehende Befragungen machten es möglich, Einblicke in Lebenslauf, Persönlichkeitsformung, erzählerische Ausbildung, Denkwelt und Erzählhaltung der Erzählenden zu gewinnen. Und meist ließ sich auch, zumindest sporadisch, die Stellung der Erzähler/innen im Kontext der zeitgenössischen Erzählüberlieferung und des mündlichen Erzählens vor unterschiedlicher Zuhörerschaft beobachten bzw. erfragen. Das gab und gibt der ErzählerForschung vor Ort ihre solide Grundlage und hat zu ebenso instruktiven
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wie lebendigen Ergebnisdarstellungen geführt. Darüber informieren die zusammenfassend bilanzierenden Artikel der Enzyklopädie des Märchens „Biologie des Erzählguts“ und „Erzählen, Erzähler“ (Dégh 1979, 386–406; 1984, 315–342) so eingehend und vielfältig, dass ihr Inhalt hier nicht wiederholt werden soll. Problematischer ist die historische Erzähler-Forschung im Nachhinein, das heißt nach dem Tode der Erzähler, wenn sie zwar als Erzähler genannt sind, aber von ihnen lediglich Texte vorliegen. Hier kann man sich nur auf diese Texte und auf mehr oder weniger zufällige Nachrichten stützen, die sich in anderen gedruckten oder archivalischen Quellen finden können. Rudolf Schenda breitet in seiner Überblicksdarstellung „Von Mund zu Ohr“ eine beeindruckende Fülle von Lesefrüchten aus, die zeigen, dass das Erzählen durch die Jahrhunderte in allen sozialen Schichten Europas einen hohen Stellenwert hatte. Es sind jedoch Nachrichten, die kaum einen Erzähler plastisch werden lassen, auch wenn zum Teil auf das verwiesen wird, was sie erzählten. So stellt Schenda exemplarisch drei herausragende Erzähltalente vor, deren umfangreiches Erzählrepertoire und deren Erzählkunst beeindruckten: Der blinde Armenhäusler Berndt Strömberg im Südwesten Finnlands (Herranen 1984/89), der schon erwähnte Straßenkehrer Tobias Kern (Bünker 1906) und die sizilianische Näherin Agatuzza Messia (Pitrè 1, 1875, Vorwort), deren Leben von den Aufzeichnern in groben Umrissen skizziert worden ist, erzählten alle drei Märchen, sind aber als Persönlichkeiten, als Erzählende in ihrer sozialen Umwelt und in ihrer Erzählkunst kaum vergleichbar, so dass Schenda an ihrem Beispiel auch „den hohen Schwierigkeitsgrad einer […] Studie“ zeigen will, die das Phänomen begabter Volkserzähler/innen in „europäischen Dimensionen“ zu behandeln versuchte (Schenda 1993, 136f., 147–191). Ein Blick zurück in die Literaturgeschichte zeigt immerhin, dass nicht nur schon lange erzählt wurde, sondern dass dabei auch die Erzähler im Blickpunkt standen, sonst wäre deren Rolle im mündlichen Erzählen vermutlich nicht literarisch reflektiert worden. Ich denke dabei an die „Erzählrahmen der Weltliteratur“ (Woeller 1965), etwa an dass Panschatantra, das altindische Erziehungsbuch, in dem ein Weiser den Prinzen, die ihm anvertraut sind, in didaktischer Absicht fabelartige Geschichten erzählt (Falk 2002, 497–505). Noch bekannter ist wohl die ebenfalls in viele Sprachen übersetzte orientalische Sammlung Alf laila waleila (deutsch „Tausendundeine Nacht“), in der die kluge Wesirstochter Scheherazade den Herrscher Nacht für Nacht mit Geschichten unterhält, um dem Schicksal ihrer Vorgängerinnen zu entgehen, die nach der Hochzeitsnacht getötet wurden (Marzolph 2008, 288–302). In beiden Fällen handelt es sich zwar um fiktive Erzählsituationen, aber das Erzählte wird immerhin schon Erzählern in den Mund gelegt.
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Einleuchtender wirkt der Erzählrahmen in Giovanni Boccaccios Dekamerone (um 1350), in dem sich sieben junge Damen und drei Herren, die vor der großen Pest von 1348 aus Florenz geflohen sind, auf einem nahegelegenen Landgut zehn Tage lang novellenartige Geschichten erzählen. Die Erzählungen sind meist literarischen Ursprungs, aber zum Teil scheint es sich auch um Sujets aus mündlichen Quellen zu handeln; und die Erzählenden aus der gehobenen Gesellschaft zeigen in der Art, wie sie was erzählen, durchaus bereits Ansätze individueller Züge, so dass man zu glauben geneigt ist, Boccaccio habe sich hier nicht nur eines literarischen Kunstgriffs bedient, sondern auch die orale Erzählpraxis seiner Zeit vor Augen gehabt (Spinette 1979, 549–561). Vielleicht noch wirklichkeitsnäher erscheint der Erzählrahmen in den Canterbury Tales (um 1400) von Geoffrey Chaucer, der eine sozial bunt zusammengewürfelte Gruppe vom Bettelmönch bis zum Rechtsanwalt vorführt, die sich auf eine Pilgerreise begibt und die Reisezeit mit tradierten Märchen, Schwänken und Legenden würzt, wozu jeder sein Teil beiträgt. Während die „Standespersonen“ meist ernstere Erzählungen vorbringen, bevorzugen die „einfachen Leute“ eher schwankhafte Sujets; und in den Erzählpausen unterhält man sich über Dinge des Alltags, was der Autor dazu nutzt, um – wie schon im Prolog – die Erzähler näher zu charakterisieren. Dabei entsteht zumindest andeutungsweise ein Eindruck davon, wie es damals in England in solchen Erzählrunden im Alltag zugegangen sein könnte, obwohl Chaucer alles in Verse gekleidet hat (Mehl 1979, 1255–1268). Auch im postum (1637) erschienenen Pentamerone des Giambattista Basile sind die Erzählenden benannt: alte hässliche, aber recht zungenfertige Weiber, die der vom Tode erweckte Prinz eigens zum Erzählen angeheuert hat. Die Erzählerinnen und die Erzählsituationen erscheinen jedoch so skurril gezeichnet, dass das (gewollt ?) Fiktive der Darstellung kaum Rückschlüsse auf das zeitgenössische Erzählen zulässt, obwohl das Erzählte den jeweils Erzählenden zugeordnet ist und Basile wohl auch weithin auf die Märchenüberlieferung seiner Zeit zurückgreift (Schenda 1977, 1296–1308). Im Grunde sind jedoch alle genannten Erzählrahmen, obwohl sie die Erzähler/innen vorführen, unter Gesichtspunkten der Erzähler-Forschung wenig oder kaum ergiebig. Dagegen finden wir wenig später in Deutschland eine bislang wenig beachtete Quelle, die Sammlung Gepflückte Fincken Oder Studenten-Confect (1667), die nach Anlage und volkskundlich relevantem Gehalt eine deutliche Ausnahmestellung nicht nur in der deutschen Schwankliteratur des 17. Jahrhunderts (Moser-Rath 1984, 7–55), sondern zeitlich weit darüber hinaus einnimmt und eine eingehendere Betrachtung verdient. Sie bietet nicht nur zahlreiche, wahrscheinlich mündlicher Überlieferung nachge-
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schriebene schwankhafte Erzählungen, sondern auch erstmals eine Art Bericht über die Sammeltätigkeit eines Studenten, in dem er jeweils die Leute benennt, von denen er das von ihm Wiedergegebene gehört hat. Der anonyme Verfasser hat sich zwar in vielem am Vorbild zeitgenössischer Schwankbücher orientiert, als er ebenfalls schwankhaftes Erzählgut zusammentrug und die Sammlung „Seinen Herren Lands-Leuten und andern Studenten / wie auch sonst allerhand reisenden und maulhenckolischen Personen“ anempfahl. Aber der gleichzeitige Hinweis auf dem Titelblatt, es handle sich um „außerlesene / kurtzweilige […] und noch nie im Druck ausgegangene Historien und Possen“, welche er „auf seiner langwierigen / anderthalbjährigen Reise / in unterschiedlichen Gesellschaft gesammlet“ habe, dürfte mehr als eine gängige Floskel sein und den andersartigen Charakter dieses Buches andeuten. Es ist der Bericht eines jungen Mannes aus Bremen, der nach dem Besuch des Collegium Ethicum seiner Vaterstadt auf die Hochschulreise geschickt wird (Prüser 1964, 139 f.) und, von einer Universität zur andern reisend, rheinauf bis nach Basel gelangt, wo ihn die schmal gewordene Börse zur Umkehr zwingt. Was der Leser von den Landschaften und Städten erfährt, durch die der Student auf seiner Reise kam, ist allerdings mehr als dürftig. Denn mehr als alle Sehenswürdigkeiten und Kollegs interessierte ihn offenbar, welche Gesellschaft er unterwegs oder im Wirtshaus antraf und was er an Neuigkeiten und lustigen Geschichten erfuhr: Der Aufenthalt in Kassel und Marburg z. B. wird nur ganz kurz abgetan: „weil die Meß für der Thür / zogen wir auf Franckfurt.“ Wichtiger ist ihm: „Unter Wegen kam ein Wullenknapp / sonst ein wacker Bürschel zu mir / dieser machte mir die Zeit kurtz / erzehlete allerley Sachen / so sich bey ihnen zugetragen / die ich denn alsobald in mein Reise-Register auffzeichnete“ (Fincken 1667, 16 f.). Diese anschließend (Nr. 10 ff.) abgedruckten „Eulenspiegels-Possen“ und „Historien“ (Lokalanekdoten über eine Schelmengestalt und Schwänke), zu denen der Autor, folgt man seiner Darstellung, im Wechsel mit dem Wollenweber verwandte Stücke beisteuerte, füllen mehr als ein Dutzend Druckseiten. Auch über den Aufenthalt in Frankfurt oder über die anschließende Reise mit dem Marktschiff nach Mainz wird kaum mehr mitgeteilt, als dass dort Geschichten erzählt wurden, die jeweils im Wortlaut folgen. Nach seiner Schilderung wurde der junge Student zumeist Ohrenzeuge spontanen Erzählens. So heißt es etwa, als er in Mainz ein Boot besteigt, das ihn nach Bingen bringen soll: „Es kamen unser ein ziemlicher Theil bey einander. Ein Kauffmann von Bingen erzehlet / daß dem Wirth wo er zu Franckfurth logieret / einer durchgangen sey / der ihme etliche Tage habe wohl aufftragen lassen“ (40 f.). Und mit seiner Erzählung lockte er andere hervor: „Von dergleichen Gattung / antwortete der von
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Creutzenach [ein Krämer] / wil ich anjetzo unterschiedliche Stücklein erzehlen / die sich in Warheit nicht gar lang / in unser Nachtbarschafft / darunter zugetragen haben. Und fing darauff an: Es ist neulich einer von Meisenheim in meinem Hause gewesen / der mir gesagt / er kenne einen guten alten Mann/der habe einen Sohn/welcher dem Vater nicht nacharte/ sondern allerley lose Stücklein verübet / damit er die Gurgel wohl salben und schmieren möge“ (Nr. 21 ff.). Auch Zwischenbemerkungen konnten den Erzählfluss in Gang halten: „Das mag mir ein rechter Eulenspiegel seyn / sprach ich / aber wie wird’s noch endlich mit ihm gehen?“ Worauf der vorige Erzähler noch zwei „Stücklein“ anfügte (Nr. 24 f.). Freilich hätte es solchen Anstoßes nicht bedurft, denn „ein Pfältzer von Heydelberg sprach: Ob ich schon von diesen Sachen / wie hier erzehlet / noch nichts gehöret / so hab ich doch sonst offt hören sagen / daß die zu Schlaithal einfältige Leut seynd“, und erzählte einen Schildbürgerstreich (Nr. 26). „Ein Nürnberger / so sich in der Pfaltz lange aufgehalten / und nahe dabey gewohnet / bekräfftigte dieses / erzehlete auch noch etliche andere Historien von Schlaithal“ (Nr. 27 f.), so dass der interessierte Student nur aufmerksam zuzuhören und zu notieren brauchte. Ansonsten fragte er jedoch anscheinend bewusst nach, z. B.: „Da ich nun [auf dem Wege von Bingen nach Köln] zum Thor hinaus wolte / sahe ich einen Bothen vor mir her gehen / den ich fragte wo er hinaus wolte? Und er mir den Bescheit gab / er sey ein Both von Zweybrücken / und wolte nachher Bacherach / hab ich mich zu ihm gehalten […]. Da wir nun auf dem Wege waren/fragte ich ihn um des obgedachten neuen Eulenspiegels/als seines Herrn Landsmanns/in selbiger Gegend verübte Possen/ ob er ihn kenne / und dem also seye? welches er alles bejahete / mit dem Zusatz / daß seine Stücklein nicht alle zu erzehlen wären / und glaubte er / derselbige wäre noch über den Eulenspiegel. Sonsten sagte der Bott / hab ich noch einen solchen saubren Landsmann oder Räckel gekennt / dieser gab sich für einen Philosophum aus“ (55). Damit war jemand zum Erzählen gebracht, der eine Fülle von Geschichten parat hatte, wie sich zeigte: „Nachdem wir also spracheten / kamen wir in ein Dorff / giengen ins Wirtshauß/da zu allem Glück ein paar junge Tauben am Spieß waren […]. Der Bothe sagte: Hie fallen mir zwo Historien ein / die ich neulich erst gehört: Es waren zween bey einander/die von dergleichen delicaten Essen discurirten“ (Nr. 30 f., 33). Nach der mit Schwänken gewürzten Mahlzeit geht es weiter: „Wir machten uns nun auf / daß wir nachher Bacherach kämen / und daselbst den köstlichen Wein versuchten […]. Unterwegen erzehlete er mir noch etliche Stücklein, die ich hieher setzen will“ (Nr. 34, 36). Die Zeit der gemeinsamen Wanderung reicht für diesen Geschichtenvorrat nicht aus: „Als wir nach Bacherach kamen / thaten wir einen guten Trunck vom besten / und da ich gute Gelegenheit auff Cölln fand / begab
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ich mich wieder auf die Reise / wiewohl ich noch nicht gern von dem Bothen Abschied nahm / dann ich merckete daß er mir noch unterschiedliche Stücklein erzehlen wollte / könt es aber nicht endern.“ Die neue Reisegesellschaft verspricht zudem Ersatz: „Auf dem Nachen waren unterschiedliche lustige Bürschlein / die Schnacken genug zu erzehlen wusten“ (66): ein Kaufmannsdiener, ein Barbier- und ein Küfergeselle, ein Soldat, der Schiffer und ein Student, die reihum mehrmals etwas zum Besten gaben (67–94). Studenten sind übrigens die häufigsten Reisegefährten, unter denen sich auch Erzähltalente mit größerem Repertoire befanden wie jener Studiosus, der dem Autor eine Reihe von lokalen Schildbürgergeschichten und Pfaffenschwänken mitteilte (Nr. 110 ff.), so dass dieser wieder bedauerte: „Mein Cammerad nahm Abschied von mir / und wolte auf Speyer / und ferner nach Hauß reisen/ich hätte wünschen mögen/daß er noch mit mir gereiset wäre/denn er war ein artiger Kerl/der von allerley Possen voll stack“ (169). Bezeichnenderweise sind die vorgeführten Erzähler, die viel zu erzählen wissen, neben diesem Studenten und dem schon genannten Botengänger ein wandernder Handwerksbursche (16–31) und ein Diener, der öfter den Dienst gewechselt hat (Nr. 74 ff.), also Leute, die viel herumkamen und dabei Neues hörten und kennen lernten – ein Befund, wie ihn auch spätere Sammler feststellten. Je mehr man in dem Büchlein liest, desto mehr gewinnt man den Eindruck, dass der Autor tatsächlich – wie er es beschreibt – mit besonderer Vorliebe heitere Geschichten hörte und, was ihm gefiel, möglichst rasch aufschrieb, denn Erzähler und Erzählsituationen sind so spezifisch benannt, dass wir es mit großer Wahrscheinlichkeit mit keinem fiktiven Erzählrahmen, sondern mit Selbsterlebtem und Selbstgehörtem zu tun haben. Auch die mitgeteilten Erzählungen enthalten noch viel vom Duktus mündlichen Erzählens, obwohl sie für den Druck wahrscheinlich sprachlich geglättet wurden (Neumann 1981, 135–142). Da liegt der Versuch nahe, aus dem von den angeführten Erzählern Erzählten Näheres über sie zu erfahren, um so im Nachhinein Erzählerpersönlichkeiten in der Vergangenheit zu konturieren. Im 18. Jahrhundert fasste der Weimarer Gymnasiallehrer Johann Karl August Musäus den Plan, Volksmährchen der Deutschen (1782 ff.) zu publizieren, wozu er zuvor „eine Menge alter Weiber mit ihren Spinnrädern um sich her versammelte, sich in ihre Mitte setzte, und von ihnen mit ekelhafter Geschwätzigkeit vorplaudern ließ, was er hernach so reizend nachplauderte. Auch Kinder rief er oft von der Straße herauf, wurde mit ihnen zum Kinde, ließ sich Mährchen erzählen, und bezahlte jedes Mährchen mit einem Dreyer“, wie sein Neffe August Kotzebue berichtet (zitiert
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nach Jahn 1914, 23). Doch Musäus ging es nicht um die Erzählenden, sondern lediglich um die Erzählstoffe, die er nach eigenem Gutdünken ausfabulierte, während seine Quellen im Dunkeln bleiben, so dass keine Ansatzpunkte vorhanden sind, seine Gewährsleute als Erzähler/innen zu fassen (Musäus 1782 ff.; Lox 1999, 1025–1030). Das ist im Grunde auch noch in den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm (1812, 1815) schwierig, die ihren Lesern lediglich ihre beste Erzählerin, die Schneidersfrau Dorothea Viehmann, (wenn auch als Bäuerin) vorstellten, ohne jedoch eindeutig zu sagen, welche Märchen sie ihr verdankten, was sich letztlich erst im Nachhinein erschließen ließ (Lauer 1998, 37 f.; Uther 2008, passim). Zu den übrigen Quellen finden sich lediglich knappe Hinweise im Handexemplar der Brüder, die zum Teil missverständlich sind, so dass es geradezu kriminalistischen Spürsinns bedurfte, um zu erkennen, dass nicht, wie lange angenommen, die „Alte Marie“ im Hause Wild, sondern die junge Marie Hassenpflug mit dem Eintrag „Marie“ gemeint war (Rölleke 1975). Zudem machen es die häufigen Kontaminationen von Märchentexten unterschiedlicher Herkunft und deren Stilisierung durch Wilhelm Grimm schwierig, von Inhalt und Form der gebotenen Texte auf Erzählkunst und Aussagewollen der Erzähler/innen rückzuschließen, obwohl es sich zum Teil, etwa im Fall des alten Wachtmeisters Krause, zumindest anböte (Neumann 1986, 60 f.). Dagegen geht Ernst Moritz Arndt in seinen zweibändigen Mährchen und Jugenderinnerungen (1818/42, 1843) ganz betont auf einige der ländlichen Arbeiter ein, von denen er in der Jugend einen Teil seiner Sagen und Märchen gehört haben will. Besonders eingängig ist die Schilderung der beiden anscheinend kenntnisreichsten Erzähler in Kindshagen bei Barth, die Arndt miteinander vergleicht: Johann Geese, dat was een ganz anner Minsch as Jochen Eigen, de woll god vörtellen kunn as een plappernder Papagei, äwerst ut egnen Gedanken begrep he weinig edder nicks un was een dämeliger Düsing. Johann Geese was man een schlichter Kathenmann edder Inligger, de van sinem Spaden un Döschflegel lewte, äwerst an Verstand un Sinn was he een egen Minsch un van de Årt, de man nich alle Dag up de Strat findt. He was een langer starker Kerl mit eenem groten breden Gesicht un groten himmelblagen Oogen, worut he sehr fründlich äwerst ook sehr deepsinnig un nahdenklich lachen un kieken kunn. Wat he wüßt, dat kunn he licht un klar vörtellen, as wer’t eene Fabel west, sin Kopp was klüftig un anslägsch, un wat sine Oogen segen, kunnen sine Händ maken. Un vörtellen kunn Johann Geese – mennig Mann hett sinen Vader veel Geld kost’t un fief edder tein Jåhr up Scholen un Ulenversteten legen un’t doch dårin so wiet nich bröcht as disse Kathenmann. Johann un ick weren gode Fründe, un he hett mi mennig lustig Dönken un Leuschen vörtellt un van geistlichen Dingen noch mehr mit mi spraken. He was van Natur een sanftmödig schicklich un fin Minsch, de sick
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mit allen Dingen un mit allen Minschen to behelpen wüßt, dåbi een rechtschaffen Christ un still un andachtig […] Dorüm vertellde he am leewsten sonne Geschichten, worin de Lüde sick spegeln un worut se leeren kunnen (Arndt 1843, 66–68).
An anderer Stelle wird geschildert, wie die beiden Erzähler in einer Vesperpause während der Getreidemahd mit ihren Geschichten konkurrieren, wobei auch ein Eindruck von der Erzählsituation entsteht, die so genau erfasst ist, dass Arndt sie in dieser oder in ähnlicher Form beobachtet haben dürfte (Arndt 1843, 5–19). Mögen sich in der Altersrückschau mitunter auch Wahrheit und Dichtung mischen, so zeichnet er wahrscheinlich doch ein weitgehend realistisches Bild mehrerer Erzähler und Erzählgelegenheiten, an die er sich erinnert. Wir haben es hier deshalb ebenfalls mit einer volkskundlich kaum genutzten Quelle zu tun, die uns auf bisher nicht beachtete Erzählerpersönlichkeiten „im Volk“ verweist, auch wenn längst nicht alle abgedruckten Texte einem Erzähler zugeordnet werden können und sich zum Teil wohl erheblich von dem entfernen, wie sich die Gewährsleute geäußert haben dürften (Neumann 2006, 87–102). In den nachgrimmschen, als volkskundlich wahrgenommenen deutschen Sammlungen des 19. Jahrhunderts begegnen nur gelegentlich pauschale Hinweise auf die Gewährsleute, die fast immer anonym bleiben (Neumann 1982, 2, 308–310). Doch der Aufzeichner Wilhelm Wolf nennt die Namen einiger besonders kenntnisreicher und begabter Erzähler und geht näher auf sie ein: „Wenige ältere Leute wurden meine Quellen, so der brave ehemalige Müller Gans in Jugenheim, der zu Hause und auf Feldzügen einen reichen Schatz von Ueberlieferungen gesammelt hat und dieselben sehr schön und mit größter Treue wieder erzählt, der Schmied Schmidt in Balkhausen, der von seinen Wanderjahren her ihrer eine große Fülle bewahrt. Auch ein Zigeuner, Bletz heißt er, brachte sie mir zu Dutzenden ein und auch aus aller Herren Länder, doch weiß er genau wo und wann er jedes einzelne Stück gehört hat. Besonders viele dankt er seiner Mutter, welche ihm ebenfalls stets dabei erzählte, bei welcher Gelegenheit sie dieselben gelernt […]. Im Sommer ist Korbflicken seine Arbeit, im Winter aber thut er wenig oder gar nichts; dann zieht er als fahrender Erzähler in den Spinnstuben herum und ist überall froh begrüßt […]. Von ihm und den beiden andern vorhin Genannten ist fast ein Drittel der Sammlung“ (Wolf 1858, VIII f.). Aber wer was erzählte, hat auch Wolf nicht vermerkt, so dass sich keine genaueren Erzählerprofile erstellen lassen. Selbst Ulrich Jahn, so verdienstvoll der Bericht über seine Märchenerzähler auch ist, bleibt im Allgemeinen und stellt lediglich einen Erzähler näher vor, einen Knecht, von dem wir jedoch auch nur erfahren, dass er das ihm anvertraute Vieh gut versorgte und und sich, wiewohl nur ehemaliger Trainsoldat, als roter
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Husar fühlte, weshalb die Helden in all seinen Märchen rote Husaren waren (Jahn 1891, Einführung). Aber gerade von diesem Erzähler finden sich im gedruckten Teil der Sammlung keine Texte, die das veranschaulichen könnten. Andere erfolgreiche Sammler des späten 19. Jahrhunderts wie Wilhelm Wisser, den Ranke als positives Beispiel anführte (Ranke 1933, 206), oder Richard Wossidlo, der geradezu zur Sammlerlegende geworden ist, haben sich ebenfalls beeindruckt über ihre Erzähler geäußert (Wossidlo 1906; Wisser 1926), jedoch im Unterschied zu ihren Vorgängern zu den aufgezeichneten Texten auch vermerkt, wer sie ihnen wann und wo erzählte. Aber ihnen ging es ebenfalls noch ganz vordergründig um die Texte, die sie primär als Zeugnisse der Überlieferung sahen und durch den Vermerk von Gewährsperson und Aufzeichnungsort gleichsam lokalisierten. In einigen Fällen fanden sich zwar im Wossidlo-Archiv ergänzende Notizen Wossidlos oder seiner Beiträger bzw. mitnotierte autobiographische Äußerungen der Gewährsleute, so dass es möglich war, bei gleichzeitiger Auswertung der Aussage vorhandener Erzähltexte biographische Skizzen einzelner Erzähler zu zeichnen (Neumann 1964, 77 f.; ders. 1971, 28 f., 32). Befriedigender gerieten diese Miniporträts allerdings, wenn zudem Informationen von Nachkommen der Erzähler in die Darstellung mit einfließen konnten (Neumann 1964, 75–77). Dass jedoch auch beim Fehlen näherer Angaben über einen Erzähler, d. h. allein nach Maßgabe der archivierten Erzähltexte, Erzähler-Forschung im Nachhinein sinnvoll sein kann, lässt eine Studie Kathrin Pöge-Alders erkennen (Pöge-Alder 1999, 334–342). Denn in der Regel griffen die Erzähler doch wohl vorrangig Sujets der verschiedenen Gattungen der Erzählüberlieferung auf, die ihnen etwas sagten und mit denen sie etwas sagen konnten (Röhrich 1985), so dass von der Aussage des erfassten Erzählguts der jeweiligen persönlichen Repertoire in gewisser Weise auf das Aussagebedürfnis der Erzählenden rückgeschlossen werden kann. Relativ günstige Voraussetzungen dafür bietet die Sammlung Wissers. Er hat zwar die von ihm publizierten Märchen und Schwänke (Wisser 1914, 1927) oft für den Druck bearbeitet oder aus verschiedenen Fassungen kontaminiert, was er zum Teil selbst ausweist (Wisser 1927, 321–325); aber er hat eben auch die jeweiligen Erzähler namhaft gemacht, ausführlich über seine Sammelarbeit berichtet (Wisser 1926) und die dabei getätigten Aufzeichnungen (nach der Handschrift in Maschinenschrift übertragen) für die wissenschaftliche Auswertung bewahrt. Dieses Material ist zudem im Rahmen des Projekts „Schleswig-holsteinische Volksmärchen“ (Ranke 1955–1962; Hubrich-Messow 2000–2007) zuverlässig ediert, kommentiert und mit Erzählerverzeichnissen versehen worden. Dadurch besteht eine Übersicht darüber, welche Sujets die einzelnen Erzähler/innen
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Wissers in ihrer jeweils eigenen Art zum Besten gaben, so dass sich allein vom Repertoireumfang erzählfreudige, in der Tradition stehende Männer wie der Maurer Johann Hünike in Neustadt (Wisser 1926, 22 f.), der Heizer Georg Rump in Lütjenburg (ebd., 24 f.) oder der beim Erzählen frei fabulierende Tagelöhner Hans Lembke in Lensahn (ebd., 15 f.) bzw. Wissers Erzählerinnen Frau Schloer in Griebel (ebd., 6 f.) oder Christine Block in Johannistal (ebd., 13) auch im Nachhinein noch näher als Erzählerpersönlichkeiten erfassen und beschreiben ließen. Wege dazu veranschaulicht der anregende Versuch von Ines Köhler-Zülch, die bevorzugten Erzählstoffe und typischen Aussagen der weiblichen Informanten Wissers zu bestimmen (Köhler-Zülch 1991). Denn in der Tat „sprechen bereits Auswahl und Beherrschung des Stoffs für Interesse und eigene Gestaltungskraft der Gewährsleute“, obwohl natürlich, soweit noch möglich, „auch der Anteil persönlicher Momente einerseits und lokaler Traditionen wie literarischer Einflüsse andererseits näher zu bestimmen“ (ebd., 112) versucht werden sollte. Die Auswertung der bedeutenden Erzählgutsammlung des Dänen Ewald Tang Kristensen durch Bengt Holbek in seinem Werk „Interpretation of Fairy Tales“ beruht weithin auf diesen Prinzipien. Für ihn bildeten neben dem jeweiligen Zaubermärchen-Repertoire von 127 Erzähler/innen (Holbek 1987, 94–139) deren sozialer Status und die damit verbundenen Lebensbedingungen (ebd., 146–150) sowie die Zeitumstände im Allgemeinen (ebd., 151–168) die wesentlichen Ausgangspunkte für die Analyse der bislang nur an den gesammelten Texten gemessenen Erzählvorgänge, als deren wesentlichen Faktor er die Erzähler als Träger und Gestalter der Überlieferung in ihrem jeweiligen Aussagewollen sah. Das wird nach einer eingehenden Methodendiskussion am Beispiel der unterschiedlichen Märchenauffassung und -darstellung von fünf beeindruckenden Erzählerpersönlichkeiten, drei Männern und zwei Frauen, exemplifiziert (ebd., 500–575). Kristensen hat allerdings schon im 19. Jahrhundert biographische Daten zu seinen Erzählern notiert (und Fotos von ihnen gemacht), so dass Holbek seine Repertoireanalysen in Bezug dazu setzen konnte. Geradezu ein methodisches Musterbeispiel für Erzähler-Forschung im Nachhinein stellen jedoch die Recherchen der Finnlandschwedin Gun Herranen über den schon genannten blinden und im Alter zudem gehörlosen Berndt Strömberg dar. Dessen großes Erzählrepertoire war von zwei Sammlern, die nichts voneinander wussten, aufgezeichnet worden (147 Texte) und wurde zum Teil unter typenbezogenen Gesichtspunkten publiziert, ohne dass der Name des Erzählers dabei auftauchte. Die Forscherin wurde durch biographische Notizen, die der zweite Aufzeichner, ein Lehrer Wellmann, von Strömberg gemacht hatte, auf den 1910 verstorbenen Erzähler aufmerksam und fand nach langwieriger Sucharbeit die
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Originalaufzeichnungen der Texte, so dass sie ihm die anonym gedruckten Erzählungen zuordnen und gleichsam als ersten Schritt eine Übersicht über sein Erzählrepertoire geben sowie kurz über ihn berichten konnte (Herranen 1984/89). Durch das Auffinden noch lebender Personen, die Strömberg gekannt hatten, und die Suche in Archiven kamen weitere Fakten über sein Leben und seine Persönlichkeit zusammen, so dass es in einem zweiten Schritt möglich wurde, ein detailliertes Lebensbild dieses schwerbehinderten, psychisch von seiner Erzählgabe lebenden Mannes zu zeichnen und die persönlichkeitsbedingten Eigenarten seines Erzählens zu bestimmen (Herranen 1989), die, speziell hinsichtlich seines Realitätsbildes, weithin von seiner Blindheit geprägt waren (Herranen 1993). Die Schwierigkeit solcher nachträglichen Recherchen und die Faktenfülle mancher primären Erzählermonographien (Pentikäinen 1976; Tolksdorf 1980) machen bei der Rückschau auf die Frühzeit der eigenen Feldforschung (Neumann 1969, 1990) schmerzlich bewusst, selbst viel zu wenig biographische Daten erhoben, das autobiographische Erzählen der Gewährsleute (Cammann 1972; Brednich 1979; Schenda 1981) nicht genügend beachtet und neben ihren Sagen, Märchen und Schwänken die Alltagserzählung und deren Erzähler (Bausinger 1977, 323–330; Lehmann 1978) auch nur randweise im Blick gehabt zu haben. Hier liegen die Schwächen bisheriger und die Chancen künftiger Erzähler-Forschung.
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Ulrich Mölk
Zweimal „Stilisierung“: Gerhard Gesemann und Hans Robert Jauß Es gehört zu den Merkwürdigkeiten der deutschen Literaturwissenschaft, und damit auch der deutschen Erzählforschung, dass der für die Textinterpretation, zumal für die Interpretation der Bedeutung und Funktion von literarischen Motiven unentbehrliche Begriff „Stilisierung“ auch heute noch nicht allgemeine Anerkennung gefunden hat.1 In einem vor wenigen Jahren veröffentlichten Beitrag konnten wir zeigen, dass Hans Robert Jauß den Begriff in spezifischer Weise für die literaturwissenschaftliche Forschung nutzbar gemacht hat (Mölk 2004, 395–399). Wir müssen jetzt hinzufügen, dass Jaußens Initiative, ohne dass er oder andere Romanisten darum wussten, bereits der zweite deutsche Versuch war, die Verwendung dieses Begriffs für bestimmte Aspekte der Textgenese und der Textinterpretation zu empfehlen. Der erste Versuch ist in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts von Gerhard Gesemann gemacht worden; dieser Versuch ist indessen, soweit wir sehen, ohne Resonanz geblieben. Zu ihm wollen wir uns zunächst äußern; in einem zweiten Abschnitt erinnern wir, mit einzelnen Korrekturen und Ergänzungen gegenüber dem genannten Beitrag, an die diesbezügliche Leistung von Jauß.
1) Gerhard Gesemann Auf den Namen Gerhard Gesemann stießen wir vor kurzem bei der Durchsicht des schönen Bandes der gesammelten Schriften von Milman Parry, den sein Sohn Adam Parry herausgegeben hat (Parry 1971).2 Der 1 2
Immerhin verwendet Hermann Bausinger den Begriff einmal (Bausinger 2007, 1310), während Natascha Würzbach (1998) ohne ihn auskommt. Über Milman Parry siehe auch Foley 2001, 587–590. – Der bedauerliche Umstand, dass wir den Band erst „vor kurzem“ in der Hand hatten, ist der Grund dafür, dass in unserem Artikel in der Enzyklopädie des Märchens (Mölk 2008) der Vorschlag Parrys unerwähnt blieb, theme als eine der epischen Formel übergeordnete semantische Einheit zu definieren, ein Gedanke, der von seinem Schüler Albert Lord weiterentwickelt worden ist (Lord 1960, 68–98).
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Band enthält erwartungsgemäß auch Parrys wichtige Studie von 1932 über „The Homeric Language as the Language of an Oral Poetry“ (Parry 1971, 325–364). In dieser Studie nennt Parry diejenigen Philologen, die in ihrem jeweiligen Kompetenzbereich die Improvisationskunst volkstümlicher Sänger untersucht haben, u. a. den Österreicher Mathias Murko und die Deutschen Wilhelm Radloff und Gerhard Gesemann.3 Dass in dem von Parry aus einem Aufsatz Gesemanns angeführten deutschsprachigen Zitat das Wort „Stilisierung“ begegnete (Parry 1971, 334f., Anm. 2), überraschte uns und war der Anlass für eine etwas genauere Beschäftigung mit dem Aufsatz und seinem Verfasser. Gerhard Gesemann (1888–1948) wandte sich erst nach seinem germanistisch-volkskundlichen Studium (Promotion in Kiel 1913) der Slavistik, besonders der Serbokroatistik, zu.4 Seiner Habilitation (München 1920) aufgrund einer kritischen Ausgabe der von seinem Lehrer Erich Berneker in Erlangen aufgefundenen Sammlung serbokroatischer Lieder (Berneker 1914, 7) folgte nach kurzer allgemein slavistischer Lehrtätigkeit als Privatdozent 1922 die Berufung an die Deutsche Universität in Prag. In seinen Veröffentlichungen, auch der Habilitationsschrift (Gesemann 1925), verwendet Gesemann den Begriff ‚Stilisierung‘ zunächst nicht. Dies geschieht erst in dem von Parry zitierten Aufsatz von 1926, der folgenden Titel hat: „Kompositionsschema und heroisch-epische Stilisierung. Ein Beitrag zur improvisierenden Technik des epischen Sängers“ (Gesemann 1926 und Gesemann 1981, 295–326). ‚Stilisierung‘ nennt Gesemann die künstlerische Darbietung des einem Volksepos zugrunde liegenden oder postulierten historischen Ereignisses durch den „Volkssänger“ (der reine Bericht von diesem Ereignis gilt Gesemann als „unstilisiert“). Sie verlangt ein „unmittelbares Schöpfen und Schaffen“ aus dem Geist der „Kultur- und Kunstgemeinschaft“. Schon die Verwendung eines für das Epos charakteristischen „Kompositionsschemas“ (zum Beispiel der Feenruf, die Rabenbotschaft oder Traum und Traumdeutung) ist ‚Stilisierung‘. Der Begriff ist jedoch umfassender und, vor allem, funktional gedacht; er meint die gesamte Gestaltung des epischen Geschehens in einer einheitlichen stilistisch-ideologischen Ausrichtung, die „heroisch“, „feudal“ oder auch „mythisch“ (usw.) erfolgen kann. Im Dienst der verschiedenen Stilisierungsmodi stehen natürlich bestimmte ‚Motive‘; jedoch ist es nach Gesemann für die zukünftige Forschung weniger lehrreich, einzelne Motive in den Volksepen verschiedener Kulturen miteinander in Beziehung zu setzen als die in ihnen „bereits ausge3 4
Von ihnen ist Radloff eines Artikels in der Enzyklopädie des Märchens für würdig befunden worden (Doerfer 2003), Murko und Gesemann nicht. Siehe den von seinem Sohn Wolfgang verfassten ‚Lebensabriß‘ (Gesemann 1979, 110–115).
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arbeiteten Stile“. Man erkennt sofort, dass Gesemanns Begriff der Stilisierung im sprachlichen Sinn ganzheitlich, also funktional, gemeint ist und dass er sich mit diesem Forschungsansatz von der älteren volkskundlichen Motivforschung energisch absetzt. Dem eigenen Programm ist Gesemann in späteren Arbeiten nicht gefolgt; auf seinen neuen Begriff kam er nur gelegentlich zurück (Gesemann 1981, 192 f.). Auch scheint er keinen seiner Schüler oder Mitarbeiter zur Ausweitung oder Vertiefung des Programms angeregt zu haben. Vielleicht ist eine andere Frage interessanter: wem verdankt Gesemann den neuen Begriff? Dass er ihn von anderer Seite übernommen hat, ergibt sich zweifelsfrei aus dem Einleitungssatz seines Aufsatzes: er spricht dort nämlich von der „sogenannten“ (unsere Kursive) „Stilisierung“, also von anderen oder einem anderen so genannten ‚Stilisierung‘. Wer ist damit gemeint? Die Antwort auf diese Frage fällt leicht, wenn man sich die Prager wissenschaftliche ‚Szene‘ in den 1920er Jahren vor Augen führt. Sie wird maßgeblich durch die russischen und ukrainischen akademischen Emigrés bestimmt. Dmitrij Tschižewskij besuchte Prag 1924, Viktor Šklovskij 1922, Roman Jakobson hielt sich bereits seit 1920 dort auf. Jakobson hatte besonders engen Kontakt zur Slavistik der Deutschen Universität; er erwarb an dieser (nicht an der tschechischen, an der seit 1920 immerhin Murko lehrte) Universität den Doktortitel, wurde Mitarbeiter der von Gesemann begründeten Slavischen Rundschau, veröffentlichte von 1921 an in Prag mehrere kleinere und größere Arbeiten. Bei den russischen ‚Formalisten‘ taucht der uns interessierende Begriff früh auf, zum Beispiel 1918 bei Boris Ejchenbaum: СТИЛИЗАЦИЯ (Striedter 1969, 146); Jakobson, dem der Begriff vertraut gewesen sein musste, hat ihn höchstwahrscheinlich an Gesemann vermittelt.5
2) Hans Robert Jauß In seiner gehaltvollen in spätere Sammelbände leider nicht aufgenommenen Kritik an Harald Weinrichs Monographie (Weinrich 1958) führt Hans Robert Jauß das Problem, an dem Weinrich gescheitert war, einer glänzenden Lösung zu: Weinrich konnte sich nicht erklären, wieso das nach seiner Ansicht komische Motiv der Liebeskette in Racines Andromaque tragisch wirkt.6 In Erinnerung an André Jolles, der der sprachlichen Realisierung der neun von ihm so genannten ‚Einfachen Formen‘ bestimmte jeweils nur 5 6
Zu Jakobson in Prag besonders Toman 1994, XIV, 46 und öfter. Weinrich hat für die Neufassung seiner Interpretation (Weinrich 1971, 45–56) die Kritik von Jauß kaum berücksichtigt; siehe auch unsere ältere Bemerkung (Mölk 1996,180 f.)
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die einzelne Form charakterisierende ‚Sprachgebärden‘ zuweist7, sagt Jauß: „Figuren und Begebenheiten, aber auch Motive, sind im literarischen Kunstwerk […] nicht konstante Bedeutungsträger von inhärenter Komik oder Tragik, sondern werden allererst durch die Sprachgebärde (in den ‚Einfachen Formen‘) oder durch das Prinzip der Stilisation (in den Kunstformen der Gattungen) in ihrer Bedeutung qualifiziert, bzw. durch den modus dicendi als ‚komisch‘ oder ‚tragisch‘ aufzufassen dargestellt“ (Jauß 1958, 389). Bevor wir die Bedeutung dieser Feststellung präzisieren, ist in zwei Punkten eine Kritik angebracht: 1) Man braucht nicht zwischen Figuren, Begebenheiten und Motiven zu unterscheiden; es sind alles ‚Motive‘, vorausgesetzt, dass man – übrigens ganz im Sinne Goethes – den literaturwissenschaftlichen Motivbegriff als eine Struktur auf der Bedeutungsebene definiert, d. h. von einer bestimmten sprachlichen Realisierung im Text löst.8 2) Der von Jauß zitierte Begriff ‚Sprachgebärde‘ ist dem der ‚Stilisation‘ oder des ‚modus dicendi‘ nicht homolog. Jolles hat für das, was Jauß hier ‚Stilisation‘ (und, überflüssigerweise, auch ‚modus dicendi‘) nennt, keinen literaturwissenschaftlichen Begriff; er hat davon aber sehr wohl eine klare Anschauung, wie folgendes Zitat zeigt: „[…] man stelle eine Prinzessin im Märchen neben eine Prinzessin in der Novelle und man spürt den Unterschied“ (Jolles 1958, 236). Jolles’ Begriff der Sprachgebärde meint das in der Perspektive der jeweiligen ‚Geistesbeschäftigung‘ generierte, nur für die jeweilige ‚Einfache Form‘ konstitutive sprachliche Element, bei der Legende zum Beispiel ‚Rad mit scharfen Klingen‘, ‚himmlische Stimme‘, ‚eine Erscheinung im weißen Kleide, die hilfreich die Hand ausstreckt‘ usw. In unserem Verständnis sind das alles ‚Motive‘. Die Frage, ob eine bestimmte Motivreihe für bestimmte Gattungen bezeichnend ist, brauchen wir hier nicht zu erörtern. Wichtiger ist in unserem Zusammenhang die andere Frage, ob Jaußens Terminus der ‚Stilisation‘ hier nicht ausreicht: das Motiv der ‚himmlischen Stimme‘ erscheint in der Legende in bestimmter ‚Stilisation‘, die Prinzessin erscheint im Märchen in anderer ‚Stilisation‘ als in der Novelle. Jolles‘ Begriff der Sprachgebärde liegt im übrigen von unserem Motivbegriff gar nicht weit entfernt. Jolles vermeidet nämlich das Wort ‚Motiv‘ nur deswegen, weil er die zeitgenössische literaturwissenschaftliche Motivforschung für oberflächlich und deren Motivbegriff für unklar hält (Jolles 1958, 45 und 268). Anders steht es um die Junktur 7
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Wir zitieren diese Abhandlung von 1930 nach der „zweiten“ (in Wahrheit: dritten) Auflage, Darmstadt 1958. – Für alle Beschäftigung mit Jolles ist das Werk von Thys (2000) grundlegend; außerdem sei auf die ausgezeichnete, zudem mit nützlichen Anmerkungen versehene französische Übersetzung der Einfachen Formen hingewiesen (Jolles 1972). Diesen Punkt haben wir in den letzten Jahren mehrmals diskutiert, vielleicht am bündigsten in unserem Lexikon-Artikel (Mölk 1996, 1320–1337).
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‚musikalisches Motiv‘; er verwendet sie bei der Erklärung des von ihm geprägten Begriffs der Sprachgebärde, für den er sich auf Nietzsche beruft: „Nietzsche definiert das musikalische Motiv als ‚die einzelne Gebärde des musikalischen Affekts‘“ (Jolles 1958, 45).9 Das Zitat, ohne Quellenangabe und in nicht ganz korrektem Wortlaut, steht in einem Brief Nietzsches (Winter 1884/85) an den Pianisten und Musikwissenschaftler Carl Fuchs und lautet: „Der Verfall des melodischen Sinns, den ich bei jeder Berührung mit deutschen Musikern zu riechen glaube, die immer größere Aufmerksamkeit auf die einzelne Gebärde des Affekts (ich glaube, Sie heißen das ‚Phrase‘, mein lieber Herr Doktor?), ebenfalls die immer größere Fertigkeit […], den Moment so überzeugend wie möglich zu gestalten“ (Nietzsche 1956, 1225). Diese Stelle, aber keineswegs Jolles’ NietzscheZitat, macht deutlich, dass die von Nietzsche beobachtete und für die moderne Musik, zumal für Wagner, charakteristische Belebung der kleinen Einheit auf Kosten des Ganzen durch und durch negativ gemeint ist. Nietzsche wiederholt diese Kritik in einem Brief an denselben Adressaten (26. August 1888) und ausführlich in seiner Schrift Der Fall Wagner aus demselben Jahr. Interessant ist dabei für uns, dass er, wenn er die musikalische Bedeutung des Wortes ‚Motiv‘ meint, dieses Wort in Anführungsstriche setzt, weil er es für ungeeignet hält; über das Wagnerische ‚Leitmotiv‘, ebenfalls in Anführungsstrichen, schüttet er seinen ganzen Spott aus. Man sieht, dass es für beide Autoren, für Nietzsche wie auch für Jolles, bestimmte in ihrer Kunstauffassung, aber auch in der jeweiligen Fachsprache liegende Gründe gab, von dem Wort ‚Motiv‘ als Bezeichnung für die bedeutungsvolle kleinste Einheit eines größeren Ganzen Abstand zu nehmen. Wer die europäische Begriffsgeschichte von ‚Motiv‘ kennt, braucht diese Bedenken nicht zu haben (Mölk 1991, 91–120, und Mölk 1992). Kehren wir zu Jaußens Begriff der ‚Stilisation‘ zurück! Jauß hat diesen Begriff in die deutsche Literaturwissenschaft eingeführt. In seinen späteren Arbeiten kehrt das Wort wieder, wird gelegentlich durch (das uns viel geeigneter erscheinende) ‚Stilisierung‘ ersetzt, häufiger durch die schon zitierte Formel ‚modus dicendi‘. Im Einleitungskapitel seines ProustBuchs, in dem er ohne Rekurs auf Jolles dasselbe Problem der Darstellungsform diskutiert, hatte er vom ‚principium stilisationis‘ gesprochen, welcher (etwas künstliche) Ausdruck in der Rezension ins Deutsche übersetzt ist (Jauß 1955, 17). 9
Vgl. auch Hermann Bausinger (2007, 1092), der den Begriff als von Jolles „eingeführt“ bezeichnet, allerdings, wie hinzuzufügen ist, nur in der von diesem definierten (metaphorischen) Bedeutung. Die Wortkomposition selbst ist älter. Sie begegnet zum Beispiel bei Wilhelm Wundt, der das vorsprachliche „Hindeuten auf die Gegenstände“ „zum Zweck der Mitteilung“ (also unmetaphorisch) ‚Sprachgebärde‘ nennt (Wundt 1911, 166); es scheinen aber keine Verbindungslinien von Jolles zu Wundt zu bestehen.
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Warum sagt Jauß zunächst Stilisation und nicht, was im Deutschen näherliegen würde, Stilisierung, zumal dieses Wort seit dem 19. Jahrhundert, wenigstens in der Kunstwissenschaft, durchaus üblich war?10 Die Wortform weist auf das Französische, auf den damals seit etwa zwanzig Jahren in der Literaturkritik und auch in der Literaturwissenschaft eingeführten Begriff stylisation. Hier einige wichtige Belege: 1) Albert Camus, L’Homme révolté (1951). – In dem Kapitel Révolte et style des IV. Teils (Révolte et art) gebraucht Camus das Wort fünfmal, immer in dem Sinn, dass es die besondere künstlerische Darbietung des Gegenstands meint. Die erste Stelle lautet: „Quelle que soit la perspective choisie par un artiste, un principe demeure commun à tous les créateurs: la stylisation, qui suppose, en même temps, le réel et l’esprit qui donne au réel sa forme“ (Essais, Paris, Gallimard, 1965, S. 674). 2) Jean-Paul Sartre, M. François Mauriac et la liberté, in: Situations, I, Paris, Gallimard, 1947, S. 36–57. – Sartre wirft Mauriac vor, dass seine Romandialoge die der Gattung adäquate Darstellungsweise verfehlen: „Le roman ne s’accommode point de ces grâces-là [gemeint ist die ‚coupe de phrase chère aux auteurs comiques du XVIIIe siècle‘]. Ce n’est pas qu’on y doive parler comme dans la vie; mais il a sa stylisation propre“(S. 54). Das Kapitel ist unveränderter Wiederabdruck eines Aufsatzes aus dem Februarheft 1939 (= Nr. 305) der Nouvelle Revue Française; es handelt sich also um einen recht frühen Beleg. 3) Albert Thibaudet, Histoire de la littérature française de 1789 à nos jours, Paris, Stock, 1936. – In diesem Werk, in dem stylisation sogar einmal als Kolumnentitel (style et stylisation) und auf derselben Seite als eingerücktes Stichwort eines Abschnitts (stylisations) erscheint (S. 37, beide Male mit Bezug auf Chateaubriand), sind uns drei Passagen aufgefallen, in denen das Wort immer die besondere literarische Darbietungsweise bezeichnet. Das gilt auch für die Ausführungen über Chateaubriand, 10
Zum Beispiel verwenden es Jacob Burckhardt („byzantinische Stilisierung“: Der Cicerone, Neudruck, Stuttgart 1964, S. 691), Alois Riegl (Stilfragen. Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik, Berlin 1893), Theodor Lipps (Ästhetik. Psychologie des Schönen und der Kunst. Erster Teil: Grundlegung der Ästhetik, Hamburg 1903, bes. S. 259–265) und Wilhelm Worringer (Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie, Neuwied 1907). Aby Warburg und seinem Umkreis war das Wort geläufig („klassische Stilisierung“: siehe E. H. Gombrich, Aby Warburg. An Intellectual Biography, Chicago 21986, S. 104), auch Jolles, der es vielleicht durch seinen Kontakt mit Warburg kennen gelernt hat, benutzt es früh („archaische Stilisierung“: Wege zu Phidias, Berlin 1918, S. 26). Philologen scheinen es dagegen eher selten zu verwenden, und zwar nur in dem Sinne der Orientierung an einem literarischen Stilmuster (zum Beispiel „homerische Stilisierung“ bei Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf, Der Berg der Musen, in: Deutsche Rundschau, 199 [1924] 133). – Andere Belege in: Deutsches Fremdwörterbuch, begonnen von Hans Schulz, fortgeführt von Otto Basler, weitergeführt im Institut für deutsche Sprache Bd. 4, Berlin 1978, S. 465–467.
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da dessen Modus der Selbstdarstellung nur sein literarisches Ich, das Ich seiner autobiographischen Schriften, meint, nicht jedoch, wie Thibaudet betont, seine Lebenswirklichkeit. Die beiden anderen Stellen betreffen Alfred de Vigny und Gustave Flaubert: (über Vignys La Colère de Samson) „La stylisation et l’habitude du mythe risquent de nous faire imputer à la femme ce qui s’applique ici à une femme“ (S. 144); (über Flauberts Education sentimentale) „Mais quelles transformations, quelles stylisations! D’abord, si Flaubert utilise en Frédéric Moreau sa vie, son expérience personnelle, son amour pour Mme Schlesinger, il se garde de faire de son héros un écrivain comme lui […]“ (S. 338f.). In früheren Veröffentlichungen von Thibaudet ist uns die Verwendung von stylisation nicht aufgefallen. Wie man sieht, verwendet Thibaudet (wie auch Camus) den Begriff stylisation im Zusammenhang der Bezeichnung des Abstands zwischen Lebenswirklichkeit (zum Beispiel in der Form autobiographischen Materials) und der sie transformierenden künstlerischen Darstellung; man sieht auch, dass stylisation gattungsspezifische Implikationen hat – ein Aspekt, der bei Sartre, da der Gegenstand des besprochenen Romans von Mauriac fiktiv ist, noch deutlicher zum Ausdruck kommt. Wir vermuten deshalb, dass dieser französische Beleg von 1939/1947 Jauß, dem Sartres Schriften vertraut waren, zu seiner Entlehnung angeregt hat. Wir müssen jedoch betonen, dass die streng literaturwissenschaftliche, nämlich motivanalytische und gattungstypologische Nutzung des Begriffs, so wie sie uns in seiner Rezension und auch später entgegentritt, sein Eigentum ist. Die deutsche Germanistik hat daraus, wie es scheint, keinen Nutzen gezogen: Stichproben zeigen, dass, wenn überhaupt von Stilisierung die Rede ist, immer noch die frühe Bedeutung gemeint ist, zum Beispiel in Klaus Mangers Lexikon-Artikel: „Der Typus der Stilisierung […] folgt vorgegebenen Mustern, Schablonen und ist somit kein Problem des Stils, sondern des stylings“ (Manger 1996, 1799).11 Diese germanistische Abstinenz ist um so verwunderlicher, als die deutschen Übersetzer der von uns herangezogenen Werke Camus‘, Sartres und auch Thibaudets (Justus Streller, Werner Bökenkamp, Friedrich Greiner) keineswegs gezögert haben, das französische stylisation mit Stilisierung wiederzugeben. Mit unseren eigenen Ausführungen über Stilisierung in demselben Lexikon beziehen wir uns, ohne dass wir dies kenntlich gemacht haben, auf Jauß (Mölk 1996, 1333). Nach diesem Verständnis kann man zwischen tragischer, komischer, ernster, 11
Ausnahmen sind sehr selten, und alle Ausnahmen zeigen keine Beeinflussung durch Jauß. Für Johannes Spicker (1993) zum Beispiel bezeichnet Stilisierung den Abstand zwischen Kunstwerk und Leben. In dieser Bedeutung ist der Begriff, offenbar in Anlehnung an die Kunstwissenschaft, bereits von Georg Misch (1930) verwendet worden).
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heiterer usw. Stilisierung unterscheiden, auch von realistischer, märchenhafter, legendenhafter usw. Stilisierung sprechen.12 Jedes Motiv, überhaupt jedes Orts- oder Geschehensmoment, ja im Grunde jedes Geschehen (oder jeder Stoff) gewinnt erst durch die künstlerische Bearbeitung seine besondere Bedeutung. Die Art der künstlerischen Transformation, die Art seiner Erscheinung im sprachlichen Kunstwerk ist seine Stilisierung.
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Zweimal „Stilisierung“: Gesemann und Jauß
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II. Kulturwissenschaftliche Erzählforschung heute
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Homo narrans – Individuelle und kollektive Dimensionen des Erzählens Hans Jörg Uther ist bis heute ein engagierter Schüler Kurt Rankes, des großen Erzählforschers und Initiators der Enzyklopädie des Märchens. Meine eigenen Uther-Erfahrungen als Kollege und Freund gehen auf gemeinsam erlebte Lehrveranstaltungen am Göttinger VolkskundeInstitut zurück, besonders auf das Doktorandenkolloquium bei Kurt Ranke. Was Uther damals studiert und durchdacht hat, hat er bis heute in seinem Forscher- und Herausgeberleben in geradezu „märchenhafter“ Umsicht und Gründlichkeit fortgeführt. Wenn ich über den homo narrans schreibe, äußere ich mich auch zum Werk unseres gemeinsamen Doktorvaters. Dieser hatte über Jahrzehnte hin vor allem das Alter, die Verbreitung und Vermittlung der klassischen Genres der Volkserzählung erforscht: Märchen, Sage und Schwank. Aber bereits in den 1950er und zunehmend in dann in den 1960er Jahren hatte er Arbeiten zur Vermittlung kultureller Tatsachen und zum Weiterleben der tradierten Formen in der Gegenwart vorgelegt, Arbeiten über „einfache Formen“ in ihrer Bedeutung für den erzählenden Menschen. Die Aufsatzsammlung „Die Welt der Einfachen Formen“, die wichtige Arbeiten Rankes enthielt, 1978 zu seinem siebzigsten Geburtstag veröffentlicht, kann durchaus als programmatisch für große Teile des Rankeschen Oeuvres gelesen werden, denn bei aller Liebe zu den Texten der Volkserzählung suchte und fand Ranke die Menschen in ihren Geschichten. Rudolf Schenda, sein Nachfolger auf dem Göttinger Lehrstuhl, betonte dies in seinem „Grußwort zum 70. Geburtstag“: „Hinter allem Erzählen suchen Sie Menschen zu entdecken; nicht um eine simple Wie-Du-und-Ich-Gleichheit festzustellen, sondern um den homo narrans in seiner oftmals überraschenden abenteuerlichen Verschiedenartigkeit aufzusuchen“ (Schenda 1978, VII). Als Ranke im Jahr 1967 den „homo narrans“ in die Erzählforschung einführte, wollte er damit zweifellos einen Wandel der Perspektiven anbahnen; einen Wandel von den traditionellen Gattungen der Volkserzählung, also von den Texten zu den Menschen – oder, wie er es im
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Zeitstil der 1950er und 60er Jahre nannte, zu dem Menschen. Auch wenn er Begriffe vom Aussagetyp Erzählsituation, Selbstthematisierung, Bewusstsein nicht benutzte und methodische Fragen in diesem Kontext nicht erörterte, ging es ihm um die Selbst-Konstitution erzählender Menschen durch ihre Geschichten. Gegen Ende seiner wissenschaftlichen Laufbahn beabsichtigte er, dieses Konzept den traditionellen Formen des Kanons der Narratologie, woran er jahrzehntelang hartnäckig festgehalten hatte, gegenüberzustellen. Der programmatische Titel des erwähnten, ihm zum 70. Geburtstag gewidmeten Sammelbandes „Die Welt der einfachen Formen“ (Ranke 1978) deutet darauf hin. – Meine eigenen Gespräche mit meinem Doktorvater ebenfalls. Den Schritt zu den redenden Menschen gingen etwa zeitgleich Edit Fél und Tamás Hofer in ihrer wegweisenden mikroanalytischen Studie über das ungarische Dorf Átány. Sie wiesen bei der Analyse bäuerlicher Denkweise explizit auf ihr Ziel einer aufs menschliche Individuum ausgerichteten Erzählforschung als Bewusstseinsanalyse hin: Ich zitiere: Als Alternative gegenüber den traditionellen Fragen des ‚volkskundlichen Kanons‘ bot sich der Versuch an, die Átányer Realität nach den Kategorien des Bewußtseins der Átányer zu registrieren; die Struktur und den Inhalt dieses Bewußtseins zu erschließen, schien eine wichtige und lohnende Arbeit an sich (Fél/Hofer 1972, 40 f.).
Das Erzählen von Geschichten entspricht nach Ranke einem elementaren menschlichen Bedürfnis. Von diesem menschlichen Grundbedürfnis, die Welt erzählend in allen ihren Dimensionen zu verstehen und interpretieren, müsse eine Erzählforschung ausgehen. Die jüngeren und älteren Gattungsdefinitionen, regionalen Sonderungen etc. seien aufs Ganze gesehen nur „Akzidentia“. Die Konstruktion anthropologisch fundierter Kulturpersönlichkeiten hatten schon andere Gelehrte versucht, etwas Johan Huizinga mit der Figur des homo ludens. Und bis in die Gegenwart bleibt die Kreation von „Leitbildern“ dieses Typs aktuell. Gerade hat die Hirnforschung dazu ein komplex angelegtes Mischwesen präsentiert. Gerhard Roth sprich vom „Homo neurobiologicus“ (2008, 10 f.), sieht den Menschen als „eine komplizierte Mischung aus Anlage, Entwicklung und Erziehung“, eingebunden in einen lebenslangen Prozess der „Erziehung und die lebenslange gleichmäßige Veränderbarkeit des Menschen.“ Gene und Umwelt wirken gemeinsam in einer komplizierten Weise – „der Ort dieses Zusammenwirkens“ sei das Gehirn. Anders als diese aktuelle Version eines Menschenbildes sah Ranke den homo narrans nicht als Individuum in einer sich wandelnden sozialen und historischen Lage, wie es etwa auch im Fall des homo sociologicus (Dahrendorf 1969) angelegt war, sondern quasi überzeitlich als „Repräsentanten“ der
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Menschheit (Ranke 1978, 40 f.). Die Vorstellung, „vom Menschen selbst“ in seiner anthropologischen Qualität auszugehen, ist vom heutigen Standpunkt der Wissenschaft betrachtet gewiss nicht mehr akzeptabel, weil unhistorisch. Und sie bietet obendrein keinen Ansatzpunkt für einen praktikablen empirischen Zugang. Trotz dieser Defizite hat der von Ranke kreierte Typus des erzählenden Menschen seinen Reiz behalten. Das liegt zweifellos auch an der Anschaulichkeit des sprachlichen Bildes und an dessen Wiedererkennungswert. Jedenfalls erlebt der homo narrans gerade in der internationalen Erzählforschung eine Renaissance (Schmitt 1999). Ein amerikanisches Buch zum Thema kam im Jahr 1999 heraus. John D. Niles, ein amerikanischer Folklorist, bietet in seinem Buch „Homo Narrans. The Poetics and Anthropology of Oral Literature“ über 30 Jahre nach Ranke den homo narrans darin als eigene Erfindung dem internationalen Narratologen-Markt an. „It is through such symbolic mental activities that people have gained the ability to create themselves as human beings and thereby transform the work of nature into shapes not known before“, definiert er. Für seine Zweitentdeckung des homo narrans kann er sich auf alle möglichen amerikanischen und englischen Philosophen und Ethnologen berufen, Richard Rorty, Bronislaw Malinowski etc. Der Name Kurt Ranke kommt im Buch nicht vor. Begriffe verselbständigen sich. Ähnliches geschieht mit dem „Memorat“ von C. W. von Sydow. Überall in der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung wird der Begriff benutzt, ohne den Namen des Erfinders zu erwähnen. So kann es einem echten Klassiker auf dem internationalen Wissenschaftsmarkt also ergehen. Wenn Rolf Wilhelm Brednich den homo narrans wieder in die Erzählforschung zurückführt, geschieht das unter Hinweis auf einen seiner Vorgänger auf dem Göttinger Lehrstuhl, eben auf Kurt Ranke. In einem seiner Bände über „Sagenhafte Geschichten von heute“ betont er, künftige Forschung wäre gut beraten, nicht die Analyse populärer Gattungen des Erzählens in den Mittelpunkt der Narratologie zu stellen, sondern den „‚modernen‘ homo narrans“ in den Blick zu nehmen (Brednich 1990, 24). Damit führt er eine modifizierte Version der Rankeschen Kreation in unsere Wissenschaft ein. Anders als Ranke sieht er den homo narrans nicht als eine überzeitliche Universalie, als ein Wesen, welches immer und überall die „gleichen Denk- und Gefühlsinhalte“ für sich selbst erzählend bewältigt und dabei die menschliche Umwelt in all ihren „gemeinmenschlichen Aussagefunktionen“ vermittelt. Brednichs Hinweis ist ein pointiertes Plädoyer für eine am redenden Individuum orientierte Erzählforschung. Wenn der homo narrans heute aktualisiert werden soll, muss er über Ranke hinaus in seiner sozialen Dimension wahrgenommen werden. Es geht um die Frage: Was ist
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individuelles Bewusstsein vom Standpunkt einer Erzählforschung mit historischer Dimension? Als Ranke der Wissenschaft seinen homo narrans anbot, stand er durchaus ein Stück weit in der geistesgeschichtlichen und philosophischen Tradition seiner Zeit. Er berief sich andeutungsweise auf Johan Huizinga und Helmuth Plessner und bezüglich der „Verständigung unter Tieren“ auf Konrad Lorenz. Diese Kontextualisierung muss eigens erwähnt werden, denn es war in der Erzählforschung vor den 1970er Wendejahren der Volkskunde geradezu verpönt, Ergebnisse aus „theoretischen Wissenschaften“, speziell aus der Philosophie, Psychologie und Soziologie, für Themen, Methoden und Interpretationen in Betracht zu ziehen. So diente die Klassifikation „der Soziologe“ gegenüber missliebigen Kollegen gelegentlich als ein erfolgreicher Abwehrzauber im akademischen Bewerbungsverfahren. Noch in den 1980er Jahren wurde dieses „Defizit“ im Fach Volkskunde gern rituell genutzt, wenn der Stallgeruch der Provinz einem Bewerber um eine Professorenstelle fehlte. Bei Rankes ontologisch argumentierenden Aussagen hätte es sich über die erwähnten Bezugspersonen hinaus angeboten, der Erzählforschung aus der Philosophie empirisch einlösbare Erkenntnisse oder wenigstens Fragen vorzuschlagen, etwa aus Heideggers Analyse des Redens, oder wie der Philosoph es ohne eine „herabziehende Bedeutung“ in seinem Hauptwerk nennt: „des Geredes“ (Heidegger 1976, 160 ff.). Heidegger behält in seinen Analysen den strukturell offenen Kontext der Kommunikation zwischen Individuen im Blick. „Das Hören ist für das Reden konstitutiv.“ Die Frage des philosophischen Narratologen lautet: Worüber wird geredet, in welcher faktischen Sprachgestalt? „Nur wer schon versteht, kann zuhören.“ Der Mensch erschließe sich, schreibt Heidegger, subjektiv im Reden seine Welt. Er gibt Erlebnisse weiter und äußert in symbolisch vermittelten Formen sein Bewusstsein – seine „Weltanschauung“ (Heidegger 1989, 7). Das philosophische Konzept Heideggers hat durchaus eine soziale Dimension. Denn der Philosoph weiß, der Einzelne beachtet seine eigene Person nicht vereinzelt – sein „In-Sein“ nicht als solitär, sondern zugleich im sozialen Kontext als das stets gegebene „Mit-Sein“ Anderer. Ein Gegenüber ist bei Heidegger nicht nur in der Erzählsituation als Hörer präsent, sondern auch in den erzählten Geschichten: „Der Andere ist zunächst ‚da‘ aus dem her, was man von ihm gehört hat, was man über ihn redet und weiß“ (Heidegger 1976, 168, 174). Heidegger hatte, wie später etwa der Sozialpsychologe Paul Watzlawick im populären Buch „Menschliche Kommunikation“ (Watzlawick 1974), die kommunikative Dynamik des Erzählvorgangs klar erkannt und benannt. Keineswegs durch Unverbindlichkeit und Gleichgültigkeit sei das
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gemeinsame Reden im Alltag gekennzeichnet; vielmehr sei es zugleich voll innerer Spannung. Menschliche Kommunikation konstituiere sich nicht zuletzt auch aus dem Gefühl des Misstrauens: „Unter der Maske des Füreinander spielt ein Gegeneinander.“ Dieser Zusammenhang von Reden, Neugier und Zweideutigkeit sei, so Heidegger, öffentlich verborgen, aber gleichwohl die „Grundart“, in der uns die Alltäglichkeit als ein Strukturganzes gegeben sei (Heidegger 1976, 175, 181). Der Mensch ist bei Heidegger sowohl Erzähler als auch Gegenstand von Erzählungen. Er ist in „Geschichten verstrickt“. Diese kommunikative Position ist offenbar ohne den Einfluss Heideggers von Wilhelm Schapp, einem Schüler Edmund Husserls, erkannt worden. „Was wir von den Menschen kennen, sind ihre Geschichten und die Geschichten, die über sie erzählt werden. Die Geschichte steht für den Mann“ (Schapp 1976, 100 ff.). Diese Geschichten, in denen sich Menschen wechselseitig ihr Denken und Handeln, ihre Vergangenheit und ihre Zukunftsperspektive mitteilen, stehen permanent in einem Zusammenhang, haben, wie alle Erfahrungen des Lebens, stets eine Vorgeschichte und eine Zukunftsperspektive (ebd., 94 f.). Dieser Gesamtzusammenhang ist bei Schapp, wie etwa auch bei Pierre Bourdieu, die „einverleibte, zur Natur gewordene“, „vergessene Geschichte“ (Bourdieu 1993, 105). Schapp formuliert: „Eine Geschichte mit einem absoluten Anfang oder der absolute Anfang einer Geschichte kann nicht auftauchen“ (Schapp 1976, 88). Zweifellos haben die hier referierten philosophischen Analysen ihre Bedeutung über die biographische Situation der Geschichtlichkeit des Redens hinaus für die Erzählforschung behalten, denn sie beschreiben die soziale Situation des „homo narrans“, seine Geschichte und seine zwischenmenschlichen Beziehungen. Diese Reflexionen behalten, anders als die vom situativen Sprechakt ausgehenden Performanz-Studien (Braid 2002, 730 ff.) der Narratologie amerikanischer Provenienz, eine historische Dimension. Die „wirkungsvollen Bühnen“ der Kontextanalytiker sind eine Seite der Medaille, die Entstehung einer Geschichte im Kopf eines Erzählers die andere. Die Überlegungen Heideggers, Schapps und Watzlawicks gehen außerdem vom „durchschnittlichen Alltagserzähler“ aus, schauen nicht am liebsten auf das Außergewöhnliche der Geschichten und der Person ihres Erzählers, also nicht auf die hervorragende „Erzählerpersönlichkeit“, wie es die traditionelle Erzählerforschung praktiziert, sondern belassen es stattdessen beim Alltäglichen. Hier stellt sich nun auch die Frage nach den Dimensionen des Unbewussten beim Erzählen von Geschichten. Die Frage ist für die Märchenforschung schon früh gestellt worden. Über alle subjektiven Eigenheiten und situativen Unterschiede hinaus lässt sich in solch einem Kontext fürs erste sagen: Das Bewusste und das Unbewusste gehören gemeinsam zu
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unserem Denken, Erinnern und Erzählen. Das Unbewusste für die Ergebnisse der Narratologie zu leugnen, wäre unsinnig. Eine Trennung ist hier allerdings zu analytischen Zwecken geboten, vor allem aus Gründen der Methode. Zunächst ist der Hinweis wichtig, dass die Quellen, die es in der Narratologie zu interpretieren gilt, stets Texte sind. Unser Bewusstsein betrifft vom Aspekt der hier vertretenen Erzählforschung alles, worüber wir reden – d. h. argumentieren, berichten, erzählen – können. Worüber wir nicht reden können, darüber muss die Erzählforschung schweigen (Wittgenstein 1969, 115). Dieser Minimalkonsens deckt sich mit dem Verständnis von Bewusstsein bei Autoren aus der neurobiologischen Hirnforschung. So formuliert Gerhard Roth: „Es gibt also nicht das Bewusstsein schlechthin, sondern eine Vielzahl von ganz verschiedenartigen Bewusstseinszuständen, die eben nur die beiden Merkmale gemeinsam haben, dass sie bewusst erlebt und sprachlich berichtet werden können.“ – „Unbewusste Vorgänge sind per definitionem nicht berichtbar“ (Roth 2001, 193, 217). Natürlich beeinflusst unbewusst Erlebtes unsere Gefühle und auch unser Handeln. Aber wir können es nicht absichtsvoll aus unserem Gedächtnis wiedergeben. – Erzählen folgt stets einer Absicht! Wenn dieser Standpunkt begründet werden soll, muss zunächst, wie es Helmuth Plessner vorschlug, bei der existentiellen Bedeutung der Körperlichkeit des Menschen begonnen werden: Der Körper, so Plessner in seinem 1928 erschienen Werk „Die Stufen des Organischen und der Mensch“, „ist nicht das Hier, sondern er ist bald hier, bald dort, die Bestimmung seiner Lage ist notwendig eine auf den gewählten Meßstandpunkt relative. Nur von meinem Körper kann ich sagen: er ist ‚immer‘ hier oder im Hier.“ Alles, was der Mensch aus dieser Position heraus wahrnimmt, wird ihm über die Sinne vermittelt. Alle Eindrücke bezieht er auf seine psychophysische Persönlichkeit, d. h. auf die lebenslange Einheit von Körper und Bewusstsein. Der Mensch ist sein Körper, und er hat einen Körper (Plessner 1975, 294–298). Dass er sich dessen bewusst ist, gegründet seine Einmaligkeit in der Welt, seine „exzentrische Position“. Ein individuell wahrgenommener Körperbezug des Bewusstseins ist gerade für ein Fach, welches wie die Volkskunde/Europäische Ethnologie/ Kulturanthropologie auch die Erfahrungsdimension des Raumes und des Umgangs mit Sachen zum Thema hat, von elementarer Bedeutung. In der Erzählforschung über das Reden im Alltag ist des Weiteren vor allem auf der Grundlage Diltheys und Husserls vom Erlebnis, von Erfahrungen auszugehen; nicht zuletzt deshalb, weil vom Erlebnis als einer konstruierbaren Sinneinheit der Weg zur Erzählung führt. Wenn wir etwas erzählen, grenzen wir eine Sinneinheit für den narrativen Vermittlungsprozess formal ein, denn es gehört zu den wesentlichen Definitionsmerkmalen der Erzählung, dass diese empirisch beobachtbare zeitliche
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Grenzen – also einen Anfang und ein Ende – hat. Überdies gehört es zu einer Erzählung, dass sie so konstituiert ist, dass der Erzähler sich selbst als Person im Erzählvorgang in die Geschichte einbezieht. Er ist, einem inzwischen aus der Mode gekommenen Ausdruck zufolge, von seiner Geschichte „betroffen“. Hans-Georg Gadamer hat in seiner Auseinandersetzung mit den Theorien Diltheys und Husserls den Wert des Erlebnisses im Prozess des „Bewusstseinslebens“ und der Erinnerung erörtert (Gadamer 1975, 329 ff.). Erlebnis und Erfahrung konstituieren sich erst in der Erinnerung. Sie bilden in ihrer Gesamtheit die Lebenserfahrung eines Menschen, d. h. die größte seiner Erinnerung und seinem Erzählen zugängliche geschichtliche Einheit. Gadamer spricht hier von der unverwechselbaren „Einheit des Selbst“. Sie resultiere aus der Unerschöpflichkeit der Möglichkeiten, Erlebnisse zu haben. Dieser Erfahrungsraum ist das Zentrum und der Bezugsrahmen aller Geschichten (Koselleck 1979, 185), die der homo narrans uns präsentieren kann. Dilthey bezeichnet diesen psychischen Zusammenhang, als einen „Strukturzusammenhang“ aller Erlebnisse eines Individuums. Die Summe individueller Erlebnisse konstituiert das Leben: „eine Einheit des Bewusstseins“. Diese Einheit umgreift die Gegenwart und die Geschichte, oder wie es Husserl sagt, Gegenwärtiges und „Vergegenwärtigtes“, Wahrnehmung und Erinnerung (Husserl 1972, 212). Der homo narrans, der Erzähler als Individuum mit seiner eigenen Geschichte und seinen vielen Erzählgeschichten steht natürlich nicht isoliert in der Welt, sondern artikuliert sich als ein Sozialwesen in der prinzipiell unbegrenzten Anzahl von Situationen. Deshalb geht die Erzählforschung stets von einer übersubjektiven „Gemeinsamkeit des Erlebens“ aus. Aus der Gemeinsamkeit des sozialen Erlebens in der Familie und dem Milieu heraus konstituiert sich eine „Erzählgemeinschaft“ mit milieubedingten und milieuübergreifenden Gewohnheiten und Traditionen. Für die Kulturwissenschaft stellt sich hier die Frage nach der Existenz eines überindividuellen Bewusstseins. Die Hypothese eines Gruppen- oder Kollektivbewusstseins ist in den letzten beiden Jahrzehnten oft unter Begriffen wie „kollektive Identität“, „kollektives“ oder „kulturelles Bewusstsein“ oder „Gedächtnis“ diskutiert worden. Manchmal nutzen auch Politiker dieses komplizierte Vorstellungsbild. Das erinnert gelegentlich an traditionelle Auffassungen des 19. Jahrhunderts vom Typ „Volksgeist“. Auch Kurt Ranke ging bei seiner Konstruktion des homo narrans von vergleichbaren Voraussetzungen aus. Denn die Vorstellung von einer Kollektivseele gehörte zu seinem ontologischen Denkinventar. Im Typus des die Welt interpretierenden Erzählers sah er die „Summe aller erzählenden und tradierenden Menschen“. Jan Assmann weist kritisch darauf hin, dass der Gedächtnisbegriff bei empirisch unzu-
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gänglichen Konstrukten wie „kollektives Gedächtnis“, „Gruppengedächtnis“, „Gedächtnis der Nation“ stets Gefahr laufe, ins „Metaphorische“ umzuschlagen (Assmann 1992, 36). Wer Erzählsituationen im täglichen Leben beobachten will, muss deshalb bei seinen Interpretationen voraussetzen, dass es empirisch erfassbar immer nur einzelne Menschen sein können, die ein Bewusstsein und ein Gedächtnis haben, über Ereignisse reflektieren und darüber erzählen können. Zugleich gilt: Wir leben in einer Gemeinschaft, die uns prägt, gehören Familien, Berufsmilieus, Betrieben und anderen Gruppen an. Je mehr die Reflexionen und Erzählungen den Kontext individuellen Erlebens in diesen empirisch zugänglichen Erzählmilieus überschreiten, desto wirkmächtiger werden die Einflüsse der Erfahrungen aus zweiter Hand. Bleibt es bei der Analyse von Erzählungen aus dem Leben bei „Ich-Erzählungen“, kann eine empirische Wissenschaft allenfalls sehr vorsichtig formulierte Hypothesen über milieuübergreifende Denk- und Handlungsmuster riskieren. Was sich in beobachteten Erzählungen als „kollektives Wissen“ findet, ist in seinen Ursprüngen treffender durch die Analyse von zeitgenössischen Texten und Bildern der Massenmedien zu erforschen als durch die Interpretation persönlicher Aussagen und Dokumente. Diese Quellen – Texte aus der Öffentlichkeit – sind es, die den Ursprung und den „Rahmen“ für ein „kollektives Bewusstsein“ ergeben. Auch in einem anderen Punkt muss eine Erzählforschung, die vom Bewusstsein redender oder schreibender Menschen ausgeht, wiederum von bestehenden Hypothesengebäuden abgegrenzt werden. Sie sieht sich, wie ich bereits sagte, nicht für das Auffinden und die Interpretation von Inhalten und Prozessen des Unbewussten – etwa eines „kollektiven Unbewussten“ – zuständig. Sie will wissen, was im Erzählvorgang aus dem Fundus der subjektiven Erlebnisse und Bewertungen ins Bewusstsein zurückkehrt. Mit Hilfe einfühlsamer wissenschaftlicher Interpretation und Rekonstruktion kann die erzählte Erinnerung uns Auskunft über den Erzähler und sein Milieu geben. Sie kann und will nicht dem „Psychoanalytiker Konkurrenz machen“ (Bahrdt 1974, 58). Ich wiederhole: Die Hypothese einer Autonomie des Unbewussten wird aus methodischen Gründen ausgeklammert. Das methodische Verfahren gilt der Frage, wie die Inhalte des Bewusstseins dem Einzelnen gegeben sind. Es geht nicht um die Frage der objektiven Wahrheit, nicht darum, ob etwas so und nicht anders abgelaufen ist, ob es ein Ereignis oder eine Sache objektiv in einer bestimmten Weise gibt bzw. tatsächlich gegeben hat oder nicht. Stattdessen geht es um das „Wie“, nicht um das „sachhaltige Was“ (Heidegger 1976). Eine Erzählforschung, wie sie hier und von anderen vertreten wird, versteht sich als Teil einer historischen Disziplin. Dabei geht es allerdings nicht – wie bei der von Kurt Ranke genutzten geographisch-historischen
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Methode – um Fragen nach dem Ursprung und den Wanderungswegen traditioneller Geschichten, sondern um den Aspekte einer Erfahrungsgeschichte. „Der Erfahrungsraum der Zeitgenossen bleibt das erkenntnistheoretische Zentrum aller Geschichten“, schrieb der Historiker Reinhart Koselleck (1979, 354). Für die kulturwissenschaftliche Bewusstseinsanalyse ist also die Frage, wie Menschen ihr eigenes Leben in der Geschichte wahrnehmen, zentral. Haben Menschen im Alltag ein Gefühl ihrer eigenen Geschichtlichkeit, etwa für Epochenschwellen und -grenzen? Welcher Altersgruppe rechnen sie sich bei solchen Wandlungsprozessen selbst zu? Von welchen Altersgruppen grenzen sie sich mit welchen Argumenten ab? Wie funktioniert so etwas wie ein Generationenvergleich? Vieles spricht dafür, dass im Alltagsbewusstsein das Gefühl für moderat oder turbulent verlaufende Epochen und allgemein für Unterschiede im Tempo des Wandels in der erlebten historischen Zeit gegeben ist, z. B. das Bewusstsein, gerade eine Epochenschwelle zu erleben. Für die jüngste Zeit sind dafür zweifellos ein paar Schlüsselereignisse gegeben. Die Erfahrung des 8. Mais 1945, des 9. Oktobers 1989 und des 11. Septembers 2001 sind individuell oder doch wenigstens unter dem Einfluss sozialwissenschaftlicher und journalistischer Kommentare von den Erlebenden unverzüglich als Fakten für den Beginn einer neuen Zeitrechnung wahrgenommen worden. Nun orientieren wir uns in der eigenen Lebensgeschichte und in unserem Epochenbewusstsein an diesen Ereignissen. Worum es mir geht, das klingt bei Hans Blumenberg an: „Denn das Problem der Epoche muß von der Frage nach der Möglichkeit ihrer Erfahrung her aufgerollt werden“, schreibt er in „Die Legitimität der Neuzeit“ (Blumenberg 1988, 541). Und er vertritt die Auffassung, das Neue in der Geschichte könne nicht in die Beliebigkeit des Zufalls gestellt sein, es müsse vielmehr „unter einer Strenge vorgegebener Erwartungen und Bedürfnisse“ stehen. Sonst könnten wir nicht so etwas wie „Erkenntnis“ von Geschichte haben. Was politisch-kulturelle Umbrüche bedeuten, davon handelt das, was hier Erzählkultur genannt wird. Dazu gehört, dass sich überall „VorherNachher-Geschichten“ im individuellen und kollektiven Bewusstsein beobachten lassen, vor und nach Khomeini, dem Jahr 1945, dem Attentat auf das World Trade Center etc. Dergestalt artikulieren sich Epochenschwellen im Erzählen. Ob auch in vergangenen historischen Zeiten die Menschen ein Epochen- und Schwellenbewusstsein hatten, ist nicht leicht zu entscheiden. Veränderungen sprachen sich langsamer als heute herum. Immerhin lassen die Reaktionen auf Naturkatastrophen im Mittelalter und auf das Ende des Dreißigjährigen Krieges vermuten, dass nicht allein die ökonomischen Auswirkungen eines Wandels der Lebensweise in der Bevölkerung, sondern auch die kulturelle Dimension dieser Entwicklungen
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bemerkt wurde. Arno Borst beschreibt die sozialen Erschütterungen nach dem Erdbeben in Friaul von 1348 (Borst 1988). Das Ereignis war in seinen wirtschaftlichen und sozialen Folgen verheerend. Freilich benötigten die Menschen des Mittelmeerraumes ein halbes Jahrhundert, um für die Folgen der Katastrophe Erklärungen zu finden. Eine Ursachenkombination bot sich an. Das Erdbeben und die Pestepidemie der Jahre 1348 bis 1350 mussten in einem vom Schöpfer inszenierten Zusammenhang stehen. Wie sich Geschichtsbewusstsein entwickelt und äußert, ist für die Erzählforschung sehr wichtig. Hier ist es gleichgültig, ob wir ein Märchen, eine Sage, ein Memorat oder einen politischen Witz in den jeweiligen sozialen Funktionen analysieren. Stets geht es um den Platz einer Geschichte in der Erzählkultur einer Epoche. Die Fragen der Erzählforschung decken sich in diesem Punkt weithin mit der aktuellen Diskussion über das „kulturelle Gedächtnis“ oder mit der Frage nach den Zeitschichten und den geschichtlichen Zeiterfahrungen in der Bevölkerung. Jan Assmann schlägt in seiner wegweisenden Studie die Sicht auf differenzierende „Modi des Erinnerns“ vor, unterscheidet ein kommunikatives und ein kulturelles Gedächtnis. Er berührt hier Fragen der traditionellen Narratologie. Das kommunikative Gedächtnis umfasse drei oder vielleicht vier Generationen, also den „unmittelbaren Erfahrungshorizont“ einer „Zeitgeschichte“ (Assmann 1992, 52). Der Grenzwert zum kulturellen Gedächtnis liege bei etwa 80 Jahren. Der Autor erinnert mit dieser Auffassung an eine der volkskundlichen Erzählforschung vertraute und immer wieder pragmatisch genutzte Beobachtung beim „Erzählen zwischen den Generationen“ in unserer Kultur. Assmann: „Nach 40 Jahren treten die Zeitzeugen, die ein bedeutsames Ereignis als Erwachsene erlebt haben, aus dem eher zukunftsbezogenen Berufsleben heraus und in das Alter ein, in dem die Erinnerung wächst und mit ihr der Wunsch nach Fixierung und Weitergabe.“ Der Erzählforscher Kurt Ranke wusste es bereits, dass Großeltern ein altersbedingtes Interesse und zudem genügend Zeit haben, ihre Erfahrungen und Ansichten an ihre Enkel weiterzugeben. Er hatte, wie vorher Arthur Schopenhauer, erkannt, dass dem Erzählen zwischen Großeltern und Enkeln eine exzeptionelle Bedeutung für den Traditionsprozess zukommt. Schließlich sei das Traditionsverhältnis zwischen Großeltern und Enkeln – vielleicht als überkulturelle Konstante – das „natürlichere“ als das zwischen Eltern und Kindern (Ranke 1969, 105). Diese drei bis vier Generationen, auf die sich das „kommunikative Gedächtnis“ eingrenzen lässt, bilden den Erfahrungsraum der Zeitgenossen, das erkenntnistheoretische Zentrum aller erzählten Geschichten aus dem Leben. Was zeitlich darüber hinausgeht, wird in der Assmannschen Konstruktion ins „kulturelle Gedächtnis“ transformiert. In die Begriffe der Erzählforschung übertragen heißt das: Das kommunikative Gedächtnis ist
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die Zeitspanne, auf die sich das Genre „Memorat“ bezieht. Wenn, was gelegentlich geschieht, aus einem Memorat eine Sage wird, ist der Schritt vom kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis vollzogen. Das kulturelle Gedächtnis ist darauf angewiesen, in seinen Inhalten, Motiven, Sichtweisen nicht mündlich, sondern mittels der Schrift, durch Bilder, Denkmäler etc. tradiert und erhalten zu werden. Wenn die Augen- und Ohrenzeugen nicht mehr da sind, zählt nicht mehr die „faktische“, sondern allein noch die „erinnerte Geschichte“ (Assmann 1992, 52). Ein Unterschied zwischen Geschichte und Mythos, narratologisch gesprochen zwischen Memorat und Sage ist danach im Bewusstsein der nicht professionell mit historischen Fragen beschäftigten Bevölkerung kaum noch auszumachen. Wer die Bedeutung von historischen Familiendramen, von „Dokumentarfilmen“ und geschichtlichen Serien des Fernsehens für das „kollektive Bewusstsein“ in den USA (und zunehmend auch in Europa) beobachtet, kann keinen Zweifel am empirischen Gehalt dieser Aussagen haben.
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Vom Erzählen des Nicht-Erzählbaren In seinen Lebenserinnerungen eines deutschen Juden und Pädagogen, die Heinemann Stern schon bald nach seiner Emigration nach Brasilien 1940 zu schreiben begann und deren Publikation er nicht mehr erleben sollte, schilderte der 1878 in Nordeck bei Marburg geborene und aufgewachsene, am Jüdischen Lehrerseminar in Hannover ausgebildete und zunächst in zwei oberschlesischen Städten als Lehrer tätig gewesene Gelehrte in dichter, hoch reflektierter Beschreibung seinen Lebensweg zwischen Kaiserreich, Weimarer Republik und Nationalsozialismus (Stern 1970). Seit 1922 hatte er in Berlin an der Knabenschule der Jüdischen Gemeinde unterrichtet und sie von 1931 bis 1939 als Direktor unter immer schwierigeren Verhältnissen geleitet. Dass diese sensible Nachzeichnung einer eskalierenden Diskriminierung und Verfolgung, die vom Böckelschen Antisemitismus in den oberhessischen Dörfern1 bis zum Rassenwahn der Nazis reicht, am Ende des Zweiten Weltkrieges bereits abgeschlossen war, aber trotz Bemühungen des Autors um ihre Veröffentlichung bis zu seinem Tod 1957 nicht erschien und erst 1970 als Band 3 in die Reihe der Documenta Judaica aufgenommen, durch Hans Ch. Meyer herausgegeben und kommentiert wurde, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Tabuisierung des Holocaust in der deutschen Nachkriegsgesellschaft, auf die Unfähigkeit zu trauern2 und auf das Verschweigen des Geschehenen, das auch ein NichtErzählen-Lassen implizierte: Kontakte wurden nicht gesucht, Erinnerungen nicht abgerufen. Karl-Heinz Wallach teilte 1977 in seinen Erinnerungen an die Jugendjahre in Treysa mit, dass es seinem Vater nach Emigration und Ansiedlung in Haifa bis zu seinem Tod 1965 unverständlich gewesen sei, dass keine offizielle Stelle der Stadt Treysa oder des Kreises Ziegenhain nach dem Krieg je versucht habe, eine persönliche Verbindung mit ihm aufzunehmen (Wallach 1979, 14–18). 1
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Zu Otto Böckel (1859–1923), der 1887 als erster antisemitischer Reichstagsabgeordneter im Wahlkreis Marburg-Kirchhain-Frankenberg gewählt wurde und mit seinen Hetzschriften eine politische Bewegung initiierte, in den Annalen der Volkskunde aber lange nur als Volksliedforscher erinnert wurde, vgl. Mack 1983, 377–410; Peal 1985; Massing 1986; Pötzsch 2000. Mitscherlich/Mitscherlich 2007; vgl. Mitscherlich 1993; Ebrecht 1999, 277–288.
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Dieses Nicht-Erzählen-Lassen der Emigrierten und die späte Drucklegung der Erinnerungen verschärfte auf bedrückende Weise das NichtErzählen-Können vieler Überlebender des Holocaust, das erst später einem Bedürfnis nach Mitteilung der Erfahrungen von Leid und Verfolgung, von physischer und psychischer Peinigung wich. Dass Bedeutung und Chancen der Geschichte in der Lebensgeschichte seit den 1980er Jahren in einer intensiven biographischen Forschung herausgearbeitet werden konnten, schöpfte aus einer Konvergenz der Motivationslinien: die Bereitschaft von Zeitzeugen nahm zu, aus der zeitlichen Distanz von 40, 50, 60 Jahren ihr Leben mitzuteilen und öffentlich zu diskutieren (Rosenthal 1988), und verschiedene wissenschaftliche Disziplinen wandten sich subjektorientierten Forschungsperspektiven und Methoden zu, nicht zuletzt ausgehend und angeregt von Ansätzen der volkskundlichen Erzählforschung, in der die narrative Verarbeitung von Biographie und biographischem Kontext in den Fokus gerückt war (Brednich et al. 1982; Lehmann 1983). Bereitschaft und Bedürfnis von Zeitzeugen, ihre Erfahrungen mitzuteilen, spiegeln die wachsende zeitliche, gesellschaftliche und biographische Distanz zum Holocaust. 1960, als wieder Hakenkreuze an Mauern und Planken geschmiert wurden, nahmen die Wortmeldungen der Überlebenden und von Angehörigen der Opfer zu, wurden ihre Stimmen lauter, die in Erinnerungsbildern und Erinnerungstexten das Erleben des Holocaust an die jüngere Generation übermitteln wollten. Bereits diese früh veröffentlichten, in Bilder, Gedichte, Biographien gefassten Zeugenberichte3 reflektierten den drohenden Verlust der Erinnerungen. Erzählen können nur diejenigen, die überlebt haben, Zeugenschaft ablegen nur die, die das Grauen in den Vernichtungslagern selbst erfahren haben. Doch die Überlebenden werden älter, und mit den Zeugen sterben die Erinnerungen. Aus der Reflexion des Alterns und des eigenen Todes erwuchs für jeden Einzelnen die Überwindung, das Nicht-Erzählbare in eigene Worte zu fassen, mitzuteilen und zu überliefern: für das Unfassbare, für die Verarbeitung der Shoah boten die alten, in Thora und Haggadah tradierten Erzählungen, die Jahrhunderte lang in der jüdischen Kultur zur historischen Vergewisserung einer kollektiven Identität dienten, keine Zuflucht mehr. Sie hatten in einem Jahrhundert der Assimilierung und einem weiteren des Völkermords an den Assimilierten und Nicht-Assimilierten an Bedeutung eingebüßt, an tröstender Kraft ihrer Poesie verloren: Nun war, wie es Elke Schmitter einmal formulierte, für die jüdische Tradition die 3
Vgl. etwa Sussmann o.J.; Dienemann 1964; dazu auch die Dokumentation der politischen Diskurse um den „Wiedereinbau“ der Juden in der bundesrepublikanischen Gesellschaft: Giordano 1961.
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Autobiographie privilegiert als der Ort, wo Möglichkeit und Wirklichkeit immer wieder neu bedacht werden – nun waren es Einzelne, die ihre Erinnerungen erzählten, die Bücher schrieben und damit in einer paradoxen historischen Situation versuchten, Erfahrung, Sinn und Tradition neu zu bilden (Schmitter 1996, 1 f.). Eine Generation der Überlebenden, die es geschafft hatte, ein neues Leben aufzubauen, der es möglich war, Familien zu gründen nach den Erfahrungen von Leiden, Pein, Hunger und Elend im Verfolgungs- und Vernichtungsapparat der Nazis, diese Generation begann im Schmerz der Erinnerungen an die Zeit der Verfolgung und an diejenigen, die in den Konzentrationslagern umgebracht wurden, gerade diese Erinnerungen mitzuteilen, sie begann, ihr Gedächtnis aufzuschreiben. Am Ende des 20. Jahrhunderts, das wie kein anderes auf dem langen Leidensweg der jüdischen Bevölkerung Europas gezeichnet ist von Pogromen und Genozid, von jener Schreckensherrschaft des Antisemitismus, der nach den Jahrzehnten rassistischer Hetze in den deutschen Krematorien seine menschenverachtende Fratze vollends entblößte, nahm die Auseinandersetzung mit den Erfahrungen dieses Jahrhunderts in vielen Autobiographien Gestalt an. Bei aller Polyphonie der Opferstimmen (vgl. Elm/ Kößler 2007) ist den Versuchen einer Reflexion des eigenen Lebens im autobiographischen Schreiben auch die Suche nach dem Begreifen und Verstehen der Fremdbestimmtheit eigen; es macht vielleicht gerade dies die Bedeutung autobiographischer Zeugnisse in der jüdischen Kultur aus und zeigt doch die ganze Tragik im Gedächtnis der Überlebenden des Holocaust, „jenes elende Dilemma der Überlebenden und ihrer Nachkommen, sich der Versuchung einer falschen Sinngebung zu widersetzen und doch die Lücke zu umschreiben, die entstanden ist“ (Schmitter 1996, 1). Der Versuch, die Lücke zu umschreiben, das Unfassbare, das Unerträgliche wenigstens andeutungsweise festzuhalten, das eigene Leiden und den Verlust der Familie in Worte zu fassen, Gefühle, Empfindungen verarbeiten zu können: dies war Anstoß so vieler jüdischer Autobiographien, ganz ähnlich, wie es Meta Frank in ihrem Gruß an die Geburtsstadt Karlshafen – Schalom, meine Heimat – formulierte: „Im Unterbewußtsein habe ich immer gedacht, dass wenn es irgendwo aufgeschrieben ist, es leichter zu ertragen sei“ (Frank 1994, 169). Es aufzuschreiben, zu dokumentieren, war zunächst wichtiger als die Frage der Vermittlung, der Adressaten. So hat Zwi Bacharach im Blick auf die Mitteilungen von Opfern in Briefen aus der Shoah die Spannung reflektiert, dass wir als Beobachter und Interpreten der Zeugnisse ein halbes Jahrhundert nach dem Holocaust die Überlieferung bestimmen, aber zumeist nicht wissen, ob den Schreibern damals in der Hölle der Vernichtungslager bewusst war, dass ihre Worte der Verzweiflung und Hoffnung als historische Zeugnisse dienen werden
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(Bacharach 2006, 21 ff.). Doch konnte Paul de Man zeigen, dass die Zeugenschaft gerade in der jüdischen Tradition des Zeugnisses für viele zum Überlebensgrund wurde. Auch Heinemann Stern begann in der Emigration zu schreiben, ohne zu wissen und zu erleben, dass seine Erinnerungen einmal gedruckt und gelesen wurden. Aber kann das Nicht-Erzählbare wirklich erzählt werden? Kann es eine „Poetik des Scheiterns“ geben, wie sie Manuela Günter an literarischen Texten von Roman Frister, Cordelia Edvardson, Ruth Klüger, Imre Kertész und Louis Begley zu entwickeln versucht hat? Dass die Vernichtung der europäischen Juden die Idee vom Subjekt als Ursprung und Telos seiner Geschichte zur Farce werden ließ, dass mimetische Sprache als Übersetzungsmedium von Erfahrung damit ausgedient hat, konfrontiert sie mit der Notwendigkeit, dass gerade diese historische Erfahrung eines Ausdrucks bedarf (Günter 2002). Anders als die Überlebenden-Autobiographien als historische Erzählungen, die meist fragmentierte Lebenserzählungen bleiben (Rosenthal 1995) und damit die Lücken, die Brüche der Erinnerung andeuten, überwinden die literarischen Erzählungen die Trennung von Dokument und Fiktion, indem sie etwa aus dem Kinderblick die Erfindung ‚des Juden‘ darstellen und die performative Struktur von Identität als Folge des historischen Prozesses einer Identifizierung reflektieren, die irreversibel ist (Günter 2002, 21 f.). Doch finden wir diese narrativen Möglichkeiten nicht auch in den – mit der Intention des Zeugnisses absoluter Faktizität verpflichteten – Überlebenden-Autobiographien, die gerade aus der Authentizität subjektiver Wahrnehmung des Kinderblicks die Ohnmacht gegenüber brachialer und subtiler Gewalt nachfühlbarer werden lassen? Gerade dieser Kinderblick aber bedarf der Erinnerung, die nicht selten Ausdruck einer Reflexion des Generationenverhältnisses ist, der Notwendigkeit zur Mitteilung an die Kinder und Enkel. Eindrücklich hat Gisela Spier-Cohen diese späte Wiederkehr der Erinnerungen beim Schreiben geschildert (Spier-Cohen 2006): als sie begann, ihre Erinnerungen für ihre Enkel niederzuschreiben, kehrten auch die Erinnerungen an ihren Vater zurück, dessen Aussehen sie sich, nach den grauenvollen Erlebnissen in Theresienstadt, Auschwitz und Mauthausen viele Jahre nicht mehr in Erinnerung hatte rufen können. 1928 in Momberg bei Neustadt in Hessen geboren, gehörte zu ihren eindrücklichsten Kindheitserinnerungen der Garten ihrer Eltern; er war in der Erinnerung ein Stück von ihrem Vater geworden. In die Mitte des Rasens waren vier Pflaumenbäume gepflanzt, deren erste Früchte sie nicht pflücken durfte, weil sie nach dem kultischen Gebot dem Tempel vorbehalten waren. Die nächste Ernte aber hat sie nicht mehr genießen können. Die Familie wurde deportiert, der Besitz enteignet. Haus und Matzenfabrik gehörten ihr nicht mehr. Aber der Garten war geblieben, sie erhielt
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ihn zurück. Eine Familie pachtete ihn, und die drei Töchter spielten darin; Fotos wurden ihr zugesandt, und auf einem dieser Bilder waren die Pflaumenbäume zu sehen, hoch aufgewachsen und die seither vergangene Zeit versinnbildlichend. Zwischen ihnen hing eine Hängematte, in der sich gerade eines der Mädchen ausruhte, eines der Mädchen, die im Alter ihrer eigenen Kinder waren, ihrer eigenen Kinder, die gleich ihnen unter den Bäumen hätten spielen und die gelben, saftigen Eierpflaumen essen können. Ihre Kinder hätten ihr dann vielleicht einige dieser Pflaumen gebracht, denn ihr Großvater hatte die Bäume ja einst für sie gepflanzt. „Während Europa in Trümmern lag“, so schließt dieses Kapitel in ihren Erinnerungen, „während mein Bruder den Hungertod in Dachau starb, während meine Eltern in Auschwitz ihres Glaubens wegen ihr Leben verloren, während all der Jahre, die ich allein von Ort zu Ort zog wie auf der Suche nach etwas, während all dieser Zeit waren diese Bäume gewachsen, hatten Früchte getragen und Schatten gespendet. Diese Bäume gehörten offiziell noch mir. Aber meine Kinder und ich ruhten niemals im Schatten der Bäume, die mein Vater gepflanzt hatte.“ Die Bäume des Vaters waren real und sind doch zur Metapher in der Erinnerung geworden, in ihnen sind nicht nur Empfindungen, Spuren der Glückseligkeit in sonnigen Kindertagen symbolisch gefasst und damit Materie gewordene Erinnerung wie jenes schwarze vertragene eingewachsene Kleid, das in einer anderen Erinnerung an Theresienstadt literarisch memoriert wird, jenes schwarze Kleid, das Gerty Spies abgelegt und auf die Reise geschickt hat, zurück an den Ort der Verbannung, der Hoffnung und des Todes (vgl. dazu Braun 2000). Die Bäume des Vaters als dinglich geronnene Erinnerung stehen auch für das Unaussprechliche, das schwer zu Ertragende, für den Verlust. In den Bäumen lässt sich sinnlich erfahrbar zunächst jene verlorene Kindheit fassen, die durch den Verlust an Geborgenheit, durch Gefühle der Unbehaustheit gezeichnet ist und damit eine unerfüllbare Sehnsucht gebiert, die hier ohne den Ruch des missbrauchten Begriffes als Suche nach Heimat in psychoanalytischer Deutung (Schmidbauer 1996) verstanden und bezeichnet werden darf. Denn auch die dem Heimatbegriff inhärente Spannung zwischen Nähe und Ferne ist ja in diesen dinglich geronnenen Erinnerungen auszumachen, jene Irritation der kindlichen Wünsche und Sehnsüchte, das scheinbar Nahe greifen und genießen zu können und doch dem scheinbar Fernen verpflichtet zu sein, dem aus der kindlichen Perspektive noch schwer verständlichen rituellen Gebot des jüdischen Kultus. In den Pflaumenbäumen manifestierte sich die Spannung zwischen der Heimat als alltäglicher Lebensumwelt und der Heimat des Glaubens. Aber das Bild der Pflaumenbäume greift noch tiefer. Die Bäume hatte der Vater einst für sie und ihre Kinder gepflanzt, die Früchte jedoch
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sind ihr für immer versagt geblieben. Der Vater, die Eltern wurden in Auschwitz umgebracht, eine gewaltsame, unüberbrückbare Lücke gerissen in die Familiengeschichte, in die Überlieferung, ins Sein der Menschen, ihrer Würde, ihrer emotionalen Bindungen, ihres Lebens – und in den Sinn der Geschichte. Der Vater, die Eltern wurden ausgelöscht, ausgelöscht auch mit dem Bild ihres Angesichts aus der Erinnerung, so nachhaltig und gewaltsam, dass sich die Leerstellen den verzweifelten Versuchen des Zurückholens ihrer Bilder in die Erinnerung lange widersetzten. Die Bilder der glücklichen Tage, die brennenden Schabbeskerzen am Freitagabend, die segnenden Hände des Vaters waren noch da, als sie entkräftet und der Ohnmacht nahe am Arbeitstisch der Freija-Werke in Freiberg stand und ihre Gedanken abschweiften vom Ort der Schmerzen. Danach blieb das Menschliche geraume Zeit verschwunden im Gedächtnis, im Memorieren der Leidenserfahrungen. Geblieben aber war der Garten, geblieben sind die Bäume ihres Vaters. Sie stehen damit für den Zeithorizont, für den Ablauf der Geschichte. Sie bilden die Folie des Erinnerns. Doch das dialektische Verhältnis von Geschichte und Lebensgeschichte (vgl. dazu Gram/Henke 1986; Steinbach 1995) erfährt da einen Bruch, wo sich Geschichte nicht erzählen, wo sich ihr kein Sinn mehr zuordnen lässt. In den Erinnerungen von Gisela Spier-Cohen versinnbildlichen die groß gewordenen Bäume die inzwischen verronnene Zeit, sie machen die Lücke erfahrbar, indem sie die Projektion dessen erlauben, was hätte sein können, wenn nicht das Leben aufgehört hätte, die Zeit nicht zerbrochen wäre. Die Erfahrungen einer zerbrechenden Zeit, die Jörn Rüsen nach dem Sinn der Geschichte fragen lässt, differenziert die Möglichkeiten und Grenzen historischer Sinnbildung nach den Schreckenserfahrungen des 20. Jahrhunderts auslotend (Rüsen 2001; auch Müller/Rüsen 1997), machen eine negative Dialektik der Sinnbildung erforderlich, den Versuch eines Erzählens des Nicht-Erzählbaren. Historisches Erzählen, sagt Rüsen, müsse sich heute selbst negieren, sich als Erzählen überwinden, um als historische Sinnbildung im Horizont moderner Zeiterfahrungen zu überzeugen. Nur dann, wenn das narrativ konfigurierte Sinngebilde einer Geschichte Abwesenheit, Mangel und Negation von Sinn noch an den gedeuteten Erfahrungsbeständen der Vergangenheit sichtbar und erkennbar mache, könne historisches Erzählen heute überzeugen. Eine Geschichte, die im Medium der historischen Erfahrung eine Sinnhaftigkeit in der zeitlichen Verfassung der menschlichen Welt und des menschlichen Selbst bruchlos aufscheinen lässt, so dass die präsentierte Geschichte eine geschlossene Sinngestalt hat, sei eine Lüge. Anders könne angesichts der Sinnlosigkeitserfahrungen des 20. Jahrhunderts, deren radikalste und zugleich typischste der Holocaust ist, nicht argumentiert werden.
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Auf einer zweiten Ebene ist Gisela Spier-Cohen mit der Problematik historischer Sinnbildung konfrontiert worden. Dass die Pflaumenbäume im Garten ihres Vaters, deren Pflanzung sie miterlebt und in Erinnerung behalten hatte, inzwischen groß geworden waren, so groß, dass dazwischen eine Hängematte aufgespannt werden konnte und Kinder darin schaukelten, Kinder im Alter ihrer eigenen Kinder, diese Erfahrung der vergangenen Zeit wurde ihr durch ein Foto vermittelt. Konrad Köstlin hat in seiner Auseinandersetzung mit der Fotografie als Erinnerung diese Zuschreibung des Bildes reflektiert, im Festhalten des Augenblicks dem Geschehen Sinn zu attestieren und es damit in die Potentialität zu überführen, Geschichte zu werden (Köstlin 1995). Das Foto als Dokument des zeitlichen Ablaufs von Geschichte trat somit in Kontrast zur Erinnerung an die Kindheit, es ließ den Bruch zwischen Geschichte als Erinnerung und Geschichte als Erfahrung, zwischen histoire und zerbrochener Zeit deutlich werden. Diese Erzählung lässt erkennen, dass die Auseinandersetzung mit dem Holocaust in der historischen Aufarbeitung nicht ohne die subjektiven Erfahrungen des Holocaust zu schreiben ist: denn historisches Erzählen ist immer auch Interpretation, ist Konstruktion von Geschichte, und es bedarf der stetigen Überprüfung durch die subjektive Erinnerung. James Edward Young hat in seiner Reflexion zum Schreiben des Holocaust deutlich gemacht, dass sich die Darstellung und die Ereignisse nicht losgelöst voneinander interpretieren lassen, sind doch die Ereignisse wie ihre Darstellungen von den Formen, von der Sprache und von der kritischen Methode abhängig, mit denen sie erfasst werden: In der Holocaust-Literatur werden, ebenso wie in den Bezeichnungen, Periodisierungen, Genres und Symbolen, die wir mit dieser Zeit verbinden, religiöse Bedeutung und Signifikanz, historische Ursachen und Wirkungen reflektiert und zugleich produziert. Was vom Holocaust erinnert wird, hängt davon ab, wie es erinnert wird, und wie die Ereignisse erinnert werden, hängt wiederum von den Texten ab, die diesen Ereignissen heute Gestalt geben (Young 1992, 13).
