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Von der Serie MAGIC. Die Zusammenkunft™ erschienen in der Reihe HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13.
Band: William R. Forstchen, Die Arena • 06/6601 Band: Clayton Emery, Flüsterwald • 06/6602 Band: Clayton Emery, Zerschlagene Ketten • 06/6603 Band: Clayton Emery, Die letzte Opferung • 06/6604 Band: Teri McLaren, Das verwunschene Land • 06/6605 Band: Kathy Ice (Hrsg.), Der Gobelin • 06/6606 Band: Mark Summer, Der verschwenderische Magier • 06/6607 Band: Hannovi Braddock, Die Asche der Sonne • 06/6608 Band: Teri McLaren, Das Lied der Zeit • 06/6609 Band: Sonia Orin Lyris, Der schlummernde Friede • 06/6610 Band: Kathy Ice (Hrsg.), Ferne Welten • 06/6611 Band: Robert E. Vardeman, Erbe des Dunkels • 06/6612 Band: Jeff Grubb, Bruderkrieg • 06/6613 (in Vorb.)
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ROBERT E. VARDEMAN
Erbe des Dunkels ZWÖLFTER BAND Roman Deutsche Erstausgabe
h WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/6612 Besuchen Sie uns im Internet: http://www.heyne.de Titel der Originalausgabe MAGIC THE GATHERING ™ DARK LEGACY Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Birgit Oberg Das Umschlagbild malte Paul Lehr
Umwelthinweis: Dieses Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt.
Redaktion: Joern Rauser Copyright © 1996 by Wizard of the Coast, Inc. Erstausgabe bei HarperPrism, A Division of HarperCollinsPublishers, New York Copyright © 1998 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1998 Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Technische Betreuung: M. Spinola Satz: Schaber Datentechnik, Wels Druck und Bindung: Presse-Druck, Augsburg ISBN 3-453-14926-2
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Für Patty. Auf ewig.
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DANKSAGUNG Es haben mir so viele Menschen in schwierigen Phasen beim Schreiben dieses Buches geholfen, daß ich bestimmt den einen oder anderen unabsichtlich vergesse. Bitte entschuldigt. Dank sei jenen, die sich um mich kümmerten, mir Mut machten und uns zur Seite standen: Dr. Amy Tarnower; Amy Antle, Dorothy, Mary und allen anderen im Chemozimmer; Molly Brown, Anna, Terry und der Legion von Menschen im vierten Stock NW, deren Namen mir nicht einfallen; Max Mottram. Und auch den besten Freunden in diesem und jedem anderen Universum: Fred und Joan Saberhagen, Kathy und Danny O’Connor, Rene und Bill Hallett, Craig Chrissinger, Kate Keefe, Sue und Dennis Keefe, TJ und Maclean Zehler, Dennis und Lou Liberty, Steve Donaldson, Petra Heger, Patricia Rogers und Scott Denning, Mike Stackpole und Liz Danforth, Stephanie Boutz, Dan Maccallum, Sal DiMaria, Rabbit, Mike and Marilyn Kring, Mike und Denise Wernig, Bill McClellan und Eric Klammer, Jodi Stinebaugh, Audra Struble, Roslee Orndorff, Pat Weber, Raina und Sean Robison, Jennifer Rober-son, Simon Hawke, Martin und Laurie Cameron, Geo, und Lana Proctor, Mike Montgomery, Al Sarran6
tonio, Victoria Lopez; Rose Fehr, Steve Dolch, Alicia, Martha, Carol, Matthew und den anderen bei Van Buren; Sherry Rohrig, Allison Almquist, Caroline Alexander und den anderen bei Wherry; Sue Kramer; Geoff Comber. Für ihr Verständnis ziehe ich meinen Hut vor Kathy Ice, Kij Johnson und Jana. Ganz besonderer Dank gebührt Gordon Garb und Hildreth Garb. Es gibt nicht genügend Worte, meine Dankbarkeit für eure Freundlichkeit und Großzügigkeit auszudrücken.
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Ein Kraftstrom durchdrang das schmale Tal, begleitet von dichtem weißem Dunst, der von den beiden Zwillingskratern aufstieg. Yunnie schauderte, als die Kraft in seinen Körper und Geist eindrang und ihn mit ungekannter Energie erfüllte. Kräftige Hände strichen die flachsblonden Stirnlocken beiseite, und er wandte das Gesicht der Sonne zu, um ihre Wärme in sich aufzunehmen. Die blauen Augen geschlossen, die Sonne auf seiner wettergegerbten, gebräunten Haut spürend, wünschte er sich, bis in alle Ewigkeit hier stehen zu können und die Kraft durch den hochgewachsenen, schlanken Körper strömen zu lassen. Das Gefühl hielt nur wenige Sekunden lang an. Dann beunruhigte der Gedanke, daß er nicht mehr Herr seiner selbst war, Yunnie so sehr, daß er von einem Fuß auf den anderen trat. Er wich von dem schmalen Felsvorsprung zurück, unter dem sich ein fünfzig Fuß tiefer Abgrund auftat. Die gähnende Tiefe machte ihn schwindlig. Oder lag es an dem beißenden Geruch der weißen Dunstschwaden? Oder an dem Energiestoß, der ihn ganz durcheinanderbrachte? Es schienen alle diese Gründe zusammen zu sein, 8
aber da war noch etwas. Die Nüstern des neben ihm stehenden Mytaru weiteten sich, und er schnaubte unwillig. Die großen Füße des Minotaurus scharrten unbewußt auf dem steinigen Untergrund, während er die muskelbepackten Arme über der breiten Brust verschränkte und die großen braunen Augen schloß. Yunnie riß sich von dem Abgrund los und wandte seine Aufmerksamkeit dem Freund zu. Er beneidete Mytaru um dessen unglaubliche Stärke, doch der Glaube des Minotauren, von übersinnlichen Kräften geleitet zu werden, störte Yunnie. Während seines kurzen, beschwerlichen Lebens hatte er gelernt, daß er sich auf niemanden außer auf sich selbst verlassen konnte. Sicher, Mytaru hatte ihm das Leben mehr als einmal gerettet, aber Yunnie ging davon aus, daß der Minotaurus nicht immer zur Stelle sein würde, wenn ihm Gefahr drohte. Er mußte allein mit den Mißlichkeiten fertig werden, die das Schicksal für ihn bereithielt. Und es würde ihm gelingen, dachte er, während er das Gefühl der Allmacht genoß, das aus der Tiefe strömte. Dann ergriff ihn erneut eine unbestimmbare Besorgnis, als ihm einfiel, daß sich an diesem Ort noch eine andere Hilfe bot, auf die er sich jedoch nicht verlassen konnte. Dennoch war das Gefühl, das ihn durchdrang, so stark, daß es ihm keine Zweifel oder gar ein Verleugnen gestattete. »Spürst du ihre Kraft?« fragte Mytaru mit heiserer Stimme. »Die Erdgeister pumpen Energie durch jene 9
Öffnungen und schicken sie hoch in die Lüfte, damit wir sie aufnehmen können!« »Ja, ich spüre etwas«, gab Yunnie zu. Unruhig scharrte er mit den Füßen. »Die Erde bebt.« Auch wenn er sich noch so sehr bemühte – er konnte sich nicht überwinden zuzugeben, was er wahrhaftig fühlte. Es gab hier etwas, das mächtiger war als all seine Künste und Fähigkeiten, und es wurde von solcher Überzeugungskraft getragen, daß er sich gleichzeitig überschwenglich und demütig fühlte. »Das ist mehr als nur ein kleines Erdbeben, mein Freund«, beharrte Mytaru. Runde braune Augen sahen Yunnie an. »Du hast es ebenfalls gespürt. Ich sehe es dir am Gesicht an. Du möchtest am liebsten abheben und fliegen, obwohl du nicht die Flügel eines Serraengels besitzt. Du möchtest schneller laufen als jeder Zentaur. Es müssen edle Taten vollbracht werden, und nur du verfügst über die Stärke und Geschicklichkeit, sie zu bewältigen. In dir baut sich eine ungeahnte Kraft auf und droht dich zu verzehren. Gib zu, daß es eine größere Energie gibt als die, die hier drinnen steckt.« Mytaru beugte sich vor und tippte auf Yunnies nackte Brust. »Die Dämpfe, die aus der Erde aufsteigen, tragen vielleicht ein schädliches Gas in sich, das uns verwirrt, uns benommen macht und uns den Eindruck vermittelt, bedeutend stärker zu sein, als es der Fall ist.« Noch während er redete, wußte Yunnie, daß er seinen innersten Gefühlen widersprach. Die weißen Dämpfe, die 10
leicht nach Schwefel rochen, erschwerten ihm das Atmen und brannten ihm in den Augen – aber sie waren nicht schuld an seiner Überschwenglichkeit und der Aufregung, die Kraft in sich einströmen zu fühlen, als fließe Wasser in einen Krug. »Dies ist ein Ort der Macht«, fuhr Mytaru fort. »Wir Urhaalan kommen hierher, um ihr zu huldigen. Wenn wir uns von ihr berühren lassen, erfahren wir einen Bruchteil von dem, was durch die Einmischung der Götter geschehen kann.« »Ich verspüre die Kraft«, gab Yunnie schließlich zu. Er schloß die Augen und ließ die Energie, die sich unter seinen Stiefelsohlen zu sammeln schien, bis an die Knöchel steigen, dann die Waden empor bis zu den Schenkeln und endlich auch in sein Herz und seinen Kopf. »Bist du sicher, daß es nichts mit Magie zu tun hat?« Der Minotaurus zuckte die Schultern und schüttelte den Kopf. Die sorgfältig polierten schwarzen Hörner glänzten in der Sonne. »Fühlt es sich etwa schlecht an? Du denkst viel zu viel über fehlgeschlagene Magie nach. Die Kriege der Brüder fanden in der Vergangenheit statt und haben uns nicht so berührt wie den Rest von Terisiare.« »Trotzdem ist es nicht recht«, erwiderte Yunnie. »Wir sollten uns nicht an diesen machtvollen Gefühlen berauschen. Es verführt uns dazu, uns für stärker zu halten als wir in Wirklichkeit sind.« Seine Worte stießen auf taube Ohren. Mytaru trat bis 11
an den zerklüfteten Felsrand vor, starrte in den aufsteigenden Dunst und stimmte einen traurigen Gesang an, der das Gefühl der Unverwundbarkeit, das Yunnie ergriffen hatte, noch verstärkte. Das Lied erzählte von vergangenen Todesfällen und zukünftigem Unglück, und Yunnie verspürte einen Kloß im Hals, der ihn am Sprechen hinderte. Er wich von dem Felsvorsprung, auf dem der Minotaurus stand, zurück und kletterte ein Stück den Berg empor. Als er sich auf einen Felsen hinaufzog, bot sich ihm ein veränderter Ausblick auf die rauchenden Krater, die noch immer den weißen Dunst ausspien. »Ein Gesicht«, sagte er und starrte auf den Kopf eines riesigen Minotaurus hinab, der sich aus den Tiefen der Erde schob. »Und durch die Nasenlöcher wird der Atem der Welt ausgestoßen.« Die riesige Felsformation hatte keine Augen, aber Yunnies Phantasie setzte sie zu beiden Seiten der Krater ein. Zwei große Steinbrocken, aus den verschiedensten Grautönen bestehend, verhalfen seinem Minotaurusbild zu einem funkelnden Augenpaar. Ein kristallklarer Bach verließ sein angestammtes Bett und ergoß sich zu beiden Seiten der Felsen, um die silbrigen Haarsträhnen und einen Rahmen für das Gesicht zu bilden. Unter dem kantigen Kinn vereinte sich das Gewässer wieder und strömte gurgelnd und schäumend als Wasserfall in einen tiefergelegenen See. Yunnie blickte zu seinem Freund hinüber, der sein trauriges Lied aus voller Kehle schmetterte. Wie die 12
Minotauren doch litten! Sein Leben, dessen Kindheit er an der Küste des Ilesemaremeeres verbracht hatte, war völlig anders verlaufen als das des Urhaalan. Vor vielen Jahren waren die zähen kleinen Fische, von denen das Leben des Dorfes Shingol abhing, nach Süden gezogen und nie zurückgekehrt. Der Verlust ihres Hauptnahrungsmittels hatte viele Fischer gezwungen, sich eine neue Arbeit zu suchen, was nicht allen gelang. Yunnie hatte es nicht als Nachteil empfunden, an Land bleiben zu müssen und sein Glück zu versuchen, während die wenigen Mitglieder seiner Familie weiterhin unzählige Stunden harter Arbeit damit verbrachten, Tiefseenetze einzuholen, in denen sich nur noch wertlose Fische tummelten. Im Gegensatz zu seiner Schwester Essa und ihrem Mann, dem einäugigen, noch dazu kurzsichtigen Heryeon, fühlte er sich dem unsteten Meer nicht sonderlich verbunden. Er hatte seine Bestimmung landeinwärts, bei den Urhaalan und dem Krieg, den sie ausfochten, gefunden, ohne daß es ihm jedoch bewußt geworden war. Yunnie war in die Berge gezogen, um allein zu sein. Dort hatte er Freunde gefunden – und mehr. Mytaru war der Bruder, den er nie gehabt hatte. Mytarus Onkel Mehonvo, der nur ein Horn besaß, hatte die Vaterrolle übernommen, und die Mutter des Freundes, Usru, sah auch er als Mutter an. Noadia, Mytarus Frau, liebte er wie eine Schwester. Yunnie lächelte, als er daran dachte, wie sehr sich sein Leben seit jenem kalten regnerischen Frühlingstag vor vielen Monaten verändert hatte, 13
als er Shingol verließ. Am Fuße der Berge hatten sich sein und Mytarus Weg gekreuzt, und die augenblicklich empfundene Bewunderung füreinander war noch erstaunlicher als dieser Ort hier. An jenem Tag hatte er Mytaru nicht wirklich gerettet. Yunnie hatte beobachtet, wie Mytaru und drei andere Minotauren eine kleine Gruppe von Elfen vertrieben, die weit außerhalb ihres Waldes auf Raubzüge aus waren. Die Elfen hatten ein paar Längen fest geschmiedeter Ketten und etliche der besten und schärfsten Speerspitzen gestohlen. Die Minotauren hatten die Waldbewohner entdeckt und ihnen das Diebesgut entwendet, als Yunnie sie auf die im Hintergrund lauernden Goblins aufmerksam machte, die Mytaru daraufhin verjagte. Als Dank für seine Hilfe luden ihn die Minotauren ein, an ihrer Mahlzeit teilzuhaben. Zwei Wochen lang hatte er sie auf dem Rundgang begleitet, den die Wachen durchführten, um das Tal ihres Volkes zu schützen, und mit jedem Tag hatte sich die Bindung zwischen ihm und Mytaru vertieft. Stück für Stück hatten sie einander von ihrem Leben erzählt, und Yunnie hatte versucht, Mytaru davon zu überzeugen, daß ein paar diebische Elfen keine Bedrohung für die Urhaalan darstellten. Am besten wäre ein Abkommen mit den Waldbewohnern, gemeinsam die Goblins zu verjagen, die bei jeder Gelegenheit raubend und mordend durchs Land streiften, wie es ihre Art war. Mytaru hatte niemals zugestimmt, daß die Elfen sich als hilfreiche Verbündete erweisen könnten, aber Yun14
nie hatte dem Minotaurus deutlich gemacht, ein wachsameres Auge auf die Goblins zu haben. Die Erlaubnis, diesen Ort der Macht betreten zu dürfen, zeigte, wie sehr die Urhaalan Yunnie, der seit sechs Monaten bei ihnen lebte, als einen der ihren betrachteten. Yunnie holte tief Luft und hielt den Atem an, als er eine Bewegung unweit eines der Krater wahrnahm. Er schirmte die Augen gegen die Sonne ab und versuchte herauszufinden, wer oder was sich dort unten aufhielt. Die entsetzliche Hitze nahe der Krater und der mit Lava gefüllten Felsspalten brachte gewöhnliche Steine zum Schmelzen. Es wunderte ihn, daß sich irgendein Lebewesen überhaupt dort unten aufhalten konnte, und er fragte sich, ob ihm seine Augen vielleicht einen Streich spielten. Doch jetzt sah er sogar zwei Gestalten. Die eine war dunkel und verschwommen sichtbar, die andere erstrahlte weißglühend – wie die geschmolzenen Steinbrocken ringsumher. »Da!« rief Yunnie, als er zwei Schatten an den Kratern vorüberhuschen sah. »Mytaru, siehst du sie? Das könnten Goblins sein!« Der Minotaurus sang unbeirrt weiter. Vielleicht hatte er den Ruf des Freundes nicht gehört, oder aber er zog es vor, ihn nicht zu beachten, um sein rituelles Lied beenden zu können. Yunnie hütete sich, Mytaru noch einmal zu stören. Die Urhaalan legten großen Wert auf ihre umständlichen und oftmals geheimen Rituale, und er wußte, daß 15
man einen Bullen nicht erzürnen durfte. Ein wütender Minotaurus kämpfte mit der Kraft und Wildheit von sechs Männern. Er blinzelte und versuchte, die Gestalten bei den Kratern auszumachen. Zuerst hatte er angenommen, ein Goblin husche dort umher, aber das war unmöglich. Selbst hier oben war die Hitze noch so stark zu spüren, daß ihm der Schweiß auf der Stirn stand. Ein angestrengtes Spähen enthüllte ihm ... was? Die dunkle Gestalt war verschwunden, wie es bei einem tanzenden Schatten vorkommen kann, aber die andere? Yunnie starrte angestrengt zu dem glühenden Steinhaufen hinüber. Wenn die lavaspeihenden Krater flüssige Felsbrocken an die Erdoberfläche geschleudert hatten, konnten sie nicht wie lebendige Wesen umherlaufen. Welches Lebewesen warf von der Sonne unabhängige Schatten, als leuchte es durch ein ganz eigenes Licht? Neugier trieb ihn den Abhang hinab, bis er den Felsvorsprung über den dampfenden Öffnungen erreichte. Wieder nahm er eine unerklärliche Bewegung wahr, die ihn nur noch neugieriger machte. Jetzt mußte er der Sache auf den Grund gehen, sonst würde ihn das Geheimnis noch in den Wahnsinn treiben. Der Abstieg erwies sich jedoch als bedeutend schwieriger, als er angenommen hatte. Es führte kein Pfad in die Tiefe. Yunnie stieß einen Schrei aus, als die Steine unter seinen Füßen nachgaben. Er fand keinen Halt und rutschte abwärts. Vergeb16
lich kratzte und scharrte er mit den Händen, glitt aber unaufhörlich tiefer den Abhang hinab. Einen Augenblick lang lenkten ihn die tiefen Risse und Abschürfungen, die er sich an Armen und Oberkörper zuzog, ab. Dann beschloß er, die Schmerzen nicht länger zu beachten und krallte die Finger in ein paar herabbaumelnde Wurzeln, die plötzlich vor seinen Augen auftauchten. Der plötzliche Ruck und der schreckliche Schmerz in den Schultern, als sein Fall aufgehalten wurde, hätten ihn beinahe dazu gebracht, wieder loszulassen. Strampelnd suchte er mit den Füßen halt auf den Felsen und blickte in die Tiefe, wobei ihm die Unsinnigkeit seines Unternehmens bewußt wurde. Es schien aussichtslos, den Aufstieg zu wagen, da er über sich lediglich Geröll und lockeren Erdboden sah. Also blieb ihm nur eine Richtung – es sei denn, er wollte hier hängenbleiben, bis Mytaru sein Lied beendet hatte. Um nicht in die Lava zu rutschen, änderte Yunnie die Richtung seines Abstiegs und landete schließlich wenige Zoll von den glutheißen Kratern entfernt. Er verschwendete keine Zeit und stürmte aus der Schlucht. Der wallende Dunst drohte ihn zu ersticken, und die unerträgliche Hitze schien ihm das Fleisch von den Knochen zu schmelzen. Der Schweiß rann ihm in Strömen über den nackten Oberkörper und bahnte sich einen Weg in die enge lederne Hose. So begierig er auch darauf war, möglichst viel Entfernung zwischen sich und die rauchenden Krater zu legen, konnte er nicht umhin, nach ein paar Schritten 17
stehenzubleiben und sich umzudrehen. Yunnie schirmte die Augen gegen die weißglühende Hitze ab, die von dem geschmolzenen Gestein ausgestrahlt wurde, das unweit der Krater lag. »Wer oder was bist du?« flüsterte er, als sich eine mindestens sechs Fuß hohe Gestalt erhob und seine starken Arme nach ihm ausstreckte, die wie brennende Kohlen leuchteten. Im Mittelpunkt des ausdruckslosen Gesichtes öffnete sich ein Mund, der ein weißglühendes Inneres enthüllte. Yunnie schrie vor Entsetzen und taumelte davon. Durch die Anstrengung atmete er die widerwärtigen Dämpfe ein, die seine Kehle austrockneten. Er hustete und fiel, nach Luft ringend, auf die Knie. Der schwefelhaltige Rauch, der aus dem Boden aufstieg, versperrte ihm die Sicht. »Wer ...?« keuchte er mit letzter Kraft. Er versuchte, dem schemenhaft sichtbaren Wesen zuzuwinken. Wenn ihn die Kreatur sah, so schenkte sie ihm keinerlei Beachtung. Yunnie wußte, er würde ersticken, wenn er noch länger hierblieb. Er stand auf und stolperte weiter. Die Kraft, die er noch vor kurzem in seinen Adern gespürt hatte, verließ ihn allmählich. Mit jedem Schritt wurde er schwächer. Selbst der kleinste Atemzug trieb einen Dolch aus Schwefeldämpfen die Kehle hinab bis in die Lunge. Seine Augen begannen zu tränen und gaukelten ihm Trugbilder vor. Er glaubte, einen Pfad zu erkennen – und stürzte in die Tiefe. 18
Im Fallen bereitete sich Yunnie auf seinen Tod vor. Daß er plötzlich im Wasser landete, überraschte ihn zutiefst. Das heiße, klare Wasser spülte die giftigen Schwaden, die ihn blendeten und zu ersticken drohten, fort. Instinktiv ruderte Yunnie mit Armen und Beinen, um an die Oberfläche des sanft vor sich hinblubbernden Teiches zu gelangen, holte tief Luft, als er es endlich geschafft hatte und warf den Kopf zurück, um sich das blonde Haar aus den Augen zu schleudern. Dann schwamm er hastig ans Ufer. Sein Körper schmerzte noch stärker, weil das heiße Wasser in die unzähligen Schnittwunden gedrungen war. »Eine äußerst ungewöhnliche Zeit, um ein Bad zu nehmen«, bemerkte Mytaru, der hoch über Yunnie aufragte, als der sich aus dem heißen Wasser hochzog. »Nun, bloß zur Entspannung gehst auch du nicht schwimmen«, antwortete Yunnie und schüttelte sich wie ein nasser Hund. »Ich auch nicht, wenn das Wasser kochendheiß ist, aber in diesem Fall hat es mir das Leben gerettet.« Er schüttelte sich noch einmal und rieb sich die gerötete Haut. An einigen Stellen bildeten sich weiße Blasen, aber wenn er keine schlimmeren Verletzungen davongetragen hatte, schätzte Yunnie sich glücklich. Er streckte die langen Beine aus und entdeckte weitere Schürf- und Schnittwunden. Vorsichtig massierte er sich die Muskeln und gelobte, Noadia um die Verabreichung ihrer geheimnisvollen Heilkräuter zu bitten, wenn sie nach Hause zurückkehrten. 19
»Wie bist du so schnell hierher gelangt?« fragte Yunnie. »Ich bin gefallen.« Mytaru wurde ernst. »Ich sah dich den Abhang hinabrutschen und dachte, du müßtest sterben. Warum hast du dich närrischerweise auf eine Reise begeben, die nur wenige überleben, wenn du doch genausogut den Pfad hättest nehmen können?« Es kam ihm gar nicht in den Sinn, daß Yunnie ausgerutscht sein könnte. Die Minotauren waren so trittsicher, daß sie nie begreifen würden, wie jemand einfach das Gleichgewicht verlor. »Ich habe ein Wesen in der Nähe der Krater gesehen«, erklärte Yunnie, der seine Unachtsamkeit nicht zugeben mochte. Der Sturz und die unverhoffte Rettung hatten ihn schwindlig gemacht, aber er erinnerte sich deutlich daran, zwei Gestalten unweit der aufsteigenden Rauchsäulen gesehen zu haben. Er blickte über den Teich hinweg zu dem Wasserfall hinauf, der sich von oben ergoß. Der Bach vereinte sich genau unter dem felsigen Kinn des gigantischen Gesichtes wieder. Es war sein Glück gewesen, daß dieser Teich nur durch das von oben strömende Wasser erhitzt wurde und nicht durch die glühenden Lavamassen. In diesem Fall wäre er innerhalb weniger Sekunden zu Tode gebrüht worden. Der Wasserfall sorgte dafür, daß ein Teil der Hitze entwich, ehe sie in den Teich gelangte. »Unmöglich. Das kann niemand längere Zeit aushalten.« Dann wurde Mytaru nachdenklich und fragte: 20
»Wer könnte es gewesen sein?« Yunnie lächelte verschmitzt über das Vertrauen, das sein Freund in ihn setzte. Niemand hätte mehr als ein paar Minuten überleben können, aber dennoch hatte er eine, nein, zwei Gestalten gesehen. Und weil er davon überzeugt war, war es auch Mytaru. »Zuerst dachte ich an einen Goblin«, erklärte Yunnie, »als ich aber näher kam, hatte es keinerlei Ähnlichkeit mit dem Diebesgesindel, das ich kenne.« »Vielleicht ein Angehöriger des Lumpensammlervolkes? Unsere Späher haben berichtet, kleinere Gruppen in unsere Richtung ziehen zu sehen. Die Städte entlang der Küste scheinen sie vertrieben zu haben.« »Die Inquisitoren glauben, die Lumpensammler handeln mit magischen Artefakten oder seien gar Zauberer.« Yunnie lachte grimmig. »Diese Besessenen mit ihren roten Umhängen sehen Magie, wo auch immer sie es für angebracht oder sicher halten.« »Ihr Menschen habt einen seltsamen Glauben«, meinte Mytaru. »Er beruht nicht auf Kraft und Heldentum wie der unsere, sondern auf Furcht und Schuldgefühlen.« »Du denkst völlig falsch, wenn du glaubst, daß die Inquisition von allen Menschen geschätzt wird. Ihre Währung heißt Angst, und dieses Zahlungsmittel habe ich leider nicht in der Tasche.« Wieder starrte Yunnie zu dem Felsen empor, über den sich der Wasserfall ergoß. Er kniff die Augen zusammen, als könne er so die Steine durchdringen und 21
die eigenartige Kreatur entdecken, die er nahe der Krater erblickt hatte. »Wir Urhaalan begnügen uns damit, unsere Grenzen zu verteidigen und menschliche Narretei fernzuhalten, um von ihr nicht gestört zu werden.« Yunnie erkannte eine Möglichkeit, sein Lieblingsthema anzuschneiden und sagte: »Ihr solltet mit den Elfen reden und Frieden schließen.« »Was? Warum?« Mytaru scharrte auf dem Boden. Sein breiter Brustkorb blähte sich auf, als er tief Luft holte und den Kopf mit den gefährlichen dunklen Hörnern wie beim Angriff schüttelte. »Sie bestehlen uns. Wie lange noch, ehe sie den Wald verlassen, um uns zu töten? Verglichen mit ihren erbärmlichen kleinen Hainen leben wir hier im Paradies.« »Sie sind ganz in Ordnung«, wandte Yunnie ein und überlegte sich die nächsten Worte sorgfältig. Er sah, wie sich Mytarus Nüstern bei der Behauptung, die Elfen seien nicht bösartig und darauf aus, die Minotauren aus ihrer Heimat zu vertreiben, aufblähten. Yunnie hatte genügend Zeit bei den Elfen verbracht, ehe er bei den Urhaalan eine Heimat fand, um zu wissen, daß sie ein ehrbares Volk waren. Er hatte sich nicht gut einleben können, da die Elfen ein ausgeprägtes Sippenbewußtsein besaßen. Bei den Minotauren hatte er gleich Freundschaft genossen, aber die elfische Zuneigung war viel schwieriger zu erringen, auch wenn Yunnie glaubte, sie besser zu verstehen als die Minotauren. 22
Bei dem Gedanken lachte er verbittert. Sein Heimatdorf Shingol war nicht weniger sippenbewußt, und bei den Minotauren mit ihren umständlichen Zeremonien und Ritualen war es sogar noch schlimmer. Vielleicht bewunderte er die Elfen wegen ihres engen Zusammenhaltes und der selbstlosen Ergebenheit ihrem Volk gegenüber so sehr. Bei einem Krieg zwischen Minotauren und Elfen würde es auf beiden Seiten Verlierer geben. »Wir werden niemals ein Abkommen mit Elfen schließen!« verkündete Mytaru mit barscher Stimme. »Außer, wenn es uns dazu dient, sie auf die Hörner zu nehmen!« Er schüttelte drohend die Hörner und schritt von dannen, ohne sich zu vergewissern, ob Yunnie ihm folgte. Yunnie zögerte und bahnte sich dann einen Weg durch das den Teich umgebende Unterholz, um den Freund einzuholen. Er wollte die Minotauren überzeugen, daß ein Frieden mit den Elfen für beide Völker von Vorteil wäre – und was, bei allen Dämonen, hatte er dort unten bei den Kratern gesehen?
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Dunkelheit. Eine Dunkelheit, die so dicht war, daß sie Peemel wie eine warme, schwarze Decke einhüllte, als er auf den Balkon vor seinem Zimmer trat. Nie zuvor hatte er erlebt, daß die Stadt von derart dichtem Nebel verhüllt wurde. Kräftige Hände umklammerten das Geländer, ehe er die Augen schloß und langsam wieder öffnete. Es machte keinen Unterschied, ob sie geöffnet oder geschlossen waren. Dunkelheit. Selbst das vertraute Bild der Sterne, die er sein Leben lang gekannt hatte, war am nächtlichen Himmel ausgelöscht. Es schien, als hätten die Götter den Nebel über Iwset geworfen, damit er seine Aufmerksamkeit von den unwichtigen Dingen abwandte, die ihn in der Stadt hielten. Die Stachelschlange, die sich in sternenklarer Schönheit vom Zenit aus über den ganzen Himmel erstreckte, um sich schließlich um den Polarstern zu winden, war nicht mehr zu sehen. Nirgendwo konnte der gutaussehende Herrscher von Iwset den hauchzarten weißen Fleck der Locken der Jungfrau oder das unverwechselbare Muster des Dutzend Sterne erblicken, die das Zerbrochene Schwert von Ennea bildeten. Oder die Verlo24
rene Ratte, die nach ihrem Schlupfloch suchte, oder die beiden Dryaden und nicht einmal das deutlichste aller Sommersternbilder, die Waffen von Elysium, das oftmals so hell erstrahlte, daß es schwächere Sterne verdrängte, wenn es am östlichen Horizont erschien. »Dunkelheit, Dunkelheit, leite mich«, murmelte Peemel. Licht ergoß sich aus seinem Gemach und bildete einen Kreis zu seinen Füßen. Er trat danach, als wolle er ihn fortstoßen. Heute abend wünschte er keine Helligkeit, weil er nach einem Zeichen suchte, auf ein Omen wartete, auf etwas, das ihm zeigte, ob er den richtigen Weg für seinen brennenden Ehrgeiz eingeschlagen hatte. »Beweist mir, daß ich keinem unsinnigen Weg folge.« Flehend breitete er die Arme aus, als ein blendend greller Blitz den nebelverhangenen Himmel erhellte. Instinktiv riß Peemel den Arm hoch, nicht, um zu beten, sondern um seine Augen vor dem grellen Licht zu schützen, das die eben noch undurchdringliche Dunkelheit verdrängte. Er fühlte, daß sein aus dickem rotem Samt bestehender Ärmel Feuer fing. Der Herr von Iwset schlug die winzigen Flammen aus. Im Innenhof, wo der Blitz unter seinem Balkon eingeschlagen war, brodelte eine Pfütze aus geschmolzenem Stein. Vor seinen Augen tanzten gelbe und blaue Funken, durch den hellen Blitzstrahl hervorgerufen, und Peemel blinzelte, um wieder sehen zu können. Als er den Blick zum Himmel wandte, erkannte er die vertrauten Um25
risse der beiden Monde, die seit ewigen Zeiten den Kontinent Terisiare mit ihrem freundlichen Licht erfreuten. Wie gewohnt versteckte sich der größere Mond, dessen Name niemals laut ausgesprochen werden durfte, hinter einem Schleier aus tanzenden, hin- und herwogenden Nebelschwaden. Seine wunderschön anzusehende Sichel schien Regen zu verkünden, denn sie neigte sich seitwärts und vergoß ihre nasse Fracht. Peemel schüttelte den Kopf und wandte seine Aufmerksamkeit dem kleineren Mond zu. Diese Märchen über Wind und Regen kümmerten ihn jetzt nicht. Er verlangte nach Tatsachen, und nicht nach Aberglauben. Wen interessierte schon, ob es in Iwset regnete oder nicht? Das Wetter war völlig unwichtig, wenn es um das Schicksal eines ganzen Kontinents ging. Ein Zeichen. Er brauchte ein Zeichen. Deshalb betrachtete er den kleineren Mond Iontiero. Der kleine Mond, dessen verschwommene Umrisse zu sehen waren, hatte den grellen Blitzstrahl entsandt, der sein Gewand in Brand gesteckt und ihm die Augenbrauen versengt hatte. Peemel warf den Kopf zurück und glättete das lange schwarze Haar, das im Nacken von einem juwelenbesetzten Ring zusammengehalten wurde. Kein Feuer bedrohte sein gepflegtes Haupt, und es fielen auch keine Seuchen vom Himmel. »Noch einmal«, flüsterte er und starrte den Mond an, der über den Himmel raste. Bewegte sich Iontiero nicht viel schneller als sonst? Peemel war sich dessen 26
gewiß. Während die helle Sichel wie ein übermütiges Vollblut dahinstürmte, spie sie winzige grüne und blaue Funken aus. Sobald diese Funken den Himmel berührten, veränderten sie ihn ein wenig. Hatte sich die Dunkelheit nicht in ein helleres Violett verwandelt? Oder lag es daran, daß der ganze Himmel Feuer gefangen hatte und nun so wie der riesige Vulkan im Süden brannte, den man ›Zorn der Welt‹ nannte? »Gib mir noch ein Zeichen«, verlangte Peemel und forderte die völlige Anerkennung seiner Pläne, ehe er einen Weg einschlug, von dem es kein Zurück mehr gab. Er taumelte, als Iontiero noch eine Kaskade von Funken hervorbrachte, die sich zuckend miteinander verbanden, wahre Energiestränge bildeten und explodierten, sobald sie einander berührten. Sie wanden sich wie Schlangen, denen ein unheimliches Leben eingehaucht worden war. Der Himmel öffnete sich, und für einen kurzen Augenblick sah Lord Peemel nur die zwei mal zwanzig Sterne, die die Waffen von Elysium bildeten. Dann verschwanden sie unter dem neuen Angriff Iontieros. Die hin- und herschwingenden energiegeladenen Peitschenstränge leuchteten greller und greller und spendeten beinahe taghelles Licht – aber nur in dem Innenhof unter Peemels Balkon. Der Herrscher blickte hinab, und ein höhnisches Lächeln umspielte seine Lippen. Abt Offero stand unten im Hof, neben dem rasch erkaltenden Krater der vom 27
Blitz getroffenen Pflastersteine, das Gesicht dem himmlischen Schauspiel zugewandt. Der Großinquisitor, in seinen blutroten Umhang gehüllt, hatte wenig Menschliches an sich, als sein Gesicht von tanzenden Schatten verhüllt wurde. Die dunklen Augen des Abtes begegneten den farblosen Peemels. »Mein Zeichen«, erklärte der Herrscher. Er breitete die Hände aus und machte eine wohl durchdachte Bewegung, die keinen Zweifel an der ihm zuteil gewordenen Gnade aufkommen ließ. Abt Offero verneigte sich tief, zog die Kapuze über den Kopf und verschwand in der Dunkelheit. Die Würfel waren gefallen. Sie waren in der Dunkelheit gefallen, und das freute Peemel. Er blickte zum Himmel empor und beobachtete, wie Iontieros fieberhaftes Gebaren allmählich nachließ und schließlich ganz aufhörte. Die Dunkelheit spuckte Sturmwolken aus, die den alles erstickenden Nebel verdrängten. Innerhalb weniger Sekunden fiel eiskalter Regen. An der Stelle, wo Abt Offero gestanden hatte, ertönte lautes Zischen, und graue Dunstwolken stiegen auf. Peemel lachte laut und dröhnend, drehte sich um und kehrte in seine Gemächer zurück. »Der Abt erhielt ein Zeichen des Himmels und hat sich meiner Autorität gebeugt. Jetzt bin ich sowohl der weltliche als auch der religiöse Herrscher von Iwset«, sagte er, als er sich in dem Sessel hinter seinem Schreib28
tisch niederließ. Vor ihm standen seine engsten Ratgeber. »Das ist nicht recht, Lord Peemel«, meldete sich Apepei zu Wort, ein Zwerg aus dem Gebirge, der so klein war, daß er seinem Herrn kaum in die Augen zu sehen vermochte, obwohl Peemel saß. Der Zwerg schritt auf seinen krummen Beinen bis an den Schreibtisch und hieb mit der knorrigen Faust auf die Oberfläche, worauf sämtliche Schreibutensilien ins Hüpfen gerieten. »Er wird unseren Bürgern den Tod bringen.« »Der Tod einiger Verräter belastet Euch, Apepei?« fragte Peemel mit täuschend sanfter Stimme. Ein geringerer als der Zwerg wäre durch die versteckte Drohung eingeschüchtert worden. Apepei aber keinesfalls. »Offero unterzieht jeden, der sich ihm entgegenstellt, der peinlichen Befragung! Seine Angst vor allem Magischen verdrängt jegliche Vernunft aus seinem Spatzenhirn.« Als er merkte, daß Peemel unbeeindruckt blieb, versuchte er es auf andere Weise. »Die Inquisition wird das Volk dazu bringen, Euch zu hassen und zu fürchten, Herr.« »Ein Herrscher«, mischte sich Digody, Peemels zweiter Ratgeber ein, »kann sowohl durch Freundlichkeit als auch durch Schrecken regieren. Freundlichkeit ist viel gewagter, denn wer vermag schon zu wissen, wie schnell sich die Liebe des Volkes wandelt? Heute noch ein Freund, so kann er morgen schon zu einem Feind werden, ehe man sich versieht. Schrecken jedoch ist von Dauer und bildet das unzerstörbare Fundament 29
einer strengen und vernünftigen Regierung.« »Es sieht Euch ähnlich, die Menschen von Iwset gegen ihn aufzuhetzen!« kreischte Apepei. Der Zwerg hüpfte auf und ab, die Hände zu kräftigen Fäusten geballt. Er streckte das kantige Kinn vor und sah den bedeutend größeren Digody drohend an. Wütend trat er vor, und es sah aus, als wolle Apepei im nächsten Augenblick zuschlagen. Rotglühende Augen starrten auf Apepei hinab, und Digodys magere Hand glitt zum Gürtel und schloß sich betont auffällig um den Griff des Dolches. Apepeis breite Brust hob und senkte sich schneller. »Los doch, zieht den Dolch in Gegenwart unseres Herrschers!« brüllte der Kleine. »Vergießt mein Blut, ehrloser Meuchler! Ich bin bereit, für meine Überzeugung zu sterben! Lord Peemel«, fuhr Apepei ernsthaft fort und richtete den Blick auf seinen Herrn, »bitte gewährt Offero nicht die Macht, die er verlangt. Er wird Tausende von Unschuldigen in Eurem Namen töten. Der Inquisitor ist krank. Das heutige Zeichen läßt viele Deutungen zu. Gestattet nicht, daß er unschuldige Bürger umbringt!« »Was höre ich da?« Peemel runzelte die Stirn. »Abt Offero ist krank? Es wird doch kein Tesfieber sein?« Es gelang Peemel nicht, das Schaudern zu unterdrücken, das seinen muskulösen Körper überlief. Er fürchtete keinen Krieg. Er fürchtete nicht einmal Digody und seine endlosen Intrigen, geheimen Gifte und häufigen Attentate. Sich damit herumzuschlagen war – vergli30
chen mit den Vorteilen, die er aus der politischen Raffinesse des Mannes zog – nichts als eine kleine Unannehmlichkeit. Aber Peemel hatte geradezu panische Angst vor Krankheiten. Braunfäule könnte ihn überkommen und seine Kraft auf die eines greinenden Säuglings verringern. Die Pocken konnten sein gutes Aussehen zerstören oder ihm gar die Potenz rauben. Krankheiten brachten zu viele Schrecken mit sich, die ein Mann in seiner Stellung fürchten mußte. Er öffnete eine Schublade des Schreibtisches und tastete nach dem Tuch, das dort, mit Karbolsäure getränkt, lag. Es brannte auf der Haut, vernichtete aber gleichzeitig alle üblen Keime. Möglichst unauffällig wischte sich Peemel die Hände anschließend mit einem trockenen Tuch ab. »Es gibt nicht nur Krankheiten des Körpers, sondern auch die des Geistes«, erklärte Apepei. »Wenn Offero Blut leckt, wird die Gier nach Macht unstillbar. Es werden nie genug Bürger sein, die sich der Befragung unterziehen müssen. Niemals werden genügend Menschen um Gnade flehen, die ihnen natürlich nicht gewährt wird. Es ist völlig gleichgültig, ob er böse Magie entdeckt oder nicht. Jeder Tod nährt seine Gelüste. Und er wird nicht ruhen, immer schlimmere Qualen zu ersinnen ... in Eurem Namen, Exzellenz. Er wird es tun, und das Volk wird Euch dafür verantwortlich machen.« »Mein verehrter Freund vergißt einen wichtigen Punkt«, warf Digody mit einer Stimme wie aus Samt 31
und Seide ein. »Abt Offero ist ein hervorragender Verbündeter. Wer von uns könnte der Inquisition in die Suppe spucken und überleben? Die Macht der Kirche ist immens und erstreckt sich bis weit über die Grenzen Iwsets. Wir dürfen die Mächtigen nicht erzürnen. Die heiligen Krieger mögen nicht in der Lage sein, Iwsets starke Armee zu besiegen, aber es wäre närrisch, sich auf unsichere Pfade zu begeben.« »Ich gedenke, meine Grenzen in Kürze zu erweitern«, bemerkte Peemel nachdenklich. »Das heutige Zeichen beweist die Richtigkeit meines Vorhabens. Sorgt dafür, daß die Hexe, die das beeindruckende Schauspiel voraussagte, reich belohnt wird, indem ihr sie ... Abt Offero übergebt!« Er hörte kaum hin, während seine Ratgeber sich wegen des Befehls in die Haare gerieten. Weder war dies ihre erste Meinungsverschiedenheit, noch würde es die letzte sein. Dennoch hatte jeder von ihnen gute Einfälle, wenn er vom Thron unterstützt wurde. Von seinem Thron. Peemel ließ die Zunge über die Zähne gleiten und dachte an die undurchdringliche Dunkelheit, die Iontieros Blitze vertrieben hatten. Er deutete das als Zeichen, aus dem Ozean der Mittelmäßigkeit aufzusteigen und als herausragender Herrscher an der Küste zu stehen – nachdem er einen Krieg gegen die Inselfestung Jehesic gewonnen hatte. Und nach diesem Abend wußte er, daß es Krieg geben würde. Lady Edara würde seinen Heiratsantrag nicht ernsthaft in Betracht ziehen; 32
nicht einmal, um einem Krieg aus dem Wege zu gehen. »Ja«, sagte er mehr zu sich selbst als zu Digody oder Apepei, »über die Grenzen Iwsets hinaus. Ich muß andere Völker erreichen. Was wäre dazu besser geeignet als die Inquisition? Und Abt Offero. Da er das heutige Zeichen mitangesehen hat, wird er mir für gewisse Zeit die Treue halten.« »Ein Zeichen? Er ist bloß naß vom Regen geworden, das ist alles«, widersprach Apepei. »Hat der Regenguß auch Eure Vernunft fortgespült, Exzellenz?« »Ihr bewegt Euch an der Grenze zum Verrat, Apepei«, sagte Peemel und richtete die farblosen Augen auf den Zwerg. »Eure Meinung weiß ich zu schätzen, muß mich aber nicht danach richten. Diesmal irrt Ihr Euch gewaltig. Digody spricht klug und vernünftig daher. Wir werden dem Inquisitor zureden, seinen religiösen Pflichten nachzukommen. Sollte er seine Grenzen überschreiten, mag es nötig sein, ihn zu beseitigen.« »Und wenn Ihr ihn beseitigt – natürlich nur, wenn es unumgänglich ist«, ergänzte Digody mit sanfter Stimme, »wird Euch das Volk als sein Retter preisen, Lord Peemel. Dann habt Ihr die alleinige Herrschaft über Kirche und Staat.« »Ist es das, was Ihr begehrt? Ihr wollt das Kommando über die heiligen Krieger erlangen?« Der Gedanke an derartige Kühnheit ließ Apepei mit offenem Mund erstarren. »Die heiligen Krieger sind gute Kämpfer«, bemerkte Digody. 33
»Sie kämpfen wie hirnlose Fanatiker«, behauptete Apepei wütend. »Sie einzusetzen heißt, das Schwert bei der Klinge zu ergreifen! Es kann gelingen, aber man wird sich dabei die Hand in blutige Streifen schneiden. Je übler die Schlacht wird, um so gewagter ist eine derartige Vorgehensweise.« »Sie wären eine gute Bereicherung unserer Stoßtruppen, wenn sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort eingesetzt werden«, fuhr Peemel fort und schenkte Apepei keinerlei Beachtung. »Den Krieg gegen Jehesic werden wir nicht so einfach gewinnen. Lady Edara hat die beste Seeflotte innerhalb der nächsten fünfhundert Meilen nördlich oder südlich entlang der Küste.« »Einen Blitzschlag deutet Ihr als Zeichen, nicht bloß ein abscheuliches Bündnis mit Offero einzugehen, sondern auch den Krieg gegen Jehesic zu führen?« Apepei schüttelte den Kopf. Wirres rotes Haar fiel ihm über die Augen. Er zerrte daran, bis ihn der Schmerz zum Aufhören veranlaßte. Dann strich er sich die Strähnen aus der Stirn und starrte den Herrscher mit weit aufgerissenen grünen Augen an. »Die Deutung dieses Omens zeigt, warum ich besser auf dem Thron aufgehoben bin als Ihr, lieber Apepei. Jetzt trollt euch, alle beide. Geht, und bereitet euch auf den Beginn der Inquisition vor – und auf Abt Offeros ehrwürdige Helfer, den ›Fluch der Magier‹.« Apepei schnaubte verächtlich und stapfte verärgert davon. Digody sah ihm nach, ehe er sich Peemel zuwandte. Er hielt die Hände wie ein knochiges Zelt vor 34
der Brust, als wolle er sich mit dem Herrscher in ein Gebet vertiefen. »Was ist, Digody? Ich entließ auch Euch. Es gibt viel zu tun, und ich denke, daß ich mich in der nächsten Zeit hauptsächlich auf Euch verlassen muß. Seit Ihr dem etwa nicht gewachsen?« »O doch, Exzellenz, ganz gewiß. Nie schreckte ich vor einer Aufgabe zurück, die Ihr mir stelltet, und diese weiß ich besonders zu schätzen. Allerdings hätte ich etwas völlig anders mit Euch zu besprechen, das nicht für die Ohren anderer geeignet ist.« »Nicht einmal für Apepeis Ohren?« Peemel lachte. Er wußte, daß sich seine Ratgeber haßten. Das freute ihn, denn es hatte Jahre gedauert, genau die richtigen Gegensätze zu finden. Apepei stellte die dringend notwendige Bremse für Digodys brennenden Ehrgeiz, die Herrschaft an sich zu reißen, dar. Und Digody sorgte dafür, daß Apepeis Entscheidungen nicht allzu altmodisch ausfielen. Beide ergänzten einander und verhalfen Peemel dazu, klug und weise zu regieren. »Der Zwerg neigt zu einem Gerechtigkeitswahn, der Euch in der Zukunft noch arg zu schaffen machen könnte«, erklärte Digody. »Was sagtet Ihr gerade?« Peemel richtete sich in seinem Stuhl auf und betrachtete seinen Ratgeber aufmerksam. Er wußte nicht, welcher Rasse Digody angehörte – aber das war eigentlich auch gleichgültig. Peemel wußte gute Ratschläge und skrupellosen Ehrgeiz zu schätzen, und über beides ver35
fügte Digody im Überfluß. Seine knochigen Hände, die an den Seiten wulstige Andeutungen von zusätzlichen Fingern besaßen, ließen auf nichtmenschliche Herkunft schließen, ebenso wie die feurigen roten Augen. Nur selten schob Digody die Kapuze zurück, um das hagere Gesicht mit der großen, geraden Nase, dem spärlichen Schnurrbart und dem lächerlichen Kinnbart zu enthüllen. Etwas ... irgend etwas ... stimmte nicht bei diesem Antlitz. Vielleicht waren es die vollen Lippen oder die Art, wie die Ohren flach am Kopf lagen. Peemel beschloß, nicht eingehender darüber nachzudenken. »Es handelt sich um eine höchst delikate Angelegenheit, Gebieter«, sagte Digody, die Worte sorgfältig wählend. Seine roten Augen richteten sich auf Peemel, Herrscher von Iwset, der die Küste von Terisiare meilenweit in beide Richtungen regierte. Es schien, als beurteile er den vor ihm Sitzenden als unwürdig. »Verflucht sei jegliches Zartgefühl!« brüllte Peemel. »Heute nacht erhielt ich ein Zeichen des Sieges! Bündnisse werden entstehen. Sollte Edara meinen Heiratsantrag zurückweisen – und wir wissen beide, daß sie es tun wird – kommt es zum Krieg. Selbstverständlich sind das Angelegenheiten von größter Wichtigkeit, und niemand wird oberflächliche Entscheidungen treffen.« »Gestattet Eurem Unmut nicht, sich Eurer zu bemächtigen«, erwiderte Digody mit schärferer Stimme als zuvor. »Ich bringe Euch Neuigkeiten, die erst vor kurzem über Lady Pioni ans Tageslicht kamen.« »Pioni?« Peemel runzelte die Stirn, um sich der Frau 36
zu erinnern. Langsam glitten seine Finger über die Vorderseite seines Gewandes und verharrten auf seinem Gemächt. Jetzt erinnerte er sich. »Ja, Lady Pioni. Sie war meine Frau, meine vierte Frau. Was geschah mit ihr?« »Sie war fast ein Jahr lang mit Euch verheiratet, Herr«, erklärte Digody. »Das liegt fast zwei Jahrzehnte zurück ...« »Zweiundzwanzig Jahre«, unterbrach ihn Peemel, dessen Gedächtnis ihm ihr Bild vor Augen rief. Pioni mit dem goldenen Seidenhaar, den blauen Augen, dem wohlgeformten Körper. Sie war wunderschön gewesen, wie alle seine Frauen, aber mehr nicht. Pioni war nicht einmal klug genug, um ein Attentat auf ihn vollbringen zu lassen. »Sie machte sich nichts aus Euch, Gebieter«, fuhr Digody fort, als habe Peemel ihn nicht unterbrochen. »Lady Pioni war ebenso treulos wie fruchtbar.« Peemel setzte sich kerzengerade hin und warf seinem Ratgeber einen eisigen Blick zu. »Wir hatten kein Kind«, sagte er. »O Gebieter, vor kurzem erhielten wir Beweise, daß es einen Bastard gibt.« »Unmöglich. Niemals hätte Pioni ...« Peemel schloß den Mund. Es war schon viel zu lange her, und er konnte sich nur dunkel an die Frau erinnern. Er hatte keine Ahnung, was sie getan hätte oder nicht. Als Tochter eines unbedeutenden Edelmannes hatte sie weit über ihren Stand hinaus geheiratet. Hatte sie etwa 37
einen Liebhaber gehabt? Peemel wußte es nicht. »Nun, was macht das schon?« meinte er schließlich. »Sie ist tot.« Er hatte sie hinrichten lassen, um seine fünfte Frau, Lady Dylees, zu heiraten, die nur einen Monat nach der Hochzeit unter geheimnisvollen Umständen ums Leben gekommen war. Lord Peemel vermutete, daß sie durch Gift gestorben sei, das für ihn bestimmt war, obwohl er keinem Komplott auf die Spur kommen konnte. »Ganz richtig, sie starb, aber erst nach der Geburt eines Kindes. Man sagt, Ihr hättet ihr wenig Aufmerksamkeit geschenkt, Herr«, warf Digody schnell ein. »Selbst wenn sie als meine Frau gebar, kann der Bastard keinen Anspruch auf Iwset geltend machen.« Eine innere Stimme sagte Peemel, daß Digody die Angelegenheit nie zur Sprache gebracht hätte, wäre sie nicht von größter Wichtigkeit gewesen. »Eine Elfe raubte das Kind, um es zu schützen«, verkündete Digody. »Elfen! Bah!« knurrte Peemel. »Mischen sich in alles ein, aber sie sind einfach nur lästig und nicht weiter von Bedeutung. Mit welchem Beweis sollte dieser Bastard Anspruch auf den Thron erheben? Niemand wird einer Elfe Glauben schenken.« »Das Siegel, Gebieter. Die Elfe verschwand mit dem Kind und dem Siegel von dannen.«
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Nichts außer dem Geräusch eines Spatens, der sich in den weichen Boden grub, war auf dem Totenacker zu hören. Im schwachen Licht des nebelverhangenen Mondes, dessen Name nie ausgesprochen werden durfte, arbeitete Deguhe mit langsamen, aber stetigen Bewegungen. Noch war der kleinere Mond Iontiero nicht aufgegangen, aber der Grabräuber bedurfte dessen Licht nicht, um seiner schrecklichen Tätigkeit nachzugehen. Den ganzen Tag über hatte Deguhe darauf gewartet, daß die Beerdigungsgäste endlich heimgingen, damit er sich an die Arbeit machen konnte. Die trauernde Witwe und ihre beiden erwachsenen Söhne hatten sich so lange am Grab aufgehalten, daß der Räuber schon befürchtete, sich nach einer anderen Leiche umsehen zu müssen. Er hatte erleichtert aufgeatmet, als die alte Henne und ihre Brut wenige Minuten nach Sonnenuntergang endlich gegangen waren. Danach mußte Deguhe nur noch die Aasfresser von seiner Beute vertreiben. Das hatte nicht lange gedauert, denn die Biester fürchteten sich vor ihrem eigenen Schatten. Ein echter Grabräuber mußte sich nicht mit ihnen streiten und befürchten, ein Stück seiner Beute 39
einzubüßen, wenn er sich nur energisch genug benahm. Deguhe war energisch genug – und mehr als das. Die scharfe Kante des Spatens berührte den Metalldeckel des Sarges. Er fiel auf die Knie und fegte die lockere Erde beiseite, bis sich sein Gesicht in der glänzenden Oberfläche spiegelte. Deguhe grinste und entblößte dabei die verfärbten, schadhaften Zähne. Er drehte den Kopf nach rechts und nach links und schob sich die schmutzigen Zöpfe aus der Stirn, um die schiefe Nase, die wäßrigen Augen und den verschlagenen Gesichtsausdruck betrachten zu können. »Gut siehst du aus«, sagte er zu sich selbst. Dann erhob er sich und grub eifrig weiter, bis er den ganzen Sargdeckel freigelegt hatte. Wieder kniete er nieder und benutzte den Spaten, um den versiegelten Sarg zu öffnen. Übelriechende Luft entwich. Der Grabräuber atmete tief durch. Aus dem Stoff wurden Träume gemacht, aus diesem letzten Atem der Toten. Noch einmal holte er tief Luft und schob dann den Sargdeckel beiseite, um den Leichnam besser betrachten zu können, der mit schlichter, aber sauberer Kleidung angetan, vor ihm lag. Deguhe zerriß den Stoff mit kräftigen Fingern und entdeckte eine goldene Halskette, ein Armband mit Halbedelsteinen, Stiefel aus kürzlich gegerbtem Leder mit festen Sohlen und einen Gürtel mit Geheimfächern, in denen Gebetszettel steckten. Deguhe zog die Papierstreifen heraus und warf sie 40
in den Sarg. Der Gürtel, seiner Segenswünsche und Bitten für eine schnelle Reise in die nächste Welt beraubt, wurde um die hagere Mitte des Räubers geschnallt, wo er locker hing. Deguhe achtete nicht weiter darauf. Er war auf genügend Schätze gestoßen, um die Arbeit als lohnenswert zu beurteilen. Schließlich richtete er sich auf und drehte sich langsam um die eigene Achse, während er den Totenacker nach jenen absuchte, die – wie er wußte – hinter ihm herspionierten. Deguhes rissige Lippen verzogen sich zu einem Grinsen, als er eine Bewegung bemerkte. Er eilte zwischen den Gräbern hindurch und fuchtelte wild mit den Armen. Maeveen O’Donagh, die hinter einem halbverfallenen Mausoleum kauerte, flüsterte ihrem Gefährten zu: »Was macht er da? Wer ist da?« »Leise, meine Liebe«, raunte Vervamon und schob sich an ihr vorbei, um besser sehen zu können. Seine sehnige Hand ruhte einen Augenblick länger als nötig auf ihrem Arm, ehe sie sich wieder löste. Hastig kritzelte er ein paar Zeilen auf ein Blatt Papier. »Wir sind nur Beobachter, keine Teilnehmer. Daher dürfen wir uns niemals einmischen, während sich der rituelle Raub zu unserer Erbauung abspielt.« Maeveen schnaubte verächtlich und hob die Stupsnase. Es ärgerte sie, daß der Grabräuber dem Toten die wenigen Habseligkeiten stahl und Vervamon sich weigerte, der Sache ein Ende zu machen, um statt dessen ununterbrochen Notizen zu Papier zu bringen. In Ruf41
weite lungerten ihre Begleiter, zwei erfahrene Soldaten, am Lagerfeuer herum, und erzählten sich unglaubliche und höchstwahrscheinlich unzüchtige Geschichten. Jeder einzelne von ihnen wäre in der Lage, den Räuber mit Leichtigkeit zu beseitigen, damit der Tote ungestört in die Anderswelt reisen konnte. Trotzdem war Maeveen bereit, diese Pflicht zu übernehmen. Schließlich hatte sie schon weitaus schlimmere Schlachten geschlagen. Sie kniete nieder, suchte nach dem Schwert und vergewisserte sich, daß der Dolch nicht gegen die Marmorwand des Mausoleums schlug, als sie sich vorbeugte, um den Frevler besser beobachten zu können. Sie zog den grünen Umhang fester um die Schultern, während der Mann etwas sagte. Maeveen kniff die Augen zusammen und entdeckte ein paar schemenhafte Gestalten. Ihr wurde übel, als sie die übrigen Bewohner des Totenackers erkannte. »Ghule«, krächzte sie. »Der Grabräuber stiehlt den Leichen die Wertsachen und läßt die Körper dann von den Ghulen fressen.« »Eine Symbiose, eine vollkommene Zusammenarbeit für beide Parteien«, stellte Vervamon begeistert fest. Er kritzelte wild drauflos, bis die Seite mit seiner winzigen Schrift gefüllt war, ehe er umblätterte und fortfuhr. »Das Geräusch deiner Feder, die über das Papier kratzt, wird ihn warnen«, bemerkte Maeveen angeekelt. »Oder sie.« Sie deutete auf das schemenhafte Trio, das sich wie Nebelschwaden auf das offene Grab 42
zubewegte. »Was fängt er nur mit dem Diebesgut an?« fragte Vervamon nachdenklich. »Dieser Deguhe, wie man ihn in jenem malerischen Dorf nannte. Wie hieß es noch gleich?« »Tondhat«, antwortete Maeveen. Sie ging in die Hocke und beobachtete, wie die Ghule ihr grausiges Mahl begannen. Sie stopften sich große Stücke vom Fleisch des Toten in die Mäuler, und der Anblick drehte ihr den Magen um. Seit Jahren hatte sie etliche Kriege miterlebt und dem Tod ins Auge gesehen, der meist gewaltsam erfolgte und nie angenehm anzusehen war. Maeveen hatte sich nie richtig daran gewöhnt, nahm ihn aber als Teil ihres Berufes hin. Sie war eine gute Soldatin und eine fähige Anführerin ihrer Truppe. Aber mitansehen zu müssen, wie diese Kreaturen ihr entsetzliches Mahl hielten, war hundertmal schlimmer als jeder Tod auf dem Schlachtfeld. »Daheim in Tondhat hängt das Leben etlicher Menschen von seiner Geschicklichkeit als Grabräuber ab«, erklärte Vervamon, in dessen tiefer Stimme kaum verhohlene Aufregung schwang. »Deguhe ist ein EinMann-Betrieb, der Dutzende in jenem verarmten Küstenort unterhält. Vor zwei Dekaden weilte ich dort, und seitdem hat sich nichts geändert. Bemerkenswert, daß sich die wirtschaftlich schlechte Lage der Region so lange gehalten hat. Woran mag das liegen?« »Es ginge den Menschen bedeutend besser, wenn ihr Herrscher sie nicht mit diesen übermäßigen Steuerfor43
derungen belasten würde. Peemel und seine Kriege!« Maeveen spuckte ein wenig von dem Gaumenkraut aus, auf dem sie fortwährend kaute, um ihre Meinung über den Herrscher von Iwset kundzutun. Allein und auch in Begleitung Vervamons war sie weit gereist und wußte, daß die habgierigen Tyrannen den Lebenssaft ehrbarer, fleißiger Männer und Frauen durch Steuern aussaugten, mit denen die ungewollten Kriege bezahlt wurden. Vervamon hörte ihr nicht zu. Er schlich von hinten um das Mausoleum herum und näherte sich der Stelle, an der die Ghule hockten. Leise, und ohne es zu merken, schnalzte er mit der Zunge und schlich immer weiter auf die Wesen zu, bis er schließlich hinter ihnen stand. Maeveen zog ihr Schwert und gesellte sich zu ihm. Der Gelehrte überragte sie beinahe um einen ganzen Kopf, und Maeveen beeindruckte seine animalische Anziehungskraft, die dazu führte, daß er selbst in einer Menschenmenge Aufsehen erregte. Sein buschiger, schneeweißer Haarschopf, seine Größe, das energische Kinn und die Art, wie er die Schultern und den Rücken so straff hielt, als seien sie aus Ehernwurzelholz – und auch seine Persönlichkeit forderten Beachtung. In den Jahren bei der Armee hatte Maeveen erfahren, daß ein derartiges Charisma und eine so starke Ausstrahlung nicht erlernt werden konnten. Auch sie hatte es versucht. Ihre Männer gehorchten ihr und respektierten sie, da sie wußten, daß Maeveen sie schon oft 44
aus gefährlichen Situationen gerettet hatte, aber nicht, weil sie die keinen Widerspruch duldende Autorität Vervamons besaß. Ihre Soldaten hörten auf sie, aber wenn Vervamon einen Raum betrat, wandten sich ihm alle Augen zu. Maeveen haßte und bewunderte das. Wie viele andere hatte sie sich zu ihm hingezogen gefühlt. Das, was dem Gelehrten am meisten bedeutete, hatte sie auf die harte Art kennengelernt: durch Erfahrung. Maeveen faßte den Griff des Dolches fester und überlegte, daß es ein leichtes sein würde, ihn Vervamon in den Rücken zu stoßen. Aber wie auch bei all den anderen Gelegenheiten, als ihr dieser Gedanke gekommen war, machte sie keine Anstalten, die Waffe zu zücken. Einstmals hatte sie ihn geliebt. Jetzt haßte sie ihn meistens und mußte ihm doch widerwillig Respekt zollen. »Das vervollständigt meine Studien der Aasfresser. Jenns und Boyzen werden sich vor Zorn verzehren, wenn sie hören, wie sehr sich meine Entdeckungen von den ihren unterscheiden – und meine werden durch genaue Beobachtungen und eingehende Befragungen der Objekte untermauert.« »Ihr wollt mit ihnen reden?« Lieber hätte Maeveen das Schwert gegen die Ghule erhoben. Auf diese Weise brauchte sie ihnen und ihren mit geronnenem Blut beschmierten Gesichtern nicht zu nahe zu kommen. Der einzige Nachteil einer solchen Vorgehensweise bestand darin, daß sie anschließend die Klinge säubern mußte, 45
damit sie nicht rostete. Außerdem würden die Ghule in das Grab einer ehrbaren Person fallen. »He, ihr da! Ich möchte mit euch sprechen!« Vervamon zeigte sich den hungrigen Ghulen. Sie sprangen auf und wollten fliehen. Wäre Maeveen allein gewesen, hätten sie es sicherlich getan. Die Kommandeurin von Vervamons kleiner Truppe verzog angewidert den Mund, als die Ghule die runden wäßrigen Augen auf den Gelehrten richteten. Schon wieder siegte seine Anziehungskraft – und das sogar bei ekelerregenden Wesen wie diesen, dachte sie grimmig. »Nun, ich muß es ertragen«, murmelte sie vor sich hin. Maeveen stellte sich an das Fußende des Grabes und bemühte sich, ihren Abscheu vor diesen Kreaturen zu bezähmen, mit denen Vervamon munter plauderte, um den Stoff für seinen grauenvollen Bericht zusammenzubekommen. Ihre Aufmerksamkeit wandte sich von dem Wissenschaftler und den fleischfressenden Wesen dem Umkreis des Totenackers zu. Keine Viertelmeile entfernt lagerten ihre Soldaten. Ein einziger Pfiff von ihr würde sie herbeirufen. Maeveen runzelte die Stirn und fragte sich, warum sie sich mit derartigen Gedanken herumschlug. Vervamon und sie weilten allein mit den Ghulen hier, aber vielleicht trieb sich der Grabräuber noch herum und überlegte närrischerweise, sie zu überfallen. Sie pochte mit den kurzen Fingern auf den metallenen Schwertgriff, ehe sie ihn fester packte und anstrengt in die 46
Dunkelheit spähte. Irgend etwas stimmte hier nicht. Ein Blick auf den dichten Wald, der den Totenacker umgab, enthüllte ihr den Grund für ihre Besorgnis. Jene, die den Gelehrten beobachteten, vermochten sich nicht besonders gut zu verbergen, als Maeveen genauer hinsah. Sie traten auf Zweige, Blätter raschelten unter ihrer Berührung, Kleidung schleifte entlang der Baumrinden. Sie verursachten mehr Lärm als eine ganze Schwadron Rekruten bei einer Parade. Maeveen steckte das Schwert in die Scheide und zog den Dolch, da sie in dichtem Gestrüpp damit besser zu töten vermochte. Sie ließ sich auf den Bauch fallen und robbte auf den Wald zu. Jetzt war sie froh, nicht so groß wie Vervamon zu sein. Ihre kleinere Statur gestattete ihr, sich behender in engen Durchlässen zu bewegen, als es der Wissenschaftler je gekonnt hätte. Sie tauchte gerade hinter zwei Männern auf, die den Forscher und die Ghule beobachteten. Maeveen holte tief Luft, erkannte den Geruch von Opferkerzen und wußte, wer ihren Begleiter beschattete. Wie ein leiser Windhauch bewegte sie sich. Die Spitze ihres Dolches bohrte sich genau über dem Herzen leicht in das Gewand eines Novizen, der einen überraschten Schrei ausstieß, während sich ein kleiner Blutfleck bildete. »Wenn ihr Dummheiten macht, werdet ihr beide sterben«, sagte Maeveen. Der zweite Mann versuchte zu fliehen. Maeveen O’Donagh trat zu, erwischte seinen Knöchel, und er fiel mit dem Gesicht auf den Boden. Sie bohrte den Dolch ein wenig tiefer in den Leib 47
des anderen jungen Mannes. Er erstarrte und schluckte schwer. »Du hast nichts von uns zu befürchten, wenn du reinen Herzens bist«, keuchte er. »Du hast aber einiges von mir zu befürchten, du ...« Maeveen verbiß sich die ausführliche Beschreibung über den Charakter und die Herkunft des Inquisitionsnovizen. Ihre scharfen Ohren vernahmen die Schritte, die sich ihnen näherten. »Du bist ein Kind des Bösen«, kreischte der am Boden liegende Novize. Maeveen brachte ihn mit einem Tritt zum Schweigen, damit er die herannahenden Inquisitoren nicht warnte. Sie wußte, daß es sich um unfähige Krieger handelte, aber auch ein Schwarm Stechmücken kann einen Löwen durch bloße Überzahl besiegen. »Er hat recht«, krächzte der Novize, der noch immer die Dolchspitze spürte. Maeveen nahm das als Zeichen, daß er seinen ganzen Mut gesammelt hatte und schon bald bereit sein würde, für seine Kirche zu sterben, wenn er dadurch eine Ketzerin der heiligen Gerechtigkeit übergeben konnte. Maeveen zerrte ihn als Schutzschild vor sich. Ein rascher Schritt zurück, und sie fühlte einen Baumstamm im Rücken, der einen Angriff von hinten vereiteln würde. Aus der Dunkelheit tauchten drei Männer vor ihr auf. Ihnen folgten vier weitere, bis sie schließlich von einem Dutzend Leute umzingelt war. »Das Leben eines Novizen bedeutet uns nichts«, er48
tönte eine tiefe Stimme. Sie versuchte herauszufinden, wer von den kapuzenbewehrten Männern gesprochen hatte, aber es gelang ihr nicht. »Sein Tod bekräftigt uns nur in unserem Vorhaben.« »Nun, dann gibt es einen weniger, der Unschuldige quält«, antwortete Maeveen. Sie schätzte ihre Fluchtmöglichkeiten ein und fand, daß sie nicht gerade günstig waren. Es würde ihr Spaß machen, ein paar der Inquisitoren mit dem Schwert aufzuspießen, aber besser wäre es, jetzt zu fliehen und sich später mit ihnen zu streiten – sowohl mündlich als auch mit der Waffe. Maeveen erkannte die Weisheit des Sprichwortes: ›Lebe weiter und verschiebe den Kampf auf später.‹ »Was bedeutet diese unverschämte Störung?« brüllte Vervamon. Geräuschvoll bahnte er sich einen Weg durch das Gestrüpp und stellte sich neben Maeveen. Der Gelehrte packte den Novizen an der Kapuze und zerrte ihn nach vorn. Maeveen steckte den Dolch wieder ein. »Ihr besitzt die höllische Frechheit, meine Forschungsarbeit zu stören!« rief er mit dröhnender Stimme. »Höllische Forschungsarbeit?« rief der Anführer der Inquisitoren. »Ihr gebt die Befragung jener gottlosen Monstren zu, die in den Augen der Kirche eine frevlerische Tat darstellt?« Die Stimme des Mannes überschlug sich vor rachsüchtiger Freude. Er trat vor und schob die Kapuze zurück, gab sich endlich zu erkennen 49
und zeigte den goldenen Anhänger der Inquisition, den er an einer Kette um den Hals trug. Maeveen erwog, den Dolch zu werfen, entschied sich dann aber dagegen. Den Inquisitor zu töten würde die Bedrohung, die von den anderen Männern ausging, nicht abwenden, und es handelte sich um dreizehn Geweihte. Wenn sie den Dolch behielt, konnte sie mehr als einen töten. Man sollte niemals eine gute Waffe fortwerfen. »Ihr verdreht meine Worte, wie es Euch in den Kram paßt«, erwiderte Vervamon mit drohender Stimme. »Menschen zu suchen, die nicht in der Lage sind, eure Folterungen auszuhalten – das ist ein wahrhaft höllisches Unterfangen! Wie viele habt ihr in dieser Woche abgeschlachtet, ihr Metzger? Ich bin dem Weg der Inquisition durch Terisiare gefolgt und kann beweisen, daß ihr selten jene fangt, die euch Widerstand leisten könnten.« »Eure gesamte höllische Begleittruppe wurde gefangengenommen«, verkündete der Geweihte stolz. »Wie viele von ihnen tragen die Saat des Bösen im Herzen? Nun, wir werden es herausfinden, wenn wir sie der Befragung unterziehen.« »Niemals hättet ihr meine Soldaten so lautlos besiegen können«, mischte sich Maeveen wütend ein. Dann zwang sie sich zur Ruhe. Der Inquisitor wollte sie reizen und dazu bringen, frevlerische Reden zu führen, um die bevorstehenden Folterungen rechtfertigen zu können. Er hätte ihre Leute nicht ohne einen langen, 50
blutigen Kampf gefangennehmen können. Maeveen hatte die Truppe selbst ausgebildet. Ihr Oberstleutnant Quopomma hätte sich unter gar keinen Umständen ergeben, gleichgültig, wie schlecht ihre Aussichten auch waren. Der andere Leutnant, eine Frau namens Iro, würde bis zum Tode kämpfen, wenn sich ihr ein Priester mit gezückter Waffe näherte. Iros ganze Familie war von der Inquisition getötet worden. Die hochgewachsene, kräftige Frau haßte die Geweihten mit der gleichen Inbrunst wie Maeveen. »Die heiligen Krieger sind bereit, für ihren Glauben zu kämpfen und zu sterben. Kann man das gleiche von Euren gottlosen Söldnern und Mördern behaupten?« »Weder sind sie gottlos, noch kann man sie kaufen«, sagte Maeveen, »aber mörderisch sind sie in der Tat.« Sie drehte den Dolch in der Hand, um sich auf den Kampf vorzubereiten, der unmittelbar bevorstand. Die Inquisitoren hatten noch keine Waffen hervorgeholt, aber ihre Drohungen zeigten Maeveen, daß sie einer tätlichen Auseinandersetzung nicht aus dem Weg gehen würden. Sie hoffte, sich tapfer schlagen zu können, ehe man sie überwältigte. »Es ist sinnlos, sich mit solchen Leuten herumzustreiten«, erklärte Vervamon. »Wer führt euch Schakale an? Ich will mit dem sprechen, der euch auf uns gehetzt hat.« »Schweigt!« unterbrach ihn der Inquisitor. »Verleitet uns nicht zu einer übereilten Entscheidung. Ihr steht mit Grabräubern und Ghulen im Bunde. Wir wissen, 51
wer in dieser Nacht wahre Frömmigkeit bewies.« »Sie wollen uns umbringen«, teilte Maeveen Vervamon mit. Sie stellte sich dich neben ihn, um den unbewaffneten Mann besser schützen zu können. So wenig sie ihn auch als Menschen schätzte, so respektierte sie doch sein Wissen und seine Ehrlichkeit. Sie und ihre Truppe waren für ihn nicht mehr als Lastträger. Man hatte sie angeheuert, um Vervamon auf seinen Reisen zu beschützen. Es war ihre Pflicht, ihn jetzt zu verteidigen. »Man wird euch der peinlichen Befragung unterziehen, um den Umfang eurer Sünden zu erkennen. Dann werdet ihr hingerichtet«, verkündete der Inquisitor mit zufriedener Stimme. Der Kreis der Geweihten schloß sich enger. Maeveen nahm den Dolch in die linke Hand und zog das Schwert. Zum erstenmal sah sie das Funkeln der Waffen, als das Mondlicht durch das dichte Laubdach drang und sich auf den Klingen der Priester spiegelte. »Halt!« Der Befehl hallte durch den Wald. Alle drehten sich um. Maeveen, Vervamon und die Inquisitoren wollten wissen, wem die durchdringende Stimme gehörte.
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Isak Glen’dard fand, daß sein Beruf einer Wanderung über Treibsand gleichkam. Ein falscher Schritt nur, und er würde spurlos verschwinden. Selbst wenn er alles richtig machte und keinen Fehler beging, riskierte er, sich mit dem ekelhaften Unrat zu beschmutzen, der ihn ringsumher umgab. Während er darüber nachdachte, erhellte ein Lächeln sein freundliches Gesicht. Er stimmte sogar ein Lied an und sang falsch, aber laut vor sich hin, als er die Hauptstraße von Iwset entlangschritt, die von dem Stadtstaat nach Nordosten bis zum Elnwald führte, in dem die widerwärtigen Elfen lebten. Er hatte mit den ehrlosesten Kreaturen zu tun und genoß die Herausforderung. »Einen wunderschönen guten Morgen, werter Herr!« grüßte Isak den Mann, der sich erstaunt nach ihm umdrehte und legte höflich die Hand an die Krempe seines weichen grauen Filzhutes. Die strahlendweiße Serraengelfeder, die in dem gewebten Hutband steckte, wippte munter im Takt auf und ab. Als Erwiderung auf seine Begrüßung erhielt Isak einen mürrischen Blick, aber das machte ihm nichts aus. Er verachtete alle, die unter Peemels Herrschaft in Iwset lebten, bewunderte 53
aber den großen Reichtum, der durch den Hafen in die Schatulle des Lords strömte. Ein Teil dieses Reichtums würde schon bald in Isaks Geldbeutel landen, wenn er seine Arbeit gut ausgeführt hatte. Er war ein Vermittler, ein Mittelsmann, ein Diplomat ohne offizielles Amt, und wurde für seine Dienste gut bezahlt. Isak zog seinen feinen Umhang fester um die Schultern, damit man die Waffensammlung, die er darunter verbarg, nicht sah. Im Laufe der Jahre hatte die Tatsache, daß er, wohin er auch faßte, gleich einen Dolch griffbereit fand, ihm das Leben mehr als einmal gerettet. Es war nicht ratsam, jenen zu trauen, die ihn bezahlten, und es war ebenso unnütz, für jene, die in seine verworrenen Verhandlungen verstrickt wurden, Mitleid zu empfinden. »He, du mit der Feder!« ertönte eine rauhe Stimme. »Was willst du hier?« Isak drehte sich um und stand einem purpurfarbig gekleideten Inquisitor gegenüber. Er wußte gleich, daß er es mit einem Novizen zu tun hatte, und er hatte nicht vor, sich mit einem rangniedrigen Priester herumzuärgern. »Ich suche den Großinquisitor, habe mich aber leider verspätet. Der Abt wird sehr unmutig, wenn ihm mein pünktliches Erscheinen verwehrt wird, verstehst du? Also, was willst du von mir?« Isak beobachtete, wie sich die Miene des jungen Mannes veränderte. Beinahe hätte er laut gelacht, hielt sich aber zurück. Was für eine Angst der Bursche hatte. 54
Nur den Bruchteil einer Sekunde hatte er gebraucht, um den Schwachpunkt dieses Novizen zu finden. Wenn er mit dem Abt redete, würde es ebenso ablaufen. So war es immer. »Oh, nichts, mein Herr. Seid gesegnet«, antwortete der Novize und verneigte sich gar, als handele es sich bei Isak um den Großinquisitor persönlich. Isak sah dem Burschen nach, der die Straße entlangschlenderte, und an der nächsten Ecke in wilder Eile davonstob. Derartige Furchtsamkeit ermutigte ihn. Dann riß er sich zusammen und dachte daran, daß er ein gefährliches Spiel spielte. Hochmut konnte ihn in den Tod stürzen, gleichgültig, wie gut seine Verbindungen zu den Reichen und Mächtigen der Stadt auch waren. Ein wenig ernüchtert setzte er seinen Weg fort, bis er die Kathedrale am Ende der Straße der ›Sechs Heiligen Tugenden‹ erreichte. Anstatt durch das mächtige Hauptportal einzutreten, wandte er sich der Ostseite zu, wo sich die Gemächer Offeros und seiner Priester befanden. Durch unbewachte Flure schritt er zielstrebig bis zu den Räumen des Abtes. Er klopfte erst zweimal, dann einmal und trat ein. Abt Offero saß in einem gut gepolsterten Stuhl und starrte aus dem Fenster auf die Wellen des ilesemarischen Ozeans. Isak fragte sich, was wohl im Kopf dieses Mannes vorgehen mochte. »Ich habe die Nachrichten, die Ihr wünschtet«, sagte er und legte ein Bündel Papiere auf den Schreibtisch des Abtes. Offero nickte, ohne sich vom Anblick des 55
Meeres loszureißen. »Kann ich Euch noch auf andere Art zu Diensten sein?« »Du wurdest gut für deinen Verrat bezahlt. Was steht in den Papieren, die du mitgebracht hast?« »Es widerspricht den Regeln, daß ein Kurier ...« »Was steht darin?« Der Abt drehte sich um und richtete den Blick auf Isak. Selten hatte der Vermittler solche Trostlosigkeit in den Augen eines Mannes gesehen, der so viel Macht besaß wie der Abt. »Du bist kein Narr. Ich beschäftige keine Narren. Du weißt, was in diesen Dokumenten steht.« Isak hielt eine Lüge für unnötig. Er räusperte sich und bot die Nachricht auf die bestmögliche Weise an. »Lord Peemel wünscht, daß die Inquisition seine Feinde in und außerhalb von Iwset vernichtet. Er will die heiligen Krieger zu den seinen machen und wird es tun, sobald die Bevölkerung Euch haßt und fürchtet, weil Ihr die Ketzer verfolgt.« »Er gestattet mir, die Ketzer zu vernichten, und später richtet er diese Tatsache gegen die Kirche«, stellte Abt Offero mit müder Stimme fest. »Genau wie ich dachte. Ich werde von Hörnern aufgespießt, die schärfer sind als die eines Minotaurus. Zermalme ich die Ketzer, werde ich zum meistgehaßten Mann des Volkes. Weigere ich mich, wird meine Kirche darunter leiden, weil böse Magie unter den Frevlern im Umlauf ist und die Fundamente unserer Welt erschüttert. Wir dürfen nicht zulassen, daß noch einmal solche Zerstörungen stattfinden wie zu der Zeit, als sich die feindlichen 56
Brüder bekämpften. Was schlägst du vor, Isak?« Die Frage verblüffte Isak. Er bemühte sich, eine unbeteiligte Miene aufzusetzen und seine derzeitige Körperform beizubehalten. Es war vorteilhaft, zu den Körperveränderern zu gehören, konnte aber auch von Nachteil sein, wenn er an den Mann dachte, der vor ihm saß und darauf brannte, auch den leisesten Hauch von Magie auszumerzen. Isak überspielte seine Verwirrung, indem er den Papierstapel vom Tisch fegte. Er kniete nieder, suchte die Blätter zusammen und vermochte so das Gesicht vor Offero zu verbergen, bis er wieder Herr seiner Gefühle war. Sorgfältig legte er das Bündel auf den Schreibtisch zurück. »Ich fand es immer am ratsamsten, das dringendste Problem als erstes zu lösen«, sagte er bedächtig. »Ratsam.« Offero sprach das Wort aus, als handele es sich um eine Beschimpfung. »Vielleicht hast du recht. Es ist unsere heilige Pflicht, den Willen der Kirche durchzusetzen und den Gebrauch von Magie zu verhindern, zum Wohle des Volkes. Das Leid, das den Menschen durch den nachlässigen Umgang mit Magie widerfuhr, muß verhindert werden, selbst wenn wir uns ihren Haß zuziehen.« Er holte tief Luft und wandte sich wieder den ewigen Wellen des Meeres zu. »Sogar wenn Peemel jene, die ich schütze, einst gegen die Kirche aufhetzen wird.« Fast hätte Isak noch einmal das Wort ergriffen, um dem Priester zu sagen, er solle seine eigenen Spione in 57
Peemels Hof einschleusen. Bei den Kriegsabsichten des Herrschers stand mehr als nur das Seelenheil von Iwset auf dem Spiel, und mehr als nur religiöser Glaube war vonnöten, ihm Einhalt zu gebieten. Aber er schwieg. Es geziemte sich nicht für ihn. Ein Vermittler durfte niemals Stellung beziehen. Isak drehte sich um und verließ den Raum. Er hatte Abt Offero wahrheitsgemäß vor der bevorstehenden Gefahr gewarnt und ihm den Beweis dafür schwarz auf weiß geliefert. Jetzt erwartete ihn sein nächster Auftrag. Isak berührte das Blatt mit den Anweisungen, das er in einer Tasche seines Umhangs verbarg, klopfte dann auf die zweite Tasche, um sich zu vergewissern, daß er die Karte noch hatte, die ihm den Weg zum Elnwald und zu den Elfen wies. Er mußte sich beeilen, sonst wurde Digody ungeduldig. Isak wußte, daß er den rotäugigen Ratgeber Peemels nicht verärgern durfte. Nur wenigen gelang es, die Folgen seines Zorns zu überleben.
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Yunnies Keule wirbelte durch die Luft und traf den Schwertarm des Elfen. Der Krieger verzog schmerzerfüllt das Gesicht und umklammerte den verletzten Bizeps. Dann versuchte er mit wütendem Knurren, den Dolch, der an seiner linken Hüfte baumelte, zu erreichen, wurde aber daran gehindert. Mytaru, der auf der anderen Seite des Wildpfades stand, an dem der Elf die tödliche Falle aufgebaut hatte, senkte den zottigen Kopf, brüllte und stürmte los. Die Spitze des rechten Horns spießte den Elfen auf und hob ihn hoch. Mytaru schüttelte den Kopf, der Waldbewohner segelte durch die Luft und landete in einem Dornbusch, der etwa ein Dutzend Schritte entfernt stand. »Mach ihn fertig, Yunnie! Laß den Banditen nicht entkommen!« Der Minotaurus kämpfte um sein Gleichgewicht, da sich seine Beine in den Maschen des Netzes verfangen hatten, das der Elf ausgelegt hatte. Yunnie hatte keine Lust, den schwerverletzten Elfen zu töten, aber ganz offensichtlich handelte es sich hier um einen Späher, der einer größeren Kriegertruppe vorausging, die in das Tal der Urhaalan eindringen wollte. In den vergangenen Monaten hatten sich zu 59
viele Minotauren in den Netzen der Elfen verfangen. Einige hatten sich dabei die Beine gebrochen – und zwei sich derart verheddert, daß sie in den verhängnisvollen Fallen den Tod fanden. Jede Hoffnung auf Verhandlungen war in dem Augenblick zunichte geworden, als sich der erste Minotaurus in den Maschen des Netzes, die sich um seinen Hals schlangen, erhängte. Yunnie hob die Keule auf und machte sich daran, dem Wunsch seines Freundes und neuen Blutsbruders Folge zu leisten. Trotz seines Widerwillens, den verletzten Elfen zu töten, mußte er sich fügen. Inzwischen war er zu einem Angehörigen von Mytarus Stamm geworden. Anfangs hatte er getrennt von ihnen gelebt, wurde dann oftmals in ihre Häuser eingeladen und hatte schließlich die Pflichten eines jungen Familienmitgliedes übernommen. Nachdem er zuerst seinen Platz mit ihm teilte, machte ihn Mytaru später zu seinem Blutsbruder und versprach, den Ältesten vorzuschlagen, Yunnie vom Stamm Utyeehn – dem stolzesten aller Minotaurenstämme – adoptieren zu lassen. Eine derartige Zuneigung konnte erwarten, erwidert zu werden; das verlangte seine Stellung als Blutsbruder. Yunnie sah auf den verwundeten Elfen hinab, der beide Hände auf den Bauch preßte, während das Blut aus der tiefen Wunde lief. Nichts als Haß malte sich auf seinen feinen Zügen ab. Er verzog das Gesicht und versuchte, Yunnie einen Tritt zu versetzen. »Warum machst du das?« fragte Yunnie und wich 60
dem schwachen Fußtritt aus. »Wir wollen euch nichts Böses antun.« »Verräter deiner eigenen Rasse!« spuckte der Elf aus. »Was weißt du schon? Die Minotauren lügen dich an, und du läßt es zu. Sie dringen in unseren Wald ein und überfallen uns gnadenlos. Weißt du, wie es ist, bei lebendigem Leib zu verbrennen? Wir müssen diesen Krieg gewinnen, sonst sterben wir alle. Natürlich wollt ihr uns Böses antun. Ihr wollt uns ausrotten!« »Sie interessieren sich überhaupt nicht für euren Wald. Sie halten Wälder für langweilig, denn dort gibt es nicht genügend Weideland für sie. Kein Urhaalanminotaurus hat das Tal verlassen, um in euer Gebiet einzudringen«, erklärte Yunnie wahrheitsgemäß. Die Zeit der beiden Vollmonde stand bevor, eine heilige Zeit bei den Minotauren, in der das Fest von Tiyint gefeiert wurde. Beim Licht der Monde wurden junge Minotauren in die Erwachsenenherde aufgenommen, Heiratsanträge gemacht und Kämpfe um der Ehre willen ausgefochten. Der Stamm Utyeehn mochte den Elfen im Schein des kleinen Iontiero und des nebelverhangenen Fessa den Krieg erklären, würde das Tal aber niemals verlassen, um Überfälle durchzuführen. Das konnte frühestens in einer Woche geschehen, wenn das heilige Licht der Monde nachließ, und die Zeit der Entschlüsse verlangte, daß alle Versprechen und Drohungen wahrgemacht wurden. »Ich lüge nicht. Kein Minotaurus betrat in den letzten beiden Wochen euren Wald. Wir bereiten uns auf 61
die heilige Zeit vor.« Der Elf hustete und versuchte, Yunnie noch einmal anzuspucken. »Du lügst genauso wie deine Herren! Wer tötete meine Frau und meine beiden Söhne? Wer brachte meinen Bruder und meine Schwester um? Sie alle starben in der letzten Woche durch die Hände und Hörner der Minotauren!« »Hast du das mit eigenen Augen gesehen?« fragte Yunnie entgeistert. Der gerechte Zorn und die Aufrichtigkeit des Elfen ließen keinen Zweifel zu. Er würde in Kürze an seinen Wunden sterben und hatte keinen Grund, die Unwahrheit zu sagen. In der Zeit, da der Yunnie bei den Elfen lebte, hatte er gemerkt, daß sie von Natur aus ehrlich waren – und dickköpfig. Auf ihre Weise waren sie ebenso stur wie ein Minotaurus. »Ich ging mit anderen Elfen auf die Jagd, als die Minotauren angriffen. Im Wald gibt es wenig Nahrung. Sogar die Ehernwurzelbäume werden unruhig und machen sich auf die Suche nach besseren Wäldern. Aber der Elnwald ist meine Heimat. Und die meiner Familie. Und meines Volkes. Wäre ich nur gemeinsam mit ihnen gestorben und hätte wenigstens noch ein paar von deinen stierköpfigen Freunden mit in den Tod nehmen können!« Der Elf bemühte sich, nach dem Dolch zu greifen und sich aufzurichten. Aber er war schon viel zu geschwächt und sank zurück. Er warf Yunnie noch einen haßerfüllten Blick zu; dann brachen seine Augen. Yunnie beugte sich herab und schloß ihm die Lider, 62
da er die blinden toten Augen als unheimlich empfand. Den Zwischenfall sah er als böses Omen für eine gewalttätige und aussichtslose Zukunft an, es sei denn, er vermochte zwischen Elfen und Minotauren Frieden zu stiften. »Ist er tot? Gut!« meinte Mytaru befriedigt. Das Netz hatte tief in sein Bein eingeschnitten, und er humpelte auf die vor ihnen liegende Lichtung. »Bald werden noch mehr seiner Art auftauchen. Ich gebe Alarm.« Mytaru warf den Kopf in den Nacken und stieß ein kehliges Brüllen aus, dessen Lautstärke den Boden unter ihren Füßen erzittern ließ. Das Beben lief vom Erdboden aus Yunnies Beine hinauf und hallte in seiner Brust wider, als Mytaru die Nachricht über das Vorgefallene im wortlosen Lied der Minotauren weitergab. Yunnie warf dem Toten noch einen Blick zu und wartete, bis sein Freund geendet hatte. Beim letzten Ton fiel Mytaru in sich zusammen und holte dann noch einmal tief Luft. Sein Brustkorb weitete sich so stark, daß Yunnie befürchtete, er würde platzen. Schließlich überlief den Minotaurus ein Schauder, und er wandte sich seinem Freund zu. »Jetzt sind die anderen gewarnt«, sagte er. »Wir sollten einen Waffenstillstand vereinbaren, damit wir mit den Elfen reden können. Hier liegt ein großes Mißverständnis vor.« »So nennst du das also!« schnaubte Mytaru mit weit aufgeblähten Nüstern. »Es freut mich, daß unser ›Mißverständnis‹ ihn getötet hat.« Er rieb sich das verletzte 63
Bein. »Das Netz hätte auch um deinen oder meinen Hals fallen können.« Die Bedeutung dieser Bemerkung lag auf der Hand. Wenn selbst ein stiernackiger Minotaurus in den Maschen eines Netzes umkommen konnte, wäre Yunnies Hals innerhalb einer Sekunde gebrochen. Er nahm dem Freund den Hinweis auf seine Schwäche jedoch nicht übel. »Er sagte, er habe Rache üben wollen, weil seine ganze Sippe bei einem Überfall getötet wurde«, erklärte Yunnie und achtete auf Mytarus Mienenspiel. »Der ganze Stamm wurde getötet, während er auf die Jagd ging«, wiederholte er und verwandte ein Wort, das der Minotaurus besser verstand. »Es muß schlimm für ihn gewesen sein, als man seinen Stamm umbrachte«, antwortete Mytaru. »Wie schade, daß man ihn nicht auch tötete.« »Er sagte noch, daß die Minotauren dafür verantwortlich seien. Es geschah in der letzten Woche.« »Wenn keiner das Tal verläßt, weil wir uns auf das Tiyintfest vorbereiten? Was für ein Lügner dieser Bursche war. Aber so sind sie alle. Sie behaupten, wir wollten ihnen den Wald streitig machen. Was soll ein Minotaurus im Elnwald oder einer ähnlichen Gegend? Wir brauchen unsere Berge, unsere Täler, Felder und Weidegründe. Was sind wir ohne sie? Nie wurde ein Elf geboren, der nicht lügt.« »Ich weiß, daß kein Mitglied des Utyeehnstammes das Dorf der Elfen überfiel«, sagte Yunnie. »Was ist mit 64
den anderen Stämmen? Vielleicht beschlossen sie, den Krieg im Wald fortzuführen.« »Kein Urhaalan würde das Tal um diese Zeit verlassen, ganz gleich, welchem Stamm er angehört. Es gibt so vieles, was du nicht weißt, kleiner Bulle«, sagte Mytaru und benutzte Yunnies Minotaurennamen, um den sanften Tadel zu mildern. »Sag doch, Mytaru, weshalb ist es nicht denkbar, daß nur ein einzelner Urhaalan die Elfen überfiel? Ein Minotaurus kann schließlich mit Leichtigkeit ein Dutzend Elfenkrieger besiegen!« Yunnie bemühte sich nicht, den spöttischen Unterton in seiner Stimme zu verbergen. Aber Mytaru schien es nicht zu bemerken. »Du bist beinahe einer der Unseren«, antwortete er bedächtig. »Alle erwachsenen Bullen reinigen sich vor den Tiyintfest. Dies bedarf fortwährender Zeremonien, sorgfältig ausgewählter Nahrung und unzähliger Nachtwachen. Auch wenn wir unser Seelenheil wahrscheinlich nicht verlieren würden, wenn wir das Tal in dieser Zeit verließen – weshalb sollten wir das Wagnis eingehen?« Nachdenklich schüttelte er den Kopf. Yunnie bemerkte das frische Elfenblut am rechten Horn. Es würde nicht abgewaschen werden, bis alle Rituale vollzogen waren. »Kein Mitglied meines Stammes würde einen Überfall auf die Elfen wagen, da wir ihnen erst beim Tiyintfest den Krieg erklären. Wir sind nicht so ungeduldig, daß wir die Zeit der Entscheidungen nicht abwarten können.« Eine Bewegung erregte Yunnies Aufmerksamkeit, 65
und er drehte sich zum Leichnam des Elfen um. In der kurzen Zeit, in der er dem Toten den Rücken zugewandt hatte, waren der Bogen und die Pfeile gestohlen worden. Eine Untersuchung des Erdbodens zeigte keine Fußabdrücke. »Goblins«, murmelte er, da ihm bekannt war, wie schnell sie sich anschleichen und einen Leichnam auf dem Schlachtfeld ausrauben konnten. Aasfresser konnten es nicht gewesen sein, da sie sich nicht für Waffen interessierten. Yunnie wollte Mytaru eine Warnung zurufen, aber beim Anblick von einem Dutzend Minotauren, die den Pfad entlangstapften, auf dem der Elf das Netz ausgelegt hatte, blieb ihm der Schrei im Halse stecken. Die Bullen schritten zielstrebig voran und hielten ihre Waffen in den Händen oder hatten sie über die Schultern gehängt. Als sie den Toten erblickten, grüßten sie Yunnie wortlos, beschleunigten dann ihre Schritte und waren innerhalb weniger Minuten außer Sichtweite, um den übrigen Elfen entgegenzugehen. Yunnie hätte über seinen Sieg stolz sein sollen, zufrieden mit dem Verlauf des Tages und voller Vorfreude auf das Fest. Statt dessen fühlte er sich wie ausgehöhlt. Schlimme Vorahnungen waren niemals angenehm.
