Ulrich Pfeiffer (Hrsg.) Eine neosoziale Zukunft
Ulrich Pfeiffer (Hrsg.)
Eine neosoziale Zukunft
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Ulrich Pfeiffer (Hrsg.) Eine neosoziale Zukunft
Ulrich Pfeiffer (Hrsg.)
Eine neosoziale Zukunft
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-17043-5
Inhaltsverzeichnis
Vorwort des Herausgebers
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Einleitung des Herausgebers
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Ein inhaltlicher Überblick
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I.
Zur Krise und Zukunft der Demokratie Robert Leicht
31
II.
Sozialstaat und Wirtschaftsentwicklung Ulrich Pfeiffer
47
III.
Sicherheit und Anerkennung – Der Sozialstaat an den Grenzen der Umverteilung Warnfried Dettling
62
IV.
Die Finanzierung des Sozialstaats bei alternder Bevölkerung Axel Börsch-Supan
73
V.
Gesundheitssystem: Modell Schweiz – Vorbild oder Irrweg? Heik Afheldt
87
VI.
Ein anderer Fiskus Thilo Sarrazin
98
VII.
Soziale Verantwortung am Arbeitsmarkt Hilmar Schneider
VIII.
Wohnungspolitik: Unstillbarer Subventionshunger, regulierte Angebotsentwicklung Reiner Braun
119
137
6
Inhaltsverzeichnis
IX.
Familienpolitik – weniger Ungleichheit, mehr Geburten Ulrich Pfeiffer
150
X.
Junge Menschen im Abseits Christian Pfeiffer
168
XI.
Eine gute Schule Gisela Schultebraucks-Burgkart
180
XII.
Klimapolitik: Auf der Suche nach globaler Wirksamkeit Harald Simons
192
XIII.
Für die Stadt von morgen – Kommune 2030 Rolf Böhme
206
XIV.
Demokratische Mehrheiten für neosoziale Politik – wie man die Paradoxie des Politischen dafür nutzen könnte Volker Riegger
221
Verzeichnis der Autoren
235
Schlagwortregister
239
Vorwort des Herausgebers
Warum gerade jetzt, warum trotz allem, warum das Soziale und warum die Solidarität? Die Antwort ist einfach: Wir haben seit mehreren Jahrzehnten einen politischen Problemstau hingenommen, der Dämme zum Brechen bringen kann oder sie auch einfach überflutet. Doch wir sollten nicht schon wieder Krisen als große Lehrmeister und Einpeitscher für Reformen über uns bestimmen lassen. Die akute Wirtschaftskrise, die uns über Monate in Atem hielt, demonstrierte das mit irritierender Eindringlichkeit: Gigantische verdrängte Risiken endeten in einem Überrumpelungscrash, der uns wachrüttelte. Die gewohnten Wirtschaftsabläufe gerieten aus dem Tritt. Die weltweite Verdrängung hatte einen hohen Preis. Leider sind auch Wahlen und Wahlkämpfe, wie der Sommer 2009 vorgeführt hat, nicht das aufrüttelnde und aufklärende politische Großereignis, bei dem Grundfragen unseres Zusammenlebens und unsere Zukunftsperspektiven zum Thema werden. Meinungen lassen sich leider vorübergehend manipulieren. Wahlen können auch durch Ausblenden und neue Verdrängung gewonnen werden. Doch fast jede verdrängte Realität kehrt auf die politische Tagesordnung zurück und wird sich Aufmerksamkeit holen oder sogar erzwingen. Dazu gehören: die Alterung der Bevölkerung, die trotz Teilerfolgen noch immer virulente strukturelle Arbeitslosigkeit, die unzureichenden Ergebnisse eines ineffektiven Bildungssystems, die soziale Ungleichheit, die Aushöhlung kommunaler Zuständigkeiten, die Vergeudung einer latenten Bereitschaft vieler Bürger zu lokalem Engagement, die Integrationsbarrieren besonders für muslimische Einwanderer, die Finanzierungs- und Effektivitätsprobleme des Gesundheitssystems und die Bedrohungen durch den Klimawandel. Härten entstehen auch durch die jetzt aufgehäuften krisenbedingten Schuldenberge, die eine neue Haushaltsdisziplin und das Ende sozialpolitischer Großzügigkeiten erzwingen werden. Mit der Bewältigung dieser Realitäten – trotz begrenzter Auflösungsfähigkeit und begrenzter Kapazitäten in der öffentlichen Diskussion – befassen sich unsere Texte unter einer neosozialen Perspektive. Demokratie und Märkte haben einen Wert an sich. Dennoch gibt es Marktversagen und Demokratieversagen. Wir sind skeptisch gegenüber vielen Erscheinungsformen des alten zu bürokratischen und in weiten Teilen zu wenig effektiven Sozial- und Bildungsstaats. Das
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Vorwort des Herausgebers
Soziale mit effektiveren staatlichen Strategien bei weniger „Herumverteilung“ und „Lobbykratie“ sowie bei größerer Nähe zu den Bürgern und ihren Interessen zu sichern, ist die eine Aufgabe. Wir sind aber genauso skeptisch gegenüber vielen eher Schaden stiftenden Regulierungen von Märkten. Weniger Ungleichheit auch durch besser organisierte Märkte ist möglich. Daraus entsteht die zweite Aufgabe: effektivere Märkte mit sozialeren Ergebnissen zu schaffen. Selbst in Teilen des Staatssektors (Nutzung von Straßen, Universitäten) sind „Quasimärkte“ möglich und sinnvoll. Die Politik muss von der Sorge wirklich umgetrieben werden, dass die Belastbarkeit der Einkommen und eine Gleichheitspolitik als Umverteilungspolitik Grenzen erreicht haben. Die Politik sollte gleichzeitig von dem Ziel wirklich angetrieben werden, Arbeit wie in früheren Perioden auf allen Qualifikationsstufen wieder knapp zu machen, damit weniger Ungleichheit entsteht. Unter allen Bedingungen müssen die nicht gewollten Rückwirkungen staatlicher Strategien – auf Menschen und Märkte – von der Politik genauso wichtig genommen werden wie die intendierten Hauptwirkungen. So gehen die zu geringen Geburtenzahlen auch auf verzerrende sozialstaatliche Absicherungen zurück. Die Hartz-IV-Reformen haben die Relevanz solcher Positionen durch rückläufige Arbeitslosigkeit noch vor der Krise demonstriert. Angesichts einer Welle Erfolg versprechender Reformen am Arbeitsmarkt bleiben die kümmerlichen Aufstiegschancen von Kindern der Unterschichten eines der größten Gerechtigkeitsdefizite unserer Gesellschaft. Gleichheit und Effektivität steigernde Reformen des Bildungssystems stehen erst am Anfang. Dabei gibt es auch in Deutschland jetzt schon nicht wenige Schulen, die demonstrieren, dass Schulergebnisse unabhängig sein können vom Bildungsstand und Einkommen der Eltern. Mehr Nachahmung der guten Beispiele im eigenen Land in einem „Social Franchising“ ist möglich. Auch die Welt der vielfältigen international erfolgreichen sozialen Experimente können wir weit besser als Steinbruch der Ideen und als Anregung zum Nachahmen nutzen. Wir müssen regelrechte Reformexpeditionen für ein Wachstum der viel zu engen deutschen Reformgrenzen starten. Gerade kleinere Länder haben sich trotz Globalisierung durch große Politik erfolgreich erneuert. Auch Deutschland kann wieder viel besser werden. Solche Erwartungen und Erfahrungen haben uns trotz skeptischer KostenNutzen-Analyse gegenüber dem eigenen Schreiben motiviert, diese Aufsatzsammlung zu publizieren. Wir wissen: Das „Weiter-so“ verstärkt den Problemstau. Lösungen werden unweigerlich teurer. Wir erleben seit Jahren, wie die Versäumnisse der Vergangenheit zu den politischen Handschellen der Gegen-
Vorwort des Herausgebers
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wart werden. Gerade jetzt bringt die Krise eine gigantische Verschwendung von knappen Ressourcen, die wir dringlich für wichtigere unmittelbare oder absehbare Zwecke benötigen – so die Klimaveränderung und die Aufwendungen aus den Pensionierungswellen der Babyboomgeneration in 15 Jahren. Alle, die weder neoliberalen noch neomarxistischen Einfachkonzepten anhängen, wissen, dass es für komplexe Aufgaben keine Patentrezepte gibt. Unsere in Einzelfällen auch kontroversen Kapitel enthalten Anregungen, sind aber kein integriertes, flächendeckendes oder gemeinsames Programm, das wir als Autorengruppe vorlegen. Wir kennen uns fast alle aus unterschiedlichen Zusammenhängen seit Jahren und wissen, dass wir von gemeinsamen Grundpositionen starten. Jeder Autor stellt gestützt auf seine Erfahrungen für „seinen“ Bereich eine Position dar, hinter der Jahre, oft Jahrzehnte, eigener ökonomisch-politischer Erfahrungen stehen. Wir sind nicht an Interessengruppen gebunden. Wir vertreten unsere jeweils eigenen z. T. kontroversen Wertungen. Wir hoffen auf kritische Leser, die sich angeregt fühlen, in neosozialer Perspektive zu denken. Das „Soziale“ und die „Solidarität“ sind gefährdet. Deshalb braucht die Politik dringend einen neosozialen Impuls. Als Herausgeber bedanke ich mich bei allen Autoren für das Mitmachen trotz hoher Arbeitsbelastung und für die Geduld bei den inhaltlichen Diskussionen und technischen Anpassungen. Für die Konzeptionsdiskussionen im Vorfeld möchte ich mich besonders bedanken bei Warnfried Dettling, Volker Riegger, Gert Keil, Tilman Fichter und Martin Hüfner. Natürlich habe ich die Mühen der Herausgeberschaft unterschätzt. Ich hätte sie nicht bewältigen können, wenn nicht vor allem die unermüdliche Tanja Reitz, unterstützt vom Berliner empirica-Sekretariat, insbesondere von Claudia Sander, und Benjamin Otto viel Zeit geopfert hätten, um Daten zu beschaffen, Quellen zu prüfen, Mahnmails zu versenden und Korrekturlesungen hinter sich zu bringen. Ich hoffe, wir haben das gemeinsam für alle Beteiligten befriedigend bewältigt. Der Erfolg hängt wie immer nicht vom Arbeitsinput, sondern von der Qualität der Ergebnisse und natürlich auch von Zufällen ab. Wir werden sehen. Sicher ist schon jetzt die menschliche und intellektuelle Bereicherung.
Einleitung des Herausgebers
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Nach der Krise
Wirtschaftsordnungen sind nicht zeitlos wie physikalische Gesetze, denn Wirtschaftsordnungen werden politisch getragen und tagtäglich neu ausgefüllt. Sie können aber auch ausgehöhlt werden. Reformen und Renaissancen gegen Lähmungen oder Krisenschocks gehören zu ihrer Entwicklung. Die gegenwärtige Ausnahmekrise wurde nicht wie gewohnt hervorgerufen durch massive Disparitäten und Verwerfungen in der realen Produktionsstruktur. Seit dem Zweiten Weltkrieg war es gelungen, die Zyklen der Beschäftigung und des Bruttosozialprodukts zu dämpfen. Die großen Krisen – 1873 oder 1929 – erschienen wie Albträume aus einer ökonomischen Voraufklärung. Seit den 1990er Jahren verstärkten sich jedoch in einem Gegentrend die Finanzkrisen. Allerdings wurden die Aktienkrise 1987, die Japankrise 1990, die „Savings&Loans-Krise“ 1989 und die Asienkrise 1997 als eher punktuelle Ereignisse rasch verdrängt und vergessen. Die Welt konnte sich in neoliberaler Marktgläubigkeit nicht zu einer Strategie der Risikominderung auf den Finanzmärkten aufraffen. Theoretische Konstrukte wie die Theorie der „rationalen Erwartungen“ oder die Hypothese „effizienter Finanzmärkte“ förderten einen von Interessen angefachten Glauben an die Selbstregulierungen von Kapitalmärkten. In einem säkularisierten Quasicalvinismus kam es zu einer Scheinrechtfertigung oder fast schon Heiligsprechung auch exorbitanter Einkommen als einem Tugendnachweis. Die großen Finanzplätze buhlten in fast schon zynischer Qualitätsminderungskonkurrenz der Regulierungen um die Gunst der immer mächtigeren Manager des Finanzkapitals. Gleichzeitig entstand eine neue Informationsasymmetrie zwischen Investoren und Kapitalmanagern, die immer größere Anteile der Kapitalrenditen auf sich zogen und dabei ihr überlegenes Wissen über komplexe Finanzprodukte ausnutzten. Extreme Fremdfinanzierungen, Zersplitterung der Verantwortung für zu hohe Risiken bei sinkender Transparenz und steigender Komplexität breiteten sich aus, bis es zum Crash kam. Im Zentrum stand die Immobilienkrise der USA, die zuallererst eine Regulierungskrise war. Wir mussten erleben, dass die Zentralbank Überhitzungen auf den Vermögensbestandsmärkten nicht so richtig ernst nahm. Gleich-
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Einleitung des Herausgebers
zeitig entstanden Schäden aus weichen Regulierungen, die den amerikanischen Hypothekenfinanzierern bei Leistungsstörungen aus sozialen Motiven den Zugriff nur auf das jeweils beliehene Objekt, doch nicht auf sonstiges Vermögen der Realkreditnehmer erlaubten. Das musste in einer ausgesprochenen Krisenbrutalität enden, weil zu viele Kredite überoptimistisch ohne ausreichende Sicherheiten gewährt wurden. Die ökonomische Vernunft und eine zur Beherrschung von Risiken zwingende Disziplin wurden untergraben.1 Inzwischen erlitten Millionen von Bürgern Verluste. Der Finanzsektor büßte große Teile seines Eigenkapitals ein. Die industriellen Gütermärkte lahmen. Die durch Preissteigerungen und mehr Transaktionen gewachsenen Volumina der Vermögensbestandsmärkte2, deren Zyklen nicht synchron mit den Zyklen des Bruttosozialprodukts verlaufen, erzeugen eigene destabilisierende „Überschwappeffekte“3 auf die Produktions- und Leistungswirtschaft. Auch diese Steuerungsaufgabe muss künftig bewältigt werden. Jetzt dominiert die Sorge um neues Vertrauen und die Stabilisierung der Nachfrage alle anderen Ziele. Die neuen unvermeidbaren Schuldenberge werden zu mehr Sparsamkeit und mehr Effektivität zwingen. Gleichzeitig werden Forderungen nach einer Stärkung des Sozialsystems oder nach einem New Deal gestellt. Nach der rapiden Talfahrt soll es im neuen Aufstieg sozialer und gerechter zugehen. Sicher werden die Regeln, nach denen Spitzeneinkommen ermittelt werden, deutlich restriktiver. Doch der deutsche Sozialstaat hat, was seine Geltungsbereiche angeht, keine wesentlichen Defizite. So demonstrieren die wirklich leistungsstarken Regeln für Kurzarbeitergeld z.B., wie wirksam Krisenschocks zumindest zeitweise abgefedert werden können. Einen New Deal für neue sozialstaatliche 1
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3
Das wird allein daraus deutlich, dass in der Spitze ein mehr als 25 %iger Wertverfall nur in fünf US-Staaten eintrat (Kalifornien an der Spitze mit fast 50 %), in denen die Banken bei Zwangsversteigerungen nur auf das beliehene Objekt zurückgreifen können und nicht auf die Einkommen und sonstigen Vermögen (non recourse loans). Käufer werden besonders risikobereit, wenn sie nichts zu befürchten haben. In anderen Staaten blieben die Wertminderungen im Schnitt unter 10 % – typischerweise Staaten mit strengeren Beleihungsregeln. In sozialpopulistischen Staaten lebt man krisenanfälliger. In mehreren Ländern überschritt im Boom die Relation allein der Eigenheimvermögen zum BIP – vorher eher 100 % – die 200 %-Grenze. „The run-up in house prices has created more than $5 trillion in real estate wealth compared with a scenario where prices follow their normal trend growth path. The wealth effect from house prices is conventionally estimated at five cents on the dollar, which means that annual consumption is approximately $250 billion (2 percent of gross domestic product [GDP]) higher than it would be in the absence of the housing bubble“ (Stiglitz et al.: 2008: 289).
Einleitung des Herausgebers
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Handlungsfelder und zusätzliche Leistungen kann es dagegen nach unserer Auffassung nur in begrenzten Teilbereichen – so in der Familienpolitik, in der Bildungspolitik, bei Lohnergänzungsleistungen und bei einem Abbau ungerechtfertigter lobbykratischer Umverteilungen – geben. Die Floskel von den Chancen der Krise kann nur durch effektivitätssteigernde Reformen etwa des Arbeitsmarktes, des Wohnungsmarktes oder des Staatssektors zur Realität werden. Der staatliche Schuldendienst wird auf jeden Fall zur Rationalisierungspeitsche. Die Krise ist kein Reinigungsbad einer automatischen Wiedergeburt.
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Vernachlässigte Einbettungen
Der Sozial- und Bildungsstaat – eine der großen politischen Erfindungen des 19. und 20. Jahrhunderts – wurde zu einem Fundament unseres Lebens. Fast ein Drittel der gesamten volkswirtschaftlichen Leistung – das entspricht rund 50 % des privaten Konsums – wird durch den Sozialstaat verteilt. Mit weiteren rund 6 % des Bruttoinlandsprodukt (BIP) finanziert der Staat Forschung und Bildung. Allein wegen dieser Größe entsteht politisch die Neigung, hier ein abgetrenntes autonomes Handlungsfeld zu sehen. Das ist in Grenzen richtig, doch alle wesentlichen Elemente der Lebensökonomie und des Lebenszyklus werden durch diese Politikfelder beeinflusst: Art und Dauer von Bildung und Ausbildung, Alter der Eltern bei Geburt eines Kindes, Kinderzahl, Erwerbstätigkeit von Müttern und Erwerbsquote insgesamt, Arbeitsbereitschaft, das Ausmaß der Lohnspreizung, Lohnniveau, Spar- und Risikobereitschaft, Zahl der Krankheitstage pro Jahr, Lebenserwartung, Vermögensbildung, insbesondere Wohneigentumsbildung, Lebensarbeitszeit, Erwerbsaustritt oder Rentenbeginn. Die Auflistung verdeutlicht: Jede Sozialstaats- und Bildungsleistung verändert wirtschaftliches Verhalten und Verhalten in der Gesellschaft. Oft überwuchern die nicht intendierten ökonomischen und gesellschaftlichen Nebenwirkungen die sozial- und bildungspolitisch erwünschten Hauptwirkungen. Dies deutlich zu machen, ist ein Zweck unserer Texte. So verringern Sozialstaatszahlungen Leistungsanreize bei den Begünstigten und den Belasteten. Regulierungen wie hohe Mindestlöhne können Marktfunktionen verschlechtern, aber – wenn auch sehr begrenzt – auch schützen. Die Absicherungen können die Akzeptanz des Strukturwandels erhöhen. Über die direkten Schutzeffekte hinaus entsteht jedoch durch Einbettung in die
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Einleitung des Herausgebers
Märkte ein ungeplanter ökonomischer Preis.4 Der Sozial- und Bildungsstaat ist auch eingebettet in die Zivilgesellschaft. In Teilen wurden durch seine Wirkungen auch gesellschaftliche Grundlagen fragiler – so durch Kinderlosigkeit, rückläufige informelle Hilfen in den Familien oder Mangel an Nachbarschaftshilfe. Die Allgegenwart staatlicher Hilfen hat dies eher verstärkt. Nicht nur auf den Kapitalmärkten gibt es ein Crowding-out.
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Soziale Marktwirtschaft
Neosoziale Konzepte müssen soziale Marktwirtschaft als Erfolgskonzept auf die heutige Welt weiterdenken und neu interpretieren. Dabei hat das Konzept der sozialen Marktwirtschaft heute eher schon den Status einer Ziviltheologie, die vor allem dazu dient, die Abwehr von Härten zu begründen. So hatte sich bis zur Agenda 2010 eine deutliche Beliebigkeit beim Verteilen von sozialen Wohltaten eingeschlichen und lebt jetzt wieder auf. Das Konzept „Soziale Marktwirtschaft“ war von Anfang an „sperrig und sehr vieldeutig“ (Borchardt 1981: 34). Borchardt sieht darin einmal eine „kritische Theorie und Praxis“, besonders wichtig: „Wachstum soll gegenüber dem Ziel der gerechten Verteilung Priorität haben. Die institutionelle Empfehlung lautete: Vertraut dem Markt und der freien Preisbildung (…). Doch achtet darauf, daß der Staat ihm zugewachsene oder neu zuzuordnende Verantwortlichkeiten auch ernster nimmt als früher“ (ebd.: 35). Das Konzept empfiehlt eine Balance. Der Staat sollte soziale Sicherheit gewährleisten, seine Rolle in klassischen Aufgabenbereichen von Bildung bis Infrastruktur präzise und eindeutig erfüllen und dabei auch einen wirksamen wachstums- und beschäftigungsfördernden Wettbewerb rechtlich und institutionell absichern. Dabei wurde dem Wettbewerb in der sozialen Marktwirtschaft – nach vorangegangenen ordnungspolitischen Beliebigkeiten – auch eine sozialere Funktion zugeschrieben als heute. Das Verständnis dafür ist drastisch gesunken. Erhard 4
Die Zahl der niedrig qualifizierten Erwerbstätigen wurde durch ein unzureichendes Bildungssystem und eine ungesteuerte Einwanderung weit über alle Absorptionsfähigkeit der Arbeitsmärkte erhöht. Viele Marktlöhne für einfache Arbeit ermöglichen deshalb kein Existenzminimum. Es kommt zu einer großen Zahl von kombinierten Einkommen (Lohneinkommen plus Hartz-IV-Zuzahlungen), deren Ausgestaltung auf die Arbeitsanreize, z.B. durch die Grenzbelastungen, erhebliche Bedeutung hat. Diese Entwicklung wird von links als Versagen des Kapitalismus interpretiert, obwohl ungesteuerte Einwanderung und unzureichende Bildung Ergebnisse politischen Versagens waren.
Einleitung des Herausgebers
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schrieb 1957: „Das erfolgversprechendste Mittel zur Erreichung und Sicherung jeden Wohlstandes ist der Wettbewerb. Er allein führt dazu, den wirtschaftlichen Fortschritt allen Menschen, im besonderen in ihrer Funktion als Verbraucher, zugute kommen zu lassen, und alle Vorteile, die nicht unmittelbar aus höherer Leistung resultieren, zur Auflösung zu bringen“ (Erhard 1957: 7f). So sollte „die alte konservative soziale Struktur endgültig“ überwunden werden (ebd.: 7). Euckens „Staatliche Planung der Formen – ja; staatliche Planung und Lenkung des Wirtschaftsprozesses – nein.“ (Eucken 2001: 77) spitzte das in der Gründerzeit der sozialen Marktwirtschaft besonders einflussreiche ordoliberale Credo zu und ist bis heute als grundlegende Orientierung gültig. Zusammen mit der Wirtschaftsordnung der Schweiz war die deutsche soziale Marktwirtschaft nach dem Krieg die wettbewerbsfreundlichste oder auch marktwirtschaftlich erfolgreichste Wirtschaftsverfassung Europas. Wirksamer Wettbewerb machte Arbeit im Wachstum knapp und dämpfte im marktwirtschaftlichen Prozess die Einkommensungleichheit.5 An diese Erfolge wollen wir mit unseren neosozialen Vorschlägen anknüpfen.
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Abgrenzungen und Kritik konkurrierender Konzepte
4.1 Von der sozialen Marktwirtschaft des Wettbewerbs zur Übermacht der sozial gemeinten Marktinterventionen Die soziale Marktwirtschaft nach dem Krieg war zuerst Wettbewerbswirtschaft. Das Soziale sollte – weniger als heute – durch direkte Interventionen in die Märkte oder staatliche Umverteilung erreicht werden. Der Staat sollte Wettbewerb so gestalten, dass die Wettbewerbsergebnisse selbst sozialer wurden. Oberstes Ziel: Arbeit aller Qualifikationsstufen musste knapp werden, was auch gelang. Diese delikate Balance, zu der auch das Zusammenspiel von Schule, Berufsbildung, Arbeitsmarkt und später auch Einwanderung gehörte, ging in den 1970er Jahren verloren. Als Sicherung des Sozialen wurden mehr und mehr direkte staatliche Interventionen eingesetzt. Politisch unterstützte oder herbeigeführte Arbeitszeitver-
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Krelle ermittelte für 1960, dass nur 1,7 % der privaten Haushalte 70 % des Eigentums an gewerblichen Unternehmen besaßen. Eine gleich starke Konzentration berechnete Siebke für 1966. 1,7 % der privaten Haushalte besaßen 74 % des Eigentums an gewerblichen Unternehmen.
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Einleitung des Herausgebers
kürzungen erschienen nicht mehr als Ergebnis gestiegenen Wohlstands, zu dem auch mehr Freizeit gehörte. Kürzere (Lebens-) Arbeitszeiten sollten das Arbeitsangebot an eine als gegeben betrachtete Nachfrage anpassen. Arbeit galt als politische Verfügungsmasse, die besser zu „verteilen“ war. Verschärfter Kündigungsschutz sollte Schrumpfungsprozesse sozial verträglicher machen. Normen wie „kein Abbau von Arbeitsplätzen in Gewinnunternehmen, keine Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland“ sollten Härten vermeiden. Nebenwirkungen wurden ausgeblendet. Wettbewerb erhielt eine andere Rolle und geriet später, als seine Regulierungen in verschiedenen Bereichen versagten oder aus ideologischen Motiven abgelehnt wurden, immer häufiger in Misskredit. Die soziale Marktwirtschaft heute bietet deshalb ein verwirrendes Bild. Zum Vorteil für die Bürger entstand – oft unter dem Einfluss der EU – in Teilen ein sehr ausgeprägter, für die Kunden erfolgreicher und in den Wirkungen auch sozialer Wettbewerb (Einzelhandel, Telekommunikation, Transportsektor, mehr preiswerte gleichheitsschaffende Importgüter).6 Daneben steht die Erfahrung neuer Ungleichheit durch überwiegend politisch verursachte Unterausbildung, die Arbeitslosigkeit förderte. Aus dem Ruder liefen auch auf verzerrten Märkten Einkommen von Spitzenmanagern. Verdrängt wurde unsere alte Erfahrung: Arbeit entsteht aus qualifizierter Arbeit und wird durch einen Wettbewerb, der neue Arbeitsmöglichkeiten schafft, wieder knapper. Verdrängt wurde das Wissen: Solange Güter und Leistungen knapp sind, bleibt auch Arbeit unbezweifelbar knapp, was leider nicht bedeutet, dass diese Knappheit sich automatisch in eine ausreichende Zahl von Arbeitsplätzen zu den jeweils politisch oder gewerkschaftlich definierten Konditionen umsetzt. Als neues Manipulationsinstrument, das die zu geringe Knappheit von Arbeit nicht verändert, sollen flächendeckende Mindestlöhne eingeführt werden. Aus dem gleichen Denken werden Rentenkürzungen ausgeschlossen. Solche in den Ergebnissen unsolidarischen Vorstellungen verlassen das Konzept der sozialen Marktwirtschaft für eine herbeimanipulierte, nicht nachhaltige Sozialverträglichkeit durch Scheinlösungen.7 In der SPD ist das Vertrauen in die auch soziale 6
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Fast schon geheiligte Subventionen wie die Eigenheimzulage laufen endlich aus. Die Entfernungspauschale lebt allerdings zäh weiter. In Teilen hat sich Marktsteuerung ausgebreitet – so in der Telekommunikation, am Wohnungsmarkt, im Transportsystem vor allem bei Flugreisen. Der Wettbewerb im Einzelhandel ist nicht nur durch die Lockerung des Ladenschlusses wirksamer geworden. Selbst in der Alterssicherung wächst ein Element der privaten Vorsorge durch das Riestersparen. Verwerfungen der vielfach ausgehöhlten sozialen Marktwirtschaft entstehen: im Geburtenverhalten, in der Alterung mit ihren Finanzierungsfolgen, bei der unzureichenden
Einleitung des Herausgebers
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Leistungsfähigkeit gut organisierter Märkte geschwunden. In der direkten Demokratie der täglich gemessenen Einschaltquoten steigt gleichzeitig die Bereitschaft zur direkten sozialen Aktion der Sofortbefriedigung.
4.2 Neoliberale Konzepte Keine politische Richtung bezeichnet sich in Deutschland heute selbst als neoliberal. Kohl war nicht Thatcher. Seine Wende 1982 brachte kaum substanzielle Veränderungen der deutschen Wirtschaftsordnung. Das Etikett „neoliberal“ oder „marktradikal“ wird dennoch seither von links fast allen Reformen angeheftet, die Leistungswettbewerb oder effektiveren Umgang mit knappen Ressourcen erreichen wollen, so z.B. einem Abitur nach zwölf Schuljahren, Studiengebühren, fast jedem Arbeitsplatzabbau als Folge von Rationalisierungen, jeder Einschränkung von sozialen Leistungen aufgrund veränderter Knappheiten. Eine radikale neoliberale Richtung leitet aus dem besonderen Wert, den Märkte für Freiheit und Selbstverwirklichung haben, den Anspruch nach weitgehender Selbstregulierung ab. Jede Einkommensungleichheit wird als Ausdruck besonderer Leistungsunterschiede gerechtfertigt. Erfahrungen von Fehlallokationen, von monopolistischen Verwerfungen und von verteilungspolitischer Blindheit der Märkte werden verdrängt. Toleriert wird auch ein banaler Konsumhedonismus und Konsumwettbewerb oder eine Zerstreuungsindustrie der neuen Medien, durch die ein erfolgreiches Lernen und Hineinwachsen von Kindern und Jugendlichen in die Traditionen und Werte unserer Gesellschaft geschwächt werden. Daniel Bells Kritik an den kulturellen Widersprüchen des Kapitalismus aus den 1970er Jahren ist heute relevanter als damals.8 Die deutsche FDP ist kaum durchgehend
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Bildung von Humankapital, bei der unbefriedigend bewältigten Einwanderung, in der noch immer nicht voll befriedigenden Funktionsweise der Arbeitsmärkte, in einer immer defensiveren politischen Einstellung und zum Teil Ablehnung des wirtschaftlichen Strukturwandels mit seinem ständigen Abbau und Neuaufbau von Arbeitsplätzen, in abnehmenden oder zumindest unbefriedigenden Aufstiegschancen von Kindern aus Unterschichten, im zu wenig effektiven und oft durch wahlloses Herumverteilen gekennzeichneten Staatssektor, in einer noch inkonsistenten und wenig wirksamen Klimapolitik, in einer noch immer nicht befriedigend geklärten Gesundheitsfinanzierung und Ordnung dieses großen Wachstumssektors, in einem vielfach überforderten und überkomplexen föderalistischen Staat. Schwer zu fassen sind Verschiebungen von Wertungen und Stimmungen im liberalkonservativen Lager. Politisch haben liberal-konservative Kräfte in mehreren Ländern
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Einleitung des Herausgebers
neoliberale Partei. Sie ist jedoch zu oft Partei der Eigentümerinteressen und kaum Partei einer systematischen Eigentumsordnung.
4.3 Neosozialistische Konzepte Die neosozialistische Neue Linke scheut das Wort „sozialistisch“ in ihrem Namen genauso wie eine traditionell sozialistische Politik der Verstaatlichung. Sie müsste deshalb durch direkteren Einfluss der Politik auf den Wirtschaftsprozess ein Primat der Politik im Wirtschaftsprozess durchsetzen, um hohe Gleichheit der Ergebnisse versprechen zu können. Linke Strategien statten sich deshalb mit einem gegen die Erfahrungen neu erfundenen Allmachtskeynesianismus aus (1 Mio. Arbeitsplätze durch 100 Mrd. € Investitionsprogramme oder ausreichende Arbeitseinkommen durch 10 € Mindestlohn). Durch Nachfragesteuerung und ein sehr progressives Steuersystem sollen beliebige Verteilungseffekte und ewige Vollbeschäftigung herbeifinanziert werden. Die in der realen Welt ewigen Angebots- und Strukturprobleme werden wegdefiniert, aber nicht gelöst. Diese Position erhält durch das jetzt breit unterstützte Deficit Spending einen Schein von Rechtfertigung. Doch Schuldenpolitik ist keine langfristige Wachstumspolitik. Die Vorstellung ständig hoher Verschuldung verdrängt die eindeutige Erfahrung: Einseitige Nachfragestrategie durch mehr und mehr Schulden endet nach einiger Zeit in Stagflation und nutzt sich in ihren Beschäftigungseffekten ab. So entsteht ein ausgesprochenes Konzeptionsvakuum. Natürlich stößt der Slogan „jeder soll von seiner Arbeit anständig leben können“ auf breite Zustimmung. Staatlich fixierte Mindestlöhne verändern jedoch keine Arbeitsmarktknappheiten. Jeder Versuch, hohe Löhne ohne entsprechende Knappheiten und Produktivitäten herbeizuadministrieren, wird in struktureller Arbeitslosigkeit enden.9
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ihre klassischen Prinzipien einer sparsamen Haushaltsführung aufgegeben, um ein ziemlich hemmungsloses Schuldenmachen zu praktizieren. Dabei spielen vage Vorstellungen, dass diese Ausgaben sich zum Teil selbst im Wachstum refinanzieren, oder aufgewertete nationale Ziele eine Rolle. Ungleichheit gilt als wachstumsfördernd. Marktergebnisse gelten aus sich selbst als gerechtfertigt. In diesem Klima konnten auch die Krisenvorwarnungen verdrängt werden. Man fühlt sich an die euphorischen Debatten der Nachkriegslinken in mehreren europäischen Ländern erinnert, die durch einen völlig überzogenen Steuerungsoptimismus abgelöst vom wissenschaftlichen Keynesianismus ohne Verstaatlichung die Kommandobrücken der Wirtschaft erklimmen wollten und damit scheiterten. Dieser Keynesianismus der Allmachtsfantasien wurde die Versöhnungsdroge, die der Linken damals
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Neosoziale Positionen
5.1 Bürger und neosozialer Staat – sozialer handelnde Bürger Märkte sind nach unserem neosozialen Verständnis ein Wert an sich. Auch Demokratie ist ein Wert an sich. In beiden Fällen können dennoch ihre Ergebnisse nicht automatisch heiliggesprochen werden. Märkte können versagen, Mehrheiten können irren oder Minderheiten diskriminieren. Dennoch: Demokratie als Herrschaftsform bleibt das Macht- und Ordnungszentrum für alle Bereiche. Es gilt trotz aller Gefährdungen das Primat von Politik, die Regeln für die Funktionsweise von Märkten zu bestimmen, ohne sich – von Ausnahmen abgesehen – in die Wirtschaftsprozesse selbst einzumischen. Neosoziale Politik, wie wir sie interpretieren, muss das Verhältnis zwischen Bürger, Sozial- und Bildungsstaat neu ordnen oder austarieren. Unter Bedingungen eines ausgebauten Sozialstaats werden immer wieder innere Widersprüche zwischen den vom Staat für die Einzelnen bereitgestellten Leistungen und den die Menschen beherrschenden individualistischen Selbstverwirklichungszielen entstehen. Die Einzelnen werden ihre Beiträge oder Lasten bei hohen Ansprüchen möglichst klein halten wollen. Aber individuell rationales Handeln kann nicht gewollte kollektive Ergebnisse hervorrufen. Das gilt für die Zahl der Geburten genauso wie für die Inanspruchnahme von Siedlungsflächen, für Energieverbrauch oder Gesundheitsleistungen. Wo immer möglich sollten deshalb die kollektiven Dimensionen des individuellen Handelns in die Kalküle dieses Handelns eingebaut werden. Die Techniken sind individuelle Zurechnung von Leistungen oder Knappheiten, z.B. durch eine CO2-Steuer, Selbstbeteiligung, gezielte Anreize oder auch gesetzliche Vorgaben. Die Bereiche, in denen individuell rationales Selbstverwirklichungshandeln nicht gewollte Schäden auslösen, werden sonst weiter wachsen. Mit dieser Grundposition stellen wir uns der Erfahrung, dass Solidarität immer knapp bleiben wird. Handeln aus Eigeninteresse muss deshalb systematischer auch so organisiert werden, dass aus der Summe des individuellen Handelns keine kollektiven Schäden entstehen. In dieser Vorstellung und Forderung steckt ein utopisches Element. Von dem Versuch zur Umsetzung sollten wir uns dennoch nicht abbringen lassen.
ermöglichen sollte, ihren Frieden mit der Marktwirtschaft zu schließen. Das Erfolgskonzept der sozialen Marktwirtschaft hat Deutschland vor diesem Illusionskonzept weitgehend bewahrt.
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5.2 Ziele erweitern, effektiver sichern und verwirklichen Neosoziale Kritik richtet sich nicht gegen die fundamentalen Ziele des alten Sozialstaats. Seine Werte sind jung und frisch wie bei seiner Geburt. Die Menschen brauchen weiterhin persönliche Absicherung gegen die großen Lebensrisiken: Arbeitslosigkeit, Krankheit, Behinderung, Unfall und Gebrechlichkeit. Vor allem Kinder der Unterschichten brauchen bessere Verwirklichungschancen.10 Die Erfahrung von Solidarität und Geborgenheit in einer Gesellschaft – im Geben wie im Empfangen – ist vergleichbar mit der Erfahrung von Liebe in der Familie. Solidarische Leistungen bringen Sicherheit im ständigen, völlig unvermeidbaren Wandel. Sie richten sich heute auch auf anspruchsvollere und differenziertere Ziele. Der alte Sozialstaat war zu einkommensorientiert. Künftig werden als fast selbstevidente politische Wahrheit – in einem Land massenhaft unverwirklichter Kinder- und Bildungswünsche – Familienfähigkeit und Bildungsfähigkeit und die dazugehörenden Motivationen besser unterstützt und gestärkt werden. Gleichzeitig geht es auch um die Annäherung der Lebenserwartung unterschiedlicher Sozialschichten genauso wie um mehr Selbstverwirklichung besonders durch Arbeit, die Respekt und Anerkennung verschafft. Unsere Gesellschaft bleibt Arbeitsgesellschaft. Deshalb gilt unverrückbar: Arbeit muss wieder auf allen Qualifikationsstufen knapp werden, damit die Menschen von ihrer Arbeit leben können. Das ist möglich, weil Arbeit knapp bleibt, solange Güter knapp sind. Dieses Verständnis führt uns auch zu einer Politik, nach der Ansprüche auf Einkommenssicherung auf möglichst wenige Personen beschränkt bleiben, die es trotz individueller und politischer Bemühungen nicht schaffen, ausreichendes Einkommen durch eigene Arbeit zu erwirtschaften.
5.3 Optimale Ungleichheit Gleichheit und soziale Sicherheit bleiben die großen Themen des Sozial- und Bildungsstaats. Doch sie haben in der Marktwirtschaft für die Begünstigten auch einen Preis. Kündigungsschutz am Arbeits- oder Wohnungsmarkt führt zu Angebotsverknappungen, die von den Begünstigten selbst getragen werden müssen.
10
Unter dem Dach des der Gleichheit verpflichteten Staats erhalten besonders häufig Akademikerkinder ein Studium ohne Gegenleistungen geschenkt, während unter den Bedingungen überforderter Nachbarschaften ein Drittel der türkischen Jungen oder sogar mehr ständig nicht einmal einen Hauptschulabschluss erreichen.
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Soziale Rechte sind keine freien Güter und nicht automatisch Geschenke des Staates an die Geschützten zulasten der Kapitalisten. Es muss immer auch versucht werden, die Menschen gleichzeitig durch ein reichhaltiges Angebot und durch Wettbewerb zu schützen.11 Trotz Sozialstaat bleibt unsere Gesellschaft durch meritokratische Prinzipien dominiert. Eine meritokratische, im fairen Wettbewerb entstandene Ungleichheit bleibt Voraussetzung einer wohlfahrtssteigernden Entwicklung und eines leistungsfähigen Sozial- und Bildungsstaats und wird nicht beseitigt werden können.
5.4 Mehr Äquivalenz, Zurechnung und Transparenz Der Sozialstaat hat die Bereiche kollektiver Finanzierung öffentlicher Leistungen ständig ausgeweitet und erzeugt dabei eine wachsende, oft kaum nachzuvollziehende Herumverteilung. Diese Entwicklung ist nicht notwendig, denn es wachsen auch die Felder, in denen der Staat Leistungen anbietet, die von den Kunden bezahlt werden können, weil Umverteilung gar nicht immer und überall gewollt sein kann. Es ist kaum zu begründen, dass die Nutzung von kommunal bereitgestelltem Bauboden, von Autobahnen oder Universitäten zum Gegenstand von ständiger staatlicher meist unsystematischer Herumverteilung gemacht wird. So können im Zeitalter von „Google Earth“ Autofahrer absolut proportional und auch gerecht für ihre Straßennutzung einschließlich der Staukosten, die sie erzeugen, belastet werden. Für große Teile der gebührenfinanzierten kommunalen Leistungen gilt dies ohnehin. Das bessere Motto lautet: so viel Steuerung über Preise und Beiträge für zurechenbare und zurechnungsgeeignete Leistungen wie möglich und Steuerfinanzierung nur dort, wo unvermeidbar.12 Ökonomische Knappheiten und Prinzipien der Fairness werden sonst durch prinzipienlose und meist zufällige staatliche Herumverteilung verschleiert.13
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Motto: Offene Stellen bringen Schutz und Wahlmöglichkeiten. Leere vermietungsbereite Wohnungen sind Mieterschutz. Das würde auch dazu führen, die immobilen Faktoren (z.B. Grundstücke) stärker zu belasten und mobile Faktoren (z.B. hoch qualifizierte Arbeit) möglichst nicht weiter zu belasten. Solche Finanzierungen umfassen eine elektronische Maut für alle Straßen, Studiengebühren, Steuern auf Immobilien als „Preis“ für die öffentlichen Leistungen zugunsten dieser Immobilien.
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5.5 Mehrdimensionale Bemühungen um mehr Gleichheit Gleichheitspolitik erfordert mehr als Umverteilung. Spezialisierte Sozialleistungen können Einkommen sichern, verschaffen aber – anders als Arbeit und Arbeitseinkommen – oft zu wenig Respekt, Anerkennung, Motivation oder Befähigung. Systematische Befähigungspolitik muss durch eine – noch immer nicht ausgearbeitete wirklich umfassende – Schulreform verstärkt werden. Der Kreislauf aus Unterausbildung, Armut und neuer Unterausbildung der Kinder, die dann erneut Familien mit geringen Chancen gründen, kann und muss durchbrochen werden.
5.6 Lokalisierung Neosoziale Politik muss Kontrolle und Gestaltungsmöglichkeiten durch die Bürger in ihrer unmittelbaren Lebensumwelt steigern. Hier wachsen die Kinder auf und besuchen die Schulen, die lokal – auf der Grundlage zentral organisierter Performancemessung – kontrolliert und gesteuert werden sollten. Hier werden Kranke und Alte gepflegt, nachbarschaftliche Hilfe praktiziert und beachtliche Teile der Freizeit gestaltet. Gerade hier haben die Bürger vor allem in den Städten das Selbermachen verlernt oder es wurde ihnen ausgetrieben, obwohl grundsätzlich eine große Bereitschaft zum ehrenamtlichen Engagement besteht.
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Solidarität bleibt knapp
Am Beginn der modernen Wirtschafts- und Politikentwicklung stand die Aufwertung der Eigeninteressen als einem handlungsleitenden Prinzip der Gesellschaft. Allerdings hatten weder der Moralphilosoph Adam Smith noch der streng religiöse David Ricardo die Vorstellung, dass sich nun Egoismus und Gier hemmungslos austoben sollten. Hirschman hat in „The Passions and the Interests“ herausgearbeitet, welcher gesellschaftliche Fortschritt durch nicht mehr an Ruhm und Ehre oder an starren christlichen Lebensentwürfen entstand, die sich an den Entwicklungsinteressen der Einzelnen orientierten. Es war klar, dass Interessen kontrolliert und ausbalanciert werden mussten. Niemand hatte – von Entgleisungen abgesehen – die Vorstellung einer politikfreien Ellbogenmentalität. Eigeninteresse kann nicht absolut gesetzt werden und wird erst erträglich
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durch eine Verpflichtung gegenüber anderen, deren Solidarität man auch erwartet, und durch Kontrollen im Wettbewerb oder durch staatliche Regulierungen und Rechtsstaat.
Dennoch verlassen wir uns im Alltag fast ständig auf Individuen oder Anbieter, die uns ihre Leistungen im Rahmen von Regeln, kontrolliert durch Wettbewerb, nach eigenen Interessen – auch gestützt auf vorvertragliche Werte – anbieten. Wir sind mit einem durch Regeln und durch Wettbewerb kontrollierten Eigeninteresse bisher sehr gut gefahren. Erst die Gesellschaft individualistischer Eigeninteressen brachte den Sozialstaat hervor, der in vielen Bereichen lediglich verbindliche Regeln für alle festlegt, um Vorsorge zu sichern oder kollektiv erzeugte Schäden zu vermeiden, der aber natürlich auch Umverteilung organisiert. Dabei darf nicht vergessen werden:
Auch die Klientel des Sozialstaats verfolgt individualistische Selbstverwirklichungsziele und Eigeninteressen. Solidarität ist immer knapp. Dort, wo die Leistungsfähigkeit der Menschen ausreicht, sich selbst zu versorgen, oder wo gut organisierte Wettbewerbsmärkte zu vertretbaren und verlässlichen Ergebnissen führen, sind keine sozialstaatlichen Maßnahmen erforderlich und können auch abgebaut werden. In einer sozialen Marktwirtschaft bleibt als zentrale Strategie die der möglichst sozial funktionierenden Märkte oder der individuellen Anreize für sozialverträgliches Handeln (z.B. durch eine CO2-Steuer). Bereiche des sozialpolitischen Handelns werden dennoch so groß bleiben, dass der Sozial- und Bildungsstaat unter den Bedingungen der Überalterung immer wieder an seine Grenzen stößt. Wir werden ständig vor der Erfahrung stehen, dass stimmenmaximierende Politiker ihren Wählern mehr Solidarität bzw. Solidaritätsergebnisse versprechen, als sie mobilisieren können, und dabei auch Erwartungen wecken, die solidarisches Handeln überfordern. Hinzu kommen die Anerkennungsprobleme, die mit Sozialtransfers verbunden sind. Solidarität wachzuhalten, den auf Solidarität angewiesenen Menschen dafür Formen zu bieten, die Respekt und Anerkennung nicht untergraben, lässt sich vereinbaren. Die Belasteten wollen und müssen wissen, dass ihre Mittel für die Lösung wirklich dringlicher Probleme verwendet werden.
Das ist keine Absage an mehr Solidarität, sondern die Aufforderung zu möglichst konkreter Solidarität: zu Gesundheitssolidarität, Bildungssolidarität, Familienso-
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lidarität, Solidarität mit benachteiligten Einwanderern, Solidarität mit Behinderten, mit Niedrigqualifizierten, die von ihren Erwerbseinkommen nicht leben können, Solidarität mit armen oder pflegebedürftigen Rentnern, internationale Entwicklungssolidarität einschließlich eines Engagements für massive Investitionen in Umweltforschung und effektive Klimapolitik. Diese Solidarität darf nicht ausgehöhlt werden.
Ausgewählte Quellen BORCHARDT, Knut (1981): Die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft in heutiger Sicht. In: ISSING, Otmar (Hrsg.): Zukunftsprobleme der Sozialen Marktwirtschaft. Berlin: Duncker & Humblot, S. 33-53. ERHARD, Ludwig (1957): Wohlstand für Alle. 8. Auflage 1964. Düsseldorf: Econ-Verlag. Download: http:// www.ludwig-erhard-stiftung.de/files/wohlstand_fuer_alle.pdf (03.02.2009). EUCKEN, Walter (2001): Wirtschaftsmacht und Wirtschaftsordnung – Londoner Vorträge zur Wirtschaftspolitik und zwei Beiträge zur Antimonopolpolitik. Hrsg. vom Walter Eucken Archiv. Münster: LIT Verlag. STIGLITZ, Joseph E.; EDLIN, Aaron S. & DELONG, J. Bradford (Hg.) (2008): The Economists’ Voice – Top Economists take on Today’s Problem. New York: Columbia University Press.
Ein inhaltlicher Überblick
Die Demokratie ist in Theorie und Praxis nie als perfekte Verfassung, sondern nur als relativ beste Ordnung unter allen notwendigerweise fehlerbehafteten Systemen betrachtet worden. Das ist die Ausgangsthese von Robert Leicht, der sie deshalb auch nicht als „politische Lebensversicherung“ gegen unvernünftig handelnde politische Führungen und deren Wählerschaften verstehen kann. Eine rein individualistisch-moralisierende Kritik „der“ oder einzelner Politiker bleibt fruchtlos, solange sie nicht die systemischen Zwänge in Rechnung stellt, unter denen Politiker gerade in der Demokratie handeln müssen und die nicht zu deren individueller Verfügung stehen. Wesentliche Fehlleistungen der heutigen Demokratie liegen allerdings außerhalb der Reichweite technischer Verfassungsänderungen. Am Ende bleibt nur die Hoffnung darauf, dass spätestens dann, wenn die unmittelbaren Auswirkungen des „Politikstaus“ massiv in die Lebenswelt der Wählermehrheit durchschlagen, ein Bewusstseinswandel eintritt und durch Aufklärung gefördert werden kann, der produktive Politik mehrheitsfähig macht. Wenn aber nicht, dann geht die Sache tatsächlich schief – ein existenzielles Risiko, mit dem auch die Demokratie und die Demokraten leben müssen. Ulrich Pfeiffer zeigt, dass der Sozial- und Bildungsstaat als Reaktion auf Not und Ungleichheit, aber auch als Antwort auf anspruchsvoller gewordene Bürger entwickelt wurde. Ein drastischer, die Eltern und die Gesellschaft insgesamt entlastender Rückgang der Geburtenraten schon vor dem Ersten Weltkrieg und später das rapide wirtschaftliche Wachstum waren Voraussetzung für eine effektive Bewältigung seiner Aufgaben. Das Goldene Zeitalter nach dem Zweiten Weltkrieg brachte bei seinem Ende aber auch eigene Krisen hervor – so die nachhaltigen Geburtendefizite, die strukturelle Arbeitslosigkeit, die Schwierigkeiten im Gesundheitssystem, die nicht bewältigte Einwanderung und die Vorwegverteilung des künftigen Sozialprodukts. Künftig muss eine neue Balance zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und den Anforderungen des Sozialstaats gefunden werden. Schlüssel wird eine bessere Einbettung in die Märkte sein. Der Sozialstaat hat in Deutschland eine lange und tief verwurzelte Tradition. In einer veränderten Zeit kommt es nun – so Warnfried Dettling – darauf an, an einer guten Idee festzuhalten, den Sozialstaat aber in einen weiteren Ziel- und Wertehorizont einzuordnen und ihn im Hinblick auf seine Methoden und In-
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strumente einer kritischen Neubetrachtung zu unterziehen. Das normative Profil des Sozialstaates muss ergänzt werden um Demokratie, Nachhaltigkeit und eine „Politik der Anerkennung“. Die beeindruckende Mobilisierung von Ressourcen hat gewisse Schwächen nicht beseitigen können. Die starke Konzentration auf die Einkommen und die Einkommensverteilung vernachlässigte, dass in einer säkularisierten individualistischen Selbstverwirklichungsgesellschaft Respekt und Anerkennung für die Bürger wichtiger werden. Empirisch stößt der Sozialstaat unter modernen Bedingungen grundsätzlich (und nicht nur finanziell) an die Grenzen der Umverteilung: Menschen brauchen nicht nur Transfers, um ein menschenwürdiges Leben in Selbstachtung und mit sozialem Respekt führen zu können. Der Beitrag plädiert für eine Ergänzung des Sozialstaates durch eine Wohlfahrtsgesellschaft und zeigt Wege und Perspektiven auf für eine moderne soziale Politik. Der demographische Wandel wird den Spielraum für sozialpolitische Großzügigkeit einengen. Diese Ausgangsthese von Axel Börsch-Supan wird kaum auf Widerspruch stoßen. Eher schon seine Position, dass wir dieser Entwicklung nicht machtlos gegenüberstehen. Schlüsselmechanismen sind mehr Erwerbstätigkeit und Erhalt der Arbeitsproduktivität. Besondere Chancen ergeben sich aus den in Deutschland im internationalen Vergleich großen unausgeschöpften Reserven der Erwerbsbeteiligung Älterer. Wichtig ist dabei die Einsicht, dass deren Ausnutzung nicht zulasten, sondern zum Nutzen der Jüngeren erfolgt. Was die Arbeitsproduktivität angeht, gibt es keinen überzeugenden Beleg für das gängige Vorurteil, dass ältere Arbeitnehmer weniger produktiv sind als jüngere. Mit mehr Aus- und Weiterbildung kann sie weiter gestärkt werden. Steht diese makroökonomische Basis, sind dramatische Änderungen im Rentensystem unnötig. Der enge Zusammenhang zwischen Rentenniveau und Beitragszahlungen sichert Transparenz und Äquivalenz. Kritischer ist die Situation im fehlfinanzierten Gesundheitswesen. Diese optimistische Erwartung wird von Thilo Sarrazin nicht geteilt. Aufgrund der demographischen Entwicklung und des künftig schwachen Wachstums der Arbeitsproduktivität hält er auf längere Sicht aus der Sozialversicherung und dem Bundeshaushalt nur noch eine Grundsicherung im Alter für finanzierbar. Die einkommensabhängige, am Lebensstandard orientierte Rente wird mehr und mehr verwässert werden. Damit wird der Zusammenhang zwischen Leistung und Gegenleistung aufgelöst. Schwaches Wachstum und die demographischen Veränderungen erfordern den Übergang in eine steuerfinanzierte Grundsicherung und Krankenhausbasisversorgung für alle. Dies ist auch schon deshalb geboten, um die bisherigen krass regressiven Wirkungen der Finanzie-
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rung der Sozialversicherung abzumildern und in ein rationaleres System zu überführen. Die oberen Einkommensschichten würden in der Einkommensteuer stärker belastet. Mittlere und höhere Einkommensschichten könnten das gewohnte Niveau der Alterseinkommen durch ein weit stärkeres privates Alterssicherungssparen erreichen. Heik Afheldt untersucht im Kontrast zu den theoretischeren Kapiteln von Börsch-Supan und Sarrazin, ob und inwiefern das bestehende Schweizer Gesundheitssystem den in diesem Buch aufgestellten Forderungen nach einer neuen Sozialpolitik besser entspricht und deshalb als Modell für weitere Reformschritte in Deutschland dienen kann. Finanzierung über eine Kopfprämie sowie die Muster, nach denen Leistungen erbracht werden, sind bedeutsame Unterschiede. Kriterien sind: Chancengleichheit, Leistungsfähigkeit, Bedarfsgerechtigkeit, Wirtschaftlichkeit und Finanzierbarkeit. Auch im Nachbarland machen die starken Kostensteigerungen Sorgen. Der Wettbewerb zwischen den ausschließlich privaten Krankenkassen hat den Anstieg der Kosten nur sehr marginal hemmen können. Die Versicherten werden stärker als in Deutschland direkt zur Deckung ihrer Gesundheitskosten nach dem Äquivalenzprinzip herangezogen. Das Gesundheitssystem in der Schweiz wird – weil nicht lohnabhängig – weitaus weniger als Instrument der Einkommensumverteilung eingesetzt als in Deutschland, obwohl ein wachsender Prozentsatz der Bevölkerung durch Subventionen von der Last zu hoher Prämien befreit wird. Verschiedene Elemente des Schweizer Systems wären durchaus übertragbar. Dies würde jedoch in Deutschland einen gewissen Wertewandel zu mehr Bereitschaft von selbstverantwortlichen Lösungen voraussetzen. Eine unserer zentralen Thesen lautet, dass Märkte je nach Art der Regulierungen zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen führen. Dies wird am Beispiel des Arbeits- und Wohnungsmarktes gezeigt. Hilmar Schneider verweist auf die reduzierte Funktionsfähigkeit des Arbeitsmarktes durch dessen sozialstaatliche Einbettung. Massenarbeitslosigkeit ist nach seiner Auffassung nicht etwa Ausdruck dafür, dass uns die Arbeit ausgeht, sondern das Ergebnis von fehlenden Erwerbsanreizen für Geringqualifizierte. Schuld daran ist die Ausgestaltung des Systems der Grundsicherung. Kombilöhne und Mindestlöhne sind nicht geeignet, diesem Problem zu begegnen. Eine wirksame Antwort besteht dagegen in einem Paradigmenwechsel hin zum Prinzip von Leistung und Gegenleistung in der Grundsicherung in Form des sogenannten Workfare-Konzepts. Dieses gestattet eine Beibehaltung des bestehenden Niveaus der Grundsicherung, vor allem aber ist es sozial gerecht.
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Rainer Braun kritisiert Besonderheiten des deutschen Wohnungsmarktes. Die Angebotsseite ist durch massive planerische Vorgaben bestimmt. Im Gegensatz zu langjährigen Strategien in Holland oder Großbritannien führten rationierte Baurechte zu teurem Boden in großen Bauten mit jeweils zahlreichen teuren Mietwohnungen als dominanter städtischer, oft wenig nachfragerechter Wohnform. Städtische Eigenheime wurden zu Luxusgütern gemacht. Auf der Nachfrageseite wirkte ein extrem großzügiges Steuerrecht, das den Erwerb von Mietwohnungen für Haushalte mit Spitzeneinkommen attraktiv machte und das Wohnen verbilligte. Selbstgenutztes Wohneigentum wurde ständig schwächer gefördert. Die demographischen und wirtschaftlichen Veränderungen, insbesondere die Flächen freisetzende Deindustrialisierung, werden in den nächsten Jahrzehnten einen riesigen Stadtumbau ermöglichen oder erfordern. Die Märkte werden nicht in der Lage sein, diese Aufgabe allein zu bewältigen. Klassische Subventionsprogramme würden nur eingeschränkt wirken. Der Engpass bleibt ein elastisches Angebot der freigesetzten Bodenflächen. Hohe Grundsteuern auch auf die Verkehrswerte des Bodens würden die Verkaufsbereitschaft erhöhen. Differenzierte Subventionsformen zur Kompensation von besonderen Risiken für Investoren oder zur Abgeltung negativer externer Effekte könnten Investitionshindernisse überwinden. Gelingt es nicht, die innerstädtischen Bodenmärkte für Investoren attraktiv zu machen, wird der Neubau in den peripheren Zonen auch bei schrumpfender Einwohnerzahl weitergehen. Eine politisch erwünschte Konzentration der Nachfrage auf innerstädtischen Flächen ist nicht automatisch zu erwarten. Der Sozialstaat hat zu den niedrigen Geburtenraten beigetragen. Ulrich Pfeiffer verweist auf die individualistischen Selbstverwirklichungsziele bei gleichzeitiger Zeitarmut und Konflikten zwischen Elternschaft und Beruf, die in Deutschland besonders ausgeprägt sind. Kinderlosigkeit und geringe Kinderzahl sind bei Hochqualifizierten besonders häufig. Eine effektive Familienpolitik zugunsten aller Einkommensschichten war lange Zeit aus Vorbehalten von rechts und links nicht möglich. Die jetzt getroffenen Weichenstellungen dürften nicht ausreichen, um zu einer Gleichbehandlung von Eltern im Vergleich zu Kinderlosen zu kommen. Die hohe Kinderlosigkeit in Deutschland ist fast schon zu einer gewohnten Regel geworden. Nicht ausgeschöpft sind die Möglichkeiten zur Förderung großer Familien mit drei und mehr Kindern. Die Politik sollte die jeweiligen Formen der Familiengründung und der Verbindung von Elternschaft und Beruf unterstützen. In Form eines Gesprächs mit den ZEIT-Redakteuren Sabine Rückert und Stefan Willeke zeigt Christian Pfeiffer anhand von neuen Forschungsergebnissen
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auf, dass vor allem Jungen und männliche Jugendliche sowie die Kinder aus Migrantenfamilien dadurch zunehmend ins Abseits geraten, dass sie sich von den Angeboten der Unterhaltungsindustrie vom Kurs abbringen lassen. Wer aber mit Computerspielen und Fernsehen pro Jahr mehr Zeit verbringt als im Schulunterricht, der leidet unter schlechten Schulnoten, Bewegungsarmut, Übergewicht und sozialer Verarmung. Die Antwort darauf sieht Pfeiffer in einer Kooperation von zivilgesellschaftlichem Engagement und schulpolitischen Reformen. Beispiele sind hier die Abschaffung der Hauptschule und die flächendeckende Einführung der Ganztagsschule, die nachmittags einem Motto verpflichtet ist: Lust auf Leben wecken durch Sport, Musik und soziales Lernen. Gisela Schultebraucks-Burgkart stellt in einem Gespräch mit Ulrich Pfeiffer dar, wie eine effektive Teamarbeit im Lehrerkollegium und gemeinsame Unterrichtsvorbereitung in ihrer Schule in einem Gebiet mit hohem Migrantenanteil zu einer Schlüsselveränderung wurde, die auf alle anderen Aufgaben einwirkt. Schulen, in denen Migrantenkinder deutlich in der Überzahl sind, müssen eine breite erzieherische Verantwortung übernehmen, in enger Partnerschaft mit den Eltern agieren, schon vor der Einschulung Vertrauen aufbauen und Eltern und Kinder auf die Schule vorbereiten. Voraussetzung einer guten Schule ist Autonomie, insbesondere bei der Auswahl der Lehrerinnen und Lehrer für ein Team. Schule muss Schüler stärker motivieren und Hemmschwellen gegenüber den Eltern, vor allem den Müttern, abbauen, die oft wenig Deutsch sprechen und deshalb möglichst informell, z.B. durch ein Elterncafé oder Nähkurse, an die Schule herangeführt werden müssen. Toleranz, Interesse und Respekt gegenüber den Kulturen an einer multiethnischen Schule werden zur Grundlage von Vertrauen und erfolgreicher Kooperation. Das Klima ist bedroht, doch bisher haben die weltweiten Klimaschutzbemühungen noch nicht einmal zu einer Abflachung des Zuwachses an Kohlendioxidemissionen geführt. Harald Simons verweist darauf, dass die ökonomische Theorie diese Ergebnisse leider sehr überzeugend erklärt. Die Anbieter von Kohlenstoffenergien werden ständig versuchen, ihren Absatz auf noch nicht durch Vereinbarungen eingeschränkten Märkten zu erhöhen und dem Egoismus der einzelnen Länder entgegenkommen. Dennoch waren die bisherigen Klimaschutzpolitiken nicht nutzlos. Sie waren Teil eines Try-and-Error-Prozess, ohne den es nicht möglich gewesen wäre, zukünftig die Ressourcen effizient auf die Erfolg versprechenden Politiken und Methoden zu konzentrieren. Dabei sollten auch Stilllegungen von Kohlenstoffförderstätten, neue lebensnotwendige Energiequellen und künstliche Senken berücksichtigt werden. Wirksame nachhaltige Lösungen werden weltweite Abkommen erfordern, die auch die Angebotsseite der
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Märkte für Kohlenstoffenergien umfassen und auch mehr Forschung für neue Energieformen einbeziehen. Der Staat und Brüssel haben die kommunale Selbstverwaltung mehr und mehr eingeschränkt, während die lokale Gemeinschaft für ältere Menschen, Familien, Jugendliche und auch für die wachsende Zahl von Erwerbstätigen auf den lokalen Arbeitsmärkten an Bedeutung gewinnt. Das ist die zentrale These des Beitrags von Rolf Böhme. Dem würden eine Stärkung der lokalen Demokratie und Einhaltung der Subsidiaritätsklausel, eine Beteiligung an der kommunalrelevanten Gesetzgebung und eine strikte Einhaltung der Konnexität gerecht. Stichworte hierbei sind eine Regionalisierung der Kommunalpolitik und neue Aufgaben und Verantwortungen der Kommunen in den Schulen. Auch die demographischen Veränderungen und die regionalen Wanderungen verlangen lokale kreative Antworten, die nur bei mehr Eigenverantwortung und Kompetenz in den Kommunen zu erwarten sind. Das gilt auch für die anstehende, auch bauliche Stadtumwandlung zu einer ebenso familienfreundlichen und altengerechten wie klimabewussten Stadt. Der Klimaschutzpolitik in den Städten und Gemeinden durch Unterstützung von mehr Energieeffizienz und verstärkten Einsatz von erneuerbaren Energien weist Böhme eine strategische Bedeutung zu. Das Soziale und damit auch das Politische wird im Medium Kommunikation verhandelt, das die Brücke ist zwischen dem bewussten Selbst und dem sozialen Anderen. Kommunikation in der Politik hat es – so Volker Riegger – mit der seit Aristoteles bekannten Paradoxie zu tun, dass die politischen Subjekte am Beherrschen wie am Beherrschtwerden teilhaben. Politik kann deshalb nicht in Herstellung und Darstellung aufgeteilt werden. Auch das Soziale und Solidarität, das, worum es in der neosozialen Perspektive geht, realisieren sich immer in Kommunikationen, die auf Information und Vermittlung angelegt und auf Verstehen, d.h. auf Kontrolle, gerichtet sind. Im Übergang vom Buchdruck zu den Computernetzen als neuem dominierendem Verbreitungsmedium kommt es dementsprechend darauf an, das „Verstehen“, auch mit Blick auf das „Soziale“ und auf „Solidarität“, als rekursiven Prozess der gegenseitigen Kontrolle von Wählern und Gewählten zu begreifen. Es wird vorgeschlagen, diese Paradoxie in Analogie zu Marktkreierung und co-evolutionärer Produktentwicklung für eine mehrheitsfähige Politik in neosozialer Perspektive zu nutzen. Das wird anhand einiger der konkreten politischen Vorschläge dieses Buches erläutert.
I. Zur Krise und Zukunft der Demokratie I. Zur Krise und Zukunft der Demokratie
Robert Leicht
In politischen Krisen, also in Zeiten der außenpolitischen Bedrohung, der wirtschaftlichen Herausforderungen, der sozialen Spannungen sowie der kulturellen Umschwünge stellt sich noch deutlicher als sonst die Frage nach der Leistungsfähigkeit des politischen Systems, also sowohl nach seiner institutionellen Stabilität als auch nach seiner produktiven Flexibilität. Nur ein politisches System, das unter Wahrung seiner rechtlichen Prinzipien und kulturellen Werte flexibel auf ungewohnte Herausforderungen zu reagieren, ja sie steuernd zu gestalten vermag, kann auf legitime Weise stabil bleiben. Es hat nicht erst der geschichtlich unerhörten Krise auf den internationalen Finanzmärkten und der globalen Rezession bedurft, um Zweifel an der perspektivischen Leistungsfähigkeit selbst unseres freiheitlichen demokratischen Systems aufkommen zu lassen. Seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts herrscht in der Bundesrepublik Deutschland eine über lange Jahre zunehmende Massenarbeitslosigkeit. Die Staatsverschuldung wächst aus den verschiedensten Gründen an. Man kann – trotz einiger Teillösungen – insgesamt von einem „Problemstau“ sprechen, hervorgerufen auch durch eine fast jahrzehntelange Politikverweigerung. Im Sommer 1982 hatte der damalige Kanzler Helmut Schmidt seiner SPD-Bundestagsfraktion vorgehalten, die ersten 12 Jahre sozial-liberaler Koalition und Reformpolitik habe man finanziert mit einer Flucht in die Inflation, in die Staatsverschuldung, in den Abbau der staatlichen Investitionstätigkeit und in die Mehrbelastung der Arbeitnehmer. So gehe es nicht weiter, es blieben nur entweder mehr Staatsschulden, das gehe mit ihm nicht, oder tiefere Einschnitte in die sozialen Leistungen: „Das geht mit Euch nicht!“ Als der damalige Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff auf Anforderung des Kanzlers Schmidt das berüchtigte „Lambsdorff-Papier“ vorlegte, das im Grunde nichts anderes wollte, als gegen die von Schmidt selber getadelten Missstände vorzugehen, nutzte auch der Kanzler die Auseinandersetzung um dieses Papier dazu, gegen den Koalitionspartner zu polemisieren und ihm allein die Schuld an der unvermeidlich gewordenen Trennung zuzuschieben.
