Die phantastischen Abenteuer des Raumschiffes ORION mit Commander Cliff McLane und seiner Crew – und mit Tamara Jagello...
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Die phantastischen Abenteuer des Raumschiffes ORION mit Commander Cliff McLane und seiner Crew – und mit Tamara Jagellovsk, dem Offizier des galaktischen Sicherheitsdienstes.
Die kybernetischen Einheiten des großen Schiffes spielen verrückt. Wissenschaftler und Spezialisten, die das jahrtausendealte technische W u n d e r w e r k untersuchen sollen, verlassen fluchtartig ihre Arbeitsplätze. Sie kehren zur Erde Raummarschall zurück. Wamsler alarmiert Cliff McLane und seine Leute. Sie sollen feststellen, was in dem großen Schiff vor sich geht. Sie finden es heraus – aber zu spät. Cliff McLane und seine Begleiter schauen fassungslos auf die Bildschirme. Das große Schiff, dessen Gefangene sie sind, nimmt Kurs auf ein Ziel, das außerhalb der Milchstraße liegt.
Alle Romane nach der großen Fernsehserie RAUMSCHIFF ORION erscheinen als Taschenbuch im MOEWIG-VERLAG.
Vom gleichen Autor erschienen bisher folgende Raumschiff-Orion-Romane 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 17 18 19 20 21 22
Angriff aus dem All (T 134) Planet außer Kurs (T 136) Die Hüter des Gesetzes (T 138) Deserteure (T 140) Kampf um die Sonne (T 142) Die Raumfalle (T 144) Invasion (T 146) Die Erde in Gefahr (T 152) Planet der Illusionen (T 154) Wettflug mit dem Tod (T 156) Schneller als das Licht (T 158) Die Mordwespen (T 160) Kosmische Marionetten (O 13) Die tödliche Ebene (O 14) Schiff aus der Zukunft (O 15) Verschollen im All (O 17) Safari im Kosmos (O 18) Die unsichtbaren Herrscher (O 19) Der stählerne Mond (O 20) Staatsfeind Nummer Eins (O 21) Der Mann aus der Vergangenheit (O 22)
HANS KNEIFEL
RAUMSCHIFF ORION
ENTFÜHRT IN DIE UNENDLICHKEIT Zukunftsroman Deutsche Erstveröffentlichung
E-Book by »Menolly«
MOEWIG-VERLAG MÜNCHEN Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
Für den Moewig-Verlag nach Ideen zur großen Fernsehserie RAUMPATROUILLE, produziert von der Bavaria-Atelier GmbH, geschrieben von Hans Kneifel
Copyright © 1970 by Arthur Moewig-Verlag Printed in Germany 1970 Titelfoto: Bavaria-Atelier GmbH. Umschlag: Ott & Heidmann design Gesamtherstellung: H. Mühlberger, Augsburg Der Verkaufspreis dieses Bandes enthält die gesetzliche Mehrwertsteuer.
1 Da war zuerst nur ein zuckendes, fahles Licht am Horizont, hinter der sanften Krümmung des nächsten Hügels. Strahlen bewegten sich durch die Nacht und milderten das Licht der Sterne. Dann wurde der Lichtschein stärker und konzentrierte sich in sechs kleinen Kreisen. Sie verdichteten sich zu weißstrahlenden Punkten. Das leise Summen einer schweren, auf vollen Touren laufenden Turbine klang auf und wurde unhörbar, als sich ein breiter Streifen Scrub – dicht verfilztes Gebüsch aus Akazien und Eukalyptus – zwischen die einzeln stehende Pflanze am Rand des Wasserlochs und das Licht schob. Es gab raschelnde, nervöse Bewegungen. Auf dem blühenden Strauch turnten zwei Noolbenger herum. Das geringe Gewicht erlaubte den mausgroßen, hellgrauen Tierchen erstaunliche Kletterkunststücke. Die breiten weißen Längsstreifen auf den Rücken schlängelten sich über die dünnen Ästchen, riefen die Bewegungen hervor. Die Tierchen, deren Heimat einst im Südwesten der riesigen Insel gelegen hatte, suchten hier des Nachts ihre Nahrung: Blütenhonig und Blütenstaub. Und wenn sie kleine Insekten fingen, fraßen sie auch die. Die beiden Noolbenger – winzige Rüsselbeutler der Gattung Tarsipedinae – sahen das Licht des näherkommenden Wagens, hielten sekundenlang in ihrer Nahrungssuche inne und starrten mit großen, schwarzen Augen in die Helligkeit. Dann jagte der Turbinenwagen vorbei. Er fegte mit fast zweihundert Stundenkilometern Geschwindigkeit auf der Straße dahin, die von Blue
Mud Bay City in Arnhemland, südlich von Kap Wessel, nach der Bickertonbrücke führte. Am Steuer saß ein müder Vampir. Die Haut seines Gesichts war von einem krankhaften Gelb, und das Haar glänzte im Licht der großen Rundarmaturen silbern, strähnig und wirkte wie Spinnenweben. Die langen, gekrümmten Eckzähne waren noch immer leicht blutig. Die braunen Augen des Vampirs lagen in großen, schwarzen Höhlen. Der Vampir sah sehr drohend aus und – sehr müde. »Kap Beatrice«, las er auf einem vorbeirasenden Schild. »Zweihundertneunzig Kilometer!« Er sah hinaus auf die Straße, deren weiter, geriffelter Kunststoffbelag, abriebfest und genau auf die Reifen von Fahrzeugen hoher Geschwindigkeiten abgestimmt, im Licht der sechs Scheinwerfer lag. Der Vampir war müde. »Voltaire sagte einst«, murmelte der Vampir und lenkte den dahinrasenden Wagen in eine leichte Rechtskurve, »daß Originalität meist nichts anderes ist als ein noch nicht entdecktes Plagiat. So auch hier und heute. Selbst das Vergnügen endet dort, wo es zur Anstrengung ausartet.« Er lachte leise. Das Fahrzeug kam von der Siedlung am Ostrand der Halbinsel, die sich, mit Kap Wessel an der Nordspitze, westlich der Carpentariabucht erstreckte. Die breite, nun leere Straße führte ziemlich ohne Umwege nach der Bickerton-Insel; eine moderne Brücke verband Festland und die kleine Insel miteinander, verband auch Groote Eylandt und somit die Basis 104 mit der Bickerton-Insel. Groote Eylandt war das Ziel des müden Vampirs. Er kam von einer Party, deren
Eigentümlichkeit darin bestanden hatte, daß keiner der dort versammelten den anderen kannte – alle waren sie in Masken. »Schließlich geht alles einmal zu Ende«, sagte der Vampir und drückte auf den Schalter, der das linke Seitenfenster des dahinrasenden Wagens absenkte. Frischer Nachtwind schlug ins Innere. Der Vampir in seinem eng anliegenden, orangefarbenen Dreß mit den vielen Blutspritzern darauf war allein. Seine Gefährtin war vorausgefahren und schlief vermutlich schon, etwas beschwipst und mit verwirrten Träumen. »Aha – der Verkehr nimmt zu!« sagte der Vampir zu sich selbst, als der Wagen mit aufgeblendeten Lichtern die Auffahrt zur Bickertonbrücke erreichte. Auf den Seitenspuren sah er andere Fahrzeuge; größere und kleinere, langsame und schnelle. Er fuhr auf der Mittelspur weiter, ohne die rasende Geschwindigkeit wesentlich zu verringern. Hinter ihm beschleunigte plötzlich ein Wagen, holte auf, und der Vampir war zu müde und zu unausgeschlafen, um die Herausforderung zu einem Wettrennen anzunehmen. Er fuhr weiter, etwa um hundertsiebzig Stundenkilometer. Plötzlich – eine Sirene. Der Wagen, der jetzt schräg hinter ihm war, wurde schneller, hatte eine wimmernde Sirene eingeschaltet und blendete jetzt einen großen, roten Drehscheinwerfer auf. Der Vampir schaute in den Rückspiegel, bremste kurz und hatte das unangenehme Geräusch im Ohr... und Alkohol im Blutkreislauf. Das schnelle Polizeifahrzeug holte weiter auf, und der Beamte auf der rechten Seite kurbelte die Scheibe
herunter. Er drehte den Kopf herum, und während beide Wagen mit hundertfünfzig Stundenkilometern dicht nebeneinander dahinrasten, schaute er in das Innere des rechts fahrenden Wagens. Der Vampir kniff die Augen zusammen, drehte sich halb um und grinste den Beamten breit an. Das Grinsen hatte etwas unvergleichlich Teuflisches. Auf den Fangzähnen spiegelte sich das Rotlicht des Drehscheinwerfers. »Huhh!« machte der Vampir. Der Beamte erschrak und zuckte zusammen, sah dann schärfer hin und lachte endlich. Dann brüllte er durch die beiden offenen Scheiben hindurch, gegen den sausenden Ton des Fahrtwindes und durch das Heulen der Reifen: »Sind Sie Cliff Dracula oder Vampir McLane?« Cliff McLane schrie zurück: »Keines von beiden! Ich bin betrunken und unberechenbar!« Wieder lachte der Beamte, dann rief er etwas weniger laut: »Fahren Sie bitte bei der nächsten Ausweichstelle scharf rechts heran. Wir haben eine äußerst wichtige Meldung für Sie.« Cliff zog den Fahrthebel weiter zurück und nickte. Sein graumeliertes Haar flatterte im harten Fahrtwind. »Für mich?« schrie Cliff. »Von T.R.A.V.!« erwiderte der Beamte etwas leiser. »Das interessiert mich nicht«, sagte Cliff, während er den Wagen weiter abbremste. »Ich bin erstens nicht im Dienst, zweitens befinde ich mich auf der Heimfahrt, drittens... ist es etwas Wichtiges?« Der Polizeiwagen überholte das Fahrzeug des
Vampirs und bremste am Rand der weißen Straße. Cliff bremste scharf und öffnete die Tür. Er streckte die langen Beine aus dem Wagen. Der Beamte ging die wenigen Meter zurück und sah mit Entsetzen die schlanken, dünnen Stiefel mit den mörderischen Sporen, die über dem gelben Trikot steckten. Er blieb kopfschüttelnd vor dem Vampir stehen, der ihn mit spitzen Zähnen angrinste, die Augen in den schwarzen Höhlen weit offen. »Wir von der Highway-Patrouille haben von Raummarschall Winston Woodrov Wamsler den Auftrag, Sie unterwegs abzufangen und Ihnen diese Depesche zu übergeben.« Der Vampir klopfte mit dem Finger an seinen Reißzahn. »Übergeben Sie, Chef!« sagte er. Er bekam einen länglichen Umschlag, riß ihn auf, las die vier Zeilen und blieb regungslos sitzen. »Keine Lebensart!« sagte er leise und vorwurfsvoll. »Wie meinen Sie?« fragte der Polizeibeamte etwas konsterniert. »Heldenhaftigkeit«, sagte Cliff McLane scharf, »ist eine Todesart, keine Lebensart.« »Sollen Sie Lebensart beweisen und heldenhaft sein?« fragte der Beamte und salutierte kurz. »Noch schlimmer«, erwiderte der Vampir müde. »Ich soll sofort in Wamslers Büro kommen. Nicht nur ich, sondern die gesamte Crew, einschließlich der Turceed.« Der Beamte schloß: »Was immer Sie unternehmen, Kommandant... wir von der Patrouille wünschen Ihnen jede erdenkliche Menge Glück dazu. Sollen wir Sie nach Basis 104 auf
Groote Eylandt eskortieren?« »Nein«, sagte Cliff. »Ich finde allein hin. Danke.« Er schloß die Tür und schaute dem Beamten nach, der sich wieder in den vorderen Wagen setzte. Dann fuhren beide Turbinenfahrzeuge an, beschleunigten und rasten davon. Cliff Allistair McLane jagte über die langgestreckte Brücke, fegte durch die Landschaft der Bickerton-Insel und fuhr dann mit einem Lift hinunter in die unterirdischen Räume der Basis 104. Eine dreiviertel Stunde, nachdem ihn der Streifenwagen angehalten hatte, wanderte ein müder Vampir mit einem aufgemalten, gierigen Lächeln durch die Stollen und blieb im Vorzimmer von Wamslers Büro stehen. Das Mädchen starrte ihn an und fragte entgeistert: »Woher kommen Sie – was wollen Sie... wer sind Sie überhaupt?« Der Vampir lächelte unangenehm und starrte die junge Ordonnanz an. »Ich bin ein Gast aus dem Weltraum«, sagte er mit Grabesstimme. »Ich lebe vom Blut junger Ordonnanzen. Würden Sie mich bitte Wamsler melden?« Sie erkannte ihn an der Stimme und lächelte, gleichzeitig einen Schauder unterdrückend. »McLane!« sagte sie erleichtert. »Wamsler wartet schon. Vorsicht! Er ist mehr als unruhig!« Cliff sah, wie vor ihm die tödliche Lichtflutbarriere zusammenbrach und murmelte: »Das läßt mich Arges erwarten.« Er ging durch den breiten Metallrahmen, sah vor sich den gewaltigen Schreibtisch und dahinter den Raummarschall. Wamsler schaute ihm sichtlich unruhig entgegen und stand auf, als Cliff vor dem Tisch
stand. Wortlos reichten sich beide Männer die Hände. Wamsler deutete mit seiner fleischigen Pranke auf einen Sessel, dann knurrte er bissig: »Haben Sie unbedingt in diesem schauerlichen Aufzug kommen müssen, Mann?« Cliff zog vorsichtig die falschen Zähne von seinem Gebiß ab, legte sie vor sich auf die Tischplatte, dann griff er in die Augenwinkel und entfernte dort die tiefschwarzen Schatten um die Augen. Die gelbe Farbe seines Gesichts konnte er nicht abwischen. »Da es seit ungefähr zwei Jahren üblich ist«, erwiderte Cliff müde, »meine Crew und mich mitten aus allen Beschäftigungen herauszureißen, um einen Auftrag loszuwerden... und aus garantiert solchen Beschäftigungen, die mit Raumfahrt im weitesten Sinn nichts zu tun haben...« Wamsler unterbrach ihn und sagte schroff: »Dafür, daß Sie angeblich todmüde sind, bilden Sie erstaunlich lange Sätze. Mein Junge – wir brauchen die ORION VIII und ihre Crew.« Cliff nickte langsam. »Ich dachte es mir, als ich Ihre Nervosität sah, Marschall!« »Sie müssen in einer Stunde starten«, sagte der Marschall übergangslos und sah Cliff in die Augen. Cliff glaubte, sich verhört zu haben. »Wie?« »In einer Stunde!« Wamsler hob die Stimme. »Wir wissen nicht mehr, wie wir uns helfen sollen«, sagte er leise. Trotz seines Zustandes und der späten Stunde, es war inzwischen weit nach Mitternacht, erkannte der Kommandant von ORION VIII, daß
Wamsler aufgeregt und am Rand seiner Beherrschung war. »Sie wissen natürlich, daß das Große Schiff im Erdorbit ist, seit einigen Monaten.« »Zumal ich dieses Schiff dorthin bugsiert habe«, sagte Cliff und lehnte sich zurück. Er sah Wamsler prüfend an. Das gegenwärtige Problem dieses vielbeschäftigten Mannes schien ziemlich groß zu sein, wenn es auch nichts mit Angriff, Krieg oder Verteidigung zu tun hatte. Wamsler verhielt sich wie jemand, der in einer Klemme steckte und nicht einmal die Umrisse eines Weges kannte, der ihn daraus befreien konnte. Wamsler schnappte wütend: »Das häufigste Eigentumsdelikt, das Sie begehen, ist, anderen Menschen die Schau zu stehlen. Hat nicht Ihr Chefkybernetiker die Maschinen dieses Großen Schiffes einigermaßen steuern können?« »Ja«, sagte Cliff und grinste. »Kann ich einen Kaffee haben? Wo steckt übrigens Mario de Monti?« »Er wie alle anderen werden gerade gesucht«, sagte Wamsler. »Kaffee ist unterwegs.« »Und Ihre Schergen werden Mario zweifellos auch finden.« Langsam wurde Cliff unruhig. Wenn einmal Wamsler sämtliche Mitglieder der ORION-Crew suchen ließ, schien die Angelegenheit bedenklich zu sein. Eine Ungewisse Spannung, mehr die Vorahnung unangenehmer und gefährlicher Dinge und Vorgänge ergriff McLane. Das Große Schiff, dieses geheimnisvolle kugelförmige Raumschiff, das vor Jahrtausenden die Dherrani über die Milchstraße ausgestreut hatte wie Samen, war noch immer nicht voll enträtselt, obwohl verschiedene wissenschaftliche Teams sich seit Monaten damit beschäftigten. Cliff sah zu,
wie aus einer Klappe des Schreibtisches das Kaffeegeschirr hochfuhr und stehenblieb. »Also«, sagte Cliff nach der ersten Tasse. »Was ist mit diesem verwünschten Schiff los?« Wamsler begann: »Wir hatten bisher das Schiff in einem stabilen Orbit, so daß es ständig über einem Punkt der Erde stand; über Australien nämlich. Im Augenblick befindet sich die silberne Kugel noch immer dort, aber die Wissenschaftler haben fluchtartig das Schiff verlassen. Es ist, in fast sämtlichen Teilen, zu einem geheimnisvollen Leben erwacht. Signale, Töne, Farben und Lichter lösen einander ab. Fast jeder Mann dort oben hatte den Eindruck, als würde sich das Schiff in den nächsten Sekunden in Bewegung setzen und davonfliegen.« »Und Sie brauchen die ORION als Reisebegleiter, Marschall Wamsler?« »Immer diese dummen Bemerkungen«, beschwerte sich Wamsler. Ein Summer ertönte, und Wamsler nickte in den Schirm des Videophons hinein. Cliff schluckte einen sarkastischen Kommentar hinunter und sagte: »Das Problem ist klar. Was aber denken Sie, sollen wir dort tun – oder mit uns tun lassen?« Wamsler beugte sich vor und starrte dem halb demaskierten Vampir besorgt ins Gesicht. »Das weiß niemand. Ich möchte nur die Gewähr haben, daß die berühmteste, umsichtigste und fähigste Raumschiffsbesatzung, über die die Erde verfügt, sich dieser Phänomene annimmt.« »Danke«, sagte Cliff, hob die Tasse und drehte sich
um. Mario de Monti kam durch die Lichtflutbarriere. Er war fast bis zur Unkenntlichkeit kostümiert, aber seine breitschultrige Figur war fast ein Warenzeichen in der Basis 104. Er trug ein enganliegendes Trikot aus Webpelz, einen leichtmetallenen Helm mit zwei mächtigen Hörnern, sehr viel Leder und eine furchterregende Doppelaxt aus Cliff McLanes Waffensammlung. Er blieb neben Cliff stehen, schüttelte vorwurfsvoll den Kopf und warf die schwere Axt krachend auf den Tisch. Er starrte Wamsler anklagend in die Augen, nahm den Helm ab und sagte: »Wenn Sie eine Ahnung hätten, was Sie diesem entzückenden Mädchen angetan haben, als Sie Ihre Schergen losschickten, um mich von ihrer Seite zu trennen... Sie würden den Freitod suchen, Marschall!« Während sich Mario in einen Sessel fallen ließ, sagte der Marschall: »Schwerlich, de Monti. Sind Sie startbereit?« Cliff erwiderte: »Meine Mannschaft ist immer startbereit. Inzwischen findet der Start in fünfzig Minuten statt. Sind Sie sicher, daß die Crew bis dahin vollzählig ist?« »Absolut sicher.« Cliff schlug die Beine übereinander und sagte hart: »Dann formulieren Sie bitte den Flugauftrag deutlich, klar und in der Sprechweise der späten Stunde angemessen.« Wamsler schob eine Mappe über den Tisch. »Hier finden Sie Duplikate sämtlicher Meldungen, die seit einem Monat vom Großen Schiff hierher gegangen sind. Vermutlich wird die Kugel bald starten. Sie sollen an Bord sein, natürlich mit der ORION. Sie sollen abwarten, was sich tut und versuchen, einige
der rätselhaften Vorgänge zu entschlüsseln. Sie haben ja die ersten Erfahrungen mit diesem Raumfahrzeug gemacht. Und wenn der Aufenthalt zu gefährlich wird, gehen Sie zurück in die ORION und kommen zurück. Das ist der Auftrag – ich habe keinen Wissenschaftler gefunden, der an Bord des Großen Schiffes bleiben wollte.« »Verstanden«, sagte Cliff und nahm die Mappe an sich. »Es ist am besten, wir verlassen dieses Büro, und Sie schicken alle Crewmitglieder einfach in die Startschleuse. Ist das Schiff bereit?« »Ja. Es steht in dem Startzylinder der Basis 104. Sie haben Startvorrang, und die Wachschiffe rund um die Kugel sind natürlich verständigt worden.« »Ausgezeichnet!« sagte Cliff. »Mario... stürzen wir uns wieder ins Abenteuer!« »Mit dir, Cliff«, ächzte Mario, der noch immer dreinblickte wie einer, dem man sein schönstes Spielzeug weggenommen hatte, »fliege ich bis an die Grenzen des Universums.« Wamsler schüttelte den Männern mit einer Spur Erleichterung die Hand. »Das hat Tamara Jagellovsk auch schon einmal gesagt«, meinte er. »Ich habe Ishmee 8431 ebenfalls geweckt. Sie fliegt mit Ihnen.« »Nichts anderes hatte ich vor«, schloß Cliff und ging neben Mario aus dem Büro hinaus. Nachdem sich die Lichtflutbarriere wieder geschlossen hatte, starrte der geplagte Raummarschall nachdenklich auf die falschen Reißzähne des Vampirs und auf das Kampfbeil des Wikingers. In den nächsten dreißig Minuten kamen noch andere Requisiten dazu: der Schmuck einer ägyptischen Prinzessin (Helga Le-
grelle), die Ausstattung eines mittelalterlichen Alchimisten (Hasso Sigbjörnson), ein Lesewürfel (Ishmee) und der Dudelsack und der Kilt eines schottischen Highlanders, sowie eine deutliche Whiskyfahne (Atan Shubashi). Dann war die Crew vollständig. »Gute Fahrt!« murmelte Marschall Wamsler nachdenklich. Er wußte nicht, warum er ein derart deutlich ausgeprägtes Gefühl der Panik in sich spürte. * Cliff stand neben dem runden, großen Sichtschirm und sagte ruhig: »Wie ihr deutlich sehen könnt – hoffentlich! – sind Mario und ich bereits umgezogen und im Borddreß. Ich bitte euch alle, schnell zu duschen und euch umzuziehen; in der Zwischenzeit machen wir beide das Schiff startklar. Das Ziel ist bekannt, die Aufgabe einigermaßen umrissen... und, ich nehme an, wir werden viele Überraschungen erleben. Los!« Die Steuerkanzel der ORION leerte sich schnell. Während Mario mit den sicheren Bewegungen, die sein jahrelanges Training und den souveränen Umgang mit dem Bordkomputer verrieten, den Kurs zum Großen Schiff programmierte, fragte er quer durch die Kabine: »Cliff, du weißt, ich bin kein Pessimist. Aber ich habe bei allen zweiundzwanzig unserer großen Aufträge kein so schlechtes Gefühl gehabt wie gerade heute. Geht es dir ähnlich?« Der Kommandant schwang seinen Sessel herum, sah Mario an und nickte: »Ja. Ich weiß, daß wir etwas erleben, das uns bis an
die Grenze unserer Fähigkeiten beanspruchen wird. Ich versuche bereits, meine Angst zu unterdrücken. Aber...« Seine Stimme wurde etwas ruhiger, »uns ist bisher dank unserer Umsicht nichts passiert, warum sollte es ausgerechnet jetzt geschehen?« »Keine Sorge, ich werde mich bemühen, keine Panik um mich zu verbreiten«, sagte der Erste Offizier. »Übrigens: Der Kurs steht programmiert.« »Verstanden.« Einige Minuten später sagte Cliff in die Mikrophone, die an gebogenen Stielen saßen: »Kommandant an Maschinenraum: Sämtliche Aggregate bereit?« Hasso hob, sichtbar auf einem Schirm oberhalb Cliffs Platz, die Hand und erwiderte kurz und sachlich: »Maschinenraum an Kommandant: Alle Systeme klar.« »Danke. An Astrogation: Alles fertig, Atan?« Shubashi, der jetzt aufdringlich nach Eukalyptus roch, nickte und sagte laut: »Keine Sorge, wir werden schon gegen keinen Stern steuern, auch wenn ich ein wenig in Unterfunktion bin!« Auch Helga Legrelle war bereit. »Start in sechzig Sekunden.« Sie warteten die Startfreigabe ab, das Schiff erhob sich, stieg an dem Kreisel der schwarzen Wasserwirbel genau senkrecht auf, wurde schneller und fegte über dem Carpentariagolf dahin, gewann noch mehr Geschwindigkeit und raste dann durch Nacht und Dunkelheit den Sternen entgegen. Das Ziel war ein künstlicher Erdmond aus Stahl, der von vielen Dis-
kusschiffen bewacht wurde und hoch über der australischen Insel im All schwebte; eine silberne Kugel, von einer fremden Rasse erbaut und voller Geheimnisse, die nur zu einem kleinen Teil erforscht worden waren. Etwa vier Monate lang hatte das riesige Raumschiff unbeweglich an dem Punkt geschwebt, an dem es der Erste Offizier und Chefkybernetiker der ORION fixiert hatte – jetzt schien eine Periode neuer Aktivität zu beginnen. Während Cliff die Dokumente las und besonders interessante Meldungen laut vorlas, merkte er, daß schlagartig sämtliche Abteilungen, die im weiteren Sinn etwas mit der Funktion dieser Kugel zu tun hatten, zu einem mysteriösen technischen Leben erwacht waren. Besonders von Farbeffekten war die Rede. Ishmee setzte sich neben ihn auf die breite Armlehne des Kommandantensessels. Sie entfernte ein grausilbernes Vampir-Haar von seinem Kragen und fragte leise: »Was erwartet uns dort?« »Ich weiß es nicht. Sicher nichts Schlechtes«, sagte er. »Ich bin nur hochgradig unruhig.« »Ich spüre es in deinen Gedanken«, bestätigte die Halbtelepathin. Der silberne Diskus beschleunigte minutenlang, dann stellte Hasso den Antrieb ab. Der eingeschaltete Autopilot führte eine Viertelmillion winziger Rechenoperationen durch und gab durch einen lauten Summton an, wann er das Schiff wieder in die Gewalt von Cliffs Handsteuerung übergab. Cliff beugte sich vor und drehte an einem Abstimmknopf des runden zentralen Bildschirms. »Hier ist die ORION VIII unter Kommandant Ma-
jor Cliff Allistair McLane. Wir haben freien Durchflug«, sagte Helga Legrelle, die braunhaarige Funkerin, deren Augen-Make-up noch die Spuren ihres kurzfristigen Aufenthaltes am Pharaonenhof zu Luxor zeigte. »Verstanden, genehmigt«, sagte der Verantwortliche der Wachflotte. »Sie können passieren. Die Schleuse ist nach wie vor offen.« Helga schaltete ab. Sie stand auf, blieb hinter Cliff und Ishmee stehen und hielt sich an der breiten Lehne des Sessels fest. Vor ihnen verschoben sich die Positionen innerhalb eines einmaligen, technisch schönen Bildes: In der Mitte des kreisrunden Schirms, also als Endpunkt der Geraden, die Cliff nunmehr steuerte, befand sich eine riesige Kugel. Die Hälfte dieser Kugel lag funkelnd und blendend im Licht der Sonne, die andere Hälfte, schwarz wie der Weltraum, konnte fast nur geahnt werden, da sie die Sterne verdeckte. Wie ein Diadem schwebten um diese Kugel, ebenfalls halbiert durch Licht und pechschwarze Schatten, die Einheiten der Wachflotte. Dahinter standen unbeweglich die Sterne. Ein faszinierendes Bild, von dessen Zentrum eine unübersehbare Drohung ausging. Allein die Größe des »Großen Schiffes« vermittelte das Gefühl der Ohnmacht, des Ausgeliefertseins. Cliff entdeckte die Farbmarkierungen, die auf der Oberfläche der Kugel auf die Schleuse hinwiesen. Cliff verminderte die Fahrtgeschwindigkeit und sagte: »Kommandant an alle: Die leichten Raumanzüge anlegen und die Versorgungssysteme durchtesten. Sofort!«
»Verstanden.« Während die ORION abkippte, sich schräg legte und die Wandung des Schiffes halb umkreiste, wechselte das Schiff von der hellen auf die dunkle Seite der Kugel über. Cliff schaltete sämtliche Landescheinwerfer ein, folgte den Markierungen und schwenkte in die Schleuse ein. Hier lag keines der Schiffe mehr; es hatten wirklich alle Wissenschaftler die Kugel verlassen. »Selbst heute noch – ein gespenstischer Eindruck!« sagte Mario leise. »Ja. Als ob dort drin die Geister aller der Wesen warten würden, die vor Jahrtausenden ausgesetzt worden sind.« »So etwas Ähnliches ist es auch«, sagte der Kommandant und bremste das Schiff ab. Langsam sank die ORION auf die Landeplattform und machte dort mit den Magnetklammern fest. Cliff schaltete die Hälfte der Landescheinwerfer aus, und nur noch ein breiter Streifen des geriffelten Metalls von der einzigen Personenschleuse bis zum Unterteil des Schiffes war erhellt. Die ORION stand zwei Meter über der Plattform; festgehalten und stoßsicher arretiert. »Was hast du vor, Cliff?« fragte Ishmee. Seit dem Start hatte das Mädchen, das mit Cliff zum erstenmal auf der Kiesinsel des Saurierplaneten – damals, auf Range III – zusammengetroffen war, in Cliffs Gedanken Verwirrung, undeutliche Furcht gepaart mit seiner eigentümlichen Neugierde gespürt. Jetzt wurden die Gedanken deutlicher und wesentlicher. »Wir verlassen die ORION. Die Sensoren der Kugel werden merken, daß sich Menschen im Schiff befin-
den und werden die Versorgungseinrichtungen laufen lassen. Wir sind innerhalb des Großen Schiffes nicht gefährdet. Wir, alle sechs, verlassen unseren Diskus.« Er schaltete fast sämtliche Bordsysteme aus; er wußte, daß in einigen Räumen Direktfunkverbindungen und sogar Sichtverbindungen zu T.R.A.V. und GSD bestanden. Während sich Mario und Hasso gegenseitig in die Anzüge halfen, kontrollierte der Kommandant sämtliche Anzeigen und Skalen. Schließlich bewegten sich die sechs Personen nacheinander durch die Schwerelosigkeit des Weltraums auf die Schleuse zu. Als Cliff den Riegel ergriff, glaubte er, die Vibrationen großer Maschinen zu spüren. »Ich schlage vor«, sagte er über Helmfunk, »wir gehen in die Steuerkabine – zuerst.« Mario erwiderte: »Dort finde ich mich einigermaßen zurecht. Vermutlich wird diesmal kein Duell hier stattfinden.« »Hoffentlich nicht!« schloß Ishmee. Kurze Zeit später umfing sie die angenehme Wärme und die ausgezeichnete Luft des Schiffes. Überall sahen sie im Licht der wieder instandgesetzten Beleuchtungskörper die Spuren von Menschen. Einrichtungsgegenstände, Hinweise, eine Menge technischer Artikel und sehr viele Wohnmöbel – Sessel, Tische, Zeichenbretter und Schreibmöglichkeiten, auf denen Papiere, Tischkalkulatoren und Zeichengeräte lagen. Die Crew folgte den Hinweispfeilen und kam in einen Raum, der sehr wohnlich eingerichtet worden war. Er befand sich direkt vor dem Schott, hinter dem der Korridor und der kugelförmige Steuerraum
dieses Schiffes lagen. Cliff öffnete die Stahlplatte und winkte Mario zu sich heran. Sie alle hatten die Helme zurückgeklappt und unterhielten sich ohne Zuhilfenahme der Funkgeräte. »Mario«, sagte Cliff. »Versuche, dich um den Steuerkomputer zu kümmern. Ich weiß wirklich nicht, was uns erwartet, aber ihr alle habt wie ich bemerkt, daß so ungefähr jede Leuchtanzeige funktioniert. Irgend etwas wird passieren.« Mario nickte und bemühte sich, die Augen offenzuhalten. Sie alle, die von den verschiedenen Veranstaltungen gekommen waren, fühlten sich unausgeschlafen und hatten aufmunternde Mittel eingenommen. »Ich versuch's«, sagte der Erste Offizier. »Und wir werden versuchen, aus dieser Masse sich teilweise widersprechender Meldungen einen sinnvollen Text zwischen den Zeilen herauszulesen«, sagte Cliff und warf die Mappe, die ihm Wamsler gegeben hatte, auf den großen, mit Papieren, Ordnern und Zeichnungen bedeckten Tisch des Wohnraumes. Sie schwiegen einige Sekunden, keiner bewegte sich. Ishmee hob plötzlich die Hand und flüsterte eindringlich: »Das Schiff lebt!« Atan Shubashi murmelte: »Wo? Wie?« Ishmee sah ihn kurz an und legte den Finger auf ihre geschlossenen Lippen. Jetzt hörten sie es alle. Dieser gigantische, geheimnisvolle Mechanismus lebte wirklich: auf seine Art. Das Metall der Verstrebungen schien sich gegen-
einander zu reiben; eine Folge knisternder Laute kam von überall her. Dazwischen das schnelle, fast nicht mehr unterscheidbare Knattern von automatischen Schreibgeräten, darüber lag das Summen der Luftumwälzanlagen. Irgendwo ertönte ein Schnarren. An einem Anzeigenbord, das die Breite einer Wand einnahm, leuchteten in rascher Folge die Lämpchen hinter Glas auf. Relais klickten und knackten. Winzige Funken schienen im Inneren von Geräten zu springen, und plötzlich, gänzlich unerwartet, fuhr ein Windstoß durch das Schiff. Wenigstens hörte es sich so an. Helga fragte die Turceed: »Ishmee – kannst du fühlen, ob jemand in diesem Schiff denkt? Ob das Schiff selbst denken kann?« Ishmee schüttelte den Kopf und sagte: »Ich fühlte bisher nur eure Gedanken. Diese aber werden stärker und eindringlicher. Das Schiff ist ein leerer Mechanismus, es denkt nicht, kann nicht denken. Aber seine Maschinen können handeln.« Cliff setzte sich in einen der Kunststoffsessel und öffnete die Mappe ein drittesmal. »Machen wir uns gegenseitig nicht wahnsinnig. Wir sind hier geborgen, haben Nahrungsmittel für Jahre und Energie für Jahrtausende, sind hinter stählernen Wänden geschützt und können ohnehin nur warten. Warten wir also.« Die beiden Mädchen inspizierten systematisch die Einrichtung dieses dreieckigen, relativ niedrigen Raumes und entdeckten, daß die Wissenschaftler sich hervorragend eingerichtet hatten. Vom Kühlschrank über eine transportable Küche mit Mikrowellenherd bis zu einer vollautomatischen Erster-Klasse-
Kaffeemaschine war alles vorhanden. Die anschließenden Räume waren mit Schlafgelegenheiten eingerichtet. Ein Raum enthielt sogar eine wissenschaftliche Bibliothek. Cliff und Hasso studierten die Berichte. Einmal hob Hasso den Kopf und knurrte: »Es kommen erstaunliche Dinge zutage, Cliff.« Cliff deutete zur Decke und sagte: »Angesichts dieses Riesenschiffes sind alle erstaunlichen Dinge ziemlich wenig verwunderlich. Das ist die verrückteste Maschine, die wir jemals kennengelernt haben.« Das Schiff war, abgesehen von den wissenschaftlichen Teams und deren Verkehr, für alle anderen Schiffe der Erdflotte und des Koloniegebiets gesperrt. Strengstes militärisches Sperrgebiet. Die Dokumente, die sie hier in Kopien lasen, waren feuerrot – das bedeutete, daß es sich um geheime Staatsangelegenheiten handelte. Sie schilderten in dürren Worten, daß sämtliche Anlagen, die man kannte, sich plötzlich, und zwar nach einer nicht zu identifizierenden Reihenfolge, eingeschaltet hatten. Dazu eine Menge von technischen Überraschungen, die man bis zu diesem Zeitraum noch nicht gekannt hatte. So zum Beispiel waren riesige Strecken von Schiffswänden, die man zuerst für massives Stahlblech gehalten hatte, plötzlich durchsichtig geworden. Andere wieder zu Bildwänden, die Muster von psychedelischen Farben projizierten und Schriften und Bilder, die niemand enträtseln konnte. Hasso und Cliff warfen sich einen langen Blick zu. »Offensichtlich ist in den Speichern, die einmal von Mario kurz untersucht worden waren, noch viel vor-
handen, was wir nicht kennen«, sagte der weißhaarige Bordingenieur. Cliff dachte nicht jedesmal daran; aber er war froh, Hasso als Freund an Bord dieses Schiffes zu haben. Die souveräne Ruhe und Gelassenheit, die dieser Mann ausstrahlte, waren selbst für Cliff wesentliche Bestandteile des Lebens in der ORION. »Offensichtlich!« sagte Cliff. »Ich fürchte, das Schiff verwandelt sich in Kürze in eine Welt, die uns überraschen wird.« »Aber in welche Welt?« Cliff zuckte die Schultern und vertiefte sich weiter in die Dokumente. Er hörte die Geräusche um sich herum, las und fröstelte. Ein Mechanismus, der wahrscheinlich mit den heutigen Mitteln von elektronischer Wissenschaft nicht begriffen werden konnte, schickte sich an, diese Kugel zu ergreifen. Genauer gesagt: Er hatte sie bereits in seinem Griff. »Cliff!« Mario de Montis Stimme klang alarmiert. »Ja?« Cliff war aufgesprungen. Ein paar Blätter segelten zu Boden. »Zu mir her, schnell!« Cliff wirbelte herum, lief um den Sessel und rannte auf Mario zu, der sich wieder in den kurzen Korridor zurückgezogen hatte. Cliff kam in die Kugel der Steueranlage und sah den neu angebrachten Sessel. Über dem geschwungenen Instrumentenpult hatte sich ein neuer, von den irdischen Technikern befestigter Bildschirm erhellt. Auf dem Schirm war GSDLeutnant Tamara Jagellovsk zu sehen. »Cliff«, sagte sie alarmiert, sobald er in den Auf-
nahmebereich der Linsen geriet, »ich wurde gerade von unserem Observatorium angerufen; ich bin hier auf einem Schulungskurs. Wamsler ist nicht zu erreichen. Mir wurde berichtet, daß das Große Schiff seine Position verändert hat.« Cliff fluchte unterdrückt und erwiderte: »Wir haben nichts gemerkt. Hast du die Daten, Tamara?« Eine Hand streckte sich ins Bild und reichte der jungen Frau ein Blatt. »Ja. Das Schiff löste sich genau vor sechs Minuten und dreißig Sekunden aus dem stabilen Orbit. Es beschleunigte und wurde schneller. Im Augenblick sieht es so aus, als ob es der Geraden zustrebt, die vor einiger Zeit als vermutlicher Flugweg durch unsere Milchstraße ausgerechnet wurde. Die Entfernung von der Erde vergrößert sich zusehends. Zweite Kosmische Geschwindigkeit erreicht...« Eine Stimme unterbrach sie. Jemand rief aufgeregt: »Das Schiff beschleunigt schneller als McLanes Kreuzer. Es wird in einer Stunde Lichtgeschwindigkeit haben!« Breite Störungslinien durchzogen den Schirm, dann wurde das Bild zweidimensional. »Schaltet auf EOS um!« rief Cliff alarmiert. Es war, als würde sich ein stählerner Reifen um seine Brust legen. »Bereits versucht. Transferierung dauert zu lange. Die Richtantennen schaffen es nicht mehr!« schrie eine schwächer werdende Stimme. Durch die Linien der Störung wurde das Bild Tamaras undeutlicher, plötzlich verschwand sie. Auf dem Bildschirm stand nur noch ein Grau, von winzigen violetten Punkten
durchzogen. Der Lautsprecher funktionierte noch, und die Stimme Tamara Jagellovsks schrie: »Das Große Schiff rast davon... mit der ORIONCrew.« Dann heulte und knisterte der Lautsprecher, und der Bildschirm wurde weiß. Cliff und Mario zuckten die Schultern, dann sagte der Kommandant: »Es entbehrt natürlich nicht einer gewissen Ironie, wenn wir die letzte Stimme von der Erde gerade aus dem reizenden Mund meiner ehemaligen Freundin hören. Die Fahrt geht los, Freund Mario.« Der Erste feuerte wütend die Aufzeichnungen, die er sich nach den Komputerfunktionen gemacht hatte, in einen Winkel und fragte laut: »Wohin geht die Fahrt?« Cliff zuckte die Schultern. »Ich habe keine Ahnung. Aber wir sollten das Problem nicht für leicht lösbar halten.« Einundzwanzig Tage später wußten sie alle, daß dies eine ausgesprochen leichtsinnige Äußerung gewesen war. Das, was jetzt auf sie zukam, stellte alle ihre bisherigen Erlebnisse in den Schatten.
