EDNA FERBER
Eine Frau allein
ROMAN
GEBRÜDER WEISS VERLAG
BERLIN-SCHÖNEBERG
Originaltitel: SO BIG Übertragung aus...
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EDNA FERBER
Eine Frau allein
ROMAN
GEBRÜDER WEISS VERLAG
BERLIN-SCHÖNEBERG
Originaltitel: SO BIG Übertragung aus dem Amerikanischen: Gertrud von Hollander Einband- und Umschlagentwurf: Wernec Bürger
Deutsche Erstausgabe 1962 2. Auflage 1964 Alle deutschen Rechte beim Gebrüder Weiß Verlag, Berlin-Schöneberg Copyright,' 1924, by Doubleday & Company All Rights reserved. Copyright, 1923,1924, by the Crowell Publishing Company Satz und Druck; Graphische Betriebe W. Büxenstein GmbH, Berlin 61 Printed in Germany
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Erst mit zehn Jahren wurde er diesen Namen los. Es war ein regelrechter Kampf für ihn. Aus So Groß (der Name rührte von frühen kindlichen Zärtlichkeiten her) war schließlich zusammengezogen Sogroß entstanden, und Sogroß DeJong war er geblieben, wenn es auch noch so holprig klang, bis er zehn Jahre alt wurde und in jenem unglaublich holländisch gebliebenen Bezirk südwestlich von Chikago zur Schule ging, die früher Neu-Holland hieß und später High Prairie. Mit zehn Jahren endlich erwarb er sich redlich, mit Fäusten, Zähnen, nagelbeschlagenen Stiefeln und Wutausbrüchen, das Recht, bei seinem richtigen Namen gerufen zu werden, nämlich Dirk DeJong. Natürlich tauchte der alte Spitzname manchmal wieder auf; durch eine kurze, aber hef tige Prügelei mußte er ihn dann aus der Welt schaffen. Seine Mutter hatte ihn zuerst so genannt; sie war daher an allem schuld. Wenn sie sich versprach, so konnte er mit ihr doch unmöglich so umgehen wie mit den Schul kameraden! Dafür schmollte und trotzte er um so nach 5
drücklicher und gab überhaupt keine Antwort, wenn sie ihn rief, obwohl ihre Betonung des Wortes Sogroß einen Stein hätte rühren können. Aber zehnjährige Jungen sind nun einmal keine Engel! Der Spitzname war aus den ersten und etwas törichten Fragen entstanden, wie man sie kleinen Kindern stellt und auf die sie mit unermüdlicher Geduld immer wieder antworten. Flink wie ein Wiesel rannte Selina DeJong in ihrer Küche umher, vom Waschzuber zum Backbrett, vom Herd zum Tisch. Oder sie schuftete draußen auf ihren Gemüsefeldern wie ein gelernter Arbeiter. Gönnte sie sich dann einen Augenblick Ruhe, um den lahmen Rük ken aufzurichten von den dichtgesäten Mohren-, Rübenoder Spinatreihen, so hatte sie die Angewohnheit, mit gekrümmtem Arm die Schweißtropfen von Stirn und Nase zu wischen. Ihre wunderschönen dunklen Augen suchten dann das Kind, das stolz auf einem Haufen leerer Kartoffelsäcke thronte. (Auch seine Kleidung bestand aus nichts anderem.) Immer wieder krabbelte es von dem Sandhaufen herunter und wühlte und grub in der köstlichen warmen Gartenerde. Selina DeJongs Tagewerk ließ ihr nicht viel Zeit für Zärtlichkeiten. Stets brannte ihr die Arbeit auf den Nägeln. Damals war Selina eine junge Frau in einem blauen, etwas verschossenen und erdbeschmutzten Kat tunkleid. Ihr üppiges dunkles Haar hatte sie zu einem Knoten zusammengedreht. Aus ihm lösten sich beständig weiche Ringel und Strähnen, die sie mit der gleichen hastigen Armbewegung zurückstrich. Ihre Hände konnte sie dazu nicht gebrauchen, sie trugen meistens die Spuren der Arbeit am Erdboden. Neben ihr spielte das zweijährige Kind, schmutzig, braungebrannt und ständig be
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deckt von Beulen, Insektenstichen und Schrammen. Es ging ihm nicht anders als allen kleinen Landkindern, deren Mütter vor Arbeit nicht aus noch ein wissen. Und doch! Sobald die Mutter das Kind nur ansah, mitten in den warmen, feuchten Frühlingswiesen oder in der arbeitsreichen Küche drinnen im Farmhause - immer war zwischen ihnen und um sie herum eine schwingende, leuchtende Welle, ein warmes Strahlen, das sie beide und ihre ganze Umwelt geheimnisvoll einhüllte in Glanz und Schönheit. »Wie groß ist mein Kindchen?« Selina fragte es schon halb gedankenlos. »Wie groß ist der kleine Mann?« Sofort hörte das Kind auf, mit seinen ungeschickten kleinen Fingern in der herrlichen schwarzen Erde zu wühlen. Es lachte, wie es nur konnte, und breitete beide Ärmchen weit aus. Auch die Mutter öffnete weit ihre müde gearbeiteten Arme. Dann kam es gleichzeitig aus beider Mund - der seine war rosenrot wie eine Blumenknospe, der ihre bebte in Zärtlichkeit und heimlichem Vergnü gen: »Soooo groß!« Wobei es darauf ankam, die Stimme auf dem langen oooo ganz hoch zu machen und sie bei dem zweiten Wort ebenso plötzlich wieder sinken zu lassen. So sehr war das Kind an diese Frage gewöhnt, daß es manchmal gar nicht auf sein Stichwort wartete, wenn Selina zufällig mitten aus ihrer Arbeit zu ihm hinsah. Auch ohne die längst vertraute Frage jauchzte es halb unbewußt sein »Sooo groß«, warf das Köpfchen zurück und brach in ein triumphierendes Gelächter aus. Dann rannte sie zu dem Kleinen hin und riß ihn an sich. Sie barg ihr heißes Gesicht in seinem warmen kleinen Nacken und tat, als wollte sie ihn mit Haut und Haar auffressen. So groß!
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Aber natürlich stimmte es nicht, er war gar nicht »so groß«. Er wurde auch später und in Wirklichkeit nie mals so groß, wie die weit ausgebreiteten Arme ihrer Liebe und Sehnsucht ihn haben wollten. Schließlich hätte sie zufrieden sein können, später, als er Dirk DeJong war, als man seinen Namen schön graviert oben auf schwerem gelben Leinenpapier prangen sah - später, als er seine Kleider bei Peter Peel, dem englischen Herrenschneider, machen ließ, als sein Auto nur noch auf den besten französischen Achsen lief, als in seinem Weinkel ler süßer italienischer Wermut und spanischer Sherry lagen - als ein japanischer Diener für seine Bequemlich keit sorgte, kurz: als er in jeder Hinsicht ein wohlhaben der, angesehener republikanischer Bürger geworden war. Aber sie machte sich aus alledem nichts. Sie war sogar mehr als unzufrieden. Reue und Unwillen überfielen sie eines Tages, als ob man sie, die einfache Gemüsehändlerin Selina DeJong, wegen seiner Erfolge tadeln müßte, als ob sie auf diese Weise ihren Jungen beinahe verloren hätte. Als Selina DeJong noch Selina Peake hieß, hatte sie mit ihrem Vater in Chikago gelebt. Sie hatten aber noch in vielen anderen Städten gewohnt: in Denver, während der unruhigen achtziger Jahre; in New York, als Selina zwölf Jahre alt war; in Milwaukee einige Monate. Ein kurzer Aufenthalt in San Franzisko war Selina nur undeutlich in Erinnerung geblieben und hatte mit einer so jähen Abreise geendet, daß sich selbst Selina, die doch an plötzliches Kommen und Gehen gewöhnt war und sich keine Gedanken darüber machte, gewundert hatte. »Geschäfte«, sagte der Vater. Erst am Tage seines Todes * 8
erfuhr sie, welcher Art diese Geschäfte eigentlich gewesen waren. Simeon Peake war mit seiner kleinen Tochter ständig unterwegs. Von Beruf war er einfach ein Spieler - ein Spieler seinem Temperament und seinen Anlagen nach. Wenn es ihnen gut ging, lebten sie fürstlich, wohnten in erstklassigen Hotels und aßen die besten Leckerbissen, gingen viel ins Theater und fuhren stolz in einer gemieteten Kutsche (zweispännig, versteht sich; wenn Simeon Peake sich keinen zweispännigen Wagen leisten konnte, ging er lieber zu Fuß!). Verhüllte das Schicksal sein Haupt, so wohnten sie in bescheidenen Pensionen, aßen am Pensionstisch und trugen die Kleider, die sie in guten Zeiten gekauft hatten. Während dieser ganzen Zeit ging Selina zur Schule, in gute und schlechte, in Privatschulen und in öffentliche, und zwar mit verblüffender Regelmäßigkeit, wenn man ihr nomadenhaftes Herumreisen bedenkt. Es kam vor, daß stattliche mütterliche Damen das dunkeläugige, ernstblickende kleine Mädchen allein in einem Hotelvorraum sitzen sahen oder im gemeinsamen Wohnzimmer irgendeiner Pension, und daß sie sich freundlich mit der teilnahmsvollen Frage an sie wandten: »Wo ist denn deine Mama, du kleines Ding?« »Sie ist tot«, war Selinas höflich-gelassene Antwort. »Ach, du armes kleines Ding!« Und weiter, mit plötzlicher Wärme: »Willst du uns nicht einmal besuchen und mit meinem Töchterchen spielen? Sie spielt so gern mit kleinen Mädchen.« »Nein, vielen Dank. Ich warte auf meinen Vater. Er wäre sehr traurig, wenn er mich nicht hier finden würde.« Die guten Damen gaben sich ganz unnötige Mühe. Selina war vollkommen glücklich. Nur an drei Jahre ihres Le
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bens erinnerte sie sich nicht gern, weil es ihr vorkam, als sei sie damals aus einem warmen, behaglichen Zimmer in ein dunkles, eiskaltes gekommen; sonst aber war ihr Leben frei, interessant und recht bunt gewesen. Sie durfte Entscheidungen treffen genau wie die großen Leute. Sie suchte ihre Kleider allein aus. Sie konnte ihren Vater um den Finger wickeln. Sie verschlang alle Bücher, die ihr in den Pensionslese zimmern, in den Hotels und in den öffentlichen Leihbüchereien in die Hände fielen. Täglich war sie stunden lang allein. Um sie in ihrer Einsamkeit zu trösten, brachte Simeon Peake ihr ganze Stöße von Büchern mit. Se lina feierte wahre Leseorgien. Mit genießerischem Behagen blätterte sie in den verschiedenen Büchern, ehe sie sich endgültig auf eines stürzte. So kannte sie mit fünfzehn Jahren bereits den ganzen Byron, Jane Austen, Dickens, Charlotte Bronte, Felicia Hemens. Selbstver ständlich erst recht die besonders von Dienstmädchen so heiß geliebte »Freundin der Dämmerstunde«, in deren Geschichten Fabrikmädchen und Herzöge so unvermeid lich zusammenkamen wie Beefsteak und Zwiebeln. Diese Lektüre erhielt sie auf Umwegen; sie borgte sie von freundlichen Wirtinnen, Zimmermädchen und Kell nerinnen auf der Reise von Kalifornien nach New York. Drei trübe Jahre, von neun bis zwölf, verbrachte sie bei ihren beiden unverheirateten Tanten, Fräulein Sarah und Fräulein Abbie Peake, in dem düsteren, wohlgeord neten alten Vermonter Haus, das den Peakes gehörte und aus dem ihr Vater, das schwarze Schaf der Familie, schon in seiner Jugend davongelaufen war. In einem plötzlichen Anfall von Hilflosigkeit und Reue nach dem unerwarteten Tode seiner Frau hatte Simeon 10
