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Eine handverlesene Gruppe der besten Drow-Abenteurer macht sich auf die Reise durch das tückische Unterreich und das Chaos eines tobenden Krieges. Ihr Ziel ist die Handelsstadt Ched Nasad, das Tor zum mächtigen Menzoberranzan. Der Weg führt die Abenteurer durchs Herz der Finsternis, während das Unterreich in seinen Grundfesten erschüttert wird. Als die Schockwellen des Bürgerkriegs die Stadt der schimmernden Netze erfassen und sich Drow gegen Drow wendet, scheint der Untergang Ched Nasads besiegelt.
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Vergessene Reiche R.A. Salvatores
DER KRIEG DER SPINNENKÖNIGIN BAND 2
Empörung
THOMAS M. REID
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Autor: Deutsch von: Lektorat: Korrektorat: Art Director, Satz und Layout: Umschlagillustration:
Thomas M. Reid Ralph Sander Oliver Hoffmann Thomas Russow/Angela Voelkel Oliver Graute Brom
ISBN 3-937255-05-2 Originaltitel: Insurrection
© der deutschen Ausgabe Feder&Schwert, Mannheim, 2003.
2. Auflage 2004.
Gedruckt in Pilsen, Oldenbourg
Empörung ist ein Produkt von Feder&Schwert.
© 2002 Wizards of the Coast, Inc. All rights reserved.
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Für Quinton Riley
Du bist wie ein gutes Buch – ein wunderbarer Schatz in einer
kleinen Verpackung.
Danksagung
Besonderer Dank geht an meine Redakteure Philip Äthans
und R. A. Salvatore – eure unermüdlichen Anstrengungen
haben dieses Buch so viel besser gemacht. Dank geht auch an
Richard Lee Byers und Richard Baker – eine neue und eine
alte Freundschaft. Ihr beide wart da, um mich »zu beiden Sei ten hin zu beschützen«.
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Es kam ihr so vor, als glitte ein Teil ihres Ichs aus ihrem Schoß, und für einen kurzen Augenblick fühlte sie sich geschwächt, als gäbe sie zuviel von sich weg. Das Bedauern währte nur kurz. Denn im Chaos wurden aus dem Einen viele, und diese Vielen würden auf vielen verschiedenen Wegen zu Zielen reisen, die glei chermaßen verschieden zu sein schienen, letztlich aber ein und dasselbe waren. Am Ende würde es wieder eins geben, und alles würde sein wie zuvor. Es war mehr eine Wiedergeburt denn eine Geburt. Es war mehr Wachstum als Schwächung oder Trennung. Es war so, wie es in all den Jahrtausenden schon immer gewesen war und wie es sein mußte, wenn sie die kommenden Zeitalter überdauern wollte. Sie war nun verwundbar – das wußte sie –, und sehr viele Fein de würden sie angreifen, wenn sie die Gelegenheit bekamen. Sehr viele ihrer eigenen Diener würden sich darum bemühen, ihren Platz einzunehmen, wenn sie die Gelegenheit dazu bekamen. Doch sie wußte, daß sie alle zur Verteidigung nach ihren Waffen griffen oder in Erwartung von Eroberungen, die großartig zu sein schienen, jedoch winzig und bedeutungslos waren, wenn man sie im gewaltigen Zusammenhang von Zeit und Raum betrachtete. Mehr als alles andere war es das Verstehen und Erfassen von Zeit und Raum, die Weitsicht, Ereignisse so zu betrachten, wie man sie in hundert oder tausend Jahren rückblickend sehen würde. Eine Weitsicht, die die Gottheiten von den Sterblichen, die Götter vom Leibeigenen unterscheidet. Ein Augenblick der Schwäche im Tausch gegen ein Jahrtausend der wachsenden Macht ... Trotz ihrer Verwundbarkeit, trotz ihrer Schwäche – die sie mehr
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haßte als alles andere – erfüllte sie große Freude, als ein weiteres Ei aus ihrem Spinnenleib glitt. Denn es war ihre Essenz, die in diesem Ei heranwuchs.
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»Warum sollte meine Tante irgend jemandem vertrauen, der einen Mann schickt, damit der für sie die Arbeit erledigt?« fragte Eliss’pra und bedachte Zammzt mit einem abfälligen Blick. Die Drow-Priesterin flegelte sich hochmütig auf einer be quemen Couch, die zusätzlich mit einer Auswahl weiterer edler Stoffe gepolstert war, die sowohl der Dekoration als auch dem zusätzlichen Komfort dienten. Quorlana fand, die schmale Dunkelelfe hätte in ihrem fein gearbeiteten Kettenhemd und mit dem griffbereiten Streitkolben in dem umfassend einge richteten Privatsalon fehl am Platz wirken müssen. Doch ir gendwie gelang es Eliss’pra, den Anschein zu erwecken, als gehörte sie zur erlesensten Klientel des Hauses ohne Namen. Quorlana rümpfte die Nase. Sie wußte sehr genau, welches Haus Eliss’pra repräsentierte, und sie fand, die arrogante Drow,
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die ihr gegenüberstand, stelle etwas zuviel von der überlegenen Affektiertheit ihrer Tante zur Schau. Zammzt neigte leicht den Kopf, um zu erkennen zu geben, daß er die Sorge der anderen Dunkelelfe verstand. »Meine Herrin gab mir bestimmte ... Geschenke mit, von denen sie hofft, daß sie ihre völlige Ernsthaftigkeit in dieser Angelegenheit deutlich machen«, sagte er. »Sie hat mich außerdem gebeten, Euch darüber zu informieren, daß es noch viele weitere Geschenke geben wird, sobald die Vereinbarung getroffen ist. Vielleicht wird das auch Eure Befürchtungen ausräumen«, fügte er hinzu und verzog den Mund zu einem Lächeln, von dem Quorlana annahm, es solle unterwürfig sein. Es wirkte allerdings eher barbarisch als alles andere. Zammzt war in keiner Weise attraktiv. »Eure ›Herrin‹«, gab Eliss’pra zurück, wobei sie sowohl Titel als auch Namen mied, wie die fünf Versammelten von Anfang an verabredet hatten, »erwartet eine ganze Menge von meiner Tante, genau genommen sogar von jedem der hier vertretenen Häuser. Geschenke sind ein nicht einmal annähernder Ver trauensbeweis. Da müßt Ihr schon mehr leisten.« »Ja«, stimmte Nadal ein, der rechts von Quorlana saß. »Meine Großmutter wird nicht einmal einen Gedanken an diese Allianz verschwenden, solange es keine ernsthaften Be weise des Hauses ...« Der Drow, der einen recht schlichten Piwafwi trug, verstummte mitten im Satz. Sein Emblem wies ihn als einen Magier und Angehörigen der Jünger des Phelthong aus. Er atmete einmal durch, dann sprach er weiter: »Ich meinte Eurer Herrin ... Eurer Herrin gibt, daß sie tatsäch lich diese Mittel einsetzen wird, von denen Ihr sprecht.« Er wirkte verärgert darüber, daß ihm fast ein Name über die Lippen gekommen wäre, dennoch wahrte der Mann seinen entschlossenen Ausdruck.
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»Er hat recht«, warf Dylsinae ein, die links von Quorlana saß. Ihre schöne glatte Haut glänzte von den Duftölen, mit denen sie sich gewohnheitsmäßig einrieb. Ihr dünnes, engan liegendes Kleid bildete einen scharfen Kontrast zu Eliss’pras Rüstung und spiegelte ihre Vorliebe wider, sich lüsternen Ver gnügungen hinzugeben. Ihre Schwester, die Muttermatrone, war sicher noch dekadenter. »Keiner von denen, die wir reprä sentieren, wird auch nur einen Finger rühren, solange wir keinen Beweis haben, daß wir damit nicht alle riskieren, unse re Köpfe auf Pfählen wiederzufinden. Es gibt weitaus ... interes santere ... Zeitvertreibe, denen man sich hingeben kann, als eine Rebellion«, führte Dylsinae ihren Satz zu Ende und streckte sich genüßlich. Quorlana wünschte, sie säße nicht so dicht neben dieser Hure, deren Öle ein unangenehm süßliches Aroma verbreite ten. Trotz ihrer grundsätzlichen Abneigung gegen die vier ande ren Drow war Quorlana in dieser Angelegenheit mit ihnen einer Meinung, und das gab sie der Gruppe auch zu verstehen. »Wenn sich meine Mutter entschließen sollte, unser eige nes Haus mit Euren vier niederen Häusern gegen unseren gemeinsamen Gegner zu verbünden, dann wären gewisse Ga rantien erforderlich, damit wir nicht von Euch im Stich gelas sen und zum Sündenbock gemacht werden, sobald die Situati on ernst wird. Ich bin mir nicht sicher, daß solche Garantien existieren.« »Glaubt mir«, erwiderte Zammzt und sah von einem zum anderen, um allen Anwesenden in die Augen zu blicken. »Ich verstehe Eure Sorge und Euren Widerwillen. Wie gesagt, diese Geschenke, die ich Euren Häusern überreichen soll, sind nur ein kleines Zeichen für das Engagement meiner Herrin für diese Allianz.«
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Er griff in seinen Piwafwi und holte eine Transportrolle her vor, die recht kunstvoll verziert war. Aus ihr zog er eine dicke Rolle Pergamente, die er dann ausrollte. Quorlana rutschte auf ihrem Sessel nach vorn, da sie mit einem Mal von Neugierde erfüllt war, was der Dunkelelf wohl mitgebracht hatte. Zammzt warf einen Blick auf seinen Stapel zusammengeroll ter Pergamente, ordnete sie und begann, zwischen den Ver sammelten umherzugehen, um jedem der potentiellen Mitver schwörer einige Blätter zu geben. Als er Quorlana einige Seiten reichte, nahm sie diese mit Vorsicht entgegen, da sie nicht sicher war, ob die Seiten möglicherweise irgendeine magische Falle enthielten. Sie studierte sie aufmerksam, doch dann wurden ihre Bedenken zerstreut: Es waren Zauber, keine Flüche. Er bot ihnen Schriftrollen mit Zaubern als Geschenk an! Quorlana fühlte freudige Erregung in sich aufsteigen. In die sen Tagen der Unsicherheit und des Unbehagens war ein sol cher Schatz unbezahlbar. Die Abwesenheit der Dunklen Mut ter war eine Belastungsprobe für jede Priesterin, die ihr diente. Quorlana war seit vier Zehntagen nicht mehr in der Lage, ihre eigene göttliche Magie zu wirken, und jedesmal, wenn sie daran denken mußte, brach ihr der Angstschweiß aus. Doch mit Schriftrollen würden sich die Furcht und das Gefühl der Hoffnungslosigkeit für eine Weile vertreiben lassen. Nur unter Aufbietung aller Willenskraft gelang es der Drow-Priesterin, sich dem Wunsch zu widersetzen, auf der Stelle diese Schriftrollen zu lesen. Sie zwang sich, daran zu denken, wem sie – zumindest für den Augenblick – diente, und steckte die Pergamente in ihren Piwafwi, um wieder ihre ganze Aufmerksamkeit der geheimen Versammlung zu widmen, der sie beiwohnte. »Der einzige andere Beweis, der deutlich genug wäre, um
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Euch von unserer Ernsthaftigkeit zu überzeugen, wäre, Söldner anzuheuern«, sagte Zammzt, auch wenn keiner der anderen Dunkelelfen von ihm noch Notiz zu nehmen schien. Eliss’pra und Dylsinae hatten die Augen weit aufgerissen und waren genauso aufgeregt wie Quorlana. Nadal war nicht persönlich begeistert, schließlich waren für ihn als Magier diese Zauber nutzlos, doch zumindest wußte er den Wert dieser Geschenke zu schätzen. »Es sollte jedem von Euch klar sein«, fuhr Zammzt fort, »daß es kein Zurück gibt, sobald sich unser Haus an Außenste hende gewandt hat. Wir wären rückhaltlos verpflichtet, ob mit oder ohne Allianz. Dies, werte Anwesende, würde bedeuten, den Karren vor die Echse zu spannen.« »Nichtsdestotrotz«, konterte Eliss’pra, die noch immer lä chelnd die Schriftrollen in ihren Händen betrachtete, »ist es genau das, was Ihr tun müßt, wenn Ihr meine Tante zu Euren Verbündeten zählen wollt.« »Ja«, stimmte Dylsinae zu. Nadal nickte. »Meine Mutter wäre wohl bereit, diese Bedingungen anzu nehmen. Vor allem, wenn sie dies hier zu sehen bekommen hat«, tat Quorlana ihre Zustimmung kund und wies auf die Schriftrollen in ihrem Piwafwi. »Ganz sicher, wenn es davon noch mehr gibt.« Wie um alles im Unterreich können sie es sich leisten, auf kostbare Schriftrollen zu verzichten? fragte sie sich insgeheim. Zammzt machte eine betrübte Miene und sagte: »Ich kann nichts versprechen. Ich bezweifle sehr stark, daß ich sie davon überzeugen kann, dieser Bedingung zuzustimmen. Doch wenn sie bereit ist, werde ich die Söldner anheuern und Euch den Beweis bringen.« Niemand sprach. Jeder von ihnen war nur einen Schritt
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von dem Punkt entfernt, an dem eine Umkehr unmöglich sein würde. Trotz der Tatsache, daß keiner von ihnen sich in der Position befand, den eigentlichen Beschluß zu fassen, lastete das Gewicht dieser bevorstehenden Entscheidung schwer auf ihren Schultern. »Dann werden wir uns wiedersehen, wenn Ihr die Armee verpflichtet habt«, sagte Eliss’pra und erhob sich. »Bis dahin möchte ich niemanden von Euch in meiner Nähe sehen, nicht einmal auf dem gleichen Netzstrang.« Die Drow-Priesterin stolzierte aus dem Privatsalon, den Streitkolben fest in der Hand. Einer nach dem anderen gingen auch die übrigen Teilneh mer, und nachdem Zammzt ebenfalls den Raum verlassen hatte, war Quorlana ganz allein. Unsere Zeit ist da, sagte sich die Drow stumm. Lolth hat ei ne Herausforderung ausgesprochen. Die großen Häuser Ched Nasads werden fallen, und unsere werden sich erheben, um ihren Platz einzunehmen. Endlich ist unsere Zeit da.
Aliisza war so an das permanente Grunzen, Fauchen und Sab bern der Tanarukks gewöhnt, daß sie es kaum noch wahr nahm. Um so mehr fiel ihr deshalb die auf dem von Zwergen geschaffenen Weg herrschende Stille auf. Sie empfand es als angenehme Abwechslung, einmal ohne ihre halb aus Unhol den, halb aus Ogern bestehenden Horden durch das alte Ammarindar zu streifen. Kaanyr bat sie nur noch selten darum, etwas ohne eine bewaffnete Eskorte zu unternehmen – sie weigerte sich, es so zu sehen, daß Kaanyr es ihr nur selten ›ges tattete‹ –, so daß sie fast schon vergessen hatte, wie angenehm es war, einmal ganz für sich allein zu sein. Doch so sehr sie sich auch an dieser kurzen Phase erfreute, hatte sie doch eine Auf
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gabe zu erledigen, was sie veranlaßte, ihre Schritte zu be schleunigen. Sie begab sich ans Ende eines langen, breiten Boulevards, den Zwerge vor Äonen in den makellosen Fels des Unterreichs geschlagen hatten. Auch wenn sie selbst davon kaum Notiz nahm, war die handwerkliche Arbeit in dem breiten Durch gang von höchster Qualität. Jeder Winkel war vollkommen, alle Säulen und das Gesims waren breit und mit Runen und stilisierten Abbildern des kleinen Volks verziert. Vom Ende des Boulevards gelangte sie in eine weitläufige Kammer, die groß genug war, um eine Kleinstadt zu beherbergen, wie man sie an der Oberfläche vorfinden konnte. Sie bog in einen Sei tentunnel ein, der es ihr ermöglichte, mehrere Hauptgänge zu überqueren, um schneller den Weg zu erreichen, der sie direkt zu Kaanyrs Palast führen würde, der sich im Mittelpunkt der alten Stadt befand. Es überraschte sie nach wie vor, wie leer die Stadt sein konnte, obwohl so viele der Geknechteten Legi onen des Zepterträgers unterwegs waren. Zwei Tanarukk standen zu beiden Seiten der Tür in den Thronsaal. Die stämmigen, graugrünen Humanoiden hatten wie üblich eine vornübergebeugte Haltung eingenommen, aus ihren übergroßen Unterkiefern ragten markante Stoßzähne heraus. Mit zusammengekniffenen roten Augen betrachteten sie aufmerksam die Besucherin. Auf Aliisza wirkte es, als wür den sich die beiden Bestien bereitmachen, um loszustürmen und sie mit ihrer niedrigen, schrägen Stirn zu rammen. Aliisza wußte, daß ihre Magie sie schützte und die Schuppenwülste auf der Stirn dieser Wesen für sie keine Bedrohung darstellten. Doch die beiden Kreaturen schienen nicht sicher zu sein, wer sie war, denn sie hielten ihre Streitäxte vor dem Durchgang gekreuzt, während Aliisza sich ihnen näherte. Erst als es bereits aussah, als müßte sie ihr Tempo verlangsamen und etwas sagen
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– was sie sehr verärgert hätte –, traten die beiden fast nackten, mit borstigem Haar überzogenen Bestien zur Seite und ließen sie eintreten, ohne sie aus dem Rhythmus zu bringen. Sie lä chelte innerlich und stellte sich vor, wieviel Spaß es gemacht hätte, beiden bei lebendigem Leib die Haut abzuziehen. Sie durchschritt mehrere äußere Kammern und überquerte dann die Schwelle in den Thronsaal, wo sie den CambionMarquis auf seinem Thron fand, einem großen, abscheulichen Sitz, der aus den Knochen seiner Feinde geschaffen war. Je desmal, wenn sie das Ding sah, wurde ihr wieder klar, wie ab scheulich es war. Sie kannte zu viele Unholde, die glaubten, es symbolisiere ihre Macht und ihren Ruhm, wenn sie sich auf einen Haufen Knochen setzten, doch in ihren Augen zeugte das keineswegs von Klasse oder Stil. Es war Kaanyr Vhoks größter Mangel an Einfallsreichtum. Kaanyr hatte ein Bein über die Armlehne des Throns gelegt und saß da, das Kinn in die Hand gestützt, den Ellbogen auf dem Knie. Sein Blick war zur Kuppel des Saals gerichtet. Of fensichtlich war er in Gedanken versunken und hatte Aliisza noch nicht wahrgenommen. Unbewußt verfiel sie ein provozierendes Schlendern. Gleichzeitig jedoch merkte sie, daß sie seinen Körper in dem Maße bewunderte, wie sie hoffte, daß er auch ihren schätzte. Sein graues Haar war zerzaust und gab ihm zusammen mit den nach hinten geschwungenen Ohren das Erscheinungsbild eines reifen, aber etwas sorglosen Halbelfen. Aliisza verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln, als sie an seine zahlreichen Täuschungsmanöver dachte, mit denen er sich an der Oberflä che als ein Angehöriger jener hellhäutigen Rasse ausgab und auf die er so stolz war. Schließlich hörte Kaanyr die Schritte seiner Gefährtin und sah in ihre Richtung. Seine Miene hellte sich auf, auch wenn
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sie nicht wußte, ob der Grund dafür ihre Anwesenheit war oder die Neuigkeit, die sie überbrachte. Sie erreichte die ersten Stufen des Podests und ging hinauf zum Thron, wobei sie den Schatten eines Schmollens über ihre Gesichtszüge huschen ließ. »Ah, meine Kleine, du bist gekommen und bringst Neuig keiten, wie ich hoffen darf?« fragte Kaanyr, richtete sich auf und klopfte auf seinen Oberschenkel. Aliisza streckte ihm die Zunge heraus und tänzelte das rest liche Stück hinauf, um sich in seinen Schoß fallenzulassen. »Du fällst nie mehr einfach so über mich her, Kaanyr«, be schwerte sie sich spielerisch und wackelte mit dem Hintern, als sie sich niederließ. »Du liebst mich nur wegen der Arbeit, die ich für dich erledige.« »Oh, das ist nicht fair, Kleines«, erwiderte Vhok und strich liebevoll über einen ihrer schwarzen, glänzenden Lederflügel. »Es ist nicht einmal wahr.« Mit diesen Worten hob er die andere Hand, vergrub sie in ihren glänzend schwarzen Locken und drückte sie an sich, um ihren Mund in einem intensiven, erregenden Kuß mit dem seinen zu vereinen. Für einen viel zu kurzen Augenblick spielte sie mit dem Gedanken, sich ihm zu widersetzen und eine der unendlichen Variationen des Spiels zu spielen, das sie beide so sehr zu lieben schienen. Der Gedanke war nur von kurzer Dau er. Seine Hand wanderte an ihrem Hals entlang zur Kehle und von dort immer weiter nach unten. Seine Berührung ließ sie förmlich erbeben. Dennoch zog sich Kaanyr schließlich nach einem Augen blick hitziger Umarmung zurück und sagte: »Genug. Sag mir, was du herausgefunden hast.« Diesmal schmollte Aliisza wirklich. Seine zarten Berührun gen an ihren Flügeln und anderen Stellen ihres Körpers hatten
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sie außer Atem geraten lassen, und ganz gleich, wie wichtig die Neuigkeiten auch waren, sie war nicht bereit, sich so abspeisen zu lassen. Sie überlegte, ihm die Information eine Weile vorzu enthalten, um ihm dezent zu verstehen zu geben, daß sie nicht mit sich spaßen ließ. Er mochte hier herrschen, aber sie war nicht seine Dienerin. Sie war eine Gefährtin, eine Beraterin, und es stand ihr frei, sich einen anderen Geliebten zu nehmen, sollte er sie nicht zufriedenstellen. Eine Alu – die Tochter eines Succubus und eines Mannes – zu befriedigen war eine Herausforderung, der wenige gewachsen waren. Kaanyr war es. Sie beschloß, ihm die Neuigkeit mitzuteilen. »Sie sind nicht von ihrer Marschrichtung abgewichen, ob wohl klar ist, daß sich unser Abstand zu ihnen verringert. Ihre Späher haben unsere Plänkler entdeckt, aber weiter jeden Kontakt vermieden. Wir werden sie bald vor den Araumycos getrieben haben.« »Bist du sicher, daß sie nicht als Spione kommen? Oder um einen Krieg anzuzetteln? Vielleicht ein paar rasche Angriffe, ehe sie sich in die Wildnis zurückziehen?« Kaanyr streichelte gedankenverloren einen ihrer Flügel, während er die Frage formulierte, und das Alu-Scheusal schau derte vor Verzückung. Er schien ihre Reaktion nicht zu bemer ken. »Ziemlich sicher. Sie sind offenbar nach Südosten unter wegs, nach Ched Nasad. Jedesmal, wenn wir ihnen den Weg abschneiden, suchen sie nach einer anderen Route. Sie schei nen darauf bedacht zu sein, auf diesem Pfad zu bleiben.« »Dennoch sind sie keine Karawane«, überlegte er. »Sie füh ren keine Waren oder Lasttiere mit sich. Für Drow reisen sie unvernünftig schwach bewaffnet. Ganz sicher haben sie etwas vor, die Frage ist nur, was?« Aliisza schauderte erneut, jetzt jedoch nicht nur wegen Kaa
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nyrs beiläufiger Berührung, sondern auch wegen der nächsten Neuigkeit, die sie zu berichten hatte. »Ganz eindeutig keine Karawane«, erwiderte sie. »Es ist der sonderbarste Drow-Trupp, den ich je durch die Wildnis habe wandern sehen. Sie werden von einem Draegloth begleitet.« Kaanyr drückte den Rücken durch und sah ihr eindringlich in die Augen. »Ein Draegloth? Sicher?« Als sie nickte, schürzte er die Lippen. »Interessant. Das Ganze wird immer rätselhafter. Erst sehen wir viele Zehntage lang nicht eine einzige Drow-Karawane, und als sich dann endlich eine Gruppe Drow auf den Weg macht, marschieren die ausgerechnet hier durch, was sie nor malerweise so sehr meiden würden wie einen Haufen RothéDung, und zu guter Letzt lassen sie sich von einem Draegloth begleiten, was bedeutet, daß adlige Drow-Häuser in irgendei ner Weise persönlich darin verstrickt sind. Was haben die vor, bei den neun Höllen?« Vhok begann wieder, in die Dunkelheit zu starren, während er gedankenverloren seine Gefährtin streichelte, wobei er diesmal seine Finger über ihre Rippen gleiten ließ, die zwi schen den Schnüren ihres schwarz glänzenden Lederkorsetts zu sehen waren. Sie seufzte vor Entzücken, zwang sich aber, nicht die Konzentration zu verlieren. »Es gibt noch mehr. Ich habe eine Unterhaltung belauscht, als sie rasteten. Einer von ihnen, eindeutig ein Magus, spottete über eine Frau, die nach einer Priesterin aussah.« »Ein Mann, der gegenüber einer Frau den Mund aufmacht? Das kann nicht gutgehen.« »Es war nicht irgendeine Frau. Er nannte sie ›die Herrin der Akademie‹.« Kaanyr setzte sich bolzengerade auf, sein Blick schien sich förmlich in ihre Augen zu bohren.
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»Tatsächlich?« sagte er und war von dieser Neuigkeit so fas ziniert, daß ihm gar nicht auffiel, wie Aliisza durch seine ab rupte Bewegung beinahe von seinem Schoß gerutscht und vor ihm zu Boden gestürzt wäre. Es gelang ihr zwar, das Gleichgewicht zu halten, doch sie sah sich gezwungen, sich hinzustellen, wenn sie nicht völlig albern aussehen wollte. Sie sah den Cambion wütend an. Der bekam davon nichts mit und sprach weiter: »Also, das ist ja fast zu gut. Eine der höchsten Drow-Priesterinnen ganz Menzoberranzans versucht, sich durch mein winzig kleines Reich zu schleichen, und läßt sich von einem Magier über den Mund fahren. Über einen Monat lang keine Karawanen, und jetzt das. Das ist fast zu schön, um wahr zu sein!« Kaanyr wandte sich Aliisza erneut zu, und als er ihren wü tenden Blick bemerkte, legte er irritiert den Kopf schräg. »Was ist? Stimmt etwas nicht?« Die Alu schäumte. »Du hast keine Ahnung, nicht wahr?« Kaanyr spreizte die Hände und schüttelte den Kopf. »Dann werde ich es dir auch nicht sagen!« fauchte sie und wandte sich von ihm ab. »Aliisza.« Sein Tonfall war tief und herrisch und jagte ihr eine Gänsehaut über den Rücken. Er war wütend, genau, wie sie es erhofft hatte. »Sieh mich an.« Sie warf ihm über die Schulter einen Blick zu und hob eine Braue. Er war aufgestanden und hatte die Hände in die Hüften gestemmt. »Ich habe für so etwas keine Zeit. Sieh mich an!« Sie schauderte, obwohl sie sich dagegen zu wehren versuch te. Dann drehte sie sich um, bis sie ihrem Liebhaber von An gesicht zu Angesicht gegenüberstand. Seine Augen loderten und ließen Aliisza dahinschmelzen. Sie schmollte ein klein wenig, um ihn wissen zu lassen, daß sie es nicht mochte, ausge
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schimpft zu werden, doch sie hatte ihr kleines Spiel weit genug getrieben. Vhok deutete ein zufriedenes Nicken an. Seine Miene wurde etwas sanfter, und er sagte: »Was immer ich getan habe, ich werde es wieder gutmachen. Im Augen blick aber mußt du zurückkehren, um herauszufinden, was da los ist. Stell fest, ob du dich ihnen vorstellen und sie ›einla den‹ kannst, uns einen Besuch abzustatten. Aber sei vorsich tig. Ich will nicht, daß das nach hinten losgeht. Wenn eine Hohepriesterin und ein Draegloth zu dieser Gruppe gehören, wird der Rest auch gefährlich sein. Halte die Geknechteten in deiner Nähe, um sie im Zaum zu halten, aber vergeude nicht zu viele bei einem umfassenden Angriff. Mach aber auch nicht zu offensichtlich, daß du sie zurückhältst. Außerdem ...« Aliisza rollte beleidigt mit den Augen. »Ich habe das schon ein- oder zweimal gemacht«, unter brach sie ihn. Ihre Stimme troff vor Sarkasmus. »Ich weiß, was ich zu tun habe. Aber ...« Sie trat einen Schritt auf Kaanyr zu, stellte sich auf die Ze henspitzen und legte ihre Arme um seine Taille, während sie mit ihrem unbekleideten Bein über seine Wade strich. Sie drückte sich fest an ihn, damit er ihren Körper an seinem spü ren konnte, dann fuhr sie mit einer Stimme fort, die vor Ver langen rauchig klang: »Wenn ich diese kleine Aufgabe hinter mir habe, dann wirst du dich eine Weile um meine Bedürfnisse kümmern.« Sie beugte sich vor und knabberte an seinem Ohr, dann flüs terte sie: »Dein Necken funktioniert einfach zu gut, Liebster.«
Triel brütete nicht gerne vor sich hin, doch in der letzten Zeit ertappte sie sich immer häufiger dabei. Als sie sich dessen
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diesmal bewußt wurde, mußte sie zugleich erkennen, daß die sieben anderen Muttermatronen sie erwartungsvoll ansahen. Sie blinzelte und erwiderte die auf sie gerichteten Blicke, wäh rend sie sich an die Unterhaltung zu erinnern versuchte, die sich im Hintergrund ihrer Gedanken abgespielt hatte. Sie konnte sich nur an die Stimmen erinnern, nicht aber an die Worte. »Ich fragte«, sagte Muttermatrone Miz’ri Mizzrym endlich, »welche Gedanken Ihr Euch über andere Maßnahmen für den Fall gemacht habt, daß Eure Schwester nicht zurückkehrt.« Als Triel noch immer nicht reagierte, fügte die Muttermat rone mit dem verhärmten Gesichtsausdruck an: »Es gehen Euch doch irgendwelche Gedanken durch den Kopf, oder nicht, Mutter?« Triel blinzelte erneut, durch die stichelnden Worte der Mizzrym in die Unterhaltung zurückgeführt. Sie richtete ihre Konzentration auf das Hier und Jetzt, statt sich weiter dem Gefühl der Leere zu widmen, das sie dort fühlte, wo sie eigent lich die Präsenz der Göttin hätte wahrnehmen sollen. Andere Maßnahmen ... »Natürlich«, erwiderte sie schließlich. »Ich habe lange dar über nachgedacht, doch ehe wir uns zu eingehend mit mögli chen Alternativen beschäftigen, sollten wir uns eine Zeitlang in Geduld üben.« Muttermatrone Mez’Barris Armgo schnaubte. »Habt Ihr in den letzten fünf Minuten auch nur ein Wort von dem mitbe kommen, was wir gesagt haben? Geduld ist ein Luxus, den wir uns nicht mehr leisten können. Wir haben so viele unserer magischen Reserven aufgebraucht, um diesen Aufstand nieder zuschlagen, daß wir vielleicht – und ich betone vielleicht – noch in der Lage sind, einen weiteren großen Aufstand zu ersticken, falls es wieder dazu kommen sollte. So sehr ich eine
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gute Schlacht liebe, wäre die Niederschlagung einer weiteren Sklavenrebellion reine Verschwendung, wenn es doch nur noch eine Frage der Zeit ist, bis Gracklstugh oder die Überle benden Blingdensteins begreifen, daß wir machtlos sind ohne unsere ...« Die plumpe, grobschlächtige Muttermatrone verstummte, da sie entgegen ihrer üblichen Direktheit und Taktlosigkeit nicht gewillt war, die Krise in Worte zu fassen, mit der sie sich alle konfrontiert sahen. »Wenn sie es nicht schon längst wissen«, warf Zeerith Q’Xorlarrin ein und überspielte Mez’Barris’ nicht zu Ende geführten Gedanken. »Eben jetzt könnten eine oder mehrere Nationen eine Armee aufstellen, um gegen unsere Tore vorzu rücken. Neue Stimmen könnten giftige Worte in die Ohren der niederen Kreaturen unten im Braeryn oder auf dem Basar flüstern, Stimmen, die jenen gehören, die klug genug sind, ihre wahre Identität ebenso wie ihre wahre Absicht zu verbergen. Das ist ein Punkt, den wir in Erwägung ziehen und diskutieren müssen.« »Oh ja«, sagte Yasraena Dyrr verächtlich. »Ja, wir sollten hier sitzen und diskutieren, aber nicht handeln. Niemals han deln. Wir haben doch sogar Angst, uns in unsere eigene Stadt zu wagen!« »Hütet Eure Zunge!« herrschte Triel sie an, die immer wü tender wurde. Sie war nicht nur über die Richtung, in die sich das Ge spräch entwickelte – Worte von Feigheit aus dem Hohen Rat! – wütend, sondern auch über die spöttische, ungewohnt direk te, ätzende Art, mit der die anderen Muttermatronen spra chen. Spott, der gegen sie gerichtet war. »Wenn eine von uns Angst hat, durch die Straßen unserer eigenen Stadt zu gehen, dann darf sie nicht länger diesem Rat
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angehören. Seid Ihr eine davon, Yasraena?« Die Muttermatrone des Hauses Agrach Dyrr schnitt ange sichts der Zurechtweisung eine Grimasse. Triel erkannte, daß der Grund dafür nicht allein darin zu suchen war, daß Yasraena wußte, wie anmaßend sie gewesen war. Es lag auch daran, daß die Muttermatrone des Hauses Baenre diese Worte sprach, obwohl sie als Verbündete von Yasraenas Haus galt. Diese Absicht hatte Triel auch gehabt. Es war Zeit, eine Botschaft zu vermitteln und die anderen Muttermatronen daran zu erin nern, daß sie noch immer an der Spitze des Machtgefüges stand und eine derartige Insubordination von den hier Anwe senden nicht hinzunehmen bereit war, ganz gleich, ob es sich um eine Verbündete handelte oder nicht. »Vielleicht hat Muttermatrone Q’Xorlarrin recht«, sagte Miz’ri Mizzrym leise, offenbar bemüht, die Unterhaltung in eine andere Richtung zu lenken. »Vielleicht sollten wir nicht nur darüber nachdenken, wer es weiß und wer – heimlich oder offen – gegen uns vorgeht, sondern auch, wer sich gegen uns verbünden könnte. Wenn nur zwei oder drei der anderen Na tionen sich als unsere Feinde zusammenschließen ...« Sie ließ den Satz unvollendet, und die anderen Drow in der Kammer sahen unbehaglich drein, als sie den Gedanken stumm zu Ende führten. »Wir müssen wissen, was los ist«, fuhr sie fort. »Das ist das Mindeste. Unser Netzwerk aus Spionen bei den Duergar, den Illithiden und anderen Völkern der Tiefe wurde in der letzten Zeit nicht im vollen Umfang genutzt. Vielleicht ist es auch nicht so weitreichend, wie es uns lieb wäre. Aber das vorhan dene sollte mehr Informationen über die Absichten dieser potentiellen Bedrohungen an uns weiterleiten.« »Oh, es sollte mehr tun als nur das«, sagte Byrtyn Fey. Triel hob ein wenig überrascht eine Braue, da die üppige Mutter
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matrone des Hauses Fey-Branche sich üblicherweise nicht für Diskussionen interessierte, die sich so fernab ihrer eigenen lüsternen Vergnügungen bewegten. »Es sollte nach möglichen Schwächen unserer Feinde su chen. Es sollte diese Schwächen nutzen und potentielle Ver bündete gegeneinander aufbringen. Vielleicht sollte es sogar nach unzufriedenen Elementen unter den traditionellen Fein den Ausschau halten, Elementen, die vielleicht gar eine neue Allianz in Erwägung ziehen würden.« »Was, seid Ihr verrückt?« fuhr Mez’Barris sie an. »Uns mit Außenstehenden verbünden? Wem sollen wir denn vertrauen? Ganz gleich, wie wir versuchen würden, eine solche Allianz in die Wege zu leiten – in dem Moment, in dem wir zu erkennen geben, daß wir keinen Segen von unserer eigenen Göttin be kommen, werden sich alle potentiellen Verbündeten nicht nur ins Fäustchen lachen, sondern sie werden sich auch noch über schlagen, diese Neuigkeiten zu verbreiten.« »Seid doch nicht verbohrt«, konterte Byrtyn. »Ich weiß, wie sehr Ihr die direkte Methode und die brutale Wahrheit in allen Fällen bevorzugt, aber es gibt bessere, subtilere Metho den, einen Verbündeten ins gemachte Bett zu locken. Poten tielle Freier dürfen erst dann etwas über die eigenen Schwä chen erfahren, wenn sie Eurem Charme verfallen sind.« »Nicht in der Lage zu sein, unsere Stadt gegen Angreifer zu schützen, ist eine Schwäche, die sich kaum überspielen läßt«, sagte Zeerith stirnrunzelnd. »Unser Charme müßte schon äußerst überzeugend sein, um einen möglichen Freier darüber hinwegzutäuschen. Aber die Idee hat etwas für sich.« »Es ist unmöglich«, wandte Muttermatrone Mez’Barris ein, verschränkte die dicken Arme und lehnte sich zurück, als sei für sie die Diskussion beendet. »Das Risiko, von unseren Fein den entdeckt zu werden, würde nur unnötig erhöht, und das ist
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den Nutzen ganz sicher nicht wert.« »Gesprochen wie eine Vettel, die nur mit wenigen ihr Bett teilt«, sagte Byrtyn überheblich und räkelte sich ausgiebig, um sicherzustellen, daß ihr wohlgeformter Körper durch den dün nen Stoff ihres schimmernden Kleids deutlich zu sehen war, »sich dabei aber einzureden versucht, sie sei auf sich allein gestellt ohnehin viel besser dran.« Einige der anderen Hohepriesterinnen schnappten ange sichts dieser Beleidigung erschrocken nach Luft, doch Mez’Barris kniff nur die stechend roten Augen zusammen, so daß es schien, als wolle sie Byrtyn mit ihren Blicken erdol chen. »Es reicht!« erklärte Triel schließlich und setzte dem Blick duell der beiden Frauen ein Ende. »Dieses Gezänk führt zu nichts und ist unser nicht würdig!« Sie warf Mez’Barris und Byrtyn einen zornigen Blick zu, bis sie sich voneinander abwandten und Triel ansahen. Wäre doch nur Jeggred hier, dachte die Muttermatrone des Hauses Baenre. Triel fragte sich einen Moment lang, ob es sie beunruhigen sollte, daß sie sich angesichts solcher Widrigkeiten nach der besänftigenden Gegenwart ihres Draegloth sehnte. Es war etwas, wobei sie sich in jüngster Zeit häufiger ertappte. Sie fürchtete sich davor, was das für sie bedeutete. Vielleicht hatte sie sich einfach nur zu sehr an diesen äußeren Schutz gewöhnt, statt sich auf ihre eigenen Fähigkeiten zu verlassen. Sie fürch tete, daß es eine Schwäche war. Eine Schwäche war aber ganz entschieden nichts, was sie sich beim gegenwärtigen Klima leisten konnte. Nein, korrigierte sie sich, nicht nur jetzt nicht, sondern nie. Doch die Notwendigkeit von Verbündeten, wie kurz und vergänglich solche Allianzen meist auch waren, war ein wich
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tiger Teil ihres Lebens. Vielleicht hat Byrtyn recht, überlegte sie. Vielleicht braucht Menzoberranzan wirklich einen Verbündeten. Eine andere Nation, ein Volk aus dem Unterreich, das den Adels häusern hilft, bis die Krise überstanden ist. Triel preßte die Lippen zusammen und schüttelte langsam den Kopf, um ihren Geist von derart albernen Gedanken zu befreien. Unsinn, sagte sie sich. Menzoberranzan ist die stärkste Stadt im Unterreich. Wir brauchen niemanden. Wir werden über dauern, wie wir es immer getan haben: durch Geschick und Tücke, und durch die Gunst der Göttin. Ganz gleich, wo sie sich befinden mag ... »Ich weiß wohl um die Verhältnisse in Menzoberranzan«, sagte Triel und sah nacheinander jeder der Muttermatronen in die Augen. »Die Krise, mit der wir konfrontiert sind, stellt uns auf eine Probe – und zwar auf eine härtere Probe als alles, was die herrschenden Häuser in der Geschichte der Stadt jemals haben erdulden müssen. Aber wir können nicht zulassen, daß diese Tatsache einer resoluten Verwaltung der Stadt im Wege steht. Der Augenblick, in dem wir zu streiten beginnen, in dem wir den anderen Häusern gegenüber nicht als geschlosse ne Front auftreten – ganz gleich, ob Tier Breche oder Bregan D’aerthe –, ist der Augenblick, in dem wir es auch dem Rest der Welt zeigen, und dann ist alles verloren. Für den Moment zeigen wir uns geduldig. Eine Diskussion über Möglichkeiten, diese Krise zu bewältigen, eine ruhige, respektvolle Diskussion« – wieder deutete sie mit einem Kopf nicken auf die beiden Muttermatronen – »ist willkommen. Das gilt auch für neue Vorschläge, wie wir herausfinden können, was mit Lolth ist. Aber es wird nicht weiter von Feigheit gere det, und ebensowenig werden weitere Beleidigungen geduldet.
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Das ist ein Verhalten, das dumme Männer oder niedere Rassen an den Tag legen. Wir verfahren in den Angelegenheiten unserer Häuser und unseres Rates so, wie wir es immer getan haben.« Triel achtete darauf, diesmal jeder einzelnen Muttermatro ne in die roten Augen zu sehen, um sicherzustellen, daß jede von ihnen die Bedeutung ihrer Worte verstand – und um si cherzustellen, daß sie sich von einer starken Seite zeigte. Eine nach der anderen nickten sie verstehend und ließen erkennen, daß sie – zumindest für den Moment – bereit waren, sich den Forderungen der Baenre zu unterwerfen. Als sich die Gruppe auflöste und die anderen Hoheprieste rinnen wieder ihrer Wege gingen, erkannte Triel einmal mehr, welche Finesse erforderlich war, wenn man die Macht inne hatte. Diese Macht war wie eine biegsame Gerte, die – wenn man zu heftig mit ihr ausholte – an dem Sklaven zerbrach, den man damit anzutreiben versuchte.
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»Ich sagte doch, es sei ein Fehler, diesen Weg zu nehmen«, keuchte Pharaun, der stehengeblieben war. Der Gang vor dem Drow-Magier endete völlig abrupt, da er von einer grauen Masse aus einem schwammigen Material blockiert wurde, das den Tunnel in der Höhe und Breite voll ständig ausfüllte. Der Drow drehte sich um, sah in die Rich tung, aus der er gekommen war, nahm rasch seinen fein gear beiteten Rucksack ab und ließ ihn auf den felsigen Boden sinken, um ihn dann mit dem Fuß zur Seite zu treten. »Macht nicht ein so schadenfrohes Gesicht, Mizzrym«, sag te Quenthel, die neben ihm stehengeblieben war und ihm einen finsteren Blick zuwarf. Die fünf Schlangenköpfe, die sich wanden und von der Peitsche herabhingen, die die Hohepriesterin der Baenre an ihrer Hüfte festgemacht hatte, erhoben sich und zischten den
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Magier an, um ihrem eigenen Mißfallen Ausdruck zu verleihen und wie üblich die Stimmung ihrer Herrin zu unterstreichen. Quenthel riß die Peitsche vom Gürtel und bezog abwartend neben Pharaun Position. Der Draegloth stand dicht hinter der überheblichen Drow. Jeggred trug nicht nur ein, sondern gleich zwei schwere Bün del, und als der vierarmige Unhold die beiden Drow erreicht hatte, warf er die Vorräte zu Boden, machte aber nicht den Eindruck, als hätte ihn das Tragen in irgendeiner Weise ange strengt. Er verzog den Mund zu einem wilden, verzerrten Lä cheln, das seine gelblichen Zähne erkennen ließ, wandte sich um und machte ein paar Schritte, um sich zwischen Quenthel und dem in Position zu bringen, was immer sich ihnen aus der anderen Richtung nähern mochte, wobei seiner dämonischen Kehle ein tiefes Grollen entstieg. Der Meister Sorceres war nicht in der Stimmung, sich die schlechte Laune der Hohepriesterin gefallen zu lassen. Er ver zog das Gesicht, während ihm verschiedene Zauber durch den Kopf gingen. Nachdem er sich für einen entschieden hatte, durchsuchte er seinen Piwafwi, dann holte er aus einer Tasche seines speziellen Umhangs die Komponenten, die nötig waren, damit er die gewählte Magie wirken konnte. Schließlich för derte er auch ein Stück vom Tentakel eines Tintenfische zuta ge. Er hatte sie gewarnt, daß sie in der Falle sitzen würden, wenn sie diesen Weg nahmen, und auch Valas war dieser An sicht gewesen, doch Quenthel hatte darauf bestanden. Wie üblich war es nun an Pharaun, sie aus dieser mißlichen Lage zu holen. Faeryl kam als nächste in Sicht, sie atmete angestrengt. Die Botschafterin Ched Nasads erkannte, was den Durchgang blockierte, und stöhnte auf. Dann ließ sie den Rucksack von den Schultern gleiten und mit einem unüberhörbaren, dump
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fen Knall neben dem Gepäck der anderen auf den steinigen Boden prallen. Aus ihrem Piwafwi zog sie eine kleine Armbrust und bezog auf der anderen Seite des Magiers Stellung. »Sie sind direkt hinter uns«, verkündete Ryld Argith, als er und das letzte Mitglied der Drow-Truppe, Valas Hune, um die Ecke durch den Gang gelaufen kamen. Hinter dem stämmigen Krieger und dem winzigen Späher sah Pharaun mehrere rotglühende Augenpaare, die sich der Position der Gruppe näherten. Die Kreaturen spähten gierig in ihre Richtung, und der Magier schätzte, daß sie es mit fast zwei Dutzend Tanarukks zu tun hatten. Vornübergebeugt, als litten sie unter einem Buckel, erinner ten die Geschöpfe an Orks, auch wenn sie durch ihre flache schuppige Stirn und die hervortretenden Stoßzähne deutlich dämonischer wirkten. Sie trugen kaum Rüstung, da ihre Schuppenhaut widerstandsfähig war. Doch die Streitäxte, die viele von ihnen führten, waren schwer und sahen höchst be drohlich aus. Pharaun schüttelte resigniert den Kopf und machte sich zauberbereit. Die Tanarukks heulten erfreut und stürmten vor, offenbar voller Eifer, ihre in die Ecke getriebene Beute in einen Kampf zu verwickeln. Etliche nahmen sich Jeggred zum Ziel, während der Unhold seinen eigenen Schlachtruf ausstieß, in die Hocke ging und wild um sich schlug. Einen Tanarukk schleuderte er mühelos nur ein kleines Stück von Rylds Position entfernt gegen die Felswand. Einen Moment verschlug es Pharaun den Atem, als er sah, welche unbändige Kraft und Heftigkeit der Draegloth an den Tag legte, während gleichzeitig zwei weitere der humanoiden Angreifer zu Boden gingen, die den präzisen Hieben Splitters zu nahe gekommen waren, des verzauberten Zweihänders, der
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von Ryld Argith mit größter Präzision geführt wurde. Faeryl feuerte ihre Armbrust ab und bückte sich, um nachzuladen. Quenthel schien sich damit zu begnügen, ihren Untergebenen bei der Arbeit zuzusehen. Weitere Tanarukks kamen auf sie zu, und fast hätte der Magier nicht rechtzeitig reagiert, als es einer der Kreaturen gelang, die Verteidigungslinie zu durchbrechen, die von Jeggred und Ryld gebildet wurde. Der sabbernde grünhäutige Tanarukk machte einen Satz auf den Magier zu, die Axt erhoben, um einen kraftvollen Schlag gegen ihn zu führen. Pharaun konnte gerade noch weit genug zurückweichen, um zu hören, wie die Klinge an der Stelle die Luft zerschnitt, an der sich einen Herzschlag zuvor noch sein Gesicht befunden hatte. Er spielte mit dem Gedanken, das magische Rapier aus dem verzauberten Ring zu rufen, in den es gebannt und so lange winzig klein und gut untergebracht war, bis es benötigt wurde. Pharaun wußte aber, daß der Versuch vergebens sein würde. Die schmale Klinge würde der Wucht dieser Axt nichts entgegensetzen können, zudem konnte er zwischen der Bestie und sich nicht genug Abstand schaffen, um die Waffe wirkungsvoll einzusetzen. Ihm ging immer ra scher der Raum aus, um der Axt auszuweichen. Als der Tanarukk plötzlich den Rücken durchdrückte und voller Schmerz und Wut aufheulte, sah Pharaun, daß Quenthel sich hinter ihm befand und bereits ausholte, um mit ihrer gefürchteten Peitsche abermals zuzuschlagen. Der Tanarukk fuhr herum und schrie noch immer wutentbrannt. Die Axt hatte er zu einem todbringenden Schlag hoch erhoben, aber bevor die Kreatur oder die Hohepriesterin ihren Angriff aus führen konnten, nahm am äußersten Rand von Pharauns Ge sichtsfeld ein schattenhafter Blitz Gestalt an und wurde zu Valas Hune. Der Söldnerspäher tauchte geduckt hinter die grünhäutige
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Kreatur und zog einen seiner Kukri hart über die Kniesehnen des Tanarukk, der durch die ungewöhnlich geschwungene Klinge handlungsunfähig gemacht wurde. Schwarzes Blut spritzte aus der tiefen Wunde, während die Kreatur auf ein Knie niedersank, schwach mit den Händen fuchtelte und gleichzeitig versuchte, die Ursache für ihre Schmerzen zu fin den. So rasch, wie Valas gekommen war, war er auch schon wieder weg und verschmolz mit den Schatten. Quenthel nutzte die Gelegenheit, um erneut mit der Peit sche auf den Tanarukk einzuschlagen. Pharaun sah, wie sich die Reißzähne der Schlangenköpfe in Gesicht und Hals der Kreatur verbissen. Die begann fast augenblicklich zu husten und zu röcheln, Gesicht und Zunge schwollen massiv an, als das Gift der Peitsche seine Wirkung zeigte. Der Tanarukk ließ die Axt fallen und sank zuckend und vor Schmerz schreiend zu Boden. Pharaun merkte, daß er die Luft angehalten hatte, und at mete heftig aus, um sich wieder zu sammeln. Verärgert, daß er sich so undiszipliniert benommen hatte, erinnerte er sich an das kleine Stück Tintenfischtentakel in seiner Hand. Er kon zentrierte sich darauf, eine rasche Bestandsaufnahme des Schlachtfelds durchzuführen, um festzustellen, an welcher Stelle der Zauber am besten wirken würde, der ihm vorschweb te. Rund um Jeggred und Ryld türmte sich schon ein Haufen toter Tanarukks, doch die noch verbliebenen Kreaturen stürm ten unablässig vor, um sich den beiden Kämpfern zu nähern und nach einer Lücke in deren Verteidigung zu suchen, damit sie ihre Äxte zum Einsatz bringen konnten. Der Magier war gerade zu dem Schluß gekommen, daß er die Magie mühelos hinter den wenigen noch verbliebenen humanoiden Wilden wirken konnte, als er plötzlich irritiert innehielt.
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Ein Gesicht am anderen Ende des Gangs ließ den Drow aufmerksam werden. Er blinzelte und sah genauer hin, da er seinen Augen nicht trauen wollte. Doch tatsächlich hielt sich dort hinten in der Finsternis eine wunderschöne Frau auf, die dem Kampfgeschehen zusah. Pharaun fand sie attraktiv, ob wohl es sich nicht um eine Drow handelte, sondern sie viel mehr menschlich aussah. Schwarze Locken umrahmten ihr Gesicht, und sie trug ein enganliegendes glänzendes Lederkor sett, das wie eine zweite Haut um ihre Kurven lag. Sie schien den hintersten Reihen der Humanoiden etwas zu sagen, Befeh le zu geben und zu gestikulieren, doch als sie merkte, daß Pha raun sie anstarrte, lächelte sie verwirrt und zog die Augenbrau en hoch. In diesem Moment sah der Magier auch die schwarzen ledernen Flügel, die aus ihrem Rücken ragten. Sie war doch kein Mensch. Pharaun schüttelte verwundert den Kopf; daß eine so be zaubernde Kreatur einen Trupp stinkender, aufgebrachter teuflischer Halbwesen befehligte, kam dem Magier aus irgend einem unerfindlichen Grund nicht richtig vor. Doch so schön sie auch sein mochte, die Frau stand auf der gegnerischen Sei te. Früher oder später würde er sich ihrer annehmen. Aber nicht hier und jetzt. Pharaun riß sich von ihrem Anblick los und konzentrierte sich auf das, was zu tun war. Er wirkte den Zauber zu Ende, den er ausgesucht hatte, woraufhin zwischen den Drow und den verbliebenen Tanarukks eine Formation schwarzer Tentakel entstand. Jedes der schleimigen, zuckenden Dinger war so dick wie sein Oberschenkel und wand sich hin und her, während sie versuchten, irgend etwas zu fassen zu bekommen. Zu spät merkte Pharaun, daß Ryld den letzten, ihn direkt bedrohenden Gegner zu Boden geschickt hatte und im Begriff war, sich den wenigen zu nähern, die im Hintergrund geblieben waren.
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Er riß den Mund auf, um dem Waffenmeister eine Warnung zuzurufen, doch bevor ihm auch nur ein Wort über die Lippen kam, sah er mit an, wie Jeggred sich lang machte und den Meister von Melee-Magthere am Rand von dessen Brustschild packte und aus dem Gefahrenbereich zerrte. Im nächsten Mo ment legte sich einer der Tentakel um den leblosen Leib eines Tanarukk unmittelbar vor Rylds Füßen und zog sich fest zu sammen. Wäre der Waffenmeister nicht von dem Draegloth in Sicherheit gebracht worden, wäre nun sein Bein in den Fängen des Tentakels gewesen. Etliche weitere Tentakel wanden sich und schlugen um sich, bekamen die Tanarukks zu fassen und legten sich um sie. Die Kreaturen brüllten und schrien, sie schlugen und bissen nach den Tentakeln, die im Begriff waren, ihre Leiber zu zer drücken. Die Dämonin auf der anderen Seite hob lediglich eine Braue, als sie sah, wie der Zauber Gestalt annahm. Sie trat nur einen Schritt zurück, damit die zuckenden schwarzen Gliedmaßen sie nicht erreichen konnten. Sie schien sich selt samerweise damit zu begnügen, mit anzusehen, wie ihre Trup pe nach und nach dezimiert wurde, die Schreie verstummten und Rippen deutlich vernehmbar zerdrückt wurden. Pharaun verschwendete keine Zeit damit zu warten, bis der Zauber vergangen war, weil er nicht zulassen wollte, daß diese hübsche Teufelin oder irgendeiner ihrer Gefolgsleute seine Gruppe erreichen konnte. Ebensowenig war er gewillt, mehr von seinen magischen Fähigkeiten erkennen zu lassen als un bedingt nötig. Abrupt bückte er sich und schlug mit der Hand auf den Boden. Er warf seiner berückenden Widersacherin einen letzten Blick zu, während zwischen ihnen Finsternis entstand. Sobald dieser Zauber fertig war, wirkte er einen wei teren, indem er aus einer anderen Tasche eine Prise Edel steinstaub holte und eine unsichtbare Mauer zwischen den
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Drow und den Tanarukks entstehen ließ. Diese magische Barriere hielt jedem gewöhnlichen und den meisten magischen Angriffen stand und würde der Gruppe Zeit genug geben, um nach einem Weg zu suchen, der sie von hier wegbrachte. Die Energiewand würde nicht unendlich lange Bestand haben, doch es würde reichen, eine Möglichkeit zu finden, ungesehen zu entkommen. Pharaun rieb sich den Staub von den Händen und trat zurück. »Das ist ja eine gelungene Lösung«, meinte Quenthel bissig. »Jetzt sind wir hier wenigstens eingeschlossen. Wir wären besser bedient, wenn wir uns diesen dreckigen Bestien auf der anderen Seite stellten, anstatt hier in der Falle zu sitzen.« Ryld stand nicht weit von ihm entfernt vornüber gebeugt da und keuchte, während er mit einem Stoffetzen seine Klinge abwischte. Faeryl ließ sich erschöpft gegen die andere Wand sinken und rang nach Luft. Nur Jeggred und Valas Hune stan den da, als hätten sie sich in keiner Weise angestrengt. Der Späher trat vor, um sich die Barriere anzusehen, während sich der Draegloth bei Quenthel aufhielt. »Wie ich Euch zu sagen versuchte«, gab Pharaun zurück und strich mit der Hand über die Oberfläche der feuchten, grauen Substanz, die ihnen den Weg versperrte. »Das hier ist der Araumycos. Der kann sich noch über Kilometer erstre cken.« Der Drow-Magier wußte, daß sein rügender Tonfall nicht zu überhören war, doch das war ihm auch egal. Quenthel seufzte verärgert, während auch sie sich an die Wand lehnte. Der Araumycos, der den Gang komplett ausfüllte, war eigentlich nur ein gewaltiger Pilz, der äußerlich an ein Gehirn erinnerte. »Wenigstens können wir für eine Weile rasten«, sagte Quenthel. »Ich bin es leid, dieses Teil zu tragen.« Sie knurrte und versetzte dem Rucksack zu ihren Füßen ei
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nen Tritt, dann begann sie, ihre Schultern zu reiben. Pharaun schüttelte den Kopf, da ihn die Verbohrtheit der Hohepriesterin immer wieder erstaunte. Der Magier hatte sich bemüht, so ehrerbietig wie möglich zu sein, um ihr klarzuma chen, wie dumm es war, sich in diese Richtung zu bewegen. Doch allen Warnungen – auch denen Valas’ – zum Trotz hatte die Herrin von Arach-Tinilith sie mit ihrer üblichen arrogan ten Haltung dazu gebracht, sich ihrem Wunsch zu beugen. Jetzt standen sie wie von ihm vorausgesagt vor einer Wuche rung, die ihnen das Vorankommen unmöglich machte, und sie ging darüber einfach hinweg. Pharaun schürzte verdrießlich die Lippen, während er sie aus dem Augenwinkel heraus betrachtete. Sie war darum be müht, die Verspannung aus ihren Schultern zu vertreiben. Er konnte nur ahnen, wie unbehaglich sie sich fühlen mußte, doch er hatte kein Mitleid mit ihr. Obwohl Pharauns eigener Rucksack mit Hilfe der Magie nicht so schwer war, schmerzten auch seine Schultern. Sie waren längst nicht mehr einfach nur wund, nein, er war sicher, daß sie längst bis auf das rohe Fleisch aufgescheuert waren. »Oh ja«, sagte er und untersuchte weiter das schwammähn liche Gewächs. »Ihr habt sehr deutlich gemacht, wie weit es unter der Würde einer Baenre und erst recht unter der Würde der Meisterin der Akademie ist, sich ... wie sagtet Ihr doch gleich ... ›wie ein gewöhnlicher Sklave zu erniedrigen, der Rothé-Dung durch die Moosbetten schleppt‹. Aber bei allem Respekt möchte ich noch einmal darauf hinweisen, daß es Eure meisterhafte taktische Entscheidung war, unsere Träger und Packechsen angebunden und blutend zurückzulassen, damit wir leichter diesen Mantlern entkommen konnten.« Der Magier wußte genau, daß seine bissigen Bemerkungen ihre ohnehin schon unerträgliche Laune noch weiter ver
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schlechtern würden, doch das war ihm völlig egal. Quenthel zu reizen bereitete ihm selbst unter solch unerfreulichen Umstän den ein immenses Vergnügen. »Ihr nehmt Euch viel heraus, Junge«, herrschte die Ho hepriesterin ihn an und stellte sich wieder gerade hin, während sie ihn haßerfüllt ansah. »Vielleicht zuviel ...« Pharaun sah sie immer noch nicht an, sondern verdrehte so die Augen, daß sie es nicht sehen konnte. »Tausendmal tausend Entschuldigungen, Herrin«, erwiderte er, da er fand, daß es an der Zeit war, das Thema zu wechseln. »Dann darf ich annehmen, daß Ihr nicht länger beabsichtigt, Euch um die Waren zu kümmern, von denen Ihr glaubt, sie befänden sich in den Lagerhäusern der Handelsgesellschaft der Schwarzen Klaue in Ched Nasad? Selbst wenn sie von Rechts wegen dem Haus Baenre gehören, wie sollten wir sie nach Menzoberranzan zurückbringen? Ihr werdet sie ganz sicher nicht schleppen, und wenn sich erst einmal herumgesprochen hat, daß Ihr Eure Lasttiere und die Viehtreiber als Beute be nutzt, wird das auch sonst niemand für Euch tun wollen.« Pharaun warf der Hohepriesterin einen Seitenblick zu, der in erster Linie dem Zweck diente, sich an ihrem Ärger zu erfreuen. Quenthels finsterer Blick war sehr betont und ließ die vertikale Falte zwischen den Augenbrauen besonders deutlich erkennen, was ihr diesen verkniffenen Ausdruck verlieh, den der Magier zunehmend erheiternd fand. Er mußte sich zwingen, ein Lachen zu unterdrücken. Das ärgert sie wirklich, dachte er grinsend, doch dann merk te er, daß sich Jeggred in Bewegung setzte, um zwischen sie beide zu treten. Die Bestie ragte vor dem Magier auf, und Pharauns Grinsen verschwand. Er hielt die Luft an, als der Draegloth unheilvoll lächelte und dessen feuchter Atem, der ihm den Magen um
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drehte, ihn einhüllte. Der Dämon diente Quenthel rückhaltlos, und ein einziges Wort von ihr würde genügen, damit er mit größtem Vergnügen und mit einem gehässigen Grinsen auf den Lippen dem Magier – oder jedem anderen aus der Gruppe – Gliedmaß für Glied maß ausriß. Bislang war ihr dieses Wort nicht über die Lippen gekommen, aber Pharaun freute sich nicht darauf, sich mögli cherweise gegen einen Unhold verteidigen zu müssen, insbe sondere auf so beengtem Raum, wo es für ihn schwierig werden würde, sein eigenes Arsenal an Zaubern ins Spiel zu bringen. Wenn er schon gegen Jeggred kämpfen sollte, dann lieber in einer weitläufigen Höhle, aber nicht in diesem engen Gang, in dem er sich vor den Klauen des Untiers nicht in Sicherheit würde bringen können. Trotz ihrer gegenwärtig schlechten Laune und der äußerst ungelenken Art, wie sie bis zuletzt die Last auf ihrem Rücken getragen hatte, schaffte es Quenthel, erhaben auszusehen, als sie sich von der Wand abstieß und mit wallendem Piwafwi durch den Gang auf Pharaun zukam. Er begriff, daß sie seine Sticheleien nicht einfach ignorierte. Sie hatte gewartet, bis ihr treuer Diener sich in einer geeigneten Position befand, um ihr Rückendeckung zu geben, wenn sie den Magier zur Rede stell te. »Ich weiß sehr wohl, was ich getan und gesagt habe, und ich brauche Euch nicht, um meine Worte nachzuäffen und mir hinzuwerfen, als sei ich eine idiotische Wilde, die in einem goldenen Käfig ausgestellt wird, damit sich jeder über sie lustig machen kann.« Sie ließ ihren Blick auf dem Magier ruhen. »Wir befinden uns auf einer diplomatischen Mission, Magier, aber diese Waren gehören meinem Haus, und sie werden dort hin zurückgebracht. Dafür werde ich sorgen, und wenn ich keine Karawane finden kann, die sie zurücktransportiert, dann
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werdet Ihr das für mich erledigen. Jeggred wird das sicherstel len.« Sie hielt seinem Blick stand, während Jeggred neben ihr stand und blutrünstig grinste. Als sie schließlich den Rücken durchdrückte, machte sie eine winzige Geste in Richtung des Draegloth, der sich daraufhin abwandte und sich das Blut von den Klauen leckte. »Sucht nach einem Weg um dieses ... Ding ... herum«, sagte Quenthel und wies auf die Wucherung im Gang, dann wandte sie sich ab und ließ sich neben ihrem Gepäck auf dem Boden nieder. Pharaun seufzte und rollte mit den Augen. Er wußte, daß er die Hohepriesterin zu sehr gereizt hatte. Später würde er dafür bezahlen müssen. Sein Blick wanderte zu Faeryl, um ihre Reak tion auf diese Konfrontation zu erfahren. Die Botschafterin Ched Nasads schüttelte nur den Kopf, ihre Miene verriet ihre Wut. »Ich hätte gedacht, gerade Ihr wärt mehr als nur ein wenig verärgert darüber, daß sie vorhat, das Handelsunternehmen Eurer Mutter auszurauben«, sagte er leise zu ihr. Faeryl zuckte die Achseln und entgegnete: »Das ist nicht meine Sorge. Mein Haus arbeitet nur für sie – für Haus Baenre und Haus Melarn. Beiden gemeinsam gehört die Schwarze Klaue, und wenn sie ihre Geschäftspartner bestehlen will, warum sollte ich sie davon abhalten? Solange ich nach Hause komme ...« Pharaun war erstaunt, im Mienenspiel der Botschafterin ei nen wehmütigen Ausdruck zu erkennen. Der Meister Sorceres reagierte mit einem Brummen auf Fae ryls Antwort und wandte sich abermals der Substanz zu, die ihnen den Weg versperrte. Er war fasziniert, diesen Stoff mit eigenen Augen zu sehen, und zugleich verzweifelt bemüht,
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einen Weg an ihm vorbei zu finden. Er wußte, daß der Arau mycos in diesem Teil des Unterreichs kilometerlange Gänge verstopfte, doch er hatte auch gehört, manchen Reisenden sei es gelungen, an ihm vorbei oder durch ihn hindurch weiterzu kommen. Valas Hune kletterte bereits an dem Pilz hinauf, preßte sich gegen die Substanz und bahnte sich einen Weg nach oben. Pharaun erkannte, daß der Durchgang, den sie genommen hatten, sich in eine größere Höhle zu öffnen schien, da die Decke plötzlich deutlich höher wurde. Er sah, daß der Späher sich auf einen schmalen Spalt zwischen Pilz und Höhlenwand zubewegte, wohl in der Hoffnung, sich hindurchquetschen zu können, auch wenn Pharaun keine Ahnung hatte, wohin er gelangen würde. Zwar hielt er den kleinen Söldner von Bregan D’aerthe für etwas sonderbar, doch war er froh, daß der drahtige Führer mitgekommen war. »Wie lange haben wir noch, bis das da seine Wirkung ver liert?« fragte Faeryl und starrte den Weg entlang, den sie alle gekommen waren, auf die tintenschwarze Wand hinter ihnen. Pharaun überraschte es, daß sie mit ihm sprach, doch er vermutete, daß ihre vorangegangene Unterhaltung sie mutiger hatte werden lassen. Ohne die Botschafterin anzusehen, befaß te sich Pharaun weiter damit, den Pilz zu inspizieren. Er ließ eine kleine Flamme aus seiner Fingerspitze schießen, die er auf die Oberfläche richtete. An den Stellen, an denen das Feuer den Pilz traf, wurde er zwar schwarz und verwelkte, aber es gelang nicht, ein Loch hineinzubrennen, um zu sehen, was sich dahinter befand. »Nicht lange«, antwortete er. Er spürte das Unbehagen, das seine beiläufige Bemerkung bei ihr ausgelöst hatte. Unwillkürlich mußte Pharaun insge
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heim lächeln, da ihm Faeryls Situation recht ironisch vorkam. Es war noch nicht lange her, da war sie verzweifelt darum be müht gewesen, diese Reise zu unternehmen und in ihre Hei matstadt zurückzukehren. Verzweifelt genug, um sich aus Men zoberranzan fortzuschleichen und sich dabei den Zorn Triel Baenres zuzuziehen, der mächtigsten Muttermatrone der Stadt. Natürlich hatte Faeryl es nicht geschafft. Sie war an den Toren der Stadt aufgegriffen und als Jeggreds Spielzeug ins Gefängnis geworfen worden. Pharaun konnte sich nicht einmal annä hernd vorstellen, was der Draegloth mit ihr angestellt haben mochte. Dennoch war es der Zauvirr irgendwie gelungen, bei Triel eine Aussetzung des Urteils zu erwirken, und sie hatte den Auftrag erhalten, an diesem kleinen Ausflug nach Ched Nasad teilzunehmen. Letztlich hatte Faeryl damit erreicht, was sie von Anfang an gewollt hatte, doch der Magier fragte sich, ob sie trotz ihrer vorangegangenen Bemerkungen immer noch so froh darüber war. Selbst wenn sie bis nach Hause gelangen sollte, sah sie sich mit der Tatsache konfrontiert, ihre Mutter – die Mutter matrone des Hauses Zauvirr – davon in Kenntnis setzen zu müssen, daß Quenthel gekommen war, um ihr alles zu neh men, absolut alles. Völlig unabhängig davon, inwieweit ein solches Vorgehen überhaupt machbar war und ob es der Grup pe möglich sein würde, die Absicht in die Tat umzusetzen, ohne sich mit dem Haus Melarn auseinandersetzen zu müssen, würden Faeryl und ihre Mutter zwischen allen Stühlen sitzen. Pharaun beneidete sie nicht um ihre Position. Außerdem zuckte sie jedesmal zusammen und wandte sich ab, wenn Jeggred sie nur ansah. Die Kreatur schien es zu ge nießen, das Unbehagen der Botschafterin bei jeder sich bie tenden Gelegenheit zu steigern, indem Jeggred sie mal vieldeu tig anlächelte, sich mal mit der Zunge über die Lippen fuhr
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oder mal seine rasiermesserscharfen Klauen eingehend be trachtete. Pharaun war klar, daß Faeryl kurz davor stand, die Fassung zu verlieren. Wenn das geschah, dann würde es wohl besser sein, sie dem Draegloth zu überlassen, damit er dem Ganzen ein Ende setzte. Dann war da natürlich noch das Problem der Vorräte. Wie der Rest der Gruppe war auch Faeryl gezwungen gewesen, seit nunmehr gut Zehntagen ihre eigenen Habseligkeiten selbst zu tragen, etwas, woran keine hochwohlgeborene Dunkelelfe gewöhnt war. Sänften, die von Sklaven getragen wurden, ent sprachen eher ihrem und auch Quenthels Stil. Diese Träger zurückzulassen, um Verfolger aufzuhalten, war eine bedauerli che, aber zwingende Notwendigkeit gewesen, und auch wenn Jeggred mühelos einen Großteil ihres Gepäcks tragen konnte, blieb doch für jeden einzelnen eine beträchtliche Last übrig. Er konnte es Faeryl kaum verdenken, daß sie sich langsam fragte, ob diese Reise nichts weiter als ein großer Fehler war. Nach Quenthels Verhalten zu urteilen, wußte sie schon längst oder aber es kümmerte sie nicht, ob sich Lolths Schwei gen mindestens bis nach Ched Nasad erstreckte und daß ihre Erkundungsreise mehr einem Überfall glich. Pharaun war das zwar egal, doch war er nach wie vor der Ansicht, daß es in Ched Nasad mehr zu holen gab als ein Lagerhaus voller magi scher Medaillons. Pharaun sah einmal mehr zu seinem Rucksack und fühlte, wie sich seine Schultern anspannten. Mindestens zum zehnten Mal an diesem Tag wünschte er sich, in der Lage zu sein, eine magische Scheibe zu beschwören, die die gesamten Vorräte für sie tragen würde. In etlichen Adelshäusern der Drow wurde dieser nützliche Zauber so oft eingesetzt, daß die jeweilige Muttermatrone darauf bestand, daß der Hausmagier ihn in seiner Zeit in Sorcere erlernte, dem arkanen Zweig der Aka
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demie. Pharaun hatte sich nie die Mühe gemacht, sich diesen Zauber anzueignen, da sein Rucksack auf magische Weise in seinem Inneren mehr Platz bot, als es sein Äußeres normaler weise zugelassen hätte. Selbst wenn er all seine Folianten, Schriftrollen und auch seine weltlicheren Vorräte hineinpack te, wog er nur einen Bruchteil seines eigentlichen Gewichts, und wenn sich an der Akademie jemals eine Gelegenheit erge ben hätte, irgend etwas auf einer magischen Scheibe transpor tieren zu müssen, wären stets genug Studenten zugegen gewe sen, die diese Aufgabe hätten erledigen können. Dennoch ... Pharaun verwarf den Gedanken und erinnerte sich zum zehnten Mal daran, daß Magie ein allzu wertvolles Gut war. Da Lolth in ein unerklärliches Schweigen verfallen war, konnte keine ihrer Priesterinnen göttliche Magie nutzen, was zur Folge hatte, daß Quenthel und Faeryl in ihrer Macht deutlich be schnitten waren. In der Wildnis des Unterreichs gab es keinen Ort, an dem man in Sicherheit sein konnte, wenn man ver wundbar war. Außerdem verschaffte es ihm eine gewisse Be friedigung, wenn er sah, wie Quenthel, die Hohepriesterin Arach-Tiniliths, des klerikalen Zweigs der Akademie, sich mit ihrer Last abmühte. Quenthel rümpfte die Nase und riß Pharaun aus seinen Überlegungen. Die Hohepriesterin wies auf die Stelle, der sich der Späher kletternd genähert hatte. Nur noch seine Beine waren zu sehen, während der Rest seines Körpers in dem Spalt zwischen Höhlenwand und Pilz verschwunden war. Sie sah Ryld an und sagte: »Euer Freund sucht nach einem Weg. Unterbrecht Euren Tagtraum und helft.« Dann wandte sie sich Pharaun zu und fügte an: »Ihr auch.« Der Magier fand, daß er sie für den Moment genug geärgert hatte, zumal Jeggred sich in unmittelbarer Nähe aufhielt, also lächelte er nur und verbeugte sich, wobei er seinen Piwafwi
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schwenkte, um sich dann dem Araumycos zu widmen. Als Ryld sich zu ihm gesellte, murmelte Pharaun: »Das sind die Augenblicke, in denen sie wirklich am bezauberndsten ist, nicht?« »Du solltest sie nicht verhöhnen«, erwiderte Ryld genauso leise und griff nach seinem Kurzschwert. »Das einzige, was du damit erreichst, ist, daß wir später alle leiden müssen.« Er holte versuchsweise aus und trennte ein Stück des Ge wächses ab, das vor seinen Füßen zu Boden fiel. Er bückte sich, um es aufzuheben, doch es verfärbte sich schon und zerfiel. »Oh, ich glaube, du meinst eher, daß ich darunter werde leiden müssen«, gab der Magier zurück, holte eine kleine Phio le mit einer Säure aus einer verborgenen Tasche seines Piwafwi und goß den Inhalt auf die Oberfläche des Gewächses. »Ich fürchte, ich werde mit genug Zorn für uns alle bedacht werden, lange bevor wir Ched Nasad erreichen.« Wo die Flüssigkeit ihn traf, begann der Pilz zu zischen und wurde schwarz. Ryld hielt inne und warf dem Freund einen Blick zu. Der Krieger wirkte verblüfft. Obwohl ihre Freundschaft bereits seit so vielen Jahren Bestand hatte, wußte Pharaun, daß Ryld das Verhalten des Magiers gelegentlich noch immer für seltsam hielt. Das ist der Preis, den ich für meine überwältigende Persön lichkeit und meinen cleveren Geist zahlen muß, dachte der Magier und sah zu, wie ein Loch von akzeptabler Größe in dem Pilz entstand, der sich dahinter jedoch unverändert weiter fortsetzte. »Wir könnten bis in alle Ewigkeit versuchen, uns da hin durch zu brennen oder zu schneiden«, grollte Ryld und trat zu der Stelle, an der Valas hinaufgeklettert war. »Es ist nicht abzusehen, wie weit das Ding reicht.«
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»Stimmt, aber es ist faszinierend. Bislang habe ich herausge funden, daß die Substanz durch Säure, Feuer und Schnitte Schaden nimmt. Die Teile, die ich von der Gesamtheit löse, zerfallen dessen ungeachtet einfach zu einer dunklen, fauligen Masse. Bemerkenswert! Ich frage mich ...« »Ich will doch sehr hoffen, daß du nicht all deine magi schen Kräfte auf dieses Ding vergeudest«, entgegnete Ryld und sah nach hinten zu dem immer noch verdunkelten magischen Vorhang, der den Gang versperrte. »Es könnte sein, daß wir deine Tricks jeden Augenblick viel verzweifelter für etwas anderes brauchen.« »Sei nicht einfältig, mein schwertschwingender Gefährte«, antwortete Pharaun und schob ein Stück rosafarbenen Steins zurück in eine Tasche. »Bei meinen Talenten habe ich davon mehr als genug für jeden von uns – unsere charmanten Verfol ger eingeschlossen.« Ryld knurrte. Da landete ein großes Stück Pilz vor Rylds Füßen auf dem Höhlenboden und verfärbte sich bereits schwarz. Der Krieger trat einen Schritt zurück, da weitere Stü cke folgten, als würde er damit bombardiert. »Sieht ganz so aus, als ob Valas sich nach irgendwohin durchschneidet«, stellte Pharaun fest und blickte zu der Stelle, an der zuletzt etwas von dem Späher zu sehen gewesen war. »Ich frage mich nur, ob er lediglich etwas versucht oder ob er tatsächlich einen Fluchtweg entdeckt hat.« Der Magier reckte den Hals, um besser sehen zu können. »Hier oben führt ein Weg hindurch«, sagte Valas, der wie der ganz auftauchte. »Kommt her.« »Nun, das beantwortet meine Frage. Zeit zu gehen«, sagte Pharaun und wandte sich der restlichen Gruppe zu. Er wies nach oben, wo der Späher zu sehen war, damit Quenthel und Faeryl ihn ausmachen konnten. »Wir haben nur noch wenig
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Zeit, dann verliert meine Energiewand ihre Wirkung.« Die anderen Drow und der Draegloth schwebten in Rich tung Höhlendecke, eine Fähigkeit, die ihnen die Magie im Emblem ihres jeweiligen Hauses verlieh. Der Reihe nach ver schwanden sie durch ein Loch, das Pharaun nicht sehen konn te, solange er auf dem Boden stand. Nachdem er ganz allein war, begann auch er, sich magisch in die Lüfte zu erheben. Zum ersten Mal wurde ihm bewußt, wie froh er darüber war, daß sie sich nicht dem Kampf zuwandten, um weitere Tana rukks abzuwehren.
Aliisza lächelte, als sie sah, wie den letzten ihrer Tanarukks ein Schauder durchlief und sein Körper dann reglos dalag. Die schwarzen Tentakel, die ihren Trupp vernichtet hatten, be wegten sich immer noch hin und her und suchten nach etwas neuem, an dem sie Halt finden konnten. Das Alu-Scheusal achtete sorgfältig darauf, sich nicht in die Reichweite dieser Fangarme zu begeben, auch wenn sie wußte, daß sie sich not falls mit Hilfe der Magie von ihnen hätte befreien können. Genaugenommen hätte sie sogar eingreifen und den Zauber des Magiers unwirksam machen können, um ihre Kämpfer zu retten. Doch sie hatte sich dagegen entschieden, nicht etwa, weil sie den Zauber nicht vergeuden wollte, sondern weil sie in erster Linie neugierig war. Aliisza wußte, daß die Dunkelelfen und ihr Dämon mehr als fähig sein würden, so wie es Drow für gewöhnlich waren. Sie huschte durch den Gang zurück, durch den sie und ihre Tanarukks die Drow verfolgt hatten. Mindestens zwei von ihnen hatten Aliisza gesehen, doch sie hatten sich weiter von ihr abgewandt, als seien sie auf der Flucht. Sie bezweifelte, daß die Drow aus einem Grund hier waren, der etwas mit
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Kaanyr Vhok zu tun hatte. Die Alu ließ keine Zeit verstreichen, um zu dem Punkt zu rückzukehren, von dem aus sie mit dem kleinen Trupp gestar tet war, der nur einen Teil der ihrem Kommando unterstehen den Streitmacht darstellte. »Sie sind in die höhergelegenen Höhlen weitergezogen«, verkündete sie den Tanarukks und schickte sie in eine neue Richtung. »Wir werden ihnen am Schwarzzahnfelsen den Weg abschneiden. Trödelt nicht, sie bewegen sich sehr schnell.« Kaum mehr als ein leises Murren war zu hören, als sich die Horde in Bewegung setzte. Sie brauchte nur ein paar Minuten, um die große Kreuzung zu erreichen, die bei den Geknechteten als Schwarzzahnfelsen bekannt war. Dabei handelte es sich um eine große Kammer, die sich über mehrere Ebenen erstreckte und in die zahlreiche Gänge mündeten. Aliisza war sich nicht einmal sicher, wofür die Zwerge diese Kammer benutzt hatten, die sie in den Fels gehauen hatten. Ein Großteil war inzwi schen von einem Pilz ausgefüllt, der von den Stämmigen als Araumycos bezeichnet wurde. Es gab aber immer noch genü gend freie Gänge, die von Patrouillen der Geknechteten re gelmäßig benutzt wurden, und sie wußte, wenn die Drow nicht irgendwelche Magie einsetzten, die sie auf einen anderen Weg führte, würde ihre Flucht sie früher oder später in diese Kam mer führen. Das Alu-Scheusal überlegte noch, was sie tun würde, wenn sie den Drow gegenübertrat, als ihr kleines Bataillon aus Tana rukks auf ein zweites Humanoiden-Kontingent stieß, das sie ausgeschickt hatte, um an anderer Stelle einen Fluchtweg abzuschneiden. »Was tut ihr hier?« fragte sie den Feldwebel, auch wenn sie eigentlich froh war, durch die Gruppe Verstärkung zu bekom men.
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»Ich habe euch zur Säulenkammer geschickt, um aufzupas sen, falls sich etwas von Norden her nähert.« »Ja«, antwortete der Feldwebel. Er war ein plumpes Exemp lar, das seine Gefährten um einen guten Kopf überragte. Seine hervorstehenden Stoßzähne ließen ihn nuscheln. »Aber wir haben erfahren, daß eine große Streitmacht aus Grauzwergen beobachtet wurde, die sich durch den südlichen Teil von Ammarindar bewegt, und eine zweite Patrouille, die weiter nordöstlich stationiert war, ist völlig verschwunden.« »Beim Abgrund«, flüsterte Aliisza. »Was geht da vor sich?« Sie dachte kurz nach, dann befahl sie einer kleinen Schwadron Tanarukks, zu Vhoks Palast zurückzukehren, um von dieser Neuigkeit zu berichten. Sie und der Rest ihrer Streitmacht würden sich weiter der Verfolgung der Drow wid men. Sie wissen, was hier los ist, sagte sie sich, als sie wieder auf brachen, und ich werde es herausfinden.
Pharaun reagierte nicht mehr jedesmal erschrocken, wenn Ryld leise zurückkehrte, nachdem er die Nachhut der Gruppe gebildet hatte, daher zeigte er keine Reaktion, als der Krieger plötzlich mitten in der Gruppe Gestalt annahm. Splitter steck te noch in der Scheide quer über seinem Rücken, was Pharaun sagte, daß sie nicht in unmittelbarer Gefahr waren. Dennoch paßte er genau auf, als sein alter Freund in der Zeichensprache der Drow Quenthel Bericht erstattete. Unsere Verfolger sind uns wieder auf der Spur, signalisierte der Krieger. Mehrere Schwadronen, die die Distanz rasch überwinden. Die Schlangenköpfe zischten und ließen so die Verärgerung ihrer Herrin erkennen, bis sie mit einem geflüsterten Wort für Ruhe sorgte.
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Wie lange noch? erwiderte sie.
In der Finsternis sah Pharaun, wie Ryld die Achseln zuckte.
Vielleicht zehn Minuten, aber mehr sicher nicht. Wir müssen noch etwas ruhen, gab Quenthel zurück. Wenigs tens ein paar Momente. Außerdem ist Valas Hune noch nicht zurückgekehrt. Findet heraus, in welche Richtung er gegangen ist. Sie wies auf die Kreuzung. Ryld nickte und begann, die Wände nach den in drei Richtungen führenden Tunnels abzu suchen. Wenn Valas Hune ein Zeichen hinterlassen hatte, welchen Weg er gegangen war, dann würde Ryld es finden, und sie konnten weitergehen. Pharaun seufzte und bedauerte es, je diesen Weg genommen zu haben, um nach Ched Nasad zu gelangen. Das Reich Kaa nyr Vhoks zu durchqueren war eine riskante Entscheidung gewesen, auf der Quenthel letztlich jedoch beharrt hatte, da ihr ein schnelles Vorankommen wichtiger gewesen war als ein sicheres. Also war die Gruppe durch Ammarindar gezogen, die alte Heimat einer noch viel älteren Zwergennation, die vor langer Zeit ausgelöscht worden war. Pharaun wußte, daß Kaanyr Vhok nach dem Fall der Höl lentorfeste – die irgendwo hoch über ihnen in der Welt an der Oberfläche zu finden war – das Gebiet für sich beanspruchte. Vhok, ein Marquis der Cambion-Dämonen, war ein äußerst unangenehmer Gastgeber, wie sich Pharaun erinnern konnte. Die meisten Karawanen mieden sein kleines Fleckchen Land im Unterreich, wodurch die Wege, die sie nun einschlugen, kaum bereist wurden. Pharaun hatte gehofft, auf diese Weise sicherzustellen, daß die Gruppe unentdeckt blieb. Doch sie konnten sich noch so unauffällig bewegen, es war einfach nicht möglich, der Aufmerksamkeit von Vhoks Die nern völlig zu entgehen. So wurden sie nun abermals von meh reren Patrouillen des Cambion verfolgt. Pharaun hatte gehofft,
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ihre Flucht am Araumycos entlang hätte die Tanarukks von ihrer Fährte abgebracht, doch ihm war klargeworden, daß sie – oder besser gesagt wohl das Scheusal – ganz genau wußten, in welche Richtung sich die Gruppe bewegte, auch wenn sie sie nicht verfolgten. Er war sogar sicher, daß noch mehr von ih nen im Begriff waren, ihnen den Weg abzuschneiden, ehe sie die Region und damit Vhoks Reich hinter sich lassen konnten. Die Frage war, ob sie diesmal den Vorsprung würden wahren können. Die Menzoberranzanyr konnte es sich nicht leisten, sich mit dem Dämonenfürsten auseinanderzusetzen. Angesichts des Wissens, mit dem sie reisten, mußten sie unbedingt vermeiden, daß irgendeine der großen Rassen des Unterreichs auf sie auf merksam wurde, und doch hatte Pharaun das unangenehme Gefühl, daß dies kein leichtes Unterfangen werden sollte. Er war sich darüber im klaren, daß kein Teil der Reise nach Ched Nasad ungefährlich sein würde, denn wie auf einem Sava-Brett stellte jeder Zug ein Risiko dar. In gewisser Hinsicht war Quenthels Entscheidung, die Gruppe von der zusätzlichen Bürde – den Lasttieren und den Trägern – zu befreien, sinnvoll gewesen. Ohne die Dinge, auf denen die Hohepriesterin anfangs bestanden hatte, kamen sie deutlich schneller voran. Der Magier sah Quenthel an und wußte, daß sie hin- und hergerissen war zwischen dem Wunsch, ein höheres Tempo anzuschlagen und der Tatsache, daß sie es endgültig satt hatte, eine Last mit sich herumzu schleppen, die so schwer war, daß sie immer dann die Schul tern hängen ließ, wenn sie sich unbeobachtet glaubte. Pharaun vermutete, daß sie mit noch weniger Gepäck hätten auskom men können, und vielleicht würde Quenthel sich noch von einigen überflüssigen Vorräten trennen, lange bevor sie die Stadt der Netze erreichten. Eher früher als später würden sie
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abermals gegen Vhoks Horden kämpfen und sich gleichzeitig weiter zurückziehen müssen. Als hätte er gewußt, daß die Zeit knapp wird, tauchte plötz lich Valas auf, dicht gefolgt von Ryld und Jeggred. Der DrowSpäher kam auf die Wegkreuzung getrottet und kauerte sich gegen eine Wand, während er gedankenverloren mit einem der zahlreichen fremdartigen Medaillons spielte, die seine Weste zierten. Pharaun und Quenthel kamen näher, und Valas begann, hastig mit den Händen zu gestikulieren. Unser Weg führt in eine weitläufige Kammer. Valas wies auf den Gang, aus dem er soeben gekommen war.
Was ist dort? wollte Quenthel ungeduldig wissen.
Der Späher seufzte, dann signalisierte er: Mehr von diesem
Pilz, aber diesmal versperrt er uns nicht den Weg. Wir sind fast außerhalb von Vhoks Machtbereich. Dann laßt uns aufbrechen, erwiderte Quenthel. Ich will hier keinen Moment länger bleiben. Valas nickte, und die Gruppe setzte sich in Bewegung. Die Gänge, durch die der Späher sie führte, waren wieder breit und wiesen glatte Wände auf, die von geschickten Zwergenhänden aus dem Fels des Unterreichs gearbeitet worden waren. Sie schienen sich in die richtige Richtung zu bewegen, da Faeryl mehr als einmal anmerkte, die Umgebung komme ihr allmäh lich vertraut vor. Mit etwas Glück würden sie schon bald Kaa nyr Vhoks Reich hinter sich gelassen und die Randbezirke Ched Nasads erreicht haben, in denen Patrouillen ihren Dienst verrichteten. Diesmal schien sich Quenthel damit zu begnügen, daß Valas und Ryld die uralten Dethek-Runen interpretierten, die in die Mauern der Gänge der vor langer, langer Zeit verlassenen Zwergenstadt eingraviert worden wa ren, und den beiden in die Richtung zu folgen, die sie vor
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schlugen. Pharaun war ihr dafür dankbar. Je eher sie Ched Nasad erreichten, desto besser würde er sich fühlen – zumin dest körperlich. Der Magier hatte mit dem Gedanken gespielt, Quenthel vorzuschlagen, sich in aller Heimlichkeit in die Stadt zu bege ben. Er hielt es durchaus für möglich, daß die Hohepriesterin mit wehenden Bannern hineinmarschierte und verlangte, die bedeutendste Repräsentantin des Adelshauses zu sprechen, um ihr zu verkünden, sie werde sich nehmen, was ihr gehöre, und Ched Nasad schere sie einen Dreck. Er mußte eine Möglich keit finden, sie dazu zu bringen, über ihren Schatten zu sprin gen und statt dessen klug vorzugehen. Es würde für sie alle von Nutzen sein, wenn sie nicht zuviel Aufmerksamkeit erregten, zumindest nicht auf den Straßen. Warum sollte ich außerdem bei noch mehr Muttermatronen zu Gast sein wollen? fragte er sich. Ein Gasthaus würde ihn weitaus mehr zufriedenstellen, vor allem, wenn es ein beson ders teures war. Die Kunst bestand darin, die richtige Methode zu finden, um Quenthel zu überzeugen. Es mußte aussehen, als sei es ihre eigene Idee gewesen. Doch bei der Hohepriesterin war es kein leichtes Unterfangen, auf eine subtile Weise seine Idee zu ihrer zu machen. Sie hatte längst gezeigt, wie schwierig es war, sie zu lenken. Bedrängte er sie auch nur ein wenig zu sehr, dann würde sie seinen Vorschlag schon allein abweisen, weil er ein Mann war. Verhielt er sich zu zögerlich, dann würde ihre schlechte Laune verhindern, daß sie erkannte, was er ihr vorschlagen wollte. Pharaun hatte eine ganze Reihe von Argumenten zur Hand, mit denen er versuchen konnte, sie zu überzeugen, anstatt sie unbemerkt dazu zu bringen, das zu machen, was er wollte. Doch er wußte, daß er bei Quenthel argumentieren konnte, bis
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ihm die Luft ausging, und sie würde sich dennoch weigern. Plötzlich bemerkte Pharaun, daß der Gang recht steil an stieg. Er sah nach oben, wo die anderen sich abmühten, den Scheitelpunkt dieser Anhöhe zu erreichen. Dort blieben sie zunächst stehen. Faeryl sagte leise etwas und wies auf etwas, das sich in einiger Entfernung vor ihnen zu befinden schien. Der Magier fragte sich, was sie wohl entdeckt hatten, und ging schneller, bis er sie erreichte. Vor ihm lag das Panorama einer weiten, in sanftes Licht getauchten Höhle. Nach dem Verlauf der Wände und der Decke zu urteilen, mußte sie von beträcht licher Größe sein, aber ein gewaltiger Teil war von dem Pilz ausgefüllt. Vom Wachstum des Araumycos beeindruckt schüt telte er den Kopf. Das Gewebe war ein einziger lebender Orga nismus, soweit ein Magier oder Weiser das zu sagen vermochte. Daß dies hier ebenfalls ein Teil jenes Wesens war, auf das sie vor fast einer Stunde getroffen waren, empfand er als höchst erstaunlich. Doch die Vorstellung, daß das alles immer noch nur ein Bruchteil des Gesamten war, ließ ihn schwindeln. Die Kammer selbst war natürlichen Ursprungs; ein gewalti ger schwarzer Stalaktit, der auffallend an einen großen Reiß zahn erinnerte, der im Begriff war, sich in den Pilz zu bohren, stellte das charakteristischste Element dieser Höhle dar. Hin weise auf Steinmetzarbeiten von Zwergen gab es zuhauf. Die Drow hatten die Höhle an der noch freien Seite an einem recht hohen Punkt erreicht, wo der Gang in einen großen, balkonartigen Vorsprung mündete. Eine breite Rampe, die Platz genug bot, um mehrere Wagen Seite an Seite zu stellen, führte links des Vorsprungs nach unten und ging in eine Reihe von spitzen Kehren über, die sich im Zickzack an der Wand entlangzogen, bis sie den Boden erreichten. Von dort führte ein glatter, gepflasterter Weg zu den Kreuzungen, von denen aus weitere Wege im Zickzack zu einer ganzen Reihe weiterer
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Tunnels führten. In vielen Fällen endeten die Wege inmitten des wuchernden, blaßgrauen Pilzes. Aus Pharauns Sicht hätte diese Höhle eine kleine Stadt sein können, ein Teil Menzoberranzans, wären da nicht zwei große Unterschiede gewesen. Zum ersten war es die offensicht liche, abscheuliche Architektur der Zwerge, die hier zum Zug gekommen war, da alles breit, glatt und ohne Reiz für das Auge war. Zum zweiten war da dieses dämmrige, aber allgegenwärti ge Leuchten, das von überall herzukommen schien und sämtli chen Oberflächen ein fahles, ja kränklich graues Erschei nungsbild verlieh. In Menzoberranzan war die Stadt samten schwarz, unterbrochen von satten Violett-, Grün- und Bern steintönen, die über Boden und Decke der Höhle verstreut waren. Hier dagegen war zwar alles zu sehen, da ein magisches Licht jeden Winkel erreichte, doch nichts hatte eine Farbe. Der Dunkelelfenmagier vermißte seine Heimat, sehnte sich danach, auf den Balkonen der Akademie zu sitzen und auf die Stadt hinabzusehen. Ihm fehlte sogar das schlichte Vergnügen, Narbondel zu beobachten, deren rotes Leuchten das Verstrei chen der Tag- und Nachtstunden anzeigte. In der Wildnis hatte Pharaun festgestellt, daß er jegliches Zeitgefühl verlor, wenn er auf die vertraute große Uhr der Stadt der Spinnen verzichten mußte, auch wenn er über andere, magische Me thoden verfügte, um zu überprüfen, wie spät es war. Einen Moment lang fragte sich Pharaun, ob er Menzoberranzan je wiedersehen würde. Ein Gefühl, das ihm fremd war, erfüllte ihn daraufhin. Was war es? Trauer? Fühlte es sich so an, wenn man traurig war? Es war ein sonderbares Gefühl, und der Ma gier war entschlossen, es abzuschütteln. Was du brauchst, Mizzrym, ist ein heißes, aromatisches Ölbad und danach eine Tiefengewebsmassage, vorgenommen von einem meisterlichen Masseur, und ehe du dich’s versiehst,
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hast du wieder deinen federnden Gang zurück. Dieser aufmunternde Gedanke veranlaßte Pharaun, den Rücken durchzudrücken und die Schultern zu straffen, ehe er seine Aufmerksamkeit auf seine Gefährten richtete. Valas war die Rampe hinuntergegangen und hatte die erste Kehre erreicht. Von Pharauns Blickwinkel aus wirkte der klei ne Späher nun erst recht winzig und vermittelte dem Meister Sorceres ein besseres Gefühl für die Dimensionen dieser Kam mer. Quenthel, Faeryl, Jeggred und Ryld schwebten unterdes sen durch die Luft zum nächsten Abschnitt des Wegs hinab und befanden sich in lockerer Formation etwa auf halber Hö he. Pharaun kicherte, als er sich fragte, wie sich wohl die Meis terin der Akademie mit all ihrem Gepäck fühlen mochte. Nun, dachte Pharaun, das Ölbad wartet auf dich. Er machte zwei Schritte auf den Rand des Balkons zu, um der Hohepriesterin und den anderen zu folgen, als er hinter sich etwas eher fühlte als hörte.
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Khorrl Xornbane war unwillkürlich ein wenig angespannt, als die Tür zu dem Separee ein Stück weit aufging, in dem er saß und wartete. Seine Hand wanderte zum Griff der Doppelaxt an seiner Seite. Selbst als Zammzt sich mit leisen Schritten durch den schmalen Spalt zwängte und sich an der gegenüberliegen den Seite des Tischs auf die gepolsterte Bank setzte, entspann te sich der Duergar noch immer nicht. Vorsichtig spähte er durch die immer noch offenstehende Tür in den dahinter gelegenen Flur, um zu sehen, wer sich womöglich dort in den Schatten aufhielt und ihr Treffen beobachtete. Es waren je doch nur drei andere Individuen zu sehen, von denen sich keines um Zammzt zu kümmern schien. Zwei Drow, die als Kaufleute gekleidet waren, wurden von einem dritten ange führt, der offenbar ein Ober des Leuchtenden Kelchs war, und befanden sich auf dem Weg zu einem anderen Separee, in dem
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sie dann auch verschwanden. Khorrl runzelte die Stirn, als der Ober noch einen Moment stehenblieb. Der Diener legte den Kopf leicht schräg, anscheinend hörte er sich etwas an, was im Inneren des Separees gesprochen wurde – allerdings so leise, daß der Duergar es nicht hören konnte. Er nimmt nur eine Bestellung auf, sagte sich der Duergar. Kein Grund, nervös zu werden. Auch wenn er sich zur Ruhe ermahnte, wußte Khorrl, daß er noch ein paar Minuten brauchen würde, um sein Unbeha gen zu überwinden. Es wäre nicht das erste Mal, daß ein Narr sich auf dem Weg zu einem Treffen mit einem Zwergensöldner unbemerkt verfolgen ließ. Er wollte sich nie wieder in eine Situation bringen lassen, in der er sich in eine Ecke gedrängt freikämpfen mußte. Nicht nur, daß er mit knapper Not hatte entkommen können, sein Ruf war dadurch in den Schmutz gezogen worden. Das hatte ihn am meisten geärgert. Erst als er wirklich sicher war, daß niemand sie beobachtete, wurde Khorrl ruhiger. Allerdings mußte er sich wirklich zwin gen, seine Doppelaxt loszulassen. Er sah quer über den Tisch zu Zammzt und bemerkte, daß an dessen schlichter Drow-Klei dung nirgends das Emblem seines Hauses zu sehen war. Zammzt seinerseits hatte es sich auf der Bank bequem ge macht, seine Lippen umspielte ein Lächeln. Auch wenn Khorrl sich nicht für einen Experten hielt, wenn es darum ging, einen anderen als attraktiv einzustufen – erst recht nicht bei einer anderen Spezies –, fiel sogar ihm auf, daß Zammzt völlig durchschnittlich und unauffällig aussah. Hätte er nicht schon einem Adelshaus gedient, dann wäre dieser Mann wohl allenfalls bis zum gewöhnlichen Kunsthandwerker aufgestie gen, der im Grunde nur eine Stufe über einem Sklaven stand. Khorrl vermutete, daß allein die Tatsache, daß er ein so ge witzter Unterhändler war, dem Dunkelelfen zur Ehre gereichte.
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»Ich kann Euch versichern, es hat mich niemand verfolgt«, unterbrach Zammzt die Gedankengänge des Duergar. »Wenn es jemand versucht hätte, wüßte ich es. Außerdem gibt es keinen Grund, mich zu verfolgen.« »Wieso glaubt Ihr, ich sei besorgt?« fragte Khorrl und lehn te sich zurück. »Ich habe Euch doch gar nichts vorgeworfen.« »Eure verdrießliche Miene und Eure heimlichen Blicke zur Tür machen es mehr als offensichtlich«, erwiderte der Drow. »Allerdings kann ich Eure Sorge verstehen. Ihr werdet Euch freuen zu hören, daß ich Eure Ankunft von einer sicheren Position aus beobachtet habe und Euch sagen kann, daß Euch auch niemand verfolgt hat.« Khorrl versteifte sich wieder ein wenig und schwankte da zwischen, beleidigt oder beeindruckt zu reagieren. Nur weni gen Geschöpfen war es gelungen, ihn unbemerkt zu beobach ten, jedenfalls in den letzten Jahren. Daß er Zammzts Beobachtung nicht bemerkt hatte, überraschte ihn, vorausge setzt, der Drow sprach die Wahrheit. Der Duergar kniff die Augen zusammen und fragte sich, ob der Dunkelelf womöglich einfach nur log, um ihn zu beeindrucken. Er bezweifelte das, doch ... »Dann müßt Ihr Euch sicher genug fühlen, um frei zu spre chen, hmm?« fragte Khorrl und warf damit seinen Köder aus, um zu sehen, wie sein Gegenüber reagieren würde. Zammzts Lächeln wurde eine Spur eindringlicher, während er mit der Hand eine wegwerfende Bewegung machte und den Blick vor sich auf den Tisch richtete. »Selbstverständlich«, gab er zurück. »Allerdings kann ich mir vorstellen, daß Ihr lieber warten wollt, bis wir unsere Ge tränke bekommen haben.« »Ich habe den Kellner bereits wissen lassen, daß ich nichts will«, erwiderte Khorrl und winkte nun seinerseits abweisend.
