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R. L Stine Endstation Gruseln
Aus dem Amerikanischen von Günter W. Kienitz
(OMNIBUS)
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(OMNIBUS) Der Taschenbuc...
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R. L Stine Endstation Gruseln
Aus dem Amerikanischen von Günter W. Kienitz
(OMNIBUS)
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(OMNIBUS) Der Taschenbuchverlag für Kinder und Jugendliche von Berteismann Band 20418
Umwelthinweis: Dieses Buch wurde auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. Deutsche Erstausgabe Februar 1998 Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Goosebumps # 35: A Shocker on Shock Street« bei Scholastic Inc., New York © 1995 by The Parachute Press, Inc. All rights reserved. Published by arrangement with Scholastic Inc., 555 Broadway, New York, NY10012, USA. »Goosebumps«™ and »Gänsehaut«™ and its logos are registered trademarks of The Parachute Press, Inc. © 1998 für die deutschsprachige Ausgabe C. Berteismann Jugendbuch Verlag, München in der Verlagsgruppe Berteismann GmbH Alle deutschsprachigen Rechte, insbesondere auch am Serientitel »Gänsehaut«, vorbehalten durch C. Berteismann Verlag GmbH, München Übersetzung: Günter W. Kienitz Lektorat: Janka Panskus Umschlagkonzeption: Klaus Renner bm • Herstellung: Stefan Hansen Satz: Uhl + Massopust, Aalen Druck: Presse-Druck Augsburg ISBN 3-570-20418-9 • Printed in Germany 10 9 8 7 6 5 4
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-1»Das ist unheimlich, Julia.« Mein Freund Marty packte mich am Ärmel. »Lass mich los!«, wisperte ich. »Du tust mir weh!« Marty schien mich nicht zu hören. Er starrte nach vorn in die Dunkelheit, während er sich noch immer an meinem Arm festkrallte. »Marty, bitte...«, flüsterte ich und riss meinen Arm los. Ich hatte ebenfalls Angst, aber das wollte ich nicht zugeben. Es war dunkler als in der finstersten Nacht. Ich kniff meine Augen fest zusammen und bemühte mich etwas zu sehen. Plötzlich glomm vor uns ein schwaches graues Licht auf. Marty duckte sich. Trotz des dämmrigen Lichtes konnte ich die Angst in seinen Augen erkennen. Wieder packte er mich am Arm. Sein Mund stand offen und ich konnte ihn rasch und heftig atmen hören. Obwohl ich mich selbst fürchtete, huschte ein Lächeln über mein Gesicht, Ich liebte es, wenn Marty Angst hatte. Es freute mich ungemein. Ich weiß, ich weiß. Das ist wirklich fies. Ich geb's ja zu. Julia Wright ist ein schlimmes Mädchen. Was bin ich bloß für ein Freundin? Aber Marty gibt ständig damit an, dass er mutiger ist als ich. Und normalerweise stimmt das auch. Normalerweise ist er der Mutige und ich bin der Schisser. Aber nicht heute. Deshalb musste ich grinsen, als ich sah, wie Marty vor Angst die Augen aufriss und sich an meinem Arm festklammerte. Das graue Licht vor uns wurde allmählich heller. Zu beiden Seiten raschelte und knisterte es. Dicht hinter mir hustete jemand, aber Marty und ich drehten uns nicht um. Wir blickten weiter starr geradeaus. Warteten und schauten... Ich blinzelte in das graue Licht, als ein Zaun in Sicht kam. Ein langer Holzzaun, dessen Anstrich verwittert war und abblätterte. Ein handgemaltes Schild war daran angebracht: GEFAHR. BLEIB DRAUSSEN. DAMIT BIST DU GEMEINT!
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Marty und ich keuchten auf, als wir plötzlich ein schrappendes Geräusch vernahmen. Zuerst nur leise, dann wurde es immer lauter. So als ob riesige Klauen auf der anderen Seite am Zaun kratzten. Ich wollte schlucken, doch mein Mund war mit einem Mal wie ausgedörrt. Ich verspürte den Drang wegzulaufen, mich einfach umzudrehen und davonzurennen, so schnell ich konnte. Aber ich konnte Marty doch nicht alleine lassen. Und außerdem würde er es mir ständig aufs Butterbrot schmieren, wenn ich jetzt davonlief. Er würde mich für alle Zeiten damit aufziehen. Deshalb blieb ich bei ihm und lauschte, während das kratzende, scheuernde Geräusch sich allmählich in ein Hämmern verwandelte. In ein lautes Krachen. Versuchte da jemand durch den Zaun zu brechen? Wir bewegten uns rasch am Zaun entlang, schneller und schneller — bis die hohen Zaunlatten grau in grau vor unseren Augen verschwammen. Doch die Geräusche folgten uns. Schwere Schritte dröhnten auf der anderen Seite des Zauns. Wir blickten geradeaus. Wir befanden uns auf einer leeren Straße. Einer Straße, die uns vertraut vorkam. Ja, hier waren wir schon einmal gewesen. Der Straßenbelag war mit Regenpfützen übersät, die im fahlen Licht der Straßenlampen schimmerten. Ich holte tief Luft. Marty umklammerte meinen Arm noch fester. Uns stand beiden der Mund offen. Zu unserem Entsetzen begann der Zaun zu schwanken. Die ganze Straße bebte, bis das Wasser der Regenpfützen gegen den Randstein spritzte. Die Schritte kamen näher und näher. »Marty...!«, stieß ich in ersticktem Flüstern hervor. Bevor ich noch etwas herausbrachte, stürzte der Zaun um und ein Monster kam dahinter hervorgeschossen. Es hatte einen Kopf wie ein Wolf und einen Körper wie ein riesiger Krebs. In seinem aufgerissenen Maul blitzten weiße Zähne, und es schwang uns vier gewaltige Scheren entgegen, die es drohend auf und zu klappte. Dazu stieß es ein kehliges Knurren aus. »NEEEEIIIN!« Marty und ich heulten voller Entsetzen auf und sprangen hoch. 5
Doch es gab kein Entkommen.
-2Erstarrt blieben wir auf der Stelle stehen und sahen zu, wie der WolfKrebs auf uns zugekrochen kam. »Setzt euch bitte wieder hin, Kinder«, rief eine Stimme hinter uns. »Ich kann die Leinwand nicht sehen.« »Psssttt!«, raunte jemand anders. Marty und ich guckten uns an. Ich schätze, wir kamen uns beide wie Trottel vor. Jedenfalls kam ich mir so vor. Wir ließen uns in unsere Sessel zurückfallen. Der Wolf-Krebs huschte über die Straße und verfolgte einen kleinen Jungen auf einem Dreirad. »Was ist los mit dir, Julia?«, wisperte Marty mir kopfschüttelnd zu. »Es ist doch nur ein Film. Wieso schreist du so?« »Du hast auch geschrien!«, antwortete ich spitz. »Ich habe nur geschrien, weil du geschrien hast!«, behauptete er. »Psssttt!«, zischte jemand. Ich ließ mich tiefer in meinen Sitz sinken. Überall um mich herum hörte ich Knacken und Knirschen. Die Leute futterten Popcorn. Hinter mir hustete jemand. Auf der Leinwand streckte das Monster gerade seine großen Scheren aus und packte das Kind auf dem Dreirad. SCHNAPP. SCHNAPP. Tschüss, kleiner Junge. Ein paar Leute im Kino lachten. Es war aber auch komisch. Das ist das Tolle an den Shocker-on-Shock-Street-Filmen. Sie bringen dich gleichzeitig zum Schreien und zum Lachen. Marty und ich lehnten uns zurück und genossen den restlichen Film. Wir stehen auf Gruselfilme, und die Shocker-on-Shock-Street-Streifen sind uns am liebsten. Zu guter Letzt gelang es der Polizei, den Wolf-Krebs zu schnappen. Sie kochten ihn in einem großen Topf mit Wasser, dann tischten sie den Einwohnern der Stadt gedämpften Krebs auf. Alle saßen herum und tunkten ihn in Buttersauce ein. Sie waren sich alle einig, dass er sehr lecker schmeckte. 6
Das war ein perfekter Schluss. Marty und ich klatschten begeistert. Marty steckte zwei Finger in den Mund und pfiff durch die Zähne, wie er das immer tut. Wir hatten gerade Shocker on Shock Street VI gesehen, den eindeutig besten Streifen der Serie. Die Kinobeleuchtung ging an. Wir schoben uns mit der Menge in den Hauptgang und begannen uns zwischen den anderen Leuten hindurchzudrängeln. »Tolle Spezialeffekte«, sagte ein Mann zu seinem Freund. »Spezialeffekte?«, fragte der Freund zurück. »Ich dachte, das wäre alles echt!« Sie lachten beide. Marty rempelte mich von hinten an. Er findet es witzig, mich zu schubsen, damit ich hinfalle. »Ziemlich guter Film«, sagte er. Ich wandte mich zu ihm um. »Was? Ziemlich gut?« »Na ja, er war nicht gruselig genug«, antwortete er. »Genau genommen war er Kinderkram. Shocker V war viel schauriger.« Ich verdrehte die Augen. »Du hast wie verrückt geschrien — schon vergessen ? Du bist von deinem Sitz aufgesprungen, hast dich an meinem Arm festgekrallt und...« »Ich hab das nur getan, weil ich gesehen habe, wie viel Schiss du hattest«, sagte er grinsend. Was für ein Lügner! Wieso kann er es bloß nie zugeben, wenn er sich fürchtet? Er stellte mir ein Bein, aber ich wich nach links aus — stolperte und stieß mit einer jungen Frau zusammen. »He — pass doch auf!«, rief sie. »Ihr Zwillinge solltet ein bisschen vorsichtiger sein.« »Wir sind keine Zwillinge!«, riefen Marty und ich wie aus einem Mund. Wir sind nicht einmal Bruder und Schwester. Wir sind überhaupt nicht miteinander verwandt. Aber die Leute halten Marty und mich andauernd für Zwillinge. Ich schätze, wir sehen uns sehr ähnlich. Wir sind beide zwölf Jahre alt, ziemlich klein und ein bisschen pummelig. Wir haben beide ein rundes Gesicht, kurzes Haar und blaue Augen. Und wir haben kleine vorwitzige Himmelfahrtsnasen. Aber wir sind keine Zwillinge! Wir sind nur Freunde. 7
Ich entschuldigte mich bei der Frau und wandte mich Marty zu, der sofort wieder seinen Fuß ausstreckte und versuchte mich noch einmal zum Stolpern zu bringen. Ich stolperte zwar, fand mein Gleichgewicht aber rasch wieder. Dann stellte ich ihm ein Bein - und er stolperte. Dieses Spielchen trieben wir die ganze lange Eingangshalle hindurch. Die Leute starrten uns entsetzt an, aber das war uns schnuppe. Wir lachten wie verrückt. »Weißt du, was das Coolste an diesem Film war?«, fragte ich. »Nein. Was?« »Dass wir die ersten Kinder auf der ganzen Welt sind, die ihn gesehen haben!«, rief ich aufgekratzt. »Ja!« Marty und ich reckten die Hände in die Höhe und klatschten sie zusammen. Wir hatten uns Shocker on Shock Street VI in einer besonderen Vorabvorstellung angeschaut. Mein Dad arbeitet mit einer Menge Filmleuten zusammen und hatte uns Eintrittskarten dafür besorgt. Alle anderen Leute im Kino waren Erwachsene. Marty und ich waren die einzigen Kinder gewesen. »Weißt du, was auch cool war?«, sagte ich. »Die Monster. Alle. Sie sahen so unglaublich echt aus. Sie wirkten überhaupt nicht wie Spezialeffekte.« Marty runzelte die Stirn. »Na ja, ich fand, die Zitteraalfrau hat ganz schön künstlich ausgesehen. Sie sah gar nicht wie ein Aal aus - eher wie ein riesiger Wurm!« Ich lachte. »Warum bist du denn dann von deinem Sitz aufgesprungen, als sie elektrische Schläge ausgeteilt und diese Teenagerbande verbrutzelt hat?« »Ich bin gar nicht aufgesprungen«, behauptete Marty. »Das warst du !« »War ich nicht! Du bist hochgesprungen, weil sie so echt aussah«, sagte ich unnachgiebig. »Und ich habe auch gehört, wie du gewürgt hast, als die Giftschleiche aus der Grube mit den atomverseuchten Abfällen hervorschnellte.« »Ich habe mich an einem Stück Milchschnitte verschluckt, das ist alles.« »Du hast Bammel gehabt, Marty, weil die Monster alle so echt wirkten.«
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»He — was ist, wenn sie echt sind?!«, rief Marty aufgeregt. »Was, wenn es gar keine Spezialeffekte sind? Was ist, wenn das alles echte Monster sind?« »Sei nicht doof«, sagte ich. Wir bogen um die Ecke in einen anderen Gang. Da stand der Wolf-Krebs und wartete auf mich. Mir blieb nicht einmal genug Zeit, um zu schreien. Er riss sein Maul zu einem lang gezogenen Wolfsgeheul auf—und legte mir zwei riesige rote Scheren um die Hüfte.
-3Ich öffnete den Mund, um zu schreien, doch es kam nur ein Quieken heraus. Die Leute lachten. Die großen Krebsscheren glitten von meiner Hüfte. Plastikscheren. Ich sah zwei dunkle Augen, die mich aus einer Wolfsmaske heraus anblickten. Mir hätte klar sein müssen, dass es nur ein Mann in einem Kostüm war. Aber ich hatte nicht erwartet, dass hier ein kostümierter Mann herumstand. Ich war überrascht worden, das war alles. Ich blinzelte, als plötzlich ein weißes Licht aufblitzte. Ein Mann hatte das »Ungeheuer« fotografiert. An der Wand entdeckte ich ein großes Schild in Rot und Gelb: SEHEN SIE SICH ERST DEN FILM AN - UND SPIELEN SIE DANACH DIE STORY AUF CD-ROM NACH. »Tut mir Leid, dass ich dich erschreckt habe«, sagte der Mann im WolfKrebs-Kostüm leise zu mir. »Sie ist sehr leicht zu erschrecken!«, erklärte ihm Marty. Ich versetzte Marty einen heftigen Stoß und dann eilten wir davon. Als ich mich noch einmal umwandte, sah ich, wie mir das Ungeheuer mit einer seiner Scheren nachwinkte. »Wir müssen nach oben zu meinem Dad«, sagte ich zu Marty. »Erzähl mir lieber etwas, das ich noch nicht weiß.« Er hält sich für umwerfend witzig. 9
Dads Büro liegt hoch über dem Vorführsaal im neun-undzwanzigsten Stockwerk. Wir liefen zu den Aufzügen am Ende des Gangs und fuhren mit einem davon nach oben. Dad hat einen echt coolen Job. Er baut Vergnügungsparks. Und entwirft alle möglichen Attraktionen dafür. Dad war einer der Erfinder und Planer des Prähistorischen Parks. Das ist der riesige Vergnügungspark, der einen in vorgeschichtliche Zeiten zurückversetzt. Es gibt dort alle möglichen tollen Fahrgeschäfte, Karussells und Shows — und ein Dutzend gewaltiger Dinosaurier, die in der Gegend herumstreifen. Außerdem hat Dad beim Aufbau der Fantasyfilm - Studiotour mitgearbeitet. Jeder, der nach Hollywood kommt, nimmt an dieser Tour teil. Dad hatte die Idee zu dem Teil, in dem man durch eine riesengroße Kinoleinwand geht und sich in der Welt der Filmfiguren wiederfindet. Dort kannst du der Star in dem Film sein, in dem du gerne einmal auftreten würdest! Ich weiß, das klingt jetzt so, als würde ich damit prahlen, aber Dad ist wirklich ziemlich gescheit und ein technisches Genie! Ich denke, er ist weltweit der Experte für Roboter. Er kann Roboter bauen, die einfach alles können! Und er setzt sie in all seinen Parks und Filmstudiotouren ein. Im neunundzwanzigsten Stockwerk verließen Marty und ich den Aufzug. Nachdem wir der Dame am Empfang zugewinkt hatten, liefen wir eilig zu Dads Büro, das am Ende des Gangs liegt. Eigentlich sieht es mehr wie ein Spielzimmer als wie ein Büro aus. Es ist ein großer Raum, ein riesiger Raum, genau genommen. Voll gestopft mit Spielzeug und Stofffiguren aus Zeichentrickfilmen, mit Filmpostern und Modellen von Monstern. Marty und ich lieben es, in diesem Büro herumzustöbern und uns all die tollen Sachen anzusehen. Ein Dutzend großer Filmplakate hängt an den Wänden. Auf einem langen Tisch steht ein Modell des Tumbler, einer Überschlagachterbahn, die Dad entworfen hat. Zu dem Modell gehören kleine Wagen, die richtig quietschen, wenn sie die Bahn entlangsausen. Und Dad hat eine Menge cooler Sachen aus der Shock-Street-Serie — eine der Original-Felltatzen beispielsweise, die vom Kostüm des Wolf-
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Girls aus Nightmare on Shock Street stammt. Er bewahrt sie in einem Glaskasten auf der Fensterbank auf. Außerdem besitzt er Modelle von Trambahnwaggons, kleinen Zügen, Flugzeugen und Raketen. Sogar ein großes Modell eines kleinen silbernen Luftschiffes aus Kunststoff. Es ist ferngesteuert und Dad kann es kreuz und quer durchs Büro schweben lassen. Was für ein großartiger Ort! Für mich ist Dads Büro der schönste Platz auf Erden. Doch als Marty und ich heute eintraten, sah Dad gar nicht glücklich aus. Er hing über seinem Schreibtisch, den Telefonhörer am Ohr. Er hatte seinen Kopf gesenkt und die Augen niedergeschlagen. Während er leise in den Hörer sprach, hielt er eine Hand gegen die Stirn gepresst. Dad und ich sehen uns ganz und gar nicht ähnlich. Ich bin klein und dunkelhaarig, er ist groß und dünn. Und er hat blondes Haar, obwohl davon nicht mehr allzu viel übrig ist. Er ist nämlich ziemlich kahl. Er hat die Sorte Haut, die sich leicht rot färbt. Seine Wangen werden immer rosig, wenn er redet. Und er trägt eine dunkle Brille mit großen runden Gläsern, die seine braunen Augen verbirgt. Marty und ich blieben in der Türe stehen. Ich glaube nicht, dass Dad uns bemerkte, denn er starrte noch immer auf seinen Schreibtisch hinab. Er hatte seine Krawatte gelockert und seinen Hemdkragen geöffnet, so als wäre ihm zu heiß. Während er weiter in den Hörer sprach, schlichen Marty und ich uns ins Büro. Schließlich legte Dad auf. Er hob den Blick und entdeckte uns. »Oh, hallo, ihr zwei«, sagte er leise. Seine Wangen färbten sich leuchtend rosa. »Dad — was ist los?«, fragte ich. Er seufzte. Dann nahm er seine Brille ab und kniff sich in die Nasenwurzel. »Ich hab ganz schlechte Neuigkeiten, Julia. Ganz schlechte Neuigkeiten.«
-4»Dad - was ist denn passiert? Was ist los?«, rief ich.
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Da sah ich, wie sich auf seinem Gesicht ein Lächeln ausbreitete. Er hatte mich also mal wieder ausgetrickst! »Reingelegt!«, verkündete er. Seine braunen Augen blitzten fröhlich. Seine Wangen leuchteten rosa. »Ich hab dich mal wieder reingelegt. Auf diesen Streich fällst du doch jedes Mal herein!« »Dad...!« Ich stieß einen ärgerlichen Schrei aus. Dann rannte ich zu ihm, legte ihm die Hände um den Hals und tat so, als ob ich ihn erwürgen wollte. Lachend rangen wir miteinander, bis wir erschöpft keuchend zusammenbrachen. Marty stand noch immer in der Tür und schüttelte den Kopf. »Mr. Wright, das war echt lahm«, maulte er. Dad bemühte sich die Brille wieder aufzusetzen. »Tut mir Leid, Kinder. Es ist aber auch zu leicht, euch reinzulegen. Ich konnte mir das einfach nicht verkneifen.« Er strahlte mich an. »In Wirklichkeit habe ich gute Neuigkeiten.« »Gute Neuigkeiten? Ist das wieder ein Scherz?«, wollte ich misstrauisch wissen. Er schüttelte den Kopf und nahm etwas von seinem Schreibtisch. »Seht euch das mal an. Wisst ihr, was das ist?« Er hielt uns etwas auf der ausgestreckten Hand hin. Marty und ich traten näher, um den Gegenstand erkennen zu können. Es war ein kleines weißes Plastikgefährt mit vier Rädern. »Ist das so was wie eine Trambahn?«, riet ich. »Ja, es ist ein Waggon einer Art Trambahn«, erklärte Dad. »Man sitzt im Inneren auf langen Bänken. Der Zug wird von einem Motor angetrieben. Hier, seht ihr?« Er deutete auf das Vorderteil des Modells, um uns zu zeigen, wo der Motor untergebracht war. »Aber habt ihr eine Ahnung, wo dieser Wagen eingesetzt wird?« »Dad, wir geben's auf. Sag's uns einfach«, meinte ich ungeduldig. »Spann uns nicht länger auf die Folter.« »Also gut, also gut.« Sein Grinsen wurde breiter. »Dies ist ein Modell der Bahn, die auf der Shocker-Studiotour eingesetzt wird.« Ich sperrte den Mund auf. »Willst du damit sagen, dass die Tour endlich fertig ist und eröffnet wird?« Ich wusste, dass Dad schon seit Jahren daran arbeitete.
