Endzeit von Uwe Voehl
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Endzeit von Uwe Voehl
Die Erde, beherrscht von dunklen Mächten und gepeinigt von Anarchie, Angst und Tod. Menschen, die unter der Diktatur eines Vampirfürsten ihr elendes Dasein fristen. Als die Werwölfin Nona eines Morgens erwacht, ist nichts mehr so wie gestern noch. Gestern? Wie lange hat sie geschlafen? Jahrzehnte? Was ist seither geschehen? Wie eine Fremde in fremder Welt erkundet Nona die Stadt, die einst New York City hieß. Jetzt ragt eine gigantische Festung mitten im Central Park auf. Hier residiert das Böse. Hier wird sie Antworten finden. Oder den Tod …
Was bisher geschah … Für lange Zeit waren die Erinnerungen von Lilith Eden und ihrem Erzfeind Landru durch einen Aufenthalt in der Hölle vollständig gelöscht. Dies gehört zum Plan eines Knaben, der sich Gabriel nennt, in Wahrheit aber die Inkarnation Satans ist. Um seine Identität wiederzuerlangen, schließt Landru einen Pakt mit ihm, und auch Lilith sieht in einer Notlage keine andere Chance, als auf Gabriels Forderung einzugehen, ihm einst zu Diensten zu sein, was er auch verlangen möge. Lilith allerdings erhält ihre Erinnerungen nicht zurück; sie sucht sich ihr früheres Leben mühsam aus den Aufzeichnungen der EWIGEN CHRONIK zusammen, die aber bald vernichtet wird. Im Dunklen Dom, der Heimstatt der Hüter, ist Anum erwacht, einer der Vampirfürsten, die vor Urzeiten über die Menschheit regierten, deren neue Zeit aber noch lange nicht wieder gekommen ist. Durch Liliths Schuld wurden die schlafenden Körper fast aller Hüter getötet. Nur Anum und Landru, der ebenfalls zu denen gehört, die mit dem Lilienkelch das Geschlecht der Vampire verbreiteten, sind noch am Leben. Als Anum von Landrus Machtgelüsten und Versagen erfährt, will er das Schicksal seines Volkes, der Alten Rasse, in die eigenen Hände nehmen. Auch die Werwölfin Nona ist Bestandteil in Gabriels großem Plan. Er läßt sie eine vergessene Erinnerung durchleben: 1635 traf sie in ihrer Geburtsstadt Perpignan auf den Satan, der dort tote Kinder aus ihren Gräbern raubte, um ihnen wieder Leben einzuhauchen. Noch weiß Nona nicht um die tiefere Bedeutung dieses Vorfalls. Lilith bricht nach Uruk auf, um Aufschlüsse über jene Geschehnisse zu erhalten, die ihr die CHRONIK nicht schildern konnte. Uruk ist auch das Ziel Anums. Dort hofft er seine Schwester Felidae zu finden, um sie für ihre Beteiligung am Niedergang der Alten Rasse zu strafen. Doch Uruk war auch schon 1705 das Ziel einer Reise. Damals brach die Zeitdiebin Beth, Liliths ehemalige Freundin, dorthin
auf. Sie wollte einen Weg zurück in die Zukunft finden, denn in Uruk besteht ein Korridor durch die Zeiten. In ihm erfüllte sich Beth’ Schicksal, als ihr Körper sich im Zeitstrom auflöste und nur ihr Geist übrig blieb. In der Gegenwart empfängt Lilith beim Betreten des von Anum wieder aktivierten Zeitkorridors einen flehendlichen Hilferuf von Beth. Anum, dessen Geist in den Korridor eingedrungen ist, hat sie aufgespürt und droht sie zu vernichten. Lilith rettet Beth’ Seele im letzten Moment, indem sie sie in sich aufnimmt – und damit ihre verlorene Identität mit der von Beth auffüllt! Sie verläßt den Zeitkorridor und schließt das Tor, noch bevor Anum ihn verlassen kann. Dann stößt sie auf dessen Körper, der im Vorraum zurückgeblieben ist. Sie weiß nicht, daß dies der Mann ist, der eben noch ihr Leben bedrohte, und nimmt ihn mit sich nach Jerusalem, denn diese Stadt, so weiß sie aus Beth’ Erinnerungen, ist seit fast 2000 Jahren frei von Vampiren.
Prolog Am Anfang war nur Dunkelheit. Eine alles verschlingende Finsternis, in die ihr Körper wie ein versinkendes Schiff immer tiefer hinabtauchte. Sie spürte die Kälte und war fast dankbar darüber. Denn Kälte bedeutete Gefühl. Gefühl bedeutete Leben. Leben bedeutete, daß sie nicht unter den Toten weilte. Welch merkwürdiger Traum! Sie wußte nicht, wer sie war. Ihre Persönlichkeit schien wie losgelöst von dem Körper, der sich widerstandslos dem Sog der Tiefe hingab. Träume sind die dunklen Erinnerungen unseres Lebens. Leben! Die Erkenntnis traf sie wie ein Blitz. Wenn sie leben wollte, mußte sie hinauf – hinauf zur Oberfläche dieses Meeres der Finsternis.
Sie versuchte ihren hinabsinkenden Körper mit neu erwachendem Willen zu beherrschen. Sie mußte ihn dazu zwingen, gegen das Sinken anzukämpfen. Es war verlockend, sich der Schwere hinzugeben. Sie war beruhigend und tröstend, aber dort unten lauerte etwas, das schlimmer war als der Tod. Nona hob ihren Kopf und schaute nach oben. Weit entfernt glaubte sie einen Lichtschein zu erkennen. Sie nahm all ihre Kräfte zusammen und kämpfte gegen den Sog an. Es gelang! Ihr Wille reichte aus, den Körper in eine andere Richtung zu lenken. Zunächst spürte sie noch, wie der Sog wie mit gierig kalten Klauenhänden nach ihr griff, aber sie entglitt ihm von Sekunde zu Sekunde mehr, während sie dem Licht entgegenstrebte. Sie verstärkte ihre Anstrengungen, und die Dunkelheit wich mit jeder Sekunde mehr einem flackernden Licht.
Dann hatte sie es geschafft. Sie durchstieß die Oberfläche, japste wie eine Ertrinkende nach Luft und sah sich erstaunt um. »Chiyoda!« Ihr Mentor sah fast teilnahmslos auf sie herab. Der greise Werwolf, der nach Belieben zwischen den Wirklichkeiten wechseln konnte, war ein vertrauter Anblick. Dennoch war Nona irritiert, gerade bei ihm zu erwachen. Sie versuchte ihre Gedanken zu ordnen, aber es fiel ihr schwer, einen klaren Kopf zu bekommen. Noch immer war da der schwarze Ozean, der erneut nach ihr greifen wollte. Wenn sie die Augen schloß, sah sie sich wieder in seiner unermeßlichen kalten Tiefe versinken. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals einen derartig intensiven Alptraum gehabt zu haben. Offensichtlich befand sie sich in Chiyodas Refugium in der Mandschurei. Sie erkannte die Wände und Möbel des Quartiers, das er ihr stets freihielt, wenn sie zu Besuch bei ihm war. Aber sie wußte nicht, wie sie hierhergekommen war. Die Realität schien mit ihrem Erwachen mit jeder Sekunde mehr zu verblassen – wie Traumbilder, die sich um so schwerer fassen ließen, je mehr sie versuchte, sie zu bannen. »Wie lange habe ich geschlafen?« fragte sie schwach. »Nicht so lange, als daß du dich nicht aus eigener Kraft hättest entscheiden können.« Verwirrt sah sie ihn an und verfluchte im Stillen Chiyodas Vorliebe, in Rätseln zu sprechen. »Dieser merkwürdige Traum … ich hatte das Gefühl, in einem schwarzen Ozean immer tiefer hinabzusinken. Dort unten lauerte etwas Schreckliches. Und dann sah ich das Licht und kämpfte mich darauf zu. Was hat das zu bedeuten, Chiyoda?« »Es bedeutet, daß du dich richtig entschieden hast«, entgegnete ihr Mentor und lächelte. »Du hast das Licht gewählt. Es ist leicht, sich dem ewigen Vergessen und der Schwere hinzugeben. Aber es ist un-
ser Schicksal, uns dagegen aufzulehnen.« Der greise Mann, der den Wolf in sich schon vor langer Zeit besiegt hatte, sah sie mit einem beschwörenden Blick an, aber Nona schüttelte den Kopf. »Das klingt so weise – und ist doch so vage«, antwortete sie. »Was ist mein Schicksal, Chiyoda?« »Jeder Schritt deines Lebens bringt dich deinem Schicksal ein wenig näher«, antwortete er. »Aber der Weg führt nicht geradeaus. Es gibt Abzweigungen und Fallen, Labyrinthe, in denen du dich zu verlieren und auf immer vom Weg abzukommen drohst. Du irrst darin so lange umher, bis du den Weg selbst vergißt und glaubst, das Labyrinth wäre dein Ziel. Das sind die schlimmsten Fallen!« Chiyoda erhob sich, als wollte er sie verlassen. Vielleicht warteten seine Schüler auf ihn. Oder er harrte schon zu lange neben ihrem Bett aus. »Der Ozean!« sagte Nona schnell. Sie wollte nicht, daß er sie allein ließ. »War er eine solche Falle?« »Vielleicht«, antwortete Chiyoda. Ungeduld schwang jetzt in seiner Stimme. »Vielleicht würdest du dich auf Ewigkeiten darin verlieren, ohne je den Grund zu erreichen.« Seine Antworten auf Nonas Fragen hinterließen mehr Rätsel, als daß sie ihr Klarheit verschafft hätten. Seine Gestalt schien plötzlich … zu verschwimmen, so daß Nona das Gefühl hatte, abermals im Ozean zu versinken und die Gestalt ihres Mentors durch einen Wasserschleier zu sehen. Träumte sie denn noch immer? »Geh nicht fort!« flehte sie ihn an. Sie kam sich vor wie eine Ertrinkende, deren rettender Anker sich soeben in Luft auflöste. Doch die Gestalt des greisen Werwolfs verblaßte und war schließlich ganz verschwunden, so als hätte er niemals existiert. Nona erhob sich von ihrem Bett. Sie spürte, daß ihre Glieder schwer waren, als würde ein Teil ihres Körpers noch immer in jene Ozeantiefen hinabgezogen. Sie taumelte, fing sich aber wieder und
ging vorsichtig ein paar Schritte. War sie etwa krank gewesen und litt noch immer an den Folgen irgendeines Fiebers? Aber warum hatte Chiyoda sie dann nicht einfach darüber aufgeklärt. Oder hatte er ihr irgendwelche Drogen verabreicht, sie gar mit seiner Magie beeinflußt? Wieder versuchte sich Nona zu erinnern, aber es fiel ihr noch schwerer als zuvor. Außer ein paar verschwommener Bilder herrschte in ihrem Kopf eine seltsame Leere. Wenn ihre Erinnerung sie schon im Stich ließ, so war es um so wichtiger, den Körper wieder unter Kontrolle zu bringen. Sie kämpfte gegen den Taumel an, und mit jedem Schritt gelang es ihr leichter, ihren Kreislauf in Balance zu halten. Trotzdem schien es unendlich lange zu dauern, bis sie den Raum durchquert und die Tür erreicht hatte. Sie öffnete sie und schaute in den Gang, der sich dahinter erstreckte. Er war verlassen. Sie lauschte, aber es war kein Laut zu hören. Mühsam versuchte sie sich zu orientieren, aber es fiel ihr genauso schwer wie jeder andere Gedanke auch. Der Gang war dunkel, aber ihre nachtempfindlichen Augen halfen ihr, sich zurechtzufinden. Schließlich erreichte sie das Sanktuarium. Aber wo sich sonst Schüler aufhielten und kostbare Einsichten aus den Lehren ihres Meisters Chiyoda zu gewinnen suchten, herrschte die gleiche Verlassenheit wie überall in diesem Kloster. Irgend etwas stimmt hier nicht! Es war nicht allzu schwierig, das zu bemerken. Selbst mit ihrem umnebelten Kopf spürte Nona, daß alles anders war als sonst. Welches Spiel spielte Chiyoda mit ihr? Sie öffnete weitere Türen, durchstreifte Gänge und Räume, ohne auf irgend jemanden zu stoßen. Es war, als hätten sich die Bewohner des Klosters in Luft aufgelöst wie Chiyoda selbst. Vor ihr tauchte die Eingangspforte auf. Sie war nicht verschlossen
und ließ sich leicht öffnen. Nona schaute noch einmal den Gang entlang zurück, den sie gekommen war. Kurz glaubte sie, einige Schatten in der Dunkelheit auszumachen, aber es schien nur ein Spiel ihrer überreizten Nerven zu sein. Kein Instinkt ihrer wölfischen Seite schlug darauf an, daß sich irgendeine Person in dem Kloster befand. Wo auch immer sie also die Antworten finden würde, die ihr Chiyoda verweigert hatte, sie befanden sich nicht innerhalb dieser Mauern, sondern außerhalb. Nona überschritt die Schwelle – und augenblicklich glaubte sie wieder zu versinken. Schwarze Fluten drohten sie zu überschwemmen, aber sie spürte keine Feuchtigkeit. Es war einfach nur Schwärze. Nona versuchte zurückzuwanken, aber wieder wurde ihr Körper von einem Sog erfaßt, der ihn mit sich fortzog. Nicht wieder! Nicht wieder! Instinktiv nahm sie ihre Raubtierhaltung ein und versuchte mit allen Vieren einen wie auch immer gearteten Boden zu erreichen. Augenblicklich spürte sie festen Grund unter sich. Die alles verschlingende Dunkelheit ging in ein waberndes Etwas über, das sich innerhalb weniger Augenblicke ganz auflöste. Die Realität hatte sie wieder fest im Griff! Nona erhob sich. Sie spürte mit jeder Faser, daß dies die Wirklichkeit war, aber dennoch war es kaum zu begreifen: Das Kloster war verschwunden. Ebensowenig befand sie sich in der Mandschurei. Vor ihr lag eine verwahrlost aussehende Straße, von Unrat übersät. Papierfetzen wurden von einem leichten warmen Wind davongeblieben. Dies war das einzige, was sich bewegte. Nirgendwo konnte sie eine Menschenseele ausmachen. Hinter den Fenstern der mehrgeschossigen Häuser brannten keine Lichter. Die meisten Scheiben waren zerborsten. Nonas Selbsterhaltungsinstinkte erwachten. Vorsichtig bewegte
sie sich im Schutz der Schatten vorwärts. Die gelbe Sichel des zunehmenden Mondes verbreitete nur spärlich Licht. Wie geschaffen, die Dunkelheit wie einen wärmenden Mantel umzulegen. Ein knarrender, monotoner Laut erreichte Nonas Ohren. Es war ein Straßenschild, das, nur noch an einer Schraube hängend, hin und her schwang. EAST BROADWAY las sie erstaunt. Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Sie kannte diese Stadt! Sie befand sich zweifellos in New York! Irgendwo in der Lower East Side. Aber es war nicht das New York, das sie kannte. Es war ein New York der Alpträume!
* Kierszan warf sich unruhig hin und her. Nicht, daß ihm die Härte des Lagers, auf dem er nächtigte, noch etwas ausgemacht hätte. Es waren die Schreie, die von weit entfernt an seine Ohren drangen. Er spürte die Angst der anderen, die mit ihm in diesem Raum zusammengepfercht waren, wie eine Faust in seinem Magen. Warum ließen sie all das geschehen? Wann endlich brachten sie den Mumm auf, gegen ihr jämmerliches Los zu rebellieren? Seine Finger verkrampften sich zu Fäusten. Er fühlte, wie eine Hand nach seinem Arm tastete und ihn beruhigend drückte. »Ganz ruhig, Kierszan«, flüsterte eine Stimme auf ihn ein. Es war Rudnik. Er und Rudnik hatten sich in diesem Lager kennengelernt und sich angefreundet. Kierszan war zehn Jahre älter als Rudnik. Wahrscheinlich fühlte er sich deswegen für ihn verantwortlich. Zudem erinnerte er ihn an seinen jungen Bruder, der vor einigen Jahren bei einem Kampf ums Leben gekommen war. Kierszan war vom ersten Moment an für Rudnik eingetreten, der
schwächlich und verängstigt wirkte. Er war aufgrund seiner geringen Größe oft den Hänseleien und wilden Streichen der anderen ausgeliefert. Kierszan dagegen war kräftig und durchtrainiert. Selbst die zwei Monate in diesem Lager hatten seiner äußeren kraftvollen Erscheinung nicht viel anhaben können. »Reg dich nicht wieder auf!« flüsterte Rudnik. »Wenn du brüllst, kommen nur wieder die Wärter und verprügeln dich.« Rudnik hatte recht. Es war zwecklos, auf sich aufmerksam zu machen, obwohl die Schreie der gepeinigten Kreatur kaum zu ertragen waren. Kierszan versuchte sich zu entspannen, aber es gelang ihm trotz besserer Einsicht nicht. Alles in ihm schrie danach, zu Hilfe zu eilen. »Du hast ja recht«, flüsterte er zurück. »Wir müssen uns etwas anderes überlegen, um hier rauszukommen. Gewalt hilft uns nicht weiter.« Kierszan hatte keine Ahnung, ob es pure Willkür war oder ob ein System dahintersteckte, wen die Wärter aus dem Kreis der Gefangenen auswählten und mit sich nahmen. Meist waren die Schreie das letzte Lebenszeichen, das man von den Abtransportierten vernahm. Am Anfang hatte Kierszan geglaubt, in einer kafkaesken Hölle gelandet zu sein, in der jeder Tag und jede Nacht nur eine sinnlose Wiederholung der vergangenen Tage und Nächte war. Sie waren fast ununterbrochen in diesem Raum eingesperrt. Nur nachts wurden sie für eine halbe Stunde an die frische Luft gelassen. Die Wächter waren Dienerkreaturen, die sich einen Spaß daraus zu machen schienen, ihre Gefangenen noch zusätzlich zu malträtieren. Besonders die weiblichen … Die Flucht schien zwecklos. Die Mauern des Gefängnishofes waren so hoch, daß kaum Mondlicht herabdrang. So oder so hatte Kierszan die Erfahrung machen müssen, daß ihm die Metamorphose in einen Wolf innerhalb dieser Mauern kaum etwas nützte. Die Türen waren so gut gesichert, daß selbst die Kräfte, über die er in
seinem Wolfskörper verfügte, nicht ausreichten. Außerdem gab es ja da noch die Wächter … Die bevorstehende Ankunft des vollen Mondes bewirkte auch diesmal eine fiebrige Unruhe in ihm. Die Magie, die den Keim der Metamorphose, die seit alters her der dunkle Begleiter seiner Rasse war, in ihm gesät hatte, ließ sich auch in der Gefangenschaft nicht unterdrücken. »Wir werden niemals hier herauskommen.« Rudniks Trostlosigkeit brachte Kierszan wieder in die Gegenwart zurück. Die schrecklichen Schreie draußen gingen in ein Wimmern über und verstummten schließlich ganz. Kierszan atmete auf. Vielleicht würde er doch noch Ruhe finden können in dieser Nacht. Aber er hatte sich getäuscht. Er wußte es, als er die schweren Schritte hörte, die sich der Tür näherten. Wenige Augenblicke später wurde sie geöffnet. Vier der grausamen Dienerkreaturen standen im Türrahmen und spähten nach einem weiteren Opfer aus. Die Gefangenen drückten sich wimmernd an die Wände. Keiner wollte in dieser Nacht der nächste sein. Sie alle wußten, daß, wer hier herausgeholt wurde, niemals wiederkam. Im Moment befanden sich neunzehn ihrer Rasse in der winzigen Kammer. Kierszan spürte, wie sich Rudnik schutzsuchend an ihn preßte. Beruhigend legte er den Arm um seinen Freund. Er fühlte, wie Rudnik vor Angst zitterte. »Was immer auch geschieht, Kleiner, ich lasse dich nicht allein!« sprach er ihm flüsternd Mut zu. »Außerdem wissen sie mit dir bestimmt gar nichts anzufangen.« Er hatte sich getäuscht. Durch die Dunkelheit hindurch spürte er, wie sich der Blick eines der Wächter auf sie heftete. »Was klebt ihr zwei da zusammen?« rief er. »Los, kommt her!« »Nein, Kierszan!« flüsterte Rudnik und preßte sich noch tiefer in
den Schatten der Wand, obwohl er wissen mußte, daß dies ebenso sinnlos war, wie gefesselt vor einem Rudel von Bluthunden davonzulaufen. Kierszan erhob sich. »Laßt den Kleinen in Ruhe«, sagte er. »Ihr werdet keinen Spaß mit ihm haben. Er wird vor Angst eingehen!« »Das laß ruhig unsere Sorge sein«, schnappte der Wärter. Er hielt eine der von allen Gefangenen gefürchteten Peitschen in der Hand. Mit einer schnellen Bewegung aus dem Handgelenk heraus ließ er sie durch die Luft sausen. Schmerzhaft traf sie Kierszans Gesicht. Der Werwolf zwang sich, nicht laut aufzuschreien vor Schmerz. Die Genugtuung gönnte er diesen Kreaturen nicht. »Steht beide auf!« befahl ein zweiter Wächter, während die Peitsche des ersten abermals auf Kierszan niederzischte. Rudnik begann vor Angst zu wimmern. »Was werden Sie mit uns anstellen, Kierszan?« Und diesmal fielen noch nicht einmal Kierszan Worte des Trostes ein. Wenigstens konnte er versuchen, Rudnik vor den drohenden Peitschenhieben zu bewahren, so lange es ging. Schützend ging er voran und achtete darauf, daß der Freund in seinem Rücken blieb. »Die hängen aneinander wie zwei läufige Hunde«, lästerte einer der Wächter. »Da hilft nur kaltes Wasser.« Die anderen lachten grölend. Dann stießen sie die beiden vor sich her. Sie kamen an weiteren Kammern vorbei, in denen weitere Gefangene dahinvegetierten. »Was habt ihr vor mit uns?« fragte Kierszan. Selbst sein Mut sank allmählich. Statt einer Antwort traf ihn ein weiterer Peitschenhieb. Schließlich erreichten sie einen großen kahlen Raum. »Ihr verhaltet euch ruhig, bis ihr geholt werdet, sonst …« Der Wächter ließ die finstere Drohung unausgesprochen. Man ließ die beiden jungen Männer allein zurück.
»Sie werden uns töten«, sagte Rudnik mit einer Gewißheit, die Kierszan zum Schaudern brachte. »Die anderen werden unsere Schreie hören und wissen, daß sie uns niemals mehr wiedersehen werden.« »Es ist nicht gesagt, daß sie uns töten«, widersprach Kierszan. »Genausogut kann es sein, daß wir endlich hier herauskommen.« Er hatte von Werwölfen gehört, die als Sklaven verkauft wurden. Vielleicht blühte auch ihnen dieses Schicksal. Jedenfalls würde es willkommener sein als ein sinnloser Tod. Seine Blicke durchforsteten den Raum. Bis auf eine fast in Deckenhöhe befindlichen schmalen Luke war er fensterlos. Selbst wenn es ihnen gelingen sollte, diese Luke zu erreichen, war sie zu eng, um als Fluchtweg zu dienen. Zwei Türen führten in den Raum. Kierszan versuchte sie vorsichtig zu öffnen, aber sie waren beide verschlossen. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als abzuwarten. Wieder und wieder schweifte sein Blick zur Luke hoch. Je weiter die Minuten fortschritten, um so mehr silbriges Mondlicht drang hindurch. »In fünf Nächten ist Vollmond«, stellte Kierszan fest. Er sah an sich hinab. »Nicht, daß es uns jetzt etwas nützen würde. Aber vielleicht erhalten wir ja dann unsere Gelegenheit, zuzuschlagen!« Er spürte selbst, daß aus seinen Worten mehr Verzweiflung denn echte Zuversicht sprach. Wenn er ehrlich war, so glaubte er nicht einmal, daß er und Rudnik in ihrer Wolfsgestalt eine echte Chance gehabt hätten. Dazu waren die Dienerkreaturen, die hier als Wächter fungierten, zu zahlreich. Schritte näherten sich der zweiten Tür. Unwillkürlich spannten sich Kierszans Gelenke zum Sprung, während Rudnik ängstlich zurückwich. Als die Tür geöffnet wurde, mußte Kierszan sich beherrschen, um sich nicht wirklich auf die beiden Wächter zu stürzen, die im Türrahmen standen.
»Zurück!« herrschte die vordere Kreatur Kierszan an, während er auf Rudnik wies. »Und du komm her!« Rudnik brach abermals in ein Wimmern aus, aber er wagte nicht, sich dem Befehl des Wächters zu widersetzen. Die Monate in der Kammer hatten ihn zu einem furchterfüllten Geschöpf werden lassen, das keinerlei Widerstand mehr aufbrachte. Noch nicht einmal im Augenblick höchster Todesangst. Mit schleppenden Schritten ging er auf die Wächter zu. »Nein!« Kierszan versetzte ihm einen Stoß, der ihn in die andere Ecke des Raumes zurücktaumeln ließ. »Ihr werdet ihn in Ruhe lassen!« knurrte er. »Oder ich sorge dafür, daß ihn ein paar von euch auf dieser letzten Reise begleiten!« Seine Wut vermengte sich mit der jahrtausendalten Kraft des Mondes, die auf das Blut, das seine Adern durchpulste, eine ganz besondere Wirkung hatte. Mit aller Macht sehnte er die Verwandlung herbei, aber es war noch zu früh. Selbst seine Wut ließ ihn die Magie nicht überwinden und der Zeit ein Schnippchen schlagen. Dennoch wichen die Dienerkreaturen unwillkürlich zurück. Sie waren nicht gewohnt, daß sich jemand nach Monaten in der Kammer ihnen noch widersetzte. Innerhalb von Sekundenbruchteilen erkannte Kierszan seine Chance. Mit einem Aufschrei warf er sich den beiden Kreaturen entgegen und stieß sie zur Seite. Er wußte, daß er in einem Kampf keine Chance haben würde. Seine einziges Heil lag in der Flucht. Befriedigt nahm er zur Kenntnis, daß seine Ellenbogen die morschen Rippen seiner Gegner zerschmetterten. Er kam hart auf dem Boden auf, rollte sich aber geschickt ab, während die beiden Wächter sich noch benommen zu orientieren versuchten. Rudnik! Der Gedanke an seinen Gefährten versetzte ihm einen Stich, aber er hatte keine andere Wahl. Er mußte ihn zurücklassen. Vielleicht gelang ihm ja aus eigener Kraft die Flucht. Er hörte die beiden Dienerkreaturen hinter sich aufschreien.