In einem subtilen, nachdenklichen Text hat sich Wilfried von Bredow mit der tückischen Geschichte, mit dem Dilemma einer kollektiven Erinnerung an den Holocaust auseinandergesetzt, hat die Pädagogiken des Erinnerns untersucht und gegen die Verharmlosung ebenso wie gegen eine falsche Aktualisierung von Schuld und Schmerz argumentiert, gegen ein frei flottierendes Täterbewusstsein und auftrumpfende Selbstverachtung als Ritual. Es ist die Crux der kollektiven Erinnerung, dass sie dazu neigt, „Gedanken zu ritualisieren und damit auch in gewissem Sinne gedankenloser zu machen“ (von Bredow 1996, 107). Das Dilemma resultiert aus dem Kommunikationsproblem des Erinnerns, aus dem trennenden und doch zugleich verbindenden, wechselseitigen Bezug des jüdischen und des
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deutschen Erinnerns an den Holocaust, der nicht die Verlängerung der Täter-Opfer-Konstellation, sondern die unterschiedlichen Ausgangspunkte einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit aufzeigt. Auch Manuela Günter hat an den ausgewählten Texten aufgezeigt, dass die Autorinnen und Autoren gegen massenmediales „Shoah-business“ und professionelles „Gedächtnistheater“ auf der Differenz zwischen Tätern und Opfern und auf der kritischen Distanz zum offiziellen Erinnerungsdiskurs beharren4 und damit die Möglichkeit in Anspruch nehmen, „das Undarstellbare in Worte zu fassen, die es verhüllen und offenbaren zugleich“ (Günter 2002, 25). Heinemann Stern hat diese Differenz zwischen Täter- und Opferperspektive gerade dadurch verdeutlicht, dass er sie zu differenzieren wusste in der Schilderung der Eindrücke, die er bei seiner einzigen Rückkehr nach Nordeck im Sommer 1935 erlebte, wo er noch drei jüdische Familien antraf, völlig isoliert, aber unbelästigt, wie er schrieb. Am Eingang des Dorfes habe er ein Schild mit der ungelenken Aufschrift „Juden unerwünscht“ vorgefunden, und als er vom alten Gemeindediener mit den Worten „Na, auch widder mal da?“ begrüßt worden sei, habe er, auf dieses Schild Bezug nehmend, seine unberechtigte Anwesenheit angesprochen. Das hätten die Lausbuben gemacht, habe der alte Gemeindediener zur Antwort gegeben, die zuerst eine Stange auf die Chaussee gestellt hätten. Die habe er zur Seite gelegt, doch sei sie dann nebenan auf eine Wiese, auf Privateigentum gestellt worden, weshalb er nichts mehr daran habe ändern können. Im übrigen, bemerkte Stern, seien die Leute sehr ängstlich gewesen und hätten kein offenes Wort gewagt. Kurze Zeit später habe nur noch eine jüdische Familie im Dorf gelebt, die nie über etwas zu klagen gehabt, sich nur sehr vereinsamt gefühlt hätte. Der Sohn habe das zum Leben Benötigte bei Straßenarbeiten verdient. Über die Vorgänge in der Novembernacht von 1938 sei ihm später berichtet worden, dass von auswärtigen Nazis dem örtlichen SS-Führer ihr Kommen angekündigt wurde, dieser aber erwidert habe, es bräuchte niemand zu kommen, und sich in der Nacht zum Schutz der jüdischen Familie in der Nähe ihres Hauses aufgehalten habe. Nach der Verhaftung von Sterns altem Freund hätten Bauern des Dorfes der zurückgebliebenen Frau und Schwester nicht selten frühmorgens mit einem heimlich vor der Tür abgestellten Sack Kartoffeln oder Mehl geholfen. Was uns Heinemann Stern in seiner noch zeitnah an den unmittelbaren Erfahrungen von Verfolgung und Emigration festgehaltenen Lebenserinnerungen mitteilte, zeigt den versöhnlichen Gestus des Intellektuellen, der zu reflektieren und 4
Auch Hans Erler hat, Bezug nehmend auf den Beitrag von Julian Voloj, in seinem Sammelband zum kollektiven Erinnern an den Holocaust einleitend darauf hingewiesen, „dass von Erinnerungskultur zu Recht nur im jüdischen Geschichtserleben gesprochen werden kann“; Erler 2003, 18.
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zu differenzieren wusste, der nicht pauschal verurteilte und aufrechnete, sondern die Eindrücke und Erinnerungen an die Freundschaften der Jugendzeit nutzte, um aus seiner Perspektive des Zeitzeugen, des Betroffenen, den nachfolgenden Generationen zu hinterlassen: nicht alle NichtJuden in Deutschland sind Täter gewesen. Doch macht gerade diese differenzierende Perspektive die Wirkung des Terrors deutlich, die immer bedrohlicher werdende Angst, die Entfremdung von Nachbarn und das wachsende Verlassenheitsgefühl – Stern hat dafür narrativ die Erinnerungen an die Kindheit benötigt, um die schleichende Ausgrenzung und schließlich die Eskalation der Diskriminierung und des Hasses umso eindrücklicher schildern zu können: das Schreckliche begreifen wir umso eher, wenn wir wissen, was verloren gegangen ist. Dieser Prozess der gezielten Entfremdung wird in einem Kontext besonders deutlich, der die Nachbarschaft von Christen und Juden und die Brücken zwischen den Religionen zeigte – und ihre Destruktion umso schmerzhafter werden ließ. Die Aktionen, mit denen die Nazis schon Jahre vor der Pogromnacht durch Störung und Ahndung versuchten, die Trauergeleite zu unterbinden, zeigen jenen Schatten auf, der sich 1936/ 1937 bereits riesengroß und bedrohlich aufzutürmen begann: dass die Achtung vor dem Tod verhöhnt und verhindert wurde, eine Verhöhnung, die sich in den Gaskammern und Krematorien fortsetzte. Auch hier wurde noch die systematische Destruktion von Menschen, von Familien als Verhöhnung und Erniedrigung vollzogen – und als solche erfahren5, weil der gewaltsame Tod keine Trauer duldete und kein Ort mehr blieb, um die Toten zu beklagen. Die Bedeutung, die das Kaddisch für die Verarbeitung von Trauererfahrungen in der jüdischen Kultur hat (Wieseltier 2000), blieb versagt: den Angehörigen, die oft erst sehr viel später von der Ermordung ihrer Eltern, Kinder, Verwandten erfuhren, und den Opfern selbst, die im Wissen starben, dass ihnen niemand diese letzte Ehre erweisen konnte – diese Verweigerung wurde zum vielleicht perfidesten Instrument des Terrors6. Das ist Trauma im Erinnern der Überlebenden, und es bedingt eine stetige Trauerarbeit im kollektiven Erinnern, es erfordert ein interkulturelles Erzählen und ein Erzählen zwischen den Generationen. Denn zwischen den Kulturen und zwischen den Generationen verlaufen die Bruchlinien der Perspektiven, der Wahrnehmung von Welt: Für die Überlebenden der 5 6
Zu den individuellen Erfahrungen dieser Destruktion vgl. Scrase/Mieder 2001; sowie als Einführung in die Schriftenreihe Scrase/Mieder 1996. „Und keiner hat für uns Kaddisch gesagt …“ 2004. Auch Selma Leydesdorff hat in ihrer Analyse von Augenzeugenberichten das Trauma herausarbeiten können, dass von den Eltern nicht Abschied genommen werden konnte: Statt normal zu trauern, mussten sie an anonymen Gräbern leiden; vgl. Leydesdorff 1988.
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Shoah ist die Welt eine andere geworden, ihre alte Welt familiärer und kultureller Traditionen ist nicht mehr. Für sie, die den Schrecken des Vernichtungsapparates selbst erlebt und erlitten haben, sind die Erfahrungen existentielle Grunderfahrungen, die nicht vergehen, nicht verblassen. Für die nachfolgenden Generationen aber wird der Holocaust zur Geschichte, wird archiviert, wird historisiert, gerät zur Vergangenheit ihrer Welt. Die Erinnerung daran wird gestaltbar, umformbar: absichtslos – und mit Kalkül; das legt, folgert von Bredow, „eine kollektive Erinnerung in leisen Tönen nahe, nichts Schrilles, Bombastisches, Demonstratives. Alles andere schafft Gegen-Vorstellungen und Widerstreben, oft aus Motiven heraus, die mit dem Inhalt des Gedenkens nichts zu tun haben“ (von Bredow 1996, 107). So sehr heute der Holocaust als globaler Erinnerungsort und Gegenstand internationaler Politik begriffen wird (dazu Kroh 2008) und begriffen werden muss, können die großen Erzählungen der professionellen Geschichtsschreibung alleine nicht tragen, kommt das Erinnern ohne die Authentizität einer Zeugenschaft der Opfer, ohne die Autobiographien nicht aus. Zwar verzichten die von Manuela Günter analysierten literarischen Texte auf den verzweifelten Kampf gegen den Repräsentations- und damit Substitutionscharakter der Erzählung (Günter 2002, 24), doch zeigen gerade sie, dass die Grenzen der künstlerischen Repräsentation eng gesteckt sind (vgl. auch Bannasch/Hammer 2004; Bock 2005; Knigge/Frei 2002). Die Erinnerungen von Überlebenden des Holocaust, die an die Generation ihrer Enkel gerichtet sind, verweisen uns auf die leisen Töne dieser Trauerarbeit im kollektiven Erinnern, im interkulturellen Erzählen und im Erzählen zwischen den Generationen. Und sie lassen auch das Dilemma des Erinnerns erkennen. In ihnen wird deutlich, warum die Erfahrungen der Shoah im Gedächtnis der Überlebenden nur in der Autobiographie aufgearbeitet werden können, warum die kollektive Geschichtsschreibung des Holocaust alleine nicht trägt, sondern es Einzelne sein müssen, die in ihren kleinen Erzählungen versuchen, das Nicht-Erzählbare zu erzählen. All diejenigen, die das Leiden mit ihnen teilten, die sich gegenseitig hätten verstehen und stützen können, sind nicht mehr. Trost spenden können nur die eigenen, persönlichen Erinnerungen an die Bruchlinien der Welten, an die verlorene Welt und an die geschichtliche, das Erlebte historisierende Welt. Gerade mit diesen Erinnerungen aber wird das Unfassbare, wird der Stillstand der Erfahrung in einen erfahrbaren geschichtlichen Bezug gestellt, der die Erinnerungen an die eigene Kindheit für die Adressaten der Erzählung – für die Kinder – emotional nachvollziehbar macht und damit das Verlorene deutlich werden lässt. Trauerarbeit bedarf der Erinnerung als Folie der Geschichte, der erzählten Geschichte in Autobiographien von Überlebenden, die uns in ihren Verlusterfahrungen deutlich
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werden lassen, was verloren gegangen ist. Geschichte ist nicht umkehrbar. Wir können nicht „wiedergutmachen“ (welch verführerisches, welch verharmlosendes Wort der deutschen Nachkriegsgeschichte!). Wir können nur, jede Generation wieder neu, versuchen zu begreifen, was geschehen ist. Und wir können Trauerarbeit leisten (dazu Liebsch 2001) in der Erinnerung an diejenigen, denen noch im Tod ein Trauergeleit verweigert wurde. Die fragmentierten Lebenserzählungen und Erinnerungsfetzen, in denen Überlebende der Shoah versuchen, einer zweiten Traumatisierung durch das Nicht-Erzählen-Können, durch den drohenden Verlust der Erinnerung zu begegnen, stehen in harter Konfrontation zu den meist elaborierten narrativen Strukturen der klassischen Erzählgenres. Und dennoch bedürfen die subjektiven Erzählungen von physisch und psychisch erfahrener Gewalt ebenso einer Aufmerksamkeit der Erzählforschung wie die kollektiven Mythen literarisch tradierter Erzählstoffe. Hans-Jörg Uther, der wahrhaft enzyklopädische Kenner der Märchen und ihrer älteren literarischen Vorlagen, hat in seinen Kommentaren zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm mehrfach auf antijüdische Züge hingewiesen, am erschreckendsten vielleicht ausgeprägt in KHM 110 (Der Jude im Dorn); dass diese Tendenz im Verlauf der Editionsgeschichte der KHM noch verstärkt wurde und die Erzählung bis 1945 selten in größeren Ausgaben fehlte, ja auch Illustrationen und Bilderbogen zur Popularisierung des antijüdischen Stoffes im 19. Jahrhundert beitrugen (Uther 2008, 246–250), zeigt die Notwendigkeit zur kritischen Reflexion der Stereotypenbildung in klassischen Erzählgenres. Sie lässt den Beginn eines langen Prozesses der Konstruktion von Vorurteilen erkennen, die auch in der Unterhaltungsliteratur, im Lesen und Erzählen manifest wurden und der Dekonstruktion bedürfen. Sie macht aber auch deutlich, dass die subjektiven Wahrnehmungen und Erfahrungen der Diffamierten und Diskriminierten, der Verfolgten und Deportierten nicht erst die Erfahrung des Holocaust wiedergeben, sondern diesen langen Prozess einer Identifikation „des Juden“ als Fremdzuschreibung spiegeln, der lange vor dem Holocaust begann, literarisch und narrativ geformt und vermittelt wurde.
Literaturverzeichnis Bacharach, Zwi: Die Shoah im Spiegel des persönlichen Erlebens. In: Bacharach, Walter-Zwi (ed.): Dies sind meine letzten Worte … Briefe aus der Shoah. Jerusalem/Göttingen 2006, 21–86. Bannasch, Bettina/Hammer, Almuth (eds.): Verbot der Bilder – Gebot der Erinnerung. Mediale Repräsentationen der Schoah. Frankfurt a. M./New York 2004. Bock, Gisela (ed.): Genozid und Geschlecht. Jüdische Frauen im nationalsozialistischen Lagersystem. Frankfurt a. M./New York 2005.
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Siegfried Becker
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Vom Erzählen des Nicht-Erzählbaren
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Gudrun Schwibbe
„Wir müssen die Auseinandersetzung mit unserer Geschichte endlich selbst anpacken“ – Rechtfertigung und Verantwortung im Kontext der „Geschichte der RAF“1 „Auch wenn ich heute denke, daß wir viele Fehler gemacht haben – unser Aufbruch und Kampf für eine andere Welt war zu jeder Zeit begründet und gerechtfertigt“ (Hogefeld 1996a, 88). Bereits im Prolog ihres Textes Zur Geschichte der RAF benennt die Ex-Terroristin Birgit Hogefeld die narrative Strategie, die ihre gesamte Darstellung wie ein roter Faden durchziehen wird: Rechtfertigung. Die Erklärung Zur Geschichte der RAF eignet sich in besonderer Weise dafür, die narrative Funktion des Rechtfertigens zu untersuchen: Die Autorin berichtet hier über eine so genannte „diskreditierte Epoche“ (Keller 1996, 94), also über Geschehnisse, die Kritik und Gegnerschaft bis hin zur strafrechtlichen Verfolgung ausgelöst haben und die vor diesem Hintergrund legitimationsbedürftig sind. Birgit Elisabeth Hogefeld, geboren 1956 in Wiesbaden, gehörte zu den Leitfiguren der so genannten „dritten Generation“ der „Rote Armee Fraktion“ (RAF) (Straßner 2005).2 Sie war also in die damaligen Entscheidungen involviert und kann Auskunft über deren persönliche und ideologische Kontexte geben. Interessant wird ihre retrospektive Darstellung aber vor allem dadurch, dass sie – in Form einer Meta-Perspektive – in zahlreichen Passagen eine kritische Distanz zu den beschriebenen Ereignissen einnimmt und die damaligen Legitimationen hinterfragt oder sogar zurückweist. Birgit Hogefeld hat diesen dreißigseitigen Text, der die Quelle der folgenden Analyse bilden wird, am 21. Juli 1995 verfasst und später in ihrem 1
2
Der vorliegende Beitrag ist im Rahmen des DFG-Projekts „Narrative Identitätskonstruktionen. Alteritätskonstituierungen in Selbstdarstellungen von ehemaligen Mitgliedern linksterroristischer Gruppierungen“ entstanden, das seit dem 1. Juli 2008 am Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie der Universität Göttingen durchgeführt wird. Zur Biographie Birgit Hogefelds vgl. Straßner 2003.
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Prozess verlesen.3 In diesem Prozess war sie u. a. des Mordes an dem USSoldaten Edward Pimental angeklagt. Der GI wurde am 7. August 1985 erschossen, weil ein Mitglied der RAF an dessen Armeeausweis kommen wollte, um damit auf das Gelände der Rhein-Main Air Base zu gelangen. Dort zündete der terroristische Täter am folgenden Tag eine Bombe, die zwei Menschen tötete und elf verletzte. Zu den weiteren Anklagepunkten gegen Hogefeld zählten versuchter Mord an dem Finanzstaatssekretär Dr. Hans Tietmeyer und dessen Fahrer, die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung sowie ein Sprengstoffanschlag auf die Justizvollzugsanstalt Weiterstadt. Das Oberlandesgericht Frankfurt/Main verurteilte Birgit Hogefeld daraufhin am 5. November 1996 zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe mit besonderer Schuldschwere. Sie ist nach wie vor inhaftiert und kann frühestens 2011 entlassen werden. Birgit Hogefeld gilt als Mitautorin der so genannten „Deeskalationserklärung“, in der die RAF im April 1992 mitteilte, sie werde künftig „die Eskalation zurücknehmen“ und „Angriffe auf führende Repräsentanten aus Wirtschaft und Staat […] einstellen“ (Edition ID-Archiv 1995, 18). Außer im hier zu analysierenden Text hat sie sich in einer Prozesserklärung vom Juli 1996 intensiv mit ihrer terroristischen Vergangenheit auseinander gesetzt (Hogefeld 1996b) und damit nicht zuletzt die Selbstauflösung der RAF im Jahr 1998 maßgeblich befördert (vgl. dazu Straßner 2005, 256-265).
Rechtfertigung und Verantwortung Im Rahmen seines Ansatzes der kulturwissenschaftlichen Bewusstseinsanalyse hat Albrecht Lehmann in mehreren Arbeiten die narrative Funktion des Rechtfertigens untersucht (Lehmann 1980; 1994; 2004): Rechtfertigungsgeschichten, eine Gattung des alltäglichen Erzählens, finden sich besonders im Kontext autobiographischer Narrationen. Ein Erzähler setzt Rechtfertigungen ein, wenn er auf Vorkommnisse oder sogar ganze lebensgeschichtliche Perioden zu sprechen kommt, die er aus bestimmten Gründen als unangenehm empfindet oder von denen er annimmt, dass sein Verhalten als nicht (mehr) angemessen oder „richtig“ beurteilt wird. Da der Akteur von den wahren Hintergründen des Geschehens nicht erzählen will oder kann, um sich gegenüber seinem sozialen Umfeld nicht in negativer Weise zu präsentieren, bietet er stattdessen Erklärungen an, die die Rezipienten von der Richtigkeit oder Angemessenheit des frag3
Der Text wurde veröffentlicht in (1) Hogefeld 1996, 86–115, (2) edition psychosozial 1996, 19–57 sowie (3) Wirth 2004, 93–131. Im Folgenden wird nach der ersten Quelle zitiert (= Hogefeld 1996a).
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lichen Verhaltens überzeugen sollen.4 Der Erzähler zielt also darauf ab, mit Hilfe von Rechtfertigungsgeschichten ein akzeptables Bild seiner selbst zu vermitteln – sowohl im Hinblick auf sein Selbstverständnis als auch auf die Position in der Gemeinschaft. Dabei werden Rechtfertigungsgeschichten bereits präsentiert, bevor eine erzählende Person zur Legitimation bestimmter Vorkommnisse oder Verhaltensweisen aufgefordert wurde (vgl. Lehmann 1980, 59). Hierfür dürften Selbstzweifel ebenso eine Rolle spielen wie der Wunsch, möglicher Kritik oder Vorwürfen von Seiten der Zuhörerschaft zuvorzukommen. Der narrative Prozess des Rechtfertigens lässt den Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Normen und subjektiven Normverletzungen deutlich werden: Der betreffende Akteur versucht, seine Abweichung von der Norm argumentativ abzumildern oder umzudeuten, und muss dabei – um erfolgreich zu sein – Erklärungsschemata verwenden, die mit den Hintergrunderwartungen der Rezipienten kompatibel sind. Durch die Analyse von Rechtfertigungsgeschichten lassen sich daher zum einen Präsenz und Geltungsbereich kultureller Normen erfassen, zum anderen diejenigen Strategien, auf die in bestimmten (Teil-)Gesellschaften zurückgegriffen wird, wenn es um die Erklärung fragwürdiger Handlungen geht. Dazu sind auch die sprachlichen Strategien zu rechnen, mit denen Menschen ihr Verhalten rechtfertigen.5 Die sozialwissenschaftliche Account-Forschung hat derartige Argumentationen intensiv untersucht und typologisiert (vgl. Scott/Lyman 1968, Lyman/Scott 1970). Grundlegend für die Entwicklung von Account-Typologien ist die Arbeit von Sykes/ Matza (1957). Im Rahmen ihrer so genannten „Neutralisierungstheorie“ haben die Autoren fünf argumentative Techniken („techniques of neutralization“) beschrieben, mit deren Hilfe Menschen nach einer Normverletzung versuchen, negative Folgen für das eigene Image zu neutralisieren: 1. Leugnung der Verantwortung, 2. Leugnung des Schadens, 3. Leugnung des Opfers, 4. Verurteilung der Verurteiler, 5. Berufung auf höher einzustufende Loyalitäten.6 Sprachliche Reaktionsmöglichkeiten, die demgegenüber gerade darauf abzielen, die Verantwortung für von der Norm abweichendes Handeln zu übernehmen und den daraus resultierenden Schaden 4 5 6
Es geht hier um ein postbehaviorales Rechtfertigen, also um das Legitimieren von Handlungen, die bereits stattgefunden haben. Zur Bedeutung präbehavioraler Rechtfertigungen vgl. Fritsche 2003. Hier sei auf theoretische Bezüge zur Argumentationsforschung verwiesen – vgl. Wohlrapp 1995, Bayer 1999. Fast alle auf dieser Arbeit aufbauenden Typologien unterscheiden zwischen Entschuldigungen, bei denen ein Akteur die persönliche Verantwortung für eine Handlung leugnet, und Rechtfertigungen, bei denen er den verursachten Schaden bestreitet (vgl. Keller 1996, 102). Hier wird jedoch an dem von Lehmann verwendeten funktionalen Begriff der Rechtfertigungen festgehalten, unter den sich auch die Entschuldigungen subsumieren lassen.
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anzuerkennen, hat Schönbach (1990) in der Kategorie „Konzessionen“ in seine Typologie aufgenommen. Über den Begriff der Verantwortung lassen sich Bezüge zur psychologischen Attributionsforschung herstellen (vgl. Hewstone 1989, 36–38, 123–126). Attribuierungstheorien befassen sich mit der Frage, wie Menschen Ereignissen, Handlungen oder Handlungsergebnissen Ursachen zuweisen.7 Sie tun dies – so eines der Kernergebnisse – indem sie von situativen Einflüssen abstrahieren und Kausalitäten mit Hilfe von drei übergeordneten Dimensionen organisieren. Danach sind Ursachen entweder innerhalb (internal) oder außerhalb (external) des Handelnden zu lokalisieren (Lokationsdimension oder Personenabhängigkeit). Sie können zeitlich stabil oder instabil sein (Stabilitätsdimension). Und sie lassen sich als vom Handelnden willentlich kontrollierbar und veränderbar oder als unkontrollierbar und unveränderbar einschätzen (Dimension der Kontrollierbarkeit) (vgl. dazu Weiner 1994, 1). Dabei sind die Konzepte der Kontrollierbarkeit und der Verantwortung eng miteinander verknüpft: Wird die Ursache einer Handlung als kontrollierbar eingestuft, so gilt implizit, dass der Akteur in hohem Maße die persönliche Verantwortung für das Handlungsergebnis trägt. Dagegen wird eine Person dann weitgehend von der Verantwortung für Normverletzungen oder Misserfolge entbunden, wenn diese aufgrund ihrer mangelnden Fähigkeiten oder aufgrund zufälliger Umstände zustande kamen. Den Begriff der Verantwortung hat Birgit Hogefeld ebenfalls bereits im Prolog ihres Textes eingeführt: „Ich habe den gesamten Text da, wo es um die RAF geht, in ‚Wir‘-Form abgefaßt – mein Lebensweg ist jetzt seit 20 Jahren eng mit dieser Gruppe verbunden, und deshalb denke ich, daß ich für die gesamte Geschichte Verantwortung trage“ (Hogefeld 1996a, 88).
Birgit Hogefelds Text „Zur Geschichte der RAF“ Birgit Hogefeld stellt die Erschießung des US-Soldaten Edward Pimental an den Beginn ihrer Darstellung. In der retrospektiven Auseinandersetzung mit dieser Tat und ihren Hintergründen entwickelt sie eine Gesamterzählung, in der sie eine Vielzahl einzelner Normverletzungen mit den dazugehörigen Rechtfertigungsstrategien zu einer – von nur wenigen Einschüben unterbrochenen – argumentativen Kette verknüpft.8 Diese 7 8
Aus diesem komplexen Forschungsbereich können hier nur einige relevante Ergebnisse herangezogen werden. Eine Einführung in die Thematik bietet Försterling 2001. Sie bezieht sich dabei auch auf die programmatische Schrift Guerilla, Widerstand und antiimperialistische Front vom Mai 1982, in der die RAF ihre strategische Neuausrichtung darlegt (ID-Verlag 1997, 291–306).
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fortlaufende Folge von Rechtfertigungsepisoden lässt sich in fünf Themenbereiche unterteilen: 1. 2. 3. 4. 5.
Die Erschießung des GI Pimental und der Bruch mit der Linken Moralische Überzeugungen und persönliche Glaubwürdigkeit Die Politik der Negation Revolution und Gesellschaft Noch einmal: der Fall Pimental
Umrahmt wird diese große Rechtfertigungsgeschichte von einem Prolog und einem Epilog. Hier betont Hogefeld die Notwendigkeit einer eigenen Betrachtung der Geschehnisse, „in der nicht nur alles im Nachhinein als richtig eingeordnet wird, sondern auch über Fehler und Fehlentwicklungen offen geredet wird“ (Hogefeld 1996a, 115). Genau um diese Normverletzungen und die Versuche, sie zu rechtfertigen, soll es in der folgenden Textanalyse gehen:9 Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, welche argumentativen Strategien die Autorin einsetzt, um Überzeugungen, Zielsetzungen und Handlungen im Kontext des historischen Verlaufs bzw. aus der zeitlichen und inhaltlichen Distanz heraus zu legitimieren. Gleichzeitig soll dabei untersucht werden, wem sie in diesem vielschichtigen Prozess jeweils die Verantwortung zuschreibt. 1. Die Erschießung des GI Pimental und der Bruch mit der Linken Birgit Hogefeld leitet ihre Darstellung der Ereignisse – zunächst untypisch für eine Rechtfertigungsgeschichte – mit einer Konzession ein: Wie ich schon gesagt habe, halte ich die Erschießung des US-Soldaten für eine der schlimmsten Fehlentscheidungen in der RAF-Geschichte. Eine solche Aktion: 1985 hier einen einfachen GI der US-Armee zu erschießen, um an dessen Ausweis zu kommen, ist mit revolutionärer Moral und revolutionären Zielen nicht vereinbar (ebd., 88).
Die Autorin übernimmt also aus retrospektiver Sicht die (Mit-)Verantwortung für die Tat und weist zugleich die damaligen Legitimationsversuche zurück: „Ich denke, es ist falsch und ignorant, diese Aktion sozusagen als ‚politischen Unfall‘ abzutun, wie wir das damals gemacht haben, denn in Wirklichkeit spiegelt sich in ihr die Denklogik wider, die unserem Politikverständnis und unseren Bestimmungen Mitte der 80er Jahre entsprach“ (ebd.). 9
Die Gesamtargumentation muss hier allerdings auf die wichtigsten Aspekte verkürzt werden.
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Mit der Bezeichnung „politischer Unfall“ hatte die RAF versucht, den Mord auf nicht kontrollierbare Ursachen zurückzuführen, und so die eigene Verantwortung geleugnet. Dieser Rechtfertigungsversuch fand allerdings schon damals – selbst bei großen Teilen der Linken – keine Akzeptanz (vgl. ebd., 89). Auch der Versuch, die Erschießung Pimentals über ihre Ähnlichkeit mit der Entführung der Lufthansamaschine „Landshut“ im Jahr 1977 zu legitimieren, blieb letztlich erfolglos. Dieser Vergleich sollte offenbar nahe legen, es sei manchmal notwendig (und damit auch legitim), Menschen im Interesse eines übergeordneten Ziels zu Objekten zu degradieren. Die hier eingesetzte Strategie der Berufung auf höhere Loyalitäten wurde – wie Hogefeld erklärt – seitens der kritischen Linken schnell dekonstruiert. Aber 77 wurde in einer Zwangssituation gehandelt: Schleyer war entführt, und die Bundesregierung lehnte die Freilassung der Gefangenen ab und setzte auf einen Fahndungserfolg. […] Eine ähnliche Zwangssituation hat es 1985, als der US-Soldat wegen des Ausweises erschossen wurde, nicht gegeben (ebd., 89).
In dieser Auseinandersetzung reagierte die RAF mit einer „bewährten Abwehrstrategie gegen Kritik“ (ebd., 90), nämlich der Verurteilung der Verurteiler: Den Kritikern wurde unterstellt, „die Konfrontation, die revolutionärer Kampf bedeute, zu scheuen und daß sie die Schärfe der weltweiten Auseinandersetzung zwischen Imperialismus und Befreiungskämpfen nicht sehen wollten“ (ebd., 89). Die Verweigerung einer öffentlichen Diskussion habe in der Folge „den Weg für eine gemeinsame Ausrichtung unserer Kämpfe und Initiativen mit anderen Gruppen versperrt – und das, obwohl ‚zusammen kämpfen‘ eine unserer zentralen Parolen war“ (ebd., 90). Vor dem Hintergrund des Wertekanons der RAF stellte ein solcher Bruch also eine Normverletzung dar, die nun ihrerseits eine Rechtfertigung erforderlich machte. Hogefeld schreibt dazu: „Das wurde für uns damals aber nicht zum Widerspruch, weil wir die Gründe, die ein Zusammenkommen mit anderen Gruppen […] verhindert haben, ausschließlich bei anderen und nie bei uns selbst gesucht haben“ (ebd.). Auch hier greift also die Strategie der Verurteilung der Verurteiler und damit diejenige der Leugnung der Verantwortung. Birgit Hogefeld sieht den beschriebenen Bruch mit der Linken jedoch nicht nur als Folge der Debatte um die Erschießung Pimentals und damit letztlich um die Frage nach den moralischen Grenzen des eigenen Handelns, sondern stellt diesen rückblickend in eine Linie von Fehlentwicklungen, die ihren Ausgangspunkt schon sehr früh in den 1970er Jahren hatten. Sie benennt die zunehmende „Abwendung von der gesellschaftlichen Realität, dem Zorn, dem Frust, dem Leiden vieler Menschen hier“
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(ebd.). Trotz ihrer relativen Isolierung sei die RAF aber immer auch „Ausdruck und Antwort auf diese Realität“ gewesen (ebd., 92). Um diesen Hintergrund zu verdeutlichen, bezieht sich Hogefeld in einem Exkurs auf Erlebnisse aus ihrer Kindheit zur Zeit des „Wirtschaftswunders“, also der Zeit, in der der Nationalsozialismus mit seinen Verbrechen und der Krieg Tabuthemen waren. Konsequenz ihrer biografischen Erfahrungen, die sie als typisch für eine ganze Generation ansieht, sei eine „radikale Verurteilung von Faschismus, Abgrenzung zu den Eltern und eine tiefe moralische Verpflichtung für einen selbst, wobei diese Abgrenzung mit Sicherheit eine nicht zu unterschätzende Rolle auch für die Ausrichtung und Bestimmung unserer Kämpfe gespielt hat“ (ebd., 93). Damit stellt Hogefeld die argumentative Verbindung zum nächsten Themenbereich her. 2. Moralische Überzeugungen und persönliche Glaubwürdigkeit Aus der Erfahrung mit dieser Elterngeneration habe die Generation der Kinder sehr strikte Moralvorstellungen zu bestimmten Fragen entwickelt, z. B. die „unbedingte Verpflichtung für Schwache, für Menschen, die niedergemacht werden sollen, einzutreten und im Umkehrschluß genauso die unbedingte Verurteilung derer, die dafür verantwortlich sind bzw. auf der Seite der Verantwortlichen stehen“ (ebd., 94). Nun erscheint eine ausgeprägte moralische Haltung nicht unbedingt legitimierungsbedürftig. Sie wird es aber dann, wenn sie – wie Hogefeld aus der Distanz heraus kritisiert – zu einer Schwarzweißsichtweise verkommt, zu einer Unterscheidung nach „Mensch“ oder „Schwein“10, und somit den „Blick auf die Komplexität und auch Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit sowie auch der einzelnen Menschen verstellt“ (ebd., 94). Hogefeld veranschaulicht diese Sichtweise durch einen erneuten Bezug auf den Fall Pimental: „In diesem Bild steht ein US-Soldat natürlich auf der Seite ‚der Schweine‘ – was er objektiv ja auch tut, denn Pimental wäre höchstwahrscheinlich bereit gewesen, an Kriegen und Massakern der USArmee, egal wo auf der Welt, mitzumachen“ (ebd.). Zynisch wirkt hier die Feststellung: „Was er objektiv auch tut“ mit der nachfolgenden Erläuterung. Bei dieser Zuordnung des US-Soldaten zur Kategorie der „Schweine“ 10
Diese dichotome Zuordnung durchzieht die gesamte Geschichte der RAF. Sie geht zurück auf eine Aussage Ulrike Meinhofs aus dem Jahr 1970: „Wir sagen natürlich, die Bullen sind Schweine, wir sagen, der Typ in Uniform ist ein Schwein und kein Mensch, und so haben wir uns mit ihm auseinanderzusetzen. Das heißt, wir haben nicht mit ihm zu reden, und es ist falsch, überhaupt mit diesen Leuten zu reden, und natürlich kann geschossen werden.“ (Zit. nach Peters 1993, 83).
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bedient sich Hogefeld der Rechtfertigungsstrategie Leugnung des Opfers.11 Zugleich setzt sie – wie schon bei ihrer Herleitung des eigenen moralischen Standpunkts aus den Erfahrungen mit der Verdrängung der NS-Geschichte – den Account Berufung auf höher einzustufende Loyalitäten ein, indem sie sich auf den Kampf für Unterdrückte und gegen Unterdrücker bezieht. Die moralische Verpflichtung, nicht nur zuzuschauen, sondern zu handeln, galt dann allerdings über den beschriebenen Kontext hinaus. Für Birgit Hogefeld wurde der Tod des RAF-Mitglieds Holger Meins,12 für den sie staatliche Instanzen verantwortlich machte, zur „zentralen Herausforderung mit einer zutiefst moralischen Fragestellung“ (ebd., 96). Sie stellte sich die Frage, ob „ich im Grunde genauso ignorant und feige gegenüber solchen Verbrechen bin oder ob ich dagegen Partei ergreife. Diese Frage, die Frage nach meiner eigenen Identität, Glaubwürdigkeit und Verantwortung war ab diesem Zeitpunkt (und für lange) an die Bedingungen und das Leben der politischen Gefangenen geknüpft“ (ebd.). In der Folge gab Hogefeld ihre vielfältigen Aktivitäten in verschiedenen sozialen und politischen Initiativen auf und widmete sich ausschließlich der Unterstützung der politischen Gefangenen. Sie entschloss sich – entgegen ihren ursprünglichen Neigungen – dazu, Jura zu studieren, und engagierte sich in der „Roten Hilfe“13. Dieser zunächst persönlich zu verantwortende und auch verantwortete Bruch in ihrer Biografie steht jedoch in einem größeren Legitimationszusammenhang. 3. Die Politik der Negation Es ist „die gesamte gesellschaftliche Situation mit dieser Enge und Intoleranz“ (ebd., 97), die Birgit Hogefeld als Ursache für die „Radikalität des Bruchs und der Negation“ und damit auch für eine weitgehende Zustimmung zur Politik der RAF anführt: „Wir waren oft schon als Jugendliche 11
12 13
Im weiteren Verlauf relativiert die Autorin allerdings diese Kategorisierung. Sie mahnt eine differenziertere Sichtweise an, da „es nicht dasselbe ist, ob einer ein kleiner GI ist, dem so sehr viele Alternativen im Leben meist nicht geboten wurden, oder ob einer ganz oben im Apparat weitreichende Entscheidungen trifft und so in ganz anderer Form Verantwortung trägt“ (Hogefeld 1996a, 94). Offen bleibt allerdings, ob die entsprechenden Entscheidungsträger dann der Kategorie „Schwein“ zuzuordnen wären. Holger Meins starb am 9. November 1974 nach 58 Tagen Hungerstreik in der JVA Wittlich. Sein Tod wurde für zahlreiche Sympathisanten zum Schlüsselereignis, sich einer terroristischen Gruppierung anzuschließen. Die „Rote Hilfe“, 1970 im Westteil Berlins gegründet, ist ein bundesweit verbreitetes Netzwerk zur Unterstützung politisch Verfolgter aus dem linken Spektrum. Sie setzt sich besonders für Inhaftierte ein mit dem Ziel, die Haftbedingungen zu verbessern, Hilfe während des Prozesses zu leisten sowie durch Spenden die Last der Strafe zu mildern.
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mit diesem System, mit dieser Gesellschaft fertig“ (ebd., 98). Nicht die Akteure selbst, zu jener Zeit noch eher in der Unterstützer- und Sympathisantenszene angesiedelt, sind nach dieser Argumentation für ihr Handeln verantwortlich, sondern die politischen Bedingungen, die eben dieses Handeln notwendig machten, d. h. „die Repressions- und Einschüchterungsmaßnahmen“ sowie „die ständige Verschärfung der Situation der Gefangenen bis hin zum Mord“. Als Folge hätten sich „die Wahrnehmungen der gesamten Gesellschaftsentwicklung und v. a. unsere Staatswahrnehmung, zunehmend auf den Ausschnitt der eskalierten Reaktion verengt“ (ebd., 98f.). Erst retrospektiv kennzeichnet die Autorin diese Form der Wahrnehmung als „reduziert“, als „nur einen Teil der Realität“: „In unserem Weltbild waren Widersprüche, eben die Facettenhaftigkeit, sowohl auf unserer wie auch auf der Gegenseite ausgeblendet“ (ebd., 99). Trotz des Gefühls der moralischen Überlegenheit und der Zustimmung zur politischen Linie der RAF blieb es bis Mitte der 1970er Jahre zunächst noch bei politischen Proklamationen und der Unterstützung der Gefangenen. „Eigentlich hätten wir entsprechend unserem Politikverständnis den bewaffneten Kampf aufnehmen müssen, fühlten uns subjektiv dazu aber nicht in der Lage“ (ebd.). Statt diese Unfähigkeit zur Konsequenz offen und selbstverantwortlich zu thematisieren, wurde sie auf Freunde und Freundinnen projiziert, die andere politische Wege eingeschlagen hatten: „Vorwürfe wie der, sie wollten die Schärfe der gesamten Entwicklung nicht sehen und würden persönlichen Konsequenzen ausweichen […], haben jede auch nur ansatzweise kritische Auseinandersetzung abgewürgt und sollten das im Grunde auch“ (ebd., 100). Mit diesem Zugeständnis unterstreicht Birgit Hogefeld die Absicht dieses – im Nachhinein als „stur“ und „rechthaberisch“ bezeichneten – Verhaltens, das Trennungen, Spaltungen und eine zunehmende Isolation zur Folge hatte: „Wir selber bewegten uns immer mehr in einer Art Subkultur“ (ebd.). 4. Revolution und Gesellschaft Im folgenden Abschnitt ihrer Rechtfertigungsgeschichte greift Birgit Hogefeld zwei bereits benannte politische Argumente auf und verbindet sie miteinander: zum einen die radikale Verurteilung des Faschismus, zum anderen die Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes. Durch Angriffe kleiner bewaffneter Gruppen wollte die RAF „den Apparat zu überdimensionierten Reaktionen zwingen, dazu, seine faschistische Fratze immer offener zu zeigen“ (ebd., 102). Diese Gruppen verstanden sich als Kraft im weltrevolutionären Prozess der Befreiungskämpfe und zugleich als
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„revolutionäre Avantgarde“14. Sie wollten durch ihre Aktionen die breite Masse, das eigentliche „revolutionäre Subjekt“, gegen das als faschistisch charakterisierte System und für die revolutionäre Veränderung der Gesellschaft mobilisieren.15 Dieser Plan ging nicht auf: Der Staat reagierte massiv auf die terroristischen Gewalttaten, und die angestrebte breite Mobilisierung blieb aus: „Gerade in Teilen der Linken hat diese Ausrufung des Ausnahmezustands und des offenen Polizeistaats viel eher Ohnmacht erzeugt als Widerstand; und das finde ich eigentlich nachträglich auch nicht verwunderlich“ (ebd.). Aus retrospektiver Sicht schreibt die Autorin die Geschichte des politischen Scheiterns fort: Die einfache Übertragung der Analysen und Theorien von Guerillabewegungen aus Lateinamerika auf die Realität hier war ein Fehler. Das konnte so nicht aufgehen, weil die gesellschaftliche Situation hier eine völlig andere ist und von den Menschen völlig anders erlebt wird. […] Hier war und ist es immer noch sehr viel mehr eine sozialpsychische Verelendung als eine materielle (ebd., 103).
Diese Konzession steht allerdings in einem komplexen – und dann wieder von persönlicher Verantwortung entlastenden – Argumentationszusammenhang: Unter Berufung auf die höher einzustufende Loyalität gegenüber dem weltrevolutionären Prozess und angesichts des unerwartet starken „Ausharrungs- und Durchsetzungsvermögens“ des „imperialistischen Systems“ sei es darum gegangen, „ein weiteres Zurückdrängen der revolutionären Seite zu verhindern“ (ebd., 105). Und wieder werden die Folgen, nämlich die zunehmende Eskalation und Militanz, nicht als freiwillige, selbst zu verantwortende Handlungsmöglichkeiten beschrieben, sondern als zwingend notwendige Reaktionen. Hogefeld beurteilt diese im Nachhinein als falsch, betont aber zugleich die damalige Annahme, „daß die gesamte Entwicklung sofortiges Eingreifen erfordert“ (ebd., 106). Das beschriebene Revolutionsmodell „mit der Vorstellung, dass hier eine Minderheit grundlegende Veränderungen erkämpfen kann“ (ebd.) bezog seine Legitimation nicht nur aus der schwachen Linken, sondern auch aus der im Faschismus verstrickten Elterngeneration: „Alle Utopien von einem anderen Leben, einer anderen Gesellschaftsausrichtung, konnten nur in einem Weg begründet sein, bei dem diese Generation rechts liegengelassen wird“ (ebd.). Im Rückblick bewertet Birgit Hogefeld dieses Revolutionsmodell jedoch als kritisch, denn die angestrebte Kräfteverschiebung, die das System hätte sprengen sollen, wäre „für die Mehrzahl der Menschen hier wieder ‚von außen‘, also von einem anderen ‚von oben‘ gekommen“ (ebd., 107). 14 15
Zur Selbstermächtigung als Avantgarde vgl. Hakemi 2006. Vgl. Fetscher et al. 1981, hier: 38–183 (Revolutionäres Subjekt und strategischer Ansatz) sowie 185–203 (Faschismus-Vorwurf).
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Zu jener Zeit hat es jedoch durchaus politische Ansätze von unten gegeben, die die eigene Lebenssituation ganz konkret verbessern wollten – beispielsweise in der Anti-AKW-Bewegung oder bei Demonstrationen gegen die Startbahn-West. Mit diesen Gruppierungen kam es aber nicht zu Kooperationen, da deren Vorhaben im Verdacht standen, „Kämpfe für weitere Metropolenprivilegien“ zu sein. Für die RAF zählten nur radikale Perspektiven – wer gemeinsam mit ihr agieren wollte, trennte sich von der Bewegung, aus der er kam (vgl. ebd., 108): „Es gab die nach außen behauptete Vielfalt nicht, und es konnte sie auch gar nicht geben, denn in ihren politischen Bestimmungen wurden die zentralen Linien der RAFPolitik übernommen […], also eine Ausrichtung in erster Linie an der Negation“ (ebd.). Versuche, von dieser Negation wegzukommen, hielt man mit „Totschlagargumenten“ nieder (ebd.). Wie ist ein solches politisches Vorgehen zu rechtfertigen? Birgit Hogefeld spricht im Nachhinein von einer großen politischen Dummheit (ebd.) und kritisiert, dass – bei zunehmender Isolierung der Akteure – die Bestimmung der politischen Initiativen immer abstrakter wurde. Aber auch hier wird die nachträgliche Übernahme von Verantwortung, die Konzession, im Folgenden relativiert. Die Autorin sieht die zunehmende Abstraktion, die fehlende Verbindung zur Realität, durch die Lebensbedingungen in der Illegalität begründet: In einem solchen Leben erscheinen einem viele Fragen und Probleme, die sich für Menschen hier aus ihrer Lebensrealität stellen, leicht nebensächlich oder unwichtig. Auch deshalb haben wir immer wieder auf eskalierende Situationen hier und die Schärfe der Entwicklung im Trikont16 hingewiesen und uns politisch darauf bezogen (ebd., 109).
Mit dem letzten Satz leitet die Autorin zur Frage nach der Schärfe politischer Konfrontationen über und konstatiert, dass „unsere Aktionen oft für viele eine nicht nachvollziehbare Eskalation darstellten“. Als Rechtfertigungsstrategie beruft sie sich zunächst auf externale Ursachen, nämlich auf eine logische Entwicklung: Die Erfahrung, nichts gegen die Macht des Systems ausrichten zu können, habe zur Folge gehabt, dass die Kämpfe immer radikaler und militanter geführt wurden (vgl. ebd., 110). Hogefeld fragt aber im Anschluss danach: „Was ist das für eine Logik, wo stimmt sie und wo stimmt sie nicht und führt in die Sackgasse, was in diesem Fall dann Militarismus bedeutet?“ (ebd., 111). Sie beantwortet diese Frage rückblickend: „In dem Moment aber, wo die Antwort auf Nichtdurchkommen, auf die eigene Defensive und Ohnmacht automa16
Dieser Begriff setzt sich aus den Wörtern „Triade“ und „Kontinent“ zusammen und bezeichnet die drei Kontinente Afrika, Asien und Lateinamerika.
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tisch Eskalation heißt, kommt man in eine falsche Logik. Ich denke, darin lag einer unserer Hauptfehler seit mindestens Ende der 70er Jahre“ (ebd.). Und sie argumentiert weiter: „Das heißt, daß sich die Frage danach, welche Mittel in welcher Situation sinnvoll und gerechtfertigt sind, immer wieder stellt. Diese Bestimmung kann nicht im luftleeren Raum stattfinden, sie braucht Bezüge, und ich denke, sie braucht andere Bezüge, als das bei uns lange der Fall gewesen ist“ (ebd., 113). Auf welche Bezüge hat sich die RAF damals berufen? Birgit Hogefeld benennt noch einmal den Bruch zum System und zur Gesellschaft und macht dann das überraschende Zugeständnis: Wir haben in dem Bewußtsein gehandelt, unsere Praxis hier in diesem Land und selbst gegenüber der Linken nicht rechtfertigen zu müssen, und so gab es auch keine Diskussionen und Reibungen, in denen immer wieder die eigene Praxis an die Realität und Entwicklungsprozesse angebunden und dahingehend korrigiert werden konnte (ebd.).
Diese Aussage macht das Dilemma deutlich, in dem sich die Autorin befindet: Sie setzt sich rückblickend – in legitimierender Absicht – mit Überzeugungen und Ereignissen auseinander, die im damaligen Kontext letztlich jeder Notwendigkeit der Rechenschaftslegung enthoben waren. Birgit Hogefeld löst sich aus dieser argumentativen Verstrickung, indem sie abschließend ihre eigenen Einschätzungen und Bewertungen in den Vordergrund stellt. 5. Noch einmal: der Fall Pimental Im letzten Absatz bezieht sich Hogefeld noch einmal auf das Ereignis, mit dem sie ihren Abriss der RAF-Geschichte begonnen hat: die Erschießung des US-Soldaten Pimental. Nun setzt sie ausschließlich die argumentative Strategie der Konzession ein: „Nachträglich haben alle zumindest gespürt, daß diese Kritik stimmt, daß mit dieser Aktion Grenzen überschritten worden waren und revolutionäre Politik vollkommen unkenntlich geworden ist und jeden Bezugspunkt hier verloren hat“ (ebd.). Sie konstatiert rückblickend „eine spürbare Entfremdung zur eigenen Geschichte, zum Lebensweg und zum politischen Selbstverständnis jeder und jedes einzelnen“ (ebd., 114). Interessant ist ihre nachträgliche Deutung der damaligen Kritikresistenz als psychologischer Abwehrmechanismus: „Heute denke ich, […] daß die Entscheidung, sich ernsthaft der Kritik an der Erschießung des GIs zu stellen, unweigerlich eine ganze Lawine von Fragen losgetreten hätte, die weit über diese konkrete Aktion hinausgegangen wäre. Auch daraus kam diese massive Abwehr“ (ebd., 114). Hogefeld beschließt ihre Ausführungen mit der selbstkritischen Einschätzung:
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„Nachträglich bin ich der Meinung, daß wir immer wieder Möglichkeiten verpaßt haben, schon weit früher zu grundlegenden Neuorientierungen zu kommen. […] Aber unsere Enge und unser Dogmatismus haben kritische Fragen und selbstkritische Reflexion ewig verhindert“ (ebd., 114 f.).
Resümee Im Zentrum von Birgit Hogefelds großer Rechtfertigungsgeschichte steht ein gravierender Normverstoß: die Ermordung des US-Soldaten Edward Pimental. Dieses Delikt bildet den Anlass für die Auseinandersetzung mit der Frage, ob dem eigenen Handeln moralische Grenzen gesetzt sind. Hogefeld versucht in einer vielschichtigen Argumentation, eine Antwort auf diese Frage zu finden – sowohl vor dem für die RAF gültigen ideologischen Hintergrund als auch rückblickend aus der kritischen Distanz. Die Analyse ihres Textes auf Rechtfertigungen und die Zuweisung von Verantwortung macht das Geflecht der damals relevanten kulturellen Normen und Erklärungsmuster innerhalb einer linksterroristischen Gruppierung deutlich. Unter Rückgriff auf Ansätze der Accountforschung lässt sich dabei detailliert aufzeigen, mit welchen sprachlichen Strategien die jeweiligen Überzeugungen, Pläne und Handlungen legitimiert werden. So zeigt sich ein argumentatives Grundmuster, das fast die gesamte Rechtfertigungsgeschichte durchzieht: Hogefeld übernimmt zwar rückblickend die Verantwortung für falsche Überzeugungen sowie fehlgeschlagene Pläne und Handlungen, relativiert diese Konzessionen aber zugleich, indem sie die Geschichte des Scheiterns der RAF in den damals gültigen Kontext höher einzustufender Loyalitäten stellt. Dabei benennt sie eine Reihe externaler Ursachen, die sich wie die Glieder einer Kette aneinanderreihen und die Akteure von persönlicher Verantwortung entlasten: die gesellschaftliche Situation und die Verstrickung der Eltern-Generation in die Untaten des Faschismus, die aus der Oppositionshaltung resultierenden strikten moralischen Überzeugungen, der Kampf für Unterdrückte und gegen Unterdrücker als Teil eines historischen und internationalen Prozesses sowie schließlich der selbst gewählte Status als politische Avantgarde mit den „logischen“ Folgen der Illegalität, Isolierung und Militarisierung. Erst im letzten Teil ihrer Darstellung löst sich die Autorin aus dem damaligen Legitimationskontext und stellt in Form von Konzessionen ihre eigene – nunmehr kritische – Haltung zu den Ereignissen in den Vordergrund.17 17
Innerhalb und außerhalb der eigenen Reihen ist ihr Legitimationsangebot breit diskutiert worden und sowohl auf Verständnis (vgl. Richter 1996a; 1996b) als auch auf zum Teil vehemente Ablehnung (vgl. Reemtsma 2005) gestoßen. Zu Hogefelds Rolle im Zerfallsprozess der RAF vgl. Straßner 2003, 215f.
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Ziel der hier vorgenommenen Textanalyse war es, im Sinne einer kulturwissenschaftlichen Bewusstseinsforschung Beziehungen zwischen Ereignisstrukturen und Erzählstrukturen transparent zu machen. Dabei diente Birgit Hogefelds Rekonstruktion eines Ausschnitts der jüngeren Zeitgeschichte sowohl in Bezug auf die Wahl der Erzählgattung als auch hinsichtlich der eingesetzten Argumentationsstrategien als kultureller Indikator: Hogefelds Text ist – ebenso wie die Bekennerschreiben und programmatischen Schriften der damaligen Zeit – Ausdruck des eminenten Bedürfnisses terroristischer Gruppierungen, die politischen Beweggründe des eigenen Handelns zu vermitteln, und bietet so einen Einblick in die relevanten normativen Grundmuster des linksterroristischen Milieus. Zugleich eröffnet Hogefelds Darstellung einen Zugang zu ihren persönlichen Erinnerungs- und Bewusstseinsprozessen: Das argumentative Grundmuster aus Konzessionen einerseits und der Berufung auf höhere Loyalitäten andererseits macht ihre ambivalente Haltung zwischen früheren Überzeugungen und rückblickender Distanzierung deutlich und verweist damit auch auf das Problem der (Neu-)Bewertung der eigenen Lebensgeschichte. In ihrer großen Rechtfertigungsgeschichte erklärt Birgit Hogefeld nicht nur die Geschehnisse einer „diskreditierten Epoche“, sondern sie entwirft für und von sich ein Bild „jenseits der RAF“.
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Erzählen im Internet 1. Generation Internet Mehr als ein Jahrzehnt ist vergangen, seit Ingo Schneider sich 1996 dem Internet aus der Sicht der Erzählforschung zuwandte und dort – vor allem in den „newsgroups“ und „mailing lists“ – auf eine beeindruckende Formenvielfalt und Menge an alltäglichem Erzählen stieß. Das Internet, so Schneider (1996, 26), „wird zum Ort alltäglichen Erzählens“ und der Computer „zum Medium alltäglicher Kommunikation“, wobei das Internet sich von anderen Medien dadurch unterscheide, dass es Interaktivität gestatte. Lag die Zahl der Internet-Nutzer Anfang 1995 weltweit noch bei etwa 32 Millionen (ebd., 12), von denen ein sehr großer Teil dem universitären Bereich angehörte, so geht man für das Jahr 2008 bereits von weltweit etwa 1,3 Milliarden Nutzern aus. Gewachsen ist aber nicht nur die Zahl der Nutzer, sondern auch die Fülle der Sprachen, Inhalte, Formen und technischen Möglichkeiten. War die Sprache des Internet in den 1990er Jahren noch dominant das Englische als globale lingua franca, so sind heute nahezu alle Sprachen der Welt im Internet vertreten, ist das Internet also national oder sogar regional geworden. Zunehmend fungiert es zudem auch als weltweites Kommunikationsmedium für Migranten, die über das Netz Verbindung zu ihrer Heimat halten. Immens gewachsen ist seither auch die Vielfalt der Inhalte im Internet, so dass man mit einiger Berechtigung sagen kann, dass es heute kaum noch irgendwelche Inhalte gibt, die nicht im Internet zu finden sind. Zugenommen hat seither aber auch die Zahl der technischen Möglichkeiten und Formen: Möglich ist heute nicht nur das Herunterladen riesiger Datenmengen, sondern auch das unbegrenzte Versenden von elektronischer Post (E-Mail), sehr oft mit Bild- oder Musikdateien, sowie das (fast kostenlose) Telefonieren über das Internet, was für das Erzählen erhebliche Bedeutung hat. Enorme Ausmaße angenommen hat auch die Versendung von Kurzbotschaften (SMS), von denen täglich Millionen über die Netze der Mobiltelefonanbieter gehen (cf. Domokos 2007). Computer und Internet sind heute aus dem Leben der meisten Menschen
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– vom Kind bis zum älteren Erwachsenen und auch durch fast alle Sozialschichten – nicht mehr wegzudenken. Die Folge ist ein extrem hohes Maß an Kommunikation und virtueller Vernetzung, aber auch eine zunehmende Überflutung mit Informationen und eine „signifikante Vereinsamung und Isolation“ (Schneider 1996, 26), besonders bei der heute aufwachsenden „Generation Internet“ (s. Palfrey/Gasser 2008). Die rasante Entwicklung des neuen Mediums hat, hierin ist Schneider (2008) zuzustimmen, eine äußerst lebendige Erzählkultur ermöglicht, wobei E-Mails eine herausragende Rolle spielen. Das Erzählen im Internet ist, daran kann kein Zweifel mehr bestehen, zu einer der heute sehr wichtigen Formen verbaler Kommunikation geworden, die das persönliche Erzählen im Alltag ergänzt. Ob das Erzählen im Internet aber das Faceto-face-Erzählen ersetzt oder ersetzen wird, ist angesichts seiner kommunikativen Eindimensionalität fraglich. Im Folgenden wird es mir darum gehen, einerseits Überlegungen zu dieser Art des medialen Erzählens und zu dessen theoretischer Bestimmung anzustellen und andererseits einen Überblick über die Formen, Inhalte und Funktionen dieses medialen Erzählens zu geben.
2. Erzählen im Internet: Kommunikation zwischen Oralität und Literalität Das Erzählen im Internet als neue Form der sozialen Kommunikation stellt die Erzählforschung nicht nur vor neue Forschungsfelder, sondern auch vor neue theoretische und methodologische Fragen. Hat die volkskundliche Erzählforschung sich lange Zeit ausschließlich mit der oralen Tradierung von Erzählstoffen beschäftigt und sich erst seit den 1970er Jahren intensiver mit Formen der schriftlichen Vermittlung von populären Erzählstoffen auseinander gesetzt, so stellt die Internet-Kommunikation die Narrativistik wiederum vor neue Fragen, vor allem vor die schwierige Frage, um welche Art von Kommunikation zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit es sich hier eigentlich handelt. Einen ersten Ansatz zur Beantwortung dieser Frage kann die Beschäftigung mit den verschiedenen Formen der popularen Lesestoffe und der Massenliteratur bieten. Ausgehend von Pëtr Bogatyrëvs und Roman Jakobsons Ausführungen zur Folklore (1929) wandte sich Aleida Assmann 1983 jenen Kommunikationsformen zwischen oraler Kommunikation und literaler bzw. technischer Kommunikation zu, die bei der Alphabetisierung der mittleren und unteren Schichten der Bevölkerung seit dem 18. Jahrhundert eine herausragende Rolle spielten. Die Inhalte der „Lese-
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stoffe der kleinen Leute“ (Schenda 1976) waren zu einem erheblichen Teil aus der mündlichen Volksüberlieferung bezogen und verschriftlicht worden. Kennzeichnend für diese Phase war das massenhafte Auftreten von Texten, die Assmann als „schriftliche Folklore“ bezeichnet, wobei für den Vorgang der Verschriftlichung nicht so sehr die Inhalte, sondern vielmehr die spezifischen Arten des adaptierenden, variierenden, fragmentierenden, kompilierenden Umgangs mit den Texten wichtig sind: Trotz ihrer Überführung in das Medium des Buchdrucks trägt diese Literatur deutliche Merkmale der „folkloristischen Kommunikation“ und folgt damit den Prinzipien der Volksüberlieferung. Literarische Texte hingegen folgen den Prinzipien der „literarischen Kommmunikation“ mit ihrer Konzentration auf das einmalige und unveränderliche Originalwerk. Die klassische Trennung zwischen einerseits schriftlicher = literarischer Kommunikation und andererseits mündlicher = folkloristischer Kommunikation ist somit in der Popular- bzw. Massenliteratur aufgehoben (cf. Roth 1989). Aleida Assmann hat fünf Merkmale herausgearbeitet, „die den folkloristischen Texttyp in seinen spezifischen Produktions- und Rezeptionsbedingungen vom literarischen abheben“ (Assmann 1983, 179ff.). Sie alle lassen bereits eine Relevanz auch für das Erzählen im Internet erkennen: I. Das Merkmal Werk als offene Einheit verweist auf den hohen Grad an Fluidität und auf die nahezu unbeschränkte Möglichkeit der Kompilation aus allen verfügbaren Quellen; dem heutigen Computer-Nutzer ist dieses kompilative Vorgehen bestens vertraut, konkret in Form des beliebten „copy-and-paste“-Verfahrens. II. Das Merkmal Variantenstatus verweist auf die z. T. extreme Variabilität in der Textgestaltung, auf die prinzipielle Offenheit für formale und inhaltliche Eingriffe, für Exzerpte und Zufügungen, für Adaptationen aller Art, darunter auch für die Übertragung in andere Sprachen und Kulturräume. Eine hohe Variabilität wird von allen Autoren auch den im Internet verbreiteten Texten attestiert. III. Das Merkmal Autor und Autorität bezeichnet die (prinzipielle) Anonymität dieser „Zwischenliteratur“, die prinzipiell von „jedermann“, der die technischen Voraussetzungen und das Wissen mitbringt, produziert werden kann. Nicht der individuelle Autor ist wichtig, sondern der Nachweis von Glaubwürdigkeit durch die Berufung auf Autoritäten. Analoges gilt – nach Meinung der meisten Forscher – auch für das Erzählen im Internet. IV. Das Merkmal Unikat und Serie stellt für die popularen Lesestoffe die Tatsache heraus, dass sie prinzipiell nie Unikate sind, sondern „Glieder einer Serie“, wobei die nachfolgenden Texte die vorangegangenen auslöschen; wesentliches Kennzeichen der Texte ist die Wiederholung
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und Vervielfachung, ihre massenhafte Verbreitung, die zumeist nur von kurzer Dauer ist bzw. deren „eigene Konstanz als Dauer im Wandel“ besteht (Assmann 1983, 181). Analoges scheint für das Internet-Erzählen zu gelten. V. Das Merkmal Gebrauchscharakter stellt die Eigenschaft der Popularliteratur heraus, im Gegensatz zur Hochliteratur ganz auf den konkreten Praxisbezug im Alltag und auf die Vergänglichkeit der Kommunikate ausgerichtet zu sein. Genau diese Eigenschaften werden auch der Internet-Kommunikation zugeschrieben. Jedes der fünf Merkmale der „schriftlichen Folklore“ bzw. der „folkloristischen Kommunikation“ in gedruckter Form ist also, so legen es die bisherigen Arbeiten zur Internet-Kommunikation nahe, unmittelbar anwendbar auf die Kommunikation im Internet, obwohl sich das Druckerzeugnis Buch – als Teil der Massenkommunikation – in technischer Hinsicht deutlich von dem elektronischen Medium Internet unterscheidet. Mehrere Autoren heben die Offenheit, die hohe Variabilität, die Anonymität, den seriellen Charakter und den Gebrauchscharakter des Erzählens im Internet hervor, doch scheinen diese Merkmale allein die Spezifik der Internet-Kommunikation bzw. des Erzählens im Internet nicht hinreichend zu erklären. Um hier mehr Klarheit zu schaffen, möchte ich im Folgenden die Internet-Kommunikation im Spannungsfeld zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit sowie zwischen face-to-face und Massenkommunikation einzuordnen versuchen. Im Zentrum soll damit die Frage stehen, ob und inwieweit Erzählen im Internet eine Variante der von Assmann dargestellten „schriftlichen Folklore“ und somit der „folkloristischen Kommunikation“ ist.
3. Erzählen im Internet als „folkloristische Kommunikation“? Das Internet bietet, so ist deutlich geworden, wegen seiner auf Kommunikation und Interaktion basierenden Struktur sehr gute Voraussetzungen für eine große Vielfalt an Formen, Inhalten und Praxen des Erzählens. Es bietet diese Voraussetzungen aber auch aufgrund der – im Verhältnis zum gedruckten Buch – erheblichen Flexibilität in fast allen Aspekten des kommunikativen Prozesses, eine Fluidität, die diese Form des Erzählens als eine Variante der face-to-face Kommunikation erscheinen lässt. Um hier mehr Klarheit zu verschaffen, ist ein genauerer Blick auf (a) die Art der Internet-Kommunikation, (b) die Kommunikatoren, (c) die Kontextbedingungen und (d) die vermittelten Botschaften notwendig.
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(a) Internet-Kommunikation zwischen direkter und Massenkommunikation Bei der Internet-Kommunikation handelt es sich einerseits um eine Form der indirekten, durch technische Medien vermittelten Kommunikation, was sie in die Nähe der Massenkommunikation rückt (cf. Schneider 1996, 8–11; Brednich 2005, 7–12), doch weist sie andererseits Merkmale der direkten face-to-face Kommunikation auf. Dies wird zumindest von den Nutzern vielfach so empfunden, die die Internet-Kommunikation sogar mit der face-to-face Kommunikation gleichsetzen1. Letzteres muss aber wohl als Selbsttäuschung betrachtet werden, handelt es sich beim Internet doch bestenfalls um eine „screen-to-screen“-Kommunikation (Schneider 2008, 242), um die „Simulation von face-to-face“ (Schönhagen 2004, 47), realiter also um eine „solo performance“ (Fialkova 2001, 77). Sowohl von den Nutzern als auch von den Forschern wird stets die Interaktivität der Internet-Kommunikation, ihre Wechselseitigkeit als wesentliches Merkmal herausgestellt (Fialkova 2001, 78 f.; Schönhagen 2004, 1 f., 6, 11 u. a.). Anders als bei der strukturellen Einseitigkeit der Massenkommunikation, die nur ein sehr geringes Maß an Interaktivität (in Form von Feedback und Kritik) erlaubt, zeichnet sich das Internet durch sein zumindest potentielles „give-and-take“, die Möglichkeit des Rollentausches aus2. In Bezug auf das Erzählen im Internet ist hier allerdings, wie später noch zu diskutieren sein wird, nach dem Grad der Interaktivität stark zu unterscheiden. Auch in Hinsicht auf seine „Lebensdauer“ steht das Erzählen im Internet eher der mündlichen als der schriftlichen Kommunikation nahe. Viele Autoren betonen die Flüchtigkeit und Vergänglichkeit, aber auch die Schnelligkeit und Lebendigkeit dieses medialen Erzählens3, die dieses abhebt von der (prinzipiellen) Langsamkeit und Dauerhaftigkeit des gedruckten Wortes („Papier ist geduldig“); hinzuweisen ist allerdings auf die Schnelligkeit und oft sehr kurze Lebensdauer von ephemeren Druckerzeugnissen, etwa von Zeitungen und auch von den meisten popularen Lesestoffen, die als Gebrauchsliteratur schnell gelesen und weggeworfen wurden. Betont worden ist von mehreren Forschern, dass die InternetKommunikation wohl schriftlich sei, dass es sich hier aber um eine spezifische Form von Schriftlichkeit handele. Die Flüchtigkeit und Lebendigkeit des elektronisch übermittelten Wortes hat – gerade in der E-mail 1 2 3
Cf. Fialkova 2001, 75; Schönhagen 2004, 11 und Enzensberger 2000, 94 f. Cf. Brednich 2005, 13, 19; Kropej 2007, 13, Schneider 2008, 242, Schönhagen 2004, 11 u. a. Fialkova 2001, 78 ff., Kropej 2007, 13 und Schneider 2008, 230.
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Kommunikation, in chatrooms, newsgroups usw. – Formen des Schreibens hervorgebracht, die eine Nähe zur mündlichen Kommunikation aufweisen, sich von dieser aber dann doch darin unterscheiden, dass die Texte fast immer sprachlich redigiert werden (Fialkova 2001, 78). (b) Die Autoren und Rezipienten Nicht eindeutig einzuordnen ist das Erzählen im Internet auch hinsichtlich der Autoren bzw. Kommunikatoren und ihrer Leistung. Betont wird von vielen Forschern4 wie auch Nutzern die (prinzipielle) Anonymität und Kollektivität des Erzählens sowie auch die Einmaligkeit der Performanz. Dies rücke das Erzählen in die Nähe der mündlichen Kommunikation und unterscheide es von der Massenkommunikation und besonders von der literarischen Kommunikation, bei der das Individuum und dessen Autorenschaft im Vordergrund stehe und die durch Massenhaftigkeit der Rezeption gekennzeichnet sei. Wiewohl im Internet die Autoren und Vermittler in vielen Fällen durchaus bekannt sind, etwa als Absender von E-Mails, ist doch ist die individuelle Zuschreibung der Autorschaft – wie auch bei der Popularliteratur – letztlich nicht relevant, ist also die „Verschleierung der Herkunft“ (Schneider 2008, 230) das Typische. In Bezug auf die Rezeption ist anzumerken, dass im Internet zwar die Punkt-zuPunkt-Kommunikation vorherrscht, dass aber gerade durch die oftmals riesigen Verteilerlisten das Erzählen im Internet nicht selten recht massenhafte Formen annimmt, die es mit der Massenkommunikation vergleichbar machen. (c) Die Kontexte des Internet-Erzählens Der genauere Blick auf die Kontextbedingungen erweist, dass die Internet-Kommunikation auch hier recht schwer einzuordnen ist zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Die mündliche face-to-face Kommunikation ist definiert durch die Einheit von Zeit, Raum und Gruppe: Die Synchronizität und Lokalität der Performanz erlaubt die sofortige Reaktion und Interaktion der Beteiligten; diese bilden eine soziale Einheit („Erzählgemeinschaft“), die durch Überschaubarkeit, Geschlossenheit und Endlichkeit gekennzeichnet ist. Die enge kommunikative Bindung zwischen Erzähler und Zuhörer in diesem dichten Kontext schafft einerseits Intimität und Privatheit, dadurch aber andererseits auch ein hohes 4
Cf. Brednich 2005, 20; Domokos 2007, 53; Kropej 2007, 13.
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Maß an direkter Sozialkontrolle, die den Erzähler zu verantwortlichem Handeln im Sinne der Gruppennormen zwingt (cf. Edwards 1994). Das wesentliche Merkmal der medialen Kommunikation ist hingegen die Disjunktion von Zeit, Raum und Gruppe: Autor und Leser, Sender und Empfänger sind prinzipiell von einander unabhängig, sie sind räumlich getrennt, ihre Kommunikation ist asynchron und Reaktionen (Feedback) sind, wenn es sie denn gibt, stets zeitverzögert. Die Rezeption ist prinzipiell weltweit möglich. Jede medial vermittelte Kommunikation ist damit gekennzeichnet durch (prinzipielle) Offenheit, Unendlichkeit und Unüberschaubarkeit, ihr sozialer Raum ist die Öffentlichkeit, in der soziale Kontrolle indirekt wirksam werden kann, etwa durch Leserbriefe, Zensur und Selbstzensur. Der Dichte des Kontextes der mündlichen Kommunikation steht hier die (prinzipielle) Beliebigkeit und Gleichgültigkeit des Kontextes, ja die (prinzipielle) Befreiung aus dem Kontext des Hier und Jetzt gegenüber. Welchen Ort zwischen diesen beiden Kontexten nimmt nun das Erzählen im Internet ein? Generiert das Internet neue Arten von Kontexten? Zunächst einmal ist zu konstatieren, dass es sich bei der InternetKommunikation – wie bei jeder medialen Kommunikation – um eine räumlich disjunkte Kommunikation handelt, die mehr noch als bei der Massenkommunikation eine weltweite Rezeption gestattet (Brednich 2005, 20; Schönhagen 2004, 9); und auch wenn der Austausch zwischen Kommunikationspartnern sehr rasch erfolgen kann, ist doch die zeitliche Trennung zwischen Botschaft und Reaktion ihr bezeichnendes Charakteristikum (cf. Fialkova 2001, 76; Schönhagen 2004, 11 f.). Der Erzähler hat also bei seiner „solo performance“ fast nie ein „immediate feedback“ (Fialkova 2001, 76 f.), so dass seine Präsenz eine virtuelle ist (Schönhagen 2004, 52), eine Fiktion von direkter sozialer Interaktion. Das einsam und dekontextualisiert vor seinem Bildschirm sitzende, die Tastatur seines Computers bearbeitende und auf Reaktionen von irgendwo in der Welt hoffende Individuum ist, so scheint es, der typische Erzähler des Internets. Nicht erfüllt haben sich zudem die Hoffnungen, das Internet werde als demokratische Institution eine neue Art von „Agora“, eine globale zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit herstellen und zu intensiverer politischer Beteiligung führen; Schönhagen (2004, 10–13, 54–56) bezeichnet diese „Internet-Agora“ wohl zu Recht als Mythos. Das Internet erzeugt – trotz seiner prinzipiellen allgemeinen Verfügbarkeit – allenfalls Netzwerke und spezialisierte Teilöffentlichkeiten, was sogar eher zu einem Abbau öffentlicher Räume (cf. Schneider 1996, 12) führen kann. Bezeichnend ist vielmehr, dass das Internet, gefördert durch die Einsamkeit des Nutzers vor seinem Bildschirm, einen Kontext erzeugt, in dem die Fiktion von Intimität und Privatheit entstehen kann. Es schafft eine öffentliche Pri-
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vatheit bzw. private Öffentlichkeit (Schönhagen 2004, 11), der sehr viele Erzähler bedenkenlos ihre privatesten Erlebnisse und Erfahrungen anvertrauen und in der sie – bei geringer oder fehlender Sozialkontrolle und narrativer Verantwortung – auch Indiskretionen, Enthüllungen, Klatsch und Gerüchte austauschen, aber auch (anonyme) Ratschläge und Lebenshilfe erwarten. Das Internet hat, so scheint es, einen eigenen, sehr spezifischen Kontext der sozialen Kommunikation und damit des Erzählens kreiert. Es ist ein diffuser, eigentümlich unbelebter Kontext, in dem die Fülle der Elemente der lebendigen mündlichen Performanz auf das rein Verbale reduziert ist oder, um es in den Begriffen von Paul Watzlawick (1969) auszudrücken, der Inhaltsaspekt ganz eindeutig über den Beziehungsaspekt dominiert. Auffällig ist auch, dass hinsichtlich der Herkunft, der Quellen und der konkreten Kontexte der Erzählinhalte weitgehend Schweigen herrscht (s. Brednich 2005, 14), die Erzählstoffe also weitgehend dekontextualisiert vermittelt werden. (d) Sprache und Inhalte des Erzählens Auch die vermittelten Botschaften, die Inhalte und die sprachliche Form des Erzählens im Internet deuten auf dessen ambivalente Position zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit hin. Ist die literarische Kommunikation und weithin auch die Massenkommunikation gekennzeichnet durch die Geschlossenheit und Festigkeit des Werks sowie auch durch seine prinzipielle Unveränderlichkeit, die durch den Urheberschutz (Copyright) sogar rechtlich abgesichert sein kann, so wird von allen Forschern die Offenheit der Internet-Kommunikation hervorgehoben: Vor allem seine hohe Flexibilität, Variabilität, Adaptivität und Variantenbildung5 lassen das Erzählen im Internet als eine Form der „folkloristischen Kommunikation“ erscheinen. Dieser Eindruck wird verstärkt durch die verwendete Sprache, denn hier handelt es sich zumeist um eine informelle Alltagssprache mit oft nur schwach ausgebildeter syntaktischer Struktur und viel impliziter Information; nicht zu übersehen ist auch die häufige Formelhaftigkeit und Traditionalität des Erzählten. Dies alles unterscheidet die Internet-Kommunikation von der Formalität und Innovativität der literarischen Kommunikation, die sich durch syntaktische Strukturiertheit und Explizitheit sowie ein anspruchsvolles Sprachniveau auszeichnet. Hinsichtlich des Sprachniveaus besteht allerdings eine gewisse Nähe zwischen Internet-Erzählen und Popularliteratur. 5
S. dazu Brednich 2005, 22; Domokos 2007, 53 f.; Krawczyk 2006, 251; Fialkova 2001, 76.
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Diesen Merkmalen der folkloristischen Kommunikation steht freilich entgegen, dass die Texte im Internet von den Schreibern in der Regel sprachlich redigiert werden und dass es hinsichtlich des Sprachniveaus ganz erhebliche Unterschiede gibt. Wichtiger noch ist aber, dass im Unterschied zur mündlichen Kommunikation das Erzählen im Internet ein rein verbales ist, also ein Erzählen, bei dem die paraverbalen und nonverbalen Dimensionen weitestgehend fehlen. Trotz der gelegentlichen Verwendung bestimmter Symbole oder Verbalisierungen für para- und nonverbale Botschaften ist das Erzählen im Internet also letztlich immer eindimensional und kann niemals die Tiefe und Emotionalität der direkten mündlichen Kommunikation erreichen. Hinzu kommt, dass das vielfach als lingua franca des Internet genutzte Englisch6 für zahllose Nutzer weltweit eine wenig differenziert verwendete Fremdsprache ist. In den letzten Jahren zeigt sich allerdings gerade bei Erzählstoffen eine wachsende Tendenz hin zum Gebrauch der National- und Regionalsprachen, man denke nur an die zunehmend in Nationalsprachen publizierten Witz-Seiten. Gefördert wird diese Entwicklung durch die Tatsache, dass das Internet immer häufiger als Medium der Information und des erzählerischen Austausches von Migranten, Expatriates und Austauschschülern und -studenten genutzt wird, die damit in ihrer Heimatsprache den Kontakt zu ihrem Herkunftsland halten und ihre Erlebnisse und Begegnungen mit Fremdheit thematisieren. Das alltägliche Erzählen im Internet ebenso wie die kursierenden Witze, modernen Sagen und andere Inhalte machen es überaus deutlich, dass das Erzählen im Internet – ebenso wie die Popularliteratur – fast ausschließlich Gebrauchscharakter hat.
4. Inhalte und Gattungen Wegen der dargestellten Eigenschaften des Erzählens im Internet ist es ein schwieriges Unterfangen, die unüberschaubare Fülle der im Internet kursierenden Erzählinhalte zu kategorisieren. Möglich ist natürlich eine Klassifikation nach traditionellen und neuen Gattungen, doch scheint es mir angesichts der Tatsache, dass von Laien wie von Forschern immer wieder die Interaktivität der Kommunikation als zentrales Merkmal des Internets hervorgehoben wird, sinnvoll zu sein, hier anzusetzen. Der Blick ins Internet erweist nämlich, dass es zwischen den verschiedenen Erzählinhalten im Grad der Interaktivität markante Unterschiede gibt, ja dass man von einem Kontinuum an Graden der Interaktivität sprechen kann. Steht an dem einen Ende der Skala die völlig einseitige Kommunikation, 6
S. dazu Schneider 1996, 14; Brednich 2005; 20; Fialkova 2001, 76, 78.
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in der feste Erzählinhalte, also geformte Erzählungen wie ein Buch ins Netz gestellt sind, so findet sich am anderen Ende der Skala, etwa in chatrooms, der völlig interaktive und nahezu synchrone Austausch von alltäglichem Erzählen. Eine Einordnung des Erzählens im Internet nach dem Grad der Interaktivität kann jedoch nur von einer ungefähren Gruppierung ausgehen, bei der es zudem Überlappungen und unscharfe Grenzen gibt. Es zeigt sich aber, dass eine solche Einordnung überraschend deutlich bestimmte Inhalte und Gattungen zusammenfasst, was darauf hinweist, dass die verschiedenen Formen und Gattungen des Erzählens unterschiedliche Grade an Interaktivität nahe legen bzw. zulassen. Diese Tatsache kommt bereits darin zum Ausdruck, dass dem Nutzer je nach Gattung ein unterschiedliches Maß an Interaktivität angeboten wird; WitzSeiten etwa bieten dem Nutzer zumeist nur an, Witze zu bewerten und weitere einzusenden. Möglich ist angesichts der nur ungefähren Bestimmung des Grades an möglicher und realisierter Interaktivität in den elektronischen Medien nur die Einteilung in drei Gruppen: (a) Erzählungen ohne Interaktivität, (b) Erzählungen und Erzählen mit begrenzter Interaktivität und (c) Erzählen mit einem hohen Grad an Interaktivität. Unter dem Begriff „elektronische Medien“ werden im Folgenden sowohl das Internet als auch E-Mail, SMS und alle ähnlichen für das Erzählen relevanten Formen der elektronischen Datenübermittlung zusammengefasst. a. Erzählungen in den elektronischen Medien ohne Interaktivität Im Internet sind, so weit sich überschauen lässt, alle traditionellen Erzählgattungen zu finden. Neben Märchen sind traditionelle Sagen, Magie und Hexerei, Wundergeschichten und Legenden, Sprüche, Redensarten und Sprichwörter reichhaltig vorhanden. Überaus zahlreich sind auch populare Lesestoffe, insbesondere Ratgeberliteratur in Form von Gesundheitsbüchern, Kochbüchern (bzw. Rezeptsammlungen) oder Traumbüchern7. In den meisten Fällen handelt es sich um ins Netz gestellte Bücher bzw. Sammlungen. Zu letzteren zählen auch wissenschaftliche Dokumentationen und Archive von aufgezeichneten Erzählungen, die ins Netz gestellt sind. Auch die fortschreitende Digitalisierung ganzer Bibliotheken macht immer mehr Sammlungen von Erzählungen aller Art im Internet verfügbar.
7
Unter dem Stichwort „dreambook” finden sich bei Google mehr als eine Million Einträge; als Beispiel cf. http://www.mydreams.ca/Dreambook.html.
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b. Erzählungen und Erzählen in elektronischen Medien mit begrenzter Interaktivität Diese Gruppe, die dem Nutzer eine begrenzte Möglichkeit der Interaktion gestattet oder nahe legt, ist sehr wahrscheinlich die größte. Zu ihr gehören die in fast allen Sprachen zahlreich vorhandenen Webseiten, in denen Witze und andere komische Prosa (Oring 2003; Brednich 2005) oder moderne Sagen8 verbreitet werden, wobei die Grenze zwischen beiden Gattungen fließend ist, wie etwa die Folklore über den 11. September 2001 zeigt9. Bei diesen Webseiten handelt es sich durchweg um fest strukturierte und (z. T. durch Fachleute) betreute Sammlungen von Witzen oder Sagen, die sich von gedruckten Sammlungen dadurch unterscheiden, dass sie durch Einsendungen flexibel veränderbar sind. Im Grad der Veränderbarkeit zeigen sich aber zwischen den Webseiten Unterschiede. Während einige nur eine sehr geringe Interaktion zulassen, geben die meisten dem Leser die Möglichkeit, seine Meinung zu äußern oder weitere eigene Witze oder Sagen auf die Website zu stellen, also als Datenlieferant zu fungieren. Besonders aufschlussreich für den Leser, mehr aber noch für den Erzählforscher sind jene Witz-Seiten, die genauere Angaben über die Witze machen. Als Beispiel sei die größte und am besten gepflegte bulgarische Witz-Plattform10 angeführt, auf der mehr als 10.000 Witze zu finden sind (Roth 2008, 556–559). Die Webseite ist klar strukturiert und wird ständig aktualisiert. Die Witze sind, wie anderweitig auch, nach Kategorien geordnet, die teils international, teils landestypisch sind, doch darüber hinaus finden sich zu jedem Witz noch Angaben zum Einsender und dem Tag der Einsendung. Der Besucher hat die Möglichkeit, den Witz an Freunde weiterzuleiten und seine Stimme für ihn abzugeben; die Zahl der für den Witz abgegebenen Stimmen ist ebenfalls angegeben, wodurch sich Aussagen über seine Popularität machen lassen. Nirgendwo sonst als auf solchen Webseiten kann man einen so kompakten Überblick über die aktuellen Tendenzen des Erzählens und über die Internationalität und die nationale Spezifik von Witzen gewinnen. Letzteres wird bei den das Material strukturierenden Hauptkategorien und Untergruppen [UG] der Witz-Seite deutlich: (1) Tiere [3 UG], (2) Beliebte Helden [10 UG, darunter Märchenfiguren], (3) schmutzige Witze [7 UG, darunter vieles über Homosexuelle], (4) nationale bzw. ethnische Witze [8 UG, darunter vor allem Witze über Roma], (5) Trinker [3 UG], 8 9 10
Sammlungen von urban legends finden sich z. B. unter den Adressen http://urbanlegends.about.com und http://www.snopes.com/horrors/horrors.asp. S. zu diesem Thema Ellis 2003; Kalapoš 2002; Kuipers 2002. Unter der Adresse http://www.vicove.gbg.bg/.
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(6) politische Witze [4 UG], (7) Berufsgruppen [19 UG, darunter vor allem Polizisten und Zöllner], (8) Radio Jerewan, (9) Verschiedenes, (10) Familien-Witze [6 UG, darunter viel über Ehebruch], und schließlich (11) schwarzer Humor [5 UG, darunter rassistische Witze]. Von besonderem Interesse ist die große Zahl von Witzen mit Märchenmotiven und über Märchenfiguren, wobei – neben Väterchen Frost, Drache Spaska, Bär Puch und dem Wünsche erfüllenden Fisch – vor allem Rotkäppchen sehr beliebt ist. Ein etwas höheres Maß an Interaktivität ist bei den per mailing lists, newsgroups (cf. Schneider 1996, 2008) und E-Mails vermittelten Geschichten festzustellen. Die so vermittelte „Internet-lore“ oder „E-Lore“11 hat einen ganz erheblichen Anteil am heutigen Erzählen im Internet. In großer Zahl kursieren hier Witze und moderne Sagen sowie Geschichten über außergewöhnliche Ereignisse und Erscheinungen (Fialkova 2001), darunter Geschichten über UFOs und Katastrophen und EndzeitGeschichten (Howard 1997). Ein Teil dieser Geschichten ist traditionell und wird von den Empfängern lediglich weitergereicht. Bei zahlreichen anderen hingegen handelt es sich um teils reale, teils angebliche persönliche Erlebnisgeschichten, um lebensgeschichtliche Erzählungen, um ungewöhnliche Träume sowie – in immer größerem Maße – um Kulturkontakterzählungen (cf. Roth 2004a), etwa um Fremdheitserfahrungen von Reisenden oder von Migranten. Es sind zu einem guten Teil Erfahrungsgeschichten, die einerseits unterhalten, andererseits aber auch anderen helfen oder Erinnerungen wach halten sollen. In Bezug auf das Wachhalten von Erinnerungen sind jene Webseiten von wachsender Bedeutung, auf denen systematisch Geschichten von Zeitzeugen erhoben und diese dann – meist mit einer gewissen redaktionellen Bearbeitung – auf die Webseite gestellt werden. Solche Oral History-Geschichten finden sich etwa auf einer von der Stuttgarter Zeitung gestalteten Webseite12, auf der Zeitzeugenberichte über das Alltagsleben in Stuttgart von 1900 bis zur Gegenwart chronologisch geordnet präsentiert werden, oft von den Einsendern mit Fotografien versehen, und die Leser zu Kommentaren und Ergänzungen aufgerufen werden. Ziel ist es, die Alltagsgeschichte Stuttgarts aufzuarbeiten, wobei jedermann als Chronist zum Erzähler und Kommentator von Erlebnissen werden darf. DER SPIEGEL betreut eine ähnliche Webseite zur Zeitgeschichte seit 190013, bei der jeder Mitglied werden und Zeitzeugenberichte verfassen, Themen vorschlagen, Fotos hochladen oder mit anderen Mitgliedern 11 12 13
Hathaway 2003; Krawczyk 2006; Domokos 2007. Unter der Adresse http://www.von-zeit-zu-zeit.de/. Unter der Adresse http://einestages.spiegel.de/page/Home.html.
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diskutieren kann. Spielt in Deutschland die Aufarbeitung der NSGeschichte eine wichtige Rolle, so ist es in den postsozialistischen Ländern die erzählerische Aufarbeitung der für viele Menschen traumatischen sozialistischen Vergangenheit. So wurde in Bulgarien 2004 von Journalisten, Literaten und Psychologen eine Internet-Plattform14 eingerichtet mit dem Ziel, der Bevölkerung des Landes ein Forum zu öffnen, in dem jeder seine persönlichen Erinnerungen an das Leben unter dem Sozialismus niederschreiben und veröffentlichen kann, so dass auch bisher nicht gehörte Stimmen und Meinungen zu diesem Teil der Vergangenheit gehört werden – und um das Internet „as a valuable new platform for storytelling“ zu propagieren. Der Erlebnisgeneration soll so die Aufarbeitung erleichtert und bei den nachwachsenden Generationen die Erinnerung an die Zeit des Totalitarismus wach gehalten werden. Angesichts der offiziellen Politik des Verschweigens jener 45 Jahre ist dies ein für die Gesellschaft sicher heilsames und wichtiges Erzählen (Roth 2008, 552 f.). Viele hundert Bulgaren, darunter auch recht viele Emigranten, haben seit 2004 ihre großen und kleinen, negativen wie positiven Alltagserlebnisse aus jener Zeit eingesandt. Ein Teil der erzählten Erlebnisse ist in englischer Sprache verfügbar15. 2006 wurden 171 Erzählungen in Buchform veröffentlicht (Gospodinov 2006). Einen regelrechten Zwang zur Interaktivität versuchen zahlreiche E-Mails auszuüben. Geht es in den Kettenbriefen noch darum, unter Androhung böser Folgen die Fortsetzung der Kette der Briefe zu erzwingen (Schneider 2008), handelt es sich bei millionenfach versandten kriminellen E-Mails darum, die Empfänger mit Hilfe von erfundenen Geschichten und dem Versprechen von hohen Geldsummen zur Überweisung von „Gebühren“ und zur Angabe ihrer persönlichen Bankdaten zu verleiten (Roth 2004b); in anderen E-Mails werden mit dem gleichen Ziel hohe Lottogewinne in Aussicht gestellt. Die in Nigeria entwickelte, aber in der weit älteren Tradition betrügerischer Briefe stehende (cf. Dobreva 2007) und heute weltweit verwendete Betrugsmethode, der schon viele Menschen zum Opfer gefallen sind, ist gleichsam zum Synonym für InternetKriminalität geworden. Ohne Zweifel handelt es sich um die bislang massenhafteste und globalste Form des Erzählens von phantastischen Geschichten oder ‚Märchen‘, wobei der Zweck nicht Unterhaltung, sondern Überredung und Betrug ist. Beeindruckend ist, mit welchen erzählerischen Mitteln die Absender einerseits ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit und Aktualität zu erzeugen versuchen und andererseits für ihre Geschichten auf traditionelle Erzählstoffe und Motive zurückgreifen. In ihren als „wahre 14 15
Unter der Adresse http://www.spomeniteni.org (spomeniteni = unsere Erinnerungen). http://spomeniteni.org/content.php?handle=english.
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Geschichten“ präsentierten Lügenmärchen verwenden sie teils plumpe, meist aber raffinierte narrative und rhetorische Techniken der Überredung, die sowohl die Formalien der E-Mails als auch die präsentierten Inhalte betreffen und geschickt an Gefühle wie Gier und Mitleid, Hilfsbereitschaft und Frömmigkeit appellieren. Beachtlich ist aus Sicht der Erzählforschung der große Variantenreichtum dieser Lügengeschichten und die hohe Kreativität der Verfasser, die die Geschichten von anderen übernehmen und sie weitergeben und dabei die Formalien und Inhalte ihren jeweiligen Zielen und Adressaten unbekümmert anpassen. Darin offenbart sich ein recht hohes Maß an Interaktivität nicht nur zwischen den Schreibern und den zu ködernden Empfängern, sondern vor allem auch unter den Schreibern dieser E-Mails. c. Erzählen in elektronischen Medien mit einem hohen Grad an Interaktivität Einen noch höheren Grad an Interaktivität erreichen sicher die chatrooms oder Webchats, in denen sich die Teilnehmer unmittelbar miteinander austauschen (Beißwenger 2000), sowie die Weblogs oder Blogs (Bruns 2006; Möller 2006; Schmidt 2006). In dieser nahezu synchronen Internet-Kommunikation ist – ähnlich wie in den newsgroups und mailing lists – sehr viel alltägliches Erzählen enthalten, werden persönliche Erlebnisse und Erfahrungen, Ängste und Sorgen ebenso wie auch Träume16 beredet, und gerade die räumliche Distanz und Unbekanntheit der Gesprächspartner erzeugt eine oftmals beachtliche Bereitschaft, auch intimste Dinge mitzuteilen. Ein ähnlich offenes „Erzählen von sich selbst“ ist kennzeichnend geworden auch für die immer beliebter werdende Partnervermittlung per Internet (Herlyn 2001) wie auch für Todesanzeigen, In-memoriamAnzeigen und besonders virtuelle Friedhöfe im Internet (Schwibbe/Spieker 1999). Noch eine Stufe weiter gehen die immer komplexer und narrativer werdenden Internet-Spiele (Aupers 2007) sowie das „Second Life“ im Internet17, das parallele virtuelle Lebenswelten und Lebensgeschichten ermöglicht. Beide Formen, Internet-Spiele und Second Life, sind nicht nur hochgradig interaktiv, sondern bringen für viele Benutzer auch die Gefahr mit sich, die Grenze zwischen realer und virtueller Welt verschwimmen zu lassen. Niemand kann die weitere Entwicklung interaktiver narrativer Welten im Internet voraussagen, wichtig ist aber, dass die Narrativistik diese Entwicklungen aufmerksam beobachtet. 16 17
Cf. http://www.dreambook.com/. S. beispielsweise http://www.secretcity.de/.
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5. Formen des Erzählens und der Erzählforschung im Internet Die Forschung zu den tatsächlichen Praxen und Regeln der InternetKommunikation und vor allem des Erzählens im Internet steht erst am Anfang; deutlich ist aber schon, dass sich im Netz besondere Ausprägungen und Erzählgewohnheiten und eine bestimmte Etikette („netiquette“), ja eine eigene „Cyberculture“ (Escobar 1994; Todtenhaupt 1997) herausgebildet haben, auch was die benutzten Sprachen betrifft. Ebenso deutlich geworden sind mit dem immensen Anwachsen der Nutzer auch die Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen dieser Sphäre medialen Erzählens, so dass sich die Erzählforschung noch intensiv der von Ingo Schneider gestellten Frage widmen muss, ob das Internet wirklich „die unserer Zeit am besten entsprechende Erzählgelegenheit“ ist (Schneider 2008, 242) – und welche Folgen dies für die gesamte Erzählkultur und für die Erzählforschung selbst hat. Angesprochen waren bisher die wichtigsten primären Funktionen des Internets, nämlich seine herausragende Eigenschaft als Verbreitungsmedium von Erzählungen sowie als interaktive Plattform von alltäglichem oder autobiographischem Erzählen. Neben dieser primären Ebene des Erzählens hat sich seit einigen Jahren eine sekundäre Ebene der Forschung etabliert, wobei die Grenze zwischen beiden Ebenen oftmals unscharf ist. Auf den vielfachen Nutzen des Internets für die volkskundliche Forschung haben bereits Pöttler (1999), Hengartner (2001) und Voigt (2006) hingewiesen. Für die Erzählforschung ergeben sich aus dem Internet sehr wesentliche Möglichkeiten: Die ständig zunehmende Verbreitung des Erzählens und von Erzählstoffen macht es für den Erzählforscher zu einer faszinierend reichhaltigen und ständig aktuellen Quelle und zugleich zu einem Rechercheinstrument. Dies erlaubt ihm, an seinem heimischen Computer durchaus relevante und aussagekräftige Forschung zu betreiben, also das Internet selbst zum Forschungsinstrument zu machen und narrative Prozesse wie beispielsweise das Aufkommen, die Verbreitung und die Variabilität von Erzählstoffen „live“ zu verfolgen. Das Internet ist aber für die Erzählforschung nicht nur Forschungsinstrument, sondern es ist zunehmend auch Archivierungs- und Dokumentationsmedium, werden doch international immer mehr Datenbanken (Voigt 2006) von Erzählungen und auch Ergebnisse der Erzählforschung ins Netz gestellt. Allerdings steht eine Methodologie der Erzählforschung im und über das Internet, die die spezifischen methodologischen Probleme und die Formen und Bedingungen des Erzählens in diesem Medium berücksichtigt, noch aus.
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6. Einige Schlussfolgerungen Das Erzählen im Internet ist, so können wir zusammenfassen, eine Art der medialen Kommunikation, die in mancher Hinsicht der mündlichen, in anderer der schriftlichen Kommunikation nahe steht, die aber – aufgrund der Spezifik des Mediums Internet – durchaus eigene Formen und Regeln entwickelt hat. Das Erzählen im Internet erfüllt jene Kriterien der „folkloristischen Kommunikation“, die Aleida Assmann 1983 für die Popularliteratur aufgestellt hat, also Offenheit, Variabilität, Anonymität, Serialität und Gebrauchscharakter. Es verfügt aber darüber hinaus über Merkmale, die es von dieser Literatur unterscheiden und ihm ein eigenes Gepräge geben, etwa seine weitgehende Kontextlosigkeit und Globalität sowie vor allem seine (potentielle) Interaktivität. In Hinsicht auf das Erzählen im Internet ist allerdings zu bemerken, dass es keineswegs einheitlich ist, sondern in seinen kommunikativen Formen wie auch im Grad der möglichen und realisierten Interaktivität eine ganz erhebliche Spannweite aufweist. Stehen auf der einen Seite Sammlungen von Erzählungen, die quasi ins Netz gestellte Bücher sind und damit der literarischen und der Massenkommunikation nahe stehen, finden sich auf der anderen Seite Formen des fast synchronen Austausches, die recht nahe an die direkte mündliche Kommunikation kommen. Ein sehr großer Teil des Erzählens im Internet ist jedoch gekennzeichnet durch dazwischen stehende, z. T. spezifische neue Formen des Erzählens mit einem geringen bis mittleren Grad an Interaktivität, etwa Witz-Seiten und Oral-History-Seiten, die von den Lesern kommentiert und ergänzt werden können, die newsgroups und mailing lists, in denen Erlebnisse erzählt und Geschichten ausgetauscht werden, und schließlich die unerwünschten E-Mails, mit deren Absendern zu interagieren höchst gefährlich werden kann. Die Narrativistik wird die ganze Fülle und Vielfalt des Erzählens bei der unserer Zeit vielleicht wirklich „am besten entsprechenden Erzählgelegenheit“ in ihrem aufmerksamen Blick haben müssen.
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III. Erforschung des klassischen Erbes
Ruth B. Bottigheimer
From Printed Page to Thrice-Told Tales Manfred Grätz’s Das Märchen in der deutschen Aufklärung (1988) examined the book production of eighteenth-century German Feen-Märchen, the literary children and grandchildren of late seventeenth- and early eighteenthcentury French contes de fées and analyzed the reworkings that led to their later eighteenth-century transition into German Volksmärchen. Contes de fées were distinctly a book phenomenon in the eighteenth-century: no diary entry records overhearing a peasant telling a recognizable Zaubermärchen or conte de fées; no correspondence recounts an encounter with a country person telling an identifiable Zaubermärchen or conte de fées; and neither municipal chronicles nor ecclesiastical papers document a Zaubermärchen or conte de fées told by a rustic. Germany’s workers in city and country were people who had little time, less education, but were considered by Enlightenment educators to have a large need for moral improvement. For these readers educators had shortened, simplified, and moralized the Zaubermärchen and contes de fées, with which publishers saturated Germany’s population. By the early nineteenth century, Zaubermärchen and contes de fées existed among the folk and were abundantly documented. I would like to outline some intellectual, technical, and commercial mechanisms that transformed French Feen-Märchen into German VolksMärchen (to paraphrase Grätz’s subtitle) and to use a history of the printings of Madame Marie-Jeanne Leprince de Beaumont’s (1711–1780) educational tale collection Magasin des Enfans as a case in point. The Magasin – initially published in London for an English readership – incorporated often simplified and always moralized tales from earlier French authors, such as Charles Perrault (1628–1703), Mme d’Aulnoy 1650/51–1705), and Gabrielle Suzanne de Villeneuve (1685–1755). For the fictive girl readers within her frametale – blossoming young ladies of twelve and thirteen (Lady Sensée, Lady Spirituelle, and Lady Babiole) and little girls 3–5 years younger (Lady Mary, Lady Charlotte, and Miss Molly) – Leprince de Beaumont carefully edited the tales she chose for her book, and these tales spread in their newly didacticized form not only among the French-learning daughters of wealthy or highborn families in
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London, but – more significantly – throughout Europe to youngsters of the educated and/or noble classes, both Protestant and Catholic, in cities, towns, and countryside. Bibliographic and biographical data maps the influence of Mme Leprince de Beaumont’s Magasin des enfans, first published in 1756 in London by a relocated German publisher, J. Haberkorn.1 His business lay in Gerard Street in the heart of London’s Soho district, and he himself provides an unexpected link both to Germany and to Göttingen, where Hans-Jörg Uther, whom this volume honors, has spent much of his professional life.2 In England, Haberkorn was known as John Christopher Haberkorn (c.1720–1776) where, as a widower, he had married Ann Weston, a neighbor in St. Ann’s parish in 1753. Haberkorn had also remained part of London’s German-speaking community associated with London’s St. George’s Lutheran Church, where he signed himself as “Johann Christoph Haberkorn.” Haberkorn had set up a German-language printing business in London in 1749 and in 1756 had famously published volumes 1 and 2 of Magasin des enfans, ou Dialogues entre une sage gouvernante et plusieurs de ses élèves de la première distinction, dans lesquels on fait penser, parler, et agir les jeunes gens suivant le génie, le tempérament, & les inclinations d’un chacun […] le tout rempli de réflexions utiles, & de contes moraux pour les amuser agréablement; & écrit d’un stile simple & proportioné à la tendresse de leurs années. Volumes 3 and 4 followed in 1757. Within the next three years, Mme Leprince de Beaumont’s Magasin des Enfans was re-published in French in Lyons, the Hague, and Leiden, and was translated into German and published in Halle, then re-translated into German and published in Leipzig. So rapid a diffusion and translation is unusual, particularly in the absence of known connections between Haberkorn and continental printer-publishers. But connections probably existed, since he returned to German-speaking Europe (Hamburg) in the mid-1770s (Jefcoate 2001, 505–506). What is significant about Haberkorn’s biography is that it demonstrates a European market ready, willing, and eager to purchase the Zaubermärchen and contes de fées – tales about princes, princesses, fairies, and fairyland in Mme Leprince de Beaumont’s collection. German authors 1
2
“John Christopher Haberkorn, widower, and Ann Weston, spinster, a minor, both of St. Ann’s Westminster married November 17, 1753 (Register book of marriages belonging to the parish of St. George, Hanover Square, vol. 1 [1880], p. 50).” Cited from Devon Libraries Local Studies Service, The London Book Trades of the later 18th century: Names H. His name appears on a petition from the church to the University of Göttingen, requesting the university to bestow a doctorate in theology on Pastor Gustav Anton Wachsel in recognition of his efforts to relieve the sufferings of Germans who had fled to London from Hanover in the early 1760s to escape the miseries of the Seven Years War.
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were apparently quick to note Mme Leprince de Beaumont’s commercial success, for its subsequent publishing history accords with an overriding truth in book history: a book that is seen to sell well steers other authors towards writing the same sort of material. Stated another way, in the popular book market perceived sales steer composition and production, a process that is an enduring basic commercial fact in the world of publishing. Mme Leprince de Beaumont’s book with its scores of Zaubermärchen and contes de fées and its visible bookselling success between 1756 and 1760 in England, France, and Germany provided an instance of successful sales that powerfully impelled German authors to adopt large numbers of tales from the golden years of the first wave of French contes de fées production (1690–1705). Immanuel Bierling’s collations and translations of French fairy tales (1761–1765) provide a nine-volume instance of imitative composition. That Mme Leprince de Beaumont’s Magasin des Enfans was Bierling’s model is confirmed by the extent to which his tales resembled those in Mme Leprince de Beaumont’s book and by the way in which he copied her allegorical naming of characters. Bierling spoke of extent to which amazement (Verwunderung) makes the strongest impressions in the minds and spirits of young people. As such, the telling of strange events becomes a useful means of instructing young people, which was his explicitly avowed goal. Moreover, Bierling’s preface spoke of his work’s “authors” (sic) making use of human frailty – an interest in trifles and bagatelles such as Feen=Mährchen – to effectively inculcate virtue and to lead its readers towards the happiness that would result from reading them. And then he spoke of the first story (Erzehlung) in his book, which was, with its characters bearing “names that reveal their nature”, completely allegorical. Taken together, Mme Leprince de Beaumont’s Magasin des Enfans and Bierling’s Cabinet der Feen exemplify a second publishing phenomenon, a startling example of two books nominally and actually aimed at children, which only a generation before had both been reading matter for adults. In 1782 Johann Karl August Musäus (1735–1787) began producing Volksmärchen der Deutschen. Its 5 volumes appeared between 1782 to 1787, and once out, the collection was printed three further times – in Gotha, Frankfurt, and in Prague – in addition to which individual stories from the collection appeared freestanding. Musäus’s tales resembled those in Bierling’s collection, which in itself is not surprising since Musäus had, earlier in his career, reworked French novellas into German, just as Bierling had done (Lox 1999, 1025). But even though 9 of the 14 tales in Musäus’s collection derived demonstrably from earlier (French, Italian, and German) authors, he presented them as G e r m a n Volksmärchen and claimed to be the first to rework “thoroughly native” tales which had all been
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“transmitted orally through numberless generations”. Musäus further linked his tale collection to Bierling’s by averring that he meant it for children. Musäus early wrote that he would subtitle the collection Ein Lesebuch für grosse und kleine Kinder (Bottigheimer 2000, 329), which recalls the equally ironizing title the renowned English printer of children’s literature John Newbery had affixed to his c 1766 Pretty Poems for Children Six Foot Tall. Newbery’s book content and Musäus’s parodistic foreword both clearly demonstrate that the books in question were intended for adult readers rather than for children. In Musäus’s case, however, the parodistic discussion between himself-as-interlocutor and a simple church sexton-as-conversational-partner positioned his tales within an adult frame of reference in a manner profoundly different from Bierling’s straightforward preface (Vorbericht ). In the long term Musäus’s volume was pivotal in a process with farreaching and longlasting consequences, namely a spectacular shift in the perceived identity, function, and substance of both German and European Zaubermärchen and contes de fées. Even though the majority of Musäus’s tales carried on the same literary tradition that had entered Germanlanguage literature from French-language publications a generation earlier, and even though those narratives had been written b y a n d f o r t h e n o b i l i t y, Musäus’s collection tipped Zaubermärchen and contes de fées into a new publicly perceived category – narratives created b y t h e f o l k. Despite the fact that he had positioned a narrative tradition long associated with elite readers as a one-sided conversation with a member of the urban proletariat – a literary act that parodized the entire notion of associating the folk with the tales he told – Musäus’s contemporaries immediately adopted the parodied identity as reality. Thus, in 1789 Benedikte Naubert accepted Musäus’s concept of Volksmärchen as fact by linking the title of her new book directly to the last of Musäus’s five volumes and calling it Neue Volksmährchen der Deutschen (1789–93). It’s hard not to conclude that Naubert consciously attached herself to a marketable idea. By the late 1780s an idea of ancient origins for modern works was taking shape. The concept of an illiterate and uneducated folk generating complex fairy tales full of classical allusions and fashionable literary styles provided fertile ground for fraud, and in Britain in the early 1760s the Scot James MacPherson (1736–1796) had authored a collection of poems that he claimed to have translated from ancient manuscripts written by a third-century warrior bard named Ossian. It took years before the Ossian poems were unmasked as fraudulent, and in the interim MacPherson’s reputedly ancient works provided a rallying point for believers in the folk in general as creators of complex and sophisticated literary works (Gunderloch 1996, 45).
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During the same period, news of MacPherson’s “ancient” literary trove reached Germany, where Johann Gottfried Herder (1744–1805), “keenly aware” (Oergel 1998, 35) of MacPherson’s Ossian poems, giddily articulated a related idea. Herder credited the creation of Märchen as “eine beständige Fabeldichtung mit Leidenschaft und Interesse” (cited from Grätz 1988, 208), that is, he re-situated the creation of Märchen to a moment considerably before Britain’s Ossianic verse reputedly came into being, namely, when human speech first took shape. But in the 1770s the term Herder used, Märchen, differed substantially from its contemporary meaning, and, in fact, he himself used the term Märchen in conjunction with folk s o n g s, rarely mentioning them in connection with stories (Grätz 1988, 208). Equating the existence of folksongs with a primary oral tradition has since been much attenuated and often discredited by discoveries about the impact of broadside print on song tradition (Buchan 1972, Atkinson 2002, McKean 2004). In any case, when Herder discussed the spoken (as opposed to the sung) word, it was with reference to Saga, and not to Märchen or Zaubermärchen as nineteenth-, twentieth-, and twenty-first-century scholars understood and understand the term (Grätz 1988, 209). Herder’s language was rapturously visionary. While praising Volkspoesie (Oergel 1998, 34, 122–136) he tacitly acknowledged the absence of Märchen among the folk, but because folksongs were so clearly evident in everyday life he imagined that other kinds of German folk literature, like MacPherson’s British Ossianic poems, must have existed in Germany’s distant past. Modern scholars, however, have learned that folksongs among the people derived almost exclusively from published ballads (Watt 1991), which fundamentally problematizes Herder’s theories about the origins of Zaubermärchen and contes de fées in Germany. Herder’s association of the folk with Märchen and contes de fées required him to reformulate the folk’s ignorance, filth, and coarseness, so evident in country fields and on urban streets. We today have little awareness of the cruelly deprived, hunger-stricken, and diseased condition in which the majority of Europe’s eighteenth-century laboring population lived out their lives, but Herder’s contemporaries were well aware of it. Because daily reminders of the folk’s condition existed so palpably, and because such reminders contradicted such a folk’s being the likely producer of Poesie in any form, Herder had to grapple with an existing, and known, folk that ploughed the fields and walked the streets. In consequence, he redefined the folk that he claimed as literary creator, explicitly claiming that the folk differed from the rabble (Pöbel). However, redefining social conditions doesn’t remake society, as is attested by countless observations of the folk all over Europe in this period (Devine 1996; Maltby 2007).
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Herder’s writings preceded by just a few years the publication of Musäus’s and Naubert’s Zaubermärchen and contes de fées. In terms of literary history, Musäus supplied the so-called “folk tales” when he called his obviously French tales Volksmärchen der D e u t s c h e n. Next he parodistically confirmed their folk identity by conducting a parodistically learned discussion about the nature of German folktales with a fictional member of the folk, a sexton of the equally fictional Saint Sebald’s Church. What a lusty joke he created! And finally Naubert tagged along, claiming that she was presenting m o r e tales from the German folk, but her tales were a l s o translations from French. Neither in the 1770s, when Herder was writing, nor in the 1780s, when Musäus and Naubert were editing their collections, was any evidence available that Zaubermärchen and contes de fées of the sort that they incorporated into their books were being created, told, or passed on by the German folk. But within a few years, all that would change in Germany, and it would change because of two notable publishing events, the first in France, the second in Germany. In 1785 the Frenchman Charles-Joseph Mayer (1751–1825) began bringing out a gigantic compendium of French contes de fées, Le Cabinet des fées. It was published more or less simultaneously in two cities distant from one another, in Amsterdam in a largish 8° format, and in Geneva in a smaller 12°. The first volume (1785) was quickly followed by dozens more until publication ceased with Thousand and One Nights in 1789. Before Mayer’s Cabinet, a German author in need of a conte de fées plot had had to seek out an individual publication by an individual author such as Caylus, Hamilton, Murat, or d’Aulnoy, but now Mayer’s compendium gathered an enormous corpus of French contes de fées in one place. More significant for German knowledge of Zaubermärchen and contes de fées, however, was the fact that the German publisher Justin Bertuch translated Mayer’s Cabinet into German. He copied Mayer’s work, putting Charles Perrault in first place followed by Mme d’Aulnoy. At a stroke, Bertuch’s multivolume collection of cheap little books became the central source for German knowledge of Perrault’s fairy tales and of French tales about fairies and fairyland. Though small, each of Bertuch’s books contained several tales. Before he had completed the entire project, however, Bertuch made individual stories available at a very cheap price, with the result that poor people could buy and read them. Advertising on the final pages of his books, he initially – and most successfully – produced and marketed individual Perrault tales, that is, those tales within the entire corpus of French contes de fées that most resembled Zaubermärchen and contes de fées in the folk mode that came to be favored in the nineteenth and twentieth centuries.