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Dad nickte. »Ja. Wir stehen kurz davor, sie für die Öffentlichkeit freizugeben. Aber bevor wir das tun, möchte ich, dass ihr beiden sie testet.« »Was? Meinst du das im Ernst?«, schrie ich. Ich hatte das Gefühl, vor Aufregung gleich zu platzen! Ich wandte mich zu Marty um, der begeistert auf- und abhüpfte, die Fäuste in die Luft stieß und dazu brüllte: »Ja! Ja! Ja!« »Ich habe die Tour komplett entwickelt«, sagte Dad, »und ihr beiden werdet die ersten Kinder auf der ganzen Welt sein, die diese Fahrt machen. Ich möchte eure Meinung dazu hören. Was euch an der Tour gefällt und was nicht.« »Ja! Ja! Ja!« Marty vollführte noch immer Luftsprünge. Ich dachte schon, ich müsste ihm ein Seil um die Hüfte binden, damit er nicht davonflog! »Dad — die Shock-Street-Filme sind die allerbesten]«, rief ich. »Das ist irre!« Und dann fügte ich hinzu: »Ist die Tour sehr gruselig?« Dad legte mir eine Hand auf die Schulter. »Das hoffe ich«, antwortete er. »Ich habe mich sehr angestrengt, sie so gruselig und realistisch wie möglich zu gestalten. Wir setzen euch in den Zug und ihr werdet durch das ganze Filmstudiogelände gefahren. Ihr werdet allen Figuren aus den Gruselfilmen begegnen. Und schließlich kutschiert ihr mit der Bahn langsam die Shock Street entlang.« »Die richtige Shock Street?«, rief Marty. »Meinen Sie das im Ernst? Man fährt die echte Straße entlang, in der die Filme gedreht werden?« Dad nickte. »Ja, die echte Shock Street.« »Ja! Ja! Ja!« Marty fing wieder an die Fäuste in die Luft zu stoßen und wie ein Verrückter zu brüllen. »Irre!«, rief ich. »Total irre!« Ich war genauso aufgeregt wie Marty. Plötzlich hörte Marty auf, auf und ab zu hopsen. Seine Miene wurde ernst. »Vielleicht sollte Julia die Tour lieber nicht mitmachen«, erklärte er meinem Dad. »Sie würde sich zu sehr fürchten.« »Was?«, schrie ich. »Sie hat sich schon während der Filmvorführung so gefürchtet, dass ich ihre Hand halten musste«, erzählte Marty Dad. Was für ein Lügner!
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»Jetzt mach aber mal 'nen Punkt!«, schrie ich wütend. »Wenn sich irgendjemand ins Hemd gemacht hat, dann warst das ja wohl du, Marty!« Dad hob die Hände, um uns zu stoppen. »Beruhigt euch«, sagte er sanft. »Keine Streitereien. Ihr müsst zusammenhalten. Schließlich werdet ihr morgen auf der Tour die Einzigen sein. Die Einzigen.« »Ja!«, jubelte Marty glücklich. »Ja! Ja!« »Wow! Das ist großartig!«, rief ich. »Das ist wirklich toll! Es wird das Allergrößte*.« Dann kam mir eine Idee. »Kann Mom auch mitkommen? Ich wette, das würde ihr echt gut gefallen.« »Wie bitte?« Dad guckte mich durch seine Brille mit zusammengekniffenen Augen an. Sein Gesicht lief knallrot an. »Was hast du da eben gesagt?« »Ich habe gefragt, ob Mom nicht auch mitkommen könnte«, wiederholte ich. Dad blickte mich eine lange Weile an und musterte mich eingehend. »Fühlst du dich gut, Julia?«, fragte er schließlich. »Ja, sehr gut«, antwortete ich arglos. Plötzlich war ich verwirrt und durcheinander. Was hatte ich falsch gemacht? Stimmte mit Mom irgendetwas nicht? Warum sah mich Dad so sonderbar an?
-5Dad kam um den Schreibtisch herum und legte mir einen Arm um die Schultern. »Ich denke, du und Marty, ihr habt mehr Spaß, wenn ihr die Tour alleine macht«, sagte er leise. »Glaubst du nicht auch?« Ich nickte. »Ja. Ich schätze schon.« Ich fragte mich noch immer, wieso er mich so miss-trauisch ansah. Aber ich beschloss ihn nicht danach zu fragen. Ich wollte nicht riskieren, dass er sauer wurde und es sich anders überlegte, sodass wir die Tour doch nicht machen durften. »Heißt das, dass Sie nicht mit uns kommen?«, fragte Marty Dad. »Wir werden die Tour wirklich ganz alleine machen?«
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»Ich möchte, dass ihr alleine fahrt«, antwortete Dad. »Ich denke, dadurch wird die Tour für euch noch aufregender.« Marty grinste mich an. »Ich hoffe, dass sie wirklich gruselig ist!«, verkündete er. »Da mach dir mal keine Sorgen«, antwortete Dad. Ein eigenartiges Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Du wirst bestimmt nicht enttäuscht werden.« Am nächsten Nachmittag hing ein grauer Dunstschleier in der Luft, als Dad Marty und mich zu den Shocker-Studios fuhr. Ich saß vorne neben Dad und starrte durch die Windschutzscheibe in den Smog. »Es ist so düster da draußen«, murmelte ich. »Für eine Gruselfilmtour ist das genau richtig«, meinte Marty, der auf der Rückbank saß. Er war so aufgedreht, dass er kaum still sitzen konnte. Er wippte mit den Beinen auf und ab und trommelte auf das Sitzleder. Ich hatte Marty noch nie so aufgekratzt erlebt. Hätte ihn nicht der Sicherheitsgurt festgehalten, wäre er vermutlich glatt aus dem Auto gehopst! Der Wagen fuhr die Hügel von Hollywood hinauf. Die schmale Straße wand sich an Holzhäusern und Grundstücken voller Bäume vorbei, die in die Hügelflanken eingebettet lagen. Je höher wir kamen, desto düsterer wurde der Himmel. Wir fahren in eine Nebelbank, dachte ich. In der Ferne konnte ich den HOLLYWOODSchriftzug ausmachen, der sich im Nebel vor einer dunklen Hügelkuppe abhob. »Hoffentlich regnet es nicht«, murmelte ich, während ich beobachtete, wie der Nebel über den Schriftzug wallte. Dad kicherte. »Du weißt doch, dass es in Los Angeles niemals regnet!« »Welche Monster werden wir zu sehen bekommen?«, fragte Marty, der auf dem Rücksitz immer noch auf und ab hopste. »Treffen wir Shockro auf der Tour? Werden wir wirklich durch die Shock Street kommen?« Dad blickte angestrengt durch die Windschutzscheibe, während er den Wagen die kurvenreiche, gewundene Straße entlangsteuerte. »Das verrate ich euch nicht«, antwortete er. »Ich will es euch doch nicht verderben. Lasst euch überraschen!«
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»Ich wollte es nur wissen, damit ich Julia warnen kann«, sagte Marty. »Ich möchte nicht, dass sie zu viel Angst bekommt. Sonst wird sie womöglich noch ohnmächtig oder so.« Er lachte. Ich knurrte grimmig, drehte mich um und versuchte ihn zu boxen, aber ich konnte ihn nicht erreichen. Marty beugte sich vor und zerzauste mir mit beiden Händen die Haare. »Pfoten weg von mir!«, schrie ich. »Ich warne dich...!« »Beruhigt euch wieder, Kinder«, sagte Dad leise. »Wir sind da.« Ich drehte mich wieder nach vorne und schaute durch die Windschutzscheibe hinaus. Die Straße verlief nun eben. Vor uns tauchte ein riesiges Schild auf, auf dem in schaurigen, blutroten Buchstaben stand: SHOCKER-STUDIOS. Wir rollten langsam auf das große eiserne Haupttor zu. Es war geschlossen. Daneben saß in einem kleinen schwarzen Häuschen ein Wachmann und las Zeitung. Ich erhaschte einen flüchtigen Blick auf einen geschwungenen goldenen Schriftzug über dem Tor. Er verkündete: NIMM DICH IN ACHT. Dad fuhr bis dicht vors Tor und der Wachmann blickte auf. Er lächelte Dad strahlend entgegen. Dann drückte er auf einen Knopf und das Tor schwang langsam auf. Dad steuerte den Wagen in eine geräumige weiße Garage neben dem Studio. Er parkte auf dem ersten Stellplatz neben der Einfahrt. Die Garage schien sich unendlich auszudehnen, aber ich konnte nur drei oder vier Autos darin entdecken. »Wenn wir nächste Woche eröffnen, wird diese Garage rappelvoll sein!«, sagte Dad. »Dann werden hier tausende von Menschen herumwimmeln. Hoffe ich jedenfalls.« »Aber heute sind wir die Einzigen!«, rief Marty begeistert, während er aus dem Wagen sprang. Einige Minuten später standen wir vor dem Hauptgebäude auf einer Art Bahnsteig und warteten auf die Tourbahn, die uns herumfahren sollte. Die breite Straße vor uns führte zu einem Dutzend weißer Studiogebäude, die über den ganzen Hügel hinab verstreut lagen. Dad deutete auf zwei gewaltige Gebäude, die so groß wie Flugzeughallen waren. »Das sind die Produktionsstudios«, erklärte er. »In diesen Hallen werden viele Filmszenen gedreht.«
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»Führt die Tour da hinein?«, wollte Marty wissen. »Wo ist die Shock Street? Wo stecken die Monster? Wird hier gerade ein Film gedreht? Können wir bei den Dreharbeiten zusehen?« »Stopp, stopp!«, rief Dad. Er legte Marty die Hände auf die Schultern, als wollte er ihn davor bewahren, vom Boden abzuheben und davonzufliegen. »Krieg dich wieder ein, Junge«, mahnte Dad. »Sonst fliegt dir noch 'ne Sicherung raus! Und du wirst die Tour nicht überleben!« Ich schüttelte den Kopf. »Vielleicht sollten wir ihn an die Leine legen«, sagte ich zu Dad. »Wuff, wuff!«, bellte Marty. Dann schnappte er mit seinen Zähnen nach mir, versuchte mich zu beißen. Ich fröstelte. Der Nebel kroch von den Hügeln her auf uns zu. Die Luft war feucht und kalt. Der Himmel hatte sich verdunkelt. Zwei Männer in Anzügen kamen in einem kleinen offenen Wagen, wie sie beim Golfspielen verwendet werden, die Straße entlanggesaust. Sie redeten beide gleichzeitig. Einer von ihnen winkte Dad zu. »Können wir in einem dieser Wagen fahren?«, fragte Marty. »Kann jeder von uns seinen eigenen Wagen haben?« »Kommt nicht in Frage«, erklärte ihm Dad. »Ihr müsst die automatisch gesteuerte Tourbahn nehmen. Und vergesst nicht - bleibt immer im Wagen. Ganz egal, was auch passiert.« »Sie meinen, wir können nicht über die Shock Street spazieren?«, jammerte Marty. Dad schüttelte den Kopf. »Das ist nicht erlaubt. Ihr müsst im Wagen bleiben.« Er wandte sich mir zu. »Ich werde hier, auf der Plattform, auf euch warten, wenn ihr zurückkommt. Ich möchte einen ausführlichen Bericht von euch. Ich will wissen, was euch gefallen hat und was nicht. Und habt keine Angst, wenn etwas nicht einwandfrei funktioniert. Das Programm hat immer noch ein paar Macken, die wir beseitigen müssen.« »He - da kommt die Bahn!«, schrie Marty. Er hüpfte auf und ab und zeigte darauf. Die Tourbahn kam fast geräuschlos um die Ecke gerollt. Ich zählte insgesamt sechs Waggons. Sie waren schwarz und sahen aus wie die Wagen einer Achterbahn, offen und ohne Dach — nur viel länger und breiter. Auf den ersten Wagen war ein weißer Totenkopf gemalt.
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Eine junge rothaarige Frau, die eine schwarze Uniform trug, saß auf der vordersten Bank im ersten Wagen. Sie winkte uns zu, als die Tourbahn an den Bahnsteig heranrollte. Sie war der einzige Fahrgast. Sie sprang heraus, als die Bahn stehen blieb. »Hi, ich heiße Linda. Ich bin eure Tourbetreuerin.« Sie lächelte meinen Dad an. Ihr rotes Haar flatterte im Wind. »Hallo, Linda«, sagte Dad und erwiderte ihr Lächeln. Er schob Marty und mich sanft nach vorne. »Hier sind Ihre ersten beiden Opfer.« Linda lachte und fragte uns nach unseren Namen. Wir sagten sie ihr. »Können wir vorne sitzen?«, fragte Marty eifrig. »Ja, natürlich«, antwortete Linda. »Ihr könnt sitzen, wo immer ihr wollt. Ihr habt die Bahn ganz für euch alleine.« »Na super!«, rief Marty und klatschte mir auf die hingestreckte Hand. Dad lachte. »Es sieht so aus, als sei Marty startklar«, sagte er zu Linda. Linda strich sich das rote Haar aus dem Gesicht. »Es kann auch gleich losgehen, ich muss euch vorher nur noch etwas geben.« Sie beugte sich in den Wagen und zog eine schwarze Leinentasche hervor. »Es dauert nur eine Sekunde.« Sie holte eine rote Plastikpistole aus der Tasche. »Das ist eine Shocker-Betäubungsstrahlen-Pistole.« Sie nahm die Plastikwaffe fest in die Hand. Die Pistole sah aus, als stammte sie aus einem Star Trek-Film. Lindas Lächeln verschwand. Ihre grünen Augen verengten sich. »Seid vorsichtig mit diesen Strahlern, Kinder. Damit könnt ihr ein Monster auf sechs Metern Entfernung auf der Stelle erstarren lassen.« Sie reichte mir die Waffe. Dann griff sie in die Tasche, um auch für Marty eine herauszuholen. »Schießt nicht damit, solange es nicht unbedingt nötig ist.« Sie schluckte schwer und biss sich auf die Unterlippe. »Ich hoffe sehr, dass ihr sie nicht einsetzen müsst.« Ich lachte. »Sie machen Spaß - stimmt's? Die Dinger sind nur Spielzeug richtig?« Sie gab keine Antwort. Stattdessen trat sie einen Schritt vorwärts, um Marty die zweite Waffe zu überreichen. Da stolperte sie plötzlich über eine Schnur auf der Plattform. »Ahh!« Sie stieß einen verblüfften Schrei aus, als der Strahler in ihrer Hand losging. Ein lautes Summen ertönte, während gleichzeitig ein greller gelber Lichtstrahl aus der Pistole schoss. 18
-6Und Linda stand erstarrt auf der Plattform. »Linda! Linda!«, brüllte ich. Marty klappte den Mund auf und stieß ein ersticktes Gurgeln aus. Ich wandte mich zu Dad um, der zu meiner Überraschung lachte. »Dad... sie ist... sie ist erstarrt!«, rief ich. Doch als ich mich wieder zu Linda umdrehte, grinste sie ebenfalls übers ganze Gesicht. Marty und ich brauchten ein Weilchen, doch dann begriffen wir rasch, dass das Ganze nur ein Streich gewesen war. »Das ist der erste Schock auf der Shocker-Tour«, verkündete Linda und senkte die rote Strahlenwaffe. Sie legte Marty eine Hand auf die Schulter. »Ich glaube, ich habe dich echt geschockt, Marty!« »Von wegen!«, wehrte Marty sich nachdrücklich. »Mir war gleich klar, dass es ein Scherz war. Ich hab nur mitgespielt.« »Jetzt aber mal halblang, Marty!«, rief ich Augen rollend. »Du hast dir doch fast ins Hemd gemacht!« »Julia, ich hatte keine Angst«, behauptete Marty grimmig. »Wirklich. Ich habe nur mitgespielt. Glaubst du etwa im Ernst, ich würde auf eine dämliche Plastik-Strahlenpistole hereinfallen?« Marty ist so ein Trottel. Warum kann er es nie zugeben, wenn er sich fürchtet? »Steigt ein, ihr zwei«, drängte uns Dad. »Zeit, dass die Tour ins Rollen kommt.« Marty und ich setzten uns auf die vorderste Sitzbank der Tourbahn. Ich suchte nach einem Sitzgurt oder einem Sicherheitsbügel, aber so etwas gab es nicht. »Kommen Sie mit uns?«, fragte ich Linda. Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ihr beiden fahrt alleine. Der Zug fährt automatisch.« Sie reichte Marty seinen Betäubungsstrahler. »Ich hoffe, du wirst ihn nicht brauchen.« »Klar. Aber sicher doch«, murmelte Marty und rollte mit den Augen. »Diese Knarre ist wirklich kindisch.« »Denkt dran — wir treffen uns am Ende der Fahrt hier wieder«, sagte Dad. Er winkte. »Viel Spaß. Ich bin gespannt auf euren Bericht.«
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»Verlasst auf keinen Fall die Bahn«, erinnerte uns Linda noch einmal. »Lehnt euch nicht aus dem Wagen! Und steht nicht auf, solange der Zug in Bewegung ist.« Sie trat auf einen blauen Knopf auf der Plattform, worauf die Bahn mit einem heftigen Ruck anfuhr. Marty und ich wurden gegen die Lehne gedrückt. Dann rollte die Bahn ruhig und gleichmäßig ihres Weges. »Die erste Station ist das Spukhaus der Schrecken!«, rief Linda uns nach. »Viel Glück!« Als ich mich umdrehte, sah ich, dass sie uns nachwinkte. Ihr langes rotes Haar wehte im Wind. Eine starke Bö peitschte über uns hinweg, als die Bahn den Hügel hinunterfuhr. Der Himmel war mittlerweile beinahe so finster wie die Nacht. Einige der weißen Studiogebäude waren nun ganz im Nebel verschwunden. »Blöde Pistole«, maulte Marty, während er sie in den Händen hin und her drehte. »Wozu sollen wir diese Plastikknarre brauchen? Ich hoffe, dass nicht die ganze Tour so kindisch ist.« »Und ich hoffe, dass du dich nicht den ganzen Nachmittag lang beschwerst«, sagte ich stirnrunzelnd zu ihm. »Ist dir eigentlich klar, wie irre das ist? Wir werden all die großartigen Ungeheuer aus den Shockerfilmen zu sehen bekommen.« »Glaubst du, dass wir Shockro treffen?«, fragte er. Shockro ist Martys Lieblingsmonster. Vermutlich liegt das daran, dass Shockro absolut grässlich ist. »Wahrscheinlich«, antwortete ich, den Blick auf die niedrigen Gebäude gerichtet, an denen wir vorbeifuhren. Sie waren alle dunkel und leer. »Ich möchte Wolf-Boy und Wolf-Girl treffen«, sagte Marty, während er die Monster an seinen Fingern abzählte. »Und... die Piranha-Leute und Captain Sick, den Großartigen Taschenratten-Mutanten und...« »Wow! Sieh mal!«, rief ich. Ich schlug ihm auf die Schulter und deutete mit der Hand nach vorn. Die Bahn bog um eine scharfe Kurve und da ragte vor uns düster das Spukhaus der Schrecken auf. Das Dach und die hoch aufragenden steinernen Türmchen lagen im Nebel verborgen. Das restliche Haus hob sich grau gegen den dunklen Himmel ab. Die Tourbahn brachte uns näher. Hoch gewachsenes Unkraut überwucherte den Vorgarten. Die Pflanzen bogen sich und schwankten im 20
Wind. Die grauen Dachschindeln des Hauses waren teils gesprungen, teils fehlten sie ganz. Fahles grünes Licht, dämmrig und unheimlich, drang durch ein großes Fenster an der Stirnseite des Hauses nach draußen. Auf der zerfallenen, altersschwachen Veranda entdeckte ich eine rostige Hollywoodschaukel - die ganz von selbst hin und her schwang! »Cool!«, rief ich begeistert. »Es sieht viel kleiner als im Film aus«, brummte Marty. »Es ist genau dasselbe Haus!«, stellte ich fest. »Wieso sieht es dann so viel kleiner aus?«, wollte er wissen. Was für ein Miesmacher. Ich wandte mich von ihm ab und betrachtete weiter das Spukhaus. Ein Eisenzaun umgab das Gelände. Als wir zur Seitenfront abbogen, schwang das rostige Tor quietschend und knarrend auf. »Sieh nur!« Ich wies auf die dunklen Fenster im ersten Stock. Durch die Jalousien hindurch konnte ich die Silhouetten aufgehängter Skelette ausmachen, die gemächlich vor und zurück baumelten. »Das ist schon nicht schlecht«, sagte Marty. »Aber nicht gerade gruselig.« Er hob seine Plastikpistole und tat so, als würde er auf die Skelette schießen. Wir umrundeten das Spukhaus einmal. Von drinnen hörten wir Angstschreie. Die Fensterläden knallten wieder und wieder gegen die Außenwände. Die Hollywoodschaukel schwang quietschend hin und her, hin und her, gerade so, als ob ein Gespenst darin saß. »Fahren wir nun hinein oder nicht?«, wollte Marty ungeduldig wissen. »Lehn dich zurück und hör zu quengeln auf«, sagte ich giftig. »Die Fahrt hat doch gerade erst angefangen. Vermies sie mir nicht, okay?« Er streckte mir die Zunge heraus, aber er lehnte sich trotzdem auf dem Sitz zurück. Wir vernahmen ein lang gezogenes Heulen und kurz darauf einen schrillen Entsetzensschrei. Die Bahn zuckelte beinahe geräuschlos zur Rückseite des Hauses. Plötzlich schwang, wie von Geisterhand bewegt, ein Tor auf und wir rollten hindurch. Zügig fuhren wir durch den großen, verwilderten Garten hinterm Haus. Die Bahn wurde schneller und wir holperten über das Gras. Auf die Hintertür zu. Ein hölzernes Schild über der Tür warnte: GIB ALLE HOFFNUNG AUF! 21
Wir werden gleich gegen die Tür knallen!, dachte ich. Ich duckte mich und hob die Hände, um mich zu schützen. Gerade noch rechtzeitig flog die Tür knarrend auf und wir brausten hindurch. Drinnen wurde die Bahn langsamer. Ich ließ die Hände sinken und setzte mich auf. Wir befanden uns in einer dunklen, staubbedeckten Küche. Ein unsichtbarer Geist lachte meckernd, es war ein bösartiges Lachen. An den Wänden hingen verbeulte Töpfe und Pfannen, die scheppernd zu Boden fielen, als wir an ihnen vorbeifuhren. Die Herdtür öffnete und schloss sich von selbst. Ein Teekessel auf dem Herd begann zu pfeifen und das Geschirr auf den Regalen klapperte. Das meckernde Gelächter wurde lauter. »Das ist ganz schön unheimlich«, wisperte ich. »Ooh, wie aufregend!«, antwortete Marty spöttisch. Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Zum Gähnen!« »Marty — du nervst.« Ich schubste ihn beiseite. »Verdirb dir ruhig selbst den Spaß, wenn du willst. Aber hör gefälligst auf, ihn mir zu vermiesen.« Anscheinend hatte ich ihn damit getroffen. Er murmelte »Tut mir Leid« und rückte rasch wieder an mich heran. Die Bahn rollte aus der düsteren Küche hinaus in einen Gang, in dem es noch dunkler war. Gemälde von Kobolden und grässlichen Wesen bedeckten die Wände des Flurs. Als wir uns einer Schranktür näherten, sprang sie plötzlich auf — und ein kreischendes Skelett stürzte mit weit aufgerissenem Kiefer und ausgestreckten Armen auf uns zu, als wollte es uns packen. Ich schrie. Marty lachte. Das Skelett verschwand mit einem Ruck wieder im Schrank. Die Bahn bog um eine Ecke. Vor uns sah ich ein Licht aufflackern. Wir fuhren in einen großen runden Raum. »Das ist das Wohnzimmer«, flüsterte ich Marty zu. Ich hob die Augen zum flackernden Licht und sah, dass über unseren Köpfen ein Kronleuchter mit dutzenden brennender Kerzen hing. Genau darunter hielt die Bahn an. Der Kronleuchter begann zu schwanken. Dann gingen mit einem Zischen alle Kerzen auf einmal aus. Der Raum versank in Dunkelheit. Plötzlich erschallte rings um uns lautes Gelächter. Ich keuchte auf. 22
»Willkommen in meinem bescheidenen Heim!«, dröhnte eine tiefe Stimme. »Wer ist das?«, wisperte ich Marty zu. »Wo kommt die Stimme her?« Keine Antwort. »He — Marty?« Ich drehte mich zu ihm um. »Marty...?« Er war fort.
