Elisabeth Gänger Biss oder Kuss?
Deutscher Taschenbuch Verlag
Originalausgabe 2009 © Deutscher Taschenbuch Verlag Gm...
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Elisabeth Gänger Biss oder Kuss?
Deutscher Taschenbuch Verlag
Originalausgabe 2009 © Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. eBook ISBN 978 - 3 - 423 - 40460 - 0 (epub) ISBN der gedruckten Ausgabe 978 - 3 - 423 - 07616 - 6 Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de
Typischer Fall von Sonnenmangel Fabs klappt den Deckel des Notebooks zu und gibt einen schweren Seufzer von sich. »So schlimm?«, frage ich. Sie sagt: »Aussichtslos.« »Oh Gott, Fabs. Und was schreiben die, wie lange noch?« »Ich weiß nicht. Eine, vielleicht auch zwei Wochen.« »Aber das ist ja furchtbar! Noch ZWEI WOCHEN Regen! Und das in den Sommerferien. Was machen wir denn jetzt?« »Hm. Hast du noch eins von den Nougatherzen?« »Klar, nimm. Bevor Benny uns wieder alle wegfuttert.« Sie wirft erst eine Praline ein und dann einen trüben Blick nach draußen. In der Marktstraße, die wir von hier aus super überblicken, springen gerade vier Schirme gleichzeitig auf. Mistwetter. Und in Spanien haben sie seit Monaten Sonne. »Sag mal, Fabs, dürfen Jugendliche eigentlich alleine fliegen? Ich meine, ohne Eltern?« »Keine Ahnung. Warum fragst du nicht nachher mal im Reisebüro. Das liegt doch auf dem Weg.« »Äh … Weg?« Sie futtert noch eine Praline. »Zur Bücherei. Wir sollten unbedingt gucken, ob der neue Lamia-Thriller schon abgegeben wurde. Komm, Lily, was willst du sonst tun bei dem Wetter?« So ist sie. Immer praktisch denken. Immer aus dem, was da ist, das Beste machen. Sperr Fabs mit dem Mathelehrer in einen Fahrstuhl und sie kommt, anstatt mit Brechreiz, mit den binomischen Formeln wieder raus. »Du, Lily? Könnte ich vielleicht noch mal schnell unter euren Tiefenbräuner?« Hab ich’s nicht gesagt? Immer aus allem das Beste machen. Oh Mann, dieses Sonnenstudio! Diese albernen Grillröhren, die aus der Hälfte der Frauen in unserem Nest schon verkokelte Brathähnchen gemacht haben, meine Mutter eingeschlossen. Fabs weiß genau, dass ich nicht Nein sagen kann. Obwohl Mama uns gerade den Tiefenbräuner ausdrücklich verboten hat. Wegen der Hautreizungen, meinte sie. Also, mir braucht sie da überhaupt nichts zu verbieten, ich verabscheue diesen ganzen Bräunungskrempel. Aber meine Freundin gehört leider zur Fraktion der Brathähnchen. »Na gut, aber beeil dich. Und vergiss nicht, das Oberlicht aufzumachen.« »Klar, kein Problem. Du-u-u, Lily? Nicht traurig sein. Wenn dieser verdammte Regen erst mal aufhört, dann kriegen wir schon noch unser …« »… sag jetzt bitte nicht Abenteuer!«, falle ich ihr ins Wort, denn das haben wir im Frühjahr bereits geklärt: dass unsere Vorstellungen von optimaler Feriengestaltung weltenweit auseinanderliegen. Ich will was Außergewöhnliches, Spannendes, am liebsten mal einen richtig shocking Fantasyroman selbst erleben. Fabs dagegen möchte einfach nur lecker aussehen und Radtouren in die Umgebung machen. »Wir könnten doch mal wieder zum alten Steinbruch fahren.« »Großer Gott, und da? Wollen wir Superstar spielen, so wie mit acht oder neun?« »Quatsch, Superstar. Aber weißt du nicht mehr, als da letztes Jahr dieses Wildschwein auftauchte? Hey, vielleicht sehen wir ja diesmal einen Werwolf. Speziell für dich!« »Sicher«, nicke ich und zeige müde zur Tür. »Ich glaub, da kommt gerade einer.« Lukas schließt sein Rad ab und streift sich die Kapuze vom Kopf. »Na ihr«, brummt er beim Reinkommen. »Auch wieder da?« Sollte mir in dieser verregneten Kleinstadt jemals ein Junge über den Weg laufen, in den ich mich auch nur ansatzweise verlieben könnte, dann dürfte der zwei Dinge nicht tun: überflüssige Fragen stellen und dabei auf den Boden starren. »Ja, seit letzter Woche«, höre ich Fabs jetzt aber. »An der Nordsee war’s eklig. Und bei euch?« »Heiß«, stöhnt Lukas. »Wisst ihr was, ich hab mir grad einen Kabelauslöser gekauft.« »Wozu das denn?«, frage ich, aber Fabs: »Ehrlich? Du fotografierst?« »Jupp«, sagt er stolz und zieht ein Tütchen vom Fotoladen aus der Tasche. »Und ab heute sogar im Dunkeln.« »Krass!«, schwärmt meine Freundin. »Wo wir die ganze Zeit schon grübeln, was man mal unternehmen könnte.« Als Lukas geht, ist der Auftakt zu meinen Abenteuerferien besiegelt: um 20 Uhr am Wäldchen, Höhe kleiner Poststeg. »Und sprüht euch bloß gut gegen die Mücken ein!«, warnt er uns beim Weggehen. Grunz. Eine Fotosafari mit meinem Nachbarn. Ich glaube, die brauche ich noch weniger als dieses Sonnenstudio. Aber Fabs ist so begeistert, dass sie in Gedanken schon ihr Survival-Case gepackt hat. »Auweia, jetzt wird’s aber Zeit«, hechelt sie und stürmt wie ein geölter Blitz auf Kabine eins zu. »Denkst du, ich hab noch zwanzig Minuten?« Glaub schon, will ich eigentlich antworten, doch da geht erneut die Tür auf und Frau Meyerdierks, Mamas beste Kundin, tänzelt herein. »Hallo, die Damen! Du, Lily, ich bin doch heute mit Tiefenbräuner dran. Ist der gerade frei?« Ich sehe zu Fabs rüber. Die zuckt enttäuscht mit den Achseln. »Klar, Frau Meyerdierks. Die Eins ist frei. Gehen Sie nur rein, Sie kennen sich ja aus.« Kurz darauf stehen wir augenrollend am Tresen und lutschen die beiden letzten Nougatherzen. »Wieso ist denn der Deckel unten?«, tönt es aus der Kabine herüber. »Den macht ihr doch sonst nie zu.« »Ich weiß auch nicht. Soll ich ihn für Sie öffnen?« »Nee, lass mal«, ruft die wahrscheinlich schon splitternackte Frau Meyerdierks. Dann kommt ein Schrei: »Ahhhhhh!« Großer Gott! Ich habe noch nicht viele Menschen in dieser Herzattackenfrequenz kreischen hören, aber immer wenn sie es taten, hatte es denselben Grund: Benny. Wie ein Tornado fege ich jetzt in die Kabine, sehe Frau Meyerdierks notdürftig ein paar Stellen ihres gerösteten Körpers bedecken und auf der Liege meinen elfjährigen Bruder, der sich vorsichtshalber schon mal eingerollt hat und mit beiden Händen den Kopf hält. »Scheiße, ich wollte Fabs erschrecken! Was quatscht ihr denn so lange?« »Hau ab!«, brülle ich und würde am liebsten noch nach ihm treten. Bloß klarstellen, dass ich mit der Sache hier nichts zu tun habe.
Aber das sieht Frau Meyerdierks anders. »Eine Unverschämtheit ist das!«, zetert sie mit einem Berg Klamotten im Arm. »Euch Rotznasen sollte man anzeigen! Los, raus hier!« Ich fürchte, es ist zwecklos, sie zu fragen, ob wir das Missgeschick eventuell vor Mama verheimlichen können. Natürlich ließ sich gar nichts vor Mama verheimlichen. Daher schleichen wir jetzt wie zwei Kleinkriminelle durch die Marktstraße. Der Drogeriemarkt, in dem wir uns Mückenspray besorgen wollen, liegt auf der anderen Straßenseite. »Schnell, rüber!«, zieht Fabs an meinem Ärmel, doch ich bleibe stehen, denn in der Ladentür von Fleisch & heiß bei Olli’s hängt ein Plakat, das mich auf wundersame Weise anzieht. »Pool-Dancing im alten Waldbad?«, wird jetzt auch meine Freundin darauf aufmerksam. »Klingt super!« »Fabs, da MÜSSEN wir hin.« Ich bin ganz aus dem Häuschen. »Klar!« Dann stutzt sie. »Oh, aber es ist heute. Da sind wir doch mit Lukas zum Fotografieren verabredet.« »Ja und? Bei dem Regen ist es praktisch egal, ob du in den Wald gehst oder ins alte Schwimmbad.« »Ich weiß nicht«, zögert Fabs. »Aber ich«, beschließe ich und wundere mich über mich selbst. Vergessen ist der ganze Ärger mit Mama. Und sogar die Frustlaune über das Wetter und die nichtsnutzigen Ferien ist mit einem Mal wie weggeblasen. Als ob hier irgendwelche positiven Kräfte herumschwirren würden, die mich … »Oh, Entschuldigung!« Ich sollte besser von der Tür weggehen. Der Kunde gerade kann sie kaum so weit öffnen, dass er rauskommt. Ich setze also meinen süßesten Braves-Mädchen-Blick auf. Aber die Miene des Typen ist wie aus Stein. Er ist überraschend jung; zwei, höchstens drei Jahre älter als ich – was macht denn so einer beim Fleischer? Und wieso geht er jetzt nicht weiter? Scannt mich wie eine Banknote und zuckt dabei nicht mal mit der Wimper. Aber Augen hat der! Wie goldfarbene Glitzersteine. Ich weiß nicht, wie lange wir so stehen und uns anstarren. Eine Minute, eine Zehntelsekunde? Mein Lächeln ist längst eingefroren. Weil der Typ guckt, wie er guckt. So intensiv. Aber nicht abstoßend. Sonst würde ich mich ja wegdrehen. Und nicht wie Kleister an seinen Goldaugen kleben. Zuck, machen seine Mundwinkel. Ich hab’s kaum bemerkt, doch für einen ultrakurzen Moment war da was total Faszinierendes. Dann geht er weiter und ich schnappe nach Luft. »Na gut«, sagt jemand direkt hinter mir – stimmt ja, Fabs! Sie wirft einen besorgten Blick nach oben und fragt: »Aber wie kommen wir da hin, ohne dass uns unterwegs Schwimmhäute wachsen?« »Sag mal, hast du den Typen eben gesehen?« »Wen meinst du? Den blassen da?« »Wieso blass?« »Ist mir gleich aufgefallen, der Arme. Echt, wer dieses Jahr nicht verreist, dem siehst du das total an.« Sein Haar ist glatt und reicht bis über den Kragen, deshalb schwingt es beim Gehen lässig mit. Ich sage: »Vielleicht war er ja in Alaska.« »Bestimmt. Bären jagen.« »Komisch, wie der geguckt hat.« Mir fällt erst jetzt die lange schwarze Cordjacke an ihm auf. Gar nicht wie im Sommer. Aber sie steht ihm. Irgendwie macht sie ihn besonders. Fabs sieht die ganze Zeit nur mich an. »Hey, Lily, was guckst du so? Du findest doch so einen nicht GUT!« Ganz ehrlich, ich weiß selbst nicht mehr, was ich finde. Kaum bin ich mal zehn Minuten aus Mamas Grillstübchen raus, da schmiede ich bereits Partypläne. Und dann begegnet mir auch noch ein Junge, der direkt aus Hogwarts zu kommen scheint. Oder was soll man sonst von einem denken, der dich anlächelt, so kurz, dass du es kaum wahrnimmst, aber mit einem Mal ist ein Schalter in dir umgesprungen. So einer muss doch zaubern können! »Dann versuche ich gleich mal, Lukas zu erreichen«, höre ich Fabs jetzt. »Wieso denn Lukas?« »Weil wir eigentlich am kleinen Poststeg mit ihm verabredet sind. Das wirst du doch nicht vergessen haben.« »Nee, klar«, murmele ich und sehe, wie der Zauberer in die Bahnhofstraße einbiegt. Er ist groß und auffallend schmal und die Plastiktüte, die er trägt, scheint so schwer zu sein, als habe er die halbe Fleischtheke leer gekauft.
Der Retter vom anderen Stern Der Weg zum Waldbad führt über die alte Kreisstraße. Zu blöd, dass mein Licht nicht geht. Auf dem Rückweg ist es bestimmt stockfinster. Bis zu Fabs brauche ich fünf Minuten. Ich könnte es in einer schaffen, ihr Haus liegt genau auf der anderen Seite des Stadtfriedhofs. Aber wer radelt schon gerne über totes Gelände? Lukas wartet vor ihrer Einfahrt und wirft einen prüfenden Blick auf die regengeschützte Fracht in seinem Fahrradkorb. »Willst du verreisen?«, frage ich knatschig. Ehrlich, zu unserer ersten Party würde ich viel lieber mit meiner Freundin alleine gehen. »Nee«, sagt Lukas da aber ziemlich nett. »Ist nur meine Fotoausrüstung. Ich will noch Aufnahmen machen. Wenn’s dunkel wird, haue ich beim Waldbad ab.« Na, wenigstens etwas. Fabs trägt den weiten, knöchellangen Rock, den sie sich eigentlich für heiße Sommertage gekauft hat. Sieht witzig aus, so zusammengerafft unter ihrer Regenjacke. Wir müssen fast die ganze Strecke lang hintereinander herfahren, weil immer Autos kommen. Einmal, auf Höhe der Geistervilla, die eigentlich Geist’sche Villa heißt, weil da vor zig Jahren mal ein Baron namens Geist gewohnt hat, gibt Fabs mir wilde Zeichen. Ob sich ihr Rock in den Speichen verheddert hat? Aber dann sehe ich, was sie meint: das Auto, das nicht dort hingehört. Die Geistervilla ist nämlich seit Langem unbewohnt und auf einmal steht ein schwarzer Wagen in der Einfahrt. »Hast du die Fenster oben gesehen?«, fragt sie, als wir am Waldbad absteigen. »Sah ja gruselig aus, wie da überall die Vorhänge wehten.« »Huuuh!«, flachst Lukas und imitiert ein Gespenst. »Das wird der Geist von Herrn Geist sein.« »Und du wirst hier gleich nicht reinkommen, wenn du weiter so rumalberst«, motze ich. Doch er lacht nur und sagt: »Wie wär’s, wenn ihr mal mit anfasst? Ich habe die Ausrüstung extra auf drei Taschen verteilt.« »Häh? Hast du sie noch alle?« So also ist das auf einer Party. Man steht da und langweilt sich und linst dabei auf andere, die auch dastehen und sich langweilen. Fabs ist schon seit einer halben Stunde bei den Toiletten. Ihr Rock hat sich dermaßen mit Regen vollgesaugt, dass er schwer wie ein nasser Teppich war. Jetzt föhnt sie ihn unter dem Händetrockner. »Guck mal«, sagt Lukas und hält mir das Display seiner Kamera vor die Nase. »Die hab ich in Tunesien gemacht.« Hilfe. Ich drehe mich ratlos um. Da hinten, rund um die Tanzfläche, kommen sie allmählich doch ganz schön in Fahrt. Echt blöd, dass wir hier am Eingang auf Fabs warten müssen. Ob ich mal nachsehe, wo sie bleibt? Schon wieder ein cooles Lied. Ich könnte mich auch bis zur Tanzfläche durchkämpfen. Moment mal, sehe ich das richtig? Der Junge da in Schwarz, der an der Absperrung zum Nichtschwimmer lehnt, ist das etwa der von heute Nachmittag? Der Zauberer aus der Fleischerei? »Bist du schon mal auf einem Kamel geritten?«, krächzt Lukas mir direkt ins Ohr. »Bitte, was?« »Wenn man will, kann man an einer Wüstenexpedition teilnehmen.« Ich wünschte, er würde die Klappe halten. Um mich besser auf den Zauberer konzentrieren zu können. Ich bin sicher, er hat mich auch erkannt. Ja, kein Zweifel, seine Augen sind direkt auf mich gerichtet. Auweia, was mach ich denn jetzt? Lächeln? Ihm ein Zeichen geben? Verdammt, zwischen ihm und mir sind mindestens zweihundert Leute! »Lily, das hier musst du sehen«, bufft Lukas mir in diesem Moment seinen Ellbogen in die Seite. »Was ist denn?«, fahre ich gereizt herum und – bong – knallen wir mit der Stirn gegeneinander. Na, klasse. Nicht nur, dass ich jetzt weiß, wie sich Lukas’ Borstenhaare anfühlen, auf einmal streicht er mir auch noch besorgt über die Stirn. – Aufhören! Was sollen denn die Leute denken? Als ich mich wieder umdrehe, ist der Zauberer verschwunden, deshalb mache ich mich auf den Weg. In dem Gewusel aus Schultern und Kapuzen kann ich mich nur ungefähr in seine Richtung tasten. Ich presse die Arme an den Körper und lasse mich einfach voranquetschen. Platt wie eine Briefmarke komme ich schließlich an der ersehnten Stelle an. Aber wo ist ER? Los, zum Getränkestand! Und dann die Fressbuden absuchen. Als ich gefühlte zwei Stunden später wieder bei Fabs und Lukas lande, kriegen die sich vor Begeisterung kaum noch ein. »Hast du schon gesehen, Lily? Es regnet nicht mehr. Wir können jetzt Fotos machen. Oder wolltest du noch bleiben?« Auf dem Rückweg habe ich Eisbeine. Nie wieder ziehe ich für so eine doofe Party einen Mini an! Wo Fabs und Lukas jetzt wohl sind? Sie haben die Abzweigung vor dem Waldbad genommen. Natürlich wollten sie, dass ich mitkomme, aber nee, mir reicht’s für heute. Achtung, Auto von hinten. Von vorne kommt auch eins. Ich muss runter von der Fahrbahn. Ohne Licht könnte ich glatt übersehen werden. Ups, was ist das jetzt? Meine Reifen versinken bis über die Felgen im Schlamm. Los, abspringen und erst mal zur Seite! Die Autos scheinen sich genau bei mir treffen zu wollen. Ich habe schon fast einen Fuß am Boden, da prallt mein Vorderrad gegen einen Klotz und ich lande mitten auf der Fahrbahn. Aua, mein Schienbein! Es sticht und brennt und ich kann mich nicht bewegen. Dabei werden die Scheinwerfer von beiden Seiten jetzt immer größer. »Hilfe!«, schreie ich, als der eine Wagen direkt auf mich zurast. »MAMA!« Eine Zange umklammert meinen Brustkorb. Beine werden über nasses Gras geschleift. Dann plötzlich nichts mehr. Mir ist, als würde mein Gesicht auseinanderreißen, so sehr muss ich heulen. Aber Moment mal, die beiden Autos sind längst über alle Berge und ich lebe noch! »Ich glaub nicht, dass deine Mutter schnell genug gewesen wäre.« Huah, wer ist das? Kniet neben mir und stützt mir den Rücken. Und meine Finger umklammern seinen Arm. Ich fühle weichen Stoff. Mit kleinen Rippen. Cordstoff. Etwa schwarz? Wie eine Blinde taste ich daran empor und da ist – großer Gott – glattes, schulterlanges Haar! »K-k-kannst du zaubern?« »Bitte?« »Wo-woher …?« Oh Mann, das ist zu viel für mich. Oder bin ich schon im Jenseits? Unsinn, so fest wie er mich hält, so einen Griff, den gibt’s in keinem Traum. »Bist du schlimm verletzt?«, erkundigt sich mein Retter. »Verletzt? Ich?«
Er kommt noch näher. Der Mond spiegelt sich in seinen Glitzeraugen. »Hoffentlich nichts mit dem Kopf«, höre ich ihn murmeln. Und dann laut und an mich gerichtet: »Sag mir doch bitte mal, wie viele Finger das hier sind.« »Aua.« Plötzlich ist da wieder dieses Reißen, rechts unter dem Knie. Vor Schmerz stöhnend beuge ich mich nach vorne. Eine saftige Schürfwunde. Sogar mit Blut. »Fffff!«, zieht er die Luft ein und wendet sich ab. Okay-okay. Es gibt ja auch Menschen, die keine Ratten sehen können. Aber muss er wegen drei Tropfen Blut gleich die Zähne fletschen? Und wo hat er so schnell ein Tuch her? »Hier, nimm«, sagt er, »du solltest es verbinden.« Ich tue alles, was er will. Also wickele ich und versuche das Tuch irgendwie festzustopfen. Der Zauberer hat sich inzwischen aufgerichtet und sieht ratlos die Straße entlang. »Wie beschaffen wir jetzt nur einen Krankenwagen?« Oh, der Arme! Er hat kein Handy! Ich hab auch keins, beschließe ich spontan und sage: »Aber mir fehlt doch nichts. Außer vielleicht … also, wenn du mich noch ein Stück begleiten würdest?« »Selbstverständlich«, zögert er keine Sekunde. Dann hilft er mir auf und kümmert sich sogar um mein Fahrrad. Er redet wie jemand vom anderen Stern. Oder wie die Helden aus meinen Lieblingsromanen. Ein bisschen altmodisch, aber total zum Verlieben. Dass er erst vor Kurzem hergezogen sei und sich noch gar nicht in der Gegend habe kundig machen können. »Heißt das, du kennst dich hier nicht aus?« »Richtig. Ich weiß nicht einmal, ob dieser Ort ein Kino besitzt.« Wie antwortet man einem Jungen, der so vornehme Wörter wie besitzen oder sich kundig machen benutzt? »Also«, beginne ich und denke, Lily, gib jetzt dein Bestes. »Wenn du die Stadt kennenlernen willst, dabei kann ich dir spitze helfen.« Nanu? Weshalb guckt er so skeptisch? Ob es das spitze ist, an dem er sich stört? »Sag mal, woher kommst du eigentlich?«, frage ich und mir gehen Wörter wie Privatlehrer und Eliteinternat durch den Kopf. Aber er sagt nur: »Aus dem Süden. Und das würdest du wirklich tun?« »Was?« »Mir die Umgebung zeigen. Ich wäre dir unendlich dankbar.« Ich glaube, ich falle in Ohnmacht! Dieser Tag, den ich vor einer halben Stunde am liebsten noch aus meinem Gedächtnis gestrichen hätte – ich bin ein Glückskind! Und wie fest und entschlossen er meinen Arm genommen hat! Sanft wie auf einer Wolke schwebe ich an seiner Seite nach Hause. Wobei etwas anderes als schweben auch kaum möglich wäre. Bei dem Tempo, das er vorlegt, habe ich nämlich kaum noch Bodenkontakt. Ein Glück, dass ich von meiner Wunde praktisch nichts mehr spüre. »Da«, zeige ich, als wir auf das schmiedeeiserne Tor des Friedhofs zugehen. »Ich wohne genau auf der anderen Seite.« Mein Retter denkt nicht im Traum daran, den Weg außen herum zu nehmen. Routiniert, als öffne er eine Kühlschranktür, drückt er die schwere Klinke herunter. Das Tor quietscht auf. Ich zögere. »Keine Sorge«, sagt er. »Das hier ist so ziemlich der einzige Ort, den ich kenne.« »Oh. Dann liegt jemand aus deiner Familie hier begraben?« »Das auch. Würde es dir morgen passen?« Morgen. Heute Nacht. Wann auch immer. An der Gabelung zur Friedhofskapelle sage ich: »Auf jeden Fall.« Am Querweg, der zum Hauptbrunnen führt, vereinbaren wir: »Um sechzehn Uhr.« Kurz vor dem Grab von Fabs’ Opa sagt er: »Wunderbar. Ich heiße übrigens Vincent.« »Lily. Lily Weiwasser.« Er guckt so erschrocken, als würden mir kleine Flügel unter den Armen wachsen. »Weiwasser ohne h«, ergänze ich schnell für den Fall, dass er es nicht so mit der Kirche hat. »Ich könnte also auch Wowasser heißen. Oder Wiewasser. Oder …« Reicht. Er lächelt wieder. Liebe Fabs! Gesegnetes Mistwetter! Ich danke allen, die dazu beigetragen haben, dass mir dieser Tag ein solches Abenteuer beschert! Viel zu schnell sind wir am Ausgang des Friedhofs. Auf der anderen Straßenseite leuchtet bereits Mamas Reklameschild Sonne für alle. »Also dann, Lily«, sagt er und sieht mich voll an. Wie seine Augen schimmern! Ich denke an Ohnmacht, Auffangen, Wachküssen! Aber Vincent, der Gentleman, reicht mir freundschaftlich die Hand. Zisch!, macht es – auweia, ich muss ganz schön glühen. Im Gegensatz zu meinen sind seine Finger wie Eiswürfel in heißer Kirschsoße. »Und wo wohnst du?«, frage ich, als das Friedhofstor schon wieder hinter ihm zugefallen ist. »Ein paar Minuten von hier. Kurz hinter der Stadtgrenze.« »Die Geistervilla«, murmele ich, zum Glück nur im Flüsterton. Aber Vincent: »Geistervilla?« »Äh … nein! Entschuldigung! Geist’sche Villa! Also … glaube ich.« »Interessant«, findet er und entfernt sich weiter. Ich muss dringend mit Fabs sprechen. Der schwarze Wagen, den wir gesehen haben. Die wehenden Vorhänge im ersten Stock. Die Villa ist in der Tat wieder bewohnt, und zwar von SEINER Familie! »Gute Na-acht!«, kommt es jetzt aus völliger Dunkelheit. »Gute … Hey, aber das ist doch irre weit zu Fuß!« »Kein Problem. Ich kann sehr schnell sein.« »Oh«, hauche ich mit tausend Fragen im Kopf. »Und übrigens, danke.« »War mir eine Ehre«, antwortet er mir selbst darauf. Er muss ein unglaublich gutes Gehör haben.