2 Cliff lehnte sich, um eine Schwäche in seinen Überlegungen zu neutralisieren, an den schweren Sessel. Dann schaltete er gedankenverloren den Bildschirm ab; das Videophongerät war bisher ihre einzige Verbindung zur Erde gewesen. Offensichtlich raste jetzt das Schiff mit Lichtgeschwindigkeit, dann durch den unbekannten Hyperraum, entlang der Geraden, die es vor Jahrtausenden durch die Galaxis gezogen hatte. Wozu? Wohin? Im Augenblick waren alle Fragen offen und auf keinen Fall zu beantworten. Cliff atmete ein und aus, dann hob er den Kopf. »Die Situation ist im Augenblick zwar stabil, aber wir sind zur Passivität verurteilt. Wir können nichts tun – ein Zustand, den ich hasse.« Mario sagte: »Ich nicht weniger. Wie verhalten wir uns?« »Abwartend. Ich schlage vor«, antwortete Cliff, »wir schlafen erst einmal aus, wobei einer von uns die Wache übernimmt und sich mehrmals ablösen läßt. Kannst du versuchen, ein Bild der Umgebung hier irgendwohin zu projizieren?« Mario de Monti schaltete mehrmals und drehte sich um. »Nach meinen Berechnungen und den Anzeigen müßte die Wand des Nebenraumes jetzt als Bildschirm wirken. Da diese kugelförmige Steuerkabine hier sozusagen als Pol der Kugel angesehen werden kann, müßten wir durch die Wand in Fahrtrichtung sehen können.« »Danke, Mario«, sagte Cliff. »Suche dir ein stilles
Plätzchen und schlafe aus, ja?« »Gleich. Wohin fliegen wir, Cliff?« »Ich habe wirklich keine Ahnung. Ich weiß absolut nichts.« Cliff nickte seinem Ersten zu und ging durch den kleinen Korridor zurück in den Wohnraum. Dort hatte sich die Beleuchtung ausgeschaltet, und eine Wand des dreieckigen Raumes, etwa zehn Meter breit und drei Meter hoch, war durchsichtig. Jedenfalls, selbst wenn sich der Stahl nicht molekular verändert hatte – es gab diesen Effekt. Die Sterne standen vor dem Schiff und bewegten sich. Sie bewegten sich! Hassos ruhige Stimme kam aus der Dunkelheit. »Du hast richtig gesehen, Cliff«, sagte der Bordingenieur, der kürzlich seinen siebenundfünfzigsten Geburtstag gefeiert hatte. »Die Sterne bewegen sich. Das bedeutet nichts anderes, als daß sich diese Kugel überlichtschnell bewegt und den normalen Raum nicht verlassen hat. Oder aber, das Große Schiff hat den Normalraum verlassen, und eine unbekannte Schaltung vermittelt uns den Anblick der Gestirne.« »Ich verstehe«, sagte Cliff. Immer mehr wurden er und die Crew zu einer passiven Besatzung dieser Kugel. Wie winzige Ameisen in einer riesigen Blechdose, die durch die Unendlichkeit fegte, schneller als ein Blitz, schneller als das Licht der fernen Sonnen. »Wo sind Helga und Ishmee?« fragte Cliff etwas beunruhigt. »Sie suchen für uns geeignete Schlafstellen«, sagte Hasso. »Ihr alle seid ziemlich müde?« »Ja«, erwiderte Cliff. »Müde, teilweise alkoholisiert, voller Wachhaltemittel und voller Furcht.« Hasso stand auf und legte Cliff die Hand auf die
Schulter. Dann deutete er auf die rasenden Sterne, auf die Farben der Lichtkugeln, die herankamen und verschwanden. »Ich halte es noch mindestens fünf Stunden aus«, sagte er, und ein langer, verständnisvoller Blick traf den übermüdeten Kommandanten. »Schlaft ruhig. Da wir zur Passivität verdammt sind, können wir uns ausruhen. Morgen sieht vermutlich einiges in unserer Lage wesentlich anders aus. Wahrscheinlich wesentlich günstiger.« »Einverstanden«, antwortete Cliff. »Danke, Hasso.« Eine halbe Stunde später, als alle anderen Besatzungsmitglieder einen Platz gefunden hatten und schliefen, zog Hasso Sigbjörnson den magnetischen Verschluß der leichten Bordjacke herunter, holte sich eine Portion Kaffee aus dem Automaten und drehte seinen Sessel so herum, daß er genau im Mittelpunkt des rasenden, verwirrenden Bildes saß. Er streckte die Beine aus und legte sie auf den Tisch. Er überlegte. »Was wir brauchen«, murmelte er, »ist ein Konzept. Ein Konzept gegen eine Technik, die nicht die unsere ist... oder ein Konzept gerade für diese Technik.« Er schaute hinaus in die Sterne. Es waren Sonnen sämtlicher Spezifikationen des Hertzsprung-Russel-Diagramms. Blaue Sterne, rote, weiße, Riesen und Zwerge, Überriesen und erkaltete Multigravitationssterne. Diese Station, dieses große Generationenschiff, es flog immer schneller. Hasso sah scharf hin und glaubte, einige der bekannten Sternkonstellationen zu erkennen. Wenn es stimmte, was sie sahen, dann bewegte sich das Schiff von der Sonne der Erde weg. Dieser Stern lag etwas nördlich der galaktischen Ebene, aber sehr
weit vom Zentrum entfernt. Das Große Schiff durchraste den Orion-Arm und entfernte sich in südsüdwestlicher Richtung durch die Galaxis, bezogen auf die rechnerischen Koordinaten der Milchstraße in Relation zu ihrer Umgebung. Was lag dort in dieser Richtung? Hasso rekapitulierte, was er in den langen Jahren der Schulung gelernt hatte, anhand von Tausenden einzelner Stellarfotos. Magellansche Wolken, südlich... Sculptor-System, südsüdwestlicher... dann, in etwa gleicher Entfernung, das Fornax-System, das System Löwe I, fast im Westen das System Löwe II. »Die Richtung stimmt!« sagte er. »Entweder Sculptor-System oder Fornax-System. Ich glaube, wir werden uns angewöhnen müssen, in mehr Lichtjahren zu denken, als wir uns vorstellen konnten.« Als die irdischen Wissenschaftler sich zum erstenmal mit diesem Schiff beschäftigt hatten, waren sie zu der wohlfundierten Ansicht gekommen, daß dieses Generationenschiff sich entlang einer Geraden durch die Milchstraße der Erde bewegt hatte. Einige Wochen später wurden diese Berechnungen leicht korrigiert; es war keine absolute Gerade, sondern ein Ausschnitt aus einem Kreis. Aber das Stück Kreisausschnitt, mehr als neunzigtausend Lichtjahre messend, war fast wieder eine Gerade. Also ein Ausschnitt eines wahrhaft gigantischen Kreises, der einige Milchstraßen umspannte und berührte. Wenn das stimmte, und Hasso Sigbjörnson hatte nicht die geringsten Zweifel an dieser Rechnung, dann sollten sie sich schnellstens in ein galaktisches oder intergalaktisches Denkmodell hineinfinden.
»Das ist der Ausgangspunkt unseres Konzeptes«, sagte Hasso. Gleichzeitig erkannte er bestürzt, daß es auf dieser Fahrt seine Aufgabe sein würde, auf Cliff aufzupassen. Er lächelte. Cliffs Verstand war zu gut, zu variabel – eine vielbenutzte, schnelle Präzisionsmaschinerie mit sehr viel Intuition als Schaltung. Aber ebenso anfällig wie diese Art von Maschine. Sigbjörnsons Verstand war langsamer, aber keineswegs schlechter. Dadurch, daß er seine Erfahrung und seine beharrliche Ruhe in den Fundus der gemeinsamen Kenntnisse und Verhaltensmuster voll einbrachte, würde er stets helfend eingreifen können. Er versuchte sich in der nächsten Stunde das Große Schiff als einen Organismus vorzustellen. Dieser Organismus hatte zweifellos auf bestimmte Reize reagiert und ein Signal mit Bewegung beantwortet. Der Organismus arbeitete aber nicht nur mit Fortbewegung durchs All, sondern »dachte« auch. Da die ORION-Crew sich hier in unmittelbarer Nachbarschaft des Gehirns dieses Organismus befand – dem Komputer mit den Riesenspeichern und den Nerven, den unzähligen Leitungen, Linsen, Lichtschranken, Thermometern und Relais, Trimetall-Schaltern und Thyristoren... aus diesem Grund sollte es möglich sein, die Gedanken sichtbar zu machen und zu interpretieren. Hasso schüttete etwas Milch/Zuckerkonzentrat in die Tasse und goß heißen Kaffee nach, dann murmelte er: »Erster Punkt: galaktisches Denken, Denken in intergalaktischen Begriffen. Zweiter Punkt: behutsames Begleiten und Lenken des Kommandanten. Dritter
Punkt: Versuch, die technisch funktionierenden Denkprozesse dieser großen Maschine sichtbar zu machen und versuchen, sie nachzuvollziehen.« Er trank eine weitere Tasse Kaffee. Wenn die Station ›dachte‹, dann hatte sie gewartet, bis die Entdeckercrew an Bord war. Dann hatte sie beschleunigt und flog – wahrscheinlich – dem Ort entgegen, an dem sie erbaut oder gestartet worden war. Dieser Punkt lag – wahrscheinlich, fast sicher sogar – außerhalb der heimatlichen Milchstraße. Auf alle Fälle weit jenseits der Neunhundert-ParsekRaumkugel, in der die irdische Sonne der Mittelpunkt war. Plötzlich setzte sich Hasso aufrecht hin. Er hörte Stimmen! Hasso stellte hastig die Tasse ab, sprang auf und rannte durch den Raum, dessen einzige Beleuchtung von den vielfarbigen Sternen kam. Er riß das angelehnte Schott zum Steuerraum auf, wirbelte nach rechts und entdeckte das wütend flackernde Lämpchen des einsatzbereiten Funkgerätes. Er drückte gleichzeitig zwei Tasten: Ton und Bild. Sekundenbruchteile später erhellte sich der Schirm, und die volle Lautstärke des Funkspruchs war zu hören. Es war eine Endlossendung. Ein Gesicht erschien; ein Raumfahrer vor dem Kommandantenpult eines anderen Diskusschiffes. Seine Stimme sagte laut und deutlich, scharf akzentuiert: »... werden von T.R.A.V. ersucht, die besten Grüße an McLane und seine Crew auszurichten. Das Große Schiff verläßt soeben die Grenzen der Raumkugel. Ab jetzt versagen die Ortungseinrichtungen und die Möglichkeit, mit
Funk zu verkehren. Der Raummarschall läßt durch mein Schiff, SAGITTARIUS, ausrichten, daß die Gedanken der Erde bei McLanes Team sind. Wir alle hoffen auf eine baldige Rückkehr, und auf der gegenüberliegenden Seite der Raumkugel werden ständig Schiffe postiert bleiben. Wir rufen die ORION und ihre Mannschaft. Hier ist Kommandant Faltayre vom Schiff SAGITTARIUS. Sie werden von T.R.A.V. ersucht...« Hasso knurrte: »Danke, Kamerad.« Dann sah er zu, wie das Bild undeutlich und verschwommen wurde und immer mehr an Konturen verlor. Als sowohl Bild und Ton nicht mehr wahrzunehmen waren, schaltete er das Funkgerät endgültig ab. Sie waren allein. Cliffs Aufgabe sollte es vermutlich werden, überlegte der Bordingenieur weiter, alle Vorgänge der nächsten Zeit, wie lange sie auch dauern würde, zu untersuchen und zu entschlüsseln. Wenn möglich, sollte er das Große Schiff auf einen anderen Kurs zwingen; dies war vermutlich ausgeschlossen. Man hatte mühsam angefangen, das Schiff kennenzulernen und hatte gesehen, daß es einer Kulturstufe angehörte, von der die irdische, ja selbst die der Turceed und der Dherrani, lichtjahreweit entfernt war. Von einer riesigen Maßeinheit hatte man erst die ersten mikroskopischen Millimeter entschlüsselt; die relativ einfach angelegten Versorgungsmechanismen des Schiffes. Alles andere lag im Dunkel, wie auch die Herkunft dieses Raumkörpers. Man kannte nicht einmal den eigentlichen Zweck dieser gigantischen Anlage.
Hasso stand auf und blieb vor der schwarzen Wand mit den dahinschießenden Sternen stehen. »Das sind wir: sechs Ameisen in einer riesigen Stahlkugel. Hilflos, unseren Gedanken und Ängsten ausgeliefert. Ausgeliefert auch der Technik dieser Kugel. Wir können nur hoffen, daß dies nicht eine Aktion ist, um uns auszurotten.« Ein blauer Stern mit mehr als vier Sonnenmassen raste jetzt aus dem Zentrum heran. Minus Zwei absolute Größe, mehr als hundert logarithmische Helligkeiten, ein stechendes Siriusblau. Mehr als 12.000 Grad Kelvin Oberflächentemperatur. Das Schiff schien direkt an diese betäubende Lichtflut hineinzujagen, selbstmörderisch und mit mehrfacher Lichtgeschwindigkeit. Und dann geschah es. Es gab einen Ruck, der Hasso nur wenig taumeln ließ. Das Schiff raste durch die äußere Korona der blauen Sonne hindurch, und als das Licht, das Hasso blendete, endlich wieder der Dunkelheit des Weltalls Platz gemacht hatte, sah er, daß das Große Schiff um mindestens eine Zehnerpotenz schneller geworden war. Flog es bisher mit geschätzter zehnfacher Lichtgeschwindigkeit, dann raste es jetzt hundertmal schneller als das Licht dahin. In jeder Sekunde mehr als dreißig Millionen Kilometer. »Wir verlassen also doch die Galaxis«, sagte Hasso. Er wandte sich um und setzte sich wieder. Einige Stunden später löste ihn Atan Shubashi ab. *
»Der Zweck heiligt die Nahrungsmittel«, sagte der Kommandant und sah sich um. Die sechs Personen der ORION-Crew saßen um den großen Mitteltisch und nahmen das wohl seltsamste Frühstück ihrer Karriere ein. Noch immer raste das Schiff durch die Sterne; Atan Shubashi hatte den Flug unausgesetzt beobachtet, nachdem er Hasso abgelöst hatte. Ishmee lächelte zuversichtlich und deutete auf die sechs Gedecke. Sie sagte: »Helga und ich haben gesucht und gefunden – es gibt hier Vorräte aller Art für mindestens drei Monate. Dazu die Notvorräte und die reguläre Ausstattung der ORION gerechnet, bedeutet das, daß wir mindestens ein halbes Jahr keinen Hunger zu leiden brauchen.« Hasso brummte: »Eine zusätzliche Beruhigung.« Auf dem Tisch standen Tassen und Teller, Nahrungsmittel und eine Kanne Kaffee, eine zweite mit goldfarbenem Fruchtsaft. Einige zusätzlich angeschaltete Punktleuchten schufen in der Mitte des Raumes einen Helligkeitskreis. Noch immer gab es die schnell wechselnden Farben der heranstürmenden und seitlich am Schiff vorbeirasenden Sonnen. Hasso hob seine Tasse und deutete mit der anderen Hand auf McLane. »Bevor Atan, und ich sehe dies deutlich an seinem sprungbereiten Wesen, mit den astrogatorischen Berechnungen loslegt, die er während der Nachtwache zweifellos angestellt hat, möchte ich an euch alle und besonders an Cliff einige Worte richten«, sagte der Bordingenieur. Cliff nickte; noch immer war sein Gesicht von
gänzlich ungewohntem Ernst erfüllt. »Bitte, Hasso!« »Wir werden in Kürze feststellen, daß diese Stahlkugel die heimatliche Galaxis verläßt. Auf welche Art, mit welcher Hyperraumtechnik sie das tut, weiß ich nicht; es braucht uns auch nicht zu interessieren.« Helga warf lächelnd ein: »Das bedeutet, daß ich als Funkerin und Fachmann für entsprechende Techniken so gut wie arbeitslos bin. Wie schön! Ich werde endlich meinen Pullover fertig stricken können.« »Also erfordert es von uns ein radikales Umdenken«, schloß Cliff aus den Worten Sigbjörnsons. »Ich sehe, du hast schnell begriffen«, sagte der Ingenieur. »So ist es. Alles, was jetzt geschieht, passiert auf einer Ebene, die nicht mehr unsere ist. Keine neunhundert Parsek als Begrenzung. Keine eigenen Steuermaßnahmen. Wir werden stets nur die Antworten auf Impulse geben können, die von einer Rasse oder deren Technik kommt, die weit von uns entfernt ist.« »Ich verstehe«, erwiderte Cliff. »Bei allem, was wir sehen und erleben, müssen wir daran denken.« Auch Mario de Monti schaltete schnell. Die anderen beschränkten sich im Augenblick noch aufs Zuhören. »Ich darf Hassos Ausführungen ergänzen. Helga, die ja von Komputern auch eine Menge versteht, wird mir dabei helfen. Ich werde versuchen, die Gedanken dieser Maschine sichtbar zu machen. Schließlich leben wir hier im unmittelbaren Umkreis des Steuergehirns, das das Große Schiff kontrolliert.« Hasso grinste breit. Er sah, daß seine Freunde begriffen hatten, worauf er hinauswollte. Eine erwartete
Überraschung, traf sie ein, war keine echte Überraschung mehr, mochte sie auch negativer sein, als man es sich vorgestellt hatte. Plötzlich wußte er, daß seine Sorgen vermutlich überflüssig gewesen waren. »Das solltet ihr versuchen«, sagte er. »Und ehe unser Atan vor Spannung explodiert... was hast du heute nacht ausgerechnet?« Atan zog ein eng beschriebenes Blatt unter seinem Frühstücksteller hervor und wischte mit der Serviette über den Mund. »Wir fliegen entlang der erwähnten Geraden«, sagte er deutlich. »Ich brauche niemanden hier mehr etwas über diese Gerade zu erklären. Vermutlich werden wir in Kürze, etwa in vier Tagen, die heimatliche Galaxis verlassen haben. Dann stehen wir vor dem intergalaktischen Raum, der fast sternenlos ist.« Er blickte die Freunde an; ihre Reaktionen waren verschieden. Cliff schaute nachdenklich, mit einem verschlossenen Gesicht, in die heranrasenden Sonnen. Helga saß da, ein halbvolles Glas Fruchtsaft in der Hand und runzelte die Stirn. Ihr auffälliges Make-up war inzwischen verschwunden. Ishmees Blick pendelte zwischen Cliff und Hasso hin und her, und Mario de Monti nickte verständnisvoll. Er schien sich auf die Abenteuer, die sie zweifellos erwarteten, irgendwie zu freuen. »Wenn diese Gerade weiter beflogen wird, müßten wir in etwa insgesamt zwanzig Tagen, von heute an gerechnet, vor dem Fornax-System stehen, einer kleinen Milchstraße ähnlich den Magellanschen Wolken. Welchen Kurs dieses Schiff dann nimmt, weiß ich nicht.«
Cliff fragte schnell: »Einundzwanzig Tage bis zum Fornax-System?« »Ja. Aber dieses Zeitmaß gilt nur dann, wenn die Kugel weder schneller noch langsamer wird. Heute nacht hat sie dreimal um je eine Zehnerpotenz beschleunigt; auch das habe ich ausgerechnet. Einmal hat es Hasso beobachtet, zweimal ich.« Mario holte aus seinem Vorrat eine Flasche Alkohol, mischte etwas davon mit seinem Fruchtsaft und stürzte das Glas hinunter. »Was, so frage ich euch, haben wir im FornaxSystem zu tun?« Helga schüttelte den Kopf, deutete hinaus auf die Sterne und sagte lächelnd: »Wir nichts, aber die Kugel. Es ist natürlich fraglich, ob sie überhaupt dort bremst.« Atan hob den Arm und fragte: »Eine rein organisatorische Frage, Kommandant – was steht heute bei uns auf dem Dienstplan?« Mario lehnte sich zurück und schaukelte im Sessel. »Helga und ich werden weiterhin an den Geheimnissen der Speicher herumexperimentieren.« »Bleiben vier«, sagte Atan. »Hasso hat vorhin angedeutet, er wolle zusammen mit Cliff einen langen Rundgang durch das Schiff unternehmen. Was sollen Ishmee und ich tun?« Cliff überlegte und sagte dann: »Ihr könntet versuchen, sämtliche Schalter und Knöpfe, Uhren und Skalen hier in der nächsten Umgebung des Steuerraumes zu entschlüsseln und eine entsprechende Erklärung abzufassen. Ich habe hier einen Apparat gesehen, der Buchstaben in selbstklebende Folie stanzt. Beschriftet bitte, was ihr herausge-
funden habt. Je mehr wir von diesem Schiff wissen, desto mehr können wir aus unserer passiven Rolle heraus, die mich gar nicht freut.« Ishmee deutete auf einen Stapel Berechnungen und sagte entschieden: »Und wir haben hier sehr viele Schriftstücke gefunden, Helga und ich, als wir das Frühstück vorbereiteten. Die Wissenschaftler hier leisteten gute Arbeit. Sie haben wochenlang gesucht und viele Funktionen entschlüsselt.« Cliff stand auf und schlug die Ärmel seines Hemdes hoch. »Macht bitte dort weiter, wo die Wissenschaftler aufgehört haben. Hasso und ich machen den erwähnten Rundgang.« »Gut. Ich jedenfalls weiß, wie ich euch erreichen kann – die Kommunikationseinrichtung sämtlicher Räume dieses Schiffes ist restlos entschlüsselt und instandgesetzt worden«, sagte Mario de Monti. Sie alle kannten die Wählapparatur mit den Bildschirmen, die jeden Raum des Schiffes über die Steuerzentrale mit jedem anderen verband. Hasso sagte zu Cliff: »Gehen wir?« »Ja.« Sie blieben neben dem Eingangsschott des dreiekkigen Raumes stehen und sahen noch einmal lange auf den riesigen Bildschirm oder durch die durchsichtig gewordene Stahlplatte. Noch immer hatte sich nichts geändert. Das Schiff raste mit einer unbekannten Energie durch unbekannte Sternenschwärme. Eines war inzwischen sicher: Der Rückweg mit der ORION VIII war so gut wie unmöglich. Hasso sprach
es aus, was sie beide fast gleichzeitig dachten. »Wir sind ausgeliefert«, sagte er leise, so daß es nur Cliff hörte. »Bisher war in der ORION die Partnerschaft so gut, daß es keine Neurosen gab. Wir sollten schon jetzt daran denken, durch Beschäftigungstherapie keine Fehlhaltungen aufkommen lassen.« Cliff stimmte zu. »Ishmee kann die Stimmungen von uns allen erkennen. Sie wird uns warnen, falls einer von uns anfängt, ernsthaft durchzudrehen.« »Aber, was ist, wenn Ishmees Verstand beginnt, instabil zu werden?« fragte Hasso fast flüsternd. Cliff zuckte die Schultern. Sie gingen hinaus in das Schiff, dessen Metallkonstruktion jetzt den Eindruck machte, als erwache langsam ein gigantischer Organismus. Keiner der ORION-Crew konnte sagen, woher er diesen Eindruck bekommen hatte, aber in den langen Jahren gefährlicher Einsätze hatten sie ein feines Gespür für nicht rational wahrnehmbare Schwingungen entwikkelt. Es war, als dehne ein Gigant seinen Brustkorb, als würde ein Riese langsam sich erheben. Überall waren Geräusche: Klicken, Schnappen von Schaltern, quietschende Geräusche, ein dumpfes Dröhnen aus verschiedenen Bereichen der Kugel, Knistern und Klappern. »Eine verdammt kritische Situation, Cliff«, sagte Hasso, als sie die schier endlose Wendeltreppe hinunter in den »Kielraum« des Schiffes betraten. »Du denkst noch nicht in die richtige Richtung, Cliff«, antwortete Hasso warnend. »Wie das?« Hasso lief dicht vor Cliff die Treppe hinunter. Die
Mittelsäule, ein mannsdicker Schaft, veränderte unmerklich ihre Farbe, und weitere dreißig Stufen weiter unten erstrahlte sie in einem angenehmen Gelb, das den zylindrischen Schacht ausleuchtete. Hasso sagte in beschwörendem Ton: »Verstehst du nicht, Cliff? Wir sollen hier die Mannschaft sein, denen etwas gezeigt, demonstriert wird! Anders kann es nicht sein! Die Automatik hat vermutlich damals, als wir das Schiff betraten, unsere Personalien notiert – auf ihre exakte, unverwechselbare Weise. Dann beunruhigte das Schiff seine Insassen, nämlich die Wissenschaftler. Es wartete auf uns! Als wir endlich kamen, sah die Mechanik, daß es sich um die ORION-Crew handelte. Sie schaltete schnell und entführte uns.« Sie erreichten jetzt die untersten Stufen und wandten sich nach links, in einen flachen, breiten Gang hinein. Auch dessen Decke schimmerte in einem gelblichen Licht aus Platten mit geriffelter Oberfläche. »Bist du sicher?« fragte Cliff. »Zu neunzig Prozent. Wir sind nur dann gefährdet, wenn wir leichtsinnig werden«, erklärte Hasso. »Etwas soll uns gezeigt werden. Was und warum... das ahne ich nicht einmal.« Über einen schmalen Steg aus weißem Kunststoffmaterial betraten sie den schüsselförmigen Raum. Eine Kugelkalotte, oben gerade abgeschnitten, mit der konkaven Seite nach unten, von den beiden Männern aus betrachtet. Ein Raum, kaum weniger als dreihundert Meter durchmessend, mit einem etwa hundertfünfzig Meter langen Steg, der in den Mittelpunkt führte. Als Hasso und Cliff den Steg betraten, ertönte
ein harter, aber kaum hörbarer Laut. Cliff hielt inne. »Was war das?« fragte er. »Ein Relais?« Hasso murmelte leise: »Unverkennbar ein Schalter, ja. Ich frage mich in diesem Moment, aus welchem Grund wir, ohne zu reden, ohne darüber nachzudenken, gerade hierher gegangen sind.« »Verdammt!« sagte Cliff. »Schon wieder ein solcher schmutziger Trick des merkwürdigen Schiffes.« Hasso lachte leise in der Dunkelheit. Eine Sekunde später, kurze Zeit nach dem Schaltergeräusch, begann der Steg zu leuchten, ebenso, wie es kurz vorher die Säule getan hatte. Ein schimmernder Pfad erstreckte sich in die Dunkelheit. Dann, völlig unvermittelt, ertönte Musik. Cliff sagte verwundert, flüsternd vor Verwunderung: »Du hast recht, Hasso!« »Wir bekommen etwas gezeigt. Etwas wird uns vorgeführt!« sagte Hasso. Die Musik war absolut unirdisch. Eine Folge dröhnender Schläge, die zuerst das Zwerchfell erschütterten und dann jeden einzelnen Nerv ergriffen. Binnen einer einzigen Minute waren beide Männer im Bann der dunklen Töne, der verwirrenden Rhythmen gefangen. Noch immer gab es hier nichts anderes als den weit ausladenden, weißen Streifen des Steges und die Dunkelheit ringsum. Unterstützt von der Musik wurden die Männer von einer seltsamen Ahnung ergriffen. »Was geht hier vor?« flüsterte Cliff zischend. »Ruhe!«
Die Musik wurde schneller und fordernder. Sie fesselte Hasso und Cliff, nahm sie restlos in Besitz. Sie standen starr da und fühlten, wie sie in den Bann einer fremdartigen Strömung gerieten. Nachdem alle ihre Empfindungen von der Musik ergriffen worden waren, nach einer Minute oder nach einer Stunde, sie wußten es nicht, denn sie standen unbeweglich und wie gelähmt da, sahen sie Lichter und Farben. Der Raum um sie herum belebte sich. Nachdem die Ohren, die Muschel, der Gehörgang und das Trommelfell samt Paukenhöhle, Amboß und Steigbügel, die Schnecke und die Bogengänge zitterten und schwangen, die Schwingungen über den Gehörnerv ins Hirn und von dort aus in sämtliche Körperzellen weiterleiteten, wurden auch die Augen in dieses totale System der Beanspruchung einbezogen. Die Farben und Lichter, die von allen Seiten auf Cliff und Hasso eindrangen, schienen nicht dem normalen Spektrum anzugehören. »Faszinierend...«, flüsterte der Kommandant. Ein rotes Band spannte sich durch die Dunkelheit. Aus diesem Band hagelte es schimmernde Funken in die Dunkelheit. Hasso und Cliff wußten nicht, wohin sie sehen sollten, aber Sekunden später brauchten sie ihre Augen auch nicht mehr zu benutzen. Fremde Gedanken sickerten wie eine ätzende Flüssigkeit in ihre Hirne ein. Sie wurden von der Technik des Großen Schiffes überwältigt. Dann formten sich in ihren Hirnen deutliche Bilder. Die Bilder waren scharf und unverkennbar – aber weder Cliff noch Hasso begriffen, was sie hier gezeigt bekamen. Aus der Schwärze tauchten Dinge auf, die wie Sterne aussahen und sich, einem übergeordneten
Schema folgend, zu Konstellationen gruppierten. Diesen Lichtpünktchen gesellten sich mehr und mehr punktförmige Erscheinungen hinzu, und schließlich schien das Feuerrad einer Galaxis entstanden zu sein. Das drehte sich nun langsam um einen Mittelpunkt. Andere Sterngruppen erschienen aus dem Nichts und drehten sich mit, von dem großen linsenförmigen Objekt entfernt; sie sahen aus wie Trabanten einer Milchstraße. Dann plötzlich war der gesamte Raum voller Milchstraßensysteme. Sie bewegten sich durch die endlose Dunkelheit wie Fische durchs Wasser. Ebenso übergangslos entstand inmitten dieser Galaxien ein feiner, dünner Ring. Er war von einem stechenden Rot und hing unbeweglich in der Schwärze. Entlang des Ringes jagte nun, wie ein Elektron um den Atomkern, ein kleiner gelber Punkt. Er vollendete mehrere Umkreisungen und verschwand dann, wie er gekommen war. An einer Stelle hatte der Ring eine Galaxis durchschnitten, ging durch ein Stück leeren Raumes und berührte einen kleineren Sternenfleck. Es sah, wenn auch irgendwie verfremdet, wie die heimatliche Galaxis mit dem vorgelagerten FornaxSystem aus. Nachdem ein zweiter Punkt dicht vor dem Fornax-System entstanden war, dort größer und strahlender wurde, verschwand die gesamte Lichterscheinung wieder. Gleichzeitig hörte die wirre Musik auf, und die plötzliche Stille ließ die beiden Männer auf dem Steg schwanken. Dann wieder: Musik. Dröhnende Töne, die restlos die gesamte Psyche in den Griff bekamen. Vor den Augen der
Männer entstand eine Sonne in der Mitte des Raumes. Sie strahlte direkt über ihren Köpfen. Nacheinander erschienen weitere Kugeln, die aber nur das Licht des zentralen Gestirns widerspiegelten. Eine Kugel, eine zweite, eine dritte, dann waren es acht... schließlich umschwirrten vierzig Kugeln die Sonne. Zu den Kugeln kamen nun kleinere Gebilde, die auf anderen Bahnen ihrerseits die Planeten umkreisten. Monde? Hasso und Cliff zählten hundertzwanzig Monde. Dabei wußten sie nicht, ob sie wirklich zählten, oder ob diese Zahl einfach in ihren Gedanken erschienen war. Ein gigantisches Planetensystem – wenn es das war, was sie dachten. Majestätisch langsam, von einer entsprechenden Musik begleitet, die aus keinem irdischen Instrument entstammte und deren Noten von einer unfaßbar fremden Rasse geschrieben worden waren, drehte sich dieses Mammutsystem durch die Schwärze. Nacheinander zogen auf den dünnen, rot glühenden Bahnkreisen die einzelnen Planeten vorbei, begleitet von ihren Monden; einmal zwei, dann wieder drei – es gab auch Planeten ohne Begleiter. Dahinter schien sich jetzt ein Bild zu stabilisieren, und plötzlich wußten die beiden Menschen von der kleinen Erde, daß dies hier – dieses System! – ihr Fahrtziel war. Denn die Sterne, die sich hinter dem Multisystem gruppierten, sehen annähernd so aus wie die Aufnahmen, die Hasso und Cliff von dem Fornax-System kannten. »Hasso?« murmelte Cliff, ohne die Lippen zu bewegen. Er befand sich in einer Art Trance, die durch Lichter und Farben, Dunkelheit und Musik hervorgerufen