-7»Marty?« Mir stockte der Atem. Wie erstarrt spähte ich angestrengt in die Dunkelheit. Wo ist er bloß hin?, fragte ich mich. Er weiß doch, dass wir nicht aus dem Wagen steigen dürfen. Ist er trotzdem hinausgeklettert? Nein. Wäre er ausgestiegen, hätte ich es gehört. »Marty?« Jemand packte mich plötzlich am Arm. Ich hörte ein leises Lachen. Martys Lachen. »He — wo steckst du? Ich kann dich nicht sehen!«, rief ich. »Ich kann dich auch nicht sehen«, antwortete er. »Aber ich habe mich nicht vom Fleck gerührt. Ich sitze noch immer direkt neben dir.« »Wie?« Ich streckte die Hand aus und berührte den Ärmel seines Hemds. »Das ist cool!«, erklärte Marty. »Ich wedle mit meinen Armen, aber ich kann sie nicht sehen. Kannst du mich wirklich nicht sehen?« »Nein«, antwortete ich. »Ich dachte schon...« »Das muss irgendein Lichteffekt sein«, sagte er. »Schwarzlicht oder so etwas. Irgendein toller Filmspezialeffekt.« »Jedenfalls hat es mir ganz schön Angst eingejagt«, gestand ich. »Ich dachte wirklich, du wärst verschwunden.« »Du Pflaume«, sagte er spöttisch. Und dann sprangen wir beide beinahe aus den Sitzen. Im großen offenen Kamin loderte plötzlich ein Feuer auf. Helles oranges Licht erfüllte den Raum. Ein großer schwarzer Sessel drehte sich um — und darin saß ein grinsendes Skelett. 23
Das Skelett hob den vergilbten knöchernen Totenköpf. Seine Kiefer mahlten. »Ich hoffe, euch gefällt mein Haus«, dröhnte seine Stimme. »Weil ihr es nämlich nie wieder verlassen werdet!« Es warf den Kopf zurück und stieß ein bösartiges, schepperndes Lachen aus. Mit einem Ruck fuhr die Bahn wieder an und wir rumpelten aus dem Wohnzimmer hinaus. In einen langen, dunklen Korridor. Das Gelächter des Skeletts folgte uns auf den Gang hinaus. Ich wurde in den Sitz gepresst, als wir schneller wurden. Wir rauschten um eine Ecke und einen weiteren langen Gang entlang, der so dunkel war, dass ich die Wände nicht sehen konnte. Schneller und schneller. Wieder sausten wir um eine Ecke, bogen noch einmal scharf ab. Jetzt fuhren wir aufwärts. Und dann ging es plötzlich so steil nach unten, dass wir vor Schreck die Hände in die Höhe rissen und brüllten. Noch eine enge Kurve. Aufwärts, aufwärts, aufwärts. Und dann rasten wir im Affenzahn abwärts. Eine wilde Achterbahnfahrt in völliger Dunkelheit. Es war irre. Sogar noch besser, als wir erwartet hatten. Marty und ich brüllten uns die Seele aus dem Leib. Wir prallten immer wieder gegeneinander, während die Bahn durch die dunklen Gänge des Spukhauses des Schreckens wirbelte. Und wieder aufwärts, aufwärts — und dann schössen wir steil nach unten. Ich krallte mich vorn am Wagen fest — so fest, dass mir die Hände wehtaten. Ich bangte um mein Leben, denn es gab weder Sicherheitsgurt noch Haltebügel. Was ist, wenn wir hinausgeschleudert werden?, fragte ich mich. Genau in dem Moment kippte der Wagen heftig zur Seite, so als hätte er meine angsterfüllten Gedanken gelesen. Ich stieß einen Schrei aus und verlor den Halt. Ich rutschte zur Seitenwand des Wagens. Marty fiel auf mich. Ich suchte mit den Händen verzweifelt nach etwas, woran ich mich festhalten konnte. Der Wagen kippte wieder in die Ausgangslage zurück. Ich holte tief Luft und rutschte auf meinen Sitzplatz auf der langen Bank zurück. »Brr! Das war umwerfend«, rief Marty und lachte. »Umwerfend!« 24
Während ich mich wieder vorn am Wagen festhielt, atmete ich tief ein und hielt dann die Luft an. Ich wollte mein rasendes Herz beruhigen. Vor uns schwang eine Tür auf und wir sausten ins Freie. Der Wagen schlingerte heftig. Ich sah Bäume. Den grauen nebelverhangenen Himmel. Wir brausten durch den Garten hinterm Haus. Wir wurden beide von einer Seite zur anderen geworfen, als wir über das Unkraut rumpelten und im Zickzack zwischen den dunklen Bäumen hindurchrasten. »Halt!«, brachte ich erstickt hervor. Ich bekam kaum noch Luft. Der Wind blies mir kräftig ins Gesicht. Die Tourbahn klapperte und kreischte, während wir über den holprigen Untergrund rumpelten. Die Bahn war außer Kontrolle geraten. Irgendetwas lief eindeutig schief. Während ich auf der Plastiksitzbank auf und ab geschleudert wurde und mich festklammerte, hielt ich nach jemandem Ausschau, der uns helfen konnte. Doch es war niemand zu sehen. Wir fuhren schlingernd auf die Straße, wo die Bahn endlich an Fahrt verlor. Ich drehte mich zu Marty um. Das Haar war ihm übers Gesicht geweht worden, sein Mund stand sperrangelweit offen und seine Augen rollten unkontrolliert hin und her. Er war völlig benommen. Die Bahn wurde immer langsamer und langsamer, bis wir schließlich ganz ruhig dahinkrochen. »Das war großartig*.«, verkündete Marty. Er strich sich das Haar mit beiden Händen zurück und grinste mich an. Ich war mir sicher, dass er sich auch gefürchtet hatte. Aber er tat so, als hätte er die verrückte, wilde Fahrt genossen. »Ja. Großartig.« Ich versuchte ebenfalls so zu tun, als ob. Doch es klang kläglich und meine Stimme bebte. »Ich werde deinem Dad erzählen, dass die Achterbahnfahrt durch die Gänge das Allerbeste war!«, erklärte Marty. »Ja, es hat Spaß gemacht«, stimmte ich ihm zu. »Und es war ein bisschen gruselig.« Marty wandte sich von mir ab und blickte nach vorn. »He. Wo sind wir eigentlich?«
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Die Bahn hatte angehalten. Ich richtete mich auf und schaute mich um. Wir waren in einer Allee hoher Immergrünbüsche stehen geblieben. Die Büsche ragten schlank und wie Speere zum Himmel auf. Über uns bemühte sich die Sonne den Nebel zu durchbrechen. Bleiche Lichtbündel strahlten vom grauen Himmel herab. Die hohen, dünnen Schatten der Büsche huschten über unsere Bahn hinweg. Marty stand auf und sah nach hinten, zum Ende der Bahn. »Hier ist weit und breit nichts«, sagte er. »Wir stecken mitten im Nirgendwo. Wieso haben wir angehalten?« »Meinst du...?«, setzte ich an. Doch ich unterbrach mich, als ich sah, dass sich einer der Büsche bewegte. Er erzitterte. Dann erzitterte der Busch daneben ebenfalls. »Marty...«, flüsterte ich und zupfte ihn am Ärmel. Hinter dem Busch entdeckte ich zwei glühende rote Kreise. Zwei glühende rote Augenl »Marty — da drüben ist jemand!« Ein weiteres Augenpaar. Und dann noch eins. Sie starrten uns aus den Büschen an. Und dann sah ich plötzlich zwei dunkle Klauen. Raschelnd wurde ein Busch zur Seite gedrückt und eine dunkle Gestalt sprang dahinter hervor. Gefolgt von einer weiteren. Knurrend, brummend. Ich keuchte. Es war zu spät, um wegzurennen. Wir waren von grässlichen Ungeheuern umzingelt! Von schniefenden, fauchenden Ungeheuern, die zwischen den Büschen hervorwankten. Sie griffen nach uns, versuchten uns zu packen und wollten in unseren Wagen klettern.
-8Marty und ich sprangen auf. »Ohhhhhh!« Ich hörte, wie Marty vor Angst aufstöhnte. Ich wich zurück. Vielleicht konnte ich auf der anderen Seite aus dem Wagen klettern. Doch die knurrenden, fauchenden Monster kamen von beiden Seiten auf uns zu. »L-lasst uns zufrieden!«, stotterte ich. 26
Ein Monster mit zottligem braunen Fell öffnete sein Maul und ließ lange Reihen gezackter gelber Zähne sehen. Sein heißer Atem fuhr mir ins Gesicht, als er näher kam. Dann schwang er mir seine plumpe Tatze entgegen und brüllte bedrohlich. »Möchtest du ein Autogramm?«, knurrte er. Ich glotzte ihn an, der Unterkiefer hing mir bis zu den Knien. »Was?« »Ein Foto mit Unterschrift?«, fragte er. Er hob seine pelzige Pfote noch einmal. In ihr hielt er ein Schwarz-weiß-Foto. »He — du bist Ape Face!«, rief Marty und zeigte mit dem Finger auf ihn. Das haarige Ungeheuer nickte und hielt das Foto Marty entgegen. »Möchtest du ein Foto? An dieser Stelle der Tour gibt es Autogramme.« »Klar!«, antwortete Marty. Der große Affe zog einen dicken Filzstift hinter seinem Ohr hervor und beugte sich vor, um das Foto für Marty zu signieren. Nachdem sich mein Herzschlag langsam wieder normalisiert hatte, erkannte ich auch die anderen Ungeheuer wieder. Der Typ, der mit violettem Schleim bedeckt war, war der Toxic Wild Man. Und ich erkannte Sweet Sue, die Babypuppe, die gehen und sprechen kann und echtes Haar trägt, das man frisieren kann. In Wirklichkeit war Sweet Sue aber eine Mörder-Mutantin vom Mars. Der Kerl mit dem Froschgesicht, der von Kopf bis Fuß mit braunen Warzen übersät war, war der Fabulous Frog, den man auch als den Toadinator kennt. Er war einer der Stars in Pond Scum und Pond Scum II, zwei der schaurigsten Filme, die je gedreht wurden. »Frog - bekomme ich ein Autogramm von dir?«, fragte ich. »Grrrbbit. Grrbit.« Er quakte und nahm einen Stift in die warzenübersäte Hand. Ich beugte mich aufgeregt vor und sah ihm dabei zu, wie er das Foto signierte. Schreiben war nicht leicht für ihn, weil ihm der Stift ständig aus der glitschigen Froschhand glitt. Marty und ich ließen uns mehrere Autogramme geben. Anschließend verschwanden die knurrenden und brummenden Monster wieder zwischen den Büschen. Als sie fort waren, lachten wir schallend los. »Das war so doof!«, rief ich. »Als sie hinter den Büschen hervorschlichen, hätte ich mir fast ins Hemd gemacht!« Ich schaute die Fotos an. »Aber es ist schon irgendwie cool, dass wir Autogramme von ihnen bekommen haben!« 27
Marty verzog entrüstet das Gesicht. »Das ist doch nur ein Haufen Schauspieler in Kostümen«, sagte er spöttisch. »Das ist was für Babys.« »Aber... aber... sie haben so echt gewirkt«, stotterte ich. »Es hat nicht so ausgesehen, als ob sie Kostüme trügen — oder? Ich meine, die Hände des Toadinators waren wirklich schleimig. Und das Fell von Ape Face wirkte ebenfalls echt. Die Masken waren umwerfend. Sie waren überhaupt nicht als Masken zu erkennen.« Ich strich mir das Haar aus den Augen. »Wie kommen die denn in ihre Kostüme? Ich habe weder Knöpfe noch Reißverschlüsse noch sonst was gesehen!« »Das liegt daran, dass es Filmkostüme sind«, erklärte Marty. »Die sind viel besser als normale Kostüme.« Mister Besserwisser. Die Bahn begann zurückzusetzen. Ich setzte mich wieder auf die Bank und beobachtete, wie die beiden Reihen Immergrünbüsche in der Ferne verschwanden. Unten, am lang gestreckten, flach abfallenden Hügel, konnte ich die weißen Studiogebäude erkennen. Ich fragte mich, ob sie in einem der Filmstudios gerade einen Film drehten. Und ich fragte mich, ob die Bahn uns dorthin bringen würde, damit wir bei den Dreharbeiten zuschauen konnten. Ich sah zwei Golfwagen, die die Straße entlangfuhren. Sie beförderten Leute zu den Studiogebäuden hinunter. Die Sonne kämpfte noch immer darum, durch den Nebel zu dringen, während die Tourbahn den Hügel hinauf durchs Gras holperte. »Hoppla!«, rief ich, als wir scharf wendeten und auf eine Baumgruppe zusteuerten. »Bitte immer im Wagen bleiben«, schallte eine Frauenstimme aus einem Lautsprecher in unserem Waggon. »Der nächste Halt ist die Höhle der Living Creeps.« »Die Höhle der Living Creeps? Wow! Das hört sich gruselig an!«, rief Marty begeistert. »Das kannst du laut sagen!«, gab ich ihm Recht. Wir hatten ja keine Ahnung, wie gruselig es werden würde.
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-9Die Tourbahn fuhr im Zickzack zwischen den Bäumen hindurch, deren Schatten wie dunkle Gespenster über uns hinweghuschten. Marty und ich schwiegen beide. Ich versuchte mir auszumalen, wie die Fahrt wohl verlaufen würde, wenn die Bahn mit begeisterten Kindern und Erwachsenen voll gepackt wäre. Bestimmt war die Tour mit vielen Leuten wesentlich weniger Furcht erregend. Aber ich beklagte mich nicht. Marty und ich hatten wirklich Glück, dass wir die Tour als Erste erleben durften. »Wow!« Marty packte mich am Arm, als die Höhle der Living Creeps vor uns auftauchte. Die Öffnung der Höhle war ein gewaltiges, in den Hang des Hügels getriebenes dunkles Loch. Hinter dem Eingang konnte ich einen fahlen, silbrigen Lichtschein ausmachen. Je näher wir der dunklen Öffnung kamen, desto langsamer wurde die Bahn. In ein hölzernes Schild über dem Eingang war ein einziges Wort eingraviert: LEBEWOHL. Der Zug ruckelte vorwärts. »He...!«, schrie ich und zog gerade noch rechtzeitig den Kopf ein, als wir den Eingang erreichten. Das war haarscharf gewesen! Hinein ging es ins dämmrige, flackernde Licht. Die Luft wurde augenblicklich kühler. Und feucht. Ein fauliger, erdiger Geruch stieg mir in die Nase und ließ mich nach Luft schnappen. »Fledermäuse!«, wisperte Marty. »Was meinst du, Julia? Denkst du nicht, dass es hier drinnen Fledermäuse gibt?« Er beugte sich zu mir und lachte mir biestig ins Ohr. Marty weiß ganz genau, dass ich Fledermäuse verabscheue! Ich weiß, ich weiß. Fledermäuse sind keine bösartigen Ungeheuer. Und sie sind auch nicht gefährlich. Fledermäuse fressen Mücken und andere Insekten. Und sie greifen auch keine Menschen an oder verheddern sich in deinem Haar oder saugen dir das Blut aus. So etwas passiert nur in Filmen. Das ist mir alles klar. Aber es ist mir egal. Fledermäuse sind hässlich und unheimlich und abstoßend. Und ich verabscheue sie.