Blaues Wunder »Ich fahr los!«, ruft Mama schon in der Ladentür. »Und Lily, guck wenn möglich etwas freundlicher.« Sehr witzig. Wo ich so gut wie gar nicht geschlafen habe. Die ganze Zeit musste ich an Vincent, den Zauberer, denken. Fast hätte ich mitten in der Nacht Fabs auf dem Handy angerufen. Wo bleibt sie nur? Sie ist doch sonst schon da, wenn Mama zur Fitness geht. Ich schlurfe zum Kühlschrank und mische mir ein großes Glas Kirsch-Banane. Es ist schon fast wieder leer, als sich endlich die Tür öffnet. »Scheiße, bin ich müde!«, stöhnt Fabs und lässt sich auf unsere Wartecouch am Fenster fallen. »Machst du mir auch ’nen Saft?« Ich gieße ihr Mango ein. Soll ja belebend wirken. Tatsächlich rappelt sie sich nach einigen Schlucken in den Sitz und stöhnt: »Puh! Ich hatte ja keine Ahnung, wie anstrengend Fotografieren ist. Und dann diese Mückenstiche! Wenn du hast, nehme ich noch so einen.« Los, schnell den Saft in den Becher und dann zurück. Ich will auch endlich erzählen. Aber Fabs ist offenbar noch nicht fertig. »Du, Lily, kannst du dir eigentlich vorstellen, dich in jemanden zu verlieben?« Nanu, leidet sie an Gedächtnisschwund? Wie kann sie unsere mindestens fünftausend Gespräche zu dem Thema vergessen haben? »Ich meine, nicht in einen Romanhelden«, ergänzt sie jetzt aber. »In einen richtigen Jungen. Würdest du das machen?« »Logo!«, antworte ich und sofort sind da wieder diese goldschimmernden Augen. Los, Fabs, frag endlich! Doch sie fährt sich nur nachdenklich durchs Haar. »Weißt du«, erzähle ich also ungefragt. »Auf dem Nachhauseweg … Ich musste vor einem Auto ausweichen. Besser gesagt, vor zwei Autos. Tja, und dabei bin ich …« Mist, die Tür geht auf. Eine blonde Frau kommt herein, ich tippe spontan auf Hauttyp zwei. »Hallo, ähm, gibt’s hier jemanden, der mir was über euer Angebot verraten kann?« Ich sage ihr, was ich immer sage, wenn Mama gerade nicht da ist: dass die Chefin des Hauses jeden Moment zurück sein müsste, aber wenn sie wolle, könne ich ihr gerne schon mal die Geräte erklären. »Also«, fange ich bei der hinteren Kabine an, »da hätten wir den Power SL für empfindliche Haut. Bei dem können Sie den Gesichtsbräuner, wenn Sie möchten, extra regulieren.« Na ja, und so weiter … Fabs sieht ungeduldig zur Uhr. Bestimmt brennt sie darauf, mehr von meinem Abenteuer zu erfahren. Ich kann es ja selbst kaum erwarten, ihr von Vincent zu erzählen. Doch die Hellhäutige lässt sich jeden unserer verdammten Grills erklären. »Und der Pigmentierer?«, fragt sie jetzt. »Besteht da irgendein Risiko?« Ich gebe ihr eine Broschüre, die sie interessiert aufklappt. Na toll, das kann dauern. Gelenkig wie ein Katze winde ich mich hinter dem Tresen hervor und schleiche zu Fabs auf die Couch. »Du, sag mal«, fängt die auch schon an zu tuscheln. »War es eigentlich okay, dass du alleine nach Hause musstest?« »Völlig okay. Ich bin erst mit dem Rad gestürzt, dann hat mich der junge Baron von Geist in letzter Sekunde vor dem Tod durch Überfahrenwerden gerettet. Na ja, und am Ende sind wir Arm in Arm Richtung Stadt geschlendert.« »Nicht schlecht«, staunt Fabs. »Deine Geschichten werden bestimmt eines Tages Bestseller.« »Geschichten?«, frage ich empört. Schon wieder sieht sie zur Uhr: »Oh Mensch, ich muss ja.« »WAS???« »Ich fahre mit meiner Mutter nach Hamburg. Mir ’ne Kamera kaufen. Mach’s gut, ja? Wir sehen uns bestimmt morgen.« Und mein Abenteuer? Und die tausend Fragen, die ich habe? »Ich nehme erst mal fünfundzwanzig Minuten unter dem Power SL«, sagt die Blonde am Tresen. »Und habt ihr vielleicht einen Augenschutz?« Fünfzehn Uhr fünfundvierzig. Gestiefelt und gespornt stehe ich vor dem Spiegel im Flur und übe vornehmes Sprechen. Das ist eine großartige Idee, hauche ich hingebungsvoll. Oder: Selbstverständlich besitzt dieser Ort ein Kino. Prima. Ich meine natürlich, wunderbar. Ich darf nur nicht zu schnell sprechen. Und ob er es mag, wenn ich ihn dabei ansehe? Oder soll ich lieber dicht an ihm vorbei ins Weite? Ich übe beides und bin nur froh, das Benny nicht in der Nähe ist. Nach seinem gestrigen Auftritt hat Mama ihn dazu verdonnert, an der Ferienfreizeit der evangelischen Kirchengemeinde teilzunehmen. Und allem Anschein nach ist meinem Bruder bis jetzt noch kein Trick eingefallen, wie er sich dort aus dem Staub machen könnte. Ich werde das Haus um fünf vor vier verlassen, keine Minute früher. Bis zum Marktbrunnen sind es höchstens dreihundert Meter. Blöd nur, dass es immer noch regnet. Ich stülpe die Kapuze über das gerade erst glatt geföhnte Haar und will schon los. Aber dann werde ich von einem Geistesblitz getroffen: einen Schirm, Lily! Du brauchst dieses oberpeinliche Ich-komme-trocken-zur-Schule-Outfit gar nicht! Du gehst doch zu Fuß! Los, schnell noch mal hoch und die halbe Wohnung nach meinem dunkelgrünen Lieblingssweater abgesucht. Mit doppelter Pulsfrequenz, aber zufrieden, spaziere ich wenig später auf den Marktplatz zu. Bis ein Radfahrer neben mir abbremst und mir einen nassen Klaps auf die Schulter gibt. »Hey, Lily. Auch in die Stadt?« »Oh. Hallo, Lukas.« »Was treibt dich denn bei dem Wetter raus? Hast du nichts mehr zu lesen?« »Nee, ähm, ich hab … gleich ’ne Verabredung.« Scheiße, Mist! Er soll weiterfahren! »Ehrlich?«, fragt er aber neugierig. »Mit Fabs?« »Quatsch. Dann würden wir uns doch bei mir treffen.« »Stimmt. Und ihr Rad müsste bei euch stehen. Warte, ich gehe ein Stück mit dir.« Nein! Nicht absteigen! Aber ist schon passiert. Er erzählt mir von sämtlichen Objektiven und Brennweiten, die er gestern benutzt hat. Der Brunnen am Marktplatz kommt immer näher. Ängstlich suche ich das Umfeld nach einem großen Jungen in schwarzer Cordjacke ab. Aber nichts. Weder auf einer der nassen Bänke noch unter den
Vordächern der benachbarten Geschäfte. »Ich hoffe echt, dass es zum Abend wieder aufhört«, sagt Lukas mit einem kritischen Blick nach oben. »Triffst du dich denn später noch mit ihr?« »Sag mal, wieso interessiert es dich plötzlich, wann ich mich mit Fabs treffe?« »Ich mein ja nur«, reißt er übertrieben die Schultern hoch. »Man könnte ja wieder auf Fototour gehen. Wo ist sie eigentlich?« Mit einem schweren Seufzer sehe ich mich auf dem menschenleeren Platz um und sage: »Hamburg. Kauft sich ’ne Kamera.« »NEIN!« Lukas strahlt los wie ein Glücksdrache. »Und mit wem bist du verabredet?«, fällt ihm dann ein. »Jemand, dem ich die Stadt zeigen wollte. Aber wahrscheinlich bin ich eh zu spät.« »Glaube ich auch«, sagt er. »Hier ist jedenfalls niemand.« Verdammt, wie konnte das passieren? Wir haben es zehn Minuten nach vier! Ein Glück, dass ich den Schirm dabeihabe. So sieht wenigstens keiner, wie ich heulend nach Hause tapse. Ich habe schon mehr als die halbe Strecke hinter mir, als ich erneut einen Klaps auf die Schulter kriege. »Hatten wir nicht 16 Uhr gesagt?« Uaaah! Wie blass er ist! Aber wie umwerfend hübsch! Komm, Lily, fang dich. Erst mal lässig über die Wangen wischen. Dann ein hilfloses Achselzucken. »Ich dachte, du bist schon wieder weg.« »Ich?«, empört sich Vincent. »DU warst doch kaum dort.« »Woher weißt du das?« »Ich hab dich gesehen. Wie ihr gekommen seid.« »Aber das hätte ich doch bemerkt!« »Sag ehrlich, gab es Probleme? Ich meine, weil du geweint hast, nachdem er weg ist.« »WAS?« »Lily, du musst dich nicht mit mir treffen. Wenn du deswegen Schwierigkeiten mit …« Ein Transporter rauscht vorbei und wir springen zur Seite, um nicht in den Schwall von Spritzwasser zu geraten. Automatisch gehen wir kurz darauf wieder Richtung Marktplatz. »Zu was darf ich dich einladen?«, fragt Vincent immer noch leicht beunruhigt, aber seine Goldaugen sprühen Funken. »Ein Eis? Etwas Leckeres zu trinken?« Habe ich das richtig verstanden? Ein Junge, der mich einladen will? Ohne dass ich ihn habe abschreiben lassen? Lily, denke ich, starr ihn nicht so an! Aber wie soll das gehen? Sein weicher Mund. Die geschwungenen Lippen. Ich hab noch nie so ein perfektes Jungengesicht gesehen. »Eis«, lalle ich verzaubert. »Mit Goldaugen.« »Wie?« »M-m-mit Goldnüssen. So … heißt das. Eiskrokant. Ja!« Da, seine Augenbrauen! Wie sie jetzt hochhüpfen. Endlich schaffe ich es, den Blick von ihm abzuwenden. Nanu, es regnet! Und wie grau alles ist! Er sagt: »Wenn ich das richtig sehe, gibt es dort vorne ein Eiscafé.« »Ja«, seufze ich. »Eine großartige Idee.« Vincent guckt mich etwas schräg von der Seite an. Aber dann machen wir uns auf den Weg und ich kann kaum fassen, dass ich, Lily Abenteuerlos, durch diese Straße in dieser Stadt mit diesem absoluten Traumjungen gehe. Wenn er nur nicht schon wieder so ein Tempo vorlegen würde. »Oh, entschuldige!«, fällt ihm das nach einer Weile selber auf. »Ich habe gar nicht mehr an deine Verletzung gedacht. Wie geht es eigentlich deinem Bein?« »Ganz okay. Nach dem Duschen hat’s noch mal kurz geblutet. Aber ansonsten spür ich kaum noch was.« Hab ich was Falsches gesagt? Er zischt und dreht den Kopf weg, als hätte ich von einer Orkschlacht berichtet. Also, Arzt wird DER später mal nicht. Dabei fällt mir ein, dass ich sein Tuch vergessen habe. Aber Vincent sagt, das sei überhaupt kein Problem. Es sehe nicht danach aus, als würde er es heute brauchen. Ich wüsste wirklich gerne, wie ES aussehen muss, damit er sein Tuch braucht. Jungen sind ja so rätselhaft. Und dass er jetzt vor dem Schaufenster des Bestattungsunternehmens stehen bleibt! »Schau mal«, zeigt er auf einen mit dunkelrotem Samt ausgeschlagenen Sarg. »Sieht der nicht ungemein komfortabel aus?« Ist mir noch nie aufgefallen, aber jetzt, wo er es sagt. »Was hältst du von einem Eisbecher Blue Wonder?«, überrascht er mich, kaum dass wir weitergehen, schon wieder. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. »Du kennst den Blue Wonder?« »Nun ja«, schmunzelt er geheimnisvoll. »Sie schreiben, er sei die Spezialität der Woche.« »Aber dann weißt du ja doch schon gut Bescheid hier.« »Dank deiner Hilfe«, sagt er und ich verstehe überhaupt nichts. Könnte ich auch gar nicht. Denn so wie er mich jetzt anlächelt, mit seinem alles durchdringenden Blick, wäre ich nicht mal mehr in der Lage, das ABC aufzusagen. Ich blinzele wieder in den Sprühregen. Allmählich wird der Schriftzug vom Café Lucia erkennbar. Noch ein paar Meter und ich kann entziffern, was auf der Außentafel steht. Dort empfehlen sie tatsächlich den Eisbecher Blue Wonder. Als Spezialität der Woche. Aber sollte er das auf die Entfernung eben schon gelesen haben? Lily, sage ich mir etwas beunruhigt, wird Zeit, dass du mal einen Sehtest machst. Ich Blödkuh! Ich Mädchen! Nie wieder werde ich mich von einem Jungen zu einer Spezialität der Woche einladen lassen, ohne meine Bestellung vorher mit ihm abzustimmen. Wie peinlich ich jetzt dasitze, vor mir ein blaues Wunder, auf dem die Heidelbeeren langsam in einem Riesenberg Sahne versinken, und was macht mein hagerer Begleiter? Nippt hin und wieder von seinem Tomatensaft und nickt mir aufmunternd zu. »In Bayern sind wir manchmal eine ganze Stunde gefahren, nur um in einer bestimmten Eisdiele einen Amarenabecher zu essen.« Horch? »Aber dann isst du ja doch Eis!« »Eher selten. Ich gehe lieber mit und schaue zu.« Na, wenn das so ist. Beherzt greife ich nach dem Löffel und frage ihn, wieso er jetzt hier lebt. Super Schachzug. Ich kann mich ganz den köstlichen Heidelbeeren in halb geschmolzenem Vanilleeis widmen, während er mir von seinem neuen Zuhause erzählt. Fabs, wenn du wüsstest! Die Villa ist zweihundert Jahre alt! Und sie hat achtzehn Zimmer und einen Wald hinter dem Grundstück, der bis zum Schwimmbad reicht. Da gebe es sogar Rehe und jede Menge Hasen. Ein echtes Paradies sei das. »Wahnsinn«, schwärme ich und sehe mich schon Arm in Arm mit ihm durch den Wald schlendern. »Ich liebe wilde Tiere!«
»Ich auch«, murmelt Vincent und guckt verträumt aus dem Fenster. Merkwürdig, seine Augen wirken heute sogar heller als gestern. Sie schimmern wie die goldgelben Splitter in diesen Zauberstäben, die man zum Fasching kaufen kann. »Sieht aus, als habe es dir geschmeckt«, stellt er fest, noch bevor sein Blick zu dem leeren Becher wandert. Mist, und ich dachte, er wäre in Gedanken gewesen. Komm, Lily, so schnell gibst du nicht auf. Ich frage ihn: »Kennst du den alten Steinbruch?« »Du weißt doch«, antwortet er, wieder mit diesem Laserlächeln, »ich kenne hier praktisch nichts.« Himmel, was ist das mit seinen Augen? Ich habe schon wieder vergessen, was ich sagen wollte. Aber Vincent, voller Verständnis für mein Blackout: »Zeigst du mir den Steinbruch? Ich meine, wenn es dir mal passt?« Was heißt hier MAL? Wir sind schließlich zu einer Stadtführung verabredet. Und sogar das Wetter scheint inzwischen mitzuspielen. Als wir rausgehen, schickt die Sonne tatsächlich ein paar Strahlen durch die Wolkendecke. »Ohne Fahrrad braucht man etwa zwanzig Minuten«, sage ich und stapfe tatendurstig los. »Lily!«, höre ich ihn da aber. »Einen Moment!« Nanu? Wieso ist er stehen geblieben? Und verlässt jetzt den Gehweg, um zwischen zwei Häuserwänden auf mich zu warten? Skeptisch bewege ich mich auf ihn zu. Er wirft einen hastigen Blick auf die Straße und sagt: »Besser, wir verschieben unseren Spaziergang.« »Aber gerade scheint mal die Sonne.« Er druckst herum. »Und wenn ich meine Sonnenbrille vergessen habe?« »Dann holen wir sie schnell!« »Du bist so süß«, lächelt er und streicht mir – zisch – über die Wange. Eigentlich klingt das nach »Gut, dann machen wir das«. Doch dann scheint er seine Meinung zu ändern und wendet sich abrupt ab. »Tut mir leid. Aber wir holen das nach, ja?« Und schon ist er verschwunden. Ich weiß nicht, wie lange ich dastehe und auf die menschenleere Straße starre. »War das deine Verabredung?« Erschrocken fahre ich herum. »Lukas! Was machst du denn schon wieder hier?« »Nur ’ne Frage«, druckst er ungeduldig. »Wenn Fabs zurück ist, ich meine, habt ihr denn vor, euch noch zu treffen?« »Mann, ruf sie doch selber an!« »Okay! Hast du mal ihre Handynummer?«
Liebe macht blöd »Und er war einfach so da?«, hechelt sie am nächsten Morgen. »Ohne dass du ihn vor deinem Sturz gesehen hast? Ist er aus den Wiesen gekommen, oder was?« »Ich weiß es nicht, Fabs. Plötzlich packte mich jemand unter den Armen und riss mich zurück.« »Der muss ja Kraft haben«, wundert sie sich mit einer tiefen Falte zwischen den Augen. »Und dass er alles hört, was du sagst, selbst dein Flüstern, das ist auch nicht normal.« Ich wusste, dass Fabs ein Haar in der Suppe finden würde. Schon gleich, als sie so unverhofft bei uns reinschneite, wusste ich das. Ich hatte mir eigentlich eine wunderbar romantische Version meiner Begegnung mit Vincent für sie zurechtgelegt. Doch dann stand sie plötzlich schon beim Frühstück vor mir und fing an, mich knallhart zu löchern. Was denn das für ein Typ gewesen sei, von dem Lukas ihr da erzählt habe, und so weiter. Das Ganze ist schnell zu einem sehr unromantischen Rätselraten ausgeartet. »Und er konnte deine Wunde wirklich nicht ansehen?«, fragt sie jetzt mit ihrem messerscharfen Verstand. »Was denkst du, wieso nicht? Ekelt er sich vor Blut? Oder kann es auch sein, dass ihn das anturnt?« »Oh Gott, Fabs, worauf willst du hinaus?« »Was ist mit seiner Haut?«, bohrt sie da aber schon weiter. »Hast du die zufällig berührt, vielleicht bei dieser Rettungsaktion?« »Nein, ich … also … Als er mir gestern die Wange gestreichelt hat, war die viel zu heiß, um das zu beurteilen.« »Du wirst doch wissen, wie sich seine Hand angefühlt hat!« »Na ja, sie war … Hilfe, ich kann das nicht!« »Sag es, los! Was war mit der Hand?« »Sie war …« »Ja?« »Kalt.« »Alles klar.« Sie wirft sich gegen die Stuhllehne und presst bestürzt eine Hand auf den Mund. Langsam dämmert mir, wohin Fabs’ Fragen führen. Bitte!, flehe ich stumm. Sie soll so was nicht von ihm denken. Und er soll ein stinknormaler Junge sein, aus einem Wohnblock, nicht aus diesem Spukschloss. »Er hat unglaublich schimmernde Augen«, sage ich wehmütig. »Klar«, bestätigt Fabs. »Irisierend.« »Und seine Bewegungen sind …« »Ich weiß, geschmeidig. Ist dir sonst noch was aufgefallen?« »Hm. Er verträgt offenbar kein Sonnenlicht. Und auf dem Weg zum Eiscafé, da hat er beim Bestatter ins Fenster geguckt«, gestehe ich ihr jetzt – und irgendwie auch mir selbst. »Wundert mich, dass er das so offenkundig tut. Andererseits, für den ist ja ein Geschäft mit Särgen wie für uns ein Bettenladen. Ich frag mich, ob die da auch probeliegen.« »Ach, Fabs«, seufze ich schwer. »Er ist so …« »Ich glaub’s dir ja, unwiderstehlich«, ergänzt sie für mich. »Kein Junge unseres Alters wird mit ihm mithalten können. Aber ist das ein Wunder, Lily? Der hat ja auch ein paar Hundert Jahre auf dem Buckel. In der Zeit kannst du ganze Lexika auswendig lernen, selbst wenn du noch so ’n dummer Vampir bist.« Jetzt hat sie es ausgesprochen. Aber ich will es nicht glauben. »Mensch, was soll ich denn jetzt machen?«, jammere ich. »Sieh’s doch mal so, Lily: Du hast auf jeden Fall dein Abenteuer. Und wenn du dich an die Regeln hältst, kann dir eigentlich nichts passieren. Hör zu, wir müssen als Erstes rausfinden, ob er ein Moderner oder ein Traditioneller ist. Für die Modernen ist Blut längst nicht so wichtig. Die können auch mal ’ne Woche ohne. Und wenn der Wald hinter seinem Haus groß genug ist, dann hast du vielleicht ’ne Weile Ruhe.« »Oje, mir wird schwindelig.« »Verlier jetzt bloß nicht die Nerven. Wann trefft ihr euch wieder?« »Keine Ahnung, wir haben nichs ausgemacht.« »Ist ja auch wurscht, der findet dich eh überall.« »Meine Güte, Fabs! Du hilfst mir doch, oder? Vielleicht kannst du mal mit ihm reden, ich meine, dich kennt er ja noch nicht.« »Bist du sicher?«, fragt sie und sieht besorgt an der Wand empor. »Sag mal, Lily, das Loch da oben …« »Wo?« »Na, direkt da unter der Decke. Dieser merkwürdige schwarze Fleck, der so aussieht, als könnte man da durchgucken, war der schon immer dort?« »Großer Gott, ich halte das nicht aus!« Ich bin schon lange vor elf im Studio. Normalerweise hasse ich es, unten zu putzen, aber heute hätte ich alleine in der Wohnung fast einen Nervenzusammenbruch gekriegt. Mama dekoriert das Schaufenster und summt dabei vergnügt vor sich hin. Was für brave Kinder sie habe, freut sie sich. Benny sei, ohne zu murren, wieder zu seiner Ferienfreizeit gefahren. Und ich hätte ja wohl eine sehr hoffnungsvolle Freundschaft mit unserem Wischmopp geschlossen. »Weißt du was, Lily? Zur Feier des Tages holst du uns Essen vom Italiener.« »Oh. Wollen wir nicht lieber den Bringdienst anrufen?« »Aber ich rede von was Leckerem! Fettucine oder so. Guck mal, da geht gerade Lukas.« Wenige Minuten später tapse ich neben ihm durch die Fußgängerzone, die Augen heute noch wachsamer offen als gestern. Aber alles wirkt friedlich. Ein feiner Regenstaub weht mir um die Nase und Lukas schwärmt von seinem neuen Kabelauslöser. Ein Glück, dass ich mitgegangen bin. Hier draußen ist das Leben so normal. Die Gemüsefrauen mit ihren dunkelblauen Schürzen, die sich zusammen mit den Kunden über das Wetter aufregen. Und weiter vorne tummeln sich lauter fleißige Müllmänner, die volle Tonnen über das Kopfsteinpflaster ziehen. Auf einmal habe ich keine Angst mehr, auch nicht, als Lukas sich nach einer Weile verabschiedet. Wo sollen denn hier bitte schön dunkle Mächte sein? Hey, Fabs, wir leben
im 21. Jahrhundert und die Einzigen, die das noch nicht kapiert haben, sind wir! Besser, ich lese erst mal keine Fantasy mehr. Genau, von jetzt an zählt nur noch, was wahr ist. Mann, habe ich einen Hunger! »Lily! Das ist ja eine Überraschung!« »Uah-ha-ha!« »Fehlt dir was? Du bist ja schneeweiß.« »Heiliger Hasenbraten«, murmele ich, »du aber auch.« Ein Zustand wie schockgefroren. Bestimmt sind das die Nachwirkungen von unserem albernen Verdacht. Aber ob albern oder nicht, meinen Beinen hilft das gerade überhaupt nicht weiter. Hey, ihr könnt doch jetzt nicht schlappmachen! »Komm«, sagt Vincent und packt mich geistesgegenwärtig an der Hand. »Wir setzen uns dort unter das Vordach.« Hat mich jemals ein Junge so würdevoll zu einer Bank geleitet? Eine Braut könnte sich nicht besser fühlen als ich mich gerade an Vincents Arm. Ich glaube, selbst wenn er einer wäre, was er ja nicht ist, aber mal angenommen, es gäbe diese blutrünstigen Wesen – also, noch so ein Blick von ihm wie der eben und ich würde ihm überallhin folgen, von mir aus direkt bis in die Hölle. Dieses unglaubliche Schimmern. Es muss doch zu ergründen sein, wo das herkommt. »Trägst du eigentlich Kontaktlinsen?« »Bitte, was?« »Oh, sorry, ich bin heute irgendwie von der Rolle.« Es ist dieses Tiefgründige in seinem Blick. Und dass er sich beim Reden so voll auf einen konzentriert. Die Jungen, die ich kenne, gucken immer nur flüchtig. Vincent dagegen scheint mich jetzt regelrecht zu studieren. »Du, sag mal«, fragt er, »beunruhigt dich etwas?« »MICH?« »Du wirkst so … angespannt.« Kein Wunder, möchte ich am liebsten antworten. Hinter dem Fenster da vorne wartet Giovanni mit einer doppelten Portion Bandnudeln zum Mitnehmen. Aber ich treffe dich, einen vermeintlichen Untoten, mit dem ich mich unbedingt wieder verabreden will. Bitte, jetzt mach doch mal ’nen Vorschlag! »Wollen wir ein Stück zusammen gehen?« Falscher Vorschlag. Ich antworte: »Würde ich gerne. Aber ich muss da rein.« »Du meinst, in das Restaurant?« Stopp, Lily. Gestern ein Mammuteis und heute Fettucine. Er wird dich für noch verfressener halten, als du in Wirklichkeit bist. »Nein«, behaupte ich deshalb. »Ich muss da zum … Zahnarzt!« Danke, Doktor Karsten Auer, dass Ihr Schild genau am richtigen Haus hängt. »Oh du Arme!«, bedauert Vincent mich überschwänglich. »Wenn du wüsstest, wie groß meine Angst vor Zahnärzten ist. Feilen sie bei dir auch immer so rücksichtslos an den Eckzähnen herum?« »Eckzähne?«, frage ich beunruhigt. Vincent sieht sich verstohlen um. Dann kommt er ganz nahe an mein Ohr: »Gilt dein Angebot noch, mir den alten Steinbruch zu zeigen?« Allmächtiger, meine Gebete sind erhört worden! »Wir könnten uns um 17 Uhr an der Kreuzung hinter der Eisdiele treffen. Da sind wir ganz für uns.« Ich kann nur schnell nicken, da ist er auch schon verschwunden. »Signorina!«, krächzt gleich darauf eine blecherne Stimme in meinem Rücken. »Hier warten zwei Mal Fettucine in Rahmsoße.« Der Weg zum alten Steinbruch führt durch ein Gelände mit ein paar Birken und ziemlich dichtem Gebüsch. Ich kann nicht glauben, dass ich mit IHM über diesen Pfad gehe, unterwegs zu dem vielleicht romantischsten Ort, den Fabs und ich jemals ausfindig gemacht haben. Als wir die Lichtung hinter dem Buschwäldchen erreichen, springt mir sofort die kleine Plattform ins Auge, auf der wir früher Popstars gespielt haben. »Und jetzt?«, fragt Vincent, als ich stehen bleibe und verlegen zwei blaue Müllsäcke ausrolle. »Ich dachte, wir könnten die hier als Unterlage …« »Eine Rast!«, stellt er begeistert fest. »Wie weit ist es denn noch bis zum alten Steinbruch?« »Äh …« Mit eingezogenem Hals zeige ich auf die kleine Kiesgrube, die vor uns liegt. Mir fällt erst jetzt auf, dass man diesen vergrößerten Sandkasten wohl kaum als Steinbruch bezeichnen kann. Oh Mann, ich schäme mich! Vincent sieht sich das Gelände trotzdem genau an. »Interessant«, findet er, »wenn auch etwas flach. Ich glaube nicht, dass hier mal Naturwerksteine abgebaut wurden.« »Äh … möchtest du vielleicht einen Keks?« Nur ganz langsam gleitet sein Blick von dem mickrigen Sandwall am Ende der Grube zurück und streift wie zufällig die Tupperdose. »Oh, vielen Dank, für mich nicht.« Wie komme ich eigentlich auf Kekse? Mein Magen ist doch randvoll mit Fettucine! »Oder T-T-Tomatensaft?«, stammele ich unbeholfen. »Du hast mein Lieblingsgetränk dabei?« Seine Augen schimmern heute noch mehr als sonst, wie honiggelber Bernstein, als er langsam den Kopf schüttelt: »Ich bin unglaublich froh, dich kennengelernt zu haben.« »Ja, ich …« Bomm-bomm-bomm, macht alles in mir. Verdammt, Lily, jetzt reiß dich zusammen! Du bist das erste Mal mit deinem Traumjungen alleine in der Wildnis. Würdest du dich nicht so blöd anstellen, hätte er dich vielleicht schon geküsst. »Und du hast keine Angst, hier mit mir herzukommen?«, fragt er geheimnisvoll. »S-sollte ich?« Oh, dieses Lächeln! Kann man sich in einen Gesichtsausdruck verlieben? In meinem Kopf spielt alles verrückt. Er lehnt sich zu mir herüber. Ich möchte es einfach geschehen lassen. Genießen, wie dieses Märchengesicht näher und näher kommt. »Also wenn …«, höre ich mich stattdessen aber sagen, »wenn du den Saft kalt möchtest, musst du jetzt einen nehmen.« »Oh.« Abrupt weicht er zurück, fährt sich mit der Hand über die Lippen und antwortet: »Natürlich. Wie du meinst.« Hilfe, was ist mit mir? Warum tue ich genau das Gegenteil von dem, was ich eigentlich will? Ich hasse mich! Aber wie taktvoll er darüber hinweggeht. Er redet einfach über einen echten Steinbruch, in dem er mal war. Ob ich’s noch mal versuche? Los, ganz unauffällig an ihn heranrutschen. Doch wo lasse ich den angeknabberten Keks, der seit gefühlten drei Stunden in meiner Hand bröselt? Ich schnipse den Rest einfach nach hinten in den Sand. Bitsch, weg ist er.