worden war; eine technisch erzeugte Verinnerlichung technischer Vorgänge. »Ja?« »Wir – sollten – versuchen...«, begann Cliff. Er setzte seine Worte mit langen Zwischenräumen, als wende er seine gesamte Energie auf, um sprechen zu können. Hasso erging es nicht anders. »Was, Cliff?« fragte er mühsam. »... unsere – Gedanken – zu – lösen!« drängte Cliff. Noch während er sprach, verwandelte sich die Projektion abermals. Das System verkleinerte sich zusehends, Planeten und Monde wurden zu winzigen Perlen, und sowohl die Ekliptik als auch deren Zentrum glitten durch die Schwärze bis vor dem Hintergrund der Sternprojektion. Dort blieben sie stehen, und mit der schwächer und leiser werdenden Musik verschwanden auch die Farben, verschwanden die Sterne. Tiefe Dunkelheit und Stille erfüllten den Raum im Kiel dieses Schiffes. Der Steg erhielt seine hell schimmernde Oberfläche zurück, und der fremde Zugriff löste sich aus den Hirnen der beiden Männer. »Was war das?« fragte Cliff zögernd und drehte sich um. Selbst im schwachen Licht des Steges erkannte der Ingenieur, daß Cliffs Gesicht weiß war. »Ich weiß es noch nicht«, erwiderte Hasso. »Gehen wir zurück, denken wir in völliger Entspannung darüber nach. Ich bin sicher, wir finden einen Weg.« Sie gingen langsam durch das Schiff und zurück in den dreieckigen Raum neben der Steuerung. Sie waren allein, und ein Blick auf ihre Uhren hatte ihnen gezeigt, daß die Illusion vier Stunden lang gedauert hatte. Sie fühlten sich geschwächt, aber gleicherma-
ßen von einem ungeheuer starken physischen Druck befreit. Sie warfen sich in die Sessel und starrten hinaus in die Sterne. Das Bild hatte sich nicht verändert. Noch immer fegte das Schiff, wenn Atan Shubashis Rechnungen richtig gewesen waren, dem Rand der Galaxis entgegen. Mario kam herein, sah die Männer an und setzte sich zu ihnen. »Ihr wart im untersten Kielraum, nicht wahr?« fragte er mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck. Hasso nickte. »Ich habe es gemerkt. Ein Speicher zeigte ungewöhnlich hohe Aktivitäten. Ist dort ein Programm abgelaufen?« Cliff erwiderte mit gebrochener, leiser Stimme: »Ein höllisches Programm, Mario. Wir sind schweißgebadet, noch jetzt. Etwas hat uns besessen, wie ein Parasit.« Marios Stimme wurde lauter und schneidender. Er sagte: »Ich habe, allerdings unterstützt durch die Niederschriften einiger Elektroniker, die vor mir an der Kybernetik und den Speichern gearbeitet haben, einige interessante Dinge herausgefunden.« Hasso sagte ruhig, indem er abwehrend die Hände hob. »Sie interessieren uns, fürchte ich, im Augenblick nicht sonderlich.« »Sie werden euch interessieren müssen«, sagte Mario scharf. »Ich habe ein System von Sensoren festgestellt. Diese Sensoren richten sich auf den Mittelpunkt des Steges aus, der in den Kielraum hineinführt. Die
Wesen, die dort stehen, werden gezwungen – natürlich ohne ihr Wissen! –, ihre Gedanken mit denen der Maschine zu einem neuartigen System zu verbinden. Was immer ihr dort unten gesehen und gefühlt habt: Es waren eure eigenen Gedanken dabei.« Cliff setzte sich kerzengerade auf, und seine Finger, die nach einem Glas voller Fruchtsaft griffen, zitterten etwas. »Sie haben... wir dachten uns die Bilder selbst?« fragte er heiser. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn und auf der Oberlippe. »Nein«, antwortete der Chefkybernetiker. »Die Gedanken kamen unzweifelhaft von der Kybernetik. Ihr habt nur die interpretierenden Bilder geliefert; sozusagen die Umsetzung von Gedankenimpulsen einer fremden Rasse in die von Menschen. Das war euer Beitrag.« Hasso faßte zusammen. »Das bedeutet, daß uns dort unten Denkanstöße geliefert wurden, die wir koordinierten und interpretierten. Wir haben also aus Rohmaterial gewisse verfeinerte Gedankenbilder selbst hergestellt.« Mario de Monti nickte. »Und die Musik dazu stammte auch aus eurem Gedächtnis, vielmehr aus euren eigenen Gefühlen, denn jeder von euch hörte nur diejenige Musik, die er selbst brauchte, um seine rationale Überlegung auszuschalten.« Cliff schloß: »Und das alles am zweiten Tag unseres Fluges. Wie soll das weitergehen?«
3 »Ich warne dich, Cliff!« Ishmee saß in dem Sessel einer der kleinen Schlafräume, die von den Wissenschaftlern abgetrennt worden waren. Der vierte Tag seit dem Betreten des Großen Schiffes ging zu Ende. »Warum?« fragte der Kommandant leise. Er lag mit hinter dem Nacken verschränkten Armen auf seiner Liege und dachte nach. »Du kannst heute immer noch erst teilweise verstehen, was Hasso und du erlebt habt, nicht wahr?« Auf einem kleinen Monitor, den Mario de Monti mit Helga Legrelles Hilfe von dem Bild der »durchsichtigen Wand« herunter geschaltet und hierher übertragen hatte, sah Cliff noch immer die Bilder des wahnsinnigen Fluges durch die Randzonen der Galaxis. Etwas war anders geworden – es gab weniger Sterne, und die Zwischenräume der Feuerkugeln waren größer und schwärzer, da das Gewimmel der Sterne dahinter abgenommen hatte. »Uns wurde, gleichzeitig verkleinert und in der Bewegung um ein Mehrfaches schneller gemacht, also beschleunigt, unsere eigene Galaxis, die nächstliegenden Milchstraßensysteme und die vorgelagerten Systeme unserer Galaxis gezeigt.« »Das ist richtig«, sagte die Turceed. »Aber ich kann mehr fühlen als begreifen. Was ich fühle, ist allerdings ziemlich alarmierend.« Unruhig fragte der Kommandant: »Alarmierend?« »Ja. Ich lese zwar nicht deine Gedanken direkt, aber
ich erkenne die Natur dieser Gedanken. Du spielst mit hohem Einsatz, Cliff!« Er sagte: »Ich versuche lediglich, aus den gesehenen Bildern meine Schlüsse zu ziehen.« Unterschwellig wußte Cliff, daß das Mädchen mit dem langen schwarzen Haar – sie hatte es in den vergangenen Monaten wachsen lassen – und den goldfarbenen Augen recht hatte. Er kämpfte schweigend um einen hohen Einsatz. »Das ist richtig«, sagte Ishmee ein zweitesmal. »Aber, anstatt dich der naiven Überzeugungskraft der Bilder zu bedienen, versuchst du, den Dingen auf den Grund zu gehen. Das, was ihr gesehen habt, waren die Gedanken einer anderen Rasse, die höher entwickelt war als die Turceed, die Aashap oder die Dherrani. Vermutlich sogar die gemeinsame Stammrasse aller bekannten humanoiden Rassen. Und du versuchst, Ihre Gedanken herauszufinden?« Cliff betrachtete den Monitor und sagte schließlich: »Ich weiß nicht, was das soll. Schön, vielleicht hat man uns nur unser Ziel geschildert, ehe wir es erreichten. Eine Kultur, die in der Lage ist, solche perfekten Projektionen zu erschaffen und zu betreiben, sollte es doch auch mühelos schaffen, mit uns in Verbindung zu treten, ohne daß Zweifel auftreten.« Ishmee setzte sich neben ihn und ergriff seine Hand. Sie sagte, mühsam beherrscht und leicht unwillig: »Sicher wollen sie nicht alle Zweifel beseitigen, sonst hätten sie es getan. Wir sollen nur sehen, hören, ein Bild haben. Du aber versuchst, mögliche Wege des Verständnisses zu finden und wirst dabei deinen
Verstand ruinieren. Deine Gedanken reagieren bereits; ihre Bahnen werden verwirrter. Panik ist in dir – die Panik eines Mannes, der vergeblich versucht, mit dem Kopf eine Mauer zu durchbrechen.« Der Kommandant lächelte. »Vielleicht ist es Absicht der Unbekannten, die jetzt uns und das Schiff zu sich geholt haben, mich zu verwirren?« Ishmee konterte: »Vielleicht. Aber garantiert sind sie dabei nicht auf deine Mithilfe angewiesen!« Jetzt lächelte Cliff. Er zog das Mädchen zu sich herab, und zufällig, als er den Kopf drehte, fiel sein Blick auf den Monitor. Er erhaschte gerade noch einen weißen Lichtschein, der von einem Stern stammte, an dem das Schiff eben vorbeiraste, dann blieb der Sichtschirm leer. Schwarz. Cliff richtete sich auf und drehte Ishmee an den Schultern herum. »Hier!« sagte er. »Schau auf den Schirm!« Sie tat es und sagte dann leise: »Wir haben unsere Galaxis verlassen, Cliff. Jetzt sind wir im Niemandsland zwischen den Galaxien.« Fern, verwischt und undeutlich, in etwa dreiviertel Millionen Lichtjahren, sahen sie die annähernd rundspiralige Form des Fornax-Systems. Im gleichen Augenblick erfolgte ein scharfes Knacken, und das Bild wechselte. Hasso Sigbjörnson, der vor der Steuerung die Nachtwache hatte, sah Cliff und Ishmee an. »Während ihr dort zwischenmenschliche Beziehungen pflegt«, sagte er ohne erkennbaren Vorwurf, »haben wir endgültig unsere Milchstraße verlassen. Wir befinden uns im freien Raum; vor uns liegt, nach
Katalogen eindeutig identifiziert, das bewußte Fornax-System. Also scheint deine Theorie, daß wir dort im Kielraum unser zukünftiges Ziel gesehen haben, richtig zu sein.« »Wenigstens eine Gewißheit, Hasso«, sagte Cliff. »Sonst ist die Lage unverändert, ja?« »Völlig unverändert.« »Wir werden morgen mehr sehen können«, schloß der Kommandant. »Soll ich dich ablösen?« Hasso schüttelte den Kopf. »Ich werde mich weiterhin mit dem Plan des Großen Schiffes beschäftigen. Unsere geflüchteten Vorgänger haben teilweise hervorragende Arbeit geleistet. Ich lerne gerade das Schiff auswendig.« Cliff grinste. »Beschäftigungstherapie, Hasso?« »Genau das ist es.« Der Sichtschirm wurde dunkel. Cliff zog, ehe er einschlief, eine kurze Bilanz und versuchte, das richtige Verhaltensmuster zu finden. Es mußte so sein, wie Ishmee gesagt hatte: Die Unbekannten wollten eine Gruppe Menschen in ihre Nähe bringen. Sie bedienten sich dazu einer verwirrenden Technik. Sie schilderten unter Zuhilfenahme der menschlichen Gedanken die Dimensionen und den Weg und schienen damit eine Art Vorbereitung zu betreiben. Trotzdem blieben sie unbegreiflich. Wozu brauchten ausgerechnet die Unbekannten die ORION-Crew? Lebten sie eigentlich noch, oder führte die Steuerkybernetik des Schiffes Befehle aus, die so alt waren wie das Schiff selbst – zehn Jahrtausende und mehr? Bisher hatten sie buchstäblich keine einzige Sekun-
de der Initiative gehabt. Sie waren dem Schiff ausgeliefert wie niemals Menschen zuvor. Die sechs Ameisen in der riesigen Stahlkugel schwiegen, schliefen und dachten nach. Bis zum Tag, an dem sie das Ziel vor sich hatten. * Die gesamte Mannschaft war in dem hohlkugelförmigen Steuerraum versammelt. Cliff schaute auf den Schirm, der von Bord der ORION ausgebaut und samt den nötigen Geräten hier installiert worden war. Er zeigte, nicht ganz so perfekt, aber durchaus erkennbar, ein Bild, das sie schon kannten. Hasso deutete auf das Zentrum des VierzigPlaneten-Systems. »Sigbjörnsons Sonne«, sagte er ruhig und lächelte. »Wir brauchen Namen für das System und seine hunderteinundsechzig Bestandteile. Ich bin dafür, die Sonne so zu nennen. Sigbjörnsons Stern oder Sigbjörnsons Sonne.« Atan Shubashi bewegte nervös den Rechenschieber in seinen Händen und murmelte: »Siebenhundertfünfzigtausend Lichtjahre!« Helga Legrelle konnte ihre Augen nicht von dem faszinierenden Bild lösen. Endlich sagte die Funkerin: »Ich weiß nicht... niemand scheint es bisher bemerkt zu haben. Aber die vierzig Planeten haben Farben. Sie sind so deutlich, daß man sie als Unterscheidungsmerkmal benutzen kann. Abgesehen natürlich von den weißen Wolkenstrukturen. Hier, der innerste Planet: Gelb. Der nächste ist rot. Wieder der dritte ist blau. Der vierte ist braun. Und so weiter.«
Atan legte kameradschaftlich die Hand auf Helgas Schulter und zog das Mädchen kurz an sich. »Unsere kluge Helga!« sagte er. »Sie hat völlig recht. Genauso ist es. Wenn wir Namen für die vierzig Planeten des Systems von Sigbjörnsons Stern suchen, brauchen wir nur Farben anzuführen. Und die Monde vielleicht mit griechischen Buchstaben oder mit Ziffern?« Mario meinte: »Ein gutes Klassifizierungssystem.« Binnen zweier Tage hatte das Schiff, ohne seine Bahn zu verlassen, die Geschwindigkeit immer mehr abgebaut. Jetzt kroch es förmlich dem Planetensystem entgegen, das ›kriechen‹ bezog sich natürlich auf die vorher beobachtete Geschwindigkeit. Der Übergang vom übergeordneten Raum der Schiffsbewegung in den Normalraum war nicht feststellbar gewesen. Jetzt hatten sie genauere Daten. »Also«, sagte Cliff, den eine deutliche Unruhe erfaßt hatte, je näher der einzelne Stern vor dem Fornax-System gekommen war, »wir wissen, daß wir eine dreiviertel Million Lichtjahre geflogen sind, bis wir von der Randzone der eigenen Galaxis hierher kamen. Das System um Sigbjörnsons Stern liegt drei Lichtjahre vor den ersten Sonnen des Fornax. Und das System hat einen Ekliptikdurchmesser von fünfzehn Astronomischen Einheiten.« Sie alle waren aufgeregt und gespannt. Ständig führte Atan, der zu seiner großen Freude endlich einige Bezugspunkte gefunden hatte, Berechnungen durch. Damit konnte er Geschwindigkeiten und Abstände bis auf sehr geringe Werte genau errechnen. »Worauf sich uns die Frage stellt«, sagte Hasso
Sigbjörnson, »zum soundsovielten Mal, was wir tun sollen.« Cliff erwiderte: »Ich bin überzeugt, das Schiff bringt uns dorthin, wohin es will. Ich nehme ferner an, es bleibt im Orbit eines Planeten und versucht, uns durch einen dieser mysteriösen Befehle hinunterzutreiben.« Atan nickte und sagte laut: »Das ist auch meine Meinung. Wir sind noch zehn Lichtminuten und einige Sekunden von der Sonne entfernt und fliegen etwa parallel zur Ebene der Ekliptik in das System ein.« Endlich geschah etwas! »Gut!« knurrte Hasso und sah besorgt nach Cliff. »Warten wir weiter.« Ihre Rechnung hatte fast gestimmt: Heute war der vierundzwanzigste Tag nach dem Betreten des Schiffes. In diesen vierundzwanzig Tagen hatten sie eine größere kosmische Entfernung zurückgelegt als je ein Mensch vor ihnen. Sie hatten den schwarzen Abgrund zwischen zwei Milchstraßen überwunden und hatten in den Empfängern die verwirrenden Modulationen der Statik gehört, die Andree Tissot einmal treffend das ›gräßliche Wispern des Universums‹ genannt hatte. Und jetzt befanden sie sich kurz vor ihrem Ziel... aber was erwartete sie dort? Und – die gesamte Mannschaft hatte sich tadellos gehalten. Es hatte nicht einmal Ansätze zu einer Neurose gegeben. Dadurch, daß sie versuchten, immer tiefer in die technischen Geheimnisse dieser Kugel einzudringen, hatten sie sich, meist in Gruppen zu je zwei Mann, pausenlos beschäftigt. Die zwei Vorteile dieser Be-
schäftigungen lagen auf der Hand: Einmal hatten sie in winzigen Schritten die fremde Technik zu begreifen versucht, gleichzeitig die Natur der Gedanken, die sie bei den Unbekannten vermuten mußten. Zweitens hatten sie sich selbst vor psychischen Schäden bewahrt. Und jetzt standen sie da, sahen, wie das riesige Multisystem näher kam, wie es sich langsam vor der mächtigen Kulisse einer kleinen Milchstraße verschob. Und schließlich bremste das Schiff ab. Von seinem provisorischen Astrogatorenpult aus sagte Atan: »Geschwindigkeit Null, bezogen auf die Fahrtgeschwindigkeit. Bezogen auf die Umdrehung des vierten Planeten entspricht die Geschwindigkeit der eines künstlichen Satelliten. Dasselbe Verhalten wie bei der Position über Australien.« »Verstanden!« sagte Cliff. Helga Legrelle lächelte und fragte: »Und wenn ich mit Atans Rechenschieber niedergeschlagen werde – was tun wir jetzt?« Cliff grinste sein altes Grinsen, das in der Terranischen Raumaufklärung so etwas wie ein Markenzeichen war und antwortete: »Nachsehen, Helga – nachsehen!« Ishmee hängte sich in Cliffs Arm und sagte leise: »Mußt du es tun? Wirklich! Willst du dich umbringen, Cliff McLane?« Cliff schüttelte den Kopf und sah zu, wie Helga, Atan und Mario zusammenarbeiteten, um die Natur des Planeten unter ihnen zu erkennen. »Einer muß es ja tun«, sagte er. »Warum nicht ich?« Wütend sagte das Mädchen mit den goldfarbenen Augen:
»Immer du. Natürlich, Cliff, der Held! Denkst du einmal auch an etwas anderes als an deinen Ehrgeiz?« Während die drei Teammitglieder Daten einholten, die Instrumente ablasen und Notizen machten, fing Cliff einen langen, warnenden Blick von Sigbjörnson auf. Er entspannte sich und sagte besänftigend: »Ishmee! Sie haben uns über eine riesige Entfernung herbeigeholt. Selbst wenn die Unbekannten nicht mehr leben, wissen die Instrumente des Schiffes ziemlich genau, was zu tun ist. Sie haben nicht das Schiff hier über dem dunkelbraunen Planeten angehalten, um einen von uns umzubringen. Und außerdem haben wir schon ganz andere Landungen durchgeführt.« Hasso zog an einer Haarsträhne Ishmees und fügte hinzu: »Ich möchte hier nicht in blindem Optimismus machen, Mädchen, aber ich bin auch Cliffs Ansicht. Abgesehen von Mario, der natürlich seine körperlichen Kräfte einsetzen kann, dürfte Cliff wirklich der beste Mann für diesen Job sein. Wäre ich jünger, würde ich mitgehen – ist dir das eine Beruhigung?« Ishmees Begabung ließ sie die Ehrlichkeit Hassos erkennen. »Ich glaube dir, Hasso«, sagte sie. »Gut, ich werde überstimmt... wie läuft dein ›Nachsehen‹ ab, Cliff?« Cliff zählte auf: »Schwerer Raumanzug mit Waffen, darüber die Expeditionsjacke. Ich nehme die LANCET, um das wertvollere Schiff nicht zu gefährden. Zwei verschiedene Funkgeräte und grenzenloses Selbstbewußtsein.«
»An dem es dir nicht mangelt«, sagte der Astrogator. »Die Sauerstoffversorgung kannst du vernachlässigen; der Planet ist in hohem Maß erdähnlich. Hier sind die ermittelten Daten.« Cliff nahm das Blatt entgegen, las es und gab es an Ishmee weiter. »Die Wahrscheinlichkeit, daß ich dort unten etwas Ähnliches wie Menschen treffe, ist groß«, sagte er. »Helft ihr mir bitte, das Beiboot und mich auszurüsten?« »Selbstverständlich.« Cliff warf einen langen, nachdenklichen Blick auf die farbige, dreidimensionale Analogprojektion der kybernetischen Maschinen, die Mario de Monti erstellt hatte. Dort bewegten sich, modellhaft schneller, vierzig Planeten und hundertzwanzig Monde. Dann verließen die Männer den Raum, um die LANCET startklar zu machen. * Das kugelförmige Landungsboot der ORION VIII schwebte aus der Schleusenöffnung der großen stählernen Kugel. Die vielen konvexen Fenster im oberen Teil glühten auf, als die LANCET den Schlagschatten des Schiffes verließ und ins Sonnenlicht trat. Cliff wußte, daß er viele Stunden selbständigen Handelns gewann, wenn er einen Landstrich ansteuerte, der jetzt im morgendlichen Sonnenlicht lag. Zunächst kippte er die LANCET so, daß er von seinem Steuerpult aus einen guten Überblick hatte. Er justierte die Austrittsöffnungen der Triebwerke, und undeutlich sah er weit vor sich, unter den Kurven
und Spiralen der weißen, lichterfüllten Wolken, einen annähernd runden Kontinent. Seine Grenzen zu einem intensiv blauen, aber schmalen Meer waren ausgefranst und von vielen kleinen Buchten gezeichnet. Der Kontinent war dunkelbraun. Dann schoß die LANCET mit einem Satz nach vorn. Cliff saß im Raumanzug, aber mit ausgezogenen Handschuhen und zur Seite gelegtem Helm vor den Kontrollen. »Cliff an Team: keine Vorkommnisse«, sagte er ins Funkgerät. Marios Stimme kam aus dem Lautsprecher. »Verstanden. Danke.« Cliff bemühte sich, seine Aufregung zu unterdrükken. Er hatte mehr als zwanzig Tage Zeit gehabt, sich auf diese Stunden vorzubereiten, aber in Wirklichkeit war dieser Landeanflug nur reine Routine. Die Schwierigkeiten würden beginnen, nachdem die Landestützen des Beibootes Grund berührt hatten. Die LANCET raste dem Planeten entgegen, wurde von der Schwerkraft ergriffen und beschleunigt. Sie war nur ein winziges Staubkorn vor der Masse dieser dunkelbraunen Welt. Cliff atmete tief durch und hielt die Hebel der Steuerung fest. Er sah die vier Monde des Planeten – Braun I bis IV. Anscheinend nichts anderes als nackte, leere Felsenkugeln, wie auch der irdische Mond. Vielleicht unterirdisch bewohnt – vielleicht nicht. Er flog sozusagen ins Ungewisse hinein und wußte nur, daß etwas geschehen würde. Dieser Zwiespalt zwischen totaler Passivität und dem Bewußtsein, irgendwie
handeln zu müssen, machte ihn gleichzeitig wütend und hoffnungslos. Ishmee hatte recht. Es ging um einen hohen Einsatz. »Vielleicht um den höchsten, den es überhaupt gibt«, murmelte Cliff nachdenklich und sah die Grenzen der Scheibe vor ihm weit aus seinem Sichtbereich hinauswachsen. »Um den menschlichen Verstand.« »Team an Cliff: Was ist los?« fragte Mario. »Nichts. Selbstgespräche«, sagte Cliff und schüttelte den Kopf. »Ich habe einen klaren Landeanflug. Landung etwa in zehn Minuten.« Entlang einer Geraden bewegte sich die LANCET auf ihr Ziel zu. Es war ein Landstrich, der eben erst von der Dämmerung verlassen wurde. Einige hohe Berge warfen lange Schatten, die Hälfte der Wolken, die ziemlich tief hingen, war noch in der Dunkelheit. Cliff schaltete ein halbes Dutzend Detektorgeräte ein. Er kontrollierte die Anzeigen. Alles, was er erkannte, war ein Abstand von zwanzigtausend Metern vom Boden, sonst nichts. Kein Anzeichen von Funkverkehr, keines von einem Sender, der ihn direkt anrief. »Alles klar«, sagte er ins Mikrophon. Dann bremste er das erste Mal die Fahrtenergie weg. Die ersten Luftpartikel trafen auf die LANCET, allmählich wurde die Atmosphäre dicker, und im gleichen Maß drosselte Cliff die Geschwindigkeit. Er beobachtete sorgfältig die Instrumente, aber er sah nichts. War dieser Planet ›menschen‹leer? Er würde es bald wissen. Jetzt erfaßte ihn die Spannung erst richtig. Er merkte, wie seine Muskeln zuckten, sämtliche moto-
rische Nerven waren in Aufruhr. Entweder stand er in wenigen Minuten einer Rasse gegenüber, die unfaßbar mehr als der Homo sapiens war, oder er fand Ruinen oder – nichts. Der einsame Mann hinter den Kontrollen verscheuchte die peinigenden Gedanken und betätigte die Hebel, brachte die LANCET in die richtige Stellung in bezug auf den Boden, lauschte auf das unverkennbare Geräusch der Atmosphäre und bremste weiterhin. Dann brach das Beiboot durch die grauen Schleier der Wolken, und unter McLane erstreckte sich die Landschaft. »Cliff an Team«, sagte er sofort. »Es ist eine wunderschöne Märchenbuchlandschaft. Bisher ohne anthropogene Merkmale.« Atan fragte dazwischen: »Anthro – was?« »Keine Spuren einer Besiedlung. Ich habe im Moment mit der Landung zu tun, Höhe über Grund sechs Kilometer... fünfeinhalb... fünf.« Die LANCET sank einem flachen Tal entgegen. Cliff spähte scharf nach unten, zuerst durch eines der halbkugeligen Fenster, dann sah er den Boden auf dem Spezialschirm vor ihm. Er suchte sich einen Platz aus, erarbeitete einige Grobwerte, und als er nur noch vierhundert Meter hoch war und die volle Bremsbeschleunigung einwirkte, entdeckte er einen geeigneten Landepunkt. Er lag am Rand eines kleinen Wäldchens, das seinerseits den Raum innerhalb eines Flußmäanders ausfüllte. Vor dem Wald war eine Fläche, die den Eindruck frisch gestutzten Rasens machte. »Ich lande.«
»Wir erbitten Sichtfunkverbindung und Rundblick. Bildaufzeichner laufen«, sagte Mario. Ishmees Stimme schlug aus dem Lautsprecher, als sie sich hastig und besorgt einschaltete. »Cliff!« »Einen Augenblick!« sagte er, führte mit ausgefahrenen Landestützen einen kurzen Schwebeflug durch und visierte genau den Rasen an. War es wirklich bearbeiteter Rasen? »Ich setze auf.« Vorsichtig, wie eine Feder, berührten die vier Landestützen den Boden, sanken einige Zentimeter ein und faßten dann. Die LANCET stand auf dem Boden des Planeten Braun, im System der vierzig Planeten. »Cliff!« Cliff antwortete, während er eine Reihe von Instrumenten abschaltete und nur die Fernsteuerung und das Funkgerät angeschaltet ließ: »Ich fühle mich wohl. Schwerkraft ist richtig errechnet worden, Atan. Die Detektoren zeigen atembare Luft an. Hier kommt der Rundblick, ihr werdet ebenso viel oder wenig sehen wie ich. Ich bin aufgeregt – aber sonst ist bisher nichts geschehen.« Er blickte, während sich die automatischen Linsensätze drehten und das Bild erfaßten, aus den Fenstern hinaus, aber alles, was er sah, war eine Landschaft im Morgenlicht. Es hätte, wären nicht die Farben gewesen, eine irdische Landschaft sein können. Alles wirkte gepflegt und sauber, wenig natürlich... und der Verdacht, er sei in einem gigantischen Park gelandet, verstärkte sich. Cliff fieberte dem Aussteigen entgegen. »Guter Empfang!« kommentierte Mario atemlos. »Ja. Ich bin auf den Empfang gespannt, den ich hier
haben werde«, knurrte Cliff und klemmte die Fernsteuerung an seinem Handgelenk fest. Dann zog er die gelbe Expeditionsjacke an und schloß die Säume der Handschuhe an den Metallstreifen des Raumanzugs an. »Der Helm.« Er setzte den Helm auf, schloß die Blende und aktivierte die Versorgungseinrichtungen. Obwohl er wußte, daß dort draußen, nur durch wenige Millimeter Stahlblech von ihm getrennt, eine gut atembare Luft wartete, wollte er kein Risiko eingehen. Er sah sich um, kontrollierte die Anzeigen ein zweitesmal durch und öffnete dann die kleine Schleuse. Die Leiter klappte nach unten – dreißig Sekunden später stand Cliff auf dem Boden. Erdgleiche Schwerkraft herrschte. Er bückte sich und fuhr mit den Fingern über das hellblaue Gras, das mit braunen Dolden durchzogen war. Die Spitzen der Gräser waren waagrecht gekappt. »Cliff an Team. Ich entdecke eben frischgeschnittenen Rasen«, meldete er. »Vorsicht!« »Ja, danke.« Er entfernte sich zwanzig Meter landeinwärts vom Landungsboot. Er kam an den Rand der Graszone, und ein breiter Streifen Sand begann. Der Sand sah aus wie dunkler, gemahlener Bernstein. In der Ferne, etwa zwei Kilometer entfernt, erhob sich ein Berg, dessen Hälfte noch im Schatten lag. Cliff drehte sich um, sah die LANCET wie einen unerwünschten Fremdkörper vor den roten Bäumen stehen und versuchte, eine weitere Abweichung von der gedanklichen Norm festzustellen. Nichts.
Er ging weiter. Nachdem er zwanzig Meter gegangen war, veränderte sich die Szene binnen einiger Sekunden. Cliff kam in eine Welt aus einem Alptraum... vielmehr diese Welt kam zu ihm. Rings um ihn wuchsen plötzlich Felsen aus dem Boden wie Pflanzen; in allen Farben. Es sah aus, als würde eine riesige Hand die Steine aus dem Boden rammen und um ihn herum aufpflanzen. Er drehte sich um, aber schon jetzt war der Blick zum Beiboot von einigen der Felsnadeln versperrt. Sie hatten alle Farben, waren durchlöchert wie uraltes Gewebe oder bröckelten in Form langer, gefährlicher Splitter ab. Eine Szenerie des Grauens tat sich vor dem Mann auf. »Ich rufe das Team«, sagte er laut in sein Helmmikrophon. Keine Antwort. Das Funkgerät war tot. Er ging geradeaus und hoffte, der Spuk würde bald aufhören. Die Felsen wurden zahlreicher und verwandelten sich in ein vielfarbiges Labyrinth, in dem zahllose Lichter funkelten, als ob Diamanten an den Felsen säßen. Jedesmal, wenn er dachte, eine Gasse oder einen Weg gefunden zu haben, schoben sich neue Formationen aus dem Boden und versperrten ihm den Weg in diese Richtung. Von überhängenden Felsnasen lösten sich Splitter und bohrten sich wie Speere in den Boden. Eine zerklüftete Felsbrücke tat sich auf, und Cliff stolperte hindurch. Das Sonnenlicht fiel jetzt senkrecht herunter... war er wirklich schon so lange in den Felsen, oder begann sich der Wahnsinn auszubreiten? Er stolperte weiter – hilflos, wie eine Maus im Testkäfig.