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Irgendwann einmal habe ich Marty erzählt, wie sehr ich Fledermäuse hasse. Und seitdem zieht er mich ständig damit auf. Die Tourbahn rollte tiefer in die Höhle hinein. Die Luft wurde noch kälter. Der faulige Geruch brachte mich fast zum Würgen. »Sieh mal - da drüben!«, schrie Marty. »Eine Vampirfledermaus!« »Was? Wo?« Ich konnte nichts dagegen tun, ich schrie vor Schreck laut auf. Natürlich hatte mich Marty nur wieder hereingelegt. Er lachte wie verrückt. Ich knurrte und boxte ihn heftig gegen die Schulter. »Das ist nicht komisch. Das ist einfach nur blöd.« Das ließ ihn nur noch ausgelassener kichern. »Ich wette, es gibt in dieser Höhle Fledermäuse«, behauptete er steif und fest. »In jeder tiefen dunklen Höhle gibt es Fledermäuse.« Ich wandte mich von seinem grinsenden Gesicht ab und sperrte die Ohren auf. Angestrengt horchte ich auf das Flattern von Fledermausflügeln. Aber ich konnte nichts hören. Die Höhle verengte sich. Die Wände schienen auf uns zuzurücken und die Seitenwände unseres Waggons scheuerten gegen die Erdwände. Ich merkte, dass wir abwärts fuhren. In dem dämmrigen silbernen Licht sah ich eine lange Reihe spitzer Dinger, die die Form von Eiszapfen hatten, von der Höhlendecke herabhängen. Ich weiß, die Dinger haben einen Namen, aber ich kann mir nie merken, wie sie heißen - Stalagmiten oder Stalaktiten. Ich zog meinen Kopf ein, als die Bahn unter ihnen hindurchsauste. Aus der Nähe betrachtet, sahen sie wie die spitzen Stoßzähne von Elefanten aus. »Wir kommen den Fledermäusen immer näher!«, hänselte mich Marty. Ich beachtete ihn nicht und blickte weiter starr geradeaus. Die Höhle weitete sich wieder. Dunkle Schatten zuckten und tanzten über die Wände. »Ahhh.« Ich stöhnte laut auf, als ich spürte, wie sich mir etwas Kaltes und Schleimiges in den Nacken legte. Ich versuchte es abzuschütteln und drehte mich wütend zu Marty um. »Lass das!«, schnauzte ich ihn an. »Nimm deine kalten Pfoten von mir!« »Wer — ich?«
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Er hatte mich nicht berührt. Er hielt sich mit beiden Händen vorn am Wagen fest. Was war das hinten in meinem Nacken dann? So kalt und nass. Eiskalt und nass. Ich schauderte. Ich zitterte am ganzen Leib. »M-Marty!«, stotterte ich. »H-hilfe!« Marty schaute mich entgeistert an. »Julia - was hast du für ein Problem?« »Hinten in meinem Nacken...«, brachte ich mit Mühe hervor. Ich spürte, wie sich das kalte, nasse Ding zu bewegen begann. Ich entschied mich, nicht so lange zu warten, bis mir Marty zu Hilfe kam. Entschlossen langte ich nach hinten und packte es. Es fühlte sich zwischen meinen Fingern klebrig und kalt an. Schlüpfrig wand es sich hin und her und ich ließ es auf den Sitz fallen. Ein Wurm! Ein dicker, langer weißer Wurm. Kalt und schrecklich feucht. »Irre!«, rief Marty. Er beugte sich hinunter, um ihn sich genauer anzusehen. »Ich habe noch nie so einen großen Wurm gesehen! Und er ist ganz weiß.« »Er... er ist von der Decke herabgefallen«, sagte ich, während ich beobachtete, wie er sich neben mir wand. »Er ist eiskalt.« »Wirklich? Lass mich mal fühlen«, sagte Marty und führte seinen Zeigefinger langsam zu dem Wurm hinab. Er berührte den Wurm mit dem Finger. Und dann riss Marty den Mund auf und stieß einen entsetzten Schrei aus, der in der ganzen Höhle widerhallte.
-10»Was ist? Marty — was ist los?«, kreischte ich. »Ich... ich... ich...« Er konnte nicht sprechen. Er brachte nichts als »Ich... ich... ich...!« heraus. Seine Augen traten hervor und die Zunge hing ihm aus dem Mund. Er griff nach oben und holte einen weißen Wurm von seinem Kopf herunter. »Ich... ich... ich hab auch einen abgekriegt!« »Igitt!«, schrie ich. Sein Wurm war beinahe so lang wie ein Schnürsenkel! 31
Wir schleuderten unsere beiden Würmer aus dem Wagen hinaus. Doch da spürte ich, wie etwas Weiches, Feuchtes mit einem Platsch auf meiner Schulter landete. Und dann fühlte ich etwas Kaltes oben auf meinem Kopf. Und einen kalten Klaps auf meiner Stirn. »Ohhh — Hilfe!«, stöhnte ich und schlug wild mit den Armen um mich. Ich griff nach den Würmern und versuchte sie alle von mir wegzuschleudern. »Marty - bitte!« Ich wandte mich zu ihm um, damit er mir half. Doch er kämpfte ebenfalls mit ihnen. Er wand und duckte sich, um hi nen auszuweichen, da immer mehr und mehr weiße Würmer von der Decke herabfielen. Ich sah, wie ihm einer auf die Schulter fiel. Ein anderer wickelte sich um sein Ohr. So rasch ich konnte, riss ich die klebrigen, glitschigen Wesen von mir ab und schleuderte sie aus der langsam fahrenden Bahn hinaus. Wo kamen die bloß alle her? Ich schaute nach oben - und da fiel mir ein fetter feuchter Wurm genau über die Augen. »Aaahh!«, kreischte ich und wischte ihn weg. Die Bahn bog so scharf ab, dass wir beide über die Sitzbank rutschten. Die Höhle verengte sich wieder und wir fuhren in den nächsten Tunnel hinein. Rings um uns herum glühte immer noch schwach das silbrige Licht. Zwei weiße Würmer, jeder mindestens dreißig Zentimeter lang, schlängelten sich über meinen Schoß. Panisch schleuderte ich sie aus dem Wagen, dann hielt ich heftig atmend nach weiteren Würmern Ausschau. Es juckte mich am ganzen Körper. Mein Nacken prickelte und ich zitterte. »Es fallen keine mehr herab«, stellte Marty mit bebender Stimme fest. Wieso juckte es mich dann noch immer? Ich rieb mir den Nacken. Ich stand auf und suchte den Sitz ab und dann den Boden. Dort fand ich einen letzten Wurm, der gerade über meinen Schuh kroch. Ich kickte ihn fort und ließ mich dann mit einem lauten Seufzer auf die Sitzbank fallen. »Das war echt ekelhaft!«, jammerte ich. Marty kratzte sich die Brust, dann rieb er sich mit beiden Händen das Gesicht. »Ich schätze, deshalb nennt man das hier die Höhle der Living 32
Creeps, die Höhle der lebenden Kriechtiere«, sagte er. Er fuhr sich mit der Hand durch sein schwarzes Haar. Ich schauderte. Es wollte einfach nicht aufhören zu jucken. Ich wusste, dass die Würmer verschwunden waren, aber ich konnte sie noch immer spüren. »Diese widerlichen Würmer - glaubst du, die waren echt?« Marty schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Das waren Attrappen.« Er kicherte. »Bist wohl darauf reingefallen, was?« »Sie haben sich doch wirklich lebendig angefühlt«, erwiderte ich. »Wie sie sich gewunden haben...« »Das waren kleine Roboter oder so was«, sagte Marty und kratzte sich die Knie. »Hier ist doch alles nur Attrappe. Es muss einfach so sein.« »Da bin ich nicht so sicher«, sagte ich. Es juckte und kribbelte mich noch immer am ganzen Körper. »Na, dann frag doch deinen Vater«, antwortete Marty mürrisch. Ich musste lachen. Mir war klar, wieso Marty so miesepetrig war. Obwohl die Würmer Attrappen waren, hatten sie ihm Angst eingejagt. Und er wusste, dass ich wusste, dass er sich gefürchtet hatte. »Ich glaube nicht, dass diese Würmer kleinen Kindern gefallen werden«, sagte Marty. »Ich denke, die werden sich viel zu sehr fürchten. Das werde ich deinem Dad sagen.« Ich setzte gerade zu einer Antwort an - da spürte ich, dass etwas auf mich fiel. Diesmal etwas Trockenes, das kratzte. Es bedeckte mein Gesicht und meine Schultern — meinen ganzen Körper. Ich riss beide Hände in die Höhe und versuchte es loszuwerden. Es scheint so was wie ein Netz zu sein, schoss es mir durch den Kopf. Ich grapschte danach und bemühte mich verzweifelt, es mir vom Gesicht zu ziehen. Hilfe suchend drehte ich mich zu Marty um und sah, dass er im selben Netz gefangen war. Auch er wand sich und schlug mit den Armen um sich. Die Tour bahn ruckelte den dämmrigen Höhlentunnel entlang. Das Netz war klebrig und fühlte sich auf meiner Haut wie Zuckerwatte an. Marty jaulte auf. »Das... das ist ein riesiges Spinnennetz!«, stotterte er. Ich zerrte und zog und riss daran. Doch die klebrigen Fäden hafteten fest an meinem Gesicht, meinen Händen und meinen Klamotten. »Igitt! Wie widerlich!«, würgte ich hervor. 33
Und dann sah ich die schwarzen Punkte, die in dem Netz herumwimmelten. Es dauerte ein paar Sekunden, bis mir klar wurde, was das war. Spinnen! Hunderte davon! »Ohhhh.« Aus meiner Kehle drang ein tiefes Stöhnen. Ich schlug mit beiden Händen auf das Spinnennetz ein und rieb verzweifelt meine Wangen, bemüht, die klebrigen Fäden abzukratzen. Ich pflückte eine Spinne von meiner Stirn. Und eine weitere von meiner Schulter. »Die Spinnen — sie krabbeln in meinen Haaren herum!«, heulte Marty. Plötzlich hatte er völlig vergessen, den Coolen zu spielen. Er kämmte sein Haar mit beiden Händen durch, klatschte sich selbst auf den Kopf, grapschte und schlug nach den Spinnen. Während die Bahn geräuschlos weiter dahinrollte, zappelten und wanden wir uns beide und kämpften verbissen darum, die schwarzen Spinnen loszuwerden. Ich zupfte drei aus meinen Haaren. Dann spürte ich, wie mir eine in die Nase kroch! Ich riss den Mund auf, schrie vor Entsetzen — und nieste sie aus. Marty klaubte eine Spinne von meinem Nacken und schnippte sie in die Luft. Das war die letzte Spinne gewesen. Ich konnte jetzt keine mehr sehen - oder fühlen. Schnaufend ließen wir uns beide auf die Sitzbank plumpsen. Mein Herz hämmerte wild. »Glaubst du immer noch, dass alles nur Attrappe ist?«, fragte ich Marty. Meine Stimme klang schwach und kläglich. »Ich... ich weiß nicht«, antwortete er leise. »Die Spinnen könnten vielleicht so 'ne Art Puppen gewesen sein. Du weißt schon. Ferngesteuert.« »Die waren echt!«, schrie ich erbost. »Sieh's endlich ein, Marty - die waren echt! Das hier ist die Höhle der Living Creeps — und sie waren lebendig*« Marty machte große Augen. »Meinst du wirklich?« Ich nickte. »Das müssen echte Spinnen gewesen sein.« Auf Martys Gesicht breitete sich ein Grinsen aus. »Das ist ja so cool!«, verkündete er. »Echte Spinnen! Das ist total cool!« Ich stieß einen langen Seufzer aus und ließ mich gegen die Lehne fallen. Ich fand das alles ganz und gar nicht cool. Ich fand es gruselig und widerlich.
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Auf solchen Vergnügungsfahrten sollte es nur Attrappen geben. Deshalb machen einem die Fahrten doch solchen Spaß. Ich beschloss meinem Dad zu sagen, dass die Würmer und die Spinnen zu schauerlich waren. Er sollte sie besser verschwinden lassen, bevor die Studiotour für das normale Publikum eröffnet wurde. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und hielt den Blick starr geradeaus gerichtet. Ich fragte mich, was uns als Nächstes bevorstand. Ich hoffte, es würde keine weiteren widerlichen Insekten geben, die nur darauf warteten, auf uns Herhabzufallen und uns im Gesicht und auf dem ganzen Körper herumzukrabbeln. »Ich glaube, ich höre Fledermäuse!«, triezte mich Marty. Er beugte sich dicht zu mir und grinste. »Hörst du die Flattergeräusche? Riesige Vampirfledermäuse!« Ich schob ihn auf seine Seite der Sitzbank zurück. Für seine Albernheiten war ich jetzt wirklich nicht in der Stimmung. »Wann kommen wir endlich aus dieser Höhle heraus?«, fragte ich ungeduldig. »Das macht hier echt keinen Spaß mehr.« »Ich finde es cool hier«, wiederholte Marty. »Ich erforsche gerne Höhlen.« Der enge Tunnel öffnete sich in eine gigantische Höhle. Die Decke schien eine Meile über uns zu sein. Über den Boden verstreut lagen gewaltige Felsbrocken. Nebeneinander und übereinander geschichtet. Felsbrocken überall. Irgendwo vor uns hörte ich Wasser tropfen. Flink, plink, plink. Die Höhlenwände strahlten einen unheimlichen grünen Lichtschein aus. Die Bahn fuhr bis zur Rückwand -und da blieb sie stehen. »Was jetzt?«, flüsterte ich. Marty und ich drehten uns auf der Sitzbank um und ließen den Blick forschend durch die Höhle schweifen. Alles, was ich sehen konnte, waren Felsbrocken. Glatte Steine, einige rund, einige rechteckig. Plink, plink, plink. Irgendwo rechts von uns tropfte Wasser. Die Luft war kalt und klamm. »Das ist irgendwie langweilig«, maulte Marty. »Wann fahren wir weiter?« Ich zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Wieso haben wir hier überhaupt angehalten? Das ist doch nur eine riesige leere Höhle.« 35
Wir warteten darauf, dass die Bahn zurücksetzte und uns hier herausbrachte. Wir warteten und warteten. Eine Minute verstrich. Dann noch ein paar Minuten. Wir drehten uns um, setzten uns auf der Bank auf die Knie und schauten zum Ende des Zuges. Nichts rührte sich. Wir lauschten dem stetigen Tropfen, das von den hohen Steinwänden widerhallte. Sonst war nichts zu hören. Ich lehnte mich gegen die Sitzlehne, legte die Hände wie einen Trichter um den Mund und schrie: »He - kann uns irgend]emand hören?« Ich wartete, lauschte. Keine Antwort. »Kann uns jemand hören?«, versuchte ich es noch einmal. »Ich glaube, wir stecken hier fest!« Keine Antwort. Nur das stetige tropf, tropf, tropf. Ich starrte mit zusammengekniffenen Augen in den grünen Lichtschein. Warum fuhr die Bahn nicht weiter? War sie kaputtgegangen? Steckten wir hier wirklich fest? Ich wandte mich zu Marty um. »Was ist bloß mit der Bahn los? Glaubst du, dass wir... HE!« Ich riss die Augen auf und glotzte entgeistert auf den leeren Sitzplatz neben mir. Ich streckte beide Hände aus und tastete nach Marty. War das etwa schon wieder ein trickreicher Lichteffekt? Eine weitere optische Täuschung? »Marty? He — Marty?«, krächzte ich. Ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinunter. Diesmal war Marty wirklich fort.
-11»Marty...?« Ein Scheuern neben der Bahn ließ mich aufspringen. Ich wirbelte herum und entdeckte Marty, der mir vom Boden der Höhle aus entgegengrinste. »Reingelegt!«
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»Du Ratte!«, keifte ich. Ich schwang ihm meine Faust entgegen, doch er wich seitlich aus und lachte. »Du bist schlimmer als alle Monster hier!«, schrie ich. »Du hast mit Absicht versucht mir Angst einzujagen!« »Das ist nicht besonders schwierig!«, schrie er zurück. Sein Grinsen verschwand. »Ich bin ausgestiegen, um mich umzusehen.« »Aber die Bahn könnte jeden Moment wieder anfahren!«, erklärte ich ihm. »Du weißt doch, was uns die Tourbetreuerin gesagt hat. Sie sagte, wir sollten die Bahn auf keinen Fall verlassen.« Marty ging in die Hocke und sah sich die Reifen an. »Ich glaube, die Bahn steckt irgendwo fest. Vielleicht ist sie auch aus den Schienen gesprungen.« Er hob den Blick zu mir und schüttelte besorgt den Kopf. »Aber hier sind überhaupt keine Schienen.« »Marty - komm wieder rein«, bat ich ihn. »Wenn die Bahn losfährt und du bleibst alleine hier zurück...« Er packte mit beiden Händen die Seitenwand des Wagens und rüttelte daran. Der Wagen federte auf den Rädern. Aber er bewegte sich nicht. »Ich schätze, er ist defekt«, sagte Marty leise. »Dein Vater hat doch gesagt, dass einiges möglicherweise noch nicht richtig funktioniert.« Mich packte die Angst. »Du denkst, dass wir hier festsitzen? Mutterseelenallein in dieser unheimlichen Höhle?« Er trat zur Front des Wagens und quetschte sich zwischen Tourbahn und Höhlenwand. Dann versuchte er mit aller Kraft, die Bahn zurückzuschieben. Sie rührte sich nicht. »O wow«, murmelte, ich kopfschüttelnd. »Das ist ja schrecklich. Mir ist der Spaß echt vergangen.« Ich kniete mich wieder auf die Sitzbank und schrie noch einmal, so laut ich konnte, in die Höhle hinein: »Ist hier drin jemand? Die Bahn ist stecken geblieben!« Flink, plink, plink. Das Tropfen des Wassers war die einzige Antwort. »Kann uns jemand helfen?«, schrie ich. »Bitte...!« Immer noch keine Antwort. »Was machen wir jetzt?«, jammerte ich. Marty drückte noch immer gegen die Front der Tourbahn. Er schob noch einmal kräftig, dann gab er es mit einem Seufzer auf. »Du steigst besser aus«, sagte er. »Wir müssen zu Fuß weiter.« 37
»Was? Zu Fuß? In dieser unheimlichen dunklen Höhle? Kommt nicht in die Tüte, Marty!« Er kam um den Wagen herum zu meiner Seite. »Du hast doch nicht etwa Angst, Julia - oder?« »Doch, hab ich«, gestand ich. »Ein bisschen.« Ich schaute mich in der riesigen Höhle um. »Ich sehe keinen Ausgang. Wir müssen durch die Tunnels zurück. Mit all den Spinnen und Würmern.« »Wir werden einen Weg hinaus finden«, behauptete Marty steif und fest. »Hier muss es irgendwo eine Tür geben. In diese Vergnügungsparks werden immer Notausgänge eingebaut.« »Ich denke, wir sollten besser in der Bahn sitzen bleiben«, sagte ich unsicher. »Wenn wir hier bleiben und warten, wird schon irgendwann jemand kommen und uns finden.« »Das kann Tage dauern«, erklärte Marty. »Komm schon, Julia. Ich gehe jedenfalls los. Kommst du mit?« Ich schüttelte den Kopf, die Arme entschlossen vor der Brust verschränkt. »Kommt nicht in Frage«, sagte ich unnachgiebig. »Ich bleibe hier.« Mir war klar, dass er nicht alleine losziehen würde. Er würde niemals gehen, solange ich nicht mitkam. »Na, dann tschüss«, sagte er. Er drehte sich um und entfernte sich rasch. »He, Marty...?« »Tschüss. Ich werde hier nicht den ganzen Tag lang warten. Bis später.« Er ging wirklich und ließ mich ganz allein in der liegen gebliebenen Bahn und in dieser gruseligen Höhle zurück! »Aber Marty — warte!« Er wandte sich zu mir um. »Kommst du nun oder nicht, Julia?«, rief er mir ungeduldig zu. »Also gut, also gut«, murmelte ich. Ich setzte mich langsam in Martys Richtung in Trab. »Beeil dich«, rief er. »Wir sollten zusehen, dass wir hier rauskommen!« Er ging jetzt rückwärts und bedeutete mir mit den Armen ihn einzuholen. Da blieb ich plötzlich stehen und klappte vor Entsetzen den Mund auf. »Guck mich nicht so an!«, schrie er. »Glotz mich nicht an, als ob ich nicht bei Trost wäre.« Aber ich schaute gar nicht Marty an. Ich starrte das Ding an, das sich von hinten an ihn heranschlich. 38
-12»Ahm... äh... ahm...«Ich wollte Marty warnen, brachte aber nur ein paar angsterfüllte Grunzer zu Stande. Er ging weiter rückwärts und bewegte sich geradewegs auf das riesige Ungeheuer zu. »Julia, komm in die Gänge. Was ist denn bloß los mit dir?«, wollte er wissen. »Äh... ahm... äh...« Schließlich schaffte ich es, auf das Ding zu deuten. »Was?« Marty fuhr herum - und sah es ebenfalls. »Aah!«, brüllte er. Seine Schuhe schlitterten über den glatten Höhlenboden, als er zu mir zurückrannte. »Was ist das denn?« Zuerst dachte ich, es wäre eine Art Maschine. Es sah aus wie einer dieser hohen Stahlkräne, die man auf Baustellen sieht. Ganz silbrig und metallisch. Doch als es sich auf seinen steckendürren Hinterbeinen aufrichtete, stellte ich fest, dass es ein lebendiges Wesen war! Es hatte runde schwarze Augen, so groß wie Billardkugeln. Sie drehten sich wild in seinem dürren silbernen Schädel. Oben auf seinem Kopf wippten zwei schlanke Fühler. Sein Maul schien weich und glitschig zu sein. Eine graue Zunge zuckte zwischen seinen glatten, borstigen Schnurrhaaren hervor. Sein aufgerichteter Körper war lang gezogen wie ein zusammengefaltetes Blatt. Das Wesen wedelte mit seinen Vorderbeinen, die kurzen weißen Stöcken glichen. Es sah aus wie eine abstoßende Figur zum Zusammenstecken. Plötzlich spannte es die langen Hinterbeine an und sprang vorwärts, spannte wieder die Beine an und sprang. Dabei pendelte die dicke Zunge von einer Seite zur anderen. Die schwarzen Augen hörten auf sich zu drehen und richteten sich auf mich. »Ist das — ist das etwa ein Grashüpfer'}«, brachte ich mit Mühe heraus. Marty und ich waren beide zur Bahn zurückgewichen. Immer noch mit seinen stockähnlichen Vorderbeinen herumfuchtelnd, hüpfte das Ungeheuer auf uns zu. Dabei drehten sich die Fühler oben auf seinem Kopf gemächlich im Kreis. 39
Marty und ich pressten uns mit dem Rücken gegen die kalte Höhlenwand. Weiter zurückweichen konnten wir nicht mehr. »Ich glaube, das ist eine Gottesanbeterin«, antwortete Marty, während er zu dem Wesen hochblickte. Das Insekt war mindestens dreimal so groß wie wir. Wenn es sich bewegte, streifte es mit dem Kopf beinahe die Höhlendecke. Es leckte sich mit der Zunge über sein weiches, glitschiges Maul, spitzte die Lippen und verursachte ein lautes schmatzendes Geräusch. Mir drehte sich der Magen um. Es klang absolut ekelhaftl Die runden schwarzen Augen starrten auf Marty und mich herab. Dann machte die riesige Gottesanbeterin, deren Körper wie Aluminium glänzte, einen weiteren Sprung auf uns zu und senkte langsam den Kopf. »W-was hat sie vor?«, stotterte ich und drückte mich flach gegen die Höhlenwand. Zu meiner Verblüffung begann Marty plötzlich zu lachen. Ich packte ihn bei der Schulter. Drehte er jetzt völlig durch? »Marty — alles in Ordnung mit dir?« »Natürlich!«, antwortete er. Er befreite sich aus meinem Griff und trat einen Schritt auf das Insekt zu. »Wieso hast du solche Angst, Julia? Das ist doch nur ein großer Roboter. Er ist darauf programmiert, auf die Tourbahn loszugehen.« »Was? Wie? Aber, Marty...« »Er wird komplett von einem Computer gesteuert«, fuhr er fort, während er zu dem großen Kopf auf dem klapperdürren Körper hochblickte, der sich wippend herabsenkte. »Er ist nicht echt. Er gehört zur Tour.« Ich schaute zu dem Ungeheuer auf. Dicke Speicheltropfen rannen über seine dicke Zunge herab und tropften auf den Höhlenboden. »Sie ist... ahm... wirklich sehr lebensecht«, murmelte ich. »Dein Dad ist ein Genie in solchen Dingen!«, erklärte Marty. »Wir müssen ihm sagen, dass er bei der Gottesanbeterin wirklich tolle Arbeit geleistet hat.« Er lachte. »Dein Dad hat gesagt, es gäbe noch ein paar Macken im Programm. Die Gottesanbeterin hat er damit ganz bestimmt nicht gemeint!« Das Insekt rieb seine Vorderbeine aneinander und erzeugte auf diese Weise einen hohen, durchdringenden Ton.