Vincent schnellt fast im selben Augenblick herum und fragt: »Futter für die Fledermäuse?« Teufel auch, wie konnte er das hören? Das Ding hat nicht mal ein Ticken verursacht! Und wieso ausgerechnet Fledermäuse? »I-ich glaub, ich muss nach Hause«, bringe ich kopflos hervor und denke, so nicht, Lily. Du bist ja ungeschickter als ein Huhn auf Rollschuhen. Für heute antwortest du nur noch mit Ja oder Nein. Der Rückweg erscheint mir endlos. Ich werde immer langsamer. Auf der Höhe des Supermarktes fragt Vincent: »Musst du noch etwas einkaufen?« »Hm. Ich weiß nicht.« »Verstehe. Und sehen wir uns wieder?« »Hm. Wenn du willst.« »Natürlich will ich! Würde es dir morgen passen?« »Hm. Morgen.« Stopp! Nur noch Ja oder Nein und sonst gar nichts, klar? Vincent sieht sich unschlüssig auf dem Marktplatz um. »Also dann … um 17 Uhr?« »Ja.« Er scheint noch auf etwas von mir zu warten, aber als ich keine Anstalten zu irgendwas mache, sagt er: »Weißt du eigentlich, dass du einen wunderschönen Hals hast?« »Hals? Ich?« »Bis morgen also«, lächelt er zauberhaft. »Ich freue mich.« Nein, dieses stümperhafte Picknick! Und dann die Nummer mit den Plastiksäcken! Ich stürze in mein Zimmer, springe aufs Bett und vergrabe den Kopf unter sämtlichen Kuschelkissen, die ich zu fassen kriege. Was muss ich anstellen, um morgen nicht wieder die Nerven zu verlieren? Oh, Vincent, wie sehr ich mir wünschte, jetzt noch einmal in deine Märchenaugen zu sehen! Ich schwör dir, ich würde deinem Blick standhalten und meine Lippen würden sich nach einer Weile ganz wie von selbst … »Hmmm«, schmachte ich jetzt und wühle mich wieder an die Oberfläche, während ich voller Hingabe Luftknutschen spiele. »Lily! Tut dir was weh?« »Verdammt noch mal, Fabs! Wo kommst du denn her?« »Von zu Hause. Deine Mutter hat gesagt, ich soll hochgehen. Was verrenkst du dich denn so? Hat er dich etwa schon gebissen?« Punkt eins, wenn man verliebt ist: immer schön alle Türen schließen. Ist ja megapeinlich, wie man sich da aufführt. Auweia, was macht dieses Kissen in meinem Arm? »Pass auf«, sagt Fabs und setzt sich zu mir. »Ich hab dir ein paar Sachen mitgebracht, die du jetzt brauchen wirst. Hier, das ist Papas Brieföffner. Echtes Silber. Den trägst du ab sofort immer bei dir. Und dieses Fläschchen hier enthält Stechginsteröl. Schlag es einfach kaputt, wenn’s gefährlich wird, ja? Und dann kippst du ihm das Zeug mitten ins Gesicht. Hey, was gibt’s da zu lachen?« Meine Freundin! Ich kann gerade nicht anders, ich muss sie einfach in die Arme nehmen. »Lily, was soll das?« »Weil du so süß bist! Aber ich schwör dir, das hier ist überhaupt nicht nötig.« Und dann erzähle ich ihr von unserem Ausflug und wie es dazu gekommen ist. »Bist du lebensmüde?«, weicht sie entsetzt zurück. »Der verstellt sich doch nur! Natürlich tut er alles, um sein wahres Ich vor dir zu verbergen. Sonst hätte er ja auch sagen können ›Gestatten, Graf Dracula‹.« Oje, da hat sich aber jemand in was reingesteigert. »Hast du eigentlich schon Fotos gemacht?«, frage ich, um sie auf andere Gedanken zu bringen. »Wie denn? Ich weiß doch gar nicht, wo der sich gerade rumtreibt.« »Fa-habs! Ich meine mit deiner neuen Kamera!« »Ach so, ja. Ich war mit Lukas unterwegs. Richtig weit draußen. Hör mal, Lily, ich möchte, dass du diese Sachen bei dir trägst, okay? Versprich es.« »Alles klar, Chef.« »Und morgen reden wir weiter. Komm doch vormittags bei mir rum und schau dir die Fotos an.« »Vormittags, jawohl«, gehorche ich erneut. »Schließlich ist mein Date erst um 17 Uhr.« »Nicht zu fassen«, grummelt Fabs und greift missmutig nach ihrer Regenjacke, »wie dir dieser Typ schon den Kopf verdreht hat.«
Vampirbraut Lily Hach, herrlicher Sprühregen! Ist es nicht ein wunderbares Gefühl, verliebt zu sein? Nicht zu fassen, mit was für albernen Gedanken wir uns gestern noch herumgeschlagen haben. Ein Glück, dass niemand von unserer Schnapsidee weiß. In meiner Klasse wäre das sicher mein sozialer Tod gewesen. Lily, die Vampirbraut. Ich kann mich nicht erinnern, jemals eine bessere Überschrift über einem Artikel in der Schülerzeitung gelesen zu haben. Auf dem Friedhof findet gerade eine Beerdigung statt. Eine dunkle Menschentraube schiebt sich schwerfällig über das Gelände. Einer von denen scheint sich verirrt zu haben, denn er läuft in die falsche Richtung. Komisch, jetzt legt er sogar noch einen Zahn zu und dreht sich gehetzt nach den anderen um. Als ob er vor denen auf der Flucht wäre. Ich bin etwa auf derselben Höhe wie er, als ich sehe, dass seine schwarze Jacke kein Sakko ist, sondern ein Parka. Und seine Haare reichen ihm weit über den Kragen und wehen beim Laufen und … Mein Gott, das ist doch … das ist … Scheiße, was macht er da? Morgens um halb zwölf auf dem Friedhof, in einem Tempo, als wär ihm der russische Geheimdienst auf den Fersen? Los, erst mal weg hier. Ich trete wie eine Wilde. Als ich in Fabs’ Vorgarten abspringe, donnert mein Herz wie nach einer Explosion. »Wie pünktlich!«, freut sie sich. Doch im selben Moment: »Lily! Bist du überfallen worden?« »Geh!«, schiebe ich sie rückwärts in den Flur. »Und schließ die Tür ab!« Wir verdrücken anderthalb Schachteln Nougatherzen. Dann ist mir schlecht und auch Fabs wischt sich abgefüllt über den Mund. »Und wenn er nur am Grab seiner Vorfahren war?« »Ausgeschlossen! Jemand, der seinem Opa einen Trauerbesuch abstattet, sieht anders aus.« »Wann, sagtest du, ist euer Date heute?« »Ich mag gar nicht drandenken. Weißt du, Fabs«, gestehe ich ihr jetzt. »An dem ersten Abend, du glaubst ja nicht, wie erschrocken er war, als ich sagte, ich hieße Weiwasser.« »Pfff …«, lässt sie die Luft raus und ich bin mir sicher, dass sie dasselbe denkt wie ich. »Wenn er Angst vor kirchlichen Symbolen hat«, sagt sie da auch schon, »dann ist er kein moderner, sondern ein traditioneller Vampir. Und die haben richtig Durst.« Alarmiert sehe ich sie an. Sie sagt: »Hör zu, du wirst dir auch noch ein Kreuz einstecken.« »Wo soll ich denn jetzt ein Kreuz herkriegen?« »Aus der Friedhofskapelle. Da lag doch immer eins rum, wenn wir im Konfirmandenunterricht dort waren. Das holen wir dir. Und in die Kirche müssen wir auch. Jetzt guck doch nicht so. Du brauchst auf jeden Fall Weihwasser. Wer weiß, ob das mit dem Stechginsteröl klappt.« Eine Weile grübelt Fabs noch benommen vor sich hin. Dann beschließt sie, mich abzulenken, und schleppt mich vor den Bildschirm. »Guck mal hier, das Kälbchen. Das hab ich in verschiedenen Perspektiven. Süß, oder?« Mir kommt ein beunruhigender Gedanke: »Mensch, Fabs, wie sollen wir denn in die Kapelle, wenn da gerade ’ne Beerdigung ist?« »Hm«, macht sie enttäuscht. »Ich wünschte, dieses blöde Verkehrsschild wäre da nicht im Bild.« »Was sagst du?« »Na, hier. Das Stoppschild passt ja überhaupt nicht in die Landschaft. Weißt du was, Lily? Ich glaub, ich komm gleich mit. Der Lukas hat doch ein Bildbearbeitungsprogramm. Ich zieh die Sachen nur schnell auf einen Stick.« Nie hätte ich gedacht, dass ich mal ein Mädchen beneiden würde, das sich mit Lukas trifft. Wir gehen zu Fuß zum Friedhof rüber. Vor dem Tor halten wir inne und beobachten das Gelände. Niemand, nur ganz weit hinten füllt eine ältere Frau ihre Gießkanne. »Los, komm«, sagt Fabs und schafft es, die Pforte fast ohne Quietschen zu öffnen. Dann das schwierigste Stück, der Weg über den kahlen Vorplatz bis zur Kapelle. Ich bete zu allen Heiligen, dass Pfarrer Wrengler inzwischen abgezogen ist. Sein klappriger Golf war bisher nirgends zu sehen. Ohne Worte bewegen wir uns auf den Hintereingang zu. Die beiden Steinstufen, die zu der alten Holztür führen, sind so ausgetreten, dass man fast darin versinkt. Mit zitternden Fingern drücke ich die Klinke herunter. Kalte, feuchte Luft schlägt mir entgegen. Durch die dunklen Mosaikfenster dringt nur schwaches Licht. Als mein Blick auf die Armeen von schwarzen Holzbänken fällt, flattern meine Beine wie Motten kurz vor dem Absturz. »Schnell, zum Altar!«, ordnet Fabs an und schleicht auf Zehenspitzen vorneweg. Die Luft ist so schwer und moderig, dass ich mein T-Shirt bis zum Mund hochziehe und durch den Stoff atme. »Verdammter Mist!«, höre ich Fabs jetzt fluchen. »Wo ist der gammelige Tischläufer abgeblieben? Da lag doch immer das Kreuz drauf!« Ich bin noch etwas weiter vom Altar weg, deshalb fällt mir als Erster auf, dass es offenbar ein neues Kreuz gibt. Es steht auf einem Ständer und sieht geschmiedet aus, fast so wie eine Statue. »Ach, du Schande«, bemerkt jetzt auch Fabs das Kunstwerk. Sie ruckelt und zerrt so energisch an dem Eisenkreuz, dass der Ständer bedenklich anfängt zu schaukeln. »Spinnst du? Hör auf!« »Wieso? Du brauchst doch ein Kreuz!« »Aber doch keins, das ich in einem Rollkoffer hinter mir herziehen muss. Lass das Ding los!« Ich will mich schon auf den Rückweg machen, da scheppert ein Messingkrug so laut zu Boden, dass den Bewohnern sämtlicher Grabstellen da daußen vermutlich die Ohren klingeln. »Blöde Vase«, grummelt Fabs und stellt das Gefäß wieder auf. »Lass uns abhauen«, zische ich, doch in dem Moment geht vorne die Haupttür. Wir flitzen zur Seite, schnell wie zwei Mäuse hinter den schweren Samtvorhang, der den Altarraum von der Aufbahrungsstätte trennt. »Boah, stinkt das hier!«, flüstert Fabs, während ich mit angehaltenem Atem durch ein winziges Loch im Stoff hindurchspähe.
Herr Jepsen, der Friedhofswart, kommt den Mittelgang entlang, schaut hinter die Kanzel und wirft einen missbilligenden Blick auf den Altar. Als sein Gesicht weiter nach rechts wandert, direkt auf die Stelle zu, an der er jetzt meinem Auge begegnen müsste, spüre ich kleine Dolche in meiner Brust. Ein Ziehen an meiner Jacke. Ohne Fabs wäre ich zur Salzsäule erstarrt. Als Jepsen hinter den Vorhang guckt, kauern wir bereits hinter einem schwarzen Sarg, der festlicher glänzt als ein Konzertflügel. Vielleicht ein Musiker, denke ich. Jedenfalls stinkt er erbärmlich und ich weiß, wenn ich hier nicht sofort rauskomme, falle ich entweder in Ohnmacht oder spucke los. Endlich entfernen sich die Schritte wieder. Es dauert ewig, bis unsere Knie wieder fest genug zum Gehen sind. Im Zickzack taumeln wir auf die Hintertür zu. Endlich, frische Luft! Tageslicht! Trotzdem ist mir hier draußen noch schlechter als da drinnen. Himmel noch mal, ein Toter! Kaum eine Nasenlänge von mir weg! »Bäääh!«, macht sich der Ekel endlich Luft und ich übergebe mich in eine Buchsbaumhecke. Fabs ist wie der geölte Blitz bereits durch das Friedhofstor verschwunden. Aber hinter mir ertönt jetzt mein Name: »Lily!« Oh Gott, was ist schlimmer? Ein Toter direkt an meiner Wange oder ein Vampir, der mir beim Kotzen zusieht? »Bitte geh! Mir ist schlecht!« »Das sehe ich. Soll ich dich nach Hause bringen?« »Hilfe, nur das nicht!« Er steht völlig ratlos da und kratzt sich die Stirn. »Wollen wir … unsere Verabredung auf morgen verschieben?« »M-hm«, nicke ich nur und folge Fabs auf dem schnellsten Weg. Draußen arbeitet meine Freundin bereits den nächsten Schlachtplan aus: »Um zur Kirche zu kommen«, sagt sie, den Blick angestrengt auf den spitzen Turm von Sankt Nicolai gerichtet, »nehmen wir am besten die Räder.« »Kirche?«, frage ich bestürzt. »Na, Weihwasser holen. Schon vergessen? Mensch, sag mal, du bist ja total grün im Gesicht. Musst du etwa spucken?« »Schon passiert«, antworte ich zittrig. »Und das mit dem Weihwasser können wir jetzt auch morgen machen.«
Sonne und andere Unverträglichkeiten Mit der silbernen Klinge des Brieföffners in der einen Hand und dem Fläschchen Stechginsteröl in der anderen stehe ich pünktlich um 17 Uhr am Marktbrunnen und spreche mir Mut zu. Denn Weihwasser habe ich nicht dabei. Fabs musste nämlich heute zu ihrer Oma. Und allein in die Kirche? Vielen Dank, mir reicht der Kapellenbesuch gestern. Ich frage mich, ob er ahnt, was ich befürchte. Verdammt, wie war das noch mal, können Vampire eigentlich Gedanken lesen? Und wenn ja, gibt’s da wenigstens eine Bannmeile, sagen wir, dreißig Meter Abstand, und man kann denken, was man will? »Hallo, Lily.« »Hua-ah!« »Also wirklich!«, amüsiert er sich. »Immer dieses Schreckhafte. Gehen wir wieder in die Richtung?« »Wir können auch … also, ich dachte, vielleicht mal zur Kirche«, stammele ich unsicher. Genau! Diese ultimative Vampirtest-Idee ist mir gerade gekommen. »Hm«, macht Vincent, sichtlich überrascht von meinem Vorschlag. »Das klingt ja originell.« Verdammt, das ist jetzt nicht wirklich aufschlussreich. Aber immerhin gehen wir los. Ob ich diese Einkaufsstraße jemals wiedersehe? Er achtet heute darauf, nicht schneller zu gehen als ich. Aber kein Wort mehr von meiner Wunde. Gut so, denn sonst würde ich ihm vielleicht erzählen, dass ich mich vorhin in Kabine zwei ganz übel an dem sperrigen Ultraturbobräuner gestoßen habe und dass daraufhin eine Kruste abgeplatzt ist und ein paar Tropfen helles Blut … »Wie geht es übrigens deinem Bein?« »Oh, äh, danke, bestens.« »Sicher?«, fragt er mit einem ungläubigen Blick auf mein rechtes Knie. Also kann er Gedanken lesen. Ich wüsste nur gern, auf welche Entfernung. Ob ich dahinten bei dem Dönerwagen weit genug von ihm weg wäre? Eine Weile gehen wir schweigend nebeneinanderher. Dann sagt er, er fände es wirklich mutig von mir, hier so mit ihm entlangzugehen. M-mutig? Was meint er? Und was antworte ich einem, der wahrscheinlich sowieso schon alles von mir weiß? Dass ich fast überall mit ihm entlanggehen würde. Wenn er nur kein … Mist, ich krieg dieses Wort nicht aus meinem Schädel. Dieses verhängnisvolle V-Wort! Vincent fragt: »Und es hat auch bestimmt niemand etwas dagegen, dass wir uns treffen?« Fabs. Er weiß von ihr. Und den Mitteln, die ich dabeihabe. Schuldbewusst lasse ich beides los und ziehe die Hände aus den Taschen. »Ich-äh … ich muss mal ganz kurz da hinter die Garage«, sage ich und bin schon unterwegs zu einem frei stehenden Carport auf der anderen Straßenseite. So. Und jetzt einmal alles knallhart durchdenken, was mich gerade verrückt macht. Ich hoffe nur, ich bin weit genug von ihm weg. Los, kommt, ihr doofen Ängste und Wörter und was ich sonst noch so vor ihm verbergen will. In meinem Kopf grummelt’s wie in einem rumorenden Magen. Nach einigen Augenblicken scheint mein Denkzentrum clean zu sein. Ich glaube, das war’s. Also langsam zurück und Neustart. Vincent tut so, als habe er sich in der Zwischenzeit den Buchenwald gegenüber angeschaut. »Die Blase?«, fragt er diskret, als ich wieder da bin. »Äh, nee, eher so ’ne Art Durchfall.« – Großer Gott, Lily! »Uih«, rümpft er da auch schon die Nase. »Sollten wir dann nicht besser umkehren?« »Auf keinen Fall! Ich hab das manchmal. Also jetzt keinen richtigen Durchfall, glaub das ja nicht, hähä! Das ist mehr wie so ’ne … also ’ne Konzentrationsfrage, weißt du?« »Ach.« Das gibt’s auch nicht alle Tage: ein Vampir, dem vor Verwirrung der Unterkiefer wegrutscht. Halt, Lily, nicht dieses V-Wort! Denk was anderes. Sag was anderes. Irgendwas. Also: »Deine Haare sehen wirklich praktisch aus.« »BITTE?« »Ich meine, wie sie …« Teufel auch! »Na ja, also wie … sie … deinen Nacken bedecken. Ich meine, w-wenn mal die Sonne scheint. Du kriegst dann keinen … Sonnenbrand, oder?« »Stimmt. Aber sag mal, woher weißt du, dass ich empfindliche Haut habe?« Also gibt er es zu. Er verträgt kein Licht. Und ich sitze gerade ganz schön in der Klemme. Denn er mustert mich jetzt mit dem intensivsten Blick, den ein Mensch, Verzeihung, ein Wesen, nur aufbieten kann. »Lily?«, erinnert er mich sanft daran, dass ich ihm noch eine Antwort schulde. Hilfe, ich schmelze dahin! Aber dann nehme ich all meine Konzentration zusammen und sage: »Hauttyp eins. Hohe Sonnenempfindlichkeit. Bei direkter Einstrahlung hast du maximal zehn Minuten Eigenschutz. Danach kommst du ohne guten Sunblocker nicht mehr aus.« »Ist ja unglaublich!«, prustet er völlig unvermittelt los. »Ich scheine es mit einer echten Bräunungsexpertin zu tun zu haben.« Ob er doch keine Gedanken lesen kann? Die Luft ist warm und feucht wie in den Tropen. Als wir den kleinen Wald betreten, durch den man zur Kirche kommt, weiß ich, was ich vergessen habe: Mückenspray. Die Biester fallen mich an wie Kampfmoskitos. Mein Hals scheint für sie die reinste Festtafel zu sein. Wir sind schon fast an der Kirche, da sagt Vincent: »Wollen wir uns nicht ein bisschen auf die Bank dort setzen?« Schon klar. Er will in kein Gotteshaus. Und wozu auch noch? Die Beweislage ist ja eindeutig. Also gehe ich mit ihm zu der schattigen Holzbank und genieße es, wie er seine Cordjacke als Sitzmöglichkeit für uns ausbreitet. Ich wette, um auf so was zu kommen, müssten echte Jungen mindestens hundert werden. Und dann die Komplimente, die er mir macht! Wie wunderbar natürlich ich sei und wie herrlich erfrischend mein Lachen. Mir ist noch kein einziges dummes Wort über die Lippen gekommen, und das, obwohl er mich jetzt schon geschlagene zehn Sekunden ansieht. Ich wette, ich könnte bis morgen hier sitzen und das Glitzern seiner Augen genießen. Aber Vincent sagt: »Du, Lily?«, und es klingt fast traurig. Ob jetzt die Stunde der Wahrheit kommt? Ich bin so ziemlich auf alles gefasst. Eine ängstlich vorgetragene Beichte. Eine Warnung vor der Gefahr, die von ihm ausgeht. Sogar einen Hilferuf halte ich bei dem unruhigen Flackern seiner Augen für möglich. Etwas in der Art von Hilf mir, den Dämon in mir zu besiegen, ich bin so schrecklich in dich verliebt . Doch statt all dem sagt er nur: »Hast du eigentlich keine Angst um deinen Hals?« »Meinen HALS?« Ich krächze so laut, dass wir beide erschrecken. »Nun ja«, erläutert er. »Du setzt dich so arglos mit mir in den Wald. Und dabei hast du nicht den geringsten Schutz für deinen Hals dabei.«
Ich muss husten. Hilfe, das wird ein richtiger Anfall! Ich keuche und schnappe und ärgere mich wahnsinnig. Wie kann er so einfach voraussetzen, dass ich über ihn Bescheid weiß? Müsste man nicht wenigstens ein paar Worte darüber verlieren, wenn man kein Mensch ist? Ich kämpfe immer noch mit den Folgen meines Hustens. Wortlos greift Vincent in seine Tasche und zieht ein Päckchen Kaugummis heraus. »Nimm schnell davon eins.« Ich traue meinen Augen nicht. Ganz normale Strawberry Mint. »Wie? So was dürft ihr essen?« Verdutzt sieht er mich an. »Sag mal, woher weißt du von meiner … Unverträglichkeit?« Ach, so drehen die das! Unverträglichkeit. »Also«, antworte ich hin und her gerissen, »ich hab da so eine Ahnung.« Ob es daran liegt, dass es nicht mehr so dunkel ist wie in den letzten Tagen? Ich habe das Gefühl, seine Augen schimmern heute noch heller als vorgestern. Sie glitzern wie honiggelber Bernstein, als er sich mir mit ernster Miene zuwendet: »Lily, ich finde, du bist sehr aufmerksam.« Schluck. Es ist eigentlich keine richtige Angst. Mehr so was wie Ehrfurcht. Vor dem, was gleich passieren kann. Wenn er noch näher kommt. Ob es sehr wehtut? Sein Blick durchbohrt mich wie ein Schwert. Ich weiche ihm nicht aus. Plötzlich fühle ich seine eiskalte Hand an meinem Hals. Mama!, denke ich. Und sogar: Benny! Dann setzt ein Zittern ein, das mich bis ins Mark erschüttert. Vincent sagt: »Das kann eine ordentliche Wunde geben.« »Ich weiß«, murmele ich, ohne mich von der Stelle zu rühren. »Wir haben ein sehr gutes Gel, das den Schmerz lindert.« Wie fürsorglich er auch in so einem Moment noch ist! Jetzt spüre ich seine sanften, kühlen Finger über meine Haut gleiten. Ich lehne mich näher zu ihm. Bin bereit für mein neues Leben – oder besser Dasein. »Dieses Gel«, sagt Vincent und seine Stimme klingt so weich, dass ich mich darin einkuscheln möchte. »Das hilft auch enorm gut gegen den Juckreiz.« »JUCKREIZ?« »Achtung, schon wieder eine!«, ruft er und schnipst mir mit voller Wucht am Hals entlang. – »Aua!« »Entschuldige! Aber die Biester scheinen heute wie aufgedreht zu sein. Lass uns lieber zurückgehen, bevor sie dich noch zerstechen.« Mama sitzt hinter dem Tresen und stützt sich mit beiden Händen den Kopf. »Ist irgendwas?«, frage ich und bin erstaunt, dass meine Stimme wieder funktioniert. Auf dem Rückweg von der Kirche wollte ich ein paarmal etwas sagen, doch es kam nur Röcheln. Ein Wunder, dass ich es überhaupt bis hierher geschafft habe. »Ich weiß wirklich nicht, was ich mit dem Jungen noch anstellen soll«, jammert Mama. »Jetzt ist er bei der Ferienfreizeit rausgeflogen. Untragbares Benehmen.« Benny hat es sich oben am Küchentisch gemütlich gemacht, hinter einer Wand aus Smacks- und Krispies-Kartons. »Schwester!«, freut er sich übertrieben. »Mann, siehst du fertig aus!« Ich weiß nicht, was an seiner Entwicklung so hoffnungslos sein soll. In gewisser Weise registriert er doch mehr als Mama. Er sagt, sein Abgang bei der Freizeit sei voll der Hit gewesen. »Du musst dir vorstellen, Lily, ein Tastspiel, ja? Genauso wie früher im Kindergarten. Zwei Mädchen patschen in einer zugedeckten Pappkiste rum und gucken, als würden sie gleich auf die englischen Kronjuwelen stoßen. Aber was finden sie stattdessen? Mäuse, Lily! Süße kleine Wüstenrennmäuse. Die eine hat sogar zugebissen. Krass, oder?« »Ist doch harmlos.« »Bitte?« »Ein Mäusebiss, also ehrlich!« »Wie bist du denn drauf? So redest du doch sonst nicht.« »Sag mal, Benny, glaubst du, dass es Vampire gibt?« »Klar!«, ruft er und zieht fauchend die Oberlippe hoch. Es war ein Fehler, ihn zu fragen. Ich gehe besser in mein Zimmer. »Wo hattest du die Mäuse überhaupt her?«, drehe ich mich noch einmal um. »Ich hab ’nen neuen Freund. Roman. Der wohnt noch nicht lange hier, deshalb war er auch bei der bescheuerten Freizeit.« »Verstehe. Dann hast du es wegen dem ganze zwei Tage dort ausgehalten.« »Blitzmerker«, höre ich und zucke zusammen wie bei einem Stromschlag. Weil Vincents Worte plötzlich wieder da sind: Du bist sehr aufmerksam, Lily. Zusammen mit diesem ernsten Blinzeln. Bedeutet das jetzt, dass ich offiziell Bescheid weiß? Und werden wir irgendwann auch darüber reden oder muss ich immer, wenn er eine Mücke verscheucht, befürchten, er könnte zubeißen? Ich rufe Fabs auf ihrem Handy an. Mist, nur die Mailbox. Und jetzt? – Da kann nur ein entspannendes Bad helfen. Also los: Wasserhahn auf, Aprikosenschaum rein. Aus meinem Zimmer hole ich mir frische Klamotten und lasse schon mal die Jalousien runter. Reine Vorsichtsmaßnahme, man weiß ja nie, wer da gerade vor dem Fenster schwebt. Den dunklen Fleck an der Decke habe ich übrigens mit einem Jesusbild aus dem letzten Kirchenbrief zugeklebt. Unglaublich, wie so ein Bad beruhigt. Ich liege bis zum Kinn im warmen Wasser und ringsherum prickeln die Schaumbläschen. Morgen, haben wir verabredet. Wenn ich morgen noch mal Zeit hätte, was Vincent sich sehr wünschen würde – ich krieg jedes Mal eine Gänsehaut, wenn er so vornehm redet –, jedenfalls möchte er sich morgen wieder mit mir treffen. Ich konnte ja nichts sagen, das Röcheln in der Kehle war einfach zu schlimm. Aber im Hinterkopf hatte ich zwei Gedanken: a.) Er wollte mir nichts antun, deshalb kann ich ruhig darauf eingehen, und b.) morgen habe ich für alle Fälle Weihwasser dabei. Nanu, was war das gerade? Das Rascheln kam doch von hier! Eine ordentliche Welle schwappt über den Rand, als ich hochschieße, um mich umzusehen. Aber nichts. Das kleine Außenfenster ist sicher geschlossen. Und hinter der Duschtür zeichnet sich wie immer nur ein Gegenstand ab – die 8 x 4-Flasche. Dann die Wand in meinem Rücken. Die wird blöderweise von einem schwarzen Vorhang verdeckt, hinter dem wir alle möglichen Sachen aufbewahren. Moment, das kann doch nicht … Hat der sich etwa gerade bewegt? Ich sehe genauer hin. Da, die Stofffalte! Ein kalter Schauer kriecht über meinen nassen Rücken. »Hallo?«, flüstere ich. »Hallo, ist da jemand?« Die Angst packt mich wie eine eiserne Kralle. Ich schnappe mir das Badetuch, den Blick weiter starr auf den Vorhang gerichtet. »Huh«, heult es wie ein unheimlicher Windstoß dahinter auf und ich stürze wütend darauf los: »Benny, du Schwein! Mach das nie wieder!«
Kino, Kurzschluss, Katastrophe »Mann, Lily!«, ruft Fabs, die noch bei Grün über die Ampel gekommen ist und sich jetzt genervt über ihren Lenker beugt. »Wo bleibst du denn?« Ich schwör’s, ich würde diese ganze Tortur mit Kirche und Weihwasser nicht machen, wenn ich nicht eine realistische Chance für uns sähe. Vincent WIRD mir alles sagen, da bin ich ganz sicher. Doch bis es so weit ist, muss ich mich vor ihm schützen. Damit er mich nicht aus Versehen kaltmacht. »Warte, Fabs! Wir nehmen die Abkürzung durchs Wäldchen. Gleich da vorne rechts rein!« Wir verstecken die Räder neben der kleinen Pforte, vor der ich gestern auch mit Vincent stand. Als ich nicht weit davon entfernt unsere Bank entdecke, tut mir das Herz weh. Richtig krank fühlt es sich auf einmal an – traurig, wie unsere Liebe. Die ist auch nicht ganz gesund. »Sag mal, willst du dahinten Pilze sammeln oder können wir jetzt?« »Ich komme!« Oh Vincent, warum musste ausgerechnet ich dir begegnen? Als Konfirmanden waren wir so oft in dieser Kirche, dass ich den Schalter für die Weihnachtsbeleuchtung mit geschlossenen Augen finden würde. Auch Fabs geht sicheren Schrittes über den Mittelgang, direkt auf das wuchtige Taufbecken neben der Kanzel zu. Es ist nur zu einem Viertel voll, muss lange nicht mehr aufgefüllt worden sein. Aber Fabs meint, das sei nur gut so, dann sei es wenigstens schön hochkonzentriert. Mit der Routine eines gelernten Wasserprüfers holt sie eine leere Plastikflasche aus ihrer Jacke, schraubt den Deckel ab und drückt sie in Schräglage unter die Wasseroberfläche. Gluck-gluck macht es beruhigend. Und Fabs schürzt zufrieden die Lippen. Dann hält sie die Flasche ins Licht und sagt stolz: »Fast ein halber Liter. Das dürfte eine ganze Sippe von denen auslöschen.« »Lily! Fabienne!«, donnert auf einmal die sonore Stimme von Pfarrer Wrengler durch das Gotteshaus. »Na, wenn das keine Überraschung ist!« »Äh … ich … wir …« Klongklongklong!, klappert es grell. Ich sehe gerade noch, wie der Plastikdeckel unserer Flasche unter die Sitzreihen kullert. Ängstlich wende ich mich zu dem Pfarrer um. »Äh … ’tschuldigung«, säuselt Fabs und kriecht Sekunden später unter einen der Stühle ganz hinten an der Wand. Als sie zurückkommt, hat sie den Deckel. Allerdings mit einer dicken Staubmaus drin. »Aber Mädchen!«, schnalzt der Pfarrer mit der Zunge. »Den könnt ihr doch so nicht wieder aufschrauben. Gib mir mal die Flasche, Fabienne. Ich hol dir aus dem Gemeinderaum eine frische.« »NEIN!«, schreien wir so entsetzt, dass Wrengler erschrocken zurückweicht. Eine Weile stehen wir stumm da und lassen uns von ihm mustern. »Wie ihr wollt«, beschließt er dann und bittet uns mit einer Geste, die keinen Widerspruch duldet, in sein Konfirmanden-Folterzimmer. »Wisst ihr, dass ihr vorbeigekommen seid, ist wirklich ein großes Glück für mich«, sagt er und zerrt bereits eine dunkle Schwarte aus dem Regal. »Ich brauche nämlich für die nächsten Gottesdienste unbedingt neue Lektoren.« – NEIN! Mist. Was bedeutet es, wenn ein Vampir ein Date platzen lässt? Hat er vielleicht den Deckel seiner Schlafstätte zu dicht verschlossen und ist wieder eingenickt? Oder ist heute einfach zu gutes Wetter? Ich sehe mich auf dem Marktplatz um. Ein Straßenmusiker zupft an seiner Gitarre. Eine Bedienung sprintet im Marktcafé von Tisch zu Tisch, um Bestellungen aufzunehmen. Und davor steht jetzt ein Typ mit einem Hut auf. Er trägt ein blütenweißes Hemd, das lässig über seine Jeans fällt. Starkes Outfit, denke ich, wie er so auf mich zuschlendert. Moment mal, jetzt winkt er und liftet für eine Sekunde seine Sonnenbrille. – »Vincent!« »Hallo, Lily. Toll, dich zu sehen. Wollen wir in den Schatten gehen?« »Klar.« Wir steuern auf ein Geschäftshaus mit einer breiten Markise zu. Die beiden Schaufenster ganz außen gehören zum Kino. »Sag mal,« bricht es auf einmal total begeistert aus Vincent hervor. »Hast du auch solche Lust, dir einen Film anzusehen?« Das ist nicht sein Ernst, oder? Nicht heute, wo zum ersten Mal seit Wochen die Sonne scheint. Doch er schiebt sich den Hut tiefer in die Stirn und zieht die Ärmel seines Hemdes glatt. Sie sind so lang, dass sie seine Handflächen gleich mitbedecken. »Wollen wir?«, bietet er mir einladend den Arm an. Ich denke, adios, schönes Sonnenlicht, und lasse mich ritterlich in den schwach beleuchteten Vorraum des Kapitols geleiten. Sieht aus, als wären wir die einzigen Besucher. Ich warte vor dem Gang zu Kino eins, während Vincent die Tickets holt. Mit einem Strahlen kehrt er zurück: »Ich hoffe, du magst Fantasy.« Er hat die Sonnenbrille abgenommen. Kein Junge auf der ganzen Welt könnte jemals so viel mit seinen Augen sagen. »Ich liebe Fantasy!«, schwenkt meine Stimmung sogleich um und dann lachen wir und laufen ausgelassen wie turtelnde Hunde auf den menschenleeren Saal zu. Die besten Plätze sind in der Mitte. Kaum dass wir sitzen, wird das Licht heruntergedimmt und die Werbung fängt an. Schnell schalte ich mein Handy aus. Es verabschiedet sich mit meinem Lieblingssong und dem kurzen Aufblinken meiner Nummer in den Schlaf. Mein Herz klopft. Vincent mustert mich unentwegt von der Seite. Trau dich, Lily, sage ich mir und linse scheu in seine Richtung. Allmächtiger, ist das ein Blick! Wenn Augen jemals so etwas wie Hunger haben können, dann seine. Ob es unvorsichtig ist, ganz alleine mit ihm hier zu sein? Mechanisch greife ich nach meiner Tasche und hole die Flasche mit dem Weihwasser heraus. »Ist ja großartig!«, freut sich Vincent. »Und das, wo ich gerade einen Höllendurst habe. Gibst du mir ’nen Schluck?« Oh Gott, und jetzt? Was, wenn ihn das umbringt? Aber ich kann auch schlecht Nein sagen. Das wäre ja oberzickigpeinlich. Außerdem hat er schon zugegriffen. Und – nein! – dieses Vertrauen in seinem Blick! Ich bin eine Mörderin, wenn ich ihn nicht vom Trinken abhalte. Ich bin eine … Zu spät. Er hat die Flasche bereits an den Mund gesetzt. »Uahhh!«, schüttelt er sich und kräuselt angewidert die Lippen. »Kann es sein, dass dieses Wasser schlecht ist?« »Ich … äh …« Meine Hände sind dermaßen am Zittern, dass ich die Flasche nur mit Mühe wieder an mich nehmen kann. Schnell zudrehen und auf den Nachbarsitz damit.