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»Wer wagt es, den rechtmäßigen Dienern der Inquisition, die ihre heilige Pflicht erfüllen, Einhalt zu gebieten?« Der in purpurne Gewänder gekleidete Generalinquisitor wirbelte herum. Der Saum seiner Robe glitt raschelnd über den Boden, als er sein Schwert auf die Sprecherin richtete. Maeveen O’Donagh verzog das Gesicht und rückte noch näher an Vervamon heran, um ihn zu beschützen. Er hatte kein Gespür für Gefahr und sah nie die Bedrohung, sondern nur die Möglichkeit, sein Wissen zu vergrößern. Maeveen empfand den Neuankömmling als wenig besser denn die Inquisitoren. Die hochgewachsene, majestätisch anmutende, dunkelhaarige Frau war mit kostbaren Gewändern aus violettem Samt bekleidet; Juwelen funkelten an Ringen aus Gold und Silber, die ihre schlanken Finger schmückten. Die Brosche an ihrem schwanengleichen Hals, die den pelzbesetzten Umhang zusammenhielt, zeugte von handwerklicher Kunst, die aus lange vergangener Zeit stammen mochte. Das ganze Auftreten der Frau vermittelte den Eindruck von Reichtum und Macht – und dem Wissen, daß man ihren Wünschen auf der Stelle 67
nachzukommen hatte. Maeveen fiel auf, daß die Fremde unter ihren kostbaren Roben robuste Kleidung trug, der auch eine rauhe Umgebung nichts anzuhaben vermochte. Aber selbst jene Gewänder waren mit Goldschmuck und bunten Bändern verziert und verrieten die Vorliebe ihrer Trägerin für auffällige Kleidung. »Steckt Eure heilige Waffe ein, Lord Generalinquisitor«, sagte die Frau mit wohltönender Stimme und trat näher, als gleite sie über den Waldboden, ohne ihn mit den Füßen berühren zu müssen. »Bei der feuchten Nachtluft könnte sie ... zu rosten beginnen.« Eine Handbewegung, die eher einem Fortscheuchen als einer Begrüßung glich, ließ das Gesicht des Mannes rot anlaufen vor Ärger. Maeveen erkannte die uralte Taktik, durch Ablenkung die Herrschaft an sich zu reißen. »Ich bin kein Lord«, erwiderte der Generalinquisitor grimmig. »Ich bin nur ein Diener, wie wir alle.« Diese eisigen Worte sollten die Fremde in ihre Schranken weisen, aber sie verfehlten ihren Zweck. »Nun, wenn ich das nächste Mal mit ihm Tee trinke, werde ich Abt Offero bitten, mir Euren Titel näher zu erklären«, antwortete die Frau und schnupfte, als habe sie der Tadel verstimmt. »Ihr seid also ...? Der Kommandeur einer Truppe heiliger Krieger?« »Ihr redet mit dem Abt?« »Natürlich. Dauernd. Auch mit Lord Peemel. Er schickte mich, um diesen wagemutigen Forscher abzu68
holen.« Sie lächelte strahlend und schwebte mit ausgestreckter Hand vorwärts. Maeveen fand, daß ihr Lächeln nicht bis zu den blauen Augen vordrang. Die Soldatin senkte die Schwertspitze ein wenig, um die Fremde aufzuhalten, aber ihr Auftraggeber schob sie beiseite, nahm die ausgestreckte Hand entgegen und küßte sie mit altmodisch anmutender Höflichkeit. »Es tut wirklich gut, selbst in der Wildnis, weit außerhalb von Iwset, noch höfische Manieren anzutreffen.« »Eine so schöne Frau bringt sogar Barbaren dazu, sich vollendet zu benehmen«, antwortete Vervamon und warf dem Generalinquisitor einen Seitenblick zu. Der Priester schäumte vor Wut und hieb mit dem Schwert in die Luft. Anscheinend wünschte er sich, den Nacken des Wissenschaftlers unter der scharfen Klinge liegen zu sehen. »Ich heiße Vervamon, bin ein schlichter Reisender und Erforscher fremder Kulturen, Sitten und Merkwürdigkeiten auf dem mächtigen Kontinent Terisiare.« »Ein schlichter Reisender?« Die Frau lachte. Der Laut ließ Maeveen die Zähne zusammenbeißen, obwohl er gewiß fröhlich klingen sollte. »Ihr seid viel mehr als das. Ihr seid berühmt, Sir Vervamon.« »Und wenn ich nie mehr sein könnte als Euer ergebenster Diener, wäre mein Ruhm unsterblich.« Vervamon verneigte sich tief, die juwelengeschmückte Hand der Frau noch immer festhaltend. »Ich bin Ihesia«, erklärte die Fremde so, als sei sie 69
die Königin von Terisiare. »Ihr sagtet, Lord Peemel habe Euch geschickt?« mischte sich Maeveen ein. Inzwischen sorgte sie sich nicht nur wegen der Inquisitoren und der seltsamen Frau. Ihre Soldaten hätten den Tumult längst hören und zu ihr eilen sollen. Schließlich lagerten sie nicht am anderen Ende des Kontinents. Wenn sie herausfand, wer seine Späherpflichten vernachlässigt hatte, würden seine Ohren demnächst ihre Halskette schmücken. »So könnte man es ausdrücken«, sagte Ihesia lächelnd. Die eisige Kälte, die Maeveen überlief, drang ihr durch Mark und Bein. »Genausogut könnte man sagen, daß ich ihm einen Gefallen erweise, da meine Reise mich in diese Richtung führte. Wer würde dem Herrscher eine kleine Gefälligkeit verwehren?« Sie wandte sich wieder an Vervamon. Der Wissenschaftler badete sich in ihrem Glanz, obwohl Maeveen spürte, daß er ebenso kalt und unwirklich war wie das Licht Iontieros. Sie blickte durch das Laubdach zum Himmel hinauf. Iontiero sandte sein reflektierendes Licht aus, und im Osten ging der zunehmende, größere Mond auf. Dieses Vorzeichen des Doppelmondes war kein gutes Omen wenn Maeveen an Omen geglaubt hätte. Glücklicherweise war sie nicht abergläubisch. »Was würdet Ihr sagen, wenn wir die derzeitige Forschungsarbeit als zu weit fortgeschritten bezeichneten, um sie nur um einer Laune willen zu unterbrechen?« fragte Maeveen herausfordernd. 70
»Das wäre höchst unpassend, zumal sich der Rest Eurer Gesellschaft bereits auf dem Rückweg nach Iwset befindet.« »Was? Meine Soldaten haben ihre Posten verlassen?« Maeveen stand mit offenem Mund da. Ihre Leute würden nicht einfach aufbrechen, nur weil eine Hofschranze es ihnen befahl. Maeveen hatte Seite an Seite mit den meisten Soldaten gekämpft und jedem einzelnen von ihnen ihr Leben anvertraut. Jene, die sie nicht während einer Schlacht geschützt hatte, hatten sie beschützt. Es handelte sich nicht um Schwächlinge, die ihr Heil in der Flucht suchten und sie und Vervamon ihrem Schicksal überließen. Dennoch war es Maeveen lieber, wenn die Soldaten dieser Kokotte zum Opfer fielen als den Priestern der Inquisition. Anscheinend beherrschte Ihesia mehr als nur das kunstvolle Zurückwerfen des Kopfes, das wissende Blinzeln und die herausgedrückte Brust. »Was sagt Ihr da?« warf der Inquisitor ein, der genauso empört wirkte wie Maeveen. »Nun, nur, daß Sir Vervamons Begleiter so freundlich waren, der Einladung des Herrschers, an seinen Hof zu kommen, Folge zu leisten. Ich bin sicher, daß Euch die Stadt entzücken wird. Natürlich ist sie mit anderen glanzvollen Orten, die ich bereiste, nicht zu vergleichen, aber dennoch scheint sie... unterhaltsam.« Sie reichte Vervamon den Arm, der ihn zuvorkommend ergriff. »Ihr müßt mich unbedingt mit Erzählungen über Eure Reisen und Heldentaten erfreuen.« 71
»Ihr werdet es nicht glauben, aber ich habe die Säulen der Dämmerung gesehen – ein Anblick, den nur wenige genießen durften«, begann Vervamon, als wolle er einen Hörsaal voller Studenten unterrichten. Er strahlte, als er Ihesias Aufmerksamkeit und Neugier bemerkte. »Diese milchigen Zylinder wandern gleich gehorsamen Soldaten von einem Horizont zum anderen, aber nur an bestimmten Tagen im Jahr. Sie sind weißer als der kostbarste Marmor und erstrecken sich von der brodelnden Oberfläche des Ozeans von Ilesmare bis zum Himmel hinauf.« Vervamon redete ohne Unterlaß und stellte als ein Wunder hin, was in Maeveens Augen nichts als eine geschickte Täuschung war. Auch sie hatte die Säulen vor zwei Jahren gesehen, gemeinsam mit Vervamon, vermochte sie aber nicht auf so poetische Weise zu beschreiben. Die Säulen entstanden durch giftige Dämpfe, die aus Unterwasserkratern aufstiegen, die weniger als eine Meile vom Strand entfernt lagen. Obwohl das ordentliche Erscheinungsbild des Dunstes auffallend und nett anzusehen war, erinnerte sie sich bedeutend besser an den brechreizerregenden Gestank. Sie wandte sich an den Generalinquisitor. »Wie viele Soldaten begleiten Euch?« Sie beobachtete ihn aufmerksam, um herauszufinden, ob er die Wahrheit sagte. Sein fehlgeschlagener Angriff und das Unvermögen, sich durchzusetzen, hatten ihn jedoch zu sehr erschüttert, um eine Lüge auszusprechen. »Nur diese hier«, antwortete er und deutete auf die 72
zwanzig Männer, die inzwischen aus der Dunkelheit des Waldes aufgetaucht waren und sich hinter ihm in Reih und Glied aufstellten. »Das sind alle.« »Ich hatte sechzig Soldaten und Waffenträger bei mir«, sagte Maeveen. »Sie hätten sich nicht ohne weiteres ergeben.« »Sechzig?« Der Inquisitor hob überrascht die Augenbrauen. Schnell versuchte er, seine Verblüffung zu verbergen. »Ihr schleppt viele Barbaren an unsere kultivierte Küste. Ich finde, Leute Eures Ranges sollten sich fragen, wie viele Ketzer sich unter euch befinden!« Maeveen spuckte ihm vor die Füße und schritt davon. Sie folgte Ihesia und ihrer neuen Eroberung. Sie wünschte, Vervamon würde mehr mit seinem Verstand als mit anderen Teilen seines Körpers denken. Das wäre besser für alle Betroffenen.
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Yunnies Magen knurrte vor Hunger. Er umklammerte die elenden Grashalme, die man ihm zum Essen gegeben hatte und warf sie dann verärgert beiseite. Seit sechs Tagen und Nächten hatte er nichts gegessen und nur hin und wieder gedöst, was schlimmer war, als überhaupt nicht zu schlafen. Dafür hatte er gute Fortschritte gemacht, die steilen Abhänge und zerklüfteten Felsen des Urhaalangebietes zu erklimmen. Er wußte, daß es anderen während dieser Aufnahmeprüfung schon schlechter ergangen war. Was Yunnie an Kraft fehlte, glich er durch Geschicklichkeit und Wendigkeit beim Erklettern der steilen Felsen aus. Die ihm folgenden Minotauren kamen immer langsamer voran. Für sie handelte es sich um ein ernsthaftes Ritual an der Schwelle zum Erwachsensein. Für ihn bedeutete es nur, lange Zeit ohne Nahrung auskommen zu müssen. Wieder strich er sich über den knurrenden Magen, als ihn ein stechender Schmerz durchfuhr. Yunnie ließ sich auf einer Felskante hoch über den rauchenden Lavamassen nieder und starrte über das Land hinweg, das seine endgültige Heimat sein würde, 74
wenn ihn der Stamm Utyeehn aufnahm. Dann war Mytaru sein wirklicher Bruder – und er ein Mitglied der Familie. Yunnie dachte angestrengt darüber nach, obwohl ihm der Kopf durch den Nahrungsentzug schwirrte. Der Gedanke, eine Familie zu haben, gefiel ihm. Er konnte sich nicht an seine Eltern erinnern. Sie waren gestorben, als er noch sehr klein war. Yunnie runzelte die Stirn, als sich undeutliche Erinnerungen einstellten. Erinnerungen an Elfen, oder besser gesagt: an eine einzige Elfe. Er konnte sich jedoch keinen Reim mehr darauf machen. Er war jung gewesen, sehr jung, und die Elfe hatte ihn beschützt. Oder brachte ihn der Hunger durcheinander und gaukelte ihm Trugbilder vor? Trugbilder waren ein wichtiger Bestandteil des Rituals. Er mußte in sich hineinhören, herausfinden, was in ihm vorging und es für den Stamm ausnutzen. Nur durch die jungen Bullen konnte der Stamm Utyeehn vorankommen, behaupteten die Ältesten. Darüber mußte Yunnie lachen. Die Minotauren hielten an erstaunlichen Traditionen fest. Wie ein neues Mitglied der Gruppe jahrhundertealte Sitten und Rituale verändern sollte, war ihm ein Rätsel. Die Bullen versammelten sich, um spirituelle Debatten zu führen, während die Mütter ihre praktischeren Zeremonien abhielten, bei denen sie sich auf Geburt und Leben vorbereiteten. Das stimmte Yunnie nachdenklich. Ehen wurden von den Müttern mit einer seltsamen Methode gestiftet, über die nicht geredet wurde. Würde man ihn auch als 75
Kandidaten in Betracht ziehen oder würde er zu den Bullen gehören, die aus den unterschiedlichsten Gründen nie auserwählt wurden? Er dachte an Mytarus Onkel Mehonvo, einen weisen Bullen, der nie von einer Mutter erwählt worden war, weil er nur ein Horn hatte und keine starke Fürsprecherin in seiner Familie, die für ihn eintrat. Wahrscheinlich wäre es anders gewesen, wenn Mehonvo das Horn im Kampf verloren hätte, aber der Bulle war von Geburt an mit diesem Makel behaftet. Niemand wollte sich mit einem verunstalteten Bullen paaren. Yunnie rieb sich die Seiten seines schmerzenden Kopfes. Er wußte, daß er über die Einheirat in einen anderen Stamm gar nicht erst nachdenken mußte. Er besaß schließlich keine Hörner, die am höchsten geschätzten Merkmale eines Minotaurus. Er schloß die Augen und schwankte ein wenig. Sein Kopf schmerzte heftig. Plötzlich riß er die Augen wieder auf und blickte den Felsen hinunter. Riesige Flammenzungen schossen empor und ließen Yunnie in Schweiß ausbrechen. Mit weitaufgerissenen Augen starrte er auf die Kreatur, die sich tief unter ihm bewegte und bei jeder Geste Flammen ausspie. Yunnie kam es so vor, als öffne das Monstrum den Mund und enthülle ihm den feurigen Schlund der Hölle, indem es den Kopf zurückwarf und ihn ansah. Augen wie glühende Kohlen richteten sich auf ihn. Ein plumper Finger zeigte in seine Richtung, und grelle Flammen züngelten empor. Yunnie riß die Arme hoch, 76
um sein Gesicht vor der heißen Luft zu schützen, die ihm entgegenschlug. Er taumelte und wäre um ein Haar in die Tiefe gestürzt. Mühsam fing er sich wieder und wich vor dem Abgrund zurück, ehe er erneut einen Blick auf das unheimliche Wesen warf. Es war verschwunden – als habe es nie existiert. Wahrscheinlich machte ihn der Hunger schwindlig und gaukelte ihm Irrbilder vor. »Es war gar nicht da. Es war nur ein Trugbild«, versicherte er sich, wußte aber genau, daß es nicht stimmte. Ein ähnliches Wesen hatte er schon einmal gesehen, als ihm Mytaru den Ort der Macht seines Stammes gezeigt hatte. War es vielleicht das gleiche Monstrum gewesen? Handelte es sich nur um eine Halluzination? Er hielt sich den Kopf und lauschte dem Knurren seines Magens. Yunnie wußte nicht länger, was wirklich geschah und was nur eine Täuschung, hervorgerufen durch Nahrungsmangel, war. Unsicher erhob er sich und stolperte weiter. Er mußte die Stammeshöhlen vor Sonnenuntergang erreichen, um den letzten Teil des Rituals hinter sich zu bringen. Heute nacht würden beide Vollmonde aufgehen und am Himmel stehen. Yunnie und drei junge Minotauren standen Schulter an Schulter im Eingang der Höhle. Aus der felsigen Tiefe drang ein trauriges Heulen, das ihm im Nacken und auf den Armen Gänsehaut verursachte. Er wußte, daß dies zur Zeremonie gehörte und er den schlimmsten Teil bereits hinter sich hatte. Yunnie hatte seine 77
Ausdauer bewiesen, weil er das Tal in der vorgeschriebenen Zeit umrundet hatte und mit den sieben heiligen Blumen zurückgekehrt war. Er hielt sie fest umklammert, und die übrigen Überlebenden des Rituals taten es ihm gleich. Zu fünft waren sie anfangs gewesen. Einer von ihnen war nicht am vereinbarten Ort zur vorgeschriebenen Zeit erschienen. Yunnie fragte sich, was dem jungen Minotaurus widerfahren sein mochte. Dröhnendes Gebrüll verscheuchte jegliche Gedanken, die sich nicht um die vor ihnen liegende Prüfung drehten. »Nur jene, die ein tapferes Herz haben und dem Stamm Utyeehn treu ergeben sind, mögen vortreten. Alle anderen sind dem Tod geweiht!« Wieder schauderte Yunnie, trat aber eiligst vor. Die anderen folgten ihm – gerade noch rechtzeitig, denn hinter ihnen fiel ein mit scharfen Metallspitzen versehener Balken herab. Hätte einer von ihnen gezögert, wäre er aufgespießt worden. Yunnie fürchtete sich. Er hatte angenommen, der beschwerliche Weg zur Höhle, das lange Hungern und die Suche nach den heiligen Blumen wären der schlimmste Teil der Prüfung gewesen. Jetzt hatte er Angst, nicht mehr lange zu leben. Hatte ihm das Flammenmonster das sagen wollen? Hatte ihn die Erscheinung vor dem Tod und ewiger Verdammnis gewarnt, weil er so hochmütig gewesen war, sich bereits als Mitglied der Urhaalan zu sehen? 78
Die Erinnerung an einen Rat Mehonvos überfiel ihn. »Panik tötet, und zwar bedeutend schneller als Unschlüssigkeit.« Yunnie erkannte, daß Halbherzigkeit ihm den Tod beschert hätte. Wie sollte er die aufsteigende Furcht besiegen? Ein Blick nach rechts und links vermochte ihn nicht zu beruhigen. »Wir sind Minotauren und geben nicht auf«, hörte er einen seiner Gefährten murmeln, der sich Mut zusprechen wollte. »Die Herde überlebt, selbst wenn der einzelne stirbt.« »Wir alle werden Stammesmitglieder sein«, sagte Yunnie leise. Seine Worte halfen ihm, die lähmende Angst zu unterdrücken. »Zweifelt niemals daran.« Die drei sahen ihn an, hielten ihre Blumen ein wenig fester und schritten zielstrebiger voran. Yunnie hielt mit ihnen Schritt und zuckte nicht einmal zusammen, als fedrige, klebrige Dinge über sein Gesicht strichen, seine nackte Brust berührten und sich in seinem Haar verfingen. Sanfte Berührungen verwandelten sich in stechende Schmerzen, während ihn unsichtbare Messer verletzten. Yunnie ging weiter und drehte sich nicht nach den Angreifern um. Er wußte, daß auch dies zur Zeremonie gehörte: Er mußte sein Vertrauen zur Herde beweisen und durfte nicht von der Seite seiner Gefährten weichen. Anhalten und alleine kämpfen bedeutete den sicheren Tod. Er mußte seine menschlichen Instinkte überwinden und wie ein Minotaurus denken und handeln. 79
Urplötzlich gelangten sie in eine hohe Kammer, und die Prüflinge blieben stehen und sahen sich verwirrt um. Zwei riesige Löcher waren in die Höhlendecke gebrochen worden, und man konnte den Nachthimmel sehen. »Die Zeit ist nahe«, erscholl die dröhnende Stimme. »Betretet die Kammer der Wahrheit und erwartet eure Bestimmung im Licht der beiden Monde.« Yunnie fand eine von vielen Füßen ausgetretene Stelle am Boden und stellte sich mit gespreizten Beinen hin, um auf einen Angriff vorbereitet zu sein. Als er nach oben schaute, wurde ihm bewußt, daß er nur abwarten mußte. Iontieros grelles Licht drang bereits durch das erste Loch. In dem zweiten, das sich rechts über ihm befand, erblickte er Fessa, der langsam höher stieg. Yunnie versteifte sich ein wenig. In Shingol hatte man ihn gelehrt, es sei Blasphemie, den Namen des größeren Mondes auszusprechen. Die Minotauren hatten keine Bedenken, den Mond beim Namen zu nennen und sich über ihn zu unterhalten. Yunnie kämpfte gegen alte Gewohnheiten und Aberglauben an. Der Name ›Fessa‹ kam über seine Lippen, als der Mond genau über der Öffnung schwebte. Leuchtend hob er sich gegen den dunklen Himmel ab. Yunnie wurde in das Licht beider Monde gehüllt und stand wie angewurzelt auf einem Fleck inmitten der großen Höhle. Er schloß die Augen und geriet ins Schwanken. Er war geschwächt – und gleichzeitig eu80
phorisch. »Hast du die heiligen Blumen?« »Ich habe die sieben Blumen, die uns unsere Ahnen als Erbe vermachten«, sagte Yunnie und wiederholte die Worte, die ihm Mytaru immer wieder eingeprägt hatte. »Was siehst du?« »Beim heiligen Licht der beiden Monde sehe ich die Wahrheit«, antwortete er. Und so ging es weiter, und Yunnie zögerte bei keiner Antwort. Nach jeder Erwiderung trat ein weiteres Stammesmitglied ein, schritt langsam um ihn herum und stellte ihm eine Frage. Sieben Bullen hatten ihn bereits umkreist, ehe ihm die erste Blume abgenommen wurde. Nach der neunundvierzigsten und letzten Antwort gab er auch die letzte Blume ab. »Willkommen in der Urhaalanherde, beim Stamm Utyeehn, Haus Mytaarun«, begrüßte ihn sein Blutsbruder. Mytaru drückte Yunnie an sich, schob ihn dann wieder zurück und reichte ihm ein Schwert und ein Büschel Gras. Einen Augenblick lang fürchtete Yunnie, er müsse das Gras verspeisen. Seitenblicke auf seine Gefährten zeigten ihm, daß es sich nur um ein Symbol dafür handelte, daß sich die Herde um ihre Mitglieder kümmerte. »Mit dem Schwert wirst du deine Brüder verteidigen, mit dem Gras deine Schwestern ernähren«, sprach Mytaru ernsthaft. »Nimmst du diese Verpflichtungen auf dich?« 81
»Ich nehme diese Verpflichtungen mit Freude und vollem Wissen auf mich.« »Möge dein Leben der Herde zur Ehre gereichen«, sagte Mytaru. Die übrigen Minotauren wiederholten seine Worte. »Als ein Mitglied der Urhaalanherde: Wie lauten deine innersten Gedanken? Was hat dir deine Vision gesagt, Bruder Yunnie, kleiner Bulle?« Yunnie schluckte und dachte an die feurige Prophezeiung. Er schwankte ein wenig, wußte aber, daß er die Wahrheit sagen mußte. »Die Herde muß mit den Elfen reden. Es ist falsch, daß Minotauren und Elfen einander bekämpfen. Wenn wir nicht verhandeln, werden wir alle im Feuer umkommen.« Schweigen legte sich wie eine schwere Decke über seine Schultern. Im tanzenden Licht der Monde erkannte Yunnie, daß seine Vision mit keiner anderen im Stamme Utyeehn übereinstimmte.
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»Gefangene«, knurrte Maeveen O’Donagh. Mit Hilfe des Wetzsteins schärfte sie ihren Dolch wohl schon zum hundertstenmal, seitdem Ihesia Vervamon überredet hatte, sie nach Iwset zu begleiten. »Gut behandelte Gefangene«, fügte ihre Stellvertreterin Quopomma hinzu. Die Ogerin polierte ihr Schwert, bis die Klinge glänzte. »Wenigstens lassen sie uns nur kurze Strecken zurücklegen, wofür meine schmerzenden Füße dankbar sind. Und das Essen? Nun, ich habe schon besseres gehabt, aber es kostet nichts und schmeckt nicht übel.« Quopomma rülpste, um ihre Meinung über die Speisen, die von Ihesias Proviantmeister ausgeteilt wurden, kundzutun. »Aber dennoch Gefangene«, beharrte Maeveen. Sie zielte auf einen Baum, der ein Dutzend Schritte entfernt stand, und warf den Dolch aus dem Handgelenk heraus. Tief drang die Klinge in die Rinde ein. Befriedigt holte sie die Waffe zurück und säuberte sie. »Wir haben lange nicht mehr so gut gegessen«, bekräftigte Quopomma, »und wenigstens hält sich Vervamon abseits.« »Er hält sich in Ihesias Bett auf«, widersprach Mae83
veen wütend. »Ich dachte, Ihr wärt über ihn hinweg«, meinte die Ogerin. Sie grunzte, kratzte sich den Kopf und fing eine Laus. Starke, dicke Finger zogen sie aus den verfilzten Haaren heraus und zerquetschten sie unbarmherzig. »Ich weiß nicht, was ihr Menschen an ihm schön findet. Seinen Körper bestimmt nicht, und Verstand sollte man nicht zu hoch bewerten.« »Habt Ihr Euch Gedanken darüber gemacht?« fragte Maeveen, die trotz ihres Zorns Belustigung verspürte. »Ihr zieht einen dummen Mann einem klugen vor?« »Nun, Vervamon verfügt über gewisse wissenschaftliche Fähigkeiten, aber über Vernunft? Wo bleibt die? Warum sollte er Eurer oder meiner Dienste bedürfen, wenn er auch nur einen Funken gesunden Menschenverstand besäße?« »Seine Gedanken gehen weit über das, was er sehen kann, hinaus«, antwortete Maeveen, die ihren Auftraggeber und ehemaligen Liebhaber nicht verteidigen wollte, sich aber plötzlich dazu gedrängt sah. »Und mehr als das. Er kann Schlüsse ziehen und die Wahrheit herausfinden. Seine Beobachtungen der hiesigen Begräbniszeremonien sind nichts weniger als genial.« »Wer interessiert sich schon für ein Grab? Niemand – außer für sein eigenes natürlich.« Bei diesen Worten lachte Maeveen grimmig und machte keinen Versuch, ihre Bitterkeit zu verbergen. »Wenigstens liegen wir noch nicht in der Erde, weil uns Ihesia aus der Patsche geholfen hat.« 84
»Die Dame verbirgt einiges – und zwar zwischen ihren Ohren. Was den Körper angeht, versteckt sie überhaupt nichts, wenn sie sich in diese dünnen Gewänder kleidet. Hab sie noch nicht ordentlich angezogen gesehen, seitdem sie ihre Verkleidung abgelegt hat, die sie in jener Nacht trug.« Maeveen biß sich auf die Lippen. Sie haßte Ihesia täglich mehr. Die Frau dachte nicht daran, ihre verführerische Schönheit vor Vervamon zu verbergen, der wie ein brünstiger Bulle hinter ihr herlief. Schlimmer noch: Die Frau aus Iwset war nicht einfach nur eine schöne Hure. Sie war ebenso klug wie hübsch. Befragungen Quopommas und Iros hatten Maeveen davon überzeugt, daß Ihesia für den Aufmarsch der Soldaten und die leichte Gefangennahme der gesamten Truppe verantwortlich war. Maeveen wußte, daß ihre Leute, selbst wenn der Feind in der Überzahl gewesen wäre, tapfer gekämpft hätten, wenn sich auch nur der Hauch einer Fluchtmöglichkeit gezeigt hatte. Ihesia hatte alle Wege sorgfältig abgeriegelt und die Niederlage in Seidenfäden gewickelt, die sie fester banden als schwere Eisenketten. Welcher Soldat würde sich gegen gute Verpflegung wehren, so lange man ihm seine Waffen ließ? Maeveen schaute auf, als Vervamon und Ihesia das kunstvoll geschmückte Zelt verließen, in dem sie den größten Teil ihrer Zeit verbrachten. Zu viel Zeit. Vervamon winkte ihr. Maeveen sah ihren Leutnant an. Quopomma lächelte verlegen und zuckte die Achseln, 85
als wollte sie sagen: »Was können wir schon dagegen tun?« »Was ist los?« fragte Maeveen, als sie langsam zu Vervamon hinüberschlenderte. »Morgen erreichen wir Iwset. Bitte sorgt dafür, daß sich die Truppe in Bestform befindet, Hauptmann.« Fast hätte Maeveen ihn gefragt, ob er sonst nichts begehre, verkniff sich die Frage aber. Ihre Soldaten waren immer in Höchstform. »Was ist mit unseren Wächtern?« »Wächter? Hauptmann, bitte! Die liebe Ihesia hält niemanden gefangen. Eigentlich beschützt sie uns nur.« »Sie beschützt uns?« stieß Maeveen hervor. »Wovor? Vor den Inquisitoren?« Beim Gedanken an die Priester spuckte sie verächtlich aus. Die rotgekleideten Sadisten waren Ihesias berittener Truppe eine Weile gefolgt, bis sie schließlich zurückblieben, als sie auf dem Weg eine Gruppe angeblich magiebesessener Ketzer entdeckten. »In Iwset braut sich ein Krieg zusammen, auch wenn alles friedlich scheint«, erklärte Vervamon, als wiederhole er, was ihm Ihesia vorgesagt hatte. »Lord Peemel wünscht mich zu sprechen, um zu erfahren, was ich auf meinen abenteuerlichen Reisen erlebte.« »Ich könnte einen Leibwächter abstellen und ...« »Nein!« unterbrach sie Ihesia barsch. An Vervamon gewandt, fuhr sie mit freundlicher Stimme fort: »Das ist völlig unnötig, Sir Vervamon. Außer meinem Schutz ist nichts weiter notwendig, so lange Ihr in unserem herrlichen Land weilt. Die Menschen von Iwset sind 86
keine Bedrohung für Euch.« »Aber selbstverständlich, meine Liebe. Maeveen – ich meine, Hauptmann O’Donagh – begleitet mich überall hin. Sie ist eine gute Beobachterin und sehr nützlich, wenn ich etwas von den Einheimischen erfahren möchte.« »Nun, das ist hier vollkommen überflüssig«, erwiderte Ihesia in schärferem Tonfall. »Lord Peemel wünscht, nur Euch zu sprechen, da es um eine äußerst wichtige und geheime Angelegenheit geht, mit der sich nur ein Mann Eurer Klugheit und Eures Ansehens beschäftigen sollte.« Sie ließ die schlanke Hand über Vervamons Arm gleiten. »Nun gut«, stimmte der Wissenschaftler zu. Er räusperte sich und riß sich zusammen. »Hauptmann, kümmert Euch um eine angemessene Begleitung für mich. Morgen früh setzen wir die Reise fort – wohin sie uns auch führt.« »Was?« rief Ihesia ungläubig. »Das geht nicht! Lord Peemel ...« »Hauptmann O’Donagh und ein weiterer Offizier werden mich begleiten. Ihr könnt nicht erwarten, daß sich ein Mann meines Ranges dem Herrscher eines Stadtstaates nähert, ohne wenigstens angemessene Begleitung mit sich zu bringen. Es sei denn, ich bin ein Gefangener, wie es Maeveen so unvorsichtig andeutete.« Ihesia nagte an ihrer Unterlippe und begriff, daß Vervamon sie in eine Falle gelockt hatte. Entweder 87
mußte sie zugeben, daß er ihr Gefangener war, oder ihm gestatten, sich wie der geehrte Gast zu benehmen, der er angeblich war. Innerhalb weniger Sekunden hatte Vervamon die Lage dargelegt und sie zu einer Entscheidung gezwungen. »Gut, Ihr und zwei Offiziere«, sagte sie schließlich. »Mehr würde man vielleicht als ... hinterwäldlerisch ansehen.« »Nun, wir wollen auf keinen Fall ... hinterwäldlerisch wirken«, sagte Vervamon und lächelte strahlend. »Halt! Ihr wollt Euch einfach so in die Hände dieser, dieser Person begeben?« rief Maeveen aus, die vor Empörung kaum die richtigen Worte zu finden vermochte. Vervamon hatte sich gegen den Kampf und für einen Kompromiß entschieden. Sie sehnte sich danach, den Dolch zu ziehen und Ihesia zu beseitigen. Ein einziger Hieb würde alle Probleme auslöschen. Dann wurde ihr klar, daß Ihesias Tod ein Blutbad auslösen würde. Noch immer umzingelten die Soldaten des Generals von Iwset ihre eigene, kleinere und schlechter bewaffnete Truppe. »Wir kommen in Frieden«, erwiderte Vervamon. »Es gibt keinen Grund, weshalb Lord Peemel mir gegenüber nicht völlig höflich sein sollte. Vor zwanzig Jahren oder mehr war er ein äußerst großzügiger Gastgeber, und ich wohnte gar in seinem Palast. Warum sollte er es jetzt anders halten?« »Er möchte einen wahren Helden begrüßen«, schmeichelte Ihesia, die ihre kleine Niederlage schnell 88
verwunden hatte. »Das glaube ich! Die Geschichten, die ich ihm erzählen werde! Einmal geschah es ...« Ihesia und Vervamon kehrten in ihr Zelt zurück, dessen Plane sich hinter ihnen schloß. Maeveen knurrte leise vor sich hin, starrte das Zelt wütend an und hob schließlich die Augen zum Himmel. Iontiero verschwand gerade hinter einer dünnen Wolkenwand, und der größere Mond, der von seinem Nebelschleier umgeben war, bildete blasse Kreise um sich herum. Es sah aus, als hinge eine riesige Zielscheibe am Himmel. Maeveen O’Donagh sah das als ein wahrhaft schlechtes Omen an.
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Das mechanische Gefährt klapperte und schwankte heftig, und Isak Glen’dard mußte sich an den Griffen festhalten, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Er verdrehte den Hals und steckte den Kopf aus der Vorderseite des verrosteten, durch Magie angetriebenen Vehikels. Erstaunt riß er die Augen auf, als er bemerkte, daß er genau auf eine steile Böschung zusteuerte, die von der Straße zum Ozean von Ilesemare abfiel. Isak drehte wie wild an den Rädern und trat auf alle erreichbaren Pedale, um die Maschine von der Böschung weg zu lenken. Leider ohne Erfolg. Für einige Sekunden verwandelte er sich von einem Menschen in ein schlangenähnliches Wesen und schlüpfte durch eine schmale Luke nach draußen. Auf dem Dach des Vehikels nahm er wieder menschliche Gestalt an und ging in die Hocke. Mit einem Satz sprang er ab. Als die bockende Maschine über die Felsen kippte und ins Meer stürzte, landete er unsanft auf dem Boden. Isak bürstete seine feinen Kleider ab und sah nach, ob die Papiere, die ihm eine sichere Reise gewährten, noch in seiner Tasche ruhten. Unter ihnen befand sich auch eine Vollmacht Lord Peemels, für den Fall, daß er 90
das Kommando eines Schiffes übernehmen mußte, um feindliche Segler aus Jehesic anzugreifen. Er schnaubte verächtlich über diese Zumutung. Er war kein Seemann. Er zog es vor, mit beiden Beinen auf festem Boden zu stehen. Bei diesem Gedanken schlenderte er zur Böschung hinüber und starrte auf das verbeulte Wrack hinab, das hundert Fuß tiefer am Strand lag. »Beinahe«, murmelte er, aber dann kehrte seine übliche gute Laune zurück. Die jetzt unbrauchbare Maschine hatte ihn schnell vorangebracht. Viele Stunden harter Arbeit waren notwendig gewesen, sie wieder in Gang zu bringen und steuern zu lernen, aber immerhin hatte sie ihn bis zum Rande des Elnwaldes getragen. Ihre Schnelligkeit und Bequemlichkeit wären nicht einmal vom besten Kutschenunternehmen Iwsets zu übertreffen gewesen – wenn es ein solches gegeben hätte. Isak setzte seinen Weg fort und pfiff die Melodie eines Liedes, das er in einem Bordell in Sarinth gelernt hatte. Es handelte von einem herumziehenden Minnesänger, zwei forschen Mädchen und einem magischen Apparat. Das Lied lenkte ihn von den Sorgen ab, die ihm diese Mission bereitete. Er hatte seinen Auftraggeber bereits hintergangen, indem er Peemels Komplott gegen Abt Offero verriet, der auch zu seinen Auftraggebern zählte. Isak lachte leise vor sich hin und versuchte, sich alle vorzustellen, die für seine kostbaren Dienste bezahlten. »Für Digody reise ich nach Norden«, sagte er und 91
unterbrach die Melodie lange genug, um sich über die trockenen Lippen zu lecken. Ein kalter Windhauch strafte die Sommersonne, die ihm auf der Haut brannte, Lügen. So war es immer, wenn man entlang der Küste wanderte. »Aber er zahlt mit Silbermünzen, während der andere mir Gold und mehr gibt.« Isak klopfte auf seinen prall gefüllten Geldbeutel. Diesmal handelte es sich um eine einfache Sache. Er mußte nur die dunkle Magierin aufspüren, die in Digodys Dienst stand und ihr die Befehle des hageren, rotäugigen Ratgebers überbringen. Oder waren Digodys Anweisungen in Wirklichkeit die von Lord Peemel? Isak runzelte die Stirn und versuchte, die Hintergründe der Politik Iwsets zu erforschen, gab aber schnell auf. Es ging ihn auch nichts an. Er überbrachte Botschaften und übte sich als Diplomat, aber hauptsächlich nahm er von jenen ein Vermögen ein, die seiner bedurften. Während er dahinwanderte, senkte sich die Sonne dem Meer entgegen, und sein Instinkt warnte ihn vor einem Beobachter. Ohne sich etwas anmerken zu lassen, setzte er seinen Weg mit unvermindert langen Schritten fort. Die Leuchtfeuer eines kleinen Fischerdorfes – wahrscheinlich Shingol, wenn er sich recht erinnerte – erhellten die Dämmerung. Fischgeruch ließ ihn die Nase rümpfen. Wenn er wieder in Iwset war, wollte er sich eine erlesene Mahlzeit gönnen. Urplötzlich drehte er sich auf dem Absatz um und stand einem dunklen Fleck gegenüber, der sich in der 92
Düsternis des Waldes kaum abzeichnete. »Ich möchte meine Botschaft überbringen und dieses unwichtige Land dann wieder verlassen«, sagte er zu dem Schatten. Eine Bewegung bewies, daß er sich nicht mit einem Phantom unterhielt. Der unförmige Schatten rührte sich, glitt beiseite, und endlich stand der Grund für seine Reise vor ihm. Isak verbeugte sich tief und auf ehrerbietigste Weise, obwohl er wußte, daß eine derartige Höflichkeit verschwendet war. Aus den Tiefen der Kapuze leuchteten zwei silbrige, katzenähnliche Augen. Ansonsten gab es keine Anzeichen dafür, ob die Frau der menschlichen Rasse angehörte oder einer anderen, Isak unbekannten Art. Kein Wunder, daß sie mit Digody unter einer Dekke steckte. Entlang dieser wilden Küste lebten die seltsamsten Kreaturen. Das kümmerte Isak nicht sonderlich, denn oftmals hatte er mit bedeutend weniger menschlich wirkenden Wesen als dieser Frau zu tun. »Du kommst aus dem Süden?« fragte eine sanfte Stimme, die vom Seewind getragen wurde und ihn noch kälter erscheinen ließ. »Ich überbringe Euch Grüße unseres Herrn und Meisters«, sagte Isak und unterdrückte ein Lächeln. »Lord Peemel wünscht, daß Ihr als seine Abgesandte handelt und dafür sorgt, daß es keinen Frieden zwischen Elfen, Menschen und Minotauren gibt.« »Soll ich dafür sorgen, daß sie aufeinander losgehen?« »Wie Ihr es anstellt, geht mich nichts an.« Isak reich93
te ihr einen dicken Umschlag, in dem ein einzelnes Blatt Papier ruhte. Eine schattenhafte Hand, die ihn nicht berührte, ließ den Umschlag verschwinden. Isak mußte nicht lange nachdenken, um zu erkennen, daß es sich hier um eine ausgesprochen mächtige Magierin handelte. Der lässige Umgang mit Magie verriet ihm, daß sie die Inquisition, Lord Peemel oder ihn selbst nicht fürchtete. Vorsicht senkte sich wie ein beruhigender Schleier über ihn, hieß ihn, seine Gedanken zu ordnen und steuerte ihn durch gefährliche Untiefen. Er verneigte sich noch ein wenig tiefer. »Kein Frieden«, murmelte die Gestalt mit den leuchtenden Augen. »Warum nicht?« »Es braut sich Krieg zwischen Iwset und Jehesic zusammen. Lord Peemel möchte verhindern, daß man sich mit Lady Edaras Truppen verbündet und seine Nordgrenze bedroht. Ein Zwist – ganz gleich, wie unbedeutend – verhindert eine geeinte Front gegen ihn. Seine Soldaten kämpfen bereits im Süden. Wenn er Jehesic den Krieg erklärt, muß er an zwei Fronten kämpfen. Er braucht keinen dritten Gegner, um sich zusätzlich zu schwächen.« Ein schwacher roter Schimmer glühte um die Gestalt herum und zwang Isak dazu, seine eigene Magie zu verstärken, um sich dagegen zu wappnen. Er sagte kein Wort zu ihrem Versuch, ihn mit ihrem Zauber zu benebeln. Das gehörte sich nicht als Vermittler. Nun, immerhin wußte er jetzt, daß Peemel eine mehr als fähige Abgesandte im Elnwald besaß, und wahrschein94
lich war dem Herrscher gar nicht bewußt, wie fähig sie war. Wem sollte Isak diesen Grund für mögliche Schwierigkeiten mitteilen? Lord Peemel? Oder seinem Auftraggeber? Oder allen beiden, wenn der Preis für diese besonders kostbare Nachricht stimmte? »An der Grenze zu Iwset wird es einen kleinen Streit geben«, versprach ihm die dunkle Frau. Diese schlichte Aussage überzeugte Isak davon, daß Peemel sich große Sorgen um einen anderen Gegner als nur Jehesic machen mußte. Diese Dame hier plante eigene Eroberungen, und ein Bündnis mit einem Emporkömmling aus Iwset kam nicht darin vor. »Ich werde dem Herrscher Eure höchst beruhigende Zusicherung überbringen« antwortete Isak. »Wer erhält als erster deinen Bericht?« kam die unerwartete Frage. Trotz seiner redlichen Bemühungen, ihrem Zauber zu widersprechen, hörte sich Isak plötzlich die Wahrheit sagen. »Digody«, antwortete er. Der Name glitt blitzschnell über seine Lippen. Er biß sich auf die Zunge, um weitere Enthüllungen zu verhindern. Isak hätte sich keine Sorgen machen müssen. Die Magierin stieß ein Lachen aus, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ, trat zurück und verschwand in der plötzlich sehr kalten Sommernacht. Sie hatte erfahren, was sie wollte und keinerlei Verwendung mehr für den Kurier. Isak stand mehrere Minuten lang still, bis er schließ95
lich seine gute Laune wiedererlangte. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, und er wandte sich mit gemächlichen Schritten nach Süden. Aus irgendeinem Grund hatte er das Papier in dem versiegelten Umschlag übergeben müssen. Vielleicht befand sich ein langsam wirkendes Gift darauf, das jeden, der das Blatt berührte, tötete. Vielleicht beseitigte Peemel auf diese Weise alle, die ihm über den Kopf wuchsen. Isak war ganz sicher, daß auch andere Kuriere Bericht über diese Frau erstatten mußten. Es war ihm gleich. Er würde zuerst Digody und dann Lord Peemel sprechen. Und einen bedeutend ausführlicheren Bericht wollte er dem Auftraggeber erstatten, den er höher schätzte als alle anderen. Das Lied, mit dem er die aufsteigenden Monde herausforderte, sich über den Himmel zu kugeln, war eine Eigenkomposition Isaks und klang daher noch rauher als der Rest seines Repertoires.
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Hauptmann Maeveen O’Donagh zupfte an ihrer lehmbespritzten braun-grünen Uniform herum, und war sich bewußt, wie heruntergekommen sie inmitten der bunten Pfauen wirkte, der Ehrengarde, die sie zu Lord Peemel brachte. Sie tröstete sich damit, daß keine dieser Uniformen in einem Sumpf oder im Unterholz von Nutzen war; dort kam es auf gute Tarnung und nicht auf Farbenpracht an. Verstohlen tastete sie nach der Vorderseite der Jacke, die nicht von Orden geschmückt wurde. Sie hatte schon etliche Heldentaten vollbracht, die aber selten jemandem aufgefallen waren, außer den Leuten, denen sie das Leben rettete. Das war der Preis, den sie zahlte, weil sie keinem Herrscher die Treue geschworen hatte und statt dessen jenen diente, die sie am meisten beeindruckten. Ein schwaches Lächeln stahl sich über ihre Lippen. Die Freiheit und das Wissen, die Treue ihrer Leute durch Ergebenheit und allzeit ehrenhaftes Verhalten errungen zu haben, war eine bessere Anerkennung als ein Klumpen Metall, der an einem bunten Band baumelte. Eine weitaus bessere Anerkennung. »Mach dir keine Sorgen. Die können dich gar nicht 97
erschrecken, meine Schöne. Du bist so hübsch, daß sie vor Neid erblassen«, murmelte die neben ihr gehende Quopomma, aber Maeveen wußte, daß die Ogerin nicht mit ihr sprach. Sie redete oftmals mit unsichtbaren Kreaturen, auf deren Hilfe und Freundschaft sie sich berief. Ihre Kameraden lachten über Quopommas eingebildete Freunde, aber Maeveen hatte gelernt, den Glauben der anderen nicht zu verspotten – insbesondere, wenn es sich dabei um jemand so vernünftigen wie Quopomma handelte. Vielleicht gab es diese Wesen wirklich, und selbst wenn es nicht der Fall war, so schadeten die Zwiegespräche der Ogerin niemanden. Die Kommandeurin in Maeveen ließ sie den glänzenden Waffen der Wachen und den übrigen Soldaten, die die Hauptstraßen Iwsets säumten, besondere Aufmerksamkeit schenken. Weiter vorn winkte Ihesia der Menschenmenge, die sich hinter den Bewaffneten versammelt hatte, als sei sie eine zurückgekehrte Erobererin – und vielleicht war sie genau das. Vervamon schritt an ihrer Seite, und sein dümmliches Grinsen zeigte, daß er der Preis war, den die Frau in einem Kampf errungen hatte, der leider unkriegerischer abgelaufen war, als Maeveen es sich gewünscht hätte. Es fehlte nur noch, daß sein Kopf mit dem silbrigen Haar die Wand in Ihesias Trophäenzimmer schmückte. Ihesia mochte eine gefährliche Verschwörerin sein, aber die sie umgebenden Wachen waren weitaus gefährlicher. Obwohl die Waffen auf Hochglanz poliert waren, wiesen sie unübersehbare Gebrauchsspuren 98
auf. Der erste Eindruck, daß es sich um Pfauen handelte, trog. Maeveen vermutete, daß sie zu Lord Peemels Leibgarde gehörten und bereit waren, ihren Herrn beim geringsten Anzeichen einer Gefahr zu verteidigen. Das Gefühl, in eine Falle hineinzuspazieren, verstärkte sich, als sie die anderen Soldaten bemerkte, die ihren Weg säumten. Wenn sich die Wachen des Lords aus Veteranen zusammensetzten, dann hatten diese hier noch vor kurzer Zeit harte Kämpfe ausgefochten und schienen danach zu dürsten, weitere Seelen zu rauben. Mehr als einer von ihnen gab sich den Anschein, als wolle er die Waffe ziehen und vorspringen, wurde aber von grimmig aussehenden Offizieren zurückgescheucht. »Unsere Leute«, flüsterte Maeveen. »Glaubt Ihr, sie sind in Sicherheit?« Die Ogerin zuckte mit den breiten Schultern. »Als wir sie im Lager zurückließen, lachten und scherzten sie, aber sie haben sich so leicht einfangen lassen, daß ich an ihrer Vernunft zweifle. Wenn ich nur nicht auf die Jagd gegangen wäre ...« Quopomma schnaubte verächtlich, als sie daran dachte, wie man Leutnant Iro und ihre Späher überrumpelt hatte. »Die Soldaten, die hier herumstehen, kommen aus der Schlacht. Gegen wen kämpft Lord Peemel?« »Gegen alle und jeden«, antwortete die Ogerin. »Jedenfalls entnahm ich das den Gesprächen der Wachen. Er verlegt fortwährend seine Südgrenze, damit sich die Männer auf den Krieg mit Lady Edara vorbereiten 99
können, die seinen Heiratsantrag zurückwies.« »Edara von Jehesic?« Maeveen stieß einen ungläubigen Pfiff aus. Peemel spielte ein gefährliches Spiel, wenn er daran dachte, die Insel Jehesic anzugreifen. Zu Beginn ihrer Laufbahn hatte Maeveen ein paar Monate dort verbracht, um alles über Marinetaktik zu lernen. Nie zuvor und auch nicht später hatte sie je derart wehrhafte Verteidigungsanlagen oder so gut geschulte Krieger gesehen, die noch dazu ihrer Heimat und der Herrscherin treu ergeben waren. »Keine andere! Wenn er Jehesic besitzt, sieht Peemel kein Hindernis mehr, die ganze Küste beherrschen zu können. Und danach das Binnenland. Es gibt Gerüchte über einen Krieg zwischen Elfen und Minotauren. Aber das ist Peemel gleich, denn sobald er die See und die Küste in der Hand hat, kann er alle Länder zwingen, Wucherpreise zu zahlen, wenn sie einen Hafen anlaufen.« »Er ist nicht besser als ein Pirat«, sagte Maeveen und beobachtete die Truppen aus den Augenwinkeln. Die von Ihesia angeführte Gruppe schritt genau auf den aus strahlendweißem Gestein – dessen Herkunft Maeveen unbekannt war – erbauten Palast zu. Wenn durch die Häfen unermeßlicher Wohlstand ins Land floß, würde Peemel immer reicher und mächtiger werden. »Mag sein, daß er ein Pirat ist, aber einer, der starke Truppen hinter sich hat«, antwortete Quopomma. Wieder zuckte sie mit den Schultern und rückte die Gurte zurecht, an denen ihre Schwerter hingen. Aus 100
ihrer Kehle drang ein tiefes Knurren, das Maeveen veranlaßte, die Hand auf den Schwertknauf zu legen. Wenn die Ogerin diesen Laut von sich gab, bedeutete es nichts Gutes. »Der Priester da drüben«, erklärte Quopomma. »Wieder einer von den verfluchten Inquisitoren.« »Das ist ein Abt, wenn ich die Gewänder richtig deute«, erklärte Maeveen und wußte, daß sie den Prälaten von Iwset erblickte. Obwohl sie den Drang verspürte, das Schwert zu zücken und ihn zu töten, zwang sie sich dazu, entspannt weiterzugehen. Dunkle Augen ruhten sekundenlang auf ihr, schweiften dann aber zu Vervamon hinüber. In diesem Blick lag weder Gnade noch Barmherzigkeit. »Das ist ein Großinquisitor, einer der schlimmsten kirchlichen Schlächter.« »Ich könnte ihn mit einem Wurfmesser erledigen«, bot Quopomma an. »Später«, versprach Maeveen. »Nur, wenn ich ihn umzubringen versuche und dabei versage.« Sie liebte die Inquisition ebensowenig wie Vervamon, aber aus anderen Gründen. Er mochte sie aus rein philosophischen Erwägungen nicht und weil sie unter anderem das ungehinderte Reisen auf dem Kontinent von Terisiare verbot. Ihr eigener Haß ging bedeutend tiefer und war hintergründiger. Maeveen ging schneller und ließ den Abt hinter sich. Sie mußte den Kopf unter einem niedrigen Torbogen einziehen, um nicht gegen den mit eisernen Spitzen versehenen Sturz zu stoßen. Als sie sich wieder aufrich101
tete, fand sie sich in einem riesigen Empfangssaal wieder. Die Wände waren mit Blattgold verziert. Maeveen fand die Bildnisse reichlich schlüpfrig. Ihrer Meinung nach gehörten derartige Szenen in private Gemächer und nicht hierher, wo sie jeder Eintretende zu sehen bekam. Ein Zeichen der Mißachtung, die der Herrscher seinen Besuchern entgegenbrachte, entschied sie. »Willkommen!« rief Lord Peemel, der auf seinem Thron saß. Er machte keine Anstalten, sich zu erheben. Die Hände ruhten auf den mit Smaragden verzierten Armlehnen, und sein Körper auf dicken purpurnen Kissen. Er veränderte seine Stellung ein wenig, schlug die Beine übereinander und räkelte sich lässig auf dem Thron herum. »Euer Ruhm eilt Euch voraus, Vervamon!« »Das höre ich gern«, erwiderte Vervamon. Er trat vor und neigte den Kopf ein wenig, ohne jedoch Lord Peemel aus den Augen zu lassen. Unmut überflog das Gesicht des Herrschers ob dieser Respektlosigkeit, wurde aber sogleich durch ein belustigtes Lächeln ersetzt. Maeveen sah sich um, ob die Bogenschützen, die hoch oben auf den Zinnen standen, ihre Waffen schußbereit hielten. Jeder Herrscher, der seine Besucher zwang, das Haupt beim Betreten des Saales zu senken, damit man nicht mit der Stirn gegen Eisenspitzen stieß, war ohne weiteres in der Lage, die Köpfe sofort abschlagen zu lassen. Trotz ihrer Besorgnis erblickte Maeveen keine Anzeichen dafür, daß Lord Peemel 102
vorhatte, Vervamon zu töten, trotz seiner Mißstimmung über die fehlende Ehrerbietung des Wissenschaftlers. Nicht einmal das Dutzend Ratgeber, das um den Thron herumstand, machte Anstalten, etwas zu sagen. Das einzig Gute, abgesehen von Peemels Belustigung über Vervamon, war die Abwesenheit aller Inquisitoren. Sie waren die letzten, mit denen Maeveen Bekanntschaft zu schließen wünschte, was nicht nur auf ihre schrecklichen Folterinstrumente zurückzuführen war, mit denen sie ihre Auslegung der Wahrheit aus den gequälten Opfern herauspreßten. »Ihesia lobt Euch sehr, und auch mir ist kein Gelehrter bekannt, der Euch an Wissen übertrifft«, sagte Lord Peemel. Er lächelte noch immer, als bereite ihm jedes Wort größtes Vergnügen. Zu Maeveens Erleichterung blieb Vervamon die Ironie des Herrschers nicht verborgen. »Ich suche nach der Wahrheit, gleichgültig, wo sie stecken mag«, antwortete Vervamon, dessen Blick sich mit dem des Herrschers kreuzte. »Selten finde ich sie in so prunkvollen Empfangsräumen. Ihr scheint Euch nicht an meinen früheren Besuch zu erinnern, aber damals genoß ich Eure großzügige Gastfreundschaft, die sich inzwischen noch verfeinert zu haben scheint.« Vervamon machte eine weitausholende Geste, die nicht nur den Raum, sondern ganz Iwset einzuschließen schien. »Ihr müßtet nur einmal an einer Audienz des Volkes teilnehmen. Dann würdet Ihr die Wahrheit hören – so103
wohl offen ausgesprochen wie auch nur angedeutet.« »Das glaube ich«, erwiderte Vervamon trocken. Er rieb sich unbewußt die Hände und verriet mit dieser Geste, daß seine Aufmerksamkeit abschweifte. Vervamon bedurfte einer größeren geistigen Herausforderung als des Geplänkels mit einem schlichten Lord, um sein Interesse zu wecken. »Werter Lord«, mischte sich Ihesia ein, den bösen Blick Peemels nicht beachtend, »Eure Zeit ist zu kostbar, und es liegen wichtige Angelegenheiten vor. Ich bin sicher, daß Sir Vervamon Euer reizvolles Angebot gern anhören würde.« Maeveen beobachtete den Blickwechsel zwischen Peemel und Ihesia und wunderte sich über die Spannung. Waren die beiden ein Liebespaar? Wahrscheinlich. Eine Frau wie Ihesia hielt ihre Stellung durch zahlreich gesponnene Seidenfäden. Maeveen hatte jedoch keine Ahnung, welche Stellung sie am Hofe Peemels einnahm. Die Soldaten und die Inquisitoren beugten sich Ihesias Willen, aber Peemel focht einen wortlosen Kampf mit der großen dunkelhaarigen Frau aus. Er versuchte, sie mit seiner Macht zu beeindrucken, als bestünde irgendein Zweifel daran. Eine höfische Intrige? Maeveen würde Quopomma ausschicken müssen, um bei den einheimischen Soldaten herauszufinden, was es an Tratsch und Klatsch gab. Schon als ihr dieser Gedanke kam, seufzte Maeveen bedrückt. Ihesia hatte Vervamons gesamte Truppe ohne Mühe überrumpelt. Wenn sie jetzt in die Politik hi104
neingezogen wurden, wäre das ebenso schlimm, wie im Treibsand zu versinken. Sie zählte darauf, daß sich Ver-vamon schnell langweilte und gewiß darauf aus war, den Stadtstaat und seine Intrigen schnellstmöglich hinter sich zu lassen. »Angebot?« fragte Vervamon. »Ihr laßt uns gefangennehmen, zwingt uns, hierher zu kommen und dem zuzuhören, was Ihr so freundlich als ›Angebot‹ bezeichnet? Ich bin empört über ein derartiges Benehmen!« Vervamon richtete sich hoch auf und zeigte dem Herrscher von Iwset sein bestes ›empörter Gelehrter‹-Gesicht. »Die Begleitung der Dame Ihesia kann man kaum als Gefangennahme bezeichnen, Vervamon«, entgegnete Peemel. Er hieb mit den Fäusten auf die Armlehnen des Throns, unterdrückte aber jeden weiteren Gefühlsausbruch. Maeveen fragte sich, ob es an der Gegenwart Ihesias lag, oder ob dieser ungestüme, zornige Mann andere Gründe hatte. »Wir durften unseren Weg nicht ungehindert fortsetzen. Meine Studien der Begräbnisrituale von Terisiare wurden von diesen rotgekleideten Banausen unterbrochen ...« »Sir Vervamon begegnete einer Gruppe von Abt Offeros heiligen Kriegern«, warf Ihesia gelassen ein. »Leider glaubten sie, die Tatsache, daß Sir Vervamon das Verhalten eines Grabräubers erforschte, bedeute auch, daß er damit einverstanden ist.« Sie lächelte. Maeveen hätte es vorgezogen, sich mit dem Grabräuber und sei105
nen Ghulen herumzuschlagen. »Ach, ja, der gute Abt ist allzeit wachsam«, seufzte Peemel. »Wir müssen ihm danken, daß er diesen klugen Wissenschaftler aufgespürt hat. Denkt Euch, Vervamon, auch ich interessiere mich für die unterschiedlichsten Dinge.« »So, dann gewährt Ihr mir ungehinderte Weiterreise, damit ich meine Studien fortsetzen kann? Gut. Ich danke Euch, Lord Peemel.« Vervamon wandte sich zum Gehen, aber Peemels Leibwächter verstellte ihm den Weg. Maeveen trat einen Schritt näher, warf einen Blick in die Höhe und sah die Bogenschützen, die auf sie angelegt hatten und nur darauf warteten, sie mit ihren Pfeilen zu durchbohren, sobald sie sich einmischte. »Aber sicher. Natürlich, aber nicht in der gleichen Zusammenstellung Eurer Begleiter wie bisher.« »Ich möchte nicht von Euren Soldaten begleitet werden. Hauptmann O’Donagh gewährt mir ausreichenden Schutz. Vielen Dank.« »Ich bin sicher, sie hat ihre Vorzüge«, sagte Peemel, ohne Maeveen einen Blick zu schenken. »Aber darum geht es nicht. Geld. Braucht Ihr denn kein Geld, um Eure Forschungen fortzusetzen?« »Aber sicher doch«, antwortete Vervamon vorsichtig. »Es ist wohlbekannt, daß meine Gönner begierig auf die Erweiterung ihres Wissen sind. Sie sind sehr gelehrt, aber leider nicht sehr begütert.« »Dann ist es also abgemacht!« rief Peemel, drehte 106
sich auf dem Sitz und stellte beide Beine fest auf den Boden vor seinem schwarzglänzenden Thron. Er beugte sich vor, und die Hände umklammerten die Smaragde, bis seine Knöchel weiß hervortraten. »Ihr werdet eine Expedition für das Königreich Iwset unternehmen!« »Königreich?« knurrte Quopomma. »Iwset ist kaum mehr als ein Misthaufen. Auch wenn er seine Grenzen erweitert, bleibt er weit davon entfernt, ein König zu sein.« »Pst!« machte Maeveen, die sich über Peemels Anspannung und Vervamons Antwort auf zusätzliche Geldmittel wunderte. Die Akademie von Egaverral suchte nach Antworten, die Vervamon nur zu gern beschaffen wollte, aber sie hatten das zur Verfügung gestellte Geld schon vor einem Monat ausgegeben. Nur die Ernährung von dem, was der fruchtbare Boden des Landes anbot und dem, was die Soldaten an Wild erlegten, hatten ihnen erlaubt, so weit zu reisen, damit Vervamon seine Studien der Begräbnisrituale fortsetzen konnte. »Gar nichts ist abgemacht«, erklärte Vervamon, dessen wohltönende Stimme im ganzen Raum gut vernehmlich war. »Ich bin den Auftraggebern dieser Reise verpflichtet. Ich kann von Euch kein Geld annehmen. Ich bin kein Söldner, und auch Hauptmann O’Donaghs Truppe ist nicht zu mieten. Wir werden uns keineswegs in kleinliche politische Zwistigkeiten verwickeln lassen.« 107
»Ihr mißversteht mich, Vervamon«, sagte Peemel. »Ich finanziere Eure Studien als Gegenleistung für Euer Versprechen, ein Artefakt für mich zu finden, das von einem anderen Forscher aus Iwsets Schatztruhen gestohlen wurde.« »Nein.« Vervamons Ablehnung erfolgte sofort und ohne Einschränkung. »Mit dem, was ich Euch für die Wiedergabe dieses Artefaktes biete, könnt Ihr Eure Studien noch jahrelang fortsetzen!« brüllte Peemel, dessen Geduld verraucht war. »Nein.« »Dies könnte zu Unannehmlichkeiten führen«, murmelte Quopomma und legte die Hände auf die Schwerter. Die Ogerin bereitete sich darauf vor, die Wachen, die zwischen ihr und Vervamon standen, anzugreifen. Ohne es zu merken, hatte Maeveen sich ebenfalls bereitgehalten, den Angriff ihres Leutnants zu nutzen, um Lord Peemel zu töten. Natürlich würden sich unzählige Pfeile in ihren Körper bohren, aber wenn sie nicht vergiftet waren, würde kein einziger sie aufhalten können. Peemel würde für seine Unverschämtheit büßen. Maeveen hoffte, Vervamon würde lange genug überleben, um das Opfer anzuerkennen, das sie und Quopomma ihm brachten. »Warum nicht, Sir Vervamon? Seid Ihr denn nicht neugierig auf ein Symbol aus Iwsets ferner Vergangenheit?« Ihesia lächelte, aber es wirkte gequält. Ihre Lippen verzogen sich kaum, und die Kälte ihrer Augen 108
ließ nicht nach. »Was für ein Symbol?« fragte Vervamon, der dem Hinweis auf ein historisch bedeutsames Artefakt nicht widerstehen konnte. »Wir sollten es ihm nicht sagen, wenn er mein Angebot nicht annimmt«, warf Peemel ein. Er und Ihesia verwickelten sich in einen wortlosen Willenskampf, bei dem sie einander wütend anstarrten. Schließlich gab Peemel nach und ließ sich entmutigt zurücksinken. »Nun gut, nun gut. Ich hatte gehofft, derartige Dinge nicht preisgeben zu müssen.« »Ist es Euch peinlich?« fragte Vervamon. »Es paßt mir nicht, das Versagen meiner Soldaten zugeben zu müssen«, raunzte Peemel. »Das Artefakt, das aus meinen Schatzkammern verschwand, war nichts Geringeres als das Siegel von Iwset, das Symbol des Herrschers unseres Stadtstaates.« »Ist das Siegel dem Zepter gleichzusetzen?« erkundigte sich Vervamon. Maeveen hatte ihn schon oft so erlebt. Eine schlichte Frage führte zur nächsten, zur übernächsten und immer so weiter, bis er sich in ein Problem verwickelt hatte, das selbst seine ungeheure Phantasie zufriedenstellte. »Das ist es. Ich ... ich muß es wiederhaben.« Peemel warf Ihesia, die nicht mehr lächelte, einen Blick zu. »Es ist so, Sir Vervamon«, sagte sie, »wenn das Verschwinden des Siegels bekannt wird, könnte es einen Bürgerkrieg geben. Natürlich ist Lord Peemel rechtmäßiger Erbe des Throns, aber jeder Usurpator, der einen 109
Anspruch geltend machen will, muß zumindest das Siegel vorweisen können. Es wird nur bei außerordentlich wichtigen Zeremonien benützt, wie Krönungen, Hochzeiten und ...« »Das Siegel und ein Tropfen von Peemels Blut in den Adern«, sagte Vervamon und nickte. Er rieb sich gedankenversunken die Hände. Mit einer plötzlichen Bewegung trat er zurück und schüttelte heftig das Haupt. »Es gibt keinen Grund, weshalb ich mich in diese politischen Dinge einmischen sollte. Ich werde Eurem Wunsch nicht nachgeben, gleichgültig, wieviel Ihr mir auch bietet.« Stille senkte sich über den Empfangssaal. Maeveen O’Donagh hörte das Klopfen ihres eigenen Herzens, als ihr die Bedeutung von Vervamons Worten bewußt wurde. Es wäre besser gewesen, den Auftrag anzunehmen, Iwset zu verlassen und sich erst dann gegen das Angebot Lord Peemels auszusprechen. Die Bogenschützen konnten sie alle auf einmal töten. Dieser Gedanke hielt sie davon ab, das Schwert zu ziehen. Beschwichtigend legte sie Quopomma die Hand auf die Schulter. »Warte«, flüsterte sie. »Was stimmt an Peemels Geständnis nicht?« »Welcher Herrscher will schon, daß es bekannt wird, wenn er das Symbol seiner Macht verloren hat?« antwortete Quopomma. Dann begriff die Ogerin, was ihr Hauptmann meinte. Sie hob den Blick, zählte die Bogenschützen und dann die herumstehenden Leibgardi110
sten. Außerdem stand ein Dutzend Ratgeber aufgereiht an der Wand. »Genau«, flüsterte Maeveen. »Es ist nicht gerade ein Geheimnis, dessen Bekanntmachung einen Bürgerkrieg auslöst. Sogar seine einfachen Bogenschützen dürfen mithören.« »Bitte, Lord Peemel, laßt uns nichts übereilen«, meldete sich ein hagerer Ratgeber zu Wort. Er trat vor, die knochigen Hände vor dem Bauch gefaltet, die rotglühenden Augen auf Vervamon gerichtet. Der verhüllte Mann räusperte sich, ehe er fortfuhr. »Gestattet mir, diesem Mann streng vertrauliche Einzelheiten im kleinen Kreis mitzuteilen.« »In Ordnung, Digody. Ich gestatte es«, sagte Peemel und entließ sie mit einer ungeduldigen Handbewegung. »Das paßt alles viel zu gut zusammen« sagte Quopomma, als die Wachen sie vom Empfangssaal durch einen schmalen Flur hinter dem Thron geleiteten. Maeveen schwieg. Der gleiche Gedanke war auch ihr gekommen, als Digody wie ein Schauspieler, der nur auf sein Stichwort gewartet hat, vortrat. Wenn das so war, spielten sowohl Ihesia wie auch der Herrscher eine einstudierte Rolle – eigens für ihren Besucher. Maeveen hielt sich dicht hinter dem murrenden Vervamon. »Verdammte Unannehmlichkeit«, knurrte er. »Und Ihesia. Was glaubt sie, was sie von mir verlangen kann? Ich bin doch kein Spürhund, der verlorene Dinge wie111
derfindet! Ich bin der berühmteste Gelehrte von Terisiare! Wie kann Peemel nur wagen, einen solchen Vorschlag ...« »Nehmt bitte Platz«, schlug Digody vor, als sie einen Raum betraten, und wies auf einen Stuhl, der vor einem mit Schriftrollen, Büchern und Kleinigkeiten übersäten Schreibtisch stand. Der seltsam aussehende Ratgeber bemerkte Vervamons Interesse und sagte: »Ich bin eigentlich auch ein Gelehrter, wenngleich auf einem anderen Gebiet als Ihr. Mich interessieren viele Dinge.« Vervamon ließ sich in den Stuhl sinken, und Maeveen und Quopomma blieben hinter ihm stehen. Maeveen überflog die Dinge auf dem Schreibtisch, vermochte aber keine besondere Anordnung auszumachen. Vervamon schien sich recht wohl zu fühlen, da er sich in der Gegenwart eines Gleichgesinnten wähnte. »Es ginge zu weit zu behaupten, daß mich das Angebot Eures Herrn beleidigt hätte«, begann Vervamon, »aber ich pflege keine verlorenen Gegenstände zu suchen. Nur die Erinnerung an die Gastfreundschaft, die er einem viel jüngeren, ärmeren Gelehrten vor Jahren erwies, läßt mich meine Empörung zurückhalten.« »Oh, denkt doch nur daran, wie oft Ihr verlorene Gegenstände sucht«, widersprach Digody. »Ihr sucht Antiquitäten, die verloren gingen. Das ist doch der Grund, weshalb Ihr Euch so sehr für Begräbnisrituale interessiert, nicht wahr? Was gibt man für die Reise in die Anderswelt mit in die Gräber? Meistens bedeutend 112
mehr als nur eine arme Seele.« »Ja, mir fiel auf ...« Vervamon begann einen Vortrag über Gegenstände, die man in den unterschiedlichsten Kulturen Terisiares mit in die Gräber legte. Maeveen trat einen halben Schritt zurück und versuchte, Digodys Reaktion auf diese Lektion zu studieren. Lord Peemels Ratgeber ließ sich nichts anmerken. Er hätte so begeistert wie Vervamon oder so gelangweilt wie Quopomma sein können. Neben sich hörte Maeveen, wie die Ogerin sich flüsternd mit ihren unsichtbaren Freunden unterhielt. Ihre Aufmerksamkeit schweifte von Quopomma und Vervamon wieder zum Schreibtisch und zu dem Mann, der dahintersaß, hinüber. Nach außen hin mochte Digody wie ein Mensch erscheinen, aber die rotglühenden Augen straften diesen Eindruck Lügen. Seine skelettähnliche Hagerkeit und der unnatürlich feine, an Seetang erinnernde Kinnbart deuteten auf eine nichtmenschliche Herkunft hin, aber natürlich war sie sich ihrer Sache nicht sicher, da er sonst keine besonderen Merkmale aufwies. Doch eines war gewiß: Digody umgarnte Vervamon ebenso geschickt wie Ihesia es getan hatte und wartete nur darauf, den Fisch im rechten Augenblick an Land zu ziehen. Maeveen hoffte, daß Vervamon nicht zu lange brauchte, um die neue Falle zu erkennen. »Erstaunlich, Vervamon«, sagte Digody, als der Forscher innehielt, um kurz Atem zu schöpfen. »Ich wünschte, wir hätten Zeit genug, unsere Aufzeichnun113
gen miteinander zu vergleichen. Ich habe die Begräbnisrituale der hiesigen Gegend lange Zeit studiert, und es ist wirklich schade, daß Lord Peemel versäumte, Euch auf die wahre Bewandtnis des Siegels hinzuweisen.« »Wahre Bewandtnis?« Vervamon schüttelte den Kopf mit dem wirren Silberhaar. »Was könnte wichtiger für einen Herrscher sein, als das Symbol seiner Macht?« Digody lachte. »Lord Peemel ist ein vielschichtiger Mann. Er zieht es vor, den Leuten das zu erzählen, was sie seiner Meinung nach am meisten interessiert. Ich begreife nicht, weshalb er nicht weiß, daß Ihr und er in dieser Sache gleichermaßen wißbegierig seid. Das Siegel von Iwset ist nicht nur ein Zeichen der Macht, sondern auch ein Schlüssel.« »Ein Schlüssel zur Macht? Den er für den Krieg gegen Jehesic braucht?« »Ein Schlüssel des Wissens«, erklärte Digody und senkte die Stimme zu einem vertraulichen Flüstern. »Peemel ist, genau wie Ihr und ich, ein Archäologe. Aber wir teilen mehr als nur unseren Wissensdurst. Wir wollen die ersten sein, denen ein uraltes Geheimnis enthüllt wird.« »Was redet Ihr da? Für was ist das Siegel von Iwset ein Schlüssel?« »Peemel wünscht, als erster eintreten zu dürfen, aber wenn Ihr das Siegel findet, könntet Ihr seit vielen Jahrhunderten der erste sein. Ich gestehe, daß auch mich die Lust dazu packt, aber Archäologie ist nur eine Frei114
zeitbeschäftigung für mich, kein Beruf.« »Wovon sprecht Ihr? Erklärt es mir. Sofort!« Vervamon schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch, dessen Inhalt auf und nieder hüpfte. »Peemel braucht das Siegel, um die Gruft der Sieben Märtyrer zu öffnen. Aber wenn Ihr es findet, seid Ihr auch der erste, der sie betreten und die Geheimnisse, die sie enthält, entdecken kann.« »Die Gruft der Sieben Märtyrer?« In Vervamons Stimme schwangen Bewunderung und Abenteuerlust mit. »Die Krönung im Leben eines Archäologen. Peemel sehnt sich danach – ich übrigens auch. Durch Euch wird ein Teil des Ruhms auch auf mich abfärben. Wenn Lord Peemel als erster eintritt ... nun ja, er ist ein mächtiger Mann, aber nicht willens, die Berühmtheit, die eine solche Entdeckung mit sich bringt, zu teilen.« »Die Gruft der Sieben Märtyrer«, murmelte Vervamon. »Wißt Ihr, wo sich die Gruft befindet?« »Ja, aber das Siegel von Iwset ist unbedingt notwendig, um die Tür zu öffnen«, erklärte Digody. »Ein Fehler, nur ein einziger mißlungener Versuch, den versiegelten Eingang zu öffnen, und die uralten magischen Zauber im Inneren werden alles, was sich in der Gruft befindet, zerstören. Alles wäre ... verloren.« Er lehnte sich zurück und stützte das Kinn auf die gespreizten Finger. Der feine Spitzbart wippte auf und ab, als er langsam nickte. Maeveen wußte: Der Köder war ausgeworfen wor115
den, und Vervamon hatte ihn geschluckt. »Wer auch immer die Gruft öffnet, wird in die Geschichte eingehen«, sagte Digody mit einschmeichelnder Stimme. »Wer die Gruft öffnet, macht Geschichte.« Das Leuchten, das auf Vervamons Gesicht lag, war Maeveen O’Donagh nicht unbekannt. Jedesmal, wenn eine neue Entdeckung winkte, schlug das Herz des Forschers schneller, und er glühte vor Begeisterung. Er schien unwiderruflich geködert und wurde nun von einem erfahrenen Angler an Land gezogen.
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Das Gefühl, beobachtet zu werden, beunruhigte Yunnie. Er schlenderte über die Wiese, an einer Baumgruppe vorüber und tauchte blitzschnell hinter ein paar niedrigen Büschen ab. Yunnie landete unsanft auf der Erde, rollte sich herum und ging dann in die Hocke, so daß er die freie Fläche im Auge behielt. Am anderen Ende der Wiese konnte er die Umrisse einer schwarzgekleideten Gestalt ausmachen. Der sich im Wind wiegende Ast eines Baumes schwang zurück, und ein Sonnenstrahl fiel genau auf den Spion. So schnell das Licht die Gestalt enthüllte, so schnell war jene auch verschwunden. Yunnie blinzelte. Wer auch immer ihn so eingehend beobachtet hatte, war jetzt im Unterholz verborgen. Er stand wieder auf und bahnte sich einen Weg durch den Wald – bedeutend ungeschickter als alle, die in den Wäldern aufwachsen, wie zum Beispiel die Elfen, aber auch bedeutend lautloser als Mytaru oder jeder andere Minotaurus. Yunnie bedauerte, so lange in Shingol gelebt zu haben. Ein Fischerdorf war kein guter Platz zum Aufwachsen, wenn es so herrliche Orte wie duftende Wälder und weite freie Flächen wie im Tal 117
der Urhaalan gab. Als er die Stelle erreichte, an der er die Gestalt erspäht hatte, kniete er nieder und betrachtete den weichen Erdboden. Das Gras war erst vor kurzem abgeweidet worden – wahrscheinlich von einem jungen Minotaurus. Im Laufe der Zeit waren etliche Tiere hier vorbeigekommen, aber nur ein Paar Fußabdrücke erregten seine Aufmerksamkeit. Minotauren trugen keine Stiefel. Der Fußabdruck war lang und schmal, und der Fremde schien den größten Teil seines Körpergewichtes auf der Ferse zu balancieren. Die eigenartige Sohle ließ Yunnie auf Schuhwerk schließen, das ihm völlig unbekannt war. »Aha, also spioniert wirklich jemand hinter uns her.« Er dachte eine Weile nach und änderte seine Meinung. »Jemand spioniert mir nach.« Immer wenn er die Minotauren nach Eindringlingen gefragt hatte, erhielt er ein klares ›Nein‹ zur Antwort. Die Bullen verbrachten den größten Teil ihrer Zeit mit den Vorbereitungen auf den Krieg, den sie beginnen wollten, und die Mütter waren eifrig damit beschäftigt, Vorräte herbeizuschaffen, falls der Kampf lange währen sollte. Allerdings glaubte niemand, daß ein Krieg gegen die Elfen länger dauern würde als ein paar Wochen. Yunnie war sich dessen nicht so sicher. Seine Erinnerungen – vielleicht auch durch den Hunger hervorgerufene Halluzinationen während der Aufnahmezere118
monie – trugen ihn zurück in die früheste Kindheit. Er glaubte, sich an eine Elfe erinnern zu können, die sich um ihn kümmerte, ihn fütterte, wenn er hungrig war und ihm sanfte Wiegenlieder vorsang, wenn er nicht einschlafen konnte. Der eiserne Wille und die nie erlahmende Ausdauer dieser Elfe – die er sich vielleicht einfach nur einbildete – überzeugten ihn davon, daß es keinen leichten Sieg geben würde. Trotz ihrer überlegenen Körperkraft würden die Elfen nicht ohne weiteres zu überwinden sein. »Ich kann einen Waffenstillstand vereinbaren«, sagte Yunnie zu sich selbst, als er den Spuren folgte. »Ich kann unnötiges Blutvergießen verhindern.« Yunnie war sich nicht sicher, was ihn dazu trieb, denn schließlich wollten Mytaru und seine Freunde nur ihr kostbares Tal verteidigen. Den Urhaalan war dieses Land heilig. Jedes Eindringen der Elfen oder anderer Wesen bedeutete Krieg. Hier wurden junge Minotauren in den heiligen Höhlen zu vollwertigen Stammesmitgliedern. Hier wurden Rituale vollzogen. Man kümmerte sich um die Weidegründe der weiblichen Herdenmitglieder. Im Tal der Urhaalan wuchsen auch die sieben heiligen Blumen. Hier lagen die Orte der Macht. Yunnie hielt es für besser, das alles mit Worten zu schützen, und nicht mit Waffen. Er wollte nicht mit ansehen, wie Mytaru oder der alte Mehonvo oder einer der anderen starb. Aber der unauslöschliche Haß in den Augen des sterbenden Elfen verfolgte Yunnie noch 119
immer, ebenso wie die Vision einer Gestalt, die im Feuer der Krater über glühende Lava tanzte – oder der Gedanke an den Spion, der ihm auflauerte. Die Spur verschwand, als er an ein Felsplateau kam. Yunnie suchte auf der anderen Seite weiter, aber ohne Ergebnis. Er seufzte tief und ärgerte sich, daß er den Fremden nicht verfolgen konnte. Widerwillig gab er die Suche auf und wandte sich wieder dem Pfad zu, den er vorhin hatte einschlagen wollen. Mit langen, weitausholenden Schritten legte er den Weg vom Tal der Urhaalan zur Tiefebene zurück, die sich vor dem weitentfernten Elnwald erstreckte. Wenn er die Augen mit der Hand beschattete und seine Phantasie anstrengte, meinte er, den smaragdgrünen Schimmer erkennen zu können, der die Westseite des Waldes ankündigte. Er hatte weniger als eine Wegstunde zurückgelegt, als er zu beiden Seiten des Pfades grelle Blitze bemerkte. Yunnie verlangsamte seine Schritte und fand schließlich eine bequeme Stelle, um die Ankunft der Elfen zu erwarten. Er hatte die Spiegelsignale nicht übersehen können, wenngleich er nicht wußte, welche Botschaften sie enthielten. Genüßlich verzehrte er ein wenig von seinem Proviant, bis er das Näherkommen fast lautloser Schritte vernahm. Gewöhnlich verursachten Elfen keine Geräusche, wenn sie sich anschlichen; diesmal warnten sie ihn mit voller Absicht. »Willkommen«, sagte Yunnie, ohne den Blick zu heben. »Ich würde gern mein Mahl mit euch teilen.« 120
»Wir sind in großer Zahl gekommen«, erklang eine schrille, ängstliche Stimme. Eine Elfe erschien und kam vorsichtig näher. »Ich bin bereit, alles mit euch zu teilen«, erklärte Yunnie, der wußte, daß die Antwort der Elfe eine Warnung vor unzähligen Kriegern bedeutete, und nicht Besorgnis über seine spärlichen Vorräte zum Ausdruck bringen sollte. Sie kam noch näher, ging in die Hocke und sah ihn aus großen braunen Augen an. Die spitzen Ohren steckten unter der ebenfalls braunen Haarpracht, die im Nacken von einem aus glänzend weißen Knochen geschnitzten Ring zusammengehalten wurde. An ihrem Gürtel baumelte ein Dolch mit abgewetztem Ledergriff, und sie trug einen Bogen auf dem Rükken. Da sie keine Pfeile mit sich führte, wußte Yunnie, daß sie die Wahrheit über die noch lauernden Krieger sagte. Diese Elfe war als Sprecherin auserkoren worden. Sollte er sich als Bedrohung erweisen, mochte ihr Leben verloren sein, aber ihre Pfeile würden nicht ihm in die Hand fallen, sondern ihm das Leben rauben. »Ich stamme aus Shingol«, sagte Yunnie zur Einleitung. Sie brachte ihn mit einer zornigen Geste zum Schweigen. »Du bist der Mensch, der mit den Minotauren zusammenlebt«, sagte sie erbost. »Du ziehst mit ihnen gegen uns in den Krieg!« »Ich will den Krieg verhindern, weil ich unnötiges 121
Blutvergießen vermeiden will«, antwortete er. »Es stimmt, ich gehöre zum Stamm der Utyeehn. Aber in Shingol bin ich aufgewachsen. Ich hege keinen Groll gegen dich oder irgendeinen anderen Elfen. Ich wünsche mir einen Waffenstillstand, damit sämtliche Unstimmigkeiten zwischen beiden Völkern besprochen und aus der Welt geschafft werden können.« »Warum sollten wir einem von denen glauben? Sie wollen bloß unseren Wald anzünden und uns vertreiben!« »Nein«, widersprach Yunnie und staunte, wie überzeugt die Elfe ihrer völlig falschen Einschätzung anhing. »Bei meiner Ehre ...« Er hielt inne, denn eine Kriegslanze flog durch die Luft und durchbohrte die Elfe. Sie stöhnte und versuchte, die schwere Waffe aus ihrem Körper zu ziehen. Ihre braunen Augen sahen ihn zuerst erstaunt, dann haßerfüllt an, ehe sie starb. Ringsumher erscholl lautes Geschrei, und die Elfen sprangen aus ihren Verstecken. Einige hatte Yunnie bereits vorher erspäht, aber er wunderte sich, wie gering ihre Anzahl war. Die Elfen schossen ihre Pfeile mit tödlicher Genauigkeit auf die angreifenden Minotauren ab, doch sie waren in der Minderheit und hatten keine Möglichkeit zur Flucht. »Warte, Mytaru!« rief Yunnie, als er sah, daß sein Freund und Blutsbruder die Minotauren anführte. Die Bullen stürmten mit gezückten Kurzschwertern und erhobenen Lanzen voran. Einer der Elfen machte auf dem Absatz kehrt und 122
zielte auf Yunnie, aber Mytaru brachte ihn um, noch ehe er die Sehne richtig gespannt hatte. Mytaru stieß ein triumphierendes Brüllen aus und setzte dem nächsten Elfen nach. »Gute Arbeit, kleiner Bulle! Du hast sie bestens in die Falle gelockt! Komm schon, töte sie!« Mytaru grunzte und hob den Arm, um die schwere Lanze zu schleudern. Yunnie zuckte zusammen, als sie einen der Gegner durchbohrte. »Zum Angriff! Komm schon Yunnie, komm schon!« Der Minotaurus sah sich nicht um und lief weiter. Er nahm selbstverständlich an, Yunnie würde es ihm gleichtun. Zuerst wollte Yunnie seinen Freunden folgen, hielt dann aber inne und blieb stehen. Er kam sich vor, als sei ein anderer in seine Haut geschlüpft und stünde jetzt neben ihm. Traurig blickte er auf die Elfe hinab, die am Waldrand zusammengesunken war. Er hatte ihr Nahrung angeboten. Er hatte ihr nichts böses zufügen wollen, und jetzt war sie tot, von der Lanze eines Minotauren aufgespießt. Ohne es zu wollen, hatte Yunnie die Elfen in eine von Mytaru und den anderen Stammesmitgliedern ausgelegte Falle geführt. Er fühlte sich beschmutzt und hintergangen. Yunnie warf den Kopf zurück und stieß einen Schrei aus, der im Triumphgeschrei der Minotauren unterging. Heute hatten sie mehr als zwanzig feindliche Krieger getötet. Yunnie wollte Mytaru Vorwürfe machen und ihm sagen, daß er sehr zornig war, als Köder für eine Falle 123
mißbraucht worden zu sein. Aber er wußte, daß es zu nichts führen und nur den Ärger seines Blutsbruders wecken würde. Yunnie mußte abwarten, bis er in der Lage war, seine Besorgnis kundzutun, ohne sich von Wut und Zorn über den Hinterhalt leiten zu lassen. Er wich vor dem Leichnam zurück und eilte in den Wald hinein, um sich zu beruhigen. Er wußte nicht, wie lange er gelaufen war. Irgendwann wurde der Boden unter seinen Füßen sumpfig, und bösartig brummende Insekten schwirrten um seine Ohren, auf der Suche nach einer Blutmahlzeit. Er ging langsamer, um sie zu vertreiben und bemerkte, daß sich seine Wut verflüchtigt hatte. Als einer seiner Füße im Schlamm versank, blieb er stehen und sah sich eingehend um. Winzige Frösche hüpften umher und ein tiefes Quaken ertönte im Hintergrund, wie es Yunnie nie zuvor vernommen hatte. Er tastete nach dem Dolch auf der einen und dem Schwert auf der anderen Seite und hörte, wie ein leises Glucksen immer näher kam. »Wer da?« rief er. Keine Antwort. Vorsichtig zog er das Schwert aus der Scheide und suchte sich einen dicken Baumstamm, um seinen Rükken zu schützen. Dann wartete er auf die Kreatur, die ihn anscheinend zum Abendessen verspeisen wollte. »Du mußte dich nicht mit Stahl verteidigen«, ertönte eine spöttische helle Stimme. »Dein Verstand und deine guten Absichten reichen völlig aus.« 124
»Wer bist du?« Yunnie versuchte, die Frau zu erkennen, die ihn mit Leichtigkeit überrascht hatte. »Manche nennen mich Sacumon, manche geben mir weniger schöne Namen. Aufgrund dessen, was du heute vollbracht hast, möchte ich deine Freundin sein.« »Was habe ich schon getan, außer mich in einem Sumpf zu verlaufen?« Fremdartige Geräusche ertönten zur Linken und Rechten Yunnies, hungrige Laute der im Sumpf lebenden nächtlichen Räuber, die sich auf die Suche nach frischem Fleisch machten. »Was schon!« lachte Sacumon. Der Laut ließ Yunnie schaudern, denn er erinnerte ihn an Glas, das über einen Felsen kratzt. »Du hast versucht, zwischen Elfen und Minotauren Frieden zu stiften. Und du weißt, daß die Goblins an allem schuld sind.« »Woher weißt du das? Bist du es, die hinter mir herspioniert?« »Das bin ich«, antwortete sie mit eisiger Stimme. Yunnie fragte sich, wer sein Gegenüber sein mochte. Sacumon hatte eine erstaunliche Geschicklichkeit beim Verwischen ihrer Spuren gezeigt und sich so leise durch den Sumpf bewegt, wie Yunnie über eine Wiese schlich. Er zuckte zusammen, als er bemerkte, daß sie seltsam verworrene Zeichen in die Luft malte. Wollte ihn die Unbekannte mit einem Zauber auf der Stelle festwachsen lassen? Obwohl er sicher war, daß sie einen Zauberspruch gewirkt hatte, geschah nichts. Seine Arme fühlten sich so stark an wie immer, und er ver125
mochte klar zu denken. Auch als er den Fuß hob und ihn schüttelte, war nichts festzustellen. Seine Bewegungen waren so sicher wie sonst auch. »Ist das ein Ritual, das mir unbekannt ist? Vielleicht eines aus Shingol oder eines, das nur Kreuzungen aus Fischern und Minotauren kennen?« Sie amüsierte sich über seine Bemühungen herauszufinden, was der Zauber bewirkte. »Du weißt sehr viel über mich, ich aber nichts über dich«, meinte Yunnie und trat vor. Er wollte sich ein Stück von dem Baum entfernen, um im Notfall mehr Bewegungsfreiheit zum Kämpfen zu haben. »Ich lausche und lerne, Yunnie«, antwortete sie. Auch Sacumon trat vor. Ein Büschel herabhängendes Leuchtmoos warf ein schwaches grünliches Licht auf das Gesicht der Fremden, und er konnte eine Adlernase und kantige Züge ausmachen. Die Lippen waren zu einem, wie sie sicher glaubte, beruhigenden Lächeln verzogen, aber Yunnie fand, es sehe aus, als habe man ihr mit dem Messer eine tiefe Wunde quer über den Unterkiefer zugefügt. Sie war ungefähr so groß wie er selbst – und sehr dünn. »Was willst du?« »Das gleiche wie du, Yunnie. Ich will den Frieden zwischen Elfen und Minotauren. Es herrscht zu viel Mißtrauen. Ihr könnt die Goblins für den Kummer im ganzen Land zur Verantwortung ziehen.« »Kannst du mit den Elfen reden und Verhandlungen einleiten?« Yunnie umklammerte den Griff der Waffe 126
fester, als er sah, wie sie bei seiner Frage zusammenzuckte. Murmelnd gestikulierte sie. Magie umgab diese Frau, aber was sollte das alles bedeuten? »Natürlich kann ich das, so wie du dich hervorragend mit den Minotauren verständigst. Gemeinsam werden wir dem Land dauerhaften Frieden schenken und allen ermöglichen, miteinander auszukommen.« Sie lachte spöttisch – aber was war denn so komisch? Sacumon sprach eine Sache aus, aber Yunnie verstand etwas anderes. Ihre geschmeidigen Wendungen versprachen keinen wirklichen Frieden, sondern enthielten unterschwellige Drohungen von Macht und Gewalt. Trotz allem hörte er sich sagen: »Ich werde mit den Urhaalan reden. Wir müssen Frieden schließen, um jeden Preis.« »Ja, Yunnie«, antwortete sie mit honigsüßer Stimme, »wir müssen unbedingt dafür sorgen, daß ein Abkommen zwischen den Völkern geschlossen wird. Die Goblins sind die Schuldigen.« Er drehte sich um und ging benommen davon, das Schwert fest umklammert haltend. Ehe er sich recht versah, war es Nacht geworden; er war wieder im Tal und saß mit Mytaru und den anderen um ein Feuer herum und feierte ihren Sieg über die Elfen. Und die ganze Zeit über fragte er sich, wie er sie dazu bringen sollte, das Friedensabkommen zu schließen, von dem die geheimnisvolle Sacumon gesprochen hatte.