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»Ich nehme nichts zu mir, wenn ich eine geschäftliche Ver handlung führe.« »Was mir bekannt ist, Meister Xornbane, da ich mit Eurem Ruf vertraut bin. Ich dagegen habe bereits darum gebeten, daß eine Erfrischung serviert wird. Ich glaube, ich höre sie gerade kommen.« Khorrl wandte den Blick für einen winzigen Moment dem Türspalt zu und öffnete den Mund bereits einen Spaltbreit, um zu sagen, er habe nichts gehört. Er sah kurz zu Zammzt, dann aber sofort wieder durch die Tür nach draußen, wo im gleichen Augenblick der Kellner aus dem anderen Separee am anderen Ende des Gangs mit einem Tablett voller Getränke auftauchte. Khorrl schloß den Mund wieder, während er beobachtete, wie der Diener zuerst ein paar Krüge in das andere Separee brachte und dann zu ihm und dem Drow kam. Offenbar verfügte Zammzt neben der überraschenden Fähigkeit, jemanden zu beschatten, auch noch über ein außergewöhnlich gutes Gehör. Nachdem der Ober das Getränk serviert und den Duergar gefragt hatte, ob er sich möglicherweise anders entschieden habe, zog er sich wieder zurück. Zammzt streckte den Arm aus und schloß die Tür. »Ich glaube, jetzt können wir in Ruhe reden«, sagte der Drow. Er nahm einen Schluck aus seinem eiskalten Krug, woraufhin seine roten Augen zufrieden funkelten. Dann seufz te er erfreut und meinte: »Es ist alles bereit. Ihr werdet die erste Bezahlung in den nächsten Tagen erhalten.« Khorrl betrachtete den Drow einen Moment lang eindring lich, dann nickte er. »Die Summe ist akzeptabel?« wollte der Duergar-Söldner dann wissen. »Keiner meiner Leute geht in die Stadt, solange ich nicht sicher bin, daß wir erhalten, was ich gefordert habe.« »Auf jeden Fall. Meine Herrin hat mich angewiesen, Euch
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mitzuteilen, Eure Forderung sei mehr als nur akzeptabel. Für die Dienste, die Ihr leisten werdet, ist es ihrer Ansicht nach ein geringer Preis.« »Hmph«, machte Khorrl, ließ aber nicht erkennen, wie die ser Laut gemeint war. »Das wird sich zeigen. Wenn sie mich mitten in einem Kampf im Stich läßt, wird der Betrag nicht einmal annähernd genug sein. Das ist doch wohl klar.« Zammzt setzte wieder dieses wissende Lächeln auf und nick te zustimmend. »Ich kann Euch nur versichern, daß sie und ihre Verbünde ten diese Sache bis zum Ende durchziehen wollen. Sobald sie den ersten Schritt gemacht haben, gibt es für sie kein Zurück. Das solltet Ihr nicht vergessen.« »Mag sein. Aber wenn das für uns unerfreulich verläuft«, gab Khorrl zurück und fuhr sich über den kahlen grauen Kopf, »dann werde ich mich persönlich ihrer annehmen!« »Aber, aber. Es gibt keinen Grund für Drohungen. Die erste Zahlung ist auf dem Weg. Ihr müßt nur dafür sorgen, daß die erste Gruppe bereit ist, wenn die Bezahlung eintrifft.« Diesmal nickte Khorrl. Er hatte noch nie einen Vertrag nachverhandelt, und er würde es auch jetzt nicht tun. Sein Clan bekam unglaublich hohe Summen für seine Kampfkraft, und wegen dieses Rufs betrachtete sein Auftraggeber die Geld ausgabe als eine gute Investition. Der Clan Xornbane war in der großen Duergar-Hierarchie zwar nur eine Söldnerbande, doch er hatte immer sichergestellt, daß sie alle ihren Ver pflichtungen nachgekommen waren. Solange er das Sagen hatte, würde sich daran auch nichts ändern. »Sie werden dort sein«, sagte er. »Exzellent«, erwiderte Zammzt. »Meine Herrin zählt darauf. Trotz Eurer Unterstützung wird es nicht leicht sein, die rivali sierenden Häuser zu stürzen. Deshalb zahlen sie und ihre Ver
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bündeten auch einen so großzügig bemessenen Preis.« Khorrl legte wieder die Stirn in Falten, als er an die Arbeit dachte, die vor ihnen lag. Der Dunkelelf hatte recht. Ein Adelshaus der Drow zu stürzen war selbst dann eine gewaltige Anstrengung, wenn deren Klerus handlungsunfähig war. Von ihm und seinen Männern wurde erwartet, dabei zu helfen, viele Kleriker niederzuringen. Zweifellos würde der Clan Ver luste hinnehmen müssen, aber man war trotz allem sehr wil lens gewesen, diesen Auftrag anzunehmen. Der Lohn, den Drow dabei behilflich zu sein, sich gegenseitig umzubringen, war fast noch bedeutsamer als die tatsächliche Bezahlung, die sie dafür erhielten. Diejenigen aus dem Clan Xornbane, die diesen Einsatz überlebten, würden einen größeren Anteil vom Lohn erhalten, als sie aus den letzten vier Verträgen zusammen bekommen hatten. Das war es wert, Soldaten zu verlieren, vor allem bei den niederen Rassen in den vorderen Reihen. Beim Abgrund, dachte Khorrl mit einem Mal. Wenn das hier vorbei ist, könnte ich mich vielleicht sogar zur Ruhe set zen. »Wir tun, wofür wir bezahlt werden. Ihr kennt unseren Ruf«, sagte der Duergar und strich liebevoll über den Griff seiner Axt. »Allerdings würde ich mich deutlich wohler füh len, wenn ich sicher sein könnte, daß Eure Priesterinnen nicht mitten im Kampf auf einmal den Kuß Lolths spüren. Das wäre unser Untergang, und höchstwahrscheinlich auch der Eure.« Zammzt spreizte die Hände in einer beschwichtigenden Geste. »Das ist natürlich ein Risiko«, sagte er, und es hätte fast – fast – entschuldigend geklungen. »Doch die Gelegenheit für meine Herrin und ihre Mitverschwörerinnen ist es wert. Seid versichert, Ihr werdet dabei nicht vergessen werden. Sie freut sich auf den Augenblick, da sie Euch in ihrer neuen Position
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als eine der hochrangigsten Muttermatronen der Stadt für Euren Einsatz danken kann.« Khorrl nickte ein letztes Mal und machte sich zum Gehen bereit. »Nun gut«, sagte er. »Wir werden auf die erste Bezahlung warten. Der Plan steht.« Er stand auf und zog seine Axt an sich. Ehe er die Tür öffne te, sah er noch einmal den Dunkelelfen an, der wohl noch eine Weile bleiben und seinen Krug austrinken würde. Khorrl sah dem Drow in die Augen. »Wir haben zugesagt«, erklärte der Grauzwerg. »Nun gibt es kein Zurück mehr. In Ched Nasad wird Blut fließen. Merkt Euch meine Worte.«
Pharaun wirbelte herum und beschwor gleichzeitig das magi sche Rapier aus dem Ring in eine Hand, während er mit der anderen den Piwafwi zusammenzog, noch ehe er die halbe Drehung vollendet hatte. Während er in eine Verteidigungs haltung ging, ließ er das Rapier vor sich in der Luft tanzen und griff in die Taschen seines Piwafwi. Im Gedächtnis ging er die Bestandteile durch, um einen bestimmten Zauber zu wirken. Gut ein Dutzend Schritte von Pharaun entfernt schloß sich soeben ein blau schimmernder Durchgang – ähnlich dem ext radimensionalen Portal, das er selbst bevorzugt benutzte – und verschwand vor seinen Augen. Unmittelbar davor stand die liebreizende Kreatur, die er während des recht einseitigen Kampfs für einen kurzen Moment gesehen hatte. Die junge Frau lächelte ihn auf eine Weise an, die ihre geschwungenen Augenbrauen unterstrich. Sie stand da und sah ihn an, die Arme unter den vollen Brüsten verschränkt. Sein schwebendes Rapier war für sie offensichtlich von besonderem Interesse.
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»Habe ich Euch erschreckt?« schnurrte sie. Pharaun fand ihre Stimme auf eine wunderbare Weise kehlig. »Nein, das ist schon in Ordnung«, erwiderte der Magier und betrachtete das Scheusal von Kopf bis Fuß. Sie war in schwar zes, hautenges Leder gekleidet, das ihre Kurven unterstrich, und auch wenn bis zu den Oberschenkeln reichende Stiefel und ein Korsett in den Augen des Drow alles andere als prakti sche Reisekleidung war, konnte er die Wirkung des Ensembles nicht leugnen. Er fand, es paßte hervorragend zu ihren Flügeln. »Ich hatte mich schon gefragt, wann Ihr wieder auftauchen würdet«, sagte Pharaun und bemerkte erst auf den zweiten Blick, wie viele Dolche in ihrem Gürtel und in den Stiefel schäften steckten. Der magische Ring, den er an seinem Finger trug, ließ ihn erkennen, daß einer der Dolche und auch das an ihrem rechten Oberschenkel festgemachte Langschwert magi scher Natur waren. Ein Ring, der einen der Finger an ihrer linken Hand schmückte, erregte ebenfalls seine Aufmerksam keit, da er einen starken Schutzzauber ausstrahlte. »Dann habt Ihr mich erwartet! Wie erfreulich!« sagte sie, schlenderte gelangweilt auf den Balkon, setzte sich und lehnte sich zurück, wobei sie sich auf ihren Händen abstützte und eines ihrer langen Beine auf das Geländer legte. Sie schien die Tatsache zu ignorieren, daß das Rapier ihr folgte, während sie umhergegangen war, und sich beständig zwischen ihr und dem Magier hielt. »Ich schätze, das ruiniert meinen großen Auftritt ein wenig, auf der anderen Seite bezweifle ich aber auch, daß ich Euch mit Taschenspielertricks wie den meinen wirklich sonderlich beeindrucken kann.« »Ganz im Gegenteil«, erwiderte Pharaun und setzte sich ei nige Schritte von ihr entfernt hin, ließ jedoch das Rapier wei ter zwischen ihnen schweben. »Es freut mich immer, die Be
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kanntschaft einer gleichgesinnten Anwenderin zu machen. Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie langweilig es sein kann, mit phantasielosen Gefährten zu reisen, die den Unterschied zwi schen einem Erkenntniszauber und einer Anrufung nicht zu schätzen wissen.« Mit einer ausholenden Geste wies er auf seine Begleiter, die sich weit unter ihnen außer Hörweite befanden. Trotz seiner Lässigkeit war Pharaun äußerst wachsam. Er war sicher, daß das Alu-Scheusal ihn genauso kritisch und einschätzend betrachtete, wie er es mit ihr machte. Dement sprechend überlegte er sich genau, was er sagen würde, ehe er den Mund aufmachte. Ganz sicher würde er nichts von sich geben, was ihn später in Schwierigkeiten bringen konnte. Dennoch war er ziemlich sicher, daß sie genau wußte, wo sich seine Begleiter befanden. Indem er darauf hinwies, daß sie sich weiter unten in der Höhle befanden, verriet er ihr wohl kaum etwas, das ihr nicht bekannt war. »Täuscht Euch da mal nicht«, sagte sie und spielte gedan kenverloren mit den Schnüren an der Seite ihres Korsetts. »Ich kann Eure mißliche Lage nur zu gut nachvollziehen. Ihr vergeßt die Kreaturen, mit denen ich normalerweise zu tun habe. Sie können kaum über die nächste Gelegenheit hinaus denken, wann es wieder etwas zu essen oder zu rammeln gibt, von der Komplexität eines guten Zaubers ganz zu schweigen. Aber was soll ein Mädchen wie ich schon dagegen tun?« Als sie geendet hatte, machte sie einen Schmollmund, wie sie ihn vermutlich besser nicht hinbekommen konnte. Zumin dest konnte Pharaun es sich nicht vorstellen. »Ich verstehe«, sagte er amüsiert. »Keine große Auswahl ... rammeln mit diesen Kerlen oder die Suche nach etwas kulti vierterer Unterhaltung. Ich kann Euch nicht verübeln, daß Ihr Euch eine Weile von ihnen entfernt habt.«
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»Ich kann mich nie zu lange von ihnen entfernen«, gab die Dämonin zurück und sah dem Magier in die Augen. »Der eine oder andere von uns könnte in Schwierigkeiten kommen.« Pharaun nickte und bestätigte, daß er die Anspielung ver standen hatte. Dennoch mußte er unwillkürlich grinsen, da es ihn erfreute, sich einem so geistreichen Schlagabtausch hinzu geben. Das war eine weitere Sache, die ihm fehlte, seit er Men zoberranzan verlassen hatte. Nicht nur war den meisten Drow Humor völlig fremd, seine Begleiter schienen sogar noch langweiliger als üblich zu sein, auch wenn das unter den gege benen Umständen nicht völlig überraschend kam. Dennoch waren sie ein wortkarger Haufen. Quenthel klammerte sich viel zu sehr daran, die Führer schaft über die Gruppe zu demonstrieren, als daß sie sich auf einen geistigen Schlagabtausch mit Pharaun einlassen konnte. Faeryl sprach kaum ein Wort, Valas Hune hielt sich nur selten bei der Gruppe auf, und Gespräche mit Jeggred drehten sich immer nur um ein Thema. Pharaun war es schon lange müde geworden, des Draegloths Beteuerungen zu hören, wie gerne er doch seine Gegner in Stücke reißen wollte. Ryld war immer bereiter als die meisten anderen gewesen, sich mit ihm zu un terhalten, doch selbst der Krieger hatte sich während der Reise die meiste Zeit wortkarg gegeben. Abgesehen von ein paar kurzen Diskussionen über Quenthels Methoden hatte das Ge plänkel einfach aufgehört, das immer ein Markenzeichen ihrer Freundschaft gewesen war. Es war nicht so, daß Ryld bloß nicht mehr mit ihm reden wollte, gestand sich Pharaun ein, denn die Beziehung zwischen ihnen war längst nicht mehr so wie zuvor. Wie zuvor, bevor ich ihn während des Aufstands sich selbst und damit fast dem sicheren Tod überlassen habe, fügte der Magier innerlich seufzend an.
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Zwar hatte Ryld anschließend die Entschuldigung des Ma giers angenommen und behauptet, er verstehe die Notwendig keit für sein Handeln, aber in Wahrheit hatte ihre Freund schaft Schaden genommen. Pharaun hatte wegen seiner Entscheidung keine Schuldgefühle. Ihm fehlte aber die Freundschaft. »Ich sagte, es scheinen schwere Gedanken auf Euch zu la sten.« Pharaun erschrak und erkannte, daß das Scheusal während seiner Grübelei mit ihm gesprochen hatte. Als er sich wieder auf sein Gegenüber konzentrierte, bemerkte er, daß das Rapier durch seine Unaufmerksamkeit ein Stück weit zu Boden ge sunken war. Sofort war er wieder hellwach und holte die Waffe zurück in seinen Ring, während er sich ärgerte, daß er so nach lässig gewesen war. Er war zu dem Schluß gekommen, daß das Rapier nicht län ger erforderlich war. Wenn sie ihm etwas hätte antun wollen, dann wäre das gerade die beste Gelegenheit dafür gewesen. Der Magier neigte leicht den Kopf und entschuldigte sich wortlos für sein unangemessenes Verhalten. Das Alu-Scheusal lächelte ihn nur an. »Ihr wollt Euch ganz bestimmt nicht meine Sorgen anhö ren«, sagte er schließlich in heiterem Tonfall. »Ihr habt mir diesen Besuch doch offensichtlich aus einem bestimmten Grund abgestattet.« »Auch da solltet Ihr Euch nicht so sicher sein«, erwiderte sie, stand auf und streckte sich lässig. »Es sind schon recht außergewöhnliche Umstände erforderlich, ehe eine Gruppe Drow sich auf den Weg durch Ammarindar macht ...« »Es ist nichts von wirklicher Tragweite«, warf er ein. »– vor allem eine Meisterin der Akademie und ihr Gefol ge«, fuhr sie fort und ignorierte des Magiers Unterbrechung.
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»Sogar sehr außergewöhnliche Umstände.« Sie sah Pharaun an, versuchte vielleicht, seine Reaktion zu ergründen. Seine Reaktion bestand nur darin, daß er Rücken und Schultern durchdrückte, was ein beachtlich beiläufiges Verhal ten war, wenn er berücksichtigte, wie sehr ihre Worte ihn überrascht hatten. Sie wußte es. Ein Dutzend Gedanken ging ihm gleichzeitig durch den Kopf, Überlegungen, wer sie wohl verraten haben könnte, wer in Menzoberranzan sie auf diese Reise geschickt hatte, um sich ihrer zu entledigen und in die Fänge Kaanyr Vhoks und seiner Dienerschaft zu treiben. Doch es waren Gedanken, die er sogleich wieder verwarf. Das Risiko, daß andere von dem Prob lem der Priesterinnen erfuhren, war bei dieser Methode schlichtweg viel zu groß. Das Scheusal mußte auf andere Weise herausgefunden haben, wer sie waren. Ihr breiter werdendes Lächeln und das Funkeln in ihren grünen Augen verriet ihm, daß er ihre Vermutung bestätigt hatte. »Seid deswegen nicht zu besorgt«, sagte sie lachend. »Euer Geheimnis ist bei uns sicher – wenigstens für den Augen blick«, fügte sie an und war sofort wieder ernst. »Doch das bringt mich zu dem Grund, weshalb ich hier bin. Der Zepter träger, Kaanyr Vhok, der Meister der Geknechteten Legionen, Herr über den Teil des Unterreichs, durch den Ihr Euch derzeit bewegt, möchte Euch zu einer Audienz einladen. Ich bin hier, um diese Einladung zu überbringen.« Fast wie auf ein Stichwort hin ertönte ein Schrei, der ein dumpfes Echo warf. Ohne nachzudenken drehte sich Pharaun um und sah über den Rand des Vorsprungs hinab zum Höhlen boden. Quenthel und die anderen waren dort im Begriff, sich zu einem der unteren Tunnels zu begeben, einem ohne Spitz
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kehren. Valas Hune kam aus der Mündung des Fluchtwegs gerannt, offenbar, um sich der Gruppe anzuschließen. Hinter ihm stürmte eine regelrechte Flutwelle von Tanarukks aus dem Durchgang, und auch aus anderen Tunnels strömten sie in die weitläufige Kammer. Es hatte nur einen kurzen Augenblick gedauert, um diese Szene zu erfassen, doch der hatte dem Scheusal genügt, die Art von magischer Energie auszuweiten, die sie nun ausstrahlte. Er war auf der Hut und erwartete einen Angriff, doch sie regte sich nicht. Nur ihre grünen Augen glimmten, ob allerdings vor Lust oder Wut, vermochte er nicht mit Sicherheit zu sagen. »Ich finde, Ihr solltet mich in den Palast begleiten«, sagte das Scheusal heiser. »Es wird Euch dort sehr gefallen.« Während sie sprach, schlenderte sie auf ihn zu. Pharaun fühlte, wie ihre Energie ihn umspülte, und vermutete, daß sie hoffte, ihn auf magische Weise zu überreden. Er trat einen Schritt zurück und setzte sein bestes bedauerndes Lächeln auf. »Ich fürchte, das wird nichts, jedenfalls nicht jetzt. Meine Gefährten brauchen mich.« Das Lächeln des Scheusals verschwand, und sie schürzte verärgert die Lippen. »Sie sind eingekreist, wißt Ihr«, sagte sie und blieb stehen. »Dies ist, zumindest für den Augenblick, immer noch ein freundliches Angebot. Geht zu ihnen, überzeugt sie, mit mir in Kaanyrs Palast zurückzukehren, dann verspreche ich, daß das Treffen unter den angenehmsten Umständen stattfinden wird. Meine Streitkräfte dort unten haben Anweisung, nur die Stel lung zu halten und Euch sowie Eure Freunde daran zu hindern, sich von hier zu entfernen, bis ich die Gelegenheit hatte, Euch mein Angebot zu unterbreiten. Werdet Ihr das tun?« Pharaun lächelte. »Wie gut kennt Ihr Kaanyr Vhok?« fragte er in suggestivem Tonfall.
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Ihr Lächeln wurde zum breiten Grinsen, und in ihren Au gen funkelte etwas, das zweifelsfrei Lust war. »Sehr gut«, antwortete sie dann. »Andererseits ist er auch immer sehr beschäftigt, so daß ich ihn nicht so gut kenne, wie es mir lieb wäre. Kommt mit.« Nun wurde Pharauns Lächeln breiter, als er fragte: »Wie heißt Ihr?« Das Scheusal kicherte amüsiert und erwiderte: »Ich hätte ja fast vergessen, mich vorzustellen! Aliisza. Werdet Ihr mich nun begleiten?« »Es ist mir ein Vergnügen, Eure Bekanntschaft zu machen. Ich bin Pharaun, und ich würde Euch gerne begleiten. Doch im Moment ruft die Pflicht. Darf ich annehmen, daß wir dort unten auf Widerstand stoßen werden? Oder hat unser Ge spräch Euren Geist so beruhigt, daß wir noch heute ungehin dert aus Ammarindar ausreisen können?« Aliisza grinste: »Ich hatte meine Befehle. Ich sollte Euch nicht kampflos die Grenze überschreiten lassen. Doch ich mache Euch einen Vorschlag. Ich gebe Euch eine faire Chan ce, aber nur, weil ich Euch mag.« Ihre Stimme hatte wieder den heiseren Tonfall angenommen. »Dieses eine Mal werde ich mich heraushalten. Ein paar Hundert Tanarukks werden Euch doch nicht übermäßig viel Mühe machen, oder?« Pharaun legte den Kopf schräg, als würde er über ihre Worte nachdenken, dann antwortete er: »Nun, die Tanarukks werden uns natürlich deutlich mehr behindern, als wenn wir einfach so weiterziehen könnten. Doch wie Ihr selbst sagtet: Es ist eine faire Chance. Bis zu unserer nächsten Begegnung.« Aliisza nickte und lächelte ihn an, dann ließ sich der Ma gier vom Rand des Vorsprungs fallen.
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Auf Valas’ fernen Ruf hin sah Quenthel auf. Bis dahin hatte sie gedankenverloren auf Jeggreds Rücken gestarrt, während sie dem Draegloth durch die riesige Kammer folgte. Sie entdeckte den Späher, der aus der Richtung zurückgeeilt kam, in die er vorausgegangen war, und fast im gleichen Moment entdeckte die Hohepriesterin auch die Tanarukk-Horden, die hinter ihm aus dem Tunnel strömten. Sie fluchte leise, die fünf Schlangen an ihrer Peitsche zuckten in Nachahmung ihres Mißfallens. »Uns ist schon wieder der Weg abgeschnitten worden, Her rin«, zischte K’Sothra. »Vielleicht gibt es noch eine andere Route.« »Nein. Wir sollten von ihrem Fleisch kosten und sie ein für allemal schlagen«, widersprach Zinda, deren langer schwarzer Leib sich begierig nach vorn reckte. »Das reicht«, herrschte Quenthel sie an und ging Valas entgegen. Die Vipern wurden zwar etwas ruhiger, achteten aber nach wie vor darauf, die Umgebung ihrer Herrin zu beobachten und mögliche Gefahren zu erkennen. Die Tanarukks verfolgten den Späher nicht, sondern schwärmten zu einer Verteidigungsformation aus. Es sah so aus, als würden sie sich damit begnügen, darauf zu warten, daß die Dunkelelfen zu ihnen kamen. Um so besser, dachte Quenthel finster. Sollen sie sich ruhig in Reih und Glied aufstellen, dann kann Pharaun sie am wir kungsvollsten dezimieren. »Was haben sie vor?« fragte Faeryl, die neben Quenthel herlief. »Warum verfolgen sie den Mann nicht weiter?« Sie wies auf Valas, der nur noch gut fünfzig Schritt von ih nen entfernt war. »Warum sollten sie?« gab Quenthel zurück und ging mit ausholenden Schritten weiter, um die Distanz zu Valas zu ü
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berwinden. »Aus irgendeinem Grund scheinen sie zu wissen, daß wir in diese Richtung müssen. Offenbar reicht es ihnen, darauf zu warten, daß wir es versuchen.« Faeryl rümpfte die Nase, sagte aber weiter nichts. »Wir sollten zwischen ihnen hindurchmarschieren und sie in Stücke schneiden. Wir sollten durch ihr Blut waten, wenn wir über ihre Leichen steigen«, schlug Jeggred vor, der mühe los mit Quenthel Schritt hielt. Die Meisterin Tier Breches warf dem Draegloth einen Blick zu und sah, wie er sich in freudiger Erwartung die Lippen leck te. »Unsinn«, sagte sie schneidend. »Es gibt keinen Grund, uns die Finger schmutzig zu machen, wenn sie so entgegenkom mend sind, sich nebeneinander aufzustellen, damit Pharaun sie mit ein oder zwei gut plazierten Zaubern erledigen kann. Nicht wahr, Magier?« Als keine Antwort kam, wirbelte Quenthel herum, um ihn zur Rede zu stellen, doch ... er war gar nicht hinter ihr. Nur Ryld war da und hielt mit den beiden Frauen und dem Draegloth Schritt. »Wo beim Abgrund ist dieser verdammte Magier?« knurrte Quenthel Ryld an, der überrascht die Augenbrauen hob und sich dann ebenfalls umsah. »Er war direkt hinter mir«, erwiderte der Krieger und ließ seinen Blick wieder nach oben schweifen, in Richtung des Tunnels, aus dem sie ursprünglich gekommen waren. »Ich weiß nicht ... da!« Der Waffenmeister wies im Weitergehen nach oben, und Quenthel mußte stehenbleiben und sich ganz umdrehen, damit sie sehen konnte, wohin er deutete. Als sie Pharaun sah, mur melte sie ein Schimpfwort. Er war nicht allein. Jemand war bei ihm, eine Frau, die sich mit ihm unterhielt.
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»Wer ist da bei ihm? Was tut er da?« fragte die Hoheprieste rin. Ryld zuckte die Achseln und antwortete: »Ich habe keine Ahnung, Herrin. Ich habe nicht mitbekommen, daß er ste hengeblieben ist.« »Dann schafft ihn auf der Stelle her! Ich brauche ihn«, be fahl Quenthel. Ryld schien protestieren zu wollen, dann aber zuckte er die Achseln, wandte sich ab und lief schnell den Weg entlang zurück, den sie gekommen waren. Als sich Quenthel umdreh te, hatte Valas Hune sie erreicht. »Nun?« fragte sie den Späher. Valas holte tief Luft, um zur Ruhe zu kommen, dann erklär te er: »Sie haben uns erneut den Weg abgeschnitten, und diesmal haben sie sogar dafür gesorgt, daß wir sie nicht umge hen können.« Der Späher wies auf verschiedene andere Ausgänge aus der großen Kammer. Quenthel sah, daß sich auch an den anderen Stellen Tana rukks versammelten, wobei jede Gruppe etwa so groß war wie die, die sich direkt vor ihnen befand. Sie rotteten sich auf den Rampen und den Vorsprüngen vor den Tunnelausgängen zusammen. Es war nicht zu übersehen, daß sie vorhatten, die Drow am Weiterkommen zu hindern und zur Umkehr zu zwin gen. »Offenbar sind sie nicht gekommen, um uns anzugreifen«, dachte sie laut. »Also müssen sie etwas anderes wollen.« »Vielleicht kann ich das erklären«, sagte Pharaun, der aus einem schimmernden blauen Portal herauskommend Gestalt annahm, das nur wenige Meter vor ihr in der Luft entstanden war und sich sofort wieder schloß, während der Magier seinen Piwafwi ordnete und seinen Rucksack zurechtrückte. »Wir sind
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von Kaanyr Vhok, dem Herrn über diese Gesellen, zu einem Gespräch eingeladen worden.« »Was redet Ihr da? Wer war die Frau, mit der Ihr dort oben gesprochen habt?« wollte Quenthel wissen, wütend darüber, wie von sich selbst eingenommen dieser Pharaun ständig war. Die Tatsache, daß er noch immer ungehindert von seiner Magie Gebrauch machen konnte, während ihr das weiterhin verwehrt blieb, reizte sie ununterbrochen. Auch wenn er nie ein Wort darüber verlor, wußte sie, daß er es liebte, bei jeder sich bietenden Gelegenheit damit zu prahlen. Was das ganze noch schlimmer machte, war die Tatsache, daß er entschlossen zu sein schien, ihr gegenüber unerschütterliche Höflichkeit an den Tag zu legen. Mißtrauisch kniff sie die Augen zusammen, weil sie sicher war, daß er irgend etwas wollte. »Wir dachten schon, Ihr wärt in Schwierigkeiten. Ich habe Ryld losgeschickt, um nach Euch zu sehen«, sagte Quenthel und wies mit einem Finger auf den Waffenmeister, der sich bereits ein beträchtliches Stück entfernt hatte. »Jetzt darf ich auch noch Jeggred losschicken, damit er ihn zurückholt. Aber Ihr werdet bleiben und mir erklären, was das alles eigentlich soll!« Ehe die Hohepriesterin aber dem Draegloth ihren Auftrag erteilen konnte, sagte Pharaun rasch: »Das ist nicht nötig. Wenn Ihr gestattet.« Der Magier drehte sich so, daß er Ryld sehen konnte, dann wies er mit dem Finger auf ihn und flüster te: »Ryld, mein guter Freund. Ich weiß deine Sorge um mich zu schätzen, aber mir geht es gut, und ich stehe hier bei unseren geschätzten Gefährten. Du kannst die Suche abbrechen und zurückkommen.« Quenthel sah, wie der Krieger in einiger Entfernung ste henblieb und sich aufrichtete. Noch während Pharaun sprach, drehte Ryld sich um und schien konsterniert den Kopf zu
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schütteln. Quenthel dachte einen Moment lang, sie könne ihn seufzen hören, doch natürlich war es nicht mehr als ein Flüs tern. Als der Magier zu Ende gesprochen hatte, befand sich Ryld längst wieder auf dem Rückweg. »Sehr clever, Magier«, sagte Quenthel und biß die Zähne zusammen. »Warum seid Ihr nicht anderweitig genauso nütz lich und sagt mir endlich, was Ihr da oben gemacht habt?« »Selbstverständlich. Das war Aliisza, eine charmante und recht gesellige Repräsentantin Meister Vhoks. Sie hatte sich in den Schatten aufgehalten, als wir ihnen« – mit einer ausho lenden Geste wies er auf die Tanarukks – »im letzten Tunnel begegneten. Sie unterstehen ihr, und sie untersteht Vhok.« »Das ist ja wirklich sehr interessant«, meinte Quenthel und verschränkte die Arme. »Worüber habt Ihr Euch so lange mit ihr unterhalten? Ihr seid Euch doch nicht zufälligerweise mit ihr in irgendeiner Weise einig geworden, oder?« Pharaun wirkte zutiefst getroffen und erwiderte: »Ho hepriesterin, ich war nur so höflich, mir anzuhören, was sie zu sagen hatte. Ich konnte ihr natürlich keine verbindliche Ant wort geben, ohne mit Euch Rücksprache zu halten. Ich ahnte zwar bereits, wie Eure Antwort lauten würde, noch bevor ich die Einladung erwähnte. Ich würde jedoch sträflich meine Pflichten vernachlässigen, wenn ich nicht zumindest die Bot schaft überbrächte.« »Wohl wahr«, sagte Quenthel. Sie wußte nur zu gut, daß der schillernde Magier vor ihr keine Sekunde zögern würde, sie und den Rest der Gruppe zu hintergehen, wenn er sich davon einen ausreichenden Nutzen versprach. »Interessant, daß sie ausgerechnet Euch auswählte, für sie den Boten zu spielen.« Pharaun verzog das Gesicht. »Wir teilen eine, äh ... Vorliebe für die arkanen Künste«, sagte er schließlich. »Wir haben uns einige Augenblicke ange
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regt darüber unterhalten, wie schwierig es ist, mit Leuten zu reisen, die diese Vorliebe nicht teilen.« Quenthel schnaubte. »Ich bin sicher, Ihr wart an mehr als nur ihren Magierfähigkeiten interessiert.« Das Grinsen in Pharauns Gesicht veränderte sich nicht, doch sein Blick wurde eine winzige Spur härter. Gut, dachte sie. Halt ihm vor Augen, daß du ihn durchschaust. »Nun gut«, fuhr sie fort. »Wir werden gewiß nicht mit die sen Rohlingen zu Vhok gehen. Die Frage lautet also: Wie bah nen wir uns einen Weg zwischen ihnen hindurch?« »Es gibt keine Route an ihnen vorbei«, sagte Valas Hune. »Es sei denn, die Botschafterin kennt sich hier aus und kennt einen anderen Weg, den wir einschlagen können.« Sein Blick wanderte zu Faeryl. Die Zauvirr-Priesterin schüttelte nur den Kopf. »Wir sind noch immer zu weit von den Randbezirken Ched Nasads entfernt, als daß ich irgend etwas mit absoluter Sicher heit wiedererkennen würde«, erwiderte sie. »Dann müssen wir sie töten«, verkündete Jeggred. »Laßt mich gegen sie antreten, Herrin, damit ich Euch einen Pfad bahnen kann.« »Das ist nicht nötig, auch wenn es dir großen Spaß bereiten würde. Pharaun wird uns diesen Pfad schaffen.« Der Magier grinste und sagte: »Ich wüßte ein oder zwei Zauber, die uns den Weg zum Tunnel bahnen werden. Aliisza hat mir zugesichert, daß sie als Zeichen ihrer Fairneß nicht eingreifen wird. Diese Kreaturen zu töten dürfte ein Kinder spiel sein.« »Das interessiert mich nicht. Sorgt dafür, daß wir freie Bahn haben«, wies Quenthel ihn an. »Wie Ihr wollt«, sagte er und bewegte sich auf die Tana rukks zu, während er zu einem Zauber ansetzte.
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Aliisza war sich nicht sicher, wie Kaanyr ihre jüngste Neuig keit aufnehmen würde, doch das ließ sie nicht langsamer vo ranschreiten. Es war Unsinn, ihm die Nachricht mit Verspä tung zu überbringen, also konnte sie es auch sofort hinter sich bringen und sich dann anderen, interessanteren Dingen wid men. Außerdem war sie nicht wirklich besorgt, was die mögli che Verärgerung des Cambion anging. Von Zeit zu Zeit ging sein Temperament mit ihm durch, aber er wußte nur zu gut, daß er seine Wut nicht gegen sie richten sollte. Egal wie heftig er reagieren würde – sie hatte bereits eine Idee, wie sie ihn würde besänftigen können und dabei auch noch ihren Spaß haben würde. Als sie den Thronsaal betrat, erwartete Aliisza, Vhok auf seinem Thron vorzufinden, doch das war nicht der Fall. Statt dessen ging er davor auf und ab, was bedeutete, daß er sich mit
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einer ernsten, unerfreulichen Angelegenheit befaßte. Das AluScheusal hatte eine Ahnung, um was es sich dabei handelte. »Gibt es Neues darüber, was die Duergar-Horde macht?« fragte sie beim Näherkommen. Vhok unterbrach seinen Gedankengang, blickte auf und schien einen Moment lang einfach durch sie hindurchzusehen, dann sagte er: »Das einzige, was ich bislang herausfinden konnte, ist, daß sie offenbar derzeit nicht in diese Richtung unterwegs sind. Das ist gut.« »Gut? Wieso?« fragte Aliisza und setzte sich auf die oberste Stufe des Podests. »Ich dachte, dir gefalle die Vorstellung, den Legionen etwas zu tun zu geben. Du hast selbst noch vor kur zem gesagt, es sei in letzter Zeit so langweilig ...« »Weil ganz eindeutig etwas Großes im Gange ist«, unter brach Kaanyr sie, »und weil sie dafür verantwortlich sind, daß die Patrouille im Nordosten ausgelöscht wurde.« Aliisza hatte sich soeben räkeln wollen, da sie hoffte, Kaa nyr einen Moment lang von diesem ernsten Thema ablenken und etwas romantischer stimmen zu können. Statt dessen blieb sie gerade sitzen. »Das war nicht einfach nur eine umherziehende DuergarBande«, fuhr Vhok fort. »Es waren professionelle Söldner. Der Xornbane-Clan, wenn die Indizien zutreffend sind. Die gehen nirgends hin, ohne daß beträchtliche Mengen an Münzen den Besitzer wechseln und große Schlachten vorbereitet werden.« Aliisza schürzte nachdenklich die Lippen. »Wenn sie nicht gegen uns vorgehen«, überlegte sie, »ge gen wen dann?« »Ich habe zwar schon eine Vermutung, allerdings hatte ich gehofft, du würdest mir das sagen können«, entgegnete Kaanyr und sah hinunter zu dem Alu-Scheusal. »Wo sind meine Gäs te?«
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Aliisza wich seinem Blick aus. »Es war mir unmöglich, sie davon zu überzeugen, mich hierher zu begleiten«, sagte sie vorsichtig. »Nachdem sie mei ne Patrouille so mühelos besiegt hatten, hielt ich es nicht für ratsam, die Angelegenheit so direkt zu verfolgen.« »Besiegt? Aufgerieben wäre wohl zutreffender.« Kaanyrs Tonfall war bedächtig, und Aliisza merkte, daß er ungehalten war. Er wußte es also schon, ja? Spioniert er mir neuerdings nach? Sie war froh, daß sie so offen auf den Punkt gekommen war. Es war verlockend gewesen, die Wahrheit ein wenig zu versü ßen und ihm zu erzählen, die Tanarukks hätten ihre Anwei sungen nicht befolgt. Aber letztlich hatte sie irgend etwas doch dazu gebracht, sich Vhok gegenüber etwas vorsichtiger zu verhalten. »Sie sind vortrefflich«, antwortete sie schließlich. »Der Ma gier, der sie begleitet, ist ... interessant. Mit ihm sprach ich, und er war es auch eindeutig, der die Legionen niedergemäht hat. Drow sind grundsätzlich hervorragende Gegner, und ich habe den taktischen Fehler gemacht, sie in einer so großen Kammer in einen Kampf verwickeln zu wollen. Es war für sie kein Problem, den Geknechteten zu entkommen, indem sie sich kurzerhand in die Lüfte erhoben. Pharaun mußte sich nicht anstrengen, um die Truppen zu vernichten.« »Ich bin sicher, du hast dein bestes gegeben«, sagte Kaanyr und machte eine wegwerfende Handbewegung. Aliisza reagier te mit einem finsteren Blick auf die Beleidigung, sagte aber nichts. »Es ist wohl auch egal. Wie es scheint, wollen die Duergar wohl unbedingt nach Ched Nasad gelangen, wohin unsere kleine Besuchergruppe offenbar auch will. Wir konnten sie nicht davon abhalten, ansonsten hätten wir die gesamte Macht der Geknechteten Legionen und noch einige deiner
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Schwestern ins Spiel bringen müssen.« »Ich habe noch ein paar Dinge erfahren«, erklärte Aliisza, die bereit war, ihre Idee Vhok schmackhaft zu machen. »Es handelt sich bei fast allen um hochrangige Adlige aus Menzoberranzan, nicht nur bei der Priesterin. Pharaun ist mächtig genug, um ein Mitglied, vielleicht sogar ein Magier Sorceres zu sein. Einige der Dinge, die er sagte, überzeugten mich davon, daß auch die meis ten anderen einen ähnlichen Rang haben müssen.« »Das ist alles sehr interessant. Aber wahrscheinlich hätte ich das bereits aus der Tatsache abgeleitet, daß sich die Herrin der Akademie überhaupt erst mit einer so kleinen Gruppe auf den Weg macht. Deshalb weiß ich aber noch immer nicht, was sie vorhaben. Die Antwort darauf ließe sich leichter finden, wenn wir wüßten, warum die Grauen auf einem Feldzug un terwegs sind.« »Eine ungefähre Vorstellung davon habe ich«, sagte Aliisza und hatte damit den entscheidenden Augenblick erreicht. Sie fragte sich, ob Vhok mit ihrem Plan einverstanden sein oder einen anderen damit beauftragen würde. »Was immer sie auch vorhaben, wenn sie Ched Nasad erreicht haben, sie alle wirk ten sehr ernst und sehr besorgt. Aber ich möchte wetten, daß sie nicht die einzigen Drow sind, die wissen, was los ist. Wie wäre es also, wenn ich nach Ched Nasad schleiche und mich dort ein wenig umsehe?« Kaanyr sah Aliisza eine Weile an, bis sie nicht mehr sicher war, ob er über ihren Vorschlag nachdachte oder sie einfach nur betrachtete, um herauszufinden, ob sie irgendeine Absicht mit ihrer Idee verband. Natürlich hatte sie nur vor zu tun, was sie gesagt hatte, also gab es für ihn keinen Grund, ihr nicht zu vertrauen. Aber wenn sie bei der Gelegenheit noch ein wenig Vergnügen für sich selbst dabei herausholen konnte, dann tat das doch schließlich niemandem weh, nicht wahr? Sie mußte
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für eine Weile von Ammarindar und Vhok wegkommen, sie brauchte Urlaub und Erholung, und vielleicht würde es ihm sogar gut tun, wenn er eine Zeitlang auf sie verzichten mußte. »Also gut«, stimmte er schließlich zu und entlockte dem Alu-Scheusal ein breites Grinsen, da sie ihre Freude nicht schnell genug unter Kontrolle bringen konnte. »Sieh zu, was du herausfindest. Vor allem will ich, daß du Aunrae besuchst. Wenn wirklich etwas im Gang ist, dann werden die Mutter matronen davon wissen. Ich will, daß meine Beziehung zu ihr wenigstens für den Augenblick unverändert bleibt, also sei höflich und halte mich auf dem laufenden. Ich will dich nicht suchen kommen müssen, um zu erfahren, was du herausgefun den hast.« Aliisza nickte, während sie aufstand und zur Tür ging. »Das werde ich«, versprach sie und überlegte bereits, wel che Art von Tarnung sie wählen sollte.
Als Khorrl merkte, wie der Wagen endlich zum Stehen kam, hätte er fast laut aufgestöhnt. Seine Beine schmerzten, da er sich die ganze Zeit über hinter einem Berg Vorräte versteckt hatte. Er würde es nicht mehr viel länger aushalten können, und er betete zu Laduguer, daß die Reise nun wirklich hinter ihm lag. Er konnte sich nicht vorstellen, es auch nur noch wenige Minuten in dieser gebückten Haltung auszuhalten. Die Plane, die über dem Wagen lag, wurde zurückgeworfen, und ein schwacher Lichtschein fiel auf die Waren, die darunter aufeinandergestapelt worden waren. Für jeden, der nicht ge nauer hinsah, sollte es auch genau danach aussehen: nach einer Wagenladung Vorräte für die Stadt. Khorrl wartete und lauschte, wagte aber nicht, sich zu bewegen, da sie möglicher weise nur an einem weiteren Kontrollpunkt angehalten hat
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ten. Er wollte nicht einmal atmen, da er fürchtete, daß deroder dasjenige, das den Wagen inspizierte, ihn hören könnte. »Es ist in Ordnung«, hörte er eine Drowstimme sagen und erkannte, daß es sich um Zammzt handelte. Der Drow war nahe genug, um keinen Zweifel daran aufkommen zu lassen, mit wem er sprach. »Ihr könnt Euch zeigen. Wir sind im La gerhaus.« Dankbar aufstöhnend erhob sich Khorrl und spürte, wie sich seine Knie beklagten. Um ihn herum taten es ihm vierzehn andere Duergar nach, die einer nach dem anderen wieder sichtbar wurden. Sie sahen einander an, als wollten sie sicher gehen, daß es ihnen gutging, dann richteten sie ihre Aufmerk samkeit auf die Umgebung. Khorrl sprang ungelenk vom Wa gen und hielt dabei seine Axt fest. Ringsum wurden bei weiteren Wagen die Planen umgeschlagen, und weitere Kämp fer tauchten zwischen Kisten, Fässern und Ballen von Lebens mitteln auf. Er wußte, daß es insgesamt über zwanzig Wagen waren, womit er über 300 Mann verfügte. Im Lauf der nächs ten Stunden würden weitere Leute in mehreren Wellen folgen. Wie Zammzt versprochen hatte, befanden sie sich in einem großen, weitläufigen Gebäude, einer Art Lagerhaus, in dem sich allerdings nichts außer den Waren befand, die auf den Wagen hergebracht worden waren. Dem Anschein nach han delte es sich um Waren, die für die Häuser bestimmt waren, aber in Wahrheit waren es die Vorräte seiner Armee. Sie wür den hier für einige Tage ihr Lager aufschlagen, sich ausruhen und sich vorbereiten, während nach und nach die anderen Duergar-Einheiten eintrafen, die alle darauf warteten, zur Tat zu schreiten. Khorrl hoffte nur, es würde sich wie zugesagt wirklich niemand in den Lagerhäusern umsehen. Eine Handvoll Drow lief umher und deckte die Wagen ab, um die versteckten Passagiere zu befreien und die Vorräte
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abzuladen, die in einer Ecke gestapelt wurden, wo sie nieman dem im Weg waren. Khorrl sah Zammzt, der bei einigen Wa gen stehenblieb und hin und wieder den jungen Drow Anwei sungen erteilte. Als der Drow damit fertig war, wandte er sich wieder dem Anführer des Duergar-Clans zu. »Ich hoffe, Ihr findet alles so vor, wie Ihr es erwartet habt, Hauptmann Xornbane«, lächelte Zammzt. »Ich weiß, daß es nicht mit einem Lager in der Wildnis des Unterreichs ver gleichbar ist, aber Ihr solltet Euch hier gut einrichten können.« »Es ist in Ordnung, solange niemand Unerwünschtes kommt und sich hier umsieht, bevor wir einsatzbereit sind. Das Letzte, was wir gebrauchen können, ist, daß jemand in der Stadt von unserer Anwesenheit erfährt, ehe Eure Herrin bereit ist, ihre wahre Loyalität zu zeigen.« Khorrl lief hin und her, während er sprach. Er versuchte, wieder Gefühl in seine Beine zurückkehren zu lassen, gleichzei tig aber begutachtete er auch das vorübergehende Zuhause. »Ich möchte stark bezweifeln, daß das ein Problem werden könnte«, erwiderte Zammzt und lächelte weiter. Am liebsten hätte Khorrl ihm befohlen, endlich damit aufzuhören, da das breite Grinsen den Duergar an das Gesicht einer Packechse erinnerte. »Loyale Drow-Truppen bewachen zu allen Seiten das Lagerhaus, und Ihr seid hier im hintersten Raum unterge bracht. Niemand wird Euch belästigen.« »Wenn Ihr meint«, gab Khorrl zweifelnd zurück. Er hatte mehr als einmal erlebt, daß eine Schlacht eine Wendung zum Schlechten nahm, weil der einfachste und offensichtlichste Teil des Plans schiefgegangen war. »Vergeßt eines nicht: All die schönen Schätze, die Ihr mir gegeben habt, sind längst an einem sichereren Ort. Wenn Ihr es Euch jetzt anders überlegt, dann werdet Ihr sie niemals wiedersehen. Das wäre ein kost spieliger Verrat.«
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Für einen kurzen Augenblick tat Zammzt, als hätten ihn die Worte zutiefst getroffen. »Ich bin nicht sicher, ob Euch klar ist, welche Risiken mei ne Herrin eingeht, indem sie allein schon hier eine Armee versteckt«, sagte der Drow. »Wenn man Euch entdeckt, wird auch sie die Folgen tragen müssen. Ihr müßt wissen, daß es nicht in ihrem Interesse wäre, sich gegen Euch zu stellen.« »Hmm«, machte Khorrl. »Wir werden sehen.« »Dann darf ich annehmen, Ihr habt alles mitgebracht, was Ihr braucht«, wechselte der Drow das Thema. »Wenn Ihr aber noch irgend etwas benötigt, solange Ihr hier wartet, dann müßt Ihr das jetzt sagen. Wenn ich allerdings bedenke, was wir Euch zahlen ...« Khorrl mußte bellend lachen. Der Gedanke, er könnte seine Truppen in eine so unsichere Situation führen, ohne sich um Vorräte und alle anderen Aspekte zu kümmern, war zu witzig. »Wir haben, was wir brauchen. Wann werden wir denn er fahren, wen genau wir töten sollen?« »Bald, mein grauer Freund«, sagte Zammzt und grinste so breit, daß er die Zähne bleckte. »Sehr bald.«
Letztlich war die Schlacht gegen die Tanarukks gar nicht wirk lich ein Kampf gewesen. Pharaun hatte aus der Entfernung Reihe um Reihe der sabbernden Humanoiden verheert und sogar die Reservestreitkräfte dezimiert, die sich im Hintergrund gehalten hatten. Er mußte ehrlich sagen, daß er an dem ganzen nichts als wirklich fair empfand, vor allem, da er außer Reich weite über den Tanarukks schweben und sie nach Belieben angreifen konnte. Die Menzoberranzanyr hatten die Hallen Ammarindars be reits weit hinter sich gelassen und waren nach einer Ruhepau
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se von einer Nacht weiter auf dem Weg nach Ched Nasad. »Wir hätten schon längst auf eine Patrouille stoßen müs sen«, murmelte Faeryl, während sie mit zügigen Schritten marschierten. »Wir sind nur noch 400 Meter von der Stadt entfernt. Da stimmt etwas nicht.« »Das wußten wir schon, bevor wir aus Menzoberranzan auf gebrochen sind«, gab Quenthel barsch zurück. Die Gruppe befand sich auf der Hauptroute, die von Nor den her in die Stadt führte. Jeder von ihnen fragte sich, wann sie denn endlich die Außenbezirke der Stadt erreichen wür den, jenes Gebiet, das von Patrouillen bewacht wurde. Pha raun konnte Faeryl nicht verdenken, daß sie besorgt war. Auch nachdem sie etliche Zehntage lang in Sorge um ihre Heimat stadt gewesen war, konnte er sich vorstellen, daß sie immer noch gehofft hatte, bei ihrer Ankunft alles in bester Ordnung vorzufinden. Dennoch bezweifelte er nach wie vor, daß die Stadt von einer Katastrophe heimgesucht worden war. Zwar hatten sie noch keine Patrouillen entdecken können, aber sie waren auch nicht mehr allein unterwegs. Der Verkehr von und nach Ched Nasad stellte jedoch nach Aussage der Botschafterin nur einen Bruchteil des üblichen Aufkommens dar, was Pharaun nicht anzweifelte. Die Straße, auf der sie unterwegs waren, war breit genug, um mehreren Karawanen nebeneinander Platz zu bieten, doch an diesem Tag war kein einziger derartiger Konvoi zu sehen. Es waren vorwiegend einzelne Drow unterwegs, manchmal auch ein Duergar, Kobold oder Goblin. Die niederen Wesen machten um die Drow einen weiten Bogen. Die Fußgänger, die auf dem Weg in die Stadt waren, gingen genausoweit verstreut wie die, die aus der Stadt kamen, so daß Pharaun und seine Gefährten weder von jemandem direkt passiert wurden noch jemanden unmittelbar passierten.
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Schließlich unternahm der Magier einen taktvollen Ver such, einen Vorschlag zu unterbreiten, der ihm seit einiger Zeit durch den Kopf ging: »Quenthel, wenn hier etwas Ähnliches geschehen ist wie bei uns, dann wäre es vielleicht ratsam, et was unauffälliger in die Stadt zu gehen.« »Was soll das heißen?« fragte die Hohepriesterin und warf Pharaun einen stechenden Blick zu. »Ich will damit sagen, wenn wir forsch auftreten und unse ren Rang und unsere Absichten kundtun, werden wir viel leicht nicht so freundlich empfangen wie unter normalen Um ständen?« »Warum sollten sie nicht froh sein, uns zu sehen? Geradezu erleichtert?« Es klang, als werde Quenthel ungehalten, was es Pharaun um so schwerer machte, einen Weg zu finden, sein Argument auf eine Weise vorzutragen, die nicht nach einer Beleidigung klang. Faeryl nahm ihm das ab. »Weil sie glauben könnten, wir seien gekommen, um sie auszuspionieren«, sagte sie. Pharaun unterdrückte ein leises Lachen. Immerhin war das genau der Verdacht gewesen, den Triel zum Anlaß genommen hatte, die Gesandte in Menzoberranzan gefangennehmen zu lassen. Es war ein Argument, das sich nicht aus der Luft gegrif fen anhörte. »Nicht, wenn wir von Anfang an darauf bestehen, mit den Muttermatronen der wichtigsten Häuser zu sprechen und ...«, begann Quenthel. »Bei allem Respekt, Herrin«, warf Faeryl ein, »aber glaubt Ihr etwa, Ihr würdet erfreut darauf reagieren, wenn eine hoch rangige Adlige in Menzoberranzan eintrifft und darauf besteht, mit Euch zu reden? In einer solchen Krise?«
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Quenthel warf ihr einen finsteren Blick zu, erwiderte aber nichts. Pharaun war erleichtert, daß die Hohepriesterin sich die Idee wenigstens durch den Kopf gehen lassen wollte. »Selbst wenn sie uns nicht für Spione halten, würde man unseren Besuch als höchst ungewöhnlich erachten und be müht sein, ein Auge auf uns zu haben«, ergänzte der Magier. »Man würde uns die bequemsten Unterkünfte und die beste Verpflegung zur Verfügung stellen, doch wir wären auch nicht in der Lage, irgend etwas herauszufinden. Wenn wir uns erst einmal einen Überblick über die Lage verschafft haben und es wirklich Eure Absicht ist, die in den Lagerhäusern unterge brachten Waren für Euch zu beanspruchen, warum sollen wir dann unnötig Aufmerksamkeit erregen? Hattet Ihr denn vor, die Muttermatronen darum zu bitten, sie Euch auszuhändi gen?« Quenthel machte eine finstere Miene und sah Pharaun an, als sei der Gedanke anmaßend, jemanden um Erlaubnis zu bitten, sich das nehmen zu dürfen, was ihr rechtmäßig zustand. Das war genau die Reaktion gewesen, die er hatte erzielen wollen. »Faeryl«, bohrte der Magier nach, »auch wenn diese Waren das rechtmäßige Eigentum der Häuser Baenre und Melarn sind, könnt Ihr Euch vorstellen, daß die Muttermatrone Melarn oder die eines anderen Hauses sie aus der Stadt bringen läßt?« Faeryl lächelte. »Auf keinen Fall«, erwiderte sie. »Ich bin mir nicht sicher, wie erfreut meine eigene Mutter darüber wäre, von Eurem Plan zu erfahren. Ich bin mit Pharaun einer Meinung. Je weniger Ihr sagt, desto größer sind Eure Chancen auf einen Erfolg.« »Eure Argumente sind nicht ganz von der Hand zu weisen«, erwiderte Quenthel. »Was schlagt Ihr vor? Wie kommen wir in die Stadt?«
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»Als Händler, Herrin«, schlug Faeryl vor. »Als Angehörige der Handelsgesellschaft der Schwarzen Klaue. Triel selbst hat gesagt, wir seien hier, um hinsichtlich der finanziellen Interessen des Hauses Baenre Nachforschungen anzustellen und um he rauszufinden, wie weit das Problem bereits um sich gegriffen hat. Es ist also aus einem bestimmten Blickwinkel die Wahrheit.« »Wir sehen nicht gerade wie Händler aus«, sagte Valas, der ein Stück vor den anderen hertrottete. »Vielleicht sollte Pha raun einen Illusionszauber wirken, um unser Aussehen zu tar nen.« »Nein«, erwiderte Faeryl. »Die Wachen Ched Nasads sind ausgerüstet, um darauf zu achten. Sie verwenden Ortungszau ber und -geräte, um festzustellen, ob man versucht, sich un sichtbar oder getarnt an ihnen vorbeizuschleichen. Es ist auch nicht erforderlich. Ihr wärt erstaunt, wenn Ihr wüßtet, was für Leibwächter manche wohlhabende Händlerin zu ihrem Schutz beschäftigt. Ich bin Angehörige eines Handelshauses. Wenn ich den Wachen sage, Ihr seid meine Eskorte und sie mein Haus-Emblem sehen, dann sollte es keine Probleme geben. Doch Ihr müßt Eure Embleme abnehmen, man würde sie zu leicht erkennen.« »Würdet Ihr jemanden wie ihn beschäftigen?« fragte Quenthel und wies auf Jeggred. Faeryl runzelte die Stirn und erwiderte: »Er könnte ein Problem darstellen.« »Überlaßt ihn mir«, warf Pharaun ein. »Ich habe noch ein paar Tricks auf Lager. Ich kann sie einsetzen, damit Jeggred die Patrouillen passieren und in die Stadt gelangen kann, ohne aufzufallen. Vorausgesetzt natürlich, er kooperiert.« Quenthel sah Jeggred an und fragte ihn: »Kannst du ruhig bleiben und nicht zu versuchen, jedem die Kehle aufschlitzen zu wollen?«
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Jeggred betrachtete die Hohepriesterin mißtrauisch, nickte aber. »Ich bin zu Finesse fähig, wenn es nötig ist, Meisterin«, pol terte er. Ganz bestimmt, dachte Pharaun. »Sehr gut«, erklärte Quenthel nach einem Augenblick des Nachdenkens. »Wir werden inkognito in die Stadt gehen. Nehmt Eure Embleme ab und versucht, ... bürgerlich auszuse hen.« Alle bis auf Faeryl nahmen die Broschen ihrer Häuser ab und begannen, so viel wie möglich von ihrer besseren Ausrüs tung zu verbergen. »Pharaun«, sagte Quenthel dann und wies mit einem Kopf nicken auf Jeggred. »Tut, was Ihr tun müßt.« »Zuerst werde ich dich ein wenig kleiner machen, damit du nicht so schnell ins Auge fällst«, erklärte der Magier mit Blick auf die acht Fuß große Kreatur. »Das macht dir doch nichts aus, oder?« Jeggred brummte und sah Pharaun finster an, aber auf eine winzige Geste Quenthels hin nickte er zustimmend. »Gut«, fuhr Pharaun fort. »Danach werde ich dich mit ei nem Zauber tarnen, der jene Erkenntniszauber ablenkt, die die Patrouillen sehr wahrscheinlich einsetzen. Wenn du dann noch deinen Piwafwi umlegst, die Kapuze überziehst und dich im Hintergrund aufhältst, sollten wir ohne Probleme durchgelassen werden.« »Das sollte reichen«, stimmte Faeryl ihm zu. »Na gut, dann wollen wir mal«, sagte Pharaun, zog eine Pri se Eisenstaub aus einer seiner vielen Taschen und begann zu gestikulieren. Der Draegloth begann zu schrumpfen, bis er so groß war wie ein Drow.
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»Gut«, erklärte Pharaun und setzte zum zweiten Zauber an. Als er damit fertig war, trat er einen Schritt zurück und meinte: »Jetzt leg dir deinen Piwafwi um, damit von dir so wenig wie möglich zu erkennen ist.« »Genau, und stütz dich bei Ryld auf, als seiest du verletzt«, wies Quenthel ihn an. »Halt den Kopf gesenkt, als seiest du erschöpft.« »Eine gute Idee«, sagte Pharaun angenehm überrascht. »Wir sind erschöpfte Händler, die nur zwei Dinge wollen: ein heißes Bad und ein bequemes Bett.« »Gerade rechtzeitig«, warf Valas Hune mit gesenkter Stim me ein. »Vor uns kann ich eine Patrouille ausmachen.« Pharaun spähte in die Ferne und entdeckte eine große Gruppe Drow, manche zu Fuß, manche auf Reitechsen, die sich ihnen näherten und die volle Breite der Straße beschritten, damit ihnen niemand entgehen konnte. »Bewahrt die Ruhe und laßt mich mit ihnen reden«, flüster te Faeryl. Die Gruppe begann, auf die Patrouille zuzugehen, wobei sich Ryld im Hintergrund hielt und so tat, als stütze er den humpelnden Jeggred. Pharaun konnte sich vorstellen, wie sehr der Krieger diesen Plan haßte. Egal, dachte er. Wir sollten eigentlich keine Probleme ha ben, an den Wachen vorbei in die Stadt zu gelangen. Wir sind einfach nur Drow auf dem Weg in eine Drow-Stadt. Warum sollten wir Ärger wollen? Als die beiden Gruppen einander immer näherkamen, grif fen die Männer der Patrouille zu ihren Waffen und wurden langsamer, ganz offensichtlich zum Losschlagen bereit, wenn es Schwierigkeiten geben sollte. Einer von ihnen, den Pharaun für den Anführer hielt, kam noch einige Schritte näher und streckte ihm mit der Innenfläche nach vorn die Hand entgegen.
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»Halt«, sagte er und bedeutete der Gruppe, stehenzublei ben. »Nennt Euren Namen und sagt, was Ihr wollt.« Faeryl ging an Valas Hune vorbei, um wenige Schritte vor dem Anführer der Gruppe stehenzubleiben. »Ich bin Faeryl Zauvirr vom Haus Zauvirr, Leitende Unter händlerin für die Handelsgesellschaft der Schwarzen Klaue.« Sie nahm ihr Emblem ab und hielt es dem Patrouillenanführer hin, damit er es nehmen und genauer betrachten konnte, wenn er wollte. »Dies sind die Wachen meiner Karawane.« Der Sergeant – oder welchen Dienstgrad er auch bekleiden mochte – trat ebenfalls vor und nahm das Emblem, das er einem Untergebenen gab, während er Faeryl und die anderen genau betrachtete. »Karawane? Welche Karawane? Mindestens seit den letzten sechs Zehntagen sind keine Waren in die Stadt oder aus ihr herausgebracht worden.« Faeryl nickte. »Ich weiß. Wir sind erst vor kurzem aus Men zoberranzan aufgebrochen, aber die Waren, die wir mit uns führten, haben wir bei einem Angriff verloren.« Mit einer Kopfbewegung wies sie hinter sich auf Ryld und Jeggred, um auf den verletzten Begleiter hinzuweisen, allerdings mit einem Ausdruck, der besagte, daß die beiden nicht weiter wichtig waren. Der Drow-Soldat vor ihr sah einen kurzen Moment lang ü ber ihre Schulter, dann nickte er und wandte ihr wieder seine Aufmerksamkeit zu. »Wir wollen Bericht erstatten und für ein paar Tage etwas Zivilisation genießen«, fuhr sie fort und ver lieh ihrer Stimme einen erschöpft klingenden Tonfall. Gut, dachte Pharaun. Sag ihnen soviel von der Wahrheit, daß es vernünftig klingt, ohne etwas einzugestehen. »Wer hat Euch angegriffen?« fragte der Anführer. Sein Stellvertreter gab ihm mit knappem Nicken das Emb
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lem zurück. Offenbar hatte es die Begutachtung überstanden, da es sofort an Faeryl weitergereicht wurde. »Was geht Euch das an?« fragte Quenthel mürrisch. »Ist es eine Angewohnheit von Euch, Karawanen derart zu verhö ren?« »Tanarukks«, warf Pharaun ein, ging dazwischen und legte eine Hand auf Quenthels Arm. »Sie haßt Tanarukks. Sie ist die ganze Zeit schon schlechtgelaunt. Eine gute Tiefenge websmassage wird Wunder wirken.« Der Meister Sorceres spürte, wie sie sich versteifte, aber we nigstens zog sie ihren Arm nicht weg. Die Schlangen der Peit sehe an ihrer Seite regten sich, bissen aber nicht um sich, was Pharaun einen Moment lang befürchtet hatte. Der Anführer der Patrouille sah Quenthel durchdringend an, doch schließlich nickte er und sagte: »Es ist unsere Ange wohnheit, wenn die Stadt –«, er unterbrach sich, ehe er zuviel verraten konnte, dann wandte er sich wieder Faeryl zu – »Ihr könnt passieren, aber viel Glück dabei, irgendeine ›Zivilisati on‹ zu genießen, wenn Ihr sie finden könnt.« Mit dieser letzten, verbitterten Bemerkung drehte er sich weg und bedeutete dem Rest der Patrouille, Platz zu machen, damit die Gruppe weiterziehen konnte. Faeryl nickte dankbar und wies die anderen an, ihr zu fol gen. Dann hatten sie die Patrouille hinter sich und waren wieder allein auf der breiten Straße. Pharaun sah der Gesand ten an, daß sie wegen der rätselhaften Worte des Anführers in Sorge war. Er mußte zugeben, daß dies kein gutes Zeichen war. »Laßt mich los!« fauchte Quenthel und riß ihren Arm von ihm weg. Der Magier blinzelte überrascht, da er völlig verges sen hatte, daß seine Hand noch immer um ihren Arm lag und er sie praktisch mit sich zog. »Verzeiht, Herrin«, erwiderte Pharaun und deutete eine
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leichte Verbeugung an. »Angesichts unserer Situation hielt ich es für angebracht, so wenig Unruhe wie möglich aufkom men zu lassen. In gewisser Weise war Eure Reaktion aber gut, weil Ihr von dem Draegloth abgelenkt habt.« »Schön«, gab sie zurück, immer noch finster dreinblickend. »Wir haben sie passiert. Jetzt wollen wir sehen, wie schlimm es in der Stadt aussieht.« Kurz darauf hatte die Gruppe die Tore der Stadt der schim mernden Netze erreicht. Weiterhin als Überfallene, ange schlagene Kaufleute getarnt passierten sie die Wachen und gelangten in die Stadt. Dort herrschte das Chaos.
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»Ihr kommt spät«, fauchte Drisinil Melarn, als Ssipriina Zau virr den Audienzsaal des Hauses Melarn betrat. Die Muttermatrone des Hauses Zauvirr zwang sich, die gifti ge Bemerkung zu schlucken, die ihr auf der Zunge lag, und begnügte sich damit, die Lippen zu schürzen. »Das bedauere ich zutiefst«, log Ssipriina und verbeugte sich tief vor der anderen. Sie wußte, daß sie die andere Drow ver spotten konnte, indem sie einfach zu solchen förmlichen Erwi derungen und Gesten griff. »Es ging nicht anders. Ich mußte mich um dringende Angelegenheiten kümmern, die auch damit zu tun haben, daß Eure Schatzkammer stets gut gefüllt bleibt.« Ssipriina mochte das gefährliche Funkeln, das ihre Worte in Drisinils glühenden Augen erzeugten. Es würde für die Führe rin des Hauses Melarn schwierig sein, ihre Untergebene nur
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deshalb zu schelten, weil die so eifrig am Werk war, um ihren Reichtum zu wahren. Ssipriina wußte das genau, und um so mehr Spaß machten ihr diese kleinen Spitzen. »Dennoch bin ich so schnell hergeeilt, wie es die Würde zu ließ«, fügte Ssipriina an, »denn ich habe gute Neuigkeiten. Sie sind in der Stadt.« »Seid Ihr sicher?« fragte die Muttermatrone. »Habt Ihr Hinweise darauf, daß sie ihre Pläne geändert haben?« »Ja, ich bin sicher«, erwiderte Ssipriina. »Mein Mann hat erst vor wenigen Stunden Kontakt mit Faeryl aufgenommen und erfahren, daß sie auf dem Weg zum Bruchtor in den un tersten Vierteln der Stadt sind. Offenbar hat Herrin Baenre immer noch vor, Eure Waren zu stehlen. Meine Spione sahen sie vor wenigen Minuten in die Stadt kommen.« Drisinil saß einige Augenblicke lang nachdenklich da, wäh rend Ssipriina erwartungsvoll vor ihr stand. Dann regte sich die Muttermatrone. »Sie gehen nicht davon aus, daß wir es wissen, oder?« »Ich glaube nicht. Ich habe Faeryl angewiesen, so entge genkommend wie möglich zu sein, damit Quenthel ihren Plan weiterführen kann. Außerdem habe ich Spione auf sie ange setzt, die sie verfolgen, ganz gleich, wohin sie gehen. Sie wer den es erst merken, wenn es zu spät ist.« »Ihr wollt sie diesen Plan ausführen lassen?« »Nun, nicht wirklich, Muttermatrone. Ich schlage vielmehr vor, daß wir sie ins Lagerhaus gelangen lassen, wo wir sie auf frischer Tat ertappen. Dann werden wir den nötigen Beweis haben, den wir den anderen Muttermatronen vorlegen kön nen.« »Das gefällt mir«, sagte Drisinil Melarn und verlagerte ihr beträchtliches Gewicht auf dem Thron. Ihre Miene hatte etwas Entschlossenes. »Ich möchte zu gern den Ausdruck auf
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Quenthels Gesicht sehen, wenn ihr klar wird, daß sie nicht das Mindeste von meinem Reichtum abbekommt. Sie soll merken, daß sie sich mit dem falschen Haus angelegt hat.« Worte, die wahrer nicht sein könnten, dachte Ssipriina. »Natürlich. Ich werde alles vorbereiten, damit wir dort sind, ehe sie am Lagerhaus ankommen. Ich darf annehmen, Ihr wollt, daß ich die Wachen des Hauses Melarn einsetze?« »Auf jeden Fall«, erwiderte Drisinil. »Sie soll sehen, mit wem sie sich angelegt hat. Ich möchte eine massive Präsenz, Ssipriina, und wenn diese Krise vorüber ist und der Rat das Exportverbot aufhebt, dann werde ich dafür sorgen, daß Ihr für Eure Geduld und Euren Eifer angemessen entlohnt werdet.« »Selbstverständlich«, sagte Ssipriina und verneigte sich wieder. »Ich werde mich persönlich um diese Angelegenheit kümmern.«
Ched Nasad war eine Stadt, in der es bereits unter normalen Umständen vor Drow, Duergar und zeitweise gar vor Illithiden wimmelte, doch Valas empfand das Gewühl als erdrückend. Der Späher war sicher, daß sich mindestens dreimal so viele Kreaturen wie sonst in der Stadt aufhielten. Verzweifelte, aus gehungerte Massen schoben sich durch die Straßen, sorgten für eine ohrenbetäubende Geräuschkulisse und für einen stechen den Gestank. Das Tor, durch das die Menzoberranzanyr gekommen waren, befand sich nahe der untersten Ebene der Stadt der schim mernden Netze, einer Metropole, die einen großen, v-förmigen Einschnitt im Unterreich ausfüllte. Die gesamte Stadt war kreuz und quer mit gewaltigen, magisch erleuchteten Netzen aus Kalk durchzogen, die auf hundert oder mehr Ebenen Wege in jede Richtung bildeten und der Bevölkerung dienten. Tau
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sende runder, amorpher Strukturen wuchsen wie Eiersäcke oder in Kokons gesponnene Beute aus diesen riesigen Netzen heraus, von denen manche in die Höhe gewachsen waren, während andere an ihnen hingen. Dort lebten Bürger, Gäste und Sklaven, und dort ging man auch seinen Geschäften nach. Im Augenblick sah es aus wie eine unruhige Ameisenkolonie, die über das Netz schwärmte, denn soweit Valas nach oben sehen konnte, drängten sich immense Scharen von Humanoi den, um dort Zuflucht zu suchen. Der Späher hätte sich eigentlich ein Stück vor der Gruppe aufhalten müssen, doch die Straßen waren so überfüllt, daß es kaum möglich war, sich überhaupt von der Stelle zu bewegen. Statt dessen hatte Quenthel Jeggred angewiesen, die Vorhut zu bilden. Das hoch aufragende Scheusal schob sich langsam, aber vergleichsweise mühelos durch die Massen. Valas befand sich dicht hinter Jeggred, und der Rest der Gruppe folgte dem Spä her auf den Fersen, da jeder fürchtete, in dem Gedränge von den anderen getrennt zu werden und nicht zu ihnen zurückzu finden. Valas bemerkte, daß Jeggred immer wieder finstere Blicke zugeworfen wurden, doch sobald der knurrend lospolter te und forderte, man solle ihm Platz machen, wich jeder sofort vor der Kreatur zur Seite. So tief unten in der Stadt waren nur wenige Dunkelelfen zu sehen, doch so gut wie jede andere Rasse war hier vertreten. Viele Sklavenrassen, aber auch die Vertreter der anderen, bedeutenderen Nationen des Unterreichs drängten sich hier, schrien einander an, brüllten, drängelten, handelten oder liefen einfach nur umher. Die Menzoberranzanyr hoben sich deutlich von der Menge ab, und es war nicht zu übersehen, daß die anderen die Gruppe abschätzig ansahen. Früher oder später würde das zum Problem werden. Mehr als einmal spürte Valas die flüchtige Berührung einer
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Hand aus der Menge, wenn jemand versuchte, ihm eines der Medaillons aus einer seiner vielen Taschen zu ziehen. Zwei solche Hände hatte er schon davon abgehalten, sich an einem der Talismane an der Vorderseite seines Hemdes zu vergreifen. Beide hatten von einem seiner Kukri eine klaffende Wunde auf der Innenfläche davongetragen. Valas Hune drehte sich ein wenig und sah über die Schul ter. Faeryl und Quenthel waren direkt hinter ihm. Die Herrin von Arach-Tinilith schreckte jeden, der ihr zu nahe kommen wollte, mit ihrer schrecklichen Peitsche ab. Hinter den beiden Priesterinnen war Pharaun, der seinen Piwafwi eng um sich gezogen hatte und den Kopf gebeugt hielt, während er versuch te, sich vor dem Vordrängen der Menge zu schützen. Ryld bildete den Schluß, wo er mit seinem massigen Leib den Ma gier vor Angriffen von hinten schützte. Das ist lächerlich, dachte der Späher und schüttelte den Kopf. Wir müssen diesen Teil der Stadt verlassen. Er wollte sich zurücklehnen und Quenthel genau das sagen, als er von einer plötzlichen Unruhe vor Jeggred unterbrochen wurde. Valas wandte sich noch gerade rechtzeitig um, um mit anzusehen, wie der Draegloth auf einen Oger einschlug, der mit einem Zweihänder bewaffnet war und den Weg versperrte. Neben ihm stand ein zweiter Oger, der eine mit Dornen be setzte Keule in der Hand hielt und finster dreinblickte. Jeggred schnellte nach vorn und zog eine seiner rasiermes serscharfen Klauen über den ersten Oger. Der Angriff erfolgte so plötzlich, daß die Kreatur nicht einmal Zeit genug hatte, um zu reagieren. Statt dessen starrte sie auf ihren Bauch, aus dem Blut spritzte. In der Menge wurden vereinzelte Schreie laut, als einige Passanten versuchten, sich in Sicherheit zu bringen, während andere nach vorn drängten, um das Geschehen besser beobachten zu können – oder um die möglichen Toten zu
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berauben. Der erste Oger riß den Mund auf, um zu schreien, gleichzeitig sank er auf ein Knie nieder und drückte die Hände auf den Bauch. Abermals schlug Jeggred zu und zerfetzte die Kehle des Humanoiden. Der Oger röchelte und fuchtelte mit den Armen, die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen. Der zweite Oger holte knurrend mit der Keule aus. Er rammte die Dornen seiner Waffe in die Schulter des Draegloth, der mit dem Treffer mitging. Seine weiße Mähne wehte um ihn herum, doch die Drehung bewahrte ihn vor dem Schlimmsten, und im nächsten Moment stand Jeggred seinem Widersacher in Lauerstellung gegenüber. In gleichen Augenblick wurde Valas Hune von einem Goblin angesprungen, der die Zähne fletschte und seine Dol che gezückt hatte. Noch ehe der Späher den Angreifer mit einem Tritt abwehren konnte, holte Quenthel mit ihrer Peit sche aus. Etliche Fangzähne bohrten sich ins Fleisch des Gob lins, der zuckend und mit Schaum vor dem Mund zusammen brach. Valas Hune sprang auf, ehe noch jemand aus der Menge den Versuch unternahm, ihn anzugreifen. Mit dem Rücken zu Quenthel stehend zog er seine Kukri, die mehrere brüllende, schimpfende Grauzwerge von einer Attacke abhielten. Valas Hune wurde bewußt, daß sich seine Gruppe zu einem Kreis formiert hatte, um gegen Angriffe aus jeder Richtung gewappnet zu sein. Ryld hatte Splitter gezogen, das magische Rapier des Magiers tänzelte vor ihm in der Luft, während der Magier selbst einen dünnen Stab in der Hand hielt und die zunehmend wütender werdende Menge aufmerksam betrachte te. Selbst Faeryl hatte ihren Hammer genommen und ließ ihn versuchsweise kreisen. Nur Jeggred gehörte nicht zu der Ver teidigungsformation, da er ein paar Schritte weitergegangen war, um sein blutiges Werk in Gestalt der beiden Oger zu voll enden. Aus dem Augenwinkel sah Valas Hune, wie der Un
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hold seinem Gegner große Stücke aus dem Gesicht biß. »Wir müssen weiter hoch!« rief Valas über die Schulter Quenthel zu. Da die Hohepriesterin ihn nicht zu hören schien, wiederholte er seinen Ruf: »Herrin Quenthel, wir müssen uns in einen höheren Bereich der Stadt begeben, so funktioniert das nicht!« Neben ihm wirbelte Pharaun herum, als der Bolzen einer Armbrust gegen seinen Piwafwi prallte. Jemand schoß aus der Menge auf sie. »Was schlagt Ihr vor?« entgegnete Quenthel und schlug mit der Peitsche nach einem unglückseligen Kobold, der sich durch die Menge bis zur vordersten Reihe gezwängt hatte und nun von den hinter ihm Stehenden nach vorn gedrängt wurde. »Folgt mir!« schrie Faeryl und begann, abzuheben und in die Luft aufzusteigen. »Wir müssen den Handelsbezirk errei chen, und das ist der schnellste Weg!« »Nein«, stöhnte Valas und riß die Augen weit auf. »Ich kann nicht –! Ich kann so nicht bei Euch bleiben!« Doch es war zu spät. Die anderen Drow hatten begonnen, dem Beispiel der Botschafterin zu folgen und hoben langsam ab. Valas Hune wich in die Mitte dessen zurück, was vor weni gen Augenblicken noch ein Kreis gewesen war, und betrachte te kritisch die Menge, die ihn umgab. »Ryld!« schrie er. »Warte!« Valas erkannte, daß der Krieger zu ihm hinabsah, doch ehe der andere Drow irgend etwas unternehmen konnte, wurde Valas von hinten gepackt. Er versuchte, herumzuwirbeln und mit seinem Kukri auszuholen, aber der Griff war zu kraftvoll, und er hatte nicht genug Platz, um einen Schlag hinter sich zu führen. Einen Sekundenbruchteil später machte sich Erleich terung in ihm breit, als er erkannte, daß es Jeggred war, der ihn gepackt hatte. Der Draegloth, dessen Fell vom Blut seiner
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Feinde schimmerte, hatte den Späher in einem sicheren Griff, während er sich langsam vom Boden löste. Einige mutige Grauzwerge stürmten vor, weil sie zum Abschied mit ihren Streitäxten nach Valas’ Füßen schlagen wollten, doch Jeggred hatte immer noch eine große Klauenhand frei und holte nach ihnen so heftig aus, daß sich die Duergar nur mit einem hasti gen Sprung in Sicherheit bringen konnten. Weitere Armbrustbolzen schnitten sich durch die Luft, von denen einer den Draegloth in die Flanke traf, nur ein Stück weit von der Stelle entfernt, an der sich im Moment Valas’ Kopf befand. Jeggred grunzte aber nur und stieg weiter nach oben, hin zu den anderen Drow. Der Späher warf einen Blick nach unten, wo sie alle eben noch gestanden hatten. Während die netzumsponnene Straße immer weiter unter ihm zurückfiel, konnte er erkennen, wie sich der Mob um die beiden toten Oger scharte und die Leichen um alles beraubte, was von Wert sein mochte. Barbaren, dachte er. Über ihnen war Faeryl in einer schmalen Seitenstraße ge landet, die einige Ebenen über der Straße lag, in der sie eben noch attackiert worden waren. Sie hatte sich eine ruhige Stelle zwischen den Verkaufsständen gesucht. Auf der Hauptstraße, von der dieser Weg abzweigte, herrschte kein so großes Ge dränge, doch es war immer noch mehr als voll. Valas wußte, daß sie sich noch immer vergleichsweise weit unten in der Stadt befanden, da das schimmernde Leuchten des Spektral lichts, das von dem Netz aus Stein ausging, seine Augen nach wie vor verwirrte, wenn er versuchte, nach oben zu blicken. Er wußte auch, daß die Stadtviertel um so angenehmer wurden, je höher sie kamen. Fast an der Spitze der Höhle, an der Stelle, an der die v-förmige Kammer am weitesten war, hatten die Adligen ihre ausladenden Häuser gebaut, weil sie dort oben
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weit genug vom Gestank und Lärm des gewöhnlichen Volks entfernt waren. Die Menzoberranzanyr hatten einen weiten Weg vor sich, ehe sie auch nur in die Nähe dieser Ebenen gelangen würden. »Ist es da unten immer so ... eklig?« fragte Quenthel, als sich die Gruppe auf dem Steinboden der Straße niederließ und sich dicht zusammenstellte, um keine Aufmerksamkeit zu erre gen. »Warum tolerieren die Muttermatronen diesen Pöbel?« Jeggred ließ Valas los, der seine Schultern straffte und dann den Draegloth ansah, wobei er sich fragte, wieviel von dem Blut das der Kreatur und wieviel wohl das der beiden Angreifer war. Ein Großteil von Jeggreds Fell war von der warmen, kleb rigen Flüssigkeit bedeckt, doch von dem Bolzen abgesehen, der in seiner Hüfte steckte, schien er keine Wunden zu haben. Der Späher betrachtete seine eigene Kleidung und stellte verdrieß lich fest, daß das Oger-Blut auch an ihm klebte. »Den niederen Rassen ist es nicht gestattet, sich ohne be sondere Erlaubnis so hoch oben in der Stadt aufzuhalten«, erklärte Faeryl. »Es wird besser, je weiter wir uns nach oben bewegen.« »Das möchte ich bezweifeln«, gab Quenthel naserümpfend zurück. »Ich bezweifle, daß die Muttermatronen eine solche Unannehmlichkeit auf die leichte Schulter nehmen würden. Es ist eher anzunehmen, daß sie mit drängenderen Problemen beschäftigt sind, und ich glaube, wir alle wissen, um welche Probleme es sich dabei handelt.« Über Quenthels Schulter hinweg konnte Valas sehen, wie drei Drow-Frauen stehenblieben und Jeggred anstarrten, als der gerade mit einem schmerzerfüllten Aufstöhnen den Bolzen aus seiner Seite zog. Eine Drow flüsterte den anderen etwas zu, dann eilten die drei davon. Pharaun war damit befaßt, den Schmutz von seinem Piwafwi
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zu klopfen und ihn zurechtzuziehen, damit er wieder makellos gekleidet war. »Ihr dürftet Recht haben«, sagte der Meister von Sorcere und nickte zustimmend. »Dennoch wäre es gut, wenn wir einen Platz fänden, an dem wir die Nacht verbringen können, und genauso sinnvoll wäre es zu versuchen, mehr Informatio nen zusammenzutragen. Ich bin sicher, daß wir mehr darüber in Erfahrung bringen können, warum sich die Stadt in einem solchen Zustand befindet.« »Es könnte schwierig werden, einen Platz für die Nacht zu finden«, meinte Ryld. »Ich bezweifle, daß es in Ched Nasad auch nur ein einziges freies Zimmer gibt.« Valas Hune überlegte, welche Blicke sie wohl auf sich zie hen würden, wenn sie irgendwo nach einer Übernachtungs möglichkeit anfragten. »Selbst wenn«, sagte der Späher dann, »wird Euer Leib wächter große Aufmerksamkeit erregen. Die Leute werden ja hier schon auf uns aufmerksam. Wir sollten uns nicht länger im Freien aufhalten.« Quenthel suchte in ihrer Tasche und holte einen Zauber stab heraus. Sie ging zu Jeggred und richtete den Stab auf die blutende Stichwunde, dann sprach sie einige Worte. Die Blu tung kam zum Stillstand, und das Loch begann zu verheilen. »Sei vorsichtiger«, ermahnte die Hohepriesterin ihren Nef fen, während sie den Stab wieder wegpackte. »Heilmagie ist nicht grenzenlos verfügbar.« »So überlaufen die Stadt auch sein mag«, warf Faeryl ein, »wird es auf den höheren Ebenen besser sein. Ich kenne einen Ort, an dem wir Zimmer bekommen können.« »Vielleicht sollten wir das noch einmal überdenken«, gab Quenthel zurück. »Für mich ist offensichtlich, daß es hier Probleme gibt. Ich halte es für ratsamer, wenn wir den Häusern
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Zauvirr und Melarn einen Besuch abstatten. Dort können wir sicher eine Unterkunft erhalten.« »Nein«, widersprach Pharaun, worauf Quenthel die Augen vor Überraschung weit aufriß. Der Magier sprach weiter, um der Hohepriesterin keine Gelegenheit zu geben, sich über sein Widerwort zu ereifern. »Ihr mögt recht haben, aber selbst wenn – Ihr wollt doch nicht die Gelegenheit verstreichen lassen, Euch ungehindert bewegen zu können, oder etwa doch? Wenn wir darauf hoffen wollen, die Waren und die Gelder für Euer Haus zu beanspruchen, dann müssen wir vermeiden, daß die Muttermatronen auf uns aufmerksam werden.« »Nun«, sagte Quenthel und schien wankelmütig zu werden, »mir mißfällt der Gedanke, wie Bürgerliche in einem Gasthaus einzukehren, doch Euer Argument ist auch nicht von der Hand zu weisen.« Valas beobachtete, wie sich die Hohepriesterin tief in Ge danken versunken auf die Lippe biß. Pharaun fuhr fort, da er versuchen wollte, die Gunst des Augenblicks für sich zu nutzen. »Ihr wißt, daß sie uns nichts sagen werden, wenn es ein Problem gibt. Sie werden diese Information um jeden Preis für sich behalten. Auf unsere Wei se können wir aber mehr auf Erkundung gehen und nach mög lichen Hinweisen suchen, was es mit Lolths Verschwinden auf sich hat. So bekommen wir Gelegenheit herauszufinden, wieso Ched Nasad in eine solche Lage geraten konnte.« Er beugte sich weit vor, damit niemand sonst etwas mitbekommen konn te, da ein weiteres Drow-Paar – diesmal zwei Männer, die an ihnen vorübergegangen waren – stehengeblieben war und die Gruppe anstarrte. »Wenn wir schon nichts anderes erfahren, kommen wir vielleicht wenigstens dahinter, welche Fehler man in dieser Stadt gemacht hat.« Ryld drehte sich um und sah die beiden eindringlich an, die
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daraufhin den Blick abwandten und weitergingen. »Egal, was wir tun wollen, wir sollten es besser sofort in An griffnehmen«, sagte der Waffenmeister über die Schulter. »Valas Hune hat recht. Wir erregen zuviel Aufmerksamkeit.« »Soll ich dann den Weg zu dem Gasthaus weisen, von dem ich sprach?« wollte Faeryl wissen. »Es nennt sich das Haus ohne Namen, und es ist nur ...« »Ihr werdet nichts dergleichen tun«, unterbrach Quenthel. »Ihr scheint mir viel zu begierig, uns zu helfen, und das auf Kosten Eures eigenen Hauses.« Faeryl sah die Hohepriesterin erschrocken an. »Herrin Quenthel, ich will doch nur ...« »Genug«, fiel sie der Botschafterin ins Wort. »Bis ich ent schieden habe, die Muttermatronen wissen zu lassen, daß ich hier bin, werdet Ihr sie nicht vorwarnen. Jeggred, ich übertrage dir die Verantwortung, darauf zu achten, daß sie sich nicht wegschleicht.« Der Draegloth grinste erst Quenthel, dann Faeryl an. »Mit Vergnügen.« Faeryl verzog das Gesicht in Anbetracht der Aufmerksam keit, die das Scheusal ihr nun wieder zukommen lassen würde. Valas Hune fragte sich, was sich zwischen den beiden abge spielt haben mochte, ehe die Gruppe aufgebrochen war. Sie hatte sich während der gesamten Reise so verhalten. Er beschloß, Ryld zu fragen, sobald sich eine Gelegenheit ergab. »Nun«, sagte Quenthel und sah die drei anderen an. »Wer von Euch kennt sich am besten in der Stadt aus?« »Ich habe Ched Nasad einige Male besucht, Herrin Quenthel«, antwortete Valas, die beiden anderen Männer nickten und ließen den Späher damit in den Mittelpunkt rü cken. »Gut. Findet uns ein Gasthaus, solange es nicht dieses
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›Haus ohne Namen‹ ist, und sorgt dafür, daß es ein gutes ist. Ich will mich nicht mit dem Pöbel abgeben, den Ihr mögli cherweise gewöhnt seid.« Valas Hune hob eine Augenbraue, erwiderte aber nichts. Er fand es interessant, wie die Hohepriesterin ihre Meinung ge ändert und Pharauns Plan übernommen hatte, ohne es mit einem Wort einzugestehen. Er fragte sich, ob sie wohl später darüber reden würden, doch im Augenblick war er froh dar über, das zu tun, was sie ihm aufgetragen hatte. »Die schnellste Methode, um dorthin zu gelangen, wo wir hinwollen, wäre, hinzuschweben«, sagte der Späher. »Voraus gesetzt, Jeggred ist bereit, mich so lange zu tragen.« Quenthel sah zuerst Jeggred an, dann Faeryl, schließlich sagte sie: »Ihr werdet mir doch keinen Grund liefern, daß Jeggred oder Pharaun Euch töten müssen, weil Ihr weglaufen wollt, oder?« Faeryl sah sie grollend an, schüttelte aber den Kopf. »Gut. Dann weist uns den Weg, Valas. Ich bin müde und möchte mich der Träumerei zur Abwechslung einmal auf einer bequemen Couch hingeben.« Jeggred hob den Späher hoch und nahm ihn in den Arm, und wenige Momente darauf schwebten sie bereits den höhe ren Regionen der Stadt entgegen. Faeryl hatte recht gehabt. Je höher die Gruppe kam, desto weniger war auf den Straßen los. Es herrschte zwar immer noch ein viel regeres Treiben, als Valas Hune es in Erinnerung hatte, aber auf den höheren Ebe nen war es zumindest akzeptabel. Er führte sie zu einem teuren Geschäftsviertel der Stadt, einem Bereich, in dem viele der niederen Häuser – Häuser, die nur gerade genug Macht besa ßen, um im Handel erfolgreich zu sein, denen es aber an der nötigen Macht fehlte, um die Stadt zu regieren – Kontore unterhielten.
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Valas Hune wußte, daß viele wohlhabende Kaufleute aus anderen Regionen des Unterreichs häufig in dieses Viertel kamen, wenn sie zu Besuch in der Stadt waren. Die Gasthäuser waren extravagant genug, um den Komfort zu bieten, den die Elite der Handelsgemeinschaft erwartete, und bei jemandem, der so ungewöhnlich aussah wie Jeggred, würden sie nicht einmal mit der Wimper zucken. Valas Hune hoffte nur, Zim mer zu finden, die Quenthels Ansprüchen genügten, ohne daß sie dabei zu große Aufmerksamkeit auf sich lenkten. Vorausge setzt, sie konnten überhaupt ein Quartier finden. Pharaun bestand darauf, mit den Wirten zu verhandeln. In den ersten beiden Häusern lachte man dem Magier fast ins Gesicht, im dritten mußten sie sich bissige Bemerkungen über den »Zorn Lolths« anhören, erst dann wurde ihnen vorge schlagen, daß die Bezahlung für eine rituelle Säuberung ihnen die Möglichkeit geben würde, sich ein Zimmer zu teilen. Im vierten Haus gab es ebenfalls nichts, doch der Eigentümer – ein Halb-Ork, der auf einem Auge blind war – empfahl ihnen ein Etablissement am Stadtrand, das nur zwei Sektionen höher gelegen war. Er behauptete, es werde von seinem Vetter ge führt und vermiete an Söldner, die für Karawanen angeheuert wurden – zumindest, als sich noch Karawanen auf den Weg gemacht hatten. Valas fragte sich, auf wessen Seite der Familie diese Ver wandtschaft bestand. Es war eine längere Suche erforderlich, ehe die Gruppe end lich das Flamme & Schlange entdeckte, einen ausladenden Stock aufeinandergestapelter, gleichförmiger Kokons, die sich an einer Stelle aneinanderschmiegten, wo ein einsamer Netz strang aus Kalk an der Höhlenwand befestigt war. Das Gast haus machte einen vielversprechenden Eindruck, auch wenn man es nur nach seiner abgeschiedenen Lage und seinem Er
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scheinungsbild beurteilte. Quenthel scheute zurück, als sie einen ersten Blick auf das Gasthaus warf, doch Pharaun schlug vor, sie sollten wenigstens hineingehen und fragen, statt es von vornherein als Möglich keit auszuschließen. Abermals ließ sich die Hohepriesterin von dem Mann überzeugen. Sie muß erschöpft sein, überlegte Valas Hune. Sie läßt ihn im Augenblick alles bestimmen. Nun, nach einer guten Nacht voller Träume würde sich das rasch ändern. Zur großen Überraschung aller machte das Flamme & Schlange von innen einen deutlich einladenderen Eindruck als von außen. Während sich Pharaun dem Eigentümer – einem fetten Ork mit Silberkronen auf den Stoßzähnen – und zwei Oger-Türstehern näherte, die zu seinem Schutz da waren, sah sich Valas ein wenig um. Im Schankraum saßen viele Gäste, von denen die meisten die Neuankömmlinge ignorierten, wenn gleich einige von ihnen mehr als nur einen flüchtigen Blick auf Jeggred warfen, der hinter der Gruppe in gebeugter Haltung stand, da die Decke für jemanden von seiner Größe nicht ausge legt war. Valas erkannte den Grund des Desinteresses. Bei den Gästen handelte es sich um Söldner, die sich um Gold, aber um wenig anderes kümmerten, und solange es nichts war, das ihnen oder ihrem Broterwerb in den Weg kommen konnte, hielten sie sich zurück. Sie waren Leute von Valas Hunes Schlag. Quenthels Gesichtsausdruck verriet ihre Abscheu, doch Pharaun kehrte mit einem Funkeln in den Augen und der gu ten Nachricht zurück, daß es ihnen tatsächlich gelungen war, im Flamme & Schlange die beiden letzten freien Zimmer zu bekommen. Als der Magier erwähnte, was die beiden Zimmer kosteten, verdrehte Quenthel die Augen, doch Valas war klar, daß sie dennoch wahrscheinlich einen guten Preis bekommen hatten.
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»Nur zwei?« fragte sie irritiert. »Dann werden sich die Männer eines teilen müssen, während Faeryl und ich das ande re nehmen. Du, Jeggred, kommst mit mir.« Faeryl machte ein entsetztes Gesicht, als sie hörte, daß sie ihr Quartier mit dem Draegloth würde teilen müssen, doch sie sagte nichts dazu. Die Zimmer lagen nicht unmittelbar nebeneinander. Das größere der Zimmer, das Quenthel für sich beanspruchte, war ein runder Raum mit mehreren Fenstern, von denen aus man die Stadt überblicken konnte. Von hier aus konnten die Frau en die prachtvoll leuchtenden Netzstränge sehen, die sich nach oben und nach unten erstreckten. Der kleinere Raum befand sich im hinteren Teil des Flamme & Schlange, ein längliches Zimmer mit zwei Betten und einem Diwan für eine dritte Person. Das einzige Fenster wies zur Höhlenwand, an der kleine Wasserrinnsale entlangliefen, die ihren Ursprung an der Oberfläche hatten und sich am Fuß der v-förmigen Stadt sammelten, wo sie Pilzkulturen nährten. Keine großartige Aussicht, fand Valas Hune, aber das könn te nützlich sein, um das Gasthaus unbeobachtet zu verlassen. »Ich will mich jetzt eine Weile ausruhen, also werdet Ihr drei« – Quenthel sah die Männer der Reihe nach an – »Euch von jeglichem Ärger fernhalten. Wir werden uns am Ende des Tages zusammensetzen und während des Essens beratschlagen, was wir als nächstes tun. Bis dahin will ich meine Ruhe!« Mit diesen Worten stolzierte sie in Richtung ihres Quar tiers, gefolgt von Faeryl und Jeggred. Valas Hune begnügte sich mit der Couch. Als die drei einen Teil ihrer Taschen auspackten, dehnte und streckte sich Pha raun. »Ich weiß nicht, wie es euch geht«, meinte er schließ lich. »Aber ich bin viel zu aufgeregt, um mich hinzulegen. Ich würde lieber irgendwo etwas trinken gehen und hören, was
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man sich in der Stadt so erzählt. Kommt ihr mit?« Valas sah Ryld an, der dem Späher zunickte. »Sicher«, sagten sie gleichzeitig, woraufhin sich die drei auf den Weg machten.
Drei Drow-Männer in den Straßen Ched Nasads entpuppten sich als eine viel unauffälligere Gruppe als fünf Drow und ein Draegloth, auch wenn Pharaun vermutete, daß es zu einem erheblichen Teil auch damit zu tun hatte, daß er, Ryld und Valas durch Seitenstraßen schlenderten, die durch einen hö hergelegenen Teil der Stadt verliefen. Während sie spazieren gingen und dem geschäftigen Lärm rings um sie lauschten, war der Magier unwillkürlich davon begeistert, die Stadt zu erkun den. Anders als Menzoberranzan war Ched Nasad eine kosmo politische Ansammlung von Anblicken, Geräuschen und Gerüchen, die die gesamte Stadt durchdrangen. Er konnte minimale Unterschiede ausmachen, während sich das Trio durch verschiedene Bezirke bewegte, doch ganz egal, wo sie sich gerade aufhielten – der Magier nahm alles in sich auf und spürte, daß die Luft von einer Geräuschkulisse vibrierte, dem Gefühl von Aktivität, das er sonst nur aus den unteren Ebenen von Menzoberranzan kannte. Hier herrschte eindeutig mehr Leben als in Tier Breche, wo Pharaun viel zuviel Zeit abgeschieden in den Türmen der A kademie in Sorcere verbrachte. Zu Hause hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, nur in die Stadt zu gehen, wenn er Vorräte brauchte oder wenn er hin und wieder einmal etwas trinken ging. So war es viele Jahre lang gewesen, zumindest in der Zeit, in der Greyanna ihm nach dem Leben getrachtet hatte. Da sie und ihr Ansinnen für ihn kein Problem mehr darstellten, würde er sich von nun an auch wieder öfter in die
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lebendigeren Viertel begeben können. Während sie gemächlich durch die Straßen gingen, schie nen Valas und Ryld alles gleichzeitig erfassen zu wollen. Pha raun wußte, daß ihre Wachsamkeit mit Blick auf die Kako phonie ringsum einen anderen Grund hatte als bei ihm. Natürlich hielt auch er die Augen offen, um einen Taschen dieb oder einen Raubmörder rechtzeitig zu bemerken, aber Ryld und Valas waren jahrelang darauf trainiert worden. Sie hatten ein hohes Maß an Geschick erreicht, wenn es um das Beobachten und um Vorsicht ging, und ihr ganzes Sein spie gelte das wider. Pharaun bezweifelte ernsthaft, daß irgend je mand in dieser Stadt ihm etwas würde anhaben können, so lange diese beiden in seiner Nähe waren. Es war ein beruhigender Gedanke, der es ihm erlaubte, sich völlig zu entspannen und die Pracht der Stadt der schimmernden Netze zu genießen. Dem Magier war klar, warum man Ched Nasad diesen Na men gegeben hatte. Das Netz aus Straßen, die sich in den Farben Purpur, Bernstein, Grün und Gelb Hunderte Meter weit in alle Richtungen erstreckten, waren schon ein phantas tischer Anblick. Überall, wo sie entlangkamen, boten Händler Pilze, Schmuck oder irgendwelche Tränke feil. Pharaun fiel allerdings auf, daß die Waren von minderer Qualität zu sein schienen und daß nur wenige Leute überhaupt etwas kauften. Bei jedem fiel ihm ein sonderbarer Ausdruck in den Augen auf. Angst. Jeder wirkte verängstigt. Ein schmutzig aussehender Drow saß im Schneidersitz auf dem Boden und hatte kleine Käfige vor sich stehen. In jedem befand sich ein kleiner Humanoider mit vier Armen, Facet tenaugen, Beißzangen und Spinnenleib. Sie waren nicht grö ßer als 30 Zentimeter. Pharaun sah genauer hin und erkannte, daß die Kreaturen Netze spinnen konnten. Sie wichen vor ihm
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zurück, als er näherkam. »Wollt Ihr eines kaufen, Herr?« fragte der Mann mit hoff nungsvollem Tonfall und sprang auf. »Junge Chitinen«, erklärte Valas. »Die erwachsenen wer den zum sportlichen Vergnügen gejagt, und wenn man ein Nest mit Jungen findet, nimmt man sie mit, um sie als Haustiere zu verkaufen.« »Interessant«, erwiderte Pharaun und überlegte einen Mo ment, ob er eines der Tiere kaufen sollte. Doch nach dem Aussehen des Mannes zu urteilen, hatte der wohl wenig Hoff nung, einen Käufer für seine Ware zu finden. »Ich würde es in Erwägung ziehen ... als Geschenk für Quenthel. Aber sie scheinen mir überteuert.« Der hoffnungsvolle Blick des Mannes wandelte sich in tiefe Enttäuschung, und er setzte sich wieder. Ryld schnaubte, Valas schüttelte seinen Kopf. »Sie sind nicht zu teuer«, erklärte Valas beim Weitergehen. »Vermutlich wird der Markt gerade mit ihnen über schwemmt.« »Wie das?« fragte Pharaun. »Weil Chitinen und Choldrithen auch die Göttin anbe ten«, antwortete Valas. »Choldrithen?« »Chitinen-Priesterinnen. Dieselbe Rasse, größer und dun kelhäutig. Keine Haare, menschliche Augen. Ich vermute, sie wurden von der gleichen Katastrophe heimgesucht wie unsere eigenen Klerikerinnen.« Pharauns Neugier war geweckt. »Tatsächlich?« entgegnete er nachdenklich. »Es könnte sich als nützlich erweisen, wenn wir einige dieser Choldrithen aufspüren könnten, um herauszufinden, warum sie das gleiche Schicksal ereilt hat. Es ist offensichtlich, daß auch Ched Na
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sad vom Schweigen Lolths betroffen ist, und wenn wir dafür einen Beweis erbringen können, dann weiß Quenthel viel leicht nicht, was sie als nächstes machen soll. Das gäbe uns die Möglichkeit für weitere Nachforschungen, um herauszufinden, ob Lolths Schweigen alle oder nur unsere eigene Rasse be trifft.« »In der Theorie eine gute Idee, Magier«, sagte Ryld, der gleichzeitig einen Goblin verscheuchte, der ihm unbedingt eine Schale voller Schnecken verkaufen wollte. »Aber es dürf te schwierig sein, überhaupt erst einmal eine von ihnen aufzu spüren, ganz zu schweigen davon, wie man ihnen irgendwelche Informationen entlocken sollte. Die Drow jagen sie zu ihrem eigenen Vergnügen, daher haben die Chitinen und Choldrithen gelernt, die Flucht zu ergreifen oder bis zum Tod zu kämpfen.« »Hmm«, antwortete Pharaun und erspähte gleichzeitig ein kleines Geschäft, das etwas verkaufte, das er wollte. »Mag sein. Aber vielleicht würden sich bei einem solchen Unterfangen meine besonderen Begabungen als nützlich erweisen.« Die Gefährten begleiteten den Magier zu einem kleinen Pa villon, der Spirituosen verkaufte und an der Ecke zwischen zwei recht breiten Netzsträngen hing. Um zu ihm zu gelangen, mußten die Kunden eine steile Rampe hinunterrutschen, die sie vor den Verkaufsstand brachte, und zurück auf die Straße ging es über eine Leiter. Pharaun betrachtete die kleine Grup pe, die sich dort versammelt hatte. Einer nach dem anderen rutschte nach unten, um dort eine Flasche oder einen Pilzkopf mit den angebotenen Getränken zu kaufen. »Man sollte meinen, sie hätten auf beiden Seiten Stufen vorsehen können«, sagte der Meister von Sorcere geringschät zig. »Bei der Dunklen Mutter«, erwiderte Ryld kopfschüttelnd.