Vorwärts, zur Seite, nach links oder rechts, wieder neue Hindernisse. Er blinzelte, ging zögernd weiter. »Eine Traumlandschaft!« murmelte er. Noch konnte er vernünftig denken. Er sah deutlich, hatte deutliche Empfindungen und mehr Fragen als je zuvor. Traumlandschaft... war das eine Lösungsmöglichkeit? Was hatte es für einen psychologischen Hintergrund, wenn man von einem Labyrinth von Felsen träumte? Ausweglosigkeit? Beginnender Wahnsinn? Er wußte es nicht. Die warnenden Worte von Ishmee kamen ihm in den Sinn: Versuche, die Ereignisse mit gebührender vernünftiger Naivität zu betrachten. Er bewegte sich weiter, stützte sich an den Felsen ab und ging im Zickzack durch die schmalen Gassen zwischen den Spitzkegeln aller Formen. Er bewegte sich durch einen steinernen Wald, aus Steinbäumen ohne Kronen und ohne Schatten. Hin und wieder wich er einer Nadel aus, die sich dicht vor ihm oder neben ihm mit einem häßlichen Geräusch in den Boden bohrte. Dann sah er Schatten. Sie kamen jetzt von links, ein schneller Blick überzeugte ihn, daß die Sonne bereits im Abend stand und sich dem Horizont näherte. »Vergeht hier der Tag schneller, oder ist mein Zeitempfinden gestört?« fragte er. Er bekam keine Antwort. Nur die Dunkelheit nahm zu, und vierzig Schritte weiter befand er sich in einem schwarzen Labyrinth. Jetzt aber kamen die Farben der Nacht; die drei Farben der Monde. Drei Schatten bewegten sich – ein gelber, ein roter und ein hellblauer. Nach kurzer Zeit kam der vierte hinzu; ein giftiges, tödliches Grün. Die
vier Farben spielten auf den Felsennadeln und verzauberten die Schatten. Selbst wenn Cliff die Augen schloß, sah er diese merkwürdigen Lichter. Er macht einen weiteren Versuch. »Ich rufe die ORION-Crew!« sagte er laut. Plötzlich, unerwartet, knackte der kleine Innenlautsprecher. »Hier Hasso Sigbjörnson. Ich bin der letzte Überlebende der ORION, Cliff!« sagte er mit einer Stimme, die aus dem Grab zu kommen sehen. Cliff erstarrte und lehnte sich an einen Felsen. Eine splitternde Nadel, wie ein riesiger Eiszapfen, jagte auf ihn zu, prallte mit einem heftigen Schlag von der Chromschale seines Schultergelenks ab und zersplitterte am Boden zu einer Staubfontäne, aus der winzige Nadeln nach allen Seiten sprangen. »Was hast du da gesagt...?« flüsterte Cliff. »Ich habe mich in die... ORION... geschleppt«, sagte Hasso. »Irgendeine Seuche hat sie umgebracht. Zuerst Ishmee, dann... die anderen. Ich sterbe auch... was soll ich tun?« »Hasso!« Schweigen. Dann flüsterte der Bordingenieur: »Ich sterbe... Cliff!« Ein splitterndes Geräusch ertönte, dann brach die Verbindung ab. Cliff stand da und rührte sich nicht. Er fühlte, wie langsam die absolute, abgrundtiefe Resignation vom ihm Besitz ergriff. Sie waren alle tot, innerhalb eines einzigen Tages gestorben, jetzt auch Hasso. Cliff hörte im Schweigen das Rauschen seines eigenen Blutes und seinen Herzschlag. Ishmee und Mario, Helga und Atan... alle tot. Das Große Schiff
hatte zugeschlagen und ein giftiges Virus ausgeworfen, anders konnte es nicht sein. Erst vor kurzem hatte die ärztliche Routineuntersuchung in Basis 104 ergeben, daß sie alle gesund... Cliff verscheuchte diese nebensächlichen Gedanken. Er mußte handeln, aber konnte er das? Nicht, bevor er aus diesem höllischen Labyrinth herausgekommen war. Die ORION-Crew tot! Gleichzeitig war der Sinn seines Lebens gestorben. Vielleicht traf ihn einer dieser Zacken, und er starb hier... Halb besinnungslos vor Schmerz und Wut auf die Unbekannten taumelte er weiter, durch die Felsen, durch die vier verschiedenen Farben, die eine irrsinnige Mischung ergaben, wenn sich ihre Begrenzungen trafen. Immer weiter, fast blind und keuchend. Er war dem Wahnsinn nahe. Ein Begriff tauchte auf und schwebte in seine Überlegungen. Ein Traum. War es wirklich ein Traum? Nur ein Traum? Und wenn, wozu diente er? Ihn wahnsinnig zu machen. Nein. Das Funkgerät ließ sich nicht beeinflussen; es war eine autarke technische Einrichtung, die keinen Manipulationen zugänglich war. Jedenfalls keinen von Menschenhand. Aber waren diese Unsichtbaren, die hier eine Zone des Wahnsinns schufen, denn noch Menschen? Cliffs Gedanken überschlugen sich, wurden wirrer, und jetzt merkte er es nicht einmal selbst, daß er dem Wahnsinn näher war als je zuvor. Hier hatte er es nicht mit einem greifbaren Gegner zu tun. Nicht einmal die Extraterrestrier, die damals Wamsler, Villa und die gesamte Erde unter dem verharmlosenden Namen Frogs beunruhigt hatten, waren ähnlich gewe-
sen wie diese Erscheinungen hier. Felsen, die plötzlich aus dem Boden erschienen – er merkte es nicht, wie er langsam in den Wahnsinn hinüberglitt wie in den Schlaf. Sein überlastetes Hirn schaltete plötzlich ab, und, schwach vor Müdigkeit, lehnte sich Cliff gegen einen massiven Felskegel und schlief ein. Und erwachte. Mitten im hellen Licht eines Morgens. Er richtete sich aus der halb sitzenden, halb liegenden Stellung auf und murmelte: »Verdammt! Wo bin ich, wo sind die Felsen?« Er lag auf einem goldenen Moospolster, das kaum weniger hoch als einen halben Meter war. Über ihm streckte sich eine Pflanze, die eine Kreuzung zwischen Gras, Blume und Baum war. Federnde, schwarze Äste und rote, fleischige Blätter mit weißen Blüten und Früchten daran. Die Felsen waren verschwunden. Ich muß gerannt sein, während ich glaubte, eingeschlafen zu sein, dachte er voller Grausen. Der Hals schmerzte von der Innenblende des Helmes. Cliff schüttelte langsam den Kopf, zog dann die schwere Gasdruckwaffe aus der kunstledernen Hülle und entsicherte die Pistole. Dann löste er mit einer schnellen, entschlossenen Bewegung den Helm vom Anzug, stellte die Versorgungssysteme ab und versuchte, einen langen Atemzug zu tun. Er zog köstliche, frische und kühle Luft in seine Lungen und hustete ein bißchen. Vorsichtig, mit schmerzenden Gliedern, stand er auf. Das Funkgerät war nach wie vor eingeschaltet, aber nicht einmal das Rauschen der Statik ertönte. Er sah sich vorsichtig um. »Ein Wald!« murmelte er.
Ein hundertfaches Echo begann um ihn zu schreien. »Ein Wald... ein Wald... Wald... ald... ald...!« Der Echowald umgab ihn ähnlich wie die Felsen. Die Blätter zeigten nur wenig Himmel, aber der Himmel war nicht blau, sondern von einem gletscherfarbenen Grün. Die schwarzen Stämme waren blätterlos, und Cliff konnte zwischen ihnen hindurchsehen. Er ging langsam geradeaus, den Helm unter den linken Arm geklemmt, die Waffe in der Rechten. Zehn Meter geradeaus. Die Stämme verschoben sich. Weitere zwanzig Meter über die goldenen Moospolster. Jetzt tat sich weit vor ihm eine Lücke auf. Er sah plötzlich Metall. »Ein altes Schiff?« fragte er sich. Wieder tobte das Echo um ihn herum wie eine Schar entfesselter Mänaden. Cliff ging geradeaus. Dort, etwa einen Kilometer entfernt, sah er das Gerüst eines weißen, ausgeglühten Schiffes. Die Träger waren hoffnungslos zerschmolzen, aber er erkannte deutlich, daß das Schiff einmal Keilform gehabt haben mußte. Die Stämme des merkwürdigen Waldes schoben sich weiter auseinander, und schließlich hörte Cliff etwas. Jemand rief. Eine helle Stimme, die er nie in seinem Leben gehört hatte. »Cliff!« Das Echo vervielfältigte seinen Namen. Und als Cliff den Schatten des Waldes verließ, als rechts und links von ihm nur noch zwei der Schattenbäume standen, sah er denjenigen, der ihn angerufen hatte. Cliff McLane sah das Kind.
4 Cliff Allistair McLane senkte die Waffe, trat überrascht einen Schritt zurück in den Schatten des Echowaldes und betrachtete die Szene, die aus einem anderen grotesken Traum stammen mußte. In der stechenden Mittagssonne stand zwischen dem Wrack des verbrannten Schiffes und dem kleinen Wald ein Kind. Etwas störte Cliff an diesem Bild, selbst dann, wenn er es nicht als real betrachtete. Das Kind wirkte auf eine unbeschreibliche Weise alt. Das Kind winkte kurz und wiederholte: »Cliff?« Wieder badete das Echo den Kommandanten in der schillernden Lautfolge. Als sich der Widerhall endlich gelegt hatte, sagte Cliff mit einer Stimme, die er nicht als seine identifizierte: »Ja?« Jetzt begann der Spuk auch noch relativ sinnvoll zu reden, dachte er. Ich muß während des Schlafes oder der Ohnmacht nicht nur gewandert sein, sondern ich bin auch noch verrückt geworden. Da er der einzige Überlebende der ORION-Crew war, spielte es natürlich auch keine Rolle mehr. Er hatte nur noch den dringenden Wunsch, sich in irgendein Dunkel zu verkriechen, die Augen zu schließen und die Ohren zuzuhalten. Er war wahnsinnig geworden, das erkannte er mit einem Rest seines normalen Verstandes. Schlagartig überfiel ihn wieder der stechende Schmerz um den Verlust seiner Freunde. Und um Ishmee. Schließlich merkte er, daß das Kind und er sich stundenlang angestarrt hatten. Es war früher
Nachmittag – bei einem Planeten, der nicht ganz sechsundzwanzig irdische Stunden für eine Umdrehung gebraucht hatte. »Du bist der, den unser Schiff gebracht hat?« fragte das Kind. Die Stimme eines etwa zwölfjährigen Mädchens war anders; das erkannte er immerhin noch. Diese hier war moduliert und beherrscht; die Stimme eines Menschen, der mit ihr spielen konnte wie mit einem feingestimmten Instrument. »Ja«, sagte Cliff krächzend. »Du fürchtest dich?« fragte das Kind. Cliff überlegte, dann sagte er: »Nein.« Das Kind kam langsam näher. Obwohl es nur i n e inen weißen Chiton, in einem hemdartigen Kleid, das an beiden Schultern befestigt und durch einen Schmetterling gehalten war – oder durch ein Geheimnis aus blauer und goldener Farbe, das wie ein irdischer Schmetterling aussah –, gehüllt war und man die Beine sehen konnte, konnte Cliff nicht feststellen, ob sich die Füße wirklich bewegten oder ob sie nur mit der Haut leicht das goldene Moos berührten. »Nein?« fragte das Kind. »Meine Freunde sind tot«, sagte Cliff leise und räusperte sich mehrmals. »Und ich bin wahnsinnig geworden. Ich habe nichts mehr zu verlieren... deshalb habe ich keine Furcht.« Das Kind sagte: »Ein interessanter Aspekt, der irgendwann einmal durchdacht werden sollte. Jedenfalls fühlst du dich nicht sonderlich gut. Oder befinde ich mich in einem kleinen Irrtum?«
Cliff starrte das Mädchen, das etwa zwölf Jahre alt war und Sätze bildete wie ein Doktorand der Philologie, entgeistert an, dann schluckte er. Da er verrückt war, brauchte er sich nicht zu wundern, daß in seinen Vorstellungen derartige Kombinationen erschienen; für Wahnsinn, der mit Halluzinationen dieser Art einherging, war die Erscheinung normal. Aber immerhin konnte er so tun, als ob er sich mit diesem Mädchen unterhalten wollte. Er steckte die Waffe entsichert zurück und fragte leise: »Wer bist du?« Das Mädchen kam noch näher und blieb einen Meter vor Cliff stehen. Es hatte rote Augen und hellblaues, seidenweiches Haar. »Ich bin Cendr«, sagte sie. »Und du?« Er fuhr sich über das Kinn. Es gab ein Geräusch, als ob er über Schleifpapier fahren würde. »Ich bin Cliff Allistair McLane. Ich bekleide einen ziemlich hohen Rang in unserer Raumflotte. Weißt du, was eine Raumflotte ist?« Das Mädchen lächelte verzeihend. Verzeihend! »Du meinst vorwiegend aus Metall konstruierte Raumflugkörper, die in der Lage sind, schneller oder langsamer als das Licht, je nach Notwendigkeit, eine längere Strecke durch das All zu fliegen? So etwas wie das dort?« Cendr drehte sich halb herum und deutete auf das ausgebrannte Schiffswrack. Cliff glaubte, seinen Ohren nicht mehr zu trauen. »Ich soll dich ins Haus bringen«, sagte Cendr plötzlich und lächelte wieder. »Du wirst dich etwas frisch machen wollen, ehe Cornst dich longten wird.«
Cliff fragte grinsend, denn es war ja nur ein Spiel, das in seinem kranken Geist stattfand: »Was wird Cornst von mir wollen? Longten? Was ist longten? Wer ist Cornst?« Das Mädchen zuckte die Schultern. Die Schmetterlinge erhoben sich und ließen sich wieder nieder. Cliffs Kiefer sank nach unten, als er das sah; solche Träume hatte er noch niemals gehabt. Nunmehr war es klar, daß sein Verstand gelitten hatte. »Cornst ist mein Vater«, sagte das Mädchen. »Ihm gehört diese Landschaft hier. Er wird dich unbedingt longten wollen.« Cliff blinzelte verwirrt und fragte weiter: »Was ist longten, Cendr?« »Alles«, sagte sie leichthin. »Sehen, sprechen, denken, miteinander plaudern, sich kennenlernen... das ist longten.« Cliff holte tief Luft und sah sich um. Vor ihm das Kind, hundert oder hundertfünfzig Meter hinter dem Mädchen war das weißliche Gerüst des Wracks. Einige sanfte Hänge, das kleine Flüßchen und mehrere Gruppen jener rotblättrigen Bäume. Es war nichts sonst zu sehen, weder ein Haus noch ein Weg. Eine merkwürdig geordnete Traumlandschaft. Ein Gedanke schoß durch sein gemartertes Hirn und hakte sich fest. Cliff fragte leise: »Woher kennst du meine Sprache, Mädchen?« »Ich fand sie in deinen Gedanken«, erklärte Cendr. »Du fandest sie in meinen Gedanken...«, wiederholte Cliff erstaunt und nachdenklich. »Was hast du dort noch gefunden?« Sie lächelte ihn an und erwiderte: »Angst, Schrecken, viel Nachdenklichkeit und eine
große Verwirrung. Aber wir wollen ins Haus gehen – es wird kühl und dunkel.« Cliff drehte den Kopf und sah hinter den Bäumen Sigbjörnsons Stern eine Handbreit über dem welligen, braunen Horizont schweben. Der Abend wurde dunstig, und die Sonne verwandelte sich in eine riesenhafte, orangefarben glühende Kugel. Eine milde Ruhe legte sich über die Landschaft, die von einer unechten Natürlichkeit war. »Ins Haus, ja. Wo ist das Haus?« Das Mädchen machte einige Schritte, nahm Cliff an der Hand und deutete auf eine Baumgruppe. »Dort«, sagte Cendr. Cliff erschrak tödlich. Sein Gesicht wurde fahl, und seine Beine versagten den Dienst. Mit zitternden Knien blieb er stehen. War es ein Traum, überlegte er, so hatte er keinen Grund, zu erschrecken. War es aber eine Spur von Wirklichkeit, dann war er wahnsinnig. Dort, neben der Baumgruppe, auf Stelzen gegen den Hügel gebaut, stand ein Haus. Er sah es deutlich; zwei Scheiben, waagrecht, zwischen denen Glaswände oder gläserne Flächen im Licht des Gestirns leuchteten. »Das Haus!« keuchte er auf. »Möchtest du es an einer anderen Stelle haben? Wir haben gern Gäste, weil wir selten Gäste haben. Wir tun alles für unsere Gäste«, sagte das Kind. »Besonders für jene, die uns ähnlich sehen oder gar so sind wie wir.« Das Mädchen deutete auf die Flußbiegung, und dort erschien für einige Sekunden ein Haus, anders geformt. Oder auf die schrägen Felsen hinter einem mächtigen Baum mit einer spitzkegeligen Krone; ein
anderes Haus, eine andere Form, die sich an den Baumstamm schmiegte wie ein Tuch. Oder dort? »Möchtest du das Haus im Wald haben?« fragte Cendr. Sie deutete in die Richtung, aus der Cliff gekommen war. Plötzlich stand dort ein Haus, das ebenso wie die anderen aus zwei Flächen bestand, einer Bodenplatte und einer Decke. Es wand sich wie eine Schlange zwischen den Baumstämmen hindurch und paßte sich an. Ein neuer Begriff tauchte in Cliffs Überlegungen auf und verankerte sich: absolute Anpassung. »Nein!« antwortete er nach einer Weile mühsam beherrscht. »Ich finde, das Haus am Hügel war die beste Lösung.« »Wie du willst!« sagte das Mädchen und ging mit Cliff auf den leeren Hügel zu. Nach einigen Schritten erschien das Haus dort wieder, und die Glasflächen spiegelten das Licht der untergehenden Sonne wie eine riesige, gekrümmte Platte. Cliff versuchte mit aller Kraft, dem Ansturm seiner Gedanken und Überlegungen zu widerstehen und ging mit Cendr an der Hand auf das Haus zu. Nach einiger Zeit sagte er verwundert: »Es ist leer!« Das Kind warf ihm einen langen, zweifelnden Blick zu. Dann sagte Cendr: »Es ist, wenn du es betrittst, voll von deinen Gedanken. Es ist alles darin enthalten, was du brauchst.« Cliff blieb erneut stehen, nachdem sie den Rand des Hügels erreicht hatten und sah sich um. Die Sonne war nur um ein weniges tiefer gesunken. Wenn
ihn seine Zeitempfindung nicht trog, war jetzt der Tag länger, lief jetzt die Zeit langsamer ab; aber selbst das wußte er nicht einmal genau. Durch das frisch geschnittene Gras gingen sie den Hügel hoch, und einer der Schmetterlinge löste sich von der Schulter des Mädchens und flatterte davon. Er verschwand neben dem ersten Ast des Baumes zwischen den Blättern. Jetzt standen sie vor den drei Meter hohen Glasflächen, und Cliff dachte sich, daß man wohl eine Tür brauche, um ins Innere des Hauses zu kommen. »Du suchst etwas?« fragte das Mädchen mit kindlichem Spott. Cliff schwieg. Vor ihm öffnete sich die Glasfläche und hinterließ eine abgerundete Öffnung von zwei Metern Höhe und eineinhalb Metern Breite. Cliff ging darauf zu, und plötzlich spürte er ein Zerren an seiner linken Hand. Das Mädchen versuchte, seine Hand aus Cliffs behandschuhter Pranke zu ziehen. Er ließ augenblicklich los. »Ich werde Cornst sagen, wo ich dich untergebracht habe«, versprach Cendr und hob die Hand. »Wie gesagt: alles ist in dem Haus enthalten. Du wirst niemals in deinem Leben mehr brauchen.« Cliff nickte und ging durch die Öffnung. Er starrte auf die Stelle, an der vor einem Sekundenbruchteil noch das Mädchen gestanden hatte, aber er sah nur den anderen Schmetterling, der auf die nahen Bäume zuflatterte. Cendr war verschwunden. Cliff McLane, der den Irrsinn wie eine drohende, schwarze Mauer auf sich zutreiben ließ, ging ins Haus hinein. Er dachte daran, daß sich Türen hinter
einem Gast schließen müßten, und hilflos sah er zu, wie sich die Glasfläche wieder schloß. Er sah sich jetzt einer runden Fläche gegenüber, einem zylindrischen Raum, der einen Ausblick nach allen Seiten gestattete. Von Westen drang das letzte Sonnenlicht herein und verwandelte den Innenraum in eine von rotem Licht ausgeleuchtete Bühne. Cliff brauchte einen Tisch, um Handschuhe und Helm ablegen zu können, und unvermittelt stand oder schwebte eine rechteckige Platte fünfzig Zentimeter über dem Boden. Sie war, wie Cliff feststellte, aus massivem Stein und an der Oberfläche mit einem unbekannten Fries verziert. »Alles ist in dem Haus enthalten«, sagte Cliff. Seine Stimme hallte wider. Er öffnete die Säume des schweren Raumanzugs und hielt inne. »Ein Sessel, ein Haken für den Anzug, eine Dusche, Essen und Getränke und Beleuchtung.« Er wich zurück, als ein wuchtiger Sessel neben dem Tisch stand, als sich rechts neben ihm eine Duschkabine errichtete, die futuristischer aussah, als er es glauben wollte. Ein Gitter mit verzierten Haken stand aufrecht im Raum, und auf dem Tisch stand plötzlich Geschirr. Gerüche durchzogen den Raum. Cliff schluckte. »Das hätte Ishmee erleben sollen«, sagte er, zog den Anzug vollends aus und ging mit schleppenden Bewegungen zur Duschkabine. Ein Element oder ein Stoff in der Luft schien seine Gedanken aufgefangen zu haben, denn die Wände der runden Kabine verdunkelten sich, und als er ohne Kleidung dastand, regnete es von der Decke. Zuerst warm, dann immer heißer, schließlich wieder kälter, bis ihn einige eisige
Strahlen trafen. Gleichzeitig schien dem Wasser ein reinigendes, duftendes Mittel beigemischt worden zu sein, während er spürte, wie sein Schweiß abgewaschen wurde, roch er die Duftstoffe. Einige warme Luftwirbel trockneten ihn ab. Er spielte mit seinen Gedanken, spielte mit dem rätselhaften Haus. »Ein weißer Frotteemantel«, sagte er laut. Er hatte ihn am Körper, noch ehe er das Wort ausgesprochen hatte. Ein weicher, dicker Stoff, völlig neu, wie eben erst gewebt. Cliff konnte, als er an sich heruntersah und den kimonoähnlichen Schnitt des Mantels identifizierte, keine Öffnung erkennen. Dann fiel ihm auf, daß bei einem gewünschten Gegenstand die Arbeit des An- und Ausziehens wegfiel. Diese Gedanken bewahrten seinen Verstand davor, die messerscharfe Grenzlinie zwischen Normalität und Irrsinn zu überschreiten, ohne daß er es wußte. Er ließ sich in den Sessel fallen, schloß gequält die Augen und fühlte, wie ihn der Sessel massierte, streichelte, beruhigte. Erst jetzt ging die Sonne unter. Cliff öffnete nach einer Weile die Augen und sah, daß Tisch und Sessel in einem milden Glühen, in einer Art Wolke aus Licht standen. Der Kommandant wußte buchstäblich nicht, was er tun sollte, tun konnte. Er war restlos demoralisiert. Endlich rührte er sich. Er sah auf dem Tisch ein dickwandiges Glas, das zu drei Vierteln mit einer goldgelben Flüssigkeit gefüllt war. Sie roch aromatisch; er konnte dies feststellen, als er das Glas hob. Er probierte einen Schluck. Alles schien in der Flüssigkeit enthalten zu sein: Al-
kohol, Traubenzucker und Nährstoffe. Nachdem Cliff das Glas geleert hatte, schwand ein Teil seines Unbehagens. Auf dem Tisch fand er einige Früchte und Dinge, die wenig Ähnlichkeit mit irdischen Speisen hatten, aber ausgezeichnet schmeckten. Cliff aß und trank, bis sämtliches Geschirr leer war. Dann lehnte er sich wieder zurück. »Ein Traum?« fragte er laut. »Ist das alles ein Traum?« Niedergeschlagen dachte er an Atan Shubashi, den Mann mit der guten Laune, an Hasso, den Zuverlässigen und an Mario, der auf seine Art einer der besten Freunde sein konnte, den man je gehabt hatte. Helga Legrelle... auch tot; mit ihr war die leise, unterdrückte Verliebtheit gestorben, die sie Cliff entgegenbrachte. Und Ishmee. Das Mädchen der anderen Rasse, die er auf der Kiesbank auf Range III kennengelernt hatte. Nur er war noch übrig. »Was bleibt jetzt zu tun?« fragte er sich. Er gab sich die Antwort selbst. »Ich warte, bis mich die Traumgestalt Cornst longten wird.« Er dachte das Geschirr vom Tisch weg, dachte eine Liege und sah ohne sonderlich großes Erstaunen, wie die Gegenstände verschwanden, beziehungsweise erschienen. Er ging hinüber zu der Liege, dachte ein milderes Licht und streckte sich aus. Der dunkelbraune Planet mit seinen vier Monden war eine Welt, deren Geheimnisse das Fassungsvermögen der Menschen überstiegen. Selbst ein Kind konnte McLane in Erstaunen versetzen. Und jetzt wartete er auf Cendrs Vater.
5 Er wartete nicht länger als eine Stunde seiner Rechnung. Als er den Kopf drehte, sah er den Mann, der im Sessel saß und Cliff aufmerksam anschaute. Der Mann war mindestens ebenso groß wie Cliff, trug eine enggeschnittene, weiße Hose über weißen Stiefeln und eine Jacke, deren Gewebe golden schimmerte. Der Schnitt der Jacke war außerordentlich kühn. Der Mann lächelte kurz und fragte: »Du bist Cliff Allistair McLane vom Planeten Erde?« Es war wie eine Frage in einem dummen futuristischen Fernsehspiel. Cliff versuchte mühsam ein Grinsen und sagte: »Ja. Der arme Kommandant, dessen Verstand von euch hier strapaziert wird. Und du, die Traumfigur, bist Cornst?« Der Mann stand auf. Er war schlank, grauhaarig mit silbernen Augen. »So ist es«, sagte er. »Fühlst du dich wohl?« Cliff schüttelte den Kopf und inspizierte seinen rätselhaften Gastgeber. Er unterzog alles, was er sah, einer genauen Prüfung. Unter dem Anzug schien, wie schon bei Cendr, ein Mensch zu stecken. Ein Mensch wie Cliff oder Ishmee. »Nein«, antwortete Cliff und machte keine Anstalten, sich zu erheben. »Nein? Ach, ich glaube – diese Erscheinungen hier alle verwundern dich etwas?« fragte Cornst ruhig. In seinem Gesicht erschien ein amüsiertes Lächeln. Cliff sah dieses Lächeln und hätte den Mann dafür um-
bringen können. »Sie verwundern mich nicht«, sagte Cliff. »Sie haben mich wahnsinnig werden lassen.« Der Mann zog in einer durchaus menschlichen Geste die Brauen hoch. »Wahnsinnig?« »So ist es«, sagte Cliff. »Eine Frage, bevor wir uns unterhalten. Bist du, oder sind Sie wirklich, real, oder handelt es sich hier um einen Traum oder um Halluzinationen?« Cornst sagte nach einigen Sekunden, tief nachdenklich: »Wir hätten daran denken sollen. Die Uraceel sind nicht die Rasse, der du entstammst.« Cliff verstand kein Wort. »Ist es eine Halluzination?« fragte er etwas lauter und setzte sich auf. Er bohrte seinen Blick in die silbernen Augen des Mannes vor ihm. »Jetzt ist alles normal. So wie jetzt ist der vierte Zentralplanet immer.« Cliff nickte und fragte weiter. »Jetzt ist der Planet normal. Das bedeutet, daß die Erlebnisse kurz nach meiner Landung nicht normal waren. Also waren sie Halluzinationen?« Cornst antwortete bereitwillig, ohne seine abwartende Haltung zu verändern: »Es war ein Mittel, das wir als Schutz gegen die Uraceel errichtet haben.« »Wer sind die Uraceel?« fragte Cliff. »Unsere Feinde. Genauer gesagt... aber das wirst du erst später erfahren.« Cliff dachte sich ein volles Glas, ergriff es und trank es halb leer. Dann stand er auf und blieb zwei Meter
vor Cornst stehen. Die Männer waren gleichgroß, und zwischen ihnen breitete sich ein gespanntes Schweigen aus. Sie musterten einander, und jeder versuchte, den anderen schweigend kennenzulernen. Das bedeutete, dachte Cliff blitzschnell, daß Cornst seine Gedanken nicht lesen konnte. Er vermochte zwar festzustellen, welche »Speicherinhalte« verwendbar waren, aber sicher nicht die konstruktiven Gedanken erkennen. »Warum bin ich hier?« fragte Cliff. »Du bist mit dem Schiff gekommen?« Cliff nickte und drehte das Glas in seinen Fingern. »Wenn diese riesige stählerne Kugel, die genau über uns im Weltraum schwebt, das ›Schiff‹ ist... ja.« »Wir meinen dasselbe«, sagte Cornst. »Was ist die Aufgabe dieses Schiffes, oder genauer: Was war die Aufgabe der stählernen Kugel?« erkundigte sich Cliff schnell. »Sie kam aus einer anderen Milchstraße und brachte die Rassen über das Universum«, sagte Cornst. »Auch deine Rasse?« fragte der Kommandant. »Ja, auch die Menschen des Zentralsystems. Allerdings wesentlich früher als die der Erde. Nur wenige der ausgesetzten Rassen überlebten. Die Aashap starben aus, von den Turceed gibt es nur noch wenige Exemplare, obwohl sie von euch gerettet worden sind, die Terraner haben überlebt und wir.« Cliff fragte, ohne lange nachzudenken. »Auch die Uraceel?« Ein langer, verwunderter Blick traf ihn. »Auch die Uraceel. Aber das ist eine andere Geschichte.«
»Noch einmal: Warum bin ich hier?« fragte Cliff, entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen, selbst jetzt, da es nach dem Tod der Crew ohnehin sinnlos geworden war. »Ihr habt, wie wir wissen, das Große Schiff entdeckt?« »Richtig!« konterte Cliff. »Meine Crew und ich.« »Ihr habt versucht, die Geheimnisse dieser Konstruktion zu entschlüsseln?« Cliff trank den Rest der Flüssigkeit aus. »Unseren Wissenschaftlern ist es geglückt, einige der Geheimnisse aufzudecken. Bei weitem nicht alle«, sagte er hart. »Das werdet ihr auch niemals schaffen«, erwiderte Cornst. »Das Schiff wartete auf euch, bis ihr wieder an Bord wart. Dann flog es hierher. Ihr hattet einen angenehmen Flug?« Cliff murmelte wütend: »Einen Flug, während dem wir uns unablässig fragen mußten, was das Ganze soll. Ich weiß nicht recht, ob man das unter solchen Umständen als angenehm bezeichnen kann.« »Jedenfalls kamt ihr hierher, in dieses Planetensystem...« »In das System von vierzig Planeten und hundertzwanzig Monden, ja. Und als ich landete, nachdem das Schiff angehalten hatte, wurde ich von diesen wüsten Halluzinationen überfallen. Hatte das einen besonderen Sinn?« Ohne sich durch Cliffs Wut aus der Fassung bringen zu lassen, erwiderte Cornst: »Ja. Hier auf dem Planeten Zentral IV ist alles angepaßt. Die Menschen haben sich der Natur, die Na-
tur hat sich den Menschen angepaßt. Der Geist paßte sich der Materie an und umgekehrt. Das Wilde, Drohende in deinen Gedanken hat die Natur veranlaßt, sich gegen einen Eindringling zu wehren. Als sie erkannte, daß du harmlos bist, ließen die Reaktionen der planetaren Oberfläche nach.« Bisher hatte Cornst seine Stellung nicht verändert. Cliff ging ein paar Schritte rückwärts und setzte sich erschüttert wieder in den Sessel. »Bedeutet das, daß Natur und Geist eine Sache sind? Sie leben in Symbiose?« Cornst nickte zustimmend. »In einer vollkommenen Symbiose.« »Einschließlich der Zeitabläufe?« Der Planetarier nickte. Cliff fragte unablässig weiter. »Wer hat dem Schiff den Befehl gegeben, uns zu holen?« Cornst sah ihn lange schweigend an, dann bewegte er sich unvermittelt. Er ging geradeaus bis zu der gekrümmten gläsernen Front, vor der jetzt die Farben der vier Mondschatten sichtbar wurden. Er hob den Kopf, in der Decke entstand eine runde Öffnung, und die Sterne leuchteten herein. Zugleich kam ein Hauch der kühlen, frischen Nachtluft in den runden Raum. »Wir«, sagte Cornst leise. »Warum?« Cliff und der Planetarier starrten sich an. Ein entscheidender Moment war gekommen, das konnten sie beide deutlich fühlen. Knisternde Spannung erfüllte den Raum. Cliffs aufgewühlte Gedanken wurden durch die Fragen und Antworten in ein eigentümlich starres Schema gezwungen, und er spürte,
daß sich sein Zustand dem Normalen näherte. Aber etwas in ihm hatte sich während der letzten Zeit verändert. Er würde nicht mehr der alte McLane sein, sondern wesentlich anders. War es Reife? Jedenfalls würde er jetzt hören, warum die Planetarier dem Schiff den Auftrag erteilt hatten, die ORION-Crew zu holen. »Eine schwierige Frage«, sagte Cornst. »Ist es denn möglich, dich in Verlegenheit zu bringen?« erkundigte sich Cliff mit deutlichem Sarkasmus. »Die Mächtigsten sind am hilflosesten, wenn sie ehrlich sein müssen?« Cornst erwiderte ruhig und gemessen: »Es wird dir sicherlich schwerfallen, mich in Verlegenheit zu bringen. Ein Lebewesen mit nur einem durchschnittlich entwickelten Verstand, mehrere Jahrhunderte alt, kann von einem Angehörigen des Homo sapiens kaum in Verwirrung gebracht werden. Eher umgekehrt. Ich bin unschlüssig, weil ich dir nur einen Teil der Wahrheit sagen darf und nicht weiß, wieviel dein begrenzter Verstand ertragen kann.« Cliff sagte steif: »Ich bin nicht eine knappe Million Lichtjahre geflogen, um mich beleidigen zu lassen.« Cornst grinste durchaus menschlich und konterte: »Es war nicht als Beleidigung gedacht, sondern als sachliche Feststellung.« Cliff blieb beharrlich. »Warum habt ihr uns holen lassen?« fragte er laut. »Wir brauchen eure Hilfe«, sagte Cornst einfach. Cliff lehnte sich zurück und holte tief Luft. Wie konnten sechs Menschen, selbst wenn sie ein Raumschiff wie die ständig verbesserte ORION VIII hatten,
ein Planetensystem von dieser Größe, mit diesen alleskönnenden Bewohnern durch ihre Hilfe schützen können? »Hilfe? Wogegen?« Cornst deutete hinaus in die Dunkelheit. »Du hast das Wrack gesehen?« »Eine schöne Dekoration, Cornst. Was hat dieses ausgeglühte Wrack mit unserer Aufgabe zu tun?« »Sehr viel. Es ist ein Schiff unserer Feinde, der Uraceel, gewesen. Es ist das erste und einzige Schiff, das wir vernichten konnten. Dieses Wrack ist eine Art Denkmal.« »Ich verstehe. Ich soll die Uraceel besiegen und aus dem System treiben – ein für alle Mal?« »So ist es.« Cliff lachte ungläubig auf, beugte sich vor und berührte seine Waffe, die auf dem Tisch lag. »Cornst«, sagte er beschwörend, »das glaubst du doch selbst nicht! Ich als kleiner Kreuzerkommandant der Erde, Abkömmlinge einer Rasse, die keinen Vergleich mit euch aushält, soll eure Feinde vertreiben? Das ist doch ein Witz!« Cornst schüttelte den Kopf. Das Loch in der Decke schloß sich wieder, und hinter der Glasscheibe sah Cliff einen der vier Monde, eine eisig blaue, zerklüftete Felsenkugel, sich dem Horizont nähern. »Kein Witz.« »Warum kämpft ihr nicht?« Mit ungewohntem, eindringlichem Ernst sagte Cornst: »Wir können es nicht.« Cliff lehnte sich zurück und begann zu lachen. Er
konnte sich nicht mehr beruhigen; seine Nerven gingen mit ihm durch. Cornst musterte ihn schweigend, dann zog er die Brauen hoch, schließlich grinste er. Erschöpft hob Cliff den Kopf und trocknete mit dem riesigen weißen Ärmel seines Kimonos den Schweiß von der Stirn. »Ihr könnt nicht kämpfen! Das ist gut«, murmelte Cliff. »Warum nicht? Müßtet ihr dabei schwitzen?« »Gegenfrage«, sagte Cornst. »Kannst du fliegen?« »Mit einem Raumschiff – ausgezeichnet«, sagte Cliff. »In einem solchen Apparat kann auch ein Hirnloser fliegen«, sagte der Planetarier. »Kannst du fliegen wie ein Schmetterling, wie ein Vogel?« »Natürlich nicht.« »So wenig wie du fliegen kannst, können wir töten«, sagte Cornst. »Unsere Rasse ist Jahrhunderte und Jahrtausende älter als der Homo sapiens und alle anderen Rassen in den verschiedenen Galaxien, die überlebt haben. Wir haben das Töten verlernt. Nicht nur verlernt... wir sind unfähig, uns vorzustellen, wie es sein könnte. Wir brauchen...« Cliff sagte grob: »Söldner.« »Das ist deine Bezeichnung«, erwiderte der Planetarier. »Wir haben dich hierher holen lassen, um dich zu bitten. Du sollst versuchen, unsere Feinde aus diesem Planetensystem zu vertreiben. Es sind nicht sehr viele; hauptsächlich kämpfen sie mit Maschinenwesen. Roboter – das ist die Bezeichnung in deiner Sprache. Sie sind unfähig oder unlustig, sich eine eigene Kultur aufzubauen – und da sie unsere schönen Welten kennengelernt haben, wollen sie diese er-
obern. Es sind harte Kämpfer.« Cliff zuckte die Schultern. »Soll ich mit Steinen nach ihnen werfen oder mit Narkosenadeln schießen?« »Das bleibt dir überlassen«, sagte Cornst. »Vorher ist aber unerläßlich, daß du Bishayr findest.« »Wen?« »Bishayr.« Cliff zwinkerte ungläubig und fragte: »Wer oder was ist Bishayr?« Cornst erwiderte: »Das darf ich dir nicht sagen. Ich bin nicht ermächtigt worden, dir alle Auskünfte zu geben. Du mußt suchen und wirst Bishayr finden. Dann erst kannst du gegen die Feinde unseres Systems kämpfen.« Cliff wünschte sich weit fort und besonders weit weg von diesen Problemen. Es war wirklich bizarr. »Höre zu, du silberäugiger Planetarier in Vollsymbiose!« sagte er mit Nachdruck und stand auf. Er stellte sich Cornst gegenüber auf und hob die Arme. »Du holst mich, ohne mich zu fragen, von der Erde weg und verlangst, nachdem ich beinahe meinen Verstand verloren habe, daß ich gegen eure Feinde kämpfe. Vorher aber muß ich wie Herkules am Scheideweg versuchen, etwas oder jemand zu finden. Dieses Etwas oder dieser Jemand wird mir wertvolle Ratschläge geben, wie ich eure Feinde zu bekämpfen habe – und dann schlage ich sie einzeln mit der Raumaxt aus dem Vierzig-Planeten-System. Allmählich, und besonders dann, wenn du noch eine Viertelstunde weiter mit mir in dieser Tonart sprichst, habe ich die richtige Überzeugung, daß derjenige, der absolut verrückt ist... daß du derjenige bist.«
Cornst räusperte sich und antwortete zu Cliffs Erstaunen sofort. »Dafür, daß wir dich holten und daß ich bei der Landung nicht gleich zur Stelle war, bitte ich im Namen aller meiner Freunde auf diesem Planeten um Verzeihung. Besänftigt dich das etwas?« Cliff nickte. »Ein wenig. Ja. Aber was soll der Rest?« »Um zu kämpfen, brauchst du eine Waffe. Diese Waffe ist nur mit Hilfe von Bishayr zu finden. Um die Waffe gebrauchen zu können, mußt du Bishayr finden und verstehen. Ob du Bishayr findest oder verstehst, entscheidet sich in kurzer Zeit. Ohne Bishayr bist du nicht der Mann, der die Feinde besiegt. Mehr kann ich dir nicht sagen. Wir brauchen dich, wir können nicht töten – wir können nicht einmal kämpfen. Wir haben uns darauf beschränkt, nach unseren Gesetzen zu existieren.« »Ihr seid Menschen wie wir?« »Ja«, erwiderte Cornst. »Aber wir können alle Gestalten annehmen, die du dir vorstellen kannst. Im Normalzustand sehen wir so aus wie ihr. Denn wir haben gemeinsame Vorfahren. Aber die Vorfahren sind ausgestorben, das wissen wir genau – leider. Wir alle hätten viel von ihnen lernen können.« Cliff verstand, was Cornst sagte und erkundigte sich: »Wo suche ich Bishayr?« »Hier im Multisystem«, sagte Cornst. »Wo?« »Überall.« »Auf vierzig Planeten?« »Auf vierzig Planeten und hundertzwanzig Mon-
den. Bishayr ist überall und nirgends. Und auf jedem Planeten sind natürliche Abwehren... Abwehrmechanismen, die aber nur für unsere Feinde gelten. Wenn du Bishayr gefunden hast, wirst du besser handeln und besser kämpfen können als je zuvor.« Cliff verschränkte die Finger und glaubte immer noch nicht so recht daran, was er erlebte. »Warum sucht und findet ihr Bishayr nicht? Dann könntet ihr auch kämpfen!« Ein trauriges Lächeln kam in das Gesicht des Planetariers. »Wir kennen Bishayr, Cliff. Wir können trotzdem nicht kämpfen.« Cliff schwieg und versuchte krampfhaft, sich vorzustellen, was der Planetarier meinte. Dieses System brauchte Söldner; sechs Musketiere der Erde. Nein! Es war ja nur noch einer übriggeblieben. Dieser Söldner sollte einen weisen Mann oder ein Prinzip finden, mit dessen Hilfe er ein unschlagbarer Kämpfer werden würde. Dann konnte er die Feinde einer Rasse, die Kampf und Tod nicht mehr kannte, die weder kämpfen noch töten konnte, endgültig besiegen und vertreiben. Deswegen war er jetzt hier. »Wie heißt eure Rasse?« fragte er. »Wir nennen uns die Dara. Im Zentralsystem sind alle vierzig Welten bewohnt. Es gibt etwa fünfhundert Milliarden Dara.« »Und ich finde Bishayr in diesem System?« Cornst nickte langsam. »Ja. Hier in diesem System. Hier sind auch die Feinde. Du wirst beides finden, davon bin ich überzeugt.« Cliff schaute auf die Uhr an seinem Handgelenk.