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A concept of the folk had been a long time in the making: erroneously with Herder, parodistically with Musäus, and opportunistically with Naubert. The presence of varying but contemporaneous approaches meant that a concept of a folk had a broad currency at the end of the eighteenth century. When Bertuch began publishing individual tales by Perrault from his first volume, the content and style of modern Zaubermärchen became widely available: brief, to the point, with a moral, and generally with a happy end. With Bertuch’s publications, the c o n c e p t of the folk and the c o n t e n t of modern Zaubermärchen merged, even though honesty compels us to acknowledge that it was Zaubermärchen f o r the folk rather than Zaubermärchen f r o m the folk. In 1812, the Grimms published the first volume of tales they had collected. As is well known, volume 1 of the First Edition of the Grimms’ Kinder- und Hausmärchen contained the Perrault versions of Bluebeard and Puss in Boots, along with a Cinderella that was far more French than German. Furthermore, the content of the Grimms’ Kinder- und Hausmärchen strongly resembled the content of translations of French books published and circulating in Germany in the previous thirty years, and especially the content of the Bertuch tales. The introductory forewords that Wilhelm compiled for each large edition, one after the other, purveyed Wilhelm’s concept of the folk and its talents, the folk and its simple and admirable virtues, the folk and its history of creating Märchen and Zaubermärchen (Bottigheimer 2009, 27–52). Subsequent scholars, taking Wilhelm’s assertions as fact, looked no further, and the conceptual and formal processes by which Feenmärchen metamorphosed into Volksmärchen concluded.
The Volksaufklärung and Zaubermärchen The popular Enlightenment touched every area of humble people’s lives (Völpel 1996; Herrmann 1981; Vierhaus 1992; Böning et al 2007). It is often assumed that the Volksaufklärung caused the folk’s fragmentary knowledge of fairy tales, as the Grimms often observed was the case at the beginning of the nineteenth century. Subsequent scholars of folk narrative, such as Ernst Meier, took their cue from the positions expressed in the Grimms’ prefaces to the Kinder- und Hausmärchen, assumed an oral transmission of Zaubermärchen by an illiterate folk and concluded that the increasing literacy of the eighteenth-century folk had caused them to lose touch with a previously orally transmitted repertoire (Schenda 1993, 17). Others blamed the religious education that formed part of the people’s enlightenment for having displaced the folk’s tales, while the
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rationalism of the people’s enlightenment was said to have effectively and actually driven out their taste for fantasy (Schenda 1993, 19). And yet, other observers lamented the limited impact that Enlightenment educators had on the folk’s reading habits, since magical fictions like Thousand and One Nights, Beautiful Melusine, and periodicals with fabulous fictions continued to be found on workers’ shelves (Schenda 2007, 134f.). Viewing the folk’s fragmentary knowledge of fairy tales in the early nineteenth century as a result of the recentness of their acquaintance with fairy tales positions the historical change in fairy tales during the course of the eighteenth century (described above) within a literary context of authorship, reading, and publishing. On the other hand, it is also possible to conclude that the people’s enlightenment’s thrust towards literacy provided the folk with precisely the reading tools they needed in order to become acquainted with printed fairy tales independently. After all, cheap print had increased enormously in the course of the eighteenth century in response to increasing literacy (Cressy 1992); distribution networks had developed that sluiced print products as widely and as profitably as possible among rural, as well as among urban buyers (Schenda 1982); circulating libraries sprang up in cities and towns (Ferdinand 1992, 401f.; Grenby 2002); bookstores and cafés often had reading rooms of their own in the eighteenth century (Ferdinand 1992, 405). Zaubermärchen and contes de fées were popular components in weekly newspapers (Sumpter 2008; Bacchilega 2004), and let it be remembered that both in the eighteenth and nineteenth centuries readership per single newspaper often exceeded today’s rates: first readers (the newspaper’s subscriber) were followed by second, third, and even fourth readers; newspapers were read aloud. And a Zaubermärchen or conte de fées in that newspaper could be exposed to a number of readers or hearers. Such reading practices, with local variations, existed in a rolling wave through France, Germany, the British Isles, Italy, eastern Europe, southeastern Europe, and Scandinavia from the late eighteenth to the nineteenth and twentieth centuries as translations introduced foreign narrative repertoires to new readers (Kaliambou 2007, Bacchilega 2004, Papachristophorou 2004). Above all, the history of cheap print as a whole and of chapbook content in particular repeatedly demonstrates that print production and folk knowledge “ran parallel” (Kaliambou 2007, 61), while other research suggests that folk knowledge of Zaubermärchen and contes de fées followed print production of Zaubermärchen and contes de fées so regularly (Apo 2007, Mitchell 1991) that it may be hypothesized as a principle of folk narrative history that print production of Zaubermärchen and contes de fées underlay or caused folk knowledge of Zaubermärchen and contes de fées.
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Dorota Simonides
Der Einfluss der Brüder Grimm auf die Sammlung und Erforschung der slawischen Volksdichtung Am Anfang des 19. Jahrhundert besaß keine der slawischen Nationen außer der russischen eine souveräne staatliche Struktur. Als Fremdherrscher traten folgende Staaten auf: Russland, Österreich-Ungarn, das Osmanische Reich und Preußen. In allen unterdrückten Nationen bestand ein mehr oder weniger offenes Streben nach staatlicher Selbstständigkeit. Da jede politische Initiative in dieser Richtung von den Besetzern drakonisch unterdrückt wurde, versuchte man den Widerstand gegen die Fremdmächte durch wissenschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Vereinigungen zu stärken. Alle verfolgten das gleiche Ziel, die nationale Identität des eigenen Volkes durch die in den Volksliedern, Märchen, Legenden und Sitten enthaltenen nationalen Werte zu festigen. Der Drang, die nationale Selbstständigkeit wiederzuerlangen, wurde immer stärker und die slawische Idee spornte die einzelnen slawischen Völker in ihren diesbezüglichen Bestrebungen an. Eine wesentliche Inspiration in diesen Prozess lieferten die Werke von Jacob und Wilhelm Grimm, vor allem ihre komparatistische Methode, die von ihnen angewandte geschichtliche Betrachtungsweise in der Sprachwissenschaft und ihre Sammlungen zur Volksdichtung. Vorerst legte man keinen Wert darauf, die Grimmschen Märchen sowie auch ihre weiteren Werke in die jeweiligen Landessprachen zu übersetzen, denn wichtiger als die deutschen Märchen- und Sagentexte war für die slawischen Wissenschaftler im Ringen um die nationale Identität die von den Brüdern Grimm betonte Rolle des Volkes als ihre Quelle. Man begann besonders die von Jacob Grimm entwickelten Konzepte und Begriffe der Volkspoesie aufzunehmen und den historischen Bedingungen der einzelnen Länder anzupassen. Das von den Brüdern Grimm erschaffene kohärente, philosophische System der Volkdichtung und die aus ihm hervorgehenden Anregungen besaßen für die slawischen Forscher einen besonders hohen Stellenwert. Das Interesse fast aller slawischen Humanisten an
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diesen Arbeiten war so groß, dass es zu einem heute fast undenkbar regen internationalen Meinungs- und Informationsaustausch führte. Damals bestand „eine innere geistige Zirkulation unter den einzelnen slawischen Völkern“ (Matl 1956, 370). Jede neu erscheinende Arbeit wurde diskutiert und mit den Grimmschen Konzeptionen verglichen. Für die slawischen Gelehrten war die Volksdichtung nicht nur eine „primäre“ und „echte Poesie“ wie K. Brodziński im Jahre 1821 schrieb, sondern auch die „Schatzkammer des Nationalbewusstseins“ (Brodziński 1821/1934, 227). Daher auch gewannen in diesen Ländern Mythen und historische Sagen eine nie da gewesene Bedeutung. Man suchte besonders nach altertümlichen Mythen, welche Zeugnis ablegen sollten über die Wurzeln und die Frühgeschichte ihrer Heimatländer. In einem Aufsatz zur Dringlichkeit der Ausgabe von Texten für die Jugend schrieb der polnische Autor mit leidenschaftlichem Nachdruck, dass „die Sammlung von authentisch nationalen Texten nicht nur zur Kenntnis der Geschichte und der Bräuche jeden Volkes beitragen, sondern auch zur Erhaltung des Charakters und des Geistes […] sowie der Liebe zum Vaterland. Deshalb bedient sich jeder echter Genius der Märchen und der Sitten seines Volkes als erste und ungetrübte Quelle für seine unsterblichen Werke“ (Brodziński 1821/1934, 229). Man muss dabei auch bedenken, dass am Ende des 18. Jahrhunderts in den slawischen Ländern weder die Volkslieder noch die Balladen, geschweige denn die Märchen jenen hohen gesellschaftlichen Status besaßen, den sie später in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einnehmen sollten. Die Volksmärchen wurden von den Aufklärern sogar als sinnlos und verdummend bezeichnet. In der damaligen polnischen Umgangssprache bedeutete das Wort „bajka“ (Märchen) soviel wie „Dummheit“, „Klatsch“ oder „albernes Geschwätz“. Deshalb versuchte Wójcicki in seiner Märchensammlung aus dem Jahre 1837 für Märchen den archaischen Begriff „Klechdy“ einzuführen (Wójcicki/Wojciechowski 1972, 29). Aus den Veröffentlichungen und der Korrespondenz der damaligen slawischen mit den deutschen Romantikern geht hervor, dass fast allen die Editionen der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm (KHM) bekannt waren. Man war sehr darum bemüht, in erster Linie den Reichtum der Volkspoesie des eigenen Volkes zu beweisen. Um keine Entlehnungen bei den Grimms vornehmen zu müssen, suchte man bei den eigenen Völkern nach ähnlichen Stoffen. Hierin liegt wohl auch der Grund dafür, dass slawische Übersetzungen der KHM erst verhältnismäßig spät herausgegeben wurden. Besonders taten sich dabei hervor: in Tschechien Božena Nĕmcová und Jaromír Erben; in der Slowakei L’udovít Štúr, Pavol Dobšinský und Janko Rimavský; bei den Sorben Arnost Šmoler, L. Haupt, Jan Petr Jordan und H. Zejler; in Serbien Vuk Stefanović Karadžić (weiterhin Vuk genannt); bei den Polen Kazimierz
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Władysław Wójcicki, Lucjan Siemieński, Antoni Gliński, Józef Lompa; Ryszard Berwiński und andere. Wenn sich auch nicht alle direkt auf die Arbeiten der Brüder Grimm beriefen, so waren sie doch überwiegend durch diese inspiriert (Simonides 1989, 25 ff.). Josef Dobrovský, welcher schon im Jahre 1804 eine Sammlung slowakischer und später auch serbischer und russischer Sprichwörter und Redewendungen herausgegeben hatte, umgab sich mit einer Gruppe von jüngeren Kollegen, vor welchen er offen zugab, dass er Jacob Grimms Begeisterung für die Märchen nicht teilte. Jiří Horák war der Meinung, dass der Grund für das schwache Interesse Dobrovskýs für die Märchen in seiner mangelhaften Kenntnis derselben liegt. Dobrovský war tatsächlich mehr an Volksliedern interessiert, aber auch bei ihnen war er anderer Ansicht als Jacob Grimm, welcher der Anschauung war, dass man sie sogar mit den Heldenliedern der Ilias vergleichen könne (Horák 1963, 12). Jacob Grimm führte schon seit dem Jahre 1810 eine rege Korrespondenz und einen Gedankenaustausch mit Dobrovský, welcher hauptsächlich an Linguistik und slawischer Mythologie interessiert war. Als Mittler zwischen beiden trat Clemens Brentano auf, welcher am Anfang des 19. Jahrhunderts mehrfach in Tschechien weilte. Aus Grimms Korrespondenz geht hervor, dass er Dobrovský um die Überlassung slawischer Märchen gebeten hatte. Dobrovský antwortete, dass seiner Ansicht nach die Urquelle der slawischen Märchen in Ruthenien liege und dass Grimm sich dorthin wenden sollte. Als Anregung und Beispiel schickte er ihm zwei 1789 in Moskau herausgegebene Märchensammlungen (Vasmer 1938, 8). Später sandte er Grimm noch einige Volkslieder und Sagen. In Bezug auf magische Märchen riet er ihm, sich an den Polen Jerzy Samuel Bandtkie zu wenden. Dieser wurde später tatsächlich zu Grimms Hauptquelle nicht nur für polnische, sondern auch für andere slawische Märchen (Kukulska 1970, 296 f.). Jacob Grimm bat Bandtkie, ihm alles, „was einen mythischen und fabelhaften Anstrich hat“, zu senden (Sauer 1908, 598). Dobrovský vergaß das Interesse Jacob Grimms an den slawischen Märchen nicht und stellte den Kontakt zu seinem slowakischen Schüler Bartolomĕj Kopitar her. Kopitar, ein Kenner der slawischen Literatur, lebte damals in Wien. Wenn man bedenkt, dass 75 % der Österreichischen Monarchie slawisch war, sollte man sich nicht über die bedeutende Rolle wundern, welche Wien bei den Kontakten der slawischen Folkloristen untereinander spielte. Dort trafen sich Dobrovský, Palacký, Šafárik, Jungmann, Čelakovský, der Deutsche A. H. Hoffmann von Fallersleben und andere. Dort berichtete Vuk über seine Forschungen (Hoffmann von Fallersleben 1868, 57). Auch für die Sammlung slawischer Volkslieder und damit für die nationale Identität der Slawen ist die Rolle Wiens nicht zu unterschätzen.
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Im Jahre 1814 kam Jacob Grimm nach Wien. Noch Jahre später hat er gern darauf hingewiesen, dass ihm dort die Gelegenheit geboten wurde, gelehrte Menschen kennen zu lernen und dass er dort anfing, sich für die slawischen Sprachen zu interessieren. Sein Wiener Aufenthalt war auch für die slawische Folkloristik von großer Bedeutung. Dort verfasste Grimm sein berühmtes Circular zur Aufsammlung von Volkspoesie in Märchen, Liedern und anderen Gattungen. Dieses Schreiben wurde auch an viele Slawisten gerichtet und ist als „Märchenbrief“ bekannt geworden. Auf Anregung von Kopitar begann Grimm sich für die tschechische Sprache zu interessieren. Es war auch Kopitar, der ihn auf eine bescheidene Sammlung von Volksliedern eines jungen, völlig unbekannten serbischen Flüchtlings – Vuk – aufmerksam machte. Diese Sammlung erschien 1813 in Wien (Vasmer 1938, 8). Der von ihr faszinierte Jacob Grimm definierte in seiner eingehenden Rezension der Sammlung nochmals die Begriffe Kunstpoesie und Volkspoesie an konkreten Beispielen der serbischen Volkslieder (Wiener Allgemeine Literaturzeitung 1815, 721 ff.). Diese Sammlung wird zu den fundamentalen Beiträgen der slawischen Folkloristik gezählt. Für Grimm war sie ein Muster wahrer Volkspoesie. Er ermunterte Vuk, nach Russland zu reisen, um dort nach „der reinen Volkspoesie“ zu suchen. Vuk gab seine in Russland entstandene Sammlung später in Leipzig heraus. Den Aufenthalt in Deutschland nutzte er dazu, um eine nähere Bekanntschaft mit Goethe zu knüpfen. In Deutschland veröffentlichte Vuk in den Jahren 1823/24 drei weitere Sammlungen serbischer Volksdichtung, welche sehr positive Rezensionen von Jacob Grimm erhielten. Dieser unterstrich den Wert dieser Volkspoesie und hob Vuks wissenschaftliche Einstellung gegenüber der Naturpoesie hervor (Göttingische Gelehrte Anzeigen 1823, 177 f.). Es ist wichtig, dass er diese hoch angesehene Zeitschrift auswählte, denn sie war nicht nur im deutschen, sondern auch im ganzen slawischen Sprachraum bekannt. In den Besprechungen machte Grimm auf eine neue Erscheinung aufmerksam, und zwar dass in Vuks Sammlungen der südslawischen Volkspoesie nicht nur alte epische Texte auftreten, sondern sogar neue, welche den aktuellen Kampf der Slawen gegen die Türken besingen. Es ist das erste Signal, mit welchem Grimm auf den lebendigen Charakter der Volksepik hingewiesen hat. Eine zusätzliche Auswirkung der Begegnungen Vuks mit Jacob Grimm war, dass das Interesse der deutschen Gelehrten nicht nur an der serbischen, sondern an der Volksdichtung aller slawischen Völker wuchs. Sie fingen an, sich mit den slawischen Sprachen zu befassen, besonders jedoch mit der serbischen, welche Grimm die „von allen slawischen Sprachen als die sangbarste“ bezeichnete (Grimm 1835, 225). Etwas melancholisch klingt eine nachdenkliche Bemerkung Jacobs nach einem Gedankenaustausch mit Vuk:
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Als er gestern zufällig die serbische Gastfreundschaft besprach, fiel mir aufs Herz, daß ich ihn in meinem engen Häuschen weder aufnehmen konnte noch bewirten, wie ich möchte. So geht es uns Gelehrten, pedantischen Deutschen: die einfachen Naturtugenden und Poesien ungebildeter Völker fühlen wir zwar noch, können sie aber nicht mehr ordentlich nachahmen (Stojanović 1907–1913, 718).
Die Anerkennung, welche Jacob Grimm für die Rolle und Bedeutung der Volkspoesie der Serben, Bosnier, Herzegowiner und Montenegriner zuteil werden ließ in einer Periode, in welcher diese Völker noch gegen die Türken um ihre nationale Selbstständigkeit kämpften, war besonders wichtig für die Polen. Auf diese Auswirkungen werde ich später noch zurück kommen. Trotz der großen Bewunderung, welche Jacob Grimm den Heldenliedern Vuks schenkte, forderte er ihn immer wieder auf, serbische Märchen zu sammeln. Endlich erschien in Wien im Jahre 1853 die von Jacob so ersehnte Sammlung serbischer Volksmärchen. Ein Jahr später gab sie Jacob Grimm in deutscher Sprache mit einer eigenen Einführung heraus. Er betonte, dass es sich um sehr wertvolle Texte handele, die es nicht nur erlauben, komparatistische Arbeiten durchzuführen, sondern auch ein Beweis dafür sind, dass man Serbien als Brücke zwischen Europa und Asien betrachten könne. In Wien studierten damals schon Schüler J. Dobrovskýs wie Václav Hanka und später Josef Šafárik mit seinem Kollegen Jan Kollár. Für die letzteren war Vuk das Vorbild. Auch sie begannen Lieder, Sitten und Bräuche, später auch Märchen zu sammeln. Ähnlich wie Jacob Grimm gab Šafárik einen eigenen „Rundbrief“ aus, in welchem er dazu aufrief, sich gut unter dem Volke umzuschauen, seine Überlieferungen zu beachten und nicht nur Lieder und Balladen, sondern auch Bräuche, Sitten und Kinder-Folklore zu sammeln (Horák 1963, 18). Šafárik legte großen Wert auf die Unterscheidung von Volks- und Kunstpoesie. Auch er unterlag damals wie die meisten slawischen Forscher der Illusion, dass man nur in der Volkspoesie den Schlüssel zur nationalen Identität finden könne. Im Jahre 1824 gab der polnische Historiker Wawrzyniec Surowiecki ein Buch über den Ursprung der slawischen Völker heraus (Surowiecki 1824, 165 ff.). In diesem Werk stellte er auf Grund einer kritischen Analyse des reichen Quellenmaterials fest, dass der Ursprung der Slawen nicht in Asien, sondern in Europa zu suchen sei. Diese Publikation erregte ziemlich großes Aufsehen. Auch andere slawische Autoren erhoben ihre Stimme und es kam zu einem regen Diskurs über dieses Thema. Durch diese Diskussionen angeregt, entstand in vielen slawischen Ländern eine ganze Reihe von Werken über den Ursprung der Slawen (Horák 1963, 25).
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Im Jahre 1842 veröffentlichte Šafárik sein Werk „Die slawische Volkskunde“, in welchem er die Ergebnisse seiner 25jährigen Volkskundeforschung in allen slawischen Ländern vorstellte und den Reichtum der slawischen Volksdichtung bezeugte. Durch dieses für die damalige Zeit Bahn brechende und neuzeitliche Werk erreichte er das gleiche Niveau wie Jacob Grimm und ordnete sich in die Reihe der Nachfolger Goethes und Herders ein. Viele slawische Wissenschaftler riefen ihn zum „slawischen Grimm“ aus. Er selbst jedoch schrieb damals dem russischen Slawisten P.J. Koeppene bescheiden: „Grimm ist ein Riese, ein Adler, bei dessen Studium man den Mut verliert und von Gram verzehrt wird, ihm nicht nacheifern, nicht nachfliegen zu können“ (Francev 1927, 350). Einer der wichtigsten Treffpunkte in Wien, nicht nur der hier aufgeführten slawischen Ethnologen, war das Hotel „Der weiße Wolf“. Ein zweiter Ort, hauptsächlich Treffpunkt der polnischen Gelehrten, war das slawische Museum des Grafen Józef Maksymilian Ossoliński. Von hier aus nahm Vuk Kontakte mit dem bekanntesten polnischen Dichter Adam Mickiewicz auf, welchem er seine Texte übersandte. Beeindruckt durch diese Texte regte Mickiewicz den polnischen Ethnographen Oskar Kolberg zur Sammlung und Bearbeitung der polnischen Volksdichtung an. Kolbergs monumentales Werk „Lud“ (Das Volk), herausgegeben in den Jahren 1857 bis 1890, enthält in 35 Bänden über 12.000 Volkslieder, ca.1200 Sagen, 700 Märchen, 2600 Sprichwörter und viele andere Werke der Volksdichtung der einzelnen polnischen Regionen (Simonides 1996b). Jacob Grimm selbst korrespondierte auch mit den wichtigsten Mitgliedern der Polnischen Wissenschaftlichen Gesellschaft (Polskie Towarzystwo Nauk) in Warschau, welche unter anderem auf dem Bereich der Volksdichtung sehr große Verdienste besitzt. Hier wurden rege Diskussionen über die slawische Volkskunde und Volksdichtung sowie deren Rolle bei der Erweckung der nationalen Identität nicht nur der Polen, sondern aller Slawen geführt (Kraushar 1900, 93). Die Tätigkeit dieser Gesellschaft auf dem Gebiet der Volksdichtung hatte auch einen nicht geringen Einfluss auf die polnischen Eliten sowie auf die Ethnographen anderer slawischer Nationen. Mit dem schon erwähnten polnischen Grafen Ossoliński, welcher unter anderem reiche Sammlungen von polnischen Märchen besaß, trat Jacob Grimm über Dobrovský als Mittelsmann in Kontakt. Als guter Beobachter der europäischen politischen Bühne wußte er, dass bei den polnischen Intellektuellen die Ansichten von J.J. Rousseau und J. Herder über Volk, Nation und Staat eine rege Aufnahme fanden, sahen sie doch in der Verwirklichung des Nationalstaates die Chance zu einer Wiedervereinigung der von den imperialistischen Nachbarn annektierten drei polnischen Teilgebiete und der Wiedergeburt eines unabhängigen polnischen Staates.
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In den Kreisen der polnischen Kultur- und Literaturwissenschaftler verbreitete sich die Vorstellung Jacob Grimms, dass das Volk, unberührt von der Zivilisation, von der Kultur des Adels und der Aristokratie, im Banne eines altväterlichen Heidentums wurzeln müsse und dadurch der Träger eines reinen, nationalen Lebensinhaltes ist. Deshalb betrachtete man es als eine vorrangige Aufgabe der geistigen Elite, diese Quelle der reinen Volksseele zu wecken um mit ihr das nationale Bewusstsein der polnischen Bevölkerung in allen drei Teilen aufzurütteln und zum Kampf für die nationale Freiheit vorzubereiten. Es ist also kein Zufall, dass die Geschichte und die Entwicklung der polnischen Volksdichtung und ihrer Sammlung mit den Befreiungskämpfen zusammenhängen. Diese Tatsache muss hier betont werden, denn sie prägte das Verhältnis der damaligen Schicht der gebildeten Bevölkerung zur Volkspoesie und zu anderen Erscheinungen der Volksdichtung (Simonides 1996a, 26 ff.). Der Zusammenhang zwischen dem Bestreben nach der nationalen Unabhängigkeit Polens und der Sammlung von Volkspoesie, darunter auch der Volksmärchen in den von Polen bewohnten Gebieten, wurde sogar von einem Außenstehenden, dem bekannten italienischen Erforscher der Geschichte der Folkloristik, G. Cocchiara, unterstrichen. Er bezeichnete die polnische Volksdichtung der Romantik als eine politische Waffe im Kampf um die Erhaltung der nationalen Würde und betonte, dass in ihr als dominierende Idee die sehnlich erwartete nationale Unabhängigkeit verankert sei. Der Verwirklichung dieser Idee seien – nach Cocchiara – auch die Entstehung der ersten Sammlungen der polnischen Volkspoesie zu verdanken, sie sollten die Liebe zum Vaterland neu entfachen (Cocchiara, 1971, 292). Viele der damals in Polen entstandenen, gut durchdachten volkskundlichen Programme basierten auf der Überzeugung vom nationalen Charakter der Volkspoesie. In fast allen wurde unterstrichen, dass nichts imstande sei, das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl so effektiv zu unterstützen wie die Volksdichtung. Eben die Volkspoesie sollte, nach Meinung der Schöpfer dieser Programme, das Gefühl der nationalen Einheit des Volkes in dem durch die Nachbarstaaten aufgeteilten Polen aufrechterhalten. Diese geradezu „sakrale“ Einstellung zur Volksdichtung finden wir bei dem bekannten polnischen Wissenschaftler K. Brodziński, der ein Programm zur Sammlung von Märchen, Liedern und Gebräuchen veröffentlicht hatte (Brodziński 1820/1934, 93–96). Deshalb auch fielen die Überlegungen Jacobs Grimm über die Bedeutung der Volkspoesie und die Liedersammlungen von Vuk auf einen gut vorbereiteten Boden. Als in Polen K. J. Wójcicki (genannt der „polnische Grimm“) 1837 seine beiden Bände polnischer und weissrussischer Volksmärchen und Sagen mit Quellen und Kommentaren herausgab (Wójcicki/Wojciechowski
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1972), wurden sie in kurzer Zeit in die deutsche, englische, französische, russische und tschechische Sprache übersetzt. Dieser Sammlung verdankt Polen eine rege Editionstätigkeit, die viele interessante Stoffe hervorbrachte. In den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts sammelte der Lehrer und Organist (und einer der bedeutendsten Folkloristen seiner Zeit) J. Lompa in Oberschlesien in polnischer Sprache Märchen, Sagen, Sitten und Gebräuche, welche er für J. G. Büsching und einen Schüler von J. Grimm – K. Weinhold – ins Deutsche übersetzte (Lompa 1846). Alle Sammlungen verblassten jedoch gegenüber der von Antoni Gliński 1853 in Wilno herausgegebenen vierbändigen Märchensammlung Bajarz Polski (Der polnische Märchenerzähler), welche in kurzer Zeit zehn polnische und sieben fremdsprachige Auflagen erreichte (Simonides 1987). Es ist bekannt, dass die hier erwähnten Sammlungen einen unterschiedlichen wissenschaftlichen Wert besitzen, denn manche tragen ausgeprägte Spuren einer literarischen Bearbeitung. Inzwischen wissen wir jedoch, dass auch die Brüder Grimm ihre Märchen literarisch bearbeiteten und nicht, wie man meinte, sie von Haus zu Haus wandernd wortgetreu von den Erzählern niedergeschrieben hatten (Rölleke 1990, 96). In seiner Geschichte der europäischen Folkloristik schreibt Cocchiara über die Brüder Grimm: „Sie stellten sich in ihren Kinder- und Hausmärchen das Ziel, authentische und wahre Werke der Volksliteratur zu zeigen. Sie ließen sich die Märchen erzählen, gestatteten sogar den Text zu diktieren, dann aber glaubten sie die aufzeichneten Texte zu schleifen und zu verschönern müssen“. Weiter schreibt Cocchiara: „Kurz gefasst, kann man sagen, dass die Brüder Grimm in den Volksmärchen nach einer gemeinsamen und unpersönlichen Grundlage suchten, in welcher sie das Wesen der Märchen sahen. Deshalb auch war für sie die Bearbeitung nur eine zu diesem Ziel führende Rekonstruktion der Texte“ (Cocchiara, 1971, 250). In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden, wie schon erwähnt, der Kontakt mit dem Volk und das Interesse an seiner mündlichen Überlieferung als patriotische Pflicht und als eine vorrangige Arbeit für das Vaterland angesehen. Im Laufe der Feldforschungen kamen bald schon einige der Sammler der Volkspoesie zu dem Schluss, dass das Bauerntum keinesfalls eine so „reine“ Quelle der nationalen Werte sei, wie es sich es die enthusiastischen Intellektuellen bei ihren „Schreibtischdiskussionen“ vorgestellt hatten. Am Anfang wurden einfach die nicht in die ideelle Vorstellung passenden Texte entweder literarisch geschönt oder auch ganz „unter den Teppich gekehrt“. So beschrieb der polnische Dichter Teofil Lenartowicz in einem Brief an Oskar Kolberg: „In der letzten Zeit, Du erinnerst dich doch, hat unsere und unserer Freunde Begeisterung an der Volkspoesie zu hohe Wellen geschlagen, es gab viele […], welche sogar die
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gebildeten Dichter den ungebildeten gegenüber fast für unwürdig betrachteten“ (Kolberg 1964, 66 f.). Wir sehen hier schon eine Ernüchterung und Distanzierung gegenüber der ehemaligen Begeisterung. Ebenso charakteristisch ist die Antwort Kolbergs, in welcher er unter anderem hinzusetzte: „Du hast Recht, wie anders schaute man doch damals auf die Menschen, man schwärmte viel, man erwartete vieles […]. Derweilen, anstatt eines Blumenkranzes der Hoffnung erhielten wir einen Strohwisch“ (Kolberg 1964, 70). Im Laufe der Zeit schrieb man immer mehr über den „Strohwisch“ der Volkspoesie. Bei dieser Kritik taten sich besonders diejenigen hervor, die zuvor einen überschwänglichen Enthusiasmus zur Schau getragen hatten. Der bekannte Märchensammler R.W. Berwiński, der in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts mit der Warschauer Bohème Streifzüge durch das Land gemacht hatte, um die Volkspoesie kennen zu lernen (Berwiński, 1838, 60), vertrat nun im Jahre 1854 in seinem bekannten Werk Studien über Volksliteratur aus der Sicht der geschichtlichen und wissenschaftlichen Kritik (Berwiński 1854, 124f.) die These, dass in der Volksdichtung eigentlich nur das vorkomme, was von den herrschaftlichen Tischen herab gefallen sei und was das Volk in seiner geistigen Armut imstande war zu verarbeiten. Das Volk sei zu einer eigenen Schöpfung gar nicht fähig, sondern beschränke sich auf die Verarbeitung der ihm von den Höfen, von der Kirche und von anderen elitären Zentren überwiesenen Stoffe. Es war auch Berwiński, ein Bewunderer der Grimmschen Märchen, welcher zum Streit über die nationale Herkunft der Märchen das Wort ergriff. In dem oben genannten Werk schrieb er, dass die Fragestellung, ob die Polen das Märchen von den Deutschen oder auch die Deutschen von den Polen übernommen hätten, völlig verfehlt sei, denn alle hätten aus einer gemeinsamen Quelle geschöpft (Berwiński 1854, 216). Wie groß musste die Enttäuschung der einstigen Enthusiasten gewesen sein, wenn sie die ehemalige „reine Quelle“ nun selbst als „Strohwisch“ und „Abfall“ bezeichneten. Diese abrupte Abwendung von der Volkskultur war rein emotionaler Natur, ohne jegliche rationellen Gründe, denn es trat ja kein Verfall der Volkskultur ein. Sie war aber auch niemals weder eine ideale „reine Quelle“ noch „ein Strohwisch“, wie es sich die Intellektuellen am Schreibtisch vorstellten. Wie immer lag auch hier die Wahrheit in der Mitte, denn unabhängig von den historischen Ereignissen war die Volkspoesie immer die Dichtung des Volkes. Eine dauerhafte Konsequenz der Ernüchterung war das Ende der spontanen „patriotischen“ Sammeltätigkeit von ausgewählten Texten, aber auch gleichzeitig ein Beginn einer wissenschaftlich untermauerten Volkskunde. Öfter jedoch als auf die Märchen berief man sich auf die Mythologie der Brüder Grimm. Einer der besten polnischen Kenner dieses Werkes
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war Jan Karłowicz, welcher in Deutschland studiert hatte. Er interessierte sich sehr für die neue komparatistisch-mythologische Forschungsrichtung, welche sich aus den Grimmschen Mythos-Konzeptionen ergab und die Form einer mythologisch-komparatistischen Schule annahm, die sich eingehend mit der mythogenen Funktion der Sprache befasste und sich dem Studiums des Sanskrits zuwandte (Kapełuś 1982a, 228). Auf die Idee, die KHM ins Polnische zu übersetzen, kam wahrscheinlich als erster Jan Karłowicz. In einem Brief aus dem Jahr 1894 befindet sich eine Information darüber. Schon damals war er sich bewusst, dass es schwierig sein würde, einen Herausgeber für eine polnische Version der Originalausgabe der KHM zu finden. Zwei Jahre später erschien als Band 14 und 15 der Bibliothek Wisła die volle Edition der ersten Ausgabe der KHM in polnischer Sprache. Die Sammlung hatte den Titel Bajki domowe i dziecinne, zebrane przez braci Grimm (Haus- und Kindermärchen, gesammelt durch die Brüder Grimm). Die Rezensenten bezeichneten die Übersetzung als „hervorragend“ und unterstrichen, dass sie eine interessante Sammlung ethnographischer Dokumente für die wissenschaftliche Bearbeitung darstellt (Lange 1896, 987). Man hob hervor, dass es der Übersetzerin gelungen sei, „den Gefahren einer künstlichen ‚Volksform‘, einer infantilen Stilisierung, einer historisch-sarmatischen Kostümierung und einer rührselig-sittlichen Veredelung zu entgehen“ (Kapełuś 1982a, 327). Auf der Basis der letzten von Grimm durchgesehenen Ausgabe der KHM aus dem Jahr 1857 erschien in Polen 1982 die erste, durch H. Kapełuś wissenschaftlich bearbeitete Edition der Kinder- und Hausmärchen (Kapełuś 1982b). Die Herausgeberin legte die Reihenfolge der Märchen gemäß dem folkloristischen Kompendium von Bolte und Polívka fest. Zusätzlich versah sie im Anhang jedes Märchen mit Anmerkungen, welche die nachstehenden Angaben enthalten: den polnischen Titel, den deutschen Originaltitel, die Kommentierung bei Bolte-Polívka, die AaTh-Nummer und die Nummer des polnischen Märchenkatalogs nach Krzyżanowski. Die neue Reihenfolge und die Anmerkungen sind für die Folkloristen sehr vorteilhaft. Durch diese Ausgabe wurde eine Lücke gefüllt und den polnischen Lesern die ganze Bedeutung der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm als Teil der klassischen Weltliteratur vorgestellt (Kapełuś 1982b). Wenn man die vielen in den slawischen Ländern herausgegebenen Märchensammlungen unter dem Gesichtspunkt ihrer Anlehnung an die Grimmschen Sammlungen analysiert, so ist es sehr schwierig festzustellen, inwieweit es sich um direkte Entlehnungen handelt oder ob die Sammler ihre Informationen aus den gleichen primären Quellen schöpften wie die Informatoren der Brüder Grimm. Bei der Untersuchung dieses Problems kam J. Krzyżanowski zu dem Schluss, dass die Frage eigentlich anders
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gestellt werden müsste, und zwar, ob es überhaupt Märchen gibt, welche nur für ein bestimmtes Volk typisch sind? Nach diesen Erwägungen kam er zu der Schlussfolgerung: „Wir besitzen einfach Volksmärchen, solche wie jedes andere europäische Volk und wir besitzen sie in einer imposanten Menge“ (Krzyżanowski 1980, 159). Einen Beweis für diese These ist das Resultat eines durch D. Simonides durchgeführten Vergleichs polnischer Texte mit denen der Brüder Grimm. Von 198 Märchen der Grimmschen Sammlungen treten nicht weniger als 166 Texte, das sind 83,4 Prozent, auch in der polnischen Volksdichtung auf (Simonides 1995, 14 f.). Man kann annehmen, dass sich die Situation in anderen slawischen Ländern ähnlich gestaltet. Wenn man in den Anmerkungen von Bolte und Polívka die Quellen, die Herkunft, die Geschichte und die geographische Verbreitung der einzelnen Varianten der Märchen analysiert (BoltePolívka 1913, 1932), muss man zum dem Schluss kommen, dass die bei den Slawen bekannten Märchen und ihre verwandten Grimmschen Varianten nicht nur in fast ganz Europa, sondern auch in anderen Kontinenten auftreten. Können wir in einer solchen Situation überhaupt von nationalen Märchen sprechen? Wäre es nicht zutreffender, anstatt über polnische, tschechische, slowakische, serbische u. a. Märchen einfach über Märchen zu sprechen, welche im slawischen Kulturkreis Aufnahme fanden, denn ein Großteil stammt aus den selben internationalen Quellen wie diejenigen der Brüder Grimm? Als national bedingt können wir eigentlich nur die Frequenz des Auftretens der einzelnen Varianten und ihre Ausstattung mit örtlichen Realien bezeichnen.
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Thomas Geider
Zur Geschichte der interdisziplinären Erforschung afrikanischer Volkserzählungen Der vorliegende Beitrag bietet einen Überblick über die 1828 begründete Erforschung der Volkserzählungen des sub-saharischen Afrika. An dieser Erzählforschung sind im Wesentlichen drei Fächer beteiligt: die Afrikanistik, die Ethnologie und die Folkloristik. Für das arabo-islamische Afrika kommt die Orientalistik hinzu, für die Umwandlung von Oralliteratur in Werke der Literatur und Medien die Komparatistik. Beide Fächer müssen hier aus Platzgründen aus der Betrachtung ausgeschlossen bleiben. Ziel des Beitrags ist zu zeigen, dass die möglichst ganzheitliche Erforschung afrikanischer Volkserzählungen kaum in einem Fach alleine geleistet werden kann, sondern auf die als gleichberechtigt anzusehenden Methoden aller Fächer angewiesen ist. Der in der Fachperspektive der Afrikanistik verfasste Beitrag soll hierzu in gebotener Kürze den Forschungsstand in drei historischen Phasen aufzeigen, die jeweiligen Schwerpunkte herausstellen und zwischenfachliche Verbindungen und Überschneidungen ausweisen. Er ist international orientiert, wenngleich die deutschsprachige Forschung stärkere Betonung erfährt. Die internationalen Mustern folgende Forschung in den 54 afrikanischen Ländern kann hier gleichfalls nicht behandelt werden, verdient in ihrer Komplexität aber an anderer Stelle dargestellt zu werden. Der Artikel ist Hans-Jörg Uther gewidmet, der mit seinen klassifikatorischen, thematologischen, editorischen und redaktionellen Arbeiten nicht zuletzt auch die Erzählforschung in Afrika bereichert hat.
Afrikas Erzählkulturen und Sprachen Afrika ist ein Kontinent, in dem das Erzählen in primärer Mündlichkeit omnipräsent ist. Die Zahl der in Afrika gesprochenen Sprachen wird mit 2092 beziffert (Gordon 2005). Die Forschung geht davon aus, dass jede Sprachgemeinschaft, die überwiegend, aber nicht in allen Fällen mit einer Ethnie gleichzusetzen ist, ihre eigene Erzählkultur (Bewertungsdiskurse,
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Terminologie, Gattungen, Performanzkomplex, Inhaltsinventare) herausgebildet hat. Afrikanisten untersuchen diesen Komplex in zentraler Perspektive anhand der Originalsprache der Urheber und Gewährsleute, während Ethnologen und Folkloristen bei ihren Fragestellungen sinnvoll mit Übersetzungstexten arbeiten können. Erzählt wird sowohl in den lokalen Erstsprachen als auch in den Linguae francae und Schulsprachen (Englisch, Französisch, Portugiesisch). Die komplexe, oft uneinheitlich notierte Ethno- und Glossonymik kann unter www.ethnologue.org (Gordon 2005) abgefragt werden. Sprachliche Klassifikationskriterien und Lagekarten finden sich in Heine et al. (1981). Ein auf die Afrika-Erzählforschung spezialisierter Atlas ist Desiderat.
Die Fächer der afrikanischen Erzählforschung 1. Die Afrikanistik versteht sich in den deutschsprachigen Ländern als Sprachwissenschaft, die ihre Untersuchungen nach den Methoden der deskriptiven und historischen Linguistik, Sprachklassifikation, Soziolinguistik, Kontaktlinguistik, Diskursanalyse und Philologie durchführt. Sie arbeitet sowohl einzelsprachbezogen als auch sprachvergleichend. Die Erforschung von Sprach- und Kulturgeschichte anhand von Sprachdaten spielt von Anbeginn eine wichtige Rolle. In den Jahren 1884–1942 spielte in Deutschland der Kolonialismus eine Rolle, der das Fach hier überhaupt entstehen ließ. Für die Erzählforschung ergibt sich hieraus die Notwendigkeit einer postkolonialen Quellenund Kontextkritik, wie sie von Jedamski 1996 (in *Kolonialismus1) und Austen (1990) für jegliche Kolonialzusammenhänge vorgeschlagen wurde. Nach einer von individuellen Forschern geprägten Frühphase setzte die Institutionalisierung der deutschsprachigen Afrikanistik 1887 am Seminar für Orientalische Sprachen in Berlin unter Carl G. Büttner ein. 1908 folgte die Gründung des Hamburgischen Instituts für Kolonialsprachen unter Carl Meinhof (ab 1919 Teil der Universität Hamburg). Ihnen vorausgegangen waren die Lehrtätigkeiten von Leo *Reinisch in Wien ab 1865 (Institutsgründung 1923) und Hans *Stumme in Leipzig ab 1895 (Institutsphasen 1930–36, 1960–1993– heute). Nachkriegsgründungen der Afrikanistik sind die Institute in Mainz (ab 1946 Lehre von Eugen Rapp, 1974 Gründung der Afrikanischen Philologie unter Leo Stappers), Köln (1958 Institutsgründung 1
Mit Stern versehene Kursivsetzungen verweisen auf Artikel in der Enzyklopädie des Märchens (EM), die das angesprochene Thema vertiefen bzw. durch Vorliegendes ergänzt werden.
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unter Oswin Köhler, ab 1980 speziell Oralliteraturlehre unter Wilhelm Möhlig), Marburg (1962 Institutsgründung unter Ernst Dammann, 1985 Umzug nach Frankfurt a. M. unter Herrmann Jungraithmayr), Bayreuth (1979/80 Gründung von zwei Afrikanistik-Lehrstühlen, dazu 1997 Lehrstuhl für Literatur in afrikanischen Sprachen; Swahili-Literaturstudien unter Gudrun Miehe und Said Khamis; AfroRomanistik unter János Riesz).2 In allen anderen Ländern wird Afrika-Erzählforschung im Rahmen der Ethnologie, Linguistik, Folkloristik, Literaturwissenschaft und Orientalistik einzelfachlich oder in „African Studies“-Programmen betrieben. 2. Die mit Erzählungen arbeitende Ethnologie wird in der Enzyklopädie des Märchens z. B. in den Stichwörtern *Anthropologische –, *Ethnologische –, *Ritualistische Theorie, *Mythologische Schule, *Kulturkreislehre, *Diffusion und *Polygenese sichtbar. Für die Afrikanistik ab 1970 ist insbesondere der *Funktionalismus maßgeblich, welcher in sozial- und symbolethnologischen Ausprägungen zur Interpretation von Texten und Kontexten adaptiert wird. Manche Ethnologen beteiligen sich an der Dokumentation afrikasprachlicher Texte (z. B. Beidelman, Schott), wenn nicht auch an ihrer Analyse (z. B. Kellner). 3. Die Historisch-vergleichende Erzählforschung bzw. Folkloristik zeigt sich in der Enzyklopädie des Märchens. Für die afrikanistisch-ethnologische Erzählforschung sind insbesondere maßgeblich: 1) der Abgleich der afrikasprachlichen und internationalen Meta-Terminologien (*Gattungsprobleme); 2) der erzählforscherische Vergleich (Variantenforschung, neuere *Geographisch-historische Methode); 3) die Erstellung von Indizes zu Themen, Typen und Motiven; 4) die Analyse von Strukturschemata (z. B. *Epische Gesetze, Propp-Funktionen); 5) der Untersuchungsbereich *Performanz (mit *Biologie des Erzählguts, *Kontext, *Sitz im Leben). Mit unterschiedlichen Akzenten teilen sich die Fächer die Methodik der *Feldforschung (Geider 2002). Ein neueres Interesse gilt der Erforschung des Sprachgrenzen überschreitenden Erzählens (Schott 1994; Roth 1998; Petrilli/Ponzio 2001).
Referenzwerke zur Afrika-Erzählforschung Überblicke zur afrikanischen Oralliteraturforschung bieten Finnegan (1970, 2007), Okpewho (1992) und Maalu-Bungi (2006). Zur Forschung in Deutschland berichten Möhlig (1988) und Braukämper (2004), für 2
Eigene Erhebungen nach Schrift- und Internetdokumenten der Institute, z. T. auch nach Jungraithmayr/Möhlig (1983) und Möhlig/Jungraithmayr (eds.) (1998).
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Frankreich siehe Biebuyck (1984), Görög-Karady (1984, 2004) und Paulme (1988); für weitere Länder siehe Geider (1998) und Yankah (2004). Informationsreich sind die Stichwörter in der Enzyklopädie des Märchens *Altafrikanisches, *Ostafrikanisches, *Südafrikanisches, *Westafrikanisches (i. V.) und *Zentralafrikanisches (i. Pl.) Erzählgut. Lexika zur Afrika-Erzählforschung liegen vor mit Knappert (1990), Möhlig/Jungraithmayr (1998), Scheub (2000) und Peek/Yankah (2004). Die Standarbibliographien sind Scheub (1977, 1985), Görög (1981) und Görög-Karady (1992); ihr letzter Dokumentationsstand ist 1990.
Die Geschichte der Erzählforschung in Afrika Zur praktischen Orientierung kann die Erzählforschung in Afrika in drei Phasen eingeteilt werden, die sich aus den historisch-politischen Rahmenbedingungen, der allgemeinen wissenschaftlichen Entwicklung und der davon abhängigen Forschungsliteratur ergeben.
1. Phase: 1828–1884 Die afrikanische Erzählforschung beginnt im frühen französischen Kolonialkontext mit Baron Jacques-François Roger, Fables sénégalaises, recueillies de l’ouolof, et mise en vers français (1828). Die Edition präsentiert 43 Tierfabeln der Wolof (Senegal) in französischen Versen nach dem Vorbild von *Äsop und *La Fontaine. Die erste tatsächlich afrikanische Sprachlichkeit zugrunde legende Textedition ist Sigismund Wilhelm Koelle, African Native Literature (1854) mit 18 Märchen der Kanuri (Nigeria). Das von einer separaten Kanuri-Grammatik begleitete Werk sollte die Welt davon überzeugen, dass es die Sprache und das Erzählen sei, das den Menschen vom Tier unterscheide und dass Afrikaner tatsächlich „a genuine portion of mankind“ (vi) seien (die Gegenposition war Arthur de Gobineau, Essai sur l’inégalité des races humaines, 1853–55). Die Edition präsentiert den Märchenerzähler auch autobiographisch: Ali Aisami wurde um 1787 in Gazir (Nord-Nigeria) geboren, um 1812 versklavt, 1818 nach Amerika verschifft, von der britischen Marine befreit und in Freetown ansässig gemacht, wo er 1847 den jungen Missionar Koelle traf (cf. Geider 1997, 164–174). 1856 referiert Wilhelm Grimm diese Märchen im 3. Band der KHM (Grimm 1856, 361–379); „mit Erstaunen“ schließt er die Polygenese einzelner KHM nicht aus (405, 411f.). Koelle (1854) diente als Modell für Schlenker (1861) und
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Schön (1885–86), die ebenfalls im Kontext der Missionierung befreiter Sklaven erstellt wurden. Südafrika ist ein zweiter Schwerpunkt der frühen Erzählforschung. Die Pionieredition ist hier Henry Callaway, Nursery Tales, Traditions, and Histories of the Zulus (1868). Der Missionar dokumentierte 58 Tier- und Ogergeschichten und fügte erstmals für eine afrikanistische Edition ausführliche afrikanische, europäische, antike, indianische und biblische Vergleichsbezüge in Fußnoten hinzu. Ein weiteres Hauptwerk ist Wilhelm Bleek und Lucy Lloyd, Specimens of Bushman Folklore (1911), das bereits 1887 erscheinen sollte. Die Sammlung dokumentiert 73 Erzählungen von Menschen, Tieren und Gestirnen der wildbeuterisch lebenden /Xam (Süd-San), die auf eine komplexe mythische Weltanschauung schließen lassen (cf. Hewitt 1986); ihre Geschichten und Motive zeigen z. T. weitere Verbreitung im Khoisan-Sprachraum (cf. Schmidt 1989). Die der Edition zugrunde liegende Tragik besteht im Sprachtod des/Xam und der Afrikaans-Assimilierung der /Xam, die eine damals 200-jährige Erfahrung der ethnischen Ausrottung durch weiße Siedler hinter sich hatten. Thema mancher Texte, für deren Sprachforschung die Erzähler //Kabbo, !Han#kass’o und Diä!kwain aus dem Gefängnis entlassen wurden, ist daher auch der Kulturkonflikt mit den Europäern. 1997 wurden die an der Universität Kapstadt archivierten Manuskripte von Bleek und Lloyd mit den Zeichnungen der/Xam-Erzähler in das Memory of the WorldRegister der UNESCO aufgenommen (cf. http://portal.unesco.org). Für Ostafrika ist auf Steere (1870) hinzuweisen, der ebenfalls im Kontext der ex-Sklavenmissionierung arbeitete und z. T. frühe arabische Druckwerke auf Swahili nacherzählt wiedergibt. In Nordostafrika betrieb Leo *Reinisch mit seinen Textsammlungen u. a. im Nuba, Saho und Somali sprachliche Pionierarbeit (Reinisch 1879, 1889, 1900). Alle genannten Editionen können als die Klassiker des 19. Jahrhunderts angesehen werden; ihre linguistische Evaluation und Nachzeichnung der Rezeptionsgeschichte ist z. T. Desiderat. 2. Phase: 1885–1960 Die zweite Phase (Berliner Konferenz 1884/85 bis Unabhängigkeitserklärungen 1957–65) umfasst die Zeit des aktiven europäischen Kolonialismus in Afrika. Deutschland war bis 1919 Kolonialmacht, zeigte aber bis 1942 Ambitionen zur Rückerlangung der Kolonien und Missionsfelder, was den Fortbestand des Faches Afrikanistik garantierte. Nach 1945 wurde die Afrikanistik in der BRD mit ausschließlich wissenschaftlichen Zielsetzungen weitergeführt; in der DDR spielte die Erzählforschung im Rahmen der Literaturwissenschaft nur eine marginale Rolle.
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1) Philologie: Die deutsche Afrika-Erzählforschung zeigt sich auch bis weit nach 1945 fast ausschließlich einzelsprachlich-philologisch orientiert. Die Erzähltexte erschienen innerhalb von Grammatiken, zweisprachigen Bucheditionen und in den Fachzeitschriften3. Der Aufbau der Editionen zeigt sich darin in einer typischen Viererstruktur von Originaltext – Übersetzungstext – Annotationstext – Vorspann. Der Originaltext wurde dem Sammler vom Erzähler entweder diktiert oder in einer Niederschrift überlassen, die entweder vom Sammler initiiert oder selbständig verfasst wurde. Das Tonbandgerät spielt ab etwa 1950 eine Rolle (vgl. Dammann 1987, 13), der Kassettenrecorder seit etwa 1975. Übersetzungen liegen in unterschiedlichen Formen interlinear und/oder frei vor. Eine Innovation wagte Klingenheben, wenn er Vai kena als „der Spinn“ übersetzte (1925/26, 88f.), da der Trickster Spinne bei den Vai (Liberia) männlich gedacht wird; dieser Neologismus wurde sogleich von Dammann (1932/33) übernommen und setzt sich offensichtlich in Jungraithmayrs Übersetzungskniff Mokilko ùntìsó ‚Tödin‘ fort (1981, 270). Die Annotationen sind je nach Herausgeber eher linguistisch-übersetzerisch oder aber ethnographisch-historisch ausgerichtet. Nur selten annotierte man Motive, Performanzmerkmale oder Vergleichshinweise (z. B. Prietze 1907, 1926); selbst Querbezüge zu Texten in eigenen anderen Editionen fehlen. Der Vorspann, meist in Form von Einleitung, Vorwort oder weiterem Paratext, der auf die Textherstellung verweist, ist zumeist minimal gehalten. Oft erfährt man gerade den Namen des Erzählers und ein paar Aufzeichnungsdetails. An dieser Knappheit setzt die Notwendigkeit der Rekontextualisierung der Texteditionen an, die heute Fragen nach dem Erzähler und den Funktionen des Vertexteten in der damaligen Erzähltradition aufkommen lassen. Allgemein resümiert Finnegan (1970, 33): „As far as the sheer provision of basic sources goes, these German collections are among the most valuable, and their number and quality seem surprisingly underestimated by recent English-speaking writers.“ Eine detaillierte Zusammenstellung der Textressourcen fehlt insgesamt, ein englisch verfasster Catalogue raisonné wäre eine Lösung, damit auch die heutige internationale Forschung, besonders in Afrika, wieder um diese Textquellen weiß. 3
Zeitschrift für afrikanische Sprachen 1.1887/88-3.1889/90. – Zeitschrift für afrikanische und oceanische Sprachen 1.1895–6.1902. – Zeitschrift für Kolonial-Sprachen 1.1910–9.1918, danach Zeitschrift für Eingeborenen-Sprachen 10.1919–35.1949/50, danach Afrika und Übersee 36.1951/52–heute; die Beihefte 16.1937 und 33.1994 liefern bibliographische Register bis einschließlich 75.1992. – Mitteilungen des Seminars für Orientalische Sprachen 1.1898-38.1935, danach Mitteilungen der Ausland-Hochschule an der Universität Berlin 39.1936–42.1939. – Anthropos: Internationale Zeitschrift für Völker und Sprachenkunde 1.1906–heute.
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Herausgeber der Editionen waren universitäre Sprachwissenschaftler, Missionare und bis 1918 Kolonialbeamte. Bis dahin erforschte man sowohl wichtige „Kolonialsprachen“ (z. B. das Duala in Kamerun, Ewe in Togo, Swahili in Ostafrika) als auch Missionssprachen innerhalb und außerhalb der eigenen Kolonialgebiete. Erzähler waren in der Regel Zöglinge, Katecheten oder Lehrer auf den Missionsstationen und „Sprachgehilfen“ an den Instituten. Besonders nach 1920 untersuchte man Sprachen über Zufallsbegegnungen, so in Hamburg z. B. das Somali durch Maria von Tiling (1924/25) und den Seemann Osman Abdi oder das Vai durch August Klingenheben (1925/26) mit dem liberianischen Generalkonsul Dr. Momolu Massaquoi. Bedeutende selbständige Texteditionen sind Büttner (1894), Westermann (1912) und Gutmann (1914). Bibliographisch problematisch ist Carl Velten, Märchen und Erzählungen der Suaheli (1898), da unter gleichem Titel sowohl die Swahili-Textausgabe (erkennbar an der Reihenmarkierung „Lehrbücher des Seminars für Orientalische Sprachen“, Bd. 18) als separat auch die deutsche Übersetzungsausgabe (ohne Reihenmarkierung) erschienen ist. Für die 1920er Jahre sind Bender (1922), Kootz-Kretschmer (1926–29) und Mischlich (1929) zu nennen. Als die letzten Werke dieses positivistischen Typus von Textnotaten sind Vorbichler (1979) und Dammann (1987) anzusehen. Ein bisher noch nicht afrikanistisch ins Auge gefasster Komplex ist die Sprachund Erzähltheorie dieses Ansatzes. So bezieht sich z. B. Meinhof (1905, 116f.) kursorisch auf die ab 1900 publizierte Völkerpsychologie von Wilhelm Wundt. Auch in den anderen Forschungsländern erschienen afrikasprachliche Texte. Als Klassiker ist hier für die USA Héli Chatelain (1894) zu nennen, der 50 Kimbundu-sprachige Erzähltexte edierte und mit Angola-kundlichen und motivvergleichenden Anmerkungen zu afrikanischen und afroamerikanischen Erzählungen versah. Diesen Zusammenhang zu erforschen, gehörte zur Gründungsprogrammatik der American Folk-Lore Society (vgl. JAFL 1 [1998] 3–7), die Chatelains Edition als ihr Memoir No. 1 publizierte. In Großbritannien kamen Ethnographien mit Sprachdaten heraus, z. B. Hollis (1905), Thomas (1913) und Rattray (1913). In Schweden publizierte Lindblom (1928, 1935) Kamba-Erzälungen (Kenya) mit linguistischen, ethnographischen und motivvergleichenden Anmerkungen. Für das südliche Afrika stehen Torrend (1921) und Doke (1927). 2) Vergleichende Ansätze – 2a) Die Haltung der Philologie: Über die geographische Verbreitung von Erzählmotiven dachte man in der deutschsprachigen Afrikanistik fast gar nicht nach (wie anders dagegen über die Verbreitung von
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Sprachmerkmalen, aus denen man Sprachklassifikationen und Hypothesen zur Sprachenausbreitung ableitete). Die Stellen sind kurz aufzuzeigen: Büttner erkannte, dass seine Swahili-Märchen zum Teil „arabischen, indischen und orientalischen Ursprungs“ seien, betrachtete es aber nicht als seine Aufgabe, den Quellen der Geschichte nachzugehen; „ich überlasse das Berufeneren“ (Büttner 1894, 1, xi). Ähnlich „versagte sich“ Stumme (1895) eine Parallelensuche zu seinen Berbermärchen, die besser „Männer wie Reinhold Köhler, Cosquin, Basset“ oder „irgend ein Folklorist vom Fach“ erledigen könnten (Stumme 1895, iv). Motivvergleichende Kommentare lieferte ihm schließlich der Altorientalist Mark Lidzbarski (in Stumme 1895, 197–207). Mögen dies individuelle Haltungen sein, fällt die afrikanistische Enthaltsamkeit bei der vergleichenden Erzählforschung aber doch durchgängig auf. Tatsächlich waren es *Köhler, *Basset und Alice Werner, die ständig Vergleichsdaten in ihren Rezensionen zu afrikanischen Textwerken unterbrachten (vgl. Schmidt 1892, 430f., 433; Basset zumeist in Revue des Traditions Populaires, 1912–1923; Werner zumeist in Folk-Lore und Man, 1899–1932). Die Afrikanistik delegierte damit einen in der Orientalistik und Amerikanistik (*Boas-Schule) gepflegten Wissensbereich an die Folkloristik, deren Entwicklungen und Ressourcen sie indessen kaum wahrnahm und nutzte. Als einzige Gegenbeispiele sind zu nennen: Klingenheben, der eine amharische Variante der *Placidas-Legende bearbeitete und dabei „folkloristisch“ kommentierte (1919/20, 181–184), und von Tiling, die auf Motivparallelen zwischen Somali-Märchen und KHM hinwies (1924/25, 51). 1921 überschritt auch Westermann die philologische Einzelsprachforschung im Gola, Kpelle und Mende (1921a, 1924), indem er einen regionalhistorischen Motivvergleich für Liberia – Sierra Leone durchführte (Westermann 1921b, 365–371). Die Darstellung bleibt in einer gewissen Unübersichtlichkeit hängen und hätte formal bereits von der Folkloristik profitieren können. Der einzige, der die „Finnische Schule“ schließlich je erwähnt, ist Bernhard Struck (1925) (s. u.). 2b) Annotierte Übersetzungsausgaben: Zeitgleich wurden Märcheninhalte auch in Übersetzungssprachen dokumentiert. Wichtige Vertreter sind hier *Basset (1887), Jacottet (1895) und Junod (1897). Ihre Übersetzungstexteditionen enthalten ausführliche Daten des inner- und außerafrikanischen Motivvergleichs. Als ihr methodisches Prinzip ist das einfache „catch as catch can“ zu erkennen, das subjektiv von der Belesenheit des Bearbeiters abhängt. Während diese und andere bis heute hergestellten Übersetzungsausgaben der
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Stoff-Forschung gute Dienste tun, vermissen Philologen hierin den größtmöglich in den Originalsprachen enthaltenen Bedeutungs- und Assoziationsraum der Erzählungen, bestimmende Strukturierungsmerkmale und die Dokumentation von Daten kaum bekannter Sprachen. 2c) Leo Frobenius: Ein eng mit diesem Ansatz verwandtes Großprojekt der 1920er Jahre ist die auf 15 Bände geplante und schließlich 12-bändig bei Eugen Diederichs erschienene Reihe Leo Frobenius, Atlantis. Volksmärchen und Volksdichtungen Afrikas (1921–28). Mit dem Titel wollte *Frobenius der zeitgenössischen nordischen Atlantis-Spekulation eine südliche Hypothese von einer Yoruba-Lokalisierung (Nigeria) entgegensetzen, die er allerdings eher nur skizziert als komplex begründet (Frobenius 1926, 10, i–xix). Die etwa 700 Märchentexte und Epenauszüge der mit den Märchen der Weltliteratur assoziierten Reihe sammelte er 1904–12 auf Expeditionen im Maghreb und Sudan, in West- und Zentralafrika, das nicht drei, sondern schließlich einen Band bekam (Atlantis 12: Kasaï). Band 15 war als Regesten-Band geplant, der die Motive der Sammlung mit Karten und Indizes systematisieren sollte (s. Editionsplan in Frobenius 1924, 9, 427). *Bolte (1921–30) arbeitete dem Band in Rezensionen mit ausführlichen Motivannotationen tatsächlich zu. Jedoch ist dieser Index nie verwirklicht worden. Afrikanisten kritisierten Frobenius’ wenig explizite Aufnahmearbeit vermittels Verkehrssprachen und Zwischenübersetzungen sowie einen ausschließlich deutschen Nacherzählungstext mit inadäquaten Transkriptionen afrikanischer Lexeme (Stumme 1923–1924; Westermann 1924–25; Klingenheben 1925/1927). Problematisch bleibt Frobenius’ Kulturschichtungsmodell und die damit verbundene hierarchisch gemeinte Raumbegrifflichkeit (Frobenius 1924, 9, 3–4). Seine theoretischen Überlegungen drückt Frobenius am ehesten zusammenhängend in seinem Werk Vom Kulturreich des Festlandes (1923) aus. Kurz vor seinem Tod hinterließ er einen Bericht, in dem sichtbar wird, wie er wohl mit einer 1928 gegründeten Motiv-Exzerptur und Verbreitungskarten weitergearbeitet hätte (Frobenius 1938). Trotz aller Kritik gilt die Atlantis-Reihe als wichtige Sammlung afrikanischer Märchen, deren kritische Prüfung je Band noch weitgehend zu leisten ist (z. B. Jahn 1975). Anlässlich der Übersetzung der drei Kabylen-Bände in das Französische durch Mokran Fetta (Frobenius 1995–98) muss bereits festgestellt werden, dass sie mythische Erzählungen dokumentieren, die im heutigen Berber-Raum als nicht mehr kursierend gelten (cf. Beiträge in Roth ed. 1998).
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3) Die *Geographisch-historische Methode: In ihrem Aufbau erfasst Aarne (1914a, 71–73) auch afrikanische Editionen, die durch die Verwendung ab dem ersten Typenindex (Aarne/Thompson 1928 = AaTh I) erkennbar zu Standardquellen in der Folkloristik wurden. In der Bibliographie des Klipple-Index wurde ihre Zahl beträchtlich erhöht (Klipple 1938/1992, 435–472). In seinen Typeneinträgen gibt AaTh I die afrikanischen Belege spezifisch mit Ethnonym und Quelle an. Der revidierte Index Aarne/Thompson (1961 = AaTh II) verweist mit der auf Klipple zurückgehenden Angabe „African: (Zahl)“ dagegen nur pauschal auf afrikanische Belege, was für Afrikanisten solange wertlos bleiben musste, wie die Dissertationsfassung (1938) nicht veröffentlicht war (Klipple 1992). In manche Typenmonographien wurde afrikanisches Erzählgut eingearbeitet, z. B. bei Aarne (1914b, 44), Mackensen (1923, 145–149) und Ranke (1934, 106–107). Die zu wenig historisch diskutierte Hypothese einer Diffusion des Märchens über Missionare und Kolonialpersonal aus Europa nach Afrika (z. B. Aarne 1914b, 44, 68; Ranke 1934, 374) konnte Afrikanisten kaum überzeugen. Aarnes fünf Afrika-Belegen zu AaTh 670 setzt Maalu-Bungi (1980) alleine 73 Varianten von 39 kongolesischen Ethnien entgegen (s. ferner ATU 670), die kaum über Einzelpersonen so schnell so weite Verbreitung gefunden haben dürften. Immerhin stellte Struck (1925, 39) den methodischen Vorbildcharakter der „finnischen Schule“ für die Afrikanistik grundsätzlich heraus. Für ihn sprachen allerdings die ost- und westafrikanischen Belege zu ATU 910K *Gang zum Eisenhammer auch gegen einen Einfluss aus Europa (Struck 1922, 99). Von Sicard (1971, 23) plädierte später für die kulturgeschichtliche Notwendigkeit des innerafrikanischen Vergleichs, um der Idee der europäischen Entlehnung entgegenzutreten, die zwischen den beiden Fächern nie ernsthaft diskutiert wurde. Aufgrund ihrer Neigung zu Wundts Völkerpsychologie tendierte die Afrikanistik eher zur Polygenese von Volkserzählungen (Meinhof 1931). 4) Die Typen- und Motivindizes: Im Gefolge von Thompsons Motif-Index (1955–58) und AaTh II (1961), der eigentlich „The Types of the Folk-Tale of Europe, West Asia, and the Lands Settled by These Peoples“ (AaTh II, 7) heißen sollte, dann aber doch zahlreiche afrikanische Belege verzeichnet, entstanden einige afrikanische Regionalindizes. Sie ordnen afrikanisches Erzählgut nicht mehr dem europäischen Erzählgut hinzu wie Klipple (1938/1992), sondern strebten die Erfassung von afrikanischen Spezifika an. In den Motivindizes geschieht dies nach Thompsons Vorschlag mittels Plusmarkierungen,
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während die Typenindizes überwiegend eigene *Anordnungsprinzipien zeigen. Für den geographischen Referenzrahmen des Index gilt teilweise das von Melville Herskovits entwickelte Konzept der „Culture Area“ (Herskovits 1930, 67 mit Karte). Die afrikanischen Indizes sind: (1) Clarke (1958; Motivindex Culture Area V = Guineaküste von Sierra Leone bis Nigeria); (2) Arewa (1966/1980; Typenindex Northern East African Cattle Area = Süd-Sudan, Uganda, Kenya, Tanzania); (3) Coetzee et al. (1967; Typenindex Afrikaans, Südafrika); (4) Lambrecht (1967; Typenindex Kongo-Brazzaville und Zaïre). Unter den Typenmonographien stellt Roberts (1958) afrikanisches Erzählgut am vollständigsten und adäquatesten dar. Der in den 1960er Jahren unpopulär werdenden Indexarbeit begegnete Crowley (1971, 1975) mehrfach mit Hinweisen auf die Notwendigkeit eines African Tale Type Index auch für die Kunst- und Literaturwissenschaft. Hierzu leistete er umfangreiche Vorarbeiten, die nach seinem Tod 1998 an der University of California at Davis archiviert wurden. Bereits für die neuere Erzählforschungsphase ab 1970 geltend kommen noch die Indizes (5) Haring (1982; Typen- und Motivindex Madagaskar) und (6) Schmidt (1989; Typen- und Motivindex Khoisan-sprachiges Südafrika) hinzu. Alle afrikanischen Typenindizes wurden in ATU eingearbeitet (Uther 2004). 5) Die kulturhistorische Motivforschung: Mit der *Kulturkreislehre als Vorgängerin wurde diese Richtung der ethnologischen Motivforschung ab den 1930er Jahren von Hermann Baumann aufgebaut, der in seiner Habilitationsschrift ca. 2.500 Märchen und Mythen kontinentweit analysierte und in deskriptiv dargestellte Motivgruppen aufteilte (Baumann 1936). Seine Hauptwirkung entfaltete der Ansatz ab den 1950er Jahren mit weiteren Studien zu folgenden Motivkomplexen: Sonn und Raubvogel (Baumann 1955, 1963), Widder – Sonne – Gewitter (Zwernemann 1959), Krokodil (Ganslmayr 1969), Schlangen (Wagner 1970), sudanische Erdbodenvorstellungen (Zwernemann 1968). Mit Motivstudien zum Kulturheroentum (Tegnaeus 1950) und Todesursprung (Abhrahamsson 1951) fand der kartographisch begleitete Ansatz insbesondere auch in Schweden Akzeptanz. Ein Meisterwerk ist die Textedition Ngano dze Cikaranga – Karangamärchen von H. von *Sicard (1965), der philologische, folkloristische, ethnographische und kulturhistorische Merkmale der Karanga-Texte integriert erörterte. In ähnlicher Komplexität begleitete er die 26 Chokwe-Märchen (Angola) des portugiesischen Sammlers João Vicente Martins (von Sicard 1971). Der kulturhistorische Ansatz wurde zuletzt von Zwernemann (1983) auf seine Weiterverwendbarkeit hin geprüft.
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3. Phase: 1960 – heute Seit den 1960er Jahren erlebte die Afrika-Erzählforschung eine vom Methodenpluralismus und der zunehmenden internationalen Vernetzung geprägte Entwicklung. Zur gleichen Zeit erfuhren viele afrikanische Gesellschaften durch die Urbanisierung, „Verwestlichung“ und die Massenmedien gravierende kulturelle Umbrüche, die das primäre Erzählen von Volkserzählungen an manchen Orten beeinträchtigen, wenn nicht eingehen ließen. Zunehmend suchten afrikanische Initiativen, das eigene Erzählerbe zu dokumentieren und in das Schulsystem bzw. die Literaturproduktion zu überführen. Innovationen gehen von der Erzählforschung in Frankreich und den USA aus und ergeben sich z. T. aus den Konstellationen der auch Anfang des 21. Jahrhunderts noch anhaltenden Dekolonisation. Einen Paradigmenwechsel führte in den 1960–70er Jahren die Performanzforschung und Bedeutungsinterpretation herbei, deren Vertreter die philologische und stoffkundliche Forschung zum Teil für nachrangig erachten. 1) Philologie: Frankreich machte seine Politik der Frankophonie durchlässig, afrikanische Erzähltraditionen wurden nun in ihren Sprachen linguistisch begleitet dokumentiert. Wichtige Editionen sind z. B. Canu (1969), Thomas (1970) und Morin (1995). Die Forschung wird nun methodisch explizit (z. B. Derive 1975), wobei der Strukturalismus eine deutliche Marke setzt (z. B. Tsoungui 1986). In Deutschland werden Texteditionen nach neueren linguistischen Standards und mit ausführlicheren oralistischen Einleitungen als zuvor herausgegeben (z. B. Ebert 1975; Jungraithmayr 2002; Kilian-Hatz 2003). Für die angelsächsische Erzählforschung fällt eine weitgehende Absenz von afrikasprachlichen Texten auf, die in Verlegeraugen offensichtlich die Marktfähigkeit von Büchern herabsetzen, während ihre Edition in Deutschland und Frankreich durch ein Subventionswesen gefördert wird. Eine beispielhafte Herausgabe von unpublizierten Manuskripten des Afrikanisten Paul Berger aus den Jahren 1935–36 leistete Kießling (1998), der die Texte mit rezenten Feldforschungsdaten aus Tanzania revidierte. Es lässt sich wohl behaupten, dass heutzutage jeder Feldforscher, wohl durch die ‚Schleppnetztechnik‘ des Tonbandeinsatzes bedingt, über größere Mengen von Erzählaufnahmen verfügt, deren zeitaufwändige Herausgabe durch andere Fachprioritäten zurückgestellt wird. Eine einzigartige Initiative entwickelte der Missionar Hermann Hochegger, der seit 1965 im Rahmen der „CEEBA Publications“ (Centre d’Études Ethnologiques de Bandundu) eine beträchtliche Zahl von bilingualen Erzähltextausgaben zaïrischer Traditionen
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besorgte (cf. Suntjens et al. 2002). Hierzu kommen neuerdings thematisch ausgerichtete Anthologien hinzu, z. B. zu Cendrillon en Afrique (Hochegger 1993) oder zum Trickster in Zaïre (Hochegger 1994/95). 2) Interpretation: Der seit den 1960er Jahren vorherrschende Interpretationsansatz der Afrika-Erzählforschung ist dem sozialethnologischen Funktionalismus zuzuordnen. Ausgehend von Evan Evans-Pritchard entwickelte Thomas Beidelman eine Methode, die Handlungen der Erzählfiguren auf metaphorisch entsprechende Realakteure zu beziehen. In den Erzählkonflikten werden dabei spielerisch und lehrreich Autoritäts-, Familien- und Moralvorstellungen reflektiert (Beidelman 1961). Der folkloristischen Kritik von Dorson (1972, 37), dass das Kernmotiv der Hase-Hyäne-Erzählung (Mot. K231.1.1. Mutual agreement to sacrifice family members in famine) eine weite Verbreitung habe, die Beidelman nicht würdige, ist zuzustimmen, sollte aber dennoch nicht daran hindern, dass die Erzählung tatsächlich erst einmal in der Bedeutung für die Tradenten selber erörtert wird. Beidelman’s bilinguale Edition der Kaguru-Texte liegt weit verstreut in Fachzeitschriften vor (Überblick in Beidelman 1979). Eine Weiterentwicklung des Ansatzes stellt die rhetorische Brechung des Erzählten in Rechnung, das nun kein Forum der Konfliktdarstellung 1:1 mehr bedeutet, sondern als „allegorische Spekulation“ eine Diskussionsplattform für symbolisch ausgedrückte Moral- und Rollenkonflikte innerhalb der Kultur darstellt (Seitel 1983; Beidelman 1986; Cancel 1989). Etwa zeitgleich operierten auch französische und wenig später deutsche Ethnologen mit diesem Interpretationsansatz (Paulme 1961; Schott 1970), der sich auch für die GenderForschung eignet (z. B. Kosack 2001). In der Afrikanistik fand dieser Ansatz Verwendung z. B. in Geiders Analyse von Pokomo-Erzählungen mit der Ogerfigur des Zimu (1990) und in Kellner (2006). 3) Performanzstudien: Hier ist insbesondere ein Schwerpunkt in der ‚Madison-Schule‘ zu erkennen, die Harold Scheub seit 1970 an der Universität von Wisconsin auf der Grundlage der Xhosa-Erzählkultur (Südafrika) entwickelt. Seine Methodik basiert auf einem ästhetischen und typologischen „Image“-Begriff, nach dem die Konstanz und Varianz einschließlich der non-verbalen Stilistik von Erzählungen analysiert wird (Hauptwerk: Scheub 1975). Diesem Ansatz folgte eine Reihe von Schülern mit jeweils eigenen Akzenten (z. B. Cosentino 1982; Foster 1984; Cancel 1989). In Frankreich legte Calame-Griaule (1976, 1977) eine Methodik zur Erfassung der expressiven Sprache und Kodierung von Gesten vor. In Deutschland untersuchte Pfeiffer (2001) die Einbettung von Liedern in Mandinka-Märchenerzählungen (Gambia) und Reuster-Jahn (2002) die interaktive Performanz von Mwera-Erzählern (Tanzania).
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4) Erzähler- und Sammlerpersönlichkeiten: Spätestens die Performanzforschung richtete den Blick auch auf das Studium der Erzählerpersönlichkeiten. Hieran beteiligte sich Scheub mit der Darstellung der damals 80-jährigen Nongenile Zenani (Scheub 1988). Eine mit PeulOriginaltexten ausgestattete Repertoirestudie zur etwa 1911 geborenen Erzählerin Goggo Addi liegt mit Baumgardt (2000) vor. Für die bereits genannte Rekonstruktion allzu knapper Erzählerinformationen legte Biernaczky (1999) ein biographisch-sozialgeschichtliches Programm vor. Nahe liegend ist die Erforschung afrikanischer Sammlerpersönlichkeiten. Als frühster eigenständiger Sammler kann Sir Apolo Kagwa mit seiner Sammlung Engero za Baganda (Ganda-Märchen) (1902, Engl. 1925) gelten. Hinzu kommen Moussa Travélé (1923; Bambara-Märchen) und ab den 1940er Jahren Amadou Hampâté Bâ mit Peul-Initiationserzählungen (Bâ 1995). Im frankophonen Afrika tendiert man zur Wiedergabe auf Französisch, auch um zu zeigen, dass afrikanische Geschichten in dieser Literatursprache wiedergegeben werden können (z. B. Diop 1947; Dadié 1954). 5) Historisch-vergleichende Erzählforschung: Mit dem Mangel, sich in den Indizes des Thompson-Typus stofflich wieder zu finden, entwickelt sich in der Afrika-Erzählforschung seit etwa 1965 eine besonders an afrikanischen Spezifika interessierte Themen-, Typen- und Motivforschung. Wo zutreffend ist die AaTh- oder Mot-Anbindung Teil der Erörterung, ansonsten aber arbeitet man taxonomisch frei und mit im Variantenvergleich gewonnenen thematischen Textkorpora. Mit der Perspektive African Folktales in the New World, die auf Afrika zurück reflektiert, stellte Bascom (1992) 19 afrikanisch-afroamerikanische Erzähltypen fest. Die französische vergleichende Erzählforschung wurde um 1963 durch die Ethnologin Denise Paulme initiiert. Um 1970 institutionalisierte sich die Forschung unter der Ägide des CNRS Paris (cf. Biebuyck 1984; Görög-Karady/Seydou 2001, 5). Diese Forschung wurde dadurch so erfolgreich, dass sie eine Teamarbeit mit regelmäßigen Treffen, Methodendiskussionen, Ergebniskontrollen und gemeinsamen Publikationsstandards aufbauen konnte, die zuverlässig große Textmengen verarbeitete. Die Mitglieder dieser Équipe mit ihren jeweiligen westafrikanischen Stammethnien sind Geneviève CalameGriaule (Dogon, Tuareg), Jean Derive (Dyula), Veronika GörögKarady (Bambara), Suzy Platiel (San), Diana Rey-Hulman (Tyokossi) und Christiane Seydou (Peul). Paulme und Claude Bremond erarbeiteten als eine Grundlage dazu eine strukturalistisch beeinflusste Märchenmorphologie (Paulme 1972, 1975, 1981; Bremond 1979). Ein eigenes Modell stellt ein Index der Betrügereien des *Tricksters dar
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(Bremond 1984; Paulme 1975, 1996; Paulme/Bremond 1980). Zur methodischen Explizitheit gehören Artikel zum Variantenvergleich (Derive 1977; Calame-Griaule et al. 1983). Motivisch-thematische Studien gelten den Rollen des Baumes (Calame-Griaule ed. 1969–74), dem Verhältnis von Weißen und Schwarzen (Görög 1976), den Familien- und Heiratsbeziehungen (Görög-Karady/Baumgardt (eds) 1988; Görög-Karady ed. 1994, 1997) sowie dem Komplex der Sexualität, der eine doppelte Tabuisierung erlebt: zum einen durch die tradierenden Gesellschaften, zum anderen durch die Prüderie der kolonialzeitlichen und missionarischen Aufzeichnung (Lallemand 1985). Der Großteil der zumeist in den Cahiers d’Études Africaines erschienenen Motiv- und Typenstudien erscheint in Buchform zusammengefasst (Paulme 1976, 1984; Calame-Griaule 1987). Meisterwerke der Teamarbeit sind die Monographie zur westafrikanischen Figur des „Enfant terrible“ (Görög et al. eds. 1980), die Folgearbeiten herausforderte (Schott 1988a; Geider 2003) sowie zur Figur der „Fille difficile“, d. h. des Mädchens, das sich eigenwillig seinen Ehemann aussucht und dabei an ein Monster gerät, von dem es wieder loskommen muss (GörögKarady/Seydou eds. 2001). Seit 1960 widmet sich die frei arbeitende promovierte Volkskundlerin Sigrid Schmidt (Hildesheim) der Märchenforschung im südlichen Afrika; ihre Stammethnie ist das khoisan-sprachige Volk der Nama (Rinderhirten) und Dama(ra) (ehemals Wildbeuter) in Namibia. Wichtige Arbeiten sind der Nachweis europäischer Märchenimporte in Namibia (Schmidt 1991), der Khoisan-Index (Schmidt 1989) und folkloristisch reich annotierte Übersetzungsausgaben der 1960–75 von ihr auf Afrikaans aufgezeichneten Tier- und Zaubermärchen (zuletzt Schmidt 2001, 2007). 1986 wurde auf Initiative der Afrikanisten Wilhelm Möhlig und Herrmann Jungraithmayr und der Ethnologen Rüdiger Schott und Jürgen Winter das DFG-Projekt Afrikanischer Motivkatalog ins Leben gerufen, das informell eine Reihe weiterer Erzählforscher an sich band. Auf Tagungen (St. Augustin 1986, Göttingen 1990, Lyon 1992) und in Korrespondenzen kooperierte das Projekt mit der französischen Erzählforschung, der Forschungsstelle Enzyklopädie des Märchens, Sigrid Schmidt und anderen. Eine Reihe von Vorträgen blieb als „works in progress“ unveröffentlicht, ging aber dann in spätere Publikationen ein. Die Projektlaufzeit endete 1992. Schott, der mit Dinslage, Steinbrich u. a. in Münster bereits eine Erzählforschgruppe aufgebaut hatte, sieht die Volkserzählungen der Bulsa (Ghana) u. a. als Medien eines kulturellen, z. T. nur in den Erzählungen selbst ausgedrückten Ethos, das Gegenstand des ethnologischen Interesses ist. Das überkulturelle
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Vorkommen von Motiven lässt die Frage nach ihrem kulturspezifischen und/oder regionalen Charakter aufkommen (Schott 1988b, 1994). In Auseinandersetzung mit der amerikanischen und französischen Typen- und Motivforschung sowie in eigenen methodischen Reflexionen u. a. auch zur Archivierungsfrage (Schott 1989, 1998) entstand das Modell eines Index, der Text-, Kontext-, Motifemund alphabetisch angeordnete Motivdaten präsentiert. Die bisher erschienenen Indexbände reflektieren Erzählmotive um die BulsaGottheit Naawen (Schott 1993, 1996). Möhligs Ziel war die Gewinnung von Vergleichseinheiten, die nicht aus einem vorgegebenen Indexsystem stammen sollten, sondern aus den originalsprachlichen Textstrukturen selbst abzuleiten sind. Hierzu entwickelte er ein von der linguistischen Diskursanalyse inspiriertes mehrschichtiges Analysemodell zur Bestimmung von textlichen Vergleichseinheiten (Möhlig 1986, 1995). Jungraithmayrs Projekt bestand in der Indizierung von Motiven in einem Korpus von Mokilko-Erzählungen (Tschad), für das Eleonore Adwiraah (1993) ebenfalls sprachliche Strukturierungselement zugrunde legte; die Publikation des Index steht noch aus. Winter beteiligte sich an dieem Projekt mit einem Massenvergleich von Varianten der Chagga-Tradition (Tanzania). In einer Vergleichsstudie wurden diese Daten zuletzt mit Texten des kulturgeschichtlich kontingent gedachten Alten Orient in Verbindung gebracht (Winter 2004). Folgearbeiten sind die Habilitationsschriften von Steinbrich (1997) und Geider (2003), die afrikanische Erzähltypen und ihre Motive kulturspezifisch und im Regionalraum erörtern. In der kritischen Sichtung folkloristischer, ethnologischer und literaturwissenschaftlicher Ansätze der Motivforschung und Möhligs Textlinguistik hat Geider in enger Arbeit an originalsprachlichen Kanuri-Texten eine Methodik für die Editionsphilologie und den synchronen regionalen Textvergleich in der Afrikanistik synthetisiert. Eine erste Anwendung dieser Methodik zeigt Seifert (2007) für die regionale, an der interethnischen Kulturgeschichte der Kavango-Bevölkerungen Nord-Namibias und SüdAngolas ausgerichtete Motivforschung. Ein Interesse am Motivbegriff für den regional überschaubaren und historisch begründeten Stoffvergleich zeigt sich mittlerweile auch bei den sonst eher dem Performanzansatz zuneigenden Erzählforschern Okpewho (1998, 170, 196, 211) und Scheub (1998, 89, 321f.). Ein 2005–08 von der DFG gefördertes Projekt zur Erstellung eines Typenindex von 436 Erzählungen aus Südafrika und Zimbabwe, die Frobenius 1928–30 dort aufgezeichnet hatte und unbearbeitet in Frankfurt hinterließ, steht nach der Bearbeitung durch Sabine Dinslage unmittelbar vor der Drucklegung. Zuvor war Dinslage Mitarbeiterin in Uthers ATU-Projekt.
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Vergleichende Erzählforschung wird auch in Dissertationen der afrikanischen Germanistik betrieben. Die von ihnen anvisierten Vergleichsbeziehungen umfassen Merkmale der heimischen afrikanischen und eventuelle Analogien der deutschen Oralliteratur bzw. verwendbare Ansätze der deutschen Erzählforschung z. B. nach Gottsched, Grimm, Lüthi und Röhrich, die somit am Methodentransfer nach Afrika beteiligt sind. Wichtige Autoren sind Okanlawon (1977), Ndong (1983), May (2000) und Tokponto (2003). Die germanistische Perspektive sollte die Vielfalt der Ansätze auch für die Afrikanistik erhöhen. 6) Die Moderne: Im Zeitalter neuer interkultureller Vergleiche wird die Bedeutung einer thematisch-motivisch ausgerichteten Erzählforschung zunehmen. Relevant sind Untersuchungen zu aktuellen Themen in Afrika wie z. B. Herrschaft und Autorität (Steinbrich 1995) oder Sexualität und Gesundheit (Dinslage 1995; Schott 2006). Moderne Sagen werden zur Lebensbewältigung auch in afrikanischen Großstädten erzählt (Johnson 2007) und knüpfen dabei z. T. an traditionelle Tricksterschemen an (Sekoni 1994). Infrastrukturen der Afrika-Erzählforschung: Die größte wissenschaftliche Vereinigung ist die 1991 in London gegründete International Society for the Oral Literatures of Africa (ISOLA) mit wechselndem Vorsitz und Kongressen in Legon (1995), Kapstadt (1998), Chambery (2002), Banjul (2004), Port of Spain (2006) und Lecce (2008). Die einzige internationale Zeitschrift für afrika-bezogene Erzählforschung ist Research in African Literatures (1. 1970–heute). Während für die USA eine Archivstruktur an der Indiana University erkennbar ist (Peek/Yankah 2004, 531–541), bleibt die Archivierung von Feldforschungsmaterialien für Deutschland ungeklärt. Gewisse Funktionen trägt das Frobenius-Institut an der Universität Frankfurt a. M. mit den Baumann-, Frobenius- und anderen Nachlässen, die für die Erzählforschung jedoch noch nicht katalogisch erfaßt sind. Mit dem Sondersammelgebiet Afrika verfügt die Universitätsbibliothek Frankfurt a. M. in Deutschland über die größte Zahl von Publikationen zur Afrika-Erzählforschung. Beachtlich sind auch die Bestände am Institut für Ethnologie und Afrikastudien der Universität Mainz, in der Universitätsbibiliothek Bayreuth, wie sonst jedes weitere der genannten Afrikanistik-Institute über eigene Spezialitäten verfügt. Aufgaben der Afrika-Erzählforschung: Fachlich gesehen bleibt die Sammlung und originalsprachliche Edition von Erzähltexten vordringlich; besonders gilt dies für bisher noch kaum dokumentierte oder gar aussterbende Sprachen. Eine Fachaufgabe ist auch die öffentliche Kommunikation über die aus Afrika mitgebrachten Tonbandaufzeichnungen und Bearbeitungsunterlagen im Bereich der Erzählforschung. Liegengebliebene
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Dokumente der früheren Philologie wären nach dem Modell der Reihe „Archiv afrikanistischer Manuskripte“ des Köppe-Verlags, Köln, zu veröffentlichen (Beispiel Kießling 1998). Die Herstellung von auditiven und transkribierten Internet-Digitalisaten afrikanischen Erzählguts nach Vorbild der anderen Philologien wäre zu begrüßen, um schließlich auch afrikanische Materie stärker in der vergleichenden Forschung zu verankern. Eine Kritik der früheren und die Entwicklung einer methodisch fundierten Editionsphilologie ist Desiderat. Eine Berücksichtigung der Oralliteraturforschung in den vor kurzem reformierten BA/MA-Curricula scheint dringend geboten, da durch die Nicht-Berücksichtigung der AfrikaErzählforschung darin der wissenschaftliche Nachwuchs auf mittelfristige Sicht auszubleiben droht. Allgemein wünschenswert erscheint die regelmäßige Kommunikation über nationale und sprachbezogene Forschungsstände, Projekte, Kongresse, Vereinigungen, Archivressourcen und Webseiten der Erzählforschung in der Folkloristik und den anderen Philologien, um so die interdisziplinäre Forschung im Zeitalter der Globalisierung besser zu vernetzen. Eine solche Informationszusammenstellung bräuchte eine zentrale redaktionell betreute Plattform mit den Aufgaben einer Qualitätssicherung und nachhaltig angelegten Archivfunktion, vielleicht mit periodisch herauszugebenden Printfassungen. Mit dem Beginn der Globalisierung wird die Frage „Was ist Weltliteratur?“ wieder aktuell. Mittlerweile sollen hieran auch die Oral- und Volksliteraturen beteiligt werden (cf. z. B. Damrosch 2003). Wie diese Literaturen jedoch tatsächlich einbezogen werden könnten, ist theoretisch, methodisch und interdisziplinär weiterhin offen und von keinem der genannten Fächer ernsthaft angegangen worden. Für die Erzählforschung nahm sich erstmals Friedrich von der Leyen (1918) dieser Frage an, der u. a. mit einer anthropologischen Auffassung im Sinne des ‚Homo narrans‘ (Ranke) argumentierte und mit Eugen Diederichs die zuletzt tatsächlich weltweit angelegte Reihe Die Märchen der Weltliteratur begründete (von der Leyen 1953) (an der aus Afrika zwölf Bände beteiligt sind). In seinem Manifest schlug der Sinologe und Komparatist Etiemble (1966, 16) u. a. Literaturgeschichten und Enzyklopädien als Orte der Vermittlung von Weltliteratur vor, d. h. außer den Büchern und Autoren selbst auch Informationen über Bücher, Literaturelemente und Akteure. Ein Vorbereitungsband zu Kindlers Literatur-Lexikon war hier mit Regionalartikeln und Hinweisen auf die Oralliteratur bereits zur Stelle (von Einsiedel 1964). Viel mehr noch ist hier allerdings seit ihrer ersten Lieferung (1975) die Enzyklopädie des Märchens mit ihren Typen-, Motiv-, Länder-, Regional, Theorie-, Methoden- und Biographieartikeln präsent. Es gilt, die Welt-
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literaturdiskussion auch in der Afrikanistik und der historisch-vergleichenden Erzählforschung aufzugreifen und dieselbe um die jeweiligen Fachperspektiven zu bereichern. Forschungsstände zeigen hier die nötigen Leitlinien und Ressourcen auf.
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I. Zu Fuß im Gebirge Der bürgerlichen Reisekultur zu Anfang des 19. Jahrhunderts galt als Movens des Reisens, nicht mehr nur Land und Leute kennenzulernen und sich allgemein zu bilden, sondern auch therapeutische Werte spielten eine Rolle, wie die Möglichkeiten sich zu erheitern, zu zerstreuen, sich durch schöne romantische Ansichten der Natur zu erfreuen und sich in der großen Natur wiederzufinden (Gottschalck, 1823, 1–3). So beginnt z. B. ein Handbuch für Harzreisen (Corvinus 1809, 1) direkt mit der Empfehlung des Arztes an den Verfasser, eine Fußreise in reiner Gebirgsluft im Harz zu unternehmen: „Reisen Sie, sagte mein Arzt, als ich über die Anfälle meines alten Unmuths klagte, reisen Sie; dies ist das einzige Mittel ihren Spleen zu vertreiben“. Reisen überhaupt und insbesondere mit körperlicher Bewegung in der Natur verbunden1 schien inzwischen zu einem allgemein anerkannt legitimen und probaten Mittel der Selbstfindung geworden zu sein. Goethe brach 1877 zu seiner ersten Harzreise auf, als er sich in einer Lebenskrise befand; Heine, der seinen seelischen Zustand vor der Harzreise als ein „Gemütslazarett“ beschrieb, war die Harzwanderung ärztlich empfohlen worden (cf. Bark in Heine 1997, 88 f.). Andersen, durch Kritik zermürbt und durch seine ambivalente Liebe zu Riborg Voigt verstört, befand sich in keiner guten Gemütsverfassung, als sein Gönner Jonas Collin ihm vorschlug, eine kleine Reise, z. B. nach Norddeutschland zu machen (Andersen 2004, 72 f.). Diese Reise machte Andersen zum Reisenden per se (Houe 1996), vielfach und facettenreich thematisiert er das Phänomen des Reisens in den Schattenbildern 2. Als Andersen 1831 den Harz in seine Reiseroute aufnahm, hatten Gebirge als Ideal schöner Landschaft mitsamt wildem Wald schon längst die Ebene mit ihren lieblichen Hainen abgelöst. Auch der Harz galt nicht mehr als eine „‚gar betrübte‘, öde und einförmige oder mindestens‚ nicht sonderlich angenehme“ (Riehl 1850, 145) und damit zu meidende Landschaft. In der Realität erfuhr Andersen ein ästhetisches Empfinden für Berge erst durch seinen Harzbesuch und die Ersteigung des Brockens; der Harz wurde für ihn zum zentralen Naturerlebnis: „es öffnete sich mir zwischen den Bergen eine neue Welt, Gottes herrliche Natur umgab mich“ (Andersen 2002, 12). Auf der literarischen Ebene hingegen war er auf aktuellem Stand: Er griff bei der Abfassung der Schattenbilder, so Fritz Paul 1 2
Seit den 1780er Jahren wurden Fußreisen populär und zusammen mit dem Erleben der Natur auch für Harzbesuche propagiert, cf. auch die neue bürgerliche „Gehkultur“ (Warneken 1989). Z. B. Andersen 2002, 14 (Metapher des Lebens als Reise und dem Sterben als letzter Reise), 110, 111 (über die eigene Unruhe und Rastlosigkeit).
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(1993, 90), „auf das erprobte Repertoire einer empfindsamen Landschaftsund Höhenästhetik“ zurück. In der dänischen Literatur hatte Jens Baggesen mit Labyrinthen, dem literarischen Bericht seiner 1789 unternommenen empfindsamen Bildungsreise, den Toposcharakter der Bergbesteigung, die Suche nach erhöhten malerischen Rundperspektiven, den Genuss „romantischer und mahlerischer Aussichten“ und „wolkennaher Höhe“ etc. verankert (Paul 1993, 81–87)3. Von den seit Anfang des 19. Jahrhunderts bereits zu festen, ja klischeehaften Begriffen gewordenen Wörtern „malerisch“ und „romantisch“ macht auch Andersen Gebrauch. Letzteres ist geradezu eines der Kernwörter in seinem Reisebuch (de Mylius in Andersen 1986, 139), das Andersen häufig zur Beschreibung von Landschaften einsetzt, bevorzugt für abwechslungsreiche Gegenden, meist mit Felspartien, z. B. für das canyonartige und damals öfters mit der Schweiz verglichene Bodetal mit der Roßtrappe: der „wildeste und romantischste Punkt im ganzen Harz“ (Andersen 2002, 102, cf. auch 100). Gelegentlich spielt er ironisch distanzierend mit diesem Leitwort, so z. B. wenn der Pfad „allzu romantisch“ (ibid., 85), d. h. schwer begehbar, wurde. Den Terminus „malerisch“ verwendet Andersen, der während der Reise auch selbst Skizzen anfertigte, hingegen weniger, wofür ein Grund darin zu sehen ist, dass die Schattenbilder komplett auf unterschiedlichste Art mit Verweisen auf die Malerei durchwoben sind. Fragt man sich, inwieweit Landschaftsmalerei als Katalysator ästhetischer Wahrnehmungen von Natur fungierte, also der Betrachter der Landschaft sich einer Praxis des Sehens bediente, die Maler erfunden haben, und die dann in der schöngeistigen Literatur aufgegriffen wurde (Fischer 2008, 23 f., cf. auch Jeggle 1985, 18), oder aber ob das Sehen von Natur als Landschaft bereits vorausgesetzt werden muss, damit Maler und Dichter sie ins Bild setzen können (Gröning/Herlyn 1996, 18 f.), trifft für Andersen das erstere zu. Die Schattenbilder, so de Mylius (Andersen 1986, 143, cf. de Mylius 2004, 129–131), seien seinerzeit das klangvollste Bekenntnis zur Malerei als Inspirationsquelle der Dichtung gewesen, Andersen habe die Natur durch die Malerei entdeckt und gelernt, wie ein Maler zu sehen. Andersen selbst reflektiert das Phänomen des vorher Gesehenen: „Es war eine Situation, wie ich sie schon einmal gesehen habe, sowohl auf Gemälden als auch in Zeichnungen, daher war ich hier in der Wirklichkeit davon doppelt ergriffen“ (Andersen 2002, 113). Er spricht von seinem Reisebuch als „einer bunten Reihe von Bildern“, an anderer Stelle von der 3
Zu inszenierten Aufstiegssituationen, zum „Blick von oben“ in Andersens Autobiographie cf. de Mylius in Andersen 2004, 231–234 ; zur Verbindung von künstlerischen Bildern und dem Erleben der Aussicht von erhöhten Punkten am Beispiel der Umgebung Dresdens Anfang des 19. Jahrhunderts cf. Martin 2001.
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poetischen Gestaltung eines Bildes, das in seiner Reisegalerie aufgehängt werden könne (ibid., 13, 69). „Der Dichter weicht dem Maler nicht!“4 hält er programmatisch fest (ibid., 13). Neben der Beschreibungstechnik – Hinweise auf Vorder- und Hintergrund, auf horizontale und vertikale Linien, Farbgebung etc. – verglich Andersen Landschaften mit Gemälden bzw. setzte sie gleich, z. B. mit Blick auf den Harz: „Es war ein vollendetes Gemälde!“(ibid., 58), beim Brockenaufstieg: „es war ein Gemälde, das die Seele wehmütig stimmte“ (ibid., 76), auf dem Brocken: „wir sahen Städte und Kirchtürme […] wie die niedlichsten Miniaturgemälde um uns herum“ (ibid., 85). Die Methode, sich als Betrachter, als Maler von Landschaft selbst in das Landschaftsbild zu integrieren5, findet sich bei Andersen einige Male: Er beschreibt, wie er auf einem steilen Bergweg ein paar alte Frauen und zerlumpte Kinder trifft, sich selbst zum Tagebuchschreiben niedersetzt und neben ihm eine Biene summt: „und so waren alle Figuren auf diesem Gemälde beschäftigt“ (ibid., 107 f.); an der Quelle von Alexisbad setzt Andersen ein junges Mädchen mit Rahel am Brunnen gleich, den wasserreichenden Mann mit Laban, sich und seine Begleiter mit durstigen Kamelen, „so daß wir zusammen ein vollständiges biblisches Gemälde darstellten.“ (ibid., 110). Nicht allein die Ästhetik des Gebirges an sich und die geographische Erreichbarkeit des Harzes auf Andersens kleiner Deutschlandreise waren ausschlaggebend für seinen Besuch dieses Mittelgebirges, sondern auch dessen Ruf als eine „typisch romantische“ Gebirgslandschaft. Sie war in der deutschen Literatur und Malerei der Romantik als solche entdeckt und etabliert worden (Vietta 1986, 3; Oppermann 1986, 34). Der Einschätzung des Harzes mit dem Brocken als nordische Urlandschaft der Romantiker gegenüber der des südlichen Deutschland und des Südens generell als Kulturlandschaft (Vietta 1986, 7; Oppermann 1986, 34) entspricht die Reiseschilderung Andersens: einerseits das Erleben „wilder Natur“ im Harz mit dem Brocken als „einem nordischen Hünengrab so recht im Großen“ (Andersen 2002, 77) und Anspielungen auf den dänischen Romantiker Adam Gottlob Oehlenschläger (Andersen 2002, 106), andererseits das Erleben der Kunst sowie Andersens Begegnung mit Ludwig Tieck in Dresden. Den Harz hatten seit der Frühromantik viele Persönlichkeiten, darunter auch für Andersen bedeutsame, besucht und ihre Landschaftserlebnisse z. T. in ihre künstlerischen Werke einfließen lassen: 1789 August Wilhelm Schlegel und Alexander von Humboldt, 1792 Tieck, 4 5
Losung der dänischen Autoren nach 1830, denen vorgeworfen wurde, sie schrieben zu „malerisch“, cf. Kommentar Sonnenberg in Andersen 2002, 212. Ein frühes Beispiel bietet das Gemälde „Das Bodetal mit der Roßtrappe“ von Pascha Johann Friedrich Weitsch (1769), cf. Reproduktion bei Vietta 1986, 27, cf. auch 31, 35 (Harz-Prospecte von Johann Heinrich Ramberg).
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1793 Novalis, 1794 Wackenroder, vor 1801 von Arnim, 1805 Eichendorff, 1811 Caspar David Friedrich zusammen mit seinem Malerfreund Georg Friedrich Kersting, 1824 Heine und Adelbert von Chamisso sowie 1826 Karl Simrock. Seit den 1780er Jahren nahm nicht nur die Zahl von Besuchern mit ausschließlich touristischen Interessen zu, sondern auch mehr oder minder empfindsame Harzreisebeschreibungen häuften sich, so dass bereits 1788 der Rezensent der Reise nach dem Brocken im Jahre 1786 von Carl Bräss (1786) aufforderte, „daß man endlich aufhören solle, ‚Harzreisen‘ zu schreiben“ (Hermand in Heine 1973, 584; Hermand 1983, 176, 179). Den ausführlichen „Harzreisen“ des 18. Jahrhunderts folgten im 19. Jahrhundert kurze feuilletonistische Reiseskizzen und eine unübersehbare Fülle von tagebuchartigen Reisenotizen in der Presse, „in denen sich langsam jener Stil der gesellschaftlichen Unmittelbarkeit entwickelt, den Heine dann in seiner Harzreise bis zur höchsten Vollendung steigert“ (Hermand in Heine 1973, 585). Andersen betrat also eine sehr vielfältige literarische Landschaft6. Seine Vertrautheit mit Heines Harzreise (1826) und dessen Buch der Lieder (1827)7 verschweigt Andersen keineswegs, sondern signalisiert sie unmissverständlich: z. B durch ein ausgewiesenes Zitat auf letzteres8 und durch den Hinweis auf Heines Harzreise bei Erreichen Goslars, seiner ersten Station im Harz: Die frühere alte kaiserliche freie Reichsstadt sei jetzt bekannt durch ihr Bergwerk und aus Heines Reisebildern, schreibt Andersen (2002, 62), denn „Hier spielte der Dichter Blumendieb und Herzensdieb – eine Geschichte, von der die ehrbaren Bürger von Goslar gar nichts mehr wissen wollten; jedesmal machten sie ein sehr saures Gesicht, wenn ich den Namen Heine nannte. Ich will deswegen etwas vorsichtiger sein.“ Heine wie Andersen benutzten intensiv Friedrich Gottschalcks Taschenbuch für Reisende in den Harz (cf. Gottschalck 1806). Gottschalck (Wellner 1994/95), ebenfalls Verfasser u. a. einer unter dem Pseudonym Wilhelm Ferdinand Müller (1800/01) erschienenen Harzreisebeschreibung, Herausgeber von Märchen und Sagen (Gottschalck 1814) und einer Reihe über Ritterburgen und Bergschlösser Deutschlands (1810–35), gab weit mehr als eine nur einfache geographische Hilfestellung. Friedrich Sengle (1972, 2, 259 f.) apostrophierte Gottschalcks Taschenbuch als Vorlage von Heines Harzreise, die Heine vom eigenen Sehen der Landschaft entband. Auch Andersens touristischer Blick wurde durch Gottschalcks Reiseführer gelenkt. Zwar gab es in ihm noch nicht das vier Jahrzehnte später einge6 7 8
Zu Andersens Entlehnung „romantischer“ Motive cf. de Mylius in Andersen 1986, 139 (z. B. Anklänge an Wilhelm Müllers romantische Müllergedichte). Zu Andersens souveränem Umgang mit dem Vorwurf des Heine-Plagiats in seinen Gedichten cf. sein Gedicht „Meine Entschuldigung“ (Detering in Andersen 2005, 37, 109 f.). Andersen 2002, 56 („Es ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie immer wieder neu“).
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führte Asteriskus-System des Baedeker (Lauterbach 1989, 217–219), doch die Sehenswürdigkeiten werden auch bei Gottschalck klar markiert und durchaus unterschiedlich akzentuiert. Das seinerzeit viel benutzte Taschenbuch ist der erste Harzführer im engeren Sinn, der zunächst eine Zusammenstellung von Reiserouten bietet, denen alphabetisch angeordnete Ortstopographien folgen. Diese enthalten wie Landestopographien der Aufklärung auch Informationen über Industrie und Gewerbe, besonders über den als Wirtschaftszweig den Harz bestimmenden Bergbau mit Schmelzwerken und Eisenhütten, was aber dem „romantischen“ Blick keinen Abbruch tat. Im Gegenteil, Grubenbesuche gehörten seit Goethe zum touristischen Muss (Schrenner 1986, 61) und wurden einerseits – auch von Andersen (2002, 66 f.) – sachlich mit technischen Details beschrieben als auch andererseits metaphorisch integriert. So weiß Andersen (ibid., 67) nicht, ob ihm im Bergwerk das Rad mit herabbrausendem Wasser oder die „roten Flammen“ bei der Erzlösung mittels Feuer „am malerischsten“ vorkamen und fand diese fremde Welt „in ihrer ganzen Furchtbarkeit schön“ – letzteres formulierte er in enger Anlehnung an Gottschalck (1806, 197). Das Furchtbar-Schöne hatte sich von den nun mit der Idee der Freiheit verbundenen Gipfeln („da gab es keine Grenzen“, Andersen 2002, 81) in mit Unterwelt und Hölle (Barüske 1980, 83) assoziierte Bergwerke und Höhlen verlagert. Dieser zeitgemäße literarisch geprägte Blick überspielt Differenzen in der Landschaftserfahrung des Flachländers Andersen. Doch auch er greift auf die verbreitete Technik eines Landschaftsvergleichs zurück, spricht den Unterschied zur Heimatlandschaft an (Lehmann 2003, 162 f.), wenn er z. B. dem abwechslungsreich geschilderten Leben eines Seemanns das einförmige des Bergmanns gegenüberstellt oder versucht, Binnenländern das Meer zu beschreiben (Andersen 2002, 67 f., 97 f.).
II. Sehenswürdigkeiten und ihre Sagen Andersen bewegte sich nicht nur in einer für ihn neuen Landschaft, sondern auch in einem anderen Land, als Däne in Deutschland, was er immer wieder anklingen lässt. Er befand sich in einer interethnischen Situation, und Kommunikation fand in einer anderen als seiner Muttersprache statt. Doch die literarische Landschaft wirkte intensiver. So benutzte Andersen in seinem Prosa mit eigener Lyrik mischenden Reisebuch als eines seiner Gestaltungsmittel das Genre Sage, z. T. in Anspielungen, z. T. in ausführlicheren Wiedergaben. Dabei erhob er keinen Anspruch darauf, Sagen „aus dem Munde“ Harzer Einheimischer gesammelt zu haben. Im Reisebuch wie in seinen Tagebuchaufzeichnungen hält er zwar kommunikative Interaktionen fest, doch diese finden überwiegend mit anderen Reisenden und
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Wanderern statt. In den Tagebuchaufzeichnungen spricht Andersen in keinem einzigen Fall davon, dass ihm jemand im Harz Sagen erzählt hätte. Abgesehen von zwei kurzen Abrissen (Barüske 1980, 84, 92; Andersen 2003, 35) schien es für Andersen auch nicht nötig zu sein, später verwendete Sagenstoffe als Erinnerungsstütze aufzuzeichnen. Seine Verfahrensweise der Einleitung von Sagen im Reisebuch gleicht denen anderer Harzreiseberichte aus den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Zum einen heißt es formelhaft: „so erzählt die Sage“ (Andersen 2002, 63, 75), „wie die Sage erzählt“ (ibid., 108) oder „andere erzählen“ (ibid., 101), zum anderen berichtet Andersen im Kontext von mit Sagen verbundenen Sehenswürdigkeiten von zwei Führerinnen und einem Führer. Im Fall der beiden Führerinnen (ibid., 70, 100 f.) hält Andersen nicht explizit fest, dass sie ihm die Geschichten auch in Gänze erzählt hätten, im Fall des Führers war Andersen (ibid., 102 f.) hingegen mit einer etablierten touristischen Institution, einem Phänomen des Folklorismus, konfrontiert: Führer auf der Rosstrappe waren unter Harzbesuchern regelrecht berühmt und hatten Reisebeschreibungen zufolge seit Ende des 18. Jahrhunderts Variantendiskussionen über die mit dieser Sehenswürdigkeit verbundenen Sage ausgelöst, die auch einen Informationsaustausch zwischen Führern und Reisenden nahe legen (Köhler-Zülch 1993, 61, 70 f.)9. Allgemein jedoch werden in Harzbeschreibungen kaum Sagen erzählende Führer und Führerinnen erwähnt, und wenn, dann meist als pauschale Aussage ohne Angabe bestimmter Erzählungen10. Im Folgenden begleite ich Andersens Reiseroute mit den drei folgenden Fragen: welche Sagen griff Andersen auf? Wie bindet er sie ein? Welche Vorlagen benutzte er? Von Goslar, dem Ausgangspunkt seiner Harzreise, hält Andersen zwei Denkmalerzählungen fest. Gleich zu Beginn schildert er die drückende Luft, einen Bergwerksduft, der an Teufelsparfüm erinnere, und berichtet über eine der „größten Merkwürdigkeiten“ der Stadt, einem Geschenk des Teufels: ein mit Wasser gefülltes Metallbecken auf dem Markt Goslars habe der Teufel einmal zur Nachtzeit hierher gebracht. Heine (1997, 32)11 wie Andersen (2002, 63) lehnen sich in der regestenartigen Wiedergabe eng an Gottschalcks Reiseführer an, dessen Text hier in allen drei vor Heines und Andersens Harzreisen erschienenen Auflagen (Gottschalck 1806, 191; 9 10 11
Zum Einfluss literarischer Traditionen auf Einheimische als touristisches Phänomen cf. Bönisch-Brednich 1993, 258 f. Z. B. Eichendorff in Denecke 1987, 15 („unterhalten durch mancherlei Sagen des Harzes, die uns unser Postillon erzählte“). Heine durchwanderte den Harz im September 1824, seine in der Harzreise geschilderte Reiseroute ist wesentlich kürzer als die in Andersens Schattenbildern und überschneidet sich mit Andersens Route in Goslar, dem Ilsetal und auf dem Brocken.