Keine Zeit zu verlieren! Er hatte keine Ahnung, in welchem Trakt des Gebäudes er sich befand. So rannte er einfach los. Der Gang, in dem er sich befand, war nur spärlich von wenigen Fackeln erhellt. Von irgendwoher erreichte sie in schwacher Luftzug, der ihre Flammen leicht erzittern ließ. Die Wächter hatten ihre Überraschung überwunden, und selbst gebrochene Rippen konnten eine Kreatur, die längst tot war, nicht aufhalten. Ihre polternden Schritte verrieten Kierszan, daß sie ihm dicht auf den Fersen waren. Mehr denn je wünschte er sich, die Metamorphose würde vor der Zeit einsetzen. In seiner Wolfsgestalt hätte er bedeutend bessere Karten gehabt. Aber auch so überließ er seinen wölfischen Instinkten die Oberhand, verschmolz fast mit den Schatten, schlug Haken und entschied sich erst in den allerletzten Momenten für die Abzweigungen, die immer wieder in andere Gänge mündeten. Dieses Gefängnis war ein regelrechtes Labyrinth! Er folgte weiter dem schwachen Luftzug und gewann an Vorsprung. Allmählich wurden die Schritte seiner Verfolger leiser und verklangen schließlich ganz. Schweratmend blieb Kierszan schließlich stehen und lauschte. Es gab keinen Grund zur Beruhigung. Wahrscheinlich waren die zwei nur umgekehrt und holten Verstärkung. Und ebenso wahrscheinlich würde man die Wachen an den Ausgängen verstärken. Über kurz oder lang mußten sie ihn aufspüren. Kierszan wagte nicht daran zu denken, was sie mit ihm anstellen würden, wenn sie ihn erst gefunden hatten. Er hastete weiter und erreichte einen Kreuzpunkt. Oben in der Decke war ein Luftschacht eingelassen, der mit einem Gitter gesichert war. Kierszan fluchte unterdrückt. Das Gitter lag zu hoch, um es mit einem Sprung zu erreichen. Wenn Rudnik bei ihm gewesen wäre, hätte er sich vielleicht auf dessen Schultern stellen können. Rudnik …
Ihm kam eine Idee. Warum sollte er nicht versuchen, wieder zu Rudnik zu gelangen und mit ihm gemeinsam zu diesem Lüftungsgitter zurückzukehren? Damit rechneten die Dienerkreaturen gewiß nicht. Sicherlich konzentrierte sich jetzt aller Aufmerksamkeit in erster Linie auf ihn, Kierszan. Vielleicht hatte er Glück, und Rudnik befand sich noch immer in dem Raum, in dem er die Wächter überwältigt hatte. Obwohl er etliche Haken geschlagen hatte, fand er den Weg zurück mit fast schlafwandlerischer Sicherheit. Einige Male stieß er auf weitere Wächter, aber sie waren schon von weitem zu hören, so daß er jedesmal die Zeit fand, sich im Schatten zu verstecken. Schließlich erreichte er die Tür, hinter der er Rudnik vermutete. Vorsichtig schlich er näher, wobei er sich vergewisserte, daß nicht eine der Dienerkreaturen irgendwo Wache hielt. Er legte sein Ohr gegen das Türblatt und lauschte. Von drinnen glaubte er ein schwaches Wimmern zu vernehmen. »Rudnik!« flüsterte er gerade so laut, daß es der Gefährte hören mußte. Das Wimmern verstummte. Vorsichtig drückte Kierszan er die Türklinke nach unten. Natürlich war sie verschlossen, aber damit hatte er gerechnet. Jetzt oder nie! Er hatte nur diesen einen Versuch! Noch einmal lauschte er, ob irgendwo einer der Wächter zu hören war, dann nahm er Anlauf und warf sich mit aller Kraft gegen die Tür. Krachend fiel sie nach innen. Das erste, was er sah, war Rudnik, der geknebelt und zu einem Bündel verschnürt auf dem Boden lag und ihm verzweifelt entgegenblickte. Das zweite waren die Wächter, die nur auf ihn gewartet hatten. Es waren fünf, und diesmal würden sie ihm nicht den Hauch einer Chance lassen! Aber er würde kämpfend untergehen! Mit einem Schrei stürzte sich Kierszan auf die Gegner. Seine Faust zertrümmerte einen Un-
terkiefer, während sich die Finger seiner linken Hand in den Haaren eines weiteren Gegners festkrallten. Ein gemeiner Hieb traf seinen Bauch, und noch während er sich vor Schmerz krümmte, trat ihm ein weiterer Angreifer von hinten in die Kniekehlen, so daß er aufstöhnend zu Boden sank. Sein Kopf wurde gegen den Steinboden gehämmert, und rotes Blut spritzte wie eine Fontäne aus seinen Nasenlöchern. Er sah den Blutdurst in den Augen seiner Gegner auflodern. Sie würden ihn zerreißen. Aber etwas hielt sie davon ab, sich auf ihn zu stürzen. Brutal rissen sie ihn hoch und hielten ihn fest. »Du hast Glück, daß deine Herrin nach dir verlangt!« zischte ihm eine der Kreaturen haßerfüllt ins Ohr. »Aber vielleicht ist hinterher noch genug von dir übrig, daß wir mit dir abrechnen können.« »Und bis dahin«, fügte ein zweiter Wächter grausam lächelnd hinzu, »geben wir uns mit deinem kleinen Freund zufrieden …« »Wenn ihr ihm nur ein Haar krümmt, bringe ich euch um!« zischte Kierszan. Ein harter Schlag ins Gesicht brachte ihn zum Schweigen. Dann zerrten ihn die Dienerkreaturen vorwärts. Der Weg führte über etliche Treppen nach oben. Die kahlen Wände gingen in geschmackvoll dekorierte Korridore über. Schließlich öffnete einer der Dienerkreaturen eine weitere Tür, und Kierszan fühlte sich brutal vorwärtsgestoßen. »Hier ist er!« Kierszan sah sich erstaunt um. Er hätte nie vermutet, daß es in diesem Gefängnis auch ganz normale Räume gab. Erst recht nicht solch luxuriös eingerichtete wie diesen. Er befand sich in einem Wohnzimmer, das die Größe eines Saales aufwies und überaus gediegen ausgestattet war. Überall an den Wänden türmten sich Regale mit Büchern. In einem hochlehnigen Ledersessel saß eine attraktive schwarzhaarige Frau, die nun aufblickte, das Buch, in dem sie gelesen hatte, beiseite legte, und ihn von Kopf bis Fuß musterte.
»Wir konnten ihn leider nicht ganz unversehrt herbringen«, sagte eine der Dienerkreaturen. »Manchmal muß man diese Burschen zu ihrem Glück zwingen.« Ein eisiger Blick der Frau ließ ihn verstummen. »Komm näher«, sagte sie zu Kierszan. »Du brauchst keine Angst vor mir zu haben.« Kierszan schluckte. Unter normalen Umständen hätte er diese Frau vielleicht sogar begehrenswert gefunden. Sie war eine laszive, schwarzhaarige Schönheit mit aufregend üppigen Kurven, die sich unter dem seidenen Morgenmantel, den sie als einziges Kleidungsstück trug, abzeichneten. Da er zögerte, erhielt er einen weiteren Stoß, der ihn vorwärtstaumeln ließ. »Wie heißt du?« fragte die Frau. »Kierszan!« brummte der junge Mann. Er gab sich nicht die Blöße, nach ihrem Namen zu fragen. Es war ohnehin ohne Belang. Was hatte er schon anderes zu erwarten als den Tod? Doch als er sah, wie die Frau den Wächtern mit einem Wink zu verstehen gab, sich zurückzuziehen, glomm vage Hoffnung in ihm auf. »Wir sollten lieber hierbleiben«, sagte eine der Kreaturen. »Dieser Bursche ist ziemlich kräftig und robust!« »Um so besser wird er seine Arbeit verrichten können«, widersprach die Frau. »Ich komme schon allein mit ihm zurecht.« Sie wandte sich ihm zu. »Außerdem ist er klug genug zu wissen, daß Flucht zwecklos ist. Nicht wahr, mein Freund?« Kierszan war so klug, zu nicken. Er konnte sein Glück kaum fassen. Wenn die Wächter tatsächlich so dumm sein sollten, ihn mit dieser Frau allein zu lassen, würde er eine weitere Chance zur Flucht bekommen! Die Dienerkreaturen zogen sich zurück. Man sah ihnen an, daß sie
dem Befehl nur widerstrebend nachkamen. »Sie haben Angst vor meinem Gefährten«, erklärte die Frau. »Er ist der Herr dieses Kerkers. Und soo langweilig.« Abermals warf sie ihm einen anzüglichen Blick zu. Allmählich ahnte Kierszan, was die Frau mit ihm vorhatte. Sie war nichts weiter als die vernachlässigte Ehefrau eines Gefängnisdirektors! Lächelnd winkte sie Kierszan zu sich heran …
* Von irgendwoher drangen aufgeregte Schreie an ihr Ohr. Nona duckte sich noch enger in die tiefen Schatten der Häuser. Wenigstens war diese Alptraumwelt bewohnt! Sie schlich vorwärts, den Stimmen nach, die durch die ansonsten leeren Straßen hallten. Was war passiert? Dies hier war nicht das New York, das sie kannte. Selbst in der Nacht pulsierte das Leben in einer der größten Metropolen der Welt, und der Himmel war normalerweise trotz der Dunkelheit in den Widerschein elektrischen Lichts getaucht. Ein Stromausfall? Aber noch während Nona sich an diese Möglichkeit klammerte, sagte ihr Verstand, daß es das allein nicht sein konnte. Es mußte mehr hinter dieser seltsam unwirklichen Szenerie stecken. Die Stimmen waren nun ganz in der Nähe. Geduckt pirschte sich Nona heran, lugte vorsichtig um eine Hauswand – und sah die Verursacher des Lärms, mitten auf einer Kreuzung. Es war eine Gruppe von fünf abgerissenen Kerlen, die ein junges, höchstens achtzehnjähriges Mädchen umringt hatten. Der Begleiter des Mädchens lag bereits mit aufgerissener Kehle auf dem Boden und rührte sich nicht mehr. Erst dachte Nona, es handele sich um Halbstarke, die auf Gewalt aus waren – dann jedoch erkannte sie die spitzzahnigen Gebisse der
fünf Gestalten. Es mußten Dienerkreaturen sein! Ein heißer Schrecken durchfuhr Nona. Hatten Vampire etwas mit der so veränderten Stadt zu tun? Die Kreaturen – daß es sich um vollwertige Vampire handelte, schied bei ihrem vernachlässigten Äußeren aus – machten sich einen Spaß daraus, ihr vor Angst erstarrtes Opfer hin und her zu schubsen und mit ihren Klauen zu traktieren. Tatenlos mußte Nona mitansehen, wie das Mädchen immer mehr an Blut verlor und schließlich zusammensackte. Gleichzeitig drang von irgendwoher weiterer tumultartiger Lärm an ihre Ohren. Vorsichtig zog sich Nona weiter in die Schatten zurück. Dem Mädchen konnte sie gegen die Übermacht ohnehin nicht helfen, und außerdem war es zu früh, sich offen zu zeigen. Erst mußte sie mehr über die Stadt und die Umstände herausgefunden haben, bevor sie sich in Gefahr begab. So war es auch seltsam, daß keine Polizeisirene zu hören war – ein Geräusch, das in New York City eigentlich nie ganz verklang. Nona wartete einige Minuten, bis die Kreaturen die Lust an ihrem blutigen Spiel verloren und weitergezogen waren. Dann erst wagte sie sich ins Freie. Die beiden Menschen lagen reglos da. Nona fühlte die altbekannte Gier in sich aufsteigen, als sie das noch frische Blut roch. Aber sie zwang sie nieder. Ihre Instinkte waren jedoch aufs äußerste gereizt. Sie witterte. Und wußte im nächsten Moment, daß eine der Personen nicht tot war. Noch nicht. In einem der Körper befand sich noch eine winzige Spur von Leben. Es könnte eine Falle sein! dachte sie mißtrauisch. Vorsichtig bewegte sie sich auf die beiden Körper zu. Zunächst untersuchte sie den Mann. Er war so jung wie das Mädchen. Es schien sich um einen Obdachlosen zu handeln, denn seine
Kleidung war genauso vernachlässigt wie die seiner Mörder. Und er war unzweifelhaft tot. Die Dienerkreaturen hatten ihm derart viele Wunden zugefügt, daß er völlig ausgeblutet war. An seinem Hals sah Nona gleich mehrere Vampirmale. Das Mädchen dagegen lebte noch. Die Dienerkreaturen hatten sich, gesättigt nach dem Blut des Jungen, noch nicht einmal an ihr gütlich getan. Sie hatten ihr grausames Spiel mit ihr getrieben, wie eine Katze, die die Maus zu Tode hetzt, ohne sie zu fressen. Nona beugte sich zu dem Mädchen hinab und untersuchte es. Dabei blickte sie sich immer wieder um, aufs höchste wachsam. Die meisten Wunden waren nicht allzu schlimm, aber die Halsschlagader war ernsthaft verletzt. Nona riß ein Stück aus der Bluse des Mädchens und benutze es als provisorischen Preßverband. Auch dabei mußte sie sich beherrschen, sich nicht selbst von ihrem Wolfsinstinkt übermannen zu lassen. Sie konnte die junge Frau nicht hier liegenlassen. Wenn sie nicht binnen kurzer Zeit ärztliche Hilfe bekam, würde sie wirklich verbluten. Nona mochte in Vollmondnächten zwar zur Bestie werden, aber sie war nicht aller menschlichen Gefühle ledig. Außerdem hatte ihre Hilfe einen durchaus nützlichen Effekt: Das Mädchen konnte ihr gewiß verraten, was zum Teufel hier eigentlich los war. Nona brachte ihren Mund an das Ohr des Mädchens und sagte beschwörend: »Ich hole Hilfe, hörst du?« Ein Zucken durchlief den Körper der jungen Frau. Hatte sie Nornas Worte verstanden? »Halte durch, okay?« Nona blickte sich noch einmal forschend nach allen Seiten um. Nach wie vor schien kein Mensch den Vorfall bemerkt zu haben. In keinem der umliegenden Fenster war ein Licht angegangen. Nonas Blick fiel auf eine Telefonzelle, die etwa zweihundert Meter
entfernt an einer Straßenecke stand. Selbst aus der Entfernung machte sie einen demolierten Eindruck. Trotzdem war es einen Versuch wert. Nona sprintete los. Die Absätze ihrer Schuhe klackten hohl auf dem steinernen Asphalt und durchbrachen überlaut die dräuende Stille. Dann hatte sie die Telefonzelle erreicht. Die Scheiben waren eingeschlagen, zentimeterdicker Staub bedeckte den Boden. Sogar der Telefonapparat selbst und der Hörer waren staubbedeckt, als hätte seit Jahren niemand mehr von hier aus angerufen. Nona strich die Dreckschicht, die das Schild mit den Notrufnummern bedeckte, beiseite. Dann nahm sie den Hörer ab, obwohl sie längst keine Hoffnung mehr hatte, daß hier etwas funktionierte, und wählte die Nummer. Sie preßte die Muschel ans Ohr und lauschte. Die Leitung war nicht tot. Ein Rauschen war zu hören, obwohl es nicht unbedingt das war, was sie erwartet hatte. »Hallo? Ist dort jemand? Bin ich mit der Notrufzentrale verbunden?« Ein auf und abschwellender Ton war zu hören, der sie an das entfernte Heulen eines Wolfs erinnerte. Sie spürte, wie sich eine Gänsehaut auf ihrem ganzen Körper bildete. Dann drang ein Flüstern aus dem Hörer. Es war ein Chor Dutzender von Stimmen, zu denen sich mit jeder Sekunde mehr gesellten. »Wer ist dort?« fragte Nona abermals, während das Flüstern anschwoll. Nona wollte den Hörer absetzen, aber sie lauschte wie hypnotisiert den flüsternden Stimmen. NONA, wisperten sie im Chor. Es klang, als würden tausend welke Blätter zugleich von einem Baum fallen und den Boden berühren. »Wer seid ihr?« fragte sie – und wünschte sich zugleich, diese Frage lieber nicht gestellt zu haben. DIE SEELEN DER TOTEN. Das Wispern schwoll zu einem noch
vielstimmigeren Rascheln an. »Was wollt ihr von mir?« WAS WILLST DU VON UNS? DU HAST UNS GERUFEN. WIR WOLLEN NICHTS AUSSER EIN WENIG LEBEN. Das Wispern schien nun nicht mehr allein aus dem Hörer zu kommen. Es war allgegenwärtig. Die Luft war erfüllt von statischen Geräuschen und Entladungen. Entsetzt ließ Nona den Hörer fallen und floh aus der Telefonzelle. Sie versuchte die aufkommende Panik zu unterdrücken. Die junge Frau lag noch immer auf der Straße. Nona kehrte zu ihr zurück und beugte sich abermals über sie. Der Zustand der Verletzten war nach wie vor kritisch. »Du brauchst keine Angst zu haben«, sprach Nona beruhigend auf das Mädchen ein. »Ich lasse dich nicht im Stich.« »Antonio …« Wahrscheinlich meinte sie den jungen Mann, der tot auf dem Asphalt neben ihr lag. Nona gab keine Antwort. Sie konzentrierte sich darauf, den blutüberströmten Körper behutsam hochzuhieven. Zum Glück war er nicht allzu schwer. Das Mädchen schlug die Augen auf. Der glasige Blick verriet Nona, daß das Mädchen phantasierte. »Bowery …« »Was meinst du damit?« »Hilfe. Bowery. Eins. Fünf.« »Du meinst, wir können dort Hilfe für dich finden?« drang Nona in die junge Frau, der jedoch die Augen wieder zufielen, bevor sie antworten konnte. Wahrscheinlich handelte es sich um eine Adresse. Die Bowery war eine Straße in Little Italy. Nona war schon einmal dort gewesen, auch wenn es schon Jahre zurücklag. Wie sie es letztlich schafften, wußte Nona nicht, aber als sie die Bowery erreichten, war die Frau auf ihren Armen noch immer am Leben.
Die ganze Zeit über waren sie nicht einem einzigen Menschen begegnet, geschweige denn sonst einer Spur von Leben. Dafür aber einigen Untoten, vor denen sie sich aber hatten rechtzeitig verbergen können. New York schien nur noch von Dienerkreaturen bevölkert zu sein. Nona suchte mit raschen Blicken die Nummernschilder der Häuser ab. Die meisten Hausnummern waren jedoch kaum mehr zu lesen, als würde schon seit Ewigkeiten niemand mehr hier wohnen. Ein scharfer Pfiff ließ Nona innehalten. Aus den Schatten der Häuser schälten sich Gestalten. Innerhalb weniger Sekunden war Nona umzingelt. Jede Faser ihres Körpers rief nach Flucht, aber sie wußte zugleich, daß sie nicht den Hauch einer Chance haben würde. »Merda! Sie hat Sabrina in ihrer Gewalt!« Der Ring der Menschen schloß sich enger um sie. Sie konnte die Feindseligkeit und den Haß fast körperlich spüren. Gewehrläufe richteten sich drohend auf sie. Baseballschläger wiesen in ihre Richtung. »Sie braucht Hilfe«, sagte Nona. »Nachdem du sie so zugerichtet hast, Teufelin!« Offensichtlich glaubten diese Menschen, daß sie für den Zustand des Mädchens verantwortlich war. »Sie wurde von einer Horde –« Sie vermied im letzten Moment das Wort »Dienerkreaturen«. Diese Menschen würden es vermutlich nicht verstehen, »– blutrünstiger Kerle so zugerichtet. Ich konnte keine Hilfe finden, aber sie hat mir diese Adresse hier genannt. Wenn wir noch lange herumreden, stirbt sie!« Dies war wohl der Auslöser, daß die meisten der Menschen ihre drohende Haltung aufgaben, obwohl sie noch nicht völlig überzeugt waren. Ein massiger Mann um die sechzig kam auf Nona zu. Sein Gesicht hatte einen gutmütigen Ausdruck, der von einem langen buschigen Walroßbart noch verstärkt wurde. Der alte Armeehelm auf seinem Kopf und die Maschinenpistole in seinen Händen wirk-
ten seltsam deplaziert. »Sie ist meine Tochter. Wehe dir, wenn du uns belogen hast!« grollte er unter dem Bart hervor. Ein gezischter Ruf ließ ihn innehalten. »Wir sollten diese Frau über den Haufen schießen, Padre. Sie ist eine strega.« Der Vater des Mädchens bedachte den Rufer mit einem vernichtenden Blick. »Wen wir niederschießen und wen nicht, entscheide immer noch ich. Oder möchtest du das hier und jetzt ausdiskutieren, Mario?« Der Angesprochene senkte den Blick, während der Hüne durch ein Handzeichen weitere Männer in Bewegung setzte. Mit ein paar Schritten waren sie heran und nahmen Nona die Last ab. Von weit her erklangen Schreie. »Ich denke, wir sollten dich mitnehmen. Schon in deinem eigenen Interesse«, sagte der Mann und blickte Nona in die Augen. »Du bist keine strega. Aber du bist auch nicht wie wir. Ich weiß nicht, ob wir dir trauen können …« »Ich komme freiwillig mit«, sagte Nona. Vielleicht würde sie von diesen Leuten erfahren, was hier passiert war. »Dann sollten wir uns beeilen. Ich glaube nicht, daß wir noch lange unbehelligt bleiben. Sie riechen uns wie frisches Fleisch.« »Die Dienerkreaturen?« »So magst du sie nennen. Wir nennen sie Ungeheuer.« Dann hatte es der Vater des Mädchens plötzlich sehr eilig. Er drehte sich um und lief zu einem der Hauseingänge. Nona beeilte sich, ihm zu folgen. Ihre Fragen konnte sie später noch stellen. Die anderen der Gruppe folgten ihnen dichtauf. Eine Tür aus Stahl wurde direkt vor ihnen geöffnet. Der Hüne lief voran. Durch weitere Türen, die hinter ihnen sorgfältig wieder verriegelt wurden, ging es bis zu einem unterirdisch gelegenen Raum. Fackeln flackerten an den Wänden. Die Träger legten das Mädchen ab, während sich ein junger Mann,
der offensichtlich etwas von ärztlicher Kunst verstand, über die Bewußtlose beugte. »Sie muß in ein Krankenhaus!« sagte Nona. »Sie hat sehr viel Blut verloren.« »Krankenhaus?« fragte der Padre. »Wovon redest du? Du scheinst tatsächlich den Verstand verloren zu haben.« Nona preßte die Lippen zusammen. Es würde besser sein, wenn sie den Mund hielt. Zu vieles stimmte hier nicht. Durch unbedachte Fragen würde sie nur weiteres Mißtrauen wecken. Das Mädchen, Sabrina, stöhnte auf. Die allgemeine Aufmerksamkeit wandte sich wieder von Nona ab. »Wird sie durchkommen?« fragte der Padre den Mann, der seine Tochter untersuchte und die blutenden Wunden sorgfältig und professionell mit Mull verband. »Sie braucht Blutplasma, und das so schnell wie möglich, sonst kann ich nicht dafür garantieren, daß sie überleben wird.« »Unsere Blutvorräte sind verbraucht, das weißt du ebenso wie ich.« »Schick jemanden zu Leone. Ich habe gehört, daß er eine ganze Wagenladung Plasma und Medikamente eingetauscht hat.« »Wenn er weiß, um was es geht, wird er seinen Preis fordern.« »Zahle ihm, was er verlangt, Padre. Es geht um das Leben deiner Tochter!« Der riesige Mann ballte die Fäuste. »Hätte sie auf mich gehört, anstatt mit ihrem Liebhaber mitten in der Nacht davonzulaufen, wäre das alles nicht passiert! Aber du hast recht, dottore, ich habe keine andere Wahl.« Sein Blick fiel auf Nona. Plötzlich schien ihm eine Idee zu kommen. Seine Augen wanderten über ihren zwar zierlichen, aber nichtsdestotrotz reizvollen Körper. »Wir nehmen sie mit«, sagte er. »Vielleicht ist Leone ja zu einem kleinen Tausch bereit!«
Nonas Muskeln spannten sich, aber sie wußte, daß Widerstand zwecklos war. Es würde ihr nicht gelingen, an den Männern des Padre vorbei zu einem der Ausgänge zu gelangen. Sie mußte abwarten. Noch war sie nicht wirklich in Gefahr. Vielleicht würde sich unterwegs eine Möglichkeit zur Flucht bieten. »Ist das meine Belohnung dafür, daß ich deine Tochter gerettet habe?« fragte sie bitter. »Über deine Rolle in diesem Spiel bin ich mir noch nicht im klaren«, antwortete der Hüne. »Du wirst uns begleiten!« Er winkte zwei seiner Männer heran. »Nehmt sie in die Mitte und paßt auf, daß sie keine Dummheiten macht.« Dann ging er abermals voran. Nona fühlte sich vorwärtsgestoßen und folgte ihm. Wieder führte der Weg durch unendlich scheinende Kellergänge. Offensichtlich hatten diese Leute – Männer wie Frauen – sich hier unten ihr eigenes Reich geschaffen. Sämtliche Häuser und Straßenzüge waren unterirdisch miteinander verbunden. Stahltüren sicherten die einzelnen Trakte wie die Schotts eines Schiffes. Einige Keller waren zu Wohnungen ausgebaut, in anderen hausten die Bewohner wie Flüchtlinge. Und über allem schien der Padre zu herrschen. Ehrfurchtsvoll grüßte man ihn, während er mit Nona und den beiden bewaffneten Männern im Schlepptau vorbeihastete. Allmählich wurden die Gänge leerer. Dafür trafen sie immer wieder auf Wachtposten. Schließlich erreichten sie eine letzte Tür. Zwei mit Maschinenpistolen bewaffnete Männer sicherten sie. »Wie sieht’s draußen aus?« fragte der Padre. »Niemand zu sehen«, antwortete einer der Männer. »Aber ich traue dem Frieden nicht.« »Uns bleibt keine andere Wahl«, knurrte der Padre. »Öffnet die Tür!« Dann traten sie hinaus in die noch immer warme Nacht. Hinter ihnen wurde die Tür wieder ins Schloß geworfen. Der Padre ging mit
zielsicheren Schritten voran. Mehr als zuvor fiel Nona die Surrealität der Umgebung auf. Die Straßenzüge wirkten wie das altvertraute New York, aber nirgendwo brannte ein Licht. Weder hinter den Fenstern, noch war eine der zumeist zerborstenen Straßenlaternen beleuchtet. Einige Autowracks standen auf den Straßen herum. Von nirgendwoher waren Verkehrsgeräusche zu hören. Die Szenerie wirkte auf Nona so gespenstisch wie ein Film über die Zeit nach einem Atomkrieg. Wenn es noch Menschen gab, so hatten sie sich in den Kellern verbarrikadiert. Hier oben schienen nur Dienerkreaturen ihr Unwesen zu treiben. Ihr fröstelte. Wenn sie sich nicht täuschte, befanden sie sich noch immer in Little Italy. Viele Restaurants und Läden trugen italienische Namen. Allerdings wirkten auch sie schon seit Ewigkeiten verlassen.
* Endlich hielt der Padre vor einem unscheinbar wirkenden Gebäude an. Dem Firmenschild nach handelte es sich um eine Autowerkstatt. Das riesige Rolltor war verschlossen. Nirgendwo gab es eine Klingel. Der Hüne pochte mit seiner riesigen Faust gegen das Tor. Dabei schaute er fast ängstlich nach allen Seiten um sich, als fürchtete er, der Lärm würde die Dienerkreaturen anlocken. Nichts tat sich. »Leone. Ich bin’s, der Padre. Ich habe zwei meiner Leibwächter und eine Frau bei mir. Öffne das Tor, schnell!« »Seit wann hast du es so eilig, mit mir Geschäfte zu machen?« ließ sich eine Stimme vernehmen. Nona schaute hoch und erkannte ein fast vollständig unter einem wilden Vollbart verborgenes Gesicht, das aus einer Luke über dem Rolltor auf sie hinabblickte.
