Seewölfe 46 1
Davis J.Harbord 1.
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Seewölfe 46 1
Davis J.Harbord 1.
Der bullige Carberry blieb stehen, wischte sich den Schweiß von der Stirn und blickte sich fluchend um. Er hatte das Gefühl, daß der Schweiß auch in seinen langschäftigen Stiefeln stand — mit einer Pegelhöhe bis ans Knie. Die Maultierkolonne zog an ihm vorbei — Maultiere! Allein diese Biester waren schon ein Alptraum für sich, Mißgeburten mit tückischen Augen, gelben Zähnen und staubgepudertem Fell. Eins schielte ihn an, während es an ihm vorbeitrottete. Es stülpte die Oberlippe hoch und sah aus, als überlege es, ob es nach ihm schnappen solle. „Kusch dich“, sagte Ed Carberry wütend. Das Maultier schien zu grinsen und entließ eine Blähung. Smoky, der hinter Carberry gegangen war und aufgeschlossen hatte, blieb stirnrunzelnd stehen. „Mann, mußt du mir das Ding direkt vor die Nase setzen?“ „Was für’n Ding?“ „Du hast doch eben eine Breitseite abgefeuert, ich riech’s doch.“ Smoky schnüffelte angewidert. „Ich?“ sagte Ed Carberry empört. „Ich doch nicht, das war dieser Mistbock da, der unsere Drehbasse trägt.“ „So?“ Der Ton in Smokys Stimme brachte Carberry in Wallung. „Glaubst du mir etwa nicht?“ Bevor Smoky darauf etwas erwidern konnte, war auch Stenmark, der Schwede, heran und sagte: „Was stinkt hier denn so?“ Smoky grinste. „Das mußt du Ed mal fragen, Sten.“ Stenmark grinste auch und sagte: „Hab ich mir doch gleich gedacht, so ein Ding kann nur ein Profos abblasen.“ „Verflucht, ich hab kein Ding abgeblasen!“ schrie Carberry. „Mir ist viel zu heiß, um einen Furz zu lassen!“ Drüben auf der anderen Seite der Maultierkolonne tauchte aus dem aufsteigenden Staub die hohe, breitschultrige Gestalt des Seewolfs auf. „Habt ihr Pause?“ rief er scharf.
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„Nein“, grollte Edwin Carberry und setzte sich wieder in Bewegung. Jetzt mußte er ein ganzes Stück aufholen. Was für ein Leben! Da zogen siebenundzwanzig Männer, ein Indio, fünfunddreißig Maultiere und ein Schimpanse namens Arwenack ostwärts durch die Cordillera de Choco im westlichen Kolumbien einem Ziel entgegen, das der Teufelsbraten Philip Hasard Killigrew, den sie den Seewolf nannten, ausgeheckt hatte. Carberry, einstiger Profos von Kapitän Drake, hatte schon allerlei erlebt und war der Ansicht gewesen, daß ihn nichts mehr erschüttern könne, aber dieses verrückte Abenteuer setzte allem die Krone auf. Die erste Etappe ihres großen Ziels hatten sie erreicht: die herrliche „Isabella III.“ zu entladen und zu versenken, ihre Schätze, Proviant, Waffen und Munition sowie Werkzeuge auf die verdammten Maultiere zu verladen und von Baudo loszuziehen, um den Rio Atrato zu erreichen. Denn dieser Fluß sollte sie zum Golf von Darien bringen — zur Karibik, wo der Seewolf — typisch für ihn — ein Schiff der Dons zu klauen gedachte, um dann über den Atlantik nach England durchzubrechen. Aber noch hatten sie den Rio Atrato nicht erreicht. Noch mußten sie in Staub und Hitze neben den tückischen Mißgeburten hermarschieren, bis ihnen das Wasser im Hintern kochte. Marschieren — wie gemeines Fußvolk! Meile um Meile, selbst wie die Maulesel bepackt, schwitzend, verdreckt, mit schmerzenden Füßen. O Mann! Da war die See doch was anderes. Staub gab’s da nicht, nur klare, saubere Luft, ah, und Wind! Herrlichen, brausenden Wind, der Gischtschleier über das Schiff wehte, der die Segel wie riesige Frauenbrüste wölbte, der das Schiff zum Sturmlauf trieb und durchs Wasser jagte ... Carberry hörte das Knarren der Takelage, das Ächzen und Stöhnen von Tauen und Spieren, das Pfeifen der Wanten und Stage, das Rauschen der Bugsee, das Gurgeln und Schmatzen der Wellen längs der Bordwand...
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Der eiserne Carberry träumte von der See, die er sonst verfluchte, wie von einer Geliebten. die er nie wiedersehen würde. Er wurde geradezu sentimental, dieser Brocken von Mann mit dem trotzigen Rammkinn und dem zernarbten Gesicht. Er drehte sich zu Smoky um, der hinter ihm herkeuchte, und sagte: „Scheiße, was?“ Smoky blickte ihn irritiert an. „Was soll Scheiße sein?“ „Daß wir nicht mehr zur See fahren.“ Smokys Miene wurde mißtrauisch. Was war denn mit dem los? Nicht mehr zur See fahren? So ein Stuß ! Na gut, sie hatten die alte „Isabella“ zu den Fischen geschickt, aber sie würden sich eine neue holen und dem Teufel noch mehr Ohren absegeln, das stand mal fest. Er sagte: „Du spinnst wohl?“ Carberry knurrte etwas Unverständliches und schaute nach links. Er befand sich wieder in gleicher Höhe mit dem Satansvieh, das die Drehbasse schleppte. Ferris Tucker hatte dafür ein Tragegestell gebaut. Rechts hing das schwere Rohr, links befanden sich zwei Munitionskisten. Zwischen ihnen ruhte in einer Halterung die drehbare Lafette. Der alte Ferris war ein technischer Zauberer. Auch die anderen Tragegestelle hatte er entworfen und nach seinen Anweisungen bauen lassen. Und wenn der Seewolf gesagt hätte, Ferris Tucker solle aus einem Bugspriet eine Kutsche bauen, dann hätte er auch das fertiggebracht. Ferris Tucker marschierte mit dem Seewolf am Schluß der langen Kolonne, die von Batuti, dem riesigen Gambia-Neger, und Jesusito, dem Indio, angeführt wurde. Dieser Indio war nicht mit Gold aufzuwiegen. Der Padre von Baudo hatte ihn dem Seewolf als Führer empfohlen, und Jesusito war stolz darüber, daß er den Engländern helfen durfte, jenen Männern, die den Spaniern bereits die Zähne gezeigt hatten und wie die Teufel zu kämpfen verstanden. Jesusito kannte den Rio Atrato, und er würde bis zum Golf von Uraba, in den der Fluß mündete, bei den Engländern bleiben
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und dafür verantwortlich sein, daß sie den Golf sicher erreichten. Das war er ihnen schuldig — jetzt noch mehr, nachdem sie dafür gesorgt hatten, daß der Schinder Juan Fierro, der Indio-Schlächter, wie er genannt wurde, zur Hölle gefahren war. Jesusito führte die Maultierkolonne durch das Hügelland, das von der Sonne verbrannt war. Erst am Rio Atrato würde die Vegetation wieder üppiger sein, ähnlich wie bei dem großen Strom noch weiter östlich, den die Spanier Rio Magdalena nannten. Es war jetzt Nachmittag. Jesusito rechnete damit, Quibdo am Abend zu erreichen. Quibdo lag am Zusammenfluß von Atrato und Adagueda. Dort, so hoffte Jesusito, Boote für die Flußfahrt abwärts bei befreundeten Indios besorgen zu können. Auch Quibdo hatte eine kleine spanische Garnison mit einem Teniente und etwa fünfundzwanzig Soldaten. Der Teniente Gaspar de Castelar war ein junger Gockel und Schürzenjäger, der hinter hübschen Indiomädchen wie der Teufel hinter der armen Seele her war und schon so mancher ein Kind gemacht hatte. Aber dem grausamen und blutrünstigen Juan Fierro, dem er unterstellt war, konnte er nicht das Wasser reichen. Die Leute in Quibdo hatten es besser als die in Baudo. Aber jetzt war Juan Fierro im Jenseits, und die Leute von Baudo, vor allem der gütige Padre, konnten aufatmen — falls kein neuer Tyrann erschien. Batuti und Jesusito zuckten fast gleichzeitig zusammen, als sie mit der Spitze der Kolonne einen Hügel umrundet hatten und jetzt das Maultier sahen. Es knabberte an einem vertrockneten Strauch, unter dem ein Stiefelpaar und zwei schmutzige Hosen hervorragten. Batuti stoppte das Lasttier und hob die Hand zum Halten. Jesusito war mit ein paar lautlosen Sätzen an dem Strauch und warf sich über den Mann, der sich gerade aufrichten wollte. Hinter Batuti stoppte die lange Maultierkolonne. Ben Brighton, der vorn rechts marschiert war, sprang vor, sah, wie Jesusito mit dem
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Mann rang, und stürmte auf die Kämpfenden zu. Jesusito überkugelte sich. Der Mann hatte ihm beide Stiefel in den Leib getreten. Da war Ben Brighton heran, riß den Mann hoch und knallte ihm die Faust unter das Kinn. Der Mann kriegte glasige Augen und sackte in sich zusammen. Der Kerl stank wie eine Weinschenke. Ein Spanier, wie Ben Brighton feststellte. Bei dem Strauch lag eine Korbflasche — leer. Ben Brighton versetzte ihr einen Fußtritt. Das Maultier ging mit allen vieren in die Luft und jagte bockend davon. Jesusito rappelte sich hoch und hielt sich den Leib. „Wer - ist der Kerl?“ fragte Ben Brighton. * Philip Hasard Killigrew hetzte nach vorn. Ben Brighton hatte einen fremden Kerl am Wickel und schüttelte ihn durch. Rechts raste ein Maultier bockend den Hügel hoch und führte sich auf, als hätte es Hummeln im Hintern. „Was ist los, Ben?“ Der Bootsmann drehte sich zu Hasard um, hielt aber den Kerl weiter mit seinen kräftigen Fäusten fest. „Schöner Mist“, sagte er. „Dieser Kerl hier heißt Ujeda; ein Trunkenbold aus Baudo, wie mir eben Jesusito berichtete. Und ein Spitzel von unserem gemeinsamen Freund Juan Fierro.“ „Schau einer an.“ Hasard trat näher und betrachtete den Mann. Ujeda sah aus, wie eine in die Enge getriebene Ratte. Er hatte tatsächlich Nagezähne, die unter seiner vorgeschobenen Oberlippe hervorragten. Seine kleinen, schwarzen Augen waren tückisch und huschten hin und her. „Ein richtiges Miststück“, sagte Ben Brighton. „Er hatte sich vollgesoffen und dort unter den Strauch gepackt, um seinen Rausch auszuschlafen. Wenn du mich fragst, dann war er in Quibdo. Jemand hat ihm den Wein geschenkt. Wer wohl? Und warum? Solchen Kerlen schenkt man doch nichts — höchstens einen Tritt in den Arsch!“
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„Laß ihn mal los, Ben“, sagte der Seewolf freundlich, aber seine Augen schimmerten in einem eisigen Blau. Ujeda duckte sich zusammen, als der Bootsmann ihn freigab. Offensichtlich hatte er den Wunsch, innerhalb der nächsten Sekunde blitzartig zu verschwinden. Aber er blieb geduckt stehen. Um ihn herum waren Männer aufmarschiert, die so freundlich wie verhungerte Haie aussahen. Sie bildeten einen schweigenden Kreis, und jeder war bis an die Zähne bewaffnet. „Was wollt ihr?“ stieß der Mann hervor, der wie eine Ratte wirkte. Hasard zog ein Messer und fuhr mit dem Daumen prüfend über die Schneide. Dann bückte er sich, hob einen abgebrochenen, dünnen Zweig auf, hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand nach unten und führte die Messerschneide an dem Zweig entlang. Ein hauchdünner Span wurde abgespalten und segelte in abgezirkelten Bewegungen zu Boden. Ujeda wechselte die Gesichtsfarbe und kriegte Froschaugen. Sie quollen wie schwarze Murmeln aus seinen Augenhöhlen. „Du warst in Quibdo?“ fragte der Seewolf höflich. „Ja.“ „Bei wem?“ „Bei — bei Teniente de Castelar.“ Ujeda stierte auf den hauchdünnen Span, der, in sich aufgerollt, am Boden lag. „Was wolltest du denn bei dem Teniente?“ Ujeda begann zu zittern. Wieder huschte sein Blick nach links und rechts, als suche er nach einem Ausweg. Aber der Kreis der Männer war noch enger geworden. Und dieser blauäugige, schwarzhaarige Teufel vor ihm trennte schweigend noch einen hauchdünnen Span von dem Zweig ab und ließ ihn zu Boden segeln. „Man könnte“, sagte der Seewolf mit seiner freundlichen Stimme, „mit der Klinge sogar Haare spalten. Dem Haar würde das gar nicht wehtun. Haare spüren nichts — also, was wolltest du bei dem Teniente, mein Freund?“
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„Ich — ich sollte ihm eine Botschaft überbringen.“ „Was für eine Botschaft, mein Freund? Du solltest etwas flüssiger berichten. Oder möchtest du, daß ich dir ein Ohr abschneide?“ „Nein, bitte, Senor! Ich will ja alles sagen. Ich sollte dem Teniente melden, daß in Baudo ein Maultierzug aufgebrochen und vielleicht nach Quibdo unterwegs sei. Jedenfalls sollte Teniente de Castelar sämtliche Boote beschlagnahmen, die es in Quibdo gäbe. Teniente Fierro sei der Meinung, daß mit dem Maultierzug etwas nicht stimme, und man müsse verhindern, daß die Ladung der Maultiere eventuell auf dem Flußweg zum Golf von Darien verschifft werde. Die Beschlagnahme der Boote sei dazu eine Vorsichtsmaßregel. Das ist alles, was ich weiß, Senor.“ Hasard fixierte den rattengesichtigen Mann. „Soso, da soll also verhindert werden, daß eine bestimmte Ladung seinen Empfänger erreicht. Das befiehlt der Teniente von Baudo dem Teniente von Quibdo. Was meinst du wohl, für wen die Ladung bestimmt ist?“ „Das weiß ich nicht.“ „Ich will’s dir sagen, mein Freund. Diese Ladung ist von Valparaiso nach Spanien unterwegs und für unseren König bestimmt. Und da wagt ein Teniente, den Transport zu verhindern, indem er einen anderen Teniente auffordert, Transportmittel zu unterschlagen, die dem König von Spanien dienen sollen!“ „Das — das habe ich nicht gewußt, Senor!“ Ujeda kroch in sich zusammen, als erwarte er jeden Moment, von diesem fürchterlichen Messer in dünne Scheiben geschnitten zu werden. Der Seewolf hob auch tatsächlich das Messer und hielt es Ujeda unter das Kinn. Mit dumpfer Stimme sagte er: „Du wolltest dazu beitragen. unseren König zu betrügen, du Schurke!“ „Nein!“ schrie Ujeda. „Bestimmt nicht, Senor. Ich habe nur eine Botschaft überbracht, von der ich nicht wußte, was sie bedeutete. Ich schwöre es bei allem,
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was mir heilig ist! Teniente Fierro ist schuldig, er hat mich verführt!“ „Der rächende Arm unseres Königs wird den Teniente vernichten“, sagte Hasard dumpf. Er drehte sich zu Ben Brighton um, zwinkerte ihm zu und sagte: „Hau ihm was auf die Rübe, Ben!“ Ben Brightons Faust krachte wie ein Hammer auf den Schädel Ujedas. Wo der Bootsmann hinlangte, da brauchte man kein Plätteisen mehr. Der rattengesichtige Mann sackte zum zweiten Male mit glasigen Augen in sich zusammen und kippte vornüber. „Noch mal, Ben“, sagte Hasard. „Das reicht noch nicht.“ Ujeda empfing noch einen Jagdhieb. Dieses Mal an die Schläfe. Hasard blickte zu dem Hügel hinüber, wo jetzt Ujedas Maultier an einem anderen Strauch herumknabberte. „Einfangen und mitnehmen“, befahl er kurz. „Und was ist mit diesem Stinkstiefel?“ fragte Ben Brighton und deutete auf Ujeda. „Fesseln und liegenlassen“, sagte Hasard. „Bis der in Baudo anlangt, sind wir über alle Berge.“ Ben Brighton nickte. „Das schon. Der kratzt uns nicht mehr. Aber der andere Teniente in Quibdo weiß jetzt bescheid. Der wartet nur darauf, daß wir aufkreuzen.“ Jesusito trat näher und lächelte. „De Castelar ist nicht Fierro, Senores. Aber wir werden dennoch Quibdo meiden und etwas weiter nördlich zu einer Lagune marschieren, die sehr geschützt liegt. Dann werde ich erkunden, was sich in Quibdo tut und ob die Boote meiner Freunde beschlagnahmt wurden. Wir werden sehen.“ Der Seewolf nickte. „Einverstanden. Auf die Boote können wir auch notfalls verzichten.“ „Wie bitte?“ fragte Ben Brighton entgeistert. „Sollen wir etwa zu Fuß zum Golf von Darien marschieren? Das sind über zweihundertfünfzig Meilen durch die Hölle.“
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Die Männer, die den Seewolf umstanden, nickten. Sie würden jedem Sturm in die Zähne spucken, jedes Gefecht, auch mit einem stärkeren Gegner, furchtlos annehmen, sie würden steinharten Schiffszwieback und stinkendes Pökelfleisch essen und mit Salzwasser hinunterspülen, sie würden sogar noch einmal das höllische Kap unten im Süden umsegeln — aber zu Fuß durch halb Kolumbien zu ziehen, das konnte ihnen der Seewolf nicht zumuten. Philip Hasard Killigrew stemmte die Fäuste in die Hüften und betrachtete seine Männer. Sein Blick wanderte von einem zum anderen. „Ist einer unter euch fußkrank?“ fragte er. Seine Stimme war weder laut noch leise, eigentlich wie immer, aber die Art, wie er die Frage stellte, ging ihnen unter die Haut. Wäre wirklich einer fußkrank gewesen — er hätte sich jetzt gehütet, es zuzugeben. „Na also“, sagte der Seewolf und grinste freundlich. „Ihr seid nur ein bißchen faul, wie? Wer zur See fährt, meint, er brauchte nie wieder zu marschieren, aber er irrt. Wir haben uns für diesen Weg entschieden, und wir werden ihn gehen, gleichgültig, ob er hundert, zweihundert oder tausend Meilen lang ist, gleichgültig, ob wir laufen, reiten oder fahren oder kriechen. Ist das klar?“ Die Männer nickten, und Ben Brighton sagte: „Aye, aye, Sir.“ So zogen sie weiter, nachdem das Maultier eingefangen und Ujeda gefesselt zurückgelassen worden war. Am Abend erreichten sie die Lagune, von der Jesusito gesprochen hatte. Sie lag an einer riesigen Schleife des Rio Atrato wie ein kleiner See mit einem etwa acht Yards breiten Zugang zum Fluß, der im Laufe der Jahrhunderte hier eine Landzunge aus Schwemmsand und Geröll gebildet hatte. Ein dichter Waldgürtel umgab die Lagune. Auf der Landzunge hatten sich Büsche angesiedelt. Die Maultiere wurden angelockt und versorgt, Hasard stellte Posten aus, die übrigen Männer stürzten sich in das Wasser der Lagune, um sich den Dreck und Schweiß des Fußmarsches abzuwaschen.
