Yasushi Inoue
Eroberungszüge
Bibliothek Suhrkamp
SV
Band 639 der Bibliothek Suhrkamp
Yasushi Inoue Eroberungszüge...
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Yasushi Inoue
Eroberungszüge
Bibliothek Suhrkamp
SV
Band 639 der Bibliothek Suhrkamp
Yasushi Inoue Eroberungszüge Gedichte Mit einem Vorwort von Yasushi Inoue Ausgewählt, aus dem Japanischen übertragen und mit einem Nachwort versehen von Siegfried Schaarschmidt
Suhrkamp Verlag
Mit einer Handschrift des japanischen Gedichts Das Jagdgewehr von Yasushi Inoue. Mit Anmerkungen von Siegfried Schaarschmidt. Quellenhinweise und Originaltitel am Schluß des Bandes.
Erste Auflage 1979 © der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1979 Alle Rechte vorbehalten Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden Printed in Germany
Eroberungszüge
Vorwort: Ich und das Gedicht Man ist Erzähler, also schreibt man keine Gedichte; man ist Lyriker, also schreibt man keine Romane. Um dennoch als der eine ein Gedicht, als der andere einen Roman zu schreiben, müßte sich dort das ErzählerIch vorübergehend in den Lyriker, müßte sich hier das Lyriker-Ich zeitweilig in den Erzähler verwandeln. Roman und Gedicht werden zwar in der gleichen innergeistigen Geheimwerkstatt produziert; doch der dabei zu vollziehende Produktionsvorgang ist ein grundsätzlich verschiedener. Da ich, wie die Dinge stehen, das Schreiben von Romanen als meine Hauptbeschäftigung betreibe, möchte es demnach richtiger erscheinen, ich gäbe die Lyrik auf und konzentrierte mich ausschließlich auf den Roman; dazu indessen bin ich nicht imstande. Wer die erste Berührung mit Literatur durch das Gedicht hatte, kann sich sein Leben lang nicht losmachen vom Gedicht. Ich empfing in jungen Jahren die literarische Taufe durch die Lyrik, und so werde ich bis an mein Ende unfähig bleiben, das Band zur Lyrik zu zertrennen. Als ich Romane zu schreiben begann, war ich bereits über die Vierzig; und mögen auch die Romane meine Hauptbeschäftigung sein, so ist es doch mein Geschick, daß ich, parallel dazu, zeit meines Lebens Lyrik schreiben muß. Deshalb bin ich – seit ich Romane zu schreiben begann und unverändert so bis heute – bald der Lyriker gewesen, bald der Erzähler. Habe ich von Fall zu Fall den Schalter herumgedreht. 11
Bisher habe ich fünf Lyrikbände veröffentlicht: Kitaguni (Nördliche Provinzen, 1958), Chichūkai (Das Mittelmeer, 1962), Unga (Der Kanal, 1967), Kisetsu (Jahreszeiten, 1971) und Enseiro (Eroberungszüge, 1976). In diesen fünf Bänden sind ungefähr hundertsechzig Gedichte zusammengetragen. Als ich das zweite Jahr zur Mittelschule * ging, zeigte mir ein Freund das kurze dreizeilige Gedicht: Hart klirrt ein Kieselstein. Es ist Herbst. Ich war voll tiefer Bewunderung. In dem Augenblick, da ich dieses Gedicht las, war die Verkettung mit Lyrik hergestellt. Die Bewunderung für dieses Gedicht bewirkte schicksalhaft, daß ich mein Leben lang nicht loskomme von der Lyrik, daß ich bis heute jene hundertsechzig Gedichte schreiben mußte. Ob meine Sachen gut sind oder schlecht, das weiß ich nicht. Sie sind sämtlich in meinem ureigenen Stil abgefaßt. Im Nachwort zu meinem ersten Lyrikband Nördliche Provinzen schrieb ich unter anderem: Jetzt beim neuerlichen Lesen meiner Gedichte wollen sie mir nicht so sehr als Lyrik erscheinen denn als kleine Kisten, in die ich das Lyrische eingesperrt habe, * Nach dem japanischen Vorkriegssystem folgten auf sechs Grundschuljahre fünf Jahre Mittelschule. (Anm. d. Übersetzers)
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damit es nicht entflieht. Hätte ich diese Texte nicht niedergeschrieben, gewiß wären sie aus meiner Hand längst ins unbekannte Irgendwo auf- und davongeflogen. Dank des Umstands jedoch, daß sie so festgehalten sind, weht mir nun beim Lesen Gedicht um Gedicht, wie es mich einst aufgesucht, gleich einem Schatten plötzlich wieder durchs Herz; all die kleinen, geheimen Bedeutungen, die ich für mich in den Dingen der äußeren Welt entdeckte, sie konnten nirgendwohin entweichen, sie blieben, so habe ich das Gefühl, in den Winkeln der vermörtelten Kiste der Sprache eingeschlossen, ohne sich zu verändern. In diesem Sinne sind diese Texte für mich weniger Lyrik als vielmehr Behältnisse zur Konservierung des Lyrischen, sind durch einen mehr oder minder mühsamen Prozeß erstellte Erinnerungsnotizen an das Gedicht. Freilich hätten für bloße Notizen zwei, drei Zeilen genügt; doch ich habe ein Vielfaches an Worten aufgewandt, um meinen lyrischen Gedächtnisstützen eine vergleichsweise solide Festigkeit zu geben … Sollte nun der Leser mit den hier versammelten kurzen Texten dennoch etwas anfangen können, so wird es sich für ihn, wie ich glaube, um die Entdeckung des Gedichts handeln. Ist doch, was in ihnen verwahrt liegt, mein einstiges lyrisches Erlebnis. Und erst dann, wenn dem Leser dieses lyrische Erlebnis aufgeht, werden es in Wahrheit meine Gedichte sein … Jeder Lyriker bemüht sich, seine lyrischen Gedanken als sprachliches Gebäude auf zumauern. Das Lästige dabei ist nur, daß sich dies, außer man hofft auf die Kraft des Genies oder aber des Zufalls, so einfach 13
nicht bewerkstelligen läßt. Zwar heißt es, ein Gedicht zu schreiben, sei das Geschäft des angeborenen Genies; tatsächlich jedoch, davon bin ich überzeugt, ist diese Operation, für die man sich in den untersten Schichten der Psyche ein Geheimlabor eingerichtet hat, die Leistung einer sehr partikulären Begabung … Wenn sich Lyriker über Lyrik unterhalten, gewinnt man regelmäßig den Eindruck, daß die nach Zahl der anwesenden Köpfe völlig verschiedenen Worte beziehungslos aneinander vorbeifliegen. Die eigenen Worte werden von den anderen nicht verstanden; man selber ist unfähig, die der anderen zu verstehen. Keines der gewechselten Worte geht dem respektiven Partner ein; jedes kehrt zu dem zurück, der es ausgesprochen hat. Dabei ist dies nicht die Schuld derer, die sich da unterhalten; vielmehr scheint es eben daran zu liegen, daß das Gedicht für jeden einzelnen ein so überaus Individuelles ist. Der Arbeitsvorgang in dem Geheimlabor, das der eine wie der andere besitzt, bleibt letztlich uneinsichtbar. Erst dann, wenn dort die brisante Bombe schon produziert ist, vereinigt man sich unterschiedslos in der Bewunderung ihrer Gewalt. Ein solches, meine ich, sei das Gedicht … Diese dem Band Nördliche Provinzen beigegebenen Notizen sind für mich noch immer und unverändert gültig. Es besteht keine Notwendigkeit, sie auch nur im geringsten zu revidieren. Meine hundertsechzig Gedichte entstanden in meinem Geheimlabor ausschließlich nach meiner Methode. 14
Daß ich als japanischer Lyriker im fernen Ausland jemanden gefunden habe, der mich versteht, erscheint mir ein unverhofftes Glück. In diesem Sinne bedeutet mir der Übersetzer meiner Gedichte soviel wie ein einzelner hell leuchtender Stern fern im Westen. Ich überlasse es ihm gern, aus meinen hundertsechzig Gedichten auszuwählen. Desgleichen danke ich dem Suhrkamp Verlag, der bereits meine Romane Das Jagdgewehr, Der Stierkampf und Die Eiswand edierte, für die Betreuung auch dieses vierten Bandes – für einen japanischen Schriftsteller wie mich ein seltener Glücksfall. Tōkyō, im August 1978
Yasushi Inoue
Als an einem Abend im April
Pflaumenblüte Meine glücklose Schwester in Hokkaidō, hieß es, sei erfroren. Die Nachricht hatte mich am Abend erreicht. Ich steckte den Dolch zu mir und ging unter den Laternen den Hang hinab. Die Straßen still, keine Menschenseele; aus irgendeiner Ferne wehte sanft wie von Blüten das Geplauder einer Tischgesellschaft herüber. Wer war der Schurke, an dem ich mich hätte rächen können? Ich setzte mich auf die eisige Erde und starrte in den Sternhimmel hinauf. Ich war ein Junge von sechzehn. (1933)
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Park mit kahlen Bäumen Zwischen Ast und Ast, Schwertern gleich ineinander verbissenem Geäst, klaffte tief und tiefer die Schlucht. Drunten war immer kaltes Morgengrauen. Krähenskelette blinkten hier und da, und manchmal strich prasselnd ein Eisregen darüber hin. Als entfernte sich, war es dem Ohr, ein Gewirr unzähliger Schritte: so Hals über Kopf stürzte, geschlagen, ausgeblutet, die Februar-Kompanie davon. (1933)
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Gescheitert Die Fahne am schleifenden Schweif, so kehrten wir heim. Überm Dorf im fahlen Staub begann es zu dunkeln. (1933)
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Februar Meine Mutter, die Vater und mich verlassen hat, – gestern abend wieder stand meine Mutter allein und den Kopf auf der Brust im Eichwald hinterm Haus. Ihr Gesicht, bin ich sicher, so jung und schön wie damals, als sie uns das angetan. Fröstelnd, mit einem heimlichen Blick in das Dunkel vorm Fenster dann und wann, blätterte ich in dem Buch, aus dem mich Vater vorlesen ließ. Und er auf langem Krankenlager, während er meiner Stimme lauschte, begann wie jeden Abend darüber einzuschlafen. Später nachts, nachdem ich mich vergewissert hatte, daß er schlief, kletterte ich leise aus dem Fenster. Lief ich den Weg in die Schlucht hinab; und zwischen den Eichen hier und da waren weiß die Pflaumenblüten aufgegangen. Mutters Gestalt aber sah ich nirgends; nur ungezählte Augen, den Mörderatem angehalten, starrten aus nächtlich kalter Tiefe zu mir herauf. (1934)
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Als an einem Abend im April die Kirschblüten fielen Im letzten Zwielicht den Hang hinan die Straße war angefüllt mit erregten Menschenwogen. Auch ich, wie die Einheimischen, versuchte durch die dichtgedrängte Menge einen Blick auf die Leiche der jungen schönen Frau zu werfen, die gegen Abend von irgendwem ermordet worden war. Mit ihrem Tod, so lief es freudig von Mund zu Mund, hätten die vielen Skandale ein Ende; indessen mußte ein jeder die Entseelte gesehen haben, die als einzige in der Kleinstadt im Nordosten Reitkleider trug. Sie lag im Tau auf dem flachen Hügel, den Sternen zugewandt und bleich wie eine Kunstfigur. Mich, den Reisenden, der ich dreißig Minuten zuvor in dieser Stadt aus dem Zug gestiegen, ging das nichts an. Und meine Augen wollten von der schneeweißen Haut hinauf in den Nachthimmel schweifen; doch etwas wie ein Phosphoreszieren hielt sie fest. Am rechten Handgelenk die Tätowierung: Gestalt eines Falters, der seufzend zu mir herübersah. Meine Initialen. Unverkennbar. Während ich auf ihre blutleeren Lippen starrte, auf ihren der kalten Nachtluft und der allgemeinen Neugier ausgesetzten Mund, begann ich hastig mein Gedächtnis an ferne, verlorene Tage zu durchwühlen. Nein, nicht einmal des Gesichts erinnerte ich mich. Und jetzt erst vor diesen jungen Lippen begriff ich, wie trostlos unser Treiben, wie schal unsere Leidenschaften sind. Ich steckte mir eine Zigarette an; ich ging, dem Gedränge entgegen, die Hangstraße hinab. Das Meer 23
schien nahe. Der von der Salzflut erfüllte Wind wusch mir die Wangen, wehte über die dichten, aufgewühlten Menschenwogen hin. (1936)