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Sollte das „Lambsdorff-Papier“ im Jahre 1982 die sozial-liberale Koalition zum Platzen bringen, so sollte im Jahr 2003 die „Agenda 2010“ von Bundeskanzler Gerhard Schröder die rot-grüne Regierungskoalition zusammenhalten und politisch rechtfertigen. Das Merkwürdige ist nur, dass in der „Agenda 2010“ im Grunde nur all das stand, was im Ansatz schon im „Lambsdorff-Papier“ gestanden hatte. Was sich wie ein absurdes Paradox ausnimmt, ist in Wahrheit nur ein beklemmendes Dokument der über zwanzigjährigen Politikverweigerung. Die geschichtlich hoch erwünschte und außenpolitisch im Prinzip hervorragend gesteuerte Wiedervereinigung brachte einerseits erst einmal jede westdeutsche Selbstkritik zum Verstummen, sie bremste sodann die Fragmentierung des Parteiensystems nach rechts (ohne Einheitsprozess wäre die Regierung Kohl in den regulären Wahlen von 1991 wahrscheinlich dem Einzug der Republikaner in den Bundestag zum Opfer gefallen) und sie häufte schließlich noch mehr Schulden auf die Schultern des Staates – in Haupt- und Nebenhaushalten. Die Wähler reagierten darauf mit einem deutlichen Entzug der Wahlbeteiligung (zeitweilig schien es so, als könne zur größten Partei die Partei der Nichtwähler werden). Die Volksparteien wurden in ihrer Größe gestutzt, sodass sich bald die Frage nach der Berechtigung jener traditionellen Bezeichnung stellt. Und das Parteiensystem franste nun auf Bundesebene nach links aus. Man könnte diese Beobachtungen „auf den ersten Blick“ unschwer fortsetzen, zumal da die unvollständig gebliebene „Agenda 2010“ nicht nur nicht fort-, sondern vielmehr rückentwickelt wurde und inzwischen Finanzkrise und Rezession ohnedies alle Prognosen über den Haufen geworfen haben, um daraufhin auf die Frage gestoßen zu werden: Hält unser politisches System dies alles aus? Wie sieht es aus mit der Zukunft unserer Demokratie und ihrer Entscheidungsfähigkeit? Um die Grundlinie möglicher Antworten vorwegzunehmen: Das hängt vor allem von den Erwartungen ab, die man mit dem demokratischen Regierungssystem verbinden sollte – und verbinden darf, ohne es allein durch überzogene Ansprüche zu delegitimieren. Und es hängt davon ab, ob in kritischen historischen Konstellationen unvermittelt hervorragende Personen auftreten, denen es gelingt, die nur zu trivialen Funktionshindernisse der alltäglichen Politik für eine gewisse Zeit zu überspielen und der historischen Situation gerecht zu werden. Die Vorstellung, man könne durch raffinierte verfassungsrechtliche und andere organisatorische Vorkehrungen das sich aus sich selber heraus perfekt erhaltende politische System konstruieren, ist eitel – und eine Sache für verfassungspolitische Zirkelstecher. Wenn die in einem noch so perfekten Verfassungssystem handelnden Menschen kollektiv unvernünftig handeln, dann – um ein Diktum aus einem
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Vortrag des damals noch jugendlichen Staatsrechtslehrers Horst Ehmke (Jahrgang 1927) aus dem Jahr 1961 aufzugreifen – „läuft die Sache eben schief. Eine Verfassung, auch eine solche mit Verfassungsgerichtsbarkeit, ist nun einmal keine politische Lebensversicherung.“ Wenn wir im Folgenden trotzdem „Verbesserungsvorschläge“ diskutieren werden (und verwerfen müssen), dann zunächst nur aus analytischen und heuristischen, also gewissermaßen illustratorischen Gründen. * Zu den Grundkonstanten der Demokratie gehört eine zu ihr parallel verlaufende Demokratiekritik – kein Wunder übrigens, ist doch die freiheitliche Demokratie die einzige politische Form, die fundamentale politische Kritik nicht nur zulässt, sondern auch schützt. Für dieses hohe Maß an aktionsbegleitender Selbstkritik steht das berühmte Diktum Winston Churchills vom 11. November 1947: „Niemand gibt vor, die Demokratie sei perfekt oder schlechthin weise. In der Tat hat man gesagt, die Demokratie sei die schlechteste Regierungsform außer all diesen anderen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.“ Sieht man einmal vom anekdotischen Reiz des Zitats ab, so steht es in einer langen Tradition des so zu nennenden „demokratischen Realismus“. Sowohl die frühesten Chronisten der antiken Demokratie (oder der Republik) – als Beispiel sei Thukydides genannt – als auch die frühen Architekten der modernen Demokratie (oder Republik) – hier zum Beispiel die Autoren der Federalist Papers – als auch der ‚zweite Entdecker Amerikas’, nämlich Alexis de Tocqueville – sie alle hielten trotz aller Aufgeschlossenheit weiten Abstand von der Illusion, eine republikanische oder demokratische Verfassung komme einer idealen politischen Ordnung gleich oder sichere aus sich heraus eine geradezu ideale Politik. Der 10. Artikel der Federalist Papers benennt ausdrücklich die Gefahren, die in der Demokratie drohen, nämlich die Herrschaft der passions und interests, der irrationalen Leidenschaften wie der rational kalkulierten egoistischen Interessen, kommt dann aber – in gewisser Vorwegnahme Churchills – zu einem Schluss, der sich kurz so zusammenfassen lässt: „Gegen Demokraten helfen nur – Demokraten.“ Es gibt allerdings zwei grundsätzlich gefährliche, einander übrigens anfänglich ideologisch entgegengesetzte Modi der Demokratie- und Parlamentarismuskritik, die sich freilich im Effekt (und Affekt) durchaus miteinander verbinden können. Carl Schmitts Parlamentarismus-Kritik – die giftigste Kritik von rechts – ist in Teilen unseres intellektuellen Milieus keineswegs schon ausgeschwitzt, sondern feiert immer wieder unverständlich neue Urstände. Sie stellte zuerst eine ahistorische Fiktion eines interesselos diskutierenden, liberalen Parlamentarismus auf (schon der war für Schmitt der Verachtung ausgesetzt), um dann zu
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behaupten, diese Form sei zudem zu Beginn des 20. Jahrhunderts längst einem Verfallsprozess ausgesetzt gewesen. Wer sich die Realität des Parlamentarismus im England des frühen und späteren 19. Jahrhunderts historisch genau vergegenwärtigt, kann einer solchen Verfallstheorie, wie sie sich in Spuren zumindest auch in Jürgen Habermas’ „Strukturwandels der Öffentlichkeit“ fand, keinesfalls Folge leisten. Mit der Vergesslichkeit der Leute rechnend kann man immer die „gute alte Zeit“ beschwören, um dann zu zeigen, wie weit inzwischen alles heruntergekommen ist – auch die parlamentarische Demokratie; von dort ist es nicht mehr weit zu Karl Valentins Feststellung: „Früher war auch die Zukunft besser!“ Die andere, der Verfallstheorie entgegengesetzte Art und Weise, die real existierende Demokratie zu de-legitimieren (oder zu erledigen) ist die Antizipation einer ebenso simplen Fortschrittstheorie – Es muss doch einfach alles immer besser werden! – und die Aufladung der Demokratie mit Erwartungen und Anforderungen, die weder an ihrem Anfang historisch irgendjemand im Auge hatte noch die, systematisch betrachtet, von irgendeiner politischen Form je zu erfüllen wären. Bei dem „Links-Schmittianer“ Johannes Agnoli fanden sich in seiner „Transformation der Demokratie“ (1968) beide Strömungen der DemokratieKritik, die ahistorische rechte und die utopische linke Demokratie-Kritik, als sozusagen binäre Waffe gegen den parlamentarischen Status quo zusammen. Man muss nun nicht wie Sir Karl Popper in einem berühmten Diktum den Vorzug der Demokratie nur darin sehen, dass dies die einzige politische Form ist, in der man die gegenwärtig Herrschenden auf unblutige Weise wieder loswerden kann. Aber man sollte auch umgekehrt das Grundgesetz wie die von ihr regulierte parlamentarische Demokratie auch nicht zu einer ‚säkularisierten Heilsordnung’ überhöhen, unter der dann alle Katzen, sprich Politiker, allenfalls grau aussehen können. Man sollte sich also wirklich auf einen demokratischen Realismus einstellen, der einen Herbert Wehner – in der klassischen Reduktion großer Strategen auf das Wesentliche – denken ließ: Solange die „Arbeiterklasse“ oder – sagen wir es moderner im Sinne von John Rawls – die Vertreter auch der am schlechtesten Gestellten durch die von ihnen Gewählten an der Ausübung der politischen Macht beteiligt sind, geht es nicht nur ihnen, sondern dem Gemeinwesen insgesamt besser als unter allen anderen Umständen; das war ja auch der Grund dafür, dass Wehner die Regierungsfähigkeit der Sozialdemokraten unter allen Umständen erringen und verteidigen wollte, bis hin zum angestoßenen Sturz Willy Brandts 1974. * Es war nötig, diesen freilich nur provisorischen Rundgang durch die Geschichte des parlamentarischen und anti-parlamentarischen Denkens zu unternehmen,
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damit die nun zu diskutierende Frage, ob unser demokratisches und parlamentarisches System überhaupt den Herausforderungen gewachsen ist, nicht in den Verdacht einer geschichtsfremden Perspektivenverzerrung (oder gar eines ideologischen Perspektivenschwindels) gerät. Auch wenn uns keine wirklich praktikablen Schritte zur Aktualisierung unseres politischen Systems einfallen sollten, behielte Winston Churchill weiterhin recht. Wir rückten freilich möglicherweise jenem Punkt näher, an dem Horst Ehmke sagen müsste: „Dann läuft die Sache eben schief…“ Wenn nur ein einfacher Beweis der Funktionsdefizite unseres politischen Systems zulässig wäre, dann die immer weiter nachlassende Wahlbeteiligung schon ein strenges Indiz. Zwar konnte man gegenüber den sehr hohen Quoten in der Frühgeschichte der Bundesrepublik noch sagen, dass eine etwas niedrigere Wahlbeteiligung auch ein Ausdruck der Normalität sowie der Gelassenheit und der Zufriedenheit der Bürger widerspiegelt. Doch angesichts des inzwischen stabilen Langzeit-Trends verfängt dieser Trost nicht mehr. Denn mit dem Niedergang der Wahlbeteiligung ging eine massive Aufrüstung der Wahlpropaganda der Parteien einher. Wenn aber die Professionalisierung und Intensivierung der politischen Werbung für die immer mehr „professionalisierten“ Berufspolitiker – das Ganze unterstützt durch eine immer mehr verfeinerte Demoskopie – zu nichts anderem führt als zu einer Abstoßung und Apathie der (möglicherweise eher intelligenteren) Wählerschichten, dann läuft offenkundig schon etwas schief, und zwar fundamental. Die Betriebsblindheit der herkömmlichen Parteipolitik kann dann kaum besser zum Ausdruck gebracht werden als durch die gelegentlich ventilierte Idee, dieser Wahlabstinenz, in der ja habituelle Unlust mit wohlbegründeter Ratlosigkeit einhergehen kann, durch die Einführung einer Wahlpflicht zu begegnen. Die Funktionsdefizite lassen sich aber auch am Zurückbleiben der politischen Lösungsansätze gegenüber den tatsächlichen Herausforderungen ablesen. Der Weg zur Agenda 2010 – und der Weg von ihr zurück – liefern dafür ebenso anschauliche Beispiele wie der Aufwuchs der Staatsverschuldung, der Klimabelastung, die Scheu, sich der demographischen Krise ernstlich zu stellen. Freilich muss man an dieser Stelle auch vor der Illusion warnen, Politik und Verwaltung hätten alle Muße der Welt, sich langfristig denkend einer vorbeugenden Politik zu widmen, könnten also regelmäßig mehr leisten als ein Krisenmanagement unter Zeit- und Problemdruck. (Das Wissen, dass in der akuten Krise des Finanzsektors das Krisenmanagement letztlich in der Hand zweier noch so begabter Beamter lag, hat manchen nicht nur verwundert, sondern besorgt gestimmt. Was, wenn nur einer davon ausfiele…) Otto Schlecht, dem weiland berühmten Staats-
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sekretär im Wirtschaftsministerium, war in einer Gesprächsrunde folgende Frage gestellt worden: „Was zeigen wir uns über den Bevölkerungsknick mit einem Mal so überrascht – wie viele 30-jährige junge Menschen wir in diesem Jahr maximal haben werden, das wussten wir doch schon am 31.12. vor 30 Jahren?“ Schlechts Antwort war so erschütternd wie offenkundig realistisch: „Herr Leicht, merken Sie sich eines: In der Politik beginnt das Handeln frühestens, wenn sich die letzte Fingerkuppe der Kinderhand vom Brunnenrand zu lösen beginnt!“ – Wer jemals in einer einigermaßen komplexen Organisation voller gegensätzlicher Menschen Verantwortung trug, wird besser verstehen, was hinter dieser weniger zynischen, als vielmehr resignierenden Äußerung stand. Doch wenn Politik auch künftig mehr mit muddling through und piecemeal social engineering zu tun haben wird, als das der theoretische oder idealistische Blick gerne wahrnehmen möchte – die Sache der Politik ist insgesamt doch zu gefahrengeneigt, als dass man sich tatsächlich einem willenlosen Zynismus hingeben dürfte. Gerade weil die Ressourcen – die materiellen, die zeitlichen, die personellen, die mentalen – so knapp sind, können wir uns keine Verschwendung leisten und müssen wir immer wieder das Optimum im Sub-Optimalen aufsuchen. * Die Kritik an den Funktionsdefiziten der Demokratie richtet sich vorwiegend an Parteien und Personen. Dabei war die kritische Betrachtung von Parteien, ja die Ablehnung ihrer Existenz überhaupt von Anfang an ein Gemeinplatz gewesen – zum Beispiel schon in den Federalist Papers, in denen die factions schon als Problem benannt wurden, erst recht im a-historischen Geist der Honoratioren-Politik. Das Grundgesetz der Bundesrepublik hatte diese bürgerlich, um nicht zu sagen: bourgeois geprägten, weithin „klassenbedingten“ Vorurteile gegen die Parteien „von oben“ aufgrund der Einsicht in ihre Funktionsnotwendigkeit überwunden, ihre Notwendigkeit vorsichtig anerkannt und diese Einsicht in die Formulierung gekleidet: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit“ (Art. 21, Abs. 1, Satz 1 GG). Dass die Parteien, d.h. deren Fraktionen im Bundestag, bis 1966 brauchten, um ein schon 1949 gefordertes Parteiengesetz – noch dazu ein völlig unzureichendes – zustande zu bringen, konnte die parteienkritische Einstellung freilich nur wieder im Ansatz verstärken, wie dies ja auch die diversen Affären um illegale Formen der Parteienfinanzierung bis in die jüngsten Tage getan haben. Der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker bezeichnete 1992 jenen Satz aus dem Artikel 21 als „ein geradezu gigantisch eindrucksvolles Beispiel von Understatement.“ Beim Vergleich zwischen Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit in diesem Punkte „kommen dem einen die Tränen der Rührung, und bei anderen schwellen die Zornesadern.“ Weizsä-
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cker fuhr fort: „Und das bekommt auf die Dauer unserer Demokratie gerade deshalb nicht gut, weil wir die Parteien brauchen. Die Parteien haben sich zu einem ungeschriebenen sechsten Verfassungsorgan entwickelt, das auf die anderen fünf einen immer weiter gehenden, zum Teil völlig beherrschenden Einfluss entwickelt haben.“ Außerdem sei das Parteiengesetz defizitär: Mit ihm „verfügen die Parteien auf dem Umweg über den Gesetzgeber über sich selbst. Von ihren Rechten ist ziemlich eindrucksvoll die Rede… Die festgelegten Pflichten sind dürftig genug und beziehen sich im Wesentlichen auf organisatorische Verfahrensfragen.“ An diese Kritik Weizsäckers wird hier vor allem deshalb erinnert, weil dies der letzte auffällige Versuch war, die Rolle der Parteien grundsätzlich zur Diskussion zu stellen, erst recht aber deshalb, weil sich zeigte, dass selbst ein solch prominenter Vorstoß – fast wie zu erwarten – an den Parteien, ihren Führungen und Funktionären folgenlos abperlte. Nur mühsam verschleiert wurde Weizsäcker vorgeworfen, er sei eine Art adliger Nestbeschmutzer, der doch selber nur durch eine Parteikarriere „hochgekommen“ sei – was wiederum insofern absurd war, als man sich anfangs seiner eleganten Erscheinung und seines wohlklingenden Namens gern bedient hatte, um die entsprechende Partei ein Stückchen höher kommen zu lassen. Seither sollte man sich jedenfalls beim Versuch, an der Realität des Parteienstaates etwas ernstlich zu ändern, mit einer extremen Frustrationstoleranz wappnen. Noch nicht einmal ein Verbot, Spenden von anderen als natürlichen Personen anzunehmen, die auch wahlberechtigt sind, lässt sich durchsetzen; weiterhin dürfen Kapitalgesellschaften, auch solche, an denen Parteien Anteile halten, jenseits von Wahlverfahren mit Spenden ihre Macht, pardon: „ihre“ Parteien fördern. Ähnlich folgenlos wie die Kritik an den Parteien (wenn man nicht die zurückgehende Wahlbeteiligung als eine solche Folge interpretieren will) bleibt die Kritik an der Rekrutierung, der Zusammensetzung und am Habitus der Klasse der „Berufspolitiker“. Von der Schüler- und Jugendorganisation über weitere Stufen der „Ochsentour“ führt überproportional der Weg zur Kandidatur und zum Mandat – eine eigentümliche „Professionalisierung“ mit der entsprechenden mentalen Verengung. Noch einmal Richard von Weizsäcker: „Bei uns ist ein Berufspolitiker im allgemeinen weder ein Fachmann noch ein Dilettant, sondern ein Generalist mit dem Spezialwissen, wie man politische Gegner bekämpft. … Der Hauptaspekt des ‚erlernten’ Berufs unserer Politiker besteht in der Unterstützung dessen, was die Partei will, damit sie einen nominiert, möglichst weit oben in den Listen, und in der behutsamen Sicherung ihrer Gefolgschaft, wenn man
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oben ist. Man lernt, wie man die Konkurrenz der anderen Parteien abwehrt und sich gegen die Wettbewerber im eigenen Lager durchsetzt.“ Wohlverstanden, man kann im politischen Betrieb ohne diese Fertigkeiten kaum lange überleben (und wie viele „Seiteneinsteiger“ sind an einem solchem Mangel einfachster Voraussetzungen der Anhänger- und Mehrheitsfindung gescheitert!) – aber sie betreffen eben zufolge einer Unterscheidung, auf die uns Erhard Eppler neuerlich aufmerksam gemacht hat, nur die politics, die politische Betriebsamkeit. Wer jedoch aus einer echten Bestimmung zur Politik policies konzipieren und bestimmen soll, braucht eben nicht nur die oberflächliche Professionalität, sondern eine viel tiefer verwurzelte Berufung; wobei wir nicht vergessen sollten, dass rein begriffsgeschichtlich die Professionalität auf die professio, auf die Berufung und auf das Bekenntnis zur Sache selber zurückgeht. Doch so lange es für einen ehrgeizigen Jungpolitiker ausreicht, sich einmal in unverschämter Weise über alte Leute zu äußern, denen man jenseits eines bestimmten Alters keine neue Hüfte mehr einsetzen solle, um daraufhin über Jahre im Gespräch zu bleiben, sind Anreize und Motivationen offenbar nicht sinnvoll verteilt. Dabei soll nicht in Abrede gestellt werden, dass in allen Parteien und Fraktionen aufrichtig engagierte, fleißige und in den Grenzen ihrer Expertise beneidenswert sachkundige Menschen tätig sind, die gewiss auch ihre Laufbahn und ihr Mandat, aber nicht nur ihre Karriere im Auge haben; teils ist ihr anfänglicher Idealismus schon ausgenüchtert, teils einem resignativen Zynismus gewichen, teils hält sie ihr Pflichtbewusstsein bei der Sache, teils die Ratlosigkeit, was sie sonst tun sollten. Das, wie gesagt, sei nicht bestritten. Trotzdem muss gefragt werden nach den spezifischen Gefahren der déformation professionelle – und der Deformation der Professionalität – in diesem Betrieb sowie nach der negativen Auslesefunktion dieser Voraussetzungen, die durchaus interessante Persönlichkeiten aus dem Politik-Betrieb schnell wieder aussondern oder gleich ganz davon abhalten, sich diesen Zumutungen auszusetzen, die ja nicht nur manches intellektuelle, sondern auch einige mentale, um nicht zu sagen: sogar charakterliche Opfer verlangen, während man anderswo schneller und wirksamer und bei geringerer Selbstverkrümmung gestaltend tätig werden kann. Damit stoßen wir aber auf gewisse strukturelle Gegebenheiten demokratischer Politik in der modernen Wohlstandsund Mediengesellschaft, die nicht einfach disponibel und nicht mit schlichten moralischen Appellen zu überwinden sind. Die Schwäche der herkömmlichen Parlamentarismuskritik liegt nämlich nicht zuletzt darin, dass sie sich vorwiegend auf der Ebene der kollektiven und individuellen Tugendlehren bewegt, soweit sie sich an Parteien und Personen richtet, dabei aber nicht die strukturellen Bedingungen des politischen Handelns
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berücksichtigt, die im System angelegt und den Parteien und Personen vorgeschaltet sind. * Eines der großen systemischen Probleme der Demokratie besteht, wie man längst weiß, darin, dass die Zyklen der Zukunftsprobleme sich nicht an den Wahlperioden ausrichten, dass also Politiker, ob sie es wollen oder nicht, ihre Legitimation an viel zu kurzfristigen – und medial ebenso aufgeheizten wie ausgebeuteten – Stimmungen ausrichten müssen; sie gleichen darin im Grunde Vorstandsmitgliedern von Aktiengesellschaften, die sich permanent an Quartalszahlen messen lassen, obwohl dieser hektische short termism eine langfristige Unternehmensplanung geradezu sabotieren kann. Zu den empfindlichsten – und notwendigsten – Restriktionen des politischen Handelns zählt schließlich der Zwang, komplexe und ambivalente Sachverhalte am Ende zu binären Ja-Nein-Entscheidungen zu verkürzen: Bist du dafür – oder dagegen? Dies ist natürlich, trivial es zu betonen, mit dem Wesen der Entscheidung unausweichlich verknüpft. Zum Problem wird dies aber regelmäßig dann, wenn – wie in der Politik oft unvermeidlich – die Frage: „Bist du dafür – oder dagegen?“ nicht nur der zur Entscheidung anstehenden Sachfrage gilt, sondern zugleich der Machtfrage: „Bist du dafür oder dagegen – dass wir diese Abstimmung (und damit auch an Macht) verlieren?“ Ein gewisses Maß an „Fraktionsdisziplin“ ist als Voraussetzung der kollektiven Handlungsfähigkeit gewiss notwendig. Aber ist es nicht im Grunde makaber, dass man gelegentlich Abstimmungen ausdrücklich „freigibt“, damit die Abgeordneten allein ihrem Gewissen folgen können (was sie, so muss man daraus schließen, sonst nicht so tun dürfen) – dies aber regelmäßig nur bei Gegenständen gilt, die sicherlich gewissensbetont sind, die aber vor allem den Vorteil haben, dass sie in Bezug auf die Machtverteilung neutral, also nahezu irrelevant sind – manchmal gerade deshalb, weil es sich eben nur um individual-ethische Fragen handelt? Besonders beklemmend wird dieser binäre Zwang, wenn er nicht einmal der fraktionsinternen Mehrheitsbildung, sondern vielmehr der Geschlossenheit einer Regierungskoalition geschuldet ist und deshalb die Unterwerfung einer mehrheitlich ganz anders gesinnten Fraktion unter die ultimative Forderung des Koalitionspartners verlangt. Man sagt großen Koalitionen nach, sie seien leichter als andere Formationen in der Lage, Minderheiten in beiden Fraktionen zu übergehen. Sei dem, wie es sei – bei einander entgegengesetzen Mehrheiten in beiden Fraktionen würden die Zumutungen (Bist du dafür oder dagegen?) so groß – dass entweder gar nicht gehandelt, sondern der Problemstau nur verdichtet werden kann, oder das Handeln nur bis zu dem Punkt reicht, wo jeder Partner hofft, bei einem Regierungswechsel
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den Rest der Strecke allein nach seinem Kompass gehen zu können. Ein klassisches Beispiel dafür bietet die jüngste „Gesundheitsreform“, bei der die Entscheidung zwischen „Bürgerversicherung“ und „Personenprämie“ offen bleiben musste und folglich im bürokratischen „Gesundheitsfonds“ „zwischengelagert“ wurde; und dies, obwohl bei einer „freigegebenen“ Abstimmung sich möglicherweise auch in der SPD jene Sachkundigen hätten zu Wort melden können, die aus wohl erwogenen Gründen durchaus einer „Personenprämie“ den Vorzug gegeben hätten. Diese hier nur skizzierten Restriktionen individueller, sachkundiger Vernunft in der Politik kann und muss man beklagen. Sie sind aber systemischen Charakters und durch moralisierende Appelle an irgendwelchen Tugenden einzelner Personen oder „der Parteien“ einfach nicht zu überspielen. Die aber wirklich ernsthafte existenzielle Frage an die Demokratie, die übrigens ebenfalls jene nach der Tugendhaftigkeit einzelner Politiker weit übersteigt, liegt auf einer anderen Ebene. Sie lautet sehr vereinfach: Sind die Bürger und die Politiker in den modernen Demokratien überhaupt in der Lage, die Selbstdisziplin aufzubringen, in ihrer Lebensspanne nur das an Ressourcen in Anspruch zu nehmen, was sie selber in der selben Periode produktiv und kreativ und sozialaktiv aufgebracht und geleistet haben? Der Hintergrund dieser Frage ist die These, dass die neuzeitlichen Demokratien wesentliche Teile ihrer Lebenshaltungskosten „externalisieren“ konnten, sei es im Kolonialismus und seiner Ausbeutung der „Kolonialwaren“, in der Setzung der terms of trade im internationalen Handel, in der Rohstoffbeschaffung (Erdöl) usw. Heute externalisieren Demokratien die Kosten ihrer kollektiven Lebenshaltung durch die Flucht in die Staatsverschuldung, in die Inflation – schon erinnert man sich wieder der Rede Helmut Schmidts vor der SPD-Fraktion im Sommer 1982! – oder in die (geradezu wörtliche) Externalisierung der Treibhausgase in die Erdatmosphäre. (Dies schließt natürlich keineswegs aus, dass auch nicht-demokratische Systeme sich dieser Flucht in die Verantwortungslosigkeit befleißigen.) Aber die wirklich systemische Frage an die Demokratie ist eben die, ob unter den Bedingungen der erforderlichen Wählerzustimmung eine wirklich nachhaltige Politik der – metaphorisch gesprochen – geschlossenen Kreisläufe überhaupt durchzusetzen ist, ob sich also die banale ökonomische Einsicht für den privaten, persönlichen Haushalt (Du kannst dir nicht mehr leisten, als du geleistet hast.) auch auf den staatlichen, kollektiven Haushalt politisch übertragen lässt. Dies ist bis heute weder versucht noch geschafft worden, was zwar die Unmöglichkeit dieses Unterfangen noch nicht beweist, aber doch als sehr plausibel erscheinen lässt.
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Man tut Helmut Schmidt und Giscard d’Estaing alles andere als Unrecht, wenn man unterstellt, dass sie das europäische Währungssystem auch deshalb konzipiert haben, weil sie beide zur Einsicht gekommen waren, in der Innenpolitik demokratischer Gesellschaften werde sich eine anti-inflatorische Disziplin in und nach Wahlkämpfen nicht durchsetzen lassen; es bedürfe also der bewusst arrangierten „externen Schocks“, um von außen und ohne die Bloßstellung innenpolitischer Sündenböcke diese Disziplin zu erzwingen. Und weil diese Disziplinierung innerhalb der Staaten als durchaus lästig und schmerzhaft empfunden wird, war es nur folgerichtig und politisch weise, die Aufgabe dieser systemexternen Disziplinierung gegenüber nicht nur Deutschland, sondern auch gegenüber anderen europäischen Staaten nicht mehr allein der deutschen Bundesbank zu überlassen (mit allen politischen Animositäten, die dies – je länger, je mehr – auf Deutschland projiziert haben würde), sondern einer neuen Europäischen Zentralbank zu übertragen. Wie schnell eine Generation von den unterschätzten Kosten ihrer individuellen Lebensentscheidungen eingeholt werden kann, erleben wir derzeit in der Demographie-Debatte. Noch Ende der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts gab es politische Planer, die sich über die zurückgehende Bevölkerungszahl geradezu diebisch freuten: Endlich mehr Platz in den kommunalen Schwimmbädern, weniger Bedarf an Lehrernachwuchs, geringere Klassenstärken… Erst langsam setzte sich die Erkenntnis durch, dass die absolute Bevölkerungszahl in einem gegebenem Territorium nahezu gleichgültig ist, dass aber die Zusammensetzung, also der jahrgangsweise Aufbau der Bevölkerungspyramide von geradezu dramatischer Bedeutung ist. Nur zu bald musste man (oder sollte doch wenigstens) erkennen, dass Verzerrungen der Pyramide, dass also die kumulativen Effekte der aggregierten Einzelentscheidungen (Kinder als planbare Kostenfaktoren, die konkurrierenden Karriereerwartungen beider potenzieller Eltern…) sehr bald kollektiv getragen werden müssen, und vor allem auch von jenen, die glaubten, sie könnten sich als Trittbrettfahrer der Familienbildungsleistungen anderer davon freizeichnen. Doch noch bis in allerjüngste Zeit versuchte die Regierung der großen Koalition Merkel/Steinmeier, die Wähler über diese Notwendigkeit hinwegzutäuschen, indem sie versprach, das Rentenniveau werde selbst dann nicht sinken, wenn das Lohnniveau derer dauerhaft fällt, die Beiträge zur Rentenversicherung zahlen müssen – und dies angesichts der Tatsache, dass schon jetzt fast die Hälfte der Rentenleistungen nicht aus Umlage-Beiträgen, sondern aus der Staatskasse aufgebracht werden. Kann man die Unfähigkeit zu einer nachhaltigen demokratischen Politik drastischer demonstrieren – ein Ärgernis, das immerhin, dies sei zu seiner Ehre gesagt, den kaum verhüllten Protest
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des Bundesfinanzministers Peer Steinbrück herausforderte. Aber wo blieb der Aufschrei der Medien – oder gar der des Wahlvolkes, besonders des jüngeren? Stattdessen wird demjenigen, der die sachlichen Probleme öffentlich transparent macht, nicht nur von den um ihren Wahlkampf besorgten „Parteifreunden“, sondern selbst von den angeblich unabhängigen (also doch hoffentlich selbstständig zu Urteilen befähigten) Journalisten Quertreiberei vorgehalten. * Wenn es aber so ist, dass mit individualethischen Aufrufen zur Tugendhaftigkeit an die Adresse derjenigen, die mitten im politischen Betrieb stecken, systemische Probleme mit ihren gewissermaßen moralresistenten Zwängen nicht zu bewältigen sind, muss man noch einmal einen Blick auf die Institutionen, auf das institutionelle setting werfen, obwohl – das haben unsere Überlegungen bereits gezeigt – das Repertoire an möglichen kybernetisch wirksamen Veränderungen keineswegs groß, um nicht zu sagen: faktisch minimal ist. Wenn man die zwei Stoßrichtungen verkürzt bezeichnen soll, in die solche Änderungen am setting zielen sollten, dann wäre es auf der individuellen Ebene das Aufbrechen des vorherrschenden Rekrutierungsrasters für die parlamentarisch orientierten Politikkarrieren, auf dass andere, vielfältigere Personen (vor allem auch solche mit politik-, verbands-, gewerkschaftsfernen Erfahrungen) Zugang zur Politik finden könnten. Selbst wenn sich solche Möglichkeiten ergäben, wären sie freilich ziemlich schnell abgenutzt, wenn solche Personen dann letztlich doch wieder, und damit sind wir bei der kollektiven Ebene, in die Schemen und Prozeduren vorherrschender Parteipolitik und vorherrschender Parteien gezwängt würden. Soll man bedauern, dass es – nachdem zwischen 1966 und 1969, dem letzten denkbaren Zeitraum, die Chance schon verpasst wurde – in Deutschland inzwischen unmöglich geworden ist, ein reines Mehrheitswahlrecht einzuführen? Aus den britischen Erfahrungen weiß man, dass ein solches Wahlrecht zwar eine viel striktere Rückbindung des Abgeordneten an die Wahlkreispopulation mit sich bringt (mit einer fast vollständigen Umdeutung des schlichten Wahlkreisabgeordneten zu einem Petitionsadressaten und Fürsorger, weshalb seine Sprechstunde wirklich surgery heißt, also der im engeren Sinne ärztlichen Sprechstunde ähnelt), dass auch der Einfluss der Zentralen auf die Kandidatenaufstellung etwas relativiert wird, dass aber der einzelne Abgeordnete, ist er erst einmal im Unterhaus angekommen, einer viel drastischeren Disziplinierung unterliegt, als dies in unserem System der Fall ist; der „Hinterbänkler“ schließlich – also jener Abgeordnete, der nicht mit einem bezahlten oder unbezahlten Amt in der Exekutive betraut wurde, befindet sich auch und gerade auf der Regierungsseite in
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einer beklagenswerten Stellung gegenüber der extrem verdichteten Macht des Premierministers und seiner whips, seiner Einpeitscher. Eine solche, wie gesagt längst unmögliche Wahlrechtsreform, die an den verfestigten kleineren Parteien und ihren Fürsprechern in der Öffentlichkeit scheitern müsste, würde zwar die Zwänge zu Koalitionsbildungen in vielen Fällen vermieden haben – ein solches System würde aber, wie gerade das akute Problem Großbritanniens, mit vielen Nebenkosten zu bezahlen sein. Wenn man wirklich eine drastische Durchlüftung der Zusammensetzung des politischen Personals erzwingen wollte, müsste man eine strikte AmtszeitBeschränkung für Abgeordnete verhängen (acht oder zwölf Jahre). Auf diese Weise zwänge man Menschen, die „in die Politik“ gehen wollen, sich in einem beachtlichen Beruf zu qualifizieren, der sie entweder vor oder nach ihrem Mandat auskömmlich ernähren kann; freilich würde eine solche Regelung wiederum jenen Menschenschlag begünstigen, der ohnedies in Gewerkschaften oder anderen Verbandskarrieren seinen „Beruf“ gefunden hat. Andererseits würde man aber zugleich die Akkumulation tief reichender politischer und parlamentarischer Erfahrung in hervorragenden Personen abschneiden, ganz abgesehen von der Frage, ob ein Land unserer Population wirklich über so viele politische Talente verfügt, dass man sie so häufig „durchwechseln“ könnte – siehe das Problem der „Grünen“ mit ihrem langjährigem „Rotationsprinzip“. (Verfassungsrechtlich wäre ein solches Modell möglicherweise ohnehin bedenklich.) Eine reduzierte Möglichkeit läge darin, das passive Wahlrecht – entgegen dem „zeitgeistigen“ Trend – wieder deutlich heraufzusetzen, damit der nahtlose Übergang aus Schule, Hochschule und Jugendverband erschwert würde. Bei den heutigen ohnedies sinnlos verlängerten Adoleszenzen und bei (Schein-) Studienzeiten bis zu zwanzig und mehr Semestern, müsste man aber das passive Wahlalter so hoch ansetzen, dass verfassungsrechtliche Risiken zu besorgen wären. Immerhin kann man mit vierzig Jahren schon Bundespräsident werden. Diese nicht ganz ernst gemeinten Vorschläge sind hier nur genannt worden, um zu zeigen, dass sich die Rekrutierung des politischen Personals kaum umprogrammieren lässt – es sei denn, die Führungen der politischen Parteien würden die Ausdorrung ihres Personals als Gefahr für ihre Wählbarkeit erkennen und sich den Mühen einer mühseligen, einzelfallorientierten Personalsteuerung unterziehen – dann aber bereit sein, mit einem niedrigeren Niveau an Konformismus auch umzugehen. Was aber ließe sich unternehmen, um die Prädominanz der Parteien – samt ihren organisationstypischen Verhaltensmustern – im politischen Prozess zu redu-
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zieren? Wie also könnte es zugehen, dass die Parteien sich selber partiell entmachten – und nicht nur durch die sinkende Wahlbeteiligung nur delegimitieren? Da dies kaum zu erwarten ist, bleibt letztlich doch nur die Erweiterung des verfassungspolitischen Repertoires um Elemente der plebiszitären Demokratie – trotz aller Bedenken und trotz gewisser Schwierigkeiten – Formen der direkten Demokratie mit den föderalistischen Strukturen zu verzahnen. Um es zugespitzt zu sagen: Nur wenn wenigstens hypothetisch die Gefahr besteht, dass ein zornig gewordenes Volk aus eigener Kraft die Regelungen über die Parteienfinanzierung per Volksbegehren kassiert, werden die Parteien ihre Vorrangstellung bedroht sehen und sie anders wahrnehmen. Weshalb aber, um damit den Rundgang zu schließen, Bedenken gegen eine Volksgesetzgebung? Diese Bedenken haben zum einen zu tun mit der Erfahrung, dass nationale Plebiszite durchaus auch von Parteien „kolonisiert“ werden können und dass die Propagandaapparate der Parteien in der Regel die Möglichkeiten der „zivilgesellschaftlichen“ Kräfte überbieten können. Ein Beispiel dafür bietet, ungeachtet der Meinung zur Sachfrage, das Berliner Plebiszit „Pro Reli“: Auf der Stufe des Volksbegehrens konnten die weithin allein agierenden Antragssteller noch einen Erfolg verbuchen, als im Volksbegehren selber die Berliner Regierungsparteien mit massiver Plakatwerbung eingriffen, waren die Kräfteverhältnisse sofort gründlich verändert. Die Kolonisierung politischer Verfahren würde sich auch sofort bemerkbar machen, sollte man ernstlich zu einer Direktwahl des Bundespräsidenten schreiten. Man mag an gewissen Aspekten der Wahl des Staatsoberhauptes durch die Bundesversammlung Anstoß nehmen. Es steht aber erstens außer Zweifel, dass eine Direktwahl erst recht in der Hand der Parteien und ihrer Apparate liegen würde – und dass dann Außenseiterkandidaturen wie jene sowohl von Gustav Heinemann als auch von Horst Köhler erst recht keine Chance hätten. Ohnedies muss man sich gegen die Illusion wappnen, die demokratisch gewisse größere Direktheit der plebiszitären Abstimmungsvoten garantiere eine höhere sachliche Rationalität der Abstimmungsergebnisse. Gerade im oben bezeichneten Hauptproblem der Demokratie, nämlich in ihrer zweifelhaften Fähigkeit jeder Generation mit entsprechender Selbstdisziplin nur das sich zu leisten, was man zuvor auch geleistet hat, also zur Internalisierung externer Kosten, sollte man skeptisch bleiben gegenüber der Einsichtsfähigkeit des Wählers. Der ist nämlich auch, nicht weniger als der Politiker – ein Mensch mit all seiner Versuchlichkeit. Trotzdem, wie gesagt, sollten wir ein national-föderales Plebiszit einführen – als ultima ratio gegenüber der abgeschlossenen, viel zu sehr in sich kreisenden classe politique. Aber selbst ein Plebiszit ist keine politische Lebensversicherung.
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Horst Ehmke hat schon und behält Recht: Wenn nicht nur einzelne politische Führer – gleichgültig in welchem politischen System –, sondern auch wenn die Regierenden wie die Regierten selbst in der Demokratie kollektiv unvernünftig handeln, „dann geht die Sache schief“, ohne dass es eine institutionelle Lebensversicherung dagegen gäbe. So bleibt letztlich nur der offene demokratische Streit, die institutionell ungebremste Kontroverse und die Hoffnung auf eine genügend große Zahl kritischer, einfallsreicher und couragierter Geister. Die aber haben tatsächlich nur in der freiheitlichen Demokratie eine Chance; insofern behält Winston Churchill recht. Allerdings müssen wir zugleich auf die Macht der Probleme selber setzen. In einem offenen, auf Kontroversen angelegten politischen System können nämlich – auch nach Jahrzehnten des Problemstaus und der Politikverweigerung – Situationen eintreten, in denen die bis in die unmittelbare Lebenswelt brutal eingreifenden Folgen lange versäumter Politik Einsichten und einen Bewusstseinswandel auslösen, und zwar dergestalt, dass die bisher auf kurzfristige, egozentrierte Schadensminimierung programmierten Wähler sich doch noch mehrheitlich gewinnen lassen für eine auf langfristige gemeinwohlorientierte Nutzenmaximierung angelegte Politik. Ist das nun der Nachklang der Strauß’schen „Sonthofen“-Strategie: „Es muss alles erst noch viel schlimmer werden, bevor…“ Im krassen Gegenteil! Franz-Josef Strauß hatte seinerzeit rein parteiorientiert machtpolitisch argumentiert – und das schon deshalb in einer sogenannten „Geheimrede“, weil man derlei parteitaktisch mit dem „Niedergang“ kalkulierende Szenarien nie öffentlich hätte vortragen dürfen: Die CSU (und die CDU) kämen erst dann wieder an die Macht, wenn die Wut auf die anderen… (Das Gegenstück zu „Sonthofen“ war jenes andere Diktum: Solle man sich etwa an der Konsolidierung der Staatsfinanzen abmühen, nur um „den anderen“ einen geordneten Haushalt zu überlassen?) Nein, es geht bei den umschriebenen Grenz-Hoffnungen darum, dass man – sogar unter Inkaufnahme „teurer“ Verspätungen – jenen historischen Augenblick abpassen muss, in dem keineswegs übermenschlich einsichtige Wähler sich selbst unter dem Lärm des Parteienwettbewerbs für eine sachgerechte Politik gewinnen lassen. Und zur Not, aber eben aus Verantwortung für mehr als nur ihre Wiederwahl, müssen Politiker das tun, was in unseren Nachbarländern Dänemark, den Niederlanden und in Österreich geschehen ist: Das Nötige früher als in Deutschland tun – dafür aber anschließend abgewählt werden. Im Grunde hängen die freien Gesellschaften in ihrem Überleben davon ab, ob es ihnen gelingt, eine fatal falsche Alternative zwischen Freiheit und Gleich-
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heit zu umgehen – nämlich jene zwischen einer in Freiheit gewählten fairen Politik und einer unter dem Druck ungelöster Probleme autoritär durchgesetzten Zwangsordnung, die sich allenfalls mit dem fadenscheinigen Mantel der Gleichheit „legitimiert“.
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Sozialstaat und Wirtschaftsentwicklung
II. Sozialstaat und Wirtschaftsentwicklung
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Zur Evolution des Sozialstaats – Fundamente und Trends
1.1 Schlaglichter Der Sozial- und Bildungsstaat wurde nicht einfach aus einem politischen Kalkül erfunden und den Bürgern als ein Fertigprodukt geschenkt. Er ist in seinen Anfängen Kind der Industrialisierung und solidarische Antwort auf neue Formen von Ungleichheit, Armut, Entwürdigung oder massenhaftem Elend in der Verstädterung, aber gleichzeitig auch Folge wachsender ökonomischer und politischer Gestaltungsmacht der Bürger – auch der Arbeiter – in der wirtschaftlichen Entwicklung. Die Produktivitätssteigerungen waren Grundlage eines neuen Selbstbewusstseins, neuer Achtung und Anerkennung und damit auch der Demokratisierung. Die Eigeninteressen der anspruchsvoller gewordenen Arbeiter und eine oft aus gemeinsamen Notlagen gewachsene Solidarität lieferten eine durchaus komplementäre Wertebasis für ein System der sozialen Sicherheit und der Bildungsexpansion. Der Sozial- und Bildungsstaat ist in einer demokratischen Gesellschaft immer auch Ausdruck des Existenzgefühls der dominanten Gruppen. Gerade diese existenzielle Repräsentanz ruft auch Verantwortlichkeiten für die Folgen hervor.1 Der Sozialstaat entwickelte sich in drei großen Schüben:
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Rentenversicherung und Krankenversicherung entstanden in der Wachstums- und Modernisierungsphase des ausgehenden 19. Jahrhunderts.
Vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden unter dem Einfluss klassischer liberaler Theorien Armut und Arbeitslosigkeit häufig noch als Ausdruck moralischen Versagens oder als Drückebergerei interpretiert. Es fehlte das Wissen, dass einfache Arbeit oft nicht genügend Einkommen für eine ausreichende Ernährung erbrachte. Unterernährung machte eine volle Arbeitsleistung unmöglich.
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Die Novemberreformen der neuen Demokratie 1919 waren Teil des Starts in eine sozialere Wirtschaftsordnung nach dem Ersten Weltkrieg auf der Grundlage eines sprunghaft gestiegenen demokratischen Selbstbewusstseins und gestiegener Macht breiter Schichten der Bevölkerung. Nach dem Zweiten Weltkrieg war der tiefe Schock durch die Zerstörungen und die Vertreibungen Katalysator für eine wesentliche Erweiterung – auch als eine solidarische Antwort auf die Lotterie der Kriegslasten und -opfer. Der Nachkriegswohlfahrtsstaat war aber auch Kind des Wirtschaftswunders. Konrad Adenauer konnte gestärkt durch die ökonomischen Erfolge gegen die Liberalen und Ludwig Erhard die Rentenreform im Wahljahr 1957 und später eine umfassende Gesundheitsvorsorge durchdrücken. Verglichen mit der Weimarer Zeit entstand ein neuer wirtschaftspolitischer Konsens. Die Sozialdemokratie nahm Abschied von ihren Verstaatlichungsträumen. Das Wirtschaftswunder und später die neuen keynesianischen Lehren ermöglichten es ihr, einen Frieden mit der Marktwirtschaft zu schließen.2
1.2 Entwicklungsbedingungen und Erscheinungsformen des Sozialstaats Verhaltensänderungen und die agrarisch-technische Revolution Wir erleben das Paradoxon, dass erst in Gesellschaften, die dem durch Wettbewerb kontrollierten Eigeninteresse eine neue, auch moralische Geltung verschaff2
Crosland hat in seinem „The Future of Socialism“ diesen neuen, aus heutiger Sicht fast schon naiven keynesianischen Steuerungsoptimismus deutlich artikuliert: „Heute hat die Kapitalistenklasse ihre Befehlsgewalt verloren. Ihr unmittelbarer und sichtbarer Verlust an wirtschaftlicher Macht entstand gegenüber der politischen Macht, die jetzt die Kontrolle über einen weit größeren Anteil ökonomischer Entscheidungen ausübt als vor dem Krieg. Die öffentliche Hand beschäftigt heute nicht nur 25 Prozent der gesamten Erwerbstätigen. Sie ist auch verantwortlich für über 50 Prozent der Gesamtinvestitionen. Sie hat weit größeren Einfluß auf die Unternehmensentscheidungen, selbst wenn sie nominal in privater Hand verbleiben. Das ist großenteils die Konsequenz einer Anerkenntnis der Verantwortlichkeit der Regierung für die Vollbeschäftigung, die Wachstumsraten, die Zahlungsbilanz und die Einkommensverteilung. Das wichtigste Instrument, um diese Verantwortung auszuüben, ist die Fiskalpolitik. Vor allem durch das öffentliche Budget – natürlich unterstützt durch andere Instrumente – kann die Regierung jeden Einfluß, den sie wünscht, auf die Einkommensverteilung ausüben, und sie kann auch innerhalb weiter Grenzen die Aufteilung des gesamten Output zwischen Konsum, Investitionen, Export und Sozialausgaben bestimmen.“ (Crosland 1963: 7).
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ten, ein Sozial- und Bildungsstaat entstand.3 Zur Basis des Sozialstaats gehört nicht nur Solidarität, sondern aufgeklärtes Vorsorgeinteresse gegenüber Bildung, Alter, Krankheit oder Arbeitslosigkeit, die alle nicht individualistisch isoliert bewältigt werden können, sondern immer Parallelverhalten voraussetzen. Die Befreiung aus alten Bindungen setzte ungeheure Energien für eine außergewöhnliche wirtschaftliche und menschliche Entwicklung frei. Allerdings entstanden auch neue Formen und Dimensionen der Ungleichheit bei neuen Risiken. Gier wurde nicht erst im letzten Boom des Finanzkapitalismus virulent. Eine New Economy gab es schon im Boom vor 1873 mit überzogenen spekulativen Blasen und Bankexzessen.4 Doch die wacher und produktiver gewordenen Menschen erzeugten nicht nur Mehrwert, sondern fühlten sich auch mehr wert. Das Soziale in Gestalt der großen Sicherungssysteme wurde in einer Verschränkung von individualistischen und altruistischen Absicherungsmotiven entwickelt. Besonders eindringlich hat Fogel durch seine Forschungen verdeutlicht, wie sehr die Existenzgrundlagen der Menschen und parallel dazu ihre Lebenseinstellungen und Forderungen an den Staat sich in der wirtschaftlichen Entwicklung veränderten (Fogel 2002). Allerdings behielt der Strukturwandel immer ein Doppelgesicht. Die „Vernichtung“ von Arbeitsplätzen durch Rationalisierung und technischen Fortschritt brachte immer Belastungen und auch Leid. Dennoch entstanden daraus neue (Beschäftigungs-) Märkte und neuer Wohlstand. Ohne „Vernichtung“ von mehr als 90 % aller Arbeitsplätze in der Landwirtschaft und jetzt die beschäftigungsmäßige Deindustrialisierung – auch durch Auslagerung von Fertigung in Schwellenländern – hätte es keine Wohlstandssteigerungen durch immer billiger gewordene Industriegüter gegeben.5
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Hirschman hat dies in „The Passions and the Interests“ (1997) beschrieben. Perez (2005) hat gezeigt, wie mehrere technologische Revolutionen nicht nur die Wertschöpfung, sondern auch das Leben der Menschen tief greifend veränderten – zuletzt die Informationstechnologien und das Internet. Jede dieser technischen Großinnovationen – von der Elektrifizierung bis zur Motorisierung – löste einen langen Wachstumszyklus aus, in der Reifungsphase auch begleitet von einer eigenen Dynamik des Finanzsektors mit krisenhaften Zusammenbrüchen – so etwa 1929 oder viel früher 1873. So erreichte München sein besonders hohes Einkommen und seine Vollbeschäftigung durch Abbau und auch Verlagerung von einfachen Fertigungsarbeitsplätzen bei Spezialisierung auf Premiumgüter und ständiger Tertiarisierung gerade des Verarbeitenden Gewerbes, wo heute rund 50 % der Beschäftigen in Büros (im Marketing, in Forschung und Entwicklung, Finanzierung, Controlling, Logistik und Lagerung, im Einkauf und Verkauf oder im zentralen Management) arbeiten.
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Kein Sozialstaat wird dieses Doppelgesicht des wirtschaftlichen Fortschritts je überwinden. Gesellschaften müssen die darin liegende Spannung als Voraussetzung erfolgreicher Realitätsbewältigung akzeptieren. Die Wohlstandssteigerungen des wirtschaftlichen Wachstums sind immer erkauft mit der Entwertung alten Human- und Sachkapitals. Allerdings gäbe es ohne die gleichheitsfördernde Verbilligung der Industriegüter und die dahinter stehenden Produktivitätssteigerungen bei weniger Arbeitseinsatz auch keine Sozialstaatsexpansion. Diese Trends gehen unverändert weiter und müssen dauerhaft bewältigt werden. Gerade in der jüngsten Vergangenheit – von 1978 bis 2003 – hat sich der Anteil der Ausgaben für Güter (ohne Wohnen) im Konsumbudget der privaten Haushalte drastisch verringert (von rund 45 % auf rund 26 %) – natürlich begleitet und verursacht durch Abbau und Verlagerung von Arbeitsplätzen in Schwellenländer bei ständigem Neuaufbau. Hier werden dann ständig moralische Forderungen gestellt, z.B. keinen Abbau von Arbeitsplätzen in Gewinnbetrieben. Das wäre natürlich unsinnig, denn Gewinne werden erzielt, weil rationalisiert wurde und sie dringend für die Entwicklung neuer Produkte oder von Innovationen benötigt werden. Auch der starke Staat schließt in einer analogen Logik Bundeswehrstandorte, wenn sich die Sicherheitslage ändert. Genauso gibt es in Gewinnkonzernen Bereiche mit schrumpfender Nachfrage. Sozialstaat – wirtschaftliche und demographische Veränderungen Die besseren Lebensbedingungen durch die Industrialisierung riefen bei sinkender (Kinder-) Sterblichkeit zunächst ein lang anhaltendes Bevölkerungswachstum hervor. Ökonomisches Wachstum zusammen mit der Verstädterung, mit mehr Bildung und veränderten Lebenseinstellungen und Lebensstilen bedingten den dramatischen Rückgang der Kinderzahl je Frau. Bei den Geburtsjahrgängen der Frauen nach der Mitte des 19. Jahrhunderts kam es zu einem Rückgang von rund fünf auf unter zwei für die nach 1890 geborenen Mütter. Für den Geburtsjahrgang 1967 erreicht die Kohortenfertilität (die Zahl der Geburten je Frau während ihres ganzen Lebens) noch einen Wert von 1,46. Weniger Kinder machten insbesondere eine bessere Ausbildung möglich. Die Produktivitätssteigerungen setzten sich in vermehrten Einkommenssteigerungen je Einwohner um und wurden nicht mehr weitgehend für zu hohen Nachwuchs aufgebraucht. Der Sozialstaat hat später die Reduzierung der Geburtenziffern auf ein nicht nachhaltiges Niveau zumindest begünstigt (Cigno et al. 2000). Seine Einbettung muss gerade wegen solcher Verhaltensänderungen neu justiert werden. Eine riesige demographische Transformation hatte sich in ihr Gegenteil verkehrt. Aus kaum verkraftbarem demographischem Wachstum wur-
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de eine ebenfalls kaum verkraftbare Schrumpfung bei sich dramatisch verändernder Altersschichtung. Jetzt muss eine neue Balance in den Lebensentwürfen der Paare zur Gründung von Familien und den Erfordernissen der Gesellschaft gefunden werden. Dabei kommen alle Änderungen von Geburtenraten zu spät, um Anforderungen aus der Welle der zusätzlichen Rentner der Babyboomgeneration zu bewältigen. Hier helfen nur Effektivitätssteigerungen, längere Lebensarbeitszeit und Entlastungen der Steuerzahler bei den allgemeinen Ausgaben (vgl. Börsch-Supan, Kapitel IV & Sarrazin, Kapitel VI). Grenzen und Wirkungen Das goldene Zeitalter des Sozialstaats (Esping-Anderson) nach dem Zweiten Weltkrieg führte seit Ende der 1960er Jahre im Übermut ob seiner Erfolge in die Selbstüberforderung, was Ludwig Erhard zwang, in einer ersten Nachkriegsrezession begleitet von einer Haushaltskrise zurückzutreten.6 Dennoch kam es danach – vor allem in den Reformgesetzten 1972 – zu einer euphorischen Flut von Sozialstaatsleistungen (u.a. Öffnung des Rentensystems für mehr Berechtigte, flexible Altersgrenze, die in eine Verkürzung der Lebensarbeitszeit einmündete). Später wurden die Grenzen keynesianischen Deficit Spendings in der Phase der Stagflation – dem „double headed monster“ (James Edward Meade) – beim Übergang in die 1980er Jahre überdeutlich. Die beiden Schuldenjahrzehnte – die 1970er und 90er Jahre (Staatsschuld 1970 20 % des BIP, 1980 40 %, bis 2000 Anstieg auf rund 60 %, Anstieg bis 2012 auf rund 80 %) – waren gleichzeitig auch Jahrzehnte der Abgabensteigerung und der Wachstumsschwäche, während die Sozialstaatsquote von 1965 bis 1975 um fast zehn Prozentpunkte anstieg. Begleitet von ganzen Serien an Beschäftigungsprogrammen stieg die Arbeitslosigkeit vor Hartz IV von Konjunkturzyklus zu Konjunkturzyklus bis auf 5 Mio.7
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Ludwig Erhard stürzte 1966 über 500.000 Arbeitslose, Helmut Schmidt 1982 über 1 Mio., Helmut Kohl 1998 über 4 Mio. und Gerhard Schröder 2005 über 5 Mio. Seine Agenda 2010 wirkte für die Wahlen zu spät. Obwohl sie jetzt wirkt, sind viele unzufrieden. Hier wird ein problematisches Muster deutlich. Die Wähler benehmen sich wie Zuschauer in einem Stadion, die einige Akteure machen lassen und ihre Daumen senken, wenn kurzfristig Erfolge ausbleiben. Es ist zu wenig bewusst, dass die Wähler als Akteure sich in Krisen selbst ändern müssen. Besser als theoretische Analysen machen die politischen Charakterisierungen der Bundesrepublik die Veränderungen deutlich. Aus der Wachstumslokomotive in der EU (1970er Jahre) wurde sie Trägerin der „roten Laterne“ (1990er Jahre).
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Abbildung 1:
Zunahme der Ungleichheit in Westdeutschland – GiniKoeffizient in Westdeutschland, Äquivalenzeinkommen, alte OECD Skala, 1969-2003
50% Markteinkommen
45% 40%
Gini-Koeffizient in %
35% 30%
Nettoeinkommen (nach Umverteilung)
25% 20% 15% Armutsquote
10% 5% 0% 1969
1973
1978
1983
1988
1993
1998
2003
Jahr
Anmerkung: Ab 1998 inkl. Ausländer. Quelle: empirica-Darstellung nach Hauser 2006
Die Expansion des Sozialstaats konnte auch ein gewisses Anwachsen der Einkommensungleichheit nicht verhindern. Sie ist allerdings trotz der Steuerungsdefizite seit den 1970er Jahren weniger gestiegen, als oft behauptet, und geht nicht nur auf erhöhte Spitzeneinkommen zurück. Überhöhte Einwanderung von Niedrigqualifizierten und eine Unterausbildung kamen hinzu. Genauso erhöhen mehr Singlehaushalte und mehr Paarbeziehungen zwischen berufstätigen Akademikern die Ungleichheit der Haushaltseinkommen. Als Lehre bleibt: Sozialstaat und Bildungsstaat entstanden auch aus Ansprüchen der sich verändernden Selbstverwirklichungsziele der Bürger. Eine Quelle war die Bereitschaft zu solidarischem Handel. Allerdings hat die Expansion des Sozialstaats auch Verpflichtungsgefühle gegenüber der Gesellschaft ausgehöhlt. Wenn rund 20 % der Frauen (wahrscheinlich noch mehr Männer) kinderlos bleiben und dennoch volle Sozialstaatsleistungen, insbesondere im Alter, in Anspruch nehmen wollen, dann wird hier eine Erosion von Solidarität und Verpflichtung sichtbar. In einer Demokratie der Stimmenmaximierung kommen
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dann die gut organisierten, nicht unbedingt bedürftigen Gruppen oder die Besitzstandswahrungsinteressen – z.B. die der Kinderlosen – besser zum Zuge. Damit werden fundamentale Aufgaben an den Rand gedrängt – so die Eingrenzung der Verteilungspolitik auf wirklich sozial bedürftige Gruppen. Als soziales Ergebnis, wie wir es heute in der Realität beobachten, mischen sich Staatsversagen, Verhaltensänderungen und neue Ungleichheit auf Märkten. Die Nettoeinkommen sind dennoch dank staatlicher Transfersysteme weniger ungleich geworden als die Markteinkommen.
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Zur Zukunft des Sozial- und Bildungsstaats
2.1 Die Themen Die Entfaltung des Sozial- und Bildungsstaats war nicht nur jeweils Reaktion der Politik auf Notlagen und Defizite in der Gesellschaft. Anspruchsteigerungen und Ziele individualistischer Selbstverwirklichung haben die Politik genauso herausgefordert wie Ungleichheit und ein gestiegenes Sicherheitsbedürfnis einer wohlhabender gewordenen Bevölkerung sowie langfristige wirtschaftliche Entwicklungsziele und -strategien. Ideologische Blockaden (z.B. konservative Familienkonzepte oder gewerkschaftliche – frei von Kosten-Nutzen-Überlegungen – postulierte Sicherheitsnormen, gleichgültig, ob beim Kündigungsschutz oder Mietrecht) genauso wie irrationale Wirkungsgläubigkeit haben reale Fortschritte genauso verhindert wie Interessenskonflikte zwischen Gruppen, die jeweils möglichst große Anteile staatlicher Aufwendungen zu ihren Gunsten umlenken wollten. Neben dem Sozial- und Bildungsstaat, der zentrale Bedürfnisse befriedigte oder kollektive Güter bereitstellte, gab es auch den Herumverteilungs- und Interessentenstaat, der Sonderinteressen nachgeben musste, z.B. durch Frühverrentung, was die Steuer- und Beitragszahler im Ergebnis zu hoch belastete.
2.2 Mehrdimensionale Benachteiligungen Benachteiligungen in unserer Gesellschaft entstehen meist aus mehreren Gründen und in unterschiedlichen Kombinationen. Armut und geringe Bildung der Eltern drohen gleichsam vererbt zu werden. Eine Ursache ist eine neue Form von Netzwerkarmut durch Segregation in einer Armut der Beziehungen zu Personen mit Entscheidungskompetenzen, mit Bildungskontakten oder zu motivierenden
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Milieus. Die Aufstiegschancen der Kinder aus Unterschichten haben sich auch durch eine verfestigte Segregation eher verschlechtert. Die in den überforderten Nachbarschaften oft demotivierenden Schulen verschärfen die Familienprobleme. Hinzu kommen in unterschiedlichen Kombinationen ungesunde Ernährung und Lebensweisen, Computerspielsucht und exzessiver Medienkonsum, die alle mit Bewegungsmangel einhergehen, was wiederum negativ auf Schulleistungen oder die Gesundheit zurückwirkt. Der eigene Fernsehapparat im Kinderzimmer und die Spielkonsole werden zum Statussymbol der Kinder aus Unterschichten.8 Solche Erziehungsmängel kombinieren sich dann mit monopolistischer Ausbeutung auf lokalen Arbeitsmärkten, mit Belastungen und Lähmungen aus der Nachbarschaft, besonders durch negative Einflüsse durch Gleichaltrige in der Jugend. Deprivationen sind fast immer mehrdimensional. In den großen Städten haben sie sich durch Segregation verräumlicht, ohne dass die dagegen entwickelten staatlichen Programme bisher ausreichend wirken. Alle Bemühungen zu mehr Gleichheit müssen diese mehrdimensionalen Verursachungen berücksichtigen und entsprechend komplexe auch räumlich konzentrierte Gegenstrategien vorsehen. Der funktional organisierte und fragmentierte Staat erweist sich hier oft als ziemlich hilflos. Solche Ungleichheiten werden sich auf längere Sicht im Rentenalter verstärken, weil erst dann die Einkommensergebnisse der individuellen Vermögensbildung während der Erwerbstätigkeit sichtbar werden. Hinzu kommt die künftig wachsende Zahl der Rentnerpaare mit zwei oder mehr Rentenansprüchen und in großer Mehrheit auch weitgehend entschuldetem Wohneigentum. Die Politik kann solche entstandenen Unterschiede nicht mehr korrigieren, sondern lediglich Mindestrenten gewähren, um ein zu weites Absinken der Einkommen zu verhindern.
2.3 Sinkende Handlungsmöglichkeiten bei steigenden Ansprüchen Als Folge der demographischen Veränderungen, der hohen Arbeitslosigkeit und der schwachen Produktivitätsentwicklung und erst recht nach dem jetzigen 8
Die Ungleichheit wird eher mehrdimensionaler und zeigt sich in Unterschieden der Lebenserwartung von etwa acht Jahren zwischen armen und reichen Haushalten, in Bildungsunterschieden, Gesundheitsunterschieden. So entsteht Zuckerkrankheit wegen falscher Ernährung vor allem bei Unterschichten. Besonders hoch sind in Deutschland die Unterschiede in den Schulergebnissen zwischen Migrantenkindern und Kindern deutscher Eltern.
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sprunghaften Anstieg der Verschuldung sind die Handlungsmöglichkeiten von Politik künftig wirklich erheblich eingeschränkt – es sei denn, es kommt gleich in mehreren Bereichen zu einem Paradigmenwechsel. Politik wird sich auf fundamentale Bedürfnisse der großen Gruppen konzentrieren und hat dennoch Ausgaben zu kürzen und wird gleichzeitig die fundamentalen wirtschaftspolitischen Ziele wie Wachstum und Vollbeschäftigung in den Mittelpunkt stellen müssen. Neue wachstumsfreundliche Einnahmequellen sind zu erschließen. In den öffentlichen Haushalten kann kaum mehr Neues gesät werden, wenn nicht vorher gejätet wurde. Sowohl die noch nicht überwundene Arbeitslosigkeit wie die Finanzierungsengpässe der Kranken- und Pflegeversicherung, wie auch die ebenfalls nicht überwundenen Geburtendefizite signalisieren gewaltige Anpassungsdimensionen. Der Mindestlohnchampion des Wahlkampfes war keine nachhaltige Antwort auf die hohe Zahl der niedrig qualifizierten Erwerbstätigen, die auf kombinierte Sozialtransfers angewiesen sind. Solange die Ursachen des politisch zu verantwortenden Überangebots von niedrig qualifizierten Erwerbstätigen in Form
eines unzureichenden Schulsystems und unzureichender Integration großer Migrantengruppen, vor allem der Muslime
nicht überwunden sind, besteht nur geringe Chance zur Vollbeschäftigung bei lebensstandardsichernden Löhnen. Im Übergang sind Lösungen wie z.B. Workfare unausweichlich (vgl. Schneider, Kapitel VII). Ein Mindestlohn von 7,50 € fällt weitgehend in die Kategorie der Symptompolitik unter dem politischem Druck, kurzfristig Scheinlösungen für Langfristprobleme zu präsentieren. Genauso sind die bisherigen familienpolitischen Maßnahmen noch keine ausreichende Antwort auf die niedrigen Geburtenraten und auf die Benachteiligung der Familien in der Gesellschaft (vgl. Ulrich Pfeiffer, Kapitel IX). Die Gesundheitsreform wartet auf eine Lösung (vgl. Afheldt, Kapitel V & Börsch-Supan IV). Das große Zukunftsthema heißt weiterhin höhere Wirksamkeit und möglichst wenig steigende und transparentere Belastungen der Beitragszahler.
2.4 Besser funktionierende Märkte zur Entlastung des Sozialstaats Konzeptionell noch immer nicht voll akzeptiert sind Versuche zur Marktstrukturpolitik vom Arbeitsmarkt bis hin zum Wohnungsmarkt, um Arbeit wieder
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knapper zu machen oder das Wohnungsangebot ohne massive Subventionen angemessen auszuweiten und umzustrukturieren. An beiden Beispielen kann man zeigen, dass sich die allokativen und verteilungspolitischen Ergebnisse der Märkte deutlich verbessern lassen. Eine Politik für sozialere Märkte wird leider noch immer unterschätzt. Forderungen wie „jeder soll von seiner Arbeit leben können“ artikulieren fundamentale Ansprüche der Menschen. Diese Ansprüche werden nicht durch immer neue Subventionen oder Interventionen in die Märkte realisiert werden. Es wäre irreführend, unbefriedigende Ergebnisse vor allem einem ausbeuterischen Kapitalismus in die Schuhe schieben zu wollen. Wir kennen die Grenzen und Blindheiten von Märkten, wissen aber genauso um die Grenzen und Verklemmungen staatlichen Handelns. Ein Hindernis zur Bewältigung der Aufgaben entsteht immer wieder aus der Ablenkung von der eigenen Verantwortung durch Hinweis auf die angeblichen Schäden der Globalisierung. Es gilt jedoch immer: Die in China gezahlten Löhne entsprechen der dortigen Produktivität, die in Deutschland gezahlten Löhne sind und bleiben durch das Produktivitätsniveau in Deutschland bestimmt. Der Handel kann eine Angleichung beschleunigen. Die niedrigeren Löhne in China verhindern keinen steigenden Lebensstandard in Deutschland. Es können nicht alle Automobilarbeitsplätze von Deutschland in das kostengünstige China abwandern, weil China, wenn es uns Autos verkauft, Euros erhält. Nur wenn andere chinesische Unternehmen oder Haushalte ihrerseits deutsche Güter kaufen und dafür Euros benötigen oder günstige Kredite gewähren, kann der Autoexport finanziert werden. Es gilt, die eigene Unfähigkeit zu konfrontieren, um für den riesigen Berg ungetaner Arbeit neue Arbeitsplätze zu schaffen. Dabei wächst dem Bildungs- und Erziehungsstaat eine ständig steigende Verantwortung für das Hineinwachsen der Kinder und Jugendlichen in die Gesellschaft zu (vgl. Christian Pfeiffer, Kapitel X). In einer meritokratischen Gesellschaft werden immer wieder Menschen mit hoher Innovationskraft aufgrund kreativer Leistungen riesige Markteinkommen verdienen. Gleichzeitig gibt es eine viel zu große Gruppe, die aufgrund einer unzureichenden Bildung nicht einmal minimale Befähigungen erwirbt, um auch nur in die Nähe solcher Chancen/Leistungen zu gelangen. Mehr Gleichheit durch bessere Ausbildung und wieder Verknappung von Arbeit bleibt zunächst ein Traum oder eine Vision. Die Erfahrungen in anderen Ländern, aber auch die Erfahrungen der eigenen Geschichte zeigen, dass diese Vision in beachtlichem Umfang realisiert werden kann. Preußen war immerhin im frühen 19. Jahrhundert zusammen mit den USA Vorreiter in der Schulbildung. Politik kann, wie viele Beispiele zeigen, Trendveränderungen herbeiführen, wenn es gelingt, an die nachhaltigen Interes-
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sen der Bürger oder an ihre Sorgen zu appellieren und eine entsprechende politische Handlungsbereitschaft zu stärken.
2.5 Eine wirksame Verteilungs- und Anerkennungspolitik Der alte Sozialstaat war zu einkommensorientiert. Durch seine Transferzahlungen konnte er Mindesteinkommen sichern oder Einkommensverluste durch Arbeitslosigkeit vermindern. Er konnte jedoch vielen Adressaten Anerkennung und Respekt nicht ausreichend ermöglichen, die in einer heterogenen Einwanderungsgesellschaft der vielfältigen individualistischen Selbstverwirklichungsziele immer wichtiger werden. Ein „Knete-Euro“ ist weniger wert als ein selbst erarbeiteter Euro. Transfereinkommen verschafft keine wirkliche Autonomie. In einer individualistischen säkularisierten Gesellschaft werden Selbstachtung und Selbstverwirklichung immer stärker auch abhängig von der Anerkennung, vom Respekt und der Unterstützung der anderen. Parallel bleibt Arbeit – gestützt auf hohe Qualifikationen und eine hohe Anpassungsfähigkeit – auch künftig Grundlage einer Selbstverwirklichung und Anerkennung durch andere (vgl. Dettling, Kapitel III). Methodisch blieb der Sozialstaat in seiner Komponente der Anerkennung wahrscheinlich deshalb schwach, weil er die Selbstverwirklichung durch Arbeit auf funktionsfähigen Märkten zu wenig gestützt hat. Kapitalistische Märkte, die als Ort der Gier und des ruppigen Egoismus interpretiert werden, kann man nur schwer als vollwertigen Partner einer Gleichheits- und Anerkennungspolitik annehmen. Märkte haben glücklicherweise viele Gesichter. Zu wenig Energien werden darauf verwendet, Märkte durch Leistungswettbewerb sozialer zu gestalten und Diskriminierung oder sogar Ausbeutung durch Wettbewerb zurückzudrängen.
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Ein effektiverer Staat
Der Staat steht künftig mit dem Rücken zur Wand. Das sollte den Mut zu radikalen Lösungen stärken, die Einnahmeverbesserungen bringen und gleichzeitig individuelle Leistungsfähigkeit und Funktionsweisen von Märkten stärken. Hier geht es uns nicht nur um eine steigende Verwaltungseffizienz. Es geht um fundamentale Weichenstellungen bei der Erzielung von Einnahmen oder in der Verwendung öffentlicher Mittel. Auf der Einnahmenseite geht es darum, die Belas-
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tungen der Einkommen zu reduzieren und andere Einnahmequellen zu erschließen. Die Steuern auf Immobilien sind im internationalen Vergleich kümmerlich (Grundsteuer in USA und Großbritannien jeweils rund 3 % des BIP, in Deutschland rund 0,5 %). Die Grundsteuer verkümmerte als kommunale Einkommensquelle. Dafür finanzieren sich die Kommunen viel zu stark aus der Einkommensteuer. Immobilien können nicht auswandern. Im internationalen Wettbewerb ergeben sich durch Mehrbelastungen keine Probleme, auch weil die meisten Länder Immobilien schon jetzt sehr viel stärker besteuern als Deutschland. Verkümmert ist im internationalen Vergleich auch die Erbschaftssteuer. Da die Einkommen im Zuge der demographischen Verschiebungen der Altersschichtung ohnehin schon zu stark belastet sind und weiter stark belastet bleiben, wird die Suche nach „besseren“ Einnahmequellen immer wieder neue Nahrung erhalten. Allerdings bleiben die politischen Widerstände groß. Die Angst vor dem Zorn der besonders unterbesteuerten Inhaber von großen städtischen Eigenheimen oder auch vor dem Mieterbund, der jede Besteuerung von Wohnungen als unsozial ansieht, führte bisher zur Handlungsunfähigkeit. Die Vergleiche mit Dänemark oder US-amerikanischen Staaten zeigen, dass eine höhere Besteuerung von zeitnahen Werten für Immobilien technisch möglich ist. Eine höhere Belastung von Bodenwerten würde gleichzeitig die Funktionsweise der Märkte verbessern, weil der anstehende Stadtumbau ohne eine höhere Verkaufsbereitschaft der Eigentümer alter abgestorbener Nutzungen scheitern wird. In der schrumpfenden Stadt mit wachsenden Stadtbrachen oder Kümmernutzungen entstehen andere Formen des Marktversagens als in der wachsenden Stadt. Angesichts der hohen Risiken und der geringen Verkaufsbereitschaft der alten Eigentümer, deren Brachen die Nachbarn schädigen, bleibt es für die Investoren einfach, auf „neuem“ Bauland am Stadtrand zu investieren. Hohe Subventionen beim Recycling der wachsenden Stadtbrachen würden oft nur die Preise erhöhen und Preiserwartungen wecken, hinter denen keine marktwirtschaftlich erzielbaren Erträge stehen. Noch deutlicher könnte die gesamte Finanzierung der Nutzung von Straßen auf eine gerechtere und effektivere Basis gestellt werden. Im Zeitalter der Navisysteme wird es möglich, jeden Autofahrer durch Nutzungspreise entsprechend der tatsächlichen Fahrleistung von Straßen oder Autobahnen und der jeweiligen Auslastung zur Finanzierung heranzuziehen. Durch solche Quasimärkte der Straßennutzung, wie sie in Holland gestartet werden, würden die gegebenen Straßen und Autobahnen durch effektivere Auslastung mehr Verkehr ermöglichen, weil in den teuren Stauzeiten nur wichtiger Verkehr stattfinden würde. Es würde sich nicht mehr lohnen, morgens zwischen 8 und 9 Uhr mit Lastwagen
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Stadtautobahnen zu verstopfen, die auch um 5 Uhr befahren werden können. Ein gegebener Verkehr wiederum würde mehr Mobilität bewältigen, weil z.B. die Besetzungsziffern in den Pkws steigen. Staus sind ökonomisch dumm, ökologisch belastend und für die Betroffenen zeitfressend und frustrierend. Staus sind Zeichen von absurdem Straßensozialismus. Aus kollektiver Finanzierung bei individueller Nutzung ohne Staupreise entsteht unvermeidbar Übernachfrage, die durch teure Warteschlangen abgebaut wird. Wahrscheinlich würden Quasimärkte der Straßennutzung demonstrieren, dass es in Deutschland eher zu viele Straßenkapazitäten gibt als zu wenig. Die Staus allerdings sind demokratisch, was sie dennoch nicht rechtfertigt. Ähnliche direkte Zurechnungen sind durch nachträgliche einkommensbezogene Rückzahlungen von Studiengebühren möglich oder auch durch direkte Belastungen von CO2-Ausstoß. Das Äquivalenzprinzip wurde im deutschen Steuer- und Abgabensystem immer mehr vernachlässigt – mit der Nebenwirkung, dass die Bürger nicht mehr nachvollziehen können, wer in welchem Umfang für welche Leistungen aufkommt. Es wäre gerechter und effektiver – wo immer möglich – Quasimärkte im Staatssektor zu etablieren, um die effektive und auch ungerechte Herumverteilung einzugrenzen. Es macht keinen Sinn, dass ich als Einkommensteuerzahler mich selber beim Wohnen im Eigenheim oder morgens als Berufspendler oder in anderen Formen der subventionierten Mobilität begünstige. Es ist ungerecht, dass nichtakademische Steuerzahler mit mittlerem Einkommen Studenten hoch rentable Studien als freie Güter mitfinanzieren. So entstehen ungerechtfertigte Verteilungseffekte. Die Neigung zu überlangen Studienzeiten wird verstärkt.9 Aus sozialen Motiven wurde es fast schon eine sozialstaatliche Routine, Unternehmen und auch Arbeitnehmer in schrumpfenden Sektoren zu subventionieren, angeblich um Arbeitsplätze zu erhalten. Jetzt in der Krise werden wieder Risikoarbeitsplätze subventioniert, die auf Dauer mit zu hoher Wahrscheinlichkeit nicht überleben. Besonders verschwenderisch waren und sind die Subventionen in der Landwirtschaft. Starke Produktivitätssteigerungen bei schwach steigender Nachfrage mussten zu einem ständigen zu langsamen Rückgang der Beschäftigung und zu einem Absinken der Preise und der Einkommen führen. Dagegen hilft nur ein rascher Beschäftigungsabbau möglichst im Generationen9
Natürlich wird jede Rückzahlung einkommensorientiert vorgenommen werden. Natürlich muss es staatliche Kredite oder staatlich verbürgte Kredite geben. Natürlich müssen die Hochschulen autonomer werden und die Studiengebühren zugunsten besserer Lehre verwenden. Natürlich muss es einen effektiven Wettbewerb zwischen Hochschulen geben, die damit kundenorientierter werden. Für Studiengebühren einzutreten, bedeutet keine Zustimmung zu allen möglichen Krüppellösungen.
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wechsel, um die Erlöse je Beschäftigten zu stabilisieren. Jede rationale Politik hätte diesen Schrumpfungsprozess in seinen Determinanten transparent gemacht und im Generationenwechsel den Nachwuchs durch Aufklärung möglichst verknappt, indem Bauernkinder sich rascher für andere Berufsrichtungen entschieden hätten. Tatsächlich wurden ständig durch Subventionsversprechen Einkommenserwartungen geweckt und wahrscheinlich ständig junge Menschen zusätzlich in den Sektor gelockt, wo sie dann oft erst nach Jahrzehnten erkennen mussten, in welche berufliche Sackgasse sie sich begeben hatten. Die sozial gemeinten Hilfen der Agrarpolitik haben soziale Härten verschärft. Ähnliches gilt für andere Sektoren. Der Herumverteilungsstaat muss systematisch auf echte Verteilungsaufgaben konzentriert werden.10 Bis heute werden begünstigt – leider oft wirr und nicht selten unwirksam oder sogar mit Schäden für die Betroffenen –: Bauern und Bergarbeiter, früher Erwerbsaustritt, langes Studium, Kinderlosigkeit, überregulierte Berufe als Schutz gegen Wettbewerb, lange Pendelwege zur Arbeit, die Nutzung von städtischen Eigenheimen durch zu geringe Grundsteuer. Zuwanderungsbremsen aus Osteuropa schotten zum Schaden der Konsumenten und der wirtschaftlichen Entwicklung Arbeitsmärkte ab. Der alte Sozialstaat in einer hoch entwickelten Lobbykratie blieb erschreckend blind und bis in die jüngste Vergangenheit ziemlich ohnmächtig oder untätig gegenüber neuen sozialen Themen. Akzeptiert man diese Argumente, dann wäre – sofern die Wähler zustimmen – eine erhebliche Staatsentrümpelung sinnvoll, die natürlich allein deshalb nicht einfach wird, weil sie gegen das ungeschriebene „Beinahe-Verfassungsprinzip“ einer permanenten Besitzstandswahrung angehen muss. Die Sprengkraft der steigenden Lasten der sozialen Sicherungssysteme wird allerdings zum großen Verbündeten. Es wird rein technisch immer schwerer möglich, Lasten in die Zukunft zu verschieben oder Packeselgruppen zu finden, die sich nicht wehren. Der Wettbewerb der Parteien, die ständig unter dem Druck der Medien möglichst nahe bei den Wählern bleiben, kann auch bedeuten, nahe an den Vorurteilen der Wähler zu sein. Demokratische Politik wird immer wieder Illusionen über künftige Ressourcen und Handlungsmöglichkeiten nähren und Aufklärung vernachlässigen (vgl. Leicht, Kapitel I). Allerdings wird die Wirklichkeit durch den Problemstau immer mehr zu einem unmittelbaren Aufklärer. Das gilt für den Kli10
Die Neigung zu wirrer Herumverteilung ist unausrottbar. Gerade erst wurde die Entfernungspauschale reduziert, schon beginnt eine neue Debatte, um sie wieder voll einzuführen. Dabei gehören Entscheidungen über den Wohnstandort in die Privatsphäre. Um in wirklichen Härtefällen zu helfen – etwa wenn ein Familienvater, um Arbeit zu finden, zum Fernpendler wird –, könnte man befristete offene Subventionen auf Antrag gewähren, muss aber nicht die ganze Republik subventionieren.
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mawandel wie für die unzureichende Bildung, wo die Unternehmen bei knappem Nachwuchs zu Bildungslobbyisten werden oder für die näher rückenden Alterungssicherungsprobleme. Mangel an Nachwuchs und die systematische Verknappung der Arbeit machen die Dringlichkeit von effektiveren Investitionen in die Entwicklung von Qualifikationen immer dringlicher. Nur wenn die Einsicht in die Dringlichkeit zur Veränderung der Realität unter wachsendem Druck der Realität steigt, werden die Wähler das, was sie dringlich benötigen, auch erhalten und in Wahlen honorieren.
Ausgewählte Quellen CIGNO, Alessandro; CASOLARO, Luca & ROSATI, Furio C. (2000): The Role of Social Security in Household Decisions – VAR Estimates of Saving and Fertility Behaviour in Germany, CESifo Working Paper Nr. 394. Download: http://www.cesifo-group.de/pls/ guestci/download/CESifo%20Working%20Papers%202000/CESifo%20Working%20Pa pers%20December%202000/cesifo_wp394.pdf (10.07.2009). CROSLAND, Anthony (1963): The Future of Socialism. New York: Schocken Books. FOGEL, Robert William (2002): The Fourth Great Awakening and the Future of Egalitarianism. Chicago: University Press. HAUSER, Richard (2006): Die Entwicklung der Einkommens- und Vermögensverteilung in der real existierenden Sozialen Marktwirtschaft der Bundesrepublik Deutschland, Vortrag im Rahmen des Symposiums der Wirtschaftspolitischen Gesellschaft/ von 1947 e.V., Frankfurt am Main am 6. und 7. April 2006 in der Handwerkskammer Wiesbaden. Download: http://www.popper.uni-frankfurt.de/pdf/Vortrag_Hauser_ 2006.pdf (15.05.2009). HIRSCHMAN, Albert Otto (1997): The Passions and the Interests – Political Arguments for Capitalism Before Its Triumph. Princeton: University Press. PEREZ, Carlota (2005): Respecialisation and the deployment of the ICT paradigm – An essay on the present challenges of globalisation. Download: http://www.carlotaperez.org/ papers/PEREZ_Respecialisation_and_ICTparadigm.pdf (07.05.2009).
III. Sicherheit und Anerkennung – Der Sozialstaat an den Grenzen der Umverteilung III. Sicherheit und Anerkennung
Warnfried Dettling
Mit dem Krankenversicherungsgesetz vom 15. Juni 1883 ist mehr entstanden als ein Netz lokaler Versicherungsanbieter, die im Krankheitsfalle Mittel verteilen, um die Menschen vor Not und Armut zu schützen. Es war der Beginn des deutschen Sozialstaates, der später einmal in aller Welt als vorbildlich angesehen werden sollte.