Sie war, obwohl hochmodern und federlos, stehengeblieben. Sie zeigte die Zeit, in der die LANCET auf Braun gelandet war. »Ich bin erschöpft. Ich muß schlafen, sonst überrollt mich eine Lawine von Gedanken, die ich nicht mehr kontrollieren kann. Longten wir morgen früh wieder?« Cornst blieb vor ihm stehen. »Ja. Ich werde spüren, wann du wach bist. Kann ich etwas tun, um dir irgendwie zu helfen?« Cliff nickte lange. »Ja. Laß mich bitte allein.« Er nahm nicht einmal ein Flimmern wahr, als Cornst verschwand. Cliff trank noch einen Schluck, ging dann zur Liege und ließ sich fallen. Er schlief augenblicklich ein. Er schlief wie jemand, dessen Existenz von der Ruhe abhing.
6 Neben Cliff lag der Raumanzug im Gras. Der Kommandant spähte, das Sonnenlicht im Rücken, über das flache Tal hinweg. Neben ihm stand das Kind und Cornst. Drohend und als Denkmal der Vernichtung, der Zerstörung, reckten sich die ausgeglühten Träger und Verbindungen in den dunkelblauen Morgenhimmel. Cliff kniff die Augen zusammen und überlegte, wann und wo er dieses Bild oder ein ähnliches schon gesehen hatte. Das Wrack kam ihm irgendwie bekannt vor. »Du wirst jetzt starten, Cliff?« fragte das Kind. Cliff senkte den Kopf, betrachtete mit einem ruhigen Lächeln Cendr und sagte leise: »Ja. Ich muß zurück zu meinen toten Freunden, Cendr.« Das Mädchen zuckte die Schultern und sah zu, wie zwei andersfarbige Schmetterlinge herbeiflatterten und sich auf die Schultern niederließen. Ihre riesengroßen, farbigen Flügel zitterten. »Du hast dir alles überlegt, Cliff?« fragte Cornst ruhig. »Ja«, sagte Cliff hart. »Ich habe erkennen müssen, daß ich in einem sehr engen Bereich frei bin. Nämlich innerhalb der Grenzen dieses Systems, denn ich kann das Große Schiff nicht veranlassen, mit mir zurückzufliegen.« »Das ist richtig. Aber wenn du Bishayr findest, wirst du alles verstehen können. Auch das, was du jetzt als Zwang empfinden mußt.« Cliff starrte Cornst mit unbewegtem Gesicht an.
»Wahrscheinlich hast du recht«, sagte er laut. »Aber ich bin nicht in der Lage, mich diesen Gedanken gegenüber sehr verständnisvoll zu verhalten. Werde ich überall mit diesen Illusionsfallen empfangen?« »Teilweise«, sagte Cornst. Cliff ging langsam auf die ferne Baumgruppe zu. Das Gras war feucht, und seine leichten Bordstiefel wurden dunkel vor Feuchtigkeit. Ein Lichtblitz zeigte dem Kommandanten den genauen Standort der LANCET. Das Kind verschwand plötzlich, und Cornst ging schweigend mit Cliff weiter. Plötzlich legte er seine Hand auf Cliffs Arm und sah den Raumfahrer aus seinen silbernen Augen an. Konnte Cliff eine Bitte darin erkennen? »Ich bettle nicht, Cliff«, sagte er leise. »Nachdem du Bishayr kennengelernt haben wirst, mußt du unsere Lage ganz anders beurteilen.« »Möglich!« sagte Cliff einsilbig. »Es wird nicht leicht sein, aber wir brauchen dich wirklich!« »Ich verstehe!« Cliff erreichte jetzt den Moosstreifen, der zur LANCET führte. Er warf seinen Raumanzug über die Schulter und griff nach der Fernsteuerung der LANCET. »Wie lange hält die Wirkung dieser Symbiose an?« fragte Cliff. »Ich meine, daß ich einfach Gegenstände denkend herstellen kann?« Cornst zuckte die Schultern. »Dein Kynuroy ist noch auf die Oberfläche der Landschaft beschränkt, in der sich diese Anpassungsgemeinschaften befinden. Hier, beispielsweise, ist
keine«, sagte der Planetarier. Cliff schaltete und hörte das Geräusch der sich öffnenden Schleuse. Er faßte an eine der Leitersprossen und drehte den Kopf herum. Dann fragte er schnell: »Warum hast du mich belogen, Cornst?« Zwei Sekunden brauchte der Planetarier, um zu wissen, was Cliff meinte. »Du sprichst die Evolution an?« »Ausschließlich«, sagte Cliff. »Ihr Dara seid doch die gemeinsamen Vorfahren von Menschen, Erdmenschen, meine ich, Dherrani, Aashap, Turceed und auch von den Uraceel?« Cornst nickte schweigend. »Möglicherweise würden wir uns besser verstehen, wenn e t w a s m e h r gegenseitiges Vertrauen w ä r e . Aber... wozu rede ich überhaupt? Ich werde in ein totes Schiff zurückfliegen. Es freut mich, neue Freunde im All gefunden zu haben«, schloß Cliff und enterte grußlos die Leiter. Er legte seinen schlaffen Raumanzug über ein Bord, holte die Leiter ein und schloß die Schleuse, dann schaltete er systematisch sämtliche Aggregate ein. Minuten später fegte die LANCET senkrecht nach oben in den Raum hinaus. Unverkennbar deutlich stand auf einem vergrößernden Schirm die halb angestrahlte Kugel des Großen Schiffes. Jetzt war es ein Totenschiff. Cliff zog, während die LANCET ohne Antrieb auf die Schleuse zutrieb, seinen Raumanzug an, setzte den Helm auf und testete kurz die Versorgungssysteme durch. Alles funktionierte. Cliff setzte den Suchscheinwerfer ein, steuerte das Beiboot durch das runde Loch und setzte den kleinen Körper neben der
Schleuse ins Schiff auf dem Rost ab, unterhalb der ORION VIII. Er stieg aus, nachdem er die Magnete eingeschaltet hatte und ging auf die Schleuse zu. Er fürchtete sich vor dem, was er sehen würde. Der erste Riegel, das Handrad, der Hebel – die Schleusentür schwang auf. »Licht?« Cliff sah die Anzeige am Anzugärmel an; die Luft Verhältnisse hatten sich nicht geändert. Zufällig blickte er durch das transparente Fenster im Raumanzug und sah, daß die Uhr wieder lief. »Auch die Zeit ist wieder da!« knurrte er und nahm, sobald er die innere Schleusentür geschlossen hatte, den Helm ab. Er hob den Kopf, als er glaubte, Geräusche gehört zu haben. Hasso Sigbjörnson kam den kurzen Korridor entlang gelaufen. »Hasso!« brüllte Cliff. »Cliff!« Sigbjörnson prallte zurück, als habe er ein Gespenst gesehen oder etwas noch viel Schlimmeres. »Ich glaubte... du bist tot!« stammelte der Kommandant. »Noch nicht«, sagte Hasso trocken. »Etwas Ähnliches vermuteten wir von dir, du Schuft. Warum hast du die ganze Zeit keine Nachricht gegeben, du...« Cliff ging langsam auf Hasso zu, und plötzlich lagen sie sich in den Armen und schlugen sich mit aller Kraft gegenseitig auf den Rücken und auf die Schultern. Hasso zog Cliff mit sich. Nach etwa zehn Metern rannten beide Männer und brachen wie Geschosse in den dreieckigen Raum hinein. Dort saß der Rest der Mannschaft.
»Hier ist er!« sagte Hasso. »Lebendig und verwundert.« Cliff sah in vier ungläubige Gesichter. Er entledigte sich methodisch seines Raumanzugs und blieb dann vor Ishmee stehen. Niemand sprach, alle starrten sie auf den Kommandanten. Mario kam drohend auf Cliff zu. »Wo warst du, Freund McLane?« fragte er schneidend. »Zehn Tage warten wir hier wie die Idioten darauf, daß du ein Fähnchen schwingst oder dergleichen.« Cliff ließ Ishmee los und flüsterte: »Wie lange? Zehn Tage?« Atan sagte rauh: »Genau zweihundertvierundvierzig Stunden seit dem Start der LANCET! Was bildest du dir eigentlich ein, Kommandant?« Cliff ließ sich erschüttert in einen Sessel fallen und begann augenblicklich wieder, sich äußerst elend zu fühlen. »Zehn Tage!« murmelte er. »Und für mich sind bestenfalls zwei volle Tage dort unten auf Braun abgelaufen.« Hasso knurrte: »Faule Ausreden!« Cliff schüttelte den Kopf und nahm die Hand des schwarzhaarigen Mädchens. »Es war eine besondere Art von Hölle«, sagte er. »Hat jemand einen großen und hochprozentigen Schnaps für mich?« Eine Minute später rang er mit Erfolg um seine Fassung. »Ich habe Menschen getroffen«, berichtete er. »Sie
haben offensichtlich die Endstufe der Evolution erreicht, die wir auch erreichen können – in einer Million Jahren etwa. Sie können teleportieren und innerhalb bestimmter Anpassungsgebiete aus Materie durch einen Gedankenbefehl Gegenstände und Nahrungsmittel herstellen. Sie nennen diese Möglichkeit Kynuroy.« Helga stöhnte: »Cliff ist wahnsinnig geworden, Freunde. Er phantasiert.« Cliff zuckte die Schultern und sagte nach einem weiteren Schluck: »Unser Freund Pieter-Paul Ibsen würde hier einen Tatsachenroman schreiben können, wäre er hier. Wenn ihr mir etwas Zeit lassen könnt, berichte ich von Anfang an. Eines ist selbst mir in meinem Zustand sicher.« Ishmee flüsterte: »Ich spüre, daß Cliff die reine Wahrheit sagt. Etwas hat ihn zutiefst verändert. Vielleicht sogar positiv.« Hasso meinte mit gutmütigem Spott: »Das dürfte nachgerade kaum mehr möglich sein. Wir lassen dir Zeit, Cliff, aber wir wollen alles hören. Warum sind wir eigentlich hier – um die brennendste aller Fragen zu beantworten?« Cliff sagte tonlos: »Wir sind die Söldner der Dara.« Er sah von einem Gesicht zum anderen und mußte erkennen, daß seine Freunde über diese Mitteilung ebenso erschrocken waren wie er. Der Schock ging tief; wenn eine Rasse einige Individuen einer anderen Rasse fast eine Million Lichtjahre durch den Raum transportieren ließ, um sie zum Kampf anzuwerben, dann war dies nicht mehr mit mehr oder weniger
schnoddrigen Bemerkungen abzutun. »Söldner!« sagte Helga Legrelle dumpf. »Das war genau das, was ich mir als Lebensziel gewünscht habe.« Mario knurrte: »Ich auch. Overkill-Cliff and his Orions!« Das Grinsen, das ihm antwortete, war sehr knapp. Cliff sammelte sich und berichtete chronologisch, was er erlebt, gesehen und gedachte hatte. Sigbjörnson, der in schweigender Konzentration zuhörte, wußte nach zwanzig Sätzen, daß seine Befürchtungen um ein Haar zugetroffen wären; Cliff war nahe daran gewesen, wahnsinnig zu werden oder jedenfalls schwerste psychische Störungen davonzutragen. Sie hörten zu, was Cliff auf dem vierten Planeten – Braun – erlebt hatte.
7 Nach einer Weile brach Helga Legrelle das gespannte Schweigen. »Nun wissen wir wenigstens, daß von diesem, dem Fornax-System vorgelagerten Planetensystem um Sigbjörnsons Stern, die Evolution der humanoiden Rassen oder wenigstens der intelligenten Rassen dieser Art in unserer Galaxis ausgegangen ist. Hier ist die Quelle.« Mario de Monti fuhr fort: »Und das Große Schiff war das Transportmittel. Wenn wir die Sagen und Legenden aller Rassen, der überlebenden wie der ausgestorbenen hätten und sie nach bestimmten Gesichtspunkten durchprüfen würden, dann erführen wir viele Einzelheiten. Leider ist das unmöglich.« Ishmee meinte: »Allein der Ausdruck: Zentralsystem deutet darauf hin. Ich spüre Cliffs Gedanken. Das Kind und Cornst scheinen dich mehr beeindruckt zu haben, als du zuzugeben gewillt bist, nicht wahr?« »Ja«, sagte Cliff und nickte. »Aber ich bin noch nicht fertig. Ich sah ein Wrack. Ein ausgeglühtes Wrack.« »Man wird dir doch nicht einen Spiegel vorgehalten haben?« erkundigte sich Atan mitfühlend. Cliff mußte grinsen, obwohl er noch immer unter dem Eindruck seiner Erlebnisse stand. »Was für ein Wrack?« fragte Sigbjörnson gespannt. »Es sah ungefähr so aus, mußte also einmal diese Form gehabt haben«, erklärte der Kommandant und
zeichnete einen pfeilförmigen Gegenstand, der aus einem Gitterwerk bestand, auf einen der herumliegenden Notizblöcke. »Kein bekanntes Schiff«, murmelte Mario de Monti und drehte das Blatt hin und her. »Doch, es kommt mir bekannt vor«, widersprach Cliff. »Dieses Wrack ist einst ein Schiff der Feinde gewesen, die wir für die Dara bekämpfen sollen. Diese Schufte – dort unten versagte sogar die Uhr, ja, selbst das Funkgerät. Ich wollte mich mehrmals melden, und dann spielten mir die Halluzinationen einen furchtbaren Streich. Hasso meldete sich und erklärte, er wäre der letzte Überlebende.« Hasso setzte sich neben Cliff und sagte: »Es ist dort unten in den Anpassungsgemeinschaften ebenso wie im Kielraum des Schiffes. Du hast genau die Reaktionen hervorgerufen und als Alptraum erlebt, die du auf keinen Fall in der Wirklichkeit erleben möchtest. Alle deine unterdrückten Ängste wurden zu einem steinernen Labyrinth, zu einem Versagen der Kommunikationsmittel und zu der Todesnachricht. Was du dort unten erlebtest, Cliff, war deine eigene private Hölle. Verstehst du, was ich meine?« »Ja«, sagte Cliff nach einer Weile. »Das muß die Erklärung sein. Jeder Besucher wird also, betritt er einen bestimmten Punkt des Geländes, genau das erleben, wovor er sich besonders fürchtet.« Mario de Monti kratzte sich im Nacken und murmelte grinsend: »Das würde, in meinem Fall bedeuten, daß ich dort unten ein eingerichtetes Haus, eine Frau und mehrere Kinder erlebe, die schreiend meine Ruhe stören. Mit
anderen Worten, ich würde die geheimen Ängste, verheiratet zu sein, dort erleben. Nehmt bitte zur Kenntnis, daß ich niemals die Oberfläche der Planeten betreten werde!« In das leise Gelächter sagte Cliff: »Darüber werden wir uns noch unterhalten, Mario... später. Jetzt erhebt sich aber für uns die Kardinalfrage.« »Richtig«, sagte Helga. »Gehen wir oder bleiben wir?« »Wir können versuchen, zu gehen. Das wäre identisch mit der Rückkehr in unsere heimatliche Galaxis, und das ist unmöglich. Das Große Schiff wird sich von uns nicht ein zweitesmal in einen Kurs dorthin zwingen lassen, und wir schaffen es weder mit der ORION noch mit den LANCETs. Also sind wir gezwungen, hier zu bleiben. Innerhalb des VierzigPlaneten-Systems aber können wir uns frei bewegen. Was tun wir?« Hasso knurrte: »Selbst mir ist es klargeworden, daß wir uns in der Hand der Dara befinden. Wir haben nur wenig Möglichkeiten. Ehe wir wahnsinnig werden vor Langeweile, sollten wir die gute, alte ORION besteigen und systematisch die vierzig Planeten absuchen. Vielleicht finden wir auch Herrn Bishayr dabei.« Cliff erwiderte: »Vorschlag akzeptiert. Übrigens ist Bishayr sicher kein Mann, keine Frau, sondern eine Fähigkeit, ein Prinzip, glaube ich wenigstens.« Helga Legrelle hob die Hand und bat ums Wort. »Ja, Helga?« »Ich bin dafür, daß wir abstimmen. Mein Vorschlag
lautet: Wir beginnen eine großangelegte systematische Suche, angefangen bei Planet Eins, also Gelb. Gelb hat drei Monde. Ich bin überzeugt, wir finden drei verschiedene Dinge im Lauf unserer Untersuchungen.« »Welche?« fragte Ishmee. »Erstens gewinnen wir Aufschluß über die Natur dieses Sonnensystems. Wir können einen Schrank voller wissenschaftlicher Daten zur Erde mitbringen. Zweitens werden wir entdecken, was es mit diesem geheimnisvollen Bishayr auf sich hat. Und schließlich drittens: Wir finden den Feind unserer Ahnen. Und wenn wir ihn gefunden haben, besitzen wir mit Bishayrs Hilfe auch das Mittel, ihn zu vertreiben. Dieser mein Vorschlag steht zur Debatte. Wer ist dafür – ich bin es.« Sie hob einen Arm hoch in die Luft und wedelte damit. Hasso Sigbjörnson strich sein Haar an den Schläfen glatt und meinte: »Unsere Funkerin wird von Einsatz zu Einsatz klüger. Ich stimme für ihren Vorschlag.« »Angenommen, natürlich, daß wir die ORION VIII dazu benutzen. Ich bin in diesem Fall ebenfalls dafür«, sagte der Astrogator. »Hier kann ich schlecht arbeiten. Und wenn wir Aufzeichnungen machen sollen, so geht dies an Bord der ORION schneller und wesentlich besser vonstatten.« Cliff sagte laut: »Ich mache mit, Helga.« »Von den Strömen eurer Gedanken geht eine Überzeugungskraft aus, die mich erstaunt«, sagte Ishmee und lächelte. Sie legte einen Arm um Cliffs Hüfte und
nickte dann. »Ich weiß, so wie ihr es wißt, daß wir es schaffen. Starten wir! Mario?« »Keine Frage. Dafür!« sagte der Kybernetiker. »Also Stimmenmehrheit«, grinste Atan. »Wann ist der Start, Kommandant?« Cliff sah auf die Uhr und erwiderte: »Wir sollten, ehe wir starten, uns ein sehr genaues Konzept erarbeiten und dann die ORION wieder in den alten Zustand versetzen, was ungefähr zehn Stunden dauern wird; wir haben ja einige Geräte hierher geschafft. Sagen wir – nach Bordzeit morgen früh?« »Einverstanden.« Während die anderen diskutierten und anfingen, sowohl ihre persönlichen Dinge als auch die Geräte einzupacken und transportfähig zu machen, verließ Cliff den dreieckigen Raum und blieb vor dem Steuerpult stehen. Er betrachtete die unwirkliche Miniaturprojektion des Sonnensystems und dachte nach. Jetzt wußte er genau, daß die Hälfte seiner Erlebnisse real, die andere Hälfte alptraumhaft gewesen war. Die Ahnen brauchten Hilfe, und die jüngsten und kräftigsten Urenkel sollten ihnen diese Hilfe geben. »Wo habe ich diese pfeilförmige Schiffskonstruktion denn schon gesehen?« fragte sich Cliff. Er kam nicht darauf. Sorgfältig bemühte er sich, beide Seiten der persönlichen Bilanz der ORION-Crew zu betrachten. Die Plusseite, nämlich die Fähigkeit der Mannschaft und die restlose Beherrschung des Diskusschiffes, erprobt in Dutzenden von Einsätzen, waren klar und konnten abgebucht werden. Wie aber stand es mit den neuen Verbündeten?
Sie hatten die höchste Entwicklungsstufe der individuellen Evolution wie der der Rasse als Ganzes erreicht. Sie konnten ihre Körperform verändern, konnten die Materie kontrollieren, brauchten zumindest für kürzere Strecken keinerlei technische Fortbewegungsmittel mehr, und ihre Lebenseinstellung war das, was man »human« nennen konnte – freilich in einem anderen Sinn. Sie würden jedenfalls die ORION unterstützen, wo immer sie konnten. Aber sie waren auf die Hilfe der Barbaren, der Söldner angewiesen. »Mir stellt sich die Frage, was die Dara wirklich wollen. Sie haben Mitglieder ihrer Rasse vor undenkbar langer Zeit ausgesät. Sie wollten die Entwicklung von Menschenrassen unter den verschiedensten Bedingungen beobachten. Offensichtlich hat sich die Erde zu einem Zentrum von Barbaren entwickelt, die man als Söldner gebrauchen kann. Das Schiff diente zuerst als Transportmittel, dann als Beobachtungsstation. Das fliegende Auge der Dara. Aber: Haben die Dara ein besonderes Programm entwickelt, um alle ihre Beobachtungen eines Tages verwerten zu wollen? Welche Chance zum Überleben haben dann die Dara, die das Töten und Kämpfen verlernt haben? Wie konnten sie eine anders geartete Rasse beeinflussen?« Cliff grinste, als sein Blick wieder auf die vierzig Planeten fiel. »Alles paßt so wunderbar zusammen. Sie haben die Kontrolle nur durch Terror der Gedanken und durch Geheimnisse aufrechterhalten können. Das beruhigt mich... auch sie sind nicht die Götter, die sie gern wären.«
Cliff wußte jetzt genauer was sie alle tun konnten und mußten. »Wir werden eines Tages alle diese Dinge ergründet haben«, sagte er zu sich selbst. Seine Stimme festigte sich mit jedem weiteren Wort und in dem Maß, wie seine vernünftige Überlegung zurückkehrte. Die kleinen, schillernden Steinchen begannen sich in Teile eines Mosaiks zu verwandeln. »Starten wir also!« Er konnte nicht wissen, daß dieser sein Entschluß der unmittelbare Anfang einer Odyssee war, wie sie sich in der Geschichte der bemannten Raumfahrt aller Rassen nicht wiederholen würde. Er grinste und ging zurück in den dreieckigen Raum, um das Glas voller Alkohol auszutrinken. Plötzlich fühlte er, daß sie einen kleinen Sieg errungen hatten. »Freunde«, sagte er laut und stemmte die Fäuste in die Hüften, »es wird sicher teilweise dramatisch zugehen. Aber ich weiß, daß wir eine sehr interessante Zeit vor uns haben.« Sie sahen ihn verwundert an, und das Mädchen Ishmee erkannte voller Besorgnis seine triumphierenden Gedanken. * Die sechs Mann Besatzung des Schnellen Raumkreuzers ORION VIII saßen an ihren Plätzen. Auf dem zentralen Sichtschirm stand, wie eine gewaltige Kugel aus schmutzigem Goldgelb, der erste, sonnennächste Planet des Systems. Man hörte, abgesehen von einigen scharfen Atemzügen und einigen klickenden Ar-
beitsgeräuschen nur die leise Stimme der Turceed. Ishmee rezitierte aus dem BUCH. »... und damit werden wir fahren von Insel zu Insel, zwischen den Sternen, und wir werden mannigfach und zahllos Abenteuer erleben. Und allüberall dorten, wo das Große Schiff landet, hinterlassen wir ein Volk, das sich vermehren soll, auf daß wir herrschen über alles...« »Ich mag alttestamentarisch klingende Texte«, murmelte der Astrogator, dessen Geräte unaufhörlich maßen und Daten erfaßten, »aber Archer's Tears mag ich lieber.« »Ich kann dir nur mit ersterem dienen!« sagte Ishmee und lächelte. Sie hatten Geräte, Habseligkeiten und die LANCET eingeschleust und hatten mit dem Diskusschiff die Kugel verlassen. Nur wenige Minuten später hatte Cliff die ORION über dem gelben Planten – Planet Eins – abgebremst. Nun trieb das Raumschiff antriebslos über der Weltkugel. Der fünfundfünfzig Meter durchmessende Diskus reflektierte das Sonnenlicht. Cliff schaukelte in seinem Kommandantensessel, dann wandte er sich an Atan Shubashi. »Gibt es schon Daten über den ersten Planeten, Atan?« »Eine Menge. Wenn du noch vier Minuten wartest, Cliff, liefere ich dir eine komplette Analyse.« »Einverstanden.« In einer Höhe von mehr als zweihundert Kilometern stoppte Cliff die Bewegung der ORION. Schwach war auf dem Schirm die Krümmung des Planeten zu sehen, die Wolken und darunter die groben Umrisse der Oberfläche. Das Schiff driftete ent-
lang einer Kreisbahn, die aber instabil war. »Was suchen wir eigentlich?« fragte Helga. »Alles und nichts«, sagte Cliff. »Und vor allem Bishayr.« Atan hob den Arm. »Fertig?« Shubashi sagte schnell: »Erster Planet mit Namen Gelb: Äquatordurchmesser 13.690 Kilometer, mittlere Dichte, bezogen auf Wasser 5,49, mittlere Temperatur auf der Tagseite 21 Grad Celsius. Rotationsdauer siderisch ist 28 Stunden 34 Minuten und 4 Sekunden. Die Albedo ist um ein Zehntel der Dezimalangabe höher als die der Erde, also Null Komma vierundvierzig.« »Danke. Keine Funkwellen festzustellen, Helga?« Die Funkerin schüttelte den Kopf, daß die Spitzen ihrer Frisur vibrierten. »Nein. Absolut nichts. Ebenso Funkstille wie bei Planet Vier, Braun. Es scheint unsere Annahme zu stimmen, daß sich die Planetarier, auch innerhalb der Systemgrenzen, auf eine unbekannte telepathische Weise unterhalten und Informationen austauschen.« Hasso sagte von seinem Bildschirm: »Für uns bedeutet das nichts anderes, als daß wir bereits angekündigt sind und gebührend empfangen werden.« Cliff deutete auf Atan und fragte wieder: »Wie lautet die Fernanalyse der Planetenatmosphäre?« Atan drückte auf einen Knopf, und auf einem Sichtschirm, der mit der Bordkybernetik gekoppelt war, erschienen Zahlenreihen. Mit deutlicher Stimme las der Astrogator ab.
»Zusammensetzung am Schnittpunkt, also eintausend Meter über Meereshöhe: fünfundsiebzig Prozent Stickstoff, vierundzwanzig Prozent Sauerstoff, ein Prozent Argon, fünf Hundertstel Kohlendioxyd, eine Skala von Edelgasen, also Neon, Helium, Krypton, Xenon, Wasserstoff, geringe Ozonspuren. Wir können mit einer ziemlich intensiven Flora rechnen.« Nahezu erdgleich. Cliff durchdachte das Problem und entschied: »Wir landen diesmal mit der ORION. Wir verzichten auf die schweren Raumanzüge, aber da wir Barbaren sind, nehmen wir Waffen mit und ziehen die Expeditionskleidung an.« Er griff in die Hebel und Schalter der Handsteuerung und sagte: »Kommandant an alle: Fertigmachen zur Landung. Wie üblich – wir landen in einem Gebiet, über dem kurz vor unserer Landung die Sonne aufgegangen ist. Dann haben wir einen ganzen Tag für uns.« »Verstanden«, erwiderte Hasso und aktivierte den Antrieb. Die ORION wurde schneller, kippte über die Seite weg und raste hinunter in die Lufthülle von Gelb. Ihre aerodynamisch günstige Form schnitt durch die Luft, die immer dichter wurde. Die ersten dünnen Wolken tauchten auf, und der Wassernebel verdunkelte die Bilder auf den Sichtschirmen. Der Antrieb heulte, und als Cliff die ersten Bremsmanöver durchführte, begann die Zelle des Schiffes unmerklich zu vibrieren. Dann waren sie durch die Wolken, und der Kommandant steuerte den silbernen Diskus auf die Grenzlinie zwischen Tag und Nacht zu. Die ersten deutlichen Unterscheidungsmerkmale der Landschaft
konnten getroffen werden. Sie schwebten über einer merkwürdig geformten Küste ein. Direkt unter ihnen war ein großer, runder Ozean, dessen östlicher Grenze sie entgegenschwebten. Diese Küstenlinie war gekennzeichnet durch eine Reihe von Einstülpungen. Sie sahen aus wie Fjorde, aber sie erstreckten sich durch flaches Gelände. »Wo landen wir, Cliff?« fragte Ishmee. Cliff fing den Sturz des Schiffes ab, brachte den Diskus in eine Horizontalfluglage und raste mit Überschallgeschwindigkeit zehn Kilometer über dem Erdboden dahin. »Dort, wo wir etwas Interessantes finden. Denkt daran – wir haben keinen Grund, schüchtern zu sein oder gar Minderwertigkeitsgefühle zu entwickeln. Wir kommen als Söldner.« Die ORION ging in einen weiten Kreis über. Die Flugbahn verlief dort, wo die meisten Fjorde endeten. Auch hier waren keine anthropogenen Eingriffe festzustellen; Staudämme etwa oder breite Überlandstraßen. »Atan an Kommandant«, sagte der Astrogator. »Eine Stadt. Wenigstens etwas, das genauso aussieht.« »Wo?« Elektrisiert beugte sich Cliff nach vorn, gleichzeitig schaltete Atan das Bild seines Suchschirms auf den großen, horizontal angebrachten Hauptschirm um. Ishmee beugte sich über Cliffs Schulter, und auch Helga kam heran und schaute auf die erhellte Platte. »Oben rechts, Cliff.« »Tatsächlich! Natürlich fliegen wir dorthin.«
Noch während er sprach, korrigierte Cliff den Flug. Er setzte die Geschwindigkeit weiter herab, und der Unterschallknall donnerte über die Landschaft unter ihnen. Jetzt waren sie fünftausend Meter hoch, und die Geschwindigkeit betrug nur noch sechshundert Stundenkilometer. Eine vorwiegend runde Ansammlung von Bauten, die in der Morgensonne glänzten und glitzernde Reflexe warfen, erstreckte sich, von der Wasserader halb durchschnitten, am Ende eines Fjordes. Die Küste sah aus diesem Blickwinkel aus wie ein konvex gekrümmter Kamm mit breiten, wuchtigen Zinken. »Eine Stadt? Das hatte ich nicht erwartet«, sagte Mario, während Atan das Bild wieder zurückschaltete. Hasso meldete sich von seinem Bildschirm und sagte ohne Sarkasmus: »Wir sollten darüber nachdenken. Immerhin besteht die Möglichkeit, daß sie dort ist, weil wir nicht erwarteten, sie zu finden. Eine Projektion negativer Gedanken.« Cliff erwiderte ernst: »Durchaus möglich. Wir werden sehen.« Die ORION verlangsamte ihren Flug noch mehr, ging abermals tiefer und schwebte nun langsam näher. Ihr Schatten wurde deutlich und huschte neben ihr her über den Erdboden. Felsen, Sandflächen, Gewächse und Hügel waren von einer gelben Farbe, die zwar nicht aufdringlich wirkte, dennoch den Ton der Landschaft bestimmte. Das Morgenlicht schuf dazwischen lange, schwarze Schatten. Einige Nebelbänke krochen vom Meer herein aufs Land und lösten sich dort auf. Jetzt wurde, aus einer günstigen Perspekti-
ve, die Stadt sichtbar und deutlich. »Kann das Glas sein?« fragte Mario de Monti entgeistert. »Es sieht so aus«, sagte Cliff. »Viele Bauten aus einem glasartigen Material, ungefähr kreisförmig angeordnet.« Das Schiff hielt an, hundertfünfzig Meter schräg über der Stadt. Die Anlage war fast kreisförmig und durchmaß rund dreitausend Meter. Etwa wie ein spitzwinkliges Dreieck geformt, unterbrach die langgezogene Bucht diese Fläche. Die spitze Küste oder das Ufer lag ungefähr im Zentrum des Kreises, aber die Leute in der ORION konnten am Strand keinen einzigen Menschen erkennen. Das Wasser schien goldgelb zu sein, aber als sie schärfer hinsahen, merkten sie, daß der Sand und die Steine des Grundes den Farbton bestimmten; das Wasser war kristallklar. Hasso fragte: »Wo willst du landen, Cliff?« »Im Zentrum, Freund Hasso«, sagte der Kommandant und steuerte das Schiff vorsichtig bis an den angegebenen Punkt. »Wir beide werden aussteigen und hinausgehen. Ich habe Erfahrungen mit ausgestorben scheinenden Städten.« Hasso lachte kurz und schaltete die Leistung seiner Maschinen auf einen Minimalwert herunter, als die ORION sich an der Grenzlinie zwischen Stadt und Uferstreifen gegen den Boden senkte. »Und mit Halluzinationen und Illusionen ebenfalls.« »Richtig«, erwiderte Cliff und schob die Handsteuerung zurück. Das Schiff saß jetzt fest und konnte
nur von der Steuerkanzel aus bewegt werden. »Und da ich in dir denjenigen von uns vermute, der die größte Gelassenheit besitzt...« »Danke!« »... werde ich dich bitten, mitzukommen.« Hasso versprach: »Ich mache mich fertig. Wir treffen uns in der Zentralschleuse.« Mario und Atan wußten, was zu tun war. Sie würden versuchen, Cliff und Hasso mit ihren Geräten zu beobachten. Wichtig war, daß jederzeit eingegriffen werden konnte. Cliff zog sich in seiner Kabine um, und als er die gelbe Expeditionsjacke mit den eingenähten Nahrungsmittelvorräten und Medikamenten über die Schultern streifte und die Ladung der Gasdruckwaffe kontrollierte, stand Ishmee in der offenen Tür. »In Sorge?« fragte Cliff. »Ein bißchen. Nicht zu vergleichen mit dem erstenmal. Ich spüre, daß du abermals eine Begegnung mit einem Dara erwartest?« »Unbedingt.« Er küßte sie kurz und verließ den Raum. Der stählerne Rüssel des teleskopisch ausfahrbaren Zentrallifts näherte sich dem Boden, überbrückte die Entfernung von zehn Metern, die zwischen Schiff und Sand bestand, dann öffnete sich die Schleuse. Cliff und Hasso hatten den Boden von Planet Gelb betreten. »Zuerst ein Rundgang? Ich nehme es wenigstens an.« Cliff nickte. »Vergiß nicht, Hasso, bei Bishayr zu klingeln«, sagte er.