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Der Truppentransporter Hinter der frühwinterlichen Meerenge kam ein später Mond herauf. Wellen, spitz wie Klingen, die eng gedrängt die schwarze See bedeckten; manchmal, zwischen ihnen hervor, spähten furchtsame Quallenaugen nach dem Nachtgestirn. Da zog mit abgedunkelten Lichtern ein Truppentransporter vorbei. Vorsichtig, wie um keinen der Männer, mit denen er randvoll beladen war, zu verschütten. Wann werden wir ausgeschifft und wo? Ach, das wußte niemand. Und als sie den Leuchtturm, letztes Licht des Vaterlandes, steuerbords in der Ferne verschwinden sahen, kletterten wie auf stumme Verabredung die Soldaten in den Schiffsrumpf hinab, um in einen tiefen Schlaf zu fallen. Genau um diese Stunde geschah es, daß auf der Flut umher unzählige Knospen erblühten und allmählich eine wundersame Helle das rätselhafte Schiff umdrängte wie beim Tempelfest. (1946)
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Dem Freund Warum nur, und es lag so nahe, verfiel ich nicht längst darauf: heimzukehren ins besiegte Land der Väter blieb dir kein anderer Weg – außer daß du über den Grund der Meerenge kamst. (1946)
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Augen Es muß gewesen sein, als ich sieben war. Daß ich eines klaren, stürmischen Frühlingstages, während mich irgendwer von hinten umfaßte, im Winkel des Gartens in den aufgelassenen Brunnen sah, in den eckigen Schacht, der abwärts in die Tiefe stürzte: bemoostes, altes Steingemäuer, wuchernde Farne, schaudernd eisige Luft; und drunten auf dem Grund stand reglos und wie ein rostiger Spiegel das Wasser. Heute weiß ich: da zum erstenmal beschlich mich etwas, das vieles in meinem Leben bestimmte. Wäre jene eine Sekunde eines Frühlingstages des Kindes nicht gewesen und nicht der Blick hinab in die mit kalten Mörderaugen aufgefüllte Düsternis in der Erde, – womöglich hätte ich, zwanzig Jahre alt, dem Freund die Stirn gespalten, oder ich wäre mit fünfundzwanzig in der Kolonne der Ideologen marschiert, hätte vielleicht mit dreißig mich für die Liebe geopfert, mit fünfunddreißig vor Verzweiflung den Strom des Unabänderlichen überquert oder aber mir mit vierzig in unserer Stadt einen Namen gemacht. Doch es ist anders gekommen. Einmal nur im nördlichen China am Yung-ting, dem »Ewig-Unwandelbaren«, als auf seinen Wellen unirdisch weiß die Sonne flammte, überfiel mich der Rausch des Kampfes, der das Leben für nichts erachtet; sonst bin ich in allem träge geblieben und immer der unbeteiligte Augenzeuge. (1947)
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Das Jagdgewehr Womit er sich, ein Mann in mittleren Jahren, das Stirnrunzeln der Leute im Dorf eingehandelt hatte, ich weiß es nicht; dabei war selbst mir, dem Knaben, das üble Gerede zu Ohren gekommen, mit dem man ihn verfolgte. Einmal an einem Wintermorgen sah ich ihn mit umgeschnalltem Patronengurt, vom Jagdgewehr eine tiefe Falte in der Kordsamtjacke, aufwärts steigen zum Amagi-Berg: wie er mit seinen Stiefeln durch das Gewirr der Eisnadeln stapfte, wie er das Gestrüpp über dem Pfad mit ruhiger Hand zerteilte. Das war vor über zwanzig Jahren, und lange schon ist er tot; aber der Anblick seines Rückens damals steht mir, wenn ich die Lider schließe, noch immer vor Augen. Was wohl trieb ihn dazu, sich mit dem blanken, dem tödlichen Stahlrohr zu wappnen? Ja, wie oft seither geschieht es, daß ich im Gewühl der Großstadt plötzlich dahinschreiten möchte wie jener Jäger: gemächlich, wortlos, ungerührt … Daß mir ist, als wäre dies das funkelnd polierte Jagdgewehr: Gefühl der Schwere, das einen Mann in mittleren Jahren, hat er erst den Blick ins weiße Flußbett des Lebens getan, bis tief in Leib und Seele hinein durchdringt. (1948)
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Am Strand Eine Horde Mittelschüler aus der Umgebung und eine andere aus der Stadt, offenbar auf Sommerfahrt hier draußen, zogen aneinander vorbei. Die abendlichen Gäste hatten den Strand längst verlassen. Zeit, in der von der schwarzen See her das Rollen der Wogen plötzlich lauter erklang. Weil sie aneinander vorbeigezogen, und aus keinem anderen Grunde, gerieten die Jungen ins Handgemenge; die Schlacht begann. Ah, welch prachtvolle Rücksichtslosigkeit! Im fahlen Licht der Strandlaternen wurden die Gürtel geschwungen, flogen die Mützen, hagelte es Kieselsteine. Drei der Schatten stolperten, doch sprangen sie wieder auf. Da blitzte etwas unendlich Kostbares wie Sternenstaub über die Szene hin, und das eine Rudel der rauflustigen Wölfe trabte in verwirrter Formation in den Kiefernwald davon. Das Ganze war eine Sache von nicht einmal drei Minuten gewesen. Aus jugendlichem Übermut entfachte Lohe, Streit um nichts, für nichts. Und der Strand fiel zurück in die vorige Stille. Eine immer tiefer werdende Wehmut kam über mich. Nie zuvor hatte ich so wild die Eifersucht auf die ferne Jugend empfunden wie in jener Nacht. (1948)
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Ein Menschenlehen Während ich in dem Buche blättere (es ist »Die Entstehung der Erde« des Doktor M.), versuche ich dem Kind leicht faßlich zu erklären: Zunächst veranschlagten die Physiker, die bei ihrer Berechnung von der inneren Erdwärme ausgingen, die Geschichte unseres Planeten auf zwanzig bis vierzig Millionen Jahre. Später kamen die Geologen aufgrund des Salzgehalts der Meere auf siebenundachtzig und nach der Theorie von der Bildung der Sedimentgesteine gar auf dreihundertdreißig Millionen Jahre. In neuerer Zeit jedoch erklärten Wissenschaftler: wie durch Radioaktivität zu beweisen, sei das früheste Gestein der Erde zwischen vierhundert Millionen und eins Komma sechs Milliarden Jahre alt. Und heute in der Zeit der Atomenergie werden sich, denke ich mir, zum Geheimnis des Erdalters noch weit märchenhaftere Zahlen ergeben. Dabei hat die Geschichte menschlicher Aktivität kaum über fünf- und keine dreitausend Jahre die Geschichte des japanischen Volkes. Ein Menschenleben währet, sagt man, fünfzig Jahre. Vater wurde vor vierzig Jahren geboren, und du hast noch nicht einmal die Dreizehn voll … Da plötzlich sind mir weiterzureden die Worte abhanden gekommen, daß ich verstumme. Hat mich die Liebe zum Leben mit einer so unschuldigen Klarheit gepackt wie nie zuvor. (1948)
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Juni Je blasser des Meeres Bläue wird, desto tiefer die Bläue des Himmels. Auf der Straße lockt ein blaues Kostüm. Als ich ihm folge, ist es ins Blau der Berge verschwunden. Juni. Truppe Blau beim Stellungswechsel. Um die Kolonnen zu durchqueren, muß ich verreisen. (1955)
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Oktoberlied Fern im Süden ein Korallenriff brütet für den zweiundzwanzigsten Taifun des Jahres den Nachwuchs aus. Um ihn nächstens aus den Rohren seiner Kalkgeschütze nordwärts abzufeuern. Solange wird der Mond auf Japans Inseln scheinen. Geht es tiefer in den Herbst mit jedem Jahr, und irgendwo ein Knabe schreibt die Zeichen: Be-scheiden-heit. (1955)
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Ende des Sommers Der Taifun mochte unterwegs geplatzt sein wie ein Luftballon. Jedenfalls begann von Süd nach Nord eine merkliche Kühle auf die Halbinsel einzufließen. Vielleicht daß deshalb die drei Zugvogelschwärme den Kamm der Berge streiften; daß sich, was immer Wolke war, in Bewegung setzte. Schließlich kam, als es ringsum dunkelte, zum erstenmal in diesem Jahr mit klarem Gesicht der Mond herauf, und die Millionen Zikaden brachen aus in ein wildes Geschrill. An diesem Abend oben am Amagi-Berg ist mein jüngerer Vetter, dem ich nie begegnet war, in der Grube einer Götterzeit-Zeder zu Tode gestürzt. Um genau zu sein: zwischen neun Uhr vierzig und zehn. Ein unberechenbarer Zufall, gewiß; und dennoch hatte das Ganze etwas seltsam Bestimmtes. (1957)
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Vor Tagesanbruch
Sommerwolken In einem kleinen Fischernest nahe beim Isthmus von Korinth warfen die Gäste auf der Terrasse des Restaurants plötzlich die Köpfe zurück und starrten in den Himmel. Ein englisches Paar, offensichtlich auf Hochzeitsreise, zwei ältere Eheleute aus Frankreich, ein junger Spanier mit vergrübeltem Gesicht und wir Japaner: alle die Augen nach oben gerichtet. Zuletzt hatten sich auch die jungen Griechen angeschlossen. Keiner wußte, weshalb er in den Himmel starrte. Angestrengt sah man hinauf, wechselte dann und wann einen Blick miteinander, um danach wieder in den Himmel zu starren. Natürlich begriffen wir ebensowenig. Machten es wie die anderen und warteten. Darauf, daß in einem Winkel dieses hellenischen Himmels, in dem sich die ersten weißen Sommerwolken türmten, der Diskus eines in Wahrheit unbekannten fliegenden Objekts erschiene. (1961)
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Vergnügungspark in Los Angeles Am Pazifik überm Strand lag der große Vergnügungspark. Achterbahn und Karussells und fliegende Gondeln: alles in wilden Kurven kreisend; pausenlos von morgens neun bis elf in der Nacht das Juchzen und Kreischen und Brüllen von der Höhe der Klippe her. Und kam der Abend und auf der Bühne des närrischen Treibens gingen die vielen tausend Lichter an, so wich wie auf Signal die Flut zurück, fielen auf der Sandbank unter der Klippe Schwärme von Seevögeln ein. In Grüppchen zu zweit oder dritt behutsam über den nassen, schwarzen Sand zu laufen. Innezuhalten nach fünf, sechs kurzen Schritten und weiterzutrippeln. Fanden die Dinge über der Klippe und unter der Klippe ins Gleichgewicht. In der stillen Zone im Rükken der Tollheit und hier allein konnten die Vögel wandeln wie trauernde Hinterbliebene. (1961)
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Kanton Das Hotel heißt Großes Dach der allumfassenden Liebe. Ich wohne in dem unregelmäßigen Eckzimmer im neunten Stock. In der ersten Nacht nach der Ankunft, bei einer Temperatur von achtunddreißig Grad (obwohl wir erst Ende Juni haben), tat ich kein Auge zu. Sprang jede Stunde einmal aus dem Bett, lief unter die Dusche und schaute aus dem offenen Fenster hinunter auf den Perlfluß, der zu Füßen des Hotels vorübertreibt. Sah, wie der Spiegel des gelblich trüben Gewässers vom Schein des Vollmonds silbern funkelte, wie mit aufgesteckten roten Lichtern große und kleine Schiffe ohne Zahl unablässig in Bewegung waren: die mit vollbesetzten, dreigeschossigen Fahrgastdampfer, die Ruderboote, die Segelschiffe und Dschunken, die Kähne mit Gemüse, mit Holz. Und plötzlich wußte ich: es gibt, um vor einem Selbstmord den Abschiedsbrief zu schreiben, keinen besseren Ort als dieses Hotel. Hier an der Mündung des Flusses, im unbekümmert die Tage und Nächte durchziehenden Getriebe wäre das Sterben eines Menschen, wäre der Sinn seines Sterbens, kaum gedacht, auch schon in nichts zerfallen. Mein Tod geschähe neben dem Tod einer jungen Schönen, die vor zweitausend Jahren aus dem Leben ging, und stünde zugleich in einer Reihe mit dem Tod eines Greises, der sich eines Tages in abermals zweitausend Jahren die Pistole an die Schläfe setzt. (1961)