In meinem Plüschsessel rutsche ich immer tiefer. Die nächsten Minuten kommen mir wie Tage vor. Ich achte nur auf Vincents wunderschöne Finger. Lieber Gott, lass sie nicht verkrampfen oder erlahmen oder was weiß ich, was dieses Giftzeug mit ihnen anrichten kann. Aber vielleicht hat er gar nichts runtergeschluckt. »Lily!«, höre ich irgendwann seine Samtstimme. »Ist dir nicht gut? Möchtest du raus?« »Ähhh … nein.« Er sieht völlig normal aus. Zwar mit einer Sorgenfalte zwischen den Augen, aber nicht krank oder so. Der Film fängt an. »Viel Spaß«, flüstert Vincent mir zärtlich ins Ohr. Ein Hauch Strawberry Mint umweht meine Nase und alles in mir schreit: Los, küss mich! Und leg endlich deinen Arm um mich! Doch dann sehe ich zur Leinwand und erlebe das blanke Entsetzen. Ein Schloss in einsamer Finsternis. Die Kamera zoomt auf das parkähnliche Grundstück. Lauter kahle Bäume mit hängenden Zweigen und Spinnweben, die bis zum Boden reichen. Da ist ein Grabstein, dessen Inschrift jetzt immer größer wird und offenbar den Filmtitel anzeigt. Ein einziger Biss lese ich schockiert und schreie: »EIN VAMPIRFILM?« »Ich dachte, du magst Fantasy.« »Aber doch nicht über …« »Du hast etwas gegen Vampire!« »NEIN! Ich dachte nur nicht, dass wir …« »Was dachtest du nicht, Lily? Sag doch!« Sekundenlang starren wir uns an. Sein Entsetzen ist mindestens genauso groß wie meins. »Ist dir so ein Film unheimlich?« Oh Gott, wie seine Augen mich anflehen! »M-m«, schüttele ich den Kopf und denke: Alarm! An alle Werwölfe! Rettet mich vor der magischen Ausstrahlung dieses Wesens! Ich bin schon wieder drauf und dran, mich ihm zum Fraß hinzuhalten. Die Flasche! Ich werde nicht zulassen, dass er mich beißt, ohne mich vorher über mein Schicksal aufgeklärt zu haben. Vincent neben mir lacht. Was gibt es denn da bitte zu lachen? Und laut: »Worüber freust du dich denn so?« »Mein Geburtstag!«, zeigt er amüsiert zur Leinwand. Auf einem verwitterten Holzkreuz steht: 18. November 1712. Also dreihundert, rechne ich blitzschnell aus. Jedenfalls fast. Ich wünschte, er hätte mir das schonender beigebracht. Überhaupt wünschte ich, er würde mehr Rücksicht auf mich nehmen. Auf der Leinwand ist es auch nicht besser. Eine fette, glänzende Blutspur rinnt der Hauptdarstellerin jetzt vom Hals. Der Juniorvampir schleckt sich genüsslich um den Mund. Vincent hat sich weit nach vorne gelehnt. Was soll das? Er guckt nicht mehr den Film an, sondern nur noch mich! In Zeitlupe kommen seine Flimmeraugen immer näher. Will er mich etwa …? Was denn, hier? Halt, Dracula! Ich schraube blitzschnell den Deckel ab und kippe ihm das Zeug aus der Flasche mitten ins Gesicht. »Bäh! Lily, was soll das? Sieh doch nur, ich bin über und über mit dieser Brühe …« Aber da bin ich schon aus dem Saal gestürmt. Der Himmel ist blau wie seit Wochen nicht mehr, aber mein Stimmungsbarometer steht auf Wolkenbruch. Durch den Türspalt dringt der Duft von Hühnchen süßsauer, doch was bis vorhin noch mein Lieblings-Chinagericht war, löst auf einmal denselben Reflex aus wie sonst nur Linsensuppe – uarg. »Dein Essen wird kalt«, höre ich Benny vom Flur aus. »Ich will nichts!« »Was iss’n mit der?«, fragt sein neuer Freund, der schon die ganze Zeit für kleine Erdbeben in unserer Wohnung sorgt. »Ach, die hat sicher nur wieder zu viel gelesen.« Dann toben sie in die Küche, wahrscheinlich um sich über mein Hühnchen herzumachen. Ich versenke das Gesicht wieder im Kopfkissen, um noch eine Runde zu heulen. Wie konnte ich nur? Mich muss der Teufel geritten haben, als ich ihn wie eine Furie mit Weihwasser übergossen habe. Vielleicht wollte er mir gar nichts Böses. Vielleicht ist er mit mir in diesen Film gegangen, um mir alles zu gestehen. Stell dir vor, du bist ein Vampir und seit Hunderten von Jahren laufen dir die Mädchen weg. Da lernst du doch automatisch, zurückhaltend zu sein. Und ich gebe ihm die volle Abfuhr. Verdammter Mist, das hätte mein erster Kuss werden können! Und an die Spätfolgen, die das Zeug möglicherweise bei ihm ausgelöst hat, mag ich schon gar nicht denken. »Lily?« Uih, Fabs kommt. Mit letzter Kraft rufe ich sie rein. »Hey!«, schießt sie da auch schon auf mich los. »Ich dachte, wir gehen kurz mal den Text für übernächsten Sonntag in der Kirche durch. Was ist, bist du krank?« Ich erzähle ihr alles. Aber sie, anstatt mit mir um die Wette zu jaulen, sagt nur: »Glückwunsch, das war echt mutig von dir.« »Mensch, Fabs, ich hab ihn verletzt, verstehst du nicht?« »Blödsinn. Deren Wunden heilen doch schneller, als wir ’ne Tafel Schokolade essen.« »Und wenn es ihm jetzt schlecht geht? Im ersten Lamia-Band bekam der Vampirfürst doch auch so merkwürdige Verätzungen, weil das eine Opfer noch Reste von Weihwasser am Hals gehabt hat.« »Mhm«, macht sie nachdenklich, »aber das war ja auch echtes Weihwasser, ich meine, katholisches. Das hat bestimmt ’ne ganz andere Wirkung als diese Brühe da aus dem Taufbecken.« Erleichtert lehne ich mich zurück. Doch plötzlich: »Aber die Bakterien, Fabs! Was, wenn es dort schon so lange vor sich hingegammelt hat, dass es verseucht war?« »Dann hätte er doch wenigstens gewürgt. Und sich nicht in aller Seelenruhe vorgebeugt, um dich anzugaffen. Nee, nee, ich wette, der liegt längst wieder irgendwo auf der Lauer. Hör zu, Lily, du darfst jetzt auf keinen Fall nachgeben. Morgen fragst du ihn, was das Theater mit dem Kino sollte.« »Mann, begreif doch! Es gibt kein neues Date! Ich hab’s verbockt. Aus. Ende. Finito!« »Der spürt dich garantiert wieder irgendwo auf.« »Optimistin«, murmele ich traurig. Dann geht sie. »Ruf mich an, wenn du was von ihm hörst«, beschwört sie mich, als sie sich in der Tür noch einmal umdreht. »Sag mal, wer iss’n der Spinner da bei Benny?« »Roman. Genau so ’n Chaot.«
»Puh«, schüttelt sie sich. »Zwei von der Sorte würden mich echt fertigmachen.« Eben. Deshalb schließe ich, sobald Fabs draußen ist, auch meine Tür ab. Aber die Vorhänge mache ich ganz weit auf. Und bloß heute Abend nicht die Jalousien runterlassen! Ist doch sowieso albern, dass ich mich beim Umziehen immer verbarrikadiere. Wer durch Wände gehen kann, für den dürften ein paar Plastiklamellen ein Klacks sein. Vincent, hörst du? Mein Körper gehört dir. Du kannst gucken, wohin du willst und so oft du willst. Am besten direkt in meine Seele. Dann wüsstest du nämlich, dass ich dir nicht wehtun wollte, niemals! Bitte, kannst du mir nicht ein Zeichen schicken? Irgendeinen klitzekleinen Hinweis, dass es zwischen uns nicht aus ist? Ich flehe dich an! »Lily, wo bleibst du denn? Unten sind noch drei Kabinen belegt und ich muss dringend los zur Fitness!« Komisches Zeichen. Aber besser als nichts. »Bin schon da, Mama«, rufe ich und springe aus dem Bett. Vom Studio aus habe ich die Dinge sowieso besser im Blick.
Cevapcici ohne Happy End Donnerstag, vierzehn Uhr. Jetzt wird mir nicht nur von Hühnchen süßsauer schlecht, sondern sogar schon von meinem absoluten Fleisch & heiß bei Olli’s -Lieblingsgericht, Cevapcici. Arzt oder Mittagstisch, hat Mama mich vor die Wahl gestellt, als ich bei allem, was sie zum Essen vorschlug, immer nur abgewinkt habe. Deshalb schleppe ich mich jetzt zur Fleischerei. Die ganze Nacht habe ich kein Auge zugetan, weil mir das Licht von der Straßenlaterne ins Bett geschienen hat. Aber irgendwelche Hinweise, dass er sich auf den Weg zu mir gemacht haben könnte? – Fehlanzeige. Nicht mal ein Spatz hat sich vor mein Fenster verirrt, geschweige denn eine Fledermaus. In der Schlachterei ist heute die Hölle los. Sogar die schöne Celina scheint mitzuarbeiten. Sie geht bei uns in die Zehnte und ich weiß von Fabs’ Bruder, dass so ungefähr jeder zweite Junge aus dieser verdammten Kleinstadt in sie verknallt ist. Ich sehe sie durch eine halb offene Tür im Büro stehen und sich angeregt mit jemandem unterhalten. Wie sie jetzt wippt und mit dem Kopf schlenkert. Ich wünschte, ICH hätte so was drauf. Dann wäre ich jetzt nicht mehr ungeküsst. »Und du, junge Dame? Was möchtest du?« »Einmal so aussehen wie die da«, zeige ich mit dem Kinn zum Büro. Die Verkäuferin guckt entsetzt. »Äh, ich meine natürlich, dreimal Cevapcici. Mi-mi-mit Krautsalat.« »Pommes oder Reis dazu?« »Oh.« Weiter komme ich nicht. Weil sich in diesem Moment die Bürotür ganz öffnet und Celinas Gesprächspartner heraustritt. Schulterlanges Haar. Schmales, blütenweißes Hemd. »Also bis dann«, sagt er und seine Augenbrauen hüpfen wie zwei verliebte Rennmäuse. »Und tausend Dank.« Allmächtiger. Ich starre auf Salamischeiben, die mich schadenfroh angrinsen. Celina sagt: »Klar, bis nächste Woche.« »HALLO!«, ertönt jetzt eine Frauenstimme von der anderen Seite des Tresens. »Welche BEI-LA-GE?« Zieh den Kopf ein, Lily. Du bist ein Gurkenschnipsel im Fleischsalat. Du bist … du bist … »Sie nimmt Pommes«, sagt Celina, nachdem die Welt stehen geblieben ist und mindestens ein Dutzend Augenpaare auf mich gerichtet sind. »Stimmt doch, Lily, oder?« Hilfloses Nicken. Dann geht die Folter richtig los. Es dauert Ewigkeiten, bis die Frau mit dem Essen kommt. Ein paarmal bin ich überzeugt, eine kalte Hand würde nach meinem Nacken greifen. Aber als ich den Laden verlasse, mit Beinen so weich wie Kartoffelbrei, fehlt von Vincent jede Spur. Stattdessen steht Lukas vor meiner Nase und lädt mich für den Nachmittag zu einer Fotosafari gemeinsam mit ihm und Fabs ein. Angesichts der Alternativen – im Sonnenstudio helfen oder im Bett liegen und heulen – sage ich zu. Wir streifen im Gänsemarsch über einen schmalen Waldpfad. Fabs sagt, wenn wir Glück hätten, kämen vielleicht die Damhirsche wieder auf die Lichtung. »Wow, ja!«, schwärmt Lukas, der vorneweg geht. »Obwohl unsere Aufnahmen von vorgestern bestimmt nicht so leicht zu toppen sind. Ich find übrigens, wir sollten die echt irgendwo einschicken. Hast du dich mal nach Jagdzeitschriften oder so was erkundigt?« »Klar«, ertönt es jetzt wieder hinter mir. »Mein Onkel sagt, wenn man ein Foto veröffentlicht, kriegt man richtig Geld.« »Cool«, freut sich Lukas. »Wir können ja auch andere Sachen anbieten. Pferde, zum Beispiel. Oder Katzen.« »Wahnsinn«, jubelt Fabs jetzt wieder. »Sag mal, Lily, wär das nicht auch was für dich?« Entgeistert drehe ich mich zu ihr um. »Wie?« Sie schüttelt verständnislos den Kopf. Ich weiß genau, was ihr Blick mir sagen will: Wenn du dich nicht fürs Fotografieren interessierst, warum kommst du dann mit? Ist das wirklich so schwer zu begreifen, dass ich lieber hier bin, wo sich die wilden Viecher tummeln, als zu Hause, wo er sich ja doch nie an meinem Fenster blicken lässt? »Ich wollte ihm nahe sein, okay?«, versuche ich Fabs zu erklären. »Allmählich bin ich nämlich voll neben der Spur. Er hätte schon so viele Gelegenheiten gehabt, mir alles zu sagen, aber er tut’s nicht. Das ist doch unfair, meinst du nicht?« »Kommt drauf an«, sagt sie und reckt den Hals nach Lukas, der inzwischen durch kniehohes Gestrüpp watet. »Kannst du da vorne was sehen?« Er macht eine unbestimmte Bewegung mit der Hand und winkt uns zu sich. »Hey!«, rufe ich, als Fabs bereits vom Weg ab ist und über dünne Äste kraxelt. »Was meinst du mit kommt drauf an?« »Pscht«, ermahnt sie mich und flüstert dann: »Na darauf, was er von dir will. Wenn du für ihn nur ein Opfer bist, dann wär er ja blöd, dir alles zu verraten.« »Aber glaubst du das denn? Ich meine, hältst du das für MÖGLICH?« »Keine Ahnung. Guck mal da, der Fasan. An den pirsch ich mich jetzt ran.« Sag mal, spinn ich? Wir verhandeln gerade mein Leben und meine Freundin hat nichts Besseres zu tun, als einem unscheinbaren Vogel hinterherzujagen. Die tickt ja wohl nicht richtig. »Fabs!« Ich sehe gerade noch einen langen braunen Federschwanz im Unterholz verschwinden, da schießt sie auch schon auf mich zu. »Was soll das?«, keift sie stocksauer. »Wenn du mir nicht zuhörst?« »Ich? Dir nicht zuhören? Mann, Lily, ich hör dir andauernd zu! Immer, wenn wir uns sehen, geht es um diesen verlogenen Vampir und seine … seine … kranke Psyche. Aber jetzt sind wir hier, mit MEINER neuen Kamera. Und du hast gerade ein total seltenes Motiv verscheucht, danke schön!« »Komm mal mit«, sagt Lukas in dem Moment und ich bin fast schon bereit, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Doch da sehe ich, dass er gar nicht mich meint. Er schnappt sich FABS’ Hand. Und die folgt ihm auch noch, und zwar ohne sich ein einziges Mal nach mir umzusehen. »Ich hau ab«, keife ich beleidigt. »Wenn du meinst?« »Ja, meine ich! Du hast ja hier Wichtigeres zu tun.« »Mensch, Lily, sei doch mal ’n bisschen leiser«, faucht mich jetzt auch noch Lukas an. Das wird ihr noch leidtun, zische ich auf dem Rückweg und heiße Tränen schießen mir aus den Augen. Weil ich genau weiß, wem das Ganze noch mehr leidtun wird. Mir
natürlich. Fabs hat ja jetzt Lukas. Bestimmt werden sie bald reich und berühmt sein. Und dann sitze ich immer noch da und warte auf ein ehrliches Wort von Vincent. Falls er sich überhaupt jemals wieder meldet.
Tatort Sonnenstudio »Lily, Mama ruft dich!« »Ich kann jetzt nicht. Ich muss denken.« »Und was soll ich ihr sagen, wann du kommst?« »Erst mal gar nicht. Und jetzt zisch ab.« Himmel noch mal! Wie soll man mit so einem Nervbruder im Haus erfolgreich arbeiten? Ich schaffe nicht mal einen Satz, ohne dass er gegen meine Tür ballert oder in der Küche ein Glas umschmeißt. Jetzt verstehe ich, wieso die großen Schriftsteller sich immer von allem abgeschottet haben. Klingt das nicht traumhaft? Große Schriftsteller! Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie ich bald zu einer echten Berühmtheit werde. Ha, da wird Fabs sich vielleicht wundern! Bestimmt denkt sie, ich sitze hier und heule mir wegen unserem Streit vorgestern die Augen aus. Was ja bis vorhin auch der Fall war. Aber dann kam der Wochenend-Anzeiger, in dem ich aus lauter Langeweile ein bisschen geblättert habe. Und was stand da, auf der Seite für die jungen Leser? – Schülerschreibwettbewerb: Sende uns deine spannendste Feriengeschichte. Wenn das keine Aufforderung zum Kampf ist. Und dass die das ausgerechnet heute bringen, wo ich beim Frühstück noch der verlassenste Mensch der Welt war! Mein Sesambrötchen hat gleich viel besser geschmeckt. Weil es mir wie Schuppen von den Augen fiel. Das ist deine Chance, Lily! Soll Fabs doch durch die Wälder streifen und Hirsche fotografieren. Wer eine Kamera besitzt, ist noch längst kein Star. Dagegegen, wenn ich die packendste Geschichte von allen schreibe, dann komme ich in die Zeitung. Sogar mit Foto. Und dazu gibt’s einen Gutschein über fünfzig Euro vom Bücherwurm. Also, wer wird hier wohl reich und berühmt, häh? Ich hab mich natürlich sofort an den Schreibtisch gesetzt. Mein Sommer mit einem Vampir habe ich meine Geschichte genannt. Keine Frage, dass das die spannendste, da unglaublichste Story von allen wird. Ich habe ja selber meine Zweifel, ob das, was da steht, möglich ist. Ein Vampir, der mich vor dem Überfahrenwerden gerettet hat. Ein hinreißend aussehender Typ mit einem so vorbildlichen Verhalten, dass jeder sterbliche Junge Komplexe kriegen würde. Allerdings ist der Arme schon oft bitter enttäuscht worden. Deshalb traut er sich ja auch nicht, mir die Wahrheit über sich zu verraten. Obwohl sein Geständnis im Grunde nur noch eine Frage der Zeit ist. – Schnief. Über meinen Ausrutscher im Kino schreibe ich natürlich nichts. Echt blöd, denn auf einmal weiß ich nicht, wie es weitergehen soll. Dabei hat das Ganze bis eben total Spaß gemacht. Ich war richtig happy beim Schreiben. Doch jetzt kommt der Punkt mit dem Vampirfilm und dem Weihwasser. Verdammt, wie schreibt man eine Liebesgeschichte, die noch gar nicht passiert ist? Beziehungsweise eine Liebesgeschichte, die ich schon am Anfang total vermasselt habe? »Lily!«, ruft Mama von unten. Ich habe ihr versprochen, dass ich sie heute Vormittag vertrete. Als ich runterschleiche, muss ich gleich wieder an Fabs denken. Ich wette, sie würde sofort kommen, wenn ich sie anriefe. Denn Mama hat mir heute den Tiefenbräuner erlaubt, als Ansporn für diesen Samstagvormittag. Toller Ansporn! Und Fabs würde sich nur auf die Sonnenbank hauen und denken, das sei meine Wiedergutmachung für vorgestern. Dabei müsste sie sich eigentlich bei MIR entschuldigen! SIE hat mich doch links liegen lassen und die doofen Waldviecher vorgezogen. Soll sie doch warten, bis sie schwarz wird, ich ruf da jedenfalls nicht an. »Kommst du?«, höre ich Mama da wieder. »Ich möchte dir noch die Reservierungen erklären.« Na, klasse. Der Sohn von Frau Meyerdierks steht im Plan. Mama sagt, falls sie dann schon weg sei, solle ich ihn in die Drei lassen und ihm alles erklären, er käme zum ersten Mal. Ups, das Telefon. »Sonne für alle, Sunny?«, meldet Mama sich in ihrer gewohnt lockeren Art. Und dann sagt sie doch tatsächlich: »Hallo, Fabs. Warte, ich reich dich mal weiter.« Hilfe, Herzklopfen! »Äh, hallo?« »Hallo«, piepst jemand. Ob Mama sich verhört hat? Aber dann erkenne ich eindeutig Fabs’ Stimme: »Was machst du?« »Och, nichts«, sage ich und muss fast heulen. »Ich … wollte dich auch anrufen. Möchtest du unter den Tiefenbräuner?« »Pssst, deine Mutter!« »Aber die hat das doch vorgeschlagen!« »Ehrlich? Sie erlaubt es?« »Ja! Also … wenn du kommen magst?« »Klar mag ich! Ich muss mich nur noch kurz anziehen. Soll ich uns Eis mitbringen?« An alle Sonnenbankfabrikanten: danke! DANKE-DANKE-DANKE! Ich bin noch so überwältigt von dem Gespräch, dass ich im ersten Moment gar nicht wahrnehme, wer gerade vor unserem Schaufenster auftaucht. Heute trägt er Schwarz. Und ein sandfarbenes Basecap. Uah, sieht das cool aus. »Du, Fabs, warte mal.« »Alles in Ordnung, Lily?« »Oh Gott, er hat mich gesehen.« »Von wem redest du?« Hilfe. Er schiebt sich das Basecap in den Nacken und kommt ganz nah an die Scheibe. Ich könnte im Erdboden versinken. Niemals sollte er erfahren, dass dieses peinliche Sonnenstudio uns gehört! Und was macht Mama da? Sie schreitet zum Eingang und sagt: »Das wird er sein.« »Lily, bist du noch dran?«, ertönt es an meinem Ohr. »Ma-meine Mutter!«, krächze ich. »Sie … geht zur Tür!« »Aber wer ist denn da? Jetzt sag doch!« »Sie … sie … ein Unglück! Du musst sofort kommen, Fabs, bitte!« Ich schaffe es gerade noch nach hinten in den Durchgang. Dann geht die Türglocke und Mama sagt: »Guten Morgen, junger Mann. Na, na, nicht so zaghaft, Ihre Mutter hat Sie doch angekündigt. Uih, Sie können aber wirklich ein paar UV-Strahlen vertragen. Ich schlage vor, wir fangen ganz vorsichtig an. Gehen Sie doch schon mal in die Drei, meine Tochter erklärt Ihnen gleich alles. SPÄTZCHEN!« Totenstille. Ich wette, er hört mich quer durch den Laden atmen. Wie komme ich jetzt weg hier?