Gleichzeitig waren vom Ende der Straße plötzlich näherkommende Schritte zu hören. Im nächsten Moment bogen drei Gestalten um die Ecke. Dienerkreaturen! Es war nicht schwer, sie als solche zu identifizieren. Ihre Raubtierfänge gleißten im Mondlicht. Krallen krümmten sich zu fürchterlichen Waffen. Als sie die Männer und Nona erblickten, drang blutrünstiges Geheul aus ihren Kehlen. »Merda, Leone! Willst du uns hier verrecken lassen?« »Ich habe euch nicht eingeladen!« zischte Leone zurück. »Haut ab, bevor mir die Blutratten auf die Bude rücken!« Oben wurde das Fenster zugeschlagen. »Du verdammter …«, brüllte der Padre und hieb mit der Faust gegen das Rolltor. Seine beiden Begleiter wandten sich den näherkommenden Kreaturen zu. Angst war in ihren Gesichtern. »Wir müssen abhauen«, flüsterte einer dem Padre zu. »Unsere Waffen nutzen uns nicht viel.« »Das weiß ich selbst!« zischte der Padre. Abermals pochte er gegen das Tor und sagte mühsam beherrscht: »Okay, Leone, du hast deinen Spaß gehabt. Jetzt laß uns rein, verdammt noch mal! Es wird eng!« Und tatsächlich war nun von drinnen ein Geräusch zu hören. Sekunden später schob sich das Rolltor nach oben. »Schnell, kriecht durch!« Nona und die drei Männer warfen sich zu Boden und beeilten sich, der Aufforderung nachzukommen. Der Padre war aufgrund seiner Leibesfülle der letzte, der sich in Sicherheit brachte. Die Dienerkreaturen brüllten, um ihre sicher geglaubte Beute betrogen, auf und kamen herangestürmt. »Mach schon das verdammte Tor zu!« rief der Padre, kaum daß er unter den Lamellen durchgerollt war. Nona sah, wie Leone scheinbar ohne Eile einen Flaschenzug betätigte, der das Tor wieder nach unten gleiten ließ. Es hatte eben den
Boden erreicht, als von draußen bereits die Dienerkreaturen dagegenschlugen. »Das war knapp!« knurrte der Padre und funkelte seinen Retter wütend an. Leone stand in puncto Leibesfülle dem Hünen in nichts nach. Soweit es in seinem verwilderten Gesicht zu erkennen war, schien er spanischer oder mexikanischer Abstammung zu sein. Sein kahler Schädel bildete einen starken Kontrast zu seinem üppig wuchernden Bart. »Seit wann bist du so verrückt und besuchst mich mitten in der Nacht?« bellte Leone zurück. »Es ist dringend!« In knappen Worten erzählte ihm der Padre, was sich ereignet hatte. Leone rieb sich seinen Bart. »Medikamente und Blutplasma sind ein kostbares Gut«, sagte er. »Die Zeiten sind nicht besser geworden …« »Nenn mir deinen Preis!« »Du enttäuschst mich, Padre. Selbst ein gutes Geschäft macht nicht halb so viel Spaß ohne das Feilschen zuvor. Aber ich sehe ein, daß du es eilig hast.« Leone scheint sich bärbeißiger zu geben, als er in Wirklichkeit ist, dachte Nona. Immerhin hat er uns vor den Dienerkreaturen gerettet. Sie spürte, wie sich sein Blick auf sie richtete. Es war ihr nicht unangenehm, wie er sie taxierte. Sein kahler Schädel und wilder Bart gaben ihm etwas Barbarisches. Sein riesiger Körper war weniger massig als vielmehr muskulös. »Weshalb hast du sie mitgebracht?« fragte er den Padre. »Glaubst du, du kannst mich so bezahlen? Du solltest mich besser kennen.« »Betrachte sie als meinen Dank für schnelle Hilfe. Also, was ist der Preis?« »Konservendosen. Ich habe eine Bestellung aus höchsten Kreisen, die ich kaum abschlagen kann. Mir fehlen nur noch die Dosen …«
Fassungslos hörte Nona der Schacherei zu. Sie konnte es kaum glauben, daß es bei dem Preis, den Leone verlangte, wirklich nicht um Geld ging. Es war ein reines Tauschgeschäft. Medikamente und Plasma gegen Konservenbüchsen. Und sie als Zugabe obendrein. Nach fünf Minuten waren sich die beiden handelseinig. Der Padre versprach die Konserven zu liefern, und die Abmachung wurde per Handschlag besiegelt. Offenbar spielte die Ehre – Ganovenehre, dachte Nona – bei derlei Geschäften eine große Rolle. Leone ließ sie allein und kam nach einer Weile mit einem Sack voller Medikamente und dem verlangten Blutplasma zurück. Vorsichtig spähte einer der Leibwächter aus einer Luke nach draußen. »Die Ungeheuer scheinen sich verzogen zu haben. Wahrscheinlich war es ihnen zu langweilig, weiter dort draußen herumzulungern.« Nona war sich dessen nicht so sicher. Ihr Instinkt war schärfer ausgeprägt als bei diesen Menschen. »Sie sind noch da«, warnte sie. »Sie haben sich versteckt und warten nur darauf, daß das Tor geöffnet wird.« Der Padre sah sie stirnrunzelnd an. »Woher willst du das wissen? Diese Blutratten haben nicht mehr Verstand in ihren Schädeln –« »– als du selbst?« fuhr Nona frech dazwischen. »Mittlerweile solltest du gemerkt haben, daß ich anders bin als ihr. Glaub mir, ich spüre es, wenn Gefahr droht. Und da draußen ist Gefahr!« Für eine Sekunde sah es so aus, als wolle der Padre ihr die Respektlosigkeit mit einer Ohrfeige vergelten, aber dann nickte er stattdessen nur. »Vielleicht habe ich mich getäuscht, was deine Fähigkeiten angeht«, sagte er. »Wie auch immer, ich habe keine andere Wahl. Das Leben meiner Tochter steht auf dem Spiel. Wenn wir noch länger warten, ist es zu spät.« Er wandte sich an Leone. »Gibt es noch einen anderen Weg hinaus?«
Der Bärtige nickte. »Folgt mir.« Er ging voran und führte sie eine Treppe hinab in den Keller. Auch dieses Haus war wie eine Mäusehöhle mit unterirdischen Gängen versehen. Leone öffnete eine verriegelte Tür, die in einen weiteren Gang führte. »Biegt nach hundert Metern links ab und geht dann immer geradeaus. Ihr kommt am St. James Place wieder ans Tageslicht. – Und vergiß die Bezahlung nicht«, mahnte Leone. »Am besten gleich morgen früh!« Mit diesen Worten warf er die Tür hinter den drei Männern ins Schloß und verriegelte sie sorgfältig. Dann erst wandte er sich wieder Nona zu. »Laß uns nach oben gehen« sagte er. Nona folgte ihm. Sie sah noch keinen Grund, sich ihm entgegenzustellen. Der Alptraum, in den sie geraten war, ließ sich in der Sicherheit seines Hauses noch am ehesten ertragen. Und vielleicht würde sie auch endlich Antworten erhalten. Nur aus diesem Grund hatte sie diesen Menschenhandel über sich ergehen lassen. Doch wenn der Bärtige dachte, sie wäre ein zahmes Hauskätzchen, würde sie ihm ihre Wolfskrallen zeigen! Oben angelangt, befahl Leone ihr, sich zu setzen. Nona sah sich um. Der Raum, in den er sie geführt hatte, erinnerte mehr an einen Lagerraum als an ein Wohnzimmer. Dennoch schien sich Leone hier ganz wohl zu fühlen. Er machte eine ausholende Handbewegung. »Ich bin Händler«, sagte er. »Ich handle mit allem, was sich eintauschen läßt. Du wirst es nicht glauben, aber ich habe sogar Kunden unter ihnen.« Er wies nach draußen. »Du meinst … die Kreaturen?« fragte Nona ungläubig. Leone nickte. »Selbst diese Blutratten brauchen ab und zu Dinge, die nur Leone ihnen geben kann.« Nona konnte sich denken, mit was er handelte. »Keine Angst«, fuhr er fort. »Ich habe sie erst vor ein paar Tagen
bezahlt. Dafür lassen sie mich in Ruhe. Und das ist keine Selbstverständlichkeit in diesen Zeiten.« Er sah sie scharf an. »Außerdem bin ich mir nicht sicher, ob sie mit dir etwas anfangen können. Wer – oder sollte ich fragen: was bist du wirklich?« Nona setzte ein unschuldiges Lächeln auf. »Was glaubst du, wer ich bin?« Mit einer blitzschnellen Bewegung, die sie ihm nicht zugetraut hatte, griff er nach ihrem Hals und drückte leicht zu. »Du bist in meinem Haus, also stelle ich hier die Fragen!« sagte er. Seine Hand glitt von ihrem Hals über ihre Brüste. Es war keine Begierde in seinem Griff, sondern allein die abschätzende Geste eines Menschenhändlers. Nona ließ es geschehen. Es wäre dumm gewesen, ihn zu reizen, gerade jetzt, wo die Sache ins Rollen kam. »Ich habe New York anders in Erinnerung«, sagte sie. »Nachts waren die Straßen zwar auch nicht gerade sicher, aber keine Dienerkreatur hätte es gewagt, sich offen zu zeigen. Was ist passiert?« Leone sah sie stirnrunzelnd an. »Du redest wirres Zeug. Ich sollte dich wieder zurück auf die Straße schicken«, sagte er schließlich. »Oder gleich zu Anum.« Anum! Woher kannte dieser gewöhnliche Mensch den Namen des letzten überlebenden Kelchhüters? Nona mußte an sich halten, um Leone nicht noch mißtrauischer zu machen. »Wer ist Anum?« fragte sie. »Ich glaube diesen Namen schon einmal gehört zu haben.« »Merda! Was für eine Verrückte hat mir der Padre da ins Nest gesetzt?« wetterte Leone. »Es gibt nur einen Anum! Jeder lebende Mensch kennt seinen Namen! Schließlich verdanken wir dieses Chaos, das seit Jahren herrscht, ihm!« »Ich verstehe nicht …«, sagte Nona. »Du behauptest nicht zu wissen, daß Anum sich zum Herrscher der Welt aufgeschwungen hat, nach dem großen Vampirkrieg? Er und seinesgleichen beherrschen nicht nur New York, sondern wahr-
scheinlich die gesamte Menschheit …« »Der große Vampirkrieg?« hakte Nona nach. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken. Wo zum Teufel war sie hier gelandet? In der Zukunft? Auf einer Parallelwelt? Leone sah sie zweifelnd an. »Du scheinst tatsächlich loco zu sein, Mädchen. Ich spreche von dem Vampirkrieg 2002. Das ist jetzt acht Jahre her. Willst du mir weismachen, du hättest so lange geschlafen?« Geschlafen … Das Wort hallte in Nona wider. War dies die Erklärung für all das? Sie erinnerte sich noch gut daran, wie Chiyoda sie nach einer schweren Verletzung in einen Tiefschlaf versetzt hatte, in dem sie sich regenerieren konnte. War dies wieder geschehen? Hatte sie in einem Kampf so schwere Verletzungen davongetragen, daß Chiyoda sie ganze zwölf Jahre lang hatte schlafen lassen? Wie auch immer, sie durfte nicht einfach resignieren. Vor allen Dingen mußte sie mehr herausfinden. Doch Leone schien nicht daran interessiert, sich länger mit einer Verrückten abzugeben. Er wandte er sich um und begann einen weiteren Sack zu packen. »Was hast du vor?« fragte Nona. »Geschäfte« knurrte er. »Zumindest das hat sich auch seit Anums Herrschaft nicht geändert: Die besten Geschäfte macht man nun mal nachts.« Bevor Nona protestieren konnte, hatte er ihr ein Paar Handschellen umgelegt und kettete sie an einem an der Wand entlangführenden Wasserrohr fest. Dann verschwand er durch eine Tür in den Keller. Nona blieb ratlos und verwirrt zurück.
* Verlangend schaute die Frau auf Kierszans Glied, das sich unter sei-
ner Hose abzeichnete, während ihr seidener Morgenmantel zu Boden sank. »Ich heiße übrigens Elenore«, sagte sie. Kierszan spürte, wie sein Mund trocken wurde. Diese Frau war nicht nur schön, sie wußte auch einem Mann Appetit zu machen. »Warum machst du es dir nicht auch etwas bequem?« fragte sie. »Du brauchst keine Angst zu haben, wir sind ganz unter uns.« Sie griff nach einer Flasche Champagner, die in einem Kühler bereitstand, und schüttete zwei Gläser ein. Das Bild des überschäumenden Getränks erinnerte Kierszan an einen Orgasmus. Wie in Trance fingerte er am Gürtel und entledigte sich seiner Kleider. Sein Körper starrte vor Schmutz und Blut, aber der Frau schien dies nichts auszumachen. Im Gegenteil, es schien den animalischen Trieb in ihr erst recht zu wecken. Sie winkte ihn heran und ließ ihn auf dem Diwan niedersinken. Dann träufelte sie den Sekt aus ihrem Glas auf seinen Körper und leckte die Tropfen mit ihrer hurtigen Zunge ab, den Spuren des Blutes folgend. Kierszan gab ein Stöhnen von sich, als sie sich schließlich bis zu seinen Lenden vorgearbeitet hatte. Kurz bevor er die Beherrschung verlor, ließ sie von ihm ab. »Und jetzt zeig du, was du kannst!« verlangte sie. Kierszan nahm die Flasche und ließ den Sekt über ihre großen Brüste rieseln. Mit seiner Zunge leckte er das prickelnde Naß ab. Als nächstes schüttete er ein paar Tropfen in ihren Nabel und schließlich auf ihre Scham. Nun war es an der Frau zu stöhnen. »Nimm mich!« verlangte sie, während er die prickelnden Bläschen wegleckte. Sie schlug ihm die Sektflasche aus der Hand, als er ihren Willen nicht sofort erfüllte, ergriff sein strammes Glied mit beiden Händen und wies ihm den Weg zu ihrer Grotte, in die er mit der nur mühsam zurückgehaltenen Animalität seiner Rasse eindrang. Elenore schrie auf, während er seinen Rhythmus steigerte. Das
Glücksgefühl in ihrem Schoß erreichte einen ersten Siedepunkt. Sie erwiderte jeden einzelnen seiner harten Stöße, bis sie schließlich keuchend zum Höhepunkt kam. Kierszan, der sich bis dahin noch zurückgehalten hatte, verstärkte seine eigenen Bemühungen, bis die Frau ihn von sich stieß. »Du bist ein Naturtalent«, lobte sie ihn, »aber ich brauche ein paar Minuten Pause.« Sie kniete sich vor ihn hin. Ihre schweren Brüste schaukelten aufreizend. Ihr halbgeöffneter Mund näherte sich seiner hochgereckten Männlichkeit. Ihre weichen, vollen Lippen bereiteten Kierszan tausend Wonnen. Noch nie hatte eine Frau ihn derart kundig geliebt. Sekunden später kam auch er zum Höhepunkt. Aber noch immer hatte die Frau Appetit, und auch Kierszans wollte noch nicht von ihr lassen. Rittlings setzte sie sich auf ihn und begann ihn zu reiten. Nachdem es ihr ein weiteres Mal gekommen war und sich auch Kierszan unter ihr aufbäumte, sank sie ermattet von ihm herab. »Wenn du möchtest, kann ich öfters nach dir schicken«, sagte sie. »Du hast dich nicht ungeschickt angestellt.« Kierszan sah sie entsetzt an. »Heißt das, ich werde wieder in die Kammer zu den anderen geworfen?« Elenore sah ihn spöttisch an. »Glaubst du etwa, du hast dir durch deine bescheidenen Bemühungen deinen Entlassungsschein verdient? So gut warst du nun auch wieder nicht.« Das war deutlich. Für sie war er nicht mehr als ein williger Sklave. Kierszan mußte an sich halten, um sich nicht auf sie zu stürzen. Er beherrschte sich im letzten Moment. Die draußen wartenden Wächter würden ihn in Stücke reißen – oder Schlimmeres. »Was passiert mit mir und den anderen?« fragte er. »Ich bin seit zwei Monaten in diesem Loch.« Elenore sah ihn berechnend an. »Als Werwölfe seid ihr kostbar, wußtest du das nicht? Euer Tod ist sehr gefragt in gewissen Krei-
sen.« Kierszan hatte davon gehört, es aber nicht glauben wollen. Viele seiner Rasse waren in den letzten Jahren verschleppt worden. Man munkelte, daß Anum und seine Gefolgsleute die Werwölfe systematisch ausrotten wollte, weil er keine Macht neben sich duldete. »Warum bringt ihr uns nicht einfach um?« fragte er verbittert. »Warum quält ihr uns zuvor, indem ihr uns einsperrt?« Elenore rekelte sich und gähnte dabei demonstrativ. »Mein werter Gemahl hat eine reiche Einkommensquelle entdeckt. Es gibt unter den Anhängern Anums eine Oberschicht, die Gefallen daran findet, euch in privaten Spektakeln einander töten zu sehen. Soweit ich weiß, zahlen sie sehr gut.« Kierszan ballte die Fäuste. Das also hatte man mit ihnen vor: Gladiatoren sollten sie sein wie dereinst im alten Rom! »Du brauchst mich gar nicht so blutrünstig anzusehen«, sagte Elenore. »Es ist mein Mann, der die Geschäfte macht.« »Aber du profitierst davon«, knurrte Kierszan. »Und hast dazu noch dein billiges Vergnügen.« »Na und? Du langweilst mich. Ich denke, wir sollten unser Rendezvous jetzt beenden.« Kierszan spuckte aus. »Was geschehen ist, kann ich nicht leugnen«, stieß er hervor. »Aber wage nicht, mich von deinen Lakaien noch ein zweites Mal rufen zu lassen. Du würdest es nicht überleben, Hure!« »Wache!« Die Zimmertür öffnete sich, und die Wächter kamen herein. Offensichtlich hatten sie nur auf ihr Stichwort gewartet. »Wen ich zu mir bestelle und wen nicht, das bestimme immer noch ich selbst!« sagte die Frau. Sie hatte sich erhoben und kam langsam näher. Ihr makelloser Leib, gezeichnet von der Spuren des
ausschweifenden Liebesspiels, war noch immer nackt. Sie stellte sie sich vor ihm hin, während auf ihr Zeichen hin zwei der Wachen Kierszan festhielten. Ihre nadelspitzen Fingernägel fuhren mit einer raschen Handbewegung über sein Gesicht und seine Brust und rissen eine tiefe Furche. »Damit du mich in der Zwischenzeit nicht vergißt«, sagte sie. Kierszan unterdrückte nur mit Mühe ein schmerzhaftes Stöhnen. Dann wurde er abgeführt. Widerstandslos ließ er sich durch die Gänge leiten, während die Wächter üble Scherze zum Besten gaben und ihr gemeines Lachen von den kahlen Wänden widerhallte. Sie führten ihn in eine Einzelzelle, die höchstens zwei mal zwei Meter groß und bis auf eine vergitterte Öffnung in Deckenhöhe fensterlos war. Kierszan schrie und bäumte sich unter dem Griff der Wachen auf, aber er kam gegen ihre Übermacht nicht an. Mit Knüppeln hieben sie auf ihn ein, bis er resignierend Ruhe gab. Schluchzend sank er auf dem kalten Zellenboden in sich zusammen, während die Tür ins Schloß fiel. Er war allein. Zum ersten Mal, seit er auf der Straße aufgegriffen und in dieses Gefängnis gesperrt worden war, war er allein. Bislang hatte der Zusammenhalt mit den anderen seiner Rasse ihn davor bewahrt, wahnsinnig zu werden. Und die Verantwortung für Rudnik davor, zu resignieren. Er fragte sich, was aus Rudnik geworden war. Hatte man ihn ebenfalls in eine Einzelzelle gesteckt? Oder noch Schlimmeres mit ihm angestellt? Tausend Gedanken rasten durch seinen Kopf. Vor allen Dingen aber der eine: Er mußte raus hier! Er schaute hinauf zum Zellenfenster. Draußen herrschte noch immer finstere Nacht. Der Mond war gut zu sehen. Bis zu seinem vollsten Rund würde vier weitere Tage ins Land gehen. Mehr denn je sehnte er es herbei. Der Mond war sein Vertrauter, der ihm Stärke und Zuversicht gab. Und diesmal würden keine Ketten ihn daran
hindern, sich seine Freiheit zu erkämpfen! Oder kämpfend unterzugehen … Während er noch finsteren Rachegedanken nachsann, spürte er plötzlich, daß er nicht mehr allein war. Er fuhr herum. Es war unmöglich! Die Zelle war so winzig, daß er den Mann, der nun vor ihm stand, von Anfang an hätte bemerken müssen! Er war alt und asiatischer Abstammung und wirkte auf eine erhabene Art wie ein Weiser. »Wer bist du?« fragte Kierszan. »Mein Name ist Chiyoda«, antwortete der Fremde. »Ich bin gekommen, um dich vorzubereiten, mein Freund. Ich sehe Kräfte in dir, die eines Tages eine bedeutende Rolle spielen werden.« Die Bedeutung der Worte war geheimnisvoll: Kierszan glaubte in den Augen des Mannes zu versinken. Die Wände der Zelle drehten sich um ihn wie ein Kreisel, der in irrsinnigem Tempo schneller und schneller wurde und ihn in einen schwarzen Schlund des Vergessens riß. Dort, tief unten am Abgrund der Zeit, sah er seine eigene qualvolle Vergangenheit …
* Kierszans Erinnerungen Das Übernatürliche streifte mein Leben wie ein Blitz. Aus heiterem Himmel. Zwar waren die Verletzungen, die ich davontrug, nicht äußerlicher Natur, dafür reichten sie um so tiefer. Sie hatten sich eingebrannt in meine Seele. Ich war wie verzaubert, als ich bei der Collegefeier der Schwester meines Klassenkameraden Peter Cline zum ersten Mal begegnete. Pamela war zwei Jahre jünger als ich und trug ein langes schwarzes Seidenkleid, das ihre mädchenhafte Figur reizvoll zur Geltung
brachte. Ich verliebte mich augenblicklich in sie. An jenem Abend wich ich ihr nicht mehr von der Seite. Ich war überglücklich, als es mir gelang, sie zum Tanzen zu bewegen. Dabei blieb mir nicht verborgen, daß die Begeisterung leider einseitig blieb. Selbst während des Tanzens schien ihr Interesse einem anderen meiner Mitschüler zu gelten: Damon Clint. Er war nicht nur der Klassenbeste und Jahrgangssprecher (dank der Stimmen sämtlicher Mädchen), sondern verfügte über eine natürliche Überlegenheit. Außerdem war er einer dieser ewig lächelnden und gutgelaunten Cary-Grant-Typen, auf den die Mädchen nun mal flogen. Er fuhr einen roten Porsche, den ihm seine Eltern schon vor dem Collegeabschluß geschenkt hatten. Ich war zwar keine Mißgeburt, aber allmählich kam ich mir so vor. Erst recht, als Pamela gleich nach dem ersten Tanz mit mir wieder von der Tanzfläche eilte. »Tja, gegen Damon hast Du keine Chance, alter Junge. Der hat an jedem Finger fünf Freundinnen, und trotzdem macht keiner etwas aus. Noch nicht mal meiner Schwester«, versuchte mich Peter zu trösten. Wenigstens einer, der zu mir hielt. »Kannst Du bei Pamela nicht ein gutes Wort für mich einlegen?« »Zwecklos!« sagte Peter. »Schau, er hat sie schon in seinen Fängen.« Tatsächlich drehten sich die beiden bereits auf der Tanzfläche. Das heißt, sie schmiegten sich mehr zusammen, als daß sie tanzten. Ich hätte den Discjockey, der »Nights in White Satin« aufgelegt hatte, erwürgen können. Aber Damon war ein Günstling der Götter. Wenn er ein Mädchen zum Tanzen aufforderte, dann wurden die Geschwindigkeitsregler quasi eine Stufe niedriger gestellt. Ich beschloß, zumindest was meine Person anging, die Collegefeier für gescheitert zu erklären und meinen Liebeskummer an der improvisierten Bar zu ertränken.
Es war gegen zehn Uhr, als ich aus den Augenwinkeln mitbekam, daß Damon und Pamela die Party verließen und die Treppe zum Foyer hinabgingen. Innerhalb eines Augenblicks beschloß ich, den beiden zu folgen. Ich weiß nicht, was ich mir davon versprach. Vielleicht wollte ich nur Gewißheit, daß Pamela unerreichbar für mich blieb. Oder die, daß Damon ein Scheusal war. Vielleicht war es auch nur der unheilvolle Drang in uns Menschen, uns selbst Verletzungen beizubringen. Vor allen Dingen solche, die psychischer Natur waren. Nun, erst einmal durfte ich physischen Schmerz auskosten. Ich geriet auf den Stufen der Treppe ins Stolpern, stürzte und rollte bis zu deren Fuß. Als ich mich wieder aufrappelte, am ganzen Körper verbeult, aber immerhin ohne gebrochene Knochen und nunmehr auch wieder nüchtern, sah ich gerade noch, wie die beiden in Damons Porsche stiegen und mit aufheulendem Motor vom Schulhof brausten. Sie kamen ungefähr zwanzig Meter weit. Damon bog gerade auf die Hauptstraße ein, als ein von einem verhinderten Rennfahrer gelenkter Chevrolet ohne Licht den roten Porsche seitlich rammte und zum Überschlagen brachte. Ein paar Sekunden später gingen beide Wagen in Flammen auf, während ich wie gelähmt dastand und mit tränenerfüllten, weit aufgerissenen Augen in das Inferno starrte. … weit aufgerissenen Augen in das Inferno starrte. … in das Inferno starrte. … starrte.
* »Mein Gott, das ist doch kein Grund zum Heulen!« hörte ich Peter sagen. »Gegen Damons Charme bist du halt machtlos.« Ich stand wieder an der Bar!
Ich war fassungslos, rieb mir über die noch immer tränenden Augen, bis ich sicher war, nicht zu träumen. An der gegenüberliegenden Seite des Saals sah ich Damon und Pamela an der Garderobe stehen. Damon half Peters Schwester gerade in den Mantel. Was war mit mir los? Hatte ich alles nur phantasiert? Die beiden hatten die Feier noch gar nicht verlassen! »Ich glaub’, ich hab’ zuviel getrunken«, sagte ich mit schwerer Zunge. »Den Eindruck habe ich allerdings auch«, sagte Peter. Noch immer wuchs meine Verwirrung. Ich fühlte Schmerzen am ganzen Körper, als wäre ich tatsächlich die Treppe hinuntergestürzt. Bildete ich mir auch das nur ein? Wahrscheinlich war ich noch immer nicht ganz wieder in der Realität. Trotzdem wußte ich eines mit aller Klarheit: Pamela durfte nicht in Damons roten Porsche steigen! Weil sie dann sterben würde. Die beiden erreichten bereits das Foyer, als ich mich aus meiner Erstarrung löste und ihnen hinterher stürmte. »Pamela! Halt!« rief ich und kam mir dabei wie in einem drittklassigen College-Film vor. »Du darfst nicht mit ihm fahren!« Die beiden drehten sich zu mir um. Damon tippte sich mit dem Finger bezeichnend an die Stirn. »Wohl zuviel gebechert, was, Kierszan? Man sollte sich zurückhalten, wenn man keinen Alkohol verträgt.« Auch das Mädchen sah mich nur mitleidig an. Es war ein Blick, den ich kaum ertrug. Mein Schritt geriet ins Stocken. »Ich … ihr …« Was sollte ich nur sagen, um sie aufzuhalten? »Komm, lassen wir den Spinner!« meinte Damon und zog Pamela mit sich. »Aber ihr dürft nicht gehen!« rief ich verzweifelt. Damon lachte nur. Mit drei Schritten hatte ich ihn erreicht und riß ihn herum. »Du kannst meinetwegen allein fahren, aber nicht mit Pamela!«
»Also gut, du willst es nicht anders!« stieß er hervor. Wut blitzte in seinen Augen. Er holte zum Schlag aus. Ich spürte, wie er mich genau zwischen den Augen traf. Normalerweise hätte mich ein Schlag dieses Kalibers wohl ausgeknockt. Nicht so an diesem Abend. Außer den Schmerzen meines imaginären Sturzes spürte ich nichts. Ich schlug zurück und sah den Unglauben in seinen Augen – bis er stöhnend zu Boden ging. »Komm mit!« befahl ich Pamela und zog sie ins Freie. Sie schrie und sträubte sich, während es keiner der Umherstehenden wagte, sich mir entgegenzustellen. Natürlich habe ich mich später mehr als einmal gefragt, warum ich Pamela nicht einfach meine wahre Motivation erklärte. Wahrscheinlich, weil sie mir gar nicht zugehört oder mich schlichtweg für verrückt erklärt hätte. Ich ahnte intuitiv, daß es nur diesen einen Weg gab, um Pamela vor dem zu bewahren, was ich vorausgesehen hatte. Ich mußte sie von Damon fortschaffen. Notfalls mit Gewalt. Ich zog sie über das Collegegelände, erreichte mein Motorrad und zwang Pamela, auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen. Sie wagte nicht mehr zu widersprechen. Wahrscheinlich war sie zu der Überzeugung gelangt, es wirklich mit einem Irren zu tun zu haben, dem man besser gehorchte. Ich startete mein Motorrad. Gerade rechtzeitig, denn ich sah, daß Damon Clint sich in seinen Porsche warf und die Verfolgung aufnahm. Den Rest hatte ich in meiner Vision vorausgesehen, die sich auf schreckliche Weise bewahrheitete. Ich war hundert Meter weit gekommen, als ich hinter mir ein fürchterliches Krachen vernahm. Ein Chevrolet hatte den Porsche gerammt, als dieser gerade das Collegegelände verlassen hatte. Augenblicke später gingen beide Wagen in Flammen auf.
* Für die meisten war die Sache klar: Hätte ich keinen Streit begonnen und Pamela gezwungen, mit mir zu kommen, wäre Damon nicht hinter uns hergefahren. Er würde noch leben. Ich stand unter Schock. Es dauerte Monate, bis ich die Ereignisse dieses einen Abends halbwegs verdaut hatte. Bis ich der Erklärung eines Psychologen vertraute, der mich über die Präkognition, das Vorauswissen zukünftiger Vorgänge, aufklärte. Und dem es schließlich, nach endlos vielen Sitzungen, gelang, mich von meinen Schuldgefühlen zu befreien. Vielleicht trug dazu bei, daß Peter mein bester Freund wurde. Irgendwann erzählte ich ihm die Geschichte aus meiner Sicht – und er glaubte mir. Seine Schwester Pamela verzieh mir nie. Wenn wir uns begegneten, konnte ich sicher sein, daß sie wutentbrannt auf dem Absatz kehrt machte. Ich mied diese unerfreulichen Begegnungen und ließ es bei den wenigen Malen bewenden, an denen wir uns über den Weg liefen. Das Fatale war nur: Ich liebte sie noch immer. Aber allmählich hörte auch dieser Schmerz auf.