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»Ich werde uns etwas holen.« Mit diesen Worten bahnte sich der Krieger einen Weg durch die Menge. Von den Umstehenden kauften tatsächlich nur wenige etwas. Die meisten versuchten, von Kunden eine Münze oder einen Schluck zu erbetteln. Ryld ignorierte sie und trat zu dem Verkaufsstand, während sich Pharaun und Valas etwas abseits aufhielten und die Gelegenheit nutzten, das zu genießen, was sich ihren Augen bot. Als Ryld zurückkehrte, wirkte seine Miene etwas merkwür dig. »Was ist?« fragte der Späher. »Der Duergar hat mir das Zehnfache dessen abgenommen, was dieser Schluck wert ist, und scheint es auch noch genossen zu haben!« »Etwas Halsabschneiderei muß man erwarten, wenn die Ka rawanen nicht mehr verkehren«, sagte Pharaun. »Aber als hinter mir ein Goblin das gleiche haben wollte wie ich, verlangte der Eigentümer nur die Hälfte dessen, was ich ihm zahlen mußte.« »Vielleicht ist der Kleine ja ein Stammkunde«, überlegte Valas. »Könnte sein«, sagte Pharaun, öffnete die Flasche, die Ryld mitgebracht hatte, und roch daran. Sofort zuckte sein Kopf zurück, und er verzog ein wenig sein Gesicht. »Ich vermute, es hat mehr damit zu tun, die Gelegenheit zu nutzen, es den Drow ein wenig heimzuzahlen.« Er nahm einen Schluck von dem Branntwein und gab die Flasche an Valas Hune weiter. »Denn wer reguliert den Handel in der Stadt? Wer hat die freie Wahl, wenn es um die besten Verkaufsstandorte geht? Wer kontrolliert die Karawanen? Wer gelangt stets in den Besitz der besten Ware?« »Mit anderen Worten: Wer zeigt regelmäßig den anderen,
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wer am längeren Hebel sitzt?« ergänzte Ryld. »Genau. Die Grauzwerge, die Trogs, die Kuo-toas und alle anderen in der Stadt wissen, daß es die herrschende Klasse schwer getroffen hat, und trotz der Tatsache, daß es ihnen erlaubt worden ist, in der Stadt der Dunkelelfen Handel zu treiben, werden sie keine Gelegenheit zur Rache versäumen. Außerdem, Ryld«, setzte Pharaun hinzu und wies auf die Fla sche, die Valas dem Krieger reichte, »wärst du auch mit einem Zehntel des Preises übervorteilt gewesen.« Ryld zuckte die Achseln, nahm einen Schluck und erwider te: »Du trinkst es doch, oder nicht?« Die drei ließen die Flasche weiter kreisen, während sie über die Aussichten diskutierten, irgendeine belegbare Bestätigung dafür zu bekommen, daß Lolth auch in Ched Nasad nicht länger anwesend war. Pharaun war nach wie vor von der Idee begeistert, nach anderen Rassen zu forschen, von denen be kannt war, daß sie Lolth anbeteten, und während er sich am Gespräch beteiligte, ging er dem Gedanken weiter nach. Es wäre einiges an Recherche erforderlich. Genug Zeit und Quenthels Einverständnis vorausgesetzt, hatte er bereits eine gute Vorstellung davon, wohin er sich würde wenden müssen. Die Überlegungen des Magiers wurden unterbrochen, als das Trio eine netzumsponnene Treppe hinaufging, um eine Ecke bog und sich auf einer Kolonnade wiederfand, von der aus man einen weiten Platz überblicken konnte. Nach dem Gedränge auf der Promenade zu urteilen, hielt Pharaun es für offensichtlich, daß Flüchtlinge dazu übergegangen waren, den Platz als eine Art Lager zu benutzen. Dennoch war Platz genug, um sich auf dem erhöhten Gang ringsum zu bewegen, ohne mit dem Gesindel in Berührung zu kommen. So konnten sich die drei Drow ungehindert bewegen, wobei sie Bitten und die Forderungen nach ein paar Münzen ignorierten, die von den
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ungewaschenen Gestalten zu beiden Seiten geäußert wurden. Ein Ruf von weiter unten erregte die Aufmerksamkeit des Drow, und als Pharaun hinunterspähte, machte er die Ursache für die Unruhe aus. An einer einigermaßen freien Stelle stand eine Priesterin, um die herum sich drei oder vier Hobgoblins drängten. Sie schien etwas zu murmeln, doch aus dieser Ent fernung konnte Pharaun sie nicht hören. Die Drow hob die Arme und versuchte, nach einem der Hobgoblins zu schlagen, doch die Kreatur wich geschickt aus, und die Priesterin tau melte vor Eifer nach vorn. Pharaun sah, daß sie recht betrun ken sein mußte. »Dreckige Tiere«, schrie die Priesterin und richtete sich schwankend wieder auf. »Bleibt mir vom Leib!« Pharaun bemerkte ihren unordentlichen Zustand. Ihr Piwaf wi war schmutzig und hing schief um ihre Schultern. Ihr glän zendes weißes Haar war zerzaust, und in einer Hand hielt sie eine Flasche, von der der Magier vermutete, daß sie Alkohol enthielt. Die Hobgoblins lachten über die Drow und umkreisten sie, was die Priesterin dazu veranlaßte, sich mit ihnen zu drehen, um sie im Auge zu behalten. Diese Aktion brachte sie erneut ins Taumeln, und beinahe wäre sie der Länge nach hinge schlagen. »Ich glaube nicht, daß ich je so etwas zu sehen bekommen habe«, sagte Valas fassungslos. »Die Dreistigkeit, die diese Unterkreaturen an den Tag legen, ist unerträglich.« »Wir sollten dem ein Ende setzen«, erklärte Ryld und machte einen Schritt nach vorn. Plötzlich wurde Pharaun bewußt, daß er von Magie umge ben war, ein Effekt, der sich auf ihn und seine beiden Begleiter zu beschränken schien. Er legte eine Hand auf Rylds Arm. »Warte«, sagte er. »Laß uns abwarten, was geschieht.«
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Als Ryld den Magier fragend ansah, fuhr er fort: »Aufmerk samkeit zu erregen hilft uns nicht, Erkundigungen einzuholen. Außerdem könnten wir jetzt herausfinden, ob unsere Theorie zutrifft. Das könnte der Beweis sein, den wir brauchen.« Ich glaube, jemand beobachtet uns, gab der Magier Ryld in Zeichensprache zu verstehen. Auf magische Weise. Besorgt zogen sowohl Ryld als auch Valas Hune die Augen brauen hoch, doch ehe sie sich umdrehen konnten, warnte Pharaun sie: Laßt euch nicht anmerken, daß wir es wissen. Tut einfach, als würdet ihr euch das Spektakel ansehen. Einen Moment lang spielte Pharaun mit dem Gedanken, die Magie zu bannen, doch er verwarf den Gedanken sofort wieder, weil er wußte, daß er dem Spion damit nur zu erken nen geben würde, daß seine Präsenz bemerkt worden war. Statt dessen tat er, als würde er seine Aufmerksamkeit wieder auf den sich anbahnenden Kampf unter ihnen richten, obwohl er eigentlich den Platz nach Hinweisen darauf absuchte, daß jemand ihn beobachtete, nicht aber das Treiben der Hobgob lins. Von vielen verschiedenen Individuen ging eine magische Aura aus, doch soweit der Magier das erkennen konnte, sah niemand in seine Richtung. Die Hobgoblins schienen sich für den Augenblick damit zu begnügen, auf Abstand zu bleiben, doch wurden sie von der Menge, die sich um sie scharte, unablässig näher an die Pries terin herangedrängt. Die schien das Interesse an den Kreaturen verloren zu haben und stand schwankend mit geschlossenen Augen da. Sie murmelte etwas, doch Pharaun konnte sie auch diesmal nicht verstehen. Nun, Spion hin oder her, dachte er, ich will wissen, was sie sagt. Er griff in eine seiner vielen Taschen und holte ein winziges Messinghorn hervor, mit dem er den Zauber wirkte. Als er
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abgeschlossen war, konnte er das Gemurmel der Priesterin so gut verstehen, als befände er sich unmittelbar vor ihr. »... flehe dich an, Herrin Lolth, kehre zu mir zurück. Gib mir deinen Segen. Verlaß mich nicht, denn ich bin deine treue Di... au!« Einer der Hobgoblins hatte sich ausgerechnet diesen Mo ment ausgesucht, um die Drow mit einem spitzen Stock zu stechen. Sie schrie und machte gleichzeitig einen Satz, wobei ihr die Flasche mit dem alkoholischen Inhalt aus der Hand rutschte und auf die Straße fiel. Dort zerbarst sie in zahlreiche Scherben, der noch verbliebene spärliche Inhalt verteilte sich auf dem Boden. »Du verdammter Sklave!« schrie sie den Hobgoblin an, der sie belästigt hatte. Sie versuchte, einen Schritt nach vorn zu machen, und hielt dabei eine Hand ausgestreckt, als wollte sie ihn würgen. Ein zweiter Hobgoblin schob seinen Kurzspeer nach vorn und stellte der Priesterin ein Bein, die daraufhin lang hin schlug. Sie richtete sich auf Hände und Knie auf und begann zu brüllen: »Göttin, komm zu mir, hilf mir! Laß mich nicht im Stich, deine treue Dienerin, die dir ...« »Lolth ist tot«, zischte der erste Hobgoblin und versetzte der Drow einen Tritt. Sie grunzte ob der Wucht des Aufschlags, rollte zur Seite weg und griff nach ihrer Peitsche. »Nein!« schrie sie dann. »Lolth würde mich nie im Stich lassen! Sie ist mächtig, und die, die ihr treu sind, sind es eben falls!« Die Hobgoblins rückten vor. Die Drow versuchte, nach ih nen zu treten, doch die Kreatur, die ihr am nächsten war, wich dem Angriff mühelos aus und stach mit ihrem Speer nach ihr.
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Pharaun sah, daß der Stoff über dem Oberschenkel der Prieste rin sich rot verfärbte. Ryld murrte und bedeutete Pharaun: Das ist nicht rechtens. Wir sollten etwas tun. Valas nickte und zückte seine beiden Kukri, so daß er in je der Hand einen der Krummdolche hielt. Der Magier legte beiden Drow je eine Hand auf die Schul ter. Ihr bringt damit nur die Mission in Gefahr, signalisierte er ih nen. Wie ihr seht, ist kein anderer Drow bereit, ihr zu helfen. Er wies auf die Menge. Tatsächlich waren einige Drow an wesend, die dem Geschehen aber mit ausdrucksloser Miene zusahen. Sie hat ihren Glauben verloren und verdient nichts anderes, er innerte Pharaun seine Begleiter. Ich mache mir keine Gedanken um die Priesterin, erwiderte Ryld mit finsterer Miene. Aber daß es diesem Ungeziefer gestattet wird zu glauben, es könnte sich so dreist einem überlegenen Wesen entgegenstellen, verheißt für keinen von uns etwas Gutes. Sie soll ten gemaßregelt werden. Vielleicht, gab Pharaun zurück. Aber wir müssen anonym blei ben, wenn wir unsere Aufgabe erledigen wollen. Würden wir diese Kreaturen zur Rechenschaft ziehen, käme das unseren Absichten in keiner Weise zugute. Der Magier hat recht, signalisierte Valas und entfernte sich vom Rand der Kolonnade. Wenn die Muttermatronen erfahren, daß drei Drow, die nicht von hier sind, sich in etwas eingemischt haben, was durchaus einer ihrer eigenen Pläne sein könnte, werden wir uns nicht länger ungehindert und unbeobachtet in der Stadt bewegen können. Wenn sie uns nicht schon überwachen, gab Ryld zurück. Wer den wir noch beobachtet? Als Pharaun bestätigend nickte, fuhr
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der Krieger fort: Wir haben den gewünschten Beweis. Wir sollten ins Gasthaus zurückkehren. Mir steht der Sinn nicht mehr nach dieser Stadt. Pharaun nickte, auch wenn er die Meinung seines Freundes nicht teilte. Gemeinsam machten sie kehrt und spazierten den Weg zurück, den sie gekommen waren. Sie ignorierten die Schreie der Priesterin, die von den Hobgoblins mit Hunderten von gezielten Stichen mit ihren Kurzspeeren gequält wurde. Nach einigen Schritten hörte das magische Ausspähen auf. Pharaun ließ seinen Blick schweifen und hoffte, die Quelle zu finden. Doch er hatte kein Glück, und so verließen sie den Platz. Hinter ihnen hatte sich die Menge immer dichter um die Auseinandersetzung geschart und wurde immer rüpelhafter. Mehrere andere Drow in der Menge wurden gestoßen und geschubst, während sie versuchten, sich aus dem aufgebrachten Mob zu befreien. Nach dem Mord an einer Drow wurden die anderen Rassen mit einem Mal mutig. Rufe wurden laut, die Drow und ihre Göttin wurden beschimpft. Dann endlich ge lang es der Handvoll Drow, sich zu befreien, einigen, indem sie sich über die Aggressoren um sie herum erhoben, anderen, indem sie sich durch die Menge schoben, um in Straßen zu gelangen, in denen sie mehr Platz hatten. Die Stimmung in Ched Nasad wurde zunehmend unangenehmer.
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Als hübsche Drow getarnt hockte Aliisza auf dem Dach eines seltsamen Geschäfts in einer der Straßen, die zum Platz führ ten, und beobachtete das Kommen und Gehen der Bürger, Sklaven und Gäste Ched Nasads. Das Geschäft bot modische, kleidsame Seidenstolen und andere Accessoires feil, doch das Scheusal, das auf dem runden, kokongleichen Dach kauerte, war nicht daran interessiert, irgend etwas zu kaufen. Vielmehr war es damit beschäftigt, Pharaun und die beiden anderen Drow zu beobachten, die sich von dem Blutbad an einer Frau ihrer eigenen Rasse abwandten und seelenruhig in die andere Richtung davonspazierten. Es sah ihnen nach, wie sie entlang eines der kalkummantelten Netzstränge verschwanden, die in dieser Stadt als Straßen dienten. Als es sie fast aus den Augen verloren hatte, sprang es vom Dach und folgte ihnen. Aliisza hatte es nicht überrascht, daß die drei Drow, die sie
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beschattete, der volltrunkenen Priesterin nicht zu Hilfe geeilt waren. Seit ihrer Ankunft in der Stadt hatte sie schon mehr Gleichgültigkeit miterlebt, als daß sie so etwas noch hätte erstaunen können. Dennoch hatte sie den Eindruck, die Grup pe aus Menzoberranzan lege großen Wert darauf, keine Auf merksamkeit zu erregen. Den Grund dafür wollte sie auch erfahren, doch erst gab es andere Dinge zu tun. Die Alu mußte unwillkürlich lächeln, als sie dem Magier und seinen Gefährten folgte und dabei immer wieder tat, als sähe sie sich auf den Basaren und Märkten irgendwelchen Schmuck an. Sie betrachtete die Myriaden kalkummantelter Netzstränge, die sich von der einen Wand der gewaltigen Höh le bis zur anderen erstreckten und in einem flackernden magi schen Licht erstrahlten, soweit das Auge reichte. Halb erwar tete sie, irgendwo eine gewaltige, schwerfällige Spinne zu entdecken, die sich ihren Weg über das Netz bahnte. Sie lieben ihre Spinnenmotive wirklich, dachte sie. Alles, was sie tun, dreht sich um die Spinnenkönigin. Man sollte meinen, sie würden ein wenig variieren, um etwas vielseitiger zu werden. Aliisza grinste über ihren Gedankengang. Sie empfand Drow als sonderbar. Auf der einen Seite waren sie hinterlistig, chaotisch und wandten sich immer wieder gegen ihre eigenen Leute. Andererseits versuchten sie, ihrem Leben Struktur zu geben, es nach einem Kodex auszurichten, dessen Lehrsätze von einem Dämon bestimmt worden waren, der so unbere chenbar war, wie man nur sein konnte. Wenigstens sind sie sich in einem Punkt einig, dachte die Alu. Sie fühlen sich jeder Rasse im Unterreich und an der Oberfläche überlegen. Aliisza sah, wie eine Schar Koboldsklaven von HobgoblinSklaventreibern von einem Netzstrang über eine Rampe zur
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nächsten, darunter gelegenen Straße getrieben wurde. Insge samt hatte sie in Ched Nasad schon mehr verschiedene Arten zu Gesicht bekommen, als sie an einem einzigen Ort für mög lich gehalten hätte. Die »niederen Rassen« waren den Drow mindestens im Verhältnis zwei zu eins überlegen, und zu ihnen gehörten Oberflächenzwerge, Orks, Quaggoths, Grottenschra te und viele andere – fast alles Sklaven. Die einzige mögliche Ausnahme waren die Duergar, die mit den Drow ehrlich genug Handel trieben, um von ihnen in der Stadt als Händler tole riert zu werden. Zudem hatte Aliisza einen Abolethen mit seiner Schar von Hütern, Illithiden, Grells und – wie sie ver mutete – einen Tiefendrachen, denn auch wenn der ebenfalls als Dunkelelf getarnt war, nahm sie seinen unverkennbaren Geruch wahr, als sie an ihm vorbeiging, gesehen. Die einzige bemerkenswerte Ausnahme von der eklekti schen Ansammlung von Besuchern waren die Betrachter, die Aliisza nicht im geringsten leid taten. Das ist eine Rasse, die noch mehr von sich selbst einge nommen ist als die Drow, wenn so etwas überhaupt möglich ist, dachte die Alu. Augentyrannen bedeuteten nur Ärger, was Aliisza anging, doch zum Glück befanden sie sich in einem permanenten Kriegszustand mit den Drow, so daß in deren Nähe nie einer von ihnen zu sehen war. Hätte sie irgendwo in der großen v förmigen Höhle auch nur für einen kurzen Moment einen von ihnen entdeckt, wäre sie so schnell in die andere Richtung gelaufen, wie sie nur konnte. Die Alu zwinkerte, als ihr klar wurde, daß sie durch ihre Tagträume um ein Haar ihre Beute hätte entkommen lassen. Sie sah sich rasch um und entdeckte das Drow-Trio auf einem Abschnitt der Netzstraße, der in Richtung Höhlenwand und damit in einen entlegenen Teil der Stadt führte. Sie erkannte,
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daß sie sich im Handelsbezirk befanden, und schnell wurde ihr klar, daß Pharaun und die anderen auf dem Weg zu einem Gasthaus in der Sackgasse waren, durch die sie gingen. Gut, dachte sie. Jetzt kann ich sie im Auge behalten und trotzdem für ein paar Tage die Düfte und Sehenswürdigkeiten der Stadt genießen. Vielleicht kann ich sogar ein wenig Zeit mit dem Magier allein verbringen ...
Faeryl Zauvirr brütete auf dem bequemen Bett vor sich hin, während Quenthel in dem Zimmer auf und ab ging, das sie sich im Flamme & Schlange teilten. Die Hohepriesterin mochte es grundsätzlich nicht, wenn man sie warten ließ, und erst recht mochte sie es nicht, wenn sie inmitten einer fremden Stadt etliche Zehntage von zu Hause entfernt warten mußte – und dann auch noch auf Männer! Der verdammte Mizzrym mit seinem Lächeln, das einen zur Raserei bringen kann, dachte Quenthel zornig. Jeggred sollte ihn am besten sofort zerreißen, wenn er wieder zurück ist. Allerdings wußte sie auch, daß sie den Magier nicht töten lassen konnte. Schlimmer noch, sie mußte aufpassen, daß er nicht verletzt wurde. So sehr Quenthel diese Situation auch haßte, wußte sie nur zu gut, daß sie auf Pharauns Magie ange wiesen war. Aber wenn wir nach Menzoberranzan zurückkehren ... Der unvollendete Gedanke hielt sich beharrlich in ihrem Kopf, nicht so sehr, weil sie nicht gewußt hätte, was sie mit dem provokanten Magier tun sollte, sondern weil sie nicht zu sagen vermochte, ob sie ihr Zuhause jemals wiedersehen wür de. Es war so lange her, seit sie zuletzt Lolths Präsenz gespürt, sich zuletzt im Glanz und in der Gunst der Göttin gesonnt
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hatte, daß sie sich bereits zu fragen begann, ob sie sich über haupt noch zutreffend daran erinnern konnte, wie es sich an fühlte. Wird das Gefühl je zurückkehren? Ist sie fort? Hör auf! ermahnte sich Quenthel stumm. Wenn du auf die Probe gestellt wirst, du Närrin, dann ist dein Glaube im Mo ment alles andere als überzeugend, selbst wenn sie dich aus irgendeinem Grund zurückschicken sollte. Jeggred öffnete die Tür und kam herein, wobei er sich tief bücken mußte, um nicht gegen den niedrigen Türrahmen zu stoßen. »Sie sind zurück«, knurrte er und schob die Tür zu. »Wo bei allen Höllen waren sie so lange?« fragte Quenthel, die immer noch umherlief. »Sie haben einen Spaziergang gemacht«, antwortete der Draegloth achselzuckend. Quenthel sah zu der Kreatur, die Faeryl lüstern anblickte. Die Botschafterin wirkte unter dem eindringlichen Blick des Unholds äußerst kläglich. Quenthel hätte am liebsten gelacht, wenn sie daran dachte, was Triel ihr darüber erzählt hatte, wie die Zauvirr von Jeggred gefoltert worden war. Aber das war nicht der geeignete Zeitpunkt dafür. »Kommen diese nutzlosen Männer her«, fauchte Quenthel, »oder muß ich dich losschicken, damit du sie holst?« »Sie werden bald hier sein«, erwiderte Jeggred und wandte sich von Faeryl ab, um sich in eine Ecke zu kauern. »Der Ma gier sagte mir, er müsse noch etwas erledigen, ehe sie zu uns kommen können.« Selbst hockend war der Draegloth noch immer so groß wie die Hohepriesterin. Seine weiße Mähne fiel kaskadenartig über seinen Rücken, während er eine seiner Klauen inspizierte und mit einer Hand seiner kleineren Arme irgendwelchen Schmutz wegwischte. »Sie haben getrunken«,
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sagte er, ohne aufzusehen. Quenthel fluchte, woraufhin Faeryl sie erstaunt ansah. Der Hohepriesterin war diese Reaktion egal. Auf Zechtour wie ein paar dumme Jungen! dachte sie vor Wut kochend. Wenn wir zurück sind, werde ich sie auf den Rothé-Feldern arbeiten lassen! Es klopfte an der Tür, und Quenthel blieb stehen und stemmte die Hände in die Hüften, während Jeggred aufstand, um zu öffnen. Als er das Portal öffnete, kamen Pharaun, Valas und Ryld nacheinander herein. Quenthel war überrascht, daß alle drei den gleichen finsteren Gesichtsausdruck zur Schau trugen. Ehe jemand etwas sagen konnte, bedeutete Pharaun: Jemand hat uns heute auf magische Weise beobachtet. Niemand darf ein Wort sagen, solange ich den Raum nicht abgeschirmt habe. Dann holte er einen kleinen Spiegel und ein winziges Mes singhorn hervor, mit denen er einen Zauber wirkte, auch wenn Quenthel keinen Unterschied merkte. Sie erwartete das auch nicht, doch die Vorstellung, daß der Magier aus freien Stücken zaubern konnte – so, wie er auch alles andere aus freien Stük ken tat –, erfüllte sie mit Unbehagen. »Die Stadt kocht bald über«, sagte Pharaun, als er mit dem Zaubern fertig war. Er nahm auf der Couch Platz und vermied es, Quenthel direkt anzusehen. Er weiß, daß er sich auf dünnem Eis befindet, dachte die Hohepriesterin. »Was meint Ihr damit? Wer hat Euch beobachtet? Was hat tet Ihr überhaupt da draußen zu suchen? Hatte ich Euch nicht angewiesen, Euch auszuruhen und vor dem Abendessen herzu kommen?« »Eigentlich nicht, Herrin«, antwortete Pharaun, während sich die beiden anderen an die gegenüberliegende Wand lehn
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ten. »Ihr sagtet, Ihr wolltet Euch ausruhen, und habt uns aus drücklich angewiesen, Euch in Ruhe zu lassen. Unter diesen Umständen hielt ich es nicht für ratsam, Euch zu stören, nur um Euch zu sagen, daß wir einen Spaziergang machen wür den.« Quenthel seufzte. Wieder einmal hatte der Magier ihr die Worte im Mund herumgedreht und zu seinem Vorteil ausge legt. »Die Frage, wer uns beobachtete, kann ich nicht beantwor ten. Vielleicht war es bedeutungslos, vielleicht nur ein neugie riger Magier, der unbekannte Gesichter überprüfen wollte. Es könnte natürlich auch jemand gewesen sein, der gezielt unse retwegen besorgt war. Ich konnte nicht sehen, wer uns aus spähte. Nach unserer Rückkehr habe ich meine Folianten zu Rate gezogen, um mich einem Zauber zu widmen, der die Aus spähung entdecken kann, sie aber nicht unterbindet. Wenn ich ein Zeichen gebe, darf niemand ein Wort sagen.« Quenthel nickte einmal kurz, da sie wußte, daß der Magier kluge Vorsichtsmaßnahmen ergriff. »Gut«, sagte sie dann. »Was habt Ihr auf Eurem Spazier gang durch die Stadt entdeckt, das Euch zu der Ansicht bringt, die Stadt ›koche über‹?« »Es stimmt«, antwortete Valas Hune ruhig aus seiner Ecke. »Die niederen Rassen begehren auf. Wir waren Augenzeuge eines Angriffs.« »Ja und?« gab Quenthel zurück. »Bei uns daheim liegen sie sich doch auch ständig in den Haaren.« »Aber dies hier war eine Gruppe, die eine Priesterin atta ckierte«, sagte Ryld. Er blickte finster drein, auch wenn Quenthel sich nicht sicher war, wem es galt. »Sie waren so dreist, sie vor den Augen aller auf einem freien Platz zu töten.« »Das haben sie gewagt?« Faeryl war aufgesprungen, ihre ro
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ten Augen funkelten vor Wut. »Ihr habt nichts unternom men?« »Um ehrlich zu sein, sie war recht betrunken«, sagte Pha raun und lehnte sich auf der Couch zurück. »Dennoch konnte sie uns den Beweis liefern, den wir brauchten. Der Klerus von Ched Nasad leidet unter den gleichen ... nun, Problemen wie Ihr, Herrin.« Quenthel verschränkte die Arme und baute sich vor Pha raun auf. »Ihr habt nichts getan, um ihr zu helfen?« fragte sie und ließ ihren Blick auch zu den beiden anderen Männern wandern, die mit einem leicht schuldbewußten Ausdruck auf ihrer Mie ne fortsahen. Pharaun zuckte die Achseln und sagte: »Einzugreifen hätte bedeutet, die Aufmerksamkeit auf uns zu lenken, Herrin. Wenn wir unsere Ermittlungen weiterführen wollen, müssen wir uns weiterhin unauffällig verhalten. Außerdem«, fügte er an und beugte sich wieder vor, »flehte sie mitten auf dem Platz Lolth an, sie möge zurückkehren. Sie hatte eindeutig ihre Unbeirrbarkeit verloren und war meiner bescheidenen Mei nung nach in keiner Verfassung, um der Göttin zu dienen.« »Nach Eurer ...!« brüllte Faeryl ihn an. »Die Meinung eines gewöhnlichen Mannes zählt bei den meisten Themen so gut wie gar nicht – und erst recht nicht, wenn es die Schwestern schaft angeht!« Sie machte einen Schritt auf den Magier zu, doch eine ein zige Geste Quenthels genügte, damit sich Jeggred sofort zwi schen sie stellte und die Botschafterin vor ihrem einstigen Folterer zurückwich. »Faeryl, meine Liebe, in diesem Punkt habt Ihr für gewöhn lich recht«, sagte Quenthel so sanft sie konnte. Dieser Tonfall kam ihr selten über die Lippen, doch sie fand, daß die Situati
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on ihn rechtfertigte. Pharaun sah sie erstaunt an, woraufhin sie lächelte. »Aber denkt einmal weiter«, fuhr die Hohepriesterin fort. »Der Magier hat recht, auch wenn er vielleicht nur durch Zufall auf diese Folgerung stieß, da sein Geist vom Branntwein benebelt zu sein scheint. Ich verstehe Eure Ängste, doch Ihr dürft sie nicht über Eure Logik siegen lassen. Wenn eine Pries terin in aller Öffentlichkeit ihren Glauben verliert, erweist sie dann der Schwesternschaft einen Dienst?« Faeryl schüttelte den Kopf, während sie weiter vor Jeggred zurückwich und sich wieder aufs Bett setzte. »Natürlich nicht«, murmelte sie. »Mit ihrer Feigheit ist sie für uns alle eine Schande.« »Genau.« Quenthel nickte. »Auch wenn es grundsätzlich eine törichte Idee war, sich nach draußen zu begeben, hätten diese drei dummen Jungs unseren Absichten nur geschadet, wenn sie sich zu einem Teil dieses Spektakels gemacht hät ten.« »Verzeiht meine Unverschämtheit, Herrin Quenthel«, sag te Faeryl in trübseligem Tonfall. »Ich bin heimgekehrt und finde meine Stadt am Rande einer Implosion wieder. Sklaven greifen in aller Öffentlichkeit eine Priesterin an. So wie Ihr Menzoberranzan liebt, so liebe ich Ched Nasad. Ich will nicht, daß es so endet. Ich vergaß mich in einem Augenblick über mächtiger Gefühle.« Quenthel tat die Entschuldigung mit einer flüchtigen Geste ab. »In einer Zeit der Krise wie dieser ist das verständlich«, sag te sie. »Aber Ihr müßt lernen, diese Gefühle unter Kontrolle zu halten, wenn wir weiterkommen wollen.« »Dann darf ich annehmen, daß Ihr glaubt, es gäbe noch mehr zu enthüllen?« fragte Pharaun. »Vielleicht«, antwortete die Hohepriesterin und begann
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wieder, im Zimmer auf und ab zu gehen. »Ich bin bereit, den Rest Eurer Überlegungen anzuhören, bevor ich eine Entschei dung treffe.« Valas Hune reagierte darauf als erster. »Ich glaube, es ist gefährlich, wenn wir allzulange in der Stadt bleiben, Herrin«, sagte der kleine Späher. »Wir haben herausgefunden, was wir wissen wollten. Ich halte es für rat sam, nach Menzoberranzan zurückzukehren, ehe es in den Straßen zu Unruhen kommt und wir mitten in einen Sklaven aufstand geraten.« »Ich bin Valas’ Meinung«, stimmte Ryld zu. »Es ist offen sichtlich, daß die hiesigen Kleriker Lolths Verschwinden nicht annähernd so gut gehandhabt haben wie Ihr. Sie können we nig für uns tun.« Quenthel sah zu Pharaun, von dem sie wußte, daß er eine völlig andere, unorthodoxe Meinung vertrat. Pharaun rutschte auf der Sitzfläche umher und sah die bei den Männer an, ehe er sagte: »Ich glaube, wir wären mit weite ren Nachforschungen besser bedient. Valas Hune hat mir die Augen für einen möglichen anderen Weg der Ermittlungen geöffnet, den ich gerne nutzen möchte. Es gibt neben den Drow noch andere Rassen, die die Dunkle Mutter verehren. Es würde sich sicher lohnen herauszufinden, ob auch sie von ihrem Verschwinden betroffen sind.« Quenthel nickte und erwiderte: »Eine interessante Idee, a ber nicht leicht umzusetzen. Es gibt nicht viele andere, die uns mögen, und ich glaube auch nicht, daß die anderen, die Lolth anbeten, so unumwunden eine Geheiminformation an uns herausgeben würden. Bedenkt, wie geschlossen wir uns halten, sogar gegenüber den Dunkelelfen unserer Schwesterstadt. Da es aber noch eine Angelegenheit gibt, die ich als unerledigt betrachte, werden wir noch nicht aufbrechen.«
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»Genau«, gab Pharaun zurück. »Während Ihr Euch damit befaßt, kann ich mich meiner Theorie widmen. Ich glaube, einen Weg zu wissen, wie ich sie morgen bestätigen kann.« »Morgen habe ich Euch schon für andere Aufgaben vorge sehen«, sagte Quenthel und sah Pharaun kühl an. »Faeryl, Jeggred und ich werden den Lagerhäusern der Handelsgesell schaft der Schwarzen Klaue einen Besuch abstatten und an uns nehmen, was rechtmäßig dem Haus Baenre gehört, während Ihr drei nach einer Lösung suchen werdet, wie wir alles nach Hause transportieren können. Ich will die Stadt mit diesen Waren so schnell wie möglich verlassen. Die Karawanen sind in Menzoberranzan längst überfällig, und wir sind hier, um sicherzustellen, daß die fällige Zahlung erfolgt.« Pharaun sah sie finster an, und Quenthel erwartete, daß er ihr widersprechen würde, doch dann stand der Magier einfach nur auf und nickte.
Pharaun reagierte mit Erstaunen, als Quenthel ihn bat, noch einen Moment zu bleiben, nachdem sie den Rest der Gruppe entlassen und Jeggred angewiesen hatte, besonders Faeryl im Auge zu behalten. Diese Aufforderung hatte die Botschafterin am ganzen Leib zittern lassen. Der Magier stand schweigend da, während Quenthel die Tür schloß und ihn fragte, ob seine Ortungszauber noch aktiv seien. »Ja, tatsächlich sind sie das«, erwiderte der Magier. »Der Erkenntniszauber sollte einen vollen Tag lang wirken.« »Gut«, sagte die Hohepriesterin und nickte. »Ihr seid doch begabt im Umgang mit Erkenntniszaubern, nicht wahr?« Pharaun mußte grinsen, während er sich auf die Couch setz te und seine Hände spreizte, da er nicht verstehen konnte, warum ausgerechnet sie ihm ein Kompliment machen sollte.
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»Ich schlage mich ganz gut«, meinte er. »Ich will, daß Ihr etwas für mich tut«, fuhr sie daraufhin fort. Pharaun legte überrascht den Kopf ein wenig schräg, da es überhaupt nicht ihre Art war – und erst recht nicht in den letzten Zehntagen –, neben dem Verteilen von Komplimenten ihn auch noch um Gefallen zu bitten. Wir müssen wirklich sehr weit von Menzoberranzan ent fernt sein, dachte er sarkastisch. Es würde dem Magier natürlich einen Vorteil verschaffen, wenn er ihr wirklich einen Gefallen erweisen konnte, doch der erste Gedanke, der ihm durch den Kopf ging, war, daß sie ihn vielleicht nur benutzen wollte. Achselzuckend bedeutete er ihr fortzufahren. Nach einer langen Pause sagte die Hohepriesterin: »Ich will, daß Ihr jemanden für mich identifiziert.« »›Jemanden‹?« fragte Pharaun. »Ihr habt sicher noch mehr Angaben, mit denen ich arbeiten kann, oder?« »Ja ...«, antwortete Quenthel und biß sich auf die Lippe. »Jemanden, der versucht hat, mich umzubringen.« Pharaun setzte sich gerade auf und sah die Frau an, die vor ihm stand. »Euch?« Er war zutiefst überrascht. Nicht etwa, weil es unvorstellbar gewesen wäre, daß Quenthel Ziel eines Angriffs werden konn te – immerhin hatte sie allein durch ihren Status als Herrin Arach-Tiniliths eine Fülle von Feinden –, sondern weil sie zu dem Schluß gekommen war, sich ihm anvertrauen und ihm diese Aufgabe übertragen zu können. Wenn sie das wirklich wollte. Vielleicht versuchte sie auch nur, ihn zu beschäftigen, um ihn von anderen Dingen abzuhalten. Mindestens hundert mögliche Gründe gingen ihm durch den Kopf.
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»Jemand in Menzoberranzan hat Dämonen auf mich ange setzt«, erklärte sie. »Er hat sie direkt in die Akademie ge schickt. Zum Glück reichte mein Geschick jedesmal aus, um die Angriffe abzuwehren, doch ich will dem ganzen ein Ende setzen, noch bevor wir zurückkehren. Ich mußte sehr viele Untergebene opfern und viel Magie aufwenden, um mein Leben zu retten.« Pharaun nickte. Jemand, der mächtig genug war, Dämonen seinem Willen zu unterwerfen, mußte aus Sorcere kommen. Zweifellos verfügten etliche Magier dieser Schule über die nötigen Mittel, aber wie viele von ihnen konnten ein großes Interesse daran haben, Quenthel Baenre zu töten? »Ich werde mich darum kümmern«, sagte der Meister Sor ce-res schließlich. »Wenn ich herausfinde, wer die Dämonen auf Euch angesetzt hat, werdet Ihr es als erste erfahren.« »Gut«, erwiderte Quenthel. »Ihr werdet niemandem davon erzählen, nicht einmal den anderen Mitgliedern unserer Expe dition.« »Natürlich nicht, Herrin«, gab Pharaun zurück. »Die Sache bleibt unter uns.« »Sehr gut«, sagte die Hohepriesterin und gab zu verstehen, daß das Treffen beendet war. »Stöbert meinen Feind auf, und wenn wir siegreich nach Menzoberranzan zurückkehren, dann werde ich dafür sorgen, daß Ihr gebührend entlohnt werdet. Eure Zukunft in Tier Breche wird strahlend sein wie Narbon del.« Pharaun verbeugte sich. Das werden wir ja noch sehen, dachte er, wenn Ihr damit meint, daß ich durch tausend Eurer Tötungszauber so hell wie eine Flamme leuchten werde.
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Gromph saß an seinem Schreibtisch aus Knochen und grübelte über sein Unvermögen, einen Blick in das Dämonennetz zu werfen, in dem Lolth residierte. Keiner seiner üblichen Aus späh-Zauber war erfolgreich gewesen, und er wurde allmählich immer ungehaltener. Gerade überlegte er sich mögliche andere Methoden, um dieses Problem zu umgehen, als die Botschaft ihn erreichte. Es war nur ein Flüstern, doch Gromph erkannte dennoch die magisch übermittelte Stimme Pharaun Mizzryms. Wir haben Ched Nasad erreicht. In der Stadt herrscht Chaos. Muttermatronen herrschen nur noch dem Namen nach. Erforsche neue Möglichkeit, mehr mit der nächsten Nachricht. Quenthel will morgen Schwarze Klaue aufsuchen. Gromph preßte die Lippen zusammen, als der Name seiner Schwester fiel. Hoffentlich kommt sie nicht zurück, dachte er. Der Erzmagier kannte den Zauber, den der andere Magier benutzte, um mit ihm zu kommunizieren, und ihm war auch klar, daß er seinem Gesprächspartner eine Antwort zuflüstern konnte. Doch er war nicht darauf vorbereitet. Er überlegte rasch und flüsterte einige Anweisungen: »Richtet die Auf merksamkeit darauf, Informationen zu sammeln, die für unsere Situation von Nutzen sind. Haltet mich über alle neuen Mög lichkeiten auf dem laufenden. Berichtet über Euren Erfolg bei der Schwarzen Klaue beim nächsten ...« »... Kontakt«, beendete Gromph den Satz, wußte aber, daß der Zauber zu wirken aufgehört hatte, noch ehe ihm dieses letzte Wort über die Lippen gekommen war. Verärgert schüt telte er den Kopf, doch er wußte auch, daß der Mizzrym intelli gent genug war, um den Sinn der Botschaft zu verstehen. Ob er die Anweisungen allerdings auch befolgen würde, war ein ganz anderes Thema. Der Baenre-Magier lehnte sich in seinem Stuhl zurück und
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dachte eine Zeitlang darüber nach, in welcher Verfassung sich die Gruppe wohl befinden mochte. Vor allem fragte er sich, wie es Quenthel erging. Ob die Belastung seiner Angriffe ge paart mit den Anstrengungen der Reise schon ihren Preis gefordert hatten? Er wollte doch hoffen, daß dies der Fall war. Er nahm an, daß sie und Pharaun sich ständig stritten. Der Magier war zu selbständig und zu sehr von sich eingenommen, um zu erkennen, wann er die Hohepriesterin beschwichtigen mußte, und sie hatte viel zu lange zurückgezogen in der Aka demie gelebt und war zu sehr daran gewohnt, daß alles nach ihren Vorstellungen ablief. Sie war es nicht gewohnt, auf Ratschläge zu hören, mochten sie auch noch so vernünftig sein. Ja, das ist meine Schwester, dachte Gromph und machte ei ne finstere Miene. Oft kam es Gromph so vor, als würden seine beiden Schwestern nur aus dem einen Grund schlechte Entscheidun gen treffen, um anderen zu trotzen. Selbst wenn Quenthel ihre Reise überlebte, ging Gromph davon aus, daß sie nach der Rückkehr nicht mehr in der Lage war, sich gegen seine Atta cken zur Wehr zu setzen. Wenn sie die Reise überlebte. Sollte Quenthel die Expedition in Ched Nasad in den Untergang führen, dann wäre das eindeutig von Vorteil für Gromph. Er würde sie und Pharaun auf einen Schlag loswerden. Anderer seits war es durchaus möglich, daß das Schicksal Menzoberran zans auf den Schultern dieser beiden lag. War es wirklich eine kluge Entscheidung gewesen, sie beide loszuschicken? Gromph war sich noch nicht sicher, wie sein nächster Schritt aussehen würde, um endlich einen Blick in Lolths Reich zu werfen, doch es gab etliche neue Dinge, denen er sich jetzt zuerst widmen mußte. Er stand auf und eilte los, um seine Schwester zu finden.
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Triel zog die Augenbrauen hoch, als sie sah, daß Gromph den Audienzsaal betrat. Dies war kein Zeitpunkt, an dem Bittsteller aus der Öffentlichkeit vortreten konnten, und auch wenn ihr Bruder wohl kaum in diese Kategorie einzuordnen war, hatte sie gehofft, für einige Zeit Besuche vermeiden zu können. Die Muttermatrone richtete sich auf ihrem extrem großen Thron auf, als Gromph näherkam. Der Erzmagier verbeugte sich leicht und kam noch näher, was die Muttermatrone zusätzlich reizte. Ihr war es lieber, wenn man einen gewissen Abstand zu ihr wahrte. Gromph sprach mit gesenkter Stimme und beugte sich vor, so daß er nur flüstern mußte: »Triel, es gibt Neues.« Triel bezweifelte, daß die Wachen, die vor den Türen stan den, in der Lage waren, eine normale Unterhaltung zu belau schen. Andererseits war ihr Bruder nicht durch Nachlässigkeit der Erzmagier von Menzoberranzan geworden. Sie neigte den Kopf, um zu hören, was er zu sagen hatte. »Sprich«, sagte sie. »Quenthel und die anderen haben Ched Nasad erreicht«, sagte der Erzmagier. »Pharaun berichtet, daß sich die Stadt im Aufruhr befindet. Offenbar ist Menzoberranzan nicht die ein zige Stadt, die unter der Mißgunst Lolths leidet.« »Wir wissen nicht, ob es sich um Mißgunst handelt!« herrschte Triel ihn an. »Es könnte eine andere Erklärung ge ben.« Gromph neigte entschuldigend leicht den Kopf. »Unter ihrer Abwesenheit leidet«, korrigierte er sich. »A ber die Muttermatronen dort haben offenbar keine gute Arbeit geleistet, um diese Tatsache unter Verschluß zu halten.« »Wie schlimm ist es?«
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»Nach der Nachricht zu urteilen, könnte sich Ärger zu sammenbrauen ... großer Ärger.« Triel seufzte. Es war zwar eine Erleichterung, zu erfahren, daß Menzoberranzan nicht als einzige Stadt unter dieser Strafe litt. Dennoch half diese Neuigkeit nicht, um mehr darüber zu erfahren, warum Lolth sich zurückgezogen hatte. Triel war ratlos, was sie als nächstes tun sollte. »Hat er gesagt, was sie vorhaben?« fragte sie. »Quenthel scheint darauf bedacht, deine Anweisungen zu befolgen und Waren von der Schwarzen Klaue zurückzubrin gen«, erwiderte Gromph. Die Aussicht auf weitere magische Vorräte besserte Triels Laune ein wenig, aber nicht nennenswert. »Dann schätze ich, daß sie in wenigen Zehntagen zurück kehren werden«, sagte sie. »Wir sind einer Antwort noch immer nicht näher als zum Zeitpunkt ihres Aufbruchs. Es ist nur eine Frage der Zeit, ehe Menzoberranzan von den gleichen Problemen heimgesucht wird wie Ched Nasad.« »Leider könntest du damit der Wahrheit näher sein, als es dir klar ist.« »Hast du noch weitere schlechte Nachrichten?« Wenn der Morgen so anfing, dann hielt Triel es für eine bessere Alternative, bis zum Mittagsmahl in Träumerei zu verharren, anstatt sich zu erheben und sich den akuten Prob lemen zu widmen. »Ich habe Berichte erhalten, daß unsere Patrouillen rings um die Stadt wesentlich mehr Aktivitäten beobachten, als es sonst üblich ist.« »Aktivitäten?« »Exakt das, was du erwarten dürftest«, erklärte Gromph. »Es ist zwar nichts geschehen, es gibt keine Scharmützel, doch haben unsere Patrouillen etwas beobachtet, was wie Späh
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trupps aussieht, die sich ein Bild von unserer Lage machen wollen. Duergar, Tiefengnome, ja, sogar Kuo-toas sind in grö ßerer Zahl als üblich gesehen worden.« »Sie wissen es. Sie spüren, wenn etwas nicht stimmt.« »Vielleicht. Sie könnten aber auch nur auf der Durchreise sein ... auf der Reise anderswo hin, und uns fallen sie nur des halb auf, weil wir nun bewußter hinsehen, wer sich der Stadt nähert.« »Das bezweifle ich«, gab sie zurück. »So kann es nicht wei tergehen. Wir müssen uns umgehend damit befassen. Ich wer de das bei der nächsten Ratssitzung zur Sprache bringen.« »Natürlich«, sagte Gromph und zog sich zurück. Triel bedeutete ihrem Bruder, daß er gehen durfte, und sag te sich, daß es an der Zeit war, diesen Tag in Angriff zu neh men. Dennoch saß sie anschließend noch eine ganze Weile grübelnd auf ihrem Thron.
Quenthel war dankbar, daß sie Jeggred hatte, der sie vom Flamme & Schlange in den Lagerhausbezirk begleitete. Vom gestrigen auf den heutigen Tag hatte sich die Stimmung in der Stadt deutlich verschlechtert. Den Drow wurden mehr bedroh liche Blicke zugeworfen, und hin und wieder rempelte man sie auch an, während sie sich durch die Straßen bewegten. Zum Glück hatte das Trio keinen allzu weiten Weg zurückzulegen, und den größten Teil der Strecke schwebten sie einfach. Faeryl war in einer schlechten Stimmung, auch wenn sie bereitwilli ger als zuvor den Menzoberranzanyr helfen wollte. Dennoch war sie entweder verärgert, weil Quenthel ihr nicht genügend vertraute, oder sie ertrug einfach die Anwesenheit des Draegloth nicht. Quenthel konnte es ihr nicht verübeln, im merhin machte es Jeggred großen Spaß, Faeryl zu quälen. Fast,
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aber nur fast hätte ihr die jüngere Drow leid tun können. Quenthel hatte die Männer losgeschickt, um nach einem Transportmittel für die Rückreise nach Menzoberranzan Aus schau zu halten. Sie hatte nicht vor, ihr Gepäck noch einmal auf ihren eigenen Schultern zu tragen, ganz gleich, ob sie auf Vorräte stießen oder nicht. Wenn ja, dann würden sie genü gend Packechsen und Wachen zur Hand haben, um gewähr leisten zu können, daß alles sicher nach Hause gelangte. Valas Hune hatte sie gewarnt, daß jeder, der auch nur einen Pfifferling wert war, einen immensen Preis fordern würde, vorausgesetzt, man konnte ihn überhaupt zur Mitarbeit überre den. Quenthel war das jedoch völlig egal, und das hatte sie auch dem Späher gesagt. Warum war es bloß so, dachte Quenthel, als sie sich durch eine weniger belebte Seitenstraße den Lagerhäusern der Schwarzen Klaue näherten, daß man Männern immer alles bis ins Detail erklären mußte? Warum konnten sie nicht einfach das tun, was man ihnen auftrug? Pharaun war am schlimmsten. Quenthel war sicher, daß der Magier sich wieder seinen eigenen Interessen widmete und ihre Anweisung, Valas und Ryld zu helfen, ignorierte. Er hatte die aufreizende Angewohnheit, ihre Wünsche zu ignorieren, und das würde sie abstellen müssen – natürlich erst, nachdem sie wieder in Menzoberranzan waren. Im Augenblick waren seine Talente für sie noch zu wertvoll. »Vergeßt nicht«, sagte Quenthel warnend zu Faeryl, als sie sich dem Büro des Lagerhauses näherten, »sagt ihnen nur, was ich gesagt habe. Wenn diese Begegnung nicht zu meiner Zu friedenheit verläuft, wird Jeggred dafür sorgen, daß dieses Prob lem in Zukunft nicht wieder auftauchen kann.« Der Draegloth folgte den beiden Priesterinnen, und Faeryl warf ihm über die Schulter einen verstohlenen Blick zu.
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Quenthel bemerkte ihr Schaudern und mußte lächeln. Es hatte sich als ausgesprochen nützlich erwiesen, daß Triel in Menzoberranzan Jeggred auf die Frau angesetzt hatte. Es mach te sie ... folgsam. »Ja, Herrin Quenthel«, erwiderte Faeryl. »Ich habe verstan den.« Die drei hatten das Tor zum Lagerhaus erreicht, das sechs Wachen des Hauses Zauvirr sicherten. Faeryl ging mit zügigen Schritten auf sie zu, während die Männer beim Anblick des hünenhaften Draegloth die Augen verdrehten. »Wir müssen die Lager inspizieren«, erklärte Faeryl in ei nem Tonfall, den Quenthel für überraschend gebieterisch hielt. »Tretet zur Seite und laßt uns durch.« Dem Mann, der der Führer der Wachen zu sein schien, ge lang es, seinen Blick lange genug von Jeggred loszureißen, um sie fragend anzusehen. »Ich kenne Euch nicht«, erwiderte er. »Was wollt Ihr?« Faeryl kam noch einen Schritt näher und baute sich so vor dem Mann auf, daß er gezwungen war, zu ihr aufzublicken, dann nahm sie das Emblem ihres Hauses, das an ihrem Piwafwi festgesteckt war, und hielt es so, daß er es sehen konnte. »Du weißt, was das ist, nicht wahr?« herrschte sie ihn an. »Du bist hier, um das Gesindel fernzuhalten, Dummkopf, nicht eine persönliche Gesandte der Muttermatronen Zauvirr und Melarn.« Quenthel nahm mit Befriedigung wahr, daß der Mann schluckte und unübersehbar erschrocken war, während er eilig Platz machte, damit Faeryl Zugang zur Tür hatte. Die Botschaf terin trat ein, dicht gefolgt von Quenthel und Jeggred. Als Quenthel vorüberging, lächelte sie einen der Männer süßlich an, der noch immer den Draegloth anstarrte. Im Lagerhaus, das aus Netzen gesponnen und dann zu Stein
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ausgehärtet zu sein schien, führte Faeryl sie durch einen Büro komplex und von dort in eine höhlenartige Kammer, die durch niedrige Wände in eine Reihe kleinerer Lagerbereiche unter teilt worden war. Ihre Schritte hallten in dem weitläufigen Gebäude lange nach, als Faeryl an Reihen von Regalen und Kisten entlang eilte. Quenthel folgte ihr, da sie davon ausging, daß die Botschafterin wußte, wo die wertvollste Magie aufbe wahrt wurde. Quenthel vermutete, daß es einen gesicherten Bereich des Lagerhauses gab und begann, sich zu sorgen. Jegliche wertvolle Magie würde wahrscheinlich geschützt untergebracht sein. Ich hätte diesen Gecken Mizzrym mitbringen sollen, sagte sie sich vorwurfsvoll. »Herrin!« zischte Yngoth und erhob sich an der Peitsche. »Wir sind in Gefahr!« Quenthel fuhr herum, um nach Anzeichen für irgendeine Bedrohung zu suchen, konnte aber nichts entdecken. »Gefahr?« wollte sie wissen. »Wo?« »Eine Streitmacht ist hier ... Drow«, antwortete Zinda, die sich wie die vier anderen Schlangen an Quenthels Hüfte wand. »Drow und andere«, fügte Zinda an. Jemand hält sich hier versteckt, erkannte Quenthel. Was hast du getan, du unverschämtes Kind? Nur einen Herzschlag später tauchten hinter einer niedri gen Wand einige Drow-Soldaten auf, die Schwerter gezogen, die Armbrüste im Anschlag, dazu einige Hausmagier. Sie ge hörten zum Hause Zauvirr. Quenthel erkannte zwei der Drow als Muttermatronen. Eine von ihnen trug das Emblem des Hauses Zauvirr und lächelte kühl. Die andere, eine dickliche Drow, lächelte nicht, sondern wirkte ziemlich betrübt. »Bei der Dunklen Mutter«, hauchte einer der Männer, die
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in Faeryls Nähe standen, hob seine Armbrust und richtete sie auf den Dämon. »Er ist gefährlich«, rief Faeryl, doch mehrere der anwesen den Magier waren bereits in Aktion getreten und wirkten ihre Zauber, als der Draegloth nach vorn sprang, die Zähne ge fletscht, die Klauen ausgestreckt, um jeden zu zerfetzen, der nahe genug war. Faeryl schauderte und trat unwillkürlich ei nen Schritt zurück. Jeggred verharrte und ging in die Hocke, als wolle er wieder losspringen. Er fauchte wütend, regte sich aber nicht. »Das wird ihn bändigen«, erklärte einer der Magier. Quenthel hielt die Luft an und sah zwischen Jeggred und Faeryl hin und her. »Ja«, rief die ihr zu. »Er ist handlungsunfähig. Er kann dich hier nicht herausholen.« Quenthel richtete ihren wütenden Blick auf Faeryl, wäh rend die Soldaten ausschwärmten und sie einkreisten, ohne ihr zu nahe zu kommen. Viele der Männer hatten eine Armbrust auf sie gerichtet, und die Magier und Priesterinnen schienen alle bereit, zu einer Fülle von Zaubern zu greifen, sollte sich die Herrin der Akademie von der Stelle rühren oder gar angreifen. Die Schlangen an Quenthels Peitsche zuckten erregt und schnappten nach jedem, der ihnen zu nahe kommen wollte. »Du unverschämte kleine Welpe von einer Drow«, zischte Quenthel und bebte vor Zorn. Faeryl stand nur da und lächelte genüßlich. »Die ganze Zeit über warst du umgänglich, aber es war alles eine Lüge. Ich wußte, du warst viel zu entgegenkom mend. Ich hätte Jeggred auf dich loslassen sollen. Dafür werde ich dich häuten lassen.« »Das dürfte sich als schwierig erweisen, Herrin Quenthel«, erwiderte Faeryl und legte soviel Sarkasmus wie möglich in den Titel. »Wenn Ihr Euch einen Moment lang die Situation
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vor Augen führt, werdet Ihr sicherlich erkennen, daß Ihr un terlegen seid. Es wäre wirklich besser, wenn Ihr Euch ergäbt.« Quenthel kniff die Augen zusammen. Widerwillig mußte sie zugeben, daß Faeryl recht hatte. Sie war unterlegen. Sie nickte. »Hervorragend, Herrin«, sprach Faeryl. »Dann wäre das jetzt ein guter Zeitpunkt, die Waffen und auch all die wunder baren Schmuckstücke, von denen ich weiß, daß Ihr sie mit Euch herumtragt, niederzulegen.« Quenthels Blick wurde noch finsterer, dennoch legte sie die Peitsche auf den Boden. »Kommt schon«, ermahnte Faeryl sie. »Ich reise jetzt seit einigen Zehntagen mit Euch. Ich weiß von dem Ring, dem Stab und all den anderen Dingen. Macht es mir nicht unnötig schwer.« Seufzend begann Quenthel, die diversen Gegenstände abzu legen. Als Faeryl der Ansicht zu sein schien, die Hoheprieste rin stelle keine Gefahr mehr dar, befahl sie ihr, sich einige Schritte weit von ihren Habseligkeiten zu entfernen. Während andere herbeieilten und Quenthels Waffen an sich nahmen, ging Faeryl lächelnd auf sie zu. »Es tut mir leid, daß es so laufen muß, Quenthel«, sagte sie. »Aber ich bin sicher, Ihr versteht das.« Quenthel erwiderte das Lächeln, da sie zum Teil die Fassung wiedererlangt hatte. »Ich verstehe sehr gut, Botschafterin. Meine Schwester wird enttäuscht sein, wenn sie erfährt, was Ihr getan habt. Aber darüber würde ich mir nicht allzu viele Gedanken machen. Es ist nur eine Schande ... wenn Triel eines mehr vermissen wird als ihre Schwester, wird es ihr geliebter Sohn sein.« Faeryl verzog keine Miene, aber Quenthel hatte den Ein druck, daß sie ein ängstliches Schlucken nur mit Mühe unter drückte, während sie darüber nachdachte, wie die Muttermat
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rone des Hauses Baenre auf die Nachricht reagieren würde, daß man ihren Draegloth vernichtet hatte. Faeryl zuckte die Achseln und erwiderte: »Darüber können wir uns zu gegebener Zeit immer noch Gedanken machen, Herrin. Wenn Ihr nun so freundlich wärt, mich zu begleiten. Ich will Euch Muttermatrone Drisinil Melarn und meiner eigenen Mutter vorstellen, Herrin Ssipriina Zauvirr. Sie bren nen darauf, von Euch zu erfahren, wie Ihr unsere Vorräte steh len und nach Menzoberranzan schaffen wolltet.« »Diese Waren gehören Menzoberranzan. Sie sind unser rechtmäßiges Eigentum«, sagte Quenthel wieder wütend. Eine Stimme in ihrem Kopf ermahnte sie, endlich zu lernen, wie sie ihre Wut besser kontrollieren konnte, doch sie wollte nicht auf diese Stimme hören. Faeryl lachte zynisch. »Ihr habt doch nicht geglaubt, ich würde zulassen, daß Ihr in meiner Stadt mein Haus bestehlt?« fragte sie. »Ihr seid verrückt!« Die Botschafterin atmete tief durch, um sich ein wenig zu beruhigen, dann sprach sie mit eisiger Stimme weiter: »Seht Euch gut um, Herrin Baenre. Das hier ist alles, was von Euren wertvollen Vorräten übrig ist.« Erst jetzt wurde Quenthel bewußt, daß die Regalreihen und die Kisten so gut wie leer waren. Es gab nichts, was sie hätte mitnehmen können. Man hatte sie getäuscht, vielleicht sogar schon vom ersten Moment, als sie zu dieser Reise aufgebrochen waren. Man hatte sie zum Narren gehalten. Der Verrat kam nicht überraschend. Quenthel wußte, daß bei vertauschten Rollen das Haus Baenre nicht anders gehandelt hätte. Was sie so sehr verärgerte, war die Tatsache, daß die verdammte Baen re-Welpe, die für die Logistik dieser Abmachung verantwort lich war, nicht daran gedacht hatte, genügend dem Haus loya le Truppen aufzustellen, um eine solche Entwicklung gar nicht erst zu ermöglichen. Quenthel vermutete, daß die spärlichen
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loyalen Truppen überwältigt und hingerichtet worden waren, als die Krise sich verschärft hatte. Die Tatsache, daß niemand von ihnen mehr zu entdecken war, sprach eine deutliche Spra che. »Was habt Ihr mit den Waren gemacht?« fragte Quenthel, die zum Teil an der Antwort interessiert war, zum Teil aber auch Zeit schinden wollte, um einen Überblick über ihre Situ ation zu bekommen. Auch wenn sich etliche Drow-Soldaten versammelt hatten, bestand noch immer die Chance auf eine Flucht. Allerdings würde sie Jeggred zurücklassen müssen. Faeryl lachte. »Keine Sorge. Die Schwarze Klaue hat vor kurzem einen beträchtlichen Gewinn erwirtschaftet. Die Vor räte wurden für einen wesentlich besseren Zweck eingesetzt als für das, was Ihr mit ihnen vorhattet, Herrin.« Der Spott in den Worten der Frau war nicht zu überhören. »Das reicht«, sagte Ssipriina Zauvirr und trat vor. »Es gibt keinen Grund, die Überraschung zu verderben, die wir für unsere Gäste vorgesehen haben.« Während Faeryl gehorsam den Kopf vor ihrer Mutter neig te, verhärteten sich ihre Gesichtszüge. Doch Quenthel wußte, was hinter der Fassade steckte, denn die Zauvirr war äußerst erfreut darüber, sie geschlagen zu haben. Auch Muttermatrone Melarn trat vor. Oder besser gesagt: Zwei schwerbewaffnete Drow traten vor und eskortierten sie zwischen sich. Sie trug noch immer eine sehr ernste Miene zur Schau, aber sie sagte nichts. Ssipriina schlenderte noch ein Stück weiter, blieb dann a ber stehen. »Als mein Sohn mit Faeryl Kontakt aufnehmen und sie uns sagen konnte, was Ihr plant, haben wir keinen Augenblick gezögert, uns auf Eure Ankunft vorzubereiten. Ich muß sagen,
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ich bin erstaunt, daß Ihr wirklich geglaubt habt, Ihr könntet in ein volles Lagerhaus eindringen und die Waren vor unseren Augen aus der Stadt schaffen, ohne daß wir etwas davon mit bekommen. Aber das ist jetzt nicht wichtig. Wie meine Toch ter bereits andeutete, hat das Haus Zauvirr den Gewinn sinn voller eingesetzt.« Quenthel blinzelte. »Das Haus Zauvirr?« fragte sie. »Ihr seid lediglich die Sach walter. Das Unternehmen gehört den Häusern Melarn und Baenre.« Die Hohepriesterin wandte sich der anderen Mut termatrone zu und fragte: »Ihr laßt das zu? Ihr seid einverstan den, daß diese hinterhältigen Händler über Eure Investitionen entscheiden? Ihr seid noch gutgläubiger als ich.« Drisinil Melarn sagte kein Wort, verzog aber ein wenig das Gesicht, als Quenthel mit ihr sprach. Ssipriina lachte kurz und bitter auf. »Oh, sie ist alles andere als einverstanden, Quenthel. Aller dings hat sie keine Wahl.« Quenthel verstand, warum Muttermatrone Melarn so un glücklich dreinschaute. Die beiden Drow waren nicht ihre Eskorte, sondern ihre Bewacher. »Das habt Ihr gewagt?« Die Hohepriesterin sah Faeryl an. »Ihr habt Hand angelegt an die Muttermatrone eines hohen Hauses in Eurer eigenen Stadt und glaubt, damit durchzu kommen? Wie könnt Ihr erwarten, zu überleben, wenn ...« Quenthel preßte die Lippen aufeinander, da sie den Gedan ken nicht zu Ende führen wollte. Wenn Lolth euch keine Zauber gewährt. »Keine Sorge«, erwiderte Ssipriina mit einem noch breite ren Lächeln. »Mit dem Geld, das ich durch den Verkauf Eurer Waren eingenommen habe, konnte ich dafür sorgen, daß das Haus Zauvirr nie wieder vor einem von Euch niederknien muß.«
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Ihre Augen funkelten, als sie sprach, und Quenthel sah, daß in ihnen der blanke Haß brannte. »Hauptmann Xornbane, wenn ich dann bitten darf«, rief Ssipriina. Rings um die Drow tauchte wie aus dem Nichts eine Horde Grauzwerge auf, die in einem weiten Kreis um sie herumstan den und gefährliche Äxte sowie schwere Armbrüste zur Schau stellten. Sie hatten eindeutig schon vorher dort gestanden und waren nur unsichtbar gewesen. Die Duergar machten einen selbstsicheren, auf alles gefaßten Eindruck. Quenthel fühlte, wie Wut in ihr aufstieg, doch ehe sie etwas tun konnte, spürte sie, wie eine unsichtbare Kraft sie umgab und sie festhielt. Sie konnte keinen Muskel regen und sah, daß Drisinil Melarn sich in einer ganz ähnlichen Verfassung be fand. »Sollen wir sie sofort töten?« wollte einer der Duergar wis sen, der vorgetreten war.
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Ein Glück, daß Valas schon mal hier war und sich auskennt, dachte Ryld, als er seinem Gefährten durch das Gewühl folgte. Auf den Straßen war noch mehr los als am Vortag, wenn das überhaupt möglich war, und der Krieger war sicher, daß sie noch viel langsamer vorangekommen wären, wenn sie sich durch die Netzstraßen bewegt hätten, ohne zu wissen, wo sie die richtigen Informationen oder die richtigen Leute finden würden. Ryld und Valas hatten sich kurz nach dem Frühstück auf den Weg gemacht, der Späher hatte den größeren Drow in die unteren Viertel der Stadt der schimmernden Netze geführt. Auf Quenthels Anweisung hin versuchten sie, jemanden zu finden, der über Vorräte, Ausrüstung und Personal verfügte, damit sie nach Menzoberranzan zurückkehren konnten. Ryld zweifelte zwar immer noch daran, daß die Priesterin in den
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Lagerhäusern der Schwarzen Klaue irgend etwas von Wert finden würde, doch er hatte auch nicht die Absicht, der Herrin Arach-Tiniliths zu widersprechen. Was das zur Folge haben würde, hatte er zur Genüge bei Pharaun miterlebt. Aber Pha raun schien immer häufiger mit seinen versteckten kleinen Bemerkungen unbehelligt davonzukommen. Dem Krieger war auch klar, daß der Magier begonnen hatte, immer zielstrebiger seinem eigenen Plan nachzugehen. Ryld mußte sich durch eine Gruppe von Illithiden schieben. Illithiden! Fünf von ihnen standen an einer Ecke und schie nen von den Drow keine Notiz zu nehmen. Er folgte dem Spä her in eine schäbig aussehende Schänke. Ryld mußte ständig an Pharaun denken. Der Magier schien in der Lage zu sein, jeden von seiner Meinung zu überzeugen, und wenn das nicht funktionierte, fand er einen Weg, das zu tun, was er wollte, um es nachher völlig überzeugend als die einzig richtige Vorgehensweise zu erklären. Der Krieger fragte sich, wie oft sein Freund genau das auch mit ihm gemacht hatte, um sein Ziel zu erreichen. Valas Hune schob sich durch die Menge in dem überfüllten Lokal, um in den hinteren Teil des Raums zu gelangen. Aus irgendeinem Grund wurden Informationen immer an den Tischen in jenem Teil gehandelt, und auch diese Taverne stellte keine Ausnahme dar. Ryld nahm eine Position ein, von der aus er seinem Gefährten Rückendeckung geben konnte, während sich Valas Hune zu einem mürrisch dreinblickenden Drow setzte, dessen Piwafwi zerlumpt und verdreckt war. Dieser Drow war ganz sicher kein Adliger, auch wenn Ryld ihn des wegen nicht mit weniger Achtung behandeln würde. Der Waf fenmeister war auf den Straßen Menzoberranzans aufgewach sen und wußte besser als so mancher andere, was es hieß, als Bürgerlicher geboren zu sein.
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Auf dem Tisch stand ein Sava-Brett, ein Spiel lief. Ryld er kannte, daß der, der diesem Drow gegenübergesessen hatte, sich in eine schlechte Position gespielt hatte und offenbar vor dem unausweichlichen Ende aufgebrochen war. Am liebsten hätte er Platz genommen und mit ein paar Zügen versucht, die Niederlage noch abzuwenden, doch er zwang sich, seinen Blick abzuwenden und sich im Raum nach möglichen Anzeichen für nahenden Ärger umzusehen. »Wir sind auf der Suche nach Packechsen«, setzte Valas an und deponierte einige Münzen auf dem Tisch, um dann einen Zug auf dem Sava-Brett zu machen, »einige Vorräte und ein paar Männer, die das alles bewachen können.« Der Drow ließ seine Hand unter dem zerlumpten Piwafwi hervorschießen und das Gold verschwinden, noch ehe Valas Hune seinen Zug abgeschlossen hatte, der – wie Ryld bemerkte – kein besonders nützlicher war. Aber es war wohl besser, wenn er sein Gegenüber gewinnen ließ. »Ihr und so ziemlich jeder in der Stadt«, sagte der Drow la chend und verzog den Mund zu einem breiten Grinsen, das erkennen ließ, daß ihm einige Zähne fehlten. »So etwas macht mehr Gold erforderlich, als ihr beide haben dürftet«, fügte er hinzu und sah Valas Hune und Ryld abschätzend an. »Mach dir um das Geld keine Gedanken«, erwiderte der Späher, während sich Ryld im Lokal umsah. »Zeig uns einfach nur den Weg.« »Wenn das so ist«, meinte der Informant. »Ich kenne einen Duergar, der noch ein paar Echsen zur Verfügung haben könn te, die euren Ansprüchen genügen sollten. Wenn der Preis stimmt. Wie wäre es, wenn ihr eine Runde ausgebt, während ich jemanden hole, der euch hinführt?« Ryld verzog den Mund. Er hatte gehofft, sie würden das
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schnell hinter sich bringen, doch danach sah es nicht mehr aus. Der Drow stand auf, klopfte Ryld auf die Schulter und meinte: »Meine Güte, du bist aber ein kräftiger Bursche, weißt du?« Dann verschwand er. Ryld sah Valas Hune an, der ausgiebig das Sava-Brett zu stu dieren schien. Der Späher machte keine Anstalten, einen Ober heranzuwinken. »Bestellst du die Getränke, oder soll ich das tun?« fragte der Waffenmeister seinen Gefährten. »Nein, laß«, erwiderte Valas und blickte auf. »Wenn der Kerl zurückkehrt, werde ich sagen, ich hätte in dem Gedränge keinen Ober auf mich aufmerksam machen können.« Ryld nickte und wartete. Es dauerte nicht lange, bis der verdreckte Drow zurückkehr te, wobei er aber nicht von irgendwem begleitet wurde, son dern von vier großen Halb-Ogern. Ryld kniff die Augen zu sammen, als er sah, wie die Gruppe sich unsanft ihren Weg durch die Menge bahnte. »Das riecht nach Ärger«, murmelte er Valas zu, der den Hals reckte, um dem Krieger nachschauen zu können. »Laß mich aufstehen«, drängte Valas und schob Ryld weit genug zurück, damit er sich erheben konnte. Der Späher stand nun neben Ryld, der bemerkte, daß Valas zu seinen Kukris gegriffen hatte, sie allerdings so tief unten hielt, daß man sie nicht sofort entdecken konnte. »Das sind die Burschen, von denen ich euch erzählt habe«, sagte der Drow-Informant zu dem größten der Halb-Oger. »Die beiden, die viele Münzen haben.« Innerlich stöhnte Ryld, als der Halb-Oger, der gut einen Kopf größer war als der Drow, unheilvoll grinste. »Wir wollten gerade eine Runde Getränke holen, wie du
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vorgeschlagen hattest«, sagte Valas und machte eine Bewe gung, als wolle er an dem Halb-Oger vorbeigehen, der ihm den Weg versperrte. »Ich glaube, wir brauchen noch ein paar Krü ge mehr. Ryld, warum kommst du nicht mit und hilfst mir tragen? Dann können wir über das Geschäftliche reden.« »Ich wüßte etwas besseres«, gab der Halb-Oger mit tiefer, polternder Stimme zurück. »Warum setzt ihr euch nicht hin und erzählt uns, wieviel Gold ihr genau besitzt? Dann werden wir entscheiden, ob wir euch gehen lassen oder nicht.« »Das halte ich für keine gute Idee«, meinte Valas mit frosti ger Stimme. »Wir werden woanders unsere Geschäfte ab schließen.« »Ich kann mir vorstellen, daß ein Halb-Oger dumm genug ist«, sagte Ryld an den Späher gewandt, »um zu glauben, wir hätten das Kämpfen verlernt, nur weil Lolth schweigt.« Der Halb-Oger lächelte und sagte: »Das war ein ziemlich guter Witz, Drow.« Dann machte die Kreatur einen Satz nach vorn.
Letztlich war die direkteste Vorgehensweise der beste Weg, befand Pharaun, um in eine Magierinstitution Einlaß zu erhal ten. Durch sein Wissen über die Verteidigungseinrichtungen Sorceres wußte er nur zu gut, daß sich die meisten Formen der arkanen Tarnung entdecken ließen, ganz gleich, wie umsichtig er sich auch verhielt. Es lag in der Natur der Magier, anderen Magiern mit Mißtrauen zu begegnen. Pharaun hatte zudem festgestellt, daß die örtlichen Zauberwirker angesichts einer Handvoll verschiedener Akademien, Schulen und Forschungs einrichtungen in Ched Nasad einander sogar mit noch mehr Argwohn begegneten. Offensichtlich war das Ringen der verschiedenen Verbin
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dungen um neue Talente besonders heftig, und an oberster Stelle stand das Prestige, erfolgreiche Rekrutierungen vorwei sen zu können. Ganz nach Art der Drow scheuten die Verbin dungen vor keiner noch so brutalen oder hinterhältigen Me thode zurück, wenn sich dadurch das Machtgleichgewicht verschieben ließ. Welche bessere Vorgehensweise bot sich also an, als sich als potentielles neues Mitglied auszugeben? Er muß te dazu nur das Emblem seines Hauses ablegen und am Tor anklopfen, um darum bitten zu können, mit jemandem spre chen zu dürfen, der ihn durch das Haus führte und ihm von den Annehmlichkeiten und der Verantwortung und allem anderen erzählte. Er konnte sich problemlos als ein umherzie hender Magier ausgeben, der ein neues Zuhause suchte, ohne daß er dabei zu erkennen geben mußte, über welche Kenntnis se er verfügte und wo er sie erworben hatte. Der erste Ort, den Pharaun aufsuchte, war das beeindru ckende Bauwerk der Jünger Phelthongs, die vom Erzmagier Ched Nasads, Ildibane Nasadra, persönlich geleitet wurden. Pharaun nahm an, er werde in dieser größten und finanziell am besten ausgestatteten Schule das Gesuchte finden. Er achtete jedoch sehr darauf, dem kleinen Beamten, der ihn begleitete, klarzumachen, daß sein Interesse, sein Fachgebiet, das Studium unterschiedlichster Kreaturen war. Es war äußerst wichtig, daß die Einrichtung eine große Menagerie besaß, damit er sich dort auch wohl fühlen konnte. Als er erfuhr, daß die Jünger keinen derartigen Zoo unterhielten, entschied er sich gegen eine Füh rung. Seinen zweiten Anlauf unternahm Pharaun beim Arkanen Konservatorium, das weder besonders prachtvoll noch extrem schäbig war. Dennoch wollte er es versuchen. Der Drow, der ihn begrüßte, nachdem er den Wachposten sein Anliegen geschildert hatte, war ein Zauberer namens Kraszmyl Claddath
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aus dem Hause Claddath – ein kleiner und überraschend stämmiger Kerl mit blaßblondem Haar und schlechten Zäh nen. Pharaun täuschte mittelmäßige Fähigkeiten vor, während er sich vorstellte, und Kraszmyl schien ehrlich erfreut zu sein, seinen Gast durch das Anwesen zu führen. »Sagt, Meister Claddath, unterhält dieses Konservatorium eine Auswahl lebender Geschöpfe?« »Nun, wenn Ihr die beste Sammlung von Kreaturen aus der Welt an der Oberfläche und dem Unterreich meint, die gut untergebracht und versorgt sind, dann ja.« »Wie erfreulich.« Pharaun mußte seine Begeisterung nicht vortäuschen. »Das klingt nach dem richtigen Ort für mich.« »Sagt, Meister Pharaun, welches ist Euer Fachgebiet in die sem Bereich?« »Nun, mein letzter Auftrag bestand darin, für einen Kauf mann die verschiedenen Zuchteffekte bei Rothé-Herden zu beobachten«, log der Magier. »Aber ich habe mich jetzt einem neuen Spezialgebiet zugewandt. Ich möchte unbedingt mehr über Chitinen und Choldrithen in Erfahrung bringen.« »Tatsächlich?« Kraszmyl schien verblüfft, während er Pha raun weiter ins Innere des Konservatoriums führte. »Was um alles in der Welt findet Ihr an solch simplen Geschöpfen?« »Oh, ich finde sie außerordentlich faszinierend!« begeisterte sich Pharaun. »Auch wenn wir in ihnen nichts weiter sehen als Jagdwild, besitzen sie in Wahrheit doch eine ganz einzigar tige Kultur und eine religiöse Ausrichtung, die der unseren in vielen Punkten sehr ähnlich ist.« »Ich verstehe«, erwiderte Meister Claddath etwas steif. »Ich hoffe, Ihr seid keiner von diesen Kretins, die glauben, wir soll ten die Jagd auf sie einstellen.« Pharaun lachte. »Gewiß nicht«, sagte er. »Aber stellt Euch doch nur die Möglichkeiten vor, wenn ich sie zu einer größe
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ren Herausforderung machen könnte.« »Mir leuchtet ein, wie vorteilhaft das wäre. Da wären wir«, sagte der Mann und lotste Pharaun in einen Gebäudeflügel, in dem sich unzählige Käfige, Zellen und Verschlage befanden. Pharaun hatte noch nie eine solche Ansammlung verschie dener Arten gesehen und war zutiefst beeindruckt. »Das ist phantastisch«, sagte er. »Ja, das ist wohl wahr, Meister Pharaun, aber an Eurer Re aktion habe ich erkannt, daß Ihr etwas derartiges noch nie zuvor gesehen habt. Warum verratet Ihr mir nicht den wahren Grund für Euren Besuch in unserem Konservatorium?« Pharaun griff beiläufig in eine Tasche seines Piwafwi, holte einen Glassplitter hervor und drehte sich um, damit er den anderen Magier ansehen konnte, der durch zahlreiche Zauber geschützt war. In seiner Hand hielt er einen Stab, der auf den Gast gerichtet war. Pharaun wußte, daß der Drow ihn bereits benutzt hatte, vermutlich irgendeine Art von Verzauberung. Um mich dazu zu verleiten, die Wahrheit zu sagen, dachte Pharaun, dann fragte er: »Begrüßt Ihr so alle potentiellen Mit glieder?« Kraszmyl wirkte etwas überrascht und steckte den Stab weg. »Nein, nur solche, die wie aus dem Nichts vor unserer Tür auftauchen und behaupten, sie wollten sich uns anschließen.« Der andere Magier holte einen zweiten Stab hervor und richtete ihn auf Pharaun. »Vor allem solche, die so dumm sind, zu behaupten ...« Kraszmyl Claddaths Worte hingen in der Luft, sein Satz blieb unvollendet, da der Drow sich soeben in Glas verwandelt hatte. Sein Piwafwi, der Stab sowie zahlreiche Schmuckstücke, die seinen Leib zierten, waren natürlich unversehrt geblieben, doch das Fleisch selbst hatte sich zu reinem Kristall verwan delt.
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Mit einem beruhigten Seufzen steckte Pharaun den Glassplitter weg. »Wärt Ihr nicht so sehr damit beschäftigt gewesen, auf mei ne Dummheit aufmerksam zu machen, dann hättet Ihr womög lich die Worte meines Zaubers gehört«, sagte er zu der reglosen Gestalt und kam näher. In seinem gläsernen Zustand war der kleine, stämmige Drow schwer, doch es gelang Pharaun, den verwandelten Dunkelelf in genau die richtige Position zu bringen. »Dann wollen wir doch mal sehen, ob wir finden, was wir suchen.« Der Meister Sorceres verspürte den Drang, sich zu beeilen, da er nicht annahm, daß der Zwinger allzulange unbeaufsich tigt bleiben würde. Es waren sicher zahlreichen Studenten im ersten Jahr nötig, um all die gefangenen Kreaturen sauberzu machen und zu füttern. Er ging durch die Gänge zwischen den Käfigen und sah sich um, versuchte zu finden, was er brauchte. Obwohl er sich be eilte, fand er doch noch Zeit, sich von dieser Sammlung be eindruckt zu zeigen. Im Hintergrund sah er große Käfige, doch ihm fehlte die Zeit, seine Neugier zu stillen. Eine Schande, dachte er, als er um eine Ecke bog und seine Suche fortsetzte. Ich würde hier gerne einige Zehntage verbringen. Nach etlichen Reihen war er endlich am Ziel. Ein einzelnes Choldrithenweibchen saß schwermütig da, alle vier Arme von einer Art Gußstück aus Harz eingeschlossen, und starrte ihn mit ihren eindeutig humanoiden, silbrigweißen Augen an. Er hockte sich hin, um es genauer zu betrachten. Seine Haut erinnerte an Holzkohle, und es war völlig unbe haart. An seinem eher humanoiden Mund befand sich ein Paar Beißzangen, die aber so klein waren, daß Pharaun bezweifelte,
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daß sie noch eine Funktion erfüllten. Die Ohren ragten bis über ihren Kopf hinaus, ähnlich wie bei den Drow, aber noch betonter. Pharaun fand, sie sahen ein wenig aus wie Hörner. Nach allem, was er über diese Art bereits gewußt und zudem in Erfahrung gebracht hatte, war ihm die Notwendigkeit für das Gußstück klar, da nur dieses verhinderte, daß die Kreatur Zau ber wirken und sich befreien konnte. »Ich will dir einen Vorschlag machen«, sagte er in der übli chen Sprache des Unterreichs. Die Choldrithin starrte ihn nur an, erwiderte aber nichts. »Ich glaube, du verstehst mich sehr gut, trotzdem« – er holte diverse Objekte aus seinen Taschen – »ist es gut, daß ich mich vorbereitet habe, nicht wahr?« Er zog einen winzigen Zikkurat aus Lehm und eine Prise Ruß hervor. Rasch webte Pharaun zwei Zauber, einen, um ihre Sprache zu sprechen, und den anderen, um sie zu verstehen, wenn sie antwortete. Dann versuchte er es erneut. »Wenn du meine Fragen beantwortest, werde ich dich freilassen«, sagte er. Sie riß die Augen auf, weil sie Hoffnung verspürte, kniff sie aber gleich wieder mißtrauisch zusammen. »Du lügst«, sagte sie in einer seltsamen, schnalzenden Spra che, die nach den Geräuschen einer Spinne klangen. »Alle Drow lügen.« »Das wird in den meisten Fällen stimmen, aber nicht in die sem. Ich habe nichts davon, wenn ich dich in diesem Käfig lasse. Ich profitiere von den Antworten, die du mir gibst.« Als sie Pharaun nur anstarrte, unternahm er einen weiteren Versuch: »Was hast du zu verlieren? Du bist in einem Käfig in einer Drow-Stadt gefangen, deine Arme sind von Harz um hüllt, damit du Lolth nicht anrufen kannst. Auch wenn das egal ist, weil sie euch genauso im Stich gelassen hat, nicht wahr?«
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Wieder riß die Choldrithin die Augen auf. Pharaun wußte, daß er recht hatte. »Du weißt von Lolth?« fragte die Kreatur. »Ja, und ich versuche herauszufinden, wohin sie gegangen ist.« Der Magier war nicht sicher, glaubte aber, im Gesicht des bedauernswerten Wesens etwas entdeckt zu haben, das als Lächeln hätte durchgehen können. »Dann liebt sie die Dunkelelfen nicht mehr als uns«, sagte sie wie zu sich selbst. »Sie hat nicht zu euren Gunsten das Spinnenvolk im Stich gelassen.« »Nein. Wie es scheint, betrifft das alle, die sie anbeten«, antwortete Pharaun. »Ich möchte den Grund dafür herausfin den.« »Lolth webt ihre eigenen Netze. Lolth hat sich zurückgezo gen, doch sie wird wiederkehren.« »Was? Wie? Woher weißt du das?« »Ich werde dir nichts sagen, Mörder des Spinnenvolks. Be freie mich oder nicht, ich habe deine Fragen beantwortet.« »Das hast du«, stimmte Pharaun zu. »Ich werde dich aus diesem Käfig lassen. Wie du heimkommst, ist dir überlassen.« Der Magier öffnete die Käfigtür und trat zurück. Die Choldrithin näherte sich vorsichtig der Öffnung und beobach tete Pharaun argwöhnisch, da sie ganz offenbar mit irgendeiner Falle rechnete. Er wies mit nach oben gedrehter Handfläche auf den Ausgang, dann trat er noch einen Schritt zurück. Die Kreatur schoß an ihm vorbei und hatte schon die halbe Stre cke durch den weitläufigen Saal zurückgelegt, ehe der Magier aufhörte zu lachen. Er fragte sich, wie sie ihre Hände vom Harz befreien wollte, doch das sollte nicht seine Sorge sein. »Jetzt, wo ich das weiß, ist es Zeit zu gehen«, sagte er laut zu sich selbst. »Aber einen Blick werde ich trotzdem riskieren ...«
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Dann drehte er sich um und schlenderte zu den größeren Käfi gen, die er auf dem Hinweg gesehen hatte. Viele von ihnen standen leer, doch bei denen, die belegt waren, verschlug es Pharaun den Atem. In einem der magisch verschlossenen Käfige schwebte einen Kreatur, die sich von allem unterschied, was er je zu Gesicht bekommen hatte. Sie war entsetzlich und faszinierend zugleich. Ihr Leib war grau und weich und wirkte wie die Gehirnmasse mancher Kreatur, die Pharaun in seiner Jugend seziert hatte, etliche Tentakel hingen herab, und eine Art Schnabel ragte aus dem Leib her aus, doch Augen konnte der Magier nicht entdecken. Das Ding trieb in seinem Käfig, die Tentakel hingen herab. Nach einem Moment ging Pharaun weiter. Die nächste Kreatur war dem Magier vertrauter. Der Au gentyrann war ein kleines Exemplar von höchstens sechzig Zentimetern Durchmesser, vermutlich ein Junges. Die Augen des Geschöpfs waren milchigweiß und vernarbt und damit blind. Dennoch hatte Pharaun Angst, als er die Kreatur be trachtete. Von der anderen Seite des Raums war plötzlich ein Schrei zu hören, gefolgt von einem lauten Knall und dem Splittern von Glas. Pharaun lächelte. Das war Claddath gewesen, der ihn auf seine ganz besondere Weise warnte, daß sich jemand näherte. Der Magier fragte sich, welche Art magischen Alarms er wohl auslöste, als er eines seiner blauen extradimensionalen Portale entstehen ließ, eintrat und es außerhalb des Arkanen Konservatoriums wieder verließ. Egal, dachte er und ließ das magische Portal verschwinden, während er zwischen zwei Ebenen von Netzstraßen nahe der Höhlenwand hindurchschwebte. Sie werden glauben, es habe sich um einen Angriff einer rivalisierenden Institution gehan
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delt. Wenn jemand auf die Idee kommt, die Wachen zu fragen, werde ich berühmt. Mit diesem Gedanken sank Pharaun auf die Straße darunter nieder und machte sich auf den Weg zum Flamme & Schlange. Der Spaziergang zum Gasthaus wäre sicher sehr angenehm gewesen, hätte auf den Straßen nicht ein solches Gedränge geherrscht. Immer wieder schnappte er Gesprächsfetzen auf, die sich vor allem um die wachsende Unzufriedenheit der Bürger drehten, um einen unmittelbaren Angriff durch alle möglichen gegnerischen Spezies, die vor den Toren der Stadt lauerten, und um die Überzeugung, daß Lolth die Stadt ihrem Schicksal überlassen hatte. Mehr als einmal wurde er Zeuge einer sich anbahnenden Konfrontation, doch jedesmal, wenn er merkte, daß sich Ärger zusammenbraute, war er klug genug, einen anderen Weg zu nehmen oder sich in vielen Fällen ein fach in die Lüfte zu erheben, um einer Schlägerei auszuwei chen. »Pharaun«, hörte er plötzlich eine Stimme nach ihm rufen, als er durch eine Straße ging, in der ein Käsegeschäft neben dem anderen seine Ware feilbot, von der der Magier sich wünschte, sie würde weniger abgestanden riechen. Überrascht und vielleicht etwas genervt darüber, angespro chen worden zu sein, steckte er die Hände in seinen Piwafwi und überlegte, zu welchem Zauber er greifen sollte, um sich von jeglichem Ärger fernzuhalten. Pharaun wandte sich um und sah eine ausgesprochen hüb sche Drow, deren silbrigweißes Haar in glänzenden Locken bis auf ihre Schultern reichte. Sie hob eine Braue und lächelte ihn an. Er hatte das Gefühl, sie zu kennen. Ihr Kleid war unge wöhnlich, und ihm fehlte jegliches Emblem, das sie identifi ziert hätte. Am verräterischsten war aber, daß sie von mehr als nur einer Aura aus Magie umgeben war, die ihm verriet, daß
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sie nicht alles offenbarte. »Verzeihung ... kenne ich Euch?« fragte Pharaun. Ein Zwinkern und eine Aufforderung mit dem Zeigefinger waren die einzige Reaktion. Pharaun schlenderte ihr nach, da er auf ein wenig Vergnügen aus war, auch wenn er sich bewußt war, daß er sich möglicherweise auf ein gefährliches Spiel ein ließ. Die Frau führte ihn durch eine Reihe von Seitenstraßen, bis sie ein Wohngebiet erreichten. Die Drow duckte sich, ging durch eine niedrige Tür, wandte sich um und sah Pharaun erwartungsvoll an. Der zögerte an der Tür und sah sich auf der Straße um, ob er einen Hinweis darauf fand, was hier los war. »Kommt«, sagte seine geheimnisvolle Begleiterin und steck te den Kopf durch die Tür. »Nun kommt schon rein.« »Warum sollte ich?« fragte der Magier. »Ihr habt Euch of fensichtlich durch Magie getarnt, womit Euer Versuch, mich zu täuschen, ohnehin nur zum Teil von Erfolg gekrönt ist. Ich denke an mein Wohlergehen und werde hier draußen bleiben, aber danke.« Sie lächelte nur, und vor seinen Augen verblaßte ihre tar nende Aura. Ihr Haar wurde dunkel, ihre schwarze Haut nahm die Farbe reinsten Alabasters an. Die Kleidung, die sie am Leib trug, verwandelte sich in ein schwarzes Lederkorsett. Pharaun erwiderte das Lächeln und sagte: »Hallo, Aliisza.« »So, und nun kommt herein, damit wir reden können«, sag te das Alu-Scheusal und bedeutete dem Magier, ihm zu folgen, während es im Inneren verschwand. Das Haus war klein und sauber, wirkte aber sehr verlebt. Der gesamte Ort strahlte einen sanften violetten Schein aus, der ausreichte, um die abgewetzte Couch und den Tisch im Vorzimmer zu erhellen. »Ich möchte behaupten, das hier ist nicht Euer Zuhause«,
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sagte er, während er zusah, wie sich Aliisza provokativ auf der Couch niederließ. »Ich habe es mir nur für eine Weile geborgt«, antwortete die Dämonin, lehnte sich zurück und legte ein Bein hoch. »So lange werde ich nicht bleiben. Leider ist ein Zuhause wie alles andere in der Stadt zur Zeit keine gute Investition. Ich be zweifle, daß ich einen Käufer finden würde, selbst wenn es mir gehörte.« Pharaun grinste, während er sich der Frau gegenübersetzte. »Ihr habt also gemerkt, wie instabil der Markt im Moment ist, wie?« erwiderte er. »Eine Schande, das, aber andererseits muß es nicht Eure Sorge sein, wenn Euch das Haus nicht ge hört. Wo befinden sich derzeit die Eigentümer?« Wieder lächelte das Alu-Scheusal, doch in seinen Augen war ein gefährliches Funkeln zu sehen, als es antwortete: »Oh, ich glaube nicht, daß sie zurückkommen werden. Wir haben das Haus ganz für uns.« Sie legte sich auf den Bauch, stützte sich auf einen Ellbogen und ließ die Füße über ihren Schenkeln hin und her wippen. »Das klingt vielversprechend«, sagte Pharaun und grinste breit, während er sich vorbeugte. »Aber ein kluges Kind wie Ihr hat doch sicher Dinge zu erledigen und sich bei Kaanyr Vhok zu melden.« Aliisza verzog das Gesicht. »Ach, kommt schon, Ihr werdet mir doch jetzt nicht mit Ehre oder irgendwelchem anderen Unsinn kommen, oder etwa? Kaanyr ist weit weg.« »Es ist nicht so sehr der Zepterträger, den ich fürchte, mein liebliches Geschöpf, sondern ich selbst. Meine Mutter hat mich immer gewarnt, ich solle mich nicht mit bösen Mädchen einlassen, vor allem nicht, wenn sie Flügel haben. Ich bin nur ein Magier auf Wanderschaft, weit weg von zu Hause. Du könntest meine Situation ausnutzen.«
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Das Alu-Scheusal kicherte. »Im Gegensatz zu dem, was Eure Mutter Euch gesagt haben mag, sind wir ›bösen Mädchen‹ nicht immer darauf aus, einen Mann mit uns in den Abgrund zu nehmen. Manchmal gefällt uns einfach, wie ein Kerl aussieht.« Pharaun sah auf seine Hände, als er antwortete: »Sicher, und Ihr wollt Euch einfach nur ein wenig vergnügen, richtig? Ich würde gerne bleiben und Euch Gesellschaft leisten, aber ich muß ...« »Pharaun, ich weiß, was los ist«, unterbrach sie ihn mit ernstem Tonfall. »Lolth ist verschwunden, Eure Frauen verfü gen über keinerlei Magie mehr, und Ihr habt den weiten Weg von Menzoberranzan zurückgelegt, um den Grund herauszufin den. Das interessiert mich nicht. Nein, das stimmt nicht. Ich kann es kaum erwarten, Kaanyrs Gesicht zu sehen, wenn ich ihm das erzähle, doch das hat Zeit. Ich dachte nur, ehe ich zu ihm zurückkehre und Ihr Euch wieder auf Euren Weg macht, könnten wir uns noch ein wenig unterhalten.« Sie setzte sich wieder aufrecht hin und sah ihn an. »Außer dem«, fügte sie an, während sie die Schnüre ihres Korsetts aufzuziehen begann, »hatten wir beide nicht genug Zeit, um magische Tricks auszutauschen.« »Ich werde in nächster Zeit nirgends erwartet«, sagte Pha raun amüsiert. »Ich denke, ich könnte noch ein wenig blei ben.«
Ryld wußte, daß Splitter auf derart beengtem Raum so gut wie nutzlos war. Statt dessen griff er nach seinem Kurzschwert und zog es mit Leichtigkeit in einer fließenden Bewegung. Noch während er es hob, um sich gegen den heranstürmenden HalbOger zu verteidigen, erinnerte er sich wieder daran, wie es sich
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in seiner Hand anfühlte, an sein perfektes Gleichgewicht. Er wehrte den Hieb des hoch erhobenen Streitkolbens der Krea tur ab und schlug dann nach dem Leib der Bestie. Der Halb-Oger zuckte nur minimal vor Erstaunen, doch dann tauchte Valas Hune wie aus dem Nichts bei der Kreatur auf und zog einen seiner Kukris quer über ihre Kniesehnen. Als die sonderbar gekrümmte Klinge auftraf, gab es einen Licht blitz und ein Knistern, dann heulte die Bestie auf und brach zusammen, während sie sich vor Schmerz den Bauch und das Bein hielt. Aus dem Augenwinkel sah Ryld eine Bewegung und duckte sich gerade noch rechtzeitig, um einem Krug auszuweichen, den jemand nach ihm geworfen hatte. Der Krug verfehlte ihn und zerplatzte an der Wand nahe dem Tisch in tausend Scher ben. Ryld vergeudete keine Zeit damit, den Werfer ausfindig zu machen, sondern griff den nächsten Halb-Oger an. Er schlitzte ihm den Oberarm auf, Blut trat aus der Wunde, während die Kreatur zurücktaumelte. Dann wirbelte der Krieger zur Seite und wehrte einen großen Knüppel ab, mit dem ein dritter Gegner rechts von ihm ausgeholt hatte. Die Auseinandersetzung ließ andere Gäste im Schankraum aufmerksam werden, von denen viele den Halb-Ogern zujubel ten und ihn und Valas Hune beschimpften. Manche suchten möglicherweise gar nach einer Möglichkeit, sich in den Kampf einzumischen. Das wird noch viel schlimmer kommen, dachte der Krieger und hielt das Schwert zwischen sich und den Halb-Oger, der ihm den Weg zum Ausgang versperrte. Ein Armbrustbolzen traf ihn an den Rippen, wurde von sei nem Piwafwi und dem Brustschild aber davon abgehalten, ihn zu verletzen. Doch die Wucht des Aufpralls brachte ihn aus dem Gleichgewicht, und diesmal traf der Knüppel ihn an der
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linken Schulter. Sein Arm wurde sofort taub, und fast hätte er den Halt verloren, als sich jemand von hinten um sein Bein hakte, um ihn zu Fall zu bringen. Das ist Wahnsinn, dachte der Krieger, als er sich nach hin ten bewegte, bis er die Wand im Rücken hatte und den Tisch zwischen sich und die anderen Gäste schieben konnte. Von Valas Hune war nichts zu sehen. »Packt ihn!« zischte jemand aus der Menge. »Tötet die Drow!« schrie ein anderer. Niemand schien sich ihm aber nähern zu wollen. Ryld hielt sein Kurzschwert vor sich, um die anderen von sich fernzuhalten. Sein Blick wanderte auf der Suche nach seinem Gefährten durch den Raum, und er begann allmählich, sich zu fragen, ob der Späher vielleicht schon längst die Flucht angetreten hatte. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, daß er sich in einer solchen Situation wiederfand. Als ein Paar Quaggoths – große Humanoide mit weißem Fell, die manchmal auch als Tiefenbären bezeichnet wurden – einen Satz auf den Krieger zu machten, sah sich Ryld gezwun gen, sich wieder mit der aktuellen Lage zu befassen. Er wehrte mit einem Hieb seines Kurzschwerts den Speer ab, den die erste Kreatur ihm in die Brust jagen wollte. Dann trat er einen Schritt zur Seite, um dem zweiten Speer auszuweichen, der ihm beinahe die Kehle zerfetzt hätte. Von der Wand hinter ihm prallte ein zweiter Armbrustbolzen ab. In diesem Moment entdeckte er Valas Hune, der sich ir gendwie inmitten der Menge versteckt gehalten hatte. Der Späher jagte beide Kukris in den Rücken des ersten Quaggoth. Ryld blinzelte überrascht, nutzte aber die Gunst des Augen blicks, um mit einem tief geführten Schlag seine Klinge über beide Knie des zweiten Tiefenbären zu ziehen. Beide Geschöp fe brachen zusammen, während Blut aus ihren Wunden spritz
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te. Valas gesellte sich zu Ryld. »Das war beeindruckend«, sagte Ryld zu ihm, während sie beide mit ihren Waffen den schreienden, fluchenden Mob in Schach hielten. »Als die beiden dich angreifen wollten, erkannte ich die Gelegenheit und nutzte sie.« »Wie sollen wir hier wieder rauskommen?« fragte Ryld, der den Raum nach Fluchtwegen absuchte. »Sollen wir uns den Weg freikämpfen?« »Ich weiß nicht, was du vorhast, aber ich habe schon einen Fluchtweg«, gab Valas Hune zurück. »Wir sehen uns drau ßen.« Damit trat der Späher zurück in ein schimmerndes blaues Portal, das hinter ihm entstanden war. Ryld sah, wie das Portal sofort wieder verschwand und ihn mit der Horde wütender Gäste allein ließ. Von rechts näherte sich zaghaft ein Hobgob lin, während von links ein seltsames Echsenwesen und von vorn ein Ork näherkamen. Typisch, dachte Ryld. Jeder außer mir ist offenbar in der La ge, durch diese Portale zu verschwinden. Er sprang nach vorn, schlug nach dem Ork, drehte sich, um einen Hieb mit der kurzen Klinge des Echsenwesens abzuweh ren, trat nach dem Hobgoblin und holte abermals nach dem Ork aus, den er an der Wange traf. Blut spritzte, während Ryld sich daran machte, sich einen Weg durch die Menge zu bah nen, da er nicht an der Wand stehenbleiben und hoffen konn te, dort zu überleben. Während er sich durch die Menge bewegte und seine Geg ner um ihn herumwirbelten, kam ihm eine Idee. Er ging auf ein Knie und wehrte einige Schläge ab, damit er mit einer Hand auf den Boden schlagen und magische Dunkelheit her beirufen konnte. Fast der gesamte Schankraum war im nächs
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ten Moment in pechschwarze Finsternis getaucht, und aus dem wütenden Gebrüll wurden verwirrte, panische Rufe. Ryld machte diese Finsternis nichts aus, da er auch blind kämpfen und er seine Gegner so gut fühlen und hören konnte, wie er sie bei Licht sah. Die Reaktion der Menge war das, worauf Ryld gehofft hatte. Da keiner der Anwesenden daraufbrannte, einen Gegner an zugreifen, den er nicht sehen konnte und der möglicherweise im Gegenzug sie treffen würde, wichen sie vor ihm zurück und gaben Ryld den Freiraum, den er brauchte. Er griff über seine Schulter und zog Splitter. Da Valas nicht mehr bei ihm war, mußte er sich keine Gedanken darüber machen, er könnte ihn vielleicht mit einem Hieb treffen. Mit dem Zweihänder war es viel einfacher für ihn, sich den Weg zum Ausgang freizukämp fen. Ryld wartete nicht, bis die unbeherrschten Gäste wieder zu Sinnen kamen, sondern holte aus und schlug kraftvoll um sich, um sich der Tür nähern zu können. Die Schreie derer, die getroffen wurden, machten die anderen Gäste nur noch nervö ser. Es dauerte nicht lang, da hatte Ryld die Finsternis hinter sich gelassen und befand sich kurz vor dem Ausgang. Einige Schaulustige standen in der Tür, liefen aber rasch davon, als sie den stämmigen Krieger mit dem Schwert herannahen sa hen. Ryld blutete aus einer Reihe kleinerer Wunden, als er auf die Straße gestürmt kam. Valas Hune stand an die gegenüberliegende Hauswand ge lehnt und beobachtete ihn. Als Ryld den Späher sah, verzog er mißbilligend den Mund, doch bevor er seinem Ärger Luft machen konnte, nickte Valas und sagte: »So war es doch viel einfacher, dir den Weg nach draußen freizukämpfen, ohne dir Sorgen zu machen, du könn test mich dabei treffen, nicht wahr?«
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Ryld öffnete den Mund, um wütend etwas zu erwidern, er kannte dann aber, daß Valas eigentlich recht hatte, und preßte die Lippen wieder zusammen. Erst nachdem sich die beiden wieder aufgemacht hatten, sagte der Krieger: »Im nächsten Lokal nehmen wir einen Tisch an der Tür.« Es dauerte eine Weile, ehe Ryld merkte, daß sie sich dies mal nicht durch die Menge zwängen mußten, sondern daß die anderen Passanten ihnen ängstlich aus dem Weg gingen. Erst da wurde ihm bewußt, daß er noch immer Splitter in der Hand hielt und daß Blut von der Klinge tropfte.
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»Ja, Hauptmann Xornbane, entledigt Euch ihrer«, sagte Fae ryls Mutter, als sich die Grauzwerge Drisinil und Quenthel näherten. Die beiden Dunkelelfen und der Draegloth, die nicht die Flucht ergreifen konnten, starrten vor sich hin. Während Jegg red vor Wut zu kochen schien und sich bemühte, sich von dem magischen Griff um ihn zu befreien, wirkten Quenthel und Drisinil wütend und verzweifelt. Der Duergar, der gesprochen hatte, gab ein Zeichen, woraufhin sich mehrere Grauzwerge mit erhobenen Äxten in Bewegung setzten. »Halt!« rief Faeryl, beugte sich vor und flüsterte Ssipriina etwas ins Ohr. »Laßt uns die beiden Menzoberranzanyr noch nicht töten. Ich würde sie gern noch eine Weile leben lassen.« »Ich halte das für eine schlechte Idee«, sagte einer der Männer, der neben ihrer Mutter stand und sich ebenfalls
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vorgebeugt hatte. Faeryl warf dem aufdringlichen Mann einen wütenden Blick zu. Sie glaubte, sich erinnern zu können, daß er nicht zur Fami lie gehörte, aber seit Jahren eifrig für sie arbeitete. Sie glaubte, er heiße Zammzt, und rümpfte die Nase ein wenig, da er alles andere als gut aussah. »Mischt Ihr Euch immer in Unterhaltungen ein, die Euch nichts angehen?« fragte die Botschafterin. Zammzt verbeugte sich leicht, um eine Entschuldigung an zudeuten, und erwiderte: »Verzeiht, aber ich handle lediglich im besten Interesse des Hauses. Wenn diese geplante Subver sion und Überraschung zum Sturz des Hauses Melarn führen soll, dann darf niemand überleben, der die Wahrheit kennt. Wenn die Drow oder ihre Kreatur irgendwem – ganz gleich wem – berichten, was sich heute hier zugetragen hat, dann werden die anderen Häuser Euch den Rückhalt verweigern. Niemand wird Euch unterstützen, Muttermatrone. Es ist ein unnötiges Risiko.« Muttermatrone Zauvirr sah ihre Tochter nachdenklich an und sagte schließlich: »Das ist ein gutes Argument.« »Mutter, glaubt mir«, erwiderte Faeryl, »sie werden nie Ge legenheit bekommen, mit irgend jemandem zu reden. Dafür werde ich sorgen.« Schließlich nickte Ssipriina und sagte: »Also gut, ich glau be, du hast dir die Gelegenheit verdient, ein wenig Rache zu üben. Aber du mußt auf jeden Fall sicherstellen, daß sie zu niemandem ein Wort sagen können, vor allem nicht zu Ha lisstra. Verstanden?« Zammzt schnalzte besorgt mit der Zunge, doch offenbar war ihm klar, daß er besser nicht weiter argumentierte. Er hatte seine Ansicht geäußert und war unterlegen. Statt dessen begab er sich zu den Magiern und unterhielt sich mit ihnen.