»So«, sagt Mama endlich, nachdem ich schon wer weiß wie lange auf meinen Fingern kaue. »Und jetzt brauchen Sie nur noch diesen Knopf zu betätigen. Und wenn Sie den Schienbeinbräuner nach zehn Minuten herunterregeln möchten, dann drücken Sie hier. Fröhliches Braunwerden, junger Mann!« »Was?« Fabs schleicht auf Zehenspitzen um den Tresen und zeigt ungläubig auf Kabine drei. »Er ist DA drin?« »Nicht so laut, Mensch, der hört uns doch!« »Und … und … wer holt ihn da wieder raus?« »Keine Ahnung! Ich weiß ja nicht mal genau, wie lange er schon … oh Gott, Fabs, wenn er jetzt stirbt!« »Ach was, der ist bestimmt zäh wie ’ne Katze. Pass auf, du tust einfach so, als ob du gerade runtergekommen wärst, und schneist zufällig bei ihm rein.« »Und was soll ich … Ich meine, ich hab ihn doch seit der Kino-Katastrophe nicht mehr gesehen.« »Na und? Dann nutz die Gelegenheit.« »Und wenn er nackt ist?« »Lily, der Typ entblößt da draußen nicht mal den kleinen Finger. Glaubst du, so einer legt sich nackt auf eine Sonnenbank? Los jetzt!« Mir wird ganz schwarz vor Augen. Kann sein, dass mein Herz gleich stehen bleibt. »Oje«, stöhnt Fabs. »Bei der freiwilligen Feuerwehr hätten sie dich schon entlassen.« »Wieso?« »Na, wenn du da auch so lange überlegen würdest, bevor du jemanden rettest, wäre der glatt verkohlt.« Auweia, verkohlt! Vincent! Ich stoße die Tür auf. Die Sonnenbank ist leer. »Guten Morgen!«, begrüßt er mich vom Stuhl in der Ecke aus. »Wa-was … machst du hier?« »Mir war so, als hätte ich dich von draußen gesehen. Dann bin ich gekidnappt worden. Der Stufenregler für den Gesichtsbräuner ist übrigens defekt.« »Du kennst dich mit Sonnenbänken aus?« »Du dich nicht?« »Aber … Tut mir leid, die Sache mit dem Wasser im Kino«, wechsle ich schnell das Thema. »Mir tut es auch leid. Ich hätte wirklich einen geeigneteren Film aussuchen sollen. Und außerdem: Besser eine kalte Dusche als eine heiße Sonnenbank. Aber wegen mir brauchst du darauf natürlich nicht verzichten.« »Aber ich mache mir wirklich nichts aus …« »Sieht man ja daran, wie weiß sie ist«, sagt Fabs, die in diesem Moment in der Tür auftaucht. Ach du Schande, mir fällt erst jetzt auf, dass sie noch ihr Schlafshirt trägt. »Meine Freundin«, stammele ich, weil Vincent ziemlich irritiert guckt. »Sie hat … hier übernachtet. Ja. Und gerade ist sie aufgestanden. Hast du gut geschlafen, Fabs?« »Oih …«, macht sie jetzt, extrem beschämt. »Ich geh dann mal ins Bad, hähä.« Vincent steht von seinem Stuhl auf und sieht sich händereibend um. »Ein schönes Studio«, findet er. »Und noch schöner, dass ich dich darin getroffen habe. Ich muss nämlich mit dir reden.« Huch, das klingt ja ernst. Will er mir hier und jetzt etwa alles gestehen? »Also, ich möchte dir Tschüs sagen.« »Oh. Fährst du weg?« »Das auch. Aber ich …« Da zögert er und ich sehe ihn prüfend an. Klarer Fall, seine Augen glitzern heute noch heller als bisher. Sicher muss er was zu sich nehmen. Mit ein paar Hasen ist das wahrscheinlich nicht getan. »Wohin fährst du denn, ins Gebirge?« »Nein, an die See.« »Ach. Gibt’s da auch Wälder? Ich meine, wegen der T-T-Tiere, die du so magst.« Oh Gott, ich hab noch nie einen Jungen so verführerisch schmunzeln sehen. »Nun ja«, antwortet er leicht betreten. »Da oben sind hauptsächlich Kühe.« Ist ja dreist, denke ich. Die armen Bauern. »Und jede Menge Schafe. Auf den Deichwiesen, weißt du?« »Also, ich mag ja kein Lammfleisch.« »Ach, Lily.« Sein mitfühlender Blick ist nah dran, mir das Herz zu brechen. »Ich fahre doch nicht, um Fleisch zu essen.« »Weiß ich doch«, seufze ich schwer. Auf einmal guckt er so ernst, dass mir ein Schauer über den Rücken läuft. – Jetzt! Und tatsächlich erläutert er: »Also, wie gesagt, ich wollte mich von dir verabschieden.« Mist, doch nicht jetzt. Enttäuscht frage ich: »Wann fährst du denn?« »Dienstag.« »Aber heute ist Samstag!« »Schon. Es ist ja auch nicht nur wegen meiner Reise.« »Ist es etwa wegen mir?« Genau in dem Moment schneit ein Typ zur Tür herein. Grauer Anzug, Nickelbrille. Ob Mama Probleme mit der Bank hat? Doch dann sagt er, sein Name sei Julian Meyerdierks und er habe eine Terminreservierung. »Soviel ich weiß, wird mir eine gewisse Sunny die Abläufe erklären.« »Oh, ähm, meine Mutter ist gerade nicht da. Aber vielleicht kann ich Ihnen alles zeigen.« So miesepetrig, wie der jetzt guckt, passt ihm das garantiert nicht. Ich lotse ihn in Kabine drei und werfe Vincent einen hilflosen Blick zu. Der scheint sich gerade über den Kerl kaputtzulachen. Wie menschlich! Und wie blöd, dass jetzt dieser Wichtigtuer auf mich wartet. »Hallo?«, schallt es da auch schon aus der Drei herüber. »Wenn wir dann mal anfangen könnten, ich hab um elf Uhr meinen nächsten Termin!« Hinter vorgehaltener Hand flüstert Vincent: »Ich würd ihn zwanzig Minuten unter den Titan zwei legen. Damit er bei seinem Termin auch die richtige Farbe hat.« »Woher weißt du …?« »Pscht«, macht er und deutet mit dem Kopf in Richtung Wichtigtuer. »Hättest du um fünf Uhr heute Nachmittag Zeit?« Hilfe, Riechsalz! Ich bin einer Ohnmacht nahe! Der Typ im Anzug ruft, dass er wirklich in zwanzig Minuten wieder losmüsse.
»Reicht doch«, nuschelt Vincent und zwinkert mir im Weggehen zu. Himmel, kann der cool sein! Ob Fabs das gesehen hat? »Fa-abs! Fabs, hör mal!« In meinen Lieblingsklamotten, die noch von gestern dalagen, erscheint sie jetzt im Türrahmen und geht auf Kabine drei zu. »Entschuldigen Sie!«, besänftigt sie den Anzugheini, der vor Ungeduld inzwischen Feuer speit. »Aber am Telefon ist samstags einfach die Hölle los. Haben Sie schon eine gewisse Vorbräune oder ist das Ihr erstes Sonnenbad in diesem Jahr? Dann würde ich Ihnen zwölf Minuten Ganzkörper und gleichzeitig acht Minuten Ultra-Turbo fürs Gesicht empfehlen.« Als sie sich eine halbe Stunde später genüsslich unter dem Tiefenbräuner rekelt, kann ich ihr gar nicht genug danken. Aber Fabs meint, keine Ursache, sie spiele gerne mal die Dame vom Grill. »Sag mal, der Vincent hat ja vielleicht Augen. Die funkeln echt wie Diamanten.« »Allerdings«, stimme ich besorgt zu. »Und wie es scheint, werden die vor Dienstag auch nicht wieder dunkler. Es sei denn, er gönnt sich vor seiner Reise noch einen Snack.« »Du musst vorsichtig sein. Versprich mir das, ja?« Ein Glück, dass Fabs ihren Augenschutz trägt und nicht sieht, wie ich mir vor lauter Rührung eine Träne von der Wange wische. Aber jetzt soll sie erst mal erzählen. Ich frage sie nach den Fotos und ob sie den Fasan noch vor die Linse bekommen hat. – Hat sie. Und zwar ein ganzes Fasanenpärchen. »Gott sei Dank«, sage ich erleichtert, aber Fabs: »Tut mir leid, Lily, wie ich dich vorgestern angemacht habe.« Und mir erst, denke ich und muss mir glatt ein Kleenex holen, so sehr tränen mir jetzt die Augen. Ich bin so froh, dass er wieder aufgetaucht ist, auch wenn wir heute nur durch die Nachbarschaft gehen. Vincent hat wieder das Hemd mit den langen Ärmeln an. Es scheint ihm nichts auszumachen, dass zwischen den Schatten der Häuser ab und zu die Sonne aufblitzt. Allerdings werden seine Schritte deutlich entspannter, als wir die kühle Pappelallee auf der Ostseite des Friedhofs erreichen. »Was ich heute Morgen meinte«, sagt er endlich – ein Glück, ich dachte schon, dieser Spaziergang würde zu einem Schweigemarsch ausarten. – »Also, auf deine Frage, ob ich deinetwegen gehen würde …« »Nein, nein! Versteh mich nicht falsch!«, falle ich ihm ins Wort und beiße mir im selben Moment auf die Zunge. – Jetzt lass ihn doch einfach mal reden, Lily! »Du hast ja recht«, sagt er da aber und setzt sich auf eine Bank, von der aus man wunderbar die alten Gräber überblicken kann. Ob das hier sein Stammplatz ist? Die Sicht auf seine Wirkungsstätte ist jedenfalls enorm. »Ich versuche nur, dir aus dem Weg zu gehen, verstehst du?« »Was denn, DU MIR?« »Lily«, seufzt er jetzt so betroffen, als sei er für den Untergang des gesamten Römischen Reichs verantwortlich. »Ich möchte nicht, dass mein neues Leben gleich mit einer Enttäuschung beginnt.« Neues Leben? Heißt das etwa, dass er sich zurückverwandeln kann? Wieder in einen Menschen? Hätte ich doch nur schon Die Rache der Lamia gelesen. Auf dem Buchdeckel stand, dass darin selbst die letzten Geheimnisse über Vampire gelüftet werden. »Wie …«, beginne ich zaghaft, »fädelt man das denn ein, so ein neues Leben?« »Also …« Oh mein Gott, ich kann diesem Schmunzeln nicht widerstehen! Es ist süßer als eine ganze Familienration Blauer Wunder. »In diesem Fall hat mein Vater das ja für mich eingefädelt«, erklärt Vincent. »Durch die Stelle, die er hier angenommen hat.« Ach, SO meint er das! Der ORT hier ist sein neues Leben! Ich glaube, wir reden manchmal wirklich aneinander vorbei. »Sieh mal«, sagt er, »ich möchte so gerne, dass es positiv anfängt.« »Klar.« »Und in gewisser Weise hat es das ja schon. Ich meine, immerhin habe ich dich kennengelernt.« Schluck. Ich wage einen langen Blick in seine Goldaugen. Unglaublich! Als wäre da plötzlich ein Band zwischen uns, ein starkes, unsichtbares Seil, das mich jetzt immer näher an ihn heranzieht. »Ich wünschte«, fährt er fort und – Mist, wieso dreht er sich jetzt um? Hat da was im Gebüsch geraschelt, das für menschliche Ohren nicht hörbar ist? Mit einem Stirnrunzeln lehnt er sich wieder zurück. »Ich habe mir schon so oft gewünscht, die Dinge wären einfacher.« »Wem sagst du das?« »Weißt du, unsere Treffen … Also, ich finde das alles so großartig. Weil ich DICH großartig finde.« Bomm-bomm-bomm. Was mache ich nur, damit er mein Herz nicht hört? »I-i-ich dich auch«, bringe ich mühsam hervor und – hui, ein Erdbeben! Direkt in mir drin! Während ich noch nach Luft ringe, flüstert Vincent feierlich: »Danke.« Mannomann, kennt der sich mit Mädchen aus! Wie im Film, denke ich und überlege, ob das jetzt der Moment ist, in dem sich die Hauptdarsteller küssen. An meinem Seil gleite ich wie von selbst auf ihn zu. Seine Augen funkeln. Ich spüre seinen Atem. Aber ist das überhaupt möglich? Zwischen uns passt kaum noch eine Rasierklinge, als Vincent fragt: »Bist du wirklich sicher, dass du keinen Fehler machst?« »Ganz sicher«, hauche ich hingebungsvoll. Und wenn es das Ende meiner Tage ist, ich WILL jetzt diese anmutigen, stolzen, kalten Lippen … Autsch! Ein Ziehen fährt durch meinen Kopf. Kein schlimmer Schmerz, der die Welt aus den Angeln hebt. Es ist eher so, als habe mir jemand einen Kieselstein an die Birne geworfen. Verwirrt drehe ich mich um. »Benny!«, kreische ich da auch schon, denn ich sehe direkt in die Augen meines blöden Bruders. »Hau ab, Mann! Was machst du überhaupt hier?« »Dich zum Abendessen holen«, grinst er schadenfroh und formt einen oberpeinlichen Knutschmund. Natürlich stürze ich wie besessen auf ihn los. Aber Benny war neulich erst wieder der beste Sprinter seines Jahrgangs. Es muss gruselig aussehen, wie ich jetzt hinter ihm hertrabe und der Abstand zwischen uns immer größer wird. »Mein Bruder ist so ein Miststück!«, keuche ich, zurück an der Bank. »Oh ja«, grinst Vincent. »Das kenne ich. Mit meinem ist es genau das Gleiche. Nichts als Blödsinn im Kopf.« Nanu? Warum setzen wir uns nicht wieder? »Willst du etwa schon los?« »Es ist spät geworden, Lily. Und du wirst ja auch zu Hause erwartet. Vielleicht ist es wirklich besser so.« Das kann doch nicht wahr sein! Da bin ich kurz vor meinem allerersten Kuss, ach was, vor meiner VERWANDLUNG!, vor dem Ende meiner MENSCHLICHEN EXISTENZ!, vor … vor … Nee, so geht das nicht! Ich gebe alles und er spielt immer nur Katz und Maus mit mir. »Dann hau doch ab!«, fauche ich, da erstarrt er. Augen, Mund – alles auf einmal riesig groß. »Lily, ich habe versucht, es dir zu erklären.«
»Ach ja? Dann bin ich wohl zu blöd, es zu verstehen.« »Du bist nicht blöd, das weißt du. Genauso wie du weißt, dass ich dich nie belogen habe.« »Toll. Wenn ich ein Wildschwein fresse und niemandem was davon sage, dann lüge ich auch nicht. Aber die Wahrheit ist, dass ich das Wildschwein trotzdem gefressen hab.« Alarmiertes Starren: »Wie meinst du das?« »So wie ich’s sage. Dass du gar nicht zu lügen brauchst. Reicht doch, wenn du nur nicht mit der Wahrheit rausrückst.« »Aber was willst du denn von mir hören?« »Was schon? Was los ist natürlich! Mit … dir.« Er wirft den Kopf auf die Seite und atmet schwer. Dann sagt er: »Es gibt gewisse Dinge, über die ich ungern rede.« »DINGE? Das klingt ja so, als hättest du nur ’n paar Bleistifte geklaut.« »Für mich klingt das so, als sei ich schon einmal bitter enttäuscht worden.« »Aber dafür kann ICH doch nichts!« »Natürlich nicht. Ich möchte ja nur vermeiden, dass sich das wiederholt.« »Aha. Und deshalb machst du mir die ganze Zeit was vor.« »Ich dir? Lily, ist dir überhaupt klar, was du da sagst?« »BITTE?« »Wer weiß denn, ob du MIR nichts vormachst?« »Jetzt reicht’s!«, schnaube ich und frage mich eigentlich nur noch eins: Wie kriege ich jetzt einen einigermaßen eleganten Abgang hin? »Warte«, sagt Vincent, als ich schon im Gehen bin. Mist, denke ich, weil ich natürlich auf der Stelle stehen bleibe. Aber da ist Sonne auf seiner Nase. Erbarmungslos wie ein Scheinwerfer brutzelt sie ihm ins Gesicht und ich möchte ihn ganz schnell zurückschieben, bloß wieder rein in den Schatten! Vincent sagt: »Ich komme nächsten Freitag von unserem Ausflug zurück.« Merkwürdig. Sollte alles falscher Alarm gewesen sein? Auf seiner Nase wächst ja nicht mal ein Brandbläschen! »Lass uns bis dahin eine Auszeit nehmen, ja?«, schlägt er vor. »Damit sich jeder Gedanken machen kann.« Noch beleidigter als eben schon motze ich: »Keine Ahnung, was du meinst.« Doch er beschwört mich: »Lily!« Und dabei krallen sich seine Finger regelrecht in meinem Arm fest. »Mir ist das sehr ernst mit uns. Und ich muss wissen, was es dir bedeutet.« Huh! Wenn er so guckt wie jetzt, kriege ich Angst. Aber mich hat auch noch nie jemand mit so einem Röntgenblick gelöchert. Wie Tausende winziger Pfeile ist das. Du willst, dass es aufhört, aber du weißt auch, dass dann sofort alles langweilig wird. Als ich die Treppe zu unserer Wohnung hochsteige, schlottern mir immer noch die Knie. Die Stelle, an der er meinen Arm umfasst hat, prickelt wie Feuer. Merkwürdig, dass ich in dem Moment gar nichts von seiner Kälte gespürt habe. Und auch seine Lippen … ich meine, das WAREN doch seine Lippen, die ich da für eine Zehntelsekunde angetippt habe. Aber sie waren überhaupt nicht kalt, eher warm! »Das passt ja toll«, freut sich Mama, als ich grübelnd zur Tür reinkomme. »Dann kannst du ja runtergehen. Ich muss nämlich noch schnell zum Großmarkt.« »Wie? Seid ihr schon fertig mit Essen?« »Aber das haben wir doch besprochen, Lily. Wenn ich nachher alles erledigt habe, dann bringe ich uns Döner mit. Sag nicht, du bist jetzt schon hungrig.« »Wo ist Benny?«, frage ich fassungslos. »Keine Ahnung! Vorhin wollte er mit seinem Freund ein bisschen durch die Gegend stromern. Wieso? Hat er was ausgefressen?« »Schlimmer. Er hat gerade sein Todesurteil unterschrieben.«
Abstecher nach Transsylvanien »Sag mal, Fabs, gibt es eigentlich schwule Vampire?« »Um Gottes willen, Lily! Hier, trink noch was. Der Arzt hat gesagt, so viel wie möglich.« »Ich glaube, ich frage ihn einfach«, lalle ich teilnahmslos. »Du willst … was? Vincent fragen, ob er schwul ist?« »Er kann ja Nein sagen.« »Und dann?« »Dann wäre das schon mal ausgeschlossen. Irgendeinen Grund muss es ja dafür geben, dass er mich nicht will.« »Aber wenn ich mir das vorstelle«, lamentiert Fabs. »ICH frage Lukas, ob ER schwul ist. Der würde ja sofort … mit mir Schluss machen.« »Wieso? Seid ihr etwa zusammen?« »Also … irgendwie schon.« »Nee!« »Aber er hat mich …« »Was?« »Geküsst!« »Das glaub ich nicht. DU und LUKAS?« »Wieso nicht? Du wolltest Vincent doch auch …« »Scheiße, hast du’s gut!« Oh Mann, ich möchte sie am liebsten nicht mehr sehen. Bis eben dachte ich, MIR würde was Besonderes passieren. Himmel noch mal, so ein Typ! Mit SO einem Benehmen. Der ganze Landkreis hätte mich um ihn beneidet. Aber dann stellt sich heraus, dass er vom anderen Stern ist. Und meine Freundin wirft sich klammheimlich an meinen Nachbarn ran und erlebt mit ihm die romantische Liebe. »Ich finde Lukas ja schon länger cool«, gesteht sie jetzt sogar, ohne rot zu werden. »Weißt du noch, an dem Vormittag, als er ins Studio kam? Da war er so süüüß mit seiner gebräunten Nase und dem nassen Pony.« Grrr. Als ob ich nicht schon genug Frust schieben würde. »Komm«, sagt Fabs und knufft mich tröstend in die Seite. »Nächsten Freitag erzählst DU mir von deinem ersten Kuss. Nach allem, was ich gehört habe, bin ich da ganz sicher.« »Aber …« »Kein Aber. Wir waren uns doch einig. Vincent ist ein ganz normaler Junge, das hast du gestern selber gesagt.« Stimmt. Und zwei Stunden später hatte ich neunddreißigacht. Weil ich überhaupt nicht mehr wusste, wo mir der Kopf stand. Diese Geheimnistuerei um gewisse Dinge, über die er ungern redet. Aber wieso war er nicht die Bohne kalt? Immer wieder habe ich über den Moment seiner Berührung nachgedacht, doch ich konnte mich absolut nicht erinnern, dass seine Finger sich irgendwie kühler angefühlt hätten als mein Arm, im Gegenteil. Fabs meinte erst noch, vielleicht sei er ja wechselwarm, so wie Insekten. Aber dann erzählte ich ihr von dem Moment, als ihm die Sonne frontal ins Gesicht geschienen hat, da war sie schließlich überzeugt: Wir mussten uns geirrt haben. Vincent mochte ja scheu sein und in gewisser Weise auch lichtempfindlich, aber ein Vampir war er mit Sicherheit nicht. Wenn ich danach nur nicht so fies geträumt hätte! Von Monstern und einer Blutorgie und Augen, die mich anleuchteten wie zwei Taschenlampen und die definitiv ihm gehörten. Meine Freundin scheuert ungeduldig über ihre Oberschenkel. »Übrigens, der Lukas und ich wollen gleich noch …« »Sag’s nicht«, winke ich gequält ab. »Bestimmt werde ich hier einsam verrecken, während ihr verliebt durchs Gebüsch turtelt.« »So ’n Quatsch, freu dich lieber auf Freitag. Ist doch gut, dass du jetzt krank bist, wo er für ein paar Tage verreist.« »Danke, Fabs. Du könntest glatt meine Mutter ersetzen.« Montagmorgen ist das Fieber endlich weg. Und ich habe auch nicht noch mal so wirr geträumt. Irgendwann, wenn Vincent und ich fest zusammen sind, werde ich ihm von meinem unglaublichen Verdacht erzählen. Und dann lachen wir uns darüber kaputt, ich kann’s echt kaum erwarten. Noch ein Tag, bis er fährt. Und dann drei weitere, bis ich ihn wiedersehe, macht zusammen vier. Ich könnte meine Feriengeschichte zu Ende schreiben. Aber als Erstes gehe ich raus. Bestimmt freut sich Fabs, wenn ich sie überrasche. Puh, die Krankheit hat mich ganz schön geschwächt. Als ich aufs Rad steigen will, zittern meine Beine wie Götterspeise. Besser, ich nehme die Abkürzung über den Friedhof, da bin ich wenigstens vor Autos sicher. »Iiiierg!«, quietscht das eiserne Tor. Etwas umständlich zerre ich mein Fahrrad aufs Gelände, da fällt die Pforte mit einem gewaltigen Scheppern wieder zu. An alle Toten: sorry! Hoffentlich ist der Friedhofswart nicht in der Nähe. Ups, da war ein Geräusch, etwa zwei oder drei Grabstätten weiter vorne. Ein dumpfer Knall. Von dieser Seite ist die Hecke zu hoch, um drüberzuschauen. Da, schon wieder so ein Stampfen! Als ich näher komme, sehe ich ein offenes Grab und jede Menge schwarzgelben Sand, der sich davor auftürmt. Irgendwas bewegt sich. Ist das etwa eine … uah! Grusel! Eine schneeweiße Ha-Ha-Hand! Ich kriege keine Luft mehr. Schockiert gleite ich vom Rad. Aber es IST eine! Meine Kehle ist wie zugeschnürt. Jemand zieht sich empor. Schwarzer Hut, Sonnenbrille.– »NEIN!«, will ich schreien, aber mein Hals ist ja zu. Er richtet sich nur langsam auf. Den Mund gequält in die Breite gezogen, hält er sich mit einer Hand den Rücken. Als er mich sieht, geht ein Zucken durch seinen Körper. Dann ein Schritt zurück, sein Fuß tritt ins Leere. »Aaah!«, höre ich Vincent aufheulen, während er rückwärts in die Gruft fällt.