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Der Himmelsaltar Draußen in der Ebene von Hopei ein seltsam aufgetürmter Bau. Von weitem erschien er klein wie ein Punkt, aber riesig, als wir ihn erreichten: drei kreisrunde, flache Marmorterrassen aufeinandergesetzt, jede mit einer Brüstung aus gleichem Marmor und von den vier Himmelsrichtungen her über neunstufige Treppen zu ersteigen. Die oberste habe, hieß es, einen Durchmesser von sechsundsiebzig, die unterste von hundertsechsundsiebzig Fuß. Einst hatte hier der Souverän der Großen Erde die Erstlinge der Fünf Früchte dem Himmel dargebracht; war, mit anderen Worten, der Herrscher des Reiches dem Himmelsfürsten begegnet. Und wie die Kaiser getan, erklomm ich die weißen Stufen Schritt um Schritt, trat in die Mitte des Altars. Vor mir auf der unendlichen Ebene wogte üppig das Sommergras; Kumuluswolken trieben fern im Nordwesten über den Horizont. Vom Ritual in jenen vergangenen Tagen wußte ich nichts; doch eines begriff ich plötzlich. Wann immer ein Fühlender auf diesen Altar gestiegen, hatte sich der Himmelsfürst hinabgebeugt und ihm zugeflüstert: So stehst du nun hier oben, o du Einsamer, und schon zeugt nichts mehr von Leben an dir außer Wollust und Mord. (1961)
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Die sterbende Sonne Wie es heißt, war es bei den Hsiung-nu Brauch, inmitten der Steppe eine schier unglaublich tiefe Grube von an die hundert Fuß anzulegen, den Toten darin zu bestatten, ihm ein getötetes Kamel mitzugeben und dessen Blut über dem Grab auszugießen. Bald hatte das Gras die Stelle überwuchert und unkenntlich gemacht; doch wenn im Jahr darauf die Angehörigen mit ihren Kamelen über die Steppe zogen und die Tiere witterten das Blut ihres Artgenossen und erhoben ein Klagegeschrei, wurde an diesem Platz ein Altar errichtet und dem Toten geopfert. Eine Geschichte nach meinem Geschmack. So hätte ich mich bei den alten Hsiung-nu-Nomaden aufgehoben gefühlt. In ihrer Vorstellung hieß die Steppe Schale der Welt, hieß die hinter ihr untergehende Sonne Sterbende Sonne. Und der Schnee, der sich fallend auf der Steppe häufte, war der Besiegte Schnee. (1962)
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Indus Daß man im Stromgebiet des Indus eine riesige Stadt aus der Vorzeit ausgegraben, dazu eine Unmenge eleganter wie schlichter Zeugnisse einer hochentwikkelten Frühkultur, auch daß diese Kultur bei einem Hochwasser über Nacht vom Erdboden verschwand, – dergleichen mußte nicht eben verwundern. Eines indessen erschreckte: daß unter der Stadt eine völlig gleiche zweite Stadt zum Vorschein kam. Marktplatz unter Marktplatz. Speicher unter Speicher. Trinkwasserbrunnen unter Trinkwasserbrunnen. Auf die versunkene Stadt, wie man Kekse aufeinanderschichtet, hatten die frühen Indus-Leute im selben Schema die neue Stadt gesetzt. Und nicht allein mir verursachte das, wie ich meine, Unbehagen. War doch im Augenblick, da man die doppelte Stadt entdeckte, der Begriff vom Verfall greifbarer geworden als je zuvor. War so doch schonungslos die Wahrheit offenbart, wie unausweichlich seit den frühen Indus-Leuten die Menschheit auf ihren Untergang zugetrieben; wie sie damals schon und ohne mildernde Umstände zum Tode verurteilt gewesen. Dieser Indus-Strom ist schlammig gelb in seinem Oberlauf; auf den mittleren Abschnitten färbt er sich rot wie von Rost, um glitzernd wie die schuppige Haut der Fische ins Meer zu fließen. (1961)
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Das Hochhaus Vom Hochhaus herab die drunten Schulter an Schulter wandelnden Paare zu beobachten, ist ein Vergnügen. Die jungen Paare flüstern sich Worte zärtlicher Liebe zu. Anders würden sie sich kaum so aneinander drängen. Die älteren legen einen kleinen Abstand zwischen sich, doch ihre Herzen sind voll gegenseitiger Besorgnis. Das sieht man aus ihrer Art zu gehen. Besonders schön an einem Regenabend. Dann umgeben sie den Fuß des Hochhauses wie die Blumen auf einer Rabatte. Hier und da ein Gesicht aufgereckt, um nach dem Zug der Wolken zu schauen. Und alle innerlich betroffen. Als fiele der Regen nach dem Maße ihrer tiefen Schuld. Von diesem Hochhaus ist neulich ein junger Mann gesprungen. Die Zeitungen schrieben von Selbstmord aus Verzweiflung, was indessen eine absurde Falschmeldung war. Ich weiß sehr gut: Der junge Mann hatte, um die Erwartungen der kleinen Leute da drunten nicht zu enttäuschen, nur so getan, als stürze er wie ein Stein. (1962)
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In einem Fischerdorf Einst soll es hier einen Metallgießer mit dem altehrwürdigen Familiennamen Dingvogt gegeben haben; geblieben ist an der zerbrochenen, spinnwebübersponnenen Glastür des verlassenen Hauses nur dieser Name. Nebenan der Barbier Zur aufgehenden Sonne hat vor zwei, drei Monaten das Gewerbe gewechselt und ging aufs Schiff. Das sind die beiden einzigen Häuser, die an der Landstraße stehen. Die zwanzig, dreißig Fischerhütten, von Mauern aus kleinen Steinen umschlossen, von Bambusstaketen gegen den Wind geschützt, drängen sich am Ufer mit seinem schmalen Sandstrand stumm aneinander. Unter der Klippe am Ende des Dorfes zwei Dutzend Gräber, über deren Steinstelen der Gischt von den Wogen stiebt und die das Meer bei der wilden Gefräßigkeit der Brandung bald verschlungen haben wird. Das Herrliche in diesem weltentlegenen Dorf ist der Sonnenuntergang. Dann auf einmal sind die Häuser, das Meer, die Leute wie purpurn lodernde Blüten. Und die Stelen auf den Gräbern auch. Das ist der reinste Pomp. Eine Röte, um loszuheulen. Wirklich stimmen um diese Stunde die Möwenschwärme ein Klagegeschrei an, als wären sie toll geworden. Tanzen unter Gejammer und Flügelzucken auf und nieder. (1962)
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Die Mumie Sowie ich an jenem Morgen ankam in der kleinen Stadt im Nordosten, ging ich zum Tempel, um dort die Mumie zu sehen. In dem zum Innengarten geöffneten, zehn Matten großen Empfangsraum war die Mumie, nachdem ihr die jungen Wissenschaftler die Krone abgenommen und sie befreit hatten von allen Gewändern, nackt in einen Sessel gehoben worden. Im Nähertreten erwies ich der sonderbaren Gestalt meine Reverenz. Es war dies im wahrsten Sinne, von Angesicht zu Angesicht, die Begegnung mit einem Menschen, der vor zwei Jahrhunderten gelebt. Ich überlegte mir erste Worte, ihn anzureden. Und nacheinander versuchten meine Lippen: Heiliger! Meister! Du meiner Vorväter Bruder! Du Zeit! Du Tod! Du durch den Strom geflößter Stamm! Doch von der Mumie kam keine Erwiderung. Ich forschte nach anderen Worten. Und es formte mein Mund: Oh, der du ich bist! Ich selbst! Oh, erstarren machende Täuschung! Da wenigstens hob die Mumie um eine winzige Spur die Brauen oder das, was davon zurückgeblieben war, kaum mehr als zwei kleine Narben. (1962)
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Vor Tagesanbruch Als ich den Deckel vom frischen Tintenfaß schraube, breitet sich vor mir die blauschwarze Tiefsee aus. Im Vergleich zu ihr wollen mir Pazifik und Indischer Ozean winzig erscheinen. Wie der Arzt vor einem Gehirneingriff ziehe ich einen sauberen weißen Kittel über, wasche mir die Hände in Lysol und mache mich an die Operation, ein Stück Tiefsee herauszuschneiden und in ein kleines zylindrisches Gefäß zu bringen. Da setzt in der Tiefsee eine neue Strömung ein. Walherden, Schwärme von Kraken, von fliegenden Fischen drängen durch den Kanal von S. hinunter in den Meeresgraben K. Gleich darauf beginnt mit gurgelndem Geräusch die Flut in Wirbeln aufzuschießen. Und über das Meer, das sich allmählich auf einem niedrigeren Wasserstand einpegelt, fahren Panzerkreuzer unbekannter Nationalität. Bald wird der Morgen grauen. (1962)
46
Der junge Mann Der junge Mann fuhr in eine Stadt im Nordosten, die dafür bekannt ist, daß es eines Föhnwinds wegen häufig zu ausgedehnten Bränden kommt. Es war um die Zeit, da vor den Obstläden die großen, reifen Granatäpfel liegen. Der junge Mann blieb dort zwei Tage, hoffend auf einen blutrot lodernden Himmel; doch nichts geschah. Der junge Mann wechselte mit dem Nachtzug hinüber an die Japan-See, In eine für ihre Luftspiegelungen berühmte Stadt. Der Ort war durchlärmt von Festtagstrubel, rauh ging das draußen am Ende der Gassen sichtbare Meer. Der junge Mann verbrachte auch hier zwei Tage. Holztrümmer trieben auf den Wellen; im Himmel darüber tat sich nichts, was ungewöhnlich gewesen wäre. Am dritten Tag stieg der junge Mann auf einer Halbinsel auf einem kleinen, namenlosen Bahnhof aus. Er schritt eine von steinernen Mauern eingefaßte, von Fischgeruch erfüllte Straße dahin und erreichte die Klippe. Vor ihm öffnete sich das Meer, stand ein zum Seufzen schöner Abendhimmel. Das war berauschender als jede Feuersbrunst, war wunderbarer als jede Fata Morgana, auf die er gewartet hatte. Und so sprang er, der junge Mann. Ohne zu wissen: die Klippe war in jener Gegend dafür bekannt, daß von ihr schon viele ins Meer gesprungen waren. (1962)
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Guadalquivir An dem Tag, als wir Sevilla verließen, stahl ich mir die Zeit, rasch noch an den die Stadt im Nordwesten durchfließenden Guadalquivir zu fahren. Sind doch Berichte überliefert, in denen es heißt, jener vor dreihundert Jahren von Sendai nach Rom entsandte japanische Samurai sei, nachdem er in Südspanien an Land gegangen, diesen Fluß heraufgezogen. Die Wasser waren von blutigem Rot. Auf einer Bank im schmalen Park längs des Flusses hielt sich in der nahenden Abenddämmerung ein junges Paar eng umschlungen und tauschte wilde Küsse; eine dicke Alte auf der Bank daneben schob sich, Brocken für Brocken, Weißbrot in den Mund. Wenn ich je auf der Reise durch Europa all die Lust und Trauer des Fahrenden spürte, so in der Abendstunde, als ich am Ufer dieses Flusses stand. In meiner Jugend hatte ich bei dem Namen Rokuemon Hasekura, aus den wenigen Zeilen im Geschichtsbuch über ihn, etwas Fremdes empfunden, das mir unannehmbar erschienen war. Deutlich entsann ich mich, wie ich in jenen fernen Tagen knirschend dagegen angewütet hatte. Erst jetzt zerfiel mein nebelhafter Unglaube aus so vielen Jahren in nichts. Erst hier, über die roten Wasser des Guadalquivir gestellt, besaß der japanische Sendung das dem Frommen eigene bleiche Antlitz und hinter sich den langen Schatten. (1962)
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Frühlingsnotizen für einen Toten
Frühlingsnotizen für einen Toten Schnee war herabgewirbelt, hatte innegehalten, und für eine Weile rieselte es Frühlingssonne. Dann kehrte der Winter wieder, funkelte wieder sein Weiß. Gleichwohl, zwar ein wenig ratlos, begannen plötzlich die jungen Gräser zu treiben. Trieb das junge Gras, und du erhobst dich verwirrt von deinem Platz. An jenem Abend fegte ein Frühlingssturm vorüber. Sein Gejaule hallte noch lange nach, bis es dünner wurde und schließlich verstummte. Als später der Wind schon nicht mehr zu hören war, glaubtest du, es müsse etwas geschehen. Doch nichts geschah, und also verschwandest du selber. (1964)