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Ausdruck einer Idee von Staat und Gesellschaft
Von allem Anfang an war der Sozialstaat Ausdruck einer Idee von Staatlichkeit, die tief in der deutschen Tradition wurzelte und deshalb eine vielfältige Anhängerschaft überzeugte: Sozialisten und Konservative, das katholische Zentrum und das protestantische Bürgertum, Liberale und Nationale. Es gab eine gemeinsame Basis, auf der sie alle standen, und es gab einen ideologischen Rahmen, der sie über alle Unterschiede hinweg verband. Diese Gemeinsamkeit lag in der Überzeugung, es sei Aufgabe des Staates, die soziale Frage der Zeit durch eine entsprechende Politik zu lösen. Und modern war auch der Gedanke, diese öffentliche Verantwortung nicht als staatliches Gesundheitssystem zu organisieren, sondern den Bürgern die Selbstverwaltung des Sozialsystems unter staatlicher Aufsicht zu übertragen. Weil der Sozialstaat tiefe Wurzeln in der deutschen Tradition hatte, konnte er zwei Weltkriege und sechs politische Systeme sowie Inflationen, Wirtschaftskrisen und dramatische gesellschaftliche Umwälzungen überleben. Der Sozialstaat war über mehr als ein Jahrhundert hinweg das Beständige in der Erscheinungen Flucht; er gab den Menschen Sicherheit, wo alle Sicherheiten zerbrachen. Die geteilte Nation fand in ihm Einheit, Identität und Zusammenhalt und etwa im Lastenausgleich nach dem Kriege praktische Solidarität. So war und ist der
III. Sicherheit und Anerkennung
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Sozialstaat den Deutschen nichts Äußerliches; er gehört vielmehr zu ihrem kollektiven Selbstverständnis. Die Vereinigten Staaten von Amerika gründen auf dem Versprechen der individuellen Freiheit. Frankreich berauscht sich an der Größe der Nation. Für die Deutschen ist der Sozialstaat das Fundament, welches das Gemeinwesen trägt.
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Demokratie, Nachhaltigkeit, Anerkennung
Bismarck wollte mit sozialen Reformen von oben einer sozialen Revolution von unten die Grundlagen entziehen und durch den Sozialstaat die innere Einheit des deutschen Reiches befestigen, dessen äußere Einheit er zuvor durch „Blut und Eisen“ hergestellt hatte. Der Sozialstaat als ein Band, das die Gesellschaft zusammen hält: Das war die positive Botschaft. Es gab freilich von Anfang an auch die andere Seite. Der junge Sozialstaat war Teil einer Politik von „Zuckerbrot und Peitsche“, von Sozialgesetzen und Sozialistengesetz, von neuer Politik und Verbot der SPD. Es war die große Leistung Bismarcks, zu erkennen, dass eine neue Zeit eine neue Antwort braucht. Das hat dem Sozialstaat bis heute über das Sicherheitsversprechen hinaus eine Aura der Gerechtigkeit gegeben. Die neue Politik, dem konservativen Geist der Zeit entsprechend zu denken, als Zähmung auch der demokratischen Potenziale hat dazu geführt, dass Demokratie und Zivilgesellschaft es bis in unsere Tage hinein schwer haben, sich in der Welt des Sozialstaates zu entfalten. Heute kommt es darauf an, mit dem Sozialstaat an einer guten Idee festzuhalten, diese aber in einen weiteren Ziel- und Wertehorizont einzuordnen und ihn im Hinblick auf seine Mittel und Wege, Methoden und Instrumente einer Revision, und das heißt wörtlich: einer kritischen Neubetrachtung, zu unterziehen. Das normative Profil des Sozialstaates muss ergänzt werden um Demokratie, Nachhaltigkeit und eine „Politik der Anerkennung“ (Axel Honneth). Dabei versteht sich die Norm der Demokratie heute von selbst. Der Sozialstaat hat die Menschen aus Ängsten und Abhängigkeiten herausgeführt und dadurch auch Voraussetzungen für die langsame Emanzipation aus dem Obrigkeitsstaat geschaffen. Künftig geht es darum, Sozialstaat und Demokratie auch direkt und programmatisch aneinander zu binden und ihn so zu organisieren, dass er Teilhabe, Entfaltung und Beschäftigung nicht nur durch Transferzahlungen und Schutzrechte fördert, sondern genauso durch die Entwicklung und Stärkung von Märkten mit sozial besseren Ergebnissen. Die konzeptionelle Verbindung von Sozialstaat und Demokratie führt zum Verständnis einer sozialen Politik um der
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Warnfried Dettling
Freiheit und Entfaltung der Menschen willen, wie sie etwa Amartya Sen (1999) entworfen und begründet hat. Ungewohnt noch ist der Gedanke der ökologischen Nachhaltigkeit im Kontext einer Reflexion über die Zukunft des Sozialstaates. Doch liegen die Parallelen auf der Hand. Nicht nur verlangen beide, Sozialstaat und Ökologie, nach Rücksichten auf andere Menschen, Gruppen und Generationen. Beide müssen sich auch fragen, was geschehen muss, damit sie ihre eigenen Grundlagen nicht untergraben, damit es auch in hundert Jahren noch einen Sozialstaat gibt. Der Kapitalismus sei ein „Moralzehrer“, so hat der katholische Soziallehrer Oswald von Nell-Breuning einmal auf den Nenner gebracht, was auch für den Sozialstaat eine offene Frage ist: Er zehrt von geistig-moralischen Grundlagen, die er selbst nicht automatisch hervorbringt. Man kann diese Beobachtung noch zuspitzen: Der Sozialstaat „verzehrt“ nicht selten seine eigenen Anreize sowie auch Achtung und Respekt vor dem Anderen, die ihm doch recht eigentlich zugrunde liegen (sollten). Gegen seine Absicht und ohne es recht zu merken verschwendet er allzu oft Solidarität. Hinzu kommt: Die sozialmoralischen Milieus, die ihn möglich gemacht und getragen haben, – die sozialistische Arbeiterbewegung, die katholische Soziallehre und das protestantische Bürgertum, haben ihre gesellschaftliche Mächtigkeit verloren. Eine nachhaltige Sozialpolitik wird sich deshalb immer mehr auch um ihre eigenen Voraussetzungen kümmern. Der Sozialstaat braucht stets beides, ökonomische und sozialmoralische Grundlagen, soll er auf Dauer Bestand haben. Die Erkenntnis, dass die finanziellen Grundlagen des Sozialstaates bei einer alternden Bevölkerung neue Antworten erfordern, setzt sich langsam durch. Dass dies in anderer, aber vergleichbarer Weise auch für seine sozialmoralischen Grundlagen gilt, ist noch nicht ganz so offensichtlich. Und die dritte Dimension, um die der traditionelle Sozialstaat erweitert werden muss, ist das, was in der neueren Debatte als „Politik der Anerkennung“ (Fraser/Honneth 2003, Sennet 2004, Habermas 2009) umschrieben wird. Die Ursprungsidee des Sozialstaates war der Kampf gegen Armut und für Sicherheit in prekären Lebenslagen. Das Mittel der Wahl waren Transfer- oder Sozialversicherungs-, in jedem Falle Geldleistungen, um Armut zu lindern und Sicherheit zu garantieren: Umverteilung auch durch Versicherungszwang als Mittel, um soziale Ziele zu erreichen, so kann man die Philosophie des Sozialstaates auf einen kurzen Nenner bringen. Dem lag eine doppelte Überzeugung zugrunde: zum einen, dass das Ziel auf diese Weise erreicht werden könne, und zum anderen, dass das Mittel der Umverteilung oder der Zwangsversicherung keine Nebenwirkungen hat, die das ursprüngliche Ziel durchkreuzen. Am Anfang der Entwicklung hin zum Sozialstaat konnte man noch nach bestem Wissen und Gewissen davon ausgehen,
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dass beide Annahmen zutreffen: Finanzielle Transfers brachten einen immateriellen Mehrwert, ermöglichten ein besseres und reicheres Leben. Die Belastungen und negativen Rückwirkungen auf all jene Bereiche der Gesellschaft, in denen Menschen „Anerkennung“ vor sich und von anderen erfahren, konnten noch vernachlässigt werden. Das ist heute nicht mehr so ohne weiteres der Fall. Menschen brauchen nicht nur Transfers, um ein menschenwürdiges Leben zu führen. Und Transfers können sich als kontraproduktiv erweisen, indem sie zum Beispiel Armut nicht überwinden, sondern Armutskarrieren befördern und ganze Bereiche des Lebens und der Gesellschaft in Mitleidenschaft ziehen, in denen Menschen Anerkennung finden könnten. Es entsteht eine neue Unterschicht der Sozialstaatskunden, eine Entwicklung, die durch ein weiteres Staatsversagen massiv verstärkt wird, weil die Schulen ihr enges Selbstverständnis nicht aufbrechen, weil Sozial- und Bildungsstaat abgeschottet voneinander agieren. Der fragmentierte Staat erzeugt Transfermultis, die verschiedene Berechtigungen mit sich herumtragen, aber dadurch noch keine Selbstverwirklichungskapazität erreichen. Jedes Nachdenken über die Zukunft des Sozialstaates, das diese Zusammenhänge außer acht lässt, läuft Gefahr, unter der Hand einer Regression des Sozialstaates Vorschub zu leisten und frühere Fortschritte in der sozialen Evolution wieder zu kassieren. So war die Entwicklung vom „Bettelbürger“ zum „Sozialstaatsbürger“ ein großer historischer Fortschritt, ein Akt der Emanzipation. In vergleichbarer Weise ist die Rückentwicklung vom emanzipierten und individualistischen Sozialstaatbürger, der sich erst mit Hilfe des Sozialstaates verwirklichen kann, zum zynischen und passiven „Kneteabsahner“ („Transfervirtuosen“) ein Rückschritt der Selbstachtung und des sozialen Respekts geradezu verhindert. Vor jeder Revision des Sozialstaates sollte freilich die Anerkenntnis dessen stehen, was der Sozialstaat bedeutet und was mit ihm verspielt werden kann. Eine Zeit gewinnt Größe durch das, was sie an Neuem geschaffen hat. Eine Zeit kann auch in Erinnerung bleiben durch das, was sie aufzugeben nicht bereit war. Von Preußen und dem Deutschen Reich ist es am Ende der Sozialstaat gewesen, der die Zeiten überdauert hat. Im Widerstreben der Deutschen gegen eine Reformagenda, die keine positive Idee vermittelte, sondern sich in Kürzen und Streichen erschöpfte, kann man bei gutem Willen auch einen kollektiven Reflex sehen gegen die Zerstörung dessen, was den Menschen wichtig und wertvoll ist. In kritischen Zeiten aber, an Wasserscheiden der gesellschaftlichen Entwicklung, werden Staaten und Gesellschaften ihrem Auftrag nur dann gerecht, wenn es ihnen gelingt, beides auf eine kreative Weise miteinander zu verbinden: die Verpflichtung zu alten Werten und die Fähigkeit, auch neue Wege zu gehen, um sie
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zu verwirklichen. Diese politische Phase, aus der Tradition heraus etwas Neues zu schaffen, haben die Deutschen noch vor sich.
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Den Sozialstaat auf eine breitere Grundlage stellen
Der Sozialstaat war eine kreative Antwort auf die Verwerfungen der frühen Industriegesellschaft. Damit er auch eine in die Zukunft weisende Antwort sein kann, muss er auf eine breitere Grundlage gestellt werden: normativ, finanziell und gesellschaftlich. Als der Sozialstaat begann, konzentrierte sich die Lösung der sozialen Frage auf die Arbeiterfrage und auf jene kritischen Lebenslagen, in denen die Menschen nicht oder nicht mehr arbeiten konnten. Der deutsche Sozialstaat wurde um die Erwerbsarbeit herum organisiert. Sicher war, wer Arbeit hatte – oder einen Mann, der Arbeit hatte. Die Finanzierung des Sozialstaates über Beiträge und nicht über Steuern führt unter den gegenwärtigen Bedingungen dazu, dass jeder soziale Fortschritt die Arbeit verteuert und somit Beschäftigung eher behindert als fördert. Eine Verbreiterung der finanziellen Basis braucht deshalb eine andere Mischung: einen mittleren Weg zwischen Beitrags- und Steuerfinanzierung. Das bedeutet keinen Systemwechsel von Bismarck zu Beveridge, wohl aber die Überlegung, ob nicht Diskontinuitäten und Unterbrechungen in der Berufsbiographie (etwa durch Zeiten für Familie, Weiterbildung, Pflege oder der Arbeitslosigkeit) stärker als bisher durch öffentliche Mittel kompensiert werden sollen. Als der Sozialstaat begann, konnte er sich auf Arbeit, Alter und Krankheit konzentrieren – und die Familien vernachlässigen. „Kinder haben die Leute immer“ war die beruhigende Auskunft deutscher Kanzler von Bismarck bis Adenauer. Der deutsche Sozialstaat konnte mit den Familienfrauen rechnen im doppelten Sinne: Sie waren da und sie haben nichts gekostet. Heute hingegen untergräbt ein Sozialstaat, der nicht stärker in Kinder und Familien investiert, seine eigene Zukunft. Familien möglich machen und darüber hinaus auf eine neue Weise das möglich machen, was früher die traditionelle Familie von der Erziehung bis zur Pflege geleistet hat, das wird zur zentralen Aufgabe einer sozialen Politik. Den Sozialstaat auf eine breitere Grundlage zu stellen, bedeutet deshalb Antworten finden auf die Frage, wie und von wem Sorge und Fürsorge, Zeit und Zuwendung für andere erbracht werden kann in einer historischen Situation, in der dies alles nicht mehr wie bisher auf die Frauen abgewälzt werden kann. Als der Sozialstaat begann, hat er die Bildung nicht zu seinen Aufgaben gezählt. Nach den napoleonischen Kriegen war das preußische Bürgertum sehr
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bildungsfreundlich. Preußen hatte zusammen mit den USA um 1830 die höchsten Schulquoten. Trotzdem waren und sind die Bildung und das Soziale in der deutschen Tradition auf unterschiedlichen Planeten angesiedelt. Heute hingegen ist immer offensichtlicher, dass sich die sozialen Chancen junger Menschen in der Bildung entscheiden: Was hier in frühen Jahren versäumt wird, kann im späteren Leben nicht durch soziale Maßnahmen kompensiert werden. Den Sozialstaat auf eine breitere Grundlage zu stellen bedeutet deshalb, die sozialen Ursachen und Folgen von Bildungsdefiziten zu einem öffentlichen Thema zu machen und Bildung für alle, von Anfang an und ein Leben lang in den Horizont einer sozialen Politik zurück zu holen (vgl. Schultebraucks-Burgkart, Kapitel XI).
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Sozialstaat, Wohlfahrtsgesellschaft und die Politik der Anerkennung
Den Sozialstaat auf eine breitere Grundlage zu stellen, bedeutet aber vor allem, ihn durch eine Wohlfahrtsgesellschaft zu ergänzen und all jene Potenziale zu stärken, durch die Menschen sich als Menschen erfahren und soziale Anerkennung finden. Wohlfahrtsgesellschaft bedeutet, die Gesellschaft nicht nur als Quelle sozialer Übel zu betrachten, die zur Lösung reflexartig immer nur nach dem Staat rufen, sondern die Gesellschaft auch als Quelle sozialer Ressourcen zu betrachten, die zur Lösung sozialer Übel beitragen können, mehr noch: ohne die soziale Probleme meist nicht mit Aussicht auf Erfolg angegangen werden können. „Wohlfahrtsgesellschaft“ bedeutet des Weiteren, die Menschen nicht nur als Konsumenten, sondern immer auch als Produzenten sozialer Güter und Leistungen zu betrachten; in diesem Sinne hat der amerikanische Sozialphilosoph Michael Walzer gefordert: „Vergesellschaftet den Wohlfahrtsstaat!“ Und schließlich verweist die Idee der Wohlfahrtsgesellschaft auf die Idee der Reziprozität, auf das Prinzip der Gegenseitigkeit in sozialen Beziehungen: Wer auch immer etwas an Solidarität von Staat und Gesellschaft bekommt, sollte nach Möglichkeit etwas zurückgeben, nicht um „aufzurechnen“, sondern weil es menschlicher ist und würdevoller, nicht nur zu nehmen und von anderen abhängig zu sein, sondern auch zu geben und von anderen gebraucht zu werden.1 1
Der Sozialstaat beruht in vielen Bereichen auf Reziprozität, so etwa bei der Rente, der Arbeitslosen- und bei anderen Versicherungen. Nur in wenigen Bereichen werden Leistungen als reines Bürgerrecht (Sozialhilfe, Hartz IV, Mindesteinkommen, Bürgergeld
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So verstanden ist die Wohlfahrtsgesellschaft eine Ergänzung und nicht ein Ersatz für den Sozialstaat. Sie eröffnet Möglichkeiten, die Grenzen des Sozialstaates zu überwinden, ohne ihn in Frage zu stellen. Denn dies ist vermutlich sein empfindlichster Punkt: Er kann Not lindern, Armut bekämpfen, Sicherheit gewähren. Aber aus ihm erwachsen kaum soziale Anerkennung und ein Selbstwertgefühl. Finanzielle Transfers allein sind eine schlechte Antwort auf „soziale Phänomene der Kränkung, der Beleidigung, der Erniedrigung ... (auf) jene asymmetrische Beziehung, worin eine Seite der anderen die geschuldete Anerkennung vorenthält“ (Habermas 2009). Und als der Sozialstaat erfunden wurde, brauchte es das alles auch gar nicht. Er hat den Menschen in Not etwas gegeben, was ihnen gefehlt hat: materielle Ressourcen. Und für das, was Menschen darüber hinaus noch „brauchen“, um ein gutes, menschenwürdiges Leben zu führen, konnte er zurückgreifen auf soziale, religiöse, traditionelle Ressourcen, die heute nicht mehr auf sozialnatürliche Weise gegeben sind, sondern durch eine „soziale“ Politik, die mehr und anderes meint als die Sozialpolitik im hergebrachten Sinne, erst wieder geschaffen werden müssen. Es ist der Wandel der Gesellschaft, der ein anderes Verständnis und eine andere Organisation von sozialer Politik erfordert, die über Umverteilung weit hinausgehen. Man muss sich diesen Wandel vergegenwärtigen: Die Menschen lebten in einer sozial und religiös „reichen“ Welt. „Anerkennung durch Umverteilung“ erfasste in den Anfängen des Sozialstaates nur einen Teil des Menschen, des Lebens und der Gesellschaft. Daneben gab es andere Formen der Anerkennung, die lebendig und mächtig waren. Im religiösen Kosmos erfuhren selbst die Armen eine besondere Form der Anerkennung, weil sie den Reichen Gelegenheit gaben, Gutes zu tun und so die Grundlage zu legen für ein ewiges Leben. Der junge Sozialstaat erfasste Ausnahmesituationen. Das normale Leben war um die Arbeit herum organisiert. Die Arbeit prägte das Leben, gab den Menschen Selbstachtung, sozialen Status und Anerkennung in der Gesellschaft. Der Sozial(versicherungs)staat bestätigte die zentrale Bedeutung der Arbeit, da die Finanzierung seiner Versicherungen um die Erwerbsarbeit herum organisiert war. Die Arbeit strukturierte den Zusammenhang der Lebensphasen und der Generationen. Das Leben der Menschen verlief nach dem Modell der Lebenstreppe: In der usw.) gewährt oder gefordert. Als Bürger habe ich natürlich immer Anspruch auf alle gesetzlichen Rechte. Dennoch hat Reziprozität im Sozialstaat über die Sozialversicherungen hinaus eine große Bedeutung. Die Sozialstaatsbürger als individualistische Nutzenmaximierer haben die alte Fabriktorsolidarität längst vergessen und sind – wenn es geht – Selbstbedienungskunden geworden. Das überfordert die Solidarität.
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Jugend bereitet man sich auf den Beruf vor, als Erwachsener hatte man einen Beruf und nur einen Beruf, und im Alter ruhte man sich von des Lebens Mühen aus. Eltern arbeiteten, damit es ihre Kinder einmal besser haben im Leben. Anerkennung und Status durch Arbeit war ein durchgängiges Motiv, das den Sozialstaat möglich, aber auch erträglich machte. Vergleicht man die Zeit der Entstehung, Entfaltung und Blüte des Sozialstaates (im dritten Viertel des 20. Jahrhunderts) mit der Gegenwart und der nahen Zukunft, dann springen die Unterschiede rasch ins Auge. Was einmal die Ausnahme war für Wenige (Fürsorge, Sozialhilfe, Hartz IV), ist für immer mehr zu einer anderen Art Way of Life geworden, einer „normalen“ Art und Weise, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Es verfestigen sich Armutsinseln und Armutskarrieren über Generationen hinweg. Aber auch in der Mitte der Gesellschaft hat sich die Arbeitswelt grundlegend geändert. Die Grenzen zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit sind fließend („Entgrenzung der Arbeit“). Das männliche Normalarbeitsverhältnis (Vollzeit, unbefristet, sozial und rechtlich abgesichert) ist auf dem Rückzug.2 Die Arbeitsverhältnisse sind für viele prekär geworden. Die Erwerbsarbeit ist weniger betrieblich organisiert als früher, was zur Folge hat, dass der Betrieb als Ort der sozialen Beziehungen und der Anerkennung für viele wegfällt. Hinzu kommen durchaus positive Entwicklungen, vor allem die längere Lebenserwartung der Menschen, die dazu führen, dass der Anteil der Zeit, die Menschen mit Erwerbsarbeit verbringen, im Vergleich zur Lebensarbeitszeit abnimmt. Zu diesem Wandel der Arbeitswelt und der Arbeitsgesellschaft müsste man noch andere tief greifende Veränderungen wie zum Beispiel den Wandel der Familienwelt oder die fortschreitende Entkirchlichung der Gesellschaft hinzu nehmen, um den für unser Thema zentralen Befund zu erhärten: Die sozialen Orte, in denen und durch die Menschen früher Anerkennung erfahren haben oder aber nach sozialen Verwundungen aufgefangen, angenommen und stabilisiert wurden, werden weniger, und das am Rande und in der Mitte der Gesellschaft.
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Genauer gesagt: Die traditionellen Arbeitsformen werden ergänzt und komplettiert durch neue und flexiblere Arbeitsverhältnisse: durch Teilzeit, durch freiwillige Unterbrechungen, durch Kombinationen verschiedener Tätigkeiten (wie zum Beispiel Selbstständigkeit mit Teilanstellung). Die Erwerbsquote steigt in den flexiblen Nischenbereichen. Die Sozial-, Bildungs- und Integrationspolitik hat sich dieser neuen Arbeitsgesellschaft noch nicht hinreichend angepasst und dadurch die Entwicklung verschärft.
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Der Wandel der Gesellschaft und was er bedeutet für eine Politik der Anerkennung
Für die Theorie und die Praxis des Sozialstaates ergeben sich daraus eine Reihe von Fragen und Folgen. Sie alle haben gemeinsam, dass finanzielle Transfers an ihre Grenzen stoßen, dass Umverteilung nicht der Königsweg ist für eine Politik der Anerkennung, ja im äußersten Falle dieser direkt zuwider läuft. In einer säkularisierten Selbstverwirklichungsgesellschaft sind nämlich für die Menschen Respekt und Anerkennung wichtiger geworden (Taylor 2007). Wir konzentrieren uns in diesem Zusammenhang auf sechs Punkte: (1)
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Finanzielle Transfers sind in vielen Fällen eine notwendige, aber nur selten eine hinreichende Bedingung zu einem menschenwürdigen Leben. Sie müssen verbunden werden mit Anreizen und Prozessen, welche die Situation und das soziale Verhalten verändern und so die Aussicht begründen, eines Tages die Abhängigkeit von Transfers zu überwinden. Das kann zum Beispiel bedeuten, (einen Teil der) Sozialtransfers zu verbinden mit einer Pflicht zur Weiterbildung, zu einem gesünderen Lebenswandel, die Kinder in eine Einrichtung zu schicken, selbst in einer Kindertagesstätte einfache Dienstleistungen zu erbringen, damit die Kinder ihre Mutter, ihren Vater einmal in einer Situation erleben, in der sie gebraucht werden und deshalb anerkannt sind. Eine Politik der Anerkennung ist eine Politik, die nicht nur Geld gibt, sondern sich dazu bekennt und versucht, das Verhalten von Menschen zu ändern, Leistungen anregt, um bestimmte soziale Probleme zu lösen. Das Prinzip der Gegenseitigkeit ist eine allgemeine Regel, die Solidarität nicht als Einbahnstraße begreift, sondern als wechselseitige Verpflichtung, als kooperative soziale Beziehung, als Balance zwischen Rechten und Pflichten: Wer immer in Not kommt, hat Anspruch auf Hilfe. Wem immer geholfen wird, hat die Pflicht, nach Kräften etwas zurückzugeben. Dieser Grundsatz vor allem in der Stärke seiner Gewichtung markiert, nebenbei bemerkt, den Unterschied zwischen neoliberal, altsozial und neosozial. Die einen wollen Sozialleistungen erhöhen und glauben, alles werde gut. Die anderen wollen Sozialleistungen senken und glauben, alles werde gut. Die neosoziale Position wäre, um der Menschenwürde willen eine bestimmte Grenze nach unten nicht zu unterschreiten, aber aus demselben Grunde niemanden abzuschreiben, sondern von jedem etwas zu erwarten, als Folge der Anerkenntnis, dass jeder Mensch Fähigkeiten hat, gebraucht wird – und auch gebraucht werden will – und bereit ist, seine Fähigkeiten mit Unterstützung zu entwickeln. Das
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Fördern und Fordern ist schon ein richtiges Konzept, wenn es nicht Balkonpolitik bleibt, sondern in das Innere des Gebäudes vorstößt. Eine neue soziale Kultur und eine ausgebaute soziale Infrastruktur des Ehrenamtes und des bürgerschaftlichen Engagements sind für eine Politik der Anerkennung ebenso wichtig wie materielle Hilfen. Dazu ist an anderer Stelle viel gesagt worden (vgl. Dettling 2001). Es genüge hier der Hinweis, dass kaum eines der sozialen Probleme unserer Zeit – von der Verwahrlosung ganzer Stadtviertel über den Glauben junger Menschen an die eigene Selbstwirksamkeit bis hin zu Pflege im Alter – mit Aussicht auf Erfolg angegangen werden kann ohne einen starken Beitrag an freiwilligem Engagement. Hinter materieller Armut verbirgt sich oft genug das, was Ulrich Pfeiffer immer wieder „Netzwerkarmut“ nennt. Das Sozialkapital ergänzt das Sozialbudget. Verknüpft mit einer stärkeren lokalen Verantwortung und Kompetenzverlagerung für Pflege, Erziehung oder Schulen käme es auch zu einer Verdichtung von Kontakten und Netzwerken, die zur Quelle von Anerkennung werden können. Es braucht eine andere politische Philosophie, die Demokratie nicht nur als Staatsform, sondern als Selbsttätigkeit der Menschen und als Selbstorganisation der Gesellschaft begreift. Das Vertrauen in den Staat hat in Deutschland Tradition. Demokratie hat die verspätete Nation erst relativ spät gelernt. Demokratie als Lebensform war lange Zeit ein ferner Gedanke. Verdinglichung und Entfremdung sind, wie Jürgen Habermas jüngst bemerkt hat, keine antiquierten Begriffe, aber sie verweisen genau so auf Pathologien des Sozialstaates wie des Kapitalismus. Eine Politik der Anerkennung hätte die schiefe Optik zurecht zu rücken, welche beim Sozialstaat a priori den Ort der Gerechtigkeit und der Selbstverwirklichung vermutet und beim Markt immer nur Ausbeutung und Entfremdung sehen kann. Deshalb hätte eine Politik der Anerkennung nicht zuletzt auch Wettbewerb und Markt als Ort der Anerkennung und der Selbstverwirklichung von Menschen wieder zu entdecken oder zu stärken. Wenn man Menschen fragt, wo sie Anerkennung finden, dann antworten die meisten: in der Familie und im Beruf. Kaum einer erlebt Anerkennung als Person durch Transfers, die er bezieht, obwohl diese in vielen Fällen, es sei wiederholt, erst die materiellen Voraussetzungen für das Überleben schaffen. Es ist deshalb an der Zeit, den Markt zu rehabilitieren nicht nur ökonomisch, sondern vor allem anthropologisch und sozialethisch: als Ort der Selbstverwirklichung, der sozialen Integration in die Gesellschaft und der Anerkennung durch andere. Daraus lassen sich konkrete Handlungsfolgen ableiten: Wenn es gelingt, zum Beispiel Arbeitsmärkte und Wohnungsmärkte besser zu gestalten als bisher, dann wird dies
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den Sozialstaat entlasten. „Sozialere“ Märkte können bestimmte Sozialstaatsleistungen überflüssig machen. Ein garantiertes und bedarfsunabhängiges Mindesteinkommen für alle will Anerkennung durch Umverteilung, dürfte aber in Wirklichkeit genau das Gegenteil erreichen. Man tut Menschen keinen Gefallen, Geld zu geben, ohne etwas von ihnen zu erwarten. Das trägt nicht zu ihrer Selbstverwirklichung bei, sondern zu ihrer sozialen Lähmung. Auch für die Fähigkeiten von Menschen gilt: use it or loose it!
Sicherheit und Anerkennung sind die beiden Wertziele, um die der Sozialstaat von seinen Anfängen bis zur Gegenwart kreist. Beide Ziele sind ohne ein gewisses Maß an Umverteilung nicht zu erreichen. Der tief greifende Wandel im sozialen und religiösen Kosmos der Menschen, vor allem in den Arbeitswelten und in den Familienwelten, hat dazu geführt, dass Umverteilung und entsprechend Finanztransfers als Instrumente einer Politik der Anerkennung mehr und mehr stumpf bleiben. Mehr als ein moralisches Minimum können Gesellschaften auf diese Weise nicht erreichen. Es ist die Frage, ob sie sich, ob wir uns damit zufrieden geben wollen.
Literaturverzeichnis DETTLING, Warnfried (2001): Die Stadt und ihre Bürger. Neue Wege in der kommunalen Sozialpolitik: Grundlagen, Perspektiven, Beispiele. Verlag Bertelsmann Stiftung: Gütersloh. FRASER, Nancy & HONNETH, Axel (2003): Umverteilung oder Anerkennung? Eine politischphilosophische Kontroverse. Suhrkamp: Frankfurt am Main. HABERMAS, Jürgen (2009): Arbeit, Liebe, Anerkennung (Zum 60. Geburtstag von Axel Honneth). In: Die Zeit 30/2009. SEN, Amartya (1999): Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft. Büchergilde Gutenberg: Frankfurt am Main und Wien. SENNET, Richard (2004): Respekt im Zeitalter der Ungleichheit, Berlin Verlag; TAYLOR, Charles (2007): Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. Suhrkamp: Frankfurt am Main.
IV. Die Finanzierung des Sozialstaats bei alternder Bevölkerung IV. Die Finanzierung des Sozialstaats bei alternder Bevölkerung
Axel Börsch-Supan
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Zehn Thesen vorab
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Der demographische Wandel wird den Spielraum für sozialpolitische Großzügigkeit einengen. Weniger Arbeitskräfte nach 2020 bedeuten weniger Lohn- und Einkommensteuerzahler, vor allem aber weniger Beitragszahler in die Sozialkassen. Eine Rückkehr zur Sozialpolitik der 1970er Jahre wäre verantwortungslos angesichts der demographischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen seitdem. Schlüsselmechanismen für mehr sozialpolitischen Gestaltungsspielraum sind der Umfang der Erwerbstätigkeit und das Niveau der Arbeitsproduktivität. Sie erfordern strukturelle Änderungen des Arbeitsmarktes. Ein Ausgleich des demographischen Wandels nur durch Produktivitätserhöhungen ist jedoch unrealistisch. Man braucht auch eine Erhöhung der Erwerbsquote und die damit einhergehende Veränderung der Arbeitsorganisation und Gesundheitsvorsorge. Besondere Chancen ergeben sich aus den in Deutschland im internationalen Vergleich großen unausgeschöpften Reserven der Erwerbsbeteiligung Älterer. Wichtig ist dabei die Einsicht, dass deren Ausnutzung nicht zulasten, sondern zum Nutzen der Jüngeren erfolgt, denn über eine Senkung der Lohnnebenkosten trägt sie zur Schaffung neuer Arbeitsplätze und zu gesteigertem wirtschaftlichen Wachstum bei. Es gibt keinen überzeugenden wissenschaftlichen Beleg für das gängige Vorurteil, dass ältere Arbeitnehmer (jenseits des 45. Lebensjahres) im derzeitigen Arbeitsalltag weniger produktiv sind als jüngere. Dies gilt, obwohl in Deutschland wenig Aus- und Weiterbildung für über 45-Jährige angeboten wird. Hier liegt weiteres Potenzial.
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Die Babyboomgeneration ist verglichen mit ihrer Elterngeneration reich aufgewachsen. Großzügige Frührente, hohe Arbeitslosenunterstützung und fast allumfassende Gesundheitsversorgung sind für sie wenig hinterfragte Selbstverständlichkeiten. Echte Kürzungspotenziale gibt es daher wenige. (6) Es ist jedoch nicht einzusehen, warum in einer Gesellschaft, deren durchschnittliche Lebenserwartung ansteigt, der Renteneintrittszeitpunkt wie eine Naturkonstante gehandelt wird. Dies gilt umso mehr, als die aktive Lebenserwartung, bis zu der keinerlei gesundheitliche Einschränkungen vorliegen, sogar noch schneller ansteigt als die statistische Lebenserwartung. (7) Die steigende Belastung durch Alters- und Gesundheitsvorsorge wird durch wegfallende Ausgaben für Kinder und Familien nicht kompensiert. Zudem wäre es unangemessen, die öffentlichen Ausgaben für das Bildungssystem einzuschränken, denn die angemahnte höhere Produktivität verlangt eine bessere Ausbildung. (8) Die politische Ökonomie des real existierenden Sozialstaats bevorzugt die Mittelschicht. Hier ist die Lobby am eifrigsten, hier werden Wahlen gewonnen. Die Professionalisierung der Politik hat diese immer schon existierende Tendenz seit den 1970er Jahren deutlich verstärkt. Dies schränkt den Gestaltungsspielraum für Sozialpolitik im Sinne derer, die es am nötigsten haben, weiter ein. (9) Die Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung haben geringere negative Arbeitsanreize als allgemeine Steuern, denn ein zusätzlicher Beitragseuro trägt eins zu eins zu einer zusätzlichen Rente bei. Auch der Abstand zur Grundsicherung für den Durchschnittsverdiener wird in Zukunft so hoch sein, dass es nicht zielführend wäre, Renten durch allgemeine Steuern zu finanzieren. (10) In der Krankenversicherung sollte das Äquivalenzprinzip gestärkt werden. Mehr Transparenz der Umverteilungswirkungen erhöht den Druck, unnötige und perverse Umverteilungseffekte abzubauen. Zudem wird der Zwang entfallen, zukünftige qualitativ höhere Gesundheitsleistungen durch Steuererhöhungen finanzieren zu müssen. Schließlich ist ein stärker ausgeprägtes Kundenbewusstsein in der Krankenversicherung essenziell, um die Selbstbedienungstendenzen im Gesundheitssystem unter Kontrolle zu bekommen.
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Der Sozialstaat und die Sprengkraft der Alterung
Sozialpolitik ist und bleibt ein Balanceakt. Auf der einen Seite steht das verfestigte Anspruchsdenken von Menschen, die sich auch selbst helfen könnten, auf der anderen Seite die ignorierte Not derjenigen, die sich im Dschungel eines durch professionelle Interessenvertretungen charakterisierten Demokratiebetriebs nicht hinreichend artikulieren können. Berechnende Kühle gegenüber den Anspruchsdenkern und Trittbrettfahrern dominiert die „neoliberal“ genannte sozialpolitische Philosophie; warmherzige Großzügigkeit, damit niemand im kapitalistischen Dschungel verloren geht, die sozialpolitische Philosophie derer, die sich links nennen. Wo ordnen sich Neosoziale ein? Die Grauzone zwischen sozialpolitischen Tatbeständen ist groß. Kein Sozialamt kann vollständig erfassen, wann seine Leistungen zynisch ausgenutzt werden und wann es bereits zu knauserig war. Auf der Ebene des Bundestags ist es noch schwerer, dies zu beurteilen. Solange die finanzielle Lage einigermaßen stabil ist, lässt sich dieser wohlbekannte Konflikt zwischen Effizienz und Gerechtigkeit allein dadurch entschärfen, dass man im Zweifelsfalle Geld fließen lässt. Diese Überlegung war die politische Maxime der 1970er Jahre. Sie ist im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise zu neuem Leben erwacht: Im Zweifelsfall werden derzeit Probleme mit Milliarden weggedrückt. Das ist nicht die neosoziale Position. Aus mindestens drei Gründen hat sich die Welt seit den 1970er Jahren geändert; aus denselben drei Gründen muss eine moderne Sozialpolitik auch heute und trotz Wirtschaftskrise anders aussehen als in den 1970er Jahren: Erstens verzeiht der demographische Wandel den Mangel an Nachhaltigkeit nicht mehr; zweitens sind die Ansprüche an das soziale Sicherungssystem seit den 1970er Jahren nochmals gewachsen; zum Dritten hat sich das politische System so professionalisiert, dass man dessen Wirkungsmechanismen in der Analyse, wo die Grenzen in der weiten Grauzone anzusetzen sind, nicht mehr ignorieren kann.
2.1 Zur Demographie und dem Mangel an Nachhaltigkeit Die Entwicklungslinien des demographischen Wandels sind gut bekannt: Seit mehreren Jahrzehnten und trotz vieler Bemühungen in der Familienpolitik verharrt die Geburtenrate bei weniger als 1,4 Kindern pro Frau. Gleichzeitig erhöht sich die Lebenserwartung Jahr für Jahr ungebrochen: in einer Dekade um etwa drei Jahre. Man konnte schon vor 20 Jahren kaum glauben, dass sich dieser Trend
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fortsetzen würde, aber so ist es geschehen. Zudem wirft der historisch einmalige Übergang vom Babyboom zum Pillenknick seine Schatten voraus. In etwa zehn Jahren beginnt der Babyboom in den Ruhestand zu ziehen und wird den Arbeitsmarkt, der dann von der Pillenknickgeneration dominiert wird, vor ein seit den 1970er Jahren unbekanntes Phänomen stellen: einen Mangel an Arbeitskräften. Wie man es auch dreht und wendet: Der demographische Wandel wird den Spielraum für sozialpolitische Großzügigkeit einengen, denn weniger Arbeitskräfte nach 2020 bedeuten weniger Lohn- und Einkommensteuerzahler, vor allem aber weniger Beitragszahler in die Sozialkassen. Wie explosiv der Strengstoff ist, lässt sich nicht gut prognostizieren. Dies liegt nicht etwa daran, dass die demographische Zukunft große Unsicherheit in sich birgt; ganz im Gegenteil lässt sich die demographische Entwicklung sehr gut voraussagen. Es liegt vielmehr daran, dass unser eigenes Handeln – sei es das Verhalten der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, seien es die Entscheidungen der Politik – einen großen Einfluss darauf hat, wie die Zukunft aussehen wird. Optimistische Prognosen erwachsen vor allem aus der Überzeugung, dass es auch einem Land wie Deutschland gelingen wird, sich an der Kandare zu reißen und die demographische Bedrohung durch Strukturreformen abzuwenden; pessimistische Prognosen (vgl. Sarrazin, Kapitel VI) sind vor allem Ausdruck des Glaubens, dass der Änderungsfähigkeit unseres sozialpolitischen Systems enge Grenzen gesetzt sind. Die beiden Schlüsselmechanismen für eine Abwehr der demographischen Bedrohung sind der Umfang der Erwerbstätigkeit und das Niveau der Arbeitsproduktivität. Sie stehen in einem engen Wechselspiel. Je höher der Anteil der Menschen ist, die in einem Land arbeiten, desto größer ist der Kuchen, aus dem Nettolöhne, Steuern und Sozialabgaben finanziert werden können. Ein Land, das weniger Menschen beschäftigt, z.B. weil es viele Rentner hat, junge Leute erst spät aus der Ausbildung entlässt oder sich viele nicht arbeitende Frauen leistet, verliert an finanziellem Gestaltungsspielraum, wenn es die verbliebenen Beschäftigten nicht schaffen, den Beschäftigungsrückgang durch eine höhere Arbeitsproduktivität auszugleichen. Aufgrund der niedrigen Geburtenrate sinkt in jedem Fall die Zahl der Erwerbstätigen erst wesentlich später als die Gesamtbevölkerung. Dies wird nur leicht gedämpft durch die Zuwanderung und die Tatsache, dass wegen der weiter steigenden Lebenserwartung die Zahl alter Menschen zunimmt. Deutschland schrumpft auf jeden Fall als Wirtschaftsmacht, vor allem im Vergleich zu den Aufsteigern China und Indien, aber auch im Vergleich zu etablierten Industrieländern wie den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich, in denen
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nicht nur die Geburtenraten etwas höher sind, sondern die auch qualifizierte Zuwanderer anlocken. Das Schrumpfen der schieren Bevölkerungszahl hat jedoch keine unmittelbaren und quantitativ wesentlichen Auswirkungen auf den Lebensstandard der Deutschen und ihre Fähigkeit, die sozialen Sicherungssysteme zu finanzieren. Auch kleinere Länder können bekanntermaßen einen hohen Lebens- und Sozialstandard haben. Viel wichtiger als eine mögliche Schrumpfung der Bevölkerungszahl ist die Verschiebung der Altersstruktur. Weniger Jüngere (mehrheitlich Produzenten) und gleichzeitig mehr Ältere (fast ausschließlich Konsumenten) bedeuten automatisch eine Bedrohung des Lebensstandards, da der Arbeitseinsatz der wichtigste Faktor für die Produktion von Gütern und Dienstleistungen und damit für die Einkommenserzielung und den Lebens- und Sozialstandard ist. Dies lässt sich leicht in Zahlen fassen. Bei unverändertem Erwerbsverhalten (Berufseintrittsalter, Renteneintrittsalter usw.) und gleichbleibender Arbeitsproduktivität wird das zahlenmäßige Verhältnis von Produzenten zu Konsumenten in den nächsten drei Dekaden um etwa 30 % sinken und um etwa den gleichen Prozentsatz auch unser Lebensstandard gemessen am Pro-Kopf-Einkommen. Dieser Sprengstoff wird verstärkt durch den Steuer- und Abgabenkeil, der bei einer schrumpfenden Zahl von Steuer- und Beitragszahlern und gleichzeitigem Anstieg der Zahl von Leistungsempfängern heraufschnellt und damit tendenziell die Zahl derer reduziert, die willens sind, die Steuer- und Abgabenlast zu entrichten. Könnte eine höhere Produktivität diese Spirale ausgleichen? Dazu müsste der Produktivitätszuwachs der deutschen Wirtschaft, der im jahrzehntelangen Mittel bei etwa 1,5 % liegt (reales Wachstum), auf ca. 2,4 % steigen. Es ist völlig unwahrscheinlich, dass dies gelingen kann. Deutschland hat im internationalen Vergleich eine niedrige Erwerbsbeteiligung von etwas über 65 %. Sie ist besonders niedrig für Junge unter 25 Jahren, Ältere über 55 und westdeutsche Frauen. Ironischerweise liegt in dieser derzeit relativ niedrigen Erwerbsbeteiligung eine große Chance. Auch dies lässt sich an einem Zahlenbeispiel gut verdeutlichen. Würde Deutschland in den nächsten 30 Jahren die Erwerbsquote von 75 % erreichen, die unser Nachbarland Dänemark bereits heute aufweist, würde der Lebensstandard nicht um 30 %, sondern nur um 11 % sinken. Konkret würde dies bedeuten, dass in den nächsten 30 Jahren das Berufseintrittsalter um zwei Jahre sinken, das mittlere Renteneintrittsalter um zwei Jahre von 62 auf 64 Jahre steigen, sich die Frauenerwerbsquote zu 90 % an die der Männer angleichen und die Arbeitslosigkeit auf 4,5 % sinken müsste. Damit wären die Folgen der Alterung für das Sozial-
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budget bereits zu einem großen Teil entschärft. Käme eine Erhöhung des Produktivitätszuwachses von 1,5 % auf ca. 1,8 % pro Jahr hinzu, wären die Auswirkungen des demographischen Wandels auf unseren Lebensstandard vollständig kompensiert. Der Sprengstoff der Alterung lässt sich also zumindest prinzipiell entschärfen. Dies ist eine wichtige Einsicht und ein wichtiges Motiv für neosoziales Handeln. Ob dies realistisch oder eine Wunschvorstellung ist, bleibt eine Frage der Einschätzung, wie gestaltungsfähig unser Land ist. Unmöglich ist es jedoch nicht. Weder sind Dänemark und die Schweiz mit ihren hohen Erwerbsquoten auch im Alter Länder, in denen das Erwerbsleben Kultur und Freizeit verdrängt hat, noch sind 1,8 % Produktivitätswachstum internationale Spitze. Selbst der Durchschnitt der 15 klassischen EU-Länder lag in den letzten 20 Jahren darüber. Neosoziales Ziel ist es ganz konkret, „nur“ das zu erreichen, was Nachbarländer wie Dänemark und die Schweiz bereits geschafft haben.
2.2 Zum Anspruchsdenken Die Babyboomgeneration ist verglichen mit ihrer Elterngeneration reich aufgewachsen. Sie hat das spektakuläre Wirtschaftswachstum der 1950er und 60er Jahre nicht selbst erarbeitet, sondern als Selbstverständlichkeit in die Wiege gelegt bekommen. Die Ausweitung des Sozialstaats mit großzügiger Frührente, hoher Arbeitslosenunterstützung und fast allumfassender Gesundheitsversorgung sind für sie wenig hinterfragte Selbstverständlichkeiten. Die Ansprüche symbolisieren sich in Zahlen wie einem Rentenalter von 65 Jahren oder einem Rentenniveau von 70 %. Diese Zahlen haben einen Ewigkeitscharakter erhalten, der im Widerspruch dazu steht, dass sich die Welt geändert hat. Seit der Einführung der dynamischen Rente 1957 hat sich die Lebenserwartung um mehr als 13 Jahre verlängert, aber das gesetzliche Rentenalter von 65 Jahren ist gleich geblieben. Der Beitragssatz ist von 14 auf knapp 20 %, d.h. um fast 50 %, gestiegen, dennoch beschließt der Bundestag eine Klausel, nach der unter auch den widrigsten demographischen und wirtschaftlichen Umständen die Rentenzahlbeträge garantiert werden. Die Agenda 2010 hat versucht, dieses Anspruchsdenken einzudämmen und den Finanzierungsrealitäten anzupassen. Dies ist nur teilweise gelungen. Und selbst unter Berücksichtigung der mühsam erfochtenen Stabilisierungsmaßnahmen im Zuge der Agenda 2010 werden die Rentenbeiträge weiter steigen. Auf der Basis der derzeitigen Geburtenrate, des derzeitigen Wachstums der Lebens-
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erwartung, einer milden, aber signifikanten Einwanderung (100.000 Menschen per Saldo) und eines allmählichen Angleichens der Erwerbsquote an dänische Verhältnisse (bis 2040) würde der Rentenbeitragssatz auf knapp 25 % des Bruttoeinkommens im Jahr 2040 ansteigen. Er wird die 20 %-Marke, die einmal als Obergrenze bis 2020 im Gesetz verankert wurde, schon zehn Jahre früher überschreiten. Hinzu kommen die indirekte Belastung der Steuerzahler durch die steuerfinanzierten Bundeszuschüsse sowie der Eigenbeitrag in Form von betrieblicher und privater Alterssicherung, die zusammengenommen derzeit ca. 15 % für den Durchschnittsverdiener betragen. Sie werden bis 2040 auf ca. 20 % steigen. Die Kosten des Anspruchsdenkens sind also hoch: Allein bei der Altersvorsorge bedeuten sie eine Erhöhung der Abgaben um ein weiteres Zehntel des Bruttoeinkommens. Bei den Beitragssätzen in der Krankenversicherung sieht es noch dramatischer aus, da hier zu den Effekten des demographischen Wandels noch die Kosten des medizinischen Fortschritts kommen. Letzteren stehen allerdings, was in der Diskussion oft vergessen wird, auch höhere Leistungen des Gesundheitssystems gegenüber. Solange diese jedoch durch Steuern oder steuerartige Beiträge finanziert werden, implizieren sie eine weitere Einengung des sozialpolitischen Gestaltungsspielraums. Folgt man den Entwicklungen der letzten 20 Jahre, müssten die Beitragssätze zur gesetzlichen Krankenversicherung von durchschnittlich etwa 15 % auf ca. 25 % steigen, also um ein weiteres Bruttoeinkommenszehntel. Schließlich ist kaum zu glauben, dass die Belastung durch die umlagefinanzierte Pflegeversicherung nicht ebenfalls anwächst. Lineare Hochrechnungen, die die Zunahme der Zahl der Menschen über 80 mit Durchschnittspflegekosten multiplizieren, sind allerdings irreführend, da ja nicht nur die statistische Lebenserwartung, sondern auch die „gesunde“ oder „behinderungsfreie“ Lebenserwartung ansteigt. Folgt man den US-amerikanischen Daten, wächst letztere sogar noch schneller als die reine Lebenserwartung, sodass die Zeit der Pflegebedürftigkeit abnimmt und daher die Pflegekasse tendenziell entlastet wird. Wie das Wettrennen zwischen einer ansteigenden Zahl von Menschen, die potenziell pflegebedürftig werden, und der abnehmenden Wahrscheinlichkeit der Pflegebedürftigkeit in Deutschland ausgeht, ist derzeit nicht seriös vorherzusagen. Die steigende Belastung durch Alters- und Gesundheitsvorsorge wird durch wegfallende Ausgaben für Kinder und Familien nicht einmal ansatzweise kompensiert. Zum einen sind die Ausgaben pro ältere Person etwa dreimal so hoch wie die Ausgaben für Kinder. Zum Zweiten steigen die öffentlichen Ausgaben für die Familien, da die Bereitschaft gesunken ist, die Kosten für Kinder privat zu tragen. Drittens wäre es unangemessen, die öffentlichen Ausgaben für das Bil-
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dungssystem stabil zu halten oder gar einzuschränken, denn die angemahnte höhere Produktivität verlangt eine bessere Ausbildung.
2.3 Zur politischen Ökonomie des Sozialstaats Sprengstoff liegt schließlich in der politischen Ökonomie begründet. Auch die politische Welt hat sich seit den 1970er Jahren stark verändert. Das verklärte Bild einer Diskursdemokratie hat zwar schon in den 1970er Jahren nicht gestimmt. Die Professionalisierung der Interessenvertretungen ist seitdem aber stark fortgeschritten und bewirkt eine geänderte Dynamik der Sozialpolitik. Da die stärksten Interessenvertretungen die Mittelschicht protegieren, kommt es zu perversen Verteilungseffekten und dadurch zu einer zusätzlichen Überlastung des Sozialstaats. Der Glaube, mit Geld werde überwiegend denen geholfen, die es auch nötig haben, ist heute noch naiver, als er es schon in den 1970er Jahren war. Klar definiert sind die Ziele des VdK, der nun als Interessenvertretung der Rentenempfänger auftritt und nicht mehr als Vertretung einer in den 1970er Jahren schon recht kleinen Gemeinde von Kriegsgeschädigten. Er verteidigt die Renten einer relativ reichen Rentnergeneration zulasten einer Generation von Beitragszahlern, die länger arbeiten müssen und dennoch ein niedrigeres Rentenniveau erhalten werden. Bemerkenswert ist auch die Rolle der Gewerkschaften. Sie unterstützen, wie ihr politisches Verhalten in den letzten zehn Jahren zeigt und wohl deswegen, weil ihre Mitglieder mittlerweile älter als der Durchschnitt der Arbeitnehmerschaft sind, eher die Interessen der Rentner als die der Beitragszahler. Über die Durchschlagskraft der Lobbyisten im Gesundheitssystem sind schon Bände geschrieben worden. Das polit-ökonomische System der Bereitstellung und Finanzierung von Gesundheitsdienstleistungen hat sich bislang als unreformierbar erwiesen. Empfänger dieser Leistungen sind jedoch weniger Menschen der unteren Einkommensdezile, sondern mittlere und höhere Einkommensschichten. So subventioniert derzeit die gehobene Mittelschicht den Durchschnittsverdiener, während Verdiener oberhalb der Bemessungsgrenze von der Umverteilung ausgeschlossen sind. Zudem liegen die Leistungen für Reichere höher als die Gesundheitsdienstleistungen, die Ärmeren zugutekommen, die dennoch aber den gleichen Beitragssatz zahlen. Die politische Ökonomie des real existierenden Sozialstaats bevorzugt die Mittelschicht. Hier ist die Lobby am eifrigsten, hier werden Wahlen gewonnen. Die Professionalisierung der Politik hat diese immer schon existierende Tendenz
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seit den 1970er Jahren deutlich verstärkt. Dies schränkt den Gestaltungsspielraum für Sozialpolitik im Sinne derer, die es am nötigsten haben, weiter ein. Zusammenfassend: Demographischer Wandel, Anspruchsdenken und Lobbyprofessionalismus verstärken sich gegenseitig in einem Mix, der es uns weder erlaubt, die Markt- und politischen Kräfte in neoliberaler Manier frei spielen zu lassen, noch das vermeintlich großzügige, tatsächlich aber jeglicher Nachhaltigkeit spottende sozialpolitische Spiel der 1970er Jahre fortzuführen. Die neosoziale Position muss eine schwierige Kompromisslinie dazwischen finden.
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Eine neosoziale Finanzierung des Sozialstaats
Ein Sozialstaat kann nicht billig sein. Gesundheit ist ein hohes Gut, bessere und umfangreichere medizinische Leistungen kosten tendenziell auch mehr. In der Rente kann man sich schnell klarmachen, wie hoch die Kosten liegen müssen: Nehmen wir an, die Erwerbsphase (vereinfacht: Alter 20-60) sei doppelt so lang wie die Rentenphase (Alter 60-80), und die Rendite der Altersvorsorge sei gerade so hoch, dass die Kaufkraft der Einzahlungen erhalten bleibt. Wenn man dann im Alter ein genau so hohes verfügbares Einkommen haben möchte wie während der Erwerbsphase, muss man ein Drittel des Arbeitseinkommens in die Altersvorsorge einzahlen. Dies entspricht ziemlich genau dem, was der Durchschnittsarbeitnehmer derzeit für die gesetzliche Rentenversicherung, die Finanzierung der Bundeszuschüsse sowie die betriebliche und private Altersvorsorge ausgibt. Viel billiger geht es nicht, ohne auf Rentenniveau und -bezugszeit zu verzichten. Wie kann man dieses Volumen intelligent finanzieren? Wo kann man doch noch kürzen? Wie kann man das generationengerecht bewerkstelligen?
3.1 Zur intelligenten Finanzierung von Sozialleistungen Die Reformen im Renten- und Gesundheitswesen waren bislang weniger als Kürzungen von Sozialleistungen, sondern als Umfinanzierungen konzipiert. Das Zusammenspiel von Riester- und Nachhaltigkeitsfaktor mit dem Aufbau der Riesterrente verdeutlicht diese Idee am allerbesten; wir finden sie aber ebenfalls in den aus dem Katalog der gesetzlichen Krankenversicherung gestrichenen Leistungen, die nun aus Zusatzversicherungen und Erspartem finanziert werden sollen. Im Großen und Ganzen ist diese Strategie auch aufgegangen: Im Schnitt ist das Volumen der aus staatlichen und privaten Quellen finanzierten Vorsorge
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konstant geblieben. Allerdings haben die Reichen eher überkompensiert, während im unteren Einkommensdrittel Lücken entstehen. Diese Lücken sind Grund zur Sorge und verstärken die Notwendigkeit, Sozialpolitik zielgerichteter und weniger als Mittelschichtsförderung zu gestalten. Diese Umfinanzierung hat viele Dimensionen. Viel ist gestritten worden, ob es effizienter ist, Leistungen privat oder öffentlich zu versichern oder gar bereitzustellen. Diese Diskussion soll hier nicht aufgegriffen werden. Dem Verfasser liegt es hier vor allem daran, herauszuarbeiten, welche Auswirkungen die Finanzierungsart auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit hat, indem negative Arbeitsanreize minimiert werden. Hier gibt es eine klare Hierarchie. Am einen Ende des Spektrums liegt die Bildung privater Ersparnisse, z.B. für die Altersvorsorge, die die Arbeitsanreize überhaupt nicht schmälert. Am anderen Ende liegen die allgemeinen Steuern, deren Verwendungszweck für den Einzelnen diffus bleibt und die Arbeitsanreize stark verringern. Am einen Rande der dazwischen liegenden Grauzone sind privat ausgewählte, aber staatlich verordnete Versicherungen (mit sehr geringen negativen Arbeitsanreizen), am anderen Rande Sozialversicherungen, bei denen für den Beitragszahler das Verhältnis von Leistung zu Beitrag entweder niedrig oder nicht transparent zurechenbar ist. In der Mitte liegen schließlich Beiträge, denen klar definierte Leistungen gegenüberstehen. Folgt man dieser Logik, sind die Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung zu einem großen Anteil unschädlich. Zwar ist die Rendite des staatlichen Umlageverfahrens nicht so hoch wie die Kapitalrendite (selbst eingedenk der diversen Finanzkrisen), aber sie ist selbst für männliche Einzelpersonen noch positiv (auch eingedenk der diversen Dämpfungsfaktoren), sodass die Rente des Durchschnittsverdieners auch 2030 mehr Kaufkraft haben wird als die heutige Rente. Vor allem trägt ein zusätzlicher Beitragseuro im Gegensatz zur Steuerfinanzierung eins zu eins zu einer zusätzlichen Rente bei. Schließlich wird der Abstand zur Grundsicherung für den Durchschnittsverdiener auch in Zukunft so hoch sein, dass es aus Anreizgründen ein gewaltiger Unsinn wäre, zu einem Großteil unschädliche Rentenbeiträge in allgemeine Steuern umzuwandeln. Die Beitragsfinanzierung mit klar definierten Gegenleistungen ist daher ein Grundpfeiler neosozialen Denkens. Dementsprechend sollte die Krankenversicherung, in der dieses „Äquivalenzprinzip“ stark verletzt wird, umfinanziert werden. Leistungen für Reichere liegen zwar höher als die Gesundheitsdienstleistungen, die Ärmeren zugutekommen, sie steigen aber nicht linear mit dem Einkommen wie die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung. Die von einer großen Mehrheit des Wahlvolks gewünschte Umverteilung sollte also von einer
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dem Äquivalenzprinzip gehorchenden Versicherung klar getrennt werden. In statischer Sicht ändert diese Strukturreform erst einmal gar nichts: Der Gesundheitsfonds würde kleiner, weil er sich auf die Finanzierung der Umverteilung beschränkt, während die bislang nicht existierenden Prämien und Rückzahlungen eine spürbare Größe erhalten würden. Dynamisch gesehen würde eine transparente Darstellung der Umverteilungswirkungen jedoch dazu führen, die bereits angesprochenen unnötigen und zum Teil perversen Umverteilungseffekte abzubauen. Zum Zweiten würde der Zwang entfallen, zukünftige qualitativ höhere Gesundheitsleistungen, die wir uns ja eigentlich wünschen, automatisch per Steuererhöhung finanzieren zu müssen. Schließlich schafft die Herausnahme von Versicherungsleistungen aus dem allgemeinen Steuersystem neben der Verminderung von negativen Arbeitsanreizen auch ein anderes Bewusstsein und gesellschaftliches Lernen (vgl. Leicht, Kapitel I). Das Riestersparen mag ein gutes Beispiel sein. Um die Riesterersparnisse muss man sich selbst kümmern. Dies ist einerseits schwierig, lehrt aber anderseits, über Lebensentscheidungen wie den Renteneintrittszeitpunkt stärker nachzudenken. Fehlentscheidungen können nicht automatisch sozialisiert werden, weder im Einzelfall noch für die ganze Gesellschaft – ein wichtiges Element neosozialen Denkens. Auch die Dynamik des Gesundheitssystems wird davon profitieren, wenn die Menschen zumindest einen Teil der Gesundheitsausgaben selbst dedizieren können, indem sie zwischen verschiedenen Versicherungspaketen wählen können. Dies schafft ebenso Kosten- wie Leistungsbewusstsein und macht den Patienten zum Kunden. Ein steuerfinanziertes Gesundheitswesen wird dies nie zulassen. Ein stärker ausgeprägtes Kundenbewusstsein ist zudem essenziell, um die Selbstbedienungstendenzen der Provider im Gesundheitssystem besser unter Kontrolle zu bekommen. Man kann diesen neosozialen Faden weiterspinnen. Ähnlich wie die Riesterrente, die den Sparern eine gewisse Flexibilität gibt, um ihre Sparpotenziale in den verschiedenen Lebensphasen (Familien mit kleinen Kindern und Erwerbstätigkeitspause der Mutter, ältere Paare nach der Kinderphase mit niedrigen Eigenheimkosten…) optimal auszuschöpfen, gäbe eine stärker versicherungs- als steuerorientierte Finanzierung des Gesundheitswesens mehr Spielräume, das Wachstumspotenzial nicht direkt medizinischer Leistungen in einer alternden Gesellschaft zu stärken.
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3.2 Zum Kürzungspotenzial in den Sozialversicherungen Echtes Kürzungspotenzial, also Einschnitte in den Leistungen der Vorsorgesysteme im Ganzen, nicht eine Verlagerung von einem Pfeiler zu einem anderen, gibt es wenige – mit einer dafür um so wichtigeren Ausnahme: Es ist nicht einzusehen, warum in einer Gesellschaft, deren durchschnittliche Lebenserwartung ansteigt, der Renteneintrittszeitpunkt wie eine Naturkonstante gehandelt wird. Dies gilt umso mehr, als die aktive Lebenserwartung, bis zu der keine gesundheitlichen Einschränkungen vorliegen, noch schneller ansteigt als die statistische Lebenserwartung. Die Rente mit 67 soll bis 2029 eingeführt werden. Bis dahin wird die Lebenserwartung um drei Jahre ansteigen. Rente mit 67 heißt also, dass die Lebensarbeitszeit um zwei Jahre ansteigt und die Menschen dennoch ein zusätzliches Jahr Rente geschenkt bekommen. Vor allem bewirkt sie, dass die Proportionen zwischen Lebensarbeitszeit und Rentenbezugszeit erhalten bleiben, ein wichtiges Ziel einer vernünftigen Lebensökonomie. Gegen einen späteren Renteneintritt wird eingewandt, dass die Produktivität älterer Menschen stark abfällt, sodass der wirtschaftliche Nähreffekt gering ist. Es gibt jedoch keine wissenschaftliche Evidenz, dass diese Behauptung stimmt. Vorgesetzte mögen ältere Arbeitnehmer als weniger produktiv einschätzen als ihre jüngeren Kollegen. Hier wird Produktivität jedoch nicht gemessen, sondern eher ein gängiges Altersbild perpetuiert. Schwer messbare Fähigkeiten wie Erfahrung, soziale Kompetenzen und Organisationstalent wachsen tendenziell mit dem Alter; sie verlieren ihre Funktionalität erst dann, wenn sie in geistige Immobilität (z.B. unkluges Verharren am Althergebrachten) umschlagen oder wenn sie durch sehr große Defizite der kognitiven Leistungsfähigkeit nicht mehr zum Tragen kommen können. So zeigen denn auch Studien, die Produktivität ganzheitlich messen, dass die altersspezifischen Vor- und Nachteile jedes Lebensalters in dem für die Wirtschaft derzeit relevanten Altersbereich bis 65 Jahren in etwa ausgeglichen werden. Das Argument, die gewonnenen Lebensjahre könnten nicht für ein längeres Arbeitsleben genutzt werden, ist nicht stichhaltig. Dies widerspricht keinesfalls Laborbefunden zur physischen und kognitiven Leistungsfähigkeit und Befunden über Spitzenleistungen, da sich diese nicht unmittelbar auf den Berufsalltag übertragen lassen. Weite Teile der Berufswelt sind bewusst so organisiert, dass es auf individuelle Spitzenleistung nicht ankommt. So werden z.B. Montagebänder genau so langsam laufen gelassen, dass die Mehrheit der Arbeiter weitgehend fehlerfrei arbeiten kann, da die nachträgliche Behebung von Montagefehlern sehr teuer ist. Unumstritten ist schließlich die Bedeutung von Arbeitsumfeld und Weiterbildungsmaßnahmen. Eine längere
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individuelle Lebenszeit verlangt aktive Investitionen in die Erhaltung und Weiterentwicklung der Arbeitskraft. Als weiterer Grund, das Renteneintrittsalter nicht zu erhöhen, wird immer wieder das mit moralischer Emphase unterlegte Argument zitiert, dass ein früherer Renteneintritt der Älteren Arbeitsplätze für die Jüngeren frei macht. Dieses Argument ist schlichtweg falsch. Die verstärkte Beschäftigung älterer Arbeitnehmer steht nicht in Konkurrenz zu einer verstärkten Beschäftigung jüngerer Arbeitnehmer, sondern kann sie im Gegenteil sogar fördern. Denn über eine Senkung der Lohnnebenkosten und aufgrund niedrigerer Sozialversicherungsbeiträge trägt sie zur Schaffung neuer Arbeitsplätze und zu gesteigertem wirtschaftlichen Wachstum bei. Frühverrentung hingegen belastet durch höhere Sozialversicherungsbeiträge die jüngeren Arbeitnehmer, ebenso wie preisbedingte Absatzschwäche der Produkte. Beides zusammen verringert die Beschäftigung. Dies zeigt sich auch im internationalen Vergleich: In den OECD-Ländern mit hoher Frühverrentungsquote ist die Jugendarbeitslosigkeit nicht etwa besonders niedrig, sondern besonders hoch.
3.3 Zur Generationengerechtigkeit von Reformen Im demographischen Wandel werden sozialpolitische Fragen zunehmend zu Fragen nicht des intra-, sondern des intergenerativen Ausgleichs. Eine Rentengarantie hilft beispielsweise weniger den Armen als den Alten und muss weniger von den Reichen als den Jungen finanziert werden. Die Frage der Generationengerechtigkeit zieht sich daher wie ein roter Faden durch alle Diskussionen über die Finanzierung und die Strukturreformen des Sozialstaats. Wie kann man Generationengerechtigkeit im neosozialen Sinne operationalisieren? Im engen, strikt aufrechnenden Sinne wird das nicht gelingen können. Zu kompliziert ist das, was eine Generation vereint und von anderen Generationen unterscheidet, und zu schwierig und unverstanden sind die Kausalketten und Nebenwirkungen vergangener und zukünftiger wirtschaftspolitischer Entscheidungen, als dass man „gerecht“ deren Nutzen und Kosten auf die verschiedenen Generationen aufrechnen könnte. Wem soll man beispielsweise die zusätzliche Finanzierungslast aufbürden, die durch den Rückgang der Geburtenrate entstanden ist? Intuitiv erscheint es gerecht, der Babyboomgeneration die Folgen ihrer eigenen Kinderunfreudigkeit anzulasten. Folgt man jedoch der These, dass die Einführung der Sozialversicherung Kinder als Mittel zur Altersvorsorge überflüssig gemacht hat, müsste die Generation die Kosten tragen, die dieses System
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eingeführt hat, also die Großeltern der Babyboomer. Tatsächlich wird in unserem Umlageverfahren die Last den Kindern der Babyboomer aufgebürdet. Dieses Beispiel zeigt, wie schnell uns die Anwendung des Verursacherprinzips auf eine geschichtliche Ausgangssituation überfordert und zu absurden Ergebnissen führt. Noch schwieriger ist es, wenn man sozialpolitische Optionen nicht isoliert, sondern im Kontext des gesamten Wohlergehens einer Generation beurteilen soll. Wie weit es die Babyboomgeneration besser oder schlechter hat als ihre Elterngeneration, deren Jugend während Nazizeit und Zweitem Weltkrieg stattfand, kann man schlechterdings nicht in quantitativen Steuern- und Abgabensätzen fassen. Ein sauber definiertes Konzept der Generationengerechtigkeit müsste eine Bilanz aller Vor- und Nachteile aufstellen, welche die Geschichte einer bestimmten Generation beschert, und darin die Gewinne und Kosten von Erfindungen, Kriegen, wirtschaftlichen und demographischen Aufschwüngen und Krisen jeder einzelnen Generation nach dem Verursacherprinzip zurechnen. Statt eines undurchführbaren Aufrechnens der Vergangenheit sollte als Maxime neosozialen Handelns daher gelten, die Sünden der Vergangenheit nicht weiter zu verschlimmern. Gerecht gegenüber zukünftigen Generationen ist es danach, die expliziten und impliziten Schulden des Sozialstaats nicht weiter zu erhöhen.
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Gesundheitssystem: Modell Schweiz – Vorbild oder Irrweg?
V. Gesundheitssystem: Modell Schweiz – Vorbild oder Irrweg?
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Kopfprämie oder Bürgerversicherung – der Streit um das bessere System
Der fast dogmatisch anmutende Streit in Deutschland um das bessere Gesundheitssystem konzentriert sich unter den griffigen Marken „Bürgerversicherung“ gegen „Kopfprämie“ weitgehend auf die Finanzzierungsseite und weniger auf die Leistungsseite. Beide hängen aber voneinander ab. Ein europäisches Land, das sich – neben den USA – ausschließlich auf das System einer Privatversicherung seiner Bürger stützt, ist die Schweiz. Viele der deutschen „Vorbild-Länder“, wenn es um eine gerechte und effiziente Sozialpolitik geht, finanzieren ihre Gesundheitsleistungen dagegen ausschließlich oder überwiegend über Steuern. Das trifft für die skandinavischen Länder oder Großbritannien und Frankreich zu.
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Wie ist das Gesundheitssystem der Schweiz organisiert?
In der Schweiz ist seit 1996 jeder Einwohner obligatorisch für die Behandlungskosten bei Krankheit versichert. Die Prämien für diese Grundversicherung und eventuelle Zusatzversicherungen werden von den Versicherten gezahlt. Es gibt ausschließlich private und keine staatlichen Versicherungen. Die heute insgesamt fast 90 Versicherungsgesellschaften – davon allerdings nur 20 wirklich „marktrelevante“ – sind verpflichtet, jeden auf Antrag in die Grundversicherung aufzunehmen, wenn er im Tätigkeitsgebiet der Kasse wohnt. Die Kassen stehen miteinander in heftigem Wettbewerb. Die Prämien für die Grundversicherung für die einzelnen Altersklassen, die zwischen den Kassen variieren können, müssen vom Bundesamt für Gesundheit genehmigt werden.