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»Das paßt niemals alles in unsere Rucksäcke«, beschwerte sich Maeveen O’Donagh. Sie betrachtete den Berg von Ausrüstungsgegenständen, den ihnen Lord Peemel geschickt hatte. Tag auf Tag rollten die Wagen in Vervamons Lager und brachten immer mehr herbei, bis sie schließlich eine zehnmal größere Gruppe brauchen würden, um alles transportieren und benutzen zu können. »Ihr habt keinen Grund, Euch zu beschweren, liebster Hauptmann«, erklärte Vervamon, der mit einem aufgeschlagenen, in Leder gebundenen Notizbuch in der linken Hand umherschlenderte. Sein rechter Zeigefinger glitt über die aufgezeichneten arkanen Symbole, die er mit Mühe übersetzte, was an der gefurchten Stirn zu erkennen war. »Wir nehmen das mit, was wir benötigen und lassen den Rest hier.« »Für die da?« Maeveen deutete mit dem Kopf auf die unzähligen Aasfresser, die das Lager umkreisten, als warteten sie nur darauf, daß endlich jemand sterben würde. »Was kümmert es uns? Wir bezahlen doch nicht dafür. Die Akademie von Egaverral wird entzückt sein, 128
wenn wir uns von den Speisen anderer ernähren und uns an den Weinen fremder Menschen laben.« »Und was ist mit der Tätigkeit für einen zweiten Auftraggeber?« Ihre braunen Augen starrten ihn böse an, weil sie die Abzeichen der Armee von Iwset auf ihre Uniform nähen mußte. Ganz besonders wütend wurde sie, als sie durch Zufall erfuhr, daß Ihesia Peemels Oberbefehlshaberin war. »Wir sind nur der Wahrheit verpflichtet. Das wißt Ihr. Was wir Peemel erzählen, ist eine Sache, und was wir tun, wenn wir seinem wachsamen Blick entronnen sind, eine andere.« »Wie ehrenwert«, murrte Maeveen. »Die Suche nach der Wahrheit muß nicht unbedingt ehrenwert sein, sondern ausführlich und der Öffentlichkeit zugänglich. Besonders, wenn solche Dummköpfe wie Boyzen und Jenns sie lesen und vor Neid zerplatzen. Sicherlich können selbst sie geniale Forschungen und erstaunliche Entdeckungen erkennen, wenn sie ihnen gegenüberstehen.« Vervamon wandte sich wieder dem Buch zu, murmelte vor sich hin und schlenderte davon. »Wenigstens hat er sich nicht länger um Ihesias Leib geschlungen wie eine hungrige Boa«, bemerkte Leutnant Quopomma. Grunzend warf die Ogerin eine schwere Kiste zu Boden. »Was habt Ihr da?« Maeveen schwieg sich über Ihesias lange Abwesenheit aus. Die Kämpfe an der südlichen Grenze hatten 129
sich zu Iwsets Ungunsten entwickelt – jedenfalls behaupteten das die Gerüchte, die in den Tavernen kursierten – und Maeveen wünschte niemandem den Tod in der Schlacht, außer, wenn es sich um einen eingeschworenen Feind handelte, der vor der Spitze ihres eigenen Schwertes zappelte. Aber sie hoffte, Ihesia würde gefangengenommen und für lange Zeit – für sehr lange Zeit – nicht freikommen. Die Demütigung der Gefangenschaft würde dazu beitragen, die Überheblichkeit ihrer Feindin einzudämmen. »Mit Sicherheit keine Lebensmittel«, meinte Quopomma. »Sieht verdächtig aus.« Sie versuchte, den Deckel der Kiste mit kräftigen Fingern zu öffnen. Der Inhalt bestand aus eigenartig geformten Instrumenten, deren Nutzen Maeveen unbekannt war. Sie griff nach einem der Teile, wurde aber sofort am Handgelenk zurückgerissen. Instinktiv riß sie sich los, wirbelte herum, und ihre Faust landete im Magen des Mannes. Die Luft entwich pfeifend aus seiner Lunge, als sich ihre Hand bis zum Ellenbogen in weichem Fleisch vergrub. Maeveen trat zurück und überlegte, ob sie den Dolch benutzen oder noch einmal zuschlagen sollte. Beides würde dem Leben des Angreifers ein Ende setzen. »Nicht!« keuchte der Unbekannte. Er war kreidebleich geworden und stieß schwache Grunzlaute aus. Maeveen betrachtete ihn eingehend, während sie darauf wartete, daß er wieder Luft bekam. Er war noch jung, mit spärlichem, frühzeitig gelichtetem Haar130
wuchs. Mangels jeglicher Bräune schloß sie, daß er selten ans Tageslicht kam. Auch seine Hände waren weich und nicht an Arbeit gewöhnt. Er hätte ein Gelehrter sein können, aber keinesfalls von Vervamons Format. Wann immer die Arbeit rief, war Vervamon zur Stelle und faßte mit an, gleichgültig, wie anstrengend es sein mochte. »Wer seid Ihr?« »Der Besitzer des unnützen Zeugs in dieser Kiste, würde ich sagen«, warf Quopomma ein. »Kein ... unnützes Zeug. Notwendige ... Ausrüstung«, stieß er hervor. Inzwischen hatte er wieder ein wenig Farbe bekommen, war aber immer noch blaß. Mühselig erhob er sich. »Ich bitte um Vergebung. Keineswegs wollte ich euch erzürnen. Ich wollte nur verhindern, daß ihr euch an meinen Habseligkeiten vergreift.« »Euren Habseligkeiten?« Maeveen hob die Augenbrauen. »Warum solltet Ihr uns etwas ins Lager bringen?« Sie wußte die Antwort bereits, und war nicht erfreut. Der Kerl roch nach Inquisition, aber sie hielt sich zurück. Man konnte nie wissen ... Eines war sicher: Er war ein Spion, wenn er beabsichtigte, sich Vervamons Expedition anzuschließen. »Meine Freunde und ich werden euch auf der Suche nach dem Siegel begleiten«, erklärte er. »Nur über meine Leiche«, stellte Maeveen fest. »Ich habe genug damit zu tun, die Amme für Vervamon und meine Leute zu spielen, ohne mir noch mehr auf131
zuhalsen.« »Lord Peemel wünscht es«, entgegnete der junge Mann, der endlich wieder gerade stehen konnte. Er rieb sich den Bauch und holte vorsichtig Atem. »Ich heiße Coernn.« »Ich will verdammt sein, wenn ich euch mitkommen lasse. Sagt Peemel, er könne sich seine wertlose Ausrüstung sonstwohin ...« Maeveen brach ab, als sie Vervamon erblickte, der mit fünf Männern sprach, die ähnlich gekleidet waren wie Coernn. Die Gewänder eigneten sich nicht für eine anstrengende Reise, waren aber aus festerem Stoff gefertigt als die übliche Kleidung der Städter. Obwohl unterschiedlich gefärbt und gemustert, wirkten sie fast wie Uniformen, so, als habe jemand alles nach dem gleichen Muster geschneidert und versuche, unaufmerksame Beobachter durch kleine Unterschiede irrezuführen. »Maeveen, meine Liebe, sorgt bitte dafür, daß diese Herren gut untergebracht werden. Sie begleiten uns«, rief ihr Vervamon zu. »Sie sind Experten, was die Sieben Märtyrer angeht und möchten die Entdeckung beglaubigen, sobald ich die Gruft betrete.« »Wo finden wir das Siegel von Iwset?« fragte sie. Coernns Blick verhärtete sich, und sie wußte, daß er ihr nur Lügen auftischen würde. Die Gelegenheit, die Wahrheit zu erfahren, war in dem Augenblick verstrichen, als er wieder zu Atem kam. »Sir Vervamon ist der Fachmann auf diesem Gebiet. 132
Digody hat ihm ungefähre Anhaltspunkte mitgeteilt, aber ich besitze Dokumente, die wir uns ansehen, wenn wir das richtige Gebiet erreicht haben. Sobald ich irgendwelche landschaftlichen Merkmale erkenne, verständige ich Sir Vervamon sofort. Lord Peemel würde selbst nach dem Siegel suchen, wenn ihm Lady Edara nicht den Krieg erklärt hätte.« »Sie erklärte ihm den Krieg?« Quopomma lachte rauh. Die Ogerin wandte sich um, weil sie ihren unsichtbaren Freunden etwas zu sagen hatte. »Glaubt ihr den Blödsinn?« Dann sah sie ihre Vorgesetzte wieder an. »Er versuchte, sie zur Heirat zu zwingen. Das wäre ebenso furchtbar, als würde sie sich mit einem Aasfresser zusammentun.« »Er ist der Herrscher, und du solltest nicht schlecht über ihn reden.« Coernn sah die Ogerin durchdringend an. Obwohl Maeveen nichts dagegen gehabt hätte, wenn Quopomma das Großmaul zu Brei schlug, warnte sie etwas am Gebaren des jungen Mannes, auf einen leichten Sieg zu schließen. Ihm fehlten die Schwielen eines Schwertkämpfers. Er bewegte sich behende, aber nicht mit der Kraft eines Boxers. Soweit Maeveen erkennen konnte, trug er unter seinem Gewand auch keine Rüstung. Quopomma war die beste Ringerin der Truppe und vermochte sich mit ihren Zwillingsschwertern gegen jedermann zu behaupten. Maeveen hatte miterlebt, wie sie eine Taverne ganz allein geleert hatte und sich dann wieder am Tisch niederließ, als sei nichts geschehen. 133
Sie war eine Kämpferin, eine Schlägerin, eine vollendete Stellvertreterin. Aber Coernn bedeutete eine bestimmte, wenn auch unbekannte Gefahr, eine Gefahr für die Ogerin. Maeveen O’Donagh stellte sich zwischen die beiden und schob Quopomma beiseite. »Ihr habt zu tun«, sagte sie. »Sorgt dafür, daß Iro nicht schon wieder krank spielt. Wenn sie sich mit den beiden Unteroffizieren Eurer Schwadron einläßt, kann man sie für den Rest des Tages zu nichts gebrauchen.« »Ich werde nur diesen Unrat beseitigen«, bot Quopomma an. Sie ballte die Fäuste, und das Krachen ihrer Knochen hallte durch das Lager. Trotz der bedrohlichen Haltung ließ sich Coernn nicht aus der Fassung bringen. Das beunruhigte Maeveen noch mehr. Glaubte er etwa, die Inquisition stünde hinter ihm und durch seinen Tod würde die Seele von dem sterblichen Körper befreit – oder gab es einen anderen Grund? »Durchsucht die Vorräte nach Nützlichem und entscheidet, was wir zurücklassen können«, befahl Maeveen. »Was diese Leute mitnehmen, ist ihre Angelegenheit. Keiner unserer Soldaten darf ihnen behilflich sein, wenn sie meinen, so viel Gepäck mitschleppen zu müssen.« Sie blickte noch einmal in die Kiste mit den Instrumenten und Bücherrücken, die unter dem Verpackungsmaterial sichtbar waren. Coernn schloß den Deckel und machte ihren Beobachtungen ein Ende. »Einverstanden«, sagte er mit leiser, aber bedrohlicher Stimme. »Das gefällt mir schon besser.« Er ver134
neigte sich leicht, ohne den Blick von Quopomma zu wenden. Dann wandte er sich um und ging mit hocherhobenem Kopf davon. »Ein eingebildeter Pinsel«, bemerkte Quopomma. »Der hat keinen Mumm in den Knochen.« »Da bin ich mir nicht so sicher«, erwiderte Maeveen. »Sag mal, Quopomma, wo ist die Kneipe, die du bevorzugst?« »Die, in der auch Peemels Leibgarde verkehrt? Das sind gesprächige Burschen, wenn sie erst einmal ein paar Krüge geleert haben.« Sie lachte und erinnerte sich der Abende, an denen sie Lügengeschichten und Runden mit ihnen ausgetauscht hatte. »Sie heißt ›Zum singenden Enterich‹ und liegt am Ende der Straße, die ›Sechs Tugenden und eine Sünde‹ genannt wird.« Maeveen wunderte sich über die hochtrabenden Namen, die die Städter ihren Straßen und Gassen gaben. Sie sah, wie Coernn sich zu seinen Freunden gesellte und mit ihnen sprach. Hin und wieder blickte er mit ausdrucksloser Miene zu ihr hinüber. Sie wünschte, sie könnte ihr Geschick beim Lippenablesen unter Beweis stellen, aber er hielt die Hand vor den Mund, wenn er sprach. Sie zuckte die Schultern. Wenn sie erst einmal unterwegs waren, würden die sechs Kerle’ schnell zurückbleiben. Sie konnten dem Tempo, das sie die Truppe vorlegen ließ, niemals standhalten, wenn sie auch noch die schweren Kisten schleppen mußten. Maeveen machte eine Runde durch das Lager, 135
scheuchte Leutnant Iro auf, die ein Mittagsschläfchen hielt und wandte sich dann, als sie festgestellt hatte, daß ihre Leute zum Aufbruch bereit waren, gen Iwset. Maeveen wollte nur noch ein paar Kleinigkeiten klären, ehe sie auf die Suche nach Lord Peemels Schatz ging – und Vervamons unersättlichen Hunger nach Wissen stillte. Als Vervamon, Quopomma und Maeveen vor einer Woche nach Iwset gekommen waren, lag eine beinahe festliche Stimmung über dem Stadtstaat. Die als Ehrenwache entlang der Straße aufgereihten Soldaten hatten ihre Galauniformen getragen, obwohl sich Maeveen besser an die Veteranen erinnerte, die frisch aus der Schlacht kamen und darauf brannten, mit ihren Waffen zuzuschlagen. In den letzten Tagen hatte sich das gesamte Erscheinungsbild Iwsets eher den letzteren angepaßt. Jetzt erblickte sie kampfbereite Soldaten, die in Truppen aufgeteilt einhermarschierten, wohin sie sich auch wandte. Maeveen blieb stehen und beobachtete, wie die Kommandeure mit ihren Leuten umgingen. Widerwilliger Respekt für Ihesia oder denjenenigen, der für die Ausbildung zuständig war, stieg in ihr auf. Es handelte sich nicht um grüne Jungen, die einem Ideal nachliefen und statt dessen ein Grab vorfanden. Welchem Feind auch immer sich diese Truppen stellten – sie waren bestens ausgebildet und äußerst schlagkräftig. Als sie über den Marktplatz schlenderte, fiel ihr noch 136
etwas auf. Die Vorräte, die im Überfluß in Vervamons Lager gebracht wurden, waren dem einfachen Bürger Iwsets nicht zugänglich. Es gab weder frisches Obst noch frisches Gemüse, und das angebotene Fleisch sah alt und zäh aus. Die besten Nahrungsmittel waren bereits an die Soldaten gegangen. An den mißmutigen Gesichtern der Händler las Maeveen ab, daß sie mit dieser Regelung nicht einverstanden waren. Sie fragte sich, wie die Bürger reagieren würden, wenn Ihesia mehr als eine Schlacht verlor. Eine ganze Serie von Niederlagen konnte sowohl die überhebliche Generalin als auch den Herrscher stürzen. Sie kam an einem Stand vorbei, der aeolische Harfen verkaufte, die unschöne Laute zum besten gaben, als der Wind, der vom Ozean herüberwehte, über sie hinwegstrich. Dann bog Maeveen in die Straße der ›Sechs Tugenden und eine Sünde‹ ein. Wohin sie auch schaute, überall entdeckte sie Spuren der Sünde, aber keine einzige Tugend. Maeveen schnaubte über den Verfall der Sitten, richtete die Augen streng geradeaus und machte sich auf die Suche nach der Taverne, in der Quopomma mit Peemels Leibgarde getrunken hatte. Sie fand die Schenke am Ende der Straße; nur ein schmaler gepflasterter Weg trennte die östliche Kaimauer, die sich über der Küste erhob und die Gaststätte. Schiffe segelten im Einklang mit dem Wind und den Gezeiten und fuhren aus dem eine halbe Meile weiter nördlich gelegenen Hafen aufs Meer hinaus. Sie glaubte, weit draußen bunte Wimpel erkennen zu können, 137
aber der Wind und der salzdurchtränkte Nebel trieben ihr Tränen in die Augen. Maeveen schob die schwere Holztür auf, die in den Schankraum des Singenden Enterichs führte, und atmete den Geruch von gebratenem Fleisch und Bier ein. Wer von den hier versammelten Leuten würde wohl die Herkunft der sechs Männer kennen, die Vervamons Expedition begleiteten? Sie erspähte einen der jüngeren Offiziere aus Peemels Garde, der sie bestimmt mit Palastklatsch unterhalten würde und ging auf ihn zu. Plötzlich lief ihr ein kalter Schauder den Rücken hinab. Schon oft hatte sie diese Warnung zu ihrem größten Bedauern nicht beachtet. Diesmal drehte sie sich um, öffnete die Tür einen Spalt breit und spähte auf die Straße hinaus. Sturmwolken kamen auf und verdunkelten die Sonne. Die plötzliche Kälte war aber nicht darauf zurückzuführen. Maeveen erblickte Lord Peemels Ratgeber, den hageren, großen Digody, der die Straße entlangschritt und in ein vertrauliches Gespräch mit einem gutgekleideten Diener vertieft war, der eine Livree mit hellblauen und grünen Streifen trug. Das silberne Wappen seines Herrn war ihren Blicken entzogen. Der Diener schlug immer wieder die Augen nieder und vermittelte Maeveen den Eindruck, daß Digody über seinen Bericht nicht besonders erfreut war. Sie versuchte, ihm von den Lippen abzulesen, aber der Mann senkte fortwährend den Kopf oder drehte ihn unruhig von einer Seite zur anderen. Als die roten Augen Digodys zu 138
glühen begannen, riß der Diener entsetzt den Arm in die Höhe, als müsse er sich verteidigen. Zuerst wollte Maeveen dem armen Kerl zur Hilfe eilen, entschied sich aber dagegen. Wahrscheinlich war es klüger, Digody zu folgen. Was führte Lord Peemels mächtigen Ratgeber in dieses ärmliche Viertel Iwsets? Und wohin würde sich der Diener wenden, wenn er seinen Auftrag erledigt hatte? Maeveen beschloß, Antworten auf diese Fragen zu finden, als sie sah, wie Digody den Mann vor sich herschob und mit schnellen Schritten weiterging. Sie folgte den beiden im Laufschritt, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Sie hasteten durch enge Gassen und Straßen, und näherten sich allmählich dem im Norden gelegenen Hafen. Als sie ihr Ziel erreichten, schwitzte Maeveen nicht einmal, aber der Diener war völlig außer Atem. Überrascht stellte sie fest, daß Digody vollkommen gelassen wirkte. Ein so dürrer Mensch hätte bei dem Tempo eigentlich nach Luft schnappen müssen. Maeveen wußte, daß Digody beileibe nicht das war, was er zu sein vorgab. Sie zog sich in einen Hauseingang zurück, um nicht gesehen zu werden. Die Tür war – wie auch alle anderen – leuchtend rot gestrichen, und man hatte ihr allen Ernstes versichert, das würde böse Geister abschrecken. Sie hatte sich bei Vervamon noch danach erkundigen wollen, denn es gab kaum einen Aberglauben, der ihm nicht bekannt war. Ein Karren ratterte vorüber. Maeveen schloß die Au139
gen, um seinen Inhalt nicht sehen zu müssen. Der Leichenkarren beförderte jene, die während der Nacht gestorben waren. Dem Gestank nach mußten etliche der Körper schon ein paar Tage herumgelegen haben. Überall waren Krankheiten im Umlauf, aber in diesem Teil der Stadt wüteten sie anscheinend schlimmer als anderswo, wenn man von der Anzahl der Leichen ausging. »Wo steckt sie?« Die Worte trug der Wind an ihr Ohr. Sie zog den Umhang fester um den kräftigen Körper und stellte fest, daß sie endlich hören konnte, was Digody und der Diener besprachen. »Sie kommt gleich, Herr.« »Schweig.« Selbst in ihrem Versteck sah Maeveen die rotglühenden Augen des Ratgebers, die wie winzige Sonnen funkelten. In der zunehmenden Dunkelheit, die durch die immer dichter werdenden Wolken hervorgerufen wurde, nahmen diese Augen ein Eigenleben an. Sie schauderte. »Dort, Herr, dort ist sie.« Der Diener neigte den Kopf und machte sich davon. Maeveen versuchte noch einmal, das Wappen der Livree zu erkennen, aber es gelang ihr nicht, denn er lief in größter Eile die Straße hinunter. Maeveen beugte sich ein wenig vor, um den Neuankömmling besser sehen zu können. Digody fummelte unter seinem Unhang herum und knurrte unwirsch. Dann schritt er unruhig auf und ab, und Maeveen wich 140
wieder ein Stück in die Sicherheit der grell bemalten Tür zurück. Als sie eine Frau auf den Ratgeber zugehen sah, drückte sie sich noch enger an die Hauswand. Sie hätte sich jedoch keine Sorgen zu machen brauchen, da die gutgekleidete Fremde nur Augen für Digody hatte. »Eure Wahl des Treffpunktes scheint Bequemlichkeit und Schutz vor Unwettern außer acht zu lassen«, sagte Digody anstelle einer Begrüßung. Die Frau lachte. Der Wind trug ihr musikalisches Lachen davon, das Maeveen an das Klingeln einer Warnboje im Hafen erinnerte. Sie lauschte angestrengt, aber der Wind nahm zu, und sein Pfeifen erleichterte ihre Aufgabe nicht. Die Fremde war von großer Schönheit und für einen Besuch in diesem Viertel viel zu prunkvoll gekleidet. Die Juwelen, die in ihr dunkles Haar geflochten waren, spiegelten die vereinzelt aufzuckenden Blitze und verliehen ihr eine unwirkliche Aura. Sie bewegte sich geschmeidig und elegant, während der Wind den pelzverbrämten Umhang erfaßte und um sie herumwirbelte. Für einen Augenblick erhaschte Maeveen einen Blick auf die vornehme Kleidung unter dem Mantel und stellte fest, daß die Fremde nicht nur atemberaubend schön war, sondern auch eine vorzügliche Figur besaß und den Anschein vermittelte, mit den beiden Dolchen, die in kunstvoll gearbeiteten, mit Rubinen besetzten Scheiden steckten, gut umgehen zu können. »Macht Euch nicht so viele Sorgen, Digody. Es ist alles in Ordnung.« 141
»Das einzig Gute ist, daß Peemel niemals hierher kommen würde«, knurrte der Ratgeber. Wieder lachte die Unbekannte. »Ach ja, seine Angst vor Krankheiten! Was für ein albernes Benehmen bei einem Mann, der vor Gesundheit nur so strotzt.« Sie warf den Umhang über die Schulter zurück und enthüllte die darunterliegende Kleidung. Maeveen hielt den Atem an. Die Frau trug Gewänder nach jehesischer Sitte – das war das Land, dem Peemel den Krieg erklärt hatte. Warum unterhielt sich sein oberster Ratgeber mit einer Edelfrau von jener fernen Insel? Ging es um Frieden? Offizielle Kriegsbedingungen? Keines von beiden schien Maeveen einleuchtend. Wenn dieses Treffen im Sinne der Herrscher gewesen wäre, hätte es an einem anderen Ort stattgefunden und nicht mitten auf einem windigen Platz im Armenviertel von Iwset. Als sei ihr bewußt geworden, zuviel enthüllt zu haben, schlug die Fremde den Umhang wieder zurück und rückte näher an Digody heran. Minutenlang unterhielten sie sich angeregt, dann stampfte der Hagere mit dem Fuß auf, machte auf dem Absatz kehrt und eilte davon. Wieder lachte die Frau, aber diesmal klang es nicht fröhlich. Sie sah Digody noch eine Weile nach, ehe sie sich den nahegelegenen Docks zuwandte. Maeveen erwog, Digody zu folgen, entschied dann aber, daß sie von ihm sicher nichts neues erfahren würde. Statt dessen wollte sie herausfinden, wer die Frau war, die in eine undurchsichtige Geschichte ver142
wickelt zu sein schien. Sie hegte keine Zuneigung für Peemel, aber jegliche Neuigkeiten konnten wertvoll sein, und manchmal gewann man einen Krieg nicht allein durch den Gebrauch von Waffen. Da Peemel Vervamons Expedition finanzierte und der Kriegseintritt Iwsets die ungehinderte Reise ihrer Gruppe beeinträchtigen konnte, wollte Maeveen so viel wie möglich in Erfahrung bringen. Die Entfernung zwischen ihr und der vornehm gekleideten Frau verringerte sich, und sie überlegte, was zu tun war, wenn sie die Fremde einholte. Als Maeveen die Docks erreichte, blies der Sturm mit voller Kraft. Bis auf eines hatten alle Schiffe die Segel eingezogen und kämpften darum, nicht gegen die Kaimauer gedrückt zu werden. Das abseits liegende Schiff trug keine besonderen Kennzeichen, aber Maeveen hatte auch nicht erwartet, einen Spion aus Jehesic im Hafen des Feindes mit eigener Flagge – ein fliegender schwarzer Seefalke vor orangenem und blauem Hintergrund – vor Anker liegen zu sehen. »Beeilung, Ferantia! Wir müssen aufbrechen!« rief der Kapitän der Frau entgegen, die eben den Fuß auf das Fallreep setzte. Geschickt sprang sie an Deck und drehte sich, um dem Kapitän einen übermütigen Gruß zu entbieten. Der Kapitän brüllte Befehle, und die Frau gesellte sich zu ihm, als er das Ruder übernahm. Die Segel waren nur zur Hälfte gesetzt, und die Leinen wurden losgemacht. Maeveen hielt den Atem an, da es so aussah, 143
als würde das Schiff gegen die Kaimauer geschleudert, als es ablegte. An diesem Nachmittag erwies sich der Wind nicht als Verbündeter der Seeleute. Maeveen lief zum Kai um sicher zu gehen, daß ihre Augen ihr keinen Streich spielten. Obwohl die Segel nur wenig Wind aufnahmen, schoß das Schiff geradezu aufs Meer hinaus – mit pfeilschneller Geschwindigkeit! Maeveen lief bis zum Ende des Docks und starrte ihm angestrengt hinterher. Ohne vom Sturm beeinträchtigt zu werden, fuhr der Segler gezielt gegen den Wind. »Magie«, murmelte sie. »Digody trifft sich mit einer jehesischen Spionin, die gleichzeitig eine Magierin ist. Bist du sonst noch etwas, Ferantia?« Innerhalb weniger Minuten verschwand das Schiff hinter einer Nebelwand außer Sichtweite. Ein heftiger Sturmwind kam von Jehesic nach Iwset, und er brachte ebenso viel Gefahr wie Magie mit sich.
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»Es wurde während des Tiyintfestes beschlossen. Die Zeit der Entscheidung naht, und wir müssen den Krieg beginnen!« Der zottige Minotaurus stapfte mit geblähten Nüstern hin und her und kreuzte die kräftigen Arme herausfordernd vor der Brust. Er senkte den Kopf und unternahm ein paar geschickte Stöße mit den Hörnern, um zu zeigen, was den Elfen widerfahren würde, wenn sie sich offiziell auf dem Kriegspfad befanden. »Warte, kleiner Bulle«, ermahnte Mytaru seinen Blutsbruder, als Yunnie widersprechen wollte. »Aesor ist noch nicht fertig. Es ist unhöflich, ihn zu unterbrechen, ehe er geendet hat.« »Er redet dummes Zeug«, sagte Yunnie hitzig. Er sah nicht ein, warum Aesor seine Hetzreden halten durfte. »Die Elfen sind nicht die Ursache allen Übels. Was während des Tiyintfestes entschieden wird, ist völlig gleichgültig. Allein die Wahrheit zählt!« »Ich ermahne dich im Namen des Stammes Utyeehn«, sagte Mytaru streng. »Ich dulde keine Blasphemie. Entscheidungen, die während des Festes beim Licht der Zwillingsmonde gefällt werden, sind heilig. Man machte dich damals zu einem der unseren, weil 145
die Zeit für große Veränderungen in unserem Leben gekommen war. Die Herde gedeiht unter dem heiligen Licht. Willst du das etwa abstreiten?« »Nein, aber ...« »Auch andere Dinge, die geheim sind und dir erst später bei den Ritualen, die du noch lernen mußt, enthüllt werden, wurden entschieden; der Krieg gegen die Elfen war nur eines davon.« »Aber viel zu viele von euch werden sterben, und zwar für nichts und wieder nichts!« rief Yunnie erbost. »Die Elfen halten uns für ihre Feinde. Wir glauben, sie seien es. Aber wir irren uns alle.« »Weshalb denn das?« fragte Mytaru und warf Aesor einen besorgten Blick zu. Es war äußerst unhöflich, sich zu unterhalten, während ein anderer sprach – und Grund genug für eine Herausforderung zum Kampf. »Sie stellen Fallen, in denen Minotauren sterben«, erklärte Mytaru leise. »Wir töten sie, wenn sie in unser Gebiet eindringen. Die Elfen bringen ihre Vorräte und ihre Ausrüstung immer näher zum Tal herüber, weil sie gegen uns in den Krieg ziehen wollen.« »Das will ich nicht bestreiten«, antwortete Yunnie, der seinen Blutsbruder unbedingt überzeugen wollte, »aber wir sollten gegen die Goblins kämpfen, nicht gegen die Elfen.« Sekundenlang schwieg Mytaru. Dann lachte er schallend. Die übrigen Bullen, die sich im Redekreis versammelt hatten, starrten ihn böse an. Aesor hatte noch nicht geendet und fuchtelte noch immer mit den 146
frisch polierten Hörnern. Unwilliges Gemurmel über Mytarus Unhöflichkeit wurde laut. »Ich bitte euch um Verzeihung, Brüder«, sagte Mytaru, als sich Aesor vor ihm aufbaute. »Ich wollte unser jüngstes Mitglied über die Regeln der Etikette belehren und habe dummerweise die Gebote verletzt, die ich zu ehren versuchte.« »Dann soll er in den Kreis treten und reden«, bot Aesor an. »Er soll uns erzählen, wie unser Sieg gegen die Elfen aussehen wird.« »Mein Blutsbruder ist ...«, begann Mytaru, hielt aber inne, als sich Yunnie erhob und sich in den Mittelpunkt des Redekreises stellte. »Ich danke meinem geschätzten Bruder Aesor für die Ehre, die er mir gewährt«, sagte Yunnie. Bei dem Gedanken, welches Wagnis er einging, klopfte sein Herz zum Zerspringen. Er war das jüngste Mitglied des Stammes, aber gemäß der Herdentradition zählte sein Wort ebenso viel wie das des Ältesten. Nur bei spirituellen Angelegenheiten, bei denen die drei Auserwählten mit absoluter Autorität sprachen, durfte kein anderes Stammesmitglied widersprechen. »Es ist meine innerste Überzeugung, daß die Elfen nicht unsere Feinde sind. Ich sah Goblins aus dem Hinterhalt kämpfen und fortlaufen, ehe unsere Krieger sie bemerkten. Sie erzürnen die Elfen mit den gleichen Angriffen und sehen dann zu, wie Minotauren und Elfen einander töten.« »Wie erklärst du dir die Netze der Elfen? Mein Vet147
ter Hoty wurde unweit des Lycohbaches in einer dieser Fallen getötet. Das war keine Goblinidee, denn dazu sind sie viel zu dumm.« Aesor schnaubte wütend und scharrte mit dem Vorderhuf über den Boden. Yunnie konnte seinen Blick nicht von den glänzenden Metallspitzen der Hörner abwenden. Aesor hatte den Schmuck auf Rasiermesserschärfe gefeilt. Auch wenn Yunnie nicht bereit für den Krieg war – Aesor war es. Ein freudloses Lachen drang aus der Tiefe vieler Minotaurenkehlen. »Das tut mir leid. Hotys Tod ist ein Verlust für die Herde«, erwiderte Yunnie und dachte fieberhaft nach. Es bedurfte hieb- und stichfester Beweise, um sie von der Wahrheit seiner Behauptungen zu überzeugen. »Ich weiß, daß die Goblins nicht klug genug für solche Fallen sind, aber sie sind schlau genug, Elfen und Minotauren gegeneinander aufzuhetzen. Die Goblins stehlen elfische Waffen und töten uns damit. Ich bin sicher, daß sie es bei den Elfen umgekehrt halten.« »Die Elfen wollen uns die Häuser über dem Kopf anzünden!« brüllte ein anderer Minotaurus. Yunnie wußte, daß es sich um den Anführer des Helmheimstammes handelte, wußte aber nicht, wie er hieß. »Willst du etwa die Feuer bestreiten, die drei Tage lang brannten? Elfen haben sie gelegt!« »Nun, auch die Elfen behaupten, die Minotauren würden Feuer legen«, erwiderte Yunnie. Er wußte, daß er diesen Weg nicht länger einschlagen durfte, denn die 148
Goblins verließen sich beim Kampf auf Steine, nicht auf Feuer. »Es sind Lügner! Wenn sie dir erzählen, daß es die Goblins waren, dann lügen sie!« schrie der Anführer. »Sie behaupten das, um uns in Sicherheit zu wiegen! Elfen sind keine Kämpfer. Gegen die Macht Urhaalans können sie sich niemals behaupten!« »Die Elfen sind in der Lage, sich bestens zu verteidigen, kämpfen aber gegen den falschen Gegner, genau wie wir. Wir müssen die Goblins auslöschen.« Yunnie verließ den Redekreis und wartete eine Weile, ob sich jemand zu seiner inständigen Bitte äußern würde. Stille lag wie eine dichte Decke über der Versammlung, bis Aesor mit forschen Schritten vortrat. Er beachtete Yunnie nicht weiter und setzte seine Hetzrede gegen die Elfen fort, als sei nichts gesagt worden, um seiner Meinung Einhalt zu gebieten. »Er darf nicht ...« Ein strenger Blick Mytarus ließ Yunnie verstummen. Er setzte sich hin und hörte zu, wie sich der Stamm Utyeehn in Kampfeslust versetzen ließ. Eine Kampfeslust, die sich gegen die Elfen richtete. Yunnie stand auf einem Felsvorsprung über dem Eingang des Tals und blickte auf die grasbewachsenen Hügel hinab, wo die Minotauren schon bald gegen die Elfen kämpfen würden. Aesor und die anderen Bullen hatten bis zum Sonnenaufgang Pläne geschmiedet und überlegt, wie sie gegen die Feinde vorgehen wollten. Yunnie schüttelte den Kopf über ihren Irrtum. Wer 149
anders als die Goblins war Schuld an dem ganzen Unheil? Aesor hatte mit seinen Bemerkungen den Nagel auf den Kopf getroffen. Goblins waren eher gerissen als klug, und ein so gut durchdachtes Ränkespiel, bei dem zwei Völker gegeneinander ausgespielt wurden, schien ihre geistigen Fähigkeiten zu übersteigen. Yunnie wußte, daß sie Waffen stahlen und Minotauren aus dem Hinterhalt mit Elfenpfeilen beschossen, die Elfen dagegen mit den Lanzen der Minotauren angriffen. Aber weshalb machten sie sich die Mühe, die Behausungen beider Völker in Brand zu setzen? Dadurch liefen sie Gefahr, gesehen zu werden. »Unter der Erde!« sagte Yunnie zu sich selbst. »Ja, die Antwort liegt unter der Erde. Ich kann Beweise bekommen, sie Aesor, Mytaru und den anderen zeigen und dem Kampf ein Ende machen, ehe er völlig außer Kontrolle gerät.« Vor weniger als einer Stunde hatte er beobachtet, wie die erste Kriegertruppe losmarschiert war, um die Elfen, die sich am Eingang des Tals versammelten, zurückzuschlagen. Die Zeit der Entscheidung hatte es so verlangt. Beim Licht Iontieros und Fessas war der Krieg beschlossen worden. Yunnie schauderte. Selbst das Denken des verbotenen Namens beunruhigte ihn. Er mußte sich noch an die Lebensweise der Minotauren gewöhnen, sonst würden ihn derartige Kleinigkeiten bis an sein Lebensende verfolgen. Außerdem mußte er das Gefühl ab150
schütteln, daß er durch seine Beharrlichkeit den Haß eher schürte als zum Erliegen brachte. Jedes Wort, das er über die Lippen brachte, schien falsch und unehrlich zu klingen und führte dazu, daß die Minotauren völlig überzeugt davon waren, daß er sich irrte und die Elfen die Schuldigen waren. Yunnie setzte sich in Bewegung, obwohl er keine Ahnung hatte, wohin er sich wenden sollte. Wenn die Goblins aus ihrem Reich unter der Erde hervorkamen, lag es nahe, daß auch ganz in der Nähe Eingänge lagen. Sonst hätten die Wachen, die bei dem Brand der Helmheimhäuser herbeieilten, die elenden kleinen Monster sehen müssen. Yunnie schnüffelte prüfend und erkannte den Geruch von brennendem Holz und Fleisch. Als er die nächste Felsklippe erklomm, war er völlig außer Atem. Prüfend spähte er in diesen Teil des unter ihm liegenden Tals hinab, in dem einst der ganze Stamm Helmheim gelebt hatte. Insgesamt erblickte er acht rauchende Hütten, die alle weit auseinanderlagen. Seltsam, daß die Mitglieder dieses Stammes so sehr auf ihr Privatleben bedacht waren – bei Herden ein ungewöhnliches Verhalten. Daraus ergaben sich natürlich ausgezeichnete Bedingungen für Angreifer. »Da!« murmelte er halblaut und starrte auf den Pfad, der aus dem Tal in ein unebenes Gelände führte. Irgend etwas stimmte hier nicht. Yunnie kletterte den Abhang hinunter und fragte sich, was ihn so mißtrauisch machte. Er starrte angestrengt auf den Boden, und 151
es dauerte etliche Minuten, bis ihm klar wurde, was er sah. »Keine Goblinfußabdrücke«, sagte er und schaute verwirrt auf die seltsamen Muster auf dem Boden. »Dafür aber massenhaft Asche und verbranntes Gras. Es sieht aus, als hätten sie Töpfe mit Feuer hinter sich hergezogen.« Mit gesenktem Blick folgte er der Spur, überquerte Wiesen und felsigen Boden, Erde und Feuchtgebiete, ohne sie aus den Augen zu verlieren. Plötzlich blickte er auf. Er hatte eine Baumgruppe erreicht. Die niedrigeren Äste waren angesengt worden – eine unglaubliche Hitze mußte hier entstanden sein. Yunnie sprang auf und packte einen Zweig, der unter seinem Gewicht brach. Mit gerunzelter Stirn betrachtete er ihn. Es sah so aus, als hätte er über einem lodernden Feuer gehangen. Aber nirgendwo waren Spuren eines Lagerfeuers zu entdecken. Yunnie hatte von Belagerungen gegen befestigte Städte gehört, bei denen brennbare Mischungen aus Pech und geheimen Mixturen benutzt wurden, die heftig brannten, sich aber in einem winzigen Geschoß zusammenpferchen ließen. Doch wie um alles in der Welt sollte ein Goblin eine brennende Kugel tragen – und warum? Mit schnelleren Schritten, die sich bis zu einem gemächlichen Laufen steigerten, verfolgte er die Spur der Feuertöpfe. Vollzogen die Goblins irgendein seltsames Ritual, indem sie die Asche der Minotaurenhäuser in 152
ihr Reich schleppten? Ringsumher erhoben sich spitze Felsnadeln, als sich Yunnie einen Weg durch die Ausläufer der Hügel bahnte. Starker Schwefelgeruch drang ihm in die Nase. Er näherte sich Kratern, ähnlich jenen, die ihm Mytaru einst gezeigt hatte. Er hoffte, die Regeln der Herde nicht zu verletzen, wenn er sich ihnen näherte, ohne die ordnungsgemäße Zeremonie einzuhalten. Die inzwischen hoch aufragenden Felswände zwangen ihn, sich seitlich hindurchzuzwängen. Mit dem Rücken und der Brust berührte er rußige Stellen, die von den Trägern der brennenden Töpfe hinterlassen worden waren. Endlich gelangte Yunnie auf ein kleines Felsplateau, wo ein Krater gelbe Schwefelwolken und weißen Dampf ausspuckte. Er drückte die Hand auf den Mund, um nicht zuviel davon einzuatmen. Es half nicht. Die Dämpfe ließen ihn husten. Seine Augen tränten, und er wollte sich gerade auf den Rückweg machen, als ihn ein ohrenbetäubendes Wutgebrüll zusammenzucken ließ. Durch die aufsteigenden Schwefeldämpfe erblickte er eine in Flammen gehüllte Kreatur, die auf ihn zustapfte. »Nein! Nein!« schrie er und atmete aus Versehen die giftigen Gase ein. Taumelnd fiel er auf die Knie. Yunnie versuchte, den brennenden Riesen trotz der auf- und abwogenden Nebelschwaden im Auge zu behalten. Kein Lebewesen konnte derartige Hitze und Gase aushalten. Nur dieses. 153
Yunnie tastete mit letzter Kraft nach seinem Dolch, um sich zu verteidigen. Er blickte in zwei flammend gelbe Augen und einen Mund, der ihm die Tiefen der Niederhölle vor Augen führte. Laute Schreie erklangen ringsumher, hallten ihm in den Ohren und riefen seinen Namen. Dann wurde er ohnmächtig, und der Dolch entglitt seinen Fingern.
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»Beeilung, Ferantia! Wir müssen aufbrechen«, rief Kapitän Oseltei, während er mit großer Mühe das hintere Haltetau löste, ehe er ans Ruder des Schlüpfrigen Aals eilte. Er zerrte den Strick, mit dem das Steuer gesichert worden war, fort, und blickte nach oben, wo sich die Matrosen mit den sturmgeblähten Segeln herumquälten. »Sichert die Segel!« brüllte Oseltei gegen den Wind an. »Bei diesem Sturm werden sie uns nichts nützen!« »Auf dieser Reise braucht Ihr keine Segel, Kapitän«, sagte Ferantia, die gewandt an Bord sprang. Sie warf einen Seitenblick auf die in eine grün-braune Uniform gekleidete Soldatin hinunter, die ihr seit ihrem Treffen mit Digody gefolgt war. Die Frau stammte nicht aus Iwset und bedeutete daher weder eine Bedrohung für sie – noch für ihre Mission. Trotzdem fragte sie sich, wer von so starker Neugier bis ans Ende der Docks getrieben wurde. Ferantia seufzte abgrundtief. Zur Zeit blieb wenig geheim, ganz besonders in Iwset. Sie wünschte, Lord Peemel würde besser auf die Spione achtgeben, die sich hier herumtrieben, oder sollte sie vielleicht Digody informieren? 155
Schließlich entschied Ferantia, Iwset im eigenen Saft der Unruhen schmoren zu lassen. Sie trieb ein bedeutend gewagteres Spiel, in dem Iwset nur eine Nebenrolle zugedacht war. »Dann mal los mit Eurer Magie. Wir müssen augenblicklich auslaufen«, erklärte Oseltei, stemmte sich gegen das Ruder und steuerte den Schlüpfrigen Aal aufs Meer hinaus. Ferantia lächelte hintergründig, klatschte zweimal in die Hände, murmelte einen Spruch, klatschte dreimal in die Hände und wurde beinahe umgeworfen, als der Zauber das Schiff erfaßte und mit sich riß. Oseltei stieß einen Freudenschrei aus und arbeitete fieberhaft mit, sein Schiff in die Richtung zu steuern, die er anstrebte. »Nach Jehesic, mein Guter, und zwar so schnell, wie uns dieses feine Schiff tragen kann«, befahl Ferantia. »Eure Magie treibt es voran, nicht meine Segel«, knurrte Oseltei. »Ich freue mich darauf, endlich wieder in einem ordentlichen Hafen vor Anker zu gehen. Jene landbesessenen Barbaren mögen sich auf die Mulizucht verstehen, aber sie haben keine Ahnung, wie man einen Hafen anlegt.« »Mulizucht?« lachte Ferantia. »Das ist gut, Oseltei, sehr gut. Das darf ich nicht vergessen.« Sie trat an die Reling und starrte in den Sturm. Heftige Regenfälle peitschten die tosenden Wellen. Ferantia schloß die Augen und stellte sich ein ruhiges Meer und leichtes Dahinsegeln vor. Sofort wurde das Schiff nicht länger von den Wogen emporgehoben, um gleich 156
darauf wieder in einem tiefen Wellental aus Gischt und Schaum zu verschwinden, sondern glitt über das Meer, als habe man die Oberfläche eingefettet. »Bei dieser Geschwindigkeit werden wir innerhalb eines Tages im Hafen liegen«, erklärte Oseltei. »Ist Eure Botschaft von so großer Wichtigkeit?« Ferantia konnte nur nicken. Sie mußte sich stark konzentrieren, um die Zauber, die das Schiff vorantrieben und für ruhigen Seegang sorgten, aufrechtzuerhalten. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn, und ihre Schönheit verblaßte ein wenig. Mit zitternder Hand wiederholte sie den Geschwindigkeitszauber, nachdem sie ihn unterbrochen hatte, um einen Seeleviathan davon zu überzeugen, sich ein anderes Opfer als Abendmahlzeit zu suchen. Und so nahm die anstrengende, ermüdende Seereise ihren Verlauf. »Land in Sicht!« rief der Kapitän. Ferantia entspannte sich und vergaß einen Augenblick lang alle Zauber. Beinahe hätte eine riesige Welle den Schlüpfrigen Aal mit sich gerissen. Oseltei kämpfte darum, die Gewalt über das Ruder zu behalten und riß das Schiff gerade noch rechtzeitig herum, ehe es in tausend Stücke brach. Er warf ihr einen bösen Blick zu. Ferantia wußte, daß der Kapitän nicht viel für Magie und ihre Folgen übrig hatte, aber sie wollte sich möglichst schnell bei der Herrscherin melden. Schon erkannte sie das orange-blaue Banner, das im kräftigen Seewind flatterte. Noch befand sich der Sturm etliche Meilen von Jehesic entfernt. Die Zinnen entlang der 157
Strände sahen wie bessere Kaimauern aus, aber Ferantia wußte, daß es sich um uneinnehmbare Wehrgänge handelte. Peemel war ein Narr, wenn er glaubte, mit seinen Schiffen anlegen und die Insel erstürmen zu können. Er war ein noch größerer Narr, wenn er glaubte, Jehesics Flotte besiegen zu können. Kapitäne, die noch fähiger waren als Oseltei, der das Ruder des Aals geschickt handhabte, kommandierten die Fregatten und Kreuzer. Dabei war Oseltei einer der besten Kapitäne, mit denen Ferantia je gesegelt war. Sie seufzte bedrückt. Die Welt war in Aufruhr, und sie fühlte sich wie in einem Strudel gefangen, der sie unaufhörlich in die Tiefe sog. Sie war von der ärmsten Fischhändlerin auf dem Markt von Jehesic zur zweitmächtigsten Frau der Insel aufgestiegen. Bei dem Gedanken an Lady Edara lächelte sie. Lady Edara – völlig verzogen und immer unsicher, was sie tun sollte. Sie brauchte jemanden, der sie auf den rechten Kurs brachte und die Riffe und Untiefen vermied, in die schlechte Ratgeber und jene, die sich nur auf ihre Kosten bereichern wollten, sie steuern würden. Ferantia gelüstete es nach mehr als nur Gold. »Da ist unsere Anlegestelle«, verkündete Oseltei. »In wenigen Minuten sind wir da. Die Strecke von Iwset nach Jehesic habe ich noch nie in so kurzer Zeit zurückgelegt, werte Dame.« »Bald schon werdet Ihr mehr Fracht befördern, als Ihr es Euch ausmalen könnt – und zwar von Jehesics 158
Kolonie auf dem Festland hierher«, versprach ihm Ferantia. Sie glättete den kostbaren Umhang und strich sich über die Seidenbluse und die weiten Röcke. Schließlich richtete sie sich noch die windzerzausten juwelenbesetzten Haare. Während sie damit beschäftigt war, hatte der Kapitän das Schiff sanft anlegen lassen. Eifrige Hände zurrten die Taue fest und streckten sich aus, um der Dame an Land zu helfen. Sie beachtete sie nicht. Aus diesen Schichten war sie emporgestiegen. Nie wieder wollte sie etwas damit zu tun haben. Leicht wie eine Feder sprang sie an Land und ging mit eiligen Schritten auf die Wehrmauern zu, die sich vom Hafen zur Halbinsel zogen, wo Lady Edara sich hinter Festungsmauern verschanzt hatte. Die Zitadelle überragte nicht nur den Hafen, sondern auch den Rest des Eilandes bis hin zu Enrys Riff. Bei Sonnenaufgang tauchten die Masten und Rümpfe versunkener feindlicher Flotten auf – ein Wahrzeichen unzähliger vergeblicher Versuche, Jehesic im Laufe der Jahre seinen rechtmäßigen Herrschern zu entreißen. Ferantia wußte, daß solche Angriffe niemals Erfolg hatten. Die Menschen auf Jehesic waren in Sicherheit: sowohl durch die Wehrgänge als auch durch die riesige Zitadelle bestens geschützt. Sie trieben entlang der ganzen Küste Handel, und so gelangten stattliche Reichtümer auf die Insel, mit denen die Flotte fortwährend vergrößert wurde, bis schließlich jeder, der nach Arbeit suchte, sofort zur Marine ging. Die Bürger schlossen sich entweder der Handelsflot159
te oder der Kriegsmarine an. Die Sicherheit und der wachsende Wohlstand verwandelten die Insel in einen blühenden Staat. Lady Edara regierte ein Paradies inmitten der stürmischen See der Inquisition, die Angst und Abscheu vor Magie auf dem Festland verbreitete. »Unteroffizier, meldet Lady Edara, daß ich zurückgekehrt bin«, befahl Ferantia dem Wachsoldaten am Haupttor der Zitadelle, während sie hindurchschritt, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. Der Mann salutierte, erwiderte aber nichts. Ferantia wußte, daß man die Herrscherin bereits benachrichtigt hatte, als das Schiff in Sichtweite kam. Nichts vermochte den wachsamen Augen der Küstenwache Jehesics zu entgehen. Diener eilten durch die Gänge der Festung und entzündeten Fackeln, die das zunehmende Dämmerlicht erhellten. Der Sturm, der über Iwset tobte, umging Jehesic, aber der Nacht konnte die Insel nicht entkommen. Ringsumher bereiteten sich Bedienstete und Soldaten auf die Nacht vor. Von den Inselbewohnern drohte keine Gefahr, aber die Sicherheitsberater Lady Edaras ängstigten sich wegen Attentätern, die in Peemels Auftrag handelten. Diese Sorgen konnte sie ihrer Herrin nehmen. Man hatte ihr versprochen, daß nichts derartiges unternommen werden würde. Das war jedoch nur eine der Botschaften, die sie aus Iwset mit sich brachte. Die Bilder an den Wänden kündeten von Reichtum, aber Ferantia machte sich im Geist Notizen zu den Go160
belins und Gemälden. Wenn die Herrschaft der Insel in anderen Händen lag, würde sie dafür sorgen, daß diese uralten verstaubten Sachen durch moderne Kunst ersetzt wurden. Immer schmaler wurden die Gänge, durch die sie schritt, bis sie endlich eine steile Wendeltreppe erklomm, die auf dem höchsten Turm endete. Ein paar Minuten lang starrte Ferantia auf die wogende See. Die unaufhörlichen Wellen fesselten sie immer wieder. Von Zeit zu Zeit meinte sie irgendwelche Wesen zu erkennen, die an die Oberfläche kamen, Schreie ausstießen und sich wieder in die Sicherheit ihres nassen Reiches zurückzogen. Wie sehr sie sie beneidete – und fürchtete. Ferantias Hände führten verschlungene Gesten aus – sie übte die Zauber, die sie von Magiern in Iwset gelernt hatte, die sich vor der Inquisition verbargen. Die Sprüche würden die Kreaturen nicht vertreiben, aber Ferantia fühlte sich besser, wenn sie sie aussprach. Einmal bildete sie sich ein, Lichter am Horizont zu erblicken, die ihr anzeigten, wo Iwset lag. Aber das war lächerlich. Iwset lag mehrere Tagesreisen entfernt. Ihre Magie hatte das Schiff schneller vorangetrieben, als jedes von der Inquisition gesegnete Boot reisen konnte. Ferantia dachte über Abt Offero und seine Macht nach, als sich eine Tür öffnete, und ein Schwall warmer Luft herausströmte. Sie drehte sich um und sog den sanften, parfümierten Lufthauch ein. Der frische Wind, der immer über Jehesic blies, vertrieb ihn in Sekunden161
schnelle. »Habt Ihr Neuigkeiten mitgebracht?« ertönte Lady Edaras leise Stimme. »O ja, meine Herrscherin, das habe ich.« Ferantia betrat das spärlich erhellte Gemach. Der Wind blähte die himmelblauen Vorhänge des Zimmers auf. Lady Edara schien vergessen zu haben, die Tür zu schließen, um dem unruhigen Wehen der Seide Einhalt zu gebieten. Statt dessen wandte sie sich einem kleinen Schreibtisch zu, dessen Lampe schwaches Licht spendete. Ferantia machte ein Zeichen, das böse Geister abwehren sollte. Die von den wehenden Vorhängen hervorgerufenen Schatten beunruhigten sie. Bei jedem unerwarteten Flattern zuckte sie unwillkürlich zusammen, als stünde ein Angriff bevor. Wie Edara in diesem Zimmer leben konnte, war ihr unverständlich. »Wie verlief die Reise?« fragte die Herrscherin. Sie warf den Kopf zurück, und der Wind fuhr durch ihre kupferfarbene Mähne. Die meergrünen Augen glänzten wie im Fieber und unterstrichen die Blässe ihrer Haut. Der Figur nach wirkte sie fast wie ein Kind, aber Ferantia wußte, daß man sie nicht unterschätzen durfte. Mehr als ein Thronprätendent hatte diesen Fehler begangen. Alle trugen schwere Eisenketten um die Fußknöchel – und lagen auf dem Grund der Bucht von Jehesic. »Ich bringe Nachrichten von Peemel«, sagte Ferantia und verneigte sich. Sie versuchte, nicht hinzustarren, 162
aber sie glaubte, hinter den Vorhängen zum Schlafgemach eine Bewegung bemerkt zu haben. Ein Liebhaber? Wahrscheinlich. Ferantia nagte an ihrer Unterlippe und erwog ihre Worte sorgfältig. Ein Zeuge des Gespräches war unangenehm. »Zieht er seinen absurden Vorschlag zurück?« fragte Edara. Ferantia schnaubte und schüttelte den Kopf. »Keineswegs, Herrin. Er bekräftigt seinen Wunsch, Euch zu heiraten. Diese Vermählung würde die Beziehungen zwischen Iwset und Jehesic verbessern und den Frieden ...« »Nein!« Edaras empörter Ausruf ließ Ferantia zusammenzucken. Die Herrscherin beugte sich vor. Sie bebte vor Zorn. »Niemals würde ich diesen Sohn einer Seekrabbe heiraten. Allein der Gedanke an seine Berührung verursacht mir Übelkeit. Und wie oft müßte ich sein Bett teilen, ehe mir ein tödlicher Unfall zustieße?« »Das würde sicher nicht geschehen«, entgegnete Ferantia und dachte fieberhaft nach. Sie hatte einen so heftigen Widerspruch nicht erwartet. »Er braucht Euch und Euren Einfluß, um ...« »Er braucht meine Flotte. Es gelüstet ihn nach Jehesics Gold. Seine blutrünstige Behandlung jener, die bisher dumm genug waren, ihn zu heiraten, ist mir bekannt. Und ich bin in der Lage, meine Flotte einzusetzen, um Jehesic vor ihm zu schützen!« Rote Flecke erschienen auf Edaras Wangen. Sie zog den dünnen Umhang enger um die Schultern, als wolle sie sich damit 163
vor der feindlichen Welt schützen. »Es muß nicht so weit kommen. Wir können Peemel beseitigen, ehe er Euch etwas antut, Herrin«, sagte Ferantia. »Dann würdet Ihr über Iwset und Jehesic herrschen.« »Ich schlafe mich nicht an die Macht. Das ist bei Huren üblich!« Ferantia hielt eine wütende Bemerkung zurück. Ihre Pläne schienen zu Staub zu zerfallen. Sie hatte Gegenwehr erwartet, war aber sicher gewesen, Edara zu Verhandlungen mit Peemel überreden zu können, die sich um Mitgift, militärische Bündnisse und Unternehmungen drehten, die beiden Herrschern zum Vorteil gereichen würden. Aber mit einer so heftigen Ablehnung hatte sie nicht gerechnet. Eine Bewegung hinter dem Vorhang überzeugte sie davon, daß sie nicht allein waren. Jetzt mußte sie ihre Zunge noch besser im Zaum halten. »Er wird Eure Ablehnung nicht hinnehmen, Lady Edara«, sagte sie bedächtig. »Peemel wird Euch den Krieg erklären.« »Das hatte er schon vor, ehe er mir einen Heiratsantrag machte. Er verspottet das heilige Sakrament. Wie kann er es wagen!« Wieder schüttelte sie den Kopf und fuhr mit den Fingern durch die kupferfarbenen Locken. »Wollt Ihr in Kauf nehmen, das Blut Eurer Untertanen ins Meer fließen zu sehen?« »Ja!« antwortete Edara hitzig. »Es ist besser, im Kampf zu sterben, als unter einem Tyrannen zu leben. 164
Wenn nötig, werde ich das Flaggschiff selbst befehligen, und ich werde kämpfen! Peemel darf nicht durchkommen.« »Ich ...« Ferantia schloß den Mund sofort wieder, da sie wußte, ihr Kurs würde sie durch gefährliche Untiefen führen. »Ihr habt recht, Lady Edara. Soll ich der Flotte befehlen, sich auf den Krieg vorzubereiten?« »Der Befehl wurde bereits vor Eurer Rückkehr erteilt«, sagte Edara zu Ferantias Überraschung. Sie hatte gedacht, die Herrscherin würde mehr auf ihre Ratschläge geben. Es war an der Zeit, ihre Stellung zu festigen, sonst würde sie in Kürze wieder Fisch verkaufen müssen. »Wie Ihr wünscht«, antwortete Ferantia. Edara entließ sie mit einer weitausholenden Geste. Der Rest des Berichtes konnte bis später warten. Als sie aus der Tür trat und stehenblieb, um sie hinter sich zu schließen, sah sie, wie Edara einen Vorhang beiseite schob. Sie konnte nicht erkennen, wer auf dem breiten Bett lag, aber an Edaras Leidenschaft für ihren geheimnisvollen Liebhaber bestand kein Zweifel.
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Feuer loderte vor Yunnies Gesicht auf. Er versuchte, sich abzuwenden und ein Stück zur Seite zu kriechen, konnte sich aber nicht rühren. Seine gequälte Lunge schrie nach frischer Luft, fand aber nur Gift. Er sah einen rotglühenden Feuerball, der harten Fels in brodelnde Flüssigkeit verwandelte, über seinem Kopf schweben. Tropfen dieser Flüssigkeit trafen ihn, und er krümmte sich vor Schmerz zusammen. Dieser Schmerz jedoch war es, der ihn – mehr als die eher lähmende Furcht – endlich handeln ließ. Er rieb sich die Augen, um den dichten Schwefeldampf zu vertreiben und glaubte, einen Turm aus brennendem Gestein zu sehen. Ein gähnender Schlund öffnete sich und spie Feuer, aber Yunnie konnte den Blick nicht von den beiden Leuchtfeuern oberhalb des Mundes wenden, aus denen der blanke Haß sprach. Er zog den Dolch und stieß ungeschickt nach dem sich nähernden Monstrum. Ohrenbetäubendes Gebrüll belohnte seine Bemühungen. »Yunnie? Bist du verletzt?« »Mytaru! Sei vorsichtig! Es ... es ist ein Ungeheuer, 166
wie du es nie zuvor gesehen hast!« Yunnie wich zurück, bis er heiße Steine im Rücken spürte. Er versuchte, das Schwert zu ziehen, aber die Gefahr war schon vorbei. Die schemenhafte, aber tödliche Kreatur war verschwunden, als sei sie nur ein Alptraum gewesen, aus dem er erwacht war. Yunnie sah einen solideren Schatten durch den gelben Dunst stapfen. Mytaru stand vor ihm und streckte ihm die Hand entgegen. Yunnie ergriff sie und stand auf. Nach einer Weile fühlte er sich ein wenig besser. »Ich sehe bloß die Krater«, meinte Mytaru und schüttelte den Kopf. »Aber es war hier«, beharrte Yunnie, obwohl er sich längst nicht mehr sicher war. Vielleicht hatten die Dämpfe sein Gehirn umnebelt. »Laß uns von hier verschwinden.« Als er sich umdrehte, berührte er den heißen Felsen mit der Hand. Er zuckte zusammen und merkte, daß er nicht an Einbildungen litt. Der fliegende Feuerball war gegen den Fels geprallt und hatte ein tiefes Loch hineingebrannt. Der Stein fühlte sich noch ein bißchen weich an. »Warum bist du weggegangen? Wir bereiten uns auf den Krieg vor. Die Zeremonien müssen eingehalten werden.« »Ich bin genügend geläutert«, erklärte Yunnie. Sein Magen knurrte vor Hunger, aber das Monstrum hatte er sich nicht eingebildet. Er drehte sich um. »Einen Augenblick noch. Ich habe meinen Dolch verloren.« Er 167
ging in den giftigen Nebel zurück, kniete nieder und tastete nach der Waffe. Seine Hand schloß sich um den Griff. Die Klinge sah aus, als habe er sie in die Esse eines verrückten Schmiedes gehalten, bis sie zu Butter wurde. Yunnie starrte den Dolch an und schleuderte ihn schließlich beiseite. »Der wird mir nie wieder helfen«, murrte er und wunderte sich, wie groß die Hitze sein mußte, um Stahl völlig zu zerstören. Mytaru beachtete die Waffe nicht, sondern packte Yunnie bei der Schulter und zerrte ihn aus der Schlucht. »Du wirst dir einen anderen aus der Waffenkammer holen. Verlasse dich nie auf minderwertige, von Menschen gefertigte Waffen. Sie lassen dich irgendwann im Stich. Der Stamm Utyeehn besitzt die besten Dolche und Schwerter der Urhaalanherde«, brüstete er sich. Der Minotaurus schob Yunnie durch den schmalen Felsspalt in die frische Luft des Tales. Yunnie atmete tief durch und versuchte sich zu erinnern, weshalb er sich überhaupt in jene Sackgasse begeben hatte. »Fußabdrücke«, sagte er. »Nicht von Goblins. Ich folgte der Rußspur von den verbrannten Häusern aus.« »Die Elfen werden für ihre hinterhältigen Angriffe bezahlen«, gelobte Mytaru. Yunnie machte sich nicht die Mühe, mit dem Freund über die wahren Feinde zu streiten. Er war viel zu verwirrt, um vernünftige Gründe anführen zu können. Zuerst war er sicher gewesen, daß die Goblins die 168
Schuldigen waren, aber das Wesen, das ihm gegenübergestanden hatte, war kein Goblin – außer, sie waren plötzlich gewachsen, spuckten Feuer und warfen brennende Bälle. »Wohin gehen wir?« fragte Yunnie. Mytarus strahlende Miene verdüsterte sich. Er richtete sich hoch auf und legte die Hände auf die Hüften. Verlegen scharrte er mit dem Huf über den Boden und sagte mit tiefer Stimme: »Du bist ein Mitglied der Herde, kleiner Bulle. Ich suchte dich aus gutem Grund. Die Zeit ist gekommen, daß du den allerheiligsten Ort der Macht kennenlernst.« »Am anderen Ende des Tals?« Yunnie erholte sich allmählich, fühlte sich aber nicht stark genug, die lange Wanderung zu überstehen. Er warf einen Blick über die Schulter auf die Krater, wo ihn das Monstrum angegriffen hatte, nachdem es die Häuser des Helmheimstammes niedergebrannt hatte. »Der Schrein von Tiyint ist nicht weit entfernt, aber es wird eine anstrengende Kletterpartie.« Mytaru wies den steilen Abhang empor, der sich über dem Tal erhob und die Urhaalan seit vielen Generationen von anderen Kulturen trennte. Mytaru setzte sich gemächlich in Gang, so daß ihm Yunnie ohne Schwierigkeiten folgen konnte. »Tiyint ist der ruhmreichste Held aller Stämme, ein Zauberer von unvorstellbarer Macht und ein Krieger, dem es kein anderer gleichtun kann.« »Nicht einmal du?« scherzte Yunnie. Sofort bereute er seinen Spott. Mytaru sah wütend aus. Niemand 169
durfte sich über Minotaurenhelden lustig machen. »Tiyint war besser als jeder andere Urhaalan, und deshalb wird er in alle Ewigkeit verehrt. Er kämpfte gegen Feinde, die längst ausgestorben sind und benutzte das Schwert und die Magie, damit alle Minotauren in Frieden leben konnten. Er opferte sich zum Wohl der Herde. Größeres kann es nicht geben.« »Ich habe es nicht böse gemeint«, entschuldigte sich Yunnie. Mytaru hörte kaum zu, da er ganz in der Legende Tiyints aufging. »Vor den Tagen Urzas und Mishras war alles anders. Jetzt wagen nur wenige, ihre schwachen Zauber zu wirken, und die Inquisition widersetzt sich jeglicher Magie. Tiyints Zauber besaßen kosmische Kraft. Es bedurfte eines Helden, sie zu wirken und eines Minotauren von unübertrefflicher Ausdauer, um sie vernünftig einzusetzen.« »Er bekämpfte die Orks, nicht wahr?« Yunnie kannte die Geschichte, oder glaubte sie zu kennen. »Tiyint kämpfte mit Schwert und Lanze gegen die Orks. Tiyint bekämpfte die teuflischen Maschinen und das Meervolk mit Magie. Tiyint war von einer Weisheit, die nie mehr erreicht wurde.« Es klang wie eine Litanei, und Yunnie wagte nicht, Mytaru zu unterbrechen. »Unser Tiyintfest ehrt unseren größten Helden. Wir nehmen neue Mitglieder in die Herde auf und hoffen, daß sie in seine Fußstapfen treten und sich ganz dem Wohl der Herde unterordnen. Wenn nur ein einzelner 170
ein wenig von Tiyints Edelmut besitzt und sich für die Herde einsetzt, werden die Urhaalan für alle Zeiten herrschen.« Sie kletterten weiter und weiter, bis sogar Yunnie außer Atem war. Mytaru marschierte unbeirrt voran, die Augen auf etwas gerichtet, was nichts mit dem steilen und steinigen Pfad zu tun hatte. Diesen Gesichtsausdruck hatte Yunnie schon öfter bemerkt, meist während der schwierigen Rituale. Sie kletterten den ganzen Tag lang, bis sie eine enge Schlucht erreichten, die in die Berge führte. Das Fehlen von Kratern und Vulkanen beruhigte Yunnie. Er glaubte, daß sich etwas viel Bedrohlicheres in den Tiefen der Erde verbarg als Elfen oder Goblins, und nur darauf wartete, die Minotauren zu vernichten. Aber hier in dieser ruhigen Schlucht, umgeben von hohen Felswänden aus rötlichem Gestein, herrschte Frieden. An dem anderen Ort der Macht hatte er Aufregung und Energie in sich aufsteigen gefühlt. Hier war es anders. Zum erstenmal seit Jahren fühlte er sich im Frieden mit sich und der Welt – vielleicht zum erstenmal im Leben überhaupt. Er fragte sich, ob es Mytaru ähnlich erging. Nach der Haltung und der Miene des Freundes zu schließen, war das nicht der Fall. Eigentlich wirkte der Minotaurus völlig aufgewühlt. Er schnaubte und sah aus, als nähre Tiyints Gegenwart seine Kampfeslust. »Da«, sagte er mit erstickter Stimme. »Dort liegt der Schrein von Tiyint.« 171
Yunnie trat vor und blickte an seinem Blutsbruder vorbei zum Ende der schmalen Schlucht. Er hielt den Atem an, bis seine Lunge schmerzte. Erst dann stieß er die Luft pfeifend aus. Yunnie ging weiter, als erhoffe er sich noch mehr Frieden, aber sein Wohlgefühl verwandelte sich in ehrfürchtiges Staunen. In die Felsen war ein gigantischer Minotaurus gemeißelt worden, zehnmal so groß wie Mytaru. »Tiyint«, sagte er verblüfft. »Tiyint«, stimmte Mytaru zu. Da ihn sein Freund nicht zurückhielt, bahnte sich Yunnie einen Weg durch die herumliegenden Felsbrocken, bis er genau unterhalb des überwältigenden Heldenbildes stand. Er hatte keine Ahnung, wie lange es gedauert haben mochte, das riesige Kunstwerk anzufertigen. Die Arbeit war mit großer Liebe ausgeführt worden, und die gesamte Oberfläche auf Hochglanz poliert. Fast wurde man von dem Schimmer geblendet. Über allem lag eine beinahe greifbare Harmonie. Die Augen der Statue waren leer, aber Yunnie wußte, daß Tiyint alles sah. »Wir wollen mit dem Rituallied anfangen«, sagte Mytaru. Er stellte sich breitbeinig in Positur, pumpte die Lunge voller Luft und stieß einen traurigen Schrei aus, der durch die Schlucht hallte und sich in Yunnies Gehirn niederließ. Da seine Kehle die erforderlichen Laute nicht ausstoßen konnte, ließ er sich nieder und starrte das Bildnis an, während sich seine Gedanken überschlugen. In 172
Gegenwart dieser Statue fiel ihm das Denken leichter, beschleunigte sich und ergab einen Sinn. Welche Schlachten mochte der echte Tiyint erlebt haben? Yunnie wußte, daß Mytarus kurzer Hinweis nur wenig über das Opfer und den Kummer verriet, der Tiyint widerfahren war. Er schloß die Augen und stellte sich vor, wie Tiyint das Schlachtfeld betrat, während die bunten Bänder seines Stammes an seinen Hörnern flatterten. Ein Zurückwerfen des Kopfes, und schon stürmte er auf die Gegner los. Mit muskelbepackten Armen schleuderte er die Lanze. Worte formten sich zu einem Zauberspruch und brachten jenen, die es wagten, sich den Urhaalan entgegenzustellen, den magischen Tod. Er atmete schneller und glaubte, selbst die Lanze zu werfen und die Feinde der Herde zu töten. Er konnte meilenweit laufen, ohne zu ermüden. Er konnte kämpfen, töten, im Blut der Gegner baden und sie alle überwinden – mit Tiyint als Vorbild. »Es kommt mir vor, als könne Tiyint aus dem Berg heraustreten und sich zu uns gesellen«, sagte Yunnie mit leiser, gefühlvoller Stimme. Er hatte den allerheiligsten Schrein der Minotauren mit Frieden im Herzen betreten. Jetzt weiteten sich seine Nasenlöcher, und er wünschte sich, das Blut seiner Feinde zu trinken! Zu seinem Erstaunen antwortete Mytaru. »Das kann er, wenn man das richtige Ritual abhält. Es steht geschrieben, daß Tiyint zurückkehren wird, um die Ehre und das Leben der Herde zu retten, wenn 173
sie ihn braucht.« »Wird er jetzt gebraucht?« »Wir warten auf ein Zeichen«, erklärte Mytaru und nahm sein Lied wieder auf. Yunnie stimmte ungeschickt ein und ließ sich von der kraftvollen Melodie in weit entfernte blutige Reiche entführen. Im Hinterkopf war ihm bewußt, daß Tiyint die Bedeutung des Liedes verstand und seine Botschaft bekräftigte. Wäre Mytaru hierhergekommen, um Frieden zu erflehen, hätte Tiyint die Bitte gewährt. Aber der Minotaurus wollte Krieg, und seine Kampfeslust erfüllte das Tal und Yunnie. Die Sonne verschwand hinter steilen Felsen und frühzeitige Abenddämmerung senkte sich über die Schlucht. Die Blumen, die noch vor kurzem geblüht hatten, schlossen ihre Blüten und gingen schlafen, während Nachtblumen sich öffneten und sie vertraten. Ihr durchdringender Duft machte Yunnie schwindlig. Er beugte sich vor, pflückte eine trompetenförmige weiße Blüte und atmete tief durch. Der liebliche Duft ließ sein Herz schneller klopfen und den Puls rasen. Jetzt verschwand auch der letzte Rest des Wohlgefühls. Ob es an der Blume lag oder an Mytarus Lied oder dem Gefühl, daß sich das steinerne Bild veränderte, vermochte Yunnie nicht zu sagen. Unruhig schritt er auf und ab und sah hin und wieder zu dem Bildnis empor. Der Fels schien alles Licht aufzusaugen und sah tiefschwarz aus. Yunnies Zuversicht, daß ein Krieg vermieden werden konnte, ver174
schwand. Der Fels strömte eine Kraft und gleichzeitig noch etwas anderes aus, das Yunnie mit Sorge erfüllte. Er konnte weder stillstehen noch herumsitzen und lief wie ein Tier im Käfig hin und her und fürchtete sich – wovor? Er sprang entsetzt zur Seite, als Mytaru urplötzlich brüllte: »Da! Das Zeichen!« Iontiero erhob sich über der Statue. Der kleine Mond war von einem kreisförmigen gelb-weißen Regenbogen umgeben, der sich wie ein Heiligenschein über den Hörnern des Helden abzeichnete. Er verschwand ebenso schnell wieder, wie er gekommen war, während Iontiero mit großer Eile am nachtschwarzen Himmel emporstieg. »Die Herde wird triumphieren!« sagte Mytaru atemlos. »Die Minotauren werden die Elfen im Krieg besiegen!« Yunnie starrte sprachlos in die Höhe. Er hatte eine völlig andere Vision gehabt.
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Der Regen drang sogar durch den wasserdichten Umhang und durchnäßte ihre Uniform. Maeveen O’Donagh versuchte, sich noch besser einzuhüllen, aber der heftige Wind, der über das sturmgepeitschte Meer drang, war nicht zu besiegen. Immer wieder riß er den Umhang empor, und sofort fand der Regen den Weg zu ihren Beinen. Mit gesenktem Kopf und in ihr Schicksal ergeben, marschierte Maeveen durch die verlassenen Straßen von Iwset, um zum Lager zurückzukehren. Eigentlich hatte sie noch die Wärme und die fröhliche Stimmung in der von Quopomma empfohlenen Taverne, dem ›Singenden Enterich‹, genießen wollen, war aber inzwischen nicht mehr in der Stimmung für lautstarke Gesellschaft. Sie stapfte durch den Schlamm und erreichte die Stadtmauer. Zum Schutz vor dem Sturm hockten die Wachen unter dünnen Blechplatten; laut prasselte der Regen auf die metallenen Dächer. Maeveen prägte sich ein, daß die Wachen von Iwset ihre Posten bei schlechtem Wetter verließen. Wenn Lady Edara einen passenden Zeitpunkt für den Angriff suchte, würde ihr ein starker Regenguß die Sache erleichtern. 176
Maeveen wischte sich den Regen vom Gesicht und hoffte entgegen aller Vernunft, er möge ihre verhaßten Sommersprossen fortspülen. Dann lenkte sie ihre Gedanken vom Unmöglichen zu den Veränderungen, die in der Stadt vor sich gingen. Es bahnte sich etwas weitaus schlimmeres als der Totenwagen mit seinem einsamen Fahrer den Weg durch die Straßen und Gassen. Diese Ferantia – oder wie hatte der Kapitän sie doch gleich genannt? – war ein Rätsel, das noch gelöst werden mußte. Eine zweifellos aus Jehesic stammende Frau, die geheime Treffen mit Peemels Ratgeber Digody abhielt. Was heckten die beiden aus? Wer wurde an wen verraten? Sowohl Edara als auch Peemel? Maeveen O’Donagh hatte schon mehr als einmal erlebt, daß sich angesehene Ratgeber gegen ihre Herren wandten. Würde dieser Plan Vervamon und seine Expedition betreffen? Hatte die Inquisition etwas mit der Verschwörung zu tun? Das Siegel von Iwset war kein verlorener Schatz, der unbedingt gefunden werden mußte, dachte sie, und die Gruft der sieben Märtyrer sollte Vervamon nur von seinen eigentlichen Forschungszielen ablenken. Sie diente als Köder für einen allzeit wissensdurstigen Forscher, würde aber sicherlich eine unbekannte Gefahr in sich bergen. So sehr es ihr auch mißfiel, auf Totenakkern herumzulungern und Grabräuber und leichenfressende Ghule zu beobachten, sie zog diese Arbeit doch dem Zusammensein mit Priestern und Politikern vor, die nur darauf aus waren, andere zu unterdrük177
ken. Dunkle Umrisse tauchten vor ihr auf, und Maeveen bemerkte erstaunt, daß sie bereits am Lager angelangt war. Der Regen würde die Vorräte verderben, aber das war allein Peemels Schuld. Hätte er sich erkundigt, hätte sie ihm eine Liste wirklich benötigter Dinge gegeben, die während einer Forschungsreise angebracht waren. Statt dessen hatte er sie mit tonnenweise unbrauchbaren Sachen überhäuft, gemeinsam mit sechs Spionen. Sechs Spione. Diese Angelegenheit mußte gut durchdacht werden. Während sich Maeveen noch wegen der Begegnung zwischen Coernn und Quopomma Sorgen machte, tauchte ihre Vertreterin wie eine Naturgewalt vor ihr auf. Sie murmelte fortwährend vor sich hin – vielleicht meinte sie auch ihre unsichtbaren Gefährten – und blieb erst stehen, als sie Maeveen bemerkte. »Gut, daß Ihr zurück seid, Hauptmann. Wann verlassen wir diesen elenden Ort? Es kann sicher nicht schlimmer werden, wenn wir uns morgen früh landeinwärts bewegen. Ich finde, wir sollten der Küste schnellstens den Rücken kehren.« »Quopomma«, sagte Maeveen, ohne auf die Fragen einzugehen, »ich muß sofort mit Vervamon reden. Ich habe Bedenken wegen einer sofortigen Abreise.« »Warum denn das?« »Verrat«, lautete die Antwort. War es möglich, daß Digody und Ferantia planten, die Expedition unterwegs überfallen zu lassen? Vielleicht sollten sie aus 178
taktischen Gründen erwägen, Peemels gute Verpflegung noch ein paar Tage länger zu genießen und unter seinem wachsamen Auge noch ein wenig auszuruhen. Das würde ihre Feinde verwirren und vielleicht zu einem Fehler verleiten, wodurch die Verschwörung offenbar werden konnte. »Wie immer!« knurrte Quopomma. Die Ogerin schüttelte sich wie ein Hund, so daß die Tropfen nur so spritzten. »Er sitzt hübsch gemütlich und trocken in seinem Zelt und liest das verdammte Onkel-IstvanBuch.« Maeveen schritt durch das Lager und bemerkte, wie wachsam und eifrig die Soldaten trotz des Unwetters waren. Endlich einmal hatte Iro ihre Pflicht erfüllt. Maeveen nahm das als freundliches Omen hin, Iwset ungehindert verlassen zu können. Ihre Soldaten waren ausnahmslos tapfere Kämpfer. Selbstverständlich mußten die Offiziere mit gutem Beispiel vorangehen. Vor Vervamons Zelt blieb sie stehen. Die kleine Leselampe im Inneren verströmte ein warmes Licht, das durch den wasserdichten Stoff drang, über den sich unzählige kleine Bäche Regenwassers ergossen. Sie sammelte ihre Gedanken und trat ein. Vervamon sah mit entrückter Miene auf. Maeveen wußte, daß ihn die Zeilen des Buches in seiner Hand gefesselt hielten. »Wir müssen über unsere Abreise reden«, begann sie, um ihr Anliegen einzuleiten. Vervamons Gesicht leuchtete auf, als habe man in dunkler Nacht eine Fakkel entzündet. 179
»Natürlich, natürlich, liebste Maeveen. Bei Sonnenaufgang brechen wir auf, wenn wir den genauen Zeitpunkt bei diesem schrecklichen Wetter überhaupt feststellen können.« »Das meine ich nicht«, erwiderte Maeveen. Sie unterdrückte eine ärgerliche Bemerkung. Manchmal war er einfach zu dämlich. »Die Unruhen in Iwset halten uns auf.« »Was? Unmöglich! Was haben wir mit den innenpolitischen Unruhen eines unbedeutenden Stadtstaates zu tun? Wissen. Das allein sollte uns interessieren. Wir sind Gelehrte, die nach den Weisheiten des Altertums forschen.« »Wenn wir abreisen, könnten uns jehesicsche Soldaten auflauern. Iwset und Jehesic sind Feinde, und innerhalb der Stadtmauern braut sich eine Verschwörung zusammen. Digody ...« »Ach ja, Digody. Ein gelehrter Mann ist das – selten für einen Politiker und Bürokraten. Er hat Geschichte studiert und weiß sehr viel – natürlich nicht annähernd so viel wie ich. Er hat mich auf dieses hervorragende Buch über die Gruft der sieben Märtyrer aufmerksam gemacht: »Entdeckungen des Altertums‹ von Sten Elrohar aus Vhati.« »Wir bringen uns in Gefahr, wenn wir aufbrechen, ohne mehr über die feindlichen Seiten in Erfahrung zu bringen«, sagte Maeveen bestimmt. Vervamons akademische Ziele waren ihr im Augenblick völlig gleichgültig. »Digody und Ferantia von Jehesic planen etwas. 180
Wir müssen mehr über ihre Verschwörung erfahren, denn sie könnte unsere Studien gefährden.« Maeveen versuchte, die Gründe, ihn zum Bleiben zu bewegen, so darzustellen, daß auch Vervamon sie respektierte. Er sah sie blinzelnd an, als habe er gar nicht zugehört. »Politik hat nichts zu bedeuten. Wissen ist Macht. Das könnt Ihr als Zitat in Euer Tagebuch schreiben.« Maeveen wollte schon fragen, woher Vervamon wußte, daß sie Tagebuch führte, dachte aber dann, daß er sie bestimmt einmal beobachtet hatte, wenn sie während der Reise die täglichen Ereignisse niederschrieb. »Das ist nicht so wichtig wie die Sicherheit meiner Leute – und natürlich Eure Sicherheit.« »Wir brechen bei Tagesanbruch auf, auch wenn dieser gräßliche Regen nicht nachläßt. Das beste Licht ist das Licht des Wissens«, verkündete Vervamon und ließ sich die Worte auf der Zunge zergehen, als koste er einen guten Wein. »Ein schöner Spruch. Den dürft Ihr nicht aufschreiben. Ich behalte mir vor, ihn in meinem Bericht über die Expedition zu verwenden.« Bei Tagesanbruch reisten sie ab. Der stetige Regen wurde zu einem Tröpfeln, aber der die ganze Nacht anhaltende Guß hatte die Straße in knöcheltiefen Schlamm verwandelt. Der einzige andere Reisende war ein Mann, der in Richtung Iwset stapfte. Maeveen brüllte Befehle, und Quopomma stemmte den breiten Rücken gegen einen Proviantwagen, der im Schlamm steckenblieb. Iro und drei Leute ihres Zuges bildeten die Vorhut, und Vervamon schritt einher, als 181
handele es sich um den schönsten Tag, den Terisiare je erlebt hatte. Er pfiff ein fröhliches Lied, und Maeveen hätte ihn am liebsten erwürgt. Ihr fiel ein, daß auch der Mann, der ihnen entgegengekommen war, vergnügt gepfiffen hatte. Zur Hölle mit ihnen! Während sie sich abmühte, einen Pfad zu suchen, der über Gras und Steine führte und nicht nach Unheil schrie oder Quopommas breiten Rücken erneut zu belasten drohte, warf sie den sechs Männern aus Iwset heimliche Blicke zu. Inquisitoren, dachte sie, obwohl sie sich ihrer Sache nicht sicher war. Wie Coernn sich Quopomma in den Weg gestellt hatte, bereitete ihr Sorgen. Die Ogerin wirkte einschüchternd, und Maeveen war froh, sie als Freundin und Waffenschwester und nicht zur Feindin zu haben, wenngleich sie sich sonst vor niemandem fürchtete. Sie näherte sich ihrer Stellvertreterin und fragte leise: »Was ist mit Peemels Beobachtern? Haben sie bisher schon Interesse an unserer Expedition gezeigt?« Quopomma zuckte die breiten Schultern und wischte sich den Schlamm von Armen und Händen. Dann warf sie Coernn einen Blick zu und spitzte die Lippen. »Das ist ein stilles Wasser. Ganz ungewöhnlich für einen Inquisitor. Die können nie schweigen, wenn man in ihrer Gegenwart etwas Lästerliches sagt.« Maeveen mußte nicht nachfragen, ob Quopomma Letzteres getan hatte. Es handelte sich nur um eine der zahlreichen Gelegenheiten, bei der die Ogerin Coernn 182
zu einem Kampf reizen wollte. »Als Euer Hauptmann muß ich Euch untersagen, Coernns Zorn zu erregen. Er ist kaum mehr als ein Knabe. Selbst wenn er den ersten Schlag ausführt, würde ich Euch des Mordes bezichtigen.« Insgeheim fragte sich Maeveen, wie ein solcher Kampf wohl enden mochte und wählte diese Gelegenheit, die Ogerin vor einem Zwist zu warnen. Zuerst einmal mußte sie Coernn besser kennenlernen, ehe sie gegen ihn und seine fünf Gefährten vorgingen. »Das Wetter klärt sich auf. Ich kann ein bißchen Himmel durch die höllischen Wolken sehen«, sagte Quopomma so laut, daß Coernn sie hören mußte. Das Wort ›höllisch‹ regte ihn aber keineswegs auf. »Wir werden die Küste entlang in Richtung Shingol ziehen, zwei Meilen südlich des Dorfes aber landeinwärts abbiegen«, erklärte Maeveen. »Und dort finden wir Vervamons Gruft der sieben Märtyrer?« Maeveen schüttelte den Kopf. Sie hatte keine Ahnung, wohin sie der Gelehrte führte. Ehe sie Iwset verließen, hatte Coernn behauptet, die Lage der Gruft zu kennen, dann aber einen ganzen Tag in seinem Zelt verbracht, von seinen Gefährten unterstützt, ehe er ihnen die Reiseroute erklärte. In den vergangenen beiden Monaten war Maeveen zwischen Totenackern, Beinhäusern und Krematorien hin- und hergewandert. Daß sie jetzt hinter Peemels neuester Idee herlaufen mußte, gefiel ihr weniger. 183
»Wollen wir hier Wurzeln schlagen, oder die verschwundenen Schätze des Altertums finden?« rief Vervamon vergnügt. Er lachte und eilte in einem Tempo davon, das die Soldaten, die auch noch die schwerbeladenen Wagen ziehen mußten, unmöglich beibehalten konnten. Maeveen wünschte, Lord Peemel hätte ihnen freundlicherweise auch ein paar Packtiere zur Verfügung gestellt, aber Ihesia hatte darauf bestanden, jedes einzelne für den Krieg gegen Jehesic einzusetzen. Die vier Soldaten, die jeden der vier Wagen zogen, ermüdeten schnell und mußten häufig durch vier ausgeruhte Kameraden ersetzt werden. Maeveen sorgte sich, denn so wurden ihre Leute immer erschöpfter und, wenn es zum Kampf kam, könnten sie in Schwierigkeiten geraten. Sie seufzte erleichtert, als sie die zerklüftete Küste am dritten Tag verließen und sich landeinwärts wandten. Ihre Erleichterung währte jedoch nur wenige Stunden. »Befehlt der Vorhut, schneller zu arbeiten«, murrte Vervamon. Er rang die Hände und lief aufgeregt hin und her. »Die Verzögerung ist unerträglich, wenn man sich einer Gruft nähert.« »Noch ein Grab, das ausgeraubt wird«, murmelte Quopomma. Maeveen warf ihrem Leutnant einen bösen Blick zu, der die Ogerin aber nicht beeindruckte. »Wir können nicht schneller«, erklärte Maeveen. »Der Wald ist zu einem Dschungel geworden. Es ist 184
ganz ungewöhnlich, derartigen Bewuchs entlang der Küste zu finden.« »Wir sind meilenweit von der Küste entfernt«, widersprach Vervamon geduldig, als habe er es mit einem unwissenden Kind zu tun. »Weshalb stoßen wir auf Sümpfe und dichtes Unterholz und müssen dauernd Verzögerungen in Kauf nehmen, wenn wir doch auf dem Weg zur Gruft der sieben Märtyrer sind?« »Nun, es gehört nicht zur Pflicht eines Spähers, uns den Weg freizuschlagen. Schleichfuß hält überall nach den besten Wegen Ausschau. Man kann nicht erwarten, daß er mit dem Messer, das er bei sich trägt, alle Schlingpflanzen beseitigt.« »Dann gebt dem Späher ein größeres Messer!« brüllte Vervamon. »In all den Karren, die wir mitschleppen, sollte doch eines zu finden sein!« Maeveen antwortete nicht sofort. Ihre Leute kamen schneller und besser voran, wenn jeder nur einen Rucksack bei sich trug. Sie konnten auf die Jagd gehen und ihre Geschicklichkeit erproben. Ein Soldat, der einen leeren Magen hatte, würde seinen Pfeil zielsicher abschießen, sobald sich ein Hase zeigte. Außerdem bemerkte ein hungriger Soldat auch die geringsten Bewegungen im Unterholz, da er immer auf eine Mahlzeit hoffte. Oft genug stellte sich das Rascheln, das sonst unbeachtet geblieben wäre, als geschickt getarnter Hinterhalt heraus. »Wir werden nicht nur durch die Karren aufgehal185
ten«, sagte Maeveen und starrte zu den sechs Beobachtern hinüber, die ihnen Lord Peemel aufgehalst hatte. Coernn stritt sich gerade mit dreien seiner Begleiter. Einer davon verließ die Gruppe, und die übrigen setzten ihr Streitgespräch fort. Sie hatten sich bisher abseits gehalten und sogar Vervamons Einladungen, mit ihm zu speisen, abgelehnt. Wenn Maeveen schon Spione dulden mußte, so waren diese klug genug, ihr nicht in die Quere zu kommen und sich unauffällig zu verhalten. Sie wünschte nur, die Männer würden sich öfter vor die Karren spannen, die mit ihrer Ausrüstung beladen waren und irgendwann verschwinden. »Nun, kümmert Euch darum. Ich will das Siegel von Iwset finden und die Gruft betreten«, erklärte Vervamon. »Ich bin sicher, daß mir meine Forschungen alle Geheimnisse enthüllen, die im Laufe der Zeit und durch die Einmischung kleinlicher Menschen verloren gingen. Was wissen wir schon über die Magierzwillinge und den Krieg der Brüder? Die Antworten liegen in der Gruft der sieben Märtyrer verborgen.« »Was ist eigentlich aus den Grabräubern geworden?« mischte sich Quopomma ein. »Warum studiert Ihr deren Verhalten nicht länger, sondern seid selbst zu einem geworden?« Maeveen brachte die Ogerin mit einer Handbewegung zum Schweigen und wartete ab, ob Vervamon verärgert war. Er hatte Quopommas Bemerkung aber nicht gehört. Sie packte Quopomma am Arm und zog sie beiseite. »Ich kümmere mich schon um Vervamon. 186
Macht Euch daran, einen Pfad durch den Dschungel zu bahnen.« »Das ist kein Dschungel«, knurrte Quopomma. »Ich wittere Magie. Das ist kein natürlicher Bewuchs, und selbst Vervamon sollte nicht zu blöd sein, das zu bemerken.« Maeveen mußte ihr recht geben. Die Lianen, die von den Bäumen hingen, waren einfach zu Boden gefallen, als sie tiefer in den Wald eindrangen, bis plötzlich unzählige Wurzeln aus der weichen Erde ragten, die das Vorankommen noch beschwerlicher machten. Dann spielten alle Pflanzen verrückt, wuchsen fast vor ihren Augen in die Höhe, und riesige Dornbüsche wucherten über den Pfad. Sie hätten sich im Dschungel von Fuwallian befinden können, auf der Suche nach der seltenen Elfenorchidee, die nur in der Nacht blühte. »Iro soll die Wagen abstellen lassen, und alle Anwesenden müssen mithelfen, einen Weg durch das Gestrüpp zu schlagen«, befahl Maeveen. »Wenn uns das nicht weiterbringt, nehmen wir nur die notwendigsten Dinge aus dem Karren und lassen sie hier liegen.« »Das wird Euren Freunden aber gar nicht gefallen«, sagte Quopomma und deutete mit dem Daumen in Coernns Richtung. »Nennt sie bloß nicht meine Freunde!« entgegnete Maeveen wütend. Ihr Widerwille gegen Coernn und seine Begleiter nützte nichts. Vervamon bestand darauf, sie und ihre seltsame Ausrüstung mitzunehmen. 187
Wieder versuchte sie, mit ihm über den Fortgang der Expedition zu sprechen, hielt aber inne, als entsetzliche Schreie durch den Dschungel hallten, die ihr das Blut in den Adern gefrieren ließen. »Zur lebenden Pflanzenmauer!« brüllte Quopomma. »Iro, hol deine Leute. Unteroffizier, schnappt Euch meine Truppe. Zückt die Waffen und los!« Maeveen hatte nichts an den Befehlen ihrer Vertreterin auszusetzen. Sie zog ihr Schwert und bahnte sich einen Weg durch die herumliegenden Ausrüstungsgegenstände und die Wagen und lief auf die starke Mauer aus Pflanzen zu, die ihnen den Weg versperrte. Ein grau-grüner Tentakel packte nach ihr; bösartig aussehende Spitzen steckten in der Unterseite. Sie hob das Schwert und schlug zu. Der Pflanzenarm fiel zu Boden, wo er sich windend und zuckend liegenblieb. »Iro!« rief Maeveen. »Aufpassen!« Sie sah, wie die Offizierin ihre Aufmerksamkeit von der einen Pflanze ab und der nächsten zuwandte, worauf sich ein stachliger Tentakel um die Beine der hochgewachsenen Frau schlang. Die Pflanze zog und zerrte, bis Iro zu Boden fiel. So sehr sie auch trat und zappelte, sie konnte sich nicht befreien, und die hungrige Pflanze schleifte sie Stück für Stück auf das gähnende Maul des dicken Stengels zu. »Fleischfressende Pflanzen!« schrie Maeveen. »Aufpassen! Stachel auf den Unterseiten.« Blitzschnell sprang sie zu Iro hinüber. Ihr Schwert hieb auf den Tentakel ein. Ein paar schreckliche Sekunden lang be188
fürchtete Maeveen, ihr scharfes Schwert sei nicht in der Lage, den Leutnant zu retten. Dann hatte sie es geschafft. Iro kroch davon und umklammerte ihre Beine. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt. »Es brennt. Sicher enthielten die Stachel Gift.« »Heiler, hierher!« brüllte Maeveen. Sie drehte sich um die eigene Achse und wehrte weitere Pflanzen ab. Maeveen hatte alle Hände voll zu tun, sich der angreifenden Tentakel zu erwehren und Iro zu beschützen. »Ihr schwingt das Schwert wie eine Anfängerin«, ertönte eine tiefe Stimme. Die Klinge eines Langschwertes sauste an ihrem Ohr vorbei und schnitt einen besonders gierigen Tentakel ab. Quopomma trat vor; die Muskeln auf ihren Schultern und auf dem Rücken sahen wie gespannte Seile aus, als sie sich daran machte, die Angreifer zu vernichten. »Und Ihr bewegt Euch, als würden Eure Füße in Eimern stecken!« gab Maeveen zurück, hüpfte geschickt über einen grünen Fangarm und trennte ihn ab, ehe er sich um Quopommas säulenartiges Bein wickeln konnte. Gemeinsam kämpften sie, bis der Boden von einer klebrigen Flüssigkeit nur so schwamm. Iro wurde vom Schlachtfeld getragen. Schließlich kehrten sie zur Reisegruppe zurück. Als Maeveen ihren Soldaten Anweisungen erteilte, beobachtete sie etwa ein Dutzend Schritte zu ihrer Rechten etwas ganz und gar eigenartiges. Drei von Peemels Beobachtern näherten sich der Pflanzenwand 189
– besser gesagt: Zwei der Männer schleppten den dritten mit sich. Dann stießen sie ihn vorwärts. Tentakel schnellten vor und bohrten ihre Stachel in die Beine des Unglücklichen. Schreiend und kreischend wurde er auf den gähnenden Schlund zugeschleppt. Aufheulend verschwand er darin. Maeveen senkte das Schwert und fragte sich, weshalb zwei von Coernns Gefährten den dritten an die Pflanze verfüttert hatten. Dann aber mußte sie sich gegen einen erneuten Angriff der grünen Mauer zur Wehr setzen.
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Isak Glen’dard zog den Umhang enger um den schlanken Körper und bedauerte das gänzliche Fehlen mechanischer Apparate entlang der Küste. Er wünschte, die ratternde Maschine, die über die Klippen ins Meer gestürzt war, hätte einen Zwillingsbruder gehabt. Selbst das Sitzen auf der ausgebrannten Hülle eines durch Magie angetriebenen Vehikels wäre dem beschwerlichen Waten durch Lehm und Sturm vorzuziehen. Wenigstens war ihm trotz des Wetters leicht ums Herz. Er hatte seine unangenehme Pflicht ordnungsgemäß erledigt und brachte seinen Auftraggebern Neuigkeiten. Lord Peemel würde sich freuen, kein Bündnis zwischen Elfen und Minotauren an seiner Nordgrenze fürchten zu müssen. Isak hatte sich nach dem Gespräch mit Sacumon dort nicht länger aufgehalten, da er es für unnötig hielt. Die Magierin brannte vor Ehrgeiz, Peemels Anweisungen auszuführen, und das würde er auch berichten – aber nicht dem Herrscher von Iwset. Digody sollte von den geheimen Bestrebungen Sacumons, die Herrschaft an sich zu reißen, erfahren. Isak murmelte vor sich hin. Digody war ein gefährli191
cher Auftraggeber, bedeutend gefährlicher als Lord Peemel mit seinen häufigen Wutanfällen und der panischen Angst vor Krankheiten. Isak hatte Herrscher kommen und gehen sehen, und immer wurde ihnen eines zum Verhängnis: Sie unterschätzten die Tücke der Menschen in ihrer Umgebung. Peemel ahnte nicht einmal, daß Digody eigene Kuriere anheuerte, um Zwecke zu verfolgen, die sich von denen des Herrschers unterschieden. Isaks Lächeln wurde zu einem ausgewachsenen Grinsen. Digody seinerseits ahnte nicht, daß sein Kurier noch einem weiteren Auftraggeber diente. Ein Bündnis zwischen diesem und Sacumon konnte sich für die Zukunft für alle Beteiligten – außer für Peemel und Digody – als hilfreich erweisen. Trotz des strömenden Regens stimmte Isak ein fröhliches Lied an. Mit hocherhobenem Kopf und in Gedanken bei dem Empfang weilend, der ihn in Iwset erwartete, eilte er dahin. Unterwegs fiel ihm ein Trupp Soldaten auf, der sich damit abmühte, etliche Karren voranzuziehen, deren Räder fortwährend im Schlamm versanken. Er tippte grüßend an die Hutkrempe, als die Kommandeurin der Truppe an ihm vorüberging. Sie nahm die höfliche Geste kaum zur Kenntnis, da sie ganz in ihrer Pflicht aufging. Die Frau murmelte ununterbrochen vor sich hin und brüllte einer riesigen Ogerin, die Isak in einer Taverne in Iwset gesehen zu haben glaubte, von Zeit zu Zeit Befehle zu. Er beobachtete für eine Weile die Gruppe, die sich durch den aufgewühlten 192
Schlamm plagte. Hinter den Soldaten zerrten sechs Männer einen hochbeladenen Wagen mit sich. Sie waren ähnlich gekleidet, unterschieden sich aber deutlich von den Uniformierten. Isak zog den Hut tiefer in die Stirn, um nicht erkannt zu werden. Er hatte die Männer im Palast Peemels gesehen. Da er nicht wußte, wer sie waren, zog er es vor, sich zurückzuhalten. Wahrscheinlich begleiteten sie die Truppe, um Peemels Pläne zu unterstützen – oder gar Digodys. Er nagte an seiner Unterlippe und überlegte, mit wem er den Anführer der sechs Leute schon gesehen hatte. »Coernn«, sagte er schließlich, als ihm der Name des blassen jungen Mannes einfiel. »Du ziehst im Auftrag Peemels nach Norden ... und für wen arbeitest du noch?« Isak runzelte die Stirn, aber es gelang ihm nicht, Coernn einer bestimmten Stelle zuzuordnen. Er hatte etwas überhört oder gesehen, das ihm jetzt entfallen war. Wie ungewöhnlich, dachte er. Gewöhnlich vergaß er nichts, gleichgültig, wie unbedeutend es auch sein mochte. Durch viele solcher nebensächlicher Begebenheiten vermochte er die Fäden der Macht zu entwirren, die sich wie das Netz einer betrunkenen Spinne durch den Palast zogen. Beinahe hätte ihn ein Windstoß von den Füßen gerissen. Isak zog die Hutkrempe noch tiefer, um sich vor dem Regen zu schützen und setzte sich mit langen Schritten in Bewegung. Je schneller er die Bequemlich193
keiten Iwsets erreichte, um so früher konnte er seine Kleider trocknen, ein Glas Wein genießen und sich in einer angenehmen Gesellschaft seiner Wahl aufhalten. »Sie hat das Empfehlungsschreiben angenommen?« fragte Digody. »Nahm sie es eigenhändig entgegen?« »Sacumon nahm es mir ab«, antwortete Isak und vermied elegant, Einzelheiten zu erwähnen. Der Umschlag war seiner Hand durch Magie entnommen worden. Digodys Beharrlichkeit ließ darauf schließen, daß der Brief magische Kräfte besaß, um Sacumon ein wenig in Schach zu halten. »Gut, gut«, meinte Digody und stützte das Kinn auf die knochigen Finger. »Das habt Ihr gut gemacht. Hier ist Eure Bezahlung.« Er griff in die Tasche seines Gewandes und zog eine pralle Geldbörse heraus, die er auf die Schreibtischplatte legte. Isak verbeugte sich und trat näher. »Welche Botschaft soll ich Lord Peemel übermitteln?« »Sagt ihm irgend etwas, was ihn glücklich macht«, antwortete Digody. »Mein Agent im Norden wird genügend Unruhe stiften, um jegliches Bündnis zunichte zu machen. Das reicht mir.« Isak wußte, daß Digody viel mehr begehrte. Er wollte sichergehen, daß Peemel im Süden siegte, ehe er seine Aufmerksamkeit dem Norden zuwandte. Wenn Sacumon einen kleinen Krieg anzettelte, blieb Digody genügend Zeit, seine eigenen Eroberungspläne durch194
zuführen. Zerrütte und erobere sie. So lautete die uralte und immer gültige Regel im Handbuch der Herrscher. Vielleicht plante Digody sogar, Sacumon gegen Peemel aufzuhetzen, wenn es an der Zeit war, den Herrscher von Iwset zu beseitigen. »Sacumon könnte sich als schwer zu lenken erweisen«, erklärte Isak. »Sie verfolgt Ziele, die über den Euch erwiesenen Dienst hinausreichen.« »Bestimmt glaubt sie, ein neues Königreich gründen zu können, aber da irrt sie sich. Verratet einem Handlanger nie Eure Geheimnisse, Isak.« Digody lachte rauh, und Isak wußte, daß dieser Rat auch auf einfache Kuriere zutraf. Isak Glen’dard nahm den Geldbeutel entgegen und zog sich zurück. Im Gang setzte er den feuchten Filzhut wieder auf, ließ die Hand über die Serraengelfeder gleiten und fragte sich, ob er noch eine zweite finden würde. Zwei Federn werden noch besser aussehen. Fröhlich vor sich hinpfeifend, begab er sich zur nächsten Berichterstattung innerhalb der Stadtmauern. Die Audienz bei Lord Peemel ging schnell vorüber. Auch hier wurde er mit ein paar Münzen entlohnt. Da ihn Digody besser bezahlte, erwähnte er den Umschlag, den er Sacumon übergeben hatte, nicht. Jetzt mußte er nur noch den letzten Auftraggeber aufsuchen, ehe er sich Gedanken über die nächste Reise machte. Ein Krieg zwischen Iwset und Jehesic würde sich als Katastrophe erweisen – davon war er überzeugt. Es wäre nicht von Vorteil, in einer Stadt zu verweilen, die 195
in Kürze von einer Kriegsmarine heimgesucht wurde, die Rache für die Mißachtung ausübte, die man ihrer Herrscherin entgegenbrachte. Ohne gezielt darauf zu achten, durchquerte Isak die Stadt auf eine Weise, die jeden Verfolger enttarnt hätte. Aber weder Digody noch Lord Peemel hielten ihn für bedeutend genug, um ihm weitere Beachtung zu schenken. Eigentlich hätte dieser Mangel an Aufmerksamkeit Isak erzürnen müssen, aber er ließ ihn kalt. »Sie sind einfach zu dumm, um meinen wahren Wert zu erkennen«, sagte er zu sich selbst und blieb vor einer verschlossenen Tür in einer schmalen Seitenstraße stehen. Ein letzter Blick in alle Richtungen überzeugte ihn davon, daß man ihn nicht beobachtete. Er öffnete die Tür mit einem kleinen Schlüssel, den er an einer goldenen Kette um den Hals trug. Geduckt schlich er durch ein Labyrinth von Kellerräumen und Gängen. Hätte ihm jemand bis hierher folgen können, würde er jetzt mehr als Glück benötigen, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Schließlich erreichte er eine enge Wendeltreppe, die sich steil in die Höhe wand. Er kletterte höher und höher, am Erdgeschoß, am ersten, zweiten, dritten und vierten Stock vorbei und landete vor einer Wand im fünften Stockwerk. Dort öffnete er eine Geheimtür und betrat ein Turmzimmer. Eines der Fenster bot einen aufsehenerregenden Ausblick über die sturmgepeitschte See, das andere die Aussicht über die Landschaft südlich der Stadt. Doch Isak hatte nur Augen für die 196
atemberaubend schöne Frau, die sich auf dem breiten Bett räkelte. »Du hast dich lange bei Digody aufgehalten«, sagte die dunkelhaarige Schönheit. Gierig blickte sie ihn aus blauen Augen an. Sie richtete sich auf, zog das hauchdünne Gewand um den üppigen Körper und wippte einladend mit den langen nackten Beinen. »Ich mußte ausführlich berichten.« »Wie ich dich kenne, nicht allzu ausführlich«, sagte sie und zog ihn neben sich auf das Bett. Schlanke Finger lösten die Verschlüsse an Isaks feinen Gewändern. »Ich hoffe, man hat dich nicht zu sehr ermüdet.« »Es ging«, antwortete er. »Sacumon war ...« »Später, mein Liebling. Später.« Isak gestatte Lady Ihesia, ihn zum Schweigen zu bringen. Bis später. Bis sehr viel später.