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1817, 162; 1823, 164 f.) nahezu identisch ist. Abschließend bemerkt Heine, dass die Leute und der Teufel damals noch dumm waren und sich wechselseitig Geschenke machten, und Andersen, dass das Becken „eine sehr solide Arbeit“ wäre. Der ironische Unterton lässt den Text als eine Geschichte aus dem Erzählkomplex vom harmlosen und dummen Teufel erscheinen. Während Heine (1997, 33) auf den in der von ihm benutzten Gottschalck-Ausgabe (2. Auflage 1817) noch nicht vermerkten Abriss des Goslarer Doms im Jahr 1820 eingeht und kurz kommentierend die noch in Goslar vorhandenen Domschätze aufzählt, berichtet Andersen (2002, 70 f.) hingegen über einen dieser Domschätze, eine in einem offenen Sarg liegende, aus Sandstein geformte weibliche Figur, ausführlich. Sie soll die schöne Mathilde, eine Tochter Heinrich III., sein, in die sich ihr eigener Vater verliebte. Um das Verlangen des Vaters abzuwehren, schließt Mathilde einen Vertrag mit dem Teufel unter der Bedingung, dass sie von ihm befreit sei, wenn der Teufel sie bei seinen ersten drei Besuchen nicht schlafend antreffe, was dank des Bellens ihres wachsamen Hündchens Quedl gelang. Aus Wut darüber verunstaltete sie der Teufel, und der Vater zeigte kein Verlangen mehr. Mathilde baute ein Kloster, das sie nach dem treuen Hund Quedlinburg nannte, und wurde deren erste Äbtissin. Offensichtlich griff Andersen auf eine von Gottschalck in der 1. Auflage seines Reiseführers (1806, 183 f.) erzählte „Fabel“ zurück. Interessanterweise bringt Gottschalck (1814, 260–263) in seiner Sagen- und Märchensammlung eine stilistisch überarbeitete Fassung, die jedoch in keiner Weise mehr mit Goslar in Verbindung gebracht wird, und vor allem ist in der 2. Auflage des Reiseführers (Gottschalck 1817, 155) von einer schönen Mathilde und ihrer Geschichte gar keine Rede mehr, über den Domschatz heißt es nun: „ein im Sarge liegendes Sandsteinbild, das wahrscheinlich irgend eine Person aus dem kaiserlichen Hause vorstellt“, in der 3. Auflage (1823) wird dieses „Denkmal“ nicht mehr erwähnt12. Reiste Andersen also mit der 1. Auflage von Gottschalcks Führer? Diese in eine Gründungssage übergehende Geschichte von Inzest und Teufelspakt stellte Andersen in einen eher humoristischen Kontext, wenn er abschließend fragt, ob die Steinfigur nun Mathilde zu Zeiten ihrer Schönheit oder nach Verunstaltung des Teufels darstelle, und für letzteres plädiert. Von Goslar aus wanderte Andersen durch das Ilsetal zum Brocken hinauf, während Heine umgekehrt den Weg durch das Ilsetal vom Bro12
Hier scheint sich Gottschalck zu sehr auf die von ihm (Gottschalck 1814, 263) angegebene Quelle Heß, D.: Durchflüge durch Deutschland t. 1. Hamburg 1793, verlassen zu haben (übernommen auch in Grimm, DS Nr. 488), cf. Müller, Streifereyen 2 (1801) 136; zu späterem Protest gegen die Deutung der Steinfigur als Mathilde Spieker 1857, 225; weitere Varianten bei Uther 1994, Nr. 51, 52.
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cken hinab nahm. Dieser Weg stellte eine Standardroute zum und vom Brocken dar13, und Sagen über Die schöne Prinzessin Ilse waren fest im Harzer Sagenkanon verankert. Während Heine (1997, 80) unter Hinweis auf Gottschalck (1817, 203) dessen äußerst verkürzte Variante aus dem Reiseführer zitiert14 und dessen geologische Informationen zum Felsen Ilsenstein übergeht, greift Andersen auf letztere zurück (Gottschalck 1806, 256–258) und erzählt zunächst übereinstimmend, dass der Sage nach die Prinzessin Ilse noch in dem Gebirge wohne, bei den ersten Strahlen der Morgensonne im Fluss bade und dass der glücklich sei, der sie hier finde. Abweichend von Gottschalck bringt Andersen (2002, 75 f.) dann eine zur erdgeschichtlichen Erklärung der Felsentstehung passende Variante: „Als die Sintflut die Menschen von der Erde vertilgte, stiegen auch die Gewässer der Nordsee weit, weit nach Deutschland hinein und die schöne Ilse flüchtete mit ihrem Geliebten aus den nördlichen Ländern hierher in den Harz, wo der Brocken ihnen einen Zufluchtsort zu bieten schien.“ Es folgt eine dramatische Schilderung des steigenden Wassers um den Ilsenstein, zu dem die beiden gelangt waren, um schließlich in den brausenden Fluten unterzugehen. Daher trage der Fluss den Namen Ilse, und die schöne Ilse wohne noch immer in dem Fels mit ihrem Bräutigam. Dass auch der Bräutigam mit ihr im Felsen wohne, scheint allein Andersen zu behaupten. Ansonsten könnte Andersen diese Variante der Sammlung Gottschalcks (1814, 157–161) entnommen haben, die wiederum als Quelle die Volcks-Sagen (1800, 169–174) Otmars, Pseudonym des Pädagogen und Theologen Johann Carl Christoph Nachtigal, angibt, dessen Anthologie als erste deutsche Sagensammlung mit wissenschaftlichem Anspruch gilt und vor allem Sagen aus dem Unterharz und dem Harzvorland enthält. Größere Übereinstimmung als mit Gottschalcks Fassung und der verkürzten Otmar-Version im ersten Band der Deutschen Sagen Jacob und Wilhelm Grimms ([1816] Grimm, Nr. 317) zeigt Andersens Text in Details und Reihenfolge der Episoden mit dem Otmars. Hat Andersen Otmar im Original benutzt? Die bei Otmar noch eingefügte Erzählung von einem Köhler, der die Prinzessin am Fluss traf und von ihr reich beschenkt wurde, berücksichtigte Andersen nicht. Wichtiger als eine solche, die erste Aussage von der im Fluss badenden Prinzessin Ilse bestätigende Erzählung schien ihm die dramatische Vorführung menschlicher Ohnmacht gegenüber Naturgewalten gewesen zu sein. Sehr eigenwillig und geradezu innovativ ist Andersens Umgang mit der auf dem Brocken lokalisierten Sage über den Hexensabbat zur Walpurgis13 14
Schon von Behrens (1703, 139) als ein Weg zum Brocken beschrieben, „welcher von denen fremden reisenden curieusen Personen am meisten gesuchet und betreten wird.“ Zugrunde liegt eine Variante, in der eine Hexe das Schloss der Prinzessin Ilse und diese selbst verwünscht, cf. Corvinus 1809, 204 f.
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nacht: explizit führt er sie nicht an. Lag es daran, dass er die erste Auflage von Gottschalcks Reiseführer benutzte, in der Gottschalck mit keiner Silbe auf den Hexentanz eingeht, wohl eingedenk seiner eigenen Aussage einige Jahre zuvor, die „Merkwürdigkeiten“ Hexenbrunnen, Hexenaltar und Teufelskanzel auf dem Brocken mit Stillschweigen zu übergehen, da schon so viel darüber geschrieben worden sei?15 Vordergründig vermeidet Andersen hier auch jeden Bezug auf Goethe, dessen 1808 erschienenem Faust I schließlich die erneute und nun internationale Popularität des Brockens als dämonisierter Blocksberg zu verdanken war, und beruft sich stattdessen auf Shakespeare: Im Reisebuch schreibt er (Andersen 2002, 78) über drei Frauengestalten außerhalb des Brockenhauses im Nebel: „es sah aus wie die Hexenszene in ‚Macbeth‘“, nur im Tagebuch heißt es: „als wären es die Hexen des Macbeth oder richtiger die des Blocksberges, so wie es ja auch war“ (Barüske 1980, 87; cf. Andersen 2003, 32 ). Anspielungen bzw. Verknüpfungen mit dem Hexensabbat finden sich in Reisebeschreibungen meist bei der Erklärung der beiden Hexenaltar und Teufelskanzel genannten Felsformationen, beim Eintrag in das Brockengästebuch oder nach Erscheinen von Goethes Faust durch Zitieren entsprechender Passagen am angeblichen Ort des Geschehens. Andersen hingegen erzählt die Sage nicht, er inszeniert sie. Sie erscheint in den Schattenbildern als ein touristisches Event, das Andersens Tagebuchaufzeichnungen zufolge wohl tatsächlich stattgefunden hat (Barüske 1980, 89). Andersen (2002, 79–81) schildert, wie am Abend Musikanten auf dem Turm Platz nehmen, die Reisenden zusammengerufen und mit Besenstielen, Ofengabeln und Feuerschaufeln versehen werden und in „fröhlicher Ausgelassenheit“ einen Hexentanz absolvieren. Das, so Andersen, bis Mitternacht andauernde lustige Lärmen unterlegt er mit einem Lied, dessen letzte sechste Strophe einem Chor zugeordnet wird: „Dem Schicksal setz’ ich U für X,/Ich will es schon korrexen;/Ich bin ’ne Hex, Du bist ’ne Hex,/Und wir sind alle Hexen“ (ibid., 81). Ob Goethes Hexenchor in Faust I Andersen hierzu inspirierte, sei dahingestellt. In jedem Fall ist festzuhalten, dass Andersen hiermit den vermutlich ersten Beleg für eine Umsetzung der Sage in ein Spiel mit Hexen- und Teufelsspuk liefert. Diese Realisierung einer Imagination fand zwar noch nicht termingerecht in der Nacht zum ersten Mai statt, ist jedoch als Vorläufer für die erst am Ende des 19. Jahrhunderts institutionalisierten und bis heute üblichen touristischen Walpurgisfeiern auf dem Brocken und in anderen Harzorten anzusehen (Köhler-Zülch 1995). Hingegen in numinosem Kontext 15
Müller, Streifereyen 1, 215; in die 2. und 3. Auflage seines Reiseführers nimmt Gottschalck (1817, 116; 1823, 119) jedoch die „Fabel“ wieder auf. Auch Otmar (54) schloß „die allbekannten und schon oft nacherzählten Sagen, z. B. vom Tanz der Hexen auf der Spitze des Brockens in der Walpurgis-Nacht“ aus.
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bindet Andersen die Sage in seine Schilderung einer nächtlichen, mit Blick vom Brocken herab imaginierten Traumwelt ein, in der er u. a. auch weitere Sagenmotive durch Benennung assoziierend integrierte16. Am nächsten Tag kletterte Andersen (2002, 85) dem Reisebuch zufolge kommentarlos „auf den sogenannten Hexenaltar und die zehn Fuß höhere Teufelskanzel hinauf“ und trank aus dem Hexenbrunnen17. Vom Brocken wanderte Andersen über Elbingerode, Rübeland (einschließlich eines Besuchs der zum Programm einer Harzreise gehörenden Baumannshöhle samt der Geschichte ihrer Entdeckung), Blankenburg und den Regenstein an der Teufelsmauer vorbei, einem festen Element in der Harzer Sagentopographie. Bei der Ätiologie dieser Sehenswürdigkeit, eines felsigen Bergzugs, orientierte sich Andersen (2002, 100 f.) eng an Gottschalcks Reiseführer (1806, 422), der übereinstimmend mit anderen Varianten berichtet, dass der Teufel die Mauer als Abgrenzung zum Herrschaftsbereich Gottes baute18. Nur Gottschalck und mit ihm Andersen hingegen erzählen davon, dass der Teufel mit dem Bau der Mauer auch die Verkündigung der Lehre Christi verhindern wollte; über Gottschalck hinaus konstatiert Andersen dann Zerstörung und Zusammenbrechen der Mauer, also den Sieg des Guten. Andersens nächste Reisestation, die Roßtrappe mit den beeindruckend senkrecht abfallenden Felsen, dem „schwindelnd machenden Blick in die Tiefe“ des Bodetals, und fest verbunden mit dem Sagenmotiv des Jungfernsprungs war ein Muss für Harzbesucher. Gottschalck (1806, 371) bringt nur einen kurzen Abriss, die ausführliche Erzählung der „Sage von der flüchtenden Prinzessin, der wunderschönen Emma aus dem Riesengebirge“ bei Andersen (2002, 102–104) steht unter den verschiedenen bereits zur Zeit seiner Harzreise bekannten Varianten wiederum der Originalversion Otmars am nächsten19. Andersen wählt hier eine neue Form der Präsentation: Er imaginiert das ruhige Erzählen des Führers als Alltagsgeschäft zum Broterwerb in Konfrontation mit kindlichen Phantasien und erzählt verbunden mit Tempuswechseln die Sage perspektivisch dreigeteilt: Er 16
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Cf. Otmar 1800, 145–150 (Die Wunderblume mit „Vergiß das Beste nicht“, verkürzt in Grimm, DS Nr. 304), 169–174 (Die Bewohnerin des Ilsensteins), 241–250 (Hackelnberg; verkürzt Grimm, DS Nr. 311 f.), 161–166, bes. 164 f. (Der verzauberte Kaiser, cf. Grimm, DS Nr. 23). Für die Benutzung der ersten Auflage von Gottschalcks Reiseführer (1806, 136 f.) spricht die analoge kommentarlose Aufzählung von Hexenaltar und Teufelskanzel mit Höhenangabe, wobei Andersen aus zehn Fuß hoher Teufelskanzel eine zehn Fuß höhere Teufelskanzel machte. In der 2. und 3. Auflage von Gottschalcks Führer finden sich keine Höhenangaben zu den beiden Felsformationen. Otmar 1800, 177 f. (verkürzt bei Grimm, DS Nr. 190 = Uther 1994, Nr. 265, cf. auch Nr. 264); cf. Corvinus 1809, 122 f. (nicht zur bestimmten Frist fertig geworden). Grimm, DS Nr. 319 bringt fünf Varianten, darunter die Otmars.
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führt vor, wie der Sohn später, wenn er dem Vater im Beruf des Führers gefolgt sei, wie sein Vater erzählen werde, „wie hier vor vielen tausend Jahren Riesen und Zauberer wohnten, […] er wird von dem großen Bodo erzählen, der die schöne Emma liebte und sie bis hierhin verfolgte, wo sie mit ihrem Pferd hinübersprang.“ Doch in der Gegenwart sehe der Sohn ‚das große herrliche Bild in den Farben der kindlichen Phantasie‘: „Jetzt sieht er sie mit der großen, schweren Goldkrone und dem flatternden Gewand von Berg zu Berg fliehen, […] Jetzt ist sie hier am Abgrund angekommen, sie sieht die Tiefe vor sich […] sie ist gerettet, nur die goldene Krone fällt ihr […] in den Wirbel des Stromes hinab“. Wenn der erwachsene Sohn als Führer seine Träume verloren haben werde, so Andersen, wird vor einer neuen Kinderschar „auch wieder die Prinzessin mit der goldenen Krone und dem fliegenden Gewande vorbeijagen, auch sie werden […] glauben, daß sie das rote Gold aus dem Wasser hervorschimmern sähen“, also die verlorene Krone, die, wie Andersen abschließend berichtet, ein Taucher vergeblich unter Verlust seines Lebens zu heben suchte. Über die verfallene Ruine des Schlosses Lauenberg mit Anspielung auf Ossian (Andersen 2002, 107) und über Gernrode gelangt Andersen zum Mägdesprung im Selketal, ein ebenfalls mit dem Motiv des Jungfernsprungs verbundener Ort und ein weiteres Muss einer Harzwanderung. Von der auf einem Felsen mit eingedrückten Fußspuren lokalisierten Sage gibt Andersen zwei Varianten an. In beiden Fällen greift er nicht auf Gottschalck zurück. Die erste, auch in seinem Tagebuch (Barüske 1980, 1, 92; Andersen 2003, 35) skizzierte Geschichte von einem jungen Mädchen, das auf der Flucht vor einem (fürstlichen) Verfolger sich vom Felsen hinunterstürzt, doch dabei durch Gottes Hilfe vom Wind langsam herab getragen wird (Andersen 2002, 108), findet sich nicht unter den üblichen Varianten20. Ist sie Andersen erzählt worden, hat er sie erfunden und hatte er dabei noch die fliehende Emma von der Rosstrappe oder andere Jungfersprungsagen im Sinn? Bei der zweiten Variante hingegen gibt Andersen (ibid., 108 f.) zum ersten Mal, und das direkt am Anfang der Erzählung, seine Quelle preis: „Ottomar erzählt uns“, und es folgt die Geschichte von zwei auf einer steilen Felswand spielenden Riesenmädchen, von denen eines zögerte zu springen, aber dann doch den Sprung vom Felsen wagte, und darauf einen Bauern, der sich über es lustig gemacht hatte, samt Pflug und Ochsen in seine Schürze steckte und nach Hause trug21. 20 21
Cf. Grimm, DS Nr. 320 mit drei Varianten; cf. Grimm, DS Nr. 321 (in der Lausitz lokalisierte Variante). Otmar 1800, 197 f.; merkwürdigerweise hier, wo Andersen selbst Otmar als Quelle anführt, folgt er weniger genau seiner Vorlage; cf. auch Grimm, DS Nr. 17 (im Elsaß lokalisierte Variante), cf. auch Adelbert von Chamissos balladeske Bearbeitung Das Riesenspielzeug (1831).
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Andersens Nennung der Sammlung Otmars (1800) als direkte Quelle für die Mägdesprungvariante erscheint glaubwürdig, da sich auch bei den Sagen vom Ilsenstein und von der Roßtrappe eine Nähe zu Otmars Texten gezeigt hatte. Gestützt wird diese Feststellung durch Anspielungen auf Sagenmotive wie Wunderblume, Wilder Jäger, Schlafender Kaiser im Berg, die Andersen in seine nächtlichen Phantasien auf dem Brocken einreiht. Hier handelt es sich zwar auch um Wandersagen, doch bezeichnenderweise finden sie sich in Otmars Sammlung. Obwohl bei der Unmenge von auch in Periodika erschienenen mit Sagen angereicherten Harzreiseberichten ein gewisser Unsicherheitsfaktor bestehen bleibt, ist davon auszugehen, dass die Sammlung Otmars Andersens Vorlage für drei von seinen vier ausführlicheren Harzsagenpräsentationen bildet, und Andersen im Fall der übrigen (Geschenk des Teufels, Schöne Mathilde, Teufelsmauer) auf Gottschalcks Reiseführer in der ersten Auflage von 1806 zurückgriff. Daraus wie auch aus weiteren Indizien (Details in Rammelsberg- und Brockenschilderung) folgt: Andersen benutzte bei seiner Reise durch den Harz die erste Auflage Gottschalcks, die sich von den sich näher stehenden verbesserten zweiten und dritten Auflagen (1817 und 1823) wesentlich unterscheidet, oder er muss sie zumindest mitbenutzt haben22.
III. Sagen im landschaftlichen Blick Den Sagen vom Mägdesprung, den letzten in den Schattenbildern erzählten Sagen, bevor er den Harz verließ, schließt Andersen allgemeinere Betrachtungen zur Gattung Sage an und kommentiert leicht spöttelnd zunächst diese: „Obschon ich als großer, vernünftiger und konfirmierter Mensch recht genau wußte, daß das Ganze nur eine Dorfphantasie war, daß weder eine Bergdame hier hüpfte noch sonst irgendein menschliches Wesen heruntergesprungen ist, ohne sich den Hals zu brechen, mußte ich mir diesen Ort doch etwas näher betrachten, der jeden tief ergreift, der die große Natur liebt“ (Andersen 2002, 109). Wie im Fall der Sage zur Roßtrappe scheint Andersen hier einen Glauben an Sagen, ihr lebendiges Erleben, in Beziehung zu kindlichen Phantasien zu setzen. Doch sein Hinweis auf das Ergriffensein vom Ort des angeblichen Geschehens deutet auf Andersens weiteres Sagenverständnis. In der darauf folgenden Passage verbindet er programmatisch Sage und Natur zur Erläuterung des Terminus „romantisch“: „Es sind nicht bloß die stolzen Felsmassen mit ihren unübersehbaren Waldungen, das hohe Gebüsch, das sich über den brausenden Fluß hinschlängelt, oder die tote Steinmasse eines halbverfallenen 22
De Mylius (Andersen 1986, 162 zu p. 51) nimmt an, dass Andersen die 2. Auflage benutzte.
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Gebäudes, welche diese Gegend romantisch machen; erst wenn sich an diese Natur die eine oder andere Sage knüpft, erscheint das Ganze in seiner vollkommenen magischen Beleuchtung, die es so recht vor dem Auge der Seele hervorhebt. Dann bekommen die toten Massen Leben, es ist keine tote Dekoration mehr, es kommt Handlung hinein, jedes Blatt, jede Blume stehen da wie ein redender Vogel und die Quelle wie eine singende Fontäne, die ihre ewig rieselnden Akkorde zu diesem Melodrama der Geister schlägt. Die Gegend ringsumher bekam einen doppelten Reiz für mich durch ihre Sagen“ (ibid.). Natur, erweitert zur Landschaft als Ganzem, bezeichnet Andersen als tote Masse23, als „tote Dekoration“, die erst durch Sagen belebt werde24, die das Ganze in magischer Beleuchtung vor dem „Auge der Seele“ hervorhöben, d. h. geographische und landschaftsästhetische Sichtweisen allein genügen ihm nicht25. Die Dichter der Romantik hatten Mythen und Sagen, zuvor in der Aufklärung als Aberglauben abgetan, reaktiviert und durch sie einen symbolischen Zugang zur Natur gefunden. Für Reisebeschreibungen des Biedermeiers gehörten inzwischen Sagen als das Lokalkolorit intensivierende und generell als Raum vertiefende Elemente fest zum Repertoire (cf. Bönisch-Brednich 1993). Bereits 1803 hatte Christian Wilhelm Spieker (51) mit Blick auf das Genre Sage gefragt, woher es kommen möge, „daß die schönsten Gegenden des Harzes durch dergleichen seltsame Ereignisse berühmt geworden sind“ und vermutete, dass man sie vielleicht erdichtete, „um dadurch Neugierige hinzulocken und der Natur mehr Bewunderer abzugewinnen“, denn es sei leider wahr, „daß manche Menschen den Mägdesprung, die Roßtrappe, die Teufelsmühle und den Brocken nicht darum besuchen, um sich an den herrlichen Ansichten der Natur zu ergötzen; sondern um Fußstapfen, den Pferdehuf, den Teufelsstein und den Hexenaltar zu besuchen.“ Dieser spöttischen Anmerkung Spiekers entspricht es, dass in Reisebeschreibungen neben Geschichten zu Burgen und Schlössern weitgehend nur ein bestimmter Sagenbereich tradiert wird: ätiologische Sagen zu topographischen Besonderheiten, die als Sehenswürdigkeiten eine den Denkmälern in Städten analoge Funktion innehaben. Der große Komplex der für den Harz belegten Bergmannssagen, z. B. mit der Gestalt des Bergmönchs, oder die Schatz- und Venedigersagen werden kaum berücksichtigt. An dieser durch Reisebeschreibungen geprägten Sagentopographie, die noch im heutigen 23 24 25
Cf. Andersen 2002, 66 (diese toten Massen in Bezug auf den Rammelsberg bei Goslar). Cf. auch Andersen 2002, 99 f.: „Eine jede Ruine steht doch da wie ein leibhaftiges Heldengedicht, das uns in der Zeit zu andern Menschen, andern Sitten und Gebräuchen zurückversetzt […] es wird die Sage von dieser Stelle noch lange fortleben.“ Cf. Oppermann 1986, 40 (für Goethes „Faust“ und Sagen generell: Hinaushebung über den geographischen und landschaftsästhetischen Bereich zu einem menschlichen Schicksalsort).
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Harztourismus eine große Rolle spielt, war auch Andersens Reiseroute ausgerichtet, und sie war bestimmend für die Auswahl von Harzsagen, die Andersen in seinem Reisebuch tradierte: städtetouristisch gesehen zwei Denkmalerzählungen aus Goslar und landschaftstouristisch die Ätiologien zur Entstehung des Ilsensteins, der Teufelsmauer, den Huf- bzw. Fußabdrücken auf Rosstrappe und Mägdesprung26. Bis auf die Sage von der Prinzessin Ilse handelt es sich gattungsmäßig um Teufels- bzw. Riesensagen, denen Andersen bereits in einer Form begegnete, die weitgehend entdämonisiert einen eher unterhaltsamen Charakter mit glücklichem Ausgang aufweist, wie z. B. bei den Sagen von Rosstrappe und Mägdesprung als einer neueren spezifischen Ausprägung mittelalterlicher Frauenjagdsagen mit ehemals dämonischen Verfolgern (Uther 1994, 20). Den Einbruch des Jenseitigen, des Numinosen, den Glauben an Sagen verweist Andersen in den Bereich von Traum- und Kinderwelten. Schon in der Goslarpassage bedient er sich der rekursiven Technik, zuvor Geschildertes in einer nächtlichen Phantasie noch einmal aufzunehmen: Er lässt das erzählte Vergangene lebendig werden – neben den alten Kaisern der Geschichte auch die Prinzessin Mathilde der Sage (Andersen 2002, 71 f.). Der profanisierenden Inszenierung des Hexensabbats auf dem Brocken setzt Andersen eine „Traumwelt der Phantasie“ entgegen, in der er erneut die Prinzessin Ilse erwähnt, aber auch auf Elemente mit der Reiseroute nicht verbundener Sagenwelten wie die Zauberblume als Wunderblume der Harzbewohner, den Wilden Jäger, den schlafenden Kaiser im Berg, das Wirken von Zwergen anspielt und verfremdend den bedrohlich dämonischen Aspekt des Hexensabbats komplementiert (Andersen 2002, 81–83). Einerseits griff Andersen auf einen eingespielten Sagenkanon zurück, seine Sichtweisen sind durch tradierte Prägungen bestimmt, andererseits bewegte er sich in dieser literarischen Landschaft in Variantenauswahl und Präsentation auf eigenen Wegen. Dieses zeigt sich vor allem, wenn er eine dramatische Version bevorzugt, eine Sage in unterschiedlichen Perspektiven erzählt oder sie sogar inszeniert. Insbesondere dann ist Landschaft keine „tote Dekoration“ mehr, sondern zur Kulisse eines Schauspiels geworden. Neben die Malerei als eine den Märchenstil Andersens bestimmende ästhetische Kategorie stellt de Mylius (2004, 127) u. a. die des Szenisch-Dramatischen. Was oft als Nähe zur mündlichen Sprache oder gar zur mündlichen Erzähltradition angesehen werde, so de Mylius, sei vielmehr als Nähe zum Theater des Theaterdichters und -besuchers An26
Die Popularität der mit Ätiologien verbundenen landschaftlichen Sehenswürdigkeiten veranschaulichen auch Göttinger Stammbuchkupfer aus den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, cf. Brednich 1997, Nr. 324–328 (Ilsenstein), 317 f. (Teufelskanzel, Brocken), 333 (Teufelsmauer), 343–347 (Rosstrappe), 357 (Mägdetrapp). Für in Göttingen Studierende gehörte eine Harzwanderung zum guten Ton, cf. Hermand in Heine 1973, 519 f.
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dersen zu beschreiben. In spielerischer Variation zeigt Andersen diese Neigung zum Szenisch-Dramatischen auch in der Art und Weise, wie er mit der Gattung Sage in den Schattenbildern verfährt. Sein Umgang mit der Harzer Sagentopographie in Präsentation und Reflexion veranschaulicht, wie passive und aktive Teilnahme an Traditionen Wahrnehmung von Landschaft, ein komplexes kulturelles Phänomen, generiert.
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Grimms Schwankmärchen Das Schwankmärchen ist ein Subgenre des Märchens und nicht des Schwanks, wie es von Märchen- und Schwankforschern definiert wurde, also kein „Märchenschwank“1. Dies soll hier an Stoff, Form und Gehalt sowie an der Herkunft des Schwankmärchens gezeigt werden. Es ist eine „Mittelgattung“ oder „Zwischengattung“, aber nicht zwischen „Märchen und Schwank“2, denn es gehört selbst zu den Märchen, sondern zwischen „Zaubermärchen und Schwank“, eine Zwischengattung, die diese „beiden Hauptgruppen der KHM miteinander verbindet“ (Solms 1999, 98). Dieser Auffassung hat sich bisher offenbar nur Hans-Jörg Uther im EM-Artikel „Schwankmärchen“ angeschlossen: „Schwankmärchen, ein Erzählgenre zwischen Zaubermärchen und Schwank“ (Uther 2007, 335).3
Desiderat der Erzählforschung Davor wurde das Schwankmärchen auch in der Enzyklopädie des Märchens überwiegend dem Schwank untergeordnet und dabei gewöhnlich übersehen. In den Artikeln „Lüge, Lügengeschichte“ (Thomas 1986), „Betrüger“ (Moser-Rath 1979) und „Bosheit, böse“ (Lüthi 1979) kommen die Schwankmärchen nicht vor, obwohl ihr Held ständig lügt, betrügt und andere Bosheiten begeht, um seine ungleich stärkeren Gegner zu überwinden. In den Artikeln „Dieb, Diebstahl“ (Moser-Rath 1981) und „Ehebruchschwänke und -witze“ (Roth 1981) gibt es zwar die Untertitel „Schwank1
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So Berendsohn (1921/1968, 82), dem sich Lüthi (1962/1979, 13), Straßner (1968/1978, 5) anschließen. Neumann (1979, 185 ff.) bezeichnet genau umgekehrt Märchen, in denen „übernatürliche Gaben durch List […] ersetzt“ sind wie „Das tapfere Schneiderlein“ als „Märchenschwänke“ und Schwänke, in denen „eine Folge schwankhafter Geschehnisse in das äußere Gewand des Märchens gekleidet ist wie „Der Frieder und das Katherlieschen“ als „Schwankmärchen“. Weber 1904, 68 f. und Röhrich 1956/1974, 57. Vgl. auch Bausinger 1968/1980, 162 und Neumann 1979, 162 u. 185. Auf der Grundlage dieser generellen Übereinstimmung erlaube ich mir im vorliegenden Band, auch partiell abweichende Ansichten vorzustellen. Mit wem sonst könnte ich über Gattungsfragen debattieren?
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märchen und Schwank“ sowie „Prosaschwank, Schwankmärchen“; die Schwankmärchen werden aber auch hier nicht behandelt. Im Artikel „Fleiß und Faulheit“ (Horn 1984) sind dagegen „Märchen und Schwankmärchen“ zusammengefasst, die letzteren werden aber nicht weiter erwähnt. Selbst im Artikel „Gattungsprobleme“ (Honko 1990) wird das Schwankmärchen übergangen, obwohl dieses Subgenre die Forscher ganz offensichtlich vor Probleme stellt. Demzufolge ist heute nicht mehr der „Schwank“, sondern das Schwankmärchen das Stiefkind der Märchenforschung4. Eine Ausnahme ist der Artikel „Glück“ (Blum 1990), demzufolge der Mensch im Zaubermärchen wie im Schwankmärchen das Glück erlangt.
Märchen mit gutem Ausgang Blum unterscheidet sich damit auch von Lutz Röhrich, der den „glückhaften Schluss“ nicht mit dem Schwankmärchen, sondern mit dem Novellenmärchen verbindet. Da Röhrich für viele Mitautoren der EM richtungweisend sein dürfte, hat er durch seine Definition des Novellenmärchens vielleicht bewirkt oder dazu beigetragen, dass das Schwankmärchen nicht als Märchen erkannt wurde. Er [der glückhafte Schluss] gehört wesensmäßig vor allem zu jenen Erzählungen, die man seit Antti Aarne ‚eigentliche Märchen‘ oder ‚Zaubermärchen‘ nennt; er gehört aber auch zu den ‚novellenartigen Märchen‘ und verbindet so diese beiden Hauptgruppen der Gattung Märchen. […] In der phantastischen Welt dieser Erzählungen ist das schließliche Gelingen nach allen Mühen und trotz noch so zauberhafter Hindernisse jedenfalls gewiß […] Am Schluß steht der Sieg über die dämonischen Widersacher und die Überwindung der Gefahren, die Befreiung von den Riesen, Zauberern, Hexen und Drachen. Die Wette mit dem dämonischen Unhold wird gewonnen und die dem Teufel verschriebene Seele durch eine List im letzten Augenblick noch gerettet (Röhrich 1974, 46).
Röhrichs Bestimmung kann man wortgetreu übernehmen – sofern man „novellenartige Märchen“ durch „Schwankmärchen“ ersetzt. Das Novellenmärchen unterscheidet sich vom Zaubermärchen durch „das weitgehende Fehlen von Zauber- und Wundermotiven und stärkere Wirklichkeitsbezüge“ (Shojaei-Kawan 2002). Es spielt nicht in einer „phantastischen Welt“, in ihm begegnen uns weder „Riesen, Zauberer, Hexen und Drachen“ noch der Teufel, und es hat in der Regel auch keinen „glückhaften Schluss“. Röhrich nennt auch nur Beispiele, die zu den Zaubermärchen gehören.5 4 5
Straßner (1968/1978, 2) spricht von der „Vernachlässigung einer ‚Schwankforschung‘“. „Dornröschen“, „Das Wasser des Lebens“, „Sneewittchen“.
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Zum Novellenmärchen verweist er an anderer Stelle auf das Typenregister von Aarne und Thompson. Dort finden sich im Abschnitt C. Novelle (Nr. 850–999) neun Typen, die auch in den Kinder- und Hausmärchen vorkommen. Drei sind keine Novellenmärchen, da sie Wundermotive enthalten, drei haben einen schlechten Ausgang und drei haben zwar ein gutes, aber kein wirklich glückliches Ende6. Demzufolge bildet das Novellenmärchen keine „Hauptgruppe der Gattung Märchen“, in Grimms Sammlung sogar eine der kleinsten Gruppen. Dagegen treffen Röhrichs „Bestimmungsmerkmale“ des Zaubermärchens: „phantastische Welt“, „dämonische Widersacher“ und „glückhafter Schluss“ auch auf das Schwankmärchen zu.
Die Gattung Schwankmärchen Das Schwankmärchen spielt wie das Zaubermärchen auf einer „übernatürlichen Ebene“, aber von einer „rationalistischen Grundhaltung“ her. Das Übernatürliche ist nicht erschreckend wie in der Sage oder wunderbar wie im Zaubermärchen, sondern „unwirklich“. Es übernimmt von Zaubermärchen und Sage die außermenschlichen Figuren, so die „echt märchenhafte Gestalt des Riesen“ und die Figur des Teufels, der historisch betrachtet an die Stelle des Riesen getreten ist. Diese haben aber ihren Schrecken verloren und wirken harmlos und lächerlich. „Es scheint wunderbar zuzugehen, aber alles sind nur Zufälle und Tricks“ (Röhrich 1974, 58). Diesem Schein sitzen die Gegner auf, aber nicht der Held und ebenso wenig der Erzähler und seine Zuhörer. Der Held, der klein, schwach, arm und niederster Herkunft ist, kämpft gegen diese „dämonischen Widersacher“ und besiegt sie, aber nicht dank wunderbarer Hilfe wie der Zaubermärchenheld, sondern aus eigner Kraft. Wie schafft er das? Die Eigenschaft, mit der er vom Erzähler charakterisiert wird, ist der Mut. Das Schneiderlein wird uns schon im Titel als „tapfer“ und der Dummling, der das Fürchten lernen will, als furchtlos vorgestellt. Auch der Soldat im Grabhügel (KHM 195) hat „Fürchten […] noch nicht gelernt“. Mut allein genügt jedoch nicht, um übermächtige Gegner zu überwältigen. Was den Helden auszeichnet, ist weder die Dreistigkeit des Dummen, der keine Gefahr erkennt, noch der Mut des Verzweifelten, der keinen anderen Ausweg sieht7, es ist der „Mut des Klugen“, wie Ernst 6
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KHM 29, 145 u. 191 (fünfte Ausgabe), KHM 115, 145 u. 26 (Vierte Ausgabe) und KHM 40, 78 u. 192. Nach Uther (2008, 48) vollführt das tapfere Schneiderlein „halsbrecherische Aktionen, wie sie nur in Todesängsten gelingen können“. Todesangst kann ich in diesem Märchen nur bei den Riesen und dem König erkennen.
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Bloch erkannt hat. „Mut und List sind ihr Schild, ihr Spieß der Verstand“ (Bloch 1959, 411).8 List entspringt aus der Verbindung von Mut und Verstand. Der Schwankmärchenheld ist mutig, weil er klug ist, weil er seine Gegner genau studiert, ihre Schwächen durchschaut und darauf seine listigen Pläne aufbaut. Deshalb zeigt er keine Furcht vor ihnen, verkehrt mit ihnen völlig unbefangen wie der Schneider mit den Riesen, der Dummling mit den Spukgestalten und der Soldat mit dem Teufel und macht sich sogar über sie lustig. So erkennt das tapfere Schneiderlein, dass der Riese an Wunder glaubt, und macht sich diese Schwäche zunutze. Auch das „kluge Schneiderlein“ (KHM 114) lässt „sich nicht abschrecken“, ist sogar „ganz vergnügt“ und überlistet den starken Bären.
„Das tapfere Schneiderlein“ als Gattungsmuster Wie der Held es schafft, seine Gegner zu überlisten, lässt sich am Tapferen Schneiderlein (KHM 20) Schritt für Schritt verfolgen. Als erste Aktion erschlägt der Schneider mit einem Lappen sieben Fliegen. Wenn er deshalb „seine Tapferkeit“ bewundern „muss“, wirkt er einfach lächerlich. Man meint, den Protagonisten eines Dummenschwanks vor sich zu sehen. Damit die „ganze Welt“ seine Tat erfährt, stickt er auf einen Gürtel „Siebene auf einen Streich!“, bindet sich den Gürtel um und zieht mit einem alten Käse und einem Vogel los. Als der „kleine Kerl“ auf einem Berg einen „gewaltigen Riesen“ erblickt, geht er „beherzt“ auf ihn zu und fordert ihn auf, mitzugehen. Der Riese sieht jedoch verächtlich auf ihn herab, worauf der Schneider ihm seinen Gürtel zeigt. Der Riese glaubt natürlich, dass sieben Menschen gemeint seien, „und kriegte ein wenig Respekt vor dem kleinen Kerl“, aber immerhin doch so viel, dass er seine Kraft erproben will. Auch hier gelingt es dem Schneider, dem Riesen etwas vorzumachen. Da der Riese den zerdrückten Käse, aus dem der Saft herausläuft, und den in die Luft geworfenen Vogel, der nicht wieder herunterfällt, für Steine hält, ist er nun schon ziemlich beeindruckt, verlangt aber noch zwei weitere Kraftproben. Obwohl der Schneider für diese Aufgaben viel zu schwach ist, gelingt es ihm auch hier, durch Ausnutzen von Zufällen, Ausreden und Tricks Riesenkräfte vorzutäuschen. Nun ist der Riese überzeugt, dass er „ein tapferer Kerl“ sei, lädt ihn hinterlistig ein, in seiner Höhle zu übernachten, um ihn nachts im Bett zu erschlagen, was ihm aber misslingt, weil der Schneider in kluger Voraussicht unter das Bett gekrochen ist. Als der Schneider ihm und seinen 8
Diese Eigenschaften, die Bloch dem Märchenhelden generell zuschreibt, kennzeichnen vor allem den Helden der Schwankmärchen, dem niemand zu Hilfe kommt.
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Gefährten am nächsten Tag „ganz lustig und verwegen“ entgegenkommt, bekommen sie Angst vor ihm und laufen davon. Der Schneider kommt in den Hof eines Königspalastes. Als die Leute, diesmal unaufgefordert, seinen Wappenspruch lesen, halten sie ihn für einen „großen Kriegsheld“. Der König, der sich vor ihm fürchtet, erteilt ihm nacheinander drei Aufträge: zwei besonders gefährliche Riesen zu töten sowie ein Einhorn und ein Wildschwein lebend einzufangen, und verspricht ihm die Hand seiner Tochter. Denn er ist überzeugt, dass dieser nicht lebend zurückkehrt. Der Schneider überwindet diese Ungeheuer, ohne selbst Hand anzulegen, indem er, wie Iring Fetscher feststellt, „deren blinde Kraft […] sich aneinander abarbeiten lässt“. Er verleitet die Riesen, sich gegenseitig zu erschlagen, das Eichhorn, sein Horn in einen Baumstamm zu stoßen, und das Wildschwein, in eine Falle zu laufen. Der König muss nun sein Versprechen halten, und die Hochzeit ward „mit großer Pracht und kleiner Freude“ gefeiert. Als der Schneider eines Nachts im Traum spricht, und die Königstochter an seinen Worten erkennt, dass er ein gewöhnlicher Schneider ist, und die königliche Leibwache ihn im Schlaf überwältigen und fortschaffen will, tut er so, als rede er wieder im Traum, und versetzt sie durch die bloße Aufzählung seiner Taten in „große Furcht“, so dass sie sich nicht mehr „an ihn wagen“. So ist und bleibt der Schneider am Schluss ein König, aber die Liebe seiner Frau hat er nicht gewonnen. Der Held dieses Schwankmärchens erscheint zunächst nur als ein großer Prahler oder Aufschneider. Wenn er auf den Riesen zugeht, wirkt er todesmutig oder dummdreist. Bei den Kraftproben erweist er sich als schlau und schlagfertig, als blitzgescheit, und bei der Planung und Durchführung seiner Kämpfe zeigt er sich listig, tapfer und reaktionsschnell. Gegenüber dem ersten Riesen musste er seinen prahlerischen Worten Taten folgen lassen, die in Wahrheit Tricks sind. Nachdem er allein durch List große Taten vollbracht hat, genügen ihm gegenüber dem König und seiner Tochter, die sich dadurch als noch dümmer erweisen, bloße Worte. So ergibt sich aus dem Märchen vom tapferen Schneiderlein die Lehre: Mit Klugheit und Mut kann man den stärksten Gegner besiegen. Bloßes Prahlen genügt dabei allerdings nicht. Auf Worte müssen Taten folgen, die mit List ausgedacht und mit Mut und Schlagfertigkeit ausgeführt werden, und auf Taten wiederum Worte. Im Schwankmärchen Der Riese und der Schneider (KHM 183) scheint der Schneider dem Riesen zunächst allein dadurch zu imponieren, dass er „ein großer Prahler“ ist. Er tritt in die Dienste eines „großmächtigen Riesen“, und als er erst einen Krug Wasser, dann ein paar Scheite Holz und schließlich ein paar Schweine zum Abendessen herbeischaffen soll, bietet er sich an, den „Brunnen mitsamt der Quelle“ und den „ganzen
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Wald“ zu bringen und tausend Schweine auf einen Schuss zu töten. „Der Riese, der ein bisschen tölpisch und albern war, […] fing an sich zu fürchten“, fürchtete sich dann noch mehr und schließlich „gewaltig“. Im Märchen vom Tapferen Schneiderlein verfing das Prahlen erst am Ende, weil der Schneider vorher tatsächlich erstaunliche Taten begangen hatte. In diesem Märchen verfängt es von Anfang an, weil der Riese „tölpisch und albern“ und vor allem „leichtgläubig“ ist. Zuletzt aber geht dem „Prahlhans“ die Luft aus, mit der er sich schwergemacht und einen Weidenzweig herab gebogen hatte, und er wird „zu großer Freude des Riesen“ von dem Zweig in die Höhe geschnellt. Hier ist es der Riese, der zuletzt lacht. Da dieser Schneider kein Trickster, sondern nur „ein großer Prahler“ ist, erbt er kein Königreich, sondern hängt am Schluss in der Luft. In dieser Variante wird also nicht das Zaubermärchen, sondern das Schwankmärchen selber parodiert.
Die Lehre der Schwankmärchen Das Schwankmärchen ist auch durch die Lehre, die sich aus dem Lauf der Handlung ergibt, mit dem Zaubermärchen verwandt. Lehren die Zaubermärchen: Wer in der Not tugendhaft bleibt und die Hoffnung nicht verliert, wird Hilfe erhalten und zuletzt das Glück gewinnen, so lehren die Schwankmärchen: Wer in Gefahr nicht verzagt und sich auf seinen Verstand besinnt, kann die größten Gegner besiegen und ebenfalls sein Glück machen. Max Lüthi hat gegen das Schwankmärchen eingewendet: „indem es das Märchenwunder durch betrügerische Kniffe des Helden […] ersetzt“, „zersetzt [es] das im Märchen erscheinende Weltbild“. Wenn der Held seine Gegner dazu verführt, hinter seinen Worten mehr zu vermuten, als er sagt, so dass sie den Schneider für stark und den Müllerssohn für reich halten, so ist das kein direkter Betrug. Davon abgesehen, wird der Wahrheitsgehalt der Märchen durch die Schwankmärchen nicht „zersetzt“ oder ‚verzerrt‘9. Der eine Held erhält wunderbare Hilfe, weil er durch tugendhaftes Verhalten ein Anrecht auf sie erworben hat, der andere ist auf sich allein gestellt und muss mit List vorgehen und Tricks anwenden, um die „dämonischen Widersacher“ zu überwinden. Das Märchenpublikum gesteht dem Helden nicht nur zu, es erwartet von ihm, dass er „Kniffe“ oder Tricks anwendet, und amüsiert sich über seine raffinierten Pläne und spontanen Einfälle. 9
Berendsohn (1921/1968, 82) konstatiert eine „schwankhafte Verzerrung“ der Märchen.
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Das Schwankmärchen hat über seinen hohen Unterhaltungswert hinaus eine aufklärerische, jedoch keine revolutionäre Wirkung10. Das Publikum freut sich, dass es einer ‚von unten‘ ganz nach oben geschafft hat und dass einer ‚von oben‘ auch einmal der Geprellte ist. Dadurch wird die gesellschaftliche Rangordnung aber nicht in Frage gestellt oder gar beseitigt. Die Moral der Schwankmärchen ist vielleicht weniger erhebend als die „gute Lehre“ der Zaubermärchen, aber ungleich realistischer. Gib kräftig an, vollbringe etwas, das Eindruck macht, und rede darüber: dies gilt heute als das Erfolgsrezept. Der Held ist gewiss kein Tugendbold wie der Held der Zaubermärchen, aber immer noch anständiger als der Held der Tierschwänke, der ebenfalls größere und stärkere Gegner überwindet. Der Fuchs, welcher der Wölfin erst heuchlerisch seine Freundschaft beteuert, sie dann hinterhältig in eine Falle lockt und sie, als sie völlig zerschlagen zurückkehrt, „gewaltig“ auslacht (KHM 74), ist ein Ausbund an Gemeinheit. Er macht auch nicht sein Glück, sondern kommt lediglich mit heiler Haut davon. Das Märchenpublikum greift nicht geradezu Partei für ihn wie für die Helden der Zauber- und Schwankmärchen, aber es freut sich, dass der Stärkere auch einmal etwas abbekommt, empfindet also wie der Fuchs Schadenfreude.
Bezüge zu anderen Erzählgattungen Das Schwankmärchen hat dadurch, dass es an andere Erzählgenres anknüpft, innerhalb der KHM eine zentrale Stellung. Es übernimmt von der Sage die Figur des Riesen und des Teufels, vom Zaubermärchen das dreiteilige Handlungsschema (Panzer 1973, 102) und das glückliche Ende, vom Schwank den einen oder anderen Trick und ähnelt im Kern der Handlung, der Überlistung eines stärkeren Gegners, dem Tierschwank. Der Schauplatz ist weniger phantastisch als im Zaubermärchen, aber nicht so realistisch wie im Novellenmärchen. Das Ende ist nicht ganz so glücklich wie im Zaubermärchen – das Schneiderlein hat die Königskrone, aber wohl kaum die Liebe der jungen Königin gewonnen –, aber besser als in den meisten Novellenmärchen. Erleben die Helden in den Zaubermärchen wirkliche Wunder, die ihnen als selbstverständlich erscheinen, so täuschen sie in den Schwankmärchen anderen Figuren wie dem König Wunder vor, während in den Novellenmärchen unerhörte Begebenheiten erzählt werden, die an ein Wunder grenzen. Das tapfere Schneiderlein ist eine Parodie des Zaubermärchens, da der Schneider den Riesen dank dessen 10
Nach Fetscher (1980, 126) wird hier „Märchenhaft eingekleidet […] die bürgerliche Revolution vorweggenommen“.
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Wilhelm Solms
Wunderglaubens überlistet, Der Schneider und der Riese ist wiederum eine Parodie des Schwankmärchens, da die Kalkulation mit dem Wunder nicht aufgeht. Das Schwankmärchen ist auch mit den großen Schwanklegenden verwandt, die das Legendenwunder parodieren und ebenfalls ein glückliches Ende haben. Indem der schwankhafte Ton in andere Erzählgattungen eindringt und neue Zwischengattungen schafft wie das Schwankmärchen und die Schwanklegende, werden der Wahrheitsgehalt und der Unterhaltungswert der Märchen nicht beeinträchtigt, sondern erweitert. Durch die schwankhaften Elemente wird auch der lehrhafte Ton der von Wilhelm Grimm bearbeiteten Märchen abgeschwächt.
Welche Texte gehören zu den Schwankmärchen? Die Antwort auf diese Frage hängt natürlich von der jeweiligen Definition dieser Zwischengattung ab. Hinzu kommt, so Uther, dass die „Übergänge“ sowohl zum schwankhaften Zaubermärchen als auch zum Schwank „fließend sind“ (Uther 2008, 337). Für Ludwig Felix Weber, der sich als erster mit dieser Gattung befasst hat, liegen Schwankmärchen vor, wenn Märchenmotive „schwankhaft behandelt werden“. Deshalb zählt er auch schwankhafte Zaubermärchen, Schwanklegenden und Lügengeschichten dazu. So kommt er auf 40 Texte, das sind 20 Prozent der Grimmschen Sammlung. Er ordnet ihnen auch 25 „Tiermärchen“, die in der EM zutreffender als „Tierschwänke“ bezeichnet werden, als „besondere Unterart“ zu. Dagegen sind im Typenregister von Aarne-Thompson unter der Rubrik „Tales of the stupid ogre“ (Nr. 1000–1199) nur 13 Texte aus den KHM zitiert. Darunter befinden sich drei Zaubermärchen11 und vier Erzählungen, die ich dem Novellenmärchen, dem Schwank, der Schwanklegende bzw. dem Tierschwank zuordne12. Damit bleiben sechs Texte, die zum festen Kern der Schwankmärchen gehören13. Hans-Jörg Uther fasst die Gattung Schwankmärchen enger, ohne eine eigene Definition zu geben. Er hat im Kommentar zu den KHM von 1996 und im Handbuch zu den KHM von 2008 jeweils 25 Texte als Schwankmärchen bestimmt, wobei er drei Texte gegen drei andere ausgetauscht hat.14 Dagegen bin ich in meinem Gattungsverzeichnis von 1999 (Solms 1999, 245) nur auf 13 Texte gekommen, die den oben genannten Kriterien – dämonische Figuren, aber keine oder nur am Rand erscheinende Wunder11 12 13 14
KHM 15, 56, 90 u. 191. Der Räuber und seine Söhne (5. Ausgabe). KHM 8, 32, 148, 187. KHM 20, 114, 183, 189, 192, 195. Anstelle von KHM 125, 167 und 178 KHM 20, 147 und 175.
Grimms Schwankmärchen
199
motive und glückliches Ende – mehr oder weniger entsprechen. Diese Zahl habe ich hier durch Streichung von sechs Texten, die ebenfalls Wundermotive enthalten, und Ergänzung eines Textes auf nur acht reduziert, zu denen noch drei Texte aus früheren Ausgaben dazukommen. Märchen aus der letzten Ausgabe der KHM Uther 1996 2008
Solms 1999 2009
4
4
4 20
36
20 36
Fürchten lernen 20
Das tapfere Schneiderlein Tischchendeckdich
52 64
64
König Drosselbart Die goldene Gans
68
68
De Gaudeif
70
70
Die drei Glückskinder
71 81
71 81
Sechse kommen Bruder Lustig
82 90 99
82 90 99
90
100 101
100 101
100 101
106
106
110
110
Des Teufels rußiger Bruder Der Bärenhäuter Müllerbursch und Kätzchen Der Jude im Dorn
114 118
De Spielhansl Der junge Riese Der Geist im Glas
114
118
Das kluge Schneiderlein Die drei Feldscherer
120
Die drei Handwerksburschen
124 125
124
129 134
129 134
Die vier kunstreichen Brüder Die sechs Diener
147
Das junggeglühte Männlein
166
Der starke Hans
175
Das Bürle im Himmel Der Mond
166
125
125
167 178 183 189
183 189
Die drei Brüder Teufel und Großmutter
Meister Pfriem Riese und Schneider Bauer und Teufel
200
Wilhelm Solms
Uther 1996 2008
Solms 1999 2009
192 195
192 195
192 195
199
199
199
25
25
13
192 195
Der Meisterdieb Der Grabhügel Der Stiefel aus Büffelleder
8
Märchen aus früheren Ausgaben Uther 1996 2008 E 81 E 85b E 85d 182
Solms 1999 2009 E4
Gut Kegel und Kartenspiel
E 81
Schmidt und Teufel Die Prinzessin mit der Laus
182
Das gute Pflaster Die Erbsenprobe
Uthers Zuordnungen zu den Schwankmärchen stimmen mit den meinen darin überein, dass unter ihnen keine Schwänke zu finden sind. Uther hat also trotz seiner Bedenken die Trennungslinie zwischen Schwankmärchen und Schwänken klar gezogen. Sie unterscheiden sich von den meinen vor allem dadurch, dass sie auch elf schwankhafte Erzählungen mit Wundermotiven15 sowie vier Erzählungen vom Mensch im Himmel, einem Schöpfungsakt und einem Heiligen-Wunder16 enthalten, die ich den Zaubermärchen bzw. den Schwanklegenden zurechne. Zu den eigentlichen Schwankmärchen rechne ich die Märchen vom überlisteten oder zunächst überlisteten Riesen (KHM 20, 183), vom überlisteten Teufel (KHM 125, 189, 195) – aber nicht die vom hilfreichen Teufel17 – und vom überlisteten König (KHM 20, 192) bzw. der überlisteten Königstochter (KHM 22). Die ursprüngliche Fassung des Märchens vom „Fürchten lernen“, Gut Kegel- und Kartenspiel, in der der Dummling nächtliche Spukgestalten besiegt, und das Märchen vom Klugen Schneiderlein (KHM 114), in dem dieser einen Bären überlistet, lassen sich ebenfalls dazurechnen. Die Erzählung De Spielhansl (KHM 82), in der die Titelfigur sogar den Tod austrickst, kann man wie Uther als Schwankmärchen, aber ebenso als Schwanklegende auffassen. 15 16 17
KHM 36, 64, 68, 71, 99, 106, 110, 118, 134, 166, 199. KHM 81, 82, 167,178, 147 u. 175. KHM 100, 101, 120.
Grimms Schwankmärchen
201
Grenzfälle und Solitäre Sinn und Absicht einer Gattungsbestimmung bestehen nicht darin, jedes Märchen in eine bestimmte Rubrik einordnen zu können, sondern darin, die Besonderheit der einzelnen Märchen aus der Perspektive der jeweiligen Gattung oder mehrerer Gattungen in den Blick zu bekommen. Da das Schwankmärchen aus der Verbindung zweier Erzählgenres, Zaubermärchen und Schwank, entstanden ist, braucht es nicht zu wundern, dass sich manche Beispiele wiederum zwischen dem Schwankmärchen und den ihnen verwandten Genres ansiedeln lassen. Da das Bürle (KHM 61) zuletzt ein „reicher Mann“ ist und Hans im Glück (KHM 83) zwar alles verloren hat, aber im höchsten Maß „glücklich“ ist, lassen sich diese beiden Schwänke auch als Schwankmärchen deuten18. Die Grenzziehung zu anderen Gattungen ist besonders dann schwierig, wenn die Protagonisten keine eigentlichen Wunder vollbringen, sondern Kunststücke, die zwar möglich, aber äußerst unwahrscheinlich sind. Dem Meisterdieb (KHM 192) dürften die Zuhörer, die sich mit ihm identifizieren, seine kunstvollen Tricks zutrauen. Deshalb rechne ich diese Erzählung zu den Schwankmärchen, auch wenn der Held nicht sein Glück macht, sondern nur begnadigt wird. Die „Sechse“, die „durch die Welt“ kommen (KHM 71) und die „vier kunstreichen Brüder“ (KHM 129) verfügen über wunderbare Fähigkeiten. Deshalb halte ich diese beiden Erzählungen nicht für Schwankmärchen oder Lügenmärchen, sondern für Zaubermärchen. Dagegen sind die „Meisterstücke“, die die „drei Brüder“ (KHM 124) ihrem Vater vorführen, keine Wunder, aber so schwierig, dass die Zuhörer sie nicht glauben können und auch nicht glauben sollen. Deshalb gehört die Erzählung zu den „Lügenmärchen“19, und diese gehören „ins gebiet der schwänke“20. Dass ein Geigen-Virtuose wilde Tiere wie den Wolf in seinen Bann zieht (KHM 8 Der wunderliche Spielmann) oder Menschen und Tiere zu tanzen zwingt (KHM 110 Der Jude im Dorn), dürften einige Zuhörer für möglich halten, andere nicht. Deshalb kann man diese Erzählungen als Zaubermärchen, aber auch als Schwankmärchen bzw. Novellenmärchen auffassen. Die Märchen Der Jude im Dorn und König Drosselbart (KHM 52), die heute viele Leser und Leserinnen abstoßen, sind noch problematischer, wenn man bedenkt, dass sie Merkmale des Schwankmärchens aufweisen und zur Belustigung der Zuhörer erzählt wurden. 18 19 20
Vgl. Röhrich 1956/1974,139 f. u. 236. Anmerkungen der Brüder Grimm. In: KHM. Stuttgart 1980, Bd. 3, S. 206. Weber 1904, 72, Anm. 4. In meinem Gattungsverzeichnis (Solms 1999, 245) hatte ich die Lügenmärchen den Schwankmärchen und nicht den Schwänken an die Seite gestellt, was ich hiermit korrigiere.
202
Wilhelm Solms
Der gestiefelte Kater (KHM E I. 33) ist eigentlich ein Zaubermärchen, da er Wundermotive (sprechendes Tier, Verwandlungswettkampf) enthält. Der Kater ist aber nicht nur ein Helfer mit „magischen Fähigkeiten“ wie der Fuchs im Goldenen Vogel (KHM 57), sondern der „Hauptakteur“, der „durch Bluff und Betrügereien […] einem passiven Helden zum Glück verhilft“. Demnach ist es ein Tierschwank. Zugleich zeigt der Kater ähnliche Eigenschaften wie ein Schwankmärchenheld und gewinnt für seinen Herrn und sich selbst das Glück. In diesem schönen Märchen verbinden sich also Elemente von Zaubermärchen, Schwankmärchen und Tierschwank. Das Märchen vom Fürchten lernen (KHM 4) ist eine Kontaminierung des Märchens Gut Kegel- und Kartenspiel mit drei anderen Fassungen. Auf diese Weise ist in das ursprüngliche Schwankmärchen ein Sagenmotiv gelangt: die vorübergehende Wiederbelebung eines Toten. Die kluge Bauerntochter (KHM 94), die gewöhnlich zu den Novellenmärchen gezählt wird, enthält Rätsel aus Sagen und Schwänken, weshalb diese Erzählung den Brüdern Grimm „als ein altes Volksräthsel erscheint“ und von Uther als „Rätselschwank“ bestimmt wird. Indem die Heldin gegenüber dem Herrscher Klugheit und Mut beweist und zuletzt das Glück gewinnt, ist sie ein weibliches Pendant zu den männlichen Schwankmärchenhelden. Die letzte Episode, der Höhepunkt der Märchenhandlung, ist aber eine so „unerhörte Begebenheit“21, dass wohl nicht nur dem König „die Tränen in die Augen steigen“. Weil sie klüger ist als er und dies vergeblich zu verbergen sucht, hat er vermutlich wie manche seiner Standesgenossen geargwöhnt, sie hätte ihn nur deshalb geheiratet, weil er der König ist. Als er aufwacht und sieht, dass sie ihn aus dem Schloss mitgenommen hat, erkennt er, dass sie ihn wirklich liebt, und heiratet sie zum zweiten Mal. Nun ist für ihn auch ihre Klugheit kein Problem mehr, denn nun gehören ja beide zusammen.
Literaturverzeichnis Bausinger, Hermann: Formen der „Volkspoesie“ (1968). Berlin 21980. Berendsohn, Walter A.: Grundformen volkstümlicher Erzählkunst (1921). Neudruck Wiesbaden 1968. Bloch, Ernst: Bessere Luftschlösser in Jahrmarkt und Zirkus, in Märchen und Kolportage. In: Ders.: Das Prinzip Hoffnung. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1959, 409–428. Blum, Elisabeth: Glück. In: Enzyklopädie des Märchens. Bd. 5. Berlin/New York 1990, 1299–1312.
21
Von Goethe wurde die Novelle als „eine sich ereignete, unerhörte Begebenheit“ definiert (Gespräche mit Eckermann, 29. Jan. 1827).
Grimms Schwankmärchen
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Fetscher, Iring: Von einem tapferen Schneider. Versuch einer soziologisch-sozialhistorischen Deutung. In: Brackert, Helmut (ed.): Und wenn sie nicht gestorben sind … Perspektiven auf das Märchen. Frankfurt a. M. 1980. Grimm, Brüder: Kinder- und Hausmärchen (KHM). Stuttgart 1980. Honko, Lauri: Gattungsprobleme. In: Enzyklopädie des Märchens. Bd. 5. Berlin/New York 1990, 744–770. Horn, Katalin: Fleiß und Faulheit. In: Enzyklopädie des Märchens. Bd. 4. Berlin/New York 1984, 1262–1276. Lüthi, Max: Bosheit, böse. In: Enzyklopädie des Märchens. Bd. 2. Berlin/New York 1979, 618–634. Lüthi, Max: Märchen (1962). Stuttgart 71979. Moser-Rath, Elfriede: Betrüger. In: Enzyklopädie des Märchens. Bd. 2. Berlin/New York 1979, 230–238. Moser-Rath, Elfriede: Dieb, Diebstahl. In: Enzyklopädie des Märchens. Bd. 3. Berlin/ New York 1981, 625–639. Neumann, Siegfried: Der Schwank. In: Deutsche Volksdichtung. Eine Einführung. Leipzig 1979. Panzer, Friedrich: Märchen. In: Karlinger, Felix: Wege der Forschung. Darmstadt 1973. Röhrich, Lutz: Märchen und Wirklichkeit (1956). Wiesbaden 31974, 57. Roth, Klaus: Ehebruchschwänke und -witze. In: Enzyklopädie des Märchens. Bd. 3. Berlin/New York 1981, 1068–1077. Shojaei-Kawan, Christine: Novellenmärchen. In: Enzyklopädie des Märchens. Bd. 10. Berlin/New York 2002, 126–129. Solms, Wilhelm: Die Moral von Grimms Märchen. Darmstadt 1999. Straßner, Erich: Schwank. Stuttgart (1968) 21978. Thomas, Gerald: Lüge, Lügengeschichte. In: Enzyklopädie des Märchens. Bd. 8. Berlin/New York 1986, 1265–1270. Uther, Hans-Jörg: Handbuch zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. Berlin/New York 2008. Uther, Hans-Jörg: Schwankmärchen. In: Enzyklopädie des Märchens. Bd. 12. Berlin/ New York 2007, 335–338. Weber, Ludwig Felix: Märchen und Schwank. Kiel 1904.
IV. Case Studies zur historisch-vergleichenden Erzählforschung
Mirjam Mencej
Narrating About Witches Scholars who have done research on European village witchcraft in the twentieth century (omitting studies which attempted to discover the deeper historical levels of individual manifest forms of witchcraft, e.g. its connection with shamanism or other belief systems etc.) had often to choose between two possibilities: they either studied the social aspect of witchcraft or they focused more on its “magical”, demonic, or supernatural aspects, separated from the social context. While the former studies dealt with the social relations between witches, their victims and counterwitches, tried to define a cognitive system behind the accusations, understand the social role of witchcraft etc., the latter, especially folkloristic studies, for a long time mainly focused on collecting narratives about witchcraft in a certain area, comparisons of motifs and types of tales in various areas (and in various periods) and primarily addressed the “supernatural aspect” in these stories (cf. de Blécourt 1999, 153). Written records of narratives about such experiences with witchcraft can be found in numerous articles in various ethnological and folklore journals, and the majority of the motifs are indexed in Thompson’s Motif Index, and migratory legends in the index of migratory legends (Christiansen 1958: ML types no. 3030–3080, and also 3000–3025). For a long time, questions about the social context of accusations of witchcraft have not been of interest to folklorists. As Jeanne Favret-Saada laments, they mainly recorded magic formulae and rituals, while e.g. questions about counterwitches were not even included in the questionnaires which were supposed to serve as aids for field researchers (FavretSaada 1980, 227–233). However, while it is true that the social context is crucial to the understanding of witchcraft in its entirety, it would also be possible to accuse the researchers who focused on that aspect of accusations of witchcraft that they were interested only in those stories which offered them information about the social context of witchcraft, and paid no attention to other stories. Witchcraft can mean very different things to different people, and only the sum of all of the stories about witchcraft which are
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Mirjam Mencej
told in a certain area can give us a thorough insight into it. Taking all of the narratives about witchcraft into account could also show that witches have very different characteristics in them, that the stories can have very different functions within a particular area and that the witches in them are not the subject of belief in the same manner. In this paper I will attempt to demonstrate the multi-levelled quality of witchcraft and the different attitudes people have towards it in different narratives about witchcraft based on field research of traditional village witchcraft in a rural area in Slovenia of ca 550 square km on the Croatian border, conducted in 2000 and 2001 (cf. Mencej 2006). This area turned out to be very fruitful for researching witchcraft, as the tradition of witches in this area is not only the dominant tradition (Traditionsdominante) (Honko 1962, 128), but is partially also a still-living social reality.
Attitudes towards belief in witchcraft Of course the question of the beliefs of the informants is in itself a delicate topic, but there are probably very few areas of field research which are so delicate and which bring to light so many dilemmas as the topic of witchcraft. On one hand there is the problem of the attitude of the people themselves towards their own beliefs, and on the other there is the matter of their willingness to disclose their attitudes towards those beliefs to an ethnologist. The relations of the storytellers to witchcraft, which they expressed explicitly, can fluctuate from total belief in the reality of witches to doubting the veracity of the stories that they had heard about witches, or uncertainty as to whether to believe them or not: Folklorist: Can witches harm people, too …? Informant: No, I wouldn't know about that … that they (…) Well, some were that kind, it's true. What do I know … We didn’t believe that in our house, see? Daddy said that to their face, you’re a witch, aren’t you? After all, they say, they said, if you said that, I mean, that you said it to their face, then they didn’t have power over you, see?
… to explicit statements of disbelief or making fun of those who believe, and sometimes they didn’t even want to talk about witches, because “they don’t believe in them”.1 Based on numerous conversations which we had with locals from the research area, it turned out that their explicit initial statements about their beliefs did not always correspond with what they said later on in the conversation. It often happened that 1
For classification of various attitudes towards items of belief cf. Butler 1991, 16–18.
Narrating About Witches
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our informants in response to the question of whether they had heard about witches at first categorically stated that there weren’t any among them and that they didn’t believe in them. Just a little later in the conversation it turned out not just that they obviously believed in the evil power of witches, but that they had had personal experiences with them and that occasionally, owing to alleged harm inflicted upon them, they had even gone to “counterwitches” (fortune-tellers), whose task was to eliminate the harmful effects and identify the witch; or, on the basis of a collective body of knowledge about protection against witches in that area, they themselves had performed actions intended to prevent further harm from occurring. How should we then explain this discrepancy between the original response at the beginning of the conversation and the real actions and/or experiences of these people, who reveal themselves only later on during the conversation and throw a completely different light on their original answers about their own beliefs? This pattern of informants stating explicit denials of belief in witches and discourse that implicitly discloses their belief in witches is a phenomenon which has been observed by other ethnologists who have performed fieldwork on witchcraft. Marissa Rey-Henningsen, who carried out fieldwork in Galicia in Spain, reported that e.g. people would frequently respond to the question of whether they believe in witches by saying: “I don’t believe in witches but they exist” (Rey-Henningsen 1994, 200). When an innkeeper from Aubérac, France was asked whether he believed in witches, he offered a similar response: “No, but in all honesty, I would have to say that strange things happen which one has to believe because one has seen them” (Devlin 1987, 6). Favret-Saada established that a typical discourse used by people when speaking about their experiences with witchcraft is: “I know (that it can’t be true) … but still.” Thus the second part of the statement (“… but still”) given at the same time as the statement that it is impossible (“I know …”) simultaneously negates it (Favret-Saada 1980, 51f.). This vacillation and indecision between a rational explanation and one which can be understood as irrational is also distinctly evident in descriptions of night-time encounters with witches. Some of the most widespread stories in area of research tell of multicoloured lights which disoriented people so that they couldn’t find their way, got lost in shrubbery, walked in circles all night etc. The generally accepted explanation for such experiences in this area was that this was the work of witches. But our informants frequently attempted to find possible rational explanations for the appearance of unusual lights – rotting wood, gases rising out of swamps or above water, fireflies etc., where it often became clear during the storytelling that they were not always able to choose one of these options:
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Mirjam Mencej
The lights. That’s a trick too. That’s in the woods by the stumps, that’s where the lights are. I saw it myself. I was really scared. I was just passing through, as always. But when I came out of the forest down there, after more than fifty years, I saw something shining up there, like someone was holding a torch. I was a little frightened, but I didn’t go look. That’s that thing, the rotting stuff glowing.
Or they attempted to relativise their beliefs in witches in the form of lights through typical expressions of doubt, laughter, appealing to the opinions of others or to some “general” belief of the people in that area: Then the twilight came, and some bubbles formed on the water … they said that those are lights, that those are witches.
One of the factors which undoubtedly influences people’s willingness to talk or not to talk about their own beliefs, at least when speaking of witchcraft, is the individual’s involvement in witchcraft discourse. As Jeanne Favret-Saada established, research of witchcraft in communities where witchcraft still has vitality is difficult to conduct because those who had not been “caught”, i.e. those who had not had experiences with witches and did not believe in them had nothing to say, and those who did weren’t allowed to talk about it with anyone (except with their “counterwitches”). And there was nobody else to talk to. Favret-Saada believes that her informants always mentioned deceased villagers as ideal informants who would be happy to answer questions about witchcraft precisely because witches could no longer do them any harm (1980, 64). The situation in which the French researcher found herself is somewhat specific in the European context, since it seems that in the Bocage region of France, where she did her research, a pronounced silence prevailed with regard to witchcraft; in addition they also clearly did not have the tradition of village witches there, i.e. people who were reputed to be witches throughout the village, which could mean that the belief system about witchcraft had already disintegrated at the time she did her research, and that the people perhaps felt that they would not receive enough support from the community if they spoke publicly about such problems (cf. Simpson 1996, 12). Sometimes the people who were involved in witchcraft as accused parties were unable to speak about their experiences because the psychological damage inflicted by the accusations was too severe. Inge Schöck, who studied witchcraft in southwest Germany, encountered a woman who had recently been accused of witchcraft by the villagers and simply couldn’t speak about the subject due to the trauma incurred (1978, 18). Another reason why an informant might hesitate to tell a researcher what they really believe is the researcher’s attitude towards their belief or at least the informant’s sense of what that attitude might be. Favret-Saada
Narrating About Witches
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holds that the initial denial of belief in witches (“I’ve never heard about any witches”, “I’ve never believed in witches”) is primarily intended to make it possible to communicate with “those who have not been caught”. In her opinion this is the reason that all reports about witches begin with a statement through which the storyteller actually places him or herself in the external situation of a sceptical listener with respect to their attitude towards witchcraft. In order for their discourse not to be received as nonsense, they begin their story by distancing themselves from that belief: as if they themselves had never believed in witches, had never been superstitious – until someone else (which is always particularly emphasized!) makes a diagnosis that a disease is the consequence of an attack by a witch, which comes as a complete shock to the unbelieving sceptic (Favret-Saada 1980, 42f.). It is therefore useless to try to establish an individual’s attitude towards witchcraft by asking direct questions such as: Do you believe? What do you believe? As Linda Dégh pointed out, the informant has many reasons not to tell what he or she really believes: relationships, personality features and momentary dispositions make any disclosure of belief, disbelief, or hesitation improvised and insincere, therefore useless for research (Dégh 1996, 39). It is often best to elucidate it from exclamations, comments and also the narrative style of the informant, i.e. the texture of the story – tone, stress, pitch, as well as laughter, scorn and other expressions of emotion which might accompany the narrative, etc. (cf. Dundes 1980, 22–23; Ben-Amos 1971, 11). The fluctuating mental states of tellers and responsive audiences can be discerned from the spontaneous performance, without asking impossible questions impossible to answer, advises Dégh (1996, 39). But it is not always easy to get such “spontaneous performances”: Dégh for example attempted to do so by secretly recording a spontaneous conversation among a group of people who were telling stories while visiting a neighbour (Dégh/ Vázsonyi 1976, 104–107), and was met with criticism of the ethicality of such an undertaking. A typical opportunity to observe or participate in spontaneous storytelling about witchcraft in our research area would be while the villagers were working in groups: during the evening work, which the people of the village often did together, stories about witchcraft were indispensable, as we were told several times by our informants (the same holds elsewhere in Europe – cf. Devlin 1987, 198; Kvideland/ Sehmsdorf 1988, 13). But group labour, which they described as a time for the telling of such stories, and especially evening work during the autumn (husking, hulling beans, plucking feathers), are in our research area a thing of the past, so it was not possible to engage in participation in spontaneous performances.
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Mirjam Mencej
The multi-levelled quality of witchcraft However, in addition to these general questions about the beliefs of informants, which appear more or less regularly in fieldwork, especially fieldwork that deals with experiences that informants experience as supernatural, differing attitudes towards beliefs about witchcraft are also expressed with regard to the different types of narratives about witches that are told in the area. Even informants the majority of whose narratives made it clear that they firmly believed in witchcraft told some narratives about witches in a way that clearly expressed that they did not believe in them. Of course the spectrum of beliefs which seem acceptable to someone varies from individual to individual, but here I would like to point out in particular the significance of the connection between an individual’s beliefs about witchcraft, as disclosed in their narratives, and the various “levels” of witchcraft to which the narratives refer, issues which in my opinion have not received sufficient attention to date in folkloristics and research of witchcraft. In Europe we encounter various situations with regard to witchcraft (in some places only accusations among neighbours are present, in some places “neighbourhood” witchcraft is entwined with beliefs in supernatural beings, in other places it is not etc. – cf. Blécourt 1996, 149), but in this place I will refer to a situation which I myself encountered during the aforementioned fieldwork on witchcraft in eastern Slovenia. Based on conversations or analyses thereof it was established that witchcraft is far from a single-level belief system, and that several different levels and categories of witches have to be differentiated within witchcraft as a whole. The first level involves social tensions within the community, especially among neighbours: here I am referring to those accusations which directly touch on social relations between people, for which people consider the envy of their neighbours to be the main driving force behind the harm which is done – a person typically accused in such a case is an envious neighbour – a “neighbourhood witch”. In the desire to damage someone’s crops or livestock, witches are assumed to place or bury eggs (sometimes bones and other objects) in a neighbour’s or villager’s field, under a threshold, in a barn etc. Their uncontrolled envy can also cause damage through an evil eye, or evil speech: intentional praise especially of young children and animals (which was considered a forbidden behavioural code!) or threats, through shape-shifting (turning into a toad, or alternatively, sending a toad) etc. The cognitive orientation underlying these accusations is that of ‘limited good’, typical of closed village communities. Thus the villagers exhibit various types of behaviour, whose pattern indicates that they understand their social, economic and natural
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milieu as one in which all objects of desire (land, wealth, health, honour, status, power and influence etc.) are available only in limited quantities. There is always too little of them, and there is no way to increase the available stocks. In such circumstances, in which the quantity of “good” is limited and cannot be increased, it is obvious that the only way an individual can improve his status is at the expense of others. Therefore each improvement of someone’s position is understood as a threat to the entire community (cf. Foster 1965; Alver / Selberg 1987, 28f.; Mathisen 1993, 19f.). People mostly maintained good relations with the suspected woman2 and didn’t let her know that she was suspected, although sometimes she must have realized that she was the suspect from their behaviour towards her (people wouldn’t talk to her, wouldn’t lend her what she asked for etc.). Another category of witches, still of the “social level”, but with somewhat different characteristics, are women who have the reputation of being a witch throughout the entire community – “village witches”. They are usually accused of magically stealing milk (milking a rope, a beam or an axe), magically stopping the livestock, or causing a storm or hail. Attitudes towards them are different than those towards suspected neighbours: they were best avoided, if possible, otherwise they were always treated especially kindly, since they believed that if they took offence they would seek revenge; children were specifically warned not to make fun of them or tease them. These women functioned as scapegoats in the community. The two categories – neighbourhood and village witches – cannot always be precisely differentiated. Some of the women obviously acquired the reputation of being ‘village witches’ as a result of a gradually increasing general consensus about their harmful activities born out of envy. However, there were also other, more common reasons for the reputation of a village witch that are not connected with envy. It sufficed that a woman possessed unusually large amounts of wealth (more precisely: unusually large amounts of milk or butter) in relation to her circumstances (the number of cows she owned), that she was involved in healing or herbalism, or that a member of her family had a reputation for witchcraft. On the other hand such labels were very likely applied to women who simply conformed to the image of a stereotypical witch (she is ugly, filthy, unkempt etc.). In terms of behaviour, she is quarrelsome, inquisitive, asocial, does not conform to feminine standards – she smokes, curses etc. Her social status is often low, she is poor, solitary, has no social contacts, usually lives alone at the edge of the village (cf. also Macfarlane 1970, 2
Although there are rare cases of men being suspected of witchcraft, the majority of suspects were women, therefore I use the feminine.
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158–64; Larner 1984, 50; Hall 1989, 191; Schöck 1978, 117; Petzoldt 1989, 97f.). This abstract stereotype of the physical appearance of a witch corresponds (at least to a substantial degree) only with this type; in no way can it be connected with the “neighbourhood witch”. Since witches were believed to die of long and painful deaths, those who died painful deaths could even subsequently gain such reputation. Especially in the case of friction between neighbours, when the damage was long-lasting, people turned for help to a fortune-teller, who functioned as a counterwitch, but was sometimes also called a “witch”. He or she could eliminate the harmful effects, identify the witch proper and redirect the evildoing towards witches, but could occasionally also cause harm to people him/herself. Beside this “social” level of witchcraft in the area under study, there was another level which should be differentiated from the first since it concerns tensions with the supernatural world: here I am referring to all allegedly supernatural occurrences, which usually occur at night or at the time which borders night and day, most often near spatial boundaries (at the edge of or outside the village, in the forest, near water) and are commonly interpreted as encounters with witches. Most often people tell stories about getting lost, being led astray or being unable to continue on their path after an encounter with multi-coloured lights, which are interpreted as witches and always referred to in the plural: “Witches led me astray”. Such events normally have no influence on the social relations – only occasionally are the lights identified as particular women from the village – and no economic damage is done. Such witches, as opposed to neighbourhood and village witches, display many of the typical characteristics of demonic beings. They are encountered at times which are typical for the appearance of demonic beings (from about 11 p.m. to dawn etc.). Protective techniques are utterly different from those which refer to “social” witches, while they are similar to those used in traditional cultures against demons, fairies, the dead (turning one’s clothes inside out, throwing of urine over the shoulders etc.). The descriptions of these appearances correspond precisely to light phenomena or beings (Ignis Fatuus) found in European folklore under various names such as pixies, pisgies, spunkies, pinkets, wandering fire, walking fire, Will o’ the Wisps, Jack-a-lantern, Irrlichter etc. (Wells Newell 1904, 44f.; Röhrich 1966, 34; Briggs 1967, 54; 1978, 198; Hand 1977, 230; Uther 2003, no. 178, 264, 409, 440 etc.), whose images vary, but the seeing of lights is one of the universals of the whole tradition (Hand 1977, 228). Acts that are most often mentioned in relation to these lights in European folklore are likewise a constant element of descriptions of such encounters in the research area: a person is led astray (loss of way, disorientation), walks in circles, has to follow the lights,
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inexplicably ends up in shrubbery full of thorns (blockage of path) and similar (cf. Briggs 1991, 279–283, 299–301, 341–343; 1967: 60 f.; Dégh 2001, 104; Fortier 1888, 139; Wells Newall 1904, 41; Folklore in the News 1958, 17; Hand 1977, 228 f., for much Slovenian and Slavic data see Mencej 2007). Although these memorates could be mobilized in case one needed an excuse for coming home late due to immoderate drinking,3 revelry, being unfaithful, as a means in marital conflicts etc., a great many memorates show that night witches in our region functioned as markers of liminal space and time, as folkloric mechanisms for the erection and maintenance of spatial and temporal boundaries (Mencej 2007/8; cf. Narváez 1991, 336–338, 354). Witchcraft in the eastern region of Slovenia therefore displays a very heterogeneous, manifold image – from the analysis of the data it became clear that there are obviously two layers of witchcraft (social, supernatural) and three (or even four) types of witches – the neighbourhood witch, village witch and night witch (and counterwitch), although to a certain degree there is a dynamic overlapping among them. Narratives relating to different types of witches tell us of different ways of handling and different protective methods against them, ascribe different grounds to their evil acts and reveal different relations to suspected witches. The narratives about neighbourhood, village and night witches also have different functions. People, who of course talk about these three types in the context of narratives about witches in general, do not explicitly establish these divisions – they respond to questions about witches with narratives about the first, second, third or all three types in the same breath.
Entertaining stories about witches Although we can identify major differences between the two levels of witchcraft and three types of witches, they share the common characteristic that our informants most often told us about them by reporting their own personal experiences with witches, or those of their close friends, 3
The narrators of these stories often stressed or discussed the possibility that a man who encountered a night witch was in fact drunk. However, it is not my intention to discuss different hypotheses about possible grounds for such experiences, be it a true experience which was induced by sensory deprivation (darkness, silence, drunkenness, hunger – which can all stimulate an altered state of consciousness – cf. Winkelman 1999), a state of disease like epilepsy, hallucination or mental disturbance or a combination of external circumstance, such as darkness, and inner disposition, such as fear, stress etc. (Ranke 1971, 245254; Hartmann 1936, 100; Kvideland, Sehmsdorf 1988, 10; Röhrich 1971, 4f.) or simply an invented story which bases on the traditional beliefs of this area.
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relatives, or neighbours, i.e. second-hand.4 Irrespective of whether some of them believed in these stories, others did not and still others were not sure whether to believe them or not, the contents of these stories were always at least a subject of discussion about belief in them – if an individual decided not to believe in the witchcraft about which they were narrating, they usually had to explicitly deny a belief which was generally known in that area. And if they did accept it, they often appealed to the generally accepted interpretation in the area that acknowledged existence of witches. However, in addition to these stories about people’s own experiences or the experiences of acquaintances, relatives, and friends, narratives about witches are told in this area that occasionally refer to particular individuals, but narrators never spoke about their own experiences and usually also not about those of their acquaintances. These included among others some well-known migratory legends, e.g. the Witch Bridle Legend (Shojaei 2004, 404, 411, notes 2, 3) and Following the Witch (“through thick and thin”) (cf. Christiansen 1958, ML 3045); a story about a man who by using a St. Lucy’s Stool (a three-legged stool which according to special rules has to be started on St. Lucy’s Day and completed on Christmas Eve) attempted to expose witches at midnight mass (who were supposed to appear to him with their backs towards the altar at the moment of the elevation of the host), but he barely escaped after the mass, otherwise they would have torn him to pieces; stories about witches with cauldrons which excrete cheese for them etc. Informant: They say that this shoemaker was in there, and he sewed all day making shoes, and worked and worked. That woman was a witch, she wanted to see him go right to sleep, while he was sewing late into the night. Then she said: “You go to sleep, go to sleep!” Then she had nagged him for so long that he prepared to go to bed. Then he looked through a hole to see what she was doing. And she took that fat and rubbed it on herself, saying: “Jump under the branch, jump among the branch, jump under the branches, jump among the branches!”, and then she disappeared from the home, and she was no more … Folklorist: Never? Informant: (laughs) Uh uh, (shakes her head) she came back, she came back. Just for the whole night those witches flew around in a group, and drank, and chatted up there, and whored themselves, they did everything. Whether it’s true or not … Folklorist: Who told you this story? Informant: My father told it to me.
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Of course in this case we could ask whether the storytellers simply jumped back a few links on the chain, so that the story would sound more credible (cf. Dégh 2001, 62-7), but on several occasions in our research we were able to confirm informants’ stories about neighbours by talking with the neighbour, who repeated the story.
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Yeah, now I don’t know whether it is true or not. This one man’s wife was a witch. Now they say that she rubbed herself with some kind of salve in her armpit, and said … Wait, what did she say? Now I forgot. She flew above the branch, then her husband heard her. She was up there above the branch. He went among the branches, and one broke, and caught his leg, and pulled his jacket off, and he comes in all bloody. And she said: “Where have you been?” “Yeah, I came home.” “How did you do it?” “Yeah, among the branches.” Then she said: “Yeah, you should have gone above the branches, then you wouldn’t be bloody.” Yeah, I don’t know if it’s a joke or what. I can’t know that, when I didn’t experience it, even though I’m already seventy. This man married into a family, but that woman was a witch, upon my soul, and they had some old grease behind the beams. The husband watched where his wife went. Then he heard: jump above the branch, jump under the branch (she demonstrates the moves that were performed: with her left hand she anoints her right armpit, with her right hand she anoints her left). To make sure they wouldn’t bump into things, they flew through the air like the devil! One evening he too rubbed himself with salve, in order to find out where she was going. But he didn’t say it right: Jump over the branch, jump above the branch, jump over the branch, jump onto the branch, then he got stuck with his head inside. He greased a cartwheel with that fat and everything started to rise. I also heard that a witch turned herself into a mare. Yeah, yeah. That she, they said this too, that she had a servant, and he had to ride the mare every night. And somebody said to him: “You know what you can do to get her? Go at midnight, at midnight, to get her shoed.” And in the morning she had horseshoes on her hands and feet. Just when he … this bloke married this girl, right? Then, when they were married, in those times there was, well, no such thing as getting divorced or anything. The one you got was the one you had (laughs). Then he heard, when they were married, that she was a witch’s daughter. So then he wanted to see how he could get her on her own to start doing like her mother. He said: “You know, we don’t have any milk or anything,” he said, “I don’t know, so that we could arrange something … Is there any way that milk could come from somewhere, so that you could make cheese?”, see? And she said: “Yeah, if you want, I can show you.” Then she set up a large pot in the kitchen … (sighs), and said: “Now follow me!” Then they went one behind the other around the pot. And she said: “I believe in this pot, but I do not believe in God, I believe in this pot, but I do not believe in God.” (laughs). And he said: “I do not believe in this pot, but I do believe in God!” He was the opposite, see? Then a whole pile of cheese fell from the ceiling into the pot. The whole pot was full. ‘Cause she knew how to do that, see? Then he realized that she really was a witch, see? And then he grabbed a stick, and he beat her hard… And he said: “Never do anything like that again!” (laughs) They said it was like this, that with us, this is the story let’s say, that an old auntie told, which women in the village were witches, right? They had to go somewhere that August and fell a young linden tree, and make a stool, with three, only three legs, see? … And then on Christmas Eve (laughs) you had to go, when everyone was already in church, see, (…) and you had to kneel, see, with one foot on that stool and those that were had their backs turned, see? Because a witch cannot look at the altar, see, they look backwards, see? And you saw them, and they saw you, see, and they said that then you had to run right smart and under a thatched roof. If they caught you first, then you were toast, see? (laughs) Yeah, (laughs) that’s what she said I guess.
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Since Linda Dégh has convincingly shown that no criteria for a separate categorization of memorates and fabulates can withstand scientific inquiry and proposed the overarching term legend for both of these and for other subcategories of tales used by folklorists (2001, 58–79), it is probably no longer justifiable to distinguish between memorates and fabulates, but if I may be permitted to refer to the recently used terms, I would understand the first group of stories mainly as memorates, and the stories in the last group as fabulates. According to Linda Dégh: “It is obvious that all memorates might eventually turn into fabulates. Likewise, it is obvious that each fabulate necessarily presupposes a memorate (…)” (Dégh 2001, 79). In our research we recorded an interesting case which could indicate such a transition of a memorate into an etiological story. Several times we recorded a story about the origins of nearby churches, which were actually based on nighttime experiences of losing one’s way, which have been confirmed in this area in the form of countless memorates about people’s own experiences with witches – in this story these night-time experiences took on an etiological function. The explanation of the origin of nearby churches is in the foreground of this etiological story, therefore it is no wonder that a blockage of the path, which is otherwise typical of night-time experiences, is not interpreted in the context of witchcraft: There was (a countess from Kunšperk – M. M.), who lived here eight hundred years ago, see, and she rode a horse over these mountains (indicates the mountains around the castle in Kunšperk). Up on Holy Mountain she rode, and she went into some bushes, and she couldn’t … save herself. And she said, if God allows me to get out of these thorns and from these bushes, I will build a church here. And then she did build a chapel up there and then they … built the Holy Mountain and the pilgrimage path up it. However, at the same time we can confirm the continued existence of both memorates – narratives about people’s personal experiences of the supernatural and/or the experiences of close acquaintances, as well as an etiological story which is probably based on the original memorate. Scandinavian authors have frequently pointed out that it is a mistake of folklorists, researchers of religion and other researchers of folk beliefs not to take into account the importance of genre analysis as a critique of the resources, a critical tool – that is, not all genres should have the same value for studying folk beliefs. Memorates should have the greatest value for drawing conclusions about local beliefs and are the most important resource for studying folk beliefs, since they contain information about socially accepted supernatural experiences (von Sydow 1948; Honko 1969; Kvideland, Sehmsdorf 1988, 17). Migratory legends, which include some of these stories, can be based on beliefs from other times and places and do not necessarily express the belief in the area where the story type was
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recorded (Kvideland, Sehmsdorf 1988, 17), although on the other hand such beliefs certainly cannot be too foreign, otherwise the locals would not be likely to spread them far and accept them as their own. At any rate, the narratives of this group are usually stories which happen at indeterminate times and places, usually to an indeterminate person whom the storyteller usually did not personally know. The use of pronouns such as “this” or “some” man or woman or the temporal adverb “once” was typical of these stories: “This woman told me”; “This girl went to visit this old woman, but she didn’t know that she was a witch …”; “They say that this shoemaker was inside …” etc. The storytellers, even when they were supposed to refer to a particular individual from a particular village, very often told such stories with laughter – in contrast to the narratives about night-time encounters and experiences with neighbourhood and village witches, which were usually related almost fearfully. Although one informant even told the Witch Bridle Legend as a story which allegedly happened to an acquaintance of hers from the village, and she firmly believed in the truth of the story,5 and although we can sometimes detect the same fundamental beliefs in the background of these stories which are associated with witches of the social or supernatural levels (in this case a belief in the shape-shifting abilities of witches), the belief that a witch can turn herself into a mare, which we find in this story, was never corroborated in the stories about people’s personal experiences with witches. In our research area, people regularly encountered witches, when not in human form, in the form of toads and lights, but never in the form of a mare. Nobody ever told a story about a personal (their own or a close acquaintance, relative, neighbour etc.) experience of seeing a witch flying through the air on a broomstick, although sometimes stories about witches who were supposed to fly about on broomsticks also referred to particular women from the village (the people in these cases used phrases such as “they spoke about …”, “they said …”), but they saw them flying solely in the form of lights. Furthermore, nobody ever stated that they themselves had attempted to expose witches at midnight mass using a St. Lucy’s Stool, much less that they had been attacked and that they had barely escaped, and nobody ever stated that they personally knew anybody who had attempted such a thing. Dramatic, usually humorous twists can frequently be heard in these stories, which are usually not found in stories about witches of the social and supernatural levels in our area. Usually these stories were also not neither as widespread nor narrated as stories about experiences with witches of the “social” or “supernatural” level. While the stories about witches of 5
I should mention that the storyteller was a person who interpreted all of the events in her life in the context of witchcraft, and had spent some time in a mental hospital due to her psychological problems.
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these two levels have various functions – they inform people about the dangers of witch attacks in one form or another, warn them about places and times when witches are dangerous, show ways in which people can protect themselves against them, etc. – the function of the stories in the latter group is primarily entertainment.6 The witches in these stories, despite the fact that they were called the same thing as the witches who had harmed people in the immediate vicinity, were therefore not usually the subject of personal experiences, but were more or less people from stories that people recognized as being intended for entertainment.7
Conclusion In order to gain a correct understanding of the phenomenon of witchcraft in a certain area and the attitudes of people towards it in all phases of research – both during fieldwork and during the analysis of the materials – one therefore has to pay attention also to the different levels of witchcraft and the different categories of witches. Failure to take these factors into account can manifest as a critical issue and a source of disturbance of the communication between folklorists and storytellers. An informant’s response when answering an ethnologist’s question while thinking about the social context of witchcraft (envy among neighbours, tension in the community), can be totally different from an informant’s response which refers to night-time encounters with witches. If the researcher e.g. asks the informant a question about whether witches meet in certain places, the informant who is thinking about a witch as a neighbour who has harmed him will strongly deny it; in contrast, he would probably receive a confirming response from a person who was thinking about gatherings of night witches in the form of lights. If the folklorist asks about the source of a witch’s knowledge, they will receive a clear response that she got it from her mother (since knowledge is supposed to be passed down in the family, especially along the female line) from an informant who is thinking about a village witch, while those who are thinking about neighbourhood or night witches will have nothing to say on this account etc. But it is not just that the qualities of neighbourhood, village and night witches are different, which is demonstrated in the various explanations for accusations, in people’s various attitudes towards them, in the different kinds of subsequent behaviour of people when harm is inflicted by the first, second or 6 7
It is also possible that while telling these stories narrators are at the same time releasing tension and the fear of the actual danger of witches. This is a cross-section of the current situation; we cannot state that the division between the levels of narratives about witches was always this way.
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third types of witches, but the telling of the stories about witches of different levels also has different functions. And while the narratives about witches of the social and supernatural levels are supported with personal experiences and are a subject of belief, disbelief or doubt, the narratives which usually have a humorous quality and are primarily intended for entertainment are usually not a subject of belief, much less of personal experience – people’s attitudes towards these two types of stories are fundamentally different. Therefore despite the fact that witches are called the same thing in all of these stories, you can’t put them all in one basket – in the eyes of the people they have very different roles and connotations, and in order to truly understand the informants’ attitudes towards witchcraft in a certain area one has to be aware of different categories within the multi-levelled system of witchcraft.
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Carme Oriol
Thumbling (ATU 700), a Folktale From Early Childhood1 Since the publication of the first typological index of folktales (Aarne 1910) almost a century ago now, folktale research has developed extraordinarily the world over. The successive reprints and extensions of that first catalogue have helped to make folktale research increasingly international but, at the same time, the diffusion and acceptance of the international catalogue has prompted the production of regional catalogues that have collected the recent folktale collections published in different countries. Among other novelties, the latest revision of the typological index (Uther 2004) includes information about the combinability of types. This reference is of great help for researchers because it enables them to study not only pure types but also their extensions towards other “compatible” types. These type combinations highlight the creativity of the narrators, who adapt and extend the plots of the folktales in accordance with the characteristics of the public to which they are addressed. Typological catalogues have gradually been updated as folktale research has progressed and they have undoubtedly been a tool of great research value. Whatever analytical perspective is used for a particular folktale, the first task – that of locating the versions – would be much more arduous without the typological catalogues. The contributions made by folktale research from a psychological and social perspective – among which those of the Danish folklorist Bengt Holbek are of particular note – reveal the importance not only of studying the significance of the folktale using various versions (and it is here that typological catalogues play an important role) but also of considering the folktale as a whole so that the specific cultural context in which it takes place, the structure of the text, the psychological factors in the formation of the symbols, the characteristics of the narrative genre to which it 1
This article is the result of research into popular Catalan literature which has received funding from the Spanish Ministry of Science and Education through an I+D project (Ref. HUM 2006-13121).
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belongs and the creativity of the narrator are all taken into account (Holbek 1992, 18). This article considers those factors enumerated by Holbek with the purpose of going more deeply into the meaning of the Thumbling tale type (ATU 700). In this way, we attempt to add to such previous papers as Scherf (1987), Belmont (1995; 1999, 133–156) and Oriol (1997 and 2001), who regard the tale as a fantasy about the birth of children. The hypothesis of the present article is that Thumbling is a tale from early childhood, a stage of child development that Piaget ([1940] 1974) situates between two and seven years old. More specifically, the tale belongs to the first half of this period (approximately between two and five years old). The tale deals with the topic of the birth of children, but from the child’s viewpoint; therefore, the tale is constructed with a structure, and symbolic and stylistic elements that adapt perfectly to the characteristics that developmental psychology describes for children between two and five years old. The tale also has plot extensions to other tale types, which have both structural and thematic similarities. The analysis takes into account all the versions that have been documented in the Catalan linguistic and cultural area: those that have been described in previous papers (Oriol 1997 and 2001) and the new versions in the Índex tipològic de la rondalla catalana (Oriol/Pujol 2003) and in its revised and extended edition Index of Catalan Folktales (Oriol/Pujol 2008).2
The cultural context Thumbling is a very popular folk tale, as can be seen by its widespread international presence and the fact that a considerable number of versions are found in regional catalogues. Only in the south of Europe, 80 versions have been documented in French (Delarue/Tenèze 1965), 70 in Greek (Angelopoulos/Brouskou 1995), 27 in Portuguese (Cardigos 2006), 31 in Catalan (Oriol/Pujol 2003 and 2008),3 and 15 in Spanish (Camarena/ Chevalier 1995). The tale is so popular because of the importance of the topic it deals with: the birth of children. This topic is a very real part of daily life and 2 3
I am particularly grateful for the support and advice provided by Dr. Hans-Jörg Uther during the drafting and subsequent publication of the catalogue of Catalan Folktales in its Catalan and English editions. The Oriol/Pujol catalogues (2003 and 2008) only include the versions published in books, but there are many more that have been published in journals or that remain unpublished in archives.
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has traditionally been indirectly explained by adults in a wide variety of creative ways. The folklorist Joan Amades, in his unpublished study La procedència de l’home4, describes many of these explanations about where children come from and locates them in different towns and cities around Catalonia. He also discusses them – albeit briefly – in the book El naixement. Costums i creences (Amades 1934, 44-45). The explanations he mentions are summarized below. The birth of children was associated with the land. Therefore, it was often said that they had been found in a cave, or next to rocks, dolmens or menhirs; or that they had been formed from the dust of the ground (like Adam). Children were also said to come from water. They may have been found in springs; pulled up from wells and carried home in a bucket; fished out of the river; left at the edge of a lake or in the ponds on the outskirts of villages (where the cattle went to drink or the women to wash the clothes); washed up by the sea (particularly the children from fishing towns); found under boats; or brought by a fish (on its back or under its fins). Children were also related to animals. They may have been found in the pig sty; brought by birds and left on the roof or hidden under a tile; or found under a cow pat. Amades points out that this last tradition brings to mind the case of En Patufet (Thumbling)5 who was swallowed by a cow and returned to the world in a pile of dung. The birth of children was also related to plants. Children could be found in the shade of a plant or under the cabbages (just where snails are found). Young children who were expecting the arrival of a baby brother or sister or who wanted to have one often went to the fields and looked under the cabbages. In reference to this idea, Amades mentions that Thumbling was found under a cabbage, just as Don Crispí, the hero of a popular picture story. Children could also come out of potatoes (as if they were chickens coming out of the egg); or they could be found in the trunk of a tree (boys in an oak and girls in an evergreen oak). Children could also be related to God. They may have been brought by the angels, who carried them down from heaven and managed to get them into the house down the chimney or through the window. They were also said to fall like rain out of the sky. Other explanations were also given for the origin of children. If they were born around Christmas time, they were said to have been brought by 4 5
This is an unpublished typed study which is 38 pages long (undated) and kept at the Arxiu d’Etnografia de Catalunya of the Universitat Rovira i Virgili (Tarragona). En Patufet is one of the most popular names by which the ATU 700 tale type is known in Catalonia.
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Ill. 1: The hero falls asleep in a cabbage. L’auca d’en Jordi Crit (“The picture story of Jordi Crit”). La rondalla del dijous. Barcelona 1924.
the Three Wise Men. They could also be bought at the fair or in Paris. If girls had white, delicate skin, they had been bought in a bakery where they had been sitting on flour sacks or put on the shelves as if they were loaves of bread. If boys were dark skinned, they had been bought from the coalman where they had fallen into the coal. Sometimes they were brought by the road sweeper, or even the midwife, who had found them in the street and had put them in her basket. As Amades points out, some of these popular explanations about where children came from were used in picture stories such as Vida del Nuevo enano D. Crispin (where the main character is found in a cabbage and then swallowed by a cow), Historia del escombrariayre Pere Talls (where the main character is found in a basket) or the Historia de una carbonera (where the main character is found in a pile of coal). These picture stories were very popular in the 19th century and at the beginnings of the 20th. Some of these explanations were also included in narratives for children, published in children’s magazines in the first third of the 20th century. For example, in L’auca d’en Jordi Crit 6 the child is born from a cabbage (Illustration 1), and in the Història meravellosa d’en Joan Estornell 7 6 7
L'auca d'en Jordi Crit. In: La rondalla del dijous 14–19 (1924), 239 f., 255 f., 271 f., 287 f., 303 f. Història meravellosa d’en Joan Estornell. In: En Patufet 54 (1905), 12–13.
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children are said to be born from an apple, an apricot or a peach, through a hole that a bird had pecked in it. The motifs that are in the tale of Thumbling are some of this wide variety of images that adults have traditionally created to speak indirectly about where babies come from, as can be seen below in the section “Structure of the text”.
The specific context If the cultural context provides information about the possible motifs that, to use Dundes’ terminology (1984) are symbolically equivalent, and which adults use to talk about where babies come from, then the specific context can provide data about the function that these explanations have in particular situations in daily life. On this issue, I would like to mention a conversation I had in the summer of 1995 with a 59-year-old woman, a farmer’s wife, who lived in Lles in the Cerdanya region (Eastern Pyrenees). She gave me some extremely valuable clues for understanding the folk tale that we are discussing here. When asked about what explanations were given to children who wanted to know where they had come from, she spoke of two situations of her daily life in which she used precisely the motifs that are most characteristic of the ATU 700 tale type, as it is known in the Catalan tradition. The first situation is that of the child who is expelled from a cow’s stomach and the second is the child who is found underneath a cabbage. In the first situation, the woman explained that she had told her daughter, when she was little, that her older brother, who was much naughtier than her, had been brought into the world by a cow they had. Because my boy was so naughty, one day our cow, Pardala … well, I went down to the barn, she dropped a pile of dung and … out popped our lad! That’s what I told the little girl. And she quite happily believed every word of it.
The informant immediately added to her comment and justified the explanation that she had given her daughter by saying that she had to adapt it to her mentality and to make it fun for her: That’s why he’s so naughty, because he was brought into the world by Pardala (…). That cow was also a bit naughty. And I couldn’t tell such a little girl that I had given birth to him. It’s more fun to say that the cow gave birth to him.
In the same interview, the informant spoke of the second situation, in which she had told the small daughter of a friend of hers how she had
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come into the world. The girl was adopted and her mother did not know how to tell her. The informant told her friend that she would do it. So she told the girl the following: Look, I went out into the fields and I saw a really big cabbage. And I saw a pretty girl underneath! What lovely eyes she had! She smiled at me and I said: – Do you want to come with me, little girl? And you made a face at me … like this [the informant beams with satisfaction]. And then I picked you up and brought you home. Yes. And when I got here, I met your mother. And she said: – What a pretty girl! Where did you get her from? And I said: – From that field over there, underneath a cabbage. And she said: – Why don’t you give her to me? I said: – Not on your life! I’m going to keep her myself. And then we went on arguing. Well, in the end, if I hadn’t given you to your mother she would have been heartbroken. So I told her: – Go on, have her then. Take her! I’ve got lots of work to do and I can’t spend all day talking about the little girl! And off she went with you. And she’s still got you now, hasn’t she. This is the tale of a little girl who came from an orphanage. And she quite happily believed every word of it.
Later on, the informant insisted on the idea that these explanations were used to satisfy the small children and to give them a message that was appropriate for their age: Talking about cabbages and cows is quite normal. And children really enjoy it, don’t they? (…) The little girl was happier at being found underneath a cabbage than being told that her mother had given birth to her. And it’s really simple to tell and really quick (…) She was from the orphanage. You know, when the children have just been born they find them a mother who goes and gets them. And the explanation I gave her was the one I have just given you.
The informant then went on to say that the explanation provided made sense given the environment that the child was familiar with. She argued that, in the world of country folk, “if you’re walking along you can easily come across a bird or a rabbit, so it should also be easy to come across a baby.” She mentioned that her daughter, when she came home from school one day, told her that she had found a squirrel. Another day she said she had seen a fox coming out of its den, and on yet another day she had seen a birds’ nest. The informant synthesized this daily situation
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in then rural world with the following idea: “Here living, dying and being born is normal.” Later on in the interview, when I asked her if she knew the folk tale about En Patufet (Thumbling), she said that she had heard it but that she didn’t remember it very well. Eventually, she remembered the fragment that includes the fundamental motif of the tale: the boy being swallowed by a cow: And then, when his mother saw that the boy wasn’t coming home, she went out to the fields and shouted: – Patufet! Where are you? And he replied: – In the cow’s belly. And the informant finished by saying: Well, more or less it’s what I told my daughter.
Finally, by way of conclusion, she mentioned that the folktale must have been invented by someone from Cerdanya. The informant, then, saw no difference between the explanation she had given her daughter about how her brother had come into the world and the folktale En Patufet. In the case of the story she told the adopted girl, the informant understood that what she had told her was a tale, a fictional story. Remember she said: “And this is the tale of a little girl who comes from an orphanage.” Despite its brevity, this story has all the requisites of a folktale. In this respect, it adapts very well to the definition of folklore given by Josep M. Pujol when he reformulates Dan Ben-Amos’ definition (1971) and says that folklore “is a special type of communication that is used in certain difficult, delicate or potentially conflictive situations that arise among people who are in direct contact” (…) “Sometimes the other person is too small to understand us if we talk to them as if they were adults; when this is the case, folklore can be used to overcome the communicative barrier” (…) Folklore, then, “consists of saying things in a way that we could call artistic: by singing, in verse, using metaphors, etc. Whenever we do not use communication exclusively for informative purposes, we are doing folklore” (Pujol 1989, 20). In this case, the informant from the Cerdanya gave a metaphorical explanation about the birth of a baby and how this baby got to her parents’ house. The informant told the girl, indirectly, that she had been adopted because she had been given to her mother by someone else when she was small. Understanding the specific context can help to discover the sense of a folktale. These contextual data, which are unfortunately not often found
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in folklore collections, would surely help us to understand the versions that are different from the most common form of the tale. For example, some versions of ATU 700 end with the death of the protagonist. This ending is not habitual in a genre such as the folktale, but it is present in the tradition, as Pape (1981) points out. In this respect, the description of a Portuguese version states: “Death of the hero, in the oven by mistake“ (Cardigos 2006, APFT 91); the description of a Catalan version states “The tavernkeeper kills him as a punishment for having robbed him“ (Oriol 1997, 231, version 5); and a Greek catalogue says “a. Le héros meurt; a1: dans le ventre du loup qui meurt à son tour de faim; a2: noyé; a3: brûlé (tué); a4: par son père (sa mère); a5: par les voleurs“ (Angelopoulos/Brouskou 1995, 27). In the logic of the folktale, this ending could be raising the issue of infant mortality. Adults may have adapted the folktale to end in this undesired way with the purpose of not ignoring something that occurs in daily life and of providing an indirect explanation that is appropriate to a child’s mentality. Remember that the informant from Cerdanya said: “Here living, dying and being born is normal.”
The structure of the text In the Catalan tradition, the length of the folktale depends on how many of the episodes and motifs in the following list are included:8 1) The hero is born as the result of the desire of his parents to have a son, even if he were to be very small (Mot. T553). The hero can be a chickpea, a grain of millet or a head of garlic that has come to life while the mother was making lunch (Illustration 2), or, simply, the hero is as small as a seed (chickpea, grain of mustard, grain of millet, etc.) and his name is connected to his smallness (Cigronet, Cabeceta d’alls, Llagoreta-tomate, etc.). 2) The hero leaves the house to go shopping (for saffron, pepper, chocolate, wine, cinnamon, etc.) or he goes to take food to his father who is working in the fields. He may leave on a donkey (in its ear), but he generally walks carrying a basket or a coin that seem to be walking by themselves. He attracts attention to himself so that other people can see him and not step on him by using a rhyming formula.
8
For a more detailed description of a representative number of versions from the Catalan tradition, see Oriol (1997 and 2001).
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Ill. 2: The hero is the only survivor of a pile of chickpeas that came to life while mother was making lunch. Illustration by Ramon Cavaller for the folktale Es ciurons que tornaren minyons (“The chickpeas who turned into little boys”). Antoni M. Alcover. Rondaies mallorquines d’en Jordi des Racó. Palma 1980.
3) The hero shelters under a plant. He normally gets to a cabbage patch on foot, on a bird or floating down a stream. He sits under, on top of or inside a cabbage because he is tired of walking and he stops for a rest, because it has begun to rain and he does not want to get wet, or because he hears the lowing of the cows getting nearer and he is afraid. Sometimes he feels so comfortable in the cabbage that he falls asleep. 4) The hero is swallowed by an ox (or a cow). His parents look for him and the hero cries out to tell them that he is the ox’s stomach (Mot. F913). Sometimes he uses a rhyme with his name. The hero is expulsed when the animal breaks wind or when his parents cut it open. In one version, the hero enters the body of the cow when it breathes in and gets out through the teat when it is milked (Manunta 1985).