* »Willkommen im Geisterhaus!« intonierte Peter mit grabesdüsterer Stimme und schlug schwungvoll die alte hölzerne Eingangstür nach innen. Jane und ich folgten seiner Einladung nur zögernd, denn ein unglaublicher Gestank kam uns entgegen. Der Schwung war wohl allzu heftig gewesen, denn die Tür prallte gegen die Wand, und gleich fielen ein paar Pfund Putz herab auf den Dielenboden. Es war
fast wie ein Willkommensgruß – einer der makabren Art, der mich an rieselnden kalten Schnee erinnerte, in dem unsere Schuhe nun ihre Spuren hinterließen. »Nicht so stürmisch«, warnte ich Peter. »Nachher fällt noch der ganze alte Kasten über uns zusammen. Wäre schade um das Sümmchen, das du in diese Ruine gesteckt hast.« »Keine Angst. Das Haus ist zwar schon über hundert Jahre alt, aber unsere Vorfahren verstanden es, solide zu bauen. Diese Mauern hier …« Er klopfte bestätigend gegen die Wand, was aber nur zur Folge hatte, daß weitere Kalkkaskaden herabrieselten. Trotz unserer Hustenanfälle ließ sich Peter nicht beirren: »Kein Vergleich mit deiner Sozialbau-Bude.« »Da sei dir mal nicht zu sicher,« widersprach ich. »Ich wette, wenn hier die erste Wasserleitung platzt und die alten Elektroleitungen durchgeschmort sind, wirst du mich händeringend anflehen, meine Eigentumswohnung mit diesem Verlies zu tauschen!« »Jetzt geht doch erst mal weiter. Streiten könnt ihr später noch! Denkt daran, was wir uns für dieses Wochenende vorgenommen haben!« ermahnte uns Jane, Peters bessere Hälfte. Dies war sie im wahrsten Sinne des Wortes, denn im Gegensatz zu ihm war sie eine rotblonde Schönheit, die so gar nicht zu seiner Peter-Lorre-Physiognomie zu passen schien. Obwohl sie im nächsten Januar ihren fünfundzwanzigsten Geburtstag feiern würde, ging Jane noch immer mühelos als Teenager durch. Dabei hatte sie eine Figur mit genau den richtigen Proportionen, die ein zweites Hinsehen zum Vergnügen machten. Selbst wenn sie wie an diesem Tag einen weitgeschnittenen, unförmigen Parka trug, war sie ein Blickfang. Mehr als einmal ertappte ich mich bei dem Gedanken, ihre langen rotblonden Haare in meine Hände zu nehmen und ihren seidigen Glanz zu spüren. Wenn die beiden nicht anwesend waren, nannten wir sie immer
nur »Die Schöne und das Biest«. Nun ja, Peter war zwar nicht gerade der Glöckner von Nôtre Dame, doch gegen etwas so Vollkommenes wie Jane wirkte er einfach deplaziert. Aber das war wohl das Geheimnis ihrer Beziehung: der existierende Beweis dafür, daß sich Gegensätze tatsächlich anziehen. Und das seit immerhin schon seit sieben Jahren. Peter drückte den Lichtschalter, und es erschien mir wie ein Wunder, daß tatsächlich eine düstere Deckenlampe aufflammte. Dunkle, bizarre Schatten, die ihren eigentlichen Ursprung in der verwinkelten Architektur hatten, entstanden in Dutzenden von Ecken und Erkern, die kaum ein Ebenmaß zuließen oder gar auf bewußt geplante Ordnung schließen ließen. Draußen war es zwar noch heller Nachmittag, aber zumindest in dem Korridor war es ohne Licht stockdunkel gewesen. Obwohl er so riesig wie eine Halle wirkte, gab es nirgendwo ein Fenster oder einen Lichtschacht nach draußen. Das wenige Licht, das hereinfallen konnte, kam durch den Vorflur. »Die alte Dame, der das Haus gehörte, hat bis vor zwei Wochen noch selbst hier gewohnt«, sagte Peter. »Deswegen sind auch der Strom und das Wasser nicht abgestellt worden. Über kurz oder lang kann natürlich zumindest die Elektrik hier ihren Geist aufgeben. Ist alles uralt und brüchig. Genau wie die Wasserrohre. Von denen weiß ich nicht mal, wo sie genau herlaufen. Es gibt nämlich keine Pläne mehr. Na ja, ich will froh sein, daß wir heute schon mit der Renovierung anfangen können. Es kam ja alles ein wenig plötzlich …« »Das hast du mir noch gar nicht richtig erzählt«, meinte ich. »Diese Frau.« »Die alte Petrikowski …« »Genau. Woran ist sie eigentlich gestorben?« »Unterhalten wir uns später darüber«, drängte Jane und schob mich weiter. »Geradeaus ist die Küche, wenn ich mich recht erinne-
re. Wenn wirklich noch alles funktioniert, mache ich uns erst mal einen Tee.« »Scheint ja alles sehr geheimnisvoll zu sein«, konnte ich mir nicht verkneifen. »Immer wenn ich dieses Thema anschneide, vertröstet ihr mich auf später.« »Wir wissen halt selbst noch nichts Genaues«, sagte Jane. »Und außerdem haben wir jetzt doch ganz andere Sorgen, oder nicht?« »Wichtig ist vor allem«, sagte Peter, »daß wir das Haus möglichst schnell in Schuß bekommen, um hier einigermaßen erträglich hausen zu können. Alles andere ist mir, ehrlich gesagt, im Moment egal …« Ich gab mich damit zufrieden, obwohl ich es mir in meinem Hinterkopf notierte, den beiden zu einem günstigeren Zeitpunkt auf den Zahn zu fühlen. Sie verheimlichten mir etwas, das spürte ich. Vielleicht hatten sie der alten Dame mehr zugesetzt, als sie selbst wahrhaben wollten. Vielleicht hatte sie sich gar nicht freiwillig von diesem Haus lösen können. Und vielleicht fühlten sie sich dadurch gar mitschuldig an ihrem plötzlichen Tod … Aber Peter hatte recht: Wichtiger war, daß wir unsere Gedanken jetzt darauf konzentrierten, wie wir hier am effektvollsten »Klar Schiff« machten. Dafür war ich schließlich mitgekommen. Alte Freunde ließ man nicht im Stich. (Außerdem wußte man nie, wofür man sie noch einmal brauchen konnte …) Wir waren fast eine Stunde gefahren, durch strömenden Regen und über schmale, glitschige Landstraßen, ehe wir Wolfham erreicht hatten. Wolfham, das war für mich früher nur ein Name gewesen. Eine unbedeutende Kleinstadt, eingemeindet irgendwann in den Siebzigern, und weit abgelegen. Erst von Peter hatte ich erfahren, daß hier eine umfangreiche Schlittenhundezucht betrieben wurde. Außerdem gab es entlang des schmalen, schmutzigen Flusses etliche metallverarbeitende Fabriken, die sich in dem Tal angesiedelt hatten,
heute aber größtenteils verfallen waren oder kurz vor dem Konkurs und der Stillegung standen. Es war eine Reise in eine andere Welt gewesen: Als wir aus New York losgefahren waren, hatte dort gerade die freitagnachmittägliche Rushhour begonnen. Das Leben brandete durch die Straßen. Hupende Autos, aus den Büros strömende Angestellte, hastig ihre Wochenendeinkäufe tätigende Passanten. New York, das war die funkelnde Vorzeigeseite der Medaille, und Wolfham die ländliche, abgelegene Kehrseite davon. Seltsamerweise konnte ich das Bild der Rushhour nicht aus meinen Gedanken verbannen, so als wünschte ich mich mit aller Kraft in die von Leben erfüllte City zurück. Peter und Jane hatten mich mit ihrem riesigen Kombi direkt aus der Uni abgeholt, damit wir keine Minute verloren. Trotzdem hatten wir vor fast jeder Ampel scheinbar endlos warten müssen, und im nachhinein kam es mir fast wie vom Schicksal gesteuert vor: Als hätte der unsichtbare Geist des Molochs Stadt uns in letzter Minute noch vor Wolfham bewahren wollen. Jede Stadt hat ihre Schatten. Damit meine ich nicht die häßlichen Baracken, die Arbeitersiedlungen oder die tristen Hochhaussilos von Wolfham, sondern etwas ganz Spezielles. Ein Gefühl, das man nicht beschreiben kann, wie einen dunklen Flecken auf der weißen Weste. Etwas, vor dem man – selbst wenn man in New York aufgewachsen war und glaubte, alle Tiefen des Daseins zu kennen – zurückschrak. Ich hatte, als die beiden mich abholten, bereits den Koffer fürs Wochenende gepackt. Es fiel uns schwer, ihn auf der Ladefläche zu verstauen, die vollgepackt war mit Werkzeugen, Farbeimern und was man noch alles brauchte, um der Leiche eines alten Hauses ein einigermaßen erträgliches Make-up zu verpassen. Selbst das Dach war überladen, vollgeschnürt mit Kisten und Kästen, in denen sich alles Mögliche verbergen mochte. Auf den ersten Blick schien es so, als wollten Peter und Jane für ein halbes Jahr verreisen, mit möglichst
viel Schmuggelware. Aber Peter war halt ein Perfektionist, der nichts dem Zufall überließ. Mein Aufenthalt in Wolfham würde dagegen nur zwei Tage dauern, und wenn mir wirklich die ganze Atmosphäre zu bedrückend würde, dann könnte ich mich mit einem Vorwand immer noch verdrücken oder zumindest abends nach Hause fahren und dort übernachten.
* Die Räume in der unteren Etage des Hauses schienen riesig; schon der Korridor hatte etwas Kathedralenhaftes – jedoch ohne Erhabenheit oder gar Stil. Es war einfach die Höhe, die Größe, die man, wenn man draußen vor dem alten Haus stand, gar nicht vermutet hätte. Aber auch das hatte dieses Gebäude mit einer Kathedrale gemein: Je unscheinbarer sie von außen wirken, desto beeindruckender war oft ihr Innenleben. Von Schönheit war in diesem Haus allerdings nichts zu sehen. Es war einfach nur seltsam. Wenn das Haus wirklich erst seit zwei Wochen leerstand, dann mußte die alte Petrikowski, die ehemalige Besitzerin, hier schon seit mindestens zwanzig Jahren nicht mehr renoviert haben. An irgendeinem Punkt ihres Lebens hatte sie sich wohl dafür entschieden, ihre Hände einfach nur noch in den Schoß zu legen und die Allianz mit diesem Haus, zumindest was die Instandhaltung betraf, zu kündigen. Das Haus und sie waren verschiedene Wege gegangen, und beide hatten ins Vergessen geführt. Wenn ich daran dachte, hier zu renovieren, dann kam mir unwillkürlich der Vergleich mit einem Sanitäter in den Sinn, der einem todkranken Patienten einfach einen neuen Anzug überzieht, um die Verwandten zu täuschen. Tapetenfetzen hingen von den Wänden herab. Dem Design und
den Farben nach zu urteilen, mußten die Tapeten aus den frühen Siebziger Jahren stammen. Die Farbe des morsch wirkenden Treppengeländers, das sich spiralenförmig wie das Innere eines Schneckenhauses in die obere Etage wand, blätterte ab, sobald man es berührte. Ich konnte noch nicht einmal definieren, was für eine Farbe es war; irgendein Ton zwischen Braun und Grau. Und überall lag zentimeterdicker Staub, in dem sich Dutzende von Fußspuren abzeichneten. Fußspuren, die nicht nur von uns stammten, sondern von älteren Besuchern dieses Hauses. Aber es waren nicht nur Schuhspuren zu sehen, sondern auch solche von Pfoten. Ob sich hier irgendwelche streunenden Hunde oder Katzen breitgemacht hatten, während das Innere des Hauses nach und nach verfallen war? Schlimmer als der verwahrloste Zustand war aber der Gestank, der uns malträtierte. Ich hatte nicht gedacht, einmal mit einer derartigen Belästigung meiner Geruchsnerven konfrontiert zu werden. Im ersten Moment hatte ich mich instinktiv wieder umgewandt, um die frische Luft von draußen einzuatmen. Es dauerte einige Minuten, bis ich mich halbwegs an den Gestank gewöhnt hatte. Im ganzen Haus roch es nach Wild. Nicht etwa so, wie es riecht, wenn man ein schmackhaftes Gericht zubereitet, sondern als würde man über einen schwarzen, verbrannten Waldboden wandern und den aufgedunsenen Leibern erstickter Hirsche begegnen. Obwohl der allgegenwärtige Wildgeruch wie eine Dunstglocke über ganz Wolfham lag, was wahrscheinlich von den Kürschnerfabriken herrührte, die es in der unmittelbaren Umgebung gab, hatten wir uns fast schon daran gewöhnt – bis wir dieses Haus betreten hatten. »Jetzt wissen wir wenigstens, warum es überall im Ort so stinkt«, versuchte ich zu scherzen. »Wir haben die Quelle gefunden: Es ist euer Haus!«
Wir ließen die Eingangstür geöffnet, in der Hoffnung, daß ein steter Durchzug die Atmosphäre ein wenig erträglicher machen würde. Vielleicht war es aber auch nur eine instinktive Geste, wie mir erst später bewußt wurde: Als wollten wir uns nicht den Weg nach draußen abschneiden, uns eine letzte Möglichkeit offenlassen – im wahrsten Sinne des Wortes. Peter ging voran in die Küche, Jane und ich folgten ihm tapfer. Vielleicht hatte die Witwe tatsächlich noch einen alten Braten in der Pfanne hinterlassen. Auch die Küche war riesig und wurde beherrscht von einem wuchtigen, gußeisernen Ofen, der fast die ganze Wand einnahm. Ich hatte noch nie einen Ofen gesehen, von dem mehrere Rohre in den Schornstein führten. Bei diesem war es so. Es mußten fünf oder sechs Röhren sein, die an verschiedenen Stellen in der Wand verschwanden. Man hätte einen Menschen darin braten können. Peter bemerkte meinen Blick. »Ein Prunkstück!« schwärmte er. »So einen findet man heutzutage nicht mehr so leicht. Ich wollte ihn der Besitzerin abkaufen, aber sie hat ihn mir sogar geschenkt. Na ja, ins Altersheim hätte sie ihn wohl kaum mitnehmen können … Wenn ich nur wüßte, wofür sie ihn überhaupt gebraucht hat. Jedenfalls scheint es mehr als ein Ofen zu sein, denn er hat verschiedene Öffnungen und Fächer, und einige von ihnen scheinen eher der Vorratshaltung zu dienen …« Jane zuckte die Schultern. »Vielleicht finden wir ja irgendwo noch eine Gebrauchsanweisung«, scherzte sie. Peter ging nicht darauf ein. »Den anderen Plunder hier werden wir wohl nach und nach rauswerfen, die ganzen morschen Regale, den wurmstichigen Schrank, genau wie die anderen Sachen. Die Küche ist der einzige Raum, in dem wir erst mal alles dringelassen haben. Aus allen anderen Zimmern haben wir die Möbel bereits von
einer Entrümpelungsfirma abholen lassen. Das spart uns eine ganze Menge Arbeit.« Ich atmete auf. Jane öffnete die Türen des Küchenschrankes, der die ganze gegenüberliegende Wand einnahm. Der Schrank kam mir ebenso ungewöhnlich vor wie der Ofen. Er hatte Dutzende von Türen, Fächern und Schubladen, von denen keine den anderen gleich war. Als hätte ein verrückter Tischler versucht, sämtliche Maße und Winkel seiner jemals im Leben angefertigten Schränke in diesem einen Exemplar zu vereinen. »Aha, ich wußte doch, daß ich hier irgendwo Tee deponiert hatte«, ließ Jane sich vernehmen und hielt eine Packung Darjeeling hoch. Ich war immer noch zu beeindruckt von dieser monströs wirkenden Kücheneinrichtung, als daß mich der Tee irgendwie interessierte. »Sagtest du, du wolltest diesen Schrank zum Sperrmüll geben?« fragte ich Peter. »Mir bleibt nichts anderes übrig. Du findest darin nämlich nichts wieder – bis auf den Tee natürlich. Nein, er ist wirklich total unpraktisch. Leider werden wir ihn wohl zertrümmern müssen, um ihn hier herauszubugsieren. Wir haben es schon versucht, aber er rührt sich nicht vom Fleck. Scheint einbetoniert oder festgenagelt zu sein. Außerdem geht er weder durch irgendein Fenster noch durch die Tür.« »Wirklich schade«, sagte ich und meinte es ehrlich. So ein Schrank in meiner Arbeitsecke würde endlich mal mit den Papierbergen aufräumen! »Sogar das alte Porzellan hat sie uns gelassen, obwohl ich das nun wirklich nicht verstehe«, sagte Jane. »Echt Meißen aus Deutschland. Aber vielleicht hat sie es ja mitnehmen wollen …« »Hatte sie denn keine Erben?« fragte ich. »Normalerweise kommen diese modernen Aasgeier doch meistens noch, bevor das Opfer
die Lider schließt – laßt euch das von einem angehenden Anwalt sagen!« Peter schüttelte den Kopf. »Soweit ich weiß, hatte sie gar keine Verwandten. Wenigstens keine leiblichen. So genau kenn’ ich mich da aber nicht aus. Wir hatten, wie gesagt, genug andere Sorgen, als uns in aller Ausführlichkeit mit der Familienhistorie der werten Dame zu befassen. Als sie vor zwei Wochen so plötzlich starb, habe ich natürlich sofort in dieser Richtung recherchiert. Wir hatten zwar schon den Kaufvertrag mit ihr abgeschlossen, und das Geld war unterwegs, doch ein plötzlich auftauchender Erbe hätte noch alles zunichte machen können. Aber sie hatte vorgesorgt. In dem Testament, das erst einige Tage alt war, hat sie auch darüber verfügt, wer das Geld für das Haus bekommen soll: eine Kirchengemeinde hier im Ort. Tja, alte Leute soll man nicht verpflanzen. Hat sich einmal mehr bewahrheitet. Irgendwie fühl’ ich mich sogar ein wenig schuldig.« »Das ist Quatsch!« sagte Jane, die den Kessel mit Wasser gefüllt und den Gasherd entzündet hatte. »Wir brauchen uns nicht schuldig zu fühlen. Schließlich hat sie das Haus zum Kauf angeboten. Wenn nicht wir, hätten es eben andere erstanden!« »Gab es denn noch weitere Interessenten?« fragte ich. Ich wollte es zwar nicht so deutlich sagen, konnte mir aber beim besten Willen nicht vorstellen, daß jemand freiwillig in diese Gegend zog, und dann noch in einen solch heruntergekommenen Kasten. »Nicht, daß ich wüßte«, entgegnete Peter. »Das Haus wurde seit einem Jahr über einen Makler angeboten. Die meisten Interessenten hat wohl der Wildgeruch in dieser Gegend abgeschreckt – und die anderen werden wohl spätestens dann abgesprungen sein, als sie sahen, wie verwahrlost das Haus ist. Wir werden eine Menge Arbeit hier reinstecken müssen. Aber wir haben ja Zeit …« Ich wußte, wie ernst es ihm damit war, sich hier niederzulassen. Es waren die Gegend und diese merkwürdige Stadt, die ihn von Anfang an fasziniert hatten. Vor allem die Bewohner, dieser seltsame Menschenschlag, von dem ich bislang noch kein einziges Exemplar
in den regennassen Straßen gesehen hatte. Aber Peter hatte einige Andeutungen gemacht, die mein Interesse geweckt hatten und mich vermuten ließen, daß es vielleicht doch nicht allein seine Suche nach Muße und Ruhe war, die ihn hierher verschlagen hatte. Allen, die es hören wollten, erzählte er, daß er hier sein erstes Buch schreiben wollte. Und er schien es ernst zu meinen. Er hatte sich von der Universität, an der er Soziologie studierte, für ein Jahr freistellen lassen, um seine neuen Forschungen und Thesen zu Papier zu bringen. Ich fragte mich nur, was Jane bewogen hatte, ihm hierher zu folgen. Sie war ein typischer Stadtmensch. Ich schaute aus dem schmalen Küchenfenster in den verwilderten Garten, in dem offensichtlich seit Jahren niemand mehr Unkraut gejätet hatte. Ich glaubte ein großes schwarzes Tier in den Büschen verschwinden zu sehen. Wie ein streunender Hund hatte es ausgesehen, oder wie eine Art Wolf. Aber ich hütete mich, davon etwas zu erwähnen, denn ich wußte nicht, wie empfindlich Jane auf streunende Hunde reagieren würde. Vielleicht hatte ich mich ja auch geirrt, und es waren nur von Regen und Wind hin- und hergepeitschte Zweige gewesen. Während Jane den Tee zubereitete, schwiegen wir. Es herrschte mit einem Male eine bedrückende Stimmung. Der Regen draußen, dieses düstere Haus und die plötzlich gar nicht mehr so interessant erscheinende Aussicht, hier ein ganzes Wochenende mit Renovierungsarbeiten zu verbringen. Peter wollte sogar die ganze Woche bleiben, während ich mit Jane erst einmal wieder nach New York zurückfahren sollte. Wenigstens war es so geplant. »Ich glaube, heute ist es sowieso schon zu spät, um richtig loszulegen«, sagte Peter. »Nach dem Tee führ’ ich dich hier erst mal weiter rum …« »Also ich kann’s kaum erwarten, die alten Tapeten herunterzureißen«, sagte Jane. »Vielleicht vertreiben wir mit frischer Farbe ja auch
diesen widerlichen Gestank.« »Ich glaube, den werden wir erst los, wenn wir alle Wände einreißen. Garantiert sind hier ein paar Leichen vergraben«, scherzte ich. »Der Geruch ist heute aber auch besonders schlimm«, gab Peter zu. »Bisher hatte ich ihn gar nicht so penetrant wahrgenommen, sonst hätte ich beim Preis bestimmt noch ein paar Abstriche gemacht!« »Vielleicht führen irgendwelche Abflüsse direkt zu den Abwässern der Kürschnerbetriebe«, meinte Jane. »Kann sein, daß es bei Regen dann besonders intensiv riecht.« Das Wasser kochte, und Jane goß den Tee auf. »Darjeeling, erste Pflückung«, sagte sie. »Aber wahrscheinlich kommt das gar nicht zur Geltung. Selbst das Wasser schmeckt irgendwie seltsam hier.«
* Nach dem Tee, der unsere Stimmung wieder ein wenig hob, führte mich Peter weiter durchs Haus. Es war eine verwirrende Anzahl von Fluren, Kammern und Räumen, über drei Stockwerke verteilt. Im Erdgeschoß sah es noch am besten aus. »Die Besitzerin des Hauses war die letzten Jahre an den Rollstuhl gefesselt«, erklärte Peter, »also hat sie nur noch hier unten gewohnt und die oberen Stockwerke und den Keller vergammeln lassen. Einmal die Woche kam eine vom Sozialamt gestellte Hilfe, die ihr die Einkäufe erledigte und putzte.« »Selbst wenn sie keine Verwandten mehr hatte, so muß sie doch irgendwelche Kontakte gepflegt haben. Was ist mit dieser Kirchengemeinde, der sie ihr Vermögen gespendet hat?« Peter zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Weißt Du, die Leute hier erzählen einem nicht viel, und der Makler stammt von außerhalb und hat sie kaum gekannt. Ich habe sie auch nur ein einziges
Mal gesehen, als ich mit dem Makler das Haus besichtigte. Sie machte auf mich den Eindruck eines steinalten, tückischen Geiers.« Trotz des Regens öffneten wir sämtliche Fenster, um frische Luft hereinzulassen. »Die meisten Fensterrahmen sind noch ziemlich gut in Schuß. Keine Thermopenverglasung, aber wenn ich die Fensterdichtungen auswechseln lasse, müßte es genügen. Hoffentlich! Denn das Einsetzen neuer Fenster dürfte ziemlich schwierig werden. Es sind nämlich alles spezielle Maße. Die meisten sind noch nicht einmal rechteckig. Merkwürdigerweise unterscheiden sich sogar die Außen- von den Innenmaßen. Es scheint, als ob die Fenster teilweise im Mauerwerk weiterführen. Aber ich kann dir versichern, daß das noch längst nicht das Merkwürdigste ist.« Ich runzelte skeptisch die Stirn. »Und das wäre?« »Sage ich dir bei Gelegenheit. Versprochen. Aber jetzt schau mal nach draußen. Fällt dir was auf?« Ich lehnte mich aus dem Fenster, das auf die Straße hinausführte. Das Asphaltband war menschenleer. »Was du da siehst, ist die Hauptverkehrsstraße von Wolfham. Die einzige, die direkt in die Nachbargemeinden führt. Aber niemand benutzt sie.« »Na, phantastisch«, sagte ich. »Wahrscheinlich gehen hier alle schon um sechs ins Bett, und sie sperren die Straßen, damit niemand sie stören kann. Gratuliere zu diesem ruhigen Plätzchen am Arsch der Welt!« Peter grinste. Aber es war ein Grinsen, das mich vermuten ließ, daß er eine ganze Menge mehr wußte, als er zu sagen bereit war. Insgesamt befanden sich im Erdgeschoß außer der Küche und einem kleinen Badezimmer noch sechs weitere Räume und Kammern. Die meisten waren miteinander durch schiefe Türen verbunden. Peter führte mich über die spiralförmige Treppe in die oberen Räume. Die Anordnung der Zimmer war noch verwirrender als im
Erdgeschoß. Es waren winzige Kammern, manche nicht größer als zwei Quadratmeter. Auch von der Höhe her waren sie verschieden. Einige schienen bis zum Dachfirst zu reichen, die Decken der meisten waren aber so niedrig, daß wir nur bückend weitergehen konnten. »Hier scheinen überall Zwischendecken gezogen worden zu sein«, sagte Peter und klopfte mit seinen Knöcheln an die Decke über unseren Köpfen. Sofort rieselte weißer Kalk auf uns herab und hüllte uns ein. Es hatte, wie nicht anders zu erwarten gewesen war, hohl geklungen. »Nach und nach werde ich diese Zwischendecken einreißen«, sagte Peter. »Ich frage mich, wer hier gehaust hat. Wir werden uns jedenfalls erst einmal unten einquartieren.« »Hier oben kann man sich glatt verirren«, sagte ich. Ich hatte insgeheim mitgezählt und war auf zwanzig Räume und Kammern gekommen, aber plötzlich merkte ich, daß wir einige davon schon das zweite Mal betraten. Ich schaute aus einem der windschiefen, vieleckigen Fenster und hinab auf die verwahrlosten Walmdächer von Wolfham. Aus einigen Schornsteinen kringelte sich grauer Rauch, aber die meisten Häuser machten einen verlassenen, von ihren Bewohnern aufgegebenen Eindruck. Mittlerweile war es draußen dunkel geworden. Der volle Mond stand am Himmel. »Und was ist mit dem Dachgeschoß?« fragte ich. »Das zeige ich dir ein anderes Mal. Im Moment ist es unbegehbar, aber in ein paar Monaten habe ich da Ordnung geschaffen.« »Schade, ich hätte gern die Aussicht genossen. Garantiert kann man von dort ganz Wolfham überblicken.« Ich hatte mich gerade dem Fenster abgewandt, um Peter in die nächste Kammer zu folgen, als ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung hinter der Fensterscheibe wahrnahm. Ich wirbelte herum und hätte schwören können, für einen Moment
wieder den Schatten zu sehen, den ich schon im Garten wahrgenommen hatte: ein schwarzes, hundeähnliches Etwas. Ich stürzte ans Fenster und sah nach draußen, aber es war nichts zu entdecken. »Ist was?« fragte Peter. Ich schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich hatte ich mich geirrt. Es war die Atmosphäre des Hauses, die mich allmählich nervös zu machen begann. In der nächsten Sekunde hörten wir den Schrei. Es war Jane! Ich reagierte noch vor Peter, stürmte aus dem Zimmer und die schiefe Treppe hinunter. Erste Stufe. (Ich spürte, wie mich unvermittelt Haß überfiel. Eine Welle, die von unten kam!) Zweite Stufe. (Ich begann mich zu hassen.) Dritte Stufe. (Weil ich mich darauf eingelassen hatte –) Vierte Stufe. (– mich zu prostituieren.) Fünfte Stufe. (Haß auf mich –) Sechste Stufe. (– auf Peter –) Siebte Stufe. (– auf Jane!) Achte Stufe. (Haß auf dieses Haus –) Neunte Stufe. (– auf diese Stadt –) Zehnte Stufe. (– AUF DIESE WELT!) Im gleichen Moment, da ich das Erdgeschoß erreichte, war die erschreckende Emotion schon wieder vorüber. Und mir wurde klar, daß es nicht meine eigenen Gedanken gewesen waren, sondern die einer anderen Person. Die Gefühle einer Frau, einer uralten Frau. Ich war mir sicher, daß mich der Geist der Vorbesitzerin berührt hatte! Bewirkte dieser seltsame Ort, daß mein übernatürlicher Sinn wieder geweckt wurde? Seit der Geschehnisse damals bei der Collegefeier hatte ich jeden Gedanken daran verdrängt – aber nun schien meine Gabe mich wieder eingeholt zu haben. Mir blieb keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Ich folgte Peter, der mich am Fuß der Treppe überholt hatte, in die Küche.