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Ich hielt mir die Ohren zu. Von dem schrillen Ton taten mir die Ohren weh! Ich presste mir noch immer die Hände gegen die Ohren, als eine zweite riesige Gottesanbeterin hinter einem gewaltigen Felsbrocken hervorhüpfte. »Schau mal - noch eine!«, rief Marty und deutete auf sie. Aufgeregt zupfte er mich am Arm. »Wow. Sie bewegen sich so lebensecht. Man merkt überhaupt nicht, dass es Maschinen sind.« Die zwei silbrigen Insekten zirpten miteinander. Das klang schrill und metallisch. Sie rollten mit den schwarzen Augen. Ihre Fühler rotierten rasch und aufgeregt. Speichelklumpen liefen über ihre Zungen herunter und platschten auf den Boden. Die zweite Gottesanbeterin ließ silberne Flügel auf ihrem Rücken aufblitzen, schloss sie aber rasch wieder. »Diese Roboter sehen wirklich toll aus!«, verkündete Marty. Er wandte sich zu mir um. »Wir steigen besser wieder in die Bahn. Nachdem wir jetzt die Rieseninsekten gesehen haben, wird sie wahrscheinlich weiterfahren.« Die beiden Insekten zirpten wieder miteinander. Sie stießen sich mit ihren stangendürren Beinen kräftig vom glatten Höhlenboden ab und hüpften näher heran. »Ich hoffe, du hast Recht«, sagte ich zu Marty. »Diese Insekten sind zu echt. Ich will endlich raus hier!« Ich begann ihm zur Bahn zu folgen. Die erste Gottesanbeterin sprang rasch vorwärts, hüpfte zwischen uns und die Bahn und versperrte uns so den Weg. »He...!«, schrie ich. Wir versuchten um sie herumzugehen. Aber mit einem gewaltigen Sprung setzte sie sich wieder vor uns. »Sie — sie will uns nicht vorbeilassen!«, stotterte ich. »Ohhh!«, schrie ich auf, als das riesige Ungeheuer plötzlich herumschwang und mir seinen Kopf gegen die Brust rammte. Der kräftige Stoß ließ mich rückwärts taumeln. »He — hör auf damit!«, hörte ich Marty schreien. »Diese Maschine muss kaputt sein!« Mit glühenden schwarzen Augen senkte die Gottesanbeterin erneut den Kopf - und versetzte mir noch einen heftigen Stoß, der mich in Richtung Höhlenmitte trieb. 41
Ihre Partnerin schnitt währenddessen Marty den Weg ab und schickte sich an, ihm ebenfalls einen Kopfstoß zu verpassen. Doch Marty riss schnell zum Schutz die Hände hoch und wich zurück. Eilig lief er zu mir in die Höhlenmitte. Plötzlich hörte ich wieder scharrende Geräusche. Schrilles Zirpen und Zwitschern. Als ich herumfuhr, entdeckte ich zwei weitere riesige hässliche Gottesanbeterinnen, die hinter Felsbrocken hervorkletterten. Dann noch zwei, deren Fühler aufgeregt zuckten. Aus ihren offenen Mäulern rollten fette graue Zungen hervor. Marty und ich drängten uns in der Mitte der Höhle aneinander, während die Ungeheuer um uns herum sprangen und zirpten. Ihre schwarzen Augen funkelten, als sie sich auf ihren Hinterbeinen aufstellten und mit ihren dürren Stummelvorderbeinen wedelten. »Wir... wir sind umzingelt!«, schrie ich.
-13Die riesigen Insekten begännen alle auf einmal zu zirpen, indem sie aufgeregt ihre Vorderbeine aneinander rieben. Das schrille Pfeifen schwoll an und hallte von den Stein-wänden wider. Auf ihren dünnen Hinterbeinen stehend, bildeten sie allmählich einen Kreis um uns. Dann rückten sie näher und zogen den Kreis immer enger. Ihre Zungen zuckten vor und zurück. Dicke Klumpen Speichel fielen auf den Boden. »Sie sind außer Kontrolle geraten!«, kreischte Marty. »Was werden sie mit uns machen?«, schrie ich und hielt mir die Ohren zu, um das aufgeregte Zirpen und ohrenbetäubende Pfeifen zu dämpfen. »Vielleicht sind sie stimmgesteuert«, schrie Marty. Er legte den Kopf zurück und brüllte ihnen »Aufhören! Aufhören!« entgegen. Doch sie hörten nicht auf. Eine von ihnen legte den silbrigen Kopf schief, öffnete das hässliche Maul weit und spie einen schwarzen Klumpen aus. Er platschte Marty auf den Schuh.
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Marty sprang zurück, aber sein Schuh blieb am Boden kleben. Er strengte sich an, ihn loszubekommen. »Igitt! Pass auf! Die schwarze Pampe — die ist wie Klebstoff!«, schrie er. FLUPP. Die nächste Gottesanbeterin hatte ihr Maul weit aufgerissen und spuckte einen großen schwarzen Klumpen der klebrigen Pampe aus. Er klatschte mir an der Schulter aufs T-Shirt. »Auu!«, heulte ich. Der Speichel war heiß - er brannte durch das T-Shirt hindurch. Die anderen zirpten schrill dazu und rieben ihre haarigen stangendürren Vorderbeine aneinander. Mit zuckenden Zungen senkten sie langsam die Köpfe. »Die Betäubungspistolen!«, rief ich und packte Marty am Arm. »Vielleicht können die Strahler etwas gegen dieses Ungeziefer ausrichten!« »Die Pistolen sind doch nur Spielzeug!«, jammerte er. PLOPPP. Ein weiterer schwarzer Klumpen verfehlte Martys Fuß nur um Zentimeter. »Außerdem sind die Strahler im Wagen«, fuhr Marty fort, während er zu den grässlichen Ungeheuern hochblickte. »Und die werden uns nie und nimmer zur Bahn lassen.« »Was tun wir dann?«, schrie ich. x Während ich die Frage aussprach, kam mir plötzlich eine Idee. »Marty...«, flüsterte ich. »Wie wird man Ungeziefer normalerweise los?« »Was? Julia - wovon redest du überhaupt?« »Man tritt drauf- stimmt's? Tritt man normalerweise nicht drauf?« »Aber, Julia...«, protestierte er. »Dieses Ungeziefer ist so groß, dass es auf uns treten kann!« »Einen Versuch ist es wert!«, schrie ich. Ich hob meinen Fuß — und trat der am nächsten stehenden Gottesanbeterin so fest ich konnte auf die Klaue. Das riesige Insekt zischte schrill und sprang zurück. Neben mir trat Marty mit dem Absatz seines Schuhs einem anderen Insekt mit voller Wucht auf den spindeldürren Fuß. Das Ungeheuer wich ebenfalls zurück. Es hob den Kopf, zischte schrill vor Schmerz und rollte 43
wild mit den Augen. Seine Fühler richteten sich blitzschnell kerzengerade auf. Ich trat noch einmal heftig zu. Mit einem rauen, erstickten Geräusch kippte die große Gottesanbeterin zur Seite. Sie strampelte mit allen vier dürren Beinen in der Luft. »Nichts wie raus hier!«, brüllte ich. Ich drehte mich um und stürmte aus dem Kreis der Insekten hinaus. Ich hatte keine Ahnung, wohin ich rannte. Ich wusste nur, dass ich von hier verschwinden musste. Die Höhle war von Zischen und schrillen Pfiffen, wütendem Zirpen und Krächzen erfüllt. Ich erhaschte einen Blick auf Marty, der taumelnd hinter mir herlief. Ich ignorierte das Getöse und rannte. Rannte zur Bahn. Beugte mich über die Seitenwand und schnappte mir die beiden Plastikbetäubungspistolen. Dann wandte ich mich von der Bahn ab und rannte an der Höhlenwand entlang. Wo sollte ich hin? Wie konnte ich entkommen? Das Zirpen und Zischen wurde lauter und aufgebrachter. Die gewaltigen Schatten der Insekten tanzten über die Wände, an denen ich entlanglief. Ich hatte das Gefühl, dass die Schatten nach mir greifen und mich schnappen konnten. Ich warf einen Blick zurück. Marty kam im Affenzahn hinter mir hergerannt. Die Gottesanbeterinnen hüpften, krabbelten und humpelten über den erdigen Untergrund hinter uns her. Wohin sollten wir laufen? Wohin? Da entdeckte ich plötzlich eine schmale Öffnung in der Höhlenwand. Genau genommen war es nur ein Spalt, aber ich rannte trotzdem darauf zu. Ich schlüpfte hinein und quetschte mich in das dunkle Loch in der Felswand. Und schwang mich auf der anderen Seite hinaus. In nebliges Tageslicht. Ins Freie!
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Ich konnte Bäume sehen, die sich schief und krumm den Hügel hinab erstreckten. Und die Straße, die zu den Studios hinunter führte. Ja! Ich war im Freien! Ich hatte es geschafft! Ich war so glücklich. Ich war in Sicherheit! Doch mir blieb nicht viel Zeit, mich zu freuen. Gerade als ich wieder zu Atem kam, hörte ich Martys angsterfüllten Schrei: »Julia — Hilfe! Hilfe! Sie haben mich erwischt! Sie fressen mich auf!«
-14Keuchend wirbelte ich herum. Wie konnte ich Marty helfen? Wie sollte ich ihn bloß aus der Höhle herausholen? Zu meiner Überraschung stand er lässig an die Höhlenwand gelehnt, einen Ellenbogen an den Fels gestützt, die Beine über Kreuz. Und mit einem breiten Grinsen auf seinem runden Gesicht. »April, April«, sagte er. »AAAHH!« Ich stieß einen wütenden Schrei aus. Dann ließ ich die beiden Plastikpistolen fallen und rannte zu ihm, wütend die Fäuste erhoben. »Du Idiot! Du hast mich zu Tode erschreckt!« Er lachte und wich schnell aus, als ich bei ihm ankam. Ich traf also nur Luft. »Spiel mir bloß keine solchen blöden Streiche mehr!«, schrie ich außer Atem. »Die Höhle war so gruselig! Die Rieseninsekten...« »Ja, die waren wirklich gruselig«, stimmte er mir zu und sein Lächeln verschwand. »Die haben so echt gewirkt! Wie, glaubst du, haben die das gemacht, dass die Biester so spucken können?« Ich schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung«, murmelte ich. Die Sache war mir auf den Magen geschlagen. Mir war klar, dass der Gedanke verrückt war - aber langsam begann ich zu glauben, dass die Ungeheuer, die wir zu sehen bekamen, echt waren. Vielleicht hatte ich zu viele Gruselfilme gesehen. Aber die riesigen Gottesanbeterinnen und die weißen Würmer und all die anderen Ungeheuer und Monster schienen wirklich lebendig zu sein. 45
Sie bewegten sich gar nicht wie mechanische Wesen. Sie schienen zu atmen. Und sie hatten ihre Augen so auf Marty und mich gerichtet, als ob sie uns tatsächlich sehen konnten. Ich hätte Marty gerne gesagt, was ich dachte. Aber mir war klar, dass er mich nur ausgelacht hätte. Er war sich sicher, dass sie alle Roboter waren und dass wir ein paar umwerfende Filmspezialeffekte zu sehen bekommen hatten. Natürlich, das machte Sinn. Immerhin befanden wir uns auf einer Filmstudiotour. Ich hoffte, dass Marty Recht hatte. Ich hoffte, das waren alles nur Tricks. Filmmagie. Wenn es um das Entwerfen von mechanischen Kreaturen und anderen Attraktionen für Vergnügungsparks ging, war Dad ein Genie. Und vielleicht waren es ja wirklich nur Roboter, die wir sahen. Vielleicht hatte Dad sich dieses Mal selbst übertroffen. Doch der Druck in meiner Magengrube wollte nicht weichen. Ich hatte das merkwürdige Gefühl, dass wir in Gefahr schwebten. In wirklicher Gefahr. Ich hatte das Gefühl, dass hier etwas schief lief. Dass etwas außer Kontrolle geraten war. Plötzlich wünschte ich mir, wir wären nicht die beiden ersten Kinder, die die Tour ausprobierten. Mir war klar, es sollte eigentlich ein aufregender Spaß sein, dass wir beide alleine hier waren. Aber es war zu still. Zu leer. ZM unheimlich. Es hätte viel mehr Spaß gemacht, wenn hun-derte von Leuten um uns herum gewesen wären. All das hätte ich Marty gerne gesagt. Aber wie hätte ich das tun können? Er war so begierig darauf, zu beweisen, dass er mutiger war als ich. Er brannte darauf, zu beweisen, dass er sich vor gar nichts fürchtete. Ich konnte ihm unmöglich erzählen, was ich wirklich dachte. Ich nahm die beiden Plastikbetäubungspistolen und drückte ihm eine in die Hand. Ich hatte keine Lust, beide mit mir herumzuschleppen. Er steckte den Lauf seiner Waffe in die Hosentasche. »He, Julia — sieh mal, wo wir sind!«, rief er und trabte an mir vorbei, die Augen geradeaus gerichtet. »Sieh dir das mal an!« Er lief übers Gras. Schnell wandte ich mich um und folgte ihm. Ich wollte nicht, dass er mir zu weit vorausrannte.
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Die Sonne war inzwischen hinter einer dicken Wolkendecke verschwunden und der Himmel hatte sich verdunkelt. Graue Nebelfetzen hingen tief. Die Luft war kalt. Es war beinahe Abend. Wir überquerten die Straße und kamen in eine Stadt. Ich meine eine Stadt, die aus Filmkulissen gebaut war. Eine kleine Stadt mit niedrigen, ein- und zweistöckigen Gebäuden, kleinen Läden und einem ländlich aussehenden Supermarkt. Im Straßenblock hinter den Geschäften standen große alte Häuser. » Glaubst du, das sind Kulissen, in denen sie tatsächlich Filme drehen?«, fragte ich, während ich mich beeilte, mit Marty Schritt zu halten. Seine dunklen Augen blitzten vor Begeisterung, als er sich mir zuwandte. »Erkennst du sie denn nicht wieder? Weißt du nicht, wo wir sind?« In dem Moment fiel mein Blick auf eine zerfallene alte Villa, die halb verborgen hinter gekrümmten Bäumen lag. Und ihr gegenüber sah ich den windschiefen Palisadenzaun um den alten Friedhof. Und da war mir klar, dass wir uns in der Shock Street befanden. »Wow!«, rief ich, wirbelte herum und hätte alles am liebsten auf einmal angesehen. »Das ist tatsächlich die Shock Street! Hier werden all die Filme gedreht!« »Sie sieht gar nicht so aus, wie ich sie mir vorgestellt habe«, sagte Marty. »So sieht sie sogar noch schauriger aus!« Er hatte Recht. Mit fortschreitender Dunkelheit fielen lange Schatten über die leeren Gebäude und der Wind fegte stöhnend und ächzend um die Ecken. Marty und ich spazierten die Straße entlang. Wir wechselten ständig von einer Seite zur anderen, um möglichst alles zu sehen. Wir spähten in ein dunkles, staubbedecktes Schaufenster — und dann rannten wir los, um uns den Vorgarten einer heruntergekommenen alten Villa anzusehen. »Sieh dir dieses leere Grundstück an«, sagte ich und deutete darauf. »Das ist die Stelle, wo sich der Irre Mang-ler herumtrieb. Erinnerst du dich noch? In Shocker IIP Er nahm jeden, der vorbeiging, übel in die Mangel — weißt du noch?« »Natürlich erinnere ich mich daran«, brummte Mary. Er betrat das brachliegende, unkrautüberwucherte Grundstück. Die hoch aufgeschossenen Pflanzen wurden vom stöhnenden Wind niedergedrückt. Schatten huschten über den Zaun im Hintergrund. 47
Ich blieb auf dem Bürgersteig stehen und kniff die Augen zusammen, um festzustellen, woher die Schatten stammten. Lag der Irre Mangler irgendwo da hinten auf der Lauer? Das Grundstück war völlig leer. Woher also stammten die hohen Schatten, die sich über den Zaun bewegten? »Marty - komm zurück«, bat ich ihn. »Es wird dunkel.« Er wandte sich um. »Hast du Angst, Julia?« »Das ist doch nur ein verlassenes Grundstück«, erklärte ich ihm. »Lass uns weitergehen.« »Die Leute dachten immer, es wäre nur ein verlassenes Grundstück«, antwortete Marty mit düsterer, schauriger Stimme. »Bis der Irre Mangler plötzlich hervorsprang und sie vermöbelte!« Er stieß ein lang gezogenes, bösartiges Lachen aus. »Marty - du tickst doch nicht richtig«, murmelte ich kopfschüttelnd. Er kam auf den Bürgersteig zurückgetrottet und wir überquerten die Straße. »Ich wünschte mir, ich hätte eine Kamera dabei«, sagte er. »Ich hätte zu gerne ein Bild von mir auf dem Grundstück des Manglers.« Seine Augen leuchteten auf. » Oder noch lieber...!« Er beendete den Satz nicht. Stattdessen sauste er im Affenzahn davon. »He - warte auf mich!«, schrie ich. Ein paar Sekunden später sah ich, wohin er lief. Zum alten Friedhof. Er rannte auf das verwitterte Holztor zu, dessen Farbe abblätterte, und drehte sich zu mir um. »Noch lieber hätte ich ein Foto von mir, wie ich auf dem Friedhof stehe. Hier wurde Der Friedhof in der Shock Street gedreht.« »Wir haben aber keinen Fotoapparat dabei«, rief ich ihm von der Straße aus zu. »Komm da weg.« . Er hörte nicht auf mich. Stattdessen versuchte er das Tor zu öffnen, aber es saß unten im Gras fest. Marty zerrte kräftig daran und schließlich ließ sich das Tor bewegen. Es knarrte und ächzte, als es sich in den Angeln drehte. »Marty — lass uns gehen.« Ich blieb hartnäckig. »Es wird spät. Dad wartet wahrscheinlich schon auf uns und fragt sich, was passiert ist.« »Aber das gehört doch zur Tour!«, meinte Marty starrköpfig. Er zog das schwere Tor gerade weit genug auf, dass er sich hindurchzwängen konnte, blieb aber noch stehen.