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5) The hero is swallowed by another animal. A wolf eats the insides of the ox where the hero is. The fox convinces the wolf to eat and drink a lot and the hero manages to escape in the animal’s dung. 6) The hero arrives at a thieves’ hideout and sees that they are sharing out their loot. He calls out and frightens the thieves because they can hear a voice but cannot see anybody. The thieves run away and the hero keeps the loot. 7) The hero meets up with his parents again. They wash and dress him. Or the hero gives them the loot that he has taken from the thieves. Only in one version does the hero leave (Manunta 1985) and in another he dies (Ferrer [s.a.]). The tale always starts by introducing the protagonist in his family environment, with his parents (1), and ends when the protagonists meets up with them again or, exceptionally, dies (7). The remaining episodes (2, 3, 4, 5 and 6), which relate the hero’s adventures, can appear to a greater or lesser extent, thus creating longer or shorter versions. The most common motif is that of the “hero swallowed by an ox or a cow” followed by that of “the hero sheltering in a plant”. In general, the tale has a circular structure. It begins and ends in the same place: the family home. In its most common form (that is to say, not taking into account the possible extensions toward other folktale types), it has a simple structure that makes it easy for its target audience – very little children – to understand. The tale seems to have been constructed from the narrative development of motifs that adults have used to explain where children come from or how they come into being. After the first episode, which adopts a symbolic approach to the topic of where children come from (the child is brought by Our Lord, is given birth to by a seed that has come to life, etc.), the tale moves on through a series of other, very brief, episodes (which contain motifs that are symbolically equivalent to those that appear at the beginning of the tale).9 Occasionally, the tale includes episodes from other folktale types which, because of their thematic and structural characteristics, are compatible with the previous ones.
Psychological factors in the formation of symbols In his articles “The Sexual Researches of Childhood” (1905) and “On the Sexual Theories of Children” (1908), Freud provided data that are worth bearing in mind when analyzing the importance of psychological factors in 9
On the use of symbolically equivalent motifs in the various episodes of the tale, see Oriol (1997).
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the formation of symbols. Using his observations of children between two and five years old, Freud ([1905] 1977) showed that there were signs of intellectual activity that he referred to as “the instinct for knowledge” or “the instinct for research”. Freud ([1908] 1977, 183–204) observed that the coming into the world of another child (a rather frequent occurrence in the family and social environment of children) prompted older children to fear that the new arrival would take away some of the affection that so far adults had reserved for them. This fact awakened the sensitivity of the children and stimulated their thought processes. In this way children began to reflect on where children came from and tried to find an answer to this question. Subsequently, children continued with their observations and realised that the increase in the size of the mother’s stomach was related the birth of babies. This prompted them to think about how the child had got into, and then come out of the mother’s body. However, because children did not have all the information required to make a correct deduction about how the conception and the birth of children came about, they established their own theory. They did not know how the reproductive system worked so they assumed that the babies came out of an opening in the mother’s stomach or through the intestine. The idea of the anal birth was present as an image in children’s minds and was, then, a consequence of the relation that children established between the excretory function and the reproductive function. They imagined that the new-born baby had come out of the mother’s stomach through the intestinal tract, just as if it were excrement. Freud ([1905] 1977, 114) also observed that the anatomical solutions given by children to the enigma of childbirth were quite varied: children came out of the mother’s breast, navel or intestine (along with the excrement), among other things. In the many versions by which it is known, Thumbling contains a wide variety of images and symbols that correspond to the various explanations given by adults for the birth of children. What is more, however, it also contains symbolic elements that match children’s own deductions about how babies are born. In this respect, the folktale uses the motif of the hero swallowed by the ox (or the cow) and subsequently expelled from the animal’s stomach – which is the most commonly used motif in the tradition – to reproduce the idea of the anal birth described by Freud (Illustration 3). What is more, in one Catalan version (Manunta 1985), the hero is expelled through the animal’s teat during milking, an idea that is equivalent to one of the anatomical solutions described by Freud.
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Ill. 3: The hero is expelled from the ox’s stomach. Illustration by Pilarín Bayés for the children’s book En Patufet (Contes Populars 4). Folktale adapted by Francesca Garberí, Maria Dolors Latorre, Montserrat Vidal and Jordi Cots. Barcelona 1986.
The tale can then be seen as a fantasy about the birth of children that adults make available to them to respond to their concerns in an enjoyable way appropriate for their mentality. Dundes (1989, 123, 140) pointed out that the tales are always told from the point of view of children, not parents, and Joisten, cited by Belmont (1999, 135), also reflected on this issue when he said that ATU 700 + 715 raised the issue of where babies came from but that whether it was raised in terms of child images was open to question. This is the point of view that is also reflected in the comments made by the informant from Cerdanya.
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The characteristics of the narrative genre: the children’s folktale Belmont (1999, 133-134) ascribes the ATU 700 tale type to the group of children’s folktales. According to her, this denomination comes from Sébillot who put tales into this category if they describe the adventures of children, if they are eagerly told by mothers and child minders because of their simple form and straightforward plot, and if they are also very short. Belmont also points out that Joisten confirms the existence of this group of tales. Joisten includes in it ATU 700, 333, 720, 123 and 366, and he also states that it is no coincidence that these tales are mainly transmitted to children by mothers and grandmothers. Pujol (2006, 281–283) adds tale types ATU 235C*, of which he made a monographic study, and ATU 715 and 780 to this group. Belmont (1999, 134) clearly and briefly states the characteristics that children’s folktales have and which differentiate them from other fairy tales. She makes articulate reference to the following: their relative brevity; their straightforward narrative plot; their “terrifying” themes (in many folktales the heroes are eaten or threatened with being eaten when they are still children); and the fact that the “initiatory path” of the heroes does not end in marriage (at the end of the tale they are still children). With reference to ATU 700, Belmont (1999, 135) again cites Joisten. She says that the folktale is considered to be particularly relevant for children and that narrators often take it for a “bagatelle”: that is to say, they believe it to be unimportant and, for this reason, they have no interest in telling it to collectors or resist doing so. González Sanz (1996, 246, note 113) mentions an informant who told a version of this tale and who had a similar opinion. She believes the tale to have absolutely “no substance” even though she remembers listening to it “open mouthed” when she was young and that she also told it to her own children. Thompson (1946, 87) pointed out that ATU 700 is a “nursery tale”: that is to say, a folktale that deals with topics that interest small children. Holbek (1987, 160–162) assigns the tale to the subgroup of “children’s fairy tales”. The main feature of these tales is that they do not end up with the hero getting married, as happens in most fairy tales, for which Propp (1928) established the morphology. Therefore, ATU 700 shares the characteristics that researchers have given to the genre of children’s folktales, tales that address small children. The adventures of the heroes of these tales take place around the family nucleus and they affect a particular stage in their lives: early childhood, when the physical and affective relationship between the children and their parents is extremely close.
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The creativity of the narrator Some versions of the tale, and particularly those that are most faithful to the oral sources, have a series of formal and stylistic resources that confirm that narrators tell the story from the child’s point of view. The narrators put themselves in the children’s shoes and tell them what they want to hear and what they are able to understand. They also use all their affectivity and transmit their emotions. In other words, narrators adapt to the characteristics that developmental psychology has described for early childhood (Piaget [1940] 1974, 28–54), particularly the first half of this period, which runs from two to five years old, approximately. Early childhood is the period of concrete thought (pre-logical or intuitive), which is characterized by the child using intuition not logic (Piaget [1940] 1974, 28, 44) and so-called child animism (that is to say, the tendency to perceive things as if they were alive and full of intent (Piaget [1940] 1974, 39). Other characteristics of this period are: self-centredness, the achievement of motor autonomy, the acquisition of language, socialization and an interest in scatology. Also in this stage symbolic play appear (Piaget [1940] 1974, 35–36). On the affective level, children develop their own self-esteem and are obedient to people they respect and who they consider to be their betters, such as some elderly people and their parents (Piaget [1940] 1974, 50–52). In general, these features are reflected in the folktale Thumbling so that the children who listen to it can fully identify with the hero. On the stylistic level, many narrators tell the tale using a wide variety of diminutives and onomatopoeia. Some versions transmit the sensation that the child and the adult are evoking a child’s game. They seem to be playing at “hide-and-seek”. In particular, his actions recall a game that in Catalonia is known as “Tat”.10 The game is typical of this stage of childhood and has many variants. When a child is very small, adults sit him/her on their lap facing them, cover their eyes with their hands and when they say “Taat!” take their hands away to reveal their face to the child. As children get bigger, the game can be adapted to their increasing motor capacity. So, children may imitate the game and cover their own faces. They may also hide behind a chair and then look round one side; or hide under some bed sheets and then uncover themselves when they say “Taat”!, etc (Badia/Vidal 2005, 89–90). To exemplify all these aspects, below we analyze six versions of the folktale, of which three are of the ATU 700 type and the other three have 10
I owe this idea to my colleague and friend Josep Maria Pujol. I believe that it makes a lot of sense.
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extensions towards other tale types. Each version is first summarized and the literal fragments are indicated by inverted commas. 1. ATU 700 Gra de Mill [Grain of millet] (Llorens [2006, 517–519]) (Told by many people, 1902)11 A man and his wife ask the Lord for a son and say they wouldn’t mind if he were only as big as a grain of millet. One day the wife is cooking when she realizes that she has run out of saffron and cinnamon. She says she really needs a son, even if he were only to be as big as a grain of millet, to go shopping for her. At that moment she hears a voice saying, “Mother, mother, I’ll go and get some thaffron and thinnamon [tafà i canyeia] for you.”12 She looks all around her and sees a grain of millet that is so small that she can hardly see it. She gives it the basket. The grain of millet leaves, arrives at the shop and says. “Five thents of thaffron and five thents of thinnamon“ [Tinc tèntims de tafà i tinc tèntims de canyeia]. The shopkeeper only sees the basket but he shouts so loudly that she eventually gives him what he wants. The grain of millet leaves and, on the way home, it starts to rain heavily. The grain of millet puts the basket in a ditch, jumps in and says, “Walk, basket. Walk for me, me tired “ [Camina titell, titell, qu’etic cantat]. And the basket started to walk along the ditch. However, when it got to his house, the basket didn’t stop. It went to the end of the street and tipped over. The water carried the grain of millet out to the fields and he came to rest under a cabbage leaf. An ox ate the cabbage leaf and the grain of millet. His father sets off in search of him. He calls him. “Grain of millet!” And the grain of millet calls back, “I’m in the ox’s belly where it neither snows nor rains.” His father has the ox killed and frees the grain of millet.
This version reflects one of the manifestations of pre-logical thought: child animism. On the one hand, the baby is born from a seed, a grain of millet sent by the Lord which has come to life. On the other, the boy tells the basket to walk along the ditch. In this latter situation, it can also be seen that the boy is developing his own motor autonomy, even though he is still very small and he lacks physical strength. He is tired after walking so far and so gets into the basket. The text also reflects some difficulties with the acquisition of language. In the fragments quoted above, the boy speaks with all the imperfections of a three-year-old (Osterrieth [1960] 1999, 94–95). Another feature of this developmental stage that is reflected in the folktale is socialization. The boy goes to the shop and, therefore, extends his field of relations to someone who is not from his family 11 12
Although this tale was not collected from just one informant, this version seems to have been written basically from a single version because it has many oral features. The fragments in italics are faithful reproductions of the texts as they were written by the folklorist Sara Llorens (1902). The typescript of the folktale belongs to the collection of the folklorist Rosend Serra i Pagès, which is conserved at the Municipal Historic Archive of the City of Barcelona.
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nucleus. Finally, it should be pointed out that the boy really wants to be of use and offers to help his mother. This attitude is related to self-esteem, to a desire to feel adult and useful and, at the same time, to a desire to please his mother. 2. ATU 700 En Tifolet (Llorens 2006, 521) (Told by Mariàngela Bruguera i Gros, 1902) A husband and wife have a son who is as small as a grain of millet. They decide to call him Tifolet.13 When he is five years old, his parents ask him to go shopping for them. One day he goes to buy saffron. The shopkeeper hears a voice but cannot see anybody. She says, “There’s nobody there!” He calls out to her twice more and then jumps up onto the counter. She says, “Oh, you should have said that you were Tifolet!” She gives him the saffron and he leaves. His mother sends him off to take his father his lunch. She puts the basket on his head and the basket seems to be walking by itself. As he is approaching the vineyard, he shouts out, “Father, I’m coming!”, but he stops to eat some blackberries. He is swallowed by an ox. Tifolet cries out, “I’m in the ox’s belly and I don’t know whether it is snowing or raining!” The ox breaks wind and releases Tifolet. His father sees that he is frightened, picks him up and sends him home.
This version mentions that he is five years old, surely the same age as the child to whom the story was told. It also reflects the topic of socialization, which is developed here in such a way that it recalls the game of “Tat”, described above. The boy is underneath the basket as if he were hiding and he jumps onto the counter so that the shopkeeper can see him. This idea of a game also appears in the episode in which the boy is swallowed by the ox (a feature of most versions). His parents are looking for him but cannot find him. He is finally released from the confines of the animal’s stomach when the ox breaks wind. This image of the child hiding in the animal’s stomach and suddenly appearing before the adult is very popular with children because it contains both scatological and game elements. 3. ATU 700 Cigronet [Little Chickpea] (Roig Vila 1999, 65–67) A childless couple go to church. They ask the Lord to give them a son and they say that they wouldn’t mind if he was as small as a chickpea. Some time later they have a baby boy who is as small as a chickpea. One day, his mother was sewing and he was beside her. “And suddenly – bang! – he turned the sewing box upside down.” His mother tried to find him but couldn’t. She turned the sewing box right side up and carried on sewing. “And just a little while later – bang! – he turned the sewing box upside down again and everything fell out.” And his mother was going mad trying to find him. “He 13
Tifolet seems to be a derivative of tifa (turd).
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couldn’t stop laughing. Ha, ha ha!” His mother said, “Where are you, you devil?” And he said, “Inside the thimble.” His mother told him to go and take his father breakfast and he agreed. His mother put the food into a cushion cover and tied it up with a strap. Dragging the cushion cover along the ground, he went off to where his father was but, when he got there, he found that he only had the strap (he had lost the cushion cover on the way). It started to rain a little and his father told him to go home. He loaded up the mule, put Chickpea in its ear and set him on his way. When he got to town everybody said, “Look, a mule on the loose!” They took it into a house and Chickpea started shouting at them to let him go. Nobody could understand it. “Who’s that? Where are you?” The same thing happened whenever the mule was taken into the other houses in the town. Eventually, his mother saw him and said, “Oh, what a little devil you are, Chickpea!” She cut the mule’s ear open and took Chickpea out. And the mule bled to death.
In this version, the boy is very naughty and does what many young children do in the stage of early childhood: they throw things to experiment with the objects around them, but also to call the attention of adults (Osterrieth [1960] 1999, 85–86). Even so, he is obedient and helpful, and is quite happy to take his father his lunch. This version also reflects the difficulties of acquiring motor autonomy. He drags the cushion cover containing his father’s food along the ground because he is not strong enough and gets tired. When he gets to town, socialization is presented as if it were a game, going into and out of different houses. Finally, on the affective level, his mother shows her son sympathy and understanding, she praises his progress, and thus reinforces his self-esteem. This affectivity can be observed throughout the tale but particularly at the end when his mother says, “Oh, what a little devil you are, Chickpea!“ 4. El marit i la muller que van tenir un fill com un gra de mill [The husband and wife who had a son as small as a grain of millet] (Amades 1950, no. 135, 323–325). (Told by Josep Colomines, Barcelona, 1947) A husband and wife ask the Lord to give them a son and they say that they wouldn’t mind if he was as small as a grain of millet. The Lord grants them their wish. One day the grain of millet does something naughty. He is afraid that his father will smack him so he decides to run away from home. He comes across a river and challenges it to a race on the condition that the winner swallows the loser. The grain of millet wins and swallows the river. The same thing happens when he meets a fox and a rat. The grain of millet gets to the king’s palace and starts to sing, “When the king dies / I will marry the queen.” The king hears him singing, and he tells his servants to bring the singer to him. However, they cannot find him. Angrily, the king orders the flowers to be pulled up, the trees and the bushes to be cut down and, finally, the garden to be dug up. They find the grain of millet and the king tells them to take it to the cook and fry it in a frying pan. The grain of millet says, “River, come out of my stomach, I need your help.” The river puts out the fire. The
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king orders his servants to take him to the chicken coop for him to be eaten by the hens. The grain of millet says, “Fox, come out of my stomach, I need your help.” The fox kills the hens. The king orders the servants to put him in a sack and to cover him with gold nuggets. The grain of millet says, “Rat, come out of my stomach, I need your help.” The rat chews a hole in the sack. The grain of millet escapes from the sack, conceals the gold nuggets up his backside and goes home. He shits the gold nuggets and they all become rich.
This version extends the plot to children’s folktale ATU 715. The tale provides glimpses of the Oedipus complex, which occurs at the beginning of early childhood (Osterrieth [1960] 1999, 115–123), and is particularly evident in the rhyme the hero repeatedly uses to provoke the king: “When the king dies / I will marry the queen.” This formula is provocatively and insistently used by the hero, and it denotes the hero’s desire for selfaffirmation and beginning of his opposition to his father. In this respect, the meaning of the tale would be similar to that of ATU 235*, as it has been interpreted by Pujol (2006). From the aesthetic point of view, the tale includes a series of simple actions that are run together as they are in formulaic tales (which also target an audience of children). The actions are done (the river, the fox and the rat are all swallowed) and then undone (the river, fox and rat are released from the hero’s body so that they can help him). The hero thus manages to save himself from the king and keep the treasure. Also worthy of note in this folktale is the scatological component, which is also present in most versions of ATU 700. 5. ATU 700 + 769 S’homonet com un gri [The little man as small as a cricket] (Alcover Notebook IV, 183–185)14 (Told by Na Rafaela “Quelona”, Son Servera, Mallorca) A husband and wife are feeling extremely sad because they have had eight little girls and one little boy and they have all died. One day while the wife is baking she hears a voice telling her to bake a big cake for father. She looks everywhere but cannot see anyone. She lifts up the corner of a sheet on the bed and sees a boy the size of a cricket. He says he is her son and that she should make the cake. She bakes the cake and puts it on the back of the ass. The little boy climbs into the ass’s ear and sets off. On the way some men try to steal the cake. The boy tells them not to. The men hear a voice but cannot see anybody, so they take the cake. The boy kills the two men with a sword, climbs back into the animal’s ear and goes off to see his father. He tells him to take the cake. His father hears the voice but cannot see him. The boy looks out from inside the animal’s ear and his father sees him. In the evening they go home. The boy says that he has killed two men and that he should bury 14
From the notes in his notebook, Alcover drafted a longer version (Alcover 1904, IV, 169– 175), which was then included in the popular edition of the tales (Alcover 1936–72, vol. 14, 63–68). Subsequently, Amades used Alcover’s tale to draft the version En Pere Monget (Amades 1950, no. 190, 462–464).
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them. This they do. They get home. The boy tells his parents that there are some houses that are not well positioned and that they should be moved. He tells his parents to dig a ditch around them. This they do. The boy gets into the ditch, lifts up the houses and moves them to a different place. His parents are astonished by his strength and ask him for an explanation. He says that he is the soul of their little boy who died and that he has the strength of the souls of his eight sisters. He tells them that Jesus has sent him so that they can see all the good things they have in heaven. The boy disappears.
The tale begins just like many other versions of ATU 700, but it then turns into a fantasy about mourning for a dead child from the Catholic point of view: the child was strong and full of life and is now in heaven. The extension of the tale’s plot is consistent and compatible with the meaning of the pure form of the Thumbling folktale because, as has been pointed out above, some versions end with the death of the hero. This tale deals with the topic of mourning the death of a child. Therefore, its function may have been to speak of the feeling of loss caused by the death of a child and to find some consolation. 6. ATU 700 + 2032 Joanet Pelitxilico (González i Caturla 1987, 115–118). A woman has a son who is as small as a chickpea. She is constantly warning him about falling into the irrigation ditch and being stepped on. One day, she leaves the cooking pot on the stove, tells him not to go near it and goes off to market. The boy tries to taste the food but falls into the pot. When his mother gets back, she calls out “Joanet Pelitxilico, where are you?” and he shouts back, “Here mother. In the cooking pot!” His mother picks up a wooden spoon and fishes him out, half scalded and burnt. She takes him to the doctor, who tells her that he will get better but she will have to give him lots of milk. She asks, “What sort of milk?” – “Goat’s milk.” On their way home they come across a goat. She says, “Goat, give me some milk for my Joanet, who has fallen into the cooking pot and is feeling rather poorly.” The goat replies, “If you want some milk, bring me some leaves”. – “What sort of leaves?” – “Leaves from the grapevine.” She finds a grapevine and says, “Grapevine, give me some leaves for the goat, so that she will give me some milk for my Joanet, who has fallen into the cooking pot and is feeling rather poorly.” The grapevine says, “If you want some leaves, bring me some water.” – “What sort of water?” – “Riverwater.” She goes to a river and says, “River, give me some water for the grapevine, so that she will give me some leaves for the goat, so that she will give me some milk for my Joanet, who has fallen into the cooking pot and is feeling rather poorly.” The river says, “If you want some water, bring me the king’s daughter.” Off she goes to the palace and says, “Your Majesty, take your daughter to the river so that she will give me some water for the grapevine, so that she will give me some leaves for the goat, so that she will give me some milk for my Joanet, who has fallen into the cooking pot and is feeling rather poorly.” The king and his daughter feel sorry for the woman and her son and agree to do what she asks. The
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king’s daughter bathes in the river, the river gives the grapevine some water, the grapevine gives the goat some leaves, the goat gives the mother some milk, which she gives to her son. And Joan Pelitxilico gets better.
The tale extends towards a formulaic tale, ATU 2032, appropriate for an audience of young children (like ATU 2023 and others). As in the cases of combinations of types that have been mentioned above, the result is a tale for children that rises out of two compatible thematic and narrative possibilities. In this case, the accumulative formula is more complex than the internal formulas that generally appear in the ATU 700 tale type or the chain of actions that are done and undone in ATU 715. In the particular case of this formulaic tale, the memory required to recall the series of actions and the back chaining of the final formula means that the tale seems to be more suitable for children who are in the final stages of early childhood.
Conclusions We have studied tale-type ATU 700 using the versions that are known in the Catalan tradition. The study has considered both the pure form of the tale-type and the plot extensions towards tale types ATU 715, 769 and 2032. In order to go into the meaning of the folktale in greater depth, our method of analysis is along the lines of the one suggested by Holbek (1992), which takes into account the following factors: the cultural context, the specific context, the structure of the text, the psychological factors in the formation of symbols, the features of the narrative genre (children’s folktales) and the creativity of the narrator. Our analysis has confirmed the starting hypothesis that Thumbling is a tale for children in early childhood, and particularly in the first half of this period, which approximately runs from two to five years old (Piaget [1940] 1974, Osterrieth [1960] 1999). Finally, we have shown that the tale deals with the topic of the birth of children seen through a child’s eyes because it reflects a whole series of features that are common to this stage of intellectual, motor and affective development. The tale may also have extensions to other tale types that complement and broaden its meaning.
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Der Höllenwächter Eine flämische Teufelssage als Beispiel zur Problematik von Literalität und Oralität Unlängst habe ich darauf hingewiesen, dass im 19. Jahrhundert viele flämische Autoren und Dichter in der Überlieferung von Volkserzählungen eine prominente Rolle gespielt haben (Top 2008). Daran anknüpfend, möchte ich im Folgenden, als wissenschaftliche Ehrengabe für Hans-Jörg Uther, dem hochgeschätzten Kollegen und Freund die Analyse eines konkreten Beispiels widmen.
Der Höllenjunge: Eine literarische Sage (1883) Karel Alfons Jozef de Gheldere (Torhout 18.08.1839 – Koekelare 17.07.1913), Arzt, Dichter, Schüler von Guido Gezelle (1830–1899) (Top 1987) und Mitarbeiter an dessen Wochenblatt Rond den Heerd. Een leer- en leesblad voor alle lieden (1865–1902) (Callewaert 1966), veröffentlichte einen Gedichtband mit dem Titel Landliederen (Brugge 1883). Nach Aussage des Biographen von de Gheldere, Raf Seys (1958, 84) handeln diese Gedichte unter anderem vom Lande und vor allem von „den einfachen Leuten, die dort wohnen, sowie von den Erzählungen, die dort weiterleben“. Als Beispiel einer derartigen Volkserzählung erwähnt Seys De Legende van den Hellejongen (Seys 1958, 108). Er suggeriert somit, dass diese Geschichte damals beliebt gewesen sei und/oder dass de Gheldere seine Inspiration aus der mündlichen Überlieferung geschöpft habe. Aber trifft dies auch zu? Diese Frage versuche ich weiter unten zu beantworten. Die Legende van den Hellejongen ist ein langes strophisches Gedicht, das aus sechs Kapiteln besteht und insgesamt 32 Vierzeiler (abab) umfasst, die von zwei Blöcken sich paarweise reimender Verse unterbrochen werden. Die Geschichte in Gedichtform ist folgendermaßen aufgebaut: I. Zu Hause (Strophe 1–9) (S. 94–95); II. Unterwegs (Strophe 10–20) (S. 96–97);
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III. Im Wijnendaler Walde (S. 98–100) (Dialog in sich paarweise reimenden Versen zwischen dem Kind, dem Vater und einem Ritter); IV. Rückkehr (Strophe 21–28) (S. 101–102); V. Die eigentliche Geschichte (S. 103– 111) (der Junge erzählt seine Erlebnisse in sich paarweise reimenden Versen); VI. Ende (Strophe 29–32). Die so genannte „Legende“ lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: I. Östlich der Kirche auf dem Koekelarer Berg [Koekelare ist ein Dorf in der Provinz Westflandern] wohnten vor etwa 60 Jahren (± 1823) ein Vater mit seinem Sohn und eine Stiefmutter. Diese konnte den erzfaulen Jungen nicht ausstehen. Darum verprügelte sie ihn oft und machte ihm allerhand Vorwürfe. Sie wollte, dass ihr Mann den Jungen verdingen sollte, ihretwegen sogar dem Teufel. Beim Abschied weigert sie sich, dem Jungen ihren Segen zu geben. II. An einem regnerischen und windigen Abend machen sich Vater und Sohn auf den Weg. Sie sehen und hören allerhand Seltsames: ein spielendes weißes Kaninchen, eine „doodkeers“ (ein Irrlicht), den Wasserteufel mit seinen Ketten, den Ruf des Ewigen Jägers und den Lärm eines Wagens ohne Pferde. Der Vater hält dies alles für schlechte Vorzeichen und hat Angst. Er bittet seinen Sohn, ein Kreuz zu schlagen, aber dieser kann das nicht. Dann beginnt der Vater das Johnannes-Evangelium zu beten. Der Sohn betet nicht mit. III. Im Wijnendaler Wald [zwischen Koekelare und der Stadt Torhout] begegnen sie einem „edlen Ritter“ auf einem rabenschwarzen Pferd. Die Begegnung ruft einen Geruch wie von Schwefel und Pech hervor. Der Ritter behauptet, er sei auf der Suche nach einem Dienstboten. Nach kurzer Verhandlung wird der Junge für „acht pond groote“ vermietet; nach einer dreijährigen Dienstzeit werde er einen Lohn von zehn Pfund erhalten. Ohne dass sich der Vater von seinem Sohn verabschiedet oder ihm seinen Segen gibt, verschwindet das Pferd mit dem Ritter und dem Jungen in die Nacht. IV. Drei Jahre später, auf den Tag und die Stunde genau, klopft der Sohn an die Tür des Vaters. Er sieht ermattet, blass, ausgemergelt und unkenntlich aus. Nachdem er ein Jahr lang geschwiegen hat, beginnt er zu reden, denn, sagt er, in zwei Jahren werde er tot sein. V. Der Junge sei drei Jahre als „Höllenpförtner“ an den Erzengel Luzifer in Dienst gegeben worden. Bei seiner Ankunft habe er den Schlüssel, einen Helm, „einen Stahl beschlagenen Harnisch“ sowie eine Lanze bekommen. Während der ganzen Zeit habe er viele Menschen eingelassen: Notare, Ärzte, Prälaten, Patres, Frömmlerinnen und Frömmler, Verkäufer, Ladenbesitzer, Minister, Senatoren, Parlamentsabgeordnete sowie Prinzen „von altem und edlem Blute“. Eine einzige arme Person habe er in der Hölle gesehen: seine eigene Taufpatin. Er habe mit ihr sprechen wollen, aber das sei verboten gewesen. Deshalb hätten ihn die Teufel mit nicht weniger als hundert Ketten verprügelt, so dass er den Schmerz noch
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immer empfinde. Einmal, im Monat Mai, habe er einen Teufelstross begleiten dürfen, um in Brügge einen verstorbenen „hochrangigen“ Geizhals abzuholen. Die Teufel hätten den Leichnam aus dem Sarg gestohlen und seien mit ihm in die Hölle geflogen. Der Junge habe auch nur einmal in die Hölle hinabsteigen dürfen, und zwar ausschließlich in den ersten von sieben Sälen. Dort befinde sich der Thron des Luzifer, und es herrsche dort „ein heißer Pestatem“. Aus allen Ecken sei „ein Grinsen, Kreischen und Grollen“ der Verdammten gekommen. An seinem letzten Arbeitstage habe Luzifer „in Papier“ das vereinbarte Mietsgeld bezahlt. VI. Man hat diese Geschichte weitererzählt; das einst verfluchte Kind erhielt so den Namen „Höllenjunge“. Viele Betroffene hätten sich von seinem detaillierten Bericht diffamiert gefühlt und hätten den Jungen vor Gericht gestellt. Aber dank des handgeschriebenen Dokuments von Luzifer sei er jedes Mal freigesprochen worden. Drei Jahre nach seiner Rückkehr sei der Junge gestorben, „an dem Tage, den er vorhergesagt hatte“.
Literarische Sage vs. Volkssage Es ist deutlich, dass diese literarische Sage von jemandem verfasst wurde, der mit der zeitgenössischen narrativen Volkskultur bestens vertraut war. Karel de Gheldere war in der Tat ein sehr volksverbundener Arzt, der auf seine Patienten sehr viel Zeit verwendete und der ihnen aufmerksam und interessiert zuhörte. Er war denn auch sehr beliebt (Seys 1958, 52). Weiter wissen wir, dass er sich häufig in die Geschichte und in die petites histoires seines Dorfes vertieft hat. Es stellt sich denn auch die Frage, ob die tragische Geschichte des Höllenjungen in jener Zeit in Koekelare und den benachbarten Ortschaften wirklich kursierte. Es steht außer Zweifel, dass der Autor die so beeindruckenden Geschehnisse in Zeit (± 1823) und Raum (Koekelare) verhältnismäßig scharf situiert und sie vor allem zu einem fesselnden Ganzen zusammenschmiedet. Das Schicksal des Jungen ist keineswegs beneidenswert. Als Halbwaise ist er einer feindseligen Stiefmutter ausgesetzt, die ihn verflucht und ihn möglichst schnell verschwinden sehen möchte, was denn auch alsbald geschieht. Der Vater begleitet den Sohn bei dessen schmerzhaftem Übergang aus der häuslichen Vertrautheit in eine unbekannte Zukunft. Was die Beiden auf der nächtlichen Wanderung alles hören und sehen, vermag den Vater in keiner Weise zu beruhigen. An allerhand Sagenfiguren ziehen sie vorbei, und es gibt auch die Schreie des Ewigen Jägers. In dieser Waldgegend ist dieser Jäger eine bekannte Figur, welcher der Autor in den Landliedern ebenfalls ein neunstrophiges Gedicht gewidmet hat (S. 82–83). Wie der Höllenjunge ist
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der Ewige Jäger ein verwunschener junger Mann. Mit seinen gemeinen Bracken, die ihn mit immer blutigen Mäulern begleiten, findet er vor allem nachts nie Ruhe. Weil er mit seinen Hunden gejagt und somit nicht auf die Verwarnung seines im Sterben liegenden Vaters gehört hatte, verfluchte ihn dieser auf dem Sterbebett mit den Worten: „Jaeg dan voor eeuwig! voor eeuwig!“ [Jage dann auf immer! Auf immer!] (S[errure] C.P. 1841, 68; siehe auch Wolf 1843, 351 f.). Neben dem Ewigen Jäger hat de Gheldere noch ein weiteres markantes Sagenmotiv in die gut strukturierte Geschichte integriert. Es betrifft die Reise des Höllenjungen mit einer Teufelsschar nach Brügge. Dort ist ein kaltherziger reicher Mann gestorben und eingesargt worden. Die Teufel dringen in das Haus ein, rauben die Leiche aus dem Sarg und fliegen mit ihr in die Hölle. Der Leichenraub ist ein bekanntes Motiv im Sagencluster um die Freimaurer in Flandern (Roeck 1998, 352–354; Sinninghe 1943, 108 [„918. Teufel führt Sünder mit. 1. Leiche des Sünders“]), was wieder einmal bestätigt, dass de Gheldere seinen Höllenjungen mit Sachverstand verfasst hat, um die Handlungen des Teufels und die Gräuel der Hölle hervortreten zu lassen. So gelingt es dem Autor gut, den Leser darauf aufmerksam zu machen, dass sich etwas Spezielles ereignet. Als Vater und Sohn das Haus verlassen, ist es eine Nacht „so dunkel, so dunkel wie die Hölle“ (Strophe 10). Und was sie unterwegs erfahren, ist, als ob „die Zauberei der ganzen Hölle dort wäre“ (Strophe 17). All dies ruft eine besondere Atmosphäre hervor, die sich bei der Erscheinung des unbekannten Ritters noch verstärkt, der in einem Mantel gehüllt auf einem Pferde galoppiert, das rabenschwarz war und Augen habe, die „funkeln“. Aus seinen Hufen sprüht „loderndes Feuer“. Je näher Ritter und Pferd kommen, je mehr riecht es nach „Schwefel und Pech“. Alles sieht somit sehr bedrohlich aus, so dass der Dichter oft Elemente aus der religiösen Volkskultur als Faktor des Gleichgewichts in seine Geschichte aufnimmt. So bittet der Vater seine Frau, dem Jungen beim Abschied ihren Segen zu geben, der „von bösem Gesindel befreit“ (Strophe 9). Aber sie weigert sich mit den Worten: „Nie im Leben, denn er war mir ein Kreuz“. Als Vater und Sohn nachts unterwegs in den Wald allerhand hören und sehen, hat der Vater Angst und bittet seinen Sohn, sich zu bekreuzigen (Strophe 18). Dann beginnt der Vater das JohannesEvangelium zu beten. Und als der Ritter mit dem Sohn davon reitet, ersucht er den Vater „kein Wort mehr zu sagen von Abschied oder Kreuz, nach dem Brauche dieser Gegend“ (III). Auf eine suggestive Art und Weise kreiert der Dichter somit eine feindliche Atmosphäre zwischen Gut und Böse. Das Böse wird zum Schicksal des ungesegneten und verwunschenen Sohnes (V), der nach seinem höllischen Abenteuer der Höllenjunge genannt wird.
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Ist die Geschichte vom Höllenjungen eine Volkssage? Wie ich oben bereits erwähnt habe, ist Raf Seys der Meinung, dass diese literarische Sage in Versen eine Volkserzählung sei. Dies ist aber alles andere als selbstverständlich. Eine systematische Erforschung der Volkserzählungsliteratur aus der Zeit vor 1883 – das Jahr, in dem die Landlieder veröffentlicht wurden – hat nämlich zu keinen Ergebnissen geführt: bei Johann Wilhelm Wolf (1817–1855), Herausgeber der Zeitschrift Wodana (1843) (Peeters 1967, 33–40) und Autor der Niederländischen Sagen (1843) (Top 2006), der sieben Jahre in Flandern gelebt und gearbeitet hat, ist von einem Höllenjungen keine Spur zu finden; Kunst- en Letterblad (1840–1845), die Zeitschrift Ferdinand Augustijn Snellaerts (1809–1872), enthält 72 Sagen aus Flandern, aber keine einzige davon handelt von einem verfluchten Jungen, der von seinem Vater an den Teufel verdingt wird und drei Jahre als Höllenpförtner tätig ist; der Koekelarer Historiker Pieter Lansens (1801–1879) und dessen Sohn Theofiel Lansens (1832–1865) haben in Kunst- en Letterblad 4 (1843) passim sowie in der Zeitschrift für Deutsche Mythologie und Sittenkunde 3 (1855) 161–176 (Theofiel) zahlreiche Sagen aus der Koekelarer Gegend veröffentlicht, wobei jedoch der Höllenjunge aus Koekelare fehlt (Seys 2001); schließlich habe ich in volkskundlichen Zeitschriften des 19. Jahrhunderts, die inhaltlich erschlossen sind (Callewaert 1966, 207–239; De Wit 1967, 187–196; Vercruysse 1967, 160–190; Callewaert 1969, 317–335; Noels 1970, 126–156), keinen einzigen Hinweis auf die Existenz dieser Sage gefunden. All dies scheint zu ernsthaftem Zweifel an der volkskundlichen Authentizität dieser poetischen Erzählung zu berechtigen, allerdings ohne dass ich dabei deren Interesse schmälern will. Die Erzählung gleicht einigermaßen dem Märchen ATU 475 der Höllenheizer, das in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm als Nr. 14 (1815) und als Nr. 100 (1819) unter dem Titel Des Teufels ruβiger Bruder aufgenommen ist. Dieses episodenreiche Märchen fasst Hans-Jörg Uther folgendermaßen zusammen (Uther 2008, 228): (1) Aus freien Stücken akzeptiert ein Soldat aus Geldmangel das befristete (sieben Jahre) Arbeitsangebot des Teufels mit bestimmten Verpflichtungen. (2) In der Hölle muß er das Feuer unter den Kesseln, auch in Abwesenheit seines Auftraggebers, aufrechterhalten, darf dort nicht hineinsehen, sich nicht säubern, muß Haare und Bart wachsen lassen. (3) Trotz des Verbots blickt er aus Neugier in die Kessel, sieht dort ehemalige Vorgesetzte (in abgestufter Dienstgrad-Hierarchie) als Sünder büβen und legt Feuer nach. (4) Der Teufel entdeckt die Tabuverletzung, entlässt den Höllenheizer jedoch ohne Strafe, gibt ihm zum Dank einen Sack voll Müll mit, der sich in Gold verwandelt. (5) Ein Wirt gewährt dem finster Aussehenden Quartier, nachdem jener seinen Reichtum hat sehen lassen, und bestiehlt ihn danach. (6) Mit Hilfe des Teufels gewinnt der Soldat sein Eigentum zurück, erwirbt als Spielmann […] die Gunst des Königs, heiratet dessen Tochter und erhält das Königreich.
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Höllenwächter (de Gheldere) vs. Höllenheizer (ATU 475) Bei einem inhaltlichen Vergleich des Höllenwächters mit dem Höllenheizer sind einige Parallelen festzustellen: es handelt sich um einen Jungen bzw. einen jungen Mann, der für eine gewisse Periode und unter bestimmten Bedingungen von einem unbekannten Mann eingestellt wird, der sich hinterher als der Teufel herausstellt. Nach Ende der Dienstzeit wird der Junge – wie vereinbart – entlohnt. In viel mehr Punkten differieren die beiden Erzählungen jedoch, siehe Tabelle auf der nächsten Seite. Es ist deutlich, dass es sich hier um zwei unterschiedliche Erzählgattungen handelt. Die Erlebnisse des Höllenwächters entsprechen völlig den inhaltlichen und formalen Kriterien der Sage. Die folgenden Elemente bestätigen dies: die Stiefmutter hasst das Kind und weigert sich sogar, ihm beim Abschied ihren Segen zu geben; während der nächtlichen Wanderung in Regen und Wind sehen und hören Vater und Sohn allerlei böse Vorzeichen; bei der Begegnung mit einem unbekannten Mann auf einem schwarzen Pferd gibt es einen Geruch von Schwefel und Pech; der Verstoß gegen das Sprechverbot hat für den Jungen schwere körperliche Folgen; die Hölle ist ein beklemmender Ort mit viel Menschengekreisch und einem ekelhaften Schwefelgeruch (Grübel-Moser 1990, 1187); Luzifer zeigt sich als eine imponierende und strenge Figur; Teufel rauben den Leichnam eines reichen kaltherzigen Mannes aus dem Sarg; der Höllenjunge stirbt sehr jung, wie er es selbst vorhergesagt hatte. Die dramatis personae in dieser Geschichte, allen voran die böse Stiefmutter (Blaha-Peillex 2007, 1295) und die listigen Teufel, sind wirklich bedrohliche Figuren. Sie bestimmen in hohem Maße das elende Schicksal des Jungen. Pessimismus gehört zum Wesen dieses strophischen Gedichtes, mit einer dantesken Hölle als Schauplatz (vgl. mit Matth. 13, 42). Ganz anderer Art ist die Geschichte vom Höllenheizer (ATU 475). Nach Uther ist dieses Märchen aus dem 19. Jahrhundert in Europa verhältnismäßig gut bekannt und enthält zahlreiche Motive, die auch in anderen Märchen begegnen (Uther 2008, 228; ATU, S. 279; Uther 1990, 1191–1196). Obwohl dieses Märchen dem entlassenen Soldaten auf den ersten Blick keine Perspektive bietet, versetzt ihn die Begegnung mit dem Teufel in eine komfortable Lage. Als Höllenheizer kann er es drei ehemaligen Heerführern heimzahlen. Die sitzen nämlich in den Kochtöpfen über dem Feuer. Indem er gegen das Verbot, in die Töpfe zu schauen, verstößt, kann er jetzt den einen nach dem andern Missetäter bestrafen: er macht den Deckel wieder zu und sagt: „Aha, Vogel, […] treff ich dich hier? Du hast mich gehabt, jetzt hab ich dich“. So verlässt der Soldat lachend die Position des Unterlegenen, was zu einem komischen Effekt führt. Eine andere Überraschung ist, dass sich der Soldat am Ende der
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De Ghelderes literarische Sage Der Höllenwächter
Der Höllenheizer (KHM 14/1815; KHM 100/1819; ATU 475)
* Ein Koekelarer Junge wird von seiner Stiefmutter, die ihm ständig Vorwürfe macht, verprügelt
* Ein entlassener Soldat ohne Einkommen irrt umher
* Begegnung mit einem edlen Ritter auf einem schwarzen Pferd
* Begegnung mit einem kleinen Männchen
* Der Vater verhandelt und vermietet seinen Sohn dem Ritter, der sich hinterher als Luzifer herausstellt
* Der Soldat verhandelt mit dem Männchen, das sich hinterher als der Teufel herausstellt
* Dreijährige Dienstzeit
* Siebenjährige Dienstzeit
* Aufgabe: Höllenpförtner sein
* Aufgabe: das Feuer unter den Kesseln anschüren und das Haus sauber halten
* Verbot: mit jemandem sprechen
* Verbot: in die Kochtöpfe reinzuschauen
* nihil
* Verbot: Körperpflege
* Bei Verstoß: schwere Leibesstrafe
* Verstoß unbestraft, denn Feuer angeschürt
* Nennung der vielen Verdammten in * drei Heerführer in den Kochtöpfen der Hölle (vgl. mit Grübel-Moser 1990, identifiziert 1187 f.) * Beschreibung der Hölle
* fehlt
* Entlohnung nach der Dienstzeit und * Nach der Dienstzeit erhält der Soldat Rückkehr nach Hause; Der Junge ist einen Ranzen mit Müll, der sich ermattet, blass und ausgemergelt, er hinterher in einen Goldklumpen lacht nicht mehr und schweigt ein Jahr verwandelt lang * Ausführlicher Bericht über die Reiseerfahrungen in der Hölle
* fehlt
* Höllenjunge stirbt nach zwei Jahren, wie er prophezeit hatte
* Unterwegs Übernachtung in einer Herberge, wo ihm der Goldklumpen gestohlen wird * Rückkehr zum Teufel, der ihm hilft, den Schatz wieder in die Hände zu bekommen * Soldat heiratet des Königs jüngste Tochter * Beim Tod des Königs erbt er das ganze Reich
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Dienstzeit noch immer nicht waschen und kämmen darf und sich fortan präsentieren soll als „des Teufels ruβiger Bruder, und mein König auch“. Der mit Müll gefüllte Ranzen, die er zu seinem Ärger vom Teufel als Lohn erhält, stellt sich hinterher als ein Goldklumpen heraus. Der Aufenthalt in der Hölle wird dem Soldaten somit zum Glückstreffer. Das Ende der Geschichte bildet darüber hinaus einen absoluten Höhepunkt, denn der entlassene und zuvor mittellose Soldat heiratet die jüngste Prinzessin und wird sogar König. Dieses Märchen zeigt uns nicht nur einen ganz anderen Teufelstypus, sondern auch ein vollkommen anderes Bild von der Hölle. In Märchen ist der Teufel häufig „ein Kerl, mit dem man durchaus reden kann“ (Röhrich 21964, 20) oder „ein Wesen, das den Menschen auf der gleichen Ebene als Partner gegenübertritt“ (Röhrich 1979, 231). Oder anders formuliert: das Märchen „[zeigt] einen weitgehend vermenschlichten, entdämonisierten und entwirklichten Teufel“ (Röhrich 1976, 268), was offensichtlich auch für die Darstellung der Hölle gilt (Werner 2005). Merkwürdig ist, dass dieses Märchen des 19. Jahrhunderts in Flandern völlig fehlt (De Meyer 1921; De Meyer 1968; Sinninghe 1973; Sinninghe 1976), während es sich in Wallonien unter dem Titel Le Valet du Diable (Gittée und Lemoine 1891, 48–52; Laport 1932, 57–58) einmal nachweisen lässt. Dies stellt einen auffälligen Kontrast zur Sage vom Höllenjungen dar, von der in Flandern 15 Varianten aufgezeichnet wurden, und zwar in folgender geographischen Verbreitung: Ostflandern (Nr. 1, 2), Französisch-Flandern (Frankreich, Nr. 3), Westflandern (Nr. 4–14) und Limburg (Nr. 15). Diese Geschichten sind in sowohl veröffentlichten als auch unveröffentlichten Quellen aufgenommen worden, die ich im Nachfolgenden chronologisch nummeriere:
Der Höllenjunge in der mündlichen Überlieferung 1. Bij den duivel in dienst. In: Pol De Mont und Alfons De Cock, Vlaamsche volksvertelsels. Zutphen ²1927, 261–263 = Pol De Mont und Alfons De Cock, Dit zijn Vlaamsche vertelsels. Gent 1898. Unter dem gleichen Titel und bearbeitet in: Alfons De Cock, Vlaamsche sagen. Amsterdam 1921, 166 f. Aufgezeichnet bei einer 65–jährigen ungebildeten Frau aus Denderleeuw. 2. Poortier der hel. In: Alfons De Cock, idem, 167–168. Aufgezeichnet in Lede und Denderbelle. 3. De Portier van de Helle. In: Biekorf 28 (1922), 84–86, 107–113. Aufgezeichnet von M.d.l.c. [Frau de la Chapelle] beim Kaplan in Arnèke (Département du Nord, Frankreich. In dieser Gegend, la Flandre Française, sprach man damals einen Westflämischen Dialekt).
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4. Ko den duivel van Breninge. In: Biekorf 58 (1957), 297–302. Aufgezeichnet von A. Mahieu bei einer 74-jährigen Bauernmagd aus Dudzele. Ihr Großvater wohnte in Breninge = Bredene. 5. Duivelsportier van de hel is een jongen uit Koekelare. Top 2005, 189. Siehe auch www.volksverhalenbank.be: 11958. Von Jenny Aspeslagh 1958 aufgezeichnet bei einer 38-jährigen Frau aus Ostende. 6. Helleportier door duivelspakt. Anne Marie Devynck: Sagen weerszijden de schreve van Oost-Cappel tot Winnezele, van Beveren tot Watou. Nieuwpoort 1967, 168. Siehe auch www.volksverhalenbank.be: 15699. 1965 aufgezeichnet bei einem 77-jährigen Landarbeiter aus Beverenaan-de-IJzer. 7. Jongen, naar de hel verwenst, komt na drie jaar terug. Ibidem 169. Siehe auch www.volksverhalenbank.be: 15700. 1965 aufgezeichnet bei einem 80-jährigen Bauern aus Watou. 8. Hellejongen verdient veel geld dat ander geld doet branden. Top 2005, 201 f. Siehe auch www.volksverhalenbank.be: 18285. 1967 von Frans Van Houdenhove aufgezeichnet bei einem 79-jährigen Landarbeiter aus Tiegem. 9. Hellejongen wordt door zijn vader voor drie jaar aan de duivel verkocht. Top 2005, 190. Siehe auch www.volksverhalenbank.be: 17581. 1970 von Willy Van Houcke bei einem 89-jährigen Anstreicher aus Koekelare aufgezeichnet. 10. De hellejongen door zijn vader voor een jaar aan de duivel verkocht. In: Willy Van Houcke, Onderzoek naar de sagenmotieven in het hartje van het Houtland. Leuven, unveröff. Diplomarbeit, 1970, 295–296. 1970 bei einem 78-jährigen Ehepaar aus Koekelare aufgezeichnet. Siehe auch www.volksverhalenbank.be: 17582. 11. De hellejongen door zijn vader als helleportier van de duivel verkocht. Ibidem 296. 1970 bei einer 83-jährigen Ladenbesitzerin aus Werken aufgezeichnet. Siehe auch www.volksverhalenbank.be: 17583. 12. De hellejongen verhuurt zich voor een jaar aan de duivel. Ibidem 297. 1970 bei einer 79-jährigen Hausfrau aus Koekelare aufgezeichnet. Siehe auch www.volksverhalenbank.be: 17584. 13. De hellejongen door zijn stiefmoeder aan de duivel verkocht. Ibidem 297. 1970 bei einer 83-jährigen Modistin aus Koekelare aufgezeichnet. Siehe auch www.volksverhalenbank.be: 17585. 14. Hellejongen. Ibidem 297. 1970 bei einer 80-jährigen Hausfrau aus Koekelare aufgezeichnet. Siehe auch www.volksverhalenbank.be: 17586. 15. Verhuurd aan de duivel. In: Piet Knabben, Resultaten van het sagenonderzoek in het zuidelijke deel van de Belgisch-Limburgse Maasvallei. Leuven, unveröff. Diplomarbeit, 1970, 281 f. 1970 bei einem 86jährigen Arbeiter aus Opgrimbie aufgezeichnet. Siehe auch www.volksverhalenbank.be: 6647.
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Die geographische Verbreitung der Varianten macht eines sehr deutlich: die Sage vom Höllenwächter wurde elfmal in Westflandern und darüber hinaus auch einmal im benachbarten Französisch-Flandern (Département du Nord) aufgezeichnet, und davon fünfmal in Koekelare (Nr. 9, 10, 12–14) und einmal in Werken (Nr. 11), einem Dorf in der unmittelbaren Nähe von Koekelare, registriert. Es besteht somit kein Zweifel daran, dass die literarische Sage K. de Ghelderes narrative Geschichte gemacht hat. Wie dies genau geschehen ist, ist schwer zu bestimmen. Ich bin allerdings sicher, dass der Schulunterricht in diesem Prozess eine wichtige Rolle gespielt hat. Den Beweis liefern die Koekelarer Erzähler der Variante Nr. 10, die lange Textstücke wörtlich wiedergegeben haben. Es betrifft Zitate aus den Strophen 1–3, 7–8, 10–12, 21 sowie aus Teil V. Der Frage, inwieweit die mündliche Überlieferung von de Ghelderes Gedicht beeinflusst wurde, gehe ich im Folgenden nach, indem ich die 15 Varianten, die sich qualitativ ziemlich stark voneinander unterscheiden, einer ausführlichen inhaltlichen Analyse unterziehe. Dies geschieht an Hand von sechs Themen: 1. Der Zustand zu Hause; 2. Die Begegnung mit einem unbekannten Herrn (Teufel); 3. Vertrag; 4. Bedauern (Zaudern); 5. Wieder zu Hause: die Geschichte des Jungen; 6. Wirkung der Geschichte: Rechtsfall. 1. Der Zustand zu Hause Ein Witwer mit einem Sohn verheiratet sich wieder. Die Stiefmutter kann den Sohn nicht ausstehen. Um das Problem zu lösen, ist der Vater dazu bereit, den Sohn sogar an den Teufel zu verdingen/zu verkaufen (Nr. 1, 5, 9, 10, 12, 13, 14). Ein Vater hat einen erzfaulen Sohn, der zu nichts taugt und den er sich vom Halse schaffen will (Nr. 3, 12, 15). Eine Mutter hat Probleme mit ihrem Sohn und verspricht ihn dem Teufel (Nr. 7). Ein arbeitsloser Vater hat kein Essen für seinen Sohn und will ihn sogar an den Teufel verdingen (Nr. 11). Ein (Waisen)junge ist arbeitslos geworden und will sich sogar vom Teufel einstellen lassen (Nr. 2, 4, 6, 8). Die zentrale Figur ist deutlich der Sohn/ein Junge, der auf Grund seiner Charaktereigenschaften ein Problem zwischen seinem Vater und seiner Stiefmutter verursacht, was zu einer Konfliktsituation führt: er soll weg. Der Junge kann aber auch ein finanzielles Problem haben, für das er eine Lösung will. Ohnehin ist die Lage des Jungen in allen Erzählungen prekär, so dass er dem Teufel kurzfristig in die Hände fällt. Nur in den Texten Nr. 3 und 4 hat der Junge einen konkreten Namen, nämlich Ko.
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Die Geschichte Nr. 14 erwähnt, dass der Junge später Höllenjunge oder Piet van de Hel [Peter von der Hölle] (Nr. 6) genannt wird. Unterschiedliche geographische Angaben finden sich in den Sagen: Arnèke (Nr. 3), Niepkerke (Nieppe) (Nr. 3), Wijnendale (Nr. 5, 10), Hazebrouck (Nr. 7), Brugge (Nr. 9), Torhout (Nr. 10) und Koekelare (Nr. 9, 10, 14). Dieser letzte Ort, zweimal erwähnt als der Berg von Koekelare (Nr. 9, 10), ist ein deutlicher Hinweis auf das Gedicht, genauso wie die prominente Anwesenheit der Stiefmutter (achtmal) in der Ausgangssituation. 2. Begegnung mit einem unbekannten Herrn (Teufel) Die unhaltbare Lage der Hauptfigur, des Jungen, verursacht ein motorisches Moment: entweder macht sich der Vater mit dem Sohn auf den Weg (Nr. 1, 3, 5, 9, 10, 11, 15) oder aber der Junge reißt alleine von zu Hause aus (Nr. 2, 4, 8, 12). Ein unbekannter Herr kann jedoch auch zu Hause vorbeikommen (Nr. 6, 7, 13). Die Begegnung abends (Nr. 9) oder nachts (Nr. 8, 10) findet an einer Kreuzung (Nr. 1), an der Tür einer Herberge (Nr. 3), in einem Wald (Nr. 12), im Wijnendaler Wald (Nr. 5, 10), in einem Hohlweg (Nr. 15) oder zu Hause (Nr. 6, 7, 13) statt. Der Herr ist meistens eine auffällige Figur: ein schlanker Herr mit pechschwarzen Haaren und in Schwarz gekleidet in einer schwarzen Kutsche (Nr. 1); ein reich bekleideter Herr (Nr. 2); ein schöner Reiter mit feurigen Augen (Nr. 3); ein Herr in einer Kutsche (Nr. 4, 15) oder auf einem Pferd (Nr. 5, 10); in Schwarz gekleidet (Nr. 7) und auf einem Pferd (Nr. 13); ein Herr mit feurigen Augen auf einem Pferd (Nr. 9). Der Teufel wird deutlich mit der Farbe Schwarz und mit Reichtum verbunden; er reist meistens zu Pferd oder in einer Kutsche. Auch hier finden sich zahlreiche Reminiszenzen an die literarische Sage. Eine Neuigkeit ist wohl, dass der Herr den Jungen bittet, seinen Fuß auf den des Herrn zu stellen. Er macht das und wird dadurch sofort an den anderen Ort versetzt [der Teufel als Zauberer].( Nr. 8). 3. Vertrag Die zufälligen Umstände der nächtlichen Begegnung erlauben keine langen Verhandlungen. Deshalb wird der Vertrag meistens schnell und mündlich ausgehandelt. Ausnahmsweise wird ein Vertrag unterschrieben: Nr. 3, 4, 6. Der Vertrag beinhaltet: ein wenig Geld (Nr. 9) und Verpflegung (Nr. 1); einen guten Preis (Nr. 5). Die Vertragsdauer ist unterschiedlich, aber immer in der Zeit beschränkt: drei Monate Probezeit (Nr. 8), ein Jahr (Nr. 2, 10, 12, 15), drei Jahre (Nr. 1, 9), fünf Jahre (Nr. 4), sieben Jahre (Nr. 3, 6).
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Nach der Dienstzeit bringt der Teufel den Jungen zurück an den Ausgangsort (Nr. 15), am gleichen Tag, zur selben Stunde und an denselben Ort (Nr. 2, 10). Eine Auffälligkeit ist, dass der Junge mit einem Vertrag eingestellt wird. Der Inhalt und die Bedingungen des Vertrages sind jedoch ziemlich unterschiedlich. So erwähnen die Varianten Nr. 10 und 11, dass der Junge verdingt wird, um Höllenpförtner zu werden. In der Sage Nr. 5 darf sich der Vater weder von seinem Sohn verabschieden, noch ihm seinen Segen geben, wie es in der Gegend Brauch ist (III). 4. Bedauern (Zaudern) Als der Ritter mit dem Jungen davongefahren ist, macht sich der Vater Sorgen. Wer war der Herr, der nicht einmal aus der Kutsche gestiegen ist? Aber es ist zu spät (Nr. 15). In der Geschichte Nr. 1 bedauert es der Vater unmittelbar, dass er nicht nach dem Namen des Herrn gefragt hat. In großer Sorge geht er sofort zum Pfarrer und erzählt ihm alles. Der Pfarrer rät ihm, in drei Jahren am gleichen Tage an dieselbe Kreuzung zu gehen, wo er seinen Sohn wieder sehen werde. Der Bauer Klaas fühlt sich schuldig, dass er den Vertrag so leichtsinnig unterschrieben hat. Er fürchtet, dass sein Sohn Ko dem Teufel in die Hände geraten ist. Er beschwert sich zunächst beim Ortspolizisten und dann vor Gericht in Hazebrouck, aber umsonst (Nr. 3). In drei Geschichten macht sich der Vater nach dem Abschied Sorgen um die Zukunft seines Sohnes. Dieses Motiv kommt bei de Gheldere nicht vor; es ist ein Novum. 5. Wieder zu Hause: die Geschichte des Jungen Als der Vertrag zu Ende ist, kehrt der Junge in den Volkssagen frisch und munter nach Hause zurück. Zum Beweis dafür, dass er dem Teufel gedient hat, zeigt er „einen schwarz verrauchten und angekohlten Stock“ (Nr. 1). Nach einer langen Zeit des Schweigens (Nr. 9) erzählt der Höllenwächter seine Geschichte: er sei während der ganzen Zeit Höllenpförtner gewesen und habe viele Leute in die Hölle kommen, sie diese jedoch nicht verlassen sehen, wie: Minister, Anwälte, Ärzte, Notare, Brauer, Schnapsbrenner, Apotheker, Pfarrer, Frömmler und Frömmlerinnen (Nr. 1, 5, 6, 10, 11, 13) und Herrn Kempe (Nr. 7) (siehe dazu weiter unten). Alles reiche Leute. Aber auch viele Bekannte (Nr. 2), einen Onkel, eine Tante, einen Nachbarn (Nr. 12) und jemand aus Torhout. Dieser Mann habe einen Stock unter seinen Sessel gelegt, der zum Teil verbrannt sei (Nr. 10). Auch seine Taufpatin, eine arme Frau, habe er in die Hölle hereingelassen (Nr. 9) und er habe sie gefragt, weshalb sie gekommen, sei
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(Nr. 5, 10). Weil er mit ihr gesprochen habe, habe ihn der Teufel verprügelt (Nr. 5). Eines Tages sei er auch nach Brügge zu den Freimaurern mitgegangen (Nr. 5), um einen Mann zu holen, der sterben müsse (Nr. 9) (Roeck 1998, 312–318). Einen originellen Bericht gibt Ko (Nr. 3), der nach sieben Jahren an einem Sonntag im Hochamt in der Kirche zu Arnèke auftaucht und anschließend heimlich nach Hause geht, wo er ausführlich seine Erlebnisse erzählt: der Reiter habe ihn an eine Lichtung im Niepkerker Wald geführt. Dort habe er Ko in einen „schwarzdunkeln“ Gang geführt, an dessen Ende Feuer gelodert habe (= Hölle). Dort sei er sieben Jahre Pförtner gewesen. Nach sieben Jahre habe Ko „aus dieser immer gleichen Hitze und dem ständigen Wimmern“ weg gewollt. Der Satan habe sich jedoch geweigert, ihn gehen zu lassen. Ko solle dort bis zu seinem Tode bleiben. Sodann habe Ko mit dem Teufel gekämpft, um seine Freiheit zu erringen. Plötzlich sei eine Frau in Weiß erschienen. Es sei Unsere Liebe Frau gewesen „zu der täglich ein Ave-Maria zu beten ich nie unterlassen hatte“, und diese habe ihn hinaus geführt (Sinninghe 1943, 106 [„863. Der Teufelsvertrag zurückgegeben. Sünder wird von Heiligen geschützt, weil er sein tägliches Gebet nicht unterließ“]). Unsere Liebe Frau habe Ko gebeten, Gott zu danken „und fortan als ein guter Christ zu leben“. Ko habe dann den Wald verlassen und sei ins Hochamt zu Arnèke gegangen. Hinter her wurde Ko „zum Vorbild der Gemeinde“. In zwei Varianten gibt es Probleme um das verdiente Geld. Was der Junge erhalten hat, „war in seinem Land nicht verwendbar“ (Nr. 1). In der Sage Nr. 8 nimmt die Mutter das verdiente Geld entgegen und wirft es in die Schublade zu den anderen Geldscheinen, die sich jedoch augenblicklich entzünden. Dies beunruhigt die Mutter, die zum Pfarrer geht, um alles zu erzählen. Der Pfarrer lädt sodann den Sohn ein, um Mitternacht zu ihm zu kommen. Der Junge geht in die Kirche, zum Pfarrer. Während er beichtet, betritt der Herr vom Vertrag die Kirche und fordert, dass der Junge seine Arbeit fortsetzt. Der Pfarrer verlässt den Beichtstuhl und sagt: „Mein Herr, was der Junge Ihnen gegeben hat, geben Sie es ihm zurück; und was Sie gegeben haben, bekommen Sie auch wieder“ und er besprengt ihn mit Weihwasser. Darauf verlässt der Herr mit viel Lärm die Kirche (Nr. 8) (Sinninghe 1943, 108 [„907. Teufelsgeld: Teufel gibt unbekanntes Geld oder Geld, das in der Hand brennt“]). In den meisten Varianten glauben die Eltern ihrem zurückgekehrten Sohn aufs Wort. In Variante Nr. 15 jedoch zweifeln sie an der Wahrheit dessen, was er ihnen erzählt. Darauf reagiert der Sohn folgendermaßen: „Der und der und der und der sind die dieses Jahr nicht gestorben?“ Die Eltern bestätigen, und der Sohn sagt: „Nun, die habe ich in die Hölle
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hereinlassen müssen“. Und es handelte sich um vier Einwohner des Dorfes (vgl. ATU 1540: Student aus dem Paradies). Die erfrischenden Details im Bericht des Höllenjungen sind wie die Rosinen im Kuchen und enthalten viele Reminiszenzen an die Sage Karel de Ghelderes. 6. Wirkung der Erzählung Wie zu erwarten, erregt der Bericht des Jungen viel Aufmerksamkeit und löst manchmal starke Reaktionen aus. In der ersten Variante glaubt ihm niemand. Aber während eines Kegelspiels kommt es zum Wortstreit zwischen dem Höllenjungen und einem anderen Spieler, den der Höllenjunge zum Schweigen bringt, indem er sagt, er habe seinen Onkel in die Hölle hereingelassen, und zwar „am 2. Mai des vorigen Jahres“. Die Gegenseite fordert den Jungen vor Gericht, aber der Richter spricht ihn frei. Die Erzählerin fügt selbst hinzu: „Und das hat sich wirklich so zugetragen, denn der Herr meiner Großmutter hat bei dem Kegelspiel mitgespielt und musste als Zeuge erscheinen. Ich habe es von meiner Großmutter wohl hundert Mal erzählen hören“ (S. 263). In der Sage Nr. 7 erzählt der Junge, er habe Herrn Kempe das Höllentor geöffnet, was zu einem Rechtsfall führt. Wie dieser ausgeht, wird nicht erwähnt. Wohl hat er davon seinen Namen „Höllenkerl“ zurückbehalten. Zu dem Herrn Kempe gibt M.d.l.C. in einer Erläuterung (S. 111–113) weitere Informationen: jedermann habe diese Geschichte in all ihren Einzelheiten gekannt, und weil der Junge auch erzählt habe, er habe einen reichen Geizhals aus Arnèke in der Hölle wieder erkannt, nämlich Herrn Van Kempen, hätten dessen Angehörige den Jungen wegen Rufmord vor Gericht gestellt. Aber es kursierten noch andere Gerüchte über den bewussten Herrn, über sein Haus in Hazebrouck sowie über seine Verwandten. Die mündliche Überlieferung enthält somit viele interessante Einzelheiten im Hinblick auf die Zuverlässigkeit des Höllenjungen und seiner „gefährlichen Reiseabenteuer“ (Strophe 28). Manchmal wird auch hervorgehoben, dass die Geschichte vom Höllenjungen zu einer wahren Volkserzählung geworden sei. So behauptet der Erzähler der Geschichte Nr. 5: „Ich habe das wohl hundert Mal von meiner Mutter gehört“, was dem Kommentar zu Geschichte Nr. 1 entspricht.
Zusammenfassung 1. Es steht außer Zweifel, dass Karel de Gheldere mit seiner Legende van den Hellejongen, einer literarischen Sage in Gedichtform, sehr erfolgreich gewesen ist. Diese mitreißende Geschichte, der dem Autor zu-
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folge aus den 1820er Jahren stammt, spielt in Koekelare. Sie handelt von einem faulen Jungen, dem seine Stiefmutter ständig Vorwürfe macht, den sie verprügelt und verflucht, und der durch Zutun seines Vaters dem Teufel in die Hände gelangt. Während seiner dreijährigen Dienstzeit als Höllenwächter sieht und erlebt der Junge viel. Bei seiner Rückkehr berichtet er ausführlich darüber, was ihm den Namen Höllenjunge einbringt. Fünfzehn Jahre nach der Veröffentlichung im Jahre 1883 haben Pol De Mont und Alfons De Cock 1898 in der ostflämischen Gemeinde Denderleeuw, an der Grenze nach FlämischBrabant, eine erste Variante aufgezeichnet. Aus der Quellenforschung hat sich ergeben, dass die Geschichte dem schöpferischen Geist eines Dichters entsprossen sein muss, der aus verschiedenen Sagenmotiven und Elementen religiöser Volkskultur geschöpft hat, um sein strophisches Gedicht volkskundlich auszuschmücken. Die 15 Varianten aus der mündlichen Überlieferung (1898–1970) enthalten allgemein nicht nur die Hauptlinien von de Ghelderes Geschichte; sie bringen auch viele Einzelheiten, u. a. in Bezug auf die prekäre Familiensituation des Jungen, den langjährigen Aufenthalt in der Hölle als deren Pförtner, die Rückkehr des Jungen sowie dessen Bericht. Der Höllenjunge ist somit zum Gegenstand einer wirklichen mündlichen Tradition geworden, die sich vor allem in der Provinz Westflandern, und zwar in Koekelare und Umgebung, konzentriert, wo sich auch die Geschehnisse abgespielt haben sollen. Zwei Varianten fallen dabei besonders auf. Die Geschichte Nr. 3 spielt in Arnèke (Französisch-Flandern) zu Beginn des „andern“ Jahrhunderts [= 19. Jht.] (vgl. mit de Gheldere). Bauer Klaas hat einen Sohn Ko, ein richtiger Taugenichts und Erzfaulenzer. Ein schöner Reiter ist dazu bereit, Ko für eine gewisse Zeit zu sich zu nehmen. Mit Hilfe Unserer Lieben Frau gelingt es Ko jedoch, aus der Hölle zu entkommen und nach Hause zurückzukehren. Täglich hatte er in der Hölle zu Unserer Lieben Frau gebetet. Dass diese Teufelssage ins Legendenhafte übergeht, ist sicherlich kein Zufall, da es der Kaplan von Arnèke war, der Frau de la Chapelle diese Geschichte erzählt hat. Ihrerseits hat auch diese Geschichte wohl eine einigermaßen eigene Auswirkung gehabt, denn in Geschichte Nr. 4 heißt der Junge ebenfalls Ko. Aber die mündliche Überlieferung reproduziert nicht nur, sie bereichert auch, indem sie neue Elemente einbringt, wie die Rettung des Jungen durch Unsere Liebe Frau (Nr. 3) und unterschiedliche Äußerungen der Sorge des Vaters (Nr. 1, 3, 15) oder der Mutter (Nr. 8). In zwei Fällen löst der Pfarrer mit Erfolg das Problem des in Dienst ge-
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gebenen Jungen (Nr. 1, 8). Andrerseits sieht Bauer Klaas ein, dass er leichtsinnig gehandelt hat. Er hofft umsonst auf Hilfe von Seiten des Ortspolizisten oder des Gerichts zu Hazebrouck. In Variante Nr. 15 sieht der Vater ebenfalls zu spät ein, dass er einen Fehler begangen hat. Die Motive vom Teufel als Zauberer – indem der Junge seinen Fuß auf den des Teufels stellt, können sich beide schnell fortbewegen, der Teufel entmachtet durch Weihwasser (Nr. 8) – und die Tatsache, dass der Bericht des Jungen zu einigen konkreten Rechtsfällen führt, lassen die Kreativität der mündlichen Überlieferung deutlich hervortreten. 6. Alles in Allem veranschaulicht die Geschichte vom Höllenjungen sehr schön die Problematik des Verhältnisses zwischen schriftlicher und mündlicher Überlieferung (Stalpaert 1969, 127 f.). Unzweifelhaft wurde das Gedicht von K. de Gheldere zur Grundlage einer schönen literarischen Sage, die sich im Laufe fast eines Jahrhunderts zu einer richtigen Volkserzählung entwickelt hat. Variante Nr. 10 enthält mehrere Textstellen, die unmittelbar von de Ghelderes stammen, was zu der Annahme berechtigt, die Legende van den Hellejongen müsse in Koekelare und Umgebung, wo die beiden Erzähler wohnten, in der Grundschule auf dem Lehrprogramm gestanden haben. Es ist nicht auszuschließen, dass bei der Folklorisierung des Höllenjungen auch populäre Lesehefte eine Rolle gespielt haben. Aber diese Hypothese bedarf noch der weiteren Forschung.
Literaturverzeichnis Blaha-Peillex, Isabel: Stiefmutter, Stiefkinder. In: Enzyklopädie des Märchens. Bd. 12. Berlin/New York 2007, 1294–1298. Callewaert, Dirk: Biekorf 1890–1960. Antwerpen 1969 (Nederlandse Volkskundige Bibliografie, 8). Callewaert, Dirk: Rond den Heerd 1865–1902. Antwerpen 1966 (Nederlandse Volkskundige Bibliografie, 3). Cock, Alfons de: Vlaamsche sagen. Amsterdam 1921. Devynck, Anne Marie: Sagen weerszijden de schreve van Oost-Cappel tot Winnezele, van Beveren tot Watou. Nieuwpoort 1968. Gheldere, Karel de, Landliederen. Brugge 1883. Gittée, Auguste/Lemoine, Jules: Contes populaires au pays wallon. Gand 1891. Grübel, Isabel und Dietz-Rüdiger Moser: Hölle. In: Enzyklopädie des Märchens. Bd. 6. Berlin/New York 1990, 1178–1191. Houcke, Willy van: Onderzoek naar de sagenmotieven in het hartje van het Houtland. Leuven, unveröffentl. Diplomarbeit, 1970. Knabben, Piet: Resultaten van het sagen onderzoek in het zuidelijke deel van de Belgisch-Limburgse Maasvallei. Leuven, unveröffentl. Diplomarbeit, 1970.
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Kaiser Karl V. in der flämischen Erzählkultur Einführung In meiner Kinderzeit kursierte auf Familienfesten folgende Kaiser Karl V. gewidmete Anekdote: Mein Großvater stellte uns Kindern immer die folgende Frage: „Was geschah im Jahre 1500 in Gent?“ Und wir antworteten im Chor: „Da wurde Kaiser Karl V. geboren.“ „Ja, und was war im Jahre 1512?“ Da wir uns dann doch nicht so gut in der Weltgeschichte auskannten, blieben wir ihm diese Antwort schuldig. Da sagte er: „Da empfing er die heilige Kommunion“. Kaiser Karl V. (1500–1558) lebt wie – die kleine Anekdote illustriert – in Flandern in der populären Tradition weiter. Er taucht als populäre Kristallisationsgestalt in Kinderrätseln und -reimen auf, in Schlafliedchen und Schnellsprechversen, in ätiologischen Geschichten, Legenden und Sagen sowie in Märchen und Schwänken. So gut wie alle Volkserzählungen um ihn sind aus internationalem Motivgut gespeist, das von einer historischen Persönlichkeit auf eine andere übertragbar ist. Sogar glaubwürdig erscheinende Bonmots, die Kaiser Karl V. in den Mund gelegt wurden, werden in anderen Erzählrepertoires von anderen berühmten Kaisern ausgesprochen, sind also internationales Gemeingut. Ähnlich wie er waren solche Kristallisationsgestalten u. a. Johann ohne Land (England und Amerika), Matthias Corvinus (Ungarn), Peter der Große (Russland), Friedrich der Große (Norddeutschland), und Joseph II. (Österreich-Ungarn).
Die junge Nation Belgien und die Flämische Bewegung Die junge Nation Belgien war seit ihrer Gründung (1830) zur Schärfung ihres Selbstwertgefühls und zur Rekonstruierung ihrer vaterländischen Geschichte auf der Suche nach großen Helden aus der „goldenen“ Vergangenheit. Das Bild des historischen Kaiser Karl V. war im kollektiven Gedächtnis im Großen und Ganzen positiv besetzt (Decavele 2000, 67). Er fungierte vor allem als Kontrastfigur zu seinem Sohn Philipp II. und dessen
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Amtszeit: Als König von Spanien betrieb dieser gemeinsam mit dem Statthalter Alba in den bis 1560 überwiegend in Calvins Sinne reformierten Provinzen der „Spanischen Niederlande“ eine brutale Rekatholisierungspolitik. Die versuchte Gegenreformation provozierte eine zunächst religiös motivierte, dann aber auch nach staatlicher Unabhängigkeit strebende Widerstandsbewegung. Im Westfälischen Frieden von 1648 wurde die Autonomie der „Sieben Vereinigten Niederlande“ anerkannt, die allerdings nur die Nördlichen Niederlande umfasste, während im Süden der spanischkatholische Einfluss zu stark blieb, als dass sich Flandern dem neuen Staat hätte anschließen können. Es verfiel durch die holländische Sperrung der Schelde (1585) in einen Zustand wirtschaftlicher Erschöpfung. Politisch und kulturell verödete Flandern durch die Abwanderung führender Kreise (Künstler, Schriftgelehrte und ein Großteil der Kaufmannschaft) in Richtung auf die Nördlichen Niederlande, die zeitweise durch diesen positiven Zustrom ein „Goldenes Zeitalter“ erleben sollten. In Flandern blieben nur die einfachen bodenständigen Volksgruppen zurück, die als Kulturträger nicht in Betracht kamen. Wo sich einst das Zentrum der niederländischen Kultur- und Wirtschaftsblüte befunden hatte, in Brügge, Gent und Antwerpen, rückte eine neue französisch sprechende Elite ein, um das durch den Exodus entstandene Desiderat zu beseitigen. Schon in den ersten Jahren der belgischen Unabhängigkeit (1830) führte die „Flämische Bewegung“ einen Kampf um die Anerkennung des Flämischen als vollwertiger Sprache neben dem Französischen als der Sprache des öffentlichen Lebens und der Kultur und ihrer Bevorzugung in den flämischen Provinzen. Führende Schriftsteller, Journalisten, Bibliothekare, Archivare und Wissenschaftler gelangten über ihr politischkulturelles Engagement für die Flämische Bewegung zur Volkskunde. Sie initiierten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine ungeheure Sammelwelle in Flandern, dies bis 1930 anhalten sollte. Die Sammler wollten den breiteren Bevölkerungsschichten leicht verständliche Lesestoffe in der Volkssprache vermitteln; ihre Ausgaben sollten den Weg in die flämische Stube finden und als Hilfsmittel im Bewusstwerdungsprozess der eigenen kulturellen Identität fungieren.
De Heerelycke ende Vrolycke Daeden van Keyser Carel den V. Die junge Nation entdeckte Kaiser Karl V. neu und schürte durch historiographische und anekdotische Texte in der Schule und in mündlicher Erzählung die Erinnerung an ihren großen Kaiser und an scheinbar
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glücklichere Zeiten. Die meisten Kaiser Karl V.-Geschichten wurden also zu jener Zeit aufgezeichnet oder erneut über volkskundliche und literarische Publikationsorgane in Umlauf gebracht. Denn schon im 17. Jahrhundert war im Zuge der Gegenreformation De Heerelycke ende Vrolycke Daeden van Keyser Carel den V. (1674) erschienen, ein Buch, das einen doppelten Zweck erfüllte. Es präsentierte sich einerseits als ein Fürstenspiegel, der dem „christlichen Achilles“ Kaiser Karl V. – gottesfürchtig und friedensliebend – gewidmet war und den Monarchen aus der eigenen Zeit (vor allem Ludwig XIV.) ein Vorbild sein sollte (Verberckmoes 1998, 138). Andererseits war es als eine anekdotische Biographie und Sammlung von Bonmots konzipiert, die den Kaiser als populäre Gestalt in Verbindung mit dem „einfachen Volk“ darstellte und ihn als schlagfertig, gerecht, freigebig und leutselig charakterisierte. Die Sammlung kann als ein typisches Produkt des 17. Jahrhunderts mit seiner Vorliebe für das Didaktisch-Unterhaltsame und alles Anekdotische überhaupt bezeichnet werden: In den einschlägigen, meist aus Tausenden von Nummern bestehenden Sammlungen wie den Apophthegmata von Zincgref-Weidner oder etwa den Eutrapeliae Philologico-Historico-Ethico-Politico-Theologicae des Samuel Gerlach u. a. kamen alle mehr oder minder berühmten Persönlichkeiten von den weisen Herrschern und Philosophen der Antike bis zur zeitgenössischen Prominenz aus Adel, Klerus und Wissenschaft mit klugen Aussprüchen und Taten zu Wort. Dass dabei den Monarchen, in denen sich Macht und Weisheit zu vereinen schienen, besondere Aufmerksamkeit zufiel ist verständlich. Es waren aber doch nur einige, die über die literarische Verherrlichung hinaus zu echter Popularität gelangten, was sich gemeinhin in Anekdoten von unmittelbaren Begegnungen des Herrschers mit einfachen Menschen spiegelt. (…) Für Sammler und Kompilatoren des 17. Jahrhundert waren vor allem die großen Habsburger Maximilian I., Sigismund I. und Karl V. aktuell (Moser-Rath 1968, 236 f.).
Die spätere Ausgabe von Zincgref/Weidner aus dem Jahre 1653 wurde 1669 teilweise ins Niederländische übersetzt und bildet neben den vielen Chroniken ein wichtiges Quellenwerk für De Heerelycke ende Vrolycke Daeden van Keyser Carel den V. (cf. Lox 1999). Die Situierung dieser Sammlung in einen europäischen Überlieferungskontext, in dem pointierte Anekdoten von einem Herrscher auf einen anderen übertragen wurden, wurde im 19. Jahrhundert wohl gänzlich unterdrückt. Sollte doch der Kaiser als Held des flämischen Volkes profiliert werden, auch wenn sich – wie sich jeweils an der schriftlichen Überlieferungsgeschichte der einzelnen aufgenommenen Anekdoten leicht nachweisen lässt – mehrere Herrscherpersönlichkeiten die gleichen spitzfindigen Antworten einfielen ließen. So soll Kaiser Karl V. – um nur ein
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klassisches Beispiel aus der Sammlung herauszugreifen – in der Anekdote Negenmanneke (Grieck 1675, 117 f.), einen Bettler, der sich – auf die gemeinsamen Stammeltern zurückgreifend – des Kaisers Bruder nennt in der Hoffnung, ein großes Almosen zu bekommen, eben mit einem Negenmanneke (eine Münze geringeren Wertes) abgespeist und ihn zudem auf seine vielen Brüder verwiesen haben (Mot. J 1337). Je nach Quelle sollen auch König Philipp II. (1165–1223) von Frankreich, Kaiser Friedrich III., Kaiser Maximilian I., Kaiser Rudolf I. eine ähnliche Begegnung auf ähnliche Weise behandelt haben (Moser-Rath 1968, 233–235). Von Kaiser Karl V. wird u. a. noch erzählt, dass er manchmal fünfzehn Stunden ununterbrochen zu Pferde saß und sich in der Schlacht als charismatischer Held furchtlos in die vordersten Linien begeben hätte und alle Warnungen seiner Umgebung mit der rhetorischen Frage in den Wind schlug, wann ein Kaiser schon mal von einem Geschütz getroffen worden wäre? (Meulders 1917, 12). In deutschen Schwanksammlungen des 17. Jahrhunderts wird diese Bemerkung wechselweise Kaiser Karl V. und Ludwig XII. von Frankreich in den Mund gelegt (MoserRath 1968, 238). Die wohl berühmteste Anekdote aus der Sammlung De Heerelycke ende Vrolycke Daeden van Keyser Carel den V. berichtet von einer nächtlichen Begegnung zwischen dem Kaiser, der 1540 mit zwei Gesellen von Gent nach Brüssel unterwegs war und sich im Dunkeln in der Nähe von SintAgatha-Berchem nicht zurechtfand, und einem höchst unwilligen Bauern, der ihm mit der Laterne den Weg leuchten sollte. Letzterer, betrunken, fühlte den Druck seiner vollen Blase und soll den Kaiser selber darum gebeten haben, die Laterne so lange zu halten, bis er seine kleine Notdurft verrichtet hatte. Dieser Bericht findet sich so erstmals in der Nieuwe Chronycke van Brabant aus dem Jahre 1565 (Eeghem 1941, 579–585) und dieser Überlieferung folgten spätere Chronikautoren wie etwa Jan Van den Vivere. In Reiseberichten wird dieser Vorfall gerne erwähnt, so etwa in einem Bericht vom Danziger Abraham Gölnitz (1631) oder in einem holländischen Bericht aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts, in dem ein anonymer Reisender die Sagen, die er während seiner Reise nach Antwerpen, Mechelen, Leuven, Brüssel und Gent hörte, aufgeschrieben hat (Foncke 1937/1938, 15). Auch Zincgref/Weidner nahmen diese Begebenheit auf, die sich bei ihnen allerdings auf dem Weg nach Gent vorgetragen haben soll. Es liegt auf der Hand, weshalb dieser Eingriff vorgenommen wurde. Gent ließ sich als Stadt viel leichter und glaubwürdiger mit dem großen Kaiser verknüpfen als ein kurioses Brabanter Dorf, da er schließlich dort geboren wurde. Alte Aushängeschilder hielten bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die Erinnerung an diese eine Anekdote wach.
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De Heerelycke ende Vrolycke Daeden van Keyser Carel den V. erhielt am 9. April 1674 vom Brüsseler Bücherzensor Roucourt eine kirchliche Genehmigung und am 12. April eine Druckgenehmigung für neun Jahre. Die Sammlung ist mit Graphiken von Harrewijn Bouttats geschmückt und wurde von J(o)an De Grieck, einem Brüsseler Buchhändler und Autor von Theaterstücken zusammengestellt. Noch in jenem Jahr wurde sie von Aigidius Stryckwant in Brüssel aufgelegt. Sowohl De Grieck als Theodor Spits, ein Buchhändler aus Antwerpen, besorgten im Jahr 1675 weitere Editionen. Das Volksbuch kannte gleich nach seinem Erscheinen sowohl undatierte als auch datierte Neuauflagen u. a. von der Hand von Ludovicus De Wainne, Judocus De Grieck (1689) und Antonius Lemmens (1711) (Gieles/Plak 1988, num. 104–110; Mateboer 1996, num. 788–790). Bald danach erschienen Ausgaben auf Französisch unter dem Titel Les Actions heroyques et plaisantes de l’empereur Charles V., u. a. im Jahre 1683 in Köln und im Jahre 1730 in Brüssel. Michiel De Swaen (1654–1707), ein Wundarzt aus Dünkirchen und Vorsitzender der Gilde der Meistersinger „De Carsauwe“ benutzte eine Anekdote über eine Begegnung des Kaisers mit einem einfachen Schuster als Vorlage für sein Meistersingerstück De Gecroonde Leersse, das 1688 an Fastnacht uraufgeführt wurde. Die Sammlung De Heerelycke ende Vrolycke Daeden van Keyser Carel den V. wurde oft als Fundus für Kalendergeschichten ausgeschöpft. So finden sich fünf Kaiser Karl V.-Geschichten in dem LOVENSCHNEN ALMANACH ofte TYDT-VERKONDER des Jahres 1756, und im NIEUWEN BRUGSCHEN ALMANAK des Jahres 1783 wurde die anekdotische Biographie sogar vollständig abgedruckt. Auch in späteren Anekdoten- und Schwankkompilationen wie etwa in De Gulde annotatien (zusammengestellt von Jan De Grieck aus Antwerpen, o.J.) oder in Vermalelyken KluchtVertelder (1800) tauchen hin und wieder Kaiser Karl V.-Geschichten auf. Ab 1907 erschien dann in Mechelen sogar der Kluchtige Almanak von Kaiser Karl, ein schnurriger Volkskalender, der dem Volkshelden Kaiser Karl V. gewidmet war. Es soll der Vollständigkeit halber noch erwähnt werden, dass nicht nur belesene Chronisten und frühe Sammler sowie Kompilatoren das Bild des komischen Kaiser Karl V. geprägt, sondern auch Theologen im 17. Jahrhundert mit ihren Exempelsammlungen und Predigtmärlein aktiv dazu beigetragen haben. So nahmen der Jesuit Antoine De Balinghem (1571–1630) in seine Apresdinees et propos de table contre l’excez au boire, et au manger pour vivre longuement, sainement et sainctement (Rijsel 1615) und auch der in Antwerpen geborene Kanoniker Laurentius Beyerlinck (1578–1627) in sein Magnum theatrum vitae humanae, hoc est rerum divinarum humanarumque syntagma, catholicum, philosophicum, historicum et dogmaticum, nunc primum ad normam polyantheae cujusdam universalis per locos communes juxta alphabeti seriem
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etc. dispositum“ etc (8 Bde. fol. 1631) die berühmte Geschichte von dem Bauern auf, der betrunken in den Palast gebracht wird, für einen Tag König sein darf und danach meint, im Himmel gewesen zu sein (AaTh/ATU 1531), mit Kaiser Karl V. als personalisiertem Regisseur des Traums. Im 18. Jahrhundert hat Franz Anton Oberleitner den Stoff noch als barockes Predigtmärlein unter dem Titel Kayser Carl der Fünffte haltet ein possierliches Schauspihl mit einem vollen Bauren überliefert (Moser-Rath 1964, 409–411; 504). In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde De Griecks Sammlung dann von den führenden Vertretern der Flämischen Bewegung bewusst in den Rehabilitationskampf des flämischen Volkes eingesetzt. Sie wurde inhaltlich leicht modifiziert in einer Reihe von Volksbüchern unter der Redaktion von Jan Frans Willems und Ferdinand Augustijn Snellaert neu aufgelegt und erlebte unter dem etwas modernisierten Titel De heerlyke en vrolyke daden van Keizer Karel zahllose Neudrucke (Gent 1846; 1850; 1855; 1878; 1912). Dichter und Mitglieder der jungen Flämischen Bewegung wie Prudens Van Duyse und Johan Michiel Dautzenberg publizierten mehrere Kaiser Karl-Gedichte in den ersten flämischen kulturellen Zeitschriften und Jahrbüchern wie u. a. in Nederduitsch Letterkundig Jaarboekje (Gent 1834–1875), die viele Romantiker und Realisten dazu inspirierten, die Anekdoten aufzugreifen. Es wurden Kaiser Karl V.-Possen, -Komödien und -Vaudevilles geschrieben. Die populären Volks- und Kinderbuchautoren Abraham Hans und Jan Bruylants schrieben die Anekdoten gezielt für ein jugendliches Publikum um. Auch in Schulbüchern und Märchensammlungen lebten die Geschichten weiter. Noch im Jahre 1922 brachte Michel De Ghelderode eine verkürzte Neubearbeitung unter dem Titel L’histoire comique de Keizer Karel telle que la perpétuèrent jusqu’à nos jours les gens de Brabant et de Flandre (Löwen 1922, Brüssel 1923, 1943, 1989) heraus. Es fällt dabei auf, dass die Bezeichnung „Keizer Karel“ bewusst nicht übersetzt wurde, als wollte der Autor vor allem den genuin flämischen Charakter dieser komischen Geschichte hervorheben. Als Publikationsorgan für die Kaiser Karl V.-Geschichten, die während der großen Sammelwelle in Flandern (1870–1930) aus der mündlichen Überlieferung aufgezeichnet wurden, fungierten die vielen regionalen volkskundlichen Zeitschriften, die eben in jenen Jahren gegründet wurden, wie etwa `t Daghet in den Oosten (Limburg 1885–1907), Volk en Taal (Ostflandern 1888–1895), Vlaamsche Zanten (Ostflandern 1899–1904), Ons Volksleven (Antwerpen 1889–1900), Rond den Heerd (Westflandern 1865– 1902), Biekorf (Westflandern 1890–1975/1976). So zählt der Schwank Kaiser und Abt (AaTh/ATU 922) mit seinen neunzehn Varianten zu den populärsten Kaiser Karl V.-Geschichten in Flandern.
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Die narratologische Imagologie Kaiser Karl V. taucht als flämischer Bauer unter Bauern auf, als Lebensgenießer und Spaßmacher, zudem als unkonventioneller Helfer der Armen. Michel De Ghelderode führt in seinen Geschichten gerne notorische Betrügertypen aus der Volksliteratur auf, wie etwa Astrologen, Bettler, Alchemisten und Einäugige. Aus der Pointe geht aber immer hervor, dass der Kaiser sich als der größere Schalk erweist, dem sie einfach nicht gewachsen sind. Die narratologische Imagologie entwirft ein Bild des edlen Herrschers, das dem des legendarischen Schelmen und Zeitgenossen Flanderns, Till Eulenspiegel ähnelt. Die schwankhafte Entdämonisierung Kaiser Karls V. überspielt – soviel mag deutlich sein – die Anerkennung seiner Größe als grausamer Imperator.
Der menschliche allzumenschliche Karl Karl erscheint als der menschlich-allzumenschliche Held, der gerne schmaust und übermäßig trinkt: So schildert eine Anekdote, wie der Kaiser nach einem schweren Arbeitstag sein Abendmahl selbst zubereiten muss. Da isst er wie ein normaler Sterblicher einfach Butterbrote mit Schinken. Ihm fehlt aber ein bisschen Senf. Er zieht durch die Straßen von Gent auf der Suche nach einem Geschäft, das ihm zu der nächtlichen Stunde aufmachen und Senf verkaufen will. Nur ein einziges altes Weiblein zeigt sich dazu bereit; sie wird für ihre freundliche Bewirtung am nächsten Tag vom Kaiser fürstlich belohnt (Lox 1999, num. 36). Als die weltfremden Einwohner von Olen den Kaiser festlich empfangen wollen, bringen sie ihm Schüsseln mit Reisbrei. Der Bürgermeister übernimmt dabei die Führung der Delegation; die anderen sollen ihn in allem, was er tut, nachahmen. Er stolpert unglücklicherweise und knallt dabei die Schüssel auf den Boden; der etwas dünnflüssig gekochte Reisbrei spritzt dem Herrn auf die Schuhe und Beine. Alle Bauern tun das gleiche. Nach diesem Missgeschick erfolgt ein Fluch oder eine Ohrfeige, und es bricht gleich ein Gefecht aus (Lox 1999, num. 52). Lokalkolorit spricht nicht nur aus der personalisierten Gestalt der hohen Persönlichkeit als Kaiser Karl V. und der Identifikation des Dorfes als Olen, sondern auch aus der Tatsache, dass gerade Reisbrei zur festlichen Begrüßung gekocht wird. Auf dem bekannten Gemälde Bauernhochzeit (1567–1568) von Pieter Brueghel dem Älteren aus Brabant werden auf einer abgehakten Tür mit Reisbrei gefüllte Fladen hereingetragen. Die Geschichte berichtet noch, der Kaiser habe die Olener an diesem Tag eingeladen und gastlich bewirtet, als Dank für das große Vergnügen, das sie ihm bereitet haben.
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Eine andere Anekdote zeigt, wie der Kaiser durch den Genuss von zuviel Bier und Wein nachts unter heftigen Bauchschmerzen leidet und sein Bett im Nachtquartier beschmutzt, weil er es nicht rechtzeitig zum kleinen Örtchen geschafft hat. Die Herberge wird dann vom Kaiser als Gegenleistung für dieses Malheur von allen Steuern befreit (Lox 1999, num. 37). Auch die nur für Flandern belegte Spottgeschichte „Der Krug von Olen“ führt den Kaiser in seiner Eigenschaft nicht nur als Biertrinker, sondern auch als Schürzenjäger und Witzbold auf. Jedes Jahr kehrt der Kaiser, der in der Gegend von Olen auf der Jagd ist, in ein Wirtshaus ein, wo man gutes Bier verkauft. Da die Wirtin den Krug mit dem schäumenden Gerstensaft am Henkel festhält, fällt es dem Kaiser schwer, ihr denselben abzunehmen: „Frau Wirtin, bis zum nächsten Jahr kaufst du dir einen Krug mit zwei Henkeln, dann wird es leichter sein.“ „Ja, gnädiger Herr“, versprach die Frau. Das Jahr darauf blieb Kaiser Karl wieder vor der Herberge stehen. Die Frau brachte ihm jetzt einen Krug mit zwei Henkeln, aber sie hielt beide fest, so dass es dem Kaiser wieder Mühe kostete, ihr das Bier abzunehmen. „So geht es noch nicht gut, meine Liebe. Du wirst dir zum nächsten Jahr einen kaufen müssen, der drei Henkel hat. Dann wird es bestimmt leichter gehen.“ Das dritte Jahr, als Kaiser Karl abermals vor dem Wirtshaus innehielt, trug die Frau einen Krug mit drei Henkeln herbei: Sie hielt ihn wieder an zwei Henkeln fest, presste aber den dritten gegen die Brust. „Ja, liebe Frau“, sprach Kaiser Karl, „es würde genau so schwierig sein wie im vergangenen Jahre, wenn ich nicht wüsste, dass es noch einen dritten Henkel gibt.“ Und unter dem Krug durch griff er danach (Lox 1999, num. 51).
Der Krug mit den drei Henkeln wurde zu einem Wahrzeichen dieses kempischen Dorfes. Er ist vielfach ein Gegenstand in der flämischen Volkspoesie. Der Gebrauch eines solchen Kruges ist auf jeden Fall ikonographisch belegt, denn auf dem Bauerntanz-Gemälde von Pieter Brueghel reicht ein Knabe einem Dudelsackspieler ein solches Trinkgefäß. Der Gebrauch eines solchen Dreihenkelkruges wurde im 17. Jahrhundert in den Gerechtsamen von Mol, Balen und Dessel (1596–1631) verordnet.
Kaiser Karl V. inkognito Zahllose Geschichten fangen damit an, dass Kaiser Karl V. sich ohne Gefolgschaft, in Bauernverkleidung und unerkannt unter die einfachen Leute begibt (Mot. K 1812) oder sich auf der Jagd allein im Wald verirrt und notgedrungen die Hilfe eines Untertanen in Anspruch nehmen muss:
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So gerät er ins Gespräch mit einem Sandverkäufer (Lox 1999, num. 27), ist er in der einfachen Hütte eines Besenbinders (Lox 1999, num. 35) oder Bauern (Lox 1999, num. 32, 33) zu Gast, hilft er Schiffsleuten bei der schweren Arbeit (Lox 1999, num. 34, 2) und bittet er sogar einen glücklichen Kohlbrenner um sein Hemd (Lox 1999, num. 41), das dieser jedoch nicht besitzt (AaTh/ATU 844 Hemd des Glücklichen). Immer wieder gewinnt „Karl“ das Vertrauen dieser Leute, hört er von ihren kleinen Sünden oder wird er Zeuge von Manövern, womit seine Untertanen geschickt ihr Fehlverhalten zu vertuschen suchen. So erfährt er, dass seine Untertanen gegen das kaiserliche Jagdverbot verstoßen (Lox 1999, num. 32), oder er sieht, wie ein Soldat die Klinge seines Schwertes versäuft und sie – um sich aus dieser Notsituation zu retten – durch eine hölzerne ersetzt (Lox 1999, num. 61). Oft werden die Untertanen handgreiflich, vor allem dann, wenn der hungrige Kaiser ohne ein Dankgebet fürs Abendbrot (Lox 1999, num. 33) oder allzu gierig zugreift und sein Brot mit Butter und Käse belegt (Lox 1999, num. 34, 2) oder Milch und Zucker in seinen Kaffee tut (Lox 1999, num. 34), was die armen Leute sich nicht leisten können. Die Gastgeber schlagen ihrem Gast mit einem Brotmesser vorwurfsvoll und vor allem so hart auf die Hand, dass sie blutet. Meist enden dergleichen Anekdoten damit, dass die überraschten Untertanen ungeachtet ihres rüden Auftritts für ihre bescheidene Bewirtung eine kaiserliche Belohnung erhalten, womit der Kaiser eben die Tugend der gewährten Gastfreundschaft als die wichtigere honoriert. Der Soldat dagegen rettet sich mit einem vorgetäuschten Wunder aus seiner peinlichen Lage. Als er von Kaiser Karl V. beauftragt wird, einem Verbrecher den Kopf abzuschlagen, behauptet er, die Klinge seiner Waffe habe sich als göttliches Zeichen dafür, dass der Verbrecher unschuldig sei, in Holz verwandelt. Er gehört mit diesem genialen Einfall in die Gruppe derjenigen Gegenspieler, die dem Herrscher durch ihr pfiffiges Auftreten, ihre schlagfertigen Ausreden oder rätselhaften Antworten zu imponieren wissen, und dafür von ihm reichlich belohnt werden. Dabei geht es nicht immer um eine materielle Entschädigung. Oft ist der Kaiser über die List und Klugheit eines Bauern so erbaut, dass er ihn zum Baron ernennt oder zum Ritter schlägt. Sein unflätiges Benehmen – er lässt allen Anwesenden deutlich vernehmbar während der Standeserhebung – einen fahren, weiß der Bauer dann mit der folgenden Bemerkung geschickt zu entschuldigen: „Sire! Das ist doch eigentlich ganz natürlich und selbstverständlich. Wenn oben der Ritter hineingeht, so muss unten der Bauer entwischen“ (Lox 1999, num. 59). In der Rolle des Gegenspielers treten außer dem Bauern auch Müller, Gärtner, Köche oder Hirten in den Varianten zu Kaiser und Abt (Lox 1999, num. 68), zudem ein kluger Knabe (Lox 1999, num 64, 1–2) oder
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ein gewitzter Höfling (Lox 1999, num. 65) auf. Im Palast ist der Kaiser nicht nur von Schmeichlern, Neidern und korrupten Dienern umgeben, sondern auch von seinem Hofnarren, der – ähnlich wie die Herrscherpersönlichkeit – als austauschbare Kristallisationsgestalt mit international verbreitetem Erzählgut, insbesondere mit Schelmenstreichen verbunden wurde.
Kaiser Karl V. und Paep Theun Die Erzählkultur des 17. Jahrhunderts hat einen gewissen Paep (Paap, Pape, Pap) Theun (Thön) zum kaiserlichen Hofnarren gemacht. Der Name verweist auf den Küster und Organisten aus Löwen, Anthonis Van der Phalisen, der zeitlebens lustige Streiche ausheckte. So kam es, dass er – laut dem Löwener Theologieprofessor und Historiker Johannes Molanus (1533–1585) – als „Paep Theun“ einen Ruf bis weit außerhalb von Löwen erworben hatte, der auch lange nach seinem Tod anhalten sollte. Erasmus von Rotterdam (1466/9–1536) behauptete, dass der burgundische Herzog Philipp der Gute (1396–1467), ein Zeitgenosse von Anthonis Van der Phalisen, Paep Theun sehr zu schätzen wusste. Der historische Kaiser Karl V. hat seinen Hofnarren aus der Erzählkultur nie gekannt, da dieser schon am 17. März 1484 starb. Erasmus nahm in sein Convivium fabulosum (1524) zwei Scherze auf Namen von Paep Theun auf, die sich auch bei Johannes Pauli in Schimpf und Ernst (2, num. 823–824) finden. Es heißt dort: „Zu Löwen war ein schimpfflicher Priester Antonius, uff ihre Sprach Pap Thön genannt“ (Verberckmoes 1998, 30–33). Der wohl am weitesten verbreitete Schelmenstreich ist folgender: Nachdem Paep Theun gegen ein kaiserliches Gesetz verstoßen hat, gerät er bei Kaiser Karl V. in Ungnade und erhält zur Strafe einen Landesverweis. Der Schalk kehrt jedoch auf einem Karren mit Erde aus Lüttich zurück und umgeht so lustig das Verbot. Kaiser Karl V. nimmt ihn darauf wieder in seinen Palast auf (Grieck 1675, 58 f.). Die Überlieferungsgeschichte von Eid auf eigenem Boden (AaTh/ATU 1590), wozu dieser Paep Theun-Schwank gehört, zeigt, dass auch der ferarresische Hofnarr Gonella oder Eulenspiegel sich auf ähnliche Weise wieder bei ihren Herren angefreundet haben. Es fällt auf, wie geschickt die flämische Variante an die historische Wirklichkeit anknüpft. Im 16. Jahrhundert fiel das burgundische Reich an Kaiser Karl V. Unter ihm, der zugleich spanischer König war, war das Land in 17 Provinzen aufgeteilt und umfasste den Großteil der heutigen Niederlande, des heutigen Belgiens und des französischen Flanderns. Das Bistum Lüttich entzog sich jedoch seiner Herrschaft.
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Karl der Große – Kaiser Karl V. Kaiser Karl V. wurde oft schmeichelhaft verherrlicht, indem man ihn mit großen und heldenhaften Herrschern verglich. Kaiser Karl V. trug den alten karolischen Namen, den zwischendurch nur noch der Luxemburger Karl IV. geführt hatte. Die deutsche und die abendländische Geschichte schienen zurückzulenken in ihre Anfänge und noch einmal die bedeutendsten Möglichkeiten zu eröffnen. So urteilte jedenfalls der vornehmste Berater des Erwählten, sein Großkanzler Gattinara. Mit einer Denkschrift vom 12. Juli 1519 begann er das große politische Erziehungswerk an seinem Herrn mit den Worten: „Sire, da Euch Gott diese ungeheure Gnade verliehen hat, Euch über alle Könige und Fürsten der Christenheit zu erhöhen zu einer Macht, die bisher nur Euer Vorgänger Karl der Große besessen hat, so seid Ihr auf dem Wege zur Weltmonarchie, zur Sammlung der Christenheit unter einem Hirten“ (Brandi 1986, 92 f.). Die Krönung Kaiser Karls V. geschah am 23. Oktober 1520 zu Aachen in dem ehrwürdigen Münster Karls des Großen, danach bestieg er den Thron Karls des Großen, währenddessen wurde der Schädel seines illustren Vorgängers als Reliquie herumgetragen (Burke 1999, 393–476; insbes. 420). Auch in der populären Erzählkultur lässt sich diese Verwandtschaft feststellen. Viele Erzählungen, die ursprünglich zum Überlieferungskreis Karls des Großen gehörten, wurden in Flandern auf Kaiser Karl V. übertragen. Die klassische didaktische Erzählung, die Karl den Großen als den gerechten Herrscher par excellence rühmte, ist jene von der Glocke der Gerechtigkeit (AaTh/ATU 207 C), welche der Herrscher für Rechtssuchende als Verbindung zu ihm eingerichtet hat. Als eines Tages nicht ein Mensch, sondern einer Schlange ihn zur Rechtsprechung auffordert, hilft er auch ihr. In Flandern kursierte die Erzählung von der Gerechtigkeitsglocke auf Kaiser Karl V. übertragen, allerdings in der leicht abgewandelten Fassung, die hauptsächlich im mediterranen Gebiet bekannt wurde: Nicht eine Schlange, sondern das alte abgedankte und abgemagerte Pferd des Herrschers selbst nimmt die Gerechtigkeitsglocke in Anspruch, um seinen ehemaligen Besitzer auf seinen prekären Gesundheitszustand aufmerksam zu machen und ihn zu lebenslanger Altersversorgung zu verurteilen (Lox 1999, num. 72). Bis in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts war in Flandern auch das Krachtig Gebed van Keizer Karel tot het heilig Kruis en Lijden van onzen Heer Jezus Christus sehr populär. Dieser Himmelsbrief gehörte aber in Wirklichkeit Karl dem Großen. Das Orisan Karlemaine, auch Epistola sancti Salvatoris genannt, wurde der Überlieferung nach auf dem Grabe unseres Herrn Jesu Christi im Jahre 783 gefunden und von Papst Leo III (816) an Kaiser Karl gesandt, als dieser zum Streite zog. Im 17. Jahrhundert wurde dieses
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Gebet durch die katholische Glaubenspropagandaliteratur der Gegenreformation auf Kaiser Karl V. übertragen und entsprechend aktualisiert. Der Himmelsbrief ist jetzt auf das Jahr 1505 datiert und wurde von einem nicht namentlich bekannten Papst an Kaiser Karl V. gesandt. Der Personenaustausch war um so glaubwürdiger, als auch Joan De Grieck in seiner anekdotischen Biographie De Heerelycke ende Vrolycke Daeden van Keyser Carel den V. von mehreren Kreuzesmirakeln berichtet, die sich im Schlachtgetümmel auf nordafrikanischem Boden vollzogen haben sollen (Lox 1999, 159–162). Der Himmelsbrief diente als Schutzmittel, um alle Unglücke und Gefahren abzuwenden und wurde von den Soldaten in den Kriegsjahren 1940–1945 und später – während ihrer Garnisonzeit in Deutschland (1953) – getragen, da jener Brief sie unverwundbar und kugelfest machte.
Spottnamen und Wappenschilde Die Genter Einwohner verdanken ihren Spottnamen „Schlingenträger“ der öffentlichen Niederlage, die der historische Kaiser Karl V. ihnen im Jahre 1540 bereitet hatte. Als die Genter sich weigerten, Steuern für seine Kriege zu bezahlen, mussten vornehme Bürger mit einer Schlinge um den Hals durch die Stadt ziehen und sich vor dem mächtigen Weltherrscher demütigen. Aber auch die Einwohner von Brügge (Lox 1999, num. 92), Aalst (ibid., num. 95) und Ypern (ibid., num. 91) sollen laut der populären Erzählkultur ihren Spottnamen anlässlich eines offiziellen Besuchs von Kaiser Karl V. erhalten haben. So sollen die Gemeinderatsmitglieder von Brügge den Kaiser um die Erlaubnis gebeten haben, ein Irrenhaus bauen zu dürfen. Darauf soll der Kaiser geantwortet haben: „Schließt einfach die Tore und ihr besitzt das größte Irrenhaus Europas“. Seitdem heißen die Einwohner von Brügge die „Brugse zotten“. In Aalst hat der Redner seine Ansprache, die er zu Ehren von Kaiser Karl V. halten soll, völlig vergessen und stammelt nur „Sire! Wir … Sire! Wir sind …“ Seitdem tragen sie den Spottnamen „Aalsterse draaiers“. Und in Oostende soll der Herrscher den Bürgermeister darum gebeten haben, ihm das Rathaus zu schenken. Dieser soll sich total überstürzt von dieser unverschämten Bitte einen Tag Bedenkzeit erbeten haben. Schließlich befolgt er den Rat seiner Frau oder eines Kindes und erwidert die Bitte mit dem Angebot, das Rathaus so schnell wie möglich nach Gent oder Brüssel mit zu nehmen, aber den Grund und Boden, den er nicht verlangt hat, da zu lassen, damit sie sich ein neues Rathaus bauen können. Da der Kaiser ahnt, wer dem Bürgermeister die geschickte Antwort ins Ohr geflüstert hat, verpflichtet er die Gemeinderatsglieder
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von da an, eine Frauenmütze zu tragen. Die mittelalterlich bezeugte Erzählung von Raparius (AaTh/ATU 1689 A) wird herangezogen, um die Rübe im Wappenschild von Sint-Niklaas zu erklären. Ein Bauer schenkt Kaiser Karl V. ein Prachtexemplar einer Rübe und wird dafür fürstlich belohnt; ein Kaufmann aus Antwerpen, der sich für ein Füllen noch mehr erhofft, erhält hingegen die für den Kaiser so kostspielige Rübe. Seit diesem Vorfall heißen die Einwohner von Sint-Niklaas „Rapenbraders“, was durch ein heute nicht mehr verstandenes Symbol im Wappen einsichtig gemacht wurde.
Kaiser Karl V. unsterblich? Große Herrscher sterben nicht, sondern werden – wie Friedrich Barbarossa oder Friedrich II. – in einem Berg entrückt und irgendwann zurückkehren. In zwei von den Brüdern Grimm aufgenommenen Sagen wird berichtet, dass Kaiser Karl sich im Untersberg in der Nähe von Salzburg aufhält. Der letzte Absatz lautet: Franz Sartori erzählt, dass Kaiser Karl V., nach andern aber Friedrich an einem Tisch sitzt, um den sein Bart schon mehr denn zweimal herumgewachsen ist. Sowie der Bart zum drittenmal die letzte Ecke desselben erreicht haben wird, tritt dieser Welt letzte Zeit ein. Der Antichrist erscheint, auf den Feldern von Wals kommt es zur Schlacht, die Engelposaunen ertönen, und der Jüngste Tag ist angebrochen (Grimm/Uther, num. 27–28).