Peake seine kleine Tochter zurück in die östliche Heimat geschickt. Er hatte Glück und stieß bei seinen beiden Schwestern auf Milde und christliche Barmherzigkeit. Die beiden frommen Damen waren die waschechtesten alten Jungfern, wie sie in keinem puritanischen Roman schöner vorkommen können. Es gab bei ihnen Halbhandschuhe ohne Finger, Sofaschoner, dicke Bibeln, eine richtige gute Stube, eine ehrwürdige alte Katze, die niemals Junge gehabt hatte. Und stets hieß es: »Das schickt sich nicht für kleine Mädchen.« Wenn man die beiden alten Fräulein ansah, mußte man unwillkürlich an zwei alte verhutzelte Äpfelchen denken, die innen schon nicht mehr ganz gut sind. Einmal hatte Selina so einen Apfel irgendwo in einem unaufgeräumten Pult gefunden. Sie hatte lange daran gerochen und die verhutzelten, trok kenen rosa Bäckchen betrachtet; schließlich hatte sie dann kühn hineingebissen, freilich nur um den Bissen augenblicklich wieder auszuspucken. Innen war alles schwarz und faulig gewesen. Wahrscheinlich hatte sie es fertiggebracht, ihrem Vater in einem heimlichen Brief ihre Verzweiflung zu gestehen. Jedenfalls war er ohne Anmeldung eines Tages plötzlich da. Bei seinem Anblick bekam Selina den ersten und einzigen hysterischen Anfall ihres ganzen Lebens. Von ihrem zwölften bis zu ihrem fünfzehnten Lebensjahr ging es ihr außerordentlich gut. 1885 waren sie nach Chikago gekommen, kurz nachdem sie sechzehn Jahre alt geworden war. Dort blieben sie. Selina besuchte Fräulein Fisters Privatschule für junge Damen erster Kreise. Als ihr Vater sie dort anmeldete, erregte er geradezu einen Sturm in Fräulein Fisters jungfräulichem Gemüt: er war so liebenswürdig und verbindlich! Schon der leicht melancholische Ausdruck seines Gesichts nahm 11
für ihn ein; geradezu unwiderstehlich aber war sein Lächeln. Er sei Kaufmann, setzte er ihr auseinander. Aktien und so. Witwer. Fräulein Fister beteuerte, sie sei durchaus im Bilde. Niemand hätte Simeon Peake den Spieler angesehen in seiner Aufmachung war nichts davon zu merken. Allerdings trug er eine Nadel mit einem auffallend klaren weißen Diamanten im Vorhemd. Und sein Hut saß gern ein bißchen auf der einen Seite. Aber schließlich, beides war damals modern und fiel daher nicht weiter auf. Im übrigen war er ein stiller, sehr angenehmer Mensch, schmächtig und fast ein bißchen schüchtern. Er sprach nur wenig, mit altmodischem Akzent. Er hieß eben wirklich Peake und stammte aus Vermont. Chikago war die richtige Stadt für ihn. Da gab es Leben und Reichtum! Die beiden mit rotem Plüsch und Spiegeln überladenen Spielsäle von Jeff Hankins und Mike MacDonald in der Clarkstraße sahen hin täglich. Er gewann und er verlor, aber er brachte es immerhin fertig, daß Selinas Schulgeld stets pünktlich bezahlt wurde. Seinem ewig gleichmäßigen Gesicht — es war das Gesicht eines echten Spielers — konnte niemand je Bewegung oder gar Erregung ansehen. Wenn er viel Geld hatte, aßen sie im Hotel Palmer junge Hähnchen oder gebratene Wachteln, köstliche legierte Suppe und natürlich den Apfelauf lauf , dem das Hotel seine Berühmtheit verdankte. Die Kellner flogen nur so für Simeon Peake, obwohl er kaum mit ihnen sprach und sie nicht im geringsten beachtete. Selina war glücklich. Ihr Umgang erstreckte sich lediglich auf die jungen Mädchen in Fräulein Fisters Schule. Von Männern wußte sie, da sie ja nur ihren Vater kannte, genauso viel wie eine Nonne, eher noch etwas weniger. Denn selbst Nonnen müssen wohl oder übel schon aus 12
der Bibel eine ganze Menge über Art und Wesen der männlichen Leidenschaften lernen. Das Hohelied Salomonis allein ist doch schon eine ganz großartige Erzie hung zur Liebe und zur Leidenschaft. Aber die Bibel ge hörte nicht zu Selinas zusammengesuchtem Leseschatz, und der »Christliche Bote« kam damals noch nicht bis in die Hotels. Ihre beste Freundin war Julia Hempel. Deren Vater, August Hempel, besaß eine Fleischerei in der Clarkstraße. Wahrscheinlich haben heute die Glücklichen unter uns alle wenigstens ein paar Hempelaktien, mindestens aber essen sie Hempelschen Speck und Hempelschen Schinken. Wer in Chikago 1885 noch Fleischer war, konnte es schon fünf Jahre später zum Großhändler gebracht haben. Da Selina viel allein war, fand sie sich, immer mehr auf ihre Phantasie angewiesen. Schon als ganz kleines Kind hatte sie es verstanden, dem Leben den Reiz abzugewinnen, der sich nur dem phantasiebegabten Menschen erschließt. »Jetzt tue ich dies, jetzt tue ich das«, so sagte sie mitten im Spiel zu sich selbst. Sie schaute also zu und war doch gleichzeitig mitten darin. Vielleicht hing damit auch ihre Vorliebe fürs Theater zusammen. Während die anderen Mädchen ihres Alters noch nicht daran dachten, dorthin zu gehen, saß Selina schon auf einem Theaterplatz wie ein erwachsener Mensch. Ihr Gesicht mit den großen dunklen Augen leuchtete fast in seiner durchscheinenden Blässe, wenn sie hingerissen und stolz neben ihrem Vater saß. Simeon Peake hatte eine leidenschaftliche Neigung für das Theater, war er doch selbst ein Spieler mit all den dramatischen Fähigkeiten, ohne die er es in seinem Metier nie zu etwas gebracht hätte. »Ich finde es herrlich, daß irn Theater und in Büchern
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alles möglich ist. Einfach alles! Man weiß nie, was kommt«, sagte Selina nach einem solchen Abend. »Gerade wie im Leben auch«, versicherte Simeon Peake. »Du ahnst gar nicht, was alles mit dir geschehen kann, wenn du nur stille hältst und wartest.« Das sagte Simeon Peake nicht etwa, weil er es nicht besser wußte, sondern mit aller Sicherheit und in voller Absicht. Er war für seine Zeit ein sehr moderner Vater. »Ich habe es gern, wenn du möglichst viel siehst«, erklärte er ihr. »Du sollst dahinterkommen, daß die ganze Geschichte eigentlich nur ein großartiges Abenteuer ist. Erstklassiges Theater! Der Witz dabei ist nur, gleichzeitig mitzuspielen und zuzusehen!« »Welche ganze Geschichte?« »Das Leben; diese ganze bunte Mischung, dieses Drunter und Drüber. Je mehr Sorten von Menschen du kennen lernst und je mehr du unternimmst, um so mehr erlebst du, um so reicher bist du. Auch wenn nicht gerade alles ein Vergnügen für dich ist. Denke immer daran, was auch kommt, ob Gutes oder Schlechtes, schließlich ist doch alles nur« - unwillkürlich entschlüpfte ihm der Spielerausdruck - »Va banque.« Aber Selina hatte ihn verstanden. »Du meinst, lieber al les andere als Tante Sarah und Tante Abbie?« »Na ja, so ungefähr. Schließlich kommt es in der Welt nur auf zwei Sorten von Menschen an: die einen schaffen die Grundlagen des Lebens in mühsamer Arbeit, die anderen bringen Schönheit in die Welt.« Selina hatte »Pride and Prejudice« gelesen und beschloß, die Jane Austen ihrer Zeit zu werden. Sie tat plötzlich ungeheuer geheimnisvoll und war, freilich nur vorüber gehend, durchaus unbeliebt in Fräulein Fisters Schule. Sie hatte es sich angewöhnt, geradezu aufreizend vor sich
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hinzulächeln und in einer Art grüblerischer Versonnenheit einherzuwandeln, als ob sie in Visionen versunken wäre, die gewöhnlichen Sterblichen auf ewig verschlossen sind. - Ihre Freundin Julia Hempel war vollkommen im Recht, wenn sie sich über Selina ärgerte und sie kurzerhand vor die Wahl stellte, entweder mit ihrem Geheimnis herauszurücken oder für alle Zeit und Ewigkeit auf ihr treues Herz zu verzichten. Selina nahm ihr ein feierliches Schweigeversprechen ab. »Schön, ich will dir alles sagen. Ich werde ... Romane schreiben!« Julia war offensichtlich schwer enttäuscht. Immerhin rief sie: »Selina« und stellte sich tief beeindruckt. Gleich darauf aber sagte sie vorwurfsvoll: »Und warum tatest du so geheimnisvoll?« »Davon verstehst du nichts, Julia. Schriftsteller müssen das Leben an der Quelle studieren. Und wenn die Menschen merken, daß man sie beobachtet, verlieren sie gleich ihre Unbefangenheit. Siehst du, du hast mir ja auch was von einem jungen Mann in eurem Geschäft erzählt, daß er dich immerzu angesehen und auch mal gesagt habe...« »Selina Peake, wenn du so unverschämt bist und das in deinem Roman schreibst...« »Da haben wir's! Ich denke gottlob gar nicht daran. Aber siehst du, das meinte ich vorhin.« Julia Hempel und Selina Peake waren beide gleich alt, nämlich neunzehn Jahre, und beide waren sie wirklich tadellose Produkte der Fisterschen Erziehung. An einem schönen Septembertag war Selina den ganzen Nachmittag bei Julia gewesen. Gerade hatte sie ihren Hut genommen und wollte nach Hause gehen. Julias dringende Einladung zum Abendbrot wehrte sie lachend
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mit zugehaltenen Ohren ab. Sicherlich war die Aussicht auf das unvermeidliche Montagabendessen bei Frau Trebbit (Simeon Peake hatte augenblicklich kein Glück im Spiel) kein Grund für Selinas Weigerung. Im Gegenteil, bei Julias raffinierter Schilderung der guten Dinge, die es an diesem Abend bei Hempels gab, konnte Selina einen kleinen begehrlichen Seufzer nicht unterdrücken. »Es gibt junge Hähnchen - drei Stück! Ein Farmer hat sie meinem Vater mitgebracht. Mutter füllt sie, und dazu macht sie Korinthensauce. Nachher Sahnenzwiebeln und Tomaten. Zum Nachtisch Apfelpfannkuchen.« Selina zupfte an dem Gummiband, das ihren kleinen hohen Hut unter dem Haarknoten festhielt. Sie seufzte noch einmal inbrünstig. »Montag abend gibt's bei Frau Trebbit Kohl mit kaltem Hammelfleisch. Und heute ist leider Montag.« »Kleines Schaf! Warum bleibst du dann nicht hier?« »Vater kommt um sechs nach Hause. Er ist jedesmal enttäuscht, wenn ich nicht da bin.« Die untersetzte blonde Julia versuchte es nicht länger, mit Schmeicheleien Selinas Entschluß ins Wanken zu bringen, sondern setzte hart auf hart: »Er geht ja doch gleich nach dem Essen wieder fort. Und du bist jeden Abend bis um zwölf oder gar noch länger allein.« »Ich sehe nicht ein, was das damit zu tun hat«, sagte Selina abweisend. Julias Härte kam nicht aus dem Herzen und schmolz sofort. »Natürlich gar nichts, mein Goldkind. Ich dachte bloß, du könntest ihn dieses einzige Mal allein lassen.« »Er ist wirklich traurig, wenn ich nicht da bin. Und die gräßliche Frau Trebbit himmelt ihn an! Er ist sehr ungern dort.«
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»Dann begreife ich nicht, warum ihr nicht auszieht. Ihr wohnt nun schon vier Monate dort, und ich finde es da scheußlich. Der ewige dumpfe Geruch und das häßliche Linoleum auf der Treppe.« »Meinen Vater geht es augenblicklich geschäftlich nicht gut.« Ihre Kleidung sah danach aus. Selina war freilich ganz nach der damaligen Mode ausstaffiert, ihr Hut mit hohem Kopf und schmaler Krempe stammte aus New York mit seiner Garnierung von Federn, Blumen und Bändern. Aber alles war schon im Frühling gekauft, und jetzt schrieb man September. Im Laufe des Nachmittags hatten sie zusammen das neueste Modenheft durchgeblättert. Das Mißverhältnis zwischen Selinas Anzug und den dort abgebildeten Modeschöpfungen war ungefähr so groß wie der Unter schied des Trebbitschen und des Hempelschen Abendessens. Schließlich nahm Julia trotz ihrer Niederlage zärtlichen Abschied von ihrer Freundin. Selina legte das kleine Stück von Hempels Haus bis zur Pension Trebbit in der Dearbornstraße schnell zurück. Ihr Zimmer lag in der zweiten Etage. Sie nahm den Hut ab und rief nach ihrem Vater. Er war jedoch noch nicht da, und sie atmete auf. Sie hatte schon befürchtet, zu spät zu kommen. Sie betrachtete mißbilligend ihren Hut, der ihr plötzlich nicht mehr gefiel. Kurz entschlossen machte sie sich daran, die verblichenen Rosen abzutren nen. Aber schon nach den ersten zwei Schnitten merkte sie, daß der Hut noch mehr verschossen war als die Rosen und daß man unter der Garnitur deutlich eine dunkle Stelle sah. So suchte sie sich eine Nadel und nähte die arme Rose wieder am alten Platz fest.