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Das Donnern der Brandung So alt wie mein Vater möchte ich einmal werden. Sagte der Ortsvorsteher. Ich wußte nicht, wie alt sein Vater geworden war; doch gab ich ihm recht. Nach einer halben Stunde hatte ich meinen Besuch beendet, und als ich aus dem Gemeindeamt trat, war da, in die kleine Bucht gebaut, die Mole, und drüben hinter der Mole dehnte sich frühlingsrauh die See. Schade, aber mit der Menschheit wird es nun wohl nichts mehr; am Ende bringt sie sich selber um. Sagte, die Haut vom Salzwind gegerbt, die Hände wie Kreiselschnecken, der alte Fischer. Das war, als wir hinter der Pension, wo die Klippe abfiel, den blutrot schwärenden Abendhimmel betrachteten. Und auch den Worten dieses einfachen Propheten stimmte ich zu. Ich blieb drei Nachte in dem Dorf am Meer. Und wachte ich auf um Mitternacht, so hörte ich, als würden die Trommeln geschlagen, das Donnern der Brandung. Nichts von Melancholie. Ein festlich heiteres Gedröhn. Manchmal im gleichen Takt, manchmal – wollte es den Ohren scheinen – im rollenden Gegeneinander. (1964)
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Verbotene Zone Mitten durch die Halbinsel längs des achtunddreißigsten Breitengrades ist ein Streifen gelegt. Vier Kilometer breit; über Ebenen, durch Täler sich schlängelnd vom Gelben Meer bis zur Japan-See. Da sind Reste von Dörfern, aber kein Rauch von Herdfeuern steigt auf; die Felder vergrasen, die Rudel der Tiere, die Schwärme der Vögel nehmen zu mit jedem Tag. Und nicht nur sie; auch der Geister der Toten werden es immer mehr. Quer nach Panmunjon hinüber zerteilt eine gepflasterte Straße diese Steppenzone von Menschenhand. Und der Wagen, wie von Alpträumen gequält, jagt mit hundertvierzig Stundenkilometern durch die staubig bleiche, unirdische Szenerie. Zwischen den dürren Halmen der Gräser blühen Forsythien und wilde Azaleen, hocken verstreut die toten Seelen. Noch das Geflirr der Sonne darüber ist wie von Gespenstern. (1964)
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Die Steine im Pei-lin Am Abhang des Obasute-Berges stehen Gedenksteine die Menge. Schon bei Tage, mehr aber noch nachts und vor allem in hellen Vollmondnächten steigt von ihnen ein unerträglicher Geruch auf wie von frischem Blut. In China mit den Inschriftentafeln auf dem T’ai-shan ist es das gleiche. Schauder erregend sich vorzustellen, Täler und Hügel wären wahllos mit diesen Steinen, gemeißelten menschlichen Schreien, besetzt. Schließlich verfiel, um ihr Aufstellen in freier Natur zu verhindern, irgendwer auf den Gedanken, sie in einer besonderen Halle zu sammeln. So entstand das Pei-lin in der Stadt Sian. Indessen blieb es bei dem Unerträglichen auch im Pei-lin. Es muß daher, was jeden Augenblick auffliegen könnte wie ein Nebel, auf dem Antlitz des Steins festgehalten und hingerichtet werden. Und betritt man das Gebäude des Pei-lin, so sind dort die Arbeiter emsig dabei, Abreibungen von den Inschriften zu nehmen; und das Klopfen ihrer Tampons auf dem Gestein unterdessen ist von einem Wohlklang wie das rauschende Gesirr der Zikaden. Von einem Wohlklang wie selten ein Geräusch. (1964)
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Das Gewitter Die Töchter aus Verbindungen zwischen Weißen und eingeborenen Kanaken sind die schönsten. Im idealen Falle gehört ein Achtel chinesisches Blut dazu. Erklärte der italienische Saxophonist, ein Mann in mittleren Jahren. Um die Richtigkeit seiner Theorie zu beweisen, schlenderte er mit mir durch die Stadt, und wir sahen uns unter den Mädchen um. Wirklich besaß solch Mischblut aus Europäer und Kanake die edelsten Gesichter mit feingezeichneten Augenbrauen; war dann noch China im Spiele (unklar freilich, ob mit genau einem Achtel), machte eine Spur von Trauer sie um so sanfter. Unterwegs überraschte uns ein Wolkenbruch, und naß bis auf die Haut rannten wir über die Straßen. Diesen ganzen Abend, von Donnerschlägen begleitet, peitschte der Regen die kleine Pazifikinsel. Mit derselben Exaktheit wie die richtige Mischung der Schönen war auch das Gewitter nach der von uns behaupteten lästerlichen Gleichung zusammengesetzt. (1964)
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Des Meisters Ohren Meister Satō hatte große Ohren. Wenn man ihm gegenübersaß, versperrten sie einem regelrecht den Weg. Die üblichen Menschenohren, Stimmen und Geräusche zu unterscheiden, schienen das nicht zu sein. Eher verkörperter Wille und Ausdruck der Verweisung. Gleichsam zwei alte, rostrote Hellebarden, ausgegrabene Schilde. Nachts, nachdem der Meister gestorben war, hob ich das weiße Tuch, auf das Antlitz des Toten zu schaun; und allein diese Ohren, strenger als je, schienen mir lebendig. Sorgsam wählte ich die Worte, die ich sprach. Und Wort um Wort wurden sie angenommen, blieb keines zurück. Im Krematorium zu Ochiai, ich hatte erwartet, der Meister würde wie ein museales Reptilienskelett aus den Flammen tauchen, kamen schließlich, rot leuchtend, die zerstückten Knöchelchen hervor. Das Leuchten währte einen Augenblick und verlosch. Ich suchte des Meisters Ohren. Faßte mit den langen Stäbchen etwas, das ich dafür hielt. Da langte auch Daigaku Horiguchi mit seinen Stäbchen danach. Es waren kleine, wie Plattmuscheln geformte Scheiben. Zwei rosige Muschelschalen, die unter leisem Klingen in die Urne fielen. So verschwanden Meister Satōs Ohren aus dieser Welt. (1964)
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Herbstanfang Als ich mich morgens vom Lager erhob, strich etwas wie der Schatten eines Vogels über mein Herz. Bedeckte mein Herz für eine Sekunde und verschwand. War es ein Lichtes, ein Dunkles, ein Heißes, ein Kaltes? Ich wußte es nicht. Etwas wie der Schatten eines Vogels, und ließ mich den ganzen Tag nicht los. Abends auf meinem Spaziergang bemerkte ich einen kleinen Tümpel, der überwuchert war von dichtem Gras. Ich warf einen Blick hinein und horte ein leises Tropfen. Doch da ich wartete, daß ich es deutlicher vernähme, wiederholte es sich nicht mehr. Ich schlief diese Nacht zwischen dem leisen Tropfen und dem, was dem Schatten eines Vogels glich. Von nicht erklärbaren Dingen blieb ich umstellt diese Nacht. Dabei besaß mein Schlaf die immer vom Unverbürgten gehütete Stille. (1965)
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Schnee Zwischen Rippe und Rippe liegt meine Wetterstation. Auf dem Dreieckdach des spielzeuggroßen Häuschens f lattert die weiße Fahne, kreist der Windmesser, schwenkt die Radarantenne. In einem abgelegenen Kellerraum registriert der Zeitschreiber mit spitzer Nadel die Schmerzströme, die durch die Rippen schießen. Nachts zu später Stunde klettere ich in den Keller hinunter und beobachte das Auf und Ab der Nadel. In der Regel ergeben die Schmerzströme eine sanft gewellte Kurve; aber manchmal verwirren sich die Wellen, beschreibt die Nadel einen gewaltigen Sprung. Dann fängt es draußen zu schneien an. Und ich in dem Häuschen zwischen Rippe und Rippe bekomme zu tun. Ich drehe in der Tür den Schlüssel herum, und die Ohren gespannt auf das Geräusch gerichtet, mit dem der Schnee herniederschwebt, mache ich mich an die einsame Aufgabe, sein Geriesel auf Millimeterpapier zu notieren. (1965)
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Die Chrysantheme Vergangenen Herbst bat man mich um ein Schriftzeichen von meiner Hand, um es im Grundstein eines in der City errichteten Hochhauses zu verwahren. Damit der Stein in hundert Jahren wieder geöffnet werde. Ich schrieb das Zeichen für Chrysantheme. Stellte mir vor, daß auf den Tag nach hundert Jahren der Duft der Blume aus der solange verschlossenen Kassette bräche und über die Erde schösse. Die Grundsteinfeier erfolgte im stillen Licht der Novembersonne. Die Versammelten, alle im Cutaway, bezogen vor dem ringsum gespannten rot und weißen Vorhang Posten. Und während ich mich zwischen sie drängte, sah ich, wie die nach meinem Zeichen gegossene Kupferplatte in einem kleinen Kasten aus Stuck verschwand. Nein, das hatte nichts mit dem Anbringen einer Zeitbombe zu tun; das war ein weihevolles Begräbnis. Beim Diner in der noch frischen Festhalle im fünften Stock wechselte ich mit dem feisten Herrn, der der Direktor war, die Becher. Und mit der Schamlosigkeit des Schurken, der ein Stück seiner Seele verschachert hat, goß ich den Reis wein hinunter, betrank ich mich. (1965)
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Bei Rückkehr von der Reise Üppig blühten, als ich nach einem Monat wiederkam von der Reise, auf den Beeten hinten im Garten die Rosen. Die Blütenblätter geöffnet, die roten und die weißen, saßen sie auf langen Stengeln wie schlafverwirrt. Natürlich hatten sie Pflege gehabt, und dennoch schien das ein verwilderter Garten. Auf einmal war alle Erinnerung an die Reise von mir abgefallen. Tiefer trat ich zwischen die Rosenbeete und lauschte, weil mir war, als hörte ich, ich weiß nicht woher, ein Geplätscher wie von den Wassern eines Sees. (1965)
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Die Rutschbahn In der Ecke des Turnhofs die Rutschbahn, daneben mit lastend üppigem Laub der Malvenbaum. Heute am freien Tag ist von den Kindern nichts zu sehen. Verlassen stehen Rutschbahn und Malvenbaum da. Und beginnt im Hof der Sand zu tänzeln, in der Ecke bei der Rutschbahn bleibt es still. Sooft mein Blick auf die verlorene Leere fällt, überkommt mich die Lust hineinzutreten. Aber noch tat ich es nie. Schließlich ist uns Erwachsenen einmal nur im Leben dieser Schritt erlaubt. Ich jedenfalls will mir solch kostbares Anrecht erhalten. (1965)
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Präexistenzen Das vorige Leben verbrachte ich in einem Dorf am Fluß. In meiner Jugend zogen die Schiffe dicht gedrängt hinauf und hinab; in meinen späten Jahren freilich lag alles darnieder, und der Landesteg war den Kindern zum Spielplatz geworden … Erzählte der Besucher, ohne sich im geringsten hervorzutun. Seine Augen leuchteten ein wenig stärker; aber nach Wahnsinn sah das nicht aus. Als er gegangen war, versank ich für den Rest des Tages ins Grübeln, forschte auch ich nach meinem vorigen Leben. Gegen Abend kam ein Hagelschauer; später schwebte der rote Mond herauf. Endlich um Mitternacht bei dem Gedanken, es müsse, wovon der Besucher gesprochen, vordem mein eigenes Leben gewesen sein, fühlte ich mich befreit. Und zwischen dem kalten weißen Glitzern eines dämmernden Flusses treibend, schlief ich im Sommerhaus die letzte Nacht. (1965)
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Der Mongole Auf dem Marktplatz in Samarkand drängten sich lärmend Männer und Frauen des unterschiedlichsten Blutgemischs. Ich befragte meinen Begleiter, einen jungen usbekischen Dozenten, und Wort für Wort im Weitergehen notierte ich mir, was er sagte: Dies ein Araber mit mongolischem Blut. Da ein Mischling aus Usbeke und Tadschike. Die Frauen dort tadschikische Turkmenen. Jenes eine Gruppe von Irano-Tataren mit leicht tibetischem Einschlag … Auf halbem Wege gab ich mein Vorhaben auf. Ich hatte begriffen: das führt ins uferlose. Nein, um ehrlich zu sein: ich verzichtete auf meine Notizen, weil wir auf einen großgewachsenen, reinblütigen Mongolen gestoßen waren. Einen Mann mit geschorenem Schädel, in langschäftigen Stiefeln, der wie ein Känguruh sein Kind auf dem Bauch hängen hatte in einem weißen Tuch. Und obwohl seine Riesengestalt nicht dazu passen wollte, – nur er, wie er mit eingezogenen Schultern und traurig dastand, schien mir einsam zu sein. (1965)