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Jesusito setzte sich nach Quibdo in Marsch, um zu erkunden. Er kannte keine Müdigkeit. In seinem schlanken Körper steckten unerschöpfliche Kraftreserven. Die Männer bauten ihre Lager für die Nacht. Batuti demonstrierte seine Kunst als schwarzer Jäger. Er war nur eine Viertelstunde unterwegs gewesen und schleppte auf seinen breiten Schultern einen Hirsch heran. Er hatte ihn mit Pfeil und Bogen erlegt. Er schlug das Tier aus dem Fell und zerwirkte es. Das Fleisch wurde an mehreren Feuern gebraten. Hasard lächelte, als die Männer die Bratenstücke in sich hineinstopften. Verhungern würden sie hier nicht und auch nicht verdursten. Das Wasser war klar und sauber, Nahrungsprobleme wie sooft an Bord gab es hier nicht, die Wildnis schenkte ihnen alles: Wild, Früchte, Fische. Aber da waren auch die unbekannten Gefahren, die in dieser Wildnis lauern mochten: Giftschlagen, Raubtiere, Raubfische, giftige Insekten und Spinnen. Es war gut, daß sie Jesusito dabeihatten. Sie würden viel von ihm lernen müssen. 2. Der Indio kehrte am Morgen zurück. Sein Bericht war niederschmetternd. Gaspar de Castelar, der Teniente von Quibdo, hatte sämtliche Boote und Einbäume beschlagnahmen lassen. Ja, er war von Ujeda darüber informiert worden, daß in Baudo eine Maultierkolonne aufgebrochen sei. Sie würde von Seeleuten einer schiffbrüchigen Galeone aus Valparaiso begleitet. Die Maultiere seien schwerbepackt – mit einer geheimnisvollen Ladung, die nach Panama gebracht werden sollte. „Hat dieser Teniente in Quibdo sonst noch irgendwie reagiert?“ fragte der Seewolf. „Er könnte zum Beispiel Späher nach Westen geschickt haben, um nach uns Ausschau halten zu lassen.“ Jesusito schüttelte den Kopf. „Nein, Senor. Fierro hat durch Ujeda dem Teniente in Quibdo nur die Möglichkeit angedeutet,
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daß sich unser Maultierzug hierher wenden könne. Der Teniente tut nur das, wozu er den Befehl Fierros erhält, mehr nicht. Er wird also zunächst abwarten, bis eine neue Order eintrifft.“ Jesusito lächelte. „Und da wird er lange warten müssen.“ „Also droht keine unmittelbare Gefahr von ihm?“ „Nein, Senor.“ Hasard blickte über die Lagune zu dem dahinströmenden Rio Atrato, der an dieser Stelle etwa zweihundert Yards breit War. Er überlegte eine Weile, dann wandte er sich wieder Jesusito zu. „Könnte man den Atrato auch mit Flößen befahren?“ Jesusito starrte Hasard überrascht an. „Mit Flößen? Ja, natürlich. Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Doch, das geht. Da sind zwar ein paar Stromschnellen, aber die sind auch mit Flößen passierbar.“ Der Seewolf drehte sich lächelnd zu seinem Schiffszimmermann um, der mit offenem Mund hinter ihm stand. „Na, Ferris?“ sagte er. Der Hüne Ferris Tucker mit dem roten Haar und dem breiten Kreuz faßte sich und sagte: „Aye, aye, Sir. Flöße bauen. Und wie viele sollen’s, bitte sehr, sein?“ „Zwei große“, sagte Hasard. „Die müßten genügen, um unsere Packen darauf zu verstauen. Für alle Fälle werden wir auch zehn Maultiere mitnehmen. Könnte ja sein, daß wir noch mal zu Fuß marschieren müssen.“ Er grinste Ben Brighton an. Ben Brighton grinste zurück. Der Seewolf hatte ihn mal wieder aufs Kreuz gelegt — die Idee mit den Flößen hatte dieser verdammte Höllenhund bestimmt schon in dem Moment gefaßt, als sie gestern nachmittag Fierros Boten geschnappt und erfahren hatten, daß es in Quibdo keine Boote gäbe. Die Männer waren wie erlöst. Kein Fußmarsch über zweihundertfünfzig Meilen! Statt dessen eine Floßfahrt den Atrato hinunter — kleine Fische für salzwassergetränkte, sturmerprobte Männer ihres Schlages. Sie spuckten in die schwieligen Hände, als Ferris Tucker Äxte verteilen ließ und die
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Bäume bezeichnete, die gefällt werden sollten. Hasard ließ die Lagune vor allem nach Süden abschirmen und schickte Donegal Daniel O’Flynn, genannt Dan, das Bürschchen, auf Ausguckposten. Dan hatte die schärfsten Augen unter den Männern der Seewolf-Crew. Dan O’Flynn nahm Arwenack, den Schimpansenjungen mit, der wie er im Flegelalter steckte. „Da sind die beiden richtigen Affen ja wieder zusammen“, sagte Edwin Carberry hinter ihnen her. „Kleines O’Flynn nix Affe“, sagte Batuti erbost. „Halt’s Maul, du Gorilla“, sagte der bullige Carberry gemütlich. „Du kannst für uns noch einen Hirsch schießen, besser zwei, wir brauchen was in die Knochen, wenn wir jetzt Bäume umlegen.“ Der Seewolf war einverstanden, und so zog auch Batuti los. Alle anderen Männer bis auf den Kutscher, der für die Campküche verantwortlich war, arbeiteten unter Ferris Tuckers Leitung am Bau der Flöße. Und sie konnten arbeiten, diese Männer, die sich dem Seewolf verschworen hatten. Jeder einzelne von ihnen war hart, zäh und ausdauernd. Mit Äxten, Hobeln und Messern gingen sie genauso gut um wie mit Musketen, Pistolen oder den Drehbassen und Kanonen. Ein guter Seemann war auch immer ein guter Handwerker, und daß sie gute Seeleute waren, hatten sie mehr als einmal unter Beweis gestellt. Die ersten Bäume krachten von wuchtigen Axthieben gefällt zu Boden und wurden entästet. Inzwischen hatte Ferris Tucker am Lagunenufer im Sand mit einem dünnen Ast Gebilde gezeichnet, über denen er brütete. Der Seewolf trat heran und betrachtete sie. Ferris Tucker, in der Hocke, blickte zu ihm auf, deutete mit dem Ast auf die Gebilde und sagte: ,,Ich hab mir das überlegt. Das hier ist ein Vierkantfloß.“ Er zeigte auf ein Viereck, das von mehreren nebeneinander liegenden Geraden gebildet wurde. „Die übliche Form des Floßes —Baumstämme
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dicht an dicht miteinander verbunden, verstehst du?“ „Klar. Meinst du, ich weiß nicht, was ein Floß ist?“ Ferris Tucker grunzte und verwischte das Gebilde mit der offenen Handfläche. „Solche Dinger sind schlimmer als Alpträume, schlecht zu steuern, lahmarschig, schwer, glatter Mist.“ Er deutete auf das andere Gebilde. „Aber das hier, das bauen wir.“ Der Seewolf starrte auf die Zeichnung im Sand. Ferris Tucker hatte mit langen, geraden Strichen dreizehn nebeneinander liegende Baumstämme in den Sand geritzt. Aber der Witz war, daß sich der längste Stamm in der Mitte befand, während die sechs anderen beidseits einer um den anderen verjüngt waren. Am Heck waren die Hölzer alle gleichlang. Ferris Tucker hatte insgesamt ein längliches Floß gezeichnet, das vorn relativ spitz zulief, aber hinten die normale Form hatte. Nichts schien logischer als das, denn auch die Segelschiffe wurden ja so gebaut. Und warum sollte man deren Rumpfgrundriß nicht auch auf ein Floß übertragen können? Hasard nickte. Ferris Tucker sagte: „Hier achtern lasse ich zwischen je zwei Dollen zwei lange Ruder einbauen, eins auf der Backbordhälfte, eins auf der Steuerbordhälfte. Pro Floß brauchen wir also zwei Rudergänger, um die Dinger auch elegant steuern zu können. Die Kerle haben das im Nu spitz, wie sie sich aufeinander abstimmen müssen. Und hier auf den beiden Längsseiten werden ebenfalls Dollen angebracht, vielleicht zwei oder drei auf jeder Seite, damit wir auch pullen können, wenn das mal notwendig sein sollte. Außerdem hätten wir mit den Seitenriemen auch Steuerwirkung, aber wem sage ich das!“ „Perfekt“, sagte der Seewolf. „Und sonst? Stehen wir auf dem Floß mit den Füßen im Wasser?“ „Natürlich nicht“, sagte Ferris Tucker brummig. „Über die unteren Hölzer baue ich eine Lage quer mit dünneren abgeflachten Stämmen. Ist doch klar.“ „Und wann meinst du, fertig zu sein?“
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„Vier Tage brauche ich“, erwiderte Ferris Tucker. „Wir haben doch Zeit.“ „Vier Tage schon“, sagte der Seewolf. „Aber nicht länger. Ich denke, daß dann eigentlich auch der Teniente in Quibdo rührig werden müßte. Ich möchte hier weg sein, bevor er anfängt, über eine gewisse Maultierkolonne nachzugrübeln, die vielleicht in Quibdo hätte eintreffen müssen.“ „Aye, aye, Sir“, sagte der Schiffszimmermann. „In vier Tagen kannst du deine Flotte übernehmen und den Atrato hinuntersausen.“ „Und wo bauen wir die Drehbasse ein?“ „Auf dem Flaggschiff“, erwiderte Ferris Tucker. „Du kannst es dir aussuchen.“ „Flaggfloß, mein Alter, nicht Flaggschiff.“ „Meine Flöße sind so gut wie Schiffe“, sagte Ferris Tucker, erhob sich aus der Hocke und dehnte die mächtige Brust. „Weiß ich.“ Hasard grinste. „Und wo verstaust du die Packen mit unserer Beute?“ „Ringsum“, sagte Ferris Tucker prompt. „Als Schanzkleid.“ Jetzt grinste er auch. „Mann, Goldund Silberbarren, Schatztruhen voll mit Diamanten, Perlen und Klimbim als Deckung für englische Seeleute - so was hat’s noch nie gegeben!“ „Einer muß eben Mal den Anfang machen“, sagte Hasard und sah in diesem Moment wirklich wie ein arrogantes Arschloch von Lord aus, der das Erbe seiner Väter am Spieltisch verwürfelt. „Junge, Junge“, sagte Ferris Tucker und raufte sich die roten Haare. Dann lachten sie beide lauthals, und für einen Moment verstummten die Geräusche des Urwalds um sie herum - das Kreischen der Papageien, das Geckern der Affen, das Zwitschern der unzähligen bunten Vögel. * Indessen hatte Donegal Daniel O’Flynn ein gelindes Grauen gepackt. Er saß im Geäst eines Baumes, der über den Flußrand ragte und gleichzeitig von der Höhe aus einen Blick nach Süden freigab, wo der Fluß
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irgendwo an Quibdo vorbeifloß und in Windungen seinen Weg nordwärts suchte. Neben ihm hatte Arwenack gehockt und sich friedlich verhalten. Vielleicht hatte er sogar Angst. Das war Dan O’Flynn nicht so ganz klar. Wenn er es sich ehrlich eingestand, war ihm diese Wildnis auch nicht geheuer. Eine Liane, an der er auf einen Baum hatte turnen wollen, war plötzlich in Bewegung geraten und hatte sich als Schlange entpuppt -ein Ungetüm von Schlange. Arwenack war unter entsetztem Gekecker auf Dans Schultern gesprungen, hatte seine Arme um Dans Hals geschlungen und ihn fast erwürgt. Die Schlange war davon geglitten - ein Biest so lang wie eine Fockrah. Und genauso dick. Jawohl, Donegal Daniel O’Flynn hatte volles Verständnis für den Schimpansen Arwenack. Schließlich war hier nicht Afrika. Die kleineren Affen, die hier herumtobten, waren davon gestoben, als sie Arwenack entdeckt hatten. Einen solchen Affen hatten sie anscheinend noch nie gesehen. Dan O’Flynn hatte geflucht. Vielleicht hatten diese Affen ihn gleichfalls für einen Affen gehalten - eine fürchterliche Vorstellung, aber sie lag nahe. Schließlich hatte er Arwenack ja sogar an der Hand gehabt, und der war wie ein Baby neben ihm hergehüpft. Dann hatte Dan O’Flynn einen Baum gefunden, der ihm unverdächtig erschien. Vorsichtshalber hatte er die Lianen, die von dem weitverzweigten Geäst nach unten hingen, mit einem Stock abgeklopft. Eine Schlange war nicht darunter gewesen. Das Geäst des Baumes bot viel Schutz und war leicht erreichbar. Außerdem ragte der Baum über die anderen hinaus und schien Dan O’Flynn als Beobachtungsstand nach Süden bestens geeignet. Dan und Arwenack waren aufgeentert und hatten in der Gabelung mehrerer Äste einen bequemen Sitzplatz gefunden. Natürlich war alles, was der Baum bisher beherbergt hatte, geflohen: Papageien, bizarre Kleinvögel und Affen. Die Affen sahen wie Kobolde oder Giftzwerge aus —
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uns so benahmen sie sich auch. Sie spuckten Gift und Galle, als Dan und Arwenack den Baum in Besitz nahmen. Dann waren sie auf die Äste der anderen Bäume entwetzt und hatten ein irres Spektakel aufgeführt. Arwenack war stumm geblieben und hatte nur mal in aller Ruhe nach links oder nach rechts gepliert. Er stand wohl über den Dingen, die seine Artgenossen betrafen. Soweit, so gut. Dan O’Flynn hatte sich in dem Geäst eingerichtet. Er lag mehr, als daß er saß, in einer Astgabelung, die seinen Rücken abstützte. Die Beine hatte er gegen einen Querast gestemmt. In dieser Stellung hätte er Stunden zubringen, beobachten und lauschen können. Unter ihm gluckerte der Rio Atrato, aus dem ab und zu ein glitzernder Fischleib sprang, um nach einem Insekt zu schnappen. Über den Fluß segelten Vögel, die er noch nie gesehen hatte, zum Teil waren es Wasservögel, wie er feststellte, wenn sie mit vorgestreckten Paddelfüßen landeten und eine schmale Landespur im Wasser hinterließen, die aber nach Sekunden wieder verschwunden war. Da waren aber auch Tauchvögel, die aus der Luft zustießen, die Wasseroberfläche durchbrachen und mit einem zappelnden Fisch im Schnabel wieder aufstiegen. Das alles war in ständiger Bewegung. Dort taumelte ein bunter Schmetterling, da sirrte ein Insekt mit riesigen Flügeln über das Wasser, und hier direkt unter dem Geäst tauchte sekundenlang ein Fisch auf, der Glotzaugen und ein breites Maul hatte. Dan O’Flynn hätte stundenlang zusehen können. Hier waren Paradies und Hölle zugleich. Einer fraß den anderen. Alle waren sie hungrig. Dan beobachtete, wie ein Frosch hastig ans Ufer ruderte und plötzlich zuckend verschwand, als ziehe ihm jemand die Hinterfüße weg. Dann entstand ein Wirbel. Kurz darauf erschien ein abgerissener Froschschenkel auf der Wasseroberfläche, aber nur für Sekunden, dann war er wieder weg, als sei er nie dagewesen. Dan O’Flynn beugte sich vor und sah unten im Wasser bullige, gedrungene
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Fischkörper, die einen irren, zappelnden Strudel bildeten und plötzlich wie von Zauberhand verschwunden waren. Von dem Frosch sah er nichts mehr, nicht mal das winzigste Stück eines Schenkels. Zu diesem Zeitpunkt packte Dan O’Flynn das erste leichte Gruseln. Das Paradies mit den Tausenden von duftenden Farbenblüten, den kleinen bunten Vögeln, den schillernden Insekten mit den Regenbogenflügeln — es war wie eine einlullende Kulisse vor einem alles verzehrenden, höllischen Schlund. Dan O’Flynn sagte laut und deutlich: „Scheiße!“ Rechts neben ihm hockte Arwenack und gähnte lauthals. Dann kratzte er seine Brust, schielte zu Dan hinüber und keckerte zärtlich. Dieser Baum, dessen Namen Dan O’Flynn nicht kannte, schien wie ein sicherer Hort für Arwenack zu sein. Er beherrschte ihn. Die anderen Affen mit ihren weißumrandeten Augenhöhlen waren verschwunden und turnten in den anderen Bäumen herum. Arwenack war der Herr dieses Baumes. Er — und natürlich Dan O’Flynn. Dan spuckte ins Wasser hinunter und stellte fest, daß sich die Fische sogar für seine Spucke interessierten. Dieser Wirbel war wieder da, aber gleich darauf auch schon verschwunden. Von der Spucke war auch nichts mehr zu sehen. Erst eine Viertelstunde später passierte das, was auf Dan O’Flynn wie ein grausiger Spuk wirkte und ihm endgültig klarmachte, daß das Paradies woanders, aber bestimmt nicht hier lag. Arwenack hatte schläfrig auf seinem Ast gehockt, aber wahrscheinlich hatte er nur so getan. Und bestimmt hatte er unter müde gesenkten Augenlidern den kleinen Affen beobachtet, der ein paar Fuß über ihnen den Baum wieder besetzt hatte. Er hatte sich an einer Liane herübergeschaukelt und war auf leisen Sohlen tiefer geklettert, um den sonderbaren großen Affen näher betrachten zu können. Diese Arwenacks waren am Rio Atrato unter ihresgleichen unbekannt.
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Das Äffchen mit den weißen Augenhöhlen war noch tiefer gestiegen und schien zu überlegen, ob man den großen Affen mal anspucken solle. Aber Arwenack war urplötzlich explodiert. Das Äffchen fegte mit einem schrillen Schrei nach links’, hangelte sich im Sprung an mehreren Ästen entlang und geriet an den äußersten Ast, der über dem Rio Atrato hing. Und Arwenack rüttelten an diesem Ast wie ein Irrer. Das Äffchen flog wie eine reife Pflaume vom Baum und klatschte ins Wasser. Arwenack brüllte hinter dem Äffchen her. Es klang, als fluche er. Dan O’Flynn packte das nackte Entsetzen, als er nach unten blickte. Dieses Mal sah er es ganz genau. Die kleinen, bulligen Fische bildeten eine Armee und waren zur Stelle, noch bevor Dan zweimal mit den Lidern geklappert hatte. Sie waren wie Wölfe. Innerhalb von Sekunden - ein Bild aus der Hölle - war von dem Äffchen nur noch das Skelett übrig. Es trieb stromabwärts und versank - ein weißes, total abgenagtes Gerippe. Die bulligen Fische mit dem gräßlichen Gebiß verschwanden wie ein Spuk. Eben waren es noch Hunderte gewesen, und jetzt schien es, als hätten sie sich in Luft aufgelöst. Dan O’Flynn blickte den Schimpansen Arwenack an, schluckte und hätte ihm gern gesagt, daß Affen übergeschnappte Vollidioten seien, aber er brachte keinen Ton heraus. Arwenack klopfte sich auf den Bauch und schnitt Grimassen. Wahrscheinlich fühlte er sich als Held. Dan O’Flynn fand seine Sprache wieder und sagte: „Du dämlicher Affe.“ Und wütend setzte er hinzu: „Der hat dir doch gar nichts getan, verdammt!“ Arwenack war da anderer Ansicht. Er schnatterte los, hängte sich mit einem Arm an einen Ast, der über ihn wegragte, und hüpfte auf und nieder. Das ganze Blätterdach wackelte.
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„Laß das!“ sagte Dan O’Flynn gereizt. „Oder willst du was an die Ohren haben, he?“ Arwenack zog sich beleidigt auf einen anderen Ast zurück und drehte Dan O’Flynn den Rücken zu. Dan schüttelte seufzend den Kopf. Er blickte über den glitzernden Fluß. Hier auf seiner Seite trieben zwei dunkelolivfarbene Baumstämme heran. Ihre Rinde hatte Ähnlichkeit mit gezackten Schuppen. Es waren keine Baumstämme. Dan O’Flynn fiel vor Schreck fast von seinem Hochsitz. Die Baumstämme drehten nämlich plötzlich bei und steuerten quer zum Strom auf seinen Baum zu. Es waren Krokodile, wie Dan wußte. Jetzt ragten nur ihre spitzen Schnauzen aus dem Wasser und dahinter die Schädelwölbung mit den beiden Augen, die zu Dan hochzustarren schienen. „O Gott!“ stöhnte Dan O’Flynn. „Die wollen doch nicht etwa ...“ Sie wollten! Sie stießen an Land und krochen mit plumpen Bewegungen unter seinen Baum. Der eine riß die lange Schnauze auf, zeigte sein spitzzackiges Gebiß und klappte das Maul wieder zu. Es klang wie das Zuschnappen einer Falle. Das Vieh linste mit einem Auge zu Dan O’Flynn hoch. Arwenack blickte nach unten und grunzte mißbilligend. Für ihn waren diese beiden fürchterlichen Echsen kein Problem. Er brauchte sich nur von Baum zu Baum zu schwingen und konnte auf diesem Wege abhauen. Schließlich war er ein Affe. Dan O’Flynn besann sich auf seine Pistole, die er im Gürtel stecken hatte. Wenn die Bestien nicht bis zum Abend verschwunden waren, würde er jeder eine Kugel zwischen die Augen setzen, ganz gleich, ob der Krach bis nach Quibdo zu hören war. Was seine Aufgabe als Beobachtungsposten betraf, so war Dan O’Flynn an diesem Vormittag nicht sehr konzentriert. Immer wieder schaute er nach unten, wo die beiden Wächter lagen. Sie schienen zu schlafen, aber das war wahrscheinlich nur ein Trick, ein ganz
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mieser, billiger Trick, auf den kein Donegal Daniel O’Flynn aus Falmouth, Cornwall. hereinfallen würde, nein, Sir. Gegen Mittag beschloß Dan O’Flynn, was die beiden Krokodile betraf, aktiv zu werden. Er knüpfte sein Messer an eine Liane, peilte von oben die Lage, bis die Messerspitze lotrecht über einem Bestienauge schwebte, und ließ Messer und Liane blitzschnell nach unten sausen. Arwenack schaute interessiert zu. Die Spitze prallte auf das geschlossene Auge, federte hoch, und schnell holte das Bürschchen die Liane Hand über Hand wieder nach oben. Immerhin hatte er Wirkung erzielt. Das Krokodil schnappte nach dem Messer, das nach oben entschwand, peitschte mit dem Schwanz über den Boden, so daß Grasfetzen und Steinchen wie Geschosse davonfegten —und glitt träge ins Wasser zurück. Das andere Krokodil schloß sich an. Dan O’Flynn atmete auf. Die beiden Ungeheuer strebten dem anderen Ufer zu. Arwenack klatschte in die Hände, betrommelte seinen Bauch und stieß glucksende Laute aus. Offensichtlich amüsierte er sich. Am Abend berichtete Dan im Lager an der Lagune von den kleinen, bulligen Fischen, die einen Affen innerhalb von Sekunden in ein Gerippe verwandelt hätten. Patrick O’Driscoll, ein vierschrötiger Ire, der mit den Karibik-Piraten zu der Seewolf-Crew gestoßen und schon so manches Mal aus der Reihe getanzt war, grinste verächtlich. „Erzähl keine Märchen, Kleiner“, sagte er. „Solche Fische gibt’s nicht. Das kannst du deiner Oma vorschwindeln, aber nicht erwachsenen Männern.“ „Du Vollidiot mit dem Gehirn einer Mücke“, sagte Dan O’Flynn wild, „nenn mich noch mal ‚Kleiner’, und ich schlag dir diesen Knüppel auf deinen verdammten Schädel!“ Es war ein Stück Hartholz, das Dan O’Flynn blitzartig aufgehoben hatte. „Was ich gesehen habe, habe ich gesehen, verstanden?“