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»Marty — bitte! Geh da nicht hinein!«, bettelte ich und rannte zu ihm, um ihn aufzuhalten. »Julia, das ist doch nur eine Filmkulisse«, antwortete er. »Du bist doch sonst nicht so ein Hasenfuß!« »Ich... ich habe nur ein ungutes Gefühl bei diesem Friedhof«, stotterte ich. »Ein sehr ungutes Gefühl.« »Er ist Teil der Tour«, wiederholte er. »Aber das Tor war geschlossen]«, schrie ich. »Es war geschlossen, damit niemand hineingeht.« Ich ließ meinen Blick über den Friedhof schweifen. Alte Grabsteine ragten wie krumm gewachsene Zähne aus dem Boden. »Ich habe ein schrecklich ungutes Gefühl...« Doch Marty kümmerte sich nicht um mich. Er zog das Tor ein Stückchen weiter auf und schlüpfte in den Friedhof hinein. »Marty... bitte...!« Verzweifelt umklammerte ich den niedrigen Zaun mit beiden Händen und sah Marty nach. Er ging drei Schritte in Richtung der alten Gräber. Da schössen seine Hände plötzlich mit einem Ruck in die Höhe — und dann war er nicht mehr zu sehen.
-15Ich blinzelte mehrmals und starrte angestrengt in die Dunkelheit. Ich schluckte. Einmal. Zweimal. Ich konnte nicht glauben, dass er fort war, dass er so blitzschnell verschwunden war. Der Wind fuhr stöhnend zwischen den schartigen, schief stehenden Grabsteinen hindurch. »Marty...?« Meine Stimme war nur ein ersticktes Flüstern. »Marty?« Ich umklammerte den Zaun so fest, dass mir die Hände wehtaten. Mir war klar, dass mir keine Wahl blieb. Ich musste hineingehen und nachsehen, was Marty zugestoßen war. Ich holte tief Luft und zwängte mich durch die Öffnung. Der Boden war weich. Meine Schuhe versanken im hohen Gras. Ich machte einen Schritt. Dann noch einen. 49
Abrupt blieb ich stehen, als ich Martys Stimme hörte. »He - sei vorsichtig!« »Huch!« Ich blickte mich um. »Wo steckst du?« »Hier unten.« Ich spähte hinab — in ein tiefes, dunkles Loch. Ein offenes Grab. Marty schaute zu mir herauf. An seinen Wangen und vorne an seinem T-Shirt klebte Erde. Er streckte mir beide Hände entgegen. »Hilf mir raus. Ich bin da reingefallen!« Ich musste lachen. Er sah zum Schießen komisch aus, wie er da völlig verdreckt in dem Loch stand. »Das ist nicht lustig. Hilf mir raus«, wiederholte er ungeduldig. »Ich habe dich gewarnt«, sagte ich. »Ich hatte kein gutes Gefühl dabei.« »Es mieft hier unten«, beklagte sich Marty. Ich beugte mich hinunter. »Wonach riecht es denn?« »Nach Erde. Hol mich raus!« »Also gut, also gut.« Ich packte seine Hände und zog, während er gleichzeitig mit den Füßen Halt suchte. Er grub die Spitzen seiner Schuhe in die weiche Erde. Einige Sekunden später war er draußen und bürstete sich wild ab. »Das war cool!«, erklärte er. »Jetzt kann ich allen erzählen, dass ich in einem Grab auf dem Shock-Street-Friedhof war.« Ein Schauder lief mir den Rücken hinunter, als der Wind stärker wurde. »Lass uns von hier verschwinden«, bat ich Marty. Etwas Graues bewegte sich geräuschlos zwischen zwei alten Grabsteinen. Ein Nebelfetzen? Eine graue Katze? »Sieh dir die Gräber an«, sagte Marty, während er sich noch immer die Jeans abklopfte. »Sie sind alle verwittert und verblasst. Ich kann die Namen kaum noch lesen. Das ist so cool! Und guck nur, wie sie Spinnweben über die Steinreihen gesprüht haben. Unheimlich, was?« »Marty — können wir jetzt gehen?«, bettelte ich noch einmal. »Dad macht sich bestimmt schon Sorgen um uns. Vielleicht fährt die Bahn inzwischen wieder. Vielleicht können wir sie finden.« Er nahm keine Notiz von mir. Ich sah ihm zu, wie er sich über einen Grabstein beugte, um die eingravierte Inschrift zu entziffern. »Frank Furter«, las er vor. »Acht-zehnhundertvierzig bis achtzehnhundertsiebenundachtzig.« Er lachte. »Frank Furter. Merkst du 50
was? Und guck dir mal das daneben an. Peter Silie. Die Namen sind alle witzig!« Ich lachte. Peter Silie und Frank Furter waren wirklich ziemlich komisch. Doch das Lachen blieb mir im Halse stecken, als ich in einiger Entfernung einen leisen Schrei hörte. Hinter einem Grabstein sah ich einen weiteren grauen Umriss hervorschnellen. Ich hielt den Atem an und lauschte angestrengt. Der Wind strich wispernd durchs hohe Gras. Wieder übertönte ein schriller Schrei den Wind. Eine Katze?, fragte ich mich. Steckt der Friedhof voller Katzen? Oder war das ein Kind? Marty hatte es ebenfalls gehört. Er huschte zwischen den Grabsteinreihen hervor und trat neben mich. Seine dunklen Augen glühten vor Aufregung. »Das ist so cool. Hast du die Geräuscheffekte gehört? Hier muss irgendwo ein Lautsprecher im Boden versteckt sein.« Noch ein Schrei. Eindeutig menschlich. Ein Mädchen? Ich schauderte. »Marty, ich finde wirklich, wir sollten versuchen, zu meinem Dad zurückzukehren. Wir sind den ganzen Nachmittag über hier gewesen. Und...« »Aber was ist mit dem Rest der Tour?«, hielt er dagegen. »Wir müssen alles sehen!« Ich hörte noch einen Schrei. Diesmal lauter. Und näher. Einen Schreckensschrei. Ich bemühte mich ihn zu ignorieren. Wahrscheinlich hatte Marty Recht. Die Schreie mussten irgendwo aus einem Lautsprecher kommen. »Wie sollen wir die Tour denn beenden können?«, wollte ich wissen. »Wir hätten in der Bahn bleiben sollen. Aber die Bahn - OOOHH!« Ich schrie auf, als vor uns eine Hand aus dem Boden hervorschoss. Eine grüne Hand. Sie spreizte die Finger, als wollte sie uns packen. »Uuaaah!«, schrie Marty und wankte rückwärts. Eine weitere grüne Hand schoss aus der Erde hervor. Dann eine dritte und eine vierte. Hände, die sich aus den Gräbern streckten. Voller Angst keuchte ich auf. Es wurden immer mehr Hände. Überall um uns herum waren Hände. Ihre Finger zuckten und krümmten sich, als wollten sie zupacken. 51
Marty fing an zu lachen. »Das ist total irre! Genau wie im Film!« Das Lachen verging ihm allerdings, als plötzlich neben ihm eine Hand auftauchte und ihn am Knöchel packte. »Julia — Hilfe!«, schrie er. Aber ich konnte ihm nicht zu Hilfe eilen. Zwei grüne Hände hatten sich auch um meine Knöchel gelegt und zogen mich hinunter, hinab in das Grab.
-16»Komm herrrrraaaaab«, stöhnte eine leise Stimme. »Komm zu uns herrrrraaaab.« »Neeiin!«, kreischte ich. Ich schlug wild mit den Armen um mich. Ich versuchte auch mit den Füßen zu treten, aber die Hände hielten mich unnachgiebig fest. Mein ganzer Körper schwankte, während ich verzweifelt darum kämpfte, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Mir war klar, dass sie auch meine Hände packen würden, wenn ich hinfiel. Und mich mit dem Gesicht voran in die Erde hinabziehen würden. »Komm herrrrrrraaaaaaab. Komm zu uns herrrr-raaaab.« Das ist kein Spaß, dachte ich. Diese Hände sind real. Und sie wollen mich tatsächlich unter die Erde ziehen. »Hilfe! Oh, Hilfe!« Ich hörte Martys Schreie. Dann sah ich, wie er hinfiel. Er stürzte ins Gras und landete auf den Knien. Sofort packten zwei Hände seine Knöchel. Zwei weitere grüne Hände schössen aus der Erde hervor, um ihn an den Handgelenken zu packen. »Komm herrrrrrraaaaaaab. Komm zu uns herrrr-raaaab«, stöhnte die traurige Stimme. »Neeiin!«, kreischte ich und kämpfte weiter wild und verbissen. Zu meiner Überraschung konnte ich mich losreißen. Mein einer Fuß sank ins weiche Gras. Verblüfft schaute ich hinunter und sah, dass mir mein Schuh vom Fuß gerutscht war. Die Hand umklammerte den Schuh noch immer — aber mein Fuß war frei. Mit einem glücklichen Aufschrei bückte ich mich und schlüpfte auch aus dem anderen Schuh. Jetzt war ich frei. Frei! 52
Heftig atmend bückte ich mich noch einmal und zog rasch meine Socken aus. Mir war klar, dass ich barfuß besser laufen konnte. Die Socken warf ich weg. Anschließend hastete ich zu Marty. Er lag flach auf dem Bauch. Sechs Hände hielten ihn am Boden fest, zogen und zerrten an ihm. Er wand sich und zitterte am ganzen Leib. Als er mich sah, hob er den Kopf. »Julia — hilf mir!«, keuchte er. Ich kniete mich nieder, griff nach seinen Schuhen und zog sie ihm aus. Die grünen Hände umklammerten weiter die Schuhe. Marty strampelte seine Füße frei und bemühte sich auf die Knie zu kommen. Ich packte eine grüne Hand und riss sie von seinem Handgelenk. Die Hand schlug nach mir. Der kalte, harte Schlag schmerzte heftig, aber ich ließ mich nicht beirren und griff sofort nach der nächsten grünen Hand. Marty rollte zur Seite und konnte sich endgültig losreißen. Keuchend und zitternd sprang er auf, Mund und Augen weit aufgerissen. »Deine Socken...«, rief ich außer Atem. »Zieh sie aus. Rasch!« Unbeholfen zog er sie von seinen Füßen. Die Hände grapschten wie wild nach uns. Dutzende Hände, nein, hunderte Hände reckten sich aus dem hohen Friedhofsgras und schnappten nach uns. »Kommt herrrrrrraaaaaaab. Kommt zu uns herrrr-raaaab«, stöhnte die Stimme. »Kommt herrrrrrraaaaaaab. Kommt herrrrraaaab«, rief ein Dutzend leiser Stimmen unter der Erde hervor. Marty und ich fröstelten. Die leisen traurigen Stimmen schienen mich zu hypnotisieren. Meine Beine fühlten sich plötzlich an, als wären sie aus Stein. »Kommt herrrrrrraaaaaaab. Kommt herrrrraaaab.« Plötzlich sah ich einen grünen Kopf, der sich aus der Erde schob. Dann noch einen. Und noch einen. Kahle grüne Köpfe mit leeren Augenhöhlen und offen stehenden, zahnlosen Mündern. Schultern und Arme kamen zum Vorschein. Immer mehr Köpfe tauchten auf. Hellgrüne Körper schoben sich aus dem Erdreich hervor. »M-Marty...«, rief ich mit erstickter Stimme. »Sie kommen uns holen!«
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-17Der Friedhof hallte von ihrem Wimmern und Stöhnen wider, als die grässlichen Kreaturen sich langsam aus dem Boden erhoben. Ich warf einen letzten Blick auf ihre zerlumpte, zerfetzte Kleidung, ihre schwarzen Augenhöhlen, ihre zahnlosen, grinsenden Münder. Und dann rannte ich los. Marty und ich liefen wortlos Seite an Seite durchs hohe Gras, zwischen den Grabsteinen hindurch. Das Herz hämmerte mir in der Brust. In meinem Kopf pochte es. Meine nackten Füße sanken in die kalte Erde ein und rutschten über das hohe, feuchte Gras. Marty erreichte das hölzerne Tor als Erster. Er war so schnell gerannt, dass er gegen den Zaun prallte. Er stieß einen Schrei aus - dann schlüpfte er durch das Tor auf die Shock Street hinaus. Hinter mir konnte ich noch immer das Stöhnen und Ächzen und die unheimlichen Schreie der widerwärtigen grünen Wesen hören. Aber ich schaute mich nicht um. Ich rannte unverwandt auf das Tor zu, zwängte mich hindurch und drückte es hinter mir zu. Auf der Straße angekommen, blieb ich stehen, um zu verschnaufen. Ich beugte meinen Oberkörper nach vorn und stützte die Hände auf die Knie. Ich hatte Seitenstechen. Stoßweise schnappte ich nach Luft. »Bleib nicht stehen!«, schrie Marty außer sich. »Julia -lauf weiter!« Ich atmete tief ein und folgte ihm die Straße hinunter. Unsere nackten Füße klatschten über den Asphalt. Noch immer konnte ich das Stöhnen und die Schreie hinter uns hören. Doch ich hatte viel zu viel Angst, um mich umzuschauen. »Marty - wo sind denn nur alle?«, rief ich atemlos. Die Shock Street lag verlassen da, alle Häuser und Geschäfte waren dunkel. Eigentlich müssten hier doch irgendwo Leute sein, ging es mir durch den Kopf. Das ist schließlich ein großes Filmstudiogelände. Wo stecken bloß die Leute, die in den Shocker-Studios arbeiten? Wo sind die Leute, die bei der Shocker-Tour beschäftigt sind? Wieso ist hier niemand, der uns hilft? 54
»Irgendetwas stimmt hier nicht!«, stieß Marty hervor, während er volle Pulle rannte. Wir kamen am Horror-Hardware-Store und an Shock-CityElectronics vorbei. »Die Roboter sind außer Kontrolle geraten oder so!« Na endlich! Marty war einer Meinung mit mir. Endlich gab er zu, dass hier irgendetwas schrecklich schief lief. »Wir müssen deinen Dad finden«, sagte Marty, während er über die Straße rannte und auf den nächsten Block dunkler Häuser zusteuerte. »Wir müssen ihm Bescheid sagen, dass es ernsthafte Probleme gibt.« »Wir müssen die Bahn wiederfinden«, rief ich. Ich musste mich anstrengen, um mit Marty Schritt zu halten. »Au!« Ich war mit dem nackten Fuß auf etwas Hartes getreten, auf einen Stein oder so etwas. Ein heftiger Schmerz schoss mein Bein hinauf, aber ich humpelte trotzdem weiter. »Wenn wir es schaffen, wieder in die Bahn zu steigen, wird sie uns zu Dad zurückbringen«, rief ich. »Es muss einen Weg geben, der aus der Shock Street hinausführt«, sagte Marty. »Schließlich sind das hier nur Filmkulissen.« Wir rannten an einer großen Villa mit zwei Türmchen vorbei. Sie sah wie ein Spukschloss aus, aber ich konnte mich nicht erinnern, sie in irgendeinem Sbocker-Film schon einmal gesehen zu haben. Hinter der Villa erstreckte sich ein großes, brachliegendes Grundstück. Am hinteren Ende des Grundstücks erhob sich eine niedrige Ziegelmauer, die Marty und mich um gerade mal dreißig Zentimeter überragte. »Hier lang!«, wies ich Marty an. »Wenn wir über diese Mauer klettern, können wir wahrscheinlich die Straße zu den Studiogebäuden sehen.« Das war zwar nur eine Vermutung, aber einen Versuch war es wert. Wir bogen beide auf das leere Grundstück ab. Meine nackten Füße klatschten über die weiche Erde, die sich kalt und nass anfühlte. Unter unseren Füßen spritzten große Schlammklumpen hervor. Je weiter wir das Feld durchquerten, desto weicher wurde der Schlamm. Meine nackten Füße sanken darin ein und ich konnte kaum noch die Beine heben. Langsam stieg mir der kalte Schlamm bis über die Knöchel. Marty und" ich hatten die Ziegelmauer beinahe erreicht, als wir plötzlich in ein tiefes Schlammloch gerieten. »Aaahh!« Wir schrien beide heiser auf, als der Boden unter uns nachgab. 55
Mit einem ekelhaften Platschen sanken wir ein. Ich riss beide Hände in die Höhe und versuchte verzweifelt, mich irgendwo festzuhalten. Doch es gab nichts zum Festhalten. Der Schlamm schloss mich ein. Quoll über meine Knöchel, an meinen Beinen hoch, über meine Knie. Er saugt mich hinab, schoss es mir durch den Kopf. Ich versuchte noch einmal zu schreien — aber Panik schnürte mir den Hals zu. Ich schaute zu Marty neben mir. Er fuchtelte wild mit den Armen und drehte und wand sich, während er immer weiter einsank. Er steckte bereits bis über die Hüfte im Schlamm - und sank noch immer rasch weiter. Ich strampelte und versuchte meine Knie anzuheben. Aber ich steckte fest. Ich steckte fest und wurde unerbittlich hinabgezogen, hinab in den dunklen, nassen Schlamm. Mit meinen schlammverschmierten Armen schlug ich klatschend auf die Oberfläche, um irgendeinen Halt zu finden. Doch es half nichts. Der Schlamm blubberte mir bereits über den Hals hoch. Und ich sank noch immer rasch tiefer.
-18Ich hielt den Atem an. Der Schlamm erreichte jetzt mein Kinn. In einer Sekunde steht er mir über dem Kopf, dachte ich. Ein Schluchzer entrang sich meiner Kehle. Der Schlamm stieg höher, über mein Kinn hinauf. Ich musste spucken, als er meinen Mund erreichte und ich etwas davon schluckte. Da spürte ich auf einmal, wie mich etwas am Arm packte. Kräftige Hände schoben sich unter meine Arme und bohrten sich in den Schlamm. Sie packten mich fester. Ich spürte, wie ich hochgezogen wurde, von jemand sehr Starkem herausgezogen wurde. Der Schlamm blubberte laut, während ich höher glitt. Ich spürte, wie mir der Schlamm über die Brust, die Beine, die Knie hinablief.