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Die Stadt in der Wüste Dem Grabstein des Eroberers, so las ich einst in einem Buch, habe man die Worte eingemeißelt: Du warst der Schatten des Gottes auf Erden. Als ich hinkam in das Land in der Wüste, klang dies weder nach Übertreibung noch nach Schmeichelei. Es schien sogar höchst zweifelhaft, ob damit ein Lob gemeint. Offengestanden halte ich dafür, es war eine magische Formel. Gebannt durch diese Worte schläft der Eroberer der Wüste noch heute; auch diese Stadt, die nie mehr davon losgekommen. Man stelle sich, um das zu begreifen, in das Getriebe des Basars, auf dem die verschiedenen Völkerschaften gegeneinander brüllen. (1965)
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Der Kanal In Yangchou am Stadtrand sind hier und da Teile des alten Kanals zwischen dem Huang-ho und dem Yangtze-Strom erhalten. Doch keiner, der an diese Ufer tritt, glaubt an einen Kanal. Das ist ein Fluß! Dabei besitzt er das merkwürdig Melancholische, das immer künstliche Wasserläufe haben. So wie die Kaisergräber, die nur der Archäologe von natürlichen Hügeln zu unterscheiden vermag. Bis sich Menschenwerk nach unendlich langer Zeit in ein Stück Natur verwandelt, sendet es – unerklärlich woher – die dunklen Strahlungen irgendwelcher Energien aus. (1965)
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Die Quellen des Huang-ho Nach westlichem Kalender im Jahre 1280 erging von Kubilai, dem ersten Kaiser der Yuan, Befehl an Tushih, er möge den Ursprung des Huang-ho erkunden. Tu-shih nach seiner Rückkehr vermeldete: Es sind ihrer mehr als hundert Quellen, so verstreut, daß keiner sie erstürmen kann; steht man auf hohem Berge und schaut auf sie hin, erscheinen sie wie die gleißenden Reihen der Gestirne. Hierauf gestützt, erhielten sie die Bezeichnung Meer der Sterne. Im Jahre 1782 zur Zeit des Kaisers Kao-tsung unternahm, abermals auf allerhöchsten Befehl, A-ta-mi einen erneuten Vorstoß zum Ursprung des Flusses. Und er beteuerte: Südwestlich des Meers der Sterne erhebt sich ein riesiges Felsplateau und bildet über hoher Steilwand den Teich des Himmels; dort in dem Teich steigt sprudelnd die Quelle auf, um dann, sich teilend, hundert Wege zu nehmen. So hieß die von A-ta-mi erreichte Quelle Fels des Nördlichen Drachen. Und was wäre heute in der Volksrepublik von den Quellen zu berichten? Aus dem Flugzeug gesehen, ist der nach Norden ziehende Huang-ho eine gelbe, rostige Kette, die gleichsam das Alphabet aneinanderreiht. Woran sie aufgehängt, ob am Meer der Sterne oder am Fels des Nördlichen Drachen, das ist nicht auszumachen; mit Sicherheit hingegen läßt sich soviel sagen: die Kette wird von einem gewaltigen Schloß gehalten, von einer unheimlichen Stille. (1967)
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Einmal eines Tages
Das Dorf am Baikal-See Am Ufer des Baikal-Sees stehe eine Kirche, in der man eine Ikone des Patriarchen Nikolai verwahre. Heißt es in einem alten Bericht. Zum Festtag des Heiligen versammle sich dort die Menge aus nah und fern, Tausende von Männern und Frauen, Um die Ikone zu sehen, fuhr ich in das Dorf mit Namen Nikola: eine Siedlung von dreißig, vierzig Häusern, dicht um die Angara-Mündung gedrängt, die Hälfte am Fluß, die Hälfte am See. Die Angara ist eben vier Meter tief; doch wo sie in den See eintritt, geht es jäh hinab auf tausend Meter. Beide, Fluß wie See, die die Häuser des Dorfes spiegelten, ließen das alles ein wenig fremd erscheinen. Nein, die Ikone war nicht mehr da, auch nicht die Kirche, in der sie gestanden. Daß sich aber, Ende Dezember, die Enten des ganzen Sees gerade in ihren Gewässern trafen, daß er nur hier nicht zufror, darauf waren die alten Männer des Dorfes stolz. Sie selbst Greise mit weißen Bärten in ihren schmalen Gesichtern wie auf den Bildern der fromme Nikolaus von Myra. (1968)
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Notizen unterwegs Bei Zwischenhalt des Zuges auf freiem Felde hinausgesprungen, mitten unter spiegelblank polierte Pfützen. Erdschollen, große und kleine, wild durcheinandergeworfen wie Steingeröll; jede mit einem Büschel Gras obenauf. Und zwischen Scholle und Scholle das Wasser, in dem sich die Wolken malen. Wir schreiben Mai; aber Sibirien ist kalt wie im tiefsten Winter. Dabei hat es eben jetzt seinen Frühling. Vielleicht überhaupt sieht so der eigentliche Frühling aus … Die zwei Stunden bis zur Station Iman damit verbracht, daß ich durchs Fenster des Abteils auf die in der aschenen Landschaft verstreuten, immergleichen Pfützen starrte. Im Baikal-Museum die ausgestopften Exemplare der hier im Süßwasser lebenden Robben betrachtet: Nachkommen jener trägen Tiere, die, als sich vor undenklichen Zeiten der See vom Polarmeer schied, nicht mehr hatten flüchten können und geblieben waren. Ähnlich offenbar, wie sich Völkerschaften zerstreuen. Sollen doch Teile von Küstenstämmen heute gelegentlich auch in den Bergen siedeln. Phänomene wie Visionen oder sogenannte Halluzinationen möglicherweise nicht ganz ohne Beziehung hierzu. In der Wüstenstadt Aschchabad einen großen künstlichen See besucht. Von einer Insel hieß es, daß sich auf ihr zu Zeiten Tausende von Zugvögeln versammeln; Tanker glitten 70
über das Wasser; die sandigen Ufer bildeten lebhaft bevölkerte Badestrände. Halbnackte junge Männer ließen den Plattenspieler laufen; der Eisverkäufer spazierte am Saum der Wellen hin; allenthalben lagen blonde Mädchen, die Sonnenbrille auf der Nase, rücklings ausgestreckt. Wenn du einen Ausdruck dafür suchst: Glück war selten so unvermischt wie hier. (1968)
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Das Meerleuchten Ich war, vom Schwimmen müde, aus der nächtlich düsteren Flut getreten, da hatte mich plötzlich das Meerleuchten erfaßt. Hatte sich wie ein streifiger Vorhang aus Licht auf mich geworfen, um Tropfen für Tropfen an mir herabzurinnen. Nur dies und nichts sonst war geschehen. Und doch: noch jetzt, nach all den Jahrzehnten, will es mir nicht aus dem Gedächtnis. Macht, fast zu beharrlich, daß ich mich wieder und wieder erinnern muß. Vielleicht weil damals wie nie danach in meinem Leben Schwermut und Ergebung so ohne Rest in eines verschmolzen waren. Ich hatte, von leuchtenden Tropfen umhüllt, am Strand gestanden. Und es hatte sich mir am Strand in jener Nacht das unverwechselbare Siegel der Jugend aufgedrückt. (1968)
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Spätsommer Aus den Sommerhäusern, an die der Räumungsbefehl ergangen ist, ziehen die Leute der Reihe nach aus. Die Zahl der Häuser, die verriegelt und zugenagelt dastehen im Birkenwald, wächst mit jedem Tag. Zwar haben die leeren Häuser keine Lichter mehr, dafür finden sie wieder zu sich. Schon beginnt in dem von Menschen verlassenen Wald ein Geflüster zwischen Haus und Haus. Bald kommt der soundsovielte Taifun und wäscht die sommerlang betriebene Ladenstraße mit Seife und Besen, um zum Schluß sein Desinfektionsmittel darüberzusprühen. Da wird der Himmel abgerissen wie ein Abreißkalender, Und die klare Bläue spannt sich über die ausgehungerte Goldrauschsiedlung. Der Maler und der Philosoph, die noch keinen Räumungsbefehl haben, sprechen an einer kleinen Wegekreuzung im Wald mit betrübten Mienen von Patriotismus oder aber vom Auswandern. Einige halsbandgeschmückte, streunende Hunde behalten jedenfalls die beiden verdächtigen Subjekte scharf im Auge. (1968)
73
Tage der Verzagtheit Tage, da es nichts zu schreiben gibt. Schrieb einer in einem Gedicht, Schreibe auch ich auf das leere Manuskriptpapier: Tage, in denen ich nichts zu schreiben habe. Damals acht Tage lang sah ich durchs Fenster des Zuges nur weiße Stämme und dichtes, grünes Laub. Birkendschungel, so weit das Auge reichte. Jetzt fünf Monate danach im November – stell ich mir vor – fällt auf die kahlen Birkenwälder Sibiriens der Schnee. Unaufhörlich jeden Tag und in dieser Stunde. Ein Bild, das mir Mut macht wie kein anderes. Ich schreibe: Tage, in denen ich nichts zu schreiben habe. Und da schneit es und schneit auf das Papier. (1968)
74
Einmal eines Tages Ich werfe die Bücher beiseite und laufe hinaus in die Stadt. Die Straßen sind halb unter Sand begraben, der Rauch von den Herdfeuern ist längst erstickt. In eine menschenleere Schenke trete ich ein, warte, daß die Abendröte kommt. Daß über den Dächern der verödeten Hochhäuser der Mond erscheint. Es kommt keine Abendröte, kein Mond geht auf. Die Nacht fällt herab wie ein Regen. Ich laufe von Ecke zu Ecke. Gewissenhaft im rechten Winkel biege ich in die wie dem Zucken von Fledermausflügeln angepaßten Gassen ein. Im ersten Bezirk begegne ich meinem toten Vater; im vierten Bezirk gehen meine lebenden Söhne an mir vorbei. In diesem Augenblick geschieht es, daß meine Ohren zuerst jene seltsam gefärbte Musik vernehmen. Das Geräusch, mit dem der Spiegel des Meeres rings um die Stadt allmählich zu sinken beginnt. (1970)
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März In Nara an der alten Tempelhalle wirbeln die riesigen Fackelbrände kalt durch die Nacht. Schräg vor dem Schreibtischfenster der kleine Pflaumenbaum hat weiße Blüten aufgesteckt. Ein berühmter Romanist ist gestorben. Aus dem, was er in jungen Tagen übersetzte, erfuhr ich zum ersten Mal von einem Dichter namens Mallarme. Ich, der ich noch jünger war als jener Romanist. Auf dem Expo-Gelände am Tag vor der Eröffnungsfeier tanzt über dem großen Schwebedach der Schnee wie Entendaunen. Um in fernen Meeren den Fischschwärmen nachzujagen, nehme ich die Harpune zur Hand und gehe auf Reisen. Morgens bei Tagesanbruch in meinen Träumen. (1970)
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Archäologisch Wir fragten im Zentrum Ōsakas verschiedene Leute nach dem Platz, an dem man den Naniwa-Palast ausgegraben hatte. Schließlich meinte einer: Da drüben sei ein Schwimmbad im Bau, sonst werde in dieser Gegend nirgends gebuddelt. Tatsächlich war, was Schwimmbad werden sollte, der Standort des alten Kaiserpalasts, den wir suchten. … Ursprünglich hatte hier das Volk gewohnt. Doch im siebenten Jahrhundert war das Viertel abgebrochen und mit Erdreich aufgeschüttet worden, um darauf den Naniwa-Palast des Kaisers Kōtoku zu errichten. Unglücklicherweise fiel dieser einer Feuersbrunst zum Opfer, und erst für Kaiser Shōmu entstand an der gleichen Stelle wieder ein Palast. Indessen sollte auch er ein Raub der Flammen werden. Später folgten Mal um Mal Gebäude, unbekannt welcher Art, zuletzt die Kaserne des Achten Regiments, die bei den Luftangriffen niederbrannte. Die Schlüsse, die der zufällig anwesende junge Archäologe aus Fundamentschwellen, Gräbenresten, Pfeilerlöchern, Erdaufschüttungen und aus den im Sand erkennbaren Brandspuren zog, leuchteten durchaus ein; aber während der Abend dunkelte und es stieg ein blasser Frühlingsmond herauf, leuchtete uns noch weit deutlicher ein, daß dieser historische Platz zu einem Schwimmbad wurde. Gleichmäßig von allen Seiten umschloß der Lärm der Großstadt die Grube; auf die südöstliche Ecke zu hatte sich von fernen Neonlichtern eine Wasserlache zwischen den 77