»Fabs, ich weiß es nicht! Sie kam nach Hause und war furchtbar am Zittern. … Ja, ich fürchte ein Rückfall. Aber jetzt auch mit Schüttelfrost. … Genau, darum wollte ich dich bitten. In ihrem Fieberwahn hat sie nämlich nach dir gerufen. … Danke, ich warte hier auf dich. Bis gleich.« Mist. Ich kann mich zwicken, wohin ich will, aber das hier IST kein Traum. Mama HAT soeben mit meiner Freundin telefoniert. Und das, was ich vorher erlebt habe, war auch kein Kinofilm. Es war eine völlig harmlose Radtour über unseren Friedhof, nur ist aus der ein Abstecher nach Transsylvanien geworden. Die schwarze Kreatur mit den weißen Händen, ich weiß jetzt schon, dass ich die nie, nie wieder aus meinem Kopf herauskriegen werde. Hoffentlich hört wenigstens dieses Zitten irgendwann auf. »Spätzchen, jetzt erzähl doch mal!«, schneit Mama dramatisch zu mir ins Zimmer. »Also, du wolltest Fabs besuchen, aber du bist nur bis zum … Oh Gott, was hast du?« »K-k-k-kalt!« »Ich mach dir sofort ’ne Wärmflasche. Sag mal, wieso warst du vorhin eigentlich so aus der Puste? Ich dachte, ich hätte dich mit dem Rad wegfahren sehen.« »V-v-verloren. Auf ’m Friedhof.« »Armer Spatz, dich muss es ja wirklich umgehauen haben. War es ein Schwindel?« »Äh-ä.« »So etwas wie Ohnmacht?« »Mhm«, stöhne ich. – Aufhören! »Na, wie auch immer«, sagt Mama. »Ich glaube, es wäre das Beste, wenn Doktor Wunder noch mal nach dir sehen würde.« Dann dreht sie sich zur Tür und ruft: »Benny!« Was soll denn der Spinner jetzt? Und warum dauert es keine zwei Sekunden, bis seine freche Visage im Türspalt auftaucht? Und sein neuer Freund Roman scheint auch schon wieder in unserem Flur herumzukaspern. Die haben doch gelauscht! Findet Mama das etwa okay? »Ihr zwei, lauft doch bitte mal kurz zum Friedhof und holt Lilys Rad.« »Nein!«, kreische ich. Befremdet sieht sie mich an. »Und warum nicht, wenn ich fragen darf?« »Weil … weil …« Hilfe, wie sag ich das denn jetzt? Ich hab ja nichts dagegen, dass Benny mal einen Denkzettel verpasst bekommt. Aber doch nicht gleich von einem Monster! »Lily?« Mama wartet immer noch auf eine Erklärung. »K-k-kann sein, dass es da sch-sch-spukt.« »Ha-ha!«, grölen Benny und Roman da auch schon los. Kurz darauf toben sie nach unten. Meine Mutter fährt sich mit den Fingern durchs Haar und wirft mir einen besorgten Blick zu. »Hu-u-u!«, schallt es jetzt durchs offene Fenster von der Straße hoch. »Ich find das so fies!«, empöre ich mich. »Keine Sorge, Kind«, antwortet Mama. »Der Arzt hat sicher was zur Beruhigung.« »Beruhigung? Ruf lieber die Feuerwehr! Kann sein, dass die beiden echt in Gefahr sind!« »Hä-hä«, kratzt sie sich nervös. »Ich werd doch mal nachsehen, wo Fabs bleibt. Du rührst dich nicht vom Fleck, ja?« Nanu, seit wann geht Mama rückwärts? Und wieso schließt sie jetzt meine Tür ab? Da gibt’s ja wohl andere, die eingesperrt werden müssten! »Ihre Stirn fühlt sich normal an«, höre ich eine vertraute Stimme flüstern. »Klar, sobald sie aufwacht, frage ich sie.« Fabs. Sie lehnt über mir wie ein Schutzengel. Erleichtert schlinge ich ihr die Arme um den Hals. »Was machst du denn für Sachen?«, zischelt sie. »Deine Mutter ist drauf und dran, einen Psychiater zu holen.« »Ich hab ihn gesehen, Fabs. In seiner … Gruft. Es gibt keinen Zweifel mehr. Er IST einer!« »Hast du wieder schlecht geträumt?« »Quatsch, ich war draußen! Weil ich zu dir wollte. Und … oh Gott, es war Horror! Und jetzt sind auch noch Benny und sein Freund los. Ich habe solche Angst, dass er denen …« »Ja?« »… etwas antut!« »Aber die sitzen am Küchentisch und futtern Nutellabrote.« »Seit wann?« »Keine Ahnung. Ich hab sie da nur rumalbern sehen.« »Gott sei Dank!«, seufze ich, während Fabs mich kritisch beobachtet. Aber dann erzähle ich ihr von meiner Begegnung. Offenes Grab, weiße Hand, stolpernder Vampir. Sie wird immer blasser, je mehr Fakten ich ihr liefere. »Ach, du dickes Ei«, murmelt sie schließlich, »dann hatten wir ja doch recht.« Mann, tut das gut, mit ihr darüber zu reden. Ich fühl mich schon gleich viel besser. »Weißt du, womit ich echt nicht klarkomme?«, sage ich nach einer Weile. »Dass er vorgestern in der prallen Sonne nicht mal mit der Wimper gezuckt hat.« »Wozu gibt’s Sunblocker? Das Zeug ist doch heute so sicher, dass du einen von denen damit durch die Sahara schicken könntest. Hör zu, Lily. Du musst jetzt erst mal aus seinem Wirkungsbereich raus. Was hältst du davon, für ein paar Tage abzuhauen?« »Abhauen?« »Hast du nicht ’ne Tante im Schwarzwald? Bei der könntest du doch unterkriechen, bis die Schule wieder anfängt.« »Fabs!«, erinnere ich sie sachlich. »Was glaubst du, wie lange ein Vampir braucht, um bis nach Freiburg zu kommen? Die sind doch schneller als der Transrapid!« »Stimmt auch wieder«, sagt sie enttäuscht. »Du könntest für eine Weile zu uns ziehen. Obwohl, mich hat er ja schon gesehen, das würde wahrscheinlich nicht lange …« »Warte doch mal!«, unterbreche ich sie jetzt. »Ich will überhaupt nicht von hier weg! Ich will mit ihm reden und keine Angst mehr vor ihm haben. Nie wieder will ich so einen Schreck kriegen wie vorhin auf dem Friedhof. Aber ihn aufgeben? Die Sachen, die er mir sagt, und der Blick, mit dem er mich ansieht … Kein Junge dieser Welt könnte jemals ein Mädchen so ansehen, glaubst du, darauf verzichte ich freiwillig?« Mit offenem Mund starrt sie mich an. »Du musst verrückt sein.« »Du hättest ihn sehen sollen. Diese leidenden Augen, bevor er gefallen ist. Ich weiß genau, er braucht mich mindestens so wie ich ihn.« »Auweia, Lily!«
»Wenn ich nur eine Ahnung hätte, was ich ihm Freitag sagen soll. Er will doch eine Antwort von mir. Was er mir bedeutet.« »Wieso, das ist doch einfach. Du sagst ihm dasselbe, was er dir immer sagt. Dass du schon mal wahnsinnig enttäuscht worden bist. Und du müsstest unbedingt …« »Na?« »… wissen, wer er ist. Genau, du brauchst Details über ihn! Wo er geboren ist, wie er lebt, wie seine Familie ist. So treibst du ihn in die Enge.« »Aber das verrät er mir niemals!« »Pech gehabt. Dann kannst du dich leider nicht auf ihn einlassen. Das muss er einsehen. Schließlich sollst du ihm sein Märchen vom großen Enttäuscht-worden-Sein ja auch glauben.« »Und wenn das wahr ist?« »Wie auch immer. Du musst dir wenigstens sicher sein können, dass er dir nichts tut. Am besten lässt du dich mal von ihm zu sich nach Hause einladen.« »Und wenn die sich dann gemeinsam über mich hermachen?« »Fffhhh…«, macht Fabs überfordert. Doch nach einer Weile sagt sie: »Sieht aus, als müssten wir unsere eigenen Nachforschungen anstellen. Wann, sagtest du, fahren die noch mal?« Auweia, mir schwant nichts Gutes. Ängstlich antworte ich: »Morgen, wieso?« »Alles klar. Dann werden wir uns morgen mal auf den Weg zur Geistervilla machen.« »Das ist nicht dein Ernst.« »Vertrau mir. Um eins radeln wir los. Dann sind die garantiert weg.« Sie zwinkert mir zu und sagt, dass sie kurz mal ihre Tasche mit dem Handy aus dem Flur holen müsse. »Ey!«, höre ich sie da auch schon fluchen. »Was soll das? Habt ihr uns etwa belauscht? Oh Mann, kleine Brüder sind ja so dämlich!« Kurz nachdem Fabs gegangen ist, verziehen sich auch die beiden Nervensägen. Eine Ruhe ist das. Ich kuschele mich tief ins Kissen und denke immer wieder über ihren Vorschlag nach. Ein Besuch bei der Geistervilla dürfte tatsächlich Licht ins Dunkel bringen. Ich muss auf jeden Fall jetzt die Nerven behalten. Und keinen Arzt mehr. Das sieht zum Glück auch Mama ein, der ich wenig später schon sehr viel aufgeräumter erscheine. Sie macht mir eine heiße Schokolade. Wie ein Baby sinke ich danach in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Ich wache erst wieder auf, als sich meine Zimmertür öffnet und ein müde getobter Benny hereinlinst. »Hallo, Schwesterchen, geht’s dir besser? Ich hab dein Fahrrad runtergebracht.« »Was ist’n mit dir los? Hast du was ausgefressen?« »Schon gut«, zieht er da wieder Leine. »Kannst mir ja sagen, wenn du es das nächste Mal brauchst.« »Benny! Warte doch mal!« Nanu? Der gehorcht ja aufs Wort. Ob er gerade seine vernünftigen drei Minuten hat? »Hör mal«, beginne ich scheinbar ahnungslos, »als ihr das Rad geholt habt, ist euch da irgendwas … aufgefallen?« »Keine Ahnung, was meinst du?« »Ich weiß nicht. Etwas Außergewöhnliches halt.« »Nö«, grummelt er und kratzt sich im Haar. »Das heißt, einmal war da so ein merkwürdiges Geräusch.« »Ein Stampfen?« »Hm. Eher so was wie Stöhnen. Als ob jemandem was wehtut.« »WAS? Und seid ihr da hin, wo das herkam?« »Bist du blöd? Du hast doch gesagt, da spukt’s.« Großer Gott, er wird verletzt sein! Bestimmt von seinem Sturz auf den Rücken. Vielleicht liegt er bewusstlos in einer tiefen … Hilfe! Was, wenn ich jetzt schuld daran bin, dass er … dass er … »Benny?« »Hm?« »Du musst mir einen Gefallen tun. Wir müssen noch mal kurz zu der Stelle.« »Wieso das denn?« »Weil … kann sein, dass da … es ist halt sehr wichtig.« »Puh«, laust er sich jetzt fester. »Bitte!«, flehe ich. »Na gut, aber ich muss vorher noch mal telefonieren.« »Jetzt? Hat das nicht Zeit?« »Sonst geh doch schon mal vor.« »Nee, nee«, winke ich heftig ab. »Und danke, Benny.« Kalter Schweiß steht mir auf der Stirn, als wir das Tor langsam und fast ohne Quietschen öffnen. »Hast du denn was verloren?«, fragt Benny, der arglos neben mir über den Hauptgang trottet. »Hm, so ähnlich.« An alle Geschworenen: Dies ist eine Notlüge! Weil er mich garantiert nicht begleiten würde, wenn er wüsste, in welcher Gefahr er schwebt. Nur noch wenige Schritte bis zu der hohen Hecke, die die gefürchtete Grabstätte von dieser Seite begrenzt. »Was ist?«, fragt Benny, als ich immer langsamer werde. »Kannst du mal meine … Hand nehmen?« »Tickst du nicht richtig?« »Bitte!« Er grunzt genervt, aber er macht es. Oh, diese warme, unschuldige Kinderhand! Und überhaupt, mein Bruder! Dass er das hier mit mir durchsteht! Ich könnte heulen, so sehr rührt mich sein Mut. »Was ist denn jetzt schon wieder?« »Da!«, zeige ich, als wir die kritische Stelle erreicht haben. »Ein frisches Grab, na und? Ist sicher bald ’ne Beerdigung.«
»K-k-k-kannst du mal … gucken?« »Wie, gucken?« »Na, ob da jemand … drin ist?« »Hast du sie noch alle?« »Benny! Bitte! Ich glaube, das Stöhnen kam von da!« Jetzt macht er große Augen. Aber ich bin froh, dass es raus ist. »Oh nee, das glaub ich nicht!«, flucht Benny und stapft todesmutig auf den Sandhügel zu. Ich sehe noch, wie er empört den Kopf schüttelt. Dann aber klatscht er sich eine Hand auf den Mund und ruft: »Boah!« Wie ein Roboter schiebe ich meine Beine auf die Unglücksstelle zu. Dabei strecke ich Benny zaghaft einen Arm entgegen. Mit seiner Hilfe schaffe ich es bis an den Grabrand. Nanu? Saftiges Grün springt mir ins Auge. Die ganze tiefe Kuhle ist sorgfältig mit weichem Rasenteppich ausgelegt. »Was?«, frage ich und rüttele ungeduldig an Bennys Hand. »Was meinst du mit boah?« »Guck mal, der Kunstrasen! Weißt du, wie gut der in unsere Bude passen würde?« Idiot! Flachhirni! Ich könnte ihm eins in die Schnauze hauen! Aber wahrscheinlich wüsste er dann nicht mal, warum. Wir machen uns wortlos auf den Heimweg. »Psst«, bleibt Benny nach ein paar Metern aber schon wieder stehen. »Hör mal.« »Was denn?« »Na, das Geräusch eben. So ein Heulen.« »Ach, komm, du verarschst mich doch«, schmolle ich und gehe einfach weiter. Doch auf einmal höre ich es auch: »Hu-u-uh«, tönt es leise über den Friedhof. Das Blut gefriert mir in den Adern. »Was ist das?«, frage ich den schockiert dreinblickenden Benny. »Ich hau ab«, sagt der und rennt los wie ein Bekloppter. Panisch stolpere ich hinter ihm her.
Grüße von Schloss Dracula Ich fühle mich hundert Jahre alt. Schon wieder eine Nacht, in der ich schweißgebadet hinter verriegelten Fenstern gelegen und schreckliche Dinge geträumt habe. Und beim Frühstück nervt Mama auch noch mit dem Sonnenstudio. »Lily, ob du wohl von eins bis drei das Studio machen könntest? Ich hab doch einen Termin für Strähnchen.« Hat sie um eins gesagt? Den Zeitpunkt, an dem ich mit Fabs in eine dunkle Welt aufbreche, aus der ich vielleicht nie wieder zurückkehre? »Lily?«, bohrt Mama jetzt vorsichtig nach. »Ich … hab um eins ’ne Verabredung.« »Dann muss das eben warten. Fabs ruft doch auch manchmal an, dass sie später kommt.« »Aber …« »Wie jetzt? Triffst du dich gar nicht mit Fabs?« »Doch, aber …« »Ein Junge? Lily, hast du etwa einen Freund?« »Pfff …« »Oh nein, ich glaub’s nicht!«, ruft sie und klatscht sich die Hände an die Wangen. »Meine Tochter hat ihren ersten Freund!« »Mama, ich bin mit Fabs verabredet. Aber wenn du willst, kann ich sie anrufen und …« »Ich übernehme das Studio!«, platzt Benny jetzt dazwischen. Meine Mutter zieht ungläubig den Kopf ein. Er greift sich Smacks und Milchtüte und räumt beides ordnungsgemäß an seinen Platz »Ich mach auch keinen Scheiß«, gelobt er feierlich. »Oih, jetzt muss ich aber. Also dann bis kurz vor eins, ja?« Mama lächelt beglückt in ihre Kaffeetasse. »Es geschehen doch noch Zeichen und Wunder«, sagt sie. Fabs hat vollkommen recht. Ich MUSS wissen, was in der Geistervilla abgeht. Wenn ich noch drei elendig lange Tage hier herumsitze und nichts tue, werde ich definitiv verrückt. »Schwesterherz!«, begrüßt mich Benny, der tatsächlich um Viertel vor eins wieder auftaucht. »Uih, willst du zum Fasching?« Ich gebe ja zu, dass mein schwarzes Regencape nicht die ideale Bekleidung für die achtundzwanzig Grad da draußen ist. Aber es verdeckt wunderbar mein Haar und, wenn ich es stramm zubinde, sogar das halbe Gesicht. »Als was gehst du? Zorro?« »Witzig, Benny.« »Ich kann dir meinen Plastikdegen leihen.« Schade. Ich hätte ihn gerne auf die Sache von gestern Abend angesprochen. So aber nehme ich nur meine Schlüssel von der Kommode und verschwinde. »Ach, und Lily«, folgt Benny mir väterlich bis zur Tür. »Lass dich bloß nicht abschlachten!« Was sagt er da? Schockiert fahre ich herum. Doch er trällert nur: »Zorro muss stets vor seinen Feinden auf der Hut sein.« KRRRCH! Ich hasse kleine Brüder! Fabs trägt einfach eine Sonnenbrille und hat ihr Haar unter einem Basecap versteckt. Als ich sie so am Gartenzaun lehnen sehe, weiß ich auch, was an meinem Outfit falsch ist. »Na und?«, beuge ich gleich mal allen möglichen Attacken vor. »Ich hab halt keine bessere Tarnung gefunden.« Sie begafft mich wie ein Zootier und sagt: »In einem Abendkleid würdest du weniger auffallen.« »Hör auf, Fabs, mir ist schon schlecht vor Angst.« »Dann lass es uns verschieben! Vorhin hat Lukas angerufen und gefragt, ob ich mit ihm zur Heidetöpferei rausfahre. Er will dort Makroaufnahmen machen.« »Und was hast du gesagt?« »Dass ich eigentlich mit dir verabredet bin. Aber wenn es jetzt heute nicht geht …« »Natürlich geht es! Ich hab nur Megaschiss. Das wäre morgen auch nicht besser.« »Hm«, macht sie und steigt mürrisch aufs Rad. Hinter dem Ortsschild taucht der Wald auf, der bereits zum Grundstück gehört. Noch zwei-, dreihundert Meter, dann biegen wir in die Zufahrt ein. Auf der anderen Straßenseite kommt uns, klein wie ein Streichholz, ein Radfahrer entgegen. Mann, bin ich froh, dass Fabs hier ist. Niemals hätte ich mich alleine so weit getraut. Mir rutscht ja schon das Herz in die Hose, wenn ich nur die riesigen schwarzgrünen Tannen sehe. Die könnten glatt eine Postkarte schmücken: viele Grüße von Schloss Dracula! Zum Glück sind die Fensterläden der Villa zu. Und das schwarze Auto fehlt, wie erwartet, auch. Trotzdem, eine von uns muss Schmiere stehen, wenn die andere sich umsieht. Puh, ist mir heiß unter der Kapuze! Ob ich einen Sonnenstich habe? Auf einmal sehe ich Lukas! Nee, nä? Der Typ, der uns jetzt winkend entgegenkommt, der Radfahrer, der eben noch streichholzklein war, IST Lukas! »Hey! Cool, dass ihr da seid! Hat meine Mutter euch gesagt, wo ihr mich findet? Du, Fabs, ich hab schon mal in der Töpferei gefragt. Stell dir vor, die finden es super, wenn wir ihre Arbeiten fotografieren.« »Was, echt?« Ich kann nicht glauben, in wie kurzer Zeit sich meine eben noch intelligente Freundin in ein schmatzendes Knuddelmonster verwandelt. »Mm-mm«, beschnuppern sich die beiden und drücken sich fette Bussis auf.
Ist ja nicht auszuhalten! Mann! Da vorne, nicht mal eine Minute von hier, wartet vielleicht das kalte Grauen auf uns und die knutschen hier rum! »Los, kommt«, sagt Lukas, als die Begrüßungszeremonie vorbei ist. »Wir fahren gleich wieder zurück!« »Aber …« Fabs schickt mir mit den Augen SOS-Zeichen. Ich schicke einen verzweifelten Blick zur Geistervilla. »Weißt du, Lukas, eigentlich wollten wir …« »… Pilze sammeln«, ergänzt da meine Freundin. Aber Lukas: »Auch gut. ’n Pilz hab ich noch gar nicht in groß. Oder, hey, wir könnten doch auch mal Früchte! Da vorne bei der Villa soll’s einen riesigen Obstgarten geben!« Oh nein! Und wenn Vincent auf Robbenjagd am Nordpol wäre, ich werde jetzt nicht mit einem Suchtrupp auf seinem Grundstück einfallen und es nach Johannisbeeren durchkämmen. Zum Glück ist Fabs derselben Meinung. »Och nö«, sagt sie scheinbar gelangweilt und zwinkert mir verschwörerisch zu. »Dann lieber zur Töpferei.« Na, klasse. Als ob gebrannte Tonkrüge mir die Frage nach meinem Schicksal beantworten könnten. Ich sehe den beiden noch so lange nach, bis Lukas’ Gerede über Brennweiten und Mindestentfernungen im Wind verstummt. Am Ende der langen Einfahrt, vor der ich stehe, liegt fremd und bedrohlich die Villa. Unentschlossen starre ich sie an. Soll ich trotzdem? Alleine? – Ich muss es einfach wissen! Hier ist alles viel dunkler. Dunkel und kühl. Es muss an den riesigen Bäumen liegen. Ein Gefühl, als wäre man plötzlich tief in einem Wald. Und vor mir steht ein verwunschenes Schloss. Ob es ein Verbrechen ist, hier zu sein? Ich verstecke das Fahrrad hinter einem Holzschuppen und sehe ehrfürchtig zum Haus hinüber. Unheimlich, wie groß die Villa aus der Nähe ist. Von der Straße aus hat sie immer so stolz geleuchtet. Jetzt aber wirkt sie grau und alt und der bröckelnde Putz lässt nicht gerade darauf schließen, dass hier Leute wohnen, die Stammkunden bei Obi sind. Mit wackeligen Knien schleiche ich auf den Eingang zu. Immer wieder sehe ich mich dabei nach der Auffahrt um. Nichts. Das Moos ist weich und so feucht, dass ich seine Kälte durch die dünnen Sohlen meiner Turnschuhe spüre. Nur noch ein paar Schritte bis zum Sprossenfenster in der Haustür. Ich bin auf alles gefasst – Folterbänke mit Blutspuren und wandhohe Gemälde von bösen Ahnen. Aber was ich jetzt sehe, verschlägt mir den Atem. Da hängt das große, breite Tulpenbild aus dem letzten Ikeakatalog. Und auf dem Boden liegen mindestens drei Paar schmutzige Nikes. Los, einmal die Augen zukneifen, dann einen Sicherheitscheck zur Straße und dann noch mal hinsehen. Aber ich träume nicht. Das hier ist ein stinknormaler Familienflur mit modernen weißen Fliesen auf dem Boden und einem zarten Apricot an den Wänden. Ich wünschte, Mama hätte so viel Geschmack. Verwirrt taste ich mich an der Hauswand entlang zum nächsten Fenster. Der Laden ist nur angelehnt, er lässt sich, ohne zu knarren, öffnen. Aha, die Küche. Sieht gemütlich aus. In einem Regal entdecke ich die gleichen Kellogg’s-Packungen, die Benny auch hat. Und darunter, hey, das ist ja unsere Espressomaschine! Dumpfes Knirschen lässt mich herumfahren. Auweia, da kommt einer. Ich stolpere rechts vor dem Haus entlang und verstecke mich hinter einem Mauervorsprung. Es ist ein Mädchen. Weißer Mini, Beine wie Schokoriegel. »Celina«, murmele ich ungläubig. Was macht die denn hier? Sie stellt ihr Rad ab, schüttelt sich die blonden Haare in den Nacken und geht zur Haustür – dingdong. Wenn jetzt jemand öffnet, bin ich geliefert. Doch sie wartet und wartet und dabei zupft sie an ihren Klamotten rum wie vor einer Modenschau. Nach einer Weile geht sie vom Eingang weg und wirft etwas in den Briefkasten. Dann radelt sie wieder los. Ich komme mir vor wie im falschen Film. Ich meine – hallo? – da denkst du, du bist einem Vampirclan auf der Spur, doch stattdessen taucht diese Schnepfe auf und will dir den Freund ausspannen. Und kein Zweifel, dass sie das will! Ich hab doch neulich in der Fleischerei schon gesehen, wie sie ihn angebaggert hat. Wenn ich nur wüsste, was in dem Brief steht! Los, rüber zu dem Kasten. Ich grapsche und fische und scheuere mir dabei die Hand so blutig, dass jedem Vampir das Wasser im Munde zusammenlaufen würde. Trotzdem komme ich nicht in den verdammten Schlitz rein. Eine Zange wäre jetzt gut. Ob sie dahinten, in dem Anbau, eine Werkstatt haben? Zu allem entschlossen stapfe ich über den Hof. Also wirklich, Celina! Das könnte ihr so passen, dass sie mir mit ihren kackbraunen Beinen die Ferien vermiest. Wenn es das ist, kriege ich die in null Komma nichts auch selber hin. Da nehme ich einfach vier mal fünfzehn Minuten unter dem Teilkörperbräuner und schon schimmere ich genauso brasilianisch wie die. Ha, vor der Tür zum Anbau hängt kein Schloss. Dafür klemmt sie. Ich stemme mich mit aller Kraft dagegen und drücke den Riegel hoch – voilà! Der metallische Geruch, der mir entgegenschlägt, ist schon mal typisch Werkzeuglager. Mit klopfendem Herzen ziehe ich die klapprige Tür auf und … und … großer Gott, da liegen … Mir wird schwindelig. Benommen torkele ich zurück und pralle mit der Schulter gegen den Rahmen. Es sind Holzkisten. Lange, rechteckige Dinger. Ich sehe vier davon. Sie stehen kreuz und quer über den dunklen Raum verteilt, zwei verschlossen, die anderen beiden mit aufgeklapptem Deckel. »Hau ab!«, brüllt ein ganzes Zorro-Rettungskorps in meinem Oberstübchen. Aber die Romantiker, die sich bis eben noch ein Happy End gewünscht haben, rufen: »Sieh es dir an, Lily. Auch wenn du von jetzt an nie wieder ruhig schlafen wirst.« Mein Blick fällt auf einen Sessel. Er ist staubig und uralt. Auf der Sitzfläche liegen mehrere Flaschen mit Sonnenmilch, Lichtschutzfaktor 60. Und in einem Drahtkorb davor türmen sich Glasbehälter. Dieselben, in denen in der Pizzeria der Wein serviert wird. Nur dass die hier hässlich eingetrocknete Ränder haben und – igitt! – der eine ist sogar noch halb voll mit Blut. Mir wird speiübel. Fassungslos taumele ich zurück und lasse mich neben meinem Fahrrad an der Holzwand hinab zu Boden sinken. Das leise Summen eines Autos reißt mich aus meinem Dämmern. »Bitte nicht«, flehe ich, halb besinnungslos vor Angst. Aber der Wagen ist schon auf dem Hof. Flapp – eine Tür schlägt zu. Dann Schritte auf dem Kies. »Wo bleibst du?«, höre ich jetzt eine vertraute Stimme – Vincent! »Ich denke, du wolltest fertig sein, wenn wir kommen.« »Bin ja schon da«, sagt jemand, der jünger klingt als er. »Ich hol nur noch meine Tasche von oben.« Allmächtiger. Sollte der etwa die ganze Zeit da drin gewesen sein? Wieso hat er nicht aufgemacht, Celina hat doch geläutet! »Du, Vincent?«, fragt der Junge, während er schweres Gepäck aus dem Haus zu transportieren scheint. »Sag mal, hast du die Tür vom Verlies geöffnet?« Ich halte den Atem an. Da, Schritte! Unter meinem schwarzen Cape bin ich klein wie ein Maulwurf. »Komisch«, höre ich den Jungen, der jetzt offenbar die Tür zum – wie war das? Verlies? – erreicht hat. »Ich könnte schwören, dass ich die heute Morgen zugemacht habe.« Nein! Nicht umdrehen! Mein Fahrrad, meine Füße! Himmel, warum sagt er denn nichts? Hat er mich etwa schon …? »Beeil dich!«, ertönt da Vincents Stimme. »Papa kommt garantiert nicht noch mal, um dich abzuholen.« »Ist auch nicht nötig. Hier, das Schloss war nur nicht eingehängt. Aber jetzt hab ich’s gesichert.« »Na, hoffentlich«, knurrt Vincent. Doch im nächsten Moment: »Was ist denn? Weshalb schnupperst du so?« »Weiß nicht. Hier riecht’s irgendwie so nach … Blut.«
Jesus, meine Hand! Ich drücke mir die Seite mit der Schürfwunde tief in die Magenkuhle. »Blut?«, fragt Vincent. »Ich riech nichts.« »Na hier, ganz in der Nähe! Ob da vorne etwas … Warte, ich guck mal hinterm Schuppen.« Mir bleibt das Herz stehen. Vielleicht bin ich ja schon tot, bis er da ist. »Jungs!«, ruft jetzt eine Männerstimme vom Hof aus. »Entweder ihr steigt ein oder ich fahre ohne euch!« Knirsch, knirsch, macht der Kies unter ihren Füßen. Dann zwei Mal ein Flapp. Heilige Mutter Gottes, die Autotüren. Zusammengerollt kauere ich an meiner Wand und wage noch immer keinen Lidschlag. Meine Arme, mein T-Shirt, alles ist nass von Schweiß und Tränen. Als ich höre, wie der Wagen auf der Straße beschleunigt, lasse ich mich der Länge nach aufs Gras fallen und heule los wie ein Schlosshund.
