An dieser Stelle sollte das Cover erscheinen.
Leider hat der Scanner vergessen es beizulegen.
Falls es einer von euch da hat wäre ich dankbar wenn es
in ausreichender Auflösung in meinem Postfach landen würde.
[email protected] Terra Astra Band 18
Peter Terrid Entscheidung auf Inferior Im Auftrag des Malagathen 1. „Die Wissenschaft lebt von den Legenden, deren Wahrheitsgehalt sie beweist - und sie wird zerfressen von den Mythen, die sie selbst erzeugt. Eine der Sagen, die sich um die Arbeit der Kartographenschiffe wie Spinnennetze ranken, behauptet hartnäckig, an Bord solcher Fahrzeuge lebten Menschen, die einem Stern auf Hunderte von Parsek voraus ansehen können, ob er Planeten besitzt - noch größere Könner wüßten sogar, ob solche Planeten belebt sind. Welch ein Unfug. Der Dienst hier an Bord ist hart, nervenaufreibend und von einem nahezu satanischen Stumpfsinn. Was wissen die Erdameisen - man verzeihe den unfreundlichen Ausdruck des Raumfahrerjargons -, wie strapaziös es ist, mit zwei oder gar mehr Wissenschaftlern jahrelang in einem dieser engen Kästen zusammenzuleben. Die Leute an Bord unseres Schiffes haben genügend Doktorhüte und Diplome, um eine mittelgroße Hochschule gründen zu können. Anstatt aber auf der Erde weitere Würden und vor allem auch Gehälter zu kassieren und ein behagliches Leben zu führen, rasen wir oft jahrelang durch diese unendliche Wüste aus Nichts. Manchmal haben wir selbst den Eindruck, als seien wir komplette Narren, die sich für einen Hungerlohn gegenseitig auf die Nerven fallen und dank der erbärmlichen Kochkünste der Besatzung von einer Vergiftung zur anderen hinvegetieren. Genau das ist nämlich das Bild, das man sich auf der Erde von uns macht.
Aber es gibt immer wieder Augenblicke, die uns mit einer so tiefgehenden Befriedigung erfüllen, daß wir die Strapazen auch weiterhin geduldig ertragen - wie zum Beispiel heute. Wer beschreibt unsere Verblüffung, als wir nach den Daten der uralten Sternkarten tatsächlich die legendäre Barriere fanden - weit draußen im leeren Raum zwischen unserer Milchstraße und der nächstgelegenen Galaxis. Hier gibt es buchstäblich nichts - außer unsichtbaren elektromagnetischen Feldern, kosmischem Staub in der normalen intergalaktischen Verteilung und der unvermeidlichen Radiostrahlung des Wasserstoffs, der jeden Funkverkehr zu einer Lautstärkeschlacht mit der Statik macht. Und der Barriere. Obwohl ein paar Märchen und Legenden von ihrer Existenz berichteten, glaubte kein ernsthafter Wissenschaftler, daß es sie tatsächlich gebe. Nun, es ist nichts weiter als ein ziemlich unauffälliger Dunkelnebel, bestehend zu neunundsiebzig Prozent aus interstellarem Gas; der Rest ist Staub. Die Dichte übersteigt allerdings den Normalwert innerhalb unserer Milchstraße beträchtlich - man findet ein Zehntelotem am Rande, dann steigt der Wert bis auf drei Atome pro Kubikmeter und fällt anschließend auf den normalen Wert ab. Die chemische Zusammensetzung entspricht ziemlich genau den Werten, denen man innerhalb der Galaxis zu begegnen gewöhnt ist; sie können dem Leitfaden zur Interstellaren Navigation entnommen werden. Schon um nicht vom Reibungswiderstand zerpulvert zu werden, tasteten wir uns sehr langsam in das Innere der kugelförmigen Wolke - und fanden das System Delta Ursa. Genau fünfzig Welten umkreisen dieses Gestirn, hinzu kommen einhundertundvier Monde, die sich auf die verschiedensten Planeten wahllos verteilen. Da es nicht in unserem Interesse liegen konnte, vorzeitig entdeckt zu werden, hielten wir uns zurück. Die vergleichende Empirio-Soziologie wurde durch diese Maßnahme besonders begünstigt. Außerdem kannten wir natürlich unsere Vorschriften: Niemals in planetare Vorgänge eingreifen, es sei denn, daß besonders schwerwiegende Gründe vorliegen. Wir beschränkten uns daher auf reine Beobachtung. Was wir beobachteten, vtar indes interessant genug. Von den fünfzig Planeten liegen achtzehn innerhalb der Ökosphäre, also jenem Gürtel rings um ein Gestirn, in dem die Voraussetzungen für Leben auf gleicher Grundlage wie bei der Erde gegeben sind,
Die übrigen Planeten sind ausnahmslos Extremwelten - dicht an der Sonne kochende Gesteinswüsten; am Rande des Systems ist alles außer Helium zu ewigem Eis erstarrt. Und diese Welten sind bewohnt - erfüllt mit Menschen. Dreiundfünfzig Milliarden, um genau zu sein; wir wußten es bereits, als unsere Sonden die Anwesenheit von hochwertigen Eiweißmolekülen meldeten - unzweifelhafte Anzeichen für das Vorhandensein höheren Lebens. Genaueres erfuhren wir erst, als unser Radar Metall in größeren Mengen in der Nähe des Schiffes signalisierten; wir flogen hin und fanden ein Wrack. Es war ein Frachtschiff, dessen Raummotor ausgesetzt hatte, vor einer uns unbekannten Menge von Jahren; wahrscheinlich hatte die Mannschaft noch kurz vor der Katastrophe alle Motoren auf Rückschub gestellt - der Eigenimpuls des Wracks, das langsam auf den äußersten Rand des Systems zudriftete, war unglaublich gering. Die Mannschaft hatte wahrscheinlich noch fliehen können, jedenfalls fanden wir keinerlei Leichen. Vor allem die Ladung aber erwies sich als ungeheure Informationsquelle; das Schiff transportierte mehr als fünfzig Tonnen von Filmen, deren Qualität von Kunst etwa so weit entfernt war, wie Delta Ursa von der Erde. Besser waren einige Dokumentationen, aus denen wir die wichtigsten Informationen entnehmen konnten. Dieses System wurde - genau wie die Legenden berichten und die antike Sternkarte angibt - im Jahre 3601 von Bargheer Malagath entdeckt, dem wohl bedeutendsten Kartographen seines Zeitalters. Wenige Jahre später konnte er die Koordinaten dieses hervorragend versteckten Systems sehr gut gebrauchen. Es waren die Jahre, in denen die Konföderation zusammenbrach; die Jahre der verzweifelten Gegenwehr gegen den Feind von außerhalb, der in unsere Milchstraße eindrang. Sie kamen sintflutartig, schlugen uns vernichtend. Zu Hunderttausenden bestiegen die Menschen die großen Schiffe und flohen irgendwohin - im Nacken die panische Furcht vor dem unmenschlichen Feind. Einem dieser Flüchtlingstrecks muß sich auch Bargheer Malagath angeschlossen haben - wahrscheinlicher ist aber, daß er selbst den Treck leitete und führte - in dieses System, das als einziges Schutz vor dem Feind zu bieten schien. Die zweite Darstellung wird unterstützt durch die Tatsache, daß die schön
ste der Welten Malagath, das Juwel, genannt wird; auch die Metropole
dieses Planeten trägt diesen Namen.
Dies wird im Jahre 3645 gewesen sein, konnten wir ermitteln.
Die Dokumentationen weisen für das System Delta Ursa eine eigene
Geschichte von neunzehnhundert Jahren - gemessen am siderischen
Umlauf des dreizehnten Planeten (also 389 Tage, 11 Stunden, 67 Minuten
und 3 Sekunden).
Natürlich werden wir versuchen, dieses System für die neue,
koordinierende Tätigkeit der Erde zu erwärmen; weisen sie uns ab,
verschwinden wir ohne Groll.
Jemand hat uns einmal recht poetisch mit Fischern verglichen, die das
schweigende Meer der Sterne durchstreifen und auf Beute lauern: belebte
Planeten, deren Bewohner sich mit uns anfreunden wollen.
Leider ist die Ausbeute sehr gering.
Dieser Fang aber erwies sich als interessant ..."
(Kustos Mahanad Nehemya, Kapitän des Kartographenschiffes SUNPOWER, in den Aufzeichnungen des Bordbuches, Bandspule 008/1, 3. November 5545.) * Die ersten Stürme kamen auf, verkündeten das Herannahen des Winters. In den Nächten standen die vier Monde Creons mit kaltgleißendem Schein am Himmel; der Winter versprach grimmig zu werden. Einmal - Tage zuvor - hatte es in den ersten Morgenstunden geschneit; schwere, feuchte Flocken, mehr Wasser als Schnee. Er verschwand, als die Sonne über den gezackten Rand der Barricades gestiegen war und die weißen Flächen wegtupfte. Doch der Anfang war gemacht. Bald würde sich über die kleine Minenstadt der lange, acht Monate dauernde Winter legen und nahezu jedes Leben ersterben lassen - draußen in den Ebenen, den Bergen und in den allmählich erstarrenden Flüssen. Der gestrige Abend hatte den ersten Nebel gebracht. Grau, undurchdringlich, eine schmutzige Wand aus Watte, umschloß er die Siedlung und sonderte sie ab von der Umwelt. Das Donnern der Brandung der nur vier Meilen entfernten Bucht drang nur noch schwach hindurch; die Menschen sprachen plötzlich eigentümlich laut, als dieses unvermeidliche Nebengeräusch sich abschwächte.
Nach Mitternacht erhob sich der Wind, stob in kurzen Stößen über das Land, begleitet von eisiger Kälte. Irgendwann in dieser Nacht erwachte Tilmar Dave plötzlich. Die vollständige Dunkelheit verwirrte ihn kurz; die Stille war fast körperlich zu spüren und legte sich auf die Brust. Dann: die ersten Geräusche; das Ticken der Uhr auf dem rotlackierten Holztischchen neben dem Lager. Etwas weiter entfernt: das Summen der Reglerschaltung für die Raumbeheizung. Eines der Bretter an der linken Wand - mit Bücher-, Ton- und Bildspulen überladen, knackte vernehmlich. Aber all das waren keine Geräusche im eigentlichen Sinne, dachte Tilmar. Sie gehörten so zu seiner Behausung, daß sie ihn niemals störten; wären sie plötzlich verstummt, hätte dies ihn weit eher aus dem Schlaf gerissen. Es mußte etwas anderes, Fremdes gewesen sein, das ihn aufgeschreckt hatte. Er lauschte konzentrierter. Nichts... „Und der Traum war so schön... !" flüsterte er bedauernd. Tilmar schalt sich einen Narren. Was auch immer er gehört haben wollte: Es war nichts! Weshalb aber diese plötzliche Unruhe, die ihn wie ein Alarmzeichen überkam. Nach einer Weile streckte der Mann den Arm aus und betätigte einen Schalter. Die kleine Pulsatorlampe, nur drei Handspannen über dem Tischchen schwebend, schuf einen genau abgezirkelten Kreis von Helligkeit. Ein leerer Kaffeebecher war darin zu erkennen, ein blitzendes Feuerzeug, in dessen Seite die Versalien DT graviert waren, und ein Etui aus kostbarem Leder, in dem Tilmar seine Zigaretten aufbewahrte. Der Aschenbecher am äußersten Rand der Fläche stand schon fast wieder im Dunkel; er war zur Hälfte gefüllt. Tilmar langte über seinen Kopf; seine tastende Hand fand die Uhr auf dem schmalen Bord am Kopfende des Lagers. Er befestigte das breite, gelochte Federstahlband an seinem Handgelenk und warf einen Blick auf die Ziffernwalze: fünf Uhr zweiundfünfzig. Der Morgen war nicht mehr fern. Was soll ich tun? dachte er. Weiterschlafen? Er verneinte mit einem entschlossenen Kopfschütteln. Dann werde ich baden, anschließend einen höllisch starken Kaffee brauen und in aller Ruhe frühstücken. Dabei kann ich mir dann ernsthaft überlegen, wie ich in würdiger Form die beiden Tage totschlage, die ich noch auf Creon verbringe. Zwei Tage!
Zweimal sechsundzwanzig Stunden - dann kamen die Minuten, in denen
ein Schiff, das Emblem des Pädagogischen Amtes auf der Rückenfinne,
auf dem Viereck der Landepiste niedergehen würde, unmittelbar vor der
Siedlung.
Die Laderampe würde aus der Schleuse ausgefahren werden, und er,
Tilmar Dave, würde an Bord gehen - ohne auch nur einen einzigen Blick
an Creon zu verschwenden. Die Fahrt ging zurück nach Malagath, dem
Juwel. Zu den Bars von Harbours-Village und den vielen Freunden.
Tilmar lächelte sarkastisch.
Jeder von ihnen hatte ihn gewarnt, förmlich beschworen, nicht nach Creon
zu gehen; doch er hatte nur gelächelt.
„Was wollt ihr?" hatte er damals gefragt. „Ich werde diesen verlausten,
analphabetischen Hinterwäldlern auf Creon Malagaths Kultur vermitteln.
Was glaubt ihr, wie spaßig es werden wird, ihnen auch nur das Schmatzen
zu verleiden?"
Etwas weniger Selbstbewußtsein hätte auch genügt, erkannte Tilmar jetzt
beschämt.
Aber damals war alles anders gewesen; er hatte gerade erst die
Pädagogische Akademie verlassen, bis zum Platzen gefüllt mit Tatendrang
und missionarischem Ehrgeiz. Es ekelte ihn, wenn er sich vorstellte, wie er
blasierten Internatszöglingen die Grundbegriffe der Zivilisation in die
arroganten Köpfe hämmerte.
Die Schule dieser kleinen Minenstadt mit ihren rund achtzehntausend
Einwohnern erschien ihm entfernt und verlockend genug, um alle
wohlgemeinten Warnungen in den Wind zu schlagen. Er hatte eine echte
Aufgabe gesucht.
Tilmar schob die Decke von sich und setzte die Füße auf den
fellbespannten Boden; er griff nach einer Zigarette und zündete sie an.
Flüchtig dachte er daran, über seine nicht eben langweiligen Abenteuer auf
Creon ein Buch zu schreiben - er wäre nicht der erste verkrachte Pädagoge
gewesen, den es an die Schreibmaschine getrieben hatte. Außerdem zahlten
die einschlägigen Verlage für abenteuerliche Geschichten einigermaßen
gut.
Später drückte er den glimmenden Rest der Zigarette in dem schweren
gläsernen Ascher aus, auf dessen Boden - jetzt nicht sichtbar - eine der
vierund-zwanzig Thesen des Großen Malagath eingraviert war:
DISCIPULUS EST PRIORIS POSTE RIOR DIES. Das Heute ist des Gestern Schüler ...
Tilmar erhob sich endgültig; eine schlanke Gestalt, die immer etwas vornübergeneigt ging. Nur vier Zentimeter fehlten ihm an zwei Metern. Seine bloßen Füße tappten über das Fell, das die eine Hälfte des großen Raumes optisch von der anderen trennte. Achtlos ließ er dabei den zerknitterten Schlafanzug von den Schultern gleiten und verschwand in der Badezelle. Er duschte nur kurz, hüllte sich, naß wie er war, in einen schreiend gelben Mantel aus flauschigem Material und kehrte in den kombinierten Schlaf und Wohnraum zurück. Mit einer Handbewegung schaltete Tilmar sämtliche Leuchtkörper im Raum ein. Die Pulsatorkugeln, unter der Decke schwebend, verströmten ein sanftes, goldenes Licht. Tilmars graublaue Augen glitten prüfend durch den Raum, als befürchte er, daß sich darin etwas verändert habe. Es war alles so geblieben, wie er es kannte. Nach wie vor stand links vom Eingang in den Wohnraum die Liege. Davor: ein großer, niedriger Tisch mit einer kupfernen Platte; um den Tisch drei lederne Sitzkissen und ein Jagdstuhl. Die rechte Wand war von einem Regal aus naturbelassenem, gewachstem Holz verdeckt, auf dem sich Filmbücher, Tonstreifen und Lesespulen stapelten. Die dem Eingang genau gegenüberliegende Wand enthielt nichts als ein niedriges Bord an den geweißten Steinen. Darauf standen Video, Lesegerät, ein großes Radio, das auch als Funksprechgerät verwendet werden konnte, und der Filmprojektor. Es war wie immer - gleichermaßen vertraut und verhaßt. Nichts hatte sich verändert. Den einzigen Wandel hatte er durchgestanden. Er, Tilmar Dave, Lehrer an der Technical Primary auf Creon, mit einer Amtszeit von vier Jahren. Während sich Tilmar in der angrenzenden Küche des Hauses einen starken Kaffee braute und einige Brote zurechtmachte, setzte er in Gedanken seine Rückschau fort. Es war ein Exil gewesen, in das er sich niemals begeben hätte, wäre ihm schon vor vier Jahren klargewesen, worauf er sich wirklich einlassen wollte. Vier Jahre waren eine endlos lang erscheinende Zeit für einen Mann, der bald nach Beginn seiner Tätigkeit erkennen mußte, daß er für die Einsamkeit nicht geschaffen war. Es war mehr, als ein normal denkender und fühlender Mensch ertragen konnte; es war nicht jedem gegeben, sich ins Nichts zurückzuziehen, sich
auszuschließen vom Leben der kultivierten und dichtbesiedelten Welten um Malagath. „Eine Bankrotterklärung?" murmelte er fragend und schüttelte Sekundenbruchteile später mit aller Entschlossenheit den Kopf. „Nein!" Tilmar wies diesen plötzlichen Gedanken weit von sich. Es war nichts anderes als die Gewißheit, daß er das brausende und quirlende Leben eines dichtbevölkerten Planeten, das hektische Treiben einer Millionenstadt brauchte, um überhaupt existieren zu können. Er sehnte sich nach den Gesprächen mit Freunden, dem intellektuellen Gehabe einer sich gehoben dünkenden Gesellschaftsschicht. Zu dieser Art der Lebensführung gehörten Theaterpremieren, die Kampfspiele, die das Kaiserhaus veranstaltete, ausgedehnte Diners in exklusiven Lokalen. Was ihm fehlte, ihn psychisch folterte durch seine Abwesenheit, war das Gefühl, am Puls der Zeit zu sitzen. „Nur nicht in Creon!" flüsterte er grimmig. „Alles! Nicht Creon!" Es war eine Welt, die lange glühende Sommer kannte, aber auch ebenso endlose Winter mit klirrender Kälte. Creon, so sagten selbst die Einheimischen, hat acht Monate lang mörderischen Winter - der Rest ist die Hölle. Wenn im Frühjahr der Schnee schmolz, rauschten Wildwasser schäumend von den zerklüfteten Flanken der Barricades und verwandelten das Land zwischen dem Gebirge und dem Meer wochenlang in schmatzende Moräste. Der Frühling war rauh und wild wie der Planet. Im kurzen Gras standen dann kleine Blütenkelche und verwandelten die Ebenen in leuchtende Teppiche. Die blauroten Blumen und Sträucher bekamen einen helleren Schimmer, und der Goldstaub ihrer Blüten ließ den Heuschnupfen zur Epidemie werden. Die hellen Sommernächte waren erfüllt vom Donnern der nahen Bucht, einem Geräusch, an das Tilmar sich nur sehr schwer hatten gewöhnen können. Sehr schnell aber hatte er sich mit der merkwürdigen Bestimmung des Sommeranfangs vertraut gemacht - der Frühling endete, sobald es nötig wurde, Nasenfilter zu benutzen. Anderenfalls hätte er sich an den Insekten verschluckt, die in dieser Zeit so zahlreich wurden wie der Staub in der Dunkelwolke ringsum. Alles war auf Creon fremd für ihn: die Eingeborenen, von denen man nur wußte, daß es sie gab; die Bäume, die manchmal ein seltsames, oft tödliches Eigenleben entwickelten. Selbst das Rauschen des Windes klang in Tilmars Ohren anders, unangenehm wie das nervtötende Stakkato des Regens auf dem Dach des Hauses.
Und am Himmel war die Barriere nahe und verschluckte das Licht der Sternkonstellationen, die von inneren Welten zu sehen waren. Und ... Das Pfeifen des Wasserkessels riß den Mann aus seinem Brüten. Mit routinierten Bewegungen goß Tilmar sich seinen Kaffee auf, stellte den dickwandigen Becher, Milch, Zucker und den Teller mit den Broten auf ein Tablett und trug alles in den Wohnraum. Während Sherpaths Sternenglanz aus den Kuben der sechzehnkanaligen Stereoanlage drang, frühstückte der Mann. Vor dem breiten Fenster wurde es langsam hell. Die ersten Geräusche wurden hörbar: Aufbrüllende Motoren schwerer Lastfahrzeuge zerrissen die Stille des Morgens; einige Stimmen klangen auf, kamen näher und verschwanden dann wieder. Die Siedlung begann langsam zu erwachen. Tilmar sah kauend auf die Uhr - sieben Uhr dreißig, Zeit für die allmorgendlichen Nachrichten. Er schob das Tablett zurück, stand auf und ging hinüber zum Radio. Er hob den Glasdeckel von dem chromblitzenden Gehäuse und ließ ihn einrasten. Mit einem leisen Geräusch sprang der Knopf über die Sperre; die Kontrolllampe leuchtete auf. Aus dem Gerät kam nur ein Rauschen, gelegentlich gestört von einem schrillen Pfeifen. Verärgert suchte Tilmar das ganze Wellenband ab. Nichts! Irgendwo draußen, im Raum zwischen den vielen Monden und Planeten, mußte eine der unzähligen Relaisstationen einen Defekt haben, der die Kommunikationsbrücke über die ganze, ungeheure Entfernung von Malagath nach Creon und der Siedlung hatte zusammenbrechen lassen. In den vier Jahren seines Aufenthalts war dies nicht ein einziges Mal geschehen, erinnerte sich Tilmar. Ob er wollte oder nicht - er fühlte eine unerklärliche Unruhe in sich aufsteigen. Leise fluchend zog Tilmar Dave sich an. Der enge, von winzigen Pulsatoren beheizte Overall bereitete ihm wie gewöhnlich Schwierigkeiten. Dann schlüpfte er in die weichen, kurzen Stiefel und zog sich eine dick gefütterte Parka über, deren Kapuze er jedoch zurückgeschlagen ließ. Schließlich stand er im Türbogen des Hauses, das ihm für die Dauer seines Lehrauftrages vom Bürgermeister der Siedlung zur Verfügung gestellt worden war. Schnee fiel aus einem tiefhängenden, bleigrauen Himmel; der Wind trieb die Eiskristalle über die flachen Dächer der Häuser.
Der Winter hatte unwiderruflich Einzug gehalten auf Creon. Dann weiteten sich Tilmars Augen erstaunt ... Dort, wo der kleine Raumhafen der Siedlung lag, erhob sich inmitten des Schneetreibens ein von Buckeln bedecktes, zylinderförmiges Boot; es mußte lautlos mit Hilfe seiner Pulsatorfelder in der Nacht gelandet sein. „Was, zum Teufel, hat das zu bedeuten?" fragte sich Tilmar nachdenklich; mit der behandschuhten Rechten wischte er den Schnee fort, der sich in seinen Brauen festsetzte. Ein Boot des Pädagogischen Amtes war es gewißlich nicht; und von der kaiserlichen Flotte stammte es ebenfalls nicht; die Größe des Bootes sprach dagegen, es war viel zu unscheinbar. Außerdem wäre es in diesem Falle nicht derart heimlich gelandet; die Flottenoffiziere waren dafür berüchtigt, durch gewagte und folglich überaus lautstarke Manöver ihre Ankunft zu signalisieren - vermutlich, um den weiblichen Bewohnern der Zielstadt zu imponieren. Tilmar grinste sarkastisch. Die Mädchen Creons waren von einer so magenverknotenden Häßlichkeit, daß hier jeder Mann mit der Geräuschlosigkeit einer sinkenden Feder gelandet wäre, den Tag verfluchend, an dem die Eltern der Schönen den Unterschied zwischen den Geschlechtern entdeckt hatten. Unschlüssig stand Tilmar eine Weile unter der Tür; dann sah er, daß über die Rampe der unteren Schleuse Gleiter aus dem Innern des Bootes hervor jagten. Da sich die Schleuse rund zehn Meter über dem Niveau des Landefeldes befand, war die Rampe gut einzusehen. Als der Wind für einen Augenblick umschlug, glaubte Tilmar, Kampflärm zu vernehmen. Verwundert schüttelte er den Kopf; sicher hatte er sich getäuscht. Er gab sich einen Ruck. Seine Neugierde siegte über den Wunsch, sich der Kälte zu entziehen und ins Haus zurückzukehren. Er schloß die Tür hinter sich ab und ging zielstrebig zwischen den Häusern davon. Der Schnee lag bereits fußhoch; er würde noch höher steigen. Der Wind schlug wie mit scharfgeschliffenen Säbeln auf ihn ein, und der Schnee, der sich in seinen Haaren fing, begann infolge der Körperwärme zu tauen. Als erste Tropfen in seinen Nacken rannen, schlug er die Kapuze hoch.
Tilmar Dave schwenkte in die Hauptstraße der Minensiedlung ein; sie durchschnitt die kleine Stadt in Nord-Süd-Richtung und endete genau vor dem Landefeld. Der Lärm wuchs mit jedem Schritt, mit dem sich Tilmar dem Viereck des Feldes näherte; gleichermaßen schienen die Umrisse des Bootes zu wachsen. Schon konnte Tilmar den Schriftzug auf der fleckigen Stahlhülle des Schiffes erkennen. FREMLO stand in mannshohen Lettern zwischen zwei tropfenförmigen Geschützkuppeln; darunter war ein merkwürdiges Zeichen angebracht eine blutrote Flagge mit einem weißen Kreis darin. „Verdammt!" knurrte Tilmar. „Das hat uns noch gefehlt!" Es gab im ganzen System nur eine Sorte von Booten, die ein solches Zeichen führten: Shengas! Es waren die Piraten des Systems; ein ewiger und gleichermaßen schmerzhafter Stachel im Leibe des Reiches. Die FREMLO war ein Shengasboot, zweifellos. Aber was hatten die Piraten hier zu tun? Was gab es auf Creon.das die Landung des Bootes lohnend machen konnte? Tilmar vergaß diesen Gedanken augenblicklich, als die ersten .dumpfen Explosionen die Luft erschütterten. Aufblickend sah er, wie sich von der oberen Geschützkuppel der FREMLO ein Lichtblitz löste, über die Häuser hinwegzuckte und irgendwo am jenseitigen Rand einschlug. Nein - nicht irgendwo! Deutlich für Tilmar erkennbar, neigte sich der große Turm der Erzaufbereitungsanlage zur Seite, schwankte und brach dann in der Mitte auseinander. „Nein!" ächzte Tilmar gequält. Beim Großen Malagathen, dachte er entsetzt, dort arbeitet um diese Zeit rund ein Viertel der Stadtbewohner! Der Mann blieb stehen. Inmitten des immer stärker werdenden Schneetreibens verfolgte er mit aufgerissenen Augen, wie sich weitere Luken an den Seitenwandungen des Piratenbootes öffneten und noch mehr Gleiter herauskatapultiert wurden. Sie glitten schnell auf ihren Pulsatorfeldern über die Häuser davon zielstrebig, als wüßten die Piloten genau, wohin sie sich zu wenden hatten. Tilmar trat schnell unter ein vorspringendes Dach. Zwei Gleiter erschienen über den Dächern in seiner Nähe. Deutlich konnte er die
schwerbewaffneten Insassen erkennen, ihre mehr als abenteuerliche Kleidung. Und plötzlich wußte Dave, was die Shengas nach Creon geführt hatte. Seit zehn Tagen befand sich Kronprinz Thamur Reyin in der Stadt! Der rechtmäßige Erbe des Thrones von Malagath und allen seinen Lehen unter dieser Bezeichnung existierten die übrigen neunundvierzig Welten des Systems - hatte nur ein knappes Halbdutzend der besten Waffenmeister des Hofes bei sich - offiziell reiste er inkognito. Inoffiziell aber wußte Tilmar, daß der junge Lord auf mehreren Jagdausflügen lernen sollte, wie man sich gegen die mannigfaltigen Gefahren der Wildnis behaupten konnte. Und es gab für diesen Zweck wenige Welten, die sich besser als Creon eigneten. Tilmar hatte keine Zweifel mehr. Der Überfall galt der Person des Thronerben; der jetzt dreizehnjährige Junge war eine wahrlich lohnende Beute für die Shengas. Mit Thamur als Faustpfand konnte vom Malagathen jede nur denkbare Lösegeldsumme verlangt werden - er würde zahlen müssen, wollte er nicht als hartherziger Tyrann dje Volkswut auf sich ziehen. Daß diese Überlegungen nur am Rande eine Rolle spielten, sollte Tilmar niemals erfahren - hier gaben politische Motive den Ausschlag. Im Augenblick jedoch war Tilmar nur von einem Gedanken beherrscht: Der Hof mußte unter allen Umständen sofort von diesem Überfall erfahren. Sämtliche Duumvire und auch die Beamten des Pädagogischen Amtes waren schon aufgrund ihrer Erziehung und ihres Studiums auf das Herrscherhaus eingeschworen. Tilmar begann zu handeln und löste, ohne es zu wissen, eine Kette von Ereignissen aus, die das ganze System in Aufruhr stürzen sollten. * Wieder erschütterten Explosionen die Luft. östlich von Tilmars
Standpunkt zerriß das Schneetreiben und gebar eine gelbrote Feuersäule,
die senkrecht zweihundert Meter in die Atmosphäre stach, ehe sie sich
auseinanderfaltete wie die Krone eines Thunjabaumes.