Sie gingen auf die ersten, niedrigen Bauten zu. Die Stadt, die sich amphitheatralisch vom Zentrum nach außen hin den Blicken zeigte, bestand aus Glas. Aus einem Glas, das gleichermaßen schrumpfte und wuchs und unaufhörlich seine Formen veränderte. Hier wuchs kein einziger Grashalm, und auch kein Tier war zu sehen. Nur Sand und Bauwerke. Als die Schritte der Männer zwischen den durchsichtigen Wänden knirschende Echos hervorriefen, schien ein Sturm durch das Glas zu fahren. Töne waren zu hören, als spiele jemand eine Glasharfe, als rieben sich feine Drähte an Glasstäben oder Ringen. Singende, silberne Töne, die ihrerseits die Fronten in Erschütterungen versetzten. »Eine neue Illusion?« fragte Hasso. »Offensichtlich«, erwiderte Cliff und dachte angestrengt daran, daß sich die Stadt bevölkern solle. Daß er Menschen oder, wie sie sich hier nannten, Dara, treffen konnte. Langsam drehte er sich um, schob die dunkle Brille auf die Nase und starrte durch die Flächen. Nichts rührte sich. »Wozu?« »Wie?« fragte Cliff. »Wozu das alles?« Er zuckte die Schultern, hielt sich am Kolben der Gasdruckwaffe fest und ging weiter geradeaus. Um sie herum stand jetzt ein Kreis von würfelförmigen Bauten, die sich ständig, im Klang der dahinschwebenden Töne, veränderten. Zinnen und Erker in allen möglichen kubischen Formen und deren Variationsmöglichkeiten schoben sich an den Wänden hoch, kletterten übereinander, als wollten sie den Himmel erreichen und vergingen wieder. Die Basis der Häu-
ser floß auseinander, schuf neue Verbindungen und Formen. Aus Ecken wurden Rundungen und umgekehrt. Fenster und Türen erschienen und spiralig gekrümmte Treppen, die sinnlos ins Nichts führten, sich zurückkrümmten und wieder zu Säulen wurden. »Ob wir beobachtet werden?« fragte Hasso. Cliff beendete seine Durchsage ans Schiff und sagte kurz: »Ich vermute es.« Sie gingen weiter. Jetzt kletterte die Sonne höher. Cliff maß den Abstand, sah auf die Uhr und stellte Vergleiche an. Jedenfalls verging hier die Zeit nicht langsamer als sonst; aber er erwartete in Kürze irgendeine Teufelei der symbiontisch arbeitenden Planetenoberfläche. Und der Planet enttäuschte seine Erwartungen nicht. Cliff trat auf ein Band aus Glas, das sich vor ihnen durch die Straßen schlängelte wie eine Art Wegweiser. Plötzlich bewegte sich das Band, bildete blitzschnell eine Spirale und hüllte Cliff ein wie ein kristallenes Lasso. Dann verdichtete sich das durchsichtige Material zu einem Block. Ein Würfel aus wasserhellem Glas umgab Cliff, aber er konnte atmen, denken, sehen. Er dachte: »Hasso!« Sigbjörnson, der jetzt drei, vier Meter von Cliff entfernt war, drehte sich nicht um, sondern ging weiter, auf eine gläserne Mauer zu, die sich vor ihm gebildet hatte und vier bis fünf Meter hoch war. Cliff erkannte jede Einzelheit. Hasso ging wie eine Marionette. Weg, weg mit dem Glas! dachte Cliff angestrengt.
Das Kynuroy funktionierte nicht. Cliff blieb gefangen. Ich muß frei sein – das Glas soll sich auflösen! hämmerte Cliff immer wieder in Gedanken; laut sprechen konnte er nicht. Er war bewegungsunfähig. Nichts geschah. Doch, etwas. Farben entstanden. Während Hasso Sigbjörnson sich immer mehr von dem Block, in dem Cliff McLane eingeschlossen war, in Richtung auf die Mauer bewegte, färbte sich der Glasblock mit Cliff ein. Langsam und in Schlieren durchlief die Farbskala die gesamte Breite des Spektrums von Sigbjörnsons Stern. Ein zweitesmal hatte das Vermächtnis der Dara Cliff in den Krallen einer tödlichen Illusion. Weg! dachte er verzweifelt. Weg! Hinaus, fort von hier! Diese Illusionen sollen aufhören!
8 Hasso Sigbjörnson fühlte, wie ihn das Glas immer mehr einschloß. Ein starker Impuls trieb ihn vorwärts, denn irgendwo dort vorn würde er jemanden treffen. Er wußte, daß er im Griff einer Illusion war, aber er ließ sich passiv und willenlos dahintreiben. Er versuchte, dadurch, daß er sich nicht gegen die Halluzinationen stemmte, seinen Verstand zu entlasten und offen zu halten für die kommenden Ereignisse. Es tat ihm leid, daß Cliff wortlos davongerannt war, aber jetzt konnte er es nicht mehr ändern. Er trat durch den Rundbogen, der sich im Glas auftat, hinter ihm sich wieder schloß. Sofort wurden die beiden Glasmauern schwarz. Sie glänzten wie Obsidian und absorbierten die Sonnenstrahlen. Hasso wandte sich nach links. »Was wird geschehen?« fragte er sich. Die beiden Wälle schoben sich jetzt zusammen und ließen nur einen kleinen Zwischenraum. Hassos Schultern stießen bei jedem Schritt an, einmal rechts, dann wieder links. Er ging geradeaus, folgte aber der leichten Krümmung der Doppelmauer. Er konnte jetzt nachfühlen, wie es Cliff zumute gewesen war: das Bewußtsein, in einer Illusionswelt zu stecken und die gleichzeitig auftretende Unmöglichkeit, die Illusion durchbrechen zu können und zu wollen – ein Zustand, der den Verstand zutiefst verwirrte. Eine Viertelstunde verging, ohne daß der Ingenieur es spürte. Er hatte sein Zeitgefühl verloren. Und ging weiter, automatisch.
Plötzlich, als er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, stand er am Ausgang der Doppelmauer. Sie mündete in eine gelbe Arena von vierhundert Metern Durchmesser, ebenfalls von einer runden Mauer gebildet, die aber wesentlich niedriger war. Zuerst sah Hasso nur den Schatten. »Cliff!« rief er. Keine Antwort. Er sah schärfer hin und erstarrte. Der kleine Schatten zeigte an, daß die Sonne höher stand. Der Schatten war der einer hochgewachsenen, schlanken Frau. Zweihundert Meter Entfernung legte Hasso laufend in einer dreiviertel Minute zurück, dann stand er, schwer atmend und schwitzend, vor der Frau. Seine Gedanken wurden klar, sein Verstand funktionierte wie immer. »Ich nehme an«, sagte er zur Eröffnung, »du sprichst meine Sprache, weil du sie in meinen Gedanken gefunden hast?« Die Frau lächelte zurückhaltend und nickte einmal. Sie war groß und schlank, hatte purpurnes Haar und violette Augen. Sie trug einen weißen Anzug von der Art, wie ihn Cornst nach Cliffs Erzählungen getragen hatte. An ihrem Handgelenk sah Hasso einen breiten Reif, etwa fünfzehn Zentimeter breit und aus einem Metall, dessen Oberfläche stark irisierte, so daß Hasso die Farbe nicht bestimmen konnte. Die Frau war etwa dreißig Jahre alt und außergewöhnlich schön – aber es war eine kühle, fast abstrakte Schönheit. Die Symmetrie des Gesichtes war vollkommen. »Was soll dieser Unsinn?« fragte Hasso scharf. »Unsinn? Welcher Unsinn? Ich wollte lediglich mit dir sprechen, Hasso Sigbjörnson.«
»Das tust du bereits. Wir suchen hier, und wissen nicht, was wir suchen.« Die Frau nickte wieder, als habe sie diesen Einwand vorausgeahnt. »Ihr sucht um der Suche willen. Das wird euch Bishayr finden lassen. Du bist hier auf dem Planeten derjenigen, die euch bei der Suche helfen können.« Hasso zuckte die Schultern. »Wie könnt ihr uns helfen?« »Indem wir euch den Weg zeigen. Ihr seid vier Männer und zwei Mädchen in einem Raumschiff?« »Du sagst es«, meinte Hasso verdrossen. »Wie heißt du?« »Ich habe keinen Namen. Es genügt, daß ich bin. Meine Existenz ist Definition genug«, sagte die Frau. »Wir sind nicht hier, um philosophische Theorien zu diskutieren«, sagte der weißhaarige Ingenieur schroff und wischte den Schweiß von der Stirn, »sondern um zu versuchen, eure Feinde zu verjagen.« »Das könnt ihr nicht ohne Kynuroy und nicht ohne Bishayr.« »Kynuroy funktioniert nicht«, sagte Hasso erbittert. »Ich habe mehrmals versucht, mich aus diesem Mauerzeug hinauszudenken. Es funktioniert nicht.« Jetzt lächelte die Frau ohne Namen. »Ich habe es blockiert. Ich habe auch verhindert, daß Cliff McLane mit dir hierherkommt. Es funktioniert jetzt... wollen wir nicht im Schatten sitzen?« Plötzlich standen mitten im Sand einige Bäume mit dichten, gelbbraunen Kronen, zwei bequeme weiße Sessel und ein Tisch, auf dem einige Getränke standen. Hasso setzte sich sofort. »Du wirst mir wahrscheinlich nicht sagen wollen,
was Bishayr ist?« fragte er übergangslos. »Nein.« »Wo können wir Bishayr finden?« Sie deutete in die entsprechende Richtung. Dort wiegten sich noch immer die Gebäude zu den Klängen der gläsernen Harfen. Eben überhäufte sich ein würfelförmiges Gebäude mit Erkern und Zinnen, wuchs und wuchs und krümmte sich wieder nach innen. Es war wie ein gläserner Sumpf, der in mathematisch begreifbaren Formen Blasen warf und brodelte. »Ihr geht nach Osten.« »Ex Oriente lux«, sagte Hasso. »Das Licht der Erleuchtung unseres barbarischen Verstandes kommt von Osten. Finden wir dort Bishayr?« Sie sagte: »Man wird euch den Weg dazu weisen, Hasso. Ihr habt euch also entschlossen, unsere Feinde zu bekämpfen?« »Ja«, sagte Hasso mißmutig. »Da ihr uns in dieses System eingesperrt habt und die Rückkehr mit dem Großen Schiff wohl von unserer Hilfe abhängig ist, bleibt uns nichts anderes übrig. Wir versuchen, die Feinde zu vertreiben. Wer sind eigentlich diese Feinde? Wo sind sie?« Die Frau blickte Hasso an, und Hasso konnte ihren Blick nicht deuten. War er prüfend oder skeptisch? »Du weißt mehr über die Feinde, als du jetzt glaubst. Ihr werdet die Feinde finden, nachdem ihr Bishayr kennt. Noch etwas: Auf jedem Planeten, auf dem ihr landet, findet ihr Spuren der Feinde. Und auf jedem Planeten, auf dem ihr gelandet seid, funktioniert auch Kynuroy. Es ist gleich, was ihr tut – die
angepaßten Zonen werden gehorchen. Das gilt vorläufig nur für Cliff und dich, denn die anderen haben die neutrale Zone des Schiffes nicht verlassen.« Hasso schaltete schnell und sagte: »Jeder von uns muß also einmal durch die Hölle der Illusionen, um nachher diese merkwürdige Fähigkeit zu beherrschen?« »Ja. In den ersten Kontakten unterstützen wir euch, ohne daß ihr es merkt. Die Anpassungsgemeinschaften sind nicht selbstdenkend.« »Wie schön«, sagte Hasso. »Ich wünschte, Cliff säße hier.« Die Frau lachte kurz und schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Ich habe noch nicht alle deine Fragen beantwortet, Hasso.« Wie im Traum, dachte der Ingenieur. Er griff nach einem Glas, trank es halb leer und fühlte sich auf eine wunderbare Weise erfrischt. Dann musterte er die Frau vor sich und fragte: »Ich kenne den Feind? Also habe ich in dieser oder jener Form bereits gegen ihn gekämpft?« »Das ist sehr wahrscheinlich.« Hassos Lächeln entsprach seiner inneren Einstellung zu den Problemen, die sich sehr merkwürdig verhielten. Einmal schienen sie deutlich und greifbar, dann verschwammen sie wieder. Es war an der Zeit, daß sich feste Konturen abzeichneten. »Warum lächelst du?« fragte die namenlose Frau. »Ich glaube, ich habe einigermaßen deutlich erkannt, was dieses Spiegelfechten bedeutet.« »Sage es mir?« »Natürlich. Wir sollen hier dadurch, daß wir auf den vierzig Planeten landen und uns umsehen, Erfah-
rungen und Kenntnisse sammeln. Die Summe aller Erkenntnisse und Fähigkeiten, die unseren Status als Barbaren und Söldner verändern, bringt uns in die Lage, den Feind zu besiegen. Dieser Feind ist nichts anderes als eine Rasse, die ihr irgendwann ausgesetzt habt und die euch über den Kopf gewachsen ist, nämlich die Uraceel. Nur eines weiß ich noch nicht: Haben wir, und wenn ja, wann und wo, gegen die Uraceel schon gekämpft?« Die Frau sagte: »Ich bin überzeugt, ihr werdet binnen kurzer Zeit sämtliche Aufgaben lösen und zu unseren besten Freunden werden. Ich bin jetzt überflüssig – ihr habt etwas von unserem Verstand.« Hasso sah sie aus zornig zusammengekniffenen Augen an. »Cliff sagte es schon einmal: Wir sind nicht hier, um uns beleidigen zu lassen. Wir sind eine jüngere Rasse als ihr, und das, was ihr an Dekadenz erworben habt, ist bei uns noch die Fähigkeit zur kämpferischen Auseinandersetzung geblieben. Ich weiß nicht, welche Fähigkeit im Augenblick die qualifiziertere ist, der Situation entsprechend.« »Ihr werdet Bishayr im Osten finden«, sagte die Frau und verschwand. Mit ihr verschwand ein Baum. Hasso stand auf und grinste breit. »Wieder ein winziger Sieg. Auch mit kleinen Schritten kommt man endlich ans Ziel. Zuerst: Cliff.« Er sah vor sich das Bild Cliffs im Glasblock. Cliff soll hier sein, dachte er. Und augenblicklich transportierte die Anpassungszone den Kommandanten hierher. Er ritt auf einer Glasscheibe, die wie
ein Diskus geformt war, über den Sand, der sich wellenförmig bewegte. Vor Hasso hörte diese Wellenbewegung auf, und Cliff schlug der Länge nach in die Arena. »Verrückte Welt!« knurrte er, spuckte Sand zwischen den Zähnen aus und stand fluchend auf. »Willkommen im Schatten«, sagte Hasso. »Übrigens kannst du deine Flüche in Steine verwandeln und die Glashäuser dort damit zerschmeißen. Gehen wir zurück zum Schiff; ich habe dir eine Menge zu erzählen. Diesmal war ich der Auserwählte.« Während sie sich durch die singende, wachsende Stadt zum Schiff zurückgingen, berichtete Hasso, was er erfahren hatte. »Sollten wir mit der ORION langsam nach Osten fliegen?« unterbrach ihn Cliff. »Das dürfte das Klügste sein, Kommandant.« »Einverstanden.« Dann hörte Cliff weiter zu. Während sie auf die ORION zugingen, verschwand hinter ihnen die Doppelmauer, und dann lösten sich der Baum, der Tisch samt Getränken und der weiße Sessel auf. Die beiden Männer diskutierten über die Wahrscheinlichkeit, endlich zu erfahren, was Bishayr war. * Eine Viertelstunde später umstanden die anderen Besatzungsmitglieder die beiden Männer. »Was ist passiert, Hasso?« fragte Helga alarmiert. Hasso grinste breit und erklärte: »Ich habe einige neue Dinge erfahren. Außerdem können Cliff und ich Kynuroy.«
»Was?« fragte der Astrogator entsetzt, »schämt euch!« »Kynuroy ist die Fähigkeit, innerhalb von Anpassungsgemeinschaften Dinge herbeizudenken«, erklärte der Ingenieur. »Wir werden starten und geradeaus nach Osten fliegen. Dort erwarten uns interessante Dinge. Ihr solltet auch aussteigen und versuchen, mit einer Anpassungsgemeinschaft zusammenzuarbeiten.« »Hasso?« Cliff ging langsam bis zum Kommandantensessel und war tief nachdenklich. Er wirbelte herum und deutete auf seinen weißhaarigen Freund. »Was ist los?« »Ich weiß, was uns nach dem Kampf erwartet«, sagte Cliff aufgeregt. »Es kam mir so einfach in den Sinn, als ich nachdachte.« »Was erwartet uns?« Langsam erwachte der große Diskus wieder zum Leben. Cliff drehte ihn auf der Stelle um neunzig Grad und setzte dann die Flughöhe hinauf. Der Zentrallift schob sich lautlos ins Schiff zurück, und die ORION schwebte dreißig Meter über dem Boden. Unter ihr bewegte jetzt ein leichter Windhauch die Wasseroberfläche. Dann setzte sich das Raumschiff in östlicher Richtung in Bewegung. »Wir sollen die Botschafter der Erde werden. Oder die Mittler zwischen beiden Rassen. Das ist die Belohnung, die man uns in Aussicht stellen wird. Merkwürdig... wie habe ich gerade das herausgefunden?« »Bishayr«, sagte Ishmee. Atan sprang auf und rief aufgeregt:
»Du meinst... Bishayr ist die Fähigkeit, blitzschnell bisher unbekannte Gedankenverbindungen zu knüpfen? Eine stärkere Einschaltung des Unterbewußtseins?« Cliff wehrte ab. »Ich glaube es nicht recht. Möglich, daß es ein Teil von Bishayr ist. Nicht mehr als ein kleiner Teil.« Während die ORION nach Osten hin über die gläsernen Bauten der Stadt flog, fand an Bord wieder das Ratespiel statt. Wie konnte man etwas finden, von dem man weder wußte, wo es zu finden war, noch was es bedeutete? Wieder mußten sie dem Zufall vertrauen. Es schien wirklich das Einfachste und am wenigsten problematische zu sein, vorzugehen, wie man es bisher getan hatte. Naiv beobachtend und jedem Impuls gegenüber voll aufgeschlossen. Hinter der Stadt erstreckte sich eine Landschaft, die auf eine sehr exotische Weise schön war. Die vorherrschende Farbe war ein sattes Gelb, das von vielen kleinen Farbflecken durchbrochen war. Purpur, Rot, Weiß und Schwarz. Das Gelände stieg sanft an, und ungefähr zwanzig Kilometer weiter sahen die sechs Menschen einen etwa dreitausend Meter hohen Bergrücken. Die ORION schwebte darauf zu. Eine volle Stunde verging, ohne daß sie etwas sahen, weswegen sie hätten anhalten müssen. Die Sonne stieg höher, mit fünfzig Stundenkilometern kroch der silberne Diskus auf die Berge zu. Die Insassen starrten auf die Schirme, aber die Landschaft unter ihnen blieb leer und ereignislos. Irgendwann sahen sie ein kleines gelbes Tier, das wie eine Gazelle vor dem Schatten der ORION floh. Zweifellos war dies
nicht der Feind, den sie suchten. »Spannend, spannend!« murmelte Mario de Monti. »Bisher haben wir auf abenteuerliche Erlebnisse nur selten lange warten müssen«, sagte Cliff. »Nützen wir die Ruhe.« Unbeirrbar flogen sie weiter. Die Geräte suchten die Landschaft unter dem Schiff und davor ab. Jeder noch so kleine Energieimpuls würde aufgefangen werden. Kein Bauwerk würde ihnen entgehen. Sie konzentrierten sich auf die Suche, und genau in dem Augenblick, in dem sie so müde waren, daß ihre Konzentration nachließ und sie unaufmerksam wurden, sagte Cliff hart: »Ein Wald – genau vor uns!« Ishmee drehte sich herum und schaute auf den zentralen Sichtschirm. »Ein phantastischer Wald – ein goldener Wald.« Atan knurrte verdrossen. »Besonders wertvoll. Vielleicht wachsen dort die Äpfel der Hesperiden.« Mario fragte, obwohl er es besser wußte: »Was? Die Äpfel der Hemisphären?« »Du elender Banause!« rief Atan. »Endlich sehen wir ein paar Pflänzlein, und du verlierst dich in Wortklaubereien. Hier finden wir Herrn Bishayr! Endlich werden wir die Wahrheit erleben!« Grimmig versicherte Hasso Sigbjörnson: »Alles, was du erleben wirst, du schwarzhaariger Sternsucher, ist das absolute Chaos der Illusionen.« Ishmee hatte den Wald beobachtet und sagte jetzt, sich halb vom zentralen Bildschirm wegdrehend: »Der Wald ist erstens ziemlich groß, und zweitens scheint eine breite Gasse darin in Bewegung zu sein.
Es sieht aus, als würden dort viele kleine Wesen miteinander kämpfen.« Cliff sagte: »Wir gehen geschlossen hinaus und dort hinein. Hasso und ich sind vermutlich so gut wie immun, oder fast immun. Und ihr werdet aus diesem Abenteuer als perfekte Kynuroy-Spezialisten hervorgehen. Los, schnell! In die Expeditionskleidung. Nadelwaffen, Funkgeräte – Hasso nimmt die Fernsteuerung für das Schiff mit.« Blitzartig änderte sich die Szene. Plötzlich war Bewegung in der Kommandokanzel. Während Atan und Cliff die ORION an einen Platz steuerten, wo die Besatzung das Schiff gefahrlos verlassen konnte, fuhren die beiden Mädchen hinunter in den Ringkorridor. Kurz darauf senkte sich die Metallkonstruktion es Zentrallifts ab und berührte den Waldboden. Nacheinander verließen die sechs Mann das Schiff. »Dort hinüber!« sagte Cliff und deutete mit der behandschuhten Rechten in südöstliche Richtung. »Verstanden.« Ein bizarrer Wald, wie eine futuristische Theaterkulisse, umgab sie schon nach wenigen Metern. Die Wurzeln, die Stämme und die Äste wirkten wie versteinerte goldene Schlangen, an denen die Augen der Astknorpel saßen. Sie waren schwarz. Die Bäume hatten keine Krone im eigentlichen Sinn, sondern jeder Ast besaß an einer Spitze ein dichtes Büschel langer, lanzettförmiger Blätter von dunkelbrauner Farbe, die in lange Schnüre ausliefen. Der ganze Wald bewegte sich zitternd und unruhig. Mit Cliff an der Spitze und Hasso, der den Schluß bildete, ging die
ORION-Crew hintereinander vom Schiff weg. Weit vor ihnen, zweihundert oder dreihundert Meter entfernt, schien sich der Wald in einem breiten Streifen wütend zu bewegen. Ein prasselndes, knisterndes Geräusch drang an ihre Ohren. »Geradeaus! Schnell!« Cliff begann zu laufen. Im selben Augenblick griffen die Illusionen nach allen sechs Menschen. Cliff und Hasso dachten scharf, und durch die seltsame Fähigkeit des Kynuroy schafften sie es, die Bäume zurückzudrängen. Die anderen vier – Ishmee, Helga, Mario und Atan – wurden von den Pflanzen angegriffen wie von wütenden Schlangen. Sie krümmten sich unter dem lautlosen Zugriff der Flora von Planet Gelb. »Cliff!« rief Hasso. Der tiefe Ernst in seiner Stimme war nicht zu überhören. Cliff hielt im Laufen inne und drehte sich halb um. »Ja?« »Wir können ihnen nicht helfen. Lassen wir sie allein – der Planet oder genauer, die Dara, werden sie nicht töten wollen. Sie müssen die gleichen Erfahrungen sammeln wie wir. Wir sehen nach!« Hasso rannte an den vier Kameraden vorbei, warf ihnen einen langen, nachdenklichen Blick zu und schloß zu Cliff auf. Beide Männer hielten die Gasdruckwaffen in den Händen. Die anderen der ORION-Crew befanden sich in den Fesseln der Flora. Die schlanken, tastenden Äste griffen nach ihnen, umklammerten die Handgelenke und die Füße. Sie würgten die Hälse und schlugen die Gesichter mit den langen Ranken der Blattspitzen. Hasso und Cliff spurteten durch die weit auseinanderstehenden
Stämme auf den Ort zu, an dem sie die Bewegung gesehen hatten. »Hast du eine Ahnung«, keuchte Hasso nach einigen Minuten, in denen er neben Cliff dahinrannte, »was dort vorn vorgehen mag?« Cliff wischte den Schweiß von der Stirn und sagte: »Keine Ahnung. Wir werden es gleich sehen.« Wortlos rannten sie weiter. Sie duckten sich unter den peitschenden Ästen und wichen den Ranken aus, die nach ihnen schlugen. Einhundert Meter, dann sahen sie sich einem Knäuel aus Ästen und Blättern gegenüber, hinter denen sich etwas bewegte. Sie hielten an und gingen langsam näher. »Ein Mensch!« flüsterte Hasso. »Kein Mensch!« erwiderte Cliff. Hinter dem Vorhang aus goldenen Ranken und hellbraunen Schnüren bewegte sich ein Wesen, das etwa so groß war wie ein Mensch; vollkommen humanoid, aber bis jetzt unsichtbar. Dieses Wesen kämpfte mit Armen und Beinen gegen die Fesseln der Flora. Spitze, wütende Schreie waren zu hören, dazwischen die Geräusche reißender Blätter und brechender kleiner Äste. Der Sand flog nach allen Seiten, als der Kampf härter und erbitterter wurde. Eine armdicke Ranke schnellte zurück, traf beinahe Cliff und raste dann wie ein Lasso nach vorn. Eine Lücke in dem Vorhang öffnete sich. Cliff riß die Waffe hoch. »Hasso!« sagte er in tödlichem Schrecken. »Dieses Bild kennen wir! Diese Haut, diese Zellen!« Hasso sagte tonlos: »Ich kenne sie genau!« Sie versuchten, die tödliche Umschnürung der Äste
zu lösen, indem sie die entsprechenden Befehle dachten. Vergebens. Die Bäume setzten ihren Mordversuch fort. Cliffs Waffe krachte zweimal, und lange Nadeln schlugen in einen der nächsten Stämme ein. Keine Reaktion. Die Pflanzen zwangen die nur zu einem Drittel sichtbare Gestalt nieder und vervollständigten ihre Umklammerung. Einige Blätter verschoben sich, und die beiden Männer sahen die Gestalt. Sie war ohne jeden Zweifel humanoid, etwa so groß wie Cliff, aber damit erschöpften sich auch alle Ähnlichkeiten. Der Fremde, der hier gefangen war, sah aus wie ein an sämtlichen Stellen abgerundeter Umriß eines gläsernen Menschen. Das milchigweiße Material des fremden Körpers leuchtete zwischen den goldfarbenen Pflanzen hindurch, und die Gesichter der beiden Männer wurden weiß vor Schrecken und Angst. Hasso erkannte unterhalb der glasartigen Struktur eine Art Nervensystem, das aus schwarzen Fäden unterschiedlicher Dicke bestand. Aber gegenüber dem Eindruck, den er vor genau dreiundzwanzig Monaten gehabt hatte, war dieses Bild anders. Über das glasähnliche Material spannte sich eine dünne, durchsichtige Folie, und sie sahen einige Sekunden später, während Cliff wütend an den Ästen riß und zerrte, daß ein Ballon den Kopf dieser Gestalt umhüllte – es schien ein Schutzanzug zu sein, mit Helm. »Extraterrestrier!« rief Hasso. »Sind das die Uraceel?« Noch ehe Cliff antworten konnte, geschah es. Das Wesen bekam einen Arm frei, griff durch den Wirrwarr von Blättern und Schnüren und riß an einem Hebel, der seitlich an dem Ballon angebracht war.
Fauchend entwich die Gasatmosphäre des Schutzanzuges, und Sauerstoff strömte herein. Eine Zehntelsekunde lang sah der Kommandant das Gesicht des Fremden – eine leblose, milchglasähnliche Maske mit zwei mandelförmigen Augenlöchern. Dann stieß der Extraterrestrier einen Schrei aus und starb. Augenblicklich schnellten sämtliche Äste in ihre vorherige Stellung zurück. Auf dem Waldboden lag, milchgrau gegen hellbraun, der bewegungslose Körper des Fremden. Zuerst faßte sich Cliff und murmelte düster: »Uraceel und ›Frogs‹ sind identisch.« Hasso sah schaudernd zu, wie sich langsam die tödliche Sauerstoffatmosphäre durch die Öffnung des Helmes nach innen bewegte; die luftumwälzenden Maschinen des dünnen Raumanzugs arbeiteten noch. »War es Selbstmord?« fragte er sich. Cliff steckte die Waffe zurück, als er sie entsichert hatte. »Ja. Selbstmord wegen gestörter Psyche – wahrscheinlich stehen wir hier in einer Anpassungsgemeinschaft, die sich mit aller Kraft gegen die Feinde gewehrt hat. Das war eine der Fallen, von denen Cornst gesprochen hat. Frage: Kennen wir den Feind jetzt wirklich?« Hinter ihnen bewegte sich etwas, und Ishmee stolperte vollkommen aufgelöst, schluchzend und hilflos auf die beiden Männer zu. Cliff rannte ihr einige Schritte entgegen und nahm sie in die Arme. »Es ist alles vorbei«, tröstete er sie. »Es wird sich nicht wiederholen, Ishmee!« Sie schluckte und klammerte sich an ihn. »Es war fürchterlich. Wir alle scheinen Bestien zu
sein, wenn das, was ich erlebt habe, aus meinem Unterbewußten stammt.« Hasso sagte laut: »Nur halb so wild. Wir sind Barbaren und schlimmstenfalls Söldner, aber keine Bestien. Die Bestie liegt hier.« Er deutete auf den ›Frog‹ und kauerte sich dann nieder. In der Mitte des Anzugs erschien ein breiter Riß. Es war, als löse sich ein langer, doppelter Magnetverschluß von selbst. Der Körper darunter zerfiel unter der Einwirkung der Sauerstoffatmosphäre, dem Druck und dem Sonnenlicht binnen Minuten. »Bestie?« fragte Ishmee und drängte sich schutzsuchend zwischen Hasso und Cliff. »Ja«, sagte der Kommandant. »Der Kreis scheint sich geschlossen zu haben, zumindest steht dies kurz bevor. Wir haben vor rund zwei Jahren zum erstenmal mit diesen Wesen Kontakt gehabt, und dieser Kontakt hätte beinahe zu einer Invasion auf Terra geführt. Jetzt begegnen wir den Frogs, den Extraterrestriern oder, wie sie hier heißen, den Uraceel, auf dem ersten Planeten des Sonnensystems. Hier liegt unser Feind.« Unbemerkt war Mario nähergekommen. Er taumelte, setzte sich auf den Boden und lallte: »Feind? Umgebracht, Kommandant?« Cliff erklärte es ihm und redete leise auf ihn ein. Zusehends beruhigte sich der Erste Offizier. »Also Selbstmord.« Wenige Minuten später umstand ein Kreis von sechs Personen den Leichnam. Die Hülle des Raumanzuges schrumpfte in dem Maß, wie sich der Körper auflöste. Er wurde immer kleiner.