Für diese Kaisersage konnte ich keine flämische Variante ausfindig machen. Joan De Grieck berichtet in seiner anekdotischen Biographie De Heerelycke ende Vrolycke Daeden van Keyser Carel den V. von Himmelszeichen, die den Tod Kaiser Karls V. angekündigt haben sollen und von einer Lilie, volkskundlichem Zeichen der Unschuld und Reinheit, die in der Nacht seines Dahinscheidens geblüht haben soll (Grieck 1675, 248 f.).
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The Wolf and the Kids (ATU 123) in International Tradition The tale of The Wolf and the Kids, ATU 123, is a well-defined tale type in Europe, the Middle East, and central Asia. It is built around the motif of the “voice test,” in which potential victims identify a would-be intruder by his or her unusual voice. In Eastern Asia and especially in Africa, the voice test motif appears in different narrative contexts. Thus the analysis of this material is an exercise in differentiating a tale type from its dominant motif. The relevant material is presented here first historically and then geographically.
The Fable Early evidence for The Wolf and the Kids conforms only to the first part of the modern tale type. A Latin fable (Romulus no. 36, from ca. A.D. 400), The Kid and the Wolf, reads as follows: When a she-goat went out to pasture she warned her young kid not to open the door while she was away, because many wild animals were wont to prowl about the stable. After she had left, a wolf came to the door and called out in a voice imitating that of the mother goat. On hearing this, the young kid (peering through a crack in the door) said, “What I hear is my mother’s voice; but you’re a deceiver and an enemy, trying to ensnare me by means of my mother’s voice so as to drink my blood and eat my flesh” (trans. Perry, ed. 1925, 529, no. 572).
This account was repeated by later fabulists (Dicke and Grubmüller 1987, no. 650) including Marie de France (eleventh century; 1987, 228– 231, no. 90), Berechian Ha-Nakdan (thirteenth century; Schwarzbaum 1979, 119–122), and Steinhöwel (1476/7; Uther 1990, 22, no. 3; Uther in Grimm and Grimm 1996, 4: 14–16). The kid is obedient and intelligent, and no one gets eaten.
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La Fontaine (Fables IV.15, published in 1668) changed the voice test to a password and added an appearance test. The mother goat tells the kid that she will say, “Plague on the wolf!” so that the kid may recognize her when she comes home. The wolf overhears and speaks these words, in an altered voice, to the kid. Then the kid insists on seeing whether the wolf’s foot is white (it is not). The moral is that two guarantees are better than one, and even a third might be a good idea. Thus, La Fontaine’s fable adds two more tests (password and foot) to the original voice quality test. In the fable tradition, the wolf never gets inside the house.
The Folktale Modern tradition begins with the Grimms’ version (KHM no. 5; see Uther 2008, no. 5). The kids (now plural) first follow their mother’s advice but the wolf outsmarts them: he swallows chalk to soften his harsh voice and has a miller cover his black foot with white dough. He eats all the kids except one who hides (Mot. Z 356, Unique survivor). When the mother returns the surviving kid helps her locate the wolf, who is asleep. The mother goat rescues her children by cutting them out of the wolf’s belly, and then she refills the belly with stones and sews it up. When the wolf wakes up, he falls into a well and drowns. The role of the mother is larger here than it was in the fable. The Grimms’ text grew wordier after its initial appearance in 1810, but the alterations are chiefly stylistic and the basic content remained unchanged (Rölleke 1975, 33; idem. 1983). Because of the popularity of the Grimms’ tales in popular culture and also in folktale scholarship, this version is often taken as standard. However, the oral tradition of this tale is rich and varied. Tenèze’s (1965, cf. Delarue and Tenèze 1976) examination of French texts is particularly detailed. She identified the literary fable, several strands of oral tradition, and the influence of other tale types. Similarly, Espinosa (1947, 3: 283– 291, no. 212) separated the tradition into the Aesopic fable, the Grimms’ version and its analogs, texts with different punishments for the wolf, and the Slavic tale of the fox and his horse (ATU 123A). (See also BoltePolívka 1, 37–42 and Scherf 1995, 2: 1413–1416.) The following survey of The Wolf and the Kids in oral tradition in Europe and the Middle East identifies a password rhyme that is popular throughout a large geographic region. The most variable part of the tale is its conclusion. The eaten kids are in many cases not recovered, but the mother takes revenge on the villain in any of several ways: he may be battered, burned, scalded, or drowned.
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The Tests The voice test and the foot test, the two “guarantees” of La Fontaine’s fable, are well-established in the oral tradition of The Wolf and the Kids. The voice test has two aspects. One of these, as in the fable and in the Grimms’ tale, is the softness of the mother’s voice compared to the harshness of the wolf’s. This contrast gives narrators an opportunity to imitate the voices of the two different animals. By making the wolf’s first attempt a failure, a narrator can delay the wolf’s entry into the kids’ house. For a shorter version, the wolf may imitate the mother’s voice immediately (Heissig 1963, 42–46; Javorskij 1915, 161–163). Even when the wolf speaks in a deep voice, the kids may let him in right away (Boratav 1967, 33–34). Usually, the kids refuse to let the rough-speaking wolf in. Then, the wolf may simply alter his voice (Hermann and Schwind 1951, 22–26), or he may eat something, such as chalk or oil, that softens its timbre (KHM no. 5; Laude-Cirtautas 1984, 9–12, no. 3). Particularly in Russia, but also elsewhere, he goes to a blacksmith to have his throat or tongue altered (e.g. Afanas’ev 1957, no. 54; Haltrich 1956, 202–204, no. 83; El-Shamy 1999, 63–69, no. 1; Beckwith 1924, 116–117, no. 91). In a variant from the Cape Verde Islands, the wolf submits to being boiled in a pot for three days, to effect a similar change (Parsons 1923, 21–23, no. 9). Such injuries constitute insults to the wolf’s body, preliminaries to his subsequent torture and death. The second aspect of the voice test is that the mother recites words or phrases by which her children know her. As early as 1646, a casual reference to this tale quoted a rhyme: Lieben Kindlein, laßt mich hinein! Ich bring euch ein gutes Düttelein (Bolte-Polivka 1, 41).
In modern texts, the following verse is widely represented: Oh my kids! O my kids! Open the door for me! The grass is on my horns And the milk is in my teats (Muhawi-Kanaana 1989, no. 38).
Virtually the same password rhyme, with the details of the milk and the grass, is documented in Europe (e.g. France, Spain) and around the Mediterranean, in Arab tradition, and in central Asia (e.g. Gašparíková 2000, 243–246, no. 41; Heissig 1963, 42–46; Houri-Pasotti 1980, 177–180, no. 84; Levin 1986, 226f., no. 33; Loukatos 1957, 12f., no. 11; Nowak Typ 16; Frobenius 1921, 43f.; Delarue and Tenèze 1976, no. 123 code I.B.2a; Tenèze 1973, 70–78; Legros 1953). Older texts often omit the goat’s rather indelicate reference to her udder. The extent of this particular
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rhyme attests to a uniform tradition, that is, to a narrative that must have been heard in order to be told. In France, where this rhyme is very popular, an alternative has also developed: the mother has broken her leg and is going to St. Jacques to have it set. Little kid and little she kid, open the door for your mother, Who comes from St. Jard, where she has had her leg and ankle set. Up you get, as if straw tickled your bottoms! (Quoted from Massignon 1968, 71–73, no. 15. See also Delarue and Tenèze 1976, no. 123, code I B 2b; Legros 1953; Tenèze 1973, 70–78).
The foot test, which first appeared in La Fontaine’s fable, is less common than the voice test. When it occurs, it either replaces the voice test or follows it. The kids usually object to the color of the wolf’s foot; the wolf then covers his paw with some substance such as flour or dough (Delarue and Tenèze 1976, no. 123, code III B 1, C1. Eberhard-Boratav 1953, Typ 8). Sometimes he has to make his paw red (Marzolph 1984, Typ 123; Hadank 1926, 56–58). The goat may arrange a signal such as colored threads tied around her foot, which the wolf then has to imitate (Bruford and MacDonald 1994, 38–40). In Arab tradition, a tail test can take the place of the foot test: the wolf has to convince someone to cut his tale off. In one case, this turns into a cumulative tale (ATU 2032): after other animals refuse, an ant helps the wolf (Muhawi and Kanaana 1989, 281–283, no. 38). Or the wolf shampoos his tail with butter and eggs to make the fur soft (El-Shamy 1999, 69f., no. 1–1; Stephan 1923, no. 2). In France, apparently from the influence of the medieval tale cycle of Reynard the Fox, the wolf is sometimes let into the house because he has disguised himself as a pilgrim (Delarue and Tenèze 1976, no. 123, code III A 3). The foot test and the tail test may be considered to be subdivisions of a more general “appearance test” motif, which appears in a tale from easern Asia, The Children and the Tiger (see below).
Inside the Goats’ House The wolf usually eats the children immediately after he gets into the house. Rarely, he does not eat the children, whether because they refuse to open the door (as in the fable), or because the mother returns in time to prevent this (e.g. Delarue-Tenèze 1976, no. 123, code III.2.B[2]). In one case, the kids trap the wolf in a dough bin (Massignon 1968, no. 36). Most often, the mother goat comes home to find her children missing. Sometimes she is confronted with their blood or bones. As in KHM 5, one of the kids may have hidden and thus escaped being eaten
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(Afanasiev 1957, 1:75f., no. 53. Gašparíková 2000, 243–246, no. 41. Meier and Karlinger 1961, 246–249). The mother usually knows immediately who the culprit is. She may ask a series of animals for directions to where she can find the wolf (Hermann and Schwind 1951, 22–26).
The End of the Tale There are a number of options here. 1. The wolf’s belly is slit open and the kids are recovered (e.g. Marzolph 1984; Robe 1973; Barag 1978; Barag et al. 1979). The cut is usually made with a knife, but the mother goat may use her horns instead (Gašparíková 2000, 243–246, no. 41). Once the kids are cut from the wolf’s belly, they may be replaced with stones (e.g. Barag 1978; Hodne 1984). Delarue and Tenèze (1976, p. 384) trace this motif in French tradition to influence from the Grimms’ version. The mother goat speaks a gleeful rhyme in KHM no. 5 (this begins in 4th edition and is elaborated in the 5th, Rölleke 1983, esp. 14): “Rumple, rumple, Mühlenstein, meine zehn Zicklein sind alle daheim!” (Stephani 1991, 273–279, no. 84; Kovacs 1943, 2: 86–89, no. 73; Haltrich 1956, 202–204, no. 83; Scherf 1995, 215–217). The detail of the victims rescued from the wolf's stomach, oddly reminiscent of the myth of the children of Kronos, is not dominant in oral tradition. Why did the Grimms (or their source) like it so much that they used it not once but twice, here and also in their Little Red Riding Hood? The Grimms wanted their tales to have moral implications, and the ending with the kids cut out and replaced with stones makes several points about villains and villainy. First, the sated wolf falls asleep, oblivious of danger, showing that his animal nature is stronger than his intelligence. Second, the attack on the sleeping wolf avoids confrontation: there is no need for a physical combat, and cleverness wins over strength. Third, the recovery of the children makes for a truly happy end for them and their mother: all damage is reversible and nothing has been lost. Fourth, the scene of the mother goat sewing up the wolf is a charming bit of anthropomorphism. And fifth, the wolf is conscious, and so presumably he suffers terror and pain, when he dies. 2. Combat. Preparations for the fight repeat the motif of the blacksmith who altered the wolf’s voice; like that elaboration, this one is also found in the east. The mother goat enlists the help of a man to sharpen her horns, and the same man or another grinds down (or pulls) the wolf’s teeth (Heissig 1963, 42–46; Levin, Rabiev, Javic 1981, 148–150
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(T047), 221–222 (T212), 305 (T412); Lörincz 1979, 33–34, no. 19, Marzolph no. 123; Stephan 1923, no. 2). The following scene is widespread: The goat climbs on the roof of the wolf or jackal and pounds with her hoofs. The wolf asks, often in a rhyme, who is shaking the roof and spoiling our food? The goat replies, “It is I, the goat, You ate my Alul, you ate my Bulul [naming the kids]. Come out and fight with my horns” (Lorimer and Lorimer 1919, 3–5, no. 1 [quoted]; Levin 1986, 226f., no. 33; Hadank 1926, 56–58, no. 18; Muhawi and Kanaana 1989, 281–283, no. 38; Socin and Stumme 1895, 93–94). Sometimes the goat asks a series of animals if they ate her childre. (Levin, Rabiev, and Javic 1981, 148–150, no. T047; Sheikh-Dilthey 1976, 134–136, no. 33; Bruford and MacDonald 1994, 38–40, no. 2; Campbell 1892, 3: 103–105). Then comes the fight, which the goat wins. Afterwards, the kids may be rescued. If so, either the wolf bursts spontaneously or the goat rips open his belly with her horns. Drowning. In no. 1 above, the weight of the stones in the wolf’s belly cause him to drown when he falls into water. Alternatively, the goat and the wolf jump over a body of water, and the heavy wolf falls in (Lorimer and Lorimer 1919, 3–5). Especially in Greece, the goat entices the wolf to catch fish in a pot of water and he falls in (Loukatos 1957, 12f.; Megas 1978, no. 123,1). Scalding. In France, the wolf is usually boiled or scalded. Delarue and Tenèze 1976 list more than 30 examples (this motif is also popular in ATU 124, The Three Little Pigs, where the wolf tries to break into the house through the chimney). The goat may challenge the wolf to jump over a cauldron of boiling water (Massignon 1968, 71–73, no. 15). Or she traps him in a dough bin and pours hot water through the air holes (idem. 131–133, no. 36). This event is commemorated with a rhyme: “Good, good, good, my pot, my kettle, to throw at the wolf’s head” (Delarue and Tenèze 1976, no. 123 code IV A’). Burning. The mother goat arranges a fire pit or a boiling kettle beside her table or eating place. Then, taking advantage of his big appetite, she invites the wolf to dinner. The wolf falls into the pit (the kids are usually not rescued). This is most common in Turkey and Russia (Afanasiev 1957, 1: 75–77, nos. 53–54; Boratav 1967, 33f.; Laude-Cirtautas 1984, 9–12, no. 3; Makeev 1952, 252–255; Megas 1978, no. *30A; Eberhard and Boratav 1953, Typ 8 A). Unhappy ending. Rarely, there is no revenge; the tale ends with the kids or their mother being eaten (Delarue and Tenèze 1976, no. 87; Javorskij 1915, 161–163; Kurdovanidze 2000, type 123). Or, the wolf may be injured but able to run away (Makeev 1952, 252–255).
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The great number of variants with different endings shows that the cutting of the wolf’s belly is not central to tale type of The Wolf and the Kids. The wolf always swallows the kids and the mother usually kills him, but it is not uncommon for the kids not to be rescued. The tale type deals with revenge more than it does with restitution. In some of the tales that will be discussed below, the victim(s) escape(s) from a man-eater by climbing to a high place. The Wolf and the Kids does not have this feature. Sometimes the wolf comes down the chimney, or the mother goat climbs onto a roof to challenge him to a fight. Both of these involve high places, but no escape.
The Characters The children can be kids, lambs, gazelles, or humans; there can be one, two, three, or more, with names or without. A family of rabbits is another possibility (Brendle and Troxell 1944, 34–36; Hansen 1957, Type **74N; Wlislocki 1893, 399–400). Instead of a wolf, the villain can be a bear (Roth 1995, Type 123A*; Eberhard and Boratav 1953, Typ 8; Haltrich 1956, 202–204, no. 86; Brendle and Troxell 1944, 34–36). Ghouls are popular in Arab tradition (Houri-Pasotti 1980, 177–180, no. 84; Socin and Stumme 1895, 93–94; Stephan 1923, nos. 2, 3; Nowak 1969, type 16). The villain can also be a jackal (Frobenius 1921, 43–44, no. 17; Levin 1986, 226–227, no. 33), a crocodile (Schimmel 1980, 218–221, no. 35), or Baba Jaga (Zelenin 1915, 349–351, no. 113). As a typical animal tale, The Wolf and the Kids has characters whose species matches their personalities. The wolf is aggressive and gluttonous but rather stupid. The goat’s anger leads her to seek revenge. The character of the goat is a point of contact that gives ATU 123 its affinity with ATU 212, The Lying Goat, in which children take a goat out to pasture, but the animal says it has not been fed (Delarue and Tenèze 1976; Javorskij 1915, 161–163). Furthermore, ATU 123 can be part of a chain of tale types (Hahn 1918, 2: 100–109, 489–492, no. 85, following ATU 715 and other motifs; Sirovátka 1980, 235–239, no. 39, along with AT 34B, ATU 3 and 4, and three subtypes of ATU 122).
Related Tales Europe A difference in characters defines ATU 123A, The Fox Buys a Foal and Leaves It at Home. The injured parties are a fox and his little horse, and the villain is again a wolf. The end varies much as does the end of The Wolf and
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the Kids: the villain may fall into a pot of boiling water, into a fire pit, or be killed in some other fashion. This tale is western Slavic and is also popular in Hungary and in Greece. Some variants are part of a string of several different animal tales in which the fox and the wolf are adversaries. Some include the rhyme about bringing water and grass (Espinosa 1947, 3: 283– 291, no. 212, Tipo 7 [8 or 9 variants]; Nowak 1969, no. 25; Hahn 1918, 2: 100–109, no. 85; Roth 1995, Type 123A). However, the fox may also be the caretaker of a little lamb, which blurs the distinctiveness of ATU 123A, or an old woman may take care of a lamb (Megas 1978, Type 123,1). Some variants include the mother’s rhyme about bring water and grass. The voice test appears in two regional tale types in Europe. In an unusual tale documented six times in Lithuania, a black daughter is kept in a well in the hope that she will turn white. Her mother brings food for her and asks, as a password, “Aguona, Tochter Aguona, Strecke dein Händchen heraus – ist es schon weiß?” When the wolf speaks these words, the girl refuses to raise her hand until the smith hammers the wolf’s tongue. Then the wolf grabs the hand and kidnaps the girl. Her mother invites the wolf for a meal and he falls into the fire pit. The daughter goes back home with the mother (Kerbelytè 1978, 81–83, no. 36). The girl in the hole resembles African tales with a voice test (see below), where a child is kept in a hole or cave for protection. Although the detail of the girl’s white hand is reminiscent of the foot test, its function is completely different. ATU 327F The Witch and the Fisher-Boy, is popular in Eastern Europe. A witch tries to catch a boy by imitating the words and voice of his mother. Only after the witch has a blacksmith hammer her tongue is she successful. She takes the boy to her house but eventually he escapes (Kerbelytè 1990). Asia From India, in addition to a few versions of The Wolf and the Kids (Jason 1989, Type 123), there is one other tale with a voice test. When a crow returns to her nest with food for her young, she sings their names and tells them to open the door. One day another bird copies this and the chicks let it in immediately and are eaten. In her grief, the mother bird throws herself into a well (Venkataswami 1923, 113f.). The typical form of The Wolf and the Kids, sometimes with the mother goat’s rhyme and with either the challenge to a fight or the invitation to dinner, is known in various parts of central Asia (Laude-Cirtautas 1984, 9–12, no. 3; Hadank 1926, 56–58, no. 18; Heissig 1963, 42–46, no. 8; Hermann and Schwind 1951, 22–26). A monster called a mangus attacks
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a human family, copying the mother’s formulaic speech about bringing grass and water (Reichl 1986, 197–201, no. 46, Ergis 1967, no. 82, cf. 89; cf. Lörincz 1979, no. 19). Other tales with a family of humans often include a hand test but not necessarily a voice test, a lone survivor, and the children rescued from the swallower’s belly (Bolte and Polívka 1. 37–39; Roth 1995, no. 123A; Noy 1976, Type 123). ATU 210* Verlioka, can be a sequel to The Wolf and the Kids (Reichl 1986, 197–201, no. 46; cf. Brendle and Troxell 1944, 34–36). The threatened or injured party (whom the mangus is about to eat, for example, or who wants to take revenge) collects a number of objects such as scissors, a needle, a scorpion, an egg, and an ax. Either the person puts them in strategic places where they will injure the mangus, or they position themselves on their own initiative. Then the mangus is cut, pricked, stung, blinded, and killed (e.g. Ergis 1967, no. 80; Lörincz 1967, no. 106, 227 no. 210). In Eastern Asia, in the popular tale type of The Children and the Tiger, the villain is a shape-shifting ogre who attacks a human family. There is an appearance test in the oldest version (ca. 1700; Baolin 1996) and an appearance or voice test in ten to twenty percent of the modern examples (Eberhard 1989, 32f., 36; Ting 1978, Type 333C; Seki 1966, nos. 80–81; Ikeda 1971, Type 333A; Choi 1979, no. 100). For example, the children may complain that the woman’s face does not have moles, so the ogre dabs on snail shells. Similarly, in a Mongolian tale, a mangus devours an old woman and then goes to her house and claims to be the mother. The daughters will not let the mangus in because its face and then its dress are the wrong colors. The mangus rams its head against the door, but the children attack it and kill it (Schröder 1959, 88–93, no. II; Lörincz 1979, no. 104). Africa African tales generally deviate from the expected pattern of ATU 123, sometimes only a little, more often substantially. Notably, the password rhyme about the grass and the milk is absent. The following tale may be considered a variant of The Wolf and the Kids. Rabbit warns his children to open the door only when they hear his song. “I’ll stay w’en you away, kaze no gol’ will pay toll!”
When the wolf sings, at first the little rabbits deny him entry. Then he practices and until he can sing nice and fine. Rabbit finds only bones when he returns. Brer Terrapin decides that all the animals must swear that they are innocent and then jump over a burning pit. Only the wolf
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falls in (Harris 1955, 297–302, Nights with Uncle Remus no. 42; cf. Baer 1980, 88–92). The motif of a general trial at the end, rather than a contest of the bereaved parent vs. the wolf, seems to be distinctly African (cf. Fuchs 1961, 153–158). The motivation in the next tale is different in that the woman provokes the snake’s attack. However, the rest of the events follow exactly ATU 123. An African woman steals and cooks a snake’s eggs. She warns her little girl not to open the door except to her song and voice: “Walla walla witto, me Noncy.” The girl replies. “Andolee! Andoli! Abdolo!” The child refuses to let snake in when he sings, “Wullo wullo widdo, me Noncy!” but then he learns the song correctly. The mother finds the sleepy snake and beats it with a cane. She cuts out the child, who recovers (Harris 1955, 302–306, Nights no. 43; cf. Klipple 1992, 67).
Uncle Remus explains how the snake squeezes his prey so that he can eat the child whole. Harris was sensitive to the strangeness of such tales for American readers: the little boy who listens to the story complains that he does not like such stories and that they do not seem funny. In Africa, the password that the mother or caretaker speaks is simply the name(s) of the child(ren) and an announcement to the effect that, I’m home! A girl (Schmidt 1989, no. 855; Beckwith 1924, 116f., no. 91) or a set of brothers (Hurreiz 1977, 113, no. 34) may be left alone in a house. Or the child may be kept in a hole or cave, a rock, a house, or a tree (Klipple 1992, 69; Flowers 1953, 453f.; El-Shamy 1999, 71f., nos. 1–2). A father protects his children in a tree in a special subtype of ATU 705B, Born from Knee, in the upper Nile region (El-Shamy 1984: 1212). The villain can be a lion or leopard (Flowers 1953, 333, no. 3; Klipple 1992, 68) or an ogre or ghoul (Hurreiz 1977, 113, no. 35), even the child’s own father (Klipple 1992, 67–69; Schmidt 1989, no. 853). When a family of goats is attacked by a boogey, one of the kids escapes and rescues his brothers (Klipple 1992, 68). In Africa, the voice test motif is used in as an introduction or sequel to a number of different tales (Swart 1970b; Mot. K 311.3). It appears in the tale type called Cutta cord la, which has been appended to some variants of the African and African-American tale type, Agreement to Kill Mothers (Mots. K 231.1.1, K 944). The mother who should have been killed but was not is hidden, often in a tree, and her son speaks or sings a password (e.g., “Send down the rope!”). The mother then pulls the son up into the tree. The opponent tries to copy the song, but the mother notices that his voice is too rough. Sometimes a blacksmith alters the villain’s voice (Bascom 1992, 208, no. 4, 209, no. 3, 210, no. 3). One character may simply copy the other’s voice, and kill the mother when she comes out of her cave (Dennett 1897, 85, no. 20). In other cases, a password is first
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misspoken and then corrected (Harris 1955, 289–292 [Nights no. 40]; Beckwith 1924, no. 17). Then the mother pulls the villain up into the tree. The son warns her and she cuts the rope, dropping the villain to his death. In ATU 123, the voice test episode is followed by the victim’s being eaten. Another possibility is that the victim can be kidnapped. In the African and Hispanic tale ATU 311B*, The Singing Bag, there are two voice recognition motifs. After a girl is fooled by a villain who imitates her mother’s voice, she is kidnapped and imprisoned inside a sack or a drum and forced to make music. Realizing that the song is a call for help, someone rescues the victim and fills the sack with animals (dog, scorpions) that bite the kidnapper (Swart 1970a). Yet another possibility is that the intended victim kills the aggressor (Frobenius 1922, 204–206, no. 23; Lörincz 1979, no. 104 [from Mongolia]). There are many traditional elaborations for voice test in African tradition. Ants often appear in these tales in Arab regions, Africa, and the New World. The ogre sits in an anthill, and the ants crawl through his body, to alter his voice (Frobenius 1921, 43f.; El-Shamy 1999, 71f., no. 1–2; Hurreiz 1977, 113, no. 35; cf. Mot. F 556.1.2). Sometimes someone tells the carnivore (hyaena, leopard) that if he does not eat some particular thing (a beetle or a goat) his voice will be sweet (Klipple 1992, 67f.; cf. Mot. F556.3). Or, an animal tells him to swallow hot stones (Schmidt 1989, nos. 853, 855, 856) or he reshapes his throat with hot iron (Mots. F 556.1, 556.1.1). African-derived tales also have a blacksmith fix the throat (tongue) of the wolf or devil (Hurreiz 1977, 113, nos. 34–35; Flowers 1953, 34–36, no. 123; Mot. F 556.2), just as happens in Eastern Europe. At the end, an ant may bite the carnivore or work magic so that the swallowed victims are restored (Parsons 1923, 21–25, nos. 9, 9a; Klipple 1992, 66f.). Similarly, in a couple of Spanish texts, the wolf’s punishment for eating the kids is to be bitten by ants (Espinosa 1947, 3: 286–297). The voice test is optional in most of these tales: variants exist with only the other parts of each of the forms described, without the voice test. In principle, when tales are grouped into types and subtypes, the divisions must result from natural gaps in the material. This does not work here because the motifs combine with each other in various patterns. Just because tales with plots like The Wolf and the Kids or Little Red Riding Hood can be identified, does not mean that the belong to the same tale types as those European tales. Only when their plots and their details match those of the European tale types, and when there is a natural gap around the African variants, would this be the case. However, the tales described immediately above have been assembled from motifs that do not belong to tale types that are stable in the sense that Little Red Riding Hood or The Wolf and the Kids are stable.
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Summary Starting from the fable with the voice quality test and proceeding into oral tradition, ATU 123 has acquired a foot test, a password rhyme, and a set of alternate endings in which the mother goat takes revenge on the predatory wolf. Although both the fable and the tale have appeared many times in books for children, no printed source that could account for the stability of this tradition has been identified. In Europe and the Middle East, where the Wolf and the Kids is most popular, the voice test motif is rare in other tale types. In contrast, in Africa, the voice test motif appears in a wide array of different narrative contexts. Detail motifs link African tradition with that of Russia and the Americas. Acknowledgments: Most of the research for this article was done under the auspices of a grant from the Deutscher Akademischer Austauschdienst, in the library and archive of the Enzyklopädie des Märchens.
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Alfred Messerli
Blaubarts Wiederkehr oder: (Weiter-)erzählen ist erklären Im Erzähltypus AaTh 312 (The Giant-killer and his Dog [Bluebeard]) heiratet ein absonderlicher Mann mit blauem Bart eine junge Frau. Nach nicht bestandener Gehorsamsprüfung will er sie töten. Der Bruder der Heldin kommt ihr im letzten Augenblick zu Hilfe, bringt den Unhold mit Unterstützung eines Tieres um und befreit seine Schwester(n) (vgl. Puchner 1996). Für die Tradierung dieses Erzähltypus wird das Blaubart-Märchen von Charles Perrault (1628–1703) maßgeblich, welches 1697 anonym unter dem Titel La Barbe-bleuë in dessen Histoires ou Contes du temps passé. Avec des Moralités erschien (Perrault 1991). Er siedelt die Geschichte „in einem luxuriösen Bürgermilieu“ (Puchner 1996, 1409) an. Catherine VelayVallantin fasst das Zaubermärchen folgendermaßen zusammen: „BarbeBleue est un homme fort riche, mais si repoussant que les femmes le fuient. Il a déjà eu plusieurs épouses mais l’on ignore ce qu’elles sont devenues. Barbe-Bleue réussit pourtant à séduire une jeune fille, qui accepte de l’épouser. Un jour, Barbe-Bleue annonce à sa femme son départ pour un voyage d’affaires; il l’invite à se divertir avec ses amies en l’attendant et lui confie toutes ses clés. ‚Pour cette petite clef-ci, c’est la clef du cabinet au bout de la grande galerie de l’appartement bas: ouvrez tout, allez partout, mais pour ce petit cabinet, je vous défends d’y entrer, et je vous le défends de telle sorte que, s’il vous arrive de l’ouvrir, il n’y a rien que vous ne deviez attendre de ma colère.‘ Pendant que voisines et amies découvrent et admirent les richesses du maître de maison, l’héroïne, elle, ne songe qu’à la chambre interdite. La tentation est si forte qu’elle y descend précipitamment. Tremblante, elle ouvre: le plancher est couvert de sang caillé et dans ce sang, malgré l’obscurité, elle voit se mirer le corps de plusieurs femmes, égorgées et attachées le long des murs. La clé lui tombe de la main et se tache de sang. Remontée dans sa chambre pour clamer son émoi, la jeune femme s’efforce en vain de nettoyer la clé. Barbe-Bleue revient le soir même, se fait remettre les clés. ‚Vous avez voulu entrer dans le cabinet! Et bien, madame, vous y entrerez et irez prendre votre place auprès des dames que vous y avez vues.‘ Insensible aux supplications de son épouse,
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Barbe-Bleue ne lui accorde qu’un demi-quart d’heure pour faire ses prières avant de mourir. Une fois seule, l’héroïne demande à sa sœur Anne de guetter du haut de la tour la venue de ses frères et de leur faire signe de se hâter. ‚Anne, ma sœur, ne vois-tu rien venir?‘ questionne la jeune femme pendant que son bourreau, le couteau à la main, lui crie: ‚Descends vite, où je monterai là-haut!‘ Question et ordre se sépètent, l’heroïne suspendue aux réponses de sa sœur, Barbe-Bleue impatient de procéder à l’exécution. Enfin, Anne aperçoit les deux cavaliers. L’héroïne est sommée de descendre, son mari la tient par les cheveux, il lève son arme. Au même instant, les frères entrent l’épée à la main, poursuivent l’époux dénaturé et lui transpercent le corps. La jeune femme hérite de ses biens. Elle en fait profiter frères et sœur; elle-même se remarie“ (Velay-Vallantin 1992, 43 f.). Das Märchen von Charles Perrault ist eine Erzählung, die nichts erklärt. Nach Hans-Jörg Uther unterbleiben „märchengemäß“ auch in den übrigen Blaubart-Märchen „nähere Ausführungen über die Intentionen der Handlungsträger“ (Uther 1988, 35)1. Dieses Prinzip der Aussparung entspricht dem Volksmärchen als einem mündlichen Genre. Es war vor allem Max Lüthi, der diese charakteristische Eigenschaft des europäischen Märchens untersuchte und festgestellte, sie sei mithin ein Grund seiner anhaltenden Faszination, indem der Deutungshunger der Hörenden und Lesenden nicht vorschnell gestillt, sondern vielmehr angeregt werde: „[I]n den allermeisten Märchen aber wird nicht der geringste Versuch gemacht, zu erklären“ (Lüthi 1975, 81 f.). Nichtmotivierung und „Offenheit der Motivation“ kennzeichneten aber das Märchen überhaupt; „solche Offenheit, Stumpfheit, Inkongruenz, Imperfektion“ aber verleihe ihm „den Schimmer des Geheimnisses“ (Lüthi 1975, 83). Das Märchen dulde in seinem Gefüge „auch blinde Stellen […], blinde und stumpfe Motive und Züge, d. h. solche Motive und Einzelzüge, die entweder ganz ohne Funktion sind oder deren Zusammenhang mit dem Ganzen irgendwie ungeklärt bleibt“ (Lüthi 1975, 56). Dabei spiele es keine Rolle, ob im „Laufe der mündlichen Überlieferung der Zusammenhang“ verloren ging oder ein „verbindendes Glied“ vergessen wurde (ibid.). Daraus ergibt sich für jede neue Variante ihr eigenes Recht. Der damit einhergehende Paradigmenwechsel ermöglicht der Erzählforschung zudem, sich von einer einseitigen Fixierung auf eine „Urfassung“ zu lösen. Im oft zitierten Essay Walter Benjamins Der Erzähler benützt der Autor den Begriff der Entfaltung, um damit das narrative Potential zu bezeichnen, das einer guten Erzählung innewohne (Benjamin 1989, 446). Es sei „nämlich schon die halbe Kunst des Erzählens, eine Geschichte, 1
Varianten finden sich in Deulin 1969, 173–189; Hartlan 1885; Saintyves 1923, 353–396; Heckmann 1930; Delarue 1997, 182–199 u. Raphoz 1995.
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indem man sie wiedergibt, von Erklärungen freizuhalten.“ Der „psychologische Zusammenhang des Geschehens aber“ werde dadurch dem Leser nicht aufgedrängt; es sei diesem vielmehr freigestellt, „sich die Sache zurechtzulegen, wie er sie versteht“ (Benjamin 1989, 445). Herodot, den er als Beispiel heranzieht, erkläre nichts; sein Bericht sei „der trockenste“. Die Erzählung bewahre ihre Kraft und „ist noch nach langer Zeit der Entfaltung fähig“ (Benjamin 1989, 446). Im 14. Kapitel des dritten Buches seiner Historien finde sich eine Geschichte, aus der sich lernen lasse, wie eine gute Erzählung funktioniere (Herodot 1977, 371–375; Herodot 1973, 229–231): „Sie handelt von Psammenit. Als der Ägypterkönig Psammenit von dem Perserkönig Kambyses geschlagen und gefangen genommen worden war, sah Kambyses es darauf ab, den Gefangenen zu demütigen. Er gab Befehl, Psammenit an der Straße aufzustellen, durch die sich der persische Triumphzug bewegen sollte. Und weiter richtete er es so ein, dass der Gefangene seine Tochter als Dienstmagd, die mit dem Krug zum Brunnen ging, vorbeikommen sah. Wie alle Ägypter über dieses Schauspiel klagten und jammerten, stand Psammenit allein wortlos und unbeweglich, die Augen auf den Boden geheftet; und als er bald darauf seinen Sohn sah, der zur Hinrichtung im Zuge mitgeführt wurde, blieb er gleichfalls unbewegt. Als er danach aber einen von seinen Dienern, einen alten, verarmten Mann, in den Reihen der Gefangenen erkannte, da schlug er mit den Fäusten an seinen Kopf und gab alle Zeichen der tiefsten Trauer“ (Benjamin 1989, 445). Indem Herodot das Verhalten Psammenits und das ihm zugrunde liegende Motiv nicht erklärt, blieb und bleibt die Geschichte offen für immer neue Deutungen bzw. Erzählungen2. In der älteren Erzählforschung ist in Bezug auf Perraults Blaubart von „Ungereimtheiten“ die Rede. Zwar ist nach Emil Heckmann diese französische Erzählung von „dramatischer Wirksamkeit und scheinbar abgerundet in ihrer Handlung“ (Heckmann 1930, 132). Es fielen jedoch zahlreiche Unstimmigkeiten auf. Wenn Blaubart aus reiner Mordlust töte, warum stelle er dann vorher die Gehorsamsprobe an? Und „[w]arum gibt er den Frauen andererseits den Schlüssel, wenn er fürchtet, sein schreckliches Geheimnis entdeckt zu sehen und verraten zu werden?“ (Heckmann 1930, 132 f.). Und sei es nicht unwahrscheinlich, wenn er die Frauen lediglich 2
Benjamin verschweigt allerdings, dass in der Erzählung Herodots der Perserkönig Kambyses, über das Verhalten Psammenits durch Aufpasser informiert, ihn fragen lässt, warum er erst beim Anblick des Bettlers (es handelte sich nicht um einen Diener) diesem „solche Ehre erwiesen“ habe, worauf Psammenit antwortet: „‚Sohn des Kyros, das Leid in meinem eigenen Hause war zu groß, um es zu beklagen, doch das Elend des Gefährten war der Tränen wert, der aus reichem Glück gestürzt und an den Bettelstab gekommen ist, jetzt, an der Schwelle des Greisenalters‘“ (Herodot 1973, 231). Herodot gibt also durchaus eine Deutung, aber sie bleibt Teil der Erzählung.
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wegen ihres Ungehorsams bestrafe, nachdem er sie zur Neugierde gereizt und zur Übertretung des Verbotes verleitet habe? Wer so mordlustig sei, bedürfe keines Vorwandes (Heckmann 1930, 133). Die Ursache für diese Ungereimtheiten liegt nach Heckmann darin begründet, dass wir es mit Entstellungen der ursprünglichen Fassung zu tun hätten. Nach Karl Voretzsch’ Artikel „Blaubart“ im Handwörterbuch des deutschen Märchens, der ebenso argumentiert, seien Sinn und Ursprung des Märchens verdunkelt: „Die moralisierende Erklärung ‚bestrafte Neugier der Frau‘ scheidet von vornherein aus: der Tod für bloße Neugier wäre eine unverhältnismäßig harte Strafe, der Mörder ist nicht der legitime Richter hierfür, und er selbst reizt ja die Frau durch Tun und Reden geradezu zum Übertreten des Verbots […]. Auch die historische Ableitung darf als erledigt gelten: Gilles de Rais, 1440 hingerichtet, war nur einmal verheiratet und hat keine Frauen, sondern Kinder gemordet, die er zu rituellen oder sadistischen Zwecken mißbrauchte. Daß er in seiner Heimat Gegenstand der Ortssage und gelegentlich, in bretonischer Überlieferung, mit dem Blaubart vermischt wurde, kommt für den Ursprung des Märchens nicht in Betracht. J. Grimms Gedanke, der blaue Bart hänge mit dem Aussatz zusammen, der Mörder habe sich durch Baden in Jungfernblut heilen wollen, ist eine bloße Vermutung: dafür hätte die Ermordnung eines einzigen Mädchens genügt, und außerdem macht er von dem Blute der Ermordeten überhaupt keinen Gebrauch. Noch weniger wird man die mythische Erklärung gelten lassen: die überall eindringende Morgenröte = die neugierige Frau, der sie verschlingende Tag = Ritter Blaubart. Für Herleitung aus der Vampyrsage sind keine Anhaltspunkte gegeben. Eine Erklärung des Märchens als Totenmythus wäre an und für sich wohl möglich […], ist aber mit den Menschenfresservarianten, die sicher unursprünglich sind […], nicht zu begründen“ (Voretzsch 1930/1931, 268). An Charles Perraults La Barbe bleue (1697) lässt sich nun genauer untersuchen, wie dieses Prinzip der Verweigerung psychologischer Erklärungen und Motivierungen funktioniert. Die Frage drängt sich auf, ob Perrault in seiner literarischen Bearbeitung, wenn es denn eine ist (und La Barbe bleue also auf mündliche Varianten zurückgeht), dieses Prinzip des Volksmärchens erkannt und bewusst angewandt hat, indem er anstelle der Wahrscheinlichkeit willkürliche Zufälle setzt. Zu Beginn heißt es: „[D]och zu seinem Unglück hatte der Mann einen blauen Bart: der machte ihn so hässlich und schrecklich, dass es keine Frau und kein Mädchen gab, das nicht vor ihm davongelaufen wäre“ (Perrault 2001, 74)3. Indem 3
„[…] mais par malheur cet homme avait la Barbe bleue: cela le rendait si laid et si terrible, qu’il n’était ni femme ni fille qui ne s’enfuit de devant lui“ (Perrault 1991, 257).
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Perrault an die Stelle einer motivierten Beziehung die Kontingenz eines ‚malheur‘ setze, lässt er, nach Winfried Menninghaus, „zugleich das gestaltästhetische Kontinuum von Ethik und Ästhetik brüchig werden, das Hässlichkeit als Zeichen von Bosheit auslegt. Darin steht er, gerade kraft der Zutat einer (de)motivierenden Formel, dem Märchen selbst näher als die metaphorischen Abbildungen von ‚barbe‘ und ‚bleue‘ auf das Wesen ihres Trägers“ (Menninghaus 1995, 74). Der Bart war im 17. Jahrhundert ein Diskussionsthema. Es ging unter anderem, etwa im Italien des 17. Jahrhunderts, auch um die Bärte der Kleriker (in der Regel kinderlose Junggesellen): „In dieser Kultur, in der […] die Männlichkeitswerte sehr ernst genommen wurden, waren Bärte ein Symbol männlicher Stärke: ‚Der Bart ist ein Zeichen der Männlichkeit […] Bartlosigkeit ist etwas für Kinder, Eunuchen, für Frauen‘“ (Burke 1986, 133), schreibt Giovanni Bonifacio in L’arte de’ cenni (Venezia, 1616, S. 78) (Burke 1986, 207). Der Bart als „phylogenetischer Terminalhaarrestbestand unserer ehemaligen Vollbehaarung“ signalisiert nach Christina Wietig „klaren Sexualdimorphismus“. Als Symbol der Lebenskraft „durch sein immerwährendes Wachstum und als optisches Zeichen der Fortpflanzungsfähigkeit“ wurde der Bart „für die visuelle Kommunikation instrumentalisiert und zum exponierten Kultsignal“ (Wietig 2005, 1). Gibt es also einen Grund, warum „La Barbe bleue“ sich „la barbe bleue“ nicht rasiert? Das in Perraults Text angelegte Sprachspiel zwischen pars (Teil) und toto (Ganzem), zwischen der Sache („la barbe bleue“) und seinem Träger bzw. dem Namen („la Barbe bleue“), wird bewusst und konsequent ausgekostet. Die Pointe liegt darin, dass für Blaubart grammatisches Geschlecht und tatsächliches Geschlecht auseinander gehen: „L’article ‚la’ peut faire croire que c’est l’histoire d’un objet, d’une barbe, qui va être contée, et que le porteur de la barbe n’est qu’un personnage secondaire. […] Pour l’instant, remarquons simplement que ce conte va parler d’un personnage a priori viril en faisant précéder son nom d’un article féminin. Jamais Perrault ne parle de ‚Barbe bleue‘, mais toujours de ‚la Barbe bleue‘“ (Mothe 1999, 14). Bei der Farbe des Barts von Barbe-bleue handelt es sich um ein schicksalhaftes Unglück. Nach Monika Szczepaniak steht die Farbe Blau symbolisch „für Grausamkeit, Kälte, Tod, Nacht und der blaue Bart des Frauenverführers und Frauenvernichters kann als Verweis auf Blaubarts Abweichungen von der kulturellen Männlichkeitskonstruktion ausgelegt werden. Der Bart als Signum der Virilität ist ‚nicht in Ordnung‘“ (Szczepaniak 2005a, 194). In Goethes Farbenlehre von 1810 heißt es zu der Farbe Blau: „Die Farben von der Minusseite sind Blau, Rotblau, und Blaurot. Sie stimmen zu einer unruhigen, weichen und sehnenden Emp-
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findung. […] So wie Gelb immer ein Licht mit sich führt, so kann man sagen, daß Blau immer etwas Dunkles mit sich führe. […] Diese Farbe macht für das Auge eine sonderbare und fast unaussprechliche Wirkung. Sie ist als Farbe eine Energie; allein sie steht auf der der negativen Seite und ist in ihrer höchsten Reinheit gleichsam ein reizendes Nichts. Es ist etwas Widersprechendes von Reiz und Ruhe im Anblick. […] Wie wir den hohen Himmel, die fernen Berge blau sehen, so scheint eine blaue Fläche auch vor uns zurückzuweichen. […] Wie wir einen angenehmen Gegenstand, der von uns flieht, gern verfolgen, so sehen wir das Blaue gern an, nicht weil es auf uns dringt, sondern weil es uns nach sich zieht. […] Das Blau gibt uns ein Gefühl von Kälte, so wie es uns auch an Schatten erinnert. Wie es vom Schwarzen abgeleitet sei, ist uns bekannt. […] Zimmer, die rein blau austapeziert sind, erscheinen gewissermaßen weit, aber eigentlich leer und kalt. […] Blaues Glas zeigt uns die Gegenstände im traurigen Licht […]“ (Goethe 1989, 233 f.)4. Auch Jean-Pierre Mothe unterstreicht für die Farbe „Blau“ die Aspekte der Leere, der Kälte, der asexuellen Jungfräulichkeit. In der volkstümlichen Sprache drücke „blau“ einen Verlust, ein Fehlen, eine Kastration aus5. Mit Catherine Velay-Vallantin ist daran zu erinnern, dass bei Perrault die Farbe des Bartes Ausdruck seines fehlenden Adels ist: „barbe bleue n’est pas sang bleu“ (Velay-Vallantin 1992, 70). Seine (Re-)Feudaliserung bzw. Nobilitierung zum Ritter und – parallel dazu – die Verwandlung seiner „maisons“ in Burgen findet erst im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts statt und wird interessanterweise zuerst von den Bildern bzw. Illustrationen zu Perraults Text aufgegriffen. Im Text verweist allein der erwähnte Turm auf ein Schloss. Zu den körperlichen Eigenschaften bzw. Deformationen tritt weiter ein Verhalten, das, weil ohne Erklärung, die Phantasie der Rezipienten anregt und zu unterschiedlichen Deutungen führt. Indem Blaubart seine Nachbarin, eine Dame von Stand, die zwei „wunderschöne Töchter“ hat, bittet, ihm eine zur Frau zu geben, wobei er ihr die Wahl lässt, welche es sein sollte (Perrault 2001, 75)6, muss man schließen, dass es ihm nicht auf eine bestimmte Frau ankommt, sondern auf eine Frau überhaupt. Sucht Blaubart 4 5
6
Vgl. auch Davies 2001b, 80, der ich das Zitat verdanke; zu der blauen Farbe bei den Totenbräuchen vgl. Geiger 1916. „Le bleu est la plus immatérielle des couleurs: le bleu est profond mais sans consistance, c’est la couleur de la transparence et du vide. C’est une couleur froide, qui neutralise les objets qu’elle recouvre: […] Les enfants impubères, non sexués, sont voués au bleu ou au blanc, qui sont les deux couleurs de la Vierge. En langage populaire, le bleu exprime une perte, un manque, une castration, sa signification est négative: n’y voir que du bleu est ne rien voir, être bleu c’est perdre conscience dans l’alcool“ (Mothe 1999, 14f.). „Il lui en demanda une en Mariage, et lui laissa le choix de celle qu’elle voudrait lui donner“ (Perrault 1991, 257).
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eine Alibifrau (Mothe 1999, 16), da offenbar die persönliche Beziehung, die Zuneigung oder gar Liebe keine Rolle spielen? Dem ungalanten (Nicht-) Werben zuvor folgt nun eine formvollendete Werbung: „Dem sonst eher ungeschlachten Blaubart wird eine aristokratisch-großbürgerliche Kultur der Geselligkeit verliehen: Er gibt Landpartien, bewährt sich als ‚maître de plaisir‘, weiß für sich einzunehmen“ (Menninghaus 1995, 77). Auch Jeran-Pierre Mothe bemerkt das Fehlen von Eifersucht auf Seiten Blaubarts und von Verliebtheit und eine scheinliberale Attitude, indem er seine zukünftige Frau gleichsam einlädt, sich einen Liebhaber zuzulegen: „On peut ajouter que ce nouveau marié, non seulement n’apparaît pas jaloux, mais semble inciter sa femme à prendre un amant comme le ferait un mari impuissant qui cherche à stabiliser son mariage en fermant les yeux sur une liaison qu’entretient une épouse qu’il ne peut satisfaire“ (Mothe 1999, 17). Die Impotenz Blaubarts zeigt sich, nach Mothe, auch darin, dass er, trotz der vorausgegangenen Ehen, keine Söhne und Töchter hat, kinderlos ist (Mothe 1999, 16)7. Unter den vielen Unmotiviertheiten und Auffälligkeiten in Perraults La Barbe bleue seien zwei weitere herausgegriffen. Da ist einmal der Widerspruch zwischen einer aktiven Heldin im ersten Teil des Märchens und einer passiven Heldin im zweiten Teil. Dieser zweite Teil beginnt, nachdem sie sich von Blaubart eine Viertelstunde ausbedungen hat, um sich auf den Tod vorzubereiten, mit dem plötzlichen Auftauchen einer weiblichen Helferin, ihrer älteren Schwester Anne: „Als sie allein war, rief sie ihre Schwester und sprach zu ihr: ‚Anne, meine Schwester‘, denn so hieß sie, ‚ich bitte dich, steig hinauf auf den Turm und sieh, ob meine Brüder noch nicht kommen; sie haben mir versprochen, mich heute zu besuchen‘“ (Perrault 2001, 78)8. Marc Soriano spricht von einem bizarren Detail, dass Schwester Anne, die sich nicht den Nachbarn und guten Freunden angeschlossenen hatte, welche, kaum hatte Blaubart seine Reise angetreten, unaufgefordert die Heldin in ihrem Haus aufsuchten, plötzlich im Haus ist (Soriano 1977, 169). Anders als in den mündlichen Versionen des 19. und wohl auch jenen des 17. Jahrhundertes, die Perrault gekannt haben dürfte, ruft die Heldin nicht ihre beiden Brüder und bedient sich auch nicht verschiedener Helfer 7
8
„Der Umstand, dass dem kriminellen Frauenhelden keinen Kindersegen zuteil wird, ist aus der literarischen Blaubart-Konstellation nicht wegzudenken. Es dürfte seine Erblosigkeit sein, die ihn von der Möglichkeit ausschließt, den Status eines unbestrittenen (gesellschaftlich akzeptierten) patriarchalischen Herrschers voll zu genießen, ist doch Vaterschaft eine der wichtigsten Qualitäten des Männlichen in der patriarchalen Gesellschaft. Blaubart ist eben ein verhinderter Patriarch und Impotenz möglicherweise sein Geheimnis“ (Szczepaniak 2002, 346). „Lorsqu’elle fut seule, elle appela sa sœur, et lui dit: ‚Ma sœur Anne (car elle s’appelait ainsi), monte, je te prie, sur la haut de la Tour, pour voir si mes frères ne viennent point; ils m’ont promis qu’ils me viendraient voir aujourd’hui“‘ (Perrault 1991, 260).
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(Hund, Hündchen, sprechender Vogel), um diese zu benachrichtigen: „Dans la Barbe-Bleue de Perrault, l’héroïne n’appelle pas ses frères au secours. Si elle compte sur leur arrivée, c’est que, dit-elle, ‚ils m’ont promis qu’ils me viendraient voir aujourd’hui‘“ (Velay-Vallantin 1992, 45).9 Während nun der Dialog zwischen der Heldin und ihrer Schwester Anne einsetzt, hatte sich Blaubart mit einem großen Hirschfänger versehen und schrie „mit Donnerstimme zu seiner Frau hinauf: ‚Komm sofort herunter, oder ich komme hinauf‘“ (Perrault 2001, 78)10. Warum ist aber die Heldin, wie ihre Schwester Anne, oben? Handelt es sich um eine Unaufmerksamkeit von Perrault? Verschiedene Erklärungen sind möglich: Die Heldin hält selber Ausschau nach ihren Brüdern und steigt deshalb auch auf den Turm. Oder wahrscheinlicher: In den mündlichen Versionen geht die Heldin in ihre Zimmer nach oben oder wird von Blaubart nach oben geschickt, um ihr Hochzeitskleid oder ihr schönstes Kleid anzuziehen, seltener auch, um sich zu entkleiden (Velay-Vallantin 1992, 45)11. Die Szene mit dem Hochzeitskleid hat Perrault weggelassen: „[M]ourir dans ses habits de noces lui apparaît comme une fantaisie étrange“ (Velay-Vallantin 1992, 46). Das Hinaufgehen bzw. Oben-sein aber hat er belassen. Gilbert Rouger merkt deshalb in seiner Ausgabe der Contes Perraults an: „Seule, la sœur Anne est montée à la tour: ‚là-haut‘ laisse supposer que la femme de la Barbe-Bleue est allée ‚prier Dieu‘ dans son appartement‚ ‘du premier étage‘“ (Perrault 1972, 302, n. 2). Ein letztes Detail: im Dialog zwischen der Heldin und ihrer Ausschau haltenden Schwester betragen sich seltsamerweise beide, als ob sie allein wären, indem beide jeweils nur von „mes frères“ sprechen, statt von – was zu erwarten wäre – „nos frères“. Die zwei oder drei Textstellen belegen hinlänglich das „ungeheure Potential an Geschichten“ (Keck 2001, 102), das in Perraults La Barbe-Bleue angelegt ist und im Laufe seiner Karriere in immer neuen Narrativen entfaltet, gedeutet, ausgelotet und hinterfragt wurde und wird. Das Skandalöse des Märchens aber liegt darin, daß die Heldin für ihre Tat, die darin besteht, das gott-väterliche Verbot gebrochen zu haben, noch belohnt wird. Die Frage ist deshalb berechtigt: Wer ist in „La Barbe bleue“ Täter, wer ist Opfer? Die darin vollzogene Inversion der Täter/Opfer-Opposition aber „hat den Effekt, die Geschlechterdifferenz der Moral selbst auszustellen. Die Allgemeingültigkeit der moralisch-sittlichen Gesetze wird 9 10 11
Vgl. dazu Marc Soriano und seine Nachweise, wie Perrault den Zufall systematisch in den dramatischen Ablauf einbaute; Soriano 1977, 164 f. „Cependant la Barbe bleue, tenant un grand coutelas à sa main, criait de toute sa force à sa femme: ‚Descends vite, ou je monterai là-haut“‘ (Perrault 1991, 260). Vgl. Heckmann 1930, 116 f., 221 f.; Delarue 1997, 191–196; Scherf 1982, 24; Scherf 1995, 95, mit Verweis auf ATU 333 (Die Kleine und der Wolf).
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unterminiert, indem sie sich auf ihre geschlechterdifferente Anwendung verwiesen sehen“ (Keck 2001, 104). Es lassen sich in der Weiterentwicklung des Erzähltypus’ zwei Bewegungen beobachten. Da ist einmal die narrative Entfaltung, wie sie Benjamin beschrieben hat, indem das Nicht-Erklärte, die fehlende Motivierung erzählend in immer neuen Varianten gedeutet wird. Dieser nicht abschließbare Prozess ist sowohl auf dem Gebiete der erzählenden Literatur, des Bilderbuches und Bilderbogens, des Theaters, der Oper und der Operette und des Films zu beobachten und untersucht worden12. Neben der Entfaltung gibt es aber noch eine andere Bewegung: Hier funktioniert für eine neue Erzählung das „ursprüngliche“ Blaubart-Narrativ als Schlüssel, als Erklärung und Deutung in einem. Das Blaubart-Märchen ist gleichsam der Plot, die Fabel, der rote Faden, der hinter der Oberfläche einer Erzählung zu entdecken ist. Die neuere Literaturwissenschaft stellt – etwas unspezifisch – für beide Bewegungen den Begriff der Intertextualität zur Verfügung. Nach Renate Lachmann handelt es sich beim Phänomen der Intertextualität um einen „Dialog mit der Kultur“, um das „Einspielen von Texten der Vergangenheit in einen ‚neuen‘ textuellen Zusammenhang“, der „sich mit Hilfe von Verfahren des Verbergens, des Aufbaus von Strukturen, die manifest und latent zugleich sind, durch die Kreuzung zweier Kodes, also durch Doppelkodierung“ (Lachmann 1990, 11), vollzieht. In der ersten Bewegung wird die Latenz des Ausgangstextes erzählend in neuen Versionen entfaltet und manifest, so dass diese jenen zu erhellen versuchen. In der zweiten Bewegung ist es die neue Erzählung, die durch den „alten“ Ausgangstext erst verständlich wird. Alfred Döblin (1878–1957) hat für beide Bewegungen Dichtungen geschaffen. Seine Erzählung aus dem Jahr 1911 Der Ritter Blaubart (Döblin 1911) ist der ersten Bewegung zuzuordnen, der 1935 zum ersten Mal erschienene Roman Pardon wird nicht gegeben (Döblin 1938) der zweiten. Die „Produkt-Beschreibung“ des Romans auf www.weltbild.de lautet folgendermaßen: „Eine Witwe zieht nach Berlin und versucht sich dort mit ihren drei Kindern durchzuschlagen. Nach einem gescheiterten Selbstmordversuch richtet sich ihr neu erwachter Ehrgeiz auf die Karriere des ältesten Sohnes. Und tatsächlich gelingt dem Sohn der gesellschaftliche Aufstieg. Dann aber stellt die Wirtschaftskrise plötzlich wieder alles in Frage. Wie immer bei Döblin erzählt auch dieser Familienroman aus dem Jahr 1935 zugleich die Geschichte einer ganzen Epoche.“ Soweit die romanhafte Oberfläche. 12
Vgl. u. a. Davies 1997; Davies 2000; Davies 2001a; Davies 2001b; Davies 2002; Frenzel 1992, 107–111; Hermansson 2001; Mank 1994; Scherer 2003; Szczepaniak 1999; Szczepaniak 2005b; Tatar 1987, 156–178, 262–265; Tatar 2004 u. Wertheimer 1999.
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Im Roman kommt allerdings der Name „Berlin“ an keinem Ort vor; es ist nur immer von „Großstadt“ die Rede. Der gesellschaftliche Aufstieg Karls zum Alleininhaber einer Möbelfabrik sollte durch eine Ehe besiegelt werden. „Man hatte Glück, fand den Regierungsbaumeister und seine einzige Tochter Julie“ (Döblin 1938, 176). Karl war, wie Julie rasch merkte, „wenig biegsam“ (ibid., 179). Und: „Es war deutlich, daß es Karl war, der sich hier, in Stein und Erz, seine Ehe baute und sie [Julie] dabei einmauerte“ (Döblin 1938, 180). Ihr gemeinsames Heim war für ihn „mein Schloß“ (ibid., 181), „meine Festung“ (Döblin 1938, 235). In der großen Wohnung gibt es sogar ein „Museum“ mit einem eisernen Ritter („das blecherne Klappergestell“ [Döblin 1938, 236]). Karl ist für Julie „der Unnahbare“ (ibid., 221), „[d]er Tyrann“, ein „unglaublicher Mensch“, dem sie hier „diene […] sein Theater zu machen.“ (ibid., 237) Sie wiederum ist „sein[ ] fleischliche[r] Besitz, Gebärerin seiner Kinder“ (ibid., 233). Dabei wollte sie nur „Entlastung von sich. Sie wollte wie jedes menschliche Wesen anderes menschliches Leben, um sich zu erneuern. Sie wollte die strengen düsteren Gefängnismauern, die ihr Herr und Meister um sie und sich aufgerichtet hatte und die er seine Ehe nannte – aber es war nur ein Dienst – sprengen“ (ibid., 251). Sie schlafen ein letztes Mal zusammen. Eines Sonntagvormittags setzt Karl sich um neun Uhr allein an den Kaffeetisch: Es hieß: sie schlafe noch. „Er konnte sich in seiner Ordnung nicht stören lassen, […]. Er […] klingelte nach dem Hausmädchen, und nun nahm er mit ihr den sonntäglichen hausherrlichen Inspektionsgang durch die Wohnung vor […]. An Juilies stillem Zimmer ging man vorbei, Karl sagte, man werde da nachmittags besichtigen. In seinem Museum berührte er die Blechhand des Ritters: Was sagst du nun zu mir, alter Freund? Nachher kam ihm der regelwidrige Einfall, in das Kinderzimmer zu gehen, nun aber nicht, um nach Staub, Ordnung und Abnutzung zu sehen, sondern – um sich zu den beiden Kindern zu setzen! Das Mädchen, Klein-Julie, war elf Jahr, der Junge, Klein-Karl, neun. Der Gang im Kinderzimmer war mit einem dicken Läufer belegt, die Tür stand offen, er hörte die Stimme des Fräuleins, sie las von einem König Blaubart, der viele Frauen hatte und eine nach der andern beseitigte, bis eine schlaue kam, mit der er’s nicht machen konnte. Er hörte dieses Ende der Geschichte, das Fräulein wurde oft von Klein-Julie unterbrochen, die nicht schnell genug hören konnte und erst wie sie kreischte und erst schimpfte: ‚Pfui, aber der kriegt’s, nicht wahr, Fräulein, der kriegt’s, und das Fräulein küßte und sie nicht weiter lesen konnte, als sie ankündigte: ‚Jetzt kommt’s aber‘“ (Döblin 1938, 270–271)13. Als Karl ins Zimmer tritt 13
Der Name „König Blaubart“ lässt an die Blaubartversion in Ernst Meiers Deutsche Volksmärchen aus Schwaben (1852) denken; vgl. Meier 1852, 134–137 (Nr. 38); Hartlan 1885, 195–196; Scherf 1982, 25.
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und das Kinderfräulein fragt, was sie eben gelesen habe, herrscht betretenes Schweigen. Auch die Kinder wagen nicht zu antworten. Das Blaubart-Märchen deutet hier den Roman, so sagten wir. Sein Auftritt ist – wir haben es zu belegen versucht – von langer Hand vorbereitet. In einem Punkt erklärt der Roman hingegen auch das Märchen14. Als Julie und Karl zum letzten Mal miteinander schlafen, teilt der Erzähler uns die Gedanken Julies mit: „Und sie lag in den Armen des kräftigen Mannes, und es war das Durcheinander: mich hält mein Mann, es ist Karl, und mich hält ein Mann, den ich nicht kenne. Er hat sich noch nicht mit mir vermählt. Ob er es will? Vielleicht will er es überhaupt nicht; er will immer nur sein liebes Lämmchen an einem Strick. Vielleicht muß ich noch ein Jahrzehnt mit ihm liegen, bis er sich mit mir vermählt“ (Döblin 1938, 268 f.). Hat nicht auch Blaubart sich niemals mit seinen Frauen vermählt und anstelle des nicht stattgefundenen „kleinen Todes“ den „großen Tod“ inszeniert (die Braut im Brautkleid, so einige mündliche Versionen) und vollzogen? Nach Jack Zipes sind beide, Blaubart und seine Frau, berechnende Individuen. Während sie aber gewinnt, wird er Opfer seiner eigenen „miscalculations“ (Zipes 2006, 157). Es gibt kein Geheimnis, das Blaubart zu verbergen hätte, außer dem, dass es kein Geheimnis gibt: „[…] the secret truth of his secret is that there is no secret“ (Lewin 1996, 208). Sollten wir uns also von den Kindern belehren lassen, die nach einem anonymen Rezensenten von Ludwig Tiecks Ritter Blaubart. Ein Ammenmärchen (1797), die besseren Märchen-Kenner als wir Erwachsenen sind: „Ueberhaupt: sind aber Kinder im Fache der Mährchen wohl die besten Kenner, und es ist eine misliche Sache sie Erwachsenen vorzutragen. Diese haben meistens schon zu vielerley im Kopfe, um sich einem ganz unbefangenen Spiele der Phantasie hinzugeben. Sie können sich nicht vorstellen, dass es mit dem blossen einfältigen Mährchen gethan sey: sie allegorisiren es, deuten es, weil sie meynen, es müsse durchaus noch etwas dahinter stecken“ (Allgemeine Literatur-Zeitung 1797, 164).
Literaturverzeichnis Allgemeine Literatur-Zeitung 4, Nr. 333 [19.10.1797]. Jena, 161–165 (Rezension von Ludwig Tiecks Ritter Blaubart. Ein Ammenmärchen [1797] und Der gestiefelte Kater, ein Kindermärchen in drey Akten mit Zwischenspielen, einem Prologe und Epiloge [1797]). Benjamin, Walter: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows. In: Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Eds. Rolf Tiedemann, Hermann 14
Vgl. dazu Benson 2000, 244.
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V. Erzählforschung und visuelle Medien
Helge Gerndt
Mit Bildern erzählen Skizze für ein enzyklopädisches Stichwort Wer eine Geschichte erzählen will, muss das nicht unbedingt mit Worten tun – man kann sich auch visueller Darstellungsmittel bedienen. Erzählungen können als Bild gezeichnet, als Bilderfolge gestaltet, als Puppenoder Schattenspiel vorgeführt werden. Solches Erzählen mit Bildern umfasst unter dem Terminus Bilderzählung alle Formen visuellen Erzählens, die sich optisch manifestieren. Bilderzählung meint also nicht: eine Erzählung, die von Bildern handelt. Es geht weder um Bilder, die auf wunderbare Weise entstanden sind (EM 2, 326–328) noch um unerklärliches Bildverhalten, wenn etwa ein Bild übernatürlich an einen bestimmten Ort gelangt (EM 6, 677–682) oder magischen Zwecken dient (EM 2, 319–326). Auch Denkmalerzählungen (EM 3, 421–427) sind nicht gemeint. Weiterhin geht es nur zum Teil um jene medialen Ausdrucksformen, die als Bildquellen für die Erzählforschung von Bedeutung sind, wenn sich dort Erzählungen widerspiegeln: Bauplastik, Holzskulpturen und Textilien des Mittelalters, illustrierte Einblattdrucke und Flugblätter, geistlicher Bänkelsang, Bilderbogen, Bildpostkarten und Briefmarken, Werke der „hohen“ Kunst oder der Laienmalerei (EM 2, 328–373). Bildobjektgruppen, in denen sich Erzähltes aufspüren lässt, sind in der Enzyklopädie des Märchens unter quellenkundlichen Aspekten dargestellt. Gelegentlich werden auch grundsätzliche Fragen des Bilderzählens gestreift: das Erzählen in Comics (EM 3, 88–101), im Film (EM 4, 1111– 1132) und im Fernsehen (EM 13, 334–347). Ferner gibt es Artikel über Bildphänomene, die erzählende Elemente enthalten, wie vor allem HansJörg Uthers große Abhandlung über Illustration (EM 7, 45–82); darüber hinaus sind Emblem (EM 3, 1379–1391) und Karikatur (EM 7, 973–981) behandelt, ferner mit Bildern ausgestattete Massenmedien: Chapbooks (EM 2, 1232–1240), Fabelbücher (EM 4, 745–764), Flugblätter (EM 4, 1339–1358), Illustrierte Zeitschriften (EM 7, 82–88), Lesebücher (EM 8, 926–942) sowie Tapisserien (EM 13, 223–227). Was jedoch bisher fehlt, ist ein Abriss über Erscheinungsformen, Funktionen und Probleme des (populären) Bilderzählens generell.
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1. Visuelles Kommunizieren 1.1 Was leistet Visualität in der menschlichen Kommunikation? Jahrtausende lang bildete die Sprache in Wort oder Schrift das vorherrschende Kommunikationsmedium, ergänzt durch den Körperausdruck in Mimik und Gestik (EM 5, 782–792). Zusätzlich übermittelten künstliche Bilder visuelle Informationen (als Felszeichnung, Tempelrelief, Spielkarte). Mit den technischen Reproduktionsmöglichkeiten steigerte sich in der Neuzeit diese Art bildlicher Alltagskommunikation (Flugblattdrucke, Werbeplakate, Fotografie). Während das 19. Jahrhundert insgesamt als ein – bereits gut bebildertes – „Lesejahrhundert“ gelten darf, ist um 1900 mit der Erfindung des Films, dem später Fernsehen und Internet gefolgt sind, das massenmediale Bildzeitalter angebrochen. Die Auffassungen darüber, wie Bilder kommunizieren, was sie ausdrücken können und dürfen, unterscheiden sich in verschiedenen Kulturen und Zeiten. Ursprünglich besaßen bildliche Darstellungen wohl vor allem magische und religiöse Funktionen. Der Glaube regulierte die Art der Bilddarstellung. In Osteuropa vermitteln Ikonen Essentielleres über Heilige als ein bloßes Bild; der katholischen Kirche dienen Kultbilder zur Verehrung und Andacht; evangelische „Bekenntnisbilder“ erinnern – neben katechetischer Belehrung – an die Confessio Augustana (Brückner 2007). Mit der Renaissance erfüllten Ölgemälde repräsentative Aufgaben (Porträts) oder befriedigten ästhetische Bedürfnisse (Stillleben); Kupferstiche in Flugblättern veranschaulichten Nachrichten; bebilderte Druckwerke unterstützten didaktische Ziele (Fibel); Druckgrafik hatte oft einen religiösen, sozial-normativen oder moralischen Zweck (Bringéus 1982, 19–39). Freilich erscheinen solche Bildbotschaften selten erzählend, sondern eher beschreibend, berichtend oder erklärend. Neben Übergangsformen zwischen Schrift und Bild wie die Kalligrafie werden häufig Sprache und Bild ins jeweils andere Medium transponiert. Beispielsweise hat Pieter Brueghel d. Ä. Sprichwörter malerisch umgesetzt, während Sigmund Freud Traumbilder beschrieb. In beiden Fällen stellt sich die Frage, inwieweit solche wechselseitigen Übersetzungen die Inhalte verändern. Welchen Bedingungen unterliegt die adäquate Visualisierung bzw. Versprachlichung, und wo liegen deren Grenzen? 1.2 Die Ausdrucksmöglichkeiten von Schrift und Bild sind verschieden. Beim Sagen reiht sich ein Wort an das nächste, im Zeigen wird ein Gesamteindruck präsentiert. Entsprechend hat Lessing (1766) Poesie als Zeitkunst, Maler- und Bildhauerei dagegen als Raumkünste charakterisiert und damit diachrones Erzählen und synchrones Beschreiben als komplementäre Modi der Darstellung unterschieden. Doch statt Polarität herrscht hier eine
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Unschärferelation: Je präziser jeweils der Ort ins Visier genommen wird, desto unbewegter erscheint er; je aufmerksamer dagegen Vorgänge verfolgt werden, desto mehr verwischen die Umrisse der beteiligten Körper und Dinge (Koebner 1988). Sukzessivität und Simultanität sind nicht strikt getrennte Kategorien. Zum einen erfordert auch die Rezeption eines Bildes, das dem Betrachter – gegenüber der richtungsbestimmten Schrift – einen mehrseitigen Zugang ermöglicht, ihre Zeit; zum anderen ist es die Interaktion von Sprache und Bild, die Neues bewirkt. Das wahrnehmende Subjekt registriert nicht einfach Fakten, sondern selektiert sie innerhalb des Wahrnehmungsfeldes, und so ruft eine bestimmte Bildabfolge im individuellen Bewusstsein eine Bildgeschichte als intentionalen Gegenstand eigener Art hervor. Die vorgängigen Bilder geben nur den Impuls und sind mit der evozierten Bildgeschichte nicht deckungsgleich (Schnackertz 1980, 14). Während das Zeichenrepertoire der Schrift – Buchstaben, Satzzeichen – eine in sich konsistente Zeichenklasse darstellt, behaupten die entsprechenden Bildkategorien – Randlinien, Flächen, Proportionen, Kontraste, Farben – stärker ihren Sonderwert. Das Sprachliche und das Visuelle haben unterschiedliche Temperamente. Schriftzüge stimulieren die Ratio, Bilder appellieren an das Gefühl. Gemeinsam ist ihnen, dass Sprachpoesie und Bildkunst über metaphorischen Gehalt verfügen. Texte wie Bilder können entweder ein Abbild der benannten bzw. dargestellten Gegebenheit sein oder darüber hinaus das Symbol einer abstrakten Idee. Formal sind jeweils sprach- und bildspezifische Lösungen gefordert: wie realisiert man erzählte Handlungen im Bild, wie zeitliche Wiederholungen in der Fläche, wie Sprachformeln als visuelle Muster – und umgekehrt? Letztlich verkörpert die Bilderzählung jedoch kein Übertragungsproblem, sondern eine genuine Wort-Bild-Synthese. 1.3 Sprache und Bild begegnen in unterschiedlichsten Kombinationen (Bringéus 1995). Wörter sind z. B. als Inschrift auf Dingen oder als Gestaltungselemente in Bildwerke gefügt, mit abbildenden, imitierten oder erfundenen Schriftformen (Butor 1992). Bildtitel, als Unterschrift oder als Begleitinformation, sind für die Bildaussage bedeutsam. Vom reinen Bild reicht die Möglichkeitsskala formaler Bild-Text-Kombinationen bis zur Texttafel anstelle eines Bildes, wie etwa protestantische Schriftaltäre der Frühneuzeit zeigen (Brückner 2007, 111–118). Zwischen den Extrempositionen mag die visuelle oder die sprachliche Komponente dominieren. Im Votivbild, zum Beispiel, unterstützen Bild und Text einander und verstärken sich; in der Bildwerbung für Zigaretten, die den Zusatz „Rauchen kann tödlich sein“ trägt, drücken sie Gegensätzliches aus. Während im Kinderbuch der Text sich zuerst an einen erwachsenen Vorleser wendet, sollen die dazugehörigen Illustrationen Kinder fesseln.
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Die Aufmerksamkeit wird visuell gelenkt, wie etwa poetische Sprachspiele (Dencker 2002) und die so genannte visuelle Poesie (Gomringer 1996) demonstrieren. Das bedeutet aber nicht, dass es immer Bilder sind, denen sich die Augen zuerst zuwenden. Auch Textanordnungen oder eine Überschrift – z. B. beim Emblem die Inscriptio – lenken den Blick. Schrift und Bild erscheinen häufig ineinander verschachtelt oder miteinander verschmolzen. Aussagen werden durch bestimmte Ausschnitte, Blickwinkel, Beleuchtungen hervorgehoben und interpretiert, ein Textabschnitt im begleitenden Bild – oder vice versa – vereinfacht, vertieft, präzisiert, umakzentuiert oder zusammengefasst (von Criegern 1996, 115). Das jeweilige Gefüge kann die Eindeutigkeit des Inhalts erhöhen oder die Mehrdeutigkeit fördern. Verdoppelung führt zu Übersättigung oder verwässert Aussagen zur Banalität (Bringéus 1995). 1.4 Bilder sind von den mediengeschichtlichen Bedingungen, z. B. Materialeigenschaften, epochenspezifischen Vorstellungen, entscheidend geprägt. Die Erfindung der Zentralperspektive übertrug die Gesetze empirischer Wahrnehmung durch den Gesichtssinn auf die Bildkomposition. Diese Lenkung des Blicks machte Sehen zur „Sprache“ und ermöglichte überhaupt erst differenziertere bildliche Mitteilungen und die Überwindung der für das Mittelalter typischen untergeordneten kommunikativen Funktion des Bildes. Die signitive Auffassung des mimetischen Bildes in der frühen Neuzeit schuf eine eigene Form der Bildsprache, in der die Repräsentation eines Begriffs durch das Abbild des von ihm bezeichneten Sachverhalts ausgedrückt wurde, und erst mit der jüngeren Beschränkung der Bildfunktion auf die nicht-sprachliche Mitteilungsform, auf visuelle Repräsentation, erlosch allmählich das System der Blicklenkung (Warncke 1987). Ganz offenkundig erscheint die Bedeutung des medialen Kontextes für die Illustration. Diese „erhellt“ den Text (illustrare = erleuchten) und wird – umgekehrt – ohne ihn nicht voll verständlich. Freilich müssen Illustrationen dem Text nicht genau entsprechen, sie können Details ausmalen bis hin zu frei erfundenen Kompositionen, sie können einen Text entweder dokumentieren oder schmücken und – je nachdem, ob es Jugendbücher, Kalender oder Zeitschriften sind – pädagogische, popularisierende oder indoktrinierende Absichten verwirklichen. Die Produktionsbedingungen bestimmen wesentlich die Bildfunktion. Insbesondere Massenherstellung beförderte die Vervielfältigung und Verbreitung der Bildideen, veränderte den Bildcharakter generell sowie den Bildgebrauch (Brückner 1979). Die Mittlerrolle des Bildes zwischen Text und Rezipienten, etwa, trat gegenüber einer originären Bildfunktion zurück; oder: mit der Laienfotografie fand populäres Bildschaffen ein neues Betätigungsfeld.
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2. Bildliches Erzählen 2.1 Das Erzählen ist primär ein sprachlicher Vorgang, doch besitzt es immer auch eine bildliche Komponente. Es will Vorstellungsbilder evozieren. Anders als beim Beschreiben und Berichten wird eine Erzählung mit Zeitwörtern „dynamisch skizziert“. Im mündlichen Erzählen reduzieren Erzähler das Tempo, damit innere Bilder entstehen können. Sie veranschaulichen meist bewegende Ereignisse, Handlung und Wandlung, Überraschungen und Kontraste und bemühen sich um „farbige“ Gestaltung; denn die Erzählwelt wird mit dem „geistigen Auge“ betrachtet, nicht – wie ein Bericht – gedanklich reflektiert. Der spezielle Modus des Erzählens erzeugt auch eine entsprechende Zuhörhaltung (Weinrich 1985). Sein Bilderreichtum verlangt in der Form der Bilderzählung eine „narrative Struktur“, die Anfang und Ende markiert und konsekutive Bezüge zeichenhaft herstellt. Gleichwohl lassen Bilder gedankliche Plausibilität eher in der Schwebe, und die Grenze zwischen dem beschreibenden und dem erzählenden Impetus im Bild bleibt meistens unscharf. Bilderzählen stützt sich auf optische Verbildlichungen, stimuliert das ganzheitliche Wahrnehmen und bedarf der Fähigkeit des Betrachters, innere Bilder zu generieren. Die empirische Grundlage sind Bilder im engen Sinne: künstlich geschaffen, auf einem materiellen Träger (häufig Papier) fixiert und – in welcher Form auch immer – von ihrer Umgebung abgegrenzt, „gerahmt“. Das heißt: Sprach- oder Traumbilder beispielsweise verkörpern keine Bilderzählungen; sie können aber durchaus Bestandteile einer Bilderzählung sein. Das sprachliche Moment im Erzählen ist nie vollkommen ersetzbar. Wenn die Sprache nicht innerhalb oder neben den Bildern schriftlich in Erscheinung tritt, dann mag es ein Bildvorführer sein, der die Bilder mit Worten verlebendigt, oder der Bildbetrachter selbst, der sich eine Erzählung aus den Bildern still zusammenbuchstabiert. 2.2 Dass die Erzählrealität stets zweifach gegründet ist, nämlich sowohl vom Erzähler als auch vom aktuellen Zuhörer bestimmt wird, gilt auch für die Bilderzählung, sogar noch verstärkt. Die vom Bildkünstler intendierte Erzählung muss vom Bildbetrachter rekonstruiert werden. Die Intention und die Rezeption eines Bildes, das Hinein-Zeichnen und das HerausSehen, sind in der Regel weniger kongruent als das Schreiben und Lesen eines Textes, vor allem, wo es sich um eine dem Aufnehmenden unbekannte Geschichte handelt. Nur zum Teil ist die Diskrepanz den oft mangelnden Konventionen der Bildgeschichten-Aneignung geschuldet. Betrachteraktivität ist in jedem Fall für die Bildauffassung notwendig. Und
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außer der individuellen Wahrnehmung des Rezipienten beeinflusst auch dessen Imaginationsvermögen die Vergegenwärtigung der Bildgeschichte (Gombrich 1967). Bei den Bilderzählungen herrscht zwischen dem Nacherzählen altbekannter und der Präsentation neu erfundener Geschichten ein Unterschied. Es geht entweder um eine visuelle Art des „Dokumentierens“ einer überlieferten Erzählung oder um die Bilderfindung einer neu imaginierten und sprachlich noch zu realisierenden Geschichte. Die Visualisierung einer Erzählung, im ersten Fall, verlangt nicht allein, Szenen und Figuren zu illustrieren, vielmehr müssen Wirkzusammenhänge, Zeitabläufe und Raumkonstellationen in visuelle Formen transponiert werden. Visuell optimal wäre es, das gesamte Erzählgeschehen in optische Information umzusetzen, indem es mit zeichnerischen Mitteln raum-zeitlich geordnet und möglichst eindeutig gestaltet wird. Die Einfügung von Text erscheint da nur als Notbehelf. Die Versprachlichung eines Erzählbildes, im zweiten Fall, verlangt ein hohes Maß an Imagination und Wissen, damit insbesondere die historischen medienimmanenten Mechanismen erkannt werden, wie der gelenkte Blick, das bewegende Vorbild und die gefällige Belehrung (Warncke 1987). 2.3 Erzählungen als versprachlichte Imagination und Bilder als visualisierter Bedeutungszusammenhang gelten funktional oft als gleichwertig. Ob ein Bild, dem eine erzählerische Wirkung unterstellt wird, tatsächlich etwas „erzählt“, ist nicht nur eine Frage des Sprachgebrauchs, sondern auch der Perspektive (Gerndt 2004). Unter dem kritischen Blick des Historikers erscheint ein erzählbarer Handlungsvorgang niemals präzise ins Bild gesetzt, sondern allenfalls ein Sachverhalt, der eine Erzählung ahnen lässt (Giuliani 2003). Wer dagegen primär an den Bildbetrachter und dessen Wahrnehmungsfähigkeit denkt, dem erscheint es „offenkundig“, dass manches Bild eine Geschichte erzählt. Bilder bieten den Anschein der Erzählung, aber wie erreichen sie das? Wie sind hier Erzählgenres veranschaulicht, wie lässt sich bildlich ein fiktiver von einem realen Inhalt, eine subjektive von einer allwissenden Erzählperspektive unterscheiden, wie wird das Verhältnis von Erzählzeit zu erzählter Zeit visuell ausgedrückt? Und wie verbildlicht sich ein modernes Erzählen, dem die finale Erzählweise fragwürdig geworden ist (cf. EM 4, 343)? Bilder als Erzählungen zu lesen, setzt stets gegenständliche Darstellungen voraus, die man aber nicht unbedingt aus der Zentralperspektive – d. h. aus der Ich-Perspektive des Betrachters – anschauen muss. Die funktionale Einbettung eines Erzählbildes gibt wesentliche Signale für dessen Verständnis, und das gilt ebenso für die aktuelle Rezeptionssituation, in der eine Bildbetrachtung versprachlicht wird. Bilder evozieren nämlich
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(wenn wir die Metapher des Lesens beibehalten) verschiedene Lesarten – gegenüber einem Text gar in verstärktem Maße. Man kann Bilder naiv und vordergründig oder symbolorientiert betrachten, kann die Bildelemente in räumlicher Ordnung beschreiben oder eben als eine Zeitfolge verstehen und erzählend aufeinander beziehen. 2.4 Unter pragmatischem Aspekt bekommt das „Mit Bildern erzählen“ viele zusätzliche Perspektiven. Im Alltag können Erzähllust und Bilderschau sich fallweise begleiten oder ergänzen, z. B. beim Bänkelsang (EM 1, 1177–1191), oder auch einander verändern, wenn z. B. das Puppenspiel einen Erzähltext trivialisiert. Beim Betrachten von Bildern wird oft dazuerzählt, vor Kirchenfresken (Kretzenbacher 1999) oder bei Andachtsbildchen sind es Heiligenlegenden, anhand von Sammelbildern Abenteuerund Wissensgeschichten; Kindheitserinnerungen werden durch Fotografien beglaubigt, Reiseerzählungen anhand einer Dia-Schau vorgetragen. Schnorr von Carolsfelds „Bibel in Bildern“ von 1852–60 gab Impulse für die Popularisierung der biblischen Geschichte im familiären Erzählkreis (Nagy 1999), während in der Öffentlichkeit auf Jahrmärkten, mit dem Zeigestock auf Moritatentafeln weisend, mancher literarische Stoff vermittelt wurde. In der Mehrzahl bleiben die Bilder und die Erzählungen separierte Phänomene, die sich zeitweise durch die Aktivität bestimmter Vermittler verbinden. Eine besondere Form des Bilderzählens bietet das Erzähltheater. Im japanischen Tischtheater aus Papier, dem Kamishibai, zeigt der Vorführer zu kurzen Geschichten Bilder in einer Schachtel, die vorne ein Fenster hat. Diese Erzählart begegnet auch in Europa: Erzählung und Bild verflechten sich theaterartig bei performance-ähnlichen Präsentationen, wo Bilder im Augenblick der Erzählung gemalt oder gezeichnet werden, wo Bilder sich bewegen, wo das Spielmaterial anfängt, die Geschichte zu erzählen und der ursprüngliche Protagonist zurücktritt, ausführendes Objekt wird und die Geschichte von seinen Bildern abliest (Baesecke 2002, 2007). Der Erzähler verschränkt den Spiel- und Erzählvorgang, Figuren- und Erzählrede, und damit Illusion und Reflexion, Darstellung und Schilderung, Unmittelbarkeit und Distanz, Innen- und Außenperspektive (Wardetzky 2002). Wie hier verwendet auch das Schattentheater nur ein Minimum an illusionistischer Realistik (EM 11, 1244–1253). Das moderne „Bildertheater“ ist hingegen ein hochkulturelles Phänomen, das im Theater Gestaltetes assoziativ verknüpft und keine kausallogisch aufgebauten Geschichten erzählt; es vermittelt keine rational fassbaren Botschaften in diskursiver Sprache, sondern schafft ganzheitliche Bildwelten (Simhandl 1993).
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3. Erzählbilder 3.1 Erzählbilder sind in erster Linie Bilder; sie vermitteln „nacherzählend“ eine Geschichte. Priorität hat der Text, auf den verwiesen wird. Die Nachstufigkeit der visuellen Erzählung, die auf schon Vorhandenem aufbaut, rückt sie in die Nähe der Illustration und des Kommentars. Als Interpretation aufgefasst, ist eine Illustration solange relativ autonom, bis die Bildgeschichte erzählt wird (Kibédi Varga 1990). In der Regel muss man auf Erzählbildern etwas Konkretes identifizieren können, doch wenn die verbildlichte Geschichte geläufig ist, kann sie auch mittels relativ abstrahierter Bilder wiedergegeben werden. Eigenleben aber erlangt die Erzählung selbst erst im Verlauf der produktiven Rezeption. Offenkundige Erzählzusammenhänge treten in verschiedenen Genres hervor, z. B. in „mehrständigen Sinnbildern“ und in Emblembüchern als Ganzen, wenn sie Heiligenviten oder die Lebensgeschichte eines Herrschers präsentieren (EM 3, 1389). Erzählbild ist ein Terminus der Kunstgeschichte (Karpf 1994). Das Phänomen besitzt gegenüber der modernen Bildergeschichte eine längere Tradition. Schon im Mittelalter handelt es sich um umfangreiche Bilderfolgen, die einem religiösen Erzählprogramm verpflichtet sind. Die Biblia pauperum ist in unterschiedlichen Ausführungen als Kirchenwandfresko, Blockbuchdruck oder Fastentuch katholischer Kirchen hier einzureihen. Sie bietet ein hoch bedeutsames bildkatechetisches Programm (EM 7, 1053–1058). Im protestantischen Bereich sind z. B. so genannte Merkbilder geradezu worthaft gemäß dem Grundlagentext zu verstehen. Aber auch das politische Geschehen wird bereits seit der Antike in vielfältigen Formen reportageartig veranschaulicht (Haskell 1995). Freilich vermittelt z. B. der Teppich von Bayeux (um 1077) keinen „Augenzeugenbericht“ der Schlacht bei Hastings. Die Spielräume zwischen einem engen und einem sehr freien Bezug auf die tatsächlichen Ereignisse sind in den erzählenden Bildern groß, wie die Historienmalerei in unzähligen Facetten demonstriert. 3.2 Formal kann man die Erzählbilder nach einszenischen und mehrszenischen Darstellungen unterscheiden, wobei im zweiten Fall neben klaren Einzelbildabgrenzungen auch eng verwobene Bildszenenkombinationen auftreten. Auf den Bilderbögen des 19. Jahrhunderts mit Volkserzählungsthemen verläuft die Anordnung der Bildszenen nicht immer parallel zur Erzählhandlung. Häufiger wird z. B. das Hauptmotiv eines Märchens in einem großformatigen Mittelbild festgehalten, das von weiteren Szenen umrankt ist. Wer das „Sneewittchen“-Märchen nicht kennt, kann es aus dem „Münchener Bilderbogen“ (Nr. 1000) nicht herauslesen; anders ist es aber
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beim „Froschkönig“ (Nr. 193), weil hier eine Textfassung in die Bildkollage eingebaut ist, wie es ähnlich in abwechslungsreicher Gestaltungsweise für viele weitere Märchen dieser Bilderbögen geschah (Eichler 1974). Die Visualisierung bedient sich spezieller Darstellungsmuster. Es gibt verbreitete Bildchiffren und zeittypische Bildtopoi. In den Bildstrukturen tauchen wiederkehrende Elemente auf, darunter bestimmte Bildprägungen und Kompositionsmöglichkeiten, die durch die Überlieferung vorgegeben sind. Aus der Volkskunst kennt man das Bildmuster der „gegenständigen Tiere“, das bei einer spezifizierten Ausprägung, an der mehrere Komponenten beteiligt sind, als Bildformel bezeichnet werden kann, wie z. B. die „Figur zwischen wilden Tieren“ (Holzapfel 1973). Besondere Erscheinungen bildlichen Erzählens mit formelhaften Elementen stellen Bilder- und Zeichen-Litaneien der Barockzeit dar (Kretzenbacher 1991), ferner Bilderrätsel, in denen ein verschlungenes Bild- und Buchstabengefüge einen Text verschlüsselt, oder auch die scherzhaften Drudel, d. h. knapp andeutende, aus ungewöhnlicher Perspektive entworfene Skizzen von Gegenständen und Situationen. 3.3 Das Narrative einer Bilddarstellung ist nicht leicht präzise zu fassen. Manche Kunsthistoriker erkennen in den repräsentativen und argumentierenden Bildern der frühen Neuzeit narrative Elemente, während sich für andere die argumentativen Bildstrukturen deutlich von narrativen abheben, wenn zwischen den verschiedenen Szenen eines Bildes kein Handlungszusammenhang besteht (Büttner 1994). Die Reformationsepoche war eine Blütezeit des Argumentationsbildes. Um es richtig zu verstehen, ist theologisches Wissen wichtiger als die Kenntnis der biblischen Geschichte. Die Argumentfunktion wird jedoch erst im dialogischen Rezeptionsprozess deutlich, während die Narrativität in den Handlungsszenen bildlich angedeutet ist. Eine chronologische Folge von Bildern, oft biographisch strukturiert, zeigt das Ereignishafte am deutlichsten. Unterscheiden kann man die Visualisierung des epischen Erzählens in aufeinander folgenden Bildern von der des dramatischen Erzählens im Einzelbild, das ein Geschehen durch die Einheit von Ort, Zeit und Handlung eindrücklich steigert. Epische Narrativität erstrebt häufig (religiöse) Verehrung, dramatische Narrativität will heftigere Emotionen auslösen. Jede Erzählung erscheint als rhetorisches Exemplum und Erzählbarkeit der Rhetorik untergeordnet. „Wenn ihre Kriterien ins Visuelle übertragbar sind, dann sind Narrativität und Argumentation nicht nur ein Textschema, sondern vielleicht Grundformen der Perzeption der menschlichen Erfahrung und des menschlichen Handelns. Ob sie als parataktisch oder als hypotaktisch, als konvertibel oder als nicht konvertibel betrachtet werden, hängt von der
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Perspektive der Perzeption ab“ (Kibédi Varga 1990, 365). Der Frage, inwiefern visuelle Grundformen bildspezifischen Gesetzen folgen, die von der traditionellen Rhetorik und modernen Theorien der Argumentation unabhängig sind, wäre weiter nachzugehen. 3.4 Neben den als Erzählbilder intendierten Bildwerken, die eine konkrete Geschichte so verbildlichen wollen, dass man sie möglichst authentisch herauslesen kann, ist auf eine Vielzahl weiterer Bilder zu verweisen, die jeweils in unterschiedlichen Lebens- und Erzählsituationen „aktiv“ werden, die z. B. an die Erinnerung eines Bildbetrachters appellieren, damit dieser eine Fotografie erzählend erläutert oder mit einer Anekdote verbindet. Viele Alltagsbilder sind potentielle Erzählbilder, die etwas Geschehenes oder Erlebtes – unintendiert – als Geschichte gespeichert haben. Allerdings sind diese für die Alltagspraxis wichtigen Bilder phänomenologisch kaum näher zu klassifizieren, weil praktisch jedes private Bild und viele öffentliche Bildzeugnisse Erzählanstöße enthalten. Bildchroniken und Fotoalben sind kompakte Geschichtenreservoirs für jene, deren erzählbares Wissen sich hier anschließen kann und die es zu aktualisieren vermögen. Fantastische, von der erfahrbaren Wirklichkeit losgelöste Erzählungen, die sich in Bildern entdecken lassen, wären jedoch eher der folgenden Bildkategorie zuzuordnen.
4. Bildgeschichten 4.1 Bildgeschichten sind in erster Linie Geschichten, werden aber in bildlicher Form kreiert. Während die im Erzählbild erzählte Geschichte auch ohne eine Verbildlichung existiert, sind bei der Bildgeschichte die Bilder essentiell. Bildgeschichten sind im Ansatz visuell konzipiert. Am Beginn steht die grafische Geste oder eine bildhafte Gestalt, die entweder dem „Leitstrahl“ der Wort-Sprache folgend oder auf dem „grafischen Weg“ weiter ausgeformt wird (von Criegern 1996, 178–193). Charakteristisch ist, dass die Bildgeschichte sukzessiv aus einer Summe von Bildelementen zur Sinneinheit erwächst. Da eine Bildgeschichte in den meisten Fällen nicht allein durch bildszenische Verknüpfungen, sondern in zahlreichen Einzelbildern verwirklicht wird, spricht man auch von einer Bildergeschichte, d. h. einer Geschichte in mehreren Bildern (Riha 1978). Eine Sonderausprägung stellt das Storyboard dar, eine Folge grafisch stark vereinfachter Bildskizzen, die einem Erzähler als Erinnerungshilfe dient, im Filmdrehbuch den Handlungsablauf mittels Bildeinstellungen (Totale, Ausschnitt) fixiert oder für Lehr- und Forschungszwecke die Erzählstruktur schematisiert (EM 11, 1354).
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Bereits im Flugblatt der frühen Neuzeit kann man Vorläufer der Bildgeschichte finden (Brednich 1976). Ausgeprägter wird das Genre bei dem englischen Karikaturisten William Hogarth (1697–1764). In „The Rake’s Progress“ z. B., einer grafischen Bilderfolge mit deutlich erzählerischer Intention, konstituiert sich die Erzählung im Bewusstsein des Betrachters, indem dieser Hogarths Grafiken visuelle „Leseanweisungen“ entnimmt; das jeweils kommende Bild wird thematisch antizipiert und auf das vorhergehende rückbeziehbar (Schnackertz 1980). Für den Schweizer Rodolphe Toepffer (1799–1846) ist seine Art, Geschichten in einer Folge von Text begleiteter Zeichnungen zu erzählen, „Literatur in Bildern“. Über die Bildepen oder Bildverserzählungen Wilhelm Buschs (1832–1908) führt die Entwicklung der Bildgeschichte am Ende des 19. Jahrhunderts in den USA zum Comicstrip. Solche mit Worten und Texten durchsetzten Bildstreifen sind mit Komik aufgeladen und mehrphasig angelegt, entwickeln ein spezifisches Zeichenrepertoire (Sprechblase, Geräuschchiffren) und verwenden Gestaltungsprinzipien des Films wie den Wechsel von Totale und Ausschnitt, Gegenschnitt und Perspektivwechsel. Im Laufe des 20. Jahrhunderts differenziert sich der Comic in eine Fülle von Spezialgenres (Knigge 1996). Japanische Mangas, Fotoerzählungen in Illustrierten und seit jüngster Zeit auch gezeichnete Romane (graphic novel) sind Beispiele für die Vielfalt der Bildgeschichte. 4.2 Comics vermitteln ihre Geschichte charakteristischerweise in einer Folge von Bildern, die mit erzählendem Text und/oder wörtlicher Rede kombiniert und eng verklammert werden. Im Gegensatz zu Hogarths Stichen mit ihrer variablen Koordinierbarkeit aufgrund von Bildsignalen sind die wesentlichen Comicaussagen sprachlich markiert. Die Kommentarspalten bieten Handlungserläuterungen, Begründungen, Charakterisierungen sowie Angaben zu Zeit- und Ortswechsel. Abrupte Zeitsprünge zeigen, dass der zeitliche Unterschied (der sich fast durchweg auf „früher“, „später“ oder „gleichzeitig“ beschränkt) für die Realisierung der Comic-Intention fast bedeutungslos ist und die Chronologie eines Entwicklungsgangs ohne Signifikanz. In solcher Entwertung von Zeitlichkeit und Kausalität bekundet sich das Schwinden der perspektivischen Organisation, was die Entstehung eines integrativen Sinnzusammenhangs verhindert. Da die Sprache das Bildgeschehen durch Erläuterungen, wie das Abgebildete aufzufassen ist, kanalisiert, verarmt die Bildassoziation, und in der Imagination entstehen kaum bildlich motivierte Synthesen. Comics wirken affirmativ. „Über ihre Bildlichkeit suggerieren sie Freiräume, die vom Realitätsdruck entlasten. Zugleich gelingt es ihnen aber, mit Hilfe sprachlicher Steuerungsmittel den quasi naturhaften Status vorherrschender Wirklichkeitsauffassungen zu bekräftigen.“ (Schnackertz 1980, 118).
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Während also im Comic die sprachlichen Gestaltungsmittel prinzipiell die visuelle Vieldeutigkeit abbauen und das Abgebildete vereindeutigen, prägen die visuellen Ausdrucksformen stets das Erscheinungsbild der Figuren. Den Bildelementen wird, selbst wenn sie von Sprachfloskeln überwuchert sind, die entscheidende Rolle für die Handlungsmotivation zugeschrieben. Die Bildrahmung trennt räumliche und zeitliche Zusammenhänge, so dass in den visuellen Lücken des Geschichtenablaufs Spielraum für verschiedenartigste Konstellationen entsteht. Die Dynamik einer Comic-Handlung kann durch den Zeichenstil forciert werden und entspringt insbesondere der je verwendeten Bildschnitttechnik, die wesentlich von Darstellungsmustern des Films inspiriert ist. 4.3 Ein medientechnisch bestimmtes Kennzeichen des Comics ist sein periodisches Erscheinen. Selbst als er nicht mehr nur in Zeitungsfortsetzungen, sondern in Einzelheften produziert wurde, blieb das Prinzip der Serie erhalten. Daraus ergeben sich auch für den Erzählinhalt charakteristische Strukturmuster: die Stereotypisierung und somit u. a. erleichterte Wiedererkennbarkeit besonders der handelnden Figuren sowie generell ein reihendes, nichthierarchisches Arrangement der Comic-Bestandteile, das eine unendliche Fortsetzbarkeit zulässt. Die Comic-Helden dienen lediglich als Vehikel, um vorgängige Sinnstrukturen immer erneut, aber in wechselnden fiktionalen Räumen zu veranschaulichen. In der fantasievollen visuellen Variation liegt ein wesentlicher Teil vom Reiz und Erfolg der Comics. Walt Disneys (EM 3, 701–704) Bildergeschichten-Produktionen, die Comic-Prinzipien und -Elemente für den Zeichentrickfilm adaptierten, der wiederum auf den Comic zurückwirkte, sind das berühmteste Beispiel. Es gibt, von der Ausfächerung in Comic-Genres abgesehen, auch Strukturvariationen, z. B. wenn bei Superman (EM 13, 53–57), einem ActionComic, Traumgeschichten eingefügt sind, in denen die Serienkontinuität (durch Fiktionen 2. Grades) temporär aufgehoben ist. Andererseits finden sich dem Comic ähnliche Strukturzwänge auch in anderen Massenmedien: „Format“-Vorgaben und die Tendenz zum schema-orientierten Erzählen im Fernsehen. 4.4 Jenseits des Comics gibt es noch weitere, insbesondere deutlich kürzere Formen der Bildgeschichte. Sehr populär sind die vielseitigen Bildergeschichten und Bildgedichte Robert Gernhardts (1937–2006), bei denen die Betonung mehr auf der Geschichte – dem Handlungsgang und der Pointe – liegt als auf den Bildern; hier ist die Sprechblase vernachlässigt und auf das Panelling des Comic wird verzichtet (Gernhardt 1997). Noch kürzer erscheint die Bildgeschichte – meist in einem einzigen Bild mit einer einzigen Szene und häufig auch ganz ohne Worte – im Bildwitz oder dem
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Cartoon. Der Cartoon ist die nicht-tendenziöse Darstellung eines komischen Sachverhalts mit Mitteln der Karikatur. Er verlagert menschliche Probleme, um den Kontrast zu erhöhen und die Verallgemeinerung zu verstärken, oft ins Tierische oder Heilige. Der Kontrast schafft die Fallhöhe für die Komik, und die karikaturistische Darstellungsweise zielt auf eine Aktivierung der rezeptiven Teilnahme (Gernhardt 1999, 207). Offenbar kann die Bildgeschichte im Bereich des visuell Wahrnehmbaren, wie die karikierenden, bizarren Bildinhalte nahe legen, eine bestimmte Dimension der Fremdheit leichter zugänglich machen als es über die Sprache möglich ist.
5. Filmerzählungen Der Film ist ein Medium, das durch seine automatisierte Bilderfolge Zeitabläufe als solche vermitteln kann. Im Film potenzieren sich die Möglichkeiten des Bildes und des Sehens (Warncke 1987). Dort sind Bilder, Töne und Sprache zu einer sinnlich-suggestiven Einheit verdichtet. Die Affinität „laufender Bilder“ zum Erzählen ist hoch. Das Drehbuch als eine „andere Art des Erzählens“ (Brunow 1988) und die daraus hervorgehende Filmerzählung, die sich in viele Untergruppen differenzieren lässt, bieten eine ganz eigene Form der Bilderzählung, die hier nur als ein Merkpunkt verzeichnet werden kann (Bordwell 1985, Ostermann 2007). Neben etlichen literatur- und medienwissenschaftlichen Analysen gibt es bisher wenig volkskundliche Studien. Analog zu Erzählbild und Bildgeschichte wäre etwa der Unterschied zwischen nacherzählenden und originär visuell erzählenden Filmen genauer zu untersuchen. (Und als ein Zusatzphänomen der nacherzählte Film: im – nicht selten bebilderten – „Buch zum Film“.) Die narrative Analyse fragt nach der Arrangierung von Ort und Zeit des Geschehens, nach der Art der Figurenpräsentation und der Handhabung der Motive, nach der Verknüpfung der Erzähleinheiten und der Ausfüllung von Erzählschemata, jeweils speziell auch unter visuellen Aspekten. Volkskundlich bedeutsam ist es, dabei z. B. die Wirkung kollektiver Erinnerungen auf die Wahrnehmung mit zu bedenken (Becker 2001). Alltagspragmatisch muss die Aufmerksamkeit den verwendeten Bildstrategien, zu verführen und emotional zu überwältigen, sowie besonders der Filmrezeption gelten. Beispielsweise zeigt eine empirische Studie, dass durch die zweifache Rezeption von Märchen, zum einen zuhörend, zum anderen Filme betrachtend, bei Kindern eine auffällige Verunsicherung entsteht. Der vermutliche Grund dafür liegt wohl nicht nur in der Andersartigkeit der Filmfiguren, des Handlungsgeschehens und der Überlappung der Bilder, sondern tiefer in einem „Zusammenstoß zweier entgegen gesetzter
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affektiver Korrelate, in dessen Folge gleichsam ein Zusammenbruch der emotionalen Ordnung erfolgt“ (Wardetzky 2007, 162). Es stellt sich die Frage, welche Relevanz diese These für das Bilderzählen generell besitzt, wenn bestimmte sprachliche und visuelle Momente widersprüchliche Empfindungen auslösen.
6. Bedeutung der Bildlichkeit 6.1. Was gezeigt wird, muss nicht auch erzählt werden. Im Grunde suspendiert ein Bild das Erzählen, so wie umgekehrt eine Erzählung des manifesten Bildes nicht bedarf. Die Transformation jedoch des visuellen oder sprachlichen Mediums ins jeweils andere modifiziert die Inhalte, und gemeinsam bewirken Bild und Text meist mehr als eine Summierung oder Verdoppelung zweier Leistungen. Bilder vermitteln äußere Anschauung, die wie die Sprache innere Vorstellungen erzeugt. Raumfigurationen, Farben und Licht-Schatten-Verhältnisse fördern aber andere Assoziationen als Sprachbilder und Sprechtöne. Wo eine Bilddarstellung kausale Beziehungen nahe legt, überbrückt unser Bewusstsein Lücken, und wenn wir eine Geschichte erwarten, konstruieren wir sie auch, indem wir uns vertrauter Erzählschemata bedienen. Unser Vorstellungsvermögen, die Fantasie (EM 10, 972–983), vergegenwärtigt erinnerte Wahrnehmungen und imaginiert neue Kombinationen. Solche Bildaktivität stellt – im Gegensatz zum sprachlichen, bedeutungsbezogenen Denken – eine „physiognomische Denkweise“ in Unterschieden der Oberfläche dar. Bildlichkeit konstituiert entsprechend auch andere Traditionszusammenhänge als die mündliche oder schriftliche Sprachlichkeit. 6.2 Bilder wirken polyfunktional. Sie können Sachverhalte synthetisieren, synchronisieren, ästhetisieren oder emotionalisieren. Schon Plutarch hat den Bildern gegenüber der Schrift höhere Wirkmächtigkeit zugesprochen: es ist, als ereigne sich das Gezeigte gerade im Moment der Bildbetrachtung. Der bildlichen Gestaltung scheint das Angebot der Teilhabe inhärent, ohne dass immer besonders lebhafte Vorstellungsbilder entstehen, wie sie Menschen mit eidetischen und visionären Gaben kennen. Gegenüber einer das Vorstellungsvermögen und den Intellekt stimulierenden Sprache zielen Bilder synthetisierend auf den Sehsinn und das Gefühl; Atmosphäre und Stimmung können sie unmittelbarer vermitteln als Wörter; sie setzen das Fühlen bildhaft um. Die Rezeption des sich räumlich entfaltenden Bildes erfordert gegenüber der vorwärts strebenden Sprache ein eher ambulierendes Verhaltensmuster. Das Erzählen besitzt eine Affinität zur Bildlichkeit so wie das Berichten zur Sprachlichkeit neigt;
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denn die Erzählung bedarf eines (geistigen) Raumes, den man mit Muße durchschreiten kann, und der Bericht einer Zeitperspektive, die dem Abschluss zustrebt. Eine Erzählung verweilt auch einmal, ein Bericht treibt immer voran; die Erzählung strebt mehr nach Ausmalung, der Bericht nach Präzision. 6.3 Bilderfluten prägen unser tägliches Leben, die „Verbilderung“ des Alltags ist ein Kennzeichen der modernen Welt. Das Bedürfnis nach „Plastizität“ hat in der globalen Kommunikation zu weltweit verbreiteten Bildschriften (Piktogramme) geführt. Wir leben in einer Gesellschaft, die alle Informationen zu verbildlichen versucht und mit visuellen Mitteln argumentiert. Das Internet hat diesen Prozess der Visualisierung verstärkt und enorm erweitert, vor allem durch eine gesellschaftlich kaum mehr regelbare Erzeugung virtueller Wirklichkeiten, also künstlicher Realität, die den Betrachter, der hier zum „Akteur“ wird, etwa mittels eines „Datenhandschuhs“ einbezieht. Die auf dem Monitor dargebotene Scheinwelt, die eine neuartige, interaktive und flexible Form von Bilderzählungen repräsentiert, beginnt bereits, ein integraler Bestandteil unseres visuellen Gedächtnisses zu werden, das sich als Filter zwischen die Menschen und ihre Umgebung schiebt. Die Authentizität unserer Wahrnehmung wird damit durch „Überbildlichkeit“ geblendet. In dieser Situation gewinnt die Suche nach „Bildentleerung“ einerseits und nach existentiell beglaubigten, auf die Erneuerung eingefahrener Sehweisen orientierten Bildern, wie moderne Künstler sie zu kreieren versuchen, andererseits, neues Gewicht (Simhandl 1993). 6.4 Genauso wie ein gewisses Maß an Erzählkompetenz nötig ist, um sich die Welt geistig aktiv anzueignen, bedarf man in einer Lebenswelt, die von Bildern geprägt wird, visueller Kompetenz, um sich zurechtzufinden (Gerndt 2005). Die Fähigkeit, das „Bildhaft-Visuelle“ angemessen wahrzunehmen und sich ihm gegenüber angemessen zu verhalten, verlangt vertieftes Wissen über die Funktionalität von Sichtbarkeit und Bildlichkeit. Wir müssen speziell die Eigenart und die Differenzierung des visuellen Erscheinungskomplexes kennen. So finden sich heute auf dem „Weltmarkt der Bilder“ (Pörksen 1997) u. a. plakative, stereotypisierte, verfremdete, überspitzte, verzerrte Bildinhalte bunt vermischt in Werbeschriften oder Fernsehmagazinen, als Bilddiagramme oder Zeitungskarikaturen. Auch Bildergeschichten, jene massenmedialen Formen der Bilderzählung, die in der Gegenwart vorherrschen, verwenden selbst und vermitteln uns wirkungsvolle Bildmuster. Zum Instrumentarium, das für die Entschlüsselung des Bilderalltags nötig ist, gehören hermeneutisch-interpretierende Fähigkeiten und Kenntnisse z. B. über die Tricks digitaler Bildgestaltung sowie die
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Möglichkeiten zur Manipulation der unterbewussten Wahrnehmung. Nicht zuletzt ermöglicht das kreative Potential einer breiten visuellen Kompetenz auch wünschenswerte Wege ästhetischer Bildung (von Criegern 1996).
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Luisa Rubini Messerli
The Death of the Royal Dwarf Mari-Barbóla in Velázquez’s Las Meninas* Preamble The reader – and above all, the acclaimed Hans Jörg Uther, – will forgive me, I hope, for presenting a subject that touches upon the central theme of this book only sideways, in so far as it is situated on the historical threshold of popular storytelling. Rather than being concerned, as requested, with the cultures of laughter, I will focus on the latter’s material conditions: namely, the bodies of court jesters and dwarfs as a medium of performance and theatre which, before making their wise, “foolish” speeches, provoke ridicule, thereby positing themselves as an object and cause of laughter. Taking as a starting point Velázquez’ painting Las Meninas, one of art history’s most enigmatic pictures, and its representation of a courtly dwarf, a special form of the court jester in the Spanish culture of the 17th century siglo de oro, this paper aims to interrogate functions and meanings of the represented court jesters (Illustration 1). Contrary or in addition to the prevailing view in research of the female dwarf being a course figure simply highlighting the princess’ delicate appearance and thereby glamourizing her, the former’s culturally codified body will be shown to have additional meanings, as evidenced by recently discovered archival sources concerning the dwarf’s testamentary legacy. The exceptionally high rank of those involved in Spain and Austria with her estate fort he first time allows a glimpse of her historical importance at the Spanish court. Hence, her depiction on the canvas is far from vilifying, as behind her seemingly improvised representation there appears a geometry of power perfectly *
This essay is a revised version of a paper given in December 2006 at the Malta conference on The Wise Fool. Thanks to Fred van der Koiij for critical reading and suggestions, Dr. Barbara Schmid for a first transcription of the archival letters, Prof. Bernd Roeck for help with paleographical questions, and Dr. Henry M. Taylor for translating the text into English.