Tilmar rannte mit weitausgreifenden Schritten in eine Seitenstraße hinein,
während ein einziger Gedanke in ihm hämmerte:
Du mußt die Funkstation noch rechtzeitig erreichen!
Es war die einzige Möglichkeit, Malagath davon zu unterrichten, welches
Unrecht hier auf Creon geschah. Der Kaiser mußte erfahren, daß man
seinen einzigen Sohn kidnappte und daß es ein Shengaboot war, das für dieses Verbrechen eingesetzt wurde. Thamur und die Waffenmeister waren im Haus des Bürgermeisters untergebracht; dorthinzulaufen und zu versuchen, die Männer und den jungen Lord zu warnen, schien aussichtslos und auch nicht ratsam. Es blieb die Funkstation. „Verdammt!" keuchte Tilmar. „Ich werde nicht zurecht kommen!" Dennoch hetzte er weiter; die Männer und Frauen der Stadt rannten in panischem Schrecken an ihm vorbei. Geschützdonner wurde vom Kreischen der Frauen und den Explosionen der Einschläge untermalt. Weiter vorn setzte einer der Gleiter seine Last auf der Straße ab; fünf Männer stiegen heraus. Ihre Kleidung erweckte den Anschein, als seien sie auf dem Trödlermarkt von Grants Planet erstanden worden; die blanken Läufe schwerer Energiestrahler machten einen anderen Eindruck - sie waren fabrikneu, erschreckend und absolut tödlich. Die Menschen auf den Straßen überschrien sich gegenseitig, während sie vor den Bewaffneten in andere Richtungen flohen. Tilmar erkannte, daß er nicht an den Piraten vorbeikommen würde. Gehetzt und außer Atem sah er sich nach einer anderen Möglichkeit um, zur Station zu kommen. Rechts von ihm tat sich eine schmale Gasse auf, die in die ungefähre Richtung der Funkstation zu führen schien. Während die Shengas auf der Straße Stellung bezogen und zu feuern begannen, schlug Tilmar einen Haken und verschwand zwischen den Häusern. Er setzte über einige Häuser hinweg, lief geduckt über die flachen Dächer mehrerer Häuser, auf denen ihm der stärker gewordene Wind fast die Luft nahm. Schließlich sprang er wieder herunter auf die Straße. Etwa zwanzig Meter voraus erkannte er den Eingang zur Funkstation; der kurze, blinkende Mast über dem Dach schien wie ein stählerner Finger in die Richtung nach Malagath zu zeigen. . Mit angewinkelten Armen und schmerzenden Lungen stürmte Tilmar Dave durch das Schneetreiben auf die Station zu. Der Haupteingang war leer. Tilmar lief durch die Halle nach hinten, wo er den Senderaum wußte. Die Tür war verschlossen; demnach war noch keiner der Stationsfunker hiergewesen - aber auch niemand aus der FREMLO.
Tilmar warf sich mit der ganzen Wucht seines Körpergewichts gegen die Tür - immer wieder. Draußen näherten sich die Männer der FREMLO. Das charakteristische Zischen der Energiewaffen war zu vernehmen. Tilmar hatte keine Zeit mehr zu verlieren. Mit einem letzten, verzweifelten Ansturm brach er durch die Tür. Suchend glitten seine Augen durch den Raum - dann hatte er entdeckt, was er benötigte. Vor ihm stand der leistungsstarke Raumsender der Minenstadt; er stürzte hinüber zu dem Gerät. Mit überhasteten Bewegungen aktivierte er den Sender. Lampen leuchteten auf, Zeiger bewegten sich. Walzenskalen drehten sich erst langsam, dann schneller, und ein tiefes Summen drang aus dem tischgroßen Gehäuse. Laute Rufe und Befehle draußen auf dem Gang erinnerten Tilmar Dave daran, daß er nur noch Sekunden zur Verfügung hatte, um den Notruf durch die Antennnen in die Richtung Malagaths zu jagen. Er griff nach dem Mikrofon. „Mayday! Mayday!" schrie er in die gerillte Fläche. „Shengas auf Creon! Tamur ist...!" Tilmar spürte noch den schmetternden Schlag zwischen den Schulterblättern. Seine Stimme versagte, und während sich eine rote Wolke über sein Bewußtsein legte, dachte er noch mit Bedauern, daß er nun doch nicht mehr Malagath und die Bars von Harbours Village sehen würde. Aber auch diese Gedanken lösten sich auf... 2. Bei den meisten Menschen ist das Tragen von Waffen nichts als der Versuch, das Fehlen von Hirn zu ersetzen. (Aus: „Der Weise von N'ameur 61"; Satire in drei Akten, Verfasser unbekannt) Thamur Reyin zog indigniert die Brauen hoch. Der Bürgermeister der Minenstadt auf Creon, ein fetter, stiernackiger Mensch mit den Umgangsformen eines Troglodyten, schmatzte mit einer fast bewunderungswürdigen Lautstärke. Die Mengen, die er auf seinem Teller aufgehäuft und rasend schnell hinuntergeschlungen hatte, ließen nur einen Vergleich zu - das Bunkern bei einem großen Frachtschiff. Rasch sah der Thronfolger nach rechts und links; die Waffenmeister hatten ihre Mahlzeit beendet. Zwar hätten die sechs Männer - je drei auf jeder Seite neben Thamur sitzend - auf seinen Befehl auch das opulenteste Mahl im Stich lassen
müssen, aber Thamur wußte, daß diese hochqualifizierten Männer seine Rücksichtnahme durchaus verdienten. Mit einem Seufzer der Erleichterung schob der dreizehnjährige Junge den Teller von sich. „Ich glaube, Sire", meinte einer der Waffenmeister halblaut, „Sie benötigen etwas Ruhe nach dem Diner!" „Nur zu, nur zu!" erklärte der Bürgermeister kauend, wobei er mit einem wohlgemerkt ausgerissenen - Geflügelbein herumwinkte. „Ihr wißt, wo Eure Gemächer sind!" Thamur war zu gut erzogen, um diesen offenkundigen Verstoß gegen die Etikette angemessen zu rügen; er erhob sich, verbeugte sich fast unmerklich und verließ den Raum, je drei Waffenmeister vor und hinter ihm. „Die Aufführung dieser Kreatur, Sire", sagte einer der Männer, „wird nur noch von den Flegeleien Haycos, des Narren, übertroffen!" „Er ist Bürgermeister", meinte Thamur nachsichtig lächelnd, „also laßt ihn für einen Menschen gelten!" Die Waffenmeister verzogen das Gesicht zu einem geringschätzigen Lächeln. Es waren sechs hochgewachsene, hagere Männer mit kurzgeschnittenem Haar. Jeder von ihnen trug seinen Namen zu Recht. Sie kannten alle Arten von Waffen, und sie wußten auch damit umzugehen. Jahrelanges Training und unerbittliche Auslese ließen sie zu den besten Kämpfern werden, die das Kaiserreich kannte - unermüdlich, von bewunderungswürdiger Perfektion und mit untrüglichen Instinkten für Gefahren. Sie reagierten auch sofort, als sie das dumpfe Krachen hörten, mit dem die Erzaufbereitungsanlage zusammenbrach; in Sekundenbruchteilen hatten sie ihre Energiewaffen entsichert und einen Ring um Thamur gebildet. „Sie sollen entführt werden, Sire!" rief einer; er hatte aus der Explosion sofort auf einen Überfall geschlossen und wußte auch, wem dieser Angriff galt. „Nach oben!" befahl Thamur, der inmitten der dunkelrot uniformierten Waffenmeister kaum zu sehen war. „Wir brauchen eine gute Deckung!" Rasch eilten die Männer die hölzerne Treppe hinauf in das Obergeschoß des Bürgermeisterhauses; einer der Waffenmeister rannte sofort zu einem Fenster und spähte hinaus.
„Shengas!" meldete er knapp. „Ein Boot von mittlerer Größe - etwa dreihundert Mann kann es transportiert haben. Sie kommen auf das Haus zu!" Wortlos ging einer der Männer zur Treppe zurück und feuerte einmal; das ausgedörrte Holz der Konstruktion ging augenblicklich in Flammen auf. Minuten später brachen die Stufen herunter. „Wieso konnten sie unbemerkt landen?" fragte Thamur nachdenklich; er wiegte einen Strahler in der Hand, der für sein Alter entsprechend umkonstruiert worden war. „Verrat!" erwiderte der älteste der Waffenmeister lakonisch. Am Fuß der zusammengestürzten Treppe erschien der Bürgermeister, die fleckige Serviette noch um den Hals geknotet, und jammerte laut, während einige Bedienstete mit Feuerlöschern den Brand erstickten. Ein leiser Handwink Thamurs genügte, damit ein Waffenmeister den Schreihals durch einen kurzen Feuerstoß vertrieb. „Attentat oder Entführung?" rätselte der Junge. Grimmig lächelnd deutete der Beobachter auf die Feuersäule, die zwischen den Häusern emporstach - die Shengas hatten die Funkstation gesprengt. „Für ein Attentat hätte ein Schuß auf dieses Haus genügt, Sire!" erklärte er. „Man will Euch lebend haben!" Ohne sich beraten zu haben, verteilten sich die Waffenmeister. Zwei bezogen an der Treppe Stellung, zwei weitere stellten sich am Fenster auf, und die anderen überwachten die beiden Ausgänge des Zimmers. Bis zum Haus des Bürgermeisters waren die Piraten fast ohne Widerstand vorgedrungen, dann aber stießen sie auf eine massive Feuerwand; zwei Gleiter, die mit Höchstfahrt auf das Gebäude zujagten, stürzten qualmend ab und detonierten. Sobald sich ein Shenga zwischen den umliegenden Häusern zeigte, fiel er zurück - die Waffenmeister verstanden ihr Handwerk. Bald hatte sich um das Haus eine erschreckend große Menge von Piraten versammelt, die das Gebäude mit rasendem Feuer belegten. Thamur lachte höhnisch auf. Aus der Entfernung, die die Piraten vorsichtshalber einhielten, erwies sich ihr Feuer als nahezu wirkungslos. Die gebündelten Strahlen schlugen in die Wände ein und erzeugten lediglich Löcher von geringer Tiefe. Und sobald sie heranrückten, starben sie im präzisen Feuer aus dem Obergeschoß. „Wie lange reicht die Munition?" wollte Thamur wissen.
„Für einige Stunden!" erwiderte einer der Männer. „Wenn sich die Shengas nicht bald etwas anderes einfallen lassen, werden sie nie bis ins Haus kommen!" Die Piraten ließen sich etwas einfallen. Eine Gruppe von ihnen stand völlig synchron plötzlich auf und schoß wie rasend auf das Fenster, so daß die Waffenmeister sich in Deckung begaben. Die Strahlen schlugen in die Decke; Kalk rieselte aus den kleinen Kratern und überzog die Männer mit einer weißen Schicht. Im Feuerschutz ihrer Kameraden rannten einige weitere Shengas auf das Haus zu und drangen in das Innere des Gebäudes ein; durch das Donnern der Waffen kaum vernehmbar, erklang von unten ein heiserer Schrei - der Bürgermeister war den Piraten vor die Läufe geraten. Thamur schluckte etwas. Natürlich starben täglich Zehntausende von Menschen auf den verschiedenen Welten des Systems, aber es war dem Jungen bisher erspart geblieben, ein bedrückendes Gefühl kennenzulernen - die quälende Gewißheit, daß ein Mensch, den man persönlich kannte, unwiderruflich verschwunden war. In diesem Augenblick beschloß er, in jedem Fall so viele der feigen Mörder zu töten, wie ihm möglich war. Das Gefecht zog sich in die Länge. Die Shengas waren offensichtlich nicht daran interessiert, den Kronprinzen als Toten in die Hände zu bekommen; sie brauchten ihn unverletzt. Daran aber hinderten sie die Waffenmeister, die ihren Ehrennamen - „Gilde der tausend Unsterblichen" - erneut bestätigten. Erschien auch nur der Arm eines Shenga hinter irgendeinem Winkel, um eine Narkobombe zu werfen, besaßen die Piraten wenig später einen Mitkämpfer weniger. Die Shengas zahlten bei diesem Angriff einen Blutzoll wie nie zuvor in der Geschichte der fünfzig Welten. „Es wird interessant!" meldete einer der Verteidiger des Fensters und winkte Thamur heran. Die Piraten hatten ihr Dauerfeuer eingestellt; zwischen den Häusern schob sich eine gepanzerte Energiekanone auf das Haus des Bürgermeisters zu. Thamur sah den Vorgang, und er ahnte, was das Manöver bedeutete. „Freunde!" sagte er leise. „Bereitet euch darauf vor, das Abendessen beim Galaktischen Geist einnehmen zu müssen!" Die Waffenmeister zuckten mit den Schultern; sie wußten, daß der Preis für ihre soziale Stellung und die Annehmlichkeiten ihres Berufes im Risiko des eigenen Todes bestanden.
Die Shengas brachten das Geschütz in Stellung und feuerten.
Krachend schlug der Strahl in das Erdgeschoß ein und riß ein großes Loch
in die Außenmauer; das Gebäude erzitterte unter der Wucht des
Einschlages.
„Die Fahne!" befahl Thamur laut.
Die Waffenmeister verzogen keine Miene, obwohl sie alles andere erwartet
hatten, nur nicht dieses Kommando.
Als das weiße Tuch im Rahmen des Fensters erschien, stoppten die Piraten
ihren Beschuß. Eine bedrückende Stille lag über der Siedlung, nur
durchbrochen vom Prasseln einiger Brände.
Thamur begab sich zur Treppe und rief hinunter:
Alle Bewohner des Hauses verlassen sofort das Gebäude! Aber schnell!"
Er ging zurück zum Fenster, an dem noch immer einer der Waffenmeister
die Fahne zeigte, und sah hinaus. Die Hände hoch über den Kopf haltend,
verließen die Bediensteten und die Familie des Bürgermeisters das Haus;
die Shengas ließen sie unbehelligt passieren.
„Das Tuch weg!" sagte Thamur scharf; die Waffenmeister nickten
anerkennend.
„Geben Sie auf, Sire!" schrie ein transportabler Lautsprecher zum Haus
hinüber.
„Bringt den Schreier zum Schweigen!" befahl Tamur gelassen. „Der Sohn
des Malagathen stirbt, aber er ergibt sich nicht! Und ihr?"
Die Männer lachten rauh und verächtlich; sie wußten, daß sie sich nicht
ergeben konnten. Zwar wären sie im Falle echter Todesgefahr von allen
Vorwürfen freigesprochen worden, aber die soziale Ächtung, der sie mit
absoluter Sicherheit verfallen würden, war schlimmer als der Tod durch
einen Energiestrahl.
Zwei Schüsse genügten, um den Lautsprecher in einen weißglühenden
Metallkuchen zu verwandeln; die Piraten antworteten, indem sie die
Kanone wieder feuern ließen.
Stück um Stück rissen die Strahlen aus dem Gemäuer des Erdgeschosses;
in den Wänden darüber zeigten sich Risse, die sich bedrohlich erweiterten.
Noch einmal brüllte das Geschütz der Piraten auf.
Dem Donnern der Explosion folgte ein Ächzen, langsam neigte sich der
Raum, in dem sich Thamur und die Waffenmeister befanden, vorn über,
dann krachte er schräg herunter.
Die Männer wurden durcheinandergewirbelt, verloren ihre Waffen; Staub wirbelte hoch, nahm ihnen die Sicht und verursachte einen würgenden Husten. Laut schreiend vor Begeisterung rannten die Shengas auf die Ruine zu und drangen in den Raum ein; als sie bemerkten, daß keiner der Verteidiger mehr eine Strahlwaffe besaß, stürmten sie vor. Thamur konnte ein verächtliches Grinsen nicht unterdrücken. Einen Mann - auch wenn er nur dreizehn Jahre alt war - anzugreifen, der durch die gnadenlose Verteidigungsschule eines Kevinhag Gaunt gegangen war, war gleichbedeutend mit dem Versuch, eine Giftschlange zu küssen das Ergebnis war tödlich. Ähnliches galt für die Waffenmeister; als die Piraten nahe genug heran waren, verwandelten die Männer sich in Kampfmaschinen. Handkanten, in stahlverstärkten Handschuhen steckend, sausten auf die Piratenköpfe herunter; innerhalb weniger Minuten verwandelte sich der Raum in ein Schlachtfeld. Der Anführer der Piraten erkannte sehr schnell den verhängnisvollen Fehler, mit den Waffenmeistern und dem Kronprinzen den Nahkampf zu wagen, und er versuchte, seine Männer wenigstens teilweise zurückzukommandieren, Vergeblich. Seine Befehle gingen unter im Wimmern der Verwundeten und im Kampfgeschrei der Unverletzten. Wie im Blutrausch stürmten die Shengas auf den Thronfolger und seine Gefährten ein. Ein Mann stürzte sich auf Thamur und prallte zurück, nachdem ihm das Knie des Jungen den Unterkiefer gebrochen hatte; ein zweiter bekam einen spitzknochigen Ellenbogen in die Magengrube und sank ächzend zusammen. Als Thamur sich halb herumdrehte, sah er genau vor sich einen Mann stehen, der mit einem abgebrochenen Stuhlbein zum Schlag ausholte; der Handkantenschlag des Jungen teilte das Holz, und der Angreifer rutschte auf dem Boden aus. Trotz des verzweifelten Widerstands lichteten sich die Reihen der Verteidiger; ein Waffenmeister stürzte über eine Leiche und war in Sekunden unter einem Haufen von Piraten verschwunden. Erst als die Shengas einen zweiten Lautsprecher herangeschafft hatten, wandelte sich das Bild; auf das Brüllen des Piratenchefs hin wurden drei besinnungslose Waffenmeister abtransportiert.
„Thamur Reyin!" schallte es aus dem Megaphon. „Wenn Ihr Euren Widerstand nicht augenblicklich einstellt, werden drei Euer Männer sterben!" Der Thronfolger hätte den Anruf fast überhört, als er einen Angreifer über die Schulter hebelte und ihn durch den Raum fliegen ließ; dann aber besann er sich. „Ich höre!" schrie er mit aller Stimmkraft, während er ein Langschwert aufhob und herum wirbelte; die Piraten rückten erschreckt etwas von ihm ab. „Ergebt Euch!" wiederholte der Piratenchef. „Oder Eure Waffenmeister werden sterben!" Thamur warf einen raschen Blick in die Runde; drei seiner Männer standen noch, aber sie bluteten aus mehreren Wunden, und ihre Uniformen hingen zerfetzt an ihren Körpern. „Wir garantieren für das Leben Eurer Gefährten!" erklärte die Lautsprecher-Stimme. Thamur lächelte bitter. Er wußte, daß man für sein Leben selbstverständlich nicht garantieren würde - es sollte schließlich den Gegenwert zum Lösegeld darstellen. Minutenlang herrschte in dem verwüsteten Raum eine atemberaubende Stille. Noch einmal sah Thamur zu seinen Gefährten hinüber, dann senkte er den Kopf; er fühlte, daß er die Verantwortung für das Leben dieser Männer nicht länger tragen konnte. Entschlossen hob er das Schwert und hieb es dreimal auf einen angekohlten Balken dicht vor ihm. Dann ließ er die Waffe fallen. * Als die FREMLO mehr als zwei Stunden nach ihrer Landung wieder vom Landeviereck Creons abhob, ließ sie hinter sich eine brennende Stadt; über ein Dutzend Gebäude waren von der Geschützkuppel des Schiffes aus zerschossen worden. Der Rauch aus zahlreichen Bränden hatte sich mit dem Schnee vermischt, der ein schmutzig-braunes Kristalltuch über die Ruinen breitete. In den verkohlten oder noch schwelenden Trümmern lagen etwa achtzig Bewohner der kleinen Minensiedlung, die den inoffiziellen Besuch des Thronfolgers bitter hatte büßen müssen.
Die Stimmenzahlen für die Volkspartei werden in die Höhe schnellen dachte Thamur. Er stand neben einem Bullauge und starrte mit versteinertem Gesicht auf den Planeten zurück; in seiner Nähe befanden sich zehn Shengas, die ihre Waffen drohend auf ihn richteten. Die Waffenmeister waren - zu Thamurs großem Erstaunen - ärztlich behandelt worden und lagen jetzt, verschnürt wie Postpakete, in getrennten Kabinen; sie wurden ebenfalls scharf bewacht. Die FREMLO wurde von ihren Pulsatoren beschleunigt und jagte fast genau senkrecht zur Bahn des Planeten Delta Ursa in den Raum. Thamur, der über gute astronomische Kenntnisse verfügte, durchschaute den Plan der Kidnapper. Die FREMLO wollte den annähernd scheibenförmigen Sektor verlassen, in dem ein großer Teil der fünfzig Welten das Muttergestirn umkreiste, um dann in einem weiten Bogen über die Sonne hinweg einen Planeten auf der anderen Seite von Delta Ursa anzufliegen. Man hatte den Jungen in die Kommandozentrale geführt, wo er die Manöver des Navigators sehr genau beobachten konnte. Und er konnte auch vorzüglich hören, wie sich der Anführer der Piraten mit einem Unbekannten unterhielt. „Wissen Sie überhaupt, wie viele Leute . uns dieser Überfall gekostet hat?" schrie der Piratenchef erbost. „Einhundertdreißig Mann!" „Sie haben sich verrechnet!" behauptete der anonyme Gesprächspartner; Thamur fragte sich verzweifelt, wo er diese gefühlskalte Stimme schon einmal gehört hatte. „Ich werde doch noch Leichen zählen können!" brüllte der Pirat. „Die FREMLO hat praktisch nur noch eine halbe Besatzung!" „Meinethalben!" sagte es seufzend aus dem Lautsprecher. „Wir werden die Lösegeldsumme entsprechend erhöhen. Wenn Sie das Geld dann durch den Rest der Mannschaft teilen, hat jeder genug, um sich zur Ruhe zu setzen!" „Auf dieser Basis können wir uns einigen!" meinte der Shenga, sich etwas beruhigend. „Fünfzig Prozent mehr!" „Sie sind wohl übergeschnappt?" fragte der Fremde scharf zurück. „Fünfundzwanzig, und kein Prozent mehr!" „Wir können das Geschäft auch allein machen!" warnte der Piratenchef. Aus dem Lautsprecher kam ein sarkastisches Lachen. „Reden Sie keinen Unsinn!" bekam der Pirat zu hören. „Wir brauchen den Jungen, um unsere Ziele durchsetzen zu können - selbstverständlich. Aber Sie brauchen uns noch mehr, wenn Sie daran interessiert sind, Ihren erpreßten Wohlstand auch zu genießen - was glauben Sie, wie schnell man
Ihr Versteck aufgespürt hat, wenn wir nicht die Arbeit der Polizei lahmlegen!" Der Shenga antwortete mit einem Fluch. „Also gut!" sagte der Unbekannte. „Sie sollen Ihre fünfzig Prozent haben damit Sie den guten Willen unserer Organisation kennenlernen. Aber das Geld wird von uns in Raten ausgezahlt. Wir können nicht riskieren, daß einer Ihrer Männer durch plötzliche Geldverschwendung so sehr auffällt, daß wir nicht mehr helfen können!" „Einverstanden!" brummte der Pirat zufrieden lächelnd. „Im übrigen halten wir uns an Ihre Anweisungen!" „Nur zur Klarheit - Sie fliegen also..." „Thamur hört mit!" unterbrach der Shenga hastig. „Sie sind und bleiben ein Narr!" wurde er gescholten. „Ich hoffe, Sie haben wenigstens meine Anordnungen behalten!" „Vollständig!" beteuerte der Pirat. Ohne weitere Bemerkungen unterbrach der Unbekannte die Funkverbindung; zufrieden grinsend drehte sich der Shenga zu Thamur herum. Auch der Thronfolger hatte Grund zur Zufriedenheit, und er strengte sich sehr an, um seine Genugtuung nicht zu zeigen. Er wußte jetzt, wer ihn hatte entführen lassen, und er konnte sich auch ungefähr denken, welche Forderungen man - neben dem Lösegeld - an seine Eltern stellen würde. Sekundenlang dachte er über die Art und Weise seines zukünftigen Vorgehens nach, dann hatte er einiges ausgekramt aus der Trickkiste, die Kevinhag Gaunt während einiger Jahre reich gefüllt hatte. Er zog die Nase hoch und produzierte ein paar Tränen; sein Gesicht verzog sich zu einer weinerlichen Grimasse. „Was haben Sie mit mir vor?" schluchzte er. Der Pirat tätschelte ihm freundlich die Wange; Thamur hatte Mühe, den Impuls zu unterdrücken, der ihn dazu trieb, dem Shenga die gefesselten Hände ins Gesicht zu schlagen. Gleichzeitig beglückwünschte er sich innerlich zu dem schlechten Gedächtnis des Piraten, der anscheinend vergessen hatte, mit welcher Kaltblütigkeit der Junge vorher gekämpft hatte. „Dir wird nichts getan werden, mein Junge!" beteuerte der Shenga. Der Junge schniefte und lächelte unter Tränen. „Darf ich mir das Schiff einmal ansehen?" fragte er schüchtern. „Ich habe noch nie so ein Schiff von innen gesehen. Es muß Spaß machen, damit zu fliegen!"
„Das macht es, mein Kind!" versicherte der Shenga. Erneut aufschluchzend hielt Thamur dem Piraten seine gefesselten Hände hin; Sekunden später war er frei und wurde ans Navigationspult geführt. Während der Shenga ihm umständliche Vorträge über die Bedeutung des Astrogatorenpultes hielt, studierte Thamur aufmerksam die Kursunterlagen. Obwohl er von Schiffen dieses Typs selbst die Positionen einzelner Nieten kannte, spielte er erstaunlich echt den kleinen Jungen, der ein Wunder der Technik bestaunt. Als es dem Piraten zuviel wurde, übergab er den Thronfolger seinen Bewachern und befahl ihnen, Thamur alles Interessante zu zeigen. „Ist das herrlich!" jauchzte der Junge Minuten später. „Das ist aber ein feines Spielzeug!" Gegenstand seines Vergnügens war die Klimaanlage, die er mit wenigen, anscheinend ungeschickten Handbewegungen so umgestellt hatte, daß aus den Lüftungsschächten in Minutenabständen eiskalte und flirrendheiße Luft in die Räume gepumpt wurde. Zu seinem Glück bemerkten die Piraten nicht, daß er sich selbst für einen normalen Dreizehnjährigen entschieden zu infantil anstellte; statt dessen amüsierten sie sich mit ihm über den kleinen Scherz und gingen in ihrer Begeisterung so weit, ihm sogar eine der Geschützkuppeln zu zeigen. „Damit kann man richtig schießen?" fragte Thamur naiv. „Wie macht man das?" Geduld erklärten ihm seine Bewacher die einzelnen Geräte, schalteten sie ein und ließen die vielen lustigen, kleinen Lämpchen aufleuchten. „Und dann muß man hier auf diesen Knopf drücken!" erzählte einer der Wächter. „Etwa so?" fragte Thamur, während er bereits auf den Bedienungsknöpfen herumspielte. Die FREMLO erbebte in allen Verbindungen, als die Geschütze unregelmäßig feuerten. „Jetzt hat der Spaß aber ein Ende!" brüllte der Anführer über die Bordkommunikation. „Packt euch den Balg und sperrt ihn irgendwo ein!" »Du bist genauso gemein wie meine Mutter!" heulte Thamur los. „Ich hasse dich!« Nachdem die Shengas die Geschütze wieder zum Schweigen gebracht hatten, ergriffen sie den laut plärrenden Kronprinzen und schleppten ihn einige Gänge entlang zu einer Kabine.