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»Selbstverständlich«, erwiderte Faeryl. »Das verstehe ich nur zu gut. Wenn unser Plan erfolgreich sein soll, muß jeder glauben, die beiden hätten gemeinsame Sache gemacht.« »Genau. Ich muß jetzt gehen und mich vorbereiten. Wir haben noch viel Arbeit vor uns.« Mit diesen Worten zog sich Ssipriina Zauvirr zurück, gefolgt von Zammzt, der seinen Kopf zu ihr beugte, um ungestört mit ihr zu reden. Die Botschafterin kehrte zu Quenthel zurück. »Wißt Ihr, Herrin Baenre«, sagte sie und legte solche Beto nung in den Titel, daß er möglichst höhnisch klingen sollte, »wir haben eigentlich gar keine Waren der Schwarzen Klaue gestohlen, sondern Ihr. Jedenfalls wird es nach außen hin so aussehen, wenn wir verkünden, daß Mitglieder zweier mächti ger Häuser sich heimlich getroffen haben, daß sie dringend benötigte Vorräte aus Ched Nasad herausgeschmuggelt haben und daß sie planten, noch mehr an sich zu reißen. Ich bin sicher, die Leute werden sich fragen, warum sich Muttermat rone Melarn von ihrer eigenen Stadt ab- und Menzoberranzan zuwenden wollte, aber leider wird man sie das nicht fragen können, weil sie sich wehrte und getötet werden mußte.« Faeryl gab dem befehlshabenden Duergar ein Zeichen und fühlte, wie ihr warm ums Herz wurde, als drei Grauzwerge vortraten. Auf ihr Nicken hoben die drei ihre Äxte und holten aus. Hinter sich hörte Faeryl den erstickten Protestschrei Quenthels, doch sie machte sich nicht die Mühe, ihr auch nur einen Blick zuzuwerfen. Drisinil stöhnte auf, als sich die drei Äxte gleichzeitig in ihr Fleisch bohrten. Die Klingen fraßen sich tief in ihren Leib, und die dicke Drow riß vor Schmerz und Entsetzen die Augen weit auf, konnte aber auf keine andere Weise reagieren. Die drei Duergar zogen die Äxte heraus und wollten erneut zu
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schlagen, doch Faeryl gab ihnen ein Zeichen, daß sie warten sollten. Sie wollte Drisinil langsam sterben sehen. »Du wirst nie wieder auf mich herabsehen, du fette Rothé.« Drisinils Augen flackerten und wurden noch größer, sie schienen Faeryl anzuflehen, doch die jüngere Drow lächelte nur, stand da, die Hände in die Hüften gestemmt, und sah, wie sich das Blut der Muttermatrone in einer Lache rings um ihren reglosen Körper sammelte. Drisinil schauderte, ihr Blick wurde glasig. Einen Augenblick lang atmete sie schneller, dann er starrte sie. Ihre toten Augen starrten ins Nichts. Faeryl drehte sich wieder zu Quenthel um, die den Mord hatte mitansehen können. Die Hohepriesterin schien entsetzt und wütend zugleich dreinzublicken. Die Botschafterin trat dicht vor die Baenre-Adlige und lächelte. »Natürlich wird man berichten, Ihr wäret gefaßt worden, als Ihr versuchtet, vom Tatort zu entkommen. Dabei werden wir beide wissen, daß das nicht stimmt, wenigstens vorläufig nicht. Ihr und Jeggred werdet bis zu Eurer Hinrichtung untergebracht werden, wie man es mit mir in Menzoberranzan gemacht hat. Freut Euch das denn nicht? Statt hier und jetzt sterben zu müssen, werdet Ihr die Gastfreundschaft des Hauses Zauvirr genießen können, so wie ich die Gastfreundschaft Eurer Schwester genießen durfte.« Faeryl spie ihr die Worte förmlich ins Gesicht. Sie lächelte längst nicht mehr, statt dessen hatte ihr Haß die Überhand gewonnen, der sich aus der Pein entwickelt hatte, der sie aus gesetzt worden war. »Was dich angeht, du jämmerliches, stinkendes Biest«, sag te sie zu Jeggred gewandt. »Ich werde dafür sorgen, daß du lernst, was Schmerz ist.« Jeggred sah sie haßerfüllt an, doch sie zwang sich für die Dauer von drei langen Atemzügen, den Blick genauso starr zu
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erwidern, ehe sie sich von ihm abwandte. »Gruherth«, rief Faeryl und hielt in der Masse der umherei lenden Drow nach einem ihrer Brüder Ausschau. »Ich möchte, daß diese beiden unter absoluter Geheimhaltung ins Verlies des Hauses Melarn gebracht werden.« Gruherth tauchte neben ihr auf und sagte: »Wir werden ein sicheres Transportmittel brauchen.« »Das erledige ich«, sagte ein anderer Magier und näherte sich dem Scheusal. Der Magier zog ein paar Gegenstände aus den Taschen, dann wirkte er einen Zauber, der zur Folge hatte, daß sich um den Draegloth herum eine große weiße Blase bildete. Auf An weisung des Magiers hoben vier Wachen die Sphäre an – mit erstaunlicher Leichtigkeit, wie Faeryl feststellen mußte – und machten sich daran, sie in einen anderen Teil des Lagerhauses zu tragen. Der gleiche Zauber fand auch bei Quenthel Anwendung, dann wurde sie ebenfalls von vier Drow weggeschafft. Faeryl drehte sich um und hielt nach dem Anführer der Du ergar Ausschau. »Hauptmann ... Xornbane, nicht wahr?« Der Grauzwerg, der den Befehl gegeben hatte, Drisinil zu tö ten, nickte. »Wie ich hörte, sieht die nächste Stufe unseres Plans vor, Eure Kompanie unbemerkt ins Haus Melarn zu bringen.« »Stimmt«, erwiderte der Duergar und verschränkte unge duldig die Arme vor der Brust. »Sind alle Vorbereitungen getroffen worden, um das in die Tat umzusetzen?« »Ja«, sagte er und wandte sich ab, um Faeryls Mutter zu fol gen, während die Botschafterin über seine Unverschämtheit fast vor Wut kochte.
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Gruherth tauchte wieder auf. »Wir sind jetzt soweit, daß wir alles ins Innere von Haus Melarn schaffen können«, berichtete er. »Mutter will dich an vorderster Front haben, damit kein Mißtrauen aufkommt, falls irgendwelche Melarn-Truppen auftauchen, nachdem wir das Portal durchschritten haben.« Faeryl verzog das Gesicht, nickte aber. Sie hatte längst ver gessen, wie sehr sie unter der Fuchtel ihrer Mutter gestanden hatte, als sie das letzte Mal in Ched Nasad gewesen war. Aber das war für sie immer noch besser, als unter Quenthels Fuchtel zu stehen. Viel besser sogar.
Aliisza wackelte vor Vergnügen mit den Zehen, während sie sich neben dem Magier auf dem Bett ausstreckte. Es war lange her, daß sie sich so gut gefühlt hatte, und es war nicht allein das körperliche Vergnügen, das sie so verzückte. Dieser Pha raun war ausgesprochen geistreich und – ihrer Ansicht nach – für einen Drow ungestüm und clever. »Wie kommt es, daß du so völlig anders bist als die anderen deiner Rasse?« fragte die Alu, rollte sich an ihn heran und spazierte mit ihren Alabasterfingern an seinem schlanken, eleganten schwarzen Arm nach oben, während sie den farbli chen Kontrast genoß. »Jeder andere Dunkelelf, dem ich bis lang begegnet bin, war schal und langweilig. Du bringst mich zum Lachen.« Pharaun, der auf dem Rücken neben ihr lag und die Hände hinter dem Kopf verschränkt hatte, lächelte. »Ich schätze, es ist einfach Pech.« Aliisza zog verwundert die Brauen zusammen und fragte: »Was?« »Kannst du dir vorstellen, wie es für mich ist, die ganze Zeit
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über nur von ›schalen und langweiligen‹ Drow umgeben zu sein?« entgegnete er und setzte sich in den Schneidersitz. »Niemand weiß meinen Verstand zu schätzen. Ich mache eine witzige Bemerkung und ernte nur verständnislose Blicke, wenn ich mich mit anderen Drow-Männern unterhalte, und in der Gegenwart von Frauen werden mir nur finstere Blicke zuge worfen. Das ist deprimierend. Darum sage ich, ich habe Pech. Ich wurde als Drow geboren, doch ich habe einen viel schärfe ren Intellekt als die meisten meiner Art mit auf den Weg be kommen.« Aliisza kicherte und stützte ihr Kinn in beide Hände; ihr Blick war auf die roten Augen des Elfen gerichtet. »Ach, komm«, meinte sie. »So schlimm kann es nicht sein. Wenigstens kannst du mit anderen Drow reden. Sieh mich an. Ich verbringe den ganzen Tag damit, Tanarukks zu scheu chen.« »Ah, die Tanarukks. Ein paar Grunzlaute und eine obszöne Geste, und schon haben sie die gesamte Geschichte ihres Clans erzählt, nicht wahr?« Aliisza mußte lachen. »Ganz so schlimm sind sie nicht, aber sie sind gewißlich nicht für cleveren Humor empfänglich. Nicht mal Kaanyr verbringt gern so viel Zeit nur mit ... reden –« Sie hielt inne, als sie sah, wie das Lächeln des Magiers gefror. »Was ist?« »Warum mußtest du ihn erwähnen? Ich habe mich wohlge fühlt, bis du deinen anderen Liebhaber ins Gespräch bringen mußtest. Das eignet sich nicht gerade für Bettgeflüster.« »Tut mir leid, wird nicht wieder vorkommen«, versprach sie. »Aber verrat mir eines. Wie ist es möglich, daß du dir bei Quenthel diese spitzen Bemerkungen erlauben kannst? Ich dachte, die Frauen deiner Art würden diesen Unsinn nicht lange dulden.«
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Pharaun stöhnte und ließ sich auf sein Kissen sinken. »Anstatt besser, wird es immer schlimmer«, klagte er. »Wa rum mußt du so unerfreuliche Themen zur Sprache bringen? Du quälst mich. Habe ich dir so wenig Befriedigung ver schafft?« Aliisza schlug ihm lachend auf den Arm. »Beantworte einfach die Frage.« Pharaun betrachtete sie einen Moment lang. Auf einmal schien er wachsam zu werden. »Warum interessiert dich das?« Sie schüttelte den Kopf. »Aus keinem bestimmten Grund. Reine Neugierde, schätze ich.« Pharaun rollte sich von ihr weg zum Rand des Betts und fragte: »Warum bist du hier? Ich meine, in Ched Nasad?« Aliisza schmollte. Sie hatte nicht vorgehabt, den Magier zu beunruhigen, aber nun mußte sie sich einen Weg überlegen, wie sie ihn wieder beschwichtigen konnte. Sie entschied, die Wahrheit – oder zumindest ein ausreichend großer Teil der Wahrheit – sei die beste Medizin. »Weil Kaanyr will, daß ich herausfinde, was eigentlich los ist.« »Du hast gesagt, du wüßtest das längst. Du hast mir sogar erklärt, was los ist. Wonach suchst du noch?« »Nach nichts«, erwiderte die Alu und strich mit den Fin gern über die Arme des Drow. »Ich habe alle Informationen, die ich sammeln sollte. Bis auf den Besuch, den ich einer der Muttermatronen abstatten soll, um zu hören, ob sie Kaanyrs Unterstützung gebrauchen können. Es gibt zwischen ihnen einen alten Pakt. Ich bin noch hier, weil du hier bist.« Pharaun sah sie wieder an, dann lachte er und schüttelte den Kopf.
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»Ich wußte, daß dies keine gute Idee war«, sagte er dann. »Die Muttermatronen dieser Stadt sind diejenigen, die ich vor allem anderen meiden möchte, und du bist im Begriff, einer von ihnen einen Besuch abzustatten. Irgendwie klingt das für mich nicht erfreulich.« »Oh, hör auf«, gab Aliisza zurück und zog eine Braue hoch. »Ich werde keiner Muttermatrone von dir erzählen. Ich würde nicht wollen, daß ... du weißt schon wer ... davon erfährt.« Wieder lächelte sie. »Allerdings weiß ich nicht, wie du ange sichts der Gesellschaft, in der du reist, die Muttermatronen meiden willst.« »Du meinst Quenthel? Das ist kein Problem. Sie weiß, daß das Haus Melarn nicht von ihrem Plan begeistert sein wird, die Waren der Schwarzen Klaue mit nach Menzoberranzan zu nehmen, also ...« Der Magier stoppte mitten im Satz. »Ich sollte dir das überhaupt nicht erzählen, ich sexbesessener Idi ot!« Er sah Aliisza eindringlich an, seine roten Augen funkelten. Das Alu-Scheusal erwiderte den durchdringenden Blick, muß te aber unwillkürlich lächeln. »Was tust du, erwägst du jetzt, mich zu töten, damit dein Geheimnis nicht herauskommt?« fragte sie und rutschte ein Stück nach hinten, um sich zurückzulehnen und sich provozie rend auf den Ellbogen aufzustützen. »Ich wüßte etwas besse res«, sagte sie und merkte, wie ihre Stimme vor Verlangen heiser wurde. »Bring mir statt dessen noch einen anderen Zaubertrick bei.«
Pharaun verspürte eine Mischung aus Heiterkeit und Furcht, als er Aliisza in dem kleinen Haus zurückließ. Heiterkeit, weil er einen so befriedigenden Nachmittag mit der Alu verbracht
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hatte, Furcht wegen all der Dinge, die ihm versehentlich über die Lippen gekommen waren. Auch wenn er sich immer wie der ermahnt hatte, vorsichtig zu sein, war er doch einige Male ins Schlingern gekommen. In der Gegenwart dieser Frau war sein Verstand getrübt, der ihn sonst zur Vorsicht mahnte, und sein Gefahreninstinkt geriet bei ihr mehr oder weniger in Vergessenheit, so sehr er sich auch zu ermahnen versuchte, wachsam zu sein. Es war einfach eine von allen akzeptierte Praxis, daß ein Drow sich keinem anderen gegenüber öffnete und alles strikt für sich behielt, was er wußte, und doch hatte er mit ihr das Bett geteilt und ihr Dinge gesagt, die niemanden etwas angingen. Doch wenn er eine riskante Ablenkung hätte auswählen müssen, wäre Aliisza genau die richtige gewesen. Trotz aller Vorbehalte nahm Pharaun wahr, daß er unbe schwerten Schrittes unterwegs war, als er sich auf den Rück weg zum Flamme & Schlange machte. Er hatte nützliche In formationen, die er mit den anderen Menzoberranzanyr teilen wollte, und es gab noch eine ganze Reihe Erkenntniszauber, die er wirken wollte, weil er sich von ihnen mehr Aufklärung darüber erhoffte, was genau sich im Abgrund abspielte. Außer dem blieb ihm vielleicht noch Zeit genug, um sich Quenthels Bitte anzunehmen. Alles in allem entwickelte sich dieser Tag zu einem wahrhaft unvergeßlichen. Auch wenn Pharaun selbst guter Laune war, nahm er die angespannte Atmosphäre ringsum in der Stadt wahr und ach tete sorgfältig darauf, den übelsten Massen aus dem Weg zu gehen. Nach dem Erlebnis am Vortag hielt er es nicht für klug, sich in eine handfeste Auseinandersetzung mit einer Gruppe verärgerter Bürger verwickeln zu lassen. Daher achtete er dar auf, daß er die meiste Zeit über von einem Bereich der Stadt in den nächsten schwebte und die Leitern aus kalkummantelten Netzsträngen völlig mied, die die verschiedenen Ebenen mit
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einander verbanden. Unterwegs machte der Magier in einem schmuddelig ausse henden Geschäft namens Gauralts Gewürze halt, einem La den, der von sich behauptete, schwer zu findende Zauberkom ponenten im Angebot zu haben. Valas Hune hatte das Geschäft am Morgen erwähnt, bevor sie getrennter Wege gegangen waren. Pharaun fand den Laden genau dort, wo er sich nach der Beschreibung des Spähers auch hatte befinden sollen. Es war natürlich ein anderes Thema, genau das zu be kommen, was er suchte, doch Gauralt, der Drow, dem das Geschäft gehörte, konnte ihm die gewünschten vier Streifen Elfenbein und den speziellen Weihrauch geben, und damit war Pharaun auch schon wieder unterwegs. Als er im Gasthaus ankam, mußte er feststellen, daß keiner seiner Begleiter bislang zurückgekehrt war. Er vermutete, Ryld und Valas würden die meiste Zeit des Tages mit der Suche nach Vorräten und Lasttieren verbringen. Aber es überraschte ihn doch, daß Quenthel, Faeryl und Jeggred noch nicht vom Lagerhaus zurück waren. Zwar konnte er keine Erklärung dafür finden, was sie dort so lange taten, doch es beunruhigte ihn auch nicht weiter. Wenn sie hier wäre, sagte er sich, dann würde sie ohnehin nur wieder nach etwas suchen, worüber sie sich aufregen konn te. Im Geiste legte er eine Liste der Zauber an, die er wirken wollte. Zuallererst wollte er die neuen Komponenten benut zen, um festzustellen, ob er dahinterkommen konnte, wer Quenthel töten wollte. Und ihm wahrscheinlich Hilfe anbieten, setzte er in Ge danken grinsend hinzu. Er hatte auch vor, erneut zu versuchen, in die Abgründe der Dämonennetze zu spähen.
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Das war ein Zauber, den er in Menzoberranzan mehr als einmal versucht hatte, jedoch stets erfolglos. Er hoffte, fernab der Stadt der Spinnen ein zufriedenstellenderes Ergebnis zu erzielen. Einen Grund für diese Annahme hatte der Meister Sorceres zwar nicht, doch einen Versuch war es allemal wert. Pharaun holte die vier Streifen Elfenbein und den Weih rauch hervor und setzte sich hin, um sich seinem Zauber zu widmen. Das Wirken des Zaubers würde ihn sehr anstrengen und seinen Bestand an Zaubern stark dezimieren, doch wenn sich das Wissen, das er daraus gewinnen würde, als nützlich erweisen sollte, dann war der Aufwand durchaus gerechtfertigt. Der Magier legte die vier Elfenbeinstreifen auf dem Teppich zu einem Rechteck zusammen, zündete den Weihrauch an und schloß die Augen. Es war kein Zauber, den er oft wirkte, zudem erforderte er eine sorgsame Anwendung verschiedener Gesän ge und sehr spezifische Fragen. Er konnte sich keinen Fehler leisten, da er nicht wußte, wann sich die nächste Gelegenheit für diesen Zauber ergeben würde. Als der Weihrauch brannte und der Zauber begonnen hatte, stellte Pharaun seine Frage und flehte die Elementarkräfte der Magie und die Existenzebenen an, ihm eine Antwort zu lie fern. »Offenbart mir den Feind Quenthel Baenres aus dem Hause Baenre in Menzoberranzan, der sie vernichten will, der Dämo nen ausschickt, die sie in dem Tempel töten sollen, in dem sie regiert.« Der brennende Weihrauch flammte auf, und Rauch erfüllte den Raum. Nach einem kurzen Augenblick bildete sich in Pharauns Geist eine Botschaft, Worte, die der Wind sprach, oder vielleicht das Netz selbst. Wie auch immer sie ihm jedoch zugetragen worden war, er empfing sie deutlich. Der Feind, der den Tod der Hohepriesterin will, teilt ihr
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Blut und ihren Ehrgeiz. Quenthels Feind ist aus demselben Leib entsprungen, aber nicht vom gleichen Leib. Pharaun blinzelte, mit den roten Augen erfaßte er den ab gedunkelten Raum, während der letzte Rest des Weihrauchs ausbrannte und sich in Asche verwandelte. Aus demselben Leib entsprungen, aber nicht vom gleichen Leib. Ein Kind derselben Mutter, aber keine Frau. Ein Mann? Ein Bruder? Gromph! Das mußte es sein ... Pharaun war überrascht – nicht so sehr, weil der Erzmagier von Menzoberranzan seiner Schwester den Tod wünschte, sondern weil ihm selbst das bislang nicht aufgefallen war. Gromph würde großen Nutzen daraus ziehen, die einzige wirk liche Rivalin um die Gunst Triels auszuschalten. Der Erzma gier konnte sich nicht mit der Absicht tragen, den Thron des Hauses Baenre zu besteigen. Aber er konnte der Puppenspieler sein, der die Fäden zog. Quenthel war in jedem Punkt gegen das eingestellt, was ihr Bruder sagte, und umgekehrt sah es nicht besser aus, also war sie ein offensichtliches und immenses Hindernis, das seinem Ehrgeiz im Weg stand. Hinzu kam, daß Gromph sich mit den Verteidigungsein richtungen der Akademie bestens auskannte und die Macht besaß, die Dämonen zu beschwören, die bei den Angriffen zum Einsatz gekommen waren. Dieses Talent besaßen nur wenige andere, zumindest wenige, die ein Interesse an dem Ergebnis haben konnten. Es gab in Sorcere andere mächtige Magier, und Pharaun vermutete, daß einige davon gerne Quenthel als Herrin der Akademie abgelöst gesehen hätten, doch Gromph war der einzige von ihnen, der wirklich davon profitieren wür de. Auch wenn er jetzt die Antwort kannte, war sich Pharaun nicht sicher, was er damit anfangen sollte.
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Einerseits, überlegte er, bin ich mit Quenthel unterwegs. Habe ich mehr davon, wenn ich es ihr sage? Oder besiegele ich damit mein Schicksal, wenn ich nach Sorcere zurückkehre? Wenn ich Gromph sage, Quenthel wolle herausfinden, wer es auf sie abgesehen hat, und wenn ich ihm vielleicht sogar den Gefallen tue, sie in die Irre zu führen – oder sie auszulöschen, wie es eine leise Stimme in seinem Kopf vorschlug –, verbesse re ich dann damit meine Position in Sorcere? Oder wird Gromph mich nicht vor Triels Zorn beschützen können? Natürlich wußte Pharaun, daß die meisten seiner Entschei dungen davon abhingen, ob er nach Menzoberranzan zurück kehren würde, und nach wie vor plante er, Quenthel von ih rem Kurs abzubringen. Es gab noch immer zu viele Variablen, zu viele mögliche Enden, als daß er hätte sagen können, auf welche Seite er sich in diesem Geschwisterkonflikt stellen sollte. Quenthel konnte er noch eine Weile vertrösten. Sie wußte nicht, was er brauchte, um nach dieser Information zu suchen. Ihr konnte er vormachen, daß er Tage daran zu arbei ten hatte, den Zauber abzuschließen, oder daß er mit einem Elementar verhandeln und etwas hergeben mußte, um dadurch in den Besitz eines Zaubers zu gelangen, den er selbst nicht kannte. Es gab eine Fülle von Lügen, die er ihr erzählen konn te, um sie noch eine Weile warten zu lassen. Für den Augenblick jedenfalls würde er über seine Erkennt nis schweigen und statt dessen erst einmal abwarten, in welche Richtung die Rothé-Herde lief. Wenn die Zeit gekommen war, würde er sein Wissen nutzen. So oder so würde er seine Stel lung an der Akademie verbessern. Er blieb noch einen Moment lang sitzen und erholte sich von dem anstrengenden Zauber, dann begann er, seine Ausrüs tung zusammenzupacken und die Elfenbeinstreifen in einer Tasche seines Piwafwi zu verstauen.
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Anschließend holte er einen kleinen Spiegel aus seinem Rucksack. Für einen Augenblick fragte er sich, ob der Zauber, den er soeben angewendet hatte, um Quenthels Feind ausfin dig zu machen, unter diesen Umständen besser funktionieren würde, doch er könnte ihn nur dann ein weiteres Mal wirken, wenn er ein paar Stunden ausruhte und sich dann seinen Zau berbüchern widmete. Der Magier nahm all seinen Mut zusam men und begann, die Worte zu singen, die erforderlich waren, um die magische Ausspähung zu beginnen. Der Meister Sorceres wußte, daß der Zauber gefährlich war. Der Versuch, eine Gottheit zu beobachten, konnte verheeren de Folgen haben. Dennoch wollte er es versuchen, selbst wenn es nur dem Zweck diente, mehr darüber zu erfahren, was sich im Zuge der Abwesenheit Lolths zutrug. Indem er sich die Erinnerungen ins Gedächtnis rief, die ihm von seinem merk würdigen Besuch im Abgrund der Dämonennetze vor vielen Dekaden geblieben waren, konnte er den Zauber fertigstellen. Er sah in den Spiegel, der nicht sein eigenes dunkelhäutiges Gesicht zeigte, sondern Wolken, die an einem anderen Ort zu Hause waren. Mehrere Minuten lang sah Pharaun in den Spiegel, wartete und hoffte darauf, daß er irgend etwas würde erkennen kön nen. Er zwang das Spektralauge – von dem er wußte, daß es sich am anderen Ende seines Zaubers befand – dazu, vorwärts zu gleiten und nach hier und dort zu sehen, damit es in dem formlosen Nebel irgend etwas von Substanz erblickte. In seinem Hinterkopf spürte der Magier ein Kribbeln, eine Warnung. Im Geiste bemühte er sich, den Zauber zu beenden und die Verbindung zu dem Auge am anderen Ende des Vergessens zu durchtrennen. Fast wäre es ihm gelungen, aber nicht ganz. Eine Energierückkopplung fuhr in seinen Geist, schoß wie ein Faustschlag aus dem Spiegel heraus, während
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Pharaun gleichzeitig eine Wand aus Energie nach unten glei ten fühlte, die ihn von seinem magischen Auge trennte. Als seine Sinne zurückkehrten, merkte Pharaun, daß er auf dem Rücken lag und blinzelte, während seine Augen versuch ten, sich auf die Decke zu konzentrieren. Er ächzte und setzte sich, wobei er erkannte, daß er mehr als drei Meter von dem Spiegel weggeschleudert worden war. Mit weichen Knien stand er auf und torkelte wieder hinüber zum Spiegel. Er war zerbrochen, und Hunderte Risse zogen sich wie ein Spinnen netz über seine Glasoberfläche. Er betrachtete den nutzlos gewordenen Spiegel und fragte sich, ob das Muster Zufall war oder ob es irgendeine Bedeutung hatte. Diese Frage wäre damit beantwortet, dachte Pharaun. Ein Sterblicher kann nicht den Schleier durchdringen, der sich über die sechsundsechzigste Schicht des Abgrunds gelegt hatte. Vielleicht kann das ein höheres Wesen schaffen. Der Meister Sorceres schüttelte den Kopf und seufzte, wäh rend er begann, die Scherben aufzusammeln, die von dem Spiegel übriggeblieben waren. Warum mache ich mir diese Mühe? fragte er sich und überlegte, wie er den kläglichen Rest des Spiegels loswerden sollte. Für jeden tue ich alles, und im Gegenzug bekomme ich nur Kummer. Ich möchte wetten, daß sich andere Leute nicht so viel Arbeit machen, um ihre Gottheiten aufzuspüren, dachte er sarkastisch. Ich bin sicher, sie schlagen nur irgendwo nach und ... Der Magier erstarrte, da sich in seinem Geist eine Idee zu bilden begann. Fast hätte er sich selbst an den Kopf geschla gen. Natürlich, dachte er. Ich bin es völlig falsch angegangen! Warum habe ich nicht früher daran gedacht? Wir fragen den Falschen ...
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Pharaun warf die Glasscherben des Spiegels klirrend weg und lief im Zimmer auf und ab, um sich eingehender mit der Idee zu befassen. Ein Plan nahm Gestalt an, der ihn zuneh mend begeisterte. Das schwierigste daran würde sein, Quenthel zu überzeugen. Kurz darauf kehrten Ryld und Valas Hune von ihrem Aus flug zurück. Ein Blick auf die beiden genügte, um zu erkennen, daß ihre Bemühungen nicht nur vergebens gewesen waren, sondern auch in Gewalt gemündet hatten. Beide waren schlechter Laune und blutverschmiert. Valas Hune humpelte ein wenig, und Ryld schien nicht in der Lage, seinen linken Arm höher als bis zur Taille zu heben. Fast gleichzeitig ließen sie ihre Aus rüstung fallen und sanken jeder auf eine Traumcouch. »Ich darf annehmen, daß ihr nicht erfolgreich wart«, sagte Pharaun. »Keine Chance, Quenthels Vorräte aus der Stadt zu schaffen?« »Dreimal«, murmelte Valas Hune. »Wir haben es dreimal versucht, und zweimal sind wir für unsere Bemühungen in Schlägereien geraten.« »So wie es aussieht, steht keine einzige Packechse zur Ver fügung«, fügte Ryld an, der sich mit der unversehrten Hand die Augen rieb. »Wenn doch, dann ist offenbar niemand bereit, sie an jemanden zu verkaufen, der nicht aus der Stadt ist.« »Das glaube ich gern«, erwiderte Pharaun, »wenn man be denkt, daß schon so lange keine Karawane mehr in die Stadt gekommen oder von hier aufgebrochen ist. Jeder hält fest, was er hat, und wartet, daß die Krise vorübergeht.« Pharaun kümmerte sich eine Weile um seine eigenen Angelegenheiten, während die beiden Männer reglos dasaßen. »Ich spiele mit dir darum, wer es ihr sagen muß«, meinte Ryld zu Valas Hune. »Stein, Messer und Pergament?«
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Valas schüttelte den Kopf. »Wir sollten den Magier dazu bringen, es ihr zu sagen«, schlug er vor und wies auf Pharaun. »Ihm scheint es Spaß zu machen, sie bis aufs Blut zu reizen. Was macht da schon eine schlechte Nachricht mehr oder weniger aus seinem Mund aus?« Ryld nickte, und Pharaun lächelte. »Im Moment haben wir alle noch eine Schonfrist«, erklärte der Magier. »Sie und die beiden anderen sind noch nicht vom Lagerhaus zurück.« »Tatsächlich?« wunderte sich Valas Hune und setzte sich auf. »Ich hätte gedacht, sie würden lange vor uns zurück sein.« Pharaun zuckte die Achseln und sagte: »Ich auch, aber kei ner von ihnen ist hier.« »Mir soll’s recht sein«, sagte Ryld, lehnte sich an die Wand und machte die Augen zu. »Je weniger ich von diesem ver dammten Draegloth sehen muß, desto besser.« Pharaun schürzte die Lippen und erkannte, daß weder dem Waffenmeister noch dem Späher passen würde, was er als nächstes ansprechen wollte. »Ich habe heute auch etwas herausgefunden«, sagte er ru hig. Ryld öffnete ein Auge und sah den Magier an. »Oh?« Valas Hune lehnte sich vor. »Hast du herausgefunden, was mit Lolth geschehen ist?« »Nein«, erwiderte Pharaun. »Aber ich habe erfahren, daß sich ihr Verschwinden nicht auf unsere Rasse beschränkt. Auch andere Arten fühlen, daß sie nicht mehr da ist.« »Ich weiß nicht, ob das gute oder schlechte Neuigkeiten sind«, sagte der Späher und ließ sich nach hinten sinken. »Ich auch nicht«, stimmte Pharaun zu. »Aber ich habe
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auch entdeckt, daß etwas uns vom Abgrund der Dämonennet ze ausschließt. Ich habe zu spähen versucht, in der Hoffnung, etwas über Lolths Verfassung zu erfahren – ob sie überhaupt noch existiert –, doch ich konnte nicht vordringen. Eine Bar riere verwehrt mir und anderen den Zugang.« »Eine Barriere?« wiederholte Ryld. »Du sprichst über Dinge, mit denen ich keine Erfahrung habe. Was für eine Barriere?« »Eine mächtige. Ich wurde für meine Bemühungen fast zu Staub zermalmt«, sagte Pharaun mit einem ironischen Lä cheln. »Ich hatte es schon zuvor versucht, ich sprach sogar mit Erzmagier Gromph, ehe wir aus Menzoberranzan aufbrachen. Er stieß auf ähnliche Schwierigkeiten.« »Das klingt, als täte die Spinnenkönigin etwas, wobei sie von niemandem gestört werden möchte«, meinte Valas. »Sofern sie dafür verantwortlich ist«, gab Ryld zurück. »Vielleicht hat ein anderer Gott die Barriere errichtet, um zu verhindern, daß wir sie sehen.« »Genau!« rief Pharaun erfreut. »Sicher gibt es jemanden, der weiß – oder zumindest herausfinden kann –, was wir nicht entdecken können.« »Ich dachte, das war ohnehin unsere Mission ... Lolths Schicksal zu klären«, sagte Valas Hune. »Dafür sind wir doch hergekommen.« »Das ist richtig«, entgegnete Pharaun. »Allerdings scheint diese Angelegenheit der Lagerhäuser voller magischer Gegens tände die höchste Priorität eingenommen zu haben. Im Inte resse des faszinierenderen Teils unserer kleinen Expedition habe ich eine Idee entwickelt. Ich will Hilfe von außen rekru tieren.« »Hilfe? Von wem?« Nun setzte sich auch Ryld auf. Pharaun begann, im Zimmer hin und her zu gehen, während
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er seinen Gefährten den Plan erklärte. »Ein simpler Sterblicher, selbst jemand mit meinem Scharf sinn, kann den Schleier nicht durchdringen, der sich über die Abgründe der Dämonennetze gelegt hat. Irgend etwas hat es offensichtlich darauf abgesehen, uns von dort fernzuhalten. Wir müssen jemanden rekrutieren, der uns herauszufinden hilft, was dort wirklich vor sich geht. Jemanden, der nicht von unserem Schlag ist.« Beide sahen den Magier eindringlich, aber zweifelnd an. »Du meinst doch nicht ...«, begann Ryld. »Einen anderen Gott.« Ryld schien es die Sprache verschlagen zu haben. Valas Hune sagte nichts, mochte aber über die Möglichkeiten – und auch die Folgen – nachdenken. »Vielleicht könnte ein höheres Wesen«, fuhr Pharaun fort, »speziell eines, das sich ganz in der Nähe des Abgrunds der Dämonennetze aufhält – auf einer anderen Ebene des Ab grunds –, mehr erfahren, als wir uns jemals erhoffen können. Vielleicht können wir eines dieser Wesen davon überzeugen, uns zu sagen, was sich dort abgespielt hat oder abspielt.« Rasch fügte er an: »Natürlich nicht direkt, sondern durch einen Mittelsmann ... einen Anhänger.« »Du spielst ein gefährliches und törichtes Spiel, Pharaun«, sagte Ryld kopfschüttelnd. »Die Dunkle Mutter könnte ein solches Vorgehen als Gotteslästerung ansehen, als Verrat am Glauben.« »Oder aber sie gratuliert mir, weil ich so erfindungsreich bin, so sehr gewillt, zu untersuchen und zu forschen, ganz gleich, welches Risiko damit verbunden ist. Die andere Mög lichkeit ist die, unser Scheitern einzugestehen, nach Menzo berranzan zurückzukehren und untätig mit anzusehen, wie unsere Lebensart stirbt.«
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»Quenthel wird dieser Plan nicht gefallen«, warnte Valas Hune. »Sie wird ihn wahrscheinlich als persönlichen Affront auslegen.« »Aber Quenthel ist zu sehr darauf konzentriert, die Schatz kammer des Hauses Baenre zu füllen, um das Gesamtbild zu erkennen. Ich frage mich, ob es eine weise Entscheidung war, sie diese Expedition anführen zu lassen. Sieh mich nicht so an, Ryld. Du hast seit unserer Abreise selbst genügend ihrer Ent scheidungen in Frage gestellt.« »Nie offen. Nie ihr gegenüber.« »Sie ist nicht hier, oder? Mein Freund, ich spiele mit dem Feuer, das weiß ich. Aber wenn ich nicht so handle, wie es mein Herz will, dann lasse ich unsere Rasse viel stärker im Stich, als sie es macht. Ich begnüge mich damit, hinter den Kulissen zu agieren und sie glauben zu lassen, sie bestimme unseren Kurs und unser Tempo. Aber eine solche Methode erfordert Geduld und zeitweise mehr als nur mäßige Frustrati on, und sie beinhaltet auch die Möglichkeit, entlarvt zu wer den oder zu scheitern. Die Erfolgsaussichten wären größer, wenn wir drei zusammenarbeiten würden, um sie zu lenken. Ich könnte eure Hilfe brauchen.« Valas hatte das Kinn in die Hand gestützt und dachte nach. Ryld schüttelte den Kopf, Sorgenfalten zerfurchten seine Stirn. »Du kämpfst gegen Jahrtausende der Tradition und Ge wohnheit, Pharaun«, sagte er. »Ich kann nicht behaupten, daß mir die Idee gefällt, nach Menzoberranzan zurückzukehren und so schlau zu sein wie zuvor, aber die Autorität der Hoheprieste rin zu unterhöhlen könnte sehr wohl dazu führen, daß unsere Köpfe die Zinnen des Hauses Baenre zieren.« »Der Magier ist schon seit Zehntagen nicht mehr sehr weit davon entfernt«, sagte Valas Hune. »Mag sein. Aber bislang hat er sich allein mit ihr angelegt.
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Er hat uns nie mit hineingezogen.« Pharaun schnalzte verärgert mit der Zunge. »Glaubst du allen Ernstes, sie würde nicht uns alle für ver antwortlich halten, egal, wie sehr wer von uns daran beteiligt ist?« fragte der Meister Sorceres. »Sie wird dir die Schuld ge ben, nur weil du ein Mann bist, Meister Argith.« Ryld nickte langsam. »Du hast wohl recht«, sagte er. »Dennoch fühle ich mich deshalb nicht besser.« »Ich schlage ja nicht vor, daß wir sie fesseln und in eine Kiste stecken. Ich bitte dich nur, mich zu unterstützen, wenn ich den Vorschlag unterbreite. Hilf mir, sie zu überzeugen, daß der bessere Weg der ist, weiter vorzustoßen, anstatt nach Men zoberranzan zurückzukehren.« »Du hast recht«, erwiderte Ryld. »Aber im Moment ist dei ne Idee nur eben das: eine Idee. Hast du eine Ahnung, wo man eine solche Kreatur finden könnte?« »Ich weiß es«, sagte Valas Hune leise. Pharaun hockte sich vor den Späher hin und fragte: »Wo?« »Ich kenne da einen Priester, einen Anhänger Vhaerauns.« »Vhaeraun«, meinte Ryld abfällig. »Ich bezweifle, daß wir von dem Hilfe erhalten.« »Mag sein, aber Tzirik ist ein alter Bekannter von mir«, gab Valas zurück. Auf Rylds überraschten Blick hin fügte der Späher an: »Wenn du so oft durch die Wildnis des Unterreichs wandern würdest wie ich, dann müßtest du pragmatischer denken, als du es dir im gemütlichen Menzoberranzan erlauben kannst. Tzirik Jaelre schuldet mir einen Gefallen. Wenn wir zu ihm gelangen können, glaube ich, daß er uns helfen würde.« Valas wandte sich Pharaun zu und ergänzte: »Vorausgesetzt, du hast eine Vorstellung davon, was er tun soll, wenn wir bei
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ihm angekommen sind.« »Die werde ich haben«, erwiderte der Magier, »wenn wir den Priester gefunden haben. Inzwischen behältst du diesen Tzirik Jaelre für dich, bis ich mit Quenthel gesprochen habe. Wenn der Moment gekommen ist, erwähnst du, daß du ihn kennst. Dann machen wir ihr klar, wie sinnvoll diese Vorge hensweise ist, wenn wir sie durchziehen.« »Ich will nur hoffen, daß das Ende noch eine Weile auf sich warten läßt«, sagte Ryld und machte eine finstere Miene.
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Halisstra bekam keine Luft. Das Blut rauschte und pochte laut in ihren Ohren, wodurch sie kaum verstand, was Muttermat rone Zauvirr ihr sagte. Sie wollte es sowieso nicht hören. »Ich wünschte, es wäre nicht wahr, Halisstra. Aber es gibt keinen Weg, um es zu beschönigen. Wir haben sie auf frischer Tat ertappt, und als wir sie stellten, wollte sie nicht kapitulie ren. Eure Mutter wollte die Flucht ergreifen, daraufhin haben die Soldaten ihre Pflicht getan. Als ich sie erreichte, konnte ich ihr nicht mehr helfen.« Halisstra schüttelte den Kopf und versuchte, die verhaßten Worte aus ihren Gedanken zu verbannen. Ihre Mutter ... tot. Das war nicht wahr. Es konnte nicht sein! »Nein!« schrie sie auf und schob Danifae weg. Ihre Kriegs gefangene, die in dünne Seide gekleidet dastand, streckte ei nen Arm aus, um sie zu trösten. »Ihr lügt!«
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Sie wirbelte herum, um aus ihrem Zimmer zu gelangen, doch alle Ausgänge waren versperrt. Die Truppen Muttermat rone Zauvirrs schienen nur müßig dazustehen, als seien sie bei einem anderen zu Besuch, doch in Wahrheit waren sie strate gisch so verteilt, daß sie alle Türen bewachten. Sie sah sich um, ob sie irgendwo Soldaten ihrer eigenen Familie entdecken konnte, doch es war niemand auszumachen. Muttermatrone Zauvirr hatte es sehr gut geplant, ihre verheerende Neuigkeit aus einer Position der Stärke heraus zu überbringen. Jämmerlich sank Halisstra zu Boden, völlig im unklaren dar über, was sie nun tun sollte. Nur Danifae gesellte sich zu ihr, gab besänftigende Laute von sich und versuchte, sie zu trösten. Doch sie wollte nicht getröstet werden. Sie wollte die andere Drow schlagen, auf daß sie quer durch das Zimmer flog. Aber sie wuß te, daß sie das nicht tun konnte. Wenn sie darauf hoffen wollte, lebend aus dieser Situation herauszukommen, dann würde sie Danifaes Hilfe brauchen. Sie mußte nachdenken. Es ging nicht darum, daß ihre Mutter tot war. Das störte sie eigentlich nicht. Unter anderen Umständen hätte sie sich darüber gefreut, aber es gab keine anderen Umstände. Ihre Mutter war in flagranti beim Verrat an der Stadt erwischt worden, jedenfalls behauptete Ssipriina das. Halisstra hatte keine Möglichkeit, es zu widerlegen, auch wenn allein der Gedanke lächerlich war. Ihre Mutter hätte sich nie so offen sichtlich in Gefahr gebracht, und sie hätte erst recht keinen Fremden geholfen, ganz gleich, wie gut die Beziehungen zu diesem anderen Haus auch gewesen wären. Ganz zu schweigen davon, daß es für das Haus Melarn den Ruin bedeutet hätte, Waren der Händler der Schwarzen Klaue aus der Stadt zu schmuggeln. Sie hätte davon nichts zu profitieren, aber alles zu verlieren gehabt. Als Ssipriina in den Audienzsaal des Hauses Melarn ge
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kommen war, sich auf Drisinils Thron gesetzt und die Neuig keit verkündet hatte, war die Konsequenz klar gewesen, auch wenn sie unausgesprochen blieb. Drisinil hatte nicht allein gehandelt. Wenn der restliche Rat davon erfuhr, würde er Halisstra für mitschuldig an den Verbrechen ihrer Mutter erklären. Man würde alle Mitglieder der Familie gefangen nehmen oder hinrichten, das Haus Melarn auflösen und dessen Vermögen aufteilen. Es sei denn, Halisstra fand einen Weg, dem entgegenzuwirken. Sie war sicher, daß Ssipriina hinter allem steckte und vom Untergang des Hauses Melarn irgendwie profitierte, doch um erfolgreich zu sein, würde sie auch Halisstra aus dem Weg räumen müssen. Halisstra mußte schnell handeln, auch wenn sie wußte, daß die andere Drow die Erste Tochter des Hauses Melarn nicht aus den Augen lassen würde. Ihre einzige Chan ce bestand darin, Danifae loszuschicken. Das würde aber nur gelingen, wenn Ssipriina davon überzeugt werden konnte, daß ihre Kriegsgefangene mehr daran interessiert war, ihre eigene Haut zu retten, als ihrer Herrin zu helfen. Halisstra sah zu Danifae hinüber, atmete tief durch, um zur Ruhe zu kommen, dann gab sie ihrer Dienerin so verstohlen Zeichen, daß nur sie sie bemerken würde. Du mußt dich gegen mich wenden, signalisierte sie. Überzeuge sie davon, daß du mich lieber tot sähest. Hol Hilfe. Geh zum Haus Maerret. Als Danifae fast unmerklich nickte, holte Halisstra aus und versetzte ihr einen so heftigen Schlag, daß die Kriegsgefangene nach hinten geschleudert wurde und ein Stück über den Bo den rutschte. Danifae riß die Augen auf und faßte sich mit einer Hand an die Wange. Noch ehe sie den Mund aufmachen konnte und damit riskierte, die gewünschte Wirkung zunichte zu machen, schrie Halisstra sie an: »Wie kannst du nur so
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etwas vorschlagen! Das würde ich nie in Erwägung ziehen.« Danifae kniff die Augen zusammen, aber ob der giftige Blick echt oder Teil des Plans war, konnte Halisstra nicht mit Si cherheit sagen. »Dann verrottet doch in einer Zelle, bis man Euren Kopf auf eine Lanze steckt, Herrin!« Sie stand auf und strich sich langsam über den Rücken, dann zog sie die dünne Seide glatt, die kaum ihren kurvenreichen Körper verbergen konnte. »Wenn Ihr es nicht wollt, dann tue ich es und bringe mich selbst in Sicherheit!« Danifae wandte sich Ssipriina zu und sagte: »Herrin, ich fle he Euch unterwürfigst an, mir zu helfen, um von ihr befreit zu werden.« Das »ihr« zischte sie verächtlich und wies abfällig mit dem Daumen auf Halisstra, die immer noch auf dem Bo den saß. »Ich bin sicher, daß wir irgendeine Vereinbarung treffen können, die Ihr für lohnenswert genug erachtet, um mich aus diesem Dienst zu entlassen.« Ssipriina sah zwischen der Kriegsgefangenen und der Adli gen auf dem Fußboden hin und her, immer noch überrascht von dem plötzlichen Wutausbruch. Sie öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen, doch dann preßte sie die Lippen wieder aufeinander. Danifae nutzte diesen Moment des Schweigens, um weiter zureden: »Ich beginne, mich an Gespräche mit Herrin Ha lisstra zu erinnern, von denen ich glaube, daß sie sie belasten. Gebt mir einen Moment allein in ihren Gemächern, dann könnte ich mir wohl sogar noch mehr Beweise ins Gedächtnis rufen, daß sie von diesen schändlichen und verräterischen Akten wußte.« Sie sah Halisstra mit einem gehässigen Grinsen an. Obwohl Halisstra wußte, daß ihre Dienerin nur ihre Rolle spielte – jedenfalls hoffte sie das –, schauderte sie beim An
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blick dieses Gesichtsausdrucks. Drisinils Tochter holte tief Luft und mußte sich keine Mühe geben, zutiefst erschrocken auszusehen. »Muttermatrone«, sagte Halisstra, »ich versichere Euch, ich hatte keine Ahnung von den Plänen meiner Mutter. Meine Kriegsgefangene lügt offenbar, um ihre wertlose Haut zu retten, indem sie mich fälschlich bezichtigt. Ihr könnt nicht den Wor ten einer Kriegsgefangenen Glauben schenken. Sie würde Euch alles erzählen, nur um mich tot zu sehen.« Ssipriina sah einen weiteren Moment auf Halisstra hinab und lachte. »Natürlich würde sie das, du dummes Kind, und das freut mich um so mehr.« Die Muttermatrone wandte sich Danifae zu, lächelte und sprach: »Vielleicht können wir wirklich zu einer Vereinbarung gelangen. Geh und sieh zu, woran du dich erinnerst.« Danifae verbeugte sich tief vor der Muttermatrone, dann drehte sie sich um, sah Halisstra gehässig grinsend an und ging hinaus. Während Halisstra ihrer Dienerin nachsah, hörte sie Ssipriina tief durchatmen. »Nun zu dir«, begann die Muttermatrone in einem äußerst unerfreulichen Tonfall.
Faeryl Zauvirr stand über ihre Gefangene gebeugt und lächelte zufrieden. Die Schweißperlen, die auf Quenthels Stirn standen, vereinten sich immer wieder zu kleinen Rinnsalen, die ihr in die Augen liefen und sie zwangen, sie in Abständen zuzuknei fen. Ihr Mund war zu einer Fratze aus Schmerz und Elend er starrt, allerdings wäre es für sie auch nicht so leicht gewesen, einen anderen Ausdruck zu zeigen, da der Knebel aus zusam
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mengerollter Rothé-Haut so tief in ihrem Mund steckte, daß sie ihn unmöglich schließen konnte. In seiner Position gehal ten wurde der Knebel durch ein geflochtenes Band, das hinter ihrem Kopf fest verschnürt war. Ihr langes weißes Haar hing in Strähnen auf den Tisch, auf dem Quenthel lag. Faeryl trat einen Schritt von dem Tisch zurück, auf dem Quenthel bis aufs äußerste gestreckt festgebunden war. Handund Fußgelenke steckten in Fesseln an beiden Enden der Streckbank. Der nackte Leib der Hohepriesterin war gespannt wie die Saite eines Instruments und von einem Schweißfilm überzogen, der im Schein der Feuerschalen glänzte, aber Faeryl war noch längst nicht zufrieden. »Vielleicht sollten wir es noch mal mit den Nadeln versu chen«, dachte sie laut nach. »Die gehen so gut unter die Fuß nägel und machen solchen Spaß.« Quenthel stöhnte und schüttelte den Kopf, während sie die Augen aufriß. »Nein? Na ja, vielleicht finde ich ja noch etwas anderes, womit ich mich vergnügen kann«, sagte Faeryl und wandte sich einem der Roste zu, um sich die in ihm steckenden Werk zeuge vorzunehmen. »Einige davon glühen schon richtig gut. Ich habe gehört, die stumpfen Enden seien besonders gut für die Augen geeignet.« Das Stöhnen wurde schneller und wechselte in die nächsthöhere Oktave. Faeryl beugte sich wieder über Quenthel, doch diesmal lä chelte sie nicht. »Wir haben uns bislang nur an der Oberfläche bewegt, Her rin Baenre«, sagte sie verächtlich und betonte einmal mehr ihren Titel auf jene sarkastische Weise, die ihr längst in Fleisch und Blut übergegangen war. »Wir haben endlose Stun den, um das hier zu genießen, und ich will sicher sein, daß Ihr
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jede noch so kleine ›Zärtlichkeit‹ erfahrt, die Jeggred mir zuteil werden ließ.« Quenthel schloß die Augen, als ein ersticktes Stöhnen sei nen Weg an dem Knebel in ihrem Mund entlang fand. Faeryl vermutete, daß die Hohepriesterin zitterte, aber viel leicht war es auch nur das Zucken ihrer Muskeln, die schon so lange gestreckt waren. Sie lachte leise und wandte sich ihrem anderen Gefangenen zu. Jeggred war an eine dicke Säule gekettet – mit einer Kette, die ihn von den Füßen bis zum Kinn umgab und so fest saß, daß er nur den Kopf bewegen konnte, den er in dem Bemühen hin und her warf, sich zu befreien. Er knurrte Faeryl an, als sie ihn ansah. »Ich weiß«, schmachtete sie und kam näher. »Du möchtest mich gerne ausweiden, nicht wahr? Du willst mein Blut ver gießen und darin tanzen.« »Du wirst einen langsamen, schmerzhaften Tod sterben«, grollte Jeggred. »Dafür werde ich sorgen.« Faeryl wedelte eine Hand vor ihrer Nase hin und her. »Hör auf zu reden, du Bestie. Dein Atem stinkt.« Jeggred knurrte nur. Faeryl sah ihn eindringlich an und sagte: »Erinnerst du dich an die Dinge, die du mir angetan hast?« Sie erbebte fast, zwang sich aber, ruhig zu bleiben. »Ich werde es dir heimzahlen ... Stück für Stück, und wenn ich mit dir fertig bin, dann schicke ich deinen Kadaver zu Triel.« Jeggred lächelte. »Ihr habt nicht einmal den Ansatz einer Ahnung, welche Methoden es gibt, um Schmerz zu verursa chen. Was ich getan habe, war nur ein kleiner Teil dieser Methoden, und es gibt nichts, was Ihr Euch ausdenken könnt, von dem ich auch nur Notiz nehmen würde.« »Wirklich?« erwiderte Faeryl und schürzte die Lippen. »Das
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werden wir ja sehen. Meine Berater haben mir gesagt, was du fühlst und was nicht. ›Er ist unempfindlich gegen Säure und Feuer, und Kälte und Blitze lassen ihn auch nicht leiden‹, haben sie gesagt. Aber wir finden etwas. Ganz sicher sogar. Vielleicht Geräusche? Es gibt etwas, das du nicht magst, und wenn ich es herausgefunden habe, dann wirst du dich viele Stunden daran erfreuen können. Das verspreche ich dir.« Sie hörte Schritte auf dem Steinboden an der Tür. Gereizt drehte sie sich um, um zu sehen, wer sie störte. Es war Zammzt. »Was willst du?« fragte sie. Sie wußte, daß der Adjutant im Auftrag ihrer Mutter hier war und ihr zweifellos befehlen sollte, sich zur Muttermatrone zu begeben. Das machte sie nicht glücklich, und da sie ihre Wut nicht an ihrer Mutter auslassen konnte, mußte dieser häßliche Mann herhalten. Der Dunkelelf beugte ein Knie und neigte leicht den Kopf. »Ich bitte um Verzeihung, Herrin, aber Eure Mutter wünscht Euch sofort im Audienzsaal zu sehen.« »Natürlich«, zischte sie. »Wenn sie auch nur auf die Idee kommt, ich könnte gerade nicht beschäftigt sein, hat sie sofort eine Aufgabe für mich.« Als Zammzt einen winzigen Augenblick zögerte, warf Faeryl ihm einen wütenden Blick zu und raunzte ihn an: »Worauf wartest du? Geh und sag ihr, ich sei auf dem Weg.« Zammzt eilte aus der Folterkammer und verschwand um ei ne Ecke, während sein Piwafwi hinter ihm herwehte. Faeryl wandte sich wieder Quenthel zu. »Ich werde wiederkommen und Euch mit etwas anderem beglücken«, sagte sie. »Ich möchte zu gerne diese Nadeln noch einmal ausprobieren. Vielleicht unter den Fingernägeln? Wäre das was?« Die gefesselte und geknebelte Hohepriesterin gab einen
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kläglichen Laut von sich. »Wirklich? Na, das freut mich aber, daß Euch meine Idee gefällt.«
Danifae Yauntyrr erwartete nicht wirklich, daß Muttermatrone Zauvirr ihr völlige Bewegungsfreiheit im ganzen Haus zugeste hen würde, und ihr Verdacht wurde umgehend bestätigt. Als sie nach einem letzten Grinsen in Halisstras Richtung den Audienzsaal verließ, bemerkte sie das leichte Kopfnicken Ssipriinas, das an zwei Wachen nahe der Tür gerichtet war. Sie durchschritt das Tor, und prompt folgten ihr die beiden wort los und unaufdringlich. Die Kriegsgefangene verzog den Mund als Zeichen ihrer Frustration, aber sie hatte auch nicht mit etwas anderem gerechnet. Es war jedoch nicht weiter schlimm, da sie dem mühelos begegnen konnte, indem sie etwas mehr schauspielerte. Danifae ignorierte die beiden Soldaten des Hauses Zauvirr und ging zu Halisstras Privatgemächern, in denen sie ebenfalls der Träumerei nachging, damit sie sich um jedes Bedürfnis der adligen Drow kümmern konnte. Sie vermutete, die Wachen würden nicht so unverschämt sein, ihr in die Räumlichkeiten zu folgen, und erneut wurde ihre Vermutung bestätigt. Sie trat ein und schloß die Tür. Sobald sie allein war, lief sie im Zim mer auf und ab und überlegte, welche Möglichkeiten sie hatte. Halisstra hatte ihrer Dienerin eine perfekte Gelegenheit ge geben, sich aus der Unterjochung der anderen Drow zu befrei en. Danifae mußte fast über die Gutgläubigkeit ihrer Herrin lachen, wenn die dachte, Danifae würde loseilen, um Hilfe zu holen. Nach zehn Jahren als Kriegsgefangene wollte Danifae diese armselige Drow nur noch loswerden. Sie wollte einfach nur nach Eryndlyn zurückkehren. Das Problem war jedoch, daß
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Halisstras Bindezauber nach wie vor wirkte, so daß Danifae nicht sicher sein konnte, ob sie selbst mit der Hilfe von Ssiprii na Zauvirr freikommen konnte. Vielmehr war sie fast sicher, daß Ssipriina sie einfach an der Seite Halisstras untergehen lassen würde, sobald sie »Beweise« für die angebliche Mit schuld der Tochter Drisinils an den Handlungen der Mutter matrone geliefert hatte. Danifae wußte, daß sie zuerst für ihre eigene Freiheit sorgen mußte und auf niemanden mehr angewiesen sein durfte. Nur wie? Sie haßte den Effekt des Bindezaubers, der in seiner Wir kung einfach hinterhältig war. Auch wenn Danifae nicht wirk lich daran glaubte, wünschte sie sich manchmal, der Bindezau ber würde ihren Verstand vollständig kontrollieren, statt sie nur daran zu hindern, sich von Halisstra zu entfernen. Sie sagte sich, es wäre besser gewesen, der Melarn-Tochter wie ein geist loser Zombie zu dienen, anstatt aus eigenem Antrieb zu han deln und willentlich die Folgen zu vermeiden, die eintraten, wenn sie sich zu weit von ihrer Herrin entfernte. Sie war an Halisstra genauso gebunden, als seien sie beide durch eine lange Kette miteinander verbunden. In den ersten Jahren hätte Danifae ihre Herrin zu gern er würgt, doch Halisstras Tod hätte auch ihr Ende zur Folge ge habt, und Danifae hätte ihr eigenes Ende auf eine quälend langsame und extrem schmerzhafte Weise erlebt. Genau das war die Absicht des Bindezaubers. Er hielt sie am Leben, so lange Halisstra das wollte. Die Entfernung spielte keine wirkli che Rolle, doch in dem Moment, in dem Danifae Halisstras Wünsche mißachtete und ihren eigenen Weg ging, würde die andere Drow sie ohne Zweifel dahinwelken lassen wie einen Pilz, dessen Wurzeln man abgehackt hatte. War die Drow nicht zufrieden, konnte sie Danifae mit einem einzigen Ge
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danken eingehen lassen. Bei Lolth, sie haßte das zutiefst. Die Magie, die hinter dem Bindezauber steckte, war Danifae fremd. Sie wußte nicht, was erforderlich war, um ihn zu been den, sie wußte nicht einmal, ob außer Halisstra selbst irgend jemand das konnte. Das Risiko der Entdeckung war zu groß, als daß sie sich damit hätte beschäftigen können, und abgesehen davon ließ Halisstra sie kaum aus den Augen. Wenn Halisstra unter Arrest stand, würde sich für Danifae zwar die Gelegen heit ergeben, nach Mitteln und Wegen zu suchen, doch das Problem war, daß ihr die Zeit dazu fehlte. Danifae würde mit Halisstra sterben, wenn sie keinen Weg fand, Ssipriina davon zu überzeugen, eine Lösung für ihr eigenes Problem zu finden. Sie hatte aber große Zweifel, ob die Muttermatrone wirklich auch nur einen Finger rühren würde, um ihr zu helfen, selbst wenn sie gegen die Tochter von Drisinil Melarn »Beweise« erbrachte, die deren Beteiligung am Verrat belegen konnten. Damit blieb Danifae nur ein Weg: Sie mußte versuchen, Ha lisstra zu retten! Verdammt! fluchte die Kriegsgefangene stumm, während sie sich auf der Traumcouch ihrer Herrin niederließ und wü tend auf ein Kissen schlug. Sie wollte die Füllung herausrei ßen, doch jahrelange Angst vor Bestrafung hatte sie dazu gebracht, sich nicht von ihren Gefühlen überwältigen zu lassen. Statt dessen atmete sie tief durch und widmete sich ihrer Situation. Das nächste Problem, so erkannte sie, war, daß selbst wenn es ihr irgendwie gelang, Halisstra – und damit sich selbst – aus dieser Lage zu befreien, das Leben, so wie sie es kannten, nicht länger existieren würde. Sie überlebten vielleicht diesen An schlag auf das Haus Melarn, doch was sollte danach kommen? Ohne Lolths Segen waren die Aussichten besonders trostlos. Danifae beschloß, daß sie als nächstes herausfinden wollte,
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wer im Haus Melarn noch auf Halisstras Seite war. Dabei muß te sie zuerst an die Hauswachen denken. Sie waren fort, und sie konnte sich sehr gut vorstellen, woran das lag. Ssipriina hatte sie vermutlich überwältigen lassen und ihnen dann das übliche Angebot gemacht: Verpflichtet Euch dem Haus Zau virr, sonst seid ihr ohne Arbeit – oder sogar tot. Sie zweifelte daran, daß sie sich noch irgendwie hinter Halisstra stellen würden, doch sie mußte sich zumindest davon überzeugen. Sie ging zur Tür und öffnete sie, worauf sie überrascht fest stellte, daß die beiden Wachen nicht länger dort waren, um auf sie aufzupassen. Vermutlich gingen sie davon aus, daß sie nichts versuchen würde, solange das Haus fest in der Hand des Hauses Zauvirr war, und hatten sich nach einer interessante ren Aufgabe umgesehen. Das macht es mir um so leichter, dachte sie lächelnd und machte sich auf den Weg.
Der Audienzsaal des Hauses Melarn bot weitestgehend den Anblick, den Faeryl erwartet hatte. Ihre Mutter saß auf dem erhabenen großen Sessel, der auf einem Podest im vorderen Bereich des Raums stand. Sie war von ihren Beratern umge ben, während sich die Soldaten des Hauses Zauvirr unauffällig, aber in großer Zahl im Saal verteilt hatten. Faeryl fragte sich zerstreut, wie es ihrer Mutter gelungen war, die Kontrolle über den Audienzsaal ohne ein Widerwort der Wachen des Hauses Melarn zu übernehmen. Die Lügen, die sie ihnen erzählt hatte, hatten offenbar Wirkung gezeigt. »Da bist du ja«, sagte Ssipriina. »Komm. Ich will mit dir die Geschichte noch einmal durchgehen, ehe die anderen kom men.« Faeryl seufzte, näherte sich aber gehorsam dem Thron.
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»Ich habe die Einzelheiten auswendig gelernt. Ich glaube, ich ...« »Du wirst die Details mit mir so lange durchgehen, bis ich überzeugt bin, daß du sie kennst, du undankbares Gör! Vorher wirst du nicht aufhören!« Ihre Mutter schien sich auf dem Thron viel zu wohl zu füh len, der entschieden größer war als alles, was ihr eigenes Haus zu bieten hatte. Das war also der Unterschied zwischen einem Handelshaus und einem Adelshaus. Faeryl sehnte sich danach, ins Verlies zurückzukehren, um sich in Ruhe ihren Schützlingen zu widmen. Sie haßte es, auf die Forderungen ihrer Mutter eingehen zu müssen. Was Quenthel anging, hatte wenigstens sie allein das Sagen, auch wenn es nur in einem kleinen Rahmen geschah. So war es immer. Als sie im Lagerhaus den Abtransport der Gefangenen organisiert hatte, war sie es gewesen, die das Sagen gehabt hatte, wenn auch nur für kurze Zeit. Unter den strengen Bli cken ihrer Mutter war sie dagegen wieder das launenhafte Kind. Faeryl träumte davon, eines Tages die Zügel der Macht in der Hand zu halten, doch als vierte Tochter ihres Hauses, die nach Menzoberranzan geschickt worden war, um dort das Haus Zauvirr und das Haus Melarn zu repräsentieren, war ihr klar, wie begrenzt ihre Chancen auf einen Aufstieg eigentlich wa ren, und selbst wenn sie irgendwann einmal auf dem Thron sitzen sollte, den Ssipriina Zauvirr durch ihre Einfädelung der Ereignisse des abgelaufenen Tages zu beanspruchen hoffte, würde Faeryl immer noch anderen gegenüber Rechenschaft ablegen müssen. »Also«, sagte Ssipriina und ging den Ablauf Schritt für Schritt durch, indem sie ihn an den Fingern abzählte: »Man hat dich gezwungen, mit Quenthel und den anderen herzu
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kommen. Du hast mich so umgehend wie möglich über die Absichten des Hauses Baenre informiert. Wir haben einen Hinterhalt gelegt, um sie zu überraschen, und erst da haben wir festgestellt, daß Drisinil mit darin verwickelt ist. Verstanden?« »Ja, Mutter«, erwiderte Faeryl mürrisch. »Gut. Wenn die Muttermatronen eintreffen, dann hältst du dich so lange von hier fern, bis ich dich rufe. Verstanden?« »Ja, Mutter.« »Hör mit deinem ›Ja, Mutter‹ auf. Das ist albern.« Faeryl runzelte die Stirn, hielt aber den Mund. »Schon besser«, sagte Ssipriina. »Dann denke ich, daß wir die Männer so schnell wie möglich zusammenrufen sollten. Zammzt, ich glaube, das ist eine Aufgabe für dich.«
Als es an der Tür klopfte, erwartete Pharaun, Quenthel davor stehen zu sehen. Es war schon spät, und der Meister Sorceres begann sich allmählich zu fragen, ob der Hohepriesterin und ihren Begleitern etwas zugestoßen sein mochte. Er öffnete und war überrascht, statt dessen einen fremden und recht gewöhn lich aussehenden Drow, der die Tracht eines Adelshauses trug, tu sehen. »Ich bitte um Verzeihung, daß ich Euch störe«, sagte der Mann. »Aber ich suche den Magier Pharaun Mizzrym und die Krieger Ryld Argith und Valas Hune.« Pharaun bewegte sich nicht von der Stelle, so daß der ande re Drow keinen Blick in das Zimmer werfen konnte. Hinter sich hörte er, wie Valas Hune und Ryld ihre Klingen zogen. »Wer seid Ihr?« entgegnete der Magier, während er darüber nachdachte, welche Zauber ihm noch zur Verfügung standen, um einen Angriff abzuwehren. »Mein Name ist Zammzt. Ich komme auf Geheiß der Mut
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termatrone Ssipriina Zauvirr vom Hause Zauvirr, der Mutter matrone Melarn vom Hause Melarn und Quenthel Baenres vom Hause Baenre. Seid Ihr einer der drei?« »Vielleicht«, antwortete Pharaun und schätzte das Gefah renpotential des Burschen ab. Den Drow umgab zumindest eine Reihe magischer Auren. »Das hängt davon ab, weshalb Ihr sie sucht.« »Herrin Quenthel ist Gast der Herrin Drisinil Melarn vom Hause Melarn. Ich bin hier, um Euch eine Einladung zu einem Bankett zu überbringen, das zu Euren Ehren gegeben wird.« »Wie erfreulich«, sagte Pharaun. »Ich nehme an, Ihr könnt uns auch eskortieren?« »Selbstverständlich, Meister ... ähem ...« Der Magier rollte mit den Augen und sagte: »Pharaun. Ich bin der Magier.« »Gewiß, Meister Mizzrym. Man hat mich angewiesen, Euch zum Haus Melarn zu eskortieren.« »Ich verstehe. Nun, wenn Ihr einen Augenblick warten würdet, damit ich mich ein wenig frisch machen kann. Ich möchte bei einem Abendessen zu meinen Ehren nicht in die sem Aufzug erscheinen«, erwiderte der Magier und wies auf seinen Piwafwi. »Natürlich, Meister Mizzrym. Ich stehe zu Eurer Verfügung. Das Abendessen wird nicht ohne Euch beginnen.« »Hervorragend«, gab Pharaun zurück. »Gebt uns einen Au genblick Zeit, dann werden wir uns Euch anschließen. Wartet auf uns im Schankraum.« Damit schloß er die Tür und wandte sich an seine Gefähr ten. »Entweder hat man sie gefaßt, oder sie ist zu der Ansicht ge langt, daß sie hier vom Personal nicht zuvorkommend genug bedient wurde«, sagte Valas.
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»In keinem Fall ist das erfreulich«, fügte Ryld an. »Ich be gann es gerade zu genießen, nicht ständig von irgendeiner Muttermatrone herumkommandiert zu werden.« »Nun ... was soll es sein, meine Herren?« fragte Pharaun sie. »Flucht durchs Fenster oder ein Empfang?« Ryld und Valas sahen einander an, dann seufzte letzterer: »Ein Empfang.« »Gut«, sagte Pharaun. »Aber ehe wir aufbrechen, möchte ich mich noch einen Moment lang meinen Folianten widmen. Ich habe so ein Gefühl, daß ich ein paar arkane Segnungen benötigen könnte, noch bevor diese Nacht vorüber ist.« »Ich glaube, das ist eine weise Entscheidung«, stimmte ihm Valas zu. »Ryld und ich könnten vor allem etwas Heilmagie gut gebrauchen, wenn davon etwas vorhanden ist.« »Warum seht ihr zwei euch nicht im Zimmer der Prieste rinnen um, ob ihr dort etwas findet?« schlug Pharaun vor. »Ich weiß, daß Quenthel einen Zauberstab hat, aber den wird sie mitgenommen haben. Aber es könnte ein Trank dort sein.« Der Späher nickte, und er und Ryld glitten aus dem Zimmer. Pharaun öffnete seinen Rucksack und zog seine Zauberbü cher hervor, die bequemerweise gleich zuoberst lagen. Das war die Eigenschaft seiner Tasche, die ihm am besten gefiel. Was immer er brauchte, es war stets griffbereit. Er setzte sich und studierte die Bücher. Der Magier konnte nicht alle Formeln auffrischen, die er den Tag über aufgebraucht hatte, da er immer noch erst einige Stunden würde ruhen müssen, ehe er sich ausreichend erholt hatte. Doch er hatte sich am Morgen in weiser Voraussicht entschieden, nicht sein gesamtes Gedächtnis für Zauber zu nutzen, so daß er nun in der Lage war, vier oder fünf Zauber auszuwählen, die ihm für diesen Anlaß am geeignetsten er schienen.
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Pharaun saß da und überlegte, welche Art von Magie für ei nen so förmlichen Empfang wohl am geeignetsten sein moch te. Nachdem er seine Wahl getroffen hatte, begann er, die Zauber auswendig zu lernen. Fast eine Stunde später sah der Meister Sorceres auf, als er die beiden Männer wieder in das Zimmer zurückkehren hörte. »Genau zum richtigen Zeitpunkt«, sagte er. »Ich bin zum Aufbruch bereit. Hattet ihr Glück?« »Wir mußten eine Weile suchen«, antwortete Ryld. »Aber wir fanden unter Quenthels Habseligkeiten zwei Tränke. Das ist eine weitere Sache, bei der wir entschieden haben, daß du es Quenthel sagst, wenn wir sie das nächste Mal sehen.« Pharaun lachte leise. »Ich muß sagen, die Tränke haben euch gutgetan. Ihr seid auf jeden Fall weitaus ansehnlicher als vor einer Stunde. Sind wir soweit?« »Ich glaube ja«, erwiderte Valas. »Wir haben rasch das Gasthaus überprüft, doch es sieht aus, als sei unsere Eskorte allein gekommen. Bislang konnten wir an ihm nichts Ver dächtiges entdecken.« »Dann schlage ich vor, daß wir jetzt aufbrechen«, beschloß der Meister Sorceres. »Ich bin ausgehungert, und mir steht der Sinn nach etwas besserem zu trinken als diesem Gebräu, das wir gestern gekauft haben.« Ryld und Valas sahen einander kurz an, dann machten sie sich auf den Weg in den Schankraum. Der Drow, der sich Zammzt nannte, saß da und wartete geduldig, doch an seinem Gesichtsausdruck erkannte Pharaun, daß er allmählich etwas nervös wurde. Wahrscheinlich hat er sich schon gefragt, ob wir geflohen sind, dachte Pharaun, und überlegt, was er der Muttermatrone sagen sollte, wenn er ihr berichten müßte, daß wir der Einla dung nicht gefolgt sind.
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Der Spaziergang zum Haus hätte ein solcher werden kön nen, wären sie auf den Straßen nicht immer wieder wütenden Ansammlungen begegnet. Zweimal mußte die Gruppe schnell in eine Seitengasse ausweichen oder auf eine andere Ebene schweben, um nicht von einer Woge von Unruhestiftern er faßt zu werden. Einmal glaubte Pharaun gar, er müsse sich mit einem Blitz oder einem Feuerball den Weg freischießen, doch letztlich kam es nicht dazu. Um mit der Gruppe mitzuhalten, benutzte Valas immer wieder ein extradimensionales Portal. Er trug einen Gegenstand mit sich herum, der dieses Portal ent stehen ließ und von dem Pharaun bis dahin nichts geahnt hatte. »Wißt ihr«, sagte Pharaun, als sie in die höchsten Ebenen der Stadt kamen, wo sich die prunkvollsten Anwesen der Ad ligen befanden, »ich glaube, wir sollten nicht den ganzen A bend bleiben.« »Wieso? Denkst du, die Stadt wird zu gefährlich?« fragte Valas. »Wenn wir darüber früher nachgedacht hätten, wären wir vielleicht auf die Idee gekommen, unser Gepäck und unse re Vorräte zusammenzupacken und mitzunehmen.« Pharaun wurde langsamer und überlegte, dann nahm er sein ursprüngliches Tempo wieder auf. »Du hast recht, aber wenn die Situation es erfordert, kann ich später immer noch zurück kehren, um das Gepäck zu holen.« Dann hatten die vier das Haus Melarn erreicht, das sich als beeindruckender Bau in den obersten Regionen der Stadt entpuppte. Der gesamte Komplex reichte weit bis über und unter das Straßenniveau und bedeckte eine Fläche, die gut zwei bis drei Blocks breit und lang war. Auf Pharaun wirkte das alles wie eine riesige Zyste, aber vermutlich hatten die Archi tekten genau diese Wirkung beabsichtigt. Speisen und Getränke sollten diesen Ausflug besser wert
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sein, dachte der Magier und folgte seufzend den anderen in das Gebäude, das bislang wie ein Gefängnis wirkte.
Aliisza haßte die Gestalt, die sie angenommen hatte, da sie sie als häßlich und unzivilisiert empfand. Natürlich hätte jeder Ork, der sie zu Gesicht bekommen hätte, sie für hübsch gehal ten, doch das Alu-Scheusal empfand diese Rasse insgesamt als abstoßend. Dennoch hatte sie ihre Vorteile. Im Moment bestand ein Vorteil darin, daß Pharaun sie nicht erkennen würde, während sie ihm und den beiden Ge fährten folgte, die ihrerseits von einem – recht unattraktiven – vierten Drow durch die Netzstraßen Ched Nasads geführt wurden. Aliisza wollte nicht von dem Mann entdeckt werden, der an diesem Tag ihr Liebhaber gewesen war. Außerdem nahm in ihrer Tarnung als niederes Wesen niemand von ihr Notiz, was mit dem Aussehen einer Dunkelelfe nicht so leicht gewesen wäre. Die Drow-Bürger mochten zwar den anderen Rassen insgesamt zahlenmäßig überlegen sein, doch sie hatten offenbar Angst davor, sich allein in der Öffentlichkeit zu zei gen. Zwar mußte sich Aliisza keine Sorgen um ihr Wohlerge hen machen, doch hielt sie es für besser, so wenig Aufmerk samkeit wie möglich zu erregen. Abgesehen davon hatte sie festgestellt, daß sie viel interes santere Unterhaltungen belauschen konnte, wenn man sie nicht für eine Drow hielt. Sobald die anderen eine Drow sa hen, verstummten sie oder flüsterten nur, aber in Gegenwart einer Orkin – ob sie für ihr Volk nun gut aussah oder nicht – kümmerte sie kaum, wer ihnen zuhörte. Aliisza konnte das gut verstehen. Wo sie auch ging und stand, überall war von Rebellion oder Invasion die Rede. Die eine Hälfte der Einwohner schien die
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Krise in der Stadt der schimmernden Netze für eine willkom mene Gelegenheit zu halten, die Herrschaft der Drow ein für allemal zu beenden, während die andere Hälfte meinte, etwas derartiges sei bereits im Gange, und jeder, der sich jetzt in der Stadt aufhielt, würde dafür bezahlen müssen. In einem Punkt waren sich jedoch alle einig, egal, welche Meinung sie auch sonst vertraten: Jeder gab den Drow die Schuld an der Situati on. Es sollten die Drow gewesen sein, die Lolth verärgert hat ten. Sie habe sich von der Stadt abgewandt, damit die Drow für sich selbst kämpfen mußten. Andere wiederum meinten, Lolth sei durch die Selbstgefälligkeit ihrer Anbeter schwach und wehrlos geworden, was andere Gottheiten in die Lage versetzt habe, sie zu überwältigen, als sie nicht damit rechnete oder unvorbereitet war. Das interessanteste Gerücht von allen war jedoch die Geschichte, die seit neuestem kursierte. Da nach sollten die Muttermatronen in ihren Reihen eine Verrä terin ausgemacht haben, die mit einer Hohepriesterin aus einer anderen Stadt gemeinsame Sache gemacht haben soll, um den Fall Ched Nasads in die Wege zu leiten. Dutzende Versionen dieser Geschichte wurden erzählt. Die Verräter steckten mit Dämonen unter einer Decke, die Verrä ter waren in Wirklichkeit Dämonen, die Verräter bestahlen die Stadt, die Verräter bereiteten sich zu einem Angriff auf die Stadt vor ... Aliisza hatte kaum Zweifel am Wahrheitsgehalt der Ge schichte, da sie vermutete, daß es sich bei der Hohepriesterin um Quenthel handelte. Irgendwie waren die Menzoberranza nyr mitten in ihrem Plan gestört worden, den Pharaun zu sei nem Bedauern erwähnt hatte. Es interessierte sie, welche Rolle Pharaun bei den Gerüchten oder bei dem Teil der Geschichte spielte, die die Muttermatrone betraf. Das Alu-Scheusal fragte
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sich, ob der Magier in diese Ereignisse hineingeraten war oder ob ihn der gemeinsam mit ihr verbrachte Nachmittag – sie schauderte vor Entzücken, wenn sie nur daran dachte – davor bewahrt hatte. Selbst wenn er bislang nicht in den Plan der Muttermatrone verstrickt war, so war das doch nur eine Frage der Zeit. Sie wußte das so genau, weil sie gesehen hatte, daß die politische Maschinerie ihres eigenen Volks jeden in seine Fänge bekam, auch wenn er es überhaupt nicht wollte. Pharaun würde eine Rolle in den kommenden Ereignissen spielen, sowohl wegen seiner neugierigen, beharrlichen Art als auch wegen seiner Beziehung zu der Priesterin, der er so beiläufig folgte. Ganz gleich, was der Magier wollte – er befand sich in der Gesellschaft eines Fremden, eines Mannes, der nach dem Emb lem auf seinem Piwafwi zu urteilen zu einem Adelshaus gehör te, und es sah nicht so aus, als wäre Zwang oder Gewaltanwen dung im Spiel. Vielleicht wußte er noch nicht, was geschehen war. Aliisza würde es so schnell nicht in Erfahrung bringen. Eines war sicher: Die Wirkung, die das Gerücht auf die Bevöl kerung hatte, verhieß nichts gutes. Aliisza wußte, daß es sie nicht kümmern sollte, ob Pharaun festgenommen worden war. Ihre Beziehung hatte allein der beiderseitigen Befriedigung gedient. Er war eine angenehme Abwechslung von Kaanyr gewesen, und sie wußte, daß sie zu ihrem Cambion zurückkehren würde, so wie sie es immer vor gehabt hatte. Pharaun wußte das auch, und die Tatsache, daß ihn die zwanglose Art ihrer »zufälligen Begegnung« auf der Straße nicht störte, machte ihn erfrischend anders. Dennoch wollte das Alu-Scheusal zumindest wissen, ob er Hilfe brauchte. Sie vermutete, sie sei einfach noch nicht be reit, ihn aufzugeben. Sie wußte aber auch, daß dies nicht der einzige Grund war,
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warum sie noch nicht nach Ammarindar zurückgekehrt und Kaanyr alles berichtet hatte, was sie bislang in Erfahrung ge bracht hatte. Vielleicht hielt sie die Vielfalt weiter in der Stadt, die diese für Auge und Ohr zu bieten hatte, vielleicht aber lag es auch an dem wunderbaren Gefühl, das sie verspürte, wenn Vertreter jener Spezies, deren Gestalt sie angenommen hatte – ob es nun Drow, Orks oder andere Rassen waren –, ihr Aussehen bewunderten. Es war schon zu lange her, daß sie diese Erfahrung gemacht hatte. Sie wollte auch sehen, welche Ereignisse sich in der Stadt abspielten. Sie fühlte die Span nung, die in der Luft hing, sie wollte Gewalt und Chaos miter leben, wenn sich etwas ereignen sollte. Ched Nasad war über reif dafür. Die Luft vibrierte förmlich vor Energie. Die vier Drow, denen sie folgte, bewegten sich gemächlich durch die Straßen, schienen ihre Marschrichtung aber immer zu ändern, wenn sich vor ihnen eine größere Ansammlung von Kreaturen aller Art abzeichnete. Dabei bogen sie aber nie in abzweigende Netzstraßen oder Gassen ein. Aliisza war klar, daß sie mit großer Vorsicht vorgingen. Mehr als einmal bedienten sie sich magischer Methoden und schwebten über die übervol len Straßen oder benutzten die magischen Portale, die ihr und Pharaun vertraut waren. Sie gingen in die höheren Regionen der Stadt, und bald erkannte Aliisza, daß sie entweder umkeh ren oder ihre Gestalt ändern mußte, wenn sie ihnen weiter folgen wollte. So weit oben in der Höhle würde es nur wenige Orks geben, so daß sie in ihrer gegenwärtigen Tarnung nur unnötig Aufmerksamkeit erregen würde. Sie nahm die zuvor benutzte Gestalt einer Drow an, dann folgte sie den vier Drow, bis die an einem großen Adelshaus anhielten und eintraten. Aliisza suchte sich ein ruhiges Fleckchen auf einem gegenü berliegenden Haus und ließ sich dort nieder, um zu warten.
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Khorrl Xornbane wußte, daß seine Unruhe ein schlechtes Zeichen war. Er und sein Clan hielten sich seit so langer Zeit versteckt, daß er es kaum noch aushielt. Einige tausend Duer gar zu verstecken war niemals eine Kleinigkeit, aber das auch noch mitten in einer Stadt voller Drow zu tun zehrte extrem an seinen Nerven. Er war dankbar, daß das Warten bald ein Ende hatte. Bislang waren die Kämpfe leicht und schmerzlos verlaufen. Der Überfall auf die Muttermatrone und ihr Gefolge im Lager haus war fast zu einfach abgelaufen. Offenbar hatte sie der ande ren Muttermatrone zu sehr vertraut, und dafür hatte sie bezahlt. Er fragte sich, ob schon jemand die Leichen ihrer Soldaten und Ratgeber entdeckt hatte. Lange würde es nicht dauern, das wuß te er. Irgend jemand würde bald den Gestank bemerken.
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Khorrl und seine Duergar hielten sich im Anwesen selbst auf, in einem nicht benutzten Flügel einer Kaserne, in der zur Zeit keine Soldaten untergebracht waren. Es machte Khorrl verrückt. Seine Wachen hatten von niemandem berichten können, der sich je den Räumen näherte, in denen er und seine Leute auf den Einsatz warteten, doch wenn sie jemand finden sollte, dann war der gesamte Plan hinfällig. »Hauptmann.« Aus den Schatten entlang der Mauern des Lagerhauses war eine vertraute Stimme zu hören. Khorrl spürte, wie sein Herz in freudiger Erwartung zu rasen begann. Zammzt trat aus dem Schatten, ein ironisches Lächeln auf den Lippen. »Ja?« fragte der Duergar. »Der Befehl wurde erteilt«, erwiderte Zammzt. »Es ist Zeit für Euch, ans Werk zu gehen.« Khorrl rieb sich die Hände. Endlich! Während er die Befeh le gab, ging er im Geiste noch einmal den Plan durch. Zammzt zog sich in den Schatten zurück, aus dem er getreten war. Der eigentliche Kampf würde bald beginnen.
Faeryl war bald gelangweilt. Sie wünschte, die Muttermatro nen würden die Angelegenheit ganz einfach so sehen, wie ihre Mutter sie ihnen dargelegt hatte, das Haus Melarn zu Verrä tern erklären und es auflösen, damit das Haus Zauvirr in eine wichtige Position nachrücken und Ssipriina in den Rat einzie hen könnte. Aber natürlich mußte erst das unverzichtbare Gezänk stattfinden. Faeryl vermutete, das alles hätte sie weit aus mehr interessiert, wenn mehr für sie dabei herausgesprun gen wäre. Doch ihre Mutter würde ihr nach wie vor Befehle erteilen, und im Gegenzug würde sie selbst auch weiter Befehle erhalten, wenn auch nicht mehr von Drisinil Melarn.
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Es gibt immer jemanden, der einen tritt, dachte Faeryl, ganz gleich, wie weit oben man ist. Selbst Triel Baenre war gezwun gen, auf jede Laune Lolths mit Unterwürfigkeit zu reagieren, und es war durchaus denkbar, daß auch die Dunkle Mutter selbst gezwungen war ... »Faeryl, hör auf, unsere Zeit mit deinen Tagträumen zu ver geuden, und paß gefälligst auf!« herrschte Ssipriina sie an und riß sie aus ihren Gedanken. »Entschuldige, Mutter«, erwiderte die jüngere Drow verär gert. Sie konzentrierte sich wieder auf die Unterhaltung, nach dem die Muttermatronen wenigstens nicht mehr alle gleichzei tig redeten. »Ich sagte«, erklärte Inidil Mylyl und betonte das letzte Wort so deutlich, daß jeder im Raum verstand, wie leid sie es war, sich wiederholen zu müssen, »wenn wir uns die Geschich te noch einmal in ihrer Gesamtheit anhören könnten, dann würde das helfen klarzustellen, wie so etwas direkt vor unseren Augen ablaufen konnte. Vielleicht kann Faeryl sich dazu be quemen, uns das etwas ausführlicher zu erklären.« Innerlich stöhnte Faeryl auf. Sie hatte es den ersten Mut termatronen, die eingetroffen waren, bereits dreimal erzählt. Mit einigen Stellen der Geschichte waren sie nicht glücklich gewesen, während sie alles noch einmal schildern durfte, weil manche Muttermatrone – aus welchen Gründen auch immer – beschlossen hatte, einfach viel später einzutreffen. Aber natür lich waren sie die mächtigsten Drow in Ched Nasad, und sie waren daran gewöhnt, andere warten zu lassen und keine Fra gen zum Grund ihrer Verspätung beantworten zu müssen. Sie fühlte sich unbehaglich, als sie in die Mitte des Raums trat. »Selbstverständlich, Muttermatrone Mylyl«, sagte sie so höflich, wie sie nur konnte.
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Verglichen mit dem im Raum versammelten Adel war Haus Zauvirr immer noch bedeutungslos und konnte für alles ver antwortlich gemacht werden, was Faeryl bis dahin gesagt und getan hatte. Die eigene Mutter vor deren Vorgesetzten in Ver legenheit zu bringen half nicht dabei, innerhalb des Hauses in eine höhere Position aufzusteigen, und die Botschafterin wußte sehr genau, daß Tonfall und Erklärung sehr genau den Kern treffen mußten. »Zum besseren Verständnis«, fuhr sie fort, »gestattet mir die Vorbemerkung, daß das Haus Zauvirr in bestimmten geschäftli chen Angelegenheiten das Haus Melarn vertritt und ich die Bemühungen des Hauses Zauvirr im Namen des Hauses Melarn in Menzoberranzan repräsentiere. Ich diene – oder besser ge sagt: diente – als Botschafterin bei Triel Baenre. Als sich die Schwierigkeiten einstellten, erlebte man diese – wie Ihr wißt – auch in Menzoberranzan. Besorgt darüber und über das Aus bleiben jeglicher Karawanen zwischen den beiden Städten bat ich Muttermatrone Baenre, mir die Rückkehr hierher zu gestat ten, um herausfinden zu können, was passiert war. Triel weiger te sich und stellte mich unter Hausarrest. Die Gründe wurden mir nicht mitgeteilt. Schließlich nahm sie mich gefangen, als ich versuchte, auf eigene Faust auszureisen. Zwar war es nicht mein Ansinnen, der Beziehung zwischen unserem Haus und Haus Baenre zu schaden, doch meine Loyalität und meine Sor ge galten nur meiner eigenen Familie und den Familien, denen wir hier in Ched Nasad dienen. Man verurteilte mich wegen Verrats zum Tode, aber zum Glück wurde die Hinrichtung nicht vollzogen. Triel änderte ihre Meinung und beschloß, mir alle Sünden zu vergeben, die ich angeblich begangen hatte. Sie schickte mich mit ihrer Schwester Quenthel Baenre sowie einigen anderen auf die Reise hierher nach Ched Nasad. Der Handel sollte wiederaufgenommen und es sollte festgestellt
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werden, ob es weitere Informationen gab, die das ... ähem ...« »Wir alle wissen, daß Lolth verschwunden ist. Du mußt nicht um das Thema herumreden.« Es war Muttermatrone Aunrae Nasadra, die ungekrönte Königin Ched Nasads und Führerin des mächtigsten Hauses der Stadt. Faeryl schluckte, als Aunrae anfügte: »Komm zur Sache.« Die Botschafterin nickte und fuhr fort. »Menzoberranzan hatte eine Revolte erlebt, einen Sklavenaufstand, der von außerhalb unterstützt worden war. Sie niederzuschlagen koste te die Schwesternschaft eine beträchtliche Menge ihrer göttli chen Ressourcen. Muttermatrone Triel schickte uns los, um herauszufinden, ob sich das Schweigen Lolths auf Menzober ranzan beschränkte oder ob alle Stämme der Drow davon be troffen waren. Sie wollte auch, daß Quenthel jegliche göttliche Magie an sich nahm, die sie finden konnte. Quenthel und Triel waren offenbar der Ansicht, die Vorräte in den Lager häusern gehörten automatisch dem Haus Baenre, da es Mitei gentümer der Handelsgesellschaft der Schwarzen Klaue ist. Nachdem es mir gelungen war, diese Absicht über meinen Bruder und dessen magische Kontakte heimlich meiner Mutter zu übermitteln, konnten wir zusammen daran arbeiten, eine Falle zu stellen und die Menzoberranzanyr auf frischer Tat zu ertappen. Als wir im Lagerhaus eintrafen, stellten wir fest, daß Muttermatrone Melarn den Besuchern half. Meine Mutter stellte sie zur Rede, woraufhin Muttermatrone Melarn zu flie hen versuchte.« Als sie fertig war, merkte Faeryl, daß sie außer Atem war, weil sie die Schilderung so schnell durchgegangen war. Diese Wirkung erzielte Aunrae bei jedem. »Drisinil wurde niedergestreckt, als sie fliehen wollte«, fügte Ssipriina an und lenkte die Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Ich hätte alles getan, um sie zu verschonen, wäre ich nur
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rechtzeitig dort gewesen. Es war aber zu spät, und meine Magie ist und war zu geschwächt, um den Tod zu verhindern.« »Also habt Ihr Euch verschworen, um ihnen zu gestatten, sich in die Stadt zu schleichen, und seid dabei sogar so weit gegangen, daß Ihr eine Stadtpatrouille getäuscht habt?« Die Muttermatrone, die diese Frage stellte, war Jyslin A leanrahel. Ihre Züge waren scharf geschnitten, ja fast schon grimmig, und ihr Ruf, eine gehässige, habgierige Drow zu sein, die an jeder Handlung etwas auszusetzen hatte, war legendär. Faeryl hatte sie noch nie leiden können, doch sie befand sich nicht in der Position, das zeigen zu können. »Sie sind hergeschickt worden, um uns auszuspionieren«, sprach Jyslin weiter. »Ihr Vorwand, sie wollten den unterbro chenen Kontakt wieder herstellen, war nichts weiter als eine Lüge, um Euch in Sicherheit zu wiegen. Ich behaupte, die Männer, die sich noch immer frei in der Stadt bewegen, über mitteln wichtige Informationen an ihre Vorgesetzten, vor allem, wenn dieser Magier so gut ist, wie du zuvor behauptet hast. Ich hätte dich für so klug gehalten, sie gar nicht erst in die Stadt gelangen zu lassen, aber das ist wohl zuviel verlangt.« »Das ist doch albern«, hielt Umrae D’Dgttu dagegen, Mut termatrone des zweitmächtigsten Hauses in der Stadt. »Wir haben die Geschichte gehört, einige von uns sogar mehrfach. Für mich ist klar, daß das Haus Zauvirr im besten Interesse Ched Nasads gehandelt hat. Ich beantrage, das Haus Melarn jetzt und hier aufzulösen.« Faeryl wußte, daß Umrae eine von Ssipriinas heimlichen Verbündeten war. Jetzt war es soweit. Der Prozeß war ins Rol len gekommen und gab ihrer Mutter, was sie wollte. Die Auf lösung des Hauses Melarn war der erste Schritt hin zum Sitz im Rat, den Ssipriina anstrebte. »Ich stimme dem zu«, erklärte Ulviirala Rilynt, eine weitere
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der vier Drow, die von ihrer Mutter bestochen worden waren. »Für mich ist klar, daß das Haus Melarn Verrat begangen hat.« Faeryl warf Ssipriina einen verstohlenen Blick zu und sah, daß die sich bemühen mußte, nicht breit zu grinsen. »Ich mache mir Sorgen um den Wahrheitsgehalt ihrer Ge schichte«, sagte Lirdnolu Maerret. »Bislang haben wir nichts anderes in der Hand als diese phantasievolle Schilderung, die sich Ssipriina und ihre Tochter zurechtgelegt haben. Es gibt keinen neutralen Beobachter, der sie bestätigen kann. Das Haus Zauvirr profitiert im großen Stil vom Tod Drisinils und ihrer Familie. Ich bin nicht bereit, einfach zu glauben, daß die beiden allein zum Wohl der Stadt die Wahrheit sagen.« »Das stimmt«, pflichtete Jyslin Aleanrahel ihr bei. »Wir wollen Drisinils Tochter dazu hören.« Faeryl öffnete den Mund, um zu protestieren, preßte aber gleich wieder die Lippen zusammen. Die Muttermatronen wußten natürlich von der Neigung einer jeden Drow, heimlich Pläne zu schmieden, und dies war genau die Herausforderung, vor der Ssipriina sie gewarnt hatte. Es gab einige, die die ganze Wahrheit hören und versuchen wollten, das Haus Zauvirr in eine Lüge zu verstricken. Wenn es sich um Verbündete des Hauses Melarn handelte, würden sie versuchen, Ssipriina die Schuld anzuhängen. Ihre Mutter hatte Faeryl geboten, in die ser Phase geduldig zu sein. Wenn ihre neuen Feinde entlarvt wurden oder die Entscheidung nicht zugunsten von Zauvirr ausfallen sollte, dann würde die geheimgehaltene Söldnerar mee auf den Plan treten. Halisstra wurde aus dem Verlies geholt, damit sie für die Verbrechen ihrer Mutter Rede und Antwort stehen konnte. Sie wurde fast mit Gewalt in den Saal gebracht, begleitet von zwei weiblichen Wachen. Man hatte sie ihrer edlen Kleidung beraubt und sie in ein dünnes Hemd gesteckt. Ihr Blick wan
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derte durch den Raum und ging wohl in der Hoffnung von Gesicht zu Gesicht, bei den Anwesenden Sympathie oder Beistand zu erkennen. Es gab Gerüchte, Halisstra besitze eine sanfte Ader und ha be nie jenen beharrlichen Ehrgeiz erkennen lassen, den ihre Mutter in den Töchtern hatte wecken wollen. Den gleichen Gerüchten zufolge war sie angeblich mehr daran interessiert, mit ihrer Kriegsgefangenen Danifae die Elendsviertel aufzusu chen und das gute Aussehen der anderen Drow dazu zu benut zen, um Männer anzuziehen, mit denen sie zechte. Hinter vorgehaltener Hand hieß es gar, Muttermatrone Melarn hätte sie unter geeigneten Umständen aus der Familie ausgestoßen. Faeryl wußte, daß der Teil über die Besuche in den Elendsvier teln der Wahrheit entsprach, was sie auf eine Idee brachte. Sie spreizte hilflos die Hände, als gestehe sie ein, auf irgend eine Weise versagt zu haben. »Ich bitte Euch um Verzeihung für alle Fehler, die Ihr in unserem Plan seht, Muttermatro nen«, sagte Faeryl leise. »Ich bin genauso enttäuscht wie Ihr, daß ein Haus unserer eigenen geliebten Stadt auf unsere Kos ten mit Fremden gemeinsame Sache macht. Ich erinnere mich jetzt an belastende Beweise, die dieser Diskussion ein Ende setzen sollten.« »Was?« rief Ssipriina und beugte sich vor, entsetzt darüber, daß ihre Tochter möglicherweise das sorgfältig konstruierte Lügengerüst zunichte machen könnte. Faeryl bemühte sich, ihre Mutter zu ignorieren. »Was soll das heißen?« fragte Jyslin und kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Faeryl war sicher, daß sie im Vorteil war. Zwar hatte sie es noch nie zuvor erwähnt – schließlich war es eine Lüge, die sie sich gerade eben erst ausgedacht hatte –, doch es war Jyslin unmöglich, ihr vorzuhalten, daß sie diese Episode beim ersten
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Mal nicht in ihrer Geschichte erwähnt hatte. Sie konnte ein fach so tun, als hätte sie bislang nicht daran gedacht. »Es ist so, daß ich kurz nach Durchschreiten des Stadttores das Glück hatte, Herrin Halisstra und ihre Gefährtin Danifae Yauntyrr zu beobachten. Ich war überrascht, sie in einem so üblen Stadtteil zu sehen. Aber ich hielt es trotzdem für einen Glücksfall. Ich verhielt mich absichtlich so, daß sie mich se hen und erkennen konnten, daß ich mit Fremden unterwegs war. Ich war sicher, daß sie mich entdeckt hatten. Ich ließ Danifae sogar eine Nachricht zukommen, aber entweder er kannte sie mich nicht oder wollte nicht, daß irgend jemand wußte, wo sie sich aufgehalten hatten. Sie brachte Halisstra dazu, sich abzuwenden, dann verschwanden sie in der Menge. Damals dachte ich mir nichts dabei, aber nun wird mir klar, daß sie sich dort aufgehalten haben mußte, um Quenthel und den anderen ein Signal zu geben.« Halisstra riß die Augen auf, als sie Faeryls Anschuldigungen hörte. Sie stotterte vor Unglauben, ehe sie die Worte fand, um sich zu verteidigen. »Ich ... wir waren nie ... Muttermatronen, ich versichere Euch, wir haben die Botschafterin und ihre Gefährten nie in den unteren Bereichen der Stadt gesehen. Ich bin in allen Punkten unschuldig.« Faeryl lächelte. Halisstra hatte offensichtlich bewußt ver mieden, abzustreiten, daß sie dort unten gewesen war. Es war ein riskantes Spiel gewesen, einfach davon auszugehen, daß die beiden sich in den letzten Tagen irgendwo dort unten auf gehalten haben könnten, doch es hatte sich bezahlt gemacht. Damit war die Aufmerksamkeit auf Halisstra gelenkt worden. »Vielleicht irre ich mich auch«, warf Faeryl rasch ein und lächelte Halisstra an, deren Blicke sie wie Dolche durchbohr ten. »Es war dort unten mit so vielen Flüchtlingen und niede
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ren Männern recht überlaufen. Da kann man sicher leicht verstehen, daß ich glaubte, Danifae habe mit einem anderen aus meiner Gruppe Blickkontakt gehabt. Offenbar hieltet Ihr beiden nach jemand anderem Ausschau.« Faeryl hätte am liebsten über ihre eigene Raffinesse ge grinst. Indem sie einen Rückzieher machte und einen Fehler einräumte, belastete sie Halisstra um so schwerer. Nun waren bei allen Anwesenden Zweifel gesät worden, und je weniger sie versuchte, ihnen diese Theorie schmackhaft zu machen, desto wahrscheinlicher würden die anderen sie glauben. Die, die beschlossen, an Halisstras Unschuld zu glauben, konnten jetzt nur noch einen Grund annehmen, was sie in einen ihr so un angemessenen Teil der Stadt geführt hatte. So oder so warf es ein ungünstiges Licht auf die Tochter einer Verräterin. Ssipriina wandte sich Jyslin Aleanrahel zu und sagte: »Mut termatrone, ich bin eine einfache Händlerin, die mit den Ab läufen im höheren Adel nicht vertraut ist. Hätte ich geahnt, wie sehr Euch mein Vorgehen mißfällt, dann hätte ich nach einem geeigneteren Weg gesucht, um der Krise Herrin zu wer den. Da sich das nun nicht mehr ändern läßt, kann ich nur hoffen, Ihr berücksichtigt, daß ich nur das Beste für Ched Nasad im Sinn hatte.« Allgemeines Gemurmel machte sich breit, als die Muttermat ronen die Köpfe zusammensteckten und zweifellos über die neue Anschuldigung berieten, die Faeryl soeben gegen das Haus Melarn vorgebracht hatte. Allein die Tatsache, daß Ha lisstra sich mit den Bürgerlichen der Stadt abgegeben hatte, bedeutete, daß ihr unwürdiges Verhalten von der übelsten Sorte und sie unfähig war, ein Adelshaus zu führen. Daß der Vorwurf zur Hälfte sogar berechtigt war, versüßte Faeryl die Angelegenheit noch mehr. Sie war froh, daß nicht mehr sie die Drow war, auf die alle herabsahen.