archäologischen Resten rot verfärbt. Wir setzten uns an den Beckenrand. Als warteten wir auf die pünktlich beginnenden Schwimmwettkämpfe. (1970)
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Basis Um die Stelle, an der sie die Basis des alten Palasts ausgegraben, ist ein Seil gespannt, liegt auf der Erde, der schwarzen, ein einzelner flacher Stein. Die Ränder der Grube sind von gelben Rapsfeldern verdeckt; im Wabern der Sonne darüber tanzen die Falter. Und man kann hinkommen, wann man will, immer stehen einige und schauen über das Seil. Nur dieser eine flache Stein, – was gäbe es da zu bewundern? Aber natürlich hat die Welt das noch nicht gesehen: Stilleben mit einem Meteoriten, der umgekehrt, aus der Erde auf die Erde, gefallen ist. Deshalb auch, daß die Rapsfelder hier und die Falter und das Wabern der Sonne fremder wirken. Und die Leute, wenn sie nach Hause gehen, haben das Gefühl, irgendwie wäre der Frühling dies Jahr nicht so wie sonst. (1970)
79
Elegie Nachdem du gestorben am fünften Tag blies ein Sturm, der im Garten von der Buche die letzten Blätter riß. Nachdem du gestorben im Monat darauf bebte mit leichtem Schwanken die Erde. Nachdem du gestorben am neununddreißigsten Tag begann es zu schneien. Und als der nächste Tag auf den Abend kam, fiel abermals Schnee. Und wieder am nächsten Tag schien vom Morgen an die stille Wintersonne, um in einer Abendröte unterzugehen, wie sie selten ist. Jenseits der weißen Flecken Schnees, die im Garten lagen, standen Schwarz an Schwarz die Bäume, und zwischen ihrer schwarzen Reihe schien ein rotbeglänzter Himmel hervor, als hätte ihn wer mit zerstoßenen Flammen bestreut. Als ich, im Korbstuhl auf der Veranda, das vor mir sah, da zum ersten Mal konnte ich glauben: du bist nicht mehr in dieser Welt. Da zum ersten Mal auch hörte ich: aus dem in Trauer gekleideten Abend die Glocke, die wieder und wieder erklang um deinetwillen. (1971)
80
Frühlingsanfang Seit dem Tag, an dem es geschneit, sind sieben Tage vergangen. Im Garten in den schattigen Winkeln die Reste des Schnees, hartnäckig und zuletzt wie Seifenschaum, schwanden an diesem Nachmittag. Auf die noch nasse, schwarze Erde fällt die stille Wintersonne. Die bittere Erinnerung auch, die an dem Tag, an dem es geschneit, mich plötzlich überfiel: Stück für Stück in sich zusammensinkend, hielten sich ihre Spuren in einem Winkel meines Herzens, um heute, zuletzt wie Seifenschaum, in der stillen Wintersonne zu vergehen. Wie der Schnee so schwand die Erinnerung; wie die Erinnerung so verging der Schnee. Runde hundertsiebzig Stunden der Himmel oben und die Erde unten; siebenmal der gemächliche Wechsel von Tag zu Nacht, von Nacht zu Tag, den mein Inneres mitvollzog. Und der Kalender rückt auf Frühlingsanfang. (1971)
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Mai Den Tisch ans Fenster gerückt, saß ich und sah hinab auf den Wildbach und seine steigenden Fluten. Drüben der Berg, vom Mairegen gepeitschtes Gebüsch. Von tagelangen Güssen durchnäßt die grünen Buckel aus jungem Laub, aus frischem Laub, die Kraft auch, die aus ihnen drängte. Mir schien, ich hätte so an solchem Ort schon einmal dagesessen. Schon einmal, war’s in diesem, war’s in einem ändern Leben, Aug’ in Auge dem Abhang gegenüber, auf dem die bleichen Feuer der Verschwörung brannten. Ich hatte gemeint, ich hätte zu schreiben, und mich an den Tisch gesetzt; und hätte doch wissen müssen: es gab jetzt nichts zu schreiben für mich. In diesem Monat, in dem ich geboren. Des Wildbachs Tosen klang wie das Getrommel vor der Schlacht. (1971)
82
Im Morgengrauen Einmal jeden Tag um diese Stunde ist es tot, das Meer. Seinen Leichnam zu betrachten, schlag ich mich durch den vom Nachttau nassen Kiefernwald. Um meine Füße noch das Dunkel. Such ich an den Wurzelknollen der schlafverwirrten Strandbaumwolle Halt. Stürz ich hinab zum Ufer, das in den letzten Zügen liegt. An den Hütten die Schilfgrasmatten sind hochgerollt, die Boote fort. Dahinter, blauschwarz hingestreckt, der Riesenleib des Meeres. Läuft am Horizont der erste Frühschein um, den reglos stillen Toten zu bedecken. Ich gehe über Tang und Muscheln, die die Brandung ausgespien. Und auch die Brandung ist dahin. Einmal jeden Tag um diese Stunde, in der der Morgen graut, ein totes Meer. (1971)
83
Der Tümpel Ah, ich wollte, es wäre wie lang zurück an jenem Tag der wilde Sommer wieder. Was war das für ein Sommertag! Ich lief den vergrasten Pfad an der Klippe hinab. Rot wie Blut blühten talwärts die Nirvana-Blumen, vom Berg her fiel wie ein Regenschauer das Geschrill der Zikaden. Da sprang ich mitten hindurch. Lebendig in der steil aus Mittag sengenden Sonne nur ich und mir voraus der Schwärm der Libellen. Im Dorf die Leute lagen, wie sie umgesunken waren, reglos in ihren Häusern. Und ich hastete, mich drunten in den Bach zu stürzen, wo er, eingerahmt von Farn und Felsen, einen winzigen Tümpel staute wie ein Tintenfaß. (1971)
84
Die azurene Bläue Durch Birkenwald und Lärchendickicht ziehen sich eine Menge Wege. Manche beschreiben eine Parabel, andere laufen in Wellenlinien dahin. Einige auch knikken rechtwinklig ab, oder sie machen kehrt und verschwinden im Irgendwo. Da gibt es die Hunderoute, da gibt es den Kinderpfad. Einer ist der Spazierweg des alten Philosophen und einer mein Spazierweg. An den vielen Punkten, an denen sich Krümmung mit Krümmung schneidet, stoß ich auf Hunde, treffe auf Kinder, oder ich begegne dem alten Philosophen. Von einem Weg indessen, durch den der Herbstwind bläst, weiß ich nicht, wer ihn benutzt. Und einmal jeden Tag bleibe ich stehen, wo dieser Weg den meinen kreuzt. Um nur dann zu hören, wie Blatt um Blatt vom Himmel gerissen wird. Wie allmählich die azurene Bläue entsteht. (1971)
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Nachglanz
Drei lyrische Themen Weiße Spitze, die ein riesiges, tiefblaues Tuch bordiert … Das Meer. Zwischen die tausend Kiefernstämme eingeschnitten: tausend Brocken See. In jungen Jahren pflegte ich mich so zu nähren, daß ich täglich einen davon verschlang. Am Ufer des mit trübgelber Flut gefüllten YangtzeStromes wuschen die Mädchen ihre Krüge, daß sie rote Hände bekamen. Ich wollte, ich schriebe an solchem Platz, auf solche Weise meine Zeichen. (1963)
89
Der Alte im Turban Irgendwo in der Steppe saß mit untergeschlagenen Beinen ein Alter im Turban und meditierte. Als er aufsah, fragte ich ihn: Worauf zielt dein Gebet? Der Alte erwiderte: Auf das Nicht-Denken; wenn du verstehst, was ich meine. Und weiter fragte ich: Wie könnte einer ins Reich des Nicht-Denkens gelangen? Darauf der Alte: Halte die Zunge im Munde, auf daß du nichts berührst. Unterwegs im fremden Land, auf dem Bettrand sitzend morgens im Hotel, machte ich einmal das Experiment. Bald schlössen mich flackernde Flammen ein, oder der Nordwind umwirbelte mich mit Geheul, ein eisiger Regen strich über mich hin. Jetzt war ich Fudō-myōō, jetzt Han-shan oder Shih-te. Ich öffnete die Augen; ich war entschlossen, für immer zu desertieren. Sprang vom Bett und riß das Fenster auf. Da schlief im Morgendämmern die Wüste, durch die ich mehr als einen Monat gezogen; auch der Basar, auf dem ich heute den letzten Edelstein in Münze wechseln würde, lag noch im Schlaf. Indessen schwebte mir das Gesicht des Alten im Turban herauf. Ein einsames Gesicht. Gesicht eines Mannes, der fahnenflüchtig war seit Jahrzehnten. (1974)
90
Türkische Wüstenfahrt Wann immer wir aus dem Busfenster sahen, fern am Rand der Ebene standen die Windhosen wie umgestülpte Trichter. Ein im Süden wie im Norden von Wirbelwinden eingerahmter Wüstenstrich, durch den wir auf Tagesausflug waren. Schließlich brach die Nacht herein. Da wurde die Ebene zum Meer, der Bus zum Dampfer, der rotgesichtige Fahrer zum Kapitän. Und nachdem ein bleicher Mond aufgegangen war, flackerten von jenen Stellen, an denen tagsüber die Windhosen gestanden, Fischerfeuer herüber. Ich zückte mein Taschenbuch. In ausgefallener Orakelschrift notierte ich: In der Ferne das Geheul der Wölfe … In Wahrheit waren es keine Wölfe, hatte nur irgendwo eine Dampfsirene gejault. (1974)
91
Pfeilspitzsteine Kleine Steine, wie Pfeilspitzen geformte, Stein um Stein, bohren sich aus dem Sand der Wüste. Kaum einen Fuß hoch die größten, die kleinsten vier, fünf Zoll, Totensteine der Turk-Nomaden. Ohne Unterschied für Erwachsene und Kinder, für Männer und Frauen, für Esel und Kamele. Gemeinsam unter kleinen Pfeilspitzsteinen liegend: die beim Aufbruch aus dem Leben gebliebenen Gebeine der miteinander lebendig Gewesenen. Mittags, von der grellen Sonne übergössen, haben diese Pfeilspitzgruppen eine eigene Strenge. Den Stolz der Toten jetzt, die vordem die Lebenden waren. (1974)
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Nachglanz Wie am Ende eines Tages der Abend kommt … Mußte ich plötzlich denken. Das war, als wir eine vom Nachglanz der sinkenden Sonne rot lodernde Lehmhüttensiedlung passierten. So wie am Ende eines Tages der Abend kommt, wird mein Leben seinen Abend haben. In der menschenleeren Straße flammten die Esel auf, an der menschenleeren Kreuzung die Kamele. Dann fuhr der Wagen wieder durch Wüste. Und auch die Wüste loderte rot. (1974)
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Eroberungszüge Ich wanderte die Straße, über die die Heere Alexanders gezogen. Ich wanderte die Straße, über die die mongolischen Teufel geritten. Ich wanderte Straßen in Wüstenstrichen, wo außer Kamelgras kein Halm gedeiht. Einmal traf ich auf eine Herde von zweihundert Hippies. Sie kamen aus Afghanistan und wollten, wie sie sagten, über Pakistan hinein nach Indien, hätten Nepal zum Ziel. Sie glichen einem großen Heuschrekkenschwarm. In Nepal gebe es Wildgemüse die Menge; da brauchten sie nicht zu hungern. Auch sei es, meinte ein Heuschreck, in südlichen Gegenden warm genug, um im Freien zu schlafen. Seine Kleine indessen riß eine Packung Kaugummi auf – die hatte sie dem persischen Zöllner aus der Tasche geklaut – und schob sich einen zwischen die Zähne. Da wußte ich: dieser holländischen Hippie-Herde könnte ich meine Enkelin anvertraun. Sie ist neun und mir das Liebste auf der Welt. (1975)
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Unerlaubte Grabungen Am selben Tag schon, an dem der Himmelssohn den Thron bestieg, machte sich die Bande der Plünderer daran, einen geheimen Stollen zu jener Stelle vorzutreiben, von der anzunehmen war, daß dereinst dieser Kaiser dort bestattet würde. Natürlich eine Geschichte aus dem alten China. Und eine erfundene Geschichte, gewiß; aber ich mag sie. Sooft ich mich ihrer erinnere, fühle ich wieder Mut. Denke: auch du solltest zu graben beginnen. Auf etwas zu, das die Stille der Toten hat und die schimmernde Pracht einer Krone. Das zum Beispiel der sinkenden Sonne gleicht daheim überm Dorf an einem Abend, fünfzig und einige Jahre, nachdem du gestorben. (1975)