„Beim nächsten Streich gibt es Prügel!" drohte einer der Wächter, bevor er die Tür hinter sich verriegelte. Als Thamur das Schnappen des Schlosses hörte, warf er sich auf das fellüberzogene Bett und lachte lautlos in sich hinein. 3. Bereits nach einem Aufenthalt von einem Monat im System Delta Ursa mußten wir erkennen, daß die übliche Methodik der Untersuchung hier nicht anwendbar war. In allen anderen Fällen, in denen Kartographenschiffe Nachkommen der Großen Flucht zwischen 3617 und 3645 auf den Planeten ihrer Zuflucht aufgestöbert hatten, waren die soziologischen und kulturellen Verhältnisse nur unwesentlich verändert. Fast alles war so geblieben, wie es vor dem Zusammenbruch der Konföderation ausgesehen hatte. Delta Ursa bildete eine der Ausnahmen, wahrscheinlich die größte. Wir fanden eine Zivilisation, die in die Anfänge des Barbarentums zurückgefallen war; obwohl mit einer relativ hochwertigen Technik versehen, glich die Kultur der fünfzig Welten verblüffend den Horden des Demetho Khan, die in den Jahren 3177 bis 3224 mit ihren kleinen schnellen Schiffen ein kurzes, blutiges Gastspiel auf der kosmischen Bühne gegeben hatten. Wahrscheinlich werden wir nie erfahren, aus welchen Gründen Bargheer Malagath den bekannten galaktischen Standard verlassen hat, als er mit dem Flüchtlingstreck dieses System aufsuchte. Hatte sich sein Geist krankhaft verändert? Oder war es die Neugierde, der Spieltrieb der Mächtigen, die ihn dazu brachte, zu testen, was man mit einer bestimmten Anzahl von gefügigen Menschen, einem Maximum an Technik und einem Bündel von Sagen und Märchen in einem vollkommen isolierten Planetensystem an Absonderlichkeiten durchspielen kann? Aber diese Überlegungen sind zu diesem Zeitpunkt müßig - die Chronik hat noch zu viele Lücken. Es darf aber schon jetzt als gesichert gelten, daß unmittelbar nach dem Einzug der Menschen in diese Dunkelwolke der Grundstein zu jenem präfeudalen Herrschaftssystem gelegt worden ist, das nun in höchster Blüte vor uns ausgebreitet liegt - wobei der Begriff „unmittelbar" numerisch eine Zeitspanne von einhundertzwanzig Jahren umschließen dürfte.
Was können wir sehen: Achtzehn Planeten liegen in der ökologischen
Sphäre der Sonne Delta Ursa. Auf fünf dieser Welten leben die Menschen
in einem Höchstmaß von Luxus und Verschwendung.
Es sind dies die Planeten:
Malagath, von allen Systembewohnern das Juwel genannt;
Phoe;
Genthi;
Basan;
Chia.
Jede dieser Welten ist in ihrer Art einzigartig; wir wissen nicht, wer ihr
Aussehen einst geformt hat, aber es muß ein ästhetisches Genie gewesen
sein. Dieser Mensch - vielleicht waren es auch mehrere - muß über
unbegrenzte Mittel verfügt haben, denn auf den fünf Welten ist nichts mehr
so geblieben, wie es die Natur geschaffen hatte. Die gesamte Oberfläche
wurde verplant, bebaut und bepflanzt; Seen geschaffen und Flüsse
umgeleitet; ganze Bergzüge abgetragen und an anderer Stelle neu
geschaffen.
Nun ist daran gewiß nichts Außergewöhnliches; auch innerhalb der Galaxis
gibt es Planeten, die vom Menschen bis in die kleinste Einzelheit
umgeformt wurden.
Delta Ursas fünf Sternperlen aber zeichnen sich durch eines aus:
Auf diesen Planeten gibt es nichts Unharmonisches; selbst Häßliches fügt
sich nahtlos in das Gesamtbild. Alles ist künstlich, wirkt aber im
Zusammenhang natürlicher als vorher. In unserer Milchstraße gibt es
nichts Vergleichbares.
Neben diesen Naturparks in Planetengröße wirken die anderen dreizehn
bewohnten Welten erschreckend unzivilisiert und roh: sie dienen den
anderen Planeten lediglich als Rohstofflieferanten.
Verwaltet wird das System von Malagath aus. In der Hauptstadt des
Planeten, die ebenfalls den Namen des Entdeckers trägt, residiert der
Herrscher. Über ein sorgfältig abgestuftes System von Präfekten,
Unterpräfekten und anderen Untergebenen regiert er mit recht lockerer
Hand.
Bezeichnenderweise trägt der Kaiser neben diesem Titel auch noch das
Prädikat „Malagath" in seinem Namenszug; diese Tatsache lieferte uns
auch die ersten Hinweise dafür, daß der geniale Kartograph das System
nach seinen Vorstellungen eingerichtet hat. Man erinnere sich der
Tetrarchie im Imperium Romanum zur Zeit Diocletians - die Stellung der
über je eine Hälfte des Reiches herrschenden Männer wurde durch den Namen des Augustus gekennzeichnet; die vier Unterherrscher nannten sich Caesares. Nötigte uns die einmalige Pracht der Hauptwelten Hochachtung ab, so reizte uns eine weitere Entdeckung zu einem fast mitleidigen Lachen. Die gesamte Technik des Systems basiert auf Pulsatoren. Sie dienen als Antrieb der kleinen, aber unerhört wendigen Boote, liefern ihnen die Energien und die Munition für die Geschütze. Alle Energie kommt aus Pulsatoren - die Technologie ist genau in der Zeit der Großen Flucht stehengeblieben. Dies erklärt natürlich auch die Tatsache, daß in all den vergangenen Jahrhunderten noch nie ein Schiff den Versucht wagte, über die Barriere hinauszustoßen und mit den Menschen in der Galaxis Kontakt aufzunehmen. Denn: Pulsatoren in den Größenordnungen, wie sie in den Schiffen des Flüchtlingstrecks zweifellos als Antrieb dienten, gibt es im System Delta Ursa nicht - obwohl die technologischen Voraussetzungen zum Bau solcher Riesenapparate durchaus gegeben sind. Unsere Aufgabe für die nächsten Wochen wird darin bestehen, zwei Fragen von unterschiedlicher Wichtigkeit zu klären: Was hat die Bewohner dieses Sonnensystems davon abgehalten, nach einigen Jahrhunderten nachzusehen, ob es nicht auch andere Welten gibt, die den Zusammenbruch der Konföderation überstanden haben? Und woher bekommen wir ein neues Kartenspiel? Sheila, unsere hinreißende Makrobiotikerin, hat das letzte Spiel in den Abfallkonverter geworfen - und das nur, weil sie bei einem Spielchen unter Männern als fiktiver Gewinn achtzehnmal den Besitzer wechselte und jeder sie sofort wieder verlieren wollte. Sie wird doch nicht etwa verärgert sein? (Kustos Gern Narbath, Navigator der SUNPOWER; Nachtrag zu den Aufzeichnungen des Bordbuches; Bandspule 008/2. 14. Dezember 5545.)
Es war später Abend, als Kevinhag Gaunt das Rasthaus an der Peripherie Malagaths - der Kaiserlichen Stadt - erreichte; er drosselte die Geschwindigkeit seines Gleiters und bog von der Hauptspur ab in die S förmige Ausfahrt, die zum Parkplatz führte. „Es ist das Erreichen selbst kleiner Ziele, das das Leben so schön macht!" sprach er vor sich hin. „Und wenn es nur ein freier Parkplatz ist!"
Er lenkte den Gleiter über die betonierte Fläche und parkte die zerschrammte, verstaubte Doppelschale genau zwischen zwei fabrikneu schimmernden Gleitern der Marke Royal Flash. Würgend und mit dam charakteristischen Gestank nach schmorenden Wicklungen beendete die Maschine ihre Arbeit, die Pulsatergeneratoren erzeugten keinen Kraftstrom mehr. Mit einem harten Ruck setzte der Gleiter Kevinhags auf. Das Mädchen auf dem zweiten Sitz erwachte dennoch nicht. Der Mann nahm die Sonnenbrille von den Augen und verstaute sie in der Brusttasche seiner arg mitgenommen wirkenden Jacke. Vom Armaturenpaneel griff er die zerknautschte Packung und zündete sich eine Zigarette an. Nach genau zwanzig Sekunden stieg er müde aus dem Schalensitz und erschauerte unwillkürlich, als ihn der kühle Abendwind gegen den Rücken stieß. Das Rasthaus war ein hellgefärbter Kunststoffwürfel mit einer Kantenlänge von fünfundfünfzig Metern und einem flachen Dach; der größte Teil bestand aus transparenten Flächen. Vor dem Haus lag der Parkplatz unter hohen, windgebeugten Koniferen; hinter dem Gebäude erstreckte sich ein Landefeld. Bevor er in den Parkplatz eingebogen war, hatte Gaunt im Dämmerlicht die stumpfnasigen Kegel von vier kleineren Booten erkannt; keines war ein kaiserliches Schiff, ein Umstand, der nicht unwesentlich zu seiner Beruhigung beitrug. Er ging um das Fahrzeug herum. Der harte Ausdruck in den graublauen Augen wich etwas, als er auf das schlafende Mädchen blickte; es lag zusammengerollt auf dem umgeklappten Sitz. Eine Strähne des langen, schwarzen Haares hing ihr ins Gesicht. Die Wangen waren vom Schlaf gerötet. Kevinhag beugte sich zu ihr herunter und berührte mit den Fingerspitzen ihre Stirn. Er flüsterte zärtlich: „Erwache, Gefährtin meiner Einsamkeit!" Sie schlug die Augen auf und war sofort hellwach; in einer Reflexbewegung glitt ihre Hand zu der Schockwaffe, die neben ihr auf dem Sitz lag. Dann erkannte sie Gaunt. „Langsam, Mädchen!" sagte Kevinhag. „Du bist nicht mehr in der Wildnis. Dies hier ist Malagath, das Juwel unter allen Welten des Systems, die Unvergleichliche, die Herrliche..." „Deine Sarkasmen sind stumpf geworden."
Sie massierte sich die Schläfen mit ihren schlanken Fingern.
„Vor dreißig Tagen noch hattest du andere, treffendere Ausdrücke für die
Kaiserliche Welt, für den Malagathen!"
Er half ihr aus dem Gleiter; Thory war ein hochgewachsenes Mädchen,
wohlproportioniert und mit einer Selbstsicherheit ausgestattet, wie man sie
nur noch am Hofe der Kaiserin vorfand.
„Vergib mir!" sagte Gaunt. „Ich verspreche, mich zu bessern - aber nicht
hier und nicht heute!"
Sie blickte prüfend in sein Gesicht.
„Wovor fürchtest du dich, Kev?"
Sie sprach die Koseform seines Namens mit einer Weichheit, die auf
unbedingte Vertrautheit in jeder Hinsicht schließen ließ.
„Was ist es, das dich beunruhigt? Die Stadt mit ihren Reizen? Die Soldaten
des Kaisers? Oder hast du Angst, du könntest weichgemacht werden von
der Erinnerung?
Immerhin warst du einmal Mitglied des Kaiserlichen Offizierskorps.
Waffenmeister durftest du dich nennen. Trauerst du diesen Zeiten nach?"
Leicht verärgert warf Kevinhag die Zigarette auf den Boden und zertrat die
Glut; die Kraft, die er in diese Bewegung legte, verriet, daß er damit
symbolisch seine Vergangenheit zertrat.
„Mädchen!" sagte er rauh. „Solltest du jemals bemerken, daß ich mich
nach diesem Leben zurücksehne, dann vergiß mich schnell und gründlich.
Ich wäre es nicht wert, daß man meiner Asche auch nur eine einzige Träne
nachweint. Ich habe nichts weiter getan als das, was ich tun mußte - im
vollen Bewußtsein aller Konsequenzen, die darauf folgen würden."
Er lächelte leicht.
„Mit einer Ausnahme allerdings - ich konnte nicht vorhersehen, daß der
verkrachte Waffenmeister bei einer vielumschwärmten jungen Dame
erfolgreicher sein würde als zuvor. Über diese Konsequenz freue ich mich
aufrichtig - alles andere will ich vergessen. Und wenn du nicht willst, daß
ich böse werde, dann höre bitte auf, mich an diese Zeit zu erinnern!"
Gaunt hatte hart gesprochen; in seinen Augen blitzte Ärger auf. Er sah das
Mädchen scharf an.
„Hast du sonst noch etwas auf dem Herzen, das du loswerden möchtest?"
Sie nickte und antwortete:
„O ja! Ich könnte einen Happen zu essen brauchen - und etwas Kräftiges
zu trinken!"
Thory lachte, während Kevinhag kopfschüttelnd sagte:
„Ich glaube, nur komplette Narren werden aus Frauen klug!"
Er beugte sich noch einmal in den Gleiter hinein und drückte einen Kontakt nieder; knarrend schloß sich das Faltverdeck über der sonst offenen Schale. Der Mann hatte in einem Ledersack auf der Rückbank ein paar Utensilien, die er wenn irgend möglich noch länger besitzen wollte. Und die Gilde der Taschendiebe war gerade in der Umgebung Malagaths recht eifrig. Danach gingen sie über den Rasen auf den Eingang des Rasthauses zu. Ein bösartiges Summen klang auf; um den Stamm einer mächtigen Konifere kurvte das flache Oval eines Rasenmähers und schoß auf die beiden Menschen zu. Lauernd erwartete Gaunt die Maschine; als sie nahe genug heran gekommen war, trat er schnell einen Schritt zur Seite und bedachte den vorbeibrummenden Robot mit einem kräftigen Tritt. Irgendein Teil im Innern des Metallgehäuses kreischte protestierend auf; der Mäher schlingerte über den Rasen und köpfte dabei einige sehr wertvolle Blumen, die in den Rondellen wuchsen. Dann wurde das Kreischen der gelblackierten Maschinen leiser; als sie um die nächstgelegene Ecke bog, hörte man sie nicht mehr. „Kevinhag Gaunt, der Rebell... im Kampf mit einer idiotischen Maschine!" Thorys Augen blickten spöttisch. „Es macht immer besonders viel Vergnügen, wenn man einen Gegner mit funktionierendem Hirn besiegt!" meinte Gaunt gelassen. „Auch wenn es nur ein Robothirn ist!" Er sah auf die Walzenskalen seiner Uhr, dann zog er die Brauen hoch. „Einundzwanzig Uhr. Noch nicht einmal richtiges Dunkel!" Die tiefstehende Sonne überschüttete die gezackte Silhouette der Megalopole mit ihren Strahlen - ein sehenswerter Anblick. „Willkommen!" summte der Eingang, als Thory und Gaunt das Portal erreicht hatten. Sie gingen durch die Tür aus spiegelndem Metall, die sich selbsttätig öffnete. Der Mann, groß und hager, mit einem scharfgeschnittenen Gesicht und einer Schockwaffe, die er unter der leger geschnittenen Jacke aus einem lederartigern Metall trug, blieb hinter der Schwelle stehen und studierte die Speisekarten. Thory verschwand mit ihrer großen Tasche in Richtung der Waschräume. Gaunt wußte, daß sie völlig verwandelt zurückkommen würde; mit einem Minimum an Zeit und Aufwand konnte sie ihr Aussehen verändern. Er hatte in den letzten Wochen einschlägige Erfahrungen sammeln können. Etwas schien ihn am Hinterkopf zu berühren.
Gaunt drehte sich herum; seine Haltung hatte sich verkrampft. In seinen
Augen lagen Wachsamkeit und kompromißlose Bereitschaft. Dann
entspannte er sich; ein ironisches Lächeln erschien um die Mundwinkel.
Zwischen zwei transparenten Scheiben, die vier mal zwei Meter maßen,
waren eine Reihe von Plakaten eingepreßt worden. Unter ihnen befand sich
auch ein Werbeplakat der Kaiserlichen Flotte, das förmlich in die Augen
sprang.
Dank seiner geringen mentalen Fähigkeiten, die allerdings nichts mit
Telepathie zu tun hatten, erkannte Gaunt den Grund für die Wirksamkeit
dieses Plakates.
Es war scheinbar ganz normal; primitiv, verlogen, erschreckend albern
und eben deshalb schon effektvoll. Je länger man aber die verschnörkelten
Buchstaben ansah, desto stärker schienen sie zu flimmern, in einem ganz
bestimmten Intervall. Der Belag der Lettern war psychokinetisch und
brannte sich in das Bewußtsein des Betrachters ein, ohne daß der
Betreffende etwas von der Manipulation bemerkte.
Der Mann in der schenkellangen Jacke sprach leise einige abfällige
Bemerkungen. Kevinhag wirkte wie ein Mann, der sich nicht ganz sicher
schien, ob er heiraten oder sich doch erhängen sollte.
Dann nickte er langsam und sagte laut:
„Weshalb eigentlich nicht?"
Das Mädchen, das gerade den Zeitschriftenkiosk dekorierte, unterbrach
ihre Tätigkeit und blickte auf. Was sie sah, schien ihr nicht zu mißfallen.
Interesse tauchte in ihren grünen Augen auf - und erlosch wieder, als der
hochgewachsene Mann im Innern des Lokals verschwand.
Mit einer raschen Bewegung schob Gaunt den Vorhang zur Seite; die
winzigen Metallschuppen klingelten leise und melodisch.
Mechanische Finger glitten aus ihren Nischen; eine modulationslose
Stimme sagte aus einem Tongitter:
„Bitte, Sir oder Madam, Ihre Garderobe!"
Als die Rezeptoren der vollautomatischen Garderobe keine Reaktion
verzeichneten, öffnete sich an der Wand neben Gaunt der
Facettenverschluß eines Objektivs. Die Stimme fragte erneut:
„Keine Garderobe, Sir?"
„Keine!"
Der Mann antwortete zerstreut; etwas in diesem Raum schien unwirklich
zu sein. Es hielt sich darin etwas auf, das nicht mit normalen Sinnen zu
erfassen war. Kevinhags mentale Begabung bestand darin, solche Dinge zu
wittern. Die mechanischen Finger klappten zurück in die Nischen, und das Fotoauge schloß sich. Gaunt lächelte humorlos und ging weiter in den langgestreckten Raum hinein. Das Gefühl der Erwartung verstärkte sich in ihm. Unvorhersehbare Ereignisse kündeten sich an. Gaunts Blick durchforschte den Raum; über den zahlreichen Gästen schwebten Glühkugeln, wenige Handspannen unterhalb der stoffbespannten Decke. Sie bewegten sich sacht auf und ab, und ihr sanftes Licht schwang in goldfarbenen Wellen durch den Raum, Seine Blicke wanderten über die Gäste, die ihn ungeniert musterten. Der Mann, müde und erschöpft, von mehreren strapaziösen Wochen in der Wildnis gezeichnet, wirkte in der stark auf Exklusivität getrimmten Atmosphäre des Lokals ziemlich fremd. Gaunt entgingen die geringschätzigen Blicke einiger ebenso beleibter wie schmuckbehangener Damen ebensowenig wie das auffordernde Lächeln einer attraktiven Serviererin. Gaunt überlegte noch, ob er auf das Lächeln des Mädchens antworten sollte, als plötzlich Musik an sein Ohr drang; eine Flöte, deren zarte Klänge wie leises Wehklagen durch den Raum schallten. Kevinhags Augen suchten die Quelle der Musik ... Der Quantath saß in seiner unmittelbaren Nähe mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden; dennoch schien er Gaunt noch zu überragen. Während Kevinhag zuhörte, erinnerte er sich, daß noch niemand einen Quantathen wirklich gesehen hatte - was man von den Randbewohnern wahrnahm, waren wallende Gewänder, meist schwarz oder dunkelviolett gefärbt. Eine weite Kapuze bedeckte den Oberkörper der überlangen Gestalt; das Gesicht wurde von einem Schleier verhüllt, in dem nur eine Öffnung zu sehen war, durch die das Wesen atmete. Aber nicht einmal dies war sicher, wie überhaupt alles falsch sein konnte, was man auf den übrigen Welten des Systems über die Quantathen erzählte. Heilige waren sie in den Augen der einfachen Menschen. Als verbürgt galt lediglich, daß sie von einer Welt ganz am Rande des Systems kamen; Vapor wurde der Planet genannt, seiner endlosen Nebelbänke wegen. Was man sonst noch über die Quantathen zu berichten wußte, war ein undurchdringlicher Filz aus Unglaubwürdigem, Halbwahrheiten, projizierter Angst oder Hoffnung oder bloße Phantasterei. Es ging die Rede, daß sie über wunderbare Heilkräfte verfügten und selbst Tote wiedererwecken könnten. Früher sollten die Quantathen über das
gesamte System Delta Ursa geherrscht haben und mit vielen Rassen jenseits der Barriere korrespondiert haben. Normalerweise brach das gesamte Auditorium in höhnisches Lachen aus, wurde derlei mit Ernst berichtet - jedermann wußte, daß jenseits der Barriere das absolute Nichts war. Natürlich gab es Sagen, phantasievolle Märchen von dem großen Imperium, das vor der Zeit des Großen Malagathen existiert haben sollte, doch nur Narren und Kinder nahmen die Legenden ernst. Kevinhags Gesicht verzog sich zu einem grimmigen Lächeln. Wie einige andere auch, war er überzeugt davon, daß in jeder dieser Legenden ein harter Kern aus Tatsachen steckte - und er wußte, daß er weder närrisch noch infantil war. Brennpunkt seiner Überlegungen war die Existenz des Ersten Prinzips - jenem noch vom Großen Malagathen selbst aufgestellten Gesetz, das unwiderruflich untersagte, das System zu verlassen. Kevinhag hatte gegen dieses Prinzip verstoßen und war dafür bestraft worden; er hatte seine Uniform ablegen müssen - seine Überzeugungen waren geblieben. Grübelnd lauschte Gaunt den Klängen, die erfüllt waren von einem melancholischen Stolz. Es war, als würde der Quantath die einstige Herrlichkeit und den vergangenen Ruhm des Imperiums seiner Rasse besingen. Gaunt zuckte zusammen und stöhnte unterdrückt auf; ein kalter Finger schien sein Gehirn zu berühren. Der telepathische Kontakt war so stark, daß ihm der Schweiß aus allen Poren drang. Neuer Mut erwacht zuweilen auch in den Besiegten, und fallen dann die Sieger in Haufen! Du selbst - Mann des Nichts - wirst einmal zu diesem Fall beitragen! Die Stelle, an der der Quantath gesessen hatte, war plötzlich leer; Gaunt kniff erschreckt die Augen zusammen und riß sie angestrengt wieder auf. Hatte er den Quantathen wirklich gesehen? Oder war die Gestalt nur eine Suggestion? Hatte er tatsächlich Worte gehört oder waren sie lediglich Ausgeburten seiner überhitzten Phantasie? Für einen Augenblick schien ihn ein kalter Wind berührt zu haben, hatte er den Eindruck, allein auf einer weiten Ebene zu stehen, umhüllt von dichten Nebelschleiern.
Dann schlug wieder das Stimmengewirr des Gasthauses an sein Ohr. Thory
hatte ihn an den Aufschlägen der Lederjacke gepackt und rüttelte ihn; in
ihren Augen war Furcht zu lesen.
„Kev?" fragte sie erregt, aber so leise, daß nur der Mann ihre Worte hörte.
„Was ist mit dir los?"
„Nichts!" wehrte der Mann ab.
Er wollte das Mädchen nicht belügen.
Zwar war einer der Grundpfeiler ihrer engen Verbundenheit die
uneingeschränkte Aufrichtigkeit, aber Gaunt wollte zunächst einmal
Distanz zu diesem merkwürdigen Erlebnis gewinnen.
„Komm!" sagte er halblaut und ging auf die Bar zu, die sich in einer der
Ecken des rechteckigen Rasthauses befand.
Ein Viertelkreis wurde von der hölzernen Frontwand gebildet; als sie sich
setzten, erkannte Gaunt mit dem Blick des Kenners die hochwertigen
Gravuren der Metallteile und die ebenfalls geschmackvolle Intarsienarbeit
der Holzflächen. Die langbeinigen Hocker waren mit Fellen überzogen
Schneeleoparden von Basan, wie Thory bemerkte.
„Was darf es sein, Mister?" erkundigte sich das Mädchen hinter der Theke.
Das Lächeln, mit dem sie den Mann ungeniert musterte, wurde von Thory
mit einem Blick beantwortet, der einen Vulkan hätte tiefkühlen können.
„Kaffee!" bestellte Kevinhag. „Und dazu noch hochprozentigen Alkohl."
Das Mädchen beschäftigte sich sofort mit einer gefährlich zischenden
Espressomaschine; ein betäubender Geruch breitete sich aus, als die
halbgefüllten Tassen mit bernsteinfarbenem Schnaps aufgefüllt wurden.
„Jetzt rede!" forderte Thory, nachdem sie eine Zigarette angenommen und
Gaunt ihr Feuer gegeben hatte; die Barfrau hatte sich entfernt und einem
anderen Gast zugewandt.
„Meinethalben!" sagte Gaunt und nahm einen Schluck aus der Tasse.
So präzise, wie es ihm möglich war, schilderte er sein Erlebnis; den
Wortlaut der telepathischen Botschaft hatte er exakt auswendig gelernt.
„Klingt sehr merkwürdig", meinte das Mädchen, als der Mann seinen
Bericht beendet hatte. „Siehst du irgendeinen Sinn in dieser Botschaft?"
Gaunt schüttelte den Kopf.
„Ich habe nicht den Schimmer eines Verdachts", sagte er halblaut. „Aber
wer weiß schon, was ihm die Zukunft bringt?"
„Besiegte", murmelte das Mädchen nachdenklich.
Kevinhag ahnte, was nun auf ihn zukommen würde.
Er hatte Thory nicht erzählt, aus welchen Gründen er seine Stellung verloren hatte, und sie war bislang so taktvoll gewesen, nicht danach zu fragen. Er konnte sich ausrechnen, daß sie jetzt versuchen würde, ihn zum Sprechen zu bringen. Da er weder lügen noch erzählen wollte, versuchte er, die entscheidende Frage abzublocken. „Ich möchte dich bitten, es nicht zu tun!" sagte er leise und eindringlich. „Was soll ich nicht tun?" fragte sie vorsichtig. „Du weißt genau, wovon ich rede, Mädchen!" meinte Gaunt. „Du willst mich über meine Vergangenheit befragen!" „Und du willst nicht reden!" stellte Thory fest; sie machte ein enttäuschtes Gesicht. „Ich dachte, wir hätten keine Geheimnisse voreinander!" Gaunt preßte die Kiefer zusammen. „Ich würde es vorziehen", sagte er undeutlich, „schweigen zu können! „Deine Sache!" meinte Thory leicht verärgert. „Ich werde dich damit nicht mehr belästigen!" Er hatte nicht bemerkt, daß der Mann, der zwei Hocker entfernt hinter ihm saß, ihre Unterhaltung mitgehört hatte; erst als der Unbekannte aufstand und sich unmittelbar neben dem Mädchen wieder setzte, wurde er aufmerksam. „Sie entschuldigen, wenn ich mich einmische", meinte der Fremde, zu Thory gewandt. „Ich glaube aber, Ihren Wissensdurst stillen zu können!" Das Mädchen musterte den Mann ziemlich kühl. Er war von mittlerer Größe, etwas über fünfzig Jahre alt, mit kantigen Gesichtszügen. Sein Blick schien das Mädchen förmlich durchbohren zu wollen. „Sie werden sicherlich wissen", sagte der Mann, „daß Ihr Freund vor einigen Jahren Waffenmeister war!" Sein Blick streifte Gaunt, während das Mädchen zustimmend nickte. „Da ich mich auf diesem Gebiet etwas auskenne, kann ich feststellen, daß er wahrscheinlich der beste Waffenmeister in der Geschichte der fünfzig Welten War", fuhr der Unbekannte fort. „Seines erstklassigen Könnens wegen beauftragte man ihn mit der Erziehung des Kronprinzen Thamur!" Gaunt überlegte verzweifelt, wer dieser Mann war. Er konnte sich dumpf erinnern, dieses Gesicht schon einige Male gesehen zu haben, wußte aber nicht mehr, wann und wo. „Es dauerte nicht lange, bis Ihr Freund einen so großen Einfluß auf den jungen Lord hatte, daß seine Mutter förmlich eifersüchtig auf Kevinhag wurde - ohne allerdings etwas erreichen zu können! Dank der Freundschaft Thamurs genoß Gaunt Vorzüge und Privilegien wie kein anderer. Wußten
Sie, daß der Kronprinz ihn sogar zu den streng geheimen Sitzungen des Kronrates mitnahm?" Thory verneinte, während Kevinhag tödlich erschrak. Dieser Fremde hatte Kenntnisse, die Gaunt niemals preisgegeben hätte. Wie kam der Mann zu diesen Informationen? „Was noch keinem Manne vor ihm gestattet wurde, machte Thamur möglich - Gaunt durfte sich in der Kaiserlichen Bibliothek ungehindert bewegen. Er wurde weder beaufsichtigt, noch galt für ihn die Indexliste; er bekam jede Information, die er haben wollte. Und eines Tages muß er in der Bibliothek etwas gefunden haben - etwas so Bedeutungsvolles, daß er drei Tage später ein Boot mietete und losflog, mit der offenkundigen Absicht, die Barriere zu durchdringen. Sie wissen, was das bedeutet - er verstieß gegen das Erste Prinzip. Natürlich hätte ihn kein noch so schnelles Schiff einholen können; er konnte also sicher sein, daß kein Mensch ihn aufhalten würde. Er hatte lediglich eines übersehen - die Existenz eines kleinen Zusatzkomputers an Bord seines Bootes. Das Gerät mißt ununterbrochen die Entfernung zwischen dem Schiff und der Sonne Delta Ursa. Sobald ein bestimmter Grenzwert überschritten wird, legt der Komputer die Steuereinheiten lahm und kehrt selbsttätig nach Malagath zurück. Diese kleine Gedankenlosigkeit hätte Ihren Freund fast das Leben gekostet. Während des erzwungenen Rückfluges nämlich versuchte er, diesen Komputer zu finden und auszuschalten; er muß das Aggregat tatsächlich aufgespürt haben!" Der Fremde lächelte Gaunt zu, der mit versteinertem Gesicht auf dem .Höcker saß. „Ihr Freund, liebe Thory, ist nicht nur der derzeit beste Fachmann für die Geschichte des Systems, sondern er ist auch der einzige Mensch, der das Versteck, dieses Komputers kennt. Er wird in den vollautomatisierten Fabriken eingebaut und ist mit einem Sprengsatz so gekoppelt, daß ein Desaktivierungsversuch das Schiff sofort detonieren läßt. Als man Ihren Freund aus dem Orbit um Malagath holte, hatte er einen dieser Sprengkörper bereits ausgebaut - er muß also wissen, wo dieser Komputer, den es übrigens in jedem Boot gibt, versteckt ist!" Gaunt konnte ein gewisses Gefühl der Genugtuung nicht unterdrücken; er wußte, daß es kein Mittel gab, ihm diese Informationen zu entreißen. Gegen Verhördrogen war er immunisiert worden, und seine Fähigkeit der vollständigen Selbsthypnose reichte aus, um jeden Schmerzimpuls abzublocken - auch die Folter würde bei ihm versagen.