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»Genug!« rief Aunrae Nasadra und stampfte mit ihrem Ru nenstab auf. Selbst bei einer so informellen Zusammenkunft brachte man der ältesten und mächtigsten Muttermatrone absoluten Respekt entgegen, so daß sofort Ruhe einkehrte. »Dieser Unsinn ist der Grund dafür, daß wir mit dem Verlust der Gunst Lolths konfrontiert sind. Wie können wir erwarten, daß Lolth uns ihre Aufmerksamkeit widmet, wenn wir so viel Zeit und Energie auf so lächerliche Diskussionen darüber ver wenden, wer in den größten Haufen Rothé-Dung getreten ist?« Die Matriarchin ging zwischen den anderen umher und sah sie alle an. »Ob die Nachkommenschaft des Hauses Melarn mit niederen Männern in den untersten Vierteln Ched Nasads rumhurt, ist für mich bedeutungslos!« Faeryl sah Halisstra an, die demütig den Kopf gesenkt hatte. »Für die wenigsten Drow sind die Straßen noch sicher«, fuhr sie fort. »Wir wissen alle, welche Vorkehrungen wir tref fen mußten, nur um unbehelligt hierherzugelangen. Unsere Stadt befindet sich am Rande einer Katastrophe, Mütter, und trotzdem stehen wir hier und beraten über das Schicksal eines Adelshauses, das bedeutend genug ist, um einen Sitz im Rat innezuhaben. Ssipriina hat vorgeschlagen, wir sollten das Haus Melarn auflösen und Halisstra und die anderen überlebenden Fremden opfern, um die Massen und die Dunkle Mutter zu besänftigen. Zwar wissen wir nicht, warum unsere geliebte Lolth zürnt, aber daß sie es tut, darüber sind wir uns einig. Aber wird ein solcher Akt helfen? Wird er ihren Segen zu rückbringen? Wenn wir an den Verrätern ein Exempel statuie ren und die ganze Stadt dabei zusehen lassen, wird das die Bürger eine Weile ruhigstellen? Vielleicht, aber die wichtigere Frage ist doch, ob es Euch alle zufriedenstellen wird. Werdet Ihr in Eure Häuser zurückkehren, zufrieden, daß ein Haus ge fallen ist und die Karten der Hierarchie ausreichend neu ge
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mischt wurden? Es gibt zerbrechlichere Dinge als den Frieden in unserer Stadt, wenn auch nur wenige. Diese Heimtücke mag in unserer Art liegen, aber in einer so schwierigen Zeit ist sie fehl am Platz.« »Was, wenn die Begleiter der Baenre-Priesterin etwas wis sen?« fragte Halisstra. »Was, wenn sie eine Ahnung haben, was mit Lolth los ist? Wenn Ihr mich tötet, dann bekommt Ihr, was Ihr wollt: ein Haus weniger, das Euch im Weg steht. Aber wenn Ihr sie tötet, ob als Spione oder als Opfer, könntet Ihr wertvolle Informationen verlieren.« »Halt den Mund!« zischte Ssipriina. »Du hast uns schon genug Schande für ein ganzes Leben gemacht. Glaub nicht, du könntest deiner gerechten Strafe entgehen, indem du jetzt vortäuschst, wieder loyal zu sein. Dafür ist es zu spät!« Halisstra ließ sich davon nicht einschüchtern, sondern re dete weiter und ignorierte die finsteren Blicke, die die anderen Muttermatronen ihr zuwarfen. »Was, wenn dieser Magier etwas entdeckt hat?« fragte sie. »Faeryl hat uns schon gesagt, daß er klug ist und es ihm nichts ausmacht, Quenthel gegen sich aufzubringen. Ich kann mir vorstellen, daß er mehr weiß, als er uns glauben lassen will. Warum sollen wir ihn töten, wenn er gewillt ist, mit uns zu reden? Könnte es sein, daß er bereit ist, seine Geheimnisse zu enthüllen? Vielleicht sogar für einen angemessenen Preis? Es gibt einige unter Euch, die nicht hören wollen, was er zu sagen hat. Er könnte die Lügen aufdecken, die Ihr über meine Mutter und mich erzählt.« Aunrae lächelte und sagte: »Sag mir, Kind, glaubst du, Lolth würde einem Mann eine solche Vision zuteil werden lassen? Glaubst du, sie würde einem Jungen gestatten, den Grund für ihr Schweigen zu finden, ganz gleich, wie clever er auch sein mag?«
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»Dies sind schwierige Zeiten, Muttermatrone, das habt Ihr selbst gesagt. Ich würde keine Möglichkeit ausschließen, egal wie unvorstellbar oder albern sie auch klingen mag. Für mich gibt es natürlich nur noch wenige Möglichkeiten. Ich habe meine eigenen Probleme. Ob Ihr ihn befragen wollt oder nicht, ich bitte Euch nur, ihn als Zeugen zu dieser Verhand lung hinzuzuholen. Seine Worte könnten meine Unschuld beweisen.« Faeryl zog die Augenbrauen hoch, da ihr die Richtung nicht gefiel, in die sich das alles entwickelte. Sie begann zu glauben, es könnte ein Fehler gewesen sein, den Plan in all seinen Fa cetten in Kraft treten zu lassen, solange Pharaun und die ande ren nicht in Haft saßen oder – besser noch – getötet worden waren. Vielleicht konnte sie den anderen zuvorkommen und mit ihm reden, um die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Vielleicht würde ihre Mutter dann endlich aufhören, sie wie ein Kind zu behandeln. Aunrae nickte, die Lippen hatte sie geschürzt, als lasse sie sich die Worte der jüngeren Drow durch den Kopf gehen. »Du redest, um dein Leben zu retten, Halisstra, doch deine Worte entbehren nicht einer gewissen Grundlage. Wir werden mit unserem Urteil über dich warten, bis wir Gelegenheit hatten, alle Seiten anzuhören, und was diesen ›klugen Jungen‹ angeht, so werden wir aus ihm schon herausholen, was er weiß, sobald er sich hier gezeigt hat, und wir werden dafür keinen Preis bezahlen. Irgendwie glaube ich, Quenthel Baenre hat bei ihrem Magier die Zügel schleifen lassen. Ich habe nicht vor, den gleichen Fehler zu machen.« »Muttermatrone Nasadra«, rief Zammzt aus dem hinteren Teil des Raums, den er soeben betreten hatte. »Sie sind hier.«
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Pharaun, Ryld und Valas hatte man ins Haus geführt und dann in einen Warteraum gebeten, der für jeden der drei einen allzu vertrauten Anblick darstellte und nicht dazu angetan war, sie zu beruhigen. Man ließ sie allein, genauer gesagt, man ließ Wachposten zurück, die an den Ausgängen postiert waren, um ihnen Gesellschaft zu leisten. Pharaun verbrachte die Zeit damit, im Raum auf und ab zu gehen, die zahlreichen Fresken und Statuen zu bewundern, die in erster Linie Spinnenmotive, Spinnennetze und den Ruhm der Dunkelelfen zeigten. Es wa ren auch eine ganze Reihe von Musikinstrumenten ausgestellt, von denen er einige noch nie gesehen hatte. Der Meister Sor ceres vermutete, daß ein Großteil der Arbeiten sich auf die Geschichte des Hauses Melarn bezog, doch für Pharaun war das alles deutlich zu pompös und formell. Ryld und Valas Hune hatten derweil die Köpfe zusammengesteckt und berieten sich – vermutlich darüber, welche Taktik sie anwenden sollten, um sich in Sicherheit zu bringen, wenn sich die Situation zu ihrem Nachteil entwickelte. Als die Flügeltüren am anderen Ende des Raums aufgesto ßen wurden, drehte sich Pharaun um und sah, daß im dahinter gelegenen großen Audienzsaal nicht nur eine, sondern eine ganze Reihe großtuerischer Drow-Frauen wartete, bei denen es sich zweifellos um Matriarchinnen handelte. Sie waren umge ben von einer Schar Hausmagier, Soldaten und jüngeren Frau en, die alle die Tracht des Hauses trugen. Pharaun bemerkte, daß etliche von ihnen die Aura von Schutzzaubern und ähnli chem umgab. »Guten Abend und willkommen im Hause Melarn«, sagte eine recht große, schlanke Drow, die auf dem Thron wartete, während die drei Männer den Saal betraten, in herrischem Tonfall. »Ich bin Muttermatrone Ssipriina Zauvirr.« Pharaun verbeugte sich leicht und ging weiter, um sich in
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gebührendem Abstand zum Thron zu stellen, damit er keine Bedrohung darstellte. Ryld und Valas Hune stellten sich dazu, während sich die anderen Muttermatronen um den Thron scharten, ihrerseits flankiert von den Magier, Priesterinnen und Soldaten. Pharaun wußte, daß diese Frau die Mutter Faeryls war, doch er wußte keine Erklärung, was sie auf dem Thron des Hauses Melarn zu suchen hatte. Der Magier sah sich im Saal um, ob er Faeryl entdecken konnte. Tatsächlich war sie da, hielt sich aber in einer Ecke auf, als wollte sie nicht gesehen werden. Wenn ich es nicht besser wüßte, dachte Pharaun ironisch, müßte ich annehmen, daß sie irgendwelchen Ärger erwarten. Weder Valas Hune noch Ryld sagten ein Wort, doch der Magier spürte, daß sie zu beiden Seiten von ihm standen und bereit waren, sofort in Aktion zu treten. »Wir fühlen uns geehrt und sind erfreut, in Eurem Haus zu Gast zu sein, Muttermatrone Zauvirr«, sprach Pharaun schließ lich. »Welchem Umstand haben wir den freundlichen Emp fang zu verdanken?« Und wo beim Abgrund sind Quenthel und Jeggred? fügte er lautlos an. Ssipriina Zauvirr rümpfte die Nase und erwiderte: »Ganz im Gegenteil, Pharaun Mizzrym, sollte ich Euch danken und Euch fragen, wie es kommt, daß Ihr die Stadt der schimmernden Netze mit Eurer erhabenen Präsenz beehrt. Der Ruf, der Euch vorauseilt und von einem selbstbewußten und von sich einge nommenen Magier mit nicht geringem Talent berichtet, ist offensichtlich nur die halbe Wahrheit.« Pharaun lächelte so entwaffnend, wie er konnte, während er sein Gewicht auf ein Bein verlagerte und das andere ein wenig nach außen drehte.
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»Jeder hat wie immer seine eigene Meinung von den Din gen, Muttermatrone. Das soll nicht heißen, daß sich irgend jemand irrt, es soll nur bedeuten, daß Vorstellungen und Tat sachen aus gutem Grund nicht immer zueinander passen.« »Natürlich«, sagte eine andere Muttermatrone, die links von Ssipriina vortrat, »und wir sind der Auffassung, daß Ihr und Eure Gefährten zwar nach außen hin wie schlichte Rei sende oder gar wie Gesandte unserer Schwesterstadt Menzo berranzan wirkten, in Wahrheit aber Spione seid, die uns be stehlen und jene Schwächen offenlegen wollen, von denen Ihr geglaubt habt, Ihr könntet sie hier vorfinden.« Soviel zu diesem Thema, dachte Pharaun und verlagerte sein Gewicht weiter. Er mußte es nicht sehen, er spürte bereits, daß Ryld links von ihm und Valas auf der anderen Seite sich angesichts der unverhohlenen Anschuldigung versteiften. »Ruhig«, flüsterte er. »Spart euch eure Heldentaten auf, bis wirklich nichts anderes mehr hilft.« Mit möglichst gelassener Miene spreizte der Magier ergeben die Hände und sagte: »Es tut mir leid, Herrin ...« »Muttermatrone Jyslin Aleanrahel vom Hause Aleanrahel.« Pharaun schluckte, dann fuhr er fort: »Muttermatrone A leanrahel. Ich bin zwar sicher, daß unser Bemühen, keine Aufmerksamkeit zu erregen, schrecklich verdächtig ausgesehen haben muß, aber ich kann Euch versichern, daß wir keinerlei feindselige Absichten gehegt haben. Wir wollten ...« »... vermeiden, zur Rede gestellt zu werden?« fiel Jyslin ihm ins Wort. »Was hat Euch das gebracht?« Pharaun seufzte. »Nichts gutes, wie es scheint, aber meine Gefährten und ich sind noch immer nicht wirklich sicher, ob wir Eure Sorgen verstehen. Ich muß gestehen, ich bin verwirrt, warum wir uns hier treffen, wenn niemand von Euch Mutter matrone Melarn ist.«
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Mehrere der Muttermatronen tauschten wissende Blicke aus. Pharaun war gründlich verwirrt. Er sah sich im Saal um und entdeckte etwas recht seltsames: eine Drow, die offenbar adlig war, die aber nur noch ihre Unterwäsche trug und von zwei stämmigen Soldaten bewacht wurde, eine Drow, die nicht Quenthel war. »Oh, wir haben keine Sorgen«, erwiderte Jyslin Aleanrahel. »Nicht mehr. Bis Ihr kamt, waren wir besorgt, wir könnten Eurer möglicherweise nicht habhaft werden und Ihr könntet entkommen. Wir waren besorgt, Ihr würdet Eure Erkenntnisse an Eure Vorgesetzten in der Stadt der Spinnen melden. Wir waren sehr besorgt, Ihr könntet etwas Dummes versuchen, beispielsweise den unausgegorenen Diebstahl- und Spionage plan Eurer Hohepriesterin zu Ende führen. Ihr habt aber gut kooperiert, so daß wir der Ansicht sind, die Situation gut im Griff zu haben.« Ryld gab ein fast lautloses Räuspern von sich. Der Magier fühlte, wie der Krieger hinter ihm das Gewicht verlagerte. Als Reaktion darauf spannten sich einige der Soldaten an, die unauffällig im Raum ausgeschwärmt waren, um das Trio voll ständig einzukreisen, als erwarteten sie, daß Ryld einen Satz auf sie zu machen würde. Pharaun runzelte die Stirn. »Mir war nicht bewußt, daß unsere Hohepriesterin so etwas plante«, sagte er. »Wenn etwas nicht stimmt, dann müssen wir alle zusammen daran arbeiten, um es wieder ins Lot zu bringen. Sagt uns, wo sie ist, und ich bin sicher, daß wir ...« »Quenthel wurde dabei ertappt, wie sie einen verräteri schen Akt gegen Ched Nasad beging«, warf eine dritte Mut termatrone ein, die hinter dem Thron hervortrat. Pharaun spürte, daß diese Drow, die in Würde gealtert war, die gewal tigste sein mußte, der er jemals begegnet war. »Es bestand kein
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Zweifel an ihrer Schuld. Sie starb, als sie versuchte, vom Tat ort zu fliehen.« Pharaun blinzelte, ihm schwindelte. Tot? Quenthel Baenre war tot? Er war nicht sicher, ob er lachen oder sich Sorgen machen sollte. Hinter sich hörte er, wie seine Gefährten nach Luft schnappten. »Sie wurde erwischt, wie sie mit dem Haus Melarn verabre dete, illegal die Stadt zu betreten und wertvolle Ressourcen zu stehlen, die uns gehören«, sagte die ältere Drow. »Außerdem glauben wir, daß sie im Auftrag Menzoberranzans Spionage betreiben sollte. Wir betrachten dies als Verbrechen gegen die Stadt, gegen alle Drow und gegen Lolth selbst.« Eine Verschwörung? dachte Pharaun. Das ist lächerlich! Sein Blick fiel auf den Thron, auf dem Faeryls Mutter saß, und allmählich wurde ihm klar, wer dahintersteckte – und warum. Kein Wunder, daß Faeryl so hilfsbereit war, dachte er. Sie hat uns die ganze Zeit an der Nase herumgeführt. »Außerdem«, fuhr die Muttermatrone fort, »werdet Ihr we gen Eurer Verbindung zu Quenthel der gleichen Verbrechen angeklagt. Ihr steht unter Arrest und werdet dieses Gebäude so lange nicht verlassen, bis über Eure Schuld oder Unschuld entschieden ist.« »Aber nicht heute«, erwiderte Ryld, machte einen Schritt nach vorn und zog Splitter. Wie ein Mann legten etliche Soldaten ihre Armbrust an, während ein halbes Dutzend Magier und Priesterinnen sich bereitmachten zu zaubern. »Ryld, du Narr! Warte!« raunte Pharaun ihm zu und be mühte sich weiter, leise zu sprechen. »Es gibt bessere Metho den ...« Valas streckte eine Hand aus und hielt den größeren Drow
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davon ab, seinen Zweihänder ganz aus der Scheide zu ziehen. »Noch nicht«, bat der Späher. »Unter diesen Umständen haben wir keine Chance.« Ryld knurrte, nahm dann aber die Hand vom Heft seines Schwerts und trat wieder zurück. »Gut«, sagte die dritte Muttermatrone. »Ihr seid nicht so dumm, wie Faeryl es dargestellt hat. Auch wenn Euer Mut hier fehl am Platz ist, bin ich sicher, daß er Euch in der Vergangen heit gut gedient hat.« »Herrin ...?« setzte Pharaun an. »Aunrae Nasadra, vom Ersten Haus Nasadra«, führte die Drow für ihn zu Ende. Natürlich, dachte der Magier. »Herrin Nasadra«, sagte er. »Ich bin über die Nachricht von Quenthels Tod bestürzt, doch ich bitte Euch, mich anzu hören. Mir ist nichts bekannt von einer Verschwörung zwi schen ihr und irgendwem hier in der Stadt. Es muß sich um ein Mißverständnis handeln.« »Das möchte ich bezweifeln«, gab Aunrae zurück. »Aber noch habt Ihr die Möglichkeit, das zu beweisen und Euren Hals zu retten. Sagt uns die Wahrheit. Habt Ihr Euch in die Stadt geschlichen und heimlich mit Drisinil Melarn getroffen, der Muttermatrone des Hauses Melarn, um Waren aus den Lagerhäusern der Handelsgesellschaft der Schwarzen Klaue zu stehlen?« Pharaun sah sich um, erblickte die Myriaden erwartungsvoll starrender Gesichter – und die Waffen, die auf ihn und seine beiden Gefährten gerichtet waren – und tat das einzige, was er tun konnte: Er log. »Aber ja«, antwortete er geradeheraus. Jeder – Ryld und Valas Hune eingeschlossen – hielt die Luft an. Ehe aber die beiden Menzoberranzanyr gegen sein falsches Geständnis auf
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begehren konnten, fuhr er schon fort: »Oder besser gesagt: Quenthel muß das getan haben. Seht ihr, rückblickend ergibt das alles Sinn. Ihr müßt wissen, daß sie meine beiden Begleiter und mich losschickte, um eine Karawane zu organisieren, die in der Lage war, große Mengen an Gütern zu transportieren, ohne uns zu sagen, welchem Zweck das dienen sollte. Ihr müßt dabei berücksichtigen, daß Herrin Baenre uns Männern nur sehr wenig erklärt hat. Unmittelbar ehe wir aufbrachen, um ihre Anweisungen in die Tat umzusetzen, hörte ich sie mit Faeryl Zauvirr reden, der Botschafterin in Menzoberranzan, die uns begleitete. Ich erinnere mich, daß sie davon sprach, ihre Mutter und noch jemanden zu treffen. Zu der Zeit wußte ich allerdings nicht, wen sie damit meinte. Quenthel sprach mit Faeryl über etwas und benutzte ungefähr diesen Wortlaut: ›Ihr seid sicher, daß der Treffpunkt sicher ist? Ihr wißt, daß wir uns nicht erlauben können, gesehen zu werden.‹« »Du aufgeblasener Lügner!« schrie Faeryl quer durch den Saal. »Tötet ihn, dann haben wir es hinter uns!« Pharaun zwang sich, nicht zu lächeln. Ringsum begannen alle gleichzeitig zu reden. Auch wenn er einige Fetzen mitbe kam, die ihn und seine an den Haaren herbeigezogene Ge schichte verdammen wollten, wußte er doch, daß er Zweifel gesät hatte. Doch schon rückten die Soldaten, die sie umzin gelt hatten – Soldaten, die das Zeichen des Hauses Zauvirr trugen – näher, waren aber unsicher, was sie tun sollten. »Na gut, Magier«, zischte Ryld. »Unsere Zeit ist abgelaufen. Was nun?« Pharaun öffnete den Mund, weil er dem Krieger sagen woll te, daß er nicht die mindeste Ahnung hatte. Doch im gleichen Moment wurde der Saal so heftig erschüttert, daß alle das Gleichgewicht verloren und zu taumeln begannen. Fast gleich zeitig gab es einen gewaltigen Knall, der den Saal erbeben ließ.
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»Bei Lolth!« schrie jemand, während sich alle voller Ver wirrung und Panik umsahen. Ein Diener stürmte in den Saal, die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen. »Herrinnen! Es sind Duergar! Hunderte! Sie haben uns um zingelt ... sie greifen an!« Eine weitere Explosion riß den Die ner von den Beinen, während er weiterschrie: »Sie setzen den Stein in Brand, Mütter! Die Stadt brennt!«
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Aliisza war völlig überrascht, als rund um das Anwesen, in das Pharaun und die anderen gebracht worden waren, auf einmal eine Horde Duergar scheinbar aus dem Nichts auftauchte. Nach ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen waren die Drow, die Wache hielten, von den Angreifern aber noch viel überrasch ter als sie selbst. Die Grauzwerge, nach Aliiszas Schätzung zweitausend bis dreitausend Mann, hatten sich an einer Seite des Hauses in einer Reihe aufgestellt, ehe sie sichtbar wurden, und feuerten nun eine Salve aus ihren Armbrüsten ab. Außer dem schleuderten sie etliche Dutzend Tontöpfe, die in orange farbenen Feuerbällen aufgingen, sobald sie an der Steinmauer rings um das Anwesen zerplatzten. Die Drow, die sich in der Nähe des Haupttors aufhielten, eilten davon, um sich in Sicherheit zu bringen, als der Pfeilre gen und das Bombardement mit Brandbomben einsetzten. Die
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erste Angriffswelle erschütterte die gesamte Netzstraße, und Aliisza mußte sich besser festhalten, um nicht vom Dach des Gebäudes auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes zu rut schen. Als sie wieder hinübersah, erkannte sie, daß nur wenige Drow den ersten Angriff überlebt hatten. Ein Alarm ertönte auf dem Hof des zystenartigen Bauwerks, etliche Drow kamen herausgestürmt. Aliisza sah, wie sie eine Linie entlang der Schutzmauer bildeten und mit ihren Arm brüsten das Feuer erwiderten. Eine ganze Reihe Duergar gingen bei dem Gegenangriff zu Boden, doch die Grauzwerge erwiesen sich als taktisch äußerst klug, da sie aus der ersten Reihe der Gefallenen einen Schutzwall machten und von dort aus eine zweite Angriffswelle starteten. An mehreren Stellen hatte das Feuer der Brandbomben auf den Stein übergegriffen, wo es sich nun rasch ausbreitete. Auf dem Platz hechteten Bürger Ched Nasads in Deckung, und eine Netzstraße höher näherte sich ein massives Truppen aufgebot. Die Duergar würden jeden Augenblick ungebetenen Besuch erhalten. Zumindest glaubte sie das. In diesem Moment tauchte eine zweite Truppe Duergar auf, diesmal auf dem Hof, und attackierte sofort die Drow, die das Haupttor verteidigten. Sehr geschickt, dachte das Alu-Scheusal. Sieht so aus, als hätten sie das schon ein- oder zweimal so gemacht.
Pharaun zögerte keinen Moment. »Verteilt euch!« rief er den beiden Drow zu, die ihn beglei teten. Er wirkte einen Zauber. Normalerweise hätte er wenigstens ein paar Sekunden gebraucht, um den Spruch aufzusagen und die notwendigen Gesten zu vollführen. Aber diesen speziellen
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Zauber hatte er so sehr weiterentwickelt, daß er in dem Mo ment entstand, in dem er ihn dachte – ohne Gesten, ohne Worte, ohne Verzögerung. Dichter Nebel bildete sich, der alles um Pharaun herum einhüllte. Er konnte sich darauf verlassen, daß Ryld auf sich selbst aufpassen konnte, und das gleiche galt hoffentlich für Valas. Als er nach oben schwebte, verdrängte er jeden Gedanken an die beiden. Eine weitere heftige Explosion erschütterte das Haus, doch der in der Luft schwebende Magier spürte nichts davon. Er schwebte bis zur Decke und wirkte einen Unsichtbarkeitszau ber, der ihn zwar vor den geschickteren Magiern und Mutter matronen nicht völlig verstecken konnte, aber wenigstens würden ihn die gewöhnlichen Soldaten nicht sehen. Von unten hörte er die Aufregung und das Durcheinander, als die Drow auf die Worte des Boten und das Beben der Fundamente reagierten. An der Decke angekommen, griff Pharaun in seinen Piwafwi und holte eine kleine Prise Diamantstaub heraus. Er sprach eine weitere Beschwörungsformel und sah zu, wie der Staub in einem Funkeln verschwand. Der würde hoffentlich dafür sor gen, daß er auf diese Weise auch gegen Ortungsmagie ge schützt war. In der Zwischenzeit war jemand so klug gewesen, Pharauns Nebelwolke mit magischen Mitteln verschwinden zu lassen, so daß am Boden wieder freie Sicht herrschte. Der Meister Sorce res überblickte den gesamten Saal und suchte nach Hinweisen auf Ryld und Valas. Der Späher war nirgends zu sehen, was den Magier nicht überraschte. Ryld hatte sich unterdessen hinter einer Statue in Sicherheit gebracht, hielt Splitter in der Hand und beobachtete, wie Feinde in alle Richtungen liefen. Lange wird er dort nicht verstecken bleiben, überlegte Pha raun, da ihm klar war, daß die Muttermatronen nach wie vor
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ein Urteil über die Gruppe fällen wollten, sobald die Ordnung wiederhergestellt worden war. Der Magier dachte rasch nach, dann zog er aus einer seiner Taschen ein Stück Vlies hervor, mit dem er einen weiteren Zauber wirkte, der diesmal auf Ryld gerichtet war und seiner Tarnung zugute kommen sollte. Als er fertig war, wurde Ryld durch die Illusion einer Statue getarnt. Pharaun konzentrierte sich auf das Geschehen in der Mitte des Raums, wo einige Magier zusammenstanden, von denen einzelne einen Zauber wirkten. Ein weiterer drehte sich lang sam und sah sich sehr genau um. Pharaun sah die Magie, die der Drow ausstrahlte. Sie suchen uns, erkannte der Meister Sorceres. Er suchte in seinen Taschen, bis er das richtige fand: einen winzigen Hammer und eine ebenso kleine Glocke, beide aus Silber. Indem er den Hammer gegen die Glocke schlug, erzeug te der Magier einen weiteren Effekt, diesmal mit auffälligem Ergebnis. Ein entsetzliches Vibrieren durchfuhr den Boden unter den Füßen der Magier, das sie taumeln und die Hände auf die Oh ren pressen ließ. Sogar der, der den Raum abgesucht hatte, wirkte erschrocken, auch wenn er sich nur breitbeiniger hin stellte und weitersuchte. Als das Vibrieren ein Crescendo erreichte, konnte der Steinboden der Belastung nicht länger standhalten und begann, Risse zu zeigen. Tausende von Rissen zogen sich mit rasender Geschwindigkeit über den Boden und machten es schwierig, das Gleichgewicht zu wahren. Etliche Magier verloren den Halt und fielen hin. Die Risse setzten sich so lange fort, bis der Boden nur noch aus Pulver bestand, das 15 Zentimeter tief war und von den gestürzten Magiern aufge wirbelt wurde, die wieder aufzustehen versuchten. Einige von ihnen regten sich überhaupt nicht.
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Hervorragend, dachte Pharaun, doch seine Erleichterung war nicht von Dauer. Ryld war entdeckt worden und befand sich nun in einem heftigen Kampf mit mehreren Soldaten sowie mit mindestens zwei Priesterinnen. Zwar floß Blut aus einer klaffenden Wunde an seinem Arm, doch der Krieger hielt sich seine Angreifer problemlos vom Leib. Das würde nicht so bleiben, wenn Magie ins Spiel kam. Pharaun wußte, daß das nicht lange dauern würde. Er sah, daß bereits eine Priesterin eine Schriftrolle in Händen hielt. Ehe er jedoch einschreiten mußte, tauchte Valas scheinbar aus dem Nichts hinter ihr auf – Pharaun wunderte sich, wie er das bloß be werkstelligte – und jagte einen seiner gekrümmten Dolche in den Rücken der Frau. Noch während die Klerikerin fiel, wand te sich der Späher um und hatte sich schon wieder Pharauns Blicken entzogen, weil der sich seinerseits einen Moment lang der anderen Seite des Saals widmen mußte. Dort waren mehrere der Muttermatronen versammelt, die von einem massiven Gefolge beschützt wurden, und standen dicht um etwas gedrängt, das Pharaun nicht sehen konnte. Er überlegte, ob er einen Schlag gegen sie führen sollte, zumal sie sich in so greifbarer Nähe zu ihm befanden, doch er verwarf die Idee wieder. Ich will keine unnötige Aufmerksamkeit auf mich lenken, entschied er. Pharaun fühlte das Kribbeln von Magie, die gegen ihn ge wirkt wurde und sah einen anderen Magier, der mit dem Fin ger in seine Richtung zeigte. Irgendwie hatten sie seine Positi on ausgemacht. Pharaun bemerkte, daß er blaßviolett leuchtete, obwohl er unsichtbar war. Jetzt sahen auch andere Magier in seine Richtung, und eine Handvoll Soldaten legte die Armbrüste an. Verdammt! dachte der Magier.
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Er wickelte seinen Piwafwi um sich und wandte sich ab, als die erste Salve ringsum gegen die Decke krachte. Zwei Ge schosse trafen ihn im Rücken, doch der Piwafwi leistete ganze Arbeit. Es gab keine Möglichkeit, das Feenfeuer um sich her um zu ersticken, ohne gleichzeitig seine Unsichtbarkeit auf zugeben. Aber wenn er weiter eine Zielscheibe für die anderen abgab, würde er früher oder später wie ein Nadelkissen ausse hen. Konsterniert schüttelte Pharaun den Kopf und ließ sich fallen, um erst kurz vor dem Boden seinen Fall zu stoppen. Die Magier und Soldaten hatten seinen Sturzflug nachvoll zogen und kamen nun auf ihn zu. Zwei Soldaten mit Lang schwertern kamen aus entgegengesetzten Richtungen auf ihn zugeeilt. Zwar konnte er den ersten Angreifer mühelos abweh ren, doch der andere erwischte ihn am Arm und durchtrennte den Stoff seines Piwafwi. Blut spritzte aus der Wunde, während der Magier vor Schmerz schrie. Nur einen Herzschlag später waren er und seine beiden Widersacher von einer Strömung umgeben, als stünden sie mitten in einem Wasserfall – nur daß es kein Wasser war. Es brannte wie Feuer, und beide Schwert träger kreischten und schlugen um sich, als ihre Haut Blasen warf und sich rot verfärbte. Pharaun spürte, wie sich auch auf seiner Haut Blasen bildeten, während er den Piwafwi hochriß, um sein Gesicht zu schützen, und sich dann dank der Magie in seinen Stiefeln mit übernatürlicher Geschwindigkeit in Si cherheit brachte. Er rollte sich weg, fort vom Säureregen, und beschwor sein Rapier, als er aufsprang und weiterlief – direkt in die Arme zweier Soldaten. Mit seinem schwebenden und tänzelnden Rapier lenkte er die beiden Drow lange genug ab, um zwischen ihnen hindurch zu eilen, ehe sie überhaupt wußten, daß er sich in ihre Richtung bewegte. Unmittelbar danach lief er zu Ryld, während weitere Pfeile sowie ein paar Geschosse aus Licht und
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Feuer erloschen, als sie ihn erreichten. Valas hatte sich abermals versteckt, doch Ryld war von sechs Gegnern umzingelt. Mit jedem Schlag Splitters konnte der stämmige Krieger mehrere Waffen gleichzeitig abwehren. Er atmete schwer und blutete aus einem guten Dutzend kleiner Wunden. Angesichts so vieler Gegner schien er nicht in der Lage, zum Gegenangriff überzugehen. Als sich Pharaun seinem Gefährten näherte, ließ er sein magisches Rapier einen der Angreifer von hinten attackieren. Die Klinge bohrte sich in den Rücken des Drow-Soldaten, der vor Schmerz aufschrie und zu Boden ging. Pharaun ließ das Rapier zu sich zurückkehren und sich von ihm schützen, wäh rend er sich einem neuen Zauber widmete. Der Meister Sorceres zog sich an eine geschützte Stelle in der Nähe derselben Statuen zurück, hinter denen sich zuvor Ryld versteckt hatte, dann holte er eine weitere Prise des zer mahlenen Diamanten heraus. Dieser Zauber sorgte für eine unsichtbare Barriere zwischen ihm und dem guten Dutzend Soldaten und Magier, das ihn verfolgte. Die Position, an der sich Ryld versteckt hatte, war mehr oder weniger eine Ecke des Audienzsaals, was Pharaun nutzte, indem er seine unsichtbare Wand schräg ausrichtete und sich und den Meister MeleeMagtheres vom größten Teil des Raums abtrennte und sie nur noch den fünf Drow gegenüberstanden, die immer noch Ryld umkreisten. Der Meister Sorceres richtete seine Aufmerksamkeit darauf, Ryld zu helfen, während die anderen Soldaten auf schmerzhaf te Weise Bekanntschaft mit seiner unsichtbaren Wand mach ten. Er ignorierte den Aufprall, als die ersten zwei oder drei Männer gegen die Barriere rannten, doch ein Lächeln konnte er sich nicht verkneifen. Ryld hatte einer zweiten Gegnerin tödliche Wunden zugefügt – einer Priesterin, die zuckend in
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einer Blutlache lag. Pharaun holte seine Armbrust heraus und lud sie, gleichzeitig ließ er sein Rapier auf einen Drow nieder fahren, der sich Ryld von hinten nähern wollte. Das Rapier streifte die Schulter des Wachmanns, der sich daraufhin umdrehte, um sich vor dieser neuen Bedrohung zu schützen. Pharaun nutzte diesen Augenblick, um seine Arm brust abzufeuern und einen Volltreffer zu landen. Der Soldat stöhnte vor Schmerz überrascht auf, als der Bolzen sich in die Schulter seines Kampfarms bohrte. Er ließ sein Langschwert fallen und taumelte zurück, den Blick auf das Rapier gerichtet, das vor ihm durch die Luft zuckte. Pharaun lud nach und woll te zielen, als Valas aus einem Schatten auftauchte und den Mann von hinten attackierte. Der Mann riß die Augen auf, schnappte nach Luft und bewegte den Mund, als wolle er et was sagen. Doch es kam kein Wort über seine Lippen. Dann sank er tot zu Boden, während der Späher sein Kukri aus dem Rücken des Opfers zog. »Ich nehme an, du bist das, Magier. Welchen Sinn hat es, unsichtbar zu sein, wenn du statt dessen purpurfarben leuch test?« »Ich bin froh, daß du auf der richtigen Seite bist«, sagte Pharaun, geriet aber ins Wanken, als das Gebäude erneut er schüttert wurde. »Bei Lolth, was ist da draußen los?« fragte er und wahrte sein Gleichgewicht. »Was immer es auch sein mag – ich weiß nicht, ob wir hier drinnen oder da draußen besser aufgehoben sind«, gab Valas zurück und wischte seinen geschwungenen Dolch am Piwafwi des toten Drow ab. »Wir müssen hier weg.« Pharaun nickte, bis ihm einfiel, daß der Späher ihn nicht sehen konnte, dann sagte er: »Ich bin ganz deiner Meinung«, und wandte sich wieder Ryld zu. Der Krieger hatte es nur noch mit einem Gegner zu tun, der
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sich vorsichtig um die Blutlachen herum bewegte, wobei er immer wieder antäuschte. Seine Attacken waren nicht beson ders wirkungsvoll, und er rang unablässig nach Luft. Sein kur zes weißes Haar hatte sich vom Blut rot verfärbt. Valas schlich sich vor, bereit, einen weiteren Angriff von hinten zu führen, wenn sich die Gelegenheit ergab. Der Ma gier konzentrierte sich unterdessen auf seine magische Wand, da er überzeugt war, daß seine Gefährten die Situation unter Kontrolle hatten. Auf der anderen Seite der Barriere schwebten verschiedene Drow-Magier nach oben, um festzustellen, ob Pharaun irgend wo entlang der Decke eine Lücke gelassen hatte. Ein anderer Magier wirkte verschiedene Zauber, um herauszufinden, womit sich die Wirkung aufheben ließ. Die Soldaten standen bereit, hatten ihre Waffen im Anschlag und sahen Pharaun und seine Gefährten haßerfüllt an. Pharaun war sich bewußt, daß die magische Wand zwar hielt, es aber nur eine Frage der Zeit war, ehe die Gegner die richtige magische Kombination fanden, die das Hindernis niederreißen würde. Da bemerkte Pharaun Rauch am anderen Ende des Saals. Die Muttermatronen hatten sich dort aufgehalten, doch jetzt war von ihnen nichts mehr zu sehen. Natürlich nicht, dachte Pharaun zynisch. Sie werden erst wieder hervorkommen, wenn wir in Haft sitzen. Der Rauch war dick, schwarz und schien durch ein Loch in der Wand in den Raum zu dringen. Als er Flammen sah, die über den Stein züngelten, wußte er, was los war. »Wir müssen hier raus«, sagte er daraufhin zu Valas. »Sage ich doch«, erwiderte Valas, »aber wie es scheint, hast du uns hier festgesetzt.« Ryld hatte seinen letzten Gegner niedergestreckt, sank auf ein Knie und versuchte, wieder zu Atem zu kommen.
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»Hallo Pharaun. Schön, dich zu ›sehen‹. Ihr zwei werdet doch nicht wieder durch die Wand verschwinden, oder?« frag te Ryld und stand langsam wieder auf. Auf der anderen Seite der Barriere hatte ein Teil der Dele gation des Hauses Melarn das Interesse an ihnen verloren, wandte sich ab, wies auf den Rauch oder lief unverzüglich dorthin. Was immer sich in jenem Bereich des Audienzsaals abspielte, erregte ihre Gemüter aufs äußerste. »Leider«, antwortete Pharaun, »habe ich für heute mein Soll an Wanddurchschreitungen erfüllt. Ich fürchte, ich muß mich auf konventionelle Fluchtmethoden konzentrieren. Trotzdem sollten wir nicht trödeln. Dieser Rauch hat die glei che Ursache wie das, womit wir es beim Aufstand in Menzo berranzan zu tun hatten.« »Die Brandbomben, die Stein in Flammen setzten?« fragte Valas. »Dann bedeutet das ...«, fügte Ryld an. »Exakt. Wir könnten es mit Verbündeten Syrzans zu tun haben oder auch mit anderen, die die Bevölkerung zum Auf stand anstiften und sie mit den gleichen Waffen ausrüsten.« »Ich dachte, du hättest gesagt, das Alhoon arbeite allein, weil es von seinesgleichen ausgestoßen wurde«, sagte Ryld, der sich im Kreis drehte und jeden Winkel, jede Nische ihrer Ecke des Raums analysierte. »Das habe ich auch«, räumte Pharaun ein. »Bei meiner Un terhaltung mit dem Ding während unserer Gefangenschaft hat es genau das behauptet. Vielleicht beliefert der, der das Ding oder seine Diener mit den alchimistischen Brandgeschossen versorgt, auch mehrere Fronten gleichzeitig.« »Egal, wer dafür verantwortlich ist, wir wissen nun, wie ernst die Situation ist«, sagte Valas. »Wir müssen die Stadt verlassen.«
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»Da muß ich zustimmen«, meinte Pharaun. »Ich schlage vor, wir rennen um unser Leben, sobald ich die Barriere ge senkt habe.« »In die Menge?« fuhr Ryld fort. »Wir sollten einen anderen Ausweg suchen.« »Aber das ist der schnellste Weg zur Straße. Wir kennen uns hier nicht aus, und schon bald wird das gesamte Haus Melarn ein Inferno sein.« »Hör zu«, mischte sich Ryld ein. »Dir mag es ja bestens ge hen, aber ich kann mich im Moment keinem einzigen Kämpfer stellen.« Er wies auf seinen blutüberströmten Körper. »Es muß einen anderen Weg aus diesem Haus geben. Laß ihn uns su chen.« Der Krieger wies auf eine Tür in der Ecke. »Laß die Barriere so, wie sie ist, und dann machen wir uns auf den Weg.« Valas nickte: »Ryld hat recht. Wir können nicht gegen sie alle kämpfen. Laß uns einen anderen Weg suchen.« »Na gut«, seufzte Pharaun. »Aber wenn dieses Haus um uns herum zusammenbricht, dann werde ich euch beide dafür per sönlich zur Rechenschaft ziehen.« Er deutete auf die Tür und bat Valas, er solle doch vorange hen.
In den ersten Minuten waren die Flure des Hauses Melarn auffallend leer, während sich Ryld, Pharaun und Valas ihren Weg suchten. Hin und wieder konnten die drei hastige Schrit te durch die verworrenen und gewundenen Gänge hallen hö ren, doch jedesmal gelang es ihnen, einer Entdeckung zu ent gehen, indem sie entweder eine andere Richtung einschlugen oder sich für einen Moment versteckten. Dem Meister MeleeMagtheres kam es so vor, als würden sich die meisten Bewoh
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ner auf das Äußere des Hauses konzentrieren, wo das Feuer vor allem wütete. Als sie eine Kreuzung erreichten, hob Valas Hune die Hand, damit sie stehenblieben, dann begann sich der Späher in eine Richtung davonzuschleichen, um den vor ihnen lie genden Weg zu erkunden. Ryld und Pharaun preßten sich an die Wand und versuchten, unsichtbar zu sein. Der Magier war nicht länger magisch unsichtbar, aber er war auch nicht mehr von diesem lästigen flackernden purpurfarbenen Schein umge ben. Ryld hatte das mit einer Bewegung seiner magischen Klinge bewerkstelligt. Der Krieger sah nun, daß die Haut sei nes Gefährten Blasen geworfen hatte, und er vermutete, daß der Magier unter beträchtlichen Schmerzen litt. Seine eigenen Wunden bereiteten ihm nur Sorge, wenn er darüber nach dachte. Hast du keine Magie, die uns helfen kann, einen Ausgang zu finden? bedeutete er dem Magier, während sie warteten. Pharaun schüttelte den Kopf. Solche Zauber gibt es, aber ich kenne sie nicht, erwiderte er stumm. Ohne den richtigen Weg zu wissen, können wir unten eine Ewigkeit zubringen. Das ist Wahnsinn, Ryld. Vielleicht sollten wir den Soldaten folgen. Sie können uns hier herausführen, ohne es zu wissen, schlug Ryld vor. Pharaun winkte ab, auch wenn Ryld nicht wußte, ob aus Verärgerung oder Zustimmung. Die Gefahr der Entdeckung oder unseres Untergangs ist größer, wenn wir das versuchen. Ryld zuckte die Achseln, erwiderte aber nicht sofort etwas darauf. Statt dessen hielt er nach Valas Hune Ausschau. Warum mache ich mir überhaupt die Mühe, irgend etwas zu sagen? überlegte der Waffenmeister, während er auf verräteri sche Geräusche achtete. Er hatte längst einen Entschluß gefaßt.
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In dem Moment kehrte Valas zurück und bedeutete ihnen, ihm zu folgen. Gemeinsam schlichen sie in einen neuen Korri dor, und Valas wies auf eine Tür auf der gegenüberliegenden Seite. Das ist eine Küche, signalisierte er. Dahinter befindet sich ein Vorratsraum. Auf der anderen Seite, also hier – der Späher zeigte auf eine andere Tür in der Nähe des Trios – ist eine Messe. Ich glaube, wir sind im Kasernenbereich. Dann ist das kein guter Ort, gestikulierte Pharaun. Wir wollen den Wachen aus dem Weg gehen, nicht bei ihnen übernachten. Valas warf Pharaun einen ärgerlichen Blick zu und bedeute te den anderen beiden, ihm zu folgen. Ich glaube, hinter diesem Bereich führt eine Treppe nach oben, bedeutete er, während er voranging. Ryld hielt es für möglich, daß sie wirklich Glück haben und die Quartiere der Wachen unbehelligt durchqueren könnten. Doch als sie sich dem anderen Ende des Gangs näherten, der zwischen Kaserne und Messe verlief, hörten sie, daß sich ihnen von vorn ein größeres Kontingent näherte. Wie ein Mann machten die drei kehrt, um zurückzugehen, doch Augenblicke später tauchten am anderen Ende des Gangs mehrere Soldaten des Hauses Zauvirr auf. Damit saßen sie zwischen zwei Streit kräften in der Falle. »Verdammt!« knurrte Pharaun und griff in seinen Piwafwi. »Haltet sie auf, während ich sehe, was ich tun kann!« Ryld nickte und zog Splitter, dann näherte er sich der Gruppe, die aus der Richtung kam, in der Valas eine Treppe vermutet hatte. Wenn wir uns eine Schneise durch sie freikämpfen können, überlegte der Krieger, können wir wenigstens in die gewünsch te Richtung weitergehen. Die Soldaten, vier an der Zahl, stießen einen Warnruf aus
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und zückten ihre Waffen. »Komm schon, du Sohn einer Drinne«, zischte einer von ihnen und stellte sich ihm in den Weg, in einer Hand ein Kurzschwert, in der anderen ein Langschwert. Die übrigen drei verteilten sich, so daß sie auf eine Gele genheit warten konnten, den stämmigen Eindringling von der Seite anzugreifen. Ryld hob seine Klinge, wartete und beo bachtete, wobei er von einem Fuß auf den anderen trat, weil er hoffte, seine Gegner auf diese Weise davon abhalten zu kön nen, ihn zu passieren und von hinten zu attackieren oder gar Pharaun anzugreifen. Er war allerdings besorgt, seine Hände könnten durch das noch nicht ganz getrocknete Blut zu rut schig sein, um Splitter richtig zu führen. Der erste Widersacher trat vor, holte mit dem Kurzschwert hoch aus und versuchte, gleichzeitig Rylds Oberkörper mit dem Langschwert zu treffen. Der Waffenmeister tauchte unter dem Kurzschwert durch und wehrte mit Splitter den anderen Schlag ab. Versuch das noch einmal, und du hast nur noch zwei Kurz schwerter in der Hand, dachte Ryld und beobachtete den ande ren Drow, ob er ein bestimmtes Angriffsmuster erkennen ließ. Links von ihm versuchte einer der anderen Soldaten, sich an der Wand entlangzuschieben, in der Hoffnung, hinter Ryld zu gelangen. Der führte aber einen raschen Hieb zur Seite, woraufhin der Soldat zurückzuckte. Ryld begab sich wieder in die Mitte des Gangs und beobachtete weiter den Drow, der mit zwei Klingen kämpfte. Die beiden Drow rechts von Ryld war teten einfach und sahen sich das Geschehen an. Ist mir recht, dachte Ryld und konzentrierte sich in erster Linie auf den Mann unmittelbar vor ihm. Der Drow änderte diesmal die Taktik, machte mit dem Langschwert einen Vorstoß und schlug nur mit dieser Waffe
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nach Ryld, um zu sehen, wie der die Hiebe abblockte. Als Ryld zum Gegenangriff überging, war der andere Krieger bereit und wehrte mit dem Kurzschwert ab. Leider gab diese Aktion dem Drow links von Ryld Platz genug, um an ihm vorbeizueilen. »Pharaun!« rief Ryld. »Paß auf!« Er entfernte sich von der Mitte des Flurs und bewegte sich seitlich nach hinten, um all seine Gegner im Auge zu behal ten, als er hinter sich Schmerzens- und Entsetzensschreie hör te. Er hoffte, sie stammten von der anderen Gruppe, nicht von einem seiner Gefährten. Der Mann mit den zwei Schwertern drängte wieder nach vorn, doch diesmal war Ryld bereit. Als der erste Hieb mit dem Kurzschwert hoch geführt wurde, wuß te er, daß die nächste Aktion mit dem Langschwert folgen würde. Als sich die Klinge näherte, zerschmetterte Ryld sie mit einem gezielten Hieb in zwei Hälften. Die Spitze fiel schep pernd zu Boden. »Verdammt sollst du sein, du mutterlose Rothé!« fauchte der andere Drow ihn an, doch im nächsten Moment rang er nach Luft, als Rylds Vorwärtsbewegung ihn einen kompletten Kreis beschreiben ließ und die Klinge wieder auf den Gegner zukam. Der Schnitt war schnell und gründlich, und der Widersa cher ging stöhnend zu Boden. Ryld vergeudete keine Zeit da mit, ihn fallen zu sehen, sondern wich bereits einer Attacke des Mannes aus, der hinter ihn hatte gelangen können und nun versuchte, ihn in den Rücken zu stechen. Für seine Be mühungen erntete er einen Stich mit einem Kurzspeer in die Seite, der ihn aufstöhnen und humpeln ließ. Er durfte sich nicht von einem Kämpfer ablenken lassen, doch genau das hatten die drei jetzt, da sie ihn einkreisten, vor. Valas tauchte wieder einmal aus dem Nichts auf, legte ei nen Arm um den Hals des Soldaten, der das Langschwert hielt,
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und trieb ihm einen seiner Kukri in den Rücken. Ryld sah diesen Angriff und wehrte sofort mehrere Stöße mit den Kurz speeren ab. Die letzten beiden Drow hatten gehofft, sich Ryld nähern und ihn angreifen zu können, wenn er mit dem dritten auf der anderen Seite beschäftigt war. Aber diese Gelegenheit hatten sie verpaßt. Ryld stellte sich wieder in die Mitte des Flurs, da er soviel Platz wie möglich haben wollte, um Splitter einzusetzen. Als die beiden Soldaten des Hauses Zauvirr sahen, daß es plötzlich nur noch zwei gegen einen oder sogar zwei gegen zwei stand, da sich Valas an der Seite Rylds befand, verloren sie den Mut und wichen zurück. Ein Stakkato aus glühenden, bläulich-weißen Geschossen jagte an Ryld vorbei und traf die beiden Drow, die die Flucht ergreifen wollten. Einige der magischen Lichtstreifen erlo schen, als sie auf ihr Ziel trafen, doch die meisten erzielten die gewünschte Wirkung und schickten die zuckenden Soldaten zu Boden. Ryld drehte sich um und sah Pharaun, der ein schmales Stück dunkel verfärbtes Holz in der Hand hielt, das von einem Baum aus der Welt an der Oberfläche stammte. Der Magier nickte zufrieden und steckte den Stab wieder weg. »Wir dürfen nicht trödeln«, sagte er, »wahrscheinlich hat das jeder im ganzen Haus gehört.« Neugierig sah Ryld noch einmal nach hinten zu Pharaun, dorthin, wo der andere Trupp Drow gewesen war. Alle waren tot. Ihre Leichen waren noch im festen Griff der schwarzen, glänzenden Tentakel, die der Magier manchmal beschwor. Einige Tentakel, die nichts hatten greifen können, bewegten sich nach wie vor suchend umher. Ryld wandte sich ab und folgte den beiden anderen an den toten Drow vorbei in Richtung Treppe.
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Halisstra strauchelte und verlor das Gleichgewicht, als Haus Melarn von tiefem Grollen erfaßt wurde. Zu beiden Seiten verloren auch die Wachen ihren Halt, die sie in den Audienz saal »eskortiert« hatten, und ließen die Arme der adligen Drow los, während sie versuchten, die Balance zurückzuerlan gen. Rings um Halisstra setzte Unruhe ein, da die Drow ange sichts der Vibrationen in Panik gerieten. Fassungslos darüber, was sich alles im Haus ihrer Mutter – in ihrem Haus, wie Ha lisstra erkannte – abgespielt hatte und völlig ahnungslos, was es mit den Erschütterungen auf sich hatte, stand Halisstra einfach nur in ihrer Unterwäsche da, die Hände hinter dem Rücken gefesselt, und betrachtete das Chaos, von dem sie umgeben war. Als der Diener des Hauses Nasadra in den Saal stürmte und von den Kämpfen draußen berichtete, zwinkerte Halisstra erstaunt. Duergar? Die das Haus Melarn angriffen? Warum im Namen des Abgrunds sollten sie – Eine zweite Explosion erschütterte das Haus und warf Ha lisstra zu Boden, oder besser: Sie hätte sie zu Boden geworfen, wenn sie nicht jemand von hinten gepackt hätte. »Steht auf ... ich muß Euch hier rausbringen.« Es war Danifae, die zur Schlacht bereit gekleidet war und in dem Piwafwi des Hauses Zauvirr praktisch genauso aussah wie eine beliebige Wache. Halisstra richtete sich mit Danifaes Hilfe auf, dann drehte sie sich um und sah ihre Gefangene an. Es war der Dienerin nicht erlaubt, eine Rüstung und Waffen zu tragen, doch in diesem Moment war sie in ihr altes Kettenhemd gekleidet, trug ihren Schild, und in einer Hand hielt sie ihren Morgenstern.
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Halisstra fragte sich, wie Danifae es wohl geschafft hatte, an ihre Ausrüstung zu gelangen, die doch eigentlich in Halisstras Gemächern weggeschlossen war. Aber dies war nicht der Zeit punkt, um darüber zu diskutieren. Halisstra hörte einen Schrei, und als sie sich umdrehte, er wartete sie, ihre eigentlichen Wachen hätten erkannt, daß sie frei war. Statt dessen entdeckte sie dichten Nebel, der den Raum erfüllte und sie nur ein paar Schritt weit sehen ließ. »Komm«, zischte Halisstra und eilte durch den Nebel zu ei ner Tür im hinteren Teil des Raums, die tiefer ins Haus führte, wo ihre eigenen Räumlichkeiten lagen. »Zurück in meine Gemächer, damit du mich hiervon« – sie hielt ihre Arme ein Stück weit vom Körper ab – »befreien kannst.« »Selbstverständlich, Herrin«, erwiderte Danifae und führte ihre Vorgesetzte an einem Arm durch den dichten, alles ver hüllenden Nebel. »Wir werden später immer noch demjenigen danken können, daß er uns durch diesen Nebel zur Flucht verhalf.« »Willst du damit sagen, daß du das nicht gemeinsam mit Lirdnolu Maerret geplant hast, um mich vor Ssipriina zu ret ten?« Danifae lachte verbittert. »Wohl kaum«, antwortete sie. »Auch wenn ich vor der Muttermatrone Zauvirr eine überzeugende Leistung geboten habe, habt Ihr doch wohl nicht erwartet, sie würde mich un behelligt irgendwo hingehen lassen? Ich hatte keine Möglich keit, mit Haus Maerret Kontakt aufzunehmen. Dieses Durch einander hinter uns ist das Werk eines anderen.« Nachdem sie den Audienzsaal verlassen hatten und sich im Gang befanden, konnte Halisstra wieder mehr sehen. In erha bener Haltung machte sie sich auf den Weg zu ihren Gemä chern, trotz der Tatsache, daß sie halbnackt und gefesselt war.
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Sie hatte allenfalls vier Schritte gemacht, als das Haus ein drittes Mal erbebte. Als sie das Gleichgewicht verlor und ge gen die Mauer prallte, mußte sie nach Luft schnappen. Danifae war bei ihr und bekam sie zu fassen, während das Vibrieren allmählich abebbte. »Was ist denn nur los?« wollte Halisstra wissen, als sie sich wieder aufgerichtet hatte und weitereilte. »Ich weiß nicht genau, aber ich habe eine Vermutung«, er widerte Danifae, als sie um eine Ecke gingen. »In den Straßen kommt es zu Unruhen.« »Vielleicht«, sagte Halisstra. »Aber warum sollten Duergar Haus Melarn angreifen?« »Dazu kann ich nichts sagen«, gab Danifae zurück. »Aller dings könnte ich mir vorstellen, daß es mehr mit Ssipriinas Versuch zu tun hat, das Haus Melarn zu stürzen, als mit allem anderen. Jedenfalls hat es meinen Absichten geholfen. Viel leicht können wir mehr erfahren, wenn wir erst einmal Eure Fesseln gelöst haben.« »Ja«, meinte Halisstra. »Als erstes sollten wir herausfinden, wo bei allen neun Höllen unsere Hauswachen abgeblieben sind.« »Das kann ich Euch sagen«, erklärte Danifae, als sie um ei ne weitere Ecke bogen und schließlich Halisstras Gemächer erreicht hatten. »Sie haben ein Angebot angenommen, das sie nicht ausschlagen konnten: Dient dem Hause Zauvirr oder sterbt.« Halisstra seufzte. »Gibt es überhaupt noch jemanden, der zu mir steht?« frag te sie, fürchtete jedoch, die Antwort bereits zu kennen. »Vielleicht Euer Bruder, wenn er noch lebt. Aber er befin det sich im Hängenden Turm und kann uns im Moment hier nicht helfen«, sagte Danifae und drehte Halisstra herum, um
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sich den Schließmechanismus der Fesseln anzusehen. »Was das Haus angeht, kann ich mir nicht vorstellen, daß es jemanden gibt, der Euch helfen möchte. Ausgenommen vielleicht die drei Männer im Audienzsaal, die aus Menzoberranzan, und das auch nur, wenn Ihr ihr Vertrauen gewinnen könnt.« Die Kriegsgefangene schüttelte den Kopf. »Ich bekomme sie jetzt nicht ab. Es ist besser, wenn ich die Kette durchtrenne, dann können wir uns später damit befassen.« »Von mir aus. Aber was meinst du mit ›ihr Vertrauen ge winnen‹? Wie soll ich das anstellen?« Halisstra ging auf und ab und überlegte, welche Möglichkei ten ihr zur Wahl standen. Zwar war sie für den Augenblick den Muttermatronen entkommen, aber sie war – ausgerechnet in ihrem eigenen Haus – gefangen und hatte Zweifel, daß Ssiprii nas Wachen allzuviel Zeit benötigen würden, um sie aufzuspü ren. Danifae antwortete nicht. Halisstra drehte sich um und wollte die Frage wiederholen, als sie sah, daß die andere Drow den Streitkolben der Adligen nahm, der in der Ecke neben deren Bett an die Wand gelehnt war. Einen Moment lang war sie erschrocken, als Danifae mit dem Streitkolben zurückkehr te und sie auf die Knie drückte, doch sie verstand, welche Absicht dahintersteckte. Sie hielt ihre Hände so, daß Danifae auf die Kette einschlagen konnte. »Ihr könntet ihnen erst einmal sagen, daß ihre Hoheprieste rin noch lebt«, meinte Danifae nach einer Weile und holte mit dem Streitkolben aus, um die Kette zu zerschlagen. »Was?« rief Halisstra erschrocken aus und sah Danifae an. »Quenthel lebt?« Einen kurzen Augenblick lang fragte sie sich, ob auch ihre Mutter überlebt hatte. Danifae stoppte den Schlag im letzten Moment, als sich ih
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re Herrin bewegte. »Haltet still!« wies sie sie an und brachte ihre Hände wie der in die richtige Position. »Ja, die Baenre-Priesterin lebt. Ich sah sie und ihren dämonischen Begleiter im Verlies. Als ich durch das Haus ging, um zu überlegen, was ich tun konnte, sah ich den Mann, den Herrin Zauvirr Zammzt nennt, wie er aus der Richtung geeilt kam.« Danifae landete einen harten Treffer auf der Kette, doch die Glieder hielten. »Wenige Augenblicke später«, fuhr sie fort, »erschien Fae ryl, die ebenfalls aus den unteren Geschossen kam. Das machte mich neugierig, also sah ich nach, was sie dort unten zu suchen hat. Sie beide sind dort unten angekettet, Quenthel liegt bis zum äußersten gedehnt auf der Streckbank.« Danifae schlug ein weiteres Mal zu. »Dann lügt Ssipriina! Ich kann Quenthel befreien und sie dazu bringen, meine Unschuld zu beweisen.« Zum ersten Mal seit Beginn dieses katastrophalen Tages empfand Halisstra Erleichterung. »Vielleicht«, erwiderte die Kriegsgefangene und schlug er neut auf die Fesseln. »Aber ich bezweifle, daß allzu viele Mut termatronen ihr werden glauben wollen. Sie mag dieser Verbrechen schuldig sein, auch wenn Euch keine Schuld trifft. Zu viele der Muttermatronen planen Dinge, die ausschließen, daß Ihr unbehelligt davonkommt. Wahrscheinlicher ist – aha!« Das Kettenglied, auf das Danifae eingeschlagen hatte, gab endlich genug nach, um die Fesseln zu trennen. Sie half Ha lisstra hoch und fuhr fort: »Wahrscheinlicher ist, daß sie Euch beschuldigen, Ihr hättet ihr zur Flucht verhelfen wollen, womit sie wieder einen Vorwand hätten.« Halisstra betrachtete die Fesseln, die sie schon jetzt störten.
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Doch das würde warten müssen. Wenigstens war sie für den Moment frei, und die Furcht fiel von ihr ab. Sie war zornig, doch sie konnte sich nicht entscheiden, wer die Hauptschuld an dieser Wut trug. »Ich werde sicher nicht einfach hier sitzen, während um mich herum das Haus Melarn zu Fall gebracht werden soll. Hilf mir, mich bereitzumachen, dann werden wir die Baenre aufsu chen.« »Wie Ihr wollt«, sagte Danifae und beeilte sich, die Ent scheidung in die Tat umzusetzen. Mit Hilfe ihrer Dienerin zog sich Halisstra an, indem sie zu erst einfache, aber zweckmäßige Kleidung auswählte, um dann ein fein gearbeitetes Kettenhemd anzulegen, das das Wappen des Hauses Melarn und eine Reihe von Zaubern trug. An schließend gab Danifae ihr Streitkolben und Schild, dann eilte sie durch den Raum, um all die anderen Dinge zusammenzu tragen, die Halisstra mit sich trug, wenn sie das Haus verließ. Als Halisstra eingekleidet war, griff sich Danifae ihren Mor genstern, und nachdem sich beide in Piwafwis gehüllt hatten, die die Insigniendes Hauses Zauvirr trugen, waren sie auf bruchsbereit. Im Gang vor Halisstras Gemächern herrschte Ruhe. Nie mand war bislang angewiesen worden, sie zu verfolgen, wofür die Priesterin sehr dankbar war. Nachdem sie ihre Privatgemä cher hinter sich gelassen hatte, begann Halisstra allmählich, ruhiger durchzuatmen. Niemand würde etwas dabei finden, daß zwei Wachen des Hauses durch die Flure gingen. Die beiden bogen um eine Ecke und entdeckten drei fremde Drow, zwei von ihnen verwundet und blutend, die sich durch die dämmrigen Gänge schlichen. Sie gehörten eindeutig nicht zum Haus, doch Halisstra brauchte einen Moment, ehe ihr klar wurde, daß es sich bei den dreien um die Menzoberranzanyr
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handelte, von denen Danifae gesprochen hatte. »Verdammt«, sagte einer von ihnen und griff in seinen Pi wafwi, während die beiden anderen ihre Waffen zogen und sich vorsichtig näherten.
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Muttermatrone Zauvirr war nicht einfach wütend. Wut war für Subalterne, die wußten, daß sie in der Gegenwart Höherste hender ihre Zunge im Zaum zu halten hatten, egal, welche Gefühle ihnen durch den Kopf gingen. Wut war für Gelegen heiten, bei denen man einem Kind einen Schlag verpassen mußte, weil es einfach nicht hören wollte. Wut war kein Wort, das auch nur annähernd beschrieb, was Ssipriina in diesem Moment empfand. Jemand würde für diese Dummheit bezahlen – mit seinem Leben. Sie stürmte durch die Flure ihres eigenen Hauses, nachdem sie in dem allgemeinen Durcheinander in Drisinils Haus ent kommen und auf magische Weise heimgekehrt war. Es gab etwas, das sie holen wollte, das sie brauchte, auch wenn sie das bei Tagesanbruch noch nicht erwartet hätte. Sie hoffte fast, daß ihr irgend jemand über den Weg lief, daß jemand den
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Fehler machte, sie anzusprechen, ihre Überlegungen aus ir gendeinem idiotischen, absolut sinnlosen Grund zu stören. Sie hoffte so sehr darauf ... es wäre eine schöne Ablenkung gewe sen, einen hilflosen Mann ausbluten zu sehen, der von ihr in Stücke gerissen worden war. Sie war so zornig, daß sie das sogar mit bloßen Händen getan hätte. Ein Wachmann wäre praktisch, dachte sie. Ein dummer Junge, der mich einfach nur schief ansieht. All ihre Planung war umsonst gewesen. All die sorgsam aus gearbeiteten Manipulationen, die Bestechungsgelder, der Diebstahl, der Schmuggel von Wertgegenständen und die geheimen Truppen. Sogar die erfreuliche Ankunft der ver dammten Menzoberranzanyr und ihr Manöver, den dreien einen Platz in ihrem Plan zuzuweisen, war vergebens. Jemand hatte versagt, und sie würde ihm dafür den Kopf abreißen. Ich hatte sie schon fast soweit, dachte Ssipriina. Sie waren bereit, mich zu ernennen. Daran hätte auch die lächerliche Geschichte nichts geändert, die der Magier von sich gegeben hatte. Dieser offensichtliche Versuch, ihre Pläne zum Scheitern zu bringen, hätte sie nicht aufhalten können. Niemand hätte ihm ein Wort geglaubt, nicht einmal nach dem Unsinn, den ihre Tochter zu all dem beigetragen hatte. Ssipriina fand, Faeryl habe sich wie das ungezogene Kind angehört, das sie noch immer war. Ich hätte sie nie in diesen Plan einbeziehen dürfen. Ssipriina merkte, daß ihre Gedanken abschweiften. Es war Zorn, der sie daran hinderte, klar zu denken. Mit Faeryl kann ich mich später befassen. Jetzt gibt es nichts mehr zu tun, als zu kämpfen und zu siegen. Es wäre nur viel einfacher gewesen, wenn die Grauzwerge nicht in Aktion getre ten wären. Wer hatte ihnen gesagt, daß sie vorrücken sollten?
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Als die Muttermatrone ihre Gemächer erreichte, kam sie zu dem Schluß, daß sie auch noch damit würde warten müssen, den Schuldigen ausfindig zu machen. Ihre Aufmerksamkeit wurde jetzt anderswo gebraucht. Sie war im Begriff, etwas über die Stadt kommen zu lassen. Etwas besonderes. Ssipriina mußte grinsen, als sie daran dachte.
Faeryl taumelte und fiel gegen die Gangwand, als Haus Mel arn zum ersten Mal erschüttert wurde. Die Diener schrien, und von irgendwo hörte sie: »Herrin nen! Es sind Duergar! Hunderte! Sie haben uns umzingelt ... sie greifen an!« Eine zweite Druckwelle erschütterte das Haus. »Sie entzünden den Stein, Mütter! Die Stadt brennt!« Eine innere Stimme sagte Faeryl, daß es die Wahrheit war. Sie hatte diese Erfahrung schon einmal durchlebt, auch wenn es tief in den Eingeweiden des Hauses Baenre gewesen war, wo man sie angekettet hatte. Dennoch erinnerte sie sich nur zu gut an die Erschütterungen, die von oben zu ihr gedrungen waren, und an die Vibrationen des Bodens unter ihren Füßen. Nachdem sie von Triel Baenre befreit worden war und sie ihr angeboten hatte, sich auf die Mission nach Ched Nasad zu begeben, war sie von anderen über die Einzelheiten des Auf stands in den Straßen von Menzoberranzan informiert worden. Ihre Beschreibungen der Brandbomben, des Feuers, das sogar den Stein brennen ließ, waren sehr anschaulich gewesen. Sie konnte nur erahnen, wie es sich auf einer Netzstraße in Ched Nasad anfühlen würde. Faeryl stöhnte. Der Plan ihrer Mutter scheiterte. Die Duer gar hätten nur in Aktion treten sollen, wenn die Verhandlun gen mit den anderen Muttermatronen ungünstig verlaufen
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wären. Trotz der blödsinnigen Behauptung dieses Idioten Pha raun, sie sei an der Verschwörung beteiligt gewesen, war die Situation alles andere als außer Kontrolle geraten. Mutter hat zu früh das Zeichen gegeben, befand Faeryl. Sie hat kalte Füße bekommen und sich nicht die Mühe gemacht, mir etwas davon zu sagen. Das ist wieder einmal typisch. Kopfschüttelnd richtete Faeryl sich auf, als sich im Raum auf einmal dichter Nebel ausbreitete. Sie konnte sich gut vor stellen, wer dafür verantwortlich war. So gern sie Pharaun auch in tausend kleine Stücke zerrissen hätte, dafür herrschte ein viel zu großes Durcheinander. Außerdem mußte sie zähneknirschend einräumen, daß mit ihm und seinen Jungs nicht zu scherzen war. Sollen sich Mut ters Magier doch um sie kümmern. Ich muß Quenthel und diese Bestie ausschalten. Faeryl tastete sich an der Wand entlang und stolperte, als Haus Melarn erneut erschüttert wurde. Der Nebel lichtete sich, und von der anderen Seite des Saals hörte sie Lärm. Sie widerstand der Versuchung, sich umzudrehen, so sehr sie auch hoffte, den Untergang des Magiers mit ansehen zu können. Statt dessen gelang es ihr, die Tür zu erreichen, als mehrere Dutzend Soldaten hereingestürmt kamen und sie aus dem Weg drängten, da sie den Audienzsaal verteidigen wollten. »Narren!« zischte Faeryl. Sie bebte fast vor Wut, als sie den Audienzsaal verließ und in die unteren Stockwerke eilte. Im Gang kam sie an nur we nigen anderen Drow vorbei, die aber alle verwirrt dreinblick ten. Keiner von ihnen schien die Ursache für die aktuellen Ereignisse zu kennen, und einmal hörte die Botschafterin min destens drei entgegenkommende Priesterinnen von einem Erdbeben reden. Faeryl machte sich nicht die Mühe, sie aufzuklären, was ge
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schehen war. Es war nicht ihr Haus. Sie stürmte um die letzte Ecke und rannte in die Folterkammer, in der sie Quenthel und Jeggred zurückgelassen hatte. Sie waren fort! Allerdings war der Raum nicht leer. Einer der Folterknechte war damit be schäftigt, systematisch die Folterwerkzeuge zu ordnen, die bei den Erschütterungen durcheinandergeraten waren. »Wo sind sie?« fragte Faeryl und wies auf die Streckbank, auf der Quenthel festgemacht gewesen war. Der Folterknecht drehte sich um und sah sie verständnislos an. Mit einem grollenden Unterton wiederholte die Botschafte rin ihre Frage, und nach einem kurzen Augenblick hellte sich die Miene des anderen Drow auf, als er begriff. »Sie sind nicht mehr hier«, erwiderte er. »Das sehe ich, du Trottel«, fauchte sie. »Wo sind sie?« »Dieser häßliche Drow, Zammzt, hat mich angewiesen, sie in eine Zelle zu bringen«, antwortete der Folterknecht. »Ich habe es persönlich erledigt.« Eine weitere heftige Explosion erschütterte den Raum, und Werkzeuge flogen durch die Gegend. Faeryl gelang es, sich an der Säule festzuhalten, an der Jeggred angekettet gewesen war. Der andere Drow hatte weniger Glück. Er stürzte so unglück lich, daß sich aus einer der Brennschalen glühende Kohle über ihn verteilte. Der Drow schrie und versuchte, der Glut zu ent kommen, doch er stand bereits in Flammen, da seine Kleidung sich entzündet hatte. Während er hilflos mit den Armen ruderte, biß sich Faeryl verärgert auf die Lippe. Warum sollte er sie wegbringen? überlegte sie und wandte sich zum Gehen. Und wohin? Sie befand, daß sie jemanden würde fragen müssen, der ihr den Weg zeigen konnte, und verließ den Raum.
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Pharaun stockte nur einen Moment lang, als er vor sich die beiden Drow-Priesterinnen sah. Eine von ihnen war hübsch. Der anderen fehlte es zwar an den eleganten Kurven und den fließenden Bewegungen, aber sie war offensichtlich adlig und ebenfalls recht angenehm anzusehen. Als sie näherkamen, erkannte der Magier sie. Sie war die Drow, die wenige Augen blicke zuvor gefesselt im Audienzsaal gestanden hatte. Tat sächlich trug sie sogar jetzt noch ihre Fesseln, nur die Kette dazwischen war durchtrennt worden. Keine der Frauen schien erfreut, ihn, Ryld oder Valas zu sehen. »Verdammt«, murmelte Pharaun, der seine Sinne wieder beisammen hatte. Er griff in seinen Piwafwi und tastete rasch nach dem Stab, mit dem er eben die Drow-Soldaten ausgeschaltet hatte. Vor ihm hob Ryld Splitter, während er vorsichtig vorrückte. Valas begab sich auf die andere Seite des Flurs, um die Gegnerinnen von der anderen Flanke her in Schach zu halten. Die wunderschöne Kreatur, von der der Magier auf Anhieb gefesselt war, zischte wütend und hob einen Morgenstern. Am anderen Arm, auf der Seite, von der aus sich Valas näherte, trug sie einen Schild. »Sie sind es«, wisperte sie und baute sich vor der anderen Drow auf, als wolle sie sie verteidigen. Beide Drow machten den Eindruck, als könnten sie sehr gut auf sich achtgeben. Pharaun sah das feine Kettenhemd, das beide trugen. Auf dem Hemd der Frau im Hintergrund war das Wappen des Hauses Melarn zu sehen, und der Magier vermute te, daß es sich bei ihr um eine der Töchter der toten Mutter matrone handeln mußte. Pharaun hielt den Stab vor sich, doch ehe er ihn einsetzen
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konnte, stellte sich Ryld in den Weg und führte eine Reihe rascher Schläge gegen die Dunkelelfe vor ihm, die einige Schwierigkeiten hatte, sich mit ihrer Waffe und dem Schild zur Wehr zu setzen. Der Meister Sorceres wußte, daß Ryld noch gar nicht wirklich angriff. Vielmehr wollte der Waffen meister mit ein paar plazierten Hieben feststellen, wie ge schickt seine Widersacherin war, ehe er wirklich zum Angriff überging. Valas schlich sich von der anderen Seite an, und sie mußte mehr als einmal einen Schritt zurück machen, um den Späher daran zu hindern, hinter sie zu gelangen. Pharaun zielte mit dem Stab und machte sich bereit, den Satz zu sagen, der ihn aktivierte, als die Tochter des Hauses Melarn etwas sagte, was ihn innehalten ließ: »Hör auf, Danifae.« Die Drow vor ihr wich noch ein paar Schritte zurück, ließ aber weder Waffe noch Schild sinken. »Wir liegen nicht mit Euch im Zwist«, sagte die noch na menlose Melarn. »Ich weiß, Ihr habt keinen Grund, uns zu vertrauen, aber wir sind nicht Eure Feinde. Das sind die ande ren.« Sie wies nach oben in Richtung des Audienzsaals. Ryld machte einen bedrohlichen Schritt nach vorn, blieb dann aber stehen. Valas sah mit funkelnden Augen nach bei den Seiten, seine zwei Kukri zum Einsatz bereit. »Wie praktisch«, sagte Pharaun und lächelte. »Die bedroh te Tochter, die in den Verrat ihrer Mutter verstrickt ist und keine Freunde hat, macht ein Friedensangebot. Wenigstens so lange, bis wir unsere Waffen sinken lassen, nicht? Dann über gebt Ihr uns an Muttermatrone Zauvirr und behauptet, Ihr hättet uns gefangengenommen – und das alles in der Hoff nung, daß sie Euch ungeschoren davonkommen läßt.« »Das gleiche könnte ich über Euch sagen, aber das werde
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ich nicht«, gab die Melarn-Tochter zurück. Ohne den Blick von Pharaun abzuwenden, fügte sie an: »Danifae, ich sagte, du sollst die Waffe senken!« Pharaun hob bei diesem Befehl überrascht eine Braue. Da nifae nickte unterwürfig und trat weiter zurück, bis sie neben ihrer Herrin stand. »Ihr habt völlig recht«, sagte Pharaun. »Wir haben keinen Grund, Euch zu trauen. Wenn Ihr im Streit mit Herrin Zauvirr liegt, was tut Ihr dann hier unten, noch dazu in Eurer feinsten Rüstung?« »Wir wollen unsere Haut retten«, sagte die Tochter etwas gereizter, als Pharaun es für nötig hielt, wenn sie doch versuch te, eine Art Waffenstillstand zu schließen, auch wenn er nur von vorübergehender Dauer war. »Ssipriina hat uns beiden übel mitgespielt. Wenn Ihr mitkommt und uns helft, dann könnten wir die Informationen bekommen, die genau das beweisen können.« »Legt die Waffen weg«, sagte Ryld. »Dann werden wir er wägen, Euch zuzuhören.« »Eher nicht«, entgegnete die Tochter. »Wenigstens so lan ge nicht, bis wir eine Sicherheit haben, daß Ihr uns nicht in dem Moment angreift, sobald wir genau das tun. Ich weiß nicht, ob Ihr nicht doch mit meiner Mutter gemeinsame Sache macht.« Ryld knurrte und hob Splitter, um vorzurücken. Valas tat es ihm nach und suchte noch immer nach einem Weg, wie er die Priesterinnen auf der linken Seite umgehen konnte. »Ryld, Valas, wartet«, flüsterte Pharaun. Er war sicher, daß die beiden Krieger die Drow ohne größere Probleme würden niederringen können, solange der Magier ihnen Rückendeckung in der Form einer Auswahl von Zau bern gab. Doch es interessierte ihn, was sie vorhatten. Ryld
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warf dem Magier einen flüchtigen Blick über die Schulter zu, blieb aber stehen. »Ich kann Euch versichern, daß wir Eurer Mutter nie be gegnet sind und nichts mit ihr zu tun hatten. Diese wilde Ge schichte oben im Audienzsaal war nur eine Erfindung, um Zeit zu schinden und für ein wenig Aufruhr zu sorgen. Ihr scheint zu wissen, wer wir sind«, sagte Pharaun zu der Tochter des Hauses Melarn, »aber wir befinden uns im Nachteil. Wer seid Ihr, und um welche Information handelt es sich, mit der Ihr unser Vertrauen gewinnen wollt?« Ein bläulicher Blitz zuckte auf, dann trat Valas durch ein Dimensionsportal, woraufhin sich die, die Danifae genannt wurde, in die Richtung drehte, wo der Späher den Bruchteil einer Sekunde zuvor noch gestanden hatte. Dann befand sich der Mann von Bregan D’aerthe hinter ihr und umfaßte das Handgelenk der Hand, in der sie den Morgenstern hielt. Gleichzeitig drückte er einen Kukri an die Stelle, an der ihr Kiefer in den eleganten Hals überging. Auch wenn sie etliche Zentimeter größer war als der Späher, hatte Valas die Frau gut ihm Griff, da er seine Hüfte gegen ihre schob und ihren Ober körper nach hinten zog. Danifae riß die Augen auf, als sie erkannte, daß sie über rumpelt worden war. Einen Moment lang fuchtelte sie mit den Armen, bis sie die Klinge an ihrem Hals spürte und erstarrte. »Legt sie weg«, sagte Ryld zu den beiden Frauen und wies mit seinem Zweihänder auf ihre Waffen. »Schön langsam.« Die Melarn-Tochter reagierte überrascht auf Valas’ Manö ver, kniff die Augen zusammen und machte einen halben Schritt auf ihre Gefährtin zu. Als sie erkannte, daß sie chancen los war, seufzte sie und legte den Streitkolben vor sich auf den Boden. Danifae ließ sich ein Stück in Valas’ Griff hineinsinken und gab ihre Waffe der anderen Frau, die sie für sie ablegte.
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»Wunderbar!« sagte Pharaun, nachdem Ryld die Waffen mit einem Tritt außer Reichweite befördert hatte. »Das war doch gar nicht so schwer.« »Ihr hättet uns trauen können«, sagte die Tochter verächt lich. »Wir haben Euch keinen Anlaß geliefert, es nicht zu tun.« Pharaun lachte laut. Ryld verkniff sich ein Lachen, und Valas, der Danifae losließ, seinen Kukri aber nicht wegnahm, grinste breit. »Ihr seid eine Drow«, sagte der Magier schließlich und wur de wieder ernst. »Das allein ist Grund genug, Euch nicht zu vertrauen. Doch abgesehen davon: Wenn Ihr glaubt, wir wür den in dieser Stadt irgendwem trauen, dann seid ihr die größte Närrin, der ich seit langem begegnet bin. Dennoch bin ich an einer Unterhaltung nicht völlig uninteressiert, so daß Ihr im mer noch die Chance auf Wiedergutmachung habt. Ihr könnt damit anfangen, daß Ihr meine Fragen beantwortet. Wer seid Ihr und um welche Information geht es?« Die Melarn-Tochter verzog das Gesicht, antwortete aber: »Ich bin Halisstra Melarn, wie Ihr inzwischen sicher erkannt haben dürftet. Das ist Danifae, meine persönliche Dienerin. Die Information hat damit zu tun, daß Eure Hohepriesterin und ihr dämonischer Gefährte leben.« Pharaun merkte, wie er angesichts dieser Enthüllung die Augen aufriß. Er hörte Ryld und Valas verblüfft einatmen. »Tatsächlich«, erwiderte Pharaun, nachdem er sich wieder gefaßt hatte. Er versuchte, desinteressiert zu klingen. »Woher wollt Ihr das wissen?« »Weil ich sie gesehen habe«, warf Danifae ein, die noch immer Valas’ Klinge am Hals spürte. »Offenbar«, sagte Halisstra, »hat Ssipriina Zauvirr nur be hauptet, die Priesterin sei tot, damit niemand verlangen konn
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te, ihre Version der Geschichte zu hören. Vermutlich hätten sie sie töten sollen, aber ich nehme an, daß Faeryl etwas ande res mit ihr vorhatte.« Als der Name der Botschafterin fiel, legte Pharaun den Kopf schräg. »Ihr kennt Faeryl?« fragte er. »Ja«, gab Halisstra zurück. »Ich kenne sie. Wir sind zusam men aufgewachsen. Da unsere Häuser eine Geschäftsbeziehung unterhalten – oder besser: unterhielten –, haben unsere Mütter recht viel Zeit zusammen verbracht. Sie dürfte jetzt wohl bei der Baenre-Priesterin sein. Ich schätze, sie foltert die beiden.« »Wirklich?« fragte Pharaun. Ryld, der seinen Zweihänder noch immer auf die beiden Frauen gerichtet hatte, meinte geringschätzig: »Warum wun dert mich das bloß nicht?« »Ich frage mich, wie die Hohepriesterin überhaupt in Ge fangenschaft geraten konnte«, überlegte Pharaun laut. »Es war ein Hinterhalt«, sagte Halisstra. »Als sie im Lager haus der Handelsgesellschaft der Schwarzen Klaue waren. Ich schätze, Faeryl war eingeweiht. Ihre Mutter empfing sie dort mit einem Trupp Wachen, die die Hohepriesterin und ihren Dämon überwältigten. Sie behaupten, sie hätten meine Mutter töten müssen, weil sie die Flucht ergreifen wollte. Allerdings frage ich mich, ob sie wirklich tot ist.« »Nun«, sagte Pharaun, der jetzt noch interessierter war als zuvor. »Jetzt ergeben einige Dinge allmählich einen Sinn. Jetzt verstehe ich, warum Faeryl auf der Reise so umgänglich war. Sie wollte, daß sich Quenthel ins Lagerhaus begab. Es war von vornherein geplant, Quenthel gefangenzunehmen.« »Nicht nur Quenthel, Euch alle«, korrigierte ihn Halisstra. »Ich vermute, sie wollte Euch alle in ihre Gewalt bekommen. Da Ihr aber nicht mit den anderen ins Lagerhaus kamt, mußte
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sie den Plan ändern. Ich bin sicher, sie wäre sehr froh, wenn Ihr alle tot wärt.« »Ja«, sagte der Magier ironisch, »von dieser Tatsache wur den wir vor nicht einmal einer Stunde in Kenntnis gesetzt. Es erübrigt sich eigentlich zu sagen, daß wir von der Idee nicht allzu begeistert waren.« »Wo ist Herrin Baenre?« fragte Ryld. »Wir werden sie su chen und dann von hier verschwinden. Entweder Ihr helft uns dabei, oder Ihr schließt Euch all jenen an, die sich uns bislang in den Weg gestellt haben.« Halisstra schätzte den Krieger ab. »Was versprecht Ihr Euch davon, sie zu suchen?« fragte sie. »Wir werden sie hier rausholen, und dann werden ...« »Waffenmeister Argith«, unterbrach Pharaun ihn und zog Ryld zur Seite, damit er unter vier Augen mit ihm reden konn te. »Ich bin nicht sicher, ob das die klügste Vorgehensweise ist. Wir müssen hier raus, ehe das Haus zusammenstürzt, oder meinst du nicht?« »Sollen wir die Herrin der Akademie einfach zurücklassen?« konterte Ryld. »Wir sollten sie suchen.« Pharaun sah seinen Gefährten verwundert an, dann fragte er: »Warum im Namen des Unterreichs sollten wir das?« In Rylds Augen blitzte Wut. »Du magst darauf versessen sein, sie loszuwerden, Magier«, sagte er. »Ich bin es nicht.« »Ach?« erwiderte Pharaun und wurde seinerseits wütend. »Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich glauben, du hast eine Schwäche für die Hohepriesterin. Hast du so schnell ver gessen, wie sehr sie dich verachtet?« »Welcher Ehrgeiz auch immer dich treiben mag, ich für meinen Teil führe noch immer die Aufgabe aus, die Mutter matrone Baenre und der Rest des Hohen Rates mir aufgetragen haben. Quenthel spielt dabei eine wichtige Rolle, und ich
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habe nicht vor, Menzoberranzan zu verraten, nur um meinen persönlichen Rachedurst zu stillen.« Wieder wurde Haus Melarn erschüttert, und Pharaun war gezwungen, sich ein Stück in die Luft zu erheben, um das Gleichgewicht zu wahren. »Können wir später darüber streiten?« warf Valas ein, der noch immer Danifae in seiner Gewalt hatte, während sie beide versuchten, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. »Für den Augenblick bin ich Rylds Meinung. Wir könnten Quenthel noch brauchen, die nach wie vor unsere beste Verbindung zur Dunklen Mutter ist. Sie ist die einzige, die uns sagen kann, ob wir die Verbindung zu Lolth wiederhergestellt haben. Wenn wir Tzirik finden, könnte es nützlich sein, wenn sie bei uns ist.« Pharaun seufzte und ärgerte sich darüber, so laut geworden zu sein, daß Valas ihn hatte hören können. »Na gut«, willigte er ein. »Wir werden sie suchen, bevor wir aufbrechen. Aber vergeßt eines nicht: Wenn das Haus um uns herum zusammenfällt, mache ich euch beide persönlich dafür verantwortlich.« Er lächelte in der Hoffnung, die Anspannung etwas zu lin dern. Ryld sah ihn noch immer finster an, nickte aber knapp, als die Entscheidung gefallen war. Wieder wurde Haus Melarn erschüttert und zwang die Gruppe, ein Stück weit über dem Boden zu schweben, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Halisstra sah sich ziem lich besorgt um. »Wenn Ihr Quenthel sucht, dann laßt mich Euch zu ihr bringen«, sagte sie. »Danifae und ich liegen wie gesagt nicht im Streit mit Euch. Alles, was ich bislang gesagt habe, ent spricht der Wahrheit. Wir haben hier keine Verbündeten, Ihr auch nicht. Wenn wir uns zusammentun, können wir alle nur
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davon profitieren.« »Na gut«, meinte Pharaun. »Für den Augenblick wollen wir glauben, daß Ihr uns zu ihr führt. Das wird unsere Chancen, unversehrt hier herauszukommen, verbessern. Aber um sicher zustellen, daß Ihr nichts versucht, was für uns problematisch werden könnte, sollte uns Danifae mit den Armen auf dem Rücken begleiten. Währenddessen werde ich ein Auge auf Euch haben, und Ryld wird vorgehen.« Danifae wollte protestieren, doch Halisstra nickte nach kur zem Nachdenken. »Gut«, sagte sie. »Wir machen es auf Eure Art – für den Augenblick. Aber erst müßt Ihr etwas für mich tun. Ihr müßt mir eine Frage beantworten. Welcher Zustand herrscht auf den Straßen? Seit diesen Erschütterungen hatte ich keine Gele genheit, das selbst in Augenschein zu nehmen.« Pharaun zuckte hilflos die Achseln. »Ich fürchte, das kann ich Euch nicht besonders exakt schildern«, sagte er. »Ihr wart im Audienzsaal, als die Angriffe begannen, und habt den Warnruf gehört. Diese Duergar schei nen aber organisiert zu sein. Mein Verdacht lautet, daß jemand anderes, jemand mit sehr viel Macht, dahintersteckt.« Halisstra sah Pharaun wachsam an und fragte: »Wie kommt Ihr darauf?« »Die Explosionen, die wir spüren, gehen auf alchimistische Brandsätze zurück. Ähnlichen Verwüstungen sind wir vor kurzem auch zu Hause begegnet. Wer immer die Duergar damit versorgt, kann mit den Mächten in Verbindung stehen, denen wir in Menzoberranzan gegenüberstanden. Ich möchte Euch daher auch warnen – der Stein beginnt tatsächlich zu brennen. Wir sind in Gefahr, solange wir im Haus bleiben.« Halisstra sah erschrocken aus, nickte aber dankbar. »Je eher ich Euch gebe, was Ihr sucht, desto schneller kön
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nen wir uns nach draußen begeben und uns davon überzeugen. Danifae, ich will, daß du ihre Anweisungen befolgst. Verstan den?« Leise seufzend nickte die andere Drow. »Ja, Herrin«, sagte sie schließlich, dann stellte sie sich so hin, daß Valas ihr die Hände hinter dem Rücken mit einem Stück Schnur zusammenbinden konnte. »Sehr schön. Es gefällt mir, wie wir uns verstehen«, erklärte Pharaun. »Nun, Halisstra, warum geht Ihr nicht voraus?« »Erlaubt mir, Euch noch auf eine unmittelbarere Weise zu helfen, ehe ich das tue. Laßt mich Eure Wunden heilen.« Pharaun sah Ryld an, der mit finsterer Miene den Kopf schüttelte. Der Magier zuckte daraufhin nur die Achseln und beschloß, die Sorge seines Gefährten zu ignorieren. Sein Ge sicht schmerzte an den Stellen, an denen es von der Säure verätzt worden war. »Einverstanden«, sagte er. »Ihr könnt Euch um mich küm mern. Aber wenn das ein Trick ist, werden meine beiden Ge fährten dafür sorgen, daß es Euer letzter war.« »Ich habe verstanden«, entgegnete Halisstra. »Ich werde jetzt einen Stab herausholen, also werdet bitte nicht sofort nervös.« Pharaun nickte und wartete, während die Tochter Drisinil Melarns den Zauberstab hervorholte und benutzte. Sofort spürte der Magier die Wirkung der göttlichen Magie und atme te auf. »Danke«, sagte er. Unmittelbar danach nahm Halisstra sich auch der Verlet zungen Rylds und Valas’ an. »So ... fertig«, erklärte sie Augen blicke später und steckte den Stab wieder weg. »Wir stehen auf Eurer Seite.« »Das ist wohl wahr«, sagte Pharaun unverbindlich. »Ich fin
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finde, wir sollten das Vertrauen langsam wachsen lassen. Wenn ich bitten dürfte.« Er wies in den Flur. Halisstra betrachtete den Magier für einen Moment, als ü berlege sie, ob sie einen Fehler machte oder nicht. Dann wandte sie sich ab und machte sich auf den Weg. Ryld ging dicht neben ihr, Splitter schützend in der Hand.
Aliisza war sich nicht völlig sicher, wann genau der Kampf vor dem Adelshaus so außer Kontrolle geraten war, doch er entwi ckelte sich auf jeden Fall zu einer großen Angelegenheit, die die Aufmerksamkeit der gesamten Stadt erregte. Sie saß am Rand eines Gebäudes, das mehrere Ebenen über dem tobenden Kampf von einer Netzstraße herabhing, und ließ die Füße baumeln. Besorgt sah sie, wie eine weitere Welle aus Goblins und Kobolden in die Reihen der Duergar stürmte, die sich rings um das weitläufige Gebäude aufgestellt hatten. Die Alu war nicht sicher, warum sie über den Ausgang die ser Auseinandersetzung besorgt war. Ihr war klar, daß sie wirk lich um Pharauns Wohlergehen besorgt war, doch sie verstand nicht, warum das der Fall war. Sie hätte nie gedacht, daß sie sich Gedanken über den Drow machen würde, und ihre Ge fühle kamen echter Zuneigung nicht einmal nahe. Dennoch hielt sie ihn für klug und unterhaltsam, und sie hatte die Zeit genossen, die sie gemeinsam verbracht hatten. Ich vermute, ich bin einfach noch nicht mit ihm fertig, ent schied sie. Also wartete sie und beobachtete, während sie sich immer wieder fragte, ob er wohl lebend dort würde herauskommen können. Sie wußte, daß er sich und seine beiden Gefährten durch ein extradimensionales Portal oder mit Hilfe einer ähn lichen Magie in Sicherheit gebracht haben könnte. Das war
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die wahrscheinlichste Möglichkeit, und sie hatte starke Zwei fel, ob er sich überhaupt noch im Gebäude befand. Doch aus irgendeinem Grund wollte sie bleiben und zusehen. Irgend etwas sagte ihr, daß der Magier noch dort war. Wenigstens ist der Kampf interessant, überlegte sie. Die Grauzwerge hatten die ersten Drow-Streitkräfte ver nichtend geschlagen, indem sie die Dunkelelfen zwischen zwei Angriffslinien aufgerieben hatten, wo sie wie ein Stück Stahl zwischen Hammer und Amboß in der Falle gesessen hatten. Innerhalb weniger Augenblicke wurden die Drow abgeschlach tet. Einigen war die Flucht gelungen, die sich dann hinter das Hauptportal begeben hatten, um es zu verteidigen. Doch die Duergar waren im Begriff, das Tor aufzustoßen, und Aliisza bezweifelte, daß es dem hartnäckigen Ansturm noch lange würde standhalten können. Von außerhalb der Mauern um das Anwesen marschierten weitere Drow auf, um der Belagerung ein Ende zu setzen oder sich vielleicht ihren Anteil an den Schätzen anzueignen. Diese Drow, die schnell eintrafen und Sklaventruppen vor sich her jagten, waren den Duergar zahlenmäßig überlegen, so daß die Grauzwerge sich in einer umgekehrten Rollenverteilung wie derfanden, da sie auf einmal das Haus verteidigen mußten, anstatt es anzugreifen. Obschon die Goblins und Kobolde den Duergar um ein Vielfaches überlegen waren, hatten sie den Kampftaktiken und Brandbomben der Grauzwerge nichts ent gegenzusetzen. Dreimal hatten die Drow ihre Armee aus niede ren Wesen gezwungen, gegen die Mauern anzustürmen, und dreimal waren sie zurückgeschlagen worden – jedesmal mit schweren Verlusten. Aliisza begriff diese Taktik nur zu gut. Die Duergar waren gezwungen, sich der Magie zu bedienen, um sich zu verteidi gen.
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Die Drow begnügten sich damit, ihre Sturmtruppen vorzu schicken, um die Duergar auf diese Weise ihrer magischen Reserven zu berauben. Noch ein paar solcher Angriffswellen, und die Duergar könnten sich auf einmal auf der Verliererseite befinden. Aliisza sah aber ein großes Problem. Die Duergar hatten ei nen so großen Teil ihrer brennenden Lehmtöpfe eingesetzt, daß der größte Teil des Platzes in Flammen stand. Rauch er füllte in immer stärkerem Maß die Luft, und die Drow sahen sich gezwungen, sich von der um sich greifenden Feuersbrunst fernzuhalten. Das Haus brannte auch an mehreren Stellen, was Aliisza zu der Überlegung brachte, wieviel Schaden das Ge bäude wohl aushalten konnte, ehe es zerbrach. Auch wenn sie wußte, daß die steinformenden Kräfte, die beim Bau der Stadt benutzt worden waren, die Netzstraßen und alle mit ihnen verbundenen Gebäude so stark wie Stahl hatten werden las sen, befand sich das Gebäude aber doch in einer gefährlichen Position. Wenn zuviel Stein verbrannte, konnte es passieren, daß das Haus wegbrach. Das wäre ein einzigartiger Anblick. Aliisza machte in einer Seitenstraße eine Bewegung aus, nicht allzuweit entfernt von dem Platz, auf dem der Kampf ausgetragen wurde. Eine Handvoll Drow war dort unterwegs, mehr nicht, so daß die Alu vermutete, es handle sich um Spä her. Das Scheusal beschloß, sich das genauer anzusehen. Es trat über den Rand des Hauses und ließ sich zwei Ebenen tief fal len, ehe es seine Geschwindigkeit auf magische Weise redu zierte. Es kauerte sich zusammen, als ein Halb-Riese vorüber ging, da es nicht die Aufmerksamkeit der Kreatur erregen wollte. Der Halb-Riese schritt die breite Straße entlang, eine Streit
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axt lässig in einer Hand. Die Klinge der Waffe war blutbe schmiert, und er hinterließ eine Blutspur. Dichter Rauch hing in der Luft. In einiger Entfernung kam eine Gruppe Dunkelelfen – Sol daten, die von Priesterinnen und Magiern angeführt wurden – mit finsterer Miene auf die Straße gestürmt, um den HalbRiesen aufzuhalten. Ehe die Drow aber auch nur drei Schritte in seine Richtung hatten machen können, stürzte ein riesiger Felsbrocken zwischen ihnen auf die Straße, die unter dem immensen Gewicht bebte. Das Geräusch des Aufpralls war so laut, als schlügen tausend Klingen auf tausend Schilde. Der Halb-Riese kam beinahe zu Fall und mußte auf ein Knie nie dergehen, um nicht völlig das Gleichgewicht zu verlieren. Aliisza spähte durch den Rauch, um zu erkennen, was auf der Straße gelandet war. Es war nur ein rauchender Felsblock, doch das Scheusal konnte erkennen, daß es sich um ein Stück aus einer höhergelegenen Straße handelte – genaugenommen sah es sogar nach einem Stück Straße mit einigen Gebäuden aus. Das gesamte Trümmerstück brannte und verbreitete dicke Rauchwolken. Sie sah nach oben, da sie sich fragte, woher das Bruchstück gekommen sein mochte. Trotz des rauchgeschwängerten Dunsts konnte sie eine Straße über ihr erkennen, von der ein Weg zum belagerten Haus führte. In ihr klaffte ein Loch, als hätte jemand ein Stück aus dem gewaltigen Spinnennetz herausgebissen. Flammen züngelten noch immer an den Stellen, an denen das Stück herausgebrochen war und einen Teil des Hauses mitgerissen hatte. Der Rest des gewaltigen Bauwerks hing unverändert, doch Aliisza erkannte, daß jeden Augenblick weitere Teile herausbrechen konnten. Die Alu verstand, in welcher Gefahr man unterhalb des brennenden Steins schwebte. Der Halb-Riese mußte das auch erkannt haben, da er kehrt
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kehrtmachte und den Weg zurückging, den er gekommen war. In dem Moment kam eine zweite Drow-Patrouille in Sichtwei te. Es war eine kleine Gruppe, fünf oder sechs Leute. Ihr An führer war ein Magier, der einen Zauberstab in der Hand hielt, mit dem er Gesten beschrieb, bis aus der Spitze ein zuckender, knisternder Energieblitz schoß und den Halb-Riesen genau in die Brust traf. Die Kreatur heulte auf, als ihr Fell weggebrannt wurde, und ließ beinahe die Axt fallen, obwohl der Angriff bereits vorbei war. Aliisza sah, daß das Wesen einen Moment lang Schwie rigkeiten damit hatte, die Finger zu bewegen. Die Drow liefen auf die Kreatur zu, Armbrüste und Schwerter erhoben und einsatzbereit. Der Halb-Riese ließ sich aber nicht so leicht niederringen. Fasziniert sah Aliisza zu, wie der hoch aufragende Humanoide in seine Hüfttasche griff und eine Handvoll Tonkrüge heraus holte. Auf ein Knie gestützt warf er sie den heranstürmenden Drow entgegen und traf dabei mit erstaunlicher Präzision. Fast alle Behältnisse flogen genau auf die Drow zu, die rasch zu rückwichen, als sie erkannten, was da auf sie zukam. Die Krüge zerplatzten auf der Straße und gingen in Flammen auf, was eine Woge von Feuer und Rauch himmelwärts sandte, die so heiß loderte, daß Aliisza die Hitze auf der Haut fühlen konnte. Beim Abgrund, keuchte Aliisza, die von dieser wunderbaren Zurschaustellung von Vernichtung einfach nicht den Blick abwenden konnte. Die Drow sprangen aus dem Weg und eilten vor der Feuers brunst davon, die die Straße innerhalb weniger Sekunden verkohlte. Als die Drow erkannten, daß sie zwischen dem Halb-Riesen und dem Feuer gefangen waren, begannen sie sich nach einer Seitenstraße oder einer Gasse umzusehen, die ih nen eine Flucht ermöglichen würde, während sie immer wieder
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ängstlich zu der riesigen Bestie starrten. Der Halb-Riese erhob sich wieder und bewegte sich langsam auf die Drow zu, während er seine Streitaxt in beide Hände nahm. Die Drow machten kehrt und retteten sich an die Rän der der Straße, sprangen über die Ausläufer des Feuers und rannten durch den Rauch davon. Fast im gleichen Moment kippte die Straße ein Stück weit seitwärts weg, der Halb-Riese taumelte in Richtung Kante. Aliisza beobachtete, wie der riesige Humanoide sich wild um sah, als er herauszufinden versuchte, warum er mit einem Mal so sehr den Halt verloren hatte. Sie sah auch, daß sich das Feuer durch einen beträchtlichen Teil der Straße gefressen hatte und weiter Nahrung fand. Das andere Ende war schon von dem Aufprall des Trümmerstücks geschwächt worden, und ein ganzer Abschnitt der Straße geriet in Bewegung und ächz te. Die Alu wußte, daß er nicht mehr lange halten würde. Erstaunlicherweise rannte der Halb-Riese auf das Feuer zu, mit Schritten, die das Stück Straße weiter erschütterten und kleinere Brocken aus dem Stein brechen ließen. Als der kom plette Abschnitt erzitterte und losbrach, machte die Kreatur einen Satz, überwand den Rest der Strecke und sprang durch die Flammen. Aliisza riß erstaunt den Mund auf. Der HalbRiese hatte das Feuer hinter sich gelassen und landete ein Stück weit dahinter mit einem so gewaltigen Aufprall, daß der noch intakte Straßenabschnitt in heftige Schwingungen ver setzt wurde. Hinter dem Halb-Riesen stürzte das Stück Straße in die Finsternis darunter, um schließlich tief unten mit einem ge waltigen Knall aufzuprallen. Vor dem Humanoiden standen drei Drow und starrten ihn ungläubig an. Sogar von ihrem Standort aus konnte Aliisza sehen, wie der Halb-Riese lächel te, als er sich ihnen näherte. Er hob die Axt und stürmte vor.
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Der Magier geriet in Panik und rannte davon, womit nur zwei Soldaten zurückblieben, um sich der Kreatur in den Weg zu stellen. Überraschend machten sie kehrt und stellten sich dem Geschöpf. Einer der beiden trat einen Schritt nach vorn, wäh rend er überlegte, wo und wie er angreifen sollte, als sein Be gleiter ihm einen kräftigen Stoß versetzte, sich umdrehte und davonlief. Der erste Drow stolperte völlig aus dem Gleichgewicht gera ten dem Halb-Riesen genau in den Weg. Aliisza schmunzelte. Der fliehende Drow opferte seinen Kameraden, damit er selbst entkommen konnte. Der Halb-Riese hob seine Streitaxt und holte aus, um den auf dem Boden liegenden Mann in zwei Stücke zu zerschlagen, doch der Dunkelelf hob voller Verzweiflung sein Langschwert und rammte es der Kreatur in den Bauch. Das Geschöpf brüllte, drückte den Rücken durch und rammte die Axt nicht in den Leib des Drow, sondern in dessen Arm. Der Dunkelelf schrie, als der Halb-Riese vornüberkippte, auf ihm zusammenbrach und sich dabei das Schwert tiefer in den Leib jagte. Der Soldat hatte ihm offenbar den Todesstoß versetzt, da sich der auf ihm liegende Halb-Riese nicht mehr regte. Der Junge schrie vor Schmerz, er war in der Falle, da das gesamte Gewicht auf ihm lastete und er nur einen unversehrten Arm hatte, mit dem er versuchen konnte, sich zu befreien. »Ilphrim! Ilphrim, Hilfe!« schrie er, doch Ilphrim hatte sich in Sicherheit gebracht. Das Feuer kam immer näher. Aliisza seufzte. Der Kampf war ausgesprochen unterhaltsam gewesen, schien aber nun vorüber zu sein, auch wenn sich der unter dem Halb-Riesen eingeklemmte Drow immer wieder regte und sich zu befreien versuchte. Sie fand, der Verrat seines Gefährten, ihn der Kreatur in den Weg zu schleudern, war
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ausgesprochen geschickt gewesen. Sie mußte leise lachen. Der gefangene, sterbende Drow bewegte abermals den Arm und versuchte, das Gewicht des riesigen Humanoiden weit genug zu verlagern, damit er sich befreien konnte, doch Aliisza wußte, es würde ihm nicht gelingen, erst recht nicht mit nur einem Arm. In einem spontanen, völlig uncharakteristischen Akt des Mitgefühls sprang das Alu-Scheusal von seinem erhöhten Aussichtspunkt und schwebte hinunter auf die Straße, wo der Dunkelelf sich noch immer wand. Der Drow entdeckte sie und betrachtete sie argwöhnisch. Sie lächelte nur und schob einen fallengelassenen Dolch nahe genug in seine Richtung, damit er ihn mit der freien Hand packen konnte. Dann trat sie einen Schritt zurück und sah zu, ob er das richtige täte. Einen Moment lang dachte der Drow nach, dann schien er zu nicken. Er nahm den Dolch, hielt ihn Aliisza zum Gruß hin und begann dann, Stücke aus dem Leichnam des Halb-Riesen herauszuschneiden. Es würde einige Zeit dauern, und es war schon jetzt eine blutige Angelegenheit, doch mit ein wenig Glück würde er sich freischneiden können, ehe die Netzstraße einstürzte. Zufrieden lächelnd wandte sich Aliisza ab und machte sich auf den Weg zurück zu ihrem ursprünglichen Beobachtungs posten, während sie sich wieder zu fragen begann, wie es wohl Pharaun ging.