»Der Uraceel oder Frog ist hier gelandet. Vermutlich war ein Test oder eine beabsichtigte Landung der unmittelbare Grund dafür. Und er ging in eine der zahllosen Fallen des Planeten – aller vierzig Planeten. Die Bäume wollten ihn erdrosseln, oder aber, bei ihm funktionierte die Falle ebenso wie bei uns.« Atan Shubashi sagte scharfsinnig: »Du glaubst, er fürchtete sich unbewußt vor einer Sauerstoffatmosphäre? Hasso und ich haben ja auf MZ 4 diese Wesen mit Hilfe unserer Raumanzugtanks ausgeschaltet.« »Möglich, fast sehr wahrscheinlich. Er fürchtete Sauerstoff, und er floh hinaus in ein Vakuum, das ihm von der Falle vorgegaukelt wurde. Im Vakuum riß er den Helm auf und erstickte.« Helga hielt ihren Kopf mit beiden Händen. In ihr steckten noch die Erlebnisse der letzten Minuten. »Wenn er nur annähernd das gleiche durchgemacht hat wie wir eben, dann kann ich diese Fallen nur schaudernd bewundern. Sie sind absolut tödlich.« Cliff deutete in die Richtung des Schiffes. »Sie sind ebenso tödlich, wie es eine Invasion der Uraceel auf die vierzig Planeten wäre. Sie würden vermutlich die Lufthülle verändern oder es wenigstens versuchen. Oder sie würden Vakuumkuppeln errichten und dort leben – und um das zu verhindern, brauchen uns die Dara.« Sie gingen langsam zurück zum Schiff. »Ein Feind, dessen Lager man nicht kennt«, sagte Hasso Sigbjörnson voller Nachdruck, »ist schwer zu bekämpfen. Wir müssen herausfinden, wo die Frogs ihren Aufenthalt haben.«
Nacheinander brachte der Lift die Besatzung hinauf und in den Kommandoraum. Sie holten sich etwas zu essen und zu trinken und berieten. Wieder hatten sich einige Steinchen zu einem Mosaikteil zusammengesetzt. Auch die Uraceel waren, wie die Erdmenschen, einmal eine ausgesäte Rasse gewesen. Aus einem Grund, der im Augenblick uninteressant war, hatten sie ihren Heimatplaneten verlassen und versucht, sich als Invasoren zu betätigen. Vielleicht auch auf anderen Planeten, sicher aber auf der Erde. »Und jetzt lauern sie hier irgendwo in diesem Vierzig-Planeten-System und versuchen pausenlos, das System oder einzelne Planeten zu erobern«, sagte Hasso Sigbjörnson und schaute auf die Übersichtskarte, die Atan Shubashi nach den Angaben von Marios Komputer angefertigt hatte. Fast alle Planetendaten waren vermerkt, und einige der ermittelten Mondbahnen. Ein Reigen von vielen kleinen, vielfarbigen Kugeln. »Sie lauern – das ist richtig. Und jedesmal, wenn sie einen Planeten betreten, wehrt sich dieser, gesteuert von den Dara. Wir sahen das Schiffswrack, und wir sehen den Uraceel sterben. Solche Kämpfe wird es an vielen Tausenden Punkten geben, ununterbrochen.« Helga Legrelle blieb nachdenklich vor der Systemkarte stehen und sagte dann zu Ishmee: »Kein denkendes Wesen hält sich dort auf, wo es wenig Lebensmöglichkeiten hat. Das sympathische Umfeld der Uraceel ist das Vakuum. Wo in diesem System, sehen wir vom freien Weltraum ab, finden wir Lebensmöglichkeiten im Vakuum?« Cliff schlug die Ärmel seines modernen Hemdes
hoch, entsann sich dann seiner Kynuroy-Fähigkeiten und sah amüsiert zu, wie sich der linke Ärmel langsam und exakt selbst hochkrempelte. »Auf den hundertzwanzig Monden!« sagte Mario laut. »Seht mal Cliff an, wie er sich mit der Materie beschäftigt. Wirklich sehenswert!« Cliff winkte ab. »Kannst du auch, Mario.« »Das ist es, was ich so hasse!« sagte Atan Shubashi und streckte die Beine von sich. »Suchen! Nichts als suchen. Anstatt daß die Dara uns entgegenkommen, wenn sie schon nicht in der Lage sind, selbst etwas zu unternehmen, schicken sie uns auf die Suche nach dem Feind. Wie ist eigentlich der Uraceel hierher gekommen?« »Wenn es ein Boot oder ein Schiff gibt, werden wir es in den nächsten Minuten mit Hilfe der Bordgeräte finden«, sagte Cliff. »Was wir für die nächsten Tage brauchen, ist ein klares Konzept. Wie gehen wir vor?« »Und wo suchen wir?« Ishmee schüttelte wild den Kopf, ihr langes Haar flog. Dann sagte sie beschwörend: »Auch ich hatte eben so eine Art überraschender Einsicht. Wir beklagen uns stets darüber, daß wir passiv und blind handeln sollen. Das ist genau der Zweck der Dara. Eine Art intellektueller, verstandesmäßiger Läuterung ist es, sonst nichts! Jede einzelne Illusion, jeder weitere Kontakt mit einer der vierzig Welten und deren Natur, die Gespräche mit den wenigen Lebewesen, die wir zu Gesicht bekommen – das alles ist Teil eines Planes. Jedesmal gewinnen wir ein bißchen. Wir beherrschen immerhin schon, wenn auch nicht
souverän, die Fähigkeit des Kynuroy. Es ist nicht anders möglich, Bishayr kennenzulernen. Es ist nicht Böswilligkeit der Dara, uns durch das ganze System zu jagen. Es ist Notwendigkeit. Sie können nicht anders. Wir tun das Vernünftigste, wenn wir genau den Bitten oder Anweisungen der Dara folgen. Es ist unser eigener Vorteil.« Sie schaute nacheinander in die zweifelnden, zustimmenden oder skeptischen Gesichter der anderen Teammitglieder. Hasso nickte zustimmend und sagte leise: »Cliff – Ishmee hat vollkommen recht. Machen wir so weiter wie bisher. Suchen wir Planet um Planet ab.« Mario deutete auf seinen Komputer. »Soll ich versuchen, die Wahrscheinlichkeit eines Kontaktes mit den Uraceel hochzurechnen?« Cliff winkte ab. »Nein. Ich werde jetzt starten. Wir fliegen, möglichst schnell, über diesen Planeten und suchen anschließend die Monde I, II und III des Planeten Gelb ab. Dann tasten wir uns langsam von innen nach außen, vom ersten Planeten bis zum vierzigsten. Dort angelangt, werden wir alle Kynuroy-Spezialisten sein.« »Einverstanden«, sagte Helga Legrelle. »Wir wissen, daß die Uraceel untereinander Funkverbindung haben. Ich werde mithelfen, sie zu finden.« Cliff setzte sich in den Kommandantensessel, aktivierte das elektronische Bordbuch und sprach einen kurzen Text. Dann startete die ORION zu ihrer Odyssee durch das System.
Zuerst sahen sie zu, vierhundert Meter von dem Ort des tödlichen Kampfes zwischen der Anpassungsgemeinschaft mit dem Uraceel entfernt, wie sich der Sand öffnete und das kleine, tropfenförmige Beiboot des Uraceel verschlang – als sei ein unsichtbarer Ameisenbär dabei, ein Insekt zu fressen. Die Natur vernichtete sogar die Spuren dieses Eindringlings. Weit vorn, viele Kilometer entfernt, schickte ein kegelförmiger Vulkan eine lange, dünne Rauchwolke in den Himmel.
9 Planet Gelb war eine erdähnliche Welt, aber von einer sehr merkwürdigen Oberflächenstruktur. Weite Gebiete waren sandig und von runden, inselförmigen Wäldern bestanden. Flußläufe, Berge, Hügelketten – alles war vorhanden, aber nichts hatte Ähnlichkeit mit bekannten Formen der Erde oder den vielen kolonisierten Planeten. Es war die Farbe. Zwei Tage lang kreiste die ORION über dem Planeten, über der endlosen Fläche aus verschiedenen Brauntönen. Goldene Gräser, goldene Bäume, braune Blätter und der Sand. Hin und wieder sahen sie Häuser aus Glas; sie sprachen mit den Bewohnern und erfuhren in winzigen Schritten mehr und mehr. Seit einem Zeitraum, der etwa zwei irdischen Jahren entsprach, versuchten die Uraceel, hier Fuß zu fassen. Seit dieser Zeit verwandelten sich die Oberflächen von vierzig idyllischen Planeten in eine Ansammlung von tödlichen Fallen. Die Gebiete, die sich angepaßt hatten, vernichteten jeden Eindringling. Aus einem rätselhaften Grund schickten die Uraceel immer nur kleine Gruppen, wahrscheinlich deswegen, um die Planeten zu testen. Aber niemand wußte, wo sich der Hauptstützpunkt der Feinde befand. Nach rund fünfzig Stunden heulte der silberne Diskus von einer kleinen Siedlung aus über dem Meer nach oben und raste der Umlaufbahn des Mondes Gelb I entgegen. Die Mannschaft war im vollen Einsatz.
Atan Shubashi katalogisierte den Planeten und kopierte alle Feststellungen auf Mikrofilm. Helga Legrelle suchte den Äther nach Funksignalen ab. Mario de Monti rechnete die verschiedenen Probleme der drei Mondbahnen aus und speicherte alles, was er fand. Ishmee filmte und bediente die automatischen Kameras, während die ORION dem innersten Mond entgegenflog. Um das Schiff war die Schwärze des fremden Weltalls. »Da, der Mond.« Die schwarze Kugel, deren Albedo sehr niedrig war, rollte sich von links ins Blickfeld der Linsen. Eine zerklüftete Landschaft voller Krater, von der Sonne in ein System ringförmiger Schatten und Lichter verwandelt. Das Schiff und der Mond bewegten sich langsam auf einen Punkt zu, der mitten vor der abenteuerlichen Kulisse des Fornax-Systems lag. Die kreisförmig angeordneten Lichtpunkte, an den Rändern in lange Spitzen auslaufend – wie die Momentaufnahme eines Feuerrades – schoben sich ins Bild. Als das Schiff, der Mond und das Zentrum des Fornax eine Linie bildeten, sahen die sechs Personen an Bord sekundenlang ein grandioses Bild. Helga Legrelle saß zurückgelehnt in ihrem Sessel und schaltete, ohne die Knöpfe anzurühren, ihr Funkgerät auf höhere Leistung. Langsam drehte sich ein schwerer Kondensator, und der hochspezialisierte Empfänger suchte die gesamte Bandbreite ab. Ishmee flüsterte: »Dieser schwarze Mond... er sieht gefährlich aus. Schön und gefährlich. Ich habe ein ungutes Gefühl, Cliff.«
Ohne sich umzudrehen und den Blick von dem zentralen Sichtschirm zu nehmen, sagte Cliff leise: »Das ungute Gefühl habe ich seit dem Moment, an dem wir den Uraceel sahen. Ob sich die Rasse aber ausgerechnet hier niedergelassen hat, ist fraglich.« Offen und von der Sonne voll ausgeleuchtet, näherte sich der Diskus dem schwarzen Mond. »Kommandant an Funkerin«, sagte Cliff. »Haben wir Signale?« »Nein, nichts.« Wie die beiden Planeten, die Cliff kannte, wirkte selbst die urweltliche, tote Oberfläche des Mondes irgendwie künstlich. Die Krater waren zu rund und exakt, ihre Wände waren selten eingestürzt, und alles wirkte wie ein schwarzes Gipsmodell eines Raumkörpers, das man sorgfältig erbaut und noch sorgfältiger konserviert hatte. Jetzt erfaßten die Linsen den Bereich, der direkt in der Anflugbahn lag. Das Bild zog sich auseinander, wurde einen Sekundenbruchteil lang undeutlich und dann wieder scharf. Die ORION flog direkt in einen riesigen Krater hinein. Cliff steuerte das Raumschiff in eine andere Bahn, schwenkte dann in einen Orbit ein. Langsam umrundete die ORION den schwarzen Mond. Gebannt starrten die sechs Insassen auf die Bildschirme, die sich vor jedem Platz befanden. Und eine Stunde später entdeckten sie die Schiffe. »Halt!« sagte Hasso. Die ORION wurde abgebremst und driftete unmerklich der Mondoberfläche entgegen. In einem Krater, dessen Boden wie plangeschliffen wirkte, standen drei der Schiffe, die den ORION-Leuten gut bekannt waren. Rings um die drei schlanken, stähler-
nen Nadeln befand sich ein Kreis aus schwarzen Blöcken, nur durch Schatten und erleuchtete Kanten von der Sonne sichtbar gemacht. »Ehe du fragst – keine Funksignale«, sagte Helga leise. Das Schiff kam näher und näher und schlug einen Halbkreis ein; Cliff vollführte dieses komplizierte Manöver mit der Ruhe eines jahrelangen Trainings. Nichts rührte sich dort unten, und die Spannung in der Kommandokanzel kletterte höher. Schweigend sahen sechs Menschen zu, wie das Bild größer und deutlicher wurde. »Keine Spuren, kein Funkverkehr, keine Bewegungen...«, sagte Ishmee. »Ist diese Basis ausgestorben?« Cliff dachte nach. Dann, völlig unvermittelt, schoß die ORION rückwärts und raste in den freien Raum hinaus. Eine halbe Minute später sagte der Kommandant deutlich: »Mario, bitte in die Kabine der Overkill-Steuerung. Wir werden provozieren.« Mario verließ seinen Platz vor dem kugelförmigen Eingabeelement des Komputers und blieb, die Hände in die Hüften gestützt, neben Cliff stehen. Cliff beobachtete mit schärfster Konzentration den runden Bildschirm. Die Abbildung dort war kleiner und schärfer geworden, aber noch immer hatte sich keinerlei Bewegung gezeigt. »Vielleicht haben sie ihre Schiffe oder Siedlungen auf sämtlichen hundertzwanzig Monden verteilt?« vermutete Atan Shubashi. »Vielleicht. Was hast du vor, Cliff? Soll ich die drei Schiffe zu Schrott schießen?« Cliff grinste kurz und erklärte:
»Keineswegs – wir sind nicht als Angreifer ins System gekommen. Wir wollen nur provozieren. Unter Umständen haben uns die Extraterrestrier noch nicht bemerkt, und wenn das der Fall ist, wird ihr Schreck gewaltig sein. Ich werde dir sagen, was zu tun ist. Ich starte einen Anflug, und du...« Er entwickelte in zehn Sätzen seinen Plan. Mario nickte und verschwand wortlos aus der Steuerkanzel, nachdem er den kleinen Lift mit in Betrieb gesetzt hatte. »Für den Overkill-Schuß würde ich mich an deiner Stelle lieber auf die eigenen Finger, nicht auf Kynuroy verlassen!« schrie ihm der Astrogator nach. »Keine Sorge!« sagte Mario. Hinter ihm schloß sich die geschwungene Tür des Lifts. Kurz darauf meldete er sich aus der Overkillkabine. »De Monti an Kommandant. Alles ist fertig. Daten eingegeben.« »Danke.« Die ORION beschleunigte ruckhaft; aus dem Maschinenraum kamen die Geräusche der auf Hochlast arbeitenden Maschinen. Das Material der Schiffszelle vibrierte etwas, dann fegte der Diskus auf den Mond zu. Das Bild wurde größer, die Grenzen verschoben sich vom Zentrum aus nach außen. Wie ein funkelnder Meteor raste das Schiff auf den gigantischen schwarzen Körper zu. »Ich zähle«, kam die Stimme de Montis aus den Lautsprechern. »Fünf... vier... drei... zwei... eins. Los!« Während die ORION aus der geradlinigen Bahn ausbrach und förmlich einen Haken aufwärts, in Relation zur Mondoberfläche schlug, löste Mario den
Overkillprojektor aus. Ein unsichtbarer, nur leicht kegelförmiger Strahl zuckte hinunter, auf die Schiffe zu und schmolz ein rundes Loch in den Mondboden. Cliff fing das Schiff genau zweitausend Meter über dem Boden ab und steuerte hoch, gleichzeitig schaltete er den Linsensatz um. »Hervorragend!« sagte er scharf. Der runde Krater war plötzlich in einen dünnen Nebel gehüllt, als er sich auflöste, sahen die sechs Personen, wie perfekt Mario gezielt hatte. Genau in der Kante des Kraterhanges erschien ein zweites Loch, das fast bis zum Zentrum der Kraterebene reichte. Vier der schwarzen Würfel waren verschwunden, und unterhalb der Schiffe erschien ein heller Lichtschein. Die ORION schwang hinaus in den Raum, vollführte eine halbe Kurve und stellte sich so, daß nur eine Schmalseite von der Sonne beleuchtet wurde. Für normale Augen wurde das Schiff dadurch unsichtbar, oder fast unsichtbar. Die Fahrt verringerte sich. »Ein Licht. Düsenfeuer?« fragte sich Hasso laut von seinem Sichtschirm herunter. »Möglich.« Mario kam aus der Overkillkabine und setzte sich wieder. Er stützte das Gesicht in die Hände und die Ellenbogen auf das Pult und sah schweigend auf seinen kleinen Nebenschirm. »Sie starten!« schrie Atan. »Energieemission!« Ein hartes, stechendes Licht erschien unter den Schiffen, dann schnellten sie sich förmlich von der Krateroberfläche weg. Es war ein Blitzstart, der unglaubliche Werte der Beschleunigung ergeben mußte.
Cliff dachte daran, daß er selbst gegen Robotschiffe gekämpft hatte, aber hier war die Verwendung von Robots einigermaßen sinnlos; die Anpassungsgemeinschaften und die Fähigkeit des Kynuroy würden die Relais unbrauchbar machen können. Der Wirkungsgrad bei der Invasion war zweifellos bei lebenden Wesen wesentlich größer. Hintereinander bogen jetzt die Schiffe in eine andere Bahn ein und wurden noch schneller. »Ich werde ihnen nachfliegen!« versicherte Cliff. Die Flugbahn der drei Schiffe, die unaufhörlich beschleunigten, deutete hinaus, an den Rand des Planetensystems. Die Sonne lag also in ihrem Rücken. Cliff setzte sich zurück, hob die Hand und deutete nach vorn. »Ihnen nach, Männer!« sagte er. Die Triebwerke heulten auf, und die ORION startete erneut. Sie flog den drei fremden Schiffen nach. Atan und Cliff arbeiteten hervorragend und fast wortlos zusammen; der Astrogator spiegelte ständig die Abstandszahlen in einen kleinen Seitenschirm ein. Der Abstand verkleinerte sich nur langsam, aber das war von Cliff geplant. Sie verließen die Bahn des ersten Planeten, rasten in den Raum hinaus, und beide wurden schneller, die drei Schiffe der Uraceel und die ORION. Atemlos verfolgte die Crew die Manöver. Cliff blieb genau hinter den schlanken Schiffen, während sie über den Bahnkreis des zweiten Planeten Rot hinausrasten. Die Jagd ging weiter. Zwischen den Schiffen bestand ein Abstand von sechzigtausend Kilometern, und Cliff behielt diesen Abstand bei. Atans Geräte schafften diese Strecke mühelos, und die Schiffe konnten der ORION nicht entkommen.
»Vielleicht bringen sie uns zu der Basis?« fragte Hasso. Cliff erwiderte unruhig: »Es wäre zu einfach, Hasso. Wir können von den Uraceel nicht verlangen, daß sie es uns so leicht machen.« »Ich schließe mich der Meinung des Kommandanten an«, sagte Helga. »Ich glaube, das ist ein Trick.« Niemand antwortete. Die vier Schiffe rasten mit Unterlichtgeschwindigkeit dem weit entfernten Rand des Planetensystems entgegen. Die Zeit verstrich ereignislos, aber dieses ereignislose Warten peinigte die Nerven der sechs Menschen. Cliff saß angespannt vor der Steuerung und ließ die Gedanken an sich vorbeiziehen – er befand sich in einer Lage, die er haßte wie keine andere.
10 Genau sechzig Minuten später geschah es. Sie befanden sich jetzt zwischen den Bahnen des vierten und des fünften Planeten, also Braun und Grün. Braun hatte, wie sie wußten, vier Monde, und während des rasenden Fluges bekam Cliff von Atan die Benachrichtigung, die Anzahl der Monde von Grün betrage sieben. »Sieben Monde, vermutlich die höchste Anzahl.« Plötzlich schrie Atan: »Cliff – da, voraus!« An der Stelle, an der sich das erste Schiff eben noch befunden hatte, flammte in der Schwärze eine harte, gelbrote Feuerkugel auf und erlosch langsam. Atan sah auf seinem Schirm, daß der Impuls verschwunden war. Cliff flüsterte fassungslos: »Sie sprengen die eigenen Schiffe!« Er starrte auf den großen Schirm vor sich und sah, daß gerade das zweite Schiff explodierte, sich in einen Flammenball auflöste. Eine Sekunde später detonierte auch der dritte Verfolgte. »Aus!« sagte Cliff und zog das Schiff etwas höher, um nicht in die Reste der drei Schiffe hineinzurasen. »Cliff?« Der Kommandant drehte sich um und sah die Spannung im Gesicht von Helga Legrelle. Das Mädchen deutete auf die Kurven ihrer Anzeigen und sagte schließlich: »Es war ein sehr kleiner, schwacher Impuls, aber ich bin ziemlich sicher. Die Uraceel haben die Schiffe
durch Funk gesprengt.« Cliff vergewisserte sich: »Drei Impulse, Helga?« »Ja. Sie deckten sich mit den Detonationen. Wir können die Filme und die Bandaufzeichnungen synchron abspielen, dann sehen wir es genau.« »Ich verzichte auf diesen Beweis«, sagte Cliff, »deine fachliche Aussage genügt mir vollkommen.« »Natürlich habe ich auch etwas zu sagen«, meldete sich der Astrogator. »Bekanntlich kann man Funksignale anmessen und dadurch den Sender feststellen. Ich habe dies getan.« Cliff knurrte ungeduldig: »Ergebnis?« »Fünf der sieben Monde des fünften Planeten stehen relativ nahe beieinander, wenigstens im Augenblick. Aus diesem Winkel ist es gekommen. Mehr kann ich nicht sagen, ich werde aber meine Daten Mario übergeben. Er kann sie hochrechnen. Ich kann mir sehr genau denken, daß die Basis der Uraceel sich auf einem von fünf der sieben Monde des Planeten Grün befindet.« »Gut. Ich warte«, sagte Cliff. Während die ORION in eine leichte Kurve einschwang, um sich dem Planeten und seinen sieben Monden zu nähern, gab Mario de Monti die ermittelten Daten in den Komputer ein. Sekunden später spie die Maschine das errechnete Ergebnis aus. Mario sah auf den Schirm und sagte dann: »Sieben!« »Der äußerste Mond?« fragte Cliff verwundert. Mario zuckte seine breiten Schultern. »Den maschinellen Berechnungen zufolge, ja. Kein
Zweifel. Meine persönliche Meinung: hinfliegen und nachsehen.« »Einverstanden!« sagte Cliff. Die ORION wurde schneller und raste der Position des siebenten Mondes entgegen. * Eine unheilvolle Stille herrschte in der Kommandokanzel. Alle sechs Personen standen um den runden Zentralschirm. Nichts war zu hören als die aufgeregten Atemzüge der Crew. Das Bild des Mondes füllte den Schirm. Es war eine weiße Kugel, die voll im Sonnenlicht lag. »Ein Lob dem Komputer!« Mario de Monti zielte mit dem Ende seines Stiftes auf einen Krater. Dort standen Schiffe und seltsame, offene Bauten. Zwischen ihnen konnte die Crew Gestalten erkennen, die sich bewegten. Schatten, kleine Reflexe, offensichtlich Maschinen und trägerartige Verbindungen zwischen den Bauwerken. »Hier sind sie«, sagte Ishmee. »Hier haben wir den Feind der Dara gefunden«, sagte Cliff. »Und ich habe weder Lust noch die Menge an Rücksichtslosigkeit, um hier Overkill-Angriffe zu fliegen.« Hasso lachte leise und sagte dann nachdenklich: »Du sprichst mir aus dem Herzen, Freund Cliff.« »Und nunmehr erhebt sich die große Frage, wie wir es schaffen, einen Mond voller Uraceel zu besiegen.« Helga stellte die Frage. Cliff sagte ruhig: »Sämtliche Zutaten zu diesem Unternehmen befin-
den sich hier innerhalb dieses Planetensystems. Wir brauchen sie nur richtig miteinander zu kombinieren.« Während die ORION sich in einem riesigen Kreis um den Mond bewegte, erkannten die Besatzungsmitglieder, daß der gesamte Körper voller Bauwerke und Schiffe war. Ein fester ausgerüsteter Stützpunkt der Uraceel in diesem System. Atan Shubashis Fernortungsgeräte liefen mit höchster Leistung. Die Vergrößerung brachte mehr Einzelheiten, aber auch mehr Besorgnis hervor. Hier lebten nicht nur eine große Menge jener Wesen, sondern hier war auch ein militärisch stark gesicherter Stützpunkt. »Die Zutaten?« fragte Ishmee. »Ja. Das Große Schiff, die Dara, unsere ORION und die neu erworbenen Fähigkeiten.« Cliffs Lächeln war ziemlich siegessicher, aber keiner von ihnen machte sich Illusionen über die Schwierigkeiten, die jetzt begannen. Aber endlich war man in der Lage, zu handeln. Etwas zu unternehmen. »Wir kombinieren?« fragte Hasso. »Wo und wie?« Cliff schaltete, schob den Fahrthebel langsam nach vorn und beschleunigte wieder. Die ORION ging aus der Umlaufbahn heraus und schlug eine Gerade ein. Das Ziel der Geraden war der ungefähre Standort des vierten Planeten. »Planet Braun!« sagte der Kommandant. »Was willst du dort?« fragte Atan entgeistert. Cliff grinste. »Das werdet ihr bald sehen.« Mit ständig zunehmender Geschwindigkeit raste der silberne Diskus den vierten Planeten entgegen. In
den Hirnen der sechs Menschen an Bord überschlugen sich die Vermutungen, die Pläne und die Überlegungen. * Diesmal war das Haus größer und besser eingerichtet, denn Cliffs Kynuroy-Fähigkeiten schienen durch die dauernden Kontakte mit den Dara und den Anpassungsgemeinschaften gewachsen zu sein. Fünfzig Meter neben der Doppelschale mit den Glaswänden schwebte das Raumschiff. Hasso stand in der Nähe des Zentrallifts, und der Rest der Mannschaft befand sich im Haus oder direkt daneben. »Auf wen wartest du?« fragte Ishmee. Die Landschaft hatte sich nicht verändert, aber das tödliche Labyrinth aus Stein war nicht wieder aufgetaucht. Diese Anpassungsgemeinschaft hatte die ORION-Crew als vollkommenen Teil des Organismus akzeptiert. »Auf diesen Mann dort!« sagte Cliff und deutete in die Richtung des Flusses. »Ist das Cornst?« erkundigte sich Helga und nahm die dunkle Brille ab. Es war Mittag, das Sonnenlicht überflutete die braune Landschaft und spiegelte sich im Wasser des Flusses. »Ja.« Cliff ging dem Dara langsam entgegen, und zehn Augen verfolgten jede seiner Bewegungen. In der Mitte der Strecke trafen sie sich, und Cornst sagte: »Wir wollen longten, Cliff?« Cliff begrüßte den Dara und erwiderte deutlich: »Wir wollen longten, ja. Wir müssen uns über ein
sehr schweres Thema unterhalten, Cornst.« Während ihn der Dara überrascht von der Seite ansah und erkennen mußte, daß Cliff seit dem letzten Gespräch unverkennbar reifer geworden war, gingen sie auf das Haus zu. Auch Hasso kam näher. »Worüber?« Cliff setzte sich in einen der geschaffenen Sessel, deutete auf seine Crew und sich und sagte entschlossen: »Wir brauchen zwei oder mehr Spezialisten dieses Planetensystems. Zuerst: Gibt es unter euch noch jemanden, der das Große Schiff bedienen kann? Und zwar jemanden, der alle technischen und energetischen Möglichkeiten dieses Riesenschiffes kennt und beherrscht?« Cornst schwieg eine Weile, dann sagte er zögernd: »Ja. Zuvor meine Frage.« »Bitte!« »Habt ihr den Feind gefunden?« Cliff sprang auf. Er stemmte die Fäuste in die Hüften und sagte laut: »Willst du, Cornst, als Vertreter von vielen Milliarden Dara, mir sagen, daß ihr selbst nicht wußtet, wo der Feind sich aufhält?« Cornst schüttelte den Kopf. »Er blieb in seinen Raumschiffen hier im System und landete von Zeit zu Zeit auf den Planeten. Wir wissen nicht, wo er sich befindet. Dies ist die absolute Wahrheit.« Hasso schaltete sich ein und fragte: »Wir sind mit dem Großen Schiff angekommen. Wie habt ihr gemerkt, daß dieses Raumschiff hier abgebremst hat?«
Ohne zu zögern, erklärte der hochgewachsene silberäugige Dara: »Geräte in diesem Schiff sendeten Botschaften aus, die wir mit dem Verstand auffangen können. Selbst wenn die Uraceel über Funk miteinander verkehren, hören wir es nicht. Du wirst auf keinem der Planeten eine Maschine finden; wir brauchen keine Maschinen mehr. Und wir stellen sie nicht her, weil wir niemals so nahe an einen Uraceel herangekommen sind, um seine Sprache seinem Gedächtnis entnehmen zu können. Versteht ihr jetzt, warum wir wirklich nicht wissen, wo sich der Feind niedergelassen hat?« Mario de Monti erklärte mit seiner bedächtigen Stimme: »Das ist unter Umständen das Ende einer kulturell hochstehenden Rasse. Sie ist nicht in der Lage, sich zu wehren, weil sie jede Kenntnis von Abwehrmechanismen vergessen hat. Und trotzdem müßt ihr uns helfen, Cornst, damit wir euch helfen können. Cliff hier wird es dir sagen.« Erstaunt und etwas eingeschüchtert, wie es schien, registrierte der Planetarier die ungewohnte Aktivität der sechs Menschen. »Was soll geschehen?« Cliff hob die Hand und begann an den Fingern abzuzählen. »Wir brauchen einen oder mehrere Männer, die in der Lage sind, schneller und besser als wir das Große Schiff mit allen seinen Einrichtungen zu steuern. Und zwar in erstaunlich kurzer Zeit – die Uraceel wissen, daß sich ein Fremder zwischen ihnen und euch aufhält. Sie wissen es sicher.« Zögernd begann Cornst:
»Es gibt drei oder vier Historiker der Technologie, die mit allen Einrichtungen des Raumschiffes vertraut sein müßten.« Cliff nickte zufrieden. »Hole sie bitte augenblicklich her, Cornst. Von ihnen – und von einigen anderen Dara – hängt jetzt Leben oder Tod eurer Rasse ab.« »Wo sind die Feinde?« fragte der Dara. »Auf dem siebenten, dem äußersten Mond des fünften Planeten.« »Ich verstehe.« Während ihn die Menschen aufmerksam betrachteten, lehnte er sich zurück, entspannte sich und schloß die Augen. Ishmee wurde bleich und begann zu zittern, und Cliff unterbrach seinen Spaziergang zwischen den Sesseln und stellte sich hinter sie, legte ihr die Hände auf die Schultern und hielt das Mädchen fest. Zehn Sekunden später flüsterte sie: »Es war ein unvorstellbar starker Gedankenstrom.« »Mit dem ich vier Männer gebeten habe, sofort hierher zu kommen«, ergänzte der Dara. »Was sollen diese Männer tun?« »Das werde ich ihnen erklären, wenn sie hier sind. Eine zweite Frage, die fast noch wichtiger ist: Wollt ihr alle Uraceel töten?« »Nein, auf keinen Fall. Wir können nicht einmal einen von ihnen verletzen; wenigstens nicht mit unseren Händen.« Atan Shubashi hob die Hand und sprudelte hervor: »Aber mit dem Verstand? Mit Kynuroy und Bishayr?« »Nicht mit Bishayr, aber mit Kynuroy«, erklärte der Planetarier, auf dessen gebräuntem, gutgeschnittenen
Gesicht sich zum zweitenmal eine große Verblüffung abzeichnete. »Ihr kennt Bishayr?« »Einen Teil davon«, erklärte der Astrogator fast fröhlich. »Wir sind eure Erben; glaubt ihr nicht, daß wir zumindest die gleichen Anlagen haben wie ihr? Aber noch etwas: Wir brauchen möglichst viele Spitzenkönner des Kynuroy.« »Wozu?« »Kannst du es dir nicht denken?« unterbrach Hasso. »Die Feinde leben auf einem Mond. Der Mond besteht aus Materie.« »Jetzt verstehe ich das Muster des Vorgehens«, sagte Cornst fast erschüttert. Seine Stimme war ein tonloses Murmeln geworden. »Ihr zwingt uns, Denkschemata anzuwenden, die wir seit Jahrzehntausenden abgelegt haben. Es wird schwer sein, aber ich kenne fünf gute Landschaftsmacher.« Ohne daß sie nachzudenken brauchten, verstanden sie den Ausdruck. »Gut. Hole sie. Sie werden gebraucht.« »Wo?« »Im großen Raumschiff, das über diesem Planeten steht. Wahrscheinlich ebenfalls schon von den Uraceel angemessen und entdeckt.« Cornst stand würdevoll, aber mit deutlich sichtbarer Erschütterung auf und sagte leise: »Wir brauchen für kurze Strecken des persönlichen Fortbewegens keine Raumschiffe. Die vier Technologen werden dort sein, noch ehe ihr das Schiff betreten habt. Und während ihr fliegt, werde ich versuchen, die Landschaftsmacher zu gewinnen. Ich weiß jetzt, was ihr vorhabt.«
Er verschwand übergangslos. Sekundenlang flimmerte noch die Silhouette seiner Gestalt in dem großen Raum, dann löste sie sich auf. Hasso Sigbjörnson knurrte mißmutig: »Da weiß er aber mehr als wir zusammen. Los, mir nach – hinauf ins Große Schiff. Wir verjagen die Uraceel aus diesem System.« Mit beträchtlicher Eile bewegten sich die sechs Personen über das blaue Moos, das hellblaue Gras und die Sandstreifen hinüber zum Raumschiff. Zweimal fuhr der Zentrallift hoch und kam wieder herunter, dann schloß sich die untere Schale über dem Loch, und mit einem kaum wahrnehmbaren Summen begann der Diskus zu steigen. Zehn Minuten später waren sie bereits in dem kleinen Korridor, der hinter der Luftschleuse der Riesenkugel lag. * »Sueel«, sagte Hasso Sigbjörnson, »gibt es eine Möglichkeit, die ORION VIII sicher zu verankern?« »Natürlich!« Sueel war der scheinbar Älteste der vier Technologen. Hasso und die vier Dara standen und saßen in der Steuerkabine des großen Schiffes; Sueel sah aus wie ein fünfzigjähriger Mann mit dunkelgrünem, kurzen Haar. Er hatte sämtliche Kontrollen vor sich eingeschaltet und hob jetzt den Kopf. »Wohin, Hasso?« fragte er. »Vierhunderttausend Kilometer vom siebenten Mond des fünften Planeten entfernt. Dort halten wir an.« Sueel schien plötzlich mit dem Mechanismus ver-
wachsen zu sein. Eine solche souveräne Schnelligkeit und Sicherheit hatte Hasso nur selten bei Cliff beobachtet; jedenfalls spielte Sueel auf der Tastatur und mit den Hebeln wie ein Automat. Die Bildschirme flammten auf, selbst solche, die trotz großer Bemühungen bisher nicht aktiviert werden konnten. »Jahrtausende alt – und alles funktioniert noch«, sagte Sueel. »Es macht Spaß, wieder einmal die Finger zu bewegen. Bewegen zu müssen.« Langsam setzte sich das Schiff in Bewegung. »Beol«, sagte Hasso und wandte sich an den zweiten der vier Dara. »Wir können, sagtest du vor einigen Minuten, mit Hilfe der Projektoren eine Art Polster zwischen dem Schiff und einem festen Körper erzeugen. Würdest du bitte alle Geräte, die dazu erforderlich sind, ausprobieren?« Beol nickte. Er war ebenso gekleidet wie Cornst, aber er war einen Kopf kleiner. Er setzte sich vor ein anderes Schaltpult, nahm einige Einstellungen vor und beobachtete dann die Anzeigen der Instrumente. »Wird die Kraft des Schiffes genügen?« fragte Hasso ängstlich. »Ja. Aber wir hätten uns keinen größeren Gegner heraussuchen dürfen. Wir werden das Schiff bis an die äußerste Grenze belasten.« Aymat und Beol kontrollierten die übrigen technischen Einrichtungen des Schiffes durch, während Hasso leise den Raum verließ. Er wußte, daß nur ein Punkt von vielen erledigt war; Schwierigkeiten würden sich noch in Mengen einstellen. Jedenfalls flog der Koloß jetzt langsam auf den siebenten Mond zu. Hasso kam in den dreieckigen Raum, wo Cliff mit
fünf Männern stand. »Wir können es, und wir können es nicht«, sagte einer von ihnen eben zum Kommandanten. Cliffs Gesicht war finster und beherrscht. Er fragte langsam: »Warum diese Einschränkung?« Der Mann vor ihm versuchte, es ihm zu erklären. »Natürlich können wir Materie bis zu einem gewissen Grad verwandeln. Das ist nur eine angenäherte Bezeichnung; in Wirklichkeit ist es etwas anders. Wir verwandelten Materie bisher nur in einer Form, die uns diente.« »Halt!« sagte Hasso scharf. »Das ist unrichtig. Ihr könnt nicht kämpfen, wie?« »So ist es«, sagte der Dara. »Und diese Fallen, die uns beinahe umgebracht hätten und den Uraceel getötet haben wie viele andere vor ihm... ist das eine Form, die euch nur dient? Das ist aggressive Verteidigung, meine Herren Dara!« »Aber die Fallen reagieren erst, wenn sich in ihnen ein Feind fängt!« protestierte der Sprecher. »Ein Mond voller Feinde – ist das nicht Grund zum Reagieren?« fragte Hasso sehr aggressiv. »Eigentlich schon. Wir können es versuchen, aber wir garantieren für nichts.« Zu Hassos Verwunderung lachte Cliff schallend und sagte überzeugt: »Ich kenne einen zuverlässigen Weg, um den Erfolg zu garantieren. Ich werde mich nicht zurückhalten lassen, ihn auch zu beschreiten, wenn es soweit ist, meine Herren. Und jetzt – hier sind die Bilder des siebenten Mondes von Planet Grün.« Er deutete auf die Projektionsfläche.