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Und dann stand ich, noch immer von zwei kräftigen Händen gehalten, wieder auf festem Grund. »Marty...!«, rief ich. Beim Reden schmeckte ich den fauligen Schlamm auf meinen Lippen. »Bist du...?« »Ich bin draußen!«, hörte ich seine heisere Antwort. »Julia, ich bin okay!« Schließlich ließen mich die kräftigen Hände los. Ich hatte zittrige Knie und schwankte, hielt mich aber auf den Beinen. Ich drehte mich herum, um zu sehen, wer mich gerettet hatte. Und blickte direkt in die rot glühenden Augen eines Wolfs. Besser gesagt, eines Menschen mit Wolfsgesicht. Mit Klauen, die von schwarzem Fell bedeckt waren, einer langen braunen Schnauze, die zu einem zähnebleckenden Grinsen verzogen war, und mit aufgestellten spitzen Ohren, die aus einem dicken schwarzen Wolfspelz ragten. Eine Frau. Sie trug einen silbernen Overall, der ihr glatt und hauteng anlag. Während ich sie entgeistert anstarrte, öffnete sie ihr Maul zu einem kehligen Knurren. Ich erkannte sie sofort. Wolf-Girl! Als ich den Kopf wandte, entdeckte ich ihren Begleiter - Wolf-Boy. Er hatte Marty aus dem Schlammloch gezogen. Marty war über und über mit Schlamm bedeckt. Er versuchte sich das Gesicht abzuwischen, schmierte sich dabei aber nur noch mehr Schlamm auf die Backen. »Ihr habt uns gerettet! Danke!«, schrie ich, als ich meine Stimme endlich wiedergefunden hatte. Die beiden Werwölfe knurrten kehlig zur Erwiderung. »Wir — wir haben die Tourbahn aus den Augen verloren«, erklärte ich Wolf-Girl. »Wir müssen zurück. Verstehst du? Dorthin zurück, wo die Tour losging.« Sie knurrte laut, dann schnappte sie mit ihrem Maul voller Zähne nach mir. »Bitte...«, bat ich. »Könnt ihr uns helfen, zur Bahn zurückzufinden? Oder könnt ihr uns zum Hauptgebäude bringen? Dort wartet mein Dad auf mich.« Wolf-Girls Augen blitzten auf und sie brummte.
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»Wir wissen, dass ihr nur Schauspieler seid!«, platzte Marty mit schriller Stimme heraus. »Aber wir haben keine Lust mehr, uns Angst machen zu lassen. Für heute haben wir uns genug gefürchtet. Klar?« Die beiden Werwölfe knurrten. Über Wolf-Boys schwarze Lippen lief ein langer weißer Speichelfaden herab und tropfte zu Boden. Irgendetwas in mir klickte plötzlich und ich verlor völlig die Beherrschung. »Hört auf damit!«, brüllte ich. »Hört endlich auf damit! Marty hat Recht! Wir wollen uns jetzt keine Angst mehr einjagen lassen. Also hört gefälligst mit der Werwolfnummer auf- und helft uns!« Die Werwölfe knurrten wieder. Wolf-Girl ließ ihre lange rosa Zunge aus dem Maul gleiten und leckte sich hungrig über die scharfen Zähne. »Das reicht jetzt!«, kreischte ich. »Schluss mit der Show! Hört auf! Schluss damit!« Ich war so sauer, so fuchsteufelswild, dass ich kurz entschlossen beide Hände hob und das Fell von Wolf-Girls Maske packte. Mit aller Kraft zog ich daran. Zog und zerrte mit beiden Händen, so fest ich konnte. Und fühlte echtes Fell. Und warme Haut. Es war keine Maske.
-19»Ohh.« Ich keuchte auf und meine Hände zuckten zurück. Die roten Augen der Werwölfin glühten auf. Ihre schwarzen Lippen öffneten sich und sie fuhr sich mit der Zunge wieder hungrig über die spitzen gelben Zähne. Ich zitterte am ganzen Leib und wich an die Ziegelwand zurück. »MMarty...«, stotterte ich. »Das ist keine Show.« »Was?« Marty riss die Augen im schlammverkrusteten Gesicht weit auf und starrte Wolf-Boy an, der vor ihm stand. »Das sind keine Schauspieler«, flüsterte ich. »Irgendetwas stimmt hier nicht. Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht.« Mit offenem Mund trat Marty einen Schritt zurück. Beide Werwölfe knurrten grimmig und senkten die Köpfe, als ob sie uns gleich anfallen wollten. 58
»Glaubst du mir jetzt?«, schrie ich. »Glaubst du mir endlich?« Marty nickte wortlos. Ich schätze, er hatte viel zu viel Angst, um zu sprechen. Aus den Mäulern der Werwölfe tropfte Geifer. Ihre Augen glühten in der Dunkelheit wie Feuer. Mit jedem Atemzug hob und senkte sich ihre Brust und ihr Atem ging laut und heiser. Erschreckt sprang ich zur Mauer zurück, als beide Werwölfe die Köpfe hoben und laut aufheulten. Was hatten sie mit uns vor? Ich packte Marty und zerrte ihn zur Mauer. »Auf die Mauer!«, schrie ich. »Rauf mit dir! Vielleicht können sie uns da oben nicht kriegen!« Marty sprang mit gereckten Armen in die Höhe. Seine Hände schlugen oben klatschend auf der Mauer auf, doch er rutschte wieder herunter. Er versuchte es noch einmal, beugte die Knie, sprang und packte oben den Mauerrand. Aber wieder rutschte er hinab. »Ich schaff's nicht!«, heulte er. »Sie ist zu hoch.« »Wir müssen es schaffen!«, schrie ich. Ich wandte mich um und sah, dass die beiden Werwölfe auf ihren Hinterläufen standen, bereit, jeden Moment loszuspringen. Sie fauchten und knurrten jetzt beide, Geifer tropfte von ihren Zähnen herab. »Rauf mit dir!«, schrie ich. Als Marty noch einmal an der Mauer hochsprang, packte ich seinen schlammverschmierten Fuß und schob ihn kräftig an. Er ruderte mit den Händen durch die Luft, erwischte den Mauerrand und klammerte sich fest. Mit strampelnden Füßen hing er da, aber er schaffte es, sich zu halten, und konnte sich schließlich hochziehen. Oben auf der Mauer kniend, drehte er sich um und packte meine Hände. Er zog gleichzeitig und ich sprang. Ich strengte mich verzweifelt an, zu ihm hinaufzukommen. Aber ich bekam meine Knie nicht hoch. Ich schaffte es nicht, mich auf die Mauer zu stemmen. Ich zappelte wild mit den Beinen in der Luft herum. Meine Knie schrappten an der Mauer entlang, als Marty mich ein Stück hochzog. »Ich schaffe es nicht! Ich pack's nicht!«, keuchte ich. Wieder heulten die Werwölfe.
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»Versuch's weiter!«, stieß Marty hervor. Er zog an meinen Armen, zog mit aller Kraft. Ich hing noch immer strampelnd an der Mauer, als die beiden Werwölfe lossprangen.
-20Ich hörte, wie ihre Kiefer zuschnappten. Ihr heißer Atem strich über meine Füße. Die beiden Werwölfe prallten gegen die Mauer. Mit einem verzweifelten Aufschrei hievte ich mich auf die Mauerkrone. Oben presste ich mich, nach Luft ringend, flach auf die Ziegel. Ich hob meinen Kopf gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie die Werwölfe einen zweiten Anlauf nahmen und sprangen. Ihre Mäuler schnappten vor meiner Nase zu. Rote Augen funkelten mich hungrig an. »Nein!« Schreiend fuhr ich hoch. Die Werwölfe hoben die Köpfe und bereiteten sich auf einen neuen Angriff vor. Marty und ich standen aneinander gepresst auf der Mauer und schauten auf sie hinab. Sie sprangen los. Ihre Krallen scheuerten über die Ziegel. Das schrille Kratzgeräusch jagte mir einen Schauer den Rücken hinunter. Wieder schnappten sie mit den Zähnen nach uns. Sie plumpsten zu Boden zurück und setzten, aufgebracht fauchend, erneut zum Sprung an. »Wir können nicht ewig hier bleiben!«, schrie Marty. Ich blinzelte in die Dunkelheit. Lag auf der anderen Seite der Mauer die Straße zu den Studiogebäuden? Es war zu dunkel, um das feststellen zu können. Wieder sprangen die Werwölfe los. Scharfe Zähne schrappten über meinen Knöchel. Entsetzt wich ich zurück und fiel beinahe von der Mauer herunter. Marty und ich prallten gegeneinander, die Augen starr auf die beiden knurrenden Ungeheuer geheftet, die schon wieder zum Sprung ansetzten. 60
Die Pistole! Die Plastikbetäubungspistole! Meine war mir irgendwann aus der Hand gefallen. Wahrscheinlich war sie in dem Schlammloch versunken. Doch mein Blick war auf Martys Waffe gefallen. Der Griff ragte aus der Hosentasche seiner Jeans. Ohne ein Wort zu sagen, langte ich danach und zog die Pistole aus Martys Tasche. »He...!«, rief er. »Julia — was tust du da?« »Sie müssen einen Grund dafür gehabt haben, uns die Pistolen zu geben«, erklärte ich ihm schreiend, um das Furcht erregende Heulen der beiden Werwölfe zu übertönen. »Vielleicht kann man sie damit stoppen.« »Das... das ist doch nur ein Spielzeugl«, stotterte Marty. Das war mir egal. Einen Versuch war es wert. Vielleicht würde die Waffe ihnen zumindest Angst einjagen. Vielleicht konnte ich die beiden damit auch verletzen. Vielleicht konnte ich sie damit sogar verscheuchen. Ich hob die Plastikpistole und richtete sie auf die beiden Werwölfe, die gerade zu einem Angriff ansetzten. »Eins — zwei — drei — FEUER!« Ich drückte den Abzug. Wieder. Und wieder. Und noch einmal.
-21Die Pistole gab ein lautes sirrendes Geräusch von sich und sandte einen gelben Lichtstrahl aus. Ja!, dachte ich. Ja!, betete ich. Der Lichtstrahl wird sie stoppen. Schließlich ist das ein Betäubungsstrahler. Das Sirren und das grelle Licht wird die beiden betäuben. Sie werden auf der Stelle erstarren und Marty und ich können entkommen. Noch einmal drückte ich den Abzug, diesmal kräftiger. Und gleich darauf noch einmal. Und wieder. Doch die Waffe stoppte die Werwölfe nicht. Sie schien die beiden noch nicht einmal zu verblüffen. Die Werwölfe sprangen diesmal höher. Ich spürte ihre scharfen Krallen, die mein Bein entlangkratzten. Vor Schmerz schrie ich auf.
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Da flog mir die Plastikpistole aus der Hand. Sie schlug scheppernd auf der Mauerkrone auf und segelte dann zu Boden. Nur ein Spielzeug. Marty hatte Recht gehabt. Es war keine echte Waffe. Es war nur ein dämliches Spielzeug. »Pass auf!« Marty riss den Mund zu einem schrillen Schrei auf, weil die knurrenden Ungeheuer erneut in hohem Bogen auf die Mauer lossprangen. Krallen schrappten über die Mauersteine - und fanden Halt. Rote Augen funkelten zu mir hoch. Heißer Wolfsatem ließ meine Haut kribbeln. »Ohhh.« Vor Schreck hatte ich das Gleichgewicht verloren und ruderte mit den Armen, um mich wieder zu fangen. Doch meine Beine knickten ein und meine Füße rutschten ab. In letzter Not versuchte ich mich an Marty festzuhalten. Aber ich verfehlte ihn. Ich purzelte hinunter und landete mit einem heftigen Aufprall auf der anderen Seite der Mauer auf dem Rücken. Als ich erschrocken aufblickte, sah ich Marty zu mir herunterspringen. Die beiden Werwölfe waren nun oben auf der Mauer. Sie funkelten uns mit rot glühenden Augen und heraushängender Zunge von oben herab an. Und schickten sich an, sich auf uns zu stürzen. Marty zerrte mich auf die Beine. »Lauf!«, schrie er heiser, die Augen panisch weit aufgerissen. Über uns knurrten die Werwölfe. Der Boden schwankte. Mir war immer noch schwindlig und ich war von meinem Sturz ein wenig benommen. »Wir — wir können sie nicht abhängen!«, stöhnte ich. Ich hörte ein Rumpeln. Ein Klappern. Marty und ich drehten uns beide um. Und sahen zwei gelbe Augen, die vor dem dunklen Himmel glühten. Die gelben Augen eines Ungeheuers, das auf uns zudonnerte. Nein. Kein Ungeheuer. Als es näher kam, konnte ich seine lange, schnittige Form ausmachen. Die Tourbahn! Hinter den gelben Scheinwerfern schwankte die Bahn die Straße entlang. Kam näher und näher. Ja! Ich wandte mich Marty zu. Sah er sie ebenfalls? Ja. 62
Ohne ein Wort zu wechseln, rannten wir beide zur Straße. Die Bahn fuhr schnell. Irgendwie mussten wir in den Anhänger kommen. Das mussten wir irgendwie schaffen! Hinter uns hörte ich die Werwölfe heulen. Ich vernahm einen lauten Plumps, dann noch einen, als die beiden von der Mauer herabsprangen. Das gelbe Scheinwerferlicht der Bahn erfasste uns. Die Werwölfe fauchten und knurrten wütend, während sie uns nachjagten. Ein, zwei Meter vor mir rannte Marty dahin, den Kopf gesenkt, die Beine im wilden Galopp. Die Bahn kam näher gerumpelt. Und noch näher. Die heulenden Werwölfe waren uns dicht auf den Fersen. Ich konnte beinahe ihren heißen Atem im Nacken spüren. Nur noch ein paar Sekunden. Ein paar Sekunden noch - und Marty und ich würden aufspringen. Ich sah, wie die Bahn um eine Kurve sauste, die gelben Lichtstrahlen der Scheinwerfer huschten über die dunkle Straße. Ich heftete meine Augen auf den ersten Wagen, holte tief Luft und bereitete mich darauf vor, zu springen. Da fiel Marty hin. Ich sah, wie seine Hände in die Luft schössen. Sah, wie er den Mund vor Verblüffung und Entsetzen weit aufriss. Er war über seine eigenen nackten Füße gestolpert, stürzte zu Boden und landete mit Wucht auf dem Bauch. Ich konnte nicht rechtzeitig anhalten. Ich rannte direkt in ihn hinein und stolperte ebenfalls. Fiel mit Schwung auf ihn drauf. Und sah, wie die Bahn an uns vorbeisauste.
-22»Uhuuuuhhhh!« Die beiden Werwölfe stießen ein lang gezogenes Triumphgeheul aus. Mit hämmerndem Herzen rappelte ich mich auf. »Steh auf!« Ich zerrte Marty verzweifelt an beiden Händen hoch. 63
Unsere nackten Füße dröhnten über den harten Straßenbelag, als wir wieder hinter der Bahn herrannten. Der letzte Wagen rumpelte nur ein, zwei Meter vor uns her. Ich erreichte ihn als Erste. Ich streckte meine rechte Hand aus und packte das Ende des Wagens. Mit einem verzweifelten Satz hievte ich mich hoch und hinein. Erschöpft ließ ich mich auf die letzte Sitzbank fallen und rang nach Atem. Keuchend drehte ich mich um und sah, dass Marty noch immer hinter der Bahn herrannte. Er streckte die Hände nach dem Wagen aus. »Ich — ich schaff es nicht!«, schnaufte er. »Lauf! Du musst es schaffen!«, brüllte ich. Hinter ihm konnte ich die beiden Werwölfe sehen, die ihm dicht auf den Fersen waren. Marty legte einen Zahn zu und klammerte sich mit beiden Händen hinten am Wagen fest. Ein paar Meter weit wurde er mitgeschleppt - bis er sich über den Wagenrand schwang und neben mir auf die Sitzbank sank. Ja!, dachte ich glücklich. Wir haben es geschafft! Wir sind den heulenden Werwölfen entkommen! Oder etwa nicht? Würden sie hinter uns ebenfalls auf die Bahn aufspringen? „ Am ganzen Leib zitternd, fuhr ich herum. Und sah, wie die Werwölfe immer weiter zurückfielen. Eine Zeit lang rannten sie uns noch nach, dann gaben sie auf. Sie blieben beide auf der Straße stehen, die Oberkörper japsend nach vorn gekrümmt, und sahen zu, wie wir entkamen. Wir waren entkommen! Was für ein wunderbares Wort. Marty und ich grinsten uns an. Er reckte die Hand hoch und ich schlug ein. Wir waren über und über mit Schlamm beschmiert, meine Beine schmerzten vom Laufen und in meinen nackten Füßen pochte es. Mein Herz hämmerte noch immer von der Furcht erregenden Verfolgungsjagd und ich rang nach Atem. Aber wir waren entkommen! Und nun waren wir in der Bahn in Sicherheit und auf dem Weg zurück zur Plattform. Zurück zu meinem Dad. »Wir müssen deinem Dad Bescheid sagen, dass es hier drunter und drüber geht«, sagte Marty außer Atem. 64
»Irgendetwas läuft hier schrecklich schief«, pflichtete ich ihm bei. »Diese Werwölfe — die haben nicht gespaßt«, fuhr Marty fort. »Die — die waren echt, Julia. Das waren keine Schauspieler.« Ich nickte. Ich war so froh, dass Marty endlich einer Meinung mit mir war. Und er spielte überhaupt nicht mehr den Mutigen. Er tat nicht mehr so, als wären das alles nur Roboter und Spezialeffekte gewesen. Uns war beiden klar, dass wir in wirklicher Gefahr geschwebt hatten. Dass uns echte Monster begegnet waren. Irgendetwas lief in den Shocker-Studios fürchterlich schief. Dad hatte gesagt, er erwarte einen vollständigen Bericht von uns. Nun, er würde ihn bekommen! Ich lehnte mich zurück und versuchte mich zu beruhigen. Plötzlich richtete ich mich mit einem Ruck wieder auf. Ich hatte festgestellt, dass wir nicht alleine waren. »Marty — sieh nur!« Ich wies auf den vorderen Teil der Bahn. »Wir sind nicht die einzigen Fahrgäste.« Tatsächlich schienen in allen Wagen Leute zu sitzen. »Was ist denn hier los?«, murmelte Marty. »Dein Dad hat doch gesagt, wir wären die Einzigen auf der Tour. Und jetzt ist die Bahn... OH!...« Marty sprach seinen Satz nicht zu Ende. Er klappte entgeistert den Mund auf. Seine Augen wurden groß und traten hervor. Ich riss ebenfalls Mund und Augen auf. Die anderen Fahrgäste in der Bahn hatten sich alle gleichzeitig zu uns umgedreht. Und ich sah ihre grinsenden Kiefer, ihre dunklen Augenhöhlen, ihre grauen knochigen Schädel. Skelette. All die, anderen Fahrgäste waren grinsende Skelette. Sie öffneten ihre Kiefer zu einem trockenen Gelächter. Es war ein grausames Lachen, das klang, wie wenn Wind heulend durch kahle Bäume pfeift. Sie hoben ihre gelben Skeletthände und zeigten auf uns. Dabei rasselten und klapperten ihre Knochen. Ihre Schädel wippten und nickten im ratternden Rhythmus der Fahrt, während die Bahn uns schneller und schneller durch die Dunkelheit trug. Marty und ich kauerten uns zitternd auf der Sitzbank zusammen, die Augen auf die grinsenden Schädel und die ausgestreckten Knochenfinger geheftet. Wer waren sie? 65
Wie waren sie in diese Bahn gekommen? Wohin fuhren sie mit uns?