Geisterbahn und Zuckerwatte »Spätzchen!«, ruft Mama besorgt. »Bist du gestürzt?« Sie greift behutsam nach meiner kaputten Hand. Ich muss schon wieder heulen. Weil ich auf einmal merke, wie weh die tut. Die ganze Zeit schon, ich meine, alles tut ja weh. Alles, alles, alles – huäääh! »Ist ja schon gut«, tröstet mich Mama, während sie mit gekonnten Griffen meine Hand verbindet. »Ich fand ja immer, dass Fabs eine blöde Ziege ist.« »WAS?« »Na, die nutzt dich doch aus! War doch mit dem Tiefenbräuner auch so. Ach, Spätzchen, ich wünschte, ich könnte dir diese Enttäuschungen ersparen.« Plötzlich lässt sie meine Hand los. »Was will der denn hier?«, fragt Mama so genervt, dass ich schon denke, einer vom Gesundheitsamt steht vor der Tür. Aber – Allmächtiger – da kommt ein schwarzes Hemd! Mit einem sonnenbebrillten Gesicht darüber. Schulterlanges Haar schwingt leicht und seidig glänzend auf uns zu. Mama tritt hinter dem Tresen hervor. »Bei dem ist doch Hopfen und Malz verloren«, sagt sie, während meine Finger sich tief in die Stuhllehne graben. Dann geht die Tür auf. Er weiß sofort, wo er mich findet. Wahrscheinlich wusste er das schon, als er noch drei Häuserblocks von hier entfernt war. Brille ab, Direktblick. Mit der Sicherheit eines Profikillers nimmt er mich ruhig und überlegen ins Visier. Keine Frage, er hat es auf mich abgesehen. Er muss mich gewittert haben, als ich bei ihnen am Holzschuppen kauerte. Klar hat er das, sonst wüsste er ja nicht, dass wir jetzt kein Versteckspiel mehr brauchen. »Herr Meyerdierks!«, stürzt Mama auf Vincent zu. – Ach, du Schande! – »Kommen Sie. Ihre Mutter hat zwar keinen Termin für Sie gemacht, aber einmal außer der Reihe kann ja bei Ihnen nicht schaden, hihi.« Seine Mundwinkel zucken kurz, doch er lässt mich nicht aus den Augen. Unruhig sieht Mama zwischen uns hin und her. »Kann mir vielleicht mal jemand sagen, was hier …« »Entschuldigung!«, widmet er ihr jetzt seine ganze Aufmerksamkeit. »Ich heiße Vincent. Und ich würde gerne kurz mit Ihrer Tochter …« »Was denn, Sie sind gar nicht …?« Klatsch. Das war der Schlag, den sie sich gerade selber auf den Mund verpasst hat. »Meine Güte, Lily! Kinder! Wieso sagt mir denn keiner was? Ich bin ja völlig …« Ratlos fährt sie sich über die Stirn. Aber dann greift sie beherzt nach seiner Hand. »Ich bin die Sunny! Und … ach kommt, ihr zwei, geht doch einfach hoch und quatscht euch in Ruhe aus. Du könntest Tee machen, Lily.« Kraftlos wehre ich mich gegen Mamas Schiebattacke. »Aber ich würde lieber …« »Was? Ein Stück gehen?« Oh Mann, wie ich diese Stimme liebe! Und danke auch, dass er nicht darauf besteht, mich in unserer Wohnung kaltzumachen. Wir schlendern ziellos auf den Marktbrunnen zu. Das heißt, Vincent schlendert, ich stolpere eher. Nach einer Weile fragt er: »Sag mal, Lily, wunderst du dich gar nicht, dass ich noch hier bin?« Ich stutze ehrlich: »Wolltest du denn jemals weg?« »Was sagst du da?« Es gibt zwei Möglichkeiten. Ich meine, er scheint tatsächlich erstaunt zu sein, dass ich seinen Plan von dem Trip an die Nordsee anzweifele. Entweder weiß er doch nicht, dass ich ihm auf die Schliche gekommen bin, oder er hatte wirklich vor zu fahren, nur ist ihm in letzter Minute der Appetit auf Salzwiesenlämmer vergangen. »Lily«, sagt er jetzt gepresst, »du wirkst heute so … ich weiß nicht, kühl.« »Tja, manche wirken eben kühl und manche sind es.« »Wie meinst du das? Findest du etwa, ICH sei kühl zu dir?« Aha! Wir spielen also weiter. Bloß kein Wort über niedrige Körpertemperaturen. Vermutlich würde er selbst dann noch lächerliche Ausreden erfinden, wenn ich ihm von den Holzkisten in seinem Verlies erzählte. »Weißt du«, sage ich, inzwischen so richtig angepisst, »mir geht das alles so auf den Zeiger. Nie verrätst du mir irgendwas über dich. Immer hast du nur Geheimnisse.« »Aber …« »Was soll dieser Scheiß mit dem Wegfahren? Warum behauptest du so was, wenn du in Wirklichkeit hierbleibst und in der Gegend rumspionierst.« »Lily! Wir sollten längst in Husum sein! Mein Vater hält da heute Abend einen Vortrag. Aber meine Mutter musste noch zum Zahnarzt.« »Ach, und das ist ihr vorhin eingefallen.« »Ihr ist ein Eckzahn abgebrochen! Was meinst du, was für Schmerzen sie hatte.« »Keine Ahnung, was ihr für Schmerzen habt, wenn euch Eckzähne abbrechen.« »Sag mal, hast du überhaupt kein Herz?« »Das musst du gerade sagen!« Scheinheiliger Wie-meinst-du-das?-Blick. Und dann: »Ich versteh das nicht. Dabei hab ich mich so … verdammt noch mal, ich hab mich GEFREUT, dich zu sehen!« »Ach ja? So wie du dich gestern auf dem Friedhof gefreut hast?« Puh, jetzt wird mir doch etwas mulmig. Ich hätte nicht gedacht, dass ich den Mut habe, ihn darauf anzusprechen. Und tatsächlich wirkt er plötzlich wie versteinert. Wutfunkelnde Augen. Sein Mund ist ein schmaler, böser Strich. Bin ich zu weit gegangen? – Angst-AngstAngst! Wir haben längst das Ende der Wohnstraße erreicht. Gleich kommt ein Steg, der über einen Graben in eine ziemliche Wucherlandschaft führt. Ich hoffe, Vincent will da nicht hingehen. Doch, will er. Und er sagt, als wir mitten zwischen Büschen und Sträuchern stehen: »Ich hätte es wissen müssen. Gestern schon.« »Bitte?« »Wie entsetzt du warst, als du mich dort entdeckt hast.« »Na, hör mal!«, schreie ich jetzt fast. »Ist das vielleicht ein Wunder? Da geht man nichts ahnend über den Friedhof und plötzlich erfährt man, dass der Typ, mit dem man …, dass der … oh Gott!« Ist es möglich, auf jemanden sauer zu sein und ihm gleichzeitig in den Armen liegen zu wollen? Wie verzweifelt er jetzt aussieht! Seine Augen sind so … keine Ahnung, offen! Und hell! Er muss einen Bärenhunger haben. »Lily«, haucht er mit einem Schmachten in der Stimme, dass ich mir automatisch über den Hals fahre – alles picobello.
Doch den meint er gar nicht. Er will auf meinen Mund los. Dieses Flimmern in seinen Augen. Ob er mein Herz klopfen hört? Meine Lippen sind trocken wie die Sahara. Aber ich kann sie doch jetzt nicht … wo er mich fast schon … Drei, zwei, eins … Scheiße, mein Handy! Es ist Fabs. »Hey, du glaubst nicht, was vorhin passiert ist!« Oh nein. Wahrscheinlich das aufregendste Tonkrüge-Fotografieren seit Erfindung der Kamera. »Hallo, bist du noch dran? Warum sagst du nichts?« »Äh, Fabs, wäre es möglich, dass wir später noch mal …?« »Was ist denn? Du klingst so komisch.« »Ich bin hier gerade … also, ich ruf dich ganz bestimmt an, okay?« Schnell beenden. Bevor sie noch was sagen kann. Aber Mist, er ist schon wieder meilenweit von mir weg. »Deine Freundin?«, fragt er so happy, dass ich mir ernsthafte Sorgen um Fabs’ Zukunft mache. »Ja ja«, antworte ich beiläufig. »Sie wollte fotografieren.« »Ich weiß, ich habe sie getroffen.« »WAS?« »Sie war in der Heidetöpferei.« »Wie kommst DU zur Heidetöpferei?« »Mit meinem Vater! Ist das etwa verboten?« »Uih«, seufze ich völlig überfordert. Ich meine, ich war gerade auf mein Ende vorbereitet. Aber dann wäre fast mein erster richtiger Kuss daraus geworden. Alle Achtung, Fabs, du hast vielleicht ein Timing. Und jetzt … Augenblick mal, wieso ist er ihr dort überhaupt begegnet? »Wir wollten ein Geschenk kaufen. Für die Betreuerin unseres Ferienhauses.« – Er kann eindeutig Gedanken lesen! »Übrigens«, lächelt er jetzt strahlend. »Sie war mit dem Jungen dort.« »Klar, Lukas«, ergänze ich prompt. »Ich war völlig aus dem Häuschen, die beiden zu sehen.« »Warum das denn? Sind doch freie Menschen.« »Ich meine, ZUSAMMEN zu sehen.« »Aber sie SIND zusammen. So außergewöhnlich ist das also nicht.« »Lily«, druckst er und kratzt sich verlegen. Doch auf einmal nimmt sein Körper eine entschlossenere Haltung an. »Also, das gibt’s doch nicht!«, flucht er regelrecht. »Ich versuche dir hier etwas zu erklären und du greifst mich in einer Tour an!« Huh. Automatisch ziehe ich den Kopf ein. Und frage ängstlich: »Er…klären?« »Begreifst du denn nicht? Ich dachte die ganze Zeit, DU wärst mit ihm zusammen!« »Ich? Mit Lukas?« In welchem Albtraum ist der denn? »Ich kann dir gar nicht sagen, wie glücklich ich war«, versichert er mit einer Stimme zum Dahinschmelzen. »Weil mir auf einmal klar wurde, dass du … na ja, FREI bist!« Bei mir fällt der Groschen nur ganz langsam. Aber dann … Jesus, Maria und Josef, eine Liebeserklärung! Was sage ich denn jetzt? Ich bin überrumpelt, überrascht, überwältigt – und sage … nichts. Vincent fleht: »Starr mich doch nicht so an.« Ich versuche ein Lächeln. Klemmt aber irgendwie. »Schon gut«, murmelt er da und dreht sich zum Gehen. »Hey! Wohin willst du?«, finde ich meine Sprache endlich wieder. »Unser Auto suchen. Vergiss am besten, was ich gesagt habe.« »VERGESSEN? Ich krieg mein erstes Beziehungsangebot und soll es vergessen?« Mir wird total flau im Magen. Habe ich das eben wirklich getan? Ja gesagt zu einem … einem … Hilfe, er kommt näher! Noch näher. Geht kaum näher. »Und-und«, stottere ich, »wirst du mich jetzt …« Zisch. Seine Hände auf meinen Armen. Ich fühle mein Blut kochen. Er bestimmt auch. Und dabei sagt er: »Nur wenn du es auch willst.« »Das hab ich befürchtet.« »Be…fürchtet? Das klingt ja, als würdest du dich opfern!« »Ist das nicht so?« Abrupt lässt er mich los. Und sagt: »Lily! Wenn es für dich ein Problem ist, dass ich … nun ja … etwas älter bin …« »Etwas ist gut.« »Oder in manchen Punkten anders …« »Mein Gott, Vincent! Was du Punkte nennst, ist für mich leben oder nicht leben!« »Liegt es am Friedhof? Du, ich muss das nicht machen.« »Und was willst du dann machen?« »Keine Ahnung, vielleicht mache ich … hey!«, bricht er mitten im Satz ab. »Ich dachte, du MAGST mich.« »Aber das TUE ich doch! Ich hab nur auch Angst. Man lernt schließlich nicht jeden Tag einen …« »Tut-tuuut«, schallt eine grelle Autohupe vom Wendeplatz herüber. »Oje, mein Vater«, stöhnt Vincent. »Ich hab ihm gesagt, nur ein paar Minuten.« »Wo bleibst du?«, ruft da auch schon der Fahrer des Wagens. »Wir haben das halbe Viertel nach dir abgesucht! Los jetzt, wir müssen!« Keine zehn Sekunden später sitze ich auf der Rückbank des schwarzen Wagens und werfe verstohlene Blicke auf die Hinterköpfe der beiden Erwachsenen. Die blonden Haare des Vaters sind kurz und schmiegen sich weich um den schmalen Kopf. Sein Hals ist blass, aber ohne eine einzige Falte – ich tippe auf höchstens zweihundert Jahre. Vincents Mutter trägt eine weiße Bluse, über deren Kragen ihre Haut sommerlich pfirsichfarben schimmert. Bestimmt eine Selbstbräunungscreme. Aber sehr professionell aufgetragen. Sie freue sich riesig, hat sie mich herzlich begrüßt und gefragt, ob ich nicht spontan Lust hätte, sie auf ihrem Kurztrip zu begleiten. – Na, das könnte ihr so passen. Obwohl ich natürlich erleichtert bin, dass sie nett ist. Ich meine, nichts muss schauriger sein als ein Haufen grimmiger Vampire. »Wo ist denn die Nervensäge?«, fragt Vincent, was seine Mutter qualvoll seufzen lässt.
»Dein Bruder installiert gerade die Überwachungskamera«, kommt es jetzt sachlich vom Vater. »Ach«, staunt Vincent. »Sorge, dass jemand etwas aus dem Verlies stiehlt?« Mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken. »Du wirst lachen«, sagt der Mann, der den Wagen fast geräuschlos und ohne jede Erschütterung über die holperige Straße lenkt. »Heute muss tatsächlich eine dubiose Person auf unserem Grundstück gewesen sein.« »Ein Einbrecher?« »Ich weiß es nicht. Aber Romy meint, der Kerl sah aus wie Zorro.« Eine eisige Kralle legt sich um meinen Hals. Ich kriege kaum noch Luft. »Lily«, sagt die Mutter jetzt zuckersüß. »Warum kommst du nicht Samstag zu unserer Einweihungsparty?« »Hrgh. Samstag?« Im Profil sehe ich sie geheimnisvoll lächeln. Und ich spüre auch genau, dass Vincent mich beobachtet. Gott, was ist das hier, eine Verschwörung? Haben sie mich in ihr Auto gelotst, um mich zu einem Geständnis zu zwingen? »Sonne für alle!«, ruft der Vater auf einmal begeistert. Ich hab gar nicht bemerkt, dass der Wagen schon hält. Aber jetzt tröstet mich der Anblick von Mamas Reklameschild wie Zuckerwatte nach einer Fahrt in der Geisterbahn. »Dann also Samstag?«, nickt mir die Mutter aufmunternd zu. »Ich … äh …« Vincent begleitet mich zur Ladentür. »Es wäre wunderbar, wenn du kämst.« »Wann … geht denn das los?« »Gegen Abend, denke ich. Wenn es schattiger wird.« »Klar. Blöde Frage.« »Ich sag’s dir noch, Lily. Sobald ich wieder da bin. Also, wir sehen uns, ja?« Ungläubig schaue ich auf den schwarzen Wagen, der nur wenige Meter vor unserem Geschäft steht. Habe ich da eben wirklich dringesessen? Und bin heile wieder herausgekommen? Ob das Angebot, sie zu begleiten, ernst gemeint war? Und wieso hab ich nicht Ja gesagt, ich wollte doch ein Abenteuer! Hoppla! Etwas Weiches streift meine Lippen. Ich seh gerade noch, wie Vincent mich aus gold glitzernden Augen anstrahlt. Dann schwebt er davon und gleitet mit einer geschmeidigen Drehung ins Auto. »Lily!«, ruft Mama gefühlte drei Stunden später. »Warum kommst du nicht endlich rein?« Soll ich sagen, dass ich am liebsten hier übernachten würde? Auf dieser dunkelgrauen Platte im Gehweg, auf der ich, Lily Weiwasser, zum ersten Mal geküsst worden bin?
Partyfieber Nichts ist schlimmer als ein Sonnenstudio im Hochsommer. Während draußen die Leute in luftigen Neckholdertops zwischen Café und Eisdiele hin und her flanieren, sitzen wir unter den vorweihnachtlich leuchtenden Strahlern an Mamas Tresen und warten auf Kundschaft. Nicht einmal Fabs hat Lust, sich bei der Hitze auch noch durchgrillen zu lassen. »Er hat dich wirklich geküsst?«, fragt sie und wickelt ein schon halb geschmolzenes Schokotäfelchen aus. »Wo denn?« »Da!«, ziehe ich sie stolz mit ans Fenster. »Siehst du das kleine rosa Kreideherz auf dem Gehweg? Genau dort habe ich gestanden.« »Und seine Eltern waren dabei?« »Sie saßen im Auto. Aber die sind echt nett, Fabs.« »Klar. Wärst du doch auch, wenn dein Kind am Verhungern wär und jemand käme mit einem vollen Picknickkorb vorbei.« »Ich glaube nicht, dass sie nur deshalb so freundlich waren. Die machen einen superkorrekten Eindruck.« »Komisch. Als du mir dieses Verlies geschildert hast, klang das anders.« Grrr. Hässlicher Gedanke. Ich habe schon x-mal versucht, mir einzureden, dieser Moment, dieser schreckliche Anblick von hölzernen Schlafstätten und schmierigen Blutkaraffen sei eine Halluzination gewesen. Aber vergebens. Das Verlies bleibt Realität. Insofern erübrigt sich natürlich auch Fabs’ nächste Frage. Ob ich ernsthaft darüber nachdächte, am Samstagabend zu der Party zu gehen, will sie wissen. »Natürlich nicht.« »Puh«, macht sie erleichtert. »Weißt du, auf mich wirkt dieser Typ ja wahnsinnig unheimlich. Wie der gestern wieder geguckt hat. Mit so einem Glitzern in den Augen.« »Siehst du? Genau das finde ich auch so geheimnisvoll.« »Ich sagte unheimlich, nicht geheimnisvoll. Mensch, Lily, wenn du ein Abenteuer suchst, das kannst du auch mit einem normalen Jungen haben.« »Weiß ich doch, Fabs. Sehe ich ja bei Lukas und dir. Wo ist er überhaupt heute?« »In der Heidelbeerplantage. So schön wie jetzt kriegst du die Früchte das ganze Jahr nicht mehr vor die Linse.« »Verstehe«, nicke ich und verberge mein Entsetzen darüber, wie selig Fabs bei dem Gedanken an reife Blaubeeren lächelt. Doch auf einmal fällt mir etwas ein: »Ach herrje, ich sollte ja bis eins Frikadellen holen. Magst du auch eine? Die haben heute Paprikagemüse dazu. Und Röstkartoffeln.« »Lieber nicht. Ich hab mit Lukas abgemacht, dass wir noch zu einem Maisfeld fahren. Wenn es nicht bald regnet, verlieren die Pflanzen garantiert ihr saftiges Grün.« »Nee, is’ klar«, murmele ich und denke bestürzt, auweia. Mühsam schieben sich meine Beine durch die sengende Mittagshitze. Doch schon in der Fußgängerzone strömt mir der Duft von gedünstetem Paprika entgegen. Hm, lecker. Ich wette, Vincent könnte das auch essen, es riecht nicht die Spur nach Knoblauch. Der Laden ist so voll, dass kaum jemand Notiz von mir nimmt. Dafür sehe ich Celina heute wichtig hinter der Fleischtheke herumwuseln. Argwöhnisch beobachte ich jeden ihrer angeberischen Handgriffe. Was um alles in der Welt stand in dem Brief, den sie ihm gestern gebracht hat? Ich bin schon fast an der Reihe, als ich eine Frau neben mir das Wort Geistervilla sagen höre. Oder auch Geist’sche Villa? Jedenfalls sagt Celinas Mutter daraufhin zu der Kundin: »Die Familie, die dort eingezogen ist, soll ja vorher im Ausland gelebt haben.« »Nein!«, widerspreche ich und alle Augenpaare sind plötzlich wie Gewehrläufe auf mich gerichtet. Lieber Gott, lass mich eins von den Würstchen hinter der Glasscheibe sein. »Ä-ä-es …«, stammele ich hilflos, »… gibt keine Röstkartoffeln mehr?« »’türlich gibt’s die noch«, antwortet Celina mir kaltschnäuzig. »Wie viele Portionen willst du denn? Wie immer drei?« »Das müssen sehr nette Leute sein«, setzt ihre Mutter das Gespräch über die Ladentheke jetzt fort. »Celina, bist du nicht am Samstag bei ihnen? Auf der Einweihungsparty? « »NEIN!«, protestiere ich noch lauter als beim ersten Mal. Ich wünschte, Olli käme aus dem Schlachthaus und würde Hackfleisch aus mir machen. Oder nein, besser aus ihr. »Jetzt schling doch nicht so«, ermahnt mich Mama, als mir vor lauter Hektik zwei Röstkartoffeln vom Teller kullern. »Sag mir lieber, weshalb du nicht zu dieser Party willst.« Verflucht sei der Moment, in dem ich ihr gestern von der Einladung erzählt habe. Mann! Einer Partylöwin wie Mama! »Weißt du«, fängt sie da auch schon an zu schwärmen. »Ich hab mir bereits überlegt, was du mitbringen könntest. Ich mach dir einen hübschen Gutschein, was denkst du?« Oh nein, nur das nicht! »Sagen wir, für fünf oder zehn Sonnenbäder? Mensch, die können’s doch gebrauchen!« »Sorry, aber ich muss dringend noch mal zu Fabs.« »Als ob die bessere Ideen hätte«, knurrt sie beleidigt. Wenn Mama wüsste, worum es geht, würde sie für eine Handvoll Bräunungscoupons sicher keinen Nobelpreis von mir erwarten. »Und du, junger Mann?«, höre ich sie jetzt enttäuscht vom Flur aus. »Haben wir heute wieder das freche rothaarige Monster zu Gast?« »Falls du Roman meinst«, antwortet Benny gelassen, »der ist für ein paar Tage verreist.« »Na, wenigstens ein Trost«, sagt Mama und ich ziehe stürmisch die Wohnungstür zu. Schnell! Fabs kann jeden Moment von dem Langeweiler abgeholt und ins Maisfeld geschleppt werden. Auf mein Klingeln reagiert keiner. Dabei lehnen beide Fahrräder an der Wand. Ich schleiche ums Haus herum in Richtung Terrasse. Und sehe … nee, das gibt’s nicht! Fabs und Lukas stehen im Gartenpavillon und knutschen und grabbeln und … igitt, er wird ihr doch nicht unters T-Shirt greifen! Lukas!!! »Oh, äh, Lily! Ich hab dich gar nicht kommen hören.« »Das sieht man. Kann ich dich vielleicht mal unter vier Augen sprechen?« »Hallo«, säuselt jetzt auch der Knutscher. Wenigstens hat er so viel Anstand, kurz mal ins Haus zu verschwinden. Aber Fabs ist überhaupt nicht bei der Sache. Selbst als ich ihr sage, dass Celina – ich wiederhole, Celina! – drauf und dran ist, mir Vincent auszuspannen, selbst darauf antwortet sie nur gelangweilt: »Und was hast du jetzt vor?« »Na, hingehen natürlich!«, verkünde ich entschlossen. »Aber hast du nicht vor einer Stunde noch gesagt, das sei zu gefährlich?« Offenbar ist sie so beduselt von der Knutscherei, dass sie meiner Strategie nicht folgen kann: Celina wird überhaupt nicht wissen, was für eine Gesellschaft sie in der Geistervilla erwartet. Ich bin ihr gegenüber also klar im Vorteil. Außerdem hat Vincent MICH geküsst und nicht sie – hoffe ich zumindest. »Verstehst du?«, rüttele ich meine Freundin jetzt an den Schultern. »Ich MUSS da hin. Egal, wie gefährlich es wird. Ich kann doch so einer Zicke nicht das Feld überlassen.«
»Hm«, macht Fabs unbeeindruckt, »alleine hätte ich da aber Schiss.« »Eben. Deshalb wirst du mich ja begleiten.« »Ich? Spinnst du?« »Komm, Fabs, dir kann doch überhaupt nichts passieren.« »Nee!«, weigert sie sich strikt und hält nach dem Küssmonster Ausschau. Verflucht sei Lukas! »Letzte Woche«, sage ich entnervt, »da war’s dir noch nicht egal, ob mir was zustößt. Da wolltest du sogar noch mit mir Kreuze klauen.« »Letzte Woche …«, erinnert sie sich zögernd. »Ja ja, ich weiß«, falle ich ihr ins Wort, »… warst du auch noch nicht mit dem da zusammen. Oder sagen wir, waren wir zwei noch echte Freundinnen.« »Lily, was soll das?« Ich könnte heulen: »Ich brauche dich wie noch nie in meinem Leben. Und du denkst nur noch an dich. Oder besser: an Lukas.« »Warte doch mal. Lily, hau nicht ab!« Aber genau das tue ich. »Ach, Spätzchen«, tröstet mich Mama, während ich lustlos an einem Wrap knabbere. »Jetzt mach doch nicht so ein Gesicht. In ein paar Tagen ist er ja wieder da. Und dann gehst du sogar zu ihm auf die Party. Du, ehrlich, so gut hatte ich es in deinem Alter nicht.« Sinnlos, Mama zu erklären, dass es gar nicht Vincents Abwesenheit ist, die mich so beschäftigt. Obwohl die auch nicht gerade dazu beiträgt, dass es mir besser geht. Wenn ich doch wenigstens Fabs noch hätte. Und wenn sie sich doch inzwischen gemeldet hätte. Ob ich heute Mittag zu hart zu ihr war? An alle übermächtigen Kräfte: Bitte macht, dass Fabs anruft und mit mir zu dieser Party kommt! »Weißt du was?«, versucht Mama erneut, mich aufzuheitern. »Wenn dein Freund zurück ist, koche ich uns mal was Schickes. Was hältst du von … Rouladen?« Skeptisch gleitet ihr Blick über das verwaiste Regal mit den Gewürzgläsern. »Oder vielleicht doch lieber was Schnelles?«, sinniert sie ganz für sich. »Warum nicht Blutwurst?«, krächzt Benny und steht mit einem lauten Rülpser vom Tisch auf. »Mann, hör auf!«, motze ich, doch das nützt nichts. Die Tränen lassen sich nicht mehr zurückhalten. »Armes Kind«, kommt Mama sofort zu mir herum. »Aber weißt du, es ist nicht gut, sich von einem Jungen so abhängig zu machen. Stell dir vor, der verletzt dich mal. In deiner jetzigen Verfassung würdest du das ja kaum überleben.« AUFHÖREN! Ich glaube, ich bin einem Kollaps nahe. Aber dann klingelt das Telefon. Mama geht und ich bete. »Hallo, Fabs«, höre ich sie deutlich sagen. Puh, das nenne ich Rettung in letzter Minute. Wir werden es so machen: Sie kommt Samstag um achtzehn Uhr zu mir und dann präparieren wir uns mit sämtlichen Bekämpfungsmitteln, die wir bis dahin auftreiben können. Zudem wird sie mir von ihrer Mutter noch ein Goldkettchen mit einem Kreuz besorgen. Und sich selber hängt sie jede Menge Silberschmuck um. »Für alle Fälle«, kichert Fabs verschmitzt und es klingt, als freue sie sich nun doch auf dieses Abenteuer. »Unglaublich«, wundert sich Mama, als ich nach dem Telefonat herzhaft in meinen Wrap beiße. »Was Freundinnen für einen Einfluss haben. Da redet man und redet und kaum ruft diese Fabs an, bist du wie ausgewechselt. Sag mal, Lily, ihr heckt doch nichts aus? Ich meine, ich muss mir doch keine Sorgen um dich machen, oder?« »Aber Mama, Fabs ist mein Schutzengel! Guck mal, ich hab schon alles aufgegessen.« »Ich sag ja, einfach unglaublich.« Samstagvormittag. Die Sonne strahlt mir ins Gesicht. Perfekt, denke ich. Das wird sie zusätzlich schwächen. Und wenn es uns irgendwie gefährlich wird, können wir immer noch schnell auf eine Lichtung flüchten. Jedenfalls bis zwanzig Uhr achtundfünfzig. Dann nämlich ist Sonnenuntergang. Ich kann’s kaum noch erwarten, zu meiner ersten Party zu gehen. Gestern Abend kam ganz spät eine SMS von Vincent: »Liebe Lily, es wäre großartig, wenn du um neunzehn Uhr bei uns eintriffst. Gerne hole ich dich auch ab. Ich freue mich auf dich, Vincent.« Klar war ich erleichtert, endlich ein Lebenszeichen von ihm zu erhalten. Aber mir fiel auch siedend heiß ein, dass jemand, der so vornehme Nachrichten verschickt, nicht gerade glücklich über ungeladene Gäste sein wird. Fabs. Wie sollte ich sie nur auf seiner Gästeliste unterbringen? Ich schrieb ihm, dass ich mich auch freue, aber ganz wohl sei mir nicht, so mutterseelenallein unter wildfremden – hm-rrrm – Menschen. Und ob es okay wäre, wenn meine Freundin mich begleiten würde. Die Antwort ließ beunruhigend lange auf sich warten. Vielleicht musste er erst mit seinen Eltern sprechen. Doch dann kam sie: »Selbstverständlich ist das okay. Deine Freundin ist uns herzlich willkommen.« Auweia. Ich hoffe nur, sie hängt sich genug Silberketten um. Zum Mittag gibt es heute für jeden nur eine Frühlingsrolle. »Schwesterherz!«, empfängt Benny mich in der Küche. »Mann, siehst du verpennt aus!« »Was, ehrlich?« »Jetzt lass sie doch, Benny!« – Danke, Mama. – »Sie ist sicher aufgeregt wegen ihrer ersten Party, stimmt’s, Lily? Du, ich hab dir den Gutschein schon hübsch eingepackt. Fünf Sonnenbäder bei freier Gerätewahl. Und sie können ihn ein ganzes Jahr lang einlösen.« Ach, Mama, denke ich wehmütig. Den wird bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag niemand einlösen. Trotzdem schicke ich ihr ein zerknautschtes Lächeln über den Tisch. »Party?«, fragt Benny, als sie kurz darauf ins Studio geht. »Etwa bei dem Blutfresser?« »Was sagst du da?« »Äh, ’tschuldigung, ich meine natürlich Blutwurstesser, hihihi.« Fieser Benny. Als ob ihm das Spaß macht. »Jetzt sag schon«, piesackt er mich weiter, »was für eine Party ist das?« »Das werd ich dir auch grad auf die Nase binden.« »Wieso, ich gehe heute auch zu einer!« »Kann sein, aber da, wo ich bin, gibt’s kein Kinderprogramm.« »Weshalb bist’n du so gereizt, Lily?« »Ach, lass mich doch in Ruhe.« Oh Mann, ich hatte schon beim Aufwachen ein total flaues Gefühl im Magen. Und jetzt sagt der Idiot auch noch was von Blutfressern!