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Dicht am Fenster hockte sie auf einer Stuhllehne und nähte mit flinken, geschickten Stichen. Da plötzlich hörte sie ein Geräusch. Sie vernahm diesen Ton zum erstenmal in ihrem Leben. Es war ein ganz bestimmtes Geräusch: harte, unheilverkündende Schritte. So gehen Männer, die eine schwere, leblose Masse schleppen, die mit unendlicher Sorgfalt einen Gegenstand tragen, dem doch nichts mehr geschehen kann. Nie im Leben hatte Selina etwas Ähnliches gehört und wußte doch sofort, was es war. Jähe Herzensangst, ewiger, geheimnisvoller weiblicher Instinkt verrieten ihr, was da so unheimlich herannahte. Schritt für Schritt kam es langsam die enge Treppe herauf, den Gang entlang. Selina erhob sich. Schwer wie Blei lag die Nadel in ihrer Hand, fiel zu Boden. Ihre Augen starrten ins Leere ... die Lippen standen halb offen. Sie lauschte fieberhaft ... wußte alles. Wußte alles längst, bevor sie eine heisere Stimme sagen hörte: »Hebe da an der Ecke mal ein bißchen höher. Vorsicht, langsam!« Und da schrie auch schon Frau Trebbit: »Sie dürfen ihn hier nicht hereinbringen! Sie hätten mir ihn überhaupt nicht ins Haus bringen dürfen.« Selina holte wieder Atem. Ihr Herz ging stoßweise. Sie riß die Tür auf. Da brachten sie ihre stille, leblose Last. Der Körper war zum größten Teil mit einem Überzieher bedeckt, den man achtlos auch über das Gesicht geworfen hatte. Nur die Füße wackelten in ihren breiten Schuhen sinnlos hin und her. Die blanken Stiefel fielen Selina auf — er war immer so eigen mit seinen Sachen gewesen. An diesem Nachmittag um fünf Uhr war Simeon Peake in Jeff Hankins' Spielsalon erschossen worden. Und es war eine Ironie des Schicksals, daß die Kugel nicht ein mal für ihn bestimmt gewesen war. An ihrem verirrten 18
Lauf war eine Frau schuld. Eine jener überspannten Damen hatte sie abgeschossen, die durch ihre Exzentrizitäten Leben in den eintönigen Alltag brachten und mit Revolver und Reitpeitsche gewöhnlich dann ihre Ehre verteidigten, wenn es dazu längst zu spät war. Sie hatte einen sehr bekannten Zeitungsverleger treffen wol len, der in allen Blättern, nur nicht gerade in seiner eigenen Zeitung, allgemein ein »Lebemann« genannt wurde. Die Dame hatte aus Rache geschossen. Sie war mit sich und der Welt fertig. Mit ihrer zweiten Kugel zielte sie besser und entzog sich so den Unannehmlichkeiten eines Prozesses. Als Vermächtnis hinterließ Simeon Peake seiner Tochter zwei auffallend klare blauweiße Diamanten (als Spieler hatte er auch eine Leidenschaft für Diamanten) und 497 Dollar in bar. Es war rätselhaft, wie er eine solche Summe hatte zurücklegen können. Der Umschlag hatte offensichtlich einmal eine größere Summe enthalten. Er war versiegelt gewesen und später aufgerissen worden. Auf der Außenseite stand in Simeon Peakes schöner, fast weiblicher Handschrift: »Für meine kleine Tochter Selina Peake, falls mir irgend etwas zustoßen sollte.« Darunter ein Datum, das sieben Jahre zurücklag. Selina stand vor der Wahl, entweder selbst ihren Lebensunterhalt zu verdienen oder wieder nach Vermont zu gehen und dort ein verwelkter alter Apfel zu werden, staubig und modrig im Herzen wie ihre beiden Tanten Sarah und Abbie Peake. Sie schwankte keinen Augenblick. »Aber was willst du tun?« fragte Julia. »Was kannst du überhaupt arbeiten?« Frauen von Selina Peakes Art brauchten doch nicht zu arbeiten! »Ich — ich kann Stunden geben.«
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»Stunden? Worin denn?« »In allen Fächern, die ich bei Fräulein Fister gehabt habe.« Man sah es Julia an, daß sie von Fräulein Fisters Aus bildung nicht sehr viel hielt. »Und wem willst du Stunden geben?« »Kindern natürlich. Als Hauslehrerin. Oder auch an Schulen.« »Vorher aber mußt du aufs Seminar gehen oder an eine Volksschule aufs Land, ehe du an eine städtische Schule kommen kannst. Die Lehrerinnen dort sind fast alle ur alt. Mindestens aber fünfundzwanzig oder gar dreißig Jahre.« (Julia mit ihren neunzehn Jahren konnte sich ein Alter über dreißig überhaupt nicht vorstellen.) Daß Selina sich nur schwach verteidigte, war bezeichnend für ihren halb betäubten Zustand. Ein Glück, daß sie keine Ahnung hatte, welche Energie Julia aufbringen mußte, um überhaupt noch mit ihr zusammenzukom men. Frau Hempel hatte ihr kurzerhand jeden Verkehr mit der Tochter des toten Spielers verboten. Sie hatte sogar an Fräulein Fister einen Brief geschrieben und ihr deutlich die Meinung gesagt über eine Schule, die ihre sämtlichen Zöglinge in Verruf bringen werde, wenn sie je wieder solche zweifelhaften jungen Damen in ihren erlesenen Kreis aufnehmen sollte. Selina machte sich nichts aus Julias Einwänden. »Dann unterrichte ich eben an einer Dorfschule. Ich kann ganz gut rechnen. Das weißt du ja.« Und ob Julia das wußte. Selina hatte ihr alle Rechenaufgaben für Fräulein Fister gelöst. »In der Dorfschule lernt man hauptsächlich Rechnen, Grammatik und Geographie.« »Du Lehrerin in einer Dorfschule!«
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Sie betrachtete Selina. Sie sah ein verführerisch zartes Gesicht, eine schmale, tadellose Kopfform. Die Backenknochen waren ein wenig zu hoch. Oder vielleicht sah es auch nur so aus, weil die ungewöhnlich dunklen sanften Augen sehr tief in ihren Höhlen lagen. Anstatt nach unten zu in einer weichen Linie schmäler zu werden, entwickelte dieses Gesicht plötzlich eine ganz unerwartete kraftvolle Festigkeit in der Kinnpartie. Nur Kampfnaturen haben diesen stahlharten, klaren Zug im Gesicht. Julia verstand nicht die Kunst, in anderer Leute Gesichtern zu lesen, und kam nicht dahinter, was alles in diesen Zügen geschrieben stand. Selinas Haar war von wundervoller Üppigkeit, so daß sie es leicht in die vielen kunstvollen Locken der damaligen Mode aufstecken konnte. Ihre Nase war tadellos. Beim Lachen krauste sich der schmale Nasenrücken ein wenig. Das sah allerliebst aus und eine Spur boshaft. Bei flüchtigem Zusehn wirkte sie etwas unscheinbar. Aber die Augen fielen sofort auf und ließen einen nicht mehr los. Selina konnte sprechen, mit wem sie wollte: alle sahen unwillkürlich tief in diese Augen hinein. Selina stellte oft verlegen fest, daß die Leute ihr gar nicht recht zuhörten. Wahrscheinlich war die Weichheit ihrer samtdunklen Augen daran schuld, daß man die Festigkeit der unte ren Gesichtshälfte leicht übersah. Die nächsten zehn Jahre gingen unsanft genug mit Selina um. Eines Tages traf Julia sie ganz zufällig in der Prairie-Allee, wie sie gerade leichtfüßig von einem Gemüsekarren heruntersprang. Eine braungebrannte, von Wind und Wetter hart mitgenommene Frau. Ihr reiches Haar hatte sie zu einem einfachen Knoten zusammengedreht und mit einer langen grauen Haarnadel aufgesteckt. Der Saum ihres weiten Kattunkleides hatte das 21
schmutzige Wagenrad gestreift. Ihre schmalen Füße steckten in alten Männerschaftstiefeln, auf dem Kopf trug sie einen geradezu unwahrscheinlich abgenutzten alten Filzhut (er stammte von ihrem Mann). In den Armen hielt sie ganze Bündel von Maiskolben, Mohren, Rettichen und roten Rüben. Ihre Zähne waren nicht mehr ganz tadellos, ihre Brust eingesunken; schwer hing die Tasche in ihrem weiten Rock. Julia hatte sie angestarrt und sofort an ihren Augen erkannt. Und war zu ihr hingerannt in ihrem seidenen Kleid und dem kostbaren Federhut mit dem lauten Aufschrei: »O Selina, liebe, liebe Selina.« Und hatte gleich danach erschrocken und jammervoll aufgeschluchzt: »Meine Selina!« Selina, Mohren, Rüben, Rettiche - alles zusammen schloß sie in ihre Arme. Neben ihnen auf dem Pflaster lagen die Gemüse verstreut, gerade vor Julia HempelArnolds großem steinernen Haus in der Prairie-Allee. Und sonderbar genug, Selina war es schließlich, die Julias seidene Schulter tröstend streichelte und immer wieder sagte: »Komm! Es ist ja alles gut. Weine doch nicht! Warum weinst du nur? Still! Ist doch alles gut.«
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Selina betrachtete sich als einen Glückspilz, weil sie die Stelle an der niederländischen Schule in High Prairie sofort bekommen hatte. High Prairie lag nur zehn Mei len von Chikago entfernt, und dreißig Dollar im Monat waren auch nicht zu verachten. Es war ausgemacht worden, daß sie bei dem Gemüsehändler Klaas Pool Wohnung und Kost bekommen sollte. Selbstverständlich steckte niemand anders dahinter als August Hempel oder vielmehr Julia, die ihrem Vater Selinas wegen unaufhörlich in den Ohren gelegen hatte. August Hempel war damals fünfundvierzig Jahre alt. Sein Fleischergeschäft in der Clarkstraße war weit und breit berühmt. Er kannte jeden Farmer und Viehzüchter meilenweit in der Runde. So war es für ihn verhältnismäßig leicht, Selina an der holländischen Schule unterzubringen. Zum ersten Male kam eine Frau an die Bezirksschule nach High Prairie. Bisher waren immer nur männliche Lehrkräfte dort gewesen. Zufällig war der für dieses Jahr in Aussicht genommene junge Kandidat kurz vor Schulbeginn zurückgetreten, da sich ihm eine günstigere Stellung geboten hatte. In High Prairie fing das Schuljahr erst im November richtig an. Den ganzen Frühherbst hindurch mußten alle Farmerkinder über sechs Jahre schon auf den Feldern mitarbeiten, und andere Leute als Gemüsefarmer, die ihre Kinder hätten zur Schule schicken können, gab es in der ganzen Gegend nicht. Selina mußte zwei Jahre dort unterrichten, dann konnte sie an einer städtischen Schule angestellt werden. August Hempel hatte ihr zu verstehen gegeben, daß er auch das für sie später in Ordnung bringen werde. 23
Nach Selinas Meinung war der schlaue Fleischermeister mit dem derben roten Gesicht ein prachtvoller Mensch. Und sie hatte auch völlig recht. Mit siebenundvierzig Jahren errichtete er aus eigenen Mitteln das berühmte Hempelsche Großversandgeschäft. Mit fünfzig war er eine wichtige Persönlichkeit im Großhandel und hatte Filialen in allen größeren Städten. Zehn Jahre später leuchtete einem auf der ganzen Strecke von Honolulu bis Portland auf jedem Warenschuppen und jeder Fabrik in Riesenbuchstaben der Name »Hempel« ent gegen: »Hempels Schinken ist der beste.« Er produzierte in seinen zahllosen Fabriken einfach alles: Schweine- und Ananaskonserven, Schmalz und Obstsaft. Er kannte keine Hindernisse auf seinem Weg und schlug gelegentlich selbst dem Gesetz ein Schnipp chen. Es war bezeichnend für seinen Charakter, daß die Far mer, die ihn mit vierzig Jahren als einfachen Fleischer gekannt hatten, ihn noch als sechzigjährigen Millionär kurzweg August nannten. Mit fünfundsechzig Jahren setzte er es sich eines Tages in den Kopf, Golf spielen zu lernen, und nach kurzer Zeit war er seinem Schwiegersohn Michael Arnold darin weit überlegen. Er war ein prächtiger alter Pirat, der vergnügt sein Schiffchen auf den hochgehenden Wogen der gefährlichen neunziger Jahre steuerte und seine Beute längst in Sicherheit gebracht hatte, als der naseweise Senat mit Kommissionen und Untersuchungen ankam und die schwarze Handelsflagge durchaus weißwaschen wollte. Für ihre Jugend und Unerfahrenheit traf Selina ihre Vorbereitungen erstaunlich umsichtig. Sie verkaufte einen ihrer beiden kostbaren Diamanten. Ihre geerbten 497 Dollar brachte sie unangetastet auf die Bank. Sie