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»Habt Ihr das gesehen?« rief Maeveen Quopomma zu. Die Ogerin hieb zielsicher mit dem Schwert auf die mörderischen Pflanzen ein. »Es sah aus, als würden zwei von ihnen den dritten an die Pflanze verfüttern.« »Ist doch nett von ihnen, nicht? So hübsche Gewächse sollten nicht allzu lange hungern, sonst werden sie böse.« Grunzend zog die Ogerin die Klinge aus dem saftigen Stamm der fleischfressenden Pflanze. »Vielleicht wird Coernn einen nach dem anderen an die Dinger verfüttern und zum Schluß selbst den Kopf in ihren Rachen halten.« Quopomma trat auf einen stachligen Tentakel, der sich um ihren Knöchel schlingen wollte. Sie fügte hinzu: »Das wäre ein Glück, so wahr ich hier stehe.« »Versucht bloß nicht, einen von ihnen zu retten, wenn Ihr Euch dabei selbst in Gefahr begebt«, ermahnte Maeveen sie und nahm das Schwert in beide Hände, um die Kraft ihrer Hiebe zu verdoppeln, da die scharfe Klinge durch die zähen Ranken stumpf geworden war. »Mich in Gefahr begeben? Ich doch nicht, Hauptmann. Ich weiß mich zurückzuhalten«, lachte Quo198
pomma und wehrte einen neuen Angriff ab. Maeveen entfernte sich von der immer lebhafter werdenden Wand aus Pflanzen und stieß auf Vervamon, der wenige Schritte hinter ihr stand. Der weißhaarige Gelehrte kritzelte wie wild in sein Notizbuch und blickte immer wieder auf, um sich die hungrige Pflanze einzuprägen, ehe er sie ausführlich beschrieb. »Begebt Euch in Sicherheit!« wies Maeveen den Forscher an. »Irgend etwas hat die Mauer da verrückt gemacht, und nun versucht sie, uns einzuschließen. Wir müssen verschwinden.« »Laßt die Wagen hier stehen«, befahl Vervamon, der immer noch schrieb. »Sie werden unseren Rückzug bloß verzögern. Nehmt alles Notwendige aus dem ersten Karren mit. Peemel war ein Narr, uns so viel unnützes Zeug mitzugeben.« »Wir haben Glück, wenn wir mit heiler Haut davonkommen«, meinte Maeveen. Grunzend schlug sie einen gierigen Tentakel entzwei, der mit hakenförmigen Spitzen bestückt war. Mit dem Dolch schnitt sie ein Stück von dem am Boden liegenden Gewächs ab. Es war schwer, das Wachstum der lebenden Mauer abzuschätzen, die sich mit hoher Geschwindigkeit entlang der Flanken der Truppe ausbreitete, während sie unbeweglich vor ihr stehenblieb. »Sie versucht, uns einzukreisen!« schrie Maeveen Quopomma zu. »Paßt auf, daß sich der Kreis nicht schließt!« »Zu Befehl, Hauptmann!« antwortete die Ogerin. 199
»Iro ist auch hier. Sie humpelt zwar, hat aber vorhin auch nicht gerade gut gekämpft.« Quopommas Langschwert brach in der Mitte entzwei. Sie warf es beiseite und zog die beiden Säbel, die sie wie eine Schere einsetzte, um sich der beweglichen Tentakel zu erwehren. Aus der Richtung der Wagen drang Iros Widerspruch zu ihnen herüber. »Du Fettkloß! Was weißt du schon vom Kämpfen! Schlägst bloß mit deinem Fahnenmast um dich und glaubst, das wäre Können! Ich zeige dir, was richtiges Kämpfen bedeutet.« Mit einem Befehl schickte Iro drei Soldaten vor – es handelte sich um zwei Orks und einen Zwerg – die mit ihren Äxten auf die feindseligen Gewächse einhieben. Auch die Streitaxt der hochgewachsenen Offizierin schlug immer schneller und kräftiger zu, um die bedrohlichen Fangarme zurückzuhalten. Coernn und seine vier Begleiter standen reglos da. Sie sprachen kein Wort und schienen auch nicht sonderlich beunruhigt zu sein. »Wir müssen aus diesem Kreis heraus!« drängte Maeveen. Vervamon nickte geistesabwesend und ging los, als sei ihm gar nicht aufgefallen, was rings um ihn her geschah. Trotzdem sprang er geschickt über einen angreifenden Tentakel hinweg und trat mit aller Kraft zu. Eine milchige Brühe schwappte über seine Stiefel, aber er war entkommen. Dann schlenderte er seelenruhig weiter, als sei nichts geschehen. »He, Coernn! Macht Euch davon!« »Zuerst muß unsere Ausrüstung in Sicherheit ge200
bracht werden«, sagte Coernn und deutete auf den vollgeladenen Wagen. »Wenn Ihr auch nur versucht, ihn zu bewegen, seid Ihr ein toter Mann.« Maeveen blieb keine Zeit nachzusehen, ob er gehorchte. Sie mußte die Truppe befehligen und Leben retten. Je heftiger ihre Soldaten kämpften, um so wütender griff die Pflanze an. Es schien, als stachele sie der Widerstand der Truppe auf. Trotz dieser Feststellung gab Maeveen nicht den Befehl, die Waffen zu senken und abzuwarten. Das schnelle Vordringen des Feindes legte Zeugnis davon ab, daß die fleischfressende Gefahr nicht eher ruhen würde, bis sie die ganze Gesellschaft verspeist hatte. Wo war dieses Gewächs nur hergekommen? Sie hielt sich lange genug auf, um zu sehen, wie Coernn und die anderen fieberhaft die Kisten durchsuchten und seltsame Gegenstände und Bücher herauszerrten. Einer der mißmutigen Männer stopfte Fläschchen, die wohl mit Tinkturen und Tränken gefüllt waren, in seinen Rucksack. Coernn ging sehr ordentlich vor, zog Bücher heraus, sortierte sie, legte etliche beiseite und verstaute den Rest in seinem Bündel. Obwohl sie es eigentlich nicht beabsichtigt hatte, sprang Maeveen vor und schnitt einen Tentakel durch, der sich um Coernns Hals legen wollte. Er sah leicht überrascht auf. Dann legte er den Kopf auf die Seite und lächelte. Das war der ganze Dank. Maeveen seufzte tief und lief zum Rand der Lichtung, wo Iro sich bemühte, einen Fluchtweg offenzuhalten. 201
Schulter an Schulter mit der Offizierin kämpfte Maeveen, bis ihre Arme schmerzten und die Rüstung in einem Meer von Schweiß schwamm. Sie verlor jegliches Zeitgefühl, obwohl die Sonne mit atemberaubender Geschwindigkeit über den Himmel zu stürmen schien und sich im Westen neigte. Bei Einbruch der Dämmerung wurde die Pflanze noch lebhafter als zuvor. »Wie viele sind aus dem Kreis entkommen?« Maeveen versuchte, die verbliebenen Leute zu zählen, doch der Schweiß lief ihr in die Augen. »Nur noch wir zwei sind übrig, Hauptmann«, erklang Quopommas rauhe Stimme. »Wir können jederzeit verschwinden.« »Dann los!« Maeveen wollte nicht mehr Zeit als notwendig im Kampf gegen die Pflanze verbringen. Gemeinsam mit der Ogerin näherte sie sich der kleinen Öffnung, die den einzigen Fluchtweg bildete. Im Laufe des Tages waren sie fast eingekesselt worden. »Bei Nacht wird sie einschlafen«, meinte Quopomma. »Ja, jetzt befindet sie sich im Sonnenuntergangsrausch«, antwortete Maeveen. Ihre Schultermuskeln weigerten sich, das Schwert noch einmal zu heben. Sie senkte die Klinge und wußte, daß sie nicht entkommen konnten. Der letzte Wachstumsschub würde sie einschließen – es sei denn, ihr Wagemut war größer als der Hunger der Pflanze. »Verschwindet! Versucht nicht, mich zu retten!« be202
fahl sie der Ogerin. »Was? Ich werde Euch nicht sterben lassen! Die Rettung ist nahe!« »Gehorcht, Leutnant!« brüllte Maeveen O’Donagh. »Keinen Ungehorsam, sonst setzt es zwanzig Peitschenhiebe!« Quopomma knurrte etwas, das Maeveen nicht verstand und wich langsam zurück, bis sie durch die Öffnung verschwand, die Maeveens Klinge geschlagen hatte. Sofort schloß sich der tödliche Kreis. Sie vernahm den wütenden Aufschrei der Ogerin. Um ihren Schwertarm auszuruhen, ging Maeveen zu den Wagen hinüber, um sich dort eine kurze Ruhepause zu gönnen. Auf der Suche nach Fleisch schlängelten sich die Tentakel unter dem Karren hindurch. Mit dem Dolch schnitt sie alle ab, die ihr zu nahe kamen. Vielleicht würde es helfen, einen der Wagen in Brand zu setzen, aber Maeveen blieb keine Zeit, mit ihrem Feuerstein herumzuspielen. Außer dem Stein und Stahl war noch ein kleiner Stab notwendig. Die Zeit war jetzt zu knapp, viel zu knapp. Maeveen sprang auf den nächsten Karren und balancierte vorsichtig auf den Kisten. Mit ein paar halbherzigen Hieben vertrieb sie die Tentakel, die sich ihrer Knöchel bemächtigen wollten, aber ihr war bewußt, daß sie das einzige Lebewesen in diesem Kreis war. Der grüne Ring würde seine tödliche Umarmung beenden. 203
Mit einem tiefen Atemzug beruhigte sie sich. Maeveen steckte das mit grünlichem Schleim beschmierte Schwert und das besser ein und wartete ab. Selten hatte sie so angespannt dagesessen und zugesehen, wie sich eine Gefahr näherte. Die stacheligen Tentakel arbeiteten sich vor. Die Pflanze war wie ein Blinder, der mit einem Stock nach dem Weg tastet. »Maeveen! Wir holen Euch raus!« erscholl ein schwacher Ruf von der anderen Seite der Mauer. »Nein!« erwiderte sie. »Ich kann fliehen! Gebt mir noch ein paar Minuten!« Maeveen wischte sich die schweißnassen Hände an der Hose ab, preßte die Zehen gegen die Kisten und sprang hoch in die Luft. Ein Tentakel berührte ihre Wange und verursachte einen Schmerz, wie sie ihn noch nie gespürt hatte. Das Gift der Stacheln drohte, ihr Gesicht, den Nacken und ihre Gedanken zu lähmen. Sie schüttelte sich und konzentrierte sich darauf, einen Ast zu ergreifen, der noch nicht von der Pflanze umschlungen wurde. Ihre Finger glitten über die rauhe Rinde. Sie rutschte ab, hielt sich mit nur einer Hand fest und zog sich schließlich mit letzter Kraft hinauf. Für wenige Sekunden war sie der Gefahr entronnen. Sie lief über den dicken Ast bis zum Rand der Mauer. Immer wieder drohten kleinere Tentakel, ihr den Weg abzuschneiden. Maeveen leckte sich die Lippen und schmeckte salziges Blut. Bei ihrem Sprung hatte sie sich auf die Unterlippe gebissen. Sie wischte sich den Mund am Ärmel ab und bereute es augenblicklich. Die über die Uniform 204
verspritzte Säure brannte ihr auf der Zunge. Sie spuckte aus und wünschte, sie hätte ein wenig Gaumenkraut zur Hand, um den bitteren Geschmack zu vertreiben. Geschickt sprang sie über den Ast und wich den Tentakeln aus, bis sie einen zweiten Ast genau über sich sah. Maeveen sprang, packte zu und kletterte hinauf. Von dort aus sprang sie auf einen anderen Baum. Sie prallte mit voller Wucht gegen den Stamm, und ihre Arme verweigerten den Gehorsam. Sie war am Ende. Maeveen stürzte in die Tiefe. Äste, Zweige und stachelige Tentakel sausten an ihr vorbei, und schließlich landete sie unsanft auf dem Boden. Vergeblich nach Luft schnappend, lag sie auf dem Rücken. Verschwommen nahm sie eine riesige Gestalt wahr, die hoch über ihr aufragte. Dann fühlte sie sich aufgehoben, als sei sie ein kleines Kind, und wurde über eine breite Schulter geworfen. »Den verdammten Pflanzen seid Ihr entkommen, Hauptmann«, sagte Quopomma mit fröhlicher Stimme, »aber Ihr schuldet mir eine zusätzliche Ration Branntwein für die ganze Arbeit – das ist sicher! Ihr schuldet sie uns allen, aber mir ganz besonders.« Maeveen O’Donagh war nicht in der Lage, Quopommas Anspruch auf den Alkohol abzustreiten und hoffte nur, auch etwas davon zu bekommen.
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Yunnie zwang sich, die Augen zu öffnen, doch seine Lider blieben halb geschlossen. Die Kriegsrituale hatten ihn erschöpft, und diesmal nutzte ihm seine Behendigkeit nicht viel. Während der durchwachten Nächte, in denen sie auf Zeichen der Geister warteten, der endlosen Gesänge und der raschen Läufe von einem Ende des Tales zum anderen, erwies sich Mytarus Ausdauer als bedeutend nützlicher. Er hatte die Zusammenstöße mit den Elfen überlebt. Aber er war nicht sicher, ob er die Vorbereitungen auf den Krieg überstehen würde. »Laß ihn schlafen«, schlug Mytaru seiner Frau vor. Noadia kniete nieder und zog Yunnie die Decke über die Schultern. Er rührte sich und rollte sich auf den Rücken. Fragend starrte er sie an. Anfangs hatte er noch im Halbschlaf gelegen, aber nun war er hellwach. Alles tat ihm weh. Sein Körper verlangte nach einer Ruhepause. »Die Rituale«, murmelte Yunnie. »Wir müssen weitermachen.« »Du ruhst dich aus. Was willst du machen, wenn du während der Schlacht einschläfst?« Mytaru lachte, 206
schlug Yunnie auf die Schulter und senkte den Kopf, damit er nicht mit den Hörnern gegen den kunstvoll geschnitzten Sturz stieß und verließ das Haus seiner Frau. Noadia sah Mytaru nach und stieß einen tiefen Seufzer aus. »Krieg, nichts als Krieg«, sagte sie. »Warum kannst du dich nicht um unsere Weiden kümmern? Die Kräuter schießen in die Höhe und müssen geschnitten werden. Es gibt so viel Wichtiges zu erledigen.« Noadia seufzte erneut und wandte sich wieder dem Leben mit einem Krieger zu. »Da sitze ich nun und bereite die Nahrung zu, die unseren Kämpfern Kraft für die Schlacht verleiht.« »Ich glaube, wir werden gegen die falschen Leute Krieg führen«, erklärte Yunnie. »Unsere Feinde sind die Goblins, nicht die Elfen.« In seiner Erinnerung regte sich etwas, und er versuchte, es festzuhalten. Eine dunkle Gestalt, ein stinkender Sumpf, Gerede, Vergessen – alles wirbelte durcheinander. Je mehr er sich zu erinnern bemühte, um so mehr verwirrte er sich. Yunnie hielt sich den Kopf. Nur ein Friede zwischen den beiden Völkern würde ihnen helfen, aber je mehr er sich um Verhandlungen mit den Elfen bemühte, um so weniger erreichte er. Könnte er nur die richtigen Worte finden – aber niemals gelang es ihm. Er fühlte sich wie ausgehöhlt und sorgte sich, da seine Worte Öl auf ein flackerndes Feuer gossen, das daraufhin zu einem Flächenbrand wurde. Warum sagte er bloß immer das Falsche? Was 207
wäre, wenn er überhaupt nichts gesagt hätte? »Nein«, murmelte er vor sich hin, »das Problem liegt nicht bei mir.« Die Feindschaft zwischen den beiden Völkern würde immer schlimmer werden, ganz gleich, ob er hier war oder in Shingol. Wenn die Minotauren ihre Rituale gegen Ende der Zeit, die sie sich für die Entscheidung nahmen vollzogen hatten, zogen sie in den Krieg. Mit ihm oder ohne ihn. Es war völlig gleichgültig. Er vermochte das schreckliche Gefühl nicht abzuschütteln, daß sein Widerspruch die Minotauren anspornte. Und Sacumon freute sich darüber. »Sacumon«, sagte Yunnie, und eine schattenhafte Gestalt erschien vor seinem inneren Auge. »Wer bist du?« Er erinnerte sich an Einzelheiten ihres Gespräches und bemerkte die Widersprüche in ihren Aussagen. Glaubte sie ernsthaft, daß die Goblins an allem Schuld waren, oder sagte sie es nur, um ihn in die falsche Richtung zu hetzen? Ihr Gerede über Frieden klang unecht. Der spöttische Tonfall war bedeutsamer als die eigentlichen Worte. »Was ist, Yunnie?« erkundigte sich Noadia, die an einem Amulett arbeitete, wobei sie bunte Fäden durch winzige Holzstäbchen zog. Yunnie hatte diesen Schmuck bei vielen Müttern gesehen, nachdem sie ihre geheimen Zeremonien beendeten. Es handelte sich um das einzige äußere Zeichen von Noadias Glauben. »Ich muß den Proviant vorbereiten, ehe Mytaru aus208
zieht, die Elfen zu töten. Würdest du mir behilflich sein?« Sie klang halb besorgt, halb abweisend. »Ich habe nur laut gedacht«, erklärte Yunnie. »Was soll ich tun?« »Hol die Brote, und ich verstaue sie in den Rucksäkken«, antwortete sie. Yunnie nickte und schritt durch die vier Räume des Hauses, um die verschiedenen Vorratskammern zu durchsuchen. Minotauren ließen keinen Winkel ihrer Behausungen leer. Das Mobiliar war von einer Haltbarkeit und solchen Ausmaßen, die bei menschlichen Möbelstücken nicht zu finden waren – sei es, um das große Gewicht der Minotauren auszuhalten, wie auch die Abneigung gegen jegliche Verschwendung leerer Räume. Über jedem Fenster prangten Mytarus mit Blut gemalte Stammeszeichen, um Feinde abzuschrecken. Yunnie trat näher und betrachtete das danebenstehende Symbol. Noadia hatte das Zeichen ihres Geburtsstammes hinzugefügt, um ihrem Heim Wohlstand und Frieden zu bescheren. Yunnie fragte sich, womit sie es aufgemalt hatte. Sie hielt das ganze Haus makellos sauber, aber als er auf das Zeichen tippte, blieb ein schwarzer Fleck auf der Fingerkuppe zurück. »Ruß.« Er versuchte, dem wirrem Bild in seinem Kopf ein weiteres Stück hinzuzufügen. Die Fußabdrükke, denen er bis zu dem Krater gefolgt war, waren durch ungeheure Hitze entstanden – auch die Äste der Bäume waren teilweise verbrannt. Ein entsetzliches Feuerwesen hatte ihn angegriffen, aber er war ent209
kommen. Der geschmolzene Dolch bewies, daß er sich den glühendheißen Feind nicht eingebildet hatte. Trotzdem war ihm die Begegnung entfallen. Warum? Weshalb? »Yunnie? Ich muß für ein paar Stunden fort.« »Dann sollte auch ich gehen«, sagte er, denn er wußte, daß Noadia ihn ungern hinauswerfen wollte, ihn aber noch weniger gern allein im Haus zurückließ, obwohl er Stammesmitglied und Mytarus Blutsbruder war. Sie nahm ihre Pflichten sehr ernst, und dazu gehörte auch die Verantwortung für die Sicherheit des Haushaltes. Yunnie trat durch die nach Osten führende Tür hinaus – eine Sitte der Minotauren, damit die Seelen der Toten, die im Westen lebten, die Häuser nicht betreten konnten. Er stand im hellen Sonnenlicht, und eine gewaltige Müdigkeit überfiel ihn, wie die Wogen eines Meeres. Er mußte sich ausruhen, und es war von größter Wichtigkeit nachzudenken und die Bilder zusammenzufügen, die immer wieder vor ihm auftauchten. Mit langsamen Schritten ging er den grasbewachsenen Hang vor Noadias Haus hinunter. Als er den Bach erreichte, der sich mitten durch dieses Seitental hindurchschlängelte, sah er sich um und betrachtete sein neues Heim. Noadia hatte es gut erbaut und konnte stolz darauf sein. Yunnie lächelte und dachte daran, welch ein Glück Mytaru hatte, daß seine Frau ein solches Haus 210
besaß und es obendrein mit so viel Liebe erfüllte. Das Dach war mit unzähligen Holzschindeln gedeckt, und die Wände zierten getrocknete Farnwedel, die der ganzen Gegend einen schwachen, aber angenehm würzigen Duft verliehen. Die Türen hielten sowohl dem Wind als auch möglichen Eindringlingen stand. Nur die Fensteröffnungen waren zu breit, falls die Elfen ihre tödlichen Pfeile abschießen sollten. »Das Dach«, sagte Yunnie laut. »Es wird Feuer fangen. Die Elfen benutzen brennende Pfeile. Aesors Stamm wurde durch Feuer vernichtet.« Er starrte Noadias Haus an, hatte aber die verkohlten Überreste der Helmheimhäuser vor Augen. Die Schindeln würden brennen, ganz gleich, womit Noadia sie behandelt hatte, und Mytaru würde nichts dagegen unternehmen können. Die Elfen mußten sich nur hundert Schritt weit entfernt aufstellen und ihre Pfeile auf das Dach des Minotaurenhauses richten. Da ihm die Gefahr bewußt war, gelobte er sich, sie zu bannen und ging weiter. Anfangs hatte er kein bestimmtes Ziel. Er schritt in Gedanken versunken durch das Tal, als ihm plötzlich auffiel, welche Richtung er unbewußt eingeschlagen hatte. Er steuerte auf die Krater zu, wo ihn dieses ... was auch immer es gewesen war ... angegriffen hatte. Die schwere gelbe Dunstwolke zeigte ihm die Stelle, wo er in der Falle gesessen hatte. Diesmal vermied er es, sich durch den schmalen Felsspalt zu zwängen und entschied sich, von oben zu den Kratern hinunterzu211
klettern. Seine blauen Augen tränten, als er in die Tiefe blickte. Die Krater spien ihre scheußlichen Dämpfe aus und bedeckten den Fels mit Schwefelkristallen, aber ansonsten vermochte Yunnie nichts Außergewöhnliches zu entdecken. »Steine, Wasser, das aus einer Quelle sprudelt und ...« Er hielt den Atem an. »... ein Höhleneingang.« Hinter einem Felsvorsprung, der im Schatten lag, entdeckte Yunnie eine tiefdunkle, halb verborgene Öffnung. Er wischte sich den Schweiß aus den Augen, schob sich die Haare aus der Stirn und merkte, daß er nur versuchte, das Unausweichliche hinauszuzögern. Gleich einer Schlange glitt er über die Felskante und verdrängte die aufsteigende Furcht. Er wußte, daß er sich nur wegen der Ereignisse, die sich vor knapp einer Woche an dieser Stelle zugetragen hatten, ängstigte. Noch während er dabei war, seinen ganzen Mut zusammenzunehmen, stieß er mit der Stiefelspitze gegen die Überreste seines Dolches. Die Klinge hatte das Monstrum getroffen und war geschmolzen. Was sollte ihm also das Schwert oder der neue Dolch nützen, den ihm Mytaru aus der Waffenkammer des Stammes geholt hatte? Yunnie sah zu dem Felsen hinüber, der den Höhleneingang verbarg. Wenn er jetzt ging, würde er nie erfahren, was sich dort aufhielt. Es wäre feige, aber niemand würde es je erfahren. Niemand außer ihm selbst und den Träumen, die ihn in jeder Nacht heimsuchen würden. Er trat vor, bereit, das Schwert zu benützen, 212
selbst wenn es schmelzen würde. Yunnie hatte erwartet, daß ihm Schwefeldämpfe entgegenschlügen, aber die aus der Öffnung dringende Luft war angenehm kühl. Es roch nach Leben, nach einer Gemeinschaft, nach mehr als nur einem Wesen. Außerdem vernahm er ein Scharren und Knirschen, als mühe sich jemand ab, schwere Steine über den Boden zu ziehen. »Goblins«, sagte er, da sie am liebsten Felsbrocken auf ihre Feinde warfen. Niemand, der in den Ausläufern der Hügelketten lebte, war vor ihren Angriffen sicher. Yunnie schlich voran und stützte sich mit der Hand an der Höhlenwand ab, um einen besseren Halt zu haben. Schon nach zehn Schritten hatte ihn die Dunkelheit aufgesogen. Er unterdrückte seine Furcht und zwang sich weiterzugehen und nicht zurück ins helle Sonnenlicht zu geraten. Er brauchte Beweise, die er Mytaru und den anderen vorlegen konnte, ehe die Zeit der Entscheidung vorüber war. Blut würde fließen – und nicht bloß Elfenblut. So wenig Yunnie Aesor auch mochte, so wenig wollte er seinen Herdenbruder verletzt oder gar getötet sehen, wenn der Krieg zo verhindern war. Yunnie hielt inne und dachte an Aesor und Mytaru. Die Minotauren hatten sich so in ihre Kriegsrituale hineingesteigert, daß sie an nichts anderes mehr dachten. Jeder, der solche umständlichen und aufwendigen Zeremonien vollzog, war darauf bedacht, sie anschlie213
ßend mit Blut zu besiegeln. Das Scharren verleitete Yunnie zum Weitergehen. Er tastete sich an der rauhen Wand entlang und gewahrte einen schwachen Lichtschimmer. Je heller es wurde, um so schneller schritt er aus. Als er das Ende des Ganges erreichte, hielt er den Dolch in der Hand, um den Goblins entgegentreten zu können. Als Yunnie keine der Kreaturen entdeckte, fluchte er leise vor sich hin. Er hatte gehofft, ihr Nest entdeckt zu haben, sie beobachten zu können und vielleicht sogar ein Beweisstück dafür zu ergattern, daß sie aus dem Hinterhalt sowohl gegen Elfen als auch gegen Minotauren kämpften und beide Völker gegeneinander aufhetzten. Jetzt merkte er, wie unsinnig seine Hoffnung gewesen war. Aesor wies gern darauf hin, daß die Goblins bösartig, aber dumm waren. Wenn sie Pläne schmiedeten, würden diese nirgendwo schriftlich festgehalten werden. Niemals würde Yunnie ein Dokument finden, das er dann später als Beweis vorlegen konnte. Das Knirschen wurde lauter. Seine Neugier trieb ihn voran. Unter ihm erstreckte sich eine riesige Höhle, die von gut ausgetretenen Pfaden durchzogen wurde. Brandmale auf dem Boden und an den Wänden warnten Yunnie, daß sich das unbekannte Monstrum erst vor kurzem hier aufgehalten hatte. Er verließ den Gang und versteckte sich hinter einem Stalagmiten, während er angestrengt in die Höhle hinabstarrte. Es dauerte etliche Minuten, bis er die riesige Höhle 214
ganz überschaut hatte. Die Pfade sahen aus, als würden sie regelmäßig benutzt, aber es war niemand zu entdecken. In der Mitte des gewölbten Raumes befand sich ein See, der unendlich tief wirkte – als reiche er bis zum Kern des Planeten hinab. Ringsherum standen seltsame Gebilde, die an Bänke erinnerten – aber welcher Kreatur sie dienten, vermochte er nicht zu sagen. Sie waren sehr hoch und wirkten ausgesprochen stabil, als lehne sich eine Schar von Riesen daran anstatt zu sitzen, und lausche einem Sprecher, der in der Mitte stand. Immer wieder hörte Yunnie das Knirschen und Schleifen. Er konnte nicht sagen, aus welcher Richtung es kam, da es die ganze Höhle erfüllte. Gerade wollte er weitergehen, als eine dunkel gekleidete Gestalt etwa fünfzehn Fuß unter seinem Beobachtungsposten einherschritt. Es kam ihm vor, als sitze er in einer Loge über einem Amphitheater. Yunnie verhielt sich still und starrte hinab, da ihm die Gestalt bekannt vorkam. »Sacumon«, murmelte er. Erinnerungen überfielen ihn, aber sie ergaben keinen Sinn. Die Frau hatte etwas gesagt, und schon war er vergeßlich geworden. »Ein Zauber. Du hast mich verzaubert«, flüsterte er. Seine Hand umklammerte den Dolchgriff noch fester. Vorsichtig erhob er sich ein wenig, um besser sehen zu können. Sacumon wandte ihm den Rücken zu und sah mit dem Gesicht zur Wand. Yunnie blinzelte und rieb sich die Augen. Seine Au215
gen mußten ihn trügen. Die Felswand bewegte sich und veränderte allmählich die Farbe. Er schlich zum äußersten Rand des Ganges, ohne sich darum zu kümmern, ob man ihn entdeckte. Die Muster, die über – nein, die in der Felswand erschienen, fesselten ihn. Dann verfestigten sich die Linien, und eine Kreatur trat aus der Wand heraus. Zuerst nur eine, dann noch eine, und noch eine und immer mehr, bis schließlich zehn Wesen im Halbkreis um Sacumon herumstanden. Wie war das möglich? Die Wesen schwebten eher als daß sie gingen. Es wirkte, als glitte ein Schemen heraus, gefolgt von der äußeren Hülle. Gesichter waren nicht zu sehen, aber Yunnie hatte den Eindruck, als seien die Sinnesorgane der Wesen auf Sacumon gerichtet. Die halb flüssigen, halb festen Kreaturen glitten umher, rempelten einander an oder schwebten durch die Körper ihrer Brüder hindurch, bis sie sich endlich gegen die seltsamen Bänke lehnten. Für derartige Gestalten waren sie geradezu vollendet zum Entspannen geeignet. »Ihr Auserwählten, hört mir zu!« rief Sacumon, deren Stimme laut durch das riesige Gewölbe hallte. »Alles verläuft genau nach Plan!« Yunnie blickte auf die Frau hinunter und fragte sich, welche Rolle sie spielte. Zuerst war sie als Verbündete der Einwaldelfen aufgetreten, und nun redete sie mit den sich ruhelos windenden Kreaturen, als handele es sich um gute Bekannte. 216
»Wann?« entgegnete eine Stimme, die aus Stein zu bestehen schien. Vielleicht war dies das Knirschen gewesen, das er vorhin gehört hatte, aber eigentlich hielt er es für unwahrscheinlich. Yunnie vermochte nicht zu sagen, welches der Wesen gesprochen hatte. Sacumon hatte keine Schwierigkeiten damit. Sie wandte sich der am weitesten links stehenden Kreatur zu. »Bald, Auserwählter. Die Minotauren bereiten sich auf den Krieg vor. Die Elfen fürchten sich vor ihnen und rotten sich am Eingang des Tals zusammen.« »Goblins?« knirschte das Wesen. »Sie halten sich bereit und dienen uns, wie es besprochen wurde. Ihr müßt dafür sorgen, daß sie auch weiterhin gehorchen.« »Das werden sie. Sie haben keine andere Wahl. Jetzt regieren wir das unterirdische Reich.« »Schon seit vierzig Jahren«, fügte Sacumon hinzu und verneigte sich tief, die Hände in gespielter Ehrerbietung ausgestreckt. Dann richtete sie sich wieder auf und faltete die Hände. Yunnie versuchte, den Worten einen Sinn zu geben. Sacumon dirigierte die sich zusammenbrauenden Kriegswolken wie eine Generalin – aber aus welchem Grund? Die glutheißen Körper der Steinwesen dampften ein wenig. Während Yunnie noch grübelte, erhob sich eines von ihnen und schwebte zur Felswand. Zuerst drückte es sich dagegen, dann glitt es über die Oberfläche und wurde eins mit dem Stein. 217
Yunnie hatte genug gesehen, um Mytaru und den anderen Stammesmitgliedern einen Bericht zu erstatten, auch wenn er sie anschließend hierherschleppen mußte, damit sie ihm glaubten und die Wesen mit eigenen Augen sahen. Sacumon hatte sich als der rote Faden erwiesen, der sich von den Elfen zu den Goblins und weiter zu den Minotauren zog. Er zwängte sich hinter dem Stalagmiten hervor und machte sich auf den Weg zurück an die Erdoberfläche. Plötzlich blieb er stehen und riß angsterfüllt die Augen auf. Vor ihm im Gang erhob sich eine Feuerkreatur, mit Augen wie glühende Kohlen und einem Mund, der sich wie ein brennender Höllenschlund auftat.
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Vor Angst erstarrte er, aber die Hitze, die von dem Monstrum ausging, verlieh seinem Arm Kraft. Er holte aus und warf den Dolch nach dem Feuerwesen, wie er es schon einmal getan hatte. Genau wie beim erstenmal drang die Dolchspitze in die Brust des Wesens ein und löste sich durch die ungeheure Hitze auf. Yunnie hütete sich, loszustürmen und einen Ringkampf zu beginnen. Augen wie glühende Kohlen starrten ihn böse an. Ungeschickte Finger griffen nach ihm. Er wich zurück und fühlte, wie sich schmerzhafte Blasen am Arm bildeten, wo ihn die Hand des Gegners fast gestreift hatte. Das Feuerwesen kam näher. Es riß das Maul weit auf, und ein Fauchen entrang sich seiner Kehle. Yunnie war nicht sicher, ob es zu reden versuchte oder einfach nur wütend war. Das war auch nicht wichtig. Die geringste Berührurig bedeutete den Tod. Vorsichtig ging er rückwärts, bis er an dem Felsvorsprung anlangte, der sich über dem Amphitheater erhob. Er warf einen Blick über die Schulter. Sacumon war verschwunden, aber drei der halbfesten Wesen standen noch an die Bänke gelehnt. Der Rauch, der von 219
ihren Körpern aufstieg, kündete von der Hitze, die sie ausstrahlten. Auch wenn sie nicht in Flammen standen wie sein Verfolger, sie waren gewiß nicht weniger gefährlich. »Zurück!« schrie Yunnie in der Hoffnung, das Monster zu erschrecken. Er hätte sich den Atem sparen können, da es keine Regung zeigte. Yunnie hob ein paar kleinere Steine auf und warf sie dem brennenden Riesen ins Gesicht. Einige trafen das weit aufgerissene Maul und verschwanden darin. »Töte dich«, verkündete das Wesen und kam immer näher. Bei jedem Schritt hinterließ es rußige Fußabdrücke, wie Yunnie sie schon unweit der Helmheimhäuser gesehen hatte. Obwohl er nun den wahren Feind der Minotauren kannte, sah es nicht so aus, als würde er lange genug leben, um seinen Freunden davon berichten zu können. Ein größerer Stein flog durch die Luft und schien am Oberkörper des Wesens klebenzubleiben. Yunnie ließ ihm weitere Steine folgen. Auch diese lösten sich im Handumdrehen auf und verschwanden. »Töte dich jetzt!« versprach ihm das Monstrum. Allmählich vermochte Yunnie das Zischen und Fauchen zu verstehen. Er hoffte, er würde diese Unterhaltung nicht länger fortsetzen müssen. »Ich will dir nichts tun«, rief er in der Hoffnung, den Riesen ablenken zu können, um sich in Sicherheit zu bringen. »Ich ... ich habe bloß eine abhanden gekommene Ziege gesucht. Ich komme von dort oben. Sie 220
muß sich verirrt haben.« Er wies mit dem Daumen in die Richtung, in die er sich unbedingt bewegen wollte. Das Monstrum ließ ihm keine Zeit. Ein dicker rauchender Arm wurde wie eine Keule geschwungen und zielte auf sein Gesicht. Yunnie duckte sich, verlor das Gleichgewicht und stürzte in die Tiefe. Er prallte gegen einen Felsen und blieb benommen liegen. Stöhnend rang er nach Luft. Der Anblick der halbflüssigen Kreaturen, die ihre Bänke verließen und auf ihn zuglitten, erfüllte ihn mit neuer Kraft. Keuchend und vor Schmerzen schreiend, zwang er sich aufzustehen. Fünfzehn Fuß hoch über ihm stand das Feuerwesen, dem er nun schon zum zweitenmal begegnet war. Ihm fiel der Ort der Macht ein, den ihm Mytaru gezeigt hatte. Das war es also gewesen, was bei den Kratern gelauert hatte. Hatte es sich etwa mit Sacumon unterhalten? Yunnie hielt letzteres für sehr wahrscheinlich. Sogar damals, noch vor dem Tiyintfest, war Sacumon in das Tal der Urhaalan eingedrungen und hatte sich mit dem Ungeheuer verbündet. Beim Klang eines erneuten Zischens wirbelte er herum und sah sich der rauhen Felswand gegenüber, auf der sich die Umrisse eines der anderen Wesen abzeichneten. Es glitt langsam hindurch, und Yunnie wich hastig zurück, bis er die Wärme im Rücken spürte, die von den übrigen Gestalten ausging. Mit einem Satz erklomm er einen Stalagmiten und versuchte, sich darauf zu halten. 221
Ein brennendes Wurfgeschoß traf ihn am Arm, und schon fiel er wieder zu Boden. Er rieb sich die schmerzende Stelle, an der ihn das Feuerwesen vorhin schon getroffen hatte. Yunnie blickte nach oben und sah genau in die glühenden Augen. Das Maul öffnete sich noch weiter und stieß Rauch und Flammen aus. »Schlechter Atem«, murmelte er. »Das ist ein Grund mehr, dir aus dem Weg zu gehen.« Er rollte sich an zwei Gestalten vorbei, die sich näherten und dabei das inzwischen fast schon vertraute Knirschen und Scharren verursachten. Yunnie hob Steine auf und warf sie ihnen entgegen. Genau wie bei dem Feuermonstrum, blieben sie an der Brust des Riesen haften und lösten sich auf, als würden die Wesen seine armseligen Gaben verdauen und nach mehr hungern. Yunnie stand auf, wich einem weiteren Wurfgeschoß von oben aus und rannte einen Pfad entlang, der ihm sicher erschien. Dumpfes Wutgebrüll folgte ihm. Es hörte sich an, als spreche der Feind sein Todesurteil. Das schreckliche Feuerwesen würde ihn niemals entkommen lassen. Yunnie schluckte den Kloß, den er plötzlich im Hals verspürte, hinunter, und eine Woge der Hilflosigkeit überkam ihn. Diesmal konnte ihn Mytaru nicht retten. Wenn er floh, mußte er es aus eigener Kraft schaffen. »Ich darf nicht sterben, noch nicht!« sagte er zu sich selbst. »Habe meine Totenklage noch nicht komponiert.« Von dem Zeitpunkt an, da sie vollwertige Her222
denmitglieder wurden, arbeiteten die Urhaalan an dem Trauerlied, das während ihrer Bestattung gesungen werden sollte. Bisher hatte Yunnie noch keine Zeit gehabt, sich damit zu befassen. Jetzt tat es ihm leid. Würde Mytaru eines seiner eigenen Lieder für ihn singen? Mehonvo? Aesor? Er stemmte die Absätze in den harten Steinboden. Die Felsen zu beiden Seiten des Weges bewegten sich. Die Oberflächen wölbten sich ein wenig, wurden von Wellen überlaufen – und dann tropften die Wesen förmlich heraus, um ihm den Weg abzuschneiden. Ein schneller Blick über die Schulter überzeugte ihn davon, daß er keine Möglichkeit hatte, zum Amphitheater zurückzukehren. Er sah nur glühende Augen und einen Schlund, der ihm die Feuer der Hölle verhieß. Die rußgeschwärzten Arme fuchtelten herum, und kurze, aber kräftige Beine trugen den Feind durch den Gang. »Auf geht’s!« brüllte Yunnie und zog das Schwert gerade noch rechtzeitig, um ein glühendes Kohlestück abzuwehren. Es prallte gegen die Klinge und hätte ihm beinahe die Waffe aus der Hand gerissen. Er stolperte, fiel auf ein Knie und erhob sich wieder. Vor ihm versperrten zwei der halbfesten Wesen seinen Weg, und hinter ihm lauerte das Feuerungeheuer. Yunnie umklammerte den Schwertgriff fester und sah keine Möglichkeit zur Flucht. Ein lautes Knirschen und immer stärker werdende Hitze kündeten die beiden Gegner an, die sich unaufhaltsam näherten. Die brennenden Arme des dritten Feindes griffen 223
nach ihm. Yunnie sprang beiseite, prallte gegen einen Stalagmiten und drehte sich um. Dabei stieß er mit dem Kopf gegen einen herabhängenden Stalagtiten und fiel wieder einmal zu Boden. Ein Fauchen und Zischen kündete die Ankunft eines vierten Gegners an. Yunnie rieb sich die blutende Stelle am Kopf, zog die Knie an und hechtete vor, um den tastenden Händen zu entkommen. Wo auch immer das Monstrum den Fels berührte, lösten sich die Steine qualmend auf. Er wich ein paar Wurfgeschossen aus, zwängte sich unter einem kleinen Torbogen aus Stein hindurch und landete auf einem anderen Pfad. Ihm gegenüber war eine Stahltür in die Wand eingelassen. Zum erstenmal, seit er sich in diese Hölle begeben hatte, die von feurigen Kreaturen bewohnt war, die danach lechzten, sein Fleisch zu rösten, erblickte er Metall. Schlitternd blieb er vor der Tür stehen und berührte den Griff. Hinter sich vernahm er das Schleifen und Knirschen und das bereits viel zu vertraute Zischen des recht beweglichen und wild entschlossenen Monstrums. Ein glühendes Wurfgeschoß flog gegen die Tür und zersprang in tausend Stücke. »Verschwindet!« brüllte Yunnie. Die Gegner näherten sich mit langsamen Schritten, um ihn gegen die Stahltür zu drücken. Yunnie wischte sich den Ruß aus den Augen und zerrte am Türgriff. Zu seiner Überraschung öffnete sich die Stahltür sofort. Er stolperte und wäre fast hintenüber gefallen. Eiligst riß er sich zu224
sammen, sprang durch die Öffnung in einen Raum und schlug die Tür hinter sich zu. »Der Riegel wird sie am Eindringen hindern«, sagte eine sanfte Stimme. »Vielen Dank.« Yunnie schob erleichtert den Riegel vor. Erst dann sah er sich im Raum um. »Sacumon!« »Oh, wie interessant. Du erinnerst dich an unsere erste Begegnung?« Die Frau schwebte förmlich auf ihn zu, als habe sie Rollen unter den Füßen. Sie streckte ihm eine vernarbte Hand entgegen, die über und über mit bunten Tätowierungen bedeckt war. Yunnie blinzelte. Einen Augenblick lang sah es so aus, als erwachten die Bilder zum Leben, und eine Schlange schien sich zu erheben, um ihn zu beißen. »Wo bin ich hier gelandet?« »Hier? Das ist die Waffenkammer des NirososteinVolkes. Recht beeindruckend, nicht wahr?« »Nein, nicht dieser Raum hier, sondern das alles!« »Ach, die Höhle. Eine geologische Kuriosität«, erklärte Sacumon, als rede sie mit einem zurückgebliebenen Kind. »Vor Jahrhunderten setzte sich eine riesige Blase, mit vulkanischen Gasen angefüllt, hier fest, und so entstand diese kleine unterirdische Kathedrale.« »Klein? Sie ist riesig. Ich kann kein Ende erkennen.« Yunnie hörte, wie das Feuerwesen gegen die Stahltür schlug. »Kann es hier herein?« »Der Kohlengolem?« Sacumon schüttelte den Kopf. »Ich glaube kaum. Deshalb benützen die Niroso Stahl. 225
Für ein so junges Volk sind sie recht fortschrittlich.« »Ein Kohlengolem? Was ist das?« »Du verstehst wohl nicht viel von magischen Dingen, Fischerjunge?« »Beleidige mich nicht!« Yunnie trat vor und zückte das Schwert. »Oh, anscheinend habe ich deine Gefühle verletzt. Wenn du es schlimm findest, daß du aus Shingol stammst, entschuldige ich mich natürlich.« »Angenommen«, sagte Yunnie und wußte, daß sie ihn erneut beleidigt hatte. Er wollte jedoch nicht darauf herumreiten. Sollten sich Mytaru und seine dickköpfigen, stolzen Minotauren wegen derartig ehrenrühriger Bemerkungen aufregen. »Erzähl mir von diesem Kohlengolem. Wie kann ich ihm entkommen?« »Bis jetzt hast du dich gut geschlagen«, meinte Sacumon. »Er lebt nicht, jedenfalls nicht wirklich. Die Niroso haben Talent dafür, untote Wesen unter der Erde aufzuspüren. Dort ist ihr Reich – der Teil des Planeten, der nicht mit der Oberfläche in Berührung kommt, an der wir unseren überaus wichtigen Tätigkeiten nachgehen. Sie stießen auf Kohlevorkommen, wandten ihnen bekannte Zauber an und befreiten die Golems aus ihren dunklen Verliesen.« »Magie!« fauchte Yunnie. »Natürlich. Ich weiß nicht, ob sie von Natur aus durch Felsen gleiten können oder lang verlorene Zau226
ber anwenden, um sich so fortzubewegen.« »Sie verschmelzen mit dem Gestein und ... tauchen an beliebiger Stelle wieder auf?« Yunnie versuchte, einen klaren Kopf zu behalten. Derartiges Wissen überstieg seine Vorstellungskraft. Obwohl er die Inquisition nicht mochte, hegte er eine Abneigung gegen Zauberei und ihre Anwender. In der Vergangenheit war durch Magier und ihre unseligen Sprüche viel zu viel Elend über die Welt gebracht worden. »Genau. Vor vierzig Jahren gelangten sie aus Versehen auch einmal an die Oberfläche. Oben und unten bedeuten den Niroso wenig. Sie ... gleiten einfach vor sich hin. Einer von ihnen landete auf einem Totenanger und machte die übrigen auf die Anwesenheit der Menschen aufmerksam. Seit jener Zeit versuchen sie, mit uns Verbindung aufzunehmen, hatten aber bisher nicht viel Erfolg.« »Sie sind ganz anders als alle Wesen, die wir kennen.« »Stimmt. Anders als das Ehernwurzelvolk und andere nichtmenschliche Lebensformen, weil sie keine bestimmte Körperform haben.« »Wie steinerne Quallen.« »Nein, das eigentlich nicht«, widersprach Sacumon. »Sie sind auf eine Art anders, die ich dir nicht näher erklären kann. Sie sind sehr klug und neugierig und wollen nur das beste für alle Rassen.« Yunnie schwankte ein wenig und mußte sich gegen die Wand stützen, weil ihn ein heftiges Schwindelge227
fühl ergriff. Genauso hatte er sich gefühlt, als er Sacumon zum erstenmal begegnet war. Die ausgestreckte Hand der Frau wirkte harmlos genug, als wolle sie ihm ihre Hilfe anbieten, aber er wich zurück, denn die tätowierten Schlangen bewegten sich, als seien sie lebendig. Reptilien wanden sich, zischten und entblößten ihre Fangzähne. Grauenvolle Wesen, die seinen schlimmsten Alpträumen entsprungen waren, lugten unter ihrem Ärmel hervor. Yunnie wehrte sich gegen ihren Zauber, und Sacumon zog einen kurzen Dolch aus dem Gürtel und fuhr sich mit der Spitze über den Arm. Ein dünnes Blutrinnsal erschien, und wieder wurde Yunnie von Schwindel ergriffen. Anscheinend verstärkte sich die Macht der Frau durch vergossenes Blut. »Das beste für alle«, hörte sich Yunnie sagen, und es kam ihm vor, als stehe er in hundert Schritt Entfernung und beobachte, wie ein Fremder bei einem Theaterstück mitwirkte. »Ja.« Sacumon zischte wie eine der Schlangen, die sich um ihr Handgelenk wanden. Der Dolch war verschwunden, aber die Wunde blieb sichtbar, und das Blut tropfte auf den staubigen Steinboden. »Der Kohlengolem«, flüsterte Yunnie. »Er ist sehr stark. Er wird die Tür eintreten.« »Ich fürchte, du hast recht. Siehst du die Flecke auf dem Metall? Da wird er sich bald hereinschmelzen. Die Tür sollte den Dummkopf eigentlich nur daran erinnern, daß er nicht herein darf.« 228
»Warum nicht?« Yunnie hoffte auf Rettung. »Gibt es etwas hier drinnen, vor dem er Angst hat?« »Angst? Nein, er fürchtet sich vor nichts. Er ist noch dümmer als ein Goblin. Die Niroso wollen die Artefakte vor ihm schützen, die sie den Menschen als Zeichen ihrer Friedfertigkeit schenken möchten, falls sie mit ihnen in Verbindung treten.« Yunnie mußte sich noch stärker aufstützen, denn erneut überfiel ihn das Schwindelgefühl mit der Heftigkeit einer Kriegsaxt. Sacumon log. Immer, wenn sie die Unwahrheit sagte, wurde ihm schwindlig, aber er konnte nichts dagegen tun. »Diese Steinleute. Was wollen sie?« »Nichts, nur mit den Erdbewohnern in Frieden leben.« Sie fuhr mit den Fingernägeln durch die Wunde, damit mehr Blut herausfloß, und Yunnie fühlte sich noch hilfloser. »Es hat sie entsetzt und überrascht, daß Lebewesen in solcher Kälte – so empfinden sie es – überleben können.« »Was geschieht mit ihnen, wenn sie an die Oberfläche gelangen?« wollte Yunnie wissen. Er spürte, daß Sacumon mit ihren sanften, seidenweichen Worten eine unangenehme Wahrheit zu verdecken suchte. »Wozu schicken sie dann den Kohlengolem hinaus?« »Du solltest dich in der Waffenkammer umsehen. Wenn sie durch die Felsen gleiten, finden sie viele menschliche Artefakte. Vielleicht gibt es ein Teil, das dir bei der Flucht vor dem Kohlengolem helfen kann.« 229
»Waffen«, sagte Yunnie und betrachtete die Gegenstände, die an der Wand hingen. »Und alle möglichen Rüstungen. So viele, und die Niroso können nichts damit anfangen. Sie können sie weder tragen noch benutzen. Für sie ist es eher ein Museum als eine Waffenkammer.« »Geschenke, um ihre guten Absichten zu unterstreichen«, beharrte Sacumon. Diesmal war der Schwindel so heftig, daß Yunnie fast vornüber gefallen wäre. Der Raum drehte sich wild vor seinen Augen, bis er sie heftig zusammenkniff. Als der Anfall vorüber ging, fühlte er, wie ihm übel wurde. »Die Tür«, drängte Sacumon. »Der Kohlengolem hat es bald geschafft. Hier, versuch diese. Sie könnte dir passen.« Sie schob die langen Ärmel zurück, wobei weitere Tätowierungen sichtbar wurden, und griff nach einem einfachen Lederbrustpanzer. »Die hier will ich anlegen«, erklärte Yunnie und tippte auf eine vollständige Metallrüstung, die neben ihm an der Wand lehnte. »Sie hat etwa meine Größe. Die da ist zu klein.« »Ich glaube nicht«, entgegnete die Magierin. »Versuch es.« Yunnie hätte sich beinahe übergeben, streckte aber die Hand aus und nahm den schlichten Brustpanzer entgegen. In seinen Händen erwachte er zum Leben, zappelte herum und wurde immer wärmer. Er wollte ihn fortwerfen, hielt ihn dann aber fest und sah fasziniert zu, wie er größer wurde und seine Form verän230
derte. »Ich glaube, jetzt paßt er mir«, sagte er schließlich, löste die Lederriemen und warf sie sich über die Schulter. Sie befestigten sich von allein, während sich der Brustpanzer an seinen muskulösen Oberkörper schmiegte. Vorsichtig ließ er die Finger über die Vorderseite gleiten. Die Rüstung pulsierte förmlich vor Kraft, die sie auch an ihn weitergab. Jegliches Unwohlsein war vergessen und wurde durch Siegesgewißheit ersetzt. Er würde gegen den Kohlengolem ankämpfen und gewinnen. Er konnte gegen alle Niroso antreten und sie nacheinander oder gar alle auf einmal besiegen! »Die Lebende Rüstung«, erklärte Sacumon mit feierlicher Stimme, als befinde sie sich in einer Kirche. »Sie paßt dir. Du bist dazu bestimmt, sie im Kampf zu tragen, Fischerjunge.« Yunnie hörte die Beleidigung kaum. Er stand kerzengerade aufgerichtet und fühlte eine Kraft wie nie zuvor. Bei der Aufnahme in die Urhaalanherde war er müde, aber glücklich über die ihm zuteil gewordene Ehre gewesen. Nach jedem Ritual fühlte er sich zufrieden und froh. Aber das war nichts, verglichen mit dem Gefühl der Unverwundbarkeit, das er jetzt genoß, als handele es sich um die zärtliche Berührung einer Geliebten oder die freundlichen Worte eines guten Freundes. Yunnie zog das Schwert und wußte, daß er niemals sterben würde. 231
»Die Tür gibt immer weiter nach. Wenn wir nicht in der Falle sitzen wollen, mußt du an ihm vorbeirennen«, meinte Sacumon. Sie stellte sich hinter ihn. Yunnie wußte, daß er sich den Weg freikämpfen mußte, um sie zu retten und ihnen die Flucht aus dem unterirdischen Kerker des Steinvolkes zu ermöglichen. Er schob den Riegel zurück und wartete auf die günstigste Gelegenheit, die Tür zu öffnen. Er erwischte den Kohlengolem zwischen zwei Angriffen auf die Stahlplatte. Das Monstrum stand vor der Waffenkammer und starrte ihn dümmlich an. Mit gezücktem Schwert stürmte Yunnie heraus. Ein Teil der Klinge schmolz sofort, als er versuchte, das Wesen aufzuspießen. Dann hieb er zu, und ein Funkenhagel stob auf. Der Kohlengolem brüllte vor Schmerz und stolperte rückwärts. Die Rüstung schützte Yunnie, als ihn das Wesen mit glühenden Kohlen bewarf. Jede Bewegung verstärkte seine Kraft, seinen Tatendrang und seine Lebenslust. Kraftvoll stieß er das Schwert in den gähnenden Schlund des Golems, und die Klinge drehte sich, als sei sie gegen einen Felsen geprallt. Yunnie gab nicht nach. Immer wieder schlug er zu, bis das Schwert nicht größer als ein Dolch war. »Lauf! Lauf voraus!« drängte ihn Sacumon. »Die Niroso kommen!« Der Golem lag zappelnd auf dem Rücken. Er bäumte sich noch einmal auf und lag dann ganz still. Das Innere des Mauls färbte sich von rot zu gelb und wurde 232
dann weißglühend. Das Monstrum blähte sich auf und explodierte schließlich; Glut und Flammen stoben in alle Richtungen. Yunnie duckte sich, und die Rüstung fing den Funkenhagel ab. Die Lebende Rüstung. »Hier entlang. Hier geht es nach draußen!« rief er und rannte, so schnell er konnte, davon. Gerade noch rechtzeitig wich er einem Niroso aus, der aus der Wand glitt. Wieder schützte ihn die Rüstung vor Schaden und trieb ihn voran, bis er den Pfad erreichte, der an die Erdoberfläche führte. Er rannte und rannte, bis er endlich im hellen Sonnenlicht stand und frische Luft einatmete. Aber auch dann hielt er sich nicht auf und lief weiter, bis er sich ein gutes Stück vom Höhleneingang entfernt hatte. Keuchend und nach Luft schnappend bückte er sich und stemmte die Hände auf die Knie. »Wir haben’s geschafft! Wir sind entkommen!« Nur der Wind, der durch die Baumwipfel fuhr, antwortete ihm. Yunnie sah sich um und bemerkte, daß er allein war. Sacumon war in der Höhle geblieben.
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»Steckt den Dschungel in Brand! Onkel Istvan soll ihn holen!« schrie Quopomma. Sie schlug mit der behaarten rechten Hand auf den ebenso behaarten linken Oberarm, und das laute Klatschen verriet ihren Ärger, als hätten ihre bösen Blicke, mit denen sie alle bedachte, die rings um das Lagerfeuer hockten und wagten, auch nur das geringste Geräusch zu verursachen, nicht schon ausgereicht, um ihre schlechte Laune kundzutun. Maeveen O’Donagh kaute Gaumenkraut und betrachtete die Gesichter ihrer versammelten Offiziere und Unteroffiziere. Sie spuckte ins Feuer. Eine dünne Rauchwolke stieg empor: Ein Zeichen, daß sie etwas sagen wollte. Quopomma schwieg. Iro gewahrte ihren grimmigen Blick und nahm davon Abstand, ihre Ansichten laut in Maeveens Gegenwart zur Sprache zu bringen. »Wir können die fleischfressenden Pflanzen nicht umgehen«, sagte Maeveen. »Die Späher berichten, daß sie sich wie ein Buschfeuer in beide Richtungen ausbreiten und eine unüberwindliche Barriere errichten. Es wäre zu umständlich, den Weg über die Bäume zu 234
nehmen, wie ich es bei meiner Flucht tat.« »Das wäre es nicht«, entgegnete Iro. »Das schaffen wir schon.« Das Feuer spiegelte sich in den Augen der großen Offizierin und ließ sie unheimlich silbern aufglänzen. »Wir lassen jene zurück, die zu ungeschickt sind.« »Auch Vervamon?« erkundigte sich Maeveen mit leiser Stimme. Iro verstummte sofort. Immer wieder geschah es, daß sie erst redete und dann nachdachte. »Er kann sich auf gar keinen Fall wie ein Affe vom Kap des Zorns von Baum zu Baum hangeln.« »Dann müssen wir zur Küste zurückkehren«, meldete sich Coernn zu Wort, der außerhalb des Kreises stand. »Wir sollten unsere Habseligkeiten zusammensuchen und unseren Auftrag erfüllen.« »Das Siegel von Iwset zu finden?« fragte Maeveen mit einem bissigen Unterton in der Stimme. Sie wollte sehen, was Coernn täte, wenn sie den Grund ihrer Reise laut vor allen Offizieren verkündete. Maeveen war nicht besonders überrascht, als er nichts entgegnete und auch keinen Ärger über ihre Enthüllung verriet. Das nahm sie als weiteren Beweis dafür, daß es sich bei dem Siegel von Iwset nur um den Köder handelte, den man Vervamon vor die Nase hielt und hoffte, er werde wie ein hungriger Fisch danach schnappen. Der wahre Grund der Expedition lag noch im Verborgenen. »Wir folgen dem Weg, den Vervamon bestimmt und der uns dem Ziel näherbringt. Ich habe, äh, entschieden, daß uns eine andere Richtung mehr Erfolg ver235
sprechen wird. Wir könnten in einer Woche in Shingol sein, und ...« »Shingol?« blaffte Quopomma. »Wieso sollen wir dieses stinkende Fischerdorf aufsuchen? Hauptmann O’Donagh redet dauernd davon, wie gern sie fischen geht, aber nicht einmal sie würde freiwillig nach Shingol reisen. Es ist nichts als ein Schutthaufen, und die Leute dort sind ebenso schwachsinnig wie die Fische, die sie zu fangen versuchen!« Maeveen beobachtete Coernn genau. Diesmal geriet seine undurchdringliche Miene für einen Augenblick in Bewegung, war aber nicht zu enträtseln. Lord Peemels Spion – sein Kundschafter, verbesserte sie sich – wollte von dem vereinbarten Kurs ins Landesinnere abweichen. Zuerst hatte er alles daran gesetzt, Vervamon in, diese Richtung zu hetzen, und nun wollte er seine Zeit in Shingol verschwenden. Das ergab keinen Sinn. Allerdings war Coernn in der letzten Nacht mit seinen Gefährten ausgezogen, um die fleischfressende Pflanze zu untersuchen. Sie hatten den größten Teil ihrer geretteten Ausrüstung mitgenommen, und sie hatte keine Ahnung, wann sie zurückgekehrt waren, obwohl es noch nicht lange her sein konnte. Was hatte Coernn entdeckt, was er weder ihr noch Vervamon verraten wollte? »Der Grund unserer Reise muß gefunden werden. Der Kurswechsel ist ... ist unbedingt notwendig«, endete Coernn unsicher. »Keine Änderung, keine Zeitverschwendung!« warf 236
Vervamon barsch ein. »Ich habe eingehend darüber nachgedacht. Als ich meine Aufzeichnungen durchsah, entdeckte ich eine ähnliche Geschichte. Erinnert Ihr Euch an die Expedition zu den Inseln des Segens, Hauptmann?« Maeveen nickte und dachte, daß an jener Expedition nichts, aber auch gar nichts als ›gesegnet‹ bezeichnet werden konnte. Fast die Hälfte der Truppe war Kannibalen zum Opfer gefallen. Erst als die gefräßigen Eingeborenen einen Unteroffizier verspeisten, der an Tesfieber litt, waren ... »Wir vergiften die Pflanze!« rief sie. »Ihr habt einen scharfen Verstand, meine Liebe, wenn er auch ein wenig langsam arbeitet. Ich habe die entsprechenden Schritte schon eingeleitet, trotz – wie ich in aller Bescheidenheit anfügen möchte – erheblicher Gefahren für mein eigenes Wohlergehen. Die Pflanze stirbt allmählich ab und zieht sich auf höchst eigenartige Weise in sich selbst zusammen. Natürlich habe ich die Gelegenheit genutzt, um ihre Todeskrämpfe zu zeichnen, nachdem ich sie mit einem Eintopf des Kochs vergiftete.« Quopomma lachte rauh. »Ich fragte mich schon, wozu der Fraß gut sein sollte, außer, um vielleicht die Blutflecke von meinem Dolch zu entfernen.« »Ruft Eure Leute zusammen, meine Liebe. Wir müssen noch etliche Meilen zurücklegen, wenn wir die Zeit aufholen wollen, die wir hier vertrödelt haben.« Vor sich hinmurmelnd und sich Notizen machend, schritt 237
Vervamon davon. »Ihr habt es gehört. Holt Eure Bündel und gesellt Euch zu Euren Soldaten!« brüllte Quopomma. Iro suchte die Männer ihres Zuges zusammen, und die Unteroffiziere beeilten sich, den Befehlen des Leutnants nachzukommen. Nur Coernn blieb zurück und starrte Maeveen mit eisigen Blicken an. Es bereite ihr großes Vergnügen, ihn gedemütigt zu wissen, obwohl sie nicht wußte, warum. Zuerst wollte er etwas sagen, machte dann aber auf dem Absatz kehrt und verließ den Lagerplatz. Sie beobachtete, wie er seine Kameraden zusammenrief. Sie unterhielten sich eifrig, bis Coernn in Richtung Küste wies. Einer der Männer nickte und eilte von dannen. Maeveen lächelte zufrieden. Wieder befand sich ein Spion weniger im Lager. Einer war an die fleischfressende Pflanze verfüttert worden, und nun kehrte der nächste mit Sicherheit nach Iwset zurück, um Lord Peemel Bericht zu erstatten. Ein fröhliches Lied vor sich hinpfeifend, überzeugte sich Maeveen davon, daß ihre Leute abreisebereit waren. Eine Stunde später befanden sie sich auf der anderen Seite der bräunlich sterbenden Pflanzenwand und kamen gut voran. »Werden wir noch lange ohne Pause weiterwandern?« beklagte sich Iro. »Wir haben schon wunde Füße, der Wald erstreckt sich endlos in alle Richtungen, und wir werden dieses Siegel niemals finden, wenn wir einfach drauflosgehen und nicht danach suchen.« 238
»Du redest wohl von deinen Füßen«, unterbrach sie Quopomma. »Wahrscheinlich ist dein Gehirn genauso dran, obwohl du es ja nie benützt.« »Ruhe!« befahl Maeveen. Die Ogerin grinste listig, gehorchte aber. »Wir sind seit beinahe zwei Wochen unterwegs, um an diesen Ort zu gelangen.« »Und welcher Ort soll das sein?« Iro verschränkte die Arme vor der Brust und sah sie zornig an. »Die Ausläufer der Berge«, sagte Maeveen. Sie hatte keine Ahnung, um welche Berge es sich handelte. Das war auch gleichgültig, wenn die Expedition es sich zur Aufgabe machte, Neuland zu erforschen und Landkarten anzufertigen. Trotz seiner langen und vielfältigen Geschichte war Terisiare so gut wie unerforscht, seine Kulturen zersplittert und seine Topographie ein Rätsel. »Von hier aus müssen wir bergauf, sagt Vervamon.« »Eine Gebirgsexpedition«, murrte Iro. »Darauf habe ich mich eingelassen!« »Du hast dich auf die gute Bezahlung eingelassen«, unterbrach sie Quopomma. »Wenn du weniger Zeit mit Jammern und mehr mit soldatischem Benehmen verbringen würdest, wären wir schon viel früher hier angekommen.« »Ich will von keinem von euch beiden noch ein Wort hören!« sagte Maeveen, deren Geduld sich dem Ende näherte. »Nachdem ich mir die ganze Zeit Coernns Beschwerden anhören mußte, daß wir nach Shingol zurückkehren sollen, kann ich nicht mehr viel ertragen.« »Was treiben er und die anderen drei eigentlich die 239
ganze Zeit?« Quopomma kratzte sich, reckte die Arme und gähnte laut. »Sie sitzen dauernd um einen Kochtopf herum, legen aber niemals etwas Eßbares hinein. Bloß stinkende Flüssigkeiten, die sie später in Flaschen füllen und mitnehmen. Wenn das Kochen ist, dann erledigt Coernn die ganze Arbeit allein. Die anderen sitzen nur herum und sehen ihm zu.« »Bücher«, warf Iro ein. »Sie lesen Bücher, und Coernn singt. Ich glaube, daß sie Priester sind, Spione der Inquisition.« Maeveen nickte gedankenverloren. Auch sie war der Meinung, obwohl Coernn nichts von einem Folterknecht an sich hatte. Aber was er außer Peemels Spion noch war, vermochte sie nicht zu sagen. Seine Beharrlichkeit, nach Shingol zurückzukehren, war mit jedem Schritt gewachsen, bis Vervamon ihm gründlich die Meinung gesagt hatte. Peemel hatte Vervamon auf die Spur eines Artefaktes gehetzt, und der Gelehrte war nicht gewillt, sich davon ablenken zu lassen. »Ich hörte, wie Coernn zu Vervamon sagte, das Siegel von Iwset liege in Shingol versteckt, und wir würden die falsche Richtung einschlagen«, erklärte Iro. »Wenn er wußte, wo es liegt, warum hat er uns dann zuerst in den Wald geschickt?« »Er wußte es nicht«, sagte Maeveen, der langsam die Wahrheit dämmerte. »Er wußte es erst, nachdem er und seine Gefährten ...« »Hauptmann!« rief Vervamon. »Kommt sofort zu mir. Das müßt Ihr einfach sehen! Beeilt Euch, meine 240
Liebe, beeilt Euch!« Maeveen zuckte die Achseln und verließ ihre Offiziere. Ihre kurzen Beine mußten sich anstrengen, um den steinigen Abhang zu erklimmen, auf dem Vervamon einen Dreifuß und sein Teleskop aufgebaut hatte. Das Gerät war auf die Spitze eines Berges ausgerichtet, und er schaute gebannt hinein. »Da, seht nur!« sagte er aufgeregt. Maeveen beugte sich hinab und drehte an dem Einstellknopf, um ein besseres Bild zu bekommen. Ihre Augen waren bedeutend schärfer als Vervamons und benötigten weniger Unterstützung. Dennoch begriff sie einen Augenblick lang nicht, was sie vor sich sah. Dann richtete sie sich auf und wandte sich Vervamon zu. Ein strahlendes Lächeln erhellte sein markantes Gesicht. »Ja, meine Liebe! Das ist die Stadt, die wir suchen! Dort finden wir das Siegel von Iwset!« »Sie sieht riesig aus«, erklärte Maeveen, »aber verlassen. Ich habe weder Wachfeuer noch Lebewesen bemerkt.« »Welcher Platz wäre besser als Versteck des Siegels geeignet als eine längst verlassene Stadt? Es ist der Schlüssel zur Gruft der sieben Märtyrer und liegt in einer eigenen Gruft verborgen. Vielleicht erweist sich das Versteck des Siegels als ebenso aufsehenerregende Entdeckung wie die Wahrheit über die sieben Märtyrer und ihr vergossenes Blut.« »Wie könnt Ihr so sicher sein, daß wir dort oben etwas entdecken, wenn Coernn die ganze Zeit behauptet, 241
das Siegel befinde sich in Iwset?« »Meine Forschungen weisen auf diese Stadt hin«, beharrte Vervamon. »Coernn ist nichts weiter als Peemels Schoßhund. Was versteht er von akademischen Dingen? Ich fand Hinweise auf das Siegel in dem hervorragenden Buch Versunkene Länder und verborgene Schätze, geschrieben von der Gräfin Lani Thesavert. Coernn mag so oft über den Aufenthaltsort des Siegels reden, wie er nur möchte. Ich weiß, daß es dort oben ist, in der Stadt der Schatten.«
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»Zeig uns den Weg, kleiner Bulle. Führe die Herde zum Sieg!« flüsterte Mytaru eindringlich. Der Minotaurus warf den Kopf zurück, und die roten Kampfbänder, die an den Hörnern hingen, fielen ihm über den Nakken. Yunnie fehlte derartiger Schmuck, da er keine Hörner besaß. Dafür zogen sich fünf rote Streifen um seinen Oberarm – einer für jede Schlacht, an der er teilgenommen hatte. Drei dieser Zeichen hatte er allein in der letzten Woche errungen. Die Elfen hatten sich mit Feuereifer in den Krieg gestürzt, nachdem die Minotauren ihr Lager am Taleingang angriffen. Seit jenem Tag rissen die Berichte nicht ab, die einen getöteten Elfen, fünf verwundete Minotauren, ein Dutzend aufgestöberte Elfenspäher, die in den Elnwald gejagt worden waren und ähnliches meldeten. »Führe uns, Yunnie! Du kämpfst wie ein Dämon, und deine Rüstung schützt dich auch im härtesten Kampf!« Yunnie sah auf den einfachen Brustpanzer hinab, den er aus der Waffenkammer des Steinvolkes genommen hatte. Lebende Rüstung, hatte Sacumon sie 243
genannt, und Yunnie hielt das für die Wahrheit. Als er sie zuerst anlegte, fühlte sich das Leder hart an und ließ sich schlecht handhaben, aber je länger er die Rüstung trug, um so bequemer wurde sie. Und sie schützte ihn immer besser. Anfangs befestigten sich die Schnallen von allein. Jetzt mußte er die Rüstung nur in die Höhe halten, und schon sprang sie ihm aus der Hand und schmiegte sich an seinen Körper. Sie fühlte sich inzwischen besser an als ein feiner Lederhandschuh, den man über die Hand zog. Während des Tragens wurde jeder Augenblick zu einer Freude, die schon an Sinnlichkeit grenzte. Sobald er das Schwert zog und die Lanze schwang, war er unbesiegbar. Er verstand es zwar nicht, aber die Lebende Rüstung gab ihm Kraft. Je länger er kämpfte, um so stärker wurde er. »Ich kann nicht, Mytaru«, sagte er flehentlich. »Nach einem Kampf kann ich mich nicht ... nicht bewegen. Ich bin völlig erschöpft.« Yunnie konnte weder seine überschäumende Kraft während des Kampfes noch die überwältigende Müdigkeit danach erklären; eine Müdigkeit sowohl des Körpers wie auch des Geistes. »Was nach einem Kampf kommt, ist unwichtig«, sagte Mytaru. »Was du während der Schlacht tust, beflügelt uns alle. Die Elfen besiegen uns mit Leichtigkeit – außer, wenn du die Herde anführst und uns zum Sieg verhilfst. Zum Wohle der Urhaalan, zum Wohle der Herde mußt du voranziehen und unser Banner tragen!« Yunnie sah an Mytaru vorbei und zu Noadia hin244
über. Sie stand in der Tür ihres Hauses und bemühte sich, eine undurchdringliche Miene zur Schau zu tragen. Ob sie die Trauer für jene, die bisher gefallen waren, oder noch stärkere Gefühle unterdrückte, wußte er nicht. Ihre braunen, mit Tränen gefüllten Augen sahen ihn an. Gern wäre er zu ihr gegangen und hätte ihr versichert, daß Mytaru bald zurückkehren und der nutzlose Krieg ein Ende haben würde. Wenn er doch nur die Worte aussprechen könnte, um ihnen von den Kohlengolems, den Niroso und anderen Wundern zu erzählen, die ihm unter der Erde begegnet waren. Aus irgendeinem Grund konnte Yunnie Mytaru und den übrigen Stammesmitgliedern nichts von seinen Entdeckungen berichten. Er hatte Mytaru nicht einmal erzählen können, wie er an die Lebende Rüstung gekommen war. Wahrscheinlich glaubte sein Blutsbruder, Yunnie habe den Lederpanzer mit eigenen Händen angefertigt. Die einzigen Worte, die sich seiner Kehle entrangen, wenn er die Freunde warnen wollte, handelten von Goblins. Sein fortwährendes Herumreiten auf diesem Punkt hatte Aesor und andere Überlebende des HelmheimStammes auf die hinterlistigen Taktiken der Goblins aufmerksam gemacht. Etliche der kleinen Monster waren getötet worden, als sie die Leichen auf den Schlachtfeldern ausplünderten. Yunnies gerechtfertigte Warnung war ungesagt geblieben und drohte, ihn zu ersticken. »Steinvolk«, krächzte er, aber unsichtbare Finger 245
umklammerten seine Kehle, bis er nicht einmal mehr luftholen konnte. »Was sagtest du, Kleiner Bulle? Du wirst uns anführen? Gut!« Mytaru sprang auf und stieß einen Schrei aus, der durch das ganze Tal hallte. »Heute gehört der Sieg uns! Wir jagen die verdammten Spitzohren zurück in ihre grüne Hölle!« »Ich führe euch«, stimmte Yunnie zu, der sich in das Unausweichliche fügte. Wie sonst sollte er die Herde vor der Gefahr warnen, die ihnen von den Kohlengolems und den Niroso drohte, wenn man ihn im Redekreis nicht ernst nahm? Sofort nach seiner Aufnahme in die Herde hatten ihn Aesor und die anderen nicht beachtet, weil er nur ein junger Bulle war, der sich noch nicht in der Schlacht bewährt hatte. »Fünf«, sagte Yunnie und betrachtete die Streifen auf seinem Arm. »Heute kommt der sechste dazu, und wir werden uns unter deiner Leitung mit Ruhm und Ehre bedekken.« Wieder wollte Yunnie von den Niroso reden, brachte aber nur ein unverständliches Gestammel zustande. Als Mehonvo mit seiner Kriegslanze, deren Spitze im Sonnenlicht funkelte, auf sie zukam, gab er auf. Der alte Minotaurus hatte die Kampfbänder um sein einzelnes Horn geschlungen. An den verschiedenen Farben konnte man sehen, daß er an einem halben Dutzend Kriegen teilgenommen hatte, die jeweils nach 246
vergangenen Tiyintfesten stattfanden. Yunnie versuchte auszurechnen, wie viele Jahre es sein mochten, aber er konnte es nicht einmal erraten. Bis zum nächsten Tiyintfest und einem Krieg gegen ein anderes Volk würden nur rote Bänder als Hornschmuck ausgeteilt werden. Es konnte zwei Jahre oder noch länger dauern, bis die beiden Monde sich rundeten und ein neues Tiyintfest stattfand, wenn das heilige Licht durch die beiden Öffnungen in der Zeremonienhöhle der Minotauren fiel. Außerdem war nicht sicher, ob es erneut zum Krieg kommen würde. Soweit es Yunnie bekannt war, hatten die Urhaalan in den letzten zehn Jahren in Frieden gelebt. Mehonvo war bedeutend älter, als er angenommen hatte, wenn man von den Kampfbändern ausging. »Ein schöner Tag für die Geister, unsere Feinde mit nach Westen zu nehmen«, verkündete Mehonvo laut, als müsse er sich davon überzeugen, daß nur Elfen und keine Urhaalan sterben würden. Der alte Minotaurus betrachtete Yunnie argwöhnisch und nickte dann zufrieden. Irgendwie fühlte sich der junge Mann dadurch besser, auch wenn er die Minotauren gar nicht in die Schlacht führen wollte. Lieber hätte er friedlich mit den Elfen gesprochen. Aber er konnte nicht untätig herumsitzen und zusehen, wie sie seine Freunde abschlachteten. Was auch immer sie antrieb – sie mußten aufgehalten werden, ehe man an Friedensverhandlungen den247
ken konnte. Der Abschied und das Zurücklassen Noadias erwiesen sich als schwerer, als Yunnie gedacht hatte. Immer wieder sah er über die Schulter zu ihr hin. Er war sich nicht sicher, glaubte aber, Tränen über ihre Wangen laufen zu sehen. Weinte sie um ihn? Um ihren Gefährten? Um die Toten, die es auf beiden Seiten geben würde? Yunnie sah, wie sie im Haus verschwand, um sich auf die eigenen Rituale vorzubereiten, bei denen sie um Sieg und Gesundheit beten würde. Yunnie fiel in den schnellen Schritt, der ihn und die übrigen Mitglieder des Stammes Utyeehn schnell auf den Hügel brachte, der über dem wie eine Schüssel geformten Tal lag. Dort hatte vor kurzem ein kleiner Kampf geendet. Zwei Minotauren lagen tot im Sonnenlicht. Pfeile steckten in ihren Körpern. Die elfischen Bogenschützen waren noch anwesend und feuerten mit tödlicher Genauigkeit. »Da! Da sind sie! Wir können sie fassen!« brüllte Mytaru. Er wandte sich an Yunnie und wartete auf den Befehl zum Angriff. Yunnie dachte daran, wie weit es mit ihm gekommen war. In Shingol war er bloß ein Fischerjunge gewesen. Die Bezeichnung ließ ihn schaudern. Wo hatte er das Wort noch vor kurzem gehört? Er konnte sich nicht erinnern. Damals war er ein Ausgestoßener gewesen. Zielloses Umherwandern hatte ihn ins Land der Elfen gebracht, an den Ehernwurzelbäumen vorbei in ein Gebiet, des248
sen Anblick er sich nicht hatte erträumen können, als er noch mit den Fischnetzen kämpfte. Die Stimmung bei den Elfen war gespannt gewesen – er hatte dazugehört und doch wieder nicht. Yunnie vermochte das nicht zu erklären. Manchmal suchte ihn die Erinnerung an eine alte Elfe heim. Erst im Tal der Urhaalan hatte er eine Heimat und eine Familie gefunden. Aus dem herumziehenden Menschen war ein Bulle des Stammes Utyeehn geworden. Jetzt führte er die Herde in den Krieg. Ein tiefer, kehliger Schrei erklang. Zu seiner größten Überraschung bemerkte er, daß er selbst den Schrei ausgestoßen hatte. Yunnie hob die Kriegslanze und wies damit auf die getöteten Minotauren. Nicht nur Mytaru und Mehonvo, sondern Dutzende anderer Stammesbrüder, die ihnen, ohne daß er es gemerkt hatte, gefolgt waren, stimmten in seinen Ruf ein und stürmten los. Yunnie, der flinker als seine Brüder war, überholte die Bullen und stürmte ganz allein auf einen Pulk von Bogenschützen zu. Sie grinsten, spannten die Sehnen und sandten ihm ihre Pfeile entgegen. Die Lebende Rüstung fing sie auf und ließ sie wirkungslos abprallen. Während des Laufens leitete ihn die Rüstung und zwang ihn, von einer Seite zur anderen zu springen, um dem schlimmsten Pfeilhagel zu entgehen. Dann war er nahe genug heran gekommen. Seine Lanze durchbohrte den Anführer der Elfen. Der stürzende Körper riß ihm die Waffe aus der Hand, aber Yunnie hatte das Schwert schon gezückt. Unter seinen Hieben 249
spritzte Blut nach allen Seiten. Noch ehe ihn die anderen Bullen erreichten, hatte er bereits fünf Elfen getötet. Yunnie bezwang die sinnlose Mordlust, die ihn gepackt hatte und ließ es nunmehr zu, daß ihn die Rüstung immer wieder beiseite springen ließ, um weniger heftigen Angriffen auszuweichen. Der Kampf endete so plötzlich, wie er begonnen hatte. Die Minotauren triumphierten; zwölf tote Elfen waren die Rache für die beiden gefallenen Herdenbrüder. Mytaru, der alte Mehonvo und die übrigen sahen Yunnie jetzt mit anderen Augen an. Respektvolle Blicke aus den braunen Augen streiften ihn, und wenn sie mit ihm sprachen, klang Bewunderung in ihren Stimmen mit. Yunnie war jedoch erschöpft und angeekelt, wenn er an das von ihm entfachte Blutbad dachte. Er wandte sich von den Feiernden ab, stieß das Schwert in den Boden und versuchte, die Lebende Rüstung abzulegen. Die Verschlüsse gaben erst nach, als er nach dem Dolch griff, um die Riemen durchzuschneiden. Erst dann, als wollten sie sich schützen, öffneten sich die Schnallen zögernd und widerwillig. Er zog sich das weiche Leder vom Oberkörper, damit der kühle Wind den Schweiß trocknen konnte. Es war unmöglich, die Rüstung aus der Hand zu legen. Sie ließ sich nicht aus seinen Fingern lösen, ganz gleich, wie sehr er es auch versuchte. Panik stieg in ihm auf, als gleichzeitig ein Triumphgeschrei aus den Keh250
len der Bullen erklang, die ihren Sieg feierten. Seinen Sieg.
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»Wie sind sie bloß in die Stadt gelangt?« jammerte Iro, während sie mit den Seilen kämpfte, die sie mit Hilfe dreier Soldaten über den steilen Felsen in die Höhe zog. In zehn Schritt Entfernung zerrte Quopomma grunzend an ihrem Seil und hievte zwei Soldaten auf den schmalen Felsvorsprung, auf dem sie schwankend balancierte. Die Ogerin wischte sich den Schweiß aus den Augen und rief: »Wahrscheinlich sind sie deshalb ausgestorben. Hatten keine Lust mehr, das Essen heraufzuziehen.« »Nun, von Feinden wurden sie bestimmt nicht getötet – außer, sie fielen vom Himmel«, fügte Maeveen hinzu. Sie beugte sich vor, um nach weiteren Stellen Ausschau zu halten, in die sie die Kletterhaken schlagen konnten. Sie hatten den Berg eine Woche lang auskundschaftet, um nach einem einfachen Weg in die Höhe zu suchen. Leider gab es keinen. Die Stadt der Schatten erwies sich als dunkler Edelstein, der unmöglich zu erreichen war, bis sie endlich eine halbwegs geeignete Stelle für den Aufstieg entdeckten. 252
»Sie mußten sich nie verteidigen«, meinte Quopomma. »Wer würde diesen gräßlichen Ort schon wollen?« »Ausnahmsweise muß ich ihr zustimmen«, warf Iro ein. Die beiden stießen sich von dem Felsen ab und kletterten weiter. Maeveen vermutete, daß sie sich knapp unterhalb des Gipfels befanden. Sie wandte sich wieder dem Seil zu und half Vervamon, auf den schmalen Sims zu gelangen. Der grauhaarige Forscher kroch keuchend auf den Vorsprung. Die Höhenluft machte ihm und den anderen zu schaffen. Nur Coernn und seine Begleiter schienen immun dagegen zu sein. Maeveen fragte sich, wie sie die Anstrengungen verkrafteten, da man ihnen nie etwas anmerkte. Sie runzelte die Stirn und dachte an den Verlauf der Reise. Coernn war nie erschöpft gewesen, obwohl er und seine Freunde doppelt so viel geschleppt hatten wie die Soldaten. Sie hatten sich geweigert, ihre kostbaren Bücher, Fläschchen und Ausrüstungsgegenstände zurückzulassen, und irgendwann einmal hatte Maeveen aus Neugier ihre Hilfe angeboten. Wenn ihre Leute das Zeug trugen, konnte sie vielleicht herausfinden, was daran so wertvoll war – und was in den Büchern stand, die Coernn jede Nacht studierte. Denn ihren Soldaten mochte sie nicht zumuten, als Spione tätig zu werden. Maeveen hatte sich ihre eigene Meinung über Coernn gebildet. Auch wenn Vervamon darauf bestand, Coernn sei kein Gelehrter, verbrachte er doch so viel Zeit über den Büchern, daß 253
er nichts anderes sein konnte. »Ich will der erste sein, der die Stadt betritt«, erklärte Vervamon, der sich hingesetzt hatte und die Beine über dem vierhundert Fuß tiefen Abgrund baumeln ließ. »Das letzte Stück kann ich ganz allein schaffen.« »Zu spät«, bemerkte Maeveen und verrenkte sich den Hals, um Quopomma gerade noch auf dem Gipfel verschwinden zu sehen. Zwei Seile fielen herab, und die Soldaten der Ogerin stemmten sich mit den Beinen gegen den Fels, als sie hinaufgezogen wurden. Bald folgten Iro und ihre Leute. Dann waren Maeveen und Vervamon an der Reihe. Der Gelehrte war schlechter Laune, als er den Gipfel erreichte und wieder auf die Beine kam. »Ich hätte der erste sein sollen. Wie sieht es aus, wenn ...« Er verstummte, als er die Stadt der Schatten erblickte. Unwillkürlich trat er einen Schritt nach vorn; sein Mund stand vor Staunen offen. Maeveen betrachtete die Gebäude. Aus der Ferne sahen sie ganz gewöhnlich aus. Von nahem merkte man, daß sie aus reinem Jet und Obsidian bestanden. Sonnenstrahlen spiegelten sich in den Wänden wieder und erzeugten dunkle Regenbogen – eine andere Bezeichnung wäre fehl am Platz gewesen. Die Farben bildeten Halbkreise, aber es handelte sich nicht um das vertraute Orange, Rot, Gelb, Grün und Blau. Je mehr sie sich bemühte, sie beim Namen zu nennen, um so schwerer fiel es ihr. »Es ... nichts ist so, wie es sein sollte. Es ist einfach 254
eigenartig«, meinte sie schließlich. »Es kommt mir vor, als stehe die Welt Kopf.« »Wir dürfen nicht hierbleiben«, erklärte Coernn. Er und seine drei Begleiter standen dicht beieinander, als suchten sie Schutz. »Das ist kein guter Ort. Ich spüre es in den Knochen.« »Eure Knochen sind viel zu dünn. Daraus kann man nicht einmal einen guten Eintopf kochen«, warf Quopomma ein. »Mir gefällt die Aussicht.« Die Ogerin wandte der Stadt den Rücken zu und spähte in die Ferne. Die blutrote Sonne stand tief am Horizont und die Schatten wurden immer länger. Maeveen fiel auf, daß diese Schatten sich leicht bewegten und jene mieden, die von den Gebäuden geworfen wurden, als scheue die Natur das Künstliche. Trotz ihrer unguten Gefühle, die sie mit Coernn teilte, ging sie weiter. Die Stadt erschien ihr kalt und feindlich, wie sie es nie zuvor erlebt hatte. Während ihrer Reisen mit Vervamon hatte sie gemeint, schon alles Außergewöhnliche gesehen und erlebt zu haben. Die Stadt der Schatten strafte sie Lügen. »Wir müssen sehr vorsichtig sein«, sagte sie zu Vervamon. »Alles aufzeichnen. Den Gebrauch der Häuser herausfinden. Viele sehen völlig gleich aus. Hatten die Erbauer keine Phantasie, oder hat das Ganze einen bestimmten Grund?« »Gräfin Lani schreibt, die Stadtmitte sei nicht unbedingt der Aufbewahrungsort von Wertgegenständen«, erklärte Vervamon und rieb sich die Hände, erfreut 255
über seine Entdeckung. »Am Westrand der Stadt, wo die Strahlen der Sonne von den Gebäuden abgeschirmt werden und die untergehende Sonne kaum Schatten wirft – dorthin sollten wir gehen.« »Wir dürfen nicht hierbleiben«, mischte sich Coernn ein. »Wir machen uns an den Abstieg und gesellen uns zu den anderen am Fuße des Berges. Dort sind wir in Sicherheit.« »Wir bleiben«, verkündete Vervamon bestimmt. »Es ist viel zu umständlich, noch einmal heraufzuklettern. Wir dürfen keine Zeit bei der Erforschung der Stadt verlieren – und bei der Suche nach dem Siegel von Iwset.« Maeveen und Coernn wechselten einen Blick. Diesmal waren sie einer Meinung. Maeveen fürchtete nichts Lebendes oder Totes, sei es Mensch, Oger, Elf, Minotaurus oder sonst etwas. Maeveen O’Donagh bekämpfte die böse Vorahnung und aufsteigende Panik, als sie Vervamon in das Herz der Stadt der Schatten folgte.
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»Was soll die Unverschämtheit?« wütete Lady Edara. »Ihr seid meine Ratgeberin, nicht Peemels Schoßhund!« Ferantia stülpte die Unterlippe vor und sah die Herrscherin eingehend an. Schon mehrmals hatte sie Peemels Heiratsantrag vorgebracht, aber so heftig wie heute hatte Edara noch nie reagiert. »Es wäre von Vorteil für Euch, Gebieterin«, antwortete Ferantia bedächtig. »Jehesic ist eine Insel. Man könnte uns von der Außenwelt abriegeln, wenn Peemel beschließt, seine Truppen zu vergrößern. Er ...« »In der Geschichte Jehesics gab es noch keinen erfolgreichen Angriff. Keine Flotte entlang der Küste ist stark genug, über unsere gut ausgerüsteten treuen Marinesoldaten zu triumphieren. Die Bürger würden sich eher in Stücke reißen lassen, als ihre Heimat aufzugeben.« Lady Edaras langes, kupferfarbenes Haar flatterte im Wind, der von der See her durch das offene Fenster drang. Sie drehte sich um und hieb mit der Faust auf den Schreibtisch. Bücher fielen zu Boden; Papiere segelten, vom Wind getragen, durch den Raum. »Lieber sterbe ich, als diesen vermoderten Fisch zu heiraten, der sich einen Lord schimpft!« 257
»Ich habe Euch die Vorteile bereits genannt, Herrin«, fuhr Ferantia fort. Ihr war bewußt, daß sie sich mit jedem Wort ihrer Entlassung gefährlich näherte, aber Digody hatte darauf bestanden, daß sie Edara so viel wie möglich unter Druck setzte. Trotz Peemels Begierde, seine militärische Überlegenheit zu beweisen, war niemand auf einen Krieg erpicht. Wie hatte Digody gesagt? Wenn Jehesic ohne Widerstand aufgab, würde das Peemels Ehrgeiz sättigen und seinem Ratgeber mehr Zeit geben, den Herrscher vom Thron zu verdrängen. Wenn doch nur Digodys Attentat nicht fehlgeschlagen wäre, dachte Ferantia. Sie hätte mit einem oder zwei Sprüchen nachhelfen sollen, dann würden die Leviathan-gefüllten Tiefen des Meeres die Inquisitoren und ihre nie ermüdende Wachsamkeit bezüglich der Anwendung von Magie verschlingen. Digody konnte keine Zauber wirken, aber das hielt sie für gut, denn auf diesem Gebiet war sie ihm voraus, auch wenn es bedeutete, daß er immer wieder versagte, Peemel umzubringen. Nun, so würde auch Digody leichter zu beseitigen sein – wenn erst beide Herrscher nicht mehr unter den Lebenden weilten. »O ja, das habt Ihr«, antwortete Edara mit eisiger Stimme. Der plötzlich veränderte Tonfall warnte Ferantia vor der Gefahr, in der sie sich befand. »Ich schlafe mit dem Stachelfisch und zeige erst dann meine giftigen Tentakel«, fuhr Edara fort. »Bin ich nichts weiter als eine Frau, die ihren Gemahl tötet, um die Macht an 258
sich zu reißen? Würde es mich nach Macht gelüsten, hätte ich mir Iwset schon längst genommen.« »Das Volk hätte einen derartigen Krieg nie geduldet, Gebieterin«, meinte Ferantia, die fieberhaft nachdachte. »Natürlich nicht. Es hat gesunden Menschenverstand – im Gegensatz zu Euch. Ich glaube, die Gerüchte sind wahr, Ferantia. Ihr habt Euch mit Peemel verbündet und folgt eher seinen Befehlen als meinen.« »Peemel? Sicher nicht«, erklärte Ferantia abfällig. »Allerdings habt Ihr recht, Lady Edara, denn meine Ergebenheit zu Euch ist am Ende.« Ferantia sah keinen Grund mehr zu weiteren Lügen. Seitdem Edara den geheimnisvollen Liebhaber hatte, hatte ihr Einfluß auf die Herrscherin nachgelassen. Es war an der Zeit, ihn wieder geltend zu machen. Die Hände formten arkane Muster, die Lippen murmelten die uralten geheimen Worte, die von einem längst verstorbenen Magier entdeckt worden waren, und mit gesenkten Lidern wob Ferantia ihren Zauber. Edara taumelte, als habe man ihr ins Gesicht geschlagen. Sie keuchte und versuchte, sich abzuwenden. »Verschwinde«, stieß sie hervor. »Ich kann nicht, nein, nein ...« Ihr Widerspruch versiegte, wurde vom Wind ergriffen und zurück in ihre Kehle gepreßt. Ferantia wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es erforderte ihre ganze Kraft, einen so umfangreichen, mächtigen Zauber zu wirken. Sie sank auf einen niedrigen Hocker und fuhr mit der Beschwörung fort. Es dauerte länger als eine halbe Stunde, bis er vollständig 259
wirkte. Mit weichen Knien ging sie zum Fenster hinüber und sah auf den Hafen hinaus. Man hatte ihr gesagt, sie möge dafür sorgen, daß die Regentin sich auf der Festungsmauer einfand, wenn die Sonne am höchsten stand. An den immer kürzer werdenden Schatten zu ihren Füßen sah sie, daß es kurz vor Mittag sein mußte und somit an der Zeit war, die Botschaft zu übermitteln. Ferantia drehte sich um und winkte Edara, die sich mit langsamen, unbeholfenen Schritten näherte. Ihr Gesichtsausdruck schwankte zwischen Gleichgültigkeit und abgrundtiefem Haß, der ihr hübsches Gesicht zu einer bösartigen Maske verzerrte. Ferantia war es gleich, welche Pose ihre Herrin einnahm. Sie befanden sich hoch oben in der Zitadelle, und niemand konnte von unten erkennen, welche Miene Edara zur Schau trug. Sie würden nur miterleben, wie sich Jehesic ergab und Edara den Antrag Lord Peemels annahm. »Nur eines Dolchstoßes bedarf es, Gebieterin, um Euch auf Iwsets Thron zu setzen.« Bei dem Gedanken daran, wer die Fäden der Marionette Edara bedienen würde, lächelte Ferantia grimmig. Sie wollte Edara zur Hochzeit zwingen und sich dann schnellstens um Digody kümmern, ehe er seine Macht unter den Edlen Jehesics durchsetzen konnte. Und Ihesia. Ferantia verzog die Lippen zu einem Fauchen, als sie an Peemels Generalin dachte. Das war eine ehrgeizige Gegnerin, um die sie sich ebenfalls kümmern mußte – und zwar umgehend. 260
»Geht zum Rand und klettert die Stufen empor, damit Euch Eure Untertanen sehen können«, befahl sie. Edara gehorchte, wehrte sich jedoch gegen jeden Schritt. Sie erklomm Stufe für Stufe, bis der Wind an ihren dünnen Gewändern zerrte und ihr auffallendes Haar wie ein kupfernes Banner flattern ließ, in dem sich goldene Sonnenstrahlen verfingen. Obwohl Ferantia es ihr nicht befohlen hatte, hob sie den Arm zum Gruß. »Gut so, sehr gut«, lobte Ferantia. Sie spürte, wie ihre Kraft nachließ, während sie fortwährend darum kämpfte, nicht die Herrschaft über Edara zu verlieren. »Vor dem Hafen liegt Lord Peemels Kriegsschiff. Gebt ihm damit ein Zeichen.« Ferantia reichte Edara einen Stab, an dem drei Flaggen in den Farben Iwsets flatterten – das Zeichen für ihr Einverständnis zu einer Heirat. Mit zitternden Händen ergriff Edara den Stab und hob ihn langsam in die Höhe. Der Wind packte die Banner und blähte sie auf. Das Kriegsschiff und die versammelten Einwohner Jehesics würden die Kapitulation mit ansehen. »Schwenkt es hin und her! Es soll ein denkwürdiger Augenblick sein. Los jetzt! Ihr werdet zu spüren bekommen, welche Macht Euch zuteil wird – mehr Macht, als dieses elende Inselreich zu bieten hat!« Ferantia holte tief Luft und murmelte die Beschwörungen ein wenig lauter, um dem Zauber mehr Wirkung zu verleihen. »Schwenkt die Flaggen. Zeigt ihnen, daß Ihr 261
Lord Peemel eine treue Ehefrau sein werdet.« Edara taumelte zum Rand der Zinnen, um sich hinabzustürzen und dem unwürdigen Spiel ein Ende zu bereiten. »O nein, das kommt nicht in Frage! Ihr müßt leben, meine kostbare Königin. Ja, meine Königin. Ihr werdet mehr als nur Jehesic und Iwset regieren, wenn ich erst mit Euch fertig bin. Jetzt schwenkt die Flaggen als Zeichen Eurer ...« Ferantia erstarrte und riß die Augen auf. Sie blinzelte, und plötzlich schwand ihre Schönheit wie Schnee in der Sonne dahin. Dann sank sie tot auf den Steinboden nieder. Edara ließ die verhaßten Flaggen fallen und wirbelte herum. Ihr Gesicht war ob der Anstrengung, sich gegen Ferantias Magie zu wehren, völlig verzerrt. Sie richtete die meergrünen Augen auf die blutige Klinge, die über der Toten schwebte. »Du hast mich gerettet«, stöhnte sie. »Sie hat mich mit einem Zauber in ihren Fängen gehalten. Ich wußte gar nicht, daß sie solche Macht besaß. Sie zwang mich ...« »Ich weiß, Geliebte. Es ist vorbei. Ihr Leben ist ausgehaucht, aber es gibt so viele andere. Außerdem fürchte ich, daß dies der Beginn des Krieges ist.« Ein blutbesudelter Dolch fiel zu Boden, und starke Arme streckten sich Edara entgegen. Sie wandte sich ab, eilte zu den Zinnen zurück und zerriß die Flaggen in kleine Fetzen. Die Überreste warf 262
sie in die Tiefe, wo sie zum Zeichen ihres Widerstandes über die Menschenmenge hinwegschwebten. In der Ferne eröffneten die Verteidiger Jehesics mit brennenden Pechkugeln das Feuer auf Lord Peemels Kriegsschiff, aber Edara bemerkte es nicht. Sie fühlte sich in den Armen ihres Geliebten so sicher, daß ihr alles andere gleichgültig war.