Die Gesichter der fünf Männer wurden ernst, als sie die versammelten Schiffe und die Bauten sahen, die eng aneinandergerückt die gesamte Oberfläche des Mondes bedeckten. Hier sahen sie die stählerne Bedrohung. Die entarteten Söhne waren zurückgekommen, um die Eltern umzubringen und deren Wohnstätten zu verwüsten.
11 Es war ein Tag oder eine Zeit, in der er sich ausgesprochen wohlfühlte. Er lag im Schutz einer Meteorplatte und schaute hinaus in die Schwärze des Alls. Wenn er seinen Kopf senkte, konnte er den Planeten erkennen. Er fühlte, wie sich die Gier in ihm verstärkte. Hierher waren sie gekommen, nachdem man sie aus einer anderen Milchstraße vertrieben hatte. Und hier wollten sie bleiben; es genügte ihnen vollkommen, auf einem der Planeten zu landen und dort die vorbereiteten Vakuumkuppeln aufzustellen. Sie warteten nur noch auf die letzten Kundschafter, die in Gruppen von zehn Booten starteten – und jeweils einer aus der Gruppe kam zurück und berichtete, was er gesehen und erlebt hatte. Die vierzig Welten schienen die Hölle zu sein, wenigstens für die Uraceel. Aber eine Armada von Schiffen, zuerst maschinellen Geräten ohne Uraceel-Besatzung, würde auf einem Planeten, und zwar dem grünen dort »unten«, ein Stück Land verbrennen. Die Uraceel konnten selbst unter Hagelschauern von radioaktivem Niederschlag existieren, aber nicht in einer Sauerstoffatmosphäre. Der Invasionsplan lag bereits fest. Er blinzelte mit seinen halbdurchsichtigen Lidern, als er zwischen dem Hintergrund des fremden Nebels und dem Kraterrand, hinter dem er lag, einen winzigen Lichtblitz wahrnahm. Was ist das? dachte er. Langsam richtete er sich auf, kam auf die Beine und bewegte sich in der geringen Schwerkraft langsam bis zu der Landetreppe seines Schiffes. Dort hielt
er sich fest und schaute zwischen einem stählernen Verbindungsgang aus Bauteilen und zwei Schiffssilhouetten hindurch. Ein Blitz aus Blau und Silber, eine harte Farbe. Dieser Blitz näherte sich, wurde deutlicher und nahm runde Form an. Auf seiner Oberfläche sah der Uraceel jetzt die Muster von Kratern und Ringen, von Rissen und Spalten und Strahlensystemen. Gefahr! Dort kam, viel zu schnell für seine Größe, ein kleiner, exakt runder Mond auf ihn zu. War es ein Körper, der seine Bahn verlassen hatte und als Irrläufer durchs All fegte? Er reagierte sofort. Er ergriff das Geländer und trat auf die erste Stufe, als seine Gelenke unter ihm nachgaben. Er spürte in jedem Muskel plötzlich, wie der Mondboden unter ihm an ihm riß und zerrte. Unvermittelt hatte der Mond, auf dem die Basis der Uraceel lag, seine Anziehungskraft vervielfacht. Der Uraceel machte eine letzte, verzweifelte Anstrengung, und sein Gehirn drohte zu versagen – eine wissenschaftliche Unmöglichkeit. Ein Mond, der nur ein Zehntel der Anziehungskraft hatte wie der kleinste Planet in diesem Multisystem, verstärkte seine Anziehungskraft. Alarm! Überall schalteten sich die Warneinrichtungen ein, und blinkende Lampen warfen die Signale auf den Mondboden. Die Anziehungskraft wurde noch stärker... jetzt lösten sich seine Finger vom Stahl, und er brach auf dem Mondboden zusammen. Er kippte um, rollte auf den Rücken und spürte, wie seine inneren Organe die Arbeit versagten – sie konnten nicht mehr gegen diesen Druck ankämpfen.
Er lag da, mit offenen Augen, und er starrte fast senkrecht hinauf. Im Blickwinkel nahm er den Irrläufer wahr, der immer näher kam. Ein Zusammenstoß war in den nächsten Zeiteinheiten unvermeidlich, und er würde beide Körper zerschmettern und zahllose Uraceel töten. Und alle Schiffe würden zerstört werden oder wegtreiben, umschwirrt von kosmischen Trümmern. Er wartete auf den Tod. Der Mond wurde größer und füllte das gesamte Blickfeld aus. Von den stählernen Verbindungsstegen zwischen den Schiffen und den kleinen Bauwerken fielen die anderen Kameraden, die von Schwerkraft zu Boden gerissen worden waren. Nur die vielfarbigen Warnlichter drehten sich, aufgeregte Rhythmen blinkend. Zwei- oder dreitausend Mannslängen von der Oberfläche des Mondes entfernt, hielt der Irrläufer an. Überall lagen Tausende von halb besinnungslosen, tödlich erschrockenen Uraceel; in den Gängen, auf dem Mondboden, in den unterirdischen Kammern und in den Räumen der Schiffe. Sie hatten nicht einmal Zeit gehabt, die Schalter umzulegen, die das Neutralisationsfeld einschalteten. Der fremde Mond stand unbeweglich über dem großen Krater und versperrte die Sicht auf die Sterne. Nur unter seine Krümmung und über dem gezackten weißen Kraterrand hing, wie eine grüne Illusion, der Planet. Der Uraceel spürte, wie ihn die Besinnung verließ. Er gab auf. *
»Bis jetzt, Sueel, verlief alles tadellos!« sagte Hasso. »Und jetzt drehen wir das Schiff und so weiter.« Der Dara nickte wortlos, und alle vier Männer arbeiteten zusammen. Sie riefen sich Kommandos in einer Sprache zu, die Hasso nicht verstand. Aber ein Umstand machte ihn stutzig: Diese Worte mußten einen wesentlich höheren Informationswert besitzen als gewohnt. Eine Silbe schien die Bedeutung eines ganzen Satzes zu haben. Ein weiterer Teil von Bishayr? »Alles klar!« sagte Beol. Hasso starrte mit verkniffenem Gesicht das Bild an, das aus fünf Kilometern aufgenommen und stark vergrößert wurde. Er erinnerte sich zum wiederholten Mal an die Stunden der Verzweiflung, die er zusammen mit seinem Kameraden in der terranischen Station verbracht hatte, wo sie zum erstenmal auf die Extraterrestrier gestoßen war. »Bitte weiter nach Plan!« sagte Hasso. Er verließ den Steuerraum und ging hinüber in den dreieckigen Raum. Wieder war die Wand durchsichtig geworden und zeigte das Bild des Mondes. Die fünf Dara lagen entspannt in den großen Sesseln und schienen das Bild in sich aufzusaugen. Plötzlich entstand Bewegung – einer der Männer sprang auf und lief schreiend auf den Kommandanten zu. Hasso blickte blitzschnell in Cliffs Gesicht – er kannte diesen kalten, entschlossenen Blick. Er wußte, was jetzt passieren würde. »Hasso!« sagte Cliff leise, aber hart. »Verstanden!« sagte der Ingenieur. »Ich kann nicht!« schrie der Dara. »Wir bringen sie alle um. Ich kann mir nicht vorstellen... ich verliere die Kontrolle!«
Cliff und Hasso reagierten gleichzeitig. Hasso griff nach dem Dara und hielt ihn fest. Er hoffte, daß sich der Planetarier nicht plötzlich seiner Fähigkeiten erinnert und das Schiff verließ. Cliff trat vor den Mann hin und fragte mit gefährlicher Ruhe: »Was kannst du nicht?« Der Dara keuchte entsetzt: »Das ist ein Angriff! Ich kann nicht angreifen. Ich merke, wie meine Kontrolle nachläßt. Ich kann für nichts garantieren.« »Du kannst. Und ich kann auch«, sagte Cliff hart, trat einen Schritt zurück und holte aus. Zwei harte, schmerzende Schläge trafen, den Dara, der in Hassos Armen plötzlich steif wurde. »Du schlägst mich...«, schrie er verwundert. Die anderen vier Dara schienen aufzuwachen, bewegten sich unruhig, und Hasso hatte das verzweifelte Gefühl, daß die künstliche Schwerkraft dieses Mondes dort aufgehoben sein würde, wenn er dies zuließ. »Natürlich!« sagte Cliff ungerührt und schlug abermals zu. Der Dara keuchte und wimmerte halb hilflos, aber in einem gefährlich schrillen Tonfall: »Ich hasse dich, Terraner! Ich lasse mich nicht schlagen... ich hasse!« Hasso drehte ihn herum, schob ihn energisch in den Sessel und schrie ihn an: »Dort sind die, die du zu hassen hast! Und jetzt los! Erhalte deine Illusionen aufrecht, du greisenhafter Idiot! Hasse die Uraceel, die eure Planeten verwüsten!« Er sprang mit einem Satz über den Tisch und blieb vor den anderen Männern stehen. Von der anderen
Seite kam Cliff und zog seine HM 4. »Ihr könnt so schnell nicht verschwinden, wie ich euch töte«, versprach er mit einer eiskalten Stimme. »Los, weitermachen, wie es besprochen wurde. Und versucht nicht, zu fliehen – ich bringe euch vorher um!« In dem dreieckigen Raum herrschte plötzlich ein lähmendes Schweigen. Auch Hasso zog seine tödliche Strahlwaffe und zielte auf die Männer. Rechts und links von dem Bild standen die zwei Besatzungsmitglieder der ORION VIII und bedrohten die Dara. Und jetzt begann sich das Große Schiff zu drehen. * Der Uraceel kam wieder zu sich. Noch immer hing der fremde Mond unbeweglich über dem großen Krater. Die Augen des erschlafften Uraceel waren noch immer auf die Rundung gerichtet. Es war, als ob sich eine gigantische Stahlplatte auf ihn senken und ihn – zusammen mit allen anderen seiner Kameraden – erdrücken wollte. Unvermittelt riß der starke Sog der Schwerkraft ab. Ins Schiff! Start! Er versuchte, sich umzudrehen. Jeder seiner Muskeln schmerzte, jede Nervenfaser und jede der über den ganzen Körper verteilten Nervenschaltstellen war in Aufruhr. Langsam schaffte es der Uraceel, sich auf den vorderen Teil seines Körpers zu drehen. Er stemmte die Arme gegen den Boden und richtete sich unter gräßlichen Schmerzen auf. Eine gigantische Willensanstrengung ließ ihn auf die Füße kommen. Schmerzen peinigten seinen Körper, und sein Ver-
stand war wie gelähmt. Er machte einen Schritt, und es gab ein dröhnendes Geräusch in seinem Hirn. Ein zweiter Schritt. Er mußte sein Schiff erreichen – dort war er sicher. Als er, Schritt für Schritt und unter Ausnützung seines gesamten Energiepotentials, sich auf die stählerne Treppe zubewegte, sah er undeutlich, wie seine Kameraden sich ebenfalls bemühten, auf die Füße zu kommen. Und jetzt bewegte sich dieser rätselhafte Mond, der sämtlichen Naturgesetzen Hohn sprach. Er drehte sich über dem Krater, veränderte aber weder seine Position noch den Abstand. Es schien eher, als käme er noch näher. Der Uraceel kletterte die Leiter hoch, zog sich mühsam nach oben, und automatisch setzte er Fuß vor Fuß. Noch zwei Mannslängen bis zur Schleuse. Sie stand angelehnt, und er sah die Nietenreihen in den stählernen Platten leuchten. Sie erschienen ihm wie das letzte Ziel, das er jemals haben würde. Er ging darauf zu. Einen Meter, nachdem er die Treppe verlassen hatte, schmetterte ihn die unsichtbare Faust erneut zu Boden. Er krachte auf das Metall nieder. * Während sich das Schiff in die endgültige Position drehte, konzentrierten Helga Legrelle und der Dara Ropal ihre Kynuroy-Fähigkeiten auf die Außenschale des Großen Schiffes. Dort standen nach wie vor die Krater und Löcher, die aus dem Schiff einen Mond machten – wenigstens in dem Bewußtsein der Uraceel.
Zwischen dem Raumschiff und dem Mond errichtete Beol ein Feld, das nach beiden Seiten wirkte und beide Körper in einem gewissen Abstand halten würde. Dann, nachdem dieses Feld stand, wurde es fein ausjustiert, und die Antriebsmaschinen des Großen Schiffes begannen zu arbeiten. Sie schoben den siebenten Mond. Sie beschleunigten ihn nur langsam. Zuerst waren es nur Millimeter, um die jene Masse beschleunigt wurde. Die Stoßrichtung verlief genau in dem Bahnkreis, den auch der Mond um den Planeten beschrieb, also in Wirklichkeit in einer langgezogenen Wellenbahn. Jetzt waren es schon Zentimeter, dann Meter. Der Mond wurde in seiner Bewegung schneller. Da seine Bahn, wie die aller Monde, dem Zusammenwirken von Anziehungskraft und Fliehkraft entsprach, verringerte sich, indem die Fliehkraft verstärkt wurde, die Anziehungskraft des Planeten. Der Mond wurde schneller und verließ an einem bestimmten Punkt seine kreisförmige Bahn. Er brach aus dem Kreis aus und bewegte sich entlang einer anderen Kurve. Da das Große Schiff mit auf Vollast arbeitenden Triebwerken den Mond schob, wurde aus dieser flacheren Kurve innerhalb einer gewissen Zeit eine Gerade. Der Endpunkt der Geraden lag dort, wo sich die Linie, die die Instrumente und Rechenmaschinen von der Sonne ausgehend gezogen hatten, mit dem Bahnkreis des vierzigsten, äußersten Planeten traf. Eine Stunde verging. Unaufhörlich arbeiteten die Maschinen. Sie beschleunigten das Schiff, und sämtliche Verbindungen der Kugel begannen zu schwingen und zu
ächzen. Wieder einmal erwachte der Metallkörper zu einem gespenstischen Leben, und der Dara an den Kontrollen hörte diese Geräusche und sah angstvoll auf die Instrumentenanzeigen. Schweiß stand auf seiner Stirn, aber er sah, daß sämtliche Werte zwar hoch, aber gleichmäßig waren. Hasso kam in die Steuerkabine zurück. »Wie sieht es aus?« fragte er leise, um die Konzentration nicht zu beeinträchtigen. Er fühlte sich alles andere als siegessicher. »Gut. Aber ich kann bald nicht mehr«, sagte Sueel fast flüsternd. Seine Finger zitterten. »Du wirst es müssen«, sagte Hasso unbarmherzig und hielt die Waffe locker in der Hand. »Deine fünf Freunde dort drüben müssen von uns brutal behandelt werden, um weitermachen zu können. Zwinge mich nicht, dasselbe hier zu tun.« Eine Sekunde lang hob der Dara den Kopf. Ihre Blicke trafen sich. Hasso las in den Augen des Planetariers Erschöpfung und beginnende Panik; die Krise würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Aber der Dara erkannte auch, daß der Terraner seine Drohung unbarmherzig wahrmachen würde. Und selbst Dara waren weder unverwundbar noch unsterblich. »Was geschieht, wenn ich nicht mehr kann?« flüsterte er vor sich hin. »Wir sind keine Kämpfer. Wir wissen, was wir tun, und diese Art von Handeln ist uns wesensfremd.« Hasso setzte sich halb auf das Instrumentenbord und legte seine Waffe auf den Oberschenkel. Wie unbeabsichtigt spielte er mit dem Abzug. »Sueel«, flüsterte er eindringlich, »ein stählerner Regen von Raumschiffen wird auf die Planeten nie-
dergehen und zuerst große Gebiete des Erdbodens verbrennen. Wahrscheinlich mit Kernzerfallbomben. Das bedeutet für euch, daß alles stirbt. Gräser und Bäume, Tiere und Dara. Alles. Und dann kommen die halb durchsichtigen Uraceel, gegen die selbst diese Waffe nicht wirkt. Sie sind nicht anders umzubringen als durch Gas oder dadurch, daß man sie wahnsinnig macht. Beides ist nicht in unserem und noch weniger in eurem Sinn. Wir vertreiben sie für immer aus diesem System!« »Ja«, sagte der Dara erschöpft. »Ihr vertreibt. Es ist schwerer, als wir glaubten. Sieh meine Freunde an... sie können nicht mehr!« Mit ihrer Energie hätten sie vermutlich die Oberfläche eines Planeten umgestalten können, aber das Bewußtsein, daß diese Aktion sich mit »Kampf« überschreiben ließ, lahmte die Dara. Innere Sperren errichteten sich, das jahrhundertelange Üben einer Kultur ohne jede Gewalt, ohne die Spur von Aggression, ließen den Versuch zu einer unerträglichen Belastung werden. »Wenn sie nicht können«, sagte Hasso leichthin, »dann werden die Milliarden Dara sterben. Unsere Schuld ist es nicht. Hättet ihr euch einen etwas weniger mächtigen Feind herausgesucht oder bessere Söldner geholt, hätten wir dieses Problem nicht. Wir tun, was wir können, sogar noch etwas mehr. Tut ihr, was ihr könnt!« »Es ist schwer!« flüsterte Sueel. Hasso sah, daß die Krise unmittelbar bevorstand. Er hob den Strahler und feuerte einen Schuß ab. Ein Blitz schlug krachend in einen Bildschirm, der den Mond in einer anderen Farbe zeigte, und Scherben
regneten in die Kabine. Hasso schrie, so laut er konnte: »Was in diesem Kosmos ist nicht schwer? Ihr arroganten Helden – Versager seid ihr alle! Weichlinge und Feiglinge!« Seine Worte hatten die Wirkung von Peitschenschlägen. Die Männer duckten sich förmlich in einem ersten, unbewußten Reflex. Dann entstand Widerstand. Widerstand gegen diesen Barbaren, der mit ihnen schrie und die Dara unwürdig behandelte. Der aktivierte Widerstand übertrug sich auf die Überlegungen, und die vier Männer machten weiter. Die flache Kurve, in der der Mond von seiner Jahrmillionen alten Bahn abwich und einem fernen Punkt zusteuerte, wurde immer gerader. Und die Geschwindigkeit des siebenten Mondes nahm zu. Sämtliche Kräfte des Schiffsriesen stemmten sich gegen den Körper aus Felsen und Staub. Risse erschienen auf der Oberfläche, und die Schiffe der Uraceel neigten sich. Einige stürzten um. Noch immer herrschte die verrückte Schwerkraft, jetzt schon seit mehreren Stunden. Die Zeit verging sowohl für die vielen Zehntausende Uraceel als auch für die verzweifelte Besatzung des Schiffes nur langsam. Aber der Mond wurde schneller, und die Gerade war erreicht. Atan Shubashi löste Sueel ab, als dieser zusammenbrach. Hasso lud ihn sich auf die Schultern und trug ihn hinüber in eine der Schlafzellen, wo sich Ishmee und Helga um ihn kümmerten. Die Hälfte der Kugel, die dem Mond abgewandt war, verlor ihre Struktur und wurde schlagartig wieder zu einer
glatten, schimmernden Metallfläche, als Helga ihr Kynuroy unterbrach. »Aber die Maschinen laufen weiter«, sagte Atan zu Hasso, als der Ingenieur zurückkam. »Sie werden es auch noch einige Zeit aushalten müssen.« Sie alle waren angespannt und dem Zusammenbruch nahe. Die Anspannung der Nerven übertrug sich auf die Körper. Während der Dara, den Hasso und Cliff mit Gewalt gezwungen hatten, ein längst verloren geglaubtes Gefühl, nämlich den Haß, wiederzuentdecken, zusammenbrach, stärkten sich die beiden Terraner mit Alkohol, Kaffee und Weckmitteln. Cliff deutete auf die drei Dara, die unbeweglich, mit halbgeschlossenen Augen, in ihren Sesseln lagen. »Nur noch drei.« Mario de Monti kam herein und murmelte: »Ich habe einen verrückten Plan, Leute. Wir könnten die ganze Situation etwas entspannen.« »Indem wir Raumfahrerlieder singen oder TomasPeter-Bänder abspielen?« erkundigte sich der Kommandant sarkastisch. Mario schüttelte grinsend den Kopf. »Nein. Indem wir einen dieser passiven Helden hier in einen schweren Raumanzug stecken und ihm sagen, wie schön die Natur auf dem Mond ist. Er soll dort drüben etwas Interessantes anstellen. Vielleicht die Mondkrater in viele kleine Sauerstoffflaschen verwandeln und die Uraceel noch mehr ängstigen.« Cliff nickte bedächtig. »Das wäre eine Idee, Mario. Komm, wir kümmern uns gleich darum.«
Während in den nächsten Stunden das Große Schiff den Mond weiter beschleunigte und ihn vor sich her auf die ferne Kulisse des Fornax-Systems schob, während neue Wellen von verstärkter Schwerkraft die Uraceel an den Boden fesselten, während auch Ropal zusammenbrach und erschöpft und fiebernd weggeschafft werden mußte, brach abermals eine Hölle los. Aymat, der Technologe, wurde eingesetzt. Er tauchte auf der Oberfläche des siebenten Mondes auf und setzte seine Kynuroy-Fähigkeiten ein. * Als er wieder zu sich kam, wußte er nicht, wieviel Zeit vergangen war. Er erhob sich mühsam, stolperte die wenigen Meter bis zur Schleuse und setzte sich erschöpft auf die Schwelle des Einstiegs. Der Mond? Er hob den Kopf und betrachtete den Körper, der noch immer an der gleichen Stelle schwebte. Die Krater und Spalten waren deutlich zu sehen; der Irrläufer hatte sich nicht genähert. Aber unter ihm, in der Kraterebene, sah der Uraceel Zerstörung und Vernichtung. Spalten waren aufgebrochen. Kraterhänge waren eingestürzt und hatten die Bauwerke teilweise vernichtet, teilweise nur verschüttet. Einige Feuer loderten – wie es möglich war, daß es hier Flammen gab, konnte sich der Uraceel nicht erklären. Hin und wieder neigte sich eines der schlanken Schiffe und fiel um. Die Erschütterung setzte sich
durch den Mondboden fort und war deutlich spürbar. Metallträger und Verbindungen waren verbogen und abgerissen. Es war der Untergang. Als er hier saß und nachdachte, verstand er plötzlich, daß alles ein Ende hatte. Die addierten Schrekkensbilder eines langen, kriegerischen Lebens tauchten vor ihm auf. Resignation und Melancholie überfielen ihn. Aus dem Gewirr finsterer Gedanken wurde ein deutliches Muster... ein Plan gewann Umrisse. Wir müssen alles hinter uns abbrechen und neu beginnen, dachte er erbittert. Alles war falsch. Was war Kampf? Kampf war nichts anderes als die Fähigkeit, andere zu überfallen, ihnen etwas zu stehlen oder sie zu töten. Was hatten sie nicht alles hinter sich gelassen; eine undenkbare Menge von Schuld und Verwüstungen, von Tod und Elend. Diese Gedanken, dieses Erbe ließen keinen Frieden aufkommen, keine Ruhe und keinerlei Zufriedenheit. Der unersättliche Krieg, die Gier nach Besitz und einer Heimat, die man Lebenden wegnahm, indem man sie tötete, folterte und zerfraß ihn. Er wußte, was zu tun war. »Alle Karten vernichten, alle Brücken abreißen.« Die Schwerkraft des Mondes ließ es zu, daß er sich bewegte. Er ging in das Schiff hinein und bemerkte, daß es ihm Tausende und aber Tausende seiner Kameraden nachmachten. Langsam und müde ging er in die Kammer, in der die gesammelten Sternkarten lagen und riß nacheinander die Fächer mit den Speicherelementen auf. Er warf alles auf einen Haufen, mitten in der Kabine, dann nahm er die kleine, klobige Waffe aus dem Gürtel und zielte, schoß Dauerfeu-
er, bis sämtliche Karten verbrannt und vernichtet waren; im Vakuum blieb nichts übrig als eine klebrige Masse unbestimmter Konsistenz. Dann fühlte er sich ein wenig wohler. Er schloß sämtliche Schotte, dann drehte er den Druckregler auf und ließ Atemluft ins Schiff. Dieses Gas hätte menschliches Zellgewebe innerhalb von Sekunden verbrannt und aufgefressen. »Hier spricht der Kommandant«, sagte der Uraceel in seiner Sprache. Vor ihm schalteten sich die Geräte ein. »Ich spreche zu allen Schiffsführern. Auf diesem Mond stehen dreißigtausend Schiffe mit ihren Besatzungen. Die Robotschiffe haben wir auf den Monden des Planetensystems stehen – dieser Besitz wird uns nicht mehr belasten. Ich gebe hiermit den Befehl, alles für einen Start vorzubereiten. Wir verlassen das System.« Sein Wort war Befehl; obwohl die geschwächten und demoralisierten Uraceel sich diesen Befehl nicht erklären konnten, gehorchten sie automatisch. Einer von ihnen meldete sich. »Kommandant?« »Ja?« »Ich habe etwas getan, wofür ich vermutlich den Tod verdiene. Ich habe sämtliche Sternkarten vernichtet.« Der Kommandant schwieg. »Hören Sie mich, Kommandant?« »Natürlich. Zweiter Befehl. In sämtlichen Führungsschiffen sind die Unterlagen zu vernichten. Wir fliegen dort in diesen Sternnebel hinein und suchen einen Planeten, der unseren Lebensbedingungen entspricht. Start in drei Zeiteinheiten.«
»Verstanden.« In den nächsten Stunden schleppten die Uraceel – auf diesem Mond lebte die gesamte Rasse, die seit Jahrzehnten ein Nomadenleben geführt hatte – alles, was sie brauchten, zurück in die Schiffe. Mehr als eine Million Uraceel arbeiteten unter der Drohung des stahlblauen Mondes mit den weißen Kraterrändern. Daß der grüne Planet inzwischen verschwunden war, merkte keiner von ihnen, da sie so beschäftigt waren. Sie merkten auch nicht, daß der Mond immer schneller geworden war. Mit mehr als einhundertfünfzigtausend Kilometern in der Sekunde bewegte sich der ehemals siebente Mond des Planeten Grün aus dem System hinaus, auf die fernen Sterne zu. Mitten unter den Arbeiten überschwemmte eine neue Woge von Panik den Mond und die Wesen, die sich darauf aufhielten. Die Meteore kamen. Und diesmal war es keine Illusion, sondern eine Realität, die niemand vorausgesehen hatte. Der Schwarm der jährlichen Nistoliden brach über sie herein. Jedes Jahr hagelte ein Schauer von kleinen und großen Meteoren aus dem Gebiet des FornaxSystems auf das Planetensystem nieder. * Cliff, Hasso und Mario saßen zu Tode erschöpft im dreieckigen Raum. Durch die offene Verbindungstür hörten sie aus dem Steuerraum, wie Atan Shubashi und der Dara Beol arbeiteten. Mario murmelte undeutlich: »Ich brauche nur eines – Schlaf!«
Cliff sah auf die Uhr und erkannte verblüfft, daß sie seit siebenundzwanzig Stunden beschleunigten. »Das Gespann muß ja eine teuflische Geschwindigkeit haben«, sagte er. »Was war das?« Irgendwo erscholl ein starkes, dröhnendes Hämmern. Hasso erklärte sarkastisch: »Jemand schlägt einen Nagel in die Wand. Vermutlich hängt Ropal jetzt seinen Beruf daran auf.« Mario murmelte: »Kam von draußen. Meteore wahrscheinlich.« Cliff stutzte, überdachte im Bruchteil einer Sekunde die Folgen und stürzte zu Beol und Atan in die Steuerzentrale hinein. Er blieb zwischen ihnen stehen und fragte aufgeregt: »Habt ihr die Meteore entdeckt?« »Ja«, sagte Beol. »Ich nehme gerade etwas Energie von den Triebwerken weg und errichte damit einen Schutzschirm um den Teil des Schiffes, der im Bereich der Meteore liegt.« Cliff sagte heiser: »Der Mond!« Der Dara wandte sich um und fragte verständnislos: »Was ist mit dem Mond? Er hält die Hauptmenge der gefährlichen Meteore ab! Er wird um einige Tonnen schwerer, das ist alles!« Cliff fauchte: »Und um einige Leichen. Alle Uraceel, die auf der uns abgewandten Seite des Mondes sind, können dabei sterben.« Atan wandte sich an Beol und fragte laut: »Zwei Möglichkeiten bieten sich an, Technologe! Entweder wir weiten die Schirme aus, bis sie auch
den Mond schützen, oder wir gehen mit der erreichten Geschwindigkeit in den Hyperraum.« Der Dara nickte, rechnete schweigend eine volle Minute lang, während er die Uhren und Skalen verglich. Dann sagte er abwägend: »Die zweite Möglichkeit ist besser.« »Gut. Das Ziel? Der Punkt, an dem das Schiff wieder aus dem Hyperraum hinausgeht?« »Tief im Nebel, Atan.« »Einverstanden. Ich schlage eine Alternative vor: Sobald die kinetische Energie des Mondes unter einen kritischen Schwellenwert fällt, geht auch der Mond, den wir mit in den Überraum reißen, wieder in den Normalraum zurück. Richtig?« Sofort sagte der Dara: »Richtig!« »Veranlasse das bitte, Beol. Ich rufe Aymat zurück.« Die mächtigen Projektoren des Schiffes schlössen die ORION und den Mond ein. Dann, mit einem letzten Energiestoß, gingen die drei Körper in den Überraum. Schlagartig verschwanden die Sterne für die Uraceel. Aber nicht für die Männer in der großen Kugel. Die Meteore hatten einige Uraceel getötet. Unter den Schiffen und den Bauwerken hatten die kosmischen Trümmer eine Verheerung angerichtet, die man erst in jahrelanger Arbeit würde beseitigen können. Alle Uraceel waren jetzt sicher, daß die Erlebnisse der letzten Stunden eine Mischung waren zwischen Übernatürlichem und dem feindlichen Kosmos. Als die Sterne verschwanden, brach eine Panik aus. Schiffe versuchten zu starten.
Sie wurden von energetischen Feldern auf den Boden zurückgedrückt. Stundenlang ging dieses Rennen so weiter. Wir sind im Hyperraum, dachte der Kommandant der Uraceel. Jemand hat uns in den Hyperraum gebracht. So war es. * Der rasende Flug ging weiter. Im Großen Schiff arbeitete eine Schar erschöpfter Terraner und versuchte, die Aktion in Gang zu halten. Die Dara wurden mit Beleidigungen und Drohungen, mit brutaler Gewalt und mit der blanken Waffe zu Höchstleistungen angespornt. Sie saßen da, stellten ihre Illusionen auf und haßten die Männer, die sie zwangen, die archetypischen Relikte einer längst vergessenen Vergangenheit wieder anzuwenden. Sie brachen zusammen, schliefen kurz und wurden wieder geweckt. Cliff und Hasso trafen sich außerhalb des dreieckigen Raumes. »Noch drei Stunden«, sagte Hasso leise. »Ich habe es gerade von Mario erfahren. Er rechnet mit Beols Hilfe Kurs und Rückflugdaten aus.« »Was geschieht dann?« Hassos Gesicht war ernst und von den Strapazen gezeichnet. Die Falten um die Mundwinkel waren tiefer geworden, aber die Augen leuchteten noch strahlender als sonst. Die Erfahrungen des letzten Monats waren nicht spurlos an ihnen vorübergegangen. »Dann trennt sich das Schiff vom Mond. Der Mond
fliegt weiter und wird irgendwann aus dem Hyperraum fallen. Wann und wo das geschieht, wissen wir nicht.« »Gut. Versuchen wir also, uns die letzten hundertachtzig Minuten noch auf den Beinen zu halten.« * Während sich jeder vorstehende Felsen, jeder Krater und jeder Zentralberg in Feuer hüllte, verstärkte sich wieder der Druck der Schwerkraft. Panik kroch über den Mond. Das kalte Feuer zuckte und flackerte und tauchte, von allen Seiten auf die Uraceel hereinprasselnd, Schiffe und Konstruktionen in eine fahle Beleuchtung. Im Schutz dieses Effektes löste sich das Große Schiff vom Mond und fiel, nachdem der Dara im Raumanzug wieder den Mond verlassen hatte, in den Normalraum zurück. Der Mond raste weiter – geradeaus. Aber die Uraceel sahen die Sterne nicht, da sie sich im Hyperraum befanden, also wesentlich schneller flogen als Lichtgeschwindigkeit. Irgendwann würde der Mond wieder in das normale Gefüge des dreidimensionalen Weltalls zurückkehren, aber das war sehr zweitrangig wichtig. Die Uraceel würden nicht mehr zurückfinden. Das Große Schiff flog eine enge Kurve, beschleunigte wieder und ging in den Überraum zurück. Cliff sah sich um und erblickte die Menschen, die in allen Stadien der Erschöpfung in den Sesseln lagen. Mario kam mit zerzaustem Haar und fahl im Gesicht aus dem Steuerraum. »Wir können schlafen«, sagte der Kybernetiker.
»Die Automatik wird uns rechtzeitig wieder aufwekken und ins Multisystem zurückbringen.« Cliff hob die Hand. »Wir sehen einer Ungewissen Zukunft entgegen«, sagte er und massierte seine Augengegend. »Wir haben uns neue Feinde gemacht. Schließlich sind wir nicht gerade sanft mit ihnen umgesprungen.« Mario sagte: »Solange sie mich nicht im Schlaf überfallen, werde ich's überstehen können.« Er nickte und verließ den Raum, um sich hinzulegen. Nachdem seine schlurfenden Schritte verklungen waren, wandte sich Cliff an Atan. »Wie lange dauert der Rückflug?« »Fünf Tage, Cliff. Brauchst du mich noch?« Der Kommandant schüttelte den Kopf. »Ich kümmere mich um die Dara«, sagte er. Während das Große Schiff, nun wieder zurückverwandelt in eine schimmernde Stahlkugel, durch den Hyperraum dem Vierzig-Planeten-System entgegenraste, brachte Cliff mit Hilfe des Kynuroy die neun bewußtlosen oder schlafenden Dara in die Kabinen. Er legte sie auf die Liegen, vergewisserte sich über die Funktionen der Versorgungsgeräte und ging dann zurück in seine Kabine. Dort fand er Ishmee, die zu erschöpft war, um einschlafen zu können. Sie lag in seinem Sessel und lächelte ihn an, als er eintrat. »Wir sind fertig, nicht wahr?« sagte sie leise. Cliff legte seinen Arm um ihre Schulter und trat die Stiefel von seinen Füßen. »Ja. Aber das Problem besteht noch. Wie wird man uns empfangen, wie werden die Reaktionen sein? Unbequeme Söldner pflegte man gemeinhin zu ent-
haupten oder ihnen den Lohn vorzuenthalten.« Er warf sich auf die Liege und schloß die Augen. Wie aus weiter Ferne hörte er die Stimme des schwarzhaarigen, goldäugigen Mädchens: »Ich werde dir sagen, Cliff McLane, was uns erwartet. Zunächst eine Ausweitung der Grenzen unseres Verstandes. Die restlose Beherrschung von Kynuroy und der Versuch, Bishayr zu beherrschen. Und die Bilder, die wir auf diesen vierzig Planeten sehen werden.« Weit vor ihm, einige Lichtjahre entfernt, lag das System der vierzig verschiedenfarbenen Planeten. Ishmees Stimme wurde leiser. »Und irgendwann wird uns das Große Schiff auch wieder zurückbringen ins eigene Sonnensystem. Wenn ich mir die Unruhe vorstelle, die alle unsere Freunde inzwischen erfaßt hat...« Stille breitete sich im Schiff aus, während es durch das All raste.