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„Du brauchst mal ‘ne tüchtige Abreibung, du Großmaul“, sagte Patrick O’Driscoll und stand von dem Feuer auf, an dem er gesessen hatte. „Komm her, du irischer Hurenbock!“ Dan O’Flynn zitterte vor Wut. „Einen Moment, ihr zwei Hitzköpfe!“ Hasard trat zwischen die beiden. „Setz dich wieder hin, Pat, und du wirfst den Knüppel weg, Dan!“ „Er hat mich beleidigt!“ fauchte Dan O’Flynn. „Mich beleidigt kein Ire, dieser Holzkopf am allerwenigsten!“ „Wirf den Knüppel weg, O’Flynn“, sagte Hasard scharf. Das Bürschchen gehorchte. „Du spuckst zuviel Gift und Galle, mein Freundchen“, sagte der Seewolf. „Paß auf, daß du eines Tages nicht daran erstickst. Irgendwo gibt’s Grenzen, und die wirst auch du zu respektieren haben.“ Er drehte sich zu Jesusito um. „Was sind das für Fische, von denen Dan O’Flynn gesprochen hat, Jesusito?“ „Pirayas“, sagte der Indio. „Es stimmt, was er erzählt hat. Es sind die mörderischsten Fische, die wir in unseren Flüssen haben. Ihre Gefräßigkeit kennt keine Grenzen. Sie treten zu Hunderten auf und können selbst einen Ochsen in Sekundenschnelle auffressen.“ „Auch Menschen, nicht wahr?“ Jesusito nickte. „Die auch.“ „Und hier in der Lagune?“ fragte Hasard. „Müssen wir hier mit diesen Fischen rechnen?“ „Nein, Senor. Sonst hätte ich Sie gestern schon gewarnt. Die Pirayas mögen keine stillstehenden Gewässer. Sie leben in den Flüssen. Darum sollte auch keiner Ihrer Männer im Rio Atrato baden. Es ist zu gefährlich, denn es gibt keine Abwehr, wenn man im Wasser von ihnen überrascht wird. Sie haben messerscharfe Zähne und treten immer in großen Schwärmen auf.“ „Danke, Jesusito.“ Hasard wandte sich zu Patrick O’Driscoll um. „Na, Pat? Hast du gehört? Dan O’Flynn hat also keine Märchen erzählt. Oder bist du anderer Ansicht?“
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„Nein“, brummte O’Driscoll und stocherte mit einem Ast in der Glut herum. * Am Abend des vierten Tages schwammen die beiden Flöße in der Lagune. Ferris Tucker hatte es geschafft. Hasard ließ jeweils zwei Männer die beiden Steuer achtern ausprobieren. Es waren lange, geschmeidige Hölzer, deren Enden Ferris Tucker flossenartig ausgeschnitten hatte. Sie wirkten wie übergroße Riemen und verliehen den beiden Flößen eine außerordentliche Steuerfähigkeit. Diese Steuerriemen ruhten achtern zwischen je zwei Pflöcken, die als Widerlager dienten, und waren außerdem noch mit Lederriemen gesichert, so daß sie nicht wegrutschen konnten. An den Seiten der Flöße hatte Ferris Tucker ebenfalls Pflöcke eingerammt und für jede Seite jeweils drei kleinere Riemen angefertigt. Die Oberfläche der Flöße war fast eben und somit nicht mehr so stolpergefährlich. Ferris Tucker hatte an die Pirayas gedacht, von denen Jesusito gesprochen hatte. Mit Al Conroy, dem Waffen- und Stückmeister des Seewolfs, hatte Ferris Tucker die Drehbasse auf eins der beiden Flöße montiert. Jetzt brauchten nur noch die Packen mit ihrer Beute, den Werkzeugen, der Munition und dem Proviant auf die Flöße gemannt und festgezurrt zu werden, dann konnte die große Fahrt nordwärts losgehen. Zum Beladen der Flöße war es bereits zu dunkel. Sie würden es am nächsten Morgen in Angriff nehmen. Hasard ließ vom Kutscher ein Weinfaß öffnen. Sie alle hatten sich einen guten Tropfen verdient. 3. Ein paar Meilen südlich der Lagune, in Quibdo, trank noch jemand um diese Zeit Wein. Es war Gaspar de Castelar, Teniente und Schürzenjäger des kleinen spanischen
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Ortes am Zusammenfluß von Rio Atrato und dem Adagueda. De Castelar, Sproß eines spanischen Adelsgeschlechtes, Tunichtgut und Jungfrauenverführer, hatte sich auch in der Neuen Welt nicht gewandelt, wohin die Familie den nichtsnutzigen Tropf hatte ziehen lassen, in der Hoffnung, daß er sich zum männlichen Konquistador mausern möge. Die Allüren dazu hatte er, das war aber auch alles. Der Vizekönig von Kolumbien hatte ihn nach Quibdo abgeschoben, weil er in Cartagena bereits ein paar spanische Hofdamen geschwängert hatte. In Quibdo mochte es der Gockel treiben, wie er Lust hatte. Quibdo war nicht Cartagena und schon gar nicht Madrid. Mochte er dort so viele einheimische Jungfrauen verführen, wie er wollte. Und wenn ihn ein erboster Familienvater oder betrogener Bräutigam eines Tages totschlug, dann ging davon die Welt auch nicht unter. Einen Mangel an geilen Böcken hatte diese Welt noch nie gehabt, das war jedenfalls die Ansicht des Vizekönigs. Mangels spanischer Edelfräuleins hatte sich Gaspar de Castelar während seiner zweijährigen Teniententätigkeit in Quibdo voll und ganz den jungen Schönen der Indios gewidmet. Ein billiger Taschenspielertrick erlaubte ihm da einige Auswahl. Die indianischen Stämme um Quibdo und Umgebung waren mit Gewalt befriedet worden - natürlich nicht von dem Teniente. Das war alles vor seiner Zeit gewesen. Diese Stämme, nunmehr als Sklaven den spanischen Herren untertan, hatten Ackerbau und Viehzucht zu betreiben oder wurden in die Minen geschickt, um Erze abzubauen. Sie erhielten dafür einen Hungerlohn. De Castelars Trick bestand darin, den Familienvätern Dinge wie Stoffe, Flitterkram, Werkzeuge oder gar Wein anzudrehen und großzügige Kredite zu gewähren. So wurde einer nach dem anderen von ihm abhängig. De Castelars Großmut kannte keine Grenzen. Statt einer Rückzahlung in klingender Münze war es
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dem Schuldner gestattet, seine Schulden auch in anderer Form abzutragen — natürlich ganz zwanglos, nicht wahr! Auf gut spanisch und brutal ausgedrückt: Der Teniente brauchte Weiber, um seine Gelüste zu befriedigen. Natürlich drückte sich Gaspar de Castelar gepflegter aus. Er wies die Schuldner darauf hin, daß sich darüber reden ließe, die eine oder andere junge Schöne auszuwählen, um sie in seinem Haushalt einzusetzen oder gar als Gesellschafterin auszubilden. Das war den Schuldnern sehr lieb. Und so erhielt de Castelar strammen Nachschub und begann wie ein Pascha zu leben — ringsum betreut von einem Harem gutgewachsener und hübscher junger Indianerinnen, die zwar reihum des Nachts und manchmal auch bei Tage das Bett mit ihm teilen mußten — seine Begierden waren auch etwas merkwürdig —, aber keine der Schönen hätte behaupten können, daß es ihr schlecht erginge. Und war die eine oder andere gesegneten Leibes, dann durfte sie zu ihrer Familie heimkehren, die Schulden waren erlassen, ja, sie erhielt sogar ein Brautgeld, von dem sich die Familie mindestens ein Schwein kaufen konnte. Es wäre gelogen, behaupten zu wollen, die Indio-Väter seien voller Rachegelüste ob des Treibens des Teniente. Die Mehrzahl fand das Ganze eher erheiternd, wie denn auch die Schönen ihren neugierigen Freundinnen oftmals brühwarm und kichernd von der nächtlichen Kurzweil des Teniente berichteten. Dieser Gaspar de Castelar mußte ein wahres Wunder an Liebeskraft sein. Das sprach sich allmählich in Quibdo und Umgebung herum. Bisher — also im Laufe von zwei Jahren — hatte er vier kleine Indio-jungen und drei kleine Indiomädchen gezeugt. Sie waren alle etwas heller als die gewöhnlichen indianischen Babys, aber das störte niemanden, am wenigsten die Mütter. An diesem Abend nun erwartete der Teniente einen Schuldner, der ihm die siebzehnjährige Vahanitu „übereignet“
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hatte und sie abliefern sollte. Vor zwei Jahren war Vahanitu noch ein ziemlich dürres Geste gewesen. De Castelar konnte sich noch genau erinnern. Aber dann war sie unter seinen heimlich beobachtenden Augen nach und nach erblüht, er hatte jede körperliche Veränderung registrieren können und schon vor einem Jahr gewußt, da ihm mit Vahanitu eine seltene Orchidee ins Haus stand. Eine Begierde hatte ihn gepackt wie selten zuvor. Er trank mehr als sonst in der Erwartung nächtlicher Freuden. Zur Feier des Tages hat er eine neue Perücke aufgesetzt und sich ziemlich stark parfümiert und gepudert. Dieser Mann, achtundzwanzig Jahre alt, sah weit älter aus. Die Ausschweifungen hatten ihn bereits gezeichnet. Das flotte schwarze Bärtchen auf der Oberlippe ließ ihn auch nicht jünger erscheinen. Er setzte Fett an den Hüften an. Unter seinen Augen hatten sich Tränensäcke gebildet, seine Hautfarbe war gelblich geworden. Alles in allem hätte man meine mögen, daß sich keine Senorita nach ihm den Hals verrenkt hätte, aber bei ihm schien sich die Weisheit zu bestätigen, daß die häßlichsten Liebhaber die besten seien. Der Türklopfer wurde betätig Stimmengemurmel, dann erschien Olia, eine seiner ältesten Gespielinnen, und meldete etwas schnippisch den Besuch Raros und seiner Tochter Vahanitu. Olia schien eifersüchtig zu sein. Demonstrativ hatte sie ihre Brüste entblößt — und der Teniente reagierte prompt. Sie liebten sich auf dem Jaguarfell, bevor Raro seine Tochter Vahanitu der Obhut des Teniente übergab und sich ziemlich hastig wieder verdrückte. Olia verschwand kichernd in der Küche und kümmerte sich um das Brathähnchen, das dort von zwei anderen Gespielinnen des Teniente über einem Spieß am Herdfeuer gegart wurde. Brathähnchen waren die ganze Seligkeit des Teniente nach getaner Kurzweil, versteht sich. Die Kurzweil ging vor. Die erste Kurzweil hatte der Teniente gerade gehabt, die zweite schien sich recht
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mühsam anzubahnen. Vahanitu war mürrisch und ablehnend und zeigte nicht die geringste Neigung zu einem Spiel, wie es sich Gaspar de Castelar vorstellte. Sie hockte auf einem Schemel und sah desinteressiert zu, wie der Teniente sich vor ihr spreizte. Er war mit tänzelnden Schritten zu einer Anrichte gegangen und füllte dort roten Wein in silberne Becher. Dann war er zurückgetänzelt - ohne etwas zu verschütten -, hatte sich mit einem Kratzfuß tief vor Vahanitu verneigt und ihr den Becher gereicht. Dabei hatte er mit Genuß von oben auf ihre Hügel gespäht. Vahanitu trug nur ein einfaches Leinengewand, das ihr noch dazu lästig war. Der Kragenausschnitt zeigte mehr, als er verhüllte - zur Freude des Teniente. Vahanitu hatte ein ebenmäßiges Gesicht, allerdings mit stark betonten Wangenknochen. Sie war schlank, schmalhüftig und herrlich gewachsen eine indianische Göttin. De Castelar wurde schmalzig und säuselte: „Ich trinke auf das Wohl der schönsten aller Orchideen, auf dich, o meine Vahanitu!“ „Ich bin nicht Ihre Vahanitu“, sagte das Mädchen gereizt. „Ich sollte in der Küche angelernt werden, wie mir mein Vater erklärt hat.“ „Aber, aber“, sagte de Castelar. „Ist es hier nicht viel schöner als in der Küche, meine kleine Orchidee? Nein, es wäre eine Schande, dich in der Küche arbeiten zu lassen. Du wirst meine Königin sein, meine herzallerliebste Königin!“ „Königin? Was ist das?“ Vahanitu war ziemlich mißtrauisch - und verdammt sachlich. De Castelar gluckste entzückt - soviel Naivität dieses Naturkindes! Nein, wie hübsch! „Eine Königin trägt eine Krone aus Gold und Edelsteinen und Diamanten“, sagte er. „Sie sitzt auf einem goldenen Thron, trägt die feinsten Kleider aus erlesensten Stoffen, speist von güldenem Geschirr und eine Welt liegt ihr zu Füßen!“
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Vahanitu blickte auf ihre nackten Füße. Dann schaute sie sich um. „Ich sehe keinen Thron“, sagte sie. „Ich seh auch keine Krone, keine Kleider und kein güldenes Geschirr. Und unter meinen Füßen sind Dielenbretter.“ De Castelar starrte sie verdutzt an. Das war ja ein ganz ausgekochtes Luder. Die wollte gleich Thron und Krone und Kleider und güldenes Geschirr, bevor sie... Er tigerte auf sie zu, und seine Stimme war heiser. vor Erregung. „Liebst du mich?“ „Ich? Warum denn?“ „Weil du dann meine Königin sein wirst. Oder hast du schon mit einem anderen Mann geschlafen?“ Vahanitu lachte lauthals. War das ein verrückter Spanier! Was der für Fragen stellte! Sie lachte noch lauter, und ihre Brüste wippten unter dem Gewand wie kleine Ferkelschnuten. Der Teniente sprang sie an wie ein wildgewordener Büffel und riß sie zu Boden. Aber diese Vahanitu war eine Wildkatze, stark, geschmeidig, reaktionsschnell - und jetzt bis zum Äußersten gereizt. Sie war die Ausnahme unter den bisherigen Gespielinnen des Teniente. Sie stieß ihre Fäuste hoch, öffnete sie wie Krallen und zog ihre Fingernägel dem Teniente von oben nach unten über das Gesicht. Wie eine Schlange glitt sie unter ihm weg, sprang auf, hetzte zur Tür - und weg war sie! Der Teniente saß auf dem Jaguarfell, auf dem er Olia geliebt hatte, und schrie wie am Spieß. Er schrie noch mehr, als er sein Gesicht sah. Es spiegelte sich auf einem silbernen Tablett, das ihm schräg gegenüber auf einem Beisatztischchen an die Wand gelehnt war. O Haupt voll Blut und Wunden! Zehn blutige Bahnen teilten sein Gesicht in Spalten. Ein Wunder, daß sie ihm nicht die Augen ausgekratzt hatte. Aus der Küche stürzten Olia und die beiden anderen Gespielinnen herein und widmeten sich schnatternd und turtelnd dem blessierten Pascha. Bei dem war der Liebesrausch verflogen wie Spreu im
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Wind. Nicht einmal Olias Brüste konnten ihn aufheitern. Während sie ihn verarzteten, verbrannte das Brathähnchen am Spieß zu einer stinkenden schwarzen Kruste. Der Tröster aller Enttäuschten: Wein. Der Teniente soff ihn literweise in sich hinein, bis er lallend einschlief. * Dieser Morgen war von erbarmungsloser Grausamkeit. Als de Castelar erwachte, schrie er vor Schmerzen auf. Seine Zunge war ein pelziger Klumpen, sein Kopf platzte, seine Glieder waren schwer wie Blei. Er wälzte sich von dem Diwan, auf dem er die erste Liebesnacht mit Vahanitu hatte verbringen wollen, zertrampelte seine Perücke, die vor dem Diwan lag, und brüllte nach Olia. Olia kühlte seinen Kopf mit kaltem, klaren Wasser, massierte seinen Körper, während er nackt in einem dampfenden Holzbottich saß, regte ihn auf und liebte sich mit ihm in dem Bottich, was aber nicht ganz bequem war. Immerhin wand der Teniente sein seelisches Gleichgewicht wieder. Leider beging Olia einen verhängnisvollen Fehler. Sie berichtete ihm, die treulose und undankbare Vahanitu sei flußabwärts gesehen worden. De Castelar fuhr hoch. „Etwa .mit einem Boot?“ Olia verneinte, etwas verwundert, warum sich der Teniente darüber so aufregte. Aber dem war etwas eingefallen, was ihm schon längst hatte einfallen müssen. Seine Frage nach dem Boot hatte diesen Gedankensprung ausgelöst. Die Boote! Er hatte sie auf Befehl des Teniente Fierro beschlagnahmen lassen um zu verhindern, daß eine Schiffsfracht, jetzt von Maultieren transportiert, hier in Quibdo in die Boote umgeladen würde. Der Teniente Fierro war sich nicht sicher gewesen, ob diese schiffbrüchigen Seeleute mit der Maultierkolonne tatsächlich nach Quibdo ziehen würden. Das jedenfalls
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hatte er durch den versoffenen Ujeda mitteilen lassen. Die Maultierkolonne war hier bisher nicht eingetroffen. Erst jetzt begann de Castelar logisch zu denken — das hätte er auch schon tun können, als ihn Ujeda Fierros Order überbracht hatte. Aber vor vier Tagen hatte er den Kopf voll genug gehabt, weil er die Verhandlungen mit Vahanitus Vater zum glücklichen Abschluß hatte bringen wollen. De Castelar stellte sich gleichzeitig mehrere Fragen. Aber die Kardinalfrage war und blieb: Warum war der Teniente Fierros so erpicht auf die Maultierladung? Angeblich hatte die Ladung per Schiff von Valparaiso nach Panama gebracht werden sollen. Das Schiff war in Seenot geraten. Nun wollte man die Ladung auf dem Landoder Fußweg nach Panama transportieren — was Teniente Fierro zu verhindern gedachte. Verdammt, wenn dieser Betrüger auf etwas scharf war, warum sollte er, Gaspar de Castelar, es nicht auch sein? Hier sah doch jeder zu, sich die Taschen so voll wie möglich zu stopfen. Dazu hatte man ja schließlich die Neue Welt erobert, nicht wahr! Ja, er würde nach der Maultierkolonne suchen — und gleichzeitig nach der verdammten Vahanitu, die sich ihm verweigert hatte. Er würde zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen! Entschlossen turnte er aus dem Bottich, brüllte nach seiner Kleidung, scheuchte Olia herum, ließ sich abtrocknen, klatschte ihr auf den Hintern und befummelte ihre Brüste, stieg in seine Pluderhosen, schlüpfte in den Wams, umgürtete sich mit dem Wehrgehänge, musterte sich stolz im Spiegel — und schritt zur Tat. Er wußte nicht, daß sein Entschluß, nach der Maultierkolonne und Vahanitu zu suchen, die Dauer seines Lebens radikal verkürzte. Die Zeiger seiner Lebensuhr rückten in die letzte Stunde. Ganz Feldherr schritt de Castelar eine Viertelstunde später die Front seiner 25köpfigen Truppe ab, wählte sechzehn
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Männer und einen Corporal aus, die in je zwei Boote aufgeteilt wurden, und startete mit ihnen zu seinem Spähtruppunternehmen. Von Strategie und Taktik trotz des Tenienteranges ziemlich unbelastet, war doch etwas richtig bei de Castelars Überlegungen. Wer auch immer nordwärts zum Isthmus von Panama zog, er würde nicht der Bergkette folgen, sondern das Flußtal wählen, das der Rio Atrato im Lauf der Jahrtausende geformt hatte. Seiner Kampftruppe hatte der Teniente barsch mitgeteilt, die Augen offenzuhalten. Wonach, hatte der Corporal grämlich gefragt. Und die Frage war durchaus berechtigt. „Wonach, wonach!“ schrie der Teniente aufgebracht. Er saß auf der Steuerducht des Bootes, umklammerte die Pinne und hatte Ärger mit seinem Wehrgehänge, weil ihm der Degen in Weg war. „Nach Maultieren natürlich — und nach einer aufmüpfigen Indianerhure.!“ „Ah“, sagte der Corporal und war genauso schlau wie vorher. Über die Schulter rief er zu dem anderen Boot, das ihnen folgte, hinüber: „Ausschau halten nach Maultieren und einer aufmüpfigen Indianerhure, klar?“ Nichts war klar. Bei den Maultieren schon, jedenfalls wußte man, wie sie aussah. Aber bei dem anderen Fahndungsobjekt? „Wie sieht die aufmüpfige Indianerhure denn aus?“ brüllte der Bootsführer der anderen Mannschaft herüber. Die Soldaten in seinem Boot grinsten verstohlen. Auch die Soldaten in dem Boot des Teniente grinsten — bis auf den Corporal, den nichts mehr anwiderte als solche Unternehmungen wie diese Suche nach Maultieren und einer aufmüpfigen Indianerhure. Waren das vielleicht Aufträge für Soldaten Seiner Majestät des Königs von Spanien? Zum Kotzen. Die Antwort auf die Frage des anderen Bootsführers überließ er dem Teniente. Der mußte ja wissen, wonach er suchte. Aber der ignorierte die Frage und brüllte stattdessen die Soldaten in seinem Boot an, gefälligst mit ihrem dämlichen Grinsen aufzuhören.
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So blieb denn die Fragen nach dem Aussehen der aufmüpfigen Indianerhure weiterhin im Dunkel, und es spielte auch letztlich keine Rolle mehr, denn unaufhaltsam trieb der Strom die Boote flußabwärts und auf die Lagune zu. Es war der Corporal, der die beiden Flöße sichtete. Sie waren mit Segeltuchpacken beladen. Am Rand der Lagune waren Maultiere angepflockt. Auf einem Floß befand sich eine Drehbasse, wie der Corporal erkannte. Auf diesem Floß stand ein einzelner Mann. Sonst war niemand zu sehen. Der einzelne Mann war groß und breitschultrig. Er hatte die Arme über der Brust verschränkt und schaute zu ihnen herüber. Sein braungebranntes, scharfgeschnittenes Gesicht mit den leuchtenden blauen Augen war völlig ausdruckslos. Das alles sah der Corporal innerhalb zweier Atemzüge. „Da! Da!“ schrie er erregt und wies zu der Lagune. 4. „Mir nach!“ brüllte de Castelar dem hinteren Boot zu, warf die Pinne herum und steuerte die Lagune an. Die Soldaten mußten zu den Riemen greifen, um nicht an der Lagune vorbeigetrieben zu werden. Einmal aus dem Strom schossen die beiden Boote regelrecht in die Lagune. Der Seewolf beobachtete amüsiert das Manöver, wie die beiden Boote an dem Floß, auf dem er stand, längsseits gingen. Das hatte er schon besser gesehen. Der Teniente sprang auf das Floß, sah sich um, nickte und sagte herrisch: „Das wird alles beschlagnahmt verstanden?“ „So?“ sagte Hasard ruhig. „Darf ich fragen, mit welchem Recht und auf wessen Befehl?“ „Wer sind Sie?“ schnarrte der Teniente. Er fühlte sich sehr schneidig angesichts eines einzelnen Mannes, obwohl er sich hätte sagen müssen, daß dieser Mann bestimmt nicht al- lein war.
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„Diaz de Veloso“, sagte Hasard, „Capitan der gesunkenen Galeere ,Valparaiso’ aus Chile. Und wer sind Sie?“ „Gaspar de Castelar“, schnarrte der Teniente. „Militärbefehlshaber von Quibdo. Ich erkläre Sie zu meinem Gefangenen!“ Der Seewolf lächelte. „Ich wußte gar nicht, daß wir gegeneinander Krieg führen. Darf ich fragen, warum Sie mich zu Ihrem Gefangenen erklären, mich, einen schiffbrüchigen, spanischen Capitan?“ „Ihre Ware ist beschlagnahmt“, sagte de Castelar stur. „Welche Ware?“ „Diese Packen hier auf den Flößen.“ „Wissen Sie denn, was sie enthalten?“ De Castelar stutzte. Dann platzte er heraus: „Schmuggelgut!“ „Nein, mein Freund“, sagte Hasard höflich. „Schatzgüter des Vizekönigs von Chile für seine Majestät den König von Spanien.“ De Castelar prallte zurück und wäre beinahe vom Floß gefallen. „Was sagen Sie da?“ „Sie haben richtig gehört“, erwiderte Hasard. „Und ich glaube kaum, daß Sie als kleiner Teniente und sogenannter Militärbefehlshaber von Quibdo das Recht haben, Eigentum unseres Königs zu beschlagnahmen, wie Sie es nennen. Oder wollten Sie es stehlen, mein Freund?“ „Wie reden Sie denn mit mir!“ schrie der Teniente, jetzt hochrot im Gesicht. Er fummelte an seinem Wehrgehänge herum, das sich total verdreht hatte. Der Degenkorb hing verkehrt herum und war blockiert. Der Corporal sagte: „Senor Teniente, wir sollten besser ...“ „Schweigen Sie!“ brüllte der Teniente. „Hier gebe ich die Befehle, verstanden?“ „Jawohl“, sagte der Corporal mürrisch, „aber wir haben kein Recht ...“ „Ich stelle Sie an die Wand!“ schnappte der Teniente keuchend. „Ich will kein Wort mehr hören. Sie melden sich in Quibdo bei mir! Drei Wochen Arrest, verstanden? Wegen Insubordination, verstanden?“ Der Corporal spuckte ins Wasser.