„Den Rest der Geschichte Werden Sie sich leicht ausrechnen können. Gaunt wurde vor ein Gericht gestellt und zum Tode verurteilt. Nur dem Einfluß des Kronprinzen ist es zu verdanken, daß die Strafe zum Ausstoß aus der Gilde der Waffenmeister gemildert wurde!" „Woher wissen Sie dies alles?" fragte Thory mißtrauisch. Der Unbekannte lachte leise, dann winkte er die Barfrau heran und bestellte drei Tassen Kaffee mit Alkohol. „Ich beschäftige mich schon seit mehreren Jahren mit ihm", erklärte der Mann. „Und ich fand noch einiges andere über ihn heraus. So ist er zum Beispiel ein ausgesprochener Wahrheitsfanatiker, dazu ungeheuer wißbegierig. Daß er zudem einen auserlesenen Geschmack hat, werden Sie wahrscheinlich beim letzten Blick in den Spiegel bemerkt haben!" „Ihre Komplimente hätten Sie an der Garderobe abgeben sollen!" sagte Gaunt ungehalten. „Was wollen Sie eigentlich?" „Nur eine Kleinigkeit, Kevinhag Gaunt!" meinte der Fremde gleichmütig. „Das wäre?" erkundigte sich Thory. „Sie!" sagte der Mann freundlich und deutete auf Gaunt. „Und bevor Sie fragen - ich heiße Demor Gogyn!" Kevinhag hätte sich ohrfeigen können; selbstverständlich Kannte er diesen Mann. Er war der Führer der Volkspartei, jener Bewegung also, die das absolutistische Kaiserregiment durch eine sogenannte Demokratie ersetzen wollte. „Und was haben Sie mit mir vor?" wollte Gaunt wissen. „Sie werden es nicht wissen, weil Sie zu lange in der Wildnis waren", erklärte Demor, „aber für eine ziemlich große Zahl von Menschen sind Sie ein Held. Kevinhag Gaunt, der Rebell, der erste Mann seit einigen hundert Jahren, der offen gegen das Erste Prinzip verstoßen hat. Können Sie sich jetzt vorstellen, daß wir Sie brauchen?" „Nur zu gut!" erklärte Gaunt. „Wenn das stimmt, was Sie mir gerade erzählt haben, wollen Sie mich als politisches Instrument gebrauchen, mich herumzeigen und Stimmen sammeln. Ohne mich - machen Sie Ihre Schmutzgeschäfte allein!" Der Führer der Volkspartei seufzte leise. „Sie sind ein Narr, Gaunt!" sagte er eindringlich. „Sie machen den gleichen Fehler wie so viele andere. Sie halten Politik für ein schmutziges Geschäft und wollen sich derlei möglichst weit vom Leibe halten. Wunderbar!
Damit geben Sie genau denen freie Bahn, deren Unsauberkeit Sie abstößt. Können Sie mir verraten, wie Politik sauber sein kann, wenn alle anständigen Menschen sich nicht damit beschäftigen? Was wir brauchen - und mit ,wir' meine ich die Menschen dieses Systems sind Männer, die ihre Überzeugung offen vertreten!" „Ich glaube, das tat ich bereits!" bemerkte Gaunt kalt. „Selbstverständlich!" meinte Demor sarkatisch. „Auf dem besten aller möglichen Wege - der kluge Mann verstößt gegen ein zweifelhaftes Gesetz und läßt sich einsperren; die Männer, die versuchen, durch legale Mittel das Gesetz abzuschaffen, hält er für Idioten oder gar für ausgemachte Schurken. Und wenn es ihm dann wieder an den Kragen geht, schreit er laut um Hilfe und wundert sich, wenn niemand kommt! „Hören Sie, Gogyn!" sagte Kevinhag leicht verärgert. „Ich weiß sehr genau, daß ich keine Politik machen kann. Und weil ich dies weiß, werde ich mich nie von Ihnen als Marionette mißbrauchen lassen!" „Sie sind ein Narr, Gaunt!" wiederholte Demor Gogyn. „Allein dadurch, daß Sie hier leben, machen Sie Politik! Wenn wir in diesem System etwas ändern wollen, kommt sofort ein Mitglied des Kronrates und fragt hämisch: ,Wieso ändern? Hat Kevinhag Gaunt etwas dagegen oder all die anderen, die genau wie er politisch abstinent sind?' Und dann müssen wir verneinen. ,Sehen Sie', wird uns der Kronrat dann sagen. ,Diese Menschen sind in der Mehrzahl, und wenn die Mehrheit nichts gegen unsere Arbeit einzuwenden hat, wird sie ja wohl damit ihren Willen eindeutig erklärt haben!' Nicht die paar Wirrköpfe geben den Ausschlag, die die Vergangenheit einzementieren wollen für die Ewigkeit, sondern diejenigen, die still dastehen und sich um nichts kümmern. Und dafür sind Sie ein Musterbeispiel!" Obwohl Gaunt die Argumentation des Volksführers für ziemlich einleuchtend hielt, war er verärgert - der Art wegen, mit der Gogyn ihn zu einer sofortigen Entscheidung zwingen wollte. „Hätten Sie die Güte", fragte er scharf, „uns jetzt unseren Kaffee in aller Ruhe trinken zu lassen?" „Ich denke nicht daran!" gab Gogyn erhitzt zurück. Kevinhag war versucht, aufzustehen und sich zu entfernen, als er aus den Augenwinkeln heraus eine Bewegung registrierte. Die stete Wachsamkeit eines gehetzten Mannes war es, die ihn sich umdrehen ließ.
Im Eingang des Restaurants standen drei Mitglieder der Planetenpolizei; auf allen Welten waren diese Männer ebenso zahlreich wie unbeliebt. „Man wußte, daß eine erschreckend hohe Zahl von Inhaftierten ,auf der Flucht versehentlich erschossen worden war, und daß andere Häftlinge in den Kerkern allzuoft stolperten und dabei zahlreiche Verletzungen erlitten - mit anderen Worten: es wurde liquidiert und gefoltert. „Sie wünschen, meine Herren?" fragte der rasch aus der Küche aufgetauchte Wirt. „Wir suchen einen Mann!" erklärte einer der drei Bewaffneten. „Nach unseren Informationen ist er Gast dieses Hauses. Der Mann heißt Kevinhag Gaunt!" Er hatte so laut gesprochen, daß man ihn auch in der entlegensten Ecke des Lokals gut hatte hören können; die Gäste wurden unruhig und warfen sich gegenseitig mißtrauische Blicke zu. Gaunt bemerkte, wie Thory erblaßte; auch Gogyn war schreckensbleich geworden. „Verschwinden Sie schnell!" zischte er in Kevinhags Ohr. „Nehmen Sie Ihre Freundin mit und verziehen Sie sich unauffällig. Ich werde die Männer für einige Zeit beschäftigen!" Er stand auf und schob sich langsam nach vorne, sorgfältig darauf bedacht, die Blicke der Polizisten nicht auf sich zu ziehen - sie hätten dann Gaunt sofort entdeckt. Erst als er nahe genug heran war, machte er sich bemerkbar. „Können Sie Ihrem schmutzigen Handwerk nicht anderswo nachgehen?" fragte er laut und scharf. „Ich bin es allmählich leid, überall euch Uniformierte zu sehen!" „Sieh an!" meinte einer der drei Männer mit einem Grinsen. „Demor Gogyn!" Und während Gogyn sich mit den Polizeisoldaten herumstritt, sah sich Thory rasch um. Wider Willen zuckte Gogyn zusammen; er kannte dies Wort zu genau, obwohl ihm der Ursprung fremd war. Es stammte aus der Zeit kurz vor dem Wechsel ins dritte Jahrtausend abendländischer Zeitrechnung - der Ära der Genocide, wie die Epoche von den Historikern genannt wurde. Geprägt wurde der Ausdruck in einem Krieg, in dem - einer zynischen Redensart zufolge - die Weißen die Schwarzen dazu verwendeten, die Gelben auszurotten - um den Weißen Ruhe vor den Roten zu bewahren.
Bezeichnet wurden mit dem Wort massive Stahlkäfige; allerdings wurden
darin keine Raubtiere gehalten, sondern gefangene Feinde eingepfercht und
wie Ungeziefer ausgemerzt.
„Los, weg von hier!" flüsterte sie, während sie ihre große Tasche aufhob
und über die Schulter legte.
Kevinhag schüttelte resignierend den Kopf und deutete mit der Hand auf
den kopfgroßen, metallenen Ball auf der Schulter eines Offiziers; der Mann
hatte vor Sekunden erst das Gasthaus betreten.
Thorys Blick folgte der Bewegung von Gaunts Hand; sie wurde blaß,
schluckte und sank dann auf ihren Hocker zurück.
„Ein WAHRHEITSFINDER!" flüsterte sie voller Verzweiflung.
Sie wußte jetzt, daß es sinnlos war, wenn Gaunt sich verleugnete oder gar
zu fliehen versuchte.
Jedem, der einmal gegen eines der Prinzipien des Systems verstoßen hatte,
war die Matrix seines Individualmusters entnommen worden. Wollte man
diesen Menschen aufspüren, fütterte jnan eine der Kugeln mit der Matrix,
die dem Gehirnwellenmuster des Gesuchten entsprach.
Einmal aktiviert, überflog der WAHRHEITSFINDER die Stadt, in der man
den Gesuchten vermutete, hatte die Kugel den Mann geortet, ging sie tiefer
und schwebte dann in einem geringen Abstand neben dem Gejagten her,
wobei sie ständig einen Peilton für die Planetenpolizei ausstrahlte.
Bis die Polizeisoldaten eintrafen, war der Gesuchte meist schon von
Passanten vorsichtshalber festgenommen worden - Nichteingreifen hätte
wie Fluchthilfe gewirkt und wiederum gegen eines der Prinzipien
verstoßen.
Langsam erhob sich Gaunt, drückte die Zigarette aus und leerte seine
Tasse; dann ging er mit ausdruckslosem Gesicht auf die Polizisten zu.
„Sie wollen mich sprechen!" sagte er, als er unmittelbar vor den
Uniformierten stand.
„Sie sind Kevinhag Gaunt?" fragte einer der Männer. „Der ehemalige
Waffenmeister?"
Gaunt wies auf den WAHRHEITSFINDER; an der Oberfläche des Gerätes
befanden sich Sensoren, die gerade eingefahren wurden.
„Genügt das als Beweis?" fragte Gaunt kalt.
Der Offizier schien so etwas wie Hochachtung für den ehemaligen
Lehrmeister des Thronfolgers zu empfinden, als er höflich bat:
„Würden Sie uns bitte begleiten?"
„Nein!"
Gaunts Stimme klang scharf und entschlossen.
„Dann müssen wir Sie leider zwingen, Waffenmeister!" sagte der Offizier
eine Spur rauher; allerdings verriet er eine gewisse Unruhe - im Nahkampf
mit dem unbewaffneten Waffenmeister konnten die vier Polizisten nur auf
die Großmut ihres Gegners hoffen, wollten sie wenigstens ihr Leben retten.
Vorsichtshalber trat er deshalb zwei Schritte zurück, um seinen Strahler
notfalls einsetzen zu können.
Während er überlegte, ob er nach dem Paralysieren der Gegner eine
Aussicht hatte, den WAHRHEITSFINDER zu zerstören, fragte Gaunt
kühl:
„Haben Sie überhaupt einen Haftbefehl?"
Er versuchte Zeit zu gewinnen.
„Das nicht, Waffenmeister!" bekannte der Offizier. „Aber Sie werden uns
dennoch begleiten müssen!"
„Sie haben kein Recht, ihn mitzuschleppen!" mischte sich Thory ein; der
Offizier überhörte sie.
„Gaunt!" sagte er entschlossen. „Entweder Sie begleiten uns freiwillig,
oder wie liefern Sie als handliches Paket ab! Entscheiden Sie sich!"
„Also gut!" fauchte Kevinhag wütend. ,.Ich habe zwar nichts verbrochen,
aber ich folge!"
„Ich komme mit!" erklärte Thory entschieden.
„Wir haben keinen Auftrag, auch Sie festzunehmen!" lehnte der Offizier
ab. „Sie werden hierbleiben müssen!"
„Warte in der Jacht auf mich, Thory!" bat Gaunt das Mädchen. „Sollte ich
mich innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden nicht gemeldet
haben, so weißt du, was du zu tun hast! Klar?"
Tfas Mädchen nickte stumm, während Gaunt den Polizisten folgte.
„Ich wünsche Sie in Zukunft nicht mehr in diesem Gasthaus zu sehen!"
sagte der Wirt zu dem Mädchen. „Leute wie Sie gefährden meinen Ruf als
Gastronom!"
Thory biß die Zähne zusammen, kramte in ihrer Tasche herum und warf
die Münze auf den Boden. Unter dem beifälligen Murmeln der Gäste
verließ sie den Raum; draußen konnte sie gerade noch die Schlußleuchte
des Polizeigleiters in Richtung auf die Hauptstadt verschwinden sehen.
Kevinhag blieb ruhig, bis der Gleiter das architektonisch reizvolle Gebäude
der Polizei Verwaltung erreicht hatte.
Minutenlang hatte er mit dem Gedanken gespielt, überraschend auszubre
chen, aber die Mündung der Energiewaffe in seinem Nacken hatte ihn
davon abgehalten. Selbst die Reflexe eines Waffenmeisters waren nicht so schnell wie ein Schuß aus einer solchen Waffe. Verblüfft registrierte der Mann, daß der Gleiter nicht vor dem Verwaltungsgebäude hielt, sondern unbeirrt weiterfuhr. „Nanu?" meinte er sarkastisch, obwohl ihn allmählich Furcht beschlich. „Wollt ihr mich sofort erschießen?" „Halten Sie den Mund, Gaunt!" befahl der Offizier hinter ihm. Die Bemerkung war überflüssig, denn Kevinhag sah voraus bereits das Staatsgefängnis; in der außen verglasten Pyramide - auf dem Kopf stehend und von vier zerbrechlich wirkenden Säulen abgestützt - wurden Staatsverbrecher hingerichtet. Gaunt fühlte, wie sein Mund austrocknete und sein Puls sich stark beschleunigte. Als der Gleiter auch dieses Gebäude passierte, drehte sich Gaunt langsam um und sah den Offizier verblüfft an. „Wohin, zum Teufel, wollt ihr mich verschleppen?" „Das werden Sie rechtzeitig erfahren!" entgegnete der Offizier. Gaunt zuckte mit den Schultern und drehte sich wieder herum. Eine Ahnung stieg in ihm auf, als das Fahrzeug von der Hauptverkehrsstraße abbog und einen wenig befahrenen Seitenweg entlangjagte. Wenige Minuten später wurde aus dem Verdacht Gewißheit; der Gleiter hielt vor dem kleinen Seiteneingang zum Kaiserlichen Palast, den Gaunt in früheren Jahren stets benutzt hatte, wenn er seinen Schüler Thamur aufsuchte. „Mir nach!" befahl der Offizier, stieg aus und betrat den weitläufigen Kaiserlichen Palast. Das Gebäude ragte mehr als tausend Meter hoch in die wolkenfreie Luft Malagaths; es war bis ins Detail dem mit Abstand schönsten Gewächs nachgeformt worden, das im System zu finden war - dem Baum Sabrancu. Milliarden von kristallenen Schuppen, jede etwa zehn Quadratzentimeter groß, bedeckten den schlanken Stamm der Konstruktion; wurden die nur millimeterdünnen, sehr leichten Flachkristalle vom Wind getroffen, schufen sie ein sich unausgesetzt bewegendes Muster von Lichtreflexen, das dem des pflanzlichen Originals exakt glich. Das Licht blendete nicht, und obwohl dicht nebeneinander scheinbar unvereinbare Farbkombinationen aufblitzten, war die Gesamtkomposition von atemberaubender Schönheit.
Wie Psychologen erst nach dem Bau des Palastes bemerkt hatten, waren
die Strahlen der Aura psychokinetisch - sie erzeugten im Beschauer eine
kaum spürbare, euphorische Stimmung.
Innerhalb des achtzig Meter durchmessenden Stammes lebte der Hofstaat
des Malagathen sowie der Verwaltungsstab; sehr ranghohe Beamte, die
Waffenmeister und nahe Verwandte des Herrschers lebten in den
zahlreichen Zimmern innerhalb des Geästes, das kelchförmig in die Höhe
stieg und sich dann wieder herabbeugte.
Erst bei näherem Hinsehen erwiesen sich die funkelnden Kristalle an dem
Rand des Astringes als Dreimann-Raumschiffe, deren äußere Gestalt den
nahezu unbezahlbaren Sabranca-Diamanten exakt nachempfunden war.
Auf einem schlanken Stiel, der sich unter dem Druck des Windes hin und
her bewegte, saß die Blüte des Baumes, hundert Meter über dem Rand des
Stammes. Im Innern der rosenähnlichen Blüte, die Tag und Nacht ein
sanftes blaugoldenes Licht verströmte, lebte der Malagath mit seiner
Familie, dazu etwa zwanzig Bedienstete.
Der Länge nach durch die gesamte Konstruktion führte ein
Schwerkraftschacht bis in die Spitze; in einem Abstand von fünf Metern
konnten die Menschen einzeln nach oben schweben.
„Nehmen Sie, Gaunt!" sagte der Offizier, als sie das eine Ende der
Metallröhre erreicht hatten; er hielt Kevinhag eine Plakette hin.
Ein zufriedenes Lächeln flog über Gaunts Gesicht, als er den Metallstreifen
an seiner Lederjacke befestigte; es war dieselbe Identifizierungsplakette,
die er noch vor einigen Jahren ständig getragen hatte - damals, als er noch
täglich diesen Schacht benutzte, um seinen Schüler aufzusuchen.
„Sie zuerst!" befahl der Offizier.
Gaunt drückte sich ab und schwebte langsam in die Höhe; fünf Meter
hinter ihm folgte der Offizier.
Als Gaunt eine Höhe von vierhundert Metern erreicht hatte, wurde die
Bewegung abgebremst; der Mann kam zum Stillstand und sah neben sich
einen Greifarm sowie einen Lautsprecher.
„Sie tragen eine Schockwaffe, Sir!" erklang eine Stimme. „Ich muß Sie
bitten, sich davon zu trennen!"
Gaunt seufzte leise, zog dann aber die Waffe aus dem Schulterhalfter und
gab sie an den Greifer ab.
„Vielen Dank! Sie erhalten die Waffe nach Ihrem Besuch wieder zurück!"
„Hoffentlich gibt es ein Nachher!" sagte Gaunt, während er nach oben hin
beschleunigt wurde.
Er mußte dicht unterhalb der blaugoldenen Blüte sein, als sich seine Fahrt erneut verlangsamte; der Offizier war bereits hundert Meter weiter unten endgültig angehalten worden. Dann endete auch Gaunts Aufstieg; ein Fesselfeld zerrte ihn aus dem Schacht und setzte ihn auf dem Boden des ersten der dreizehn Blütendecks ab. „Folgen Sie mir bitte, Waffenmeister!" bat ein livrierter Diener unterwürfig. „Nicht nötig!" erklärte Gaunt. „Ich kenne den Weg!" Gelassen durchquerte er eine Anzahl von Sälen und Zimmern, passierte Korridore und die darin vorhandenen Sicherheitssperren und trat ohne anzuklopfen in das Audienzzimmer der Kaiserin. „Kevinhag Gaunt!" sagte die junge Frau mit einem leisen Lächeln. „So ungehobelt wie früher!" „Die lange Zeit der Verbannung ist es, Edle Lady Eileen", entgegnete Gaunt, während er sich auf einen bequemen Stuhl setzte, genau der Frau gegenüber, „die mich verwildern und verrohen läßt. Die feine Herzensart des Hofes fehlt mir sehr!" Die junge Frau hatte die schlanke Figur eines Fotomodells. Ihr silbern glänzendes Haar fiel glatt bis auf die makellosen Schultern. „Er weiß, daß wir Seine Anwesenheit stets geschätzt haben!" meinte die Lady, obwohl sie ebensogut wie Gaunt wußte, daß solche Äußerungen nichts aussagten - die Atmosphäre des Hofes war durch Verlogenheit und unübertroffene Arroganz vergiftet. „Wir bewunderten Seine Fähigkeiten!" „Ich weiß!" gab Kevinhag zurück. „Man liebte meine Muskeln und meine Reflexe - ein Stier mit elektronisch verkürzten Nervenverbindungen hätte bessere Dienste geleistet!" „Wir meinen nicht Seine körperliche Gewandtheit", versuchte die Kaiserin abzuwehren. „Wir begehrten vielmehr Seinen Kopf!" „Das allerdings!" sagte Kevinhag bissig. „So sehr, daß man ihn mir abschlagen wollte. Ihr glaubt nicht, Edle Lady, wie sehr ich mich freute, als ich damals erfuhr, Ihr wolltet mich von den lästigen Fleischanhängseln meines Gehirns befreien!" „Immerhin lebt Er noch!" stellte die Lady fest; sie fühlte sich offensichtlich in die Enge gedrängt. „Als Gehetzter, der keinen Tag sicher ist!" rief Gaunt. „Der nachts befürchten muß, auf die sehr diskrete Weise ermordet zu werden, die der Hof so liebt. Als ein Mann, der keine Arbeit mehr findet!"
„Er war ein Hochverräter!" erinnerte Eileen den ehemaligen Waffenmeister. „Wer Hochverräter ist, darüber entscheidet einzig der Erfolg!" zitierte Kevinhag grimmig. „Er war erfolglos, also trage Er seine Strafe mit Fassung!" meinte die Kaiserin. „Will Er wieder in meine Dienste treten?" Gaunt lachte laut auf. „Ich soll zurückkehren in die Gesellschaft des hirnlosen Gesindels, das Ihr Freunde und Vertraute nennt?" fragte er sarkastisch. „Niemals!" „Will Er Uns herausfordern?" fragte die Frau zurück. „Müssen Wir Ihn zwingen?" „Versucht es!" provozierte Kevinhag; er ahnte, daß die Frau jetzt ihre Taktik ändern würde. Allerdings wußte er nicht, warum sie ihn überhaupt hatte herbeischaffen lassen. „Kevinhag!" sagte die Frau leise und griff nach seiner Hand. „Ich brauche Sie, und das meine ich ehrlich!" „Warum soll ich helfen?" fragte Gaunt und schob die Hand der Kaiserin zurück. Er lehnte sich etwas zurück und grinste unverschämt. „Jetzt wird die Kaiserin ein paar Tränen produzieren", sagte er, „die vermutlich silbern gefärbt sind wie ihr Haar. Und beides ist wahrscheinlich falsch. Und sie glaubt, einen romantischen kleinen Jungen vor sich zu haben, der sein Leben freudig opfert - der gespielten Tränen einer dummen, häßlichen Frau wegen!" Das war mehr als unverschämt, und Kevinhag wußte dies sehr genau. Das raffinierte Erbfolgegesetz des Großen Malagath hatte neunzehn Jahrhunderte hindurch dafür gesorgt, daß sämtliche Herrscher und auch ihre Frauen den höchsten Anforderungen genügten. Ihrer Klugheit und Schönheit wegen war Eileen als junges Mädchen schon umschwärmt worden von Verehrern; ähnliches galt für ihren Mann. Die Kaiserin schloß die Augen und seufzte unterdrückt. „Ich sehe ein, daß ich Sie nicht überreden kann, mir zu helfen", sagte sie leise. „Zwang wird vermutlich ebenso erfolglos sein!" „Ihr sagt es!" meinte Gaunt liebenswürdig; er war gespannt auf das, was nun folgen würde. Die Frau erhob sich, ging einige Schritte weit bis zu einem Wandschrank und öffnete ihn. Als sie zurückkam, erkannte Gaunt in ihren Händen ein
etwa zwanzig Zentimeter langes Stück Holz, vermutlich aus einem massiven Balken herausgeschnitten. „Thamur ist von Shengas entführt worden!" flüsterte sie heiser, während sie das Holz an Gaunt weitergab. „Augenzeugen haben gesehen, daß er kurz vor seiner Gefangennahme dieses Zeichen mit einem Schwert in den Balken hieb!" Kevinhag zog die Brauen hoch und sah auf das Holz; er erkannte das Zeichen sofort. Ein großes K, dessen Schrägstriche den Längsstrich durchschnitten und erst dann zusammenliefen. Dieses K stand für Kevinhag! Gaunt pflegte damals kurze Nachrichten an Thamur mit diesem Zeichen zu versehen; außer dem Kronprinzen und einigen anderen Menschen, denen Gaunt vertrauen konnte, kannte niemand dieses Signum. „Dies K heißt vermutlich Kevinhag!" meinte Eileen halblaut. „Der junge Lord setzt sein ganzes Vertrauen auf Sie! Wollen Sie ihn enttäuschen - ihm verdanken Sie schließlich, daß Sie noch leben!" „Die einzige Form der Dankbarkeit besteht bei den Mächtigen meist in Grabinschriften!" sagte Gaunt. „Gibt es noch andere Informationen?" „Dies hier!" antwortete die Frau sofort und reichte ihm einen schmalen Papierstreifen. „Das Shenga-Boot hat kurz nach dem Start noch einmal mit allen Geschützen gefeuert - mitten im freien Raum. Die Warnanlagen peilten die Energieausbrüche an und zeichneten sie auf; der Rhythmus ist ziemlich eigenartig!" „Das kann ich mir denken!" meinte Gaunt, während er die Meßkurven betrachtete. „Ich weiß auch, wohin man Thamur verschleppt hat!" . Wie fast alle Jungen in seinem Alter hatte Thamur einen Hang zu Geheimnissen, und Gaunt war dieser Spielerei entgegengekommen, indem er mit dem Kronprinzen einen geheimen Morsekode vereinbart hatte, den außer ihnen kein Mensch kannte. Thamur mußte die Geschütze der FREMLO bedient haben, um auf diese Weise das Versteck der Kidnapper bekanntzugeben. Entziffert, bedeutete der Rhythmus des Feuerns: K - INF. „Wo ist er?" fragte die Kaiserin erregt und starrte Kevinhag an. „Vermutlich auf INFERIOR!" erklärte der ehemalige Waffenmeister. „Aber diese Information ist überhaupt nichts wert!" „Wieso?"
Das Gesicht der Frau wechselte abrupt die Farbe; ihre Haut war jetzt fast so weiß wie ihr Haar. Ihre Stimme zitterte leicht. „INFERIOR ist bewohnt von ein paar tausend Menschen!" erklärte Gaunt mißmutig. „Der Rest besteht aus einem planetengroßen Dschungel. Thamur dort finden zu wollen, ist gleichbedeutend mit dem Versuch, in diesem Palast ein einzelnes Staubkorn zu entdecken!" „Vielleicht auch nicht!" meinte die Kaiserin aufatmend. „Inwiefern?" wollte Gaunt verblüfft wissen. „Von jedem Mitglied der Kaiserlichen Familie wird ebenso wie bei Verbrechern eine Gehirnmatrix angefertigt!" berichtete sie. „Mit Hilfe einer Sonderanfertigung des WAHRHEITSFINDERS kann der Standort von Thamur auf einen Meter genau ermittelt werden." „Fein!" sagte Kevinhag und stand auf. „Sie wissen jetzt alles und werden meine Hilfe wohl nicht mehr brauchen." „Bleiben Sie, Gaunt!" rief die Frau dem davoneilenden Man nach. „Ich bitte Sie, Thamur zu suchen und zu befreien!" „Einen Verbrecher?" fragte Kevinhag höhnisch. „Einem ausgestoßenen Waffenmeister wollen Sie das Leben des Thronfolgers anvertrauen?" „Die anderen Waffenmeister kommen nicht in Frage!" flüsterte die Kaiserin schwach. „Sie kennen die Bedingungen nicht, die der Malagath erfüllen soll!" „Geld hat der Hof wohl genug!" meinte Gaunt verächtlich. Die Frau schüttelte den Kopf. „Es handelt sich nicht nur um Geld", sagte sie verzweifelt. „Hinter den Kidnappern steht die Volkspartei!" Gaunt glaubte, seine Ohren ließen ihn im Stich. „Was wollen die Herren?" fragte er mißtrauisch. „Zunächst eine Billion Malaths", berichtete Eileen stockend. „Aber diese Summe reicht aus, um die Wirtschaft der fünfzig Welten aus den Angeln zu heben. Und außerdem fordern sie politische Zugeständnisse, die ihnen das ganze System ausliefern. Das Kaiserhaus soll abgeschafft werden und dergleichen mehr. Wenn wir diesen Forderungen entsprechen, wird binnen weniger Monate ein Bürgerkrieg die fünfzig Welten verwüsten. Die Royalisten werden es sich nie gefallen lassen, wenn man sie mit einem Schlag aus sämtlichen Ämtern entfernt." „Was werden die Entführer tun, wenn Sie ablehnen?" forschte Gaunt.