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Die fünf Drow bewegten sich durch Haus Melarn, um zu Quenthel zu gelangen. Obwohl Pharaun ziemlich sicher war, daß sie erst seit gut fünfzehn Minuten unterwegs waren, kam es ihnen vor, als wären bereits Stunden vergangen. Wiederholt mußte die Gruppe anhalten, um zu verhindern, von einer Wache entdeckt zu werden. Einmal gab sich Halisstra dabei sogar als Mitglied des Hauses Zauvirr aus und wies eine Gruppe Wachen an, sich nach oben zu begeben, um bei der Verteidi gung des Hauses zu helfen. »Die unteren Ebenen sind üblicherweise nicht sehr belebt«, sagte Halisstra irgendwann. »Ich vermute, die meisten von Ssi priinas Dienern und Truppen sind oben, um bei der Verteidi gung des Hauses zu helfen. Es ist jetzt nicht mehr sehr weit.« Pharaun nickte, während die fünf weitergingen. Mehr als einmal ertappte er sich dabei, wie er verzückt die bezaubernde
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Kreatur an seiner Seite betrachtete. Sie schien über ihre Lage ausgesprochen unglücklich zu sein, insbesondere mit Blick auf die Tatsache, daß sie sich wegen der Fesseln um ihre Hände nicht verteidigen konnte. Dennoch war ihr Blick unterwürfig zu Boden gerichtet, was der Magier um so ansprechender fand. Die Gruppe ging eine letzte Treppe hinab und fand sich in einem düsteren Zellentrakt wieder. Der Gang war völlig schmucklos und bildete so einen krassen Gegensatz zur ver schwenderischen Eleganz der Etagen darüber. Der schale Ge stank ungewaschener Körper war zwar nur schwach, bot aber einen deutlichen Hinweis darauf, was es hier zu finden gab. Halisstra führte die Gruppe zu einer Tür am Ende eines kurzen Gangs. Die Tür war stabil und sollte ganz offensichtlich in der Lage sein, einer beträchtlichen auf sie einstürmenden Kraft standzuhalten. Die Drow-Priesterin stellte sich vor das Tor und bewegte ih re Brosche mit dem Emblem des Hauses Melarn davor hin und her. Ein Klicken war zu hören, als die Magie der Insignien die Riegel in der Tür in Bewegung setzte. Halisstra stieß die Tür auf und durchquerte den Raum, der dahinter lag. Es schien sich um einen Wachraum zu handeln, der aber gegenwärtig leerstand. Am anderen Ende der Kammer erstreckte sich ein Korridor in die Finsternis. Pharaun machte dort eine Bewegung aus, legte einen Finger an die Lippen und bedeutete den anderen, ruhig zu sein. Da ist jemand. Seid wachsam – und keinen Laut, bedeutete er und zeigte auf Halisstra und Danifae. Die beiden Drow nickten, und Pharaun gab Halisstra ein Zeichen, sie solle vorangehen. Als sie in den Gang trat, folgten die anderen ihr. Die meisten Zellen waren leer, die Türen standen offen, im Inneren war es dunkel und ruhig. Doch auf halber Strecke hörte Pharaun plötzlich eine Stimme. Sie kam
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aus einer der Zellen auf der rechten Seite, und er konnte gera de noch sehen, wie eine Tür von innen zugezogen wurde. So leise wie möglich legte die Gruppe das letzte Stück bis zu dieser Zelle zurück. Die Tür war nur angelehnt, und Pharaun konnte durch den Spalt einen Blick ins Innere werfen. Er sah Quenthel, die nackt an der Wand saß. Ein schwerer Stahlkra gen um ihren Hals war durch eine dicke Kette mit dem Stein verbunden. Man hatte die Hohepriesterin geknebelt, ihre Hände steckten in einer dicklichen, zähflüssigen Masse vor ihr. Sie war äußerst wirkungsvoll ruhiggestellt worden, und Pha raun sah, daß sie unter diesen Bedingungen keinen Zauber hätte wirken können, selbst wenn ihr nach so langer Zeit ohne Kontakt zu Lolth überhaupt noch ein göttlicher Zauber zur Verfügung gestanden hätte. An der anderen Wand stand Jeggred und blickte finster drein. Auch er war angekettet, breite Bänder aus Diamantspat lagen um Hals, Arme und Beine. Pharaun erkannte, daß die Ketten magisch verstärkt worden waren, doch Jeggred zerrte unablässig an ihnen, da er nicht einmal für einen Moment zugeben wollte, daß er nicht in der Lage war, sich zu befreien. Immer wieder riß er an seinen Ketten, die jedesmal scheppernd gegen die Wand schlugen, wenn er darin scheiterte, einen Satz in Richtung auf das Objekt seines Zorns zu machen. Faeryl stand knapp außerhalb der Reichweite des Draegloth und mit dem Rücken zu Halisstra und Pharaun. Sie hatte sich über Quenthel gebeugt und sprach in einem Tonfall, der vor ätzendem Spott triefte. »... weiß, daß du den Muttermatronen zu gern die Wahrheit gesagt hättest, aber dafür ist es jetzt zu spät. Ich bedaure, daß wir nicht mehr Zeit miteinander verbringen konnten, Quenthel.« »Komm doch näher, Faeryl«, sagte Jeggred, dessen Stimme
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vor Haß fast tonlos war. »Laß mich dich noch einmal liebko sen, so wie in den Hallen des großen Hügels. Willst du nicht noch einmal von mir geküßt werden?« Faeryl schauderte, ignorierte aber den Draegloth und zog statt dessen einen Dolch. Halisstra tippte Pharaun auf die Schulter. Laßt mich sie nach draußen locken, bedeutete die MelamTochter ihm. Pharaun nickte und trat zurück, damit er nicht zu sehen war. Ryld drückte Danifae neben dem Magier an die Wand, während Valas Hune gegenüber der Tür Stellung bezog. »Trotzdem wird es mir Spaß machen, euch beide sterben zu sehen«, hörte der Magier Faeryl sagen. »Ich fürchte, wir haben andere Pläne mit ihr, Faeryl«, sagte Halisstra und stieß die Tür auf. Die Botschafterin fauchte vor Wut. »Was tust du denn hier?« zischte sie. »Du solltest tot sein!« Dann schien Faeryl zu begreifen, daß Halisstra ihr Geheim nis entdeckt hatte, und sprach in einem anderen Tonfall wei ter: »Du glaubst doch nicht allen Ernstes, daß ich dich ent kommen lasse, oder? Damit du zu den anderen laufen und ihnen sagen kannst, was du herausgefunden hast? Das kann ich mir nicht vorstellen.« Halisstras Stimme war genauso kühl. »Im Gegenteil. Du glaubst doch nicht, daß ich allein gekommen bin, oder? Dani fae!« rief die Melarn-Tochter über die Schulter. »Es ist wahr. Lauf los und sag den anderen, was hier los ist.« »Nicht so schnell!« entgegnete Faeryl und tauchte so plötz lich im Gang auf, als sei sie an der Priesterin vorbeigesprungen. »Du wirst niemandem ...« Sie verstummte, als sie Pharaun, Ryld und Danifae entdeck te.
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»Was?« spie sie. »Du hast dich mit diesem Haufen zusam mengetan? Du bist noch dümmer, als ich gedacht hatte!« Faeryls Augen verrieten, wie ängstlich sie in Wahrheit war, und ihre Angst wurde um so stärker, als sie spürte, wie Valas hinter sie trat und ihren Arm ergriff. Die Spitze des Kukri des Spähers drückte gegen ihre Halsbeuge. Pharaun streckte die Hand aus und wartete darauf, daß Fae ryl ihm den Dolch gab. Sie überlegte, welche Fluchtmöglich keiten ihr blieben, und einen Moment lang schien es, als woll te sie versuchen wegzurennen. Doch schließlich erkannte sie, daß sie gegen so viele Widersacher keine Chance hatte. Also drehte sie den Dolch so, daß sie ihn mit dem Griff in die Hand des Magiers legen konnte. »Vielleicht bin ich dumm«, sagte Halisstra. »Aber wenigs tens sind sie meine Verbündeten, was du nicht von dir be haupten kannst. Haben dir deine kleinen Lügen wenigstens Spaß gemacht? Ich hoffe, sie waren das alles wert, denn es wird wohl das letzte sein, woran du dich je wirst erfreuen können.« »Paß auf sie auf«, sagte der Magier zu Valas und betrat ge folgt von Halisstra die Zelle. Quenthels Blick ließ keinen Zweifel daran, daß sie froh war, ihn zu sehen. Pharaun lächelte und sprach einen kurzen magi schen Satz, dann öffnete sich der Reif um Quenthels Hals. »Helft ihr«, wies er Halisstra an und wandte sich Jeggred zu, dessen wilde rote Augen vor Erwartung funkelten. »Du kommst gerade rechtzeitig, Magier«, sagte der Draegloth und breitete die Arme aus. »Befreie mich, damit ich die Verräter ergreifen und zusehen kann, wie aus ihren Augen das Leben entweicht.« »Du wirst nichts dergleichen tun«, sagte Quenthel. Ha lisstra hatte der Hohepriesterin geholfen, sich von ihrem Kne bel zu befreien. »Rühr sie nicht an, Jeggred. Verstanden?«
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Jeggred sah Quenthel einen Moment lang an, doch dann neigte der Dämon unterwürfig den Kopf. »Euer Wunsch ist mir Befehl.« Pharaun hatte noch einen letzten Zauber zur Verfügung, mit dem er Jeggreds Fesseln lösen konnte. Ihn benutzte er, um die Arme des Draegloth zu befreien. Für die anderen Bindezauber wählte er einen Weg, der die Magie unterdrücken sollte, die den Diamantspat zusätzlich stärkten. Er wirkte seinen Zauber und sah, wie die Aura sich auflöste, die das Metall umgeben hatte. »Versuch, die Fesseln zu sprengen«, sagte er zu Jeggred. Der Draegloth zog versuchsweise an den Ketten, dann zerrte er mit aller Kraft an ihnen, doch der Diamantspat gab nicht nach. Pharaun runzelte die Stirn. »Vielleicht geht es mit etwas Kälte, die die Fesseln spröde macht«, überlegte er laut und zog einen kleinen, klaren Kris tall aus seinem Piwafwi. »Halte die Fesseln zusammen«, wies er den Draegloth an. Jeggred tat, wie ihm geheißen, und hielt die Ketten mit der freien Hand so, als handle es sich um die Zügel einer Packechse. Der Meister Sorceres richtete den Kristall auf die Ketten glieder und konzentrierte einen Kegel aus magisch beschwore ner arktischer Luft auf sie. Als der Zauber beendet war, bedeu tete er Jeggred, es noch einmal zu versuchen. Als der Dämon es diesmal versuchte, zeigten sich in dem bereiften Metall Risse, dann splitterte es und gab den Draegloth frei. Zwar trug er noch den Halsreif und die Fesseln um die Gliedmaßen, doch damit konnten sie sich später befas sen. »Ich danke Euch«, sagte der Draegloth, dann ging er hin über zu Quenthel, die sich soeben von den letzten Resten der
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harzähnlichen schwarzen Masse befreite, in die ihre Hände eingeschlossen waren. Sie stand mitten in der Zelle und war nackt, schien das aber nicht wahrzunehmen. »Habt Ihr es Euch zur Gewohnheit gemacht, bis zum aller letzten Moment nicht auffindbar zu sein, Mizzrym?« fragte sie und sah ihn ein wenig verärgert an. »Euer Auftritt kommt äußerst knapp, findet Ihr nicht?« Pharaun seufzte innerlich und sah ein, daß jede Dankbar keit, die eben noch vorhanden war, dem üblichen herablas senden Auftreten der Hohepriesterin gewichen war. »Verzeiht bitte, Herrin Baenre«, sagte er so höflich, wie er nur konnte. »Wir haben uns noch mit einigen Jungfrauen des Hauses vergnügt, solange es nur ging, ehe wir im letzten Mo ment hergeeilt sind. Ich hatte nicht gedacht, daß Euch das viel ausmachen würde.« Ryld kicherte über die schnippische Bemerkung des Ma giers, woraufhin Halisstra und Danifae ihm stechende Blicke zuwarfen, was ihn daran erinnerte, daß die beiden Mitglieder des Hauses Melarn nicht mit Pharauns respektloser Art gegen über Quenthel vertraut waren. Die Herrin der Akademie sah ihn finster an, dann wandte sie sich Faeryl zu, die zusammen zuckte. »Zieht sie aus und gebt mir ihre Kleidung«, befahl Quenthel, woraufhin die Botschafterin einen Schrei ausstieß. Valas hielt die Gefangene fest, während Ryld zu ihm ging, um ihm zu helfen. Halisstra trat vor und begann, Faeryl auszuziehen, die strampelte, um sich ihrem schändlichen Schicksal zu entziehen. »Wer sind diese zwei?« zischte Quenthel und sah Danifae an. Die Kriegsgefangene legte den Kopf schräg und betrachtete
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die Hohepriesterin, als würde sie abschätzen, wie sehr sie sich dieser neuen Anführerin würde unterordnen müssen. »Ich bin Danifae Yauntyrr, Herrin Baenre, einst aus Erynd lyn. Ich bin die persönliche Dienerin Halisstra Melarns.« »Eine Kriegsgefangene?« grinste Quenthel, woraufhin Dani fae nur den Kopf neigte. Augenblicke später stand Faeryl nackt inmitten der Gruppe und wurde immer noch von Valas und Ryld festgehalten, wäh rend Quenthel die Kleidung der Botschafterin anzog. Dabei wies sie mit einer Kopfbewegung in Richtung des Halsreifs, den sie bis eben getragen hatte und der nun unbenutzt an der Kette hing. »Kettet sie an«, befahl Quenthel. »Nein!« protestierte Faeryl und versuchte verzweifelt, sich loszureißen. Als Valas und Ryld sie in die Zelle schoben, be gann sie, um sich zu schlagen. »Nein! Ihr könnt mich nicht hier zurücklassen!« »Schweig!« erwiderte Quenthel und gab ihr eine Ohrfeige. »Du erbärmliche Kreatur! Hast du wirklich geglaubt, du wür dest unbehelligt davonkommen? Hast du gedacht, du könntest mich besiegen? Mich, eine Baenre? Mich, die Meisterin von Arach-Tinilith? Bei der Dunklen Mutter! Kind, ich bin über rascht, wie unendlich dumm du doch bist! Kettet sie an«, wie derholte sie und wies erneut auf den dicken Halsreif aus Dia mantspat. »Nein!« protestierte Faeryl, während sie zur Wand gezerrt wurde. Die Botschafterin versuchte, um sich zu treten und zu schla gen, doch der Späher und der Krieger hielten sie unerbittlich fest, während Halisstra ihr den Reif umlegte. Als das Schloß zuschnappte, schluchzte die gefangene Drow, und als die bei den Männer sie losließen, begann sie, wie verrückt an der
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Kette zu reißen. Quenthel wollte sich abwenden, hielt dann aber inne. »Du kannst Wiedergutmachung leisten, wenn du willst«, sagte sie. »Wie?« rief Faeryl. »Ich tue alles! Alles!« »Sag mir, wo meine Sachen sind«, erwiderte Quenthel. »Sag mir, wo all meine Habseligkeiten gelagert wurden, als man mich hierherbrachte.« Faeryls Gesicht nahm einen verzweifelten Ausdruck an. »Ich weiß nicht«, schluchzte sie und sank flehend auf die Knie. »Laßt mich bitte nicht zurück. Ich werde sie für Euch su chen.« »Gebt Euch nicht mit ihr ab«, warf Halisstra ein. »Ich weiß, wo Eure Sachen sind, Quenthel.« Sie drehte sich um und betrachtete die Tochter des Hauses Melarn. »Warum sollte ich Euch trauen?« fragte sie. »Das müßt Ihr selbst herausfinden«, erwiderte Halisstra. »Aber denkt einmal nach: Ich habe Eure Männer hierherge führt, damit sie Euch finden können. Ich habe die Verräterin aus der Zelle gelockt, ehe sie Euch töten konnte. Außerdem lebe ich hier und kenne mich aus. Obwohl das für gewöhnlich gegen mich spräche, sagte ich auch schon dem Magier, daß ich mit Euch nicht im Streit liege, und ich möchte nicht, daß Ihr die Konsequenzen für den Verrat des Hauses Zauvirr an meiner Mutter tragt.« Quenthel hob die Brauen, während sie der Priesterin zuhör te, und sah zu Pharaun. »Sie sagt die Wahrheit«, bestätigte der Magier. »Jedenfalls bisher. Sie hat sich mit uns zusammengetan, wobei sie aller dings auch kaum Alternativen hat. Die anderen Muttermatro nen versuchen unter der Führung Ssipriina Zauvirrs, ihr nach dem Tod der Mutter die Kontrolle über das Haus zu entziehen.«
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»Hmm«, sinnierte Quenthel. »Nun gut. Wir werden später Euren Status klären. Wenn Ihr wißt, wo meine Sachen sind, dann zeigt uns den Weg.« »Wartet!« schrie Faeryl und warf sich so weit nach vorn, wie es die Kette zuließ. »Sie wird Euch verraten, Herrin. Alle Adelshäuser der Stadt hassen Euch, weil Ihr die Waren stehlen wolltet. Ihr könnt ihr nicht trauen!« »Ganz im Gegenteil.« Quenthel lachte verächtlich und schüttelte den Kopf. »Sie ist eine Melarn, ein Mitglied des einzigen Hauses in ganz Ched Nasad, dem ich trauen kann. Gehen wir.« Die Hohepriesterin wandte sich ab, um die Zelle zu verlas sen, und Pharaun ging soeben in den Gang hinaus, als Faeryl hinter ihnen jämmerlich rief: »Ihr könnt mich hier nicht zu rücklassen!« Die Botschafterin setzte zu einem monotonen Gesang an, Pharaun erkannte in der Struktur der Worte eine Beschwö rungsformel, auch wenn er nicht sagen konnte, welche Art von Zauber die Dunkelelfe noch in petto hatte. Ehe sie die Formel vollenden konnten, tauchte Jeggred vor Faeryl auf. Der Draegloth schlug ihr mit einer Hand ins Ge sicht und schnitt mit seinen langen Krallen in ihre Wange. Der Angriff kam so überraschend, daß sie die Konzentration verlor und ihr die weiteren Worte des Zaubers nicht mehr über die Lippen kamen. Der Zauber war verschenkt. Faeryl schrie auf, wich zurück und preßte eine Hand auf ihre blutige Wange. Sie begann zu zittern und erinnerte sich an die schrecklichen Dinge, die Jeggred ihr angetan hatte. Sie zog sich vor dem großen Dämon in eine Ecke zurück und kauerte sich zusammen, während der Draegloth sie einfach nur anstarr te, ohne erneut die Hand gegen sie zu erheben. Quenthel trat neben ihn, legte ihre Hände liebevoll um
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seinen Arm und lächelte die gefangene Drow an. »Weißt du, Faeryl«, sagte die Meisterin der Akademie freundlich, »du hast recht.« Faeryl sah sie entsetzt an. »Du hast gesagt, ich könnte dich nicht zurücklassen. Leider stimmt das. Ich weiß ja nicht, welche anderen Zauber sich vielleicht noch in deinem Kopf befinden. Jeggred, du darfst ihr heimzahlen, was sie uns angetan hat. Laß dir Zeit ... und ge nieße es.« Quenthel schlenderte zusammen mit Ryld aus der Zelle, doch Pharaun, Halisstra und Danifae blieben zurück. Faeryls erster Schrei schmerzte in Pharauns Ohren und wurde von den Mauern der kleinen Zelle zurückgeworfen. Jeggred hatte die Botschafterin noch gar nicht angefaßt, son dern kam ihr nur lächelnd näher. Ihre Schreie wurden immer schriller, verstummten aber abrupt, als er eine große Hand um ihren Hals legte, gleich unterhalb des Metallreifs, und ihr die Luft raubte. Faeryl versuchte, nach dem Dämon zu schlagen, doch der hob sie hoch und streckte seinen Arm ganz aus, bis die nackte Drow den Boden unter den Füßen verlor und um sich trat. Sie schlug schwach auf den Arm des Draegloth ein, und in dem Moment, in dem sie im Begriff war, das Bewußt sein zu verlieren, ließ Jeggred sie los und sah mit an, wie sie zu Boden stürzte und nach Luft rang. Noch ehe sie wieder zu Atem gekommen war, beugte er sich vor und setzte eine ein zelne Kralle unter ihrem Kinn an. Pharaun sah, daß die Kralle sich tief ins weiche Gewebe bohrte, vermutlich sogar bis durch ihre Zunge, womit er ihr zugleich den Mund zudrückte. Faeryl schrie vor Schmerz, doch es war nur ein erstickter Laut. Sie nahm die Arme hoch, um die Hand des Draegloth wegzudrücken, doch er begann uner bittlich, seinen Arm zu heben. Faeryl konnte nicht anders, als
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auf die Füße zu kommen und sich an seinem Arm festzuklam mern, damit ihre Hände ihr Gewicht trugen und die Kralle nicht noch tiefer vordrang und sich womöglich in ihren Gau men bohrte. Der Draegloth hob sie immer höher, bis Faeryl auf den Zehenspitzen stand und versuchte, sich hochzustemmen, um der Kralle zu entkommen. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Jeggred hielt sie einfach fest und sah, wie sie sich wand, während er die Botschafterin mit seinen beiden kleineren Händen zu streicheln begann. Er hob die andere Hand und ließ sie über die entblößte Kehle zucken, um ihre Stimmbänder zu zerfetzen. Blut rann aus der klaffenden Wunde, und Faeryls rote Au gen waren von Entsetzen geprägt, während sie zu schreien versuchte, aber nur ein ersticktes Gurgeln herausbrachte. Jeggred lachte und ließ sie weiter baumeln, während sie ver geblich zu schreien versuchte. Danifae und Halisstra wandten sich ab, auch wenn Pharaun nicht sicher war, ob sie zufrieden waren oder einfach nur genug von dem grausamen Schauspiel hatten. Er war als letzter in der Zelle verblieben und konnte nicht den Blick von der Szene abwenden, die sich vor seinen Augen abspielte. Blut lief über Faeryls Hals und Oberkörper, sie wehrte sich immer weniger. Jeggred begann das ganze bereits zu langwei len, jedenfalls schlitzte er ihr mit einem weiteren Hieb den Bauch auf, so daß ihre Eingeweide hervorquollen. Dann ließ der Dämon Faeryl los, die vor seinen Füßen zusammenbrach. Pharaun sah, daß sie noch nicht tot war. Die Botschafterin blinzelte schockiert und versuchte, mit schwachen Schlägen Jeggred abzuwehren, der sich vor ihr hinkniete. Als Pharaun erkannte, daß der Draegloth sich daran machte, sich an Faeryl, die noch immer bei Bewußtsein war, zu laben, mußte auch er sich abwenden. Die schmatzenden Ge
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räusche, die der Dämon verursachte, verfolgten ihn bis in den Korridor.
Gromph Baenre fand keinen Gefallen an der jüngsten Nach richt, die er überbringen mußte – und das gleich aus mehreren Gründen. Zunächst waren es keine guten Neuigkeiten, und ganz gleich, wie weit er selbst von der Quelle dieser Meldung entfernt war, so war er doch immer noch ihr Überbringer. Normalerweise hätte ihm dieser Grund nichts ausgemacht, denn in ganz Menzoberranzan gab es nur wenige Individuen, die ihr Mißfallen an ihm auslassen konnten, ihm, dem mäch tigsten Magier der Stadt. Von diesen wenigen klammerten sich die meisten nur noch an Überresten ihrer früheren Macht fest und bauten darauf, daß er einen Weg fand, eben diese Macht wiederherzustellen. Eine schlechte Nachricht zu überbringen war in diesen Tagen nicht mehr so riskant wie sonst. Aller dings kam es auch nicht oft vor, daß er seiner Schwester uner freuliche Neuigkeiten zu berichten hatte. Damit war der Erzmagier von Menzoberranzan beim ande ren Grund für sein Unbehagen. Triel Baenre war zu Hause, was bedeutete, daß Gromph sich zu ihr begeben mußte, nicht aber umgekehrt. Er haßte es, Sorcere zu verlassen, und noch mehr haßte er es, zum großen Hügel zu gehen – und erst recht unter solchen Umständen. Das war ein weiterer Grund auf seiner Liste, warum er eine Lösung für die Krise finden wollte. Er war all die Unannehmlichkeiten leid, die die Krise ihm persönlich bescherte. Als er über die Straßen von Menzoberranzan zum großen Hügel flog, sah Gromph konsterniert nach unten. Er hatte den zuständigen Individuen mitteilen lassen, daß mehr Truppen entsandt werden mußten, doch bislang hatte sein Befehl noch
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keine Reaktion nach sich gezogen. Dort unten kamen wieder Unruhen auf, und wenn die Adligen der Stadt nicht aufpaß ten, dann würde es über kurz oder lang einen weiteren Auf stand geben. Nun, Triel konnte noch einmal Druck machen, vermutete er, und darauf bestehen, daß die anderen Muttermatronen sofort reagierten, sobald der Ruf nach weiteren Soldaten laut wurde, doch er bezweifelte, daß diese deswegen auch nur einen Deut schneller handeln würden. Ihre Häuser kamen für sie an erster Stelle, ganz gleich, was der Hohe Rat beschloß. Gromph näherte sich Haus Baenre und ließ sich auf den Balkon vor dem Audienzsaal seiner Schwester sinken. Die diensthabenden Wachen sahen ihn einen Moment lang arg wöhnisch an, dann erkannten sie ihn und salutierten steif. Der Erzmagier ignorierte sie und ging an ihnen vorbei in den Rats saal, in der Hoffnung, er würde Triel dort antreffen. Sie war nicht da. Gromph schnalzte verärgert mit der Zunge und ging aus dem weitläufigen Audienzsaal in den Flur, durch den er zu ihren Gemächern gelangte. Dort angekommen wurde der Erz magier von einem Paar stoischer Frauen empfangen, zwei kräf tigen Exemplaren, die gut bewaffnet und offenbar nicht nur in der Kunst des Kampfs, sondern auch in der der Magie bewan dert waren. Die beiden hielten ihre Streitkolben über Kreuz vor die Tür. »Sie will nicht gestört werden«, sagte eine der Frauen und sah ihn kühl an, um ihm zu verstehen zu geben, daß sie sich auf keine Diskussion einlassen würde, ganz gleich, ob er der Bruder war oder nicht. Gromph seufzte und erkannte einen weiteren Grund, wa rum er es haßte, so etwas zu tun. Ganz gleich, wie sehr er sein sprichwörtliches Gewicht in die Waagschale warf, um Triel in
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ihren Gemächern aufsuchen zu können, die Leibwache der Muttermatrone machte es ihm jedesmal gleich schwer. Er war es leid. »Ich werde heute nicht hier herumstehen und mit Euch streiten. Ihr habt eine Minute Zeit, um ihr zu sagen, daß ich sie sprechen muß und um mich durchzulassen, sonst bleibt von euch beiden nur ein Häufchen Asche vor dieser Tür übrig. Ist das klar?« Die Blicke nahmen einen haßerfüllten Ausdruck an, doch nach kurzem, sorgfältigem Nachdenken nickte die Frau, die gesprochen hatte, knapp und verschwand durch die Tür. Da mit überließ sie es ihrer Kollegin, den Erzmagier eisig anzustar ren, während der die Arme verschränkte und ungeduldig mit dem Fuß trommelte. Als Gromph schon überlegte, ob er seine Drohung in die Tat umsetzen sollte, ging die Tür auf, und die Wache bedeute te ihm, er solle eintreten. Er zog die Brauen hoch, als wolle er sagen: »Hast du etwa irgend etwas anderes erwartet?« Dann trat er ein und schloß die Tür hinter sich. Triel befand sich nicht im Vorzimmer, was ihn aber nicht überraschte. Normalerweise würde sie ihn im Audienzsaal empfangen, wenn sie sich die Mühe gab, für Besucher vorzeig bar zu sein. So aber vermutete er, daß er sie im Schlafzimmer oder im Bad antreffen würde, vermutlich mit einem Liebhaber. Zuerst warf er einen Blick ins Schlafzimmer, jedoch ohne Er folg. Er traf sie schließlich im Bad an, wo sie von ein paar Diene rinnen abgesehen allein war. Sie hatte die Augen geschlossen und genoß ein merkwürdig duftendes Ölbad. Das Aroma erfüll te den gesamten Raum und löste bei ihm einen Hustenreiz aus. Triel öffnete ein Auge und sah den Magier an, dann schloß sie es wieder und machte keine Anstalten, ihn zu begrüßen.
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»Du solltest meine Wachen wirklich nicht so bedrohen«, sagte sie leicht gereizt. »Du weißt, sie stehen dort, um Leute wie dich fernzuhalten.« »Ich bitte tausendmal um Entschuldigung, Muttermatrone«, antwortete Gromph. »Ich werde in Zukunft darauf achten, dir nicht behilflich zu sein. Komm doch gelegentlich mal bei mir vorbei, dann werde ich dafür Sorge tragen, daß du vor meinem Büro warten mußt.« Diesmal öffnete Triel beide Augen. Doch statt sich aufzure gen, wirkte sie besorgt. »Was ist?« fragte sie. »Deine Nachricht muß unerfreulich sein, wenn du dich so flegelhaft benimmst.« Gromph lachte bitter. »Du kennst mich besser als jede andere. Ich glaube, ich soll te dir mehr zutrauen. Allerdings hast du recht. Die Neuigkei ten sind schlecht, und sie kommen von mehreren Fronten. Unsere Patrouillen melden, daß der Verkehr an den Außenbe zirken der Stadt zugenommen hat. Nichts eindeutiges, aber sie befürchten, uns erwarte schon bald aus irgendeiner Richtung ein aggressiver Akt unbestimmter Art.« »Welche Art von Verkehr?« fragte Triel und setzte sich im Bad so auf, daß eine der Dienerinnen ihr den Rücken mit ei nem rauhen Tuch abreiben konnte. »Schwer zu sagen. Es kommen und gehen ohnehin schon genügend Arten, aber sie haben in den letzten Tagen eine ungewöhnlich hohe Anzahl an Troglodyten beobachtet.« Triel stieß einen kehligen Laut aus, und zunächst fragte sich Gromph, ob das eine Reaktion auf die Behandlung durch die Dienerin war, doch dann erkannte er, daß es verächtlich ge meint war, als seine Schwester sagte: »Troglodyten? Die waren noch nie in der Lage, für uns eine ernsthafte Gefahr darzustel len. Du bist hergekommen und hast meine Wachen bedroht, um mir das zu sagen? Also bitte!«
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Gromph schnalzte verärgert mit der Zunge und ging über den gekachelten Boden, um sich auf einer Bank niederzulas sen. »Natürlich nicht. Aber unterschätze nicht ihr Gefahren potential. Mehr als ein General hat schon seine letzte Schlacht erlebt, weil er den Gegner unterschätzte. Wir sind im Moment für jede Art von Angriff verwundbar, und das weißt du so gut wie ich.« »Also gut, ich werde es in Erwägung ziehen«, sagte Triel. »Was hast du mir sonst noch zu sagen? Ich will gern mein Bad genießen, aber das wird kaum möglich sein, wenn du noch mehr schlechte Nachrichten hast.« Gromph schüttelte den Kopf. »Es gibt noch mehr schlechte Nachrichten«, bestätigte er. »Oh, wunderbar.« »Ich höre Unerfreuliches von der Expedition nach Ched Nasad.« Die Muttermatrone drehte sich um und setzte sich aufrecht hin, gleichzeitig schickte sie die Dienerin weg. Es schien ihr nichts auszumachen, daß sie ihm ihren Oberkörper präsentier te, doch Gromph ging über diese Tatsache auch hinweg. »Was sind das für unerfreuliche Dinge?« fragte sie ernst. »Die letzte Nachricht besagte, es komme allmählich zu Un ruhen. Seitdem habe ich nichts mehr erfahren, und der nächs te Bericht ist überfällig.« »Seit wann?« »Seit zwei Tagen. Diese Information hatte ich dir schon zu kommen lassen.« »Hast du eine Möglichkeit, mit ihm Kontakt aufzuneh men?« fragte Triel. »Ja, aber nicht so schnell und auch nicht in der Art einer Unterhaltung, von der ich annehme, daß ich sie für dich mit ihm führen sollte. Selbst für das, was ich tun kann, muß ich
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entsprechende Vorbereitungen treffen, um die notwendige Magie einzusetzen.« »Gut, dann tu das. Aber sag mir, was du im Moment denkst.« Gromph dachte nach, dann erwiderte er: »Glaube ich, daß sie noch leben? Ja. Ich habe keinen Zweifel, daß sie sehr gut auf sich aufpassen können. Das ist zum Teil auch der Grund, warum du sie losgeschickt hast, nicht?« Triel kniff ein wenig die Augen zusammen, während das Öl von ihrem Körper rann. »Ich will, daß sie Erfolg haben«, sagte sie. »Uns ist nicht geholfen, wenn sie umkommen, ganz gleich, welchen Nutzen wir davon hätten, wenn einzelne Individuen aus dem Weg geräumt würden.« Sie bedeutete ihrer Dienerin, ihr ein Handtuch zu bringen, das sie um sich wickelte. Gromph sah sie ausdruckslos an. »Ich will auch, daß sie Erfolg haben«, gab er zurück. »Von meinen persönlichen Absichten abgesehen wirkt sich diese Krise auf jeden Aspekt meiner Studien aus. Ich wollte nur zum Ausdruck bringen, daß jemand, der in Menzoberranzan als Bedrohung gilt, überall sonst erst recht klarkommen müßte.« »Such nach ihnen«, wies die Muttermatrone ihn an. »Laß mich wissen, wenn du sie gefunden hast.« »Selbst wenn ich wieder deine Wachen bedrohen muß?« »Selbst wenn du sie zu einem Haufen Asche vor meiner Tür verbrennen mußt.« Gromph nickte und wandte sich ab, während Triel begann, sich mit Hilfe der beiden Dienerinnen anzukleiden. Der Erz magier blieb stehen und drehte sich noch einmal um. »Da wäre noch etwas.« Triel sah ihren Bruder an und fragte: »Ja?«
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»Würdest du bitte die anderen Muttermatronen daran erin nern, wie wichtig es ist, rechtzeitig auf Bedrohungen in der Stadt zu reagieren? Ich habe vor drei Stunden darum gebeten, in bestimmte Viertel Verstärkung zu schicken, aber als ich eben herkam, war noch nichts geschehen.« »Schon wieder?« seufzte Triel. »Natürlich werde ich es ih nen noch mal sagen.« »Du weißt ja«, fügte Gromph an, als käme es ihm gerade erst in den Sinn, »es wäre vermutlich hilfreich, wenn das Haus Baenre auch einige Soldaten stellen würde, um guten Willen zu zeigen.« »Tatsächlich? Glaubst du, wir können Soldaten erübrigen?« »Ich glaube, die beiden, die vor deiner Tür Wache halten, könnten sich anderswo weitaus nützlicher machen«, erwiderte der Erzmagier und warf seiner Schwester einen letzten, bedeu tungsvollen Blick zu.
»Erklärt mir noch einmal, was ich Eurer Meinung nach zu gewinnen habe, wenn ich Euch vertraue«, sagte Quenthel und kaute auf einem Streifen getrockneten Rothé-Fleischs. Die siebenköpfige Gruppe versteckte sich in der Messe in einem nicht benutzten Flügel des Hauses Melarn. Nur Jeggred war nicht mehr hungrig, da er im Verlies genug zu essen gehabt hatte. Es hat wirklich lange gedauert, bis Faeryl tot war, dachte Pharaun schaudernd, während er dasaß und zusah, wie Jeggred sich sauberleckte. Es fiel dem Magier schwer, das Bild der Drow zu verdrängen, die hatte zusehen müssen, wie der Dämon begonnen hatte, sie bei lebendigem Leib zu verzehren. Ryld und Valas hielten an der Tür Wache; beide waren er kennbar darauf aus, so schnell wie möglich weiterzuziehen. Die
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Erschütterungen des Hauses hatten aufgehört, doch Pharaun war nicht sicher, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen für sie war. Wenn der Angriff so schnell niedergeschlagen worden war, dann war es nur eine Frage der Zeit, bis Ssipriina wieder nach ihnen suchen ließ. Auch er wollte so schnell wie möglich fort. Während Quenthel genüßlich an ihrem Essen roch, schürz te Halisstra die Lippen und unternahm einen erneuten Anlauf, der Menzoberranzanyr ihre Nützlichkeit unter Beweis zu stel len. »Ich kann Euch aus dem Haus bringen«, sagte sie. »Ich weiß, welchen Weg wir am besten nehmen. Wenn wir unter wegs Ssipriinas Wachen begegnen, kann es sogar sein, daß ich sie ohne Problem wegschicken kann. Bis Ihr sicher aus der Stadt gelangt seid, ist es für Euch von Vorteil, daß wir Euch begleiten.« Quenthel nickte, während sie kaute. »Vielleicht«, sagte sie und hielt inne, um einen Schluck aus einem Wasserschlauch zu trinken. »Oder vielleicht wollt Ihr uns auch nur auf Eure Weise in den Untergang führen. Viel leicht wollt Ihr uns in Sicherheit wiegen, um uns dann zu verraten. Soweit ich weiß, macht Ihr mich noch immer für den Tod Eurer Mutter verantwortlich. Zumindest aber seid Ihr über meine Absichten verärgert.« Halisstra rollte mit den Augen, als Quenthel wegsah, und Pharaun mußte sich ein Grinsen verkneifen. Wenigstens bin ich nicht der einzige, der diese Frau für zeit weise völlig irrational hält, dachte er. »Ja, natürlich könnten all diese Möglichkeiten zutreffen«, sagte Halisstra. »Aber ich hätte nicht viel zu gewinnen, wenn ich Euch rette, nachdem Ssipriina Euch bereits in den Fängen hatte, oder?«
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»Hmm«, meinte Quenthel zweifelnd und mit vollem Mund. Sie schluckte und sah zu Pharaun. »Was meint Ihr?« Der Meister Sorceres setzte sich gerade auf, überrascht, daß sie ihn um Rat bat. Vermutlich kommt das davon, daß im Angesicht eines gro ßen Widersachers ein kleiner Widersacher wie ein Freund erscheint, überlegte er. »Bislang haben sie uns keinen Anlaß dazu gegeben, an ih ren Worten zu zweifeln«, antwortete er. »Abgesehen von ihrer Herkunft. Ungeachtet der Frage, ob Ihr einer Dunkelelfe trau en wollt, der Ihr noch nie begegnet seid – zudem einer Dun kelelfe aus dem Haus, das Ihr erst vor kurzem noch hinterge hen wolltet –, sind unsere Möglichkeiten ohne ihre Gesellschaft sehr stark eingeengt. Ich glaube nicht, daß es uns viel schlechter ergehen könnte, wenn sie sich doch noch ge gen uns wenden sollte.« Quenthel verzog das Gesicht. »Denkt Ihr eigentlich mit der richtigen Körperpartie?« frag te sie sarkastisch und wies mit einem Kopfnicken auf Danifae, die ein Stück entfernt auf einer Couch saß und die Unterhal tung mitverfolgte. Als sie mit einem Mal Gegenstand der Unterhaltung wurde, senkte sie demütig den Blick und legte die Hände in den Schoß. »Ganz sicher, Herrin Baenre«, konterte er ironisch. »Nichts würde mir besser gefallen, als mit noch mehr Frauen zu reisen, die alle stets einen Vorschlag parat haben, wie eine Sache gehandhabt werden sollte oder die stets einen freundlichen Kommentar auf der Zunge haben, wie ich zum Nutzen aller mein Benehmen verbessern kann.« Halisstra zog erstaunt eine Braue hoch und erinnerte den Magier daran, daß sie seinen Umgangston mit Quenthel nicht gewöhnt war.
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Etwas gemäßigter fügte er an: »Bei allem Respekt und ohne Rücksicht darauf, mit welcher meiner Körperpartien ich ge genwärtig über unsere Situation nachdenke, kann man wohl nicht bestreiten, daß wir viel zu gewinnen, aber nur sehr wenig zu verlieren haben, wenn wir ihnen vertrauen, wenigstens für den Augenblick. Fragt mich in einer halben Stunde noch einmal, dann könnte meine Antwort ganz anders ausfallen.« Quenthel kaute nachdenklich auf dem Rothé-Fleisch, aber es war Pharaun nicht klar, ob sie sich sein Argument durch den Kopf gehen ließ oder ob sie mit dem Gedanken spielte, Jeggred auf ihn zu hetzen. »Auf jeden Fall«, schloß er, »können wir uns ein gewisses Maß an Sicherheit verschaffen, wenn wir sie in unserer Nähe behalten und natürlich aufmerksam beobachten. Wenn sie uns in eine Falle locken sollten, könnten wir immer noch mit Ssipriina verhandeln, daß wir sie im Gegenzug für unsere Frei heit ausliefern. Vorausgesetzt natürlich, wir sagen der Mutter matrone nicht, was mit Faeryl geschehen ist«, fügte er grinsend an. Halisstra kühler Blick verriet, daß sie sowohl seinen Humor als auch seinen Plan zur eigenen Absicherung für geschmack los hielt. Quenthel schien dagegen überzeugt zu sein. Nachdem sie das restliche Wasser aus dem Schlauch ge trunken hatte, nickte die Meisterin Arach-Tiniliths zustim mend. »Nun gut«, sagte sie zu Halisstra. »Ihr führt uns aus diesem verfluchten Haus, und wenn Ihr das wirklich tut, werdet Ihr damit belohnt, daß Ihr weiterleben dürft. Habe ich mich klar ausgedrückt?« Halisstra schluckte einmal, aber schließlich nickte sie. »Ich denke, Eure Waffen und Euer magischer Schmuck sind für den Moment in unseren Händen besser aufgehoben. Ihr
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bekommt alles zurück, wenn Ihr Euch benehmt.« Beide Drow deuteten mit einem Nicken ihr Einverständnis an. »Dann sollten wir uns auf den Weg machen«, erklärte die Hohepriesterin und klopfte sich die Reste des Trockenfleischs von den Händen. »Ehe wir gehen«, warf Pharaun ein, »ist noch die Frage des ›Wohin‹ zu klären.« Quenthel sah ihn fragend an, dann erklärte sie: »Wir keh ren nach Menzoberranzan zurück. Unsere Expedition war ein Fehlschlag. Lolth spricht zu niemandem mehr, und die Waren, die ich zu unserer Verteidigung mitbringen wollte, scheint es nicht mehr zu geben. Wir können nichts vorweisen, was diese Reise eingebracht hätte.« »Genau«, pflichtete Pharaun ihr bei. »Wir haben nichts vorzuweisen – bis jetzt. Ich schlage daher vor, daß wir weiter ziehen und weiter versuchen, dahinterzukommen, was wirklich los ist.« »Wir haben keine Anhaltspunkte mehr, denen wir noch nachgehen könnten«, wandte Quenthel ein. »Wir wissen kaum mehr über das Verschwinden Lolths als vor unserer Ab reise.« »Das stimmt nicht«, widersprach Pharaun. »Wie gesagt be schränkt sich das Schweigen Lolths nicht allein auf unsere Rasse. Ich habe eine Idee. Zwar sind wir nicht in der Lage, weitere Informationen in Erfahrung zu bringen, aber wir könn ten die Hilfe von jemandem in Anspruch nehmen, dem das möglich ist.« »Wer?« »Ein Vhaeraun-Priester.« Quenthel sprang auf und machte keinen Hehl aus ihrer Wut. »Ihr lästert Lolth, Magier! Wir werden nichts dergleichen
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tun.« Pharaun merkte, daß sogar Halisstra bei dem Vorschlag zu sammenzuckte. Er hob die Hände und bat Quenthel: »Ich weiß, daß es un konventionell ist, aber hört mich bitte erst an, bevor Ihr die Idee verwerft.« Quenthel lief auf und ab, woran Pharaun erkannte, daß die Idee sie zwar nicht glücklich machte, die Absicht dahinter aber nicht von der Hand zu weisen war. Ihr Verlangen, den Ruhm für eine Entdeckung einzuheimsen, die ihre Situation erklären konnte, war vermutlich mindestens so groß wie sein eigener Wunsch. »Was glaubt Ihr, was genau ein Vhaeraun-Priester« – Quenthel schnitt eine Grimasse, als sie den Namen des Gottes aussprach – »für uns tun könnte? Wo sollten wir einen finden, der uns helfen kann – und will?« Pharaun beugte sich voller Eifer vor. »Wir bemühen uns vergeblich, in den Abgrund der Dämo nennetze zu schauen«, erklärte er, »doch vielleicht hätte ein anderer Gott nicht diese Probleme. Mit den richtigen Opfern und einem entsprechend ehrerbietigen Verhalten könnte uns eine Audienz gewährt werden, um das herauszufinden.« »Wenige seiner Anhänger würden es überhaupt in Erwä gung ziehen, uns zu helfen«, meinte Quenthel mit einer weg werfenden Geste. »Wir kennen ja nicht einmal einen, um ihn zu fragen.« Als Quenthel sich abwandte, sah Pharaun zu Valas und ver suchte, ihn zu ermutigen. Sag es, signalisierte er. Valas Hune holte tief Luft, dann erklärte er: »Ich kenne ei nen.« Quenthel drehte sich zu dem Späher um. »Was?«
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»Ich kenne eine Vhaeraun-Priester«, antwortete Valas. »Ei nen alten Bekannten von mir, Tzirik Jaelre. Er würde uns hel fen.« »Tatsächlich?« erwiderte Quenthel und sah abwechselnd Pharaun und Valas an, als vermute sie, daß die beiden unter einer Decke steckten. »Wieso glaubt Ihr das?« Der Magier studierte interessiert die Tischplatte vor ihm. Sie ist schlauer, als ihr guttut, dachte er. Er wußte, wenn er eingestand, das längst zu wissen, würde Quenthel die ganze Idee verwerfen, nur um ihn zu ärgern. »Ich habe bei ihm etwas gut«, erklärte Valas. »Er schuldet mir genug, um uns anzuhören, vielleicht aber nicht genug, um einverstanden zu sein. Aber ich glaube nicht, daß er ablehnen wird.« »Wie praktisch. Pharaun?« Der Magier sah auf und tat, als habe er über etwas ganz an deres nachgedacht. »Hmm? Oh! Ja ... ja, es ist sehr praktisch, daß Valas jeman den kennt, der unseren Vorstellungen entsprechen dürfte. Ich wünschte, du hättest das schon früher gesagt«, meinte er zu dem Späher. »Aber ich vermute, wir können nicht alle solche Geistesblitze haben. Wenn Valas so große Stücke auf seinen Freund hält, dann würde ich sagen: Was haben wir zu verlie ren?« Quenthel öffnete den Mund, wohl, um etwas dagegen zu sa gen, wenn er ihre Miene richtig deutete. Doch sie kam nicht dazu, etwas von sich zu geben. Eine Erschütterung, die heftiger war als alle vorangegangenen, durchfuhr das Haus, riß ihnen den Boden unter den Füßen weg und warf den größten Teil des Mobiliars um. »Bei der Dunklen Mutter!« schrie Halisstra und wurde ge gen eine Wand geschleudert. »Das Haus stürzt ab!«
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Ssipriina Zauvirr und einige ihrer Gäste standen auf einem Aussichtsturm des Hauses Zauvirr. An die Balustrade gelehnt ließen sie ihren Blick über Ched Nasad schweifen. Ihr eigenes Heim war nicht weit vom Haus Melarn entfernt, doch in die ser Richtung konnten die Muttermatronen fast nur dichten Rauch sehen. Trotz dieser Wolken tobte noch immer der Kampf rings um das Haus, und der Schlachtenlärm war so laut, daß er bis zu den Muttermatronen hoch oben auf dem Turm drang. »Das ist außer Kontrolle geraten«, sagte Umrae D’Dgttu, die neben Ssipriina stand, grimmig. »Als wir diesem Plan zustimm ten, sprach Euer Agent nicht von diesem Feuer, das Stein verbrennt.« »Genau«, stimmte Ulviirala Rilynt zu, die hinter ihnen auf und ab ging. Bei jedem Schritt klimperten ihre zahlreichen
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Ringe, Arm- und Halsreife. »Mir mißfällt eine so große Zerstö rung, vor allem im Augenblick.« »Unsinn«, gab Nedylene Zinard zurück, die ebenfalls an die Balustrade gelehnt stand, aber dem Anblick der um sich grei fenden Zerstörung den Rücken zugekehrt hatte. Sie schien sich mehr für ihre lackierten Fingernägel zu interessieren als für das, was rings um sie geschah. »Wir wußten, daß wir möglicherwei se zu aggressiven Methoden würden greifen müssen. Wenn wir die Stadt nach unseren Vorstellungen umgestalten wollen, ist jetzt der Augenblick gekommen, um zu handeln. Wir dürfen uns von nichts und niemandem daran hindern lassen. Weder von den anderen Häusern noch von unseren Bedenken. Manchmal muß man eben ein paar Echseneier zerschlagen, wenn man ein Omelett machen will, und manchmal muß man ein paar Sklaven töten, um am Ende des Tages als der Sieger dazustehen.« »Mag sein«, sagte Umrae D’Dgttu, deren gertenschlanke Gestalt nicht vermuten ließ, daß sie die mächtigste Klerikerin unter den Anwesenden war. »Aber das hier war unnötig. Ihr hättet uns erst zusammenrufen sollen, um Euch zum neuen Mitglied des Rates zu ernennen, nachdem alle Menzoberranza nyr tot waren. Es war Eurer Sache nicht dienlich, daß der Ma gier sein Netz aus Lügen spinnen durfte.« ShriNeerune Hlaund schnaubte: »Die Lügen des Magiers waren bedeutungslos. Ssipriina war eine Närrin, ihre Söldner so früh auszuschicken.« »Das habe ich nicht getan!« protestierte Ssipriina. »Jemand anders gab zu früh das Zeichen zum Angriff. Ich hatte bis zu letzt gehofft, die Auflösung des Hauses Melarn unblutig zu vollziehen. Die Feuerkrüge waren auch nicht meine Idee. Die Duergar müssen sie ohne mein Wissen von irgend jemandem beschafft haben.«
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»Das heißt, Ihr habt nicht mal Euer eigenes Haus im Griff,« sagte ShriNeerune herablassend, »und von uns erwartet Ihr, daß wir Euch weiterhin unterstützen? Ich hätte auf meinen Verstand hören sollen, statt ein Handelshaus zu unterstützen.« Ssipriina ballte die Fäuste. Zu gerne hätte sie die Drow ge schlagen, die sich über sie lustig machte, doch sie ließ die Hände unten. »An Eurer Stelle wäre ich vorsichtig«, gab sie schneidend zurück und sah die Drow kühl an, die sie so beleidigt hatte. »Ich bin noch immer diejenige, die den Duergar die Befehle erteilt, und im Augenblick siegen wir. Ihr könntet Euch schnell auf der anderen Seite dieser Schlacht wiederfinden!« »Genug!« rief Umrae und stellte sich zwischen die beiden. »Was geschehen ist, ist geschehen. Wir müssen jetzt kämpfen, nicht streiten. Ssipriina, habt Ihr sie dabei?« Ssipriina starrte ShriNeerune ruhig ins Gesicht, die Augen zornig zusammengekniffen, doch dann wandte sie sich ab. »Natürlich«, antwortete sie. »Hier.« »Dann sollten wir das jetzt tun«, sagte die Muttermatrone und bedeutete den anderen, sich um sie zu scharen. »Es wird Zeit, uns zu nehmen, was unser ist.« Ssipriina nickte und holte einen kleinen Gegenstand her vor, der in schwarze Seide gepackt war. Sie packte ihn aus und holte eine Kristallfigur hervor, schwarz wie die Nacht und in mehrere Teile zerlegt. Kopf und Leib waren voneinander ge trennt, außerdem bildeten je vier Beine einen Teil der Figur. Die fünf Muttermatronen standen zusammen. Ssipriina hielt den Stoff in den Händen, auf dem die Einzelteile lagen, und streckte die Arme aus, damit die anderen alles gut sehen konn ten. »Es ist viele Jahre her«, sagte Nedylene und streckte eine Hand mit den lackierten Fingernägeln aus, um einen Satz
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Beine hochzunehmen. »Die Stadt wird vor uns erzittern. Fan gen wir an.« »Haltet sie ruhig, Ssipriina«, ermahnte Umrae sie. Sie nahm den Leib der Figur, und die drei Muttermatronen nahmen jede ein anderes Teil. Sie sahen einander an, bis Um rae nickte. Dann fügten sie die Teile zusammen, bis sie eine komplette Spinne darstellten. »Rasch jetzt!« zischte Umrae, woraufhin Ssipriina die Figur wieder einwickelte. Schon nach diesen wenigen Augenblicken konnten die Muttermatronen sehen, daß sich das Bündel zu bewegen und der Inhalt zu wachsen begann. »Schnell!« drängte ShriNeerune. »Werft es!« Ssipriina befolgte die Anweisung und warf das Bündel mit aller Kraft fort, während die fünf Muttermatronen gebannt zusahen, wie sich das zappelnde Stoffbündel von Haus Zauvirr entfernte. Der Stoff glitt zur Seite, und die versammelten Drow hiel ten den Atem an. Die Figur hatte sich in ein Lebewesen verwandelt, eine Spinne, so schwarz wie der Kristall, aus dem sie geboren war, und die immer weiter wuchs. Nach wenigen Augenblicken hatte sie bereits die Größe einer Rothé erreicht, und als sie hinter einer Netzstraße verschwand, wuchs sie im mer noch weiter. Ssipriina sah gebannt mit an, wie die Kreatur einen Faden spann, den sie an der Straße festmachte, während sie weiter nach unten sank und schließlich vom Aussichtsturm nicht mehr zu entdecken war. Die fünf Drow hielten den Atem an und hofften, noch ein mal einen Blick auf das Ding werfen zu können, das sie ge schaffen hatten. Der Faden spannte sich plötzlich und vibrierte unter der Last, die an ihm hing. Offensichtlich war die Kreatur
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noch mit dem Faden verbunden. Einen Augenblick lang ge schah nichts, auch wenn sich alle fünf Muttermatronen be mühten, irgend etwas zu sehen, wo es nichts zu sehen gab. Als das erste schwarze Bein in Sicht kam, das auf der Netz straße nach Halt tastete, spürte Ssipriina, wie ihr Herz einen Schlag lang aussetzte. Das Bein war länger, als sie groß war. Langsam, vorsichtig kam die Spinne nach oben, und alle fünf Drow traten bei ihrem Anblick unwillkürlich einen Schritt von der Balustrade zurück, obwohl ihre Schöpfung Dutzende von Schritten von ihnen entfernt war. Die Spinne war so groß, wie die Straße breit war. »Bei Lolth«, hauchte eine von ihnen. »Sie ist wunderbar!« Die riesige Spinne richtete sich auf der Straße zu ihrer vol len Größe auf. Ssipriina hörte die Entsetzensschreie aus der Stadt, die ertönten, als die ersten Bürger auf die Kreatur auf merksam wurden. Dann begann sie, sich in die Richtung der Soldaten zu begeben, die einige Straßen weiter immer noch in Kämpfe verwickelt waren. »Beim Abgrund!« stöhnte Umrae auf. »Was denn? Was ist?« fragte Nedylene. »Es gibt keine Verbindung«, antwortete Umrae, die die Au gen geschlossen hatte, um sich besser konzentrieren zu kön nen. »Ich kann sie nicht kontrollieren!«
Halisstra spürte, wie das Gefühl eines drohenden Grauens stärker wurde. Zwar war Haus Melarn nicht wirklich abge stürzt, wie sie bei der gewaltigen Erschütterung prophezeit hatte, doch sie war mit jedem Gang und jedem Zimmer so vertraut, daß es ihr vorkam, als habe sich das Gebäude insge samt ein wenig zu einer Seite hin geneigt. So unmöglich der Gedanke auch sein mochte, fragte sich Halisstra doch, ob das
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Bauwerk überhaupt noch stabil war. Sie wollte so schnell wie möglich nach draußen gelangen, um sich ein Bild davon zu machen, was sich in der Stadt abspielte. Die Drow konnte sich nicht vorstellen, daß es eine Macht gab, die Haus Melarn zer stören konnte. Die Priesterin führte die anderen in Richtung der Gemä cher ihrer Mutter, wo ihrer Überzeugung nach Quenthels persönliche Habseligkeiten hingebracht worden sein mußten, nachdem man die Herrin der Akademie gefangengenommen hatte. Auch wenn Aunrae Nasadra ihr nicht alles überlassen haben würde, war davon auszugehen, daß Ssipriina Zauvirr einen Großteil der Beute des Hauses Melarn für sich bean sprucht hatte. Dazu gehörte auch der persönliche Besitz Quenthels, den sie als Trophäe für ihr Aufbegehren gegen Menzoberranzan behalten würde. Es blieb abzuwarten, ob noch alles aufzufinden sein würde, was Quenthel bei der Ankunft in der Stadt bei sich geführt hatte. Je länger sie über die Vorgehensweise Ssipriinas und der anderen Muttermatronen nachdachte, desto wütender wurde Halisstra. Von den Konsequenzen für den Angriff auf Haus Melarn abgesehen war das ganze potentiell eine schwere Belei digung für das mächtigste Haus Menzoberranzans. Außerdem wirkte die Art und Weise dieser Aktionen auf Halisstra wie ein symbolisches Aufgeben der Idee, wenigstens den Versuch zu unternehmen, dahinterzukommen, was mit Lolth geschehen war. Wenigstens versuchen Quenthel und die anderen, etwas he rauszufinden, hatte sie sich mehr als einmal gesagt, seit sie mit der Gruppe zusammengekommen war. Lolth mochte Hingabe schätzen, aber Halisstra konnte sich nicht vorstellen, daß die Göttin von ihren Anhängern erwartete, daß die sich einfach hinsetzten und darauf warteten, von ihr gerettet zu werden –
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selbst wenn sie übereifrige Hingabe demonstrierten oder tau send Duergar opferten. Halisstra mußte sich eingestehen, daß sie selbst sich auch wiederholt gefragt hatte, was Lolth wohl wirklich erwartete. Sie überquerte eine große Kreuzung und bog in einen Gang ein, der noch verschwenderischer dekoriert war, auch wenn das kaum noch möglich zu sein schien: dicke Teppiche, Wandgemälde und Bilder von den Siegen des Hauses Melarn. Sie näherten sich Drisinils Privatgemächern, und Halisstra begann zu befürchten, das Haus Zauvirr könne ein großes Truppenkontingent aufgestellt haben, um die Räume zu be schützen, ganz gleich, ob draußen ein Aufstand tobte. Die Sorge der Drow war durchaus begründet, denn als sie um eine Ecke bogen, entdeckte sie einen Trupp Soldaten, die den Zu gang zu den Gemächern blockierten. »Was tut Ihr hier?« wollte Halisstra mit schneidender Stimme wissen, da sie hoffte, die Soldaten mit ihrem Befehls ton verunsichern zu können. »Ihr werdet auf den Burgmauern benötigt!« »Das glaube ich nicht«, sagte der Feldwebel und betrachtete den zusammengewürfelten Haufen, der der Ersten Tochter folgte, während er sein Schwert hob und auf sie richtete. »Uns ist zu Ohren gekommen, daß die Verräterin entkommen ist, und nun taucht Ihr hier auf. Wie praktisch. Ich fürchte, wir haben Befehl, Euch und jeden zu töten, der Euch hilft.« Die Soldaten schwärmten aus und hoben die Waffen, wäh rend sie näherkamen. Halisstras erster Impuls sagte ihr, mit dem Streitkolben aus zuholen, um sich zu verteidigen, doch ihre Hand war leer: Quenthel hatte ihr noch nicht die Erlaubnis gegeben, wieder eine Waffe zu tragen. Danifae, die neben Halisstra stand, war zwar nicht mehr gefesselt, aber auch sie war unbewaffnet. Al
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lerdings trug sie einen kleinen Rucksack mit ihren Habselig keiten bei sich. Quenthel war einverstanden gewesen, in Ha lisstras Gemächern einen Zwischenstopp einzulegen, damit die beiden einige Dinge einpacken konnten, ehe sie sich nach draußen aufmachten. Wenn sich das Haus weiter in eine Schräglage bewegte, konnte niemand sagen, wann eine Evaku ierung erforderlich würde. Dann aber hätten sie keine Zeit mehr, zu den Gemächern zurückzukehren. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie ihre Dienerin auch ein Stück zurückwich. Ehe aber die Soldaten die Distanz überwin den konnten, zuckte zwischen den beiden Drow ein ver schwommenes Etwas aus gelblich-weißem Fell vorbei und warf sich mit einem tiefen, erschreckenden Knurren und einem Wirbel aus Armen und Krallen in die erste Reihe der Solda ten. Das Übelkeit erregende Geräusch von Fleisch, das aus Körpern gerissen wurde, ließ Halisstra zusammenzucken, bis sie begriff, daß es der Draegloth war, Quenthels persönlicher Leibwächter, der diese Geräusche verursachte. Bis zu Halisstras überraschtem Aufkeuchen waren schon drei der Soldaten – unter ihnen der Feldwebel – schreiend zu Boden gegangen. Ihre Körper waren zerfetzt worden, überall fand sich ihr Blut. Einige andere Soldaten begannen, Jeggred einzukreisen. Sie versuchten, sich von den todbringenden Krallen des Dämons fernzuhalten, gleichzeitig waren sie be müht, eine Lücke zu finden, um ihn angreifen zu können. Jeggred ging in die Hocke und beobachtete die Gegner, die ihn umzingelt hatten und immer wieder mit ihren Schwertern nach ihm schlugen, ohne aber nahe genug an ihn heranzu kommen, um ihm Schaden zuzufügen. Einige von ihnen lösten sich aus der Gruppe, um ihre Armbrüste bereitzumachen. Eine zweite und dritte Gestalt schossen an Halisstra vorbei, die zur Wand zurückwich, da nun Ryld und Valas in den
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Kampf eingegriffen hatten. Der größere der beiden, den sie recht attraktiv gefunden hatte, als sie sich das erste Mal gege nübergestanden hatten, handhabte seinen Zweihänder auf eine Weise, die sie als beruhigend empfand. In seinen Händen wirkte die Klinge leicht und handlich, während er einem Soldaten das halbe Gesicht wegschnitt und herumwirbelte, um mit der gleichen fließenden Bewegung mit dem Stahl einem anderen den Bauch aufzuschlitzen. Der klei nere der beiden schien sich im Gegensatz zu ihm damit zu begnügen, sich von hinten an einen der Drow-Soldaten heran zuschleichen, die immer noch versuchten, einen Schlag gegen Jeggred zu führen, ohne in die Reichweite seiner todbringen den Klauen zu geraten. Die Wache hörte und sah Valas nicht kommen. Als der Späher seine Kukri in den Rücken des Man nes jagte, wurde der Hieb von einem Energieblitz begleitet. Der Soldat bog vor Schmerz den Rücken durch und ging zu Boden, nachdem Valas die Klinge zurückgezogen hatte und zur Seite trat, um wieder in den Schatten zu verschwinden. »Geht aus dem Weg, dummes Kind, und laßt sie ihre Arbeit tun«, herrschte Quenthel Halisstra an. Die Tochter des Hauses Melarn sah über die Schulter zu der Hohepriesterin und erkannte, daß der Magier eine merkwürdi ge Substanz in der Hand hielt. Sie wußte, daß er bereit war, einen Zauber zu wirken. Vor ihm schwebte ein Rapier wie aus eigenem Antrieb, als wolle es verhindern, daß einer der Wi dersacher dem Magier zu nahe kommen konnte, während der mit seinem Zauber beschäftigt war. Halisstra drückte sich an die Wand, um Pharaun genug Platz zu lassen, dann bewegte sie sich zurück bis zu der Stelle, an der Quenthel stand. An der gegenüberliegenden Wand tat Danifae es ihr nach. »Es ist unnötig, sich in einen Kampf einzumischen, wenn die Männer fähig sind, das aus eigener Kraft zu erledigen«,
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erklärte Quenthel mit finsterer Miene. »Wenigstens sind sie für irgend etwas gut.« Halisstra hätte die andere Drow zu gern gefragt, wieso sie ein so ungehorsames Verhalten der drei Männer – allen voran des Magiers – duldete, doch sie glaubte, es sei besser, den Mund zu halten und es sich nicht mit der Hohepriesterin zu verscherzen. Es mochte lange dauern, ehe Quenthel ihr ver traute, und das wollte sie durch eine neugierige Bemerkung nicht in noch fernere Zukunft rücken lassen. Ein lautes Zischen begleitete einen langen, dünnen Streifen Eis, der aus Pharauns Fingern schoß und sich wie ein Eiszapfen von hinten durch die Schulter eines der Soldaten bohrte. Der Mann schrie vor Schmerz und taumelte nach hinten, doch es war bereits zu spät. Jeggred sah, daß sein Gegner für einen Moment abgelenkt war, trat vor und holte mit seinen gewalti gen Krallen aus, die sich durch die Bauchmuskeln des Wach manns schnitten. Er lächelte, als die Eingeweide des Mannes aus der klaffenden Wunden hervortraten. Mit einem unange nehmen Geräusch fiel der Mann auf den Rücken, seine leeren Augen auf Halisstra gerichtet, während sich seine inneren Organe um ihn herum auf dem Boden verteilten. »Halt!« ertönte plötzlich eine Stimme hinter Quenthel. Halisstra drehte sich gleichzeitig mit der Hohepriesterin um und sah, daß sich aus der Richtung, aus der sie gekommen waren, ein weiterer Trupp näherte. »Magier, tut etwas!« befahl Quenthel und wich zurück, während die Soldaten dieser Verstärkung ihre Waffen zogen und Stück für Stück vorrückten. Pharaun fuhr herum, erfaßte die neue Bedrohung und griff sofort in seinen Piwafwi, um gleich mehrere Objekte herauszu holen. Sein tänzelndes Rapier machte kehrt und jagte in die entgegensetzte Richtung, wo es zuckend und um sich stechend
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versuchte, den neuen Trupp aufzuhalten, der noch größer war als die Einheit, die vor den Gemächern Wache gehalten hatte. Gleichzeitig hörte Halisstra den Magier halblaut irgendein Wort oder einen Satz sagen. Obwohl sie seine Sprache nicht verstand, war der augenblicklich eintretende Effekt beeindru ckend. Ein gleißender Blitz trat aus den Fingerspitzen des Ma giers aus und traf den vordersten Soldaten in die Brust. Der Blitz teilte sich und sprang vom ersten Opfer innerhalb von Sekundenbruchteilen auf die anderen Drow-Soldaten über. Halisstra schrie vor Schmerz und hob die Arme, um ihre Augen vor dem blendenden Licht des Blitzes zu schützen. Sie kauerte an der Wand und verfluchte Pharaun, daß er sie ge blendet und für die Angriffe der Soldaten verwundbar gemacht hatte. Einige Momente lang hatte sie das Nachbild des Blitzes vor Augen, während sie sich blindlings an der Wand entlang weiterzubewegen versuchte. Sie versuchte, die Geräusche des unmittelbar bevorstehenden Angriffs der Soldaten auszuma chen, doch es war nichts zu hören. Sie vernahm ein letztes Keuchen, als sei jemand verletzt worden, aber die Kampfgeräu sche waren ansonsten verstummt. Als sie wieder etwas sehen konnte, erblickte sie Danifae und Quenthel, die so benommen wirkten, wie sie selbst sich fühlte. Pharaun schien dagegen auf seine Leistung stolz zu sein, da zu beiden Seiten sämtliche Soldaten des Hauses Zauvirr auf dem Boden lagen. »Verdammt, Pharaun!« fauchte Quenthel und stemmte die Hände in die Hüften, während sie den Magier anstarrte, der ei nige Zentimeter kleiner war als die Hohepriesterin. »Nächstes Mal warnt Ihr mich, wenn Ihr vorhabt, einen solchen Zauber zu wirken!« Pharaun verbeugte sich, und Halisstra war nicht sicher, ob es eine ernstgemeinte oder eine spöttische Reaktion war, doch
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er sagte: »Ich bitte um Entschuldigung. Die Zeit reichte nicht, um jemanden zu warnen. Sie wären uns schon viel zu nahe gewesen, wenn ich nicht sofort gehandelt hätte.« Quenthel rümpfte die Nase und schien mit seiner Erklärung nicht zufrieden zu sein, sagte aber nichts weiter. Es dauerte einen Moment, ehe Halisstra bemerkte, daß die Herrin der Akademie sie ansah. »Also?« sagte Quenthel. »Geht vor. Ich will nicht, daß noch mehr von Ssipriinas Lakaien auf uns aufmerksam werden und uns inmitten der Leichen ihrer Kameraden antreffen.« Halisstra nickte knapp und eilte zur Tür, wobei sie sich be mühte, nicht allzulange einen der toten Soldaten anzusehen, die von Jeggred zermalmt worden waren und über die sie nun hinwegsteigen mußte. Sie erreichte die Tür und hielt ihre Brosche hoch, bis die Magie aktiv wurde und das Schloß öffne te. Die Priesterin trat ein und bedeutete den anderen, ihr zu folgen. Das Innere der Gemächer ihrer Mutter war prächtig und für Halisstras Geschmack längst aus der Mode gekommen, doch sie achtete nicht auf die Dekorationen. Während der Rest der Gruppe eintrat, zeigte sie auf die verschiedenen Türen in die sem Raum. »Die Sachen von Herrin Baenre sind irgendwo hier«, sagte Halisstra. »Wenn wir getrennt suchen, werden wir schneller fündig.« Als wolle jemand unterstreichen, wie sehr sie sich beeilen mußten, durchfuhr eine erneute Erschütterung das Haus. Diesmal glaubte Halisstra, das Bersten massiven Felsens zu hören. »Gebt Euch keine Mühe«, sagte Quenthel brüsk. »Sie sind dort.« Sie zeigte auf eine Tür.
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»Dort sind die Schlafzimmer«, erwiderte Halisstra und war etwas irritiert, woher die Hohepriesterin wissen konnte, wo genau sich ihre Sachen befanden. »Kommt«, sagte sie, dann folgte ihr die ganze Gruppe durch diese Tür. An einer Seite stand das übergroße Bett, rund und so ausla dend, daß es für fünf oder sechs Drow bequem Platz bot und eben dies auch sicher bei mehr als einer Gelegenheit getan hatte. Außerdem gab es eine ganze Reihe von Sofas, Truhen, Kommoden und Tischen, daneben waren die Wände vollstän dig mit Gobelins behängt. Quenthel durchschritt den Raum und ging zu einer Stelle zwischen zwei großen Schränken, an der ein Wandteppich aus schwarzem Stoff mit Stickereien in phosphoreszierenden Grün-, Purpur- und Gelbtönen hing, der das Gesicht einer Drow-Priesterin zeigte. Halisstra wußte, daß es ihre Großmut ter war, und fragte sich, warum Drisinil es wohl behalten hatte. Sie selbst würde sicher nichts aufbewahren wollen, was sie an ihre Mutter erinnerte. »Hier«, sagte Quenthel. »Alles ist hinter diesem Ding.« »Faßt noch nichts an«, warnte Pharaun und stellte sich zu ihr. Einen Moment lang betrachtete er den Teppich, dann nick te er zufrieden. Er faßte den Stoff an einer Ecke und riß daran. Dahinter befand sich nur nackte Wand. Quenthels Miene verfinsterte sich, doch der Magier holte einen Stab aus seinem Piwafwi hervor, bewegte ihn und sprach einen arkanen Satz. Dann steckte er ihn wieder weg und be trachtete erneut die Fläche, während sich die anderen um ihn versammelten. Danifae stand bei Halisstra. Die Priesterin merkte, wie ihre Dienerin ihr etwas in die Hand drückte. Sie sah nach unten und erkannte, daß ihre Kriegsgefangene ein Paar Dolche an sich genommen hatte und ihr einen davon
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verstohlen reichte. Geschicktes Mädchen, dachte Halisstra, nahm die Waffe an sich und ließ sie in den weiten Falten ihres Piwafwi verschwin den. Dann konzentrierte sie sich wieder darauf, was der Magier tat. »Natürlich«, sagte Pharaun auf einmal, als hätte er etwas erkannt, was eigentlich offensichtlich hatte sein sollen. »Alle treten bitte zurück. Ich kann die Schutzzauber und die Sigeln unschädlich machen, aber ich kann nichts gegen die mechani sche Falle ausrichten, von der ich vermute, daß sie ebenfalls vorhanden ist.« »Es ist schon in Ordnung«, erklärte Valas. »Wenn du die magischen Schutzvorkehrungen ausschalten kannst, werde ich schon mit dem Rest zurechtkommen.« Pharaun nickte und begann zu gestikulieren und zu mur meln, schließlich wies er schwungvoll auf die Fläche zwischen den beiden großen Schränken. Halisstra vermutete, der Magier hätte die Fähigkeit, das Wirken verschiedener Zauber und Schutzzeichen wahrzunehmen, da sie nicht sehen konnte, woran er arbeitete, und ihr auch nicht bekannt war, daß es in den Gemächern ihrer Mutter irgendein geheimes Portal gab. Pharaun betrachtete die Mauer wieder, nachdem er seine Zau ber gewirkt hatte, dann nickte er Valas zu, er solle es versu chen. Valas trat näher an die Wand heran und begann, sie zu in spizieren. Halisstra hätte sich am liebsten dicht hinter ihn gestellt, um zu sehen, was er sich da ansah, doch sie wagte es nicht, ihn in seiner Konzentration zu stören. In diesem Au genblick wurde das Haus erneut erschüttert, und Halisstra hätte fast den Halt verloren. »Beim Abgrund!« rief Valas und ruderte mit den Armen, um nicht gegen die Wand geworfen zu werden. »Das geht
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nicht. Ich kann das nicht, wenn ...« Der Späher konnte seinen Satz nicht beenden, da auf ein mal der Raum zu kippen begann. Halisstra fiel zu Boden, der nicht länger eben, sondern von der Wand weggekippt war, vor der sie eben noch gestanden hatten. Ihr wurde bewußt, daß sie laut aufschrie, als sie über den Boden rollte. Die Abwärtsbewe gung en-dete zwar, doch von überall aus dem Haus konnte sie das Bersten von Stein hören, laute, knallende Geräusche, die so klan-gen, als würde die Welt in Stücke gerissen. »Wir haben keine Zeit mehr! Wir müssen jetzt hier raus!« hörte Halisstra einen der Männer brüllen. »Nicht ohne meine Habseligkeiten«, beharrte Quenthel, setzte sich auf und versuchte, auf dem schrägen Boden Halt zu finden. »Öffnet die Tür! Jetzt –« Pharaun, der zu schweben begonnen hatte, um nicht zu fal len, nickte, als die anderen den Halt verloren – alle bis auf Valas, der trotz der Neigung des Bodens keine Schwierigkeiten zu haben schien, sich auf den Beinen zu halten. Der Magier zog aus seinem Piwafwi einen Handschuh her vor, streifte ihn über und begann, einen Zauber zu wirken, während der Boden zu knacken begann und sich immer weiter neigte. Eine gewaltige leuchtende Faust nahm Gestalt an, die zweimal so groß war wie Pharaun und vor ihm in der Luft stand. Mit der behandschuhten Hand lenkte er dieses leuch tende Objekt und drehte es so, daß die Knöchel zur Wand gerichtet waren. »Zurück«, rief Pharaun. »Ich weiß nicht, welchen Rückstoß das bewirken wird.« Das Knarren und Knacken von allen Seiten wurde immer lauter und lauter, so daß Halisstra die Hände auf ihre Ohren preßte, während ihr Herz wie wild raste. Wir werden hier sterben, dachte sie. Das Haus bricht in sich
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zusammen und wird uns erschlagen. Die magische Faust ruckte nach vorn und prallte gegen die Wand zwischen den Schränken, in der sich durch den Aufprall Risse bildeten. Pharaun rief die Faust zurück und schickte sie erneut los. Quenthel stand neben Halisstra und packte sie am Arm. »Sobald er die Wand durchbrochen hat«, sagte die Herrin Arach-Tiniliths, »werden wir uns beeilen müssen. Wie kom men wir am schnellsten nach draußen?« Halisstra sah die andere Drow hilflos an, dann antwortete sie: »Wir sind im Herzen des Hauses, an der Stelle, die am besten geschützt ist. Egal, in welche Richtung wir wollen, wir werden eine Ewigkeit brauchen.« Quenthels Miene verfinsterte sich, dann nickte sie und ent fernte sich von Halisstra. Die riesige Faust hatte die Wand noch zwei- oder dreimal getroffen, und nun war sie im Begriff, jeden Augenblick einzu brechen. Ein weiterer Schlag sollte genügen, dachte Halisstra, wäh rend sie von anderswo aus dem Haus weitere bedenkliche Geräusche hörte. Wenn es nicht längst zu spät ist, fügte sie an. Die anderen hatten die Augen aufgerissen, versuchten, ihr Gleichgewicht zu halten und betrachteten mit Argwohn Wände, Decke und Boden. Der nächste Treffer mit der Faust war erfolgreich, die Wand brach ein und verwandelte sich in einen Haufen Schutt. Da hinter lag ein kleiner Raum, der düster und verstaubt war. Regale befanden sich dort, in denen Gegenstände lagen, die Halisstra noch nie in ihrem Leben gesehen hatte. Quenthel drängte sich vor alle anderen und schritt – beziehungsweise kletterte, denn es war wie eine Wanderung bergauf – in die Kammer und schnappte sich mit einem Funkeln in den Augen
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eine fünfköpfige Schlangenpeitsche. »Ja!« war das einzige, was sie herausbrachte, als sie die Waf fe hochhielt und die Vipern erfreut zischten und zuckten. Rasch sammelte Quenthel alles ein, was ihr gehörte, dann wanderte ihr Blick zu den anderen Dingen, die dort gelagert waren. »Keine Zeit!« beharrte Pharaun. »Wir müssen raus!« Der Magier wandte sich an Halisstra und fragte: »Wo geht es raus? Bringt uns nach draußen, ehe das Haus abstürzt!« Halisstra schüttelte den Kopf. »Wir sind so weit von jedem Ausgang entfernt, wie es nur möglich ist«, schrie sie gegen die Kakophonie des berstenden Steins an. Wieder gab der Raum ein Stück nach. »Es gibt kei nen Ausgang in der Nähe!« »Dann schaffe ich einen«, gab Pharaun zurück. »In welcher Richtung gelangen wir am ehesten aus dem Gebäude?« Ein Teil der Decke am anderen Ende des Raums stürzte ein, Halisstra wurde von einer Wolke aus Schutt und Staub umge ben. Mit einer Hand bedeckte sie Mund und Nase, während sie den anderen Arm hob, um ihre Augen vor den scharfkanti gen Stücken zu schützen. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, sie würde sterben. Es gab kein Entkommen, keinen Ausweg ... keine Lolth. Halisstra spürte, wie der Magier ihre Arme packte. »Sagt mir«, schrie er, »welches der nächste Weg nach drau ßen ist, egal, ob Mauern im Weg sind oder nicht!« Halisstra schüttelte den Kopf und versuchte, sich trotz der wachsenden Panik in ihrer Brust zu konzentrieren. Sie ent deckte Danifae, die sich an Quenthel festhielt, die sich wie derum an die Kante der zerborstenen Mauer vor dem geheimen Raum klammerte. Jeggred krallte sich in den Boden und klet terte zu Quenthel.
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Die nächste Außenmauer ... wo war sie? Ein Bild entstand vor ihrem geistigen Auge, ein Lageplan. Dann wußte sie, daß die Gemächer ihrer Mutter fast an eine Außenmauer grenzten. Das bedeutete, daß sich der Geheim raum, den Pharaun und Quenthel entdeckt hatten, sehr nah an dieser Mauer befand. Hektisch zeigte Halisstra auf den Geheimraum und schrie: »Da entlang!« Pharaun nickte und krabbelte in die angegebene Richtung, wobei er fast nach hinten weggerutscht wäre, als der Boden sich abermals weiter neigte. Halisstra begann wegzurutschen und beschloß, nichts dagegen zu unternehmen, sondern sich mit den Füßen an der Wand unter ihr abzustützen. Sie reckte den Hals, um Pharaun zu beobachten, der zu einem neuen Zauber ansetzte. Sein Vorrat schien unbegrenzt zu sein. Er durchsuchte seinen Piwafwi und zog etwas hervor, das zu klein war, als daß Halisstra es hätte erkennen können. Dann begann er wie wild in Richtung Wand zu gestikulieren. Vor ihren Augen bildete sich in der Mauer ein Tunnel, der gut vier Me ter fünfzig lang war und dann die Außenmauer des Hauses durchbrach. »Kommt!« rief Pharaun allen zu, als das Haus Melarn aus nichts anderem mehr als einer ohrenbetäubenden Kakophonie aus unheilvollen Geräuschen zu bestehen schien. Halisstra hörte den Magier kaum. Der Raum kippte noch weiter, und Halisstra erkannte, daß er fast einen rechten Win kel zu seiner ursprünglichen Lage erreicht hatte. Die neue Öffnung nach außen war damit fast genau über ihr. Sie be gann, wie die anderen zu schweben, um sich auf magische Weise dem improvisierten Ausgang zu nähern. Als sie das Ende erreichte, sah sie, daß Jeggred Valas hielt und mühelos mit sich durch das Loch zog. In diesem Moment wurde ihr
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bewußt, daß Danifae auch nicht schweben konnte. Die Tochter des Hauses Melarn sah sich verzweifelt um und entdeckte ihre Dienerin, die sich in einer Ecke des Raums nahe der eingestürzten Decke zusammengekauert hatte. Da sich der Raum weiter neigte, war sie bemüht, dem in Bewe gung geratenen Schutt auszuweichen. Danifaes Augen funkel ten vor Wut, während sie nach oben sah und verfolgte, wie alle anderen aus dem zusammenbrechenden Haus entkamen. Ein weiteres berstendes Geräusch verriet, daß immer mehr Stein unter der Belastung nachgab. Danifae, die in den Über resten des Hauses Melarn festsaß, fiel unter Halisstra zurück.
Khorrl Xornbane war blutverschmiert und erschöpft. Sein Clan, der sich um ihn herum versammelt hatte, sah nicht besser aus. Er hatte keine Ahnung, wie lange sie gekämpft hatten, doch der Kampf dauerte schon viel zu lange. Sie muß ten sich ausruhen, und sie brauchten Wasser. Viel länger konnten sie nicht durchhalten. Bedauerlicherweise fürchtete der Hauptmann des Xornbane-Clans, daß es erst noch viel schlimmer kommen würde, ehe sich die Situation bessern konnte. Er hoffte, daß er sich irrte. Khorrl hatte bereits verlauten lassen, daß seine Truppen ih ren Posten zur Verteidigung des Hauses Melarn aufgeben soll ten. Sie waren so lange belagert worden und hatten so viele ihrer Feuerkrüge eingesetzt, daß er allmählich befürchtete, das Haus werde instabil. So werde ich meine Jungs nicht verlieren, sagte er sich. Die Überreste seiner Streitkräfte gruppierten sich auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes vor dem Haus neu, und im Augenblick ließ man sie in Ruhe. Es war allerdings schwer einzuschätzen, wie lange diese Ruhe anhalten würde, denn in
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dem Qualm, der vom brennenden Stein aufstieg, konnte kei ner von ihnen allzuweit sehen. Was Khorrl und seine Duergar sahen, sprach allerdings eine deutliche Sprache. Der Platz war mit toten Goblins und Ko bolden übersät. Dazwischen verstreut fanden sich nicht ganz so viele Drow, dennoch war er erstaunt, wie viele in den Kämp fen zu Tode gekommen waren. Auch die Zahl der toten Duer gar war hoch, höher, als es Khorrl recht war. Es war ein hölli scher Tag, und der Hauptmann fürchtete, daß er noch nicht vorüber war. »Herr«, rief einer der Adjutanten und kam zu Khorrl geeilt. »Wir haben das Anwesen komplett geräumt. Die letzten unse rer Leute bilden eine Linie von dieser Ecke« – der junge Grau zwerg zeigte durch den Rauch auf ein Gebäude hinter ihnen – »bis zur Flanke unserer Hauptposition dort drüben.« Er holte mit dem Arm aus und wies auf das andere Ende des Platzes. »Gut«, erwiderte Khorrl und stellte sich im Geist das Schlachtfeld vor, da er es so nicht vollständig erkennen konn te. »Außerdem nähert sich uns von dort«, fuhr der Adjutant fort, »ein Trupp Drow.« Er wies nach links, wo der Platz in eine breite Netzstraße überging. Leider war es zugleich die Stelle, an der die Verteidi gung des Clans am schwächsten war. »Freund oder Feind? Konntest du ihr Emblem erkennen?« Der Adjutant schüttelte den Kopf. »Nicht bei dem Rauch.« Khorrl seufzte. Er würde Späher ausschicken müssen, um In formationen über die neuen Truppen einzuholen. Das sagte er dem jungen Mann, der daraufhin salutierte und sich umdrehen wollte. »Warte«, sagte der Hauptmann, und der Adjutant blieb in Habachtstellung stehen. »Schick ein paar Jungs da hoch« –
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Khorrl wies auf die Straße, die eine Ebene höher lag als ihre momentane Position –, »ich will nicht noch einmal von einem Schwarm verdammter Drow überrumpelt werden.« »Ja, Herr«, erwiderte der Adjutant und lief los, um die Be fehle seines Hauptmanns umzusetzen. Khorrl seufzte erneut und wandte sich um, weil er nach Wasser rufen wollte. Hinter ihm war das laute Knacken und Brechen zu hören, das er nur zu gut kannte – berstender Stein. Er sah sich um und spähte durch die diesige, rauchverhangene Luft in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Unter seinen Leuten verbreitete sich eine Kunde, die auch Khorrl selbst schnell erreichte. Haus Melarn brannte und war dem Untergang geweiht. Lange würde es nicht mehr dauern. Er schüttelte den Kopf, da er wußte, was geschehen würde. Er hoffte, sein Adjutant hatte mit der Meldung recht, daß sich alle seine Jungs aus dem Gebäude gerettet hatten. Er bedauerte die, die es aus welchen Gründen auch immer nicht geschafft hatten. Das Bersten und Krachen wurde lauter und anhaltender. Er spürte die Beben im Boden unter seinen Füßen. Fast wünschte er sich, es mit ansehen zu können, doch ein Teil von ihm wollte es nicht. Für jeden, der sich nicht in Sicherheit hatte bringen können, würde das Haus zur Todesfalle werden. Die Geräusche des brechenden, splitternden Steins erreich ten ein Crescendo, dann gab es eine letzte Explosion, die ganze Straße bebte so heftig, daß Khorrl mit der Axt Halt suchen mußte. Dann kehrte Ruhe ein. Khorrl wußte, daß das Gebäude weggekippt war und nun in den Abgrund stürzte. Ein paar Sekunden später folgte ein entsetzlicher Lärm. Haus Melarn war aufgeschlagen. Einen Herzschlag später spür te er die Erschütterung des Aufpralls. Es war nur ein leichtes Vibrieren, doch daß es sich durch eine Netzstraße bis zu den
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Wänden der gewaltigen Höhle und von dort zurück in alle anderen Netzstraßen fortsetzte, verriet, wie verheerend der ursprüngliche Aufprall gewesen sein mußte. Khorrl überlegte mit finsterer Miene, daß das Haus noch ei nige Straßen mehr mitgerissen haben mochte. »Herr!« Es war abermals der Adjutant, der mit weit aufgerissenen Augen zu seinem Hauptmann gerannt kam. »Was ist?« wollte Khorrl wissen, der sich fragte, was den jungen Kerl so in Angst und Schrecken versetzte. »Eine Spinne! Groß wie ein Haus und auf dem Weg hier her!« Khorrl stöhnte auf, als ihm klar wurde, wie sehr sich ihre Lage verschlechtert hatte. Er haßte es, wenn er recht hatte.
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Während Pharaun Mizzrym nach oben und damit aus dem zusammenbrechenden Gebäude schwebte, das lange als Haus Melarn bekannt gewesen war, hörte er einen gequälten Schrei. Als er nach unten sah, entdeckte er Halisstra, die soeben das letzte Stück der klaffenden Öffnung zurückgelegt hatte, die die Außenmauer mit den Gemächern ihrer Mutter verband. Sie starrte hinunter in das wegbrechende Gebäude. Für den Rest seiner Tage würde der Magier keine Antwort darauffinden, was ihn veranlaßt hatte, so zu handeln. Jeden falls spürte er, daß sich noch jemand im Inneren befand, und praktisch im gleichen Moment hatte er schon beschlossen, einen Zauber zu wirken. Er riß sich den Piwafwi herunter und warf ihn Ryld zu, dann sprach er einen kurzen arkanen Satz, und augenblicklich verwandelte er sich in eine abscheuliche, erbärmliche Kreatur. Er hatte dieses Ding bereits mehrere
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Male gesehen, und in seiner Jugend hatte er solche Wesen wiederholt zum Spaß gejagt. Als er sich auf das zusammenbre chende Haus zustürzen ließ, das sich aus den letzten Veranke rungen riß, verwandelte er sich von dem gutaussehenden Drow mit dem gewinnenden Lächeln in eine geflügelte Frau mit schuppigem Gesäß. Auch wenn die Gestalt abscheulich war, hatte sie gegenüber dem natürlichen Aussehen des Magiers einen großen Vorteil: Sie konnte fliegen. Pharaun hoffte, seine Harpyien-Form würde stark genug sein, um alle zu retten, die im Inneren in der Falle saßen. Halisstra schien bereit, sich in den höhlenartigen Raum zu rückfallen zu lassen, der im rechten Winkel gekippt war. Pha raun bekam aber ihren Piwafwi zu fassen und schob sie aus dem Weg. Sie sah ihn erschrocken an und stieß im Zurückweichen einen Schrei aus, der eine Mischung aus Überraschung und Entsetzen war. Als der Magier sah, daß sie in den Taschen ihres Piwafwi nach etwas suchte, wurde ihm bewußt, daß sie keine Ahnung hatte, wer er war. Sie wollte ihn angreifen! »Begebt Euch zu den anderen«, zischte er ihr zu und zeigte mit einer Klauenhand nach oben. »Ich gehe noch mal rein.« Er sah einen Dolch aufblitzen, doch dann entspannte sich Halisstra ein wenig, da sie zu verstehen schien, wer die Harpyie in Wahrheit war. Daß sie es geschafft hatte, in den Besitz einer Waffe zu gelangen, würde er später noch einmal aufgreifen. Halisstra nickte und stieß sich vom Rand des Lochs in der Außenmauer ab, während Pharaun die Flügel zusammenfaltete und über die Öffnung trat, um sich nach unten fallen zu lassen. Im Haus sah er Danifae wie wild gestikulieren. Sie stand auf einem Haufen Schutt, der zuvor die Decke gebildet hatte. Das Geröll geriet unter ihr in Bewegung. Zu diesem Zeitpunkt befand sich Haus Melarn bereits im Absturz begriffen, und sie beide stürzten mit ihm ab. Ihm fiel auf, daß der Schutt nicht
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nur zu rutschen begonnen hatte, sondern wie durch ein Loch unter Danifae nach unten verschwand, so wie bei einer Sand uhr. Sie versuchte nach Kräften, nicht in diesen Sog zu gera ten, doch ihr Bein war zwischen zwei größere Bruchstücke geraten, und da sie nirgends Halt finden konnte, gelang es ihr nicht, sich zu befreien. Pharaun sank rasch nach unten, wo die Kriegsgefangene sich abmühte, und breitete im letzten Moment die Flügel aus, um seinen Fall zu bremsen und letztlich neben der Drow in der Luft zu schweben. Danifae reagierte und griff nach ihm, um die Kreatur zu fassen zu bekommen, die zu ihrer Rettung gekom men war. Ob sie erkannt hatte, daß es sich um Pharaun han delte, war nicht klar. Pharaun streckte die Klauenfüße in ihre Richtung und näherte sich ihr Stück für Stück. Gleichzeitig wurde sie mit dem Geröll nach unten gezogen, in dem sie be reits bis zum Knie steckte. Als sich der Schutt abermals beweg te, warf sie den Kopf in den Nacken, allerdings mehr aus Frust ration als aus Schmerz. Sobald Danifae ihn sicher gegriffen hatte, begann Pharaun, mit den Flügeln zu schlagen und setzte alle Kraft ein, um sich in die Höhe zu erheben. Er konnte nur hoffen, daß es genügte, um sie aus ihrer Notlage zu befreien. Pharaun spürte den Wi derstand, der nicht nur durch ihr Gewicht verursacht wurde, sondern auch durch ihr feststeckendes Bein. Er zog und schlug gleichzeitig mit den Flügeln, damit sie freikommen konnte. Mit einer letzten Anstrengung spürte er, wie der Widerstand nachließ und er sich nach oben bewegte. Danifae klammerte sich an seine Beine, während er auf die Öffnung zuflog und gleichzeitig der Raum um sie herum nach unten wegsackte. Als er aus dem Tunnel geschossen kam, gab es einen gewaltigen Lärm und eine Staubwolke, die ihm die Sicht nahm. Sobald er aus dem Raum entkommen war, erkannte Pha
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raun, daß er gar nicht wirklich nach oben flog, sondern auf der Stelle schwebte und mit den Flügel schlug, während das ge samte Haus Melarn unter ihnen wegbrach. Er sah mit an, wie es auf einer Netzstraße aufschlug, dabei aber in eine Drehbe wegung versetzt wurde und um seine eigene Achse wirbelnd weiter nach unten stürzte. Mit einem Schaudern wurde dem Magier klar, daß er nie durch den Tunnel nach draußen hätte gelangen können, wenn er auch nur einen Augenblick länger gebraucht hätte, um Danifae zu befreien. Der Raum hätte sich mit dem Haus gedreht, und er und Halisstras Dienerin hätten in der Falle gesessen. Beide sahen einen Moment lang ungläubig mit an, wie das gewaltige Bauwerk weiter dem Fuß der Stadt entgegenstürzte, wo es mit einem verheerenden Lärm aufprallte und eine Druckwelle auslöste, die sie noch dort spüren konnten, wo sie beide in der Luft schwebten. Pharaun begann zu spüren, wie kräftezehrend es war zu flie gen, wenn man dazu noch ein solches Gewicht tragen mußte. Er mußte sich anstrengen, um durch den aufgewirbelten Staub etwas zu sehen. Sein Blick galt der Stelle der Netzstraße, an der sich Haus Melarn bis eben noch befunden hatte. Ein Teil stand noch in Flammen, und nach wie vor brachen einzelne Stücke aus dem Stein heraus. Anstatt sich zu der Stelle zu begeben, der sie am nächsten waren, steuerte er einen Punkt an, der ein Stück entfernt war und nicht so schwere Schäden erlitten hatte. Hier, wo die Straße in einen weitläufigen Platz überging, schien alles stabil zu sein. Während er sich in diese Richtung quälte, brach ein weiteres großes Stück Straße weg und folgte Haus Melarn bis zum Grund der Höhle. Übrig blieb nur ein Vorsprung, der in den Raum ragte. Der Magier schlug heftig mit den Flügeln, um einen Ab schnitt zu erreichen, der weit genug von dem Vorsprung ent
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fernt war, der vielleicht drei Meter über den Platz hinausragte und gut doppelt so breit war. Als er sich über dem Platz befand, sank er rasch nach unten und schlug weiter mit den Flügeln, damit er sich zur Seite fallenlassen konnte, statt direkt auf Da nifae zu landen. Die Drow ließ sich an der Stelle fallen, an der er sie abgesetzt hatte, und rang hastig nach Luft. Er landete nicht viel sanfter neben ihr und brach auch zusammen. Kleine Lichtpunkte schwirrten durch sein Blickfeld, als er trotz der staubigen Luft durchzuatmen versuchte. Seine Gliedmaßen waren schwer wie Blei, und er konnte nichts anderes tun, als Danifaes und seinem eigenen Keuchen zu lauschen. »Das war eine gewagte Rettungsaktion«, meinte Ryld, der neben dem Magier zu Boden schwebte. »Ich weiß ja nicht, welchen Schrecken du darstellen sollst, aber komm bitte nie auf die Idee, mich zu retten, wenn du so aussiehst. Du kannst sicher sein, daß ich dich töten würde, noch ehe du mir sagen könntest, daß du es bist.« Pharaun öffnete ein Auge und sah den Krieger an, während er im Geist den Verwandlungszauber beendete und sein wahres Aussehen wieder annahm. »Sicher nicht«, erwiderte er zwischen zwei keuchenden A temzügen. »Du, mein Freund, müßtest deinen nutzlosen Kada ver einfach aus eigener Kraft retten, solltest du dich je in einer ähnlich mißlichen Situation wiederfinden wie die arme Dani fae. Du besitzt nicht die nötige Schönheit, um eine Rettungs aktion zu rechtfertigen.« Die anderen Mitglieder der Gruppe ließen sich nach und nach auch auf dem Platz nieder. Als Halisstra neben ihrer Dienerin landete, schien sie zusammenzubrechen, da sie das Gesicht in ihren Händen vergrub. Pharaun glaubte, ihren Schmerz verstehen zu können. Immerhin war es ihr Haus, das auf dem Grund der Höhle zu einem Haufen Geröll und Schutt
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zerschmettert worden war. »Ich stehe in Eurer Schuld, Magier«, sagte Danifae. »Dan ke.« Pharaun stützte sich auf den Ellbogen und nickte ihr zu, während er sich noch immer fragte, was in ihn gefahren war, daß er sie überhaupt hatte retten wollen. Er hätte es sicher nicht bedauert, wenn die Frau in den Tod gestürzt wäre, den noch wäre das eine schreckliche Verschwendung gewesen. »Ich bin sicher, wir finden einen Weg, wie Ihr Euch er kenntlich zeigen könnt«, erwiderte er, ohne eine Miene zu verziehen. »Ja«, sagte Halisstra und sah auf. »Wir stehen in Eurer Schuld. Ich werde dafür sorgen, daß wir eine angemessene Belohnung für Euch finden.« Sie versuchte, Pharaun ein wirklich warmes Lächeln zu schenken. Wieder nickte der Magier, fasziniert von der Viel deutigkeit des Angebots der Drow. Sein Blick kehrte zurück zu der Kriegsgefangenen, und er begann sich zu fragen, wie weit ihre Dankbarkeit ihm gegenüber dafür gehen würde, daß sie noch atmete. Ihre Augen verrieten, daß es ihr nicht gefiel, doch sie sprach ihr Mißfallen nicht aus. In dem Moment beug te sich die Melarn-Tochter vor und untersuchte ihre Dienerin auf eine Weise, die Pharaun entschieden liebevoll vorkam. Danifaes Bein war arg mitgenommen, aber unter den gegebe nen Umständen war sie vergleichsweise unversehrt davon gekommen. Quenthel schnalzte verärgert mit der Zunge und sagte: »Nun, da jeder wieder von der Schwelle des Todes zurückge kehrt ist, sollten wir die Stadt verlassen. Allerdings müssen wir zuerst versuchen, unsere restlichen Sachen aus dem Gasthaus zu holen.« Die anderen nickten.
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»Wir sollten uns beeilen«, schlug Pharaun vor, der den Kampflärm hörte. Zwar war dessen Quelle in dem staubigen Dunst nicht auszumachen, aber er kam näher. »Wir wollen schließlich nicht länger hierbleiben als unbedingt nötig.« Pharaun stand auf, klopfte sich den Staub ab, dann nahm er den Piwafwi, den Ryld unmittelbar nach seiner Landung auf den Boden gelegt hatte. Zum ersten Mal hatte er Gelegenheit, sich die Stadt genauer anzusehen. Der Anblick verschlug ihm den Atem. »Es könnte schon zu spät sein«, hauchte der Magier, der von der Verwüstung überwältigt war, die er im Dunst erkennen konnte. Der Teil Ched Nasads, in dem Haus Melarn gewesen war, stand in Flammen. Er erinnerte sich, daß er und Danifae gerade dem Untergang in dem monumentalen Ereignis ent gangen waren, und sah hinunter zu Halisstra und der anderen Drow, die sich aneinander schmiegten. Halisstra wirkte betrof fen und starrte ins Nichts, während ihre Dienerin sich an sie drückte und beschwichtigend auf sie einredete. »Ja«, stimmte Quenthel zu. »Das hier wird noch viel schlimmer werden. Jeder muß auf der Hut sein. Meister Argith, gebt den beiden ihre Waffen«, entschied sie und wies auf Ha lisstra und Danifae. »Sie haben es sich verdient, sie wieder zu tragen, nachdem sie uns aus dieser Todesfalle geholt haben.« Der Waffenmeister zog ein rundes Stück Stoff aus einer Ta sche seines Piwafwi und faltete es auseinander. Er warf es auf den Boden, wo es sich in ein Loch verwandelte, das groß genug war, daß er hineingreifen konnte. Er begann, darin nach den Waffen zu suchen. »Ich nehme an, unsere Rückkehr ins Gasthaus wird sich verzögern«, warf Valas ein und zeigte auf etwas. »Wir sind noch nicht in Sicherheit.« Als Pharaun in die Richtung sah, in die der Späher zeigte,
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stöhnte er auf. Heerscharen von Duergar kamen aus dem Rauch in einer Linie auf sie zu, die Mienen finster, Armbrüste und Äxte im Anschlag. Die vorderste Reihe hatte einen Schildwall gebildet, während die zweite Reihe sich bereit machte, ihre Geschosse auf sie abzufeuern. Sie waren nur ein paar Meter entfernt. »Achtung!« schrie Halisstra auf und wies mit ihrem Streit kolben, den Ryld ihr gerade eben gereicht hatte, in die entgegengesetzte Richtung. Ein Trupp Drow-Soldaten und Priesterinnen schälte sich aus dem dicken Rauch und marschierte geradewegs auf die Duergar zu.
Als sich das brennende und von Rauch umgebene Bauwerk schließlich von der Netzstraße losriß und in die Tiefen der Stadt darunter stürzte, verfolgte Aliisza das mit einer Mischung aus Faszination und Enttäuschung. Sie war sicher, den Magier nun endgültig verloren zu haben, doch gleichzeitig war sie erstaunt, welches Zerstörungspotential die Drow zur Schau stellten. Sie legten ihre eigene Stadt in Schutt und Asche und ließen sich dabei tatkräftig von einigen anderen Arten unter stützen. Aliisza fragte sich, was sie damit erreichen wollten, doch im Grunde war es ihr auch gleich. Ihr tat es nur leid, daß sie nichts mehr mit Pharaun unternehmen konnte. Da ihr Gefährte tot war, bereitete sich die Alu vor, die Stadt zu verlassen. Es gab keinen Grund, noch zu verweilen, und je länger sie wartete, desto riskanter wurde ihr Aufenthalt. Sie wollte es lieber vermeiden, sich mit einer Horde Drow oder Du-ergar auseinanderzusetzen, und erst recht wollte sie nicht, daß ihr Gesteinsbrocken auf den Kopf stürzten. Ehe sie aber ihre Aufbruchsabsicht in die Tat umsetzen
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konnte, machte sie eine Bewegung ein Stück von der Stelle entfernt aus, an der sich eben noch das palastartige Bauwerk befunden hatte. Sie war sich nicht ganz sicher, da die Luft von Rauch und Staub erfüllt war, doch sie glaubte ... Da! Etwas schwebte da drüben in der Luft, eine Kreatur, die ihr gut bekannt war: eine Vogelfrau, die als Harpyie bezeichnet wurde, und sie war nicht allein. In den Klauen hielt sie eine zweite Gestalt und mühte sich, in der Luft zu bleiben. Sie sah, wie die Harpyie zur Seite flog, ohne den Griff um ihre Last zu lockern. Als Aliisza den Weg des Paars verfolgte, sah sie aus dem Augenwinkel weitere Bewegungen und erkannte, daß die Ge fährten des Magiers dem Flug der Harpyie folgten. Die Alu mußte lachen, da ihr klar wurde, daß es sich offen bar um Pharaun handelte, der mit Hilfe eines seiner vielen Zauber diese andere Gestalt angenommen hatte. Irgendwie war es der Gruppe gelungen, sich noch rechtzeitig aus dem Haus zu retten, bevor es abgestürzt war, und offenbar hatten sie die Gruppe um zwei Mitglieder verstärkt. Aliisza bewegte sich vorsichtig weiter, da sie genauer sehen wollte, was dort vor sich ging, ohne selbst gesehen zu werden. Sie kniff die Augen zusammen, als sie erkannte, daß dieser Pharaun eine Dirne gerettet hatte, eine hübsche Drow, die trotz ihres momentan etwas mitgenommenen Eindrucks ein guter Fang für den Magier zu sein schien. Vor ihren Augen verwandelte sich der Magier in seine ursprüngliche Gestalt zurück und brach neben der Frau zusammen, behielt sie aber weiter im Auge, während er noch nach Luft rang. Aliisza wurde wütend, als sie sah, wie Pharaun die Drow mit den Augen auszog. Sie sollte dieser Schlampe die Augen aus kratzen! Sie sollte ...! Sie bebte vor Wut, als sie sich bereitmachte, hinüberzueilen
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und ihre Drohung in die Tat umzusetzen. Dann landete der Rest der Gruppe bei dem Paar. Zornig ballte sie die Fäuste und bekam sich wieder in den Griff, wollte aber wissen, was los war. Rasch wirkte sie einen Zauber, um ihre Unterhaltung belauschen zu können. ... müssen wir zuerst versuchen, unsere restlichen Sachen aus dem Gasthaus zu holen. Wir sollten uns beeilen, hörte sie Pharaun sagen. Wir wollen schließlich nicht länger hierbleiben als unbedingt nötig. Grinsend beendete Aliisza den Zauber und flog davon, wo bei sie sorgfältig darauf achtete, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Sie hatte eine erste Idee, und sie war mit sich zufrie den, daß ihr dieser Gedanke gekommen war.