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„Ob Sie mich verstanden haben?“ brüllte der Teniente. „Ich bin ja nicht schwerhörig“, sagte der Corporal. „So! So! Nicht schwerhörig! Dann hören Sie jetzt genau zu. Ich befehle, daß diese beiden Flöße besetzt und nach Quibdo geschleppt werden. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?“ „Und was ist mit den Maultieren?“ Der Corporal deutete mit dem Daumen an Land. „Was für Maultieren? Ach so, die. Ach, lassen Sie mich doch mit den Maultieren zufrieden.“ Der Teniente stampfte mit dem Fuß auf. „Und was ist mit der aufmüpfigen Indianerhure? Soll die nun weiter gesucht werden oder nicht?“ Der Teniente zerplatzte vor Wut. „Das ist mir scheißegal ...“ „Mir schon lange“, sagte der Corporal und spuckte noch einmal ins Wasser. Dann stand er von der Ducht auf, reckte sich, nahm militärische Haltung an und sagte: „Ich verweigere den Befehl, diese Flöße zu besetzen und nach Quibdo zu schleppen. Ich vergreife mich nicht an dem Eigentum meines Königs.“ De Castelar duckte sich. Jetzt war er schneeweiß geworden. „Was - was ...“ flüsterte er, „Sie verweigern ...“ Dieses Mal kriegte er den Degen heraus, es ging schneller, als selbst Hasard erwartet hatte. Das halbe Wehrgehänge riß dabei ab - ein Sprung, ein Stich, und noch ein Stich. Der Corporal kippte über Bord. Sein Blut färbte das Wasser der Lagune rötlich. „Halt!“ befahl Hasard schneidend. „Jetzt ist Schluß mit dem Theater!“ Der Teniente fuhr herum und starrte in die Mündung von Hasards doppelschüssiger Reiterpistole. „Was — Sie bedrohen mich?“ zischte der Teniente. „Sie wollen sich mir widersetzen, Sie lumpiger Bastard von einem Capitan? Ich“, er klopfte sich an die Brust, „ich verkörpere in diesem Gebiet die Allgewalt des Königs, ich bin sein
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verlängerter Arm, und ich befehle Ihnen, sich zu ergeben.“ „Witzbold“, sagte Hasard verächtlich. „Hauen Sie ab, oder es gibt ein Blutbad. Meinen Sie, ich stehe hier allein?“ Seine Stimme donnerte über die Lagune. „Zeigt euch, Männer!“ Hinter Sträuchen, Büschen, Sanddünen wuchsen die Männer des Seewolfes hoch, finster, drohend, bis an die Zähne bewaffnet. Der Teniente schnappte vollends über. „Auf sie!“ brüllte er. „Angriff! Vernichtet sie!“ Er stürzte sich auf Hasard. Hasards rechtes Bein flog hoch, stoppte den Teniente und katapultierte ihn vom Floß. „Arwenack!“ brüllte Carberry, hechtete in die Lagune, fiel über den planschenden Teniente her, brach ihm den Arm, als der mit dem Degen zuschlagen wollte, und drehte ihm glatt das Genick um. In weitem Bogen flog der Teniente aus der Lagune, klatschte in den Atrato, wurde von der Strömung mitgerissen — und schon waren die kleinen Mörder zur Stelle und verrichteten ihr grausiges Werk. Der Seewolf konnte seine entfesselten Männer nicht mehr aufhalten. Gleichzeitig mit Carberrys Kampfruf griffen sie an. Die Soldaten waren starr vor Schrecken über diese Horde von Teufeln, die stechend, schlagend und schießend über sie herfielen.’ Ein Boot löste sich von dem Floß, das andere kenterte, die Lagune wurde zum Schlachtfeld. Das Boot, das sich vom Floß hatte lösen können, wurde mit verzweifelten und hastigen Ruderschlägen zum Ausgang der Lagune getrieben. Dort standen Carberry und Batuti bis an die Brust im Wasser und erwarteten das Boot. „Ho-ho!“ röhrt Carberry. „Kommt her, ihr Schneckenfresser, ihr Affenärsche! Hier wird nicht gekniffen, was, wie? Hier geht’s rund, ihr lausigen Hurensöhne!“ Das Boot schoß auf sie zu. Fast gleichzeitig packten der bullige Carberry
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und der riesige Gambia-Neger den Steven, duckten sich, Carberry brüllte: „Ho — ruck!“ Und schon stemmten diesen beiden furchtbaren Kraftbullen das Vorschiff aus dem Wasser, drückten es hoch, das Boot überschlug sich rückwärts, und die acht Soldaten stürzten in das aufschäumende Wasser. Batuti griff in die Haare zweier auf tauchenden Soldaten und drückte sie wieder unter Wasser. Luftblasen blubberten nach oben, die beiden Soldaten strampelten mit den Füßen, ihre Arme zuckten suchend aus dem Wasser, aber dann erloschen die Bewegungen. Carberry drosch zwei andere Köpfe zusammen, lachte, als ihm ein Spanier auf den Rücken kletterte, warf sich vor und erwürgte den Mann unter Wasser. Als er schnaufend wieder auftauchte und sich das nasse Haar aus der Stirn wischte, war schon alles vorbei. Die herumschwimmenden Toten wurden in den Atrato geworfen. Jetzt sahen alle Männer des Seewolfs, auch Patrick O’Driscoll, was sich auf dem Fluß abspielte. Die Toten verschwanden unter einer schäumenden Masse quirlender Fischleiber, die sich wie rasend in die leblosen Körper hineinfraßen. Noch ein Mensch sah das furchtbare Schauspiel. Vahanitu. Sie hatte alles gesehen – auch den Tod des Corporals. Sie hatte auch gehört, was gesprochen worden war, aber nicht alles verstanden. Eins aber war ihr klar geworden. Die Soldaten hatten auch nach ihr suchen sollen. Jetzt waren sie alle tot – weil der Teniente etwas hatte haben wollen, was ihm nicht gehörte. Vahanitu konnte nach Hause zurückkehren. Aber sie würde schweigen über das, was sie gesehen und gehört hatte. Sie gestand sich ein, daß sie den großen, schwarzhaarigen Capitan mit den blauen Augen und dem braungebrannten Gesicht bewunderte. An den Teniente verschwendete sie keinen Gedanken. Er war ihr gleichgültig. Seine Gebeine würden in das große Meer im Norden gespült werden. Niemand würde je
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erfahren, wo er und seine Soldaten geblieben waren. Vahanitu lächelte still, als sie ihr Versteck verlies. * Hasard verteilte seine Männer. Er übernahm zusammen mit Ferris Tucker das Flaggschiff, wie es der Schiffszimmermann genannt hatte. Ben Brighton und Carberry wurden die Kommandanten des anderen Floßes. Der Seewolf sorgte dafür, daß seine alte Stammcrew mit den Karibik-Piraten gemischt wurde. Je fünf Maultiere wurden auf ein Floß geführt und so angepflockt, daß sie nicht verrückt spielen konnten. Die beiden Boote der Spanier hatte er wieder aufrichten lassen. Sie waren ihm hochwillkommen, denn er würde sie als Aufklärer einsetzen. Gleichzeitig konnte er die Flöße entlasten, wenn je vier Männer die Boote übernahmen. Die Bootscrews würden jeden Tag wechseln. Die restlichen Maultiere wurden losgepflockt. Carberry scheuchte sie flußaufwärts. Dann stakten sie die Flöße aus der Lagune hinaus auf den Strom. Die große Fahrt begann, von der keiner wußte, ob sie dort enden würde, wohin sie wollten: im Golf von Uraba. Es war die wohl seltsamste Flotte, die der Rio Atrato je gesehen hatte. Und fast schien es, als verstummten an den beiden Ufern die Stimmen der Wildnis, wenn die beiden Flöße und die beiden Boote vorbeiglitten. Jesusito, der Indio, befand sich auf Hasards Floß. An den Steuerriemen standen Stenmark, der Schwede, und der grünäugige Piet Straaten, ein Holländer und Spanienhasser wie sein Freund Jan Ranse, der früher als Steuermann gefahren war, bevor sich die beiden entschlossen hatten, als Karibik-Piraten gegen die Spanier zu kämpfen. Jetzt fuhren sie bei Philip Hasard Killigrew, und der war ihnen genau recht
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als verwegener Freibeuter Ihrer Majestät, der königlichen Lissy. Ferris Tucker stand vorn und beobachtete die Bugwelle. Dann stiefelte er nach achtern und betrachtete den Heckschwell. „Wie ist die Ruderwirkung?“ fragte er Piet Straaten. „Bestens.“ „Und bei dir, Sten?“ „Bestens.“ Ferris Tucker drehte sich zu Hasard um und strahlte. Der Seewolf sagte: „Wenn es nicht ,bestens’ wäre, wärst du auch nicht Ferris Tucker. Ich hab nur eine Sorge.“ „Und?“ Hasard kratzte sich hinter dem Ohr. „Die Drehbasse. Habt ihr sie gut verankert? Oder fliegt das Floß auseinander, wenn wir den ersten Schuß abfeuern?“ „Ich denk, ich bin Ferris Tucker“, sagte der Schiffszimmermann borstig. „Bist du auch. Man wird ja wohl mal fragen dürfen. He, Pat! Was machst du da?“ Patrick O’Driscoll stand achtern an der Steuerbordseite und ließ etwas durch seine Hand laufen. „Ich angele“, sagte Patrick O’Driscoll. „Mit was?“ „Schnur, Haken, ‘n Stück Hirschfleisch.“ Hasard starrte nach achtern wie die anderen. Er war etwas verblüfft, daß der Ire eigene Initiative entwickelte. Gespannt sah er zu, wie der Haken mit dem Hirschfleisch hinter dem Floß herhüpfte. Und da schossen sie heran wie Wölfe, diese kleinen bulligen Fische—ein wilder Wirbel, und der Haken samt Fleisch waren verschwunden. Patrick O’Driscoll holte Hand über Hand die Schnur ein und betrachtete das Ende. „Abgebissen“, sagte er, „verdammt, die sind so nicht zu fangen.“ „Aber wer den Haken verschluckt hat, krepiert“, sagte Gary Andrews aus Hasards Stammcrew. „Da hab ich auch nichts von“, sagte Patrick O’Driscoll und versank in dumpfes Brüten. Die kleinen gefräßigen Raubfische schienen ihn ziemlich zu beschäftigen.
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Vielleicht dachte er auch darüber nach, daß Dan O’Flynn eben doch keine „Märchen erzählt“ hatte. „Warum bist du denn so scharf auf diese Biester?“ fragte Gary Andrews. „Ich möchte wissen, was die für’n Gebiß haben“, brummte Patrick O’Driscoll. „Ich kann ja mal einen herausholen“, sagte Matt Davies, grinste und hielt Patrick O’Driscoll seine Rechte mit der scharfgeschliffenen Hakenprothese unter die Nase. „Wetten, daß ich mit dem Haken einen angele?“ Patrick O’Driscoll starrte auf die Prothese, hob den Kopf und sagte begeistert: „Mann, das ist die Idee.“ Hasard trat dazwischen. „Ihr seid wohl verrückt? Willst du noch mehr von deinem Arm verlieren, Matt? Diese Fische hängen im Nu an der Ledermanschette und reißen dir den Unterarm ab.” Sein Blick fiel auf die Drehbasse. Der Verschlußkeil — ein Zubehörteil, das beim Auswechseln der Pulverkammer häufig genug verlorenging — war mit einer dünnen Kette abgesichert. Die Kette führte vom Keil zu der drehbaren Gabelung, in der das Rohr ruhte. Sie war etwa zwei Fuß lang. Ja, das war eine bessere Idee. Er deutete auf die Kette. „Wenn Ferris Tucker und Al nichts dagegen haben, dann nehmt doch die Kette des Verschlußkeils als Vorlauf. An das hintere Ende schlagt ihr Pats Schnur an, an das vordere Kettenglied befestigt ihr den Haken mit dem Köder.“ „Genehmigt“, sagte Ferris Tucker. „Genehmigt“, sagte Al Conroy. Sie schienen alle ziemlich versessen darauf zu sein, einen der kleinen Mörder zu fangen. Patrick O’Driscoll klatschte sich an die Stirn. „Die Kette! Klar, die beißen sie bestimmt nicht durch. Auf die Idee hätte ich auch kommen müssen.“ „Bist du aber nicht“, sagte Gary Andrews sehr betont, womit er ausdrücken wollte, daß ein irischer Holzkopf eben doch ein irischer Holzkopf war und blieb.
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Üblicherweise wäre jetzt Patrick O’Driscoll explodiert. Aber er blieb — erstaunlich genug — friedlich und war schon dabei, zusammen mit Al Conroy die Kette abzumontieren. Sie brauchten ziemlich lange dazu, weil sie die jeweiligen Endglieder regelrecht aufstemmen mußten. Patrick O’Driscoll wurde ganz kribbelig, als er seine Schnur mit einem Palstek an das eine Kettenglied knotete. Dieser Knoten bildete ein Auge, das sich nicht zusammenzog, wenn Zug auf die Leine kam. „Ich hab noch Ersatzketten in einer Kiste“, sagte Ferris Tucker gemütlich und gähnte. Al Conroy fuhr herum. „Warum sagst du das denn nicht gleich, du hirnrissiger Ochse!“ „Mister Conroy“, sagte Ferris Tucker tadelnd, „erstens haben Sie mich nicht gefragt, und zweitens frag ich mich, wer hier eigentlich Stückmeister ist. Wen man in diesem Falle als hirnrissigen Ochsen bezeichnen soll, das, lieber Mister Conroy, überlasse ich Ihrem Scharfsinn!“ Hasard lächelte still in sich hinein. Da hatte der gute, alte Tucker den Stückmeister ganz schön aufs Kreuz gelegt. Schließlich hätte sich Al Conroy daran erinnern müssen, daß Ersatzketten vorhanden waren. Die Männer grinsten — bis auf Al Conroy. Der hatte rote Ohren und beschäftigte sich hastig damit, einen kleinen Eisenhaken auf einem Schleifstein spitz zu schleifen. „Ja, ja“, sagte Ferris Tucker, faltete seine Hände über dem Bauch und drehte Däumchen. „Da kann man sich das Maul fusselig reden, daß man erst nachdenken soll, bevor man handelt, aber diese jungen Hüpfer denken nur so weit, wie eine Kuh pißt.“ Al Conroy sagte gar nichts. Er arbeitete verbissen an dem Haken, bis seine Finger schweißig waren. Patrick O’Driscoll löste ihn ab. Ferris Tucker schaute ihnen wohlwollend zu und schien sich herrlich zu amüsieren. Nach einer Stunde harten Schleifens war der Haken fertig. Ferris Tucker
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begutachtete ihn und sagte: „Ts, ts.“ Er schüttelte den Kopf, ging zu einer Holzkiste, schlug sie auf, griff hinein und holte einen etwa fünf Zoll langen geschmiedeten Schiffsnagel heraus. Innerhalb von drei Minuten hatte er die Spitze zu einem Haken und das andere Ende um das Kettenglied gebogen. Im Vergleich zu Al Conroys und Patrick O’Driscolls grobem Werkstück, an dem die beiden eine Stunde lang geschwitzt hatten, war sein Haken von gefährlicher Eleganz mit dolchartiger Spitze. Es war das Musterstück eines Angelhakens. Al Conroy und Patrick O’Driscoll starrten auf den Haken, starrten sich an, starrten auf den Haken, schluckten und atmeten tief durch. „Ja, ja“, sagte Ferris Tucker. „Nun angelt mal schön. Ich hab noch mehr fünfzöllige Nägel.“ „O verdammt“, sagte Al Conroy voller Inbrunst. Patrick O’Driscoll brachte gar nichts heraus. Er wirkte wie ein Bulle, dem der Schlächter einen Hammer auf den Schädel gedonnert hat. „Den Köder könnt ihr doch selbst drauf stecken, oder?“ fragte Ferris Tucker freundlich. Hasard mußte sich das Lachen verbeißen. Dafür war das schadenfrohe Grinsen seiner Floßcrew umso breiter. Der Kutscher rückte ein Stück Hirschfleisch heraus und spießte es auf den Haken. Patrick O’Driscoll erwachte aus seiner Betäubung und schüttelte nur den Kopf, als könne er es immer noch nicht fassen. „Nun mal los doch, Pat“, sagte Gary Andrews. „Oder hast du vergessen, was du wolltest?“ „Ha!“ sagte der bullige Ire und stampfte an die Achterkante des Floßes. „O Gott“, sagte Gary Andrews. „Ein echter Taubstummer.“ Patrick O’Driscoll wog die Kette in seiner rechten Pranke hin und her, dann schoß sein Arm vor. Die Kette flog schlängelnd achteraus, zog einen Teil der Schnur hinter sich her und klatschte ins Wasser.
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Der Ire wickelte sich blitzschnell den Rest der Schnur mehrmals um den rechten Handballen und packte auch mit der Linken zu. Breitbeinig erwartete er den plötzlichen Zug. Die Kette mit dem Haken schäumte durchs Wasser und sackte etwas weg. „Jetzt!“ schrie Al Conroy. „Paß auf, Pat!“ Der Schwarm war wie aus dem Nichts aufgetaucht und fiel über das Kettenende her. Die Schnur ruckte und strammte sich wie eine Bogensehne. Mit weiten Griffen holte Patrick O’Driscoll die Angelleine ein. Ein etwa ein Fuß langer, gedrungener Fisch riß und zerrte an der Kette und versuchte, sie zu zerbeißen. Der Haken mußte tief unten in seinem Schlund stecken. Die Hinterflosse peitschte das Wasser und schnellte den bulligen Körper zwei, drei Yards in die Luft. Dann klatschte er wieder ins Wasser und schoß nach rechts weg. Der Räuber tauchte mit der Kette nach unten, stieß wieder hoch und durchbrach die Wasseroberfläche. Sie sahen seinen gelblichen Bauch und den bläulichen, dunkelgefleckten Rücken. Das Maul mit den furchtbaren Zähnen war blutig. Noch immer steckte Leben und Kampfkraft in dem Raubfisch. Er rüttelte und zerrte und bäumte sich auf. „Mann!“ stöhnte Al Conroy. „Schneller! Die anderen rasen schon wieder heran!“ Patrick O’Driscoll schleuderte die Kette mit dem Fisch in weitem Bogen auf das Floßdeck. Entsetzt starrten sie hin. Es waren zwei Pirayas. Einer hatte sich unterhalb der Schwanzflosse des anderen festgebissen — wohl im letzten Moment, als O’Driscoll die Kette aus dem Wasser geschleudert hatte. Jetzt löste er den Biß, knallte die Flosse an Deck, flog gegen die Drehbasse, raste wirbelnd auf Stenmark zu, der zur Seite sprang, und prallte gegen einen Segeltuchpacken. Etwas zischte quer über das Floß und nagelte den tobenden Fisch an den Segeltuchpacken — ein Pfeil. Gegenüber stand Jesusito und senkte den Bogen.
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„Nicht anfassen!“ sagte er scharf. „Er lebt noch.“ Der andere Fisch, den O’Driscoll gefangen hatte, war tot. Unterhalb seiner Schwanzflosse war das Fleisch in Maulbreite herausgerissen — das hatte sein Artgenosse geschafft. Ferris Tuckers Haken schaute aus der gräßlichen Wunde heraus. Jesusito glitt zu dem gepfeilten Piraya, der noch zuckte. Er hatte ein Stück Holz in der Hand. „Schaut her“, sagte er und stieß das Holz in das Maul des Pirayas. Der Fisch biß das Holz glatt durch, verschluckte den abgebissenen Teil, explodierte noch einmal und erschlaffte kurz darauf. Die Männer betrachteten stumm die beiden toten Räuber. Patrick O’Driscoll warf sie später über Bord — ein Fraß für die anderen. Jeder hatte die spitzen, scharfen Zähne befühlt und sich seinen Teil gedacht. Ein Hai konnte nicht schlimmer sein. Die Ufer glitten vorbei. Die Wildnis dahinter wirkte drohend und undurchdringlich, trotz des Farbenrausches der Millionen von Blüten, trotz der verspielt dahingaukelnden Schmetterlinge, trotz der jubilierenden Vögel. Die Flöße hielten sich in der Mitte des Stroms. Sie trieben mit der Geschwindigkeit eines schnellen Fußgängers. Hasard hätte zusätzlich die von Ferris Tucker angefertigten Riemen einsetzen können, aber er sah davon ab. Die Männer hatten in den letzten Tagen genug geschuftet. Sie sollten sich ausruhen. Wer wußte, was die Fahrt nach Norden noch alles bringen würde! 5. Am späten Nachmittag des vierten Tages steuerten sie, wie an den Tagen zuvor, eine Lagune an, um Frischproviant zu besorgen und die Fahrt für die Nacht zu unterbrechen. Jesusito hatte davon abgeraten, sich in der Dunkelheit den
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Atrato hinuntertreiben zu lassen. Es war zu gefährlich. Nachts schliefen die Männer auf den Flößen, die sie in der Lagune verankerten. Auch das war eine Vorsichtsmaßnahme zumindest gegen die bei Nacht jagenden Raubtiere. Aber auch auf den Flößen verzichtete der Seewolf keineswegs auf Nachtwachen. An diesem Nachmittag zog Batuti wieder mit Pfeil und Bogen los, um zu jagen und Frischfleisch heranzuholen. Eine Gruppe versorgte die Maultiere, eine andere kümmerte sich um das Feuerholz, eine dritte hatte der Seewolf abgeteilt, die unter Anleitung Jesusitos eßbare Früchte sammeln sollte. Die Lagune, in die sie Flöße und Boote gesteuert hatten, lag am Ostufer des Rio Atrato. Auf derselben Uferseite weiter nördlich und eine knappe Tagesreise mit dem Floß von der Lagune entfernt, hatten die Spanier einen Stützpunkt errichtet: Murri. Das Dorf der Indios, das sich dort früher befunden hatte, existierte nicht mehr. Die Spanier hatten es niedergebrannt. Das alles wußte Jesusito und hatte es auch Hasard gesagt. Murri war die letzte spanische Siedlung, die sie auf ihrer Floßfahrt den Rio Atrato hinunter passieren würden. Von da ab bis zum Golf von Uraba, wo der Rio Atrato ein sumpfiges Flußdelta bildete, würden sie aller Voraussicht nach keinem Spanier mehr begegnen. Was die Spanier betraf, würde Murri ihre letzte Klippe sein. Hasard wußte noch nicht, wie er sie umschiffen sollte, neigte aber in diesem Falle zu der Ansicht, Murri bei Nacht zu passieren, um ungesehen zu bleiben. Jesusito wußte zu berichten, daß Murri nicht viel größer als Quibdo sei. Ein paar friedliche Indiofamilien hätten sich dort wieder angesiedelt -den Spaniern untertan, das heißt, vor zwei Jahren hätte dort ein Teniente vom Schlage des Schlächters in Baudo mit etwa dreißig Soldaten das Zepter geschwungen. Man müsse also sehr vorsichtig sein.