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»Wo seid ihr, meine kleinen Freunde? Wo seid ihr?« Quopomma drehte sich um die eigene Achse und suchte vergebens nach ihren unsichtbaren Gefährten. Der Anblick der Ogerin, die nicht mehr in der Lage war, sich ihre Vertrauten vorzustellen, sandte Maeveen kalte Schauder den Rücken hinunter. Sie legte die Hand auf den Schwertgriff, glaubte aber nicht, daß sie einen Feind entdecken würde, dessen Körper fest genug war, um ihn zu durchbohren. »Verteilt euch! Laßt einander nicht aus den Augen«, befahl sie, als die Handvoll Soldaten begann, die Stadt zu erkunden. Die schwarzen Steinwände leuchteten von innen heraus und tauchten die Suche in ein unheimliches Licht, das eigentlich gar kein Licht war und alles noch schlimmer machte, als es die dunkelste Nacht vermochte hätte. »Wie kann etwas dunkel leuchten?« fragte Quopomma, die sich vor einer Obsidianwand aufgebaut hatte. »Es sieht aus, als flackere drinnen eine schwarze Flamme. Oder sollte man sagen: eine finstere Helligkeit?« Die Ogerin kratzte sich am Kopf und betrachtete ihr Spiegelbild, ehe sie überraschenderweise lächelte. 264
»Ich sehe gar nicht übel aus, was? Eine Schönheit wie ich könnte glatt die Königin auf dem Ball der vertrockneten Knochen abgeben, so viel ist sicher.« Maeveen lachte humorlos. Sie hatte keine Ahnung, was Quopomma sah. Von ihrem Standpunkt aus erblickte sie nur das übliche Bild der Ogerin. Sie ging weiter und sah genauer hin, aber es dauerte eine Weile, ehe ihr erschöpfter Verstand begriff, was sie vor sich hatte. Es war ein genaues Abbild, kein umgekehrtes Bild wie es bei gewöhnlichen Spiegeln der Fall war. Sie wandte sich ab, da sie einfach nichts Ungewöhnliches wahrhaben wollte. Bestimmt handelte es sich nicht um die einzige Eigenart innerhalb der Stadt der Schatten. Eine unheimliche Stille lag über dem Ort, und das Steinpflaster unter ihren Füßen gab bei jedem Schritt nach, als ginge sie auf festen Kissen einher. Dutzende verlassener Städte hatten ihr und Vervamon ihre Geheimnisse preisgegeben, aber Maeveen war sicher, daß dieser Ort niemals reden würde, egal, wie angestrengt sie auch lauschte. Vervamon schlenderte umher, betrachtete alles mit kritischen Blicken und machte sich unentwegt Notizen. Iro und ein Soldat hielten sich dicht hinter ihm und waren weniger an der Stadt als am Wohlergehen des Forschers interessiert. Im Augenblick befand sich Vervamon also in Sicherheit. Maeveen nahm an, daß dem Gelehrten erst Gefahr drohte, wenn er das Siegel von Iwset fand. Diese Gebäude! Nie zuvor hatte sie etwas ähnliches 265
gesehen. Sie drehte den Kopf hin und her und benahm sich wie eine Bäuerin, die zum erstenmal zum Jahrmarkt in die Stadt geht. Das Licht verschwand in den finsteren Wänden und wurde dort gefangengehalten. Aber dieses Licht – oder diese finstere Helligkeit – hatte nichts mit dem strahlenden Sonnenschein gemein. Welche merkwürdigen Wesen hatten sich in der Stadt der Schatten heimisch und sicher gefühlt? Auf diese Frage gab es keine einleuchtende Antwort. »Begleitet mich!« rief sie Quopomma zu. Widerstrebend riß sich die Ogerin von ihrem Abbild los und gesellte sich zu ihrer Kommandeurin. »Eine wirklich schöne Stadt. Nicht wie die alten verkommenen Ruinen, in denen Vervamon sonst so gerne herumkriecht.« Quopomma pfiff unmelodisch durch die Lücke, die ein fehlender Zahn im Unterkiefer hinterlassen hatte und stolzierte herum, als sei sie die Besitzerin der ganzen Stadt. Jeder Schritt, der sie näher zur Stadtmitte brachte, führte dazu, daß sich Maeveen immer unwohler fühlte. »Wir werden nicht beobachtet«, meinte sie und versuchte, den Grund für ihr Unbehagen herauszufinden. »Könnte es sein, daß diese Gebäude nichts anderes sind als Grabstätten?« »Denkt Ihr etwa, die Stadt habe sich gewissermaßen auf dem Gipfel des Berges selbst bestattet?« Mit vorgestülpter Unterlippe grübelte Quopomma darüber nach. »Es fühlt sich aber nicht wie ein Totenacker an. Hier lebt nichts, aber es lauert auch nichts Totes. Es ist, als 266
wäre Onkel Istvan vorbeigekommen, hätte alle Narren, die hier lebten, zu Tode erschreckt, die schließlich ohne Ausnahme geflohen wären und sich in alle Himmelsrichtungen verstreut hätten.« »Die Eingänge sind eigentümlich geformt«, bemerkte Maeveen. »So sieht keine Kreatur aus, der ich bisher begegnet bin.« Wenn sie auf den Zehenspitzen stand, reichte sie nicht bis an den Sturz. Der Türrahmen wölbte sich nach außen, als sei ein unglaublich fetter Riese hindurchgewatschelt, um seinem unbekannten Tagwerk nachzugehen. »Verzierung, sonst nichts«, meinte Quopomma abfällig, die sich nicht für derartige Dinge interessierte. »Hier müssen die Wachunterkünfte gewesen sein. Seht Euch nur die Betten an.« Die Ogerin betrat das Gebäude, aber Maeveen blieb draußen stehen und sah sich eingehend um. Das Haus bestand aus Glasscherben, die von oben herabgefallen zu sein schienen, und im Mittelpunkt der Stadt eine Pyramide bildeten. Hier nahmen die Straßen ihren Anfang, die sich wie die Speichen eines riesigen Rades über das Felsplateau zogen. »Alle Straßen führen nach Terado«, flüsterte Maeveen und lächelte über die alte Redensart. »Und hier haben sie ihren Ausgangspunkt.« Sie umkreiste das Gebäude und erblickte einige ihrer Soldaten, die – gemäß ihren Befehlen – die Straßen erkundeten. Ein unzufriedener Vervamon kehrte vom westlichen Stadtrand zurück. Die Art, wie er auf Iro einredete, über267
zeugte Maeveen, daß er das Siegel nicht gefunden hatte. Von Coernn und seinen Gefährten war nichts zu entdecken. Sie vermutete, daß die Männer nach Norden gegangen waren, um die Felsnase, die ein Stück über den Berg hinausragte, nach einer bequemeren Abstiegsmöglichkeit zu untersuchen. »Betten, Hauptmann! Das müssen Betten sein. Wunderbar weiche Betten.« Quopomma wippte auf einer Lagerstätte auf und ab, die selbst für ihren massigen Körper breit genug war. »Hier könnte ich ein ganzes Jahr lang schlafen.« »Wir müssen ein Nachtlager aufschlagen. Die Sonne geht gleich unter. Ich weiß nicht, wohin der Tag verschwunden ist. Wenn wir ausgeruht sind, können wir morgen früh wieder hinabklettern.« »Glaubt Ihr, daß Vervamon seine Suche bis dahin beendet hat?« Die Ogerin verstummte, als Vervamon in den Raum stürmte. »Ein Possenspiel, sonst nichts! Wie konnte ich nur glauben, was jene verlogene Gans schrieb? Sie war eine Betrügerin, eine Lügnerin und eine Hure! Schlimmer noch, sie war eine armselige Gelehrte!« »Gräfin Lani Thesavert?« fragte Maeveen – trotz ihres Unbehagens belustigt. »Armselige Forschungsarbeit, das ist es. Sie schrieb Halbwahrheiten und faustdicke Lügen in Versunkene Länder und verborgene Schätze! Sie schrieb regelrechte Märchen, ohne es zu wissen. Das verschlimmert die Sache noch. Einen Betrüger kann ich entschuldigen, 268
aber eine Närrin, die glaubt, Tatsachen wiederzugeben? Sie tut mir leid!« »Wir haben also einen langen Weg für nichts und wieder nichts zurückgelegt«, meldete sich Quopomma zu Wort. »Ich sagte Euch doch, daß Ihr das Siegel hier nicht finden werdet«, erklang die Stimme Coernns, der im Türrahmen stand. Seine noch verbliebenen Gefährten drängten sich mit mißmutigen Gesichtern hinter ihm. »Das habt Ihr, das habt Ihr. Aber wie? Wo waren Eure Beweise?« verlangte Vervamon zu wissen. »Wenn Ihr eine Behauptung aufstellt, müßt Ihr sie mit Tatsachen untermauern, nicht mit dummen Vermutungen oder Gefühlen!« »Und wo waren Eure Beweise? Ihr glaubtet einer Frau, die romantischen Unsinn schrieb, um ihre Freunde bei Hofe zu unterhalten. Das Siegel ist in Shingol. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren.« »Wenn Peemel – oder Ihr – die ganze Zeit über wußtet, wo es sich befindet, warum hat man dann keine Fregatte entsandt, es zu holen?« fragte Maeveen. »So sehr Vervamon sich über die großzügige Ausrüstung der Expedition durch Lord Peemel freut, weshalb wurde dann nicht Digody oder sonst wer nach Shingol geschickt?« »Wir haben erst ... vor kurzem davon erfahren«, erklärte Coernn zögernd. Maeveen spuckte ihr Gaumenkraut auf den Boden, Coernn vor die Füße. Zu ihrer größten Überraschung 269
saugte der harte Boden den zerkauten Rest auf. Innerhalb weniger Sekunden war nichts mehr davon zu sehen und der Boden wirkte sauber und trocken. Coernn beachtete weder die Beleidigung noch das Geschehene. »Was habt Ihr denn noch vor kurzem erfahren?« erkundigte sie sich spöttisch. »Wir setzen unser Leben für Peemels kostbares Siegel aufs Spiel. Dabei bedeutet es uns nichts.« »Die Gruft der sieben Märtyrer«, mischte sich Vervamon ein, dessen Wissensdurst den Ärger besiegte. »Wir werden sie öffnen und die Geheimnisse des Altertums entschlüsseln! Das wird mehr als nur eine Randbemerkung in meinen Aufzeichnungen einnehmen. Es wird dazu führen, daß man sich des Namens Vervamon in alle Ewigkeiten erinnert!« »Und was ist mit uns?« wollte Quopomma wissen. Vervamon hörte sie nicht, und Maeveen brachte ihre Vertreterin mit einem eisigen Blick zum Schweigen. »Also verlassen wir die Stadt der Schatten und reisen in ein Fischerdorf? Wenigstens können wir dort etwas Proviant auftreiben. Hier gibt es nur Staub und Verlassenheit.« Maeveen wollte zum eigentlichen Zweck der Expedition zurückkehren, auch wenn die Begräbnisrituale hin und wieder recht unheimlich waren. »Ja, Hauptmann O’Donagh, und je schneller wir das tun, um so besser ist es«, sagte Coernn. Er schien sich unbehaglich zu fühlen. Maeveen bereitete sein unglückliches Gesicht Freude. 270
»Wir müssen noch gründlicher suchen«, erklärte Vervamon. »Morgen früh, bei Tageslicht. Jetzt ist es schon zu dunkel, um die genaue Lage der Gebäude aufzuzeichnen. Oder hat jemand eine Fackel?« »Hier gibt es nichts Brennbares«, meinte Iro und zuckte die Achseln. Maeveen war bereits aufgefallen, daß es in der Stadt kein Holz oder ähnliches gab. Sie mußten ihr Abendessen kalt verzehren und auch die Nacht ohne wärmende Feuer verbringen, obwohl dieser Raum die Wärme des Tages gut zu speichern schien. Sie betrachtete die in Reihen aufgestellten Betten und dachte, daß sie hier wahrscheinlich zum erstenmal seit ihrer Abreise aus Iwset gut schlafen würden. Schon als ihr der Gedanke durch den Kopf schoß, warnte sie eine innere Stimme davor. »Wir könnten zum Lager zurückkehren«, schlug sie vor und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, während sie immer unruhiger wurde. Es gefiel ihr nicht, daß Coernn und sie auf einmal einer Meinung waren. »Der Abstieg wird einfacher als das Heraufklettern sein.« »Wir bleiben«, entschied Vervamon. »Warum sind wir überhaupt so weit gekommen und vergeuden dann die Gelegenheit, meinen Notizen eine so ansprechende Fußnote vorzuenthalten? Die Stadt der Schatten muß wenigstens eine Kleinigkeit bereithalten, die auch einen so erfahrenen Forscher wie mich interessiert.« »Gut. Ich beanspruche diese beiden Betten«, ver271
kündete Quopomma und stellte sich neben die beiden Schlafstätten am Ende der Reihe. Sie schob sie nebeneinander und wippte prüfend auf und ab. »Iro, Ihr übernehmt die erste Wache«, befahl Maeveen. »Aber Hauptmann, außer uns befindet sich niemand hier oben!« widersprach die schlanke Offizierin. »Wozu Wachen aufstellen?« »Gehorcht!« sagte Maeveen, die keinen Widerspruch duldete, besonders, wenn er von Iro kam. In den vergangenen Wochen hatte die Frau nicht viel Klugheit oder gesunden Menschenverstand bewiesen. Ohne darauf zu achten, ob Iro gehorchte oder nicht, zog Maeveen los, um sich ein geeignetes Bett zu suchen. Sie ließ sich fallen und genoß die wohltuende Entlastung ihres schmerzenden Rückens und der Schultern. Sie hatte zu viele Nächte mit nichts als ein wenig Moos und weicher Erde als Lager verbracht. Maeveen verschränkte die Hände unter dem Kopf und starrte an die hohe Decke. Winzige Funkenfinsterer Helligkeit tanzten in dem schwarzen Glas umher und jagten einander von einer Seite zur anderen. Sie hörte, wie sich die anderen zum Schlafen niederlegten. Coernn und seine Freunde flüsterten angeregt – Onkel Istvan mochte wissen, worüber. Sie dachte an Coernn und an die Möglichkeit, daß er ein Spion Abt Offeros und nicht Peemels war. Maeveen konnte sich nicht entschließen, wem sie ihn zuordnen sollte. Anfangs war sie davon ausgegangen, 272
daß er für die Inquisition arbeitete. Ihre Beobachtungen hatten jedoch offenbart, daß es ihm am Fanatismus der Priester mangelte. Das Verhalten seiner Begleiter erinnerte sie jedoch stark an die Kirche und ihre geheimen Schliche. Coernn benahm sich recht harmlos – außer, wenn er seine Meinung änderte und sie auf gefährliche Fährten locken wollte. Würde es in Shingol anders sein? Maeveen hoffte das. Je schneller sie das Siegel von Iwset fanden, um so früher konnten sie sich wieder dem wahren Zweck der Expedition zuwenden. Sie schloß die Augen, um sich einen Augenblick lang auszuruhen. Sie mußte die Wachen noch überprüfen, nachsehen, ob Vervamon schlief und auch bei Coernn und seinen Begleitern nach dem Rechten sehen. Nur ein paar Sekunden wollte sie ausruhen. Maeveen O’Donagh schlief ein. Sie schwebte. Sie flog. Auf seidenen Schwingen flog sie hoch durch die Lüfte. Maeveen schaute auf die Welt hinunter und bemerkte, wie klein sie war. Sie breitete die Arme aus und fing damit den Wind ein. Dann flog sie allmählich tiefer, immer engere Kreise ziehend, während sie die kühle Sonne im Rücken spürte. Ein plötzlicher Stoß hätte sie fast vom Himmel gerissen. Die Welt wurde vom Krieg erschüttert. Pfeile sausten durch die Luft und gingen in Flammen auf. Sie hielt Ausschau nach ihrer Herkunft und erblickte elfische Bogenschützen, die eifrig damit beschäftigt waren, den gefiederten Tod abzuschießen. Ihr Ziel waren Minotauren – mehr Minotauren als sie je für möglich 273
gehalten hätte. Ihre schwarzen Hörner glänzten im Licht der Feuerpfeile, und sie wurden von Vervamon angeführt. Vervamon? Nein, nicht von Vervamon. Maeveen zog die Beine an und schlug heftiger mit den Flügeln, um besser sehen zu können. Bei der hochgewachsenen Gestalt handelte es sich nicht um den grauhaarigen Vervamon. Es war ein jüngerer Mann, der dem Forscher sehr ähnlich sah. Das blonde Haar fiel ihm über die Schultern, und es wurde von einem Stirnband, verziert mit den Stammeszeichen der Urhaalan, zurückgehalten. Seine hohe Stirn erinnerte sie an Vervamon. Und diese blauen Augen! Sie brannten vor Leidenschaft – genau wie die Vervamons! Maeveen marschierte an der Seite des jungen Mannes, als er die Minotauren in den Kampf führte. Seine schlichte Rüstung wehrte fast alle Angriffe der Elfen ab. Sekundenlang wurde auch Maeveen von Kampflust ergriffen. Dann verwandelten sich die Umstehenden in Skelette, und sie schrie vor Entsetzen. Die Schreie stürzten über ihre Lippe und zersprangen in Tausende von Kristallsplitter, die wiederum zu Insekten wurden und hastig davonflogen. Maeveen wich zurück und sah sich nach dem Mann um, der Vervamon so ähnlich sah. Er war verschwunden, aber inzwischen folgte eine Schlacht der anderen, bis sie schließlich zu einem wirren Durcheinander aus vergossenem Blut wurden, das sich zu ganzen Strömen 274
vereinte und das Tal der Urhaalan bis zum Rand füllte und zum Schluß überfloß. Sie blinzelte verwirrt, als sie sich in einer warmen Flüssigkeit schwimmend wiederfand und Flotten erblickte, die den Hafen von Iwset verließen und, von blutigen Wellen getragen, nach Jehesic segelten. In weiter Ferne – in Jehesic? – stand eine Frau mit blutbesudeltem Haar. Neben ihr lag die Frau, die Maeveen im Armenviertel von Iwset mit Digody gesehen hatte. »Ferantia?« murmelte Maeveen. »Was ist mit Digody?« Noch während sie den Namen aussprach, tauchte der Ratgeber Lord Peemels auf. Seine Augen waren so rot wie die Wellen, die gegen die Küste des Stadtstaates schlugen. Eine Gestalt, die von einem so dichten Nebel verhüllt wurde, daß Maeveen sie nicht erkennen konnte, rang schweigend mit Digody. Sie kämpften und taumelten und fielen in ... die Folterkammern der Inquisition hinein. Abt Offero lachte lauthals, als er Ihesias Daumenschrauben anzog, während Lord Peemel schweigend zusah. Der Abt winkte jemandem, und schon erschien ein Helfer mit schwarzer Gesichtsmaske, eine brennende Fackel in der Hand, die vor Maeveens Gesicht explodierte. Sie stöhnte und versuchte, vor der feurigen, entsetzlichen Kreatur und den zerschmelzenden Steinen zu fliehen, die hinter dem Wesen zum Vorschein kamen. »Kohlengolem«, flüsterte sie und schlug wild um sich. »Wer sind die anderen Wesen?« Das Steinvolk 275
kam immer näher. Blut spritzte unter ihren Stiefeln auf, und im Hintergrund stand eine in die samtige Finsternis der Nacht gehüllte Gestalt, die schallend lachte und lachte und lachte. Eine tätowierte Hand streckte sich ihr entgegen und wurde mit einem Hieb vom Arm getrennt. Das wahnsinnige Gelächter dröhnte Maeveen in den Ohren, als die abgeschlagene Hand zu Boden fiel, auf den Fingern zu gehen begann – und genau auf Maeveen zulief. Maeveen setzte sich mit einem Ruck auf. Sie schwitzte, und ihr Herz schlug wie wild. Sie holte ein paarmal tief Luft und zwang sich zur Ruhe, als müsse sie sich auf einen bevorstehenden Kampf vorbereiten. Ihr war bewußt, daß sie gerade eine schlimmere Schlacht hinter sich gelassen hatte als jede andere, die sie bisher erlebt hatte. Maeveen schwang die Beine aus dem Bett. Allmählich fiel ihr wieder ein, daß sie eigentlich nach den Wachen hatte sehen wollen. Sie erhob sich und schlich auf Zehenspitzen zur Tür. Draußen glaubte sie, ihren Augen nicht zu trauen. »Quopomma!« brüllte sie. »Weckt die Soldaten!« »Was ist passiert?« knurrte die Ogerin und stürzte mit gezückten Schwertern herbei. Sie schaute an ihrem Hauptmann vorbei, die Straße hinunter. »Was ist mit ihnen?« »Ich weiß es nicht.« Maeveen wagte kaum, sich ihren Soldaten zu nähern. Sie lagen wie ungeborene Kinder zusammengerollt auf dem Boden, hatten sich be276
schmutzt und stammelten unverständliche Worte. »Sie sind völlig verängstigt«, stellte Quopomma fest. »Iro, wo steckst du? Was ist geschehen?« Iros Greinen quälte Maeveen noch mehr. Sie folgte den kläglichen Lauten und fand ihren Leutnant in eine winzige Nische gezwängt, die Augen weit aufgerissen und die Uniform so durchgeschwitzt, daß sie wie eine zweite Haut an ihr klebte. »Komm zu dir!« meinte die Ogerin barsch und schüttelte Iro unsanft. »Was habt Ihr gesehen? Ihr seid im Dienst eingeschlafen. Was habt Ihr gesehen?« wollte Maeveen wissen. »Entsetzliche Dinge. Monster. Zentauren, die Furchtbares mit mir anstellten. Adler mit schrecklichen Krallen. Sie rissen mir die Haut vom Leibe! Geier machten sich über meine Augen und Eingeweide her, und dann ... dann kamen sie! Sie!« Iro fiel wieder in die Starre zurück, die ihr den Verstand zu rauben schien. »Sie war ohnehin nie besonders mutig«, meinte Quopomma. »Wovon habt Ihr geträumt?« fragte Maeveen die Ogerin und dachte an ihre schrecklichen, mit Blut, Feuer und Tod getränkten Träume. Schon bei dem Gedanken daran begannen ihre Hände zu zittern. Auch jetzt fiel es ihr schwer, zwischen Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden. »Von daheim, meinen beiden Brüdern, und wie ich munter Arme und Beine brach«, seufzte Quopomma. 277
»Sie sind tot, schon seit vier Jahren. Und von meinen Freunden. Von meinen lieben Freunden.« Quopomma sah Maeveen schuldbewußt an, als habe sie bereits zu viel verraten. Maeveen kümmerten die unsichtbaren Wesen nicht, die im Traum zum Leben erwacht waren. »Was geht hier vor?« fragte Vervamon. »Es ist eine Unverschämtheit, mich aus einem so angenehmen Traum zu reißen.« »Angenehm?« ertönte Coernns zitternde Stimme. »Wovon habt Ihr geträumt?« Maeveen merkte ihm an, daß auch er einen Alptraum gehabt hatte. Er war noch bleicher als sonst und verbarg die bebenden Hände unter dem Umhang. »Nun, ich stellte gerade meine Berichte über die Erforschung der Gruft der sieben Märtyrer vor. Es war so, wie ich es mir erhoffte. Eigentlich sogar noch besser. Mein Triumph war vollkommen! Jene Idioten, die gegen meine Expedition waren, wurden davongejagt, zum Fußvolk degradiert. Man verbrannte ihre Aufzeichnungen als unwichtiges Geschmier und unwürdige Literatur! Die Akademie von Egaverral wählte mich einstimmig zum Vorsitzenden auf Lebenszeit! Man machte mich auch zum Ehrendoktor, und alle ersuchten mich um meine Zustimmung zu ihren Forschungen – die ich natürlich als unbedeutend zurückwies.« Maeveen sah Coernn an. Lord Peemels Kundschafter starrte Vervamon an, als lausche er einer Schreckensgeschichte, die seinen Alptraum noch übertraf. Dann drehte er sich um und sprach hastig auf einen seiner 278
drei Gefährten ein. Der Mann nickte, drehte sich um und eilte davon. Wieder hatte Coernn einen seiner Freunde fortgeschickt. Um Lord Peemel von den seltsamen Vorgängen zu berichten? Oder einem anderen Auftraggeber? Maeveen wußte es nicht, und es war ihr auch vollkommen gleichgültig, wie der Spion den Berggipfel zu verlassen gedachte. Sie wollte einfach nur die Erinnerung an ihren widerwärtigen Alptraum auslöschen. Aber es gelang nicht. Maeveen O’Donagh hockte den Rest der Nacht auf ihrem Bett, die Beine eng an den Oberkörper gezogen, und lauschte den verzweifelten Schreien Iros und der anderen Soldaten, die dem Wahnsinn nahe waren.
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»Wir werden ihnen das Rückgrat brechen und nie wieder Ärger mit ihnen haben«, verkündete Mytaru, und seine braunen Augen schweiften über das Schlachtfeld. »Seht ihr, wie sie sich entlang der Flanken sammeln und denken, die Bäume würden ihnen Schutz bieten? Wenn wir genau in der Mitte bleiben und zwei Reihen bilden, können wir nach beiden Seiten ausschwärmen und sie niedermachen.« »Ein waghalsiger Plan«, fand Yunnie. Unruhig schob er den Brustpanzer hin und her, der ihm Sorgen bereitete. Er war nicht in der Lage gewesen, ihn länger als ein paar Minuten abzulegen, egal, wie viel Mühe er sich auch gab. Selbst das Baden war schwierig geworden, obwohl es den Minotauren nicht auffiel. Ihre schweißbedeckten Oberkörper setzten sie ehrenvollen Orden gleich und brachten sie nicht mit Unsauberkeit in Verbindung, der man mit Wasser und Seife zu Leibe rücken mußte. Yunnie kratzte sich, als das Ungeziefer, das sich unter die Rüstung gezwängt hatte, schmerzhaft zubiß. Die Lebende Rüstung schützte ihn, aber die hungrigen Insekten machten sein Leben zur Qual. 280
Das einzige, was noch schlimmer war, war das eigentliche Ablegen des Brustpanzers. Er hatte sich so an Yunnie angepaßt, als sei er ein Teil seiner selbst geworden. Ebenso gut hätte er beschließen können, sich den Arm oder gar den Kopf abschlagen zu lassen. Hätte er Yunnie nicht so gut geschützt, würde er versucht haben, ihn abzuschneiden. Eine weitere Nebenerscheinung der Rüstung war aufgetreten. Wenn er sie während der Schlacht trug, befehligte er die gesamte Herde. Die Macht als Anführer nährte seine Gier nach Anerkennung weitaus mehr, als es die Aufnahme in den Stamm getan hatte. Yunnie wollte weder den Stamm, noch die Herde enttäuschen. Sie verließen sich auf ihn und nicht auf die älteren, erfahrenen Kriegshelden. Er hatte sich bemüht, die Zahl der Verwundeten auf beiden Seiten so gering wie möglich zu halten, aber das war auf Grund der immer heftiger tobenden Kämpfe fast unmöglich geworden. Keine Seite gab nach. Auch wenn es Yunnie gefiel, Anführer der Herde zu sein – heute war der Tag, den er insgeheim gefürchtet hatte. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als vor seinen Brüdern den Hang hinunterzulaufen und jeden Elfen, der sich ihm in den Weg stellte, zu töten. Wenn sie das Schlachtfeld heute verließen, würde es vielleicht keine Einwaldelfen mehr geben. »Mytaru, ich muß mit dir über die Feuer reden, die gestern den Stamm Hiraago vernichteten.« »Feiges Elfenpack!« brüllte Mytaru. Er stampfte mit 281
den Füßen auf, schnaubte unwillig und steigerte sich in eine heftige Wut hinein. Als er den Kopf zurückwarf, umflatterten ihn die roten Bänder wie blutige Flaggen. »Keine Elfen!« rief Yunnie. »Es waren ...« Seine Kehle verengte sich, und er drohte, zu ersticken. Keuchend beugte er sich vornüber und befürchtete, sich übergeben zu müssen. Dann fiel er auf die Knie und versuchte, in den weichen Boden zu schreiben, wie die Kohlengolems über die Minotaurenhäuser hergefallen waren und sie verbrannt hatten. Das Steinvolk hatte sie geschickt. Yunnie wußte es, hatte sie beobachtet und konnte trotzdem niemandem davon erzählen, ohne Erstickungsanfälle zu erleiden. »Eine neue Vision?« erkundigte sich Mytaru, den die Beklemmungen seines Blutsbruders nicht so sehr beunruhigten wie interessierten. Yunnie würgte und versuchte erneut, warnende Worte über die Niroso hervorzubringen. Schließlich trat Mytaru neben ihn und legte ihm den Arm um die Schultern. »Du siehst den Sieg, nicht wahr? Die Geister fahren in deinen Körper, und ihre Anwesenheit läßt dich erbeben. Warum reden sie durch dich zu uns, und nicht durch einen Minotauren?« Traurig schüttelte er den Kopf. »Wir sind stark und werden von Kindheit an daran gewöhnt, mit ihrer Macht zu leben. Aber nein, sie wählen ein schwächeres Geschöpf, um ihre Absichten kundzutun. Wie gut, daß du zum Stamm Utyeehn gehörst. Ein anderer Mensch wäre sicher auf der Stelle von den Geistern des Westens getötet worden.« 282
»Keine Vision«, keuchte Yunnie. Er richtete sich auf und schaute über das Schlachtfeld hinweg. Der Plan der Elfen war leicht zu durchschauen. Es schien, als wollten sie sich mit Absicht in die Lanzen der Minotauren stürzen. »Sacumon«, flüsterte er vor sich hin. Wieder und wieder versuchte er, sich zu erinnern und hatte das Bild der Steinleute, des Kohlengolems und der riesigen unterirdischen Höhle vor Augen, wo die unheimliche Versammlung stattgefunden hatte. Sacumon fiel ihm ein, aber es war, als versuche er, eine Handvoll Nebel festzuhalten. Sacumon hatte ihm die Lebende Rüstung aufgedrängt. Yunnie schlug mit der Faust auf den Brustpanzer, der den Hieb abfing. Was machte ihn bloß so vergeßlich? Sacumon? »Die Elfen werden von ihrer Ratgeberin betrogen«, sagte Yunnie. »Man schickt sie zum Sterben in die Schlacht, aber auch wir werden umkommen.« »Wenn wir die Elfen töten, können sie uns nichts anhaben«, meinte Mytaru. »So einfach ist das.« »Gar nicht einfach. Es steckt mehr dahinter, als es jetzt den Anschein hat.« »Wir töten den Feind, dann kann er uns nicht töten. Es ist doch einfach«, beharrte Mytaru. Yunnie hielt Ausschau nach Sacumon. Er bezweifelte, daß die Frau sich weit entfernt hatte, wenn heute die entscheidende Schlacht stattfand. Vielleicht wartete sie 283
ganz in der Nähe, um das Steinvolk später auf die Überlebenden zu hetzen. Oder war alles noch verworrener? Yunnie nahm an, daß sie ein Spiel trieb, bei dem sie alle Gegner gegeneinander aufhetzte, um schließlich als Siegerin hervorzugehen. »Magie«, krächzte er, als ihm klar wurde, daß ihn die Frau mit einem mächtigen Zauber belegt hatte, den er nicht abzuschütteln vermochte. Er wußte wenig von derartigen Dingen und wünschte, weit weg von allen bösen Magiern ungehindert durchs Land ziehen zu können. Das Leben bei den Minotauren war wundervoll gewesen, denn die Drei Auserwählten beschäftigten sich nicht mit Magie. Zauberei hatte einst das Land ins Unglück gestürzt, und jetzt begriff Yunnie, daß es an Leuten wie Sacumon lag, die nur ihren eigenen krankhaften Ehrgeiz damit befriedigen wollten. »Sie wenden Magie gegen uns an?« Mytaru schwieg nachdenklich. »Davon verstehe ich auch ein wenig, kleiner Bulle«, sagte er schließlich mit ernster Miene. »Ich habe noch nie darüber gesprochen, aber ich spüre eine starke Strömung, die gegen uns arbeitet. Es wird nicht leicht sein, dagegen anzugehen, aber die Macht der Urhaalan ist unvergleichlich! Wir sind überaus stark und außergewöhnlich klug!« Yunnie wurde übel. Das lag sowohl an Sacumons Zauber, wie auch an Mytarus Prahlerei. »Das Zeichen! Unser Onkel Mehonvo hat das Zeichen gegeben.« Mytaru wandte sich an Yunnie und wartete auf den Befehl zum Angriff. 284
Yunnie beschloß, nicht länger an dem sinnlosen Gemetzel teilzuhaben, auch wenn er sich dadurch wichtiger vorgekommen war als je zuvor. Elfen töteten Minotauren, Minotauren töteten Elfen, und Goblins brachten beide um. Noch heimtückischer war die Kriegführung der Niroso. Sie verbrannten die Minotaurendörfer mit Hilfe ihrer magisch gesteuerten Kohlengolems. Nur das Steinvolk würde aus diesem Krieg Vorteile ziehen. Und Sacumon. Yunnie wollte den erwarteten Befehl nicht erteilen. Er hörte, wie jemand zum Angriff rief – und merkte, daß er es selbst gewesen war. Gegen seinen Willen hob er den Arm und stürmte los. Tausend Urhaalan folgten ihm und eilten auf die Baumgruppen zu, um die Elfen zu töten. Yunnie schluchzte und versuchte, den Arm zu senken, nicht länger zu schreien und stehenzubleiben. Die Lebende Rüstung ließ es nicht zu. Sie war sein Beschützer, und er war ihr Gefangener. Mit langsamen und bedächtigen Schritten folgte er der dahinrasenden Bullenherde den Abhang hinab. Mytarus Plan ging auf. Als ihre Verteidigung mißlang, teilte sich die Elfengruppe in der Mitte. Die beiden Minotaurenreihen schlossen sich und kreisten die Bogenschützen ein. Yunnie war sicher, daß der schlichte Plan wenig Erfolg gehabt hätte, wenn sich die Elfen heute nicht als unbeschreiblich einfältig erwiesen hätten, was nach ihren tödlichen und gut durchdachten Angriffen der vergangenen Wochen eine Überraschung war. 285
Den Grund dafür kannte er, und er hielt angestrengt Ausschau danach. Während er sich einen Weg durch das Schlachtgetümmel bahnte, teilte er fast beiläufig Schwerthiebe aus und tötete hier einen Krieger und verwundete dort einen anderen. Es war ihm gleichgültig, welchen Schaden er anrichtete. Er wollte Sacumon finden. Und es gelang ihm. Der Kampf tobte, und der metallene Gestank des Blutes wetteiferte mit dem sanften Duft der Spätsommerblumen. Ohne hinzusehen wußten Yunnie, daß das grüne Gras mit Blut bespritzt und schlüpfrig geworden war. Er starrte die dunkel gekleidete Gestalt an, die sich an einen Baum mit weit ausladenden Ästen lehnte. Mit einem Messer schnitt sie sich immer wieder in den Arm, so daß das Blut in Strömen floß. Fleischfetzen lagen ihr zu Füßen auf dem Boden herum. »Ich wußte, daß du hier sein würdest«, sagte Yunnie. »Du bist ein bemerkenswerter Mensch«, antwortete die Magierin und hielt in ihrer Selbstverstümmelung inne. »Wieder und wieder habe ich dich mit dem Zauber des Vergessens belegt, und noch immer erinnerst du dich.« »Wie könnte ich vergessen, welches Blutbad du anrichtest?« Der Lärm der Schlacht war ohrenbetäubend. Elfen starben. Auch Minotauren starben, aber bedeutend weniger. »Du hast die Elfen so aufgestellt, daß sie leicht zu besiegen sind.« »Auszulöschen sind«, verbesserte sie ihn mit sanfter 286
Stimme. »Ich will, daß die Minotauren siegen. Die Kohlengolems können mit ihnen einfacher fertig werden. Sie bewegen sich nicht so flink und sind nicht so klug. Man könnte sie geradezu als ... Rindviecher bezeichnen.« Yunnie stieß einen wütenden Schrei aus und stürmte voran, das Schwert in beiden Händen haltend. Er holte zum Schlag aus, um die Frau zu köpfen. Plötzlich erstarrten seine Muskeln; er verlor das Gleichgewicht und fiel vornüber, mit dem Gesicht auf den Boden. So sehr er sich auch anstrengte, er konnte den Dolch nicht ziehen und nach Sacumon werfen. Was er auch tat, sein Körper verweigerte ihm den Gehorsam. Jemand drückte ihn mit dem Gesicht in den mit Blut vermischten Schlamm. »Die Lebende Rüstung ist ein bemerkenswertes Artefakt«, erklärte Sacumon beiläufig. »Wer sie besitzt, verfügt über eine beachtliche Macht.« Sie stieß sich den Dolch ins Bein und schrie vor Schmerzen. Als sie die funkelnde Klinge wieder herauszog, sah Yunnie, wie sie neue Kraft schöpfte. Ihr vergossenes Blut bescherte ihr Schmerz und Macht. »Ich werde sie mir vom Leibe reißen!« knurrte Yunnie durch zusammengebissene Zähne. »Du wirst mich nicht beherrschen!« »Oh, das tue ich bereits. Versuch nur, sie abzulegen, dann wirst du merken, daß sich auch deine Haut löst. Die Magie ist mächtig, aber nicht so stark, wie ich hoffte.« Sacumon runzelte die Stirn. Sie verzog den Mund 287
und entblößte Zähne, die ganz eigenartig aussahen. Yunnie zuckte zusammen. Die Magierin hatte ein Gebiß wie eine Schildkröte. »Du lenkst mich ab. Ich vermag den Kampfverlauf nicht mehr zu beeinflussen. Wegen deiner Einmischung lassen meine Zauber nach.« Sie öffnete ihr Gewand und fuhr mit der Dolchspitze über den Oberkörper, der bereits mit unzähligen Narben bedeckt war. Yunnie schloß die Augen und konzentrierte sich auf einen einzigen Punkt: Die kleine Einbuchtung an Sacumons Halsansatz. Sobald er sich gesammelt hatte, nahm er seine ganze Willenskraft zusammen und griff an. Mit einem Satz sprang er auf und zielte mit dem Schwert auf die Kehle der Frau. Als die Klinge ihre Haut berührte, stieß sie einen markerschütternden Schrei aus. Sacumon wich zurück und fuhr mit den Fingern, die sich sofort blutrot färbten, in die Wunde. Das Blut, das aus Arm und Oberkörper floß, vermischte sich mit dem roten Rinnsal der Kehle zu einem grausigen Muster. Er hatte sie getroffen – aber an der falschen Stelle. Sein Versagen quälte ihn. Yunnie hatte die Gelegenheit verpaßt, diesem schrecklichen Krieg ein Ende zu bereiten. »Du wirst sterben, Fischerjunge. Ich brauche dich, um den Sieg zu erringen, aber du wirst ein schreckliches Ende nehmen, das schwöre ich dir. Die Niroso kennen Todesarten, neben denen die Inquisition wie eine Horde jammernder Kleinkinder aussieht, die sich 288
mit zerbrochenem Spielzeug abgibt.« Sacumon verschmolz mit den Schatten und verschwand. Yunnie richtete sich auf und taumelte zum Schlachtfeld zurück. An diesem Tag erlitten die Urhaalan ihre schlimmste Niederlage.
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»Du spielst ein gefährliches Spiel«, sagte Isak Glen’dard und strich Ihesia über das lange, dunkle Haar. In Gedanken war er meilenweit von der zärtlichen Umarmung der Generalin entfernt. »Du solltest mit mir kommen und ...« »Und hier alles zurücklassen?« Ihesia lachte und rückte ein Stück von ihm ab. Ihre blauen Augen funkelten. Vor Zorn? Vor Leidenschaft? Selbst ein so guter Beobachter wie Isak vermochte es nicht zu sagen. »Machst du dich über mich lustig?« »Das müßte ich eigentlich. Wir haben beinahe gewonnen, und der vollkommene Triumph ist nahe, liebster Isak, ganz nahe!« »Wie kannst du das sagen? Du selbst hast mir erzählt, es sei närrisch, gegen Jehesic zu kämpfen. Die Marine sei zu stark, die Matrosen zu gut ausgebildet und Edara treu ergeben. Durch einen Spion erfährt die Regentin alles, was Peemel plant. Er ist zu dumm zu begreifen, daß dieser Verrat ihm viele Verluste einbringt und sein Thron von Tag zu Tag mehr ins Wanken gerät.« »Das weiß ich, aber wenn das Spielzeug eines Kin290
des zerbricht, sucht es sich ein neues. Wir brauchen nur noch die Teile aufzuheben und können nach Herzenslust damit spielen!« Ihesia ließ sich auf das Bett zurücksinken, wölbte den Rücken und schnurrte wie eine zufriedene Katze, obwohl sie keinerlei Ähnlichkeit mit diesen Tieren hatte. In ihrer Nacktheit war sie noch schöner und sehr begehrenswert. Zu begehrenswert. Nie zuvor hatte Isak das Angenehme mit dem Geschäftlichen verbunden. Niemals, bis er Ihesia begegnet war. »Iwset ist kein Spielzeug, und alle, die damit spielen, werden jeden töten, der die Hand danach ausstreckt. Vielleicht kann man sich Peemels ohne Schwierigkeiten entledigen, aber sicher nicht Digodys. Seine Macht im Norden nimmt zu. Hast du die Berichte über Sacumons Krieg zwischen Elfen und Minotauren vernommen?« »Natürlich«, antwortete Ihesia. »Das gefällt mir nicht. Peemel, Sacumon und Digody wünschen, daß die Minotauren siegen, aber sie haben verloren und sind nun der Gnade oder Ungnade der Elfen ausgeliefert.« »Vielleicht kann Sacumon ihre Verbündeten nicht beherrschen. Ich weiß nicht, wer ihr Hilfestellung leistet«, meinte Isak. Er verließ das Bett und ging zum Fenster, von dem aus man über das Meer von Ilesmare blickte. Bunte Segel waren am Horizont zu sehen, und nicht eines gehörte zu einer Hafenstadt, die mit Iwset auf gutem Fuße stand. Bald würde Jehesic Peemel aufs Meer hinaus treiben. 291
»Ihre Magie schadet ihr selbst mehr als uns, Liebster«, erklärte Ihesia. »Sie nährt ihre Zauber mit ihrem eigenen Blut. Wenn sie mehr Macht benötigt, hat sie den höchsten Preis zu zahlen. Also haben wir nichts von ihr zu befürchten.« »Da bin ich nicht so sicher. Wir kennen ihre Verbündeten nicht. Es sind keine Goblins. Nein, nicht diese unwürdigsten aller Kreaturen, die unter der Erde hausen. Sie befehligt andere Wesen, die uns sehr gefährlich werden können.« »Ich mache mir viel mehr Sorgen über die Südfront. Rebellen belästigen meine Soldaten. Ich habe notgedrungen ein Bündnis mit Abt Offero geschlossen, um sie in ihre Schranken zu verweisen, aber die Inquisition ist kein gutes Werkzeug für eine solche Arbeit.« »Das stimmt«, meinte Isak und wandte sich vom Fenster ab. Der Anblick der nackten Frau auf dem Bett erregte ihn. Alles, was er sich seit Jahren über das Meiden jeglicher Gefahr eingetrichtert hatte, wurde fortgewischt, als er Ihesia kennenlernte. Peemel war unfähig, seinen Stadtstaat oder gar die angrenzenden Gebiete zu regieren, und alle möglichen Leute gierten nach der Macht. Ein so ungeordnetes Gefüge bedeutete für einen Außenseiter unweigerlich den Tod. Isak hatte beachtlichen Wohlstand angehäuft, seit er nach Iwset gekommen war. Es war an der Zeit, die brodelnden Unruhen hinter sich zu lassen und einen netten Ort zu finden, an dem er sein Geld ausgeben konnte. 292
Aber Ihesia würde nicht mit ihm gehen. Er seufzte über seine eigene Dummheit und kehrte zum Bett zurück, um sich neben Peemels machthungrige, intrigante, vor allem aber schöne Generalin zu legen. Ihre Finger glitten mit schnellen Bewegungen über seinen Oberkörper, als sie ihm Truppenbewegungen und Taktiken verdeutlichte. »Wir halten Jehesic auf Abstand, vielleicht auch mehr. Sacumon verhindert ein Bündnis im Norden. Mit Offeros Hilfe können wir die Rebellen im Süden besiegen. Und hier«, sagte sie hitzig, »hier stürzen wir uns in einen bedeutend innigeren Kampf.« Isak stöhnte, als Ihesia ihm zeigte, wie sie mit Digody, Apepei und Peemels anderen Ratgebern umzugehen gedachte. Isak wünschte, er könnte genauso gut reden. Dann war er an der Reihe, der willigen Frau zu zeigen, was sie mit Lord Peemel anstellen konnten.
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Yunnie war alles gleichgültig geworden. Er sah reglos zu, wie Mytaru herumlief und über die entsetzliche Niederlage wütete, die sie durch die Hand der Elfen erlitten hatten. Die stolzen Kampfbänder, die er noch vor wenigen Stunden getragen hatte, waren verschwunden, im Kampfgetümmel abgerissen worden. Noch immer steckte ein Pfeilschaft in seiner Schulter, aber es war ihm bisher nicht aufgefallen. »Du hast uns im Stich gelassen, Yunnie. Du bist gegangen, als wir deine Führung am nötigsten hatten. Kannst du mir das erklären?« Yunnie schüttelte den Kopf. Er wußte nichts dazu zu sagen, was seinen Blutsbruder oder die wenigen Bullen, die überlebt hatten, beruhigt hätte. »Es war ganz anders geplant«, erklärte er schließlich. Als er von Sacumon und ihren Absichten berichten wollte, blieben ihm die Worte in der Kehle stecken. Alles war seltsam verkehrt. Hätte er nichts unternommen und wäre er Sacumons Plan gefolgt, hätten die Minotauren triumphiert. Als er die Magierin bedrängte, ihre Zauber beeinträchtigte und sie zwang, sich immer heftiger zu verletzen, war ihre Aufmerksamkeit im richti294
gen Augenblick abgelenkt gewesen. Sacumon hatte den Elfen eine Niederlage zugedacht – jetzt jubelten sie und litten nicht länger unter den magischen Fesseln, die sie ihnen auferlegen wollte. Yunnie war für die Niederlage verantwortlich, aber auf andere Weise, als Mytaru glaubte. Sein Kopf und sein Körper schmerzten vom Lärm der Schlacht und vom Tragen der verdammten Rüstung. Er konnte sich schlecht konzentrieren und sich kaum mehr an die dunkel gekleidete Magierin erinnern. Aber was fiel ihm heute schon leicht? Yunnie hatte gegen ihren Zauber angekämpft und triumphiert – ein wenig jedenfalls. Er lachte grimmig, als ihm die Ironie der Lage bewußt wurde. Er hatte das richtige getan, und die Minotauren erlitten eine schlimme Niederlage. »Hättest du uns angeführt, hätten wir gesiegt«, wiederholte Mytaru. Er versuchte, sich noch einen Vorwurf einfallen zu lassen, aber es gelang ihm nicht. Er war ebenso am Ende wie seine Brüder. Erschöpft sackte er in sich zusammen. »Die Elfen hätten sterben sollen, aber das Blatt wandte sich.« Sie hatten zu gut gekämpft, die Einwaldelfen, und die Minotauren waren zu siegesgewiß gewesen. Sie hatten furchtbare Verluste erlitten, und nun war vielleicht das ganze Urhaalantal verloren. »Sie bewegen sich in kleinen Gruppen und wollen uns im Schlaf überraschen«, sagte Aesor und scharrte wütend mit dem Vorderhuf. Er trug Verbände an den 295
Beinen und sah aus wie eines der Rennpferde aus dem Süden, die Yunnie einmal bei einem Rennen in der Nähe von Tondhat beobachtet hatte. Sein Blick durchbohrte Yunnie, um dessen Schuldgefühle zu steigern, aber das nützte nichts. Yunnie war zu erschöpft, um noch etwas empfinden zu können. »Wenn wir unsere Taktik ändern, können wir noch siegen.« Mytarus Tonfall brachte Yunnie dazu, erstaunt den Kopf zu heben. Der besiegte Minotaurus war von frischer Kraft durchdrungen, und die Hoffnung, die in seiner Stimme mitschwang, beunruhigte den Menschen. »Was willst du damit sagen?« Mytaru richtete sich auf und wies mit dem Arm auf den Ort der Macht, den er Yunnie erst vor wenigen Tagen gezeigt hatte. Der junge Mann mußte seine Furcht unterdrücken, als ihm bewußt wurde, was Mytaru vorhatte. »Wenn Tiyint mir hilft, kann ich ein paar Zauber anwenden. Mehr brauchen wir nicht, um uns wieder auf die Straße des Sieges zu begeben.« »Ein Zauber? Nur ein ganz kleiner?« höhnte Yunnie. »Und dann? Ein zweiter, ein etwas größerer vielleicht? Du wirst von der Magie abhängig werden und dich nicht mehr auf deinen starken Arm und deinen Verstand verlassen.« »Wir können damit siegen«, erwiderte Mytaru wütend. »Ich habe die Fähigkeiten und werde die Herde nicht im Stich lassen.« Er schloß die Augen und mur296
melte den Zauberspruch. Yunnie schauderte, als sei es kälter geworden. Ein kühler Wind fegte über die kleine Lichtung und drang ihm bis ins Herz. »Was wird der Zauber bewirken?« fragte er. »Da!« sagte Mytaru, dessen Brust sich hob und senkte, als sei er schnell gelaufen. Er wies auf das andere Ende der Lichtung. »Dort verlassen die Elfen den Wald, und an der Stelle werden wir sie schlagen.« Vier Elfen traten zwischen den Bäumen hindurch und sahen sich mißtrauisch um, ohne die Minotauren zu erspähen. Mytarus Zauber hatte sie unsichtbar gemacht. »Holt sie euch!« brüllte Aesor. Er führte die anderen vier Bullen zum Angriff. Die Elfen hörten Aesor, konnten ihn aber nicht sehen. Eine Elfe rieb sich die Augen und wandte sich den Angreifern zu, sah aber niemanden. Aesors Lanze durchbohrte sie und nagelte den leblosen Körper gegen einen Baumstamm. Ihre Begleiter kreischten auf und schwangen die Dolche mit weitausholenden Bewegungen, um sich gegen die unsichtbaren Feinde zu wehren. Sie starben im Handumdrehen. Aesors Wut kannte keine Grenzen, und er verstümmelte die Leichen der Gefallenen. Erst, als alle Elfen getötet waren, versiegte Mytarus Gemurmel. Er wandte sich Yunnie zu. »Ich wünschte, ich hätte mehr von meinem Großonkel gelernt«, sagte er keuchend. Seine breite Brust war völlig verschwitzt, und der Schweiß lief ihm in Strö297
men über das Gesicht. Stolz und Zorn waren ihm trotz aller Erschöpfung anzumerken. »Dann könnte ich alle Elfen auf einmal töten und müßte mich nicht damit begnügen, sie nur zu blenden.« »Jemand ist blind«, klagte Yunnie verzweifelt. »Aber das sind nicht die Elfen.«
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»Ich bin froh, daß wir diese gräßliche Stadt verlassen«, sagte Maeveen O’Donagh und kämpfte mit dem Seil, das über den Rand der Felsen hing. Die beiden Soldaten, die wie hilflose Tiere herumschnüffelten, machten ihr Sorgen, aber wenigstens hatte sich Leutnant Iro ein wenig beruhigt, als der Alptraum – oder was es sonst gewesen war – nachgelassen hatte. Die hochgewachsene Offizierin hockte mit angezogenen Knien neben ihr und sah sich furchtsam um. Glücklicherweise schrie sie nicht mehr, als würde man sie auspeitschen. Maeveen wünschte, sie könnte der Frau helfen, anstatt ihre Verzweiflung nur tatenlos mitansehen zu müssen. Maeveen erinnerte sich nur zu gut an ihren eigenen Traum. Sie wunderte sich, daß Quopomma so gut geschlafen hatte. Die Träume der Ogerin hatten ihr friedliche Erinnerungen an ihre Kindheit, ihre Familie und ihre unsichtbaren Freunde beschert. Vervamon hatte ungeheure wissenschaftliche Triumphe gefeiert. Und Maeveen hatte gekämpft und gesehen, wie die Welt um sie herum in Blut ertrank. Schlimmer noch: Die gesamte Westküste Terisiares war durch einen Krieg vernichtet worden, der mit dem 299
der feindlichen Brüder wetteiferte. Wieder einmal war Zauberei Schuld daran, und ganze Armeen schlachteten einander aus immer nichtigeren Gründen ab. Minotauren und Elfen, Menschen und Zwerge und unzählige andere Kreaturen starben, ehe die Feuerwesen alle Überlebenden töteten. »Sie hat aber einen schönen Ausblick«, bemerkte Quopomma und rollte das Seil, das ihr Maeveen reichte, zusammen. Die Ogerin starrte über den Rand des fünfhundert Fuß tiefen Abgrundes hinweg, der sich nördlich der Stadt erstreckte. Sie hatten dem Lager, das am Fuße des Berges auf der anderen Seite lag, eine Nachricht zukommen lassen und den Leuten befohlen, den Berg zu umrunden, um sie an dieser Stelle zu treffen. Hier war der Abstieg bedeutend einfacher als der gestrige Aufstieg, bei dem sie auf Kletterhaken und Steigeisen angewiesen waren. »Was ist los?« fragte Maeveen, der die verblüffte Miene ihrer Stellvertreterin auffiel. »Ist das Seil ausgefranst?« »Was? Nein, ich sehe da unten etwas Komisches. Da! Seht Ihr?« Quopomma deutete mit dem Finger darauf, aber Maeveen wußte, daß die Augen der Ogerin viel schärfer als ihre eigenen waren. Sie schüttelte den Kopf, so daß ihr die kurzen Haare über die Ohren fielen. Sie mußte sie unbedingt noch kürzer schneiden, sonst waren sie im Weg, wenn die Schlachten begannen – die Schlachten, die sie im Traum erlebt hatte. Sie schüttelte sich wie eine nasse Katze, um die Erin300
nerungen zu vertreiben; vielleicht handelte es sich einfach nur um eine Folge der ihr eigenen Schwarzseherei. Maeveen war nicht sicher, ob es nun um eine wahrhaftige Prophezeiung ging oder nicht. Alpträume mußten nicht unbedingt Wirklichkeit werden. »Vielleicht ist es nichts«, meinte Quopomma, aber ihr Tonfall verriet Maeveen, daß es sich um etwas Ernstes handelte. »Was seht Ihr?« »Elfen«, lautete die lakonische Antwort. Quopomma wickelte das Seil um eine Säule, die wahrscheinlich von den Einwohnern der Stadt eigens für diesen Zweck errichtet worden war, und bedeutete Iro und den anderen, sich abseilen zu lassen. Maeveen half der Offizierin und den übrigen Soldaten, sich in die Schlinge zu setzen, damit die erstaunlich starke Quopomma sie in die Tiefe schicken konnte. »Nicht so schnell. Ihr verängstigt Iro.« »Dann denkt sie wenigstens an etwas anderes als an ihre bösen Träume«, grunzte Quopomma, verlangsamte das atemberaubende Tempo aber ein wenig. Nachdem die lebende Fracht am Boden angelangt war, wartete sie kurze Zeit und zog das Seil dann wieder hoch, während Vervamon bereits wartend neben ihr stand. »Ein wunderschöner Tag, um an die Küste zu reisen«, erklärte der Forscher fröhlich. »Ich kann die See beinahe schon riechen.« Er warf den Kopf zurück, holte tief Atem und ließ die Luft hörbar entweichen. »Keine Meeresluft, aber bald ist es soweit. Ich muß das Siegel 301
von Iwset in Händen halten, damit wir die Gruft der sieben Märtyrer öffnen können.« »Wo liegt die Gruft?« erkundigte sich Quopomma. »Wohin gehen wir, wenn Ihr den Schlüssel habt?« »Nun, aus diesem Grund begleitet uns Coernn. Er kennt den Ort, dessen Lage ihm Digody anvertraute.« »Soll das heißen, daß wir uns auf ihn verlassen müssen, wenn das Siegel gefunden ist?« Maeveen riß entsetzt die Augen auf. »Weshalb glaubt Ihr, daß er es Euch jemals verraten wird? Bisher hat er uns im Kreis herumgeführt. Wir kamen in diese Stadt – aber nein, er erzählt kurz vor unserer Ankunft, wir müssen nach Shingol. Und was passiert, wenn wir dieses Fischerdorf erreichen? Beschließt er dann, daß es sich in Argoth befindet? Wieso glaubt Ihr, daß er Euch jemals den richtigen Ort mitteilen wird? Wenn er ihn überhaupt kennt!« Maeveen war wütend. Sie hatte ihr Leben in der irrigen Annahme aufs Spiel gesetzt, Vervamon wisse, wo die Gruft liege, und sie hätten nichts weiter zu tun, als sich das Siegel zu schnappen und sie damit zu öffnen. »Nun, Lord Peemel und sein Ratgeber haben es mir versprochen. Sie interessieren sich sehr für Archäologie und die Untersuchung der Ruinen, die vom großen Krieg übrig blieben. Mein Wissen vergrößert sich fortwährend, und die Entdeckung der Gruft wird der Höhepunkt meiner erfolgreichen Laufbahn sein – das kann ich Euch versichern, meine entzückend mißtrauische Maeveen.« 302
»Ihr wißt nicht, wo die Gruft liegt?« Sie schüttelte den Kopf. Lord Peemel hatte Vervamon hereingelegt. Zweifellos gab es das Siegel von Iwset wirklich. Aber es war fraglich, ob man damit die Gruft der sieben Märtyrer öffnen konnte. »Wie kommt es, daß Coernn erst vor kurzem entschied, das Siegel befinde sich in Shingol? Ein Fischerdorf ist ein seltsamer Ort, um ein so wertvolles Stück verborgen zu halten.« Vervamon zuckte die Achseln. »Ich stelle seine Arbeit nicht in Frage. Ich nehme an, sie ist ... arkaner Art«, sagte er leise. »Ich mag jene, die der Zauberei huldigen, nicht besonders, aber die Inquisition schätze ich noch weniger. Die Magier erweitern zumindest ihr Wissen. Die Inquisition will jegliches Wissen unterdrücken, das nicht in ihr engstirniges Gedankengut paßt. Also, darf ich jetzt nach unten?« »Steigt nur ein. Nächster Halt: der Rest der Expedition«, sagte Quopomma munter. Sie ließ Vervamon eilig hinab und machte sich einen Spaß daraus, daß Seil ein Stück weit fallen zu lassen und erst wenige Fuß vor dem Aufprall auf der Erde wieder festzuhalten. Die Ogerin grinste zufrieden und entblößte dabei ihre Zahnlücke. Maeveen gönnte ihr den Spaß. Sie sah zu den finsteren Gebäuden der Stadt der Schatten hinüber und wunderte sich erneut über die völlige Stille. Die tanzenden schwarzen Lichter im Inneren der Wände reizten sie, aber der Gedanke an die vergangene Nacht und die Alpträume ließen sie schaudern. Wenn sie nie mehr 303
einen Fuß in diese Stadt setzte, war auch das noch tausend Jahre zu früh. Sie ließ sich als nächste von Quopomma abseilen. »Laßt die Spione hinab, bevor Ihr nach unten klettert!« rief sie ihrer Stellvertreterin zu, ehe ihr die atemberaubende Geschwindigkeit des Falls die Worte aus dem Mund riß. Die Felswand flog an ihr vorüber, und der plötzliche Ruck des Anhaltens hätte sie fast aus der Schlinge geworfen. Eiligst befreite sie sich, ehe Quopomma das Seil wieder hinaufziehen konnte. Maeveen strich sich die Uniform glatt und versuchte, völlig gelassen zu wirken. Es war der Disziplin abträglich, wenn sie sich als Hauptmann von solchen Scherzen aus der Ruhe bringen ließ. Sie war nicht sicher, ob es sie nicht auch störte, daß niemand Notiz von ihr nahm. Ein Dutzend Schritte entfernt stand Vervamon und hielt einen Vortrag über das Übersinnliche, und die Soldaten, die ihn umringten, gaben vor, völlig hingerissen zu sein. Sie waren nur so lange interessiert, wie es sie vor zusätzlicher Arbeit schützte, hoffte Maeveen. Schließlich hatte Vervamon eine Ausstrahlung, die jeden in Hörweite fesseln konnte. Ein paar Sekunden lang lauschte sie seiner Rede, ehe sie die Soldaten zurück an ihre Arbeit trieb. Als Coernn am Fuße des Berges landete, war die Truppe abmarschbereit. Als Quopomma sich den Staub von der Uniform klopfte, gab Maeveen den Befehl zum Aufbruch in Richtung Küste. 304
»Verirrt? Unmöglich!« brüllte Maeveen. »Ihr seid kein grüner Junge, der noch nie als Späher tätig war. Ihr könnt einen Pfad durch den dichtesten Wald finden. Dieser hier hat diesen Namen nicht einmal verdient.« Sie sah sich zwischen den spärlich stehenden Bäumen und dem verbrannten Gestrüpp um und fragte sich, was der Grund für den kargen Bewuchs sein mochte. »Ich sage Euch: Ich wandere umher und verirre mich fortwährend«, widersprach der Späher. Maeveen blickte den Soldaten, einen schlanken jungen Mann namens Schleichfuß, durchdringend an. Gewöhnlich war er in der Lage, auch der undeutlichsten Spur zu folgen, Wahrscheinlich suchte er bloß nach einem Grund, länger zu verweilen. Immerhin gehörte er zu Iros Leuten. Der Mann hielt ihrem Blick stand, und Maeveen begriff, daß die Schmach, seinen Fähigkeiten nicht gerecht zu werden, jegliches Drücken vor der Arbeit überwog. »Holt Quopomma. Wir drei werden den Weg zur Küste schon finden«, entschied Maeveen. Der Wald bot nur wenig Deckung für einen Goblinhinterhalt oder angreifende Raubtiere. Sie sorgte sich mehr um die Verschwendung etlicher Tage, wenn sie tatsächlich im Kreis liefen. Geräuschlos entfernte sich Schleichfuß. Maeveen wünschte, sie könnte sich auch so lautlos durch den Wald bewegen. Verglichen mit dem Späher schritt sie einher, als steckten beide Beine in Blecheimern. Natür305
lich konnte sie diese Unfähigkeit mit einem Achselzukken abtun, aber andere Dinge ließen sich nicht so leicht wegschieben. Sie hätte gute Laune haben müssen, weil sie die Stadt der Schatten hinter sich gelassen hatten. Dennoch fühlte sie sich, als stehe sie still und die Welt komme mit unglaublicher Geschwindigkeit auf sie zu. Bisher hatte sich ihr Alptraum nicht bewahrheitet, aber sie war sicher, daß es bald geschehen würde. Maeveen zuckte zusammen, als Schleichfuß mit Quopomma zurückkehrte. Für eine so massige Person bewegte sich die Ogerin außerordentlich leichtfüßig. »Nervös, Hauptmann?« erkundigte sich die Ogerin mit belustigtem Grinsen. Quopomma wurde jedoch gleich wieder ernst, als sie Maeveens Bericht lauschte. »Ich hatte auch das Gefühl, den falschen Weg eingeschlagen zu haben, aber Schleichfuß widersprach. Ich dachte, er und Iro hätten sich verbündet, weil sie ein paar Tage ausruhen wollen, ehe wir weiterreisen.« »Ich könnte auch ein wenig Ruhe gebrauchen, aber Vervamon besteht darauf, weiterzuziehen. Außerdem gefällt mir dieser Wald nicht besonders.« »Es ist niemand zu sehen, der uns mit Pfeilen durchbohren will«, erklärte Quopomma und sah sich suchend um. »Ich habe eigene Späher ausgeschickt – bitte seid nicht beleidigt, Schleichfuß. Von Iros nutzloser Truppe seid Ihr der allerbeste.« »Ich würde mich für das Kompliment bedanken, Leutnant, wenn ich der Meinung wäre, je beleidigt worden zu sein«, entgegnete Schleichfuß, den die Aus306
drucksweise der Ogerin kalt ließ. Wortlos machte er kehrt und schlich davon. Er bewegte sich wie ein Windhauch, aber nur halb so laut. Zehn Minuten später gelangten sie wieder an die gleiche Stelle, an der sie aufgebrochen waren. »Seht Ihr, Hauptmann? Es ist immer dasselbe. Gleichgültig, welche Richtung ich einschlage – immer lande ich hier, als sei ich eine Eisennadel und dieser Platz ein Magnet.« Maeveen bestand auf zwei weiteren Versuchen, aber Schleichfuß’ Behauptung entsprach der Wahrheit. Sie kehrten immer wieder an diese Stelle zurück, wohin sie sich auch wandten. Während Maeveen noch darüber nachdachte, erblickte sie plötzlich einen Stoffetzen, der unter einem Blätterhaufen hervor lugte. Sie kniete nieder und zog vorsichtig daran. Die Blätter gaben einen Leichnam frei. »Das ist derjenige von Coernns Freunden, der aus der Stadt der Schatten verschwand«, meinte Quopomma, die in das halbverweste Gesicht starrte. »Ist aber nicht weit gekommen, wie?« »Soll ich Vervamon Bescheid sagen? Oder Coernn?« fragte Schleichfuß. »Keine Eile. Wir scheinen hier nicht wegzukommen, und ich will den Grund dafür herausfinden, ohne mir einen Vortrag anhören zu müssen oder gesagt zu bekommen, es gehe mich nichts an.« Maeveen zog den Körper noch ein wenig weiter unter den Blättern hervor. »Er hatte das Pech, den Elfen als Zielscheibe zu 307
dienen. Sie sind wirklich gute Schützen, nicht wahr?« Ihre Finger glitten über drei Pfeilschäfte, die dicht nebeneinander im Rücken des Spions steckten. »Er lebte noch, als er sich unter den Blättern verbarg. Er lief ihnen davon und versteckte sich hier, wo er auch starb«, stellte Quopomma fest, nachdem sie den Fundort der Leiche und die nähere Umgebung eingehend betrachtet hatte. »Ich habe ihn unterschätzt. Ich hätte vermutet, daß er vor Angst stirbt, wenn er nur einen Elfen mit gespanntem Bogen sieht, der auf ihn zielt.« Maeveen entdeckte den Rucksack des Toten und zog ihn zu sich heran. Er hatte unter dem Kopf des Mannes gelegen. Sie öffnete ihn und sah hinein. »Ist das klug, Hauptmann?« Schleichfuß runzelte die Stirn. »Der andere, der bleichgesichtige Coernn, könnte denken, der Rucksack gehöre ihm, wenn sein Gehilfe tot ist.« »Ist es unsere Schuld, wenn der Rucksack umkippt?« entgegnete Maeveen und stülpte die Tasche um. Eine Unmenge Laub fiel heraus. Ein Gegenstand erregte ihre Aufmerksamkeit. Eine Lampe, die weder eine Flamme noch sonst etwas aufwies, strahlte ein helles, weißes Licht aus. Quopomma stieß einen Pfiff aus, und Schleichfuß wich zurück. »Das ist Magie«, verkündete der Späher. »Damit will ich nichts zu tun haben.« »Uns bleibt keine Wahl«, sagte Maeveen und suchte weiter. Sie verstand zwar nicht viel von Zauberei, wuß308
te aber, daß der Besitzer der Lampe sich im klaren war, daß die Inquisition sich sehr für diesen Gegenstand interessieren würde. Das strafte den Verdacht Lügen, Coernn und seine Leute seien Priester. Sie würden den rotgekleideten Inquisitoren aus dem Weg gehen, wenn sie magische Dinge mit sich trugen. Sie berührte die Lampe vorsichtig und wich zurück, als das Licht von Weiß zu Grün wechselte. Nach einer Weile beruhigte sie sich und hob die Lampe auf. Das helle Licht strahlte nach allen Seiten. »Was könnte das sein?« fragte Quopomma, die sich ebenso vor Magie fürchtete wie Schleichfuß, es sich aber nicht anmerken lassen wollte. »Ein Leuchtfeuer, ein Wegweiser.« »Was nützt es, wenn es in alle Richtungen gleichzeitig scheint?« wollte Schleichfuß wissen. »Man muß also wissen, wohin man geht, wie bei allen anderen Lampen.« »Es wäre schon nützlich, eine Lampe ohne Docht oder Öl zu haben«, schlug Quopomma vor. »Vielleicht erleuchtete sie, als er noch lebte nur einen einzigen Weg«, murmelte Maeveen. »Er starb durch Elfenpfeile. Als er die Macht über die Lampe verlor, leuchtete sie in sämtliche Himmelsrichtungen ...« »... und zog uns durch Magie hierher«, ergänzte Quopomma. »Ich hasse Zauberei.« Maeveen ließ die Hand über den gläsernen Schirm gleiten. Sie legte die Finger in die Einbuchtungen an einer Seite, und das Licht erlosch. Erschrocken ließ sie 309
die Lampe fallen. »Glaubt Ihr, wir können jetzt in Richtung Küste gehen?« fragte Quopomma. Ihr veränderter Tonfall lenkte Maeveen von dem Artefakt ab. »Nein, das glaube ich kaum«, antwortete Schleichfuß. Der drahtige Späher stand reglos neben ihr, den Blick auf die Bäume gerichtet, die Hand auf den Dolchgriff gelegt, ohne die Waffe zu ziehen. Dafür war er zu klug. Maeveen schaute auf und erblickte die Bogenschützen, die sie umzingelt hatten und ihnen ein ebensolches Ende bereiten würden wie Coernns Gehilfen. Langsam stand sie auf und fragte sich, wie sie sich herausreden sollte, denn darin lag ihre einzige Rettung. Keine Waffengewalt würde so viele Elfen überwältigen, die offenbar frisch vom Schlachtfeld kamen.
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Isak Glen’dard blieb vor der schwarzen Holztür stehen und strich sich mit selbstgefälliger Geste die Kleidung zurecht. Er glättete das Haar und stopfte den modischen Hut mit der Serraengelfeder fest unter den Arm – ein Zeichen der Ehrerbietung gegenüber Peemels Ratgeber. Isak wußte, daß es ein Fehler war, so lange in Iwset zu bleiben, aber Ihesias Schönheit fesselte ihn, als habe sie sein Herz mit einem Zauber gefangengenommen. Isak wußte, daß es unmöglich war. Insgeheim mochte sich Ihesia anderer Personen bedienen, die Zaubersprüche beherrschten, aber sie selbst war nicht dazu in der Lage. Sämtliche ›Zauber‹ der Generalin waren von sanfterer, natürlicherer Art – aber trotzdem nicht weniger mächtig. Dennoch sorgte er sich Digodys wegen und der Art, wie ihn Ihesia als unwichtigen Gegner auf ihrem Weg zur Macht abtat. Wie lange würde es dauern, bis der finstere Ratgeber des Regenten bemerkte, daß der Mann, der gerade an seine Tür klopfte, kein ergebener Diener mehr war? Isak klopfte und vernahm wütende Stimmen. Er hät311
te auf die Aufforderung zum Eintreten warten sollen, aber er öffnete die Tür und schob sich in den Raum. Sein Eindringen würde er zu rechtfertigen wissen. Digody beugte sich mit wutverzerrtem Gesicht über seinen Schreibtisch. Der Grund für seinen Zorn hüpfte auf kurzen Beinen vor ihm auf und ab. »Digody, Apepei«, begrüßte Isak die beiden. »Ich dachte, Ihr hättet mich hereingebeten. Ich werde draußen ...« »Der Bergbewohner war auf dem Weg hinaus«, unterbrach ihn Digody mit mühsam beherrschter Stimme. »So leicht kommt Ihr mir nicht davon!« rief Apepei. Der Zwerg hüpfte zornig auf und nieder und schubste Isak beiseite. Vor sich hinmurmelnd, stürmte er den Gang hinunter. Aus den überhörten Gesprächsfetzen entnahm Isak, daß sich die beiden Ratgeber wegen des Krieges mit Jehesic gestritten hatten. Es war kein Geheimnis, daß der Zwerg gegen den Krieg und für friedliche Verhandlungen war. Außerdem war allgemein bekannt, daß Apepei und seine Freunde allmählich aus dem engsten Kreis der Vertrauten Peemels zugunsten von Digodys Anhängern verdrängt wurden. »Ein entsetzlicher kleiner Wurm«, fauchte Digody. Er richtete sich auf und atmete tief durch. Dabei mußte Isak an den ledernen Blasebalg eines Schmiedes denken. Peemels Ratgeber ließ sich in seinen Stuhl zurücksinken und stützte das Kinn auf die Faust. Seine knochigen Finger trommelten ruhelos auf die Armlehne, und die roten Augen sahen an dem Besucher vorbei. 312
»Soll ich noch einmal wiederkommen oder ...« »Schließt die Tür«, befahl Digody. Er wandte sich Isak zu, als nehme er ihn gerade erst wahr. »Ihr habt Euch verspätet.« Isak widersprach nicht. Er war früher gekommen als verabredet. Er verneigte sich tief, um seinen Gesichtsausdruck zu verbergen und sich nicht anmerken zu lassen, wie er über Digodys Äußerung dachte. »Wie kann ich diesen Fehler wieder gutmachen, Herr?« Isak bemühte sich, ein Grinsen zu unterdrükken. »Eure Berichte über Abt Offero waren sehr ausführlich. Er setzt seine heiligen Krieger mit großem Erfolg im Süden ein.« »Die Rebellen können den treuen Dienern des Abtes nicht entgehen«, antwortete Isak bedächtig. »Und nach jedem Sieg vergrößert sich der Einfluß der Kirche.« »Es gibt keinen Hinweis darauf, daß der Abt nach dem Thron von Iwset strebt, oder?« »Er ist ein ernsthafter, gläubiger Mann, der davon überzeugt ist, Magie unterbinden zu müssen. Deshalb schickt er die Inquisition durchs Land. Für Eure Ziele erweist er sich als harmloser Verbündeter. Er weiß, daß jeder, der kein königliches Blut in den Adern hat, vergeblich nach dem Thron greift.« »Harmlos!« spottete Digody. Er schob einen Stapel Papiere beiseite und sah auf. »Kein Mensch, der so viele Leute der Folter und dem Tod ausliefert, ist harmlos! Aber das Blut an seinen Händen ist gerechtfertigt, nur 313
bei uns ist das nicht der Fall.« Isak versteifte sich. Er wartete auf die Anweisungen Digodys, die nach dieser Bemerkung folgen mußten. Ihr genauer Inhalt würde zeigen, ob er seinen Aufenthalt in der Stadt nicht schon viel zu lange ausgedehnt hatte. Nur wegen Ihesia war er geblieben, und jetzt fürchtete er, für seine Gelüste mit dem Leben bezahlen zu müssen. »Sacumon ist zu unabhängig«, sagte Digody. »Sie sollte die Minotauren siegen lassen, aber sie versagte. Schlimmer noch: Die Elfen reden mit den Menschen, die entlang der Küste leben und suchen nach möglichen Verbündeten. Wir verlieren die Herrschaft über das Gebiet, weil sie Fehler begeht.« »Im Norden braut sich mehr zusammen als nur der Zwist zwischen Elfen und Minotauren«, wandte Isak in der Hoffnung ein, Digody abzulenken. »Gerüchte über seltsame unterirdische Wesen, die ganze Dörfer ausrotten, machen die Runde. Es handelt sich nicht um kluge Goblins. Keine bekannte Rasse kann derartige Feuer entfachen. Man nennt sie Kohlengolems.« »Kohlengolems«, wiederholte Digody. »Ein Grund mehr, Sacumon zu entmachten, wenn sie die Kreaturen erweckt hat. Wer vermag derartige Monster zu beherrschen?« »Genießt sie noch immer Peemels Vertrauen?« Digody durchbohrte Isak mit seinem Blick und fauchte: »Was Lord Peemel in dieser Angelegenheit denkt, geht Euch überhaupt nichts an. Ihr habt mir zu 314
gehorchen!« Wieder verneigte sich Isak und verbarg sein Gesicht vor dem wütenden Ratgeber. Diesmal hatte Apepei seinen Rivalen in mehr als nur leichte Wut versetzt. Wahrscheinlich hatte der Zwerg ihm so unangenehme Neuigkeiten überbracht, daß die Wogen des Zorns von einem Ende Iwsets zum anderen ziehen würden. Isak machte eine geistige Notiz und nahm sich vor, Ihesia davon zu berichten und sie zu bitten, Nachforschungen anzustellen. Unter Umständen könnte sie sich auch mit dem Zwerg verbünden. »Sacumon hat versagt. Mehr braucht Ihr nicht zu wissen. Ich will, daß sie beseitigt wird, damit ich jemanden einsetzen kann, der nur mir ergeben ist.« Digody lehnte sich lächelnd zurück. »Vielleicht seid Ihr der richtige Mann für diesen Posten, Isak. Ihr könntet gar ein Graf werden. Ihr habt diplomatisches Geschick und Eure honigsüßen Worte beruhigen selbst die zornigsten und aufgebrachtesten Leute – eine Fähigkeit, die ich wohl zu schätzen weiß.« »Ein Grafentitel? Ihr seid zu großzügig, Herr.« »Ja, ich weiß. Aber wenn Ihr Sacumon beseitigt habt und sie mich nicht länger verärgert, könntet Ihr die verfeindeten Parteien wieder zusammenbringen, damit sie ausschließlich meinen Befehlen gehorchen.« »Selbstverständlich.« Isak überlegte fieberhaft. »Wann und wie wünscht Ihr die Beseitigung Sacumons, Herr?« »Wann? Sofort. Sobald Ihr den Elnwald oder den Ort, an dem sie ihr Hauptquartier auf geschlug, er315
reicht habt.« Digody machte eine abwehrende Handbewegung; er sah den Punkt als erledigt an. »Das ›Wie‹ ist einfacher, als Ihr denkt. Der Umschlag, den sie entgegennahm, enthielt einen starken, aber unsichtbaren Farbstoff. Man kann seine Spur mit Hilfe eines Steins verfolgen, den ich aus Tondhat erhielt. Wenn Ihr ihren Aufenthaltsort kennt, könntet Ihr einen kleinen ... Unfall herbeiführen, nicht wahr?« »Sie ist eine mächtige Magierin«, gab Isak zu bedenken. »Nun, auch Ihr habt gewisse Möglichkeiten«, entgegnete Digody schlagfertig. »Das würde Abt Offero übrigens brennend interessieren, falls ich es ihm gegenüber je erwähnen sollte. Einen Körperveränderer verdächtigt man oftmals magischer Fähigkeiten.« »Aber das liegt in meiner Natur, Herr, und kann nicht erlernt oder beherrscht werden.« »Haare könnt Ihr mit dem Abt spalten. Er genießt derart philosophische Gespräche – ehe er die Folter anwendet und Fragen stellt.« Eine ziemlich ungefährliche Drohung, dachte Isak. Offero würde sich eher mit Generalin Ihesia als mit Digody zusammentun, wenn der Kampf um den Thron von Iwset irgendwann an die Öffentlichkeit gelangte. Königin Ihesia. Das klang gut, würde die schöne Frau aber auch aus Isaks Bett entfernen. Sie brauchte seine Hilfe, aber nicht mehr, wenn sie erst auf dem schwarzen Thron saß. Viele Wege standen ihm offen, und am Ende eines jeden erwartete ihn der Tod. Wenn 316
er Digody den Gehorsam verweigerte, zog er sich dessen Zorn zu. Der Ratgeber würde Rache üben, denn wenn Sacumon nicht starb, blieb die Gefahr im Norden bestehen. Unter Umständen kamen dann alle Intrigen des Ratgebers ans Tageslicht und Lord Peemel zu Ohren. Ein einziges Wort zu Apepei würde Digodys Schicksal besiegeln und Iwset auf Jahre hinaus spalten. Peemel war nicht stark genug, Digody, Abt Offero, Ihesia, Apepei und alle anderen, die nach Macht lechzten, zu beseitigen, solange der unselige Krieg gegen Jehesic tobte, die Rebellen im Süden für Unfrieden sorgten und Sacumon mit ihren feurigen Verbündeten den Norden beherrschte. Ein Jongleur, der mit einem Dutzend Eier spielte, hätte nicht vorsichtiger sein können, dachte Isak. Ein einziger Fehler kann eine unvorstellbare Katastrophe heraufbeschwören. Es war an der Zeit, Iwset den Rücken zu kehren, aber er wollte noch bleiben. Ohne Ihesia konnte er nicht abreisen. Allerdings bezweifelte Isak, daß sie ihn begleiten würde. »Es wird mir ein Vergnügen sein, die Bedrohung, die Sacumon für Iwset und Euch darstellt, aus dem Weg zu räumen«, antwortete er und verfluchte sich insgeheim. Er mußte Sacumon umbringen. Vielleicht konnte er dann noch ein wenig Zeit mit Ihesia verbringen. Schließlich stellte die aufrührerische Magierin auch für Ihesia eine Gefahr dar. 317
Isak Glen’dard würde seiner Liebsten einen Gefallen erweisen. Es sollte das Krönungsgeschenk ihres untertänigsten Dieners sein. Er verließ Digodys Arbeitszimmer und setzte sich im Gang den Hut wieder auf. Mit ausgreifenden Schritten, ein fröhliches Lied vor sich hinpfeifend, machte sich Isak an die genaue Planung von Sacumons Ableben.
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Mytaru warf Yunnie einen bösen Blick zu und beschuldigte ihn wortlos der schlimmsten Vergehen gegen die Herde. Yunnie fand, daß er eigentlich gar nicht so unrecht hatte. Er versuchte sich zu kratzen, als ihn ein Floh biß, aber die Lebende Rüstung war ihm im Weg. Er verfluchte den Brustpanzer und die Last, die er ihm auferlegte – er konnte sie nicht länger ertragen. »Wir greifen an, und zwar nicht die kleine Gruppe Elfen, die am Taleingang lauert, sondern wir dringen ins Herz des Feindes vor!« rief Aesor. Der Bulle sprang umher, schüttelte den Kopf und ließ die roten Kampfbänder flattern. Er blieb genau vor Yunnie stehen und starrte ihn herausfordernd an, da er auf einen Zweikampf aus war. Yunnie schwieg. Er konnte nichts zu seiner Verteidigung oder gegen Aesors verzweifelten Plan sagen. Er fühlte sich elend und war nicht mehr in der Lage, mit den Minotauren in den Kampf zu ziehen. Die endlosen Schlachten hatten ihn erschöpft, aber es war mehr als nur das. Er hätte den Minotauren einen glorreichen Sieg bescheren können, als Sacumon die Niederlage der Elfen plante. Statt dessen hatte er Sacumon ange319
griffen und sie aus der Ruhe gebracht. Die tapferen Elfen hatten gesiegt und die Pläne der Magierin durchkreuzt. Nie wieder konnten sich die Urhaalan den Elfen in einem direkten Kampf stellen. Haus auf Haus war zerstört worden und auf geheimnisvolle Weise in Brand geraten, nachdem die Elfen weitergezogen waren. Yunnie allein kannte den Grund für diese sinnlose Brandstiftung. Die Kohlengolems wurden immer dreister und drangen nach Belieben in das Tal ein, um die Wohnstätten zu vernichten. Die Elfen kämpften, und die Golems verbrannten die Überreste, um sie für alle Überlebenden unbrauchbar zu machen. Könnte er doch bloß Mytaru und den anderen erklären, daß ihre Feinde nicht bloß die Elfen waren! Aber noch immer verschloß ihm Sacumons Zauber die Kehle und verhinderte, daß verständliche Worte zu hören waren. Der wagemutige Vorstoß in den Elnwald, um in das Herz der Feinde vorzudringen, roch nach Selbstmord, aber er durfte nichts gegen Aesors Vorschlag sagen. Wahrscheinlich war das die einzige Hoffnung, die den Minotauren blieb. Vielleicht war es auch die einzige Überlebenschance. Erneut wollte er die Gefährten vor Sacumon warnen, aber seine Kehle verengte sich, die Nackenmuskeln spannten sich an und er fürchtete zu ersticken. Zuerst hatte Mytaru das für ein Zeichen der Geister gehalten, die in Yunnie gefahren waren. Jetzt beachtete er seinen Blutsbruder überhaupt nicht mehr und lauschte Aesors 320
Vorschlägen. Yunnie gab den Versuch auf, und sofort entspannte sich sein Körper. Keiner der Minotauren wußte von Sacumon. Aber selbst wenn er sie hätte warnen können, wäre die Frau als Dienerin der Elfen abgetan und nicht ernst genommen worden. Wie sehr sehnte sich Yunnie danach, ihren Zauber abzuschütteln! »Wie willst du an den Spähern vorbeikommen? Sie haben den Taleingang versperrt«, gab Yunnie zu bedenken. Er war mit den besten Minotaurenspähern ausgezogen und wußte, daß sie Gefangene des Tals waren. Als er Mytarus Miene die Antwort entnahm, wollte er widersprechen. Der Bulle grinste höhnisch und zog dabei die wulstige Oberlippe hoch, so daß die Zähne sichtbar wurden. Zur Vorbereitung auf die Schlacht hatte er Fleisch gegessen. Reste davon hingen zwischen seinen Zähnen. Der Anblick war unangenehm, aber sein Gesichtsausdruck jagte Yunnie noch mehr Angst ein. »Wage nicht, Magie anzuwenden! Du bist nicht geübt. Sie wird sich gegen dich wenden!« Er wollte hinzufügen, daß Sacumon dafür sorgen würde, denn er erinnerte sich an sie, obwohl sie ihn mit dem Zauber des Vergessene belegt hatte. Leider drohte ihm auch diesmal ein weiterer Erstickungsanfall, sobald er zu sprechen begann. »Meine Fähigkeiten werden mit jedem Spruch größer«, prahlte Mytaru und schlug sich auf die Brust. 321
»Mein Bruder weigert sich, den Stamm Utyeehn und die Herde anzuführen. Ich werde es tun! Meine Magie hilft uns, während die seine nur dazu dient, die eigene Haut zu retten.« Mytaru zwang sich, nicht ›die eigene, wertlose Haut‹ zu sagen. Yunnie war nicht sicher, ob er das kleine Zugeständnis an seine Gefühle zu schätzen wußte. Es war besser, reinen Tisch zu machen. Sicher, man hatte ihn in die Herde aufgenommen, aber bei jeder Schlacht nach der großen Niederlage war er ein wenig weiter ins Abseits gerutscht und sein Einfluß hatte nachgelassen. Wenn er sich näherte, wandte man ihm sogar das Hinterteil zu – eine Geringschätzung, die sonst nur Ausgestoßenen zuteil wurde. »Du mußt uns nicht begleiten«, erklärte Aesor herablassend. »Vielleicht ist es besser, wenn du im Tal bleibst, wo dir nichts geschehen kann.« Wütend schubste Yunnie den Bullen beiseite und forderte ihn heraus. Er mußte sich ducken, um dem Angriff der rasiermesserscharfen Metallspitzen von Aesors Hörnern auszuweichen. Yunnie zog das Schwert, konnte aber plötzlich die Arme nicht mehr bewegen, die durch Magie an seinen Körper gedrückt wurden. »Meine Rüstung! Ich muß sie ablegen«, stöhnte er. Yunnie versuchte, den Brustpanzer auszuziehen, aber die Rüstung hielt ihn fest umklammert und hinderte ihn am Kämpfen. Yunnie gab auf, und schon entspannte sich das Leder und fühlte sich an wie zuvor. Es 322
war das erste Mal, daß sich die Rüstung vor einem Kampf schützte. Yunnies Zukunft sah nicht gut aus, wenn das Artefakt die Angriffe nur noch von sich und nicht mehr von seinem Körper ablenkte. »Du bist nicht einmal meiner Verachtung wert. Du bist es auch nicht wert, daß ich meine Hörner mit deinem Blut beschmutze«, schnaubte der Bulle, warf stolz den Kopf in den Nacken und ging davon. Die anderen Minotauren schlossen sich ihm an und ließen Yunnie allein zurück. Sie stimmten ihre Gesänge an, die zum umständlichen und unumgänglichen Kriegsritual gehörten. Als Aesors herausforderndes Gebrüll durch das Tal schallte, füllten sich Yunnies Augen mit Tränen. Man hatte ihn willkommen geheißen, aber nun war er genauso ein Außenseiter wie einst in Shingol. Er putzte sich die Nase und wußte, daß es diesmal viel schlimmer war. Yunnie war Mitglied der Herde gewesen, und nun wollte niemand mehr seinen Rat annehmen oder seinen Warnungen zuhören. Sie hatten ihn ausgestoßen und abgelehnt, aber es war nicht seine Schuld. Mytaru kniete seitlich neben seinen Stammesbrüdern und schrieb die magischen Runen in die Luft. Er wirkte Unsichtbarkeitszauber und einige, Yunnie unbekannte Sprüche. Was auch immer Mytaru beschwor, es würde den Urhaalan Tod und Vernichtung bescheren. »Die Kohlengolems«, krächzte Yunnie und überlegte fieberhaft, wie er sein verlorenes Ansehen zurückge323
winnen und Mytaru davon abhalten konnte, sich mit den Zaubersprüchen selbst zu schaden. »Die Niroso. Kämpft unter der Erde, nicht darüber. Beseitigt sie, und alles ist in Ordnung.« Noch während er vor sich hinflüsterte, erkannte er, daß dies nicht die Lösung aller Probleme bedeutete. Die lag bei Sacumon und ihren Intrigen, bei denen sie Elfen und Minotauren gegeneinander aufhetzte und schließlich die Kohlengolems auf die Verwundeten losließ. Das Steinvolk wollte mehr als nur das unterirdische Reich beherrschen. Er fragte sich, was ihnen Sacumon versprochen hatte. Wußten die Niroso, daß sich die Magierin gegen sie wenden würde, wenn Elfen und Minotauren ausgelöscht waren? Oder war ein solches Doppelspiel für Wesen, die durch festen Stein gleiten konnten, ganz unwichtig? Er wußte nichts über ihre Ziele, Träume und Fähigkeiten. Die Minotauren tanzten im Kreis und scharrten mit den Vorderhufen. Sie schwenkten die geschmückten Kriegslanzen, warfen die Köpfe zurück und zeigten, wie sie die Feinde aufspießen wollten. Blutrote Kampfbänder flatterten im Wind, der über die Hügel strich. Hätte Yunnie versucht, einen Blick in die Hölle zu werfen, er wäre nicht weniger entsetzt gewesen. Völlige Stille trat ein, als die Gesänge der Urhaalan erstarben. Mytaru erhob sich. Mit dem Finger zeichnete er hellgelbe Runen in die Luft. Yunnie beeindruckte seine Macht, auch wenn er nicht damit einverstanden war. Sacumon war eine fähige Magierin und würde 324
jegliche Zauberei entlarven, die sich gegen sie und ihre Verbündeten richtete, gleichgültig, ob es sich um Elfen aus Fleisch und Blut oder Niroso aus Stein handelte. Die gelben Runen dehnten sich aus und umringten die Minotauren. Yunnie rieb sich die Augen, als sowohl die Zeichen wie auch die Urhaalan in einem grellen Lichtblitz verschwanden. Er sah, wie sich das Gras unter zahllosen Hufen neigte. Er folgte ihnen, als würde er an einem Seil hinterhergezogen, bis sie den Taleingang erreichten. Er wünschte, Mytaru würde den Zauber nur beim Angriff auf kleinere Elfengruppen anwenden. Wenn man dem Feind immer wieder zusetzte, würde er sich vielleicht zurückziehen und an Friedensgesprächen Interesse zeigen. Alles oder nichts, Krieg oder Frieden. Er entschied sich für den am häufigsten benutzten Weg, der aus dem Tal führte und schlich sich auf eigene Faust an den Elfen vorbei. Yunnie war nicht sicher, ob er der richtigen Spur folgte, aber schon bald entdeckte er eine schlammige Stelle, die von zahllosen Hufen aufgewühlt worden war. Er nahm sich Zeit, sah sich um und hielt den Atem an. Den größten Teil des Weges hatte er im Trab zurückgelegt und war bereits bis an den Rand des Elnwaldes gelangt. Hier standen nur wenige Bäume, da die meisten Stämme als Brennholz gefällt worden waren, und sich erst jetzt die ersten Erfolge der Aufforstung zeigten. »Töte Sacumon«, sagte er immer wieder zu sich 325
selbst und hoffte, daß es möglich war. Er kannte die Magierin und ihre Macht nicht näher. Vielleicht war es gar nicht möglich, sie zu besiegen – jedenfalls nicht mit einer der Waffen, die ihm zur Verfügung standen. Dennoch sah er keinen anderen Ausweg. Der Kampf gegen die Kohlengolems oder ihre Herren erschien ihm unmöglich. Wie sollte man etwas töten, das inmitten eines glühenden Schmiedefeuers hauste? »Den Kopf abschlagen, und schon stirbt der Körper«, murmelte Yunnie. Sacumon war die Macht im Hintergrund dieses Krieges. Sie hatte es geschafft, ihn auf die falsche Spur zu hetzen und nach Goblins zu suchen, wenn in Wirklichkeit die Kohlengolems die wahre Bedrohung darstellten. Minotauren und Elfen bekämpften einander, während das Steinvolk nach der Oberherrschaft strebte. Und er war nicht in der Lage, seine Brüder vor der Gefahr zu warnen. Yunnie wanderte am Rand des Waldes entlang und spürte, daß er beobachtet wurde. Er wich den Bäumen aus und wagte sich erst in ihren Schatten, als er niemanden entdecken konnte. Trotzdem ließ das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden, nicht nach und beunruhigte ihn zusehends. Er blieb stehen, zog das Schwert und drehte sich einmal um die eigene Achse. Erst dann wurde ihm bewußt, daß der Grund für sein Unbehagen nicht auf gleicher Höhe zu suchen war. Er ließ den Blick am Stamm eines Ehernwurzelbaumes emporklettern und sah in ein paar traurige braune Augen. 326
»Du bist hier unerwünscht«, sagte der Baum mit tiefer Stimme. »Du bist ein Mensch, und es wird dir nichts geschehen, aber du mußt den Elnwald sofort verlassen oder die Folgen tragen.« »Die Minotauren sind meine Brüder«, sagte Yunnie, der nicht lügen wollte. »Ich möchte sie von dem idiotischen Angriff abhalten.« »Zu spät«, entgegnete der Baum mit dröhnender Stimme. »Ich sah sie hier eindringen, und nun stürzen sie sich in eine vergebliche Schlacht.« »Sie waren unsichtbar.« »Ein so schwacher Zauber kann meine Augen nicht trügen.« »Was ist mit ...« Yunnie keuchte. Er brachte Sacumons Namen nicht über die Lippen; nicht einmal gegenüber diesem Baumriesen. Ihr verfluchter Zauber hielt ihn noch immer gefangen. »Geh, verschwinde! Die Minotauren bleiben hier. Für immer. Ihre verwesenden Körper werden den Boden des Elnwaldes fruchtbar machen.« »Nein!« schrie Yunnie. »Sie sind meine Freunde, meine Blutsbrüder! Ich gehöre zur Herde!« Ein Ast fegte ihn von den Beinen und schleuderte ihn durch die Luft. Er krachte gegen einen gewöhnlichen Baumstamm und lag benommen am Boden. Der Ehernwurzelriese drehte sich erstaunlich langsam um. Yunnie rappelte sich mühsam auf, wollte aber nicht gegen den uralten Krieger kämpfen. »Du darfst nicht hierbleiben. Die Elfen haben uns 327
Ehernwurzelvolk überzeugt, daß wir den Wald verteidigen müssen. Du kannst uns nicht ausrotten, Mensch, der du behauptest, ein Bulle zu sein.« Zweige rauschten durch die Luft. Yunnie geriet ins Taumeln, als die Lebende Rüstung sie abwehrte. Jedes hölzerne Wurfgeschoß wurde mit aller Kraft geschleudert. Er hielt dem Angriff des Baumes stand, bis er merkte, daß sich die Rüstung allmählich anders verhielt. Yunnie zuckte zusammen, als sich ein spitzer Zweig, der den Rand des Brustpanzers um einen halben Zoll verfehlte, in seinen Arm bohrte. Jetzt schützte die Rüstung hauptsächlich sich selbst und nahm nicht mehr den ganzen Schaden auf sich. Es war feige, aber Yunnie machte lieber auf dem Absatz kehrt und floh, als sich gegen den Ehernwurzelriesen zu wehren. Er wollte keinen Streit mit ihm, erkannte seinen Fehler aber sofort, als der Baum einen gellenden Warnruf ausstieß. Jetzt wußte jeder Elf in Hörweite, daß sich ein Eindringling im Wald befand. Yunnie rannte mit gezücktem Schwert und war bereit, jeden zu durchbohren, der sich ihm entgegenstellte. Er senkte die Klinge erst, als er Mehonvo begegnete, der aus dem Wald herausstürmte. Der alte Bulle erkannte Yunnie und winkte ihn zu sich. »Eine Niederlage, eine schreckliche Niederlage! Viel zu viele Elfen. Fallen. Nicht einmal Mytarus Zauber verschaffte uns den notwendigen Vorteil.« »Die Ehernwurzelbäume durchschauen den Zauber328
spruch«, erklärte Yunnie. »Sie haben sich mit den Elfen verbündet. Keiner von ihnen will, daß aus dem Wald ein Schlachtfeld wird.« »Vielleicht ist Mytaru entkommen. Aesor und sein Sohn Pardano auch. Aber die übrigen – nur einer von zehnen konnte fliehen. Der Stamm Utyeehn ist vernichtet, vernichtet!« Mehonvo stimmte ein Klagelied für die Minotauren an, schwieg aber urplötzlich. Der Alte mit dem einen Horn schob Yunnie beiseite. »Bei Tiyint, was ist das?« Yunnie wirbelte herum und stöhnte. Mit rauchenden Schritten näherte sich ein Kohlengolem, der noch größer als Mehonvo war. Er wollte den Minotaurus warnen, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken. Er hob das Schwert wie einen Speer. Der Golem schleuderte es unwillig fort, und das Metall zersprang, als sei es nichts als morscher Stoff. »Du kannst ihn nicht bekämpfen!« rief Yunnie. »Lauf, Mehonvo, lauf! Kehre ins Tal zurück. Wir müssen mit den Elfen Frieden schließen. Das ist der wahre Feind!« Mehonvo stieß ein wütendes Brüllen aus, senkte den Kopf und griff an. Sein Horn traf den Golem an der Brust. Kraftvolle Nackenmuskeln hoben das Wesen hoch und schleuderten es zu Boden, aber es kam sofort wieder auf die Beine und bewarf den Bullen mit glühenden Kohlestücken. Eines verbrannte ihn am Oberkörper. Er stöhnte und versuchte vergebens, es zu entfernen. Ein weiterer Feuerball traf Mehonvo an der Seite und setzte 329
seine Kleidung in Brand. Der Minotaurus stieß einen zornigen Schrei aus und griff noch einmal an. »Nein, Mehonvo, nein! Du kannst ihn nicht besiegen!« schrie Yunnie, der hilflos danebenstand. Er sah zu, wie der Minotaurus mit dem Golem rang. Beide explodierten in einer feurigen Rauchsäule, die sich gen Himmel erhob und etliche Bäume in Brand setzte. Yunnie vernahm Mehonvos Todesschreie, und der Geruch von verbranntem Fleisch verursachte ihm Übelkeit. Er schämte sich seiner Untätigkeit und war verzweifelt über den Tod dieses tapferen Kriegers, Freundes und guten Onkels. Der Golem war mit Mehonvo dahingegangen, aber das war kein Trost. Ringsumher flackerten kleine Feuer auf. In der Ferne hörte Yunnie den Ehernwurzelriesen, der eine weitere Warnung rief, aber jetzt erregte ein anderes Geräusch seine Aufmerksamkeit. Schwere Schritte ließen ihn sich dem Weg zuwenden, der aus dem Wald herausführte. »Mytaru! Du bist entkommen!« Der Bulle wandte Yunnie sein blutbeflecktes Gesicht zu. Sein Blick war haßerfüllt. »Wir wurden von den Elfen und den Ehernwurzelbäumen abgeschlachtet. Den Stamm Utyeehn gibt es nicht mehr. Die Herde ist schwer angeschlagen.« »Laß mich euch helfen.« Mytaru schleuderte die zerbrochene Lanze nach Yunnie. Die Lebende Rüstung beschützte ihn vor dem Schlimmsten, aber der Aufprall ließ ihn taumeln. 330
»Bitte, Mytaru. Ich kann euch helfen!« »Du bist kein Urhaalan mehr«, erklärte Mytaru mit rauher Stimme. »Du bist weder mein Blutsbruder, noch mein Freund. Geh mir für alle Zeiten aus den Augen! Verdunkle mein Heim nie wieder mit deiner widerwärtigen Gegenwart, und sprich niemals mehr mit einem Urhaalan!« Mit diesen Worten schlurfte der Minotaurus davon und ließ einen entgeisterten Yunnie zurück. Er wollte Mytaru nachrufen, die schrecklichen Worte zurückzunehmen, die Verbannung rückgängig zu machen und alle unguten Gefühle vergessen, aber das war unmöglich. Yunnie war kein Minotaurus mehr. Er war ausgestoßen und heimatlos. Jeder Bulle, der von seiner Herde verstoßen wurde, konnte bei anderen Stämmen um Aufnahme bitten. Manche Herden bestanden fast ausschließlich aus Ausgestoßenen – aber nicht einmal sie würden Yunnie nach dem heutigen Tag noch aufnehmen. Ohne Stamm war er von allen anderen abgeschnitten. Die Herde hatte ihn fortgejagt. Das im Elnwald wütende Feuer zwang ihn, den Pfad zu verlassen und sich durchs Dickicht zu kämpfen. Den ganzen Tag lang stolperte er dahin, in Trauer und Schmerz versunken. Als er eine Weggabelung erreichte, von der aus ein Pfad zum Tal der Urhaalan und der andere zur Küste führte, wo sein Heimatdorf Shingol lag, zögerte Yunnie nur für einige Sekunden, ehe er sich tränenüberströmt für einen der beiden Wege entschied. 331
»Deine Verletzungen sind gar nicht so schlimm«, sagte Heryeon und sah Yunnie durch sein unversehrtes Auge an. »Größtenteils sind sie gut verheilt und hindern dich nicht daran, herumzulaufen und dich so zu benehmen, als besäßest du gesunden Menschenverstand. Wie lange sagtest du, hast du vom Elnwald bis hierher gebraucht?« Yunnie zuckte die Achseln. Er konnte sich kaum noch daran erinnern. So vieles ging ihm im Kopf herum. Die Wellen brandeten an den Strand seines Gedächtnisses und spülten nach und nach jegliches Bewußtsein und Lebensgefühl davon. Er fühlte sich wertlos und ausgehöhlt. Er hatte versucht, die Minotauren zu retten – und er hatte versagt. Er hatte gegen die Elfen gekämpft, um aus dem Wald zu entkommen, und jede Sekunde davon gehaßt. Auf eine Art und Weise, die er nicht erklären konnte, kam es ihm vor, als töte er seine Freunde, wenn ein Elf unter den Hieben seines Schwertes fiel. Wieder überfiel ihn eine Erinnerung, näherte sich, entfernte sich wieder und tanzte aufreizend um ihn herum, ohne daß er sie zu fassen vermochte. Diesmal 332
lag es nicht an Sacumons Zauberei, daß er die Niroso und ihre Taten oder gar Sacumons Vorhandensein vergaß. Die Rückkehr nach Shingol hatte alte Erinnerungen geweckt, die irgend etwas mit Elfen zu tun hatten. Aber was? »Du warst noch nie eine Plaudertasche, aber jetzt, nachdem du in der Welt herumgestreunt bist, sprichst du so gut wie gar nicht mehr.« »Ich bin nicht herumgestreunt«, antwortete er seinem Schwager. Heryeon spuckte ihm einen ekligen roten Brocken Blutsamen vor die Füße. Yunnie achtete nicht darauf. Seine Herdenbrüder hatten ihn bedeutend schlimmer gedemütigt und zurückgewiesen – jedenfalls die, die ihn als Bruder willkommengeheißen hatten, verbesserte er sich. Mehonvo war tot. Mytaru, Aesor, Pardano und die übrigen Überlebenden sahen in ihm einen Verräter. Geschichten, die erzählten, wie man mit Rebellen umzugehen pflegte, wurden abends am Lagerfeuer erzählt, um die Kinder zu erschrecken und alle vor der endgültigen Vernichtung zu warnen, die einem Geächteten drohte. Die Herde stand über allem; jeder einzelne wurde nur nach dem beurteilt, was er der Herde für Nutzen brachte. Wegen der Lebenden Rüstung hatte er die Herde verraten. Er kratzte sich, da unter dem Brustpanzer Ungeziefer wütete. Seine Rückkehr nach Shingol war unbeachtet geblieben. Seine Schwester war mit der Familienflotte, die 333
aus drei Booten bestand, aufs Meer hinaus gefahren. Die meisten Fischer hatten sich ihr angeschlossen. Yunnie hatte keine Ahnung, weshalb Heryeon zurückgeblieben war, aber es kümmerte ihn auch nicht sonderlich. Was Essa an dem Idioten fand, war ihm ein Rätsel, das Yunnie nie zu lösen versucht hatte. Er hatte vorgezogen, Shingol den Rücken zu kehren. »Du bist ein wandelnder Läusewirt«, sagte Heryeon und spuckte wieder aus. Diesmal flog der klebrige Brocken durch die offene Tür und landete genau in dem bunt bemalten Napf, der neben dem Eingang stand. Wäre er nicht so gleichgültig gewesen, hätte Yunnie angesichts dieser Geschicklichkeit Beifall geklatscht. »Ich hatte keine Zeit zum Baden«, erwiderte Yunnie. »Wann kommt Essa zurück?« »Deine Schwester ist auf dem Meer. Das habe ich dir schon oft genug gesagt. Du weißt doch, wie das ist. Sie kehren heim, wenn die Netze voll sind oder es nichts mehr zu fangen gibt.« Heryeon sah sich in seinem kleinen Haus um und schüttelte den Kopf. »Hab ihr schon hundertmal gesagt, wir sollten verschwinden. Ist nicht mehr sicher, Shingol. Nicht, wenn sich ein Krieg zusammenbraut.« »Elfen und Minotauren werden euch nichts tun. Sie sind viel zu weit entfernt, aber die ...« Yunnie blieben die Worte im Hals stecken, als er seinem Schwager von der Gefährlichkeit der Niroso berichten wollte. Deren Ehrgeiz würde sich nicht auf den Elnwald oder das Tal 334
der Urhaalan beschränken. Kohlengolems würden kommen, um die Menschen, Zwerge, Oger und alle anderen, die sich ihnen entgegenstellten, zu vernichten, bis das Steinvolk die Herrschaft über die Erdoberfläche an sich gerissen hatte. Sacumons Zauber stopfte ihm die Worte die Kehle hinunter und ließ ihn würgen, als habe auch er die Blutsamen gekostet. Immer, wenn er früher mit aufs Meer hinaus gefahren war, hatte ihm der eine oder andere Fischer eine Handvoll der roten Kerne angeboten. Zum größten Vergnügen der anderen hatte sich Yunnie jedesmal übergeben. Das Zeug brannte ihm in der Kehle und verursachte ihm schneller Übelkeit als der wildeste Seegang es vermochte. Ein Sprichwort besagte, daß nur echte Seebären Blutsamen zu kauen verstanden. »Wen interessieren schon Elfen und Minotauren?« lachte Heryeon. »Ich rede von dem großen Krieg, der die ganze Küste bedroht.« »Was ist denn geschehen, seit ich Shingol verließ? Haben die Lüsterfische beschlossen, die Fischer anzugreifen?« Er machte sich nicht die Mühe, seinen Groll zu verbergen. »Nichts ist geschehen. Es ist alles so, als seiest du schon nach einer Stunde wieder zurückgekehrt« erwiderte Heryeon spöttisch. »Aus irgendeinem Grund wird Essa sich freuen, dich zu sehen.« »Warum bist du nicht bei ihr?« »Hab mir den Rücken verletzt«, lautete die mürri335
sche Antwort. »Und nun sitzt du den ganzen Tag herum und schwafelst über einen Krieg entlang der Küste?« Yunnie richtete sich auf. Seine Beine schmerzten von der langen Reise und sein Magen knurrte vor Hunger. Die Aufnahmezeremonie bei den Urhaalan hatte ihn gelehrt, wie lange er ohne Nahrung auskommen konnte, und für dieses Wissen war er dankbar. Ihre Rituale erschienen ihm größtenteils fremd und eigenartig, aber dieses hatte ihm seine Leistungsfähigkeit gezeigt und ihm bewiesen, daß er in der Lage war, auch unter härtesten Bedingungen durchzuhalten. Auch den beschwerlichen Weg nach Shingol hatte er überstanden. »Iwset bekämpft Jehesic. Lord Peemel hielt um Lady Edaras Hand an, aber sie wies ihn zurück.« »Peemel ist ein Schwein«, meinte Yunnie. Er hatte sich längst gefragt, wie lange es dauern würde, bis der machtgierige Herrscher sich an die Eroberung der Stadtstaaten entlang der Westküste wagte. Jehesic war nur das erste Juwel in der Königskrone, die sich Peemel aufs Haupt zu setzen gedachte. »Er kämpft aus dem Hinterhalt«, erklärte Heryeon. »Schickte einen Meuchler aus, der Lady Edara töten sollte, nachdem sie seinen Antrag zurückwies. Versehentlich wurde ihre engste Ratgeberin umgebracht.« »Ein Meuchler konnte die Ratgeberin nicht von der Herrscherin unterscheiden?« Yunnie schüttelte den Kopf. Er hatte schon von den Fähigkeiten der Meuchler gehört. Sie machten keine derartigen Fehler. 336
»Hat die Ratgeberin, eine Frau namens Ferantia, getötet. Erstach sie von hinten, als Edara ihrer Hafenwache das Zeichen gab, auf Peemels Fregatte zu feuern. Jehesic versenkte das Schiff, und so brach der Krieg aus, obwohl es auch schon vorher ein paar Zwischenfälle gegeben hatte.« »Hat Peemel all seine Schwierigkeiten an Land gelöst?« »Ich hörte, seine Generale gerieten mit einigen Küstendörfern aneinander. General Ihesia und die Inquisitionstruppen zogen nach Norden.« Yunnie schauderte. Niederlagen in anderen Gebieten würden die Aufmerksamkeit auf Shingol lenken. Peemel brauchte ein paar leicht zu erringende Siege, um das Volk bei Laune zu halten. Yunnie hegte keinerlei Zuneigung zu den Iwsetianern oder anderen Binnenstaaten. Jehesic aber war das leuchtende Vorbild für alle Küstenstädte, Shingol inbegriffen. Trotzdem mochte Yunnie weder das Meer noch Schiffe, egal, wo seine Sympathien lagen. Bei dem Gedanken, daß der Krieg über Shingol hereinbrechen würde, ergriff ihn heftiger Zorn. Mit einer wütenden Armbewegung fegte er über die Tischplatte. Becher flogen durch die Luft, und Teller zerbrachen in tausend Stücke. »He, hör auf damit! Vielleicht hast du dich da draußen in den Wäldern daran gewöhnt, alles mögliche zu zerschlagen, aber uns haben die Sachen ein Vermögen gekostet!« Heryeon packte Yunnies Arm, um ihn von 337
weiteren Ausfällen abzuhalten. Der Fischer hatte kräftige Arme, aber Yunnie befreite sich mühelos aus seinem Griff und holte mit der Faust aus, von der Lebenden Rüstung angetrieben. Blinde Wut hatte ihn gepackt, und er verspürte den Wunsch zu töten. Rasend vor Zorn stürzte er sich auf den Mann, den er noch nie gemocht hatte. Yunnie konnte an nichts anderes denken als an Mord, vergossenes Blut und Vernichtung! »Yunnie, aufhören! Was tust du? Otto, Felal, helft mir!« Essa stürmte in die Hütte und hielt Yunnie fest, der seinen Schwager zu erdrosseln versuchte. Die beiden anderen Fischer zogen den brüllenden und um sich tretenden Yunnie fort. »Hinaus mit ihm! Hinaus!« befahl Essa. Sie kniete nieder und sah, daß ihr Ehemann zwar wütend, aber nicht verletzt war. Die beiden Fischer hielten Yunnie gegen einen Pfahl gedrückt, an dem sonst große und schwere Netze zum Trocknen aufgehängt wurden. Je mehr er sich gegen sie wehrte, um so stärker wurde er – von der Lebenden Rüstung getrieben. »Du hast dich verändert, aber nicht zum Guten. Bist du etwa so schlimm, wie Heryeon all die Jahre behauptet hat?« fragte Essa mit sanfter Stimme. Sie trat näher und strich ihm sanft über die Wange. Yunnies Wut verrauchte augenblicklich. »Essa, es tut mir leid. Ich weiß nicht, was über mich kam. Gewöhnlich gerate ich nicht in derartige Wut.« »Du warst schon immer sehr launisch, aber es war 338
nie so schlimm wie heute. Außerdem finde ich, daß du unmöglich gekleidet bist. Das ist eine geradezu armselige Rüstung.« Sie berührte den Brustpanzer. Sofort zog sie die Hand mit schmerzverzerrtem Gesicht zurück. »Sie hat mich gebissen! Jedenfalls fühlte es sich so an.« »Tut mir leid«, meinte Yunnie. Die beiden Fischer ließen ihn los, sahen ihn aber weiterhin voller Mißtrauen an. Beschämt sank Yunnie auf die Knie. »Ich wollte Heryeon nichts Böses antun. Ich kann ihn nicht leiden, aber er ist mein Schwager und dein Ehemann. Allein aus diesem Grund habe ich ihn bisher respektiert.« »Er ist ein guter Mensch, Yunnie. Und das bist auch du.« Essa hielt inne und fügte mit erstickter Stimme hinzu: »Das warst du. Was ist aus dir geworden?« Yunnies blaue Augen begegneten Essas braunen. Sie waren sich völlig unähnlich, aber dennoch hatte sie immer gewußt, was in ihm vorging. Besorgt überlegte Yunnie, was sie wohl jetzt in ihm sah. Könnte er ihr nur vom Steinvolk erzählen! Von Sacumon, den Kohlengolems und der Gefahr, die sich aus den Bergen und Wäldern auf die Küste zubewegte. Die Worte weigerten sich, seine Kehle zu verlassen und eine Botschaft zu verkünden. Er sackte noch mehr in sich zusammen, und sein Kummer verwandelte sich in Abscheu über sich selbst. »Ich weiß nicht, was aus mir geworden ist. Zuerst zog ich die magische Rüstung an, und nun kann ich sie nicht mehr ablegen.« Bitterkeit ergriff ihn. Er gehörte nirgendwo hin, und die Lebende Rüstung hielt ihn da339
von ab, das zu tun, was er für richtig hielt. Verflucht sei Sacumon! Tausendmal verflucht sollte sie sein! »Magische Rüstung?« Essa lachte, ehrlich belustigt. Auch Otto und Felal stimmten ein. »Das armselige Stück schlecht gegerbten Leders? Yunnie, du warst schon immer ein Träumer und Phantast, hast dich aber sonst nie übers Ohr hauen lassen.« Essas Belustigung ließ nach, und sie wurde wieder ernst. »Bleib hier. Ruh dich ein paar Tage lang aus, und dann hilfst du uns bei der Arbeit. Ich besitze jetzt drei Boote. Eines davon steuere ich selbst, Otto und Felal die anderen beiden. Für dich habe ich einen Platz in meinem Boot. Du hast deine Sache früher doch sehr gut gemacht. Vergiß dein seltsames Verlangen, dich fortwährend in die Angelegenheiten anderer zu mischen. Geh wieder mit mir aufs Meer hinaus, wie du es auch früher tatest.« »Essa, ich danke dir, aber ...« Yunnie richtete sich auf und erhob sich. »Ich kann nicht. Der Krieg muß verhindert werden, und nur ich kann es schaffen.« »Die Worte eines Verrückten!« rief Heryeon vom Eingang der Hütte herüber. »Halte dich zurück, Heryeon. Ich kümmere mich um ihn, denn er ist mein Bruder.« »Er ist nicht dein Bruder; das weißt du genau«, erwiderte Heryeon böse. »Wir sollten ihn aus Shingol vertreiben und umbringen, wenn er je zurückkehrt!« Yunnie machte Anstalten, sich erneut auf seinen Schwager zu stürzen, da die Lebende Rüstung seinen Zorn unterstützte. Essas Kapitäne packten zu und hiel340
ten ihn fest. »Ich sehe, ich habe mich geirrt. In Shingol ist kein Platz mehr für dich, Yunnie.« »Soll das heißen, du bist nicht meine Schwester? Ich bringe ihn um!« »Yunnie, verlasse unser Dorf. Unser Leben ist hart genug, und es nicht nötig, daß du es uns noch schwieriger machst.« Essa warf einen Blick über die Schulter zu ihrem Mann und ihrer Hütte hinüber. »Heryeon redet oftmals einfach daher, ohne über seine Worte nachzudenken. Das weißt du doch. Und du weißt auch, daß ich dich schwesterlich liebe.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn, ehe sie sich abwandte und im Inneren des Hauses verschwand. »Du hast den Käpt’n verstanden. Verlasse Shingol«, sagte Otto. »Den Käpt’n«, murmelte Yunnie. Der Ärger war so schnell vergangen, wie er gekommen war. Diesmal erfüllte ihn das Gefühl der Leere vollständig. Weder die Urhaalanherde noch seine Schwester wollte ihn. Er riß sich von den Fischern los und ging leicht hinkend davon, da ihn ein Elfenschwert am linken Bein verletzt hatte. Dunkelheit legte sich über Shingol und hüllte das schäbige Dorf in den weichen Mantel der Sommernacht. Yunnie schritt durch die schmutzigen Straßen seiner Kindheit, in denen er jetzt ein Fremder war. Er dachte an seine Freunde und auch an andere Menschen und fragte sich, wie sie ihn aufnehmen würden. Je län341
ger er dahinschritt, um so trostloser fühlte er sich, weil er niemanden sah, den er kannte. Seine eigene Familie hatte ihn verstoßen. Das Leben in Shingol war unerträglich geworden und hatte ihn vor Jahren in die Flucht getrieben. Jetzt wußte er, daß seine damalige Entscheidung richtig gewesen war. Shingol konnte ihm nichts bieten. Gar nichts. Yunnie wanderte zum Nixenfelsen hinauf, der sich hoch über dem Meer befand. Hundert Fuß tief unter ihm ragten zerklüftete dunkle Klippen aus dem Ozean. Yunnie sah zum Horizont hinüber, der durch Iontieros helles Licht erleuchtet wurde. Lang vergangene Ereignisse kehrten zurück und verursachten ihm Kopfschmerzen, weil er viel zu angestrengt nachdachte. Hier oben hatte er als Kind gesessen und auf die Rückkehr der Flotte gewartet. Ihm fiel ein, wie aufgeregt er gewesen war, wenn Essas Boot in Sichtweite kam und wie er den Kai entlangrannte, um sie zu begrüßen. Hier oben hatte er mit Nesha, seiner ersten Liebe gesessen und zugesehen, wie die Monde aufgingen und die Sterne erschienen. Sie war während der großen Seuche umgekommen, einer Krankheit, die durch fehlgeschlagene Zauberei entstanden war, und ihr den Verstand geraubt und sie in den Selbstmord getrieben hatte. In jenem kühlen, nassen Frühjahr vor vielen Jahren war mit ihr auch ein Teil von Yunnie gestorben. In den seither vergangenen Jahren hatte er jedoch noch mehr verloren. Trübsinnig starrte er auf die sanf342
ten Wellen des Meeres und fand keine Ruhe, sondern nur noch mehr schlimme Erinnerungen. Er hatte so vieles verloren. Mytaru und die Herde. Essa, Shingol und die Elfe, die ihn als Kleinkind hierhergebracht hatte. Unbeschreiblicher Haß und Zorn auf sich selbst und die ganze Welt ergriff ihn. Die Lebende Rüstung nährte diese Gefühle und erfüllte ihn mit dem Verlangen, auf irgend etwas loszugehen, etwas zu zerstören. Yunnie sah sich selbst als Ziel der Gewalt, die keine Grenzen kannte. Die Lebende Rüstung trieb ihn voran, bis an den Rand des Nixenfelsens. Dann zwang sie ihn, hinabzuspringen.