* Wir fanden Jane zusammengekauert vor dem Herd, wie ein Kind, das sich vor dem schwarzen Mann fürchtet und die Augen einfach schließt, in der Hoffnung, der Unhold möge es dann nicht sehen. Peter nahm sie in die Arme, während ich mich rasch umsah. Aber es war nichts Ungewöhnliches zu entdecken. »Dort, vor dem Fenster!« Jane deutete mit dem Arm. »Da war es!« »Was war dort, Liebes?« fragte Peter, aber Jane fing an zu schluchzen. Ich eilte ans Fenster, schaute in den verwahrlosten Garten. »Ich habe vorhin auch etwas dort draußen gesehen«, meinte ich. »Sah aus wie ein Hund. Vielleicht war es das?« Jane antwortete nicht. Sie war völlig verängstigt. So hatte ich sie noch nie erlebt. »Ich seh’ mich draußen mal um«, sagte ich. »Bin gleich wieder da.« Ich öffnete die Terrassentür, die von der Küche direkt in den Garten führte, und trat ins Freie. Das Unkraut reichte mir bis zu den Oberschenkeln. Selbst wenn sich hier Ratten breitgemacht hatten, würde ich sie so leicht nicht entdecken können. Leichter Regen rauschte hernieder und übertönte jedes andere Geräusch. Die Luft war drückend trotz des Gusses. Ich wandte mich nach links, wo eine schmiedeeiserne Gartentür fest verschlossen an das Nachbargrundstück grenzte, und ging den Zaun entlang. Das Gelände führte leicht bergan. Nach etwa fünfzig Metern gelangte ich an das Ende des Grundstücks. Ein hoher Zaun schloß es ab. Dahinter befand sich ein Acker, der sich bis zur Kuppe eines Hügels erstreckte. Ich schritt weiter den Zaun entlang. Nach etwa fünfundzwanzig Metern kam ich an eine Scheune aus rötlichen Backsteinen. Ich blieb stehen und horchte, aber nach wie vor war außer dem Regen nichts
zu hören. Ich folgte der Backsteinmauer, die sich an die Scheune anschloß, und stieß auf einen kleinen Pfad, dem ich folgte. Inzwischen war ich völlig durchnäßt. Ein Geräusch ließ mich zusammenfahren, aber es war nur ein Düsenjäger, unsichtbar in den schwarzen Regenwolken. Hinter der Scheune wurde der Pfad zu einem richtigen Weg, der in eine Straße mündete. Verwinkelte Fachwerkhäuser, die mich zurück in ein anderes Jahrhundert versetzten, befanden sich rechts und links der Straße. Was mich erstaunte, war, daß kein einziges Licht hinter einem der Fenster brannte, obwohl es schon dunkel war. Einmal mehr wurde mir bewußt, in welch merkwürdige Stadt sich Peter einquartiert hatte. Was für eine düstere Nachbarschaft, in der kein Mensch zu sehen war – wie in einer Geisterstadt. Aber mehr noch als Peter bemitleidete ich Jane. Wie lange würde sie es hier wohl aushalten? Inmitten dieser ruinenhaften Häuser breitete sich plötzlich ein warmer Lichtschein aus. Es war eine Gaststätte. Ein kunstvoll gefertigtes Schild zeigte einen seltsam anmutenden Hund – oder war es ein Wolf? Ich vermochte es nicht genau zu definieren. Ich hatte plötzlich Angst, weiterzugehen. Mein sechster Sinn, der sich seit jener verhängnisvollen Collegefeier erst heute Abend wieder gemeldet hatte, schlug plötzlich abermals an! Vor meinem inneren Auge lief eine seltsame Szenerie ab: Ich sah Peter und Jane, wie sie vor etwas zurückwichen. In ihren Gesichtern spiegelte sich das Grauen, aber ich konnte nicht erkennen, was sie so in Schrecken versetzte. Die Vision machte einer zweiten Platz. Sie hatte mit dem Gasthaus zu tun, vor dem ich stand. Ich sah, wie sich das Schild mit dem Wolf darauf blutig rot färbte. Der Wolf bleckte sein Gebiß und schien mir zuzugrinsen. Dabei troff unablässig Blut aus seinem Maul.
Ich glaubte den Verstand zu verlieren und war trotzdem fasziniert vor meinen eigenen Schreckensbildern. Und so schrecklich sie auch waren – ich mußte erfahren, was hier los war. Also schlich ich geduckt zu einem der Gasthausfenster und blickte hindurch. Augenblicklich prallte ich zurück. Entweder war ich nun wirklich dem Wahnsinn verfallen, oder jemand erlaubte sich einen bösen Scherz mit mir. Die Gaststube war zum Bersten gefüllt. Aber es waren keine Menschen dort drinnen zu sehen, sondern … Wölfe! Und zwischen ihnen seltsame Geschöpfe, die eine Symbiose aus beiden eingegangen waren. Keine dieser Alptraumkreaturen beachtete mich weiter. Sie waren viel zu sehr mit sich und ihresgleichen beschäftigt. Es war eine regelrechte Orgie. Sie torkelten wie berauscht, wälzten sich über- und untereinander. Die Gläser, aus denen sie tranken, waren mit einer roten Flüssigkeit gefüllt. Blut? Ich konnte noch immer nicht glauben, was ich dort sah. Aber es war Realität! Zumindest schien es mir so … Vorsichtig, Schritt um Schritt, wich ich vom Fenster zurück. Ich mußte Jane und Peter warnen. Wir mußten sofort von hier verschwinden! Da sah ich die Schatten. Sie waren plötzlich überall. Schatten mit spitz zulaufenden Ohren und krallenbewehrten Läufen. Flucht! Mein einziges Heil lag darin, schneller als diese Wesen zu sein. Aber noch während ich lief, spürte ich, daß ich keine Chance hatte. Sie spielten mit mir! Sie ließen mich in dem Glauben, schneller zu sein als sie. Doch ich vernahm ihr wisperndes, grausames Gelächter. Ich erreichte das Haus. Die Tür zum Garten stand offen. Es war totenstill. »Jane? Peter!«
Sie antworteten nicht. Ich hätte mich umdrehen und versuchen sollen, den Wagen zu erreichen. Nicht, daß ich es wirklich geschafft hätte. Aber ich hätte mir den Anblick erspart. Den Anblick der beiden grausam zugerichteten Körper, die einmal meine Freunde gewesen waren. Blutüberströmt lagen sie am Fuße der Treppe. Ich erstarrte in der Bewegung. In meinem Hals war ein Würgen. Meine Gedanken schienen in ein bodenloses Loch zu stürzen. Ich weiß nicht, wie lange ich reglos so dastand, bis ich durch das Rauschen des Blutes in meinen Ohren Schritte hinter mir hörte. Ich fuhr herum. Drei Wolfsmenschen standen im Eingang, kamen auf mich zu. Bevor ich reagieren konnte, krallten sich rasiermesserscharfe Klauen in mein Fleisch. Blut quoll hervor und fachte ihre animalische Gier noch mehr an. Tiefer und tiefer trieben sie ihre Krallen in meinen Körper und steigerten meinen Schmerz zu einer nicht enden wollenden Qual. Ich sank zu Boden. Schützend hielt ich die Hände vors Gesicht, aber das heisere Fauchen schlug mir in einer Wolke heißen Raubtieratems entgegen. Durch meine Finger hindurch sah ich die mörderischen Gebisse der Wölfe klaffen. Im nächsten Moment wandten sie sich meiner Kehle zu. Aber ich starb nicht! Ich spürte, wie sich mein Körper irgendwann von totaler Empfindungslosigkeit in eine brennende, lodernde Waffe verwandelte. Ich sah an mir herab. Meine Arme und Beine, mein ganzer Körper war mit Fell überzogen. Mühsam erhob ich mich. Mit jedem Schritt gewann ich mehr meiner Kräfte zurück. Und dann sah ich Jane und Peter. Auch sie hatten sich in Wolfsmenschen verwandelt.
Wir waren wieder vereint. Benommen noch taumelten wir hinaus in den Garten, wo uns ein köstlicher Duft von verwesendem Wild empfing. Witternd hob ich die Schnauze und heulte den vollen Mond an, von Instinkten erfüllt, die ich nie zuvor empfunden hatte. Das Haus hatte neue Bewohner gefunden. Ich blieb als ein anderer, als der ich gekommen war …
* Langsam erwachte Kierszan aus dem dunklen Strudel der Erinnerung. Ihm war, als hätte er die damaligen Geschehnisse noch einmal körperlich durchlebt. Chiyoda stand noch immer vor ihm. Sein weises Gesicht blickte ihn gütig an. »Wieso hast du mir das alles noch einmal gezeigt?« fragte Kierszan. »Um mich zu quälen?« »Weil du mehr bist als ein Werwolf. Du besitzt magische Fähigkeiten. Du hast es immer wieder gespürt, daß du anders bist als die anderen – sowohl in deiner Existenz als Mensch, als auch in der des Wolfes.« Kierszan zuckte die Schultern. »Und was hat es mir gebracht? Ich konnte damals weder Pamela gewinnen, noch meine Freunde und mich vor dem Fluch des Vollmonds retten. Wolfham wurde meine zweite Heimat – bis zum großen Vampirkrieg. Seitdem jagen sie uns.« »Immerhin lebst du!« Kierszan verzog verächtlich den Mund. »Ich nenne es nicht leben, sondern vegetieren. Schon dort draußen lebte ich schlechter als ein Hund, immer auf der Suche nach Nahrung und auf der Flucht vor Dienerkreaturen. Ich wußte nicht, daß es noch schlimmer kommen würde. Man hält uns hier fest, um uns an abartige Vampire zu verkaufen – damit wir uns in Gladiatorenkämpfen gegenseitig die Keh-
len aufreißen!« Chiyoda blickte ihn beschwörend an. »Ich bin hier, um dich an deine eigentlichen Kräfte zu erinnern«, sagte er. »Der Werwolf in dir ist nur eine Facette deiner Persönlichkeit, während deine magische Kraft die weitaus mächtigere ist. Seit Anum die Herrschaft über die Welt erlangt und alle Technik aus ihr verbannt hat, ist die Magie auf dem Vormarsch. Sie kann sich in einer Welt ohne Technikglauben ungehindert entfalten. Du mußt es nur wollen, und deine Freiheit ist nur eine Sache von Augenblicken.« Hoffnung glomm in Kierszans Augen auf. »Du meinst, es gibt wirklich noch einen Weg für mich?« Chiyoda nickte. »Deine Zukunft liegt vor mir wie ein offenes Buch. Hab Mut!« Seine Gestalt begann plötzlich durchscheinend zu werden. Sie flackerte wie eine Kerzenflamme im Wind. Ungläubig sah Kierszan, wie Chiyoda verschwand, als hätte es ihn nie gegeben. Hatte er nur geträumt? War es eine Vision? Nein, dazu war sie viel zu real gewesen! Kierszan spannte seinen Körper, von neuer Hoffnung erfüllt. Wenn Chiyoda Recht behielt, hatte die Gefangenschaft bald schon ein Ende. Er mußte seine magischen Kräfte aktivieren, um einen Weg in die Freiheit zu finden …
* Nona war nun schon seit drei Tagen in Leones Obhut. Er hatte sie nicht wieder angerührt. Fast schien es, als wüßte er nichts mit ihr anzufangen. Noch nicht? Nona hatte von Leone erfahren, wie es um die Welt dort draußen stand. Außerhalb seines gut gesicherten Hauses tobten Anarchie
und Chaos. Die Menschen suchten zwar die großen Städte bei ihrer Suche nach Nahrung und Wasser auf, doch gleichzeitig hatten sie hier auch am meisten zu fürchten. Horden von Dienerkreaturen streiften umher und töteten wahllos. Der »Hohe Herr Anum«, wie er sich nannte, hatte seine Machtgelüste wahrgemacht. Nona hatte nicht erfahren können, ob der letzte der Kelchhüter nur über dieses Land herrschte oder längst über die ganze Welt. Da er sämtliche Technik, die ihm lediglich ein pervertierter Ersatz für Magie war, eliminiert hatte, existierten keine Nachrichten- und Kommunikationsmittel mehr. Alles, was man von der restlichen Welt erfuhr, waren mündliche Berichte von seltenen Reisenden. Der große Vampirkrieg hatte im Jahr 2002 stattgefunden und eine hochtechnisierte Welt zurück in die Barbarei geworfen. »Nimm mich mit!« verlangte Nona, als Leone sich am vierten Abend mit einem Sack voller Tauschgüter erneut auf die Straßen begeben wollte, um seinen Geschäften nachzugehen. Nachdenklich sah er sie an. »Ich bin mir nicht sicher, ob es gut für dich wäre«, sagte er schließlich. »Ich weiß noch immer nicht, wer du wirklich bist.« Er schien zu überlegen. »Andererseits«, fuhr er dann fort, »kann eine schöne Frau bei gewissen Geschäften hilfreich sein. Also gut, komm mit!« Er führte sie hinaus und verschloß das Rolltor hinter ihnen. Die Straße war menschenleer, aber es konnte ebensogut möglich sein, daß sich in den Schatten der Häuser Dienerkreaturen versteckt hielten, die nur darauf lauerten, daß sie sich herauswagten. Leone machte zwar auch mit diesem Abschaum Geschäfte, aber sie waren unberechenbar. Der Mond am Himmel hatte fast seine volle Größe erreicht. Bereits in den letzten Tagen hatte Nona das vertraute Locken verspürt. Nun würde es nur noch einen Tag dauern, und sie würde sich in die Kreatur verwandeln, die sie in sich trug. Die Vorboten der Span-
nung und Gier waren unter freiem Himmel stärker zu spüren als in Leones Haus. Die Strahlen des Mondes lockten und flüsterten von Sehnsucht und Erfüllung. Aus ihrer zierlichen Gestalt würde sich eine Kreatur erheben, die weit mächtiger war als die Ketten der Menschlichkeit. Sie würde töten. Und sie fragte sich in diesem Augenblick, ob es Leone sein würde, der für ihren unstillbaren Durst herhalten mußte. Er schaute sie plötzlich mißtrauisch an, als ahnte er, was in ihr vorging. »Wenn du an Flucht denkst, so solltest du es dir lieber gleich aus dem Kopf schlagen«, sagte er. »Du würdest hier draußen keine Nacht allein überleben.« Sie erreichten ein verfallenes Haus, das nur deshalb noch zu stehen schien, weil es von den beiden benachbarten Gebäuden gehalten wurde. Ein düsterer Eingang klaffte vor ihnen auf. »Geh voran!« befahl Leone. »Wo sind wir hier?« fragte Nona. Selbst ihre nachtgewöhnten Augen konnten die Finsternis kaum durchdringen. »Keine Fragen! Du wirst es schon sehen«, wehrte Leone ab. Plötzlich kam ihr sein Verhalten falsch vor. Welches Spiel spielte er wirklich mit ihr? Dennoch hatte sie keine andere Wahl. Sie ging voran, wobei sie darauf achtete, daß er ihr nicht allzu dicht folgte und sie von hinten angreifen konnte. Ihre Sinne waren angespannt, während sie einem kurzen Gang folgten, der in einen Keller mündete. »Nicht so schnell!« schimpfte Leone. »Wir sind ja gleich da!« Sie gelangten zu einer stahlverstärkten Tür, in der sich ein winziges Guckloch befand. Nona spürte, wie sie von einem eisigen Blick gemustert wurde. »Mach auf! Ich bin es: Leone, der Händler!« »Und wer ist bei dir?« fragte die Stimme hinter der Tür. »Seit
wann kommst du nicht allein?« »Eine Frau. Von ihr droht keine Gefahr. Im Gegenteil.« Nona fühlte sich immer unwohler. Es gefiel ihr nicht, wie Leone von ihr sprach. Was hieß »im Gegenteil«? Natürlich spielte er auf ihre körperlichen Reize an. Hatte er sie deswegen mitgenommen und hierher gebracht? Die Tür vor ihnen öffnete sich. Fackelschein erhellte einen breiten Gang, der in einen dahinterliegenden Raum führte. Nona vernahm einschmeichelnde, aber auf eine unbestimmte Art atonale Musik. »Willkommen im Club!« begrüßte sie die Gestalt, die sie hereingelassen hatte. Es handelte sich um einen Türsteher der vierschrötigen Art. Er überragte sogar noch Leone. Sein massiges Gesicht war aufgedunsen und rot. Seine Augen wanderten nun ungeniert über Nonas Körper. Ihr fröstelte unter seinem Blick. »Wahrlich nicht übel«, sagte er schließlich. Seine Gedanken waren ihm aufs Gesicht geschrieben. »Geht einfach durch. Du kennst ja den Weg!« Leone schob sich an Nona vorbei und ging weiter. Sie folgte ihm. »Was hat das hier alles zu bedeuten?« flüsterte sie ihm zu. »Halt den Mund!« Sie gelangten in eine Bar. Sie war gut besucht. Überall standen Gruppen von Männern herum, lauschten der Musik und tranken Hochprozentiges aus kleinen Gläsern. Auf zwei Bühnen boten leichtbekleidete Tänzerinnen ihr zweifelhaftes Können feil. Es war eine dekadente Szenerie, die Nona immer weniger gefiel. Aus einer Gruppe von an der Bar stehenden Männern kam einer auf sie zu. »Leone«, strahlte er den Händler an und schüttelte ihm übertrieben die Hand. »Hallo, Frears«, sagte Leone. Er war weniger enthusiastisch. Wahrscheinlich kannte er den Mann zu gut.
Nona war er auf den ersten Blick unsympathisch. Er wirkte wie ein pomadiger Dackel mit seinem öligen, nach hinten gekämmten Haar und seiner überzogenen Art. Zu allem Überfluß trug er eine Nelke im Knopfloch. Auch er ließ seine Augen über Nonas Körper wandern. Sie hatte das Gefühl, von seinen schmierigen Blicken ausgezogen zu werden. »Wen hast du uns da mitgebracht?« fragte Frears. Es sollte wohl galant klingen, aber es war ein falscher Unterton in seiner Stimme. Leone stellte sie einander vor. Frears war der Besitzer des Clubs. Es schien tatsächlich noch Etablissements dieser Art zu geben, die darauf angelegt waren, niedere Männergelüste zu befriedigen. Allerdings vermutete Nona, daß der Spaß hier nicht ganz billig war. Dafür sprach auch der Türsteher. Frears führte sie zu einem Tisch, der sie vor den Blicken der anderen Gäste verbarg. Er ließ Leone und Nona Platz nehmen. »Was möchtest du trinken, mein Engel?« fragte er. Nona sah hilfesuchend zu Leone, aber mehr denn je spürte sie, daß von ihm keine Hilfe zu erwarten war. Im Gegenteil. Frears bestellte drei Bloody Marys. Die Cocktails wurden von einer Oben-Ohne-Bedienung an den Tisch gebracht. Nona versuchte in die Augen des blutjungen Mädchens zu blicken, aber sie waren wie verschleiert. Als stünde das Mädchen unter Drogen. »Prost«, sagte Frears, und nachdem sie getrunken hatten, fuhr er fort: »Und nun zum Geschäft, Leone. Was willst du für sie haben?« Die Maske der falschen Höflichkeit war von ihm abgefallen. Nornas Befürchtungen wurden zur Gewißheit. Deswegen hatte Leone sich also bereiterklärt, sie mitzunehmen! Um sie wie ein Stück Vieh zu verschachern! Der Zorn ließ ihre Wangen erröten, aber sie beherrschte sich. Erst recht, als sie Leone sagen hörte: »Sie ist anders als die Frauen, die ich dir bisher verschafft habe. Ich habe so meine Vermutungen, wenn du verstehst, was ich meine. Nona war sehr nervös in den letzten Tagen. Und du weißt, daß morgen Vollmond
ist …« Also hatte er bemerkt, daß sie kein gewöhnlicher Mensch war. Aber wenn er ahnte, daß der Fluch der Lykanthropie in ihr steckte, was hatte er dann mit ihr vor? Frears leckte sich die Lippen. »Du meinst …« »Ich kann es nicht garantieren, sondern nur meinem Instinkt vertrauen«, erwiderte Leone. »Nimm sie, oder laß es bleiben. In jedem Fall ist sie mehr wert als jedes normale Mädchen.« Dann nannte Leone seinen Preis. Medikamente und Blutplasma. Offensichtlich war die Menge derart unverschämt, daß Frears in Zweifel kam. »Ich soll also die Katze im Sack kaufen«, meinte er abwägend. »Andererseits erhöht es den Thrill der Aufführung, wenn nicht ganz sicher ist, was mit ihr los ist. Notfalls gibt es sicherlich einige Herren, die etwas mit ihr anfangen können – auch wenn sie keine Werwölfin ist.« Die beiden Männer gaben sich die Hand und besiegelten das Geschäft. Nona blieb wie erstarrt sitzen. Sie hatte sich Schlimmes ausgemalt, aber dies hier übertraf ihre Befürchtungen noch. »Was hast du mit mir vor, Kretin?« fragte sie Frears eisig. Er ging nicht auf die Beleidigung ein. »Was schon, Mädchen? Morgen Abend wird es hier eine geschlossene Gesellschaft geben. Mal sehen, wie du uns bei Vollmond in Stimmung bringst!« Nona sprang auf. Leone griff nach ihr, aber in ihrer Wut schlug sie seinen starken Arm einfach beiseite. Sie mußte die Tür erreichen! Aber noch während sie darauf zulief, stellten sich ihr einige von Frears Bediensteten in den Weg. Nona schlug um sich, doch die Übermacht war zu groß. Kräftige Hände griffen nach ihr und hielten sie fest. Wimmernd wurde sie zu Boden gezwungen. Als sie aufblickte, thronte Frears über ihr und grinste sie mit seinem speckigen Lächeln
an. Seine Finger grabschten nach ihr. Nona wand sich unter den Griffen der Männer, aber sie konnte nicht verhindern, daß Frears ihr abschätzend die Brüste tätschelte und dann weiter hinab zu ihrem Schoß fuhr. Sie spuckte ihm ins Gesicht. Die Antwort war eine schallende Ohrfeige. »Nicht so stürmisch, mein Täubchen!« höhnte Frears. »Spar dir deine Energie für morgen Nacht auf!« »Leone, du elender Verräter!« zischte Nona. Ihm hatte sie zu verdanken, daß sie in dieser Hölle gelandet war. Frears gab ein Handzeichen, und die Männer führten sie ab. Nona begehrte nicht mehr auf. Es war zwecklos. Wenn überhaupt, so würde der Vollmond sie retten … Frears schien nicht wirklich zu wissen, auf was er sich mit ihr eingelassen hatte!
* Kierszan wartete. Er war geduldig geworden in den langen Monaten im Gefängnis. Daß man ihn in eine Einzelzelle gesperrt hatte, schien darauf hinzudeuten, daß man entweder etwas Besonderes mit ihm vorhatte oder ihn nach seinem Fluchtversuch für besonders gefährlich hielt. Zwei ganze Tage lang tat sich nichts. Er hatte mehr Zeit zum Nachdenken denn je. Immer wieder fielen ihm die Worte ein, die Chiyoda gesprochen hatte. Und je mehr Zeit verging, desto sicherer wurde er, daß er einen Wachtraum erlebt hatte. Es konnte nicht sein, daß sich in seiner Zelle ein Mensch aus dem Nichts manifestierte, um sich anschließend wieder in Luft aufzulösen. Mehr denn je wurde er sich gewiß, daß er sich Chiyoda nur eingebildet hatte. Vielleicht war sein sechster Sinn dafür verantwortlich
gewesen. Es schien ihm auch nicht wichtig, ob die Botschaft, die er empfangen hatte, von einem Wesen wie Chiyoda oder aus seinem eigenen Unterbewußtsein kam. Wichtig war nur die Botschaft selbst: daß seine besondere Begabung ihm einen Weg hier herausweisen konnte. Wenn er es nur wollte! Er konzentrierte seine Gedanken auf sein Innerstes. Die Kunst der Versenkung war etwas, das er erst im Gefängnis gelernt hatte. Er konnte seinen Geist völlig von der Außenwelt abschirmen. Es hatte ihm oft geholfen, die Schreie der Gemarterten zu ertragen. Diesmal dauerte es länger als sonst, bis es ihm gelang. Er spürte seinen Körper wie ein schweres Gefäß, in das er seinen Geist wie eine Flüssigkeit füllte. Hier drinnen standen ihm viel mehr Sinne zur Verfügung. Mit einem Teil seines Bewußtseins war er in der Zelle, mit einem anderen eilte er durch die Gänge auf der Suche nach Rudnik. Und mit wieder einem anderen befand er sich auf einer seltsamen Ebene, die nur aus flirrenden, wunderschönen Farben zu bestehen schien. Am liebsten hätte er sich dort niedergelassen, aber seine anderen Bewußtseinsebenen ließen es nicht zu. Rastlos zog es ihn weiter. Er gelangte in einen Wachraum, in dem einige der Gefängniswärter herumlungerten. Überrascht schauten sie auf, so als spürten sie sein Bewußtsein. Aber natürlich war sein reiner Geist nicht zu sehen. Unter den Wächtern war einige, die Kierszan als die wiedererkannte, die ihn und Rudnik ergriffen hatten. Zorn wallte in ihm auf, als er daran zurückdachte und in ihre brutalen Gesichter sah. Aber er hatte keine Zeit, sich hier länger als nötig aufzuhalten. Er wußte nicht, wie lange ihm die Versenkung glücken würde. Sie war kräftezehrender, als er sich in seinem geschwächten Zustand eingestehen wollte. Es zog ihn weiter. Er mußte wissen, was mit Rudnik passiert war.