„Sie wollen uns Thamur zurückschicken!" flüsterte die Frau. „Stück für
Stück. Zuerst einen Finger!"
Kevinhag, der Ähnliches erwartet hatte, überlegte fieberhaft.
Die Kidnapper hatten den Zeitpunkt brillant gewählt - der Malagath lag im
Krankenbett, und es war anzunehmen, daß die Kaiserin alles tun würde,
um ihren einzigen Sohn zu retten.
„Gaunt!" schluchzte die Frau. „Helfen Sie mir und vor allem Thamur. Er
vertraut Ihnen grenzenlos. Sie sind der einzige, der diese Katastrophe
verhindern kann - die anderen Waffenmeister sind ausnahmslos Anhänger
der Volkspartei.
Sie verlangen, daß der Malagath in die Verbannung geht, daß die
führenden Köpfe der Royalisten eingesperrt werden, daß die Reichen mehr
Steuern zahlen, daß zu große Gewinne aus Bodenspekulationen
abgeschafft werden und viele Dinge mehr, die sich vielleicht teilweise und
sehr langsam verwirklichen lassen würden - aber niemals auf einen
Schlag!"
„Gut!" sagte Gaunt nach einigem Nachdenken. „Ich werde versuchen,
Thamur zu befreien! Aber ich benötige Vollmachten!"
„Was fordern Sie?" fragte die Kaiserin hastig. „Ihren alten Rang zurück?
Geld?"
„Nichts davon!" sagte Kevinhag hart. „Ich brauche eine Blankovollmacht
für Verhandlungen!"
„Gaunt!" meinte die Frau erschrocken. „Eine Blankovollmacht? Das würde
bedeuten..."
„... daß für einige Stunden der uneingeschränkte Herr des Systems
Kevinhag Gaunt heißt!"
Der Mann ließ sich nicht beirren.
„Sie sollen haben, was Sie verlangen!" sagte die Frau endlich.
Als Kevinhag Gaunt eine halbe Stunde später den Palast wieder verließ,
war er der Mächtigste im System Delta Ursa.
Gib das Ding sofort wieder her!
4. Bescheidenheit ist bei Mächtigen die höchste Form der Arroganz. (Bargheer Malagath) „Nun, Bürschchen!" sagte der Chef der Entführer grinsend. „Was sagst du
jetzt?"
Er hatte seine kinderfreundliche Attitüde aufgegeben und den Kronprinzen
mithören lassen, wie das Ultimatum an den Malagathen gesendet wurde.
Und der Dreizehnjährige hatte sehr wohl verstanden, daß man ihn
verstümmeln würde, sollten seine Eltern sich starrköpfig zeigen.
„Reden Sie keinen Unsinn, Mann!" meinte Thamur geringschätzig. „Sie
glauben doch nicht ernsthaft, daß Ihre Bedingungen erfüllt werden?"
„Das wäre aber ziemlich schade!" sagte der Pirat hämisch.
„Zum Beispiel für deinen kleinen Finger!"
Unwillkürlich ballte Thamur die Fäuste, als könne er so die Finger vor dem
Zugriff der Entführer schützen.
„Sie haben Ihr Hirn wohl in Schnaps gebadet, wie?" gab der Junge zurück.
„Wenn meine Eltern Ihnen auch nur das Geld auszahlen, gibt es eine
mittlere Katastrophe. Wenn eine solche Summe einfach in das
Wirtschaftssystem einfließt, ohne daß entsprechende Werte zuvor
produziert worden sind, gibt es eine Inflation!"
Er schien den Piraten beeindruckt zu haben; der Mann kratzte sich
hingebungsvoll am Kopf und fragte neugierig:
„Wieso, wenn ich fragen darf?" „Ganz einfach", meinte der Kronprinz,
dem es offensichtlich Spaß machte, mit seinen Kenntnissen zu verblüffen.
„Geld ist nichts weiter als eine Art von Wertgutschein. Was machen Sie,
wenn Sie beispielsweise Ihre Monatsration Schnaps besorgen wollen?
Wenn der Mann, dem die Fässer gehören, Ihre Waffen nicht brauchen
kann, wird aus dem Geschäft nichts.
Also löst man den Wert einer Sache von der Ware und gibt ihm den
Namen Geld. Sie geben dem Verkäufer ein paar papierne Fetzen, die Sie
zuvor gegen Ihre Waffe eingetauscht haben. Natürlich kann der Mann mit
dem Papier nichts anfangen - aber es verkörpert den Wert seiner Ware, und
diesen abstrakten Wert kann er überall eintauschen gegen Ware.
Jedem handgreiflichen Wert entspricht also eine bestimmte Menge von
Geld. Das Verhältnis der Waren untereinander und des dazugehörigen
Geldes hat sich im Laufe der Zeit eingependelt.
„Verstanden?" Der Pirat nickte. „In diesem System gibt es eine ganz bestimmte Menge von Waren und Werten - und eine entsprechende Menge Geld. Wenn Sie nun eine Billion Malaths einfach ausgeben, ist plötzlich mehr Geld als Ware im Umlauf. Was wird geschehen?" „Keine Ahnung!" gestand der Shenga. „Da die Waren nicht vermehrt wurden, wird man die Verhältnisse von Geld und Ware ändern müssen - die Differenz wird durch allgemeine Preissteigerungen weggefressen. Und dieser Prozeß ist sehr schwer zu kontrollieren. Kleinere Preissteigerungen von zwei bis vier Prozent im Jahr lassen sich manchmal nicht ganz vermeiden - wird aber eine solche Summe auf den Markt geworfen, läuft das Rad immer schneller und ist kaum mehr aufzuhalten! Wissen Sie jetzt, warum meine Eltern Ihnen nicht eine Ihrer Forderungen erfüllen können?" Der Pirat nickte zögernd. „Wir werden ja sehen", meinte er dann unschlüssig, „ob es stimmt, was du uns erzählt hast!" Thamur atmete erleichtert auf; er wußte, daß seine Darstellung äußerst dürftig und unvollkommen war - der Aufbau der Wirtschaft war viel zu komplex und unübersichtlich, als sich auf solche einfache Formeln reduzieren zu lassen. Immerhin hatte seine mangelhafte und bedenklich vereinfachte Darstellung dem Entführer Respekt abgerungen; Thamur hoffte, daß der Mann beim nächsten Gespräch mit dem anonymen Hintermann Bedenken anmelden würde. Falls der Unbekannte überhaupt etwas von Wirtschaftswissenschaften verstand, würde er doch einige Schwierigkeiten haben, dem Piraten seine Sorgen auszureden. Thamur kannte diese Schwierigkeiten zur Genüge; er wußte, daß es schwer, wenn nicht gar unmöglich war, ein Vorurteil zu bekämpfen, wenn es sich auf eine vordergündige Argumentation und auf ein paar zusammenhanglose Zahlen stützte - um solche vorverdauten Weisheiten bekämpfen zu können, war es nötig, so tief in die Materie einzudringen, daß der Laie so gut wie nichts mehr verstand. Der Kidnapper schien sich wieder gefaßt zu haben.
„Immerhin!" erklärte er grimmig. „Dies wird uns erst beschäftigen, wenn wir das Geld haben. Und wir werden es bekommen! Was, meinst du, werden deine Eltern sagen, wenn wir dich portionsweise zurückschicken?" Thamur erbleichte und schluckte krampfhaft. Er fragte sich insgeheim, wie weit seine Eltern wohl gehen würden. Im Gegensatz zu den Entführern wußten sie, daß es durchaus vertretbar war, die Piraten zappeln zulassen - selbst wenn sie ihre Drohung in die Tat umsetzten. Thamur beherrschte die Technik der Selbsthypnose gut genug, um gegen Schmerzen gefeit zu sein, und die Biotechnik der Kaiserlichen Klinik war so fortgeschritten, daß es relativ leicht war, amputierte Gliedmaßen innerhalb einiger Wochen nachzuzüchten - die Zeit hing von der Größe des abgetrennten Gliedes ab. Allerdings wurde dabei vorausgesetzt, daß diese Amputation medizinisch einigermaßen einwandfrei vorgenommen wurde; wenn die Piraten dem Thronfolger einfach einen Finger abhackten und sich nicht weiter um ihn kümmerten, wurde es bedenklich. „In diesem Falle", meinte er dann stockend, „werden Sie das Vergnügen haben, Gegenstand der größten Menschenjagd in der Geschichte der fünfzig Welten zu sein." Der Pirat zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Man wird uns nicht finden!" meinte er ruhig. „Dafür sind wir viel zu schlau und gerissen!" Ganz unrecht hatte er mit dieser kühnen Behauptung nicht; die Shengas erfreuten sich seit langem der fast uneingeschränkten Aufmerksamkeit der Raumpolizei, aber bisher war es erst selten vorgekommen, daß ein Piraten boot gestellt und aufgebracht worden war. Und dann war es meist purer Zufall gewesen, daß ein Polizeischiff sich in der Nähe eines überfallenen Frachters aufhielt. Thamur fragte sich, wie gerissen die Piraten tatsächlich waren. Waren sie wirklich so intelligent, wie ihr Anführer behauptete, würden sie den Zeugen ihrer Tat schwerlich weiterleben lassen. Schon gar nicht, wenn sie erkannten, wie gut das Gedächtnis ihrer Geisel war.
Stille herrschte ... GauntsRaumjacht, das Standardmodell für Einmannbedienung, bewegte sich entlang einer nur im Speicher des Autopiloten vorhandenen Route, an deren Endpunkt INFERIOR stehen würde. Vor vier Stunden war Kevinhag vonMalagath aufgebrochen; zwei Drittel der Distanz, die INFERIOR von der Zentralwelt trennte, waren bereits zurückgelegt. Im Inneren der Jacht war es ruhig. Weit zurückgelehnt saß Gaunt in dem wuchtigen Drehsessel, der am Boden verschraubt war; zwischen seinen kräftigen Fingern glimmte eine Zigarette. Vor sich hatte er den runden Kartentisch, dessen konkav gekrümmte Oberfläche als Projektion sämtliche Bahnen der fünfzig Planeten und ihrer einhundertvier Monde zeigte; dazwischen leuchtete eine rote Linie - die Bahn der Jacht, die der Autopilot auf die Fläche zeichnete. Die wenigen Kontrollichter und das fahle Leuchten des Panoramaschirmes vor dem Mann schufen im Cockpit ein wohltuendes Dämmerlicht. Draußen herrschte Dunkelheit. Delta Ursa stand als kopfgroßer Ball in der linken oberen Ecke des Schirmes, ansonsten war das All leer, schwarz und kalt. Der Mann rauchte schweigend. Nach einer Weile drückte Gaunt die Taste des Speichermonitors. Mit gerunzelter Stirn las er die Mitteilungen über Inferior. Der Planet durchmaß 13461 Kilometer, besaß eine Schwerkraft von 0,99 g und äußerst variable klimatische Verhältnisse - Folgeerscheinungen der engen Umlaufbahn um Delta Ursa. Die Rotation der Welt um ihre eigene Achse betrug nur neunzehn Stunden, vier Minuten und dreizehn Sekunden. Die Atmosphäre war atembar, die Oberflächengestaltung mitsamt Fauna und Flora sehr extrem. Was auf INFERIOR an Leben zu finden war, hatte sich den wechselnden Umweltbedingungen hervorragend angepaßt. Allerdings war die Trennungslinie zwischen Pflanzen- und Tierwelt kaum zu finden; man wußte nie, was oder wem man gegenüberstand. Ungeheuerlich und gefährlich war es in jedem Fall. „Beim Malagathen!" knurrte Kevinhag. „Keine übermäßig erfreuliche Welt!" Aber er war kein Mann, der rasch aufgab. Er schnitt dem Monitor eine Grimasse; dann drückte er den Schalter zurück in die Nullstellung.
Er ließ den Zigarettenrest in den Ab-fallvernichter fallen, schwang den
Sessel herum und stand auf. Mit zwei Schritten hatte er das Cockpit
verlassen.
Gaunts Boot war ein nur zwölf Meter langer, stumpfnasiger Zylinder; die
Ausstattung war gediegen, und das Innere offenbarte fast einen gewissen
Luxus. An den Steuerraum schloß sich das Wohnzentrum an mit der
Luftumwälzungsanlage, einer Regenerationsanlage für die Abfallstoffe,
dem Informationsspeicherblock, über dessen Monitoren Gaunt Minuten
zuvor die Daten über INFERIOR abgerufen hatte, und einem winzigen
Raum, in dem Kevinhag seine Waffen aufbewahrte. Dahinter kam dann
nur noch der Maschinenblock mit den Pulsatoren und der
Triebwerkseinheit.
Äußerlich wirkte das Boot ziemlich ramponiert und zerbeult und erweckte
genau den Eindruck, den Gaunt damit hervorrufen wollte. Er selbst trug die
Verkleidung eines Jägers; lange, ärmellose Jacke aus Leder, dazu hohe
Stiefel und enge Hosen.
Er wollte jedes unnötige Risiko vermeiden.
Es war möglich, daß die Entführer auch Verbindungsmänner in der Stadt
besaßen, die er auf INFERIOR ansteuerte und von der aus er seine
Jagdexpedition starten wollte.
Ein ironisches Lächeln spielte um seine Mundwinkel, als er halblaut sagte:
„Wahrlich, eine große Jagd wird es geben, und das Wild ist edel wie nie
zuvor!"
Gewissenhaft machte er sich daran, die Waffen durchzuprüfen.
Die Jacht verlangsamte unter den Schaltungen des Autopiloten die Fahrt;
INFERIOR wurde auf dem Schirm ständig größer.
Gaunt saß vor den Instrumenten des Steuerraumes; er rauchte nervös.
Seine Blicke hingen am Schirm; die Optiken zeigten die Kulisse, vor der
sich die kommenden Ereignisse abspielen würden. Die Planetenkugel
wölbte sich grün-blau auf, schien sich wie im Zeitraffer zu drehen und fiel
scheinbar auf das kleine Schiff zu.
Die Jacht glitt an dem ersinn Mond vorbei... der zweite kam näher,
schwebte vorbei. Gaunt konnte bereits die Struktur der planetaren
Oberfläche erkennen.
Das Funkgerät summte.
Kevinhag führte drei Gespräche, gab einsilbige Antworten auf die Fragen
von unten; dann war die Landung genehmigt.
Mit geringer Geschwindigkeit senkte sich das Boot auf den Hauptkontinent INFERIORS herab. Erste Einzelheiten wurden sichtbar: Ein gewaltiges Gebirgsmassiv erhob sich aus den grünen Dschungeln und teilte den Kontinent in zwei annähernd flächengleiche Stücke; drei Ströme, die den Gletschern ihr Wasser verdankten, boten das Bild einer dreizinkigen Gabel, die in der Mitte der Distanz zwischen Gebirge und Meer zusammenwuchsen und in einem grünüberwucherten Delta mündeten. Dazwischen sah man das fahle Gelbbraun der Wüstenflächen. Ein weißes Fünfeck wurde sichtbar, gewann an Deutlichkeit und blieb
dann konstant groß: der Raumhafen. Er bildete eine Fläche von fünfzehn
Quadratkilometern, inmitten eines gewaltigen Talkessels mit nahezu
senkrecht abfallenden Wänden. An der Peripherie des Landefelsens
entdeckte Gaunt eine Stadt - eine Ansammlung von strahlend weißen
Kunststoffgebäuden mit rechteckigen Grundrissen:
Wild Desert.
Kevinhags Boot landete am Rande des Hafens, in der Nähe des
Kontrollturmes. Von seinem Sitz aus beobachtete der Mann, wie der
Autopilot sämtliche Instrumente ausschaltete, die während des Fluges in
Betrieb gewesen waren.
Die letzten Geräusche erstarben.
Zum ersten Male seit er von Malagath abgeflogen war, .fühlte Gaunt
Unbehagen - vor einem Gegner, den er noch nicht kannte.
Flüchtig dachte er an das Mädchen Thory; sie war der einzige Ruhepol,
den er in den Jahren der inneren wie äußeren Unrast hatte finden können.
Gaunt nahm sich vor ...
Er schrak zusammen, als sich das Funkgerät mit einem schrillen Ton
meldete.
Kevinhag drückte den Schalter nieder. Das Bild des Raumhafens auf dem
Bildschirm löste sich auf; ein Gesicht erschien.
„Kevinhag Gaunt?"
„Der nämliche. Was gibt es?"
„Der Bürgermeister möchte Sie sprechen!"
„Sofort? Oder kann ich noch einmal Luft holen?"
Wieder einmal mußte Gaunt die Erfahrung machen, daß sein leichter Sar
kasmus nicht verstanden wurde; der subalterne Beamte in der Flugleitung
hob die Schultern.
„Tut mir leid, Sir!" sagte er mit ruhiger Stimme. „Die Anordnung kommt
vom Bürgermeister. Wollen Sie einen guten Rat annehmen?"
„Wenn er brauchbar ist...", sagte Gaunt.
„Wir bilden hier eine autarke Kolonie Das heißt unter anderem, daß die
gesamte Polizeigewalt beim Bürgermeister liegt. Und unsere Polizisten
sind ziemlich harte Burschen!"
„Was ist, wenn ich sofort wieder starte?"
„Sie wollen hier Geschäfte machen!" gab der Beamte zurück. „Sie können
es aber auch abblasen, wenn Sie sich hier nicht anpassen wollen!"
„Ich werde den verehrten Herrn Bürgermeister aufsuchen!" erklärte Gaunt.
„Reicht das?"
„Ein Gleiter wartet am Fuß des Kontrollturmes auf Sie!"
Kevinhag' unterbrach die Verbindung.
Er stand auf. schloß mit einer wilden Bewegung das Steuerpult ab, so daß
ein Start für andere unmöglich wurde, und versetzte dem Drehsessel einen
zornigen Stoß. Dann verließ er das Schiff.
Die Hitze traf ihn wie ein Faustschlag.
Innerhalb des Talkessels, in dem der Hafen lag, herrschten Temperaturen
von annähernd vierzig Grad Celsius.
Kein Windhauch regte sich, und in wenigen Sekunden war Gaunt in
Schweiß gebadet. Delta Ursa stand im Zenit und verströmte eine höllische
Hitze, gepaart mit schmerzhafter Helligkeit.
Gaunt sah auf die Uhr an seinem Handgelenk; es war zehn Uhr, planetare
Zeit Als er den Gleiter am Fuße des Hafenturmes erreichte, klebte seine
Kleidung feuchtheiß an seinem Körper.
„Gaunt!" stellte er sich lakonisch vor.
„Steigen Sie ein!"
Gaunt grinste unwillkürlich, als er den Piloten näher betrachtete. Der Mann
war etwas kurz geraten und reichte ihm knapp bis an das Brustbein.
Außerdem schien ihm der Hals zu fehlen - der runde Schädel wuchs
scheinbar übergangslos aus den Schultern heraus.
Die luftige Kleidung des Piloten aber erregte Gaunts Neid; der Mann trug
eine weite, hellweiße Hose, Sandalen und anstelle der Oberbekleidung nur
eine Kette auf der haarigen Brust.
Gaunt stöhnte leise auf, als er in die Polsterung des Schalensitzes rutschte;
der Kunststoff verbrannte fast die Haut und klebte ihn förmlich fest.
Der Gleiter beschleunigte ruckartig, umfuhr in waghalsigen Manövern die
Basis des Turmes und schoß auf einer langen, weißen Geraden der nahen
Stadt zu.
Interessant musterte Gaunt den großen Anhänger an der Kette des Piloten.
Sagen Sie", meinte er neugierig, „brennen Sie sich mit dem Metall keine
Löcher in die Haut?"
Der Fahrer schüttelte den Kopf, während er ein langsameres Fahrzeug
überholte und durch scharfes Einbiegen auf die alte Fahrspur zu einem
gewagten Bremsmanöver zwang.
„Wir sind an diese Temperaturen gewöhnt!" antwortete der Pilot.
„Außerdem - der Anhänger besteht nicht aus Metall, sondern aus einem
Kunststoff. Und in der Platte steckt ein Apparat, der rings um den Körper
eine millimeterdicke Kühlschicht legt!"
„Wo kann man derlei kaufen?" wollte Gaunt wissen; er spürte, wie sich
seine Schuhe mit warmen Schweißwasser füllten.
„Überall!" brummte der Pilot und beschleunigte sein Fahrzeug.
Entsetzt erkannte Gaunt, daß sich von rechts ein weiteres Fahrzeug mit
Höchstgeschwindigkeit näherte; ein Blick genügte, um ihm zu sagen, daß
es einen tödlichen Zusammenprall geben mußte, wenn nicht einer der
beiden Piloten bremste.
Da er nicht wußte, nach welchen Regeln der Straßenverkehr auf
INFERIOR ablief, wagte er nicht, seinem Piloten etwas zuzurufen.
Mit schreckgeweiteten Augen starrte er auf den Mittelpunkt der Kreuzung,
wo die beiden Gleiter unweigerlich zusammenprallen mußten.
Erst als die Gleiter dem Kreuzungspunkt bis auf hundert Meter
nahegekommen waren, betätigte der fremde Pilot die Bremse; das
Fahrzeug bockte, wirbelte herum und kreiselte knapp einen Meter hinter
Gaunts Fahrzeug über die Kreuzung.
„Beim Malagahten!" knurrte Gaunt, sobald er wieder Herr seiner Stimme
war. „Der Fahrer hatte Nerven!"
„Nicht genug!" meinte sein Pilot mit einem überlegenen Lächeln. „Nicht
genug!"
Gaunt legte sich zurück und schloß die Augen.
Sein Aufenthalt auf INFERIOR schien abwechslungsreich zu werden.
Der Bürgermeister erwies sich als ein etwa fünfzig Jahre alter,
vierschrötiger Mann.
„Was suchen Sie hier, Fremder?" fragte er ungehalten und musterte Gaunt
aus zusammengekniffenen, wäßrigen Augen.
„Beute!" antwortete Gaunt, der unaufgefordert auf einem Stuhl Platz nahm,
der dem Chef der Siedfung Wild Deserts genau gegenüberstand. „Wild, um
es präziser zu formulieren!"
„Nicht zufällig Xolotl-Kugeln?" erkundigte sich der Bürgermeister mißtrauisch. Diese Früchte einer nur auf diesem Planeten vorkommenden Pflanze ergaben nach einem recht simplen chemischen Aufbereitungsverfahren ein hochwirksames Halluzinogen. Das Rauschgift erfreute sich hoher Beliebtheit, vor allem in jenen Bevölkerungsschichten, die keinen oder allen Luxus hatten. Zwar war es nicht unmittelbar schädlich, aber es legte beträchtliche Potentiale an Arbeitskräften lahm. „Hören Sie", meinte Gaunt, der sich bemühte, auf diese Provokation nicht allzu scharf zu antworten. „Mein Schiff steht auf dem Raumhafen dieser entzückenden Gemeinde, und ich nehme an, daß Sie bei meiner Abreise dafür sorgen werden, daß ich gründlichst untersucht werde. Ich will meiner Trophäensammlung einige neue Stücke einverleiben, nicht mehr. Wird die Jagd gut, kann ich vielleicht ein paar teure Pelze erbeuten und verkaufen. Darum bin ich hier!" „Sie waren einmal Waffenmeister!" stellte der Bürgermeister fest; es klang wie eine verkappte Beleidigung. „Sehr richtig!" gab Gaunt zurück. „Ich will meine früher erworbenen Kenntnisse als Jäger ausnützen und zu Geld machen. Glauben Sie, daß ich es nötig habe, Rauschgift zu schmuggeln?" „Eigentlich nicht", meinte der Mann hinter dem Schreibtisch. „Was werden Sie in den nächsten Tagen unternehmen?" „Das gleiche, was jeder Jäger tut", antwortete Gaunt. „Ich werde mich mit den besonderen Bedingungen dieses Planeten vertraut machen, mir die nötige Ausrüstung zusammenkaufen und dann auf die Jagd gehen!" „Es wäre gut", bemerkte der Bürgermeister, „würden Sie sich auf diese Tätigkeiten beschränken." „Ich werde es immerhin versuchen!" versprach Gaunt und verabschiedete sich höflich. Wieder auf der Straße angekommen, hielt er einen Passanten auf und fragte ihn aus; fünf Minuten später war er in einem wohlsortierten Warenhaus und besorgte sich neue, dem Wetter angepaßte Kleidung. Als er weiter durch die Stadt streifte, auf der Suche nach einer Gleitervermietung, fühlte er sich schon wesentlich wohler. Der Anhänger auf seiner Brust umgab ihn mit einer wohltuenden Kühle um den Eindruck zu verstärken, den er hervorrufen wollte, hatte er sich eine Plakette mit einem eingravierten Tigerkopf gekauft. Gelassen durchquerte er die Stadt.
Mit einer gewissen Befriedigung vermerkte er, daß er nirgendwo auffiel ganz im Gegensatz zu anderen, die durch ihre weißen Bäuche auf den ersten Blick als Fremde zu identifizieren waren. Er benötigte etwas mehr als zehn Minuten, um die Adresse ausfindig zu machen, die er von einem Verkäufer im Warenhaus erhalten hatte. Interessiert musterte Gaunt die Auslagen in den Schaufenstern; der Laden schien tatsächlich nahezu alles zu führen was man für eine Jagd in den Dschungeln und Wüsten des Planeten benötigte. Entschlossen trat er ins Innere des Geschäftes; als die Tür hinter ihm wieder einschnappte, ließ ihn ein heiseres Fauchen herumfahren. „Keine Angst, Mister!" meinte das Mädchen hinter dem Ladentisch freundlich. „Dies war nur unsere Klingel - eine Marotte meines verehrten Chefs!" „Er scheint einen ziemlich ausgefallenen Sinn für Humor zu haben!" brummte Gaunt und trat näher. „Was war das für eine Bestie, die dort so markerschütternd brüllte?" „Das weiß nicht einmal mein Chef", antwortete das Mädchen, während es den Mann vor der Theke mit sichtlichem Wohlwollen musterte. „Wir fanden das Band mit dem Geräusch neben der Leiche eines Touristen. Es lief noch, und wir vermuten, daß das Brüllen dieses Tieres so ziemlich das letzte war, das der Ärmste überhaupt zu hören bekam. Wahrscheinlich war er der erste, der dieses Tier zu Gesicht bekam!" „Läuft von diesem Getier noch mehr in den Wäldern herum?" wollte Gaunt wissen. „Höchstwahrscheinlich", sagte die Verkäuferin liebenswürdig. „Von den Lebewesen dieses Planeten sind erst rund achtzig Prozent bekannt und katalogisiert. Der Rest ist unbekannt, wird aber nicht weniger gefährlich sein. Sie wollen eine Trophäe kaufen?" „Irrtum, Teuerste!" erklärte Gaunt, der sich etwas unbehaglich fühlte. „Ich gedenke, mir einige Trophäen zu schießen!" „Sie wollen in die Dschungel?" fragte das Mädchen erschrocken. „Genau das!" bestätigte Kevinhag. „Schade", meinte die Verkäuferin bedauernd. „Sie sehen aus, als könnten Sie recht nett sein!" Ihre Worte klangen so aufrichtig, daß Gaunts Puls etwas schneller ging. „Ich bin recht nett!" erklärte er grimmig. „Und ich habe vor, es zu bleiben! Welche Ausrüstung muß ich mitnehmen?" „Haben Sie überhaupt schon einmal eine Waffe in der Hand gehabt?" fragte das Mädchen.