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Bei allen Zusatzversicherungen, die über die Grundversicherung hinausgehen – dazu zählt insbesondere die Zahnversicherung, die nicht im Grundleistungskatalog enthalten ist –, sind die Kassen frei in der Festsetzung der Prämien und bei der Kontrahierung. Ein teilweiser Ausgleich der unterschiedlichen Risiken durch ältere oder kranke Versicherte geschieht über einen speziellen Fonds zum Risikoausgleich. Die Kassen schließen mit den Leistungserbringern, den Ärzten und Krankenhäusern Verträge ab. Die Schweiz ist schon früh (1990) mit dem Prinzip der „Managed Care“ der HMOs (Health Maintenance Organisations) neue Wege gegangen. In diesem System erhalten die Ärzte von der Kasse eine bestimmte Pauschale für jeden von ihnen betreuten Patienten. Ihre einzelne Leistung wird nicht mehr von der Kasse vergütet. Für den Versicherten entfällt in diesem System die freie Arztwahl. Er ist gehalten, zunächst einen bestimmten Arzt im HMO-Center aufzusuchen. Dieser wird als „Gatekeeper“ bezeichnet und bestimmt über die Einschaltung bzw. Überweisung an Spezialärzte. Nur in Notfällen ist man in der Arztwahl frei. Das Ziel besteht darin, ein Anreizsystem zu haben, bei dem der Arzt das Interesse an einem möglichst gesunden Patientenstamm hat. Verbreitet sind in der Schweiz auch innovative Hausarztmodelle, die ähnlich wie die Gatekeeper im HMO-System funktionieren. Die Kosten für die Krankenversicherungen, die Grundversicherung und Zusatzversicherungen werden von den Versicherten selbst getragen. Für Ehepartner und für die Kinder werden jeweils gesonderte Versicherungen abgeschlossen. Die Prämien für die Grundversicherung betrugen für einen jungen Erwachsenen zuletzt durchschnittlich 313 CHF, variieren aber von Kanton zu Kanton. Bei der Wahl von HMO- oder Hausarztmodellen verbilligen sich die Prämien für die Grundversorgung um bis zu 20 bzw. 25 Prozent. Immer mehr Menschen nutzen diese neuen Modelle. Die gesamten Gesundheitskosten pro Kopf und Jahr erreichten (2006) in kaufkraftbereinigten US-Dollars 4.311 USD. Darüber lagen die USA mit 6.714 USD und Norwegen mit 4.520 USD pro Kopf. Für Deutschland werden 3.371 USD angegeben. Gemessen am Bruttosozialprodukt liegt die Schweiz mit 11,3 Prozent im weltweiten Vergleich auf Platz 2 nach den USA (15,3 Prozent) und vor Deutschland mit 10,6 Prozent. Als soziales Korrektiv zur Kopfprämie bei der obligatorischen Krankenpflegeversicherung haben „Versicherte in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen“ Anspruch auf Prämienverbilligungen (Art. 65 KVG). Die Gruppen der Berechtigten und die Kriterien sind im Bundesgesetz geregelt. Die „Sozialziele“ und die Grenzwerte werden von den Kantonen festgelegt. Die maximalen Eigenanteile variieren entsprechend zwischen 2 und 12 Prozent je nach Kanton. Der Bund
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übernimmt die Hälfte der Kosten von 4,2 Mrd. CHF (2008). Staatliche Beiträge zu den Krankenkassenprämien beziehen heute rund ein Drittel aller Haushalte mit steigender Tendenz, da die Einkommen weitgehend stagnieren, die Gesundheitskosten aber pro Jahr um durchschnittlich 5 Prozent und die Krankenkassenprämien sogar noch stärker gestiegen sind. An der Spitze aller von der OECD erfassten Länder liegt die Schweiz bei den nicht durch Versicherungen bezahlten Gesundheitsausgaben, den sogenannten „Out-of-Pocket-Zahlungen“. Pro Einwohner waren das (2005) 1.739 USD oder 30,5 Prozent der gesamten Ausgaben für Gesundheit. In den USA waren es gerade einmal 13 Prozent. Ein Grund für diesen hohen Anteil der direkten privaten Ausgaben in der Schweiz liegt vor allem auch in den meist nicht versicherten Zahnbehandlungen. Ein weiterer Grund für die relativ hohen direkt von den Bürgern zu zahlenden Gesundheitskosten sind die allgemeinen oder selbst zu wählenden Selbstbeteiligungen (in der Schweiz „Franchisen“ genannt). Der allgemeine Festbetrag für alle Erwachsenen beträgt 300 CHF. Freiwillig vereinbaren viele Versicherte höhere Selbstbeteiligungen von bis zu 2.500 CHF mit entsprechenden Abschlägen bei den Versicherungsprämien. Der generelle Selbstbehalt bei Arzneien beträgt 10 Prozent für Generika und 20 Prozent für Originalmedikamente. Die erstattungsfähigen Medikamente werden in einer Arzneimittelliste mit heute ca. 2.400 Medikamenten – „Spezialitätenliste“ genannt – festgehalten. OTC-Medikamente, die nicht auf der Liste stehen, müssen privat bezahlt werden. Die Rechnungen für medizinische Leistungen werden in der Regel den Patienten direkt gestellt und erst nach Einreichung und Überschreitung der vereinbarten Franchisen von den Kassen vergütet. Bei Einweisungen in Kliniken wird eine Kostenübernahmegarantie der Versicherung oder eine Kaution verlangt. Von den gesamten Kosten des Gesundheitswesens werden heute weit über zwei Drittel von den privaten Haushalten und nur 17 Prozent durch die öffentliche Hand getragen. Die Preise für ärztliche Leistungen sind in einem landesweit gültigen Tarif (Tarmed) festgelegt. Jede Leistung ist mit einer bestimmten Zahl von „Taxpunkten“ bewertet. Die Taxpunktwerte variieren allerdings von Kanton zu Kanton je nach Einkommensniveau, Kostenstrukturen und Ärztedichten. Eine Behandlung kann entsprechend im Kanton Schwyz deutlich weniger kosten als im Kanton Genf. Zur Finanzierung der staatlichen Krankenhäuser – das sind in der Schweiz die Kantonsspitäler und Kliniken in der Trägerschaft von Gemeinden – erhalten sie Zuschüsse der Kantone und Gemeinden. Da hierzu Steuergelder der jeweili-
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gen Einwohner des Kantons herangezogen werden, werden sie in „ihrem Spital“ auch zu geringeren Gebühren behandelt als „Kantons-Ausländer“. Private Krankenhäuser erhalten keinerlei staatliche Zuschüsse und verlangen deshalb höhere Taxen. Ambulante Behandlungen werden von der Grundversicherung in der ganzen Schweiz bei jedem der zugelassenen Leistungserbringer gedeckt. Gegen Unfälle besteht eine obligatorische Versicherung nur für Angestellte bei der SUVA (Schweizerische Unfallversicherungsanstalt), einer selbstständigen Unfallsversicherung öffentlichen Rechts. Private Unfallversicherungen bieten auch die meisten Krankenkassen an. Mit Gesamtkosten für das Gesundheitswesen von 52,8 Mrd. CHF (2006) oder 11,3 Prozent ihres Bruttosozialprodukts liegt die Schweiz weltweit an zweiter Stelle nach den USA mit 15,3 Prozent und vor Deutschland mit 10,6 Prozent. Die Kosten verteilen sich auf die einzelnen Leistungsträger wie folgt: in Mrd. CHF Stationäre Behandlung (inkl. Medikamente)
24.063
Ambulante Behandlung
16.588
davon Ärzte
7.538
davon Ambulanz in Krankenhäusern
3.469
davon Zahnbehandlung
3.389
Andere Leistungen (Labor, Radiologie, Transport)
1.788
Gesundheitsgüter (Arzneimittel, Apparate)
6.561
Prävention
1.141
Verwaltung
2.631
3
Eine Beurteilung seiner Stärken und Schwächen
Insgesamt sieht sich das Schweizer Gesundheitssystem vor ähnliche Probleme gestellt, wie sie in fast allen anderen Ländern auch bestehen: Ein starker Anstieg der Gesundheitskosten insgesamt ohne ein deutliches Ansteigen der gemessenen Qualität der Gesundheit der Bevölkerung. In einem internationalen Qualitätsvergleich belegen Frankreich und Italien die Plätze 1 und 2, die Schweiz Platz 20 und
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Deutschland Platz 25. Die Kriterien, nach denen die Qualität hier gemessen wurde, sind das Gesundheitsniveau, die Bedürfnisorientierung und die Finanzierungsgerechtigkeit. Als Gründe für das stete Wachstum der Gesundheitsausgaben wird das gleiche Bündel an Gründen genannt wie in Deutschland und anderen Ländern: medizinischer Fortschritt, Alterung, unzureichende Prävention, ungenügende Qualität, falsche Finanzanreize, Macht der Lobbyisten, gestiegene Anspruchshaltung der Konsumenten und der Leistungserbringer, hohe Arzt- und Zahnarzteinkommen, Wettrüsten der Krankenhäuser im Konkurrenzkampf, zu hohe Medikamentenpreise, zu hohe Dichte der Leistungserbringer, unnötige Operationen, Untersuchungen, Medikamente, Arztbesuche und Krankenhausaufenthalte. Auch in der Schweiz wird unter dem Stichwort „Managed Competition“ nach Wegen gesucht, wie zusätzliche Wettbewerbselemente im Gesundheitswesen die Produktivität steigern helfen können. Für einen detaillierten Vergleich der einzelnen Elemente der Kostensteigerungen ist hier nicht der Platz. Zu fragen ist aber, inwieweit das Schweizer Gesundheitssystem den wichtigsten Kriterien einer gerechten und zukunftsfähigen Gesundheitsversorgung entspricht. Als wichtigste Kriterien haben wir in einer der jüngsten Untersuchungen des Managerkreises zum Gesundheitssektor „Wachstum und Gesundheit“ (Friedrich-Ebert-Stiftung 2008) Chancengleichheit, Wettbewerb und Konsumentensouveränität benannt. Andere Untersuchungen gliedern diesen Katalog noch weiter auf. Sie nennen als wichtige Ziele einer nachhaltigen und gerechten Versorgung:
Chancengleichheit (Zugang zu Gesundheitsleistungen) Leistungsfähigkeit (schnelle und wirksame Behandlung) Bedarfsgerechtigkeit (keine künstliche Beeinflussung der Nachfrage durch die Anbieter) Wirtschaftlichkeit (Verhältnis von Kosten und Nutzen) Finanzierbarkeit (Preisbildung und Inanspruchnahme von Leistungen)
Eine Beurteilung der „Qualität“ des Schweizer Gesundheitssystems anhand dieser Messlatten, kommt zu folgendem Ergebnis: Chancengleichheit: Weil es in der Schweiz keine staatliche Versicherung gibt, entsteht keine Klassentrennung der Patienten entlang der Linie privat oder gesetzlich Versicherter. Durch die obligatorische Grundversicherung hat im Prinzip jeder Einwohner die Chance einer ordentlichen Behandlung. Der Grundkatalog enthält
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eine breite Palette von Krankheiten und Behandlungen. Er beschränkt sich nicht nur auf die Schulmedizin, sondern umfasst – wenn auch in noch bescheidenem Umfang – Behandlungen der Alternativ- oder Komplementärmedizin. Die Nachteile, die dadurch entstehen könnten, dass Zahnbehandlungen nicht im Grundleistungskatalog enthalten und versichert sind, werden durch eine ausgebaute Schulzahnpflege gemindert, die für alle Kindergarten- und Schulkinder obligatorisch ist. Die plakative Aussage von Gerhard Schröder, dass er nicht wolle, dass man die soziale Benachteiligung von Menschen an den Zähnen ablesen würde, trifft auf die Eidgenossen nach den vorliegenden Untersuchungsergebnissen nicht zu. Die verschiedenen, zum Teil auch teuren Zusatztarife (nicht nur für Zahnbehandlung, sondern auch für Einbettzimmer in Krankenhäusern) ermöglichen den Menschen entsprechend ihrer Präferenzen und ihrer finanziellen Ressourcen, bessere Leistungen und private Kliniken in Anspruch zu nehmen. Das Subventionssystem der Prämienverbilligungen und die steuerliche Absetzbarkeit von Krankenkassenprämien und von effektiven Krankheitskosten bringen einen gewissen sozialen Ausgleich für die unterschiedlichen Vermögensklassen. Dennoch ist die finanzielle Belastung der Menschen mit niedrigem Einkommen, der jungen Familien und der Alten relativ hoch. Leistungsfähigkeit: Alle Untersuchungen bescheinigen dem schweizerischen Gesundheitssystem eine hohe Leistungsfähigkeit. Die ambulante Versorgung ist auch dank der hohen Ärztedichte in der Regel sehr gut. Wartezeiten sind gering. Dank des ausgeprägten Hausarztmodells und der verbreiteten HMO-Systeme werden die Ressourcen sparsam eingesetzt. Die immer noch übliche Abgabe von Medikamenten durch die Ärzte ist für die Patienten eine spürbare Erleichterung. Eine inflationäre Abgabe von Medikamenten, wie in Japan beobachtet, findet nicht statt. Die bauliche Qualität der Krankenhäuser und ihre Ausstattung ist im Durchschnitt deutlich besser als in Deutschland. Bedarfsgerechtigkeit: Fraglos wird durch die breite Werbung für Arzneimittel und für spezielle Behandlungen etwa für Augenkorrekturen oder kosmetische Operationen „Nachfrage nach Gesundheitsleistungen“ generiert. Das Schweizer System schiebt einer missbräuchlichen Nutzung von Gesundheitsleistungen aber dadurch einen gewissen Riegel vor, dass der Patient die Kosten einer Behandlung meist nicht nur kennt, sondern in vielen Fällen Teile davon oder gar alles selbst bezahlen muss. Das Äquivalenzprinzip als ein wesentliches Element neosozialer Politik, wie im Beitrag von Börsch-Supan (vgl. Kapitel IV) gefordert, ist damit im
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schweizerischen Gesundheitssystem sehr viel besser umgesetzt als im aktuellen deutschen System. Wirtschaftlichkeit: Der ausgeprägte Wettbewerb der privaten Kassen um Versicherte findet nicht nur durch unterschiedliche Prämien (vor allem für Zusatzversicherungen) und Prämienerstattungen statt, sondern auch durch besondere Angebote der Kassen zur Prävention. Dadurch entsteht ein wirksamer Druck auf die Kassen zu hohen Leistungen bei möglichst niedrigen Kosten. Die nachteiligen Folgen eines möglichen Ausscheidens aus dem Markt (Konkurs) für die Versicherungsnehmer werden durch eine Vereinbarung der Kassen aufgefangen, die Versicherten im Notfall zu übernehmen. Auch im Bereich der stationären Versorgung führt der starke Wettbewerb zwischen den privaten und den öffentlichen Kliniken zu einer ständigen Überprüfung der Kosten-Nutzen-Relationen mit einem generellen Trend zu einem spürbaren Wettbewerb um mehr Qualität. Unbestritten positiv schneiden im Vergleich der Wirtschaftlichkeit vor allem die HMOs und die Hausarztmodelle ab. Einen wachsenden Beitrag zu einer höheren Produktivität liefern die telefonischen und elektronischen Beratungsdienste wie z. B. Medgate. Finanzierbarkeit: Obwohl in einem relativ wohlhabenden Land wie der Schweiz die Bereitschaft der Bürger ausgeprägt ist, einen wachsenden Anteil ihres Einkommens oder ihres Vermögens für Gesundheit auszugeben, macht der Anstieg der Gesundheits- und Krankheitskosten auch unseren Nachbarn zunehmend Sorge. Eine deutlich andere Mentalität bezüglich der Verantwortung des Einzelnen für sich und sein Wohlergehen und die hohe Transparenz der Kosten der Leistungserbringer für die Nutzer sowie eine ausgeprägte Freiheit bei der Wahl der Ärzte und der Kliniken lässt diesen Anstieg der Gesundheitsausgaben nicht zu einem ähnlich starken politischen „Issue“ werden wie in Deutschland. Es ist mehrheitlich erkannt und akzeptiert, dass mit der höheren Lebenserwartung und den verbesserten medizinischen Möglichkeiten die Kosten für ein gesundes Leben und ein möglichst gesundes Altern eher weiter steigen werden. Das Prinzip der Prämienverbilligungen hilft allerdings, vergleichbar dem deutschen Wohngeld zur Verringerung der Belastung durch Mieten, die übermäßigen Belastungen der Bürger durch Versicherungsprämien zu vermeiden. Aller Voraussicht nach werden die Beiträge zum Ausgleich nicht zumutbarer Belastungen der unteren Einkommensschichten künftig weiter ansteigen. Im Budget ist für 2012 ein Betrag von 6,9 Mrd. CHF eingeplant. Das entspricht einem jährlichen
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Zuwachs von 7,2 Prozent! Die Bereitschaft für diesen Sozialausgleich ist in der schweizerischen Bevölkerung – in Grenzen – vorhanden. Konkrete „Projekte“, wie das Gesundheitssystem mit transparenten Mechanismen und nachvollziehbaren Volumina an sozial begründeter Umverteilung, finden beim Schweizer Stimmvolk meist Zustimmung wie das System der Altersversicherung (s.u.) zeigt. Jüngere politische Initiativen haben sich allerdings auch für die Einführung einer Einheitskasse eingesetzt. Dieses Begehren ist 2007 mit einer knappen Mehrheit abgelehnt worden. Der wesentliche Unterschied aber zum deutschen System ist die völlige Loslösung der Finanzierung des Gesundheitswesens von den gezahlten Löhnen und Gehältern. Die einzige Ausnahme ist die Unfallversicherung, die von den Arbeitgebern für die Mitarbeiter an die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) gezahlt wird. Sie entscheidet auch über die Leistungen aus der Invalidenversicherung, abgekürzt IV, deren bedrohlich wachsende Defizite heute Probleme der Finanzierung bringen.
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Zur Übertragbarkeit auf Deutschland
Das implizite und das von den Parteien vertretene Leitbild einer sozial gerechten Gesellschaft und damit der Sozialpolitik ist in Deutschland von der „Grundmentalität“ der schweizerischen Gesellschaft sehr verschieden. In der Schweiz ist der Anspruch der Bürger auf Selbstbestimmung und das Bewusstsein für ein hohes Maß an Eigenverantwortung stärker entwickelt als in Deutschland. Die Praxis der direkten Demokratie und der stark föderalen Aufgabenteilung hat die Mentalitäten geprägt. Dennoch oder gerade dadurch ist der Gemeinsinn besonders ausgeprägt. Es herrscht kein Geist des Egoismus. Im Unterschied zu Deutschland mit seinem „kollektivierten“ Föderalismus gibt es in der Schweiz einen echten Wettbewerbsföderalismus bis hin zum Steuerwettbewerb zwischen den Kantonen und den Gemeinden. Aber das bewährte System der schweizweiten Alterssicherung mit seinen drei Säulen ist ein überzeugender Beleg dafür, dass trotz des ausgeprägten Wettbewerbs zwischen den Gebietskörperschaften eine landesweite Solidarität besteht. Im Gegensatz zum deutschen Rentensystem schafft die schweizerische Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) eine beachtliche Umverteilung zwischen den einkommensschwachen und den einkommensstarken Bevölkerungsgruppen.
V. Gesundheitssystem: Modell Schweiz – Vorbild oder Irrweg?
95
Die Leistungen der AHV entsprechen einer Grundsicherung, bei der die Maximalrente bei voller Beitragszeit heute lediglich etwa 1.600 CHF erreicht. Bürger, Angestellte, Selbstständige oder Erwerbslose – und auch bereits Studenten – zahlen wenigstens Mindestbeiträge auf ihr Konto in die Kasse. Es gibt keine Beitragsbemessungsgrenze! Auch Einkommensmillionäre zahlen – im Vergleich zu den deutschen Beitragssätzen allerdings moderatere – Beiträge auf ihre hohen Einkommen. In Deutschland wird, wie der jüngste Sozialbericht erneut belegt, ein immer höherer Anteil des Volkseinkommens über staatliche Programme umverteilt. Der Anteil der Sozialausgaben beträgt heute bereits rund zwei Drittel. Da die politischen Mandatsträger ihre Berechtigung zunehmend im Aufsuchen und Definieren neuer Gruppen „Benachteiligter“ oder „Armer“ suchen, wird sich diese Entwicklung vermutlich noch eine Zeit lang fortsetzen. Da wir Armut meist als relative Armut definieren, wird sich Armut selbst auf einem generell hohen Wohlstandsniveau definitionsgemäß nie vermeiden bzw. beseitigen lassen. Wir messen nicht Armut, sondern die Spreizung der Einkommen. Der zweite Pferdefuß der in Deutschland herrschenden sozialpolitischen Dogmen ist die fast einseitige Fixierung auf materielle und also monetäre Aspekte. Das aber wird sich zunehmend als ein wenig produktives Leitbild für eine den Menschen und seiner individuellen persönlichen Entwicklung dienenden Sozialpolitik erweisen. Leistungen ohne Gegenleistungen oder eigene Anstrengungen zu fordern und zu erhalten, beleidigt die in den meisten Menschen angelegte Bereitschaft und Begeisterung, sich aus nachteiligen Situationen selber zu befreien und die eigenen Lebensumstände zu verbessern. Eine Politik der sozialen Gerechtigkeit ruft nach mehr als der Umverteilung von Einkommen. Systematische Befähigungspolitik muss bereits auf den unteren Bildungsstufen beginnen. Der hässliche Kreislauf aus Unterausbildung, Armut und neuer „Bildungsferne“ der Kinder und ihrer Familien kann und muss unterbrochen werden. Das ist kein Plädoyer für einen achtlosen Umgang mit in Not geratenen Menschen, aber es ist ein Plädoyer für eine Sozialpolitik, die Menschen dabei unterstützt, ein Leben zu führen, das sie bereichert, auf das sie stolz sein können. Empowerment statt finanzieller „Nichtanbauprämien“. „Für ein reicheres Leben“, das müsste die Devise sein – und dazu gehört auch die Einsicht, dass das eigene Überwinden von Hindernissen ein großer Gewinn sein wird. Vom Sport und aus dem Bereich der Kultur kennen wir das eigentlich zur Genüge. Was hat das mit dem Gesundheitssystem und seiner Organisation zu tun? Sehr viel! Das Bedürfnis nach gesundheitsfördernden Behandlungen, nach effizienten Arzneimitteln und künstlichen Organen ist bei den meisten Menschen
96
Heik Afheldt
unbegrenzt. Ein Gesundheitssystem, in dem wir das Postulat optimaler Gerechtigkeit mit dem Prinzip der Gleichheit gleichsetzen, führt entweder zu einer dauernden und letztlich unlösbaren Zuteilungsdiskussion – oder zum Losverfahren, oder man beschränkt sich auf eine höchstmögliche Gleichbehandlung aller, aber dann zwangsläufig auf einem niedrigen Niveau – das Modell DDR – mit dem ärgerlichen Phänomen, dass einige Bevorrechtigte oder Reiche die besseren Behandlungen außerhalb des allgemeinen Systems suchen und finden. Eine neue Sozialpolitik müsste deshalb zunächst anerkennen, dass Ungleichheiten nicht immer auch „ungerecht“ sein müssen. An anderen Stellen in diesem Buch ist ausreichend auf die wohlfahrtstheoretischen Gewinne gewisser Ungleichheiten aufmerksam gemacht worden. Dennoch ist die Bestimmung einer „optimalen Ungleichheit“ in einer Gesellschaft bisher nie überzeugend gelungen. Vermutlich ist das für jede Gesellschaft auch nur je nach ihrer historischen Situation, der jeweiligen Wertepräferenzen und der politischen Organisation möglich. Es geht um „moving targets“, um dynamische kollektive Lernprozesse. Tatsächlich weist die Statistik aus, dass die Besserverdienenden eine höhere Erwartung an gesunden Lebensjahren haben. Ist das ungerecht? Warum soll sich ein erfolgreicher Künstler, Sportler oder Unternehmer nicht mehr Gesundheit leisten können? Das war stets und ist immer eine „nichtmonetäre Rendite“ höherer Leistung gewesen. Aber ungerecht ist es, wenn die Gesellschaft nicht alles daran setzt, die Chancen auf sozialen Aufstieg und damit auf ein längeres Leben möglichst gleich zu verteilen. Das ist im Übrigen auch nicht nur sozial gerechter gegenüber jedem einzelnen Bürger, sondern vorteilhaft für die gesamte Gesellschaft, die damit wettbewerbsfähiger und wirtschaftlich erfolgreicher wird. Eine neue Sozialpolitik aber muss auch ihre Kriterien für das Auffinden und die Definition sozialer Not ändern. In nahezu jedem einzelnen Lebenslauf gibt es Phasen, in denen ein Mensch statistisch als „arm“ erscheint. Das gilt für die so häufig zitierte Kinderarmut, die vor allem bei Familien mit mehreren Kindern vorherrscht, für die Studentenzeit und Zeiten der freiwilligen oder erzwungenen Erwerbslosigkeit. Was heißt das? Die Frage eines erfüllten, eines „reichen Lebens“ lässt sich sinnvoll nur über die Spanne eines gesamten Lebens messen und beantworten. Statt Armut gänzlich vermeiden zu wollen, wäre es vermutlich sehr viel hilfreicher und sozialer, jedem Menschen die „Chance“ auf arme Lebensphasen zu verschaffen. Erst durch Erfahrungen der Knappheit gewinnt der Wohlstand an Wert. In einem gewissen Umfang soll der souveräne Gesundheitskonsument also selber darüber bestimmen, welche Aufwendungen er für seine Gesundheit aufbringt. Gegen Großrisiken kann und muss er sich versichern. Und der souveräne
V. Gesundheitssystem: Modell Schweiz – Vorbild oder Irrweg?
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Konsument darf auch entscheiden, wem er sich anvertraut und ob er zuvor Rat bei mehreren Anbietern, sprich Ärzten, eingeholt hat. Auch wenn sich Fallpauschalen immer mehr durchsetzen und als Rationalisierungsinstrument auch eine gewisse Berechtigung haben, Gesundheitsleistungen, ob eine Behandlung oder eine Operation, sind eigentlich nie wirklich homogene Güter, die beliebig und mit jeweils gleicher Qualität gekauft werden können. Die Erfahrungen und Fähigkeiten der jeweiligen Ärzte und die Güte der Kommunikation zwischen Arzt und Patient bleiben entscheidend. International vergleichende Untersuchungen über Fehldiagnosen, falsche Medikationen und misslungene Operationen setzen hier schrille Alarmzeichen. Die Antwort auf die Frage der Übertragbarkeit wesentlicher Elemente des schweizerischen Gesundheitssystems auf Deutschland? Nur sehr eingeschränkt denkbar. Die Verhältnisse, die sind nicht so! Noch nicht. Es fehlt in Deutschland das entsprechende Bewusstsein in der Bevölkerung und damit die soziale Akzeptanz – ganz unabhängig von der normativen Kraft der „vested interests“ der wichtigen Player im weit verzweigten Gesundheitssystem. Vergleichende Länderstudien zu den Vorteilen der verschiedenen Finanzierungsmodelle und der Organisation der sogenannten Leistungserbringer in den Ländern kommen zu dem Ergebnis, dass ein radikales Umlenken auf Alternativen wie Kopfprämie oder Bürgerversicherung wenig Sinn machen und im politischen System kaum Chancen haben. Es geht mehr um die Übernahme einzelner Elemente. Deshalb lässt sich aus Blicken über die nationalen Zäune immer auch zusätzliche Einsicht gewinnen.
Ausgewählte Quellen Managerkreis der Friedrich-Ebert Stiftung (2008): Wachstum und Gesundheit. Berlin. SCHLANDER, Michael; SCHWARZ, Oliver; THIELSCHER, Christian (2005): Gesundheitsausgaben in Deutschland – Eine makroökonomische Analyse ihrer langfristigen Finanzierbarkeit. In: KREMIN-BUCH, Beate et al. (Hrsg.): Gesundheitsökonomie – Eine Langfristorientierung. Sternenfels: Verlag Wissenschaft & Praxis Dr. Brauner, S. 83-129. Schweizerisches Gesundheitsobservatorium (2008): Wettbewerb im Gesundheitswesen – Auslegeordnung, Forschungsprotokoll 9. Neuchâtel (www.obsan.ch). www.forum-gesundheitspolitik.de („Argumente und Fakten für eine soziale Gesundheitspolitik“)
VI. Ein anderer Fiskus VI. Ein anderer Fiskus
Thilo Sarrazin
Die Diskussion um den Fiskus wird regelmäßig von vier Themen bestimmt: 1. 2.
3.
4.
Welche Aufgaben soll der Staat wahrnehmen, und wie soll er sie wahrnehmen? Daraus ergibt sich der Anteil des Staates am Sozialprodukt. Wie und in welcher Mischung soll der Staat seine Ausgaben finanzieren? Daraus ergibt sich die Aufteilung auf Sozialabgaben und Steuern einerseits, auf direkte und indirekte Steuern andererseits. Damit wird auch entschieden, welchen Umverteilungsehrgeiz der Staat hat und wie er die Leistungsbereitschaft der Bürger beeinflusst. Welche Staatsverschuldung ist wirtschaftlich vernünftig, und für welche Zwecke ist sie vertretbar? Dies hängt auch zusammen mit Verteilungsfragen und der intergenerativen Belastungsverteilung. Welche Rolle hat der Staatshaushalt bei der Beeinflussung der wirtschaftlichen Entwicklung, insbesondere bei der Konjunktursteuerung? Diese Frage steht aktuell sehr im Vordergrund, hat aber auch großen Einfluss auf die gesamte Entwicklung des Staatssektors.
Keine Antwort auf Fragen nach der Rolle des Fiskus kommt ohne ordnungspolitische Werturteile bzw. den Bezug auf weltanschauliche Grundsatzfragen aus. Solche Antworten sind auch immer verbunden mit den historischen Bezügen der konkreten Situation. Diskussionen um die Rolle des Fiskus sind ein wenig wie das Wetter. Ständig wechselt die Szenerie, aber es geht doch immer um das Gleiche: Regen oder Sonnenschein, Wärme oder Kälte, Sturm oder Windstille. Stets aber geht es um Interessen oder Glaubensfragen, selten um das Streben nach reiner Wahrheit. Und darum sind solche Diskussionen sowohl ermüdend als auch selten weiterführend. Jedoch muss man sich immer wieder vergewissern, wo man selber steht, und jeder muss wissen, wo der andere steht. Deshalb eingangs einige Thesen, die der Ausgangspunkt für die weiteren Betrachtungen sind:
VI. Ein anderer Fiskus
99
These 1: Der sogenannte „Staatsanteil“, also der Anteil der Einnahmen und Ausgaben am Sozialprodukt, spiegelt im Wesentlichen unterschiedliche kulturelle Auffassungen über die Rolle des Staates wider, die als solche, innerhalb weiter Margen, wirtschafts- und fiskalpolitisch weder schädlich sind noch einem klaren Schema von Falsch und Richtig unterliegen. Insbesondere können sie nicht Basis für die Beurteilung der Qualität der Staatstätigkeit sein. Sie stehen auch nur bedingt in einem nachweisbaren Zusammenhang mit der Wachstumsstärke oder dem Wohlstandsniveau der jeweiligen Volkswirtschaften. Das zeigt Abbildung 1. Dort werden für zehn OECD-Länder dem Pro-KopfBIP (in Kaufkraftparitäten) die jeweiligen Abgabequoten gemäß OECD-Statistik gegenübergestellt. Ergebnis: Unter den entwickelten Industriestaaten gibt es alle nur denkbaren Kombinationen. Bei hohem Sozialprodukt haben z.B. die skandinavischen Länder durchweg sehr hohe Abgabequoten, Deutschland liegt in der Mitte. Aber auch Länder mit Recht niedrigen Abgabequoten wie USA oder Schweiz haben ein hohes Sozialprodukt. Abbildung 1:
Abgabenquoten* und Pro-Kopf-BIP** 2006
55.000
Pro-Kopf-BIP** Norwegen 50.000
45.000
40.000
USA Schweiz Niederlande Schweden
35.000
Deutschland 30.000
Spanien
Vereinigtes Königreich Frankreich Italien Abgabenquote*
25.000 25,0%
*
30,0%
35,0%
40,0%
45,0%
50,0%
55,0%
Abgabenquoten nach den Abgrenzungsmerkmalen der OECD, für Deutschland nicht vergleichbar mit den Quoten in der Abgrenzung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung oder der deutschen Finanzstatistik. ** In Euro-Dollar, umgerechnet nach Kaufkraftparitäten. Quelle: OECD Factbook 2008 (Stand Januar 2008)
100
Thilo Sarrazin
These 2: Staatsanteil und direkte Steuerbelastung dürfen nicht miteinander verwechselt werden: Wie Tabelle 1 zeigt, liegt z.B. in den USA und Großbritannien der Anteil der Steuern auf Einkommen und Gewinn höher als in Deutschland, obwohl in beiden Ländern die Steuer- und die Abgabenquote niedriger ist als in Deutschland. Tabelle 1:
Anteil der Steuern und Abgaben sowie der Steuern auf Einkommen und Gewinn am BIP* Anteil der Steuern und Abgaben am BIP
Anteil der Steuern auf Einkommen und Gewinn am BIP 19,7 10,5 21,7 14,0 10,9 14,9 11,3 10,9 13,7 13,7
Schweden % 50,1 Frankreich % 44,5 Norwegen % 43,6 Italien % 42,7 Niederlande % 39,5 Vereinigtes Königreich % 37,4 Spanien % 36,7 Deutschland** % 35,7 Schweiz % 30,1 Vereinigte Staaten % 28,2 * Nach Abgrenzungsmerkmalen der OECD. ** Nicht vergleichbar mit Quoten in der Abgrenzung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung oder der deutschen Finanzstatistik. Quelle: OECD Factbook 2008
Länder mit niedrigem Staatsanteil verzichten auch keineswegs auf steuerliche Umverteilung. So nehmen die USA und England, aber auch Frankreich deutlich mehr über Erbschafts- und Grundsteuern ein als Deutschland. These 3: Weitgehend historisch bedingt ist die sehr unterschiedliche Aufteilung der Staatseinnahmen auf Steuern und Sozialabgaben (vgl. Abbildung 2). Während z.B. Deutschland bei der Abgabenquote im unteren Mittelfeld und in der Steuerquote sogar ziemlich weit unten liegt, gehört es bei der Sozialabgabenquote zur Spitzengruppe.
VI. Ein anderer Fiskus
Abbildung 2:
101
Abgabenquoten im internationalen Vergleich 2006* Steuern in % des BIP
Schweden
37,3%
Frankreich
28,1%
Norwegen
34,9%
Italien
29,9%
Niederlande
25,1%
Vereinigtes Königreich
30,6%
Spanien
24,6%
Deutschland
**
22,0%
Schweiz
23,0%
Vereinigte Staaten
21,4%
Sozialabgaben in % des BIP 50,1%
12,8% 16,4%
44,5% 8,7%
43,6%
12,8%
42,7%
14,4%
39,5% 6,8%
12,1% 13,7% 7,1% 6,8%
37,4% 36,7% 35,7%
30,1% 28,2%
* **
Nach Abgrenzungsmerkmalen der OECD. Nicht vergleichbar mit Quoten in der Abgrenzung der der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung oder der deutschen Finanzstatistik. Quelle: OECD Factbook 2008
Sozialabgaben wirken wie eine Proportionalsteuer und senken indirekt den Progressionseffekt des Abgabensystems. Im Zusammenwirken mit der Bemessungsgrundlage ist ab 2.000 € monatlich die Grenzbelastung des Arbeitseinkommens in Deutschland praktisch linear bei 50 bis 60 %. Sozialabgaben zählen für Unternehmen zu den direkten Lohnkosten. Ihr hoher Anteil an den gesamten Lohnkosten von etwa einem Drittel wirkt tendenziell beschäftigungssenkend, vor allem in unteren Lohngruppen, und stärkt zudem die Tendenz zur Schwarzarbeit. Schon das spricht dafür, bei der Finanzierung des Staates stärker von Sozialabgaben zu Steuern umzuschichten. These 4: Bei Krankenversicherung und Rente verliert die Sozialabgabenfinanzierung zunehmend ihren funktionalen Sinn und sollte in eine Steuerfinanzierung umgewandelt werden: Mit dem Übergang zum Gesundheitsfonds geht Deutschland bei der Krankenversicherung den Weg in eine staatliche Pflicht-Einheitsversicherung. Zudem hat bei der Krankenversicherung die Finanzierung mit lohnabhängigen Beiträgen, die eigentlich ein Äquivalenzprinzip erfordern, sowieso nie recht gepasst, da der Bedarf an und die Kosten von Gesundheitsleistungen von Gesundheit und
102
Thilo Sarrazin
Alter, nicht aber vom Einkommen abhängig sind. Der Krankenversicherungsbeitrag ist praktisch eine Proportionalsteuer mit Kappungsgrenze. Das ist ordnungsund steuerpolitisch unter keinem Aspekt sinnvoll. Bei der einkommensabhängigen Rente ist grundsätzlich ein zur einkommensabhängigen Beitragspflicht passendes Äquivalenzprinzip gegeben. Dies ist jedoch bereits in den vergangenen Jahrzehnten durch versicherungsfremde Leistungen zunehmend ausgehöhlt worden. 40 % der Rentenausgaben werden mittlerweile unmittelbar über die Staatskasse finanziert. Zudem bekommen langjährige Beitragszahler in höheren Einkommensgruppen heute schon weit weniger ausgezahlt, als dem Kapitalwert ihrer Einzahlungen entspricht. Aufgrund des demographischen Wandels wird in wenigen Jahrzehnten aus der Rentenversicherung sowieso nur noch eine Rente finanzierbar sein, die in etwa der heutigen Grundsicherung entspricht. Spätestens dann ist dem Äquivalenzprinzip vollends der Boden entzogen. These 5: Ein gegenüber dem demographischen Wandel möglichst wetterfestes fiskalisches System integriert die Beiträge zur gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung möglichst ganz in das Steuersystem und dort vorrangig in die Einkommensteuer. Tabelle 2: Gesundheitsausgaben in Mio. € Anteil am BIP in % Gesundheitsausgaben je Einwohner in €
2005 239.328 10,7 2.900
2006 245.003 10,6 2.970
Das heutige, vom Staatshaushalt abgesonderte System der beitragsfinanzierten gesetzlichen Sozialversicherung wird vom Bürger zu Recht als leistungsfeindlich empfunden und führt zu völlig irrationalen Belastungsverläufen. Bis zu einem Jahresbruttolohn von über 43.200 € (entspricht einem Monatsbruttolohn von ca. 3.600 €) ist die Belastung durch Sozialabgaben höher als die durch Einkommensteuer. Die nachstehende Abbildung 3 zeigt für Steuerklasse I die Durchschnittsund Grenzbelastung des geltenden Einkommensteuertarifs sowie die Durchschnitts- und Grenzbelastung, die sich ergibt, wenn man die gesetzlichen Sozialabgaben einbezieht. Bereits bei einem Jahresbruttolohn von 12.000 € ergibt sich eine Grenzbelastung von 38,34 % (20,98 % Sozialabgaben + 17,36 % Steuern); bei einem Jahresbruttolohn von 30.000 € (entspricht einem Monatsbruttolohn von
VI. Ein anderer Fiskus
103
2.500 €) ergibt sich schon eine Grenzbelastung von 51,47 % (20,98 % Sozialabgaben + 30,49 % Steuern). Abbildung 3:
Vergleich Tarif 2007 mit Belastung Sozialausgaben
80 Grenzbelastung unter Einbeziehung Sozialabgaben
70
Durchschnittsbelastung
60
Prozent
50 40 30 Grenzsteuerbelastung Tarif 2007 Durchschnittssteuerbelastung Tarif 2007
20 10 0 12
18
24
30
36
42
48
54
60
66
72
78
Jahresbruttolohn in Tsd. €
Quelle: Eigene Berechnungen
Noch abstruser sieht es aus, wenn man den Arbeitgeberanteil als das behandelt, was er wirtschaftlich ist, nämlich: Einkommen des Arbeitnehmers. Werden die Arbeitgeberbeiträge in die Durchschnitts- und Grenzbelastung unseres Systems eingebaut, so wird die völlige Absurdität des gegenwärtigen Abgabensystems deutlich. Bereits bei einem Jahresbruttolohn von 12.000 € ergibt sich dann sogar eine Grenzbelastung von 51,05 %, die bei einem Jahresbruttolohn von 30.000 € auf 64,18 % steigt (ohne Abbildung). Der Übergang zu einer steuerfinanzierten Grundrente und Krankenbasisversorgung ist unter einer weitgehenden „Aufkommensneutralität“ und einer systemgerechten Belastungsneutralität möglich. Hierfür müssten ca. 259 Mrd. € (172,5 Mrd. € für die Krankengrundversorgung + 86,5 Mrd. € für die Grundrentenzahlungen) zusätzlich an Steuereinnahmen generiert werden. Berücksichtigt wurde hierbei die Einbeziehung der Unternehmer, Selbstständigen und Beamten in die steuerfinanzierte Kranken- und Rentenbasisversorgung. Die bei einer Systemumstellung notwendig werdenden Übergangsregelungen bleiben außer Betracht.
104
Thilo Sarrazin
Bei der Krankengrundversorgung ist – ausgehend von den Gesundheitsausgaben 2006 pro Einwohner in Höhe von 2.970 € – mit einem Abschlag von 20 % für wegfallende Verwaltungskosten und über Basisleistungen hinausgehende Leistungen gerechnet worden. Der sich ergebende Finanzierungsbedarf von 195 Mrd. € (2.376 € x 82 Mio. Einwohner) vermindert sich um 22,5 Mrd. € (Wegfall der bislang steuerfinanzierten Beihilfeleistungen für Beamte und des Bundeszuschusses zur GKV), sodass sich 172,5 Mrd. € ergeben. Hinsichtlich der Basisrente wird – unter Berücksichtigung der Rentenaltersanhebung einerseits und der neu hinzukommenden Rentenempfänger andererseits – von 21 Mio. künftigen Rentenempfängern mit einer Grundrente von 9.000 €/Jahr ausgegangen. Zur Ermittlung des benötigten Steuermehraufkommens wurden von dem sich rechnerisch hieraus ergebenden Betrag von 189 Mrd. € die derzeitigen Zahlungen und Zuschüsse des Staates zur GRV in Höhe von 78,2 Mrd. €, der Sozialhilfezuschuss zur Grundsicherung in Höhe von 3,2 Mrd. € und Einsparungen bei den Pensionszahlungen (Anrechnung der Grundrente auf die Pension und verfassungsgerechte Absenkung des Versorgungsniveaus der Beamten) in Höhe von 21,1 Mrd. € abgezogen; für die Basisrente wird dementsprechend von einem Finanzierungsbedarf von 86,5 Mrd. € ausgegangen.
VI. Ein anderer Fiskus
105
Ein Einkommensteuerreformtarif, der mit Steuermehreinnahmen von gut 200 Mrd. € zumindest einen großen Teil der staatlichen Mehrausgaben von 259 Mrd. € decken würde1, könnte wie folgt aussehen: Einkommensteuerreformtarif
Abbildung 4:
Grenz- und Durchschnittsteuerbelastung 80
Einkommensteuerbelastung in vH
70
Grenzbelastung
60
65,00
55,00 50
Durchschnittsbelastung 43,00
40 30
25,00 20
Grenzb. 2007 Gr. Reformtarif Durchschnittsb. 2007 Du. Reformtarif
10 0 0
10
20
30
40
50
60
70
80
Zu versteuerndes Einkommen in Tsd. €
1
Die fehlenden 59 Mrd. € könnten z.B. über eine Anhebung des allgemeinen Umsatzsteuersatzes auf 25 % und des ermäßigten Umsatzsteuersatzes auf 13 % generiert werden.
106
Thilo Sarrazin
Gegen diesen Tarifvorschlag könnte vorgebracht werden, dass er unangemessen hohe Grenz- und Durchschnittsbelastungen auch für die Arbeitnehmer nach sich ziehe. Stellt man aber diesen Tarifvorschlag einem virtuellen „Tarif“ hinsichtlich der Durchschnitts- und Grenzbelastung gegenüber, der den heutigen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteil der Kranken- und Rentenversicherung 1:1 auf den Steuertarif überträgt, zeigt sich folgendes Bild: Abbildung 5:
Vergleich Grenz- und Durchschnittsteuersatz des Reformtarifs und eines Tarifs 2007 unter Einbeziehung der Renten- und Krankenversicherung inkl. Arbeitgeberanteil
90 Grenzbelastung fiktiver Tarif 2007 unter Einbeziehung RV/KV inkl. AG-Anteil
80
Durchschnittsbelastung
70
Steuersatz
60 50 40 30 20
Durchschnittsbelastung Reform tarif
Grenzbelastung Reform tarif
10 0 0
4.801 7.80012.740
20.000
30.000
40.000
50.000
60.000
70.000
80.000
Zu versteuerndes Einkommen in €
Quelle: Eigene Berechnungen
Hieraus ist ersichtlich, dass gegenüber dem heutigen System insbesondere die Bezieher von geringen bis mittleren Arbeitseinkommen durch den Reformtarif entlastet würden. Eine solche Systemumstellung hätte also erhebliche positive Effekte beim Kostenfaktor Arbeit – gerade im kritischen Niedriglohnsektor – zur Folge und würde zugleich unser Altersvorsorgesystem transparenter und zukunftsfähiger machen. Ferner vermeidet ein solcher Tarif das im jetzigen System angelegte Absinken der prozentualen Belastung höherer und höchster Einkommen.
VI. Ein anderer Fiskus
107
Ein internationaler Vergleich zeigt, dass auch andere Staaten (z.B. Dänemark, Schweden, Niederlande) die Aufbringung der gesetzlichen Sozialleistungen weitgehend mit dem Steuertarif abdecken. Am ehesten ist wegen der Einbeziehung einer Grundrente und der Krankenversorgungskosten in das Steuersystem das dänische System mit dem vorgestellten Reformkonzept vergleichbar. Der dänische Tarif ist – im Gegensatz zum vorgestellten Tarif – ein Dreistufentarif mit einem Grundfreibetrag von 5.510 €. Der Spitzensteuersatz der 3. Stufe ab 45.014 € beträgt 59,28 % (Staat 34,48 %, Gemeinden (Durchschnittssatz) 24,80 %) + 8,00 % Arbeitsmarktfonds, wobei eine Deckelung bei 59 % erfolgt. Dieser Tarif würde auf Deutschland übertragen – trotz ebenfalls hoher Grenzbelastungen – allerdings nur zu Steuermehreinnahmen von 143,6 Mrd. € führen. Die Stufen müssten also in Deutschland höher ausfallen. Ob zur Aufbringung der zusätzlichen finanziellen Lasten bei einem Systemwechsel aber im Endeffekt ein progressiver Tarif oder ein Stufentarif gewählt wird, ist letztlich eine Geschmacksfrage. In der konkreten Ausgestaltung des mit der Systemumstellung verbundenen Tarifs sowie weiterer Finanzierungselemente ist der Gesetzgeber weitgehend frei. Soweit die Eingangsthesen. Sie bereiten die zentrale These dieses Beitrages vor: Wirft man einen vorurteilslosen und von Wunschdenken freien Blick in die demographische Zukunft, so kommt man zu dem Ergebnis, dass die deutsche Wirtschaft künftig real nicht mehr wächst, sondern bestenfalls stagniert. Gleichzeitig aber verdoppelt sich die Relation der Menschen über 65 Jahre zu den Erwerbstätigen. 2005 kamen auf einen Erwerbstätigen 0,46 Menschen über 65 Jahren, 2050 wird auf einen Erwerbstätigen ein Mensch im Rentenalter kommen. Wegen der sinkenden Bevölkerungszahl steigt zwar weiterhin das Sozialprodukt pro Kopf. Sollen die Rentner daran teilhaben, so ist dies nur möglich durch eine Verdoppelung des Anteils der rentenbezogenen Ausgaben am Sozialprodukt. Selbst ein Einfrieren der realen Versorgung der Rentner auf heutigem Niveau würde bedeuten, dass der Anteil der rentenbezogenen Ausgaben am BIP von heute 16,5 % auf 25,6 % im Jahre 2050 steigt. Diese Erkenntnis steht im Widerspruch zu der beruhigenden Analyse der Tragfähigkeitsberichte der Bundesregierung.2 Dort wird die künftige Schrump-
2
Vgl. Bundesministerium der Finanzen (Hrsg.) (2008): Zweiter Bericht zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen, Berlin Juni 2008. Dieser Bericht beruht auf der Analyse von
108
Thilo Sarrazin
fung der Bevölkerung weitgehend kompensiert durch günstige Annahmen zum Wirtschaftswachstum, das wiederum vorwiegend von der Produktivität gespeist wird: Das Ifo-Institut und damit der Tragfähigkeitsbericht unterstellt ein künftiges Wachstum der Arbeitsproduktivität von 1,4 bis 1,6 % (ungünstige Variante) bzw. 1,7 bis 1,8 % (günstige Variante). Angabegemäß hat das Ifo-Institut die Annahmen zur Produktivität aus einer „einfachen Trendfortschreibung“ der „jeweiligen Durchschnittswerte der Jahre 1991 bis 2004“ abgeleitet3, dabei aber das langfristige strukturelle Absinken des Trends und auch die negative Trendentwicklung im Stützzeitraum selber vernachlässigt. Eine realistische Abschätzung kommt dagegen zum Ergebnis, dass sich der in Deutschland seit Jahrzehnten sinkende Produktivitätstrend asymptotisch einer jahresdurchschnittlichen Zuwachsrate von 1 % annähert. Abbildung 6 und Abbildung 7 liefern hierfür ein überzeugendes empirisches Indiz. Produktivitätsentwicklung in Deutschland* (1)
Abbildung 6: 5,10%
5%
4,38% 4%
3,48%
3,29%
Tatsächliche Entwicklung der Arbeitsproduktivität je Arbeitsstunde 2,94%
3%
2,60%
2,48%
2%
Potenzielle Trendlinie 1,59%
0,63%
0,61%
20 51
20 46
20 41
20 36
20 21
20 16
20 01
19 96
19 91
19 86
19 81
19 76
1 19 7
20 31
~ 1,15 %
0%
20 26
0,84%
20 11
1,18%
1,37%
20 06
1%
*
Jährliche Entwicklung in den Zeiträumen 1971 bis 1991 (West-Deutschland) und 1992 bis 2007 (Gesamtdeutschland), für zukünftige Zeiträume potenzielle Trendlinie. Quelle: Eigene Berechnungen nach Statistisches Bundesamt (Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Fachserie 18, Reihe 1.5: Inlandsproduktsberechnung)
3
Martin Wedding, Herbert Hoffmann: Projektionen zur langfristigen Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen, Ifo Beiträge zur Wirtschaftsforschung, München. Vgl. Wedding, Hoffmann a.a.O. S. 38.
VI. Ein anderer Fiskus
Produktivitätsentwicklung in Deutschland* (2)
Abbildung 7: 4,5%
109
4,45%
4,0%
Tatsächliche Entwicklung der Arbeitsproduktivität je Arbeitsstunde (in gleitenden Fünf-Jahres-Durchschnitten)
3,5%
2,89%
3,0%
2,39%
2,5%
1,91% Durchschnitt der Jahre 1992 bis 2007: 1,83%
2,0% 1,5%
1,90%
1,0% 0,5%
Potenzielle Trendlinie
1,54% 1,26%
~ 1,25 %
04 1
20 42 -2 04 6
20 37 -2
20 32 -2 03 6
20 27 -2 03 1
20 22 -2 02 6
20 17 -2 02 1
20 12 -2 01 6
19 71 -1 97 5 19 75 -1 97 9 19 79 -1 98 3 19 83 -1 98 7 19 87 1 19 99 92 1 -1 99 6 19 96 -2 00 0 20 00 -2 0 20 04 03 -2 00 7 20 07 -2 01 1
0,0%
*
Jahresdurchschnittliche Entwicklung in den Zeiträumen 1971 bis 1991 (West-Deutschland) und 1992 bis 2007 (Gesamtdeutschland), für zukünftige Zeiträume potenzielle Trendlinie. Quelle: Eigene Berechnungen nach: Statistisches Bundesamt (Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Fachserie 18, Reihe 1.5: Inlandsproduktsberechnung)
Eine asymptotische Annäherung an ein Produktivitätswachstum von 1 % ist auch theoretisch schlüssig, denn zwei tendenziell produktivitätssenkende Elemente werden sich künftig säkular verstärken: 1.
2.
Die Konsumstruktur verschiebt sich mehr und mehr aus dem Bereich der Waren in Richtung persönliche Dienstleistungen. Das senkt den Produktivitätsfortschritt, denn hier gibt es weniger Produktivitätsreserven. Das ständig wachsende Durchschnittsalter der Erwerbsbevölkerung verschiebt den Schwerpunkt der Erwerbspersonen in Altersgruppen, die bei innovativen oder körperlich anstrengenden Tätigkeiten eine weniger gute Leistungsfähigkeit haben. Auch dies wirkt tendenziell produktivitätssenkend.
110
Thilo Sarrazin
Auch wenn die zentrale Produktivitätsannahme des Tragfähigkeitsberichtes aus der Sicht des Verfassers unhaltbar ist, so arbeitet doch der Bericht sehr schön die Implikationen kleinerer Annahmeänderungen heraus: 1.
2.
Die positive Variante T+ unterstellt einen Anstieg der Geburtenziffer von jetzt 1,4 auf 1,6, einen jährlichen Wanderungssaldo von 200.000 und eine etwas höhere Produktivitätszunahme. Die vorsichtigere Variante T- unterstellt ein Verharren bei der jetzigen Geburtenziffer von 1,4, einen jährlichen Wanderungssaldo von 100.000 und eine etwas niedrigere Produktivitätszunahme.
Der Unterschied beider Varianten ist dramatisch: Das BIP 2050 ist bei der positiven Variante um 30 % höher als bei der vorsichtigen. Die Staatsverschuldung sinkt bei der positiven Variante auf 20 % des BIP in 2050, bei der vorsichtigen steigt sie auf 120 %. Eine von Wunschdenken freie Betrachtung zeigt jedoch, dass auch die vorsichtige Variante viel zu optimistisch ist:
Es ist gar nicht absehbar, dass sich die Geburtenziffer von 1,4 auf 1,6 erhöhen könnte. Die Geburtenentwicklung des Jahres 2008 hat die keimenden Hoffnungen auf eine Trendwende vielmehr zunichte gemacht. Ganz offenbar hat das Elterngeld vor allem einen Vorzieheffekt ausgelöst. Es gibt auch kein Indiz dafür, dass eine jährliche Zuwanderung von 200.000 realistisch sein könnte. Aktuell haben wir eine Zuwanderung von Null. Woher sollen die Zuwanderer auch kommen: Die Zuwanderung aus Osteuropa wird wegen des dortigen Geburtenrückgangs und des wirtschaftlichen Aufholprozesses in naher Zukunft ganz zum Erliegen kommen. Die Zuwanderung aus Indien und Fernost wird nicht in großem Umfang stattfinden, nachdem die Industrialisierung dort mit Macht Boden gewinnt und der Wohlstand schnell steigt. Eine weitere Zuwanderung aus islamischen Ländern sollte wegen kultureller Disparitäten nicht ermutigt, sondern eher verhindert werden. Eine alternde Gesellschaft in Deutschland hat schon jetzt mit türkischen und arabischen Minderheiten genügend Probleme. Selbst eine Zuwanderung von lediglich 100.000 aus wünschenswerten Zuzugsländern ist unrealistisch; käme sie stattdessen aus Schwarzafrika oder dem Nahen Osten, würden sie mehr wirtschaftliche Probleme mit sich bringen, als sie lösen. Weshalb die vom Tragfähigkeitsbericht in beiden Varianten unterstellten Produktivitätsannahmen überhöht sind, wurde bereits dargelegt.
VI. Ein anderer Fiskus
111
Für die nachfolgenden Überlegungen wurde deshalb eine eigene Variante mit folgenden Annahmen berechnet:
Die unterstellte Produktivitätsentwicklung nimmt die Ist-Zunahme des Jahres 2005 von 1,25 % zum Ausgangspunkt und geht davon aus, dass sie sich im langfristigen Trend asymptotisch bei 1 % einpendelt. Die Geburtenziffer wird mit 1,4, die jährliche Zuwanderung mit 50.000 unterstellt. Für die Erwerbsbeteiligung der Männer wurde unterstellt, dass diese für die 20-jährigen bis unter 50-jährigen mit gegenwärtig 80 % konstant bleibt und für die 50- bis unter 65-jährigen stufenweise von heute 64 % auf 70 % steigt. Für die Erwerbsbeteiligung der Frauen wurde unterstellt, dass diese für die 20-jährigen bis unter 50-jährigen stufenweise von heute 75 % auf 78 % steigt und für die 50-jährigen bis unter 65-jährigen stufenweise von heute 60 % auf 65 % steigt. Im Übrigen wurden die Vorgaben der 11. Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung zugrunde gelegt, die auf den Ist-Zahlen zum Jahre 2005 aufsetzt.
Damit wurde ein Set von Annahmen gewählt, das aus der Sicht des Verfassers gemäßigt optimistisch ist, aber kein größeres Wunschdenken enthält. Das größte Risiko liegt dabei in der Produktivitäts- und Wachstumsannahme: Es wird nämlich unterstellt, dass größere wirtschaftliche Einbrüche, die grundsätzlich unvermeidlich sind, immer wieder aufgeholt werden. Ob dies für die nächsten 40 Jahre gilt, muss sicherlich offen bleiben. Wir kennen nicht die langfristigen Folgen der gegenwärtigen weltwirtschaftlichen Depression. Wir wissen auch nicht, welche Folgen der Klimawandel auf die langfristigen Wachstumsmöglichkeiten der Weltwirtschaft hat, oder wie sich künftige disruptive Entwicklungen in Afrika und im islamischen Raum auswirken. Im Detail sind die Projektionsannahmen und -ergebnisse in Tabelle 3 dargestellt.
112
Tabelle 3:
Thilo Sarrazin
Demographie, Produktivität und Altenlast unter der Annahme folgender Parameter: konstante Geburtenhäufigkeit (2007 TFR 1,4), Anstieg der Lebenserwartung Neugeborener (2050) auf 84,5 Jahre (männlich) bzw. 89 Jahre (weiblich), positiver Zuwanderungssaldo von jährlich 50 000 Personen
1
Demographische Entwicklung und Erwerbsbeteiligung 20052
2010
2015
2020
2025
2030
2035
2040
2045
2050
Bevölkerung in Deutschland
Mio
82,4
81,7
80,7
79,4
77,9
76,1
74,0
71,8
69,3
66,6
Menschen über 65 Jahre
Mio
15,9
16,8
17,6
18,8
20,4
22,6
24,2
24,2
23,9
23,5
Erwerbstätige Belastungsquotient (Menschen über 65 Jahre: Erwerbstätige)
Mio
34,8
34,6
34,1
33,2
31,9
29,8
27,8
26,7
25,5
24,2
Anteil
0,46
0,49
0,52
0,57
0,64
0,76
0,87
0,91
0,94
0,97
2010
2015
2020
2025
2030
2035
2040
2045
2050
Altenlast bei Entwicklung des Versorgungsniveaus analog zur Entwicklung BIP je Einwohner3 2005 Summe Altersversorgung, Krankheit, Pflege
Mrd €
279
315
347
387
435
492
538
562
582
599
Anteil am Volkseinkommen
Prozent
16,5
17,8
18,9
20,5
22,9
26,2
29,2
30,4
31,3
32,3
2005
2010
2015
2020
2025
2030
2035
2040
2045
2050
Altenlast bei gleichbleibendem 3 Versorgungsniveau
Summe Altersversorgung, Krankheit, Pflege
Mrd €
279
300
318
343
378
425
462
470
473
475
Anteil am Volkseinkommen
Prozent
16,5
16,9
17,3
18,2
19,8
22,6
25,1
25,4
25,4
25,6
2010
2015
2020
2025
2030
2035
2040
2045
2050
Altenlast bei Absenkung des Versorgungsniveaus um 3 5 % in jedem Fünf-Jahres-Zeitraum 2005 Summe Altersversorgung, Krankheit, Pflege
Mrd €
279
288
293
304
322
350
368
363
355
347
Anteil am Volkseinkommen
Prozent
16,5
16,2
15,9
16,1
16,9
18,7
20,0
19,6
19,1
18,7
1
2
3
Eigene Berechnungen nach Vorgaben der 11. Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung (Variante 2-W1 und Modellrechnung G1-L1-W0). Die aktuelle 11. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung setzt auf den Ist-Zahlen zum Jahresende 2005 auf; daher stellt dieses Jahr die Basis für die weitergehenden Berechnungen dar. Alle Euro-Angaben real in Preisen von 2005.
VI. Ein anderer Fiskus
113
Die Ergebnisse im Einzelnen: Wirtschaftswachstum Das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) steigt – ausgehend von einem Indexstand von 100 im Jahre 2005 – bis 2025 auf einen Indexstand von 112,8; es sinkt sodann bis 2035 auf einen Indexstand von 109,6, um in der Folge bis 2050 auf diesem Niveau zu stagnieren. Das reale BIP pro Einwohner steigt 2005 bis 2050 um 0,7 %, kumuliert über den Gesamtzeitraum um 36,1 %. Definition der Altenlast Die Altenlast wird für die Zwecke dieser Projektion definiert als die Summe der staatlichen Ausgaben für Altersversorgung (Renten, Pensionen, Grundsicherung im Alter), der auf die Rentner entfallenden Ausgaben für die gesetzliche Rentenversicherung, der Ausgaben der Pflegeversicherung. Die Summe dieser Ausgaben betrug 2005 je Renten-/Pensionsbezieher4 14.021 €. Der Anteil dieser Ausgaben am BIP betrug 12,4 %. Gemessen am Volkseinkommen, das für Verteilungszwecke der aussagefähigere Maßstab ist, betrug der Anteil der Ausgaben für Rentner und Pensionäre 16,5 %. Fortschreibung der Annahmen bei Kranken- und Pflegeversicherung Jene Kosten für Krankheit und Pflege, die 2005 nicht aus den Beitragseinnahmen abgedeckt wurden (2005 31 Mrd. €), wurden bis 2050 fortgeschrieben. Dabei wurden sowohl die steigenden Rentnerzahlen als auch der wachsende Anteil Hochbetagter berücksichtigt. Veränderung der Altenlast 1. bei Entwicklung des Versorgungsniveaus analog zum BIP je Einwohner Wenn die schwache Zunahme des BIP von jahresdurchschnittlich 0,7 % je Einwohner gleichmäßig auf alle Einwohner verteilt wird, dann verdoppelt sich der Anteil der Altenlast am Sozialprodukt: Der Anteil am BIP steigt von 12,4 auf 24,3 %, der Anteil am Volkseinkommen von 16,5 auf 32,3 %. Das bedeutet, dass
4
Pensionen, Alters-, Witwen- und Waisenrenten. Die Zahl wurde für 2005 geschätzt unter Vornahme einer Bereinigung um Mehrfachrentenbezieher.
114
Thilo Sarrazin
die Abgabenquote um 11,9 % steigen müsste, von 35,7 % im Jahre 2005 auf 47,6 % im Jahre 2050. Zum Vergleich: Die aktuelle Abgabenquote in Schweden liegt bei 50,1%. 2. bei gleichbleibendem Versorgungsniveau In diesem Falle würden die Alterseinkommen pro Kopf auf dem heutigen Niveau eingefroren. Die Ausgaben für Krankenversicherung und Pflege steigen allerdings wie im Fall 1. Durch das Einfrieren des Versorgungsniveaus mildert sich der relative Anstieg der Altenlast deutlich ab: Der Anteil am BIP steigt von 12,4 % auf 19,2 %, der Anteil am Volkseinkommen von 16,5 % auf 25,6 %. 3. bei Absenkung des Versorgungsniveaus um 5 % in jedem Fünfjahreszeitraum In diesem Falle bliebe der Anteil der Altenlast nahezu konstant: Gemessen am BIP würde er von 12,4 % auf 14,1 % steigen, gemessen am Volkseinkommen stiege er von 16,5 auf 18,7 %. Allerdings wären die Auswirkungen für die Rentenbezieher erheblich: Die reale Rente müsste von 11.660 € im Jahre 2005 auf 7.350 € im Jahre 2050 fallen. Richtig Freude macht die obige Projektionsrechnung nicht. Aber eine realistische Alternative ist auch nicht zu erkennen:
Die Annahme, dass die Zunahme der Produktivität je Erwerbstätigenstunde sich bei 1 % einpendelt, ist sowohl aufgrund des Trendverlaufs der letzten Jahrzehnte als auch aufgrund inhaltlicher Überlegungen realistisch: Das Erwerbspersonenpotenzial wird älter und ist zudem wegen des stark wachsenden Anteils bildungsferner Schichten an den nachrückenden Generationen hinsichtlich seiner Qualifikation mit erheblichen Risiken behaftet. Für die Hoffnung, die Fertilitätsrate könne wieder steigen, gibt es nach einer über 40 Jahre währenden stabil negativen Entwicklung keine Belege. Eine Bemühung, in der Familienpolitik dem französischen Ansatz zu folgen und gezielt Bevölkerungspolitik zu betreiben, ist in Deutschland nicht erkennbar. Ein Mehr an Zuwanderung könnte nur entlastend wirken, wenn es gelänge, Zuwanderung auf die Qualifizierten zu beschränken und für diese ausreichend attraktiv zu sein. Beides ist gegenwärtig nicht erkennbar. Die finanziellen Auswirkungen einer steigenden Lebenserwartung auf die Gesundheitskosten und eines wachsenden Anteils Pflegebedürftiger sind in den Berechnungen nicht enthalten und mithin als Risiko hinzuzufügen.
VI. Ein anderer Fiskus
115
Die mit dieser Perspektive verbundenen politischen Entscheidungen werden schwierig sein und aller Erfahrung nach zu spät und ohne ausreichende Entschlusskraft getroffen werden. Sie werden trotzdem irgendwann fallen – und je eher, desto besser.
116
Thilo Sarrazin
Anhang Tabelle 4:
Demographie, Produktivität und Altenlast
Demographische 1 Entwicklung Altersgruppe 0 bis 20
20 bis 50
50 bis 65
über 65
männl. weibl. Summe männl. weibl. Summe männl. weibl. Summe männl. weibl. Summe
nachrichtlich: Bezieher von Pensionen, Alters- oder Witwen-/ Witwerrente3 männl. weibl. Summe Summe männl. weibl. Summe
unter der Annahme folgender Parameter: konstante Geburtenhäufigkeit (2007 TFR 1,4), Anstieg der Lebenserwartung Neugeborener (2050) auf 84,5 Jahre (männlich) bzw. 89 Jahre (weiblich), positiver Zuwanderungssaldo von jährlich 50 000 Personen 20052 2010 2015 2020 2025 2030 2035 2040 2045 2050 Tsd 8.455 7.684 7.236 6.826 6.542 6.292 5.982 5.614 5.265 4.983 Tsd 8.030 7.294 6.866 6.471 6.195 5.962 5.664 5.315 4.982 4.717 Tsd 16.486 14.978 14.102 13.296 12.737 12.253 11.646 10.929 10.247 9.700 Tsd 17.806 17.030 15.521 14.240 13.650 12.997 12.272 11.465 10.932 10.357 Tsd 17.133 16.412 15.010 13.804 13.209 12.533 11.789 11.007 10.485 9.928 Tsd 34.939 33.441 30.531 28.044 26.859 25.530 24.061 22.472 21.417 20.284 Tsd 7.522 8.180 9.228 9.703 8.996 7.863 7.051 7.106 6.883 6.567 Tsd 7.621 8.232 9.195 9.584 8.914 7.859 7.089 7.099 6.829 6.470 Tsd 15.143 16.412 18.423 19.287 17.909 15.722 14.140 14.205 13.712 13.037 Tsd 6.556 7.172 7.636 8.238 9.059 10.181 10.997 10.966 10.807 10.624 Tsd 9.314 9.677 9.985 10.537 11.313 12.379 13.177 13.206 13.104 12.925 Tsd 15.870 16.849 17.621 18.774 20.371 22.560 24.174 24.172 23.911 23.549
Tsd Tsd Tsd Tsd Tsd Tsd
8.302 11.610 19.912 40.340 42.098 82.438
8.900 11.821 21.140 40.065 41.614 81.679
9.286 11.954 22.109 39.620 41.056 80.676
9.817 12.362 23.556 39.006 40.395 79.401
10.580 13.007 25.560 38.246 39.630 77.876
11.653 13.948 28.305 37.332 38.732 76.064
12.335 14.550 30.331 36.302 37.717 74.019
12.055 14.291 30.328 35.151 36.626 71.777
11.642 13.897 30.001 33.885 35.400 69.285
11.216 13.433 29.547 32.531 34.039 66.570
20052
2010
2015
2020
2025
2030
2035
2040
2045
2050
Erwerbsbeteiligung Erwerbstätige im Alter von 20 bis unter 50 Jahren
männl. weibl. Summe
Tsd Tsd Tsd
männl. weibl. Summe
Tsd Tsd Tsd
männl. weibl. ø
Prozent Prozent Prozent
männl. weibl. ø Erwerbstätige insgesamt männl. weibl. Summe Verhältnis Menschen über 65 Jahre: Erwerbstätige
Prozent Prozent Prozent Tsd Tsd Tsd
Erwerbstätige im Alter von 50 bis unter 65 Jahren
Erwerbsbeteiligung 20- bis unter 50-Jährige
Erwerbsbeteiligung 50- bis unter 65-Jährige
Anteil
14.273 13.624 12.416 11.392 10.920 10.398 9.818 9.172 8.745 8.285 11.866 11.488 10.657 9.939 9.643 9.274 8.841 8.255 7.864 7.446 26.139 25.112 23.074 21.331 20.563 19.672 18.659 17.427 16.609 15.731
4.806 3.838 8.644 0,80 0,69 0,75
5.317 6.183 6.598 6.207 5.504 4.198 4.873 5.271 5.081 4.637 9.515 11.056 11.869 11.288 10.141 0,80 0,70 0,75
0,80 0,71 0,76
0,80 0,72 0,76
0,80 0,73 0,77
0,80 0,74 0,77
4.936 4.253 9.189
4.974 4.259 9.234
4.818 4.097 8.915
4.597 3.882 8.479
0,80 0,75 0,78
0,80 0,75 0,78
0,80 0,75 0,78
0,80 0,75 0,78
0,64 0,65 0,67 0,68 0,69 0,70 0,70 0,70 0,70 0,70 0,50 0,51 0,53 0,55 0,57 0,59 0,60 0,60 0,60 0,60 0,57 0,58 0,60 0,62 0,63 0,65 0,65 0,65 0,65 0,65 19.079 18.941 18.599 17.990 17.127 15.901 14.753 14.146 13.563 12.882 15.704 15.686 15.530 15.210 14.723 13.911 13.094 12.515 11.961 11.327 34.783 34.627 34.129 33.200 31.850 29.813 27.848 26.661 25.524 24.209
0,46
0,49
0,52
0,57
0,64
0,76
0,87
0,91
0,94
0,97
VI. Ein anderer Fiskus
117
Produktivitätsentwicklung Entwicklung der Produktivität je Arbeitsstunde
Prozent
2005
2010
2015
2020
2025
2030
2035
2040
2045
2050
1,25
1,20
1,15
1,10
1,05
1,00
1,00
1,00
1,00
1,00
2005
2010
2015
2020
2025
2030
2035
2040
2045
2050
2.245 100,0
2.363 105,3
2.449 109,1
2.505 111,6
2.531 112,8
2.494 111,1
2.450 109,2
2.461 109,6
2.475 110,3
2.467 109,9
1,03
0,72
0,45
0,21
-0,30
-0,35
0,08
0,12
-0,06
2010
2015
2020
2025
2030
2035
2040
2045
2050
BIP-Entwicklung Deutschlands BIP real in Preisen des Jahres 2005 Index BIP (2005 = 100) jahresdurchschn. Veränderungsrate im 5Jahres-Zeitraum bis …
Mrd. € Index
Prozent
nachrichtlich: BIP-Entwicklung je Einwohner 2005 BIP pro Kopf real in Preisen des Jahres 2005 Index BIP pro Kopf (2005 = 100) jahresdurchschn. Veränderungsrate im 5-Jahres-Zeitraum bis … 1
2
3
€
27.228 28.927 30.359 31.543 32.505 32.784 33.103 34.282 35.724 37.062
Index
100,0
Prozent
106,2
111,5
115,8
119,4
120,4
121,6
125,9
131,2
136,1
1,22
0,97
0,77
0,60
0,17
0,19
0,70
0,83
0,74
Eigene Berechnungen nach Vorgaben der 11. Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung (Variante 2-W1 und Modellrechnung G1-L1-W0). Die aktuelle 11. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung setzt auf den Ist-Zahlen zum Jahresende 2005 auf; daher stellt dieses Jahr die Basis für die weitergehenden Berechnungen dar. Alle Euro-Angaben real in Preisen von 2005.
Altenlast bei Entwicklung des Versorgungsniveaus analog zur Entwicklung BIP je Einwohner 2005 2010 2015 2020 2025 2030 Leistungen der Rentenversicherung4 für Alterssicherung Mrd. € 196 Pensionen Mrd. € 34 Grundsicherung im Alter Mrd. € 3 Summe Altersversorgung Mrd. € 232 262 287 318 356 397 Ausgaben für Altersversorgung je Renten-/Pensionsbezieher € 11.660 12.388 13.001 13.508 13.920 14.039 Leistungen der Pflegeversicherung 2005: 17,9 Mrd. €, davon 90 % Mrd. € 16 18 21 24 27 33 Leistungen der ges. Krankenversicherung, Mrd. € 31 35 39 45 52 62 soweit nicht endogen finanziert Summe Ausgaben für Krankheit und Mrd. € 47 53 60 68 80 94 Pflege im Alter Ausgaben für Krankheit und Pflege je Renten-/Pensionsbezieher € 2.361 2.531 2.712 2.907 3.115 3.339 Summe Altersversorgung, Krankheit, Pflege Mrd. € 279 315 347 387 435 492 Ausgaben für Altersvers., Krankheit, Pflege je Renten-/Pensionsbezieher € 14.021 14.919 15.713 16.415 17.035 17.378 Anteil am BIP Prozent 12,4 13,3 14,2 15,4 17,2 19,7 Anteil am Volkseinkommen Prozent 16,5 17,8 18,9 20,5 22,9 26,2
2035
2040
2045
2050
430
445
459
469
14.176 14.681 15.298 15.871 38
40
43
46
71
76
80
85
109
116
123
130
3.578 3.835 4.110 4.405 538
562
582
599
17.754 18.516 19.408 20.276 22,0 22,8 23,5 24,3 29,2 30,4 31,3 32,3
118
Thilo Sarrazin
Altenlast bei gleichbleibendem Versorgungsniveau Leistungen der Rentenversicherung4 für Alterssicherung Pensionen Grundsicherung im Alter Summe Altersversorgung Ausgaben für Altersversorgung je Renten-/Pensionsbezieher Leistungen der Pflegeversicherung 2005: 17,9 Mrd. €, davon 90 % Leistungen der ges. Krankenversicherung, soweit nicht endogen finanziert Summe Ausgaben für Krankheit und Pflege im Alter Ausgaben für Krankheit und Pflege je Renten-/Pensionsbezieher Summe Altersversorgung, Krankheit, Pflege Ausgaben für Altersvers., Krankheit, Pflege je Renten-/Pensionsbezieher Anteil am BIP Anteil am Volkseinkommen
Mrd. € Mrd. € Mrd. € Mrd. € €
2005
2010
2015
2020
2025
2030
2035
2040
2045
2050
196 34 3 232
246
258
275
298
330
354
354
350
345
11.660 11.660 11.660 11.660 11.660 11.660 11.660 11.660 11.660 11.660
Mrd. €
16
18
21
24
27
33
38
40
43
46
Mrd. €
31
35
39
45
52
62
71
76
80
85
Mrd. €
47
53
60
68
80
94
109
116
123
130
€ Mrd. € € Prozent Prozent
2.361 2.531 2.712 2.907 3.115 3.339 3.578 3.835 4.110 4.405 279
300
318
343
378
462
470
473
475
14.021 14.191 14.372 14.567 14.775 14.999 15.238 15.495 15.770 16.065 12,4 12,7 13,0 13,7 14,9 17,0 18,9 19,1% 19,1 19,2 16,5 16,9 17,3 18,2 19,8 22,6 25,1 25,4 25,4 25,6
Altenlast bei Absenkung des Versorgungsniveaus um 5 % in jedem Fünf-Jahres-Zeitraum 2005 2010 2015 2020 2025 Leistungen der Rentenversicherung4 für Alterssicherung Mrd. € 196 Pensionen Mrd. € 34 Grundsicherung im Alter Mrd. € 3 Summe Altersversorgung Mrd. € 232 234 233 235 243 Ausgaben für Altersversorgung je Renten-/Pensionsbezieher € 11.660 11.077 10.523 9.997 9.497 Leistungen der Pflegeversicherung 2005: Mrd. € 16 18 21 24 27 17,9 Mrd. €, davon 90 % Leistungen der ges. Krankenversicherung, Mrd. € 31 35 39 45 52 soweit nicht endogen finanziert Summe Ausgaben für Krankheit und Pflege im Alter Mrd. € 47 53 60 68 80 Ausgaben für Krankheit und Pflege je Renten-/Pensionsbezieher € 2.361 2.531 2.712 2.907 3.115 Summe Altersversorgung, Krankheit, Pflege Mrd. € 279 288 293 304 322 Ausgaben für Altersvers., Krankheit, € 14.021 13.608 13.235 12.904 12.612 Pflege je Renten-/Pensionsbezieher Anteil am BIP Prozent 12,4 12,2 11,9 12,1 12,7 Anteil am Volkseinkommen Prozent 16,5 16,2 15,9 16,1 16,9 4
425
2030
2035
2040
2045
2050
255
260
247
232
217
9.022 8.571 8.143 7.735 7.349 33
38
40
43
46
62
71
76
80
85
94
109
116
123
130
3.339 3.578 3.835 4.110 4.405 350
368
363
355
347
12.361 12.149 11.977 11.845 11.753 14,0 15,0 14,8 14,4 14,1 18,7 20,0 19,6 19,1 18,7
Gesetzliche Rentenversicherung und Bundesknappschaft, einschl. Witwen- und Witwerrenten.
VII. Soziale Verantwortung am Arbeitsmarkt∗ VII. Soziale Verantwortung am Arbeitsmarkt
Hilmar Schneider
1
Die Arbeit geht uns nicht aus
Es gibt fast keine Woche ohne neue Katastrophenmeldungen über Massenentlassungen. Scheinbar unaufhaltsam werden Jobs wegrationalisiert oder in Billiglohnländer verlagert. Wortgewaltig wird da schon das Ende der Arbeitsgesellschaft heraufbeschworen (Beck 2000; Miegel 2005; Rifkin 2004). Die Frage, ob es in Deutschland künftig noch Arbeit für alle geben wird, ist zweifellos berechtigt. Dennoch fällt die Antwort vielleicht überraschend aus: Die Arbeit geht uns nicht aus! Menschen versuchen seit jeher, sich vom schweren Los der Arbeit durch effizientere Abläufe zu befreien, entweder durch Maschinen oder durch verbesserte Organisation. Im globalen Wettbewerb sind Unternehmen zudem ständig gezwungen, nach den kostengünstigsten Lösungen zu suchen. Die Arbeit ist paradoxerweise trotzdem nicht weniger geworden. Das liegt daran, dass sich mit dem technischen Fortschritt auch die Bedürfnisse der Menschen weiterentwickeln. Wenn es nur darum ginge, mit den heutigen Produktionsmöglichkeiten den Lebensstandard des 19. Jahrhunderts zu befriedigen, dann könnten wir das in der Tat mit einem winzigen Bruchteil dessen, was damals notwendig war, um Nahrung, Kleidung und Wohnungen herzustellen. Menschen geben sich aber mit dem Erreichten niemals zufrieden. Die gewonnene Zeit weckt neue Bedürfnisse und das wiederum schafft neue Märkte und Betätigungsmöglichkeiten. Man denke nur einmal an die wirtschaftliche Bedeutung, die das Internet inzwischen erlangt hat. Noch vor 20 Jahren konnten sich die Menschen nicht einmal vorstellen, dass es so etwas geben könnte. Heute ist es für die meisten von uns ein unverzichtbarer Bestandteil des Lebens. Mehr ∗
Teile dieses Beitrags beruhen auf Erkenntnissen, die im Rahmen des von der DFG geförderten Schwerpunktprogramms „Flexibilitätspotenziale in heterogenen Arbeitsmärkten“ als Teil des Forschungsprojekts „Workfare statt Welfare – Anreizwirkungen und Akzeptanz“ gewonnen wurden. Der Autor dankt der DFG für die entsprechende Unterstützung.
120
Hilmar Schneider
noch: Das, was da geschaffen wird, lässt sich zum großen Teil nicht mehr anfassen. Es handelt sich um kreatives Gut, Ideen, Informationen, virtuelles Vergnügen und andere Dienstleistungen. Freilich macht das Internet den bis dahin vorherrschenden Informationsmedien erhebliche Konkurrenz. Das bekommen bislang vor allem die Hersteller von Printmedien zu spüren. Ein anderes Beispiel: Allein auf dem Rhein fahren täglich zahllose Frachtschiffe. Pro Jahr entspricht die so bewältigte Transportleistung der unvorstellbaren Größe von 40 Mrd. Tonnenkilometern. Dazu werden heute gerade einmal 25.000 Menschen benötigt, knapp drei Viertel davon übrigens in der Wasserschifffahrtsverwaltung des Bundes. Rein rechnerisch könnten allein mit der Treideltechnik des 19. Jahrhunderts in Deutschland 15 Mio. Vollzeitarbeitsplätze geschaffen werden. Es gäbe dann bloß niemanden mehr, der all das produzieren könnte, was da transportiert wird. Allein die Einführung der Dampfschifffahrt hat schon vor mehr als einem Jahrhundert einen ganzen Wirtschaftszweig ausgerottet. Beispiele dieser Art lassen sich in fast beliebiger Zahl aneinanderreihen. Die darin zum Ausdruck kommende Art von Zerstörung war und ist die Voraussetzung für neues Wachstum und damit den Wohlstand unserer Gesellschaft. Sie führt aber nicht dazu, dass uns die Arbeit ausgeht. Wir unterliegen vielmehr einer einseitigen Wahrnehmung. Die Aufmerksamkeit der Medien richtet sich nun mal auf spektakuläre Massenentlassungen. Gäbe es ebenso aufsehenerregende Masseneinstellungen, würde sicherlich auch darüber berichtet. Aber der Beschäftigungsaufbau vollzieht sich im Regelfall eher unspektakulär – ungeeignet für die Massenberichterstattung. Dennoch gibt es ihn. Anders ist jedenfalls nicht zu erklären, wieso trotz einem massiven Stellenabbau bei den Großkonzernen die Zahl der in Deutschland pro Jahr geleisteten Arbeitsstunden 2008 so hoch war wie nie zuvor seit Beginn solcher Erhebungen im Jahr 1998 (vgl. Abbildung 1). Nach einer Umfrage des IZA beschäftigten die DAX-Unternehmen im Juni 2007 im Vergleich zum Vorjahr durchschnittlich 1,9 % weniger Mitarbeiter im Inland. Gleichzeitig ist die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland – so die Bundesagentur für Arbeit – im selben Zeitraum um 1,6 % gestiegen. Getragen wurde der Aufschwung am deutschen Arbeitsmarkt demnach hauptsächlich von den kleinen und mittleren Unternehmen, die ihren Mitarbeiterbestand ausweiteten, während die 27 DAX-Unternehmen, die an der IZA-Befragung teilgenommen haben, allein von Juni 2006 bis Juni 2007 rund 30.000 Stellen im Inland abgebaut haben. Das zeigt, dass die deutschen Großunternehmen selbst im Aufschwung
VII. Soziale Verantwortung am Arbeitsmarkt
121
erheblichen Umstrukturierungsbedarf hatten. Der einseitige Blick auf Großunternehmen verzerrt die Wahrnehmung des Arbeitsmarktes. Abbildung 1:
Entwicklung der geleisteten Erwerbsarbeitsstunden in Deutschland
58,0
Mrd. Stunden pro Jahr
57,5
57,0
56,5
56,0
55,5
55,0 1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
Quelle: http://www.statistik-hessen.de/erwerbstaetigenrechnung/arbeitsstunden.htm
Außerdem: Arbeit und Erwerbsarbeit sind nicht dasselbe. Arbeit gibt es mehr als genug. Aber wir zählen sie meist nur als Erwerbsarbeit. Der Rest ist Eigenarbeit (einschließlich Schwarzarbeit), die unerfasst im eigenen Haushalt oder für Dritte geleistet wird. Die Aufteilung zwischen Erwerbsarbeit und Eigenarbeit ist jedoch nicht naturgegeben. Sie ist vielmehr eine Frage von Marktbedingungen. Je teurer Erwerbsarbeit – auch durch Abgaben – ist, desto attraktiver wird Eigenarbeit. Es kommt daher letztlich nur darauf an, die Rahmenbedingungen so zu setzen, dass sich Erwerbsarbeit für möglichst viele Menschen lohnt.