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kaufte vernünftige derbe Stiefel und zwei Kleider. Das eine nähte sie selbst aus festem braunem Tuch mit weißem Kragen und Manschetten (natürlich wurden in der Schule schwarze Schutzärmel aus Satin übergezogen), das andere aus weinrotem Kaschmir für besondere Gelegenheiten hatte sie sich fertig gekauft. Sie war sich freilich unerhört üppig dabei vorgekommen, aber es war auch gar zu hübsch. Natürlich las sie vorher noch alles, was sie über ihre neue Heimat auftreiben konnte. In der früher als NeuHolland bekannten Gegend lebten offenbar ausschließlich Gemüsefarmer. Sie waren genauso waschechte Holländer wie ihre Brüder drüben in den Niederlanden, aus denen sie oder ihre Väter ausgewandert waren. Sie trugen Holzschuhe, wenn sie auf ihren nassen Feldern arbeiteten. Selina las viel von phlegmatischen, handfesten und doch fleißigen Bauern in vielfenstrigen, wet terfesten Häusern, die sie genau nach dem Vorbild der nordholländischen Häuser drüben in der alten Heimat gebaut hatten. Viele von ihnen waren aus Schoorl oder Umgebung gekommen, andere aus der Amsterdamer Gegend. Selina bedauerte die arme Julia von Herzen, daß sie in dem langweiligen grauen Chikagoer Einerlei bleiben mußte, während sie selbst so herrlichen Dingen entgegenging; sie träumte sogar des Nachts von wogenden goldenen Kornfeldern, von knusprigen Ölkrapfen und leckeren wilden Enten; von dicken Scheiben saftigen Rauchfleischs und Kürbispudding, von Tänzen im Freien und apfelbäckigen Farmerkindern. An einem der letzten Oktobertage fuhr sie endlich ab. Sie saß vorn neben Klaas Pool auf dem zweispännigen Gemüsewagen, mit dem er wöchentlich mehrere Male nach Chikago auf den Markt fuhr, und kauerte auf
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ihrem hohen Sitz wie ein frecher kleiner Spatz neben einem schwerfälligen Ackergaul. So ging es gemütlich im Zuckeltrab die endlose Halsteder Landstraße entlang. Die Umgebung von Chikago sah damals harmlos und friedlich aus. Es gab noch keine endlosen Schlackenhaufen, keine qualmenden Essen und Hochöfen. Weit gedehnt lag die Landschaft in den letzten Strahlen der untergehenden Herbstsonne, über die sich langsam der aufsteigende Seenebel wie ein durchsichtiger goldener Schleier breitete. Nichts als Kohlfelder, soweit das Auge reichte. Jadegrün hoben sie sich gegen den dunklen Erdboden ab; ebenso unübersehbar Rotkohlfelder vom schönsten Burgunderrot mit schwarzen Adern. Dazwischen lag das Korn in Hocken in der Sonne zum Trocknen aufgeschichtet. Wälder tauchten gelegentlich am Horizont auf; braun und bronzefarben leuchteten Ahorn und Eichen herüber. Selinas schönheitsdurstige Augen nahmen dieses Bild voller Entzücken in sich auf. Schließlich schlug sie die Hände in den billigen schwarzen Baumwollhandschuhen zusammen. »Oh, Mr. Pool«, rief sie, »Mr. Pool! Hier ist es wunderschön!« Klaas Pool lenkte sein Gespann auf der schmutzigen Landstraße und sah nicht nach rechts noch links. Seine Blicke schienen an einer unsichtbaren Stelle zwischen den beiden Ohren seines Handpferdes festgewachsen zu sein. Er war kein Mann von besonders schnellem Verstand, und sein Körper reagierte nur langsam auf die Botschaften, die ihm von seinem Gehirn übermittelt wurden. Um das zu wissen, brauchte man nur seine porzellanblauen Augen anzusehen. Auf seinem roten runden Vollmondgesicht wuchs ein ganzes Stoppelfeld von eigensinnigen kleinen Haaren. Der Kopf schien mit 26
den breiten Schultern und dem stämmigen Nacken so fest verwachsen zu sein, daß man ängstlich hinstarrte, wenn er wie eben jetzt den Kopf drehte: jeden Augenblick war man darauf gefaßt, alle Muskeln krachen zu hören. Und was am seltsamsten war: er wandte Selina den Kopf zu und hielt die Augen weiter starr geradeaus gerichtet. Offensichtlich hörten Kopf und Augen auf verschiedene Befehle. Es dauerte noch eine Weile, ehe er sich endlich dazu entschloß, auch die Richtung seiner Augen soweit zu ändern, daß sie ihr feingeschnittenes Profil erreichten. Selina leuchtete förmlich vor Entzücken über die ganze Umgebung und vor Stolz über das bevorstehende Abenteuer. Sie sah genauso aufgeregt und froh aus wie damals neben Simeon Peake im Theater, wenn sich der Vorhang hob und das Stück begann. Ein dicker Mantel und ein warmer Schal schützten sie vor dem scharfen Oktoberwind, dazu hatte sie sich ein wollenes Tuch um Knie und Leib gewickelt. Ihr gewöhnlich so blasses Gesicht war von der frischen Luft rosig angehaucht, und ihre Augen glänzten groß und dunkel. Neben diesem zartschimmernden Mädchengesicht wirkten Klaas Pools derbe Züge wie aus anderem Stoff geformt. Seine blaßblauen Augen blickten verständnislos. »Wunderschön«, wiederholte er erstaunt, »was soll wunderschön sein?« Selinas schlanke Arme kamen aus Mantel, Tuch und Schal hervor und beschrieben einen weiten Kreis um die abendlich vergoldete Landschaft. »Alles. Der... der Kohl.« Langsam dämmerte es in den blaßblauen Augen. Ein verräterisches Zucken lief von den Augenwinkeln zu den breiten Nasenflügeln und den vollen Lippen, die sich lautlos öffneten. Ein unwiderstehlicher Lachreiz
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packte und schüttelte die schweren Schultern und kitzelte die gutgepolsterte Mitte, bis sich schließlich der ganze Klaas Pool in einem schwerfälligen inneren Gelächter wand und krümmte. »Kohl wunderschön.« Er schielte fast vor Vergnügen. »Kohl wunderschön.« Jetzt lachte er aus vollem Halse. Soviel stand fest, wenn Klaas Pool erst einmal lachte, dann hörte er so bald nicht wieder auf. »Kohl« - er verschluckte sich und mußte husten. Endlich wandte er seinen Blick wieder den Pferden und der Straße zu. Und genau wie vorher drehte er erst den Kopf und dann die Augen. So blieben sein rechtes Auge und die eine rote Backe mit den blonden Bartstoppeln Selina noch eine kleine Weile allein zugewandt. Das sah ebenfalls komisch aus. Selina mußte lachen, aber sie blieb bei ihrer Meinung. »Tatsächlich«, wiederholte sie hartnäckig, »er ist wirklich wunderschön. Genau wie Nephrit und Burgunder! Nein, eigentlich mehr noch wie Chrysopras und Porphyr. Die vielen Kohlfelder mit dem Korn dazwischen und dem Rübenkraut sehen wie ein einziger großer Perserteppich aus.« So etwas konnte auch nur Selina zu einem holländischen Gemüsefarmer sagen. Schließlich hatte sie nicht umsonst schon mit siebzehn Jahren Byron gelesen. Für Klaas Pool freilich waren Chrysopras und Porphyr böhmische Dörfer. Und Byron erst recht. Und wenn er von Nephrit und Burgunder eine Ahnung hatte, so doch jedenfalls nicht in diesem Zusammenhang. Aber seinen Kohl kannte er dafür um so besser, den weißen wie auch den roten. Er kannte ihn vom Samen bis zum fertigen Sauerkraut und wußte genau Bescheid, welche Sorte auf dem und dem Boden am besten gedieh. Aber 28
daß Kohl »wunderschön« wäre, daß er wie Edelsteine und Perserteppiche aussähe, das wollte ihm nicht in den Kopf. Und wozu auch! Was in aller Welt hat ein Kohl kopf oder, in unserem Falle, ein echter, rechter Bauern schädel mit solchem Unsinn zu tun wie Chrysopras, Nephrit, Burgunder und Perserteppichen! Eintönig ging die Reise weiter. Hin und wieder schüttelte sich die schwere Masse neben Selina in unterdrück tem Lachen, und halblaut kam es zwischen den Bartstoppeln hervor: »Kohl! Kohl und ...« Sie war nicht beleidigt; sie hätte heute überhaupt nidits übelnehmen können. Die letzten schweren Wochen mit ihren traurigen Eindrücken waren vergessen, noch viel weniger dachte sie im Augenblick daran, daß sie mit ih ren neunzehn Jahren mutterseelenallein in der Welt stand. Sie begriff nicht mehr, wie sie sich noch vor ein paar Stunden vor ihrer neuen Heimat und den vielen fremden Menschen hatte fürchten können. Ein wohliger Schauer lief ihr den Rücken hinab; endlich war der große Augenblick gekommen: das ersehnte Abenteuer hatte begonnen. Wie hatte doch Simeon Peake immer gesagt: »Das Ganze ist nur ein einziges großes Abenteuer.« Selina hatte Herzklopfen vor freudiger Aufregung: die Sache war jedenfalls für sie ein Wagnis, und die alten Tanten in Vermont wären sicherlich zu Stein erstarrt, wenn sie etwas von dem Vorhaben ihrer mutigen Nichte geahnt hätten. Ihre Jugend nahm sie mit auf den Weg, ihre Unternehmungslust und ihre stählerne Gesundheit. Ferner ein braunes Tuchkleid und ein weinrotes aus Kaschmir. In der Bank lagen gut verwahrt die 497 Dollar, und in ihrer Brust schlug ein fröhliches, unerschrockenes Herz. - Dieses Herz war niemals unterzukriegen. Selbst dann nicht, als es seine
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Besitzerin auf seltsame Wege trieb und in eine pfadlose Wüste lockte, aus der sie nur mühsam zurückfand. Aber stets waren Weiß- und Rotkohl für sie wie Nephrit und Burgunder, wie Porphyr und Chrysopras. Einer solchen Frau konnte kein Schicksal etwas anhaben. Der Wagen holperte gleichmäßig seines Weges. Selina betrachtete zufrieden die Landschaft um sich her. Klaas Pools schallendes Gelächter war freilich nicht besonders ermutigend gewesen. Sie mußte erst einen kleinen Anlauf nehmen, ehe sie sich von neuem ihrem schweigsamen Begleiter zuwandte. Sie war eine lebhafte, mitteilsame kleine Person, und seine Unzugänglichkeit wur de ihr nachgerade unbehaglich. Ein flüchtiger Blick auf sein Gesicht machte ihr Mut: es sah eigentlich ganz freundlich aus. Sie entdeckte sogar um Mund und Augen eine Reihe vergnügter kleiner Fältchen. Erleichtert atmete sie auf. Immerhin saß Klaas Pool im Schulvorstand, und sie sollte in seinem Hause wohnen. Wahrscheinlich hätte sie das über den Kohl lieber nicht sagen sollen. Aber sie wollte alles wiedergutmachen und sich in Zukunft wie eine richtige Lehrerin benehmen. So setzte sie sich möglichst würdevoll auf ihrem Sitz zurecht. »Hmhm. Nicht wahr, Mr. Pool, Sie haben drei Kinder? Gehen sie alle zu mir in die Schule?« Das war für Klaas Pool zuviel auf einmal gefragt. Er dachte so angestrengt nach, daß auf seiner Stirn eine senkrechte kleine Falte entstand. Selina hatte der Unterhaltung eine würdige Wendung geben wollen, aber mit ihrer doppelten Frage hatte sie ihren Wirt offensichtlich nur in Verlegenheit gebracht. Umsonst gab er sich die größte Mühe, seinen Kopf gleichzeitig in zwei Richtungen zu bewegen, nämlich zustimmend auf und ab und verneinend hin und her.