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»Wir führen nichts Böses im Schilde«, sagte Maeveen O’Donagh in der Hoffnung, die elfischen Bogenschützen würden keine schweißnassen Finger bekommen und ihre Pfeile aus Versehen abschießen. Sie konnte sich und ihre Soldaten nur durch Reden aus diesem tödlichen Kreis befreien. »Er war ein Magier«, verkündete der größte der Elfen. Ein Finger, der mehr als einmal gebrochen gewesen war, deutete auf den Leichnam von Coernns Gefährten. Der Elf hatte nur noch ein Ohr, und quer über die Wange verlief ein tiefer Schnitt, der gerade erst zu heilen begann. Von seiner Kampferprobtheit kündete auch das halbe Dutzend rosiger Narben, die sich über das ganze Gesicht zogen. »Was er in seinem Bündel hat, zwingt uns, immer wieder an diese Stelle zurückzukehren.« Der Elf wies mit dem Bogen auf die am Boden liegende Laterne. »Das wissen wir«, bestätigte Schleichfuß. Er bückte sich, hob die Lampe auf und trat dagegen, so daß sie in einem leichten Bogen durch die Luft segelte. Eine Bogenschützin rührte sich und schoß ihren Pfeil ab, der sich genau durch den Mittelpunkt der Laterne bohrte. 344
Maeveen wußte derartige Geschicklichkeit zu schätzen, wollte aber verhindern, daß sie sich gegen sie oder ihre Leute richtete. »Genau deshalb kehren auch wir dauernd hierher zurück. Als er starb, scheint er die Laterne benutzt zu haben, um sich von ihr durch den Wald führen zu lassen.« Maeveen rieb sich die Hände an der Hose, biß sich auf die Lippe und überlegte, was sie noch sagen konnte. »Ich glaube nicht, daß er ein Magier war. Zwar trug er ein magisches Artefakt bei sich, schien aber kein Zauberer gewesen zu sein. Wäre ein Magier ein so leichtes Opfer eurer Pfeile geworden?« »Das ist unser Wald!« blaffte sie der einohrige Elf an. »Hier haben wir die Oberhand.« Er trat hinkend vor und betrachtete sie prüfend, als könne er so feststellen, ob sie Böses im Schilde führte. Was auch immer in seinen hellen Augen zu lesen war – es fiel nicht ungünstig für Maeveen und ihre Begleiter aus. Er senkte den Bogen und stützte sich schwer darauf. »Ihr seid bloß einfache Menschen«, erklärte er. »Und keiner von euch ist der, der die Minotauren anführt.« »Wir sind nur auf der Durchreise. Eine Expedition, die zur Küste will«, sagte Maeveen und fragte sich, was sie gefahrlos sagen durfte und was nicht. Wäre doch nur Vervamon hier! Er verstand sich meisterhaft darauf, mit wutentbrannten Einheimischen zu verhandeln, die ihnen den Weg versperren oder sie berauben wollten. »Wir sind aus der Stadt der Schatten geflohen«, warf 345
Schleichfuß ein. »Geflohen? Wir verließen lediglich die wunderschöne Stadt«, meinte Quopomma. »Außerdem möchte ich nicht, daß man auch mich als einfachen Menschen bezeichnet. Ich bin eine Ogerin und stolz auf meine Herkunft, so wahr ich hier stehe!« »Soll ich sie erschießen, Dalalego?« erkundigte sich die Elfe. »Das wäre noch einfacher, als die Laterne zu treffen. Sie ist so fett, daß man sie unmöglich verfehlen kann!« »Fett!« brüllte Quopomma. »Du hörst dich wie Iro an. Ich werde dir die spitzen Ohren abreißen und in die Nasenlöcher stopfen!« »Quopomma«, sagte Maeveen warnend. An Dalalego gewandt fügte sie hinzu: »Wir sind Forscher, keine Eroberer. Wir wollen euch nichts tun. Wenn wir euch irgendwie behilflich sein können, sind wir gerne dazu bereit. Übrigens denke ich, daß unser Anführer, der Wissenschaftler Vervamon, ganz meiner Meinung ist.« »Vervamon?« Dalalego stülpte die Lippen vor. »Den Namen habe ich schon gehört. Seinen Büchern nach zu urteilen, ist er ein aufgeblasener Wichtigtuer. Mir gefällt Jenns Beschreibung von ...« »Laß das bloß Vervamon nicht hören!« sagte Maeveen, die trotz ihrer Besorgnis lachen mußte. »Mit Jenns versteht er sich nicht gut. In Wirklichkeit sind die beiden erbitterte Feinde. Ich bin erstaunt, daß du schon von ihnen gehört hast und ihre Werke miteinander vergleichst.« 346
Dalalego grinste schief. Ein Teil seiner Unterlippe war von einem Lanzenstich abgetrennt worden. »Wir Elnwaldelfen sind keine Barbaren. Es macht uns Freude, die Welt außerhalb unseres Waldes kennenzulernen.« Er seufzte tief und hustete röchelnd. Maeveen vermutete, daß er an Schwindsucht litt. Wenn dies der Fall war, blieb Dalalego nur noch wenig Zeit, seine Bogenschützen anzuführen. »Ich bin sicher, daß Vervamon liebend gerne über seine Reisen berichten wird. Er kann äußerst spannend erzählen.« Dalalego lachte. »Seinen Büchern nach zu schließen, kann der Bursche bestimmt genauso gute Geschichten zum besten geben wie die Märchenerzähler am Lagerfeuer.« Er sah Maeveen, Schleichfuß, Quopomma und die Umstehenden an, ehe er wieder zu Coernns totem Kameraden hinüberblickte. »Ihr seid schon in Ordnung, aber könnt ihr irgend etwas gegen diese Laterne unternehmen?« »Das hat deine Bogenschützin schon getan«, sagte Maeveen. Der Elfenpfeil hatte die Lampe zertrümmert und das magische Licht für immer zum Erlöschen gebracht. »Oji ist die beste Schützin im ganzen Wald«, erklärte Dalalego mit einem Stolz, der über die bloße Bewunderung für eine Kampfgefährtin hinausging. Die Elfe grinste breit, sah aber besorgt drein, als Dalalego wieder von einem Hustenanfall ergriffen wurde. »Ihr seid nur auf der Durchreise, sonst nichts?« 347
»Wir wollen zur Küste. Wir sind als Späher unterwegs, um die Expedition nach Shingol zu führen.« »Shingol!« fauchte Dalalego. »Das soll die Heimat des Anführers der Minotauren sein!« »Ein Mensch führt die Bullen an?« Die Bestätigung ihres Alptraums verblüffte Maeveen. Alles, was sie bisher über Minotauren gehört hatte, sprach dafür, daß nur ein Herdenmitglied die Krieger anführen durfte. Sie waren äußerst eigen und nahmen kaum jemals Fremde auf – das hatte Vervamon jedenfalls erzählt. Er würde sich sehr für einen Menschen interessieren, der in die Urhaalanherde aufgenommen worden war – und seine Geschichte hören wollen. Dalalego spuckte aus, und Oji redete so schnell in der Elfensprache, daß Maeveen kein Wort verstand. »Sie meint, du würdest zu viele Fragen stellen, um wirklich unparteiisch zu sein.« Dalalego dachte einen Augenblick lang nach. »Vielleicht hat sie recht. Wir haben nur dein Wort, daß ihr euch nicht mit den Minotauren gegen uns verbündet habt.« »Ihr könnt uns gerne durch den Wald folgen. Noch besser: Zeigt uns den Weg, damit wir uns nicht verirren. Dann verschwinden wir sofort.« »Nach Shingol?« »Da wollen wir hin«, bestätigte Maeveen. »Du darfst das Fischerdorf aufsuchen. Die aber nicht.« Dalalego deutete auf die Ogerin und ihre Gefährten. »Sie bleiben als unsere ... Gäste hier. Wenn du mit der Expedition friedlich durch unser Gebiet gezo348
gen bist, ohne auch nur ein Blatt vom Baum zu reißen, werden wir sie euch hinterherschicken.« »Ihr wollt meine Offizierin und die anderen als Geiseln behalten?« fragte Maeveen wütend. »Wartet, Hauptmann!« mischte sich Quopomma ein. Selten neigte die Ogerin zur Zurückhaltung. Diesmal jedoch warnte sie Maeveen, daß keiner überleben würde, wenn die Elfen sie angriffen. »Schleichfuß, ich und die anderen können ausruhen. Außerdem werden wir die Ohren aufsperren und herausfinden, was wirklich vorgeht. Ich glaube kaum, daß ein Mensch die Minotauren anführt. Dazu sind die Bullen viel zu stolz. Außerdem ...« Sie warf dem Anführer der Elfen einen Seitenblick zu, »... ist der Bursche gar nicht so häßlich. Für einen Elfen, jedenfalls. Dalalego – so heißt er doch?« Maeveen sah die Ogerin an und ergab sich in ihr Schicksal. »Na gut. Ich suche den Weg nach Shingol, so schnell ich vermag. Dann führe ich Vervamon und die übrigen durch den Wald. Einverstanden?« Dalalego nickte und wich ein Stück vor Quopomma zurück, auf Oji zu, als sei ihm aufgefallen, daß er einen schlechten Tausch gemacht hatte. Oji sah ihren Gefährten an, grinste boshaft und sagte: »Quopomma, ich bin sicher, du wirst eine schöne Zeit mit Dalalego verleben.« Maeveen schulterte ihr Bündel und eilte davon. Sollten sie sich nur friedlich einigen. Je eher sie einen Weg aus dem Wald fand, um so schneller konnte sie die Expedition wieder vereinen. Es war nicht gut, Schleich349
fuß, Quopomma und die anderen zurückzulassen. Aber es hätte schlimmer kommen können. Es war angenehm, ungehindert und allein durch den Wald zu streifen, und allmählich freute sie sich auf Shingol. »Ein Mensch, der die Minotauren anführt«, murmelte sie vor sich hin. Ein faszinierender Gedanke. Shingol unterschied sich nicht von Hunderten von anderen Fischerdörfern, die sie kannte. Der Gestank von verfaulenden Fischen griff ihren Geruchssinn an. Maeveen nieste, und das vertrieb den Geruch ein wenig, aber leider nicht auf Dauer. Noch schlimmer jedoch waren die schleimigen Pflanzen, die der Wind vor sich hertrieb und die ihr eine Gänsehaut verursachten, als müsse sie durch ein Meer von toten Fischen waten. Maeveen schritt tapfer voran, um sich dem ersehnten Ziel zu nähern. Shingol lag in einer Bucht, die bestimmt ›Bucht von Shingol‹ hieß oder einen ähnlich voraussehbaren Namen trug. Entlang der Küste verlief eine hohe Felsenklippe in südlicher Richtung. Wäre die Gegend befahrener gewesen, hätte dort oben sicherlich ein Leuchtturm gestanden. Wenigstens bot dieser Platz eine gute Aussicht über das Meer und diente dazu, sich nähernde Schiffe frühzeitig zu erspähen. Als sie das Dorf betrat, wußte sie nicht, ob sie nach dem Mann fragen sollte, der die Minotauren anführte. Die wenigen Leute, die durch die engen Gassen eilten, warfen ihr mißtrauische Blicke zu. Kein Wunder. An ihrer Seite hing das abgenützte Schwert, und man merkte ihr an, daß sie Offizierin war. Aus vereinzelten 350
Gesprächsfetzen entnahm sie, daß die Dörfler sich aufgeregt über Neuigkeiten des Krieges zwischen Iwset und Jehesic unterhielten. Dieser Ort schien für Lord Peemels Pläne völlig wertlos zu sein. Warum hatte er so viel Geld aufgebracht und sechs Beobachter samt Vervamon auf eine unsinnige Reise geschickt? Das Siegel von Iwset! schnaubte Maeveen. Ein Hirngespinst, sonst nichts. Eine Ausrede. Aber wofür? Und weshalb erklärte Coernn, das Siegel befinde sich in Shingol, wenn Digody sicher war, es liege in der Stadt der Schatten verborgen? Zu viele Fragen verlangten nach einer Antwort, und Maeveen war todmüde und unwillig, länger darüber nachzudenken. Jedenfalls jetzt noch nicht. »Wo kann ich eine Übernachtungsmöglichkeit finden?« fragte sie. »Bis’ du aus Iwset?« kam die bange Frage. »Ich bin eiligst hindurchgereist. Habe mehr Zeit in Jehesic verbracht«, antwortete sie wahrheitsgemäß. Das verleitete den Fragesteller dazu, seine Tür weit genug zu öffnen, um eine riesige, warzenbedeckte Nase, wäßrige blaue Augen und ein Gesicht zu enthüllen, das größtenteils von einem verfilzten, mit Essensresten verklebten schwarzen Bart bedeckt war. Der Mann erinnerte sie an einen struppigen Bären, so viele Haare hatte er. »Wir halten nix von den Iwsetern«, teilte er ihr mit. »Jehesic unterstützen wir auch nich’, sagen aber nix gegen Lady Edara. Sie is’ nämlich eine von uns.« 351
»Sie stammt aus Shingol?« Verwundert hob Maeveen die Augenbrauen. »Nein, nein. Sie hat’s mit der See. Is’ ‘ne echte Seefahrerin. Peemel, nun, der hat ‘ne Flotte, holt sich die Leute aber aus Orten wie Shingol. Der alte Rontiquerio, ja, der is’ einer, der’s Gold von Lord Peemel nahm un’ dafür in seiner Flotte mitsegelte. Is’n Narr, der alte Ronti, ließ sich aber nie nich’ was sagen von keinem. Wird noch mal ‘ne Mahlzeit für’n Leviathan abgeben, das kannste mir glauben.« »Was habt ihr denn so alles über den Krieg gehört?« erkundigte sich Maeveen, da sie nicht eingeladen wurde, die Hütte zu betreten. Die dunklen Wolken, die sich am Himmel zusammenzogen, verhießen einen Sturm. Unter freiem Himmel würde es bald naß werden, aber wahrscheinlich blieb ihr keine andere Wahl, als sich auf der windgeschützten Seite eines Felsens zusammenzukauern und darauf zu warten, daß das Unwetter vorüberging. Vielleicht bot die hohe Klippe ausreichenden Schutz. »Lord Peemel verliert, das is’ sicher. Versuchte, Lady Edara umzubringen. Mit ‘nem Meuchler. Das hat erversucht. Lady Edaras Ratgeberin hat sich für die Herrin geopfert. Jetzt gibt’s ‘nen Tag, an dem die Ferantia gefeiert wird. Hier gibt’s sonst nich’ viel zu feiern, und...« »... ihr feiert mit?« riet Maeveen. Der Mann mit dem zotteligen Kopf nickte. Maeveen zweifelte nicht daran, daß die Zuneigung der Dorfbewohner Jehesic gehörte. 352
Auch ihr erging es nicht anders, aber sie fragte sich, weshalb Ferantia ihr Leben geopfert hatte, wenn es stimmte, was der Fischer behauptete. Sie war sich sicher, daß die Ferantia, die sie zusammen mit Digody gesehen hatte, auch die getötete Ratgeberin Lady Edaras war, aber die Geschichte ihres Todes mochte sich bei jeder Erzählung ein wenig verändert haben. »Du solltest dir ‘nen Platz suchen, wo du vor dem Sturm geschützt bist. Sieht schlimm aus, was sich da zusammenbraut. Die Boote sind schon zurück.« »Ich suche jemanden.« Maeveen unterdrückte die Worte den Mann, der die Minotauren anführten Bestimmt würde sie eine Antwort erhalten, bezweifelte aber, daß sie freundlich ausfiele. Die Einwohner von Shingol waren verschlossen und mißtrauisch gegenüber Fremden. Das zeigte der frostige Empfang. »Wohnt er hier oder reist er bloß durch, so wie du?« »Er ist gerade angekommen«, erwiderte Maeveen, ohne recht zu wissen, warum. Ihr Traum in der Stadt der Schatten hatte ihr einen blondhaarigen Mann gezeigt, der vor einer Minotaurenherde einen Berg hinablief und der irgendwie in Verbindung zu diesem verschlafenen, fast schon rückständigen Fischerdorf stand. »Meinst du Yunnie?« »Genau. Groß, blaue Augen, blondes Haar, hohe Stirn, kräftig und sonnengebräunt?« »Das is’ er. Ich glaub’, Heryeon hat ihm eine gelangt und ihn rausgeschmissen.« »Heryeon? Ein Verwandter?« 353
»Sein Schwager«, antwortete der Mann. »Essa is’ zu nett, um ihr eigen Fleisch un’ Blut fortzujagen, aber Heryeon nich’. Der Kerl würd’ seine eigenen Kinder fressen, wenn ihm mal der Magen knurrt. Harter Mann, der Heryeon.« »Hart, aber gerecht?« schlug Maeveen vor. »Heryeon, gerecht?« Abfälliges Gelächter ertönte. Der zerzauste Mann schlug Maeveen die Tür vor der Nase zu, ehe sie noch fragen konnte, wo Essa und Heryeon lebten. Es dauerte fast eine Stunde, bis sie die Hütte der beiden fand. Heftig klopfte sie mehrmals an die Tür, ehe sich Essas wettergegerbtes Gesicht durch einen Spalt zeigte. »Ich suche deinen Bruder«, sagte Maeveen. Das Leuchten, das Essas Miene erhellte, zeigte Maeveen, daß sie endlich die richtige Frau gefunden hatte. Regentropfen fielen vom Rand des Daches auf ihren Kopf. Anscheinend war es unmöglich, einen geeigneten Schutz vor dem Unwetter zu finden. »Pst, nicht so laut! Sonst hört uns Heryeon.« Essa schlüpfte hinaus und starrte Maeveen neugierig an. »Warum sucht eine Soldatin wie du nach meinem Bruder?« »Darf ich nicht sagen.« Maeveen hatte keine Lust, von ihrem Alptraum zu erzählen, der sie in der Stadt der Schatten beinahe um den Verstand gebracht hatte, noch das fast schon prophetische Gefühl zu erwähnen, das diesen Traum begleitet hatte. Ihre Antwort ließ Essa glauben, Maeveen dürfe keine militärischen Ge354
heimnisse preisgeben. »Ich wußte, daß er mir nicht alles gesagt hat. Yunnie war schon immer sehr verschlossen. Er hat mir damals nicht einmal verraten, daß er uns verlassen wollte. Eines morgens wollte ich ihn wecken, um fischen zu gehen, und plötzlich war er nicht mehr da. Einfach so.« Essa schnippte mit den Fingern. »Wenn er nicht mehr hier ist, wo ist er dann?« »Er und seine blöde Minotaurenrüstung!« Essa spuckte aus. Anhand des roten Rinnsals, das sich mit dem Regen vermischte, erriet Maeveen, daß die Frau Blutsamen kaute. Das betäubend wirkende Kraut linderte die Schmerzen, die sich ob der endlosen, knochenzermürbenden Arbeit des Fischens einstellten. »Er brabbelte dummes Zeug, daß sie ihn in die Herde aufgenommen hätten. Wer würde ihm das schon glauben? Yunnie hat früher nie gelogen, aber ...« Essa schüttelte den Kopf. »Wo ist er?« »Weg. Wieder einmal.« Essa dachte eine Weile nach. »Vielleicht hockt er auf dem Nixenfelsen. Die Klippe, die über die Bucht von Shingol hinausragt.« Maeveen wischte sich den Regen aus den Augen und dankte der Frau. Dann stemmte sie sich gegen den Sturm, ehe sie in schallendes Gelächter ausbrach. »Die Bucht von Shingol! Ich ahnte es!« Dann zog sie sich den Umhang fester um die Schultern und schritt eilig auf den Nixenfelsen zu. Dort hoffte sie, Yunnie oder wenigstens Schutz vor dem Unwetter zu finden. 355
Eigentlich war sie nicht empfindlich, aber sie haßte es, daß es dem Regen an der Küste jedesmal gelang, sich den Weg unter ihre Kleidung zu bahnen. Es kam ihr vor, als verleite das Meer den Sturmwind, ihr möglichst viel Unbehagen zuzufügen. Mit Leichtigkeit entdeckte sie den Pfad, der zu den Klippen führte. Maeveen versuchte herauszufinden, ob vor kurzem jemand hier gewesen war, aber der Regen hatte alle Spuren verwischt. Sie erklomm den steilen Pfad und gelangte auf ein Felsplateau, das hoch über dem Meer lag. Hohe Wellen brachen sich an den schroffen Klippen, die aus dem Wasser ragten. Die Gischt spritzte fast fünfzig Fuß hoch. Maeveen hatte keinen Blick dafür, sondern starrte gebannt auf den Mann, der am Rand des Felsens stand. Regen prasselte auf seine schlichte Rüstung und verdampfte augenblicklich, da der Fremde von einer blauen magischen Aura umgeben wurde. »Yunnie!« schrie Maeveen, die den Mann erkannte, den sie in ihrem Alptraum gesehen hatte. Sie stürmte vorwärts, als er einen Schritt ins Leere machte, um sich in den Tod zu stürzen.
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»Ich glaube, irgendwann werde ich Fisch hassen«, meinte Maeveen und suchte die Gräten aus ihrem Essen, um sie später als Zahnstocher benützen zu können. »Seit drei Tagen habe ich nichts anderes gehabt. Im Wald fand ich wenigstens ein bißchen Gemüse.« »Vielleicht stirbst du an Skorbut, aber dafür kriegst du keinen Kropf«, tröstete sie Yunnie und warf einen Fischkopf über die Schulter ins Meer. Hinter ihm balgten sich ein paar Knochenkrabben um den Leckerbissen. Yunnie wickelte den Fisch in Seetang ein und legte ihn zum Rösten ins Lagerfeuer. »Du bist schon ein seltsamer Kauz«, bemerkte Maeveen. »Ich rette dir das Leben, und du nimmst es kaum zur Kenntnis.« Sie sah ihn erwartungsvoll an, aber er bemerkte es nicht. Yunnie zuckte die Achseln. Er erinnerte sich kaum noch an den Sturm und den Schritt ins Leere. Maeveen hatte ihm erzählt, wie sie ihn vor dem Tod rettete, aber er war sich dessen nicht bewußt. Die Lebende Rüstung hatte ihn vorangetrieben. Seine Schritte waren einzig durch die Kraft des magischen Artefaktes geleitet worden. Jetzt, da er keine Familie und keine Freunde mehr 357
hatte, war ihm gleichgültig, ob er lebte oder starb. Maeveen starrte ihn an und versuchte, den Eindruck abzuschütteln, einem jungen Vervamon gegenüberzusitzen. Die hohe Stirn, die Augen, die Gesten – das war Vervamon, der sich gerade über ein wissenschaftliches Problem ausließ. »War es vergebens, daß ich dich im letzten Augenblick zurückriß?« »Wer weiß? Ich habe keine Ahnung.« Er sah auf die Lebende Rüstung hinab, und ein Schauder überkam ihn. Maeveen versuchte, seiner Miene etwas zu entnehmen, aber es gelang ihr nicht. Er hatte wenig über seine Rückkehr nach Shingol erzählt, und noch weniger über sein Leben bei den Urhaalanminotauren. Sie sah, wie sich ihm die Kehle zusammenkrampfte, wenn er versuchte, über den Krieg zwischen Elfen und Minotauren zu reden. »Mir tut es nicht leid, dich gerettet zu haben«, sagte Maeveen. Sie schaute ihn durchdringend an. Er errötete nicht, schien sich aber unbehaglich zu fühlen. Verlegen über ihre forsche Äußerung, schlug Maeveen die Augen nieder. Da sie seit langer Zeit ein Soldatenleben führte, mangelte es ihr an den Grundregeln der Etikette. Quopomma und die anderen waren wenig geeignet, um sich in damenhaftem Benehmen zu üben. »Meine Schwester will mich unbedingt loswerden. Mein Schwager wünscht mich auf den Grund des Meeres, von Haien zerrissen. Mytaru, mein Blutsbruder, hält mich für einen Feigling, weil ich ...« Yunnie rang 358
nach Luft. Maeveen wollte aufspringen und ihm zur Hilfe eilen, als er schluckte und tief durchatmete. »Hast du eine Gräte verschluckt?« erkundigte sie sich, obwohl der Fisch noch nicht gar war. Er nickte geistesabwesend, als sei diese Erklärung so gut wie jede andere. »Wohin wirst du von hier aus gehen?« »Jehesic kämpft gegen Iwset. Mir sind beide gleichgültig, aber Jehesic gefällt mir besser. Vielleicht wird Lady Edara mich in ihre Flotte aufnehmen.« »Du könntest auch mit uns ziehen«, sagte Maeveen ein wenig zu eifrig. »Vervamon ist ein Abenteurer wie kein zweiter. Wir entdecken die seltsamsten Dinge, die er alle notiert und ...« »Wie aufregend«, bemerkte Yunnie mit einer Stimme, die Maeveen deutlich verriet, daß ihn derartige Reisen langweilen würden. »Wir suchen nach dem Siegel von Iwset«, sagte sie und ließ ihn nicht aus den Augen. Er hob nicht einmal andeutungsweise die Brauen. Das Siegel von Iwset war ihm völlig unbekannt. »Wir übernachteten in der Stadt der Schatten. Ich glaube, dich in einem meiner Träume gesehen zu haben. Der Ort scheint Träume – Alpträume – hervorzurufen.« »Dann gehöre ich also zu deinen Alpträumen«, stellte er verbittert fest. »Es ist mein Schicksal, allen, denen ich begegne, Unglück zu bringen.« »Das ist nicht wahr!« widersprach Maeveen heftig. »Du mußt dir Zeit lassen. Bei uns könntest du bewei359
sen, daß du der tapferste aller Krieger bist. Ich kann dich gut bei meiner Truppe gebrauchen. Ich nehme nur die tapfersten der Tapferen, die erfahrensten Kämpfer, die ...« Maeveen verstummte, als sie eine dröhnende, wohlbekannte Stimme vernahm. »Vervamon!« rief sie und sprang auf. Der weißhaarige Gelehrte schritt den Pfad entlang, gefolgt von Coernn und seinen beiden Gefährten. »Was macht Ihr denn hier?« »Ich habe Euch gesucht. Coernn versicherte mir, daß wir das Siegel im Handumdrehen finden.« Vervamon ging um das Feuer herum, sog den Geruch nach gebratenem Fisch ein und leckte sich die Lippen. Schweigend reichte ihm Maeveen ihre Portion, die er entgegennahm und gierig verschlang. »Was ist mit dem Siegel?« fragte Maeveen und sah zu Coernn hinüber. Der Mann stand breitbeinig vor Yunnie und starrte ihn an, als sei er eine Schlange, die ihre Beute beobachtet. »Es geht um mehr als nur die Auffindung des Siegels«, antwortete Coernn. »Wir müssen auch den Dieb fangen, der es gestohlen hat. Peemel läßt nicht mit sich spaßen.« Yunnie spuckte ins Feuer und erwiderte, ohne mit der Wimper zu zucken, Coernns Blick. Zu Maeveens größter Überraschung war es Coernn, der als erster die Augen niederschlug und den lautlosen Machtkampf verlor. Sie konnte die Kraft, die Yunnie umgab, fast mit 360
den Händen greifen. Es war schwer, ihn nicht dauernd anzustarren oder wegzuhören, wenn er sprach. »Wie seid Ihr nach Shingol gekommen?« wollte Maeveen wissen. »Die Elfen haben Quopomma und die anderen als Geiseln genommen, damit ich mein Wort halte und wir keinen Schaden anrichten.« »Wir sind den Elfenpatrouillen ausgewichen«, antwortete Coernn. »Das war ganz einfach. Im Wald fanden wir den armen Wesim. Die Elfen haben ihn getötet und die Laterne zerstört, die ich ihm mitgab.« »Mit einem Pfeilschuß genau durch die Mitte, zang!« Maeveen führte ihm vor, wie Ojis Schuß die magische Lampe zerschmettert hatte. »Jene Elfen haben meinen Leutnant und meinen Späher gefangengenommen. Es wundert mich, daß Ihr ihnen mit Leichtigkeit entkommen konntet.« »Sie bereiten sich auf den großen Kampf vor«, erklärte Vervamon, der sich die Finger ableckte und ein Stück rohen Fisch anstarrte. Schweigend machte sich Yunnie daran, ihn für den ungebetenen Gast zuzubereiten. »Sie werden ins Urhaalantal ziehen, um alle Minotauren zu töten.« »Das dürfen sie nicht!« Yunnies Gleichgültigkeit war verschwunden. »S-s-...« Er begann zu würgen. Coernn trat zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter, sprang aber sofort zurück, als er mit der schlichten Lederrüstung in Berührung kam. Erstaunt riß er die Augen auf und gab seinen Gefährten einen Wink. Die beiden zogen sich zurück und eilten den Pfad in Richtung 361
Shingol hinab, bis sie schließlich nicht mehr zu sehen waren. »Aber das werden sie. Die Minotauren kämpfen mit unfairen Mitteln«, fuhr Vervamon fort, der das plötzliche Verschwinden von Coernns Freunden gar nicht zu bemerken schien. »Mit Magie verzaubern sie die Elfenpatrouillen. Schreckliche Todesfälle wurden gemeldet. Die Leichen sind bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Eine entsetzliche Todesart, die nur den Minotauren und ihrem Zauber zu verdanken ist.« »Nicht den Minotauren!« widersprach Yunnie. Tränen standen ihm in den Augen, als er zu sprechen versuchte. Wieder näherte sich Coernn, aber die Lebende, Rüstung ließ nicht zu, daß er Yunnie berührte. »Ich sage Euch, ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Ich bin ein guter Beobachter und nicht leicht zu täuschen. Es bleibt den Elfen nichts anderes übrig, als den Kampf im Land der Feinde fortzuführen, ehe deren Magie zu mächtig wird. Selbstverständlich bleibe ich völlig unparteiisch. Ich bin nichts als ein Beobachter.« »Wir müssen ihnen helfen!« schrie Yunnie. »Den Elfen? Schließlich sind sie es, die unter den schrecklichen magischen Angriffen der Minotauren zu leiden haben!« »Nein, sie können gar nicht zaubern. Mytaru war nie so mächtig. Das ist ...« Maeveen versuchte, Yunnie zu beruhigen. Als sie ihn berührte, verspürte sie ein unangenehmes Kribbeln, das sie zwang, sich zurückzuzie362
hen. »Ihr irrt Euch. Die Minotauren zaubern nicht nur manchmal, sondern verlassen sich jetzt völlig auf ihre Magie. Nach jedem Zusammenstoß bleiben mehr und mehr verbrannte Elfen zurück. Von derartigen Zaubersprüchen habe ich noch nie gehört. Das ist etwas ganz Neuartiges, und ich werde ein ausführliches Kapitel meines nächsten Buches nur diesem Krieg widmen.« Vervamon hatte auch den zweiten Fisch verspeist, leckte sich noch einmal die Finger ab und sprang auf. »Nun, meine Lieben, wollen wir das Dorf nach dem Siegel absuchen? Auf geht’s!« »Wartet!« rief Maeveen. »Was ist mit Quopomma und den anderen? Wir können sie nicht im Stich lassen.« »Ich sagte Coernn, daß er das Siegel bis Tagesanbruch gefunden haben muß. Wenn nicht, werden wir zum Urhaalantal reisen. Einen verlorenen Gegenstand kann man jederzeit suchen. Aber ein Krieg wartet auf niemanden. Ich muß dort sein und mir Notizen machen, wenn sich Elfen und Minotauren gegenüberstehen.« Mit diesen Worten gingen Vervamon und Coernn davon. Maeveen starrte Yunnie an, um herauszufinden, wie er auf die Neuigkeiten reagierte. Mit blassem, angespannten Gesicht schritt er unruhig auf und ab. Die blauen Augen sahen ins Leere, und kein Wort drang über seine Lippen. »Wenn es so ist, wie du mir erzählt hast«, begann sie 363
vorsichtig, »dann hält dich nichts in Shingol. Aber die Herde nahm dich als Mitglied auf. Willst du in einem Fischerdorf herumsitzen, während deine Blutsbrüder getötet werden?« »Was soll ich tun, wenn Mytaru Magie einsetzt! Sie wird ihn umbringen! Er weiß sie nicht zu beherrschen, und sie auch nicht Kohleng-g-...« Wieder konnte er nicht weiterreden. Maeveen legte ihm den Arm um die Schultern, bis er erneut durchatmen konnte. Sie beachtete das unangenehme Kribbeln nicht länger. Sein starker junger Körper erregte sie, aber noch anziehender war die Macht seiner Gefühle. Hier stand ein Mann, der feste Anschauungen vertrat und noch wußte, was Freundschaft und Treue bedeuteten. »Geh zu den Urhaalan zurück«, sagte Maeveen leise. »Aber heute nacht mußt du hierbleiben. Dann kannst du dich reinen Herzens und mit klarem Verstand auf den Weg machen.« Mit undeutbarer Miene sah er sie an. Einen Herzschlag lang dachte Maeveen, er würde sie küssen. Statt dessen schob er sie beiseite. »Du hast recht«, sagte er mit rauher Stimme. »Mytaru braucht mich. Er ist mein Bruder, mehr als Heryeon es je sein könnte – oder sonst jemand in Shingol. Warum bin ich überhaupt hergekommen? Shingol ist meine Vergangenheit, nicht meine Zukunft. Die Herde braucht mich. Ich muß Mytaru davon abhalten, Magie einzusetzen, sonst wird sie sich gegen ihn wenden. Sie 364
wird dafür sorgen, daß es geschieht!« Ehe Maeveen noch fragen konnte, wer ›sie‹ war, lief Yunnie davon. Sie hörte seine Schritte und sah die blaue Aura, die ihn umgab, und dann war er fort. Maeveen O’Donagh setzte sich ans Feuer und blickte ihm nach. Zuerst fühlte sie sich verlassen, dann ärgerte sie sich über ihre Gefühle. Was hatte sie getan? Sie hatte sein elendes Leben gerettet! Maeveen legte sich hin und zog sich die Decke fester um die Schultern, um die nächtliche Kälte abzuwehren. Es war nicht so angenehm, wie wenn noch jemand neben ihr gelegen hätte, und genau das bedauerte sie die ganze Nacht hindurch.
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»Ich werde dich sehr vermissen, mein Liebster«, sagte Ihesia und ließ die Finger übers Isaks Wange gleiten. Er hielt sie fest und küßte ihre Handfläche. In den letzten Wochen hatten sich dort, wo sie das Schwert hielt, Schwielen gebildet. Aber auch dieser winzige Fehler vermochte Ihesias königlicher Schönheit ebenso wenig anzuhaben wie die Tatsache, daß sie bereits – wie Isak herausgefunden hatte – einen neuen Liebhaber hatte, einen jungen Hauptmann ihrer Leibwache. »Die anderen haben zugestimmt«, erklärte Isak und seufzte tief. »Abt Offero will, daß Sacumon umgebracht wird, weil sie Magie anwendet, und er kann sich nicht leisten, eine Truppe heiliger Krieger – oder auch nur einen einzelnen Inquisitor – auszuschicken, um sie wegen dieser unverzeihlichen Sünde zur Rede zu stellen.« »Peemel hat Angst vor ihr, weil ihn Apepei vor einem mächtigen Gegner im Norden warnt«, fügte Ihesia hinzu. »Was für ein eigenartiger kleiner Mann Apepei ist. Anscheinend liegt ihm das Wohl Iwsets und seines Herrschers wirklich am Herzen. Wie komisch.« »Und was ist mit dir, Geliebte? Machst du dir keine Sorgen um die kleinen Leute?« 366
Ihesia blinzelte verwirrt, ehe sie bemerkte, daß Isak sie neckte. »Um die Bürger? Die meisten sind Tölpel, und man muß sich zu ihrem eigenen Wohl um sie kümmern. Peemel wählt seine Feinde schlecht aus. Ich hätte mich niemals in einem so frühen Stadium der Eroberung Terisiares gegen Jehesic gewandt. Erst unterwirft man die Leute im Süden, vereint den Norden, und dann kann man überlegen, ob man sich mit Jehesic verbünden oder verfeinden soll. Edara ist bei ihren Untertanen sehr beliebt. Es ist schlimm genug, sich in einen Seekrieg zu stürzen, ohne sich auch noch mit einer Bevölkerung herumschlagen zu müssen, die ihrem ehemaligen Herrscher treu ergeben bleibt, auch wenn man sie erobert hat. Wenn sie während der Kämpfe stirbt, wird man sie zur Märtyrerin machen.« Sie schüttelte den Kopf. »Ach, liebe Ihesia, wie immer denkst du ausgesprochen praktisch«, meinte Isak. Er drehte sich um und betrachtete den rostigen Metallzylinder, den ihre Soldaten entdeckt hatten. Vor einer Woche war eine Patrouille mit Rebellen aneinandergeraten und hatte dabei diesen seltsamen Mechanismus gefunden. Isak legte die Hände auf das Metall und schloß die Augen. Der Mechanismus funktionierte noch, wenngleich ein wenig unregelmäßig. Diesmal wurde seine Geschicklichkeit, uralte Maschinen wieder in Gang zu bringen, auf eine harte Probe gestellt. »Ist das Ding zu irgend etwas nütze?« »Sicher. Ich kann es zum Schweben bringen, und es 367
wird innerhalb weniger Minuten bereits im Norden sein. Ich wünschte, diese Maschinen wären nicht während der Kriege zwischen den feindlichen Brüdern zerstört worden. Für Leute wie mich sind sie von großem Nutzen, wenn man gewaltige Entfernungen schnell und ganz geheim zurücklegen möchte.« »Du wirst Sacumon töten?« »Ich werde es versuchen«, antwortete Isak ausweichend. Er wußte, welche Bedrohung Sacumon für den Herrscher und die Möchtegern-Herrscher von Iwset darstellte. Die Magierin kommandierte eine Armee unbekannter Wesen, deren Kräfte jene beiseite fegen konnten, die sich als rechtmäßige Herren Iwsets betrachteten. Für den Abt, Digody und sogar Lord Peemel war es wichtig, daß Sacumon getötet wurde. Ihr Ableben würde einen der Dolche, die an ihren Kehlen saßen, beseitigen. Aber auch Ihesia war für die Ermordung der Magierin. Das gab Isak zu denken. Wenn sich zu viele von jenen, die es nach Macht gelüstete, einig waren, war das ein sicheres Zeichen, nach anderen Methoden, anderen Wegen und neuen Lösungen Ausschau zu halten. Wie er jedoch den Tod Sacumons zu seinem Vorteil nutzen konnte, fiel ihm im Augenblick nicht ein. »Wirst du bald zurückkehren?« »So schnell wie möglich«, log Isak. So sehr er ihre Zärtlichkeit, die Wärme ihrer Arme, die Glut ihres Körpers und die darin verborgene Leidenschaft auch genoß, er war kein Narr. Ihesia umgarnte ihn mit ihrer 368
Liebe, damit er ihre Wünsche erfüllte, und er wußte, was diese seidigen Fesseln bedeuteten: seinen Tod. Vielleicht blieb sein Körper davon verschont, aber geistiger Tod und Sklaverei konnten sich als noch schlimmer erweisen. Es war an der Zeit, sich nach anderen Ländern, anderen Aufträgen und neuen Herausforderungen umzusehen. Aber erst, wenn er sich um Sacumon gekümmert hatte. Sie und die geheimnisvollen Flammenwesen, die ihren Befehlen gehorchten, reizten ihn über alle Maße. »Wie willst du es anstellen? Sie ist eine mächtige Magierin«, sagte Ihesia und wich vor dem Zylinder zurück. Sie sah die Maschine mißmutig an, da sie keine Verwendung dafür hatte. »Wie ich sie töte? Das weiß ich noch nicht«, antwortete Isak, der keine Lust hatte, Ihesia zu erklären, wie er der Frau Digodys Brief übergeben hatte. Der Ratgeber Peemels hatte ihn in der Handhabung des Steins unterwiesen, mit dessen Hilfe er Sacumon finden konnte – wenn die Magierin den Umschlag und den darin enthaltenen Brief überhaupt jemals berührt hatte. »Vielleicht kann sie nicht zurückfliegen, wenn sie mich erst einmal bis nach Norden gebracht hat«, warnte er Ihesia. Isak legte die Hand auf das Metall. »Aber keine Bange. Ich komme wieder.« »Ich liebe dich sehr«, hauchte Ihesia. Isak fragte sich, ob sich seine Worte in ihren Ohren auch so endgültig anhörten wie die ihren. ›Ich liebe dich sehr‹ hätte besser geheißen: ›Auf Wiedersehen für 369
immer‹. Er ließ sich in den engen Metallzylinder gleiten und rutschte mit ausgestreckten Armen vorwärts. Dann drückte er die Hände in die vor ihm liegenden Vertiefungen und stemmte sich mit aller Kraft dagegen. Ein Zischen erklang, und der gesamte Zylinder erbebte, als wolle er sich der Behandlung widersetzen. Isak verdrehte den Hals ein wenig und blickte durch die durchsichtige Scheibe über seinem Kopf. Iontiero und der größere Mond arbeiteten sich gerade über das Himmelszelt. Iontiero strahlte in seinem hellen Licht, während sein Gefährte kaum hinter der Nebelwand zu erkennen war. Isaks Hände kribbelten, und er spürte, wie ihm die Beherrschung über seine Körperform sekundenlang entglitt. Wie schön wäre es doch, wenn er sich in eine Flugkreatur verwandeln könnte! Schon flog er in hohem Bogen über Iwset hinweg, über den Ozean von Ilesmare und bis zu Iontiero hinauf – so kam es ihm jedenfalls vor. Je höher er stieg, um so häufiger schlug sein Magen Purzelbäume. Schließlich senkte sich die Nase des Zylinders, und er sah den Erdboden auf sich zukommen. Er schloß die Augen und versuchte, seine aufsteigende Angst zu unterdrücken. Vorsichtig verringerte er den Druck der Hände, und die Geschwindigkeit des Gefährts ließ nach. Langsam drehte sich der Zylinder ein wenig. Noch immer näherte sich die Erde mit atemberau370
bender Geschwindigkeit, aber Isak hatte keine Angst mehr. Als der Zylinder auf dem Boden aufschlug, hatte er sich längst auf den Aufprall vorbereitet. Die Wucht der Landung zerriß eine Seite der Metallummantelung und schleuderte ihn hinaus. Er überschlug sich mehrere Male, bis er krachend gegen einen knorrigen Baumstamm prallte. Es dauerte eine Weile, bis er wieder klar denken konnte. Als er sich besser fühlte, kümmerte er sich zuerst um sein Aussehen und nahm wieder die Form an, in der er der schönen Ihesia gegenübertrat. Gerade noch rechtzeitig gelang es ihm, die Arme schützend vor das Gesicht zu halten. Der Zylinder explodierte, und grelle Stichflammen, die mit Iontieros Glanz wetteiferten, erhellten die Nacht. Dann schmolz das Gerät zu einem wertlosen Klumpen Metall zusammen. Innerhalb weniger Minuten war es spurlos verschwunden. »Mein Schicksal!« murrte Isak. »Schon wieder eine gute Reisemöglichkeit verloren!« Sein Ärger rührte jedoch hauptsächlich von der unsanften Landung her, und nicht von der Vernichtung des Zylinders. Isak setzte sich im Schneidersitz auf den Boden und legte den Stein, eine Landkarte und eine lange Nadel vor sich hin. Mit Hilfe der magnetischen Nadel verband er den Stein mit der Karte. Schließlich erhob er sich, wanderte eine Stunde umher und gelangte an die Stelle, wo er Sacumon den Umschlag überreicht hatte. Er wühlte in seiner Tasche, zog den Stein heraus und hielt ihn auf Armeslänge von sich ab. Obwohl man ihm 371
gesagt hatte, was ihn erwarten würde, stieß er einen halblauten Freudenschrei aus, als er leuchtend rote Punkte auf dem Boden gewahrte. Das Puder, das aus dem Umschlag gerieselt war, hatte einen deutlich erkennbaren Weg markiert, und so lange er den geheimnisvollen Stein in der Hand hielt, würden dessen unsichtbare Strahlen die Spur aufleuchten lassen. »Jetzt muß ich nur noch darüber nachdenken, was ich tue, wenn ich die Magierin gefunden habe«, sagte er zu sich selbst, als er sich auf den Weg durch den dunklen Wald machte, in die Richtung, in der das Tal der Urhaalan lag. »Umbringen oder Verhandeln. Was soll ich bloß tun?« Isak lachte. Es lag auf der Hand, wie die richtige Entscheidung lautete.
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Mit Tränen in den Augen beobachtete Yunnie, wie sich der Kampf gegen die Elfen mit tödlicher Genauigkeit abspielte. Ein Dutzend Minotauren stand einer dreimal so großen Übermacht an Elfenkriegern gegenüber. Dennoch verlief die Schlacht zu Ungunsten der Waldbewohner – nicht, weil die Bullen geschickter oder tapferer waren, sondern dank Mytarus Magie. Yunnie erlebte, wie sein Freund einen Zauber wirkte, der die angreifenden Bullen unsichtbar machte. Die Elfen starben. Hin und wieder erhaschte Yunnie einen Blick auf einen Bullen, der sekundenlang sichtbar wurde, und manchmal wurde eine Staubwolke unter unsichtbaren Hufen aufgewirbelt. Es spielte keine Rolle; die Elfen starben trotzdem. Da ihn der lange Marsch von Shingol hierher erschöpft hatte, vermochte sich Yunnie nicht über den Sieg zu freuen. Im Gegenteil: Als er Mytarus wilde Miene bemerkte, erstarben jegliche Gefühle in seinem Herzen. Das Feuer der Besessenheit glühte in den Augen des Bullen, und taumelnd wob er einen Zauber nach dem anderen. Als die Minotauren den Haupttrupp der Elfen erreichten, wurden sie wieder sichtbar. 373
Schnell warf Mytaru einen neuen Zauber aus, der die Bewegungen der Feinde verlangsamte, als müßten sie durch klebrigen Sirup waten. Die Bullen töteten ihre Widersacher ohne jede Mühe. Yunnie überquerte das Schlachtfeld und stieg einen kleinen Abhang hinauf, um zu seinem Blutsbruder zu gelangen. Als er dort ankam, war die Schlacht vorüber; die Minotauren hatten gesiegt. »Ich bin zurückgekehrt«, sagte er. Der Bulle sah ihn nicht einmal an. »Wozu? Du gehörst nicht mehr zur Herde«, lautete die grausame Antwort. Er wandte Yunnie das Hinterteil zu, um die Beleidigung noch zu unterstreichen. »Ich werde immer zur Herde gehören«, widersprach Yunnie. »Sie ist meine Bestimmung.« »Deine Bestimmung?« Mytaru wirbelte herum. Wütend riß er die braunen Augen auf und schnaubte vor Zorn. »Deine Bestimmung führte dich von den Urhaalan fort. Du hast dich geweigert, für uns zu kämpfen. Du hast deine Brüder sterben lassen, ohne ihnen beizustehen – du mit deiner Rüstung!« Er warf einen Dolch nach Yunnie. Die Lebende Rüstung reagierte sofort und zwang Yunnie, beiseite zu springen. Er zuckte zusammen, als sich die Muskeln in seinen Schultern schmerzhaft dehnten. Wie sehr sich die Rüstung verändert hatte! Anfangs schützte sie ihn vor jeglichem Schaden. Jetzt zwang sie ihn, Angriffen auszuweichen, um sich selbst zu retten, ohne Rücksicht auf den Träger. 374
»Ich kann nichts dagegen tun. Sie zwingt mich, Dinge zu tun, die ich gar nicht tun will!« rief Yunnie, und ihm fiel ein, wie er sich vom Nixenfelsen in die Tiefe hatte stürzen wollen. Wäre nicht Maeveen O’Donagh gekommen und hätte sie ihn nicht gerettet, er wäre hundert Fuß tiefer auf den Felsen gelandet. Weshalb hatte ihn die Lebende Rüstung in den Tod treiben wollen? Hatte sie sich einen neuen Träger auserkoren? Oder war Sacumon schuld daran? »Dann bin ich besser, als du es jemals hoffen kannst zu sein«, prahlte Mytaru. Der Bulle stapfte mit weit ausgebreiteten Armen umher. »Siehst du meinen Triumph? Meinen Triumph! Ohne meine Zaubersprüche hätte die Herde nicht gesiegt! Wohin wir auch gehen, die Elfen sind uns zahlenmäßig überlegen. Wir müssen Magie anwenden, um zu siegen.« »Zauberei hat einst die Welt vernichtet. Denk nur an den Krieg der Brüder«, warnte ihn Yunnie. »Die Inquisition weiß um diese Gefahr, geht aber bei der Bekämpfung viel zu weit.« »Wen kümmert das schon?« brüllte Mytaru. »Unser Leben steht auf dem Spiel! Die Elfen wollen unser Tal erobern. Niemals werden die Urhaalan ihr heiliges Land aufgeben. Wir brauchen die Orte der Macht für unsere Zeremonien. Wenn wir nicht länger mit den Geistern der Verstorbenen in Verbindung treten können, sind wir nichts weiter als gewöhnliche Tiere.« »Ich streite nicht ab, daß ihr kämpfen müßt, aber laß die Finger von der Magie. Ihr könnt auch anders ge375
winnen!« Der Miene seines Blutsbruders entnahm Yunnie, daß dieser Punkt bereits entschieden war. Gleichgültig, wie schwach die Sprüche auch waren, sie hatten gewirkt. Das stachelte Mytaru an, immer stärkere und gefährlichere Zauber zu versuchen. »Du hast unseren heutigen Sieg miterlebt. Meinen Sieg!« wiederholte der Bulle. »Leider verlieren wir an den anderen Fronten. Ich kann nicht überall gleichzeitig sein. Die Elfen brandschatzen an Stellen, von denen wir nie geglaubt hätten, daß sie dorthin gelangen könnten. Den Stamm Faasir gibt es nicht mehr. Wußtest du das, Yunnie?« »Was ist geschehen?« Yunnies Stimme versagte, als er über die Niroso und Sacumon zu reden versuchte. Er ahnte, was ihm Mytaru erzählen wollte. Es betrübte ihn, als seine dumpfe Vorahnung bestätigt wurde. »Verbrannt sind sie, alle zusammen. Adterlo starb auch, brennend und unter großen Qualen.« Yunnie ließ den Kopf hängen. Adterlo gehörte zu den Drei Erwählten, den geistigen Führern der Urhaalan. Sein Verlust bedeutete eine furchtbare Niederlage. Ein neuer Führer konnte erst beim nächsten Tiyintfest gewählt werden. Die Herde mußte jahrelang mit nur zwei Weisen auskommen. »In einem Krieg gibt es immer schreckliche Verluste«, sagte Yunnie. »Wir müssen Adterlos Andenken ehren. Bitte halte dich von Magie fern. Rede mit den Geistern des Westens, damit sie dich leiten, wie es auch 376
Adterlo getan hätte.« Er versuchte, nicht daran zu denken, wie der Erwählte umgekommen war. Verbrannt – aber nicht von den Elfen, sondern von einem Kohlengolem. Vielleicht hatten die Niroso versucht, sich mit dem Anführer der Urhaalan zu verständigen – oder sie hatten einfach die Golems ausgeschickt, um alle zu vernichten, die sich ihnen in den Weg stellten. »Ich sprach mit ihnen«, erklärte Mytaru. »Außerdem habe ich mit den beiden überlebenden Erwählten geredet. Meine Bestimmung liegt deutlich vor mir.« Er wandte sich ab und ging fort. Yunnie sah ihm betrübt nach. »Was hast du vor? Warte, Mytaru! Was hast du vor?« »Ich werde dafür sorgen, daß die Urhaalan über ihre Feinde triumphieren!« Während der ersten beiden Tage bemühte sich Mytaru, Yunnie abzuschütteln, gab dann aber auf und steigerte sein Tempo, weil es inzwischen offensichtlich war, daß er zum Tiyintschrein eilte. Yunnie hielt sich in sicherer Entfernung, da er nicht wieder mit seinem Blutsbruder streiten wollte. Eigenartigerweise hielt ihn die Lebende Rüstung nicht davon ab, dem Minotaurus zu folgen. Yunnie blieb stehen und starrte auf das riesige Steinbildnis, das die ganze Felswand bedeckte. Wer auch immer das Kunstwerk angefertigt hatte, hatte großartige Arbeit geleistet und seinem Machwerk Leben eingehaucht. Yunnie hatte keine Ahnung, wie man ein so 377
natürlich wirkendes Bildnis schaffen konnte. Tiyint schien sich nur auszuruhen und darauf zu warten, sein Leben wieder aufzunehmen, anstatt dazu verdammt zu sein, für immer im Felsen zu ruhen. Dünne weiße Linien liefen über den Stein. Sie sahen aus wie Venen, die Herz und Gliedmaßen mit Blut versorgten. Ein dumpfes Brummen erklang, als Mytaru stehenblieb und sein wortloses Lied anstimmte, das Yunnie zutiefst beunruhigte. Er wollte weitergehen, aber nun hinderte ihn die Lebende Rüstung daran. Er kämpfte gegen den ledernen Brustpanzer, aber die Rüstung zwang ihn zu Boden. Mytarus Lied wurde lauter, und jetzt vernahm Yunnie die Worte. »Mytaru, das darfst du nicht! Es ist falsch. Du kannst solche Magie nicht beherrschen!« Yunnie versuchte, seinen Freund zu erreichen. Wieder hielt ihn die Rüstung fest. Er drückte die Finger zwischen das Leder und seine Haut. Dann zog er mit aller Kraft. Ein Schmerzensschrei drang über seine Lippen, als sich der Brustpanzer löste. Yunnie kämpfte darum, die sich windende Rüstung auf Armeslänge von sich abzuhalten. Einen Augenblick lang dachte er, er hätte den Kampf gewonnen, aber dann sprang ihn das Leder wie ein angreifender Panther an und versuchte, sich gegen seinen Körper zu pressen. Yunnie rollte über den Boden, als habe er es mit einem menschlichen Gegner zu tun. Erst als er, die Rüstung mit den Knien niederdrückte und schwere Steine 378
darauf legte, gelang es ihm, zu entkommen. Er wäre am liebsten gestorben. Er war ganz allein auf der Welt, ausgestoßen und verletzlich. Die Lebende Rüstung hatte ihn geschützt, auch wenn sie ihn auf dem Nixenfelsen umbringen wollte. Oder war das bereits die ganze Zeit ihre Absicht gewesen? Yunnie zwang sich, in Ruhe nachzudenken. Sacumon! Sie hatte ihn überredet, die Rüstung anzulegen. Hatte er in Shingol etwa zu dicht an ein Geheimnis gerührt, und sie hatte dem Lederpanzer befohlen, ihn zu töten? Mytarus Gesang wurde lauter und dringlicher und lenkte Yunnie von seinen Schwierigkeiten ab. Mit nacktem Oberkörper – zum erstenmal seit Monaten – rannte er los. »Laß es sein, Mytaru!« schrie er. »Nicht!« Ein lautes Knirschen hallte durch die ganze Schlucht. Die Macht, die sich hinter diesem Geräusch verbarg, ließ Yunnie anhalten. Ein Dutzend Schritte hinter Mytaru blieb er stehen und starrte über dessen Schulter auf das Bild. Das Bild. Es bewegte sich ein wenig, und die steinernen Muskeln spielten. Dann wurde es größer, stand auf und bewegte Gliedmaßen, die sich seit Jahrhunderten nicht geregt hatten. Tiyint brüllte laut, und Yunnie hielt sich die Ohren zu, um der Wut zu entgehen, die sich über die lange Gefangenschaft aufgestaut hatte. Gleichzeitig klang Freude mit, sich an jenen zu rächen, die dafür verantwortlich waren. »Was hast du getan, Mytaru?« stöhnte Yunnie, aber 379
sein Blutsbruder hatte nur Augen für das Bildnis, das zum Leben erwacht war. Der Gesang wurde immer drängender und verlieh Tiyint frische Kraft. Der Bulle begann langsam und aufreizend zu tanzen; die Arme bewegten sich im Rhythmus des betörenden Liedes. Sekundenlang glaubte Yunnie, seine Augen spielten ihm einen Streich. Dann begriff er die Macht von Mytarus Zauber. Inzwischen tanzte und sang Mytaru nicht mehr allein. Hinter ihm tauchten schattenhafte, durchsichtige Gestalten auf, die sich versammelten, um Tiyint zu preisen. Eine Reihe schemenhafter Tänzer, angeführt von Mytaru, bewegte sich lautlos im Kreis. Verlorene Generationen, die durch einen einzigen machtvollen Zauber vereint wurden. Yunnie wich zurück, da er ahnte, welches Schicksal den beschworenen Minotauren bevorstand. Es würde kein Fest werden, nicht mit diesem Tiyint. Dieser Tiyint war eine tödliche Gefahr und nicht ohne weiteres zu lenken. Als Yunnie an den Steinbrocken vorüberstolperte, unter denen die Lebende Rüstung begraben lag, begannen sie zu beben. Langsam rollten sie beiseite, und der Brustpanzer glitt auf Yunnie zu. Er war so entsetzt über den lebendig gewordenen Steinminotaurus und den Anblick der sich bewegenden Rüstung, daß er wie erstarrt stand und mit weit aufgerissenen Augen um sich blickte. Die Lebende Rüstung warf sich über ihn. 380
Sie brachte das Gefühl von Tod und Schrecken mit sich. Yunnie wandte Tiyint und Mytaru den Rücken zu, war aber nicht sicher, wohin er gehen oder was er tun sollte.