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calculated, and assigning Mari Barbóla a precise, but prominent role1. This attention to an important painting in art history hopefully will also satisfy Hans-Jörg Uther’s reputed interest in illustrations. 1. Court jesters and dwarfs Among the numerous fools, as Karl Friedrich Flögel writes in his classic study2, we distinguish the court jesters or buffoons to great gentlemen, that is “all real or imaginary merry-andrews”. They were either actually appointed as such or not. In the first case they also bore the title court jester and had an official position at court, whereby arose the name court jester. (Fou du roi en titre d’office) […] In the other case, while they played the buffoon at the court they were not permitted to use the title court jester, either because it was contrary to the traditions of the time or because they held office at court or in the army or were otherwise of genteel birth (Flögel 1789, 4).
“Yes,” Flögel concludes his excursus, “the ugly dwarfs, rachitic monsters, humans of crooked and distorted growth are often used as court jesters” (ibid., 6). The physical defects of many fools are recorded in history, and in European art since the Late Middle Ages dwarfs are sometimes identified as jesters (for example at the court of Pilatus), representing evil types (as in the Sforza Hours), or as incorporating both comic and evil characteristics. The fool (fool-jester) has from ancient times been prized for his repulsive defects, both mental and physical. Sometimes viewed as stupid and foolish, sometimes as foolish and wise, he has nonetheless always been viewed as different and, usually, as outrageous (Mellinkoff 1994, 136).
Their physical deformity functioned, like the fool’s costume, as an outward identification. They are “the changing images of ourselves” (ibid.). Gerhardt Petrat has asked why the jesters or the dwarfs at court were institutionalized. He finds the reason in a dualism arising out of Christian teaching which sharply differentiates between good and evil. In order to install a ruler – be it emperor, king or reigning prince – in the rank of a deputy of heaven, in order to explain goodness plainly or to represent it, the pattern of interpretation must include its opposite. The human con1 2
I am presenting first results of an ongoing research. The letters subsequently referred to are not reproduced here, they will be the subject of a separate publication. As to classical and new studies on court jesters see Flögel 1789; Welsford 1935; Lever 1983; Willeford 1969; Bertoni 1929; Flögel 1789; Jurich; cf. also Metzger 1999 and Velten 2005.
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Illustration 1: Diego Velázquez: Las Meninas, 1656 Museo del Prado, Madrid
trolled by demonic power, mirrored in the figure of the jester, offered itself for this as an historic example and literary figure. The court jester as paid Fou en titre occupied the alternative post, on a par with the earthly majesty (cf. Petrat 1998, 9–10). Prince and fool are interrelated, they use the familiar ‘thee’ and ‘thou’. They belong together like the focal points of an eclipse (cf. Amelunxen 1991, 7). Both wear their professional clothes: the splendid robe of the prince is an answer to the ugliness of his opposite. The heyday of the European court jesters begins around the middle of the 15th century and lasts for almost 300 years. Their decline correlates to the re-interpretation of the position of the monarch and monarchy, when the latter is no longer considered as originally understood as an object of a divine act of grace, but as a self-sufficient subject, so that the necessity of granting evil a symbolic proviso (cf. Petrat 1998, 37) is no longer required. Louis XIV3 cancelled the post of court jester at the beginning of his reign, Frederick II in Prussia as late as 1744. In Spain they were banned from the court by the Bourbons (with Philip V). Dwarfs, however, were tolerated longer. According to Petrat, they function as a kind of 3
According to Antoine de Baecque, in the course of the 17th century the fool gradually loses the traditional characteristics of the court jester while increasingly intermingling with “les hommes d’esprit” and men of letters: L’Angély, the last fou at the French court, is the paradigmatic example of this evolution (cf. Baecque 1997, 506f.).
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courtly symbolic variant and offer in the phase of transition or decline a ‘pragmatic’ solution, until their functions are wholly or in part taken over by the pages (e.g. at the court of Maria Theresia in 1736). 2. Gente de placer According to José Moreno Villa, a painter and scholar who during the Spanish Civil War worked at the Archivo General del Palacio de Oriente – before living in exile in Mexico4 – , the 17th century is the age of decadence of the court jesters. They appear before us as pacified, tamed beings, and above all in great numbers: all clear signs of their decay (Moreno Villa 1939, 25). This process not only affects the court jesters, but also the large and bizarre group of hombres de placer (uomini piacevoli, hommes amusants) (cf. Bouza 2005, 50). This is the official designation for “locos, truhanes, bufones, enanos, negrillos, músicos, cantors,” i.e. jesters or feigned fools, non-whites, ‘wonder’-creatures, dwarfs, fools, monsters, etc., persons with physical and/or mental handicaps who under this term appear in the lists of the household servants of King and Queen. At court, strictly hierarchic organized according to Burgundian etiquette5, an elaborate and complex ritual which accompanied and regulated every moment of the king’s day, the exact order of ceremony, and the function of every official (Elliott 1977, 175; Hofmann 1990) – with the purpose of preserving “the sacred character of kingship through the maintenance of distance” (Elliott 1987, 6)6 –, the number of courtly personnel and their tasks had in time been greatly diversified and increased correspondingly. During the early reign of Philip IV (1605–1665), for example, the “total number of household officials and service staff on the court books in 1623 was around 1700” (Elliott 1987, 8). The household of Doña Mariana de Austria (1634–1606) in Toledo in 1679 listed a staff of 101, but after her return to court this number trebled7. The exacting rigour of the Spanish court ceremonials and the relentless tyranny of courtly etiquette raising the king to a hieratic, sacred figure – Philip IV himself set great store by this (ibid., 53) –, could be the expla4 5
6 7
Cf. Bouza 2005, 52; Gállego 1986, 17. The Burgundian ceremonial was first introduced by Ferdinand at the Viennese court (1527, 1537) and then imposed by his brother, Emperor Charles V, in the household of the house of Castile. The new ceremonial would pass its baptism of fire on 15th August 1548 in Valladolid (Pfandl 1938, 28; Elliott 1987, 9). Ludwig Pfandl emphasizes the deeper and genuinely archaic purpose of the ceremonial (cf. Pfandl 1938, 11f.). It echoes a double taboo, both positive or protective and negative or defensive, concerning rulers in archaic societies. Cf. also Lisón Tolosana 1991, 92–94. Cf. López-Cordón Cortezo 2003, 127f.; Jurado Sánchez 2005, 33f.
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nation, if one extends Petrat’s thesis, for such a great presence of fools, dwarfs, blacks, etc. during this period. In the ritual and practically cult-like atmosphere of the court, both poles of the ellipse had to complement one another to maintain balance.8 According to José Moreno Villa, between 1563 and 1700 the presence of the gente de placer at the Habsburg Spanish court reached its climax. It seems that the royal house acquired one dwarf or fool per year. Moreno Villa lists 123 names, including the two dwarfs in Velázquez’s Las Meninas and others painted by Alonso Sánchez Coello (1531–1588), Rodrigo de Villandrando (deceased in 1622), or those mentioned by writers such as Lope de Vega, Luis Góngora, or Francisco de Quevedo. At the Spanish court every servant had a precisely graded position according to function and rank, as recorded by the official lists. But not all personnel is officially named or listed, as for instance the menial servants, of whom there were large numbers. And though cretins, dwarfs, buffons etc. also had their properly appointed place; Moreno Villa remarks about their role: If these figures had been normal servants with an office or specific task it would have sufficed to look up their names in the Asientos or paybooks. Happening to be a dwarf or fool did not in itself determine appointment or occupation; nobody could be termed a fool or dwarf on any given day of the year. They were not remunerated by the same post: some would be paid with wax by the wax station, some with rations of bread by the bakery, some simply with clothes; others only appeared on journeys or on (certain) days (Moreno Villa 1939, 16).
Some, however, additionally occupied official functions for which they were remunerated. A few became wealthy, others suffered poverty. It is impossible, with a handful of exceptions, to write a factual biography of them. 3. The functions of the gente de placer The main task of the gente de placer was to provide the courtiers with amusement, making them laugh9 and inciting their merriment, raillery, banter and derision. Certainly they had to entertain with wit, and be able to discriminate events and persons suitable and opportune to their clever of unruly speeches. Besides the “quick-witted, sharp-tongued individual,” a potential font of folk wisdom, there were the mentally disturbed or 8 9
This can be traced back to a cultural archetype identifying the ruler with the paria, slave, leper, beggar, or fool (cf. Pančenko 1991, 152–155). On laughter, cf. among the wealth of literature, Lichačev 1991 and Pančenko 1991.
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deficient jesters, considered to be innocents. “Thus, when they spoke, they spoke the truth, a truth sometimes considered to be of divine origin” (Brown/Garrido 1998, 153). Then, already the mere physical appearance or body language, the bizarre forms, the contrast in the dwarfs between the childlike figure and the ageing body, or the thickness of the limbs in a deformed and shortened body, the physical disproportion of the limbs and thus the strange and clumsy actions of the body (Janik 1998, 7), the often shrill nicknames given them: all this made them figures of ridicule, which is why the misshapen figure was preferred when selecting the court jester (cf. Petrat 1998, 11). But in this period, other categories such as curiosity were attached to these figures, viewed as they were as abnormal phenomena of the natural world10. In the severe Burgundian etiquette of court, while Philip IV ensured that “the highest standards of decorum were observed,” only the gente de placer could disregard the ceremonial “with their right to cross the boundaries between the king’s public and private worlds” (Brown/Elliott 1980, 31f.). Only the court jesters with their free speech (cf. Röhrich 1994, 1077) could break the rules of the protocols, displaying spontaneity in the frozen court etiquette by cutting capers and with dances, and so provoke humorous entertainment. An apparently insoluble contradiction seems to exist between the moralizing literature and the strict official court ceremonial on the one hand, and the close-meshed presence of the gente de placer at court on the other. Queen Mariana of Austria was not allowed to laugh in public11, but at her reception dinners a buffoon was placed at her side, “qui parle presque toujours, et qui tâche de la faire rire et de la divertir par son caquet” (Antoine de Brunel, 1665, quoted from Defourmeaux 1964, 55)12. Their presence had also the function of increasing the self-confidence of the courtiers and by means of their contrast of making the setting more 10
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Sebastian de Covarrubias in his Tesoro de la lengua castellana o española (Barcelona 1611) wrote: “The dwarf is very much a monster, because nature wished to make a funny toy out of it, as with other monsters, giving them a knot in the spine, making them bow-legged and bow-armed, and making of the entire body a contorted abbreviation with the sole exception of the mind, and the head which has normal proportions.” (Sebastian de Covarrubias quoted after González Echevarría 1993, 103). Regarding the grotesque body and its cultural and historical significance, cf. Hagner 1995; Daston/Park 2002. Cf. also Elliott 1977, 175. Of course also the servants’ laughter was regulated by protocol. In the Queen’s household it was the duty of the camarera mayor, frequently recruited from the “grandes de España,” to ensure the dignified demeanour of the ladies, especially “their style of speaking, laughing, and walking” (López–Cordón Cortezo 2003, 130). Ibid. The following occurrence is quoted: “Antoine de Brunel reconte que la reine Marie– Anne, toute jeune et récemment arrivée d’Allemagne, n’ayant pu se retenir de rire aux postures et aux propos ridicules d’un buffon, ‘on lui fit savoir que cela n’était pas convenable à une reine d’Espagne, et qu’il était nécessaire de se montrer plus sérieuse […].’”
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brilliant. The dwarf’s presence was partly also in demand due to the ageold belief that they offered protection against mischief and calamities. Furthermore, Enid Welsford points out their effectiveness against witchcraft and the evil eye13. As the monarch was the preferred target of such occult assaults, courtly dwarfs were used for deflecting evil spirits. They served as a permanent scapegoat whose official duty [was] to jeer continually at his superior in order to bear their ill-luck on his own unimportant shoulders […] Also, the court jester or dwarf was fortunate by nature and could transmit this good luck to others, who, in turn, might pass on their own misfortune to the dwarf. Hence, this both lucky and unlucky creature was invaluable as a permanent family member, and particularly sought after as the king’s protector (Welsford 1935, 7414).
They were also supposed to possess the gift of prophecy. “This is perhaps the reason why [Baltasar] Grácian [1601–1658] advised the king to use them as Oraculos de Verdad” (Emmens 2001, 123). For all these reasons, dwarfs were employed all over: in courtly ritual life and in the leisure hours at court, at feasts such as the New Year’s Eve spectacle and parades, theatrical performances, in burlesque stage productions of chivalric epics, and on occasions of auto da fé (Bouza 2005, 119–120). They also had other pragmatic functions, not only at the Spanish court: they worked as messengers, as maids of honour or as pages. The female dwarfs were especially part of the Queen’s household, serving her and the royal infants, subordinate to the Camarera Mayor and the Aya (nurse) (Simón Palmer 1997, 27). But in the network of court intrigues, gente de placer could, understandably, also be used as spies. In how far they could make use of their freedom of speech (as an official duty) it is impossible to say. In the period of a developing public opinion they could act as the mouthpiece of the vox populi, as nobody else had the courage to give the king a piece of his mind. So the hombres de placer represent more than a mere baroque detail in the royal ensemble – or simply a sign of the times, as Moreno Villa writes (Moreno Villa 1939, 35). 13 14
Victor Stoichita and Anna Maria Coderch make this point, cf. Stoichita/Coderch 2006, 269f. As to the court jester as scapegoat, while excluding the late middle ages and early modern history, when the courtly dwarf was already firmly established and in a kind of servitude with certain rights and duties to the sovereign, see Werner Röcke. He aims to reveal the fool’s affinity to violence, his play with violence. The fool provokes and toys with violence, while being exposed to it through his master and generating public laughter. “Only the court fool is capable of this, as the scapegoat provoking the violence so exceedingly destructive to court and family, while being able to suspend it in public laughter” (Röcke 2004, 116f.).
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4. Diego Velázquez’s Las Meninas Velázquez’ paintings of court jesters, mostly displayed in the Prado in Madrid, are famous. Six court jesters were the subject of a group of paintings in 1634, installed in a room of the Queen’s quarters called pieza de los bufones. Of these portraits, only four survived: 1) Don Juan de Austria and 2) Cristóbal de Castañeda, called Barbarroja, conceived as a pair of antagonists, 3) Pablo de Valladolid and 4) Juan Calabazas, called Calabazillas (Cleveland, Museum of Arts). The other two – 5) Francisco de Ochoa and 6) Cárdenas, the Bufón toreador’ – are lost (Brown/Elliott 1980, 132). These portraits already sum up or illustrate the different kinds of gente de placer employed at the royal court: jesters possessed of their mental faculties, as Don Juan de Austria and Pablo de Valladolid, while Calabazas represents the type of mentally dispossed, innocent and childlike buffoon. He was also a dwarf. Other portraits of or featuring dwarfs are also well-known: 7) Don Diego de Acedo, “El primo,” 8) El niño de Vallecas, Francisco Lezcano, 9) El enano Don Sebastián de Morra, 10) El principe Baltasar Carlos y un enano (Boston, Museum of Fine Arts), 11) Retrato de enano con perro, 12) Baltasar Carlos en el picadero (London, Duke of Westminster) and 12) Las Meninas. Among the latter, too, there are differences: while Lezcano appears feeble-minded, Morra is in full possession of his mental faculties, just as Don Diego de Acedo, who as a member of the bureaucracy (working as “ayudante del servizio della Estampilla Real”15) possessed competent mental faculties (Brown 1988, 174). The peculiarly low status of the court jesters allowed Velázquez “a liberty in depicting them that was not available to him for portraits of the royal family” (West 2004, 97). He could abandon conventions and rules of formal portraiture prescribing a hieratic approach without hints of personality associated with high social status; they gave him the opportunity of displaying his virtuosity and attempting “some of his most audacious technical experiments” (Brown 1988, 174; Brown/Garrido 1998, 143–146). Nonetheless, these portraits indicate the painter’s sympathy, his sensitive renderings of the subjects, the dignity of the portrayed as individuals. Velázquez possibly did not himself decide to paint them, but did so at the command of the king (Valdivieso 2002, 185f.; Gállego 1986, 19), or at least with the latter’s licence. Las Meninas, perhaps the artist’s masterpiece, is mentioned in the old inventories as Cuadro de la Familia. It was completed in 1656, when the painter already had held four high-ranking posts at court – pintor de camara 15
Gállego 1986, 16.
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(1623), ayudo de camara, aposentador de palacio (1652)16, and superintendente des obras particulares (cf. Brown 2001, 169) – and was a well-to-do man (all that was missing was a knighthood, which he finally obtained when in the last few months before his death he was given peerage as Caballero of the Santiago Order17). I shall not attempt to give a summary of the state of scholarship about this painting – at least since Michel Foucault’s essay Les suivants (1965)18, and his famous thesis (the painting demonstrates “the representation of classical representation and the definition of the space which it opens up”, ibid. 45), research has forked in two main directions, a historical and a philosophical line. While the former attempts “to establish boundaries using sources and documents,” the latter regards the painting as “a landmark in the history of representation, […] which poses searching, original questions about how the visible world is presented and continually represented”19. I shall only say what is necessary and relevant concerning our female dwarf. What may appear at first sight to be a “conventional” representation of members of the royal family and their entourage, to which also the painter belonged, reveals itself as an extremely complex and subtle play of staged observations and of the observer’s point of view. In the picture nine figures are depicted, each of whom is frozen in a gesture prescribed by the ceremonial and their place and rank at the royal court or is characterised by seeming spontaneity. The middle of the lower half of the canvas is taken up by the representation of the then five-year old Infanta Margarita María (1651–1673), daughter of Philip IV and his second wife, Mariana of Austria. On her right kneels the menina20, or maid of honour, María Agustina Sarmiento21, offering the princess a búcaro of water on a silver tray. On her left, inclining towards the Infanta, is Isabel de 16
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Regarding this office cf. Pfandl 1938, 15f. The author distinguishes two types of valets: the first (ayudas de cámara) takes care of the lesser activities surrounding the emperor, the second – the honorary valets – are “persons by birth who considered their title and pay simply as decoration. The most famous […] is Velázquez. Both categories of servant wear their official service key on their waistband” (Ibid. 16). For which Velázquez had applied in 1650. For lack of verifiable nobility, his application was declined in 1659. The actual reason, however, was his status as painter, a profession considered in Spain at the time to be a craft. On this and Velázquez’ struggle for recognition of painting as ‘ars liberalis’ cf. Zelger 1994, 107–111. Concerning the interpretation of Las Meninas and Las Hilanderas in the context of this humiliating struggle, cf. ibid. 111–126. Published at first in Le Mercure de France 1221–1222 (1965) 368–385; and one year later in: Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines. Paris 1966, cf. Foucault 1974, 31–45. Brown/Garrido 1998, 182f. The word ‘menina’ is “un lusitanismo usado también por los pajes” (Gálliego 1990, 423). About her cf. Saltillo 1944, 130–133.
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Velasco22, the daughter of the Count of Colmenares, another maid of honour. On her left is the dwarf María Bárbara (commonly called MariBarbóla, “macrocephalous dwarf” (Gállego 1990, 423). Beside her stands Nicolás de Portosanto or Pertusato, dwarf of the Queen and ayuda de cámara23, giving the bulldog a kick. Behind is Doña Marcela de Ulloa, guardamujer de las damas de la reina since 1643 (Gállego 1990, 423), the widow of Don Diego de Peralta24. She is speaking with an unnamed guardadamas25 or guard of honour of the ladies. At the back standing in the doorway is José Nieto Velázquez, aposentador26 or chamberlain of the Queen’s quarters of the palace. On the left, behind María Agustina Sarmiento, is the artist himself – a self-portrait of the 57-year old painter (wearing on his chest the cross of the Santiago Order, which was painted after completion of the picture27). Finally, on the back wall we can see a mirror reflecting the image of king Philip IV and his second wife, Mariana of Austria. The most important information source about Las Meninas28 is the description given by Antonio Palomino de Castro y Velasco (1655–1726), whose Museo pictórico y escala óptica (1724) is the first biography of Velázquez. Thanks to Palomino it is possible to identify the represented scene of the pictures on the walls, the date (1656) and the place of origin of the painting (the room was part of the suite occupied by Prince Baltasar Carlos) and the figures – apart from the guardadamas and the man in the background in the door frame29, whose identity as José Nieto, aposentador de la Reina, was discovered by Ceán Bermúdez (1800)30. The figures are grouped together in two important triplets: on the one hand, Velázquez, Agustina, and Margarita, and, on the other, Isabel, 22 23
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About her cf. ibid. 125–128 (she supposedly died on 22nd October 1659). A dwarf of the Queen. About him cf. Sánchez Portillo 2002, who on the basis of archival material has reconstructed biographical dates, office and role at the royal court. Born 1645 in Alessandria, deceased 1710. In the painting he is 11 years old. He is first mentioned on 26th June 1650 as “enano de la Reina.” On 28th November 1672 his name is accompanied by the title “don,” which points to his function as “Ayuda de cámara.” According to the author, he joined the Queen’s cortege during on her marital journey from Vienna to Madrid during her two-day stopover at Alessandria, before embarking at Finale Ligure. The Queen always conceded him great favours. Upon her death she bequeathed him a small fortune. Regarding the role and function of this character cf. Simón Palmer 1997, 24f. Following Marques del Saltillo this is possibly don Diego Ruiz de Azcona (cf. Saltillo 1944, 126). As to the aposentador cf. Pfandl 1938, 17. A contrary opinion is expressed by Mena Marqués 2001. The painting is first mentioned in the inventory of the Madrid Alcázar in 1666; later in the inventory compiled after the death of Carl II, cf. Sánchez Portillo 2002, 150f. Cf. Palomino 1947, 920–922. Cf. Sánchez 2002, 150.
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Mari-Barbóla and Nicolasito (Gállego 1990, 426). We may also discern three or six centres of looking, respectively: the princess with the two meninas, the painter whose head towers above all other characters in the scene and is positioned in the horizontal middle of the picture, the royal couple represented in the mirror, further, the (vertical) middle axis of the image marked by a vertical streak of light, the door in the background with the vanishing point just below José Nieto’s elbow, with a character in the doorway holding the curtain, the menina to the right, and, finally, possibly also the female dwarf or the group to the right, behind the dog (Greub 2001, 11). Allegedly we know all about the represented figures, “but not why they have been assembled:” “Las Meninas is a ‘puzzle picture,’ what might be called an open composition; […] the completion of the pictorial narrative seems to lie outside the frame and to require the participation of a viewer” (Brown/Garrido 1998, 181). According to Thierry Greub, five are the questions to which scholarship gives divergent answers: 1. What activity are the represented characters engaged in? […] 2. What exactly is going on, and what is the time horizon of the narrative? […] 3. What are the characters gazing out of the picture looking at? […] [the royal couple, reflected in the mirror on the room’s rear wall, the spectator in front of the painting, or a vast mirror?]. 4. What is the painter effectively depicting in his picture? […] 5. What is represented in the mirror, and is this really a mirror, rather than a painting? (Greub 2001, 11–13)
The space in front of the picture, usually assigned to the spectator, is, of course, one of the painting’s two crucial and related aspects central to Michel Foucault’s account. The second is the mirror on the rear wall, which functions to make visible what may not be shown in the picture and “what all characters on the canvas are momentarily looking at” (Foucault 1974, 36), namely the royal couple. The empty space in front of the picture, which by substitution may alternately be occupied by painter, models, or the viewer) and mirrors refer to one another mutually and form the two poles structuring the entire composition (Kammler/ Parr/Schneider 2008, 118). Even if it is questionable if the mirror really is a mirror and whether the royal couple actually occupies the onlooker’s designated space31, there can be no doubt of the royals’ overarching structuring presence in effigy on the room’s far wall. “One confronts them, faces them, it is for their eyes that the princess is presented in her festive dress” (Foucault 1974, 43). 31
According to Foucault, Velázquez created a picture in which he represented […] himself as painting two figures, who in turn are looking at the infanta Margaret surrounded by court ladies, courtiers, and dwarfs (Foucault 1974, 37).
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5. Research about Mari-Barbóla What do we know about the dwarf? Palomino deals briefly with her: Behind Nicolasito Pertusato stands “Mari Barbóla, enana de aspecto formidable” (Palomino 1947, 920) – so we know the woman’s first names. Research has produced new findings. Often the respective sources employed are only named in passing or not at all, hence statements far too frequently prove to be repetitions of unproved or improvable assertions. The first researcher after Palomino to provide new information about Mari-Barbóla is José Moreno Villa, who proudly claims to have shed new light on important issues of Velázquez scholarship32. He writes: Asquen or Asquín (María Bárbora). The Queen’s dwarf, 1651–1700. Originally from Germany, she was usually called Mari-Barbóla. She appears in Velázquez’s painting Las Meninas. Perhaps her name comes from the Scandinavian Askim. The corruption of the first name Bárbara occurs fairly often in the sources of the period. I have met with the following forms: Bárbora, Bárbula y Barbóla (Bárbora and Bárbula Maino, 1604; Bárbula Bocardad, 1679; Bárbula Francisca de Avilés and Bárbula de Asua, 1609). She entered the royal palace in 1651, after the death of Countess Villerbal y Walther, whose dwarf she was, and from 14th April she received food provisions. In 1658 she receives the payment of outstanding wages (Testamentaria de la Emperatriz María). In the summer of the same year she is granted the daily issue of 4 pounds of snow (Empleos, E). In 1690 she and her servants receive the same as María Catalína Bazán, called “La Cató”, another of the Queen’s female dwarfs (Empleos, E and Expediente personal, A. 63). In 1691, she is given eight dresses; thereby she is called Barbarica (Cuentas de Sastres, S. 3). In 1695 her servant Juana de Horte is granted a food ration (Mercedes, leg. 1). Thereby she is also named Barbarica. In 1700 she returns to Germany. In the book of Asientos, no. 634, fol. 497, it is said: “30th March 1700. Barbarica: Everything she enjoyed is put together as she has returned to Germany from whence she came with the Queen” (Moreno Villa 1939, 66–67) 33
Moreno Villa concludes his description with the following remarks: “Whether Barbarica was a different person from Mari-Barbóla, I cannot say, and I have found no notice about whether she died in the palace” (ibid). Thus, Moreno Villa gathers different kinds of information about a single person whom he identifies as María-Bárbara Asquen or Asquin. He 32
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“Through my research we know that the supposed Niño de Vallecas was called Francisco Lezcano originating from Vizcaya, hence named ‘El vizcaíno.’ We know the date when the portrait of the fool don Juan de Austria was painted, and why he was called thus. We know the origin and life span of Nicolasito Pertusato. We know the full name and country of origin of Mari-Barbóla, i.e. María Bárbara Asquín, originally from Germany” (Moreno Villa 1939, 19f.). This passage is frequently quoted in research literature, often incompletely, and almost always without any reference.
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thereby mentions his sources so imprecisely that we do not learn, among other things, in which document the surname Asquin or Asquen is registered (probably in the Testamentaria de la Emperatriz María). Furthermore, the woman is named as Mari-Barbóla in a number of sources, and indeed up to 1691 (Testamenteria de la Emperatriz Maria; Empleos, E; Expediente personal, A. 63); after this date other sources (Cuentas de Sastres, S. 3; Mercedes, leg. I; libro de Asientos, no. 634, fol. 497) mention a woman called Barbarica. But this person cannot be identical with Velázquez’s dwarf, as the latter Barbarica returned to Germany as late as 1700, whereas the woman painted in 1656 was nearly 40 years old at the time, hence she must have died earlier than 1700. This contradiction34, eluding Moreno Villa, attracts the attention of Francisco Javier Sánchez Cánton35. Discussing these aspects, he concludes that effectively we are dealing with two different women. One, painted by Velázquez, entered the court in 1651 and received wages from this date on; the second arrived in Spain in 1691 and returned to Germany in 1700. The former’s name, as Palomino proves, was Mari-Barbóla; the second was called Barbarica Asquin or Asquen or Hasquin. This solution accepted by research36 is, however, far from unquestionable37. We also know very little about this woman, and the few dates 34 35
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The study by Elizabeth du Gué Trapier (Velázquez. New York: Hispanic Society of America 1948, 341, quoted after Searle 2001, 182, note 3) also relies heavily on Moreno Villa’s research. He writes: “Recent knowledge does not allow an assured identification; it relates to two female dwarfs of the same name, both originating from the same country […]. One of the two, reproduced by Velázquez, came to the palace after the death of Countess Villerbal y Walther as the latter’s servant; she was provided food rations as of 14th April 1651; in 1658 she received arrears, and in the summer she was granted four pounds of snow daily. She is not identical with Barbarica Asquin, Asquen oder Hasquin, who in 1690 came from Germany as part of the cortege of the Queen of Neuburg [Maria Anna of Neuburg-Pfalz, the second wife of Charles II, the son of Philip IV and Mariana of Austria, and brother of the Infanta Margarita], and who in the subsequent year had been donated 8 dresses, and who, on 30th March 1700 in the cortege of the Countess of Berlips, returned to her home country with 30,000 escudos, another 20,000 in jewels, and 100 doblones as pension. It suffices to contemplate the age of the woman depicted by Velázquez in 1656 to recognize the impossibility of her living for another 44 years [i.e, till 1700]; the sources indicate that the second dwarf arrived with the second wife of Charles the Jinxed” (Sánchez Cánton 1952, 17). “[Mari-Barbóla] Están perfectamente identificadas (sobre ello cf. Fco. Javier Sánchez Cantón: Las Meninas […], 1943)” ([Mari-Barbóla] has been fully identified since the time of Palomino), as asserted in the catalogue of the last major Velázquez exhibition at the Prado of 1990) (Gállego 1990, 423). Cf. also, among others, Mena Marqués 2001, 254. Sánchez Cánton does not mention his sources. He mentions recent publications which must include Moreno Villa and other sources such as Maura y Gamazo (11942), from which he derives new information about the second dwarf, Barbarica, contending that she had come to Spain in 1690 in the cortege of Maria Anna of Neuburg-Pfalz (cf. Maura y Gamazo, 21954, 339f.).
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provided by Sánchez Cánton do not correct this lack of knowledge. I now believe to have found archival material which provides new information and altogether sheds new light on her as court dwarf. 6. Mari-Barbóla and the Jesuits: the new letters At the Upper Austrian State Archives in Linz I accidentally came across three letters that were written at different periods. They are part of the estate of Johann Maximilian von Lamberg (1608–1682), who was a member of an aristocratic family which had settled in Upper and Lower Austria, and in the 16th and 17th centuries had rapidly climbed the social ladder in the service of Church and Court. From 1653 to 1660 von Lamberg was resident ambassador in Spain, and in 1661 was appointed Oberstkämmerer (lord high chamberlain)38. The lord high chamberlain enjoyed the privilege of “the most secret and free access to the person” of the king and, of course, great material benefits. The chamberlain’s staff consisted of the largest number of personnel, including, besides the lord stewart, not only chamberlains and valets, but also confessors, personal physicians, etc. (Ehalt 1980, 40–50). The first short letter, dated Graz, 13th September 1662, is signed by the Jesuit Carolus Sinich, “Praepositus Convicti Graecensis” (Principal of the Jesuit College in Graz), and is addressed to one Herr Mayrhoffer, toll collector at the Red Tower (“Mautner am Rotenturm”39) in Vienna. Sinich informs Mayrhoffer that he should receive money from the lord high chamberlain Johann Maximilian von Lamberg in Vienna as an inheritance left him by his Muhme (a collateral relative, probably an aunt) deceased in Spain. Sinich asks the heir to promptly sign acknowledging payment. Sinich for his part will immediately inform the Jesuit Johann Eberhard Nidhard (confessor to the Queen of Hispania), who had “brought out” the money from Spain, after payment has been made. The letter ends with the formula “God’s command to us all”. The amount of the inheritance – 120 Taler40 – and the deceased, Mayrhoffer’s female relative, are briefly mentioned; the woman is only present by first name: Maria Baberl. 38 39
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Cf. Hageneder 1986, XXVII–XXIX; Ehalt 1980, 44. In the 16th century, the tolls collected were used “fort he most part to maintain roads and bridges, or as service in return for their use. The most important Viennese Tolls were the Main Water Toll at the Red Tower, and the Tabor Toll”; Pribram 1918, 16). Mayrhoffer, as royal official, may have been dependent on Lord High Chamberlain of Lamberg; cf. Ehalt 1980, 51 (“The castle and palace captains with their subordinate chamberlains, gatekeepers, and gardeners formed another group of courtiers subaltern to the Lord High Chamberlain.”) “In the Holy Roman Empire the Reichstaler was general currency. Reckoned at 90 Kreuzer or 2 1/2 Florins. In southern Germany in 1667, the rate was 96 Kreuzer – the two-third
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Who were these two Jesuits, Sinich und Nidhard? Nidhard, only one year older than Sinich and himself a former teacher at Graz, had by comparison (and by any standard) a brilliant career. Born at Rannaridl in Upper Austria in 1607, Nidhard joined the Jesuit Order at Vienna in 1631, teaching philosophy, ethics, and ecclesiastical law at the University of Graz from 1642 to 1646. In 1647 he was appointed father confessor and teacher of the archduchess Mariana at the court in Vienna; in 1649 he accompanied the fourteen-year old to Spain, where she married her almost thirty years older uncle King Philip IV and became Queen. After Philip died in 1665, while the heir to the throne, Charles II (1661–1700) was aged four, it was soon no secret that all government affairs passed through Nidhard’s hands, him being her most important councillor (cf. Strnad 1997, 521). In September 1666, the widowed Queen regent Mariana made her confessor Inquisitor general (1666–1669) and a councillor of the junta de gobierno, “the focal point of courtly intrigue” (Pfandl 1940, 117). Hence the step from father confessor to political confidant and royal council was made official. Such growing influence in the affairs of government increasingly displeased the Spanish aristocracy: Philip’s illegitimate son, Don Juan d’Austria (1629–1679), who also demanded more say in politics, finally enforcing Nidhard’s removal and the latter’s departure from Spain in 1669. In Rome, his new sphere of influence, Nidhard was appointed Erzbischof and finally cardinal by Pope Clement X in 1672. He died nine years later and was buried in the Church of Jesus Christ underneath the altar of Ignacio de Loyola (Strnad 1997). Much has been said and written about Nidhard, whose appointment as Grand Inquisitor, archbishop, and cardinal has been considered a failure in Jesuitic historiography (cf. Duhr 1921, 834), since he “severely damaged both the reputation of his order and of Austria, in whose services he advanced from father confessor to General Inquisitor and cardinal at the papal court” “da er den Ruf seines Ordens in eben derselben Weise schweren Schaden zugefügt [hat], wie dem Haus Österreich, in dessen Diensten er vom Beichtvater bis zum Generalinquisitor und Kurienkardinal aufsteigen konnte” (Strnad 1997, 540). Sinich by contrast has remained in the shadows. Born at Graz on 11th May 1608, he joined the Jesuit Order at Leoben. Later he taught grammar, mathematics, and taler coin of 16 Groschen was also termed Gulden and was the most important trading currency: 1 Gulden = 60 Kreuzer” (Stanneck 2001, 301). A dueña de honor 1620 received an annual salary of 300,000 maravedies. The food rations for a camarera mayor in 1677 and 1679 consisted of “dos panes de boca, un azumbre de vino y una arroba de nieve, a las que se añadia de noviembre a marzo doce arrobas de leña y una gabilla al día”. That was little by comparison with the food ration of a guarda mayor (cf. López-Cordón Cortezo 2003, 140–141).
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philosophy; between 1638 and 1642 he was principal at Klagenfurt; in 1649 he was “missus in aliam provinciam”: Sinich together with Nidhard accompanied the archduchess Mariana on her journey to Madrid, where he remained for 12 years (Sommervogel 1896, 1226). His charge was to assist Nidhard at the Spanish Court. Later (in 1655) he became “confessarius gynaecei Reginae Hispaniae” (his obituary reads as “Graecÿ Confessarius Gynecaei in aula Reginae Hispaniarum”); he held this position until 1660. Returning to Austria, he was principal at Graz and died at Traunkirchen on 9th December 1680. After his return to Austria, his office in Spain was occupied by another Jesuit from Graz, Michael Codella (1635– 1698), who remained in Spain from 1661 to 1665 (Lukàcs 1982, 562). The second letter I found in the Upper Austrian Archives is also dated from 1662. It is the official confirmation of the payment of the inheritance money signed by the main heir. Herr Georg Mayrhoffer, Toll Collector at the Red Tower in Vienna and “Citizen of Steyr” (he has already been mentioned) confirms that the inheritance left to him and other relatives and friends by his deceased Muhme has been paid to him in cash without any deductions in Vienna on 9th October 1662. In this acknowledgment of payment, the persons participating in the money transaction are again named (Sinich, Nidhard, Lamberg), and likewise the transfer of the money from Spain to Vienna is noted. Most important, however, is that this time the deceased receives a name. She is referred to as “To Her Royal Majesty of Hispania, her former dwarfess, Maria Barbara Haunsin.” She therefore died in 1662 or shortly before. By comparing the names, the persons involved, and the date of decease with the research mentioned so far, one has to conclude that this is the same woman as the dwarf painted by Velázquez. Asquin, Asquen, or Hasquin – the various surnames with which Moreno Villa had identified this woman, while Sánchez Cánton believed that this was the family name of Barbarica, a second dwarf not to be confused with the one portrayed in Las Meninas – can now be explained as corrupt forms of Haunsin.41 Haunsin was presumably the female form of Hauns, which the Spanish bookkeepers found difficult to understand and write, and which would explain the corruption of form. Likewise Barbula de Asua, mentioned by Moreno Villa, is assumed to be identical with our Maria Barbara Hansuin. Moreno Villa mentions her, without indicating 41
This requires further investigation, because contemporary sources (cf. Maura y Gamazo 21954, 339f., citing a personal letter of the royal physician, Cristián Geleen) identify the second dwarf, i.e. the dwarf of Mariana of Neuburg, as “Barbarica Hasquim.” The similarity of names of the two different dwarfs is so striking, however, that one may conclude that the second could be a pseudonym, since the first has been documented in an official act (the payement of the legacy).
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any source, in connection with the year 1609. If that is the year of birth of the royal dwarf, one could specify the main dates in her life: born in 1609, she was 47 when portrayed by Velázquez in Las Meninas, and five years later, in 1662, she died at the age of 52. 7. Mujer de placer or wise dwarf? Some conclusions and prospects The financial transaction between Spain and the imperial high chamberlain in Vienna – and through the Jesuits’ network via Graz – was carried out in accordance with the protocol usual in aristocratic circles. The amount of the legacy, 120 Taler, seems to be very modest when compared with the enormous sums of money used for example by the young Count von Lamberg on his Grand Tour. For travels over four months in 1659, a total of 2,167 Reichstaler was calculated (cf. Stannek 2001, 188). Yet the 120 Taler were by no means insignificant, for “a non-aristocratic preceptor with an annual salary of 100 Reichstaler was practically earning the same amount as a prince’s valet” (ibid. 207). So Mari-Barbóla had saved that much. And she had free board and lodging. That it was ‘only’ a dwarf’s legacy – nevertheless the dwarf of the Queen of Spain – being dealt with indicates that she enjoyed high status. This is confirmed, above all, by those involved in the transaction. To recapitulate: Nidhard at the time was father confessor to the Queen, and in 1662, the year of our letter correspondence, despite holding no official post he nevertheless exercised great influence at the Spanish court, as the Queen’s counsel. As Ludwig Pfandel writes, the father confessor was part of the royal suite, “obeying” as main confidant only the king or Queen. “He ha[d] access to the innermost chambers, but ha[d] to know the exact ceremonial rules, while usually not participating in public functions. Bearing no specific livery, he [was] the least visible but nonetheless most influential member of the entire royal household” (Pfandl 1938, 16). And JoEllen M. Campbell observes: The two [Nidhard and Mariana of Austria] relied heavily upon each other: she upon her confessor for counsel and advice as well as the companionship of a fellow countryman, and he upon the Queen for the authority and influence her favor could bestow. Their joint influence first appears in the context of choosing which course Spanish foreign policy should follow, the same context she would attempt to dominate in the years after Philip’s death (Campbell 1996, 112).
As royal confessor, Nidhard’s duties certainly transcended the religious sphere. That he later accepted the office of Spanish Grand Inquisitor has been considered, from a Jesuit standpoint, a heavy burden. But he
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belonged to the female royal network and was an essential representative of the Austrian Hapsburgs in Spain,42 whose succour was considered crucial at the Viennese court. The close relationship and complete confidentiality that Mariana entertained with him, as well as her political inexperience, induced her to make him the most important figure in Spain after the death of her husband, King Philip IV. The resentment and strong opposition of the aristocracy and high royal officials was due less to “his inability as [to] the fact that he was the foreign appointee of a foreign Queen” (Payne 1973, 318). In the early 1660s, father Sinich belonged to Nidhard’s und Mariana’s royal network. He was the confessor of the German-speaking ladies at the Madrid court. Very probably he was also father confessor to MaríaBárbara Hansuin, the Queen’s female dwarf, whose heir (indirectly) was a citizen of Steyr (Upper Austria). Hansuin came from the same region as Sinich, and it is likely that she related to him her most intimate thoughts, sins, and worries. Upon his return to Austria, where he entertained relations with the court that had dispatched him to Spain as Nidhard’s adjunct, Nidhard or the Queen, respectively, thought him the right person at the right place to execute the dwarf’s last will in her home country. Sinich was Nidhard’s confidant, he had closely known the dwarf, and was entrusted with initiating and overseeing the money transaction in Vienna. The role and rank of those involved in this transaction between Vienna and Madrid lend it a solemn, grave significance. It can be likened to a noble ceremonial, save that Mari-Barbóla was not aristocratic. Her lack of nobility is confirmed by the only title adorning her name: “Her Royal Majesty of Hispania’s Former Dwarfess.” That was her sole, though important commendation. By the same token, the toll collector of the Red Tower of Vienna, her male relative in Austria, was simply a “Citizen of Steyr.” So why would Nidhard, father confessor to the Queen of Spain and four years later the most powerful person at court, take it upon himself to export 120 Taler from Spain? Other royal dwarfs had bequeathed substantial fortunes, but in no other case did that directly involve personages of such high rank. The dwarfess died at the Spanish court probably without heirs, so her money was divided among various relatives in Austria. But Nidhard in persona guarded the money of the lonely deceased, which indicates that the relationship between the German-speaking Queen and her dwarf was particularly close. Maria-Baberl not only belonged to the Queen’s (Austrian) network, she must have covered different functions and her merits must surpass what we knew until now. Her role and rank, as 42
Cf. Sánchez 1993, 138–140 on Robert Haller, Margherita of Austria’s former Jesuit confessor in Spain.
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transpires from these letters, must be seen in a new light. It is hard to imagine that her only or main task at court was to amuse the courtiers. It must have been a confidant, particularly of the Queen, with whom as a foreigner in Spain she was able to converse in her mother tongue, a person who could be trusted with the royal children. As Flögel writes, “the man’s wit in the mouth of a child” (Flögel 1789, 506) was greatly appreciated. It is clear that her function on the painting is not (only) to serve as the negative foil of beauty, which she reveals by contrast (Brown/Garrido 1998, 143f.), as many critics have observed. Palomino uses the term “monstrous appearance” (Palomino 1947, 920)43, while Carl Justi points to the “unshapely, the submissive gnomes and faithful Eckarts, orbiting their small idol, the then five-year old Infanta, as the sun of their sphere” (Justi 2001, 89) – to which also Mari-Barbóla belonged. John R. Searle repeatedly refers to her as an “ugly dwarfess” (Searle 2001, 173), and finally Gallego, who stresses her “stolid and vacant look” (Gállego 1986, 22), thinks her worthy of the diagnosis made by Jerónimo de Moragas, according to whom “[Mari-Barbóla] suffered from mild oligophrenic cretinism, accompanied by vanity, presumption, and character of wit”44. And yet, it is unlikely that her monstruos deformity alone gained her a prominent position in the foreground of the cuadro de la familia. Mena Marqués herself had pointed out her “impressive corpulence, massive and solid build, her broad and healthy face.” She is painted with a far more elaborate technique than the other characters, and it could be said that her face has been captured with the precision almost of a miniature. Velázquez used many brush strokes with plenty of colour to achieve the volume and expressiveness of her face – just as on the dress, for which by way of an exception he employed sumptuous and very expensive lapis lazuli. All this indicates that the figure of Mari-Barbóla in contrast to other, somewhat superficially rendered characters, was crafted from the start with great precision and care. On the other hand, Velázquez intensely emphasized the play of light on the figure of the dwarfess, most obviously, but not only, on her sleeve. The painter blends the brush strokes of lapis lazuli with white lead to enhance her luminosity. Above all, they have been executed with acknowledged exactitude, in part very fine dabbings of paint applied with a very delicate brush (Mena Marqués 2001, 255). 43
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Moreno Villa writes: “No inculpemos a Velázquez de haber recurrido a este ardid de rodear a la Infantita – que es centro de cuadro – de gente zafia, estirada o enana para que resaltase la belleza de la niña regia” (Moreno Villa 1939, 35). And Mena Marqués notes: “Her monstrous looks through contrast stress the delicate grace, beauty, and authority of the child” (Mena Marqués 1986, 98). Jerónimo de Moragas: Los bufones de Velázquez. In: Medicina e Historia, fasciculo VI, Eds. Rocas, Barcelona 1964, 66f. (“[…] sufría un cretinismo con oligofrenia poco profunda, acompañada de vanidad, presución y genio chistoso”), quoted from Gállego 1986, 22.
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Velázquez had painted this area more densely than others, in order to focus attention on one section of the composition, with great skill and fully aware of requiring the onlooker to unwittingly ‘enter’ the scene from the right, attracted by the dwarfess who also focuses her direct and captivating look of her dark eyes on the spectator (Ibid.).
Moreover, in a picture organized completely around parallelism, overlaps and substitutions, playing with the visible and the invisible and with representation, the representer and the viewer, the parallel, “horizontal” lines between the dwarfness and the Infanta,45 but especially those between her and the painter are striking: virtually the same frontal posture46, the same dark figure and brightly lit face, the same black tonality of garments and thus induced ‘gravitas’ of figures, the raised arm of both characters (Mena Marqués points to the dwarfess holding a ring in the fingers of her left hand, while Velázquez keeps his brush in suspension), gain new meaning. The royal couple (in the mirror) on the far wall structures the painting, as it may be situated in front of the picture with respect to the viewer’s standpoint, while the latter may be yet again substituted by the royal couple absent in the image. Though, Las Meninas as Cuadro de la familia was, of course, meant first and foremost for the royal couple. King and Queen must therefore be considered the primary and earliest addressees of the represented scene. These two poles – the royal couple as reflected in the mirror and as viewers in front of the painting – form a virtual vertical line which arranges and structures the entire composition, leaving nothing to chance, even when seeming to include spontaneity (cf. Stoichita/Coderch 2006, 236). Surprised by the sudden arrival of royal spectators, several characters appear to continue with their activities unnoticed. Pertusato gives the dog a kick, which keeps on dozing, while the guardadama seems to continue her conversation with her companion. Not so Mari-Barbóla, who is the first in the image to directly address the spectator and hold his look, adding her gestures and posture to this look as a sign of highest reverence and attentiveness. Her position in the picture together with that of the painter forms a frame of sorts of the main central scene, the representation of the infanta with her two maids of honour. This centre opens up like the layers of an onion (the infanta 45
46
Cf. Alpatow 2001, 105, “The entire painting is organized around parallelism. […] In view of these correspondences the peculiar likeness between the small Infanta and the dwarfess Barbóla is striking. They share the same vacant look, dignity, and almost the same garb. The dwarfess Barbóla is a quasi-parody of the graceful, unreal figure of the blonde and blueeyed Infanta. It is probable, however, that a direct parody was not the artist’s intention.” Mari-Barbóla is the first of the depicted characters to look at the spectator (the royal couple? or only the Queen?) approaching. Her gaze is a “means of establishing rapport between painting and spectator that the artist uses several times” (Vahlne 1982, 25).
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surrounded by the maids of honour, the composition’s main theme, cf. Foucault 1974, 41) and finds its next protective envelope in the figures of the female dwarf and the painter. Further removed are Pertusato, the guardadamas, and her companion, the dog. She, the dwarf and the painter as well as the entire spatial composition are assigned to the royal couple, strictly aligned between the mirror/rear wall image and the spectator’s point of view in front of the picture. The royal couple, as reflected in the mirror – with the Queen on the right side of the king as prescribed by the Hofetikette47 – dictates the hierarchical position and arrangement of the represented figures in the given space: Velázquez as the court painter, the courtier48 and confidant of the king, assigned to the king; she as the Queen’s dwarfess and closest confidante, a person who could be trusted with the royal children, assigned to the Queen. Here, too, the geometry of power49 is fully displayed and respected. That Velázquez, the royal painter who only three years later would receive peerage, should seek and craft such parallels with a dwarfess, displaying her in a prominent position in this picture of the royal family, can only be explained by reference to Mari-Bárbora’s exceptional position at court. The abnormal body of this mujer de placer fulfils a whole range of functions, hence it could and must be exhibited in the image’s foreground. It had to reveal more of and make even more visible the majesty of the Infanta, to assure her luck and avert every sort of occult negative influences such as evil eye, but also as protecting her as a counterpart, a vicar of the Queen. Her physical alterity, the condition which gained her entrance to the royal court cannot alone explain her symbolic significance and relatively high position within the Spanish court’s hierarchy. Her mental, emotional, and social skills, her knowledge of different languages (especially of German, the Queen’s mother-tongue), a hint of piousness and religious fervour, as evidenced by her confidential naming as Mari Baberl in Sinich’s letter, perhaps also a certain homesickness, certainly her devotion to the distant Steyr, as her inheritance indicates – all these aspects allow her natural body50 to take shape, and add to her visible body new meanings. All of this allowed her to successfully negotiate the complex, dangerous web of the court (and its relations to those in Vienna) as well as the sphere of the family (near the Queen and the Infanta) and to secure 47 48 49 50
Cf. Lisón Tolosana 1991, 145f. Regarding his vast and variegated set of tasks at court, which also allowed him considerable influence, cf. Zelger 1994, 103–105. Cf. Lisón Tolosana 1991, 145–146. In reference to the famous two-body theory by Kantorowicz 1957 (the monarch has a natural and a symbolic, representative body); concerning the queen’s body, cf. Schulte 2002.
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herself a precise status within the painting’s frame. Las Meninas thus visualizes her in a way only comprehensible from the point of view of the royal couple’s sovereign look.
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Traditionelles Erzählen in der Werbung: Gattungen und Themen, Medien und Prozesse, Methoden und Theorien, Irritationen und Chancen Was das Denken betrifft, so glaube auch ich an eine „Endzeit“; aber nicht, was das Erzählen betrifft. (Peter Handke, Phantasien der Wiederholung) Der Mensch raucht immer noch seine Träume. (Werbefachmann der Zigarettenindustrie)
1. Vorbemerkung In einer Werbeanzeige der Firma Listerine, die Mittel zur antibakteriellen Mundhygiene vertreibt, bekämpft eine androgyne Drachentöterin den Drachen des schlechten Atems (Quelle 1). In einer Anzeige des Halsschmerzmittels frubizin akut traktieren Halsschmerzteufel mit einem Dreizack den Hals eines Mannes, der sich seiner Folterer nur mit Hilfe des gepriesenen Medikamentes erwehren kann („zur Schmerzlinderung bei akuten Halsschmerzen“, „Packt den Halsschmerzteufel schnell am Kragen“, Quelle 2). Als eine Königin in einer Tafelwasserwerbung Boten ausschickt, nach dem besten Wasser zu suchen, erleiden die Überbringer minderer Wassersorten – gleich jenen Märchenfiguren, die einen wie auch immer definierten Wettstreit verloren haben oder als Freier abgewiesen wurden – drastische und rüdeste Behandlung, während der Überbringer von Apollinaris („The queen of table waters“) zum Sieger erklärt wird (Quelle 3). Diese beliebig vermehrbaren Beispiele zeigen, wie sehr Produktwerbung in Text und Bild auf traditionelles Erzählen zurückgreift. Im Übrigen sind auch politische Werbung und Bildpropaganda ein Ort vielfältiger Rezeption eines solchen Erzählens: mit größtenteils erwartbaren Motiven der politischen Ikonographie, z. B. dem reitenden Tod als Symbol von Krieg, Zerstörung und Chaos (Langguth 1995, 22) oder dem Drachentöter, wie z. B. dem Heiligen Georg, auf einem Kriegsplakat
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(Malhotra 1987, 31; Daly 2002, 51 f.), aber auch mit eher ungewohnten Motiven, z. B. den Bucheckern sammelnden Zwergen, die in der Mangelwirtschaft des Ersten Weltkrieges die Bürger zu gleichem Tun auffordern (Bohrmann 1987, 133). Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich auf die so genannte Produktwerbung, kann aber aus Platzgründen nur ausgewählte Facetten des vielschichtigen Themas ansprechen.
2. Gattungen Auf der ständigen Suche nach wirksamen Schlüsselreizen, nach verkaufsfördernden archetypischen Bildern, wohlbekannten Figuren, einprägsamen Motiven und Metaphern, nach effizienten Erzähltechniken, Dramaturgien und Wirkweisen, erfolgversprechenden kommunikativen Strategien sowie nach verwertbarer Auratik hat sich die Werbung nahezu alle Gattungen traditionellen ,volksläufigen‘ Erzählens, d. h. die meisten vorliterarischen ,einfachen Formen‘, zunutze gemacht: Mythos, Sage einschließlich der zeitgenössischen Großstadtsage, der urban legend, Legende, Märchen (oft Zaubermärchen), Exemplum, Rätsel, Witz, Spruch, Sprichwort einschließlich der sprichwortnahen Redensart, die gattungstheoretisch schwer fassbare ,Lebensgeschichte‘. Aber auch diesen Genres verpflichtete, ,abgeleitete‘ und modernere Gattungen stehen der Werbung in ihrem unersättlichen Stoffhunger wie in dem Bedürfnis nach Nutzung tradierter Erzählweisen als ein insgesamt unerschöpflicher Fundus von Themen und Formen bereit. Genannt seien hier u. a. Emblem, Tiererzählung, Kinderlied als Teil einer umfassenderen Kinderfolklore, Kinder- und Jugendliteratur, Schlagertext, Bildgeschichte, Comic und Cartoon, Science Fiction, Animationsfilm, Western, längst auch schon das Computerspiel. Eine besondere Rolle spielen die zumeist aus semiologischer Sicht betrachteten, erzähltheoretisch nicht leicht zu definierenden Mythen des Alltags (Barthes 1964). Einerseits werden sie von der Werbung aufgegriffen, andererseits aber auch erst von ihr geschaffen. Sie umfassen nicht nur auf den ersten Blick hin eher konkrete Mythen wie den Marlboro-Cowboy, sondern auch zunächst abstrakter erscheinende wie den häufigen Mythos der Tiefe, vorrangig vermittelt durch Werbung für Waschmittel und solche zur Schönheitspflege, die ,porentiefe Reinheit‘ versprechen (Barthes 1964, 47–49). Gleich zu Beginn des vorliegenden Beitrages sei zwei Missverständnissen vorgebeugt: Zum einen finden in der Werbung nicht immer bewusste Anleihen bei traditionellem Erzählen statt, häufig begegnen dessen Motive frei zirkulierend und sind in einem schwer definierbaren kollektiven Unbewussten oder sozialen Gedächtnis eingelagert. Zum anderen reichen die Motivzitate oft nicht bis zu den vermuteten Wurzeln des
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Erzählens zurück; häufig scheinen jüngere Genres, etwa Fantasy und Animationsfilm, wie im Fall der oben bereits erwähnten Drachentöterin zu vermuten, der Werbung näher zu sein als Märchen und Sage. In einem besonderen Verwandtschaftsverhältnis stehen Werbeslogan und Sprichwort (Röhrich/Mieder 1977, 111–113). Der Slogan (z. B. „Im Falle eines Falles klebt Uhu wirklich alles“) imitiert Kürze, Satzbau, Rhythmus und Klang des Sprichworts, teilweise auch sprachliche Mittel wie Alliteration und Reim. Er nutzt dessen hohen Bekanntheitsgrad und dessen suggerierte Allgemeingültigkeit, um „ein noch unbekanntes Fabrikat mit dem Schein der Gebräuchlichkeit zu umgeben“ (Röhrich/Mieder 1977, 113), um einprägsam zu werden, vielleicht sogar einen sprichwortähnlichen Vertrautheitsgrad zu erlangen. Inwieweit der Slogan zugleich bei der älteren und würdigeren Textsorte Dignität, Nachhaltigkeit und Weisheitsaura entleihen kann, um Verlässlichkeit und Seriosität des angepriesenen Produktes zu vermitteln, ist im Einzelfall nicht immer leicht zu beurteilen. Doch nicht nur Slogans, auch deren nicht seltene Parodien (z. B. „Wer einmal nur im Monat kann und möchte gerne täglich, der wende sich an Neckermann, denn Neckermann macht’s möglich“, Röhrich/ Mieder 1977, 113) imitieren Muster und Habitus des Sprichworts. Vielleicht könnte man hier von einem konservativen Aufstand des Volksgängig-Vertrauten gegen das wuchernd Kommerzielle sprechen: “Der parodierte Werbeslogan schlägt in der Form des Sprichworts gegen die Allmacht der Reklame zurück.“ (Röhrich/Mieder 1977, 113). Eine ausgesprochene Lieblingsgattung einer an den wechselseitigen Beziehungen zwischen den Sinnträgern Bild und Text interessierten Interpretation der Werbung stellt das synmediale Emblem dar: ein für die Erzählforschung nicht unproblematisches Referenzgenre (Seidensticker 1995, 98–104). Denn oft leiten sich Vergleiche zwischen Werbeanzeige und Emblem aus kaum mehr als einer eher oberflächlich definierten, für beide charakteristischen formalen dreiteiligen Struktur ab: Dem Lemma des Emblems entspricht die Überschrift, das Motto oder der Slogan der Werbung, dem Icon ein Bild des Produktes, dem Epigramm schließlich ein kurzer erläuternder, werbender Text. Unschwer werden in den aufeinander verweisenden Bildern und Texten Symbole von hochappellativer Wertigkeit wahrgenommen, derer sich die Embleme der Werbung als in den Dienst persuasiver Strategien gestellte telling images bedienen (Daly 2002). Notwendig ist jedoch eine Bestimmung des barocken Emblems wie der emblematischen Werbung, die einerseits beiden eine Doppelfunktion des Darstellens und Deutens zuweist und den ihnen gemeinsamen handlungsleitenden Anspruch erkennt, andererseits aber auch den mentalitätsgeschichtlichen Unterschied angemessen berücksichtigt: dort den Verweis auf eine göttliche Weltordnung, hier konsumorientierte Selbstbezogenheit
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in einem ,Mundus symbolicus‘, in dem Glück käuflich ist (Würffel 1981, 162 f., 175 f.). Humor, Komik und das Witzige sind in der Werbung in all ihren Facetten vielfältig präsent (Gulas/Weinberger 2006, 189–205). Häufig begegnet der Witz als Wortwitz oder visueller Witz (ebd. 81); seine Techniken der Erwartungsbrechung, Pointierung und Kontrastbildung, seine Verkehrtheiten, Missverhältnisse, Übertreibungen, Überbietungen und Übertrumpfungen sind willkommene ,Stilmittel‘ der Werbung. Oft begegnen als ,Witzfiguren‘ Sozialtypen nicht des Arbeitslebens und des sozialen Ranges, sondern der Freizeit und des Konsums, z. B. Heimwerker oder Hobbygärtner. Nicht wenige Werbespots sind kleine Sketche, sei es dass die Bierwerbung von Hasseröder feststellt: „Männer sind so!“ oder dass ein Tennisstar beim Golfspiel den Caddie k. o. schlägt und Rechtsauskunft benötigt (Quelle 4). Jedoch nur im Ausnahmefall begegnet der ,klassische‘ Witz: eine „kurze, Lachen erregende Erzählung, die in einer Pointe gipfelt“ als abgeschlossenes kleinepisches Gebilde und heute die „wichtigste und am meisten lebendige Gattung der Volkserzählung“ (Röhrich 1977, 5, 1). Da in der Massenkultur unserer Zeit die allgegenwärtige Werbung oft als lästig und lärmend erscheint, wird ihre schrill-störende Aggressivität verspottet. Schon längst gibt es Witze über Werbung, die sich auch über die inzwischen schon typisierte Figur des Werbeschaffenden belustigen: Eine Firma, die Nägel herstellt, beauftragt einen Experten für Werbung, ein auffallendes Werbeplakat für die Firma zu entwickeln. Bei der nächsten Besprechung präsentiert der Experte seinen Vorschlag: „Das Plakat, das ich entworfen habe, ist genial.“ Daraufhin zeigt er ein Bild, auf dem Jesus ans Kreuz genagelt ist. “Unsere Nägel halten einfach alles.“ Die Geschäftsleitung ist natürlich schockiert und teilt dem Experten mit, dass sie so ein Plakat unmöglich aufhängen könnten und bittet ihn, ein neues zu entwickeln. Eine Woche später das Ergebnis: „Diese Idee ist noch besser als die letzte.“ Auf dem Plakat ist nun ein Kreuz zu sehen, vor dem Jesus liegt. „Mit unseren Nägeln wäre das nicht passiert“ (Quelle 5).
Wenn schon der traditionelle Witz in der Werbung kaum präsent ist, so gilt dies erst recht für den so schwer definierbaren, umfänglicheren, stofflicheren, ,realistischeren‘, sich stärker dem Milieu, dem Geschehen und dem Sachwitz widmenden, zumeist auch belehrenden Schwank (Straßner 1978, 13–15). Zwar lassen sich Schwank als „Vergangenheitsform des Komischen“ und Witz als „Gegenwartsform des Komischen“ (Röhrich 1977, 9) deutlich unterscheiden (Röhrich 1977, 8–10). Wo in der Werbung jedoch Schwanknahes oder Schwankverdächtiges nur in Spuren begegnet, lässt es sich im Einzelfall kaum unzweifelhaft auf Schwänke oder Schwankmotive beziehen, da Witze als Bezugsgattung zumeist näher stehen. Eindeutig erkennbar sind allenfalls Zitierungen des Tierschwanks
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Abb. 1: Hase und Igel: Der Sieg des klugen Konsumenten
vom Hasen und Igel (KHM 187), der aber von Werbeschaffenden wie von Rezipienten wohl eher als Tiermärchen wahrgenommen wird. In einer Anzeige der Firma knowledgepark für Knowledge Management in Bibliotheken (Quelle 6, Abb. 1) sehen wir – ein vertrautes Bild des Gegensatzes – einerseits den Hasen, außer Atem geraten, mit buchstäblich hängender Zunge, den ewigen Zweiten symbolisierend, und andererseits den Igel, souveränen unmissverständlichen Sieger, auf fast provozierende Weise behaglich wartend. Doch beider Wettstreit, den der Igel mittels seines Informationsvorsprungs gewinnt, findet auf einer einzigen, nicht körperlichen Ebene statt. Das genuin Schwankhafte der vertrauten Tiererzählung hingegen beruht wesentlich auf der Übertölpelung des körperlich ungleich vorteilhafter Ausgestatteten, des laufschnellen Hasen, durch den zunächst unterlegen Erscheinenden, den Igel, der fehlende Körperkräfte durch geistige Fähigkeiten, letztlich List, ausgleicht und immer schon am Ziel auf den verwirrten Hasen wartet. Dieser Gegensatz wird durch eine weniger paradoxe, nicht auf einer Verkehrung der ursprünglichen Kraftverhältnisse beruhen-
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de, deutlich flachere Antithese überschrieben. Angesprochen fühlt sich – immerhin auch hier Ausweis einer ,verkehrten Welt‘ – der sich in EDVFragen als zunächst weniger informiert und mithin als schwächer Einschätzende, der nun dank gezielter Produktinformation als eingeweihter Konsument letztlich den (vermeintlichen) Spezialisten, mithin den Stärkeren, übertrumpfen wird.
3. Märchen: Ein hermeneutisches Exempel Kaum eine andere Gattung traditionellen Erzählens wird in der Werbung so augenfällig zitiert, oft in ironisierender oder parodierender Absicht, wie das Märchen. Und wohl keine eignet sich so sehr dazu, grundlegende Aspekte der Rezeption traditionellen Erzählens in der Werbung zu besprechen. Ein erster Grund für die Beliebtheit des Märchens bei Werbemachern ist schnell zur Hand: Mit seinen vertrauten Figuren, seinen bildlich wie szenisch griffig umsetzbaren Konfigurationen, vor allem den für die Handlung konstitutiven Personenpaaren (z. B. Prinzessin und Frosch, Rotkäppchen und Wolf) ist das Märchen für den von den Werbemachern gewünschten Wiedererkennungseffekt förderlich. Zwar ist vieles aus Märchen in der Werbung nur noch präsent als Reduziertes, Gerafftes, Geschrumpftes und Gesunkenes, als Requisit, Dekor, Ornament, Abbreviatur, Abzieh- oder sogar Stimmungsbild, doch reichen Bild, Szene, Gebärde, Pathosformel, sprichwörtliches oder redensartliches Konzentrat aus, um sofort die Erinnerung an vertraute Märchen zu wecken. All diese Verkürzungen und Begrenzungen sind nicht allein auf die zeitlichen und räumlichen Einschränkungen nahezu aller Werbegenres zurückzuführen, auf den ökonomisch-medialen Zwang zu Knappheit und Kürze, sondern entsprechen zugleich dem Wunsch nach Plakativem und Expressivität sowie längst auch heutigen Wahrnehmungsgewohnheiten: dem Wunsch nach Schnellem, Bruchstückhaftem, der Flucht vor dem Epischen. Nicht umsonst nehmen in der Werbung zwei allvertraute Märchen eine besondere Stellung ein: Der Froschkönig (KHM 1), paradigmatisch für die große Wandlungsfähigkeit des Märchens und besonders in der oft ironisierten Kussszene ein ausgesprochener Blickfang, und Rotkäppchen (KHM 26), als ,Verführungsmärchen‘ auch in der Rezeption durch Werbung von besonderer Bedeutung für das Thema ,sexuelle Lesarten von Märchen‘ (Orenstein 2002, II, 1, 107, 124 f., 169, 177, 186, 191 f.): Beispielsweise paart moderne Werbung Rotkäppchen gerne mit dem Wolf in Form eines ,gefährlichen‘ Playboys. Ein weiterer Grund für die Beliebtheit des Märchens bei Werbeschaffenden drängt sich auf: Da das Märchen vornehmlich von Wunscherfül-
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lungen erzählt, leiht sich Werbung, die ja selbst auf dem Versprechen von Wunscherfüllung gründet, beim Märchen Träger und Szenen der Wunscherfüllung aus (Mieder 2000), borgt den Zauber und das Wundersame zur Schaffung eines ,schönen Scheins‘. Doch oft, wo sich Märchenzauber und Märchenwundersames zu einem Erzählen von Erlösungssehnsucht und nachfolgender Erlösung formen, wird dies als „Strukturzwang“ (Röhrich 1979, 192) erfahren, den man werbewirksam zu unterlaufen sucht: So wünscht sich beispielsweise der Froschkönig in einer Werbung für den Energy-Drink Red Bull keinen Kuss von der Prinzessin, sondern den belebenden Trank, der ihm Flügel verleiht und ihn entschweben lässt (Hars 1999, 302; Hars 2000, 248). Das Wunder des Märchens, dessen „peculiar magic-world view“ (Dégh/Vázsonyi 1979, 49), wird durch das – aus Sicht der Werbung ,vernünftigere‘, da käuflich erwerbbare – Wunder des Konsums („Magic for Sale“: ebd., 47) ersetzt. Ein noch deutlicherer Gegensatz zwischen dem Zauber des Märchens und einer ,rationalen‘ Umwelt – im Übrigen eine Spannung, auf der oft Märchenwitze basieren (Röhrich 1977, 72) – findet sich in einer Anzeige des Baumarktes Hornbach, in der die einem Bild von Froschkönig und Prinzessin innewohnende Erinnerung an ein märchengenuines Erzählen vom Sehnen und Wünschen durch die ,Botschaft‘ der Machbarkeit, d. h. Käuflichkeit von Veränderungen überschrieben wird: „Nicht wünschen. Machen!“ (Quelle 7, Abb. 2). ,Verkürzungen‘ eines Märchens bieten Werbeschaffenden immer wieder auch die Möglichkeit, dessen Inhalt im Sinne der Werbebotschaft teilweise sogar radikal zu verändern. Als ein weiteres Beispiel diene eine Anzeige der Franklin Templeton Investments („Die Wertentwicklung des Templeton Growth Fund, Inc., erscheint märchenhaft“). Sie trägt als Überschrift die Frage: „Sind 30 404 % [sic] Rendite ein Märchen?“ (Quelle 8, Abb. 3). Aus dem provokativen Aufmacher am Kopf der Anzeige regnen Sterntaler, die eine darunter stehende Puppe, rothaarig und barfüßig, eindeutig als Abbildung der Hauptfigur des Grimmschen Legendenmärchens Die Sterntaler (KHM 153) ausweisen. Es ist kein Zufall, dass in einer Finanzanzeige das Sterntaler-Märchen auf den bloßen Moment des Goldregens (hier eigentlich Geldregens), den Augenblick der materiellen Wunscherfüllung reduziert wird, dass alles andere ausgeblendet wird: Herkunft und Status des Mädchens (ein verlassenes, bitterarmes, hilfsbedürftiges Waisenkind), seine Eigenschaften (Gottvertrauen, Mitleid, Freigebigkeit); die anderen Figuren (die Menschen, denen das Mädchen Brot, Mütze, Leibchen, Röcklein und das sprichwörtlich letzte Hemd gibt): die auf dem Gegensatz zwischen anfänglicher Armut und dem als Gottes Lohn verstandenen Reichtum am glücklichen Ende beruhende Dramaturgie des Märchens.
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Abb. 2: Machen statt Wünschen: Die Philosophie des Baumarktes
Mit den beschriebenen Ausblendungen liegen alle Prozesse vor, die geradezu prototypisch eine Schwundstufe charakterisieren: Aufgabe des Heiligen, Reduzierung auf ein rein Irdisches, Profanierung von Werten, Verlust an seelischer Substanz, Entmythisierung. Doch sollte uns eine solche Diagnose nicht verleiten, eine generelle Skepsis gegenüber dem Phänomen Schwundstufe (Brednich 2007) aufzugeben oder eine Wehmut über (vorgebliche) Schrumpf- und Kümmerformen larmoyant zu kultivieren. Die vollständige Aussparung oder weitgehende Abflachung von Spannungsbögen, die Ausdünnung des Märchenpersonals, die Negierung der langen Suchen, Suchwanderungen und verzögerten Erlösungen: All das, was für die Märchenrezeption in der Werbung charakteristisch ist, unterstreicht einen weiteren wichtigen Unterschied zwischen Märchen und Werbung. Während der Mensch im Märchen als „Umwegwesen“
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Abb. 3: Unerhörte Rendite: Schrumpfform eines Legendenmärchens
(Lüthi 1990, 157 f.) begegnet, dem oft ein „Aushaltenkönnen von lang andauernden Spannungen“ (Lüthi 1990, 159) auferlegt wird, ist die Werbung der vielleicht auffälligste Bestandteil einer Kultur der schnellen Wunscherfüllung, der easy gratification. Ein im Internet nicht seltenes Genre stellt das ,Werbemärchen‘ dar, das zugleich Märchen wie Werbetexte parodiert. Verspottet werden zum einen Erzählweise und Formelhaftigkeit des Märchens, zum anderen der uneingeschränkte Beglückungsanspruch der Werbung und die Markenfixierung der Warenwelt. „Es war einmal ein Müller, der nicht bei der Super-Spar Aktion der Sparkassen mitgemacht hatte, und deshalb sehr arm war“, so
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beginnt ein ,Werbemärchen‘ namens Rumpelstilzchen (KHM 55). „Da er aber eine sehr schöne Tochter hatte, die ihr Haar stets mit der neuen Glisskur wusch, die ihrem Haar das absolute Völlegefühl verlieh, erzählte er dem König: Meine hübsche Tochter cremt ihre Hände immer mit der Nivea Hautcreme ein, deshalb hat sie so geschmeidige Hände und kann Stroh zu Gold spinnen!“ (Quelle 9). Als literarisch anspruchsvoller erweist sich eine Rotkäppchen-Parodie in „Reklamedeutsch“ von Thaddäus Troll: „Großmutter, was riechst du so streng?“ „Das ist der Duft der großen, weiten Welt“, sagte der Wolf, sah mit dem Appetit, den Frauen lieben, auf das bißfreudige, gaumengerechte Rotkäppchen, sprang aus dem Bett, verspeiste es mit dem haftaktiven, senilodentgepflegten Gebiß und schlief ein (Ritz 1981, 117).
Das ,Werbemärchen‘ erscheint auch als Warenkatalog, für dessen Erstellung die Spielregel zu gelten scheint, möglichst viele Marken zu nennen, so dass es – in der Matrix einer Märchenhandlung – fast schon zur Parodie auf ein schamloses product placing wird. Trolls Text hingegen parodiert vornehmlich die Veredelungsstrategien, Wortbildungsmuster und Hochwertwörter der Werbung. Bei allen zugestandenen Albernheiten sind solche Werbemärchen märchendidaktisch von Interesse. Denn in der großen Distanz zwischen ,Werbemärchen‘ und Märchen treten die Charakteristika des Märchens deutlich zutage: Der nur mechanischen Allverfügbarkeit und wohl auch Allverknüpfbarkeit im ,Werbemärchen‘ steht im Märchen eine in dessen imaginativer Substanz begründete Allverbundenheit entgegen. Wo wir in der Werbung warenweltliche Ausdifferenzierung, Produktfülle und Scheinvielfalt, mithin vorgetäuschte Welthaltigkeit finden, begegnen wir im Märchen, das viel stärker einen ,Sitz im Leben‘ hat, genuiner Welthaltigkeit. Doch sind Original und Adaptation nicht nur in das Verhältnis eines Profil schärfenden Vergleichs zu stellen. Denn all den Wandlungen des Märchens, den oft prostitutiven Anpassungen, den nicht selten phantasielosen Schrumpfungen, den oft billigen Ironisierungen und Veralberungen, den konsumorientierten Verharmlosungen, verkitschenden Trivialisierungen, verniedlichenden Illustrationen, Animationen im Disney-Stil und Überschreibungen durch eine unerbittlich vereinnahmende Fantasy wohnt eine tröstliche produktive Dialektik inne: In all ihrer Akzidenz verweisen sie letztlich doch wieder zurück auf das Wesentliche der Originale, auf „Erzählungen, die als substantiell und […] als elementar, zeitlos und von allgemein-menschlichem Belang empfunden werden“ (Röhrich 1979, 176). In Wechsel und Wandel werden das Beharrende und die Dauer deutlich: „Insofern wirft Rezeptionsforschung, so sehr sie sich mit Zeitgebundenem und background beschäftigt, Licht auch auf zeitenüberdauernde Texte“ (Lüthi/Rölleke 1996, 103).
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Die Zuversicht einer solch hoffnungsfrohen Dialektik soll hier nicht getrübt werden, doch soll nicht verschwiegen werden, dass einer an den besonderen Belangen der Erzählforschung ausgerichteten Hermeneutik auch Grenzen gesetzt sind. Als Beispiel diene der Froschkönig als Logo der Schuhpflegemittelmarke Erdal (Quelle 10), nur eine der zahlreichen nahezu sämtlicher narrativer Bezüge beraubten Märchenfiguren. Zu seiner Entstehungszeit, 1903, suchte das Erdal-Logo den Frosch (wie die Haut des Frosches schütze die neuartige Paste vor Wasser) mit dem Königlichen („Im Privatgebrauch an Fürstenhöfen“) zu vereinen. Zum einen gehört der Erdal-Frosch zu der umfangreichen, teilweise von massiver warenförmiger Infantilisierung gekennzeichneten Requisitgeschichte des Froschkönigs, der uns u. a. in Bademänteln, Wasserspeiern für den Garten oder anderem einschlägigen Nippes begegnet. Zum anderen reiht sich der Froschkönig von Erdal ein in die eher minderoriginellen und irgendwie auch beliebigen Symbolträger des Royalen, wie sie die Warenwelt als feudale Abbreviaturen zahllos bereithält (z. B. die Prinzenrolle von de Beukelaer oder „Das [sic]König der Biere“ von König Pilsener). Nicht nur hier begegnen wirtschafts-, gesellschafts- und werbungsgeschichtliche Kontexte, die nicht unbedingt auf einen spezialisierten Kommentar der Erzählforschung warten. Und endgültig kann die Erzählforschung ihren hermeneutischen ,Werkzeugkasten‘ wohl aus der Hand legen und den Erdalfrosch ,loslassen‘, wenn sie aus der Geschichte des Logos erfährt, dass er seit 1919 nicht mehr grün, sondern rot ist (um negative Konnotationen des Grünen mit der Ersatzware des Ersten Weltkriegs zu vermeiden) und ab 1962 den Betrachter mit einem Lächeln grüßt, mit dem er sich endgültig von dem hässlichen und erlösungsbedürftigen Tierbräutigam des Grimmschen Märchens verabschiedet hat. Ohnehin dokumentiert vieles, was in der Interpretation von Werbetexten und –bildern an geisteswissenschaftlichen Phrasierungen, an spätgermanistischer Besinnungsrhetorik, an kunsthistorischen Deutungsgepflogenheiten und religionsdidaktischer Betulichkeit begegnet, eher den Wunsch nach interpretatorischer Vereinnahmung von Werbung, als dass all dies wirklich den Absichten und Mechanismen von Werbung gerecht würde. Die unstrittige, bis in die Details gehende Intentionalität des Werbeschaffens folgt nicht den Vorgaben traditioneller Hermeneutik, untersteht nicht geisteswissenschaftlicher Deutungshoheit, sondern gehorcht eigenen werbepsychologischen Gesetzen der Einflussnahme und des Marketing. So mühelos auch die meisten Text- und Bildinhalte in motivgeschichtliche Traditionen eingeordnet werden können, von ihren Produzenten wurden sie nicht wegen ihrer symbolgeschichtlichen Filiationen, intertextuellen Bezüge oder möglicher subtiler Subtexte gewählt, sondern wegen ihres Appellcharakters und ihrer Signalwirkung. Dies zu
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verkennen, kommt einer häufig beobachteten intentional fallacy gleich. Umso hilfreicher dürfte es sein, während der Untersuchung des Erzählens in der Werbung einmal nicht von den Erkenntnisinteressen, Prämissen und Theorien der Erzählforschung auszugehen, sondern, den umgekehrten Weg beschreitend, Leitideen der Werbeanalyse auf ihre Verwertbarkeit für die Erzählforschung zu prüfen. Zu nennen wären hier beispielsweise Konzepte der Werbeschaffenden wie „Bigger Than Life“ (eine Form der – teilweise maßlosen – Übertreibung) oder „Symbolic Representation“, eine Kategorie der Werbung, die sich immer wieder auch gerne des Märchens bedient. Hierbei wird ein „Produkt im übertragenen Sinne dramatisiert, also nicht in einer realitätsnahen, sondern in einer analogen, bewusst verfremdeten Situation“ (Pepels 2004, 27). Im Fall des von Werbefachleuten als „Erzählung (Tell a Story/Narrative)“ verstandenen Konzeptes „berichtet jemand über sein Produkterlebnis und die Reaktionen seiner Umgebung darauf“ (Pepels 2004, 27).
4. Zuordnungen und Themen Obschon Werbung sich gerne innovativ geriert und mittels des Neuen, Überraschenden, Unerhörten oder Verfremdeten Neugier und Aufmerksamkeit wecken will, werden unzählige auf Sympathielenkung abzielende Werbebotschaften mittels bekannter Sprichwörter und Redensarten, vertrauter Exempla, geläufiger Bilder, tradierter Symbolik, d. h. mit Hilfe traditioneller Zuordnungen, vermittelt. Auch von einem „Ende der Ikonographie“ (Büttner/Gottdang 2006, 273–275) – ein Konzept, das im Übrigen wohl nur mit Einschränkungen von den Bildenden Künsten auf die Werbung übertragbar wäre – kann hier nicht die Rede sein. Zwar existieren in einem strengen Sinne die kanonisierten Bezugs- und Regelsysteme nicht mehr und die Verweisungskraft der Bilder ist merklich abgeschwächt, doch findet sich in der Werbung immer noch genug tradierte Ikonographie. Als in weiten Teilen durchaus konventionell in Wort und Bild, einschließlich fabelgeleiteter oder proverbialer Charaktereigenschaften, darf beispielsweise das ,Bestiarium‘ der Werbung genannt werden. In einer Anzeige z. B. haben sich diebische Elstern längst schon in gespannter Erwartung an einem Platz eingefunden, an dem in Kürze ein Schmuckund Uhrengeschäft eröffnen wird (Quelle 11). Und der schlaue Bausparfuchs der Bausparkasse Schwäbisch Hall schickt sich an, dem Verbraucher kostengünstige Tipps zu geben (Quelle 12, Hars 2000, 46–48). „Pack den Tiger in den Tank“, ein bekannter Werbeslogan von Esso (Knop 2003, 265, 267) rekurriert auf den Tiger als archetypisches Symbol der Kraft und Geschwindigkeit. So sehr die Werbung sich auch hier die traditionelle
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Semantik dieser Tiere zunutze macht, so fallen aber auch Unterschiede zum althergebrachten Erzählen auf, zu Eigenschaften, wie sie in oft weit verbreiteten Erzähltypen überliefert sind. So ist der hilfsbereite, kluge und ,zivilisierte‘ Bausparfuchs, ein besonnener, vorsorgender Tierhelfer, weit entfernt vom zwiespältigen, auch listig-verschlagenen, tückischen, prahlenden, abgründig-zerstörerischen, asozialen Fuchs einiger Tiermärchen und -schwänke (Grimm 1996, 144 f.). Auch hier, wie so oft, ,domestiziert‘ Werbung Aktanten traditionellen Erzählens und verbürgerlicht deren Milieus. Im Märchen benötigt der Held oftmals nicht wie in der Werbung (z. B. für Esso) das Tier im Gesamten, sondern nimmt nur einen Teil eines dankbaren Tieres zur Hilfe, ein Haar, eine Feder, eine Schuppe: ein nicht willentlich und angestrengt Herbeigerufenes, nicht durch angespannten Zauber Beschworenes, sondern ein märchengenuin verflüchtigtes Magisches (Lüthi 1997, 63). Anstelle traditionsreicher Symbolwerte begegnen aber in der Werbung auch weithin zirkulierende, ,wilde‘, traditionslose Bilder (quietschende Mäuse, watschelnde Pinguine, hüpfende Kängurus). Das Sosein der Tiere (und der Dinge), wie es sich dem bloßen Anblick bietet, liefert kulturell nicht besetzte visuelle Impressionen, die aber auch von den Werbeschaffenden schnell wieder semantisch aufgeladen werden. Z. B. signalisieren die flatternden Straßentauben, in einer Werbung für das Auto Rover 200, in deutlicher Entfernung von dem traditionellen Symbolträger Taube als Sinnbild der Liebe und des Friedens, nun Dynamik und großstädtisches Lebensgefühl (Haag-Wackernagel 1998, 193). Im ungewöhnlichsten Fall können auch unmotivierte, durch keine Tradition legitimierte Zuordnungen zum Zweck der Provokation, d. h. einer noch gesteigerten Erregung von Aufmerksamkeit, erst geschaffen werden. Das vielleicht bekannteste Beispiel – hier nicht mehr aus dem Reservoir des Bestiariums – ist immer noch die Werbekampagne der Eisfirma Langnese aus dem Jahr 2003, als einzelne Geschmacksrichtungen eines Stieleises passend zu den Merkmalen von Todsünden entworfen wurden: „ ,Wollust‘ stehe zum Beispiel für Vanilleeis in pinkfarbener Erdbeerschokolade, weil es Genießerherzen höher schlagen lasse. ,Habgier‘ mit Tiramisu-Geschmack, Kaffeesauce, Schokolade und Amarettistückchen mache Lust auf immer mehr“ (Quelle 13). Wie alles Erzählen ist auch das Erzählen in der Werbung – Themen wie Erzählstrategien – zeitbedingt, und insbesondere, wenn es massenmedial verbreitet ist, fungiert es in besonderem Maße als „Projektionsschirm“ der Mentalitäten, Werte, kulturellen Einstellungen und Lebensgefühle einer bestimmten Gesellschaft, sind „in den Werbebotschaften wesentliche Bestandteile kollektiver Vorstellungen und Weltbilder einer Zeit eingelagert“ (Pfister 2002, 10). Hierdurch ist Erzählen vielfältig in
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eine übergreifende Stil- und Geschmacksgeschichte eingebunden. Beispiele begegnen auf sehr verschiedenen Ebenen, in weit auseinander liegenden Zeiten und mit recht unterschiedlich akzentuierten Erkenntnisgewinnen. Z. B. wären Reklamesammelbilder mit Göttern und Helden der Antike kaum denkbar gewesen ohne einen bildungsbürgerlichen, durch Gustav Schwabs Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums (1838–1840) mythologisch initiierten Adressatenkreis (Lorenz 1980, 34 f.). Und wenn in der 1973 gestarteten Jägermeister-Werbekampagne Musterkonsumenten (insgesamt 2000) schmunzelnd und witzig, oft nicht ohne Wortspiel, aus ihrer fiktiven persönlichen Lebensgeschichte erzählen („Ich trinke Jägermeister, weil ich endlich die wüste Gabi hinter mich gebracht habe“, Knop 2004, 215–216), um ihren Konsum des Kräuterlikörs zu begründen, so spiegelt sich hierin unverkennbar die seit den 1960er Jahren spürbare Individualisierung der Gesellschaft und zunehmende Ausdifferenzierung von Lebensstilen. Ein letztes auf einer anderen Ebene angesiedeltes Beispiel: Wenn es so etwas wie ,große Erzählungen‘ für einzelne Zeiten oder Epochen gibt, dann bezieht sich z. B. die Afri-Cola-Werbung der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts auf eine solche. Obschon selbst ohne erzählenden Charakter, verweist sie auf eine masterstory (Knop 2003, 255–256) des für diese Zeit charakteristischen (gefühlten) Aufbruchs, der sexuellen Befreiung, der Ekstase und des Rausches („Sexy-mini-superflower-pop-op-cola – alles ist in afri-cola“).
5. Nobilitierungen Häufig dient der Rückgriff auf Themen und Formen traditionellen Erzählens der Ästhetisierung, Auratisierung, Nobilitierung und Mythisierung der angebotenen Produkte. Besonders häufig ist die direkte Bezugnahme auf den Mythos, der zumeist als vertraut und fremd zugleich erscheint. Hierbei entstammen die mythologischen Figuren vornehmlich der klassischen Antike. So zeigt z. B. ein Inserat für Fahrradlampenbatterien aus dem Jahr 1920 eine „muskulöse Gestalt mit […] der Lampe, deren Strahlen sich vom Fels herab durchs Dunkel schneiden“ (Di Falco 2002, 86–87), eine Gestalt, die durch den Markennamen Prometheus eindeutig identifizierbar ist und zu folgender Deutung verführt: Die Batterie als industrielle Ware erhält durch Prometheus die Weihe der Göttergabe: Im Grunde ist es das Feuer vom Olymp und nicht die chemische Reaktion im Innern der Batterie, das dem Radfahrer aus seiner Laterne heraus das Dunkel der Straße erhellt. Durch die Werbung wird das Produkt zum Symbol einer uralten Menschheitsgeschichte, in der die Menschen ihrem tierähnlichen Dasein entrissen und mit den Fähigkeiten der Götter aus-
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gestattet wurden. So symbolisiert der Prometheus-Mythos den Fortschritt, den die Menscheit [sic] durch die Herabkunft des Göttlichen erfuhr. Die Konzentrate all dessen sind die übermenschliche Figur (die Götterwelt) und das Strahlenbündel (das Feuer) auf der Batterie (Di Falco 2002, 87–88).
Die grundsätzliche Validität dieser Deutung mitsamt ihren ikonographischen Details soll hier nicht in Frage gestellt werden. Erstaunlich ist hier aber wie in vielen anderen Beispielen der Analyse mythenbezogener Werbung, wie bereitwillig sich Werbeschaffende und Interpreten in einer fast schon ,komplizenhaften‘ Aneignung des Mythos finden. Oft scheint es fast so, als hätten die Interpreten nur auf Vorlagen der Werbeschaffenden gewartet, um auf oft überhöhende, opulente, fast kulinarische Weise das Perennierende des Mythos und das Weiterleben der Antike in der Werbung zu feiern. Zur Seite stehen ihnen dabei vielfältige Verbündete, z. B. Barthes’ Semiologie der bürgerlichen Welt, auch sie ein gewaltiges Veredelungsprogramm des Alltags, das dessen Produkte fast alle zu Mythen werden lässt, etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, das Auto zum heutigen „Äquivalent der großen gotischen Kathedralen“ (Barthes 1964, 76). Auch an anderer Stelle haben Interpreten einer Nobilitierung der Werbung und ihres Erzählens Vorschub geleistet. Denn aus manchen erzählgenetischen Arbeiten, die das Erzählen der Werbung auf das Vorbild traditioneller Gattungen zurückführen, vor allem aus einigen relativ frühen Studien, lässt sich auch der Wunsch ablesen, dem kulturgeschichtlichen ,Schmuddelkind‘ Werbung durch den Nachweis adliger Herkunft und anthropologischer Konstanz, durch den Ausweis veredelnder zeitlicher Tiefe, durch Genealogie und Teleologie („vom altenglischen Zauberspruch zum illustrierten Werbetext“, Nöth 1977) Anspruch und Würde zu verleihen. Ganz nebenbei wird so auch die Macht von sich wuchtig gerierenden Forschungsrichtungen demonstriert, die mit ihrem theoretischen Apparat (scheinbar) weit auseinander Liegendes gleichermaßen wirkungsvoll zu deuten vermögen. Beliebt bei Werbeschaffenden sind auch Herkunftssagen oder Ursprungsgeschichten: Sie adeln Produkte und weisen ihnen Dignität zu, indem sie von ihrer vornehmen Herkunft oder der Entstehung ihrer edlen Logos erzählen: ein Typus historischen Erzählens, den man als „traditionale Sinnbildung“ (Seidensticker 1995, 56–60) beschrieben hat. Als Beispiel diene die Werbung für ein südafrikanisches Weingut: Während der Erntezeit verfing sich ein blauer Kranich, eine vom Aussterben bedrohte Vogelart Südafrikas, unter einer Brücke in einem Bewässerungskanal des Estates. Ein Erntehelfer sah das Tier und bewahrte es vor dem sicheren Tod. Der Vogel wurde zahm und begleitete von nun an seinen Retter auf Schritt und Tritt. Der blaue Kranich wurde zum Markenzeichen des Goedverwacht Estate […]. (Quelle 14)
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Eine besondere, sehr häufige Form der Nobilitierung stellt – trotz oder gerade wegen einer weitgehenden Säkularisierung von Lebensformen – die Pseudosakralisierung von Produkten (Bühler 1973) mit Hilfe religiöser Themen dar. Im Vordergrund stehen hierbei Paradiesmotive als traditionsreichste, von keiner Sorge beschwerte „Bilder vom besseren Leben“ (Di Falco/Bär/Pfister 2002). Dies verwundert nicht, da das in der Werbung verheißene Paradies durch bloßen Konsum jederzeit erreichbar scheint. In den im „Warenhimmel“ der Werbung auf Wolken des Genusses schwebenden, goldgeflügelten und goldbeschuhten blonden Engeln, in den Himmelsweisern und -leitern, aber auch in dem in der Waschmittelwerbung begegnenden Ritual des ,Reinwaschens‘(Bühler 1973, 7, 9 f., 22) mag man Aktanten und Ingredienzien ,gesunkener‘ Erlösungsmythen erkennen. Hierzu zählt auch eine Serie emblemartiger Anzeigen für das Kölner Duftwasser 4711: Durch das Motto „Ich glaube“ werden sie als Glaubensbekenntnisse inszeniert (z. B. „Yukiko Tabi, Tokio, glaubt an das Wunder innerer Ruhe und die Wirkung von 4711“). „4711. Das Wunderwasser.“ (Quelle 15, Abb. 4) wird fast schon in die Nähe eines Wassers des Lebens gerückt.
Abb. 4: 4711: Das käufliche Wunderwasser
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Nicht nur dort, wo in der Werbung, in deren Motiven, Bildern und Topoi Gesten des Erlösens inszeniert werden, erst recht da, wo sich solche des Verführens, Versprechens, Verzauberns und Wunscherfüllens finden, zeigt sich der selbstreferentielle Charakter der Werbung, da sie und ihre Produkte ja intendiert sind, ebendiese Funktionen zu erfüllen. Zwar ist es nicht Aufgabe des vorliegenden Beitrages, Erzählen in Werbetexten oder -bildern wie in einer Art Literatur- oder Bildkritik nach Kriterien wie Stimmigkeit, Konsistenz, ästhetischer Wertigkeit, Poetizität, schöpferischem Impuls, Innovationsfähigkeit, Desautomatisierung von Wahrnehmungsgewohnheiten zu bewerten. Doch zweifellos zählt so manche Anzeigenwerbung mit selbstreferentiellem Mehrwert zu den besten ihrer Art. Beachtung verdient z. B. eine Anzeigenwerbung, die Lösungen für „global communications“ anbietet, mit dem Bild eines Froschkönigs und der Aufforderung „Break the spell, communicate globally“ (Quelle 16). Es handelt sich um einen Spiegelungseffekt, der nicht expliziert wird, sondern vom Betrachter/Leser zu entdecken ist: So wie die Prinzessin den Frosch von einem bösen Zauber erlöst, so kann sich auch der Rezipient der Werbung durch Wahl des richtigen Anbieters von seinem Eingeschränktsein befreien. Das ,Märchen‘ kann wahr werden: „No need to wish. We make it happen every day.“
6. Theorien und Methoden Mit den meisten der theoretischen Ansätze und gängigen Methoden der Erzählforschung scheint es nicht so recht zu gelingen, Erzählen in der Werbung umfassend, d. h. hinsichtlich seiner Herkunft, Strukturen, gesellschaftlichen Kontexte und Wirkmuster zu deuten. Doch vielleicht sind diese Defizite aussagekräftig genug, um mit ihrer Hilfe einige Eigenheiten des Erzählens in der Werbung zu verdeutlichen. Auf den ersten Blick hin erscheint es erfolgversprechend, Erzählen in der Werbung mit Hilfe strukturalistischer Analysen (Lüthi/Rölleke 1996, 121–123) zu untersuchen, lassen sich doch relativ leicht, wie von einer strukturalistischen Narrativik programmatisch gefordert, einige wenige stets wiederkehrende Aktanten (Greimas, 174–175, 178–180, 192–203) und Rollenträger hervorheben. Ins Auge fallen vor allem die für Werbung charakteristischen, schon inflationär eingesetzten Helfergestalten: die für Versicherungen werbenden, rettenden Engel, vor allem aber die Wasch- und Putzmittelratgeberinnen und Saubermacher im Genre der Weiße-Wäsche-Story, Helden, die einen Mangelzustand allgegenwärtigen Schmutzes mittels magischer Hilfsmittel in eine geheilte Welt der Reinheit überführen (z. B. Weißer Riese, Hars 2000, 279–281; Knop 2003, 268). Wenn der Konsument in dieses Schema
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miteinbezogen wird, kommt ihm die Rolle des Helden zu (Dégh/Vázsonyi 1979, 54 f.). Auf den zweiten Blick erweist sich der zunächst vielversprechende Strukturalismus jedoch als unzureichend, da ihm oft kaum mehr gelingt, als die gesuchten, häufig minder konturierten Universalien, das heißt das in nahezu jedem Text ohnehin zu erwartende narrativ Elementare, dann auch tatsächlich mühelos zu erkennen. Auch eine (tiefen)psychologische Analyse des Erzählens in der Werbung vermag die an sie gestellten Erwartungen nicht zu erfüllen. Warum nicht? Finden sich nicht in beidem, im traditionellen Erzählen wie in der Werbung, in letzterer sogar bewusst eingesetzt, die gleichen teilweise archetypischen Symbole wie z. B. Baum, Blume, Herz, Krone, Sonne, Stern, Vogel und Wasser? (Lurker, 829–830). Doch dienen sie in der Werbung als bloße Schlüsselreize, stehen nicht für einen ,tieferen Sinn‘, fügen sich nicht, wie z. B. im Märchen, zu einem allgemeingültigen erzählerischen Ganzen von exemplarischer seelischer Dimension, in dem – wenn man es nur, angeleitet durch deutungsmächtige Entschlüsseler, enträtselt – Reifungsprozesse, innerseelische Dramen, Wege des Bewusstseins zum eigenen Unbewussten, Einbindungen des Menschen in Natur und Kosmos erkennbar werden (Lüthi/Rölleke 1996, 105–110). Als noch geringer darf man den Erkenntnisgewinn eines klassifikatorischen Ansatzes auf der Grundlage eines Typen- oder Motivkataloges veranschlagen, da sich eine Zuordnung von Werbeerzeugnissen zu Erzähltypen oder -motiven als wenig ertragreich erweist. Die meisten großen Erzähltypen (wie z. B. ATU 451 Mädchen sucht seine Brüder) sind entweder nicht oder kaum präsent. Im Fall klassischer ,Märchenerzähltypen‘ wie ATU 333 Rotkäppchen oder 440 Froschkönig bedarf es keiner Typenbestimmung, da die Feststellung einer direkten Bezugnahme auf das jeweilige Märchen völlig ausreicht. Vielfache Zuordnungen hingegen bieten sich zu den Motiven des Thompsonschen Motivkataloges an. Z. B. finden sich der Baum des Lebens (Mot. E 90 Tree of Life) in einer Werbung für den naturreinen Granatapfel-Muttersaft von Schoenenberger (Quelle 17) und eine Frau, die auf einem Vogel fliegt (Mot. B 552 Man [woman] carried by bird ), in der Werbung für ein Hotel in San Francisco („Travel to a different place“, Quelle 18). Ein Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsunternehmen (KPMG) wirbt mit Abbildungen des Trojanischen Pferdes (Mot. K 754.1 Trojan wooden horse, Quelle 19) und der Vertreibung aus dem Paradies (Mot. A 1331.1 Paradise lost because of forbidden fruit [drink], Quelle 20) als ironisierten warnenden Exempla („Die falsche Einschätzung eines Unternehmens kann fatale Folgen haben“ bzw. „Wer gegen die Regeln der globalen Investoren verstößt, muss teuer bezahlen“). All diese Zuordnungen fallen leicht, sprechen aber im Fall der Werbung nicht für die Validität eines klassifikatorisch-typologischen Ansatzes, sondern dokumentieren
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zweierlei: zum einen das auch hier erfahrbare, überaus fruchtbare Fortleben so zahlreicher und unterschiedlicher tradierter Erzählstoffe, Symbole und Bilder, zum anderen aber die „im Grunde systematische Systemlosigkeit der Thompsonschen Registrierungsmaschinerie“ (Röhrich 1976, 148), mit deren Hilfe es immer wieder leicht gelingt, relativ vielen Texten und Bildern entsprechende ,Motive‘ zuzuweisen. Schwer ist dies insofern nicht, da es sich bei Thompsons sogenannten ,Motiven‘ oft eher um ,Objekte‘ denn um echte Motive handelt, um umfassende Themen ebenso wie aussagelose Scheinmotive, schablonenhaft gestanzte Funktions- und Handlungsträger, abziehbildähnliche Ingredienzien der Mythologie sowie partikulare Motivelemente. Überdies zeigt sich, dass die Thompsonschen ,Motive‘, die Werbetexten und -bildern zugeordnet werden können, wie andere Erzählstoffe und –motive auch, völlig anders zugeschnitten sind als werbungsimmanente Themen wie Genuss, Aufbruch, Dynamik, Gesundheit, Reinheit, Schönheit oder Sicherheit. Selbst das Zauberhafte und Wundersame in der Werbung ist, wenn man es denn Thompsons ,Motiven‘ zuordnen will, über sehr unterschiedliche Gruppen in dessen Systematik verteilt und lässt sich nicht mit Vorzug den Gruppen D „Magic“ und F „Marvels“ zuweisen.
7. Referenzdisziplinen: Die Bedeutung des Medialen An einigen exemplarisch vorgetragenen Theorien und Methoden mag deutlich geworden sein, dass sich allein mit den bewährten Werkzeugen traditioneller Erzählforschung Erkenntnisse über das Erzählen in der Werbung kaum gewinnen lassen. Ohne eine trans- und interdisziplinäre Ausrichtung, ohne grundlegende Impuls gebende theoretische Anleihen bei der Mentalitätsgeschichte, Alltags- und Lebensweltgeschichte, Kulturanthropologie, einer aus der reinen Kunstgeschichte hinausweisenden Bildgeschichte und einer umfassenden Symbolgeschichte wird man nicht auskommen. Hierbei darf sich die Erzählforschung nicht auf jene Bereiche beschränken, die einer traditionellen, geistes- und ideengeschichtlich ausgerichteten Hermeneutik affin erscheinen, sondern sollte sich auch unvertrauten, ,fremden‘, teilweise auch industrienahen Disziplinen mitsamt ihren Methoden zuwenden: einer sozial-, wirtschafts- und kulturgeschichtlich ausgerichteten Waren- und Konsumgeschichte, der ihr partiell verwandten Modegeschichte und auch der für ein Erzählen vom Anderen, Fremden und Exotischen so wichtigen Tourismusgeschichte. Als wichtigste Lieferantin von Anregungen und Theorien dürfte sich freilich die Medienwissenschaft mitsamt der Kommunikationsgeschichte anbieten. So sollte sich, um ein einfaches Beispiel zu nennen, eine gat-
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tungsorientierte Beschäftigung mit dem Erzählen in der Werbung nicht nur mit den Gattungen befassen, auf die dieses Erzählen zurückgreift, sondern unter Aspekten der Erzähltheorie wie des Medienwechsels auch dessen eigene Genres – Rufe von Straßenverkäufern und Krämern, Werbeplakat, Reklamesammelbild, Werbeanzeige, Fernsehwerbespot, Kinowerbefilm, Werbevideo an Hauswänden und in Verkehrsmitteln – profiliert unterscheiden. Unabhängig von den Produkten, für die geworben wird, bieten sich für die Gattungen des Werbens eigene, großenteils medial bedingte, medienästhetisch zu untersuchende Erzählmuster, Dramaturgien oder einfach nur narrative ,Tricks‘ an, die dann auch häufig genutzt werden. Man vergleiche nur im Fall der Autowerbung einen typischen Fernsehspot mit dem hochinszenierten, schnittigen, Freiheit verheißenden Aufbruch, dessen drive durch einen entsprechenden Rocksong noch zusätzlich gestützt wird, mit einer Anzeigenwerbung – auch sie eine Aufbruchserzählung – , in der Schnelligkeit, Elan und Dynamik des Autos und seines erwünschten künftigen Besitzers durch eine bewusst unscharf photographierte, mithin ,vorbeirasende‘ Landschaft vermittelt werden. Doch drohen solche Vergleiche sich in miniaturhaft hermeneutischen Etuden zu erschöpfen, wenn die gewaltigen, nicht unerheblich medial bestimmten Umwälzungen unserer Zeit ignoriert werden. Und so muss eine der Medialität und Materialität der Kommunikation zugewandte Erzählforschung sich anschicken, in der Welt des Informationszeitalters auch die dieser Welt eigenen Bedingungen des Erzählens zu erkennen und zu definieren. Wir leben in einer globalisierten Welt, die in ihren gedruckten und erst recht in ihren weltweit elektronisch zirkulierenden, auf Bildschirmen luminiszierenden ,Botschaften‘, aber auch in ihrer materialen Kultur völlig zugestellt ist von einer noch nie da gewesenen, beschleunigt vermittelten Fülle und Vielfalt zerstreuter ,Reproduktionen‘ und auch Simulationen traditionellen Erzählens, das verblüffend häufig, offen oder unauffällig, werbende Funktionen hat. Unsere informationellen Überflussgesellschaften werden bestimmt von der weltumspannenden Exuberanz eines stets unübersichtlicher werdenden, niemals zur Ruhe gelangenden Erzählens. Je nach bevorzugter Bildlichkeit erscheint es als Teil einer Bricolage, eines Patchworks oder grenzenlosen populärkulturellen Boulevards. Essentialistisch gesprochen, ist es weitgehend überflüssig und gehört größtenteils zum unaufhörlich wachsenden Informationsmüll. Wir bewegen uns in einer Welt des Erzählens, die zumindest in ihren elektronischen Netzen eher durch die Gleichzeitigkeit und instantane Allverfügbarkeit von Themen und Stoffen bestimmt scheint als durch ein durch Migrationen bestimmtes ,Nacheinander‘. Und wenn mediale Transformationen populärer Erzählstoffe immer mehr im Zentrum der heutigen Erzählforschung stehen sollten, wird durch
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die exemplarische Deutung von Prozessen wie Ästhetisierung, Auratisierung, Nobilitierung, Mythisierung, Pseudosakralisierung oder selbstreferentiellem Alludieren, aber auch Erotisierung ein deutlich höherer Erkenntnisgewinn erzielt als durch eine vielleicht neopositivistisch akzentuierte ,Inventarisierung‘ einzelner Objekte wie Märchenfiguren, Phantasie-Tiere, ikonographische Accessoires oder Symbole. Als Teil einer Rezeptionsforschung, die mediale Umwandlungen von Erzählstoffen, -figuren, -strukturen und -techniken zu Werbezwecken untersucht und hiermit zugleich deren soziokulturelle Funktionen bestimmt, zählen Studien zum Erzählen in der Werbung im weiteren Sinne auch zum Forschungskomplex ,Biologie des Erzählguts‘ (Lüthi/Rölleke 1996, 83–104). Doch nicht nur einzelne Disziplinen, sondern auch essentiellere Neuorientierungen und Erkenntnisumbrüche müssen berücksichtigt werden. Kein sehr schweres Unterfangen, denn das Thema ,Erzählen in der Werbung‘ kann geradezu als Apologie einer stärkeren Berücksichtigung und Festigung der cultural turns in den Geisteswissenschaften (BachmannMedick 2006) dienen. Ein semiotic turn muss nicht mehr eigens angemahnt werden, da Werbung, nicht zuletzt auch im Wechselspiel von Text und Bild, von vielfältigen Zeichenprozessen bestimmt wird, für die die Semiotik zu Recht als eine ausgewiesene Referenzdisziplin gilt. Da Werbung hierbei heute aber ungeachtet dieses Wechselspiels in der Regel eher teilhat an einer Welt der Bilder als der Texte, stellt sich der iconic turn zwangsläufig ein (Stichworte: Historische Bildwissenschaft, Bild-Medienwissenschaft, Bild-Anthropologie, Visuelle Kultur; Bachmann-Medick 2006, 329–380). Am wichtigsten ist aber ein performative turn (Bachmann-Medick 2006, 104–143), der das Erzählen im Dienst der Werbung verstärkt auf Leitideen wie den Ausdrucks- und Darstellungsaspekt der Kultur, ihre Inszenierungsdimension, Theatralität und Ritualität, ihren Event-Charakter bezieht. Trotz aller Anleihen bei anderen Disziplinen sollte die volkskundliche Narrativistik jedoch nicht nur weiterhin ihre eigenen Anliegen und Erkenntnisinteressen vertreten, sondern sie forciert auch an andere Fächer vermitteln, zudem sie einen beträchtlichen Kenntnisfonds bereithält, der leider von anderen Wissenschaften in der Analyse von Werbung nicht genutzt wird. Zu Unrecht steht hier die Erzählforschung vor allem im Schatten der Linguistik, deren wissenschaftliche claims Forschungspräferenzen, Konzepte und Terminologie nun schon seit den späten sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts die Werbeforschung dominieren. Doch ist ausgerechnet das Primat der Linguistik der Analyse von Werbetexten und -bildern eher hinderlich, da sie, meist synchron und statisch ausgerichtet, in ihren formalisierten Studien oft genug an der Oberfläche bleibt, sich auf ein bloß Sprachlich-Handwerkliches und Rhetorisches beschränkt, oft
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allzu Evidentes diagnostiziert. Die Erzählforschung hingegen, eher diachron und dynamisch orientiert, erschließt stärker die Tiefendimension der Werbung, hält oft die gewinnbringenderen Konzepte und insgesamt eine kräftigere anthropologische Grundierung bereit. Dazu ein eher unauffälliges Beispiel: Aus linguistischer Sicht würde man im „Kraft-Ei“ (Lupa 2002, 113) der Volkswagenwerbung einen Neologismus (Janich 2001, 105), in dem der Wortschöpfungs- und Innovationswillen der Werbeschaffenden zum Ausdruck kommt, und zudem ein positiv besetztes ,Hochwertwort‘ (Janich 2001, 120, 122) diagnostizieren. Mit dem Slogan „Sonne, Mond und Cabrio“ (Lupa 2002, 202) fände sich ein Beispiel für sprachspielerisch verfremdete Phraseologie (Janich 2001, 128). Deren erfolgreichen Appellcharakter kann man im Kontext der jeweiligen Werbekampagnen (Lupa 2002, 235) jedoch erst im Hinweis auf ihre Symbolwerte, Erzähltraditionen, im Wissen um vertraute Motive, Pathosformeln, mythologische Reservoirs, also um ihr abrufbares narratives, emotionales Potential erklären (Ei als Symbol des Ursprungs und der Entstehung von Leben, als Träger von Kraft und Stärke; ,Sonne, Mond und Cabrio‘ als Allusion auf ein Kinderlied und zugleich kosmische Aura vermittelnd).