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Selina unterdrückte mit Mühe einen Lachanfall. »Sie wollen sagen, daß es nicht drei sind... oder daß sie nicht alle drei... oder ...« »Ich habe drei Kinder. Sie gehen nicht alle drei in die Schule.« »Ach? Warum nicht? Welches denn nicht?« Dieses Kreuzfeuer von Fragen erwies sich als verhängnisvoll. Sofort verstummte das bißchen Konversation, das er sich mühsam abgerungen hatte. In tiefem Schweigen ratterten sie weiter. Wohl eine halbe Stunde lang sprach keiner ein Wort. Vergebens biß sich Selina die Lippen wund, vergebens beschwor sie sich selbst, um Gottes willen nicht zu lachen. Es half alles nichts: die Komik der Situation war überwältigend. Hell und fröhlich stieg ihr Lachen empor wie schwirrender Vogelflug im Abendrot. Und siehe da! Neben ihr fing jemand an zu dröhnen und endlich überzusprudeln wie Wasser in einem Kessel, das lange nur gesummt hat. Sie lachten zusammen: das eingeschüchterte junge Ding, das sich so würdevoll hatte benehmen wollen, und der langweilige schwerfällige Bauer, weil das schmale kleine Persönchen neben ihm auf dem Sitz ihn endlich richtig bei seinem langsam arbeitenden Sinn für Humor gepackt hatte. Ein Stein fiel Selina vom Herzen. »Ach, und jetzt erzählen Sie mir doch, welche in die Schule gehen und welche nicht.« »Geertje geht in die Schule. Jozina geht in die Schule. Rolf hilft in der Landwirtschaft.« »Wie alt ist Rolf?« Sie fragte wie ein richtiger Schulmeister. »Rolf ist zwölf Jahre.« »Nicht älter! Und geht schon nicht mehr in die Schule? Aber warum denn nicht?«
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»Rolf hilft in der Landwirtschaft.« »Ja, geht er denn nicht gern in die Schule?« »Doch, doch.« »Ja, finden Sie denn nicht selbst, daß er noch hineingehört?« »Doch, doch.« Einmal im Zuge, konnte sie nun nicht mehr zurück: »Wäre es denn Ihrer Frau nicht auch lieber, wenn er noch in die Schule ginge?« »Maartje? Doch, doch.« Sie nahm allen Mut zusammen und wagte die letzte Frage: »Aber warum in aller Welt geht er denn dann nicht in die Schule?« Klaas Pools blaue Augen starrten schon wieder unverwandt geradeaus. Sein Gesicht blieb unbewegt. »Rolf arbeitet in der Landwirtschaft.« Selina gab den Kampf auf. Ihre Gedanken aber beschäftigten sich weiter mit dem Jungen. Wie er wohl aussah? Die beiden Mädchen hießen also Geertje und Jozina. Geertje bedeutete natürlich Gertrud, Jozina Josephine. Maartje? Das konnte von Martha kommen. Jedenfalls war es interessant. Und da hätte sie nach Vermont gehen und ein verhutzelter alter Apfel werden sollen? Tiefer und tiefer brach die Dämmerung herein. In dichten Schwaden trieb der Nebel über die Wiesen und legte sich über die frostbetauten Stoppelfelder und die entlaubten Bäume. Das letzte schwache Licht vom Himmel fing sich darin und umwob Bäume und Erdboden, den schweigsamen Mann und das blasse Gesicht des Mäd chens mit einem geheimnisvoll opalisierenden Schimmer. Selina bemerkte verwundert das seltsame Leuchten
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ringsum. Schon wollte sie den Mund zu einem entzück ten Ausruf öffnen, da besann sie sich und preßte noch rechtzeitig die Lippen zusammen: sie hatte ihre erste Lektion in High Prairie erhalten.
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Das Poolsche Haus unterschied sich in nichts von den zwanzig oder dreißig anderen, an denen sie schon in der Dunkelheit vorbeigekommen waren. Die holländisch-amerikanischen Bauern hatten ihre Häuser genau so flach und viereckig gebaut, wie sie es von ihrer alten Heimat, den Niederlanden, her kannten, und so waren in Amerika, im Staate Illinois, eine Anzahl typisch holländischer Dörfer und Gehöfte entstanden. Man konnte sich in die Gegend von Amsterdam oder Haarlem versetzt glauben. Genau wie drüben standen steife Reihen gekappter Weiden zu beiden Seiten der Landstraße. Gleich bei der Einfahrt in den Hof fielen Selina die vie len unwahrscheinlich blanken Fensterscheiben auf. Das Haus hatte zahllose Fenster, aber jede Scheibe war nicht größer als ein Taschentuch. Nie im Leben hatte Selina so blitzende Fensterscheiben gesehen, das ließ sich sogar in der Dunkelheit erkennen. Damals konnte sie noch nicht wissen, daß fleckenlose Fensterscheiben in High Prairie der Maßstab für die soziale Stellung der Bewohner waren. Hof und Wohnhaus waren von geradezu geometrischer Regelmäßigkeit und sahen aus, als hätte man sie frisch aus einer Spielzeugschachtel aufgebaut. Allerdings wur 33
de der Eindruck des Ganzen durch eine längs des Hauses ausgespannte Wäscheleine beeinträchtigt, an der eine bunte Reihe mehr oder weniger schöner Wäschestücke baumelte. Selina kam bald dahinter, daß jede Bauersfrau Tag für Tag ihren Hof so lieblich dekorierte. Noch immer saß sie oben auf ihrem hohen Sitz und wartete darauf, daß Klaas ihr beim Heruntersteigen helfe. Der aber dachte gar nicht daran und lud schon eifrig die vielen leeren Kisten und Körbe ab. So raffte sie Tücher und Mantel zusammen und kletterte vorsichtig am Rad hinunter. Neugierig sah sie sich in dem dunklen Hof um. Wenn Simeon Peake sie so gesehen hätte! Wie ein verirrter kleiner Vogel stand sie in der fremden Umgebung. Inzwischen hatte Klaas die Scheunentür geöffnet. Jetzt kam er zurück und gab dem einen Pferd einen tüchtigen Klaps auf den Schenkel. Gehorsam trottete das Gespann in den Stall. Nun nahm er wirklich ihren kleinen Koffer in die Hand. Sie ergriff ihre Reisetasche und folgte ihm über den dunklen Hof. Als Klaas Pool die Tür zur Küche aufriß, leuchtete ihnen der Feuerschein aus dem offenen Herdloch ein freundliches Willkommen entgegen. Am Herd stand eine Frau mit einer Gabel in der Hand. Die Küche war sauber, aber unaufgeräumt, wie Küchen sind, in denen viel und eilig gearbeitet wird. Aus den Kochtöpfen roch es vielversprechend. Jetzt drehte die Frau sich um, und Selina machte große Augen. Das konnte doch nicht Maartje sein. Das war ja eine alte Frau! Aber schon rief Klaas: »Maartje, hier ist die Lehrerin.« Die Frau streckte ihr bedächtig eine rauhe, verarbeitete Hand entgegen und lächelte freundlich. Selina sah mit 34
Bestürzung, wie schadhaft und mißfarbig ihre Zähne waren, wie dünn das Haar, das sie mit einer schnellen Bewegung aus der Stirn strich. Offensichtlich war sie verlegen, denn ihre Finger zupften nervös an ihrem sauberen blauen Kattunkleid. »Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen«, war ihre förmliche Begrüßung. »Hoffentlich werden Sie sich bei uns wohlfühlen.« Klaas war inzwischen hinausgestapft und hatte die Tür hinter sich zugeworfen. »Pool hätte auch wirklich mit Ihnen vorn hereinkommen können. Bitte, legen Sie doch ab.« Selina schälte sich mühsam aus ihren vielen Umhüllungen. Mit ihrer eleganten kleinen Erscheinung paßte sie wahrhaftig nicht in diese Küche. Das braune Kleid umschloß eng ihre schlanke Taille, nach unten zu bauschte sich der Rock mit vielen Falbeln. »Himmel, wie jung Sie sind!« rief Maartje. Neugierig kam sie näher und strich vorsichtig über den Stoff von Selinas Kleid. Und plötzlich sah Selina, daß die Frau vor ihr ganz jung war. Sie sah nicht mehr die schlechten Zähne und die dünnen Haare, sie vergaß das häßliche Kleid und das früh gealterte Gesicht, weil sie in zwei junge, mädchenhafte Augen blickte. Um alles in der Welt, die Frau ist ja höchstens achtundzwanzig Jahre alt, dachte sie erschrocken. Maartje öffnete ihrem Gast die Tür. Offensichtlich war sie als Hausfrau aus dem Konzept gebracht, weil Klaas die neue Lehrerin gleich in die Küche geführt hatte anstatt zunächst in die gute Stube. Hinter dem Ofen im Nebenzimmer steckten kichernd zwei flachshaarige kleine Mädchen. Geertje und Jozina natürlich. Selina ging freundlich zu ihnen hin. »Welche von euch beiden ist 35
Geertje? Und welche Jozina?« Aber da wurde aus dem Kichern ein Quieken. Und schon waren sie wieder hinter dem schützenden Ofen verschwunden. Obwohl der Abend bitter kalt war, brannte in dem schwarzen Ungetüm von Ofen kein Feuer. Das lange, blankgewichste Ofenrohr lief oben über die ganze Brei te des Raumes und verschwand dann in der Decke. Se linas Augen durchwanderten schnell das ganze Zimmer. Auf einem grün gestrichenen Holzuntersatz am Fenster standen ein paar kümmerliche Topfgewächse, an der Wand ein Sofa mit einem faltigen Kattunbezug, daneben drei bauchige Lehnstühle. Über dem Sofa hingen ein paar Kreidezeichnungen holländischer Vorfahren. Ihre hartgeschnittenen Gesichter paßten vorzüglich zu der ganzen Umgebung. Alles war sauber, steif und nichts weniger als schön. Aber Selina nahm es gelassen hin; sie hatte nicht umsonst jahrelang in häßlichen Pen sionszimmern gewohnt. Maartje hatte inzwischen eine Petroleumlampe angezündet. Der Zylinder war genauso blank geputzt wie die Fensterscheiben. Aus dem Wohnzimmer führte eine steile Treppe nach oben in Selinas Schlafzimmer. Sie stiegen in einer richtigen kleinen Prozession hinauf. Voran ging Frau Pool mit der Lampe. Dann folgte Selina mit ihrer Handtasche. Und den Schluß bildeten Jozina und Geertje. Ihre schweren nägelbeschlagenen Schuhe vollführten einen Höllenlärm auf den hölzernen Stufen. Schließlich gelangte man über einen schmalen, dumpfen Korridor in Selinas Schlafzimmer. Darin war es so eisig kalt, daß Selina förmlich zurückprallte. Drei Gegenstände fielen ihr sofort als ungewöhnlich auf. Da war zunächst das Bett, ein wahres Mausoleum aus Nußbaumholz, unförmig groß, aber durchaus nicht häßlich. 36