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Aber etwas wußte Jesusito nicht. Er konnte es nicht wissen, weil es der Teniente aus Murri erst vor einem Vierteljahr in Angriff genommen hatte: er ließ von Murri aus einen Maultierpfad durch die Wildnis in Richtung Quibdo schlagen - auf der Ostseite des Rio Atrato. Teilweise sollte der Maultierpfad dem Verlauf des Flusses folgen, teilweise wurden die Windungen und Biegungen des Atrato abgekürzt, indem man sie einfach aussparte, wenn der Fluß eine Schleife nach Westen zog. Die Wildnis leistete erbitterten Widerstand - Bäume mit eisenhartem Holz blockierten die geplante Route, Schlinggewächse von Armdicke mußten gekappt werden, Sumpfstellen wurden nur durch Knüppeldämme passierbar, und schließlich verhielt sich auch die Tierwelt alles andere als friedlich, von den nicht befriedeten, kriegerischen Indios ganz abgesehen. Es war ein Sargento, der die künftige Route erkundete, die Flöße und die beiden Boote in der Lagune entdeckte - und die englische Sprache hörte. Er war starr vor Staunen, was ihn beinahe das Leben kostete. Denn auch er wurde gesehen, und zwar von Pete Ballie, dem Rudergänger der Seewolf-Crew, der genauso verblüfft wie der Spanier war. Peste Ballie gehörte zu Jesusitos Gruppe, die zu zweit oder einzeln Früchte einsammelte. Pete Ballie reagierte zuerst. „Ein Schneckenfresser!“ brüllte er natürlich in der englischen Sprache. „Männer! Hierher!“ Gleichzeitig riß er sein Messer heraus und stürmte los. Zwei Schritte weiter blieb er mit dem rechten Fuß in einer Lianenschlinge hängen, verrenkte sich den Knöchel und prallte hart zu Boden. Für den Sargento blieb genügend Zeit, die Flucht anzutreten. Er wirbelte herum und hetzte zu der Lichtung, wo er sein Maultier zurückgelassen hatte. Er schwang sich auf das Tier und zwang es auf den Pfad, den er bis hierher gebahnt hatte. Zwei, drei Schüsse peitschten hinter ihm her und
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sorgten dafür, daß das Maultier abging wie eine Kanonenkugel. Der Mann war nicht mehr einzuholen. Pete Ballie hinkte fluchend zu der Lagune und erstattete dem Seewolf Bericht. „War es wirklich ein spanischer Soldat, Pete?“ fragte Hasard. „Ja, Brustpanzer, Helm, Schneckenfresservisage! Das war ein Don, verdammt, und wenn ich nicht gestolpert wäre, hättet ihr ihn heute abend am Spieß braten können.“ „Ja, wenn“, sagte Hasard. „Zeig mal deinen Knöchel.“ Pete Ballie zeigte ihn. Der Knöchel war geschwollen. „Kutscher!“ rief Hasard. „Sir?“ Der Kutscher erhob sich von der Feuerstelle, wo er damit beschäftigt gewesen war, das Feuerholz zu schichten. Er war der Koch, aber auch gleichzeitig der Feldscher der Seewolf-Crew. Niemand wußte, wie er hieß, und er sagte es auch nicht. Also war er eben der „Kutscher“, denn als solcher hatte er bei Sir Freemont, einem ausgezeichneten Arzt in Plymouth, gedient, bevor ihn das Preßkommando Kapitän Drakes an Bord der „Marygold“ verfrachtet hatte. Auch Philip Hasard Killigrew hatten sie damals erwischt. Es schien Jahrzehnte her zu sein seit jenem stürmischen Oktober 1576. Jetzt war es Anfang Juli 1579. Noch nicht einmal drei Jahre waren vergangen, und was der Kutscher nie für möglich gehalten hätte - schließlich hatte er ja in einem vornehmen Hause gedient und Manieren gelernt -: er fühlte sich wohl bei diesem wilden Haufen von Rauhbeinen. Er trat näher und blickte den Seewolf fragend an. Hasard deutete auf den geschwollenen Knöchel Pete Ballies. „Einrenken!“ sagte er knapp. „Aber ...“ begann Pete Ballie. „Maul halten!“ unterbrach ihn der Seewolf. „Das wird eingerenkt, verstanden? Oder willst du wochenlang den Hinkefuß spielen?“ „Aye, aye, Sir - ich meine natürlich nein, Sir.“
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„Gut. Leg dich lang und brüll nicht, wenn’s ein paar Sekunden wehtut.“ Gehorsam legte sich Pete Ballie hin. Aber der Kutscher erhielt einen giftigen Blick, was soviel bedeutete wie: wenn du mich piesackst, dreh ich dir den Hals um. Und Pete Ballie hatte Pranken so groß wie Ankerklüsen. Der Kutscher ignorierte den Blick: Er kniete sich hin, tastete den Fuß und den Knöchel ab, nickte und sagte freundlich: „Entspann dich mal, Pete. Du mußt ganz locker sein, sonst wird das Mist. Na?“ „Ich bin doch locker“, sagte Pete Ballie wütend. „Was denn noch alles?“ „Nein, du bist verkrampft. Lach mal oder stell dir vor, daß du schwebst – du bist ein Schmetterling, schau mal, so einer wie der da!“ Der Kutscher nickte zu einem feuerroten, fast schwalbengroßen Schmetterling, der an ihnen vorbeisegelte. Pete Ballie starrte verblüfft hinter dem Schmetterling her. Der Kutscher packte blitzschnell zu und drehte den Fuß ruckartig nach rechts. „Schmetterling“, sagte Pete Ballie. „Du spinnst wohl? Also ich bin entspannt und locker oder sonst was. Nun mach schon!“ Der Kutscher stand auf und grinste. „Alles erledigt, Pete, du bist wieder in Ordnung.“ „Wie?“ Pete Ballie blickte zu dem Kutscher hoch. „Willst du mich auf den Arm nehmen?“ „Du kannst aufstehen“, sagte der Kutscher. „Aber jetzt noch nicht herumhüpfen. Die Schwellung muß abklingen. Heute abend kühlst du mit nassen Lappen. Das ist alles.“ „Ein Hexer“, sagte Pete Ballie und erhob sich. Er bewegte den Fuß, trat auf und ging ein paar Schritte. Es klappte, und er hatte kaum noch Schmerzen. „So was“, murmelte er vor sich hin. „Sagtest du eben danke schön?“ fragte Hasard. Pete Ballie drehte sich um, druckste und sagte dann zu dem Kutscher: „Also, vielen Dank auch. Es hat überhaupt nicht wehgetan.“
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„Das ist die Entspannung“, sagte der Kutscher und stelzte würdevoll, wie er es Sir Freemont abgeschaut hatte, zu der Feuerstelle zurück. Hasard wandte sich wieder Pete Ballie zu. „In welche Richtung ist der Don abgehauen, Pete?“ „Das hab ich nicht mehr richtig mitgekriegt.“ Jesusito meldete sich. „Nordwärts, Senor. Wir haben ihn ein Stück verfolgt und sind auf einen Trampelpfad gestoßen, den er benutzt hat. Er ist mit einem Maultier geflohen.“ „Ein Soldat aus Murri?“ „Wahrscheinlich“, sagte Jesusito. „Da haben wir die Bescherung.“ Hasard drehte sich zu Ben Brighton um. „Als Pete Ballie ihn entdeckte, hat er was auf englisch gerufen. Wenn der Spanier nicht schwerhörig ist oder ein Brett vor dem Kopf hat, muß er wissen, daß wir Engländer sind.“ Ben Brighton nickte und überlegte. Dann fragte er Pete Ballie: „Konnte man von der Stelle, wo du dem Don begegnet bist, die Lagune und die Flöße sehen?“ „Ja, Ben.“ „Sauber, sauber“, murmelte Ben Brighton. „Der Don alarmiert die anderen Schneckenfresser in Murri, und wenn wir aufkreuzen, sind die zur Parade angetreten, das heißt, in Schlachtordnung.“ „Nun mal sachte, Ben”, sagte Hasard. „Schön, er hat die Flöße gesehen. Also rechnen sie damit, daß wir den Flußweg benutzen. Flöße schiebt man ja nicht übers Land, nicht wahr? Sie werden ihre Aufmerksamkeit auf den Fluß konzentrieren - auf ihre Wasserflanke. Oder meinst du, die passen rundum auf?“ „Nein“, sagte Ben Brighton. „Na bitte. Dann könnten wir sie zum Beispiel von der Landseite her überraschen, verstehst du?“„Klar.“ Ben Brighton grinste. Die Männer, die sie umstanden, stießen sich an und grinsten ebenfalls. Edwin Carberry sagte: „Wir zwicken die Schneckenfresser in den Hintern, richtig?“
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„Etwa so ähnlich“, sagte Hasard. „Ich will aber eins der beiden Boote noch in dieser Nacht mit fünf Mann vorausschicken. Es muß erkundet werden, was sich in Murri tut. Das andere Boot und die beiden Flöße werden beim ersten Morgengrauen folgen, aber keinesfalls bis Murri vorstoßen. Die Frage ist, wo wir uns treffen, und zwar auf dieser Seite des Flusses. Was meinst du, Jesusito?“ Der Indio kniete sich hin, wischte den Sand glatt und zeichnete mit einem Zweig den ungefähren Verlauf des Atrato auf. „Hier“, sagte er, „liegt Murri, hier etwa sind wir jetzt.“ Dann deutete er auf eine Flußkrümmung südlich von Murri. Der Atrato floß von dort in einem weiten Bogen nach Westen und über Norden nach Nordosten an Murri vorbei. „Diese Stelle, wo der Atrato nach Westen biegt, liegt etwa eine Stunde Fußmarsch von Atrato entfernt. Die Stelle ist nicht zu verfehlen, weil in der Biegung, etwa zwanzig Schritte vom Ufer entfernt, drei riesige, abgerundete Felsen im Fluß stehen oder besser: in den Fluß ragen, denn hinter dem letzten haben sich Sand und Geröll abgelagert und eine Verbindung zum Ufer hergestellt. Es ist dort eine Art Stillwasser. Dort könnte das Boot die anderen erwarten.“ Hasard nickte. „Wer übernimmt das Boot, wer fährt mit?“ Sämtliche Männer traten vor. Hasard lächelte. „Soll ich vielleicht allein mit den beiden Flößen und dem anderen Boot fahren, oder wie denkt ihr euch das?“ Smoky, der Decksälteste der Crew, trat noch einen Schritt vor und sagte: „Ich übernehme das Boot und begleiten werden mich Matt, Nils Larsen, Sven Nyberg und unser Hüpfer mit den besten Augen.“ Bevor Dan loslegen konnte, sagte Batuti: „Kleines O’Flynn kein Hüpfer, verstanden?“ „Was denn?“ fragte Smoky. „Ein gutes Mann!“ erklärte Batuti. Er klopfte an seinen Kopf. „Und hier oben pfeifig!“
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„Pfiffig“, sagte Smoky und grinste breit. „Nicht pfeifig, du Hummel!“ „Hammel heißt das“, erklärte Batuti hitzig und etwas übereilt. Als die anderen lauthals losbrüllten, begriff er, daß ihn Smoky hereingelegt hatte. Erst war er wütend, dann lachte er mit. Eine Stunde später, nachdem sie gegessen hatten, verstaute die Smoky-Crew Waffen. und Proviant in dem Boot und brach auf. Der Seewolf sagte: „Kein Techtelmechtel mit den Dons, verstanden? Ich möchte auch nicht, daß ihr gesehen werdet - sonst sind alle weiteren Aktionen gefährdet. Ist das klar?“ „Aye, aye, Sir“, erwiderte Smoky. „Falls wirklich etwas passieren sollte“, sagte Hasard, „dann versucht, euch abzusetzen, wenn möglich, auf die andere Flußseite. Entzündet dort ein Feuer mit viel Rauch. Dann sind wir gewarnt. Finden werden wir euch dann schon.“ „Aye, aye, Sir.“ Mit ein paar Riemenschlägen verschwand das Boot in der Dunkelheit, die jetzt über die Wildnis hereingebrochen war. * Smoky hatte die Pinne übernommen und steuerte in der Mitte des Flusses. Dan O’Flynn hockte vorn im Bug, beobachtete nach voraus und wies Smoky ein, wenn vor ihnen Hindernisse wie treibende Stämme, Baumkronen, Klippen oder Schaumstreifen auftauchten. Die Schaumstreifen waren immer ein Zeichen dafür, daß dort unter Wasser felsige Barrieren lauerten. Matt Davies, Nils Larsen und Sven Nyberg pullten unmenschlich. Ein Mann allein konnte ohne weiteres die zwei Riemen bedienen, obwohl das Boot für insgesamt fünf Männer fast zu groß war. Die beiden unzertrennlichen Dänen waren gute Seeleute, wie Smoky wußte. Und daß sie kämpfen konnten, hatten sie auch bereits unter Beweis gestellt. Beide waren zäh und ausdauernd und nicht unterzukriegen. Ehe Nils Larsen mal den Kopf hängen ließ, mußte schon die Welt untergehen. Er war ein Mensch, der gern
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lachte. Sven Nyberg dagegen war ernster. Er hatte scharfe, abwägende, blaue Augen. Abwägen, dann aber handeln, das war auch seine Devise. Später übernahm Matt Davies die Pinne, und Smoky pullte. Sie kamen gut voran, schneller als mit den Flößen, die ja auch wesentlich mehr Masse durchs Wasser schoben. Sie schwiegen, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt, aber dennoch aufmerksam nach allen Seiten sichernd. Die beiden Ufer waren mit den aufragenden Bäumen eine dunkle Kulisse, aus der die nächtlichen Laute der Wildnis herübertönten. Einmal hörten sie das Fauchen einer Wildkatze, wahrscheinlich eines Jaguars, und dann ein Klatschen ins Wasser. Aber nichts passierte weiter. Ob die Pirayas sie unsichtbar begleiteten, wußten sie nicht. Bleibt bloß weg, ihr Bestien, dachte Smoky. Der Gedanke, mit dem Boot aufzulaufen und schwimmen zu müssen, war ihm gar nicht geheuer. Um Mitternacht brach der Mond durch und überschüttete Fluß und Wildnis mit einem unwirklichen, silbernen Licht. Jetzt saß Nils Larsen an der Pinne, und Matt Davies pullte. Seine Hakenprothese bereitete ihm keine Schwierigkeiten - an ihr würde er nie Schwielen kriegen, hatte er einmal gesagt. „Schtt!“ flüsterte Dan O’Flynn und deutete voraus. Ein Brausen und Tosen wehte ihnen entgegen und verstärkte sich. Nils Larsen stand auf und packte die Pinne fester. Links und rechts, das konnten sie im Mondlicht deutlich erkennen, erhoben sich plötzlich felsige Steilufer, die den Fluß mehr und mehr einengten. Das Boot wurde schneller. „Ach du meine Fresse”, sagte Smoky, „halt bloß die Pinne fest, Nils, hier geht’s durch eine Art Engpaß. Matt, nimm die Riemen hoch, die haben jetzt keinen Zweck mehr. Siehst du was, Dan?“ „Flußlauf verengt sich!“ rief Dan O’Flynn zurück. „Nils — halt etwas nach Backbord, ja, recht so, jetzt mittschiffs das Ruder!“
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Das Brausen und Tosen wurde noch lauter, links und rechts flogen die Felswände vorbei, Gischtschleier, silbrig aufleuchtend, huschten über das Boot, die Felsen glitzerten wie Millionen Diamanten. Dan O’Flynn hackte die rechte Handfläche etwas nach rechts, was er schrie, hörten sie nicht, aber seine Handbewegungen waren eindeutig. Nils Larsen legte etwas Ruder und steuerte nach Steuerbord. Jetzt sah er es selbst. Sie rasten genau auf die Mitte eines riesigen Felsentores zu, das zu beiden Seiten in den Nachthimmel stieg und sich nach oben zueinander neigte. Die Männer klammerten sich fest. Nils Larsen stand breitbeinig vor der Steuerducht, seine beiden Fäuste lagen wie Schraubstöcke um den Pinnenschaft, seine blonden Haare flatterten im Fahrtwind. „Ho!“ brüllte er. „Hoi-ho! Hier ist was los! Hier wackelt die Wand!“ Smoky schloß die Augen. Dieser verdammte dänische Hurensohn hat an dieser verdammten Höllenfahrt auch noch Spaß, dachte er grimmig. Das Boot war hervorragend gebaut. Es gehorchte dem geringsten Steuerdruck und schoß jetzt wie ein Pfeil durch die Mitte des Felsentors. Um sie herum waren nur noch Tosen, Gischt und plötzlich eisige Kälte. Fast Sekunden später war alles vorbei. Der Fluß war so breit wie eh und je und floß gemächlich dahin, die Felsen waren verschwunden, der Wald ragte wieder rechts und links an den Ufern hoch. Smoky wischte sich das Wasser von der Stirn. Oder war es Schweiß? Er starrte zu Nils Larsen hoch, der immer noch stand. Der Kerl grinste von einem Ohr zum anderen. „Soll ich jetzt mal wieder pullen?“ fragte er, als sei überhaupt nichts gewesen. In diesem Moment wußte Smoky, daß dieser Nils Larsen einer von der ganz eisenharten Sorte war. 6.
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Noch vor dem Morgengrauen erreichten sie die drei Felsen, die Jesusito beschrieben hatte, steuerten in das Stillwasser, liefen am Ufer auf und zogen das Boot unter das Gestrüpp, das hier üppig und wild wucherte. Wer das Ufer nicht Zoll für Zoll absuchte, würde das Boot nie entdecken. Sie aßen kalten Hirschbraten, tranken klares Wasser, holten ihre Pistolen aus dem Boot und brachen auf. Jetzt stellte sich plötzlich heraus, daß Sven Nyberg ein erfahrener Waldläufer war. Er fand Spuren, die die anderen nicht sahen und führte sie zu einem Wildpfad, der, wie er erklärte, nach Nordosten verlief. Eine Viertelstunde später endete der Wildpfad an einer breiten Schneise, die offenbar von Menschenhand angelegt war. Da waren gefällte Baumriesen, die links und rechts der Schneise niedergestürzt waren, gekappte Lianen, Gestrüpp oder entwurzeltes Kleingehölz. Die Schneise führte genau in die Richtung, in der Murri liegen mußte. „Du kriegst die Tür nicht dicht“, sagte Smoky. „Die bauen hier so ‘ne Art Straße, wie mir scheint.“ „Nach Quibdo“, sagte Sven Nyberg und fügte nachdenklich hinzu: „Möchte wissen, wieweit sie damit schon sind?“ „Wieso?“ fragte Smoky. „Weil es die Anwesenheit des spanischen Soldaten erklären würde, den Pete entdeckt hatte“, erwiderte Sven Nyberg. „Ich habe hinter dem Kerl hergeschossen“, sagte Smoky, „und bin ihm zusammen mit Jesusito gefolgt. Da war nur ein Trampelpfad.“ „Wahrscheinlich führte der auf die Schneise. Man bricht sich durch die Wildnis nicht blindlings eine Bahn, sondern sucht den Weg des geringsten Widerstandes, wenn man eine Straße anlegen will. Vielleicht war der Soldat ein Mann, der das erkunden sollte.“ Sven Nyberg hatte die Augen zusammengekniffen und blickte die Schneise entlang, die nordwärts verlief. „Wir sollten die Schneise meiden und besser seitlich von ihr vordringen. Um so eher vermeiden wir Begegnungen mit den Dons.“
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„In Ordnung“, sagte Smoky. „Dann mal los.“ Seitlich der Schneise pirschten sie weiter. Sven Nyberg führte sie. Niemand begegnete ihnen — den Grund erfuhren sie eine knappe Stunde später, als die Wildnis plötzlich aufhörte und ein riesiges Areal sich vor ihnen ausbreitete: eine gerodete Fläche, auf der Hütten und Häuser standen. Sie hatten Murri erreicht. Links von ihnen floß der Rio Atrato — und dort waren Spanier und Indios emsig wie die Ameisen damit beschäftigt, den Fluß geradezu zu sperren, anders konnte man es nicht nennen. Boote krebsten über den Fluß und spannten Taue. Sie wurden auf der anderen Flußseite entgegengenommen und um Bäume geschlungen. Von ihrem Beobachtungsstandort aus wirkten die Taue wie Filigran. Männer in den einzelnen Booten waren damit beschäftigt, die parallel verlaufenden Taue mit kürzeren Tauen zu verflechten. so daß ein Netzwerk entstand. In das Netzwerk steckten sie Geäst und Zweige. Der ganze Ort schien mit dieser Arbeit beschäftigt zu sein. Ein bulliger Spanier, der Teniente, trieb Männer, Frauen und Kinder an. Er stand am Ufer und brüllte seine Befehle. Manchmal schlug er mit einer Peitsche dazwischen, wenn ein Boot mit indianischer Besatzung wieder landete, um Nachschub für das Flechtwerk zu holen. Er schien es mächtig eilig zu haben, dieser Teniente. Smoky und seine Crew lagen bäuchlings unter einem Lianendickicht und beobachteten. Sven Nyberg drehte sich plötzlich zu Smoky um und sagte leise: „Ich hab eine Idee.“ „Und welche?“ „Einer von uns brauchte nur heute abend da drüben auf der anderen Seite die Taue, die sie um die Bäume geschlungen haben, zu kappen, und schon geht die ganze Sperre baden.“ „Mann!“ stöhnte Smoky begeistert. Dan O’Flynn, der mitangehört hatte, sagte: „Und dann dreht er da drüben Däumchen,
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wie? Oder wird von den Schneckenfressern abgeschlachtet — sucht’s euch aus.“ „Richtig“, sagte Sven Nyberg, „guter Einwand. Aber kein Problem. Er muß mit dem Boot rüber und behält auch das Boot. Wenn die Sperre offen ist, haut er ab und trifft sich flußabwärts mit den anderen.“ „Besser, das da drüben besorgt nicht ein einzelner von uns, sondern drei decken ihn. Einer bleibt zurück und berichtet dem Seewolf“, sagte Matt Davies. „Und wer ist der eine?“ zischte Dan O’Flynn. „Du“, sagte Smoky prompt. „Und wenn du jetzt das Maul aufreißt, kriegst du eine geschmiert, du Hüpfer!“ Er drehte sich zu Dan um und hielt ihm die Faust unter die Nase. Dan O’Flynn sagte: „Ihr seid vielleicht saubere Kameraden, pfui Deibel. Ich soll die Dreckarbeit leisten, während ihr ‘ne Sperre abmontiert.“ „Matt“, sagte Smoky und grinste wie ein Wolf, der eine Schafkoppel wittert, „vor meiner Faust hat der Kleine keine Angst, vielleicht haust du ihm mit deinem Haken was an die Rübe!“ „Mach ich“, sagte Matt Davies und ruckte im Liegen herum. „Ist ja schon gut“, sagte Dan O’Flynn hastig und schielte auf den Haken. „Ihr habt gewonnen. Ich laß mir doch nicht den Schädel zertrümmern. Aber wenn sie euch bei der Sperre beim Arsch kriegen, dann jammert bloß nicht nach Donegal Daniel O’Flynn, ihr dämlichen Hunde!“ „Hör dir den an“, sagte Matt Davies zu Smoky. „Hat der ‘ne gottverdammte Schandschnauze, oder nicht?“ Smoky grinste und imitierte Batuti: „Kleines O’Flynn ist pfeifig.“ Dan O’Flynn hätte am liebsten geheult vor Wut. Aber er schluckte sie hinunter und biß die Zähne zusammen. Seine Stunde würde kommen, da würde er diesen Idioten schon zeigen, was er für ein Kerl war. Matt starrte ihn verdutzt an. „Fehlt dir was, Junge?“ „Phff“, machte Dan O’Flynn verächtlich. „Dann ist es ja gut“, sagte Matt Davies.
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Als sie sich zurückzogen, hatte sich die Sperre zu einem undurchdringlichen Dickicht entwickelt, in dem sich - nach Meinung des Teniente -die beiden Flöße und Boote, vorn Strom geschoben, wie zappelnde. Fliegen in einem Netzt verfangen mußten. Dann konnte man sie in aller Ruhe zusammenschießen. Sie sahen es noch: Hier auf der rechten Flußseite ließ der Teniente schräg vor der Sperre Stellungen ausheben - für die Schützen. Dann huschten sie zurück. Gegen Mittag pullten Smoky, Matt Davies und die beiden Dänen quer über den Fluß und verschwanden um die Biegung. Für Dan O’Flynn begann das große Warten. * Die beiden Flöße und das Boot tauchten am Nachmittag auf und steuerten in das Stillwasser hinter den drei Felsen. Dan O’Flynn atmete auf und sprang auf das „Flaggschiff“. Der Seewolf blitzte ihn an. „Allein?“ Dan nickte und sagte erbittert: „Die wollen ‘ne Sperre abmontieren, diese Büffel. Und ich sitz hier rum und stier Löcher in die Luft.“ „Sperre?“ „Ja, direkt querab von Murri. Die Dons haben wie die Irren geschuftet. Sie haben Taue über den Fluß gespannt, Tampen dazwischengeflochten und in das ganze Netzwerk noch Zweige und Gestrüpp gesteckt.“ „Die Sperre ist nur an den Tauen verankert?“ fragte Hasard. „Genau. He, woher weißt du das denn?“ „Hab ich mir gedacht“, sagte Hasard. „Die Taue sind drüben auf der anderen Seite wahrscheinlich an den Bäumen befestigt und brauchten nur gekappt zu werden. Stimmt’s?“ Dan O’Flynn riß die Augen auf. „Bist du Hellseher, Mann?“ „Nein, ich denke nach. Wer von euch hat die Idee gehabt?“ „Sven Nyberg“, erwiderte Dan O’Flynn.