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Abschiedsgesänge Viele Dichter schrieben ihren Abschiedsgesang und starben. Andere wiederum meinten, sie gedächten nicht leichtfertig vom Tod zu schreiben. Auch dies im Grunde ein Abschiedsgesang. Du, Freund N., hast nichts dergleichen hinterlassen. Dafür wagtest du, bevor du starbst, die Reise nach Pakistan. Begannst in Peshawar, dem einstigen Sommersitz der Kushan-Könige, suchtest in Gandhara und Taxila die buddhistischen Relikte auf und drunten im Indus-Tal die Ruinen fünftausend Jahre alter Städte, um schließlich nach Afghanistan hinein den Khaibar-Paß zu überschreiten, von dem herab sooft die Teufelshorden gekommen. Fuhrst, um deine Fahrt zu beschreiben; doch zu schreiben, blieb dir keine Zeit. Und jetzt will es scheinen, die ungestüme Reise selber sei dein Abschiedsgesang gewesen. Du hast, du schrecklich Schüchterner, kein Wort des Abschieds an dein Leben zu sagen gewußt, außer daß du untertauchtest in die öde Landschaft der Ruinen, in die sich alles dort verwandelt. (1975)
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Der verwilderte Garten Am Ziel der Reise, ich hatte einen kleinen Aufsatz zu schreiben, führte man mich in ein Landhaus am Fuß eines Hügels. Wessen Landhaus es war, das wußte ich nicht; doch es schien, als stünde es sonst leer, und der Garten war über und über verwildert. Ich setzte mich an den Tisch, den man mir mitten ins Zimmer gerückt. Sah, wie vor mir im Garten das Hortensiengestrüpp blaßlila Blüten in die lastende Luft der Regenzeit hielt; hörte, wie die Pflaumen- und Aprikosenbäume zu beiden Seiten die am Ast gereiften Früchte fallen ließen. Dies also die Folge der irdischen Gravitation: lotrecht stürzend, in jeder Minute eine, schlugen die schweren Früchte auf den Boden. Ich verlor die Lust, meinen Aufsatz zu schreiben. Ich rückte auf die Veranda hinaus. Benommen saß ich vor dem Geräusch, mit dem die Früchte fielen. Saß so vielleicht dem irgendwo im Dickicht verborgenen Herrn des Gartens gegenüber. (1975)
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Am Kap Ich stand am Kap über der Klippe, gegen die die Winterwogen des Pazifik schlugen. Welle rollte auf Welle heran, an der Erdachse rüttelnd, dann selber berstend, auseinanderfallend; und war doch das Wilde, das Große nicht, das mich in jungen Jahren körperlich mitgerissen. Grünblaue Ödnis bis weit hinaus. Damals hatte ich mein Gesicht dem zugewandt, das donnernd auf mich eingestürmt; jetzt hingegen begriff ich die kleine, verschämte Geste, mit der unter Qualen die Flut drunten wich. Nichts mehr von der Halluzination, ich sähe jenseits dieses Meeres in der Ferne Amerika liegen. Unheimlich, nicht wahr? – meinte der Mann, der mich führte. Ja, unheimlich, – sagte auch ich. Dabei war, was mir wirklich unheimlich erschien: daß ich mich während der hier verbrachten Viertelstunde und vor einem kreisenden Weihenpaar als Zeugen so eifrig gerade darum bemühte, eine Jugend zu revidieren. (1975)
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Der Eremitenberg Wenn ich zu wählen hätte unter den vielen Bergen der Unsterblichen, die Tessai gemalt, ich würde mich für die »Gefilde weisen Entzückens« entscheiden. Sie liegen auf mächtig getürmtem Felsengebirge. Von der Steilwand stürzt der Wasserfall; es eilt der Bach über die glatte Haut der Steine. Pavillons und Klausen sind auf die Klippen gesetzt; hier und da erheben sich einige Bäume. Von Menschen nirgends eine Spur, und nur das Meer ist zu hören, wie es den Saum der riesigen Felsenbühne wäscht. Sich vorzustellen, es schiene der Mond auf diese unbewohnte, letzte Utopia, – welch grenzenlose Einsamkeit! Als wäre so das Reich der Toten. Tessai aber, seines Alters siebenundachtzig Jahre, malte den Eremitenberg, um keinem sonst den Zutritt zu gestatten. Um unbemerkt in tiefer Nacht, vom Mondlicht übergössen, selber in ihn einzutreten. (1975)
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Das neue Jahr Am Neujahrstag im Klassenzimmer schrieb der Lehrer an die Tafel: Das neue Jahr. Wahrhaftig, dies war das neue Jahr. Neu das Gesicht des Lehrers, neu die Gesichter der Schüler. Auch der blaue Himmel, der durch die Fenster blinkte, auch der Schulhof, der in der hellen Sonne lag, und selbst auf den Pfützen im Schulhof das Eis, – neu war, was immer das Auge sah. Das Schultor, die Straße dahinter, die Leute aus dem Dorf, die über die Straße gingen, alles war neu. Seither ist kein so neues Jahr mehr gekommen. Nur daß die Erinnerung an das Klassenzimmer jenes Kindheitstages ferner rückte mit jedem Jahr und kleiner wurde, dabei schärfer, wie auf einem der frühen Gogh-Pastelle. (1976)
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Reisen Jedesmal wenn das Jahr beginnt, plane ich eine Reise. Neunzehnhundertsechsundsiebzig nach Peshawar: Sommerresidenz der Kushan-Könige, Stadt der Granatäpfel, Burgplatz, an dem Alexander Siesta hielt. Dort im Hotel am Hügelhang will ich im Larvengekringel unentwirrbarer Zeichen dem anderen Ich in Tōkyō den Scheidungsbrief schreiben. (1976)
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Anhang
Nachwort des Übersetzers Moderne japanische Lyrik als Sonderform neben den traditionellen Gattungen entstand vor über einem dreiviertel Jahrhundert aus der Begegnung mit westlicher Lyrik. Sie verzichtete auf die herkömmliche Silbenzählung, sie durchbrach die Einengung auf die kurze Form; kennzeichnend wurde die freirhythmische Zeile. Andererseits kam auch nun kein Pathos auf. In einer der Prosa nahe benachbarten Sprache blieb man beim konkreten Bild, bei der konkreten Situation, die auf ein erlebtes und nacherlebbares Erkennen hin zu öffnen war. So gesehen, hat der westliche Einfluß weniger Neues bewirkt als vielmehr für längst Geübtes die gemäße Struktur initiiert: denn schon Ende des 17. Jahrhunderts bei Matsuo Bashō – etwa in seinem »Oku no hosomichi« (»Auf schmalen Wegen in den hohen Norden«) – geschah ähnliches. Dort sind inmitten einer tagebuchartigen, leicht stilisierten Prosa die siebzehnsilbigen Haiku-Kurzgedichte nichts anderes als Leuchtmarken des dem Wanderer buchstäblich aufblitzenden lyrischen Augenblicks. Dieses Nebeneinander von Lyrik und Prosa ist für den 1907 auf der Insel Hokkaidō geborenen Yasushi Inoue in einem weiteren Sinne bestimmend gewesen. Lesern seiner Erzählung Das Jagdgewehr, die ihn neben zwei weiteren Titeln (Der Stierkampf und Die Eiswand) bei uns bekannt gemacht hat, wird aufgefallen sein, daß sich im vorliegenden Band ein gleichnamiges Gedicht befindet und daß dies mit dem in der Rahmenhandlung am Anfang der Erzählung stehenden Gedicht nahezu identisch ist. Tatsächlich erschien das hier übersetzte Gedicht erstmals im Oktober 1948 in der Zeitschrift »Shibunka«, während die Erzählung mit dem dort das Thema anschlagenden und leicht abgewandelten Gedicht ein Jahr später in der Oktober-Nummer der Zeitschrift
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»Bungakukai« publiziert wurde. Mit anderen Worten: das eine Handlung nur andeutende Gedicht von 1948 wuchs sich zu der Erzählung von 1949 aus; die zunächst lediglich als »Mann mit dem Jagdgewehr« vorgestellte Figur erhielt ihre abgerundete Geschichte. Diese bei Inoue nicht auf Das Jagdgewehr beschränkte Verfahrensweise läßt sich an der Entstehung einer ganzen Reihe von Erzählungen vor allem in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren beobachten. Es war dies die Zeit, in der er (»Als ich Romane zu schreiben begann, war ich bereits über die Vierzig«) zum großen Romancier wurde. Inoues Weg bis zu diesem Punkt war alles andere als geradlinig. Das gilt für das Biographische wie für den literarischen Werdegang. Nach einer Kindheit, die er auf einem Dorf in den Bergen südlich Tōkyōs bei der Großmutter verlebte, statt bei den Versetzungen seines Vaters, eines Militärarztes, von Ort zu Ort wechseln zu müssen, nach Mittelschuljahren, die er, nicht eben der Fleißigste, auf den verschiedensten Schulen zubrachte, geriet er so spät auf die damalige gymnasiale Präparandenschule, daß er nach der ersten Klasse zum Wehrdienst eingezogen wurde – mit einer beim Jūdō gebrochenen Rippe allerdings, deretwegen man ihn bereits nach vier Monaten wieder entließ. Mit dreiundzwanzig schließlich zum Studium zugelassen, zunächst im südwestlichen Fukuoka, ein Jahr später dann in Kyōto, brauchte er abermals weit über die normale Zeit, bevor er, inzwischen schon verheiratet, 1936 seine Abschlußarbeit über die Lyrik Paul Valérys vorlegte. Hierauf trat er in die Redaktion der Ōsaka Mainichi-shimbun ein und war dort, abgesehen von einem erneuten, diesmal wegen einer Erkrankung an Beriberi abgebrochenen militärischen Zwischenspiel als Artillerist in Nordchina (1937 / 38), bis 1951 im Kulturressort tätig. Während jener Jahre auf der Präparandenschule veröffentlichte er seine ersten Gedichte in einer Gruppenzeitschrift; als
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Student gewann er 1933 den Erzählerwettbewerb einer Wochenzeitung, arbeitete ab 1934 für das Skriptbüro einer Filmgesellschaft, verfaßte einen Kriminalroman, ein 1935 im Shimbashi-Theater in Tōkyō uraufgeführtes Bühnenstück und erhielt 1936 für einen Roman der »Taishū-bungaku« (wir würden von einer »Literatur für den allgemeinen Leser« sprechen) einen hochdotierten Preis. Vor diesem Hintergrund, den journalistischen einbezogen, muß die ›Geburt‹ des eigentlich literarischen Autors Inoue unmittelbar nach Kriegsende gesehen werden. Sie vollzog sich an einem »Mann in mittleren Jahren«, der den »Blick ins weiße Flußbett des Lebens« (Das Jagdgewehr) bereits hinter sich hatte. Die durch zwei Jahrzehnte klar gehaltene und sich stetig sublimierende Lyrik speicherte den Fundus an Erfahrenem und Erlebtem, aus dem sich schöpfen ließ. Sollte damit die Aufgabe des Gedichts erfüllt gewesen sein? Keineswegs. Gerade unser Band, der zu drei Vierteln spätere Gedichte enthält, beweist die erstaunliche Konsequenz, mit der Inoue die Lyrik fortgeführt hat. Gleichsam im Stil eines speichernden Fahrtenbuches auf den zur Materialsammlung immer häufiger unternommenen Reisen – im Lande selbst, dann nach Europa, Amerika, in die Sowjetunion, vor allem aber in den Vorderen und Mittleren Orient, nach Indien, West- und Innerasien und wieder und wieder nach China. Bisher war dem deutschen Leser von der Ernte solcher Reisen – sie füllt einen großen Teil der zuletzt 1970–1975 veranstalteten 31bändigen Gesamtausgabe seiner Romane und Erzählungen – nichts bekannt; immerhin wird die hier vorgelegte Auswahl aus der in der Hauptsache dabei entstandenen Lyrik eine erste Vorstellung von dieser Seite des Autors vermitteln. Unterwegs auf den Straßen Alexanders kommt uns Yasushi Inoue von der anderen Welthälfte her entgegen.