Sein Geist durchstieß die Wände, als handelte es sich um keine feste Substanz. Das Gefängnis kam ihm immer mehr vor wie ein riesiges Menschenlager. Nur daß die Menschen, die hier festgehalten wurden, den Wolfskeim in sich trugen. Überall in den Zellen hausten Gefangene unter unwürdigsten Bedingungen. Endlich erreichte er die Zelle, in der er und Rudnik zusammen mit anderen eingepfercht gewesen waren. Wie zuvor die Wächter, so blickten auch seine Schicksalsgenossen erstaunt umher, als sie den Eintretenden spürten. Sie waren irritiert, und Unruhe machte sich unter ihnen breit. Kierszan zog sich rasch zurück. Rudnik war nirgendwo zu entdecken. Was hatte man mit ihm angestellt? Hatte man ihn längst getötet oder verkauft? Er irrte weiter. Kaltes Fackellicht fiel auf den steinernen Boden der Gänge. Kierszan ließ sich treiben, speiste seinen Geist mit Rudniks Bild und sandte seine Bewußtseinsfinger aus. Die Realität veränderte sich. Er nahm die Gänge nicht mehr als solche wahr, sondern als farbige, pulsierende Tunnel. Wie in einem Vexierbild sah er durch die Wände hindurch, auch sie nur mehr wabernde Farben, die sich überlappten. Das ganze Gefängnisgebäude lag vor ihm wie eine abstrakte Rißzeichnung. Drinnen nahm er leuchtende Punkte war. Zunächst irritierten sie ihn, aber dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Es waren die Lebensenergien der Menschen – der Gefangenen wie der Wärter –, die er auf diese Weise wahrnahm. Er konzentrierte sich weiter darauf, bis er auf einen einzelnen isolierten Punkt stieß, in dem kaum mehr Energie glühte. Sie war fast erloschen. Kierszan war sich sicher, daß er Rudnik gefunden hatte. Wie ein unsichtbarer Blitz fuhr er durch Wände und Mauern, bis er sich schließlich in einer winzigen Kammer befand. Sie war so klein wie
die, in der sich sein eigener Körper aufhielt. Rudnik lag zusammengekrümmt am Boden. Er regte sich selbst dann nicht, als Kierszan seine Gedanken auf ihn konzentrierte. Es konnte nicht sein, daß er zu spät gekommen war! Es durfte einfach nicht sein! Aber er war unfähig, den Körper des Freundes zu berühren, ihn zu untersuchen. Die Ungewißheit verlieh ihm ungeahnte Kraft. Der Wunsch, Rudnik zu helfen, wirkte wie ein Magnet, der sein körperliches Ich mit dem freischwebenden Bewußtsein vereinte. Von einem Moment zum anderen war er wieder in seinem Körper. Aber dieser Körper befand sich nun in Rudniks Zelle! Nun erst begriff er, was Chiyoda gemeint hatte. Seine präkognitiven Kräfte waren nur die Spitze des Eisbergs seiner wahren Fähigkeiten! Doch ihm blieb wenig Zeit, diese Erkenntnis zu verdauen. Rasch beugte er sich hinab und untersuchte den Reglosen. Die Wärter hatten Rudnik übel zugerichtet. Kierszan fühlte den Puls und das Pochen der Halsschlagader. Gottlob war noch Leben in ihm. »Rudnik, komm zu dir!« Kierszan schüttelte ihn vorsichtig, aber der Freund gab nur ein gequältes Stöhnen von sich. Sie hatten ihm derart zugesetzt, daß er über kurz oder lang sterben würde, wenn ihm niemand half! Kierszan überdachte kurz die Möglichkeiten, die ihm blieben. Er konnte seinen Geist wieder ausschicken, und vielleicht gelang es ihm, eine der Wachen zu überwältigen und mit deren Schlüssel Rudniks Zelle zu öffnen. Oder er konnte warten, bis jemand nach ihm schaute, und sich dann auf ihn stürzen. Oder … er konnte noch einmal versuchen, was ihm gerade geglückt war. Aber diesmal nicht allein. Die Entscheidung fiel ihm nicht schwer. Wieder versenkte er seinen Geist. Diesmal klappte es schneller als zuvor. Wieder sah er die Welt als ein buntes Farbspektrum. Rudniks
Lichtpunkt lag direkt vor ihm. Kierszan tastete danach und spürte, daß sein Geist den anderen umschlang. Vertrau mir! Ich führe dich hinaus in die Freiheit! Du mußt es nur wollen! Rudniks Geist klebte wie ein hinderlicher Anker an ihm. Dennoch gelang es Kierszan, die Wand der Zelle zu durchstoßen. Er nahm all seine Kräfte zusammen, während er Rudnik weiter mit sich zog. Niemand stellte sich ihm in den Weg, denn nach wie vor war er nur als Präsenz spürbar. Dann durchstieß er eine letzte Mauer. Frische Nachtluft hüllte ihn ein. Der vertraute Mond sandte seine wärmenden Strahlen auf seinen Geist. Kierszan wagte es noch nicht, seinen Körper wieder zu manifestieren. Zu groß war das Risiko, daß sie ihn und Rudnik gleich wieder entdeckten und gefangennahmen. Das Gefängnis befand sich nicht unweit des Vorstadtviertels, in dem er vor seiner Inhaftierung gehaust hatte. Er kannte sich hier aus. Vor allen Dingen aber kannte er Leute, die etwas von ärztlicher Kunst verstanden. Er erreichte das Gebäude, in dem sich seine frühere Behausung befand – kaum mehr als ein Kellerloch. Er vergewisserte sich kurz, ob nicht inzwischen ein anderer Bewohner hier eingezogen war, aber seine Sorge war unbegründet. Schließlich hielt er inne. Jetzt kam es darauf an, ob er noch genügend Kräfte für den zweiten Teil seines Plans aufbringen konnte. Vor seinem geistigen Auge sah er die beiden in der Zelle zurückgebliebenen Körper. Mit aller Kraft konzentrierte er sich darauf, sie wieder mit ihren Bewußtseinen zu vereinen. Es tat weh, und er merkte, wie seine Kräfte rapide nachließen. Fast glaubte er schon, es nicht zu schaffen, da spürte er wieder das vertraute Ziehen. Sein Geist fuhr in seinen Körper, während er sich gleichzeitig darauf konzentrierte, Rudnik ebenfalls wieder zusam-
menzuführen. Dann war es geschafft! Er schaute an sich hinab – über seinen vertrauten Körper. Die Flucht war ihm gelungen. Dann blickte er auf Rudnik. Ein Schrei entrang sich seiner Kehle. Rudniks verstümmelter Körper sah aus, als hätte man ihn durch einen Fleischwolf gedreht. Oder vielmehr, als hätte man versucht, seine Atome durch die Mauern eines Gefängnisses zu pressen, und sie dann wieder falsch zusammengesetzt. Rudnik war tot. Und er, Kierszan, hatte ihn getötet …
* Der Raum, in den sie Nona geworfen hatten, war noch nicht einmal ungemütlich. Er war mit roten Tapeten und Teppichen verziert. Außer einem Bett und einem Schminktisch mit einem Frisierspiegel darauf war er jedoch unmöbliert. Wahrscheinlich handelte es sich um eines der Zimmer, in der Frears Lustsklavinnen ihre Dienste verrichten mußten. Das Zimmer war fensterlos, aber Nona spürte durch die Mauern des Kellers hindurch das Rund des vollen Mondes, das bald hinter dem Horizont aufsteigen würde. Es konnte sich nur noch um Stunden handeln. Das lockende Zerren, das ihre Glieder bereits jetzt leicht erzittern ließ, würde sich dann nicht mehr ignorieren lassen. Sie wurde mit jeder Minute unruhiger. Plötzlich waren draußen näherkommende Schritte zu hören. Endlich tat sich etwas! Was auch immer diese Schweine mit ihr vorhatten, sie würden sich verrechnen. Der Vollmond würde ihr ungeahnte Kräfte verleihen. Die Tür wurde mit einem Ruck aufgerissen. Zwei von Frears Leuten traten ein.
»Zieh dich aus!« verlangte der eine. Sein Gesicht verriet, daß er es kaum erwarten konnte, ihren nackten Körper zu begaffen. »Was habt ihr vor?« fragte Nona. Der Mann warf ihr ein Bündel lederner Reizwäsche zu. »Keine Angst. Wir wollen ja nicht, daß du dich erkältest.« Widerwillig gehorchte Nona. Sie spürte die gierigen Blicke der beiden, als sie aus ihrer Kleidung stieg. Aber offensichtlich hatten sie den Befehl, sie nicht anzurühren. »Du hast Glück, daß unser Chef dich als Hauptattraktion des Abends vorgesehen hat. Aber vielleicht ist ja hinterher noch genügend übrig für uns beide!« Sie lachten gehässig. Nona mußte sich zurückhalten, um ihren Zorn nicht zu zeigen. Es hätte die beiden Männer nur noch mehr aufgestachelt. Sie schlüpfte in die Kleidung, die man ihr hingeworfen hatte. Es handelte sich um ein hautenges, aufreizendes Kostüm, das mehr Einblicke erlaubte, als daß es zur Verhüllung gedacht war. Unter anderen Umständen und mit dem richtigen Partner an ihrer Seite hätte es Nona sogar gefallen. »Perfekt!« sagte einer der Männer. »Und jetzt zeige ich dir deinen neuen Arbeitsplatz.« Er ging voran, während der zweite nach ihrem Arm griff und sie mit sich zog. Sie führten sie hinunter in die Bar. Um diese Zeit war noch kein Gast anwesend. Wahrscheinlich war es dazu noch zu früh. In der Mitte des Raumes befand sich ein Käfig. »Dort hinein!« befahl einer ihrer Bewacher. Einen Moment lang dachte Nona daran, sich zu sträuben. Aber es hätte ihr wahrscheinlich nichts genutzt. Sie zweifelte nicht daran, daß sich noch weitere von Frears Männern in der Nähe befanden und diese Kellerräume gut gesichert waren. Eine echte Chance hätte sie nur mit einem geeigneten Druckmittel. Zögernd betrat sie den Käfig. Sie hatte kaum Platz, sich zu setzen,
sondern war gezwungen, halb stehend in ihm zu verweilen. Einer der Männer verschloß den Käfig mit einer Kette und einem schweren Schloß, während der andere einen Flaschenzug betätigte. Langsam wurde der Käfig nach oben gezogen. Er schwankte dabei hin und her, so daß Nona sich an den Stangen festhalten mußte. Nicht erst jetzt schwante ihr, was Frears vorhatte. Er würde darauf warten, daß ihre Metamorphose einsetzte, und sie vor den geladenen Gästen zur Schau stellen. Und gewiß war dies noch nicht alles an Demütigungen, was ihr blühte. Sie rüttelte an der Kette und zog an den Bügeln des Schlosses. Es gab nicht um einen Millimeter nach. »Oh, sie wird schon langsam munter«, ließ sich eine Stimme vernehmen. Nona sah hinab und blickte in Frears widerliche Visage. »Du mußt dich noch etwas gedulden. Wir öffnen erst um acht. Vorher ist es sowieso nicht dunkel.« Er lachte auf widerliche Weise. Sie gab ihm nicht die Genugtuung, um Gnade zu flehen. Dafür kam ihr plötzlich ein anderer Gedanke. Er war verbunden mit dem Hungergefühl, das sie plötzlich verspürte. »Ich habe seit gestern nichts mehr gegessen«, sagte sie und bemühte sich, einen geschwächten Eindruck zu machen. Frears sah sie mißtrauisch an. »Du wirst mir doch nicht schlappmachen«, sagte er schließlich. »Ich erwarte einige einflußreiche Gäste, denen ich ein besonderes Ereignis versprochen habe.« Er wandte sich an seine beiden Bediensteten. »Besorgt ihr etwas zu essen!« Zwei Minuten später kam einer der Männer mit einer Konservenbüchse kalter Ravioli zurück. »Laß sie runter!« befahl Frears. Der Käfig wurde wieder herabgelassen, und Frears schob die Konservendose durch die Stäbe. Nonas Gesichtszüge verzerrten sich zu einer wütenden Fratze. »Was soll ich mit diesem Fraß?« Sie warf die Dose nach ihm. Im letzten Moment zuckte er zurück, so daß sie ihn nicht traf. »Oh,
du hast besondere Ansprüche, was?« »Fleisch. Ich brauche Fleisch. Ansonsten werde ich kaum ein befriedigendes Schauspiel bieten können.« »Also gut«, knurrte Frears. »Bring ihr, was sie will! Aber laßt genug für heute Abend übrig!« Widerspruchslos gehorchte der Bedienstete. Als er wiederkam, sagte Frears: »Extra für dich haben wir einen Hammel geschlachtet. Eigentlich wollten wir uns die Fütterung als besondere Attraktion des Abends aufsparen.« Nona sah das blutige Fleisch, das in einer transparenten Plastiktüte hereingebracht wurde. Ihre Gier erwachte. Sie brauchte sich nicht länger zu verstellen. Die unstillbare Sucht, zu jedem vollen Mond zu jagen und zu fressen, meldete sich vehement zurück. Es würde nicht mehr lange dauern, und der Trieb, den ihr Vater ihr vererbt hatte, würde die Oberhand über ihre Persönlichkeit gewinnen. Der Trieb, der für ihre seelische Qual ebenso verantwortlich war wie für die Wonnen, wenn sie ihre Fänge in ein Opfer grub. Aber noch mußte sie sich beherrschen. Frears durfte nicht erkennen, wie es jetzt schon um sie stand. Sie rief sich die Meditationsübung, die Chiyoda sie gelehrt hatte, ins Gedächtnis zurück. Mehr als einmal hatte sie sie erfolgreich angewandt. Der alte chinesische Werwolf, der seinen Anhängern predigte, dem Einfluß des Mondes zu widerstehen, ihm Widerstand zu leisten und sowohl dem Morden als auch dem Kannibalismus zu entsagen, hatte auch ihr etwas beibringen können. Schnell gewann sie ihre Beherrschung zurück, obwohl das Schwindelgefühl und das fordernde Pochen unter ihrer Schädelplatte sich nicht vollends verdrängen ließen. Ihre Brüste und das Zwerchfell begannen in wohlvertrauter Weise zu kribbeln. Sie zwang sich zur Ruhe und spielte Frears das entkräftete Opfer vor. Im Gegensatz zu der kleinen Raviolidose ließ sich die Plastiktüte
mit der blutigen Keule nicht durch das Gitter schieben. Sehr gut … »Also schön, ich lasse dich noch einmal frei« knurrte Frears. »Aber danach ist meine Geduld zu Ende!« Er nahm den Schlüssel und schloß den Käfig auf. Nona fiel heraus und landete auf den Knien. Ihre Erschöpfung war nach wie vor gespielt. Ihre Gier nicht. Der Geruch der blutigen frischen Keule drang verführerisch in ihre Nase. Frears reichte ihr mit einer Mischung aus Ekel und Faszination die Tüte. Nona riß sie ihm fast aus den Händen. Dennoch zwang sie sich, die erste richtige Mahlzeit seit ihrer Ankunft in dieser merkwürdigen Welt nicht gleich hinunterzuschlingen. Der Genuß rohen Fleisches, erst recht solches, in dem noch die Wärme eines gerade erst erloschenen Lebens zu spüren war, bedeutete ihr mehr als alle Verlockungen. Trotzdem; sie mußte bei klarem Verstand bleiben. Vor allen Dingen mußte sie dafür sorgen, daß die Kräfte, die in ihr schlummerten, erst dann zum Leben erwachten, wenn sie es wollte. Sie wußte, daß das blutige Fleisch ihre Metamorphose beschleunigen konnte – erst recht, wenn der Vollmond in greifbare Nähe gerückt war. Sie verschlang das blutige Fleisch, während Frears ihr dabei zuschaute. Sein Ekel war nun reiner, perverser Faszination gewichen. »Das dürfte reichen!« sagte er schließlich, als Nona ihre Mahlzeit beendet hatte. »Zurück in den Käfig!« Langsam hob sie den Kopf und sah Frears mit eiskaltem Blick an. Blut tropfte von ihren Mundwinkeln. Sie bot einen erschreckenden Anblick. Und nun endlich ließ sie der Bestie in sich freien Lauf! Sie stützte sich auf ihre Handballen und Knie und ging in eine lauernde Stellung über. Frears und der andere Mann wichen langsam zurück. Sie ahnten, was mit Nona vorging – und daß es zu spät war, sie daran zu hindern. Nona hörte das Knirschen ihrer Gelenke. Ihr Körper streckte sich,
als ihre ganze Anatomie sich veränderte. Die Lederwäsche ging in Fetzen. »Schnell! Sie muß in den Käfig!« schrie Frears. Panik färbte seine Stimme schrill. Sein Bediensteter war es gewohnt zu gehorchen. Dennoch kam er nur zögernd näher. Und begriff zu spät, daß es besser gewesen wäre, ein einziges Mal im Leben die Gefolgschaft zu verweigern. Ihm blieben nur Sekunden, seinen Fehler zu bereuen. Dann hatte Nona ihm die Kehle durchgebissen. So verlockend es auch war, nachzufassen und ihrem Jagdtrieb freien Lauf zu lassen, sie mußte schnell handeln! Frears stand noch immer wie erstarrt, konnte es noch immer nicht fassen, was sich vor seinen Augen abspielte. Vermutlich hatte er noch nie einen Werwolf bei der Metamorphose beobachtet. Langsam und geschmeidig näherte Nona sich ihm. Ihre Kräfte überstiegen nun weit das Maß einer normalen Frau und auch das eines kräftigen Mannes. Sie fühlte sich unbezwingbar. Das behaarte Gesicht der Tiermenschen war nicht nur abstoßend. Es besaß bei allem Animalischen feminine Züge, wie auch der übrige Körper zweifellos etwas Weibliches ausstrahlte. Nicht, daß dies zu Frears Beruhigung beigetragen hätte. Er riß die Arme hoch und hielt sie schützend vors Gesicht. Nona schlug sie mit ihren Pranken mühelos beiseite. Im nächsten Moment rissen ihre nadelspitzen Krallen tiefe Furchen in sein Fleisch. Frears Schreien verwandelte sich in ein nicht enden wollendes Schmerzgeheul. Blitzschnell hieb Nona gegen seine Brust und riß sie fast zur Hälfte auf. Ein Blutschwall ergoß sich auf dem Boden. Frears fiel nach hinten und sackte zu Boden. Nonas fauchte heiser. Ihr Raubtieratem schlug ihm ins Gesicht. »Gnade!« winselte er, aber er wußte, daß es dieses Wort in ihrem jetzigen Bewußtsein nicht gab.
Er spürte das Gewicht der Werwölfin wie Blei auf seiner Brust. Dann preßte sie ihm Arme und Beine zu Boden und verdammte ihn zur Bewegungslosigkeit. Unter dem Nebel seiner Angst sah er ihr mörderisches Gebiß, das sich mit unerbittlicher Langsamkeit seiner Halsschlagader näherte. Für einen Moment sah es beinahe so aus, als würde sie sich besinnen. Dann machte sie kurzen Prozeß.
* Nona sprang auf. Sie witterte in alle Richtungen. Mißtrauisch ließ sie die Blicke ihrer goldenen Wolfsaugen wandern. Aus den angrenzenden Räumen hörte sie Tumult und Schreie. Sie konnte die Verunsicherung und Angst der Menschen riechen. Sie mußte an sich halten, nicht wahllos weiterzujagen. Draußen wartete die Freiheit auf sie. Hier drinnen würde man sie über kurz oder lang überwältigen. Sie sprang auf und jagte in Richtung Ausgang. Die Tür war natürlich verriegelt, und in ihrer jetzigen Gestalt konnte sie den komplizierten Schließmechanismus nicht betätigen. Aus tiefster Kehle grollend verharrte sie. Näherkommende Schritte verrieten ihr, daß man ihr dicht auf den Fersen war. Zwei von Frears Männern bogen um die Ecke. Sie waren mit Pistolen und Säbeln bewaffnet. Nona knurrte sie an. »Schieß!« brüllte einer der Männer. Nona nahm Anlauf. Mit einem Satz sprang sie über die Männer hinweg und flüchtete. Das Risiko, daß die Schußwaffe vielleicht mit Silber geladen war, schien ihr zu groß. Die Bar ging in ein weitverzweigtes System von Gängen über. Nona hetzte weiter, atemlos, sich keine Pause gönnend. Eine Stunde irrte sie umher, bis sie endlich über sich einen vertrau-
ten Lichtschein sah. Durch ein vergittertes Kellerfenster an der Decke drangen die Strahlen des Vollmonds herab. Die Mauern in diesem Teil des Kellers waren aus rohen, ungleichmäßigen Steinen erbaut. Nona hatte keine Mühe, sie zu erklimmen. Geschickt nutzte sie jeden noch so geringen Vorsprung, bis sie oben angelangt war. Das Gitter ließ sich nur von innen öffnen und besaß einen einfachen Riegel, den sie mühelos mit den Zähnen beiseite schieben konnte. Sie zwängte sich durch die schmale Öffnung ins Freie. Ein triumphierendes Heulen entrang sich ihrer Kehle. Sie hatte es geschafft! Wachsam sah sie sich um. Die abendliche Straße lag gewohnt menschenleer vor ihr. Sie wußte längst, daß kaum ein Mensch es wagte, nach Einbruch der Dunkelheit seine schützende Behausung zu verlassen. Erst recht nicht bei Vollmond. Mehr als sonst waren die Kreaturen der Dunkelheit unterwegs, wenn er seine Herrschaft über die Nacht antrat. Nona huschte weiter, bemüht, trotz ihrer Euphorie weiter Vorsicht walten zu lassen. Plötzlich sah sie am entfernten Ende der Straße mehrere huschende Schatten verschwinden. Nona erkannte sie gleich. Es waren weder Menschen noch Dienerkreaturen, sondern … … Artgenossen!
* Es war ein kleines Rudel von vier Wölfen. Sie hatten sie noch nicht gewittert. Vielleicht, weil der Wind ungünstig stand; vielleicht auch, weil die Macht des Mondes auch sie die Vorsicht hatte vergessen lassen. Nun waren sie unterwegs, um Beute zu machen. Trotz der Gefahr, die ihnen von den Dienerkreaturen drohte. Es war nicht einfach für Nona, dem Rudel zu folgen. Sie kannten
sich in diesem Bezirk New Yorks gut aus und schlugen mehrmals raffinierte Haken. Als Nona schweratmend eine Straßenecke erreichte, konnte sie das Rudel nicht mehr sehen. Dafür erblickte sie im nächsten Moment etwas anderes. Aus einer Hausnische traten vier Gestalten ins Licht des Mondes. Dienerkreaturen! Nona zuckte zurück. Gerade noch rechtzeitig! Die Kreaturen schienen zielgerichtet zu operieren. Sie liefen geduckt los, nutzten sie die Gunst der Schatten und drangen in eine Nebenstraße ein. Hatten sie sich vorgenommen, die Werwolfmeute zu verfolgen? Nona heftete sich an ihre Fersen. Plötzlich drang wütendes Geheul aus der Straßenschlucht, und als Nona weit genug aufgeschlossen hatte, sah sie, was passiert war. Das Rudel saß in der Falle! Der Weg wurde ihnen von einer weiteren Gruppe Dienerkreaturen versperrt. Die Blutsauger waren deutlich in der Überzahl. Nona hatte vorgehabt, aus dem Verborgenen zu beobachten. Aber sie konnte unmöglich mitansehen, wie Angehörige ihrer Rasse einen aussichtslosen Kampf fochten! Die ersten Dienerkreaturen hatten die Werwölfe erreicht und griffen an. Ihre spitzen Krallen und Zähne waren nicht ungefährlichere Waffen als die Klauen und Fänge der Wölfe. Dazu kam die Gefühllosigkeit ihrer toten Körper, die keinen Schmerz empfanden. Nona hielt es nicht mehr in ihrem sicheren Versteck. Sie stürmte vorwärts. Die Kämpfenden bemerkten sie nicht eher, bis sie sich selbst in das Getümmel stürzte. Sofort wurde sie von einer Dienerkreatur angegriffen. Es handelte sich um einen noch jungen, wendigen Blutsauger mit gewaltigen Reißzähnen. In seinen blutunterlaufenen Augen blitzte die reine Mordlust. Nona riß ihm den Hals auf – ohne Wirkung. Es floß nicht einmal Blut! Dafür erwischte sie sein Schlag voll. Unsanft kam sie auf dem
Boden auf, war aber sofort wieder auf den Beinen. Die Kreatur drang erneut auf sie ein, und diesmal wählte Nona einen subtileren Weg. Mit einer blitzschnellen Bewegung stieß sie ihre Krallen direkt in seine Augäpfel. Dienerkreaturen mochten unempfindlich gegen Schmerzen sein, aber ohne Augen waren sie genauso blind wie jedes Wesen. Der Blutsauger brüllte wütend auf und taumelte. Sofort war Nona über ihm und stieß ihn zu Boden. Bevor er überhaupt wußte, was mit ihm geschah, nahm sie seinen Kopf zwischen ihre Fänge und drehte ihn, bis ein trockenes Knacken ihr verriet, daß sein Genick gebrochen war. Tote waren in dieser Hinsicht wenig widerstandsfähig … Nona warf sich herum. Zwei der Wölfe lagen bereits in ihrem Blut. Die restlichen beiden wehrten sich weiterhin verzweifelt. Besonders einer, ein großer, mächtiger Wolfsmensch, leistete den Kreaturen erbitterten Widerstand. Wahrscheinlich war er der Anführer des Rudels. Für einen Sekundenbruchteil trafen sich ihre Blicke. Dann warfen sich zwei Dienerkreaturen über ihn. Nona sprang ihm zu Hilfe. Wie eine Berserkerin wütete sie unter den verhaßten Gegnern. Der dritte Werwolf verendete mit qualvollem Geheul. Nun waren Nona und der große Wolf auf sich allein gestellt. Vier der Dienerkreaturen waren noch am Leben. Langsam wichen Nona und der Werwolf zurück. Sie standen nun Seite an Seite. Und verstanden sich blind. Sie wußten, daß sie ihr Heil nur in der Flucht finden konnten. Der Weg war jetzt frei. Sie warfen sich herum und preschten los, während hinter ihnen das wütende Geheul der Dienerkreaturen erklang. Sie mochten angeschlagen sein, aber es war ihre Natur, nicht aufzugeben. Doch gegen die sehnigen Wolfskörper hatten sie keine Chance.
Rasch gewannen Nona und der Werwolf an Vorsprung. Zunächst waren es nur wenige Meter, schließlich lagen mehrere Häuserfronten zwischen ihnen. Der Werwolf lief voran. Er schien sich in diesem Viertel bestens auszukennen. Schließlich waren die Dienerkreaturen nicht mehr zu sehen. Die beiden Wölfe erreichten eine verlassene Straße. Früher hatte sie als Hauptverkehrsader gedient; heute aber fuhr hier kein Wagen mehr. Einzig einige Autowracks standen herum. Es war gespenstisch. Zu beiden Seiten türmten sich gewaltige Wolkenkratzer. Auch sie wirkten mehr wie Ruinen. Der Werwolf verlangsamte seinen Schritt. Er vergewisserte sich, daß niemand in der Nähe war, bevor er das Gitter eines Kellerfensters beiseite drückte und hindurch sprang. Nona folgte ihm. Sie hatte keinen Grund, ihm nicht zu vertrauen. Im Innern des Hauses war es finster, aber ihre Instinkte verließen sich nicht nur auf optische Eindrücke. Der Werwolf stürmte voran und hielt erst an, als sie einen in einer Nische getarnten Eingang erreichten. Als sie auch ihn passiert hatten und in einer Kammer angelangt waren, wo eine einzelne Kerze trübe Helligkeit verbreitete, sah Nona sich um. Dabei ging sie erneut in die Metamorphose – diesmal zurück zu ihrem menschlichen Körper. Ihr Begleiter tat es ihr gleich. Natürlich waren sie beide nackt – Werwölfe geboten nicht über die vampirische Fähigkeit, die Kleidung in ihre Metamorphose mit einzubeziehen. Aber gerade dadurch war es Usus, sich unbekleidet ohne falsche Scham zu begegnen. Was nicht bedeutete, daß Nona der Anblick des muskulösen männlichen Körpers gleichgültig war. Länger als nötig verharrte ihr Blick auf seinen offensichtlichen Vorzügen.
Um wieviel unattraktiver war dagegen dieser Kellerraum! Er war spartanisch eingerichtet und enthielt außer vier alten Matratzen und einigen Trinkflaschen kein Mobiliar. »Ist dies hier dein … Zuhause?« Nona konnte nicht glauben, daß jemand ihrer Rasse gezwungen war, so erbärmlich zu leben. Der Werwolf sah sie erstaunt an. Er spürte ihr Unbehagen. »Du solltest froh sein, daß ich dir Unterschlupf gewähre«, sagte er. »Wenn es dir hier nicht gefällt, kannst du gerne wieder gehen.« Seinem Worte klangen aggressiver, als er sie vermutlich meinte. Schließlich hatte er gerade sein Rudel verloren. Nona schüttelte den Kopf. »Ich habe dich nicht beleidigen wollen«, sagte sie. »Aber dort, wo ich herkomme, ist alles ein wenig … anders. Ich bin erst seit wenigen Tagen in New York. Übrigens heiße ich Nona. Wie ist dein Name?« »Kierszan.« »Was passiert dort draußen, Kierszan? Ist es wirklich so, daß Anum die Herrschaft über die Welt angetreten hat?« Kierszan nickte. »Warum fragst du das? Jeder weiß es. Aber schlimmer ist, daß er nicht die geringste Macht neben sich duldet.« »Hast du je vom Lilienkelch gehört?« Kierszan überlegte. »Dem Unheiligtum der Vampire? Es ist eine Legende, die seit einigen Jahren unter uns Gejagten kursiert. Der Lilienkelch steht für Anums Versagen. So mächtig er auch sein mag – der Kelch ist für ihn auf ewig verloren. Seit der von ihm proklamierten Erneuerung gibt es kaum echte Vampire neben ihm – bis auf einige Statthalter in anderen Metropolen. Ich weiß aber nicht, in wieweit die Legende vom Lilienkelch der Wahrheit entspricht …« »Es könnte mehr dran sein, als viele glauben«, sagte Nona nachdenklich. Ihren Gegenüber reinen Wein einzuschenken, hielt sie noch für verfrüht. »Ich würde es gerne herausfinden …« »Ich wußte von Anfang an, daß du verrückt bist. Warum bist du
uns überhaupt zu Hilfe geeilt?« »Hätte ich mitansehen sollen, wie euch die Dienerkreaturen zerfleischen?« Kierszan sah sie zweifelnd an. Offenbar war es in diesen Zeiten nicht üblich, für den anderen einzutreten. »Ich bin in deiner Schuld«, sagte er dann. »Ein Gedanke, der mir wenig behagt … Ich weiß noch nicht einmal, woher du kommst.« Nona überlegte einen Moment, ob sie ihm die Wahrheit erzählen sollte, aber er hätte sie nicht verstanden. »Sagen wir … ich komme von weit her«, meinte sie schließlich. Sie sah ihm gleich an, daß ihm diese Erklärung nicht genügte, und fügte rasch hinzu: »Ich war sehr lange krank. Mein Mentor hat mich gepflegt und von der Welt abgeschirmt. Man könnte fast sagen, ich war seine Gefangene – dabei meinte er es im Grunde nur gut mit mir.« »Das erklärt deine Unwissenheit«, stellte Kierszan fest. »Trotzdem ist es eine seltsame Geschichte.« »Wie lautet deine?« fragte Nona. Kierszan senkte den Kopf. »Ich kann sie dir gerne erzählen, aber es ist das Geständnis eines Mörders. Ich meine damit nicht die Jagd unter dem Vollmond. Aber ich habe einen guten Freund auf dem Gewissen …« Nona forderte ihn auf, weiterzusprechen, und lauschte gebannt seinem Bericht über die Gefangenschaft und all die Demütigungen, die er und seinesgleichen hatten erdulden müssen. Als er jedoch zu der Stelle kam, an der ihm ein Mann namens Chiyoda wie aus dem Nichts erschienen war, schrak Nona innerlich zusammen. Chiyoda! Er weilte also doch hier! Und es konnte kein Zufall sein, daß er Kierszan erschienen war. Genauso wenig wie ihr eigenes Zusammentreffen mit dem Werwolf? Verfolgte Chiyoda einen Plan damit? Kierszan bemerkte ihre Erregung, fuhr aber in seinem Bericht fort.