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„Schau einer an, der Däne.“ Hasard lächelte. „Da ist aber noch was“, sagte Dan O’Flynn. „Das ahnst du bestimmt nicht.“ „Soll ich mal raten?“ „Nur zu.“ Der Seewolf sagte: „Sie haben hier auf unserer Seite vor der Sperre Löcher gebuddelt oder eine Brustwehr errichtet, um uns an der Sperre zusammenschießen zu können. Richtig?“ Dan O’Flynn sah zu dem großen Mann hoch und hatte Augen so groß wie Spiegeleier. „Ich werde verrückt“, stieß er hervor. „Ich werde glatt verrückt. Wozu erkunden wir eigentlich, wenn du schon alles vorher weißt?“ Hasard seufzte. „Na ja, Dan, doppelt hält immer besser, das solltest du dir merken. Aber nun möchte ich doch noch was wissen. Wann wollen die vier die Taue kappen?“ „Sowie das Dämmerlicht da ist und sie sich ungesehen an die Bäume schleichen können. Dann wollen sie zurück zum Boot und sofort durch die geöffnete Sperre durchbrechen.“ „Idioten“, sagte Hasard grimmig. „Wieso?“ „Das Kappen der Sperre geht in Ordnung“, sagte Hasard. „Aber habt ihr gedacht, die öffnet sich leise wie eine geölte Tür? Die kracht auseinander. Die Spanier werden innerhalb von Sekunden begriffen haben, daß die Taue drüben auf der anderen Seite gekappt wurden. Und was jetzt? Jetzt werden sie nur darauf lauern, was dort drüben passiert. Und dort pullen vier Verrückte mit ihrem Boot, um die geöffnete Sperre zu passieren. Alles andere kannst du dir selbst ausmalen — bis hin zu den Pirayas!“ Der Seewolf sah Dan O’Flynn zum ersten Male fassungslos — und das wollte was heißen. „Mein Gott“, sagte Dan O’Flynn stockend, „sie werden dort zusammengeschossen und dann ... Nein! Das darf nicht sein, Smoky und Matt Davies und ...“
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„Ruhe“, sagte der Seewolf. „Keiner wird zusammengeschossen, jedenfalls keiner von uns.“ Er blickte zur Sonne hoch. „Wie lange habt ihr bis Murri gebraucht?“ „Eine knappe Stunde.“ Hasards Gesicht wurde hart. „Musketen, Pistolen und Waffen samt Munition ausladen!“ befahl er. „Je zwei Mann übernehmen ein Floß, und zwar Jeff Bowie und Will Thorne das eine und Al Conroy zusammen mit dem Kutscher das andere. Das Boot hängt ihr bei einem der Flöße achtern an. Ihr brecht erst auf, wenn sich die Sonne neigt. Wir anderen marschieren nach Murri und zwicken die Dons in den Hintern, bevor sie die Smoky-Crew zusammenschießen können.“ Er blickte Al Conroy an. „Wenn ihr noch Gefechtslärm hört, haltet euch mit den Flößen zurück. Steuert das linke Ufer an und wartet, bis Ruhe eingekehrt ist und ihr dann deutlich fünf Schüsse hintereinander hört. Das ist das Signal, daß die Dons nichts mehr zu melden haben. Ich will auf keinen Fall, daß die Kerle sich unter Umständen der Flöße bemächtigen, ist das klar?“ „Aye, aye, Sir, alles klar“, sagte Al Conroy. Der Seewolf mußte auf acht seiner Männer verzichten. Mit Jesusito und ihm selbst waren sie jetzt zwanzig Kämpfer, das mußte reichen, um die Spanier niederzuringen. Aber er hatte das Überraschungsmoment auf seiner Seite. Die erste Salve aus den Musketen mußte sitzen. Die Männer luden die Waffen aus. Carberry trieb sie an. Immerhin hatten sie noch eine knappe Stunde Fußmarsch vor sich. Hasard wandte sich an Dan O’Flynn. „Wie weit wart ihr in eurer Deckung von den Spaniern, die die Stellung aushoben, entfernt?“ „Etwa sechzig Schritte“, erwiderte Dan O’Flynn. „Aber wir können noch dichter heran. Außerdem fällt das Gelände zum Fluß hin ab. Die Stellung der Dons liegt wie ein Präsentierteller vor uns. Nach meiner Schätzung könnten wir uns bis auf eine Entfernung von dreißig Schritten an
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die Stellung heranpirschen, ohne daß die Dons etwas merken. Da- ist dichtes Lianengestrüpp.“ Der Seewolf nickte zufrieden. Eine Viertelstunde später waren die Männer abmarschbereit. Dan O’Flynn würde sie führen. Arwenack blieb auf dem Floß Al Conroys zurück. Der Kutscher fütterte den Schimpansen mit Bananen, um ihn abzulenken — manchmal wurde der Affe zu einem ziemlichen Problem. Längs der Schneise bewegten sich die Männer hintereinander in langgezogener Reihe auf Murri zu. Batuti und Dan O’Flynn hatten die Spitze übernommen. Beladen mit den Waffen und der Munition war das durchaus kein Spaziergang. Unter dem dichten Blätterdach der Wildnis herrschte eine drückende Schwüle, die den Schweiß aus allen Poren trieb. Hinzu kamen die Plagegeister: Stechmücken in allen möglichen Formen und Arten. Aber keiner der Männer fluchte. Sie bewahrten eine eiserne Disziplin. Sie wollten zur Karabik, und nichts würde sie aufhalten, es sei denn der Tod. Aber dem hatten sie schon zu oft in das grinsende Gesicht gespuckt, um ihn noch zu fürchten. Außerdem führte sie ein Mann, für den sie durchs Feuer gehen würden. Auch das war ein Grund für ihre Furchtlosigkeit. Als sich die Sonne nach Westen zu neigen begann, erreichten sie die Stelle, wo sich Smoky und seine Männer aus der Deckung zurückgezogen hatten. . Der Seewolf winkte seine Männer heran und gab flüsternd seine Befehle. „Von hier aus einzeln ausschwärmen. Abstand zum nächsten etwa zwei, drei Schritte. Wir pirschen uns so dicht wie möglich an die Stellung der Dons heran. Ich möchte nicht den geringsten Laut hören. Bereitet dann eure Musketen zum Schuß vor. Ich gebe den Feuerbefehl. Nach der Musketensalve feuert ihr mit den Pistolen.“ Er grinste seine Männer an. „Den Rest überrennen wir. Noch irgendwelche Fragen?“ Sie lächelten grimmig. Keiner hatte eine Frage.
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Sie fächerten auseinander und pirschten wie Katzen tief geduckt durch das Lianendickicht. Später robbten sie weiter, flach an den Boden gepreßt. Über ihnen in den Baumwipfeln lärmten Brüllaffen und kreischten Papageien. 7. Smoky, Matt Davies, Nils Larsen und Sven Nyberg lagen hinter einem vom Blitz gefällten Baumriesen. Die Lücke, die er geschlagen hatte, war längst wieder überwuchert. Um Deckungen brauchten sie hier nicht besorgt zu sein. Aber etwas anderes bereitete ihnen Sorge. Der Teniente hatte auf dieser Seite des Flusses zwei Posten aufgestellt - zur Sicherung der Taue, an denen die Sperre auf dieser Seite hing. Die Sperre war ein ziemliches Monster geworden, eine dicke Raupe, die infolge ihrer Schwere in der Mitte durchhing. Dort hatte sie bereits mit dem Wasser Verbindung. Die Strömung gurgelte und schmatzte an dieser Stelle durch die Sperre. Die beiden Posten waren mit Musketen bewaffnet. Offensichtlich langweilten sie sich. Sie gähnten abwechselnd, schlugen Mücken tot -und fluchten. Wahrscheinlich hielten sie es für völlig überflüssig, hier Wache zu schieben. Sie waren mit einem Boot herübergerudert, als Smoky und die drei Männer bereits hinter dem Baumriesen lagen. Erst hatte Smoky gedacht, sie seien entdeckt worden. Aber dann hätte der Teniente mehr als zwei Soldaten geschickt. Smoky beschäftigte noch ein anderes Problem, das viel schlimmer als diese beiden Posten war. Es war die Stellung, die der Teniente dort drüben unterhalb der Sperre angelegt hatte. Die Dons hatten einen regelrechten Schießstand aufgebaut. Bei der Vorstellung, was passieren würde, wenn die beiden Flöße und das Boot herantrieben, wurde es Smoky fast übel. Man mußte den Seewolf warnen, bevor er
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und die Männer an dieser Todesfalle vorbeifuhren und abgeknallt wurden. Smoky begann zu schwitzen. Ob sich einer von ihnen jetzt lautlos zurückziehen könnte, war zumindest fraglich. Die beiden Posten waren nur etwa drei Schritte von dem gefällten Baumriesen entfernt. Da brauchte nur ein Zweig zu knacken, und alles war in Frage gestellt. Verdammt, er, Smoky, hatte sie alle in eine Situation manövriert, die das Übelste vom Üblen war. Aber vielleicht hatte das Bürschchen dem Seewolf von dieser Sperre erzählt. Natürlich! Oder etwa nicht? Smoky betete darum, daß Dan O’Flynn den Seewolf gewarnt hatte. Er mußte ihn gewarnt haben, dreimal verdammt und zugenäht. Smoky klammerte sich an diesen Strohhalm der Hoffnung wie ein Ertrinkender. Wenn Dan es nicht getan hatte, war er die mieseste Kakerlake, die es je gegeben hatte. Smoky zuckte zusammen, als Matt Davies ihn anstieß. Er drehte den Kopf und blickte Matt wütend an. Matt grinste, legte den linken Finger auf den Mund und deutete mit der Prothese zu dem Lianenhang hinüber, der über der Stellung der Spanier lag. Smoky starrte zu dem Hang. Was sollte denn da sein? Er sah nichts —nur Lianen, Blätter, Zweige, Blüten, eine farbige Wand, die im Untergrund grün war. Er wandte den Kopf wieder zu Matt Davies. Der bewegte unhörbar, aber wie ein stummer Mime die Lippen, erst breit, dann rund geformt. „See— wolf ! Smoky hätte vor Erleichterung fast aufgeschrien. Matt mußte dort drüben etwas gesehen haben. Vielleicht einen aufblinkenden Musketenlauf. Die Sonne stand jetzt im Westen und begann sich zu neigen. Ihre Strahlen lagen auf dem Hang. O Mann, dachte Smoky, und ich hab hier das Zittern gekriegt. Also hatte das „pfeifige“ Bürschchen den Seewolf gewarnt, und der hatte mal wieder richtig gehandelt — wie immer. Von dem Hang
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aus hatten die Männer des Seewolfs ein Schußfeld vor sich, wie es für die Spanier nicht tödlicher sein konnte. Von hinten waren sie ungedeckt. Die Falle, die sie für die Engländer errichtet hatten, war zu ihrer eigenen Falle geworden. Jetzt ging es für ihn, Smoky, und die drei anderen nur noch darum, die beiden Posten lautlos zu erledigen und dann die Taue zu kappen. Sie brauchten nur noch die Dämmerung abzuwarten. Smoky zog sein Messer. Sein Plan war einfach genug. Mit Handzeichen und Gebärden bedeutete er den anderen, was er vorhatte. Matt und die beiden Dänen nickten, daß sie verstanden hätten. Die vier Männer lauerten und verfolgten, wie die Schatten länger wurden. Die Dämmerung setzte ein. Smoky nickte seinen drei Männern zu. Sie richteten sich auf und verharrten geduckt wie zum Sprung bereite Raubtiere. Smoky begann zu wimmern. „Huuuu-uhaaa!“ Die beiden Soldaten drehten sich ruckartig zu dem Baumstamm um und setzten sich genauso ruckartig in Bewegung — wie Marionetten. Ihre Köpfe erschienen über dem Stamm. Je zwei Paar Männerarme zuckten hoch, packten die beiden Hälse, und schon schwebten die beiden Soldaten in der Luft und flogen im Schwung hinter den Baumstamm. Das geschah innerhalb von Sekunden und völlig lautlos. Je zwei Männer stürzten sich über sie und vollendeten das tödliche Werk. Die beiden Dänen schlüpften in die Brustpanzer, setzten sich die Helme auf, nahmen die Musketen und kletterten über den Baumstamm. Die beiden spanischen Posten übernahmen wieder ihre „Wache“. Sven Nyberg schaute nach drüben. Dort rührte sich nichts. Auch bei der spanischen Stellung blieb alles still. Niemand zeigte sich. Er nickte Nils Larsen zu, sie stellten sich hinter die Bäume, um die die Taue geknotet waren, zogen ihre Messer und begannen zu säbeln, Ein Stöhnen durchlief die Sperre, als eins der Hanfseile mit einem schwachen Knall
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brach und wie eine Schlange durch die Luft züngelte. Das erste Tau war durch, Sekunden später riß das zweite. Die Sperre sackte tiefer. Jetzt donnerte die Strömung gegen sie an. Nils Larsen und Sven Nyberg hieben mit den Messern auf die Taue. Kardeele sprangen auf, sowie drei, vier der einzelnen Faserstränge durchtrennt waren, konnten die anderen dem gewaltigen Druck nicht mehr standhalten und platzten. Und dann kam der Moment, da die Sperre nicht mehr hielt. Sämtliche Taue auf dieser Seite rissen, der Strom packte die Sperre und schob sie wie ein riesiges Scheunentor, das geöffnet wird, flußabwärts auf die gegenüberliegende Flußseite zu. Die Spanier, voran der Teniente, sprangen aus ihrer Stellung und starrten mit aufgerissenen Augen auf die abtreibende Sperre, die jetzt nur noch an den Tauen auf dieser Seite hing. * „Feuer!“ schrie der Seewolf. Am Hang oberhalb der Stellung erschienen zwanzig Feuerblumen, ein Salve wie ein einziger Kanonenschuß peitschte aus den Musketenläufen, und zwanzig spanische Soldaten taumelten, brachen zusammen, torkelten oder wurden von den Füßen geschleudert. „Arwenack!“ brüllte der bullige Carberry, sprang hoch und raste den Hang hinunter. „Arwenack!“ gellte der Schlachtruf der Seewolf -Crew. Sie brachen aus dem Dickicht hervor, stürmten durch den Pulverdampf, Pistolenschüsse krachten, Messer und Enterbeile blitzten. Carberry erreichte den Teniente, der seinen Degen gezogen hatte und sinnlose Befehle schrie, auf die keiner hörte. Es gab nichts mehr zu befehlen. Carberry unterlief den Degen, hob den Teniente aus, stürmte mit dem zappelnden Mann noch ein paar Schritte weiter zum Ufer und schleuderte ihn in den Atrato. Die Pirayas rasten heran.
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Zu diesem Zeitpunkt brach die Sperre auch auf dieser Seite und wurde vom Strom flußabwärts gerissen. Pete Ballie hatte den Sargento erwischt, der ihm bei der ersten Begegnung entgangen war. Er verzichtete auf Waffen. Stattdessen trieb er den völlig demoralisierten Mann mit wüsten Faustschlägen seiner Pranken zum Ufer. Der Sargento sprang freiwillig in den Fluß. Der Brustpanzer schützte ihn nicht vor der wilden Gier der kleinen Bestien. Sie fraßen ihn von unter her auf. Es entkam keiner. Hasard ließ sie später bestatten. Als der Gefechtslärm verstummt war, wurden fünf Musketenschüsse abgefeuert. Eine Viertelstunde später tauchten die beiden Flöße auf und wurden an das Ufer gesteuert. Von der anderen Flußseite pullten Smoky und seine drei Männer das Boot herüber.’ Das Boot der beiden Posten hatten sie im Schlepp. Hasard befahl Carberry, mit fünf Männern das Dorf abzusuchen, die Indios zu beruhigen und Frauen und Kinder der Spanier ungeschoren zu lassen. Falls sie noch auf Soldaten stießen, sollten sie gefangengenommen werden. Carberry zog ab. Sie hatten keine Verwundeten, nicht mal eine Schramme hatte jemand abgekriegt. Aber sie waren alle mit Mückenstichen übersät. Hasard beobachtete Smoky, der sich offensichtlich vor ihm drückte. Langsam ging er auf ihn zu und blieb abwartend stehen. Smoky fummelte an dem Boot herum und schoß die Vorleine auf. Dann legte er die Riemen auf die Duchten, äste mit einem Ledereimer Wasser aus der Bilge, und als es gar nichts mehr an dem Boot zu tun gab, verzog er sich zum Heck. Hasard stand mit verschränkten Armen beim Bug. „Smoky“, sagte er sanft. „Sir?“ Smoky hob den Kopf und blickte in die eisblauen Augen. „Die Sperre habt ihr tadellos erledigt, auch die beiden spanischen Posten.“
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„Aye, Sir, hat bestens geklappt, jawohl.” Smoky begann zu grinsen. War Wohl alles halb so schlimm. „Jawohl“, sagte Hasard. „Aber damit hat sich’s auch.“ Er tippte sich an die Stirn. „Hier oben scheint bei dir etwas nicht mehr funktioniert zu haben. Bedanke dich bei Dan, daß ihr noch am Leben seid.“ Smoky druckste herum, dann murmelte er: „Das mit der Stellung der Spanier ist mir später auch eingefallen, und ich hab glatt das Zittern gekriegt. Nicht wegen uns, wegen euch. Aber dann hat Matt etwas von euch gesehen, und da wußte ich, daß alles klargeht.“ „Ich hab ‘nen Musketenlauf gesehen“, sagte Matt Davies. „Ja, und Smoky, das war deutlich zu erkennen, der sah aus wie Braunbier mit Spucke, und ich dachte, der kotzt gleich. Aber dann kriegte er wieder Farbe.“ „Wie schön für Smoky“, sagte der Seewolf. „Ihr seid zwar tapfere Helden, aber ich stehe immer auf Stützen, wenn ihr allein was unternehmt. Wie sagte Ferris Tucker? Ihr denkt so weit, wie eine Kuh pißt. Mir scheint das noch zu weit zu sein. Ich möchte das eher auf eine sehr alte Kuh beziehen, die keinen großen Bogen mehr schafft.“ „Aye, aye, Sir“, sagte Smoky. „Aye, aye, Sir“, sagte Matt Davies. Hasard hatte Mühe, ernst zu bleiben. Sie standen beide da mit Mienen, als seien sie wie kleine Jungen dabei ertappt worden, durchs Schlüsselloch gespäht zu haben — auf ein nacktes Weib im Badebottich. 8. Fünf ihrer Maultiere hatten sie bei den Indios in Murri zurückgelassen und dafür zehn Boote eingetauscht. Es waren breite Frachtboote, auf die sie einen Teil ihrer Floßpacken gemannt und festgezurrt hatten. Damit wurden die Flöße weiter geleichtert — und schneller. Außerdem würden sie später im Golf auf die Flöße verzichten müssen, weil sie zu unhandlich waren. Im fließenden Gewässer war das etwas anderes.
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Inzwischen war es Mitte Juli geworden, und sie hatten sich an die tägliche Routine der Flußfahrt gewöhnt, als hätten sie nie etwas anderes getan. Vielleicht war das auch der Grund, warum ihre Aufmerksamkeit nachließ. Ein anderer Grund mochte aber auch sein, daß sie immer noch fünf Maultiere bei sich hatten, denn eins der Maultiere war die Ursache für ein Geschehen, das übel hätte ausgehen können. Hasard hatte zwei Maultiere auf seinem Flaggfloß, die drei anderen befanden sich auf dem zweiten Floß. Bisher hatten sie sich friedlich verhalten, und es bestand auch kein Anlaß, anzunehmen, daß sich das ändern würde. Die Landschaft zu beiden Seiten des Rio Atrato war flacher geworden. Die Hügel gingen in weite Wälder über, die wie ein riesiges Niemandsland den Fluß umgaben. Die Bäume, zum Teil von bizarrer Form, standen bis an die Ufer. Ihre Kronen reichten manchmal weit über den Fluß, vor allem an jenen Stellen, wo sich der Lauf verengte. Das alles war nicht weiter ungewöhnlich. Die Wildnis in ihrer gleichbleibenden Struktur wirkte eher eintönig, wenn man sich an das tägliche Bild gewöhnt hatte. So geschah es dann, als Hasards Floß als letztes Fahrzeug in einer Flußbiegung am äußersten Rande unter einem mächtigen Baumriesen durchtrieb, der schräg geneigt über dem Fluß stand. Es war Mittag. An den beiden Rudern standen Blacky und der etwas schwerfällige, semmelblonde Buck Buchanan, einer der ehemaligen Karibik-Piraten. Ferris Tucker döste auf einer Kiste, Hasard saß mit dem Rücken an einen Packen gelehnt und schlief. Noch ein Mann befand sich auf dem Floß: Matt Davies. Er war als einziger hellwach - abgesehen von den beiden Rudergängern - und reagierte auch als erster, als sich ein länglicher Schatten von einem Ast des Baumriesen löste und mit einem wilden Fauchen auf dem Rücken eines der Maultiere landete.
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Das Maultier brach mit einem schrillen Klagelaut zusammen, sprang aber wieder auf: Matt Davies, der dicht bei dem Maultier gestanden hatte, zuckte zurück, schlug aber sofort mit seiner Hakenprothese zu. Was dann passierte, war ein wirbelnder Alptraum. Die Hakenprothese biß sich in den Rücken der Raubkatze - es war ein Puma. Dessen Kopf flog herum. Matt Davies starrte in das furchtbare Raubtiergebiß, aus dem ihm stinkender Atem entgegendrang. Er riß seine Prothese zurück und prallte hinten gegen den Packen. Fast gleichzeitig ging das Maultier senkrecht in die Höhe, keilte aus, bockte, während sich die Raubkatze festkrallte und den Fang in den Maultiernacken schlug. In das Knurren und Fauchen mischte sich der Schmerzschrei des Maultiers. Das andere Maultier zerrte wie verrückt an seinen Fesseln. Der Hinterleib des Pumas rutschte .vom Rücken des Maultiers, das wie irre trompetete. Die Pranken hinterließen blutige, zerfetzte Streifen im Fell des Maultiers. Aber schon schnellte der geschmeidige Leib wieder hoch. Ferris Tucker und Hasard waren gleichzeitig heran. Ferris schlug mit der Axt zu, Hasard stieß ein Messer in den Rücken des Pumas. Die Raubkatze brüllte wie ein Orkan und biß wild um sich. In diesem Moment riß die Fesselung. Das Maultier raste los wie von einer Bogensehne abgeschnellt, den Puma auf dem Rücken. Vor dem Floß klatschten beide in das aufspritzende Wasser. Aber schon war das Floß wieder heran und krachte gegen die beiden kämpfenden Tiere. Der Puma löste sich und klammerte sich mit den Vorderpranken am Bug fest. Ferris Tucker sprang hinzu und schlug die Schneide auf die Pranken. Die Pranken glitten ab, die Raubkatze trieb fauchend am Floß entlang, bäumte sich auf und versuchte sich hochzuschnellen. Da war Buck Buchanan: Er hätte den riesigen Steuerriemen aus den Dollen
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gestemmt und senste das Holz im Querschlag über das Floß, traf den Kopf des Pumas und prellte ihn mit furchtbarer Gewalt zurück: Die Raubkatze überschlug sich fast im Wasser. Hinter dem Heck tauchte das Maultier auf und schrie wie ein Kind, ja, es klang fast menschlich. In seinem Fell hingen bereits die gefräßigen Räuber und bohrten sich in das Fleisch. Sekunden später fiel ein weiterer Schwarm über den Puma her. Sonst der König der Wildnis — hier war er macht- und wehrlos. In einem aufschäumenden, blutigen Strudel ging er unter. Das Maultier war bereits verschwunden. Das andere auf den Floß gebärdete sich noch wie verrückt. Hasard wischte sich über die Stirn und merkte, daß sie schweißig war. Seinen Männern erging es nicht anders. „Mann!“ stieß Matt Davies hervor. „Ich denk, ich seh nicht recht. Hockt da auf einmal dieses gelbrote Biest auf dem Maultier und faucht mich an.“ „Hasard!“ tönte es herüber. Ben Brighton stand am Heck des vorderen Floßes. „Alles klar bei euch?“ „Alles klar, Ben!“ rief Hasard zurück. „Es war ein Puma! Haltet euch von den Bäumen frei, klar?“ „In Ordnung!“ Ferris Tucker schüttelte den Kopf. „Wieso springt das Vieh auf ein durchfahrendes Flöß? Das kapier ich nicht:’ „Nicht auf das Floß“, sagte Hasard. „Auf das Maultier, das ihm da so mundgerecht serviert wird.“ „Na, ich weiß nicht.“ Ferris Tucker grinste schief. „Vielleicht wollte das niedliche Kätzchen auch mit Matt Davies spielen und ihm die Prothese abbeißen.“ „Mann, hör bloß auf“, brummte Matt und betrachtete seinen Haken. An ihm hing noch ein Stück des Pumafells. Er nahm es mit spitzen Fingern ab und warf es angewidert über Bord. „Dieser Rio Atrato macht mich allmählich schwach. Übrigens bin ich dafür, daß wir unsere vier Maultiere entlassen, wenn wir mit denen nur Pumas anködern.“
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Hasard nickte. „Das dachte ich auch gerade. Wir brauchen sie nicht mehr:“ Am nächsten Tag würden die Tiere in die Wildnis entlassen. Vielleicht würden sie untergehen, vielleicht fanden sie den Weg zu einer Indiosiedlung. * Vier Tage später passierte das, wovor Hasard die ganze Zeit innerlich fast gezittert hatte. Einer seiner Männer ging über Bord. Es war reiner Zufall, an dem niemand schuld hatte. Jeff Bowie stolperte auf dem vorderen Floß, konnte die Balance nicht mehr halten, und noch bevor jemand zupacken konnte, kippte er Backbord achtern ins Wasser. „Mann über Bord!“ brüllte Ben Brighton. Am Backbordruder stand Jean Ribault, der Franzose. Er riß das Ruder aus den Dollen und hielt es dem treibenden Jeff Bowie hin. Jeff Bowie griff nach dem Holz, rutschte ab, griff noch einmal zu und glitt wieder ab. „Ruhig verhalten!“ brüllte Hasard. „Beweg dich nicht, Jeff!“ Von rechts schoß ein Boot heran, in dem Stenmark am Steuer und Smoky sowie Karl von Hutten an den Riemen saßen. Etwa fünfzehn Yards links von Jeff Bowie schäumte das Wasser. Mitten in den Strudel zischte ein Pfeil. Batuti stand am Heck des vorderen Floßes und hatte ihn abgefeuert. Er legte gerade einen neuen Pfeil auf die Sehne. Vielleicht hielt es die Bestien ab, aber Hasard glaubte nicht daran. Aber dann hielt der den Atem an. Tatsächlich trieb ein Piraya auf, durchbohrt von dem Pfeil. Die anderen stürzten sich über ihn. Stenmarks Boot rauschte mit schäumender Bugwelle auf Jeff Bowie zu. Jetzt ging es um Sekunden. Jeff Bowies Gesicht war schweißnaß. Er hatte die Lippen zusammengepreßt und bewegte sich kaum im Wasser.