-23Die Skelette hörten nicht auf, ihr pfeifendes Lachen zu lachen, ihre Knochen klirrten und rappelten. Ihre vergilbten Schädel hüpften locker auf ihren klappernden Schulterknochen auf und ab. Die Bahn gewann an Fahrt. Wir flogen durch die Dunkelheit. Ich zwang mich dazu, mich von den grinsenden Totenschädeln abzuwenden, und spähte hinaus. Hinter den Bäumen konnte ich die niedrigen Filmstudiogebäude erkennen. Sie wurden immer kleiner und kleiner und verschwanden schließlich ganz in der Dunkelheit der Nacht. »Marty — wir kehren nicht zur Plattform vor dem Hauptgebäude zurück«, wisperte ich. »Wir fahren in die falsche Richtung. Wir entfernen uns von den Gebäuden!« Er schluckte heftig. In seinen Augen konnte ich Panik erkennen. »Was sollen wir tun?«, stieß er erstickt hervor. »Wir müssen hier raus!«, antwortete ich. »Wir müssen abspringen.« Marty war so tief es nur ging in den Sitz gesunken. Ich denke, er versuchte sich vor den Skeletten zu verstecken. Jetzt hob er vorsichtig den Kopf und lugte über die Seitenwand der Bahn hinaus. »Julia - wir können nicht abspringen!«, schrie er. »Wir fahren viel zu schnell.« Er hatte Recht. Wir rasten die Straße entlang und die Bahn beschleunigte noch immer. Bäume und Büsche huschten vorbei, zu dunklen Streifen verschwimmend. Mit quietschenden Reifen rauschten wir um eine enge Kurve — und da schien uns ein hohes Gebäude förmlich in den Weg zu springen. Eine Burg, in wirbelndes Scheinwerferlicht getaucht. Ganz in Grau und Silber. Zwillingstürme erhoben sich in den Himmel und eine massive Steinmauer ragte auf der Straße vor uns auf. Die Straße! Sie lief geradewegs auf die Burgmauer zu. Sie endete an der Mauer. Und wir donnerten die Straße entlang und wurden immer noch schneller. 66
Wir rasten auf die Burg zu. Die Skelette rasselten und rappelten und lachten ihr trockenes, schrilles Lachen. Sie hüpften begeistert auf ihren Sitzen auf und ab und klirrten mit den Knochen, während wir auf die Burg zusausten. Näher kamen und näher kamen. Jetzt waren wir schon dicht davor. Direkt vor der massiven Steinmauer. Jeden Moment würden wir dagegen rasen.
-24Mir zitterten die Beine. Mein Herz hämmerte. Trotzdem schaffte ich es irgendwie, mich auf den Sitz zu stellen. Ich holte tief Luft, hielt den Atem an, schloss die Augen - und sprang. Ich landete mit Wucht auf meiner Seite und rollte weiter. Ich sah, dass Marty zögerte. Da schwankte die Bahn und Marty segelte über die Seitenwand hinaus. Er landete bäuchlings auf dem Boden, rollte auf den Rücken und kullerte weiter. Unter einem Baum rollte ich aus. Ich drehte mich zur Burg herum gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie die Bahn in die Steinmauer raste. Ohne ein Geräusch. Der erste Wagen traf auf die Mauer auf und schoss hindurch. Völlig lautlos. Ich konnte die Skelette auf und ab hopsen und hüpfen sehen. Auch die nächsten Wagen rasten - einer nach dem anderen — in die Burgmauer und fuhren ohne ein Geräusch durch sie hindurch. Wenige Sekunden später war die Bahn verschwunden. Tiefe Stille senkte sich über die Straße. Die Scheinwerfer auf der Burgmauer erloschen. »Julia — alles in Ordnung mit dir?«, rief Marty kläglich. Ich drehte mich um und entdeckte ihn auf der anderen Straßenseite auf Händen und Knien. Ich rappelte mich mühsam auf. Ich hatte mir die Seite aufgeschürft, aber es tat nicht besonders weh. »Ich bin okay«, erklärte ich ihm. Ich deutete auf die Burg. »Hast du das gesehen?« 67
»Ich hab's gesehen«, antwortete Marty, während er langsam aufstand. »Aber ich glaub's einfach nicht.« Er streckte sich. »Wie konnte die Bahn durch die Mauer fahren? Denkst du, dass die Burg gar nicht wirklich da ist? Dass sie eine optische Täuschung ist? Eine Art Trick?« »Es gibt eine einfache Möglichkeit, das herauszufinden«, sagte ich. Seite an Seite gingen wir die Straße entlang. Der Wind raschelte in den Bäumen und ließ sie rings um uns wispern. Der Straßenbelag fühlte sich kalt unter meinen nackten Fußsohlen an. »Wir müssen meinen Dad finden«, sagte ich leise. »Ich bin sicher, er kann uns das alles erklären.« »Das hoffe ich«, murmelte Marty. Wir traten an die Burgmauer. Ich streckte beide Hände aus und erwartete, dass sie glatt hindurchgingen. Doch meine Hände klatschten gegen festen Stein. Marty spannte die Schulter an und rammte sie gegen die Burgmauer. Auch er prallte mit einem dumpfen Geräusch gegen die Wand. »Sie ist fest«, sagte Marty kopfschüttelnd. »Es ist eine richtige Mauer. Also wie konnte die Bahn dann hindurchfahren?« »Es ist eine Geisterbahn«, flüsterte ich und strich mit der Hand über den kalten Stein. »Eine Geisterbahn voller Skelette.« »Aber wir sind darin gefahren!«, schrie Marty. Ich schlug mit beiden Händen gegen die Mauer, dann wandte ich mich von ihr ab. »Ich hab diese mysteriösen Geschichten satt!«, heulte ich. »Ich hab's satt, mich ständig erschrecken zu lassen! Ich hab genug von Werwölfen und Monstern! Ich geh nie wieder in einen Gruselfilm, solange ich lebe!« »Dein Vater kann das bestimmt alles erklären«, sagte Marty sanft und schüttelte dabei den Kopf. »Ich bin sicher, das kann er.« »Ich pfeif auf seine Erklärungen!«, schrie ich. »Ich will nur noch eins: weg von hier!« Wir hielten uns dicht beieinander, als wir um die Burg herumgingen. Hinter uns konnte ich das seltsame Heulen von Tieren hören. Und irgendwo hoch über unseren Köpfen zerriss ein Furcht erregendes Gackern die Luft. Ich beachtete die Geräusche nicht. Ich hatte keine Lust, mir Gedanken darüber zu machen, ob sie von echten Monstern oder von künstlichen 68
stammten. Ich wollte nicht an all die Furcht erregenden Ungeheuer denken, denen wir begegnet waren - oder an die brenzligen Situationen, denen Marty und ich um Haaresbreite entkommen waren. Ich wollte mir überhaupt keine Gedanken mehr machen. An der Rückseite der Burg tauchte die Straße wieder auf. »Ich hoffe, wir gehen in die richtige Richtung«, murmelte ich, als wir der Straße folgten, die sich den Hügel hinabwand. »Ich auch«, antwortete Marty mit kläglicher Stimme. Wir beschleunigten unsere Schritte und hielten uns in der Mitte der Straße. Wir gaben uns alle Mühe, nicht auf die spitzen Tierrufe, die schrillen Schreie, das Heulen und Stöhnen zu achten, das uns überallhin zu folgen schien. Die Straße stieg an. Marty und ich beugten uns leicht vor, während wir aufwärts marschierten. Die Furcht erregenden Schreie folgten uns den Hügel hinauf. Als wir beinahe die Anhöhe erreicht hatten, sah ich eine Anzahl niedriger Gebäude. »Ja!«, rief ich. »Marty — sieh nur! Wir müssen auf dem Weg zur Plattform sein.« Ich begann auf die Gebäude zuzulaufen. Marty trabte dicht hinter mir her. Abrupt blieben wir beide stehen, als uns klar wurde, wo wir uns befanden. Zurück auf der Shock Street. Irgendwie waren wir im Kreis gelaufen. Hinter den alten Häusern und den kleinen Geschäften kam der ShockStreet-Friedhof in Sicht. Während ich auf den Zaun starrte, fielen mir die grünen Hände wieder ein, die aus dem Boden hervorgeschossen waren. Die grünen Schultern. Die grünen Gesichter. Die Hände, die an uns zerrten, uns hinabziehen wollten. Ein Schauder durchlief meinen Körper. Hier wollte ich nicht sein. Ich wollte diese schreckliche Straße nicht noch einmal sehen. Aber ich konnte den Blick nicht von dem Friedhof abwenden. Während ich von der anderen Straßenseite aus auf die alten Grabsteine blickte, sah ich, wie sich etwas bewegte. Etwas Graues, das wie eine winzige Wolke aussah. 69
Es stieg zwischen zwei windschiefen alten Grabsteinen empor und schwebte geräuschlos in die Höhe. Und dann erhob sich ein weiteres graues Wölkchen vom Boden. Und noch eines. Ich warf Marty einen raschen Blick zu. Er stand, die Hände in die Hüften gestemmt, neben mir und blickte angestrengt in dieselbe Richtung. Er sah sie ebenfalls. Die grauen Wölkchen erhoben sich lautlos wie Schneebälle oder Watte in die Luft. Dutzende davon schwebten von den Gräbern empor. Trieben über den Friedhof und auf die Straße hinaus. Schwebten zu Marty und mir und hingen tief über unseren Köpfen. Und während wir zu ihnen aufblickten, begannen sie zu wachsen. Sie dehnten sich aus wie graue Ballons. Plötzlich konnte ich Gesichter in ihnen erkennen. Dunkle Gesichter, schemenhaft in die Wolken geätzt wie beim Mann im Mond. Die Gesichter blickten uns finster an. Sie waren alt, faltig und zerknittert. Die Augen hatten sie zu dunklen Schlitzen zusammengekniffen und sie blickten uns mit grimmiger Miene an. Höhnische Gesichter in sich aufblähenden weißen Wölkchen. Ich packte Marty an der Schulter. Ich wollte weglaufen, verschwinden, vor ihnen fliehen. Doch die Nebelfetzen mit den bösartigen Gesichtern senkten sich wie Rauch zu uns herab, quirlten um uns herum. Umzingelten uns, hielten uns gefangen. Und dann umkreisten sie uns. Sie kreisten schneller und schneller und hielten uns im wirbelnden, erstickenden Nebel fest.
-25Ich presste die Hände vor die Augen, um ihren Anblick auszuschalten. Ich war in völliger Panik erstarrt. Ich konnte nicht mehr denken. Ich konnte nicht mehr atmen. Der Wind pfiff laut, während die gespenstischen Wolken um uns herumwirbelten.
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Und dann hörte ich die Stimme eines Mannes, der den Wind übertönte: »Klappe! Die wird kopiert! Gute Szene, Leute!« Vorsichtig ließ ich die Hände sinken und öffnete die Augen. Ich atmete tief aus. Ein Mann kam mit großen Schritten auf Marty und mich zu. Er hatte eine Jeans und ein graues Sweatshirt unter einer braunen Lederjacke an. Auf dem Kopf trug er eine blau-weiße Dodgers-Baseballkappe, den Schirm nach hinten gedreht. Ein blonder Pferdeschwanz hing darunter hervor. Er hatte ein Klemmbrett in der Hand. Um den Hals trug er eine silberne Trillerpfeife. Er lächelte Marty und mich an und reckte anerkennend einen Daumen hoch. »He, was ist los, Leute? Ich bin RUSS Denver. Gut gemacht! Ihr habt echt verängstigt ausgesehen.« »Was?«, rief ich und klappte den Mund auf. »Wir hatten echt Angst!« »Ich bin so froh, endlich einen richtigen, lebendigen Menschen zu sehen!«, rief Marty. »Diese Tour - die ist total daneben!«, schrie ich. »Die Ungeheuer sind lebendig! Sie haben versucht, uns etwas anzutun! Wirklich! Das war kein Spaß! Es war überhaupt nicht wie eine Tour!« »Es war echt abartig! Die Werwölfe haben nach uns geschnappt und uns auf eine Mauer hinauf gejagt!«, erzählte Marty aufgebracht. Aufgeregt redeten wir beide gleichzeitig und erzählten diesem Mr. Denver all die Furcht erregenden Dinge, die wir auf der Tour erlebt hatten. »Stopp! Stopp!« Ein Lächeln huschte über sein gut aussehendes Gesicht. Er hob das Klemmbrett, als wolle er unseren Wortschwall abwehren. »Das sind alles Spezialeffekte, Leute. Hat man euch denn nicht erklärt, dass wir hier einen Film drehen? Dass wir eure Reaktionen gefilmt haben?« »Nein. Das hat uns niemand gesagt, Mr. Denver!«, entgegnete ich ärgerlich. »Mein Dad hat uns hierher gebracht. Er hat die Studiotour entwickelt. Und er hat uns gesagt, wir wären die Ersten, die sie ausprobieren. Aber er hat uns nichts von irgendeinem Film erzählt, der hier gedreht wird. Ich finde wirklich...« Ich spürte Martys Hand auf meiner Schulter. Mir war klar, dass Marty mich beruhigen wollte. Aber ich wollte mich nicht beruhigen lassen! Ich war richtig wütend.
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Mr. Denver drehte sich zu einer Gruppe von Leuten um, die hinter ihm auf der Straße standen. »Dreißig Minuten Pause, Leute. Zeit fürs Abendessen.« Plaudernd und schwatzend entfernten sie sich. Mr. Denver wandte sich wieder uns zu. »Dein Vater hätte euch erklären sollen...« »Ist schon in Ordnung. Wirklich«, unterbrach ihn Marty. »Wir hatten nur ein bisschen Schiss. All diese Ungeheuer haben so real gewirkt. Und wir haben nirgendwo andere Leute gesehen. Sie sind der erste Mensch, den wir seit heute Nachmittag zu sehen bekommen.« »Mein Dad macht sich bestimmt schon Sorgen«, erklärte ich dem Filmregisseur. »Er hat gesagt, er würde auf der Plattform vor dem Hauptgebäude auf uns warten. Können Sie uns sagen, wie wir da hinkommen?« »Kein Problem«, antwortete Mr. Denver. »Seht ihr das große Haus da drüben, mit der offenen Tür?« Er wies uns mit dem Klemmbrett die Richtung. Marty und ich schauten zu dem Haus auf der anderen Seite der Straße hinüber. Ein schmaler Pfad führte zum Eingang. Aus der geöffneten Tür fiel fahles gelbes Licht. »Das ist Shockros Haus der Schocks«, erklärte der Regisseur. »Geht durch die Tür hinein und geradeaus durchs Haus hindurch.« »Aber bekommen wir da drin nicht einen Stromschlag verpasst?«, wollte Marty wissen. »Im Film bekommt jeder, der Shockros Haus betritt, einen Elektroschock von zwanzig Millionen Volt!« »Das passiert nur im Film«, antwortete Mr. Denver. »Dieses Haus ist lediglich eine Kulisse. Es ist völlig sicher. Geht durch das Haus und wenn ihr hinten herauskommt, seht ihr auf der anderen Straßenseite das Hauptgebäude. Ihr könnt es gar nicht verfehlen.« »Danke!«, riefen Marty und ich gleichzeitig. Marty drehte sich um und rannte Vollgas auf das Haus zu. Ich wandte mich zu Mr. Denver um. »Tut mir Leid, dass ich Sie vorhin so angebrüllt habe«, erklärte ich ihm. »Ich hatte solche Angst und ich dachte...« Plötzlich keuchte ich auf. Mr. Denver hatte sich abgewandt. Und aus seinem Rücken lief ein Stromkabel heraus. 72
Er war gar kein echter Mensch. Er war kein Filmregisseur. Er war eine Art Roboter. Er war eine Attrappe! Er hatte uns angelogen. Angelogen! Ich drehte mich um, legte die Hände um den Mund und rannte los. Beim Laufen rief ich Marty verzweifelt zu: »Geh da nicht rein! Marty — bleib stehen! Geh nicht ins Haus!« Zu spät. Marty rannte bereits durch die Tür.
-26»Marty — warte! Bleib stehen!«, schrie ich im Laufen. Ich musste ihn aufhalten! Der Regisseur war eine Attrappe. Ich war mir sicher, dass er nicht die Wahrheit gesagt hatte. »Marty — bitte\« Meine nackten Füße hämmerten über den harten Asphalt. Ich spurtete den Weg hinauf. »Halt!« Ich sauste auf die Haustür zu, streckte beide Hände aus, stürzte mich mit einem wilden Satz auf ihn — und verfehlte ihn. Ich schlitterte auf dem Bauch auf die Tür zu. In dem Moment, als Marty das Haus betrat, sah ich einen grellen Lichtblitz aufzucken und hörte ein lautes Summen. Dann das spitze Knistern von Elektrizität. Der Raum explodierte in einem Blitzschlag, der so grell war, dass ich mir die Augen zuhalten musste. Als ich sie wieder öffnete, lag Marty mit dem Gesicht nach unten ausgestreckt auf dem Boden. »Neeeiiin!« Ich heulte vor Entsetzen auf. Eilig rappelte ich mich auf und stürzte ins Haus. Würde ich ebenfalls einen Stromschlag bekommen? Das war mir egal. Ich musste zu Marty! Ich musste ihm helfen, da herauszukommen. »Marty! Marty!« Ich brüllte seinen Namen wieder und wieder. Er rührte sich nicht. 73
»Marty — bitte!« Ich packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn. »Wach auf, Marty! Komm zu dir! Marty!« Doch seine Augen blieben geschlossen. Plötzlich wurde mir kalt und ein dunkler Schatten fiel über mich. Ich war nicht allein in dem Haus.
-27Mit einem Keuchen fuhr ich herum. War das Shockro? Oder ein anderes schauriges Ungeheuer? Eine hohe Gestalt beugte sich über mich. Ich blinzelte in die Dunkelheit, um ihr Gesicht zu erkennen. »Dad!«, rief ich plötzlich erleichtert aus. »Dad! Oh, ich bin ja so froh, dich zu sehen!« »Julia, was tust du hier?«, fragte er mit leiser Stimme. »Es - es ist wegen Marty!«, stotterte ich. »Du musst ihm helfen, Dad. Er hat einen Stromschlag bekommen und er... er...« Dad beugte sich näher. Seine braunen Augen hinter den Brillengläsern waren kalt. Er sah verärgert aus. »Tu was, Dad!«, bettelte ich. »Marty ist verletzt. Er rührt sich nicht. Er macht die Augen nicht auf. Die Studiotour war so schrecklich, Dad! Etwas läuft hier schief. Etwas läuft hier fürchterlich schief!« Er antwortete nicht. Stumm beugte er sich noch näher zu mir herab. Und als sein Gesicht vom trüben Licht erfasst wurde, sah ich, dass er gar nicht mein Vater war! »Wer sind Sie?«, kreischte ich. »Sie sind nicht mein Dad! Warum helfen Sie mir nicht? Warum helfen Sie Marty nicht? Tun Sie etwas — bitte! Wo ist mein Dad? Wo steckt er? Wer sind Sie? Helfen Sie mir! Zu Hilfe! AAAAAARRRRRRRRR. Hilfe! MRRRRRRRRRRRR. Dad! Daaaad! MARRRRRRRRRRRRRR.«
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-28Mr. Wright schaute auf Julia und Marty hinunter und schüttelte unglücklich den Kopf. Dann schloss er die Augen und stieß einen langen Seufzer aus. Jared Curtis, einer der Studiotechniker, kam ins Haus der Schocks gerannt. »Mr. Wright, was um alles in der Welt ist mit Ihren beiden Kinderrobotern passiert?«, wollte er wissen. Mr. Wright seufzte wieder. »Probleme mit der Programmierung«, murmelte er. Er deutete auf den Roboter namens Julia, der erstarrt und reglos neben dem Roboter namens Marty kniete. »Ich musste das Mädchen abschalten. Ihr Speicherchip muss beschädigt sein. Sie war darauf programmiert, mich für ihren Vater zu halten. Aber gerade eben erkannte sie mich nicht.« »Und was ist mit dem Marty-Roboter?«, fragte Jared. »Er ist völlig ausgefallen«, antwortete Mr. Wright. »Ich denke, es gab einen Kurzschluss in seinem Stromkreis.« »Wie schade«, sagte Jared, während er sich bückte. Er drehte den MartyRoboter um, schob ihm das T-Shirt hoch und fummelte an einigen Anzeigen auf dem Rücken herum. »He, Mr. Wright, es war eine großartige Idee, Kinderroboter zu konstruieren, die den Park testen. Ich denke, wir kriegen sie wieder hin.« Jared öffnete eine Klappe in Martys Rücken und musterte mit zusammengekniffenen Augen die roten und grünen Drähte. »Alle anderen Ungeheuer, Monster und Roboter haben perfekt funktioniert. Es gab nicht eine einzige Macke!« »Mir hätte schon gestern klar sein müssen, dass etwas nicht in Ordnung war«, sagte Mr. Wright. »Als wir in meinem Büro waren, hat mich der Julia-Roboter nach seiner Mutter gefragt. Aber ich habe Julia gebaut. Sie hat keine Mutter.« Mr. Wright hob die Hände. »Nun ja. Kein Problem. Wir werden die beiden neu programmieren und ihnen neue Chips einsetzen. Im Handumdrehen sind sie wieder so gut wie neu. Dann werden wir sie noch einmal auf der Shocker-Studiotour testen, bevor wir den Park für echte Kinder eröffnen.«
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Er nahm Jared den Marty-Roboter ab und legte ihn sich über die eine Schulter, dann hob er den Julia-Roboter auf und schwang ihn sich über die andere Schulter. Summend machte er sich auf den Weg ins Gebäude der Studiotechniker.
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