Gaunt grinste diabolisch. „Ich glaube ein ziemlich guter Schütze zu sein!" erklärte er; das Mädchen zog zweifelnd die Brauen hoch. „Ich bin leider gezwungen, Ihre Angaben zu überprüfen!" sagte sie zögernd. „Würden Sie bitte mitkommen?" „Gern!" sagte Kevinhag aufrichtig und folgte ihr. Hinter dem Verkaufsraum, der ein unentwirrbares Sammelsurium von Fellen, Gehörnen, Waffen und Jagdwerkzeugen enthielt, befand sich ein hochmoderner Schießstand. Das Mädchen drückte ihm eine Waffe in die Hand und zeigte auf die andere Seite der dreißig Meter langen Halle. „Dort wird in wenigen Sekunden ein Ziel auftauchen - versuchen Sie, es zu treffen!" „Meinethalben!" sagte Gaunt und wog die Waffe prüfend in der Hand; ein langläufiger Strahler mit hoher Schußfolge und einer sehr geringen Streuung. Während der Mann betont auffällig ein Mosaik betrachtete, entsicherte er die Waffe und sah aus den Augenwinkeln heraus auf die Wand, an der das Ziel erscheinen sollte. Das Mädchen fand Gaun offensichtlich sehr sympathisch. Sie hatte die Zielprojektoren so eingestellt, daß innerhalb von zwei Minuten mehr als dreißig Ungeheuer aller Arten auf den Mann loszustürmen schienen. Normale Bewohner des Systems Delta Ursa hätten vermutlich sofort die Flucht ergriffen, aber einen Waffenmeister konnte man mit solchen Spielereien nicht beeindrucken. Als die Projektoren ihre Arbeit einstellten, glühte die Rückwand des Raumes hellrot; das Mädchen kam aus einem Nebenraum zurück und starrte entgeistert auf die Auswertungskarte. „Sie haben nicht ein einziges Mal vorbeigeschossen!" stellte sie erschüttert fest. Kevinhag unterdrückte einen Fluch; er hätte wenigstens einige Fehlschüsse abgeben müssen, aber die unerbittliche Schulung der Reflexe bei seiner Ausbildung zum Waffenmeister war so tiefgreifend gewesen, daß es ihm fast unmöglich war, anders als hervorragend zu schießen. „Schalten Sie die Projektoren eigentlich immer auf dieses Tempo?" fragte Gaunt, während er die Waffe wieder sicherte und zurückstellte. Das Mädchen lächelte zaghaft. „Nur sehr selten!" sagte sie leise. „Sehen Sie, ich sitze seit mehr als fünf Jahren hinter dieser Theke und bekomme nur selten ein paar sympathische Männer zu Gesicht. Und die ziehen dann in die Dschungel und kehren entweder gar nicht oder unvollständig zurück. Sie kennen den Spitznamen dieses Geschäfts?"
Gaunt nickte grimmig. . Suicide-shop - Selbstmordladen, ein nicht gerade anheimelnder Name. „Suchen Sie sich doch einen anderen Job!" schlug er vor. Das Mädchen lachte bitter. „Mein Dienstvertrag läuft über zehn Jahre!" sagte sie seufzend. „Wenn ich hier herauskomme, werden mir nur noch die Jahre nachlaufen, aber kein Mann!" Gaunt, der bisher an anderes gedacht hatte, faßte das Mädchen etwas schärfer ins Auge, während sie in den Verkaufsraum zurückgingen. Sie war recht attraktiv, zwar keine ernsthafte Konkurrenz für Thory, aber..." Ein Plan keimte in ihm auf, während das Mädchen in einer Schublade wühlte und eine ziemlich lange Liste herauskramte. „Als erstes brauchen Sie Waffen!" erklärte sie ruhig. „Haben Sie irgendwelche speziellen Wünsche?" „Ich brauche einige Narkobomben", überlegte Kevinhag laut. „Dazu Seile, kleine Funkpeilsender und einen Reflexbogen. Mauerhaken, Messer ..." „Das hat Zeit", belehrte ihn das Mädchen und warf die langen, rotblonden Haare zurück über die Schultern. „Zunächst wollen wir sehen, daß Sie überhaupt eine Überlebenschance haben. Besitzen Sie Antidote?" Gaunt schüttelte den Kopf. „Dachte ich es doch!" meinte das Mädchen und legte ein gutverschnürtes Bündel auf den verschrammten Ladentisch. „In diesem Paket finden Sie ein vollständiges Sortiment aller Gegengifte. In diesem Buch sind die bekannten Tiere und Pflanzen beschrieben, dazu die genauen Angaben über Antidote. Sollten Sie von einem unbekannten Gifttier gebissen oder gestochen werden, benutzen Sie bitte die leeren Seiten, um die Symptome zu schildern. Vielleicht können wir so andere Jäger später retten!" „Soll das ein Witz sein?" fragte Kevinhag entgeistert; die Vorstellung, daß er irgendwo sterbend im Dschungel lag und toxikologische Forschungen am eigenen Leib betrieb, hatte etwas Erschreckendes an sich. „Keineswegs!" wurde erbelehrt. „Den größten Teil der Antidote verdanken wir Jägern, die an einem Gift starben und darüber genaue Aufzeichnungen machten. Häufig gelang es ihnen auch, den Giftträger zu töten und für die Wissenschaftler zu präparieren!" „Wie edel!" sagte Gaunt sarkastisch. „Haben Sie schon ein Fahrzeug?" wollte das Mädchen wissen; Gaunt verneinte.
„Dann können Sie einen unserer Gleiter mieten", meinte sie gelassen. „Ich kann so auch Ihre Ausrüstung besser zusammenbestellen. Haben Sie Angehörige, zu deren Gunsten Sie sich versichern wollen?" Gaunt dachte einen Augenblick lang an das Mädchen Thory, zögerte; dann nickte er entschlossen. „Ich bin berechtigt, Policen auszustellen", erläuterte die Verkäuferin. „Wie hoch soll die Versicherungssumme sein?" Sie einigten sich auf eine Million Malaths; ein Zehntel davon sollte ausbezahlt werden, wenn Kevinhag bei seiner Expedition irreparable Verletzungen erleiden sollte. Gaunt entging nicht das leise Seufzen des Mädchens, als er Thorys Namen als den der Begünstigten aufzeichnete. „Ich hoffe, ich muß Sie nicht erst ehelichen, bevor Sie mich in die Wälder lassen!" sagte Gaunt ironisch, nachdem er eine schier endlos lange Liste von Dingen gekauft hatte. „Nein!" flüsterte das Mädchen, lief rot an und beugte sich über den Rechnungsblock. Die Endsumme war beträchtlich, aber Gaunt hatte sich vor seinem Abflug reichlich mit Geld eingedeckt; was Spesenabrechnungen anging, war das Kaiserreich von jeher äußerst großzügig gewesen. „Und jetzt würde ich gern Ihren werten Chef sprechen!" meinte Kehinvag, nachdem er eine Reihe von Geldscheinen auf den Ladentisch geblättert und das Wechselgeld eingesteckt hatte. „Kommen Sie mit!" sagte die Verkäuferin und sah den Mann mit großen, braungrünen Augen an. Gelassen folgte Gaunt ihr in einen halbdunklen Raum, in dessen finsterster Ecke ein Mann von enormer Fettleibigkeit hockte und einige alte Zinkmünzen zapponierte. „Mitkommen!" befahl Gaunt, als er eine halbe Stunde später das Nebenzimmer wieder verließ; seine Brieftasche war um einige Tausender leerer, dafür steckte aber ein Dienstvertrag sorgfältig verstaut in dem ledernen Behälter. „Was haben Sie mit dem E..." Sie wolte Ekel sagen, faßte sich und verbesserte: „... Boß besprochen?" „Sie haben einen neuen Sklaventreiber, Teuerste!" entgegneteGaunt freundlich. „Und in diesem Fall stimmt die Anrede buchstäblich. Wie heißt du eigentlich, Mädchen?" „Brittay!" flüsterte sie, während er ihr Handgelenk umfaßte und sie auf die Straße zog, wo bereits ein vollbepackter Gleiter auf ihn wartete.
Gaunt setzte sich hinter das Steuer und deutete auf den Sitz neben sich. „Einsteigen!" befahl er. „Und einstweilen möchte ich keine dummen Fragen hören!" Das Mädchen zuckte wortlos mit den Schultern und nahm neben ihm Platz; Gaunt ließ die Pulsatoren des Gleiters anlaufen und trat den Beschleunigungshebel durch. Mit einem lauten Heulen schoß das Fahrzeug aus der Parklücke und fädelte sich in den Verkehrsfluß ein. Mit äußerster Vorsicht fuhr Kevinhag den Weg zurück, der zum Landeplatz führte; erstaunte Blicke des Mädchens trafen ihn, als er verschiedene Male sehr früh bremste und anderen Fahrzeugen freiwillig die Vorfahrt überließ. Gaunt kümmerte sich nicht darum, ihm war es wichtiger zu überleben, als an diesem automobilistischen Todesroulett teilzunehmen. Am Fuß des Kontrollturmes stoppte der Gleiter. „Ihre Ausweise!" sagte ein bärtiger Wachtposten. Eingehüllt in eine Geruchswolke, die Gaunt fast den Atem nahm, prüfte er die Papiere des Waffenmeisters; er warf einen mißtrauischen Blick auf das Mädchen, grinste anzüglich und gab dann die Ausweise zurück. „Sind die Beamten dieses Planeten alle von einer so bestechenden Höflichkeit?" fragte Gaunt spöttisch, nachdem er den Gleiter wieder gestartet hatte und mit Höchstgeschwindigkeit auf sein Boot zusteuerte. „Normalerweise nicht", meinte das Mädchen. „Ein Einheimischer hätte den Burschen allerdings angebrüllt und wäre dann wesentlich freundlicher behandelt worden. Dies hier ist ein rauher, unfreundlicher Planet, und die Menschen, die hier leben, sind ähnlich!" „Immerhin besser als die Dekadenz am Hofe des Malagathen!" sagte Gaunt, bevor er den Gleiter dicht neben dem Einstiegsluk seiner Jacht abstellte. Wenige Minuten später standen die beiden Menschen in der Wohnsektion des Bootes, und fast etwas erschreckt nahm Brittay den Luxus wahr, mit dem das Schiff im Innern ausgestattet war. „Sie müssen sehr reich sein!" stellte sie scheu fest; Gaunt zog verwundert die Brauen hoch, dann verstand er. Die Innenausstattung seines Bootes war relativ bescheiden - gemessen am Standard Malagaths; auf diesem Hinterwäldlerplaneten mußte sie allerdings unerhört aufwendig wirken - die Kluft zwischen dem Lebensstandard der fünf Hauptwelten und den restlichen Planeten war erschreckend groß.
Irgendwann wird dieser Unterschied zu einer Katastrophe führen, dachte Gaunt mit leichter Besorgnis; unwillkürlich fuhr seine Hand an eine der Brusttaschen seiner Lederjacke, die er achtlos über die Lehne eines Sessels geworfen hatte. Er spürte Papier unter seinen Fingern und lächelte grimmig; die Blankovollmacht der Kaiserin galt noch, und er wußte, daß er sie noch ausnützen würde. Nachdem er dem Mädchen die verschiedenen Bedienungselemente der eingebauten Naßzelle ausführlich erklärt und demonstriert hatte, verzog er sich ins Cockpit. „Ich brauche eine Funkverbindung nach Malagath!" sagte er laut, nachdem er nach einigen Fehlversuchen die Großfunkstation des Planeten erreicht hatte. „Die Nummer, bitte?" antwortete die Vermittlung mit geschäftsmäßiger Kühle. „Malagath 8 73 53 53!" sagte Kevinhag schnell. „Die Rechnung soll an diesen Teilhaber geschickt werden!" „Warten Sie bitte!" bat die Vermittlung; der kleine Bildschirm wurde dunkel. Als der Monitor wenige Minuten später wieder ein Bild zeigte, war Thory zu sehen, die verschlafen in die Optik blinzelte. „Bist du von Sinnen?" fragte das Mädchen ungehalten. „Mich mitten in der Nacht aufzuscheuchen?" Trotz der beträchtlichen Entfernung war das Bild gestochen scharf und farbtreu; deutlich konnte Gaunt sehen, wie das Mädchen sich mit der Rechten am Kopf kratzte und ihr Haar noch mehr verwühlte. „Hör zu, Mädchen!" sagte Gaunt rasch. „Es ist nicht ganz so unwichtig, wie es scheint. „Ich habe einen enorm wichtigen Auftrag übernommen kurz vor meinem Start habe ich dir das Nötigste erzählt. Inzwischen habe ich hier erfahren müssen, daß die Lösung dieser Aufgabe nicht ganz so einfach ablaufen wird, wie ich es anfangs dachte. Ich habe deshalb einige Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Sollte ich mich in den nächsten Tagen nicht mindestens einmal in irgendeiner Form melden, sagst du meinen Freunden, daß sie eingreifen sollen! Du kennst die Namen?" „Selbstverständlich", erklärte Thory gähnend. „Weiter: Im Safe meines Bootes wird ein Papier liegen, das nur einer meiner Freunde zu sehen bekommen soll. Sie werden schon wissen, was sie damit anzufangen haben. In diesem Fall kannst du dir auch überlegen,
ob du meinen altersschwachen Gleiter verschrottest oder als Andenken
behältst!"
„Ist es so gefährlich?" fragte das Mädchen erschrocken.
„Wer Pech hat, dem brechen die Masten bei Flaute", erinnerte Gaunt sie an
eine uralte Seefahrerweisweit. „Es kann alles sehr harmlos und einfach
werden - aber das Gegenteil ist ebensogut möglich!"
Fast übergangslos wurde Thory hellwach; schwach, aber unüberhörbar
erklang hinter Kevinhag lautes Singen. Brittay schien sich über die
Annehmlichkeiten eines erfrischenden Bades deutlich hörbar zu freuen.
Thory Kniff die Augen zusammen, sagte aber nichts.
„Noch etwas!" sagte Gaunt hastig. „Solltest du von hier aus in den
nächsten Tagen die Parole Thamur von Reyin hören, rufst du sofort im
Kaiserlichen Palast an und gibst diese Losung durch! Verstanden?"
„Ich höre ausgezeichnet!" versicherte Thory. „Und ich sehe mindestens
ebensogut!"
Ihre Stimme klang gefährlich sanft, als sie fortfuhr:
„Kommen Sie doch ein bißchen näher an die Optik, Teuerste!"
Gaunt drehte sich verblüfft um und erkannte Brittay; das Mädchen hatte
sich in eines der großen Badetücher gewickelt und lehnte malerisch im
Eingang zum Cockpit. Vergnügt lächelte sie Gaunt zu.
Dann trat sie einige Schritte vor, bis sie dicht am Monitor stand, auf dem
Thory sie interessiert musterte.
„Hallo!" sagte Brittay fröhlich. „Sie müssen Thory sein!"
„Allerdings!" klang es fauchend aus dem Lautsprecher. „Ihre Existenz war
mir indes unbekannt!"
Heiter stellte Brittay sich vor; Gaunt hätte sie erwürgen können.
Dann herrschte minutenlang Schweigen.
Thory taxierte ihre Gesprächspartnerin mit einer Ungeniertheit, die sie
selbst von Männern nie geduldet hätte; sie erkannte recht schnell, daß
Brittay zweifellos sehr attraktiv, aber niemals eine Konkurrenz für sie war.
„Was hast du mit der Dame vor, Gaunt?" fragte sie gelassen.
Kevinhag hätte sich selbst bewundernd auf die Schulter klopfen können;
die Tatsache, daß Thory ihm derart bedingungslos vertraute, sprach sowohl
für ihre als auch für seine Menschenkenntnis.
„Recht einfach!" erklärte er aufatmend. „Sie soll hier im Boot bleiben und
meine Funksprüche annehmen. Von ihr werden meine Anweisungen dann
an dich weitergegeben!"
„Bist du sicher, daß du ihr vertrauen kannst?" wollte Thory wissen.
Gaunt grinste diabolisch und antwortete:
„Ich bin sehr sicher. Wenn sie nicht brav gehorcht, schicke ich sie zurück in die Sklaverei des Waffengeschäftes und dessen Besitzer." „Nur das nicht!" bat Brittay besorgt. „Zum Sklaventreiber und Mädchenhändler hast du offenbar einiges Talent!" meinte Thory sarkastisch. „Und was soll aus ihr werden, wenn dein Auftrag erledigt ist?" „Du wolltest doch schon immer in der Hauptstadt eine Boutique aufmachen", antwortete Kevinhag ruhig. „Hier hast du deine erste Verkäuferin! Einverstanden?" „Ja!" sagte Brittay sofort. Thory öffnete den Mund, um ihre Meinung zu sagen, als hinter ihr eine Gestalt sichtbar wurde. „Demor Gogyn!" sagte Gaunt verblüfft. „Sie werden die rücksichtslose Störung entschuldigen müssen!" erklärte der Parteichef und sah Thory bedauernd an; seine Höflichkeit verlor stark an Wirkung, als das Mädchen die entsicherte Schockwaffe in seiner Hand sah. Gaunt hatte dem Mädchen nichts von den politischen Hintergründen der Entführung Thamurs erzählt; ein leichtes Frösteln überfiel ihn bei dem Gedanken, seine Freundin den Händen dieses Mannes zu wissen. „Was haben Sie in meiner Wohnung zu suchen?" fragte Thory wütend. „Noch dazu mitten in der Nacht! Wie sind Sie überhaupt hereingekommen?" „Der Reihe nach, junge Frau", erwiderte Gogyn, der sich in einen bequemen Sessel gesetzt hatte. „Freiwillig bin ich nicht hier - ich werde von der Planetenpolizei gesucht. Da ich bisher noch nie gegen ein Gesetz verstoßen habe, gibt es von mir keine Datenmatrix für einen WAHRHEITSFINDER. Es wird also einige Zeit vergehen, bevor man mich ausgerechnet bei Ihnen suchen wird. Hereingekommen bin ich durch das Fenster Ihres Badezimmers - Sie haben es versehentlich offengelassen. Und was die Uhrzeit meines Besuches betrifft, so müssen Sie sich bei der Planetenpolizei beschweren. Genügt das als Antwort?" „Keineswegs!" antwortete Gaunt anstelle des Mädchens. „Was haben Sie jetzt vor, Gogyn? Wollen Sie mich erpressen?" Der Führer der Volkspartei schüttelte energisch den Kopf. „Ich weiß, was Sie von mir denken, Gaunt!" erklärte er nachdrücklich. „Man sucht mich, weil ich angeblich der führende Kopf bei der Entführung
des Kronprinzen gewesen sein soll. Durch einige Vertrauensleute bin ich rechtzeitig gewarnt worden." Er stand auf und trat dicht an das Aufnahmeobjektiv. „Gaunt!" sagte er eindringlich; die Schockwaffe legte er achtlos beiseite. „Sie sehen nicht so aus, als seien Sie eines von diesen hirnamputierten Muskelpaketen, die sich am Hof herumtreiben. Halten Sie mich für einen Schwachkopf?" „Das gerade nicht", brummte Kevinhag; er sah deutlich, wie im Hintergrund des Bildes Thory die Schockwaffe an sich nahm und die Mündung auf den Kopf des Parteiführers richtete. „Sie kennen die Forderungen der Kidnapper, und ich kenne sie auch", fuhr der Mann fort. „Geht die Kaiserin auf dieses Ultimatum ein, haben wir innerhalb weniger Wochen den herrlichsten Bürgerkrieg - die Royalisten werden uns ausrotten wie Ungeziefer. Geht die Kaiserin aber nicht auf die Bedingungen ein, muß Thamur sterben. Dann wird uns die gesamte Bevölkerung hetzen und buchstäblich steinigen. In keinem dieser beiden Fälle ist uns gedient. Halten Sie mich für so einfältig, einen Staatsstreich zu inszenieren, der die Mehrzahl unserer Parteimitglieder auf dem kürzesten Wege vor die Mündungen eines Erschießungspeletons bringt?" „Was Sie sagen", meinte Kevinhag nachdenklich, „hört sich ziemlich einleuchtend an!" „Beim Malagathen!" stöhnte Gogyn. „Wann werden Sie endlich einsehen, daß die Politik nichts anderes ist als die Kunst, dem Gegner Tiefschläge zu versetzen und selbst vor Schmerz zu wimmern? Und wer, bitte, hat jetzt Grund, laut zu schreien - Royalisten! Während wir als die größten Gangster in der Geschichte des Systems verketzert werden, können sie gemütlich ihr Süppchen auf der kochenden Volksseele brauen!" „Was wollen Sie?" fragte Gaunt scharf. „Ich habe zwei Bitten!" erklärte Gogyn. „Die erste lautet: Finden Sie Thamur und bringen Sie ihn zurück! Und zweitens möchte ich Ihre Erlaubnis haben, mich einige Zeit bei Ihrer Freundin zu verstecken. Sie sind meine letzte Hoffnung, Gaunt!" „Das habe ich schon einmal gehört", sagte Kevinhag. „Thory, das mußt du entscheiden! Willst du ihn für einige Zeit aufnehmen?" Das Mädchen überlegte, dann nickte sie.
„Solange er seine Strümpfe nicht an den Lampen zum Trocknen aufhängt,
kann er meinethalben bleiben!"
„Gut!" erklärte Kevinhag. „Ich melde mich morgen wieder - über Brittay!
Ende!"
Er schaltete das Funkgerät ab, schwang den Sessel herum und zündete sich
eine Zigarette an; Brittay hatte sich inzwischen eines der Kleider
angezogen, die Thory an Bord zurückgelassen hatte. Sie setzte sich auf die
Sesselkante und sah Gaunt aus großen Augen an.
„Stimmt das?" fragte sie leise. „Der Kronprinz ist entführt worden?"
„Richtig!" bestätigte Kevinhag. „Und er wird irgendwo hier auf
INFERIOR gefangengehalten!"
„Du sollst ihn ..." Sie stockte, wurde etwas rot. Dann beendete sie den Satz:
„.. . ihn hier suchen?"
„Vor allem finden!" ergänzte Gaunt und drückte die Zigarette aus; er sah
auf seine Uhr.
„Zeit, schlafen zu gehen, Mädchen!" meinte er und gähnte.
Er ging in die Wohnsektion, klappte mit wenigen Handgriffen das
bequeme Bett aus der Wand und zeigte dem Mädchen, wo sich die Wäsche
befand; sie sah ihm bedauernd nach, als er den Raum wieder verließ und
den Verschluß des Schotts einrasten ließ.
Fast eine halbe Stunde lang wühlte sie entzückt in Thorys Negliges herum,
bis sie sich für eines entschied, dessen Preis zur Stoffmenge umgekehrt
proportional war.
Gaunt hatte unterdessen den Pilotensitz in die Horizontale gekippt und sich
darauf ausgestreckt; während er dem langsam emporsteigenden Rauch
seiner Zigarette nachsah, überfiel ihn ein erschreckender Gedanke.
Die Darstellung des Chefs der Volkspartei klang sehr logisch und schien
für seine Unschuld zu sprechen - setzte man die Gedankenkette aber fort,
änderte sich das Bild.
Der teuflische Entführungsplan konnte sehr gut vorsehen, daß Thamur
befreit und das Komplott der Royalisten aufgedeckt wurde - dann hätte die
Volkspartei den Vorwurf des Hochverrats auf ihre politischen Gegner
abgewälzt.
Kevinhag grinste, als er den Faden weiterspann.
Diese Gedankenkette ließ sich bis ins Unendliche verlängern, wobei
abwechselnd die Royalisten oder die Volkspartei die Verbrecher waren.
„Wir werden es erleben!" sagte Gaunt laut, bevor er sich auf die Seite
wälzte und die Augen schloß; seine letzte Nacht in der relativen
Geborgenheit des Schiffes war erfüllt von wilden Träumen, in denen er abwechselnd von verschiedenen Gruppen ermordet wurde. 5. Mehr und mehr verstärkt sich der Eindruck, daß im System Delta Ursa ein Mann aus eigener Machtvollkommenheit einen Staat geschaffen und konstruiert hat. Geht man den Lebensgewohnheiten der Menschen auf den fünfzig Welten nach, sucht man die grundlegenden Vorschriften ihres Sozialverhaltens, stößt man immer wieder auf den Namen Bargheer Malagath. Das grenzenlose Blutvergießen in der heimatlichen Galaxis muß diesen Mann außerordentlich stark beeindruckt haben - die Grundkonstruktion des Staatswesens Delta Ursa beweist dies deutlich. Kernstück der Verfassung des Kaiserreiches sind die berühmten Prinzipien, die für alle Zeiten verpflichtend sind. Meist handelt es sich dabei um Zitate und Weisheiten aus der klassischen Literatur der Erde, die einen beachtlichen Rahmen zur Interpretation freilassen. Vermutlich liegt es an diesem Ermessensspielraum, daß sich im System der fünfzig Welten niemals eine echte Diktatur herausbilden konnte. Gewaltherrscher pflegen zumeist sehr dynamische Menschen zu sein, deren Sinn sich vornehmlich an der Erweiterung ihrer absoluten Macht orientiert. Diesem Ausdehnungsstreben hat Bargheer Malagath einen unverrückbaren Riegel vorgeschoben - das Erste Prinzip. Es enthält das zwingende Verbot, niemals über den Rand des Systems hinaus in den Raum, vorzustoßen; eine sinnreich ausgeklügelte Technik wurde installiert, um Durchbruchsversuche schnell und wirksam zu unterbinden. Die Falle ist perfekt - niemand, nicht einmal der regierende Malagath, kommt aus der Dunkelwolke heraus. An Bord unseres Kartographenschiffes ist man einhellig der Meinung, daß Bargheer Malagath mit einer vollständigen Vernichtung der Erde gerechnet hat; ein galaxisumspannendes Imperium der Invasoren muß er nach unserer Meinung befürchtet haben. Unter diesen Umständen erscheint es nur natürlich, daß er alles unternahm, um das System Delta Ursa vor einer Entdeckung durch die Fremden zu bewahren - zumindest wollte er verhindem, daß sich die Flüchtenden selbst verraten. Dadurch erhält sein politisches System etwas ungemein Statisches, unbehagliches Gepräge; charakteristisches Kennzeichen dafür ist die
straffe Ordnung der Kasten und Gilden. Jeder Neugeborene wird sofort Mitglied einer Kaste; seine Ausbildung wird so installiert, daß er den gleichen Beruf wählt wie sein Vater. Es gibt Techniker, die allerdings gerade genug wissen, um einen ausgefallenen Pulsator wieder zusammenflicken zu können; sie wissen zum Beispiel nicht, wie man ein derart angetriebenes Raumfahrzeug steuert. Für diesen Zweck gibt es die Gilde der Piloten - deren Mitglieder allerdings keine Ahnung haben, auf welchen physikalischen Grundlagen ihre Schiffe bewegt werden. Diese Arbeits- und Wissensteilung ist für Delta Ursa bestimmend. Besonders durchdacht ist die medizinische Versorgung. Wir wissen nicht, wie Malagath dies zuwegegebracht hat - aber der Wissensstand der Ärzte sank von Jahrhundert zu Jahrhundert unmerklich ab, bis die Medizin mit Zauberei praktisch gleichbedeutend wurde. Den Sinn dieser Maßnahme fanden wir recht schnell - die Kenntnisse der Mediziner sind gerade so groß, um den Bevölkerungsstand um einen bestimmten Grenzwert pendeln zu lassen. Steigen die Todesziffern, so verlagert sich die Fähigkeit der Zauberer einseitig auf die Gebiete Gynäkologie und Geburtshilfe. Sobald die Geburtenzahlen zu hoch sind, steigt auch die Säuglingssterblichkeit - auf diese Weise wird die Gesamtbevölkerung ziemlich konstand bei achtzehn Milliarden gehalten. Untereinander sind die Kasten und Gilden sorgfältig nach ihrem sozialen Rang abgestuft; uns fiel auf, daß diese Grenzen aber keineswegs sehr starr sind. Für ehrgeizige Menschen ist der Aufstieg in eine ranghöhere Gilde durchaus möglich, wenn auch sehr schwierig. Gleichzeitig können Unbegabte jederzeit zurückgestuft werden. Mit großem Geschick hat Bargheer Malagath - so er der Schöpfer dieser Sozialordnung ist - es verstanden, Kontinuität und Dynamik miteinander zu verschmelzen. Obwohl in den Prinzipien unwandelbar, ist das System flexibel genug, um ein Erstarren und damit den Verfall zu verhindern. Nicht zu verhindern war allerdings, daß sich die Männer aus alten Lochkarten ein neues Kartenspiel bastelten; jetzt sitzen sie schon wieder zusammen und verpokern imaginäre Vermögen. Und mich haben sie einstimmig zum Küchendienst abgestellt; die nächsten Tage werden sehr abwechslungsreich werden! (Kustos Sheila Barclay, Makrobiotikerin der SUNPOWDER; Nachtrag zu den Aufzeichnungen des Bordbuches; Bandspule 008/3. 28. Dezember 5545.)