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»Noch einen Schritt weiter, und sie werden dich mit Pfeilen durchbohren!« Mit gezücktem Schwert wirbelte Yunnie herum. Er entspannte sich auch nicht, als er Maeveen O’Donagh im Schatten eines Baumes sitzen sah. Ihr Schwert lag über ihren Knien, aber sie machte keine Anstalten, sich zu erheben und zu kämpfen. Yunnie mußte sich gegen die Rüstung wehren, die wollte, daß er angriff und tötete. Schweiß tropfte ihm von der Stirn, als es ihm gelang, nicht auf die Frau loszugehen, die ihm das Leben gerettet hatte. »Es geht dir nicht gut, was?« Maeveen beugte sich vor und pflückte eine Blume. Sie knabberte an den roten Blütenblättern herum, sog den Saft aus dem Stengel und ließ ihn nicht aus den Augen. Er beruhigte sich ein wenig, weil sie so gelassen wirkte, mußte sich aber noch immer gegen den unheimlichen Zwang in seinem Inneren wehren. »Mytaru!« stieß er hervor. Yunnie war eine Woche lang ziellos umhergewandert und hatte sich, ohne es zu wollen, in Richtung Shingol aufgemacht. Er hatte nicht 382
erwartet, irgendjemanden im Elfenwald vorzufinden, am wenigsten die Soldatin. Die Elfen hatten ihr grünes Königreich verlassen und sich am Eingang des Urhaalantales versammelt, um einen letzten Angriff durchzuführen. Es war die Aufforderung ergangen, jeder kampffähige Elf möge sich einfinden, um an einer geradezu selbstmörderischen Attacke in das Herz des Urhaalangebietes teilzunehmen. Zu viele kleine Kämpfe hatten Elfen und Minotauren viel zu viele Tote beschert, um diese Art der Kriegführung noch länger fortzusetzen. Yunnie war sicher, daß er an jedem einzelnen dieser Leichname vorbeigekommen war, seitdem er Mytaru verlassen hatte. »Er hat etwas getan, das dir nicht gefällt«, stellte sie fest und spuckte den Blumenstengel aus, ehe sie sich einen neuen pflückte. »Du hast erwähnt, daß er sich mit Zauberei abgibt, also muß es diesmal besonders schlimm gewesen sein.« »Du wirst es den Elfen verraten«, meinte Yunnie. »Wäre das nicht gleichgültig?« Er schüttelte den Kopf. Warum belästigte sie ihn dauernd? Er wollte irgendwohin, wo er die Lebende Rüstung ablegen und Ruhe finden konnte. Er schnaubte so laut, daß er Mytaru oder gar Mehonvo Konkurrenz gemacht hätte. »Es wäre egal«, gab er zu. Noch einmal wollte er über Sacumon und die Kohlengolems der Niroso reden, brachte aber wieder kein Wort heraus. Auch die Rüstung legte sich enger um seinen Körper und preßte 383
ihm die Luft aus der Lunge. »Es wäre gut, wenn du diese Rüstung ablegen würdest. Sie stinkt nach böser Magie, die gegen dich gerichtet ist«, sagte Maeveen mit besorgter Miene. »Du hast kein Recht, die Sprüche deines Freundes zu verdammen, wenn du selbst dich mit so mächtiger Magie umgibst.« Yunnie holte tief Luft. »Ich will sie ja loswerden, aber es ist unmöglich. Sie ... sie ist ein Teil von mir geworden.« »Bist du auch ein Teil von ihr?« »Gibt es da einen Unterschied?« Yunnie setzte sich neben Maeveen. Sie war nicht besonders hübsch, aber unter ihrem militärischen Gebaren befand sich eine Person, die sich wirklich um andere Menschen kümmerte. Sie schien ihn gern zu haben, obwohl er nicht wußte, warum sie sich so viel Mühe gab. Er hatte den Leiter der Expedition kennengelernt und mochte ihn nicht besonders. Der weißhaarige Kerl war zu selbstgefällig und zu rechthaberisch. Aber diese Frau war ganz anders; sie konnte zuhören und war mitfühlend. Maeveen O’Donagh antwortete nicht. Sie lehnte sich gegen den Baum und sah ihn an, als würde er jeden Augenblick explodieren. Nach einer Weile sagte sie: »In Shingol hält man nicht viel von dir.« »Deshalb bin ich auch fortgegangen. Nachdem unsere Eltern starben, zog Essa mich auf, aber sie ist kaum älter als ich.« »Wenn ich nicht plötzlich an Sehschwäche leide, ist 384
sie mindestens zehn Jahre älter«, bemerkte Maeveen trocken. »Ihr seht gar nicht so aus, als fließe dasselbe Blut in euren Adern.« »Manchmal frage ich mich das auch«, meinte Yunnie und pflückte sich eine Blume, wie Maeveen es getan hatte. »Aus irgendeinem Grund suchen mich in letzter Zeit häufig Erinnerungen an meine Kindheit heim.« Den Grund wußte Yunnie genau. Je mehr er sich von Sacumons Zauber zu befreien versuchte, um so mehr Einzelheiten aus seiner Vergangenheit stiegen in ihm auf. Die Elfe, die ihn in seinen Träumen immer wieder durchdringend ansah, suchte ihn am häufigsten heim. »Diese Erinnerungen haben kaum etwas mit Essa oder unseren Eltern zu tun. Da war einmal eine Elfe, eine sehr alte Elfe, die jahrelang für mich sorgte. Vielleicht ist sie aber auch bloß ein Traumgebilde.« Yunnie zuckte die Achseln. Er starrte in den Wald hinein. Maeveen schwieg und ließ ihm Zeit zum Nachdenken. Dafür war er der Soldatin dankbar. Obwohl sie als Kommandeurin einer Truppe für gewöhnlich den Ton angab, ließ sie ihn gewähren, wenn er Zeit brauchte. Yunnie gefiel ihre Rücksichtnahme. »Was tust du hier im Wald?« fragte er nach einer ganzen Weile. »Ich dachte, du und Vervamon würdet etwas in Shingol suchen. Ein Siegel vielleicht.« »Aus irgendeinem Grund behauptete Coernn, es nicht ausfindig machen zu können«, antwortete Maeveen bissig. »Er führt uns an der Nase herum. Wir 385
kehrten hierher zurück und gerieten mitten in die Vorbereitungen auf eine große Schlacht.« »Die Elfen planen, das Tal zu stürmen.« Yunnie rupfte die Blütenblätter einzeln ab und ließ sie zu Boden fallen. Er stellte sich vor, sie würden Feuer fangen und explodieren, wenn die Kohlengolems sie berührten, während die Niroso lachend zusahen. Im Hintergrund wurden sie alle von Sacumon beherrscht, die jeden einzelnen in den Tod schickte. Yunnie blinzelte, und die Blütenblätter lagen wieder unverändert vor ihm, bis sie ein sanfter Windhauch ergriff, der seine Wange liebkoste und über Maeveens kurze braune Haare strich. »Auf wessen Seite stehst du?« »Weshalb fragst du? Was geht es dich an?« Yunnie sah auf und erblickte ein halbes Dutzend Elfen, deren Pfeile auf sein Herz zielten, bereit, ihn zu durchbohren. Er wagte nicht, nach seinem Schwert zu greifen – das wäre Selbstmord gewesen. Trotz der Lebenden Rüstung war ihm bewußt, daß er niemals gegen die Bogenschützen ankommen konnte. »Gleich meiner Offizierin und dem Späher scheinst auch du ein Kriegsgefangener zu sein. Vielleicht auch nur ein Gast, bis die Schlacht vorbei ist.« Maeveen erhob sich und ging auf den größten Elf zu. »Dalalego, ich möchte dir Yunnie vorstellen. Er hielt sich in Shingol auf, als Vervamon dort ankam.« »Yunnie? Aus Shingol?« Der Elf runzelte die Stirn. Er senkte den Bogen und kam näher. Mit geneigtem 386
Kopf starrte er Yunnie neugierig an. Das Verlangen, den Gegner zu töten, packte Yunnie so stark, daß er am ganzen Körper zitterte. Kaum vermochte er sich gegen die Kraft der Lebenden Rüstung zu wehren. »Du tust, als würdest du ihn kennen«, sagte Maeveen. Sie versuchte, sich ihre Besorgnis nicht anmerken zu lassen. Yunnie fiel auf, daß es ihr nicht gelang, aber die Elfen waren nicht in der Lage, menschliche Gefühle einzuschätzen. »Eine alte Elfe namens Tavora sorgte bis zu ihrem Tode etliche Jahre für ein Menschenkind. Sie war Haushofmeisterin am Hof von Iwset.« »Eine verantwortungsvolle Stellung«, bemerkte Maeveen und versuchte, Dalalegos Aufmerksamkeit von Yunnie abzulenken. »Vielleicht bist du dieses Kind. Tavora reiste immer wieder nach Shingol, um sich zu vergewissern, daß man gut für ihren Schützling sorgte.« Er sah Yunnie durchdringend an, als könne er die Bestätigung seiner Vermutung durch dessen bloßen Anblick erhalten. Yunnie schwieg, denn er wußte nichts zu sagen. Er konnte sich nicht an Tavora erinnern und war nicht sicher, ob sie die Elfe aus seinen Träumen war – oder handelte es sich um tatsächliche Erinnerungen, die nur durch die vielen Jahre geschwächt worden waren? »Ja, du könntest es sein. Wenn du ein Gefährte Maeveen O’Donaghs bist, heißen wir dich willkommen, mit uns zu gehen. Sie hat sich in jeder Beziehung als ehrenwert erwiesen.« 387
»Warte, Dalalego! Er könnte ein Spion sein!« rief ein jüngerer Elf. »Vielleicht ist er Tavoras Pflegekind, er könnte aber auch der Mensch sein, der die Minotauren in den Kampf führt. Jener stammt auch aus Shingol.« »Er wurde aber seit mehr als einem Monat nicht mehr gesehen. Entweder ist er davongelaufen, oder im Kampf gefallen. Würdest du deine Klinge gegen uns erheben?« fragte Dalalego ernsthaft. »Der wahre Feind steckt ganz woanders«, antwortete Yunnie wahrheitsgemäß. Der Gedanke an Sacumon, die Kohlengolems und die Niroso trieb ihm Tränen in die Augen. Könnte er nur darüber sprechen! Die Minotauren wollten seinen gestammelten Warnungen nicht zuhören, aber das nahm er Mytaru und den anderen nicht übel. Sie hatten so viele Verluste erlitten, daß sie nur noch an die Kraft ihrer Lanzen glaubten. Warum sollten sie ihm Glauben schenken, wenn er nicht richtig zu reden vermochte, keine Beweise hatte und auch die Niroso nicht ans Tageslicht zerren konnte, damit sie selbst der mißtrauischste Minotaurus sah? »Gut gesagt«, meinte Dalalego und brachte den jungen Elfen, der widersprechen wollte, zum Schweigen. »Wir werden dich nicht aus den Augen lassen, bis wir die Minotauren besiegt haben.« »Das ist vollkommen in Ordnung«, beeilte sich Maeveen zu sagen. »Wir bleiben zusammen, dann ist es leichter für euch.« »So soll es sein.« Dalalego beriet sich leise mit seinen Gefährten und sagte: »Wir versammeln uns am Randes 388
des Elnwaldes. Sofort.« Maeveen hob die Brauen und sah Yunnie an. Er schloß die Augen und seufzte tief. Er hatte nicht erwartet, daß die endgültige Schlacht so bald stattfinden würde. Darauf war er nicht vorbereitet – aber wie sollte man sich auch auf ein derartiges Gemetzel vorbereiten? »So viele Elfen!« staunte Maeveen. »Ich hätte nicht gedacht, daß sie eine so riesige Armee zusammenbekommen würden.« »Sie sind den Minotauren zahlenmäßig zehnfach überlegen«, sagte Yunnie mit schwerem Herzen. Selbst wenn Mytaru und die anderen so tapfer kämpften wie immer, würde die bloße Zahl der Gegner den Elfen an diesem Tag einen Sieg bescheren. »Sie haben eingesehen, daß es nichts nützt, wenn sie zulassen, daß nur Mytaru den Ort und die Kampfbedingungen auswählt.« »Sie stellen das ganze Volk gegen die Minotauren auf«, meinte Maeveen. »Wenn sie verlieren, ist alles vorbei. Eine wagemutige Entscheidung.« »Stimmt«, nickte Yunnie, der einsah, wie mutig die Elfen waren, aber er begriff auch, welche Verzweiflung und Notwendigkeit, dem Krieg ein Ende zu machen, sie so weit getrieben hatte. Sie würden siegen oder sterben. Die Ironie dabei war, daß weder Elfen noch Minotauren als wahre Sieger hervorgehen würden, gleichgültig, wie diese Schlacht ausging. Wenn das Blutbad vorbei war, würden die Kohlengolems ihr unterirdisches Reich verlassen und die Be389
fehle ihrer Herren ausführen. Die Überlebenden der Schlacht würden im Feuer umkommen, und ihr Land läge ungeschützt vor den Niroso. Oder wollte Sacumon den Wald der Elfen und das Tal der Urhaalan an sich reißen? Wie sehr er es auch versucht hatte, Yunnie war nicht in der Lage gewesen, an etwas anderes als diesen Krieg zu denken, wenngleich ihm Maeveen von dem noch größeren Zwist zwischen Jehesic und Iwset erzählt hatte. Derartige Flotteneinsätze und Armeen waren Yunnie fremd. Er wußte nur eines: Wenn er seine Blutsbrüder und Freunde nicht aufhielt, würden sie alle sterben. »Wie können wir es verhindern?« murmelte er vor sich hin. Er biß sich auf die Unterlippe und wollte der Soldatin wieder einmal von Sacumons finsteren Plänen berichten. Man konnte gut mit ihr reden, aber auch diesmal gelang es ihm nicht, den Zauber Sacumons zu brechen. »Es ist wie die uralten Maschinen, die Vervamon auf seinen Reisen findet und in Gang setzt«, meinte Maeveen. »Wenn sie einmal laufen, kann man sie nicht mehr anhalten. Vielleicht wissen wir auch, nicht, wie man sie richtig steuert und beherrscht. Wahrscheinlich reicht ein Wort oder eine Geste – wer weiß?« Maeveen rückte näher und berührte dabei seinen Arm. Yunnie wich zurück, als habe sie ihn gestochen. Die Lebende Rüstung schützte ihn selbst vor harmlosen Berührungen. »Da!« rief er und starrte zum Eingang des Tales hinüber. »Die Minotauren sind aufmarschiert. Die Herde 390
ist bereit.« Er zog sein Schwert. Hinter sich vernahm er, wie Bögen gespannt wurden, deren Pfeile auf seinen Rücken zielten. Die Rüstung bebte vor Kraft und erfüllte ihn mit dem Wunsch, Blut zu vergießen. Das Dröhnen der angreifenden Minotauren klang ihm in den Ohren. Die Elfen waren angespannt, fühlten sich ob ihrer großen Anzahl aber sicher. Ihr General wartete, bis die Minotauren unmittelbar vor den verborgenen Bogenschützen auftauchten, ehe er das Zeichen zum Angriff gab. Dutzende, Hunderte, Tausende von gefiederten Pfeilen flogen durch die Luft und regneten auf die Bullen nieder. Etliche starben. Wieder prasselte ein neuer Pfeilhagel herab und riß Minotauren in den Tod. Die Herde hatte ein Kampflied angestimmt und näherte sich den Elfenkriegern. Lanzen stießen zu. Schwerter holten aus. Einige Bullen schwangen schwere Keulen, und der wahre Kampf begann. »Bleib hier, Yunnie. Du kannst nichts tun«, warnte ihn Maeveen. Sie hielt ihn fest, ließ aber sofort wieder los, da die Lebende Rüstung eine unerträgliche Hitze ausströmte. Yunnie hörte sie kaum noch und lauschte nur den Geräuschen der Schlacht. Er wollte Blut vergießen, hielt sich aber noch zurück. Mit Mühe. »Ein reines Abschlachten«, bemerkte Maeveen. »Die Elfen kämpfen geschickter und haben bessere Waffen, Taktiken und Stellungen. Die Minotauren haben keine Chance, eine Katastrophe abzuwenden. Sie haben die ganze Herde in die Schlacht geschickt, und nun ist ihr 391
Rückweg von Bogenschützen abgeschnitten worden. Nicht einmal kluge Zaubersprüche könnten ihnen jetzt helfen – und dein Freund kann nicht überall gleichzeitig sein oder so viele Gefährten mit seiner Magie schützen. Sie hätten es besser wissen sollen. Einen Anführer brauchen sie, einen, der sich mit Taktik auskennt. Sie hätten den Hügel – was, bei den sieben Märtyrern, ist denn das?« Yunnie blinzelte und erkannte das riesige Steinbildnis, zu dem Mytaru gebetet hatte. »Tiyint«, stieß er mit erstickter Stimme hervor. »Mytaru hat Tiyint in die Schlacht geschickt.« Das riesige Steinmonstrum stapfte wie eine unaufhaltsame Naturgewalt vorwärts und schlachtete ganze Elfengruppen mit einem Streich ab. Pfeile konnten ihm nichts anhaben. Schwerter weigerten sich, den Steingötzen zu verletzen, und kein noch so heftiger Angriff hielt den Todesboten auf, der die Schlacht zu Gunsten der Minotauren entschied. Yunnie vermochte sich nicht länger zurückzuhalten. Die Lebende Rüstung verlieh seinem Schwertarm ungeheure Kräfte und ließ ihn herumwirbeln. Die Klinge hieb auf die Bogenschützen ein, die ihn bewachten. Dann stürmte er ins Schlachtgetümmel und tötete wahllos jeden Elfen, der sich ihm entgegenstellte. Trotz der Kampfeswut, mit der ihn die Lebende Rüstung erfüllte, war die Zahl der Toten, die Yunnie hinterließ, gering im Vergleich zu denen, die Tiyint dahinmetzelte. 392
Der Boden bebte, als Tiyint noch einen Schritt machte, um einen verwundeten Elfen zu töten, der zu entkommen versuchte. Blut tropfte von den Fäusten des Götzen, als er sich wieder aufrichtete. Ein lauter Schrei von rechts warnte Yunnie vor einem Gegenangriff der Elfen, die in einer kleinen Schlucht eingeschlossen worden waren. Acht von ihnen stürmten mit gezückten Schwertern und Dolchen voran, auf den Steinriesen zu. Tiyint zögerte, als denke er darüber nach, wie er sich dieser geringfügigen Störung am besten entledigen sollte. Dann senkte er den Kopf und stieß mit den langen Hörnern zu. Zwei Elfen starben auf der Stelle, ein dritter baumelte aufgespießt an einem der Hörner, die nicht von bunten Bändern geschmückt waren. Das Bildnis, das mit Magie zum Leben erweckt worden war, verwendete tote Elfen als Ruhmeszeichen für gewonnene Kämpfe und getötete Feinde. Yunnie schnappte nach Luft und starrte benommen auf sein Schwert hinab. Er konnte sich nicht daran erinnern, an der Schlacht teilgenommen oder gegen jemanden gekämpft zu haben. Hatte er seine Blutsbrüder 393
getötet oder die Klinge gegen die Elfen erhoben? Er fiel auf die Knie und hielt sich den Kopf. Er konnte sich an nichts erinnern, wie sehr er sich auch bemühte. Sein Herz klopfte wie wild, und die Lebende Rüstung wollte ihn zurück in den Kampf zwingen. Dem magischen Artefakt, das ihm Sacumon aufgezwungen hatte, war vollkommen gleich, ob er Elfen oder Minotauren umbrachte. Es wollte nur Blut sehen. »Meines auch?« murmelte er vor sich hin, wußte aber, daß er keine Antwort erhalten würde. Sacumon wollte ihn mit ihren Sprüchen blenden, hatte aber nur teilweise Erfolg damit. Mit Hilfe der Rüstung versuchte sie, ihn zu töten. Yunnies Nase zuckte, als er außer dem widerwärtigen Geruch vergossenen Blutes noch etwas anderes wahrnahm. Es roch verbrannt. Er erhob sich und erblickte einen Kohlengolem, der nördlich des Gemetzels, das Tiyint angerichtet hatte, den Abhang herablief. Bei jedem Schritt blieben kleine Rauchwölkchen zurück, die von dem verbrannten Gras aufstiegen. Yunnie folgte dem Wesen, während es den Schrecken, den Tiyint hinterlassen hatte, noch verdoppelte. Alle Verwundeten starben unter seinen glühenden Berührungen. Es schleuderte winzige brennende Kohlestücke auf seine Feinde – und alle, die noch lebten, zählten dazu. Yunnie richtete seinen Haß und seine Kraft auf den Golem und die Niroso, die ihn ausgeschickt hatten, um ihre Befehle auszuführen. Er brüllte auf und rannte mit 394
hoch erhobenem Schwert los. Der Kohlengolem drehte sich um, sah ihn und schleuderte ihm eine Handvoll Kohlenstaub entgegen. Eine feurige Wand stellte sich vor ihm auf und hielt ihn sekundenlang zurück. Dann warf er sich auf den Boden, rollte sich ab und sprang wieder auf den Gegner zu, während die Luft über ihm in Flammen stand. »Stirb, stirb endlich!« schrie Yunnie. Er hieb mit dem Schwert zu und zielte auf das Bein des Wesens. Die Klinge prallte am steinharten Kern des Monstrums ab. Wohin Yunnie sich auch wandte, überall war er von lebendig gewordenem Fels umgeben. Die Niroso, die Golems und Tiyint – alle metzelten die Überlebenden ab. »Fort mit dir, Yunnie! Nicht angreifen. Das ist ein magisches Wesen!« Auf der anderen Seite des Golems befand sich Maeveen O’Donagh. Neben ihr stand Vervamon, dessen weißes Haar sich aufstellte, als die Hitze des Monstrums bis zu ihm herüberstrahlte. Zu Yunnies Erstaunen verbarg er sich nicht hinter der Soldatin. Statt dessen umklammerte er eine Minotaurenlanze und hielt sich dicht neben Maeveen, die den Golem abzulenken versuchte. »Das weiß ich!« antwortete er. »S-Sacumon hat es geschickt!« Yunnie keuchte vor Erleichterung, als er den Namen der Magierin hervorbrachte. »Das Steinvolk. Die Niroso, die unter der Erde leben, sind die wahren Unruhe395
stifter! Sie müssen bekämpft werden, nicht die Elfen oder die Minotauren.« »Zurück, Junge, sonst endest du wie eine argivianische Auster, die im eigenen Saft gebraten wird!« Vervamon entfernte sich zwei Schritt weit von Maeveen und warf die Lanze mit beeindruckender Kraft und Zielsicherheit. Die Waffe blieb zwischen den Schulterblättern des Golems stecken, der durch den Aufprall vornüber fiel. Yunnie nutzte die Gelegenheit, sich aufzurichten und beide Hände um den Schwertgriff zu legen. Mit ganzer Kraft, die durch die Rüstung noch verstärkt wurde, schlug er nach dem Kopf der Kreatur. »Möge Onkel Istvan drauf pissen!« erklang ein herzhafter Fluch. Maeveens Leutnant Quopomma starrte mit offenem Mund auf die Kämpfenden. Der Kopf des Golems zersprang in tausend Stücke und hinterließ einen schwach zuckenden Torso. »Steht nicht so ‘rum, helft ihm!« befahl Maeveen. Sie eilte an Yunnies Seite. Yunnie ließ den Griff des zerstörten Schwertes fallen. Ihm fiel nicht einmal auf, daß ihm Maeveen die Hand auf die Schulter legte. »Ich hätte nie gedacht, daß ich einen von ihnen zerstören könnte«, stieß er hervor und starrte auf den brennenden Leib hinab. Seine Schwertklinge war zersprungen, als sei sie aus Glas gewesen. »Deine Rüstung gab dir Kraft«, sagte Vervamon. »Maeveen erzählte mir davon. Ein erstaunliches Artefakt. Bestimmt ein Überbleibsel der Kriege der Brüder. 396
Kann ich sie ein wenig näher untersuchen? Als wir uns in Shingol begegneten, war ich abgelenkt und habe der Rüstung nicht viel Beachtung geschenkt.« Yunnie sah Vervamon an. Er fühlte sich elend und kraftlos. Als er aufzustehen versuchte, schaffte er es nicht. Vervamon und Maeveen halfen ihm, und die Soldatin stützte ihn, als er sich dem Schlachtfeld zuwandte. »Tiyint, der Steingötze«, sagte er. »Mytaru hat ihn erweckt.« »Ich finde, er hat besser funktioniert, als man für möglich halten sollte«, warf Quopomma ein. »Die Elfen rennen in wilder Flucht in den Wald zurück. Jedenfalls die, die noch laufen können. Die meisten sind tot. Sie schlachteten die Minotauren ab, bis dieses Ding auftauchte und sie wahllos niedermachte. Tiyint, sagtest du?« Yunnie nickte, da ihm nichts zu sagen einfiel. »Was meintest du, als du sagtest, dieser Kohlengolem sei ein Diener von jemandem namens Sacumon?« wollte Vervamon wissen. »Dieser kleine Provinzkrieg hat mich sehr neugierig gemacht. Meine Suche nach dem Siegel von Iwset ist nichts, verglichen mit dem Auf und Ab seltsamer Kräfte, die während dieser Kämpfe in Erscheinung treten. Das Siegel kann ruhig noch eine Woche oder einen Monat warten, das schadet nichts, aber hier wird Geschichte geschrieben, der ich wenigstens eine Fußnote widmen muß. Ich darf mir nichts entgehen lassen, sonst enttäusche ich jene, die 397
einst meine Memoiren lesen werden.« »Ist er immer so?« flüsterte Yunnie Maeveen zu. »Eigentlich schon, aber er hat Recht. Was ist mit Sacumon? Dieses magische Etwas ...«, begann sie und trat nach den Überresten des Golems. »Woher kommt es? Wir haben die seltsamsten Dinge gesehen, sogar Überreste magischer Maschinen, mit denen man Hunderte von Soldaten gleichzeitig befördern konnte, aber nichts, was diesem Wesen ähnelte.« »Weiter südlich, entlang der Küste, jenseits der Meerenge von Lat-Nam«, unterbrach sie Vervamon und strich sich nachdenklich über das Kinn, »wurde das Land durch Kriege zerstört. Aber hier ist es beinahe ebenso schlimm. Vielleicht wurde etwas geboren, das jenseits aller menschlichen Einflüsse liegt und brodelnd aus den Tiefen der Erde quillt, um eine entstandene Leere auszufüllen. Zu viele magische Restbestände könnten diese Wesen in Lat-Nam unterdrücken, aber hier, wo sie sich in den schwachen Strahlen der Magie baden, hier könnte der Ort sein, wo eine neue Rasse entsteht.« »Ihr redet, als wäre Magie so schön wie warmes Sonnenlicht«, knurrte Quopomma. »Wenn das der Fall ist, hätten wir alle schon einen Sonnenbrand.« Die Ogerin warf Yunnie einen bösen Blick zu, als hielte sie ihn für den Grund allen Übels. »Sagt mir, Yunnie, was hat es mit dem Steinvolk auf sich, das Ihr erwähntet? Die Kohlengolems sind seine Diener?« 398
»Wahrscheinlich«, bestätigte Yunnie. »Sacumon ist ein Mensch – wenigstens hat sie menschliche Gestalt – und steht in Verbindung mit den Niroso.« Er schilderte seine Erlebnisse in dem unterirdischen Königreich und wie ihn der Kohlengolem fortgejagt hatte, nachdem ihm Sacumon die Lebende Rüstung gab. »Also gibt es noch andere Wesen außer diesem wildgewordenen Steingötzen?« fragte Coernn. Seine beiden Gefährten standen dicht hinter ihm. Alle drei waren blutbefleckt, als hätten sie ebenso erbittert gekämpft wie die Elfen. »Wer seid Ihr?« Yunnie starrte Coernn verwundert an. »Ich muß es wissen«, beharrte Coernn. »Diese Steinleute, leben sie unter der Erde und kommen hervor?« Coernn erblaßte, als er die Antwort an Yunnies Miene ablesen konnte. Er winkte seine Freunde beiseite und redete minutenlang auf sie ein. Ehe er sie fortschickte, sah er sehr ärgerlich aus. Die beiden eilten davon; einer von ihnen schaute mehrmals zurück, ehe er seinem Gefährten in den Wald hinein folgte. »Es hat sich alles zum Schlechten gewandt. Ich versuchte, die Magie einzuschränken und habe versagt. Was habe ich noch alles falsch gemacht?« Coernn sah verzweifelt aus. »Meine Freunde, Feyne und Ehno, werden die Neuigkeiten nach Iwset bringen.« »Ihr habt von den Steinleuten gewußt?« Die Hände in die Hüften gestemmt, baute sich Maeveen vor Coernn auf. Sie bemühte sich, ihre Wut im Zaum zu 399
halten. »Was habt Ihr uns noch alles verschwiegen?« »Es ist jetzt keine Zeit zum Streiten. Wir müssen die Niroso aufhalten.« »Ihr kennt sie?« Yunnie schwankte auf ihn zu, hielt seinen Arm fest und schüttelte ihn heftig. »Ihr könnt meine Worte bestätigen?« Erleichterung überkam ihn. Er konnte nicht nur über Sacumon sprechen, sondern hatte sogar Zeugen für das Vorhandensein der Kohlengolems und der Niroso. Wäre er diesem Menschen nur schon früher begegnet! »Beantwortet meine Frage, Coernn!« forderte Maeveen. »Wer hat Euch geschickt? Zuerst behauptet Ihr, das Siegel befinde sich im Dschungel, dann wieder in Shingol. Ihr schickt Boten aus – zu wem? – und schleppt magische Artefakte mit Euch herum, wie sie mir nie begegnet sind. Und ich habe während meiner Reisen mit Vervamon etliche gesehen.« Coernn fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ihr habt erraten, daß ich nicht im Auftrage Lord Peemels reise.« »Ich wußte es!« rief Quopomma. »Ihr seid ein ekelhafter Folterknecht. Ein Spion Abt Offeros und der Inquisition!« Coernn sah angewidert drein, unterdrückte seinen Abscheu jedoch sofort wieder. »Ich hege weder für den Abt noch für seine blutrünstigen Leidenschaften irgendwelche Zuneigung.« »Ich sah, wie einer Eurer Gefährten an die fleischfressende Pflanze verfüttert wurde«, erklärte Quo400
pomma. »Was hat es damit auf sich?« »Der Spion des guten Abtes konnte danach keine Berichte mehr erstatten«, antwortete Coernn. »Wir arbeiten gegen Peemel, da wir nur das Beste für Iwset wollen. Sein Krieg mit Jehesic ist ein Fehler, genau wie die Behandlung, die er seinen Untertanen angedeihen läßt. Wir könnten ihn aufhalten, wenn wir das Siegel von Iwset zurückbrächten – und natürlich den Thronprätendenten.« »Ein Thronprätendent?« rief Vervamon erfreut aus. »Meine Güte, das wird ja immer geheimnisvoller! Ihr sucht das Siegel, weil Ihr Peemel stürzen und nicht unterstützen wollt? Aber das Siegel öffnet die Gruft der sieben Märtyrer. Digody sagte ...« Vervamons Gesichtszüge verrutschten, als spiegelten sie sich auf der vom Wind bewegten Oberfläche eines Sees. Es dämmerte ihm, daß man ihn belogen hatte. »Ihr braucht das Siegel, um den Thron für den Prätendenten zu beanspruchen. Es gibt keine Gruft der sieben Märtyrer?« Coernn zuckte die Achseln. »Vielleicht doch, aber davon weiß ich nichts – und Digody auch nicht. Er interessiert sich eigentlich nur für ... Digody. Er braucht das Siegel als Waffe gegen Peemel und nicht, um seinem Herrn den Thron zu sichern. Es wird nur während höchst offizieller Gelegenheiten benutzt, und Peemel regiert seit mehr als dreißig Jahren.« »Ich hasse Politik«, verkündete Maeveen. »Nichts als Intrigen. Politiker sind schlimmer als Wissenschaftler.« Sie warf Vervamon einen schnellen Blick zu. Der Ge401
lehrte war in tiefe Grübeleien versunken. »Was machen wir nun?« erkundigte sich Quopomma. »Der Steingott trampelt auf allen herum, die sich auf das Schlachtfeld wagen. Die Minotauren haben sich zu Siegern erklärt. Feiern wir mit ihnen oder machen wir uns auf die Suche nach dem Siegel und diesem Thronanwärter von Iwset?« Sie kratzte sich nachdenklich an der Nase. »Nichts von alledem«, sagte Yunnie. »Wir müssen Sacumon aufhalten. Sie ist der Grund für den Krieg zwischen Elfen und Minotauren. Sie erweckte die Steinleute und brachte die Kohlengolems an die Erdoberfläche. Ohne ihre intriganten Pläne wäre der Krieg längst vorbei.« »Damit helfen wir Coernn aber nicht, das Siegel zu finden«, warf Vervamon ein. »Hat das Siegel auch historische Bedeutung, oder ist es bloß ein Staatssymbol ohne geschichtlichen Wert?« »Noch nie habe ich einen Mann gesehen, der sich so schnell von Reichtümern abwendet, um Dinge zu verfolgen, die man nicht einmal in der Hand halten kann«, murrte Quopomma. »Yunnie hat recht, wenn er sagt, daß wir die Magierin verfolgen und aufhalten müssen«, bestimmte Coernn. »Wir dürfen den Niroso nicht gestatten, an die Erdoberfläche zu gelangen. Man glaubte, sie seien besiegt, sicher dort unten aufgehoben und vielleicht sogar schon ausgestorben. Digody wollte Sacumon für seine Zwecke einsetzen, aber sie hat sich als viel zu ehrgeizig 402
erwiesen. Ich sollte mit ihr in Verbindung treten, bin aber sicher, daß sie jetzt, da ihre Pläne erfolgreich waren, nichts mehr mit mir zu tun haben will.« »Wo seid Ihr den Niroso früher schon begegnet?« fragte Vervamon und stellte sich neben Coernn. »Ihr seid ein Zauberer, nicht wahr? Das dachte ich mir, als ich die Artefakte und Ausrüstungsgegenstände sah, die Ihr unbedingt mitnehmen wolltet. Egal, was meine Soldaten auch sagten, ich wußte, daß Ihr kein Scharlatan seid. Jetzt erzählt mir von diesem Steinvolk. Was wißt Ihr über seine Kultur, seine Lebensweise, die Art, wie ...« Yunnie zog Maeveen und Quopomma beiseite. »Die Schlacht ist nicht so verlaufen, wie Sacumon es wollte«, erzählte er ihnen. »Sie wünschte sich die Vernichtung der Elfen, aber nicht durch eine so mächtige Kreatur wie Tiyint. Sie glaubte, es würde ihr ein Leichtes sein, die überlebenden Minotauren umzubringen, die nach der Schlacht geschwächt zurückblieben.« »Vielleicht gibt es auch gar nicht mehr viele«, meinte Maeveen. »Was hast du vor?« »Sacumon zu suchen. Sie hat Macht über die Niroso. Sie wird ihnen befehlen, die Kohlengolems auszuschikken. Die Wesen werden Elfen und Minotauren angreifen, aber etwas einfallen lassen muß sie sich, um gegen Tiyint anzukommen.« »Sollen die Minotauren sie doch erledigen. Du gehörst zu den Urhaalan, nicht wahr?« fragte Quopomma. »Ein seltsam aussehender Bulle bist du, wenn ich 403
das sagen darf, aber du stehst auf ihrer Seite, nicht auf der der Elfen.« »Ich ...« Yunnie schloß die Augen, als ihn Erinnerungen überkamen – Erinnerungen, die viel zu lange verborgen und verschlossen in seinem Herzen geruht hatten. »Ja, ich bin ein Urhaalan. Aber eine alte Elfe namens Tavora war meine Freundin. Beide Völker retteten mir das Leben. Ich kann gegen keines von ihnen kämpfen.« »Was sollen wir tun?« wollte Maeveen noch einmal wissen. Yunnie bemerkte, wie ihr Atem schneller ging, als sehe sie seiner Antwort mit Spannung und gleichzeitig mit ein wenig Furcht entgegen. »Wir gehen unter die Erde, um die Steinleute aufzuhalten – und Sacumon!«
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»Ich möchte alles sehen«, sagte Vervamon eifrig. Ruhelos schritt er auf und ab, die Hände auf dem Rücken verschränkt, und die grünen Augen leuchteten vor Aufregung. Maeveen O’Donagh hatte ihn schon früher so erlebt; sehr oft sogar. Immer, wenn er etwas neues oder schönes erlebte, sei es nun eine Entdeckung oder eine neue Liebe, war er so. Der Wissenschaftler in Vervamon verlangte alle Einzelheiten über die unterirdische Welt zu wissen, in der eine einzigartige Rasse lebte. Auf ihren Reisen durch Terisiare hatten sie eigenartige Kreaturen entdeckt, Mutanten aus den Kriegen der Brüder, denen Vervamon eine oder zwei Fußnoten in seinen Berichten widmete. Nie zuvor hatte er eine intelligente neue Rasse gefunden, die durch die tödliche Magie während der Kriege entstanden war, noch hatte Vervamon je von Wesen gehört, die sich in einem halb geschmolzenen Zustand befanden. Wenn die Niroso sich wirklich durch Felsen hindurchbewegen konnten, wie es Yunnie behauptete, wäre das eine Entdeckung, die alles, was ihm Peemel und Digody über die Gruft der sieben Märtyrer erzählt hatten, weit in den Schatten stellte. 405
Maeveen umklammerte den Schwertgriff fester, als sie an Peemel und seinen skelettähnlichen Ratgeber dachte. Die beiden hatten Vervamon auserkoren, ihn ihre Drecksarbeit erledigen zu lassen. Maeveen wünschte, der Herrscher wäre ehrlicher gewesen, anstatt Vervamon mit falschen Versprechungen und erfundenen Mythen aufs Glatteis zu führen. Ein grimmiges Lachen kam über ihre Lippen. Ihr wurde bewußt, daß dies die einzige Möglichkeit gewesen war, Vervamon dazu zu bringen, Peemels Befehle auszuführen. Vervamon hatte sich nur für die Begräbnisrituale des nordwestlichen Terisiare interessiert, und nichts konnte ihn davon abbringen, außer noch schwierigere wissenschaftliche Herausforderungen. »Wir können durch eine Höhle, die sich keine zwei Meilen von hier befindet, in ihr unterirdisches Reich eindringen«, verkündete Yunnie. »Zwei Meilen nur? Nun, nach der Schlacht, in der so viele Elfen getötet wurden und der – Onkel Istvan verdamme ihn! – gräßliche Steinminotaurus auf allen Leuten herumtrampelte, sind zwei Meilen nichts weiter als ein kleiner Spaziergang!« gab Quopomma spöttisch zurück, warf sich in die Brust und streckte das Kinn herausfordernd vor. »Wie schön, daß Ihr auch dieser Meinung seid«, mischte sich Vervamon ein, dem der Hohn in Quopommas Stimme völlig entgangen war. »Das ist die Krönung meiner Reise. Wer außer mir kann eine völlig neue Rasse entdecken, die nur darauf wartet, studiert, 406
notiert und vielleicht zu Verbündeten gemacht zu werden? Denkt nur, wie nützlich diese Niroso sein werden, wenn man – natürlich unter meiner Anleitung – nach verschütteten Ruinen sucht.« Vervamon rieb sich die Hände und ging in die von Yunnie gewiesene Richtung, ohne die Ströme von Blut und das dumpfe Dröhnen von Tiyints Schritten überhaupt wahrzunehmen. »Ironie!« knurrte Quopomma. »Er kennt das Wort gar nicht. Und so was nennt sich gebildet!« Sie warf sich die Schwertgehänge mit den schweren Waffen über die Schulter und stapfte los. Blutiger Schlamm quoll unter ihren Stiefeln hervor, und sie redete wütend auf ihre unsichtbaren Gefährten ein und warnte sie vor Gelehrten und den Schwierigkeiten, die jene in das Leben einer einfachen Soldatin bringen konnten. Yunnie folgte der Ogerin und murmelte leise vor sich hin. Maeveen blieb ein Stück zurück, um sich unter vier Augen mit Coernn zu unterhalten. Der blasse Mann sah sie an, schwieg aber. »Ihr hattet von Anfang an keine Angst vor Quopomma. Weil Ihr die Magie beherrscht?« »Ich hätte sie in ein Häufchen Staub verwandelt, wenn sie mir etwas getan hätte.« »Also habt Ihr keine Angst vor einer Ogerin, fürchtet Euch jedoch jetzt. Vor dem Steinvolk, von dem Yunnie mit solchem Respekt redet?« »Vor Sacumon«, antwortete Coernn zu ihrer Überraschung. »Ich weiß nichts über die Pläne oder Fähigkeiten der Niroso, daher fürchte ich sie nicht. Aber Sacu407
mon? Ich kenne sie. Ich weiß viel über sie.« Er preßte die Lippen aufeinander und spannte die Gesichtsmuskeln an. Maeveen glaubte, daß er mehr wußte, als er zugab. »Wer ist sie?« Er zuckte die Schultern. »Wer weiß? Ein Jahr lang stiftete sie kleinere Aufstände in Iwset an, verschwand aber dann. Offenbar fand sie bei den Niroso fruchtbareren Boden für ihre Intrigen. Ihre Pläne sind einfach zu durchschauen: Sie will Elfen und Minotauren töten, ein großes Gebiet an sich reißen und sich dann um den Krieg zwischen Jehesic und Iwset kümmern. Wenn sie die Niroso beherrscht, könnte sie innerhalb eines Jahres ein Gebiet regieren, das so groß wie Argoth ist. Peemel wollte sie zu seinem Werkzeug machen, da er dummerweise auf Digodys Ratschläge hörte.« »Ihr kennt Argoth?« Maeveen war erstaunt. »Ich bin auch gereist, wenngleich nicht so weit wie Ihr und Vervamon, aber ich habe nicht immer nur in Iwset gehaust«, erklärte Coernn. Bei diesen Worten schritt er schneller aus und zwang die kleinere Maeveen dazu, sich ihm anzupassen, wenn sie an seiner Seite bleiben wollte. Das Tempo war nicht zu anstrengend, aber Maeveen mußte schneller gehen, als sie es für gewöhnlich tat. Beinahe zu früh erreichten sie das steinige Stück Land mit dem durch einen Krater geschützten Eingang zur unterirdischen Welt der Niroso. Maeveens Stupsnase krauste sich beim Einatmen der schweren Schwe408
feldämpfe. »Wir folgen bloß dem Pfad und sind bei dem Steinvolk?« Quopomma schnaubte verächtlich. »Sie bewachen den Eingang in ihr Reich nicht einmal? Wir brauchen nichts weiter als einen kleinen Erdrutsch.« »So weit denken sie nicht«, erklärte Yunnie. »Obwohl die Kohlengolems gute Späher sind, liegen derartige Fallen außerhalb des Verständnisses der Niroso. Denkt nur mal nach. Sie gleiten durch Felsen hindurch, verschmelzen damit. Sie brauchen keine Wege, um von einer Höhle zur nächsten zu gelangen. Deshalb müssen sie sich nicht wie wir nach Pfaden richten, da sie in jeder beliebigen Richtung durch den Fels, ja, durch den Mantel des Planeten dringen können!« »Eine interessante Theorie«, murmelte Vervamon. »Ihr habt einen guten Verstand, wenngleich er nicht geschult ist, was bestimmte kulturelle Forschungen angeht.« Maeveen sah, wie sich Yunnies Körper versteifte, als sich die Lebende Rüstung bemerkbar machte. Ehe sie noch eine Warnung aussprechen konnte, rannte er los und verschwand durch den Höhleneingang. Coernn stieß sie unsanft zur Seite, als er Yunnie nachsetzte. »Was ist los?« erkundigte sich Quopomma. »Wo laufen sie hin?« »Kohlengolem!« rief Coernn über die Schulter. »Yunnies magische Rüstung hat das Wesen bemerkt.« Maeveen zog das Schwert und eilte den beiden nach, da sie Yunnie vor dem Golem beschützen wollte, der 409
den Eingang zur unterirdischen Welt bewachte. Zuerst war es stockfinster um sie herum, dann wurde es allmählich heller, bis sie die ungeheuren Ausmaße und die Pracht der riesigen Höhle erkennen konnte. Als sie an Coernn vorbeiging, sah sie Yunnie, der vor einem Kohlengolem stand. Das Monstrum griff an und explodierte, als es mit der Lebenden Rüstung in Berührung kam. Die Rüstung hatte den Golem vernichtet, aber Yunnie blieb geschwächt und verblüfft zurück. »Ist alles in Ordnung?« fragte Maeveen und wollte den Arm um ihn legen, als ihr klar wurde, was gerade geschehen war. Hastig zog sie den Arm zurück, ehe er mit dem Leder in Berührung geriet. »Mir geht es gut«, murmelte Yunnie mit entrücktem Gesichtsausdruck. Er richtete sich auf und ging mit gezücktem Schwert davon. Maeveen wollte ihm folgen, wurde aber von Coernn zurückgehalten. Der Magier schüttelte den Kopf. »Er kann nicht allein kämpfen. Wir müssen ihm helfen«, widersprach sie. »Die Lebende Rüstung verschlingt seinen gesunden Menschenverstand. Sie beherrscht ihn ganz und gar, und ich kann nichts dagegen tun. Sacumons Zauber – oder die Magie der Rüstung – ist mächtiger als alles, was ich zu beschwören vermag. Man sagte mir, ich solle Sacumon töten, wenn es unumgänglich sei, aber ...« »Wer hat Euch das befohlen?« wollte Maeveen wissen. Sie erhielt keine Antwort. 410
»Was sollen wir tun?« fragte sie schließlich, da sie sich Sorgen um Yunnie machte. »Wir können alles aufschreiben, beobachten und alles tun, was wir uns vorgenommen haben. Wissen ist Macht!« Vervamon lachte und lief Yunnie nach. Maeveen blinzelte verwirrt. Die beiden waren einander so ähnlich, wenn sie in den Kampf eilten, auch wenn er sich in unterschiedlichen Gebieten abspielte. »Wißt Ihr es?« fragte Coernn. »Was? Was weiß ich?« »Ganz egal«, mischte sich Quopomma ein. »Wir müssen weitergehen, sonst bleiben wir hier zurück, während die anderen den ganzen Spaß miterleben.« Die Ogerin versetzte Coernn einen Schubs, damit er weiterging. »Das Steinvolk!« rief der Zauberer. Er fiel auf die Knie und fuhr mit den Händen über den staubbedeckten Pfad, den sie gerade gekreuzt hatten. Als erwecke er einen Toten, so erschienen die Umrisse einer Gestalt auf dem felsigen Boden. Der kleine Umriß wurde größer und größer, und der Magier sprang wieder auf. »Ein Niroso steigt aus den Tiefen der Erde herauf!« Coernn schrie, als das Steinwesen aufstand, nach ihm griff und ihn in Brand setzte. Maeveen sah gebannt vor Entsetzen zu, wie sich der Niroso langsam umwandte. Der halbfeste Körper drehte sich in verschiedenen Geschwindigkeiten und wirkte dadurch völlig verzerrt. Dann erblickte sie das Gesicht und schrie ebenfalls. Maeveen war nicht leicht zu erschrecken; sie 411
hatte zu viele Schlachten hinter sich gebracht und gegen unzählige Gegner gekämpft. Trotzdem schrie und schrie sie und fragte sich schließlich, wem die andere Stimme gehörte, die in ihr Geschrei einstimmte. Als sie merkte, daß es sich um Quopomma handelte, wurde ihre Angst noch größer. Der Niroso hielt Coernn sekundenlang eng an sich gedrückt, ehe er ihn wegstieß und sich zuckend weiter bewegte. Anstelle eines Gesichtes sah man kleine Seen, die auf ihrer dunklen Oberfläche alles spiegelten, was in Maeveens verängstigtem Gehirn vor sich ging. Sie sah sich selbst verbrennen und in Stücke gerissen, als das Lavamonster versuchte, sie mit in den Fels zu ziehen. Sie sah hundert verschiedene Tode, die sich alle im Antlitz des Niroso spiegelten. »Magie, er gebraucht ganz instinktiv Magie«, erklärte Coernn trotz seiner schrecklichen Verbrennungen mit ruhiger Stimme. Er murmelte einen Zauberspruch, und Maeveens Furcht ließ ein wenig nach. Quopomma keuchte und zog die Waffen, aber Coernn hielt sie zurück. »Hier geht es um einen Kampf, den man nicht mit Waffengewalt gewinnen kann. Die Niroso sind nicht ganz körperlich vorhanden. Ein Teil von ihnen besteht aus reiner Magie, oder aus Geist oder etwas, was ich nicht zu benennen vermag. Jenen Teil müssen wir angreifen. Dagegen ist das Schwert machtlos!« »Das soll Onkel Istvan glauben!« brüllte Quopomma. Mit gezückten Schwertern stürmte sie voran. Die Klingen drangen in den Niroso ein. Jede andere Krea412
tur wäre auf der Stelle tot gewesen. Beide Klingen lösten sich auf. Maeveen sprang vor und versetzte der Ogerin einen Tritt in die Kniekehlen, der sie zu Fall brachte und an dem Niroso vorbeischleuderte. Obwohl das Wesen nicht zu verletzen war, konnte es sich nur langsam bewegen. Die kühle Luft, die vom Höhleneingang den Pfad hinunterwehte, brachte Maeveen auf eine Idee. »Hier entlang, Stein ohne Hirn«, spottete sie. Sie schleuderte ihren Dolch nach dem Niroso, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Nein! Warte, ich kann ihn mit einem Zauber aufhalten!« widersprach der verletzte Coernn. Maeveen beachtete ihn nicht. Sie wich langsam zum Höhleneingang zurück und reizte den ungeschickt folgenden Niroso. Allmählich bewegte sich das Steinwesen schneller, da es die Richtung nicht ändern mußte, und glitt auf sie zu. Maeveen ging langsam weiter, achtete aber darauf, immer einen Sicherheitsabstand einzuhalten. Der kalte Wind, der in die Höhle drang, ließ sie frösteln. Seine natürliche Kraft blieb nicht ohne Wirkung auf den Niroso. Die Steinkreatur bemühte sich, sich von der Öffnung abzuwenden, um nicht auszukühlen, aber Coernn hatte bereits seinen Zauber gewirkt. Der Niroso mußte auf Maeveen zugehen – und erstarrte vor Kälte. »Das war knapp«, seufzte Maeveen und wischte sich den Angstschweiß von der Stirn. Der Niroso wand sich in der harten äußeren Hülle. »Ist er drinnen immer 413
noch geschmolzen?« »Er wird entkommen, wenn er genügend Zeit hat«, meinte Coernn. »Dann kann er durch den Fels zu unseren Füßen gleiten und sich von dem kalten Wind entfernen, der ihn in einen Stalagmiten verwandelte.« Maeveen warf einen mißtrauischen Blick auf die speerförmigen Steingebilde, die aus dem Boden ragten und von der gewölbeähnlichen Decke hingen. »Die sind ganz natürlich entstanden«, versicherte ihr Coernn. »Ich spüre keine Magie, außer an den Stellen, wo kürzlich ein Niroso vorüberging.« »Wie bekämpfen wir sie? Mit Eimern voller Wasser?« wollte Quopomma wissen. »Ich habe gerade meine besten Schwerter verloren und keinen Ersatz dafür.« »Wasser könnte eine gute Idee sein«, meinte Coernn nachdenklich. »Wie wollen sie die Erdoberfläche erobern, wenn sie dort nicht überleben können?« fragte Maeveen. »Wenn sie den Kopf aus einem Berg herausstrecken, werden sie selbst am wärmsten Sommertag erfrieren. Und das hier, so weit im Norden Terisiares! Der Ronomgletscher liegt kaum mehr als fünfhundert Meilen weiter östlich von hier! Im Winter ist es furchtbar kalt.« »Eine Tatsache, die Sacumon den Niroso nicht mitgeteilt hat«, meinte Coernn. »Wahrscheinlich plant sie, so die Kontrolle über die Steinwesen zu behalten. Sie schicken die Kohlengolems an die Oberfläche, um die Minotauren und Elfen zu besiegen, dann stellt sie sich gegen die Niroso – und was können die ihr schon an414
haben?« »Eine Berührung reicht aus, uns in Brand zu setzen«, gab Quopomma zu Bedenken und streckte zögernd die Hand nach Coernn aus. »Sie müssen ganz schön einfältig sein, ihr zu glauben und nicht selbst nachzuforschen«, erwiderte Maeveen. »Aber Vervamon glaubt, sie seien erst kürzlich entstanden, Abfälle des Krieges, sozusagen. Vielleicht haben sie keine Erfahrung im Umgang mit kälteren Lebensformen.« Coernn wollte etwas sagen, aber ein Schwall heißer Luft, der aus den Tiefen der Höhle drang, hielt ihn davon ab. Sein Umhang und seine Augenbrauen wurden durch die Hitze versengt. Er stolperte gegen Maeveen, die ihn stützte, bis er das Gleichgewicht wiedererlangt hatte. Maeveen zerrte an Coernns beschädigtem Umhang. Einzelne Stücke fielen zu Boden. Plötzlich riß sie entsetzt die Augen auf. Die Haut des Magiers löste sich in Fetzen ab. Sie drehte sich um und schrie: »Vervamon! Yunnie!« Mit Quopomma an ihrer Seite und Coernn, der sich anstrengte, mit ihnen Schritt zu halten, eilten sie den sich windenden Pfad hinab, bis sie zu einer jäh abfallenden Felskante über einem Amphitheater kamen. Unter sich erblickten sie Yunnie, der sich vor Vervamon aufgebaut hatte, um den Älteren vor drei Kohlengolems zu schützen. Hinter ihnen schlich eine dunkel gekleidete Gestalt einher, von der Maeveen annahm, 415
daß es sich um Sacumon handelte. »Vorsicht!« rief Maeveen. »Macht euch davon! Ihr sitzt in der Falle, wenn ...« Sie brach ab, als sich die drei Golems auf Yunnie stürzten. Zu ihrer Verblüffung schrie er auf, allerdings nicht vor Schmerz. Es handelte sich um einen Schrei des Triumphes und des Sieges. Yunnie sprang vor und drückte die ledergepanzerte Brust gegen die Golems. Die Kreaturen explodierten mit einer solchen Wucht, daß Maeveen vornüber fiel. Es fiel ihr immer schwerer, sich dort oben aufzuhalten, während Yunnie fortwährend gegen die Golems anstürmte, die von der Magie seiner Rüshing angezogen wurden und schnell ein unrühmliches Ende fanden. Er lachte, aber es war das Lachen eines Wahnsinnigen. Yunnie zog nicht einmal das Schwert. Er warf sich auf die Golems und ließ sich von der Rüstung beschützen. »Ich bin unbezwingbar, Sacumon! Du hast mir die Macht verliehen, die Golems und dich selbst zu besiegen!« Er lachte kreischend. Maeveen richtete sich auf, setzte sich auf die Felskante über dem Amphitheater und fragte sich, wie sie ihm helfen konnte. Dann stellte sie sich die Frage, wie sie sich selbst helfen sollte. Yunnie hatte die Grenzen der Vernunft überschritten, als er Sacumon angriff. »Ich verfüge über eine Macht, die du nicht einmal erahnen kannst«, fauchte Sacumon. Mit ausgebreiteten Armen, auf denen die Tätowierungen zum Leben erwachten, malte sie verworrene Muster in die Luft und 416
beschwor Zauber, um Yunnie zu töten. Aus irgendeinem Grund schnitt sie sich Hautfetzen ab, die sich in kleine Rauchwölkchen auflösten. »Vervamon, schert Euch fort! Flieht!« rief Maeveen, da sie keinen Einfluß auf den Kampf zwischen Yunnie, der Lebenden Rüstung und Sacumon hatte. »Man wird Euch töten!« »Ich kann mich nicht bewegen!« antwortete der Forscher. »Meine Füße sind am Felsen festgeklebt. Ein Niroso versuchte, unter mir herauszukommen, und ...« Seine Worte gingen im Dröhnen einer Explosion unter, als sich Yunnie auf Sacumon warf. Die beiden rollten ineinander verschlungen über den Boden, und die unterschiedlichen magischen Kräfte bemühten sich, die Oberhand zu gewinnen. Die Lebende Rüstung wollte sich schützen und war weder von Yunnie noch von Sacumon zu beherrschen. Die Magierin suchte nach dem geeigneten Spruch, um Yunnie zu besiegen. Keiner von ihnen hatte Erfolg. Jedenfalls nicht genug. Sacumon wob einen Spruch, der Yunnie rücklings in eine Felswand krachen ließ. Dort hielt sie ihn mit mehreren Zaubern fest, durch die seine Rüstung plötzlich blau aufleuchtete. Yunnie wehrte sich und konnte sich von der Wand lösen. Der blaue Schein, der auf sein Gesicht fiel, ließ ihn wie ein übermenschliches Wesen aussehen – oder eher wie ein gefährliches Monstrum? »Helft mir!« rief Sacumon. »Helft mir, denn es befinden sich Eindringlinge in eurem Reich!« 417
»Sie ruft nach weiteren Kohlengolems«, meinte Quopomma. »Nein.« Coernn schüttelte den Kopf. »Sie holt die Niroso, damit sie weiterkämpfen. Wenn sie auftauchen, hat Yunnie keine Chance mehr. Er darf nicht sterben! Er darf einfach nicht!« Coernn sprang mit einem Satz in das Amphitheater hinunter und murmelte Sprüche vor sich hin. Maeveen und Quopomma wechselten einen schnellen Blick, und Maeveen sagte: »Wer will schon ewig leben?« Sie folgten Coernn in die Tiefe und bereuten es sofort. Eine erneute Hitzewelle schleuderte sie zurück. Maeveen fiel mit voller Wucht gegen Vervamon, und Quopomma landete auf den beiden. Ein glühend heißer Schwall nach dem anderen rollte über sie hinweg, bis endlich kühlere Luft kam und die Höhle in das sanfte blaue Licht von Yunnies Rüstung gebadet wurde. »Magie kämpft gegen Magie«, verkündete Vervamon und krabbelte unter der auf ihm liegenden Soldatin hervor, um besser sehen zu können. »Seit den Tagen der Brüderkriege hat es nichts derartiges mehr gegeben! Welch eine Gelegenheit, zur Stelle zu sein, wenn Geschichte geschrieben wird.« Yunnie und Coernn standen Schulter an Schulter. Sacumon verhielt sich eigenartig. Sie zog einen goldenen Dolch aus dem Gürtel und schnitt sich einen Finger ab. Dann noch einen und noch einen. Während jeder in einer Rauchwolke verschwand, 418
verdreifachte sich die Kraft ihres Zaubers. »Seht nur! Sie opfert Teile ihres Körpers, um mächtiger zu werden!« rief Vervamon, der gebannt zusah. »Sie hat Schwierigkeiten, sich gegen Yunnie und Coernn durchzusetzen und braucht deshalb zusätzliche Kraft.« Maeveen zog das Schwert und handhabte es wie eine Lanze. Die Klinge versetzte Sacumon einen tiefen Schnitt im Oberarm. Die Magierin zischte wie eine wütende Schlange und schleuderte die Waffe beiseite, während sie versuchte, die Blutung der Wunde zu stillen. Das gab Yunnie Zeit, nach vorn zu springen und nach ihr zu greifen. Die Nähe der Lebenden Rüstung ließ Sacumon vor Schmerz und Zorn aufschreien. Maeveen ahnte, welche Qualen ihr das Artefakt verursachte. »Das Spiel können wir auch zu zweit spielen«, erklärte Quopomma, hob Steine auf und warf damit nach Sacumon. Die Frau duckte sich und wich aus, wurde aber dennoch am Kopf getroffen und war für einen Augenblick ein wenig benommen. Yunnie und Coernn ergriffen die Gelegenheit, sich ihr von zwei Seiten zu nähern. »Nein, ihr versteht es nicht. Sie brauchen Anleitung. Sie brauchen meine Anleitung!« Kreischend versuchte Sacumon, das Blut zu stillen, das aus den Fingerstümpfen schoß. Plötzlich blickte sie wild um sich, und Maeveen wußte sofort, was sie vorhatte. Mit dem goldenen Dolch schnitt sich Sacumon die Hand genau über dem 419
Gelenk ab. Als ihr das nicht genug Kraft verlieh, gegen beide Männer anzugehen, hieb sie wild auf ihren Oberarm ein. Die Tätowierungen wanden sich, als seien sie zum Leben erwacht. Sacumon brabbelte vor sich hin, als sei sie verrückt geworden, aber ihre Macht nahm wieder zu und drückte Yunnie und Coernn gegen die Felswand. Coernn schloß die Augen und konzentrierte sich auf einen Zauberspruch. Seine Hände bewegten sich unentwegt, unabhängig davon, wie sehr ihn die feindliche Magie auch bedrängte. Die fast schon greifbare Anspannung in der Höhle verstärkte sich, bis Maeveen am liebsten laut geschrien hätte. Selbst Vervamon, der für gewöhnlich ein aufmerksamer Beobachter war, preßte die Hände auf die Ohren und wandte sich ab. »Sterben sollt ihr, verdammt noch mal! Sterben!« schrie Sacumon. Sie hackte wütend auf ein Bein ein; Blut strömte über den Steinboden. Bei jedem Stück, das sie abschnitt, verstärkte sich ihre Macht, aber sie hatte nicht mit der Kraft einer ihrer Schöpfungen gerechnet. Yunnie bewegte sich wie im Traum. Der blaue Glanz, der die Lebende Rüstung umgab, verwandelte sich in ein so grelles violettes Licht, daß es selbst bei geschlossenen Augen auf den Lidern brannte. Maeveen hielt sich schützend die Hände vor die Augen. Daher sah sie nicht allzu viel von dem magischen Duell. Noch während Sacumon sich wimmernd selbst verletzte, näherte er sich ihr, aber es war Coernns Zauber, der das Blatt endgültig wendete. Seine Macht gesellte 420
sich zur Kraft der Rüstung und vernichtete Sacumon. Sie war am Ende ihrer Kunst. Sacumon starb Stück für Stück. Aber sie starb. Das plötzliche Nachlassen der Spannung war fast so schmerzlich wie die zuvor gewobenen Sprüche. Maeveen blinzelte und wischte sich Blut vom Gesicht. Sie hatte keine Ahnung, ob es ihr eigenes war, Sacumons oder das von jemand anderem. »Einen solchen Kampf habe ich noch nie erlebt«, flüsterte Quopomma ehrfürchtig. »Ich stimme Euch zu. Eine wahrhaft eigenartige Weise, Zaubersprüche zu wirken«, erklärte Vervamon, der Sacumons Leichnam anstarrte. Der Körper war zu einem verwitterten Häufchen geworden, als sei die Frau bereits vor Jahren gestorben und durch die Trokkenheit in der Höhle nicht verwest. »Sie wußte, daß ...« Coernns Worte endeten in einem Schrei, als hinter ihm ein Niroso aus dem Felsen glitt. Feurige Arme umschlangen ihn und zerrten ihn rückwärts. Es roch nach verbranntem Fleisch, und schreiend setzte er sich zur Wehr. Maeveen, die dicht neben ihm stand, reagierte blitzschnell. Mit einem großen Stein schlug sie auf den halbflüs.sigen Arm des Wesens ein. Coernn zappelte noch ein wenig und starb, während Maeveen hilflos zusehen mußte. Seine Lippen bewegten sich, aber außer Maeveen konnte niemand seine letzte Botschaft verstehen. Yunnie schob sie beiseite und trat vor. Die magische Kraft, die er während des Kampfes aufgefangen hatte, 421
strahlte auf den Niroso ab. Die feurigen Arme verschwanden so schnell wie Schnee, der in der Sonne schmilzt, und das Wesen glitt wieder in den Fels hinein. Keuchend fiel Yunnie auf die Knie. Die Lebende Rüstung wirkte verbrannt und verkohlt. Maeveen fiel auf, wie erschöpft Yunnie war und ahnte, was ihn dieser Kampf gekostet haben mußte. Die Lebende Rüstung war ein strenger und harter Herr. Vervamon eilte geschäftig hin und her, murmelte vor sich hin und machte sich Notizen. Er schrieb sehr schnell, um alle Einzelheiten festzuhalten, ehe er etwas vergaß. Quopomma gesellte sich zu ihrer Vorgesetzten. »Alles in Ordnung?« Maeveen nickte und verspürte eine seltsame Mischung aus Aufregung und Erschöpfung über sich kommen. Sie wußte nicht, ob sie lachen oder weinen, schreien oder schweigen sollte. »Was hat er gesagt?« wollte die Ogerin wissen. »Coernn, meine ich, ehe er starb. Er sagte etwas. Ich sah seinen Gesichtsausdruck.« »Den habe ich nicht bemerkt.« »Er wirkte erleichtert, als habe er Euch etwas gestanden. Hat er gebeichtet?« Maeveen hatte nur Augen für Yunnie. In ihrem Alptraum, in der Stadt der Schatten, hatte sie ihn mit Vervamon verwechselt. Jetzt wußte sie, warum. »Coernn weihte mich in ein Geheimnis ein, das nicht 422
einmal Lord Peemel kennt.« Quopomma sah sie erwartungsvoll an. »Und? Was für ein Geheimnis ist es?« »Während wir auf dem Weg in die Stadt der Schatten waren, fand Coernn durch Magie heraus, daß der Gesuchte in Shingol aufwuchs.« Maeveen holte tief Luft und fuhr mit leiser Stimme fort: »Yunnie ist der Sohn von Lady Pioni, Peemels Frau.« »Das bedeutet ...« Quopomma riß verwundert die Augen auf. »Yunnie ist der Thronprätendent von Iwset. Und noch etwas. Er ist außerdem Vervamons Sohn!«
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Lord Peemel hatte die Hände auf den Rücken gelegt, das Kinn ruhte auf der Brust. Mit grimmigen Blicken betrachtete er die riesige Karte, die vor ihm ausgebreitet auf einem Tisch lag. Kleine Schiffsmodelle wurden von einem halben Dutzend junger Offiziere hin- und hergeschoben. Zu seiner Rechten stand Digody, zu seiner Linken Apepei, aber Peemel sah keinen von beiden an. Gerade sammelte ein Offizier sechs Schiffe Iwsets ein. »Wie konnte Edara meine Flotte versenken?« Peemel bemühte sich, seine Stimme ruhig zu halten. »Ihr habt mir gesagt, sie könne ihre Marine nicht rechtzeitig gefechtsbereit haben, wenn wir innerhalb der nächsten drei Tage angreifen würden. Ich verlor acht Fregatten, acht meiner besten Schiffe, acht Schiffe, die mich ein Vermögen kosteten!« »Und die Besatzungen«, bemerkte Apepei. »Ihr habt fast fünfhundert erfahrene Seeleute verloren.« »Verdammt noch mal! Die Schiffe kann ich nicht über Nacht ersetzen. Als Besatzung kann ich jederzeit irgendwelche Dörfler zwangsweise anheuern, aber die Schiffe waren hervorragend bewaffnet und gerüstet. 424
Wie soll ich sie ersetzen? Edara verlor kein einziges Schiff!« Er beugte sich vor, ohne den Ratgebern auch nur einen Blick zu gönnen. »Jehesic hat in einem Kampf, den wir mühelos hätten gewinnen sollen, keinen einzigen Verlust erlitten!« Jedes seiner Worte klang wie eine unverhüllte Drohung. Apepei zuckte zusammen, als Lord Peemel ein Seidentuch aus der Tasche zog und sich zornig die Hände abwischte, als tilge er damit jegliche Schuld aus seinem Herzen. Als er fertig war, sah Apepei mit unbeweglicher Miene zu, wie sich der Herrscher auf dem Absatz umdrehte und das Tuch um den Hals des nächsten Gardisten schlang. Ein schneller Ruck, und schon bekam der Mann keine Luft mehr und sank mit hochrotem Gesicht in die Knie. »Ihr benötigt einen besseren Flottenkommandeur«, sagte Apepei hastig, um den Herrscher abzulenken. Der Zwerg starrte zu Digody empor, als wolle er eine Bemerkung herausfordern. Klugerweise beschloß Digody, den Mund zu halten, während sich Peemel weiter über den Fehlschlag ausließ. »Ihesia arbeitet unermüdlich an Land und bringt uns Sieg auf Sieg. Aber ...« »Gebieter«, unterbrach ihn Digody, »es mangelt nicht an Strategien oder der Ausführung genialer Taktiken. Ich befürchte, wir haben einen Verräter in unseren Reihen, einen Verräter, der Edara unsere Pläne mitteilt. Wie können wir siegen, wenn sie unseren Stärken ausweicht und unsere Schwachstellen angreift?« Rote Augen sahen starr in die weit auseinanderstehenden Zwergenaugen. Der Zwerg hüpfte mit wach425
sender Erregung auf und ab. Er schob sich das wirre Haar aus der Stirn und rief: »Nennt Ihr mich etwa einen Verräter? Sagt es, und seid verdammt! Ich fordere Euch zum Duell heraus! Ich bin dem Thron von Iwset treu ergeben! Ich ...« »Ich habe Eure Treue zum Thron nicht angezweifelt«, erwiderte Digody mit angespanntem Gesicht. »Aber ich bezweifle, daß Ihr Lord Peemel ein treuer Diener seid.« Apepei stammelte undeutliche Worte und griff nach dem Dolch. Ein Dutzend von Peemels Gardisten traten vor. Einige mußten über den Körper ihres toten Kameraden steigen. Sie waren bereit, den Herrscher zu verteidigen, auch wenn sich sein mörderischer Zorn gegen einen der ihren entladen hatte. Peemel winkte ab und wandte sich dem Zwerg zu. »Genug davon! Niemand stellt Eure Ergebenheit in Frage, Apepei.« »Doch, Digody!« »Ihr seid zu leicht erregbar«, erklärte Digody gelassen. »Vielleicht sollten wir in weiterem Umkreis nach jemandem Ausschau halten, der Zugang zu allen unseren Plänen hat.« Seine rotglühenden Augen schweiften über die versammelten Gardisten und blieben schließlich auf einem Mann haften. Ein knochiger Finger deutete auf den Unteroffizier der Leibgarde. »Der da, zum Beispiel. Er verbringt viel Zeit an den Docks. Er ist ein Fußsoldat, kein Matrose. Warum treibst du dich dauernd in einer Taverne namens ›Versunkener Schatz‹ 426
herum?« »Weil es mir befohlen wurde.« »Befohlen?« mischte sich Peemel ein. »Von wem?« »Nun, von Apepei. Ich finde heraus, was betrunkene Matrosen erzählen, um jeden Verräter ausfindig zu machen.« »Er arbeitet in meinem Auftrag«, erklärte Apepei. »Wie auch andere. Ich nehme die innere Sicherheit sehr ernst, während Digody bloß redet und Schmutz aufwirbelt, als sei er ein Affe vom Kap des Zorns.« »Ein Affe? Wen nennt Ihr einen Affen, kleiner Mann?« Digody wuchs förmlich in die Höhe. Sein spärlicher Schnauzbart zuckte, und der Spitzbart wippte auf und ab, als er nach Worten suchte. »Genug!« brüllte Peemel. »Dieses Gezänk ist für Jehesic von Vorteil! Ihr sollt aber mir Vorteile bringen. Was machen wir, damit die elende Hündin nicht auch noch den spärlichen Rest meiner Schiffe vernichtet?« »Nicht allzu spärlich«, schmeichelte Digody, der seinen Ärger über Apepei vergaß, um seine Vorschläge ins beste Licht zu rücken. »Noch während wir uns hier unterhalten, braut sich ein neuer Kampf zusammen. Ich habe es übernommen, ihre Flotte auf unsere Küstenbefestigungen zuzulocken. Generalin Ihesia ist sicher, daß sie ein zielgenaues Sperrfeuer einsetzen und die Schiffe versenken kann, wenn sie am Kap der Verzweiflung vorübersegeln. Sie werden auf dem Boden des Meeres ruhen und uns nie wieder beunruhigen.« »Ihr habt Flottenbefehle erteilt, ohne Lord Peemel 427
auch nur um Erlaubnis zu ersuchen?« Der Zwerg sprang auf den Tisch, und die kleinen Schiffsmodelle flogen reihenweise zu Boden. »Das ist Verrat!« »Nein, Vorsicht«, entgegnete Digody. »Erklärt Euch!« forderte ihn Peemel auf. »Das habt Ihr nicht mit mir besprochen. Ich bin der Oberbefehlshaber der Armee, nicht Ihr. Ihr dient mir. Wenn diese Taktik versagt, hat Iwset keine Flotte mehr, und Jehesic wird mich vernichten.« »Noch heute nacht erleben wir einen Sieg, Gebieter«, versprach Digody. »Kommt, und seht es Euch an.« Er drehte sich um und wies mit dem knochigen Finger zum Aussichtsturm. »Von dort aus können wir das Kap der Verzweiflung gar nicht sehen«, stellte Apepei fest, dessen Hand auf dem Dolchgriff ruhte. Er witterte Verrat. Ein so starker und geschickter Mann wie Digody war ohne weiteres in der Lage, sowohl Peemel wie auch Apepei von der Turmspitze zu werfen. Apepei war nicht sicher, wie Digody anschließend die Macht an sich reißen wollte, da er ohne das Siegel von Iwset nicht als Herrscher anerkannt werden würde. Aber auch mit dem Siegel zweifelte Apepei daran, daß die Bürger von Iwset Digody auf dem Thron sehen wollten, doch sein Widersacher machte sich nichts aus öffentlichem Wohlgefallen. Er arbeitete am liebsten im Hintergrund, zog an den Fäden etlicher Marionetten und ließ andere für sich springen. Apepei wußte, daß er pausenlos auf der Hut sein mußte. 428
»Ich habe ein Sichtgerät für Euch aufbauen lassen.« »Einen flüssigen Spiegel?« Apepei starrte entsetzt auf die flache, mit einer hellgrünen Flüssigkeit gefüllte Schale. »Abt Offero wird Euch für diese Blasphemie der Folter überantworten.« »Wir müssen es dem guten Abt ja nicht verraten«, meinte Digody wegwerfend. »Hier, mein Gebieter, seht hinein und beobachtet, wie Eure Flotte die besten Schiffe Jehesics zur Küste lockt, wo sie Ihesias Artilleriescharfschützen in Ruhe versenken werden.« Apepei blickte verstohlen in den magischen Spiegel. Die Flüssigkeit schwappte träge hin und her, so daß die Oberfläche in leichte Unruhe geriet. Ganz allmählich wurden undeutliche Schemen sichtbar, die bald schon als die drei schnellsten Schiffe Iwsets zu erkennen waren. Sie segelten zur Küste, drehten im letzten Augenblick bei und enthüllten den Blick auf ihre Verfolger, die unter der dreieckigen Flagge Jehesics segelten. »Seht Ihr, wie Ihesia die Artillerie plaziert hat?« Digody stand mit verschränkten Armen da. Apepei beobachtete ihn voller Mißtrauen und sah dann zu Peemel hinüber. Die Miene des Herrschers war nicht zu deuten. Vielleicht war er wütend, weil Digody seine Befugnisse überschritten hatte, vielleicht war er auch zufrieden. Apepei schauderte. Er verlor sein Gespür für die Launen des Herrschers, und das verhieß für die Zukunft nichts Gutes. »Sie sollte jetzt das Feuer eröffnen«, sagte Peemel und beugte sich vor. Sein Atem bewegte die Oberfläche 429
der Flüssigkeit, und verzerrte den Ausblick auf das Kap der Verzweiflung. »Ihesia ist fähig. Sie wird erst feuern, wenn der rechte Augenblick gekommen ist«, bemerkte Apepei. Er kochte innerlich, weil Ihesia sich mit Digody verbündet hatte – und nicht einmal der Hauch einer Ahnung war ihm zugetragen worden. Er war stolz auf seine Spione. Sie mußten besser arbeiten, sonst würde er von Peemel nicht mehr ins Vertrauen gezogen werden. Vielleicht würde eine in Abt Offeros Ohr geflüsterte Bemerkung über den magischen Spiegel das Gleichgewicht der Macht unter Peemels Ratgebern verschieben. Der Abt verabscheute Magie mit einer Leidenschaft, die schon an Besessenheit grenzte. Diesmal konnte das Blatt, das Digody zum Nachteil Apepeis ausgespielt hatte, für ihn zum Tode führen. »Seht nur, wie sie sich nähern. Es ist unmöglich, den Artillerieschützen jetzt noch auszuweichen, um ...« Digodys Stimme versagte, als klar erkennbar wurde, daß die jehesicschen Schiffe nicht als ›erstklassig‹ bezeichnet werden konnten. »Das sind einfache Barken. Was nützt es uns, Barken zu versenken?« »Unter Umständen eine ganze Menge«, warf Apepei ein. »Seht Ihr, wie viele Matrosen sich an Deck drängen? Sie segeln nicht einfach dumm in die Falle. Sie halten genau auf die Küste zu, um dort ihre Truppen auf Ihesia zu hetzen!« »Nein, unmöglich! Das ist unmöglich!« Jetzt brachte 430
Digody die Flüssigkeit in Wallung, weil er sich an der Tischkante festhielt, als wolle er sich jeden Moment in den Kampf stürzen, der sich vor seinen Augen abspielte. Mit weit aufgerissenen Augen und weniger bedrohlichem Blick stand er da. Apepei mochte sich über die Verzweiflung seines Rivalen nicht freuen. Die Schiffe Jehesics hielten genau auf Ihesia zu, und sie war die einzige Generalin, die Apepei mehr zugetan war als Peemel oder Digody. Ihr Tod oder ihre Gefangennahme wären eine Katastrophe. »Die Barken werden versenkt. Und wenn sie gegen die Küstenfelsen krachen, sinken sie ohnehin. Also ist es gleichgültig, was geschieht«, versuchte Digody sich zu beruhigen und verschloß die Augen vor dem, was ihnen der Spiegel enthüllte. »Die Schiffe werden sinken!« »Narr!« fauchte Peemel. »Edara hat keinen Grund, die Barken zu retten. Sie dienen nur dem Zweck, ihre Armee gegen unsere Artillerie an Land zu bringen!« »Und gegen Ihesia«, fügte Apepei hinzu. »Schickt Boten aus, Lord Peemel. Bringt Ihesia in Sicherheit, sonst verlieren wir unsere beste Generalin!« »Zu spät«, antwortete Peemel und beobachtete, wie sich die Vorderluken der gelandeten Barken öffneten. Seine Artillerie hatte nur eines der Schiffe versenkt, und die Männer, die an Bord gewesen waren, schwammen zur Küste, um sich ihren Kameraden bei der Invasion anzuschließen. Apepei hatte Angst um Ihesias Leben, während er 431
zusah, wie die feindlichen Truppen die steilen Klippen hinaufkletterten, um sich der Kanonen zu bemächtigen. Die Männer waren hervorragend ausgebildet, aber die Artilleristen kannten sich im Nahkampf nicht aus. Sie bedienten Geschütze und waren weder Schwertkämpfer noch Bogenschützen. Obwohl sie sich tapfer zur Wehr setzten, und Ihesias persönliche Leibgarde alles tat, um die Generalin zu schützen, war es vergebens. »Unsere Kanonen wurden erobert, und das Kap der Verzweiflung ist in der Hand Jehesics, so daß wir nicht mehr an unsere eigene Küste gelangen können«, stellte Peemel fest und starrte Digody durchdringend an. »Schlimmer noch«, krächzte Apepei mit erstickter Stimme. »Edaras Leute haben Ihesia gefangengenommen. Unsere beste Generalin ist eine Kriegsgefangene!«
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»Wir haben sie gerettet, aber nichts hat sich verändert. Sie werden sterben«, sagte Yunnie mit einer Verzweiflung in der Stimme, die Maeveen frösteln ließ. Sie rückte ein wenig näher heran – an Vervamon den Jüngeren -und betrachtete im Licht der untergehenden Sonne sein ausgeprägtes Profil. Blutrotes Sonnenlicht warf Schatten über seine Züge, und er sah seinem Vater ausgesprochen ähnlich. Maeveen sagte kein Wort. Coernn hatte ihr mit seinem letzten Atemzug das Geheimnis seiner Suche enthüllt, das er durch Magie gelöst hatte. Das Siegel von Iwset war wichtig, aber der Mann, der sich mit gutem Recht gegen Peemel stellen konnte, war bedeutend wichtiger. Mit dem Siegel bot sich Yunnie die Möglichkeit, den Krieg zwischen Jehesic und Iwset zu beenden und der gesamten Küste bis hinauf nach Tondhat Frieden zu bringen. Aber jener Krieg war zu weit entfernt, als daß er Yunnie interessiert hätte, auch wenn er in das Geheimnis eingeweiht worden wäre. Elfen hatten sich in das Tal der Urhaalan geschlichen und machten sich bereit, das Herz der Feinde zu er433
obern. Große Verluste und Fehlplanungen – Nachwirkungen der furchtbaren großen Schlacht – machten ihnen zu schaffen. Jetzt griffen sie mit dem Mut der Verzweiflung an, da sie nach dem Kampf gegen Tiyint nur noch eine einzige Schlacht überstehen würden. Schlugen sie sich gut, würden sie alles tun, um einen Frieden durchzusetzen. Wenn die Elfen nicht siegten, war alles verloren. Die Ehernwurzelbäume im Elnwald würden sterben, und auch die Sieger würden bald verschwinden, wenn die Niroso die Kohlengolems ausschickten, um das Land an sich zu reißen, das sie selbst wahrscheinlich nie bewohnen konnten. Sacumon hatte Geschehnisse heraufbeschworen, die niemand mehr aufzuhalten vermochte. Dafür hatte sie mit ihrem Leben bezahlt, aber selbst das war inzwischen unwichtig geworden. Maeveen dachte, daß es gleichgültig war, ob die Elfen über die Minotauren triumphierten und den Steingötzen besiegten. Noch immer bewegten sich die Niroso mit Leichtigkeit durch die Felsen unter ihren Füßen. Sie waren bereit, zuzuschlagen und sie alle zu vernichten. Elfen? Minotauren? Das war den halbflüssigen Steinleuten gleich. Jetzt, da Sacumon nicht mehr lebte, hatten die Niroso keine Anführerin mehr, aber die Mächte, die eine Verbindung zwischen der Magierin und dem unterirdischen Volk ermöglichten, arbeiteten noch immer. Das Steinvolk brauchte die Frau nicht mehr, denn es sandte die Golems ganz selbstverständlich aus, um 434
die einander bekämpfenden Elfen und Minotauren zu vernichten. Maeveen überlief es kalt. Der Traum, der sie in der Stadt der Schatten heimgesucht hatte, erwies sich als allzu prophetisch. Das Tal der Urhaalan wurde von Blutströmen durchzogen. Sie schützte die Augen vor der Sonne und sah, daß die Schlacht früher stattfinden würde, als sie angenommen hatte. »Wir müssen die anderen Soldaten holen, Hauptmann«, meinte Quopomma beunruhigt. »Sie haben sich im Wald versteckt. Vielleicht können wir gemeinsam am Ausgang des Kampfes mitwirken.« Die Ogerin klang unsicher, und Maeveen wußte den Grund dafür. Selbst wenn die Truppe bestens bewaffnet, ausgeruht und in voller Stärke antrat, war sie gegen Tiyint machtlos. Wenn sie sich mit den Minotauren verbündeten, um auf der Seite der Sieger zu stehen – welchen Vorteil brachte es ihnen? Mytaru und seine Gefährten wußten, daß sie auch ohne Verbündete siegen würden. Noch ehe die Verlorene Ratte oder die Waffen von Elysium über dem Land funkelten, war die Schlacht vorüber. Wenn die Minotauren nicht allein siegen konnten, würde Tiyint ihnen beistehen. »Ich mag es mir nicht ansehen«, meldete sich Vervamon zu Wort. »Es ist nichts als das sinnlose Abschlachten eines edlen, weisen Volkes.« »Würdet Ihr auf der Seite der Elfen kämpfen?« fragte Yunnie. »Was ist mit den Minotauren?« »Ihr Steingötze wird ihnen den Sieg bescheren. Ihr 435
müßt das Gemetzel unterbinden. Ich habe nichts gegen die Minotauren – noch bin ich ein Freund der Elfen. Aber ich verabscheue sinnloses Töten.« »Sacumons Erbe!« murmelte Yunnie. Vervamon blickte ihn prüfend an, und trotz des kalten Windes, der von der See her über das Land fegte, hatte er Schweißperlen auf der Stirn. Ohne daß es ihnen aufgefallen war, hatte der Herbst Einzug gehalten. Bald kam der kalte und eisige Winter. »Sie hat diesen Krieg angefacht. Die Elfen hatten keinen Grund, in das Tal einzudringen, und die Minotauren wollten ihre Ruhe haben, um ihre Rituale auf heiligem Boden durchzuführen.« »Dann müssen wir unsere Anstrengungen, beide Seiten zum Frieden zu bringen, verdoppeln«, erklärte der Forscher bestimmt. So hatte ihn Maeveen schon früher erlebt. Eine Herausforderung ließ ihn förmlich aufblühen – eine Schwierigkeit, die gelöst und bis in alle Einzelheiten schriftlich festgehalten werden mußte. Sie wünschte, daß nicht so viele Leben von Vervamons Überzeugungskraft abhängen mochten. Sie legte den Arm auf Yunnies Schulter und rüttelte ihn aus seinen Gedanken auf. »Ich stimme zu, daß wir nicht länger nur herumstehen und zusehen dürfen«, sagte der junge Mann. Er hörte sich geradezu wie sein eigener Vater an! Maeveen fragte sich, weshalb niemand außer ihr das Offensichtliche bemerkte. Sie hegte keinen Zweifel an Coernns letzten Worten. Warum war sie nicht von allein darauf gekommen? 436
»Ihr solltet mit Euren Freunden in der Herde reden«, meinte Vervamon. »Ich versuche, den einohrigen Elfen namens Dalalego zu finden und ihm klarzumachen, daß er einen tödlichen Weg einschlägt, wenn er sein Volk angreifen läßt.« »Und Sacumon! Erzählt ihnen von Sacumon und den Niroso«, rief Yunnie, als er sah, daß sich Vervamon bereits auf den Weg machte, ohne die Krieger, die sich ringsumher versammelten, überhaupt zu beachten. »Quopomma, geht mit und beschützt ihn!« befahl Maeveen. »Ich bleibe bei Yunnie.« Die Ogerin legte den Kopf auf die Seite. Ihre dicken schwarzen Zöpfe schaukelten sanft im Wind, und sie betrachtete ihre Vorgesetzte eingehend. Dann breitete sich ein wissendes Grinsen aus, so daß die Lücke zwischen ihren Vorderzähnen sichtbar wurde. »Er wird so sicher wie im Schoß seiner Mutter sein«, versprach sie. »Seine Mutter hat ihn an Sklavenhändler verkauft«, antwortete Maeveen und warf Yunnie einen Seitenblick zu, ob er sie gehört hatte. Er reagierte nicht, aber natürlich wußte er auch nicht, daß sie von seiner Großmutter sprach. Aber auch wenn er es gewußt hätte, war sie nicht sicher, ob er sich etwas hätte anmerken lassen. Trotz der Ähnlichkeit mit Vervamon war Yunnie launischer, verschlossener und nicht sehr zuversichtlich. »Da!« rief er jetzt. »Da ist Mytaru. Ich sehe es an den Minotauren, die ihn umgeben.« »Ja, ich sehe es«, stimmte Maeveen zu. Die Herde 437
verließ gerade ein kleines Wäldchen, das eine halbe Meile entfernt im Tal der Urhaalan lag. Mit ihren kurzen Beinen mußte sie doppelt so schnell ausschreiten wie Yunnie, um mit ihm Schritt halten zu können. »Warum willst du die Elfen schützen? Weshalb läßt du sie nicht von Tiyint vernichten?« »Ich ...« Yunnie schluckte heftig. »Ich kann es nicht gut erklären. Sacumon spielte mit meiner Erinnerung, zwang mich, sie zu vergessen und verbot mir die Worte, mit denen ich Mytaru und die anderen hätte warnen können. Als ich gegen ihren Zauber ankämpfte, erwachten zahlreiche Erinnerungen in mir.« »Welche? Aus deiner Kindheit?« »Ja. Eine Elfe namens Tavora beschützte mich. Ich weiß nicht mehr viel, aber wann immer sie mich ansah, sprach innige Liebe aus ihrem Blick. Außerdem fiel mir ein, daß sie mir die Namen meiner Eltern verriet, aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern.« »Du weißt, daß du nicht in Shingol geboren wurdest? Und daß Essa nicht deine Schwester ist?« »Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.« Yunnie rieb sich die Schläfen und schüttelte den Kopf, als wolle er den Nebel, der über seinem Gedächtnis hing, vertreiben. »Vielleicht ist sie meine Halbschwester.« »Wohl eher deine Adoptivschwester«, schlug Maeveen vor. »Du wurdest von Tavora nach Shingol gebracht und von der Familie aufgenommen, die du für die deine hieltest. Und mit dir erhielten sie eine Art 438
Schmuckstück, ein Kinderspielzeug – das Siegel von Iwset.« »Was? Sei nicht albern. Ich weiß nichts von einem Siegel.« Yunnie ging schneller, und Maeveen setzte sich in Trab. Sie atmete tief und regelmäßig, um das Tempo durchzuhalten. Ihre vorsichtigen Worte hatten alte Erinnerungen in Yunnie aufgewühlt, und sie machten ihm zu schaffen. »Minotauren«, sagte sie und ging langsamer, als sie den Rand des Wäldchens erreichten. Instinktiv legte sie die Hand auf den Schwertgriff, obwohl sie wußte, das es unklug wäre, die Waffe zu ziehen. Sie konnte weder gegen hundert noch gegen ein Dutzend Minotauren ankämpfen. Und der Steingötze würde nicht bluten, wenn sie mit dem Schwert auf ihn einschlug. »Mytaru!« brüllte Yunnie. »Ich muß mit dir reden!« Zwei dunkle Gestalten traten aus dem Wald, die Lanzen auf Yunnie gerichtet. »Aesor«, begrüßte er den Minotaurus. »Und Pardano. Du bist aber gewachsen! Du hast drei Bänder errungen, die bei unserer letzten Begegnung noch nicht deine Hörner zierten.« »Eine wunderbare Leistung für einen Jungen, der noch nicht einmal Mitglied der Herde ist. Mein Sohn hat sich als besserer Bulle erwiesen als du«, sagte Aesor zornig. »Warum bist du zurückgekehrt? Verlasse das Tal! Du gehörst nicht länger zu uns.« »Wer wagt es, mich zu stören, während ich zaubere?« brüllte Mytaru aus dem Wald heraus. Maeveen fiel 439
auf, daß er taumelnd ging und anders als die übrigen Bullen aussah. Eine Überheblichkeit, wie sie nicht einmal Vervamon an den Tag legte, umgab den Minotaurus wie ein eherner Mantel. »Wir haben den Grund des Krieges beseitigt«, erklärte Yunnie. »Mytaru, greife heute nacht nicht an. Rede mit den Elfen. Eine Magierin war für den Zwist verantwortlich. Sie verbündete sich mit dem Steinvolk und hetzte Kohlengolems auf euch.« Mytaru lachte grimmig. »Bitte, ich habe nichts mit eurer Herde zu tun«, mischte sich Maeveen ein, die Yunnie Zeit zum Überlegen geben wollte. »Wir besiegten Sacumon, die Magierin, die Lord Peemel sandte, um euch ins Unglück zu stürzen. Die Elfen wollen Frieden schließen.« »Natürlich«, sagte Mytaru. »Sie verlieren. Würden sie auch dann über Frieden reden wollen, wenn sie siegten? O nein!« »Du mußt nach Frieden streben«, beharrte Yunnie. »Du bist ein Held, ein Eroberer. Zeige, daß du auch gnädig sein kannst. Niemals wieder werden sie in das Tal eindringen, wenn ihr ein Friedensabkommen trefft.« »Sie dringen in Urhaalangebiet ein, während wir uns hier unterhalten«, antwortete Mytaru. Er wandte den Kopf, und seine Hörner malten sich schwarz gegen das Dämmerlicht ab. Mit hocherhobenem Kopf sog er schnüffelnd die Luft ein, als wittere er etwas. Aus weiter Ferne vernahm Maeveen die schweren Tritte Tiy440
ints, die langsam näherkamen. »Vervamon redet gerade mit den Elfen. Er wird sie dazu bringen, ihre sinnlose Invasion abzubrechen. Sie möchten bloß ihren Wald und ihre Familien schützen. Sie wollen nicht kämpfen.« Mytaru hob die Hände, um den zum Leben erwachten Steingötzen zu rufen. Als sich Tiyints Umrisse dunkel gegen den Abendhimmel abhoben, keuchte Maeveen vor Entsetzen. Das riesige Wesen verdeckte die Sterne und schien sämtliches Licht aufzusaugen. »Tiyint, Held der Urhaalan, Hüter des Tales, geh und töte die Elfen. Töte sie ohne Ausnahme!« rief Mytaru. Tiyint taumelte, richtete sich aber wieder auf und änderte die Richtung, um zu den Elfen zu gelangen. Der Boden erbebte so stark, daß Maeveen ins Stolpern geriet. Sie fiel auf ein Knie und sah hilflos zu, wie sich Tiyint entfernte. »Quopomma, Vervamon!« stöhnte sie. »Sie sind bei den Elfen. Die übrigen Mitglieder der Expedition ebenfalls.« »Töte die Elfen. Vernichte alle, die unsere Herde auslöschen wollen!« Es hätte Mytarus Befehl nicht bedurft. Tiyint begann bereits mit der Zerstörung. Schwache Elfenstimmen drangen aus dem Tal herauf. Maeveen wollte sich die Ohren zuhalten, aber schließlich war sie Soldatin. Schlachten und Töten gehörten zu ihrem Beruf, aber sie zog es vor, wenn Schwert gegen Schwert, Geschicklichkeit gegen Geschicklichkeit und Kraft, gemischt mit Schnelligkeit und Schläue, gegen Erfahrung 441
antraten. Ein Kampf war in ihren Augen etwas Persönliches. Hier handelte es sich nur um reines, hirnloses Abschlachten. »Mytaru!« rief Pardano, Aesors Sohn, der sich in höchster Eile und außer Atem näherte. Maeveen hatte nicht einmal bemerkt, daß sich der junge Bulle entfernt hatte. Sie tadelte sich für ihre Unaufmerksamkeit. Derartige Kleinigkeiten konnten zum Tod führen. »Was ist? Berichte mir von Tiyints Erfolgen!« »Jawohl!« antwortete Pardano. »Tiyint hat alle Elfen zum Rückzug gezwungen. Sie haben die Waffen weggeworfen und fliehen wie verängstigte Hasen!« »Dann ist der Kampf vorbei«, meinte Yunnie. »Ruf Tiyint zurück. Du hast gewonnen, Mytaru. Du bist der größte Minotaurenheld, seit Tiyint in Fleisch und Blut durch das Tal wanderte.« Maeveen sah, wie sich Mytaru in die Brust warf und herumstolzierte, um die Bewunderung der Urhaalan zu genießen. Er schlug sich auf die Brust und stieß einen triumphierenden Schrei aus, der durch das ganze Tal hallte, von einer Felswand zur nächsten geworfen wurde und allen Minotauren die Neuigkeit mitteilte. Sieg! Ein Sieg für die Urhaalan. »Ich danke dir, Mytaru«, sagte Maeveen. »Du hast dich als gnädig erwiesen.« »Was? Was redest du da, Mensch?« »Daß du Tiyint zurückrufst, und ihn nicht die Elfen töten läßt, nachdem sie sich ergeben haben. Siehst du 442
ihn nicht?« Sie wies in die Richtung, aus der sich das Steinmonstrum näherte. »Ich befahl ihm, alle Elfen zu töten, ganz gleich, wohin sie flohen. Ich will den Tod jedes einzelnen Elfen!« Mytaru war völlig verwirrt. »Weshalb kehrt er zurück?« »Weil alle Elfen tot sind«, erklärte Yunnie traurig. »Vielleicht sogar Quopomma und Vervamon.« »Nein, ich kann Quopommas Signal erkennen. Es geht ihr gut. Auch Vervamon und den vielen Elfen. Sie brachen den Rückzug ab, als Tiyint sich umdrehte und zurückkehrte!« Maeveen hatte die schnellen Lichtsignale gesehen, die ihr die Ogerin mittels eines Spiegels übermittelte. »Warum kehrt er zurück?« fragte Yunnie. Das fanden sie heraus, als Tiyint begann, die Minotauren umzubringen, die ihrem siegreichen Gott zujubelten.
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»Wir sollten einen Felsen auf ihn werfen«, keuchte Pardano, der nach der eiligen Flucht durch das Tal und dem steilen Aufstieg entlang des Pfades, der auf einem Felsplateau endete, das über dem Schlachtfeld lag, außer Atem war. Yunnie und Maeveen O’Donagh waren nicht ganz so erschöpft, sorgten sich aber ebenfalls wegen des wütenden Steingötzen. Die ganze Nacht hindurch waren sie vor ihm geflohen und in der Dunkelheit herumgestolpert. Der Sonnenaufgang war ihnen keine große Hilfe gewesen, denn nun vermochte auch Tiyint besser zu sehen und die Minotauren zu töten. Yunnie stand am Rande des Felsens und sah hinab, wo in sechzig Fuß Tiefe der Steingötze wütete. Ein verwundeter Minotaurus, der nicht rechtzeitig geflohen war, fiel den um sich schlagenden Armen des Wesens zum Opfer. »Er trägt drei aufgespießte Minotauren auf den Hörnern, als sei ihr Gewicht nicht von Bedeutung«, meinte Maeveen, in deren Stimme eine seltsame Mischung aus Bewunderung für diese Kraft und Abscheu davor mitklangen. »Ich glaubte, alles gesehen und erlebt zu haben. Letzteres könnte stimmen – aber das erstere?« Sie 444
schüttelte den Kopf. Yunnie blickte von Tiyint zu der Frau hinüber. Er fand ihren Mut und ihre Kraft bewundernswert. Sogar Essa wäre beim Anblick Tiyints entsetzt geflohen, aber Maeveen war geblieben und hatte sich vergewissert, daß die anderen fliehen konnten, ehe sie sich zurückzog. Maeveen O’Donagh war eine wunderbare Frau. Yunnie wünschte, sie hätten einander unter anderen Umständen kennengelernt. Hätte das Schicksal anders entschieden, wären sie sich jedoch nie begegnet. Er hätte in einem armseligen Fischerdorf gelebt, und sie wäre eine erfahrene Soldatin gewesen. Er verwarf diese Gedanken als Zeitverschwendung. Im Augenblick sah er sich einer tödlichen Bedrohung gegenüber: Es galt, zu kämpfen und höchstwahrscheinlich auch zu sterben, oder fortzulaufen und mit der Erkenntnis zu leben, ein Feigling zu sein. »Tiyint wird erst aufhören, wenn alle tot sind, die ihn verehrten. Mytaru hat den Tod über die Urhaalan gebracht.« »Durch den Steingötzen zu Tode getrampelt zu werden, ist auch nicht schlimmer, als von Kohlengolems verbrannt oder von Sacumon verzaubert zu werden«, bemerkte Maeveen. »Die meisten Begleiter Mytarus konnten entkommen. Ich sah etliche von ihnen hinter den Felsen dort unten Schutz suchen.« Maeveen deutete auf ein paar zerklüftete Steinblöcke, hinter denen sich die Minotauren versteckten. Noch während sie den Arm ausstreckte, wußte sie, daß die Urhaalan ver445
loren waren. Tiyints scharfe Augen hatten sie erspäht. Bei jedem Schritt bebte der Boden unter seinen Füßen. »Aufhören, Tiyint!« rief Pardano und trat vor Angst von einem Fuß auf den anderen, während er von Yunnie zu Aesor hinüber sah. Der junge Bulle warf den Kopf zurück – eine unwillkürliche Nachahmung Tiyints. »Vater, unternimm etwas.« »Es ist Mytarus Schuld«, erklärte Aesor und humpelte herbei. Er blutete aus einer tiefen Wunde, die er sich beim Klettern zugezogen hatte. »Er rief das Monstrum. Vielleicht verschwindet es, wenn wir ihm Mytaru opfern.« »Ihr habt einen unnötigen Krieg gegen die Elfen geführt«, sagte Yunnie verbittert. »Hättest du deinen Kopf nicht bloß als Halterung für Kampfbänder benutzt, hattest auch du bemerkt, daß der wahre Feind unter deinen Füßen wohnt und nicht im Elnwald.« »Du schwafelst immer von Goblins und Golems. Dabei hast du nicht das Recht zu sprechen. Nur Herdenmitgliedern ist das gestattet«, erwiderte Aesor hitzig. »Keiner von euch sollte den Mund aufreißen, wenn eure Freunde und Brüder dort unten ausgerottet werden, als handele es sich um Ungeziefer«, warf Maeveen gereizt ein. Sie schritt am Rand des Plateaus entlang und bemühte sich, die entsetzlichen Todesschreie der Minotauren zu überhören. Sie hatten ihr Versteck schlecht gewählt. Sie mußte es besser machen, sonst würden noch Dutzende sterben, sie selbst inbegriffen. 446
Maeveen trat nach ein paar Steinen und stieß sie in die Tiefe. Sie überlegte fieberhaft, wie man gegen Tiyint vorgehen sollte. »Vielleicht war Pardanos Idee nicht schlecht«, meinte sie schließlich. »Mytaru zu opfern?« Yunnie schüttelte den Kopf. Niemals würde er zulassen, daß sein Blutsbruder auf so unnötige Weise umkam. Dann bemerkte er ihren Blick, der abschätzend über das Plateau glitt und wußte, was sie meinte. »Wir könnten Felsen hinabstürzen, und ihn damit erschlagen!« »Vielleicht reißt ein Arm oder ein Bein ab. Eine Verwundung mag ausreichen, damit die Magie ihn verläßt. Ich habe so etwas schon erlebt. Vervamon hackte einst das Bein eines dreiköpfigen Hundes ab, und – obwohl es sich um eine kleinere Wunde handelte – lief der Zauber aus, der ihm das Leben schenkte. Schon nach wenigen Minuten war er tot.« »Und das gelingt auch jetzt?« Pardano rückte näher. Sein Vater drängte sich zwischen den Sohn und Maeveen. »Wir müssen uns ans andere Ende des Tals zurückziehen und die Überlebenden retten. Sie sollen erfahren, was geschehen ist.« »Rette deine Familie, wenn du es unbedingt willst. Ich kann dich nicht verstehen«, sagte Yunnie verächtlich. »Du hältst mich für einen Feigling!« brüllte Aesor. »Bekämpft den Götzen und nicht einander!« rief 447
Maeveen mit scharfer, befehlsgewohnter Stimme. Sie versuchte, einen kleinen Stein unter einen großen Felsbrocken zu schieben. Aesor eilte ihr schweigend zur Hilfe. Gemeinsam mit Pardano rollten sie den Felsbrocken zum Rand des Plateaus. Yunnie fand einen dicken Ast und gesellte sich zu ihnen. Die Schreie der sterbenden Minotauren verstummten, bis nur noch ein leises Wimmern erklang, das jedoch auch bald aufhörte. Er zwang sich, nicht loszuweinen. Er mußte Maeveen ähnlicher werden, militärisch gefaßt und kampfbereit. Yunnie wagte nicht daran zu denken, wie viele Leben auf dem Spiel standen, wenn sie versagten. »Vielleicht ist dies die einzige günstige Gelegenheit«, sagte er zu den anderen, während er den Ast zwischen den Stein und den Felsen schob. »Lenkt den Felsbrokken, wenn ich den Hebel ansetze.« »Wartet! Noch nicht!« rief Maeveen. Sie ließ sich auf den Bauch fallen und starrte in die Tiefe. »Tiyint bewegt sich erst jetzt in unsere Richtung. Er muß genau unter uns stehen, ehe wir ihn zurück in die Hölle schicken, aus der er kam.« »Er ist unser größter Held«, empörte sich Aesor. »Wie kannst du es wagen ...« »Er will uns töten«, erinnerte Yunnie den zornigen Bullen. »Der Zauber, der die Herde hätte retten sollen, vernichtet sie.« Grunzend spannte er die Schultermuskeln an und stemmte sich auf den Ast. Je mehr Druck er ausübte, um so heftiger bewegte sich der Felsbrok448
ken. Die Minotauren halfen ihm. Yunnie warf einen Blick zu Maeveen hinüber. Sie hob den Arm und senkte ihn eiligst. »Jetzt!« schrie Yunnie und drückte mit aller Kraft auf den Ast. Beinähe wäre er ihm aus der Hand gerutscht, als der Felsbrocken in die Höhe sprang und dann in die Tiefe fiel. »Gut gezielt!« rief Maeveen. Als Yunnie neben sie trat, erhob sie sich und legte ihm den Arm um die Hüfte. Er bemerkte es gar nicht. Wortlos und gebannt sah er zu, wie der schwere Felsen, der jeden anderen Minotaurus auf der Stelle getötet hätte, auf Tiyints Hörner fiel. Der Steingötze stolperte und fiel hin. Yunnie wollte jubeln, aber der Schrei blieb ihm in der Kehle stecken. Tiyint war nur aus dem Gleichgewicht geraten und bewegte sich noch immer. Er umschlang den Felsen, der ihn umgeworfen hatte, mit beiden Armen und drückte dagegen. »Geschafft«, flüsterte Maeveen atemlos. »Er ist nicht tot, wie ich gehofft hatte, aber wenigstens liegt er am Boden. Das ist auch nicht schlecht. Holt Hammer und Meißel und schlagt Stücke von seinen Armen und Beinen ab, bis nichts mehr übrig ist. Du kannst ...« Sie schwieg, als offensichtlich wurde, daß sie Tiyint nicht besiegt hatten. Suchend blickte sich Yunnie nach einem zweiten Felsbrocken um. Leider entdeckte er keinen, der mehr erreicht hätte, als den Götzen ein wenig zu verärgern. Tiyint, der noch immer auf dem Rük449
ken lag, hielt den Stein fest umschlungen und drückte ihn mit aller Kraft an sich. Als Yunnie das Knirschen und Krachen vernahm, schloß er die Augen. Der Fels zersprang, als sei er aus dünnem Glas oder Eis. Eine Staubwolke erhob sich, und als der kühle Morgenwind sie vertrieben hatte, war von dem Felsen nichts mehr übrig. Tiyint brüllte verärgert und rappelte sich wieder auf. »Es hat nichts genützt«, sagte Maeveen verzweifelt. »Ich hatte so gehofft, daß wenigstens ein Arm oder ein Bein abbrechen würde.« »Es gibt noch Gerechtigkeit«, warf Aesor ein. »Seht ihr’s? Tiyint hat den gefunden, der an seiner Erwekkung Schuld ist.« »Nein! Mytaru, er ist hinter dir her! Achtung, Mytaru!« schrie Yunnie, aber sein Blutsbruder beachtete ihn gar nicht. Der Minotaurus folgte dem Pfad, der durch das Tal führte, und hatte nur Augen für Tiyint. »Was hat er vor?« wollte Maeveen wissen. »Er will Tiyint aufhalten. Das schafft er nie«, sagte Yunnie. Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, so lief er auch schon den Pfad hinunter, den sie vorhin mühselig erklommen hatten. Er rutschte aus und geriet immer wieder ins Stolpern, erreichte den Talboden jedoch in einem Viertel der Zeit, die er für den Aufstieg benötigt hatte. Zu seiner Überraschung stellte er fest, daß ihm Maeveen auf dem Fuße folgte. »Rette dich. Das hat schließlich nichts mit dir zu 450
tun«, sagte er barsch. Sie lachte nur. »Natürlich hat es das. Vervamon und Quopomma sind irgendwo da draußen. Und du bist der Schlüssel für Angelegenheiten, die weit darüber hinausgehen, Tiyint aufzuhalten.« »Was meinst du damit?« »Später. Ich lenke den Steinkopf ab, und du bringst deinen Freund in Sicherheit. Tiyint wird es irgendwann zu langweilig, und dann sucht er sich eine leichtere Beute.« »Nein«, widersprach Yunnie und hielt ihren Arm fest. Er wußte, daß sie stark war. Dennoch überraschten ihn die kräftigen Muskeln, die er unter seinen Fingern spürte. Maeveen bewegte sich derart behende, daß man in ihr keine so muskulöse Person vermutete. »Mach schon! Wirst du Mytaru jetzt wegbringen, während ich Tiyint erschrecke?« Maeveen grinste verschmitzt. »Ich bin zwar aus Shingol, aber selbst dort sind sie nicht so dumm, auf den alten Trick hereinzufallen. Du gehst zu Mytaru und sagst ihm, er solle zu Noadia eilen, die seiner bedürfe. Nur ich habe die Macht, Tiyint aufzuhalten.« Er tippte auf die Lebende Rüstung. Nach dem Brand hatte sie sich ganz ruhig verhalten. Inzwischen glänzte sie, als habe man sie eingeölt. »Sie kann dich vielleicht gegen Pfeile und Steine schützen, aber gegen den da?« Maeveen schüttelte den Kopf. »Er wird dich zu Brei schlagen und es nicht einmal bemerken.« 451
»O doch, er wird es bemerken«, antwortete Yunnie mit einer Bestimmtheit, die nur vorgetäuscht war. Erst allmählich verspürte er eine Kraft, die stetig wuchs und ihn langsam mit Selbstsicherheit erfüllte. Er mußte sofort handeln, wenn er Mytaru, Maeveen und die anderen retten wollte. Sogar Aesor und sein Sohn sollten am Leben bleiben, und sei es nur, damit sie herausfanden, daß er von Anfang an die Wahrheit über den eigentlichen Feind gesagt hatte. Das Wissen, daß seine Ehre dann wiederhergestellt war und Aesor und seine Gefährten für den Rest ihres Daseins mit ihrer Schuld leben mußten, nährte ein Gefühl in seinem Inneren, das er nicht näher untersuchen wollte. »Ganz, wie du meinst«, sagte Maeveen und rückte von der aufleuchtenden Rüstung ab. Sie rannte, so schnell sie konnte, auf Mytaru zu, um ihn von weiteren Torheiten abzuhalten. Yunnie bemühte sich, seine Gedanken für den bevorstehenden Kampf zu sammeln, aber ihm blieb nur wenig Zeit. Der Götze bemerkte eine Bewegung: Maeveen O’Donagh. Ein dumpfes Brüllen entrang sich seiner Kehle, und er wandte sich der Frau zu. Yunnie blieb weder Zeit, um über eine geeignete Taktik nachzudenken, noch seine Totenklage zu singen. Instinktiv warf er sich zwischen Maeveen und das Monstrum. Im gleichen Augenblick reagierte die Rüstung und riß ihn mit einem Ruck zur Seite. Er kämpfte darum, seinen Platz behaupten zu können. »Bringt euch in Sicherheit!« rief er Maeveen zu. 452
Mytaru kämpfte gegen die Frau an und versuchte gleichzeitig zu zaubern. Sie redete eifrig auf ihn ein, aber jetzt ergab sich eine weitere Schwierigkeit. Pardano war gestürzt, und Aesor mühte sich ab, seinen Sohn auf die Beine zu zerren. Der junge Bulle hinkte so stark, daß weder er noch sein Vater, der ihn stützte, sich rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten. »Was ist mit deinem Zauber?« rief Yunnie in der Hoffnung, Mytaru habe einen neuen Spruch entdeckt, der ihnen helfen konnte. Nichts geschah. Mytaru wirkte verwirrt und unsicher. Maeveen zog ihn auf eine Höhle zu, in der sie Schutz suchen konnten. Aesor und Pardano folgten ihnen, aber Tiyint kam unaufhaltsam näher. Yunnie stellte sich dem Götzen entgegen, schwankte jedoch hin und her. Er mußte um sein Gleichgewicht kämpfen, denn die Rüstung versuchte mit aller Kraft, ihn aus dem Weg des Monstrums zu schaffen. »Nein, Nein!« Er bemühte sich, dem Druck standzuhalten. Die Rüstung hatte ihn gut geschützt, seit sie nicht länger von Sacumon beherrscht wurde, war aber auch darauf bedacht, sich selbst vor Schaden zu bewahren. Wenn er jetzt floh, würde Tiyint Mytaru, Maeveen und die anderen umbringen. Yunnie mochte Aesor nicht, wünschte ihm aber nichts Böses. Der Minotaurus hatte nur getan, was er zum Wohle der Herde für richtig hielt. Haut löste sich ab, als er die Rüstung vom Leibe zer453
ren wollte. Der Druck des magischen Artefaktes verstärkte sich. Yunnies Füße setzten sich in Bewegung, ohne daß er es wollte. »Das darf nicht sein. Sie werden sterben, und ich bin dafür verantwortlich.« Wenn er zuließ, daß die Rüstung ihn fortbrachte, war alles zu spät. Vielleicht konnten Mytaru und Maeveen dem Götzen entkommen, aber Aesor und Pardano würden umkommen. Gleiches galt für ein halbes Dutzend anderer Minotauren, die noch in ihren Verstecken ausharrten. Er mußte Tiyint aufhalten, koste es, was es wolle. Unter Schmerzensschreien riß er sich den Brustpanzer vom Leib, an dem etliche Hautfetzen haften blieben. Yunnie schleuderte ihn in hohem Bogen weg. Die Rüstung fiel in eine kleine Schlucht, wo sie im Wasser eines eilig dahinfließenden Baches landete und von den Wellen mitgerissen wurde. Taumelnd und stolpernd stellte er sich mitten auf den Weg, der zur Höhle führte, in die sich die Gefährten zurückgezogen hatten. Yunnie hielt das Schwert mit beiden Händen umklammert, auch wenn er keine Ahnung hatte, wie er Tiyint aufhalten sollte. Die schweren Schritte des riesigen Steingötzen ließen den Erdboden erzittern. Yunnie bereitete sich auf den Tod vor. Er starb für die Herde. Für seine Treue zu den Urhaalan.
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Die Patrouillen der Elfen zwangen Isak, einen tagelangen Umweg in Kauf zu nehmen. Er war gerade noch rechtzeitig auf dem Schlachtfeld eingetroffen, um mitzuerleben, wie Tiyint beide Seiten niedermetzelte. Isak kletterte auf einen hohen Baum, beobachtete die grauenvollen Vorgänge, schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge. »Was für ein Blutvergießen«, sagte er leise. Seine Finger bewegten sich fortwährend hin und her, da er immer wieder die Körperform veränderte, um von unten nicht entdeckt zu werden. Die wenigen kleinen Elfengruppen, die sich auf der Flucht befanden, sahen ihn nicht, denn er verschmolz mit dem Baumstamm und war nicht mehr als ein etwas dickerer Teil der Baumrinde. Isak reckte den Kopf und spähte angestrengt über das Schlachtfeld hinweg. In der Ferne entdeckte er ganze Leichenhaufen und den riesigen Steingötzen, der zum Leben erwacht war. »Viel zu wenig Beherrschung für derartige Magie«, murmelte er tadelnd und fragte sich, welcher Minotaurus es wagen mochte, sich an solchen Zaubern zu versuchen. Zuerst wollte er den betreffenden ausfindig 455
machen, um festzustellen, ob er irgendwelche anderen Sprüche beherrschte, die sich als nützlich erweisen konnten, entschied sich dann aber dagegen, als er Tiyints Gebrüll vernahm und erlebte, wie der Götze jene angriff, für die er vor Sekunden noch gekämpft hatte. Den Rest des Tages und die Nacht über verhielt sich Isak still, obwohl er von Minute zu Minute unruhiger wurde. Er war ein Mann der Tat und hatte wenig Geduld, sah aber ein, daß es klüger war, die Elfen ihre Verwundeten forttragen zu lassen, während Tiyint in der Ferne wütete. Selbst der beste Magier konnte von den steinernen Hufen und den scharfen Hörnern aufgespießt werden. Trotzdem wollte er Sacumon so schnell wie möglich finden. Isak hatte das Gefühl, etwas verpaßt zu haben, und das war für ihn, der er stolz darauf war, immer bestens unterrichtet zu sein, äußerst unangenehm. Kurz vor Morgengrauen, nachdem Tiyint das Schlachtfeld verließ, glitt Isak von dem Ast herunter, klopfte sich den Staub aus den Kleidern und fragte sich, ob er sich jemals wieder sauber fühlen würde. Seine Gewänder waren mit Harz bedeckt, und er brauchte dringend ein Bad. Diese Unannehmlichkeiten erforderten eine schnellstmögliche Rückkehr nach Iwset – trotz Ihesias Anwesenheit. Isak dachte an seinen Aufbruch und daran, wie ihm die Generalin eine gute Reise gewünscht hatte. Er schüttelte den Kopf. Wenn er zurückkehrte, ohne etwas gegen sie in der Hand zu haben, würde das seinen Tod 456
bedeuten. Abt Offero, Digody, Ihesia und sogar Lord Peemel hatten keine Verwendung mehr für ihn, wenn Sacumon beseitigt war und nicht länger nach einer Macht strebte, die sie alle gern an sich reißen wollten. »Wenn ich zurückgehe, brauche ich mehr als nur Sacumons Kopf«, murmelte er vor sich hin und wich einer blutigen Pfütze aus. »Aber warum soll ich überhaupt zurückgehen? Ich bin in Iwset nicht mehr willkommen. Selbst wenn Lady Edara den Krieg gewinnt und alle elenden Adligen Iwsets köpfen läßt, was habe ich davon?« Er folgte der Richtung, die ihm der geheimnisvolle Stein durch wiederholtes Aufleuchten wies und überlegte, wie er Gewinn aus der derzeitigen Lage schlagen konnte. Ein Bündnis mit Sacumon vielleicht? Möglich, aber unwahrscheinlich. Das wußte er. Sacumon sah sich als Erobererin und hatte keine Verwendung für Vermittler. Angesichts des Blutbades hier benötigte sie auch keine Hilfe von Isak. Sie hatte dieses Gemetzel angestiftet. Isak gelobte sich, die Magierin zu finden und zu beobachten, ehe er eine Entscheidung traf. Vielleicht konnte er doch noch etwas erreichen, wenn er nur aufmerksam genug war. Isak folgte dem Pfad, den Yunnie, Vervamon, Maeveen und Coernn bereits gegangen waren, und der zum Eingang der Nirosohöhle führte. Aus allen Richtungen verspürte er unsichtbare Warnsignale und verlangsamte seine Schritte. Zuerst erwog er, seine Gestalt zu verändern, entschied dann aber, daß kein Grund 457
dafür vorlag. Er war mit seiner jetzigen Gestalt zufrieden, und seine Kleidung paßte vorzüglich. Warum sollte er sich in eine modische Katastrophe verwandeln, wenn er bloß nach einer elenden Magierin suchte, die es vorzog, sich wie ein Maulwurf unter der Erde zu verstecken? Lautlos schlüpfte er in den finsteren Gang und fühlte sofort, daß etwas nicht stimmte. Es dauerte nicht lange, bis er Sacumons Überreste entdeckte. Mit gerunzelter Stirn starrte er auf den kläglichen Haufen zu seinen Füßen. Er hielt den Stein darüber und sah, daß einige Teile des verschrumpelten Körpers leuchtend blau erstrahlten. Zweifellos hatte er Sacumon gefunden. Oder das, was noch von ihr übrig war. »Wie sollst du mir jetzt noch nützlich sein, liebste Sacumon?« Isak warf den Stein fort, der seine Pflicht getan hatte. Er kratzte sich am Kinn und sah sich suchend um, ob er nicht auf etwas Brauchbares stieße. Der Anblick eines durch die Höhle schlurfenden Kohlengolems vertrieb jegliche Gedanken an eine Durchsuchung des unterirdischen Reiches. Wie auch immer Sacumons Erbe aussehen mochte – die Suche danach würde tödlich enden. Als sein Blick auf die glänzenden Wände fiel, an denen langsam die Umrisse vereinzelter Niroso sichtbar wurden, machte er sich eilends auf den Rückweg. »So«, seufzte Isak, als er endlich wieder unter freiem Himmel stand, »mein Auftrag wurde von einem anderen ausgeführt. Ich muß Sacumon nicht töten. Es wur458
de bereits erledigt.« Er schauderte beim Gedanken an die Überreste der Magierin, die in der Höhle herumlagen. Was ihr zugestoßen war, konnte auch ihm passieren. »Wo bleibt mein Gewinn? Mit leeren Händen nach Iwset zurückzukehren, wäre dumm. Also ...« Mit gerunzelter Stirn schritt er nachdenklich davon. Das Steinvolk und die Kohlengolems hatten ihm nichts zu bieten. Aber vielleicht Tiyint. Der zornige SteinMinotaurus war gleichzeitig eine Herausforderung und eine gute Gelegenheit. Isak beschleunigte seine Schritte und hatte keine Schwierigkeiten, Tiyints Spuren zu folgen.
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Yunnie schloß die Augen, holte tief Luft und erwartete den Tod. Mit ein wenig Glück und ein bißchen Geschicklichkeit konnte er Tiyint lange genug aufhalten, bis die anderen sich tief genug in die Höhle zurückgezogen hatten. Er hob das Schwert über die rechte Schulter und bereitete sich darauf vor, kraftvoll zuzuschlagen. Natürlich würde seine Waffe gegen ein Steinmonstrum, das von ihm unbekannter Magie angetrieben wurde, nichts ausrichten können. Aber noch hegte er eine winzige Hoffnung auf Erfolg. Tiyints langsame, schweren Schritte ließen den Boden erzittern. Yunnie blickte zu dem riesigen Minotaurus auf. Er hatte den widerwärtigen Hornschmuck verloren, aber das getrocknete Blut glänzte im Sonnenlicht. Schon bald würde auch er dort oben baumeln, wenn ihn Tiyint nicht einfach zwischen Daumen und Zeigefinger zerquetschte. Sein Herz fühlte sich an, als würde es ihm in der Brust zerspringen. Dennoch überkam ihn plötzlich eine seltsame Ruhe. Wenigstens fühlte es sich gut an, endlich ohne die Lebende Rüstung und die elenden Zwänge zu sein, die sie ihm auferlegt hatte. Trotz seiner Konzentration zuckte er zusammen, als 460
hinter ihm Mytarus Stimme erklang. »Ich kann Tiyint aufhalten. Ich habe ihn erweckt, ich halte ihn auf.« »Sind die anderen in Sicherheit?« Mytaru nickte. Seine braunen Augen waren blutunterlaufen, und die Nasenflügel blähten sich, als er neben Yunnie Aufstellung nahm. Tiyint brüllte beim Anblick der beiden Sterblichen auf, die es wagten, ihm den Weg zu versperren. Riesige Steinhände schoben Felsbrocken beiseite, und die so entstandene Staubwolke versperrte Yunnie und Mytaru für einen Augenblick die Sicht. »Das wird unseren größten Helden nicht aufhalten«, bemerkte Mytaru und deutete auf das Schwert. »Aber vielleicht dies.« Er schloß die Augen und stimmte mit leiser Stimme ein beschwörendes Lied an. Allmählich wurde die Melodie schneller und eindringlicher. Mytarus Hände zeichneten große Bögen und gelblich leuchtende Runen in die Luft. Die magischen Zeichen glühten kurz auf und verschwanden wieder. Die Staubwolke verzog sich, und Tiyint tauchte auf furchterregender und majestätischer als zuvor. Yunnie trat vor, wurde aber durch ein urplötzliches Erdbeben zu Boden geschleudert. Ein Teil der Felsplatte brach ab – ob durch Tiyints Toben oder aus anderem Grund, vermochte Yunnie nicht zu sagen. Die unvermittelt herabfallenden Felsbrocken rissen den Steingötzen mit sich, der stolpernd und um sich schlagend in die Schlucht fiel, in der auch die Lebende Rüstung ge461
landet war. Yunnie wandte sich zu Mytaru um, der auf die Knie gesunken war. Der Minotaurus ließ den Kopf hängen und zitterte wie ein Blatt im Sturmwind. »Was ist los, Mytaru? Du hast ihn beseitigt.« »Ich habe gar nichts getan. Ich wob einen Zauber, der ihn aufhalten sollte, aber er wirkte nicht. Überhaupt nicht.« Mytaru sah verzweifelt aus. »Ich kann bloß eines tun. Ich glaubte, die Magie zu kennen, um Tiyint zu beherrschen. Aber wer kann schon einen Gott beherrschen, einen Urhaalanhelden, eine Naturgewalt?« Yunnie wollte etwas sagen, aber noch einmal rollte ein Erdbeben über sie hinweg und warf ihn zu Boden. Mit Mühe gelang es ihm, auf alle Viere zu kommen. Sein Kopf dröhnte. Jetzt waren sie von den Flüchtigen in der Höhle abgeschnitten. Ein Riß im Boden trennte sie. Er war nicht sehr tief, aber Yunnie hätte nie gewagt hinüberzuspringen. Dahinter erhob sich eine zerklüftete Felswand, hinter der die Überlebenden warteten – wenn es noch welche gab. »Maeveen!« rief er. »Hörst du mich?« Keine Antwort. Yunnie richtete seine Aufmerksamkeit auf Mytaru. Der Minotaurus lag auf dem Boden und blutete aus einem Dutzend kleinerer Wunden, die er sich durch herumfliegende Steine zugezogen hatte. Yunnie half seinem Blutsbruder, sich hinzusetzen. Mytarus Lider flatterten, und er sah Yunnie benommen an. »Tut mir leid«, sagte er. »Ich habe dir Unrecht getan. 462
Du bist ein ehrenwertes Mitglied der Herde. Ich bin es, der ausgestoßen werden muß!« »Ich kann Tiyint immer noch hören«, erwiderte Yunnie. »Wir müssen einen sicheren Ort finden, bis du wieder reisefähig bist.« Mytaru schüttelte den Kopf. Eine Hornspitze war abgebrochen; Blut lief über sein Gesicht und verwandelte es in eine rote Maske der Verzweiflung. »Ich weiß nicht, was aus Aesor und den anderen geworden ist. Die Frau, die bei Vervamon war, Maeveen, antwortet nicht. Es wird nicht leicht sein, auf die andere Seite dieses Abgrundes zu gelangen.« »Wirst du es schaffen?« »Wenn ich Zeit genug habe. Sie kann gut auf sich aufpassen, und wir wissen, daß Aesor ein hervorragender Krieger ist. Was ist mit dir?« Yunnie untersuchte den Freund und fand nur oberflächliche Verletzungen. Durch das heruntergelaufene Blut sah die Sache schlimmer aus, als sie in Wirklichkeit war. »Versuch es. Sie brauchen dich.« »Du auch. Wir müssen verschwinden, ehe Tiyint zurückkehrt.« Yunnie legte den Arm um den Bullen und half ihm auf die Beine. »Hör nur!« sagte Mytaru. »Hörst du den Helden? Er folgt dem Fluß ins Weideland. Für den Augenblick sind wir in Sicherheit.« »Er geht aber nicht fort.« »Hilf deiner Freundin – und deinen Herdenbrü463
dern«, drängte Mytaru, der auf zitternden Beinen stand. Allmählich ging es ihm besser. Yunnie nickte aufmunternd. »Ruh dich aus. Wir werden gemeinsam gegen das Monstrum angehen, wenn ich zurück bin. Es muß einen Weg geben, Tiyint zu besiegen.« Mytaru nickte und scheuchte Yunnie mit abwehrenden Gesten auf den Abgrund zu, um herauszufinden, was mit den anderen geschehen war. Yunnie mußte an der Felswand entlangklettern, die seitlich der Erdspalte verlief, und als er auf der anderen Seite ankam, ließ er sich fünfzehn Fuß tief fallen. Dann erklomm er einen steinigen Abhang und fand sich schließlich auf festem Boden wieder. Sein Herz sank, als er sah, daß das Dach der Höhle durch das Erdbeben eingestürzt war. Entsetzt starrte auf etliche Tonnen Gestein, die vor dem Eingang lagen. Jeder der Eingeschlossenen war mit Sicherheit erstickt, und er wußte nicht, wie er sich zu ihnen vorarbeiten sollte. Yunnie sank auf einen Felsbrocken nieder und starrte vor sich hin, bis die Sonne hoch am Himmel stand. Schließlich schüttelte er seine Benommenheit ab, erhob sich und machte sich auf den Rückweg, um Mytaru Bericht zu erstatten. Nachdem er den Abgrund erneut überquert hatte, erwartete ihn eine weitere Enttäuschung. Mytaru war verschwunden.