»… ich schloß mich also der kleinen Gruppe an«, endete er schließlich. »Seitdem hause ich in diesem Loch. Es ist besser als der Tod – obwohl ich ihn verdient habe.« Nona legte ihre Hände um seine Schultern. »Es war nicht deine Schuld«, tröstete sie ihn. »Die Kräfte, die in dir schlummern, sind zu unberechenbar, als daß man sie von Anfang an hätte beherrschen können. Du hast versucht, deinen Freund zu retten; nur das zählt.« Er erwiderte ihre Umarmung, und sie spürte, wie seine Erregung dabei wuchs. Seine Hände strichen zärtlich über ihren Rücken, den noch immer ein leichter Flaum bedeckte. Nona hätte nichts dagegen einzuwenden gehabt, sich die Zeit auf lustvolle Weise zu vertreiben. Andererseits war die Nacht noch jung. Sie war lange genug eingesperrt gewesen. Der Vollmond draußen lockte nach wie vor. So schob sie seine Hände beiseite und rückte von ihm ab. »Später«, sagte sie verheißungsvoll. »Der Mond ruft mich zur Jagd. Ich glaube nicht, daß wir die Kreaturen noch fürchten müssen. Sie haben die Verfolgung längst aufgegeben.« »Es gibt noch mehr von ihnen«, warnte Kierszan. Aber auch ihm war anzumerken, daß ihn das riskante Spiel faszinierte. Die Nächte des Vollmonds besaßen ihre eigene Magie, der sich kein Wolf entziehen konnte. Sie schlichen wieder hinaus und nahmen erneut ihre Tiergestalten an. Diesmal agierten sie noch vorsichtiger, streunten durch die menschenleeren Straßen und genossen die Strahlen des vollen Gestirns. Zweimal stießen sie auf Dienerkreaturen und gingen ihnen geschickt aus dem Weg. Schließlich erreichten sie einen Park. Eine mondbeschienene Wiese lag vor ihnen, in deren Zentrum sich eine Statue erhob. Sie war zu weit entfernt, als daß Nona erkennen konnte, was sie darstellte. Es interessierte sie auch nicht. Doch als sie auf ihrem Weg die Grünfläche überquerten und dem
Standbild näher kamen, erkannte sie erste Einzelheiten. Nona verhielt in ihrem Lauf, verwirrt, erstaunt und erschrocken. Erst wollte sie ihren Augen nicht trauen, doch schließlich gab es keinen Zweifel mehr: Die Statue zeigte Landru! Allerdings stellte sie ihn in einer wenig schmeichelhaften Haltung dar. Er trug eine Art Zaumzeug, das ihn zu einer devoten Haltung zwang. Der Künstler, der die Statue erschaffen hatte, war wirklich ein Meister gewesen. Sogar die Augen Landrus drückten hündische Unterwerfung aus. Kierszan trat an Nonas Seite. »Weißt du, wer das ist?« fragte sie ihn, in der vagen Hoffnung, sich zu irren. Ihre Aussprache, von Stimmbändern geformt, die des Sprechens eigentlich nicht mächtig waren, klang rauh und kehlig. »Landru, der Verräter«, knurrte Kierszan. »Seine Abbilder sind überall im Land verteilt. Sie wurden auf Anums Befehl errichtet – als Zeichen seiner Macht und als Warnung an diejenigen, die seine Herrschaft anzweifeln wollen.« »Weißt du, was ist mit ihm geschehen ist?« »Die meisten sagen, er wäre tot. Andere sprechen davon, daß Anum ihn gefangenhält und in seiner Festung für alle Zeiten knechtet.« Nona konnte es nicht fassen. Landru hier in New York – in Anums Palast? Sie spürte Kierszans mißtrauischen Blick. Ihr Interesse für Landru ließ ihn stutzen. Trotzdem konnte sie darauf jetzt keine Rücksicht nehmen. »Führe mich zu Anums Palast!« verlangte sie. Kierszan sah sie ungläubig an. Seine schmalen Wolfsaugen weiteten sich. »Nicht in der Nacht«, knurrte er schließlich. »Schon gar nicht in dieser. Wir würden nicht weit kommen. Der ganze Palast ist von
Dienerkreaturen umstellt. Niemand gelangt auch nur in seine Nähe.« Nona hatte keine Wahl, als ihm zu glauben. Wahrscheinlich würden sie wirklich in ihr Verderben rennen. »Gut«, sagte sie. »Also warten wir bis morgen!« »Und was machen wir bis dahin?« fragte Kierszan. Nona überlegte nicht lange. Sie fühlte, daß ihr Begleiter nicht begeistert war von ihrem Vorhaben. Sie mußte einen Weg finden, ihn fester an sich zu binden. »Ich hätte da eine Idee …« Ihre Lefzen zogen sich zurück, und fast sah es aus, als lächelte sie.
* Sie hatten sich nur halb in ihre humanoide Gestalt zurückverwandelt. In dieser Form vereinigten sie die Wildheit des Wolfs mit all seinen Instinkten und die Zerbrechlichkeit des menschlichen Körpers. Kierszans rauhe, fellbedeckte Hände tasteten fast brutal über Nornas Körper. Sie gab ein befriedigtes Knurren von sich. Kierszan war in seiner Wergestalt eine imposante, muskulöse Erscheinung. Nicht umsonst war er der Führer des Rudels gewesen. Ihre Finger spielten mit seinem Fell, rissen sanft und zugleich fordernd daran. Wie im Rausch ließ sie sich hineinfallen in Gier und pure, hemmungslose Lust. Sie spürte seine Finger in sich eindringen und revanchierte sich, indem sie sein Glied mit der Faust umschloß. Ein halb lustvolles, halb schmerzhaftes Stöhnen entrang sich seiner Kehle. Sie ging auf die Knie und sank mit der Brust bis auf den Boden hinab. Im nächsten Moment schon spürte sie seine rauhe Zunge an ihrer Pforte. Er war wirklich ein Naturtalent. Nona stöhnte.
Dann drang er in sie ein, während seine scharfen Krallen ihren Rücken ritzten. Beide versanken sie in einem Strudel animalischer Sinne, der sie alles andere vergessen ließ. Schreie der Lust hallten in dem schäbigen Kellerraum so lange wider, bis sie beide ermattet und schweratmend voneinander abließen und in einen glückseligen Schlaf sanken. Als Nona erwachte, war ihr Körper wie gerädert. Die Wonnen der vergangenen Nacht waren totaler Erschöpfung gewichen. Und Leere. Sie fühlte gar nichts mehr … keinen überirdischen Trieb, der sie dem Mond so hilflos und willkommen zugleich auslieferte. Sie schaute an sich herab. Ihr nackter Körper war wieder der einer Frau. Sie wandte den Kopf und sah Kierszan neben sich. Auch er hatte längst seinen menschlichen Körper wiedererlangt. Seine markanten Gesichtszüge waren im Schlaf entspannt. Seine breiten Schultern und muskulösen Arme luden dazu ein, sich schutzsuchend an ihn zu schmiegen. Als spürte er, daß sie ihn anblickte, schlug er die Augen auf. »Also war es kein Traum«, grinste er. Nona wälzte sich auf den Bauch und stützte den Kopf auf beide Hände. »Ich hoffe, du erinnerst dich genauso gut an dein Versprechen von gestern Nacht«, sagte sie. »Du wolltest mir etwas zeigen.« Er seufzte, rollte sich herum und blickte zur Decke. »Anums Palast. Du hast dein Vorhaben also nicht aufgegeben.« Er schüttelte den Kopf. »Ich stehe zu meinem Wort, auch wenn es der reinste Selbstmord ist. Aber immerhin verdanke ich dir mein Leben.« »Dann führe mich hin!« verlangte Nona. Sie erhoben sich. Kierszan warf Nona ein kurzes Kleid zu. »Von einer deiner Gespielinnen?« fragte Nona. Kierszan grinste. »Keine Eifersucht. Es stammt von einer Frau, die
sich unserem Rudel anschloß.« Sein Lächeln gefror. »Auch sie starb durch die Hand der Dienerkreaturen.« Schweigend kleideten sie sich an. Er öffnete die Kellertür und zeigte ihr den Weg hinaus. Es war früher Morgen. Die Sonne war nicht zu sehen. Düstergraue Wolkenbänke verdeckten den Himmel. Die Straßen New Yorks wirkten bei Tageslicht noch gespenstischer als bei Dunkelheit. Normalerweise hätte hier die morgendliche Rush-Hour für ein Verkehrschaos sorgen müssen. Doch alles war menschenleer. Nona fragte sich, wie viele Menschen noch in New York City wohnten. Sie fragte Kierszan danach. »Die Stadt ist unterhöhlt wie eine Maulwurfswiese«, entgegnete er. »Die Menschen leben hauptsächlich in den Kellern und in den neugeschaffenen Gängen darunter. Es gibt nur wenige Gründe, die Oberwelt aufzusuchen. Um Nahrung zu finden, zum Beispiel.« In der Nähe des Central Parks stießen sie auf erste Menschen. Es war eine Gruppe von fünf Männern und Frauen. Sie wirkten wie heruntergekommene Obdachlose. Als sie Nona und Kierszan erblickten, schwenkten sie Knüppel und primitive Waffen. Die beiden machten einen Bogen um die Gruppe. Vereinzelt begegneten ihnen weitere Menschen. Sie waren auf der Suche nach Nahrungsmitteln oder nach Händlern, von denen sie etwas erstehen konnten. Nona erschauerte. In dieser Welt schien es nicht die geringste Hoffnung mehr zu geben. Es war eine unbarmherzige, kalte und zutiefst grausame Zukunft, in der sie sich befand. Anum hatte ein perfektes Schreckensregime errichtet. Vor ihnen erhoben sich mehrere Hochhäuser. Rauchfahnen zeigten an, daß in einige davon Schwelbrände fraßen. Niemand machte sich die Mühe, sie zu löschen. »Dort hinein?« fragte Nona überrascht, als Kierszan auf das Portal eines der Wolkenkratzer zusteuerte.
Er nickte. »Von oben haben wir den besten Überblick. Es wäre zu gefährlich, noch näher heranzugehen. Anums Kreaturen sind überall!« Er schritt voran und stieß die in rostigen Angeln hängende Tür auf. Sie betraten einen großen Empfangsflur Auch hier war es menschenleer. Sie gingen an den nutzlosen Aufzügen vorbei zur Treppe. »Daran führt nichts vorbei«, seufzte Kierszan. Erst jetzt kam Nona wieder in den Sinn, was sie längst erfahren hatte: Anums Herrschaft fußte auch darauf, daß er sämtliche Technik unbrauchbar gemacht hatte. Wie, das vermochte sie nicht zu sagen; wahrscheinlich mit Hilfe seiner Hütermagie. Nichts funktionierte mehr: keine Autos, keine Rundfunkgeräte, nicht einmal automatische Waffen. Sie schritt tapfer voran. Kierszan folgte ihr. Nach einer kleinen Ewigkeit langten sie oben an. Kierszan öffnete eine Tür, die auf die Dachterrasse führte. »Nach dir!« sagte er mit einer einladenden Handbewegung. »Ich kenne den Anblick bereits.« Nona wand sich an ihm vorbei, betrat die Terrasse – und blieb überwältigt stehen. Fassungslos weiteten sich ihre Augen. Die Umrisse des Central Parks waren noch gut zu erkennen. Doch inmitten der gewaltigen Grünfläche ragte … etwas auf, das Nona kaum in Worte zu fassen vermochte. Die umliegenden Wolkenkratzer verblaßten gegen diesen schwarzen Moloch zu Zwergen. Die Festung selbst schien Nona uneinnehmbar. Nirgendwo war ein Eingang zu sehen. Lediglich einige Öffnungen in den höher gelegenen Teilen waren zu erkennen. Nonas Zuversicht schwand. »Von dort aus also zelebriert er seine dunkle Macht«, sagte sie beeindruckt. »Man sagt, daß er sich New York nur wegen der Bevölkerungsdichte ausgesucht hat. Um den Menschen seine Macht zu demonstrieren. Das wahre Zentrum seiner Macht soll sich in einem Weißen
Tempel in Uruk befind-« Kierszan verstummte mitten im Wort. Mit einer Handbewegung bedeutete er auch Nona, zu schweigen. »Ich habe ein Geräusch gehört!« flüsterte er dann und deutete auf den Treppenaufgang. »Irgend jemand ist dort unten!« Mit einem Schritt war Nona neben ihm. Auch sie hörte nun die Stimmen, die aus dem Treppenschacht heraufdrangen. »Glaubst du, daß man uns beobachtet hat?« raunte sie zurück. Kierszan zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Auf jeden Fall sitzen wir hier oben in der Falle. Es sei denn, du kannst fliegen …« Nona beugte sich über das Geländer des Treppenschachts und sah nach unten. Sie erkannte eine Horde von Leuten, die lärmend die Stufen heraufkamen. Offenbar waren es immerhin keine Kreaturen. »Outlaws«, sagte Kierszan. »Sie müssen gesehen haben, wie wir das Gebäude betraten. Mit diesen Leuten ist nicht gut Kirschen essen. Es gibt mehrere dieser Banden. Sie haben sich zusammengeschlossen und rauben und brandschatzen, was das Zeug hält. Sie wagen sich nur tagsüber aus ihren Löchern, dafür sind sie aber um so unberechenbarer.« »Gibt es noch einen anderen Weg hinunter?« fragte Nona. Kierszan schüttelte den Kopf. »Die Feuertreppe ist längst verrostet. Wir können nichts weiter tun als warten.« Nona sah sich nach einem Versteck um, doch die Dachterrasse bot keinerlei Bauten oder Vorsprünge. Neben dem Treppenhaus war hier nur der Aufzugschacht. Der Aufzug! Die Schiebetüren standen halb offen, doch die Kabine war nicht da. Nona eilte hinüber und lugte in den stockfinsteren Schacht. Undeutlich konnte sie einen schmalen Sims ausmachen, der sich um das Innere des Schachtes zog. Sicher, es war riskant – aber immerhin besser, als von einer durchgedrehten Meute gelyncht zu werden.
»Dort hinein, schnell!« Kierszan sah sie nur einen Augenblick lang zweifelnd an. Dann stürzte er auch zum Aufzug. Sie stellten sich links und rechts der Türen auf den schmalen Vorsprung. Es reichte gerade, den Absätzen ihrer Schuhe Halt zu geben. »Hilf mir!« zischte Nona und lehnte sich gegen ihre Hälfte der Fahrstuhltür. Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, die Türen zuzuschieben. Nur ein schmaler Ritz blieb offen. »Es hat doch keinen Zweck«, wandte Kierszan ein. »Sie wissen, daß wir hier oben sind!« Nona legte den Finger auf den Mund. »Still!« Draußen waren Schritte zu hören. Die ersten der Bande hatten das Dachgeschoß erreicht. Sofort schwärmten sie aus. Nona hielt den Atem an. Sie beobachtete die Männer durch den schmalen Türschlitz. Insgesamt war es eine Meute von dreizehn Männern. Sie hatten sich nach alter Rockermanier gekleidet. Auf Motorräder mußten sie zwar verzichten, dafür war ihr Aussehen um so martialischer. Sie waren bis an die Zähne bewaffnet. Nona zweifelte nicht an Kierszans Worten. Die Gewalttätigkeit stand diesen Männern im Gesicht geschrieben. Einer von ihnen zeigte in ihre Richtung. Rasch rotteten sie sich zusammen und kamen näher. »Verdammt!« zerbiß Nona einen Fluch zwischen den Zähnen. Kierszan sah sie an. »Sie werden uns foltern, bevor sie uns töten«, sagte er beinahe ruhig. »Es wäre besser, selbst in den Tod zu gehen.« Und er deutete nach unten, in den schier bodenlosen Schacht. Nona schüttelte energisch den Kopf. »Nein! Solange wir leben, gibt es Hoffnung.« Verzweifelt zermarterte sie sich den Kopf nach einem Ausweg. Und dann durchzuckte es sie wie ein Blitz. »Du mußt noch einmal deine Kräfte einsetzen!« beschwor sie
Kierszan. »So wie du es bei Rudnik versucht hast.« In seinen Augen blitzte es auf. »Willst du, daß ich ein zweites Mal zum Mörder an einem Artgenossen werde?« fragte er grimmig. »Ich habe dir erzählt, was mit ihm geschehen ist!« »Aber es ist unsere einzige Chance!« Nona dachte nicht daran, ihn zu schonen. Ihr Überlebenswille war stärker denn je. Sie wies ebenfalls nach unten, aber für bedeutete der Schacht nicht den langen Weg in den Tod, sondern in die Freiheit. »Hör mir zu!« sagte sie eindringlich. »Was mit deinem Freund geschah, muß sich nicht wiederholen! Ich glaube, es geschah nur, weil du ihn mit durch feste Mauern genommen hast. Der Schacht hingegen ist frei bis zum Fahrstuhl!« Sie konnte sehen, daß er verstand – und wie es in ihm zu arbeiten begann. Viel Zeit blieb ihm dafür nicht. Die Outlaws hatten die Lifttüren erreicht und begannen sinnlos darauf einzuhämmern. Bald würden sie beginnen nachzudenken und die Türen einfach aufziehen. »Ich vertraue dir!« sagte Nona. Sie reckte sich zu ihm hinüber, nahm seine Hand und drückte sie fest. Kierszan antwortete nicht. Vor seinen Augen sah er wieder Rudniks zerstörten Körper. Gleichzeitig stellte er sich vor, was die Outlaws mit Nona anstellen mochten. Sicherlich sah sie danach nicht sehr viel besser aus. »Du mußt es versuchen!« drängte Nona. »Ich bin sicher, du schaffst es.« »Kommt heraus!« rief einer der Outlaws. »Wir haben euch gesehen und wissen, daß ihr da drin seid!« Nona grub ihre Fingernägel in Kierszans Fleisch. Er jedoch spürte es nicht mehr. Er hatte die Augen geschlossen. Sein Atem war kaum mehr wahrzunehmen. Befand er sich bereits in der Trance, von der er ihr erzählt hatte? War sein Bewußtsein schon auf anderen Pfaden
unterwegs? Plötzlich merkte Nona, wie sich die Welt um sie veränderte. Die Aufzugtür verschwamm vor ihren Augen. Für einen Augenblick konnte sie die Dachterrasse und die Männer sehen – und weit dahinter ragte Anums düstere Festung hoch in den Himmel. Im nächsten Moment löste sich alles Materielle auf, zerfloß zu einem kaleidoskopischen Farbspektrum, das sie an einen Drogenrausch erinnerte. Aber es war weit faszinierender. Ihr Geist löste sich von ihrem Körper. Sie konnte ihn als fluoreszierendes Etwas auf dem Sims stehen sehen. Eine zweite Präsenz war neben ihr. Kierszan! Er bestand ganz aus hellem, pulsierenden Licht. Sie sandte ihre Gedanken aus. Ich vertraue dir. Du schaffst es! Im nächsten Augenblick prallte sie zurück, als ein plötzlicher Schmerz sie überflutete. Er hatte sie gewarnt! Würde nun das gleiche Schicksal, das Rudnik ereilt hatte, auch sie töten? Doch dann, mit der Klarheit ihres freischwebenden Bewußtseins, erkannte sie, was wirklich geschehen war: Ihr Geist hatte sich vollends aus ihrem Körper gelöst und schwebte zusammen mit Kierszan hinab, zum Grund des Aufzugschachtes. Es war ein zugleich erhebendes wie erschreckendes Gefühl. Schließlich, nach einer nicht meßbaren Zeitspanne, stellte sie – fast mit Bedauern – fest, daß ihr Bewußtsein sich wieder mit ihrem Körper vereinigte. Diesmal geschah es völlig schmerzlos. Sie schlug die Augen auf und sah Kierszan an. Sie befanden sich beide auf der Kabine des Fahrstuhls. Weit über ihnen drang Licht in den Schacht, wo die Outlaws soeben die Türen auseinander schoben. »Du hast es geschafft!« Sie fiel Kierszan um den Hals und spürte die Erleichterung, die er empfand.
Er schob sie sanft von sich. »Wir sollten zusehen, daß wir von hier verschwinden. Jetzt werden sie uns erst recht erwischen wollen.« Sie öffneten den oberen Einstieg in den Lift und schoben die Aufzugtüren auseinander. Sie befanden sich im Erdgeschoß. Vor ihnen lag das Eingangsportal. Die Outlaws schienen niemanden als Wachtposten zurückgelassen zu haben. Auch draußen war die Luft rein. Nach einer Viertelstunde hatten sie Kierszans sicheren Kellerunterschlupf erreicht. »Jetzt haben wir eine reelle Chance gegen Anum!« stellte Nona fest. Kierszan sah sie fragend an. »Deine Kräfte sind unsere Eintrittskarte in seine Festung!« präzisierte Nona. »Wir werden sie zwar nicht stürmen können, uns aber zumindest dort umsehen. Vielleicht kommen wir mit der guten Nachricht wieder heraus, daß Landru noch lebt.« »Du kennst ihn also?« fragte Kierszan. Er klang wenig begeistert. Nona verzichtete darauf, ihm zu sagen, wie gut sie Landru kannte – daß sie beide ein Paar waren seit Jahrhunderten. »Er ist der einzige, der Anums Macht brechen könnte«, sagte sie statt dessen. »Wenn wir ihn befreien, wird er die Armeen gegen Anum anführen!« Kierszans Blick war voller Zweifel. »Ich weiß nicht, ob ich der bin, den du in mir siehst, Nona. Als Weltverbesserer tauge ich nichts. Alles, was ich will, ist überleben. Von Vollmond zu Vollmond.« Nona nahm ihn bei den Schultern und schüttelte ihn. Dabei fixierte sie seinen Blick. »Chiyoda hat dich nicht umsonst erwählt«, sagte sie eindringlich. »Ohne ihn wärst du noch immer im Gefängnis oder längst tot!« »Gib mir Zeit zum Nachdenken, Nona«, bat Kierszan. »Ich glaube zwar, daß wir jetzt quitt sind, aber ich möchte dich nicht so schnell wieder verlieren.« »Ich dich auch nicht«, sagte Nona. Und fügte in Gedanken hinzu:
Bis ich Landru befreit habe …
* In dieser Nacht weckte er sie. »Ich habe es mir überlegt«, sagte er. »Ich werde dir deinen Wunsch erfüllen. Ich hoffe nur, du weißt, in welche Gefahr du uns damit bringst.« Nona drückte sich dankbar an ihn. »Ich habe keine Angst«, ermunterte sie ihn. »Alles ist besser, als hier wie streunende Hunde dahinzuvegetieren. Wir müssen doch wenigstens versuchen, Anums Schreckensherrschaft zu beenden! Siehst du das nicht auch so?« »Ich würde es – wüßte ich nicht, daß es vergebens sein wird«, sagte er gedrückt. Nona antwortete nichts darauf. Was hätte sie auch sagen sollen? Daß in ihr die gleichen Zweifel nagten? Daß sie ja nicht einmal mit Sicherheit wußte, ob sich Landru in Anums Festung aufhielt – ob er überhaupt noch am Leben war? Zugleich aber wußte sie, daß er die einzige Chance war, Anum zu bezwingen. Als ehemaliger Hüter war er dem Vampirfürsten näher als jeder andere. Und seinen Feind kennen bedeutete ihn besiegen zu können … Am frühen Morgen brachen sie auf. Mehr noch als sonst achteten sie darauf, daß niemand sie sah auf ihrem Weg zum Central Park. Schon die Vorbereitungen zu dem Selbstmordkommando, wie Kierszan es nannte, waren äußerst riskant: Sie mußten ihre Körper zurücklassen, während sie mit ihrem Geist in die gigantische Festung eindrangen. Nicht auszudenken, wenn in der Zwischenzeit jemand die seelenlosen Hüllen entdeckte! Zumal die Geistreise diesmal erheblich länger dauern würde. Sie waren übereingekommen, sich erst einmal nur ihrer beider Astrallei-
ber zu bedienen, um die Örtlichkeit auszukundschaften. So konnten sie bei einer Bedrohung rasch zurück in ihre Körper flüchten. Das Problem war und blieb, daß sich Nonas Geist nicht durch feste Materie bewegen durfte, wollte sie nicht Gefahr laufen, so wie Rudnik zu enden. Andererseits konnte ihr Astralkörper keine Türen öffnen oder Gegenstände bewegen. Es würde also problematisch sein, einen sicheren Weg durch die Festung zu finden. Trotz all dieser Unwägbarkeiten war Nonas Wille ungebrochen, es zu wagen. Sie suchten sich ein leerstehendes Gebäude am Rande des Parks und verrammelten die Tür zu einem kleinen Zimmer im zweiten Stockwerk. Durch das offene Fenster konnte man Anums Feste im frühen Morgenlicht sehen. Zumindest von hier aus waren keine Dienerkreaturen zu entdecken; vielleicht hielt das Licht sie in ihren Löchern … »Viel Glück«, sagte Kierszan und hauchte Nona einen Kuß auf die Wange. »Wir werden es brauchen.« Sie sah ihn tadelnd an. »Etwas mehr Zuversicht bitte! Wir schaffen es!« Sie sanken auf einer alten Matratze nieder, preßten ihre Körper aneinander und schlossen die Augen. Fast augenblicklich spürte Nona wieder die Veränderung, die in ihr vorging. Vor ihren geschlossenen Augen waberte das faszinierende Meer aus flirrenden Farben und abstrakten Formen, in das die Welt sich verwandelte. Ihr Bewußtsein löste sich wie von selbst von ihrem Körper und ließ die Grenzen der materiellen Welt hinter sich. Kierszan bewegte sich als leuchtender Punkt vor ihr. Sie hatte Mühe, ihn nicht zu verlieren. Sie durchflogen das offene Fenster. Hier draußen pulsierten die Farben noch kräftiger. Sie umgaben Nona wie ein lebendes Wesen, umschmeichelten ihren Geist und zogen all ihr Denken auf sich. Sie würde schweben und schweben, an Kierszans Seite bis in alle
Ewigkeit … Ein scharfer Schmerz riß sie aus ihren betäubenden Gedanken. Wie von weither drang Kierszans Stimme an ihr Bewußtsein. Reiß dich zusammen! Wir dürfen uns jetzt nicht verlieren! Nona kämpfte mit aller Kraft gegen ihre Lethargie an. Sie rief sich das Bild von Anums Festung ins Gedächtnis zurück. So ist es gut, Nona. Du mußt es wollen! Von einem Moment zum anderen explodierte wieder der Schmerz in ihr. Es war noch schlimmer als im Aufzugschacht. Die Agonie erfaßte jede Faser ihres Bewußtseins. Eine alles verlöschende Schwärze drohte die Farben zum Erlöschen zu bringen. Die Schwärze war Anums Festung. Nona schrie, als sie bemerkte, daß ihr Bewußtsein von der wabernden schwarzen Masse wie von einem Magneten angezogen wurde. Sie zuckte zurück. Was, wenn die Anziehungskraft in der Festung so stark war, daß sie nicht zurück konnten …? Du darfst jetzt nicht nachlassen, Nona! Kierszans verzweifelter Appell war alles, an das sie sich klammern konnte. Der Lichtpunkt seines Geistes gab ihr Kraft und Orientierung. Von einem Moment zum anderen war der Schmerz verschwunden. Wir sind drin! Kierszans lautlose Worte lösten gleichermaßen Angst und Freude in ihr aus. Sie hatte kaum mitbekommen, daß sie auf halber Höhe in den schwarzen Moloch eingedrungen waren, durch eine der klaffenden Öffnungen, die wie schwärende Wunden in einem organisch gewachsenen Fels aussahen. Weder Schwärze noch Farben flirrten vor ihren Augen. Ein langer Korridor lag vor ihnen. Er war in ein seltsam diffuses Licht getaucht. Hier drinnen ist alles anders, meldete sich Kierszan wieder. Ich spüre, daß etwas an meinen Kräften zehrt. Es ist wie ein Schutzmechanismus, der uns absondern will. Ich weiß nicht, wie lange es mir gelingen wird, unsere Bewußtseine hier zu halten.