Delta Ursa stand bereits über dem Horizont. Lange Schatten lagen über den Savannen und Urwäldern INFERIORS; fast geräuschlos schwebte der blaulackierte Fremdkörper über den Baumwipfeln. Nicht die winzigste Spur deutete hier - achtzig Kilometer außerhalb des Talkessels - darauf hin, daß sich auf dem Planeten Menschen befanden. Gaunt steuerte vorsichtig und hielt sich immer im genügenden Sicherheitsabstand. Aufmerksam und konzentriert beobachtete er die Umgebung. Unter sich sah er die zehn Meter hohen Buschwälder vorübergleiten, die diesen Teil des Planeten fast lückenlos bedeckten. Selten öffnete sich der Wald zu weiten Flächen, die bedeckt waren von Sümpfen oder mannshohem, wogendem Gras. Der Gleiter zeichnete einen langen Schatten auf die grüne Ebene unter sich; das grelle Licht der Sonne wurde etwas gemildert durch das eingefärbte Plastoglas der Abdeckhaube über dem Fahrgastraum. Je nach Lichteinfall verdunkelte sich das Material; dennoch begannen Gaunts Augen zu schmerzen. Er konnte noch immer nicht verstehen, wie man es auf einer solcherart höllischen Welt aushalten konnte. „Verdammt!" rief der Mann plötzlich und hielt die Hand schützend über die Augen. Er hatte den WAHRHEITSFINDER aus den Augen verloren. Die kopfgroße Kugel schwebte unablässig etwa hundert Meter vor dem Gleiter einher; manchmal blieb sie zurück, wenn Gaunt von der geraden Route abwich, schloß aber sofort wieder auf. Kevinhag ließ den Gleiter hundert Meter höher steigen. Dann sah er die Kugel wieder; sie kam pfeilschnell von rechts auf ihn zugejagt. Noch hatte sie keine Spur des Kronprinzen gefunden; auf dem winzigen Schirm, der zusätzlich neben den anderen Armaturen des Gleiters eingebaut worden war, zeigte sich das stationäre Oszillogramm völlig unverändert. Es bewies, daß die winzigen Servomechaniken innerhalb der Kugel arbeiteten, Sonst nichts. Irgendwo auf dieser mörderischen Welt mußte sich eine Gruppe von Männern aufhalten, die einen dreizehnjährigen Jungen mit sich schleppten. Oder schleppten sie ihn schon nicht mehr...? Eine Windbö stemmte den Gleiter beiseite; mit sicherer Hand korrigierte Gaunt die Abdrift.
Mit jedem Kilometer, den er zurücklegte, wuchs seine Angst, daß er an der falschen Stelle suchte - und das konnte tödlich sein. Nicht nur für Thamur. Gaunt sah, daß sich weiter vorn der Urwald wieder einmal öffnete; einer der drei Flüsse schob sich träge durch die grüne Wand. Er drückte den Gleiter tiefer auf die Wasserfläche herab und schwebte dicht über der Flußoberfläche stromaufwärts. Die Klimaanlage des Gleiters schuf eine erträgliche Atmosphäre im Innern; trotzdem hatte Kevinhag seine Oberbekleidung abgelegt. Ab und zu nahm er einen Schluck aus dem Thermosbehälter. „Nichts schmeckt köstlicher als Eiswasser!" murmelte er genießerisch; er sagte es zum zehnten Male an diesem Tag. Neugierig musterte er seine Umgebung. Langsam lockerte sich der Urwald auf. Die ersten Felsen unterbrachen das Dickicht; die Ausläufer des Gebirgszuges machten sich bereits bemerkbar. Die Ufer verbreiteten sich, und der Fluß schien wesentlich schneller zu strömen. Der Wald trat zurück. Zehn Minuten vergingen, dann fesselte etwas am Waldrand Gaunts Aufmerksamkeit. Er beschleunigte ein wenig und verließ den Fluß. Der Wald war in Aufruhr geraten. Bäume bewegten sich wie im Fieber, Zweige peitschten durch die Luft, und als Gaunt das Fenster leicht herunterdrehte, hörte er ein Kreischen und Röhren. Gaunt nahm sein Fernglas zu Hilfe und stieß eine leise Verwünschung aus. Auf den Fotografien im Handbuch - hervorragende Vierfarbkupfertief drucke - hatte die Fauna und Flora dieses Planeten schon sehr gefährlich gewirkt - die Wirklichkeit sah beträchtlich furchterregender aus. Eine Pflanze versuchte, einem tierischen Bewohner der Welt den Garaus zu machen. Ein Dutzend Blütenknollen des fast dreißig Meter hohen Raubgewächses hatten sich geöffnet und ihren Inhalt ausgespien mörderische Gebisse mit siebenfach gestaffelten Zahnreihen von der Schärfe eines Flintsteinmessers. Sobald eines der kürbisgroßen Geschosse auf einen tierischen Organismus aufprallte, preßten schenkeldicke Muskelstränge die Kiefer zusammen und bohrten die Zähne in das Fleisch des Opfers. Wurde nicht sofort ein lebenswichtiges Blutgefäß zertrennt, so reichte doch der Verdauungssaft der botanischen Bestie aus, die Beute in wenigen Sekunden zu fällen. Einmal gestürzt, war das Opfer unfehlbar verloren - mit erstaunlicher Schnelligkeit erhob sich der Baum und bewegte sich auf dem verfilzten Gestrüpp seiner Wurzeln bis hart an die Beute. Luftwurzeln bahnten sich
einen Weg ins Innere des Opfers und sonderten eine Flüssigkeit ab, die die Zellwände fast augenblicklich auflöste. Gleichzeitig lösten sich die Jagdgebisse aus dem Körper und wurden vom Geäst in ihre alten Positionen gebracht. Gaunt schauderte unwillkürlich; diese teuflische Mischung aus Pflanze und Tier sprach allen Regeln der Biologie Hohn. Diesmal schien die Raubpflanze auf einen gleichwertigen Gegner gestoßen zu sein; der größte Teil der tödlichen Geschosse prallte an dem Panzer des achtbeinigen Tiergiganten ab. Knorpelverstärkte Rüssel pfiffen auf die drei Gebisse herab, die sich hatten festbeißen können, und verwandelten sie in eine unförmige Masse aus Knochen und zerfetztem Fleisch. Während die Säulenbeine des Tieres die restlichen Geschosse zertrampelten, rammte die Kreatur ihre meterlangen Hauer in den Stamm des Mordbaumes. Gaunt zuckte zusammen, als ein langgezogener Schrei ertönte. Wie Hagelkörner prasselten die Waffen der Pflanze auf den gepanzerten Gegner, während sich das Wurzelwerk stückweise aus dem Boden löste. Ächzend gaben die Wurzeln nach, dann hing der Baum vollständig in der Luft. Die Luftwurzeln peitschten wild, versuchten eine verletzliche Stelle des Tieres zu finden; abgebissene Rüssel fielen zu Boden und wurden mitsamt den Kiefern zertreten, als der Gigant gemächlich dem Ufer zustapfte. In seinem Fernglas erkannte Gaunt die stark blutenden Wunden in der rotbraunen Haut des Tieres. Als es das Wasser erreicht hatte, verharrte es kurz und wollte den Baum abschütteln - vergeblich. Zu tief staken die Hauer im Holz, als daß es gelungen wäre, sie daraus zu entfernen. Der Gigant schwankte stärker und röhrte laut, dann fiel er klatschend ins Wasser. Sekundenbruchteile später hatten sich an der Stelle Tausende von Fischen versammelt, unersättliche Räuber, die praktisch nur aus Kiefern und Magen bestanden. Gaunt ging etwas tiefer, um dieses Schauspiel aus der Nähe zu verfolgen; er schüttelte sich leicht, als er wenig später den Baum auf dem Wasser treiben sah und daranhängend ein Skelett erkannte. Ein Stakkato von schmetternden Schlägen erschütterte den Gleiter und riß ihn aus dem Kurs; Gaunt griff hastig nach der Steuerung und zog die Maschine hoch. Als der Gleiter wieder ruhig in der Luft hing, suchte Kevinhag zunächst den WAHRHEITSFINDER; erleichtert atmete er auf, als er den metallischen Körper in seiner Nähe entdeckte.
Dann forschte er nach der Ursache der Kursabweichung - und erschrak heftig. Aus der zentimeterdicken Bordwand ragten acht fingerdicke Nadeln ins Innere der Kabine; von ihren Spitzen tropfte eine Flüssigkeit. Nach einigen Sekunden Nachdenkens wußte er, wem er diese Überraschung verdankte - einer Pflanze, die einer Rose entfernt ähnlich sah. Sie nahm Kohlendioxyd aus der Luft auf, sammelte und komprimierte das Gas zu unglaublichen Drücken. Mit dieser Treibladung verschoß das botanische Ungeheuer unterarmlange Dornen - mit einer erschreckenden Treffsicherheit. Noch über Entfernungen von mehr als dreihundert Metern hinweg, so berichteten Forscher, vermochte sie einen Menschen präzise zu treffen bei geringer Entfernung boten nur dickste Panzerplatten Schutz. Wie fast alles Leben auf dieser Welt war auch die Mordrose giftig; der Pflanze war es gleichgültig, wo ihr Opfer starb. Wichtig für sie war, daß der Leichnam von einem bestimmten Insekt als Brutplatz für seine Nachkommen verwendet wurde - was nach dem Schlüpfen der Insektenlarven übrigblieb, diente der Rose als Dünger für ihre Nachkommen. „Teufel auch!" rief Gaunt. „Was ist eigentlich auf dieser Welt nicht lebensgefährlich?" Er brauchte fast eine Stunde, bis er die Giftdornen aus der Außenhülle des Gleiters entfernt und die Löcher abgedichtet hatte. Dann setzte er seine Suche fort, gequält von der Ungewißheit, ob er Thamur überhaupt noch lebend vorfinden würde. Gaunt kannte den Jungen fast besser als seine eigene Mutter, die Kaiserin. Er wußte, daß der Kronprinz für sein Alter erstaunlich vernünftig und besonnen war. Allerdings konnte er sich auch nur zu gut vorstellen, wie Thamur seine geistige und körperliche Überlegenheit ausspielte - und das konnte für ihn tödlich sein. Die klimatischen Bedingungen des Planeten erwiesen sich als ebenso extrem wie das Leben, das er trug. Innerhalb von zehn Minuten war Delta Ursa hinter dem Horizont verschwunden, und die Außentemperatur fiel rapide ab. Gaunt schaltete die Breitstrahlscheinwerfer des Gleiters ein und drehte die Heizung hoch. „Es wird Zeit, daß ich eine Pause einlege!" murmelte Gaunt und drückte den Fahrthebel nach vorn; gleichzeitig verfolgte er konzentriert die Flugbahn des WAHRHEITSFINDERS, die der Bordradar auf den
Bildschirm zeichnete. Unmittelbar daneben leuchtete ein Oszillograph eine gleichmäßige Sinusschwingung war zu sehen, die sich erst veränderte, wenn die Kugel das Hirnwellenmuster des jungen Lords angepeilt hatte. Mit mehr als zweihundert Stundenkilometern jagte Gaunt auf das Ge birgsmassiv zu, in der Hoffnung, dort einen Platz für eine Übernachtung zu finden, an dem er nicht fortwährend um sein Leben bangen mußte. Während die Lichtkreise der Scheinwerfer über den Fluß wischten und verwirrende Reflexe hervorriefen, ließ er das Kabinendach etwas zurückfahren. Genießerisch sog er die kalte Atemluft ein, die durch das Insektengitter hereinströmte. Etwa zehn Minuten lang blieb Gaunt auf Kurs, dann drosselte er die Geschwindigkeit, suchte minutenlang und hatte einen Platz entdeckt, der ihm geeignet erschien. Er ließ das Fahrzeug absinken, bis der Kiel auf dem Fels schrammte und schaltete die Antriebsmaschinen aus; auf dem Dach des Gleiters begann sich ein Suchscheinwerfer zu drehen. Im Licht der zwei Monde des Planeten und des Scheinwerfers war die Umgebung recht gut auszumachen - Gaunt hatte ein Felsplateau angeflogen, dessen Rand fast einhundert Meter tief abfiel. Über ihm stieg der Berg bis zu einer Höhe von achthundert Meter senkrecht an - er konnte sich einigermaßen sicher fühlen. Kevinhag stieg aus, wobei er seine Energiewaffe vorsichtshalber entsichert in der Hand hielt; außer dem leisen Summen einiger kleiner Aggregate im Innern des Gleiters war kein Geräusch wahrnehmbar. Gaunt überlegte lange, ob er in der relativen Geborgenheit des Gleiters oder im Freien schlafen sollte, und er entschied sich für Frischluft. Ächzend zerrte er das Biwakzelt von der Ladefläche des Gleiters und zog das Paket einige Meter weit, bis es unter einem Felsüberhang lag. Gaunt warf einen prüfenden Blick nach oben; der Fels schien sehr massiv und würde vermutlich ausreichenden Schutz gegen eventuellen Steinschlag bieten. Dann richtete er das Zelt auf. Ein Knopfdruck öffnete das Ventil einer Druckflasche, die binnen einer Minute den Raum zwischen den beiden Hüllen füllte und das Zelt zu einer fünf Meter durchmessenden Halbkugel aufblies. Das Kunststoffmaterial der Außenhülle war äußerst flexibel - selbst eine aus geringer Entfernung abgefeuerte Gewehrkugel vermochte es nicht zu durchdringen. Eine zweite Gasflasche füllte rasch das Innere eines hochbequemen Lagers
und einiger Sitzgelegenheiten, in deren unteren Teilen eine kleine, aber vollständige Notausrüstung steckte. Die Konzentratnahrung reichte aus für zwanzig Tage - vorausgesetzt, es gab Wasser; meist aber kam Rettung schon nach wenigen Stunden - herbeigerufen vom leistungsstarken Notsender, der ebenfalls zur Ausrüstung des Zeltes gehörte. „Selbst die Katastrophen sind heutzutage komfortabel!" sagte Kevinhag grinsend, als er den Zippverschluß des Zeltes öffnete und in das Innere trat. Er hängte seine transportable Pulsatorlampe an einen Haken im Zenit der Kugel und schaltete das Gerät so, daß es gleichzeitig Licht und Wärme spendete. Dann ging er zurück zum Gleiter. Als er sich über den Sitz beugte, um einige Decken zusammenzuraffen, zuckte er zusammen; das Bild auf dem Oszillographen hatte sich verändert. Eine stark modulierte Sinusschwingung war zu sehen, die in einem hellen Gelb leuchtete; dahinter strahlte in roter Farbe die graphische Darstellung von Thamurs Hirnmatrix, so wie sie im WAHRHEITSFINDER gespeichert war. „Endlich!" seufzte Gaunt erleichtert. Thamur war gefunden! * Schnell programmierte Kevinhag die Antriebsaggregate der Metallkugel um; der WAHRHEITSFINDER entfernte sich rasch und peilte das Ziel an, das seine Sensoren ihm angaben. Aufmerksam verfolgte Gaunt auf dem Radarschirm die Flugbahn des Gerätes. Der WAHRHEITSFINDER legte etwas mehr als einhundert Kilometer zurück, dann stoppte er seine Bewegung; Gaunt hatte den Mechanismus so programmiert, daß die Kugel einen Abstand von mindestens fünfzehn Kilometern zum Ziel einhielt. Aus einer Tasche fischte Gaunt eine reichlich primitive Karte dieser Region; er verglich das Bild auf dem Radarschirm mit der rohen Skizze, die kaum mehr als den Verlauf der Flüsse und einen groben Umriß des Gebirges zeigte. Bald hatte er den Aufenthaltsort des Kronprinzen bestimmt - ein kleines Tal mitten im Gebirge, vermutlich bar jeglicher Vegetation und also relativ ungefährlich. Er beschloß, die Fährte einstweilen noch nicht aufzunehmen - er durfte nicht riskieren, daß die Piraten in letzter Minute noch in Panik gerieten und Thamur ermordeten.
Gaunt ließ den WAHRHEITSFINDER zum Gleiter zurückkehren, desaktivierte das Gerät und legte es auf dem Rücksitz des Gleiters ab. Als er das Fahrzeug wieder verließ, begann es zu regnen; nußgroße Tropfen hämmerten auf ihn herab und durchnäßten ihn in wenigen Sekunden. Fluchend stolperte Gaunt durch die Dunkelheit, bis er nach einigem Suchen den Eingang des Zeltes gefunden hatte. Ohne sich um die ständig größer werdende Pfütze unter seinen Füßen zu kümmern, zog er sich hastig aus, warf die Kleider über eine Sitzgelegenheit und ließ sich auf das Bett fallen. Bald darauf war er fest eingeschlafen. Fast mit der ersten Spur von Helligkeit erwachte Gaunt. Er fühlte sich zerschlagen, unausgeschlafen und hatte einen unangenehmen Geschmack im Mund. Als er das Plastikgewebe des Zelteinganges zur Seite schlug, sah er ein Naturschauspiel, das Seltenheitswert hatte. Für den Bruchteil eines Augenblickes war die Oberfläche des Planeten in schwarzblaue Finsternis gehüllt; dann erschien am Horizont eine Flammengarbe und färbte den Himmel blutrot. Minuten später wälzte sich der gelbweiße Ball der Sonne Delta Ursa in den schlagartig aufleuchtenden Himmel. „Anderswo müßte man Gebühren dafür zahlen!" knurrte Kevinhag mißmutig. „Und hier wird es verschenkt an Urwaldbestien - aber vielleicht wissen die solche Schönheit mehr zu würdigen!" Er wusch sich notdürftig und bereitete sich aus den Vorräten des Gleiters ein bescheidenes Frühstück. Mit leicht rotgeränderten Augen blickte Gaunt auf den winzigen Schirm - das Oszillogramm pulsierte immer noch kräftig. Das bedeutete, daß sich
Thamur immer noch in relativer Nähe aufhielt. Der WAHRHEITSFINDER
kreiste wieder ruhelos über Gaunts Fahrzeug.
Als er wieder auf den Bildschirm blickte, stieß er einen unterdrückten
Fluch aus; das Oszillogramm hatte sich verändert und zeigte wieder eine
unmodulierte Schwingung.
Vermutlich bewegten sich die Entführer mit ihrer Geisel in nordöstlicher
Richtung.
Gaunt sprang förmlich in den Schalensitz und startete die Maschine.
Rasch gewann er an Höhe.
Der WAHRHEITSFINDER vor ihm wich immer häufiger vom Kurs ab;
offenbar änderten die Männer mit dem Jungen laufend die Richtung. Ob
sie Verfolger vermuteten?
„Hoffentlich nicht!" knurrte Kevinhag, während der Gleiter mit Höchstgeschwindigkeit auf das Gebirgstal zuraste, das den Kidnappern in der letzten Nacht als Zuflucht gedient hatte. Er wünschte sich, daß die Richtungsänderungen ausschließlich auf die Beschaffenheit des Geländes zurückzuführen war. Immerhin mußte er sehr vorsichtig sein. Die Kidnapper verfügten höchstwahrscheinlich ebenfalls über ein Fahrzeug - zu Fuß in dieser Wildnis herumzulaufen kam einem Selbstmord gleich. Das aber bedeutete, daß sie auch eine Radaranlage besaßen, mit der sie ihn frühzeitig orten konnten. Gaunt hielt sich deshalb außerhalb der Reichweite eines Standardradars. Für den Kontakt zu den Kidnappern sorgte der WAHRHEITSFINDER. Die Kugel verfolgte die Entführer und behielt einen Abstand von vierzig Kilometern zu Gaunts Gleiter. Auf dem Radar war der Kurs exakt zu verfolgen, allerdings nur dann, wenn man das kaum erkennbare Pünktchen auf der leuchtenden Fläche sehr scharf im Auge behielt. „Hoffentlich fällt das Ding nicht auch den Piraten auf!" sagte Gaunt leise. Er brauchte etwas mehr als eine halbe Stunde, bevor er unter sich eine Lichtung mit den Spuren eines Lagers entdeckte. Gaunt ließ den Gleiter dicht neben dem Lager aufsetzen; mit nacktem Oberkörper sprang er aus dem Gleiter, dessen Abdeckhaube auf einen Federdruck hin zurückklappte. Er hatte sich nicht geirrt - hier mußten die Entführer und ihr Opfer in der vergangenen Nacht gerastet haben. Er fand zwei angekohlte Bratenstücke, mehr als ein Dutzend leerer Schnapsflaschen, dazu ein Amulett, dessen Gravierung eindeutig bewies, daß es einem Shenga gehört hatte. Besonders aufmerksam untersuchte Kevinhag die Stelle, an der das Fahrzeug der Piraten eine Nacht lang gestanden hatte. Gaunt maß die Spuren aus und verglich sie mit den Werten eines Handbuches, das er vorsorglich mitgenommen hatte; ein Seufzer der Erleichterung entfuhr ihm, als er anhand der Tabellen feststellte, daß der Gleiter der Piraten ein völlig veraltetes Modell war, das nicht einmal über ein eigenes Radargerät verfügte. „Aber sie können sich eines nachträglich eingebaut haben!" meinte er zweifelnd. Gleichgültig - er mußte es wagen; anders als mit dem Gleiter kam er niemals an die Piraten heran.
Gaunt bestieg wieder sein Fahrzeug, ließ sich in den Schalensitz fallen und betätigte den Verschlußmechanismus; nachdem die Haube klickend eingerastet war, zog er den Gleiter hoch und jagte hinter den Piraten her. Die fast neuwertigen Maschinen des Fahrzeuges trieben den Gleiter mit annähernd zweihundert Stundenkilometern vorwärts und verkürzten zusehends die Distanz zwischen Gaunt und der Gruppe der Entführer. Erst als Kevinhag den Piratengleiter auf dem Radar stoppen sah, drosselte er die Geschwindigkeit und verglich das Radarecho mit den Karten; nach seiner Schätzung hatten die Kidnapper den Quell eines Flusses erreicht. Gaunt sah kurz nach der Sonne - sie stand im Zenit. Vermutlich legten die Piraten eine Mittagspause ein. „Ein faszinierender Gedanke!" murmelte Gaunt, der selbst ziemlich hungrig war. Nachdem er den Gleiter in einer Waldlichtung gelandet hatte, wühlte er in einem großen Metallbehälter, der eine Unmenge von Dosen und Tüten enthielt - Fertiggerichte und Konzentratnahrung. Nachdem er seinen Hunger gestillt hatte, hockte er sich laut pfeifend in den Einstieg des Gleiters und rauchte eine Zigarette; aus den Augenwinkeln heraus hielt er fortgesetzt den Radafbildschirm im Auge. Den Start des Piratengleiters durfte er nicht übersehen - die Mühe, die Fährte wieder aufzunehmen, „Teufel auch!" knurrte er unwillig, während er die Aufschriften der Etiketten studierte. „Brittay hat wohl zu viele Abenteuerromane gelesen!" Bis auf einige Dosen mit meist sehr fade schmeckenden Suppen enthielt die Kiste hauptsächlich Eintopfgerichte - Bohnen mit Speck, eine Mahlzeit, die Gaunt fast so stark verabscheute wie die Planetenpolizei. „Versuchen wir es auf eigene Faust!" murmelte er schließlich. Aus dem umfangreichen Waffensortiment, das von dem Mädchen im Innern des Gleiters verstaut worden war, suchte er sich einen erstklassigen Reflexbogen und einen Köcher mit Pfeilen heraus. Er warf sich die Geräte über die Schulter und verließ den Gleiter. Aus den Handbüchern wußte Gaunt, daß in den Tälern des Gebirgsmassives eine Tiergattung mit genießbarem Fleisch besonders häufig anzutreffen war - eine Kaninchenart, an der besonders das gefährliche Raubtiergebiß und ein flexibler Schwanz mit einem Giftstachel auffiel. Zum Glück war das Gift dieses Tieres für Menschen nicht sonderlich gefährlich - wurde ein Jäger von dem Stachel verletzt, brauchte er nur innerhalb von einer Stunde das betroffene Glied zu amputieren, um seine
Lebenserwartung auf zwölf Tage zu steigern. Bis dahin konnte er sicher sein, gerettet zu werden. Gaunt schluckte unwillkürlich, als er sich des Textes im Handbuch entsann; die Bewohner dieses Planeten schienen den Widerwärtigkeiten des Lebens gegenüber eine recht eigentümliche Haltung einzunehmen. Mit Mühe gelang es Kevinhag eine Vorstellung zu unterdrücken - die Szene, in der er sich, dem Ratschlag des Handbuches folgend, ein getroffenes Bein eigenhändig abtrennte. „Sei's drum!" brummte er, während er sich in den Schatten des Waldes verzog; die Schäfte seiner langen Stiefel würden ausreichend Schutz gegen den Stachel des Jagdkaninchens bieten. Er hatte nur wenige Minuten zu warten, bis aus dem Unterholz ein Tier hervorbrach und auf die Lichtung trabte - eine eigentümliche Mftchung aus Giraffe und Elch. Das Tier blieb mitten auf der Lichtung stehen, beäugte mißtrauisch den Gleiter und zog die Witterung ein. Betont langsam legte Gaunt einen Pfeil auf die Sehne und zog sie durch; fast zeitlupenhaft hob er den Bogenarm. Er zielte kurz, zog die stählerne Sehne gleichmäßig bis zum Ohr durch und ließ den Pfeil davonschwirren. Das Geschoß pfiff durch die Luft und traf exakt ins Blatt. Das Tier bäumte sich auf, machte ein paar Schritte und brach dann zusammen. „Teil eins!" murmelte Kevinhag zufrieden. Das Fleisch seiner Beute war völlig ungenießbar; ebensogut hätte er Strychnin essen können. Aber der Geruch des Blutes würde vermutlich einige der merkwürdigen Kaninchen anlocken. Kevinhags Rechnung ging auf. Es dauerte nur vier Minuten, dann schlugen ein halbes Dutzend Aasfresser ihre Zähne in die Flanken des getöteten Tieres. „Teil zwei!" brummte Gaunt kaum hörbar. Er legte noch einen Pfeil auf, zielte und schoß. Eines der Kaninchen wurde getroffen, fauchte einmal heiser und fiel zur Seite - die anderen preschten davon. Rasch ging Gaunt zu seiner Beute hinüber und zerrte das Tier hinter sich her zum Gleiter. Aus dem Innern des Fahrzeuges holte er einen kleinen Ultraschallsender und aktivierte das Gerät. Das kugelförmige Feld aus ultrahohen Schallfrequenzen würde ungebetene Gäste aufhalten - vor allem Insekten, und die Hörorgane der meisten kleineren Raubtiere wurden davon stark geschädigt.
Eine halbe Stunde später hatte Gaunt den Braten enthäutet, ausgeweidet und ein Feuer angesteckt. Grinsend beobachtete Keving, wie sich sein Mittagessen auf einem Stock über den Flammen drehte. Die Entführer schienen es nicht sonderlich eilig zu haben; fast zwei Stunden vergingen, bevor sich wieder etwas auf dem Radarschirm bewegte. Gaunt hatte bereits alles für einen sofortigen Start vorbereitet. Sein Gleiter gewann rasch an Höhe, und Kevinhag folgte den Kidnappern, bis eine zunehmende Rotfärbung der Sonne Delta Ursa das Hereinbrechen der Dämmerung ahnen ließ. Deutlich konnte Gaunt auf seinem Bordradar erkennen, wie die Piraten ihren Gleiter abbremsten, tiefer sanken und dann endgültig stoppten. Während Kevinhags Fahrzeug mit stark verringerter Geschwindigkeit weiterflog, suchte der Waffenmeister auf der Karte nach dem Landeplatz der Entführer. „Sieh an!" murmelte er leise, als er den Ort ausfindig gemacht hatte. „Das Versteck ist nicht übel!" Es handelte sich um einen kleinen Talkessel, der nur einen sehr engen Eingang zu haben schien; wenn die Karte nicht trog, reichte ein Pirat völlig aus, jeden unerwünschten Besuch zu verhindern. Zudem waren die Berge ringsum entschieden zu hoch und konnten von einem Gleiter ohne Spezialausrüstung nicht überflogen werden. „Warten wir es ab!" sagte Gaunt zu sich selbst. Er landete sein Fahrzeug dicht neben dem Eingang der Schlucht; die Distanz betrug nur etwas mehr als zwei Kilometer. Gesehen werden konnte er nicht - rechts und links neben dem Zugang zur Schlucht knickte der Gebirgszug nach wenigen hundert Metern scharf nach rückwärts ab. Aus der Luft betrachtet, wirkte das Gelände wie ein dreidimensionales, aus Stein gehauenes Omega. Gaunt wartete in seinem Gleiter die Dämmerung ab; er nutzte die Zeit, um seine Waffen zu überprüfen. Aus dem wohlsortierten Arsenal wählte er einen Dolch aus, den er sorgfältig mit der ledernen Scheide am linken Unterarm befestigte. Es folgten zwei Handgranaten mit Narkogas, die im Gürtel verstaut wurden; Bogen und Köcher hingen über Gaunts Schultern. Sein Körper steckte in einem blauschwarzen, hautengen Overall aus Kunststoff; das Material besaß den Vorzug, die infrarote Strahlung des Körbers zu absorbieren. Die Spezialnachtgläser der Piraten konnten ihn nur ausmachen, wenn er mit seinem Körper die Wärmestrahlung eines anderen Lebewesens abdeckte.