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Aber jetzt rauschte der Strudel wieder auf den treibenden Mann zu, Batuti konnte nicht mehr schießen, ohne Gefahr zu laufen, Jeff Bowie zu treffen. An den Riemen keuchten Smoky und Karl von Hutten. Sie peitschten das Wasser. „Schneller!“ stieß Stenmark zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er beugte sich nach Backbord, den linken Arm weit heraus. Dann griff seine Hand zu. Mit einem Ruck zog er Jeff Bowie ans Boot, Smoky ließ seinen Riemen los, kniete sich hin und kriegte Jeff Bowies Beine zu fassen. Das Boot krängte, als sie Jeff Bowie hereinzerrten. Jeff Bowie stieß einen spitzen Schrei aus und schlenkerte die linke Hand. Einer der Raubfische hatte sich dort festgebissen. Jeff Bowie knallte die Hand auf die Ducht. Blut spritzte auf. Der Piraya flog zappelnd ins Wasser. Im Boot bäumte sich Jeff Bowie schreiend auf. Seine Hand war zerrissen, Sehnen und Knochen lagen bloß, das Blut schoß heraus. „Pullt an Land!“ schrie Hasard. „Alle anderen ebenfalls. Sten! Binde ihm den Arm ab, oben, unterhalb der Schulter. Beeil dich, verflucht noch mal!“ Er knallte in ohnmächtiger Wut seine rechte Faust in die linke Handfläche, fuhr herum und schrie die Männer auf seinem Floß an: „Klar bei Riemen. Bringt dieses verdammte Floß ans Ufer!“ Und wieder zu Stenmark: „Wie geht’s ihm, Sten?“ „Bewußtlos“, gab Stenmark zurück und zurrte seinen Leibriemen um Jeff Bowies Oberarm fest. „Kutscher! Klar bei Verbandszeug und was du sonst noch brauchst!“ „Aye, aye, Sir.“ Die kleine Flottille schwenkte aufs Ufer zu und legte Boote sowie Flöße an den Bäumen fest. „Bringt ihn hierher aufs Floß!“ rief Hasard. Vier Männer hoben Jeff Bowie aus dem Boot an Land und trugen ihn auf Hasards Floß. Dort lagen bereits Decken, auf die er gebettet wurde. Der Kutscher kniete nieder und beugte sich über die zerrissene Hand,
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aus der mit jedem Herzschlag etwas Blut quoll. Hasard preßte die Lippen zusammen, als der Kutscher den Kopf schüttelte. „Was soll das heißen?“ fauchte er den Kutscher an. „Wenn du Jeff aufgibst, dreh ich dir das Genick um, verdammt!“ Er war so unausstehlich, wie er immer wurde, wenn es um einen seiner Männer ging. Der Kutscher mußte daran denken, wie er ihn vor drei Jahren wegen des schwerverletzten Gary Andrews’ angepfiffen hatte. Ruhig sagte er: „Nein, Sir, ich gebe ihn nicht auf. Aber die Hand muß amputiert werden. Die würde nicht mal mehr Sir Freemont hinkriegen. Da ist alles zerfetzt und zerrissen, das flickte kein Arzt mehr zusammen.“ Hasard fluchte, wie sie ihn noch nie hatten fluchen hören. Die Männer auf dem Floß verzogen sich, die anderen traten zu den Booten zurück. Hasard fauchte: „Ist die Hand wirklich nicht zu retten?“ Jetzt wurde der Kutscher scharf: „Soll ich ihm die Sehnen vielleicht mit Kreuzknoten und Palsteks zusammenknoten? Und riskieren, daß er einen Wundbrand kriegt? Und die angesplitterten Knochen? Was mach ich mit denen? Vielleicht zusammenleimen, verflucht?“ Er funkelte den Seewolf an – er, der schmale, schmächtige Kutscher. „Schon gut, schon gut“, sagte Hasard und fing sich wieder. „Also amputieren, wie?“ „Ja“, sagte der Kutscher verdrossen. „Ich brauche Branntwein, eine scharfe Axt, Pulver und saubere Tücher. Die Kerle sollen Wasser zum kochen bringen und nicht so blöd herumstehen.“ Hasard pfiff seine Befehle heraus. Innerhalb von wenigen Minuten war das Floß zum Lazarett geworden. An Land brannte unter einem Kessel Feuer. Der Kessel hing an einem Drehbein. Ferris Tucker war dabei, seine Axt zu schleifen. Jeff Bowie erwachte und blickte sich um. Er wollte auffahren, aber der Seewolf drückte ihn nieder.
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„Ruhig, Junge, ganz ruhig“, sagte er sanft. „Es ist alles in Ordnung. Hast du Appetit auf einen Branntwein?“ Jeff Bowie nickte schwach. Er war weiß wie ein Bettlaken. Hasard hielt ihm die Flasche an den Mund. Jeff Bowie trank und trank. „O Mann“, sagte Matt Davies leise und andächtig. Als Hasard die Flasche absetzte, lächelte Jeff Bowie schwach. „Die Hand muß ab, wie?“ Hasard nickte gepreßt. „Krieg ich dann so’n Ding wie Matt?“ fragte Jeff Bowie. „Aber sicher, mein Junge. Matt wird dir zeigen, wie man damit umgeht.“ Jeff Bowie rülpste und hatte den Schluckauf. Er trank noch mehr. Später begann er zu singen. Der Kutscher glitt an Land und hielt die Axt über das Feuer. Dann kehrte er auf das Floß zurück. Jeff Bowie kicherte. Hasards Männer sahen aus, als müßten sie sich übergeben. Das Gesicht des Kutschers wirkte wie aus Stein gehauen. Hasard winkte mit den Augen Ferris Tucker, Carberry, Ben Brighton und den riesigen Batuti heran. Dann sagte er sanft zu Jeff Bowie: „Es ist soweit, mein Junge. Sollen wir dich betäuben?“ „Ha!” sagte Jeff Bowie und fiel in Ohnmacht. Sein Kopf sackte weg, seine Augen verdrehten sich. „Haltet ihn fest“, sagte Hasard zu den vier Männern. „Vorwärts, Kutscher!“ Zu fünft drückten sie Jeff Bowie auf die Decken. Hasard preßte Bowies linken Arm auf ein Brettstück, das in dem Wasser abgekocht worden war. Der Kutscher hob die Axt, nahm Maß und schlug zu. Es war ein glatter, sauberer Hieb, der die Hand vom Unterarm trennte. Jeff Bowie bäumte sich auf, blieb aber bewußtlos. „Pulver!“ befahl der Kutscher. Matt Davies schüttete das Pulver über den Armstumpf. „Anzünden!“
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Ein brennender Span wurde gereicht. Hasard nahm ihn und hielt ihn an den Armstumpf. Eine kleine Stichflamme schoß hoch. Es stank nach verbranntem Fleisch und Pulverqualm. Jeff Bowie stöhnte. Der Kutscher stieß die Hand über Bord und begann einen Verband anzulegen. Als er fertig war, blickte er Hasard an. „Jetzt hilft nur noch beten“, sagte er und fügte hinzu: „Ich könnte auch einen Schluck gebrauchen.“ Hasard reichte ihm die Branntweinflasche. Viel war nicht mehr drin. Hasard opferte aus seiner Kiste noch eine Flasche. Sie ging reihum, und die Männer atmeten auf. Aus dem Wald trat Jesusito. Hasard hatte ihn überhaupt nicht vermißt. Der Indio hatte einen Korb mit eigenartig gefärbten Blättern bei sich. Er gab ihn dem Kutscher, der ihn fragend ansah. „Das ist gut für die Wunde“, sagte Jesusito. „Wir Indios wissen, daß die Blätter eine heilende Wirkung haben. Sie verhindern, daß die Wunde verfault.“ Der Kutscher kaute auf seiner Unterlippe herum. Er war sich unschlüssig. „Vertrau ihm“, sagte Hasard. „Gut.“ Der Kutscher nickte, nahm den Verband noch einmal ab, legte die Blätter um den angekohlten Stumpf und verband neu. Hasard verstaute den Korb in einer Kiste. Jeff Bowie wurde zugedeckt. Zwei Männer und der Kutscher blieben an seiner Seite. Das Feuer wurde ausgetreten. Die Fahrt ging weiter. 9. Jeff Bowie fieberte drei Tage und schien zwischen Leben und Tod zu schweben. Aber die Wunde eiterte nicht, ganz wie es Jesusito vorausgesagt hatte. Es bildete sich auch kein Brand. Er fuhr auf Hasards Floß mit, weich gebettet, ständig umsorgt von den Männern, die ihn mit Schildkröteneiern fütterten. Außerdem erhielt er Rotwein, weil der Kutscher erklärt hatte, das sei gut zur Blutbildung.
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Am vierten Tag hatte er zum ersten Male klare Augen und betrachtete den Verband an seiner linken Hand. Hasard hockte sich zu ihm. „Na?“ fragte er lächelnd. „Du siehst besser aus, Jeff.“ „Mach ich euch viel Mühe?“ „Unfug. Wie fühlst du dich?“ Jeff Bowie hob die Linke. „Sie ist weg, aber ich hab das Gefühl, als sei sie immer noch da. Ich hab sogar vorn in den Fingern etwas Schmerzen, merkwürdig, wie?“ Der Kutscher hockte sich dazu. „Das ist immer so“, erklärte er. „Irgendwie hängt das mit den Nerven zusammen, jedenfalls weiß ich das von Sir Freemont.“ Und er hielt Jeff Bowie einen langen Vortrag, von dem der weniger als die Hälfte verstand und darüber einschlief. Als der Kutscher das bemerkte, schwieg er empört und blickte Hasard an. Der lächelte nur und stand wieder auf. „Na ja“, sagte der Kutscher. „Schlaf ist sehr gesund für einen Kranken. Ich glaube, wir kriegen ihn wieder hin.“ Am nächsten Tag beschäftigte sich Matt Davies, den Hasard auf sein Floß geholt hatte, mit Jeff Bowie. Im Detail erklärte er ihm, wie seine Hakenprothese funktionierte, was man damit alles anstellen könnte, und daß sie letztlich besser als eine normale Hand sei. „Hier!“ sagte er und hielt die Rechte hoch. „Damit hab ich Holz gespalten, Lasten gehoben, Schädel eingeschlagen, Gurgeln aufgeritzt und zuletzt einem Puma das Fell versohlt. Mach das mal mit so ‘ner dämlichen Hand. Die beißt dir ein Puma glattweg ab. Und die Dons reißen aus, wenn sie mich sehen. Unten, bei den Mocha-Inseln war ich für die Araukaner der große Zauberer. Die Weiber waren ganz wild auf mich, das kann dir Pete bestätigen. Wenn ich nicht gewesen wäre, hätten die Pete glatt verspeist, ich mein, die Araukaner. Die hatten nämlich Pete und mich gefangen gesetzt. Aber als sie meinen Haken sahen, wurde ich heilig gesprochen und kriegte mit Pete Maisschnaps zu saufen, bis er uns wieder zu den Ohren rauskam ...“
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Matt Davies schwadronierte und log und erzählte, was er mit seinem Haken schon alles für Wunderdinge vollbracht hatte. Auch darüber schlief Jeff Bowie schließlich ein. Und es war tatsächlich ein Schlaf der Genesung. „Mann, was du dir da zusammenlügst“, sagte Ed Carberry, „das geht auf keine Kuhhaut.“ Hasard sagte: „Soll er. Nur so vergißt Jeff am schnellsten, daß ihm eine Hand fehlt. Und wenn Matt ihm erzählt, wie gut so ein Haken sei, dann ist das die beste Medizin für Jeff.“ „Da hast du auch wieder recht“, sagte der bullige Carberry, kratzte sich den Nacken und betrachtete dann seine Hand. „Wenn Matt noch weiter davon schwärmt, frag ich mich glatt, ob es nicht besser sei, sich auch so ein Ding anzuschaffen.“ „Jetzt hör aber auf, Ed“, sagte der Seewolf. . Ja, Jeff Bowie überstand den brutalen Eingriff. Seine stämmige Natur setzte sich durch. Er trug den Unterarm in einer Schlinge, stand bereits auf, wanderte auf dem Floß hin und her, bewegte den linken Arm vorsichtig und biß die Zähne zusammen, wenn er Schmerzen spürte. Matt Davies hatte ihm gesagt, daß er sich daran gewöhnen müsse. Ferris Tucker, der unermüdliche Erfinder, war bereits damit beschäftigt, eine Ledermanschette nach der Art von Matt Davies Prothese zu entwerfen. Er nahm an Jeff Bowies Unter- und Oberarm Maß, übertrug die Maße auf ein Stück Leder und schnitt es zurecht. Es wurde immer wieder durchgewalkt, bis es weich und geschmeidig wurde. Schließlich mußte Will Thorne, der Segelmacher, die Kauschen für die Verschnürung einnähen. Indessen begann Ferris Tucker mit der Arbeit an dem Haken - mit den primitiven Bordmitteln eine wüste Schinderei. * Zu dieser Zeit, der Juli neigte sich seinem Ende zu, erreichte die kleine Flottille das Deltagebiet des Rio Atrato am Golf von
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Uraba. Es war eine sumpfige Fieberhölle voller Stechmücken, Schlangen und Krokodile. Der Strom hatte seine Schubkraft nahezu verloren. Zum Teil mußten sie sich jetzt durch Schilf und Binsen hindurchstaken. Für die Boote war das eine leichtere Arbeit als für die beiden Flöße. Hasard gab das eine Floß auf und ließ die restlichen Packen auf die Boote und sein Floß umladen. Dann versperrten ihm Krokodile den Weg. Also mußte er ihn sich freischießen. Zum ersten Male seit ihrer Fahrt trat die Drehbasse in Aktion. Die Situation war heikel genug und drohte - nahezu am Ende ihrer Fahrt zu einem Fiasko zu werden. Krokodile! Sie lagen wie träge Baumstämme im Wasser des Flußarms, durch den sich Hasards Männer quälten. Die Boote blieben hinter dem Floß zurück, das der Seewolf langsam auf die Alligatoren zu bewegen ließ. Die Männer hatten sich mit Musketen bewaffnet. Al Conroy und Ferris Tucker machten die Drehbasse schußklar. „Kugel oder gehacktes Blei?“ fragte Al Conroy. „Gehacktes Blei“, sagte Hasard verbissen. Ferris Tucker grinste Hasard an. „Paß auf, was gleich los ist, wenn der alte Tucker den Böller rausläßt!“ „Paß du lieber auf, daß dir die Drehbasse bei deinem Böller nicht um die Ohren fliegt“, knurrte Hasard. „Und wenn das Floß zu Bruch geht, werf ich dich den Krokodilen zum Fraß vor, mein Alter. Das ist ein Versprechen!“ Ferris Tucker lachte röhrend, peilte die Krokodile an - sie lagen etwa zwanzig Schritte vor dem Floß - und feuerte. Eine Feuerzunge stieß aus der Drehbasse, Pulverqualm stieg hoch. Das ganze Floß erzitterte. Der Donner rollte über den Fluß arm. Das Eisen klatschte mitten zwischen die Krokodile. Wasser spritzte, Schwänze peitschten das Wasser, fürchterliche Mäuler klafften auf und schnappten nach etwas, das nicht zu sehen war. Ein
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Krokodil trieb mit zerschlagenem Schädel weg und ging unter. Ferris Tucker wedelte dem Pulverqualm mit der Hand weg. Er starrte voraus. Zwei Reptilien tauchten gerade weg. Drei andere jagten mit wüsten Schwanzschlägen auf das Ufer zu. Die Gasse war frei. „Na?“ sagte Ferris Tucker und drehte sich strahlend um. „Gut, Ferris“, sagte Hasard. „Steht die Drehbasse noch fest?“ Ferris Tucker rüttelte an der Waffe. „Wie ein Felsen!“ rief er zurück. „Lad nach!“ befahl Hasard. „Die Schlacht ist bestimmt noch nicht zu Ende.“ Sie staken und pullten weiter. Als zwei Krokodile heranschwammen und plötzlich auf eines der Boote zudrehte, feuerten sie mit den Musketen auf die Reptilien. Bei dem einen flog das linke Auge heraus. Es warf sich herum, stieß gegen das andere, das zubiß, und schon begann ein wilder Kampf der Giganten, der das Wasser blutig färbte. „Weiter!“ schrie der Seewolf: „Nicht aufhören mit dem Pullen!“ Sie legten sich wieder in die Riemen und drangen weiter vor. Es wurde der höllischste Teil ihrer ganzen Fahrt — als hätte der Rio Atrato bis jetzt gewartet, um sie endgültig scheitern zu lassen—oder auszuspucken. Noch dreimal mußten sie sich mit der Drehbasse den Weg freischießen. Einem Reptil, das bis an das Floß geschwommen war und sich festgebissen hatte, spaltete Matt Davies mit seinem Haken den Schädel. Als das Tier absank, riß es Matt Davies fast über Bord. Batuti hielt ihn fest. Sie brauchten drei Tage, bis das Delta und die Hölle hinter ihnen lagen und der Golf sie aufnahm. Jetzt hing ihnen das Floß wie ein Klotz am Bein. Der Wind war auflandig, und es wäre Wahnsinn gewesen, mit dem Floß dagegen anpullen zu wollen. Links verlief das Gebiet fast flach. Rechts stieg die Küste an und schwang sich in einem weiten Bogen nordwärts. Dorthin wollte der Seewolf. Dort oben lag Punta Arenas, der nordöstlichste Zipfel des Golfes von Uraba, der selbst wie ein
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spitzer Sack im Golf von Darien hing. Von Punta Arenas aus würden sie weitersehen. Es war jetzt ihr nächstes Ziel. Hasard ließ das Floß entladen und die Packen auf die zwölf Boote verteilen. Es half nichts. Ferris Tucker montierte die Drehbasse ab und ließ sie ins Wasser — sie hatte in der Krokodil-Schlacht ihre Pflicht getan. Jetzt wurde sie nicht mehr gebraucht. Immerhin war sie ein Stück ihrer alten „Isabella“ gewesen, das nun auch hinter ihnen zurückblieb. Aber ihre Beute, die sie bisher gerissen hatten, die hatten sie noch bei sich, und die würden sie bis nach England bringen, koste es, was es wolle. In langer Kiellinie wurden die zwölf Boote auf Punta Arenas zugepullt. Sie lagen ziemlich tief im Wasser mit den schweren Segeltuchpacken, den Kisten, Waffen und Werkzeugen. Der Seewolf saß im vordersten Boot auf der Ruderducht und zog die Riemen unermüdlich durchs Wasser. Bei ihm an Bord waren Jeff Bowie und Patrick O’Driscoll. Jeff Bowie hatte sich die Pinne unter den rechten Arm geklemmt. Links trug er bereits die Ledermanschette als Schutz auf dem Stumpf. Der Haken war noch nicht fertig. Aber der Stumpf war auch noch nicht völlig verheilt. Das dauerte seine Zeit. Das Gesicht des stämmigen, grauäugigen Mannes war schmäler und härter geworden. Aber er klagte nicht. Er nahm den Verlust der linken Hand hin wie ein Mann, und das gefiel Hasard. Es wurde Nacht, als sie Punta Arenas erreichten. Die Küste war menschenleer, wie Jesusito versicherte. Sie zogen die Boote auf den Sandstrand, Hasard befahl zweistündige Wache mit einem Posten — er selbst übernahm die Mitternachtswache —, und dann sanken die Männer in eine Art Erschöpfungsschlaf. Am nächsten Morgen verließ sie Jesusito. Er hatte die Engländer sicher an den Golf von Darien gebracht, wie es der Padre gewünscht hatte. Gold, Silber, Perlen und ein wertvolles Schmuckstück lehnte er ab. Das Messer, das ihm der Seewolf anbot,
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nahm er an. Hasard drückte ihm die Hand. Jeder Mann verabschiedete sich von dem Indio - er war fast ein Teil der Seewolf-Crew geworden. Und das spürte Jesusito selbst. So still und lautlos, wie er sich immer verhalten hatte, verschwand er auch. Leichtfüßig lief er den Strand entlang südwestwärts. Einmal noch drehte er sich um und winkte. Die Männer winkten zurück. Dann sahen sie ihn nicht mehr. „Ein feiner Kerl“, sagte der bullige Carberry. Und damit war eigentlich alles gesagt. 10. Der Seewolf ließ seine Männer ausruhen. In den Felsen hinter dem Strand hatten sie ihr Lager errichtet. Dorthin hatten sie auch die Boote gezogen. Gegen Sicht von See her waren sie gedeckt. Die Bucht, in der sie gelandet waren, zog sich im weiten Bogen vom Kap Punta Arenas, das wie eine Felsenburg in die See ragte, nach Süden und Südwesten. Ihr Lager befand sich knapp hinter dem Kap, zu dem man in zehn Minuten aufsteigen konnte. Von dort bot sich ein weiter Blick in den Golf von Darien. Nordostwärts verlief die Küste auf Cartagena zu, das ungefähr hundertfünfzig Meilen von Punta Arenas entfernt war. Gegenüber in nordwestlicher Richtung - lag die Küste von Panama. Zum Norden hin öffnete sich der Golf zur Karibik. Dort oben auf dem Kap bezog Dan O’Flynn seinen Ausguckposten, von dem er nach einem halben Tag von Jean Ribault jeweils abgelöst wurde. Er und der Franzose hatten die schärfsten Augen der Seewolf-Crew. Die Männer badeten am Strand, sonnten sich, aßen, was der Kutscher bereitete, und erkundeten in kleinen Trupps die Gegend oder suchten Möweneier und Schildkröten. Der Küche des Kutschers mangelte es nicht an Vorräten – Patrick O’Driscoll angelte und war auch der erste, der feststellte, daß sich Haie in dem Golf
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tummelten. Er war häufiger mit einem der Boote draußen, und da hatte er seine Begegnung mit zwei Haien, die das Boot angriffen, als er einen Fisch aus dem Wasser zog. Die Begegnung ging gut ab. Als der Ire mit dem Riemen zuschlug und ihn einem der beiden Raubfische auf den Kopf drosch, verschwanden beide. Patrick O’Driscoll pullte zurück und meldete Hasard die Haie. Daraufhin schränkte Hasard das Baden ein und ließ es nur an den ganz flachen Stellen zu. Am dritten Abend wagte sich Smoky zu Hasard vor, der die Seekarte studierte. Er druckste herum, während alle Männer die Ohren spitzten, und fragte schließlich im Namen der Crew, wie denn nun die Reise weitergehen solle. Hier sei es zwar fein, aber man habe den Eindruck, daß man am Arsch der Welt säße. „Euch juckt wohl das Fell?“ fragte Hasard. „Jawohl“, sagte Smoky, „mächtig sogar.“ „Prächtig“, sagte Hasard. „Cartagena ist nur einhundertfünfzig Meilen entfernt. Wollen wir uns ein Schiff klauen?“ Smoky stöhnte. „Einhundertfünfzig Meilen? Und dann zu Fuß?“ Hasard wiegte den Kopf. „Oder pullen, das geht auch. Vergiß aber nicht unsere Packen hier.“ „Ist da nicht noch ein anderer Ort hier bei uns in der Nähe, wo wir ein Schiff klauen können?“ fragte Smoky. Hasard schüttelte den Kopf. „O Mann“, sagte Smoky verzweifelt. Der Seewolf lächelte. „Abwarten, Smoky. Wenn wir in einer Woche kein Schiff haben, breche ich mit unseren zehn besten Marschierern auf und klau eins aus Cartagena. Du marschierst doch mit, oder?“ „Wenn’s sein muß“, sagte Smoky gallig. „Eigentlich bin ich kein guter Marschierer. Aber Ed Carberry, der ist ganz versessen darauf.“ „Ich?“ sagte Carberry empört. „Du spinnst wohl?“ „Ich gehe mit“, sagte Stenmark. „Ich auch“, erklärte Batuti. „Und ich“, sagte das Bürschchen.