2
Arbeitslosigkeit: Resultat einer unsozialen Grundsicherung
Wenn also die Arbeit nicht weniger wird, dann bleibt erst recht die Frage, warum die Arbeitslosigkeit in Deutschland so hoch ist. Es gibt offenkundig nicht zu wenig Arbeit, sondern wenn überhaupt, gibt es zu wenig lohnende Arbeit. Das wiederum hat etwas mit der sozialen Sicherung zu tun. Insbesondere für Geringqua-
122
Hilmar Schneider
lifizierte lohnt es sich häufig nicht, einer regulären Arbeit nachzugehen, weil die Löhne für einfache Arbeit kaum höher sind als das, was man ohne großen Aufwand vom Staat bekommt, wenn man gar nicht arbeitet. Die Löhne, die ein Arbeitgeber zahlen müsste, damit sich einfache Arbeit für die Betroffenen rechnen würde, stehen häufig in keinem vernünftigen Verhältnis zum Marktwert der erbrachten Leistung. Aus empirisch gesicherten Studien geht hervor, dass das auf diese Weise in Deutschland implizit erzeugte Mindestlohnniveau bei brutto 10 bis 12 € pro Stunde liegt (Schneider, H. 2006; Bender et al. 2008). Als Konsequenz sind die Deutschen Weltmeister im Do-it-yourself und Schwarzarbeit ist im Vormarsch (Schneider, F. 2006). Das klingt zunächst unbequem, weil damit in letzter Konsequenz dem System der sozialen Grundsicherung die Schuld für einen großen Teil der Arbeitslosigkeit zugewiesen wird. Dabei ist es nicht die soziale Sicherung an sich, sondern die Art, wie Leistungen gewährt werden. In der bestehenden Form erzeugt das Sicherungssystem, das Menschen davor schützen soll, nicht unter einen gesellschaftlichen Mindesteinkommensstandard abzusinken, zugleich eine Abhängigkeit von entsprechenden Sozialtransfers. Dieser Konflikt lässt sich weder leugnen noch tabuisieren. Das System ist de facto zutiefst unsozial. Es überantwortet die Zuständigkeit für die Schwächsten der Gesellschaft einer anonymen Sozialbürokratie und enthebt die übrigen Mitglieder der Gesellschaft ihrer unmittelbaren sozialen Verantwortung. Mehr noch: Es kann sogar gesellschaftliche Moral untergraben, weil es die Betroffenen lehrt, dass sich Eigenverantwortung nicht auszahlt. Was gemeinhin nur den Spitzen in Wirtschaft und Politik nachgesagt wird, nämlich Gewinne zu privatisieren und Verluste zu sozialisieren, vollzieht sich quer durch die Gesellschaft. Der Schaden, der damit im Einzelfall der Solidargemeinschaft zugefügt wird, mag gering sein, als Massenphänomen ist er nicht zu vernachlässigen. Was das im Fall der Grundsicherung bedeutet, lässt sich an einem einfachen Beispiel illustrieren. Das Einkommen, das einem alleinlebenden Bezieher von Arbeitslosengeld II zusteht, entspricht einschließlich der Übernahme der Kosten für die Unterkunft in etwa dem Einkommen aus einer Vollzeittätigkeit zu einem Bruttostundenlohn von 5 € (vgl. Abbildung 2).
VII. Soziale Verantwortung am Arbeitsmarkt
Abbildung 2:
123
Erwerbsanreize der Grundsicherung am Beispiel eines Alleinlebenden
2000 Nettoerwerbseinkommen
Einkommen pro Monat in €
Existenzminimum (Alleinlebende) Verfügbares Einkommen mit ALG II
1500
1000
500
0 -10
0
10
20
30
40
50
Wochenstunden
Anmerkung: Angenommener Bruttostundenlohn 8 €. Quelle: Eigene Berechnungen
Damit ist keineswegs gesagt, dass es für jemanden, der auf Arbeitslosengeld II angewiesen ist, hinreichend attraktiv wäre, zu einem Bruttostundenlohn von 6 oder 7 € zu arbeiten. Da das Erwerbseinkommen nahezu vollständig auf den Unterstützungsanspruch angerechnet wird, führt eine entsprechende Tätigkeit im unteren Lohnbereich praktisch kaum zu einer Verbesserung des verfügbaren Einkommens. Selbst bei einem Bruttostundenlohn von 8 € erbringt eine Vollzeitbeschäftigung für einen Alleinstehenden am Ende des Monats bei einem Bruttolohn von 1.000 € nur etwa 330 € netto mehr als das Arbeitslosengeld II. Gemessen an den Anstrengungen für etwa 160 Stunden Arbeit im Monat entspricht das einem effektiven Stundenlohn von 2 €. Würde die gleiche Person diese Tätigkeit im Rahmen eines Minijobs ausüben, käme sie mit einer Wochenarbeitszeit von 11 Stunden schon auf ein verfügbares Einkommen von 830 € im Monat und damit immerhin auf einen Betrag, der um 160 € über dem Einkommen läge, das ihr auch ohne Arbeit zusteht. Der entsprechende effektive Stundenlohn beliefe sich
124
Hilmar Schneider
dann immerhin auf knapp 4 €. Der Wechsel von einem Minijob auf eine Vollzeitstelle ist dagegen ziemlich unattraktiv. Um am Ende des Monats 170 € mehr in der Tasche zu haben als im Minijob, müsste die Person fast 120 Stunden im Monat zusätzlich arbeiten und das zu einem effektiven Stundenlohn von 1,50 €. Dass Menschen dies als unwürdig ablehnen, muss niemanden verwundern. Es gibt in Deutschland derzeit zwischen 1,2 und 1,3 Mio. sogenannter Aufstocker.1 Das sind Bezieher von Arbeitslosengeld II, die gleichzeitig einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Die weitaus meisten von ihnen arbeiten maximal bis zur 400-Euro-Grenze, also genau in dem Rahmen, der sich finanziell noch halbwegs lohnt. Verdenken kann man es ihnen nicht. Wenn der Sozialstaat entsprechende Anreize setzt, kann man denen, die sich daran orientieren, keinen Vorwurf machen. Andere arbeiten lieber gleich schwarz oder nutzen den Minijob nur als Tarnung für ein umfangreicheres Schwarzarbeitsverhältnis. Welchen Umfang die Schwarzarbeit in diesem Bereich angenommen hat, lässt sich nur erahnen, denn welcher Schwarzarbeiter gibt in einer Befragung schon zu, Sozialversicherungsbeiträge zu hinterziehen oder ungerechtfertigt Sozialleistungen zu beziehen? Schätzungen (Schneider F. 2006) gehen davon aus, dass etwa ein Sechstel des Bruttoinlandsprodukts in Deutschland in der Schwarzarbeit erwirtschaftet wird. Rechnet man dies anteilsmäßig auf die Zahl der Erwerbstätigen hoch, dann lassen sich zwischen 6 und 7 Mio. Jobs in der Schwarzarbeit vermuten. Dass es in Deutschland zu wenig Arbeit gäbe, lässt sich auch von dieser Warte nicht erhärten. Die vorhandene Arbeit im unteren Lohnbereich reicht allemal aus, um diejenigen beschäftigen zu können, die aufgrund fehlender Qualifikation keine anderen Beschäftigungsmöglichkeiten haben, und nur um diesen Personenkreis geht es hier. Es geht dabei wohlgemerkt nicht um Löhne, die unter dem Existenzminimum liegen, sondern um das Spektrum der Löhne, die ein Einkommen oberhalb der Grundsicherung ermöglichen. Es kommt nur darauf an, diese Arbeit auch lohnenswert zu machen.
3
Arm trotz Arbeit?
Kritiker werden einwenden, dass damit einer Ausweitung der Einkommensarmut das Wort geredet wird. Ein solcher Vorwurf ist jedoch geradezu absurd. So 1
Vgl. Handelsblatt, 07. Juli 2009: „Zahl der Niedriglohn-Jobs nimmt ab“.
VII. Soziale Verantwortung am Arbeitsmarkt
125
rechnet beispielsweise das IAQ in schöner Regelmäßigkeit vor, dass bereits heute mehr als 20 % der Arbeitnehmer unter der Niedriglohnschwelle von brutto derzeit 9,62 € in Westdeutschland und 7,18 € in Ostdeutschland arbeiten (Kalina/ Weinkopf 2009). Dennoch muss die Frage erlaubt sein, wieso es schlimmer ist, wenn Menschen zu niedrigen Löhnen arbeiten, als wenn sie überhaupt nicht arbeiten? Würde man die bestehenden Löhne womöglich mit Hilfe eines gesetzlichen Mindestlohns anzuheben versuchen, würden die Betroffenen nicht selten ihren Job verlieren. Das Ergebnis wäre alles andere als ein Beitrag zur Armutsbekämpfung. Abgesehen davon folgt die Quantifizierung der Niedriglohnschwelle einem relativen Einkommenskonzept. Die Niedriglohnschwelle wird einem OECDStandard folgend bei zwei Dritteln des Medianlohns angesetzt. Der Medianlohn ist der Lohn, der die Gesamtheit der Lohnempfänger in zwei gleich große Hälften teilt. Er liegt nach den angeführten Berechnungen von Kalina/Weinkopf aktuell (2007) bei 14,43 € in Westdeutschland und 10,77 € in Ostdeutschland. In der Wirklichkeit hängen allerdings Medianlohn und Beschäftigung voneinander ab. Sollten z.B. durch die Einführung eines Mindestlohns im Extremfall alle Beschäftigten, die bis dahin weniger verdient haben, ihren Job verlieren, dann steigt der Median der Löhne automatisch an, weil er nur auf der Basis der noch Beschäftigten berechnet werden kann. Damit steigt auch die Niedriglohnschwelle entsprechend. Armutsbekämpfung mit Mindestlöhnen gleicht damit dem Wettlauf zwischen Hase und Igel. Daraus folgt im Umkehrschluss, dass die Beschäftigung von Arbeitslosen relativ und absolut zu einem Rückgang der Niedriglohnquote führen kann, selbst wenn diese Beschäftigung paradoxerweise zu Löhnen erfolgt, die unter der heutigen Niedriglohnschwelle liegen. Der Grund dafür ist ganz einfach: Wenn sich die Zahl der Lohnempfänger erhöht und diese vorwiegend im unteren Lohnbereich angesiedelt sind, sinkt der Median und mit ihm die Niedriglohnschwelle. Man mag solche Berechnungen als statistischen Unfug abtun, aber dann gilt das für die Berechnung der Niedriglohnschwelle generell. Unabhängig von statistischen Spielereien kommt es auf die Substanz an, die mit einer erfolgreichen Strategie zur Beschäftigung von Geringqualifizierten verbunden ist. Die Betroffenen werden dadurch nicht ärmer, sondern reicher. Der Bedarf an Transferzahlungen geht zurück und setzt damit ein Potenzial für Steuersenkungen frei, das allen zugutekommt. Das Ziel kann daher nur darin bestehen, die Beschäftigungschancen von Geringqualifizierten nachhaltig zu verbessern.
126
4
Hilmar Schneider
Die richtigen Erwerbsanreize setzen
Sofern es mit vertretbarem Aufwand möglich ist, kann und sollte man durch die Verbesserung der individuellen Qualifikation dafür sorgen, dass Menschen leichter über die vom sozialen Sicherungssystem implizit eingezogene Mindestlohnhürde kommen. Wo dies nicht realisierbar ist, müssen allerdings andere Regeln greifen als heute. Dabei sind mehrere Ziele gleichzeitig im Auge zu behalten: Einfache Arbeit muss sich lohnen, die Lösung muss finanzierbar sein und sie muss gesellschaftlich akzeptabel sein. Damit sich einfache Arbeit lohnt, müssen Aufwand und Ertrag in einem vernünftigen Verhältnis stehen. Der vordergründig einfachste Weg dahin besteht in einem öffentlich geförderten Lohnzuschlag für Niedriglöhne, einem sogenannten Kombilohn. Alle Versuche und Konzepte in diese Richtung sind bislang jedoch daran gescheitert, dass schon bei geringen finanziellen Anreizen gewaltige Kosten für den Sozialstaat entstehen. Der Grund dafür besteht darin, dass Kombilöhne nicht nur auf diejenigen wirken, die arbeitslos sind, sondern auch auf diejenigen, die bereits zu niedrigen Löhnen erwerbstätig sind. Für Letztere entsteht bei der Einführung von Kombilöhnen ein Anreiz, die Erwerbstätigkeit zu reduzieren. Da diese Gruppe zahlenmäßig weitaus größer ist als die eigentliche Zielgruppe, sind die resultierenden Kosten durch Ausfälle bei Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen erheblich. Dem könnte man zwar prinzipiell durch eine stärker zielgruppenspezifische Förderung begegnen, doch die Praxis zeigt, dass dem enge Grenzen gesetzt sind. Das großzügigste Kombilohnmodell in der aktuellen Debatte ist das bedingungslose Grundeinkommen, das beispielsweise von Götz Werner propagiert wird. Während sich Werner, was die Ausgestaltung anbelangt, eher bedeckt hält, hat der thüringische Ministerpräsident Dieter Althaus in Gestalt des Solidarischen Bürgergelds bereits konkrete Vorstellungen entwickelt. De facto sieht das Solidarische Bürgergeld einen anrechnungsfreien Hinzuverdienst von 50 % vor. Einschlägige Simulationsrechnungen zeigen, dass der damit verbundene potenzielle Beschäftigungseffekt durchaus beachtlich ist. Bis zu 600.000 zusätzliche Jobs könnten damit theoretisch entstehen (Rinne 2009). Allerdings stehen die damit verbundenen Einnahmen durch Steuern und Sozialversicherungsbeiträge in keinem Verhältnis zu den gleichzeitig zu erwartenden Einnahmeausfällen, zumal das Solidarische Bürgergeld für Besserverdienende mit einer deutlichen Steuersenkung einhergehen soll. Unterm Strich würde die Einführung des Solidarischen Bürgergelds jährliche Mehrkosten in Höhe von weit über 200 Mrd. € mit sich bringen, ein Volumen, das mehr als der Hälfte des Bundeshaushalts ent-
VII. Soziale Verantwortung am Arbeitsmarkt
127
spricht. Pro gefördertem Arbeitnehmer entspräche das jährlichen Kosten von 355.000 €. Das ist das Problem aller Kombilöhne. Selbst bei dem vergleichsweise moderaten Mainzer Modell lagen die geschätzten Pro-Kopf-Kosten im oberen fünfstelligen Bereich. Kombilöhne scheiden damit als Instrument zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit von Geringqualifizierten praktisch aus. Eine andere Möglichkeit zur Lösung des Problems bestünde grundsätzlich in der Absenkung der Grundsicherungsansprüche. Im Extremfall würden die Betroffenen damit gezwungen, jeden Job anzunehmen, der sich ihnen bietet. Das würde zwar einerseits den größtmöglichen Beschäftigungseffekt hervorrufen, würde andererseits aber trotzdem nicht gewährleisten, dass im Einzelfall ein existenzsicherndes Einkommen erzielt werden kann. Abgesehen davon dürften die politischen Widerstände, die eine solche Strategie hervorrufen würde, kaum zu überwinden sein. Das lässt sich sehr deutlich an den politischen Reaktionen ablesen, die beispielsweise das ifo-Institut und der Sachverständigenrat ausgelöst haben, als sie entsprechende Vorschläge in die Diskussion eingebracht haben (Sinn et al. 2006; Sachverständigenrat 2006). Insofern lohnt es sich nicht, allzu viele Gedanken auf eine solche Option zu verwenden.
5
Das Workfare-Konzept
Da auch Mindestlöhne keine ernst zu nehmende Alternative sind, bleibt nur noch eine Option. Diese besteht darin, Bezug von Sozialleistungen an eine Pflicht zur Gegenleistung in Form von Arbeit im weitesten Sinne zu koppeln. Sozialleistungen müssen gleichsam verdient werden. Durch dieses auch als Workfare bekannte Prinzip erhöht sich die Bereitschaft zu niedrig entlohnten Tätigkeiten radikal. Arbeit als Gegenleistung ist dabei als Metapher für eine generelle Aktivierung zu verstehen. Die Gegenleistung kann in der Praxis neben sozial nützlicher Tätigkeit auch in einer Weiterbildung oder in verstärkten Bewerbungsaktivitäten bestehen. Die vorliegenden praktischen Erfahrungen zeigen, dass Arbeit im engeren Sinne tatsächlich erst am Ende einer längeren Aktivierungskette stehen sollte (Eichhorst/Schneider 2008). Die Wurzeln des Workfare-Konzepts finden sich vor allem in den USA. Unter dem Motto „Making Work Pay“ wurde dort in den 1970er Jahren der Earned Income Tax Credit (EITC) eingeführt (Kaltenborn/Pilz 2002). Dabei ging es in erster Linie darum, dem Problem der Working Poor zu begegnen. Bei dem EITC handelt es sich zwar auf den ersten Blick um eine Lohnsubvention, doch im Kontext eines ansonsten praktisch fehlenden sozialen Sicherungssystems wurde de
128
Hilmar Schneider
facto eine Situation geschaffen, in der staatliche Leistungen der Grundsicherung nur erhält, wer gleichzeitig einer Erwerbstätigkeit nachgeht. Der Begriff Workfare entstand erst im Zuge einer weiteren Sozialstaatsreform unter Präsident Clinton in den USA in den 1990er Jahren. Der 1996 eingeführte Welfare Reform Act wurde durch das Motto „from welfare to work“ geprägt. Daraus entwickelte sich dann der Kunstbegriff Workfare. Die positiven Erfahrungen in den USA waren der Anlass, das WorkfareKonzept auch in Deutschland zu erproben. Unter dem Stichwort Aktivierung fand die Workfare-Idee im Rahmen des Modellprojekts MoZArT ihren Niederschlag, an dem von 2001-2004 mehrere Großkommunen teilnahmen (Hess et al. 2004). Mit der Schaffung von sogenannten „Ein-Euro-Jobs“ im Zuge der HartzReform wurde schließlich ein wesentliches Element des Workfare-Prinzips in die Sozialgesetzgebung aufgenommen. Die Wirkung von Workfare beruht auf einem elementaren individuellen ökonomischen Nutzenkalkül. Wer gezwungen ist, das Transfereinkommen zur sozialen Grundsicherung durch eine Gegenleistung zu erzielen, wird bereit sein, Tätigkeiten am freien Markt auch dann anzunehmen, wenn sie bei gleichem Zeitaufwand nur geringfügig mehr einbringen als das Grundsicherungsniveau. Darin unterscheidet sich das Workfare-Konzept sehr eindeutig von den Anreizwirkungen, die vom heutigen System der Grundsicherung ausgehen. Mit Hilfe des Workfare-Modells lässt sich der Anspruchslohn im Prinzip auf das Niveau der Grundsicherung absenken, was nach den obigen Ausführungen für einen Alleinlebenden einem Bruttostundenlohn von 5 € in der Vollzeittätigkeit entspricht. In der Konsequenz können Arbeitgeber niedrig produktive Arbeitsplätze anbieten und besetzen, für die sich Transferempfänger aus ökonomisch nachvollziehbaren Gründen bislang nur schwer motivieren lassen. Das Tätigkeitsspektrum mit Stundenlöhnen zwischen 5 und 10 € würde damit für Transferbezieher deutlich attraktiver als heute. Workfare kann völlig auf eine ergänzende finanzielle Förderung niedriger Einkommen in Form von Kombilöhnen verzichten. Ein willkommener Nebeneffekt ist, dass den Hilfeempfängern durch die Verpflichtung auf sozial nützliche Tätigkeiten die Möglichkeit zur Schwarzarbeit genommen wird. Der wichtigste Vorteil ist jedoch, dass eine deutliche Entlastung der Sozialkassen erreicht wird, ohne das Niveau der sozialen Grundsicherung für erwerbsfähige Hilfeempfänger, die zur Aufnahme einer sozial nützlichen Tätigkeit bereit sind, anzutasten. Das Workfare-Prinzip stellt das heutige Niveau der Grundsicherung ausdrücklich nicht in Frage, sondern leistet einen Beitrag zu seinem Fortbestand durch Konzentration auf die tatsächlich Bedürftigen.
VII. Soziale Verantwortung am Arbeitsmarkt
129
Simulationsrechnungen zur Wirkung des Workfare-Konzepts mit Hilfe eines empirischen Arbeitsangebotsmodells ergeben für Deutschland einen potenziellen Anstieg der Erwerbsbeteiligung um bis zu 1,9 Mio. Personen (Bonin et al. 2008; Rinne 2009). Danach können von den erwerbsfähigen Hilfeempfängern etwa 1,4 Mio. ein monatliches Markteinkommen oberhalb der sozialen Grundsicherung erzielen. Sie werden sich deshalb um eine Tätigkeit auf dem regulären Arbeitsmarkt bemühen. Knapp 500.000 Personen wären dagegen dauerhaft auf das Angebot einer sozial nützlichen Tätigkeit oder anderer Maßnahmen angewiesen, da ihre Produktivität nicht ausreicht, um ein Markteinkommen zu erzielen, das höher ist als das Transfereinkommen. Auch in fiskalischer Hinsicht sind die Ergebnisse eindrucksvoll. Durch Einsparungen bei den Ausgaben für die Grundsicherung und Einnahmen in Form von Steuern und Sozialabgaben würden den öffentlichen Haushalten mehr als 26 Mrd. € jährlich zufließen. Dies würde erheblichen Spielraum für Investitionen in Bildung und Innovationen schaffen. Workfare ist deshalb mehr als nur ein sozialpolitisches Instrument. Workfare ermöglicht einen bedeutsamen Beitrag zur Wachstumspolitik. Kritisch bleibt die Umsetzung von Workfare für Menschen, deren Qualifikation selbst bei Vollzeittätigkeit nicht dazu ausreicht, ein Einkommen oberhalb der Grundsicherung zu erreichen. Das vorgeschlagene Konzept sieht vor, diesen Menschen dauerhaft eine öffentlich geförderte Tätigkeit zu einem Einkommen in Höhe der Grundsicherung zu ermöglichen. Dem wird entgegengehalten, ob es nicht besser wäre, diese Menschen einfach in Ruhe zu lassen, statt sie mit einer Arbeitspflicht zu belasten? Schließlich verursacht öffentlich geförderte Beschäftigung womöglich Verdrängungseffekte im privaten Sektor. Niemandem steht jedoch auf die Stirn geschrieben, welchen Marktlohn er/ sie erzielen kann. Insofern dient die Arbeitspflicht einer Unterscheidung, die anders nicht möglich ist. Außerdem setzt die Arbeits- oder Gegenleistungspflicht positive Signale für die Betroffenen. „Die Gemeinschaft braucht dich!“ Durch Arbeit steigen Qualifikationen und damit die Chance zu höheren Einkommen. Das Selbstwertgefühl kann durch sinnvolle Tätigkeiten steigen. Das jetzige System signalisiert den Betroffenen das genaue Gegenteil. Insofern ist Workfare nicht nur effektiv. Es dürfte, wenn man seine Folgewirkungen einbezieht, sehr sozial wirken. Dennoch muss vor der Einführung von Workfare die Frage beantwortet werden, wie die erforderliche Zahl der für die erwerbsfähigen Hilfeempfänger bereitzuhaltenden Arbeitsgelegenheiten geschaffen werden kann. In der öffentlichen Diskussion über das Workfare-Konzept wird hier meist davon ausgegan-
130
Hilmar Schneider
gen, dass die entsprechenden Arbeitsplätze von den Kommunen kommen. Manche Kommunen sehen es als schwierig an, in ihrem Bereich eine ausreichende Zahl von Arbeitsplätzen zu finden, die nicht in Konkurrenz zu privaten Anbietern treten. Hier sind zweifellos Phantasie und guter Wille gefragt. Allerdings sind mögliche Verdrängungseffekte durch geschaffene Arbeitsgelegenheiten grundsätzlich kein ausreichendes Argument gegen das WorkfareKonzept. Man muss auch fragen, was möglicherweise verdrängte Personen unternehmen, um neue Arbeit zu erhalten. Da Arbeit kein fest zu verteilender Kuchen ist, entstehen neue Arbeitmöglichkeiten mit neuen Wohlfahrtseffekten auf anderen Märkten. Die Frage muss auch lauten, ob die bei Workfare verbundenen Verdrängungseffekte größer sind als im derzeitigen sozialen Sicherungssystem. Auch das heutige System hat nämlich massive Wirkungen auf den regulären Arbeitsmarkt. Dies zeigt sich etwa am dramatischen Rückgang der Zahl sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse zwischen 2001 und 2005. Verdrängungseffekte ließen sich letztlich nur vollständig vermeiden, indem die soziale Grundsicherung völlig abgeschafft wird. Dies wäre aber weder durchsetzbar noch sinnvoll. In der kommunalen Praxis sind bereits durchaus wirksame Mechanismen etabliert, um Verdrängungseffekte durch öffentliche Arbeitsgelegenheiten so weit wie möglich zu reduzieren. An dieser Feststellung ändern auch die immer wieder vorgebrachten Negativbeispiele nichts. Abgesehen davon könnte bei einer konsequenten Umsetzung des Workfare-Prinzips verstärkt der private Sektor zur Schaffung einer ausreichenden Zahl von Arbeitsgelegenheiten herangezogen werden. Dazu müsste allerdings ein Preissetzungsmechanismus etabliert werden, der verhindert, dass private Anbieter Lohnsätze unterhalb der jeweiligen Arbeitsproduktivität zahlen, weil sie sich darauf verlassen können, dass der Staat die Differenz ausgleicht. Die Preissetzung könnte von eigens zu schaffenden Dienstleistungsagenturen übernommen werden.
6
Was ist soziale Gerechtigkeit?
Workfare ist sozial gerecht. Das Prinzip von Leistung und Gegenleistung sorgt dafür, dass sich die Inanspruchnahme von Leistungen der Grundsicherung auf diejenigen beschränkt, die tatsächlich bedürftig sind. Das Konzept steht im Einklang mit zahlreichen Forschungsergebnissen der modernen experimentellen Ökonomie, die darauf verweisen, dass die meisten Menschen in Kategorien der Reziprozität denken und empfinden. Sie erleben unkooperatives Verhalten als
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unfair, kooperatives Verhalten dagegen als fair. Sie sind bereit, unfaires Verhalten zu sanktionieren und faires Verhalten zu belohnen, selbst wenn dies mit Kosten für sie verbunden ist. Was Menschen als sozial gerecht empfinden, hängt nicht unwesentlich von ihrer eigenen Wohlfahrtsposition ab. Gesellschaftlicher Konsens auf der Grundlage des Status quo ist dadurch praktisch ausgeschlossen. Jeder Eingriff in die gesellschaftliche Ordnung erzeugt zwangsläufig Gewinner und Verlierer, was einen gesellschaftlichen Konsens sowohl auf der Grundlage der real verteilten Wohlfahrtspositionen als auch im Hinblick auf Veränderungen praktisch ausschließt. Um diesem Dilemma zu entgehen, hat der Sozialphilosoph John Rawls (1975) ein wegweisendes Konzept entwickelt, das auf der Fiktion des Schleiers der Ungewissheit beruht. Die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit im Konsens bedeutet demnach die Einigung auf einen Gesellschaftsvertrag, auf den sich die Gesellschaftsmitglieder verständigen würden, wenn sie noch nicht wüssten, welche Position sie im Hinblick auf zentrale Lebensbereiche wie Gesundheit, Begabung und Wohlstand künftig einmal einnehmen werden. Im realen Leben dürfte es vielen Menschen schwerfallen, von ihrer wahren Situation zu abstrahieren und sich gedanklich hinter den Schleier der Ungewissheit zu versetzen. Im Laborexperiment lässt sich eine solche Situation jedoch mühelos erzeugen und liefert damit wertvolle Erkenntnisse über „objektive“ oder nicht von eigenen Interessen beeinflussten Gerechtigkeitsvorstellungen. Zu diesem Zweck haben Falk/Huffman (2007) ein entsprechendes Experiment durchgeführt. Darin wurden die Teilnehmer mit folgender Situation konfrontiert: Grundsätzlich sollten sie eine Arbeitsleistung erbringen, die darin bestand, auf Blättern, die aus Nullen und Einsen bestanden, die Zahl der Nullen zu zählen. Für die richtige Bearbeitung von 10 Blättern wurde ein „Lohn“ von 6 € vereinbart. Bevor die Teilnehmer beginnen konnten, wurden sie in Dreiergruppen zusammengefasst. Den Gruppen wurde dann zunächst eröffnet, dass ein Mitglied der Gruppe vor Beginn der Arbeit per Zufall als „arbeitslos“ ausgelost werden würde. Dieses Mitglied könne sich dann aber entscheiden, ob es arbeitslos bleiben wolle oder wie die beiden anderen die vereinbarte Arbeit durchführen wolle. Entschiede es sich für die Arbeitslosigkeit, müsse es von den beiden anderen alimentiert werden. Die Alimentierung bestünde darin, dass die „Arbeiter“ jeweils 2 € ihres Einkommens an das arbeitslose Mitglied abführen müssten. Alle würden dann das Experiment mit einem Einkommen von 4 € verlassen. Entschiede es sich dagegen für Erwerbstätigkeit, brauchten die beiden anderen
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nichts abzuführen und alle bekämen die vereinbarten 6 € nach Erledigung ihrer Arbeit. Anschließend wurde die Gruppe vor die Wahl gestellt, zwischen zwei „Sozialsystemen“ zu wählen. Im „Sozialhilfesystem“ würde das Mitglied, das sich für Arbeitslosigkeit entschied, das Experiment sofort mit einem Einkommen von 4 € verlassen können. Im „Workfare-System“ würde sie dagegen eine Gegenleistung in Form von vier korrekt bearbeiteten Arbeitsblättern erbringen müssen, bevor sie ihr Einkommen ausgezahlt bekommt (vgl. Abbildung 3). Arbeitsaufgabe im Experiment: Zählen der Nullen
Abbildung 3:
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Quelle: Falk/Huffman 2007
Die Gruppe musste sich also für ein soziales Sicherungssystem entscheiden, bevor die einzelnen Mitglieder wussten, welche Rolle sie im Experiment einnehmen würden. Die Simulation des Rawlschen Schleiers der Ungewissheit machte vom Einkommensstandpunkt aus betrachtet keinerlei Unterschied, ob man sich im Sozialhilfe- oder im Workfare-System befand. Die im Workfare-System von dem Arbeitslosen verlangte Gegenleistung hatte im Vergleich zum Sozialhilfesystem keinerlei materiellen Vorteil für die „Beitragszahler“. Das Workfare-System unterschied sich vom Sozialhilfesystem lediglich darin, dass dem Arbeitslosen eine scheinbar nutzlose Zumutung aufgebürdet wurde. Umso erstaunlicher ist das Resultat, dass sich mit 84 % eine überwältigende Mehrheit der befragten Teilnehmer für das Workfare-System entschied. Erstaunlich ist dies auch deshalb, weil sich in der Realität zumindest bislang wohl kaum eine Mehrheit der Gesellschaft für die Einführung des Workfare-Prinzips in der Grundsicherung aussprechen würde.
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Die Teilnehmer wurden abschließend u.a. zu ihren Motiven für ihre Entscheidung befragt. Bezeichnenderweise führten die meisten von ihnen Gerechtigkeits- oder Fairnessgründe an. Das Experiment zeigt damit interessante Perspektiven für eine möglichst objektive Definition von sozialer Gerechtigkeit auf. Umverteilung zugunsten der Schwächsten der Gesellschaft ist nur dann sozial gerecht, wenn sie den Ansporn zur Wahrnehmung der eigenen Verantwortung gegenüber der Solidargemeinschaft nicht zerstört. Darüber hinaus zeigt das Experiment auf, worin die Aufgabe verantwortungsvoller Sozialpolitik bestehen muss, nämlich in der Überzeugungsarbeit zugunsten eines nachhaltigen Gesellschaftsmodells.
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Verbleibender Reformbedarf
Der Arbeitsmarkt in Deutschland hat mit den Arbeitsmarktreformen der letzten Jahre eine Vielzahl tief greifender Veränderungen erfahren. Mit der Abkehr von einer Politik der Prämierung von Nicht-Arbeit, der Liberalisierung der Zeitarbeit und einer nach Wirtschaftlichkeitsgesichtspunkten erfolgten Organisationsreform der Arbeitsverwaltung ist es erstmals seit drei Jahrzehnten gelungen, die Sockelarbeitslosigkeit zurückzudrängen. Begleitet wurden die Arbeitsmarktreformen von konsequenten Sanierungsmaßnahmen in den Betrieben und einer angemessenen Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften. Alles zusammen hat dazu geführt, dass die internationale Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen seit Beginn des Jahrzehnts erheblich gestiegen ist. Am markantesten äußert sich der erzielte Fortschritt im Rückgang der Arbeitslosigkeit um mehr als 1,5 Mio. seit 2005 und einem Anstieg der Erwerbstätigenquote der Älteren um fast 15 Prozentpunkte auf über 50 % in nur vier Jahren. Es spricht deshalb alles dafür, dass Deutschland damit auch gegen die aktuelle Konjunkturkrise erheblich besser gewappnet ist als je zuvor. Gleichwohl verbleibt eine Reihe von bislang ungelösten Problemen, denen sich die Politik stellen muss: Die von den Strukturproblemen am schwersten betroffene Gruppe der Langzeitarbeitslosen hat von der Erholung des Arbeitsmarktes bislang nur unzureichend profitiert. Der bereits heute spürbare Fachkräftemangel droht sich in Anbetracht des absehbaren demographischen Wandels zu einer ernsten Wachstumsbremse zu entwickeln. Und nicht zuletzt unterliegt die Politik der Gefahr, das Erreichte aus falsch verstandenem Aktionismus im Angesicht der aktuellen Rezession wieder aufs Spiel zu setzen, indem sie Alimentierungsansprüche erneut und vor allem zulasten der Sozialversicherungssysteme
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ausweitet. Dies ist insofern besonders problematisch, als die globale Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen bzw. indirekt der Arbeitnehmer aufgrund des demographischen Wandels künftig ohnehin bereits durch steigende Beitragssätze zur Sozialversicherung strapaziert werden wird. Die Bedeutung von Wissen und Bildung als zentrale Ressource für Wachstum und Wohlstand gewinnt immer weiter an Bedeutung. Dabei ist nicht erst seit der Veröffentlichung der Ergebnisse der von der OECD durchgeführten PISAStudie bekannt, dass das deutsche Bildungssystem auf den Prüfstand gehört. Angesichts der Internationalisierung der Arbeitsmärkte sind die deutschen Bildungsinstitutionen ins Hintertreffen geraten. Im internationalen Vergleich gering entwickelte Kinderbetreuungsangebote mit qualifiziertem pädagogischen Programm, regional stark schwankender schulischer Lernerfolg, zu lange durchschnittliche Schul-, Ausbildungs- und Studienzeiten sowie ein nach wie vor zu hoher Anteil Ungelernter an den Erwerbsfähigen weisen darauf hin, dass Bildung noch nicht hinreichend als Erfolgsfaktor am Arbeitsmarkt genutzt wird. In gewissem Umfang handelt es sich dabei auch um Marktversagen, weil die Bedeutung von Bildung und Weiterbildung nicht frühzeitig erkannt wird und Humankapital im internationalen Vergleich nicht genügend honoriert wird. In einer Phase, in der es darauf ankommt, das vorhandene Wissen so gut wie möglich zu nutzen, leistet sich Deutschland den Luxus, Hochqualifizierte in Länder abwandern zu lassen, in denen sie weitaus attraktivere Arbeitsbedingungen vorfinden. Weiterhin muss eine arbeitsmarktorientierte Bildungspolitik von Beginn an sicherstellen, dass möglichst breite Bevölkerungsschichten gleiche Startchancen für ihre späteren Beschäftigungsperspektiven und Einkommenspotenziale am Arbeitsmarkt erhalten. Nur so ist gesichert, dass das vorhandene Potenzial an Talenten und Fähigkeiten voll zum Tragen kommt. Dennoch: So berechtigt das staatliche Engagement in dieser Hinsicht ist, so notwendig ist zugleich die Beteiligung des Einzelnen an den Risiken von Bildungsentscheidungen, um der ansonsten drohenden Gefahr von Fehlsteuerungen vorzubeugen. Deswegen macht es keinen Sinn, ein faktisches Recht auf eine Lehrstelle zu propagieren. Aus dem gleichen Grund sind Studiengebühren durchaus sinnvoll. Für Bedürftige muss jedoch ein unkomplizierter und nicht prohibitiv kostenträchtiger Zugang zu Studienkrediten gewährleistet sein.
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Fazit
Ökonomische Effizienz und soziale Gerechtigkeit stehen nicht im Widerspruch zueinander. Soziale Gerechtigkeit bedeutet in allererster Linie Chancengleichheit. Dies wiederum bedeutet, dass Menschen aufgrund sozialer Herkunft, Religion, ethnischer Zugehörigkeit oder Geschlecht weder an ihrer Entfaltung gehindert werden dürfen, noch Privilegien für sich beanspruchen können. Dass es dabei eine soziale Mindestsicherung geben muss, ist nicht nur sozial gerecht, sondern auch ökonomisch effizient. Ohne die Absicherung gegen gewisse Lebensrisiken unterbleiben gesamtwirtschaftlich sinnvolle, aber individuell riskante bzw. unsichere Investitionen, z.B. in Humankapital. Erst eine Versicherung für den Fall des Scheiterns führt dazu, dass Menschen das Risiko der Investition auf sich nehmen. Die entscheidende Frage ist die nach dem notwendigen Ausmaß der Absicherung. Die Antwort darauf wird letztlich nur empirisch möglich sein. Ein soziales Sicherungssystem, das Arbeitslose großzügig absichert und damit Langzeitarbeitslosigkeit hervorruft, ist nicht gerechter als eines, das die gleiche Einkommensverteilung mit weniger Absicherung und damit einem größeren Anreiz oder auch einem gewissen Zwang zur gering entlohnter Tätigkeit erreicht. Soziale Gerechtigkeit beinhaltet darüber hinaus Nachhaltigkeit. Ökonomische Effizienz ist dann gegeben, wenn es zu den gefundenen Politiklösungen keine Alternative gibt, die das Ergebnis mit geringerem Aufwand herbeiführen könnte. Eine ineffiziente Politik kann von vorneherein nicht sozial gerecht sein, weil sie der Solidargemeinschaft überflüssige Lasten aufbürdet, die Wachstumschancen beeinträchtigen und Verteilungsprobleme hervorrufen.
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VIII. Unstillbarer Subventionshunger, regulierte Angebotsentwicklung VIII. Unstillbarer Subventionshunger, regulierte Angebotsentwicklung
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Wohnungspolitik und Wohnungsmärkte in der Bundesrepublik
1.1 Die Wohnung – ein spezielles Gut Technisch sind Wohnungen einfache Güter. Gesellschaftlich und ökonomisch sind sie äußerst komplex. Sie sind kapitalintensiv, langlebig und Fehlallokationen entsprechend teuer. Sie gehören zur gebauten öffentlichen Umwelt und sind damit Teil eines Kollektivguts. Nutzer sind abhängig von ihrer Wohnung wegen der individuellen Ausstattung, Gewöhnung an Schul- oder Arbeitswege und ihrer lokalen Beziehungsnetze. Materielle und immaterielle Investitionen sollen möglichst nicht durch Kündigung entwertet werden. Das gilt für alle Bewohner, ob arm oder reich. Gleichwohl werden diese Abhängigkeiten des einzelnen Mieters von „seiner“ Wohnung bei effektivem Wettbewerb durch die Vermieter kaum ausgenutzt. Nachfragewünsche werden berücksichtigt (durch Wohnungszusammenlegung, Ausbau, Modernisierung, aber auch durch unterlassene Instandhaltungen, um preiswertere Wohnungen anzubieten). Hinreichende Fluktuationsreserven und günstige Produktionsbedingungen wirken als effektiver Mieterschutz. Natürlich muss Ausbeutungsverhalten daneben ständig mit rechtlichen Instrumenten in Schach gehalten werden. Dies gilt insbesondere gegenüber willkürlichen Kündigungen. Die Achillesverse des Wohnungsmarktes war schon immer ein effektives und elastisches Angebot. Da es keine Baufreiheit gibt, entscheiden die Kommunen über das Angebot an Bauflächen. Allerdings schiebt sich zwischen Bauleitplanung und effektiver Bebaubarkeit die private, sehr subjektiv geprägte Entscheidung des Eigentümers zum Verkauf oder zur Bebauung. Das Angebot ist starr, weil im Vergleich zum Bestand jeweils nur winzige Flächen verfügbar sind,
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und Engpässe in den Baukapazitäten sowie in den Finanzierungsmöglichkeiten entstehen. Dies führt bei zyklisch schwankender Nachfrage immer wieder zu Engpässen im Wohnungsangebot und sprunghaft steigenden Neuvertragsmieten. Aber auch Marktkräfte wirken: Wohnungsneubau löst Umzugsketten aus, dämpft die Preise im gesamten Bestand und erweitert das Angebot auch auf „neubaufernen“ Teilmärkten. Durch diesen Filteringprozess wurden Wohnungen bei gegebener Qualität relativ zum Einkommen der Nachfrager immer preiswerter. Dieser Anpassungsmechanismus ist allerdings träge, immer wieder treten unsoziale Engpässe auf. Wohnungspolitik kann dies nur begrenzt kompensieren, weil Subventionsprogramme nur zeitverzögert wirken und privaten Wohnungsbau zum Teil verdrängen. Dennoch ist die Lust auf Subventionsprogramme unbegrenzt.
1.2 Subventionen als Allheilmittel Die Bundesrepublik hat über mehr als ein halbes Jahrhundert gigantische Subventionen in Produktion, Instandhaltung und Modernisierung von Wohnungen gesteckt. Bis heute kann eine Vielzahl von Modernisierungsinvestitionen und Instandsetzungen steuerlich sofort geltend gemacht oder auf fünf Jahre verteilt abgeschrieben werden. Im Neubau wurde die beschleunigte Abschreibung mittlerweile aufgehoben. Anders als in mehreren europäischen Ländern können Verluste aus Vermietung unbegrenzt mit anderen Einkunftsarten verrechnet werden. Für den Staat ergeben sich daraus beachtliche Steuermindereinnahmen. Über Jahrzehnte hinweg wurden aus der Einkunftsart „Vermietung und Verpachtung“ keine positiven Steuereinnahmen, sondern Verluste in jährlicher Milliardenhöhe erzielt. Ostdeutsche Kommunal- oder Genossenschaftswohnungen unterlagen in Produktion und Bewirtschaftung keinem Wettbewerb. Auch in Westdeutschland wurden rund 5 Mio. Sozialwohnungen gefördert. Massive staatliche Förderung wurde für notwendig gehalten, um die hohen Neubaukosten und die hohen Bodenpreise für Mieter finanzierbar zu machen. Heutige Programme haben nur noch geringe Bedeutung.
1.3 Mietskasernen statt Vermögensstreuung Wohnungsmärkte sind gekennzeichnet durch externe Effekte, durch die Abhängigkeit in der Produktion von öffentlicher Infrastruktur und von ordnender Bau-
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leitplanung. Wohnungen werden dementsprechend in einem komplexen Prozess aus Stadtplanung und Marktentscheidungen errichtet. Die Stadtplanung legt Bauformen, Straßen und Plätze fest und sorgt für die erforderliche Infrastruktur. Unterschätzt werden oft die Rückwirkungen auf die Funktionsweise der Märkte. In Deutschlands Städten wurde seit der Gründerzeit einer Blockbebauung mit großen Mietshäusern der Vorzug gegeben. In England kam es zu einer ganz anderen Weichenstellung, dort dominiert auch in Großstädten das kleine Haus. Der Vorteil: kleine Gebäude sind einfacher, durch die Nutzer selbst bewirtschaftbar, erleichtern den Erwerb von Wohneigentum und ermöglichen damit eine breite Vermögensstreuung. Große Bauten fördern die Vermögenskonzentration. Berlin mit seinen großen Mietskasernen und einer sehr niedrigen Wohneigentumsquote von rund 14 % demonstriert dies zur Genüge. Genauso begünstigen Sozialwohnungsprogramme und steuerliche Subventionen wegen der Progressionseffekte die Konzentration von Wohnungsvermögen. Hätten in Westdeutschland Angebots- und Subventionsbedingungen bestanden, wie sie in Holland oder Großbritannien bis in die 1980er Jahre galten, wären rund 4 Mio. zusätzliche Eigenheime bei privaten Haushalten entstanden (bei vorsichtiger Schätzung ein Vermögen von 400 Mrd. €). Seit der Gründerzeit dominiert hierzulande – gestützt durch planerische Vorgaben – das große (Miets-) Haus in den Städten. Die sozial engagierten Wohnungsökonomen mit ihrer Forderung nach kleineren Häusern blieben ohne großen Einfluss. Diese Politik wurde nach dem Zweiten Weltkrieg fortgesetzt. Der abstrakte, moderne Städtebau ab Mitte der 1960er und in den 1970er Jahren in Form der Großsiedlung mit erheblichem Hochhausanteil war wenig nachfragegerecht, meist zu wenig familienfreundlich und – um die Mitscherlich-Kritik aufzunehmen – ziemlich unwirtlich. Viele dieser Bauten werden lange vor ihrem technischen Verschleiß ökonomisch obsolet sein. Diese Erfahrung zeigt: Städte und Wohnungen müssen den Anforderungen der Bewohner entsprechen und in engem Kontakt mit den Nutzern geplant werden, die ihre Präferenzen allerdings nur bei Wahlfreiheit zur Geltung bringen können. Die Macht der öffentlichen Planung oder Subventionierung kann entfremdete Wohnformen herbeiregulieren, nicht aber garantieren, dass die Menschen diese Wohnungen dauerhaft akzeptieren. Es sollte zu denken geben, dass Bremen, die einzige deutsche Großstadt, die schon seit dem 19. Jahrhundert stärker nach englischen Prinzipien aus kleinen Häusern entwickelt wurde, gleichzeitig die höchste Wohneigentumsquote erreicht. Städte, zusammengesetzt aus kleinen Wohnbauten und bewirtschaftet von Einzeleigentümern, sind erlebnisreicher, lebendiger in ihrer Erscheinung und
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werden als persönlicher erlebt. Wir sind im 20. Jahrhundert über längere Zeit abstrakten Prinzipien, aufwendigen Bauprozessen und die Märkte verzerrenden Subventionsformen aufgesessen! Die gewinnorientierten Motive der Investoren haben unter Wettbewerbsbedingungen durchaus eine Qualität geschaffen, die bis heute nachfragegerecht ist – das zeigt die hohe Nachfrage nach Gründerzeitwohnungen. Dagegen hat der wohlfahrtsstaatlich motivierte, wettbewerbsfreie soziale Wohnungsbau nach ersten Pionierleistungen später oft zu geringer Wohnqualität geführt.1
Die folgende Abbildung verdeutlicht unterschiedliche Preisentwicklungen von Eigenheimen in verschiedenen Ländern und Zeitperioden als Folge einer unterschiedlichen Regulierung von Märkten. Holland und Großbritannien waren bis in die 1990er Jahre sehr preisgünstig. In beiden Ländern kam es anschließend zu exorbitanten Preissteigerungen, die weithin auf die Rationierung und Verteuerung von Bauland und die damit verbundene Schwächung des Anbieterwettbewerbs zurückgingen.2 Deutschland war immer ein überreguliertes Hochpreisland mit einer unsozialen und ineffektiven Funktionsweise der Wohnungsmärkte. Die Vergleiche zeigen die Möglichkeiten einer Marktstrukturpolitik gegenüber verzerrenden Subventionen. Das Dogma von der unzureichenden Funktionsfähigkeit der Wohnungsmärkte ist eines der teuersten Vorurteile der deutschen Politik.
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Ein durchschnittliches Wohngebiet aus der kapitalistischen Spekulationsphase des Wohnungsbaus in Berlin-Prenzlauer Berg wurde dagegen zum Mekka junger Familien. Analoge Beispiele gibt es praktisch in jeder Großstadt. Jede dieser Familien würde es ablehnen, im Märkischen Viertel oder sonst einer anderen Hochhaussiedlung zu wohnen, die nach Gemeinwohlprinzipien gebaut wurde. Die mittleren Verkaufspreise von Eigentumswohnungen aus dem Bestand stiegen in den Jahren von 2000 bis 2005 landesweit um 27 %, in der Provinz Groningen sogar um 44 % und in der Provinz Zeeland um 66 %.
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Abbildung 1:
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Preis-Einkommens-Relation für Eigenheime im internationalen Vergleich
In Großbritannien gab es Ende des letzten Jahrhunderts Wohnimmobilien für drei Jahresnettoeinkommen. In Deutschland liegt der Wert seit Jahren fast doppelt so hoch. Eine restriktive Baulandpolitik hat das Bauen in Holland rasant verteuert. 8
Hauspreis-Einkommens-Relation
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Hohe Wohneigentumsquote in NL und UK nicht durch heutige Preisrelationen erklärbar
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UK (1999)
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USA
UK (2004)
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NL (2004)
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Quellen: empirica-Darstellung nach USA: US Census Bureau (total average income/ average house price), EU: Eurostat (Jahresnettoeinkommen) und National Agency for Enterprise and Housing (Haus-/Wohnungspreise), RDM (Hauspreise in Deutschland)
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Eine andere Zukunft
2.1 Ein Rückblick Man kann die Entwicklung der Wohnungsbautätigkeit mit wenigen Begriffen charakterisieren:
Nach dem Wiederaufbau kam es seit den 1960er Jahren bei rapide steigenden Einkommen, wachsender Zahl der Einwohner und Suburbanisierung zu einer bis in die 1990er Jahre anhaltenden hohen Bautätigkeit. Die mittleren Wohnflächen pro Kopf stiegen im Westen von gut 16 m² im Jahr 1960 bis auf
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über 42 m² im Jahr 2006. Sie werden aufgrund sinkender Haushaltsgrößen, infolge der Alterung3, aber auch wohlstandsbedingt weiter wachsen. Die Nachfrage hat sich ständig differenziert und auf größere, höherwertigere Wohnungen gerichtet. Das Angebot ist nachfragegerechter geworden. Hochhäuser am Stadtrand werden seit den 1970er Jahren nicht mehr gebaut. Dennoch bleibt die Vorliebe der Architekten und Planer für das große Mehrfamilienhaus bestehen. Der Mainstream des Städtebaus ist nicht familienfreundlich. Es kam im Verlauf der 1970er Jahre zu einer wirklich massiven Präferenzverschiebung zugunsten innerstädtischer, attraktiver Wohnungsbestände, die bis heute Bestand hat und zu einer weit verbreiteten, hoch subventionierten Gentrifizierung. Die Hälfte des Bauvolumens diente seit den 1970er Jahren der Aufwertung und Instandsetzung von Beständen – bei parallelen Neubaurekorden.4 Die Erfahrung einer gleichzeitig hohen Bautätigkeit „innen“ wie „außen“ bestätigte sich auch in den 1980er und zum Teil in den 1990er Jahren. Familien mit hohen und mittleren Einkommen streben noch immer überwiegend nach aufgelockerten, durchgrünten Wohngebieten mit einem hohen Anteil von Einfamilienhäusern oder zumindest selbst „kontrollierten“ Wohnbauten. Die Familien der Unterschichten wohnen konzentriert in innerstädtischen Altbauten mit geringem Wohnwert oder in Wiederaufbaugebieten aus der Nachkriegszeit in einer stabilen Segregation. Die Expansion der Wohnflächen je Einwohner bei gleichzeitig steigenden Büroflächen pro Beschäftigtem, steigenden Einzelhandelsflächen, Freizeitflächen und Gewerbeflächen musste genauso ständig steigende Siedlungsflächen zur Folge haben. Die Siedlungsfläche (ohne Verkehrsfläche) wächst schneller als die Bevölkerung und hat sich seit 1960 weit mehr als verdoppelt.
2.2 Märkte im Umbruch Auf verschiedenen regionalen Märkten, besonders extrem in Ostdeutschland, kam es in den 1990er Jahren erstmals zu Konstellationen, in denen die Nachfrage
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Ältere Menschen verbleiben in der Regel in den großen Familienwohnungen. In der ersten Hälfte der 1970er Jahre wurden allein in Westdeutschland jährlich über 550.000 Wohnungen neu gebaut.
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langsamer als das Angebot stieg, und Leerstand sich zunächst in schlechten Lagen, dann aber auch in günstigeren Beständen ausbreitete. Das Bild ist sehr differenziert: In den ökonomisch starken Stadtregionen steigt die Zahl der Haushalte in Ost und West auch künftig über längere Phasen noch weiter an. In den ostdeutschen Städten besteht dennoch ein hoher struktureller Leerstand. In ökonomisch starken westdeutschen Städten werden noch über längere Zeit keine strukturellen Veränderungen größeren Stils eintreten. Langfristig wird die Zahl der Haushalte allerdings fast überall sinken und zum Überangebot führen. Als Überraschung kam es trotz hoher und weiter wachsender Leerstände zu einer weiterhin beachtlichen Neubauproduktion. Die Leerstände konzentrieren sich meist auf wenig attraktive Standorte und Bauformen, der Neubau wird meist durch wohlhabende Haushalte mit hohen Ansprüchen finanziert, die im Bestand keine für sie adäquaten Wohnungen finden. Leerstand und parallele Neuproduktion werden zum gewohnten Bild.
2.3 Kernstadt, Umland – eine Kontroverse Voraussetzung einer Zuwanderung in Innenstadtbereiche ist Neubau, denn die Pro-Kopf-Wohnfläche steigt, sodass bei gegebenen Beständen die Bewohnerzahl sinkt. Größere brach fallende Gelände oder leer stehende Wohnungsbestände müssen wieder in Nutzung genommen oder abgerissen werden. Tatsächlich zeigt sich z.B., dass Bestände aus der Wiederaufbauphase der 1950er Jahre oder die ersten Stadterweiterungen nach dem Krieg gegenwärtig in Städten mit stagnierender oder schrumpfender Bevölkerung durch Leerstand und damit Abwanderung charakterisiert sind. Nachfrager, die innerstädtische Qualitäten suchen, erwarten lebendige Straßenräume, attraktive Architektur und hohe Abwechslung durch diverse Erdgeschossnutzungen. Abgelehnt werden Lärmbelastungen, sterile Architektur und damit Ereignisarmut. Gesucht werden Lagen mit günstigen Verkehrsverbindungen in die Kernstadtbereiche oder mit einer hohen Dienstleistungskonzentration.
2.4 Steuerung des Stadtumbaus Schwierigkeiten beim Stadtumbau ergeben sich überall dort, wo private Eigentümer ihre Grundstücke nicht selbst entwickeln wollen, aber auch nicht verkaufsbereit sind, weil sie hoffen, durch Abwarten höhere Preise erzielen zu kön-
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nen. Hinzu kommen die Belastungen aus dem Umfeld, die gerade bei industriellen Grundstücken sehr hoch sind. In jedem Fall bleibt die relative Attraktivität der peripheren Lagen des Umlandes für die Erfolgschancen innerstädtischer Entwicklungen genauso entscheidend wie das Preisgefälle zwischen Kernstadt und Umland. Solange in der Kernstadt sehr hohe Boden- und Immobilienpreise in einem regelrechten Preisgebirge bestehen, werden viele Nachfrager an den Abhängen dieses Gebirges gleichsam nach außen rutschen. Voraussetzung einer Innenstadtentwicklung ist deshalb die Überwindung oder Abflachung dieses traditionellen Preisgefälles, das u.a. auf entsprechende Unterschiede in der Knappheit an Bauboden zwischen Kernstadt und Umland zurückgeht. In einem vereinfachten mechanistischen Denken wird bei Rationierung aus grünen Motiven häufig angenommen, dass die Rationierung des Baulandangebots am Stadtrand die relative Attraktivität innerstädtischer Angebote vergrößert, weil die Preise in der Peripherie dann steigen. Tatsächlich verlagert sich der Neubau meist nur in das weitere Umland. Es entsteht keine Flächeneinsparung, sondern Überschwappeffekte mit noch höherer Flächeninanspruchnahme. Bisher gelingt es nicht, Bauland auf attraktiven Flächen in den Kernbereichen preiswerter zu machen.
2.5 Marktversagen in der schrumpfenden Stadt Es kommt immer wieder zu einem massiven Marktversagen, weil die Anbieter bebaubarer Grundstücke abwarten und ihre Flächen horten. Dies passiert ziemlich sicher, solange die erwarteten Wertsteigerungen steuerfrei und höher als der Nachsteuer-Zinssatz alternativer Anlagen sind. In der schrumpfenden Stadt gibt es kaum Preissteigerungen. Die Verkaufsbereitschaft ist dennoch gering, weil die Preis- und Subventionserwartungen noch positiv sind. Das Problem: Leer stehende Gebäude haben negative Ausstrahlungen auf benachbarte, bewohnte Gebäude und führen dort zu Wertminderungen. Eigentümer schädigen damit immer häufiger andere Eigentümer. Es gibt leider keinen Wettbewerbsmechanismus, der brachliegende Grundstücke wieder in eine Nutzung hineinkonkurrieren könnte. Boden ist ein ewig nutzbares Gut, für das keine Abschreibungen erwirtschaftet werden müssen und das keine Wiederbeschaffung erfordert. Die steuerlichen Abgaben für die Hortung sind gering. Leerstände bleiben so über lange Zeit bestehen. Dennoch besteht eine politische Scheu, solches Marktversagen zu unterbinden. Enteignungen zu den geltenden Ertragswerten, um die Flächen aufzuberei-
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ten und an Investoren zu veräußern, sind anders als in Großbritannien nicht möglich. Eine wirksame Alternative zur Enteignung wäre eine Steuer auf Brachflächen, die sich am Bodenwert orientiert. Eine entsprechende Grundsteuerreform stößt jedoch auf massiven Widerstand der Betroffenen. Sie würde die Funktionsweise der Boden- und Immobilienmärkte stärken, zu einem elastischeren Angebot führen und im Ergebnis Mieten und Immobilienpreise senken.
2.6 Stadtumbau: Boden subventionieren oder besteuern? Trotz der schlechten Erfahrungen wird vielfach gefordert, im Stadtumbau zur Wiedernutzung der Brachflächen oder zur Neunutzung leer gefallener Bestände Subventionen einzusetzen. Dies wäre kontraproduktiv, weil die Leerstände oft nur an andere, nicht subventionierte Standorte verlagert werden. Ein absolutes Überangebot kann nicht durch Subventionen überwunden werden. Hier müssen Wohnungen vom Markt genommen und – wo sie stören – auch abgerissen werden. Subventionsprogramme haben zudem die Nebenwirkung, dass sie in die Kalkulation der Verkaufspreis einfließen. Die Anbieter würden die Preise hochhalten oder sogar steigern. Effektiver sind Subventionen hingegen, wenn Eigentümer ihre Abrisse und Modernisierungen selbst organisieren. Die Märkte für Recyclinggrundstücke und darauf errichteter Objekte bleiben notorisch unvollkommen. Selbst wenn die Kommunen durch Aufbereitung und neue Infrastruktur eine Bebaubarkeit herbeiführen, bleiben für die Investoren vielfach hohe Vermarktungsrisiken. Bodeneigentümer sind oft nicht verkaufsbereit. Häufig bleiben negative Ausstrahlungen aus anderen unattraktiven Bereichen. Hier können Subventionen helfen – zur Verringerung von Startrisiken für Pionierinvestoren, die Märkte neu erschließen, bis sich neue Märkte an bisher stigmatisierten Standorten wieder etabliert haben. Solche Subventionen sollten im Wettbewerbsverfahren vergeben werden, um mögliche Preissteigerungseffekte zu unterdrücken. Das Schlüsselinstrument bleibt eine Grundsteuerreform mit einer höheren Belastung der Bodenwerte. In zahlreichen vergleichbaren Ländern ist die Grundsteuer die wichtigste kommunale Einnahmequelle (USA, Großbritannien). Solche höheren Belastungen – gerade auch von unbebautem Boden – würden die Grundstücke gleichsam in eine Nutzung hineinsteuern. Die Politik scheut aber zurück und befürchtet im klassischen partiellen Sozialstaatsdenken, dass höhere Grundsteuern zu höheren Mieten führen. Dabei würde ein höheres Grundstücksangebot eine Überwälzung der Steuern verhindern, wenn planerisch für zusätz-
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lich bebaubare Flächen auf dem jeweiligen regionalen Markt gesorgt wird. Ohne steuerlichen Antrieb sind Restrukturierungen träge oder zu teuer und damit kaum finanzierbar. Die weithin für wichtig gehaltenen Stadtumbauziele würden trotz eines hohen Aufwandes durch die öffentliche Hand nicht erreicht. Neben einer Reform der Grundsteuer ist ein ganzes Bündel von Maßnahmen erforderlich. Praktizierbar sind z.B. Lückensubventionen, die bezogen auf Rentabilitätsmodelle ermitteln, in welcher Höhe marktwirtschaftliche Investitionen finanzierbar sind und welcher Teil wegen einer bestehenden Ertragslücke aus Subventionen getragen werden muss. Lückensubventionen wären meist nur als Starthilfe bei größeren Projekten erforderlich. Sobald die Nachfrager sehen, dass sich neue Standortqualitäten bilden, können die Märkte „alleine weiterlaufen“. In guten, innerstädtischen Lagen wären auch eine Beseitigung von Leerständen mit hoher negativer Ausstrahlung rational. Dazu müssen Eigentümergruppen angeregt werden, gemeinsam zu handeln. Angesichts der Vielfalt der Konstellationen sind situationsbezogene Lösungen zu entwickeln. Wahrscheinlich wäre es günstig, Kommunen mit hohem Stadtumbaubedarf mittelfristige Zweckzuweisungen zu gewähren, die sie nach eigenem Sachverstand einsetzen. Ständige Evaluationen könnten eine Best Practice entwickeln helfen.
2.7 Familiengründung und Vermögensbildung erleichtern Es besteht ein Mangel an familiengerechten Wohnungen und Wohngegenden. Auch hier sind entsprechend der lokalen Bedingungen individuelle Förderungen sinnvoll. Die Erleichterung der Vermögensbildung in (innerstädtischen) Wohnungen, u.a. durch familienbezogene Förderung und Bereitstellung von Bauland, verhindert Suburbanisierung und fördert automatisch auch die Familiengründung. Denn Familien sind besonders dringlich auf die Unabhängigkeit durch Wohneigentum angewiesen. Für eine stärkere Förderung der Vermögensbildung spricht im Übrigen auch, dass Wohneigentum sich als besonders wirksames Instrument der Alterssicherung erwiesen hat. Die Sparquoten der Wohneigentümer sind hoch, ihre Wohnkosten im Alter niedrig. Nach Tilgung der Baukredite steigt das frei verfügbare Einkommen. Im Ruhestand kann die Immobilie beliehen oder veräußert werden. Mit dem Erlös kann eine kleinerer Wohnung oder ein lebenslanges Nießbrauchrecht erworben werden. Förderungswürdig ist auch die Neigung von Familien, dort hinzuziehen, wo schon viele Familien wohnen. Denn Familien können sich vielfältig gegenseitig
VIII. Unstillbarer Subventionshunger, regulierte Angebotsentwicklung
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unterstützen und helfen. Solche Konzentrationen von Familien, die ohne Förderung zustande kamen, kann man am Markt häufiger beobachten. Sie zeigen einen Bedarf. Der Abbau von Hindernissen dürfte sich als erfolgreich erweisen.
2.8 Neue Chancen für Bauherren Wohnungen wurden in Deutschland oft an der Nachfrage vorbei produziert. Baugruppen können hier helfen. Sie beziehen keine Häuser von der Stange der Bauträger, sondern realisieren mit Gleichgesinnten und selbst angeheuerten Architekten Projekte, die ihren Bedürfnissen entsprechen. Die Kommunen könnten durch eine katalytische Politik die Marktanteile solcher Gruppen steigern helfen. Damit würden allmählich Standards eines nachfragegerechten Städtebaus sichtbar, die auf den Gesamtmarkt ausstrahlen dürften. Über die unmittelbare statistische Relevanz hinaus werden sie durch die Demonstrationseffekte eine fruchtbare Diskussion anregen und auf die Profis zurückwirken. Natürlich darf hier keine Entwicklung eingeleitet werden, bei der kleine elitäre Gruppen einem totalen Bausubjektivismus huldigen. Die Stadtplanung muss weiterhin für eine in sich stimmige und kohärente Stadtentwicklung kämpfen.
2.9 Ökologische Rationierung von Bauland Politisch wird immer wieder die Forderung gestellt, die Gesamtmenge der zusätzlich in Anspruch genommenen Siedlungsflächen absolut zu begrenzen und durch einen Zuteilungsmechanismus auf die einzelnen Kommunen zu verteilen (als bürokratischer Akt oder durch marktwirtschaftliche Versteigerung). Die künstliche Verknappung des Baulandangebots würde jedoch zu heftig steigenden Immobilienpreisen und Mieten führen, denn ein Ausweichen in Lagen außerhalb der Stadtregionen wäre nicht mehr möglich. Holland hat die Vermögensumschichtung durch Baulandrationierung und hohe Preissteigerungen seit den 1990er Jahren erlebt. Innerhalb von sechs Jahren erhöhten sich die Werte der Eigenheime in der Summe um ein jährliches BIP. Es gelang nicht, die durch Verknappung von Bauland verursachte Vermögensumschichtung politisch zu kompensieren. Entsprechend der Preissteigerung im Neubau käme es auch zu Mietund Preissteigerungen bei Bestandsimmobilien. Nutznießer einer ökologisch motivierten Rationierungspolitik wären Alteigentümer. Besonders problematisch wären die Wertsteigerungen zugunsten älte-
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rer Eigenheime, die in der Regel von Rentnern bewohnt sind. Denn gleichzeitig müssten junge Familien die hohen Neubaupreise entrichten und wären zu einem erheblichen Teil von der Eigentumsbildung ausgeschlossen. Solche verteilungspolitischen Ergebnisse wären unerträglich. Eine hohe Steuer auf Immobilienwerte könnte die Verteilungseffekte neutralisieren, dürfte jedoch nicht durchsetzbar sein. Wir erleben ein massives Demokratieversagen. Eine Mehrheit der Bevölkerung will das Kollektivgut Natur schützen und verschafft sich dadurch massive Vermögensgewinne. Die jüngeren Haushalte müssten die Verknappung durch Einschränkungen ausbaden. Diese Problematik wurde in der bisherigen politischen Diskussion völlig ausgeblendet.
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Ein Fazit
Die Besonderheiten des Wohnungsmarktes haben seit den großen Wellen der Verstädterung im 19. Jahrhundert zu der Befürchtung geführt, dass Wohnungsmärkte nicht funktionsfähig seien. Deshalb sahen sich Wohnungspolitik und Stadtplanung gerechtfertigt, Märkte in weiten Bereichen durch andere Steuerungen nach anderen Prinzipien zu ersetzen. Das erforderte hohe Subventionen, hat jedoch die Effektivität des Produktionssystems und die Funktionsweise der Märkte reduziert. Die großen Subventionsprogramme haben über lange Zeit das Wissen um die Nachfrage und die Bereitschaft reduziert, den Wünschen der Nachfrager zu folgen. Es wurden vielfach die falschen Wohnungen zu teuer gebaut. Die planerischen Vorgaben des Bauens haben zu einem einseitigen, wenig familienfreundlichen Wohnungsbestand geführt. Die sozialen Motive garantierten keine sozialen Ergebnisse des Bauens, wie man vor allem an den Hochhaussiedlungen des sozialen Wohnungsbaus sehen kann. Für relativ arme Mieter wurden in der Bewirtschaftung sehr teure Wohnungen gebaut, die noch dazu eine geringe wirtschaftliche „Lebenserwartung“ haben. Wir stehen jetzt am Anfang eines sich über Jahrzehnte hinziehenden Stadtumbaus, in dem Brachflächen und untergenutzte Flächen wieder genutzt werden müssen. Langfristig geht die Zahl der Haushalte zurück. Es werden dennoch weiter Wohnungen gebaut, weil anspruchsvolle Nachfrager im Bestand nicht die Wohnungen finden, die sie sich vorstellen, und weil vor allem durch die Alterung die Wohnflächen je Einwohner steigen. Es besteht das Risiko einer neuen Welle ineffektiver Subventionen – die neuen Überschriften lauten: altengerecht, familiengerecht und energieeffizient. Besonders groß ist das Risiko, dass auf ineffizienten Bodenmärkten nicht investitionswillige Alteigentümer, deren leere
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Gebäude in der Nachbarschaft Wertminderungen erzeugen, durch Horten hohe Preise auf subventionierten Märkten erzielen. Jetzt kommt es darauf an, den Wettbewerb am Boden- und Wohnungsmarkt zu stärken. Wichtigstes Instrument wäre eine höhere Grundsteuer – vor allem auf die Verkehrswerte des Bodens. Dies würde die Märkte anregen, insbesondere das Bodenangebot ausweiten. Die Kommunen erhielten eine leistungsfähige Einnahmequelle, die Einkommensteuer könnte reduziert werden. In jeder Stadt gibt es in großem Umfang beplanten und erschlossenen Boden, der vom Markt zurückgehalten wird. Hier würde das Angebot steigen. Aufgabe der Kommunen bleibt es, für preiswertes Bauland vermehrt auf Recyclingflächen zu sorgen, damit der Anbieterwettbewerb zu preiswerten Lösungen führt. Eine Rationierung von Bauland mit der Folge der Einschränkung des Wettbewerbs und der Vermögensgewinne der Alteigentümer ist verteilungspolitisch nicht zu vertreten und würde die Funktionsweise der Märkte auch in der Zukunft unnötig unsozial machen.
IX. Familienpolitik – weniger Ungleichheit, mehr Geburten IX. Familienpolitik – weniger Ungleichheit, mehr Geburten
Ulrich Pfeiffer
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Familien heute
Über die Bedeutung der Familie muss man nicht viele Worte machen. In den Familien schaffen Eltern mit ihren Kindern eine eigene Welt, meist getragen von lebenslanger gegenseitiger Liebe, Fürsorge und Verantwortung. In den Familien lernen wir die Welt kennen und sich in ihr zu bewegen. Wir wachsen hinein in die kulturellen Traditionen und Werte unserer Gesellschaft, erlernen Empfindungen und die Fähigkeit Lebensaufgaben zu bewältigen. Die Eltern werden dabei von Schulen und Kindergärten und ihrer Umwelt insgesamt unterstützt. Allerdings gibt es auch erschwerende Einflüsse, so z.B. die Konkurrenz durch die elektronischen Zerstreuungsmedien.
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Armut an Geburten – Die sichtbarste Krise der Familie
Kinder werden geboren, weil das Wunder der Geburt und das Heranwachsen eines Babys vom schreienden Winzling zum erwachsenen Menschen zu den beglückensten und befriedigensten Erlebnissen im Leben zählen. Familien sind nicht nur Emotions-, sondern auch Wertschöpfungsgemeinschaften bei hohem und steigendem Outsourcing von Leistungen – auf Kinderkrippen, Kindergärten, Schulen, Ärzte, Krankenhäuser, Supermärkte, Änderungsschneidereien, Restaurants, Reinigungen und viele andere Anbieter. Hinzu kamen die arbeitsparenden und entlastenden Haushaltsmaschinen. Der Übergang vom Waschbrett zur Waschmaschine mit Trockner wirkte wahrscheinlich emanzipierender als viele Sozialprogramme. Im Gegensatz zum abnehmenden Zeitaufwand für Haushaltstätigkeiten hat der Zeitaufwand für die Betreuung und Erziehung der Kinder
IX. Familienpolitik – weniger Ungleichheit, mehr Geburten
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ständig und drastisch zugenommen. Eltern, vor allem mit kleinen Kindern, leben mit ständiger Zeitknappheit. Die Gründung einer Familie heute ist nicht zuletzt wegen der Leistungen des Sozialstaats kaum mehr Investitionsentscheidung zur Alters- und Lebenssicherung. Eltern wollen heute Kinder eher als individualistische Selbstverwirklichung. Dem steht die Selbstverwirklichung im Konsum- und Berufsleben in einem ständigen Zielkonflikt entgegen. Allerdings bekommen Paare Kinder immer auch „wegen anderer Leute“. Doch diese Einbettung ist im individualistischen Deutschland stärker in den Hintergrund getreten. Die seit fast 40 Jahren parallel zum Rückgang der Geburten entstandene Rekord an Kinderlosigkeit ist kein Stigma mehr und wird nicht selten als eine besondere Form modernen Lebens demonstriert. Folgenlose Kinderlosigkeit interpretiert als Zeichen von Modernität zeugt von erheblicher Verwirrung und Realitätsverlust. Die deutsche Geburtenkrise erleben wir nunmehr seit Beginn der 1970er Jahre. Die tatsächlichen jährlichen Geburtenziffern von 1,3-1,4 je Frau – die der rein deutschen Paare ist noch geringer – werden der Gesellschaft künftig belastende Anpassungen abverlangen. Die Kinderlosigkeit scheint sich bei mindestens 20 % einzupendeln (Akademikerinnen 28 %). Eine im Niveau höhere Kinderlosigkeit hoch qualifizierter Frauen und Männer bringt einen Bruch mit historischen Traditionen, denn in allen vorindustriellen Gesellschaften hatten die Reichen regelmäßig mehr Kinder als die Armen, weil ihre Kinder eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit hatten. Heute bringt hohes Einkommen oder hoher Bildungstand eher Armut an Kindern hervor, weil die Konkurrenz anderer Ziele zu stark geworden ist – ein für die Gesellschaft ziemlich absurdes Ergebnis. Eine geburtensteigernde Familienpolitik, die immer auch versuchen muss, die Benachteiligungen gegenüber den Kinderlosen auszugleichen, wird gezielt erst seit einigen Jahren versucht.1 Ähnlich wie bei der Bekämpfung der Arbeitslo-
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Frühere Phasen des Geburtenrückgangs waren in ihren Stimmungen „anders eingefärbt“. So wurde der erste Sterbeüberschuss in Frankreich im Jahre 1891 als Teil einer nationalen Vitalitätskrise erlebt, auch als Krise französischer Männlichkeit – ganz im Gegensatz zur vitalen demographisch und ökonomisch-technisch rasch wachsenden deutschen Siegermacht nach dem Krieg 1871. Die niedrigen Geburtenraten in der Weltwirtschaftskrise zu Beginn der 1930er Jahre des letzten Jahrhunderts waren demgegenüber weithin Folge der Wirtschaftskrise nach 1929. Hier sind die unterschiedlichen politischen Antworten bemerkenswert. Die nationalistische ökonomisch optimistische Nazivariante war dabei in den kurzfristigen Geburtenergebnissen besonders erfolgreich, obwohl eine den ökonomisch-gesellschaftlichen Verhältnissen angemessene Frauenrolle systematisch vermieden oder sogar zurückgedrängt wurde. Die schwedi-
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sigkeit standen ihr konservative oder auch emanzipatorische Vorstellungen entgegen. Auch die weiter wachsenden Einkommen verschärften unter modernen Lebensbedingungen eine lange Zeit nicht verstandene Konkurrenz zwischen Kinderwünschen und anderen Bedürfnissen durch das Medium der Zeitknappheit. Wachsender Konsum stellt wachsende Zeitansprüche. Höheres Einkommen macht heute in gewissen Einkommensbereichen eher kinderarm.2 Auch der Aufstieg des Sozialstaats, der u.a. sicherstellt, dass notfalls die Kinder der anderen im Alter Renten- und Gesundheits- oder Pflegeleistungen erwirtschaften, hat zum Geburtenrückgang beigetragen (Cigno et al. 2000). Die sozialen Sicherungssysteme belasten sich gleichsam selbst (Ehrlich & Kim 2005). Deutschland stellte in Europa gleich mehrere familien- oder mütterfeindliche Rekorde auf: die längsten Ausbildungszeiten für Akademiker, die teuersten Eigenheime, den höchsten Anteil, an kleinen Geschosswohnungen in großen oft nicht geliebten Gebäuden. Die wachsende Zeitknappheit, insbesondere von hoch qualifizierten Eltern, ist im Übrigen ein weltweites Phänomen.3
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sche wohlfahrtsstaatliche Variante fand eine rationale Antwort. In Schweden schrieb Gunnar Myrdal 1934 ein berühmt gewordenes Buch zur Familienpolitik („Kris i befolkningsfrågan“/„Crisis in the Population Question“), in dem er die Gefährdungen des Sozialstaats durch niedrige Geburtenraten darstellte und eine Familienpolitik als Ausdruck nationaler Solidarität für alle Familien – auch die wohlhabenden – forderte. 1935 postulierte eine Kommission eine Verantwortung der Gesellschaft bei der Erziehung der Kinder als Grundlage für eine Familienpolitik. Familienpolitik sollte mehr sein als reine Sozialpolitik, nämlich eine allgemeine Gleichstellungspolitik zugunsten der Eltern vor allem durch zeitentlastende Dienstleistungen – bis heute schwedisches Markenzeichen – als Voraussetzung deutlich höherer Geburtenraten als in Deutschland. In der Frühphase der Diskussion über die niedrigen Geburten in den 1970er Jahren begegnete man dem ständigen von Unverständnis geprägten Abwehrargument gegen Familienförderung: „Wir haben unsere Kinder doch mit viel geringeren Einkommen großgezogen.“ Eine Auswertung verschiedener Zeitverwendungsstudien in den USA macht deutlich, dass die wöchentlichen Arbeitszeiten der untersten Ausbildungsgruppen von 1965 bis 2003 von 51 auf 33 Stunden zurückgingen. Bei den Akademikern gingen sie von 49 auf rund 45 Stunden zurück. Bei den hoch qualifizierten Frauen stieg die Erwerbsarbeitszeit von rund 27 auf 31 Stunden. Die niedrig qualifizierten Frauen sanken von etwa 18 auf 15 Stunden pro Woche. Die Freizeit bei niedrig qualifizierten Männern stieg von 100 auf 116 Stunden pro Woche. Bei den Hochqualifizierten blieb sie mit 101 (Frauen 103) Stunden zwischen 1965 und 2003 nahezu konstant. Hochqualifizierte sind in den fast 40 Jahren vor allem relativ zeitärmer geworden. Für Eltern gilt dies noch weit ausgeprägter (Aguiar & Hurst 2007).