Es reichte mit seinem geschnitzten Oberende beinahe bis an die Zimmerdecke. Zu diesem prunkvollen Aufbau paßte die Matratze wenig, denn sie war schlecht und recht mit Stroh und Maishülsen gestopft. Aber Frau Pool hatte barmherzig ein dickes Federbett daraufgelegt, und Selina schlief den ganzen Winter hin durch weich und warm wie ein Vogel im Nest. Der zweite auffallende Gegenstand im Zimmer war eine prachtvoll geschnitzte alte Truhe. Ehemals braun, war sie jetzt ganz schwarz vor Alter. Selina hockte sich davor hin und sagte zum zweiten Male an diesem denkwürdigen Tage: »Wie wunderschön!« Aber gleich darauf sah sie ängstlich Maartje an, ob sie am Ende auch lachte wie vorher ihr Mann. Nein, Frau Pool strahlte genau wie Selina selbst. Sie beugte sich mit ihr zusammen über die Truhe und hielt die Lampe so, daß der gelbe Lichtschein auf die vielen Schnörkel und Ranken des geschnitzten Deckels fiel. Mit ihrem Zeigefinger verfolgte sie die kühn geschwungenen Linien. »Sehen Sie? Hier kommen Buchstaben heraus.« Selina bückte sich noch tiefer. »Tatsächlich! Der erste ist ein S.« »Freilich ist es ein S. Das soll Sophia bedeuten. Es ist nämlich eine alte holländische Brauttruhe. Und sehen Sie, hier steht ein K. Und da kommt ein großes D. Das Ganze bedeutet Sophia Kroon DeVries. Die Truhe ist mindestens zweihundert Jahre alt. Ich bekam sie von meiner Mutter, als ich heiratete, und sie bekam sie von ihrer Mutter, als sie heiratete, und die wieder bekam sie von ihrer Mutter ...« »Ich verstehe schon«, entschlüpfte es Selina ungewollt. »Ist denn auch etwas drin - und was? Da hinein gehört doch eigentlich ein altes, vergilbtes Brautkleid?« 37
»Ist ja auch drin«, schrie Maartje triumphierend und schnellte so plötzlich in die Höhe, daß die Lampe gefährlich ins Schwanken geriet. »Nicht möglich!« Und schon knieten die beiden neben einander vor der Truhe und lachten sich wie zwei Schulmädchen gegenseitig an. »Hier, halten Sie doch mal!« Selina bekam die Lampe in die Hand gedrückt. Maartje hob den Truhendeckel in die Höhe und kramte in einem Haufen alten Zeitungspapiers. Schließlich zog sie mit hochrotem Gesicht ein holländisches Mieder heraus und einen weiten seidenen Rock, eine vergilbte Haube mit steif abstehenden gestickten Flügeln und ein Paar hölzerne, über und über geschnitzte Schuhe, die rotbraun gebeizt waren wie die Segel der Vollendamer Fischerboote. Brautkleid, Brauthaube, Brautschuhe - nichts fehlte. »Ach«, schrie Selina begeistert wie ein kleines Mädchen, »darf ich das wohl mal anziehen?« Maartje war über diese Zumutung betroffen. Hastig faltete sie die Kleider zusammen. »Brautkleider darf man nur anziehen, wenn man auch wirklich heiratet. Sonst gibt es ein Unglück.« Und als Selina liebkosend über die starre weiße Seide strich, setzte sie scherzhaft tröstend hinzu: »Aber wenn Sie einen Holländer aus High Prairie heiraten, dann will ich Ihnen die Sachen gerne borgen.« Über diese verrückte Idee mußte sie von neuem lachen. Selina fand, daß sich ihr Lehrerinnenabenteuer verheißungsvoll anließ. Das sollte sie mal ihrem Vater erzählen! Aber ... er war ja tot! Sie schauerte leicht zusammen. Müde stand sie auf. Mit einem Male war sie ganz durchkältet und abgespannt. Wie fremd das doch alles 38
war! Sie hatte die quälende Vorstellung, daß sie gleich in Tränen ausbrechen würde, und blinzelte verzweifelt. Da fielen ihre Augen auf den dritten auffallenden Gegenstand im Zimmer. Es war ein dickbauchiger Zylinder aus schwarzem Eisenblech. Er glänzte genauso tiefschwarz wie unten das lange Rohr im Wohnzimmer. Die beiden mußten irgendwie zusammenhängen. »Was ist eigentlich das?« fragte sie und zeigte auf den unförmigen Gegenstand. Maartje wollte eben hinuntergehen und hatte schon die Lampe auf Selinas kleinen Waschtisch gestellt. »Das ist eine Wärmeröhre«, sagte sie mit augenscheinlichem Stolz. »Eine Wärmeröhre?« »Um Ihr Zimmer zu heizen.« Selina tippte mit dem Finger gegen das schwarze Blech. Es war eiskalt. »Wenn nämlich unten geheizt ist«, fügte Maartje hastig hinzu. In Gedanken verfolgte Selina das Rohr unten im Wohnzimmer. Dort lief es friedlich an der Decke entlang wie ein richtiges braves Ofenrohr. Offenbar war es nur des halb in die Decke gekrochen, um hier oben wieder her auszuquellen. Leider mußte sie die Erfahrung machen, daß die wärmenden Eigenschaften dieser sogenannten Wärmeröhre mystisch waren und blieben. Wenn der Ofen im Wohnzimmer unten noch so gemütlich prasselte, so veränderte sich die Temperatur in ihrem Zimmer auch nicht um einen halben Grad. Ein junges Mäd chen kann gegen einen stürmischen oder unwillkomme nen Liebhaber nicht unempfindlicher sein, als es diese tugendhafte Wärmeröhre gegen den sie umwerbenden Ofen war; sie reagierte auf alle seine Bemühungen mit 39
eisiger Kühle. Diese traurige Tatsache störte Selina in ihren liebsten Gewohnheiten; vorbei war es mit dem stundenlangen nächtlichen Schmökern, vorbei mit dem heißgeliebten Bad am Morgen. Sie mußte froh sein, wenn sie abends gelegentlich einen Krug warmes Wasser bekam, um sich in aller Eile neben der Pseudowärmeröhre gründlich zu waschen. »Maartje«, kam es von unten. Das war der hungrige Herr des Hauses. Gleichzeitig roch es aus der Küche deutlich nach verbrennendem Fett. »Du meine Güte«, schrie Maartje und schlug die Hände überm Kopf zusammen. Weg war sie, die beiden Hängezöpfe fluchtartig hinter ihr drein. Auf dem Korridor wurden Schritte laut und näherten sich der Tür von Selinas Zimmer. Sie hielt beim Auspacken ihrer Reisetasche inne und sah auf der Schwelle einen Zwerg. Unten erblickte sie weiter nichts als ein Paar kurze krumme Beine. Darüber ihren Koffer. Bei näherem Zusehen dann ein faltiges, graubärtiges Gesicht mit ausdruckslosen Augen. Der Zwerg hatte offenbar menschliche Gewohnheiten, denn er stellte sich ihr vor, indem er etwas wie »Jakob Hoogendunk« zwischen den Zähnen murmelte. Er balancierte den Koffer auf seinem Rücken und sah sie von unten herauf fragend an. Sie lächelte ihn freundlich an. »Kommen Sie bitte herein! Hier an der Wand können Sie ihn sehr gut hinstellen, nicht wahr, Herr — Herr Hoogendunk?« Jakob Hoogendunk grunzte etwas Unverständliches, aber sicher Gutgemeintes vor sich hin und humpelte mühsam mit seinen krummen Beinen durchs Zimmer, wobei der Koffer auf seinem Rücken gefährlich schwankte. Schließlich setzte er ihn mit einem hörbaren 40
Plumps nieder und fuhr sich mit dem Handrücken aufatmend über die Nase. »Vielen Dank, Herr Hoogendunk. Ich bin Selina Peake.« In Wirklichkeit war der Zwerg nichts als ein ganz ge wöhnlicher alter Knecht mit gichtverzogenen Gliedern, der unverkennbar nach Mist und anderen schönen Din gen roch. Sie aber sah natürlich sofort einen drolligen kleinen Wichtelmann aus dem Märchen in ihm. Die ko mische Häßlichkeit seines Namens bestärkte sie noch in ihrer lustigen Vorstellung. Sie lachte und streckte ihm die Hand entgegen. Der Alte nahm ihr Lachen nicht übel. Er lachte mit und gab sich alle Mühe, so unbefangen wie möglich auszusehen. Im Grunde aber wand er sich vor Verlegenheit beim Anblick der kleinen weißen Hand, die sich ihm so freundlich entgegenstreckte. Verstohlen wischte er seine eigenen Hände an der Hose ab. Der Erfolg schien ihm jedoch nicht zu genügen, denn er schüttelte treuherzig seinen dicken Kopf. »Ich bin zu schmutzig. Will mich lieber erst waschen.« Damit drehte er sich um und schlurfte hinaus. Selina stand noch mitten im Zimmer und sah ein bißchen ratlos auf ihre ausgestreckte Hand. Seine schweren Holzschuhe klapperten auf der Treppe, als ritte eine ganze Abteilung Kavallerie auf einer gefrorenen Land straße. Wieder allein im Zimmer, schloß Selina ihren Koffer auf und nahm zwei Photographien heraus. Auf der einen war ein freundlich blickender Mann, der den Hut leicht auf das eine Ohr geschoben hatte. Auf der ande ren eine Frau, die man für eine sechs Jahre ältere Selina hätte halten können, wenn nicht das Kinn auf dem Bilde viel weicher gewesen wäre.