Du mußt durchhalten! drängte Nona. Sonst war alles umsonst! Wir müssen Landru finden! Sie versuchte sich das Bild des Geliebten und ehemaligen Kelchhüters vorzustellen und ihren Geist darauf zu fixieren. Aber sie fand nirgendwo einen Ankerpunkt. Sie schwebten durch weitere endlose Gänge, ohne auf irgend jemanden zu stoßen. Eine Tür am Ende eines Ganges versperrte ihnen den weiteren Weg. Es ist eine besondere Tür, klärte Kierszan sie auf. Sie ist durch Magie gesichert. Aber sie hat einen Fehler, erkannte Nona und ließ ihren Geist näher herangleiten. Kierszan sah gleich, was sie meinte: eine kleine, vergitterte Öffnung in Schulterhöhe, selbst für den schmalen Körper eines Eichhörnchens zu klein – nicht jedoch für einen körperlosen Geist! Nona und Kierszan drangen einfach zwischen den Stäben durch. Sie schwebten weiter – bis Kierszan unvermittelt anhielt. Eine Warnung erreichte Nonas Bewußtsein. Links von ihnen befanden sich weitere Türen, die offenbar in Zellen führten, wie die wuchtigen Schlösser und vergitterten Sichtluken erahnen ließen. Kierszan blieb an einer der Türen »stehen«. In diesem Raum befindet sich jemand, sagte er. Ich empfange sein Gedankenmuster. Es … unterscheidet sich von den anderen hier. Hatten sie etwa jetzt schon Landru gefunden? Nona wollte es nicht glauben. Das wäre ihr viel zu leicht gegangen. Andererseits … Mit unendlicher Vorsicht drangen ihre Geister in das Zimmer ein. Und hätte Nona über ihren Körper verfügt, hätte sie im gleichen Moment wahrscheinlich aufgeschrien. In dem Raum befand sich … Lilith Eden! Die Halbvampirin lag nur halb bekleidet auf einem breiten Diwan. Ihr langes Haar war auf dem weißen Laken ausgebreitet. Im ersten Moment glaubte Nona, sie wäre tot. Die grünen, leicht
schrägstehenden Augen blickten starr zur Decke. Auf ihren Zügen lag nicht die kleinste Regung. Aber als würde sie spüren, daß jemand in den Raum eingetreten war, huschte nun ein irritiertes Zucken über ihre Augen. Ohne sich zu erheben, wandte sie den Kopf und sah sich um. Offensichtlich fühlte sie sich unbehaglich. Eine zweite Tür am gegenüberliegenden Ende des Zimmers wurde geöffnet. Abermals schrak Nona zusammen, und auch Kierszan erstarrte – sofern ein Geist das vermochte. Denn kein geringerer als Anum betrat das Schlafgemach! Lilith wirkte nicht glücklich, ihn zu sehen. »Eure ungnädige Dienerin ist bereit, dem Hohen Herrn Anum zu Gefallen zu sein«, begrüßte sie ihn unterwürfig. Nona glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. Sprach so die stolze Halbvampirin, der selbst Landru Respekt gezollt hatte? »Ich freue mich, dich zu beglücken«, antworte Anum. Seine Stimme klang höhnisch. »Heute habe ich mir ein kleines Spiel ausgedacht …« Er trug ein ähnliches Zaumzeug in Händen, das Lilith an Landrus Statue schon aufgefallen war. Er legte es Lilith an und zurrte es fest, bis sie fast bewegungslos vor ihm lag. Dann dirigierte er sie so, daß sie auf dem Bauch zu liegen kam, und drang erbarmungslos in sie ein. Trotz der demütigenden Haltung schien Lilith das Zusammensein mit ihm nichts auszumachen. Im Gegenteil. Ihr immer wieder nach oben stoßendes Becken erwiderte jeden einzelnen seiner harten Stöße. Und als er seine Lavaglut in sie verströmte, erzitterte auch Lilith wie einem nicht enden wollenden Höhepunkt. Endlich löste er sich von ihr. Er drehte ihren Körper herum und spreizte ihre Beine. Der Blick, mit dem sie ihn aufforderte, sie ein zweites Mal zu nehmen, wirkte so hündisch ergeben, daß es Nona, die die Szene fassungslos verfolgte, ekelte. Nur wenige Atemzüge lang gönnte Anum ihr Ruhe. Dann drang
er erneut in sie ein. Wir müssen fort! Kierszans drängender Ruf erreichte Nona wie hinter einer Nebelwand. Ich habe keine Kraft mehr, unsere Geister länger hierzuhalten. Nonas Protest prallte ihm wie eine Faust entgegen. Dann schaffe unsere Körper ebenfalls hierher! Ich kann jetzt nicht weg! Ich muß erfahren, was das hier zu bedeuten hat! Aber … Bitte, Kierszan! flehte sie. Wenn diese Frau – Lilith Eden – noch lebt und hier bei Anum ist, dann wird auch Landru nicht weit sein. Also gut, gab er sich geschlagen. Ich versuche es. Aber wir müssen uns einen halbwegs sicheren Ort suchen, an dem wir materialisieren können. Sie zogen sie sich aus dem Zimmer zurück und fanden bald darauf eine dunkle Nische, in der sie es wagen wollten. Ich bin bereit, dachte Nona mit der ganzen Kraft ihres Bewußtseins. Dann tauchte sie erneut ein in jenen Strudel aus Farben und Formen und rief nach ihrem Körper … ENDE des ersten Teils
Die Mumie Leserstory von Klaus Giesert Ägypten war noch groß in jenen Tagen der Ramsessiden und konnte sich gegen die fremden, wandernden Völkerstämme behaupten, die von außen her gegen die Grenzen des Reiches vorgingen – Sardinier und Sizilien Etrusker und Lykier, Ächäer und Danaer hatten noch nicht in Ägypten eindringen können. Als Haremheb, der letzte Pharao der 18. Dynastie, kinderlos gestorben war, hatte der ehemalige Oberbefehlshaber der Bogenschützen, der Wagenkämpfer und des Fußvolkes, Paramessu, den Thron als rechtmäßiger Nachfolger bestiegen und fortan als Ramses I. über das nunmehr 1850 Jahre alte Reich am Nil-Ufer geherrscht. Nun, 230 Jahre nach Begründung des Geschlechts der Ramsessiden, drohte das Reich seine Vormacht zu verlieren. Der letzte König der nun herrschenden 20. Dynastie, Ramses XI. hatte zwar den Thron innegehabt, die wahre Macht aber hatte bei zwei Hohepriestern gelegen, die sich die Herrschaft über den Norden und den Süden des Landes geteilt und so das Reich wieder entzweit hatten. Und nicht nur von außen bedrohten Feinde den Erhalt des Reiches. Darüber hinaus war das Volk in jener Zeit unzufrieden, denn die Preise waren gestiegen und die Löhne gefallen, nachdem man teures Eisen von jenseits der Grenzen hatte kaufen müssen, um den mit eisernen Waffen ausgerüsteten Gegnern des Reiches standhalten zu können. In dieser Zeit der allgemeinen Not zerriß die Nachricht die Mattheit des Landes, daß nun, nicht einmal ein halbes Jahr nach seinem Vater, auch der noch junge Pharao Ramses XII. gestorben war. Man sah Klageweiber durch die Straßen der Städte ziehen, wo im-
mer die Nachricht vom plötzlichen Tod des Königs die Leute erreichte. In Windeseile zog sie von Gau zu Gau und legte ein Netz der Trauer über das Reich. Nicht nur der junge König, seine ganze Familie war dahingegangen: Nefertari, seine Frau, und die beiden Söhne waren ebenfalls tot, hieß es. Und das Reich rätselte, wie solches Unglück hatte geschehen können …
* Rahotep, der Wesir, eilte durch die Säulengänge an den Statuen längst dahingeschiedener Könige vorbei. Die Schritte seiner Sandalen hallten laut von den Wänden wider, während er die Gänge des dem Hauptgott Amun-Re geweihten Tempels entlanglief, dem vereinbarten Treffpunkt entgegen, wohin ihn die Hohepriester Antef und Mentuhotep zitiert hatten. Im düsteren Schein vereinzelter Fackeln erreichte er schließlich die mit einem Leopardenfell bekleidete Gestalt. Voller Verwunderung stellte er fest, daß sein Gegenüber allein war. »Endlich«, wurde er von Antef, der den Süden des Reiches verwaltete, barsch begrüßt. »Ihr habt auf Euch warten lassen, Wesir.« »Die Straßen von Memphis sind fast unpassierbar. Überall läuft das Volk zusammen. Seit drei Tagen sind alle Wege überfüllt.« »Einerlei«, winkte der Hohepriester ab. »Folgt mir.« »Wohin denn nun noch? Und warum dieses heimliche Treffen, hier, in einem Tempel?« Antef lächelte geheimnisvoll: »Amun-Re ist verschwiegen. Und die Wände seiner Tempel sind es auch.« Der Wesir folgte den ausgreifenden Schritten des Priesters mit einiger Mühe, so außer Atem, wie er war. Antef ging den Weg zurück, den Rahotep eben erst gekommen war. »Warum so geheimnisvoll?« fragte Rahotep noch einmal. »Gibt es etwas, was das Volk nicht erfahren sollte?«
»Ihr kennt doch die Gerüchte, die umgehen, oder?« »Gerüchte?« Rahotep hatte sich die Fragen, die in Umlauf waren, in den letzten Tagen oft genug selbst gestellt. Seit ihn die Nachricht vom Tod der Königsfamilie erreicht hatte. Wie hatte die gesamte Familie auf einmal ausgelöscht werden können? Vielleicht von einer Krankheit? Oder war es ein gedungener Königsmörder gewesen? Soldaten etwa, die den Weg frei machen sollten für die Nachfolge eines neuen Pharaos? Womöglich gar für einen der beiden Hohepriester? Antef lächelte säuerlich, als hätte er Rahoteps Gedanken erraten. »Man verdächtigt uns des Königsmordes, Mentuhotep und mich.« Der Wesir wußte nichts darauf zu erwidern. Denn es stimmte. Ja, so dachte das Volk. Aber auch das wagte er dem Hohepriester nicht zu sagen. Statt dessen suchte er nach einer Möglichkeit, wie er sich vorsichtig ausdrücken konnte. »Ihr … gebt der Phantasie des Volksverstandes eine Menge Nahrung.« Sie verließen den Säulengang des Tempels und traten wieder ans Tageslicht. Antef blickte den Wesir lächelnd an. »Tatsächlich?« »Niemand weiß, wo die sterblichen Hüllen der Familie hingelangt sind. Ihr haltet sie versteckt. Man fragt sich, wozu.« Der Hohepriester lachte. »Die Antwort auf diese Frage werdet Ihr bald selbst erlangen, Wesir. Und Ihr werdet mit freiem Herzen verkünden können, daß die Priester durchaus keine Königsmörder sind und daß sie gut gehandelt haben.« Rahotep verstand nicht den Sinn, der sich hinter Antefs Worten versteckte. Argwohn erfüllte ihn. »Euch von jedem Verdacht freisprechen? Warum sollte ich so etwas tun?« Antef blickte ihm in die Augen. »Weil ich Euch zu den ›sterblichen Hüllen‹ der Königsfamilie bringen werde«, sagte er. »Und weil Ihr dann mit eigenen Augen sehen
werdet. Und jetzt kommt!« Damit steigerte der Hohepriester sein Tempo noch. »Wohin führt Ihr mich?« Wieder breitete sich ein Lächeln auf dem Gesicht des Priesters aus. »Zu der königlichen Mumienwerkstatt.« Als er sah, wie der Wesir erbleichte, brach Antef wiederum in schallendes Gelächter aus. »Beeilen wir uns. Mentuhotep wartet bereits mit dem Mumienmeister auf unsere Ankunft …«
* Der Innenraum der Mumienwerkstatt war nur spärlich beleuchtet. Außenlicht drang überhaupt nicht in das Innere des kleinen, schmucklosen Gebäudes vor, genauso wenig wie unerwünschte Blicke. Am Eingang standen zwei schwer bewaffnete Soldaten, die den Hohepriester und den Wesir jedoch ohne jede Regung oder Bemerkung passieren ließen. Als sich seine Augen an das schwache Licht gewöhnt hatten, erkannte Rahotep, daß am anderen Ende des länglichen Gebäudes zwei kleinere Kammern mit Zwischenwänden aus Palmzweigen abgetrennt worden waren. Vor dem Eingang zur einen stand die hochgewachsene Gestalt des ebenfalls in ein Leopardenfell gekleideten Mentuhotep. »Na endlich.« Antef lächelte Rahotep süffisant an. »Er hat sich ein wenig Zeit gelassen.« Der zweite Hohepriester wies dem Wesir mit einer einladenden Handbewegung den Weg zu der ersten der beiden Kammern. Zögernd folgte Rahotep der Aufforderung und trat durch einen dunklen Vorhang in den abgetrennten Raum. Trübes Licht breitete sich auch hier aus, lange Schatten tanzten an den Wänden entlang. In einer Schale, die auf einem Ständer in einer
der Ecken des Raumes angebracht war, brannte Öl und erfüllte die Luft mit einem merkwürdig stechenden Geruch. Drei Bahren standen nebeneinander in der Mitte des engen Raumes, und auf jeder lag ein ausgestreckter nackter Körper – eine Frau und zwei Kinder. Rahotep schlüpfte aus seinen Sandalen und verbeugte sich vor den aufgebahrten Toten, als er Nefertari und ihre Söhne erkannte. Mentuhotep schritt an ihm vorbei. »Kommt bitte näher und schaut Euch das hier an.« Der Wesir richtete sich langsam auf und folgte dem Hohepriester zögernd. Die Hände des Priesters strichen am Hals der toten Königin entlang. Oder wenigstens an dem, was ehemals ihr Hals gewesen war. Tiefe Risse klafften in der bleichen Haut, worunter rotes Fleisch, Sehnen und sogar Knochensplitter zum Vorschein kamen. Der Wesir schüttelte den Kopf. Seine Stimme wurde zu einem Hauch. »Bei Osiris!« Als er den Blick auf die Leichname der beiden Königssöhne richtete, entdeckte er dieselbe Verstümmelung auch bei ihnen. Der Hals des Älteren war nicht mehr als ein roter fleischiger Klumpen, das stolze Haupt des jungen Thronfolgers lag in einem unnatürlichen Winkel auf einem besudelten Kissen. Rahotep empfand den Lufthauch, der über seine Haut strich, als eisig, obwohl sein Gesicht zu brennen schien. Vor Trauer. Und vor Wut. »So ist es wahr.« »Ja, die Königsfamilie ist ermordet worden.« Antefs Stimme erklang vom Eingang des Raumes her. Der Hohepriester hatte die Kammer nicht betreten. »War das … ein Tier?« Mentuhotep schüttelte den Kopf. »Nein, kein Tier. Obwohl man es auch nicht als Mensch bezeichnen kann.«
»Was?« »Kommt mit.« Der Wesir folgte dem Hohepriester, nachdem sein Blick noch einmal über die ausgestreckten Leiber der Toten gestrichen war. Tränen standen in seinen Augen. Er hatte seine Herrin untertänig geliebt. Wie es das ganze Volk getan hatte. Als er aus der Kammer trat, erschien ihm die Luft in der Mumienwerkstatt viel reiner. Ihm wurde klar, wozu das Öl im Inneren des Aufbahrungsraumes brannte: De Verwesung mußte bereits eingesetzt haben, und so wurde der Gestank überdeckt. Der Gedanke verstärkte das flaue Gefühl in seinem Magen. Er folgte Mentuhotep in die zweite Kammer und registrierte, daß Antef diesmal nicht am Eingang zurückblieb, sondern neben ihn trat. Der zweite Raum war wesentlich größer als der erste, und in ihm standen auch weitere Personen um eine einzelne Bahre herum. Rahotep erkannte unter den gespenstisch beleuchteten Gesichtern Sethos, den Mumienmeister. Die anderen waren seine Helfer. In jeder Ecke des Raumes standen außerdem mehrere Soldaten. Mentuhotep trat zur Seite und gab dem Wesir den Blick frei auf die Bahre. Rahoteps Augen wurden groß. Der Leib Ramses’ XII. lag dort vor ihm, sein schmächtiger nackter Körper von Stricken gefesselt und auf die Bahre gebunden. Ein überraschtes Keuchen entfuhr Rahoteps Mund, als der vermeintliche Tote den Kopf bewegte und ihm das Gesicht zuwandte. Das Folgende bekam Rahotep kaum mit, so schnell ging es. Als er an die Bahre treten und sich vor seinem König verbeugen wollte, griffen starke Hände von hinten nach seinen Armen und rissen ihn zurück. Aufgeregte Stimmen hallten von den Wänden wider. Nur aus den Augenwinkeln bekam er mit, wie die Wachen nach vorn stürzten. Gleichzeitig fuhr der umsponnene Körper des Königs hoch und wand sich in seinen Fesseln. Scharfe Kiefer schlugen auf-
einander, wo eben noch das Gesicht des Wesirs gewesen war. Rahotep wurde zu Boden gerissen, und er registrierte beschämt, daß er auf Antef lag. Ein Gelächter erfüllte den Raum, wie er es noch nie zuvor gehört hatte. Die Soldaten standen um die Bahre herum und drückten mit gezogenen Schwertern den heftig zitternden Leib des lachenden Pharaos zurück auf die Bahre, während die Helfer des Mumienmeisters die Fesseln enger zogen. Mentuhotep reichte dem Wesir eine Hand und half ihm auf die zitternden Beine. Antef richtete sich ebenfalls wieder auf. Die aufgeregten Stimmen legten sich wieder, bis nur noch das Gelächter den Raum erfüllte. »Was … was ist mit ihm?« Rahoteps Stimme klang verunsichert. Antef trat neben die Bahre, und der Wesir bemerkte nebenbei, daß der Hohepriester immer noch seine Sandalen trug – in Gegenwart des Königs eine unverzeihliche Respektlosigkeit. In dieser Situation vergaß er jedoch, dagegen zu protestieren. Als Antef dem sich immer noch windenden Leib des Königs ein Henkelkreuz, das Symbol für Leben, auf die Stirn legte, spannte sich der gefesselte Körper an, und aus dem Gelächter wurde ein langgezogener, qualvoller Schrei. Rahotep wollte wieder vortreten, doch diesmal packte ihn der zweite Hohepriester von hinten an der Schulter und hielt ihn kopfschüttelnd zurück. »Was tut ihr mit ihm?« fragte der Wesir. Als Antef seine Hand mit dem Henkelkreuz zurücknahm, erschlaffte der Leib auf der Bahre und blieb regungslos liegen. Die Soldaten traten wieder zurück und machten dem Mumienmeister und seinen Männern Platz. »Vor drei Tagen ist die Königsfamilie ermordet worden.« Mentuhoteps Stimme klang unbewegt und monoton. »Es war Nacht, und die Schreie aus den königlichen Gemächern hallten durch den gan-
zen Palast. Als die Wachen in die Schlafgemächer stürmten, um Nefertari und ihren Söhnen zu Hilfe zu eilen, kamen sie schon zu spät. Die beiden Kinder lagen in ihrem eigenen Blut. Nefertari lebte noch, als die Wachen eintrafen. Und sie sahen ihn«, der Hohepriester nickte in Richtung der Bahre, »über sie gebeugt und seine Lippen noch an ihrem Hals.« Rahotep blickte auf das Gesicht des jungen Königs und erschauerte, als das Wesen seinen Blick erwiderte. Er glaubte, in diesen Augen nichts wiedererkennen zu können. Das war nicht mehr Ramses. Dort lag … etwas anderes. »Er soff das Blut, das ihrer Wunde entrann. Und mit dem Blut nahm er ihr das Leben. Als ihn die Wachen ergriffen, starb auch sie. Die Heiler konnten nichts mehr für sie tun.« »Was ist mit ihm?« Antef übernahm das Wort: »In alten Schriften wird von solchen Wesen berichtet. Von Dämonen, die als Schatten bei Nacht die Schlafenden überfallen und ihnen schreckliche Wunden zufügen, aus denen sie dann das Blut ihrer Opfer saufen.« Der Hohepriester lächelte dem Wesir zu. »Ihr seht, wir sind tatsächlich keine Königsmörder.« »Und wir werden es auch in Zukunft nicht sein.« Mentuhoteps Worte ließen den Wesir wiederum rätseln. »Was meint Ihr? Was wollt ihr mit ihm tun?« »Er ist ein Dämon«, erklärte Antef, während er um die Bahre herumschritt. »Und in den alten Schriften steht, wie man ihn vernichten könnte.« »Man enthauptet ihn, durchstößt ihm das Herz oder entreißt es seiner Brust.« Mentuhoteps Stimme klang weiterhin monoton. »Oder man setzt ihn den Strahlen der Sonne aus, um ihn zu verbrennen.« Rahotep schauderte bei dem Gedanken erneut. Antef ergriff wieder das Wort: »Er ist gleichzeitig aber auch König.
Und töten dürfen wir ihn somit nicht. Das würde man uns in der Halle der Wahrheit zu unseren Ungunsten anrechnen.« Der Wesir verstand, was er meinte. Nach der Religion des Reiches kam jeder Tote in die sogenannte Halle der Wahrheit, einem Totengericht, vor das er von Anubis geführt wurde. Osiris war oberster Richter, und zweiundvierzig Dämonen nahmen den Toten in ein strenges Verhör, während der Gott Thot alles niederschrieb. Schließlich wurde das Herz des Toten von Anubis in die Schale einer Waage gestellt. In eine zweite Schale kam eine Figur der Göttin Maat, der Göttin der Wahrheit und des Rechts. Und wenn die Waage zu Ungunsten des Prüflings ausschlug, wurde er der Großen Fresserin, einem krokodilköpfigen Ungeheuer, überlassen. Keine angenehme Vorstellung. Rahotep verstand die Befürchtungen der beiden Hohepriester, konnte sich aber keinen Reim darauf machen, was sie nun vorhatten. Antef gab dem Mumienmeister einen Wink. »Wir werden den König nicht töten«, sagte er zu Rahotep. »Wir lassen den Dämon, der in seinen Leib gefahren ist, am Leben. Aber wir werden ihn in einem Grabmal bestatten, als wäre er tatsächlich gestorben.« Sethos, der Mumienmeister, griff nach einem Dolch und gab seinen Helfern leise Anweisungen. Dann blickte er zu den Hohepriestern hinüber. »Wir werden einen würdigen Nachfolger finden. Aber der Name Ramses’ XII. wird aus der Geschichte getilgt, als hätte es ihn nie gegeben.« Mentuhotep nickte nach dieser Erklärung dem Mumienmeister zu. »Laßt uns beginnen …«
* Rahotep wohnte, im Gegensatz zu den beiden Hohepriestern, nicht
jedem Schritt der Mumifizierung bei. Zum einen wurde seine Gegenwart auch gar nicht aus rituellen Gründen verlangt, zum anderen hatte ihn das, was er miterleben mußte, zutiefst verwirrt. Mit der nicht einmal falschen Erklärung, daß sich jemand um die Staatsgeschäfte kümmern müsse, zog er sich irgendwann im Laufe der nächsten Tage von den Geschehnissen in der königlichen Mumienwerkstatt zurück. Er war Zeuge gewesen, wie Sethos und seine Helfer den Leib des untoten Pharaos ausgeweidet hatten, hatte mitangesehen – und mitangehört –, wie man die linke Flanke des Besessenen geöffnet und durch diesen Schnitt nacheinander alle inneren Organe entfernt hatte – bis auf das Herz, das an seiner Stelle blieb, wie es die Tradition forderte. Rahotep hatte die Schreie des Wesens gehört, das einmal Ramses XII. gewesen war, als man anschließend die leeren Körperhöhlen mit Wasser und Palmwein gründlich reinigte. Und er hatte es nicht verstehen können, wie immer noch Leben in diesem Leib stecken konnte – und wie das Wesen den zugefügten Schmerz ertrug. Während die entnommenen Eingeweide separat mumifiziert wurden, füllten die Männer des Sethos den Leichnam mit trockenem Natron, um den Leib zu entwässern. So ließ man den Körper des untoten Königs mehrere Wochen liegen, so daß mit jedem vergangenen Tag das Gewebe nach und nach den Großteil seines Wassers verlor, bis Ramses XII. nicht mehr als ein bis aufs Skelett abgemagertes Abbild seiner selbst war – das sich aber immer noch knurrend unter seinen Fesseln wand und nach den Armen der arbeitenden Helfer zu schnappen versuchte. Unglaublich, wieviel Kraft noch in diesem ausgemergelten Leib steckte … Danach hielt sich Rahotep von der Mumienwerkstatt fern und erkundigte sich lediglich bei den Hohepriestern nach dem aktuellen Stand der Dinge. Es genügte ihm völlig, nur zu hören, was weiter geschah … Nach Ablauf von sechs Wochen stopften die Helfer des Mumien-
meisters den Leichnam sorgfältig mit Lehm, Sand, trockenen Flechten, Wachs und harzgetränkten Binden aus, um den mumifizierten Körper möglichst naturgetreu wiederherzustellen. Sethos unterfütterte außerdem vereinzelte Stellen der Haut mit Lehm, um sie anschließend zu modellieren. Dann erfolgte die Bandagierung, die sich besonders schwierig gestaltete, da der Untote heftigste Gegenwehr leistete, während man zuerst Kopf, Körper und Gliedmaßen getrennt, dann alles gemeinsam mit langen schmalen Leinenbinden zu umwickeln suchte, bis der gesamte Leib fest umschlossen war und sich das Wesen nicht mehr bewegen konnte. Antef und Mentuhotep, die bei dem Ritual der Bandagierung traditionelle Masken des schakalköpfigen Gottes Anubis trugen, hatten zwischen die einzelnen Lagen Henkelkreuze und verschiedene andere Amulette geschoben, um die Kraft des Dämons zu bannen. Um den Leichnam gänzlich von der Außenwelt abzuschirmen, wurde die gesamte Mumie schließlich noch mit einer Schutzschicht überzogen, die sich aus einem Gemisch aus Leim, Harz und Wachs zusammensetzte. Als Sethos und die Hohepriester der Mumie die goldene Totenmaske aufsetzten, war die Arbeit in der Mumienwerkstatt getan. Alles war bereit für den feierlichen Transport der Mumie zu ihrer endgültigen Ruhestätte. Zuvor ließ Rahotep im ganzen Land verkünden, daß jeder Verdacht gegen die Hohepriester wegen Königsmordes unbegründet war – der Wesir konnte freien Gewissens und besten Wissens sagen, daß Antef und Mentuhotep Ramses XII. nicht getötet hatten … © Klaus Giesert. Greifswalder Straße 190, 10405 Berlin ENDE
Der Herr der Welt von Uwe Voehl Wir schreiben das Jahr 8 neuer Zeitrechnung. Seit dem großen Vampirkrieg regiert Anum die Erde. Unter seiner Tyrannei gibt es keine Technik mehr, Anarchie und Aberglaube herrschen. Überall streunen blutgierige Dienerkreaturen umher. In New York City ragt anstelle des Central Parks Anums gewaltige schwarze Festung auf. Dort haben Lilith Eden und ihr Erzfeind Landru ihre neue Bestimmung gefunden: sie eine hörige Sklavin, er ein auf ewig Verdammter. Die Werwölfin Nona ist eine Fremde in dieser bizarren Welt, denn sie kommt aus der Vergangenheit. Warum ist sie hier? Soll und kann sie die Geschichte ändern?