IX. Familienpolitik – weniger Ungleichheit, mehr Geburten
Abbildung 1:
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Kinderzahl nach Bildung (Frauen der Geburtenjahrgänge 1933-1968)
45% Niedrige Bildung
Mittlere Bildung
Hohe Bildung
40% 35% 30% 25% 20% 15% 10% 5% 0% ohne Kinder
1 Kind
2 Kinder
3 und mehr Kinder
Anmerkung: Hohe Bildung = Akademischer Abschluss oder Fachhochschulabschluss, Mittlere Bildung = Berufsqualifizierender Abschluss oder (Fach)Abitur, Niedrige Bildung = Alle übrigen Abschlüsse. Quelle: empirica-Darstellung nach Statistisches Bundesamt 2009
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Eine rationale Familienpolitik
3.1 Einige Grundsätze In einer demokratischen Gesellschaft kommt es zunächst darauf an, den Menschen zu helfen, ihr Glück nach ihren Vorstellungen zu suchen und zu finden. Gesellschaften, in denen gut ein Fünftel der Menschen kinderlos bleibt, leiden an massiven inneren Widersprüchen. Massenhafte Kinderlosigkeit wurde ohne den Versuch einer realen Verpflichtung zur eigenen zusätzlichen privaten Alterssicherung hingenommen. Die sich oft besonders emanzipiert gebärdende trotzige Position: „Ich brauche keine Kinder“ wird damit schmarotzerhaft. Für die Gesellschaft sind Kinder unverändert die wichtigste Investition in die Zukunft. Durch
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Kinderwünsche baut sich die Gesellschaft selbst in die Zukunft hinein. Dabei muss Familienpolitik auch erreichen, die besonders niedrigen Geburten bei hoch qualifizierten Paaren zu steigern. Grundsätze einer modernen Familienpolitik wurden in umfassender Weise vor etwa 75 Jahren für Schweden von einer schwedischen Bevölkerungskommission in einem Gutachten formuliert. Hintergrund war der drastische Geburtenrückgang nach der Weltwirtschaftskrise 1929. Gestützt auf Positionen, die der junge Gunnar Myrdal formulierte, wurde die Sorge um das Wohl der Kinder erstmals systematisch als eine gesellschaftspolitische Aufgabe unabhängig vom Einkommen der Eltern angesehen. Es sollten mehr Aufwendungen für den Lebensunterhalt der Kinder sozialisiert werden. Familienpolitik als reine Sozialpolitik oder Armenpolitik wurde in Schweden früh erweitert in Richtung auf eine Gleichheitspolitik zugunsten der Eltern im Vergleich zu Kinderlosen und eine allgemeine Politik zugunsten gleicher Chancen zur Familiengründung für Paare aller Sozialschichten und möglichst gleicher Lebenschancen für die Kinder aller Sozialschichten (Myrdal 1940, Reprint 19624). Deutschland hinkte bis in die jüngste Vergangenheit in solchen Aufklärungsprozessen hinterher. In der Rentendebatte, Familien- oder Gesundheitspolitik werden immer wieder nordische Länder als Beispiel zitiert. Die dort immer wieder beobachtbare Nüchternheit oder Vorurteilslosigkeit in Analysen, aus denen dann tatsächlich politische Folgerungen gezogen werden, wird jedoch meist in Deutschland abgelehnt. Die in den Inhalten sehr ähnlichen familienpolitischen Reformen in Frankreich und Schweden haben dort zu befriedigenden Geburtenraten geführt. Demgegenüber ist eine Balance zwischen den Erfordernissen der Gesellschaft und den Ansprüchen der einzelnen Familien in Deutschland noch nicht gefunden. Familienpolitik kann konzeptionell verschieden geprägt sein:
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Eine Sozialpolitik will vor allem Kinderarmut verhindern. Schlüsselinstrument ist das Kindergeld. Familienpolitik als Gleichheitspolitik zugunsten der Eltern will diese zeitlich und materiell entlasten und sie dadurch auch gegenüber Kinderlosen in ihrer Lebensführung möglichst gleichstellen. Dadurch könnten natürlich auch bisher unrealisierte Kinderwünsche leichter verwirklicht werden.
Der Text enthält eine zusammenfassende Darstellung der familienpolitischen Umwälzungen in den 1930er Jahren, deren Umsetzung allerdings durch den Krieg verzögert wurde.
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Familienpolitik als Geburtenpolitik will ergänzend die Geburtenrate vor allem durch bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf gezielt erhöhen. Schließlich gibt es eine Vielzahl von familienfreundlichen Regulierungen oder eine Praxis (z.B. Work-Life-Balance) bei öffentlich gestützten Wertungen, die auf die Menschen direkt einwirken und die Gesellschaft insgesamt familienfreundlicher machen wollen.
3.2 Familienpolitik als Sozialpolitik für Kinder unzureichend – wichtige Erweiterungen und ihre Grenzen Die Familienpolitik in Deutschland war lange Zeit eingeklemmt zwischen nicht gerade familienfreundlichen linken Emanzipationsforderungen oder fast schon dogmatisch konservativer Scheu, sich in so personenzentrale Entscheidungen wie die Geburtenplanung oder die Erwerbstätigkeit der Mütter einzumischen. Als „Kompromiss“ wurde der Lebensstandard der Familien durch das seit den 1970er Jahren pauschal ausgeweitete Kindergeld in einer sozialpolitischen Motivation insgesamt gestützt (Kindergeld heute: 1. und 2. Kind jeweils 164 €, 3. Kind 170 €, jedes weitere Kind 195 €). Gleiches Kindergeld senkt automatisch die relativen Einkommensbelastungen der Kindererziehung für einkommensschwächere Haushalte stärker als für Eltern mit hohen Einkommen und hohen Kinderkosten und war damit für hoch qualifizierte Eltern weniger effektiv. Die Wirkungen verdeutlicht Abbildung 2. Kinder von Höherverdienern sind „teurer“, das Kindergeld ist aber gleich hoch. Hinzu kommt, dass Höherqualifizierte eher Einkommenseinbußen durch Elternzeit u.Ä. erleiden. Im Ergebnis sinkt das Konsumpotenzial des Höherverdieners in einem noch sehr moderat ausgewählten Beispiel auf 59 % im Vergleich zum kinderlosen Akademiker, das Konsumpotenzial des Facharbeiters erreicht dagegen noch 66 % des kinderlosen Arbeiterhaushaltes. Deutlich größer sind die Unterschiede zu Kinderlosen bei großen Familien und bei noch höheren Einkommen. Definitionen: Konsumpotenzial ist das Resteinkommen nach Abzug von Steuern und Abgaben, Kinderkosten und Wohnkosten zuzüglich der direkten Unterstützungen für die Kinder. Das Konsumpotenzial wird aus der Sicht der Eltern ermittelt. Es zeigt das persönliche Resteinkommen der Eltern. Direkte Kinderkosten (= Ausgaben für Kinder) sind proportional zum verfügbaren
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Einkommen,5 indirekte Kinderkosten reflektieren die verminderten Karrierechancen infolge der Reduzierung des Erwerbsumfangs in den ersten Jahren nach der Geburt der Kinder. Abbildung 2:
Konsumpozenzial der Eltern im Vergleich zu Kinderlosen bei unterschiedlichen Einkommensniveaus
4.000
indirekte Kinderkosten (Einkommensverlust) direkte Kinderkosten (Ausgaben für Kinder)
3.500
Erhöhung Konsumpotenzial Eltern durch KiG/ErzG Konsumpotenzial (ohne KiG/ErzG)
Konsumpotenzial in €/Monat
3.000 2.500 2.000 1.500 1.000 500 0 2 Kinder
kinderlos
2 Kinder
Akademikerhaushalt
kinderlos Arbeiterhaushalt
Quelle: empirica-Simulationsprogramm ‹Lebensökonomie›
Zeitliche Unterstützungsleistungen insbesondere Kinderkrippen widersprachen konservativen Familienidealen. Das neue Konzept der Bundesregierung, nach der Zahl der Kindergartenplätze künftig auch die Zahl der Krippenplätze auszuweiten oder die Ganztagsschulen zu vermehren, will die bisher unterschätzte Zeitarmut reduzieren.6
5
6
Die Kinderkosten betragen (0,1997*ln(K)+0,1666)*y, mit K = Anzahl Kinder und y = verfügbares Einkommen. Damit summieren sich die Kinderkosten auf 16,7 % des verfügbaren Einkommens bei einem und auf 30,5 % bei zwei Kindern (vgl. Hufnagel, R. (2002): Die Kosten von Kindern und die Kosten einer egalitären Partnerschaft. In: Vierteljahrhefter zur Wirtschaftsförderung. 71, Nr. 1, S. 122). Bis 2013 sollen vermehrt Krippen- und Kindergartenplätze oder Ganztagsschulen geschaffen werden. Ziel ist es, für jedes dritte Kind unter drei Jahren einen Krippen- oder Tagespflegeplatz bereitzustellen. Dafür sollen insgesamt ca. 750.000 neue Betreuungsplätze entstehen. Die Kosten dafür werden auf ca. 12 Mrd. € geschätzt.
IX. Familienpolitik – weniger Ungleichheit, mehr Geburten
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Als ergänzendes Instrument soll künftig das Elterngeld berufstätige Eltern in der Stressphase nach der Geburt eines Kindes entlasten. Die Familienorientierung der Männer wird angeregt.7 Die Geburteneffekte werden erst später beurteilbar. Familienpolitik wird auch künftig in Schritten weiterentwickelt werden müssen. Vor allem das System der Kinderbetreuung, das in Frankreich auf extrem hohe Akzeptanz stößt und sozial anerkannt wird, muss ausgebaut werden und an Sozialprestige gewinnen. Auf Dauer müssen Eltern – insbesondere mit drei und mehr Kindern – immer noch zu hohe Einkommensnachteile hinnehmen. Es ist irreführend, darauf zu verweisen, dass Eltern mit höheren Einkommen, die Aufwendungen für Kinder leichter tragen können, um dementsprechend progressive Entlastungen abzulehnen. Diese sozialen Argumente verdrängen, dass auch Eltern mit höheren Einkommen und dementsprechend höheren Aufwendungen für Kinder im Vergleich zur Mehrheit der Kinderlosen einen relativen Verarmungseffekt hinnehmen müssen. Geburtenpolitik ist keine Sozialpolitik. Eine Entlastung durch höhere Freibeträge in der Einkommensteuer8 statt mehr Kindergeld würde mit der Progression zunehmen. Doch dann wären die Kinder der Reichen – so die Kritik – dem Staat angeblich „mehr wert als die Kinder der Armen“. Diese Argumentation übersieht, dass die für Kinder mit dem Einkommen steigenden Konsumausgaben den Eltern nicht mehr als persönliches Einkommen zur Verfügung stehen. Ihre Leistungsfähigkeit sinkt, was die Freibeträge einschließlich ihrer progressiven Entlastungswirkung rechtfertigt. Die gegenwärtigen Freibeträge führen nur bei Minderheiten mit hohen Einkommen im Vergleich zum sozialpolitisch motivierten Kindergeld zu einer zusätzlichen, aber gemessen am Aufwand unzureichenden Entlastung.9 Das Familiensplitting in Frankreich wirkt hier stärker zugunsten großer Familien.
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Elterngeld wird 12 Monate gezahlt. Wenn beide Partner Elterngeld in Anspruch nehmen, verlängert sich der Bezugszeitraum um zwei weitere Monate. Die Mindestsumme liegt bei 300 € je Monat. Wenn in den 12 Monaten vor der Geburt ein Arbeitsverhältnis bestand, werden mindestens 67 % des vorigen Nettoeinkommens gezahlt, maximal aber 1.800 €. Kinderfreibeträge für Paare: 6.024 € bei einem Kind, 12.048 € zwei Kinder und 18.072 € bei drei Kindern. Auch das Elterngeld wird kritisiert, weil es mit steigendem Einkommen bis zu einem Höchstbetrag von 1.800 € wächst. Wimbauer et al. (2008: 20) schreiben: „Das 2007 eingeführte Elterngeld ist vor allem attraktiv für Gut- und Besserverdienende. Verlierer sind Eltern mit kleinen Einkommen. Sie bekommen bei der Geburt eines Kindes heute weniger Geld vom Staat als zu Zeiten des alten Erziehungsgeldes. (...) Nicht mehr die Be-
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Überlegungen zur Weiterentwicklung der Familienpolitik In der Zeit stand am 19.02.2009 in einem Leitartikel: „Die Zahl der Geburten steigt. 12.000 Kinder mehr als im Jahr 2006 kamen in Deutschland 2007 zur Welt. 2008 waren es etwa 16.000 Kinder mehr als 2006. Das ist kein Mikrotrend, das ist eine schwungvolle Trendumkehr. Das neue Elterngeld (in Kraft seit dem 1. Januar 2007) hat zwei Dinge bewirkt: Berufstätigen Frauen (und nahezu alle 30-jährigen Frauen, die eventuell Mutter werden wollen, sind berufstätig) macht es die Entscheidung leichter, für ein Elternjahr aus ihrem Job auszusteigen – ohne dramatischen Einkommensverlust. (…) Immer noch gibt es Genörgel, zwei kümmerliche Monate seien kein richtiges Engagement. Abwarten! 73 Prozent der 15- bis 42-jährigen Männer wünschen sich laut Allensbach-Familienmonitor 2008 eine Ausweitung der Vätermonate. Mehr kinderlose Männer als je zuvor würden gern eine Familie gründen. Zwei Drittel der Bevölkerung beobachten in ihrem privaten Umfeld ein verändertes Fürsorgeverhalten moderner Väter – und fast ebenso viele finden das gut. Wenn irgendwo in dieser Gesellschaft etwas gewaltig in Bewegung ist, dann bei den Vätern.“ Diese euphorische Wertung müsste sich künftig erst noch bestätigen. Skepsis bleibt angebracht, denn fest eingewurzelt sind die bisherigen Verhaltensweisen.
4.1 Unterschiede in der Häufigkeit der Kinderzahl als Ausgangspunkt für familienpolitische Überlegungen Fast 40 Jahre zu niedrige Geburtenziffern zeugen von einer tief sitzenden gesellschaftlichen Prägung. Hier haben sich gesellschaftliche Gewohnheiten und Normen gebildet, die nur schwer mit einzelnen speziellen Instrumenten verändert werden können. In allgemeinen Meinungsumfragen werden allerdings auch sehr familienfreundliche Einstellungen artikuliert. Es muss offen bleiben, ob hier eine
dürftigkeit entscheidet über staatliche Zuwendungen, sondern die bisher erbrachte Leistung auf dem Arbeitsmarkt.“ Diese kritischen Anmerkungen gehen von der kaum haltbaren Prämisse aus, dass alle familienpolitischen Maßnahmen einen Umverteilungseffekt haben sollten. Es wird verdrängt, dass mit dem Elterngeld auch ein Paradigmenwechsel in der Familienpolitik verstärkt wurde. Nicht der soziale Ausgleich, sondern der Geburtenanreiz steht hier im Vordergrund.
IX. Familienpolitik – weniger Ungleichheit, mehr Geburten
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Art offizielle Meinung mitspielt oder ob wirklich verhaltensprägende Wertungen und Lebenspläne artikuliert werden. Für die Familienpolitik von hoher Relevanz sind die Unterschiede der Verteilung der Kinderhäufigkeit zwischen verschiedenen Ländern. So war in Frankreich die Quote der kinderlosen Frauen seit langem mit 10-12 % weit geringer als in Deutschland, wo sie nach einer gesonderten Erhebung des Statistischen Bundesamtes (2009) für die Altersgruppen der 40- bis 44-Jährigen bei etwa 21 % lagen und bei den Altersgruppen der 35- bis 39-Jährigen mit noch nicht abgeschlossener Fertilitätsperiode bei 26 %. (Akademikerinnen 38 %). Dabei stieg die Kinderlosigkeit schon seit langem. Die Zahl der Zweikinderfamilien ist auf knapp unter 40 % gesunken, die Zahl der Dreikinderfamilien dürfte 15 % kaum übersteigen. Etwa 25 % sind Einkindfamilien. Die Tabelle ergibt dann eine Gesamtgeburtenzahl pro Frau über den gesamten Lebenszyklus von unter 1,5. Abbildung 3:
Anteil der Frauen mit und ohne Kinder an allen Frauen der entsprechenden Jahrgänge, Deutschland 2006 Familienbildung noch nicht abgeschlossen
Anmerkung: Bei den Altersgruppen 35-39 Jahre war zum Erhebungszeitpunkt 2006 die Familienbildung noch nicht abgeschlossen; die Quote ist daher noch absinkend. Quelle: Statistisches Bundesamt 2008: 17
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Tabelle 1:
Anteil der Frauen aus den Kohorten 1950 und 1970 nach Kinderzahl ohne Kinder
1 Kind
2 Kinder
3 oder mehr Kinder
Kohorte 1970 Kohorte 1950
12% 10%
18% 21%
41% 38%
29% 31%
Kohorte 1970 Kohorte 1950
13% 13%
15% 16%
k.A. 43%
k.A. 28%
Kohorte 1967-71 Kohorte 1947-51
25% 15%
24% 27%
37% 41%
14% 17%
Frankreich
Schweden
Deutschland
Quelle: empirica-Darstellung nach Statistisches Bundesamt; Toulemon et al.; Oláh & Bernhardt (alle 2008)
Demgegenüber war in Frankreich und Schweden der Anteil Kinderloser geringer. Der Anteil großer Familien mit drei und mehr Kindern war deutlich höher. Die gesellschaftlich bedingte Kinderlosigkeit ist damit in Deutschland extrem hoch, wenn man in allen Ländern eine ähnlich hohe Kinderlosigkeit aus biologischen Ursachen unterstellt. Es gibt in Deutschland offensichtlich schwer beeinflussbare Wertungen und Lebensentwürfe ohne Kinder oder auch zahlreiche Berufskarrieren von Frauen, die mit der Mutterrolle nicht vereinbar sind oder als nicht vereinbar gelten. Das hat viele Gründe. Unterschätzt wurden die überlangen Ausbildungszeiten. Sie verlagern den Start in den Beruf oder eine Familiengründung in späte Lebensphasen und reduzieren vor allem die Familienfähigkeit der Frauen. Frauen geraten – typischerweise nach gescheiterter kinderloser Partnerschaft – anders als Männer, die Familien auch deutlich später gründen können, häufiger in einen Zeitengpass. Männer können es sich länger leisten, ihre Risikogefühle gegenüber einer Familiengründung zu kultivieren. Frauen rutschen dann häufiger in ungewollte Kinderlosigkeit.10 Im Vergleich zu anderen Ländern dürften die zeitlichen Beanspruchungen vor allem von Hochqualifizierten besonders hoch sein. Work-Life-Balance ist wirklich keine deutsche Erfindung und stößt (noch) nicht auf große Resonanz.
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Es ist unerklärlich, warum in der öffentlichen Diskussion die Verantwortung der Männer bei der Entscheidung für Kinder weit weniger gewichtet wird als die der Frauen. Das reicht bis in die statistische Berichterstattung.
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4.2 Eine speziellere Familienpolitik für große Familien? Politik und Gesellschaft müssen akzeptieren, dass eine große Minderheit keine Kinder oder nur ein Kind haben will. Allerdings ließe sich politisch rechtfertigen, neben den laufenden Einkommensentlastungen Kinderlosen als Kompensation für die gesparten Kinderkosten höhere finanzielle Leistungen für die eigene Alterssicherung zuzumuten. Kinderreichen könnte als Kompensation für die materielle Alterssicherung der nächsten Generation aus Steuermitteln eine zusätzliche Alterssicherung finanziert werden. Immerhin sinkt der Lebensstandard der Eltern meist über mehr als zwei Jahrzehnte deutlich ab. Bisher hat die Politik den Kinderlosen kompensierende Leistungen nicht zugemutet. Es fehlt eine verbindliche oder verpflichtende Ziviltheologie, die verdeutlicht, in welchen Formen und in welchem Umfang Eigenverantwortung unverzichtbar bleibt, um Solidarität nicht zu überfordern. Eine Verringerung der Zahl der Kinderlosen kann kaum durch gezielte Instrumente, etwa durch eine einmalige Familiengründungsprämie, gefördert werden. Wirksam wären eher allgemeine familienpolitische Maßnahmen – nachhaltige und flexible zeitliche Entlastungen durch weiteren Ausbau von Kinderkrippen und Kindergärten und durch deutlichere Unterstützung privater selbst organisierter Lösungen vor allem bei großen Familien. Günstig wären auch ein früherer Schulbeginn (mit 5 Jahren) und kürzere Ausbildungszeiten, Abschaffung der Wehrpflicht, flexiblere Arbeitsmärkte, die es vor allem den Müttern und Vätern leichter machen, ihre Kinderwünsche nach persönlichen Zeitplanungen und weniger nach den Zwängen der Berufskarriere zu realisieren. Kinder sollten früher eingeplant werden können. Allein ein „Tempoeffekt“ durch frühere Geburten bei gleicher Geburtenzahl pro Frau während ihres ganzen Lebens würde die jährlichen Geburtenziffern steigern, genauso wie die ständige Verschiebung der Geburten in spätere Phasen des Lebens die jährlichen Geburtenziffern verringert. Eine stärkere Förderung von großen Familien mit drei und mehr Kindern dürfte zur Erhöhung der Geburtenraten effektiver sein als eine allgemeine Ausweitung von Leistungen zugunsten von Ein- und Zweikinderfamilien. Hier wären die Mitnehmereffekte hoch. Wiederkehrende Befragungen zeigen, dass eine grundsätzliche Bereitschaft, größere Familien zu gründen, bei etwa 20 % der Befragten besteht.11 Ein Instrument wäre ein Familiensplitting, wie es in Frankreich praktiziert wird. Zur Ermittlung der Einkommensteuer wird das Einkom-
11
18 % der Männer rund 21 % der Frauen wünschen sich drei und mehr Kinder (Tivig & Hetze 2007: 20).
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Ulrich Pfeiffer
men der Partner durch die Personenzahl dividiert, wobei neben den Eltern das erste und zweite Kind mit 0,5 geringer, das dritte und die folgenden Kinder mit 1,0 gewichtet werden. Bei einer Familie mit zwei Kindern würde das Gesamteinkommen durch vier geteilt, um den Steuersatz entsprechend der Einkommensteuertabellen zu ermitteln. Wie in Frankreich wären absolute Obergrenzen der Entlastung vorzusehen. Das Familiensplitting wäre mit dem Kindergeld und mit Kinderfreibeträgen vereinbar. Tabelle 2:
Erhöhte Geburtenziffern durch mehr große Familien (eine Illustration)
Kinderzahl
0
1
2
3+
Gegenwärtige Verteilung der Kinderzahl je 100 Frauen
22
25
40
13
- absolut
0
25
80
43
1. Variante Verteilung Kinderzahl je 100 Frauen
15
15
50
20
- absolut
0
15
100
66
2. Variante Verteilung Kinderzahl je 100 Frauen
20
15
43
22
- absolut
0
15
86
80
Gesamtgeburtenziffer bezogen auf 100 Frauen
148
181
181
Quelle: empirica-Berechnungen
Wirksame zeitliche Entlastungen erfordern einen weiteren Ausbau der kostenlosen Kinderbetreuung gerade für sehr kleine Kinder. Allerdings gewinnen Flexibilität und direkte Steuerbarkeit für Eltern mit drei und mehr Kindern eine besondere Bedeutung. Angesichts der geringen steuerlichen Belastungen größerer Familien stoßen hier Freibeträge für Kinderbetreuung an Wirkungsgrenzen. Als Lösung könnten für große Familien für die zeitaufwendigen Phasen höhere Zuschüsse für Haushaltshilfen oder für häusliche Kinderbetreuung gewährt werden. Dabei können auch Anreize eingebaut werden für Eltern, die gemeinsam z.B. gemeinsame Tagesmütter anstellen. Über die Wirksamkeit und die Akzeptanz kann man nur spekulieren. Eine bewusste Förderung großer Familien würde wahrscheinlich häufiger Berufspausen oder einen späteren Berufsbeginn zur Folge haben. Mehr Mütter dürften ihre Berufstätigkeit vorübergehend einstellen oder später starten.
IX. Familienpolitik – weniger Ungleichheit, mehr Geburten
163
Tabelle 3 verdeutlicht, wie sehr die Quoten der Erwerbstätigkeit durch die Kinderzahl beeinflusst sind. Tabelle 3:
Erwerbstätigenquote von Frauen im Alter von 25 bis 49 Jahren nach Anzahl und Alter der Kinder 1 Kind
2 Kinder
Kinder von 0 bis 14 Jahre (insgesamt)
76 %
64 %
46 %
...dabei jüngstes Kind unter 2 Jahre
68 %
54 %
38 %
...dabei jüngstes Kind 3 bis 5 Jahre
73 %
63 %
43 %
...dabei alle Kinder älter als 5 Jahre
79 %
71 %
63 %
keine Kinder
3 und mehr Kinder
74 %
Quelle: empirica-Darstellung nach BMFSFJ, 7. Familienbericht 2006, basiert auf EurostatDaten von 2003
Solche Verhaltensweisen werden auch von der künftigen Qualität der öffentlichen Leistungen zur Kinderbetreuung abhängen. So könnten Vorbebehalte entstehen, weitere Verantwortung für die Kindererziehung auf öffentliche Institutionen zu übertragen, wenn künftige Personalknappheit die Qualität von Kinderkrippen oder auch Kindergärten zu reduzieren drohte.
4.3 Vereinbarkeit von Ausbildung und Familie erhöhen Die Familienpolitik sollte jungen Paaren die Wahlfreiheit verschaffen, Familien z.B. schon während der Ausbildung zu gründen. Selbst wenn die Zahl der Studenten und Studentinnen oder Auszubildenden, die diese Option nutzen, sehr gering ist, sollte es eine Facette der Familienpolitik sein, die Vereinbarkeit von Familie und Ausbildung zu erhöhen. Die Politik kann sich dann überraschen lassen, wie häufig sie genutzt wird. Die materiellen Anreize können unterschiedlich ausgestaltet werden. Ein nicht rückzuzahlendes Mütter- oder Eltern-BaföG sollte deutlich attraktiver sein als die übliche Ausbildungsförderung. Hinzu kämen bessere Betreuungseinrichtungen in Universitäten oder auch in großen Ausbildungsbetrieben, wobei Kinderbetreuung in großen Unternehmen ohnehin
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auch unabhängig vom Status der jeweiligen Erwerbsperson festgelegt werden kann.
5
Familie und Schule
Eltern haben bis weit in die 1970er Jahre hinein in der Schulwahl ihre Töchter benachteiligt. Weit mehr Jungen als Mädchen erhielten die Chance zur höheren Schulbildung. Seit den 1980er Jahren erhalten Jungen und Mädchen weitgehend gleiche Chancen zur höheren Schulbildung. Erst jetzt wird statistisch deutlich, dass die Schulleistungen der Mädchen die der Jungen systematisch übersteigen (weniger Wiederholung von Schulklassen, höhere Übergangsquoten in die Gymnasien). 2007 waren von knapp 260.000 Abiturienten über 145.000 weiblich (56 %). Der Vorsprung der Schülerinnen scheint sich eher noch zu vergrößern. Der alte abwehrende „Vatersatz“ gegenüber ambitionierten Töchtern mit Studienabsichten „du heiratest sowieso“ hat endlich ausgedient. Junge Frauen können künftig ihre hohe Bildungskompetenz zumindest gleichberechtigt unter Beweis stellen. Erstmals erreichen nach dem Übergewicht im Abitur jetzt auch mehr Frauen als Männer einen Hochschulabschluss. Das ist eine Zeitenwende und wird eine neue Psychobalance in den Mann-Frau-Beziehungen erzwingen. Über die Ursachen gibt es keine abschließenden übereinstimmenden Meinungen. Ganz offensichtlich kommen die schulischen Anforderungen den Eigenschaften und Talenten von Jungen weniger entgegen als denen der Mädchen. Die höhere Aggressivität, Ungeduld, das höhere Geltungsbewusstsein von Jungen, aber auch ihre Risiko- und Gewaltbereitschaft können schulische Erfolge beeinträchtigen. Hier besteht eine ungelöste Kooperationsaufgabe zwischen Schulen und Eltern. Gemeinsam müssen sie die höhere Neigung der Jungen zu gewaltverherrlichenden Computerspielen, die Schulergebnisse verschlechtern, und eine häufige Spielsucht bekämpfen. Gemeinsam müssen sie den größeren Bedarf der Jungen nach einem körperlichen Sich-austoben und -auslasten erfüllen. Gemeinsam müssen Teamfähigkeit oder Empathie gestärkt werden. Die differenzierten Voraussetzungen erfordern differenzierte Antworten. Eine entsprechende Genderpädagogik und ein entsprechendes Erziehungsverhalten der Eltern muss bewusst eingeübt werden. Die Aufgabe der Eltern und auch der Schulen ist nicht einfacher geworden. Schulen und Eltern sind bisher nicht in der Lage, die Bildungspotenziale der Jungen gleichgewichtig zu den Mädchen auszuschöpfen.
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Noch schwieriger werden ein Schulverhalten und eine Kooperation mit Eltern, das die Benachteiligungen von Migrantenkindern kompensiert. Tabelle 4 zeigt die geringeren Schulerfolge von Jungen aus Migrantenfamilien. Dabei zeigen einzelne Schulen, dass die Bildungsergebnisse weitgehend von der Herkunft der Kinder abgekoppelt werden können. Hier bestehen nicht bewältigte Aufgaben für die es vielfach an Konzepten fehlt. In jedem Fall wird eine engere Kooperation zwischen Schulen und Eltern erforderlich (vgl. Schultebraucks-Burgkart, Kapitel IX). Tabelle 4:
20- bis 24-Jährige nach Migrationshintergrund und Schulabschluss Abitur oder Fachhochschulreife
Mittlere Reife
Hauptschule männlich
weiblich
kein Abschluss
männlich
weiblich
männlich
weiblich
männlich
weiblich
kein Migrationshintergrund
36,4%
44,7%
36,3%
38,4%
24,7%
14,9%
2,6%
2,0%
mit Migrationshintergrund ...davon Aussiedler und Nachkommen ...davon Eingebürgerte und als Deutsche geborene Kinder von Zuwanderern ...davon Zugewanderte und in Deutschland geborene Ausländer
28,4%
34,8%
27,0%
29,3%
38,3%
28,6%
6,2%
7,3%
24,5%
31,3%
31,5%
39,9%
40,2%
25,8%
3,8%
3,1%
34,5%
39,9%
28,2%
32,2%
33,8%
24,5%
3,5%
3,5%
28,0%
34,1%
23,2%
21,6%
39,6%
32,2%
9,2%
12,1%
Quelle: empirica-Darstellung nach 7. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 2007
6
Zur Rolle von Männern und Frauen in der Familie
Die bisherige Emanzipation der Frauen und das veränderte männliche Rollenverhalten in der Ehe haben zu Rollenangleichungen geführt. Wir steuern bildlich gesprochen auf eine Familie mit zwei Vätern und zwei Müttern zu, weil sowohl Väter wie auch Mütter Elemente der traditionellen Rolle des anderen Partners in ihren Lebensalltag einbauen. Die entsprechend veränderte Verteilung der Lasten könne als Korrelat die Wirksamkeit von Familienpolitik erhöhen. Gleichzeitig verändern sich jedoch viele andere Faktoren, insbesondere im Beruf, die auf die Beziehungen in den Familien zurückwirken. So werden Arbeitswelt und Humankapital „weiblicher“. Bald werden auch im Verarbeitenden Gewerbe fast die Hälfte aller Beschäftigten in Büros und nicht
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Ulrich Pfeiffer
mehr an großen Maschinen und schon gar nicht mehr körperlich schwer arbeiten. Gesellschaftliche Anerkennung und ökonomischer Erfolg können künftig für Frauen leichter auch mit weiblichen Stärken und Rollen erreicht werden. Zugunsten der Frauen und ihrer Berufserfolge wird sich ihre bessere Bildungsfähigkeit auswirken. In jedem Fall wurde seit langem eine historische Zäsur erreicht, weil die Eltern die Bildungsdiskriminierung gegen die Mädchen bei der Wahl der Schulformen und der Bildungswege im Verlauf der 1970er Jahren weitgehend eingestellt haben. Welche Konsequenzen daraus für die Familienpolitik entstehen, ist nicht eindeutig bestimmbar. Als Motto könnte gelten:
Weniger vorgefertigte gesellschaftliche Normen. Mehr individuelle Freiheiten bei gleichzeitiger politischer Unterstützung aller individuell gefundenen Lösungsformen für Partnerschaft, Mutter- und Vaterrolle, Familientypus und Berufswahl. Unterstützung von Familiengründung und Kindererziehung, wo immer sich Ansatzpunkte ergeben.
Es gibt nicht das eine alle Probleme lösende Instrument. Es geht um eine allgemeine „Durchsäuerungsstrategie“ der Gesellschaft. Der Kindergarten im Betrieb, die Tagesmutter für zwei Familien, die familienfreundliche Universität und Studienfinanzierung, kinderfreundlichere Nachbarschaften und Wohnformen, flexible Arbeitsmärkte und familienfreundlichere Wohnungsmärkte gehören genauso dazu wie ein ausreichendes Kindergeld oder andere finanzielle Unterstützungen. Kinder sind die Zukunft der Gesellschaft. Unsere Zukunft geht uns alle an.
Ausgewählte Quellen AGUIAR, Erik & HURST, Mike (2007): Measuring Trends in Leisure – The Allocation of Time over Five Decades. In: QUARTERLY JOURNAL OF ECONOMICS 122 (3), S. 969-1006. CIGNO, Alessandro; CASOLARO, Luca & ROSATI, Furio C. (2000): The Role of Social Security in Household Decisions – VAR Estimates of Saving and Fertility Behaviour in Germany, CESifo Working Paper Nr. 394. Download: http://www.cesifo-group.de/pls/ guestci/download/CESifo%20Working%20Papers%202000/CESifo%20Working%20 Papers%20December%202000/cesifo_wp394.pdf (10.07.2009). EHRLICH, Isaac & KIM, Jinyoung (2005): Social Security, Demographic Trends, and Economic Growth – Theory and Evidence from the International Experience, NBER Working Paper 11121. Download: http://www.nber.org/papers/w11121 (10.07.2009).
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LEUZE, Kathrin & RUSCONI, Alessandra (2009): Karriere ist Männersache – Auch hochqualifizierte Frauen haben im Job schlechtere Chancen. In: WZB-MITTEILUNGEN, Heft 123, S. 22-25. Download: http://www.wzb.eu/publikation/pdf/wm123/22-25.pdf (24.02. 2009). MYRDAL, Gunnar (1940, reprinted 1962): Population – A Problem for Democracy. The Godkin Lectures, 1938. Gloucester, Mass.: Peter Smith. PINKER, Susan (2008): The Sexual Paradox – Men, Women, and the Real Gender Gap. New York: B&T. STATISTISCHES BUNDESAMT (Hrsg.) (2008): Geburten und Kinderlosigkeit in Deutschland – Bericht über die Sondererhebung 2006 „Geburten in Deutschland“. Download: https://wwwec.destatis.de/csp/shop/sfg/bpm.html.cms.cBroker.cls?cmspath=struktur,Warenkorb.c sp&action=basketadd&id=1023205 (27.05.2009). TIVIG, Thusnelda & HETZE, Pascal (Hrsg.) (2007): Deutschland im Demografischen Wandel – Ausgabe 2007, Rostocker Zentrum zur Erforschung des Demogafischen Wandels (RZ). Download: http://www.zdwa.de/zdwa/artikel/broschuere/broschuere2007_gesamt. pdf (31.07.2009). WIMBAUER, Christine; HENNINGER, Annette & DOMBROWSKI, Rosine (2008): Wer hat, dem wird gegeben – Vom neuen Elterngeld profitieren vor allem die Besserverdienenden. In: WZB-MITTEILUNGEN, Heft 120, S. 20-22. Download: http://www.wzb.eu/ publikation/pdf/wm120/20-22.pdf (21.07.2009).
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X.
Christian Pfeiffer
Junge Menschen im Abseits
Christian Pfeiffer im Gespräch mit den ZEIT-Redakteuren Sabine Rückert und Stefan Willeke Christian Pfeiffer X. Junge Menschen im Abseits
Herr Pfeiffer, an dem von Ihnen geleiteten Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen untersuchen Sie seit Jahren die Frage, was Kinder und Jugendliche ins Abseits bringt, was sie in den sozialen oder auch in den schulischen Misserfolg treibt. Eine Ihrer Thesen lautet, dass Computerspiele sich negativ auf Schulnoten auswirken. Wie belegen und erklären Sie diesen Zusammenhang? Als erster Aspekt ist die Zeitbeanspruchung zu nennen. Wir stellen fest, dass diese Computerspiele vor allem für Jungen eine ungeheure Faszination entfalten. Von den 15-Jährigen spielt beispielsweise jeder Zwölfte das Online-Spiel „World of Warcraft“. Das bedeutet, dass er hierfür jeden Tag im Durchschnitt 3,9 Stunden investiert und so mit diesem Spiel pro Jahr mehr Zeit verbringt als sein Schulunterricht insgesamt in Anspruch nimmt. Da fehlt ihm dann natürlich die Zeit für andere Dinge, die im Leben wichtig sind. Die Freunde kommen zu kurz. Er bewegt sich körperlich zu wenig. Er gerät schulisch in die Krise. Insgesamt gesehen verbringen Jungen aus neunten Klassen pro Tag 2,4 Stunden mit Computerspielen, Mädchen dagegen nur 0,9 Stunden. Da ist klar, dass sich das auf die Schulnoten der Jungen belastend auswirkt. Als zweiten Aspkt stellen wir eine hohe Ablenkung fest. Dazu haben wir ein Experiment durchgeführt. Wir haben fünf identisch zusammengesetzte Gruppen gebildet – aus forschungsethischen Gründen mussten alle Teilnehmer über 18 sein. Die erste Gruppe hat sich mit sportlichen Aktivitäten vergnügt, die zweite Gruppe hat harmlose Filme geschaut – so etwas wie Rosamunde Pilcher. Die dritte Gruppe hat ein harmloses Computerspiel gespielt – so etwas wie Sims. Die vierte Gruppe hat einen sehr brutalen Film gesehen und die fünfte Gruppe ein sehr brutales Computerspiel gespielt. Anschließend mussten alle fünf Gruppen zu ihrer Überraschung Matheaufgaben lösen. Jetzt kam es auf die Konzentrationsfähigkeit an. In knapper Zeit sollten möglichst viele der mittelschweren Aufgaben bewältigt werden. Das Ergebnis wird Florian Rehbein demnächst in seiner
X. Junge Menschen im Abseits
169
Dissertation veröffentlichen. Am schlechtesten schnitten mit nur 10 Punkten diejenigen ab, die sich engagiert auf das brutale Computerspiel eingelassen hatten. Am besten standen die aktiven Sportler da; mit ihren 15 Punkten erreichten sie ein um 50 Prozent höheres Ergebnis. Die „Rosamunde Pilcher“-Gruppe erreichte 14 Punkte, Sims-Spieler 13,5 und die Betrachter des brutalen Films 12,5 Punkte. Und wie erklären Sie das? Die Jugendlichen, mit denen ich oft über diese Befunde diskutiere, bieten dieselbe Interpretation an wie wir Wissenschaftler: Die brutalen Bilder lassen einen nicht so schnell wieder los. Man kann sich danach für längere Zeit nicht richtig auf neue Sachen konzentrieren. Man ist im Kopf regelrecht blockiert. Und hinzu kommt: Bei solchen Computerspielen ist man ja nicht wie im Kino in der Rolle des passiven Beobachters, sondern man ist aktiv als Kämpfer tätig und dadurch viel stärker involviert. Im Hinblick auf das Spitzenergebnis der aktiven Sportler bieten Neurobiologen ferner eine ergänzende Erklärung: Die körperliche Bewegung fördert die Durchblutung des Hirns und damit dessen Versorgung mit Sauerstoff. Die Konzentrationsfähigkeit auf neue Aufgaben wird so besonders gestärkt. Welche Spiele sind denn besonders verführerisch und welche Kinder besonders gefährdet? Verführerisch sind besonders solche Spiele, die für die erreichten Erfolge eine ausgeprägte Kultur der Anerkennung organisieren, mit Orden und anderen Siegersymbolen, mit Fanfaren und raffiniert ausgedachten Belohnungssystemen. Besondere Bindungskraft entsteht dann, wenn – wie bei World of Warcraft – das Prinzip der intermittierenden Verstärkung eingesetzt wird. Ob man die Belohnung für den siegreichen Kampf bekommt, ist hier Glückssache. Oft hat man Pech. Aber dann plötzlich erhält man doch das so heiß ersehnte Beutestück. Und man wird so emotional immer stärker an das Spiel gebunden. Hinzu kommt, dass man bei den Onlinespielen mit einer großen Gruppe von Mitspielern im Team agiert. Über Kopfhörer kommuniziert man mit den anderen. Man erhält Zuspruch, Lob und Kritik, man geht Verpflichtungen ein. Man wird ernst genommen. Solche Spiele haben also die größte Verführungspower, die eine hoch entwickelte, mit Glücksspielelementen angereicherte Kultur der Anerkennung mit der Zugehörigkeit zu einer großen Gruppe von Spielpartnern verknüpfen.
170
Christian Pfeiffer
Das sind aber letztlich doch nur virtuelle Freunde? Ja, generell stimmt das schon. Manchmal gibt es aber auch die Situation, dass man mit Freunden spielt, die man aus der Schule oder der Nachbarschaft kennt. Meistens ist es jedoch bei diesen Onlinespielen schon so, dass man mit irgendjemandem in Wien oder München oder sonst wo verbunden ist und dass man es dann ganz spannend findet, als 15-Jähriger aufgrund der eigenen Leistungen plötzlich mitbestimmen zu dürfen, was 17- oder 20-Jährige, die als Anfänger eingestiegen sind, in dem Spiel betreiben. Müsste der Staat da nicht eingreifen und den Verkauf solcher Spiele wie World of Warcraft an Kinder und Jugendliche verbieten? Eigentlich ja. Aber World of Warcraft ist beispielsweise ab dem Alter von 12 freigegeben – und das, obwohl schon seit Jahren bekannt ist, dass von diesem Spiel die höchste Suchtgefahr ausgeht. Bei der Alterseinstufung der Computerspiele liegt eben vieles im Argen. Die hierfür zuständige USK (Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle) ist zu industriefreundlich aufgestellt. Das wird schon daran deutlich, dass man zum Geschäftsführer dieser USK ausgerechnet den Geschäftsführer des Bundesverbandes der Computerspielhersteller berufen hat. Aber einen Hoffnungsschimmer gibt es immerhin: Mehrere Bundesländer möchten jetzt durch ein Rechtsgutachten klären lassen, ob man nachträglich die Alterseinstufung von World of Warcraft von „ab 12“ auf „ab 18“ ändern kann. Und welche Kinder sind das, die besonders gefährdet sind, in Computerspielabhängigkeit zu geraten? Meist die, die im Leben zu kurz kommen bzw. die im Leben gerade in einer Krise stecken. Wir haben jeden Dritten der knapp 15.000 Neuntklässler unserer Untersuchung auch zum Thema der Computerspielabhängigkeit befragt. Da erkennen wir nun: Besonders gefährdet sind die Kinder und Jugendlichen, die gerade in der Pubertätskrise stecken und mit knallenden Türen auf Ermahnungen der Eltern reagieren, die gerade Zoff mit Freunden haben, manchmal auch gemobbt werden, nicht gerade Sieger sind im realen Leben und dann umso stärker animiert sind, ihr Bedürfnis nach Anerkennung im virtuellen Leben zu befriedigen. Die Computerspielindustrie macht es sich hier sehr einfach. Sie behauptet schlicht: „So richtig computerspielabhängig werden nur Kinder und Jugendliche, die ohnehin psychisch krank sind.“ Das können weder wir bestätigen noch die
X. Junge Menschen im Abseits
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mit uns kooperierenden Experten der Psychiatrie. Sie bestätigen durchaus, dass es junge Menschen gibt, die aufgrund psychischer Faktoren stärker gefährdet sind. Aber es müssen dann eben nicht Faktoren sein, die die Qualität von psychischer Krankheit erreicht haben. Da reicht oft schon eine für die Altersgruppe typische Krise aus. Dazu ein Beispiel: Auf Wunsch eines Vaters, der sich am Telefon als erfolgreicher Manager eines Unternehmens vorgestellt hat, werden wir von seinem 15jährigen Sohn besucht. Der Vater hatte über die Presse erfahren, dass wir uns mit dem Phänomen der Computerspielabhängigkeit beschäftigen und setzt nun seine Hoffnung darauf, dass ein etwa neunzigminütiges Gespräch mit mir und einem erfahrenen Computerspieltherapeuten die Lösung bringen wird. Und so reden wir dann mit dem Jungen. Zum Einstieg fragen wir ihn: „Wie ist es denn dazu gekommen, dass du heute pro Tag ca. fünf Stunden spielst und alles andere in Deinem Leben relativ unwichtig geworden ist?“ In seiner Antwort verweist er auf viel Stress, den es in seiner Familie gibt. „Meine Alten zoffen sich ständig, brüllen sich an, keifen, schreien und reden über Scheidung. Dann versöhnen sie sich wieder. Und keine drei Wochen später schreien sie sich wieder an und reden von Scheidung. Weil es ihnen peinlich war, wenn ich dann im Wohnzimmer dabei saß, haben sie mir meinen großen Wunsch nach einer Topmedienausstattung im Zimmer erfüllt. Dann setz ich den Kopfhörer auf, bin mit meinen Kumpels online verbunden und höre von dem Zoff meiner Eltern nichts mehr. Ich bin perfekt weit weg in meiner virtuellen Welt verschwunden, wo ich Anerkennung kriege, wo ich Pflichten einhalte, wo ich pünktlich bin, wo ich alle Kriterien von Leistung erfülle und als Leader meiner Gilde richtig Verantwortung für unsere Gruppe habe. Okay, ich bin jetzt wegen vier Fünfen im Halbjahreszeugnis im Steilflug Richtung Hauptschule unterwegs, sagt mein Vater. Das mag schon so sein. Aber ich bin ja intelligent. Wenn ich aussteigen will, dann lerne ich eben wieder. Aber zurzeit finde ich das einfach spannender, World of Warcraft zu spielen“. Der Junge war psychisch nicht krank, überhaupt nicht. Aber er erfüllte, wie unser Gespräch dann noch zeigte, alle Kriterien der Computerspielabhängigkeit. Sein alltägliches Denken und Handeln ist völlig von seiner Rolle im Spiel dominiert. Er ist offenkundig nicht mehr in der Lage, Grenzen zu setzen und einzuhalten. Er leidet unter Entzugserscheinungen, wenn er mal nicht spielen kann. Und er realisiert nicht mehr richtig, welche massiven Nachteile ihm durch sein Spielen entstehen.
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Wie groß ist denn dieses Problem bei den Jugendlichen? Welcher Anteil von ihnen ist als computerspielsüchtig einzustufen? Genau wissen wir das nur zu den Neuntklässlern. Zu den anderen Altersgruppen planen wir gerade eine große Untersuchung. Im Hinblick auf die 15-jährigen Jungen ergibt unsere bundesweite Repräsentativbefragung eine Quote von 3,0 Prozent, die massiv computerspielabhängig sind und weitere 4,7 Prozent, die wir in diesem Sinn als gefährdet einstufen müssen. Die Vergleichsquoten der Mädchen liegen mit 0,3 Prozent bzw. 1,0 Prozent extrem niedriger. Bezogen auf die Gesamtzahl des Jahrgangs ergeben diese zusammengerechnet 7,7 Prozent 34.000 15-jährige Jungen, die in suchtartiges Spielen geraten sind. Dem stehen nur 4.500 15-jährige Mädchen gegenüber. Hochgerechnet auf alle Jugendlichen wären das 100.000 bis 130.000 männliche 14- bis 17-Jährige, die auf diese Weise ins Abseits geraten sein könnten. Aber da müssen wir abwarten, ob sich die Quoten der 15Jährigen auch für die älteren Jugendlichen bestätigen werden. Wenn man dann noch berücksichtigt, dass zwei Drittel der von Computerspielabhängigkeit betroffenen männlichen Neuntklässler eigentlich das Abitur bzw. die Realschule anstreben, wird erkennbar, dass dieser Faktor massiv zur generellen Leistungskrise der Jungen beiträgt. Sie dokumentiert sich zunächst darin, dass die Jungen heute stärker als je zuvor bei den schulischen Verlierern dominieren – also bei den Schulabbrechern, den Sitzenbleibern oder den Sonderschülern. Die Mädchen dagegen liegen bei den Spitzenleistungen vorn. So dominieren sie beim Abitur heute mit 56 zu 44 Prozent. 1990 hatten wir hier noch Gleichstand der Geschlechter. Das bedeutet in absoluten Zahlen: 2007 haben nur 115.500 junge Männer das Gymnasium oder die Gesamtschule mit dem Abitur abgeschlossen gegenüber 148.500 jungen Frauen. Angesichts des stetigen Geburtenrückgangs, den wir seit über 40 Jahren haben, können wir uns in Deutschland eine derartige Entwicklung überhaupt nicht leisten. Wir müssen um jeden einzelnen jungen Menschen kämpfen, müssen alles daran setzen, jeden zu seiner persönlichen Höchstform zu bringen. Das stimmt sicherlich. Aber wo liegt der Kern dieses Problems? Warum geraten gerade die Jungen immer mehr in den Sog der Computerspiele und nicht die Mädchen? Da gibt es mehrere Antworten und viele offene Fragen. Auf einen Teilaspekt des Problems sind wir im Rahmen unserer letzten Schülerbefragung aus den Jahren 2007/2008 gestoßen. Zu der gehörte auch, dass wir in 30 Städten und Landkreisen insgesamt 8.000 Viertklässler erfasst haben. Unter anderem wollten wir von ihnen
X. Junge Menschen im Abseits
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wissen, wie sie ihre Klassenlehrer beurteilen. Dabei stellte sich heraus, dass Jungen sich häufiger als Mädchen über Ungerechtigkeit und langweiligen Unterricht beklagten und dass sie weit stärker als Mädchen unter einem Defizit an Wärme und Zuwendung leiden. Bei den ohnehin wenigen männlichen Klassenlehrern (15 Prozent) fielen diese Bewertungsunterschiede zwischen Jungen und Mädchen im Übrigen noch deutlicher aus als bei den Lehrerinnen. Die Forderung „mehr Männer an die Grundschulen“ kann das Problem also nicht lösen. Und noch etwas fällt auf: Gerade die Jungen, die sich über ihre Grundschulerfahrungen eher frustriert und unzufrieden geäußert haben, sind von ihren Eltern weit häufiger als die zufriedenen Jungen mit einem eigenen Fernseher, einer eigenen Spielkonsole und dem eigenen Computer ausgestattet worden. Wer aber im Kinderzimmer über eigene Mediengeräte verfügt, der verbringt erheblich mehr Zeit mit Medienkonsum und nutzt die Geräte zudem auch weit häufiger für verbotene Inhalte. Und für die Lehrerinnen und Lehrer wird es dann schwieriger, ihn für den Schulunterricht zu begeistern. Wir sind dabei, über diese Zusammenhänge noch weiter zu forschen. Und gleichzeitig setzen wir uns mit einer zweiten These auseinander: Den Jungen fehlen offenbar an den Nachmittagen und Wochenenden häufig die echten Herausforderungen. Für viele ist das Alltagsleben schlicht „stinklangweilig“. Gerade deswegen fahren sie dann auf die virtuellen Abenteuer so ab, die ihnen in den Computerspielen geboten werden. In der Mittelschicht sieht es hier ja noch besser aus, wenn den Jungen der Zugang zu attraktiven Sportarten, zum aktiven Musizieren, zu positiven Erfahrungen in Vereinen und Jugendgruppen ermöglicht wird. Wenn beide Eltern Abitur haben, verfügen dann auch nur 11 Prozent der 10-Jährigen über eine eigene Spielkonsole und nur 16 Prozent über den eigenen Fernseher. Wenn aber beide Eltern maximal die Hauptschule abgeschlossen haben, steigen diese Quoten auf 43 bzw. 57 Prozent an – mit all den negativen Folgen, die daraus erwachsen. Da ist nur zu hoffen, dass sich möglichst viele Eltern an denen vom Landkreis Reutlingen und der Stadt Biberach orientieren, wo im Herbst 2009 an Kindergärten und Grundschulen eine Kampagne unter dem Motto beginnt: „Keine Bildschirmgeräte in Kinderzimmern.“ Welche Rolle spielt eigentlich hier die Tatsache, dass den Jungen durch Trennung und Scheidung immer häufiger die Väter als wichtige Bezugspersonen abhanden kommen? Wir dachten auch, dass dieser Faktor eine wichtige Rolle spielen würde. Die bundesweite Befragung von knapp 45.000 Neuntklässlern hat uns hier eine breite
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Datenbasis für die Forschung ermöglicht. Und deutlich zeigt sich in der Tat, dass die Trennung der Eltern in vielfacher Hinsicht für die Jungen und Mädchen einen massiven Belastungsfaktor darstellt. Als wir dann aber die Konstellation „alleinerziehender Vater mit Sohn“ überprüften, ergab sich ein überraschender Befund: Wenn die Jungen so richtig „vatersatt“ werden könnten, weil sie also nur bei ihrem Vater aufwachsen, dann weisen sie in jeder Hinsicht die ausgeprägtesten Problembelastungen auf. Sie erreichen mit 38 Prozent die mit Abstand höchste Sitzenbleiberquote. Sie geraten um zwei Drittel häufiger als der Durchschnitt der Jungen in die Computerspielabhängigkeit und sind im Vergleich zu Jungen, die bei einer alleinerziehenden Mutter aufwachsen, öfter verhaltensauffällig und mit ihrem Leben insgesamt betrachtet am häufigsten unzufrieden. Nun wäre es vorschnell, allein diese Befunde bereits als Beweis für die These zu bewerten, dass alleinerziehende Väter mit ihrer Elternrolle weit häufiger überfordert sind als alleinerziehende Mütter. Beispielsweise könnte es ja sein, dass sich diese VaterSohn-Konstellation oft dann ergibt, wenn zuvor die Beziehung des Sohnes zur Mutter besonders belastend gewesen ist. Aber die Daten sehen wir doch als Anlass dazu, hier genauer hinzuschauen, was wir nun im nächsten Forschungsschritt auch tun werden. Was ergibt sich eigentlich zu all diesen Fragen, wenn man bei den Kindern und Jugendlichen nach Deutschen und Migranten unterscheidet? Meine erste Antwort mag sie überraschen. Die erfolgreichsten Schüler sind in Deutschland solche, die aus Vietnam und dem Iran stammen, also aus Migrantengruppen, die selber ein besonders hohes Bildungsniveau aufweisen. Die Gymnasialquote dieser Jugendlichen liegt in der neunten Klasse bei 57 Prozent. Die Deutschen erreichen mit 37 Prozent nur eine Quote im oberen Viertel der verschiedenen ethnischen Gruppen. Aber generell gilt schon, dass Kinder aus Migrantenfamilien große Probleme haben, sich sozial und schulisch bei uns zu integrieren. Ein besonders deutliches Alarmsignal ist hier die Tatsache, dass 21 Prozent der männlichen Migranten in Deutschland die Schule ohne Abschlusszeugnis verlassen; von den Mädchen sind es 13,7 Prozent. Und was sind die Gründe hierfür? Hier kommen viele Ursachen zusammen. So sind junge Migranten im Vergleich zu deutschen Mitschülern zwei bis drei Mal so oft in ihrer Kindheit und Jugend innerfamiliärer Gewalt ausgesetzt – von Ohrfeigen angefangen bis hin zu massi-
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ven Misshandlungen. Elterliche Prügel fördern aber nun einmal die eigene Aggressivität, verringern die soziale Kompetenz und persönliche Empathie, verunsichern die betroffenen Kinder und reduzieren ihre schulische Leistungsfähigkeit. Ferner wirkt sich belastend aus, dass Migrantenkinder im Vergleich zu deutschen bereits im Alter von zehn in ihren Zimmern doppelt so oft eine eigene Spielkonsole besitzen (44 zu 22 Prozent) und auch weit häufiger einen eigenen Fernseher (52 zu 32 Prozent) mit der Folge eines zeitlich weit höheren und inhaltlich problematischeren Medienkonsums. Verstärkt wird dieser Belastungsfaktor noch dadurch, dass gut ein Drittel der Migrantenkinder anders als fast alle deutschen Mitschüler über kein eigenes Kinderzimmer verfügt. Dadurch wird für sie dann ein konzentriertes Schularbeiten sehr erschwert, wenn Geschwister parallel dazu im selben Raum fernsehen, Musik hören oder Computer spielen. Vor allem aber sind die jungen Migranten in der Grundschulzeit, in der nun einmal nach wie vor die Weichen für die spätere Bildungskarriere gestellt werden, durch mangelnde Kenntnisse der deutschen Sprache behindert. Und hinzu kommt, dass sie zu Hause bei Schularbeiten meist wenig Unterstützung erhalten können und im Freundeskreis häufig auf Kontakte in der eigenen ethnischen Gruppe beschränkt bleiben. Aber die Politik hat doch gerade diese Probleme seit Jahren immer wieder benannt. Gibt es da immer noch keine guten Lösungen? Es gibt sie durchaus. Aber am erfolgreichsten verläuft die Integration dort, wo nicht primär die Politik, sondern die Bürger und die mit ihnen kooperierenden Vereine und Stiftungen die Dinge in die Hand genommen haben. Beispiel Hannover: Vor zehn Jahren besuchten dort nur gut 8 Prozent der 15-jährigen Türken das Gymnasium. Etwa die Hälfte ging zur Hauptschule. 15 Prozent outeten sich in einer KFN-Repräsentativbefragung als Mehrfachtäter der Gewalt. Heute sind dagegen fast 70 Prozent der türkischen Neuntklässler schulisch in Richtung Abitur oder Realschulabschluss unterwegs. Und ihre Mehrfachtäterquote ist um die Hälfte gesunken. Die Hauptursache dieser erfreulichen Entwicklung der letzen zehn Jahre ist nach unseren Recherchen zum einen, dass sich in der Region Hannover inzwischen fast 1.000 Bürgerinnen und Bürger in einem Verein „Mentor e.V.“ engagieren, der Migrantenkindern vor allem in der Grundschulzeit kostenlos schulische Nachhilfe und Unterstützung beim Deutschlernen anbietet. Hinzu kommen entsprechende Aktivitäten einer von Studenten getragenen Initiative „Balu und Du“ und die vielfältigen Kinder- und Jugendprojekte der Bürgerstiftung Hannover, die sich seit vielen Jahren gerade auch um die Integration von
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Migrantenkindern kümmern. Dadurch haben sich die sozialen Netzwerke der jungen Migranten in Hannover stark verändert und mehr als je zuvor kommen sie in Kontakt zu gleichaltrigen Deutschen. Und viele entdecken zudem über ihre schulischen Erfolge, dass auch für sie der Spruch gilt: „Jeder ist seines Glückes Schmied.“ Aber die Bürger allein können doch die bisher erörterten Probleme nicht lösen. Was muss die Politik tun? Sie ist teilweise durchaus auf gutem Kurs. So hat sie 2000 das elterliche Züchtigungsrecht abgeschafft und 2002 das Gewaltschutzgesetz zur effektiven Bekämpfung innerfamiliärer Gewalt in Kraft gesetzt. Beides hat sich positiv ausgewirkt. Seit zehn Jahren nimmt der Anteil der völlig gewaltfrei erzogenen Kinder und Jugendlichen deutlich zu – und das nicht nur bei deutschen Familien, sondern auch bei den Migranten. Andere positive Beispiele sind die staatliche Förderung der Integration von jungen Aussiedlern oder die Tatsache, dass in vielen Bundesländern inzwischen die Hauptschule mit der Realschule zusammengeführt wird. All das hat dazu beigetragen, dass die Jugendgewalt nicht mehr weiter ansteigt und in vielen Städten und Regionen neuerdings sogar rückläufig ist. Gibt es gegen solche Schulreformen aber nicht auch massive Proteste von Seiten der Realschullehrer? Ja, schon – und das nach dem Motto: „Die Rabauken von der Hauptschule machen uns doch nur unsere gute und erfolgreiche Realschule kaputt.“ Dabei wird dann jedoch der zentrale Ansatzpunkt der Reform verkannt. Am Ende der vierten Klasse sind die Kinder, die eine Hauptschulempfehlung bekommen haben, noch keine Rabauken. Aber viele von ihnen werden es, wenn man sie dann in der Hauptschule zusammenführt. Diese Schulform hat sich bei unserer bundesweiten Schülerbefragung der Jahre 2007/2008 erstmals als eigenständiger Verstärkungsfaktor der Jugendgewalt erwiesen, weil es in ihr – abgesehen von den ländlichen Regionen Süddeutschlands – zu einer problematischen Konzentration von sozial randständigen und familiär stark belasteten Kindern gekommen ist. Die Integration von Haupt- und Realschulen ist deshalb eine gute Lösung.
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Wird das ausreichen, um die große Zahl von Kindern und Jugendlichen zu verringern, die ins Abseits geraten sind? Ihre Skepsis ist durchaus berechtigt. Der entscheidende schulpolitische Schritt muss die flächendeckende Einführung der Ganztagsschule werden. Aber nicht als eine Kinderbewahr- und Paukanstalt mit Suppenküche zwischendrin. Nein! Der schulische Nachmittag sollte primär einem Motto verpflichtet sein: Lust auf Leben wecken durch Sport, durch Musik, durch Theaterspielen und soziales Lernen. Vormittags muss es wie bisher vor allem um pädagogisch gut organisierte Wissensvermittlung gehen, aber am Nachmittag sollten die Lehrer und Lehrerinnen aufgefordert werden, ihre eigenen Hobbys in die Schule einzubringen und in ihren Schülerinnen und Schülern Leidenschaften für das zu wecken, was sie selber begeistert. Der Mathelehrer kann nach 14.00 Uhr so zum Rugbytrainer werden, die Deutschlehrerin begeistert dann Schülerinnen und Schüler mit Lord of the Dance; ein Physikkollege bringt seine Vorliebe für asiatische Kampfkunst in die Schule ein. Eine Biologielehrerin bietet einen Vollwertkochkurs an. Und sie alle holen sich von außen Unterstützung durch engagierte Eltern, durch Vereine, durch örtliche Sponsoren. Und Sie glauben tatsächlich, dass die Politik sich auf solche schönen Visionen einlässt? Ich bin durchaus optimistisch. So konnte ich kürzlich in der bayerischen Landesregierung im Rahmen einer Kabinettssitzung ein amerikanisches Schulmodell aus der Region Naperville bei Chicago vorstellen. Anschließend hat mir Ministerpräsident Seehofer brieflich sein Interesse mitgeteilt, das Projekt in einer auf bayerische Schulbedingungen angepassten Weise in seinem Bundesland zu erproben. Auch aus der niedersächsischen Landesregierung kam ein entsprechendes Signal, nachdem ich dort ebenfalls den verantwortlichen Politikern das Konzept erläutern konnte. In Naperville werden an 19 Schulen ca. 21.000 Schülerinnen und Schüler dazu motiviert, an jedem Schultag auf sehr unterschiedliche und anregende Weise ihre Fitness zu trainieren – mit kontrolliertem Pulsschlag zwischen 160 und 190 pro Minute. Zu dritt Basketballspielen gehört ebenso dazu wie Square Dance oder sich an Kletterwänden austoben oder sich auf die Tretmühle des Laufbandes einzulassen und dabei gleichzeitig gute Filme zu schauen. Die Sportnote gibt es in Naperville für die relative Verbesserung, die man im Laufe eines Jahres in der persönlichen Fitness erzielt. Die kleinen Dicken können hier so endlich mal Note 1 erreichen.
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Der Effekt des Projektes, den der Havardprofessor John Ratey in seinem kürzlich auch auf Deutsch erschienen Buch „Superfaktor Bewegung“ differenziert beschreibt, ist wirklich eindrucksvoll. Die Region Naperville hat sich bei internationalen und nationalen Leistungstests durch herausragend positive Ergebnisse ausgezeichnet. Zudem liegt der Anteil der Schüler, die nachmittags freiwillig an der Schule einer Vielzahl von sportlichen und sonstigen Aktivitäten nachgehen, weit über dem nationalen Durchschnitt. Und die Quote der Schüler mit Übergewicht erreicht mit nur 8,6 Prozent weniger als ein Drittel dessen, was in den USA üblich ist. Die Schulen der Region Naperville demonstrieren so auf überzeugende Weise, wie man dieses Konzept „Lust auf Leben wecken“ sinnvoll umsetzen kann. Ähnliche Modelle gibt es an vielen neuseeländischen, kanadischen oder finnischen Schulen. Warum nicht auch bei uns? Wenn wir nur so weit gehen würden, in den nächsten zehn Jahren die Kultusetats der Länder einzufrieren, obwohl in dieser Zeit die Schülerzahlen Schritt für Schritt deutlich abnehmen werden, würde das allein schon den Spielraum für eine konstruktive Schulpolitik erheblich verbessern. Aber das allein wird noch nicht reichen. Die Politik muss sich entscheiden. Die Krise der Kinder und Jugendlichen, die ins Abseits geraten sind, ist für unser Land genauso bedrohlich wie die aktuelle Banken- und Wirtschaftskrise. 50 Milliarden für die Zukunftsinvestition Jugend wären hier richtig gut angelegtes Geld.
Literaturangaben BAIER, D.; PFEIFFER, C.; SIMONSON, J. & RABOLD, S. (2009): Jugendliche in Deutschland als Opfer und Täter von Gewalt – Erster Forschungsbericht zum gemeinsamen Forschungsprojekt des Bundesministeriums des Innern und des KFN (KFN-Forschungsbericht; Nr.: 107). Hannover: KFN. HÖYNCK, T.; MÖSSLE; T.; KLEIMANN, M.; PFEIFFER; C. & REHBEIN, F. (2007): Jugendmedienschutz bei gewalthaltigen Computerspielen – Eine Analyse der USK-Alterseinstufungen (mit: CD KFN-Testberichte) (KFN-Forschungsbericht; Nr.: 101). Hannover: KFN. PFEIFFER, C.; MÖSSLE, T.; KLEIMANN, M. & REHBEIN, F. (2008): Die PISA-Verlierer und ihr Medienkonsum – Eine Analyse auf der Basis verschiedener empirischer Untersuchungen. In: SCHNEIDER, M. & SCHWANEBECK, A. (Hrsg.): Schlagkräftige Bilder – Jugend, Gewalt, Medien. München: Verlag Reinhard Fischer, S. 37-69. RABOLD, S.; BAIER, D. & PFEIFFER, C. (2008): Jugendgewalt und Jugenddelinquenz in Hannover – Aktuelle Befunde und Entwicklungen seit 1998 (KFN-Forschungsbericht; Nr.: 105). Hannover: KFN.
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REHBEIN, F. ; KLEIMANN, M. & MÖSSLE, T. (2009): Computerspielabhängigkeit im Kindesund Jugendalter – Empirische Befunde zu Ursachen, Diagnostik und Komorbiditäten unter besonderer Berücksichtigung spielimmanenter Abhängigkeitsmerkmale (KFNForschungsbericht; Nr.: 108). Hannover: KFN.
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Gisela Schultebraucks-Burgkart
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Bildungssystem in der Krise?
Als vor gut 40 Jahren zur Zeit der Babyboomkinder die Diskussion über die Bildungskatastrophe begann, gab es ein klares Krisenbild: Kinder aus ländlichen Gebieten, Arbeiterkinder oder allgemein Kinder aus Familien mit geringer Bildungsneigung, darunter insbesondere die Mädchen, waren benachteiligt. Hier sollten Bildungsreserven zum Wohle der einzelnen Kinder und für eine bessere wirtschaftliche Entwicklung erschlossen werden. 1970, im ersten Bildungsbericht der sozial-liberalen Koalition (Unterschrift Willy Brandt), wurde schon damals eine Vorschule für Dreijährige, eine frühere Einschulung und Abitur mit 17 Jahren gefordert. Wir wissen, dass es im Anschluss an diese Debatte zu einer beachtlichen quantitativen Expansion der Bildungsteilnahme und auch der Bildungsausgaben kam. Dennoch waren gut 30 Jahre später die guten Vorsätze nicht umgesetzt. Deutschland wurde nach den PISA-Studien zu einem Land der Bildungsungleichheit, insbesondere die Ungleichheit unter den Migrantenkindern war besonders hoch. Die Ausbildungszeiten waren nach wie vor viel zu lang. Bildungsbemühungen starteten zu spät. Das Dreiklassenschulsystem begünstigte Kinder hoch qualifizierter Eltern und schaffte es nicht, die Ungleichheit der Bildungschancen entscheidend zu verringern. Besonders krass sind nach wie vor die Ungleichheiten für die akademische Ausbildung. Es hat sich nicht bewahrheitet, dass Studiengeldfreiheit gleichheitsfördernd ist. Sicher wurde dadurch jedoch eine lange Studiendauer begünstigt, was wiederum die Familiengründung verzögert. Es bleibt die ernüchternde Einsicht: Das deutsche Bildungssystem fördert Ungleichheit oder verringert sie zu wenig, geht noch immer verschwenderisch mit der Zeit der Kinder und Jugendlichen um, führt zu häufig zu Versagen und vorzeitigem Ausstieg aus dem Bildungssystem, benachteiligt die Kinder von Migranten oder fördert sie zu wenig. Bestätigt wird die fast weltweite Erfahrung, dass die Schulergebnisse der Jungen deutlich schlechter sind als die der Mäd-
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chen. (56 % der Abiturienten sind weiblich. 62 % der Schulabgänger ohne Abschluss sind männlich.) Gleichzeitig hat sich die Bedeutung der Bildung für die Verwirklichungschancen der Einzelnen, aber auch für die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft insgesamt erhöht. Deutschland kann durch ein besseres Bildungssystem effektiver, gleicher in den Aufstiegschancen von Migranten und Deutschen oder von Jungen und Mädchen und auch besser in den Bildungsergebnissen werden. Mehr Investitionen in Bildung haben im Vergleich zu fast allen anderen öffentlichen Ausgaben den unschätzbaren Vorteil, dass sie sowohl Wachstum wie Gleichheit fördern können. Es gibt kaum einen Bereich mit geringeren Zielkonflikten bei der Verwendung von Ressourcen.
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Eine gute Schule – ein Gespräch zwischen Gisela Schultebraucks-Burgkart und Ulrich Pfeiffer
Es gibt inzwischen eine regelrechte Datenflut über die Schulen in Deutschland. Es gibt eine kontroverse und ständige Debatte über Reformen. Schlagworte: Gemeinschaftsschule, zweigliedriges Schulsystem, Ganztagsschulen, mehr Rechte für die Eltern, mehr Schulevaluation. Angesichts dieser oft sehr abstrakten Positionen und Informationen soll das folgende Gespräch zwischen Frau Gisela Schultebraucks-Burgkart, Schulleiterin der Grundschule Kleine Kielstraße in Dortmund-Nord, und Ulrich Pfeiffer aufhellen, wodurch eine gute Schule charakterisiert ist und wie viel Mühen im Detail notwendig sind. Die Schule wurde von der Robert Bosch Stiftung 2006 als beste Schule Deutschlands ausgezeichnet. Das Gespräch soll an Beispielen verdeutlichen, was die Schule auszeichnet oder kennzeichnet. Steckbrief Grundschule Kleine Kielstraße Lage: Dortmund-Nord in einem sozialen Brennpunkt – Nur bei 17 % der Kinder ist Deutsch Muttersprache. Leistung: „Begleitportfolio“, Teilnahme an Leistungs- und Vergleichstests, Teilnahme an Modellprojekten (Förderung innovativer Lernkultur in der Lerneingangsphase, Selbstständige Schule), Erster Preis im NRW-Wettbewerb „Qualität schulischer Arbeit – Neue Wege des Lernens“ – Bereich Grundschule (2000), Sonderpreis im NRW-Wettbewerb „Qualität schulischer Arbeit – Neue
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Wege des Lernens“ (2003), Hauptpreisträger „Der Deutsche Schulpreis“ (2006). Umgang mit Vielfalt: Jahrgangsübergreifender Unterricht in der Schuleingangsphase, Arbeiten in kompetenzorientierten Kleingruppen, individueller Wochenplan, interkulturelle Projekte, Integration von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Unterricht: Lernen lernen, abgestimmte fachliche Konzepte, Lerntagebuch, jährliches Entwicklungsgespräch (Kindersprechtag), Mitarbeit am neuen Lehrplan Deutsch. Verantwortung: Abgestimmtes Erziehungskonzept, Förderung von Selbstund Sozialkompetenz, abgestuftes System von Konfliktbewältigungsstrategien (Stopp-Regel, Streitschlichtung, Täter-Opfer-Ausgleich, Trainingstisch). Schulleben/Partner: Kooperation im Stadtteil, umfassende Elternarbeit (vorschulischer Elterngesprächskreis, Erziehungsvertrag, Elterncafé, „Rucksackmütter“), gemeinsame Projekte mit Kitas (vorschulische Mathematikförderung, Projekte zu Kinderbüchern), Schulübernachtungen, Ausflüge, Klassenfahrten. Schulentwicklung: Professionelle Kooperation in schulinternen Arbeitsstrukturen (Steuergruppe, Jahrgangsstufenteams, thematische Teams), fortlaufende interne und externe Evaluation (SEIS, Parallelarbeiten).