»Zieht euch von dieser Straße zurück«, drängte Ryld und zeigte auf eine Gasse, die an einem Tempel entlang zu der Seite ver lief, an der sie dem schlimmsten Aufeinandertreffen der beiden Truppen entgehen könnten. »Rasch!« trieb der Krieger sie an und eilte voran. Pharaun hörte den Ausruf seines Freundes und versuchte, sich umzudrehen und zu der Seitenstraße zu rennen, auf die Ryld gezeigt hatte. Der Magier war allerdings nicht schnell genug, um dem Ansturm der Drow hinter ihm auszuweichen. Statt dessen wurde er einige Meter weit in die andere Richtung abgedrängt, ehe er sich an den Rand retten und an einer Trep pe aus großen Steinstufen Zuflucht suchen konnte, die zu ei nem gewaltig großen öffentlichen Gebäude führte. Augenbli cke später tauchte Danifae neben ihm auf, ließ sich auf die Knie sinken und rang nach Luft. »Wo sind die anderen?« fragte Pharaun und bewunderte gleichzeitig ihre Kurven, obwohl um sie herum ein Kampf tobte.
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»Ich weiß nicht«, keuchte sie. »Waren ... hinter mir.« Er begann, nach einer Stelle zu suchen, von der aus er einen besseren Überblick hatte, damit er nach seinen Gefährten Ausschau halten konnte, ohne sich mitten in die Kämpfe zu begeben. Die Schlacht tobte auf dem Platz, auf dem Pharaun die an deren aus den Augen verloren hatte. Ein Duergar näherte sich ihm und Danifae, grinste gehässig und hob einen mit Dornen besetzten Streithammer, mit dem er nach Pharaun schlagen wollte. Danifae war jedoch zu schnell für den Grauzwerg und schmetterte ihm den Morgenstern in die Magengegend. Die stämmige Kreatur rang nach Luft, was Pharaun Zeit genug gab, um einen Zauber zu wirken. Eine lange, dünne Flamme schoß aus den Fingerspitzen des Magiers und traf den kleinen Huma noiden im Gesicht. Der Duergar schrie und taumelte zurück, während er versuchte, mit seinen Händen die Flammen zu ersticken, in die sein Bart aufgegangen war. Andere in der Menge wichen zurück, da sie vermeiden wollten, mit der bren nenden Kreatur in Berührung zu kommen. Dann verlor der Duergar das Gleichgewicht, fiel zu Boden und blieb liegen. »Kommt!« sagte Pharaun und nahm Danifaes Hand, damit sie ihm immer noch humpelnd die Stufen hinauf folgen konn te. Ein Paar Duergar wollte den beiden folgen, dann aber blie ben sie stehen und luden ihre Armbrüste. Pharaun drehte sich weg und legte seinen Piwafwi um sich und Danifae, um sie vor dem Angriff zu schützen. Zwei Bolzen trafen ihn in den Rü cken und versetzten ihm heftige Stiche. Er schrie vor Schmerz und kniete nieder. Wütend ließ Pha raun sein magisches Rapier Gestalt annehmen, dann wandte er sich um, damit er die beiden Duergar sehen konnte, während er die tänzelnde Waffe mit seinen Gedanken in ihre Richtung
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lenkte. Es gelang ihm, den ersten Duergar in einen Kampf zu verwickeln, doch der zweite wich der Waffe aus und kletterte ebenfalls die Stufen hinauf. Ein Etwas aus Fell und Klauen landete plötzlich zwischen dem Magier und seinem Gegner, und dann schlug Jeggred nach dem Duergar, schlitzte ihn auf und verspritzte sein Blut in alle Richtungen. Der Humanoide taumelte vor dem Angriff des Draegloth zurück, die Arme abwehrend ausgestreckt, noch während er niedergemetzelt wurde. Als der erste Grauzwerg sah, welches Schicksal seinen Gefährten ereilt hatte, lief er die Stufen hinunter und mischte sich unter die Gefechte auf dem Platz. »Bleibt hier«, sagte Jeggred, ehe er sich mit einem Sprung in die Menge warf. »Ich hole die anderen.« Pharaun überlegte, ob er auf den Draegloth hören oder ihn ignorieren sollte. Ihm wäre es viel lieber gewesen, wenn er sich auf das Dach des Gebäudes hätte begeben können, doch er wußte, daß Danifae ihm nicht würde folgen können, wenn er dorthin schweben wollte. Also beschloß er, auf die Rückkehr von Quenthels Schoßtier zu warten. »Kommt her«, sagte er zu Danifae und zog sich in die Dun kelheit des Eingangs zurück, von wo aus sie das Geschehen auf der Straße beobachten konnten, ohne daß man sie sah. Danifae drückte sich an Pharaun und versuchte, nicht ent deckt zu werden, doch die Wirkung ihrer Aktion war irritie rend. Der Magier merkte, daß er den Druck erwiderte, und fragte sich zugleich, wie er sich unter solchen Umständen so leicht ablenken lassen konnte. Es ist ja nicht so, als hättest du bislang den fleischlichen Freuden entsagen müssen, ermahnte er sich. Dennoch war er froh, daß sie so dicht an seiner Seite blieb, wenngleich er auch nicht sicher war, ob es Zufall oder viel
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leicht Berechnung war. Lange mußten die beiden nicht warten. Jeggred tauchte nach wenigen Augenblicken mit Quenthel im Schlepptau wieder auf. Mit den riesigen Klauen bahnte Jeggred sich seinen Weg durch die Menge, während die Drow ihm Rückende ckung gab. Etliche fielen den heftigen Schlägen des Draegloth zum Opfer, bis sie endlich die Stufen erreichten und zum Treppenabsatz hinaufeilten. »Wir sind hier«, rief Pharaun und bedeutete Quenthel und Jeggred, sich zu ihnen zu begeben. »Wir müssen aufs Dach«, fuhr er fort und deutete nach oben. »Von dort können wir besser sehen und uns gleichzeitig aus dem Kampfgetümmel heraushalten.« Jeggred nickte und packte Danifae. Gemeinsam begannen sie nach oben zu schweben, bis sie einen Punkt auf dem Dach erreichten, von dem aus man das Meer aus Kämpfern überbli cken konnte. Pharaun und Quenthel folgten. Zu viert ließen sie sich auf der abgerundeten Oberfläche nieder und duckten sich, um nicht zu leicht einem zufälligen Beobachter ins Auge zu fallen. Pharaun inspizierte aufmerksam die Straßen, die sich eine Ebene über ihnen erstreckten, um festzustellen, ob sie vielleicht von dort beobachtet worden waren. »Könnt Ihr sie sehen?« fragte Quenthel in die Runde, wor aufhin sich Pharaun wieder auf die tobende Schlacht konzent rierte, die noch immer anhielt, deren Reihen sich aber zu lich ten begannen, da immer mehr Kämpfer tödlich getroffen zu Boden sanken. »Nein«, erwiderte der Meister Sorceres, und auch Danifae schüttelte den Kopf. »Der Krieger ist in diese Richtung gerannt«, sagte die Kriegsgefangene und wies auf die Seitenstraße an der gegenü berliegenden Seite des Platzes. »Halisstra ist ihm gefolgt.«
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»Ja«, gab Pharaun zurück. »Ich wollte ihm folgen, aber der Ansturm war zu gewaltig. Wenn der Kampf dem Ende entge gengeht, können wir versuchen, zu den beiden zu gelangen.« »Was ist mit Valas?« fragte Quenthel. »Was ist mit ihm ge schehen?« Pharaun sah sie an. »Ich weiß nicht. Aber er kann sich in Luft auflösen, wenn man ihm geradewegs in die Augen sieht. Darum glaube ich nicht, daß er in Gefahr ist. Er wird wieder auftauchen, wenn wir ihn am dringendsten brauchen.« Als die Duergar allmählich im Begriff waren, ihre Gegner zu schlagen und weitere Grauzwerge als Verstärkung eintrafen, ergriffen die restlichen Drow die Flucht. Pharaun beobachtete das Geschehen und hoffte, die Duergar würden die Verfolgung aufnehmen, doch sie schienen sich damit zu begnügen, auf dem Platz Halt zu machen und sich neu zu formieren. Von da an lief alles verkehrt, was nur verkehrt laufen konn te. Die Bolzen aus fünf oder sechs Armbrüsten schlugen gleich neben dem Magier auf dem Dach ein, einige weitere trafen ihn im Rücken. Zwar verhinderte der Zauber in seinem Piwafwi, daß er verletzt wurde, aber er war es leid, daß immer wieder auf ihn geschossen wurde. Danifae hatte nicht soviel Glück. Einer der Bolzen bohrte sich in ihre Wade, und sie stöhnte vor Schmerz auf, während Pharaun aufsprang, um sie mit seinem Körper abzuschirmen. Nur wenige Meter rechts von dem Magier entfernt gab es eine Explosion aus Flammen und Licht. Feuer wälzte sich über die Oberfläche des Dachs hin zu der Stelle, an der sie kauerten, während eine zweite und dritte Explosion der ersten folgten. Pharaun zuckte zusammen, dann wandte er sich um, weil er sehen wollte, aus welcher Richtung der neue Angriff kam. Was er sah, ließ ihn erschrecken. Die Angreifer, bei denen es sich
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um weitere Grauzwerge handelte, befanden sich auf einer Netzstraße eine Ebene über ihnen sowie nahe dem hinteren Teil des Dachs. Sie warfen immer neue Feuerkrüge in Rich tung der Gruppe und trafen auch Jeggred, der wütend aufbrüll te. »Verdammt, Ihr habt uns ins Kreuzfeuer manövriert!« zisch te Quenthel den Magier an. »Wir müssen runter vom Dach! Jeggred, schirm mich ab!« Quenthel drehte sich um und spähte über die Dachkante, während sich der Draegloth so hinstellte, daß er die drei Drow nach Kräften vor den Angriffen abschirmen konnte. Sein Fell qualmte an einzelnen Stellen, doch Jeggred schien davon kei ne Notiz zu nehmen. »Wir können hier nicht stehenbleiben«, sagte er. »Ich weiß«, erwiderte Pharaun und untersuchte die Wunde, die der Bolzen in Danifaes Bein verursacht hatte. Getroffen hatte der Bolzen das Bein, das schon verletzt war, doch zum Glück hatte er den Knochen verfehlt und steckte im Gewebe fest. Er brach ihn ab, soweit es ging, und die Kriegsgefangene zuckte leicht. Quenthel stieß einen angewiderten Laut aus und zog sich von der Dachkante zurück. »Die ganze Unruhe hat die da unten auf uns aufmerksam werden lassen«, erklärte sie harsch. »In die Richtung können wir nicht entkommen.« »Dann nehmen wir die andere Seite«, erwiderte der Magier. Er schob den Rest des Bolzens durch Danifaes Bein, bis er ihn auf der anderen Seite herausziehen konnte. Sie atmete schwer, als sie den plötzlichen Schmerz spürte, biß sich aber auf die Unterlippe und vermied jeden Laut. Rings um sie schlugen weitere Pfeile und Feuerkrüge auf. »Ist er vergiftet?« fragte Pharaun Quenthel. Eine der Vipern
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an Quenthels Peitsche hob den Kopf und verneinte anstelle ihrer Meisterin. Mit jedem neuen Feuerkrug, der auf dem Dach aufschlug, breiteten sich die Flammen auf der Oberfläche aus Stein weiter aus. »Nicht mehr lange, dann sehen wir aus wie gebratenes Rothé-Fleisch«, sagte der Magier. »Heilt sie, damit wir gehen können!« »Vergeßt sie«, konterte Quenthel. »Kommt jetzt.« Die Herrin der Akademie stand auf und bewegte sich immer noch im Schutz des Draegloth zum hinteren Teil des Gebäudes. Pharaun sah Danifae an, zuckte mit den Schultern und er hob sich auch, doch die Frau griff nach seinem Piwafwi und sah ihn entschlossen an. »Laßt mich nicht hier«, sagte sie, »Ich kann gehen. Helft mir nur auf.« Zwei weitere Explosionen ereigneten sich dicht neben ih rem Kopf, und sie warf sich nach vorn. Pharaun nahm ihre Hand und half ihr auf. »Ihr werdet es nicht bereuen«, erklärte sie und warf Pharaun einen kurzen, aber eindeutigen Blick zu. »Ich bin es wert.« Humpelnd und mit blutender Wunde im Bein folgte Dani fae Quenthel und dem Draegloth. »Jeggred!« rief sie. »Tragt mich!« Pharaun merkte, daß sein Mund offenstand, und schloß ihn rasch. Als er Danifae folgte, sah er, wie Quenthel und Jeggred wie angewurzelt stehenblieben. Er folgte ihrem Blick zur Rück seite eines Gebäudes und sah, wie sich über die Dachkante ein gewaltiges chitinartiges Bein erhob, das zu etwas allzu Vertrau tem gehörte. Das Bein suchte Halt auf dem Dach, dann folgten zwei weitere und schließlich auch der Kopf einer gewaltigen Spinne.
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»Lolth behüte«, hauchte Quenthel. »Woher kommt denn das?« Die riesige Spinne war nun vollständig zu sehen, wie sie sich gravitätisch an der Rückseite des Hauses entlangbewegte. Bei jedem Schritt erbebte das gesamte Bauwerk. »Nein«, sagte Danifae. »Sie haben doch nicht ...« »Wer ›sie‹?« fragte Pharaun und trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Selbst Jeggred schien erschrocken, als sich der gewaltige, schwarzglänzende Spinnenleib vorschob. Die Beißzangen klap perten, während die Kreatur sich umsah und sich der Schein des Feuers in den Facettenaugen spiegelte. »Was haben sie gemacht?« fügte der Magier an. »Die Muttermatronen«, erwiderte Danifae. »Sie haben eine Wächter-Spinne beschworen. Diese Närrinnen.« Quenthel hielt die Luft an. »Wahrhaftig«, sagte die Hohepriesterin dann. »Wir müssen weg.« Pharaun wollte die beiden Frauen fragen, was beim Ab grund eine Wächter-Spinne war, doch in dem Moment wur den sie von dem Tier entdeckt, obwohl sie sich nicht bewegt hatten. Es drehte sich zu ihnen um und kam auf sie zu. Gleichzeitig machte die Gruppe kehrt und floh in seitlicher Richtung. Als sie die Gasse erreicht hatte, in die Ryld Argith vorge laufen war, drehte sich Halisstra um, um zu sehen, wer von den anderen ihr durch das Chaos hatte folgen können. Niemand war zu sehen. »Kommt!« rief Ryld und bedeutete Halisstra hektisch, sie solle ihm folgen. Mehrere Duergar waren ihnen in die Gasse gefolgt, die am Tempel entlang verlief, und schlossen zu ihr auf. Einen Mo
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ment lang wandte sie sich ihnen zu und spielte mit dem Ge danken, sich ihnen zu stellen und sie zu verjagen. Doch als der Bolzen einer Armbrust dicht neben ihr in die Steinmauer einschlug und einen Regen aus Splittern auf sie niedergehen ließ, machte Halisstra doch kehrt und rannte los, während die Grauzwerge versuchten, zu ihr aufzuschließen. Als sie Ryld erreichte, feuerte der einmal seine Armbrust ab, um die Verfolger aufzuhalten, dann rannten sie gemeinsam durch die Gasse, eilten um die Kurven, die ihr Weg beschrieb, und versuchten, ihre Gegner abzuschütteln. Als sie um die nächste Ecke stürmten, mußten beide abrupt stehenbleiben. Die Gasse endete an einer massiven Mauer, auch wenn eine Seite etwas niedriger war und Schutz für eine Art Veranda bot. »Verdammt«, murmelte Ryld und zog seinen Zweihänder. Er wandte sich um, damit er sich darauf vorbereiten konnte, den herannahenden Duergar entgegenzutreten. »Macht Euch bereit«, sagte er. Halisstra stellte sich neben den Krieger und empfand es als gutes Gefühl, ihren Streitkolben in der Hand zu halten. »Warum schweben wir nicht einfach nach oben?« fragte sie und wies auf die Dächer, als die ersten beiden Duergar auf tauchten. Der erste Grauzwerg hielt eine gefährlich aussehende Axt mit zwei scharfen Blättern, der zweite trug einen Streitham mer, der gut und gerne doppelt so groß war wie Halisstras Streitkolben. Sie korrigierte den Sitz ihres Schildes, als der Zwerg mit dem Hammer näherstürmte und sie den Haß sah, der in seinen Augen aufblitzte. Ryld warf einen Blick nach oben, ehe er elegant zur Seite trat und der Axt auswich, um dann selbst einen Hieb zu füh ren, den der Grauzwerg kaum parieren konnte. »Nur, wenn es sein muß«, gab der Krieger zurück. »Es hat
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keinen Sinn, wenn wir uns damit zur Zielscheibe für ihre Arm brüste machen.« Halisstra erkannte, daß die Waffe des Duergar zwar größer war, die Kreatur aber bei jedem Schlag einen Schritt zurück weichen mußte, um ausholen zu können. Ryld dagegen konnte mühelos ausweichen und seine eigene Waffe viel leichter aus richten. Dann aber mußte sich die Priesterin darauf konzent rieren, die Hiebe ihres eigenen Gegners abzuwehren, statt dem Waffenmeister zuzusehen. Der erste Schlag wurde niedrig geführt und zielte auf ihre Knie, doch sie hielt ihren Schild tief und wirbelte nach hin ten, um nicht die volle Wucht des Schlags abzubekommen. Der Zwerg ließ einen hohen Hieb folgen, den Halisstra mit ihrer Waffe abblocken mußte, wobei sie abermals den Hammer in eine andere Richtung lenkte, statt sich dem Schlag entge genzustemmen. Sie zog den Streitkolben wieder an sich und wartete, da sie beabsichtigte, ihren Gegner zu ermüden, indem sie ihn einen Schlag nach dem anderen führen ließ. Halisstra erkannte, daß das in der Theorie wohl funktioniert hätte, doch als sich drei weitere Duergar näherten, wußte sie, daß sie und Ryld in der Falle saßen. Als der Zwerg diesmal ausholte und sie seinen Schlag abermals mit dem Schild ab lenkte, trat sie gleichzeitig nach ihrem Widersacher und traf ihn mit ihrem Stiefel seitlich am Knie. Der Humanoide stöhn te leise und stolperte einige Schritte zurück, doch es war be reits ein weiterer Zwerg da, der in die Lücke nachrückte. Ha lisstra trat neben Ryld und arbeitete so, daß sie sich gegenseitig seitlichen Schutz bieten konnten und die Grauzwerge daran hinderten, hinter sie beide zu gelangen. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Ryld weiter mit den Duergar kämpfte. Einer der Humanoiden war tot, ein anderer hatte eine klaffende Wunde am Oberschenkel. Dahinter waren
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zwei weitere Zwerge aufgetaucht, die Armbrüste trugen, soeben anlegten und nun darauf warteten, eine Lücke zu finden, um auf die beiden Drow zu schießen. Einer der Duergar stieß seinen Gefährten an und wies auf die Priesterin, dann richteten sie beide ihre Armbrüste auf sie, woraufhin Halisstra hinter ihrem Schild Schutz suchte. Sie spürte, wie ein Bolzen vom Schild abprallte. Der andere bohrte sich in ihre Schulter und ließ sie vor Schmerz aufstöhnen. Sie schwankte und konnte den Schild nicht mehr hoch genug nehmen, um sich wirkungsvoll zu schützen. Ein weiterer Duergar huschte zu der Seite, auf der Halisstra ihren Schild hielt, da er sah, daß ihre Verteidigung geschwächt war, und hob die Axt, um auf sie einzuschlagen. Sie tat ihr bestes, sich zu drehen, damit sie Ryld nicht schutzlos ließ. Es gelang ihr, den Hieb mit dem Streitkolben abzuwehren, doch die Wucht des Aufpralls ließ sie auf ein Knie niedergehen. »Ryld! Hilfe!« rief sie. Doch als hätte der Krieger längst ge spürt, daß sie in Schwierigkeiten war, stellte er sich schützend vor sie und kämpfte gegen alle vier Widersacher gleichzeitig. Die Priesterin wagte einen Blick auf die Duergar, die ihre Armbrüste nachluden. Sie wiesen abermals auf sie und grins ten breit. Nein, sie wiesen nicht auf sie, sondern auf etwas, das sich über ihr befand. Die Priesterin erschrak, als sie nach oben sah. Etliche Duer gar tummelten sich auf dem Dach und hatten ein Netz über die Sackgasse gelegt, während Halisstra und Ryld sich auf den Kampf konzentriert hatten. Jetzt saßen sie wirklich in der Fal le, da es keinen Fluchtweg mehr gab. Halisstra zuckte zusam men. Ein Bolzen schoß so dicht an ihrem Gesicht vorbei, daß sie fühlte, wie er über ihre Wange strich und eine feuchte Spur hinterließ. »Ryld!« schrie sie, während sie sich erhob. »Sie sind über
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uns! Wir sind umzingelt!« Der Krieger war so sehr in den Kampf mit den Duergar ver tieft, daß er auf Halisstras Ruf nicht reagierte. Langsam wurde er zurückgedrängt, sein Leib war von blutenden Schnitten übersät. Immer wieder mußte er ein Stück zurückweichen, um die Grauzwerge davon abzuhalten, hinter ihn zu gelangen. Halisstra biß die Zähne zusammen und betastete das Ende des Armbrustbolzens, der aus ihrer Schulter ragte. Der Schmerz, den die Berührung auslöste, hätte ihr fast das Be wußtsein geraubt. Die Priesterin, deren Schildarm praktisch nutzlos war, erhob sich dennoch, nahm ihren Streitkolben und stellte sich wieder neben den Krieger, um seine Flanke zu schützen und selbst einen ähnlichen Schutz zu genießen. Einer der vier Duergar war inzwischen tot, doch Rylds Atem ging bereits schwer. Ein Duergar begab sich auf Halisstras Seite und versuchte, so nahezukommen, daß sie sich nicht wehren konnte. Sie holte mit dem Streitkolben aus und erwischte den Duergar an der Schulter. Das Geräusch von Metall auf Kno chen hatte etwas ausgesprochen Befriedigendes. Der Duergar stöhnte vor Schmerz auf, ließ seine Axt fallen und wich zu rück, damit er nicht in Rylds Reichweite geriet. Zwei weitere Zwerge rückten nach und nahmen den Platz des Verwundeten ein. Sie sorgten dafür, daß sich Halisstra sehr an Ryld drücken mußte, wenn sie vermeiden wollte, daß man sie traf. Ihre Bewegung schränkte den Waffenmeister ein, was ihm eine weitere Schnittwunde am Unterarm bescherte. »Bei Lolth«, zischte Ryld und holte mit Splitter so aus, daß er den angreifenden Zwerg mit einem Schlag enthauptete. Der Leib sackte zu Boden, der Kopf rollte davon, vorbei an einem anderen Duergar, auf dessen Gesicht sich Entsetzen abzeichnete. Ein weiterer Armbrustbolzen prallte neben Halisstra auf
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den Straßenbelag, und zwei weitere prallten von ihrer Rüs tung ab. Ryld zuckte zurück, als ein Bolzen dicht an ihm vorbeischoß. Trotzdem ließ er seine Gegner nicht aus den Augen und wich nie von seiner Methode der fließenden Bewegungen und der schnellen, präzisen Schläge ab. Den noch wurden er und Halisstra immer weiter in die Ecke ge drängt, wie die Priesterin sah. Sobald sie sich in der Ecke befanden, würden sie für die Scharfschützen auf dem Dach leichte Beute sein. Der erste Feuerkrug explodierte hinter Halisstra, die einen erschrockenen Satz nach vorn machte und dadurch beinahe enthauptet worden wäre. Sie versuchte, auf Abstand zu den Flammen zu bleiben, während sie mit dem Streitkolben einen weiteren Axthieb abwehrte. Die Wucht des Aufpralls ließ ihren Arm zittern. Zwei weitere Brandbomben wurden gegen die Mauer am Ende der Gasse geschleudert, zerplatzten und setzten den Stein in Brand. Sie warf einen Blick nach oben und sah, daß ein weiterer Krug auf sie zuflog. Obwohl der Schmerz in ihrer verwundeten Schulter fast unerträglich war, schaffte sie es, den Schild mit beiden Händen hochzunehmen und den Krug abzuwehren, der abprallte und zwischen ihr und ihrem Gegner auf dem Boden landete. Die Duergar, gegen die sie kämpften, begannen zurückzu weichen. Halisstra erkannte, daß die Duergar auf dem Dach eine Feuerwand schufen, die sie und Ryld zwischen den Flam men und der Mauer festsetzte. Sie wußte, daß es ihre Absicht war, die beiden Drow festzusetzen und sich ihrer so anzuneh men, wie es ihnen beliebte. Für die Drow gab es keine Rettung mehr, sie würden hier in dieser Sackgasse sterben.
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Als Gromph zum zweiten Mal keine Antwort von dem fernen Magier erhielt, schlug er frustriert mit den Fäusten auf seinen Knochentisch. Zwei Botschaften und keine Reaktion. Was war mit Pharaun geschehen? Warum antwortete er nicht? Der Erzmagier Menzoberranzans stand auf und ging in seinem Zimmer auf und ab. Zwei Spione hatten schon voneinander unabhängig mit ihm Kontakt aufgenommen und ihm von schweren Gefechten in Ched Nasad berichtet. Die Muttermatronen kämpften of fenbar um irgend etwas, und ob es ihm gefiel oder nicht – die Gruppe aus Menzoberranzan war wohl mitten in diese Kämpfe geraten. Allerdings konnte Gromph von der Gruppe selbst keine Bestätigung dafür erhalten, also überlegte er, ob er es ein drittes Mal versuchen sollte. Dann aber entschied sich Gromph gegen die weitere Ver
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schwendung von Magie, schließlich konnte er Pharaun nicht zwingen, ihm zu antworten. Möglicherweise empfing Pharaun ja die geflüsterten Mitteilungen und war einfach nicht in der Lage, ihm zu antworten. Vielleicht war Pharaun in der Gesell schaft anderer, die nicht in vollem Umfang darüber informiert waren, was er vorhatte. Oder er ist tot, dachte Gromph. Die Möglichkeit bestand, so unwahrscheinlich es ihm auch vorkam. Pharaun Mizzrym hatte ein Talent dafür, sich von den größten Problemen fernzuhalten, und da er mit Quenthel und den anderen unterwegs war, fiel es dem Erzmagier schwer, sich vorzustellen, daß sie der Gewalt in den Straßen der Stadt der schimmernden Netze zum Opfer gefallen sein sollten. Den noch war es nicht auszuschließen. Sollte die Gruppe tot sein, so empfand Gromph kein Be dauern. Er seufzte und holte aus einer Schublade seines Schreibti sche eine Aufbewahrungsrolle hervor, aus der er ein Bündel Pergamente zog. Nach kurzer Suche fand er das gesuchte Blatt, die übrigen packte er weg. Er breitete das Blatt vor sich aus, holte tief Luft und überflog dann den Zauber, ehe er sich dar anmachte, ihn zu wirken. Soeben wollte er noch einmal zu der Beschwörungsformel ansetzen, als ihm ein Gedanke kam. Nur weil er bislang nur mit Pharaun Kontakt aufgenommen hatte, hieß das nicht, daß er so weitermachen mußte. Warum sollte er es nicht mit einem anderen Gruppenmitglied versu chen? Es war zwar möglich, daß Pharaun tot oder aus anderen Gründen verhindert war, doch hieß das nicht, daß es auch für die anderen Mitglieder galt. Quenthel war die offensichtlichste Wahl, doch gefiel ihm der Gedanke nicht, mit ihr reden zu müssen. Wen konnte er sonst noch nehmen? Ryld. Vor sich hin nickend las Gromph die arkanen Worte auf
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der Schriftrolle durch und wirkte die Magie, die es ihm ermög lichen sollte, mit dem Krieger Kontakt aufzunehmen. Er führte den Spruch zu Ende und spürte, wie die Magie sich formte. »Hier ist Gromph. Ich habe nichts mehr von Pharaun ge hört. Gebt mir einen Überblick über die Situation. Flüstert mir eine Antwort zu.« Gromph lehnte sich zurück und wartete auf eine Reaktion. In seiner Geheimkammer herrschte Totenstille. Wenn Ryld antwortete, dann würde der Erzmagier ihn auf jeden Fall hö ren. Die Stille zog sich scheinbar in die Länge, und gerade wollte Gromph außer sich die Hände hochwerfen, als die Antwort kam. Als er sie hörte, glaubte er, das Blut müsse ihm in den Adern gefrieren. Ich wurde von Pharaun und den anderen getrennt. Ich weiß nicht, wo sie sind. Überall Duergar. Die Stadt brennt. Wir sitzen in der Falle, keine Möglichkeit ... Gromph sackte zusammen und seufzte laut und langgezogen, während er den Kopf schüttelte. Triel wird rasen, wenn sie das hört, dachte er. Wie lange kann ich es hinauszögern, ehe ich es ihr sagen muß? Anderer seits ist Quenthel vielleicht tot. Der Erzmagier ertappte sich dabei, wie er lächelte, als er auf stand, um seine Schwester aufzusuchen.
Als Pharaun die Stufen des Gebäudes hinuntergelaufen war, sah er eine beträchtliche Streitmacht von Duergar, die dort warteten und beobachteten. Ohne zu zögern trat er ein paar Schritte vor, ging dann in die Hocke und schlug mit der fla chen Hand auf den Stein, woraufhin eine Sphäre aus Dunkel heit entstand. Rasch zog er sich zurück, als Jeggred neben ihm landete. Quenthel war an seiner Seite.
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Ein paar Pfeile jagten an ihnen vorbei, doch er ignorierte die Geschosse und bedeutete den dreien, sich in den Schutz der Veranda zurückzuziehen, auf die sich Danifae und er schon zuvor zurückgezogen hatten. Es war nur wenig Platz, vor allem, da nun der Draegloth anwesend war, doch sie kamen alle dort unter, und wenn sie sich duckten, waren sie wenigstens zum Teil vor den Angriffen der Duergar auf der Straße geschützt. Wichtiger war, daß sie für die Spinne nicht zu sehen waren. Danifae sank zu Boden, und der Magier sah, daß die Wunde an ihrem Bein ständig blutete. Die Kriegsgefangene öffnete ihren Rucksack und holte einen Stoffstreifen hervor. Sie wi ckelte die behelfsmäßige Bandage um ihr Bein und drückte sie fest, während Pharaun ihr beim Zubinden half. Quenthel sah ungerührt zu. Pharaun warf der Hohepriesterin einen Blick zu und signali sierte ihr, ohne daß Danifae es sehen konnte: Wenn Ihr sie heilt, kommen wir schneller voran. Quenthel zuckte kurz die Achseln und erwiderte: Sie ist kein Teil dieser Gruppe. Ich werde keine Magie für sie verschwenden. Es könnte später keine mehr für Euch vorhanden sein, wenn ich es täte. Pharaun schürzte die Lippen und fragte sich, was nötig wäre, um Quenthel davon zu überzeugen, daß die Kriegsgefangene ein Aktivposten für die Gruppe war und sie auf sie nicht ver zichten konnten. Er sah wieder zu Danifae. »Könnt Ihr gehen?« fragte er sie. »Ja«, antwortete sie. »Ich kann mithalten.« »Wenn nicht, werden wir nicht auf Euch warten«, sagte Quenthel mit schneidender Stimme. »Ich werde auch nicht zulassen, daß Jeggred dadurch langsamer vorankommt, daß er Euch trägt. Verstanden?« »Ja, Herrin«, erwiderte Danifae.
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Pharaun bemerkte, daß sie die Augen zusammenkniff. Er gestikulierte zu Danifae, hielt aber die Handflächen nach un ten, damit Quenthel nicht sah, wie er ihr bedeutete, geduldig zu sein. Er würde sie nicht aufgeben, selbst wenn er wußte, daß sie mit seinem Verlangen nur spielte, um ihre eigene Haut zu retten. In dem Moment setzte die Spinne eines ihrer gewaltigen Beine auf den Stein zwischen der Nische und dem Schild aus magischer Finsternis, den der Magier hatte entstehen lassen. Gleichzeitig war ein Teil des Leibs zu sehen. Es war die Un terseite des Spinnenleibs, und Pharaun mußte den Atem an halten, als er spürte, wie der Boden erbebte, sobald die Kreatur ein weiteres ihrer Beine aufsetzte. Neben ihm hatten die bei den Frauen die Augen aufgerissen, und Jeggred beobachtete das Schauspiel angespannt, aber niemand bewegte sich. Als die Spinne sich nach unten von ihrem Versteck entfernte, atmete der Magier leise erleichtert auf. Sie hatte sie nicht bemerkt. Von außerhalb der schützenden Finsternis konnte der Ma gier die Duergar entsetzt aufschreien hören, während die Schritte der immensen Kreatur sich immer weiter von der Gruppe entfernten. Gut, dachte Pharaun. Jage sie für eine Weile. »Was beim Abgrund ist eine Wächter-Spinne?« fragte er laut. »Ich weiß nicht annähernd so viel darüber wie Halisstra«, entgegnete Danifae. »Sie müßt Ihr fragen, wenn Ihr Einzelhei ten wissen wollt. Doch ich kann Euch sagen, daß die Mutter matronen diese Geschöpfe in der Vergangenheit haben ent stehen lassen, um eine Vielzahl von Aufgaben zu erledigen. Sie müssen eine von ihnen beschworen haben, möglicherweise um den Sieg bei den Kämpfen herbeizuführen.« Quenthel seufzte und schüttelte den Kopf. »Verrückt!« flüs
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terte sie. »Die Muttermatronen dieser Stadt suchen sich den dümmsten Zeitpunkt aus, um einander zu bekämpfen.« »Ich würde das nicht auf die Muttermatronen dieser Stadt beschränken«, murmelte Pharaun. Quenthel sah ihn an, doch er lächelte nur, und sie widmete ihre Aufmerksamkeit wieder dem unsichtbaren Chaos jenseits der Sphäre der Finsternis, da sie ihn offenbar nicht richtig verstanden hatte. »Bannt die Finsternis«, wies Quenthel Pharaun an. »Ich will sehen, was geschieht.« Ich hab’s doch gesagt, dachte Pharaun und schüttelte den Kopf. Seufzend beschrieb der Magier eine Geste, dann löste sich die Schwärze auf und gab den Blick auf die Straße dahinter wieder frei. Im Moment war die Spinne nirgends zu sehen, und auf der Straße, die von toten Duergar und Drow übersät war, regte sich nichts. »Sie scheint sich von uns fort bewegt zu haben«, stellte Quenthel fest und erhob sich. »Dann sollten wir aufbrechen, ehe sie zurückkehrt.« »Warten wir noch einen Moment«, schlug Pharaun vor, der noch immer nicht den Schrecken des ersten Anblicks der Kreatur überwunden hatte. »Nur um sicher zu sein, daß sie weg ist.« Quenthel warf dem Magier einen finsteren Blick zu, dann wies sie Jeggred an: »Geh und sieh nach.« Lächelnd erhob sich der Dämon und spähte in alle Rich tungen. Diesen Moment hatten sich die Duergar ausgesucht, um aus ihren Verstecken zu stürmen. In Scharen kamen sie um die Ecke und aus dem gegenüber
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liegenden Haus gerannt, als hätten sie nur daraufgewartet, daß die Drow aus ihrem Versteck kamen. »Ergreift sie!« rief einer der Duergar. Die Duergar bildeten einen Halbkreis und umstellten die Dunkelelfen. Jeggred machte sofort einen Satz zurück in die Nische, als der erste Bolzenregen der Armbrüste gegen die Mauern ringsum prasselte. Fluchend duckte sich Pharaun und nutzte die erhöhte Posi tion der Veranda als Schutzschild. Er wies mit einem Finger auf die Straße und sprach die Worte, die einen seiner Zauber auslösen würden. Sofort bildete sich unter ihm eine Rauch wolke, die von weißglühenden Funken durchsetzt war und vom Gebäude fort in Richtung Straße zu gleiten begann. Die Duergar, von denen viele ihre Armbrüste nachgeladen hatten, um auf die kleine Gruppe zu zielen, betrachteten argwöhnisch den feurigen Dunst, der sich bildete und auf sie zukam. Als die, die in den vordersten Reihen standen, von der Wolke einge hüllt wurden, begannen sie zu schreien und mit den Armen zu wedeln, als die Glut sie verbrannte. Die Duergar wichen vor der Wolke zurück, die ihresglei chen auf der Stelle versengte. Ein dichter, schwarzer Rauch entfernte sich allmählich vom Gebäude. Die Schreie der Duergar wurden immer lauter, je mehr von ihnen von der sengenden Hitze eingehüllt wurden. Pharaun kroch ein kleines Stück nach vorn, um sein Werk zu begutachten. Jeggred stand ohne Angst, von einem verirr ten Geschoß getroffen zu werden, neben ihm und betrachtete erfreut die Wolke. »Kann einer von ihnen überleben?« fragte der Dämon. »Nicht, wenn du zwischen ihnen tanzt«, erwiderte der Meister Sorceres. »Das Feuer kann dir nichts anhaben.« »Das stimmt«, antwortete der Draegloth und machte sich
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auf den Weg in die Rauchwolke. Die feurige Wolke hatte die gegenüberliegende Straßenseite erreicht. Überall lagen verkohlte, qualmende Duergar. Einige brannten noch lichterloh. Jeggred tauchte mitten in der Wol ke auf, deren Richtung Pharaun so änderte, daß sie sich dort entlang bewegte, wo sie selbst hingehen wollten. Sie würde sich noch einige Minuten halten, ehe sie sich auflösen würde, so daß sie sicher sein konnten, nicht von einer weiteren feind lichen Horde von hinten überrascht zu werden. Der Draegloth war blutverschmiert, doch seine Miene war zufrieden. In einer Hand hielt er einen abgerissenen Arm, auf dem er kaute, wäh rend er dorthin zurückkehrte, wo sich die drei Drow zusam mengekauert hatten. Pharaun ignorierte bewußt die Eßmanieren des Dämons, als Quenthel fragte: »Sind alle tot?« »Entweder tot oder geflohen«, antwortete Jeggred. »Die Straße ist frei.« »Dann sollten wir weitergehen. Die Spinne könnte jeden Augenblick zurückkehren, also haben wir keine Zeit zu verlie ren. Was sagtet Ihr, wo die anderen sind?« fragte die Ho hepriesterin Pharaun. Der Magier wies auf die Gasse, in die er Ryld hatte verschwinden sehen. »Der Waffenmeister ist dorthin gelaufen«, sagte er. »Viel leicht haben sich ihm die beiden anderen angeschlossen.« Ehe Pharaun aber mehr als ein paar Schritte machen konn te, erbebte die Straße. »Verdammt!« hörte er Quenthel rufen, woraufhin er einen Blick über die Schulter wagte. Die Spinne hatte sie entdeckt und folgte ihnen, wobei sie mühelos die Rauchwolke überwand, die Pharaun in diese Richtung geschickt hatte. Sie kam auf sie zu und bewegte be
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reits in freudiger Erwartung die Beißzangen. Pharaun wandte sich ab und rannte los.
»Ich sage Euch, ich will das Ding tot sehen, und zwar sofort!« schrie Ssipriina Zauvirr. »Wenn Ihr das nicht schafft, dann stecken wir alle in den größten Schwierigkeiten!« Sie ragte über Khorrl Xornbane auf, während beide auf den Stufen eines edlen Modegeschäfts standen, das im Zuge der Kämpfe aufgegeben worden war und ein gutes Stück von der Frontlinie entfernt lag. Doch Khorrl konnte auch von hier aus mühelos in der Ferne die Spinne erkennen, auf die die Mut termatrone zeigte. Die riesige Kreatur kletterte über ein Haus, das nicht weit von der Stelle entfernt lag, an der sich der Xornbane-Clan einen heftigen Kampf mit feindlichen Drow lieferte. »Ich sage Euch, daß ich meine Jungs nicht losschicke, um gegen dieses Ding da zu kämpfen«, gab Khorrl zurück, der all mählich die Geduld mit der arroganten Dunkelelfe verlor. »Ihr habt mich angeheuert, damit wir Eure Gegner besiegen und Euch so einen Sitz in Eurem so wichtigen Rat verschaffen, nicht, um Eure Fehler auszuputzen! Ihr und Eure Bekannten haben dieses Ding hergeholt, also könnt Ihr Euch auch einen Weg ausdenken, um es zu stoppen. Es ist nicht mein Fehler, daß Ihr es nicht kontrollieren könnt!« »Meine Fehler? Also gut, dann wollen wir doch mal über Fehler reden, Hauptmann. Reden wir doch darüber, daß Ihr und Euer Söldnerhaufen vorzeitig auf die Straße gegangen seid und im Handumdrehen all meine wohldurchdachten Pläne für meinen Aufstieg in den Rat zunichte gemacht habt! Wir wä ren gar nicht in diese Lage geraten, wenn Ihr einfach nur die Befehle befolgt hättet!«
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Khorrl wollte die unverschämte Drow auf der Stelle in zwei Hälften schneiden. Hätte sie nicht eine Leibwache dabeige habt, hätte er das auch getan, doch er war zahlenmäßig unter legen, und er wußte, selbst wenn es ihm gelungen wäre, sie zu töten, hätte er daran nicht lange Freude gehabt. Also legte er einfach nur die Hand fest um den Griff seiner Axt und atmete tief durch, um den Zorn in den Griff zu bekommen, von dem er erfüllt war. »Vorzeitig?« erwiderte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich erhielt einen direkten Befehl von Eurem Knaben, diesem Zammzt. Wenn er nicht von Euch die Aufforderung erhalten hat, solltet Ihr Euch besser mit ihm unterhalten. Aber unab hängig davon, hört auf, meine Zeit zu verschwenden!« grollte er. »Ich opfere nicht meine Kameraden, damit sie Eure Spinne töten. Unsere Arbeit hier ist getan.« Er sah sich nach seinem Adjutanten um und rief: »Forghel! Gib das Signal zum Rückzug! Wir brechen auf!« Khorrl wußte, daß er ein großes Risiko einging, wenn er der Drow den Rücken zudrehte. Doch er wollte sie ködern und herausfinden, ob sie die Fassung verlieren würde. »Lügner!« schrie Ssipriina. »Schiebt nicht Euer Versagen auf mein Haus! Ihr werdet Euch nicht ... wagt es nicht, Euch einfach zu entfernen!« Dann schrie sie: »Zum Abgrund mit Euch! Tötet ihn!« Khorrl lächelte und stieß einen Pfiff aus. Im gleichen Mo ment gaben etliche seiner Jungs ihre Unsichtbarkeit auf und tauchten magisch um ihn herum auf, Äxte und Armbrüste im Anschlag. Der Hauptmann drehte sich wieder um und be trachtete die herannahenden Drow, aber vor allem galt sein Blick Ssipriina. Die Leibwächter der Drow hatten ihm nachstellen wollen, doch als die anderen Duergar auf einmal Gestalt annahmen,
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zögerten die Drow-Soldaten einen Moment lang. Dieser kurze Augenblick war alles, was Xornbanes Truppen benötigten. Sie stürmten vor und verwickelten die Drow in einen Kampf. Ssipriina war selbstverständlich nicht so dumm, in der Nähe des Gefechts zu bleiben, doch sie warf dem Hauptmann einen letzten haßerfüllten Blick zu, ehe sie sich umdrehte und in entgegengesetzter Richtung die Stufen hinunterging. Khorrl schnappte sich die Armbrust eines seiner Duergar, der unmittelbar neben ihm stand, und richtete die Waffe auf die Muttermatrone, die sich eilig zurückzog. Er feuerte auf sie, doch der Bolzen prallte hörbar von einer Steinsäule an der Ecke des Gebäudes ab, um die Ssipriina soeben verschwunden war. Der Hauptmann wußte, daß sie zurückkehren und mehr ihrer elenden Soldaten mitbringen würde. »Herr, seht doch«, rief Forghel und eilte zu Khorrl. Der Hauptmann drehte sich um und sah in die Richtung, in die sein Adjutant zeigte. Jeglicher Mut verließ ihn. Die riesige Spinne stand in der Mitte der Straße und bäumte sich auf den hinteren Beinen auf, während die Vorderbeine merkwürdig fuchtelten. In der Luft tauchte eine bläuliche Linie auf, die so weit reichte, wie die Kreatur hoch war und sich dann zu einem unregelmäßig geformten Feld aus blauem Licht ausdehnte. Eine Sekunde später kam eine ebenso große Spinne durch das Portal. Die erste Kreatur hatte es irgendwie geschafft, ein zwei tes Exemplar zu sich zu holen.
Ryld wurde allmählich müde. Er wußte nicht, wie lange er sich und Halisstra noch gegen die Masse der Duergar verteidigen konnte, die sich langsam, aber unausweichlich von allen Sei ten näherten. Ihm war klar, daß er kaum noch Raum hatte, um zurückzuweichen. Bald würde er mit dem Rücken zur Wand
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stehen, und dann war keine Flucht mehr möglich. Von oben regnete Feuer auf sie herab. Ringsum explodier ten die Tonkrüge, und ihm war klar, daß es nur eine Frage der Zeit war, ehe einer davon ihn traf. Das ist ja ein großartiger Weg, um aus dem Leben zu schei den, dachte der Waffenmeister und duckte sich, weil wieder mit einem Streithammer nach ihm geschlagen wurde, und machte dann einen Ausfall nach vorn, um die Klinge über den Bauch des Duergar zu ziehen. In eine Ecke gedrängt, gefangen wie eine Ratte im Käfig, bei lebendigem Leib verbrannt. Du wolltest ja unbedingt Menzoberranzan verlassen und etwas Aufregendes erleben, du Narr. Das dürfte dann wohl aufregend genug gewesen sein. Zu Rylds Überraschung wichen die Duergar vor ihm zurück, hielten aber die Waffen erhoben. Er ließ sie gewähren. Sein Atem ging schwer, seine Lungen schienen vom beißenden Qualm ringsum versengt zu sein. Ein Dutzend oder mehr leich te Schnittwunden bedeckten Arme und Oberkörper und brannten wie Vipernbisse. Wenn sie nicht kämpfen wollen, werde ich sie nicht zwin gen, dachte er erleichtert. Zur Abschreckung hielt er sein Schwert hoch und warf den noch einen raschen Blick nach oben. Wie Halisstra gesagt hatte, waren von den hinterhältigen Zwergen Netze über die Straße gespannt worden, die es den beiden unmöglich machten, in diese Richtung zu entkommen. Ryld war sicher, daß er sie mit seiner Armbrust hätte herun terholen können, aber nicht, wenn er gleichzeitig Bodentrup pen und Feuerkrügen ausweichen mußte. Er sah, wie die Duer gar von oben weitere der verheerenden Dinger in die Gasse warfen, jedoch nicht auf die beiden zielten, sondern dafür sorgten, daß sie zwischen Ryld und seinen Gegnern landeten.
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Sie wollen uns einkesseln, erkannte Ryld. Sie schneiden uns den Weg ab, damit sie uns gefahrlos töten können. Er studierte die Flammen und versuchte zu kalkulieren, ob er über sie springen konnte, ohne allzu schwere Verbrennun gen davonzutragen, als er merkte, daß Halisstra mit ihm redete. »Ryld«, sagte die Priesterin. »Ich kann uns hier rausbrin gen.« Der Krieger sah sie an und ignorierte die Schmährufe von den Dächern, wo sich die Duergar Zeit ließen, um sich auf den Triumph zu freuen, den der Tod der beiden Drow für sie be deuten würde. »Wie das?« fragte er. »Ich kann zaubern«, erwiderte Halisstra. »Ein magisches Portal, das uns von hier wegbringt. Allerdings brauche ich dafür etwas Zeit.« »Pharauns Lieblingstrick«, sagte Ryld. Er betrachtete die niedrige Mauer hinter ihnen und wies darauf. »Wir müssen da rüber. Dort sind wir besser geschützt und können überlegen, was zu tun ist.« Ohne zu warten, ob sie ihm wirklich folgte, schwebte Ryld so hoch, daß er sich genau über der Kante der Mauer befand, die bis eben noch ein Stück über seinen Kopf hinausgereicht hatte. Rasch begab er sich auf die andere Seite und ließ sich wieder sinken. Halisstra, deren Schildarm schlaff herunter hing, war nur einen Herzschlag entfernt. Mit einem Schmer zenslaut ließ sie sich in die Ecke fallen, während Ryld nach Verfolgern Ausschau hielt. Als die Duergar erkannten, wohin sich die Drow begaben, schrien sie wütend auf. Von oben wurden weitere Feuerkrüge geschleudert, doch Ryld zog Halisstra rechtzeitig in den Schutz des Dachs, das teilweise den umschlossenen Bereich über spannte. In der Wand hinter ihm befand sich eine Tür, die
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sehr stabil zu sein schien. Er unternahm einen Versuch, aber wie erwartet war die Tür verschlossen. Etliche Feuerkrüge waren inzwischen in dem kleinen Innenhof gelandet, doch Ryld und die Priesterin konnten sich weit genug zurückziehen, so daß ihnen keine Gefahr drohte. »Gehen denen denn die Vorräte nie aus?« beklagte sich Ha lisstra, als Ryld sah, wie sich eine Hand über die Mauerkante schob und Halt suchte. Er nahm seine Armbrust und wartete, bis der Kopf auf tauchte, dann feuerte er und traf den Grauzwerg mitten ins Gesicht. Der Humanoide schrie und fiel nach hinten. »Irgendwann schon«, erwiderte er und lud nach, »aber wir sollten nicht bleiben, um herauszufinden, wie lange das noch dauert.« »Wohin sollen wir gehen? Wir wollen doch die anderen wiederfinden, nicht wahr?« »Ja, wir müssen ...« Ryld hielt inne, als von der anderen Seite der Wand laute Schreie zu hören waren. Erst da fiel ihm auf, daß es weiter Feuerkrüge regnete, allerdings in den Abschnitt jenseits der Mauer. »Was zum ...?« begann er und trat nach vorn, um vorsichtig zum Dach zu blicken. Auf den ersten Blick schien es, als hät ten sich alle Duergar von dort zurückgezogen. Dann sah er einen Drow, der sich gerade lange genug aufrichtete, um einen weiteren Feuerkrug in die Menge zu werfen, dann duckte er sich sofort wieder, damit er nicht gesehen wurde. Ryld begann, lauthals zu lachen. »Was ist?« fragte Halisstra und stellte sich neben den Meis ter Melee-Magtheres. »Was gibt es da zu sehen?« »Es ist Valas«, antwortete Ryld und zeigte zum Dach hinauf. »Er hat sich der Scharfschützen angenommen.«
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Ryld nahm zwei Finger in den Mund und stieß einen Pfiff aus. Einen Moment später kam die genauso schrille Antwort. »Er weiß, daß wir wissen, wo er ist«, erklärte Ryld. »Spart Euch den Zauber für später auf und kommt lieber mit zu ihm.« Halisstra nickte. »Ehe wir gehen«, sagte der Waffenmeister und kauerte sich neben die Priesterin, »laßt mich Euren Arm sehen.« Er untersuchte den Bolzen nur einen Moment lang. Er saß so tief, daß man ihn auf der anderen Seite würde herausdrü cken müssen. »Das muß warten, bis Quenthel Euch heilen kann. Aller dings ...« Ehe sie protestieren konnte, hatte Ryld das herausstehende Ende abgebrochen. »Bei Lolth!« stöhnte Halisstra auf und zuckte vor Schmerz zusammen, gleichzeitig kniff sie die Augen zu. Sie streckte ihm die andere Hand entgegen, doch Ryld nahm ihren Arm und drückte ihn weg. »Nicht«, sagte der Krieger. »So fängt es nur an zu bluten.« Halisstra verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Nein«, preßte sie hervor. »Ich kann es heilen. Laßt mich ...« Sie wand sich aus seinem Griff und holte einen Stab hervor. »Drückt die Spitze heraus«, sagte sie, nahm das abgebro chene Ende des Bolzens zwischen die Zähne und biß zu. Ryld folgte ihrer Anweisung, packte ihre Schulter mit der Hand und machte sich bereit, die Spitze des Pfeils mit der anderen Hand durch das Fleisch zu pressen. Mit einer glatten, schnellen Bewegung holte er den Schaft aus ihrem Körper. Noch ehe sie zurückzucken konnte, war bereits alles vorbei. Halisstra schluchzte einmal, dann spie sie den Rest des ge splitterten Schafts aus, auf den sie gebissen hatte, hob den Stab und sprach einige Worte. Die Blutung wurde gestoppt, die
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Wunde verschloß sich. Dann sank die Priesterin nieder und schloß erleichtert die Augen. »Dann wollen wir mal«, sagte Ryld und half ihr auf, »bevor diese Feuer ausgebrannt sind und uns die Grauen über die Mauer nachsteigen.« »Wartet«, warf Halisstra ein und holte einen zweiten Stab hervor. »Machen wir es ihnen doch etwas schwerer, auf uns zu schießen.« Ryld hob verwundert eine Braue. Rasch rief sie zweimal die magische Macht des Stabs an, dann waren die beiden Drow unsichtbar. Der Krieger tastete umher, bis er die Priesterin gefunden hatte, dann nahm er ihre Hand. »So können wir nicht getrennt werden«, erklärte er. Gemeinsam stiegen die beiden auf und sahen, wie die Duer gar den Feuerkrügen auswichen, die Valas mit tödlicher Präzi sion auf sie schleuderte, und versuchten, den Späher mit ihren Armbrüsten zu treffen. Als sie sich dem Dachfirst näherten, zog Ryld Splitter und zerschnitt die Netze mit dem magischen Zweihänder mühelos. Er und Halisstra, stiegen durch das Loch auf und ließen sich neben Valas auf dem Dach nieder, der dort kniete und über die Kante spähte. »Du hast was bei uns gut«, sagte Ryld, während er sich von der Dachkante entfernte, um nicht von einem Querschläger getroffen zu werden. Auf dem Dach lagen die Leichen eines guten halben Dut zends Grauzwerge. Valas sah in die Richtung, aus der die Stimme des Kriegers gekommen war, reagierte aber nicht auf dessen Unsichtbarkeit. »Ich hatte euch hier entlangkommen sehen, also dachte ich mir, ich versuche, euch auf diesem Weg einzuholen«, sagte er und schleuderte den letzten Feuerkrug in die Gasse. »Als ich
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diese Kretins entdeckte, die lachten und die Dinger hier nach unten warfen, wußte ich, daß du in Schwierigkeiten bist.« »Laß uns verschwinden«, schlug Ryld. »Weißt du, wo die anderen sind?« »Ich glaube, sie haben sich auf ein Dach am anderen Ende des Platzes zurückgezogen«, erwiderte der Späher, klatschte in die Hände, um sie von Staub und Schmutz zu befreien, und wich von der Dachkante zurück. »Wir werden sie schon fin den. Der Magier wird wieder einen auffälligen Zauber wirken, wenn sie auf irgend etwas stoßen, und auf die Weise können wir sie ausfindig machen.« Ryld wandte sich um, um dem Späher zu folgen. »Das ist nur allzu wahr«, sagte er. Die drei Dunkelelfen bewegten sich über die Dächer, bis sie eine weitere Seitenstraße erreichten, die nur ein kleines Stück von der entfernt war, an der sich ihre Wege ursprünglich ge trennt hatten. Valas kletterte an der Fassade eines üppig ver zierten Geschäfts nach unten, die Händen und Füßen genü gend Halt zu bieten hatte, während Ryld und Halisstra schwebend die Straße erreichten. Als sie auf dem Boden an kamen, verlor der Unsichtbarkeitszauber seine Wirkung. »Geh voran«, sagte Ryld zu Valas, der die Spitze der Gruppe übernahm, die sich durch die Gasse in Richtung Hauptstraße schlich. Plötzlich vibrierte der Boden. »Was beim Unterreich ist das?« murmelte Ryld und war bemüht, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. »Was ist das?« »Ich weiß nicht, aber auf jeden Fall ist es groß, sehr groß«, erwiderte Valas. Er sah zu Halisstra. »Habt Ihr eine Erklä rung?« fragte er. Halisstra schüttelte den Kopf, machte aber eine sorgenvolle Miene.
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»Wir sollten nicht bleiben, bis wir es erfahren«, meinte sie dann. Valas nickte und trat auf die Hauptstraße hinaus. Er spähte nach links und rechts und mußte eine Hand ausstrecken, um sich auf den Beinen zu halten, denn die Erschütterungen wa ren heftiger geworden. »Nein!« sagte Halisstra mit erstickter Stimme. Ryld sah sie an und fragte: »Was ist?« »Oh, bei der Dunklen Mutter«, sagte die Priesterin und leg te erschrocken eine Hand vor den Mund. »Sie haben eine gerufen!« »Was gerufen?« fragte Ryld. »Eine von ihnen«, entgegnete Valas von der anderen Seite des Kriegers her. Als Ryld sich umdrehte, sah er, daß der Spä her auf etwas zeigte. Der Waffenmeister folgte mit dem Blick seinem Finger und sah, wie eine Spinne in sein Blickfeld kam, die so groß war wie der gesamte Platz. Der Atem stockte ihm, seine Beine schie nen unter ihm wegsacken zu wollen. »Nein.«
Pharaun wußte, daß er mit seinen magischen Stiefeln den anderen Drow problemlos davonlaufen konnte, und genau das tat er auch. Er legte einen Spurt ein, mußte aber unablässig darauf achten, auf der Netzstraße nicht den Halt zu verlieren, da diese bei jedem Schritt der riesigen Spinne wackelte und zitterte. Ihm war nur noch eine Handvoll Zauber verblieben, und in dem Repertoire fand sich so gut wie nichts, was der Spinne etwas hätte anhaben können. Er kam zu dem Schluß, daß es sinnvoller war, die Kreatur in eine falsche Richtung zu lotsen und vielleicht einen Nebel zu beschwören, in dem sie
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alle sich verstecken und davonschleichen konnten, während die Spinne abgelenkt war. Jedoch wagte er es nicht, stehen zubleiben, um den Zauber zu wirken. »Pharaun!« rief jemand. Als er in Richtung des Rufers sah, entdeckte er Ryld, Valas und Halisstra, die soeben aus einer Seitenstraße gekommen waren und mit aufgerissenem Mund die gigantische Spinne anstarrten, die ihn verfolgte. Er lief zu ihnen und war mit einem großen Satz im Schatten der Gasse. Erst dann blieb er stehen und rang nach Luft. »Ich ... habe so etwas ... noch nie ... gesehen«, keuchte Pha raun. »Danifae hat es als Wächter-Spinne bezeichnet.« »Ja«, flüsterte Halisstra und starrte noch immer das Monst rum an. »Die Muttermatronen müssen sie gerufen hab... bei Lolth ... sie ruft eine zweite zu sich!« Pharaun drehte sich um, da er sehen wollte, wovon Ha lisstra sprach. Jeggred und Quenthel kamen angerannt, gefolgt von Danifae, die so schnell lief, wie ihr verletztes Bein es zu ließ. Die Spinne hatte aufgehört, sie zu verfolgen. Statt dessen stellte sie sich auf die Hinterbeine und begann, mit den vorde ren Gliedmaßen in der Luft zu fuchteln. Pharaun hielt den Atem an, als er sah, daß sich unmittelbar vor der Spinne ein riesiges Portal öffnete, das mindestens so groß war wie die Kreatur selbst. Fassungslos sah der Magier mit an, wie aus dem Dunst des bläulichweißen Portals eine zweite Spinne heraus trat und sich zu der ersten gesellte. Hinter ihr schloß sich das Portal wieder. »Nein«, murmelte Quenthel. »Wie oft können sie das wie derholen?« »Ich weiß nicht«, sagte Halisstra von irgendwo hinter dem Magier. »Einmal ist schon zuviel«, sagte Pharaun. »Wir müssen hier raus.«
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Er wandte sich von den gewaltigen Spinnentieren ab, be reit, in die andere Richtung zu rennen. »Wartet!« rief Halisstra und zeigte auf etwas. Wieder drehte Pharaun sich um. Danifae humpelte schwer und war nicht in der Lage gewe sen mitzuhalten. Als die zweite Spinne aus dem Portal kam, geschah das genau vor der Kriegsgefangenen. Sie saß zwischen den beiden Kreaturen in der Falle und war zudem mitten auf der Straße gestürzt. »Sie ist verletzt!« rief Halisstra und machte zaghafte Schrit te in Richtung ihrer Dienerin. »Seid keine Närrin«, warnte Ryld die Priesterin und faßte sie am Arm, während Jeggred und Quenthel sich zu ihnen stellten. »Ihr würdet nur Euer eigenes Leben riskieren.« Halisstra riß sich los und machte wieder einen Schritt. »Das ist mir egal«, sagte sie. »Ich werde ihr helfen.« Mit diesen Worten stürmte die Erste Tochter des Hauses Melarn über die Freifläche auf ihre Dienerin zu, die wieder aufzustehen versuchte. Die Spinnen nahmen die Bewegung wahr und kamen beide näher.
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Pharaun fluchte und wollte Halisstra nachlaufen, während er überlegte, ob er sie beide magisch tarnen könnte, um sie zu retten. »Nicht«, befahl Quenthel. »Danifae hatte das Pech, ver wundet worden zu sein. Ich werde nicht noch mehr Zeit und Ressourcen darauf verwenden, sie zu retten. Wir sollten uns auf den Weg machen, solange die Spinnen beschäftigt sind.« »Aber ...«, setzte Pharaun an, doch als er den Blick der Ho hepriesterin sah, schüttelte er den Kopf und kehrte in die Gasse zurück. Ihm gefiel der Gedanke nicht, sie – oder zumindest die hübsche Danifae – zu verlieren. »Wie Ihr wollt«, sagte er dann. »Ohne mich«, erklärte Ryld, machte kehrt und eilte Ha lisstra nach. »Nein!« brüllte Quenthel dem Meister Melee-Magtheres nach, doch es war bereits zu spät. Ryld war schon gut zehn
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Schritte entfernt und zog Splitter, während er sich der vorders ten der beiden Spinnen näherte. »In den Abgrund mit Euch allen!« tobte Quenthel. Pharaun zuckte die Achseln, dann machte er sich daran, dem Waffenmeister zu folgen. »Hinterher!« knurrte Quenthel dem Magier nach. Pharaun konnte nur vermuten, daß sie ihn meinte, auch wenn er nicht verstand, warum sie ihm auftrug, etwas zu tun, wozu er sich längst entschlossen hatte. Augenblicke später raste Jeggred an ihm vorbei und steuerte ebenfalls auf die Spinnen zu. Einige Schritte vor der ersten Spinne blieb der Magier ste hen, um zu sehen, daß Halisstra ihre Dienerin erreicht hatte und neben ihr niederkniete. Irgendwie hatte sie es geschafft, einen Stab aus ihrem Umhang zu ziehen, den sie dazu einsetz te, beide Drow verschwinden zu lassen. Die Spinne, die über der Stelle aufragte, an der sich das Paar eben noch befunden hatte, schnappte ins Leere und klapperte anscheinend frust riert mit den Beißzangen. Die Bestie begann, den Kopf hin und her zu bewegen, um die Beute wiederzufinden. Ein Stück ent fernt hatte die zweite Spinne etwas anderes entdeckt, das ihre Aufmerksamkeit fesselte. Zum Glück kam sie – für den Au genblick – nicht weiter auf sie zu. Pharaun konnte die beiden Frauen natürlich noch sehen, da er sich der Magie bewußt war, die sie ausstrahlten. Wie es aussah, zerrte Halisstra Danifae an den Straßenrand, um sie aus der Gefahrenzone zu bringen. Doch die Spinne schien zu spü ren, wo ihre Beute war, und schnappte danach, wobei sie die Frauen nur minimal verfehlte. Zwar verletzten die Beißzangen Halisstra nicht, aber sie berührten sie so heftig, daß sie zu Bo den geworfen wurde. Die Spinne erbebte vor Freude, daß sie die Beute gefunden hatte, und startete einen neuen Angriff.
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Ryld hatte die Kreatur fast erreicht. Er sprang hoch, Splitter hoch erhoben, und als er sich in der Höhe des hintersten Beins der Riesenspinne befand, holte er mit aller Macht mit seinem Zweihänder aus und schnitt durch die Gliedmaße. Schwarzes Blut spritzte, die Spinne bäumte sich auf, trat mit dem ver wundeten Bein aus und verfehlte den Waffenmeister nur knapp. Fast gleichzeitig sprang Jeggred durch die Luft, landete an einem anderen Bein und kletterte behende hinauf. Pharaun sah, daß der Draegloth die Krallen ausgefahren hatte und sie wirkungsvoll einsetzte, um sich am Bein der Kreatur nach oben zu hangeln. Furchtlos kämpfte sich Jeggred bis zum Leib des Tiers vor, um sich auf dem schwarzglänzenden Körper weiter nach oben zu arbeiten. Die Wirkung des doppelten Angriffs ließ nicht auf sich war ten. Die Spinne ließ von ihrer eigentlichen Beute ab und wir belte herum, um nach dem zu beißen, was ihr so zu schaffen machte. Das verwundete Bein zuckte unkontrolliert, doch ansonsten hatte die Spinne nichts von ihrer Standfestigkeit verloren. Ryld hatte sich abgerollt und stand nach seinem Angriff gebückt da, Splitter hoch erhoben, bereit, die Spinne abzuwehren, als die sich zu ihm umdrehte. Pharaun schüttelte den Kopf und überlegte, wie er helfend in den Kampf eingreifen konnte. Er hatte eigentlich nur eine Wahl. Die meisten Zauber waren aufgebraucht, und was ihm noch verblieben war, hatte kein Angriffspotential. Er griff in seinen Piwafwi und holte einen Stab aus Eisen heraus, unge fähr so lang wie sein Unterarm. Er streckte ihn von sich und sagte den Spruch, der die Magie in dem Stab aktivierte. Sofort schoß ein sengender Blitz aus elektrischer Energie aus der Spit ze hervor, beschrieb in der Luft einen Bogen und verteilte sich auf dem Kopf des Tieres. Die Entladung ließ die Spinne zu
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sammenzucken, und als die letzten Reste des Blitzes sich ver flüchtigt hatten, sah Pharaun, daß die ledrige Haut und die Facettenaugen der Kreatur rauchten. Pharaun wollte vorrücken, als er hörte, wie die gespannte Sehne eines Bogens losgelassen wurde. Er sah nach rechts und entdeckte Valas, der kniete und von einem Kurzbogen Pfeile abfeuerte. Der Magier hatte bemerkt, daß der kleine Späher die ganze Zeit über mit dem Bogen unterwegs gewesen war, doch bis jetzt hatte der Mann keine Verwendung dafür gefun den. Der Späher von Bregan D’aerthe schoß in der Zeit, die der Magier benötigte, um allein die Situation zu erfassen, sage und schreibe vier Pfeile ab. Er zielte gut. Jeder Pfeil traf in das Spinnenauge, das ihm am nächsten war, und ließ es wie ein riesiges Nadelkissen aussehen. Die Spinne warf sich hin und her. Mittlerweile war auch Ryld wieder aufgesprungen und lief der Kreatur nach, da er versuchte, noch einen Treffer zu lan den. Diesmal hatte der Krieger nicht so viel Glück. Als die von Schmerz halb wahnsinnige Spinne zuckend umherlief, traf sie ihn mit einem Bein. Der Drow wurde weggeschleudert und landete unglücklich auf der Straße, wobei ihm das Schwert entglitt. Die gewaltige Spinne kam auf Pharaun und Valas zu. Der Magier sah Jeggred auf dem Tier. Er saß rittlings am Kopfansatz und schlug wie wild auf den Kopf ein, wobei er mit den Klauen das Fleisch in Fetzen riß. Alles war voll mit schwarzem Blut. Die Spinne bäumte sich auf und schüttelte sich, damit Jeggred den Halt verlor, doch der Draegloth hielt sich unerbittlich fest und bohrte die Klauen nur noch tiefer in den Leib der Bestie, um auf keinen Fall abgeworfen zu werden. Der Magier trat unwillkürlich einen Schritt zurück, da die Spinne sich rasch in seine Richtung bewegte und der Abstand
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zwischen ihnen schnell kleiner wurde. Die hastigen, schweren Schritte der Kreatur ließen die Netzstraße zittern und schau keln. Pharaun hob wieder den Stab und schickte dem Tier einen zweiten Blitz entgegen, da er wußte, daß Jeggred gegen die zerstörerische Wirkung der Energie immun war. Die elektrische Entladung fügte der Bestie offensichtlich Schmerzen zu – Pharaun konnte die Brandspuren auf der schwarzglänzenden Haut sehen –, doch das ließ sie nicht lang samer werden. Wie trunken bewegte sie sich auf den Magier und den Späher zu, obwohl der ein Dutzend Pfeile abfeuerte. Bei Lolth! dachte Pharaun und ging noch einen Schritt zu rück. Er wollte sich umdrehen und weglaufen, doch er konnte seinen Blick nicht von der Kreatur abwenden. Auch Valas wich Schritt für Schritt zurück, während er weiter Pfeile abfeu erte, doch beide waren für die Spinne eindeutig die Ursache für ihre Schmerzen, also eilte sie ihnen nach. Gerade als sie die Drow erreicht hatte und zuschnappen wollte, tauchte Ryld auf, holte mit Splitter aus und schlug mit aller Macht ins Gesicht der Kreatur. Der Blitz hatte dem Waf fenmeister offenbar genug Zeit verschafft, um sein Schwert wieder an sich zu nehmen. Die Spinne zuckte zurück, aus der frischen Wunde strömte Blut, dennoch ließ sie sich nicht so leicht abwehren. Sie schnappte wiederholt nach Ryld, während sich der Krieger mit seinem Zweihänder zur Wehr setzte und sich abmühte, die zuk kenden Beißzangen von sich fernzuhalten. Pharaun wich weiter zurück, froh, daß der breitschultrige Waffenmeister den Großteil der Schlacht auf sich nahm. Er hob den Stab für einen dritten Blitz, da er hoffte, das könne genügen, um die Bestie zu schlagen, doch bevor er den Zauber aktivieren konnte, schnappte die Spinne ein drittes Mal nach
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Ryld, der diesmal nicht so viel Glück hatte. Die Beißzangen der Spinne legten sich eng um den Meister Melee-Magtheres, der vor Schmerzen aufstöhnte und beinahe Splitter fallenließ. Die Kreatur hob ihn hoch und drückte die Zangen zusammen, um alles Leben aus dem Mann zu pressen. Ryld bog vor Schmerz den Rücken durch und begann, mit dem Schwert nach den Beißzangen zu schlagen. Pharaun zögerte, seine magischen Blitze zu entfesseln, so lange Ryld im Weg war, und Valas schien gleichermaßen rat los, da er den Bogen zwar gespannt und sein Ziel anvisiert hatte, jedoch den Pfeil nicht abfeuerte. Er hatte keine völlig freie Schußlinie. Unterdessen schlug Jeggred weiter auf die Kreatur ein. Die Arme des Draegloth waren mit einer klebri gen schwarzen Flüssigkeit überzogen. Warum will das verdammte Ding nicht sterben? dachte Pharaun. Er fühlte sich versucht, der Kreatur den Blitz entgegenzu schleudern, obwohl seine Gefährten sich in unmittelbarer Nähe aufhielten, doch dann fiel ihm der andere Stab ein. Er holte ihn aus seinem Piwafwi, als die Spinne mit ihm und Valas kollidierte. Der Späher ging zu Boden und rollte einige Schritt weit davon, während Pharaun das schlimmste verhin dern konnte, indem er im letzten Moment mit Hilfe seiner magischen Stiefel zur Seite sprang. Er landete neben der Spinne auf dem Boden und richtete den Stab auf sie, dann sprach er das auslösende Wort, worauf hin fünf glühende Projektile aus der Spitze geschossen kamen und auf die Augen der Kreatur zusteuerten. Die fünf Geschosse sparten Ryld aus und bohrten sich in rascher Folge in die Au gen der Spinne. Die große Spinne zuckte und öffnete wegen des plötzlichen Schmerzes ihre Beißzangen, so daß sie Ryld unwillkürlich fallenließ.
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Der Waffenmeister fiel schlaff dem Boden entgegen, war aber irgendwie immer noch ausreichend bei Bewußtsein, um seinen eigenen Sturz zu bremsen und das letzte Stück bis zur Straße schwebend zurückzulegen. Die Spinne bäumte sich auf, ihr Kopf war eine blutige Masse, die Jeggred unbeirrt weiter mit den Krallen bearbeitete. Sie kann unmöglich noch länger durchhalten, dachte der Magier. »Beendet es«, sagte Quenthel und wies auf etwas hinter der Spinne. »Tötet sie und laßt uns aufbrechen.« Pharaun sah, daß sich die zweite Spinne wieder näherte, al so feuerte er rasch die zweite Welle von Geschossen aus sei nem Stab ab. Als sie ihr Ziel trafen, brach die Kreatur mitten auf der Straße zusammen und hätte dabei fast noch Ryld unter sich begraben. Das Geschöpf regte sich nicht mehr, nur die Beine und die Beißzangen zuckten noch. »Rückzug!« befahl Quenthel. »Die andere ist auf dem Weg zu uns!« Pharaun rannte zu Valas, um ihm zu helfen, Ryld hochzu ziehen. Dann lief das Trio so schnell es konnte in die Gasse zurück. Jeggred sprang von der toten Spinne und schloß sich ihnen an. Gleichzeitig erreichten sie die schützende Gasse, dann sah Pharaun sich um, was aus dem Paar aus dem Hause Melarn geworden war. Ein Stück die Straße entlang konnte er die magische Ausstrahlung Halisstras und Danifaes ausma chen. Sie kamen in ihre Richtung gelaufen, so schnell das der humpelnden Drow möglich war. »Sie sind fast da«, sagte Pharaun und wies auf die beiden, die, wie er wußte, nur er sehen konnte. »Nicht bewegen«, ermahnte der Meister Sorceres die anderen. »Sie könnte die Schwingungen spüren.« Beide Gruppen warteten besorgt. Halisstra und Danifae wa
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ren stehengeblieben und preßten sich gegen die Wand des nächstbesten Gebäudes, als die Spinne sich näherte. Pharaun wich in den Schatten zurück. Als die Bestie sie passierte, machte sich Pharaun bereit, den Zauber zu wirken, den er schon zuvor erwogen hatte und der für einen dichten Nebel sorgen würde. Doch wie es aussah, war das nicht nötig. Die Spinne entfernte sich, und die Erschütte rungen wurden leiser. Pharaun wagte einen weiteren Blick und erkannte, daß sich die beiden Frauen ihnen näherten. »Ihr habt euch mir offen widersetzt?« zischte Quenthel und verpaßte dem noch immer benommenen Ryld eine Ohrfeige. Jeggred baute sich zu voller Größe auf und stellte sich neben die Hohepriesterin, um ihr Rückendeckung zu geben, während sie die anderen zurechtwies. Ryld taumelte durch die Wucht der Ohrfeige zurück, Blut lief ihm aus dem Mundwinkel, dennoch hielt er dem stechen den Blick der Hohepriesterin stand. »Sie sind nicht so verzichtbar, wie Ihr das vielleicht glaubt«, sagte er schwach, hielt aber trotzig das Kinn erhoben. »Gebt ihnen eine Chance, sich zu beweisen, ehe Ihr sie auf gebt. Das nächste Mal könntet Ihr diejenige sein, der zu helfen sie zurückeilt.« Jeggred knurrte und trat einen Schritt vor, doch Quenthel bedeutete ihm, sich ruhig zu verhalten. Der Draegloth sah Ryld finster an, gehorchte aber dem Befehl. »Eure Zeit, meine Autorität in Frage zu stellen, ist bald vor über«, erklärte Quenthel und sah Ryld und Pharaun an. »Wenn wir diese Stadt verlassen, dann werden sich einige Dinge ändern. Ich bin es nämlich leid.« Als wollten sie die schlechte Laune der Herrin der Akade mie nachahmen, bewegten die Schlangen an ihrer Peitsche die Köpfe hin und her und zischelten.
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»Ich sage nur, daß Ihr sie zu schnell aufgebt«, beteuerte Ryld. »Sie sind mehr wert, als Ihr zugestehen wollt.« »Er hat recht«, nickte Pharaun. »Halisstra hat bemerkens werten Erfindungsreichtum zur Schau gestellt. Ihr solltet sie nicht einfach deswegen ablehnen, weil sie nicht aus Menzo berranzan sind.« Quenthel warf den beiden einen finsteren Blick zu, dann wandte sie sich an Valas. Inzwischen hatten Halisstra und Da nifae die Gruppe erreicht, waren aber noch unsichtbar. »Tut mir leid«, sagte Halisstra, als sie eintrafen. »Ich konn te sie nicht zurücklassen. Sie hat für mich immer noch einen gewissen Wert.« Quenthel schnaubte, machte dann aber eine wegwerfende Handbewegung, als wolle sie die gesamte Episode herunterspie len. »Ihr seid Euch der Bedingungen bewußt, unter denen es Euch erlaubt ist, bei uns zu bleiben. Haltet mit uns mit oder fallt zurück. Wir werden nicht zulassen, daß Ihr uns bremst.« Sie will nur nicht zeigen, wie sehr wir ihr eigentlich trotzen, erkannte Pharaun. Sie gibt vor, aus Großzügigkeit gehandelt zu haben, als sie blieb und wartete. Pharaun mußte sich ein Grin sen verkneifen. Halisstra ließ Danifae herunter und suchte aus ihren Habse ligkeiten einen Stab hervor, den sie über das verletzte Bein der Kriegsgefangenen bewegte und dabei etwas murmelte, was der Magier nicht ganz verstand. Doch dann sah er, daß die Wunde verheilte. Die Drow begab sich zu Ryld, um ihm ebenfalls zu helfen. »Woher habt Ihr das?« wollte Quenthel wissen. Halisstra hielt inne, da sie nicht mit einer solch heftigen Reaktion auf ihre Barmherzigkeit gerechnet hatte. »Er gehört mir«, begann sie. »Ich habe ihn mitgebracht ...«
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»Jetzt gehört er Euch nicht mehr. Her damit!« forderte Quenthel. Halisstra sah die Hohepriesterin an, machte aber keine An stalten, den magischen Gegenstand auszuhändigen. »Wenn Ihr nicht wollt, daß Jeggred Euch auf der Stelle zer reißt, dann gebt Ihr mir den Stab.« Wut loderte in Halisstra Augen auf, als sie langsam die Hand hob und den Stab an Quenthel übergab. Die Meisterin Arach-Tiniliths begutachtete aufmerksam den Stab und nickte zufrieden. Sie drehte sich um und setzte ihn bei Ryld ein. Als die göttliche Macht des Stabs in den Krieger strömte, schlossen sich seine ärgsten Wunden, wäh rend etliche kleinere Schürfwunden und Prellungen unverän dert zurückblieben. Als sie mit der Verfassung des Waffenmeis ters zufrieden war, steckte sie den Stab ein. »Ab jetzt«, erklärte Quenthel und richtete ihre Aufmerk samkeit erneut auf Halisstra, »wird Heilmagie nicht mehr so verschwenderisch eingesetzt. Ich werde entscheiden, ob und wann ein Mitglied dieser Gruppe göttliche Heilung erfährt. Ist das klar?« Halisstra nickte. »Habt Ihr noch andere Magie, von der ich wissen sollte? Ihr könnt mir glauben, daß ich es herausfinden werde.« Drisinils Tochter seufzte und nickte. Sie holte einen weite ren Stab hervor und gab ihn ihr. »Den könnt Ihr nicht benutzen«, murmelte sie. »Er ist von arkaner Art. Ich ... beschäftige mich auch mit dieser Art von Magie.« »Verstehe. Na gut. Wenn es erforderlich wird, könnt Ihr ihn womöglich zurückerhalten, wenn Ihr Euch seiner würdig erwiesen habt. Bis dahin werde ich beide verwahren.« Die Hohepriesterin wandte sich ab und ging ein paar
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Schritte, ohne von der Drow Notiz zu nehmen, die sich wünschte, ihre Blicke könnten töten. »Halisstra«, sagte Pharaun und versuchte, damit nicht nur das Thema zu wechseln, sondern auch Quenthel zu zeigen, wie nützlich die Priesterin für die Gruppe war. »Ihr und Danifae scheint zu wissen, woher diese Riesenspinnen kamen. Was könnt Ihr uns darüber sagen?« »Es sind Wächter-Spinnen«, antwortete die Dunkelelfe, de ren Stimme vor Wut erstickt klang. »Sie werden nur in Zeiten größter Not gerufen. Diese beiden waren so klein ... die Mut termatronen, die sie gerufen haben, hatten offensichtlich nur ein recht kleines Exemplar zur Verfügung.« »Ihr wollt damit sagen, daß sie noch größer werden kön nen?« fragte Valas ungläubig. »Sicher«, erwiderte Halisstra und begann, sich für das The ma zu erwärmen. »Was glaubt Ihr, wie die Netze der Stadt entstanden sind? Bei ihrer Ankunft in der Höhle riefen die ersten Hohepriesterinnen zusammen mit den Magiern Spinnen von gewaltiger Größe, die die Netze sponnen, die die Grundla ge für die Stadt bieten sollten. Diese heiligen Kreaturen kamen mit Lolths Segen zu uns, und sie wurden auf magische Weise aufbewahrt, indem man sie in Kristallfiguren verwandelte. Von Zeit zu Zeit werden sie zum Leben erweckt, wenn Teile der Stadt repariert werden müssen oder sie zur Verteidigung der Höhle erforderlich sind. Normalerweise werden sie über eine geistige Verbindung kontrolliert, und mehrere ihrer Art wer den nur gerufen, wenn wir es befehlen. Wie das genau geht, weiß ich nicht. Es ist ein Geheimnis, das den Muttermatronen vorbehalten ist.« »Bei Lolth«, sagte Ryld. »Glaubt Ihr, die andere könnte noch mehr von ihrer Art herholen?« »Ich weiß nicht«, erwiderte die Priesterin. »Ich hoffe nicht.«
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»Seht«, sagte Pharaun und blickte nach vorn, wo man die Spinne noch immer über die Netzstraße huschen sehen konn te. Ein Trupp Grauzwerge befand sich auf einer Straße in der Ebene darüber und spähte über den Rand, um die Spinne zu beobachten. Einige davon hatten begonnen, weitere dieser verfluchten Feuerkrüge auf die Kreatur zu schleudern. Jedes mal, wenn einer der Töpfe traf und in Flammen aufging, bäum te sich die gigantische Spinne auf und versuchte, die Ursache für die Schmerzen abzustellen. Immer mehr Feuerkrüge wurden geschleudert, von denen zahlreiche das Tier an Kopf und Leib trafen. Indem sich die Spinne auf die Hinterbeine stellte, versuchte sie, die Duergar zu erreichen, doch die waren zu weit über ihr. Die Spinne wirbelte herum, drehte den Angreifern den Rücken zu und schoß einen Strahl einer dicklichen Flüssigkeit in deren Rich tung. »Spinngewebe«, sagte Pharaun beeindruckt. Der Webfaden schoß präzise auf ein Ziel zu und traf die Un terseite der Netzstraße, gleichzeitig wurde er hart. Die Spinne drehte sich wieder und lief an dem klebrigen Faden nach oben, um den Duergar nachzustellen, die verzweifelt versuchten, sich in Sicherheit zu bringen. »Diese Narren«, sagte Ryld. »Sie haben es geschafft, die Aufmerksamkeit der Spinne auf sich zu lenken. Gut für uns!« »Genug«, gab Quenthel zurück. »Wir müssen noch unser Gepäck aus dem Gasthaus holen, ehe wir diese verdammte Stadt verlassen.« Pharaun wandte sich um und sah die Hohepriesterin an, genau wissend, daß sein Gesichtsausdruck einer des ungläubi gen Staunens war. »Das kann nicht Euer Ernst sein! Seht Euch um«, erwiderte
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er und wies auf die Teile der Stadt, in denen immer noch Feu er loderten, während sich die Stadt immer mehr mit Rauch füllte. »Die Stadt ist in Aufruhr.« Er wies in eine andere Richtung und fuhr fort: »Benutzt Eu re Ohren.« Von den Wänden der Höhle hallten der Kampf lärm und die Schreie der Sterbenden wider. »Uns läuft die Zeit davon. Ich bin sicher, daß man überall in der Stadt entschei det, auf welcher Seite man in dieser Schlacht stehen will, und trotzdem wollt Ihr das Schicksal herausfordern, indem Ihr nur noch mehr Eurer magischen Objekte einsammeln wollt. Ich ...« »Hört zu!« herrschte Quenthel ihn wutentbrannt an. »Wir haben das gerade mit Eurem Kriegerfreund durchexerziert. Ihr werdet tun, was ich sage, sonst werde ich Euch hier zurücklas sen. Wenn Ihr vergessen haben solltet, wer ich bin, dann will ich gern Euer Gedächtnis auffrischen. Ich bin Hohepriesterin Quenthel Baenre, die Herrin Arach-Tiniliths, die Herrin der Akademie, die Herrin Tier Breches, die Erste Schwester des Hauses Baenre von Menzoberranzan. Ich werde Eure bissigen Bemerkungen und Eure überhebliche Insubordination nicht mehr dulden. Verstanden?« Als wolle er ihre Worte unterstreichen, trat Jeggred vor und packte Pharaun knurrend am Kragen. Der Magier sah zu Ryld, der von seinem Kampf mit der Spinne noch geschwächt war. Dennoch hatte er eine Hand auf Splitters Heft gelegt und trat vor, bereit, sich zwischen den Draegloth und den Magier zu stellen. Aber Pharaun sah an Rylds Miene, daß er überlegte, ob er an diesem Punkt wirklich wählen wollte, auf wessen Seite er stand. Jeggred riß den Kopf herum und fauchte: »Zieht es nicht einmal in Erwägung. Ich werde Euch den Magen herausreißen und ihn verspeisen, wenn Ihr einzugreifen versucht.«
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Rylds Miene verhärtete sich, da er die Drohung des Draegloth als Beleidigung empfand. Doch Pharaun schüttelte kaum merklich den Kopf, um den Krieger von unbedachten Handlungen abzuhalten. »Herrin Quenthel, da Euch so sehr daran gelegen ist, Eure Wertsachen wieder an Euch zu nehmen«, sagte Pharaun und bemühte sich, keine Spitzen in seinem Tonfall anklingen zu lassen, »sollten wir uns beeilen, ehe die Gelegenheit ver streicht.« Quenthel lächelte, offensichtlich erfreut, wieder die Ober hand über die Situation zu haben. »Ich wußte, daß Ihr die Bedeutung meiner Entscheidung zu schätzen wissen würdet«, gab sie zurück und wandte sich ab. »Also, Magier, was schlagt Ihr vor, wie wir zum Flamme & Schlange hinübergelangen können?« fragte sie und betrachtete mit Pharaun gemeinsam die Verwüstungen. »Welche Magie habt Ihr noch in der Hinterhand, die uns schnell und sicher dorthin bringt?« »Keine, Herrin Baenre«, erwiderte Pharaun ernst. »Für heu te habe ich mehr als die Hälfte meines magischen Potentials aufgebraucht, und ich bin nicht mal sicher, wie wir es aus der Stadt schaffen sollen.« »Das reicht mir nicht.« »Ich hätte einen Gegenvorschlag«, meinte der Magier und schürzte die Lippen. »Laßt mich die Sachen holen, während Ihr und die anderen hier wartet und Euch ausruht. Diese Stelle ist sehr abgelegen und recht einfach zu verteidigen, und wenn ich zurückkehre, weiß ich, wo ich Euch finden kann. Ich habe einen Zauber, der mich zum Gasthaus und zurück bringt. Al lerdings kann ich niemanden mitnehmen.« Quenthel runzelte die Stirn und überlegte, während sich Pharaun fragte, ob ihr bewußt war, was für ein Gesicht sie je
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desmal zog, wenn sie so in Gedanken versunken war. »Nun gut«, sagte sie schließlich und nickte. »Aber trödelt nicht.« »Das würde mir nicht im Traum einfallen. Je geringer die Gefahr, daß mir ein Felsblock auf den Kopf stürzt, desto besser fühle ich mich.« Quenthel wandte sich ab und erklärte den anderen den Plan. Alle nickten, da sie eine Erholungspause gut gebrauchen konnten. Ryld nahm Pharaun zur Seite und fragte: »Du kommst doch zurück, oder?« Der Magier zog eine Braue hoch, dann erwiderte er: »Abge sehen davon, daß ich eine Schwäche für dich habe, mein fins ter dreinblickender Waffenmeister, ist es nach wie vor meine Absicht, diesem Rätsel auf den Grund zu gehen, und das kann ich mit euch allen ganz sicher besser als ohne euch.« Ryld sah ihn lange an, ehe er nickte. »Sei vorsichtig«, sagte er, wandte sich ab und ließ sich an einer Wand nieder; die Armbrust legte er vor seine Füße. »Wie wollt Ihr Euch quer durch die Stadt bewegen?« fragte Halisstra. Sie wirkte erschöpft und müde, doch ihre Augen funkelten voller neuer Entschlossenheit in kräftigem Rot. »Ich habe noch einen Flugzauber, den ich benutzen kann, um mich schnell zum Gasthaus und zurück zu bewegen«, er klärte Pharaun. »Zwar wäre es viel besser, wenn ich unsichtbar wäre, aber diesen Zauber habe ich für heute bereits aufge braucht.« »Vielleicht kann ich helfen«, sagte Halisstra. »Herrin Quenthel, dieser Stab, den Ihr mir abgenommen habt, könnte uns jetzt behilflich sein, wenn Ihr einverstanden seid.« »Worum geht es?« fragte die Hohepriesterin, die offensicht
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lich zufrieden damit war, welches Maß an Unterwürfigkeit ihr zuteil wurde. »Es geht um einen Zauber, der ihn unsichtbar machen kann und ihn sogar in diesem Zustand beläßt, wenn er einen Gegner angreift«, erwiderte Halisstra. »Ich versichere Euch, daß er ihm keinen Schaden zufügen wird.« Quenthel überlegte und sah Pharaun an, um zu erfahren, wie er darüber dachte. Der Magier nickte, da er nach wie vor überzeugt war, daß man den beiden Frauen, die neu in der Gruppe waren, vertrauen konnte. Außerdem befanden sie sich nicht in der Position, sich gegen die anderen zu stellen. »Gut«, willigte Quenthel ein. Sie gab Halisstra den Stab, die ihn dankend von der Ho hepriesterin entgegennahm und ihn dann auf Pharaun richtete. »Halt«, sagte der Magier. Er zog eine Feder aus seinem Piwafwi, die er für seinen Zau ber brauchte, um sich in die Lage zu versetzen, fliegen zu kön nen. Er steckte die Feder in die Tasche, in die sie gehörte, dann sah er die Priesterin an und sagte: »Ihr könnt weiterma chen. Es ist immer leichter, einen Zauber zu wirken, wenn man die eigenen Hände sehen kann.« Halisstra lächelte flüchtig, dann rief sie die magische Ener gie des Stabs, und im nächsten Augenblick war Pharaun un sichtbar. Halisstra gab Quenthel den Stab zurück. Die Hohepriesterin schüttelte den Kopf. »Ihr könnt ihn be halten. Ihr habt Eure Lektion gelernt.« »Ja, Herrin«, erwiderte Halisstra mit einem Lächeln, das nicht auf ihre Augen übersprang. Sie steckte den Stab weg und setzte sich zu Danifae. »Ich bin bald zurück«, sagte Pharaun. Dann stieg er in die Luft auf, ehe jemandem eine Antwort einfiel.
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Danifae sah dem Magier zu, wie er unsichtbar wurde. Sie fühl te, wie er die Gasse verließ. Kopfschüttelnd lehnte sie sich zurück und beobachtete Ryld und den Späher, die beide unru hig hin und her gingen, da sie lieber gleich als später aufbre chen wollten. Eine merkwürdige Truppe, in die ich da geraten bin, dachte sie. Sie beherrschen ihr Handwerk, und doch streiten sie sich mehr als jede andere Gruppe Drow, die ich je zu Gesicht be kommen habe. Die Kriegsgefangene ließ den Blick weiterwandern zu Quenthel, die sich leise mit Jeggred unterhielt. Sie ist äußerst interessant, fand Danifae. Es war nicht das erste Mal, daß sie einer Frau wie der Ho hepriesterin begegnet war, einer selbstbewußten Frau, die den noch jeden und alles niedermachen mußte. Trotzdem empfand Danifae sie als fähige Führerin, als sie ihren Blick über ihren Körper wandern ließ. Danifae wandte ihre Gedanken Halisstra zu. Die Erste Tochter des Hauses Melarn wirkte erschüttert über den physi schen Verlust ihrer Heimstatt, auch wenn Ssipriina sie zuvor schon an sich gerissen hatte. Danifae fragte sich, wie ihre Her rin diese Belastung ertrug. Zwar beklagte sie selbst nicht die Zerstörung des Hauses Melarn, doch Danifae konnte sich vor stellen, wie sie sich fühlen würde, wenn jemand auf diese Wei se ihre Familie ausgelöscht hätte. Das Haus Yauntyrr mochte schon längst ebenfalls vernichtet sein. Es war zu lange her, daß sie es zum letzten Mal gesehen hatte. Sie wußte nicht einmal etwas über das Schicksal Eryndlyns im Angesicht der gegen wärtige Krise, von ihrem eigenen Haus völlig zu schweigen. »Laßt uns mitkommen«, sagte Halisstra zu Quenthel. »Laßt
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uns helfen, diesen Vhaeraun-Priester zu suchen.« Danifae sah ihre Herrin wachsam an. »Wie kommt Ihr darauf, daß wir versuchen werden, den Freund des Spähers ausfindig zu machen?« fragte Quenthel. »Ich ... ich bitte um Verzeihung, Herrin Baenre«, stammelte Halisstra. »Ich nahm an ...« »Annahmen sind etwas für diesen erbärmlichen Pharaun«, warnte Quenthel sie, woraufhin Halisstra den Kopf neigte. »Selbstverständlich, Herrin Baenre«, sagte sie dann. »Den noch möchte ich Euch in aller Bescheidenheit bitten, daß ich und meine Dienerin Euch begleiten dürfen. Unsere Überlebens chancen sind weit größer, wenn wir zusammenbleiben, und wie Ihr wißt, habe ich nichts, was mich noch hier zurückhält.« Die Drow schürzte die Lippen, da sie offenbar bemüht war, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten. Danifae hielt es für unangebracht, daß sie soviel von ihrer Leidenschaft zu erken nen gab, doch sie hätte sie nie darauf angesprochen, erst recht nicht in Gegenwart anderer. Quenthel tippte mit einem Finger an ihren Mund und nick te langsam, als verstünde sie den Schmerz, von dem Halisstra erfüllt war. Danifae bezweifelte allerdings, daß die Ho hepriesterin ernsthaft echtes Mitgefühl mit Halisstra hatte. »Einverstanden. Solange Ihr Euch weiterhin nützlich macht und Ihr bereit seid, zu tun, was ich Euch sage, sehe ich keinen Grund, warum Ihr uns nicht weiter begleiten solltet.« Danifae zuckte zusammen. Zweifellos würde sie diese Reise noch weiter von Eryndlyn fortführen. Sie mußte einen Weg finden, um den Bindezauber zu brechen, und zwar schon bald. Vielleicht würde der Magier das können. Es würde für sie kein Problem sein, ihn so zu manipulieren, daß er ihr half. Das er kannte sie daran, wie er sie immer wieder ansah. Nein, ein Problem würde das nicht sein.
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Halisstra bedankte sich mit einer weiteren Verbeugung, dann sagte sie: »Ich will nicht zu aufdringlich erscheinen, Herrin Baenre, aber dürfte ich fragen, was Ihr als nächstes vorhabt?« »Sobald wir die Stadt verlassen haben«, antwortete Quenthel und betonte jedes Wort so, daß klar war, welch er schreckende Aufgabe allein das sein würde, »glaube ich, daß wir tatsächlich diesem Freund des Spähers einen Besuch ab statten. So sehr dieser Mizzrym-Junge einen auch manchmal bis aufs Blut reizen kann, hat er hin und wieder doch auch mal eine gute Idee.« Darum könnt Ihr es Euch auch nicht erlauben, es Euch mit ihm zu verscherzen oder ihm Schaden zuzufügen, überlegte Da nifae. Es war offensichtlich, daß Pharaun das wichtigste Mitglied der Gruppe war. Damit stellte sich die Frage, wer die Gruppe anführte: Quenthel tat es ihrer Funktion nach, doch Pharaun tat es auf seine eigene, subtile Weise. Es wird noch interessant werden, das mit anzusehen, dachte Danifae und lächelte.
Ssipriina ließ ihren Blick über die Truppen schweifen, die sich auf dem Innenhof ihres Anwesens eingefunden hatten, und verzog das Gesicht. Nur wenige waren von denen verblieben, über die sie noch zu Beginn des Tages verfügt hatte. Würden sie reichen? Sie sah Soldaten, Priesterinnen, Magier. Wie viele hatte sie bei der Zerstörung des Hauses Melarn verloren, und wie viele mehr in den Stunden danach – im Kampf mit den gegnerischen Häusern, mit den Duergar-Söldnern, deren Dienste sie sich ursprünglich gesichert hatte, mit den riesigen Spinnen?