»Auf geht's!" sagte Kevinhag und stie| aus dem Gleiter. Als er auf dem felsigen Boden stand, zog er die Maske aus schwarzer Gaze über das Gesicht; er probierte einige Male, dann saßen die Augenschalen richtig - sie arbeiteten zwar nicht ganz so präzise wie eine Infraoptik, lieferten aber immerhin ein erkennbares Wärmebild der Umgebung. Kevinhag warf keinen Blick zurück, als er sich fast ohne Geräusch entfernte. So entging ihm, daß auf dem Radar des Gleiters ein ganzer Schwärm von Punkten aufgetaucht war, der sich mit großer Geschwindigkeit näherte. * „So ein Narr!" raunte Gaunt. Der Pirat am Eingang zum Talkessel legte eine geradezu selbstmörderische Nachlässigkeit an den Tag - die Glut seiner Zigarette war auch ohne Infrarotgläser über mehrere hundert Meter deutlich zu erkennen. Gaunt schob sich langsam näher. Die dicken Plastiksohlen seiner Stiefel dämpfte jedes Geräusch. Dennoch bewegte er sich mit äußerster Vorsicht. Ein zufällig angestoßener Stein hatte schon mehr als einem Waffenmeister das Leben gekostet. Als er von dem Posten nur noch einige Meter entfernt war, legte er eine Pause ein. Deutlich erkannte er die gesicherte Energiewaffe, die der Mann nachlässig über die Schulter gehängt hatte. Gaunt überlegte fieberhaft. Er brauchte nur sein Messer aus der Scheide zu ziehen und zu werfen, um den Posten auszuschalten - allerdings für immer. Versuchte er aber, die Wache nur zu betäuben, mußte er nahe heran und riskierte entdeckt zu werden. Der Posten entfernte sich einige Meter und setzte sich auf einen Felsblock neben dem Eingang zum Talkessel. Gaunt grinste erleichtert. Es gehörte nicht viel Beobachtungsgabe dazu, festzustellen, daß der Mann bereits stark angetrunken war, und die gefüllte Taschenflasche, die er jetzt hervorzog und an den Mund führte, ließ vermuten, daß er in wenigen Minuten gänzlich außer Gefecht gesetzt sein würde. Gaunts Hoffnung erfüllte sich - zehn Minuten später sackte die Wache in sich zusammen und begann durchdringend zu schnarchen.
Gaunt atmete erleichtert auf und huschte an dem Schlafenden vorbei in die Schlucht; sorgfältig sah er sich um, bevor er eine Deckung verließ, um sich einige Meter weiter vorwärtszuschieben. Die Witterung kam ihm zu Hilfe; nur für Sekunden strahlte das kalkige Licht der Monde auf die Landschaft herab, dann tauchten Wolkenfelder das Tal wieder in Finsternis. Gaunt nutzte die kurzen Augenblicke der Helligkeit aus, um weitere Wachen ausfindig zu machen; war der Himmel verfinstert, drang er weiter vor. Gelegentlich späht er mißtrauisch nach oben. Der Eingang zum Talkessel war nur wenig breiter als zehn Meter, und mit zunehmender Höhe schoben sich die Felswände immer enger zusammen. „Uff!" machte Kevinhag erleichtert, als er den Rand des Kessels erreicht hatte. Die Anstrengung der letzten zehn Minuten hatten ihn stark schwitzen lassen; Wie eine Kunststoffolie klebte die Gesichtsmaske an seiner Haut, und Gaunt hatte Mühe, mit der Zunge das Gewebe aus seinem Mund zu entfernen. Für Gaunt genügte ein Blick, um festzustellen, wo die Kidnapper sich aufhielten - das mächtige Feuer mitten in dem grasbewachsenen Tajkessel war auch ohne Spezialoptiken leicht auszumachen. „Etwa zwei Kilometer", schätzte Gaunt flüsternd. Vorsichtshalber bewegte er sich ein Stück am Rande des Tales entlang und ging dann erst langsam auf das Feuer zu; auf diese Weise verringerte er das Risiko, eventuell der Ablösung des von ihm beobachteten Postens zu begegnen. Er hatte etwas mehr als die Hälfte der Distanz zurückgelegt, als er sich mit einem mühsam unterdrückten Fluch die Maske vom Gesicht zerrte; das nasse Gewebe erstickte ihn fast. Außerdem strahlte das Feuer der Entführer in den Infrarotlinsen derart stark, daß von der näheren Umgebung kaum mehr etwas zu erkennen war. Er brauchte einige Minuten, bis sich seine Augen einigermaßen auf die Finsternis eingestellt hatten, dann marschierte er weiter, bis er sich dem Mittelpunkt des Talkessels auf zweihundert Meter genähert hatte. Der Wind trug Bratenduft herüber; verwehte Musikfetzen klangen an Kevinhags Ohr. Gaunt ließ sich zu Boden gleiten und robbte vorwärts. Immer deutlicher wurde das Grölen der vermutlich betrunkenen Piraten. Glücklicherweise war der Boden des Kessels auch mit Gestrüpp bewachsen; fast kreisförmig zog sich um das Piratenlager eine mannshohe Hecke, unterbrochen von einigen Krüppelgewächsen.
Gaunt erreichte unbemerkt diesen Ring und verbarg sich, so gut es ging; interessiert musterte er die buntgewürfelte Schar der Piraten. Etwa zwanzig Männer hockten rings um sein dilettantisch angelegtes Feuer, von dem sich eine dicke, übelriechende Qualmsäule erhob. Am Rand der Feuerstelle türmte sich ein Ring aus Abfällen - Flaschen, Bratenstücke und etliches mehr. Gaunts Blick wanderte von Gesicht zu Gesicht. Er versuchte, Thamur auszumachen. Die Physiognomien, die sich seinen Augen darboten, waren bemerkenswert. Ausgesprochene Galgenvogelgesichter waren ebenso zu finden wie andere, die für Hüte hätten posieren können. Einfältiges Kichern und schrilles Kreischen informierte Gaunt darüber, daß die Piraten selbst in solch extremen Bedingungen nicht gewillt waren, auf ihren weiblichen Anhang zu verzichten. Thamur war nicht zu finden. Wahrscheinlich befand er sich in dem Zelt, das Kevinhag am Rande des Lagerplatzes entdeckt hatte; es stand unmittelbar neben dem Gleiter der Entführer und war notdürftig aus unidentifizierbaren Flicken zusammengestoppelt worden. Vorsichtig schob sich Gaunt vorwärts. Meter um Meter näherte er sich der arg gebrechlichen Konstruktion des Zeltes. Der Wind trug einen Geruch zu ihm hinüber, der sich zusammensetzte aus Schnaps, Zigaretten, Schweiß und einigen anderen, nicht weniger unangenehmen Komponenten. Gaut hatte Mühe, den aufsteigenden Brechreiz zu unterdrücken. Dann hatte er das Zelt erreicht. In ihrer unbegreiflichen Sorglosigkeit hatten die Kidnapper auch hier keine Wachen aufgestellt. Vorsichtig kroch Gaunt auf dem grasbedeckten Boden um das Zelt herum, bis er die Rückseite erreicht hatte. Gaunt verbrachte fünf angestrengte , Minuten, bis er drei Häringe aus dem sandigen Boden gezogen hatte, ohne die Konstruktion dabei zum Einsturz zu bringen; vorsichtig hob er die Zeltplane etwas an und spähte ins Innere des Zeltes. Nachdem er sich an das Licht einer transportablen Pulsatorlampe gewöhnt hatte, konnte er ein dürftiges Mobiliar entdecken: ein wackliger Tisch, drei zusammenklappbare Stühle und ein fellbedecktes Feldbett. Ein Mensch lag auf den Fellen; er schien zu schlafen. Die rechte Hand hing an der Seite herab; ein wertvoller Edelstein blitzte im goldigen Licht der Pulsatorlampe.
Gaunt unterdrückte einen Freudenschrei.
Thamur war gefunden - der Ring an der Hand des Schlafenden bewies die
Identität zur Genüge.
Gaunt hob die Plane noch etwas an und kroch vorwärts; er bemühte sich,
kein Geräusch zu machen. Außer dem gleichmäßigen Atmen des
Kronprinzen war nichts zu hören.
Kevinhag stoppte.
Obwohl sich an der Atemfrequenz des schlafenden Kronprinzen nichts
änderte, bewegte sich seine Hand, schlug in einem unregelmäßigen
Rhythmus gegen den Seitenrand des Lagers.
Gaunt kam nicht dazu, sich den Sinn dieser Bewegungen klarzumachen,
denn eine harte Stimme sagte neben ihm:
„Die nächste Bewegung wird Ihre letzte gewesen sein!"
Gaunt biß die Zähne zusammen, um vor Wut und Enttäuschung nicht laut
aufzuschreien.
In seinem Gesichtsfeld erschienen ein Paar schmierige Stiefel; der Mann
ging einige Schritte weit und sagte:
„Sie können sich aufrichten! Aber ich warne Sie - meine Reflexe sind
ausgezeichnet!"
Als Gaunt langsam den Kopf hob, erkannte er, daß hier jeder Widerstand
sinnlos war; mit einer entsicherten Energiewaffe vermochten nicht einmal
die Reflexe eines Waffenmeisters zu konkurrieren.
„Sieh an!" brummte der Chef der Kidnapperbande. „Wen hat man uns denn
da geschickt! Kevinhag Gaunt, das einstige As der Waffenmeister!"
„Woher wissen Sie das?" wollte Gaunt verblüfft wissen.
Der Pirat lachte höhnisch und er klärte:
„Sie scheinen unser Nachrichtensystem unterschätzt zu haben! Unsere
Informationen haben wir vom Inhaber des Waffengeschäftes, bei dem Sie
sich Ihre Ausrüstung besorgten. Sie ahnen nicht, wie wirkungsvoll einige
größere Geldscheine sind, wenn man ein Gedächtnis aktivieren will!"
„Sie haben mich erwartet!" meinte Gaunt niedergeschlagen; er hätte sich
ohrfeigen können.
„Selbstverständlich!" erklärte der Kidnapper; er machte eine
Handbewegung.
Auf das Zeichen hin setzte sich Thamur auf und starrte vom Bett aus mit
schmerzlicher Enttäuschung auf Gaunt.
„Wir haben Sie seit Ihrem Start im Radar beobachtet und nur darauf
gewartet, daß Sie uns einen Besuch abstatten. Den Rest können Sie sich
wohl selbst zusammenreimen!"
Kevinhag preßte die Kiefer aufeinander.
Er hatte sich angestellt wie ein Hirnamputierter, überlegte er resignierend;
„Was haben Sie jetzt mit mir vor?" wollte er wissen.
Er überlegte fieberhaft, wie er diese unangenehme Situation zu seinen
Gunsten umgestalten konnte; in drei Stunden war der Anruf an Brittay
fällig. Blieb er aus, so würde Thory ein paar Freunde verständigen. Es
waren nur wenige, die Gaunt nach seinem Debakel als Waffenmeister nicht
verlassen hatten - eine kleine Handvoll entschlossener Männer und Frauen.
Allerdings konnten sie frühestens in drei Tagen die Piraten aufgestöbert
haben; bis dahin mindestens galt es zu überleben.
„Das hängt davon ab, was Sie hier zu suchen haben", antwortete der Pirat
ruhig; mit einer Handbewegung forderte er Gaunt auf, sich irgendwo zu
setzen.
„Sollen Sie nur versuchen, Thamur zu befreien?" fragte der Kidnapper
interessiert. „Oder haben Sie Verhandlungsvollmacht?"
Mit steigender Hofnung dachte Gaunt an das Papier in der Brusttasche
seines Anzuges.
„Ich habe Vollmacht!" erklärte er mit Nachdruck.
„Kennen Sie die Bedingungen?" forschte der Pirat. Seine Wachsamkeit
hatte nicht einen Augenblick lang nachgelassen; die Mündung seiner
Energiewaffe zeigte ständig auf Gaunts Kopf.
„Selbstverständlich!" gab Kevinhag zurück. „Aber die Kaiserin macht
Ihnen einen anderen Vorschlag!"
„Der wie aussieht?" meinte der Entführer mißtrauisch.
„Sobald Sie Thamur zurückgeben, wird die Kaiserin Ihnen unbedingten
Straferlaß gewähren. Für Sie und Ihre Männer, uneingeschränkt!"
Der Pirat grinste geringschätzig.
„Da man uns ohnehin nicht finden wird, ist dieses Angebot einfach
lächerlich!" sagte er scheinbar belustigt. „Weiter!"
„Zusätzlich erhalten Sie einen unbegrenzten Freikaufschein", fuhr Gaunt
fort; gespannt wartete er auf die Reaktion seines Gegenübers.
Der Shenga zeigte sich völlig unbeeindruckt.
„Was soll ich mit diesem Wisch anfangen?" fragte er herablassend.
„Ganz einfach!" erklärte Gaunt. „Wenn Sie oder einer Ihrer Männer in ein
Kaufhaus gehen und Sie sehen etwas, das Ihnen gefällt - nehmen Sie es
einfach mit!"
„Das kann ich jetzt auch!" widersprach der Bewaffnete.
„Stimmt - aber jetzt müssen Sie bezahlen", konterte Gaunt. „In Zukunft
können Sie alles, was es zu kaufen gibt, gratis mitnehmen."
Der Pirat nickte anerkennend. Gaunt hoffte inbrünstig, er würde auf das Angebot eingehen - vor allem, da es auch für die Regierung der fünfzig Welten günstiger war. Selbst der üppigsten Schlemmerei sind irgendwelche Grenzen gesetzt, und es war anzunehmen, daß die Unkosten dieses Luxusses wesentlich unter dem von den Piraten geforderten Betrag liegen würden. Außerdem wurde das Wirtschaftssystem nicht durch gewaltsame Umschichtung gewaltiger Geldsummen in ein Chaos gestürzt. Gaunt wußte zusätzlich, daß der weitaus größere Teil der Shengas rauschgiftsüchtig war. Die Lebenserwartung der Kidnapper lag in den meisten Fällen bei zehn Jahren. „Kein schlechtes Angebot!" murmelte der Shenga. „Wirklich - nicht übel! Nur", fuhr er scharf fort, „Sie vergessen den zweiten Teil unserer Forderungen." „Was haben Sie davon?" fragte Gaunt geringschätzig. „Glauben Sie, daß Ihre Hintermänner Sie auch nur einen Augenblick länger schützen werden, als unvermeidlich ist?" Der Pirat lachte verächtlich. „Davor haben wir keine Angst", meinte er gleichgültig. „Will man uns an den Kragen, dann packen wir aus, und das wird niemand riskieren!" „Irrtum!" erklärte Gaunt. „Wenn man Männer findet, die den Kronprinzen entführen, werden sich auch andere finden, die lästige Mitwisser diskret beseitigen. Ihre werten Freunde werden alles tun, um Spuren ihrer Tat zu verwischen - vor allem Zeugen!" „Möglich!" erwiderte der Kidnapper. „Aber wir haben jetzt lange genug herumgeredet. Vorwärts!" Auffordernd bewegte er die Hand; der Lauf der Energiewaffe wies auf den Eingang des Zeltes. Gaunt zuckte mit den Schultern und schob den Stoff zur Seite; hinter ihm ging Thamur, dem der Pirat seine Waffe in den Rücken preßte. Vor dem Zelt standen einige Männer, die das Auftauchen des ehemaligen Waffenmeisters mit höhnischem Gelächter registrierten. Zwei von ihnen gingen auf Gaunt zu und durchsuchten ihn mit äußerster Gründlichkeit nach Waffen. Dennoch entging ihnen einiges; die Säge zum Beispiel, die sich im Innern der Schnürsenkel verbarg - ein harmlos aussehender Stahldraht. Steckte man in die Ösen an beiden Enden des hochflexiblen Bandes Metallstifte, erhielt man eine ungemein wirkungsvolle Säge. Chirurgen verwendeten
sie, um bei Hirnoperationen die Schädeldecke aufzusagen - Agenten durchtrennten damit in wenigen Minuten daumendicke Eisenstäbe. Auch das Messer blieb unbemerkt, das in das Leder der Unterarmscheide eingearbeitet war; einige wirksame Chemikalien steckten in seinen Stiefelabsätzen. „Männer!" schrie der Anführer der Piraten über den Platz. „Dieser Mann hier ist ein Abgesandter der Regierung. Er hat versucht, mit mir zu feilschen. Was fangen wir mit ihm an?" Neugierig näherten sich die Männer, die um das Feuer herum gelagert hatten. Einer von ihnen, ein dunkelhäutiger Hüne mit einem rostroten Backenbart, kam näher und blieb einen Meter vor Gaunt stehen. „Wir lassen nicht mit uns handeln!" sagte er drohend. „Wir bekommen immer alles, was wir fordern!" Dann drehte er sich zu den anderen herum und fuhr laut fort: „Ich schlage vor, wir schicken ihn zurück, um der Kaiserin zu zeigen, daß wir keine faulen Kompromisse eingehen. Als Verpackung schlage ich ein paar alte Konservenkisten vor!" „Er wird nicht hineinpassen!" brüllte einer aus der Gruppe. „Die Kisten sind zu klein!" „Ein echtes Problem!" hohnlachte der Rotbart. „Was sollen wir tun, die Kisten vergrößern oder den ehrenwerten Herrn handgerecht zerteilen?" Gelächter kam auf; Gaunt fand diese Art von Humor weniger erfreulich. „Wie wäre es mit einem Zweikampf?" rief jemand. „Gegen einen Waffenmeister?" fragte ein anderer spöttisch. „Kommt auf die Bedingungen an!" kam es zurück. „Er unbewaffnet und drei Mann mit Messern gegen ihn!" Der Chef der Piraten grinste Gaunt .heimtückisch an. „Ist das nicht nach dem Geschmack eines so guten Kämpfers?" fragte er bissig. Gaunt zuckte die Schultern. Ihm war alles plötzlich unendlich gleichgültig geworden; sein Bewußtsein weigerte sich, die Erkenntnis zu verarbeiten, daß er diese Nacht höchstwahrscheinlich nicht überleben würde. „Wer tritt an?" fragte er und bemerkte erstaunt, daß seine Stimme keine Andeutung von Unsicherheit zeigte. Drei Männer wurden nach kurzer Beratung ausgewählt und traten näher heran; Messer wurden mit ledernen Schnüren an ihren Handgelenken befestigt.
Um die vier Kämpfer bildete sich ein Ring von Menschen, eine waffenstarrende Wand aus Leibern, die jedes Entweichen mühelos stoppen konnte. Ohne es bewußt wahrzunehmen, verfiel Kevinhag in die äußerste Konzentration aller Sinne, die ihm langjähriges Training vermittelt hatte. Die drei Piraten verständigten sich flüsternd und trennten sich rasch. Von drei Seiten rückten sie mit vorsichtigen Schritten näher an Gaunt heran. Fast regungslos wartete Kevinhag, bis ihn nur wenige Meter von den vorgestreckten Klingen trennten; einer der drei Piraten öffnete den Mund und stieß einen heiseren Schrei aus. Fast gleichzeitig sprangen die Männer Gaunt an. Der Waffenmeister hatte die Absicht der Piraten erkannt; die kurze Pause zwischen dem Ruf und der Reaktion der Männer genügten ihm, um sich vorwärts zu hechten. Während hinter ihm zwei Männer dumpf zusammenprallten, riß er dem dritten die Füße vom Boden und warf ihn um. Bevor irgend jemand reagieren konnte, war er wieder aufgestanden und hatte den gestürzten Shenga an den Fußgelenken gepackt; unter Aufbietung aller Kraft wuchtete er den Körper herum, wirbelte ihn gegen die beiden anderen Männer, die nach dem Zusammenprall zu Boden gingen. Dann ließ Kevinhag den laut schreienden Mann in seinen Händen mit Wucht auf den Boden aufschlagen; der Körper rollte einige Meter weit und blieb regungslos liegen. In den Reihen der Zuschauer mischten sich Anerkennung und unverhohlene Wut. Die beiden verbliebenen Gegner waren wieder aufgestanden und schlichen leicht vorgebeugt auf Gaunt zu. Der Waffenmeister wich zurück; er versuchte, die beiden Bewaffneten auseinander zu bringen. Unruhig tänzelten die .Männer umeinander herum. - Plötzlich stockte die Bewegung. Von allen Seiten fielen Narkobomben in die Menschenmenge, platzten und verbreiteten rötliche Schwaden; die Piraten standen sekundenlang wie gelähmt - der Angriff kam zu überraschend. Gaunt wußte nicht, wer hinter der Aktion stand. Er drehte sich rasch herum, suchte Thamur. Sobald er den Jungen hinter sich entdeckt hatte, rannte er auf ihn zu. Während um ihn herum die Kidnapper ächzend zusammenbrachen, fegte er zwei andere zur Seite und zerrte Thamur von der Gruppe fort. Aus den
Augenwinkeln heraus sah er, wie ein Shenga seinen Dolch aus der Scheide riß und zum Wurf ausholte. Gaunt wollte den Prinzen beiseite stoßen, aber bevor er dazu kam, die Bewegung auszuführen, wirbelten bizarr gefärbte Schleier vor seinen Augen auf. Er spürte noch, wie Thamur unter seinen Händen wegsackte, wie er selbst langsam zur Seite kippte. Die Schmerzen, die das in seinen Rücken eindringende Wurfmesser schuf, wurden von dem betäubten Nervensystem nicht mehr weitergeleitet. * „Diese Welt ist wirklich das Schönste, das ich je zu Gesicht bekommen habe!" meinte Brittay mit großer Entschlossenheit, die keinen Widerspruch duldete. Vorsichtig nippte sie an ihrem Erfrischungsgetränk. Sie saßen in einem der zahllosen Straßencafes, die an der VIA STELLARIA entlang zu finden waren; die Sternenstraße, Pracht- und Prunkallee der Kaiserstadt, war ebenso lang und faszinierend, wie Getränke teuer und erstklassig waren, die dort serviert wurden. „Diese Feststellung, Teuerste, ist nicht sonderlich neu!" bemerkte Demor Gogyn freundlich. „Immerhin können Sie sich freuen, hier wohnen und leben zu dürfen!" „Und wem verdankt sie das?" fragte Thamur heiter. „Dem Helden des Tages, dem Ersten Waffenmeister - Kevinhag Gaunt!" Gaunt winkte ab, zuckte dann aber zusammen; die Verletzung war noch nicht völlig ausgeheilt. Das Messer des Piraten hatte sein Schulterblatt glatt durchschlagen und einen Lungenflügel verletzt. „Seit einer Woche brenne ich darauf, von Ihnen zu erfahren, was eigentlich auf dieser Dschungelwelt geschehen ist", erklärte Gogyn neugierig. „Wollen Sie nicht endlich berichten?" „Wenn es unbedingt sein muß!" sagte Gaunt und winkte einen Kellner heran; der Mann beeilte sich, der Handbewegung Folge zu leisten. „Zwei Fragen!" meinte Gaunt. „Erstens, wie heißt dieses Getränk, und zweitens, was ist darin?" „Ich kann Ihnen leider nur die erste Frage beantworten, Waffenmeister!" erklärte der Befrackte respektvoll. „Unser Mixer nennt es ,KlapptischCocktair, aber er verrät die Zusammensetzung nicht." Der Kellner grinste leicht.
„Dieser Drink ist der heimliche Alptraum unseres Berufes", berichtete er. „Wenn man ihn nicht langsam und in kleinen Schlucken genießt, zieht er jedem die Beine weg. Daher der Name." „Es empfiehlt sich also, die Trinkgelder vorher zu geben", meinte Gaunt amüsiert und steckte dem Mann einen zusammengefalteten Schein in die Brusttasche. „Bringen Sie uns fünf Gläser voll von diesem abenteuerlichen Saft, und nun zu Ihrer Frage", fuhr er, zu Gogyn gewandt, fort. „Den ersten Teil kennen Sie wahrscheinlich besser als ich." Der Politiker nickte amüsiert und sagte: „Selbstverständlich. Ich hoffe, daß Sie etwas Nachsicht haben und meine Eigenmächtigkeit verzeihen." Gaunt sah die erstaunten Blicke der anderen und erzählte: „Er hat, sobald ich gestartet war, meine ehemaligen Kollegen aufgesucht und sie ebenfalls nach INFERIOR in Marsch gesetzt. Es waren etwa zwanzig Männer, die mir nachgeflogen sind und gerade noch rechtzeitig eingegriffen haben. Es war allerdings ziemlich leichtsinnig - die Piraten hätten ihre Gleiter leicht orten können, wie ich zum Beispiel." „Wenn man gute Beziehungen hat", erklärte Gogyn geheimnisvoll, „kann man auch Gleiter besorgen, die mit normalen Radargeräten nicht zu orten sind. Eine hübsche Erfindung, dieser Ortungsschutz - er hat Ihnen das Leben gerettet, Gaunt!" Kevinhag setzte ein schmerzliches Lächeln auf. «Fein haben Sie das gemacht, meine Zunftgenossen. Wenn nicht ein vernünftiger Mann darunter gewesen wäre, wäre dies ein Leichenschmaus. Einer dieser Helden wollte mir nämlich das Messer aus dem Rücken ziehen. Hätte er es getan, wäre der leichte Unterdruck verschwunden, der im Brustraum eines Menschen herrscht. Folge: Die Lungenflügel wären zusammengefallen und hätten meine Atmung gestoppt!" „Sie hätten nichts davon gespürt!" warf Thamur ein. „Auch ein Trost!" sagte Gaunt und nahm einen Schluck aus seinem Glas; der Alkohol schmeckte vorzüglich. „Was wurde aus den Piraten?" wollte Brittay wissen. „Nanu...", meinte Thamur gedehnt. „Die Herren waren äußerst gesprächig - sobald sie einmal auf der Folterbank festgeschnallt waren!"
„Folter?" fragte Britta entsetzt. „Das gibt es noch?"
„Sie glauben nicht, Teuerste", meinte Gogyn anzüglich, „wie verbreitet
diese Einrichtung selbst in sehr zivilisierten Gegenden ist. Man berichtet
sogar von speziellen Folterschulen. Aber das wird bald aufhören."
„Den Shengas wurde der Prozeß gemacht", berichtete Thamur.
„Und das Urteil?" forschte Thory.
„Die Richter erkannten auf Todesstrafe!" sagte der Kronprinz gelassen. „Ich habe mir allerdings gestattet, das Urteil zu mildern. Lebenslange Haft genügt auch." „Soviel Großzügigkeit diesen Ungeheuern gegenüber!" meinte Brittay empört. „Ungeheuer fallen nicht von Bäumen!" wurde sie von Gaunt belehrt. „Sie sind das Produkt ihrer Umwelt. Sie sollten einmal jeden fragen, ob er nicht irgendeine Straftat begangen hat, für die er mindestens sechs Monate eingesperrt werden müßte. Wissen Sie, was dabei herauskommt?" Brittay schüttelte den Kopf. „Wir haben es einmal ausprobiert!" berichtete Thamur. „Das Ergebnis ist niederschmetternd. Fast jeder zweite Bürger hat sich - nach eigenem Urteil - schuldig gemacht und wurde nicht dafür bestraft, weil man ihn nicht ertappt hat. Der Katalog reicht von Verkehrsdelikten bis zu zwei Totschlagfällen - und alles blieb ohne Sühne. Strafe ist völlig wirkungslos – es kommt darauf an, die gesellschaftlichen Bedingungen zu ändern, die solche Mißstände hervorrufen. Bis es soweit ist, können wir höchstens dafür sorgen, daß Verbrecher daran gehindert werden, erneut Straftaten zu begehen. Aber lassen wir diese Diskussion - zu diesem Thema finden Sie in jeder Buchhandlung ausreichend Literatur, preiswert und informativ." „Jeder zweite!" überlegte Brittay laut. „Wir sind fünf - es müßten also..." „Einen Vorbestraften kennen wir", erklärte Gaunt. „Mich!" Er sah die anderen scharf an und lachte dann laut auf, als er die Verlegenheit bemerkte, die jeder einzelne zeigte. „Wer waren eigentlich die Hintermänner der Entführung?" nahm Thory die Unterhaltung wieder auf. „Die Namen stehen in jeder Tageszeitung", meinte Thamur. „In der Rubrik Todesfälle. In der Führungsspitze der Royalisten ist fast eine Selbstmordepidemie ausgebrochen. Aus Rücksicht auf die Angehörigen haben wir allerdings einstweilen darauf verzichtet, die gesamten Hintergründe der Affäre preiszugeben - also wurde eine Menge von Unfällen konstruiert." „Die Welt wäre also damit wieder in Ordnung!" sagte Brittay und nahm eine Zigarette aus der Packung, die Gaunt ihr entgegenhielt. „Und jeder von uns hat Grund, sich zu freuen. Thamur lebt; Sie, Gogyn, haben beste Aussichten, höchste Staatsämter zu bekleiden. Gaunt ist mit Glanz an den Hof zurückgekehrt, in die eigens für ihn geschaffene Position des Ersten Waffenmeisters. Und ich habe eine
gutbezahlte Stellung in Aussicht und darf in der Hauptstadt leben. Was will man mehr?" „Sie haben mich vergessen, Brittay!" meinte Thory spitz. „Was für einen Grund habe ich, vergnügt zu sein?" „Ganz einfach", gab Brittay gutgelaunt zurück. „Sie haben bald die netteste Angestellte des ganzen Systems. Und darauf wollen wir trinken!" Während die Gläser klingend aneinanderstießen, dachte Gaunt erleichtert daran, daß er nach langer Zeit wieder einmal den Spesenfonds des Kaisers strapazieren durfte. Und in der Brusttasche seines Jacketts, das jetzt über seinem Sessel hing, steckte noch immer die Blankovollmacht der Kaiserin. Er kannte eine lange Reihe von Mißständen innerhalb des Systems, die seit langem auf Beseitigung warteten. Es würde Spaß machen, dagegen zu kämpfen. „Auf die Zukunft!" sagte er laut und leerte sein Glas in einem Zug. Er stellte das Glas ab; dann knickten seine Beine ein. ENDE