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Inoue schrieb außerdem eine Reihe von Reisebüchern meist kulturhistorischen Inhalts sowie zahlreiche Essays über Probleme der Kunst und Ästhetik. Er erhielt nahezu alle wichtigen literarischen Preise, ist seit 1964 Mitglied der Japanischen Akademie der Künste und wurde 1976 mit der KulturMedaille, der höchsten Ehrung des Landes, ausgezeichnet. Nach dem Tode Yasunari Kawabatas im Jahre 1972 wuchs ihm die Rolle des »Großen Alten« in der literarischen Welt Japans zu. Siegfried Schaarschmidt
Anmerkungen Seite 27: Augen Yung-ting, Fluß in Nordchina; mündet bei Tientsin ins Gelbe Meer. Im japanischen Original dieses Gedichts stehen für »Strom des Unabänderlichen«, hier im allgemeinen Sinne, dieselben Schriftzeichen, die dann als geographischer Name »Yung-ting-Fluß« (d. i. der »Ewig-Unwandelbare«) verwendet werden. Seite 28: Das Jagdgewehr Amagi-Berg, erloschenes Vulkanmassiv auf der Izu-Halbinsel südlich Tōkyōs. Seite 33: Ende des Sommers Götterzeit-Zedern, uralte Zedernstämme, die, unter Vulkanasche oder im Wasser liegend, als Material vor allem für kunsthandwerkliche Arbeiten gesucht werden. Seite 40: Der Himmelsaltar Der marmorne Himmelstempel in der Ebene von Hopei (bei Peking) wurde 1430 vom dritten Ming-Kaiser Yung-lo errichtet. In frühester Zeit dürfte es sich um einen Erdhügel gehandelt haben. – 76 bzw. 176 chin. Fuß entsprechen etwa 27 bzw. 63 m. – Die Fünf Früchte sind Weizen, Reis, Bohnen, Hirse und Kolbenhirse. Seite 41: Die sterbende Sonne Die Hsiung-nu, wohl mit den späteren Hunnen identisch, siedelten zwischen Baikal-See und dem Tarim-Becken, wo sie im 2. Jahrhundert v. Chr. ein erstes Reich bildeten. Seite 45: Die Mumie Zehn Matten (aus Reisstroh bestehende, mit einem Binsengeflecht abgedeckte Bodenmatten, die festliegende Einheit in der traditionellen japanischen Wohnarchitektur) ergeben einen Raum von etwa 4,90 auf 3,85 m.
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Seite 48: Guadalquivir Rokuemon Hasekura (1571–1622), Gefolgsmann des in Sendai in Nordostjapan residierenden Lehnsfürsten Masamune Date, reiste in dessen Auftrag 1613 über Mexiko nach Spanien und Rom, um Handelsbeziehungen anzuknüpfen. In Madrid empfing er die Taufe, in Rom wurde er von Papst Paul V. empfangen. Seine politische Mission blieb erfolglos. Seite 54: Die Steine im Pei-lin Pei-lin, chin.; wörtlich: »Wald der Gedenksteine.« – Obasute-Berg in der jap. Präfektur Nagano; nach der Legende soll, von seiner Frau gedrängt, ein Mann die eigene Mutter auf diesem Berg ausgesetzt (oba-sute, »Aussetzung der Alten«) und später beim Vollmond seine Untat beklagt haben. – T’ai-shan, einer der (heiligen) »Fünf Berge« Chinas. – Abreibungen werden angefertigt, indem man über Steininschriften (nach berühmten Schreibmeistern) ein angefeuchtetes Papier spannt und dieses mit einem Tuschetampon beklopft; das Ergebnis ist ein »Negativ« der Inschrift. Seite 56: Des Meisters Ohren Haruo Satō (1892–1964), Lyriker und Erzähler. – Daigaku Horiguchi (geb. 1892), Lyriker. – Ochiai gehört zum Tōkyōer Stadtbezirk Shinjuku. – Nach einer Kremation ist es Brauch, daß Angehörige und Freunde mit langen Eisenstäbchen (geformt wie die jap. Eßstäbchen) die Überreste in die Urne füllen. Seite 70: Notizen unterwegs Iman, Stadt in Ostsibirien. – Aschchabad, Hauptstadt der Turkmenischen SSR; heute durch den Turkmenischen Kanal mit dem Kaspischen Meer verbunden. Seite 76: März In Nara (646–794 kaiserliche Residenzstadt) werden Mitte März bei einer nächtlichen Reinigungszeremonie mehrere Meter lange Bambusfackeln vor einem Gebäude des Tōdaiji-Tempels geschwenkt.
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Seite 77: Archäologisch Naniwa war die alte Siedlung am Platz der späteren Stadt Ōsaka und während der Regierungszeit des Kaisers Kōtoku (645–654) Residenz; Kaiser Shōmu (724–749) residierte hier interimistisch in den Jahren 744 und 745. Seite 84: Der Tümpel Nirvana-Blume, Lycoris radiata: ein Zwiebelgewächs, das in Japan im Spätsommer blüht und die Tagundnachtgleiche (jap. Higan, d. i. Nirvana) ankündigt. Seite 90: Der Alte im Turban Fudō-myōō (sanskr. Acala), der »Unbewegliche«, buddh. der Vertilger allen Übels; wird von Flammen umgeben dargestellt. – Hanshan, Shih-te, wandernde Dichter-Mönche im China der T’ang-Zeit (618–905); Lebensdaten unbekannt. Seite 99: Der Eremitenberg Tessai Tomioka (1836–1924), Tuschmaler; das Bild »Gefilde des weisen Entzückens« entstand im Jahre 1922.
Quellenhinweise Die Gedichte aus dem Kapitel »Als an einem Abend im April« sind dem 1958 erschienenen Gedichtband Kitaguni (Nördliche Provinzen) entnommen. Die Gedichte aus dem Kapitel »Vor Tagesanbruch« sind dem 1962 erschienenen Gedichtband Chichūkai (Das Mittelmeer) entnommen. Die Gedichte aus dem Kapitel »Frühlingsnotizen für einen Toten« sind dem 1967 erschienenen Gedichtband Unga (Der Kanal) entnommen. Die Gedichte aus dem Kapitel »Einmal eines Tages« sind dem 1971 erschienenen Gedichtband Kisetsu (Jahreszeiten) entnommen. Die Gedichte aus dem Kapitel »Nachglanz« sind dem 1976 erschienenen Gedichtband Enseiro (Eroberungszüge) entnommen.
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Inhalt (Die Jahreszahl zum Gedicht verweist auf die Erstveröffentlichung)
11 Vorwort: Ich und das Gedicht
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Als an einem Abend im April Pflaumenblüte (1933) Park mit kahlen Bäumen (1933) Gescheitert (1933) Februar (1934) Als an einem Abend im April die Kirschblüten fielen (1936) Der Truppentransporter (1946) Dem Freund (1946) Augen (1947) Das Jagdgewehr (1948) Am Strand (1948) Ein Menschenleben (1948) Juni (1955) Oktoberlied (1955) Ende des Sommers (1957)
35 37 38 39 40 41 42
Vor Tagesanbruch Sommerwolken (1961) Vergnügungspark in Los Angeles (1961) Kanton (1961) Der Himmelsaltar (1961) Die sterbende Sonne (1962) Indus (1962)
17 19 20 21 22 23
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43 44 45 46 47 48
Das Hochhaus (1962) In einem Fischerdorf (1962) Die Mumie (1962 Vor Tagesanbruch (1962) Der junge Mann (1962) Guadalquivir (1962)
49 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66
Frühlingsnotizen für einen Toten Frühlingsnotizen für einen Toten (1964) Das Donnern der Brandung (1964) Verbotene Zone (1964) Die Steine im Pei-lin (1964) Das Gewitter (1964) Des Meisters Ohren (1964) Herbstanfang (1964) Schnee (1965) Die Chrysantheme (1965) Bei Rückkehr von der Reise (1965) Die Rutschbahn (1965) Präexistenzen (1965) Der Mongole (1965) Die Stadt in der Wüste (1965) Der Kanal (1965) Die Quellen des Huang-ho (1967)
67 69 70 72 73
Einmal eines Tages Das Dorf am Baikal-See (1968) Notizen unterwegs (1968) Das Meerleuchten (1968) Spätsommer (1968)
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Tage der Verzagtheit (1968) Einmal eines Tages (1970) März (1970) Archäologisch (1970) Basis (1970) Elegie (1971) Frühlingsanfang (1971) Mai (1971) Im Morgengrauen (1971) Der Tümpel (1971) Die azurene Bläue (1971)
87 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101
Nachglanz Drei lyrische Themen (1963) Der Alte im Turban (1974) Türkische Wüstenfahrt (1974) Pfeilspitzsteine (1974) Nachglanz (1974) Eroberungszüge (1975) Unerlaubte Grabungen (1975) Abschiedsgesänge (1975) Der verwilderte Garten (1975) Am Kap (1975) Der Eremitenberg (1975) Das neue Jahr (1976) Reisen (1976)
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Anhang Nachwort Anmerkungen Quellenhinweise 115
639 Ein Menschenleben währet, sagt man, fünfzig Jahre. Vater wurde vor vierzig Jahren geboren, und du hast noch nicht einmal die Dreizehn voll …