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„Klarer Fall, ich auch“, sagte Ferris Tucker. „Ich bin dabei“, sagte Ben Brighton. „Ich auch“, sagte Gary Andrews. Schließlich redeten alle durcheinander, und jeder wollte mitmarschieren, auch Smoky und Carberry. Der Seewolf hob die Hand. „Noch marschieren wir nicht, Leute. Wartet’s doch ab. Meint ihr, ich will hier Wurzeln schlagen? Nein, das Kap ist eine gute Ausgangsposition. Die Schiffe, die von Cartagena zum Isthmus hinübersegeln, müßten hier passieren. Es könnte der Fall eintreten, daß bei hartem Wind von Norden oder Nordosten ein Schiff hier unter dem Kap Schutz sucht. Vielleicht bei einem Unwetter oder Sturm. Dann packen wir zu. Wir leiden hier keine Not, also sollten wir auch die Geduld aufbringen, abzuwarten. Wie gesagt, wenn alle Stränge reißen, bleibt uns immer noch der Weg nach Cartagena. Sonst noch Fragen?“ „Aye, aye, Sir, nein, alles klar.“ Hasard vertiefte sich wieder in die Karte, soweit er sie bei dem Feuerschein noch lesen konnte. Der Gedanke, was zu geschehen hätte, wenn sie Punta Arenas erreicht hatten, beschäftigte ihn, seit sie hier gelandet waren. Der Fußmarsch nach Cartagena war auch für ihn der letzte Ausweg aus dieser Situation. Er selbst hatte die Geduld, abwarten zu können. Aber seine Männer wurden unruhig, das hatte er bereits gespürt. Vielleicht sollten sie doch mit den Booten an der Küste entlang in Richtung Cartagena pullen — bei Nacht, denn bei Tage war die Gefahr der Entdeckung zu groß. Sie konnten die Boote auch treideln, wenn ihnen das Pullen zu lästig war. Die Überfahrt vom Delta hierher war ein wüstes Stück Arbeit gewesen. Einige Boote hatten ständig ausgepützt werden müssen. Sie hatten überhaupt Glück gehabt, daß nicht mehr Seegang geherrscht hatte. Hasard grübelte und gelangte zu dem Schluß, noch höchstens sechs Tage zu warten. Dann würde er die Männer vor die Entscheidung stellen: entweder
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marschieren — mit etwa zehn Männern — oder treideln und pullen. * Am nächsten Tag, als die Sonne im Zenit stand, kletterte Jean Ribault zum Kap hoch, um Dan O’Flynn abzulösen. Es wehte ein handiger West, der weiße Schaumkronen auf die See zauberte. Der Ausguck auf dem Kap lag etwa sechzig Yards über dem Meeresspiegel. Zwischen den Felsbrocken oben war genügend Deckung vorhanden, um sich gegen Wind, aber auch Sicht zu schützen. Das Bürschchen, das sonst Jean Ribault bereits winkend erwartete, war nicht zu sehen. Jean Ribault stutzte und starrte nach oben. Wo steckte der Kerl denn? Wollte er heute nicht abgelöst werden? „Dan?“ rief er. „Ja!“ Die Stimme ertönte hinter einem Felsen. Jean Ribault kletterte höher, umging den Felsen und entdeckte den Rücken Dan O’Flynns. Der Junge lehnte mit dem Bauch an einem anderen Felsen, hatte den Kieker aufgelegt, umklammerte ihn mit beiden Händen und spähte hindurch. Er drehte sich nicht um. Die Richtung des Kiekers wies nach Nordosten. „Jean?“ fragte Dan O’Flynn, ohne sich zu bewegen. „Ja?“ „Komm mal her. Ich starr mir seit einer Viertelstunde die Augen fransig. Ich dachte, ich hätte etwas gesehen, dann war’s wieder weg, verflucht!“ Jean Ribault trat näher und stellte sich neben Dan O’Flynn an die Felsenbrüstung. „Nimm mal die Augen hoch“, sagte er. „Wenn du zu lange durch das verdammte Ding stierst, siehst du überhaupt nichts mehr. Ich kenn das.“ Dan hob den Kopf. Sein rechtes Auge tränte. „Na bitte“, sagte Jean Ribault. „So hat das doch keinen Zweck. Du ruinierst dir die Augen, Junge.“ „Aber ich hab was gesehen“, sagte Dan erbittert. Er hielt den Kieker eisern fest, um
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ja nicht die Richtung zu verlieren. „Willst du mal durchschauen?“ Er trat etwas zur Seite, so daß Jean Ribault an das Okular gelangte. Jean Ribault bückte sich und spähte durch das Glas. Ein paar Minuten sagte er nichts, dann zuckte er unmerklich zusammen. „Mann!“ sagte er leise. „Du könntest recht haben, jetzt hab ich’s auch!“ „Was?“ „Eine feine Spitze, hauchdünn.“ „Mastspitze“, sagte Dan O’Flynn, „das ist eine gottverdammte Mastspitze. Laß mich noch mal durchsehen.“ Jean Ribault rückte zur Seite, und Dan O’Flynn schaute wieder durch den Kieker. „Eine Mastspitze“, sagte er befriedigt, „ganz klarer Fall – da, jetzt noch eine, direkt bei der anderen!“ Jean Ribault starrte über die See. Mit bloßem Augen war nichts zu erkennen. Die Kimm verschwamm zwischen Himmel und Wasser. Weit im Osten war es etwas diesig. Nach Norden hin wurde die Kimm schärfer und klarer. „Sollen wir Hasard rufen?“ fragte Dan O’Flynn. „Laß uns noch warten“, erwiderte Jean Ribault, „bis wir wissen, was es ist. Siehst du schon Segel?“ „Ja, jetzt. Es ist ein Zweimaster, Mann, ein Zweimaster mit Rahruten und Lateinersegel. Schau mal durch!“ Sie wechselten wieder. Jean Ribault blickte durch das Glas. „Hol Hasard“, sagte er. Dan O’Flynn jagte los und sprang die Felsen hinunter. „Hasard!“ schrie er. „Ein Schiff! Ein Zweimaster! Juch-hu!“ Die Männer unten beim Lager ruckten herum und starrten zu Dan O’Flynn hoch, der wie ein Verrückter herumtanzte, in die Hände klatschte und spitze Schreie ausstieß. Arwenack, der Schimpanse, der bei Batuti gesessen hatte, jumpte hoch und hüpfte mit seinem Schaukelgang über die Felsen zu Dan O’Flynn. Der Seewolf jagte hinterher. Die Männer schauten sich an und brüllten Hurra.
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Minuten später war das Lager leer. Die ganze Crew kletterte zum Kap hoch. Hasard langte keuchend oben an. „Wo?“ stieß er hervor. Jean Ribault deutete nach Nordosten. „Dort!“ Die Mastspitzen konnte er jetzt mit bloßem Auge erkennen. Der Seewolf griff nach dem Kieker, hob ihn vors Auge und schaute hindurch. Ja, ein Schiff. Eine Karavelle mit dreieckigen Lateinersegeln an den langen Rahruten. Sie segelte über Backbordbug am Wind, Kurs auf das Kap zu. Nein, sie würde es nicht schaffen, das Kap anzuliegen – wenn sie überhaupt das Kap ansteuern wollte. Hasard fluchte, als er beobachtete, wie die Karavelle durch den Wind ging und jetzt auf Steuerbordbug nach Nordwesten segelte, weg von der Küste. Er ließ das Glas sinken. Die Männer umdrängten ihn. Arwenack hüpfte auf den Felsen herum und kratzte sich den Bauch. „Was ist?“ fragte Ben Brighton. „Eine Karavelle“, erwiderte Hasard und reichte Ben Brighton das Glas. „Aber im Moment liegt sie über Steuerbordbug und segelt nordwestwärts. Könnte sein, daß sie wieder über Stag geht und das Kap ansteuert. Wenn sie hinüber zum Isthmus segelt, haben wir sie das letzte Mal gesehen.“ Die Männer stöhnten. „Was wollt ihr denn hier?“ fragte Hasard und grinste. „Habt ihr noch nie ‘n Schiff gesehen?“ Die Männer starrten über die Felsbrüstung hinter der Karavelle her, das heißt, auch sie sahen nur die Mastspitzen, die aber nach etwa zehn Minuten hinter der Kimm verschwanden. Die See war wie immer. Möwen segelten über den Schaumkämmen, ihre schrillen Schreie tönten zu ihnen herüber. „O verdammt!“ knurrte der bullige Carberry. „Das halten meine Nerven nicht aus. Ein Schiff — und doch kein Schiff. Wenn das so weitergeht, dreh ich durch.“ „Ed!“ mahnte Hasard sanft. „Seit wann hast du denn Nerven?“
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„Ist doch wahr“, brummte der Profos. „Was? Wie?“ Dieses Mal grinste keiner über sein „Was? Wie?“. Sie hatten alle bedrückte Gesichter. „Nun reißt euch mal zusammen“, sagte Hasard scharf. „Der Tag ist noch nicht zu Ende. Wenn es dieses Schiff nicht ist, dann wird’s ein anderes sein. So, nun ab nach unten. Kutscher! Was du da auf dem Feuer hast, kannst du den Möwen vorwerfen!“ Beim Kochfeuer stieg eine dunkle Rauchwolke hoch. „Sofort löschen!“ pfiff Hasard den Kutscher an. „Wenn das noch mal passiert, zerbrech ich dir die Knochen!“ Der Kutscher fegte nach unten. Minuten später verwehte der Rauch. Das Kochfeuer erlosch unter dem Sand. Die Männer trotteten nach unten. Der Seewolf blieb mit Jean Ribault und Dan O’Flynn oben auf dem Kap. Dan hatte wieder den Kieker vor dem Auge und suchte die Kimm im Norden ab. Nach einer Stunde ächzte er unterdrückt und flüsterte: „Ich glaub, ich seh sie wieder.“ Hasard spürte, wie seine Handflächen feucht wurden. Das war wirklich ein Spiel mit ihren Nerven. Er atmete tief durch und wartete Dans weitere Meldung ab. Er zwang sich gewaltsam zur Ruhe und beobachtete die Möwen. Eine stieß auf die See nieder. Als sie wieder hochstieg, hatte sie einen zappelnden Fisch im Schnabel. Sofort fielen die anderen Seevögel über sie her. Sie kurvte schräg in den Himmel, verfolgt von den anderen... „Sie ist es“, sagte Dan O’Flynn gepreßt. „Es ist die verdammte Karavelle - jetzt wieder über Backbordbug auf das Kap zu.“ Der Seewolf nahm das Glas. Ja, sie war wieder über der Kimm - ein winziges Spielzeug, kleiner als ein Nadelkopf, aber dennoch deutlich zu erkennen. „Jetzt haltet uns die Daumen“, sagte Hasard und setzte den Kieker ab. „Wenn sie noch einmal wendet, können wir die Sache begraben und vergessen. Wenn sie diesen Kurs durchhält, steuert sie hier zum Kap oder in den Golf von Uraba.“ Er
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grinste die beiden an. „Wollen wir mal wetten, was sie tut?“ Jean Ribault lächelte. „Auf was setzt du?“ „Daß sie das Kap ansteuert“, erwiderte Hasard. „Darauf würde ich auch setzen“, sagte der Franzose. „Ich auch“, erklärte Dan O’Flynn. „Eine schöne Wette“, sagte Hasard, „wenn alle einer Meinung sind.“ Sie konnten wieder lachen. 11. Alle drei hatten die Wette, die keine war, gewonnen. Der Zweimaster hielt unbeirrt auf das Kap zu. Es gab keinen Zweifel mehr. Wenn er zum Isthmus segeln wollte, hätte er längst über Stag gehen müssen. Aber er segelte weiter über Backbordbug am Wind auf den Golf zu. Am Spätnachmittag hob sich die Karavelle klar und deutlich von der See ab. Hasard hatte alle Spuren am Strand verwischen und die Boote noch weiter zwischen die Felsen schieben lassen. Boote und Segeltuchpacken wurden mit Zweigen getarnt. Das Feuer, das der Kutscher nach dem angebrannten Fleisch wieder neu entfacht hatte, wurde gelöscht. Die Männer kümmerten sich um ihre Waffen und gingen hinter den Felsen in Deckung. Die Männer waren wie erlöst - und grimmig. Dieses Schiff oder keins! Wenn sie diesen Schneckenfresser nicht kaperten, konnten sie sich einsargen lassen. Denn daß es ein Schneckenfresser war, hatte Dan O’Flynn festgestellt - am Steven der Karavelle baumelte das Holzkreuz, das christliche Symbol der meisten spanischen Schiffe. Wo dieses Kreuz in der Neuen Welt auftauchte, brachte es keineswegs den Frieden der Nächstenliebe - o nein, Blut und Schwert und Feuer, Gewalt und Terror, Mord und Todschlag. Die Männer brauchten keine Motivation für ihr Handeln. Sie kämpften auch mit dem Schwert, mit Pulver und Blei, aber sie brachten keine Indianer um, weil sie deren
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Gold und Silber haben wollten. Nein, das holten sie sich von den Schneckenfressern. So lauerten sie hinter den Felsen, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt. Die lange Fahrt, das Warten schienen ihrem Ende entgegenzugehen - hol’s der Teufel, sie würden es schaffen. Sie mußten es schaffen. Hasard huschte vom Kap hinunter. Dan O’Flynn und Jean Ribault blieben oben, um weiter zu beobachten. Der Seewolf warf sich neben Ben Brighton in die Deckung. „Na?“ fragte Ben. „Die Karavelle hat auf der Backbordseite sechs Stückpforten“, sagte Hasard. „Sechs? Also zwölf insgesamt. Bißchen viel, für eine Karavelle, wie?“ Hasard nickte. „Und auf dem Achterdeck noch zwei Drehbassen.“ „Ein Kriegsschiff ?“ Hasard wiegte den Kopf. „Eher ein Küstenwachschiff, das hier Aufklärung fährt. Ich hab es mir durchs Glas genau angesehen. Es läuft mit der Lateinertakelung ziemlich hoch am Wind, hat also gute Kreuzeigenschaften. Außerdem ist es ziemlich rank, das heißt, schmal gebaut. Ein Renner.“ Er grinste seinen Bootsmann an. „Das richtige Schiff für uns, nur ein bißchen klein.“ „Wegen unserer Ladung, wie?“ Der Seewolf nickte. „Aber in der Not frißt der Teufel Fliegen.“ Er blickte sich zu seinen Männern um. „Steckt ja eure Rüben weg!“ rief er. „Wer uns diese Tour vermasselt, kriegt’s mit mir zu tun, ist das klar?“ „Aye, aye, Sir!“ tönte es zurück. Die Köpfe verschwanden. Eine halbe Stunde später winkte Dan O’Flynn oben vom Kap. Es war das verabredete Zeichen, daß die Karavelle nunmehr in Sicht des Strandes geraten würde. Nach zehn Minuten rauschte sie am Kap vorbei in die weite Bucht, ging in den Wind, die Segel knatterten und schlugen, die Rahruten sanken nach unten, am Bug auf der Steuerbordseite klatschte der Anker ins Wasser.
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Die Karavelle ging vor Anker. Sie lag etwa dreihundert Yards vom Versteck der Seewolf-Crew entfernt und drehte dem Strand das breite Heck zu, als sie im Wind am Anker lag. An Deck bewegten sich die spanischen Seeleute und tuchten die Segel auf - es waren bräunlich gelohte Segel. Andere waren damit beschäftigt, Taue und Trossen zu klarieren. Spanische Laute klangen über das Wasser. Ein Mann, anscheinend der Capitan, stolzierte wie ein Gockel auf dem Achterdeck herum, schrie Befehle und beschimpfte einen Mann, der mittschiffs stand und wiederum einen dritten beschimpfte. „Da scheint gute Stimmung an Bord zu sein“, flüsterte Ben Brighton, obwohl man ihn an Bord der Karavelle bestimmt nicht hören konnte. „Gut für uns“, sagte Hasard. „Wann vernaschen wir die Schneckenfresser?“ fragte Ben. „Heute nacht.“ „Gehen wir mit den Booten ran?“ „Abwarten, Ben. Vielleicht müssen wir schwimmen. Wir haben Vollmond.“ „Und die Haie?“ „Mann, laß mich doch mit den Haien zufrieden. Die greifen nur an, wenn sie Blut wittern - sagt jedenfalls Pat O’Driscoll, der ‘ne Vorliebe für solche Art von Fischen hat.“ „Ein merkwürdiger Kerl“, meinte Ben Brighton. „Immer muffig und schlechter Laune.“ „Laß ihn“, sagte Hasard und spähte zu der Karavelle hinüber. „Sie klaren auf. Das heißt, daß sie wohl vorhaben, hier die Nacht über zu bleiben:“ „Und wenn nicht?“ Hasard blickte seinen Bootsmann an. „Wetten, daß sie bleiben?“ „Mit dir wette ich nicht.“ „Dann stell nicht so dämliche Fragen.“ Ben Brighton schwieg. Sie warteten. Das Warten wurde ihnen fast schon zur liebsten Gewohnheit. Langsam sackte die Sonne im Westen weg. Der Westwind flaute etwas ab und drehte auf Nordwest. Die Karavelle
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schwoite mit und zeigte jetzt ihre Steuerbordseite. Es wurde dunkel. Hasard zog seine Männer noch weiter hinter die Felsen zurück, so daß sie sich aufrichten konnten. Vom Kap oben erschienen Dan O’Flynn und Jean Ribault. „Ein Mann geht vorn Ankerwache“, meldete Dan. „Und sonst?“ „Der scheint ihnen zu genügen“, sagte Dan O’Flynn. Hasard nickte und blickte seine Männer an. „Hört zu“, sagte er. „Nach Mitternacht schnappen wir uns den Brocken — alle Mann bis auf den Kutscher und Jeff. Pete, Gary, Sten, Jean, Ben und ich werden schwimmend die Karavelle untertauchen und sie von der Lichtseite her packen. Die Lichtseite wird vom Mond beschienen, da können wir mit den Booten nicht heran. Vier Boote werden mit je sechs Männern besetzt. Sie müssen lautlos von der Schattenseite herangepullt werden. Wenn wir sechs Schwimmer auf geentert sind, müßt ihr anderen auch heran sein. Ich lasse euch Zeit. Bei ,Arwenack!’ entert ihr. Was ihr dann zu tun habt, -brauche ich euch nicht zu erzählen. Besetzt sofort die Niedergänge und Luken achtern und vorn. Wer sich zeigt, fliegt außenbords. Alles klar?“ „Die Haie“, sagte Patrick O’Driscoll dumpf. „Die habe ich für die Dons bestellt“, sagte der Seewolf hart. „Sonst noch was?“ Nein, es war alles gesagt. Sie fieberten. Endlich war es soweit. Dennoch dehnten sich die Stunden bis Mitternacht wie Jahre. Wahrscheinlich waren es die längsten Stunden, die sie je verbracht hatten. Um Mitternacht ließ Hasard die vier Boote zum Strand tragen. Sie schoben die Boote nicht. Auf jeder Bordseite packten jeweils dreizehn kräftige Handpaare zu. Sie gingen wie auf Eiern. Nur der Sand knirschte leise. Noch lag der Strand im Mondschatten. Dann lagen alle vier Boote im Wasser. Sie hatten die Dollen und die Riemenmanschetten mit Fett eingerieben.
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Vorsichtig wurden die Boote ins tiefere Wasser geschoben. Die Männer kletterten lautlos hinein. Der Kutscher und Jeff Bowie blieben an Land zurück — der Arzt und der Verwundete. Sie fühlten sich so einsam wie noch nie. Die anderen würden kämpfen, während sie dastanden und nichts tun konnten. Jeff Bowie fluchte still in sich hinein. Die Boote waren nur Schatten auf dem Wasser. Sie glitten nach Westen und fächerten auseinander. Dann hielten sie auf die Karavelle zu, auf der sich nichts rührte. Ihre Ankertrosse knarrte leise. Von den Wanten und Stagen ertönte ein leises Summen. Das Wasser plätscherte an der Bordwand. Es klang wie verhaltenes Kichern. Irgendwo sprang ein Fisch aus dem Wasser und klatschte wieder zurück. Aus dem mittleren Boot, das sich bis auf etwa fünfzehn Yards der Karavelle genähert hatte, glitten sechs Gestalten ins Wasser. Für einen Moment waren noch ihre Köpfe zu sehen, dann verschwanden sie. Luftblasen gluckerten nach oben. Hasard spürte seine Männer hinter sich. Er unterschwamm den Kiel, der wie ein riesiger, dunkler Schatten über ihnen schwebte, und tauchte hoch. Dicht an der Steuerbordseite der Karavelle durchstieß er die Wasseroberfläche. Neben ihm tauchten die nassen Köpfe seiner fünf Männer auf. Hasard tastete sich an die Bordwand und glitt an ihr entlang. Achtern erreichte er das Ruder und schwang sich hoch. Seine Männer folgten ihm, einer nach dem anderen. Der Seewolf zog sich auf den Holzwulst, der an der breitesten Stelle des Rumpfes um das Schiff lief. Auf ihm schlich er geduckt nach vorn. Ein Schatten tauchte auf dem Vorkastell auf und beugte sich über das Schanzkleid. „Wer da?“ rief der Mann. Hasard konnte nicht mehr warten. Die Boote mußten heran sein.
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„Arwenack!“ brüllte der Seewolf. Seine Arme zuckten nach oben, packten den Mann am Kragen, zogen ihn über das Schanzkleid, ein Schwung, Hasard duckte sich, und der Mann flog aufschreiend über ihn weg ins Wasser. Von der Backbordseite kletterten seine Männer brüllend über das Schanzkleid und überschwemmten das Deck. Hasard schwang sich hoch und raste nach achtern. Im Inneren der Karavelle begann es zu rumoren. Das Schott im Achterdeck prallte auf, ein Mann in Unterzeug schoß heraus. Carberry schlug mit dem Pistolenlauf zu, packte den Mann am Kragen und Warf in außenbords. Das gleiche Bild beim Vorschiff. Sowie sich ein Mann zeigte, wurde er betäubt und trat den Weg ins Wasser. an: Es war fast zu leicht. Hasard drang in das Achterdeck ein, erschlug einen Mann mit der Axt, den Stenmark weiter nach draußen beförderte, stieß auf den Capitan, der wie wild mit einem Degen um sich schlug, schleuderte ihm die Axt entgegen, die im Hals des Capitans steckenblieb, und damit war auch dieser Widerstand ausgeräumt. Sie durchsuchten die Karavelle und fanden niemanden mehr. Links und rechts der Bordwände vollendeten die Haie das grausige Drama. Die Karavelle hieß „Cartagena“ und wurde die neue .,Isabella IV.“ Sie verholten sie weiter zum Strand und begannen noch in der Nacht, ihre Ladung mit den Booten an Bord zu mannen und in den Laderäumen zu verstauen. Gegen Mittag am nächsten Tag war die Arbeit geschafft. Die Seewolf-Crew hatte ein neues Schiff —es war klein, aber es war ein Schiff. Sie gingen ankerauf, setzten die Segel und steuerten aus der Bucht nordwärts. Die Küste Kolumbiens blieb hinter ihnen zurück...
ENDE