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Es war nicht leicht, einen Platz für die beiden ihr so teuren Bilder zu finden. Eigentlich müßte ich sie oben auf die blödsinnige Wärmeröhre stellen, dachte Selina halb im Spaß und stellte sie gleich darauf wirklich dorthin, weil sie keinen besseren Standort finden konnte. Vielleicht würde ihr Jakob Hoogendunk gelegentlich ein kleines Regal für ihre Bücher zimmern, dann konnten auch die Bilder dort stehen. Selina packte, wie alle Frauen, sehr gern aus. Obgleich sie ihren Koffer erst am Morgen zugeschlossen hatte, enthielt er jetzt für sie doch lauter Überraschungen. So bekommen vertraute Gegenstände in neuer Umgebung ein vollständig anderes Gesicht und werden gleichsam neuer und schöner. Sie nahm einen tüchtigen Packen wollener Unterwäsche heraus und die neuen festen Stie fel. Liebevoll strich sie die zerdrückten Falten des weinroten Kaschmirkleides glatt. Sie breitete es in seiner ganzen Pracht auf ihrem Bett aus und war der festen Meinung, daß es ihr niemals ganz schlecht gehen könne, solange sie dieses prachtvolle Kleidungsstück besäße. Es dauerte gar nicht lange, und der Raum sah schon bewohnt und traulich aus. Das Kleid lag als leuchtend roter Fleck noch immer auf dem Bett. Die Photographien standen auf der Röhre. Die Kleider waren bequem an Haken hinter einem schützenden Kattunvor hang untergebracht, und ihre kleine Bibliothek hatte einstweilen auf dem zugeschlossenen Koffer einen ganz annehmbaren Platz gefunden. Unten in der Küche brutzelte es vielversprechend. Selina wusch schnell Gesicht und Hände in dem eiskalten Wasser und ordnete ihre Haare, so gut es vor dem halbblinden Spiegelchen über dem Waschtisch gehen wollte. Dann zupfte sie ihren ehrbaren kleinen Halskragen zu
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recht und strich noch einmal über die Manschetten ihres braunen Tuchkleides. Die enge Taille war vom Hals bis an den Gürtel mit Knöpfen geschlossen. Aber die zarte Schönheit ihres schmalen Kopfes besiegte das steife, unkleidsame Gewand. Die damalige Mode war nach unseren heutigen Begriffen allzu überladen. Daß Selina trotz des unvorteilhaften Kleides immer noch schlank und geschmeidig aussah, war ein vollständiger Triumph des Geistes über die Materie. Sie blies die Lampe aus und stieg die steile Holztreppe hinunter. Die Tür zur Küche war nur angelehnt. Hungrig schnuppernd hob sie die Nase: es gab Schweinefleisch zum Abendessen. Sie kam bald dahinter, daß es jeden Tag Schweinefleisch zum Abendessen gab. Je mehr der Winter fortschritt, um so widerlicher wurde ihr dieses Gericht. Zudem hatte sie früher einmal gelesen, daß die Ernährungsweise mit der Zeit die menschliche Gesichtsbildung entscheidend beeinflusse. Wochenlang beobachtete sie ängstlich ihre Züge in dem kleinen Spiegel: wurde ihre reizende kleine Nase etwa gröber, wurden ihre schönen dunklen Augen nicht schon klein und schief? Aber ihr Spiegelbild beruhigte sie. Einen Augenblick blieb sie noch in der Dunkelheit stehen. Dann stieß sie entschlossen die Küchentür auf. Ein Rauchschwaden kam ihr entgegen. Allmählich unterschied sie runde blaue Augen und ein Gewirr von fremdartig klingenden Lauten. Es roch nach verbranntem Fett, nach Stall und frischgewaschener wollener Wäsche. Jetzt öffnete sich auch die äußere Küchentür, und ein Strom kalter Zugluft trieb die blauen Rauchschwaden in der Küche durcheinander. Ein Junge mit einem Arm voll Holz war von draußen hereingekommen, ein hübscher brünetter Junge mit dunklen Augen, die groß zu 43
Selina herüberschauten. Sie erwiderte seinen Blick, und zwischen der neunzehnjährigen jungen Frau und dem Zwölfjährigen schien ein elektrischer Funke überzuspringen. Das ist bestimmt Rolf, dachte Selina und tat unwillkürlich ein paar schnelle Schritte auf ihn zu. »Mach schnell mit dem Holz«, zeterte Maartje vom Ofen her. Der Junge warf das Holz in den Kasten und klopfte mechanisch Rock und Ärmel ab, ohne die Augen von Selina zu wenden. Offensichtlich war es sein Amt, für den unersättlichen Bauch des Holzkastens zu sorgen. Klaas Pool saß schon am Tisch und pochte ungeduldig mit seinem Messer auf die Platte. »Setzen Sie sich, Fräulein.« Selina zögerte mit einem Blick auf Maartje. Die Frau hielt eine Bratpfanne mit einer Hand hoch in die Luft, während sie mit der anderen ein neues Stück Holz auflegte. Auch die beiden kleinen Mädchen saßen bereits. Auf dem Tisch lagen eine rotgewürfelte Decke und Messer und Gabeln mit Horngriffen. In der äußersten Küchenecke schnaubte und prustete Jakob Hoogendunk wie ein Walroß über einem zerbeulten Waschbecken. Dabei war das Gefäß so klein, daß man gar nicht begriff, wie er sich so geräuschvoll darin waschen konnte. Endlich war er fertig und setzte sich neben Klaas. Rolf stülpte seine Mütze über einen Wandhaken und nahm ebenfalls Platz. Nur Selina und Maartje standen noch immer. »Aber so setzen Sie sich doch, Fräulein«, forderte Klaas Pool sie noch einmal freundlich auf. »Wie war das doch gleich mit dem Kohl?« Er grinste und blinzelte bedeutungsvoll dem Knecht zu. Jakob Hoogendunk wieherte vor Vergnügen, und die beiden Hängezöpfe kicherten um die Wette. Selbst über 44
Maartjes Gesicht huschte ein schwaches Lächeln. Es war klar, daß es Klaas Pool das Herz abgedrückt hätte, wenn er seinen schönen Witz hätte für sich behalten sol len. Nur Rolf blieb ernst. Selina machte gute Miene zum bösen Spiel und setzte sich lächelnd an den Tisch, obwohl ihr das Blut in die Wangen stieg und ihr eigentlich gar nicht zum Lachen zumute war. Maartje stellte eine große Schüssel mit Bratkartoffeln und eine Platte mit gesalzenem Schweinefleisch auf den Tisch. Brot stand zum allgemeinen Zulangen in unförmig dicken Scheiben daneben. Dazu gab es Selbstgebrannten Kornkaffee ohne Milch und Zucker. Von allem war reichlich da. Selina mußte an das Essen bei Frau Trebbit denken. Selbst an den berüchtigten Montagabenden war es gegen diese Mahlzeit hier lukullisch gewesen. Sie hatte großen Hunger, aber sie brachte nur mit Mühe und Not ein paar Bissen hinunter. Sie schnitt das Fleisch so klein wie möglich und schluckte es, ohne zu kauen. Sie war über sich selber wütend und schalt sich heimlich eine wählerische Zimperliese. Wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt saß sie im gelben Lampenlicht unter den fremden Menschen und würgte tapfer das ungewohnte Essen hinunter. Ihre Blicke gingen dabei von einem zum ändern. Sie beobachtete die ruhelos zwischen Herd und Tisch umhergehende Frau und den hübschen Jungen mit den aufgesprungenen roten Händen und den schwermütigen Augen, die pausbäckigen kleinen Mädchen und ihren breitschultrigen Vater mit den vollen Lippen in dem roten Gesicht, den gierig schlingenden Jakob Hoogendunk nicht zu vergessen. Zum mindesten ist es anders, als ich mir's vorgestellt habe, dachte sie. Das Ganze nennt sich Gemüsefarm,
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aber kein Mensch ißt Gemüse. Warum eigentlich nicht? Wie jammerschade, daß sie sich in ihrem Aussehen so gehen läßt. Wenn sie auch eine Farmersfrau ist und auf dem Lande lebt, so sollte sie doch ihre Haut pflegen und ihre Haare nicht so garstig zusammendrehen. Was hat sie bloß für ein schauderhaftes Kleid an! Das muß ja den hübschesten Menschen entstellen. Der Junge paßt überhaupt nicht in die Familie. Er wirkt ganz fremdländisch, beinahe wie ein Italiener. Bilde ich es mir ein, oder reden sie wirklich so komisch? Alle sprechen durch einander, und was sie für seltsame Sätze drechseln! Ich glaube wirklich, sie übersetzen erst alles aus dem Holländischen ! Nach dem Essen lehnten sich die Männer gemütlich mit ihren Pfeifen in ihren Stühlen zurück. Maartje deckte den Tisch ab, Geertje und Jozina halfen ihr mit viel Ge schrei und wenig Erfolg. Jakob Hoogendunk führte das Wort. »Man muß eben guten Humusboden haben, sonst kriegt man lauter jäm merliches, holziges Zeug. Davon hat es am Freitag auf dem Markt gerade genug gegeben. Gemüse bleibt Ge müse; von dem neumodischen Zeug halt' ich gar nichts. Sellerie! Was heißt Sellerie! Das ist kein Gemüse und ist auch kein Kraut. Denkt nur an Vorheer. Der hat allein anderthalb Zentner Natronsalpeter in sein Land gesteckt; den natürlichen Dünger wollen wir gar nicht rechnen. Und was ist dabei 'rausgekommen? Lauter kümmerliches, holziges Zeug. Man muß eben guten Humusboden haben!« Selina horchte auf. Bisher hatte sie immer gedacht, Ge müse wüchse von selbst. Man brauchte nur den Samen oder besser noch gleich die Pflanzen in die Erde zu stek ken, dann kämen Kartoffeln, Kohl, Zwiebeln, Mohren 46
und Rüben hervor. Wozu in aller Welt brauchte man dabei Natronsalpeter? Wahrscheinlich bestand zwischen ihm und dem Trebbitschen Schmorkohl doch irgendein geheimnisvoller Zusammenhang, und sie hatte bisher nur noch nichts davon gewußt. Sie beugte sich voller Interesse vor. »Was ist natürlicher Dünger?« Klaas Pool und Jakob Hoogendunk starrten sie sprach los an. Selina hielt tapfer ihrem Blick stand, nichts als Wißbegier in ihren hübschen klugen Augen. Klaas schob mit einem Ruck den Stuhl zurück, machte die Ofentür auf und spuckte in die Asche. Darauf machte er den Ofen ebenso umständlich und nachdrücklich wieder zu. Vielsagend blinzelte er Hoogendunk zu. Der Knecht zwinkerte bedeutungsvoll zurück. Dann wandten sie sich beide der kühnen Fragerin zu, die ein Gespräch zwischen Männern zu unterbrechen gewagt hatte. Pool nahm die Pfeife aus dem Mund, blies eine dünne Rauch wolke in die Luft und fuhr sich mit der Hand über die Lippen. »Natürlicher Dünger ist — natürlicher Dünger.« Hoogendunk nickte feierlich Beifall. »Ja, aber was ist denn drin?« beharrte Selina. Klaas machte eine Bewegung mit seiner großen Hand, als wolle er ein lästiges Insekt verscheuchen. Er sah Maartje an. Aber Maartje hatte nur Sinn für ihre Arbeit. Geertje und Jozina waren längst hinter dem Ofen in eines ihrer Lieblingsspiele vertieft. Rolf saß und las in einem dicken Buch. Seine Hand lag zerschunden auf dem Tischtuch. Mit Verwunderung stellte Selina fest, daß er ungewöhnlich lange, schmale Finger mit gut ge formten Nägeln hatte, die freilich durch viele schwere Arbeit arg mitgenommen waren. »Aber was ist denn drin?« wiederholte sie ihre Frage. Plötzlich unheimliche Stille, als ginge ein Engel durch 47
die Küche. Beide Männer runzelten die Stirn; Maartje vor ihrer Aufwaschschüssel drehte sich halb herum; die beiden Mädchen schielten hinterm Ofen hervor, und auch Rolf sah von seinem Buch auf. Selbst der Schäferhund, der vor dem Ofen lag und schlief, streckte unvermittelt die Zunge heraus und blinzelte schläfrig mit einem Auge. Nur Selina selbst hatte keine Ahnung von der Wirkung ihrer Frage und wartete immer noch unschuldig auf Antwort. Woher hätte sie denn auch wis sen sollen, daß die Frauen in High Prairie niemals ohne weiteres die gewichtige Unterhaltung der Männer unter brechen durften! Jakob und Klaas starrten sie voll schweigender Mißbilligung unverwandt an. Ihr wurde nachgerade etwas unbehaglich zumute. Da erhob sich Rolf und ging zu dem Schrank in der Küchenecke. Er nahm ein dickes, grün eingebundenes Buch heraus und gab es Selina. Das Buch roch abscheulich. Sein Einband war vom häufigen Gebrauch ganz fettig geworden. Die Seitenränder zeigten deutliche Spuren von unsauberen Fingern und waren braun und abgegriffen. Auf der Seite, die Rolf aufgeschlagen hatte, stand folgendes: Guter Dünger für Obst- und Handelsgärten Und darunter: Natronsalpeter, Ammoniumsulfat, getrocknetes Blut Sie machte das Buch zu und gab es mit spitzen Fingern zurück. Getrocknetes Blut! Sie starrte die beiden Män ner an. »Was heißt das, getrocknetes Blut?« Klaas antwortete halsstarrig: »Getrocknetes Blut - ist getrocknetes Blut. Man tut es in die Felder und düngt den Kohl damit. Und Zwiebeln und Kürbisse.« Er sah in ihr entsetztes Gesicht und grinste schadenfroh. 48