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Tiyints ohrenbetäubendes Gebrüll und das unangenehme Gefühl von falsch angewandter Magie führten Isak Glen’dard durch die Hügel zu einer flachen Schlucht. Er stolperte zwischen Steinen in allen Größen – von Kieselsteinen bis hin zu Brocken, die es mit einem jehesicschen Kriegsschiff aufnehmen konnten – umher. Erst als er ein winziges Plateau oberhalb des Flusses erreichte, setzte er sich nieder und sah sich um. »Welche Kraft«, murmelte Isak und starrte auf Tiyints steinerne Hörner, die wütend auf- und abfuhren; auf der Suche nach neuen Opfern. Der Steingötze stöberte nur ein paar verwundete Minotauren auf, die er mit Leichtigkeit beseitigte. »Wie kann ich das zu meinen Gunsten nutzen?« Isak wußte, daß er nicht imstande war, diese Kraft zu beherrschen. Ein Minotaurus hatte das Wesen dummerweise beschworen, und jetzt war es außer Rand und Band geraten. Obwohl es sich gelohnt hatte, die Elfen, die in das Tal eindrangen zu vertreiben, stellte Tiyints fortwährendes Wüten eine Straße ohne Rückkehr in den Tod dar. Die Vernichtung war gründlicher, als sie die Elfen je hätten ausführen können. 465
»Aha, ein neuer Mitspieler«, stellte Isak fest. Ein verletzter Minotaurus mit einem abgebrochenen Horn stolperte durch den Fluß und ging auf den Götzen zu. »Wie dumm, oder etwa nicht?« Isak verließ den eigentlich recht sicheren Ort und rutschte den Abhang hinunter, wobei er viel Staub aufwirbelte und unzählige kleine Steine in die Tiefe sandte. Er strampelte mit den Beinen, fluchte über die Schäden, die seine kostbare Kleidung erlitt und landete schließlich seufzend auf dem Boden der Schlucht, ohne sich die Knochen gebrochen zu haben. Er klopfte sich den Schmutz von den Kleidern und hielt nach einem sicheren Platz Ausschau, um den Kampf aus nächster Nähe beobachten zu können. Isak spürte, wie frische Magie gleich einer Kriegslanze durch die Luft sauste. Schnell hockte er sich hin und ließ die beiden Gegner nicht aus den Augen. Zuerst fragte er sich, ob er dem närrischen Minotaurus zur Hilfe eilen sollte, aber dann hielt ihn sein Selbsterhaltungstrieb davon ab. Diesen Kampf würde der sterbliche Minotaurus sicher nicht gewinnen. Tiyint erhob sich vierzig Fuß hoch in die Luft; seine Hörner und Hände waren blutbesudelt. Der kleinere Minotaurus sah auch nicht angenehmer aus, aber Isak hielt nie zu dem Schwächeren. Dennoch spürte er die wachsende Kraft, die das Tal durchdrang. Vielleicht war der Ausgang des Duells doch nicht so klar, wie es den Anschein hatte. »Tiyint!« rief Mytaru. »Ich habe dich zum Leben er466
weckt. Auf meinen Befehl hin wirst du wieder zu Stein werden!« Tiyint brüllte. Ob aus Freude über das Erscheinen eines neuen Opfers oder als Spott über diese armselige Herausforderung, konnte Isak nicht sagen. Er blinzelte in die Sonne und sah, wie der Minotaurus in die Wellen des Flusses griff und eine tropfende Lederrüstung herauszog. Isak unterdrückte ein Grinsen, da der Sterbliche zu glauben schien, der Brustpanzer könne ihn gegen die steinerne Faust oder die Hörner des Gegners schützen. Mytaru legte die Rüstung an, und Isak richtete sich angespannt auf. Er betrachtete den Brustpanzer prüfend, da er die Macht gewahrte, die davon ausging. »Beachtlich starke Magie«, entschied er. Würde sie ausreichen? Isak bemerkte, daß der Steingötze plötzlich zögerte. Ein Frösteln überlief Mytaru, als er die Rüstung anlegte und die Magie jeden Teil seines Körpers durchdrang. Er warf den Kopf zurück und stimmte ein markerschütterndes Klagelied an. Worte mischten sich in die unheimlichen Laute – die Poesie einer minotaurischen Totenklage. Als müsse er verlorene Zeit wettmachen, stürmte Tiyint mit aller Kraft auf ihn zu, einen wortlosen Schrei ausstoßend. Kräftige Finger umschlossen Mytarus Körper, der sich nicht zur Wehr setzte. Zur Verteidigung sprach er nur einen Zauberspruch. Seine Stimme versagte, als Tiyint fester zupackte. Blaues Licht quoll zwischen den Fingern des Götzen hervor, als handele es sich um Si467
rup. Der Druck ließ nach, aber Tiyint öffnete keineswegs die Finger. Isak keuchte vor Staunen, weil der Minotaurus nicht zerquetscht worden war. Wenn überhaupt, dann erschien er ihm regelrecht verjüngt. Die magische Kraft der Rüstung hielt die tödliche Umklammerung fern. Auf den Fingern des Götzen erschienen kleine schwarze Male, weil er so fest zupackte. Mytaru wiederholte den Zauber fortwährend. Isak wich taumelnd zurück, als ihm glühendheiße Wellen entgegenschlugen. Als er sich wieder beruhigt hatte, bemerkte er eine deutliche Veränderung der Lage. Zuerst hatte Tiyint mühelos von Mytaru Besitz ergriffen und ihn gepackt. Jetzt kämpfte der Götze darum, den Minotaurus samt der Rüstung loszuwerden. Mytaru, der an der steinernen Handfläche klebte, konnte nun zum Angriff übergehen. Er wob neue Sprüche, die er in seine Totenklage hineinschob. »Du opferst dein Leben, um Tiyint wieder zu einem Stein zu machen«, murmelte Isak. Er staunte über ein derartiges Handeln. Natürlich hatte er auch schon Opfer bringen müssen, aber nur, wenn es unumgänglich und lohnenswert war. Wenn die Belohnung nicht größer war als das Opfer, dachte er nicht daran, es auf sich zu nehmen. Aber das hier! Mytaru starb Stück für Stück, damit sich der unberechenbare Götze seines Volkes wieder in einen Felsen verwandelte. 468
Die Lebende Rüstung verlieh ihm Kraft, bis Tiyint ins Taumeln geriet und beinahe auf Isak getreten wäre. Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete er, wie das Monstrum gegen die Felswand fiel. Für einen schrecklichen Augenblick sah es so aus, als wehre sich der Götze erfolgreich. Dann wurde seine steinerne Haut von Rissen durchzogen. Tiyint lehnte sich schwer gegen den Felsen, und endlich schien er zu erstarren. Wie ein Fluß, der zu Eis gefriert, wurde er immer unbeweglicher und stand schließlich völlig still. In der starr ausgestreckten Hand hielt er Mytaru. Isak wagte sich aus seinem Versteck hervor und näherte sich vorsichtig. Gespannt blickte er nach oben – auf den wieder zu Stein gewordenen Götzen. Der Bulle hing leblos und mit gebrochenem Rücken in seiner Faust. Er wirkte wie ausgetrocknet, als habe er seit Jahrzehnten in der Sonne gelegen. »Ein ehrenvoller Kampf«, stellte Isak fest und legte die Hand an die Hutkrempe – eine Ehrenbezeugung für Mytaru. Er konnte den Bullen zwar nicht verstehen, bewunderte aber seine Tapferkeit und sein magisches Geschick. Es war eine große Tat gewesen, Tiyint zu erwecken, aber bedeutend schwieriger schien es noch, ihn wieder zu Stein zu verwandeln. Es hatte Mytaru und unzählige Unschuldige das Leben gekostet. Isak machte kehrt. Er wollte die Schlucht verlassen, überlegte es sich dann aber anders. Ein triumphierendes Lächeln glitt über seine Lippen, und er sah zu Mytaru hinauf. Die Lederrüstung war zwischen Tiyints 469
Fingern zu sehen. Er brauchte fast eine Stunde, bis er die Statue erklommen hatte und den steinernen Arm entlangbalancierte. Eine weitere Stunde dauerte es, um die Rüstung vom Leichnam Mytarus zu lösen, aber sie war die Anstrengung wert. Wieder auf dem Boden, legte Isak die schmutzige und zerrissene Tunika ab und schnallte sich den Brustpanzer auf die Haut. Seufzend genoß er den Kraftstoß, der seinen Körper durchfuhr und ihm ein Gefühl der Macht vermittelte, wie er es nie zuvor gekannt hatte. Isak Glen’dard zog die Tunika über die Rüstung, um sie vor neugierigen Blicken zu verbergen. Dann schritt er in östlicher Richtung davon und pfiff ein fröhliches Lied, das sich sehr von Mytarus trauriger Melodie unterschied.
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»In die Höhle!« schrie Maeveen O’Donagh. Sie trieb Aesor und seinen Sohn vor sich her. Quopomma folgte ihnen auf dem Fuße. Wenn die beiden umdrehten und am Hauptmann vorbeidrängten, wollte sie dafür sorgen, daß sie nicht wieder in Tiyints steinerne Arme liefen. »Das ist keine gute Idee, Hauptmann«, meinte die Ogerin und sah mißtrauisch zur Decke empor. »Was geschieht, wenn Steinhirn beschließt, da draußen gegen die Felsen zu schlagen? Die ganze Höhle könnte über uns zusammenkrachen.« »Wir haben keine andere Wahl«, erwiderte Maeveen. Sie dachte fieberhaft nach. Die Offizierin hatte recht. Allerdings war es auch völlig unmöglich, vor Tiyint davonzurennen, wenn er sie erst einmal erspäht hatte. Zwischen dieser Schlucht und den sanft ansteigenden Weidegebieten lag nichts als felsiges Gelände, auf dem man nicht gerade schnell vorankommen konnte. Die langen Beine des Götzen würden sie mühelos einholen. Außerdem war keiner von ihnen in bester Verfassung. Aesor und Pardano hinkten, und sie wußte nicht, wie lange es dauern mochte, ehe sie wieder richtig ge471
hen konnten. Auf jeden Fall zu lange, um rechtzeitig zu fliehen. »Wir müssen auch an Vervamon denken«, sagte Quopomma. »Wo steckt er denn bloß?« »Er kann auf sich selbst aufpassen«, antwortete Maeveen und zerrte die Ogerin in die Höhle hinein. Sie sah, daß sich Mytaru neben Yunnie aufgebaut hatte. Maeveen holte tief Luft und wußte plötzlich, was sie zu tun hatte. »Wartet, Hauptmann! Wo wollt Ihr hin? Ihr könnt mich doch nicht mit zwei Rindviechern in dieser Höhle zurücklassen!« »Ich muß aber ...«, Maeveen verstummte, denn ein heftiges Erdbeben schleuderte sie zu Boden. Sie wurde von einer Ecke in die andere geworfen, ehe sie wieder auf die Beine kam. Sie hielt sich an Quopomma fest, und gemeinsam stolperten sie tiefer in die Höhle hinein. Wieder erscholl ein dumpfes Grollen aus den Tiefen der Erde, das ihr kalte Schauer über den Rücken jagte. »Raus hier!« Ihre Worte wurden von dem schauderhaften Knirschen der Felsen übertönt, die sich gegeneinander rieben, als das Dach einstürzte. Maeveen riß die Arme hoch, um den Kopf zu schützen, drehte sich um und taumelte rückwärts. Sie stieß gegen Pardano und merkte, daß sie sich im Kreis bewegt hatte. Der junge Bulle lag reglos am Boden, und sein Kopf schien eigentümlich verdreht. Er war auf der Stelle tot gewesen, als ihn herabstürzende Felsbrocken trafen. 472
»Weiter, weiter, weiter!« drängte Quopomma. Die Ogerin schob sie vor sich her, als sei sie nichts als ein Blatt, das von den Wellen des Stroms weitergetragen wurde. Maeveen ließ sie gewähren. Noch immer bebte der Boden unter ihren Füßen – und sie wußte, daß einem Erdbeben häufig ein zweites folgte. Beim nächstenmal konnten sie alle umkommen. »Mein Sohn!« Aesor fiel neben Pardano auf die Knie. »Mein Sohn!« »Komm schon!« drängte Maeveen. »Wir haben keine Zeit. Wir können später noch einmal zurückkehren.« Das war eine Lüge. Das Dach teilte sich in der Mitte, und lose Steine und Staub regneten auf sie herab. In wenigen Sekunden würden sie unter tonnenschwerem Gestein in alle Ewigkeit begraben liegen. Sie packte Aesors Arm und zerrte ihn vom Leichnam seines Sohnes fort. »Eine größere Höhle!« rief Quopomma, die vorausgeeilt war. »Sieht aus wie die, in der die Steinleute hausen.« »Kann nicht sein. Wir sind viel zu weit entfernt!« Maeveen eilte in die Höhle und kam schlitternd zum Halten. Es sah aus, als habe Quopomma recht. Gedämpftes Licht und brodelnde Lavaseen warfen unheimliche Schatten auf die hohe, gewölbte Decke. Die Stalagmiten und Stalagtiten sahen denen im Reich der Niroso zum Verwechseln ähnlich. Es schien, als hätten sie jene Höhle erneut betreten, auch wenn Maeveen wußte, daß es ganz unmöglich war. 473
»Ist euch auch nichts passiert?« fragte eine sanfte Stimme. Vervamon kam auf sie zu. Er sah aus, als habe er einen angenehmen Spaziergang gemacht und freue sich über den schönen Tag. »Aesors Sohn ist tot«, keuchte Maeveen. »Yunnie und Mytaru sind noch draußen. Ein Erdbeben hat den Eingang verschüttet. Sie kämpfen gegen Tiyint.« »Wie schade, daß Mytaru – er war es doch, der den Steingötzen belebte? – nicht schneller auf die Bedrohung reagierte, die von diesem magischen Wesen ausging. Nun, noch ist nicht alles verloren. Ich habe höchst anspruchsvolle Verhandlungen mit den Niroso geführt. Ein wahrhaft interessantes Volk: primitiv, was ihr Sozialleben und die Organisation angeht, dafür aber auf anderen Gebieten weit entwickelt. Ich fand heraus, daß sie die uralten Sprachen beherrschen. Bestimmt haben sie Zugang zu längst verschollenen Bibliotheken.« »Sie können zaubern«, knurrte Quopomma. »Sie sind von den Kriegen der Brüder übriggeblieben, nicht wahr?« »Ja, damals wurden sie – scheint’s – geboren«, gab Vervamon zu. »Insofern sind sie noch jung, entwickeln sich aber für Wesen, die zum Leben unter der Erde verdammt sind, sehr schnell. Wenn sie ihr dunkles Reich verlassen, verfestigen sich ihre Körper, weil es in unserer Welt so kalt ist. Jedenfalls sehen sie es so – auch im heißesten Sommer. Die Niroso verstehen uns nicht und wollen bloß von uns lernen. Sie nennen uns 474
›Die Kalten‹. Komisch, nicht?« Vervamon zog sein Notizbuch hervor und schrieb die Gedanken auf, die ihm während seiner Rede gekommen waren. »Dickköpfiger Gelehrter!« murmelte Quopomma und schüttelte den Kopf. Während der überstürzten Flucht hatte sie etliche ihrer festgeflochtenen Zöpfe eingebüßt. Das schien die Ogerin weitaus mehr zu belasten als die zahlreich blutenden Wunden an Armen und Beinen. »Wie seid Ihr denn an sie geraten?« wollte Maeveen wissen. »Wir waren doch zusammen, bis Tiyint zu toben begann und ...« »Ich sah, wie ein Niroso versuchte, an die Erdoberfläche zu gelangen. Also rettete ich den armen Kerl. Sacumon hatte ihm lauter Torheiten über das Leben in unserer Welt in den Kopf gesetzt. Es war recht anstrengend, ihn und seine Gefährten davon zu überzeugen, wie es dort in Wirklichkeit zugeht. Ihre Belesenheit, die – was alte Sprachen angeht – wirklich bewundernswert ist, hat sie leider nicht über unsere Lebensweise belehrt.« »Die Aufgabe werdet Ihr mühelos bewältigen«, bemerkte Quopomma. Etliche Niroso tauchten auf, rauchende Steine hinter sich zurücklassend. Die Ogerin griff nach ihren Schwertern, die aber schon längst nicht mehr vorhanden waren. Sie ballte die Fäuste, obwohl sie wußte, daß sie nicht gegen eines dieser Wesen ankämpfen konnte. »Aha, sie möchten noch mehr lernen«, sagte Verva475
mon und rieb sich die Hände. Er legte das Notizbuch auf einen Felsvorsprung, und die Niroso stellten sich wie wißbegierige Studenten im Halbkreis um ihn herum auf. »Sie hören gern zu und sind sehr wißbegierig.« Ein neues Erdbeben zwang Maeveen in die Knie. Erst dann kam ihr der Gedanke, daß die Ansammlung so vieler Niroso die Beben auslöste. Wenn sie durch die Felsen glitten, löste das Erschütterungen und Risse im Gestein aus, durch die sie hier verschüttet und Pardano getötet worden war. »Was ist mit den Kohlengolems?« Maeveen sah die Steinleute mißtrauisch an und dachte daran, daß sie unbarmherzig getötet und ihre Diener ausgeschickt hatten, um Elfen und Minotauren zu verbrennen. Sie war nicht sicher, ob ihre Theorie hinsichtlich der Erdbeben zutraf, aber alles andere war erwiesen. »Sacumons Werk. Sie hat die Niroso vollständig in ihren Bann gezogen und gnadenlos ausgenutzt. Ihr müßt wissen, daß dieses Volk durch die Felsen reist und viele verschollene Dinge entdeckt. Was für wundervolle Archäologen sie unter meiner Führung abgeben werden! Sie fanden zahlreiche Artefakte – auch die Lebende Rüstung, die unser junger Freund trägt – die von Sacumon benutzt wurden. Ich vermute, daß die Niroso auch Metallvorkommen entdeckten. Gold, Silber und ähnliches, obwohl sie es bisher nicht erwähnten. Das werde ich noch herausfinden, aber natürlich reizen mich die archäologischen Funde am meisten.« »Ihr wollt Wissen mit ihnen austauschen und sie un476
ter der Erde halten?« fragte Quopomma, die Zweifel an jeglichen Verhandlungen mit den Niroso hegte. »Warum denn nicht?« Wieder rieb sich Vervamon die Hände und begann seinen Vortrag für die Niroso. Anscheinend ging es um geologische Zusammenhänge. Maeveen schloß die Augen und rieb sich die Schläfen, um den schrecklichen Schmerz loszuwerden, der bis zu den Augäpfeln drang und drohte, ihr den Schädel zu spalten. »Wo ist Aesor?« fragte Quopomma. »Er war doch bei uns, als wir die Höhle betraten.« »Zurückgegangen, um Pardano auszugraben«, vermutete Maeveen. Ihr Herz wog so schwer wie Blei, wenn sie an den Minotaurus und seinen Sohn dachte, aber sie hatte schon so viele Todesfälle erlebt, daß sie wegen einer weiteren Tragödie nicht den Kopf verlor. Maeveen schloß die Augen und schluckte heftig. Vielleicht lag es daran. Der Tod gehörte zu ihrem Beruf, auch wenn sie keine Soldatin war wie jene, die für Lord Peemel in den Kampf zogen. Sie beschützte Vervamon, während er seinen wissenschaftlichen Vergnügungen nachging. Aber auch dabei mußte sie oftmals töten. Sie öffnete die Augen wieder und sah die Niroso an. Hatten sie Gefühle? Vervamon behauptete, sie seien junge Kreaturen, in ihrem Sozialverhalten noch ungeschickt. Hieß das, es tat ihnen nicht leid, wenn ein anderer starb, oder waren sie gar wie der Fels, durch den sie glitten: für alle Zeit hart und unbeugsam und nicht in der Lage, sich zu ändern? 477
»Die Dinge haben eine aufregende Wendung genommen.« Vervamon drehte sich zu ihr um. »Das Steinvolk berichtet von Geheimgängen, die es schuf, um größere Gegenstände in die Höhlen tragen zu können.« »So gelang es ihnen, eine Waffenkammer anzulegen«, meinte Maeveen, die sich an Yunnies Erzählung über den mit Rüstungen und Waffen gefüllten Raum erinnerte. »Auch noch andere Artefakte. Sie finden verschollene Städte und durchsuchen sie, behalten aber nur die Dinge, die ihnen geheimnisvoll erscheinen, um sie später in aller Ruhe genauer zu untersuchen. Höhlen wie diese benutzen sie als Lagerplatz für ihre Kostbarkeiten.« »Ist dies die Höhle, wo wir schon einmal waren und wo Sacumon umkam?« fragte die praktisch denkende Quopomma. »Alle Nirosogrotten sehen sich ähnlich«, antwortete Vervamon. »Ich weiß nicht, wie sie es schaffen, aber die wunderbare Gestaltung der Höhlen zeigt, daß sie künstlerisch begabt sind.« »Wer käme auf die Idee, einen Grabsteinentwerfer als Künstler zu bezeichnen?« knurrte die Ogerin. Sie ging in die Hocke und starrte die Niroso an. Es war nicht möglich festzustellen, worauf sich die Aufmerksamkeit der Niroso richtete. Sie bewegten sich fortwährend, obwohl sie sich auf die steinernen Pulte stützten. Das Steinvolk hatte keine Ähnlichkeit mit an478
deren Lebewesen, wollte aber den Anschein erwecken, es bestehe aus festem Stoff. »Sie wenden Magie auf eine Weise an, die ich nicht verstehe. Zuerst nahm ich an, sie würden ihre Körper verwandeln, um durch den Fels gleiten zu können. Noch immer weiß ich nicht, ob das zutrifft, wenngleich wir bereits seit längerer Zeit darüber sprechen. Sie sehen die Welt auf seltsame Weise«, verkündete Vervamon. »Lassen wir bloß nicht zu, daß die Inquisition sie entdeckt. Die rotgekleideten Schlächter würden die gesamte unterirdische Welt als Vorstufe zur ewigen Verdammnis bezeichnen. Noch vor Sonnenuntergang wären alle Niroso der peinlichen Befragung übergeben worden.« Maeveen erhob sich und schritt auf und ab. Sie mußte wissen, was mit Yunnie, Mytaru und Tiyint geschehen war. Hauptsächlich natürlich mit Yunnie. »Hauptmann, es gefällt mir nicht, wie uns diese Rohdiamanten ansehen«, erklärte Quopomma besorgt. Maeveen drehte sich um und starrte zum anderen Ende der Höhle hinüber. Yunnie fiel polternd durch eine Öffnung in der Dekke. Die Entfernung zwischen Boden und Decke betrug fünfzehn Fuß, und seine kräftigen Beine gaben bei der Landung nach. Sie lief auf ihn zu, um die Niroso abzuwehren, falls sie ihn angriffen. Die Steinwesen bewegten sich unruhig, blieben aber auch weiterhin Vervamons aufmerksame Schüler, der in seiner verdamm479
ten alten Sprache auf sie einredete. »Yunnie, bist du verletzt?« Sie half ihm auf die Beine. Er hinkte ein wenig, rieb sich das Bein und grinste, da er sich anscheinend freute, sie wiederzusehen. »Es ging bedeutend tiefer hinab, als ich angenommen habe.« Er versetzte Maeveen einen freundschaftlichen Schlag auf die Schulter, und seine Miene verdüsterte sich. »Mytaru ist tot. Er hat sich geopfert, um Tiyint aufzuhalten.« Maeveen bemerkte, wie sich seine blauen Augen mit Tränen füllten. Er wandte sich ab, damit sie seinen Kummer nicht mitansehen mußte. »Der Steingötze ist besiegt?« »Ich sah, wie er sich wieder zu dem Fels verwandelte, der er lange Zeit gewesen war. Mytaru starb keinen angenehmen Tod. Er hätte einen besseren verdient.« »Er spielte mit Kräften, die er nicht verstand. Selbst der fähigste Magier würde sich hüten, ein solches Wesen zu erwecken – und alle, die dazu je in der Lage waren, sind schon lange tot.« Insgeheim fügte Maeveen hinzu: »Zum Glück!« »Er hat getan, was er als Bestes für die Herde ansah«, widersprach Yunnie. »Ich sah ihn sterben und konnte nichts für ihn tun, nur seiner Totenklage lauschen.« Er wischte sich die Tränen aus den Augen. Sie hinterließen schmutzige Spuren auf seinen Wangen. Er deutete auf Vervamons Nirosoklasse. »Was geht da vor? Ich wollte dich und die anderen retten, konnte aber den Eingang nicht finden.« 480
»Der Sohn des Kriegers ist tot. Er kehrte um, weil er den Körper bergen wollte, aber ...« Maeveen beendete den Satz nicht. »Die ganze Seite des Berges ist eingestürzt«, erklärte Yunnie. »Aesor kann Pardano nicht ausgraben.« Er seufzte tief und starrte blicklos vor sich hin. »Ich weiß nicht, was ich machen soll. Mytaru lebt nicht mehr. Der größte Teil der Herde ist tot. Die Urhaalan sind beinahe ausgestorben. Und die Elfen? Ich weiß nichts über sie, aber bestimmt verhält es sich ähnlich. Was bleibt mir noch?« »Shingol«, schlug Maeveen vor und dachte an das verlorene Siegel und alles, was sie über Yunnies Herkunft wußte. »Kehre zurück. Die Elfe, die dich einst beschützte, hinterließ dir etwas.« »Tavora? Was meinst du damit? Was für eine Hinterlassenschaft?« »Das Siegel von Iwset«, antwortete sie ernst. »Finde es. Auch Vervamon sucht danach. Du weißt, wo es verborgen liegt. Du mußt es wissen.« »Ich weiß nichts von einem Siegel«, erwiderte er, lächelte aber urplötzlich versonnen. »Das einzige Spielzeug, das ich als Kind besaß, war eine Metallscheibe, die an einer Kette hing. Darauf war ein alter Mann abgebildet.« »Das Siegel von Iwset«, flüsterte Maeveen. »Wo ist es?« Yunnies Miene entnahm sie, daß er sich auch daran erinnerte. 481
»Ich komme mir wie ein Feigling vor, der vor dem Kampf flieht«, sagte Yunnie nachdenklich. Maeveen wußte, daß er sich danach sehnte, wieder im Tal der Urhaalan zu leben, aber dort gab es keine Zukunft für ihn. Mytaru war beim Sieg über Tiyint umgekommen, Aesor hatte sich auf der Suche nach Pardanos Leichnam in dem Labyrinth aus Gängen verirrt, und überall lagen verwesende Körper auf den ehemals friedlichen Hängen herum. Man konnte sie nicht ordentlich bestatten, es waren einfach zu viele. »Hinter der ganzen Sache steckt mehr, als man meinen sollte«, sagte Maeveen. »Coernn erzählte, daß deine Mutter Lady Pioni war, die vierte Frau Lord Peemels, wenn ich mich Vervamons Ausführungen recht entsinne.« »Warum begleitet uns Vervamon nicht?« Yunnie riß sich aus seiner Gleichgültigkeit und sah sich um. Sie waren seit einer Woche unterwegs, und erst jetzt, da sie sich dem Dorf seiner Kindheit näherten, stellte er Fragen. Maeveen nahm das als gutes Zeichen, daß der Schock und der Kummer allmählich nachließen. »Er bleibt bei den Niroso, um sie besser kennenzu482
lernen. Er glaubt, sie von dem abbringen zu können, was ihnen Sacumon einredete und plant, als Vermittler zwischen ihrer und unserer Welt aufzutreten.« Maeveen spuckte ein Stück Gaumenkraut aus. Sie war sich nicht sicher, ob Vervamon tatsächlich an den Erfolg seiner Mission glaubte, oder ob er nur die Möglichkeit nutzte, sich als Lehrmeister zu betätigen. Vervamon hielt sich nicht allein für den besten Wissenschaftler und Forscher Terisiares, sondern auch für einen einzigartigen Lehrer. Der Unterricht einer Rasse, die teilweise aus Stein bestand, wäre ein Glanzpunkt seines Lebenslaufes. Daß er auf diese Weise einem vom Krieg heimgesuchten Land den Frieden bringen würde, gehörte nur zu den Zufällen, die sich in Vervamons Universum der Tatsachen und Forschungen zutrugen. »Ich will nicht nach Shingol«, sagte Yunnie und sah zu dem Fischerdorf hinüber. »Da wartet nichts und niemand auf mich. Ich treibe ziellos in einer sinnlosen Welt herum.« »Wer ist ziel- oder sinnlos, die Welt oder du?« erkundigte sich Quopomma. Die Ogerin grunzte, als ihr Maeveen einen Rippenstoß versetzte. Unwillig runzelte sie die Stirn und stiefelte dann vor sich hinknurrend davon. »Sie meint es nicht so«, erklärte Maeveen. »Quopomma langweilt sich schnell, und dann wird sie zänkisch.« »Sie ist eine gute Kriegerin. Eine echte Kämpferin. 483
Ich sah, wie tapfer sie sich in der Höhle und draußen schlug.« »Ich bin froh, sie als Leutnant zu haben. Das wäre übrigens eine Aufgabe für dich. Irgendwann muß ich mich meiner Truppe anschließen, glaube aber, daß mein zweiter Leutnant sich noch nicht erholt hat. Iro hat sich eher seelische als körperliche Wunden zugezogen.« »Bietest du mir eine Offiziersstelle an?« Yunnie schien belustigt, und Maeveen reagierte verärgert. »Ja«, erwiderte sie barsch. »Ich gehöre zu den Urhaalan. Was anderswo in der Welt geschieht, ist mir gleichgültig. Es muß noch viel getan werden, um die bösen Gefühle zwischen Elfen und Minotauren wieder ins Lot zu bringen, und wenn Vervamon es schafft, die Niroso zu einem harmonischen Zusammenleben mit den anderen zu überreden, werde ich mich am Wiederaufbau der Gemeinschaft beteiligen.« Yunnie atmete tief durch. »Noadia verdient mehr als das, was sie von Mytaru bekam.« »Seine Frau?« Yunnie nickte und stürmte los. Maeveen gab sich Mühe, ihn wieder einzuholen. Je schneller sie lief, um so , ärgerlicher wurde sie. Er war nicht der einzige, der Freunde und Familie in diesem Krieg verloren hatte. Sie dachte wütend daran, daß ihre eigene Familie der Inquisition geopfert worden war, um zusätzliche Unruhen zu vermeiden – und wie diese Unruhen trotzdem stattgefunden hatten. Er war wirklich nicht der 484
einzige, der Verluste erlitten hatte. »Es gibt noch andere Auseinandersetzungen als die zwischen Elfen und Minotauren«, rief sie ihm nach. »Denk an den Krieg zwischen Iwset und Jehesic!« »Du glaubst wohl, ich könne etwas tun, damit sie das blutbefleckte Schwert wieder in die Scheide stekken?« Er lachte grimmig. »Bloß wegen ein paar Erinnerungen, die unwahr sein könnten und der hastig gemurmelten Worte eines sterbenden Magiers?« »Coernn hatte keinen Grund zu lügen. Du bist Iwsets Thronanwärter. Mit dem Siegel in der Hand ist dein Anspruch rechtens.« »Ich verzichte darauf.« »Hör auf damit! Dieser Zank ist genauso dumm wie der zwischen Elfen und Minotauren. Beruhige dich, und dann denk nach, was du wirklich willst.« Maeveen blieb außer Atem stehen, und Yunnie wandte sich um und sah auf Shingol hinab. Die Sonne erhellte sein gutaussehendes Gesicht, und er ähnelte Vervamon mehr als je zuvor. Sie spürte einen Kloß im Hals. Sie und Vervamon waren für kurze Zeit ein Liebespaar gewesen, bis offensichtlich wurde, daß sie mit seinem Ehrgeiz, seiner Erfahrung und seinem Tatendrang nichts anfangen konnte. Seine Persönlichkeit zog Männer und Frauen gleichermaßen magnetisch an. Er besaß Charisma und wußte es gut zu nutzen. Außerdem wurde sein Leben durch einen über alles herrschenden Egoismus bestimmt, der auf einfache menschliche Bedürfnisse we485
nig Rücksicht nahm. Yunnie war anders. Er ähnelte seinem Vater. Er zog ebenfalls Aufmerksamkeit auf sich, war auch der geborene Anführer, aber nicht von der Überheblichkeit gezeichnet, die Vervamon im Übermaß besaß. Vielleicht hatte Maeveen einen Fehler begangen, sich mit Vervamon einzulassen, aber bei Yunnie würde es anders sein. »Ich will meine Schwester nicht wiedersehen. Es wäre nutzlos«, erklärte Yunnie. »Warum auch?« warf Quopomma ein. »Die Boote sind auf dem Meer. Wenn dein Krempel in ihrer Hütte liegt, solltest du ihn jetzt holen.« »Vielleicht ist Heryeon da. Dem will ich auch nicht begegnen. Er würde Fragen stellen, die ich nicht beantworten will.« »Ich schicke ihn weg«, verkündete Quopomma und marschierte entlang der staubigen Straße zu Essas Haus. Die Ogerin klopfte dröhnend gegen die Tür, redete auf Heryeon ein, der ihr antwortete und ging schließlich mit ihm davon. Hin und wieder warf ihr der Mann einen verwunderten, staunenden Seitenblick zu. Die Art, wie er sich immer wieder über die Lippen fuhr, verriet Yunnie, daß Quopomma seine Schwäche entdeckt und jegliche Unsicherheit, eine Ogerin zu begleiten, überwunden hatte. »Was sie ihm wohl erzählt hat? Heryeon ist selbst an guten Tagen ausgesprochen mißtrauisch«, meinte er. »Quopomma kann ausgesprochen überzeugend sein 486
– besonders, wenn sie großen Durst hat. Es ist schon viel zu lange her, daß sie ein paar Krüge Bier in sich hineinschütten konnte. Ich hoffe, dein Schwager kann mithalten. Wenn nicht, wird er morgen früh einen üblen Kater haben.« »Im Bierkrugheben hat Heryeon mehr Erfahrung als im Einholen der Netze«, sagte Yunnie. Vor Essas Tür blieb er mit besorgter Miene stehen. »Eigentlich gehört es sich nicht.« »Es sind deine Sachen, die du holen möchtest«, erinnerte ihn Maeveen, die darauf brannte festzustellen, ob das Spielzeug, an das sich Yunnie erinnerte, wirklich das Siegel von Iwset war. Zu viele Lebewesen waren deshalb schon gestorben. Das Siegel gehörte endlich in die richtigen Hände. »Ich habe alles unter den Dielenbrettern vergraben, ehe ich fortging.« »Dann graben wir es aus und bringen es anschließend wieder in Ordnung. Wenn Essa etwas bemerkt, wird sie annehmen, Heryeon habe beschlossen, sich endlich ein wenig Arbeit zu verschaffen.« »Der Gedanke würde ihr nie kommen«, lachte Yunnie. Schnell wurde er wieder ernst. »Da ist noch etwas.« Seine Hände fuhren über den nackten Oberkörper. »Seitdem ich die Lebende Rüstung ablegte, fühle ich mich nackt und verletzlich. Außerdem suchen mich immer häufiger Angstzustände heim, die von Tag zu Tag schlimmer werden.« »Sacumon hat auch dich mit einem mächtigen Zau487
ber belegt. Die Lebende Rüstung rettete dir das Leben, und du wurdest von ihr abhängig. Jetzt kannst du selbständig handeln, ohne durch fremde Magie zu irgend etwas gezwungen zu werden.« »Marionetten«, knurrte er. »Wir sind nichts als Marionetten, die alle von Magie abhängig sind.« Dann betrat er die kleine Hütte. Yunnie ging zur gegenüberliegenden Wand des Raumes und begann mit seinem Dolch zu graben. In zehn Minuten hatte er ein drei Fuß tiefes Loch geschaffen, in dem eine kleine Truhe aus Ehernwurzelholz zum Vorschein kam. Starke Finger gruben die Kiste vollständig aus und warfen sie auf den Boden der Hütte. Yunnie stand auf und wich zurück. »Was ist los?« wollte Maeveen wissen. »Ich habe Angst vor dem, was ich finde. Was ist, wenn ich der Thronanwärter von Iwset bin? Ich kann mich weder an meine Mutter noch an meinen Vater erinnern.« Zuerst wollte ihm Maeveen von seinem Vater erzählen, schwieg dann aber. Der Zeitpunkt erschien ihr ungünstig, da sich Yunnie seiner selbst so unsicher war. »Wenn mich die alte Elfe zu Pflegeeltern brachte, muß es doch einen Grund dafür gegeben haben.« »Du bist etwas hinterwäldlerisch«, spottete Maeveen. »Lord Peemel hätte dich umgebracht, wenn die Elfe dich nicht beschützt hätte.« Yunnie starrte sie fragend an. »Du bist nicht Peemels Sohn, stellst aber eine Bedro488
hung für ihn und seine Pläne dar.« »Nun, er soll tun, wie es ihm beliebt«, erklärte Yunnie und verließ die Hütte. Maeveen wollte ihm nachrufen, als ihr Blick auf die hölzerne Kiste fiel. Vervamons Neugier hatte schon auf sie abgefärbt. Sie mußte wissen, ob Coernn das Siegel von Iwset wirklich entdeckt hatte. Behutsam öffnete sie den Deckel mit der Schwertspitze. Ungeölte Scharniere knarrten unwillig, ehe sie den Inhalt der Truhe preisgaben. Stoffetzen, Metallteile und alte, armselige Spielzeuge lagen zuoberst. Aber darunter, in ein verschimmeltes Tuch gewickelt, lag das Siegel von Iwset. Maeveen schob die übrigen Dinge beiseite, hielt das Goldmedaillon in die Höhe und ließ es an der schweren Kette hin- und herbaumeln. Eine eigene Kraft ging von dem Siegel aus – vielleicht magischen Ursprungs. Oder es lag daran, daß man wußte, daß der Besitzer Anspruch auf den Thron eines wohlhabenden und blühenden Stadtstaates hatte. Sie vernahm Schritte hinter sich und rief: »Yunnie, ich habe es gefunden! Das Siegel!« Der schwere Griff eines Schwertes traf mit Wucht gegen ihren Hinterkopf. Besinnungslos fiel Maeveen vornüber.
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Maeveen hatte sich zusammengerollt, damit der Mann sie nicht wieder in den Magen treten konnte. Noch halb benommen, versuchte sie, sich auf etwas außerhalb der rasenden Schmerzen am Hinterkopf und der Stiefel, die wiederholt gegen ihre Rippen traten, zu konzentrieren. So unverhofft der Angriff erfolgt war, so schnell endete er auch wieder. Maeveen richtete sich auf. »Feyne!« rief sie, als sie einen der beiden überlebenden Gehilfen Coernns erkannte. Ehno und Feyne waren fortgeschickt worden, ehe Coernn die Nirosowelt gemeinsam mit Vervamon, Yunnie, Quopomma und Maeveen betreten hatte. Sie war davon ausgegangen, daß er die beiden nach Iwset geschickt hatte, und bereute ihre falsche Vermutung jetzt. Feyne und Yunnie rangen miteinander, und das Siegel von Iwset schwang wie ein goldenes Pendel zwischen ihnen hin und her. Maeveen stand auf, ohne den Schmerz zu beachten, nahm Maß und landete einen kräftigen Fausthieb gegen Feynes Schläfen. Der Mann taumelte und fiel Yunnie in die Arme. »Was ist los?« wollte Yunnie wissen. »Ich kam zurück, und er trat auf dich ein. Was ist passiert?« 490
Yunnie grunzte, als sich Feyne herumwarf und mit dem Dolch nach oben stach, um ihm den Bauch aufzuschlitzen. Yunnie wollte die Klinge abwehren, verlor aber das Gleichgewicht. Polternd fiel er gegen die Wand. Feyne stellte ihm ein Bein und brachte ihn zu Fall. Ehe Maeveen Yunnie zur Hilfe eilen konnte, wurde es kalt in der Hütte. Durch die offene Tür sauste etwas Silbriges herein, das sich wie ein kleiner Tornado auf Feyne zubewegte. Maeveen rutschte auf der neben dem Loch im Boden aufgeworfenen Erde aus. Das Wurfmesser bohrte sich in Feynes Rücken. »Yunnie!« schrie sie. »Raus hier, nichts wie raus!« »Das ist nicht nötig«, meinte Ehno. Coernns zweiter Gehilfe betrat heftig hinkend den Raum. Seine linke Seite war mit getrocknetem Blut besudelt, und seine Miene bewies, daß ihm jeder Schritt Schmerzen bereitete. Nachdem er ein unbenutztes Wurfmesser zurück in den Gürtel gesteckt hatte, ließ er sich schwer in einen Sessel fallen und sah Feyne mit höhnischem Grinsen an. »Du hast uns verraten«, sagte er leise und mit bitterböser Stimme. »Du elender Verräter!« »Nein«, würgte Feyne hervor und richtete sich auf. Das Messer steckte noch immer in seinem Rücken. »Ich bin Lord Peemel treu ergeben. Du und Coernn und die anderen – ihr seid Verräter.« »Ich will nur das Beste für Iwset.« Ehno zog das beschmutzte Hemd in die Höhe und entblößte eine tiefe, 491
gefährliche Stichwunde. »Wie gut, daß du zu sehr in Eile warst, um mich richtig zu treffen. Wie alle Diener Peemels mangelt es auch dir an der notwendigen Sorgfalt. Das war dein Verderben.« »In der Hölle sollt ihr schmoren, du und Coernn!« »Du auch!« erwiderte Ehno mit eisiger Stimme. Reglos sah er zu, wie Feyne zusammenbrach und seinen letzten Atemzug tat. »Und ich dachte, nur Quopomma wäre eiskalt, wenn es um die Beseitigung ihrer Feinde geht«, sagte Maeveen und starrte Ehno völlig verblüfft an. »Ich hielt Feyne für meinen Freund. Verrat schmerzt schlimmer als eine Fleischwunde.« Ehno zuckte zusammen und verlagerte sein Gewicht. Dann nahm er das Siegel von Iwset in die Hand. »Dafür ist Coernn gestorben, nicht war?« Maeveen nickte, da sie kein Wort herausbrachte. Ehno wandte sich an Yunnie und sah ihn an, als denke er eingehend nach. Schließlich warf er ihm das Medaillon zu. Yunnie fing es geschickt auf. »Tragt es. Ihr eignet Euch besser zum Regieren als Peemel.« »Wenn Ihr nicht Peemels Diener seid, seid Ihr dann Digodys Mann?« Ehno lächelte und zuckte wieder schmerzerfüllt zusammen. »Wohl kaum. Digodys ehrgeizige Ziele sind kein Geheimnis – außer vielleicht für Lord Peemel. Der Narr vertraut Digody. Iwset hat besseres als die beiden verdient. Iwset braucht Euch, Yunnie.« 492
»Mich?« »Ich bin der offizielle Bote, der Euch die Nachricht Lady Edaras überbringt – und frage, ob Ihr bereit seid, sie zu ehelichen.« »Was? Das ist doch verrückt. Ich kenne Edara gar nicht. Weshalb ...« Yunnies Lippen wurden zu einem dünnen Strich, als ihm die Bedeutung dieser Nachricht aufging. »Politik. Sie sucht ein Bündnis mit einem Herrscher Iwsets, weil sie Lord Peemel nicht besiegen kann.« »Iwset ist mächtig. Es verfügt über großen Reichtum und ein riesiges Gebiet, in dem zukünftige Soldaten leben. Jehesic mag auf See gewinnen, aber niemals einen Zermürbungskrieg. Lady Edara will dem Unfrieden ein Ende machen. Eine Heirat ...« »Eine Vernunftehe«, unterbrach ihn Yunnie. »Nennt es, wie Ihr wollt. Ihr könnt Herrscher von Iwset werden. Soviel ich weiß, wäret Ihr sogar ein guter Herrscher. Ihr besitzt gesunden Menschenverstand, und Eure Bemühungen, Elfen und Minotauren den Frieden zu bescheren, zeugen von Mitgefühl. Ihr müßt Eure Friedensstiftung nicht auf den Elnwald und das Urhaalantal beschränken. Bringt auch Jehesic und Iwset Frieden, und dann kümmert Ihr Euch um das Tal der Minotauren. Helft den Elfen, sich den Reichtum Iwsets zu Nutze zu machen. Regiert, und Ihr werdet alles erreichen, was Euch als Bürger eines armen Fischerdorfes verschlossen bleibt.« »Und weshalb muß er Lady Edara heiraten?« ver493
langte Maeveen zu wissen. »Es reicht doch, wenn er Anspruch auf den Thron von Iwset erhebt und dann tut, was Ihr vorgeschlagen habt. Er würde den Krieg mit Jehesic sofort beenden. Sie will doch Frieden! Oder nicht?« Ehno schloß die Augen und nickte ergeben. Als er sie wieder öffnete, glänzten sie fiebrig – oder handelte es sich um Fanatismus? »Ohne ein Bündnis mit Lady Edara wird er den Thron nicht gewinnen können.« »Sie möchte einen anderen heiraten und dann Peemel mitteilen, daß sie sich niemals ergibt.« Yunnie hatte begriffen, worum es ging. »Mein Anspruch auf den Thron wird in Iwset zu inneren Unruhen führen.« »Aufstände werden Iwset auseinanderbrechen lassen und den reichen Stadtstaat für lange Zeit ruinieren. Was weiß Yunnie schon über das Regieren? Vielleicht wird er von einigen Bürgern unterstützt, aber Peemels Anhänger würden ihn, ob mit oder ohne Siegel, fortwährend bekämpfen. Lady Edara will Frieden, aber kein geteiltes Iwset. Ein Bürgerkrieg würde auch Jehesic um Jahre zurückwerfen. Nein, sie will diese Heirat und die Herrschaft, um den Krieg zu beenden.« Maeveen wollte widersprechen, bemerkte aber Yunnies Gesichtsausdruck und wußte sogleich, daß sie niemals mit Lady Edara konkurrieren konnte. Die wunderschöne Herrscherin eines reichen Landes bot ihm an, wonach er begehrte. Vielleicht waren Yunnie die körperlichen Wonnen nicht wichtig, egal, wie schön 494
Edara auch war. Aber so konnte er den Urhaalan Frieden und Wohlstand bescheren. Wie sollte sie dagegen ankommen? Außer ...
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»Man sagt zwar, sie seien gut ausgebildet, aber ich finde sie recht nachlässig«, verkündete Quopomma und beobachtete, wie die Soldaten von Iwset die Straße, die in die Stadt führte, bewachten. »Ich hätte auf jeder Seite vier Armbrustschützen aufgestellt, um jeden Reisenden in die Zange nehmen zu können.« Maeveen murmelte eine halbherzige Zustimmung, war aber mit ihren Gedanken meilenweit entfernt. Vor der Abreise aus Shingol hatte sie Verbindung zu Vervamon aufgenommen, der sich unter keinen Umständen von seinen Forschungen bei den Niroso ablenken lassen wollte. Die Überlebenden ihrer Truppe – der Rest der Expedition – hatten sich nach tagelangem Herumirren durch den Elnwald geschlagen. Vervamon hatte ihnen sofort Arbeit zugeteilt. Es ging ihm nicht um Hilfe für die Minotauren oder die Elfen, sondern er ließ am Eingang zur Nirosohöhle ein kleines Dorf errichten, in dem er sein Hauptquartier aufschlug. Maeveen war nicht sicher, weshalb sie Yunnie und Ehno begleitete, anstatt Vervamon zur Hilfe zu eilen. Sie war seine Begleiterin, nicht die der anderen beiden Männer, aber zur Zeit wies nichts darauf hin, daß der 496
Gelehrte ihrer bedurfte. Iro war zwar nicht in der Lage, das Kommando zu führen, aber die fähigen Unteroffiziere sorgten für die Einhaltung der Disziplin und führten Vervamons königliche Befehle ebenso gut aus, als wäre sie bei ihnen. »Ich will wissen, wie die Sache ausgeht«, belog sie sich selbst und sah zu Yunnie hinüber. Vervamon der Jüngere! verbesserte sie sich. Wie sehr er doch seinem Vater ähnelte. Seine Leidenschaft war verraucht, blitzte aber immer wieder auf, wenn Ehno davon sprach, wie Yunnie den Elfen und Minotauren würde helfen können. Der junge Mann machte sich zwar weniger Gedanken um den Frieden zwischen Jehesic und Iwset als um seine Blutsbrüder, aber zumindest war es ihm nicht länger gleichgültig. Verflucht sollte er sein. »Was nun?« fragte Quopomma. »Wir erreichen Iwset und sitzen dann untätig herum? Das hätten wir auch in der Stadt der Schatten oder in Shingol tun können.« Die Ogerin stieß ein dumpfes Knurren aus, als eine kleine Gruppe jehesicscher Seeleute am Straßenrand auftauchte und die nachlässigen Späher aus Iwset angriff. Der Zwischenfall währte nur Sekunden, ehe die Matrosen wieder im Unterholz verschwanden und ein halbes Dutzend toter oder verwundeter Gegner zurückließen. Die Seeleute waren unverletzt entkommen. »So kämpfen sie immer«, erklärte Ehno. »Lady Edara hat nicht genug Truppen, um einen Sturmangriff zu wagen und muß sich auf sogenannte Partisanen verlas497
sen. Iwset hat seine Flotte und die beste Generalin verloren. Außerdem befürchte ich, daß die Unruhen, die in der Stadt ausbrachen, den Willen der Menschen auslaugen, sich gegen die wahren Feinde zu wehren.« »Ihesia wurde gefangengenommen?« Maeveen war ganz aufmerksam. Sie konnte die Frau nicht leiden. Wenn Jehesic sie tötete oder als Gefangene behielt, würde das vielleicht den Krieg verkürzen und Peemel zur Abdankung zwingen, ohne daß Yunnie eine Scheinehe mit Lady Edara eingehen mußte. Noch während sie diese Gedanken erwog, durchkreuzte Ehno ihre Hoffnungen. »Edara weigert sich, Ihesia gegen Lösegeld freizulassen, aber Peemel hat andere gute Feldherren, die zwar nicht so genial sind wie Ihesia, aber dennoch recht fähig. Wenn ich doch bloß mit meinen Auftraggebern in Verbindung treten könnte! Leider werde ich von Tag zu Tag schwächer.« Ehno sackte ein wenig in sich zusammen, denn die Reise und das Sprechen erwiesen sich als viel zu anstrengend, nachdem ihn Feynes Dolch beinahe ums Leben gebracht hatte. »Quopomma, bleibt bei Ehno. Bewacht ihn.« »Was ist mit Euch, Hauptmann? Habt Ihr vor, Euch in die Stadt zu schleichen?« »Yunnie ...«, begann Maeveen, während sie fieberhaft nachdachte und nicht auf Quopommas Frage einging. Sie wußte jetzt, was zu tun war und wie sie es anstellen wollte, damit jeder davon profitierte – außer vielleicht Ehno und seine Auftraggeber. »Du mußt das 498
Siegel von Iwset benutzen. Ruf die Bürger zusammen und bringe sie dazu, dich zu unterstützen.« »Was? Nein, das geht nicht!« widersprach Ehno. »Wir müssen zum Hafenmeister gehen. Er bringt uns nach Jehesic, wo die Hochzeit vollzogen wird. Wenn er die Macht zu früh an sich reißt, ist alles vergebens! Die Stadt ist in Aufruhr!« »Beachte ihn nicht.« Maeveen führte Yunnie beiseite. Coernn hatte ihr nicht geholfen, als sie ihn brauchte, und Ehno schien es ihm gleichtun zu wollen. Die Politiker spielten ihre ureigensten Spiele – oder die Spiele derer, die sie aufzogen und auf einen Tisch setzten, wo sie wie magische Automaten hin- und herhüpften. Es war an der Zeit, an ihr eigenes Glück zu denken. Wenn alles nach Plan verlief, würde jeder dabei gewinnen. »Er hat recht. Wenn ich mich jetzt zu erkennen gebe, ist die Gefahr viel größer. Selbst von hier aus habe ich beobachtet, wie die Bürger einander angreifen. Iwset zerfleischt sich.« »Woher wissen wir, daß Ehno die Wahrheit sagt? Wer erteilt ihm Befehle? Er arbeitet nicht allein. Vielleicht lockt er uns gezielt in Peemels Falle – oder in Digodys.« »Ich verstehe nichts von diesen Doppelspielen«, beschwerte sich Yunnie. »Es hört sich vernünftig an, zum Hafenmeister zu gehen, wenn wir nach Jehesic reisen wollen.« »Wir hätten auch von Shingol aus nach Jehesic segeln können«, meinte Maeveen. »Aber Ehno bestand 499
darauf, nach Iwset zu reisen.« »Weil seine Auftraggeber wahrscheinlich hier leben. Wenn wir Jehesic mit einem unbekannten Schiff ansteuern, halten sie uns vielleicht für Spione und töten uns.« Maeveen zuckte unwillig die Achseln. »Ich habe einen Plan. Bring die Wachen auf die Beine, reize sie, aber laß dich nicht fangen. Du nimmst das Siegel von Iwset und zeigst es den Bürgern, du fragst, ob sie es erkennen und bereit sind, den Träger als Herrscher anzuerkennen.« »Und wenn nicht, dann kehren wir nach Shingol zurück«, beendete Yunnie den Satz. »Wenn die Bewohner der Stadt Lord Peemel so aufrichtig satt haben, wie wir vermuten, werden sie mir wenigstens zuhören.« »Wir müssen die Wachen und die Inquisitoren ablenken. Zuerst muß ich in Erfahrung bringen, wer mit wem verbündet ist und wer nicht, damit wir wissen, wem wir vertrauen können. Man hat Vervamon die ganze Zeit über belogen, als er sich in Iwset aufhielt.« »Er wollte belogen werden«, stellte Yunnie fest. »Ich unterhielt mich mit ihm über Peemel und Digody. Es ist schwierig, sich richtig mit Vervamon zu unterhalten. Immer, wenn es um seine Expedition geht, schluckt er jeden Köder, der ihm interessant erscheint.« Und alles, was mit den Minotauren zu tun hat, ist der Köder, um an dein Herz zu gelangen, dachte Maeveen und betrachtete ihn prüfend. Nie hatte er seinem Vater ähnlicher gesehen. Sie mußte sich beherrschen, ihm nichts 500
über seine Herkunft zu verraten. Das paßte nicht in ihre Pläne. Noch nicht. Yunnie zog das Siegel unter der zerrissenen Tunika hervor und starrte es an, als sei es die Lösung für alle Probleme. Plötzlich fröstelte er und richtete die blauen Augen auf Maeveen. »Ich bin die Lebende Rüstung losgeworden, aber das hier belastet mich ebenso.« Noch einmal überlief ihn ein Schaudern. »Das Siegel enthält keine Magie, wie es bei der Rüstung der Fall war, aber dennoch ist es eine Last.« Er balancierte das Medaillon auf den Fingerspitzen, als überlege er, wie weit er es werfen könne. »Es lag so viele Jahre im Verborgenen. Weshalb nicht noch ein wenig länger?« »Das Schicksal kann hin und wieder eigenartige Wege gehen.« »Du glaubst also nicht, daß uns die Zeit und die Geschehnisse einfach mitreißen, wie Blätter, die hilflos auf den Wellen eines Flusses tanzen?« Er durchbohrte sie förmlich mit seinem Blick. »Wir können unseren Lebensweg selbst bestimmen und verändern.« »Dann wollen wir es tun. Ich werde die Leute von dir ablenken, was auch immer du vorhast«, erklärte Yunnie. »Wie viel Zeit bleibt mir, ehe sie mich entweder steinigen oder einsperren?« »Nicht viel, aber ich werde auch nicht lange brauchen.« Maeveen tastete nach ihren Waffen und zog den Umhang fester um die breiten Schultern, damit nie501
mand das Schwert und den Dolch zu sehen bekäme. Obwohl ihre braun-grün gefleckte Kleidung keine Soldatenuniform war, wollte sie nicht aus Versehen für eine Offizierin gehalten werden, die gegen Iwset kämpfte. Seite an Seite machten sie sich auf, den Weg in ein kriegsmüdes Iwset zu finden. Maeveen drückte sich in einen Hauseingang, während Yunnie hinten auf einen Totenwagen aufsprang. Er stellte sich auf zwei Leichname, die – aufgrund ihres kränklichen Aussehens – sicher nicht bei den Aufständen ums Leben gekommen waren. Er holte tief Luft und begann seine Ansprache. Maeveen verließ den schützenden Hauseingang und wurde genauso von ihm angezogen, als handele es sich um Vervamon. Worte glitten wie Honig über seine Lippen, stachen zu wie ein scharfes Messer, rissen Wunden auf, als handele es sich um Schmirgelpapier und umschmeichelten sie, als bestünden sie aus Samt und Seide. Yunnie kannte alle Tricks, die auch sein Vater beherrschte. »Wie machen sie das bloß? Ganz instinktiv?« Sie schüttelte den Kopf. Yunnie ließ sich über die Schwächen Lord Peemels und seiner Ratgeber aus und zog schließlich das Siegel von Iwset aus der Tasche. Maeveen nahm das als Zeichen, sich zurückzuziehen. Ihre kurzen Beine mußten sich anstrengen, als sie an den Straßensperren der rotgekleideten Inquisitoren und an gelegentlichen Patrouillen vorüberhastete, die hauptsächlich unterwegs waren, um nach Spionen Ausschau 502
zu halten. Yunnie hatte mit seinen Vermutungen über die Zustände in der Stadt recht gehabt. Überall trieben sich kleinere Horden von Bürgern herum, die einander bekämpften und die Läden plünderten. Maeveen sah, daß die Stadt auseinanderfiel, während ihr Herrscher anscheinend wenig unternahm, um die inneren Unruhen zu beseitigen. Yunnie würde sich mit mehr als nur der Heirat mit Lady Edara herumplagen müssen. Als sie den Palast erreichte, war sie ein bißchen außer Atem. Das lag nicht so sehr an der Anstrengung, wie an der Furcht vor dem, was jetzt auf sie zukam. Auf eine Art fühlte sie sich, als verriete sie Yunnie, und dieses Gefühl hinterließ einen bitteren Geschmack in ihrem Mund. Aber es war der einzige Weg zum Frieden. Maeveen trat durch die geöffneten Tore in den Innenhof. Sie war sich bewußt, daß Dutzende von Bogenschützen ihre vergifteten Pfeile auf sie gerichtet hielten. Sie blieb stehen und teilte dem Hauptmann der Wache ihr Anliegen mit. Dann wartete sie ab, ob man sie auf der Stelle umbringen würde.
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»Ihr habt den Krieg verloren«, verkündete Maeveen O’Donagh mit fester Stimme. Lord Peemel richtete sich auf seinem Thron auf, stützte das Kinn auf die gefalteten Hände und starrte sie durchdringend an. Maeveen versuchte, in seiner Miene zu lesen. Ihre Behauptung hatte ihn verblüfft, aber was er fühlte, war nicht ohne weiteres festzustellen. Sie zog es vor, sich mit Schwertern an Stelle von Worten zu duellieren. Da waren die Treffer offensichtlich, und der Blutverlust wirkte lähmend. Wunden konnten nicht versteckt werden, und der eigene Vorteil nahm zu, je schwächer der Gegner wurde. Über Peemels Kraft konnte sie sich kein Urteil erlauben. »Warum verschwendet Ihr Zeit mir Ihr, Gebieter?« fragte Digody. »Sie ist eine Unruhestifterin. Sie hat sogar einen Rebellen aus Shingol mitgebracht, der gegen Euch vorgehen soll. Ich habe Truppen ausgeschickt, ihn festzunehmen, ehe er die Bürger aufhetzt.« »Aufhetzt?« Maeveen lachte grimmig. »Euer Volk zieht bereits durch die Straßen. Es mordet und plündert. Die Unruhen haben schon Besitz von Iwset ergriffen. Yunnie hat das Siegel, das Vervamon für Euch fin504
den sollte – und mehr. Ihr wolltet, daß Yunnie mit dem Siegel zurückkehrt, nicht wahr? Er kann Iwset den Frieden bringen!« »Warum sollte ich wollen ..« Digody bemühte sich, unschuldig und sogar entsetzt bei dem Gedanken auszusehen, daß er das Volk aufhetzen ließ, um Peemel vom Thron zu vertreiben. »Ihr wolltet, daß ein Thronprätendent auftaucht, damit Ihr Peemel und den Prätendenten töten könnt«, warf ihm Apepei vor. Maeveen konnte sich nur dunkel an den feisten Zwerg erinnern, aber anscheinend sorgte er dafür, daß zwischen Peemels Ratgebern Uneinigkeit herrschte. Er und Digody konnten sich augenscheinlich nicht ausstehen. »Genug von dem Gezänk!« befahl Peemel und unterbrach das Geplänkel, dessen Ursprung persönlicher Natur und nicht allein auf Maeveens Vorwürfe zurückzuführen war. »Du behauptest, ich hätte den Krieg gegen Jehesic verloren. Woher willst du das wissen? Ich schickte dich – und den Narren Vervamon – auf die Suche nach dem Siegel. Nun erfahre ich, daß du es einem Mann gabst, der sich als mein Bastard ausgibt. Warum sollte ich dir noch länger zuhören, anstatt deine sofortige Hinrichtung zu befehlen?« Peemel zog ein weißes Leinentuch aus der Tasche, tupfte sich behutsam über die Lippen und rieb sich dann gründlich die Hände daran ab. »Eure Herrschaft über Iwset nimmt von Minute zu Minute ab«, fuhr Maeveen fort und wünschte, Verva505
mon würde diese Rede halten, aber natürlich hätte er sich niemals die Mühe gemacht. Politische Angelegenheiten waren unter seiner Würde, selbst wenn er zur Zeit nicht mit den Studien der Niroso beschäftigt wäre. Oder Yunnie hätte es tun sollen! Er hatte die Ausstrahlung, die ihr fehlte. Sie war bloß eine Soldatin, keine Rednerin. »Was geht das dich an?« »Ihr wart sehr großzügig bei der Ausstattung von Vervamons Expedition.« »Und diese Großzügigkeit vergiltst du mit Verrat«, warf Digody mit flammenden Blicken ein. »Du findest den gesuchten Gegenstand und kehrst hierher zurück, um gegen den Herrscher zu arbeiten!« »Ruhig, Digody!« sagte Peemel belustigt. Sein Humor ängstigte Maeveen. Sie hatte gehofft, ihn überreden zu können, als Gegenleistung für das Siegel und Yunnies Versprechen, keine Ansprüche auf den Thron zu erheben, mit Jehesic Frieden zu schließen. Wohlstand und Frieden entlang der Küste waren zu jedermanns Vorteil – besonders, wenn Yunnie die lebensnotwendige Nahrung und die Vorräte für Minotauren und Elfen bekommen würde. Wenn Iwset auf der Seite der Elfen und Minotauren stand, konnten sie sich gegen die Niroso behaupten, wenn Vervamons Bemühungen fehlschlugen und die Steinleute doch auf einem Krieg beharrten. Wenn sie nur wüßte, wem Coernn gedient hatte – und wem Ehno unterstand. Der Magier und seine fünf 506
Gehilfen hielten unterschiedlichen Leuten die Treue, was für Yunnie und sie alles erschwerte. Maeveen schluckte schwer, als sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung bemerkte – und Abt Offero den Audienzsaal betrat, um sich geduldig hinter ihr aufzustellen. Wie ein Aasfresser, der darauf wartete, daß seine Mahlzeit endlich starb. Der Sturm braute sich zusammen und drohte, sie zu zermalmen. »Es ballen sich Mächte zusammen, die Ihr nicht beherrschen könnt«, fuhr sie fort. »Unter Iwset erheben sich die Niroso, Steinwesen, die alles Leben auf der Erdoberfläche auslöschen wollen. Sie haben bereits die Urhaalanminotauren und die Einwaldelfen vernichtet.« Maeveen veränderte die Wahrheit ein wenig, fand das aber notwendig, um ihren Worten mehr Überzeugungskraft zu verleihen. »Vervamon kann sie aufhalten – Ihr aber nicht, wenn Ihr weiterhin gegen Jehesic und Eure eigenen Leute kämpfen müßt.« »Ich bin keineswegs von Abtrünnigen umgeben«, erklärte Lord Peemel von oben herab. Wieder verzogen sich seine Lippen zu einem Lächeln, und Maeveen sank das Herz in die Hose. Sie hatte ihre einzige Trumpfkarte – das Siegel – ausgespielt, und wußte jetzt nichts mehr zu bieten. Den Krieg zwischen Jehesic und Iwset konnte sie nicht beenden. Jetzt wollte sie nur noch Peemel besänftigt sehen, damit er Yunnie die Freiheit schenkte, um mit ihr und nicht mit Edara leben zu können. 507
»Niemand ist lange abtrünnig«, verbesserte sich Peemel. Er lachte. »Das Siegel ist mir völlig egal. Es wäre nett, es wieder in der Schatzkammer zu wissen, aber das ist nicht nötig. Der Krieg ist bald zu Ende. Und zwar zu Iwsets Gunsten!« »Gebieter, die jehesicsche Flotte zerstört unsere Handelsschiffe. Nicht eines von zehn Schiffen kann die Blockade durchbrechen. Schon bald werden die Kaufleute nicht mehr wagen, den Hafen von Iwset anzusteuern – gleichgültig, wie viel wir ihnen auch bieten. Der Nahrungsmangel bringt die Leute zum Aufstand. Wir müssen alles über Land transportieren«, erklärte Apepei. »Wenn die Frau recht hat, könnte das Steinvolk auch diesen Weg blockieren. Dann sind wir am Ende.« Der Zwerg warf den Kopf zurück, und sein zottiges rotes Haar fiel ihm ins Gesicht. Er hüpfte auf und nieder, als habe man ein Feuer unter seinen Fußsohlen entzündet, und versuchte, sich vor Digody zu drängen. Seine Worte entfachten einen Hoffnungsschimmer in Maeveen. Leider verlosch er augenblicklich, als sie bemerkte, wie sehr Lord Peemels Heiterkeit zunahm. »Wir brauchen weder Jehesics Flotte noch das verlorene Siegel zu fürchten«, verkündete er überheblich. Er schnippte mit den Fingern. Eine kleine Gruppe Soldaten trat durch eine Seitentür ein. Umgeben von einem halben Dutzend Bewaffneter ging eine schlanke Frau mit kupferfarbenem Haar und funkelnden grünen Augen. Sie trug ein meergrünes Gewand, das sich eng an den Körper schmiegte – und schwere Ketten an den 508
Handgelenken, die bei jedem Schritt leise klirrten. Maeveen hatte Lady Edara nie gesehen, wußte aber instinktiv, daß die Herrscherin von Jehesic in Ketten vor ihr stand und nicht länger eine Bedrohung für Peemel darstellte. Sie warf einen Blick in die Runde und bemerkte die Mienen der versammelten Ratgeber. Urplötzlich erkannte sie, daß Peemel weder Digody noch Apepei erzählt hatte, daß sich seine Erzfeindin – oder sollte man sagen: seine Braut! – in Iwset befand. »Was soll das bedeuten?« brüllte der Zwerg. Er hatte als erster die Sprache wiedergefunden, und machte seinem Entsetzen Luft. »Ihr dürft keine Herrscherin eines anderen Landes entführen! Das ist gegen das Kriegsrecht!« »Kriegsrecht«, wiederholte Peemel, als höre er das Wort zum erstenmal. »Was soll das sein, Apepei? Das Recht, zu töten? Wie absurd! Sie schickt ihre Flotte, um mich zu vernichten. Da ist es doch netter, wenn meine Spione sich nur anschleichen und sie aus der Festung entführen, ohne einen Tropfen Blut zu vergießen.« »Tötet mich nur!« rief Edara. »Ich werde Euch niemals heiraten. Eher würde ich Euch mit ins Grab nehmen!« Peemel runzelte die Stirn und betrachtete jene, die diesen Wutausbruch mitangehört hatten. Maeveen wußte, was sich hinter seiner Stirn abspielte. Jeder, der über diese Vorgänge sprach, würde den Audienzsaal nicht lebend verlassen. Da sie gekommen war, um Peemel zu einem Friedensabkommen zu zwingen, oh509
ne zu wissen, daß er seine Feindin bereits gefangengenommen hatte, war ihr Leben auf jeden Fall verwirkt. Auch Peemels Wachen würden der Wahrung des Geheimnisses zum Opfer fallen. Vielleicht konnte sie sich mit ihnen zusammentun und fliehen. »Ihr habt keine Wahl, werte Dame«, erklärte Peemel und lächelte sie freundlich an. »Ihr werdet meine Frau. Wir werden Iwset und Jehesic regieren. Es wird das mächtigste Bündnis der Westküste sein. Gemeinsam bringen wir diesem armen Land den Frieden.« »Ihr wollt in ihrem Namen regieren!« schrie Apepei. »Das werden die Bürger von Jehesic nicht zulassen. Der Krieg wird noch schlimmer wüten. Lord Peemel, ich bitte Euch, Ihr handelt falsch. Entweder Ihr besiegt ihre Flotte, oder ...« »Schweig!« knurrte Peemel und sah den Zwerg böse an. Maeveen wunderte sich über die Aufregung des kleinen Mannes. Er hüpfte unruhig von einem Fuß auf den anderen und schien eher verängstigt als wütend zu sein. »Ihr werdet mich heiraten, Edara, und die Welt soll merken, wie mächtig Eure Flotte und meine Armee ist. Wir ...« »Es geht nicht nur um das Siegel von Iwset!« rief Maeveen, die noch einmal das Wort an sich reißen wollte, ehe es zu spät war. »Yunnie ist Lady Pionis Sohn, aber nicht der Eure! Er ist der Sohn Vervamons, des Mannes, den Ihr auf die Suche nach dem Siegel schicktet.« 510
»Was sagst du?« Peemel wirbelte mit haßerfülltem Gesicht herum. »Pioni bekam einen Bastard von diesem elenden Wichtigtuer? Wie konnte sie es wagen?« »Ihr habt sie hinrichten lassen, Gebieter«, erinnerte ihn Digody. »Sie liebte Euch nicht. Deshalb wurde sie getötet.« »Dieser Sohn Vervamons. Beseitigt ihn – und Vervamon auch!« »Vervamon verhandelt mit dem Steinvolk, das unter Euren Füßen lebt. Ihr werdet immer um Euer Leben fürchten müssen, wenn Ihr seinen Sohn ermordet.« »Seinen Bastard«, spottete Peemel. »Ich fürchte dieses Steinvolk, von dem du fortwährend plapperst, überhaupt nicht. Meine Generäle bekämpfen jede Kreatur. Und als Mitgift wird Lady Edara alle gefangenen Offiziere, insbesondere Generalin Ihesia, freilassen.« »Denkt doch endlich nach, Lord Peemel!« rief Maeveen erneut. Soldaten packten ihre Arme, um sie aus dem Saal zu zerren. »Tötet Yunnie und Vervamon, der überall auf Terisiare bekannt ist, und Ihr werdet nicht zur Ruhe kommen, bis man die beiden gerächt hat.« »Was geht mich ein Wissenschaftler an, der sich so leicht hinters Licht führen läßt?« Peemel gab den Soldaten einen Wink, sie loszulassen. »Ich verfüge über eine Armee und eine Flotte, die jeden Krieg gewinnen können. Und meine liebende Frau wird neben mir sitzen.« Er klopfte auf den niedrigen Schemel, der neben seinem schwarzen Thron stand. Peemel hatte sich umgedreht, um nach der gefessel511
ten Edara zu greifen, als er plötzlich weit die Augen aufriß. Mit hölzernen Schritten trat er vor. Dann knickten seine Beine ein, und er stürzte kopfüber die Stufen hinab. Mit dem Gesicht nach unten lag Lord Peemel am Fuße seines Thrones, während ein langes dünnes Messer aus seinem Rücken ragte.
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Stille senkte sich über den Raum. Maeveen vernahm nur das Klopfen ihres eigenen Herzens. Die Wachen, die sie umringten, traten unsicher einen Schritt zurück, und alle übrigen Anwesenden hielten den Atem an. Nur Abt Offero regte sich und glitt lautlos voran, um neben Peemels Körper niederzuknien. Er drehte ihn um, zog eine schmale purpur- und goldfarbene Seidenschärpe aus der Tasche und legte sie mit feierlichen Gesten über Peemels Schultern. Erst über die linke, dann die rechte, dann über die geschlossenen Augen. Schließlich murmelte er ein leises Gebet für den Toten. »Er war’s!« rief Lady Edara und deutete mit den gefesselten Händen auf Digody. Der knochige, rotäugige Ratgeber warf den Kopf zurück, und ein dröhnendes Lachen entrang sich seiner Kehle. Es klang sowohl triumphierend als auch böse, und Maeveen überlief es kalt. Am liebsten hätte sie sich die Ohren zugehalten, näherte sich statt dessen aber dem ihr am nächsten stehenden Wächter. Hastig griff sie nach seinem Dolch, zog ihn aus der Scheide und drehte sich blitzschnell um. Sekunden später hielt sie auch ein Schwert in der Hand. 513
Jetzt war sie bewaffnet und fühlte sich bedeutend besser, aber noch war die Lage im Audienzsaal nicht zu ihrer Zufriedenheit entspannt. »Ich tötete den Narren!« schrie Digody. Seine roten Augen glühten wie feurige Kohlen. Er schlug den Umhang zurück, um zwei weitere Messer zu enthüllen, die genau zu dem paßten, das in Peemels Rücken steckte. »Er gab sich mit Kleinigkeiten ab. Er war unfähig zu regieren. Das wird jetzt anders. Folgt mir, Soldaten von Iwset, und ich werde euch die Welt zu Füßen legen. Jeder Anwesende hier wird zum General, zum Baron, der seinen eigenen Stadtstaat regiert. Wir werden Terisiare im Sturm erobern und ...« Genau wie vorhin Lord Peemel, schwankte Digody, ehe er die Stufen hinunterfiel. Diesmal ließ der Attentäter das Messer nicht im Rücken des Opfers stecken. Apepei stand mit blutbesudelter Klinge da, bereit, Peemels Leibwache abzuwehren, wenn sie töricht genug wäre, ihn anzugreifen. Die Tat des Zwerges erstaunte Maeveen weniger als das, was nun geschah. Edara schob ihre Wächter beiseite und lief mit ausgestreckten Armen los. Sekundenlang fürchtete Maeveen, die Herrscherin von Jehesic wolle sich in Apepeis Messer stürzen. Statt dessen warf der Zwerg die Waffe zu Boden und umarmte die Frau inniglich. »Nehmt ihr sofort die Ketten ab!« befahl er. Seine energische Stimme ließ den Hauptmann der Garde handeln, ohne lange nachzudenken. Die schweren Ket514
ten fielen zu Boden und wurden mit dem Fuß zur Seite geschoben. Die schöne Frau stellte sich ganz selbstverständlich neben den Zwerg. »Ihr steckt dahinter!« stieß Maeveen hervor, der jetzt endlich alle Zusammenhänge klar wurden. »Coernn und Ehno waren Eure Spione.« »Genau«, erklärte Apepei und sah Abt Offero, der sich noch immer um den toten Peemel kümmerte, herausfordernd an. In wenigen Minuten würde er dafür sorgen, daß sich die Seele des toten Regenten auf die ordnungsgemäße Reise begab, und sich dann dem Leichnam Digodys zuwenden. Maeveen glaubte, daß eine Seelenrettung in diesem Fall sogar außerhalb der Kraft des guten Abtes lag. »Alle, außer Feyne«, sagte sie. »Das war Peemels Marionette. Und noch einer – ich kann mich nicht an seinen Namen erinnern – hatte der Inquisition die Treue geschworen. Er starb sehr bald.« »Wurde an eine fleischfressende Pflanze verfüttert«, sagte Maeveen, die sich daran erinnerte, wie Coernn und Ehno sich des Mannes auf grausame Art und Weise entledigt hatten. »Er hatte nichts anderes verdient. Aber dort liegt der schlimmste von allen.« Apepei spuckte auf Digodys Leichnam. Edara ergriff seine Hand und zog ihn näher an sich heran. Sie flüsterte ihm einige Worte zu, und schon verflog sein Zorn. »Meine liebste Edara hat wie immer recht. Wachen, laßt sie frei. Holt Yunnie vom Marktplatz oder wo er zu 515
den Bürgern spricht. Versprecht ihm, daß ihm kein Leid zugefügt wird. Jetzt ist die Zeit des Redens gekommen; der Kampf ist vorbei.« Apepeis selbstsicheres Gebaren ließ etliche von Peemels untergeordneten Ratgebern auf seine Seite rücken. Die wenigen, die sich ihm – und Lady Edara – offen entgegenstellten, zogen sich ein Stück zurück und beratschlagten. Maeveen bezweifelte, daß jene, die Peemel die Treue hielten, von Digodys Anhängern unterstützt wurden. Auch zweifelte sie daran, daß sie sich gegen den Zwerg und Edara durchsetzen konnten. Apepei hatte die Herrschaft an sich gerissen und hielt die Zügel fest in der Hand. Maeveen, die davon ausging, daß diese Regierungsgewalt auf Edara übergehen würde, war sicher, daß die größte Gefahr überstanden war. Aber wie würden die Bürger Iwsets reagieren? Würden sie dem Attentäter folgen, der den Attentäter des Herrschers umgebracht hatte? Und der Regentin eines feindlichen Stadtstaates? Der Krieg hatte in jedem Hause Iwsets Opfer gefordert. Maeveen folgte ihnen in den kleineren Besprechungsraum und hoffte, das Ende des Krieges zwischen Iwset und Jehesic erleben zu dürfen. »Ich kann nicht glauben, daß Abt Offero so einfach aufgibt«, flüsterte Maeveen Yunnie zu. Vervamon der Jüngere saß so reglos wie eine Statue neben ihr, während Peemels frühere Ratgeber über die neue Regie516
rung Iwsets sprachen. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt, und nur seine eiserne Selbstbeherrschung hielt ihn davon ab, wie Espenlaub zu zittern. Maeveen legte die Hand auf seine Faust. Er wich weder zurück, noch reagierte er auf die Berührung. Ihre Enthüllung über seinen wahren Vater hatte er mit unerschütterlicher Ruhe hingenommen, aber nun konnte sie an seiner verschlossenen Miene erkennen, wie sehr er innerlich in Aufruhr war. »Er hat keine andere Wahl«, erklärte Quopomma. »Er ist gegen jede Magie, aber bei dieser Angelegenheit unterstützt er mehr als er ablehnt. Wenn er überhaupt irgendeine Macht behalten will, muß er Apepei und Edara gestatten, ein paar Diener zu unterhalten, die sich mit Zauberei auskennen.« Neben der Ogerin saß der mit Verbänden versehene Ehno. »Trotz seiner militärischen Vorlieben spricht sich der gute Abt für den Frieden zwischen Iwset und Jehesic aus«, bemerkte Ehno. »Auch wenn das bedeutet, Leuten wie Ihesia und mir ihre Sünden vergeben zu müssen.« Er wandte sich der befreiten Generalin zu. Maeveen versteifte sich, als Ihesia, die ihr schräg gegenüber saß, ihr wissendes, hämisches Lächeln aufsetzte. Die Frau verursachte nur Ärger. Aber Maeveen schwieg über ihre Besorgnis betreffs der ehrgeizigen Generalin. Es war an Yunnie zu entscheiden, wie er mit Peemels ehemaliger Oberbefehlshaberin umgehen wollte. Maeveen hätte die Frau am liebsten sofort auf den Ronomgletscher verbannt und ihr von ganzem 517
Herzen gewünscht, sie möge dort erfrieren. »Dann stimmt die Inquisition also zu, daß wir die dringendsten Probleme lösen, daß ein weiteres Vorgehen gegen unsere Bürger eingeschränkt wird und dies die wahre Bedeutung des Zeichens ist, das Peemel vor dem Krieg erhielt«, verkündete Apepei, dessen weit auseinanderstehende Augen auf den Abt gerichtet waren. Offero nickte kaum merklich. Lady Edara flüsterte Apepei etwas zu, und lehnte sich dann mit blassem, angespanntem Gesicht wieder zurück. »Somit haben wir uns jetzt noch mit dem Konflikt zwischen Jehesic und Iwset zu befassen«, fuhr der Zwerg grimmig fort. »Lady Edara ist nicht daran gelegen, Rache zu üben und auf Schadenersatz zu klagen. Als Gegenleistung muß sich Iwset ähnlich großzügig verhalten.« Apepei schloß die Augen. Maeveen sah, wie sich Tränen in seinen Augenwinkeln sammelten. Mit einer schnellen Handbewegung wischte er die verräterischen Spuren fort, ehe sie sich einen Weg über seine Wangen bahnten. »Wer wird uns regieren?« erkundigte sich ein untergeordneter Ratgeber, ein Anhänger Digodys. »Ich werde keinem Zwerg folgen, der in den Bergen geboren wurde.« »Warum nicht?« meldete sich ein anderer zu Wort. »Du bist wie ein Frosch gehüpft, wann immer Digody quakte. Und wer weiß, wo der geboren wurde?« »Ruhe!« brüllte Apepei, dessen tiefe Stimme den ganzen Raum ausfüllte. »Ihr müßt euch nicht zu kindi518
schen Streitereien erniedrigen. Die Entscheidung ist gefallen.« Apepei schloß erneut die Augen und fuhr sich mit den Fingern durch die struppigen Haare – ein vergeblicher Versuch, sich zu beruhigen. Maeveen hielt den Atem an, als Yunnie sich von ihr löste. An Edaras angespanntem Gesichtsausdruck sah sie, was jetzt kam. Anscheinend gefiel es ihr ebenso wenig wie allen anderen Anwesenden. »Vervamon der Jüngere, auch Yunnie genannt, Sohn der Lady Pioni, der vierten Frau Lord Peemels und Träger des Siegels von Iwset, wird unseren Stadtstaat regieren.« »Er ist ein gewöhnlicher Bastard, gleichgültig, wer seine Mutter war!« Digodys Gehilfe sprang auf und hieb mit der Faust auf den Tisch. »Wie können wir erwarten, daß unser Volk einem Fischer folgt, der nicht einmal einen Tag lang in Iwset lebte? Die Leute sind in Aufruhr und verlangen eine starke Hand am Ruder! Er hat sie bestimmt nicht.« »Er wird kein gewöhnlicher Bürger sein, wenn er Lady Edara geheiratet hat«, erklärte Apepei mit ruhiger Stimme. Maeveen fiel auf, welche Anstrengung es den Zwerg kostete, seine wahren Gefühle zu offenbaren. Er vermied, Edara anzusehen, und auch sie wandte den Blick ab. Yunnie zog sich immer mehr in sich selbst zurück, während Apepei erklärte, wie das Friedensabkommen aussehen würde. Maeveen ließ sich in ihren Stuhl sinken und bemerkte, daß Quopomma sie und Yunnie prüfend ansah. 519
Apepeis Plan war vollkommen! Sie bewunderte die geschickte Ausarbeitung und die sich daraus ergebenden Folgen. Eine Heirat Yunnies und Edaras bildete das Fundament für den Staat, den Peemel sich gewünscht hatte, nur diesmal ohne Feindseligkeiten. Die Inquisition war geschwächt, der Friede gesichert und der wachsende Wohlstand auf Jahre hinaus garantiert. Für Yunnie bedeutete es, sowohl den Elfen wie auch den Minotauren helfen zu können. Er mußte nicht einmal in Iwset bleiben. Lady Edara konnte für ihn regieren, wenn die Bevölkerung sie als Verbündete – und nicht als Erobererin ansah. Da sich sein Vater um die Niroso kümmerte, war auch diese Bedrohung so gut wie abgewandt. Yunnie mußte nur Vervamon dem Älteren genügend Mittel zukommen lassen, um irgendwann eine neue Expedition auf die Beine stellen zu können – vielleicht eine Rückkehr zur Stadt der Schatten oder die Entdeckung verlorener Schätze. Maeveen wollte Yunnie noch einmal berühren, aber wieder wich er zurück. Sie war nicht die einzige, die ihr persönliches Glück für diesen Frieden opfern mußte. Apepei und Edara liebten sich. Man sah es deutlich daran, wie sie miteinander sprachen, dicht nebeneinanderstanden – und wie sie sich ansahen. Apepei war bereit, seine Liebe zum Wohle Iwset aufzugeben, so wie Edara es zum Wohle Jehesics tat. Und Yunnie unterdrückte sein Bedürfnis, die Einsamkeit des Urhaalantales zu genießen und der 520
Herde anzugehören, und dies für eine Menge Leute, die er nicht einmal kannte. Er konnte nicht beide Lebensweisen aufrechterhalten – nicht, wenn die eine seine tägliche Aufmerksamkeit verlangte. Yunnie war ein Urhaalanbulle, aber jetzt war er auch der zukünftige Gemahl Edaras und Herrscher Iwsets. »Das ist möglich«, gab Digodys Anhänger zögernd zu. »Viele werden dagegen sein, aber deren Stimmen kann man zum Schweigen bringen.« Er mußte nicht hinzufügen: »Für einen guten Preis.« Apepei verstand die nicht ausgesprochenen Worte, und auch den anderen Ratgebern erging es so. »Ich werde ihm auf jeden Fall sehr gerne dienen«, verkündete Ihesia. Langsam glitt ihre Zunge über die vollen, roten Lippen. Maeveen hätte ihr am liebsten einen neuen Mund verpaßt, der unter dem rechten Ohr begann und mittels eines scharfen Dolches bis zum linken Ohr durchgezogen wurde. »Ich schwöre Lord Vervamon dem Jüngeren die Treue«, meldete sich Ehno zu Wort, der damit auf ein kaum merkliches Nicken Apepeis reagierte. »Er besitzt das Siegel von Iwset als rechtmäßiges Zeichen. Möge er es mit Würde und Ehre bei seiner Krönung tragen«, verkündete Abt Offero als feierlichen Abschluß für Yunnies Anerkennung als Thronfolger. Die Abgesandten der Armee, der Bürgerschaft und der kirchlichen Institutionen stimmten zu. Maeveen wußte, daß Yunnies Ehrlichkeit und Ernsthaftigkeit viele Einwohner Iwsets für sich gewinnen würde, wenn er zu 521
ihnen sprach. An seinem Hochzeitstag. »Ich bin einverstanden«, erklärte Lady Edara und sah starr geradeaus. Ihr bleiches Gesicht sagte mehr als ihre Worte. Maeveen fand, daß Edara einen viel schlimmeren Gemahl als Yunnie hätte bekommen können, und Yunnie hatte eine Braut, die schön, aufrichtig und klug war. Und mächtig. Große Macht und Reichtum – ganz anders als bei der Kommandeurin einer Expeditionstruppe. Yunnie erhob sich und wartete, bis das allgemeine Stimmengewirr nachließ. Er hielt das Siegel in die Höhe und ließ es langsam kreisen. Es spiegelte das Licht der Lampen wieder, die im ganzen Raum verteilt standen. »Mit diesem Siegel beanspruche ich die Herrschaft über Iwset. Als Kind wurde ich von Peemels Haushofmeisterin, einer Elfe namens Tavora, entführt. Sie brachte mich zu Pflegeeltern nach Shingol, wo ich aufwuchs, aber mein Herz gehörte nie dorthin – auch nicht nach Iwset.« Yunnie ließ ihnen Zeit, die Worte zu erfassen. »Ich wurde in die Urhaalanherde aufgenommen und betrachte mich als Minotauren.« Er beachtete die bissigen Bemerkungen nicht, die sich einige der Anwesenden hinter vorgehaltenen Händen zuraunten. »Der Krieg zwischen Elfen und Minotauren ist beendet. Vervamon – mein Vater – arbeitet mit dem 522
Steinvolk zusammen, damit es nicht wieder für Unruhe sorgt. Auch Iwset und Jehesic haben Frieden geschlossen – wenn ich Edara heirate.« Yunnie sah die Herrscherin Jehesics an. »Ihr seid schön, Lady Edara, schöner als jede Frau, die ich je sah. Ihr seid Eurem Volk treu ergeben und sehr tapfer, weil Ihr den Frieden sichern wollt. Jeder Mann wäre stolz, Euch zur Braut zu haben.« Yunnie hob das Siegel noch höher und ließ es dann auf den Tisch fallen. Mit einer schnellen Bewegung zog er sein Schwert und hielt den Griff über das goldene Medaillon. »Ich folge meinem Weg, der nicht von anderen bestimmt wird, gleichgültig, wie ehrenhaft und gut ihre Absichten auch sein mögen.« Der Schwertknauf fiel krachend auf das Siegel und zertrümmerte es in tausend Stücke. Yunnie schleuderte das Schwert beiseite und verließ mit hocherhobenem Kopf den Raum. Hinter ihm entstand eine bleierne Stille.
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Überall in Iwset flackerten die Freudenfeuer anläßlich der Hochzeit. Fröhlicher, übermütiger Gesang hallte durch die Straßen. Schließlich wurde nicht jeden Tag eine so wichtige Heirat gefeiert. Die Stachelschlange zog sich über den ganzen Himmel und ringelte sich um den Polarstern. Ihr strahlender Glanz schien dem Fest ihre Zustimmung auszudrücken. Der feine weiße Schimmer der Locken der Jungfrau und das weithin sichtbare Muster eines Dutzends Sterne, die das Zerbrochene Schwert von Ennea bildeten, wurden immer deutlicher, wenngleich sie jetzt viel später aufgingen, da der Herbst das Land fest in den Klauen hielt. Die Verlorene Ratte hatte ihr Schlupfloch gefunden, und die Zwei Dryaden marschierten vor den Waffen von Elysium her, würden den bedeutend helleren Sternen jedoch nicht gestatten, die schwächeren zu überstrahlen. Statt dessen umgaben sie gemeinsam die beiden Monde Iontiero und Fessa. »Fessa«, murmelte Yunnie vor sich hin, dem es noch immer nicht leichtfiel, den größeren Mond beim Namen zu nennen. »Was sagtest du?« fragte Maeveen O’Donagh. Sie 524
hielt einen schweren Kelch in beiden Händen, um nicht noch mehr vom Inhalt zu verschütten. Sie versuchte, sich daran zu erinnern, wie oft sie ihn bereits geleert hatte, aber es fiel ihr nicht ein. Wann immer nur noch ein kläglicher Rest übrig war, stolperte einer der Feiernden vorüber und bot ihr mehr an. Bis jetzt hatte sie jedesmal angenommen. Trotz des fröhlichen Festes war sie nicht glücklich. Eine Hochzeit war ein Grund zum Feiern. Wenn sie Yunnie ansah, der zu den Monden hinaufblickte, fühlte sie sich wie ausgehöhlt. »Der Mond. Die Minotauren nennen ihn Fessa. Mir wurde schon als Kind erzählt, daß man ihm keinen Namen geben darf.« »Das ging vielen anderen entlang der Küste genauso.« Maeveen leerte den Kelch und wartete darauf, daß noch jemand mit einem Krug vorbeiging, um ihr daraus anzubieten. Sie mußte an sich halten, als sie sah, wie ein Dutzend Leute einen einzelnen Mann verprügelte, der sie – ob wahrhaftig oder nur eingebildet – beleidigt hatte. Die Aufstände waren größtenteils vorüber, aber noch immer gärte es in der Stadt, unter all der heutigen Fröhlichkeit. Ehe der wahre Friede über Iwset kam, mußte man erst die vielen unterschiedlichen Gruppierungen vereinen. »Was siehst du da oben?« Maeveen wandte ihre Aufmerksamkeit dem Himmel zu und bemühte sich, etwas staunenswertes zu entdecken, gab dann aber auf. Der kleinere Mond erstrahlte in dem reflektierten Licht, 525
das ihn sanft umschmeichelte. Ein Mond, der von einem vollkommen verrückten Magier an den Himmel gezaubert wurde, behaupteten viele Menschen. Sie war sicher, daß er nur ein künstliches Gebilde war. Er wirkte magisch, ganz anders als der zerklüftete, nebelverhangene große Mond. Aber was hatte das mit ihr zu tun, deren Beine fest auf dem Erdboden standen? »Ich sehe Schwierigkeiten für Edara und Apepei«, sagte Yunnie. Laute Musik übertönte seine Worte, aber sie konnte sie ihm gut von den Lippen ablesen. »Du hättest der Mittelpunkt dieser Zeremonie sein können. Niemand freut sich über deine Ablehnung der geeigneten Lösung aller Probleme entlang der Küste.« »Geeignet? Nicht in meinem Sinn!« erklärte Yunnie. »Ich mag nicht auf einem Thron sitzen und überhebliche Entscheidungen treffen, die über Leben und Tod anderer bestimmen.« »Trotzdem hast du versucht, den Krieg zwischen Elfen und Minotauren zu beenden.« Seine Verdrießlichkeit steckte sie an und verschlechterte ihre ohnehin gedämpfte Stimmung noch. Yunnie hatte den Plan zurückgewiesen und darauf bestanden, daß Edara und Apepei heirateten. Maeveen vermutete, daß die Festlichkeiten noch wochenlang anhielten und eine dünne Schicht Frohsinn über den unter der Oberfläche brodelnden Unmut legten. Die allgemein herrschenden Vorurteile würden Apepei zwingen, den Frieden mit strengsten Maßnahmen durchzusetzen. 526
Viele waren entsetzt, daß er die Feindin geheiratet hatte, die ihre Verwandten und Freunde auf dem Gewissen hatte. Selbst seine beliebte Braut würde in Jehesic, wo ihre Untertanen bedeutend großzügiger waren, Schwierigkeiten bekommen. Das Paar sah sich etlichen Unruhen gegenüber – sowohl im persönlichen, wie auch im politischen Bereich. Aber das war weder für Iwset noch für Jehesic etwas Neues. Maeveen war sicher, daß beide fähig waren, mit allen Schwierigkeiten fertig zu werden, so lange sie einander liebten und vertrauten. »Ich bin dumm. Ich habe nichts unternommen, um den Krieg zu verhindern. Mytaru beschwor Tiyint. Die Niroso schickten die Kohlengolems. Das Abschlachten nahm nur ein Ende, weil zum Schluß niemand mehr übrig war. Ich habe nichts getan.« »Du warst aber der einzige, der es überhaupt versuchte. Du hast dich ganz allein Sacumon entgegengestellt, bis Coernn dich unterstützte. Es muß erhebliche Aufbauarbeit geleistet werden. Nicht nur im Urhaalantal, sondern auch im Elnwald.« »Ja.« Maeveen hatte keine Ahnung, was in Yunnies Kopf vorging. »Das Angebot, mein Leutnant zu werden, gilt noch«, erklärte sie schließlich, wußte aber, was Yunnie – Vervamon der Jüngere – antworten würde. »Wir ziehen weiter, wenn Vervamon genügend Einzelheiten über die Niroso weiß, um ihnen ein Kapitel seines Buches zu widmen. Er glaubt zu wissen, wo die Gruft der sieben 527
Märtyrer liegt und hofft, daß ihm das Steinvolk bei der Suche hilft.« Yunnie nickte, schwieg aber. Er war ganz in den Anblick Iontieros vertieft, der in großer Eile zwischen den Sternbildern herumsauste. »Ganz Terisiare liegt vor dir, bereit, entdeckt zu werden. Vervamons Neugier kennt keine Grenzen.« Maeveen schwieg, als ihr klar wurde, daß sie sich ebensogut mit einer Steinmauer unterhalten konnte. Ein betrunkener Weinhändler kam mit seinem Karren vorbei, blieb stehen und füllte ihren Kelch. Dann verabreichte er ihr einen feuchten Kuß und stolperte weiter, mit krächzender Stimme ein Lied singend. Yunnie hatte ihn nicht einmal bemerkt. »Quopomma und die anderen sind in ein paar Tagen bereit. Wir segeln nach Shingol und ziehen dann ins Urhaalantal, um uns Vervamon anzuschließen.« »Ich reise auch bald ab«, antwortete Yunnie. »Aber ich kann mein Leben nicht in untergeordneter Stellung verbringen.« Hastig drehte er sich um und fügte hinzu: »Bitte sei nicht beleidigt. Ich habe nie eine bessere Kommandeurin als dich erlebt. Es liegt an Vervamon. Ich kann ihn nicht leiden, auch wenn er mein Vater ist. Unter seiner Fuchtel zu arbeiten, würde mich wahnsinnig machen.« Er zögerte und schenkte ihr ein schiefes Lächeln. »Vielleicht geht es auch nicht, gerade weil er mein Vater ist. Ich möchte auf gar keinen Fall so werden wie er.« Maeveen überlegte, ob sie Vervamon mitteilen sollte, 528
daß Yunnie sein Sohn war. Das Wissen war ein Schock für Yunnie gewesen, aber in letzter Zeit hatte er so vieles ertragen müssen, daß es ihm inzwischen nichts mehr auszumachen schien. Sie schnaubte unwillig, da Vervamon auch das Wissen um seine Vaterschaft nicht weiter scheren würde. Er hatte bestens gelebt, ohne davon zu erfahren. Seine Gleichgültigkeit gegenüber diesen Dingen führte ihn immer wieder zu seinen Forschungen zurück, die sein Lebensinhalt waren. »Begleite mich«, bat sie noch einmal. »Ich habe getan, was ich konnte. Apepei und Edara werden es schaffen. Sie haben sich schon gute, starke Verbündete gesichert.« »Wen? Ihesia? Abt Offero?« Den Gedanken, die beiden als stark oder gar gut zu bezeichnen, fand Maeveen geradezu lächerlich. »Sie sind bestens in der Lage, Intrigen zu schmieden und Politik zu betreiben. Ich nicht.« Yunnie seufzte tief. »Ich weiß nicht, ob ich irgend etwas gut kann.« »Du kümmerst dich um deine Freunde«, antwortete sie. »Mein Schicksal ist mit den Urhaalan verbunden. Das weiß ich seit geraumer Zeit. Auf Wiedersehen.« Er stellte seinen Kelch auf den Boden und sah auf sie hinunter. Die blauen Augen funkelten im Licht der Sterne und der Monde. Aus ihnen sprach die Besorgnis um die Minotauren. »Warte«, sagte Maeveen und setzte ihren Kelch neben den seinen. Leicht schwankend trat sie neben ihn. 529
»Ich kehre nicht zu Vervamon zurück. Das ist nicht nötig. Quopomma wird ein hervorragender Hauptmann sein.« Maeveen versuchte, sich zurückzuhalten, aber der Wein hatte ihre Zunge gelockert. »Meine Reisen mit ihm sind zu Ende, und ich muß neue Wege gehen.« »Ich verstehe, weshalb du deinen eigenen Weg gehen willst. Wirst du hierbleiben?« fragte Yunnie und sah sie neugierig an. »Ich hörte, Lady Edara hat dir eine Stellung in Jehesic angeboten, und ich bin sicher, daß Apepei dich als hohe Offizierin in der Armee Iwsets beschäftigen würde.« »Ich ...« Maeveen verfluchte sich insgeheim. »Ich will mehr als das, genau wie du.« »Wohin wird dich dein Weg führen?« fragte der Mann, der Vervamon so ähnlich sah, aber ganz anders handelte. Maeveen wollte ihm sagen, sie wolle ihn begleiten, unterdrückte die Worte aber gerade noch rechtzeitig. »Ich lasse mich treiben. Quopomma und die anderen ziehen nach Norden, ich vielleicht gen Süden, wahrscheinlich nach Lat-Nam.« »Was erwartet dich dort?« »Das Abenteuer«, antwortete sie. »Das Unbekannte. Und ich bin weit von Vervamon entfernt.« »Ich verstehe«, meinte er, beugte sich zu ihr hinab und küßte sie sanft. Dann entfernte sich Vervamon der Jüngere mit schnellen Schritten aus Maeveens Leben. »Und noch weiter von dir entfernt«, murmelte sie 530
leise und blickte ihm nach. Dann hob Maeveen O’Donagh ihren Kelch an die Lippen, leerte ihn und machte sich auf die Suche nach den Abenteuern, die ihr Vergessen schenken würden. Für eine Weile jedenfalls.
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Die Steinpyramide, die er für Mytaru errichtet hatte, warf zwei Schatten. Iontiero schien vom Osten her, Fessa vom Westen. Mit schwerem Herzen starrte Yunnie auf sein Werk. Er wischte die Tränen fort, ehe sie ihm über die Wangen liefen. »Mytaru, mein Bruder, ich wünschte, ich hätte mehr ausrichten können.« Er erhielt keine Antwort. Yunnie sah zu, wie sich die Schatten allmählich bewegten und schließlich miteinander verschmolzen, als der schnellere Iontiero Fessa überholte. Dann tauchten beide Monde über den Rand der Welt und verschwanden vom Himmel. In der Dunkelheit, die nur vom Licht der Sterne durchbrochen wurde, wußte Yunnie, daß es an der Zeit war, seinem Freund die letzte Ehre zu erweisen. Vervamon der Jüngere hatte keine so tiefe und hallende Stimme wie ein Minotaurus, aber jetzt stimmte er die Totenklage an, die von Ehre und Zorn erzählte, von Magie und Heldentum – und seiner Liebe für einen gefallenen Bruder.