Ulrich Pfeiffer (UP): Schulen bauen auf den Leistungen der Elternhäuser, der Kinderkrippen und der Kindergärten auf, in denen Kinder ihre Sprachfähigkeit, ihre Motorik und ihre Neugier auf die Welt, aber auch Einstellungen und Werthaltungen entwickeln. Es gibt ernüchternde Beispiele, so etwa in Berlin-Kreuzberg, wo der Bericht der Gesundheitsbehörde zu dem Ergebnis kommt, dass die Schuleingangsuntersuchungen für Kinder, die zuvor einen Kindergarten besucht hatten, etwa im Bereich der Sprachfähigkeit nicht günstiger waren als bei Kindern, die zu Hause bei ihren (Migranten-) Eltern aufwuchsen. Gisela Schultebraucks-Burgkart (GSB): Das kann ich so nicht bestätigen. Wir versuchen schon, die Eltern von Vorschulkindern von der Wichtigkeit der Kindergärten als Vorbereitung auf die Schule und zur Entwicklung ihrer Kinder zu überzeugen. Die Eltern wissen lange vor Schulbeginn durch diverse Kontakte, wie wichtig der Kindergartenbesuch für die Schulfähigkeit ist. Leider gibt es bei uns immer noch zu wenige Plätze. Der Kindergartenbesuch startet oft zu spät. Wir schöpfen die frühkindliche Bildungsfä-
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higkeit noch immer nicht aus. Aber wir müssen auch ständig weiter daran arbeiten, besser auf die individuelle Situation der einzelnen Familien einzugehen. Wir haben jetzt ein neues Projekt „Kinderstube“ gestartet. Wir fördern Tagesmütter in den Wohnblocks, um die Distanz zu den Müttern zu verringern. Denn wir wissen natürlich, dass viele – vor allem Mütter von kleinen Kindern, die erst seit einigen Jahren in Deutschland leben,– Hemmschwellen überwinden müssen. Deshalb versuchen wir, die Kinder praktisch in den Wohnungen zu erreichen. In diesen „Kinderstuben“ kommen drei Kinder auf eine Tagsmutter, die sie in ein regelrechtes Sprachbad taucht und mit ihnen viel Deutsch spricht. Diese Kinder gehen dann mit vier Jahren in den regulären Kindergarten. Das ist gleichzeitig auch ein Beispiel, wie wir möglichst nah an die Mütter bzw. Eltern herankommen, um die sogenannten bildungsfernen Schichten früh zu erreichen. Aber das ist eben noch kein flächendeckendes Projekt. Es zeigt aber, dass wir bei schwierigen Konstellationen nicht einfach warten können, bis uns die Eltern ihre Kinder bringen. Wir müssen ihnen entgegenkommen, Vertrauen aufbauen, ihre Kinder an eine neue Umwelt gewöhnen, damit sie dann erfolgreich am Kindergarten und später an der Schule teilnehmen können. Sie werden sich dann besser entwickeln, erfolgreicher und mit Freude am Unterricht teilnehmen, vor allem weil nach solcher Vorbereitung Erfolge leichter möglich sind. UP: Ein Problem bleibt natürlich, dass Kinder mit ihrer Herkunftssprache aufwachsen und diese als ihre wirkliche Muttersprache erleben. Ihr Stolz, ihr Selbstbewusstsein und ihre Motivation hängen auch davon ab, dass man diese Muttersprache akzeptiert und fördert. GSB: Diese Position ist richtig. Aber es gibt in meiner Schule 32 verschiedene Nationalitäten und eine Vielfalt der Sprachen. Es ist unmöglich, in jeder Klasse das einzelne Kind auch in seiner Sprache zu fördern. Wir müssen dann andere Methoden entwickeln, um zu demonstrieren: Wir achten eure Kultur, wir sind interessiert an der Art, wie du lebst, an deinen Erfahrungen und an deinen Werten und Lebensformen. Trotz solcher Bemühungen und Projekte bleibt natürlich die Erfahrung, dass das Sprechenlernen in der Familie passiert. Hier gibt es enorme Defizite, weil gerade bei Migrantenfamilien und Kindern, deren Eltern keine besondere Schulausbildung erfahren haben, das Miteinandersprechen und Sichunterhalten offensichtlich zu kurz kommen. Wenn die Kinder in unserer Schule angemeldet werden, fragen wir danach, wo der Fernseher steht. Rund 50 % der Kinder haben den Fernseher – mit Fernbedienung – in ihrem Zimmer. Hier im Hochhaus sieht das klassische Kinderzimmer so aus: Bett, Schrank, Fernseher, Spielkonsole und kaum Spielzeug. Das ist ein Hauptgrund, dass unsere Kinder sprachlich und in ihren Ausdrucksformen verarmt aufwachsen. Nicht materielle Armut ist das Problem, sondern die Vernachlässigung, weil die diversen Zerstreuungsmedien die Eltern zum Teil ersetzen und die Welt nicht mehr erklären, sondern passiv mit
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Emotionen versorgen und sie ganzen Serien von Unterhaltungssendungen aussetzen – ganz zu schweigen von den Gewaltspielen. Der notwendige frühe Kontakt zu den Eltern ist natürlich aufwändig, aber noch kostenträchtiger wäre u.U. für ein ganzes Leben ein Versagen in der Schule aufgrund ungünstiger Voraussetzungen, großer Distanzgefühle und dementsprechend schwacher Motivation. UP: Die frühkindliche Erziehung gerade in Gebieten mit einem hohen Anteil von Unterschichten oder Migranten, in denen die Eltern oft selbst kaum eine Schulausbildung haben, verkümmert. Dabei erleben wir auch immer wieder, dass vor allem Mütter mit kleinen Kindern, die erst kurz in Deutschland leben, ziemlich isoliert und zum Teil depressiv zu Hause sitzen und zu wenig Anregung und Unterstützung bekommen, um ihre Kinder in ihren sprachlichen und sonstigen Fähigkeiten zu stärken und zu unterstützen. Was kann die Schule dann tun, wenn sie die Verantwortung übertragen bekommt? GSB: Ganz wichtig ist, dass die Eltern schon lange vor dem Schulbeginn wissen, wie ernst wir die Erziehungsaufgabe für ihre Kinder nehmen. Wir müssen uns intensiv mit den Eltern auseinandersetzen. Die Schule beginnt für uns nicht mit dem ersten Schultag. Ich glaube, das ist inzwischen bei den meisten Schulen so. Wir nutzen den Moment, wenn die Eltern ihr Kind zur Schule anmelden. Schon da stellen wir fest, dass viele Eltern nur eine ganz niedrige Schulbildung haben und die Schule nur als schwieriges System kennen. Darunter gibt es auch Analphabeten, die selber keine Schule besucht haben. Aber praktisch alle Eltern haben die Hoffnung, dass die Schule ihrem Kind ein Stück Zukunftschancen eröffnet. Wir spüren eine Mischung aus Angst – „Was kommt da auf uns zu?“ – und aus Hoffnung – „Ich möchte, dass es meinem Kind gelingt, hier in Deutschland Fuß zu fassen und zu lernen.“ Wir suchen diesen Kontakt zu den Eltern ein Dreivierteljahr, bevor die Schule richtig beginnt. Wir wollen den Eltern verdeutlichen „Wir fühlen uns verantwortlich für ihr Kind und werden uns bemühen, damit ihre Hoffnungen erfüllt werden.“ Deshalb bieten wir schon vorschulischen Eltern Gesprächskreise an. Die Eltern treffen sich ein Mal im Monat und werden dann zu richtigen Experten für den Schulanfang der Kinder. Das erste Treffen konzentriert sich auf die Frage: „Was wollen Sie wissen oder welche Sorgen haben Sie, wenn Sie an den Schulanfang Ihres Kindes denken?“ Wir nehmen uns für diese „Vorkurse“ und für die Gespräche beim Schulbeginn sehr viel Zeit. Wir schicken die Kinder hier durch einen richtigen Stationslauf. Wir stellen fest, wie ist die Entwicklung der Sprache und wie ist die Motorik und all die Dinge, die ein Kind braucht, um erfolgreich an der Schule teilzunehmen. In der letzten Station sind die Eltern wieder mit dabei. Diese letzte Station ist hier bei mir. Wir führen ein Grundsatzgespräch mit beiden Eltern über die Bedeutung von Zusammenarbeit von Schule und Eltern, denn wir wissen, es ist entscheidend, dass beide Partner eng miteinander arbeiten und dass wir die Eltern unterstützen, damit sie ihre Erziehungsauf-
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gaben erfüllen und sie uns umgekehrt helfen, dass die Kinder den schulischen Aufgaben gerecht werden. Die Schule bietet sehr viel an, auch für die Selbstqualifikation der Eltern. Wir sind nicht nur fordernde oder unterstützende Einrichtung gegenüber den Kindern, wir ermöglichen auch Selbstqualifikation der Eltern durch Sprachkurse oder Computerkurse, aber das Allerwichtigste bleibt natürlich immer, dass die Eltern in der Lage sind, ihre Kinder zu unterstützen. UP: Viele Schulen klagen, dass sie einen großen Teil der Eltern nicht erreichen, weil die Eltern nicht zu den Elternabenden oder zu den Sprechstunden kommen. GSB: Auch zu uns kommen nicht alle Eltern. Aber wenn die Hälfte kommt, habe ich wenigstens schon die Hälfte näher an die Schule herangeführt. Für mich gilt, wenn ich die Hälfte der Eltern erreiche, ist das Glas schon halb voll, wenn ich dann weiter daran arbeite, kann ich die anderen auch erreichen. Hier reicht natürlich eine Einladung zur Sprechstunde nicht. Es gibt in unserer Schule vielfältige Möglichkeiten und Versuche oder Ansatzpunkte, immer wieder mit Eltern in Kontakt zu kommen und dabei sind natürlich die Eltern, die wir kennen und mit denen wir zusammenarbeiten, immer auch „Botschafter“ der Schule. Das gilt vor allem dann, wenn Eltern kein Deutsch sprechen. UP: Es gibt Schulen, die haben die Klassen in feste Gruppen unterteilt und bilden parallel zu diesen Kindergruppen Elterngruppen, wobei dann auch Kinder- und Elterngruppe zusammen in die Schule kommen, um gemeinsam über Probleme zu reden. Das hat den Vorteil, dass z.B. eine Mutter, die gut Deutsch spricht, eine andere, die Übersetzung braucht, unterstützt und die Isolierung einzelner Eltern, die sich selbst in Deutschland noch ziemlich fremd fühlen, leichter überwunden werden kann. GSB: Das ist sicherlich eine Methode. Wir machen das nicht so formalisiert. Einmal lerne ich natürlich bei der Einschulung praktisch alle Eltern kennen und vermittle ihnen, dass die Schule ihr Partner ist und nicht jemand, der sie belehrt. Wir sind auf sie angewiesen und machen das deutlich. Bereits in der zweiten Woche nach Schulbeginn gibt es einen – echten – Elternsprechtag. Da erzählen die Eltern von ihrem Kind und die Lehrerin hört zu. Dieses Gespräch endet mit der Unterzeichnung eines schriftlichen Versprechens, in dem die Selbstverpflichtung der Schule und die Selbstverpflichtung der Eltern festgehalten wird. Es wird auch festgehalten, wie die Eltern ihr Kind sehen und welche Erwartungen sie haben und wir müssen dann in ein Gespräch kommen, um ihnen sehr früh zu sagen, welche Erfahrungen wir mit dem Kind machen. Die Eltern werden als Experten für ihr eigenes Kind betrachtet. Es kommt zu einem Erfahrungs- und Meinungsaustausch. Natürlich sehen wir es auch als unsere Aufgabe, z.B. isolierten Müttern, die wenig Kontakte auch zu anderen Müttern haben, zu helfen, dass sie da herauskommen. Das erreicht man nicht, indem man irgendwelche Ansprüche und Forderungen stellt oder
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zu Elternabenden einlädt. Wir haben dann verschiedene Möglichkeiten und eröffnen verschiedene Wege. Unsere kurdischen Mütter können super handarbeiten, aber sie haben in der Regel keine elektrische Nähmaschine. Also haben wir elektrische Nähmaschinen besorgt. Eine Mutter, die sich mit den Maschinen auskennt, hilft dann den anderen. Auf solchen informellen Kontakten kann man aufbauen. Man muss nicht nur an das Pflichtgefühl oder die Verantwortung gegenüber den Kindern appellieren, sondern auch an die eigenen Interessen. Daraus entwickeln sich dann Gespräche über die Kinder. Wir haben ein Elterncafé, das regelmäßig von vielen Eltern, insbesondere von Müttern, besucht wird. Dieses Elterncafe ist gleichzeitig ein geschützter Raum, der dennoch öffentlich ist. Durch die verschiedenen Kontakte und gemeinsamen oder anderen Aktivitäten entsteht eine Atmosphäre der Wertschätzung. Es entstehen auch Begegnungen und informelle Beziehungen zu anderen Eltern. Bei diesen informellen Kontakten und den Gesprächen über die Kinder machen wir natürlich auch immer wieder klar, wie wichtig es ist, dass auch die Eltern Deutsch sprechen und Deutsch verstehen. Deshalb bieten wir auch Sprachkurse für Eltern an. Wir sind für die ganze Familie da, weil dies unsere schulischen Aufgaben gegenüber dem Kind unterstützt und weil eine Schule in einer Nachbarschaft wie der unseren sich einfach nicht auf eine isolierte Wissensvermittlung zurückziehen kann. Was wir immer wieder erleben: Es reicht nicht aus, sich auf seine formalen Zuständigkeiten zu konzentrieren. Wir müssen das Interesse der Eltern an der Schule wecken und ihnen die Möglichkeit eröffnen, aus verschiedenen Anlässen in die Schule zu kommen und die Schule zu erleben. Neben solchen speziellen Aktivitäten, wie Sprach- oder Nähkurs, ist das Elterncafé ein niedrig schwelliger Treffpunkt für Eltern. Hier kann man einfach Kaffee trinken und mit anderen Eltern ins Gespräch kommen. Bei sogenannten „Frühstücksgesprächen“ laden wir Experten ein, z.B. einen Mitarbeiter der ARGE, der erklärt, wie Anträge auf Hartz IV gestellt werden oder die Ärztin des Gesundheitsamtes, die über Vorsorgeuntersuchungen informiert. Es gibt so viele Anlässe, Besuch einzuladen. UP: Die Elternkontakte und das Engagement der Eltern ist sicherlich eine Voraussetzung für den Erfolg Ihrer Schule. Wie ist die Schule von innen heraus organisiert, dass Sie eine so hohe Attraktivität und Vielfalt der Angebote erreicht haben? GSB: Der Schlüssel zum Erfolg ist die professionelle Kooperation der Lehrer. Sie bereiten ihren Unterricht gemeinsam vor, sie dokumentieren und archivieren das Erarbeitete. Man kann in jedem Folgejahr aus dem vorangegangenen Jahr und den Arbeiten aufbauen. Diese Teamarbeit führt auch automatisch dazu, dass es zu einem ständigen Meinungsaustausch über die Kinder, ihre Schwierigkeiten und ihre Lernfortschritte kommt. Lehrer arbeiten natürlich auch zu Hause, indem sie z.B. die individuellen Wochenpläne für ihre Kinder verfassen. Sie überwinden gemeinsame Schwierigkeiten und haben gemeinsame
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Erfolge. Es gibt bei uns keine Einzelkämpfer, die mittags nach Hause verschwinden und sich dort allein auf die Arbeit in ihrer Klasse vorbereiten. UP: In praktisch allen Gebieten von Dortmund-Nord gibt es inzwischen Koranschulen oder islamische Religionsgemeinschaften, die einen großen Einfluss auf die Eltern und auf viele Kinder haben. Wie gehen Sie damit um, dass sich in Ihrer Schule verschiedene Kulturen und Sprachen treffen? GSB: Wie schon erwähnt, wir haben 32 Nationalitäten. Wir demonstrieren, dass wir das Herkunftsland, die Sprache und die Kultur des Herkunftslandes eines jeden Kindes ernst nehmen. Ich kann hier nur einzelne Beispiele nennen. So gibt es z.B. ein Bilderbuch, das heißt „Felix“. Da fliegt ein Hase in verschiedene Länder und schreibt dann Briefe an die Kinder aus diesem Land und auch für die anderen. Das Heimatland jedes Kindes wird im Unterricht zum Thema. Wir ermöglichen den Kindern, dass sie stolz sind auf ihr Land und ihre Kultur. Respekt vor anderen ist eine Grundlage unseres Unterrichts. Hierzu gehört auch, dass wir die islamische Religion in der Schule genau so ernst nehmen wie die christliche. Es gibt islamischen Religionsunterricht. Die Religionen der Migranten müssen einen Platz im Unterricht der bundesrepublikanischen Schulen haben. Dieser islamische Unterricht wirkt sich auf alle Bereiche positiv aus. Der Unterricht wird auf Deutsch erteilt. Wir demonstrieren damit natürlich auch gegenüber den Eltern, dass wir ihre Kultur und ihre Religion respektieren. Durch die islamische Unterweisung sind auch die Beziehungen zur islamischen Gemeinde enger geworden. Der Imam war hier zu einer Versammlung türkischer Eltern und unterstützt uns auch, den Eltern die Bedeutung der Bildung zu vermitteln. UP: Diese grundlegende Einstellung ist sicher sehr wichtig, denn wir wissen aus vielen Studien in belasteten Nachbarschaften mit hohem Migrantenanteil, dass vor allem die islamischen Einwanderer über Mangel an Respekt oder auch sogar über Aggressionen und Antagonismus klagen. GSB: Die Schule als staatliche Institution steht auch für diese Gesellschaft. Fühlen sich die Eltern hier respektiert und anerkannt, beeinflusst das auch eine positive Einstellung zu dem Land, in dem sie jetzt leben. Das mindert die Gefahr der Abschottung. Uns ist auch die Förderung der Herkunftssprache wichtig. Möglichst viele Kinder sollten die Chance haben, in ihrer Muttersprache in der Schule unterrichtet zu werden. Bei 32 verschiedenen Herkunftsländern ist das rein technisch natürlich nicht möglich, aber wichtig wäre schon die Demonstration, dass die Hauptsprachen in der Schule gelernt werden können. UP: Die Offenheit und Direktheit hat ja durch die letzte Einwanderungsgesetzgebung eine neue Basis erhalten. Kinder türkischer Eltern, die hier geboren werden, sind Deut-
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sche, d.h. der deutsche Staat hat Rechte und Verpflichtungen gegenüber diesen Kindern. Ein Ort, wo das zum Ausdruck kommen sollte, ist der Religionsunterricht und der Sprachunterricht in den Schulen. Erst, wenn solche Kooperationen und Angebote bestehen, haben wir als Deutsche auch die Autorität, Forderungen zu stellen. Wir können und sollten sicher nicht fordern „Werdet Deutsch!“, aber wir können fordern „Lernt Deutsch und lernt die Alltagstechniken, die erforderlich sind, um in Deutschland erfolgreich und selbstständig leben zu können!“ GSB: Richtig. Solche Forderungen müssen aber auch auf Angeboten, die von den Eltern leicht zu erreichen sind, aufbauen. UP: Die Grundschule Kleine Kielstraße hat besonders große Bildungserfolge, aber auch Erfolge als Schule in der Nachbarschaft, die z.B. die Stadt dabei unterstützt, dieses Gebiet besser zu entwickeln. Hier drängt sich die Frage auf, wie das Land oder auch die Kommune helfen oder Anreize schaffen könnten, dass die guten Ergebnisse, die hier erzielt werden, und die Methoden, die dabei angewendet werden, von anderen Schulen übernommen und imitiert werden? Damit nicht 5 km weiter die alten, nicht gelösten Probleme weiter bestehen. Im privaten Sektor am Markt muss ein Unternehmer, der Innovationen nicht übernimmt, damit rechnen, dass er im Wettbewerb zurückfällt. Bei den Schulen ist das nicht so. Wie kann man Erfolge von einer Schule oder einem Kindergarten auf andere übertragen und die anderen in der Nachahmung oder in der Entwicklung eigener Lösungen unterstützen? GSB: Indem man gemeinsame Projekte konzipiert und durchführt. Wir haben z.B. an einem Atlas über die Nordstadt mitgearbeitet, in dem die Kinder eingetragen haben, wie sie die Nachbarschaft erleben, wo sie z.B. Angst haben, wo ihre Eltern ihnen verbieten hinzugehen. Der Atlas dokumentiert die Nachbarschaft aus der Erfahrung der Kinder. Diesen Atlas haben die Schulen dem Oberbürgermeister gemeinsam übergeben. Wir wollen zusammen mit anderen Schulen und der Stadt erreichen, dass die Angstecken verschwinden, dass die Spielplätze wieder wirklich für die Kinder da sind, dass die Kinder ein Stück öffentlichen Raum wieder zurückerobern. Kinder erleben ihre Umwelt anders als Erwachsene. Das muss bewusst gemacht werden. Allerdings stehen wir dann auch in der Pflicht, zusammen mit der Kommune Verbesserungen zu erreichen. UP: Wir wissen, dass eine Grundschule allein die Nachbarschaft nicht ändern kann. Es ist Vernetzung notwendig. Das sollte natürlich nicht bei einmaligen gemeinsamen Aktionen stehen bleiben. Jemand kann einen Schulverbund aller Grundschulen gründen, die einmal solche übergreifenden Projekte gemeinsam vorantreiben, daneben aber auch sich in ihren Alltagserfahrungen vergleichen, über die Einführung von Teamarbeit diskutieren,
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hier gemeinsame Fortbildungen machen und gegenseitig hospitieren, um Grundlagen für eine vorantreibende Diskussion zu erarbeiten. GSB: Das ist sicher ein richtiger Weg. Wir sind im Augenblick dabei, gemeinsame Interessen und Themen zu finden, insbesondere um sie an die Politik heranzutragen. Ein Fortschritt wäre, wenn immer mehr Migranten zu Wählern werden würden. Das würde die Wahrnehmung ihrer Anliegen stärken. Eine systematische Übertragung unserer Erfahrungen auf andere Schulen – das klingt mir zu schematisch. Wir werden von verschiedenen Lehrerkollegien besucht und stellen unsere Erfahrungen und unsere Methoden dar. Wir selbst halten natürlich unsere Augen und Ohren ständig offen, wenn wir irgendwo von guten Ideen und positiven Erfahrungen hören. Dann versuchen wir, das nachzuvollziehen, und wenn es geht, in unsere Arbeit zu übernehmen. Es ist richtig, dass das gegenseitige Lernen und die Übertragung von Erfahrungen in der Vergangenheit zu wenig systematisch gefördert worden ist. Da müssen alle besser werden. UP: Eines der Grundprobleme unseres Schulsystems besteht darin, dass immer mehr Jungen den Übergang ins Gymnasium und später das Abitur nicht schaffen. Jährlich gibt es gegenwärtig in ganz Deutschland gut 30.000-35.000 männliche Abiturienten weniger als weibliche. Das beginnt schon beim Übergang ins Gymnasium, wo in der Regel 52 oder 53 % der Erstklässler in den Gymnasien Mädchen sind – gestützt auf die Empfehlungen der Grundschulen. GSB: Wir haben hier an unserer Schulen einen weitgehenden Gleichstand. UP: Dennoch sind die bundesweiten Statistiken eindeutig. Es gibt verschiedene Erklärungen. Ganz offensichtlich sind Jungen ungeduldiger, aggressiver und weniger diszipliniert und kooperativ als Mädchen. Aus dem Intelligenztest wissen wir, dass Jungen und Mädchen sich da nicht unterscheiden. 30.000 weniger männliche Abiturienten bedeuten natürlich auch 30.000 Erfahrungen einer gewissen Zurücksetzung oder Enttäuschung oder auch eine gewisse Verletzung. Ganz unabhängig davon, dass Bildungspotenziale verschenkt werden. Man kann gegenwärtig formulieren, dass bei den Jungen und bei den Migranten die größten unausgeschöpften Bildungspotenziale bestehen. Ich weiß, dass es hier keine Patentrezepte gibt, aber es gibt Hinweise, in welche Richtungen Lösungen gesucht werden können. So hat sich z.B. an einzelnen Schulen in den USA gezeigt, dass eine tägliche 40-minütige, wirklich intensive körperliche Anstrengung in verschiedenen sportlichen und körperlichen Betätigungen einmal das Leistungsniveau der Schulen insgesamt erhöht und die Unterschiede der Schulergebnisse zwischen Jungen und Mädchen reduziert werden (vgl. Christian Pfeiffer, Kapitel X).
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Gisela Schultebraucks-Burgkart
GSB: Das klingt ziemlich plausibel. Solche Projekte müssen erprobt werden. Wir können im Augenblick nur mit unseren Mitteln versuchen, das angesprochene Problem zumindest zu reduzieren. Es ist klar, dass wir viel mehr emotional befriedigende Auslastung vor allem der Jungen brauchen. Vor allem in den innerstädtischen Wohngebieten, wo es zu wenig Bewegungsmöglichkeiten gibt, liegt das auf der Hand. Man kann einiges schon im Unterricht ändern. Man muss nicht die Klasse den ganzen Morgen lang sitzen lassen. Die Kinder brauchen die Möglichkeit, mal aufzustehen, sich etwas zu holen, ein Bewegungsspiel zu machen, um aus dieser „körperlichen Starre“ herauszukommen. Das wird bei uns in den Unterricht eingebaut. Aber gemessen an solchen systematisch herbeigeführten körperlichen Anstrengungen ist das natürlich noch wenig. UP: Die Grundsatzfrage bleibt natürlich, inwieweit kann man den Unterricht und die Unterrichtsinhalte so anpassen, dass sich die Jungen stärker angesprochen und motiviert fühlen? Inwieweit kann die Schule z.B. den Einfluss von Computerspielen mit Gewaltinhalten, von denen vor allem Jungen fasziniert sind, zurückdrängen? Dies scheint auch eine der Ursachen für relativ schlechtere Schulergebnisse der Jungen zu sein. GSB: Auch hier ist die Kooperation mit den Eltern gefragt. Allerdings helfen da Mahnungen und Hinweise allein nicht. Es müssen konkurrierende Angebote bestehen, die vor allem Jungen faszinieren. Da sind wir wieder beim Sport, aber auch bei Projekten, die Jungen in ihrer Kreativität und in ihren Fähigkeiten herausfordern. Die sogenannte Medienerziehung ist, glaube ich, noch nirgendwo voll befriedigend gelöst. UP: Ein letztes Thema: Wie autonom und selbstständig muss eine Schule nach Ihrer Meinung agieren können, damit sie erfolgreich arbeiten kann? GSB: Wir haben hier in der letzten Zeit durchaus Erfolge erzielt. So können wir freie Stellen ausschreiben. Lehrer können sich auf unser Profil bewerben und die Auswahlkommission der Schule entscheidet darüber, wer in unser Kollegium aufgenommen wird. Das motiviert natürlich, wenn der einzelne Lehrer weiß, wir haben uns für ihn entschieden und nicht irgendjemand anderes hat entschieden, dass er an unsere Schule kommt. Für mich ist wichtig, dass wir Einfluss auf die Zusammensetzung unseres Lehrerkollegiums haben und wir die uns zugewiesenen Mittel selbst verwalten. Ich brauche keine Personalhoheit in dem Sinne, dass ich über Lehrergehälter und die Finanzierung der Lehrer entscheide. UP: Das ist durch das Beamtensystem de facto auch gar nicht möglich. Jedenfalls ist das in den Ländern, in denen deutliche Veränderungen realisiert wurden, so gewesen, dass die Schulen den Kommunen stärker verantwortlich sind. Unabhängig von der Stärkung der Autonomie der Schulen wird überall deutlich, dass in den belasteten Nachbarschaften mit hohem Migrantenanteil die Kommunen enger mit den Schulen zusammenarbeiten.
XI. Eine gute Schule
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Das Image der Schulen und die Ergebnisse der Schulen entscheiden auch über die Wanderungen. Dort, wo Schulen ein schlechtes Image haben, wandern fast nur noch Personen mit geringen Wahlmöglichkeiten zu. Die Aufsteiger ziehen weg. Schulen sind per se für die Entwicklung einer Nachbarschaft besonders bedeutsam. Im Ergebnis müssen Wohnungsunternehmen, Kommune und Schulen zusammenarbeiten, dass durch eine Attraktivitätssteigerung auch eine andere Zusammensetzung der Schüler und Eltern erreicht wird. Das kann die Schule nicht allein schaffen, aber auch die Kommune schafft das alleine nicht. Die Zusammenarbeit, die hier in Ihrer Schule Kleine Kielstraße mit der Stadt Dortmund erreicht wurde, scheint mir nur ein Anfang. Das muss viel intensiver werden, um das Gebiet zu entwickeln, die Entwicklungschancen von Kindern und die sozial einseitige Zusammensetzung zu verbessern. GSB: Dem kann ich nicht widersprechen. Tatsächlich hat sich in unserem Gebiet zwischen Schule und der Nachbarschaft vieles geändert. Ich glaube, dass man mit ständiger konkreter Arbeit Schritt für Schritt Erfolge erzielen kann. Ich glaube, dass wir in dieser Methodik weitergehen müssen, d.h. Schritt für Schritt engere Beziehungen zur Kommune, vom Jugendamt bis hin zum Schulamt und zum Sozialamt, Schritt für Schritt Ausweitung unserer Kontakte zu den Eltern und mehr Engagement und Verantwortung der Eltern für ihre Kinder in der Schule und für die Schule insgesamt.
XII. Klimapolitik: Auf der Suche nach globaler Wirksamkeit XII. Klimapolitik: Auf der Suche nach globaler Wirksamkeit
Harald Simons
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Kein Zweifel an der Klimaänderung – aber noch keine weltweit wirksame Strategie
Klima und Erdatmosphäre sind wie Wasser und Boden Voraussetzung unseres Lebens. Das Klima wird durch Menschen gefährdet. Es gibt praktisch keine Zweifel mehr daran, dass die Erde sich zum Schaden der Menschen erwärmt und diese Erwärmung von Menschen durch die Verbrennung fossiler Kohlenstoffe verursacht wird. Die Klimaexperten streiten nur noch über die Bandbreite der Risiken und das Ausmaß der Schäden. Die durch Erwärmung der Atmosphäre verursachten Schäden belasten die Menschheit sehr ungleich und werden oft diejenigen besonders treffen oder in ihrer wirtschaftlichen und kulturellen Existenz bedrohen, die diese Schäden am wenigsten verursacht haben. Die Erwärmungen haben im kühleren Norden weniger wirtschaftliche Folgen als in den vom Meer bedrohten Siedlungsgebieten in Bangladesh oder in den Wüsten- oder Tropenzonen der Welt. Als besonders bedroht gilt das sogenannte Korallendreieck (Küstenregionen von Indonesien, Malaysia, Philippinen und mehrerer anderer Länder), wo die Korallenriffe abzusterben drohen. Nach Untersuchungen, deren Realismus allerdings schwer zu überprüfen ist, würden 200 Mio. Menschen ihre Lebensgrundlage verlieren, weil z.B. Fische aussterben und Überflutungen um sich greifen (Vgl. u.a. Brown 2008). Teilen der Welt droht fast schon nicht mehr vermeidbar ein neuer Klimakolonialismus. Die Öffentlichkeit, Wähler und Konsumenten sind in immer mehr Staaten der Erde in zunehmendem Maße bereit, Veränderungen zu akzeptieren. Es gibt Millionen, bald vielleicht Milliarden von Menschen, die moralisch tief betroffen und entsetzt sind über die Hybris der Menschheit und ihren Raubbau an der uns geschenkten Natur. Doch es gibt auch weiterhin – wenn auch abnehmend – eine
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Verweigerungshaltung entweder aus intellektueller Arroganz, einfachem Egoismus oder irrationalem Urvertrauen in die Stabilität der Welt. Es gibt einen rasant wachsenden Verbrauch durch Menschen, die sich gerade aus Not und Elend herausarbeiten oder andere, die eine lässige Gedankenlosigkeit praktizieren und jeden Morgen mit einem geländefähigen Großraumauto auf Stadtstraßen zur Arbeit fahren. Die nationalen Politiken haben in unterschiedlichem Ausmaß reagiert und versuchen durch eine Vielzahl von Maßnahmen und Programmen den Kohlendioxidausstoß zu senken. Auch auf internationaler Ebene sind mit dem KyotoProtokoll bereits erste internationale Abkommen in Kraft getreten. Innerhalb der Europäischen Union wurde mit dem Emissionshandelssystem bereits ein weitreichendes System zur Reduzierung des Kohlendioxidausstoßes etabliert. Kurz gesagt: Die Politik war nicht untätig und hat zum Teil beherzt eingegriffen. Trotz allem ist es bislang – von kurzfristigen konjunkturellen Rückgängen abgesehen – nicht gelungen, den Anstieg des weltweiten CO2-Ausstoßes auch nur zu bremsen, von einer Reduzierung ganz zu schweigen (s. Abbildung 1). Was an einer Stelle der Welt eingespart wird, verbrauchen andere in anderen Regionen der Welt. Selbst hoch emotionalisierte Länder wie Deutschland haben es bislang – abgesehen vom klimapolitischen Glücksfall der Abwicklung der maroden ostdeutschen Industrie – nicht geschafft, ihren Kohlendioxidausstoß zu senken. Selbst Länder mit besonderen natürlichen Vorraussetzungen wie Island und Norwegen ist dies bislang nicht gelungen. Die Meinungen darüber, was und wie viel unternommen werden sollte, gehen weit auseinander. Hier türmen sich ganze Berge widersprüchlicher Urteile, moralisch begründete Handlungsaufforderungen, aktionistische Handlungshektik, aber auch Versuche, die Rettung des Klimas möglichst anderen zu überlassen. Insgesamt sind die Ergebnisse eher deprimierend. Der CO2-Ausstoß wächst nach allen Prognosen weiter. Dieser Text argumentiert, dass eine Neuausrichtung der Klimaschutzpolitik nötig ist. Trotzdem waren die bisherigen Politiken nicht nutzlos. Die diversen Förderprogramme und allgemein die hohe Aufmerksamkeit waren ein nützlicher Try-and-Error-Prozess, der es uns heute erlaubt, die Spreu vom Weizen zu trennen.
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Keine Entlastung durch ein Versiegen der Ölquellen Fossile Brennstoffe sind – leider – in großen Mengen verfügbar. Eine Begrenzung der Klimaerwärmung durch ein Versiegen der Ölquellen ist nicht zu erwarten. Daher ist auch nicht mit nachhaltigen Preissteigerungen zu rechnen, die alternative Energien quasi automatisch rentabler werden lassen. Der SternReport führt aus, dass die wachsende Weltölnachfrage ohne Klimaschutzpolitik (Laisser-faire-Politik) bis mindestens 2050 mit Öl zu Förderkosten von unter 30 $/Barrel bequem bedient werden kann, die Hälfte davon unter 15 $.1 Derzeit wird Öl zu Grenzkosten von 25 $ gefördert (World Energy Council Scenario Study Group “Price Drivers” 2007). Der World Energy Council rechnet mit Produktionskosten von höchstens 25 $ und beschließt, dass die Ölreserven bis 2050 nicht beschränkend oder preistreibend wirken werden.2 Ähnlich äußert sich auch die International Energy Agency (2005).
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Klimaschutz muss effizienter werden
Die bisherige Klimaschutzpolitik zeichnet sich durch eine geradezu ablehnende Haltung gegenüber Effizienzgesichtspunkten aus. Forderungen nach mehr Effizienz, in der Regel in Geldeinheiten ausgedrückt, wird oft als „Ökonomismus“ abgetan. Es erscheint vielen Menschen unangebracht, bei Fragen, die sich um das Überleben der Menschheit drehen, über Geld zu reden. In der Folge wird gegen Regeln der Rationalität ständig aus emotionalen Motiven verstoßen – so durch das Motiv, jetzt sofort irgendetwas gerade dort zu tun, wo die großen Emissionen entstehen, oder wo die Politik direkten Zugriff hat. Das erklärt zum Teil, warum Einsparmethoden oder Einsparungssubventionen zum Teil haarsträubend ineffektiv oder sogar redundant sind. Die Vermeidung einer Tonne CO2 per Photovoltaikanlage kostet in Deutschland zwischen 400 und 600 €. Die Vermeidungskosten per Erdgas- und Dampfkraftwerk (GuD)
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Der Stern Report (Stern 2006) vermerkt hierzu: “To date, about 2.7 trillion barrels of oil equivalent (boe) of oil, gas and coal have been used up. At least another 40 trillion boe remain in the ground, of which around 7 trillion boe can reasonably be considered economically recoverable. This is comfortably enough to satisfy the BAU demand for fossil fuels in the period to 2050 (4.7 trillion boe)." “Reserves do not appear to present a significant constraint in the period covered by the study [2050]” (World Energy Council 2007).
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liegen hingegen zwischen 21 und 34 €/Tonne.3 Anders ausgedrückt: Mit Photovoltaikanlagen wurden im Jahre 2007 in Deutschland rund 2,3 Mio. Tonnen CO2 vermieden (Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 2008: S. 23). Schade, denn wären die Mittel in Erdgas-GuD-Kraftwerke geflossen, hätten es 46 Mio. Tonnen sein können. Wenig wirksame Photovoltaikanlagen werden in Deutschland eingerichtet, weil das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) garantiert, dass jede mit alternativen Energien erzeugte Kilowattstunde von den Elektrizitätsversorgern gekauft und mit einem Preis vergütet wird, der deutlich über dem Marktpreis für Strom liegt. Die Kosten werden von den Stromverbrauchern getragen (Kosten 2007 4,3 Mrd. € (Wenzel 2008) oder gut 110 € pro Haushalt und Jahr). Andere derzeit in Europa diskutierte Maßnahmen, wie die Auflage, die CO2-Emissionen auf 120 g/km für Pkws zu senken, sind genauso ineffizient. Der Autor dieser Zeilen hat eine Zeit lang in einer Mittelstadt in Sibirien gearbeitet. Die Beheizung von rund 20.000 Wohnungen und öffentlichen Gebäuden der Stadt erfolgte per Fernwärme. Da die stählernen Fernwärmerohre nur minimal isoliert über Land gelegt wurden, musste nahezu kochendes Wasser unter hohem Druck hineingepumpt werden, damit genügend Heizwärme in den Wohnungen ankam. Zudem konnten die Heizkörper in den Wohnungen nicht reguliert werden, die gewünschte Temperatur wurde durch Öffnen und Schließen der Fenster eingestellt. Für die Heizkostenrechnung wurden sämtliche Kosten der Heizwerke addiert und durch die Zahl der beheizten Wohnungen in der Stadt geteilt – dies alles bei Temperaturen von bis zu minus 30 Grad und einer neun Monate langen Heizperiode. Nach unseren damaligen Berechnungen hätte der Energieverbrauch mit Investitionen von 164 $ pro Wohnung auf ein Zehntel reduziert werden können. Wahrscheinlich könnte allein in dieser Mittelstadt mehr CO2 eingespart werden, als durch sämtliche Niedrig-, Niedrigst- und Nullenergiehäuser in Deutschland bislang eingespart wurde – zu einem Bruchteil der Kosten.4 Die moralisch begründete Ablehnung von Effizienzkriterien läuft Gefahr, die durchaus vorhandene Bereitschaft der Konsumenten und Wähler zum Konsumverzicht zugunsten des Klimaschutzes zu verspielen. Nach einer Umfrage ist 3
4
Jeweils im Vergleich zu einem modernen Steinkohledampfkraftwerk mit Kohlenstaubfeuerung. Mit dem Clean Development Mechanism (CDM) ermöglichen das europäische Emissionshandelssystem und das Kyoto-Protokoll zwar grundsätzlich, sich Energieeinsparinvestitionen in anderen Ländern zurechnen zu lassen, allerdings beschränkt auf maximal 20 % der durch das Kyoto-Protokoll festgelegten Minderungsziele.
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eine knappe Mehrheit der US-Amerikaner bereit, bis zu 80 $ pro Haushalt und Jahr für den Klimaschutz auszugeben. Mit steigender Summe sinkt die Zustimmung. Kosten von 175 $ sind nur noch rund ein Drittel bereit zu tragen. Bei 770 $ sinkt die Zustimmung auf unter 10 % (YouGov/Polimetrix poll 2009). Wahrscheinlich dürfte die Zahlungsbereitschaft insgesamt in Deutschland etwas höher sein, begrenzt ist sie aber nichtsdestotrotz. Nur für die Förderung alternativer Energien zahlten deutsche Haushalte bereits 2007 rund 110 € pro Haushalt und Jahr. Es ist plausibel anzunehmen, dass die Zahlungsbereitschaft für Klimaschutz mit dem Einkommen steigt. Einkommensreichere Haushalte können sich nicht nur mehr Klimaschutz leisten, sondern können auch ihren normalen Lebensunterhalt einfacher bestreiten. Ärmere Haushalte werden durch Klimaschutz stärker belastet als reichere. Als im Sommer 2008 der Heizölpreis vorübergehend auf in der Spitze fast 1 €/l gestiegen war, gewannen sozialpolitische Argumente deutlich an Gewicht. Der Vorsitzende der Bundestagsfraktion der Linken, Gregor Gysi, fürchtete Kältetote in Deutschland (Focus-Online 2008) und der DGB-Vorsitzende Sommer formulierte: „Frieren ist genauso schlimm wie hungern. Das kann keine Regierung hinnehmen.“ Es existiert ein Zielkonflikt zwischen Klimaschutz und Sozialpolitik, der nur durch effizienteren Klimaschutz gelindert werden kann. Vor diesem sozialpolitischen und allgemeinpolitischen Hintergrund, darf die Klimapolitik nicht weiter ineffiziente oder sogar wirkungslose, aber teurere Politiken verfolgen. Ein besonders drastisches Beispiel entsteht unter dem Dach des europäischen Emissionshandelssystems, das eine absolute Emissionsgrenze festlegt. Als Folge macht es keinen Sinn, mit anderen Techniken zusätzlich Emissionen in den beteiligten Branchen einzusparen, weil dies lediglich die Preise im Emissionshandel, nicht jedoch die gesamte Ausstoßmengen an CO2 verändert (s. nachfolgenden Kasten). Widersprüchliche Einbettung des europäischen Emissionshandelssystems Das europäische Emissionshandelssystem ist das Kernstück der europäischen Klimapolitik. Das Emissionshandelssystem hat zwei entscheidende Vorteile gegenüber anderen Klimaschutzpolitiken wie Klimaschutzauflagen, Förderung erneuerbarer Energien etc. Es senkt den CO2-Ausstoß auf die gesetzlich vorgegebene Emissionsmenge. Europaweit können in den Jahren 2008 bis 2012 in den einbezogenen Bereichen insgesamt nur 2,081 Gigatonnen CO2 jährlich emittiert werden. Die Regeln für die Jahre ab 2013 sollen 2009 fixiert werden. Der Vorschlag der europäischen Kommission sieht eine Reduzierung auf 1,97
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Gigatonnen für das Jahr 2013 vor. Bis 2020 soll die vorgegebene Emissionsmenge auf 1,72 Gigatonnen gesenkt werden, dies entspricht einer Reduktion der Emissionen um 21 % gegenüber 1990. Zwar beschränkt sich das Emissionshandelssystem auf die großen Kohlendioxidemittenten (Stromerzeugung, Kokereien, Stahlwerke, Zementindustrie etc.), gleichwohl deckt dies aber 45 % der gesamten europäischen CO2-Emissionen ab (Deutschland 51 %) (International Energy Agency 2007: S. 84). Besondere Widersprüche entstehen zwischen dem Erneuerbare-EnergienGesetz (EEG) und dem Emissionshandelsystem, da das Emissionshandelsystem vorschreibt, dass nur 2,081 Gigatonnen CO2 jährlich von den Stromerzeugern sowie Kokereien, Stahlwerken, Zementindustrie etc. emittiert werden dürfen. Senken nun die deutschen Stromversorger ihre CO2-Emissionen durch EEG-geförderten Sonnen- oder Windstrom, so benötigt sie weniger Zertifikate. Da die Zertifikate wertvoll sind (im Jahr 2008 schwankte der Preis für das Recht auf die Emission einer Tonne CO2 zwischen 14 und 30 €) werden die gewinnmaximierenden Stromerzeuger diese verkaufen. Das CO2 wird entsprechend an anderer Stelle emittiert, insgesamt nicht mehr und nicht weniger als die festgelegten 2,081 Gigatonnen. Das EEG ist aus Klimasicht vollständig redundant, es hat nur eine Nebenwirkung. Die Preise für die Zertifikate sinken und die Kokereien, Stahl- oder Zementwerke können sich billiger eindecken. Über die Motive solcher Widersprüchlichkeiten kann man nur spekulieren. Ganz offensichtlich wäre es schwer, mit Subventionen hochgepäppelte Kapazitäten nicht weiter zu päppeln. Außerdem gelten die kapazitätserweiternden Förderungen der Solar- oder Windenergie vielfach als industriepolitisch wichtige Maßnahme, was mehr als zweifelhaft ist, denn wir stehen am Beginn eines Subventionswettlaufs um Weltmarktanteile an diesen Einspartechnologien, der zwischen den Subventionsländern als Nullsummenspiel enden kann. Außerdem hat die Aufbringung der Mittel beschäftigungsmindernde Effekte. Die Gesamtwirkungen sind mehr als zweifelhaft. Es wurde nie plausibel gemacht oder systematisch geprüft, ob diese Verwendung der öffentlichen Mittel tatsächlich die beste Verwendung knapper öffentlicher Klimaschutzressourcen bedeutet, z.B. Bildung oder Forschung. Notwendig wäre eine systematische Forschung über die Erfolgschancen unterschiedlicher Maßnahmen oder Technologien und kein Hinterherlaufen hinter lobbystarken Sektoren, deren Produkte überwiegend nur den Vorteil leichter Erfahrbarkeit haben und viele Wähler direkt begünstigen.
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Egoistische Länder und erlösmaximierende Anbieter von Kohlenstoffenergien – eine Konstellation für unwirksamen Klimaschutz
Jede nationale Reduktion des CO2-Ausstoßes hat unter gegenwärtigen Bedingungen kaum spürbare Klimaverbesserungen zur Folge. Nationale Klimapolitik muss damit rechnen, dass ihre Wirkung in der restlichen Welt verpufft. Im Ergebnis sind die Anreize für eigene Einsparungen in vielen Ländern gering. Selbst wenn es gelingt, durch Kooperation größere Maßnahmen zu vereinbaren, würden – so ein „weitgehender Konsens der Umweltökonomen“ (Endres 2008: 357) – diese Maßnahmen unterlaufen werden. Die ökonomische Forschung hat uns schon lange klargemacht, dass „bei rationalem Verhalten“ der einzelnen Länder, Bürger und sonstigen Akteure die Unmöglichkeit einer weltweiten Strategie plausibel wäre, weil die meisten Akteure sich am liebsten als Trittbrettfahrer verhalten würden. Der individuelle Beitrag jedes Einzelnen zur Emissionsminderung ist verschwindend gering, seine Einschränkungen in Einkommen, Konsum und Lebensstil hingegen nicht. Individuell ist es auch für ganze Länder rational, sich nicht an Einsparungsabkommen zu beteiligen. Es besteht zudem die Sorge, dass die Anbieter von fossilen Energien wirksame Kooperationsabkommen von mehreren Staaten unterlaufen werden. Sollte die Nachfrage dank wirksamer Klimaschutzpolitik zu sinken drohen, würden die Anbieter notfalls ihre Preise senken. Spart eine Weltregion Kohlenstoffenergie ein und reduziert damit die Nachfrage mit der Folge sinkender Preise, dann kann eine andere Weltregion ihre realisierte Nachfrage erhöhen. Einsparungen in einem Teil der Welt – z.B. durch das Kyoto-Abkommen – werden somit durch Mehrabsatz in einem anderen Teil der Welt unterlaufen sowie, was wahrscheinlich ist, auch von den nicht ganz so ehrgeizigen Kyoto-Staaten.5 Die Wahrschein5
Dass Russland dem Kyoto-Protokoll beigetreten ist, wird allgemein als großer Fortschritt betrachtet. Ob allerdings klimapolitische Gründe für den Beitritt ausschlaggebend waren, darf bezweifelt werden. Da als Referenzjahr das Jahr 1990 festgelegt wurde, erfüllte Russland aufgrund der Abwicklung der maroden sozialistischen Wirtschaftsstruktur seine Einsparungsquoten ohnehin. Das Kyoto-Protokoll erlaubte es Russland, seine ohnehin vorhandene Reduktion über Emissionszertifikate zu verkaufen („Hot Air Problem“). Das DIW schätzt, dass Russland dadurch Einnahmen in Höhe von rund 20 Mrd. $ zwischen 2008 und 2012 erzielen konnte (DIW Wochenbericht, 42/2004, vgl. http://www.diw.de/deutsch/wb_42/04_die_oekonomischen_kosten_des_klima wandels/31209.html). Wenn Russland in den nächsten Kyoto-Runden tatsächliche Einsparungsleistungen erbringen soll, so bleibt die Reaktion abzuwarten.
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lichkeit für diesen Kompensationseffekt ist umso größer, je größer der nicht durch Verträge gebundene Teil der Weltnachfrage bleibt. Den Anbietern bleiben mit ihren Lagerstätten immer nur zwei Möglichkeiten: fördern oder liegen lassen. Explorateure haben – im Gegensatz zu normalen Produzenten von Hühnereiern bis Pkws – nicht die Möglichkeit, ihre Produktion umzustellen. Von ihren Entscheidungen hängt ab, ob aus Mindernachfrage in Teilen der Welt auch ein Minderverbrauch in der ganzen Welt wird. Die Eigentümer der Ölquellen sind die Türwächter der Klimaerwärmung. Solange es noch ungebundene Nachfrager gibt, können und werden sie diese bedienen – notfalls zu niedrigeren Preisen, solange die Erlöse die Förderkosten übersteigen. Ihre Preise sind nicht starr, sondern reagieren sehr stark auf Nachfrageveränderungen. Solche Reaktionen sind selbst bei erst künftig wirkenden Maßnahmen, z.B. bei einer im Zeitablauf zunehmenden Ökosteuer, zu erwarten, die von den Anbietern antizipiert wird – ein Dilemma grüner Klimapolitik (vgl. Sinn 2008). Es ist erstaunlich, wie wenig sich die Klimapolitik bisher um diese Anbieterreaktionen kümmert. Noch immer wird in der Öffentlichkeit der Eindruck genährt: Je vielfältiger die Maßnahmen und je stärker sie begünstigt werden, umso wirksamer ist unser Beitrag zur Klimapolitik. Die Neigung, gute Motive als Ersatz für kritische Auswahl der wirklich wirksamen Maßnahmen zu nehmen, um darauf alle Energien zu konzentrieren, scheint unausrottbar. Russlands ungeplante CO2-Minderung nach dem Ende der Sowjetunion: Das größte Einsparexperiment der Welt blieb ohne Ergebnisse? Es wird vielfach übersehen, dass es bereits einen großen Präzedenzfall für einen unilateralen Rückgang des Energieverbrauchs gegeben hat. Anfang der 1990er Jahren sank der Verbrauch fossiler Energien in einem Teil der Welt – im ehemaligen Ostblock – in einem auch auf globaler Ebene quantitativ relevanten Ausmaß. Der Ölverbrauch bzw. der Kohlendioxidausstoß aufgrund des Ölverbrauchs sank allein in der UdSSR bzw. den Nachfolgestaaten zwischen 1991 und 1994 um 50 % oder 6,7 % des Weltölverbrauchs von 1990. Der damalige Nachfragerückgang entspricht dem 1,5-fachen des gesamten aktuellen deutschen Ölverbrauchs. Trotz dieses Rückgangs des Kohlendioxidausstoßes durch gesunkenen Ölverbrauch in einem Teil der Welt veränderte sich die Weltölproduktion und damit der Weltölverbrauch in keiner Weise – nicht einmal eine kleine „Delle“ ist zu erkennen (s. Abbildung 1). Entsprechend wur-
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de auch der Kohlendioxidausstoß in keiner Weise tangiert.6 Dass die Gründe und Ursachen für den Rückgang der CO2-Emissionen in der ehemaligen UdSSR nicht in einer Klimaschutzpolitik zu suchen sind, ist dabei irrelevant. Der CO2-Ausstoß wurde unilateral gesenkt, warum auch immer. Es ist völlig unplausibel anzunehmen, dass ein erneuter Rückgang des fossilen Energieverbrauchs in einem Teil der Welt nicht zu einem entsprechend höheren Verbrauch im anderen Teil führen wird. Kohlendioxidausstoß durch Ölverbrauch, UdSSR bzw. Nachfolgestaaten, Welt und Deutschland, 1980-2005
1.400
14.000
1.200
12.000
in Mrd. Tonnen
1.000
10.000 -6,7% der Welt CO2Emissionen durch Ölverbrauch
800
8.000
600
6.000
400
4.000
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UdSSR bzw. Nachfolgestaaten (linke Achse)
Deutschland (linke Achse)
in Mrd. Tonnen
Abbildung 1:
2.000
Welt (rechte Achse) 0
19 80 19 81 19 82 19 83 19 84 19 85 19 86 19 87 19 88 19 89 19 90 19 91 19 92 19 93 19 94 19 95 19 96 19 97 19 98 19 99 20 00 20 01 20 02 20 03 20 04 20 05
0
Quelle: empirica-Darstellung nach United States Energy Information Administration (2009)
Wer der hier formulierten Hypothese des Verhaltens der Eigentümer von Lagerstätten nicht folgt, muss zwingend eine andere Angebotshypothese formulieren, denn Nachfragerückgänge reduzieren das Angebot nicht. Dazwischen schieben sich unausweichlich die Strategien der Eigentümer, die ihr Öl in jedem Fall und notfalls zu niedrigeren Preisen verkaufen wollen.
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Ähnliches gilt für den Kohlendioxidausstoß durch Gas oder Kohle.
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Weltweites Nachfragemonopol oder Kauf von Lagerstätten, um Öl in der Erde zu lassen?
Der weitgehende Konsens unter Umweltökonomen, dass ein freiwilliges Klimaschutzabkommen keine Erfolgsaussichten hat – da ein einseitiges Ausscheiden aus der Klimaschutzkoalition immer rational wäre – ist eine zwingende Folge des ökonomischen Denkmodells. Leider kann die volkswirtschaftliche Forschung dabei eine sehr lange Liste ähnlich gelagerter Probleme vorweisen, in denen ebenfalls keine Verhandlungslösung erreicht wurde – Überfischung, Überweidung in biblischer Zeit und in der Sahelzone heute, Staus auf Autobahnen, übermäßige Wasserentnahme an Ganges, Rio Grande, Jordan und Aralsee oder am Tigris vor 4.500 Jahren sind nur einige Beispiele. Selbst der Niedergang der Osterinselkultur im 17. Jahrhundert wird auf die Unfähigkeit der Bevölkerung, ihre Waldbestände zu schützen, zurückgeführt. Die Klimapolitik folgt einem anderen Denkmodell. Hier herrscht die Vorstellung vor, dass gute Beispiele Nachahmer finden und dass die Bereitschaft wächst, einen Beitrag zur Sicherung des gemeinsamen Kollektivguts zu leisten. Die Vorbildfunktion wird bei allen Maßnahmen betont, sei es bei technischen Modellprojekten oder im Vorfeld von internationalen Verhandlungen. Stets steht im Hintergrund die Vorstellung: „Wenn nicht mal Deutschland/die Industriestaaten ihre Emissionen reduzieren, dann werden es die aufstrebenden Schwellenländer auch nicht tun.“ Nur in diesem Denkmodell ist es schlüssig, auch sehr teure Investitionen mit geringer CO2-Vermeidungwirkung in Deutschland zu fördern und nur in diesem Denkmodell ist es vordergründig sinnvoll auf ein Zertifikatehandelssystem noch die redundante Förderung erneuerbarer Energien aufzusatteln. Eine implizite Konsequenz des „Vorbildmodells“ aber ist, dass tatsächliche weltweite CO2-Einsparungen – nicht nur nationale, die von anderen Weltregionen wieder ausgeglichen werden – erst in Zukunft zu erwarten sind, wenn die guten Beispiele Schule gemacht haben. Es kann aber auch die Selbstaufklärung unter dem Eindruck weiterer Krisensymptome vorankommen. Ob, in welchem Zeitraum und über welchen Mechanismus die Selbstaufklärung und Vorbildfunktion international wirken soll, bleibt dabei überwiegend im Dunkeln. Im Ergebnis liegen zwei Denkmodelle vor. Das Denkmodell der Ökonomen ist zwar theoretisch und empirisch sehr fundiert und leider sehr plausibel, führt aber nicht zu einer Lösung des Klimaproblems. Das Denkmodell der Klimapolitik hingegen ist nebulös und birgt das Risiko, den Goodwill der Bevölkerung durch wirkungslose, aber teure Programme zu zerstören.
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Wahrscheinlich kann wirksamer Klimaschutz nur durch die Kombination aus beiden Denkmodellen erreicht werden. Auf der einen Seite bedarf es der tiefen Betroffenheit, die durch wachsende Klimaschäden in Zukunft weltweit wachsen wird, um den notwendigen Handlungswillen bei Bevölkerung, Wirtschaft und Politik auszulösen. Auf der anderen Seite bedarf es in der Umsetzung mehr Rationalität. Daher sollte auch weiterhin versucht werden, mit freiwilligen internationalen Abkommen ein weltweites Nachfragemonopol nach Öl oder generell nach Kohlenstoffenergie zu erreichen, das Obergrenzen weltweit verbindlich festlegt, auch wenn die Erfolgsaussichten kurz- und mittelfristig eher gering sind. Sobald die großen Verbraucherstaaten teilnehmen, können zudem kleinere, nicht teilnehmende Länder mit außenpolitischen Maßnahmen gezwungen werden, teilzunehmen. Die Geschichte lehrt, dass trotz vieler ungelöster Probleme es den einzelnen Gesellschaften in einer Reihe von Fällen gelungen ist, Allmendegutprobleme zu lösen, z.B. Straßenbau, öffentliche Sicherheit und Gerichtsbarkeit, saurer Regen, Feuerwehr, Abwasser oder Protektionismus, auch wenn dies bislang fast immer regional oder national begrenzte Probleme waren. Unbestreitbar ist, dass der hohe öffentliche Stellenwert eine weltweite Suche nach alternativen Energien, Möglichkeiten der Energieeinsparung und nicht zuletzt auch künstliche CO2-Senken ausgelöst hat. Dieser Try-and-Error-Prozess sollte auch weitergeführt werden, allerdings muss jetzt zunehmend sichergestellt werden, dass
sich die erfolgreichen Innovationen international verbreiten. Hierbei dürfte es sich eher um Doppelglasfenster als um Plusenergiehäuser handeln. nicht erfolgreiche Versuche eingestellt werden, wobei „nicht erfolgreich“ nicht nur in der Kategorie technische Machbarkeit gemessen werden sollte, sondern auch und gerade in der Kategorie Kosten pro Einsparung. Das EEGGesetz ist mit Sicherheit kein Vorbild, wenn allein die Kosten pro Kopf höher sind als die Einkommen der 65 Mio. Chinesen unter der Armutsgrenze.
Der Suchprozess nach technischen und ökonomischen Lösungen, den CO2-Gehalt der Luft zu stabilisieren, sollten auf breiter Front mit durchaus substanziellem Einsatz öffentlicher Mittel weiter fortgeführt werden. Es ist nicht sinnvoll, Lösungen wie die unterirdische Speicherung von CO2 bereits im Ansatz zu verwerfen. Wenn die Modellprojekte weder ökonomisch noch technisch sinnvoll sind, werden sich ohnehin keine Nachahmer finden.
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Daneben sollten Strategien ausprobiert werden, das verfügbare Angebot an fossilen Energieträgern zu reduzieren. So könnten den Inhabern von Ölquellen die Vorräte, die sich noch in der Erde befinden, abgekauft werden, um ihre Verbrennung zu verhindern. Das würde zu Preissteigerungen führen und zusätzlich die Nachfrage weltweit über den Preis beschränken. Eine solche Strategie mag utopisch erscheinen. Sie wäre zumindest dort sinnvoll und vielleicht auch durchsetzbar, wo Lagerstätten in sehr sensiblen Teilen der Welt (Regenwälder, arktische Gebiete) ausgebeutet werden sollen.7 In einer noch weiter gehenden Strategie könnten die großen Industrienationen zumindest auf die Förderung ihrer Lagerstätten verzichten bzw. diese einschränken. Deutschland könnte auch hier ein Vorbild werden und auch die letzten Reste des Kohlenbergbaus unter Verzicht auf Importe einstellen.
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Die absolute Priorität: Preiswerte saubere Energien entwickeln
Ziemlich unverständlich ist, dass die bisherige Klimapolitik sich dem emotionalen Trampelpfad anvertraut, der uns allen signalisiert, mit guten Sparmotiven würden wir das Klima retten, ohne mit annähernd gleicher Intensität der Frage nachzugehen, wie mit neuen Technologien, die unsubventioniert preisgünstiger sind als die Kohlenstoffenergien, der Energiehunger der Menschheit befriedigt werden kann. Die Daten zeigen, dass der Staat in die Energieforschung, die über Solar- und Windenergie hinausgeht, erstaunlich wenig Ressourcen investiert hat. Die öffentlichen und privaten Ausgaben für die Energieforschung beliefen sich in Deutschland im Jahre 2005 auf gerade einmal 470 Mio. € oder 5,7 € pro Kopf und Jahr (Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie 2006). Aus der bisherigen wirtschaftlichen Entwicklungsgeschichte aber wissen wir, welche Bedeutung der technische Fortschritt und Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen bei der Entstehung von Produktivitätswachstum hatten. Historische Erfahrungen zeigen, dass extreme Engpasssituationen immer wieder
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Ein Kauf von Lagerstätten mit dem Ziel, Öl in der Erde zu lassen, hätte natürlich andere Verteilungswirkungen als eine CO2-Steuer, die die Nachfrage reduziert. Eine Verknappung durch Aufkauf von Reserven, die noch in der Erde lagern, würde den aktiven Lagerstätten Sonderprofite zuschwemmen. Die Konsumenten würden doppelt zahlen – als Finanzierer der Verknappungskäufe und als Käufer des knapper und teurer gewordenen Öls.
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dazu führten, in kurzen Fristen enorme technische Fortschritte zu erreichen. Die Entwicklung der Atombombe ging von der Albtraumvorstellung aus, dass Nazideutschland früher als die USA über Atomwaffen verfügen könnte. Deshalb wurden alle Energien und die besten Köpfe mobilisiert, um diesen Wettlauf zu gewinnen. Einer ähnlichen Logik folgte das Apollo-Programm unter Präsident Kennedy. Der Schock, dass die Sowjetunion technologisch davongezogen war, saß so tief, dass die Bereitschaft bestand, riesige Ressourcen und Energien zu mobilisieren. Ein ähnlicher Schock wirkte bisher in der Energieforschung nicht, weil das Denkmodell „wir sparen uns gesund“ als Alibi herhalten konnte. Außerdem sind wir süchtig nach der befriedigenden Emotion, dass gute Motive und darauf gestütztes Handeln auch eine bessere Welt bringen. Solar- und Windenergien werden nicht reichen. Alle technischen Möglichkeiten müssen mit weit mehr Intensität als bisher verfolgt werden. Am Ende werden nur CO2-freie Energien das Klima retten. Wirksame Strategien erfordern im Ergebnis, dass Kohle und Ölvorräte nicht verbrannt werden. Sie müssen in der Erde bleiben. Das erfordert preisgünstigere klimaverträgliche Energien, weil wir sonst die Eigentümer für das Nichtfördern bezahlen oder weil wir sonst ein weltweites Nachfragemonopol schaffen müssen, das den Anbietern die Absatzmengen diktiert. Das klingt utopisch, definiert jedoch die real wirkenden Strategien zur Rettung des Klimas.
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XII. Klimapolitik: Auf der Suche nach globaler Wirksamkeit
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XIII. Für die Stadt von morgen – Kommune 2030 XIII. Für die Stadt von morgen – Kommune 2030
Rolf Böhme Gemeinden sind wichtiger als der Staat Theodor Heuß
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Die Aufgabe
Die globale Finanzkrise zwingt den Staat zu milliardenschweren Staatsprogrammen, Steuererleichterungen und Garantien für gefährdete Banken und Unternehmen. Die Staatsverschuldung wird auf eine Rekordmarke des BIP ansteigen. Dennoch wird in breitem Konsens von Politik und Wirtschaft diese Schuldenlast akzeptiert, um Massenarbeitslosigkeit möglichst zu vermeiden. Die Finanzkrise trifft allerdings auf eine Bundesrepublik, die bereits vor der jetzigen internationalen Lage mit erheblichen inneren und eigenen Strukturschwierigkeiten zu kämpfen hatte. Die Kontroversen um die Agenda 2010 der rot-grünen Bundesregierung haben einen Teil der Probleme deutlich gemacht. Der nachfolgende Beitrag befasst sich mit der kommunalen Selbstverwaltung. Auch hier sind schwerwiegende Strukturveränderungen zu beobachten. Diese werden meistens an der chronischen Finanznot der Städte und Gemeinden festgemacht. Deshalb wurde 2005 die Gewerbesteuer zur Stärkung und Stabilisierung ihres Aufkommens modifiziert. Bei den sozialen Ausgaben wurden die Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe im sogenannten Hartz-IV-Gesetz zum Arbeitslosengeld II zusammengefasst. Dadurch gelang eine qualitative Verbesserung der Gemeindefinanzen, die zusammen mit den starken Konjunkturjahren 2006-2008 auch zu guten Finanzergebnissen führte. Aber die Strukturfragen zur Gewerbesteuer sind geblieben und die Grundsteuer als zweite – viel zu schwache – Säule der Gemeindesteuern wurde überhaupt nicht behandelt und blieb völlig unverändert. Auch die Entlastung im Sozialbereich durch das Arbeitslosengeld II ist nur teilweise gelungen und schuf keinen ausreichenden Ausgleich für die jahrelange Aufgaben- und Lastenübertragung des Bundes und der Länder auf die Kommu-
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nen. Vor allem wurden in der Sozial- und Jugendhilfe immer neue und mehr Aufgaben übertragen, ohne für ausreichenden Finanzausgleich zu sorgen. Dem drastischen Anstieg der kommunalen Soziallasten um rund 10 Mrd. € in den Jahren 1992-2004 stand ein beispielloser Verfall kommunaler Investitionen gegenüber. Die Kommunen mussten ihre Investitionen in diesem Zeitraum um 60 % reduzieren (in Zahlen: um 14 Mrd. € auf weniger als 20 Mrd. €). Diese Entwicklung war negativ für die Städte und Gemeinden, weil sie zu einem Investitionsstau bei Schulen, Straßen und anderen Einrichtungen der Infrastruktur und Daseinsvorsorge führte (vgl. Presseerklärung Deutscher Städtetag 27.6.2005: Zehn Forderungen für eine zukunftsfähige Stadtpolitik). Die Wurzeln dieser finanziellen Auszehrung beruhen auf strukturellen Defiziten und langfristigen Fehlentwicklungen der kommunalen Selbstverwaltung. Es kommt darauf an, Denkanstöße zur Überwindung zu geben.
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Eckpunkte für eine Kommune 2030: Stärkung der Selbstverwaltung durch Einforderung des Subsidiaritätsprinzips und Revitalisierung der lokalen Demokratie in Städten und Regionen
2.1 Grenzen der Europäisierung der kommunalen Selbstverwaltung Nach einer Untersuchung des Deutschen Städtetages sind heute über 60 % der Entscheidungen in den Rathäusern direkt oder indirekt durch Richtlinien oder Vorschriften aus Brüssel bestimmt. Diese europäische Regelungsflut trifft die deutsche Selbstverwaltung besonders stark. In zentralistischen Staaten wie Frankreich, England, Spanien oder Italien ist die kommunale Selbstverwaltung längst nicht so verwurzelt wie in Deutschland. Hier normiert Art. 28 GG den Grundsatz der Universalkompetenz der Städte und Gemeinden, falls nicht Rechte und Gesetze von Bund und Ländern entgegenstehen. Mit einer Kette von Entscheidungen, Richtlinien und Verordnungen aus Brüssel wird jedoch seit Jahren die Selbstverwaltung der Städte und Gemeinden eingeengt. Die Bezeichnung „Europäisierung“ der kommunalen Selbstverwaltung gibt diesen Sachverhalt wieder. In den anderen Mitgliedstaaten wird diese Einflussnahme längst nicht so registriert oder empfunden. Schlagartig wurde diese Lage deutlich, als Brüssel unter dem Stichwort „Liberalisierung“ Ende der 1990er Jahre anfing, sich mit dem Energiemarkt, den deutschen Stadtwerken oder
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der Organisation der Sparkassen zu befassen. Diese Maßnahmen aus Brüssel trafen einseitig nur die deutsche kommunale Selbstverwaltung. Eine Kultur von Stadtwerken, wie sie sich hierzulande seit über 100 Jahren entwickelt hat, existiert in Frankreich oder England nicht. Dasselbe gilt für die kommunalen Sparkassen, in denen der (Ober-) Bürgermeister zugleich als Vorsitzender des Verwaltungsrates und des Kreditausschusses fungiert. Die Bundesregierung hat damals erst sehr spät bemerkt, dass sie im Interesse einer funktionierenden Geldversorgung des Mittelstandes und der lokalen Märkte die Sparkassen nicht zerschlagen lassen darf. Das ist einigermaßen gelungen. Aber der Vorgang zeigt auch das Unverständnis anderer Länder in der Europäischen Union für die Tiefe unserer deutschen kommunalen Selbstverwaltung. Von der „Europäisierung“ sind weiterhin betroffen der öffentliche Nahverkehr, die Wasserversorgung oder die Müllabfuhr – alles traditionelle Felder kommunaler Selbstverwaltung in Deutschland. Wir kennen hierfür die Bezeichnung „Daseinsvorsorge“. In den anderen europäischen Staaten gibt es einen solchen Sammelbegriff für kommunale Leistungen nicht. Die deutschen Städte müssen daher ihre gewachsene Kompetenz „Infrastruktur“ immer wieder verteidigen und fortentwickeln. Inzwischen hat die „Europäische Verfassung“ mit der Subsidiaritätsklausel, die für die Bundesrepublik schon gilt, eine Öffnung für die kommunale Selbstverwaltung geschaffen. Leider ist diese Verfassung nach der negativen Abstimmung in Irland noch nicht in Kraft getreten. Aber auch so müssen Bund und Länder die Subsidiarität bei der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben beachten und entsprechend auf europäischer Ebene argumentieren. Im Ergebnis bedeutet diese deutsche Position eine stärkere Grenzziehung gegenüber einer weiteren Europäisierung der kommunalen Selbstverwaltung. Mit Interesse ist festzustellen, dass nach dem Schock über die Brüsseler Vorschläge zu einer möglichen Zerschlagung der Stadtwerke Ende der 1990er Jahre ein Lernprozess eingesetzt hat. So heißt es in einem Beschlussantrag der Großen Koalition CDU/CSU und SPD (Bundestagsdrucksache 16/11414 vom 17.12.2008) zur Umsetzung der „Leipzig-Charta über die nachhaltige europäische Stadt“ ausdrücklich, dass das Subsidiaritätsprinzip zu gewährleisten ist. Die Gestaltungsfreiheit auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene könne nicht weiter eingeengt werden. Auf dieser Linie liegt auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Lissabonner Vertrag vom 30. Juni 2009.
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2.2 Keine weitere Verstaatlichung der kommunalen Selbstverwaltung, sondern Stärkung ihrer Rolle durch Beteiligung an der Gesetzgebung und durch strikte Geltung der Konnexität Im Staatsaufbau der Bundesrepublik sind die Länder die eigentlichen Partner der Kommunen. Nach dem Grundgesetz hat der Bund kein unmittelbares „Durchgriffsrecht“ zu Anweisungen an Kreise, Städte und Gemeinden. Nach der Theorie des zweistufigen Staatsaufbaus werden die Kommunen von den Ländern vertreten. In der Praxis jedoch hat der Bund immer wieder „durchgegriffen“ und Gesetze mit unmittelbarer Wirkung für die Kommunen erlassen (etwa Kindergartengesetz oder Jugendhilfegesetz). Beide Gesetze hatten und haben große finanzielle Auswirkungen auf Städte und Gemeinden. Sie wurden zum Vollzug gezwungen, ohne ausreichende zusätzliche Mittel vom Staat bekommen zu haben. Vom Grundsatz der „Konnexität“, dass jene Ebene auch die Finanzfolgen zu tragen hat, die die Anordnung trifft, war keine Rede. Immerhin hat aber jetzt die erste Föderalismusreform mit Artikel 84, Absatz 1 Satz 7 GG klar gestellt, dass der Bund den Kommunen direkt keine Aufgaben mehr übertragen darf. Dennoch zeigen die neuerlichen Vorschläge und Vorschriften des Bundes zum Ganztagsschul- und Krippenausbau, dass ein bundespolitischer Handlungsbedarf im Bereich Bildung und Erziehung als so gewichtig angesehen wird, dass der Bund über seine originäre Zuständigkeit hinaus mit dem „goldenen Zügel“ lockt und Zuschüsse für entsprechende Leistungen in Aussicht stellt. Diese Zuschüsse sind jedoch meistens ungenügend und reichen allenfalls für die Investitionen der Einrichtungen, aber nicht für deren teuren Betrieb. Im Grunde wiederholt sich hier das Szenario des Anspruchs auf einen Kindergartenplatz: Der Bund normiert, der Bund zahlt auch, aber nicht genug und an die Falschen, nämlich an die Länder und nicht an die Kommunen. Die Berechtigung dieser Maßnahmen konnte niemand bestreiten – so wenig wie heute die Einrichtung von Ganztagsschulen oder verbesserter Kinderbetreuung. Die Städte sehen sich hierfür auch in einer besonderen Verantwortung. Um dieser Verantwortung gerecht zu werden, brauchen sie aber eine angemessene Finanzausstattung. Sie haben daher verlangt, dass neue gesetzliche Verpflichtungen über den bisherigen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz hinaus auch finanziell ausgeglichen werden. Bei den Ganztagsschulen und Einrichtungen für die Kinderbetreuung kam es inzwischen zu Kompromissen und das Prinzip der Konnexität wurde vom Bund hier wenigstens teilweise zur Anwendung gebracht. Dies war nicht immer der Fall. Bis zur Neuregelung des Arbeitslosengeldes II durch die Hartz IV-Gesetze war ständige Praxis, dass die Kommunen die
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Sozialhilfe allein bezahlen mussten, während der Bund die Höhe und den Umfang der Sozialhilfe in eigener Kompetenz festsetzte. Diese Trennung der Entscheidungs- von der Finanzierungsebene war ein verhängnisvoller Strukturfehler für die Finanzentwicklung der Gemeinden. Die Folgen waren besonders deshalb gravierend, weil durch die Mechanik der Gesetze zur Sozialhilfe (Zahllast: Kommunen) und zur Arbeitslosenhilfe (Zahllast: Bund) immer mehr arbeitslose Menschen aus der Arbeitslosen- in die Sozialhilfe gerieten. Auf diese Weise konnte der Bund die Arbeitslosigkeit weitgehend in die Sozialhilfe „abdrücken“ und die Städte mit der Kommunalisierung der Arbeitslosigkeit allein lassen. Die Länder haben diese Entwicklung nicht gestoppt. Ihre Vertretung für die Kommunen war reichlich zurückhaltend. Selbst bei der „Durchleitung“ von Finanzzuweisungen an die Kommunen hatten die Länder oft „klebrige Hände“ (so Petra Roth, Oberbürgermeisterin von Frankfurt am Main) und strebten an, diese Gelder für sich zu vereinnahmen. Die Beispiele hierfür sind Legion. Diese Tendenz schien sich auch bei den beiden FöderalismusreformKommissionen zu bestätigen. Für die Länder war es wichtig, dass nur sie allein gemeinsam mit dem Bund in der zuständigen Kommission vertreten waren. Am Ende allerdings waren die Vorstöße der Städte und Gemeinden erfolgreich und sie waren über die kommunalen Spitzenverbände an den „Modernisierungen der bundesstaatlichen Ordnung“ beteiligt. Das sollte für die Gesetzgebung des Bundes generell gelten. Denn eine Gesetzgebung, die den Sachverstand derjenigen nicht beachtet, die eigentlich für die Umsetzung der Gesetze zuständig sind, lässt verfügbaren Sachverstand unberücksichtigt und läuft deshalb Gefahr, praxisfern, bürokratisch und ineffizient zu sein. Die Städte verlangen daher zu Recht, in qualifizierter Form an der Beratung und Entscheidung von Gesetzen beteiligt zu werden, die sie selbst betreffen oder von ihnen auszuführen sind. In vielen Länderverfassungen ist die kommunale Beteiligung inzwischen geregelt. Im Bund steht sie aus. Ferner muss der Bund – über den neuen Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG hinaus – eine strikte Konnexität seiner Gesetze akzeptieren und umsetzen. Von Roman Herzog über Johannes Rau bis zu Horst Köhler haben drei Bundespräsidenten moniert, dass der Bund den Kommunen Aufgaben übertragen kann, ohne gleichzeitig für deren Finanzierung sorgen zu müssen. Roman Herzog prägte für die Konnexität die Formel: „Wer bestellt, muss auch zahlen.“ Inzwischen haben sämtliche Flächenländer die Konnexität als Schutz der Kommunen vor den Finanzfolgen neuer Aufgabenübertragungen des Staates in ihren Verfassungen verankert, aber nicht der Bund. Jedoch muss auch der Bund die Konnexität im Verhältnis zu den Kommunen als Verfassungsprinzip akzeptieren und exekutieren.