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Die Muttermatrone schüttelte den Kopf, als sie an dieses Debakel dachte. Es war ein Fehlschlag gewesen, doch sie wei gerte sich, den Plan dahinter als schlecht durchdacht zu be zeichnen. Es war eine gute Idee gewesen, die Kreatur zum Le ben zu erwecken, damit sie für ihr Haus kämpfen konnte, eine Idee, die von all ihren Verbündeten mitgetragen worden war. Keine von ihnen war allerdings in der Lage gewesen, die geis tige Verbindung herzustellen, die erforderlich war, um die Spinnen zu kontrollieren, da diese Verbindung ganz offensicht lich im Zusammenhang mit Lolth stand. Ohne die Göttin gab es keine Verbindung, doch als Ssipriina und die anderen das herausgefunden hatten, war es längst zu spät gewesen. Keine von ihnen hatte diese Möglichkeit frühzeitig in Erwägung gezogen, und sie weigerte sich, die Verantwortung dafür zu übernehmen. Der Schaden hätte in Grenzen gehalten werden können, wenn dieser verlogene Narr Khorrl seine Pflicht getan hätte. Sie hatte ihm einen Lohn gezahlt, mit dem man eine entführte Muttermatrone hätte freikaufen können. Er hätte ihr aufs Wort gehorchen müssen, doch er hatte ihr einfach die kalte Schulter gezeigt, seine Söldner um sich geschart und mit den Vorbereitungen begonnen, sich zurückzuziehen. Seine Unter stützung zu verlieren war schon ein harter Schlag gewesen, doch was sie noch mehr ärgerte, war die Tatsache, daß er sie vor ihresgleichen blamiert hatte. Als die anderen Muttermatronen gehört hatten, daß die Duergar nicht länger im Dienst des Hauses Zauvirr standen, hatten sie die Allianz aufgekündigt und sofort alle Unterstüt zung für Ssipriinas Forderungen zurückgezogen. Sie mußten an ihre eigenen Häuser denken und konnten es sich nicht leisten, sich für nichts und wieder nichts weiter zu schwächen. Für nichts und wieder nichts! Ja, man hatte sie wie eine
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Närrin vorgeführt, und so etwas würde sie sich nicht gefallen lassen. Ssipriina würde es ihnen zeigen. Von wegen für nichts und wieder nichts! Sollten sich die anderen doch von ihr distanzieren! Sollten sie am Grund der Höhle verrotten! Sie würde sich von diesen Rückschlägen nicht aufhalten lassen. Sollte doch die halbe Stadt brennen. Wenn sich der Rauch gelichtet hatte, würde Haus Zauvirr über allen thronen! Xornbane würde ebenfalls teuer bezahlen, doch würden ihre verbliebenen Truppen dafür genügen? Aus den Soldaten ihres eigenen Hauses und denen des Hauses Melarn, die kurzent schlossen übergelaufen waren, hatte sie eine schlagkräftige Armee aufgestellt, doch die Verluste waren hoch gewesen. Auch das war die Schuld des Xornbane-Clans. Die Duergar hatten den Kampf um Haus Melarn völlig außer Kontrolle geraten lassen. Es waren ihre schrecklichen Feuerkrüge gewe sen, die Stein in Brand gesetzt und den Untergang des Hauses ausgelöst hatten. Es war eine sinnlose Zerstörung, herbeige führt durch einen sinnlosen Kampf. Ssipriina hatte keinen Zweifel, daß der Hauptmann der Grauzwerge die Wahrheit gesagt hatte. Zammzt konnte durch aus den verfrühten Einsatz der Söldner befohlen haben, aber warum nur? Mit welcher Muttermatrone steckte er unter einer Decke? Welche von ihnen konnte einen Nutzen daraus zie hen, ihre Pläne zu durchkreuzen? Es gab genügend, die dafür in Frage kamen, jedoch würde sie sich damit später befassen müs sen. Ssipriina würde Zammzt vermissen. Sie brauchte seine Tüchtigkeit, seinen Scharfsinn. Sie verfügte nicht über genü gend Strategen, die die von ihr zusammengestellten Truppen anführen konnten. Der unansehnliche Kerl war für diese Auf gabe wie geschaffen gewesen. Faeryl würde einen geeigneten
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Ersatz abgeben, doch seit dem Chaos gegen Ende der Ver sammlung der Muttermatronen hatte sie niemand gesehen. Ssipriina vermutete, daß ihre Tochter umgekommen war, als das Haus in die Tiefen der Höhle gestürzt war. Dummes Mädchen, dachte die Muttermatrone. Gut, daß sie sie los war. Seufzend riß Ssipriina sich zusammen und betrachtete ein letztes Mal ihre spärlichen Truppen. Sie würden reichen müs sen. Sie würde sie selbst führen, und sie würden reichen müs sen. »Sammelt euch«, rief sie ihnen zu und begab sich an einen geschützten Platz in der Menge. »Es ist Zeit, daß wir für uns beanspruchen, was unser ist.«
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Pharaun versuchte, am Rand der Stadt zu bleiben, während er sich dem Flamme & Schlange näherte. Zum einen gefiel ihm die Vorstellung nicht, von irgendwelchen herabfallenden Gesteinsbrocken zermalmt zu werden. Auch wenn bislang erst einmal Felsstücke in die Tiefe gestürzt waren, hatte er sich doch so dicht am Geschehen aufgehalten, daß er auf ein zwei tes Erlebnis dieser Art gern verzichten konnte. Zum anderen wußte der Magier, daß er sich leichter zu rechtfinden würde, wenn er der Höhlenwand folgte, statt sich durch den zentralen Bereich der Stadt einen Weg zu bahnen. Überrascht stellte er fest, wie dicht der Rauch geworden war. Mehr als einmal konnte er nur knapp einer Mauer, einer noch unversehrten Netzstraße oder einem Gebäude ausweichen, das urplötzlich aus den Rauchwolken aufzutauchen schien. Den noch hielt er diese Vorgehensweise immer noch für deutlich
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ungefährlicher, als wenn er mitten durch Ched Nasad geflogen wäre, von wo er ständig Kampflärm hören konnte. Hin und wieder waren Explosionen zu vernehmen, mal ein lautes Bers ten, mal das kräftige Heulen des Windes von den Stellen, wo mit magischen Mitteln gekämpft wurde. Arkane Kräfte wurden entfesselt und auf sich formierende Truppen gerichtet. Kein Zweifel, in der gesamten Stadt war ein erbitterter Kampf um die Kontrolle auf den Straßen entbrannt. Der Widerhall des Konflikts erreichte den Magier meist von der Ebene, auf der er sich in dem Moment befand, oder aber von weiter unten. Was aller Wahrscheinlichkeit nach auf dem Platz vor Haus Melarn begonnen hatte, war zu einem Flächen brand geworden, der Bürger und Besucher der Stadt gleicher maßen in seiner Gewalt hatte – und zwar auf allen Ebenen. Der Magier fragte sich, wie vielen es wohl gelungen war, die Flucht in die Höhlen rings um die Stadt der schimmernden Netze anzutreten. Auch wenn die Gruppe aus Menzoberranzan den größten Teil der einleitenden Auseinandersetzungen nicht unmittelbar miterlebt hatte, erinnerte er sich daran, daß sie seit ihrer Flucht aus dem abstürzenden Haus Melarn auf den Straßen überraschend wenig gewöhnliche Passanten gesehen hatten. Natürlich hing das auch damit zusammen, daß sie die meiste Zeit hoch oben in der Stadt verbracht hatten, wo sich nur Adlige aufhielten. In den unteren Bereichen würde sich ihnen bestimmt ein ganz anderes Bild zeigen. Dort hatte sich sicherlich der Pöbel in die Kämpfe eingemischt, wie es bei der Rebellion zu Hause auch der Fall gewesen war. Allerdings hatte hier der Aufstand eine ganz andere Wen dung genommen als in Menzoberranzan. Die Verursacher der Aufstände in Ched Nasad waren die Adelshäuser. Ihre inter nen Machtkämpfe waren der Auslöser gewesen. Pharaun schätzte sich glücklich, daß die Häuser Menzoberranzans sich
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nicht derart gegenseitig in den Rücken gefallen waren. Hätten sie es doch getan, dann wäre von der Stadt, in die er hätte zurückkehren können, wohl nicht mehr viel übrig. Der Magier verzog das Gesicht, als er an Gromphs Attentate auf Quenthel und an die gescheiterten Anschläge auf sein eigenes Leben dachte, hinter denen seine leibliche Schwester Greyanna ge steckt hatte. Wenn das hier vorbei ist, gibt es vielleicht auch keine Stadt mehr, in die man zurückkehren kann, dachte er. Als er sich dem Teil der Stadt näherte, in dem sich das Gasthaus befand, fiel dem Magier auf, daß die Schäden dort nicht so schlimm waren. Das Flamme & Schlange schien sogar völlig unversehrt zu sein. Im nächsten Augenblick erkannte er den Grund dafür. Eine Horde von Drow und anderen Kreatu ren, vermutlich Gäste des Hauses, Söldner und mehr, hatten eine Verteidigungslinie vor dem Gebäude eingerichtet. Es sah nicht so aus, als würden sie gegenwärtig angegriffen, doch nach den zahlreichen Leichen zu urteilen mußte hier ein heftiger Kampf getobt haben. Pharaun wollte weder angegriffen noch in die Kämpfe ver wickelt werden, darum flog er in einem großen Bogen zur Rückseite des Gasthauses. Er erinnerte sich an das Fenster zur Höhlenwand von Ched Nasad in dem Zimmer, das er mit Valas und Ryld geteilt hatte. Das würde er ansteuern. Er nä herte sich dem Dach und schwebte zwischen die Wand des Gebäudes und die Höhlenwand. Der Platz genügte eben, um hinunterzusinken. Einen Moment lang schwebte er reglos in der Luft und überlegte, wie er am besten durch die Öffnung gelangen konnte, ohne irgend jemanden auf sich aufmerksam zu machen. Der Meister Sorceres erkannte, daß ihm noch genau der richtige Zauber dafür verblieben war, eine kleine Beschwö
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rungsformel, die das Fenster von innen öffnen würde, so daß er es nicht eintreten mußte. Er griff in seinen Piwafwi und suchte in verschiedenen Taschen, ehe er das Gesuchte fand: einen Messingschlüssel. Er tippte sanft damit gegen das Fenster und sprach die Zauberformel. Im nächsten Moment öffnete es sich, und Pharaun quetschte sich durch die Öffnung. Der Magier, der Waffenmeister und der Späher hatten all ihre Habseligkeiten mitgenommen, als sie das Gasthaus verlas sen hatten, um sich zu einer »Feier« zu ihren Ehren zu bege ben. Das scheint eine Ewigkeit her zu sein, dachte Pharaun, als er das Zimmer verließ und über den Gang zu Quenthels Ge mach ging. Als der Magier die Tür erreichte, zögerte er und fragte sich, ob die Hohepriesterin vielleicht einen Schutzzauber gewirkt hatte, ehe sie aufgebrochen war, doch dann fiel ihm ein, daß Ryld und Valas den Raum betreten hatten, um dort nach Heilmagie zu suchen. Kichernd legte er die Hand um den Tür griff, mußte aber feststellen, daß die Tür abgeschlossen war. Natürlich, sagte er sich. Wenn Valas etwas macht, dann macht er es richtig. Achselzuckend griff der Magier in die Taschen seines Pi wafwi und holte ein wenig Erde und eine kleine Phiole mit Wasser heraus. Nachdem er das Wasser auf die Erde gespren kelt hatte, wirkte er den Zauber, und im nächsten Moment begann ein Teil der Wand gleich neben der Tür nachzugeben. Der massive Stein verwandelte sich in zähflüssigen Schlamm, der in einer Pfütze zusammenlief und Pharaun zwang, einen Schritt nach hinten zu machen, damit seine Stiefel nicht schmutzig wurden. Als die Öffnung breit genug war, sprang der Meister Sorceres mit einem großen Satz in den Raum auf der anderen Seite. Pharaun sah Quenthels Rucksack, randvoll mit Vorräten. Er
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stand auf einem Tisch nahe der Traumcouch. Auf dem ande ren Tisch fanden sich die verbliebenen Habseligkeiten Faeryls, darunter auch ihr Rucksack. Der Magier hob das Gepäck der Hohepriesterin an und stöhnte. Tja, dachte er und grinste sarkastisch. Jetzt hat sie doch noch einen Weg gefunden, daß ich ihr Gepäck trage. Er legte sich den Rucksack über die Schulter, nahm sich auch den Faeryls, und wollte sich zum Gehen wenden. In diesem Moment wurde Pharaun vom Bolzen einer Arm brust in den Oberkörper getroffen. Irgendwie gelang es dem Geschoß, sich einen Weg durch eine Lücke im Stoff seines Piwafwi zu bahnen und sich in seine Schulter zu bohren. Der Meister Sorceres gab einen grunzenden Laut von sich und stolperte rückwärts durch den Raum, während er sich gleich zeitig umdrehte, damit er mit dem Rücken zu seinem Angreifer stand und so durch den Piwafwi besser geschützt wurde. Er sah seine Schulter an und stellte fest, daß es sich um ein Geschoß eines Drow handelte – und dann wurde ihm bewußt, daß er nicht länger unsichtbar war. Pharaun hastete hinüber zur anderen Seite des Raums, ließ die zwei Rucksäcke fallen und suchte nach Deckung. Es gab nur zwei Stellen, die dafür geeignet waren: hinter der Traum couch oder in einem Schrank. Als er am Schrank vorbeieilte, packte er die Tür, riß sie auf, sprang hinter die Couch und warf gleichzeitig die Tür wieder zu. Die fiel just in dem Moment zu, als Pharaun unter der Couch hindurch zwei Paar Stiefel sehen konnte, die den soeben ins Zimmer gekommenen Angreifern gehörten. Der Magier verharrte in seiner knienden Haltung und sah, wie sich die beiden dem Schrank näherten. »Er hockt im Schrank«, sagte einer der beiden in der Spra che der Drow. Der Pfeil ließ seine Schulter vor Schmerz pochen, doch
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Pharaun wartete lautlos darauf, daß sich seine Angreifer end lich zeigten. Er zwinkerte ein paarmal, da er sich nicht richtig konzentrieren konnte, und plötzlich wurde ihm schwindlig. Seine Gedanken kreisten darum, daß er die Situation ent schärfen konnte, indem er einen Zauber wirkte. Doch er konn te sich nicht entscheiden, welchen Zauber er nehmen sollte. Die Wunde, in der der Bolzen steckte, hatte zu brennen be gonnen, und ihm wurde klar, daß er allmählich schwächer wurde. Der Bolzen war in Gift getaucht worden! Er mußte sich beeilen, um zu den anderen zurückzukommen, ehe das Gift zu lange auf ihn einwirkte. Seine einzige Hoffnung war, daß sie einen Weg wußten, um ihm zu helfen. Als Pharaun seine Angreifer endlich sah, wurde ihm klar, warum die Männer, die ihre Armbrüste im Anschlag hielten, sofort auf ihn geschossen hatten. Sie waren beide Drow und trugen die Tracht des Hauses Zauvirr. Im Geiste versetzte er sich einen Tritt, daß er nicht die Möglichkeit in Erwägung gezogen hatte, Ssipriina könnte ihre Leute im Gasthaus postie ren, für den Fall, daß die Gruppe oder zumindest einer von ihnen dorthin zurückkehrte, und versuchte, die Worte einer Zauberformel zu sagen, doch sie wollten ihm nicht in den Sinn kommen. Die beiden Drow grinsten, als sie ihre Armbrüste auf ihn richteten. Pharaun schloß die Augen und fragte sich, ob der Tod sehr schmerzhaft sein würde. Er überlegte, ob es ihm vielleicht gelingen würde, das Rapier freizusetzen, um sich gegen die beiden zur Wehr zu setzen, als er auf einmal ein Geräusch hörte. Es kam aber nicht von den beiden Armbrüsten, die abgefeuert wurden. Was er vernahm, war eine Frauenstimme, eine vertraute Stimme, die hastig einen Zauber wirkte. Der Magier kniff die Augen zusammen, da er alles nur noch ver schwommen sah, als plötzlich ein Regen aus bunten Licht
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strahlen über seine beiden Gegner niederging. Die beiden Drow wichen hastig vor dem plötzlichen, grellen Angriff zurück, schrien auf und hielten sich die Augen zu. Der erste Drow zuckte, als aus dem gelben Lichtstrahl Elektrizität auf ihn übersprang und sich knisternd über seinen Leib beweg te. Der andere Drow war von Flammen umgeben, nachdem er mit dem roten Strahl in Berührung gekommen war. Pharaun sah, wie die beiden Soldaten fielen. Ob einer oder gar beide tot waren, konnte er nicht erkennen, aber es interes sierte ihn auch nicht. Er war von dem Gift unerträglich ge schwächt. »Hallo, Pharaun«, schnurrte die Stimme. Mit Mühe öffnete er die Augen wieder und sah auf, dann erkannte er, wer da stand. »Aliisza«, sagte er schleppend und entspannte sich, wäh rend die Alu um die Couch herum auf ihn zukam. »Wie hast ...« Die Ohrfeige, die sie ihm verpaßte, bereitete ihm einen ste chenden Schmerz. Er zuckte zusammen, Tränen stiegen ihm in die Augen. »Was zum ...«, brummte Pharaun und rieb seine Wange. A liisza hockte neben ihm, die Hand hoch erhoben. »Was ist los?« Wieder überlegte er, ob er das Rapier einsetzen sollte. »Wie kannst du es wagen?« fauchte die Alu und zog eine Augenbraue hoch, ohne ihn wie sonst üblich anzulächeln. »Wie kannst du dich für dieses Flittchen interessieren, nach dem du mit mir das Bett geteilt hast?« Pharaun zwinkerte völlig verwirrt. Flittchen? »Wovon redest du?« fragte er und hob schwach seinen un versehrten Arm, um die nächste Ohrfeige abzuwehren. »Spiel nicht den Ahnungslosen, du jämmerliches Exemplar
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von einem Drow! Du weißt, was ich meine. Diese Schönheit, die du aus dem abstürzenden Haus gerettet hast. Ich hätte ihr die Augen auskratzen sollen!« »Oh, bei der Dunklen Mutter«, murmelte Pharaun, als er endlich verstand. »Es ist nicht, wie du glaubst ...« »Oh! Das sagt ihr Männer doch immer! Wenn es nach eu rem Geschlecht geht, ist es nie so. Ich will diesen Unsinn nicht hören!« Aliisza packte den Magier am Revers seines Piwafwi und zog ihn hoch. Dann preßte sie ihre Lippen für einen ungestümen Kuß so fest auf seinen Mund und biß ihn in die Lippe, daß er sicher war, eine blutende Wunde davongetragen zu haben. Tatsächlich fühlte es sich nicht wie ein Kuß an, sondern mehr, als würde sie ihr Revier markieren. »Das ist, damit du mich nicht so leicht vergißt. Wenn du untreu wirst, werde ich das erfahren. Ich werde sie an dir rie chen können, und dann werde ich unglücklich sein. Ich bin noch nicht mit dir fertig«, warnte ihn Aliisza und sah ihm eindringlich in die Augen. Sie blinzelte, und dann kehrte das teuflische Lächeln auf ih re Lippen zurück. »Tja, und jetzt würde ich sagen, daß ich besser jemanden hole, der dir hilft«, sagte sie und hob Pharaun so hoch, daß sie ihn über die Schulter nehmen konnte, wobei sie darauf achte te, daß sie nicht mit dem Bolzen in Berührung kam, der nach wie vor in seinem Leib steckte. Der Magier kam sich wie ein kompletter Narr vor, daß er wie ein Sack Pilze transportiert wurde, doch er konnte sich nicht beklagen. Sein ganzer Leib fühlte sich »verschwommen« an, anders konnte er es nicht beschreiben. »Die Taschen«, murmelte er. »Vergiß nicht die Rucksä cke.«
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Aliisza packte die beiden Rucksäcke und trug Pharaun durch das Loch in der Wand, das er zuvor geschaffen hatte, nach draußen. Sie kehrte in sein Zimmer zurück und legte den Magier auf die Traumcouch. Mit den Rucksäcken ging sie zum Fenster und lehnte sich hinaus, stemmte sich mit den Füßen an der Höhlenwand ab und warf das Gepäck nach oben auf das Dach. Pharaun konnte nur hilflos zusehen. Die Alu kehrte zurück, nahm den Magier wieder hoch und schob ihn durchs Fenster, um ihn dann durch den engen Spalt nach oben aufs Dach zu bringen. Er spürte den Bolzen in seiner Schulter, als sie ihn dabei einmal gegen die Fassade des Gast hauses drückte, doch der Schmerz war eigenartig gedämpft, wenn auch immer noch stark genug, um ihn leise stöhnen zu lassen. »Beim Abgrund, kannst du denn überhaupt nicht helfen?« wollte sie wissen, während sie ihn keuchend nach oben schaff te. Pharaun antwortete nicht. Sein Gesicht wurde allmählich taub, und vor seinen Augen wurde alles schwarz.
Ryld saß auf dem Dach eines Gebäudes, das an die Gasse grenzte; seine Beine baumelten über der Dachkante und die Armbrust hielt er in den Händen, während er zusah, wie Teile Ched Nasads brannten. Nachdem er endlich Gelegenheit hatte, sich in Ruhe mit der Struktur der Stadt zu beschäftigen, war ihm klarer, was hier ablief. Die Kämpfe in den obersten Bereichen waren abgeebbt, auch wenn er von ein paar Straßen auf den Ebenen über ihm immer noch Kampflärm hörte. Die unteren Regionen der Stadt waren von den Auseinanderset zungen weitaus stärker betroffen, also jene Bezirke, in denen die niederen Rassen am zahlreichsten vertreten waren. Er
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vermutete, daß die Gewalt dort unten die Form eines allge meinen Aufstands angenommen hatte, der nur ein Nebenpro dukt der in der Stadt herrschenden Anspannungen gepaart mit den massiveren militärischen Auseinandersetzungen weiter oben war. Natürlich würde es um so schwieriger werden, wie der für Ruhe zu sorgen, wenn von oben ein gewaltiger Felsbro cken in die Tiefe gestürzt kam. Halisstra setzte sich neben Ryld und betrachtete gedanken verloren ihre Heimat. »Valas hat sich aufgemacht, um zu sehen, wie unsere Chan cen stehen, durch eines der Stadttore nach draußen zu gelan gen«, sagte sie. »Ich habe ihn auf ein paar Stellen hingewie sen, an denen wir unbemerkt hinauskommen könnten. Er will überprüfen, ob sie sicher sind.« Ryld nickte. Wenn es einen Mann gab, der sich durch die Stadt schleichen konnte, ohne aufzufallen, dann war es der Späher von Bregan D’aerthe. Allerdings hatte Ryld starke Zweifel, daß auch nur ein einziger Ausgang unbewacht sein würde. »Wie konnte das passieren?« murmelte Halisstra leise. »So viel Verwüstung.« »Wir sind selbstgefällig geworden«, antwortete der Meister Melee-Magtheres. »Die Rasse der Drow hintergeht sich jetzt schon so lange gepflegt gegenseitig, daß niemand erwartet hat, diese Spielchen könnten außer Kontrolle geraten, und sie« – der Waffenmeister zeigte nach unten zu den Elendsvierteln – »profitieren jetzt davon.« »Aber das Feuer. Wie ist es möglich, eine Stadt niederzu brennen, die aus Stein geschaffen wurde?« »Alchimie. Wir haben es auch in Menzoberranzan erlebt. Hier ist es allerdings noch verheerender, weil Eure Stadt an einem Netzwerk aus Stein hängt. Es war ein geschickter
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Schachzug, diese Feuerkrüge hier zum Einsatz zu bringen.« »Natürlich«, flüsterte die Drow. »Setzt man das Netz in Brand, dann wird alles vernichtet, was daran hängt. Auch das Haus Melarn.« Ryld sah die Drow an. Ihr Gesicht war von Trauer geprägt, in ihren roten Augen standen Tränen. Es kam nicht oft vor, daß man eine Drow weinen sah. Man betrachtete das als Zei chen von Schwäche. Bei dieser Priesterin allerdings wirkte es erfrischend ehrlich. »Euer Verlust tut mir leid. Vielleicht werden wir daraus ler nen, vorausgesetzt, wir überleben.« Aus dem Augenwinkel nahm Ryld etwas wahr, und sofort hatte er seine Armbrust hochgenommen und visierte am Schaft entlang. Eine geflügelte Gestalt, die in der Luft unregelmäßig torkelte und schwankte, tauchte aus dem Rauch auf und nä herte sich ihnen. Es war möglicherweise eine Drow, wenn gleich sie Flügel hatte, und sie trug ein ziemlich großes Bündel. Der Krieger wußte angesichts des schwerfälligen, fast unkon trollierten Flugs, daß etwas nicht stimmte. Dann erkannte er, daß es sich um die Dämonin aus Ammarindar handelte! Als sich die Alu dem Rand des Gebäudes näherte, schien sie das Gleichgewicht zu verlieren, und Ryld mußte sie im Flug packen und zu sich ziehen, um sie vor dem Absturz zu bewah ren. Alle drei rollten über den steinernen Untergrund und landeten vor Jeggreds Füßen. Der stellte sich zwischen die hübsche geflügelte Kreatur und den Rest der Gruppe. »Ihr!« zischte Quenthel und hob ihre Peitsche, bereit, so fort zuzuschlagen. »Was tut Ihr hier?« Das Scheusal – das Pharaun als Aliisza bezeichnet hatte, wie sich Ryld erinnern konnte – betrachtete vorsichtig Jeggred und die Hohepriesterin, während es keuchend dasaß. Es unternahm nichts, um sich gegen eine mögliche Attacke zu verteidigen.
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»Ich bringe Euch Euren Magier zurück«, murmelte sie. »Ich weiß doch, welch große Stücke Ihr auf ihn haltet.« »Er ist verletzt«, sagte Ryld, als er Pharaun umdrehte. Alle außer Jeggred kamen zusammen, als der Waffenmeister begann, Pharaun zu untersuchen. Er brauchte nicht lange, um die Schußverletzung in der Schulter des Magiers zu entdecken, aus der ein Teil eines Armbrustbolzens herausragte. Der größte Teil des Schafts war bei der Bruchlandung abgebrochen. »Der Bolzen ist vergiftet«, sagte Quenthel, die über Pharaun gebeugt stand. »Ihn zu heilen führt zu nichts, solange wir nicht sein Blut von dem Gift gereinigt haben. Wenn wir das nicht tun, wird er sterben.« »Das hätte ich Euch auch erzählen können«, sagte Aliisza und setzte sich auf, obwohl sie durch den anstrengenden Flug immer noch außer Atem war. »Hier ... er bestand darauf, daß ich das mitnehme.« Sie warf Quenthel die beiden Rucksäcke vor die Füße. »Wie bekämpfen wir das Gift?« fragte Ryld und sah zu Quenthel. »Verfügt einer von Euch über die erforderliche Magie?« Quenthel schüttelte den Kopf. »Yngoth kann das Gift in seinem Körper aufspüren«, sagte sie und strich über die Peitsche, die wieder an ihrer Hüfte hing. »Aber meine Zauber sind alle verloren.« Ryld sah Halisstra und Danifae an. »Was ist mit Euch?« Beide Frauen schüttelten den Kopf. »Ich dilettiere zwar ein wenig in arkaner Magie«, erklärte Halisstra, »aber ich bin noch nicht mächtig genug, um ein Gift unschädlich zu machen.« Jeggred wachte weiter über Aliisza, sagte aber: »Vielleicht hat unsere gute Freundin, die Botschafterin, die Mittel, um ihn zu heilen.«
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Der Draegloth trat gegen einen der Rucksäcke auf dem Bo den. »Du solltest besser hoffen, daß sie etwas hat«, murmelte Ryld dem bewußtlosen Magier zu und zog den Rucksack heran. »Wir können sonst nichts für dich tun, mein Freund.« Pharaun schwitzte. Ryld war klar, daß der Magier vielleicht ihre einzige Chance war, aus der Stadt zu entkommen, es sei denn, Valas fand einen Weg. Quenthel durchsuchte Faeryls Rucksack und warf Kleidung und persönliche Gegenstände achtlos zur Seite. Während sie weitersuchte, glaubte Ryld zu hören, wie die Hohepriesterin etwas abfälliges über die Botschafterin sagte und äußerte, sie sei reine Platzverschwendung gewesen. Dann hellte sich ihre Miene auf, als sie eine dicke Transportrolle entdeckte. »Aha«, sagte sie triumphierend. »Wollen wir hoffen, daß es Zauber sind.« Sie öffnete die Rolle und zog eine Handvoll Pergamente heraus, glättete sie und überflog die Inhalte. »Wunderbar«, erklärte sie. »Faeryl, du kluges Kind. Wo um alles im Unterreich hast du die denn geklaut?« Halisstra und Danifae scharten sich um die Herrin ArachTiniliths, und beide versuchten, einen Blick auf die Blätter zu werfen. Der Waffenmeister sah, wie ihre Mienen Erleichterung erkennen ließen. »Ist irgend etwas nützliches dabei?« fragte Ryld. »Etwas, das das Gift neutralisiert?« »Das weiß ich noch nicht«, herrschte Quenthel ihn an. »Laßt mir etwas Zeit.« Sie überflog die Texte und blätterte hastig weiter. »Einige davon könnten sich als hilfreich erweisen«, erklärte sie schließlich. »Aber ich weiß nicht ... Augenblick mal ... ja! Pharaun, Ihr habt wirklich Glück. Macht Platz«, sagte sie und
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bedeutete Ryld, zur Seite zu gehen. Der Waffenmeister kam ihrer Aufforderung nach und ließ Quenthel neben Pharaun niederknien. Sie legte die Hand auf seine Wunde, dann stimmte sie einen monotonen Gesang an und las die Worte vor, die auf dem Blatt in ihrer Hand stan den. Ein kurzer Lichtblitz war zu sehen, dann war der Text verschwunden, und Pharauns Leib wurde von einem sanften Leuchten erfüllt, das von der Stelle ausging, an der Quenthel ihre Hand aufgelegt hatte. Fast im gleichen Moment wurde die Atmung des Meisters Sorceres ruhiger, und er wirkte entspannter. Seine Augen waren noch immer geschlossen, doch er lächelte. »Ich danke Euch, Herrin Quenthel«, sagte er und klang so ernsthaft, wie Ryld ihn je erlebt hatte. »Ich bin im Gasthaus in Schwierigkeiten geraten. Einige Leute, die für Muttermatrone Zauvirr arbeiten, waren ausgesprochen unerfreut darüber, daß ich dem Gasthaus einen Besuch abstatten wollte. Sie haben mich unvorbereitet erwischt.« »Ich kann mir nicht erklären, wie so etwas bei dir möglich sein sollte«, erwiderte Ryld und sah zu Aliisza, die immer noch hinter Jeggred saß. »Ich bin sicher, daß du ihnen noch ein paar Lektionen mit auf den Weg gegeben hättest, wie man präziser die verwund barste Stelle in der Verteidigung eines Magiers findet.« »So«, sagte die Hohepriesterin und erhob sich wieder. »Jetzt holt ihm den Bolzen aus der Schulter, damit ich ihn heilen kann.« Sie ging zu ihrem Rucksack, verstaute die Pergamente in der Transportrolle und steckte sie in ihre Tasche, dann holte sie einen Stab heraus, den Ryld bereits im Einsatz gesehen hatte. Der richtete seine Aufmerksamkeit auf den Rest des Bolzens in der Schulter. Er untersuchte die Stelle, um zu sehen, ob der
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Bolzen einen Knochen getroffen hatte. Als er zufrieden fest stellte, daß das nicht der Fall war, drückte er die Spitze durch die Schulter, bis der Pfeil am Rücken austrat. Pharaun bäumte sich auf und stieß einen Schrei aus. »Verdammt«, keuchte er dann. »Du weißt, wie man einen alten Freund wieder willkommen heißt.« Der Magier kniff die Augen zusammen und verzog das Ge sicht. »Ich denke, die Begrüßung war durchaus angemessen für jemanden, dem es gelang, sich niederschießen zu lassen«, er widerte Ryld und machte Platz, damit Quenthel ihre eigene Magie ins Spiel bringen konnte. Die Hohepriesterin bewegte den Stab über die blutende Wunde und murmelte das Kommandowort. Das Fleisch zog sich zusammen, bis die Wunde geschlossen war und nur eine blaßgraue Narbe auf der pechschwarzen Haut zurückblieb. Pharaun seufzte, als Quenthel wieder aufstand. »Das war’s«, sagte sie und steckte den Stab weg. »Versucht in Zukunft, Armbrustbolzen aus dem Weg zu gehen. Die Heil magie ist begrenzt.« Ryld warf Halisstra einen Blick zu und sah den eifersüchti gen Ausdruck auf dem Gesicht der Drow, als Quenthel den Stab einpackte. Das habt Ihr Euch selbst zuzuschreiben, dachte er. Ihr habt Euch vor ihr verbeugt, Ihr habt sie Herrin genannt ... erwartet im Gegenzug keine Gefälligkeiten. Mit Danifaes Hilfe setzte sich Pharaun auf, dann sah er sich um. Als er Aliisza entdeckte, die immer noch von Jeggred bewacht wurde, verzog er seine Miene und ließ die Hand der Kriegsgefangenen los. Ryld folgte Pharauns Blick und sah, daß die dunkelhaarige Schönheit finster dreinschaute. Oh, oh, dachte Ryld. Das riecht nach einer eifersüchtigen
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Geliebten. Der Magier wird doch kein solcher Narr sein, mit einer Dämonin das Bett zu teilen ... Pharaun gelang es, aufzustehen und zu der Stelle hinüberzu gehen, wo die Dämonin saß. »Es ist schon in Ordnung«, sagte er im Vorübergehen zu Jeggred. »Du kannst dich beruhigen, sie wird nicht beißen.« Jeggred ignorierte den Magier und blieb ungerührt stehen. »Hör mal, du hast dafür etwas bei mir gut«, sprach er leise, aber nicht leise genug, als daß Ryld die Unterhaltung nicht hätte verfolgen können. Zu seiner vollkommenen Überraschung packte die Dämo nin Pharaun, legte ihre Hände um sein Gesicht und küßte ihn stürmisch. Der Magier unternahm nichts, um sie abzuwehren, aber der Krieger sah, wie er die Fäuste ballte und wieder ent spannte. »Denk daran, was ich gesagt habe«, hörte er Aliisza antwor ten, die zwar ihren Mund an sein Ohr hielt, aber so laut sprach, daß jeder sie hören konnte. »Ich werde es wissen.« Ryld sah, daß sie bei diesen Worten Danifae anstarrte. Die Kriegsgefangene nahm den Blick wahr und wandte sich mit einem ungläubigen Lächeln ab. Quenthel stieß ein angewider tes, kehliges Knurren aus und wirbelte auf dem Absatz herum, um das alberne Schauspiel nicht mit ansehen zu müssen. »Nun, ich bin schon zu lange in dieser Stadt«, sagte Aliisza. »Ich überlasse Euch alle Euren kleinen Drowspielchen, die Ihr vielleicht noch veranstalten wollt, während alles um Euch herum zusammenbricht.« Mit diesen Worten öffnete sie ein bläulichweißes Portal und trat hindurch. Jeggred versuchte noch knurrend, sie zu errei chen, doch sie war verschwunden. »Bei Lolth, Pharaun«, herrschte Quenthel ihn an. »All das Gerede, nicht das Schicksal herausfordern zu wollen, und Ihr
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treibt Euch rum mit diesem ... diesem Ding? Ihr seid so ein typischer Mann!« Pharaun reagierte auf die Vorwürfe mit einem Schulterzu cken. »Es ist nichts passiert«, erwiderte er und rieb sich nach denklich den Mund. »Ich bin losgegangen, um Eure Sachen zu holen, ich wurde angegriffen, sie hat mir das Leben gerettet. Das ist alles.« »Sorgt dafür, daß weiter wirklich nichts sein wird«, knurrte Quenthel. Pharaun sah sich um und kratzte sich am Kopf. »Wo ist Valas?« fragte er, woraufhin Danifae ihm die Lage erklärte. Der Magier nickte und sagte: »Ja, je eher wir diese Stadt verlassen, desto schneller können wir uns damit befassen, wie wir Valas’ Freund finden, den Priester.« Dann hob der Meister Sorceres eine Augenbraue. »Ich darf doch annehmen, daß das unsere weitere Vorgehensweise sein wird?« fragte er Quenthel. Die Hohepriesterin nickte ihm einmal kurz zu. »Ja, Ihr habt mich überzeugt«, sagte sie. »Sobald wir Ched Nasad hinter uns haben, werden wir den besten Weg finden müssen, um zu diesem Priester zu gelangen. Ich nehme an, Ihr habt eine Möglichkeit, uns dahin zu bringen, wohin wir wol len?« Pharaun nickte, während er langsam aufstand. »Wahrscheinlich, doch das ist abhängig davon, wo er sich laut Valas aufhält. Aber ich werde das nicht heute tun kön nen«, fügte er an. »Ich habe fast meinen ganzen Vorrat an Zaubern aufgebraucht. Ohne etwas Ruhe und die Möglichkeit, meine Folianten zu studieren, bin ich sehr in meinen Fähigkei ten eingeschränkt.« »Dann sollten wir uns darauf konzentrieren, Ched Nasad zu verlassen. Über alles andere können wir uns später Gedanken
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machen«, sagte Quenthel. »Sobald Valas zurück ist, werden wir wissen, was er entdeckt hat, und dementsprechend pla nen.« »Die Nachrichten sind unerfreulich«, erklärte der Späher, der wie aufs Stichwort erschien. Er kam über die Mauer geklet tert, an der sie sich niedergelassen hatten. »Alle wichtigen Tore sind entweder schwer bewacht oder heftig umkämpft. Die anderen Stellen, von denen Halisstra gesprochen hat, sind derzeit unzugänglich. Es gibt kein Entkommen.« »Unsinn«, sagte Quenthel mit Nachdruck. »Pharaun, habt Ihr eine Möglichkeit, uns nach draußen zu bringen? Ein Zau ber, der ein Portal öffnet? Irgend etwas?« Der Magier schüttelte den Kopf. »Dann werden wir uns einfach den Weg durch eines der Tore bahnen müssen. Ich bin sicher, daß es uns sieben gelin gen wird.« »Um das herauszufinden, gibt es nur einen Weg«, erwiderte der Magier. Er dachte einen Moment über ihre gegenwärtige Position nach, dann wandte er sich an Valas. »Wir müssen weiter nach oben, über diese Duergar, meinst du nicht?« Valas nickte und antwortete: »In dieser Richtung toben immer noch heftige Kämpfe. Wenn wir ihnen aus dem Weg gehen können, um so besser.« »Dann sollten wir nicht trödeln«, stimmte Pharaun zu. »Wir begeben uns nach oben.« Quenthel war einverstanden, und so machten sie sich alle zum Aufbruch bereit. Als Ryld seine Ausrüstung einpackte, wurde ihm bewußt, wie erschöpft er eigentlich war. Angesichts der Auseinander setzungen in den Tavernen, der Gefechte im Haus Melarn und der Kämpfe gegen Duergar und Spinnen hatte er seit über einem Tag keine Ruhe mehr gehabt.
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Es muß fast Morgen sein, wurde ihm klar, und es ist noch nicht vorüber. Hoffentlich finden wir einen einigermaßen schmerzlosen Weg, um an den Streitkräften vor den Toren vorbeizukommen. Die Gruppe machte sich auf, kam aber immer nur in Etap pen voran, da Jeggred Valas und Danifae von einer Ebene zur nächsten bringen mußte und der Draegloth trotz seiner gewal tigen Kraft aber immer nur einen Dunkelelf auf einmal tragen konnte. Dadurch stieg eine Hälfte der Gruppe bis zur nächsten Netzstraße auf, während Jeggred erst Danifae, dann Valas hol te, wobei die andere Hälfte der Gruppe auf die Rückkehr des Dämons wartete. Die erste Gruppe, die aus Pharaun, Quenthel und Jeggred bestand, der Danifae trug, landete auf einer Netzstraße und stellte fest, daß sie tatsächlich von Drow-Truppen verteidigt wurde. Mehrere Drow richteten die Armbrüste auf sie, doch als sie den Draegloth sahen, gerieten sie fast in Panik. »Was bei den Neun Höllen ist denn das?« rief einer der Soldaten, ein älterer Mann, der zahlreiche Narben aufwies, und deutete mit der Armbrust auf Jeggred. Der Dämon reagierte mit einem tiefen Knurren und stellte sich seinem potentiellen Angreifer, doch Pharaun trat zwi schen den Draegloth und die anderen. »Ruhig«, sagte der Magier und hielt beschwichtigend die Hände ausgestreckt. »Wir wollen nur vorbei. Kein Grund, nervös zu werden.« Neben ihm rümpfte Quenthel die Nase. Als die Drow sa hen, daß ihr die Anwesenheit des Dämons nichts ausmachte, richteten sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Kämpfe unter ihnen. Jeggred schwebte zurück, um Valas zu holen. Pharaun fand eine Stelle, an der er sich setzen und einige Momente lang an eine Mauer gelehnt ausruhen konnte.
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»Ihr könnt es Euch genausogut bequem machen«, sagte er zu den beiden Frauen in seiner Begleitung. »Ruht Euch aus, wenn ihr könnt.« Quenthel warf ihm einen finsteren Blick zu, willigte aber ein, dem Magier gegenüber Platz zu nehmen, und auch Danifae setzte sich hin. Die Ruhepause war jedoch nur von kurzer Dauer, denn we nige Augenblicke später waren auf der Straße in einiger Ent fernung Schreie zu hören. Die Drow um sie herum wurden unruhig, als sich herumsprach, daß Drow eines feindlichen Hauses auf dem Weg hierher waren. Eine Priesterin mittleren Rangs kam durch die Straße gelau fen, begleitet von zwei Magiern. Sie trieben die Truppe an, sich aufzustellen. »Hoch mit euch! Es wird Zeit. Steht auf, ihr nutzlosen Rothé, und kämpft! Kämpft für Haus Maerret!« Als sie Pharaun und die anderen erreichte, blieb sie stehen und sah sie irritiert an. »Was tut Ihr hier? Ihr gehört nicht zu meiner Einheit. Wer seid Ihr?« Pharaun reagierte auf die Priesterin mit der gleichen besch wichtigenden Geste und sagte: »Wir sind auf der Durchreise, wir wollen keinen Ärger machen.« »Nun, dann werdet Ihr Euch der Truppe anschließen. Be gebt Euch nach vorn und helft den anderen Magiern.« »Wir hielten es für sinnvoller, wenn wir helfen, dieses Ende der Straße zu bewachen«, erwiderte Pharaun und lächelte. »Man kann nie wissen, wann diese lästigen Grauen versuchen, uns in den Rücken zu fallen.« »Aufstehen, Magier, und schließt Euch den anderen Zau berwirkern an, und Ihr beide könnt mir helfen, diese Truppe auf Trab zu bringen und für Ordnung zu sorgen. Los, los, Arsch
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hoch ... auf der Stelle!« Pharaun sah, daß Quenthel im Begriff war, auf die Priesterin loszugehen, doch bevor sie eine Szene machen konnte, nahm er die Drow-Befehlshaberin beiseite. »Hört zu«, flüsterte er. »Wir sind eigentlich in besonderem Auftrag Muttermatrone Drisinil Melarns unterwegs! Wir ha ben die Erlaubnis, die Kämpfe zu meiden, solange wir uns auf dieser wichtigen Mission befinden.« »Ach?« erwiderte einer der Magier kühl. »Nun, Drisinil war meine Mutter, und ich weiß, daß sie von Verrätern ermordet wurde, noch ehe dieser Bürgerkrieg überhaupt begonnen hatte. Da Ihr nicht das Emblem eines Hauses tragt, darf ich anneh men, daß Ihr einer der Spione seid, von denen man sagt, sie hätte mit ihnen zusammengearbeitet. Vielleicht ist es an der Zeit, daß Ihr sterbt.« Der Melarn-Magier trat einen Schritt zurück und griff in seinen Piwafwi, doch bevor Pharaun reagieren konnte, hörte er hinter sich eine Stimme. »Hallo, Q’arlynd«, sagte Halisstra, als sie und die anderen neben der Netzstraße nach oben schwebten. Der Melarn-Magier hielt inne und sah die Priesterin ein dringlich an, dann grinste er breit. »Meine liebe Schwester«, rief er. »Ich dachte, du wärst tot!«
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»Als die Kämpfe heftiger wurden, kamen mehrere Muttermat ronen, darunter auch Maerret, zum Hängenden Turm und baten uns, ihnen zu helfen«, erklärte Q’arlynd. »Sie sagten, es sei ein regelrechter Bürgerkrieg und die Rebellen würden die Stadt in Schutt und Asche legen, wenn wir sie nicht aufhalten. Mutter matrone Lirdnolu erklärte mir, was mit Haus Melarn gesche hen war. Ich wußte, daß Mutter tot war, und wir hatten auch erfahren, daß Ssipriina Zauvirr sie hatte umbringen lassen, die ihrerseits Verschwörer von außen an ihrer Seite gehabt haben soll, denen am Untergang Ched Nasads gelegen war.« »Ich dachte, du wärst auch tot«, sagte Halisstra und hockte sich zu ihrem Bruder. »Entweder zusammen mit Mutter ermordet oder beim Un tergang unseres Hauses umgekommen. Ist es wirklich fort?« fragte der Melarn-Magier.
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Halisstra nickte stumm. »Bei Lolth«, sagte er atemlos. »Dieses Familientreffen ist schön und gut, aber wir müssen nach wie vor die Stadt verlassen«, erklärte Pharaun und stand auf. »Wie stellt sich die augenblickliche Lage dar? Wo ist der nächste Ausgang, den wir nehmen können?« Q’arlynd schüttelte den Kopf und erwiderte: »Es gibt kei nen. Alle Tore werden entweder von Rebellen oder von Heer scharen entflohener Sklaven kontrolliert oder sind durch die Kämpfe zusammengebrochen. Dieses alchimistische Feuer, das sich durch den Stein brennt, hat eine verheerende Wirkung ...« »Glaubt mir, das wissen wir«, unterbrach ihn der Meister Sorceres. »Doch Euer Bericht läßt uns nicht viele Möglichkei ten. Wir müssen einen Weg finden, um aus der Stadt zu gelan gen.« Quenthel hatte den Mund aufgemacht, und der Magier konnte sich gut vorstellen, daß sie Pharaun den Befehl geben wollte, er solle gefälligst nach einem Weg suchen, um Ched Nasad zu verlassen, als auf dem Boulevard plötzlich Unruhe aufkam. Pharaun drehte sich gerade noch rechtzeitig um und sah, wie eine Gruppe Drow sich aufzurichten versuchte, nur um dann wieder zu Boden zu gehen, da sich eine zunehmend größer werdende Horde Grauzwerge den Weg freischlug, die allesamt aus einem magischen Portal hervorkamen, das knapp über der Straße mitten in der Luft aufgetaucht war. Die Duer gar strömten hindurch, so schnell sie konnten und schossen mit Armbrüsten auf jedes Drowziel, das sie fanden, ehe sie diese Waffen wegwarfen und zu Äxten, Hämmern und Streit kolben griffen. »Wir werden angegriffen!« ertönte ein Aufschrei, während etliche Drow aufsprangen, um das Vorrücken der Grauzwerge zu stoppen.
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»Los, ihr plattfüßigen Figuren, die eine Schande für jeden Soldaten sind! Steht auf und kämpft, bevor sie uns in Stücke schlagen!« rief die Kampfpriesterin, die vom anderen Ende der Straße zurückkehrte und die Truppen antrieb. »Magier! Zau bert! Drängt sie zurück. Wenn sie den Platz erreichen, ist es um uns geschehen!« Pharaun seufzte und nickte, packte die Kampfpriesterin und drehte sie zu sich, lächelte sie diesmal aber nicht an. »Sagt Euren Truppen, sie sollen sich bis hierher zurückfal len lassen«, forderte er. »Was? Damit sie auf uns zustürmen können, ohne daß sie jemand aufhält? Wohl kaum.« »Tut es, oder sie werden in der Falle sitzen. Errichtet drei Positionen, von denen aus Ihr auf sie feuern könnt, und zwar hier« – er zeigte auf verschiedene Stellen auf der Straße – »da und dort.« Die Kampfpriesterin sah den Magier an, als sei er verrückt, doch schließlich nickte sie und befahl einen organisierten Rückzug. Pharaun rollte mit den Augen, als er die strategische Kurz sichtigkeit der Frau bemerkte, und nahm den Rückzug der Drow selbst in die Hand. Er positionierte die Männer an den Stellen, auf die er gezeigt hatte. Je mehr Drow sich vor den Duergar zurückzogen und sich in die Reihen der anderen ein fügten, desto mehr wurde aus ihnen eine Einheit, die auf die Massen von Duergar das Feuer eröffnen konnten, die ihrerseits die wenigen Drow abschlachteten, denen der Rückzug nicht mehr gelungen war. Die haben wir verloren, sagte sich der Magier. Er wirkte einen Zauber, woraufhin sich eine Fülle von Spinnweben bildete, die die Straße überspannten und zu bei den Seiten mit den Mauern und der Straße verbunden waren.
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Eine Handvoll Elfen hatten sich in den klebrigen Fäden ver fangen, ein gutes Dutzend saß auf der anderen Seite in der Falle. Doch den Duergar war das Vorankommen unmöglich, zumindest so lange, bis sie die Fäden durchtrennt hatten oder der Zauber seine Wirkung verlor. »Kommt«, sagte Q’arlynd und wies nach oben, während er selbst zu schweben begann. Pharaun folgte dem anderen Magier bis zu einer Höhe, von der aus sie den Bereich hinter den Spinnweben sehen konn ten. Dort hatten die Duergar längst die letzten noch verbliebe nen Drow getötet, denen der Weg für den Rückzug abgeschnit ten worden war. Die Duergar liefen umher und schienen unentschlossen, was sie tun sollten. Halisstras Bruder hatte Materialkomponenten in der Hand, und als Pharaun den Klumpen Fledermausguano sah, wußte er, was der Magier vor hatte. »Einen Augenblick«, sagte er und legte eine Hand auf Q’arlynds Arm, »sie warten«, erklärte er und wies auf die Duergar. »Sie wollen, daß ein Schamane oder etwas ähnliches versucht, die Netze aufzulösen. Er wird wahrscheinlich auch derjenige sein, der das Dimensionsportal geöffnet hat.« In diesem Moment trat ein Duergar aus dem Portal heraus, der in lange Gewänder gekleidet war und der etliche Totems und andere magische Gegenstände an sich trug. Einer der Duergar sprach ihn an – Pharaun konnte nicht hören, was er sagte – und wies auf die Spinnweben. Der Schamane nickte und setzte zu einem Zauber an. »Jetzt«, sagte Pharaun. Q’arlynd entfesselte seinen Zauber, der direkt auf den Schamanen gerichtet war. Es war ein Volltreffer, und im glei chen Moment war die gesamte Straßenseite in einen weißglü henden Feuerball gehüllt, der sich einen Augenblick später
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bereits wieder aufgelöst hatte. Die Straße war mit verkohlten und brennenden Duergar übersät. Einige bewegten sich noch, doch insgesamt gab es kaum Überlebende. Wichtiger aber war, daß das Dimensionsportal verschwunden war, sich aufgelöst hatte, als der Schamane gestorben war. Die beiden Magier ließen sich zu Boden sinken und bemerk ten, daß Q’arlynds magischer Feuerball die Spinnweben ent zündet hatte, die rasch verbrannten. Doch schon öffnete sich ein weiteres Portal, diesmal am anderen Ende der Straße. Es veranlaßte die Kampfpriesterin dazu, die Truppen der neuen Bedrohung entgegenzuschicken. »Ihr wißt, daß Ihr nur das Unvermeidbare hinausgezögert habt«, sagte Quenthel, als Pharaun und Q’arlynd zurückge kehrt waren. »Wir vergeuden unsere Zeit. Wir müssen versu chen, die Stadt zu verlassen.« »Ich weiß«, entgegnete der Meister Sorceres. »Aber es hat Spaß gemacht.« »Seht!« rief Danifae und wies auf das neue Portal. Duergar strömten daraus hervor, und gleichzeitig schwebten von den Straßen der Ebenen gleich über und unter ihnen Drow heran. »Es sind Truppen des Hauses Zauvirr«, erkannte Danifae. »Sie haben uns umzingelt.« »Weicht zurück«, befahl die Kampfpriesterin und zeigte in die Richtung, aus der die ersten Duergar gekommen waren. Doch noch während sie ihre Soldaten dirigierte, bohrte sich der Bolzen einer Armbrust in ihr Ohr. Das Geschoß fraß sich durch ihren Kopf und trat am anderen Ohr wieder aus, und noch bevor sie auf dem Straßenbelag aufschlug, war sie längst tot. »Wir sind umzingelt«, rief Q’arlynd. »Wehrt euch!« Er holte einen Stab hervor und beschwor einen heftigen
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Eissturm mit Eisstücken herauf, die so groß waren wie Pha rauns Kopf. Die Brocken prasselten auf die vordersten Reihen der Duergar nieder, schleuderten sie zu Boden und zermalmten sie. Als Reaktion schleuderten die Duergar ihre Feuerkrüge in die zusammenrückende Menge der Drow des Hauses Maerret, die ein leichtes Ziel darstellten. Immer mehr Duergar tauchten auf und formierten sich zu einer schützenden Front, so daß die hinteren Reihen bedenkenlos ihre Armbrüste abfeuern, Feuer krüge werfen und Zauber wirken konnten. Pharaun wußte nicht, wo seine Gefährten waren. Bei der anfänglichen Panik während des Angriffs waren sie voneinan der getrennt worden. Er hatte keine Bedenken, daß sie womög lich nicht auf sich selbst aufpassen konnten, doch je länger sie hierblieben, um so mehr schwanden ihre Chancen, überhaupt die Flucht antreten zu können. Er wirbelte herum und suchte nach einem Hinweis darauf, wo sie sich aufhalten mochten, was durch den dichten Rauch immer weiter erschwert wurde, als plötzlich unmittelbar vor ihm eine Kreatur Gestalt an nahm, die ihm den Rücken zugewandt hatte. Pharauns Fähigkeit, magische Auren zu erkennen, machte ihm deutlich, daß diese Kreatur von irgendwo anders hergeru fen worden war, wahrscheinlich von einer der niederen Ebe nen. Es war ein riesiges Vieh, das annähernd humanoid und mit weißem Fell überzogen war und vier Arme besaß. Es hatte eine fliehende Stirn und eine platte Nase, doch wirklich furchteinflößend waren das weit aufgerissene Maul und die Reißzähne. Das Biest wirbelte herum, knurrte und entdeckte den Magier. Die roten Augen funkelten erfreut, als die Kreatur ihn erblickte und einen Satz nach vorn machte, die Krallen ausgestreckt, um nach dem Meister Sorceres zu schlagen. Pharaun versuchte, sein Rapier ins Spiel zu bringen, doch
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die Kreatur war zu schnell bei ihm und versetzte ihm einen schmerzhaften Schlag auf die Schulter, der ihn mehrere Fuß weit zur Seite schleuderte. Der Magier ging zu Boden, als das Ding sich weiter näherte, mit allen vier Fäusten auf seinen Brustkasten trommelte und ein schreckliches Gebrüll ausstieß. Bei Lolth, dachte Pharaun panisch, während er sich weiter zurückzog und versuchte, sein Rapier zu aktivieren. Aus dem Augenwinkel machte der Magier eine Bewegung aus, dann sah er Valas, wie er hinter die Kreatur eilte und seine Kukris über deren Kniesehnen zog. Die Bestie brüllte, hatte sich aber schneller umgedreht, als es Valas gelungen wäre, wieder zu verschwinden, und schlug mit ausgefahrenen Krallen nach dem kleinen Späher. Pharaun hörte den anderen Drow stöhnen und sah, wie die Wucht des Schlags ihn zu Boden schickte. Das brachte ihm Zeit genug, um sich seinem Rapier zu widmen. Im Geiste be fahl er der schmalen Klinge, zum Angriff überzugehen. Prompt stach sie nach dem Biest, das sich über Valas beugte und sich augenblicklich umdrehte, um zu sehen, wer ihm Schmerz zuge fügt hatte. Valas kam auf die Beine und verblaßte. Das scheußliche Vieh knurrte und grollte, schlug nach dem Rapier, doch die Waffe war zu schnell, wich immer wieder aus und fand mehr als einmal Gelegenheit, wieder zuzustechen. Schon jetzt war das Fell des Monsters von einer Vielzahl klei ner Wunden übersät, die es nur noch zorniger werden ließen, woraufhin Pharaun ein Grinsen unterdrücken mußte. Da die Klinge ihn nun vor einem Angriff schützte, konnte sich der Magier mit einem Zauber befassen. Er gestikulierte und sprach ein paar Silben, und im gleichen Moment war er von einem halben Dutzend Doppelgänger seiner selbst umge ben, die zuckten und herumwirbelten. Gleichzeitig landete ein Feuerkrug vor den Füßen der her
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beigerufenen Kreatur, zerbrach und hüllte sie in Flammen. Sie schrie vor Schmerzen und schlug um sich, so daß Pharaun einige Schritte weit zurückweichen mußte, um zu vermeiden, von dem Ding umgerannt zu werden, das losstürmte, weil es den Schmerzen entkommen wollte. Von Feuer und Schmerz geblendet rannte die dämonische Kreatur über den Rand der Netzstraße hinaus und verschwand in der Tiefe. Pharaun wandte sich wieder dem Kampf zu, sein Rapier zuckte noch immer umher und suchte nach einem neuen Ziel, als der Magier fast seinen Kopf verloren hätte, da eine Reihe wirbelnder Klingen auf ihn zukam. Diesen Zauber kannte er recht gut, da er vor allem bei den Priesterinnen äußerst beliebt war, doch er bezweifelte, daß eine Drow ihn gewirkt hatte. Zwei der wirbelnden Klingen fraßen sich durch seinen Piwafwi und schnitten in seinen Arm, auf dem sich zwei schmale rote Linien bildeten. Instinktiv ließ er sich fallen, um die volle Wirkung des Zaubers zu vermeiden. Allerdings lösten sich einige seiner Duplikate auf, als sie getroffen wurden. Der Ma gier rollte sich aus dem Wirkungsbereich des Zaubers und stand auf. Quenthel hielt sich in seiner Nähe auf, in der einen Hand einen Stab, in der anderen ihre Peitsche, mit der sie nach einem Duergar schlug. Pharaun fiel auf, daß sie gleichzeitig mit dem Stab eine leuchtende, schwebende Erscheinung eines Streithammers lenkte. Sie holte mit der Peitsche nach dem Duergar aus, der einen Satz nach hinten machte. In diesem Moment ließ sie von hinten den Hammer in Aktion treten, der ihm den Schädel zertrümmerte. Der Duergar zuckte ein mal, verdrehte die Augen, dann sank er zu Boden. Ryld kam in Sicht und schlug erbarmungslos mit Splitter um sich. Pharaun sah, daß der Meister Melee-Magtheres gegen drei Drow kämpfte, die – nach der Art zu urteilen, wie sie ihre
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Waffen beherrschten – ebenfalls Waffenmeister zu sein schie nen. Die drei Widersacher bewegten sich um ihn herum, täuschten an, stachen zu und versuchten, den Krieger in die Defensive zu zwingen. Doch Ryld behauptete sich und bewegte sich fließend von einer Stellung in die nächste. Pharaun sah ein Funkeln in den Augen des Waffenmeisters, auch wenn sein Keuchen keinen Zweifel an seiner Erschöpfung ließ. Der Kampf verlangte Ryld völlige Konzentration ab, doch offen sichtlich schien ihm die Herausforderung Spaß zu machen. Schwarze Tentakel nahmen zwischen Ryld und seinen drei Widersachern Gestalt an und tasteten umher. Pharaun sah, wie sich zwei der zuckenden Gliedmaßen am Meister MeleeMagtheres festklammerten, während weitaus mehr von ihnen sich um die Fuß- und Handgelenke seiner Gegner legten. Alle vier waren praktisch gefangen, doch keiner von ihnen war bereit, seine Aufmerksamkeit darauf zu richten, sich aus dem Griff der Tentakel zu befreien. Pharaun reagierte, nahm seinen Stab aus dem Piwafwi und schickte fünf gleißende Lichtpunkte in den ersten der beiden Tentakel, die Ryld festhielten, der daraufhin zuckte und ver schwand. Mit einer raschen Drehung seines Zweihänders durchtrennte Ryld den zweiten schwarzglänzenden Tentakel und machte dann einen Satz in die Luft, als sich weitere zu ckende Gliedmaßen nach ihm streckten. Er schwebte außer Reichweite der drei Waffenmeister, die ihrerseits versuchten, sich von den Tentakeln zu befreien. Bevor ihnen das aber gelang, hatten sich ihnen einige Duergar genähert, die ihre Armbrüste auf die hilflosen Drow abfeuerten und sie rasch töteten. Pharaun sah, daß die Stellungen des Hauses Maerret kom plett überrannt worden waren. Duergar hatten sich von der einen Seite genähert, von der anderen Drow. Die Schlacht war
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nur noch ein wildes Aufbegehren von drei Dutzend Kriegern, die um ihr Leben kämpften. Die wenigen verbliebenen Streiter des Hauses Maerret wurden rasch immer weiter dezimiert. Von allen Seiten rückten die Gegner näher, und bald war Pharaun wieder mit seinen Gefährten vereint, während sich der Kreis um sie immer enger zog. »Uns bleibt keine Zeit!« sagte Quenthel, die unablässig mit ihrer Peitsche ausholte und den magischen Hammer lenkte. »Tut jetzt endlich etwas, Magier!« »Ihr!« hörte Pharaun einen wütenden Aufschrei hinter sich. Er drehte sich um und sah Ssipriina Zauvirr, die sich Quenthel entgegengestellt hatte und die ganze Gruppe wütend anstarrte. »Ihr seid der Grund für all dies!« schrie sie, hob ihren Streitkolben und wies auf die Gruppe. »Ihr hättet nie nach Ched Nasad kommen dürfen!« »Zauvirr!« ertönte ein zweiter Aufschrei von der anderen Seite. Pharaun drehte sich in diese Richtung und sah, wie ein großer Duergar vortrat, der eine ordentliche Rüstung trug und offenbar von hohem Rang war. »Ihr verrückte Drow, ich werde für Euren Tod sorgen!« rief der Duergar. »Verräter!« gab Ssipriina zurück. »Ich hätte wissen müssen, daß ich Euch nicht trauen kann, Khorrl Xornbane. Ihr könnt mit diesen Störenfrieden sterben. Tötet sie!« forderte sie ihre verbliebenen Soldaten auf, die sich in einer Reihe aufstellten. »Tötet sie!« »Tod allen Drow!« brüllte Xornbane und wies seine spärli che Truppe zum Vorrücken an. Pharaun ließ die Schultern sinken. Wir werden niemals von hier fortkommen, dachte er und holte mit seinem magischen Rapier aus.
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Dichter schwarzer Rauch nahm Ryld die Sicht, so daß er in jede Richtung nur ein paar Meter weit sehen konnte. Auf dem Schlachtfeld war es plötzlich sehr ruhig geworden. Es waren keine Explosionen mehr zu hören, nirgends waren Stichflam men von zerberstenden Feuerkrügen zu sehen. Nur das Ge räusch von Stahl, der auf Stahl traf, war zu vernehmen, doch selbst das war äußerst leise. Er trat vor, um sich einem heranstürmenden Kontingent von Duergar entgegenzustellen. Links von ihm stürzte sich Halisstra ebenfalls in die Schlacht, den schweren Streitkolben und einen beeindruckenden Mithralschild zum Einsatz bereit. Quenthel bezog an der anderen Seite des Kriegers Stellung und bewegte versuchsweise die Peitsche hin und her, während sie vorrückte. Die Duergar, die zu Dutzenden vor ihnen standen, schwärm ten aus, um sich der zusammengewürfelten Truppe zu stellen. In ihren Augen leuchtete purer Blutdurst. Zwei Duergar ka men mit hoch erhobenen Streitäxten auf Ryld zu, doch der Waffenmeister parierte den ersten Schlag, der auf seine Schul ter zielte, und wich einem Hieb nach seinen Knien aus. Er schmetterte seinen Zweihänder auf die Streitaxt, deren Griff sauber durchtrennt wurde. Nahezu gleichzeitig mußte er aber schnell einem Stich mit einem Dolch ausweichen, so daß er fast das Gleichgewicht verlor. Er fuhr herum, trat mit seinem Stiefel nach dem Grauzwerg und erwischte ihn am Handge lenk, woraufhin der Dolch durch die Luft flog. Hinter Ryld tauchte ein dritter Duergar auf, der eine Kette über dem Kopf wirbelte. Ryld sah, daß sein Gegner es auf seine Beine abgesehen hatte. Als der Angriff kam, gelang es dem Krieger, hoch genug zu springen, um den metallenen Gliedern auszuweichen, die wirkungslos über die Straße rutschten. Mit ten im Sprung vollzog Ryld eine vollständige Drehung, wäh
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rend er seine Klinge umherwirbelte und die Axt des ersten Grauzwergs traf. Zwar konnte er sie ihm nicht aus den Händen schlagen, doch brachte er seinen Gegner aus dem Gleichge wicht. Als Ryld wieder stand, schlug er nach der Kehle des Duergar, der sich ihm mit der Kette genähert hatte. Der An greifer wich zurück und zog seine Kette an sich, um einen wei teren Versuch zu unternehmen. Dann versteifte er sich vor Schmerz, als Danifaes Morgenstern ihn von einem magischen Funkenregen begleitet genau am Kopf traf. Während die Krea tur zu Boden sank, ging Danifae zum nächsten Angriff über. Ryld widmete sich derweil wieder seinem ursprünglichen Gegner, der inzwischen das Gleichgewicht zurückerlangt hatte und erneut die Axt hob. Sein Gefährte, dessen verletzte Hand schlaff herunterhing, hielt bereits eine kleinere Axt und um kreiste Ryld, um endlich hinter ihn zu gelangen. Ryld wich zurück, als wolle er vermeiden, eingekreist zu werden, während er mühelos weitere Hiebe der Streitaxt abwehrte. Als er sah, daß der Duergar ein weiteres Mal mit seiner Waffe ausholte, schob er die Stiefelspitze in eines der Glieder der Kette und schleuderte sie dem Duergar entgegen. Der Duergar zuckte zurück, und das machte seinen Angriff zunichte. Der Meister Melee-Magtheres sah, daß sich die Handaxt seiner Schulter näherte. Er zuckte zur Seite, so daß die Klinge ihn knapp verfehlte, dann riß er Splitter hoch und durchtrenn te den Arm des Duergar in Höhe des Ellbogens. Der Duergar heulte vor Schmerz, die Wucht des Hiebs ließ ihn nach hinten zurückfallen, während Ryld sich mit seinem Schwert einmal um seine Achse drehte. Als er zum Stehen kam, hatte sich der ursprüngliche Gegner von der Kette befreit und sie wegge schleudert. Ryld bewegte seinen Zweihänder ein paarmal hin und her und bewegte sich wie der Grauzwerg im Kreis, der ihn genauso
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abschätzend ansah wie Ryld ihn. Der Waffenmeister trat einer Folge von Schlägen und Stößen entgegen und führte eine Reihe halbherziger Attacken gegen den Zwerg, die zu keiner Zeit wirklich eine Gefahr darstellten, sondern einzig dem Zweck dienten, herauszufinden, wie sehr sein Gegner gewillt war, sich mit ihm zu messen. Der Duergar wich vor jedem Hieb zurück, was dem Meister Melee-Magtheres sagte, daß er den Kampf bald aufgeben würde, da er annehmen mußte, daß die Zahl seiner Gefährten um ihn herum immer weiter dezimiert wurde. Ryld griff erneut an, wobei er die Klinge flach direkt vor sich hielt. Abermals wich der Duergar zurück. Dann tauchte wie aus dem Nichts Valas aus dem Schatten auf, schnitt mit einem Kukri über die Kniesehnen des Duergar und bohrte ihm die andere Klinge in die Brust, als ihm sein Knie den Dienst versagte. Die Kreatur gab einen röchelnden Laut von sich, als sie fiel. Der Meister Melee-Magtheres richtete seine Aufmerksam keit auf ein neues Ziel, als er sah, daß diese Gefahr nicht mehr existierte. Er entdeckte Jeggred, der einen Drow in Fetzen riß. Nur zwei andere waren zu sehen, die einen Weg suchten, an den Draegloth heranzukommen. Ryld bezweifelte, daß sie das noch lange versuchen würden. Ein anderer Drow versuchte, Pharauns Rapier von sich fernzuhalten, doch Quenthel näher te sich ihm bereits von der Seite. Dann holte die Hoheprieste rin mit der Peitsche aus, damit sich die Schlangen tief in den Hals der Kreatur verbeißen konnten. Durch die stechenden Bisse war der Drow nicht länger in der Lage, sich auf das Ra pier zu konzentrieren, das sich im nächsten Moment in sein Auge bohrte. Ein anderer Kämpfer hatte sich Halisstra entgegengestellt, die mit ihrem Mithralschild einige kräftige Hiebe abwehrte. Beim dritten Schlag des Drow ihr gegenüber benutzte sie den
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Schild, um den Treffer abzuwehren und um den Gegner gleichzeitig aus dem Gleichgewicht zu bringen. Dann holte sie mit dem Streitkolben aus und traf den Widersacher am Kinn. Der Aufprall war ein lauter, dumpfer Knall, eine magische Erschütterung, die eindeutig viel lauter war als das bloße Auf einandertreffen von Metall und Knochen. Mit zertrümmertem Kiefer sank der Drow zu Boden. Keuchend betrachtete Ryld das Schlachtfeld. Neben seinen sechs Gefährten und Halisstras Bruder war nur noch ein gutes Dutzend völlig verausgabter Drow und Duergar auf den Bei nen, die für den Moment den Kampf eingestellt hatten und zusahen, wie der Befehlshaber der Duergar mit Ssipriina Zau virr kämpfte. Der Duergar und die Muttermatrone bewegten sich im Kreis, während Rauch umherzog und nichts von dem erkennen ließ, was sich jenseits der Menzoberranzanyr und der drei Überlebenden des Hauses Melarn abspielte. »Das ist unsere Chance«, sagte Pharaun, der neben Ryld stand. »Gehen wir.« »Nein«, sagten Quenthel und Halisstra im Chor. »Erst, wenn sie fällt«, fügte die Tochter Drisinil Melarns an. Die Herrin Arach-Tiniliths nickte zustimmend und sagte: »Wenn sie ihn tötet, dann nehmen wir uns ihrer an.« Pharaun stöhnte. »Das ist wohl kaum der geeignete Zeit punkt für Rachegelüste, Herrinnen.« Ssipriina täuschte mit dem Streitkolben an, und als der Grauzwerg sich mit einem Satz nach hinten in Sicherheit brachte, zog die Drow einen Stab hervor und richtete ihn auf ihren Feind. Ein dünner Strahl aus grauem Licht trat aus der Spitze des magischen Gegenstands aus und traf den Duergar in den Oberkörper. Er hielt sich die Brust und schrie auf. Er ging stöhnend auf ein Knie nieder, und sofort baute sich Ssipriina vor ihm auf.
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Dann verschwand der Duergar. Voller Wut über diesen Trick schlug die Muttermatrone den Streitkolben auf die Stelle, an der sich eben noch ihr Gegner befunden hatte, traf aber nur die Straße. Sie wirbelte herum und schlug um sich, konnte aber nicht einmal einen Zufallstreffer landen. Der Befehlshaber der Duergar tauchte wieder auf und sprang Ssipriina an, die ihm in diesem Moment den Rücken zuge wandt hatte. Seine Axt hatte er hoch erhoben, doch sein Kriegsgebrüll verriet ihn und gab der Drow Zeit, um sich vor dem Angriff in Sicherheit zu bringen. So traf die Klinge sie nicht am Kopf, sondern strich nur über ihre Schulter und hin terließ eine karmesinrote Spur. Die Muttermatrone schrie auf und taumelte nach vorn. Sie rollte sich zur Seite weg, als Khorrl zum nächsten Hieb aushol te, und feuerte erneut einen Strahl auf ihn ab. Xornbane stöhnte auf, ließ seine Axt fallen und hielt sich den Bauch, dann sank er zu Boden, während er einen röcheln den Todesseufzer ausstieß. Quenthel und Halisstra eilten zu Ssipriina, die versuchte, wieder aufzustehen, und sich ihre verletzte Schulter hielt. Quenthel stellte sich neben die Muttermatrone und schlug mit der Peitsche zu. Die Fangzähne der Schlangen bohrten sich ins Fleisch der Drow, die schmerzerfüllt aufschrie, dann aber her umzuwirbeln versuchte, um den Stab auf die Hohepriesterin zu richten. Halisstra hatte das erwartet und ließ ihren Streitkol ben mit aller Macht auf Ssipriinas Hand niederfahren. Das Geräusch brechender Knochen war unverkennbar. Ringsum nahmen die Duergar und Drow den Kampf wieder auf, und Ryld mußte sich ducken, um einem Schwert auszu weichen, mit dem einer der Drow nach ihm ausholte. Er kniete sich hin und drehte Splitter um, so daß er die Spitze der Klinge
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in den Bauch des Gegners treiben konnte. Der Drow spuckte Blut und sank zu Boden, während sein Blick auf der Klinge in seinem Leib ruhte. Teilnahmslos stellte Ryld seinen Fuß auf die Brust des Drow, damit er seinen Zweihänder freibekommen konnte. Dann wandte er sich ab, um zu sehen, was sich zwi schen den Frauen abspielte. Quenthel hatte Ssipriinas Haar gepackt und hielt so deren Kopf hoch. Die Muttermatrone war an beiden Armen verletzt, so daß sie sie kaum heben konnte, um sich zu schützen. Au ßerdem begann das Gift, Wirkung zu zeigen. »Hört auf!« schrie Quenthel die Krieger um sich herum an. »Hört auf! Sofort!« Langsam hielten die Duergar und die Drow inne und dreh ten sich zu ihr um. »Es reicht«, sagte die Meisterin Arach-Tiniliths, deren Stimme in der diesigen Luft widerhallte. »Das ist sinnlos. Die Stadt brennt, und wir müssen hier weg. Wenn ihr bleibt und versucht, eure Feinde zu töten, werdet ihr nur euch selbst um bringen. Das ist nicht die Art der Drow, und ich kann mir nicht vorstellen, daß es die Art der Duergar ist.« Ringsum war Gemurmel zu hören, als die Dunkelelfen und die Grauzwerge einander voller Haß ansahen. Ryld bemerkte aber, daß viele von ihnen den Kopf schüttelten und so zu ver stehen gaben, daß sie Quenthels Ansicht teilten. »Wenn ihr noch eine Chance auf Überleben haben wollt, dann geht getrennte Wege und verschwindet von hier, bevor die ganze ...« Die Netzstraße wurde heftig erschüttert und ließ jeden um die Balance ringen. Ryld, der schon kniete, schaffte es, das Gleichgewicht zu wahren. Er sah sich um. Der gesamte ver steinerte Strang war instabil und neigte sich stark zur Seite. Ryld wußte, daß ihre Zeit um war, und begann zu schweben.
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Dann machte er aus, was für die Erschütterung verantwortlich gewesen war, als ihr eine zweite folgte, die die ohnehin schon im Zerfall begriffene Straße weiter in eine Schieflage brachte. Eine Riesenspinne hatte sich von weiter oben herabgelassen und eilte nun auf sie zu. Hinter ihr ließ sich eine zweite an einem Faden herab, der eben von ihr gesponnen wurde. Verdammt, dachte Ryld. Es hört einfach nie auf. Er ließ seinen Blick schweifen und suchte nach einem Weg, der sie vor den nahenden Bestien in Sicherheit bringen konn te. Pharaun tauchte neben dem Waffenmeister auf, schwebte in der Luft und betrachtete die Spinnen. »Ich glaube, davon hatte ich wirklich genug«, kommentier te der Magier trocken und ließ seinen tanzenden Rapier wieder in seinem Ring verschwinden. Ryld sah Quenthel und Halisstra, die noch immer über der langsam sterbenden Ssipriina standen. Er wies auf die beiden. »Sie wissen es noch nicht«, sagte er und ließ sich zu Boden sinken. »Wir müssen sie warnen!« Sobald der Waffenmeister wieder Boden unter den Füßen hatte, lief er auf sie zu, wobei er darauf achtete, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. »Spinnen!« rief er, als er sich ihnen näherte. Quenthel sah auf und erschrak. Jeggred tauchte aus dem Dunst auf, sein Fell war mit schwarz werdendem Blut überzo gen. »Wir wissen noch nicht, wo wir entlang müssen«, sagte Pharaun mit leicht verzweifelter Stimme, als er zu Ryld stieß. »Für den Moment ist die Strategie wohl die, uns erst einmal seitwärts von der Straße zu entfernen.« »Nutzt Eure Magie«, befahl Quenthel. »Bringt uns hier weg!«
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»Glaubt mir, Herrin«, erwiderte er und spreizte hilflos die Hände, »wenn ich die Mittel dazu hätte, würde ich sie einset zen. Aber es ist nichts mehr übrig. Ich kann nicht einfach mit dem bloßen Willen ein Portal öffnen.« Die erste Spinne kam näher, und Jeggred ging ihr entgegen, entschlossen, sich zwischen der Riesenspinne und seiner Her rin zu halten. Valas gesellte sich zu der Gruppe und zog Dani fae an der Hand mit sich. Die Kriegsgefangene hatte eine tiefe Schnittwunde an der Stirn davongetragen, und Blut lief ihr in die Augen, was es ihr schwermachte, etwas zu sehen. »Wartet!« sagte Ssipriina, deren Kehle von dem Gift all mählich zugeschnürt wurde. »Ich kenne ... einen Weg ... nach draußen ... rettet mich ... vor dem ... Gift...« »Was?« fragte Pharaun. »Wo entlang? Führt uns hin!« »Sagt es, elende Kreatur«, befahl Quenthel. »Hängender ... Turm«, erwiderte die sterbende Muttermat rone. »Altes ... unbenutztes ... schlafendes Portal ... Gift ... bitte ...« Quenthel ignorierte Ssipriinas Flehen und wandte sich an Pharaun. »Könntet Ihr es aktivieren?« »Ich würde mein bestes tun«, sagte Pharaun. »In welche Richtung?« »Da ...«, flüsterte Ssipriina und sah nach oben. Ryld folgte ihrem Blick und entdeckte ein großes Gebäude in der Form eines Stalaktiten, das über ihnen hing. Er stöhnte auf, als er den umgekehrten Turm sah, von dessen Art es auch in Menzoberranzan etliche gab. »Wir haben nicht genug Zeit, um dorthin zu gelangen!« schrie Pharaun. »Wieso nicht?« fragte Q’arlynd Melarn und hob zum Beweis vom Boden ab. »Wir schweben einfach!« »Das können nicht alle von uns«, gab Pharaun zurück.
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»Wie ich heute mehr als einmal angemerkt habe, verfüge ich über keine Transportzauber mehr.« »Danifae bleibt zurück«, erklärte Quenthel. »Tut mir leid, aber anders geht es nicht.« Danifae sank auf die Knie und beugte den Kopf. Sie schien ihr Schicksal zu akzeptieren, doch Ryld tat die Drow leid. Als wolle jemand unterstreichen, wie sehr die Zeit drängte, gab der Untergrund wieder ein wenig nach. Ryld hob vom Boden ab, um nicht abermals das Gleichgewicht zu verlieren. Alle taten es ihm nach, abgesehen von Valas und Danifae. Q’arlynd schüttelte den Kopf. »Das wußte ich nicht.« Dann zuckte er die Achseln und meinte nur: »Wir sollten aufbre chen.« »Wartet!« sagte Halisstra. »Ich kann uns hinbringen«, schlug die Priesterin vor. Pharaun und Quenthel drehten sich um und sahen sie an. »Das könnt Ihr?« fragte der Magier. »Ja«, bestätigte Halisstra. »Ich dilettiere selbst ein wenig in Magie. Anders als Euer Stil, aber einige Dinge sind identisch. Ryld sagt, daß Ihr gern Dimensionsportale benutzt. Das kann ich.« Pharaun bedeutete ihr, sich zu beeilen. »Öffne es auf der Hauptgalerie«, rief Q’arlynd Halisstra zu und wies nach oben. »Wo ich dich damals mit hinnahm?« Eine weitere Erschütterung erfaßte die Netzstraße, die sich wild aufbäumte. Danifae und Valas fielen hin und wären fast über den Rand gerutscht. Die erste Spinne hatte sie beinahe erreicht, und Jeggred stellte sich ihr, indem er aufstieg, um ihren Kopf anzugreifen. Ryld sah sich hektisch um, als die Spinne sich aufbäumte und nach dem Draegloth schnappte, woraufhin die Netzstraße wieder heftig zitterte, diesmal jedoch sogar so heftig, daß der Stein zu bersten begann.
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»Die Straße wird abbrechen!« brüllte Ryld. »Öffnet das Portal!« rief Pharaun, als ein Stück Straße nur wenige Meter von ihnen entfernt abbrach. »Wir müssen jetzt hindurchgehen!« »Nein!« schrie Ssipriina und hielt mit beiden Händen den Stab, mit dem sie Khorrl besiegt hatte, während sie so stand, daß sie ihr Gleichgewicht einigermaßen halten konnte. Sie murmelte etwas und richtete den grauen S’trahl auf Ha lisstra, der sie am Bein traf und sie vor Schmerz zusammenkni cken ließ. »Ihr ... werdet ... mit mir ... sterben«, rief die besessene Mut termatrone und richtete den Stab auf Quenthel. »Keiner ... kommt hier ... lebend raus.« Quenthel konnte nicht fliehen, da sie in der Luft schwebte. Sie betrachtete die rasende Drow ihr gegenüber und leckte sich verzweifelt die Lippen. »Das glaube ich nicht!« rief Halisstra, die wieder aufrecht stand. Ehe Ssipriina den Stab wieder auslösen konnte, wirbelte die Priesterin herum und schwang ihren Streitkolben mit beiden Händen. Er traf die Muttermatrone mitten ins Gesicht, ein lautes Klatschen war zu hören, und Ssipriina wurde fast vier Meter weit nach hinten geschleudert. Ihr Gesicht war nur noch eine blutige Masse aus Fleisch und Knochen. »In den Abgrund mit Euch!« schrie Halisstra den leblosen Körper von Ssipriina Zauvirr an. Dann umfaßte sie wieder stöhnend ihr Bein und wirkte ei nen Zauber, während die Netzstraße sich um ein weiteres Stück neigte. Sie sang und erhob ihre Stimme über das Tosen des Kampfs. Ryld hatte noch nie solche Laute gehört. Halisstra hielt einen einzelnen, vollkommenen Ton, bis vor ihr in der Luft ein bläulich-weißes Portal Gestalt annahm.
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»Jeggred! Los!« rief Quenthel und bewegte sich auf das Por tal. Der Draegloth stellte seine Angriffe gegen die Spinne ein und wich zurück. Als er die Gruppe erreicht hatte, griff er sich Valas, während Halisstra Q’arlynd half, Danifae zu fassen zu bekommen. Pharaun warf sich durch die Öffnung. Ryld folgte dem Magier, um ihn vor möglichen Gefahren auf der anderen Seite zu schützen, just als die Straße nachgab und in die Fins ternis hinabstürzte. Er hoffte, daß die anderen unmittelbar hinter ihm waren.
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In dem Moment, als sich das Portal öffnete, tauchte Pharaun hindurch und hoffte, daß er keinen Fehler machte, den Kin dern des Hauses Melarn sein Leben anzuvertrauen. Immerhin war es denkbar, daß Halisstra sich just diesen Augenblick aus gesucht hatte, um sich an den Menzoberranzanyr für alles zu rächen, was die ihrer Familie, ihrem Zuhause und ihr selbst angetan hatten. Das Recht dazu hatte sie. Doch das Portal beförderte den Magier nicht in ein tosendes Feuer oder in eine Schlangengrube. Vielmehr landete er in einem üppig ausstaffierten Saal, sah sich dort allerdings einer riesigen, sabbernden Echse mit unglaublich scharfen Zähnen gegenüber. Das Wesen entdeckte ihn und kam rasch auf ihn zu, als betrachte es ihn als die nächste Mahlzeit. Der Magier reagierte blitzschnell und wich zurück, während er mit einem Zauber eine Reihe schwebender Kugelblitze entstehen ließ. Als die Echse auf ihn zuschoß, lenkte Pharaun
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stehen ließ. Als die Echse auf ihn zuschoß, lenkte Pharaun die Kugelblitze so, daß sie die Kreatur trafen und dabei Funken sprühten. Die Bestie zuckte und wich zurück, doch Pharaun war unerbittlich und ließ alle Kugelblitze auf das Geschöpf niedersausen. Nach dem vierten Treffer ging die Echse zu Bo den, zuckte ein paarmal und blieb dann reglos liegen. »Was beim Abgrund ist das?« fragte Ryld, als er mit Splitter in der Hand aus dem Portal trat. »Sind wir hier richtig?« »Zum Glück ja«, erwiderte Pharaun und sprang auf. Ein Be ben ging durch das Gebäude und ließ ihn nach vorn stolpern. »Leider hat Halisstra, die noch niemals hiergewesen sein dürf te, nichts von den Wachtieren im Inneren gesagt. Oder Q’ar lynd hat vergessen, uns zu warnen.« »Bei Lolth!« rief Danifae, als sie nach ihrem Sprung durch das Portal die Bestie entdeckte. Sofort hob sie ihren Morgens tern. »Ist es tot?« »Ich will es hoffen«, sagte Valas, der sich direkt hinter ihr befand. Der Späher hatte seine Kukri gegriffen und sah die tote Echse an. Der Raum erzitterte erneut, und ein Teil der Wand stürzte ein, wodurch der Blick auf die Stadt freigelegt wurde. Alle stellten sie sich breitbeinig hin, um nicht das Gleichge wicht zu verlieren. Einer nach dem anderen kam durch das rettende Portal, Jeggred bildete den Abschluß der Gruppe. »Die ganze Stadt bricht zusammen«, erklärte der Draegloth. Sobald er hindurch war, ließ Halisstra das Portal verschwin den. »Die Steine müssen mit solcher Gewalt aufschlagen, daß die ganze Höhle erzittert.« Der Dämon klang für den Geschmack des Magiers viel zu sachlich. Halisstras Bruder wirkte einen Zauber, der Pharaun unbe kannt war. Er begann eine Aura der Erkenntnismagie auszu
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strahlen – das erkannte Pharaun mit Hilfe seines Rings –, während er sich umsah, als würde er die Witterung aufneh men. »Das Portal liegt in dieser Richtung«, erklärte Q’arlynd dann und führte die Gruppe in einen Korridor. »Kommt.« Die Gruppe tat, was der Melarn-Magier gesagt hatte, und ging durch eine Reihe von Gängen, mehrere Treppen hinauf und dann in einen weiteren Gang, der aber offenbar schon länger nicht mehr benutzt worden war. Auf dem Weg dorthin wurde das Gebäude immer wieder erschüttert, doch diesmal war es mehr ein tiefes Grollen, das im gesamten Unterreich nachhallte. »Wenn das nicht klappt ...«, setzte Quenthel an, doch Pha raun fiel ihr ins Wort. »Es wird klappen. Ich werde einige Augenblicke brauchen, um mich damit zu befassen, aber es wird klappen.« »Darauf solltet Ihr auch besser hoffen, Magier«, murmelte Quenthel. Q’arlynd führte sie bis zum Ende des Gangs und blieb vor einer offenen Tür stehen. »Es ist hier drin«, sagte er, »aber es ist magisch versiegelt und mit Schutzzeichen versehen. Ich habe keine Möglichkeit, sie zu überwinden.« Pharaun kniete sich hin, um die Öffnung zu betrachten. Die Barriere zwischen dem Flur und dem größeren Raum auf der anderen Seite war zwar unsichtbar, aber massiv. Pharaun sah, daß sie Magie ausstrahlte. »Wenn ich über die richtige Magie verfügte«, sagte der Meister Sorceres, »könnte ich das Hindernis binnen Sekunden überwinden. Aber unter den gegebenen Umständen kann ich nichts tun, solange ich mich nicht erholt und meine Zauber aufgefrischt habe.«
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»Habt Ihr noch ein magisches Portal zur Verfügung?« fragte Quenthel Halisstra. Die Priesterin schüttelte den Kopf und streckte den Arm aus, um sich abzustützen, als eine weitere Erschütterung das Gebäude durchfuhr. »Was sollen wir nun tun, Magier?« fragte die Herrin ArachTiniliths. »Wir können nicht hier herumsitzen, bis Ihr Eure magische Energie wieder aufgeladen habt.« »Das ist wahr«, entgegnete der Magier. »Gebt mir etwas Zeit.« »Wir haben keinen Augenblick Zeit!« Während Pharaun über ihre Notlage nachdachte, gab es ei ne weitere Erschütterung, die noch heftiger war als die voran gegangenen. Alle wurden zu Boden geworfen, und hinter ih nen stürzte ein großer Teil der Decke ein und überschüttete sie mit Steintrümmern. »Das wird langsam langweilig«, beklagte sich Quenthel und stand wieder auf, die Miene auf das finsterste verzogen. »Ich werde nicht wie ein in einem Käfig gefangenes Tier sterben! Nicht nach allem, was ich durchgemacht habe.« Jeggred knurrte und schritt zur Tür, wo er begann, die un sichtbare Barriere mit den Klauen zu bearbeiten, ohne aller dings einen Erfolg zu bewirken. Statt dessen zuckte elektrische Energie über seinen Leib, die ihn aber nicht davon abhielt, sich wieder und wieder nutzlos gegen die Öffnung zu werfen. »Jeggred, hör auf«, wies Quenthel ihn schließlich an. »Du hilfst uns nicht weiter.« Mit einem weiteren kehligen Laut entfernte sich Jeggred von der Tür. »Wenn wir es nicht dort hindurch schaffen«, sagte Danifae zu Pharaun und achtete genau darauf, wie sie jedes Wort be tonte, »werden wir hier zermalmt. Tut etwas!«
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»Schon gut«, erwiderte der Magier und hob eine Hand. »Das Problem liegt darin, daß wir keine Möglichkeit haben, die Tür von innen zu öffnen. Die Magie, die uns den Zutritt verwehrt, hindert mich daran, auch nur den kleinsten Zauber zu wirken. Wäre ich auf der anderen Seite, könnte ich die Barriere von Hand entfernen, doch das ist einfacher gesagt als getan. Das ist alles. So ein simpler Trick, und doch nicht zu überwinden ...« Er sah sie alle traurig an. »Warte«, sagte Ryld und näherte sich dem Magier. »Weg da.« Dann hob er Splitter hoch über den Kopf und ließ die Klinge mit aller Macht auf die Barriere niederfahren. Die ma gische Waffe schnitt sich mit einem Lichtblitz hindurch, und Pharaun sah, wie die magische Ausstrahlung des Siegels verblaßte. Die Magie war dem Schwert unterlegen gewesen. »Lolth sei Dank«, sagte irgend jemand, als die ganze Gruppe in die dahinter gelegene Kammer stürmte. »Nun gut, Magier, dann bringt uns nun hier raus«, sagte Quenthel und klang verzweifelt, »und zwar schnellstens.« »Wir werden jeden Augenblick von hier verschwunden sein«, gab Pharaun zurück und bedeutete Q’arlynd, ihm den Weg zu zeigen. Der Melarn-Magier führte die Gruppe durch den großen Raum, der an eine Bibliothek erinnerte, auch wenn die Regale komplett leer waren. Statuen säumten die Wände. Q’arlynd ging zu einer Stelle im hinteren Teil des Raums, die wie ein Torbogen aussah, aber derzeit nirgendwo hinführte, sondern zugemauert war. Allerdings war sie von einer starken Aura von Verwandlungsmagie umgeben. »Hier«, sagte er. »Exzellent!« erwiderte Pharaun und grinste, als er die Stel le genauer untersuchte. »Jetzt brauche ich nur noch einen
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Augenblick, um –« Der Magier wurde mitten im Satz unterbrochen, als ein Zit tern durch den Boden lief, ausgelöst durch eine Erschütterung, der immer neue folgten, die sich aber von dem bisherigen Poltern und Grollen unterschieden. Pharaun stöhnte, als er über seine Schulter sah. Eine gewaltige Eisenstatue näherte sich ihnen langsam, aber unaufhaltsam. Bei jedem Schritt erbebte der Boden unter dem immensen Gewicht der Statue. »Lolth behüte uns«, sagte Ryld und ging in Abwehrstellung. »Was ist das?« »Ein magisches Konstrukt«, antwortete Pharaun. »Ein Go lem. Gegen ihn kann ich nichts tun.« Ryld sprang nach vorn, um auf den Golem einzuschlagen. Seine Klinge traf das Ding und glitt ab. »Wenn der Golem ausatmet, darf niemand hier einatmen«, rief Pharaun warnend. Jeggred knurrte und sprang der Kreatur entgegen, damit er sie angreifen konnte. Als Reaktion darauf holte das riesige Konstrukt aus und rammte eine gewaltige Faust dem Draegloth in die Rippen, woraufhin er schmerzerfüllt aufstöhnte und durch den Raum gewirbelt wurde. Jeggred landete auf Klauen und Knien und schüttelte den Kopf. Ryld stieß wieder vor, achtete dabei aber auf das große Schwert in der anderen Hand des Golems. Als der Waffen meister eine Lücke in dessen Verteidigung erkannte, sprang er nach vorn und hieb wieder auf die metallische Haut des Kon strukts ein. Funken flogen, als Splitter eine tiefe Furche in die Seite des Golems schnitt. Ryld wirbelte herum und duckte sich, während er versuchte, hinter dem Ding zu bleiben. Erneut wurde der Raum erschüttert, und hinter dem Golem stürzte ein Teil der Decke ein, wodurch die Regale zertrüm mert und Holzstücke durch den Raum geschleudert wurden.
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Pharaun ging auf ein Knie, um nicht umgerissen zu werden, dann sah er, daß der gegenüber gelegene Teil des Raums nicht einfach nur in sich zusammengebrochen, sondern komplett weggebrochen und verschwunden war. Der Hängende Turm brach um sie herum zusammen, so wie es zuvor dem Haus Me larn ergangen war. jenseits des klaffenden, gezackten Lochs war das diesige Leuchten der brennenden Stadt zu sehen. Ih nen lief die Zeit davon. »Vergeßt den Kampf«, sagte Quenthel, packte den Magier am Kragen und drehte ihn zu sich herum. »Öffnet das Portal, weiter nichts! Jetzt!« Pharaun nickte und wandte sich ab, als Jeggred Ryld zu Hil fe kam. Auch Valas, Halisstra und Q’arlynd umstellten das Konstrukt und versuchten, dessen Aufmerksamkeit immer wieder auf ein anderes Mitglied der Gruppe zu lenken, damit dann ein anderer angreifen konnte. Pharaun ignorierte den Kampf der sich hinter ihm abspielte, und konzentrierte sich darauf, das magische Leuchten des Portals zu studieren. Er brauchte einige Augenblicke, um den Schlüssel zu erkennen, der es aktivieren würde. »Schnell!« drängte Quenthel, die ihm über die Schulter sah. Pharaun sah die Hohepriesterin eindringlich an. »Hetzt mich nicht«, erwiderte er und widmete sich wieder dem Portal. Hinter dem Magier war ein Stöhnen zu hören, dann sackte Ryld neben ihm zusammen. Der Waffenmeister schüttelte den Kopf, offenbar, um ihn wieder freizubekommen, dann stand er auf. »Schnell«, zischte der Waffenmeister. »Ich weiß nicht, wie lange wir dieses Ding aufhalten können.« Pharaun rollte mit den Augen und konzentrierte sich wie
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der auf seine Arbeit. Als der Boden bebte, da die Grundfesten des Gebäudes einmal mehr erschüttert wurden, fiel er auf die Seite. »Ich habe es gleich«, sagte der Meister Sorceres, als die Wand gleich neben dem Portal wie von einer Explosion zerris sen wurde. Trümmerstücke trafen den Magier und raubten ihm die Luft, als er nach hinten geschleudert wurde. Er spürte, wie der Boden bebte, aber nicht einfach nur durch eine Erschütterung bedingt, sondern weil das gesamte Gebäude in Bewegung gera ten war. Er wußte, daß es abstürzen und damit ihre einzige Fluchtmöglichkeit aus der Stadt zunichte machen würde. Der Magier setzte sich mühsam auf und sah sich um. Was von dem Raum noch übrig war, war deutlich kleiner als zuvor. Der Eisengolem balancierte am Rand des Fußbodens, dann machte er einen Schritt auf seinen nächsten Gegner zu, was dazu führte, daß der Stein unter seinem Fuß verdächtige Ge räusche machte. Die gesamte Gruppe lag am Boden, halb unter Schutt und Staub begraben, und gleich hinter Valas war der Boden weggerissen. Dort klaffte ein riesiges Loch, das den Blick auf die Stadt freigab. Der Steinboden ächzte erneut, als der Golem sich dem Späher näherte, woraufhin Valas sich in Richtung der Öffnung wegrollte. »Jeggred«, schrie Pharaun. »Pack Valas!« Noch während er die Worte sprach, kippte der benommene Valas nach hinten weg und verschwand in dem Loch. Der Draegloth, der unter einem großen Trümmerstück begra ben lag, stieß einen so schrecklichen Wutschrei aus, daß Pha raun das Blut in den Adern gefror. Der Dämon kämpfte sich frei, machte einen gewaltigen Satz und sprang dem Späher hinterher. Der Golem holte mit dem Schwert nach dem Dämon aus, war aber zu langsam. Nachdem Jeggred für ihn unerreichbar
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war, konzentrierte sich der Golem auf sein nächstes Opfer. Q’arlynd lag mit dem Gesicht nach unten auf der Erde und regte sich nicht. Ein Stück neben ihm hing Danifae über den zertrümmerten Resten eines Regals. Die Wunde an ihrer Stirn blutete. Der Golem machte einen weiteren Schritt und ließ den strapazierten Boden so ins Wanken geraten, daß Pharaun fast hinfiel. Wir werden es nicht schaffen, dachte der Magier und suchte nach einer Möglichkeit, wie er den Golem davon abhalten konnte, die Bewußtlosen zu töten. Aus dem Augenwinkel sah Pharaun, daß Ryld sich erhob. »Hilf ihnen!« rief er dem Freund zu und wies auf Danifae und Q’arlynd. Der Waffenmeister hatte eine klaffende Schnittwunde auf der Stirn davongetragen, doch seine roten Augen wirkten klar. Als er die Kriegsgefangene und den Melarn-Magier entdeckte und sah, daß sich der Golem in ihre Richtung bewegte, nickte er. Der Raum geriet noch mehr in Schräglage, so daß Pharaun ein Stück rutschte. Vor ihm klaffte die gähnende Schwärze der Höhle, doch er ignorierte den erschreckenden Anblick und sah zu Ryld. Der Waffenmeister schätzte die Entfernung zum Golem ab, der Danifae nahe genug gekommen war, um sein Schwert zu heben, damit er ihr einen tödlichen Schlag verpassen konnte. Ryld machte einen Satz und lief, so schnell er konnte, was durch die Schräglage des Raums begünstigt wurde. Als er nur noch ein kleines Stück von ihm entfernt war, sprang er hoch und trat den Golem mit beiden Füßen in den Leib. Die Wucht des Aufpralls warf Ryld zurück auf den Boden, während der Golem von dem Angriff kaum Notiz nahm. Dann erkannte Pharaun, daß das Konstrukt ins Wanken geraten war und einen Schritt nach hinten machen mußte, um
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raten war und einen Schritt nach hinten machen mußte, um das Gleichgewicht zurückzulangen, und wäre der Boden eben gewesen, hätte die Aktion die gewünschte Wirkung gezeigt, doch das starke Gefälle in Verbindung mit dem immensen Gewicht des Golems hatte genau das Gegenteil zur Folge. Er mußte noch einen Schritt zurückweichen und geriet dadurch bereits bedenklich nahe an den Rand. Dann kippte der Raum noch mehr und verstärkte die Schräglage weiter. Der letzte wankende Schritt brachte den Golem zu Fall, jedoch nicht nach hinten, sondern nach vorn, so daß er vornüber zu Boden ging. Er stützte sich auf ein Knie ab und griff nach Q’arlynd, der gerade das Bewußtsein wiedererlangte und benommen den Kopf schüttelte. Der von Rissen durchzogene Boden konnte das Gewicht des Konstrukts nicht länger tragen und gab nach. Dennoch gelang es dem Golem, den Magier zu packen, der schmerzerfüllt auf schrie. Ryld machte zwei Schritte nach vorn, um den Mann zu retten, doch Q’arlynd wurde von dem Golem mitgezogen und rutschte in das klaffende Loch. »Nein!« schrie Halisstra von der anderen Seite des Raums. Sie eilte zur Kante, doch Ryld packte sie und zog sie kopf schüttelnd zurück. Niedergeschlagen wandte sich Pharaun wieder dem Portal zu. Er glaubte, seine Funktionsweise erkannt zu haben, und streckte die Hand aus, bereit, die Magie des Portals zu aktivie ren, hielt aber inne. Etwas kam ihm ... falsch vor. Der Raum neigte sich weiter und zwang den Magier zu schweben, damit er seine Position halten konnte. Hinter sich hörte er eine der Frauen überrascht aufschreien, ignorierte es aber. Sein Blick war weiter auf die magische Aura gerichtet, als er mit einem Mal erkannte, daß er etwas Illusorisches sah. Er hatte es bis lang nicht bemerkt, doch als er verstand, worauf er achten
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mußte, war es viel deutlicher. »Pharaun«, rief Quenthel, als sich alle um ihn versammelt hatten. »Wenn Ihr dieses Ding zum Laufen bringen könnt, dann tut es endlich! Die Stadt bricht zusammen!« Der Magier schüttelte vor Unglauben darüber, was er hatte tun wollen, den Kopf und begann, einen Zauber zu wirken, von dem er nicht gedacht hätte, daß er ihn an diesem Tag wirklich würde gebrauchen können. Jetzt war er dankbar, daß er ihn studiert hatte. Aus einer seiner vielen Taschen holte er eine Salbe hervor und bestrich damit seine Lider. Schlagartig wurde alles für ihn sichtbar, was den Torbogen anging. Er sah die Runen, die ihm bis dahin verborgen geblieben waren, und wirkte einen zweiten Zauber, um sie zu entziffern. Dann fand er, wonach er gesucht hatte, als er in den Texten das Kom mandowort entdeckte. »Ich habe es!« rief er. »Macht Euch bereit!« Pharaun trat zurück und sprach ein Wort laut aus, worauf hin das Portal in tiefstem Purpur zu leuchten begann. Das ganze Objekt bekam ein Gefühl der Tiefe, der Entfernung. Die Steine im Torbogen verblaßten und machten einem Vorhang aus Licht Platz. Pharaun sah seine Gefährten und brüllte: »Es ist bereit! Tretet hindurch!« Quenthel stand ihm am nächsten, zögerte jedoch. »Wohin führt es?« wollte sie wissen. »Ich weiß nicht«, gab Pharaun zu. »Die Schrift am Rande erwähnt etwas von einer Stadt, aber ich kenne den Namen nicht. Wir werden es auf der anderen Seite herausfinden.« Quenthel schüttelte den Kopf. »Nein. Jemand anders muß zuerst durchgehen.« Ryld, Halisstra und Danifae hatten sich um sie geschart, wobei der Waffenmeister Danifae festhielt, damit sie auf dem
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geneigten Boden nicht in den Tod rutschte. Die anderen schwebten. Ryld schob Danifae auf die Öffnung zu und sagte: »Ich bin hinter Euch.« Der Meister Melee-Magtheres brachte die Kriegsgefangene dem Bogen näher. Danifae warf einen letzten verbitterten Blick zurück, nickte und beugte sich nach vorn. Im nächsten Moment war sie verschwunden, und einen Herzschlag später machte Ryld einen Satz nach vorn, gefolgt von Halisstra. Pharaun sah Quenthel an. »Und?« fragte er. »Ihr zuerst«, erwiderte sie und sah das Portal zweifelnd an. »Nein«, sagte der Meister Sorceres. »Ich muß als letzter ge hen. Weil ich das Tor geöffnet habe, wird es sich nach mir wieder schließen.« »Was ist mit Jeggred?« »Ich werde auf die beiden warten, so lange ich kann«, sagte Pharaun, während das Gestein um sie herum wieder zu ächzen begann. Die Reste des Gebäudes kippten noch weiter, und Quenthel riß die Augen auf. »Wir haben keine Zeit mehr. Geht!« drängte Pharaun und schob Quenthel auf die Öffnung zu. Wutentbrannt wirbelte die Hohepriesterin herum und griff nach ihrer Peitsche, deren fünf Schlangen schon wild zuckten und nach dem Magier zu schnappen versuchten, obwohl sie noch an ihrer Hüfte hingen. In dem Moment kippte das Gebäu de noch weiter, und Quenthel verlor den Halt. Sie stieß gegen den Magier, die Schlangen bissen in den Stoff seines Piwafwi. Pharaun packte sie und half ihr wieder auf. »Bitte«, sagte er. »Wir haben keine Zeit mehr.« Quenthels finstere Miene hellte sich ein wenig auf, und sie
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sah den Magier mit einem flüchtigen Lächeln an. »Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich glauben, Ihr laßt nach, Magier.« Dann verschwand sie im Torbogen. Pharaun schüttelte verwundert den Kopf und sah sich um, ob er Jeggred und Valas irgendwo entdecken konnte. Der Bo den war so schief, daß der Magier bis zum Rand rutschen konn te, um hinunterzuspähen. Tief unter sich sah er die beiden, die sich so schnell nach oben bewegten, wie Jeggred konnte. Steinblöcke und andere Trümmer stürzten in die Tiefe, und sogar Pharaun riß ein Fragment aus dem Boden los, als er nur darauftrat. Er zuckte zusammen, als er sah, wie das Stück den beiden entgegenfiel, sie aber zum Glück verfehlte. Unerträglich langsam erreichten der Draegloth und Valas das, was vom Gebäude noch übrig war. Gemeinsam kämpften sie sich nach oben zum Torbogen, von dem noch immer ein intensives Leuchten ausging. »Die anderen warten auf der anderen Seite«, erklärte Pha raun und wies auf das Portal. »Ich muß als letzter hindurchge hen. Los!« Ohne zu zögern sprang Jeggred durch den Torbogen und verschwand. Valas krabbelte hinter ihm her, als es ein letztes tosendes Beben gab und der Rest des Raums abzustürzen be gann. Pharaun stieß den Späher nach vorn und folgte ihm dichtauf. Das Portal verschloß sich und verschwand. Einen Moment später wurden die Reste des Hängenden Turms – und mit ihm die Wand, an der sich das Portal befunden hatte – in die Tiefe gerissen und zerbrachen an einer Netzstraße darunter in unzäh lige kleine Trümmerstücke.
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Aliisza zuckte zusammen, als sie Kaanyr Vhoks zornigen Blick bemerkte. Er war verärgert darüber, daß sie ihn nicht über die Situation in der Drow-Stadt auf dem laufenden gehalten hatte. Nicht einmal ihre Erklärungen, welche Schwierigkeiten ihr die Begegnung mit den Drow bereitet hatte, konnte ihn besänfti gen. »Du sagst also, daß die ganze Stadt in Ruinen liegt?« murrte der Cambion, während er hin und her ging. »Bezwungen von einer Horde elender Duergar?« »Nicht nur von Grauzwergen, Liebling, sondern von den Drow selbst. Sie haben sich so massiv untereinander gestritten, daß sie die Kontrolle verloren haben. Das hat sie vernichtet.« »Wie konnte es dazu kommen? Nicht, daß ich den Unter gang dieser viel zu stolzen Drow bedauern würde, aber sie ma chen auf mich nicht den Eindruck, als ließen sie ohne weiteres zu, daß in ihrer großen Stadt ein solch jämmerliches Schau spiel veranstaltet wird. Die Mächte des Unterreichs sind ein deutig aus dem Gleichgewicht geraten.« »Ich weiß«, sagte das Alu-Scheusal und kam ihrem Gelieb ten näher, »aber es gibt einen Grund dafür.« »Kennst du ihn?« »Ja, Geliebter, aber deine Rastlosigkeit macht mich nervös. Setz dich, und ich werde es dir erzählen.« Kaanyr Vhok seufzte, drehte sich aber um und ließ sich auf seinen Thron fallen. »Nun gut«, lenkte er ein und klopfte auf seinen Schoß. »Er zähl.« Aliisza schlenderte zu Vhok und setzte sich auf seinen Schoß. Ihr wurde klar, daß er ihr gefehlt hatte, mehr sogar, als sie es für möglich gehalten hätte. Sie beugte sich vor und be gann, an seinem Ohr zu knabbern. »Mmmm«, sagte er, »du hast mir gefehlt.« Damit sprach er
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aus, was sie dachte. »Aber ehe ich dich angemessen zu Hause willkommen heiße, sagst du mir, was du herausgefunden hast.« Aliisza kicherte, als er über ihren Arm strich. »Sie haben den Kontakt zu Lolth verloren«, flüsterte sie und hauchte ihm die Worte ins Ohr. »Was?« polterte der Cambion, setzte sich aufrecht hin und hätte die Dämonin fast zu Boden geworfen. »Ist das dein Ernst?« Das Alu-Scheusal verschränkte verärgert die Arme. »Natürlich«, gab Aliisza zurück. »Lolth ist verschwunden, und sie versuchen, den Grund herauszufinden. Aber als ... wie hast du sie genannt? ... ›viel zu stolze Drow‹ sind sie in ihren Verhaltensweisen viel zu festgefahren und haben sich gegen seitig so heftig bekämpft, daß sie sich schließlich selbst ausge löscht haben.« »Ich verstehe. Nun, wenn Lolth keine Rolle mehr spielt, ist dies wohl der geeignete Zeitpunkt, um ihnen einige Dinge heimzuzahlen, die sie mir in der Vergangenheit angetan ha ben«, überlegte der Cambion und starrte in die Ferne. »Dann denkst du darüber nach, Rache zu üben?« fragte A liisza und widmete sich wieder dem Hals ihres Geliebten. »Vielleicht«, erwiderte Vhok. »Wir werden sehen. Ich vermute, gegen Ched Nasad läßt sich nichts mehr unterneh men, oder?« »Mmmm«, schnurrte Aliisza und wand sich, als Vhok wie der seine Finger über ihren Körper wandern ließ. »Ich glaube nicht.« Dann traten alle Gedanken an die Stadt der schimmernden Netze für eine angenehm lange Zeit in den Hintergrund.
Hoch über den Ruinen der Stadt der schimmernden Netze saß ein einzelner Drow nahe der Höhlendecke auf einem Vor
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sprung und sah sich um. Der Rauch war dick und ätzend, doch es kümmerte ihn nicht. Sein Blick ruhte auf der Zerstörung tief unter ihm, ein Lächeln lag auf seinen Lippen. Er war nicht gerade gutaussehend, schon gar nicht nach Drow-Maßstäben, und auch nur wenige andere Spezies würden sagen, er sei attraktiv, doch selbst das kümmerte ihn nicht. Wonach er strebte, war greifbarer als Schönheit. Sie werden zufrieden sein, dachte er und sah zu, wie verein zelt Feuer erloschen, wie ganze Teile der Stadt zerfielen und in die düsteren Tiefen der Höhle stürzten. Ein guter erster Schritt, dachte er. So vieles ist noch zu tun, doch dies ist ein guter erster Schritt. Er riß sich aus seinen Grübeleien, stand auf und reckte sich. Er war stolz auf das, was er geschaffen hatte, und gerne wäre er noch geblieben, um das Chaos zu betrachten, doch die an deren würden schon auf ihn warten. Seufzend warf Zammzt einen letzten Blick auf die Ruinen Ched Nasads, dann zog er sich in den finstersten Schatten zurück und war verschwunden.
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