8. Erzählkulturen: Die Macht des homo narrans Über lange Zeit wurde Erzählen in der Werbeanalyse ignoriert, es gab kein kulturelles Umfeld und keinen kulturtheoretischen Rahmen, die den Blick für das Erzählen in der Werbung hätten schärfen können. In den späten 1960er und frühen 1970er Jahren wurde der gesellschafts-, kultur- und zugleich kapitalismuskritische Werbediskurs einseitig bestimmt von einer manipulationstheoretischen Annahme (Haug 1972, 7 f.) von einem ,bösen‘, profitorientierten Produzenten, dem unschuldig-verführte, heillos konsumierende, sich selbst entfremdete, in ihrer Sinnlichkeit deformierte Opfer hilflos ausgeliefert seien. Fast zwangsläufig wurden in einer derart uneingeschränkt pessimistischen, geradezu fundamentalkritischen Werbe- und Sozialanalyse (Knop 2003, 242–244) alle kulturellen Mehrwerte von Werbung, einschließlich ihres oftmals erzählenden Charakters, geleugnet. Ausgehend von kommunikationstheoretischen Ansätzen, die seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre in den Vordergrund traten, wird Werbung heute umfassender, kontextbezogener und zugleich entspannter gesehen: Die aktive Rolle des Rezipienten wird betont, Werbung mitsamt der in ihnen vermittelten Wünschen und Sehnsüchten als wesentlicher Faktor einer weitgreifenden Medien- und Unterhaltungskultur (Knop 2004, 211–213) gesehen. Nur so kann beispielsweise verständlich werden,
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warum alltags- und massenkulturell präsente Werbeträger wie das HBMännchen, Klementine, Lurchi oder Meister Proper (Hars 2000, 128–131, 160–163, 187–190, 202–204; Knop 2003, 267 f.) mitsamt den von ihnen geprägten Spielhandlungen angekommen sind in einer volksgängigen Erzählkultur und ihrer Ikonographie. Sie alle mit ihren Geschichten – Käpt’n Iglo, die Mainzelmännchen als Pausenfüller des ZDF, die ToyotaAffen (Hars 2000, 154 f., 195–196, 268–270) – finden ihren Platz in einer Geschichte massenhaft verbreiteter Stoffe und Motive. In konzeptioneller Hinsicht können sie in die Nähe der für das 19. Jahrhundert ausgemachten ,populären Lesestoffe‘ (Schenda 1970, 32–36) gerückt werden, obschon sie nicht gelesen werden und sich in ihren Inhalten nicht unwesentlich von ihnen unterscheiden. In einer solcherart verstandenen Erzählkultur wird so manches Erzählen von einem weiteren dekorativen, unterhaltsamen, kontextstiftenden und interpretierenden Erzählen begleitet. Erzählen generiert Erzählen, verweist auf bereits Erzähltes; hinter manchem geschrumpften Erzählen öffnet sich die Tür für ein ausholenderes Erzählen. So werden beispielsweise Geschichten, die ,hinter den Werbeslogans‘ stecken, erzählt: Produkt- und Logo-Ätiologien, wahre wie apokryphe, die z. B. die Entstehung der lila Milka-Kuh (Hars 1999, 94 f.) oder die Präsenz des andächtig vor dem Phonographen der Stimme seines Herrn („His Master’s Voice“) lauschenden Foxterriers (Hars 1999, 164 f.) erklären. Und oft sind auch hinsichtlich des Erzählens die Übergänge fließend zwischen der expliziten Produktwerbung und ihr entsprechenden mythographisch inszenierten, implizit werbenden Unternehmensgeschichten, den ,märchenhaften‘ success stories, wie sie einzelne ,Firmensagas‘ (z. B. Grosse de Cosnac 2003, 12, 52) bieten. Und selbst eine mit abenteuerlichen urban legends aufwartende cokelore (einem blending aus coke und folklore) – ein über Nacht in ein Glas Cola gelegter Zahn löse sich vollständig auf; der charakteristische Schriftzug des Labels von Coca-Cola zeige, um 90° verschoben, einen Menschen beim Schnupfen von Kokain (Quelle 21) – mag man letztlich sogar noch der Werbung zurechnen, denn das hier scheinbar Desavouierende erhöht wohl eher noch den Kultfaktor der zur Ikone gewordenen Limonade. In der Tat sind Werbung und Erzählen auf vielfältige Weise aufeinander bezogen. Und in einer Zeit, in der die Waren hinsichtlich ihres Gebrauchswertes kaum noch unterscheidbar, letztlich austauschbar sind, werden sie in der Werbung mit Aura, mit ,Geschichten‘ und ,Erzählungen‘ aufgeladen, da letztlich nicht mehr primär die Ware, sondern deren Image und der zugrunde liegende Lebensstil mitsamt seinen ihn konstituierenden Erzählungen gekauft werden (Misik 2007, 16–18, 22, 33, 84). Und längst spielt storytelling auch in den Public Relations der Unternehmen eine zentrale
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Rolle: Um ein positives Bild an Mitarbeiter, Geldgeber und Journalisten zu vermitteln, werden gezielt Teilnahme weckende, kraftvolle Leitgeschichten eingesetzt, success stories, in denen Fakten spannend verpackt werden, z. B. die in so manchen Variationen erzählte, zum Mythos gewordene Geschichte von der Firmengründung in der Garage bis zum Einzug des Unternehmens in die Wall Street (Herbst 2008). Auch an anderer Stelle, in den ,Märchen für Manager‘, in den Versuchen, aus Märchen vorbildhafte Handlungsmuster und Entscheidungshilfen für ein erfolgreiches Berufsleben, möglichst in hervorgehobener Position, abzuleiten (z. B. in einem ,Ratgeber‘, der eine humorvolle und unternehmensnahe Kommentierung von Grimms Märchen als teilweise ironisches Managementtraining empfiehlt, Berger 2001, 5–7), ist traditionelles Erzählen längst in der Welt der Wirtschaft angekommen: „Denn die alten Märchen stellen uns jeden Tag die Frage: Wer bist du denn nun in deinem Job, in deiner Karriere? Das Rotkäppchen oder der Wolf, der Schneider oder das Einhorn […] oder gar einer der vier Bremer Stadtmusikanten? Wartest du aufs Wachgeküsstwerden, oder solltest du es selber tun?“ (Berger 2001, 7). Somit werden auch hier, an unerwarteter Stelle, in dem der Erzählforschung sowohl intellektuell als auch mental und affektiv eher fremden Milieu des homo oeconomicus, die Resistenz und Vitalität eines jahrtausendealten homo narrans, die Strahlkraft seines Erzählens und die Lebendigkeit einer populären Erzählkultur (Schmitt 1999) machtvoll belegt. Bei alledem sind Werbeerzählungen, -mythen und -bilder keine bedeutsamen „Erinnerungsorte“ wie Grimms Kinder- und Hausmärchen (Tatar 2002), doch leisten auch sie einen bescheidenen Beitrag zur Memorialkultur: In ihnen können anderweitig nicht oder nicht so prägnant tradierte Einstellungen zum Konsum und flüchtige Emotionen, die den Konsum begleiten, so sehr sie auch durch Übertreibungen und maßloses Anpreisen verzerrt wiedergegeben sein mögen, bewahrt und künftigen Generationen vermittelt werden (Weisser 1985, 45 f.). Vielleicht ist aus den vorausgegangenen Ausführungen zumindest ansatzweise deutlich geworden, dass gerade das Erzählen in der Werbung, Erzählen an einem für viele eher fragwürdigen, zumindest aber ungewohnten Ort, wie ein Vergrößerungsglas wirken kann, durch das Phänomene und Strukturen des Narrativen deutlicher sichtbar werden. Mit anderer Bildlichkeit gesprochen: Werbung erweist sich als ein Konvergenzpunkt, in dem fast alle Linien des Erzählens zusammentreffen, als ein weitgehend unerforschtes Terrain, auf dem andernorts definierte und erprobte Konzepte der Erzählforschung differenziert, weiterentwickelt oder auch nur neu eingefärbt werden können, ein Terrain, auf dem auch die Begrifflichkeit einzelner Gattungen des Erzählens neue Akzentuierungen erfahren kann.
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Jamais Calife! Der orientalistische Comic als narrative Matrix Orientalische Erzählungen als Wunschbild westlicher Phantasie Der Orient ist seit der griechischen Antike für die westlichen Kulturen das entscheidende Andere (Irwin 2006, 9–18). Mit Alexander dem Großen bestand kurzzeitig eine Möglichkeit, den geographischen Raum der großen alten Hochkulturen des Vorderen Orients und Mittleren Ostens dauerhaft mit den Kerngebieten der späteren europäischen Kulturen zu verbinden. Mit der historischen Entwicklung in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit haben sich dann jedoch relativ klare Abgrenzungen herausgebildet, in deren Folge heute die geographischen Einheiten Europa auf der einen und Asien/Afrika auf der anderen Seite weitgehend mit kulturellen Einheiten gleichgesetzt werden (Marzolph 2004). Für Europas Sicht auf den Orient – und hiermit ist im Folgenden primär der Vordere Orient gemeint – bedeutete das zweierlei: Einerseits war der Orient bis zum Ende des 17. Jahrhunderts, als mit der Niederlage der Osmanen vor Wien deren Expansion endgültig Einhalt geboten wurde, eine Gefahr, andererseits war er gleichzeitig auch immer ein Faszinosum: Gewürze, Kaffee, Zucker, Marzipan, Tulpen und Rosen kamen aus dem Orient nach Europa und waren materieller Ausdruck einer fremden und faszinierenden Welt, deren reale wie auch ‚gefühlte‘ Fremdartigkeit die europäische Phantasie nachhaltig beflügelte (zuletzt Goer/Hofmann 2008). Orientalisches Erzählgut hatte bereits seit der Antike, und verstärkt im Mittelalter, über die großen Erzählsammlungen wie etwa Kalila und Dimna seinen Weg in die europäische Überlieferung gefunden (Balke 1956; Marzolph 2002). Die darin enthaltenen Erzählungen erreichten allerdings primär zunächst ein gebildetes Publikum, denn ihre frühen europäischen Fassungen waren in hebräischer und lateinischer Sprache abgefasst. Demgegenüber eröffnete die Rezeption orientalischen Erzählguts mit der Einführung der Erzählungen aus den Tausendundein Nächten eine völlig neue Dimension.
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Es war der weit gereiste und sprachbegabte französische Orientalist Antoine Galland, der auf der Grundlage einer wahrscheinlich aus dem 15. Jahrhundert stammenden Handschrift ab 1704 die ersten Bände von Les mille et une Nuit herausgab (Marzolph/Van Leeuwen 2004, Bd. 2, 556– 560). Sein Werk ist nach dem heutigen Verständnis eine weitläufige Adaptation, denn Galland übersetzte weniger wörtlich oder sinngemäß, sondern passte seine Quelle mit zahlreichen sprachlichen Änderungen, Einschüben und Ergänzungen an die höfische Atmosphäre seiner Zeit an (Larzul 1996, 17–116). Da Gallands Vorlage unvollständig war, sein begeistertes Publikum aber ein ‚vollständiges‘ Werk von ihm forderte, ergänzte er die Sammlung darüber hinaus mit Geschichten aus verschiedenen anderen Quellen. Dabei sind die nach dem mündlichen Vortrag des syrisch-christlichen Erzählers Hanna Diyab nacherzählten Geschichten für die europäische Rezeption besonders wirkungsmächtig geworden, denn sie konnte Galland mehr noch als die aus arabischen Manuskripten entnommenen Geschichten nach seinem persönlichen Geschmack formen. Leicht überspitzt gesagt, sind sie daher wenig mehr als europäische Wunschvorstellungen im orientalischen Gewand. Durch zahllose Übersetzungen und Auswahlausgaben popularisiert, werden ironischerweise gerade diese Geschichten in der europäischen Wahrnehmung seit langem gewissermaßen stellvertretend als Repräsentanten von 1001 Nacht betrachtet. Bei den dermaßen charakterisierten Geschichten handelt es sich vorrangig um das ‚Dreigestirn‘ der Geschichten von Aladdin und der Wunderlampe, Ali Baba und den vierzig Räubern sowie – dies allerdings ein anders gelagerter Fall der Rezeption – den ursprünglich separat überlieferten Abenteuerroman von Sindbad dem Seefahrer (Marzolph 2006). Es bleibt festzuhalten, dass insbesondere die ersten beiden Geschichten nur bedingt ‚orientalisch‘ sind, in ihrer durch Galland geprägten spezifischen Ausformung aber gerade deshalb besonderen Anklang fanden und ihren einzigartigen Stellenwert als stereotype Repräsentanten der narrativen Welt des Orients erlangen konnten (Marzolph 1995). Besonders in Frankreich hatte 1001 Nacht von Anbeginn eine besondere Stellung. Es folgten drei Jahrhunderte der populären und wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Werk, die ihren Ausdruck fand in Untersuchungen zur Textgeschichte, gedruckten Ausgaben und schließlich Übersetzungen in europäische Sprachen, die unabhängig von Galland aufgrund von arabischen Texten angefertigt waren. Auch zu den Übersetzungen hat die französische Welt mit der Übersetzung von Joseph Charles Victor Mardrus (1899–1904) ein besonderes Monument beigesteuert (Larzul 1996, 140–216). Wie manche seiner Vorgänger adaptierte Mardrus freizügig, ergänzte seine Übersetzung aus anderen Quellen und scheute selbst davor nicht zurück, zahlreiche Texte einzufügen, die zwar aus orien-
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talischer Überlieferung stammten, mit 1001 Nacht aber ursprünglich nicht das Geringste zu tun hatten. Die Übersetzung von Mardrus fiel zu Beginn des 20. Jahrhunderts in eine Zeit, in der die Begeisterung für orientalisches Erzählgut in Frankreich ihren Gipfel erreichte, und steuerte das ihre zu einer Instrumentalisierung des als orientalisch erlebten Ambiente seitens der europäischen kreativen Rezeption bei (Sironval 2005, 84–101).
Orientbilder in den „klassischen“ Comics Vor diesem Hintergrund ist es eine lohnenswerte Aufgabe, sich mit der Repräsentation des Orients in einem Medium zu befassen, dass trotz anerkennenswerter Ansätze (cf. Brednich 1981) von der Fachdisziplin der Erzählforschung immer noch viel zu wenig ernst genommen wird: den europäischen Comics. Dies geschieht im Folgenden vorrangig anhand der einzigen der großen international verbreiteten, gewissermaßen ‚klassischen‘ Comic-Serien, die – bis auf gelegentliche surrealistische Überlappungen
Abb. 1: Aus dem Vorspann der deutschen Isnogud-Hefte © Dargaud Editeur S.A., Paris, und Delta Verlag, Stuttgart
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einerseits mit der Gegenwart und andererseits mit einer vorgeschichtlichen Steinzeit – primär im Orient spielt: Die Abenteuer des Kalifen Harun al Pussah, besser bekannt unter dem Namen des hauptsächlichen Handlungsträgers, des bitterbösen Großwesirs Isnogud (französisch: Iznogoud, verballhornt aus Englisch „He’s no good“), dessen ausschließlicher Lebensinhalt es ist, ‚Kalif anstelle des Kalifen‘ zu werden. Auch in verschiedenen anderen der international bekannten ‚klassischen‘ Comics des 20. Jahrhunderts erscheint der Orient gelegentlich. Hergés Reporter Tim etwa reist nach Ägypten (Die Zigarren des Pharao; 1934) oder besucht vorderorientalische Wüstenlandschaften in Nordafrika (Die Krabbe mit den goldenen Scheren; 1941) und der Levante (Im Reiche des schwarzen Goldes; 1950), wobei ihm Landschaft und Kulturen als pittoreske Szenerie seines stereotypen Kampfs gegen das Böse in der Welt dienen (Peeters 1983; Farr 2006, 40–49, 90–97, 126–133). In den von Carl Barks (Grote 1995; Behrendsen 2005; Andrae 2006) entworfenen Geschichten der Duck-Familie fahren die Ducks im Zuge ihrer phantastischen Reisen, die sie in eine Vergangenheit von Märchen, Mythen und Sagen (Löffler 2004, 333–341, bes. 337f.) führen, unter anderem in die arabische Wüste, um Onkel Dagoberts Glück bringende Sanduhr mit magischem Sand aufzufüllen (Die magische Sanduhr; 1950); sie suchen in Arabien nach Öl (Das große Ölgeschäft; 1960), finden in einem Traumabenteuer die verzauberte Schatzhöhle der vierzig Räuber aus der Geschichte von Ali Baba (Zauber des Orients; 1962), streiten mit der Hexe Gundel Gaukeley um einen fliegenden Teppich (Der fliegende Teppich; 1964) oder erkunden die Goldgrube der Königin von Saba (Die Goldgrube der Königin von Saba; 1965). Für Barks bleibt der Orient immer eine austauschbare Kulisse, der hinsichtlich ihrer Faszination etwa der ‚dunkle Kontinent‘ Afrika (mit Timbuktu als stereotypem Ausdruck eines fern jeder Zivilisation gelegenen Orts) oder auch der Barks geographisch nahe liegende pazifische Raum in nichts nachsteht. Selbst die ‚urgallischen‘ Helden Asterix und Obelix (Mühlenbrock 1999, 45–63; Brodersen 2001; Van Royen/Van der Vegt 1998 und 2001) reisen in den Orient, zunächst in Kleopatras Ägypten und dann wieder in den nach dem Tod des Texters René Goscinny von dem Zeichner Albert Uderzo allein entworfenen Abenteuern: Um ‚Steinöl‘ für den Zaubertrank des Druiden Miraculix zu besorgen, begeben sich Asterix und Obelix auf eine gefahrvolle Reise in die Levante (Die Odyssee; 1981), und um einer indischen Prinzessin das Leben zu retten, fliegen sie zusammen mit einem indischen Fakir auf einem fliegenden Teppich über Mesopotamien und Persien bis nach Indien (Asterix im Morgenland; 1987; französisch: Astérix chez Rahazade). In allen diesen Geschichten dient der Orient als temporäre Kulisse und ist gleichbedeutend bzw. austauschbar mit vielen anderen von der ‚westlichen‘ Überlieferung als phantastisch oder exotisch empfundenen Weltgegenden.
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Einzig die – von der Forschung eher stiefmütterlich behandelten (Feige 2001, 263f.; Filippini 1989, 258f..; Fossati 1993, 135; Horn 1999, 352f.; Knigge 1996, 206 und 2004, 281) – Comics von Isnogud spielen ausschließlich im Orient, konkret in einem Bagdad, dem eine märchenhafte und den Erzählungen aus 1001 Nacht nachempfundene Kulisse als „parodistisches Bezugsfeld“ (Dolle-Weinkauf 1990, 217) für die ständigen (und ständig erfolglosen) Ränke des bitterbösen Großwesirs dient, ‚Kalif anstelle des Kalifen‘ zu werden.
Die Abenteuer des bitterbösen Großwesirs Isnogud Nach der auch auf der offiziellen Internet-Repräsentation von Goscinny (Hein 1998) erzählten Saga (Goscinny 2008) liegt der Ausgangspunkt, gewissermaßen die ‚Geburt‘ des Comic im Kapitel „Der Mittagsschlaf“ in Goscinnys, von Jean-Jacques Sempé bebilderter Geschichte Die Ferien des kleinen Nick (Les Vacances du Petit Nicolas), zuerst erschienen 1962 (Sempé/Goscinny 1976, 46–52). Um die Kinder zum Schlafen zu bringen, beginnt der Leiter der Ferienkolonie folgende Erzählung: „Es war einmal in einem fernen, fernen Land ein Kalif, der war sehr gut, aber er hatte einen bösen Wesir …“.
Abb. 2: Der kleine Nick und die Ferien. Zürich (1976) 2003, S. 47 © Editions Denoël, Paris, und Diogenes Verlag AG, Zürich
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Da er mit diesem Anfang die Neugierde der Kinder geweckt hat, muss er weitererzählen und spinnt die Geschichte weiter aus, indem er den Kalifen in Verkleidung ausgehen lässt, um zu erfahren, was die Leute über ihn denken, wobei der Wesir von der Situation zu profitieren versucht, um den Platz des Kalifen einzunehmen. Zunächst in den Zeitschriften Record (ab 1962) und Pilote (ab 1968) veröffentlicht, erschien das erste IznogoudAlbum 1966. Nach Goscinnys Tod 1977 führt der Zeichner Jean Tabary die Serie alleine fort. Bis 2007 sind 27 Alben erschienen; im Oktober 2008 erschien unter der Betreuung des Vaters das von seinen Kindern Muriel Tabary-Dumas und Stéphane Tabary getextete und von Nicolas Tabary gezeichnete neue Album Les Mille et une Nuits du Calife. Wie andere der bekannten französischen Comic-Helden ist Iznogoud mittlerweile nicht nur ein Comic, sondern ein Markenzeichen, das neben dem üblichen Merchandising etwa durch Plastikfiguren unter anderem durch eine Zeichentrickserie (ab 1966) und ein Computerspiel propagiert wurde. In dem 2004/05 unter der Regie von Patrick Braoudé verwirklichten Realfilm (Isnogud 2008a) sollte nach den ursprünglichen Plänen Goscinnys Louis de Funès die Rolle des Wesirs spielen (Goscinny 2008). Kurz nachdem der Film schließlich (mit Michael Youn in der Titelrolle) in die Kinos gekommen war, zeichnete Jean Plantu, der Karikaturist der Zeitschrift Le Monde, am 14. Januar 2005 den damaligen Innenminister Nicolas Sarkozy mit Gewand und Turban Isnoguds (Plantu 2008). Während des französischen Präsidentschaftswahlkampfs 2007 wurde diese Gleichsetzung in Frankreich dermaßen populär, dass Google-Recherchen bei der Suche nach ‚Iznogoud‘ an hoher Stelle die offizielle Webseite des Kandidaten Nicolas Sarkozy lieferten, dessen erklärtes (und letztlich im Gegensatz zu Isnogud erfolgreiches) Ziel es war, ‚Präsident anstelle des Präsidenten‘ (Jacques Chirac) zu werden. Auch in Griechenland wurden die realen politischen Machtkämpfe durch Anspielung auf die Comic-Serie versinnbildlicht: In der Krise der griechischen sozialistischen Partei PASOK nach den nationalen Wahlen 2007 wurde Evangelos Venizelos, dessen erklärtes Ziel es war, Chef der PASOK (und Premierminister anstelle des „Kalifen“ Kostas Karamanlis) zu werden, als Isnogud dargestellt (Papachristophorou 2007). Und auch im bundesrepublikanischen Wahlkampf 2004–05 bediente sich die satirische Presse des populären Schemas: Stephan Rürup und Mark-Stefan Tietze gaben im Satiremagazin Titanic von Mai 2004 bis Oktober 2005 „Die Abenteuer des Kalifen Harun al Schrödah und seines Münt-El Fering“ heraus, mit einem ‚Kalifen‘, dessen größte Sorge nach weiteren vier Jahren Regierung ein größeres Ruhekissen war, und einem „niederträchtigen Großwesir“ namens MüntEl Fering, der „nur einen roten Schal, den ungeliebten Spitznamen HasNo Abi und eine Vision sein eigen nannte“, die exakt dem Motto des
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Isnogud entsprach (Rürup/Tietze 2004–05). Nachdem die „kuhäugige Prinzessin Merk-El Merkel, Kalifentochter aus einer untergegangenen Dynastie, die ebenfalls Anspruch auf das bequeme Thronkissen erhob“, das Rennen gemacht hatte, änderten sich der Titel der (damit allerdings eingestellten) Serie und „Vision“ des Münt-El Fering nur wenig, hieß es nun doch: „Ich will Kalif werden anstelle der Kalifin!“ In einem Arbeitspapier hat Goscinny (2008) das Rezept der erfolgreichen Serie wie folgt umrissen: Zwei Personen sind die Hauptcharaktere. Harun al Pussah, Kalif von Bagdad, ist sehr gut, sehr dick und nicht sehr intelligent; er macht nichts, und das macht er gut. Isnogud ist klein, mager und schrecklich böswillig. Er hat nur einen Traum: Kalif anstelle des Kalifen zu werden. Die Handlung ist also sehr einfach: In jeder Folge wird Isnogud ein (scheinbar) unfehlbares Mittel finden, um den Kalifen loszuwerden, und dieses Mittel wird sich unfehlbar gegen ihn selbst wenden. Der Kalif bemerkt nie irgendetwas davon und fährt fort, seinen schändlichen Großwesir ‚mein guter Isnogud‘ zu nennen. Der Handlanger [in der deutschen Version: Mietsklave] Tunichgud hilft Isnogud bei seinen Unternehmungen und dient ihm oft als Sündenbock. Tunichgud glaubt nicht an den Erfolg seines Herrn und versucht erfolglos, ihn von seinen Taten abzubringen. Goscinny selbst hat die Geschichte als eine Parodie auf 1001 Nacht bezeichnet. Im Gegensatz zu den gleichfalls von ihm entworfenen Szenarien von Asterix und Obelix sowie von Lucky Luke dienen ihm die Geschichten von Isnogud neben der eigentlichen Handlung und darüber hinaus vor allem als Bühne für Kalauer und Wortspiele (Goscinny 2008). Dazu gehören auch die zahlreichen sprechenden Namen der diversen Charaktere (Bleicher-Viehoff 2001, 121; cf. auch die Zusammenstellung bei Isnogud 2008b): Der Name Isnogud (aus englisch ‚He’s no good‘) steht programmatisch für die abgrundtiefe Böswilligkeit des Wesirs; ein Dieb heißt Cleptomahn, ein chinesischer Mandarin Litchi, ein Händler von Zaubergegenständen Le Mède Indjapahn; auf Deutsch heißt unter anderem ein Kalif Ali Mentenanspruch, ein Zauberkünstler Boudini (in Anspielung auf den berühmten Zauberkünstler Houdini) oder der Lastenträger des Kalifen Kulturbeutel. Die Schwierigkeit, die Kalauer und Wortspiele wie auch die Namen in Übersetzung adäquat wiederzugeben, dürfte mit ein Grund für die offenbar nur bedingt internationale Rezeption der Isnogud-Comics sein. Zwar kam der Comic unter anderem auf Dänisch, Deutsch, Englisch, Finnisch, Griechisch, Italienisch, Niederländisch, Norwegisch, Polnisch, Portugiesisch, Schwedisch und Spanisch heraus (Isnogud 2008c). Auf Deutsch wurden bislang allerdings nur 24 der 27 Bände veröffentlicht, und die seinerzeit bei Ehapa erschienene Serie wird seit mehreren Jahren nicht mehr verlegt; seit 2008 erscheint allerdings eine deutsche Gesamtausgabe.
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Orientbilder und orientalische Motive in Isnogud Im Folgenden soll anhand einer Detailanalyse aufgezeigt werden, was für ein Orient den Lesern in Isnogud präsentiert wird bzw. inwieweit und in welcher Form diese ‚Parodie von 1001 Nacht‘ über das allgemeine Szenario hinaus auf orientalische oder als orientalisch empfundene Motive zurückgreift. Grundlage der Analyse sind dabei ausschließlich die von Goscinny und Tabary zusammen realisierten Bände (cf. Isnogud 2008d und 2008e), denn mit dem Tod Goscinnys und der alleinigen Gestaltung durch Tabary hat sich der Charakter der Geschichten deutlich verändert. Zitiert wird im Folgenden bei der jeweils ersten Erwähnung mit der Nummer des deutschen Albums und der darin enthaltenen Geschichte. Vorausgesetzt wird zunächst einmal ein märchenhaftes Bagdad, in dem – wie es auf dem Vorsatzblatt der Bände heißt – „Zauberer und Wundertaten an der Tagesordnung waren“. Bereits die erste IsnogudGeschichte, Der Dschinni (1,1; 1966), greift tief in die Trickkiste orientalistischer Stereotypen. Auf der Suche nach einem Weg, ‚Kalif anstelle des Kalifen‘ zu werden, fällt dem schändlichen Großwesir Isnogud ein, dass ihm am ehesten ein Geist wie der aus Aladdins Wunderlampe helfen kann: „Ein Geist, der erscheint, gehorcht und zu allem fähig ist!“
Abb. 3: Die Abenteuer des Kalifen Harun al Pussah Bd. 1: Isnogud. Der Großwesir. Stuttgart 41977, S. 31 © Dargaud Editeur S.A., Paris, und Delta Verlags-GmbH, Stuttgart
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Der Geist, den Isnogud und Tunichgud dann bei dem Zauberwarenhändler Meder Injapan erwerben, erscheint allerdings nicht aus einer Lampe, sondern aus einem Paar grüner Pantoffeln, das gut gerieben werden muss. Der Geist erfüllt einen Wunsch oder Befehl, und nachdem dies geschehen ist, verschwindet er und muss gegebenenfalls neu gerufen werden. Dschinnis als Inbegriff der zaubermächtigen Geistergestalten der orientalischen Überlieferung erscheinen auch in anderen Geschichten, wenngleich selten in tragenden Rollen: In Ein Dschinni löst Probleme (4,1; 1969) handelt es sich um einen Geist, der in einem Sumpf in der Nähe von Bagdad lebt und dem Wasser, in dem er sich befindet, die Kraft verleiht, jedes Lebewesen, das damit in Berührung kommt, in Nichts aufzulösen. Der an die Pantoffeln gebundene Dschinni aus Isnoguds erstem Abenteuer erscheint als Urlauber beiläufig in der Geschichte Sommerferien (3,1; 1967) und – diesmal an eine andere Art von Pantoffel gebunden – als ‚Generalsekretär der Nationalen Dschinni-Organisation‘ in der Geschichte Wahl im Kalifat (8,4; 1972). In Der Narrentag (8,1; 1972) ist der zaubermächtige Geist an eine Öllampe gebunden; entgegen Isnoguds Erwartung zaubert der Lampengeist aber nicht, da am ‚Narrentag‘ die Machtverhältnisse umgekehrt sind, mithin „die Geister regieren und die Geistlosen gehorchen“. Auch in der Geschichte Isnoguds Schüler (5,2; 1969) spielt ein als ‚Dschinni‘ bezeichneter zaubermächtiger Geist mit, diesmal allerdings von der Sorte, wie sie in 1001 Nacht in der Geschichte von dem Fischer und dem Dämon erscheint: Er ist als dunkler Rauch in einer Flasche eingeschlossen, erscheint nach Öffnen der Flasche als riesenhafter und übelgelaunter schwarzer Sklave mit Krummschwert, besitzt aber gleichfalls uneingeschränkte Zauberkräfte; diese verhelfen im Übrigen Prinz Ibermud, dem Sohn des benachbarten Sultans Pullmankar, dazu, ‚Sultan anstelle des Sultans‘ zu werden. Eine direkte Anspielung auf die 1001 Nacht-Geschichte von Aladdin und der Wunderlampe erscheint ansonsten einzig in dem einleitenden Bild des futuristischen Abenteuers Weltraumzauber (7,2; 1971) als Werbeschild eines Ladens, in dem tatsächlich nur Zauberlampen verkauft werden und „nichts, womit man Licht machen kann, so ganz ohne Hokuspokus“. Auch auf die Geschichte von Ali Baba und den vierzig Räubern wird nur nebenbei angespielt, als Kommentar zum ersten Bild der IsnogudGeschichte Hin und Her, Kreuz und Quer (2,6; 1967), die in einem Lokal namens „Treffpunkt der Langfinger“ beginnt, was nach dem beigegebenen Kommentar darauf hindeutet, dass „sich hier einst der Stammtisch von Ali Baba und den 40 Räubern befunden hatte“. Nur das Potential einer einzigen Erzählung aus 1001 Nacht wird ausgiebiger ausgeschöpft, das des Abenteuerromans von Sindbad dem Seefahrer. Allein der Name des Protagonisten taucht mehrere Male in verballhornter Form auf: Als
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‚Strandbad der Seefahrer‘ (französisch Cymbale) in Die Insel der Riesen (1,6; 1966) ist er ein einbeiniger Seefahrer, der „jede Menge Seemannsgarn“ spinnt und behauptet, sein linkes Bein sei von Kannibalen verzehrt worden. Als ‚Sinkbar der Seefahrer‘ (französisch Timbale) ist er in Der Kalif auf Kreuzfahrt (3,3; 1967) – wie ihn der Kneipenwirt vorstellt – „der größte Pechvogel unter allen Seefahrern des Kalifats; er hat 26 Fahrten hinter sich, und jedes Mal gab’s eine Katastrophe: er verliert sein Schiff, seine Passagiere, seine Mannschaft“. Als ‚Seisogud der Seefahrer‘ (französisch Isnotsobad) erscheint er gleich zweimal: In Der Unglücksdiamant (4,3; 1969) ist er der Kapitän des Schiffes, auf das der vom Pech verfolgte Isnogud zusammen mit einer Ladung Pflastersteine verladen wird, und in Die geheimnisvolle Salbe (6,5; 1970) bringt er Isnogud eine „gar schreckliche, sehr geheimnisvolle Salbe“, die ihm „ein Apotheker noch kurz vor [seiner] Abreise aus den Landen der untergehenden Sonne“ verkauft hat – Zahnpasta. Als ‚Bistogud der Seefahrer’ in Ein Möhrchen für Isnogud (7,1; 1971) ist er der tyrannische Kapitän eines Schiffes, dessen Mannschaft „annimmt, dass die Sklaverei ihr Los wesentlich verbessern wird“. Als ‚Vusbad der Seefahrer‘ in Ein Gesang, der erstarren läßt (11,2; 1975) ist er aufgrund seiner Taubheit als einziger der Versteinerung durch den Gesang einer Sirene entkommen. Auch in dem zu Beginn der Geschichte Isnoguds
Abb. 4: Die Abenteuer des Kalifen Harun al Pussah Bd. 3: Isnogud. Gefährliche Ferien. Stuttgart 1975, S. 31 © Dargaud S.A. Editeur, Paris, und Ehapa Verlag GmbH, Stuttgart
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Raketenstart (5,1; 1969) beiläufig erwähnten „Luftbad, dem Spezialist für fliegende Brücken“ (= Teppiche), kann man eine Anspielung auf Sindbad erkennen. Narrative Motive aus der Sindbad-Erzählung werden allerdings nur in der Isnogud-Geschichte Der Kalif auf Kreuzfahrt verarbeitet, in welcher der – bereits aus der griechischen Antike bekannte – Menschen fressende Zyklop sowie der riesenhafte Vogel Roch, der „am liebsten Elefanten, Nilpferde und Zyklopen“ frisst, einen kurzen Auftritt haben. Einer der letzten von Goscinny getexteten Comics, Das Wachsfigurenkabinett (15,2; französisch 13,2; 1978), bietet schließlich in den Figuren des Kabinetts ein Panoptikum der stereotyp bekannten Figuren aus 1001 Nacht – gezeigt werden Aladdin und die Wunderlampe, Sindbad der Seefahrer, Scheherazade „wie sie dem Kalifen Harun al-Raschid in der tausendsten Nacht Märchen erzählt“ und Ali Baba und die vierzig Räuber (wobei die Autoren bei letzterem offenbar dem populären Missverständnis folgen, dass es sich bei Ali Baba um den Räuberhauptmann handele). Darüber hinaus erschöpfen sich die Anspielungen auf 1001 Nacht weitgehend in gelegentlich erscheinenden Geschichtenerzählern. Genannt werden etwa der stotternde Barbier Raschid in Hand in Hand (1,3; 1966); der vielgereiste und Welt erfahrene Ali Blabla in Winterferien (3,2; 1967); ein namenloser alter Märchenerzähler, der die Geschichte von einem Erfinder erzählt, mit dessen Maschine man die Sterne erreichen kann in Isnoguds Raketenstart; und schließlich in Der Trank des Scheiks (11,3; 1975) Harun al-Pussahs
Abb. 5: Die Abenteuer des Kalifen Harun al Pussah Bd. 11: Isnogud und der Türkenkopf. Stuttgart 1979, S. 32 © Dargaud S.A. Editeur, Paris, und Delta Verlags-GmbH, Stuttgart
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Hoferzähler, der diesem die „aus dem fernen, geheimnisvollen Okzident mitgebracht[e]“ Geschichte von Rotkäppchen vorträgt. Fliegende Teppiche, die in den Geschichten Sommerferien; Inkognito (9,2) und Skandal in Bagdad (15,2; 1978) beiläufig erwähnte Requisiten darstellen, spielen in Der Zauberteppich (9,1; 1973) eine tragende Rolle. Bei dem fliegenden Teppich handelt es sich streng genommen weniger um ein Motiv aus 1001 Nacht, denn ein fliegender Teppich erscheint dort einzig in der Geschichte vom Prinzen Ahmad und der Fee Peri Banu, bei der es sich im Übrigen gleichfalls um eine von Galland nach dem mündlichen Vortrag des syrischen Geschichtenerzählers willkürlich in 1001 Nacht eingefügte Geschichte handelt. Der fliegende Teppich ist allerdings – weithin popularisiert etwa durch Geschichten wie die mehrfach verfilmte vom Dieb von Bagdad (zuerst 1924) – stereotyper Ausdruck eines zauberkräftigen Requisits orientalischer Märchen geworden, für die 1001 Nacht der Hauptrepräsentant ist (s. Marzolph/Van Leeuwen 2004, 2, 513f.). Zwei weitere Motive differenzieren den vorherrschenden Eindruck, in den Abenteuern des Isnogud seien nur die ‚üblichen Verdächtigen‘ aus 1001 Nacht verarbeitet worden. Dies ist zum einen das Motiv vom Kalifen, der sich in Verkleidung unerkannt unter das Volk mischt, das beiläufig in Der magische Katalog (10,5; 1974) und handlungsbestimmend in Inkognito vorkommt. Hierbei handelt es sich um eines der Standardmotive aus 1001 Nacht. Es wird in der vergleichenden Erzählforschung unter dem Motiv K 1812.17: King in disguise to spy out his kingdom verzeichnet und erscheint im Gesamtkorpus der Erzählungen aus 1001 Nacht knapp 20 Mal (Marzolph/Van Leeuwen 2004, Band 2, 806). Die Geschichte Inkognito bringt zudem auch ein ungleich selteneres und spezifischeres Motiv. Denn bevor der Kalif die Entscheidung trifft, sich unerkannt unter das Volk zu mischen, „um zu erfahren, wie mein gutes Volks über mich denkt“, will er seinen Spaziergang zunächst – ganz der naive Harun al Pussah – auf seinem Prunkelefanten und umgeben von seiner Leibwache unternehmen. Dabei wird öffentlich verkündet: „Der Kalif macht einen Spazierritt! Wer ihn anzusehen wagt, wird enthauptet!“ Dieses Motiv des Blicktabus (Mot. C 312.2.1) findet sich in den Standardausgaben von 1001 Nacht etwa in den Geschichten von Aladdin und der Wunderlampe oder Qamar az-zamān und seiner Geliebten, in der auf Befehl der jungen Frau jeder Mann, der sie gegen ihren ausdrücklichen Befehl auf dem Weg zum Bad sieht, auf der Stelle enthauptet werden kann (El-Shamy 2006, C 312.2.1). Abgesehen davon, dass die unmittelbar und ohne Verhandlung oder Urteil vollzogene Todesstrafe in einer von Stereotypen regierten literarischen Gattung den orientalistischen Vorurteilen von Tyrannei und Willkürherrschaft entspricht, stellt sich hier allerdings zusätzlich die Frage, ob sich derartige Motive in den Isnogud-Geschichten aus 1001 Nacht herleiten müssen oder ob bzw. inwieweit auch andere Quellen in Frage kommen.
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Das bereits erwähnte Motiv des fliegenden Teppichs etwa findet sich nur ein einziges Mal in 1001 Nacht, ist darüber hinaus aber in der orientalisierenden europäischen Literatur seit dem frühen 18. Jahrhundert weit verbreitet. Und gleich das erste im vorliegenden Zusammenhang diskutierte Motiv des an ein Paar Pantoffeln gebundenen Dschinnis verweist auf die Literaturgattung der Orientalischen Florilegien (Marzolph 2008a), durch die im 18. Jahrhundert bis zur Französischen Revolution und außerhalb Frankreichs auch danach noch zahlreiche Motive aus den orientalischen Literaturen in die europäische Überlieferung eingespeist wurden. Einen an ein Paar Pantoffeln gebundenen Dschinni gibt es jedenfalls in genuin orientalischen Quellen nicht, und man könnte die ungewöhnliche Verknüpfung als einen skurrilen Einfall der Autoren abtun. Allerdings gibt es ein bekanntes Paar Pantoffeln, das besonders im französischen Kontext zum Standardrepertoire orientalischer bzw. orientalisierender Motivik gehören konnte: Dies sind die Pantoffeln des geizigen Abūl-Qāsim Tambūrī, der bei dem wiederholten Versuch, seine alten Pantoffeln loszuwerden, von einem Unglück ins nächste fällt. Diese Geschichte findet sich zuerst in Denis Dominique Cardonnes Anthologie Mélanges de littérature orientale (1770) und wurde später in zahlreichen literarischen Bearbeitungen aufgegriffen. Ähnlich wie an solchen Beispielen verdeutlicht werden kann, dass die Bandbreite der Quellen von Isnogud weit über 1001 Nacht im engeren Sinn hinausgeht und ein weites Feld orientalisierender literarischer Werke einschließt, sind die Autoren von Isnogud im Übrigen auch von europäischen Quellenbereichen inspiriert. Europäische Märchenüberlieferung scheint etwa durch in der Geschichte Es quakt im Kalifat (2,1; 1967), in der das Küssen eines Froschs dessen Rückverwandlung in einen Menschen bewirkt (wobei hier allerdings der Küssende in einen Frosch verwandelt wird), ein Motiv, das aus dem europäischen Märchen vom Froschkönig bekannt ist. Die in europäischen Erzählungen verarbeitete Vorstellung von der magischen Kraft der Musik (Suppan 1999) ist handlungsbestimmend in Hast du Töne? (10,4; 1974). Der versteinernde Gesang der Sirene in Ein Gesang, der erstarren läßt erinnert an den Gesang der Sirenen in den antiken Abenteuern des Odysseus. Und die wenig talentierte Lernfee Karambola in Einfach fabelhaft (12,1; 1977) verdankt ihr Dasein dem französischen literarischen Genre der Contes de fées – dies übrigens auch der Titel der französischen Originalausgabe der Geschichte. Darüber hinaus besteht ein ständiges Wechselspiel mit anderen von Goscinny getexteten Comics, so vor allem mit Asterix und Obelix. So haben etwa die Nachfahren der ständig wiederkehrenden Piraten (Grünwald 2001) einen Auftritt in Ein Möhrchen für Isnogud (1971), das Motiv des Schwerelosigkeit verleihenden Zaubertranks in Der Muckefuck (2,3; 1967) und der Kampf mit dem Kalifen in Die Herausforderung (8,2; 1972) erinnern an den Kampf der Häuptlinge (1966), die avantgardistischen Theater in Weltraumzauber (1971)
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und Das Zauberbett (12,3; 1977) an Asterix als Gladiator (1964), und Brutus als Mörder des Cäsar hat einen kurzen Auftritt in der Isnogud-Geschichte Das Wachsfigurenkabinett (1978), wo er – gerade durch eine Zauberformel erweckt – Isnogud und Tunichgud fragt, ob sie Asterix und Obelix seien, und Tunichgud das Verhalten des Brutus wenig später mit dem Standardspruch des Obelix kommentiert: „Die spinnen, die Römer!“ Neben den einzelnen Motiven speist sich auch die Inspiration für das Grundgerüst der Isnogud-Geschichten aus 1001 Nacht. In einem lange vor den relativ späten Kompilationen der erhaltenen Manuskripte von 1001 Nacht im 17./18. Jahrhundert abgeschlossenen Überlieferungsprozess war der abbasidische Kalif H~rãn ar-Rash§d (786–809) zur Kristallisationsfigur des gerechten Herrschers geworden (Gerhardt 1963, 419–470; Marzolph 1990). Ihm zur Seite steht in den arabischen Erzählungen stereotyp sein Wesir Ja‘far der Barmakide (Marzolph/Van Leeuwen, Band 2, 732f.). Historisch gesehen war diese Verbindung nur bedingt glücklich, denn Hārūn ließ den überaus erfolgreichen Wesir und dessen gesamte Familie nach einer Epoche der erfolgreichen Regentschaft im Jahr 803 unverhofft fallen, Ja‘far wurde hingerichtet, seine männlichen Verwandten wurden verhaftet und exiliert, ihr Vermögen konfisziert. Während die historischen Texte für diese unvermittelte Wende keine eindeutige Erklärung liefern, haben H~rãn und Ja‘far als Paar einen überragenden Platz in der populären Überlieferung, und Ja‘far ist durch 1001 Nacht in der europäischen Wahrnehmung zum Stereotyp des (oft hinterlistigen und betrügerischen) Wesirs geworden, wie er über die Verfilmungen des Thief of Bagdad (1924, 1940) etwa noch in den Aladdin-Zeichentrickfilmen der Disney-Studios (ab 1992) erscheint (Cooperson 1994; Marzolph 1995 und 2008b). Hier liegt das narrative Grundmuster für Isnogud, dessen Name programmatischer Ausdruck seines Verhaltens ist.
Die Isnogud-Erzählung als Repräsentant alltäglicher Erfahrungen Die Isnogud-Comics sind wesentlich ein Produkt der 1960er und 1970er Jahre. Die irakische Hauptstadt Bagdad wurde zum Zeitpunkt ihrer Entstehung noch in Fortführung einer jahrhundertealten Tradition als ein Ort imaginiert, bei dem viele europäische Leser an einen sagenumwobenen Orient wie aus ‚1001 Nacht ‘ dachten (Marzolph/Van Leeuwen 2004, 2, 485–487). Durch die Ereignisse der jüngeren Geschichte scheint es hingegen fraglich, ob Rezipienten, die mit Berichten über die Golfkriege seit den 1980er Jahren, über Saddam Hussein und seinen Sturz, über Boykottmaß-
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nahmen gegen den Irak, Bomben auf Bagdad, die US-amerikanisch dominierte Besatzung des Landes und Bilder des Irak als Brutstätte des internationalen Terrorismus aufgewachsen sind, die traditionellen Assoziationen an ein ‚märchenhaftes Bagdad‘ teilen. Allerdings ist das Martyrium des programmatisch frustrierten Möchtegernkalifen weder zeit- noch ortsgebunden, spiegelt es doch mit dem krankhaften Ehrgeiz, dem rücksichtslosen Durchsetzungswillen und der menschenverachtenden Brutalität des bitterbösen Großwesirs in zynisch überspitzter Form Grundmuster vertrauter Konflikte alltäglicher Erfahrungswelten, wobei der im Comic geschilderte Orient ausschließlich als geschickt gewählte narrative Matrix dient. Wie umfassend die fiktive Situation aus dem weit entfernten Orient übertragbar ist, deutet die wiederholte Gleichsetzung mit den eingangs erwähnten politischen Machtkämpfen der jüngeren Vergangenheit an. Allerdings trifft der vorgeschlagene Neologismus ‚Isnogudismus‘ mit der Definition: „Der unbedingte Wille, eine Führungsposition anstelle der aktuellen Positionsinhaber einnehmen zu wollen“ (Isnogud 2008f) den Sachverhalt nur bedingt, denn eine allgemeine Übertragung von Isnoguds Schicksal auf enttäuschte Hoffnungen aller beruflichen Karrieristen und zweitrangigen Intriganten verbietet sich dadurch, dass der bitterböse Großwesir in seiner unnachgiebigen Triebhaftigkeit ein durchaus bemerkenswertes Charisma entwickelt. Und dennoch bleibt die alltäglich erfahrbare Bedrohlichkeit des Konflikts für die Leser durch die satirisch geschickte Distanz der Ansiedelung in der fernen und gleichzeitig nahen Gegenwelt des Orients aushaltbar. Letztlich bekommen die Leser sogar eine utopische Gegenwelt vorgeführt, in der das „Gesetz der Herrscherpsychologie […] auf den Kopf gestellt“ (Bahners 2006) wird: Denn einerseits übersteht der unerschütterlich gutmütige Kalif Harun al-Pussah (dessen Beiname „poussah“ im Französischen „Fettwanst“ bedeutet) als Prototyp des Anti-Tyrannen alle Attacken, da er seinem ‚guten Isnogud‘ blind vertraut; andererseits scheitert der notorische Intrigant unausweichlich und erleidet oft spiegelnde Strafen. Dadurch waltet ausgerechnet – auch dies eine satirische Überspitzung – in dem mit Despotismus und Willkürherrschaft gleichgesetzten Orient endlich einmal Gerechtigkeit.
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VI. Kleinformen der Volksdichtung
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Der Erste Merseburger Zauberspruch – ein Mittel zur Geburtshilfe?* In den vergangenen Jahren sind einige Lexika abgeschlossen worden oder gehen auf das Alphabetende zu (darunter auch die Enzyklopädie des Märchens), in denen das Stichwort „Zauberspruch“ zu finden ist (Haubrichs 2003; Simek 2007). Das bekannteste Zeugnis innerhalb der Textsorte Zauberspruch stellen die Merseburger Zaubersprüche (MZ) dar, kostbare Überlieferung der althochdeutschen Literatur und seit der Veröffentlichung durch Jacob Grimm (1842) in unzähligen Publikationen behandelt (s. die Lexikon-Artikel von Lundgreen/H. Beck 2001 und Steinhoff 1987/2001). Zwei umfangreiche Monographien (Nedoma 2003 und Eichner/Nedoma 2003; W. Beck 2003)1 bilden vorerst den Abschluss der über gut 160 Jahre währenden philologischen Arbeit an den beiden Texten, deren zwölf Zeilen in der Merseburger Handschrift (10. Jahrhundert) um das Vielhundertfache von erklärenden Sätzen überwuchert werden. Wer dem Weiteres hinzuzufügen unternimmt, muss schon gute Gründe haben, sei es, dass ein spezieller Beitrag zur Erzählforschung vorgelegt wird (etwa Schumacher 2000)2, sei es, dass man versucht, einen bisher vernachlässigten Aspekt in den Vordergrund zu rücken, wie es im Folgenden geschehen soll. Es geht um den Ersten Merseburger Zauberspruch (MZ I): Eiris sāzun idisi, sāzun hera, duo, der; suma hapt heptidun, suma heri lezidun, suma clūbōdun umbi cuoniouuidi: insprinc haptbandun, inuar uīgandun! (Eichner/Nedoma 2003, 10). * 1 2
Für die Herstellung des Manuskriptes danke ich herzlich Axel Füllgrabe, Göttingen. Dazu demnächst die Rezension des Verfassers mit einem Beitrag von Wilhelm Heizmann in: Indogermanische Forschungen. Zu Fragen der Kontinuität von Zaubersprüchen, auch von Elementen der MZ, s. Theiss 1980, bes. 163 f.; Schröder 1999; zum magischen Sprechen und zu magischen Sprachhandlungen s. Schröder 1996, Schröder 2002; „Über das Nachleben der Merseburger Zaubersprüche“ s. Düwel 1998.
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Zuerst [sonst: Einst] saßen Idise, saßen hier, da, dort (?); einige hefteten Bande (oder: fesselten den Gefangenen), einige hemmten das Heer [auch: die Heere], einige klaubten (zupften) an den (starken) Fesseln: „Entspring den Haftbanden (Fesseln), entflieh (entrinne) den Feinden!“ (ebd., 11).
Fast jedes Wort dieser vier stabenden Zeilen ist in der Deutung umstritten, wie die Ausführungen bei Nedoma (2003, 26 ff.) und Beck (2003, 2 ff.) zeigen. Ein Musterbeispiel wäre das überlieferte heraduoder, bei dem ich die Auffassung von Nedoma (2003, 37) wegen des Gleichlaufs mit den drei Gruppen von Idisen gewählt habe. Die meisten Übersetzungen interpretieren bereits mit der alternativlosen Wiedergabe von hapt „Gefangener“ („einige fesselten den Gefangenen“, Beck 2003, 1) und dem Verständnis von „Heer(e)“ im Sinne von „Kriegsheer(e)“3 den Spruch als Lösezauber zur Gefangenenbefreiung. Diese Kennzeichnung als „Zauberspruch über die Fesseln eines Kriegsgefangenen“ durch Wackernagel (1842, IX), autorisiert von J. Grimm in der zweiten Ausgabe seiner Deutschen Mythologie (1844), hat die Deutung bis heute bestimmt (s. im einzelnen Beck 2003, 350 ff.). Dabei „ist es wohl unentscheidbar, ob der Gefangene sich selbst den Spruch aufzusagen hat oder ob ihn Frauen/Angehörige ‚aus der Ferne‘ anwendeten“ (Lundgreen 2001, 601). In dieser Frage kann man auf die eddischen Hávamál Str. 149 hinweisen, das sog. Ljóðatal, in dem der Hohe (Odin) Zaubersprüche (lióð) mitteilt: „Den weiß ich viertens,/wenn Männer mir/krummschließen die Glieder:/dann raune [zu gala s. u. S. 417] ich so,/daß ich gehen kann,/daß mir von den Füßen die Fessel springt, von den Händen die Kette“ (Häny 1987, 67, s. auch die Übersetzung von Genzmer 1922, 173 f.). Ebenfalls Zaubersprüche (galdrar) teilt die tote Groa ihrem Sohn Svipdag mit: „Ich sing (gala) dir den fünften, falls in fesselnde Bande/die schmiegsamen Glieder man schließt:/die Gelenke besprech’ ich/mit lösendem Zauber (leysigaldr)/dann springt von den Schenkeln das Schloß/dann fällt die Fessel vom Fuß“ (Gering 1893, 128 f.; vgl. Bugge 1965, 340). Fast immer werden die vorhandenen früh- und hochmittelalterlichen Zeugnisse zur Fessellösung bei Gefangenen herangezogen, zumal solch bedeutende Namen wie Gregor der Große, Beda, Thietmar von Merseburg und Honorius Augustodunensis mit diesen Berichten verbunden sind. Beck (2003, 353 ff.) hat die einschlägigen Passagen im Original und in Übersetzung noch einmal vorgelegt und besprochen mit dem Ergebnis: „Die Stellen bezeugen den frühmittelalterlichen Glauben an die fessellösende Kraft von Zauber und Segenssprüchen und natürlich auch Gebe3
Beck (2003, 1, 30 ff.) versucht sogar, heraduoder als „[auf] den Kriegerscharen“ zu deuten.
Der Erste Merseburger Zauberspruch – ein Mittel zur Geburtshilfe?
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ten“ (ebd., 357) – man bemerke, es steht da „Zauber“, nicht etwa „Zaubersprüche“! Liegt jedoch diesen Berichten ein Zauber oder gar ein dem Merseburger vergleichbarer Zauberspruch zu Grunde? Gregor (Dialogi IV, 57) hat von einem Mann gehört, der bei Feinden in Gefangenschaft geraten, in Fesseln gebunden gewesen sei (in vinculis religatum fuisse) und dem seine Frau an bestimmten Tagen das Messopfer darzubringen pflegte (sacrificium offerre consueverat). Nach langer Zeit zurückgekehrt, erzählte er, an welchen Tagen ihm die Fesseln abgenommen wurden (vincula solverentur) und seine Frau erkannte, dass es an jenen Tagen war, an denen sie das Messopfer für ihn dargebracht hatte (pro eo sacrificium offerebat). Damit genau übereinstimmend, heißt es bei Thietmar (I, 21): Wir lesen, daß sich die Fesseln eines Gefangenen, den seine Frau tot glaubte, und für den sie durch ständige Seelenmessen sorgte (assiduis procuravit exequiis), so oft lösten, wie sie für ihn Gott Vater genehme Opfer (hostiae) darbrachte; das bestätigte er ihr später nach seiner Heimkehr in Freiheit selbst.
Damit übereinstimmend läuft auch die Geschichte im Speculum Ecclesiae des Honorius. Hier führt das über 30 Tage täglich von der Frau eines tot geglaubten Kriegers (miles) für diesen dargebrachte Messopfer (sacrificium) zu einigem Trost (solatium) bis zur Lösung der Fesseln (solutis vinculis) und zur Befreiung aus dem Kerker. Sogleich lässt Honorius noch eine zweite Erzählung folgen, bei der einem gefangenen Krieger wiederholt Fesseln angelegt werden, die sich sogleich wieder lösen. Verwundert darüber sagt einer, dass dieser Krieger eine Kunst beherrscht, mit der er Schlingen zu lösen versteht (eum arte peritum quo [!] sciat solvere nexum). Jener verneint, in eine solche Kunst eingeweiht zu sein (ille negat se aliqua arte imbutum), vielmehr habe er einen Bruder, der Priester sei und der, wie er glaube, für ihn dem Herrn das Messopfer dargebracht habe ( pro se Domino obtulisse sacrificium) – so sei die Fessel gelöst worden (solutum vinculum), und so war es wirklich (et ita erat ). Auch Beda (IV, 20) erzählt eine solche Begebenheit. Ein Gefolgsmann (comes) König Æthelreds nahm einen verwundeten jungen Mann, namens Imma, auf, und, um ihn festzuhalten, ließ er ihn nachts fesseln. Allein, wenn die Fesselnden ihn verließen, lösten sich sogleich seine Fesseln (sunt vincula soluta). Er hatte einen Bruder Tunna, der den vermeintlich toten Imma auf dem Schlachtfeld suchte, einen diesem ähnlichen Toten für seinen Bruder hielt, ihn in sein Kloster brachte, beerdigte und für die Erlösung seiner Seele öfter Messen lesen ließ ( pro absolutione animae eius sepius missas facere curavit ). So erkläre sich das Ereignis der Fessellösung. Der Gefolgsmann fragte Imma nichts ahnend von dem wahren Sachverhalt, ob er zufällig Zaubersprüche, von denen Geschichten berichten, bei sich habe (an forte litteras solutarias, de qualibus fabulae ferunt, apud se
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haberet ). Imma verneint natürlich, weist aber auf seinen Bruder, einen Priester, hin, der Messen für ihn habe lesen lassen. Die Textstellen im Original und Übersetzung bietet Beck (2003, 355–357) z. T. ohne genaue Nachweise und bei Beda nicht ganz vollständig. Frappierend ist der strukturelle Gleichlauf der Geschehnisse, der den Verdacht weckt, dass die vier Texte voneinander oder von einer gemeinsamen Gregor vorausliegenden Quelle abhängen dürften, jedenfalls als eigenständige Zeugnisse nicht gewertet werden können. Die wunderbaren Fessellösungen bewirken die Messen, und die erzählten Exempla veranschaulichen deren Wirkung auf Totgeglaubte wie Lebende (vgl. Steinhoff 1987/2001, 499). Sie haben nichts mit Zauber irgendwelcher Art zu tun. Selbst der Verdacht, solcher könnte durch litteras solutarias („lösende Lettern“) bewirkt sein, erweist sich als unbegründet. Nach Beck (2003, 358) wird bei Beda „von der Existenz fessellösender Zaubersprüche gesprochen, von denen alte Geschichten berichten.“ Weiter führt Beck (ebd., 357 f.) auch die altenglische Übertragung der Beda-Stelle an; dort lautet die Frage des comes, „ob er die lösenden Runen (alysendlecan rune) und die niedergeschriebenen Runenstäbe (stafas … awritene) bei sich trug […]“ – ähnlich in der Version Ælfrics, „ob er durch Zaubermacht (drycræft ) oder durch Runen (runstafum) seine Fesseln zerbreche.“ Hier wird von der fragenden Person Schriftzauber für möglich gehalten, und man mag spekulieren, in welcher Form er ausgeübt worden sein kann. Beck (ebd., 358) lässt das offen, spricht sich aber, die Wirkungsweise betreffend, für „eine Art prophylaktischen Schutz aus, sie wirken wie Amulette.“ Damit scheint das Problem gelöst: Denn nimmt man den Ersten Merseburger Zauberspruch als prophylaktischen Schutzzauber, als Besprechungsformel ‚zur Beschützung eines ausziehenden Kriegers vor der Gefangenschaft‘ [Zitat aus einem Altdeutschen Lesebuch von Wilhelm Pütz, 1866], braucht man nicht zu erklären, wie denn nun das Hersagen einer Zauberformel reale Fesseln sprengen könne.
Das halte ich nun für germanistische Äquilibristik, bei der MZ I mit seinen bindenden und lösenden Frauen, den idisi, aus dem Blick gerät. Es bleibt nämlich „das interpretatorische Dilemma“ der idisi (althochdeutsch itis „hoch stehende (verheiratete) Frau“ [Althochdeutsches Wörterbuch, s. v.] – in MZ I jedoch im mythischen Bereich), so dass Beck (2003, 29) sogar erwägt: „Vielleicht ist die Verwendung von idisi im Zauberspruch ganz bewußt und planvoll – ein Spiel mit der Ambiguität.“ Das ist zu modern gedacht und verfehlt die Funktion eines Zauberspruchs, der auf Wirkung zielt und dazu Eindeutigkeit benötigt. Nicht zuletzt der idisi wegen, die hier „in einer dezidiert helfenden Funktion“ erscheinen, hat man im Blick auf viele andere althochdeutsche Zauber- und Segensprüche versucht, „den Ersten Merseburger Zauberspruch als medizinischen Heilspruch zu verstehen [zudem in Entspre-
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chung zu MZ II], eine Ansicht freilich, die sich kaum stichhaltig begründen läßt“ (Beck 2003, 22). Dem steht die Feststellung gegenüber: „Man hat aber auch – nicht unbegründet [s. HA = Haubrichs 1995, 359 f.] – versucht, ihn [MZ I] als Heilssegen zu lesen“ (Müller 2007, 391). In aller Kürze angeführt, sind dazu folgende Überlegungen vorgetragen worden, die Beck (2003, 352 f.; 361 ff.) zusammengestellt hat. A. Schirokauer (1954, 361) meinte, wie die meisten Zaubersprüche im Althochdeutschen Heilsprüche darstellten, so werde auch hier „wohl ein Spruch gegen Lähmung vorliegen, gegen Gliederkrampf oder Muskelstarre, worauf eine altindische Parallele hinzudeuten scheint.“ Elise Riesel (1958) „betrachtete die Tätigkeit der idisi als ‚Zauber zur Befreiung von Bedrängten aus einer gefährlichen Lage; es steht nirgend geschrieben, daß es sich gerade um Befreiung aus der Gefangenschaft handle‘ [60]. Der Spruch könne ‚ebensogut – oder sogar viel wahrscheinlicher – zur Heilung von irgendeiner Besessenheit oder irgendeiner beliebigen Krankheit bestimmt gewesen sein‘ [ebda.]. haptbandun und uigandun seien symbolisch als ‚böse Dämonen‘ [69] und ‚Fesseln der Krankheit‘ [ebd.] zu verstehen, der Erste Merseburger Zauberspruch ließe sich damit in die Gruppe der allgemeinen Abwehrzauber einreihen, er sei ein Spruch, ‚der nicht nur Krankheit, sondern überhaupt jedes Unglück abhalten‘ [ebd.] solle“ (Beck 2003, 352 f.).4 B. Murdoch (1989) hat die althochdeutschen medizinischen Zaubersprüche in einem weiten heilkundlichen Kontext betrachtet und hält speziell für MZ I einen Gebrauch gegen plötzliche Anfälle, vor allem Epilepsie, für möglich.5 Die Rezepte des Marcellus (Empiricus oder Burdigalensis) hat bereits Jacob Grimm herangezogen. Ute Schwab (1995, 274 ff.; s. auch Schulz 2000, 168 f., Anm. 541) bringt daraus Rezepte, die Drei-Frauen-Sprüche aufweisen, mit dem Drei-idisi-Spruch zusammen; die Rezepte sollen gegen „Beißen im Bauch“, gegen „Kollern im Leib“, also gegen Leibweh allgemein – oder wie Beck (2003, 362) zusammenfasst: „Unterleibsbeschwerden“ – eingesetzt werden. An anderer Stelle hatte Schwab (1994, 576, Anm. 74) bereits gesagt: „Das ‚Lösen‘ von Darmknoten, -windungen und 4
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Weiter heißt es bei Beck: „Diese Deutung wurde von Krywalski [1978, 101] aufgenommen.“ Es findet sich dort ein knappes Referat von Riesel und der Satz: „Nichts spricht jedoch dagegen, daß er [der Spruch] auch gegen Krankheit – etwa Lähmungen – verwendet werden konnte.“ Beck (2003, 362 f.) referiert im Detail, den weiteren Kontext einbeziehend: „Das Entkommen aus Fesseln sei symbolisch für das Abwerfen der Krankheitsfesseln zu verstehen [148], ebenso könnten die uigandun ‚Feinde‘ als Krankheitsdämonen aufgefaßt werden“ (diese Aussage konnte ich bei Murdoch 1989, 148, nicht finden). Beck zitiert Murdoch noch einmal (353): es handele sich bei MZ I „um ein ‚Heilmittel gegen Verrenkung oder gegen Krankheit‘ [Anm. Murdoch 1991, 20]“ – dort aber erscheint dieser Wortlaut nicht.
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-winden ist auch das therapeutische Ziel des Drei-Frauen-Zaubers, zu dem der erste Merseburger-Spruch gehört.“ Zuerst hat Schwietering (1917) angedeutet, „den Anwendungsbereich des Ersten Merseburger Zauberspruchs in den Kontext von Gebärproblemen zu stellen“ (Beck 2003, 363). Allerdings zielt er auf eine wenig überzeugende christliche, speziell auf Christi Auferstehung bezogene Deutung, bei der der Rekurs auf den menschlichen Geburtsvorgang bestenfalls eine Vermittlungsstation in der Beziehung von MarcellusFormel und MZ I darstellt. Nebenbei gehen auch Riesel (1958, 69) und Schwab (1995, 277, Anm. 58) beim Stichwort ‚Binden und Lösen‘ auf Geburtshilfliches ein. „Jüngst hatte Düwel [1998, 551] angekündigt, daß der Erste Merseburger Zauberspruch ‚den zügigen Kindsaustritt aus dem Mutterleib‘ befördern sollte“ (Beck 2003, 364).6 Diese Interpretation möchte ich im Folgenden argumentativ stützen. Wie in der Forschung von Beginn an betont, gehört MZ I in den Kontext von ‚Binden und Lösen‘. Im Reallexikon für Antike und Christentum heißt es dazu: „Es ist eine durch das ganze Altertum gehende Vorstellung, daß ein Mensch durch dämonische Einflüsse gebunden oder gefesselt werden kann; sie findet sich in griech., syr., hebr. mandäischen und indischen Zaubersprüchen“ (Michel 1954, 374) – mühelos lässt sich die zeitliche Erstreckung bis in die Neuzeit und die Sprachenvielfalt vom Ägyptischen bis zum Deutschen verfolgen.7 Bindezauber wirkt auf Krankheiten und die sie verursachenden Dämonen. Dabei spielen verschiedene Formen des Bindens eine Rolle: geknoteter Faden, Kreis, Gürtel, Ring, Kranz, Schlinge, Netz, Schleier. Ein Knoten oder etwa knotenartig verschlungene Finger hindern die Geburt. Das bekannteste Beispiel bietet Alkmene-Herakles (vgl. Bömer 1977, 362 zu Ov. met. 9, 273 ff.; ähnlich Plin. nat. 28, 59). „Dem Binden entspricht das Lösen […]“ (Eitrem 1954, 383 mit Hinweis auf Mt. 16,19 f.). Sie sind in e i n e r magischen Handlung vereinigt bei Plin. nat. 28,42: Folgender Brauch beschleunigt die Geburt: wenn der (Mann), von dem die Frau empfangen hat, seinen Gürtel löst und die Frau damit bindet, dann ihn wieder löst und den Spruch hinzufügt, daß derselbe, der gefesselt habe auch Lösen werde – und dann fortgeht.8 6 7 8
Es folgt der Hinweis: „Leider ist seine Abhandlung noch nicht erschienen.“ Hier ist sie nun, nachdem die Rezension des Verfassers (s. Anm. 1) dafür keinen Raum bot. Vgl. die entsprechenden Artikel im Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Band 1, 1325 ff. (binden) – dazu Band, Faden, Fessel, Gürtel, Knoten – und lösen Band 5, 1401. Die Übersetzung verdanke ich Rolf Heine, Göttingen. Der originale Text lautet: „Partus accelerat hic [aus: hec] mos ex quo quæque conceperit, si cinctu suo soluto feminam cinxerit, dein soluerit adiecta precatione euinxisse eundem et soluturum, atque abierit“ (Ernout
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Zum Stichwort „Geburt II (religionsgeschichtlich)“ heißt es im selben Lexikon: „Der […] physische G[eburts]vorgang ist in der Welt des Altertums allenthalben von Gebet, Zauber u. volkstümlichem Brauchtum begleitet. […] Vor, bei und nach der G[eburt] werden an Mutter u. Kind vielerlei Riten vollzogen. Mehr als zu anderen Zeiten des Lebens sind Mutter u. Kind von bösen Dämonen und anderen Gefahren bedroht, die es zu erkennen u. durch Gebet, Opfer, Magie u. schlaue Praktiken abzuwehren gilt“ (Binder 1976, 44 f.) – dies bis in die Neuzeit hinein und auch mit Hilfe von Zaubersprüchen. Entsprechend steht es bereits im Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens: „Mit zahlreichen Mitteln ist man bestrebt, den G[eburts]akt auf magische Weise zu erleichtern […]. Dabei bedient man sich teils zauberischer und sympathetischer Mittel, um den G[eburts]akt selbst zu beeinflussen, teils sucht man mit […] apotropäischen Handlungen, Mutter und Kind vor Teufel und Hexen zu beschützen“ (Kummer 1927/1987, 412; daran anschließend zu ‚Lösen‘, s. auch das Stichwort ‚Binden‘). Und ebenso ist von dem Wirken der Dämonen die Rede: „Abergläubisch fürchtet man dämonische Erschwerung der G[eburt]“ (ebd., 417 mit zahlreichen Beispielen zur Abwehr; vgl. Strerath-Bolz 1998, 416). „Nach antiker Vorstellung verhindert alles, was bindet oder nach Binden aussieht, die G[eburt]; derselbe Glaube ist auch aus unzähligen modernen Beispielen bekannt. […] Die Leibesfrucht soll sich aus dem Mutterleib lösen, wie sich Gebundenes, Verschränktes usw. löst“, und entsprechend müssen die Gebärende und die Geburtshelfer(innen) „rechtzeitig vor dem Eintritt der G[eburt] sowohl den Gürtel lösen als auch alle möglichen Bänder der Kleidung […] sowie die Haare“ (ebd., 93, vgl. 106 f., 121 f.; vgl. Strerath-Bolz 1998, 517). Was den Bindezauber betrifft, „hat der alte Volksglaube auch in christlicher Zeit weitergewirkt, wie […] Beispiele für geburtsfördernde Gürtel von G[eburts]heiligen zeigen.“ Dabei „ist wohl nicht an sympathetische Wirkung gedacht, sondern an das durch den magisch wirkenden Gürtel zu erreichende Festbinden des die G[eburt] hindernden Dämons“ (ebd., 162 f.). Gerade dieser Aspekt „Fessel und Netz zur Abwehr von Dämonen (der zauberkräftige Leibgürtel)“ bildet einen eigenen Abschnitt in der Monographie 1962, 33). Statt mos ‚Brauch‘ findet sich auch mas ‘männlich, Männchen’. R. Heine weist mich auf die Diskrepanz zwischen Edition und Übersetzung von König 1988, 38 f. hin. Im Text steht mos, die Übersetzung dagegen beruht auf mas: „Die bevorstehende Geburt beschleunigt der Mann […]“. „Spruch“ (für precatio) in der oben gebotenen Übersetzung wird bei Kreutzer (1987, s. u. S. 418) zu „Zauberspruch“. „Hierher gehört auch das spät belegte (Óláfs s[aga] helga) Anlegen eines besonderen Gürtels (Elbengürtel) und dessen Lösen durch den Kindsvater [s. u. S. 418]. Dieser alte und auch lit[erarisch] belegte Vorstellungskomplex (Oddrúnagrátr 3 [dort ist es allerdings das Abschnallen des Sattels, s. u. S. 417 f.]) hat sich bis in unsere Zeit erhalten“ (Strerath-Bolz 1998, 517).
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von Scheftelowitz (1912) zum Schlingen- und Netzmotiv im Glauben und Brauch der Völker.9 Im Blick auf die große Bedeutung von „Binden und Lösen“ beim Geburtsvorgang soll versucht werden, den ersten Merseburger Zauberspruch in diesen Kontext zu stellen. Drei Gruppen von Idisen, „hochstehende (verheiratete) Frauen“ (Ahd. Wb. 4, 1759) saßen an verschiedenen Stellen (ohne nähere Kennzeichnung) und übten verschiedene Tätigkeiten aus: „einige hefteten Bande“ (s. o. mit Nedoma 2003, 11), dabei wird hapt (mit für /ft/) als Akkusativ Plural vom starken Neutrum haft ‚Fessel, Band, Gefangenschaft‘ (ebd., 40; s. Ahd. Wb. 5, 589) aufgefasst. Alternativ kann haft auch Akkusativ Singular Maskulinum (a-Stamm) sein in der Bedeutung ‚Gefangener‘, wofür nur auf Otfried IV, 22,10 verwiesen werden kann (ebd.). Manchmal wird nur diese Alternative wegen der Interpretation von MZ I als Gefangenenlösezauber angegeben (so etwa Beck 2003, 1). „In beiden Fällen handelt es sich um Substantivierungen des Adjektivs urgerm. *hafta = ‚gefangen, behaftet‘ (got. hafts, ahd. as. haft) = lat. captus“ (Nedoma 2003, 40). Nun gibt es auch ein weiteres althochdeutsches Adjektiv haft mit der Bedeutung ‚schwanger‘ (mehrfach in Glossen und bei Otfried belegt; s. Ahd. Wb. 4, 588 f.), worauf schon Beck (2003, 364) aufmerksam gemacht hat. Allerdings müsste die Substantivierung dazu in eine der femininen Flexionsklassen gehören, von denen nur die femininen i-Stämme einen endungslosen Akkusativ aufweisen. Da ein solcher Versuch sowohl formal als auch semantisch problematisch wäre, verfolge ich ihn nicht weiter.10 ( Für Hinweise danke ich Robert Nedoma, Wien.) Das zugehörige Verbum heptidun ist 3. Person Plural Präteritum Indikativ zum schwachen Verbum heften mit den Bedeutungen „binden, fesseln, festmachen, heften, verbinden, sich beziehen auf“ (Nedoma 2003, 40 – dort auch zur auffälligen Präteritalform; vgl. Ahd. Wb. 4, 784 ff.). Die Idise der ersten Gruppe saßen also an einem unbestimmten Ort und banden/hefteten Bande/Fesseln, ohne dass weitere Einzelheiten (an wen?; wozu?; o. dgl.) angegeben werden und deswegen kein bestimmter Handlungszusammenhang erkennbar ist.11 9 10 11
Scheftelowitz (1912, 9) vertritt die bekannte Auffassung zu MZ I: „Die germanischen Kriegsgöttinnen (altnordisch Disir, ahd. Idisi ) spannen über die Feinde ihr Gewebe aus und bringen so die feindlichen Krieger zu Fall und fesseln dieselben.“ Einige banden die Schwangere „– ein solches Procedere hieße sich auf Bräuche beziehen, bei denen die Gebärende ihren Leib mit Binden umwickelt“ (s. Binder 1976, 100 f.). Beck (2003, 55) vertritt vehement den Standpunkt, „daß dem hapt im Kontext des ersten Merseburger Zauberspruchs nur die Bedeutung ‚Gefangener‘ zukommen kann – die Bedeutung ‘Fessel’ anzusetzen, hieße ein Paradoxon zu konstruieren, da eine Fessel zu fesseln als sinnloses Unterfangen bezeichnet werden muß.“ – Gilt das für eine figura etymologica allgemein?
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Die Idise der zweiten Gruppe saßen an (ebenso unbestimmter) anderer Stelle und hemmten das Heer/die Heere. Die Verbalform lezidun entspricht heptidun; sie gehört zum Infinitiv lezzen ‚hemmen, aufhalten, (ver)hindern, verlangsamen, beunruhigen‘ (Nedoma 2003, 41; Ahd. Wb. 5, 869 f.). Das Objekt heri kann Neutrum oder auch Maskulinum im Akkusativ Singular oder Plural (ja-Stamm) darstellen in der Bedeutung ‚Heer, Heerschar, Schar, Menge‘ (ebd., 41). Im Ahd. Wb. 4, 972 wird die Stelle zur Bedeutung „1) Heer, a) ‚Heer als Ganzheit, Heerfahrt‘“ gestellt. Haubrichs (1995, 359 f.) weist auf zwei Sprüche gegen Magenbeschwerden bei Marcellus (s. o.) hin und führt einen ähnlichen aus dem Codex Sangallensis 751 an: „‚Drei Schwestern wanderten, die eine knüpfte, die andere zog den Knoten fest, die dritte löste ihn.‘ In allen drei Formeln wird wie im Merseburger Spruch die Bindung von zwei Wirkkräften besorgt, die dritte jedoch besitzt die überlegene Kraft des Lösens.12 Man hat aus diesen Parallelen auch für die althochdeutsche Strophe auf therapeutische Funktion geschlossen. Jedoch lassen sich die Stabreimverse angesichts ihres auf ‚Heer‘ und ‚Feinde‘ bezogenen Vokabulars nicht aus der Kriegersphäre lösen.“ Dennoch ist zu prüfen, ob heri hier nur ein von menschlichen Kriegern gebildetes Heer oder auch ein aus anderen Wesen bestehendes bedeuten kann. Dazu führt das Ahd. Wb. (4, 973) unter 1) b) an: ‚für das himmlische Heer, die Heerscharen (der Engel, Heiligen, Märtyrer, auch der Hölle).‘ Die ‚Heerscharen der Hölle‘ bietet ein Beleg aus dem althochdeutschen Isidor: „(Christus) dher … allem herrum ubilero angilo arflaugidem, unsih dhurahleidit in dhea chihaizssenun lantscaf qui nos … angelorum malorum hostibus effugatis, perduceret ad terram repromissionis [ahd.] I[sidor] 31,22.“ Dies wäre ein Beleg für eine Entsprechung lat. hostis ‚Feind‘: ahd. heri ‚Heer‘, vgl. Eggers 1964, 54 (s. v. hostis): „Keine Fehlübersetzung; die Textverderbnis liegt in dem lat. hostibus. Der ahd. Übersetzer gibt die Stelle sinnrichtig wieder.“ Eine Gegenüberstellung von himmlischen und höllischen Heerscharen bietet das Muspilli: so quimit ein heri fona himilzungalon, daz andar fona pehhe dar pagant siu umpi. sorgen mac diu sela, unczi diu suona arget, za uuedaremo herie si gihalot uuerde. (Steinmeyer 1916/1963, 66, 4–7, vgl. 70,75). 12
Man vergleiche auch die Überlegungen von Ute Schwab (1995, 275 f.) in diesem Zusammenhang. „Typisch ist hier und sonst die Struktur der epischen Situation, wo von den drei Handlungsträgerinnen zuerst zwei das ‚besprochene‘ Übel fördern (beim idisi-Spruch ist heri lezidun [korrigiert aus -on] im Zusammenhang seltsam [eine wichtige Beobachtung!], während die dritte dagegenwirkt.“ Anmerkungsweise (S. 275, Anm. 52) erwähnt Schwab auch Riesel (1958): „Manche unserer Ansichten decken sich […]“ und fragt: „Aber warum kann der exorzistische Schlußbefehl nicht gegen den Krankheitsdämon gerichtet sein? Kann man sich nicht vorstellen, wie dieser den Feinden entfahren sollte?“
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Wenn auch in der Regel das Hemmen eines Heeres oder mehrerer Heere im Sinne eines von Menschen gebildeten feindlichen Kriegsheeres aufgefasst wird,13 so wäre doch einmal zu erwägen, ob nicht auch die Idise der zweiten Gruppe ein Heer oder Heere böser Geister, Dämonen, die Mutter und Kind schaden wollen, ‚hemmen‘, an ihrem beabsichtigten Werk hindern. Sollte das möglich sein, dann wäre diese Tätigkeit nicht derjenigen der ersten Gruppe analog als ‚Binden‘ zu sehen, sondern wendete sich zwischen Binden und Lösen in einer zusätzlichen Handlung gegen dämonische Einflüsse beim Geburtsvorgang. Die Tätigkeit der Idisen der dritten Gruppe besteht im Klauben an Fesseln, und zwar wohl an denen, die von der ersten Gruppe geheftet worden sind. Was genau unter ahd. klūbōn zu verstehen ist, bleibt unklar, da nur einige divergierende Glossenbelege vorliegen (Nedoma 2003, 43;14 Beck 2003, 63). „Rein aus ahd. Wortmaterial kann die Stelle des ersten Merseburger Zauberspruchs folglich nicht erklärt werden; nötig ist also der Blick auf die Kontinuante von ahd. klūbōn, mhd. klûben, oder der Versuch einer kontextuellen Erklärung“ (Beck, ebd.). Das führt Beck (2003, 64) zu dem Ergebnis: „die Bedeutung von ahd. klūbōn als intensiviertes oder iteratives klioban15 ‚findere, scindere, divellere‘ [‚spalten; reißen, zerreißen, spalten, trennen; auseinander-, zerreißen, zertrennen‘] paßt zum Kontext der Fessellösung im Ersten Merseburger Zauberspruch sehr gut.“16 In einem komplizierten Erklärungsgang kommt Beck (2003, 74 f.) zu dem Schluss: „Die cuonio uuidi sind also als ‚scharfe Fesseln‘ anzusetzen.“ Für Nedoma (2003, 45) bleibt das Bestimmungselement cuonio dunkel. Interessant ist dazu die Überlegung Eichners (bei Nedoma 2003, 45): „Was got. ahd. kuna- betrifft, kommt wohl am ehesten ein Lehnzusammenhang mit lat. cūnae, ‚Wiege‘ […] bei Bedeutungsverschiebung (im Zuge der Komposition [cuoniouuidi]?) zu ‚Wickelbänder‘ (vgl. lat. incūnābula‚ 13
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Beck (2003, 61) beendet seine Forschungsübersicht (lezidun) folgendermaßen: „Ebenso ist es aber möglich, das Hemmen des Heeres nicht abstrakt [‚Heerfessel‘], sondern mithilfe einer konkreten tatsächlichen Handlung zu erklären. Eine Interpretation der idisi nicht als überirdische Wesen, sondern als reale Frauen würde diese Deutung stützen. Einige Quellen – wie etwa Plutarch – berichten vom Eingreifen germanischer Frauen in die Schlacht.“ Mit Recht weist Nedoma (ebd.) darauf hin, dass die Bedeutungsangabe ‘aufknüpfen, lösen’ im Ahd. Wb. 5, S. 182 s. v. clūbōn auf Interpretation der vorliegenden Stelle beruht. Im Ahd. Wb. (5, Lieferung 4 von 2003, 264 s.v. klûbôn) wird z. St. nur ‘klauben’ angegeben. Allerdings ist für Nedoma (2003, 43) die Bildung von klūbōn „etymologisch nicht ganz klar; Zusammenhang mit ahd. klioban […] bleibt aus semantischen Gründen unsicher.“ Nedoma (2003, 43) äußert sich zurückhaltender, es sei „wohl ein Hantieren (Klauben, Rupfen, Zupfen) an den Fesseln gemeint, das Teil der Befreiung des Gefangenen ist.“ Simek (2007, 444) lässt offen, um was für eine Art von Fesselung es sich handelt: „Der erste Merseburger Z[auber-Spruch] hat die Befreiung aus Fesseln zum Ziel […].“
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Windeln, Wickelbänder) in Betracht […].“ Möglicherweise waren diese erst in zweiter Linie für das Neugeborene bestimmt und konnten vorher um den Leib der Gebärenden gewickelt gewesen sein. In diesem Fall wäre das Klauben usw., schließlich das Entfernen der ‚Wickelbänder‘ beziehbar auf einen bei Tertullian (De anima 39,2) angeführten Brauch. Danach „umwanden die Frauen ihren schwangeren Leib mit infulis apud idola confectis; der Kontext legt eine Beziehung dieser Binden zum Tempel der [Geburtsgöttinnen] Lucina u. Diana nahe“ (Binder 1976, 106). Allerdings bleibt dies nicht mehr als eine lose Vermutung. Für den Zusammenhang von ‚Binden und Lösen‘ genügt das Klauben an irgendwie gearteten Fesseln, die mit den zuvor gehefteten Banden/Fesseln identisch sein dürften. Der Ausdruckswechsel hängt gewiss mit dem geforderten Stabreim zusammen: hapt heptidun und clūbōdun […] cuoniouuidi. Nach diesem epischen Teil des Zauberspruchs – auch als historiola bezeichnet – kommt nun der aktuelle Teil, der Austrittsbefehl. Gegen eine heilkundliche Funktion des Spruches hat man eingewandt, dass der Zauberbefehl dem Krankheitsdämon, nicht aber dem davon „zu befreienden Patienten“ gilt (Steinhoff 1987/2001, 499; Haubrichs 1995, 360; s. aber Schwab 1995, 275, Anm. 52). Wenn es sich jedoch um einen Spruch zum zügigen Kindsaustritt bei der Geburt handelt, wäre der Einwand hinfällig; dann gilt der Befehl dem Fötus: „‚Entspringe den Haftbanden, entfahre den Feinden‘“. Für diese bereits 1998 von mir angedeutete Auffassung (vgl. Anm. 2) hat Beck (2003, 364) Schützenhilfe geleistet, indem er unter Hinweis auf die Bedeutung ‚schwanger‘ beim Adjektiv hapt 17 meint: „Man könnte also den Zauberbefehl insprinc haptbandun als ‚Entspringe den Schwangerschaftsbanden‘ verstehen“.18 Schwieriger ist der zweite Teil des Befehls in den Geburtskontext einzuordnen: wer sind die ‚Feinde‘? Elise Riesel (1958, 69) hat in ihrer auf eine heilkundliche Interpretation zielenden Studie den „ganze[n] Zauberspruch, wenn man so sagen darf, entmilitarisiert. Haftbande und Feinde müssen durchaus nicht mit kriegerischem Schlüssel gelöst werden. Wie in zahlreichen assyrischen und ägyptischen Zaubersprüchen, so können auch hier mit den Feinden die bösen Dämonen, die
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Es glossiert lat. pregnans und begegnet bei Otfried I, 14,6 (Beck ebd.). Beck (ebd.) verweist weiter auf den nordischen Terminus leysigaldr, der im Blick auf die biargrúnar ‘Berge- bzw. Geburtsrunen’ der eddischen Sigrdrífumál (Str. 9, s. dazu u. S. 415) als Lösezauber bei der Geburt gemeint sein dürfte. Anmerkungsweise (100) teilt er meinen brieflichen Hinweis (Februar 2001) mit, den ich Claudia Händl verdanke: Sie hat Ende der 1990er Jahre für die eigene Entbindung (‚Binden und Lösen‘!) in einem Vorbereitungskurs andere werdende Mütter den Ersten Merseburger Zauberspruch ‚gelehrt‘. „Wir haben ihn dann zusammen in der modernen Vertonung der Gruppe Ougenweide […] wiederholt gesungen, um uns auf den Geburtsvorgang vorzubereiten“ (e-Brief vom 1. Februar 2001).
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den Menschen befallen, gemeint sein.“19 Und zwar ist das Neugeborene besonders gefährdet, wie Binder (1976) immer wieder hervorhebt. ‚Heer(e)‘ und ‚Feinde‘ bleiben freilich die Cruces bei diesem wie bei jedem therapeutischen Deutungsversuch. Aber geht eine der anderen Deutungen glatt auf? Es wird immer auf ein Abwägen und Aufrechnen der für- und widersprechenden Elemente und Argumente hinauslaufen. Wer meint, Parallelen beizubringen, könnte eher überzeugen, wird der Gefangenenbefreiung zuneigen; denn in der Tat gibt es mehrere zeitnahe Berichte (s. o., in denen jedoch kein vergleichbarer Zauber wirkt). Aber man bedenke, solch ein Lösen der Fesseln eines Gefangenen ist eine höchst spektakuläre Angelegenheit und eben darum buchenswert. Jedoch der alltägliche und immer wieder sich ereignende Geburtsvorgang stellt – bis auf wenige Ausnahmen20 – kein sagawürdiges Geschehen dar21. Und dennoch spielt auch dabei die Vorstellung einer Gefangenschaft eine Rolle. Jacques Gélis (1992) hat in seiner einschlägigen Studie ein Kapitel überschrieben „Die Geburt – Eine doppelte Entbindung“ (S. 217). Darin heißt es unter anderem: Im Grunde bedeutet ‚sich entbinden‘ vor allem sich befreien, sich einer Last entledigen, die Frucht loslassen, wenn sie ausgereift ist. Das Bild der Gefangenschaft ist so stark, daß es zu einer Metapher wird. Man spricht von einer klösterlichen Einschließung; manchmal ‚ist die Frau so geschlossen, daß ihr Kind wie fest gekettet ist. Wie sehr es sich auch anstrengt, es bemüht sich vergebens, aus seiner düsteren Zelle zu treten‘ (8, 26). Auch das Bild des Kerkers wird gebraucht, in dem es gegen seinen Willen festgehalten wird. Die Frauen unternehmen daher auch häufig Wallfahrten zu Marienorten, da Maria die Schirmherrin der Geburt ist, oder zu Heiligen, die Fürsprecher für die Freilassung von Gefangenen sind.22 19
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Als Beleg führt Riesel folgenden Spruch aus A. Erman, Zaubersprüche für Mutter und Kind. Berlin 1901, S. 37, an: „‘man macht vier Knoten daran, befiehlt z. B. ein ägyptischer Zauberspruch in seiner Begleithandlung, und legt es (das Amulett) an den Hals des Kindes; so ist es von seinem Feinde befreit.‘ (Feind = Krankheitsdämon).“ Man denke etwa an die Geschichte der Geburt Alexanders des Großen. In diesem Sinne schreibt Händl (vgl. Anm 18): „Der Einsatz beim Geburtsvorgang, ob primär oder sekundär, paßt auf jeden Fall gut zum übrigen offensichtlichen Kontext der Zaubersprüche und Segen: Hilfe bei alltäglichen Problemen, während die Befreiung von Gefangenen wohl doch recht einsam dasteht.“ Die Angabe „8,26“ bezieht sich auf die Quelle: Louise Bourgeois, Observations diverses sur la sterilité parte de fruict, foecondité, accouchement et maladies des femmes et enfants nouveaux naix. Band 2, Paris 1926. Den Hinweis auf Gélis verdanke ich Markus Mueller, Göttingen. Zur Bedeutung Marias und der hl. Margarete in der Geburtsstunde vgl. auch Düwel 2001. Gélis (1992, 225) bemerkt dazu: „Den meisten heiligen Geburtshelfern ist jedoch gemeinsam, daß sie sich in ihrem Leben aus einer Gefangenschaft befreit haben, die sie unschuldig erdulden mußten. Exemplarisch steht hierfür das Leben der hl. Margareta. Mit Hilfe des Kreuzes, das heißt durch Glauben und Gebet, konnte sie dem Drachen entkommen – einem Symbol des Heidentums und des Bösen überhaupt –, der sie gefangen hielt.“
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Die Ausbeute an Parallelen zur Verwendung von Formeln und Sprüchen beim Geburtsgeschehen ist mager, was aber auch daran liegen mag, dass ich noch nicht alle Möglichkeiten genutzt habe. In den von A. Franz gesammelten kirchlichen Benediktionen wird der Austrittsbefehl an den Fötus gerichtet, z. B. „Anna peperit Samuelem, Elisabeth Iohannem, Anna peperit Mariam, Maria peperit Christum. Infans siue masculus siue femina, siue mortuus siue uiuus, exi foras, te uocat saluator ad lucem“ (Franz 1909, II, 199 und 200) – diese Formeln sind in ein größeres Ritual gestellt mit Handlungen und Gebeten. Die soeben zitierte Formel ist dreimal zu sprechen und das Evangelium „In principio“ zu lesen. Franz (ebd., 199–201) führt mehrere dieser Segensformeln an, von denen einzelne nach der ‚Anna peperit‘-Formel auch die Beschwörung aufweisen: „Et ego adiuro te infans, per patrem [etc.], ut exeas et recedas [aus der Exorzismusformel] a femina […]“ (ebd., 200). Skandinavische Beispiele aus dem 16. Jahrhundert beginnen mit „Vicit leo de tribu Juda“ (Apok. 5,5) und fahren nach der ‚Maria peperit‘-Formel fort: „Adiuro te infans per patrem [etc.], si masculus es aut/vel femina, ut exeas de ista vulva“ (Ohrt 1917, 192, Nr. 232 und Bang 1901/1902, 474, Nr. 1073 mit dem Zusatz: „N: in nomine patris et filij“. Bemerkenswerter Weise ist eine solche Formel auch runenschriftlich belegt. Den Austrittsbefehl für die Leibesfrucht bietet ein Runenhölzchen (vor 1332) aus Bergen: „Maria peperit Christum; Elisabeth peperit Johannem Baptistam. In illarum ueneracione sis absoluta. Exi, incalve [„Behaarter“]! Dominus te vocat ad lucem“ (s. o.) – da nur lu erhalten, kann auch lumen ergänzt werden (Liestøl 1980, 51 = N 631; vgl. Düwel 2008, 170; lumen in einer ähnlichen Formel bei Franz 1909, II, 202). Dazu hat Liestøl (ebd., 51 f.) eine erweiterte Fassung in einer isländischen Handschrift des 15. Jahrhunderts aufgetan, in der der Austrittsbefehl dreifach gesetzt und wiederholt wird: „exi calve [„Haarloser“] (ter) […] exi foras […] exi tenebris“. Solche Austrittsbefehle erscheinen auch in literae, „Briefen“ (Franz 1909, II, 201), das sind Zettel, auf die die Formeln geschrieben sind. Sie werden der Gebärenden auf den Leib gelegt, wie bei den beiden skandinavischen Beispielen. Auf diese Weise erübrigte sich die Anwesenheit eines Priesters, die vom Spätmittelalter an als unschicklich galt (ebd., 198). Eine der Anweisungen zu solch einem Brief lautet: „Si quando non potest parere, scribatur ei litera et cingatur circa uentrem uel ligetur subtus genu circa crus et tunc peperet, statim deponat literam“ (ebd., 202). Einleitungs- und Schlussvermerke in lateinischer oder deutscher Sprache geben an, wo der Brief an der Gebärenden zu befestigen ist und dass er nach der Geburt zu entfernen sei (ebd.; das entspricht dem ‚Binden und Lösen‘). Eine Handschrift des späten 15. Jahrhunderts bietet dazu folgende einleitende Erzählung: „Christus hört Geschrei von der Erde her; auf seine Frage berichten Engel, daß ein Weib leidet, weil sie nicht gebären
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könne. Der Herr sendet darauf Engel mit dem Auftrag, der Frau ins rechte Ohr zu rufen: ‚Gebäre, Weib, wie Maria Christum, wie Elisabeth den Vorläufer! Komme heraus, Kind, Christus ruft dich und die Erde erwartet dich‘“ (ebd., 204).23 Brian Murdoch24 verdanke ich den Hinweis auf „einige ganz spezifische Sprüche“ in dem Liber de diversis medicinis (aus dem 15. Jahrhundert): In nomine patris & filij & spiritus sancti. Amen. Arcus forcium super nos sedebit, virgo Maria natabit, lux & hora sedule sedebit rubus rebus rarantibus natus nator natoribus saxo. Sic menor esto vt sit puer vt puella. Eius exijt foras mater, quum christus natus est, nullum dolorem passa est. Venit homo, fugit dolor. Christus adiutor, adiuro te virga per Patrem & Filium & Spiritum Sanctum vt habeas potestatem coniugendi. Say this charme thris & scho sal sone bere childe, if it be hir tyme (Ogden 1938, 56).
Der mittelenglische Schluss lautet: „Sag diesen Zauberspruch drei Mal, und sie soll bald ein Kind gebären, wenn es ihre Zeit sei.“25 Alle diese Zeugnisse sind spätmittelalterlich aufgezeichnet, können aber durchaus in Entstehung und Gebrauch älter sein. Überdies begegnen sie durchweg in christlichem Kontext, auch wenn sie, wie „die Zettel und Briefe, welche den Frauen auf verschiedene Stellen des Leibes gelegt wurden“ (Franz 1909, II, 207 f.), von der Kirche verboten wurden. Die Merseburger Zaubersprüche gelten, wenngleich auf dem Vorsatzblatt (der Lage, die Teil V der Handschrift bildet, s. Beck 2003, 222 f.) eines 23
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Es handelt sich hier um ein griechisches Formular, in dem der Austrittsbefehl im Original ‘ (Franz 1909, II, 204, lautet: … ‚ Anm. 2). Im Folgenden weist Franz andere Bräuche nach, darunter das Umgürten des Leibes einer Kreißenden „mit dem Gürtel, welchen ein Priester bei seiner Primizmesse gebraucht hatte“ (ebd., 206). „Das Umgürten der Frau erfolgte auch mit dem Gurt ihres eigenes Mannes“ wie schon bei Plinius überliefert (s. o.). In einer Handschrift heißt es dazu: es sündigen diejenigen, „qui cum mulieribus pregnantibus aut parientibus supersticiones exercent, verbi gracia […] qui mulierem in pariendo difficultatem habentem circumcingunt cum cingulo uiri, ut eo leuius pariat“ (ebd., 206, 207, Anm. 1). Brief vom 24. August 2004. Murdoch, der seine früher geäußerte Deutung aufrecht hält, findet meinen Zugriff interessant, stellt aber auch kritische Fragen: „Würde man bei einem problematischen Geburtsvorgang nicht eher an offizielle d. h. kirchliche Gebete denken? Hätte ein Mönch auch einen vorchristlichen Entbindungsspruch überhaupt gerettet?“ Der auf den ersten Blick auffällige Konjunktiv steht im Mittelenglischen im realen Konditionalsatz (freundliche Mitteilung von Janna Riedinger, Göttingen). Im Kommentar zur Edition (Ogden 1938, 106) wird auf einen ähnlichen lateinischen Zauberspruch mit vielen kleinen Abweichungen verwiesen: „A charme for a womman þat trauelyt on childe. – Arcus forcior super nos sedebit semper maria lux et hora sedule sedebit nator natoribus saxo silet memor esto et sic puer uel puella exiit foras quum Christus natus est nullum dolorem passus est venit homo fugit dolor Christus exquisitor adiuro te virg[in]am per patrem et filium et spiritum sanctum vt habeas potestatem commingendi: and say þis charme þryes and he [dialektal für she] schal haue child sonne 3if hit be hyre tyme“ (Henslow 1899, 34). Anmerkungsweise führt der Herausgeber an: „This charme is all nonsense“ – eine für die Zeit um 1900 charakteristische Auffassung.
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lateinischen Sakramentars überliefert, als grundheidnisch. Auch vergleichbare Texte aus der altskandinavischen Überlieferung scheinen in wesentlichen Teilen vom Christentum unberührt zu sein. Sie sollen hier noch abschließend betrachtet werden, vor allem solche aus der Lieder-Edda, die im 13. Jahrhundert aufgeschrieben, dennoch älter sein können. In der einschlägigen Literatur wird betont, dass als geburtshilfliche Mittel vor allem nach eddischen Zeugnissen Runen, Zaubersprüche, Beschwörungen, Amulette und magische Praktiken dienten.26 Zumeist wird Str. 9 der Sigrdrífumál, der Belehrung Sigurds des Drachentöters durch die Walküre Sigrdrifa (= Brynhild?) zuerst angeführt: Biargrúnar scaltu kunna, ef þú biarga vilt oc leysa kind frá konom; á lófa þær scal rísta oc of liðo spenna oc biðia þá dísir duga (Kuhn 1983, 191)
„Bergungsgrunen sollst zu können,/wenn du bergen willst/und lösen die Leibesfrucht von Frauen,/auf die soll man sie ritzen und um die Gelenke spannen/und die übernatürlichen Frauen [Disen] dann bitten zu helfen.“27 Was nun genau unter diesen den Geburtsvorgang erleichternden Runen zu verstehen ist, bleibt unklar. Sind es Einzelrunen (Begriffsrunen), wie man es für die zuvor genannten „Siegrunen“ (sigrúnar, Str. 6) und „Bierrunen“ (o˛lrúnar, Str. 7) angenommen hat, oder kann man sich auch kleinere Runensequenzen (Einwort-Inschriften) vorstellen, die etwa den Imperativ „löse dich“, „tritt heraus“ (vgl. oben S. 413) oder ähnlich enthalten? Die Runenlehre der Walküre Sigrdrifa an Sigurd bietet eine Reihe solcher Runen (Str. 5–19), deren Gestalt und Bedeutung dunkel sind; ebenso sind die Einzelheiten der magischen Handlungen umstritten (von See u. a. 2006, 564 f.). Einen vielleicht auch etymologisch denkbaren Zusammenhang zwischen diesen Disen, übernatürlichen weiblichen Wesen verschiedener Ausprägung (Naumann 1984), und den althochdeut26
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Siehe Kreutzer 1987, bes. 108–118 (Äußere Umstände der Geburt), die ältere Literatur in Anm. 157 (S. 279), z. B. Reichborn-Kjennerud 1933, 62: „I Eddatiden søkte de å lette fødselen ved runer, galder og bønn til de hjelpende vetter“ und Gotfredsen 1956, 358: „Rationelle midler, der kunne fremme en vanskelig fødsel, kendes ikke, forskellige magiske handlinger, påkaldelser og amuletter blev flittigt brugt.“ (s. auch Strerath-Bolz 1998, bes. 516 ff.). Von See u. a. 2006, 563; Genzmer (1922, 166) bietet „Gebärrunen“, vgl. entsprechend Häny (1987, 569 zu Str. 19): „Die ‚Rettungsrunen‘ bringen, wie schon Strophe 9 zeigt, Rettung aus den Nöten der Geburt, man kann sie darum auch ‚Gebärrunen‘ nennen.“ Strerath-Bolz (1998, 516) hat „Bergerunen“, ich selbst ziehe mit Kuhn (1968, 27) „Geburtsrunen“ vor.
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schen idisi gibt es nicht, wie Beck (2003, 8–30, bes. 20 f.) nach eingehender Prüfung feststellen muss. Neben den dísir gelten auch nornir „Nornen“ als Geburtshelferinnen. In den Fáfnismál (Str. 12) fragt Sigurd den tödlich getroffenen Drachen Fafnir: ‚Segðu mér, Fáfnir, allz þic fróðan qveða oc vel mart vita: hveriar ro þær nornir, er nauðgo˛nglar ro oc kiósa mœðr frá mo˛gom?‘ (Kuhn 1983, 182) „‚Sag du mir, Fafnir, / da man sagt, daß du kundig seist / und recht viel wüßtest: / Welche sind die Nornen, / die in Not zu Hilfe kommen / und Mütter von den Söhnen lösen?‘“ (von See u. a. 2006, 429).
Während die Disen bei der Geburt nach magischen Handlungen um Hilfe gebeten werden, bietet diese Stelle „den einzigen Beleg dafür, daß den Nornen28 eine Funktion als Geburtshelferinnen zugeschrieben wird“ (ebd., 431). Dillmann (2002, 392) bemerkt dazu: „Das Motiv des von zumindest einigen N[ornen] geleisteten Beistandes zum Zeitpunkt der Entbindung […] erklärt sich vielleicht durch eine Vermischung mit der Rolle, die andere weibliche Figuren der nord[ischen] Mythol[ogie], nämlich die dísir, spielen.“ In der Prosaversion der Vo˛lsunga saga (cap. 18) lautet Sigurds Frage: „Hveriar eru þęr nornir, er kiosa maug fra medrum (‚Wer sind die Nornen, die S von den Müttern wählen‘ […]29). Beide Formulierungen beziehen sich auf die ‚Lösung‘ des Kindes von der Mutter (vom Mutterleib) bei der Geburt“ (ebd., 432). In der älteren Forschung hat man versucht, mit kiósa die Bedeutung „zaubern“ zu verbinden. Im EddaKommentar heißt es dazu, möglicherweise schwinge in Str. 12 „die Vorstellung mit, daß die Nornen Zauber anwenden“, doch reiche die Beleglage nicht aus, um für das Verb kiósa diese Bedeutungsnuance plausibel zu machen. „In S[igr]d[rífumál] 9 und in Od[drúnargrátr] 7 werden Runen bzw. Zaubersprüche zur Förderung des Geburtsvorganges erwähnt; […] in Od 7 werden ‚wirksame Zauberformeln‘ (bitrar galdrar) erwähnt, die Atlis Schwester Oddrun anwendet, um einen Geburtsvorgang zu fördern“ (von See u. a. 2006, 432).
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Zur Parallele mit den drei Parzen der römischen Mythologie vgl. ebd., 431. Hier steht der Stellennachweis in der Ausgabe von Magnus Olsen 1906–1908. Die Übersetzung von Strerath-Bolz (1997, 69) lautet merkwürdigerweise: „Welches sind die Nornen, die Kinder und Mütter trennen?“
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In ‚Oddruns Klage‘ (Oddrúnargrátr) wird das Geschehen ins Einzelne gehend geschildert. Der Königstochter Borgny steht in der Geburtsstunde allein Oddrun, Atlis Schwester und Gunnars Geliebte, kundig bei. Str. 4: „Die Dienerin [spricht]: ‚Borgny liegt hier, gekrümmt vor Schmerzen, Oddrun, deine Freundin – weißt du zu helfen?“ (Häny 1987, 408) Str. 7: þær hycc mælto þvígit fleira, gecc mild fyr kné meyio at sitia; ríct gól Oddrún, ramt gól Oddrún, bitra galdra, at Borgnýio. (Kuhn 1983, 235) „Sie sprachen, glaube ich, wenig mehr, es ging hilfreich vors Knie das Mädchen sitzen; mächtig sang Oddrun, kräftig sang Oddrun, wirksame Zauberformeln vor Borgny“ (ohne Nachweis) Str. 8: „Knabe und Mädchen kamen zur Welt jetzt, heitere Kinder des Mörders von Högni;30 da hob die Wöchnerin ganz ermattet dies als erstes zu reden an: Str. 9: ‚Gütige Geister, Frigg und Freya31 und andere Götter mögen dir beistehn, wie du mir selber das Unheil banntest!‘“ (Häny 1987, 409)
Der zweite Teil der Strophe 7 lautet in Hänys (ebd.) Übersetzung: „Mächtiges, Kräftiges raunte Oddrun, zündenden Zauber, der Borgny vor“. Wie der Vortrag der Zauberformel sich anhörte, kann aus den Kontexten von gala erschlossen werden: „1. schreien, krähen, krächzen, vom adler […], von der krähe […], vom vortrag der zauberformeln (singen? […]); jmdm etw. anzaubern […]“ (Kuhn 1968, 69). Es dürfte sich um ein stimmlich herausgehobenes, jedenfalls betontes Sprechen in beschwörendem singsangartigen Ton gehandelt haben.32 Ohne dem galdr weiter nachzugehen, will ich doch anführen, was Jacob Grimm in der Deutschen Mythologie (II, 984) zum Beginn des Gedichtes gesagt hat: „In unsrer edda ist Oddrûn, Atlis schwester, der entbindung kundig, sie reitet über feld, zu der kreißenden, wirft den sattel vom rosse 30
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Nach von See u. a. 2009, 873 f. ist diese von Häny als unverständlich angesehene Anspielung folgendermaßen zu verstehen: „Vilmundr, der Vater von Borgnýs Kindern (vgl. Str. 6), wird hier als bani Ho˛gna l ,Ho˛gnis Töter‘) bezeichnet und damit sicherlich als Töter des Giúkungen Ho˛gni, dem [!] Bruder von Oddrúns Geliebten Gunnar […]“ – mit weiteren Argumenten für diese Annahme. Zu Freya und ihrem Gürtel s. Heizmann 2001, 289. Vgl. zu weiteren Überlegungen dieser Art Düwel 1997, bes. 29 ff.
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und schreitet in den saal (Sæm. 239), kniet vor der jungfrau nieder und spricht ihren zauber. man sagte: kiosa mæðr frâ mögum (exsolvere matres a pueris) Sæm. 187b und legte das amt den nornen zu. Es muß dabei uralte lösende und hindernde noch heute beobachtete sympathetische mittel gegeben haben; übereinanderschlagen der beine, falten der hände vor der gebährenden hinderte, voneinander lassen oder losmachen förderte, wahrscheinlich half jenes rasche absatteln des rosses“ – eben ‚binden‘ und ‚lösen‘.33 Dass auch ein im Ursprung heidnischer Brauch von Christen geübt werden kann, bezeugt für den Norden die Geburt von Olaf Haraldsson, dem späteren heiligen Olaf, in den verschiedenen Fassungen der Ólafs saga. Eine lautet: „Königin Asta liegt auf dem Boden und sollte entbinden, aber die Sache steht hoffnungslos und hat sich verzögert“ (Kreutzer 1987, 361, vgl. 129). Nun ging Hrani zur Königin Asta, nimmt nun den Gürtel, den er aus dem Hügel [der Begräbnisstätte des heidnischen Ahnen Olaf Geirstaðaalf] geholt hatte, und legt ihn der Königin um. Und sofort, schneller als erwartet, kommt sie nieder und gebiert einen Knaben, und von nun an entwickelte sich ihr Gesundheitszustand gut (ebd., 362, vgl. 130).
Kreutzer (1987, 131) kommentiert: „Die Tendenz der ganzen Geschichte um Olaf digrbeinn [= Olaf Geirstaðaalf] ist durch und durch christlich. Von allen heidnischen Praktiken wird eindringlich abgeraten und stattdessen auf den neuen Glauben Olaf Tryggvasons hingewiesen.“ Gehört aber der eigentliche Erzählkern, „das Umlegen des Albengürtels nicht ganz in die heidnisch-abergläubische Sphäre um den unheimlichen Grabhügel?“ fragt er (ebd.). Die Geschichte dieses Brauches zeigt (Grabner 1965), dass er sowohl in christlichem Umfeld als auch in vorchristlicher Zeit verwendet wurde, wie das schon erwähnte (s. o. S. 406) Zeugnis des älteren Plinius erweist, „bei dem sein ursprünglicher Sinn als lösender Analogiezauber“ am deutlichsten zum Ausdruck kommt. Dabei wird „die eigentliche Wirkung durch das Wiederlösen des Gürtels durch den Vater in Verbindung mit dem Zauberspruch (‚Wer gebunden hat, wird auch wieder lösen‘) angestrebt“ (Kreutzer 1987, 131). So ist denn ‚Binden‘ und ‚Lösen‘ im Rahmen heidnischer wie christlicher Geburtspraktiken mit magisch wirksam gedachten Zaubersprüchen und Beschwörungen verbunden, eine wohl universell begegnende Verfahrensweise, in die sich der Erste Merseburger Zauberspruch einordnen ließe. 33
Die zuletzt angeführten Quellen liegen missverständlich verallgemeinert einem auf älterer Literatur beruhenden medizingeschichtlichen Standardwerk zu Grunde: „Gegen die Wehenschmerzen schrieb man lindernde Runenzeichen in die Hand oder zeichnete sie auf Bändern auf, die man an die Glieder wickelte. Die Hebamme raunte und sang Segenssprüche. Damit glaubte man das ‚Beinschloß‘ öffnen zu können, den Beckengürtel, der sich bei den schweren Geburten verschloß“ (Diepgen 1963, 55).
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