»Hey«, schlägt Benny auf einmal einen versöhnlichen Ton an. »Ich hab’s doch nicht so gemeint. Aber was ist denn? Erzähl doch mal.« Ist das derselbe Benny, der normalerweise hinter Büschen sitzt und mit Steinen wirft? Zum Glück springt in diesem Moment mein Kleiner-Bruder-Warnsystem an und ich verziehe mich in mein Zimmer. »Nur Mut«, ruft er mir hinterher. »Bestimmt ist alles nur halb so wild, wie du denkst.« »Dein Wort in Draculas Ohr«, knurre ich leise und versuche es mal wieder vor dem Kleiderschrank. Aber Fehlanzeige. Bei der Hitze kann ich unmöglich einen meiner Rollis tragen. Wenn doch Fabs schon hier wäre! Wir hätten fünfzehn Uhr sagen sollen. Oder besser noch, zum Frühstück. Wie soll man so einen Tag alleine durchstehen? »Hey, Lily? Stör ich?« »Mensch, endlich! Dich schickt ja voll der Himmel! Du, guck mal, das Top hier, meinst du, das ist zu gewagt? Was ist denn? Wieso setzt du dich nicht?« »Also, ich …« »Hey, komm, mir geht’s auch beschissen. Das heißt, jetzt, wo ich dich sehe, hab ich schon gleich viel weniger Muffe. Hast du an die Kette mit dem Kreuz gedacht?« »Klar. Hier.« Sie holt ein zierliches Goldkettchen aus ihrer Hosentasche. »Wenn das Vampire abschrecken soll«, sage ich beim Anblick des Mini-Anhängers, »dann bin ich ein Hobbit. Sag mal, wo ist eigentlich dein Silberschmuck? Willst du etwa noch mal nach Hause? Fa-a-abs?« »Lily, ich … muss dir was sagen.« »Nanu? Was denn?« »Ich kann nicht mit zu der Party.« »Nein!« »Doch, das heißt … also, ich kann nicht. Lukas fährt heute mit seinen Eltern nach Bruchhausen. Du weißt doch, zu dem riesigen Jahrmarkt. Wo wir auch schon immer mal hinwollten. Na ja, und jetzt haben sie mich dazu eingeladen. Verstehst du? Ich MUSS da mit. Lukas wird stocksauer, wenn ich’s nicht tue.« »Nee«, hauche ich wie benebelt. »Das … geht nicht. Das sagst du ab!« Verlegen reibt sie die Spitzen ihrer Turnschuhe aneinander. Dabei piepst sie kaum hörbar: »Und wenn ich das gar nicht will?« Allmächtiger. Als ob Lukas mir nicht schon genug Schwierigkeiten bereitet hätte. Jetzt vermiest er mir auch noch den wichtigsten Abend meines Lebens. In einer Mischung aus Wut und Verzweiflung werfe ich das Top in die Ecke und lasse mich aufs Bett fallen. Fabs setzt sich neben mich, einen Arm ganz fest um meine Schultern. Gerade überlege ich, ob ich ihn abschütteln soll, da zaubert sie ein winziges Glasröhrchen aus ihrer Tasche hervor. »Hier, ich hab dir was mitgebracht. Reiner Knoblauchsaft. Ich habe zwei ganze Zwiebeln dafür ausgepresst. Damit MUSST du dir den Hals einreiben, hörst du? « »Danke. Nett von dir.« »Und Lily, sei immer auf der Hut, ja? Ich will dich echt nicht verlieren.« »Hm«, murre ich enttäuscht und schaffe es nicht einmal, ihr viel Spaß zu wünschen. Weil ich nämlich in dem Moment, als sie das Zimmer verlässt, schon weiß, dass ich heute nirgendwohin gehen werde. Nicht alleine. Ich bin viel zu wackelig auf den Beinen, um mich schutzlos in ein Rudel hungriger Wölfe zu stürzen. Soll doch Celina sich aufschlitzen lassen. – Aua, das pikst direkt ins Herz. Ich darf gar nicht daran denken: Celina, wie sie in seine Goldaugen sieht. Und ihn um den kleinen Finger wickelt. Nicht nur, dass sie sensationell aussieht, ihr Vater besitzt auch noch eine Fleischerei. Da kann ich nicht mithalten! Ich seufze schwer: Wenn du eins geschafft hast, Vincent von Geist, dann, dass ich mich wahrscheinlich nie in einen richtigen Jungen verlieben werde. Weil keiner jemals deine Klasse erreichen könnte. Eine Heulwelle, wie ich sie noch nie zuvor gespürt habe, überrollt mich und zwingt mich direkt ins Bett. Wild schluchzend ziehe ich mir die Decke über den Kopf und schwöre, nie, nie wieder aufzustehen!
Tanz der Klaviere »Lily!«, höre ich Benny vom Flur rufen. Na, so was. Es ist schon wieder hell! »Kann ich reinkommen?« »Wenn du nicht nervst!« Kaum geht die Tür auf, da stutzt er: »Häh?« Aber ich staune auch nicht schlecht, als ich ihn sehe. Er trägt seine neue Jeans, ein Hemd und hat sich die Haare gegelt. »Das glaube ich nicht«, murmelt er fassungslos und endlich kapiere ich: Es ist überhaupt nicht SCHON hell, es ist IMMER NOCH hell und diese leidige Vampirparty hat nicht mal angefangen. »Komm, los!«, zieht er mir die Decke weg. »Ich weiß, wo Mamas Antifaltencreme steht.« »Falten?« Tast. Zwinker. Oje, ich bin ja zerknitterter als eine dreihundert Jahre alte Gräfin. Benny wühlt bereits hektisch in meinem Klamottenberg. »Was willst du anziehen? Das silberne Ding hier?« »Ja, gib her. Das silberne Ding ist mein Nachthemd.« »Nix da«, wirft er mein Schlafgewand gleich wieder zurück. »Wir gehen jetzt erst mal beide auf unsere Partys.« »Spinnst du? Ich mache, was ICH will.« »Und der Gutschein, den Mama dir gebastelt hat?« »Kannst du mitnehmen. Wo bist du überhaupt eingeladen? Hey, sag schon!« Mann, ist der aufgedreht. Glotzt zur Uhr, laust sich die Haarstacheln und schießt dann mit Vampirgeschwindigkeit aus dem Zimmer. »Willst du wirklich hierbleiben, Lily?« »Worauf du dich verlassen kannst.« Es ist achtzehn Uhr dreißig. Fabs und Lukas sitzen wahrscheinlich gerade selig in einer Achterbahn. Mama sitzt, so hoffe ich doch, noch lange unten im Studio und lässt mich in Ruhe. Eigentlich gar nicht so übel, mal einen Samstag im Bett zu verbringen. Ich hole mir eins von meinen Mädchenbüchern, garantiert ohne Fantasy, und dazu Mamas große Nackenrolle. Fehlt nur noch ein Maracujashake oder – mmh, das wäre jetzt lecker – ein Blue Wonder. »Lily?«, ertönt es wenig später im Flur. Mama klingt nicht gerade, als habe sie Lust, für mich zur Eisdiele zu radeln. »Kommst du mal? Ich möchte mit dir reden.« »Reden ja, kommen nein«, antworte ich und rutschte schnell einen halben Meter tiefer. Natürlich steht sie im nächsten Moment vor meinem Bett. »Sag mal, was denkst du dir eigentlich dabei, hier so auf lau zu machen?« »Aber ich fühle mich nicht gut. Siehst du doch.« »Und die Party? Mensch, Kind, was fehlt dir denn?« »Ich … ich … Kopfweh«, sage ich wenig überzeugend. »Seit wann?«, stutzt sie misstrauisch. »Und wieso sagst du nicht ab, wenn du eine Einladung hast. So was ignoriert man doch nicht einfach.« Woher weiß sie das nun wieder? Und warum dieser vorwurfsvolle Blick? Hab ich vielleicht ’ne Bank überfallen? Mama sagt: »Also richtig krank siehst du nicht aus. Wie schlimm sind denn deine Kopfschmerzen?« »Na ja, geht schon wieder. Ich glaub, ich stehe gleich mal auf.« »Aber dann kannst du doch mitkommen«, ertönt jetzt eine Stimme, die mir Schauer, Feuer, BLITZEIS unter die Haut jagt. »WAS MACHT DER HIER?«, frage ich, starr vor Entsetzen. »Aber Spätzchen! Vincent ist extra noch mal hergelaufen. Obwohl bei ihm zu Hause bereits Gäste eingetroffen sind.« »Nicht böse sein«, höre ich ihn da auch schon säuseln. »Eine gute Fee hat mir geraten, mal nach dir zu sehen.« »Häh? Seit wann ist Dracula ’ne Fee?« »Ha-ha-ha!«, amüsieren sie sich beide. Vincent gewinnt als Erster die Fassung zurück. »Lily, falls deine Freundin jetzt doch nicht mitkommt …« »Welche Freundin?« »Lass ihn doch mal, Mama!« »Also, ich versprech dir«, fährt er da auch schon fort, »ich passe gut auf dich auf.« Wahrscheinlich liegt es an seinen Goldaugen, mit denen er eben um die Ecke gelinst hat. Ich weiß auf einmal überhaupt nicht mehr, was ich hier noch tue. Im Bett. Während bei ihm schon die Party tobt. Und ich ganz sicher nicht das einzige Mädchen bin, das sich die Finger nach ihm leckt. »Und Celina?«, frage ich, eingeschnappter, als mir lieb ist. »Wird die auch kommen?« »Was heißt WIRD? Sie ist schon längst da.« Das reicht. Ich bin mit nur einem Satz am Kleiderschrank. Vincent wartet an der Wohnungstür, während Mama mir in ein rückenfreies Top hilft. »Sieht super aus«, schwärmt sie, als ich für eine Sekunde vor dem Spiegel stehen bleibe. »Es bringt deinen zarten Hals so schön zur Geltung.« »Wenn das bloß kein Fehler ist«, sage ich und drücke ihr beim Rausgehen ein fettes Bussi auf die Wange. Vincent legt mal wieder ein Tempo vor, bei dem mir die Zunge aus dem Hals hängt. »Toll, dass du mitkommst«, freut er sich. »Wo du doch gar nicht weißt, was für eine Gesellschaft dich bei uns erwartet.« »Wissen nicht«, keuche ich völlig außer Atem, »aber ich hab da so eine Ahnung.« »Wirklich? Also, nicht dass du denkst, da würden lauter finstere Gestalten herumsitzen.«
»Ach was, höchstens Werwölfe.« Er bleibt abrupt stehen. Auf seinem Gesicht ein plötzlicher Kälteeinbruch. »Warum sagst du das, Lily?« »Warum sagst du was von finsteren Gestalten?« »Aber …« Verunsichert dreht er sich zur Villa. Sie liegt stolz und geheimnisvoll am Ende der schmalen Zufahrt. »Gehen wir lieber«, fordert er mich auf. »Bestimmt sind sie schon beim Essen.« Ich sage: »Sicher erst bei der Vorspeise«, und füge in Gedanken hinzu: Der Hauptgang wird ja gerade erst geliefert. Die Tannen werden mit jedem Schritt größer und dunkler. Aber Vincents Arm liegt besänftigend auf meiner Taille. Leise Musik weht zu uns herüber. »Da, mein Onkel Ambrosius! Komm, ich mache dich mit ihm bekannt.« Also, ich würde lieber auf der Stelle Reißaus nehmen, als mit jemandem namens Ambrosius bekannt gemacht zu werden. Aber Vincent zieht mich bereits entschlossen zu einem Parkplatz, auf dem lauter dunkle Edelkarossen stehen. Rechts vom Weg taucht jetzt auch der Garten auf. Ich sehe lange, festlich gedeckte Tische mit elegant gekleideten Gästen daran, bestimmt alles Grafen und Gräfinnen. »Hey, Vince!«, ruft eine Gestalt von der Statur eines Kleiderschranks. »Onkel Ambrosius!« Oh Gott, der Typ ist eckig und riesig wie Frankenstein. »Wie geht’s dir, alter Junge?«, fragt er und lässt Vincent für einen Moment unter seinen langen Armen verschwinden. Ich bin froh, dass er mir nur seine Hand gibt. Lauwarm. Und dabei ruft er: »Ja, hallo! Wen haben wir denn hier Leckeres?« Fröstelnd verschränke ich die Arme vor der Brust, eine Hand dabei schützend an meiner Kehle. Dumme Lily, als ob er die nicht schon längst begutachtet hätte. Aus lauter Verlegenheit grabe ich jetzt in meinen Jeanstaschen und finde – das Röhrchen! Das mit dem Knoblauchsaft! Schnell! Ich reiße den Stöpsel ab und wende mich kurz zum Garten um. Patsch, patsch, klopfe ich mir flüchtig ein paar Tropfen auf den Hals. Eine Frau im schwarzen Cocktailkleid schwebt heran. »Lily!«, begrüßt mich Vincents Mutter. »Wie schön!« Mir fällt nichts anderes ein, als blitzschnell Mamas Gutschein aus der Potasche zu ziehen. Wie eine Waffe halte ich ihn Frau von Geist entgegen. »Für mich?«, trällert die glücklich und macht sich bereits an dem Umschlag zu schaffen. Großer Gott, eine Vampirmutter, die ins Sonnenstudio soll! Es wird sie wütend machen. Sie wird mich beschimpfen, vielleicht den Kleiderschrank auf mich hetzen. »Ich bin sprachlos!«, höre ich sie da auch schon nach Luft japsen. »Ambrosius, sieh dir das an.« Hab ich’s nicht gesagt? Wie bei einer Verschwörung stecken die drei jetzt ihre Nasen in die Geschenkkarte. Adios, schöne Welt. Hat Spaß gemacht in unserer kleinen Stadt. Über dem Studio. Und mit Fabs. Und den Schokoherzen. Und … »Lily?« Die blitzblanken Zähne der Frau kommen näher und näher. »Hast du vielleicht einen Wunsch?« »Ich … ähm … also, wenn ich kurz noch mal meine Freundin anrufen dürfte?« »Natürlich! Das Telefon liegt bestimmt im Flur.« »Aber …« Betreten zeige ich ihr mein Handy. »Ach, du hast ja eins. Na, dann lass dich nicht aufhalten. Du, Lily, ganz ehrlich: Dein Geschenk ist großartig. Muss man sich eigentlich bei euch anmelden?« »WAS???« Mit einem Naserümpfen wendet sie sich da aber bereits an die beiden anderen: »Sagt mal, Jungs, findet ihr nicht auch, dass es hier erbärmlich nach Knoblauch stinkt?« Ups. Ich lande fürs Erste auf einer verwitterten Holzbank. Vincent ist noch auf dem Parkplatz, um eine Horde neuer Blutsauger zu begrüßen. Ich wünschte, ich hätte die Kraft aufzustehen. Dann wäre ich im Nu über alle Berge. Aber der Schreck von eben sitzt so tief, dass ich nur vor mich hin starren und flach atmen kann. »Hi, Lily, auch hier?« Ach herrje, Celina! Die hatte ich ja gar nicht mehr auf der Rechnung. Aber jetzt bin ich richtig erleichtert, sie zu sehen. »Alles klar?«, fragt sie im Vorbeilaufen. Ich rufe: »Warte doch mal!«, und kratze meinen ganzen Mut zusammen: »Hat er dir eigentlich auch versprochen, dich zu beschützen? Und kommt dir das nicht unheimlich vor? Ich meine, hier sind doch Hunderte von denen.« Mit einem Stirnrunzeln sieht sie sich um und sagt: »Vierundachtzig. Aber was meinst du mit beschützen?« »Mensch, vor der Gefahr, in der wir schweben! Gib’s zu, du hast auch Muffe. Sonst hättest du sie ja nicht gezählt.« Endlich macht sich auf ihrem Gesicht so etwas wie Sorge breit. »Sag mal, Lily, ist alles in Ordnung mit dir?« »Komm, los!«, packe ich sie am Arm. »Lass uns abhauen.« »Ey, pass doch auf! Meine Bluse!« Ja, hat die denn immer noch nichts gerafft? Fassungslos sehe ich sie an. Aber Celina wendet sich ungeduldig zum Parkplatz. »Bin gleich da-a!«, ruft sie jemandem zu, der dort anscheinend auf sie wartet. Das gibt’s doch nicht: Vincent! Er lehnt an einem Lieferwagen, der mir erst jetzt auffällt. Fleisch & heiß bei Olli’s, steht auf dem Werbeschild, Delikatessen für Ihre Party. Heilige Blutkonserve, sag nicht, dass die hier arbeitet! Und dass sie deshalb schon so früh da war. Und ihr Brief neulich war vielleicht gar kein richtiger Brief, sondern nur eine Liste mit den Tiersorten, die man bei denen bestellen kann. Im Moment tragen die beiden jedenfalls einen dampfenden Wärmebehälter über den Parkplatz. »Du, Lily!«, ruft mir Celina zu. »Könntest du die Verlängerungsschnur mitbringen? Wir brauchen noch Strom für das Kartoffelgratin!« Kartoffelgratin? Dass ich nicht lache! Das haben die doch nur zur Tarnung bestellt. Und Celina weiß von nichts. Und – auweia – ich bin hier, weil ich dachte, Vincent hätte es auf sie abgesehen, dabei ist sie eine KELLNERIN. »Hallo, Schwesterchen.« Herrgott, kneif mich mal einer! Für eine Sekunde war mir, als hätte ich Bennys Stimme gehört. Oje, das grenzt ja schon an Verfolgungswahn. Was sollte ich gerade noch mal mitbringen? »Lily!«, ertönt es da aber wieder. Eine Katastrophe ahnend fahre ich herum: »Benny! Um Himmels willen, was machst du hier?« »Dasselbe wie du, schätze ich. Amüsierst du dich gut?« »Mann! Du musst so schnell wie möglich von hier weg!« »Aber die haben da vorne einen riesigen Bottich Melonencreme. Warte, ich hol dir ein Schälchen.« Schon ist er unterwegs zum Büfett. Ich will ihn zurückrufen, doch meine Kehle ist wie zugeschnürt. Vor allem als ich sehe, wie Frau von Geist ihm besitzergreifend eine Hand
auf die Schulter legt. »Was habt ihr mit meinem Bruder vor?«, fauche ich, als Vincent fröhlich zu mir zurückkommt. »Benny? Aber meine Eltern haben doch vorhin ausdrücklich nur Roman eine Standpauke gehalten. Du weißt ja, wie frech die beiden sein können.« »Die … beiden?«, hauche ich, starr vor Schreck. »Na, Benny und Roman! Wusstest du etwa nicht, dass sie befreundet sind?« Teufel, wieso komme ich erst jetzt darauf? Roman ist SEIN Bruder. Der MEINEN Bruder hierher gelockt hat, um ihn von diesen Bestien abschlachten zu lassen. »Mami!«, flehe ich, als Vincent zum Wagen unterwegs ist, um die Verlängerungsschnur zu holen. »Liebste Mami, wenn ich jemals heile hier rauskomme, dann werde ich nie, nie wieder Geheimnisse vor dir haben, ich schwör’s!« Auf dem Rückweg streckt Vincent unmissverständlich einen Arm nach mir aus. »Kommst du? Ich würde dich gerne einigen Verwandten vorstellen.« Huah, wie abgemagert die alle sind! Die Frauen mit blutrot geschminkten Lippen und mit Wangenknochen, so spitz, dass man damit Konservendosen aufpiksen könnte. Und dann die Musik, die ein klappriger Pianist weiter hinten aus einem Klavier prügelt! Das reinste Sargdeckelgequietsche. Die Verlängerungsschnur ist zu kurz. Vincent muss eine andere besorgen. »Seht doch mal in der Werkstatt nach«, meint seine Mutter und schon befinden wir uns auf dem Weg am Haus vorbei, direkt auf die klemmende Holztür zu, hinter der ich vor vier Tagen das Grauen gesehen habe. Meine Beine stellen von ganz alleine den Betrieb ein. »I-ich geh da nicht rein«, bringe ich mühsam hervor. »Lily, du zitterst ja!« Meine Augen sind starr auf den Boden gerichtet. An der Hand spüre ich ein sanftes Ziehen. »Nur das Kabel«, sagt er und aus Ziehen wird Zerren. »Celina wartet doch drauf.« »Nein!«, brülle ich. »Keinen Meter weiter!« »Aber …« »Lass mich los oder ich schreie!« Zack. Meine Hand plumpst nach unten wie ein abgeschossener Vogel. Vincent weicht erschrocken einen Schritt zurück. Dann geht er ohne mich weiter. Mit hängenden Schultern schlurft er auf das Verlies zu. Das ist meine Chance. Hinter dem Schuppen entdecke ich einen Schleichweg durch die Tannen. Aber was, wenn die hier nur darauf warten, dass ich abhaue? Um sich mitten im dunklen Wald auf mich zu stürzen? »Mami«, weine ich, jetzt im kühlen Schatten der Bäume. Tatsächlich höre ich kurz darauf, wie eine vertraute Stimme meinen Namen ruft: »Lily, mach keinen Quatsch!« Aber das war nicht Mamas Stimme, es war die von … Benny! Er steht am Eingang zum Wald und hebt verlegen die Schultern. »Mann, komm jetzt!«, fauche ich und winke wie blöd. Da ertönt ein Schrei. Ich glaub, mir bleibt das Herz stehen. Benny fährt ruckartig herum. »Ihr Vollidioten, was soll das?«, höre ich einen fuchsteufelswilden Vincent. Was will der von meinem Bruder? Verwirrt laufe ich die paar Schritte zurück. Ich sehe Vincent in der Tür zum Verlies stehen und empört den Kopf schütteln. Jemand schießt wie eine Bodenrakete an ihm vorbei ins Freie. – Roman. Er kreischt und lässt sich ins Gras fallen, wo er sich zirkusreif vor Lachen kugelt. »Habt IHR das hier angerichtet?«, schimpft Vincent, außer sich vor Wut. »Sag schon! Hat Lily deshalb solche Angst vor der Werkstatt? Mann, was denkt ihr euch nur dabei?« Roman ist vor lauter Gackern noch immer nicht ansprechbar. Ratlos sieht Vincent sich um. Ein Schlag wie mit dem Presslufthammer, als sich unsere Blicke treffen. In seinen Augen glüht das pure Entsetzen. Durch meine Kehle dringt kaum noch ein Bläschen Luft. »Du-u-u?«, höre ich jetzt meinen Bruder, der mir zaghaft eine Hand auf die Schulter legt. »Bist du mir böse?« Meine Güte, der klingt ja weicher als ein Wattebäuschchen. »Quatsch, Benny«, beruhige ich ihn. »Aber wir sollten jetzt echt sehen, dass wir wegkommen, los!« Er bleibt stur stehen wie ein Esel. Selbst als ich ihn an beiden Händen ziehe. »Lily«, fleht er so jämmerlich, dass ich ihn knuddeln könnte. »Komm wieder mit auf die Party. Bitte!« »Bist du verrückt? Damit die uns totbeißen?« »Es tut mir leid.« »Hör auf und komm endlich!« »Aber ich hab Vincent vorhin extra losgeschickt, um dich zu holen.« »Du warst das? Na, egal. Lass uns erst mal abhauen. Was ist denn noch?« »Also …« Dieser Nervbruder wird langsam zur Plage. Steht da und beglotzt die Grashalme. »Ich …«, stammelt er jetzt. »Ich hab Roman gleich gesagt, dass die Nummer zu hart ist.« »Jetzt vergiss doch mal diesen Roman. Der ist doch überhaupt kein Mensch!« »Klar ist er das. Du denkst nur die ganze Zeit, er sei keiner.« »BITTE?« Bennys Mundwinkel zucken nervös. »Eure Spinnereien«, sagt er kleinlaut, »die waren echt so schräg. Und als du dann auch noch behauptet hast, auf dem Friedhof würde es spuken …« »NEIN!«, falle ich ihm schockiert ins Wort. »Sag, dass das nicht wahr ist! Der ganze Horror ist …« »… ein blöder Streich«, vollendet er schuldbewusst. Meine Hand ist im Begriff, sich in eine Betonschaufel zu verwandeln. »Nicht!«, fleht mein obermieser Bruder. »Alles in Ordnung?«, ertönt plötzlich die romantischste Stimme der Welt. Dein Glück, Benny. Ich nehme die Hand wieder runter. Ups, alles am Wanken. Aber immerhin stehe ich noch auf beiden Beinen. Und meine Augen schaffen es nach zwei oder drei Fehlversuchen sogar in Vincents Richtung. »Es tut mir so leid«, beteuert er und legt mir sanft die Hände auf die Schultern »Du musst ja gedacht haben, hier würden Wilde leben. Sag mal, wann hast du denn in diese Folterkammer reingesehen? Ich dachte, du hättest die ganze Zeit dort auf der Bank gesessen.«
Wann-hab-ich-da-reingesehen-wann-hab-ich-da-reingegesehen? Verdammt, meine Erklärungssuchmaschine läuft auf Hochtouren, aber es kommt nichts. »Wollen wir nicht lieber was essen, so auf den Schreck?«, platzt Benny mitten in die peinliche Stille. Na, wenigstens etwas, du Miststück. Auf dem Weg zum Büfett gifte ich ihn an: »Wehe! Wenn ihr auch nur ein Wort davon sagt, dass ich schon mal hier war, dann hetze ich euch sämtliche Jugendämter der Stadt auf den Hals!« »Ö-ö«, schüttelt er betreten den Kopf. »Ich werd schweigen wie ein Grab.« Uah, grausiger Gedanke. Zumal uns in diesem Moment der Friedhofswart über den Weg läuft. »Was macht DER denn hier?«, frage ich entsetzt. Aber Vincent lächelt nur: »Herr Jepsen? Er hat doch unser Haus betreut, als es noch leer stand. Zum Glück, denn durch ihn habe ich ja den Job auf dem Friedhof bekommen.« Auweia, der Grabsturz. Mir wird ganz flau im Magen. Mannomann, wie oft hat mich dieser Kotzbrocken von Bruder da auf die falsche Fährte gelockt? Von wegen Hör mal, Lily! Dieses Heulen, dieses zu Tode erschreckende Hu-u-uh, das kam von seinem hyperaktiven Freund. DESWEGEN musste Benny, bevor wir Montagabend losgingen, unbedingt noch mal telefonieren. Um diesen Roman dort hinzubestellen. »Hmm«, reibt Vincent sich hungrig die Hände und zeigt auf einen ganzen Berg aus rosa Krebswürmern. »Bitte, greif doch zu, Lily.« »Scampis? Wie kommst du darauf, dass ich so was esse?« »Nun ja«, schmunzelt er verlegen. »Soviel ich weiß, sind die mit besonders viel Knoblauch zubereitet.« »Knoblauch?« Oje, ich seh’s schon am Zucken seiner Nasenflügel. Ich muss stinken wie ein Dutzend Dönerbuden. »Es ist …«, suche ich hilflos nach einer Erklärung. »Ich wollte nicht so riechen, ehrlich. Aber ich scheine irgendwie die falsche Parfumflasche erwischt zu haben. – Ups?« Auf einmal hat er mich gepackt. Ich meine, so was von gepackt, dass kein Haar mehr zwischen uns passt. »Ich kann mir schon denken, wer dahintersteckt«, flüstert er liebevoll. »Aber ich versprech dir, in Zukunft werden Benny und Roman dir keine fiesen Streiche mehr spielen.« Benny und Roman? – Mensch, genial! Ob die auch für all die anderen Peinlichkeiten herhalten könnten? Doch das werde ich später klären. Weil meine Wange gerade wunderbar weich an seinem Hals liegt. Hmm, wie warm der ist! Und wie kräftig sein Herz schlägt! »Weißt du«, sagt er, und alles, was ich in diesem Moment weiß, ist, dass seine Stimme dieselbe Wirkung hat wie seine Augen: einfach berauschend. »Eigentlich hab ich gar nichts gegen Knoblauch. Ich bin ja kein Vampir, oder?« »Stimmt«, seufze ich erleichtert. »Und du glaubst nicht, wie froh mich das macht.«
Informationen zum Buch »Und er konnte deine Wunde wirklich nicht ansehen?«, fragt meine Freundin jetzt. »Was denkst du, wieso nicht? Ekelt er sich vor Blut? Oder kann es sein, dass ihn das antörnt?« Lilly ist verliebt und versteht gar nicht, was ihre Freundin gegen den Typen hat. Okay, er ist ziemlich blass, hat kühle Haut und trinkt mit Vorliebe Tomatensaft. Aber das hat doch nichts zu bedeuten, oder?
Informationen zur Autorin Elisabeth Gänger, vor vielen Jahren auf einem Bauernhof in Niedersachsen geboren, wollte erst Schneiderin, dann Stewardess und später Journalistin werden (was geklappt hat). Heute schreibt sie am liebsten Geschichten für Jugendliche. Sie lebt mit ihrer Familie in Bremen, wo es jede Menge sympathische Menschen, wenig Stress und tollen Fußball gibt. Yayo Kawamura findet die Begegnung ihrer Eltern vor 50 Jahren bezeichnend für die Liebe: Ein japanischer Grafiker und eine deutsche Goldschmiedin begegnen sich auf einer Spaghettiparty in Island und haben sich scheinbar gründlich ineinander verliebt. Sie selbst ist etwas sesshafter: Zwischen Deutschland und Tokyo aufgewachsen arbeitet sie als freischaffende Illustratorin und Grafikerin. Mit Tochter, einem 1000-Watt-Söhnchen und ihrem Mann hat sie sich inzwischen im bunten Berlin niedergelassen, wo sie viele Inspirationen für ihren Traumberuf findet.