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Alle oben genannten Gesetze des Bundes und Maßnahmen der Länder sind Beispiele, wie die kommunale Selbstverwaltung vom Staat eingeengt wurde. Zugleich haben diese Gesetze und staatlichen Maßnahmen die Finanzen der Gemeinden zerrüttet und ihre Kompetenzen stranguliert. Anstelle kommunaler Selbstverwaltung, Subsidiarität und Dezentralität galt der Machtanspruch des Staates und seiner Gesetze. Tatsächlich fand ein schleichender Prozess der Verstaatlichung statt. Vom Stolz und Glanz der kommunalen Selbstverwaltung blieb immer weniger übrig. Wer hier gegensteuern will, muss nicht nur die kommunale Selbstverwaltung durch stärkere Beteiligung am Gesetzgebungsverfahren von Bund und Ländern aufwerten und das Konnexitätsprinzip als Bollwerk gegen Aufgabenübertragungen ohne Finanzausgleich fordern. Aktiv muss im Gegenzug auch geprüft werden, wie eingetretene Fehlentwicklungen korrigiert und welche Felder staatlicher Verwaltung dezentralisiert und auf die lokale oder regionale Ebene rückübertragen werden können. Im Grunde geht es um eine Renaissance der kommunalen Selbstverwaltung.
2.3 Die Zukunft der Stadt ist die Region – Regionalisierung der Kommunalpolitik Der Sachverhalt ist bekannt: Der öffentliche Nahverkehr, die Siedlungs- und Flächenpolitik, die Energieversorgung und Wirtschaftsförderung, die Müllabfuhr, der Umweltschutz oder Kultur- und Freizeitangebote sind nicht mehr nur lokal, sondern überwiegend nur noch regional zu organisieren. Die Stadt hat sich mehr und mehr in das Umland „verlängert“. Die Bürger siedeln im Umland, arbeiten aber in der Stadt, ihre Kinder besuchen dort die Hochschulen, die größeren Krankheiten werden in Universitätskliniken oder städtischen Krankenhäusern behandelt – wie umgekehrt die Städter am Wochenende das Umland für ihre Freizeitaktivitäten nutzen und Lebensqualität nur im Gleichklang einer interkommunalen Umweltpolitik zwischen Stadt und Umland zu erreichen ist. Die Regionalisierung der Kommunalpolitik ist bereits eine Realität, hinter der die Institutionen herhinken. Dieser Prozess der Suburbanisierung wird von vielen Städten durch Kooperation und institutionalisierte Zusammenarbeit mit den Umlandgemeinden gestaltet. Manche Großstädte, wie Hannover oder Stuttgart, sind relativ weit in der Entwicklung, weil dort gemeinsam gewählte Gremien für die Stadt-UmlandBeziehungen bestehen und die Kompetenzen einschließlich der Finanzierung
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gesetzlich geregelt sind. Demgegenüber bestehen anderswo in den regionalen Kooperationen meistens nur freiwillige Übereinkünfte. In der Selbstfindungsphase sind derartige Vereinbarungen richtig und nützlich, aber auf Dauer können freiwillige Abkommen zur interkommunalen Zusammenarbeit fehlende Institutionen nicht ersetzen, die für eine gemeinsame Regionalpolitik erforderlich sind. In der Region Stuttgart gibt es ein gewähltes Parlament, das für die gemeinsamen Fragen der Region Mittlerer Neckarraum zuständig ist. Die Frage der Wahl örtlicher Vertreter in die regionalen Gremien hat eine bedeutende politische Dimension. Junge Familien in der Stadt, die ein Eigenheim suchen, sind in Umlandgemeinden, die Zuwanderung eher bremsen wollen, nicht stimmberechtigt. Umgekehrt haben die Einpendler in die Kernstädte keine Mitwirkung bei der Gestaltung der Stadt als Arbeitsstandort. Es kommt zu einer Entmachtung der Wähler und Aushöhlung der Demokratie, da immer weniger Funktionen an ihren Wohnorten gebündelt sind. Die Organisation der Regionalpolitik ist Sache der Länder. Diese halten sich mit Reformkonzepten vorsichtig zurück, da eine Neuorganisation der Regionalpolitik „von unten“ auch eine Reform der staatlichen Organisation „von oben“ voraussetzt: Dennoch kam es zu deutlichen Verschiebungen. So wurden z.B. in Baden-Württemberg die Regierungspräsidenten gleichsam zu „Präfekten“ ihrer Region und haben sich dabei im Umfang vervier- bis verfünffacht. Das Regierungspräsidium Freiburg etwa stieg von 400 Bediensteten auf 2.500 an. Hinzu kommt, dass die Zentralisierung von Ämtern und Befugnissen in einer Behörde erfolgt, die keinen demokratischen Unterbau besitzt und deren Kontrolle durch die Ministerien oder gar den Landtag allenfalls mittelbar erfolgen kann. Vor allem verfügen die durch einen ernannten Beamten der Landesregierung geführten Regierungspräsidien über eine Machtfülle und ein Spezialwissen, das sich verselbstständigen kann und von den Ministerien kaum mehr zu kontrollieren ist. Entscheidend ist die Frage, ob die verschiedenen Regionalreformen in den Bundesländern die strukturellen Veränderungen im Bedarf nach öffentlichen Leistungen ausreichend berücksichtigt haben. Zuständigkeiten lassen sich ohne Bezug zu den inhaltlichen Aufgaben nicht optimieren. Im Stadt-UmlandVerhältnis haben sich aber viele Aufgaben regionalisiert, ohne dass entsprechende Kompetenzen gefolgt sind. Die Regionalisierung der Aufgaben wie ÖPNV, Energieversorgung (Klimaschutz), Müllabfuhr, Flächenplanung, Umweltschutz, aber auch soziale Einrichtungen, Sport und Kultur müssten auch zu einer Regionalisierung von Verantwortung und Kompetenz führen. Daraus folgt bei struktureller Betrachtung die Aufgabe, die jetzt bestehenden Gebietskörperschaften der Stadt- und Landkreise in kommunal verfasste Regionalkreise mit eigenen Parla-
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menten zu überführen. Zumindest Teile der staatlichen Verwaltung in den Regierungspräsidien könnten auf diese Regionalkreise übertragen, dadurch dezentralisiert und einer unmittelbaren demokratischen Kontrolle unterworfen werden. Eine radikale Dezentralisierung wird zurzeit vorbereitet in Mecklenburg-Vorpommern mit einer gänzlichen Abschaffung der Regierungspräsidien und Übertragung ihrer Funktionen auf Regionalkreise mit einer gewählten Selbstverwaltung.
2.4 Mehr Selbstverwaltung wagen Die Städte und Gemeinden haben in der Bundesrepublik Deutschland einen herausragenden Stellenwert. In den Klein- und Mittelstädten unseres Landes leben ca. 40 % aller Einwohner, in den Großstädten weitere 30 %. Nahezu 80 % aller Arbeitsplätze befinden sich in den Stadtregionen. Hier wird der größte Teil unseres Bruttosozialproduktes erwirtschaftet und hier befindet sich der Fokus der Realsteuerkraft in Deutschland (vgl. BT-Drucksache 16/9234 vom 13.05.2008). Die Städte und Gemeinden stehen allerdings in einem tief gehenden Wandel; sie erlebten nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute gleich in mehreren Dimensionen eine Transformation, die in weiteren strukturellen Veränderungen stetig weitergeht. Ökonomisch ist die Entwicklung vom Produktionsstandort zur Dienstleistungsgesellschaft vollzogen, auch durch Tertiärisierung der Industrie selbst. In der Spitzenregion München arbeiten jetzt schon fast 50 % der Industriebeschäftigten in Büroberufen. Globalisierung, technischer Fortschritt und Produktivitätszuwachs führten zu Einkommenssteigerungen, Preisverschiebungen und zu Änderungen in der Einkommensverwendung.
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Abbildung 1:
Struktur der Konsumausgaben – alte Bundesländer
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Anteil der Industriegüter von 45 % auf 26 % geschrumpft. Dienstleistung und Wohnen (steigende Wohnflächen und steigende Wohnqualität) von 23 % auf 51 % gestiegen. Quelle: empirica-Berechnungen aus EVS
Die Abbildung 1 zeigt immer mehr Ausgaben für Wohnen und Energie, Bildung und Mobilität/Verkehr. Wie eine Verprobung demonstrieren diese Mehrausgaben wichtige Themen heutiger Stadtpolitik:
Die steigenden Kosten für Wohnen und Energie zeigen Kernbereiche der aktuellen kommunalen Aufgaben. Neue Wohnbedürfnisse aufgrund des demographischen Wandels, bundesweite Wanderungsbewegungen mit unterschiedlichen Auswirkungen auf die Stadtregionen (Schrumpfung/Wachstum) zwingen in den nächsten Jahren zu einem kontinuierlichen Stadtumbau. Hinzu kommen wegen des Klimawandels die ökologisch wie ökonomisch wichtigen Forderungen zur Umstellung unseres Energiesystems auf mehr Energieeffizienz und erneuerbare Energien. Zur energetischen Umsteuerung bei Alt- und Neubauten sind die Städte der wichtigste Adressat. Dasselbe gilt für den Verkehr und die politische Forderung, die Mobilität nachhaltig zu gestalten. Der Verkehrsdruck auf unsere Städte und Regionen wächst. Eine integrierte Verkehrsplanung in Stadt und Umland ist ein maß-
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geblicher Faktor für die Lebensqualität in den Städten, die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes und zur Bewältigung des Umwelt- und Klimaschutzes. Bildung und Ausbildung bestimmen in der heutigen Wissens- und Informationsgesellschaft über Karrieren und Teilhabe am wirtschaftlichen und sozialen Status. Was in der Bildungspolitik versäumt wurde, holt die beste Sozial- und Verteilungspolitik des Staates nicht mehr auf. Bildungspolitik schafft mehr Verwirklichungschancen und wurde so zur Verteilungspolitik „an der Quelle“. Das Angebot qualifizierter Mitarbeiter in den Stadtregionen ist gerade für Dienstleistungsunternehmen und Entwicklungs-/Forschungsbetriebe ein zentraler Standortfaktor. Der Wettbewerb um die besten Talente ist in vollem Gange.
Im Hintergrund dieser Themen stehen zwei Mega-Trends, die global und langfristig wirken und einen dauernden, multifunktionalen Schub bedeuten: Die demographische Entwicklung und der Klimawandel. Die demographische Veränderung ist eine Gemengelage von niedrigen Geburtenraten, zunehmender Alterung der Bevölkerung bei gleichzeitiger Zuwanderung von Menschen mit Migrationshintergrund. Inzwischen leben 15 Millionen Menschen als neue Mitbürger/innen in der Bundesrepublik. Die erfolgreiche Integration dieser unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen in die Stadtentwicklung wird zur Bewährungsprobe für die Städte und Regionen. Neben diesen wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen muss der Klimawandel kommunalpolitisch begleitet werden. Die Kommunen müssen der Erwartung gerecht werden, dass sie in ihrer Stadtentwicklungspolitik eine wichtige Rolle im Klimaschutz übernehmen (Regelung des Stadt- und Regionalverkehrs, der Energieversorgung). Keine dieser Aufgaben kann für sich allein gesehen und getrennt angepackt werden; sie stehen vielmehr in einem Zusammenhang. Deshalb ist der Schlüssel zu ihrer Umsetzung eine integrierte Stadtentwicklung mit einer räumlichen, sachlichen und zeitlichen Abstimmung der einzelnen Politikfelder. In diesem Sinne werden nachfolgend Skizzen für Lösungsansätze vorgestellt. Dabei zeigt sich, dass für alle Bereiche als Grundlinie die Forderung entsteht, mehr kommunale Selbstverwaltung zu wagen. Beispiele sind:
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Neue Aufgaben kommunaler Schulpolitik Die Städte und Gemeinden waren lange nur die sogenannten Schulträger, d.h. zuständig und finanziell verantwortlich für Ausbau, Ausstattung und Instandsetzung der Gebäude, während das Land (der Staat) den Lehrbetrieb, die Curricula und die Anstellung sowie Besoldung der Lehrer/innen landeseinheitlich regelt. Inzwischen hat der Schulträger neue Aufgaben übernommen. Die Schulen brauchen mehr und mehr kommunale Schulsozialarbeit. Ebenso haben sie die Versorgung der Ganztagsschulen mit Angeboten für Mittagstisch und Cafeteria/Mensa zu übernehmen. Schritt für Schritt sind dadurch die Aufgaben der Schulträger ausgeweitet worden. Aber der Wandel in Schule und Ausbildung geht tiefer. Auf der Hauptversammlung des Deutschen Städtetages in Leipzig 2001 führte der damalige sächsische Ministerpräsident Biedenkopf sehr anschaulich aus, dass die Probleme in den Schulen seines Landes durch den Rückgang der Schülerzahlen so groß sind, dass sie nicht mehr „von oben“ aus dem Kultus-/Schulministerium gesteuert werden könnten. Lokale Regelungen seien jedem ministeriellen Erlass überlegen. Daraus ergibt sich die Frage, ob die Städte und Gemeinden für die Schulen nicht mehr Eigenrechte und Selbstverwaltung beanspruchen können und müssen. Die neudeutsche Kurzformel lautet: Mehr bottom up und weniger top down durch eine Lokalisierung von mehr Zuständigkeiten für die Schulen bei den Kommunen. Diese neue Kompetenz umfasst zunächst die zusätzlichen Aufgaben und Chancen, die für die Schulen heute bestehen:
Schulen verfügen über Kontakte und Netzwerke, die für die Entwicklung von Nachbarschaften genutzt werden können; Schulen, vor allem Ganztagsschulen, können eine Integrationsfunktion in Stadtteilen übernehmen, familienfreundliche Lebensbedingungen schaffen und für Kinder mit Migrationshintergrund ein soziales Netzwerk bieten; Schulen wirken auf die lokale Nachbarschaft und das ganze Stadtviertel, in dem die Schule eine wichtige Stätte der Begegnung und Teilhabe an Informationen und sozialem Leben ist. Die Schule als Ort der Kommunikation und Treff von Lehrern/innen, Eltern und Schüler/innen in der sozialen Vernetzung des Stadtquartiers ist vielerorts längst Wirklichkeit geworden.
Alle diese Aufgaben erfordern mehr Autonomie in der Organisation und Steuerung der Schulen, wenn sie die größere soziale Verantwortung innerhalb der Schule und außerhalb gegenüber der jeweiligen Nachbarschaft übernehmen sollen. Ihre Entwicklung vom heutigen Staatsbetrieb zu neuen Formen einer
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mehr selbstverwalteten Schule muss vor Ort in Eigeninitiative und möglichst konsensual organisiert werden. Das Ziel könnte sein, dass die Länder (der Staat) zuständig bleiben für Bildungsinhalte und Leistungsbemessung der Schulen sowie für die Bildungsfinanzierung. Die Kommunen übernehmen das Personalmanagement und insbesondere die lokale Steuerung, wobei diese Aufgaben weitgehend auf die Ebene vor Ort in den Schulen oder in nachbarschaftliche Gremien verlagert werden können. Dieses Ziel kann nur Schritt für Schritt umgesetzt werden. Demographische Krise bewältigen – sozialer Zusammenhalt Der Rückgang der Geburtenraten, die steigende Lebenserwartung, das zunehmende Alter der Bürger/innen und die ungeplante, nicht an den Interessen der Bundesrepublik orientierte Einwanderung bedeuten einen tief greifenden gesellschaftlichen Umbruch. Die Zuwanderung von Menschen aus der Europäischen Union und anderen Ländern kann das Geburtendefizit in Deutschland nicht kompensieren. Doch es droht eine zunehmende Polarisierung der Gesellschaft. In einigen Großstädten ist der Zuwanderungsanteil sehr hoch: Stuttgart 39,9 %, Frankfurt am Main 37 %, Nürnberg 36 %. Bei den unter 5-Jährigen liegt der Anteil in einigen Städten schon über 60 % (Zahlen aus BT-Drucksache 16/11414 vom 17.12.2008). Die Kommunen müssen somit nicht nur den demographischen Wandel zur Bevölkerungsabnahme und Alterung der Gesellschaft bewältigen, sondern auch die Integration der neuen Mitbürger/innen übernehmen. Darin liegt zugleich eine Chance für die Zukunft; denn die Migrationsbevölkerung ist ein wichtiges Potenzial für die Entwicklung der Wirtschaft in den Städten und zugleich für ihre kulturelle Vielfalt und Weltoffenheit. Voraussetzung bleiben gute Ausbildung und qualifizierte Arbeitsplätze. Segregationen müssen verhindert und das Entstehen von Parallelgesellschaften vermieden werden. Eine Stärkung der Selbstverwaltung in Finanzen und Organisation wird hier notwendig sein, um einen ganzen Katalog von Maßnahmen zu erfüllen:
Familien- und kinderfreundliche Stadt mit Angeboten in der Kinderbetreuung und Ganztagsschulen sowie Wohnungsprogramme für große Familien (unabhängig vom Einkommen). Die ganze Palette einer familienfreundlichen Gestaltung von nachbarschaftlichen Netzwerken, von Tagesstätten, Beratungsdiensten und Angeboten in den Bereichen Bildung, Freizeit, Kultur und Sport sind für die Familie von zentraler Bedeutung. Diese „Infrastruk-
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tur für die Familien“ ist vor Ort durch die Städte und Gemeinden umzusetzen und durch die Vernetzung von Akteuren in lokalen Bündnissen. Altengerechte Stadt und adäquate Lebensbedingungen müssen geschaffen werden. Künftig werden mehr und mehr Menschen für eine sehr lange Frist nach der Erwerbstätigkeit in den Städten leben. Dies bedeutet altengerechte Wohnungsangebote, Netzwerke zur ambulanten Versorgung, Pflegeeinrichtungen, Anpassungen in den lokalen und öffentlichen Dienstleistungen an alte Menschen sowie Verhaltensänderungen der Bürger/innen im Zusammenleben, z.B. Entwicklung von unterstützenden Nachbarschaften und Wohnformen. Integration der Bürger/innen mit ausländischer Herkunft als Querschnittsaufgabe, die soziale Netzwerke unterstützt, Nachbarschaftshilfen organisiert und Wohnungen sowie öffentliche Räume vermittelt und zur Verfügung stellt. Steigende Anteile von Kindern mit Migrationshintergrund stellen Kindergärten, Kindertagesstätten und Schulen vor besondere Herausforderungen. Wohnquartiere mit hohen Zuwanderungsanteilen dürfen nicht als sozial benachteiligte Stadtteile abrutschen. Die Ungleichheit in der Stadt hat sich verräumlicht. Als ein Zwischenziel müssen wir zumindest sicherstellen, dass Kindern und Jugendlichen aus dem Aufwachsen in den ethnischen Wohngebieten keine Nachteile, insbesondere in der Ausbildung, entstehen.
Alle diese Aufgaben erfordern lokales Engagement und eine angemessene Autonomie in der Gestaltung der öffentlichen Einrichtungen. Bildung und Ausbildung müssen als Breiten- und Begabtenförderung in Kindergärten, Vorschule, Grundschule und weiterführenden Schulen eine Schlüsselrolle spielen. Die Stadt von morgen bauen Die genannten Strukturänderungen durch die demographische Entwicklung und den Zuzug von Migrantenbevölkerung haben Einfluss auf die gegenwärtige und künftige Stadtentwicklung. Sie führen nicht nur zu einem Stadtumbau, sondern zu einer regelrechten Stadtumwandlung in den nächsten Jahrzehnten. Die demographischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse fordern neue Wohnformen, vor allem eine familienfreundliche und altengerechte Stadt. Der Stadtumbau wird auch durch den Klimawandel erzwungen mit dem Ziel einer klimabewussten Stadt. Die seit dem Jahre 2000 immer weiter ausgebauten Regelungen für mehr Energieeffizienz und verstärkten Einsatz von erneuerbaren Energien haben für die Klimaschutzpolitik in den Städten und Gemeinden eine strategische Bedeutung; denn die größten Energieeinsparpotenziale in
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Deutschland liegen im Gebäudebestand der Städte und Gemeinden. Rund 40 % des Energiebedarfs wird in Gebäuden verbraucht, darunter rund 85 % für Heizung und Warmwasser. Mehr Energieeffizienz und verstärkter Einsatz von erneuerbaren Energien reduzieren die CO2-Emissionen und sind wichtige Maßnahmen für den Klimaschutz. Bleibt diese Option von kommunalen Handlungsprogrammen für mehr Energieeffizienz eine unerfüllbare Vision? Einige Städte haben in diesem Sinne jedenfalls Selbstverpflichtungen verabschiedet, so die Münsteraner Erklärung „Klimakommunal“ vom 24. Oktober 2008. Danach sollen die Treibhausgasemissionen nicht nur bis zum Jahr 2020 – wie national von der Bundesregierung gefordert – auf 40 % unter das Niveau von 1990 sinken, sondern auf 0 % bis 2050. Alle kommunalen Bereiche sollen hierzu einen Beitrag leisten, von der Abfallwirtschaft über die Energieversorgung und Verkehrsplanung bis zur gesamten Stadtentwicklung. Ein solches Konzept macht den Klimaschutz zur Querschnittsaufgabe aller städtischen Ämter und zur umfassenden Anstrengung der gesamten Stadtpolitik.
2.5 Kommunale Selbstverwaltung – Wurzelwerk der Demokratie und Motor von Innovationen Die Kommunen müssen in 2009 und 2010 große Teile des Konjunkturprogramms der Bundesregierung vor allem im Baubereich abwickeln. Gleichzeitig geraten ihre eigenen Haushalte unter Druck, weil auf der Einnahmeseite die Steuerzuweisungen und vor allem auch die Gewerbesteuereinnahmen mindestens vorübergehend wegbrechen. Das Erbe der Krise werden Jahre der Haushaltskonsolidierung sein. Konsolidierung muss jedoch nicht Zwangsjacke bedeuten, wenn eine rationale Politik verfolgt wird und die langfristigen strukturellen Veränderungen zügig angegangen werden. Dieser Strukturwandel ist ohne eine Stärkung der lokalen Demokratie nicht umzusetzen. Sie muss direkter mit den Menschen agieren und braucht direktere Kontrolle, aber auch Weichenstellungen durch Wahlentscheidungen vor Ort. Es wäre fatal, die kommunale Selbstverwaltung weiter auszuhöhlen und die Kommunen zu Ausführungsorganen staatlicher und europäischer Regulierung und Vorgaben zu machen – statt zu Orten, in denen lebhafte Zieldiskussionen über die beste Verwendung öffentlicher Ressourcen stattfinden, Fragen nach den besten Wegen zu erhöhten Entwicklungschancen der jüngeren Generation gestellt oder menschliche Lösungen für die altersgerechte Stadt und den wachsenden
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Pflegebedarf gefunden werden. Hinzu kommt, dass in den Kommunen im Verkehrssektor und durch den Stadtumbau ständig neuer Energiebedarf generiert wird. Auch hier wirken die Städte und Regionen durch ihre planerischen und ihre Steuerungsentscheidungen auf das Verhalten der Menschen ein, unterstützen innovative Projekte und stehen in der Frontlinie der Diskussion über Verhaltensänderungen und Innovationen. Grundlage aller möglichen Initiativen ist und bleibt die finanzielle Handlungsfähigkeit der Städte und Regionen mit eigener Steuerung (Hebesatzrecht). Die Fragen zur Gewerbesteuer bleiben daher auch nach der Modifikation 2005 auf dem Tisch und die Reform der Grundsteuer ist noch gar nicht angegangen und längst überfällig. Nur bei ausreichender Finanzausstattung können Städte und Regionen auch weiterhin in Deutschland ihre Rolle als Wurzelwerk der Demokratie und als Motor notwendiger Innovationen erfüllen.
XIV. Demokratische Mehrheiten für neosoziale Politik – wie man die Paradoxie des Politischen dafür nutzen könnte XIV. Demokratische Mehrheiten für neosoziale Politik
Volker Riegger Das Eigene der Politik ist die Existenz eines durch Teilnahme an Gegensätzen definierten Subjekts. Politik ist ein paradoxer Handlungstyp. Jacques Rancière Kommunikation ist das Medium, in dem das Soziale verhandelt wird. Sie ist die Brücke zwischen dem bewussten Selbst und dem sozialen Anderen. Louis Klein
Unsere Überlegungen und Vorschläge zielen auf politische Gestaltung. Ihre „neosoziale“ Perspektive ist an keine bestimmte Partei gebunden. Es geht um den Umgang der Politik mit dem Sozialen und mit den Möglichkeiten und den Bedingungen für Solidarität in der nächsten Gesellschaft – jenseits neomarxistischer oder neoliberaler Zivilreligionen. Diese haben sich mit ihren jeweiligen historischen Superpleiten von 1989 bzw. 2008 ff. hinreichend diskreditiert.
I Die neosoziale Perspektive geht davon aus, dass das Soziale der Gesellschaft, also der Umgang mit dem Anderen und den Anderen, nicht allein für den Umgang mit Randgruppen und Schwachen relevant ist, sondern dass Kommunikationen die Gesellschaft ganz generell konstituieren. Das „Soziale“ ist also nicht allein, und schon gar nicht in erster Linie, Gegenstand dessen, was unter dem Label „Sozialpolitik“ firmiert: Weil das Soziale immer das Zusammenleben der „Anderen“ mit allen „Anderen“ betrifft, weil jeder von uns ein „Anderer“ ist, können wir uns dem „Sozialen“ nicht entziehen. Das gilt etwa auch dann, wenn wir mit
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„Sozialpolitik“ gar nichts am Hut haben und erst recht dann, wenn uns deren Impetus, ihre Ziele ganz besonders am Herzen liegen. Genauso wenig wie vom Sozialen können wir von der „Kommunikation“ absehen, denn das ist das Medium, mit dem wir mit den „Anderen“ in Verbindung treten und das Soziale verhandeln. Dass und ob die Kommunikation mit den „Anderen“ gelingt, ist höchst voraussetzungsreich: Es geht bei der Kommunikation ja nicht um eine triviale Datenübertragung. Der „Andere“ ist ein Empfänger, der mehr oder weniger eigensinnig darüber entscheidet, ob und wie er eine Information annimmt, ob und wie er sie „versteht“, ob und wie er sie verstehen und interpretieren will. Dass das so ist, wissen wir hinlänglich aus eigener Erfahrung. Deshalb überlegen wir ja auch in der Regel sorgfältig wie, wann, wo wir etwas kommunizieren, damit die Chance größer wird, den oder die zu erreichen. Dafür reicht aber die Information allein nicht aus. Wir müssen in der Lage sein, sie so zu vermitteln, dass sie bei den anderen „ankommt“. Ob wir das können, ob und wie der „Andere“ mit der Information umgeht und versteht, ist in höchstem Maße ungewiss. Gelingende Kommunikation ist selten – in der Liebe wie in der Politik. In neueren Zeiten hat sich politische Kommunikation in verschiedenste Formen erheblich ausdifferenziert, die von der Propaganda, über Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bis zum massenhaften Senden und Empfangen im Web 2.0 reichen.
II Diese Ausdifferenzierung hat in modernen politischen Systemen das auseinandergerissen, was in der antiken Polis noch nicht getrennt war: Herstellen und Vermitteln, Vermittlung und Herstellung von politischen Entscheidungen. Wissenschaftliche Beobachter der Politik sprechen heute von „Herstellungspolitik“ und „Darstellungspolitik“. Sie versuchen mit diesen Begriffen einer politischen Empirie näher zu kommen, in der es einerseits Fach- und Organisationskompetenz, also Herstellungskompetenz, andererseits Darstellungs- und Vermittlungskompetenz gibt, in der die einen auf Verhandlung und Aushandlung setzen, die anderen auf den vor allem in den Verbreitungsmedien mit Bildern, Symbolen, semantischen Formeln ausgetragenen politischen Wettbewerb. Die einen wollen politische Entscheidungsalternativen mit Hilfe von Fachkompetenz herstellen, die anderen durch mediendramaturgische Kompetenz Mehrheiten
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schaffen. Mit diesem theoretischen Konstrukt könnte die Vorstellung genährt werden oder zumindest erscheint sie vielen plausibel, eine derartige politische Arbeitsteilung sei möglich. Ob die allzu offensichtlichen Defizite einer so vorgestellten Arbeitsteilung oder eine unterkomplexe wissenschaftliche Beschreibung der politischen Realität der Auslöser war für die Debatte um „Reform“ und „Reformfähigkeit“ in der Demokratie, in letzter Konsequenz auch für den aktuellen Diskurs über die „Implosion des Politischen“, über „Postdemokratie“ und „Anti-Politik“, soll hier offen bleiben. Aber es sei daran erinnert, dass schon Aristoteles das Spezifische der Politik in der paradoxen Einheit von Teilhabe des politischen Subjekts am Herrschen und an seinem Beherrschtwerden gesehen hat. Die Beiträge in diesem Buch wären nach obigem Ordnungsmuster mehrheitlich der „Herstellungspolitik“ zuzuordnen. Sie gehen nämlich, meist implizit, davon aus, dass es Politiker und Parteien gibt, die einerseits über hinreichende Herstellungskompetenz verfügen, um für die angesprochenen Probleme und die gemachten Lösungsvorschläge aufnahmebereit zu sein. Die gleichzeitig aber auch die Darstellungskompetenz haben, diese Probleme im politischen Wettbewerb erfolgreich zu thematisieren und für das „Hergestellte“ die notwendigen Mehrheiten zu beschaffen. Sodass letztlich aus ihnen eine für alle verbindliche Entscheidung, z.B. ein Gesetz, eine Verordnung entstehen und damit die Politik ihrer zentralen Funktion gerecht werden kann.
III An dieser heroischen Annahme sind in unserem postheroischen Zeitalter schon viele gute und erleuchtete Vorschläge zur Herstellung von politischen Entscheidungen gescheitert. Viele gutwillige, kluge Menschen, die auf Politik setzen, wenden sich enttäuscht wieder ab, wenn sie die Erfahrung machen, dass auch demokratische Politik im Medium Macht operiert und nicht in dem der Wahrheit, wie das z.B. die Wissenschaft idealiter tut. Angesichts dieser Erfahrung, nicht zu kapitulieren, sie ist ja eine Konsequenz des von Aristoteles beschriebenen politischen Paradoxons aus Herrschen und Beherrschtwerden – ganz im Gegenteil, mit ihr produktiv umzugehen, ist für die Wirksamkeit und die Entwicklungschancen einer neosozialen Perspektive in der Politik von großer Bedeutung:
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Wird sie nur als Angebot für Herstellungspolitik verstanden, für das die Darstellungs- und Vermittlungsaspekte der Politik eine intellektuelle und operative Leerstelle ist, dann ist das Wirkungspotenzial absehbar beschränkt. Denn die politischen Akteure sehen dann für sich keine oder zu wenige der für den Kampf um Mehrheiten notwendigen Anschlussmöglichkeiten. Eine Alternative könnte sein, das Medium, in dem das Soziale verhandelt wird, die Kommunikation, in die neosoziale Perspektive der Politik bewusst zu integrieren. Das würde bedeuten, Information, die Vermittlung und die Herstellung von Entscheidungen als einen einheitlichen rekursiven Prozess zu sehen. Er ist rekursiv, weil er mit der politischen Entscheidung nicht an ein Ende gelangt, sondern mit ihr immer wieder neu anfängt – Politik hat keinen Anfang und sie hat kein Ende.
Geht das überhaupt? Wie könnte das aussehen? Was ergibt sich daraus für eine neosoziale Perspektive der Politik? Welche Konsequenzen hat das für konkrete Vorschläge im Sinne einer neosozialen Perspektive?
IV Die Frage nach dem Sozialen in der nächsten Gesellschaft, nach den Bedingungen, Möglichkeiten und praktischen Voraussetzungen von Solidarität angesichts der alternden Bevölkerung, des Klimawandels, der globalen Märkte, einer größer werdenden sprachlosen Unterklasse, eines sich weiter ausbreitenden kollektiven Zynismus, manche sagen Nihilismus dazu, und angesichts der dem Computer und den elektronischen Netzen eigenen „Unbestimmbarkeit“ (Luhmann) ist das eine zentrale Frage der Politik, sie reicht ganz offensichtlich weit über die Sphäre der Politik hinaus. Angesichts der ins Auge springenden Diskrepanz zwischen dem Anspruch der institutionellen Politik, für die daraus erwachsenden Schwierigkeiten, politische Lösungen herzustellen, und ihrer eklatanten Sprach- und Hilflosigkeit genau das zu tun, neigen manche Beobachter dazu, die Funktion von Politik heute allenfalls noch im mehr oder weniger hilfreichen Zeitschinden zu sehen: Durch Ablenkung des Publikums, sei es durch rituelle Kämpfe und artifizielle Identifikationsangebote, sei es durch die Bereitschaft, sich als Instanz anzudienen, an die man die eigene Verantwortung und/oder Verantwortungslosigkeit mit Blick auf das Herrschen und Beherrschtwerden delegieren und/oder abschieben kann. Die
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Gesellschaft gehe ja ohnehin irgendwie weiter, was ja im Grundsatz nicht zu widerlegen ist, wird dann postmodern dahergeredet – auch wenn dabei das Spezifische der Politik baden geht, wenn sie implodiert, wenn sie im kybernetischen Selbstlauf zur Anti-Politik wird. Die Beiträge dieses Buches nehmen die Frage nach dem, was unsere Gesellschaft zusammenhält, die von Jürgen Habermas wie von Dirk Baecker, von Leitartiklern und Sonntagsrednern, vom Papst Joseph Ratzinger wie vom Dalai Lama und anderen Gött- und Geistlichkeiten gestellt wird, auf. Sie trauen der Politik – in heroischer Hoffnung oder hoffnungslosem Heroismus, je nach individueller Geist- und Seelenlage – trotz allem mehr zu als Zeitschinden durch Ablenkungsmanöver der verschiedensten Art. Sie trauen ihr zu und verlangen von ihr
bestehende Konflikte auch in der nächsten Gesellschaft, möglichst nach für alle verbindlichen Regeln und Verfahren auszutragen; potenzielle Konflikte so frühzeitig zum politischen Thema zu machen, dass politische Alternativen generiert und zur Entscheidung gestellt werden können.
Sie gehen davon aus und verlangen
dass es Politik im Sinne der Einheit von Herrschen und Beherrschtwerden auch in der nächsten Gesellschaft geben soll; dass Solidarität auch in der Politik der nächsten Gesellschaft eine rare Ressource ist, mit der (nicht nur) die institutionelle Politik sehr viel sorgfältiger als bislang umgehen muss, gerade weil sie so rar, so wertvoll und so voraussetzungsreich ist; dass die neuen Formen des Sozialen in der nächsten Gesellschaft auch neue Formen der Politik hervorbringen werden.
Eine Quelle für neue Formen der Politik, so wurde oben dargelegt, ist die der Politik eigentümliche Paradoxie der Einheit von Herrschen und Beherrschtwerden und deren Konsequenzen. So hängt die Qualität einer politischen Alternative davon ab, dass sie Chancen hat, von den Wählern akzeptiert zu werden. Das wiederum hängt von ihrer kommunikativen Durchsetzbarkeit ab. Diese hat aber nicht unbedingt etwas mit der operativen Qualität oder technokratischen Effizienz der hergestellten politischen Alternative zu tun.
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Wenn das so ist, und wir sollten das ohne Larmoyanz in Rechnung stellen, ist dann die Integration von Herstellungs- und Darstellungs-Kompetenz mit Blick auf politische Entscheidungsalternativen überhaupt denkbar? Wird da den politischen Akteuren und ihren Zuarbeitern nicht etwas zugemutet, das sie nicht leisten können?
V Ein Blick in andere Bereiche der Gesellschaft, bei denen Herstellungs- und Darstellungskompetenz gefordert, diese aber wie in der Politik oft gegenläufiger Natur sind, kann hier weiterhelfen. So gehen Trends mit Blick auf die Marktkreierung für Konsumgüter, Mode- und Kunstprodukte, Themen und literarische Stoffe in der Regel von Abweichungen von der herrschenden Norm, von Minderheitspositionen, aus. Erfolgreiche Trends sind deshalb erfolgreich, weil sie sich im Laufe der Zeit durchsetzen. Sie definieren dann die neue Norm, die durch neu entstehende Trends wiederum infrage gestellt wird. Eine erfolgreiche Schöpfung von Märkten zeichnet sich durch Abweichen von der herrschenden Norm und/oder dadurch aus, dass ein bestehendes Produkt, ein gängiges Verfahren, eine alte Idee in einen neuen Kontext gestellt wird – der „alte Wein“ wird in „neue Schläuche“ gefüllt. Die Kommunikation als Einheit von Information, Vermittlung und Verstehen, läuft dabei – das verfehlt das Bild von den neuen Schläuchen – in einem Prozess ab, der zwar zielgerichtet arrangiert oder für den ein kommunikatives Design erstellt werden kann. Er kann aber – Gott sei Dank – niemals vollkommen einseitig gesteuert werden – weil all die „Anderen“ mit ihrem jeweiligen Eigensinn nicht mitspielen. Die neosoziale Perspektive der Politik stellt auf das Soziale, auf das, was die Gesellschaft zusammenhält, auf die Bedingungen für Solidarität in der nächsten Gesellschaft, ab. Die Parallele etwa zur kommerziellen Marktkreierung, zu coevolutionärer Produktentwicklung oder zu sich stetig selbst neu erfindenden Schulen liegt in der Nutzung jeweils spezifischer Paradoxien. In der Politik ist es die Teilhabe der politischen Subjekte am Herrschen und am Beherrschtwerden, das sich im Oszillieren zwischen Herstellung und Darstellung von politischen Entscheidungsalternativen realisiert. In der Wirtschaft ist es die Paradoxie, dass die Wirtschaftssubjekte mit ihrer Nachfrage auf Märkten Angebote erzeugen und dass Angebote auf Märkten Nachfrage schaffen können.
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Wie könnte das Nutzen der Paradoxie der Politik als konstituierendes Element einer neosozialen Perspektive praktisch aussehen? Das soll anhand einiger Vorschläge aus Beiträgen dieses Buches beispielhaft diskutiert werden.
VI Eine erfolgreiche und zugleich historisch folgenreiche Nutzung der Paradoxie der Politik für die Kreierung einer neuen Politik in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg war die von Willy Brandt und Egon Bahr unter der paradoxen Devise „Wandel durch Annäherung“ entwickelte und durchgesetzte Ostpolitik. Von historischer Tragweite war nach 1945 auch Ludwig Erhards Politikentwurf, mit dem er marktwirtschaftliche Steuerungsprinzipien unter der – von den Marktradikalen bis heute als Semantik-Nonsens angesehenen – Bezeichnung „Soziale Marktwirtschaft“ durchgesetzt hat. Der Hinweis auf diese Beispiele erfolgreicher Politikkreierung durch das Nutzen von Paradoxien soll klarmachen, dass es im Folgenden nicht um die Optimierung der oben diskutierten „Darstellungspolitik“ geht: Also um die Optimierung von „Politikmarketing“, „Politischer Auftragskommunikation“, „Regierungsamtlicher Politikvermittlung“, von „Wahlkampfkommunikation“ oder welche dieser handwerklichen Teildisziplinen des politischen Kommunikationsmanagements es auch immer geben mag und noch geben wird. Die Einzigartigkeit der Politikentwürfe von Erhard und Brandt/Bahr und ihre Durchschlagskraft hat sich ja nicht in erster Linie aus deren geschickter Vermarktung ergeben, auch darin waren die Genannten große Meister, sondern im „Abweichen von der Norm“, im Schaffen eines anderen Kontexts, im Nutzen von Paradoxien. Dass dabei das im politischen Wettbewerb generierte Erfahrungswissen relevant ist, liegt auf der Hand. Diese handwerklichen Künste zu missachten oder sogar zu verachten, wäre gerade aus neosozialer Perspektive ein schwerer Fehler.
VII
Der Vorschlag von Ulrich Pfeiffer zu einer umfassenden belastungsabhängigen variablen elektronischen Maut für Lkws und Pkws auf allen Straßen (vgl. Kapitel II „Sozialstaat und Wirtschaftsentwicklung“) läuft darauf hinaus, die bei uns als
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unteilbares Gut angesehenen Straßen, einer Art Straßensozialismus mit freier Verfügbarkeit ohne eine Zurechnung der Knappheit, partiell zurückzuführen und durch Einführung des Äquivalenzprinzip bei der Nutzung von Straßen und einer entsprechenden Nutzungsgebühr diese Nutzung vollständig individuell zurechenbar zu machen. Das im Stau knappe, aber frei zur Verfügung gestellte Gut zwingt Nutzer heute in den auch die anderen schädigenden Stau, dessen volle Kosten man nicht trägt. Die Zurechnung von Knappheiten ist in der nächsten Gesellschaft, also heute, technisch machbar, ökologisch geboten und verspricht die Einsparung knapper finanzieller Ressourcen, die man für andere Zwecke, z.B. für gute Schulen, dringend braucht. (Fast) jeder weiß das, aber jeder Politiker und jede Partei, die das heute offen betreiben würde, wäre – so scheint es zumindest heute – ein politischer Selbstmordkandidat. Denn die politischen Subjekte als „Herrscher“ mögen die Ratio dahinter durchaus begreifen, als „Beherrschte“, insbesondere die potenziellen Zahler von Nutzungsgebühren unter ihnen, stellen sie eine private Kosten-Nutzen-Rechnung auf, die andere Determinanten hat als die Ratio, mit der sie als für das Ganze verantwortliche Herrscher konfrontiert sind. Bei der Kreierung von Märkten werden solche Widersprüche genutzt, indem ein bekanntes Produkt, Verfahren oder Symbol in einen neuen Kontext gestellt wird. Damit sollen nicht nur Aufmerksamkeit, sondern auch eine andere Wahrnehmung und andere Wahrnehmungsmuster generiert werden („framing“). Prominentestes Beispiel dafür ist das Internet, das als Medium der Wissenschaft geschaffen worden war und mit Info, Porno, Blogs, Web 2.0 etc. heute, in der nächsten Gesellschaft, das neue dominierende Verbreitungsmedium ist. Eine Straßennutzungsgebühr wird heute von den „Beherrschten“ als zusätzliche Steuer wahrgenommen, gegen die man sich wehren muss, obwohl alle mehr Zeitfreiheit gewinnen. Was könnte der neue Kontext sein, der aus dieser Sackgasse herausführt? Wie könnte man mit dieser Paradoxie umgehen? Der neue Kontext, über den vor der Bundestagswahl 2009 kaum jemand wahrnehmbar geredet hat, ist die mit großer Sicherheit zu erwartende Diskussion über die Verteilung der Lasten der Krise. Dieser Kontext könnte in einer neosozialen politischen Perspektive dafür genutzt werden, die Einführung des Äquivalenzprinzips in der „Straßennutzung als kollektives Sparen“ (weniger Straßenbau durch bessere Nutzung der Vorhandenen) durch individuelle Zurechnung verstehbar zu machen. Ulrich Pfeifer argumentiert (vgl. Kapitel II „Sozialstaat und Wirtschaftsentwicklung“), „dass durch solche Quasimärkte der Straßennutzung die gegebenen Straßen und Autobahnen durch effektivere Auslastung mehr Verkehr ermöglichen würden, weil in den
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teuren Stauzeiten nur wichtiger Verkehr stattfinden würde. Es würde sich nicht mehr lohnen, morgens zwischen 8 und 9 Uhr mit Lastwagen Stadtautobahnen zu verstopfen, die auch um 5 Uhr befahren werden können. Ein gegebener Verkehr wiederum würde mehr Mobilität bewältigen, weil z.B. die Besetzungsziffern in den Pkws steigen. Staus sind ökonomisch dumm, ökologisch belastend und für die Betroffenen frustrierend. Staus sind Zeichen von absurdem Straßensozialismus. Aus kollektiver Finanzierung bei individueller Nutzung ohne Staupreise entsteht unvermeidbar Übernachfrage, die durch teure Warteschlangen abgebaut wird. Wahrscheinlich würden Quasimärkte der Straßennutzung demonstrieren, dass es in Deutschland eher zu viele Straßenkapazitäten gibt als zu wenig. Die Staus allerdings sind demokratisch, was sie dennoch nicht rechtfertigt.“ Diese ökonomische Argumentation ist in sich schlüssig, aber sie wird als neosozialer Projektvorschlag nur dann politisch aussichtsreich sein können, wenn der neue Kontext, das Abweichen von der Norm und die politische Anschlussfähigkeit durch das Nutzen der Paradoxie der Politik, in diesem Fall etwa „Sparen durch individuelle Zurechnung“, darin angelegt ist. Sonst wird er von der Politik eher nicht aufgegriffen werden und auch die besten Kommunikationsklempner und Spindoktoren der Welt werden dann daran nichts ändern. In Holland, wo dieser Vorschlag wahrscheinlich realisiert werden wird, hat sich – paradoxerweise – das holländische Pendant des deutschen „ADAC-Vorsitzenden“ selbst an die Spitze der neuen Bewegung gesetzt. Es ist klar geworden, noch mehr Straßenbau ist in einem kleinen verstädterten Land rein physisch nicht mehr möglich.
VIII Harald Simons (vgl. Kapitel XII) rechnet vor, dass zur Reduzierung des globalen CO2-Ausstoßes entsprechende Investments in Sibirien, China und Indien um ein Vielfaches mehr an „Ertrag“, also an eingespartem CO2-Ausstoß, erbringen würde als die Subventionierung von Alternativenergien oder Investments ins Energiesparen hier. Er weist darauf hin, dass die geltende Klimapolitik ständig gegen das Rationalprinzip verstößt, wonach CO2-Einsparungen dort erwirtschaftet werden sollten, wo sie am preiswertesten erreicht werden. Jeder von uns und auf der Welt muss daran ein Interesse haben, weil wir alle gewinnen, wenn wir CO2Einsparungen möglichst preiswert erwirtschaften. Als zweite große Schwachstelle vernachlässigen die nationalen Einsparungspolitiken noch immer die Reaktionen der Anbieter, die an einer Stelle der Welt eingesparte Kohlenstoffenergie
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automatisch in anderen Regionen der Welt vermarkten. Nur eine globale weltweit vereinbarte Nachfragebeschränkung, die auch die Angebotsseite mit einschließt, kann das ändern. Seine Argumentation hat die Weltgesellschaft im Blick, die es im Netz, in den elektronischen Verbreitungsmedien, im weltweiten Verkehr und auf den Waren- und Finanzmärkten längst gibt, die aber bis heute über keinen dem nationalen vergleichbaren institutionellen Rahmen verfügt, um die Frage der globalen Erwärmung, die erstmals in der Geschichte der Menschheit ausnahmslos alle existenziell betrifft, anzugehen. Aus der Perspektive der nationalen Politik ist sein Vorschlag eher weniger attraktiv. Einmal, weil die dafür notwendigen internationalen Kooperationen schwer herzustellen und zu kontrollieren sind. Zum anderen, weil sie die nationalen Sonderstrategien entwerten, hinter denen inzwischen starke wirtschaftliche und politische Interessen stehen. Eine neosoziale Perspektive kann diesem Konflikt nicht ausweichen, denn eine Politik, die sich der Aufgabe verweigert, die Gesellschaft der herrschenden Beherrschten auf die globale Transformation vorzubereiten, würde ihr oberstes Ziel, diese Gesellschaft zusammenzuhalten, verfehlen. Das Paradoxon der Politik liegt in diesem Fall darin, dass das im nationalen Kontext begrenzt Richtige im globalen Kontext falsch oder zumindest suboptimal ist. Hier müssen wir wohl – for the time being – mit einem Nebeneinander von partiell wenig wirksamen nationalen Politiken als Vorstufen globaler Übereinkünfte leben.
IX Im Gespräch von Gisela Schultebraucks-Burgkart mit Ulrich Pfeiffer über eine gute Schule (vgl. Kapitel XI) wird dafür plädiert, Schulen autonomer und lokal verantwortlicher zu machen. Dazu gehört, wie das in Nordrhein-Westfalen bereits praktiziert wird, dass sie ihre Lehrerinnen und Lehrer selbst auswählen können. Jeder, der eine Schulbildung hinter sich hat, weiß, wie relevant das ist, weil es letztlich immer der Lehrer oder die Lehrerin ist, die zum Lernen motivieren. Schule darf nicht als isolierte Lern- und Paukinsel oder als abgesonderter Raum in einer sozialen Landschaft betrachtet werden. Diese kann aus Nachbarschaften mit Migrantenfamilien, aus Wohlstandsfamilien, aus Alleinerziehenden bestehen. Die Schule ist heute die wichtigste Verteilstation sozialer Chancen in unserem
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Land, insbesondere in den belasteten Nachbarschaften, in den sich deutsche Unterschichten und Migranten konzentrieren. Wir geben sehr viel Geld für unsere Schulen aus und bekommen dafür für die Gesellschaft zu wenig zurück. Obwohl das alles seit langem bekannt ist und diskutiert wird, sind gute Schulen mit guten engagierten und teamfähigen Lehrern immer noch zu selten. Auch die Gebetsmühlenhaft wiederholte Forderung nach Ganztagsschulen reicht nicht. Erforderlich wird eine der Nachbarschaft verantwortliche Schule mit „örtlichem Aufsichtsrat“. Dann werden auch die zuständigen Eltern und Nachbarschaft eine breitere erzieherische Verantwortung übernehmen. So wird in Schultebraucks-Burgkarts Schule nachmittags im Team der Unterricht arbeitsteilig vorbereitet. Der Erziehungs- und Bildungsauftrag wird breiter interpretiert, weil vor allem viele Eltern von Migranten überfordert sind. Die klassische hierarchisch gesteuerte Schule, die zu wenig auf ihre Kunden schaut, verfehlt ihre Aufgaben. Eine Politik in neosozialer Perspektive, die vom Zusammenhalt der Gesellschaft aus gedacht wird, kann und darf sich mit der derzeitigen institutionellen und korporatistischen Selbstfesselung unseres Bildungssystems und seines wichtigsten Teils, der Schule, nicht abfinden. Das Paradoxon der gegenwärtigen Situation liegt offen zutage: Es herrscht ein weitgehender Konsens, dass wir gute Schulen und deshalb gute Lehrer mehr denn je brauchen. Das erfordert gute Organisation und Einbettung in eine Nachbarschaft mit direkteren Kontrollen, mit Anreizen und auch mit mehr Wettbewerb. Dazu könnte auch ein „Social Franchising“ gehören, bei dem gute Schulen Partnerschaften der gegenseitigen Unterstützung und Befruchtung eingehen. Es gibt viele gute Lösungen, aber zu wenig Diffusion dieser Lösungen. Das politisch zentrale Problem ist jedoch – jeder weiß es –, der Kampf der Gymnasialeltern um die Scheinprivilegien ihrer Kinder, die als Elite unter sich bleiben sollen. Tatsächlich aber wäre allen besser gedient, wenn in einer integrierten Schule innere Differenzierungen nach den Talenten und Neigungen der Schüler vorgenommen werden. Dazu entfallen auch die absurden Weichenstellungen bei 10-jährigen Jungen, die noch nicht so reif sind wie die Mädchen und geringere Chancen haben, überhaupt auf das Gymnasium zu gehen. Das Paradoxon, dass die politischen Herrscher an guten Schulen interessiert sind, sich als politisch Beherrschte aber allenfalls an der Schule ihrer eigenen Nachkommenschaft und deren Fortkommen interessiert zeigen, kann durch eine forcierte Benchmarking- und Diffusionsstrategie, die sich im Grundsatz an der Qualität und Popularität der Stiftung Warentest ausrichten müsste, genutzt werden. Mit ihr haben wir in Deutschland eine Erfolgsgeschichte, die – als neuer Kontext – genutzt werden kann.
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Dass so etwas im politischen Wettbewerb Wirkungen erzielen kann, zeigt das Beispiel Bayern: Jahrzehntelang ist die dort von der SPD geforderte Ganztagesschule als heidnisch-schwedisches Teufelszeug ausgegrenzt worden. Die großen Verluste der CSU bei den besser gebildeten jungen Frauen mit eigener Berufsqualifikation hat zu einer zunächst rein semantischen Umetikettierung geführt, deren offenkundigen Defizite aber jetzt den Druck weiter aufrecht und die Sache am Kochen halten. Gute Ganztagsschulen brauchen gute Lehrer und gute Lehrer lassen sich, wie überall im Leben, nur durch Wettbewerb und durch Vergleiche ermitteln – dieser neue Kontext ist bei schlechten Lehrern und bei mittelmäßigen Politikern unpopulär, aber in neosozialer Perspektive ein vielversprechender Ansatzpunkt für Politik, der zu nutzen wäre.
X Der Aufsatz von Robert Leicht (vgl. Kapitel I) beschäftigt sich mit dem Paradoxon der Politik, seinen praktischen Folgen mit Blick auf die Zukunft der Demokratie in Deutschland. Er verwirft viel und oft diskutierte Vorschläge wie die Einführung des Mehrheitswahlrechts, die Amtszeitbeschränkung des politischen Personals, das Anheben des Alters für passives Wahlrecht. Übrig bleiben zwei praktische Vorschläge, ein heroischer und ein nicht-heroischer. Der heroische ist die Empfehlung an Politiker, für die Durchsetzung des als richtig Erkannten wie einst Gerhard Schröder auch den Verlust der Macht und der politischen Existenz zu riskieren und sich abwählen zu lassen – glücklich die Demokratie, die solche Heroen hervorbringt: Unsere Nachbarn Dänemark, Niederlande und Österreich zum Beispiel. Sein nicht-heroischer Vorschlag, die Einführung eines nationalförderalen Plebiszits ist erkennbar von der Sympathie des Hamburger Schwaben für die Schweizer direkte Demokratie inspiriert. Sie kann zuverlässig mit dem zähneknirschenden Widerstand der Mittelmäßigen und jener Kräfte in Politik und Verwaltung rechnen, die ihre politische Existenz, ihrer Ferne von der Lebenswelt der Menschen verdanken und in der Intergalaktik von Medienschein und (Interessen-)gruppen-Wärme vor sich hin gedeihen. Das politische Subjekt, die Bürgerinnen und Bürger, wieder stärker als Herrscher der Politik in die Pflicht zu nehmen, ist für den Zusammenhalt der Gesellschaft und für eine neosoziale Perspektive der Gesellschaft fundamental. Das Paradoxe der Politik ist ja – noch einmal sei darauf hingewiesen –, dass die politischen Subjekte als Herrschende beherrscht werden und als Beherrschte herrschen
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sollen. Es geht darum: Wie kann man sie zum Herrschen verführen? Wie kann man ihnen das politische Entscheiden (wieder) schmackhaft machen? Ansatzpunkt könnte hier die Paradoxie der Weltgesellschaft sein, die Rolf Böhme (vgl. Kapitel XIII) zu seiner Forderung nach mehr Autonomie für die Kommunen und nach einem Rollback zugunsten des Lokalen, angesichts des übermächtigen und unberechenbaren Globalen, geführt hat. Der neue Kontext „Europa“ fordert mit seinen übergestülpten und mangelhaft legitimierten Normen im Nahbereich der Menschen politische Reaktionen heraus, die von Populisten missbraucht werden können. Sie könnten aber in einer neosozialen Perspektive auch für neue Formen der politischen Beteiligung durch Abweichen von der Norm, durch Einmischen und Mitmachen im Sinne der direkten Demokratie genutzt werden. Warum soll dann, was auf lokaler Ebene eingeübt ist, nicht auch auf der national-förderalen Ebene stattfinden? Etwa durch national-föderale Plebiszite? Das könnte – by the way und eine letzte Paradoxie – der Jungbrunnen sein, in dem die Volksparteien wieder zum Volk finden und/oder sich vom Volk neu erfinden lassen.
Literaturhinweise Baecker, Dirk (2007): Was hält Gesellschaften zusammen? In: Studien zur nächsten Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 147-174. Croach, Colin (2004): Post-Democracy. Cambridge (UK), Malden, MA (USA): polity. Gaede, Werner (2001): Abweichen von der Norm – Enzyklopädie kreativer Werbung. München: LangenMüller. von Hippel, Eric (2005): Democratizing Innovation. Cambridge Mass. u. London: MIT. Hirschman, Albert O. (1982): Shifting Involvements – Private Interest and Public Action. Princeton, N.J.: Princeton University Press. Klein, Louis (20052): Corporate Consulting. Heidelberg: Auer. Liebl, Franz (2008): Das Neue im Trend – Über Devianz, Normalisierung und Marktkreierung. In: Priddat, Birger P. & Seele, Peter (Hrsg.): Das Neue in Ökonomie und Management. Wiesbaden: Gabler, S. 81-99. Marcinkowski, Frank & Pfetsch, Barbara (Hrsg.) (2009): Politik in der Mediendemokratie. Wiesbaden: VS. Ranciére, Jacques (2008): Zehn Thesen zur Politik. Zürich, Berlin: Diaphanes. Sarcinelli, Ulrich & Tenscher, Jens (Hrsg.) (2008): Politikherstellung und Politikdarstellung. Köln: Halem.
Verzeichnis der Autoren
Dr. Heik Afheldt (Jahrgang 1937) studierte bis 1961 Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Hamburg. Promotion zum Dr. rer. pol. 1964. Er war von 1964 bis 1987 bei der PROGNOS in Basel tätig, davon die letzten zehn Jahre als Vorsitzender der Geschäftsleitung. Danach war er in Düsseldorf Herausgeber von „Wirtschaftswoche“, „Handelsblatt“ (1988-1998) und des Berliner „Der Tagesspiegel“ (1998-2002). Er ist im Vorstand des Managerkreises der Friedrich-Ebert-Stiftung und Honorarprofessor für Zukunftsforschung an der Kunsthochschule BerlinWeißensee. Afheldt ist Autor zahlreicher Publikationen und Kolumnist des „Der Tagesspiegel“. Dr. Rolf Böhme, geb. 1934, war 1982-2002 Oberbürgermeister der Stadt Freiburg im Breisgau. Zuvor war Böhme von 1972-1982 Mitglied des Deutschen Bundestages, ab 1978 auch Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen. Von 2002-2005 war Böhme Kommunalberater von Bundesinnenminister Otto Schily. Prof. Axel Börsch-Supan, Ph.D. ist Direktor des Mannheimer Forschungsinstituts für Ökonomie und Demographischen Wandel (MEA). Er ist Mitglied der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Nationalakademie Leopoldina. Er leitete die Rentenreformgruppe der Nachhaltigkeits(„Rürup“)-Kommission, war Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie und Mitglied des Beraterkreises „Demographischer Wandel“ beim Bundespräsidenten. Er koordiniert den Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe (SHARE) und ist einer der Direktoren des Netzwerks Altern der Universitäten Heidelberg und Mannheim. Diplom-Volkswirt Dr. Reiner Braun, Mitglied des Vorstandes der empirica ag Forschung und Beratung (Berlin), Studium der Volkswirtschaftslehre an den Universitäten Osnabrück und Bonn, Promotion an der Universität zu Köln. 1994 bis 1998 war Herr Braun Projektleiter bei der empirica gmbh Bonn. Von 1999 bis 2003 war Herr Braun als selbstständiger Autor und Berater tätig, im Jahr 2003 wurde er in den Vorstand der empirica ag Berlin berufen. Die Arbeitsschwer-
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punkte seiner Tätigkeit liegen im Bereich Wohnungsmärkte, Einkommens- und Vermögensanalysen sowie Altersvorsorge. Dr. Warnfried Dettling lebt als freier Autor und Politikberater in Berlin, geboren 1943 in Kuppenheim/Baden. 1962-1967: Studium der Politikwissenschaft und Soziologie, Klassischen Philologie und Philosophie in Würzburg, Freiburg im Breisgau und an der London School of Economics and Political Science. 19731983: Leiter der Planungsgruppe, später auch der Hauptabteilung Politik in der CDU-Bundesgeschäftsstelle. 1983-1991: Ministerialdirektor im Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit. Seither publizistische Tätigkeit für Tages- und Wochenzeitungen sowie TV und Radio. Bücher und Beiträge vor allem zu Grundsatzfragen und Perspektiven des Sozialstaats, der Bürgergesellschaft und der politischen Parteien. Robert Leicht, Jahrgang 1944, absolvierte nach dem Abitur an der Schule Schloss Salem eine kaufmännische Lehre und studierte von 1965 bis 1970 die Rechte in Berlin und Saarbrücken. Von 1970 an Leitartikler der „Süddeutschen Zeitung“, dort 1983 Ressortleiter Innenpolitik, 1986 Wechsel als Ressortchef Politik und stellvertretender Chefredakteur zur ZEIT, von 1992-1997 Chefredakteur, seither Politischer Korrespondent des Blattes, seit 1999 Honorarprofessor an der Universität Erfurt, von 1999 bis 2009 Präsident der Evangelischen Akademie zu Berlin, 2003 Ehrendoktor der Theologie der Universität Münster. Prof. Dr. Christian Pfeiffer war von Dezember 2000 bis März 2003 Niedersächsischer Justizminister. Seitdem ist er wieder wie auch schon vorher seit 1988 Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen e.V. Nach seinem Studium der Rechtswissenschaften in München studierte er Sozialwissenschaften und Kriminologie an der London School of Economics and Political Sciences. Während seiner Zeit als wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafvollzug der Universität München gründete er den Verein BRÜCKE e.V., München, der einen Modellversuch zur Erprobung neuer Maßnahmen bei der Betreuung straffälliger Jugendlicher durchführt. Das Projekt erhielt 1982 den von der Landesregierung vergebenen bayerischen Sozialpreis und wurde bundesweit zum Vorbild für mehr als 400 Nachfolgeprojekte. Pfeiffer war zudem Initiator des ersten deutschen Modellversuchs zur Erprobung des Täter-Opfer-Ausgleichs im Jugendstrafrecht (Braunschweig), der zum Ausgangspunkt für mehr als 200 Nachfolgeprojekte wurde. Außerdem hat Pfeiffer 1997 in Hannover die erste deutsche Bürgerstiftung ins Leben gerufen, die seitdem in der
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Stadt über 240 Projekte in den Bereichen Jugend, Kultur und Soziales unterstützt und zum Vorbild für mehr als 300 Bürgerstiftungen in Deutschland wurde. Zwischen 1987 und seinem Amtsantritt als Justizminister war Pfeiffer ferner Universitätsprofessor für Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafvollzug am Fachbereich Rechtswissenschaften der Leibniz Universität Hannover. Ulrich Pfeiffer, Ökonom, geb. 1939. 1965 Examen in München; 1965-1967 Forschungsassistent im Bereich Regionalplanung, Stadtentwicklung; 1968-1982 Tätigkeit in verschiedenen Bundesministerien, zuletzt Leiter der Abteilung Wohnungswesen im Bauministerium; 1982-1989 freiberuflich als Berater im In- und Ausland, u.a. für Banken, GTZ, Kommission in Brüssel, verschiedene Bundesund Länderministerien, Kommunen und Stiftungen; 1989 Gründung des Beratungsunternehmens empirica und heute Geschäftsführer der empirica gmbh – Qualitative Marktforschung, Stadt- und Strukturforschung in Bonn und Aufsichtsratvorsitzender der empirica ag – Forschung und Beratung in Berlin; Mitbegründer, langjähriger Sprecher (bis 2008) und Vorstandsmitglied des Managerkreises der Friedrich-Ebert-Stiftung. Volker Riegger, Diplom-Volkswirt (*1942) ist Vorstand der logos AG Holding in München, seit 1996 Honorarprofessor für Strategische Kommunikationsplanung an der Universität der Künste Berlin. Zuvor war er tätig als Wirtschaftsredakteur, als wissenschaftlicher Assistent an der Universität München, als politischer Planer und Campaign Manager für Willy Brandt, Helmut Schmidt, Johannes Rau und Hans-Jochen Vogel sowie in der Holding-Geschäftsführung der Infratest Forschung. Dr. Thilo Sarrazin, geb. am 12.2.1945 in Gera, studierte Volkswirtschaft in Bonn und war viele Jahre im Bundesministerium der Finanzen tätig, wo er zuletzt die Einführung der DM in der DDR vorbereitete und die Rechts- und Fachaufsicht über die Treuhandanstalt aufbaute. 1991 wechselte er als Staatssekretär in das Ministerium für Finanzen Rheinland-Pfalz, 1997 wurde er Vorsitzender der Geschäftsführung des Treuhand-Liegenschaftsgesellschaft TLG in Berlin, 2000 Infrastruktur-Vorstand bei der DB Netz AG. Januar 2002 wurde er Senator für Finanzen in Berlin. Seit 1. Mai 2009 ist er Mitglied des Vorstandes der Deutschen Bundesbank. Dr. Hilmar Schneider (Jahrgang 1957) studierte Sozialwissenschaften und Volkswirtschaftslehre an der Universität Frankfurt am Main. Er ist nicht nur
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promoviert, sondern besitzt auch die venia legendi für Volkswirtschaftslehre. Seit 2001 ist Schneider Direktor für Arbeitsmarktpolitik am Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit (IZA) in Bonn. Zuvor leitete er acht Jahre die Arbeitsmarktabteilung am Institut für Wirtschaftsforschung Halle an der Saale. Seine erfolgreiche Tätigkeit an der Schnittstelle zwischen Wirtschaftswissenschaft und praktischer Politikberatung äußert sich in einer Vielzahl von Forschungsgutachten, Fachpublikationen und Medienbeiträgen. Darüber hinaus berät er die Bundesregierung als Mitglied der Zensuskommission. Gisela Schultebraucks-Burgkart, geb. 11.05.1952, ist seit 1973 Grundschullehrerin und seit 1994 Schulleiterin der Grundschule Kleine Kielstraße in Dortmund-Nord, die im Jahr 2006 mit dem ersten Deutschen Schulpreis ausgezeichnet wurde. Dr. Harald Simons: Studium der Volkswirtschaftlehre in Bamberg, Colchester (UK) und Bonn, Promotion in Magdeburg. Seit 1993 Mitarbeiter, seit 2002 Mitglied des Vorstands der empirica ag.
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Abgabenkeil 77 Agenda 2010 14, 32, 35, 51, 78, 206 Altersvorsorge 79, 81, 82, 85, 106, 235 Amtszeitbeschränkung 43, 232 Politik der Anerkennung - Anerkennung durch Umverteilung 68, 72 - Annerkennung und Respekt 57 - Anerkennungsprobleme und Sozialtransfer 23 Äquivalenzprinzip 27, 59, 74, 82, 83, 92, 101, 102, 228 Arbeit - Arbeit, knappe 16, 119 - Arbeitsproduktivität 26, 73, 76, 77, 108, 109, 130 - Eigenarbeit 121 - Erwerbsarbeit 66, 68, 69, 121, 152 - Schwarzarbeit 101, 121, 122, 124, 128 - Arbeit, Selbstverwirklichung 57 - Arbeitsgelegenheiten, Verdrängungseffekte 130 - Arbeitsanreize 14, 74, 82, 83 Arbeitgeberanteil, Einkommen des Arbeitnehmers 103 Arbeitsgesellschaft 20, 69, 119 Arbeitslosigkeit, Langzeitarbeitslose 133, 135 Arbeitslosengeld II 122, 123, 124, 136, 206 Arbeitsmarkt - Arbeitsmarktreformen 8, 13, 133 - Arbeitsmarkt, Aufschwung 120 - Arbeitsmarkt, Internationalisierung 134 Armut - Armutsinseln 69 - Armutskarrieren 65, 69 - Netzwerkarmut 53, 71
Babyboomgeneration 9, 51, 74, 78, 85, 86 Basisrente 104 Befähigungspolitik 22, 95 Beitragsfinanzierung 82 Beitragssatz, Krankenversicherung 79, 101, 102 Beitragssatz, Rentenversicherung 78, 79 Beschäftigung, öffentlich geförderte 129 Boden, ewig nutzbares Gut 144 Bürgerversicherung 40, 87, 97 Demographie - Demographische Bedrohung 76 - Demographische Transformation 50 Demokratie - Demokratie, Wert an sich 7, 19 - Demokratiekritik 33 - Demokratischer Realismus 33, 34 - Demokratie, externalisierte Kosten 40 - Demokratie, Funktionsdefizite 35, 36 Effektivität 8, 12, 148 Ehrenamt 22, 71 Ein-Euro-Jobs 128 Einkommen, Mindesteinkommen 122 Elterngeld 110, 157, 158, 167 Empowerment 95 Entkirchlichung 69 Erwerbsbeteiligung 26, 73, 77, 111, 112, 129 Erwerbsverhalten 77 Externe Effekte 138 Familienpolitik - Familie, Förderung großer 28, 162 - Familienpolitik, Gleichheitspolitik 154 - Familienpolitik, Schweden 154
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- Familienpolitik, geburtensteigernde 151 - Familiensplitting 157, 161, 162 Federalist Papers 33, 36 Fertilitätsrate 114 Filteringprozess 138 Geburtenziffer 50, 110, 111, 151, 158, 161, 162 Generationengerechtigkeit 85, 86 Gesundheitsausgaben 83, 89, 90, 91, 93, 97, 102, 104 Gesundheitssystem der Schweiz 27, 87, 90, 91, 92, 93, 97 - Äquivalenzprinzip, Finanzierbarkeit Schweiz 27, 92, 93 - Grundversicherung 87, 88, 90, 91 - Zusatztarife, Schweiz 92 - Prämienverbilligung, Schweiz 88, 92 Gesundheitswesen - Gesundheitswesen, steuerfinanziertes 83 - Gesundheitswesen, Wettbewerbselemente 91 Gleichheit - Gleiche Startchancen 134 - Gleichheitsfördernde Verbilligung der Industriegüter 50 Grenz- und Durchschnittsbelastungen 105, 106 Große Koalition 39, 41, 208 Grundsicherung 104, 113 Grundsicherungsansprüche, Absenkung 127 HMOs (Health Maintenance Organisations) 88, 93 Hochhaussiedlungen 140, 184 Innenstadtentwicklung 144 Kapitalismus als Moralzehrer 64 Kopfprämie 27, 87, 88, 97 Krankenversicherungsbeiträge, Proportionalsteuer 101, 102
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Laborexperiment und Gerechtigkeit 131 Lambsdorff-Papier 31, 32 Leben, reiches 65, 95, 96 Lebenserwartung - Lebenserwartung, durchschnittliche 74, 84 - Lebenserwartung, aktive/gesunde 74, 79, 84, 93 - Lebenserwartung, statistische 74, 79, 84 - Lebenserwartung, steigende/höhere 75, 76, 78, 84, 93, 116, 217 Lobbykratie 8, 60 Lohn - Kombilohn/Kombilöhne 27, 126, 127, 128, 136 - Medianlohn 125 - Mindestlohnniveau 122 Lohnnebenkosten, Senkung 73, 85 Macht der Probleme 45 Marktstrukturpolitik 55, 140 Märkte, Wert an sich 7, 19 Natur, Kollektivgut 148 Neoliberal 9, 11, 17, 18, 70, 75, 81, 121 Neosozial 9, 18, 19, 23, 24, 30, 70, 75, 78, 81, 85, 224, 226, 228, 237 Nutzungspreise 58 passions und interests 22, 33 , 49, 61 Parlamentarismuskritik 33, 38 Parteien - Parteien als Verfassungsorgan 37 - Parteienstaat 37 Politik - Politik der Anerkennung 26, 63, 64, 67, 70, 71, 72 - Politikkarrieren und Rekrutierungsraster 42 - Rationierungspolitik 174 - Politikverweigerung 31, 32, 45 Politiker - Berufspolitiker 35, 37
Schlagwortregister
- Berufspolitiker, Rekrutierung 37 Prämienverbilligungen 88, 92, 93 Problemstau 7, 8, 31, 39, 45, 60 Produktivität - Produktivität älterer Menschen 84 - Produktivität je Erwerbstätigenstunde 108, 109, 114, 117 - Produktivitätsannahme 110 - Produktivität, Steigerung(en) 43, 46, 50, 55, 69, 74, 76, 77, 78, 105, 108, 110, 114 Professionalisierung der Interessenvertretungen 75, 80 Quasimärkte 8, 58, 59, 228 Reformen - Grundsteuerreform 145 - Reformtarif, Einkommensteuer 105, 106 - Arbeitsmarktreformen 133 - Bismarck-Reformen 63 Renteneintrittszeitpunkt 74, 83, 84 Reziprozität 67, 68, 130 Riestersparen 16, 83 Schleier der Ungewissheit 131 Selbstbeteiligungen 19, 89 Selbstverwirklichungsgesellschaft 26, 70 Siedlungsfläche 19, 142, 147 Solidarität, knappe 19, 22, 23, 225 Sozial gerecht 27, 94, 96, 130, 131, 133, 135 Sozialabgaben 76, 98, 100, 101, 102, 103, 129 Soziale Gerechtigkeit 95, 130, 131, 133, 135 Soziale Marktwirtschaft 14, 15, 16, 227 - Soziale Marktwirtschaft als Erfolgskonzept 14 - Soziale Marktwirtschaft, Wettbewerb 14; wettbewerbsfreundlich 15 Sozialpolitik - Sozialpolitik als Mittelschichtsförderung 82 - Sozialpolitischer Gestaltungsspielraum 73, 74, 79, 81
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- Sozialleistungen, Aufbringung (Internationaler Vergleich) 107 Sozialstaat - Blüte des Sozialstaats 69 - Sozialstaat, Einkommensungleichheit 52 - Sozialstaat, Eigeninteresse 23 - Sozialstaat, Goldenes Zeitalter 51 - Sozialstaat, real existierender 74, 80 - Sozial- und Bildungsstaat 13, 19, 21, 25, 49, 65 - Sozialstaat und Selbstverwirklichungsziele 19, 23, 28, 52 - Sozial(versicherungs)staat 68 Staat - Herumverteilungsstaat 60 - Staatsanteil 99, 100 - Staatsversagen 53, 65 Stadtumbau 28, 58, 143, 145, 146, 149, 206, 209, 220 Steuer - Erbschaftsteuer 58 - Grundsteuer 28, 58, 60, 100, 145, 146, 149, 206, 220 - Grundsteuer, Überwälzung 145 - Steuerbelastung 100, 103, 105 - Steuerfinanzierte Grundrente, Krankenbasisversorgung 103 - Steuerfinanzierung, Krankenversicherung, Rentenversicherung 101 Strukturwandel, Doppelgesicht 49 Subventionen 16, 27, 56, 58, 59, 60, 138, 139, 140, 145, 146, 148, 194, 197 Tragfähigkeitsberichte der Bundesregierung 107 Ungleichheit 7, 8, 16, 18, 20, 21, 25, 47, 49, 52, 53, 54, 72, 96, 150, 180, 218 Verfassungssystem 32 Vermögen - Vermögensbildung 13, 54, 146 - Vermögensumschichtung 147
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Vermögensstreuung im Wohnungssektor 138, 139 Verursacherprinzip 86 Volksbegehren 44 Wahl(en) - Mehrheitswahlrecht 42, 232 - Wahlrecht, passives 43, 232 - Wahlbeteiligung 32, 35, 37, 44 - Wahlrecht 42 - Wahlrechtsreform 43 Wettbewerb, beschäftigungsfördernd 14 Wohlfahrtsgesellschaft 26, 67, 68 Wohnungsbau - Wohnungsbau, sozialer 140, 148 - Wohnungsbau, privater 138 - Wohnformen 139, 166, 218 - Wohnungen, Überangebot 143, 145 Wohnungsmarkt - Wohnungsmarkt, elastisches Angebot 137 - Wohnungsmarkt, Präferenzverschiebung 142 - Wohnungsmarkt, Subventionen 140 - Wohnungsmarkt, zyklisch schwankend 128
Schlagwortregister
Workfare 27, 55, 119, 127, 128, 129, 130, 132, 135, 136 Wunschdenken 107, 110, 111 Zahnbehandlung(en) 89, 90, 92 Zuwanderung 76, 106, 110, 139, 213, 215
Personenregister Adenauer, Konrad 48, 66 Baecker, Dirk 225 Bahr, Egon 227 Bismarck, Otto von 63, 66 Brandt, Willy 34, 180, 227, 236 Crosland, Anthony 48, 61 Erhard, Ludwig 14, 15, 24, 48, 51, 227 Fogel, Robert William 49, 61 Hirschman, Albert 22, 49, 61, 233 Rawls, John 34, 131, 132, 136