»Na, finden Sie Kohl jetzt immer noch wunderschön?« Selina stand auf. Sie war nicht etwa beleidigt, aber sie hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, allein zu sein. Sie sehnte sich nach ihrem stillen Zimmer mit dem gro ßen Nußbaumbett, der nicht wärmenden Wärmeröhre und der märchenhaften Brauttruhe und begriff nicht, daß sie sich noch vor einer Stunde von dort fortgewünscht hatte. Jetzt erschien es ihr wie ein unendlich begehrenswerter Zufluchtsort. Sie wandte sich an Frau Pool: »Ich ... ich möchte jetzt gern hinaufgehen. Ich bin sehr müde. Es war ja auch eine lange Reise. Ich bin nicht daran gewöhnt ...« Ihre Stimme wurde immer leiser. »Gewiß«, war Maartjes kurzeAntwort. Sie war endlich mit Abwaschen fertig. Aber schon holte sie sich eine große Schüssel, Mehl und ein Backbrett. »Gehen Sie nur hinauf. Ich muß meinen Brotteig ansetzen und habe auch sonst noch zu tun.« »Kann ich vielleicht ein bißchen heißes Wasser bekommen?« »Rolf, hör gefälligst mit Lesen auf und zeige der Lehrerin, wo das heiße Wasser ist. Geertje, Jozina! Was fällt euch heute bloß ein! So was ist ja noch nicht dagewesen!« Und schon hatte Geertje einen gehörigen Puff weg. Ein Wehgeheul erschallte. Selina zitterte vom Kopf bis zu den Füßen. Wäre sie nur schon draußen! Inzwischen hatte Rolf ein altes Zinnkrüglein vom Haken genommen und hinten am Herd einen eisernen Dekkel hochgehoben. Eine Wolke von Wasserdampf stob heraus. Er tauchte das Gefäß in den winzig kleinen Wasserbehälter, der dort zum Vorschein gekommen war. Selina griff nach dem Krug, aber der Junge kam ihr zuvor. Noch ehe sie ein Wort hätte sagen können, hörte sie ihn mit schnellen Schritten die Treppe hinauf eilen. 49
Sie wäre ihm gern gefolgt. Aber vorher mußte sie unbedingt wissen, in was für einem Buch er die ganze Zeit so eifrig gelesen hatte. Zwischen ihr und dem Buch auf dem Tisch befanden sich jedoch eine ganze Reihe von Hindernissen: Klaas Pool, Hoogendunk, der Hund, die beiden Mädchen und Maartje. Schließlich faßte sie sich ein Herz und zeigte mit dem Finger auf den grünen Band. »Was ist das für ein Buch, in dem Rolf gelesen hat?« Maartje warf einen großen Teigklumpen auf das Brett. Ihre Arme waren mehlbestäubt. Mit geübten kräftigen Griffen bearbeitete sie die Brotmasse. »Ein Woordenboek. Ein Woordenboek! Langsam dämmerte ihr die Bedeutung des holländischen Wortes. Aber das konnte doch wohl nicht stimmen. Sie ging rasch an den beiden Män nern vorbei, die ihr willig Platz machten, stieg mit einem großen Schritt über den schlafenden Hund hinweg und langte über den Tisch. Woorden = Wörter. Boek = Buch. »Wörterbuch!« »Er liest im Wörterbuch«, entfuhr es Se lina laut. »Er liest tatsächlich in einem Wörterbuch.« Sie war nahe daran, laut loszulachen, und hätte doch zu gleicher Zeit weinen mögen. Frau Pool sah auf. »Rolf hat es voriges Jahr im Frühjahr von seinem Lehrer zum Abschied geschenkt bekommen. Es ist ein sehr gutes Wörterbuch, und es stehen mehr als hunderttausend verschiedene Wörter darin.« Selina brachte mit Mühe ein undeutliches »Gute Nacht« hervor und lief die Treppe hinauf. Rolf sollte alle ihre Bücher bekommen. Sie wollte ihr ganzes Monatsgeld für Bücher ausgeben und sie alle Rolf schenken. Er hatte nichts weiter als ein Wörterbuch! Rolf hatte den Krug mit heißem Wasser auf den kleinen
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Waschtisch gestellt und die Petroleumlampe angezün det. Zum erstenmal sah ihn Selina aus der Nähe und stellte mit Erstaunen fest, daß er eigentlich noch ein kleiner Junge war. Unten in der überfüllten Küche hatte er ganz männlich ausgesehen. Jetzt, da der helle Lam penschein sein Profil klar hervortreten ließ, merkte sie, daß Wangen, Mund und Kinn noch kindlich weich wa ren. Ungeschickte Hände hatten einfach ein Paar Män nerhosen für ihn abgeschnitten; sie waren ihm viel zu weit und schlotterten um seine dünnen Schenkel. Er ist wirklich noch ein ganz kleiner Junge, dachte Selina be stürzt. Gesenkten Kopfes wollte er an ihr vorüber zur Tür gehen. Sie aber streckte die Hand aus und berührte vor sichtig seine Schulter. Da sah er zu ihr auf. Und sie erschrak beinahe vor der Lebendigkeit in seinem Gesicht und vor dem Glanz seiner Augen. Jetzt fiel ihr auch ein, daß sie ihn bisher überhaupt noch nicht hatte sprechen hören. Ihre Hand lag noch immer leicht auf seinem Arm. »Kohl... Kohlfelder ... was Sie gesagt haben... sie sind wirklich wunderschön«, stammelte er. Es war ihm heiliger Ernst. Ehe sie ein Wort erwidern konnte, war er draußen und stürzte die Treppe hinunter. Selina aber stand noch immer an demselben Fleck und schaute ihm nach. Ihr Herz war plötzlich warm und froh, und das trostlose Gefühl von Verlassenheit war verschwunden. Vergnügt planschte sie in der viel zu kleinen Waschschüssel. Leise vor sich hinsummend löste sie ihre weichen dunklen Haare und schlüpfte in ihr langärmeliges, hochgeschlossenes Nachthemd. Ihr letz ter Blick, ehe sie die Lampe ausblies, galt dem schwarzen Ofenungetüm, das wie ein geduldiger Haremswächter in der Ecke stand. Jetzt konnte sie schon darüber lachen.
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Aber kaum lag sie im Dunkeln in ihrem unförmigen Bett, als das beklemmende Gefühl der Verlassenheit sie von neuem überfiel. Ach, es war Nacht, und sie war in einem fremden Hause unter lauter fremden Menschen. Wie ein erschreckter kleiner Vogel lag sie bis an die Nasenspitze zugedeckt und lauschte mit weit aufgerissenen Augen angstvoll in die Dunkelheit. Durch das offene Fenster wehte die frische Novemberluft herein; roch sie nicht nach getrocknetem Blut? Sie schauderte entsetzt zusammen. Von unten kamen Geräusche: Stimmen, rauh und schrill. Schließlich verstummte das Sprechen. Andere Laute wurden lebendig, die sie in der Stadt noch nie des Nachts gehört hatte: ein Hund fing an zu bellen, ein anderer antwortete. In der Ferne pfiff ein Zug. Pferdehufe stampften dumpf gegen den Scheunenboden. Der Wind heulte in den kahlen Bäumen vor ihrem Fenster. Unter dem Kopfkissen tickte getreulich ihre Taschenuhr. Simeon Peake hatte sie ihr zum achtzehnten Geburtstag geschenkt. Nach dieser geliebten kleinen Uhr tastete Se lina in der Dunkelheit und hielt sie tröstend an ihre Wange. Sie wußte genau, daß sie in dieser Nacht kein Auge zutun würde. Sie wußte genau ... Als sie erwachte, dämmerte es gerade. Ein klarer, kalter Novembermorgen. Von unten her tönten Kinderstimmen; Pferde wieherten, überall rief und pfiff es. Bis nach oben roch es nach gebratenem Speck. Im Hühner hof gluckste und quakte es durcheinander. Es war sechs Uhr. Selinas erster Tag als Lehrerin in High Prairie! In zwei Stunden würde sie ein ganzes Zimmer voll rund äugiger Geertjes und Jozinas und Rolfs vor sich haben. Es war zum Verzweifeln kalt im Schlafzimmer, und es gehörte ein gewaltiger Mut dazu, die Bettdecke beiseite
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zu werfen. Überhaupt stellte Selina fest, daß man zu diesem Leben einen mühseligen Anlauf nehmen mußte. Und da hatte Simeon Peake von einem großartigen Abenteuer gesprochen.
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Den ganzen November hindurch war es jeden Morgen dasselbe. Früh um sechs Uhr rief es von unten: »Fräu lein Peake! Fräulein Peake!« »Ich bin schon auf«, schrie Selina mit klappernden Zähnen krampfhaft fröhlich zurück. »Kommen Sie doch lieber herunter, und ziehen Sie sich neben dem warmen Ofen an!« Durch das vergitterte Loch im Fußboden, da wo sich das Ofenrohr aus dem Wohnzimmer so protzig zu der Wärmeröhre verdickte, konnte Selina undeutlich Frau Pool erkennen, die unten stand und zu ihr hochsah. Als diese freundliche Aufforderung zum erstenmal an Selina ergangen war, schwankte sie zwischen Entsetzen und Belustigung. »Ich friere wirklich nicht. Außerdem bin ich schon beinahe fertig. Ich komme sofort hinunter.« Wahrscheinlich hatte Maartje Pool Selinas Stimme etwas angemerkt. »Pool und Jakob sind schon lange hinaus aufs Feld. Hier hinter dem Ofen sind Sie ungestört.« Selina zitterte am ganzen Körper vor Kälte, aber sie wollte keinesfalls nachgeben. Die eigensinnige kleine Linie am Kinn trat noch schärfer hervor als sonst. »Fällt mir ein«, murmelte sie mit klappernden Zähnen, »hinter den warmen Ofen zu kriechen und mich dort wie 53
die Bauern in den schauderhaften russischen Romanen anzuziehen ... Sei nicht hochnäsig, Selina ... Pools sind so nett und anständig ... aber mit einem Packen Wäsche und Kleidern unterm Arm verkrieche ich mich trotzdem nicht hinterm Ofen ...« Geertje und Jozina kannten solche jungfräulichen Bedenken nicht. Jeden Morgen rafften sie schleunigst ihre kleinen wollenen Röckchen zusammen und flohen eiligst in die warme Küche. Dabei lag ihr Schlafzimmer direkt neben dem Wohnzimmer und war beileibe nicht so eisig wie Selinas feuchtkalte Kammer. Und überdies schliefen die beiden seelenvergnügt in den warmen Kleidungsstücken, die sie auch am Tage unmittelbar auf dem Kör per trugen, und hatten sich morgens nur mit einem ganzen Haufen wollener Unterröckchen, mit Strümpfen und Überstrümpfen herumzubalgen. Und mit allerlei heimtückischen Strippen, Bändern und Haken. Ihre Hemden waren unbarmherzig kratzig und hart: die härenen Hemden der ersten Märtyrer waren flaumweich dagegen. In High Prairie zog sich jedermann hinter dem warmen Ofen an und fand nicht das geringste dabei. Im Dezember wurde es noch schlimmer. Um sechs Uhr war es natürlich noch stockfinster. Selinas reizende, sonst so alabasterweiße kleine Nase war über Nacht von demselben Zauberpinsel rot angestrichen worden, der das Schlafzimmerfenster über und über mit zierlichen Palmwedeln, gezackten Farnkräutern und prachtvollen silbernen Blumen bemalt hatte. Zoll für Zoll kroch die Kälte vom Fenster her tiefer herein. Schließ lich protestierten auch Pools gegen den eisigen Luftzug, der über die offene Treppe bis zu ihnen herunterwehte und sogar in ihr hermetisch verschlossenes Schlafzimmer drang. 54
Fast jeden Morgen war das Wasser im Krug eingefroren. Schon abends zuvor legte Selina sich ihre Kleider so zurecht, daß sie am Morgen möglichst schnell hineinschlüpfen konnte, aber sie waren mörderisch kalt. »Hinter den Küchenherd krieche ich trotzdem nicht«, schwor sich Selina und betrachtete wütend die Karikatur von einem Ofen in ihrem Zimmer. Noch nach vielen Jahren standen Öfen in ihrer Erinne rung an den Winter in High Prairie an erster Stelle. Und nicht ohne Grund, denn ein Ofen sollte in ihrem Leben noch eine große Rolle spielen. Vom ersten Tage an war der Schulofen ihr Sorgenkind. Stets ragte der schwarze Ofentyrann groß und drohend aus dem Wirrwarr dieses ersten Schuljahres hervor. Von der Poolschen Farm bis zur Schule war es über eine halbe Meile Wegs. Selina lernte die Landstraße in jeder Verfassung kennen: bei lebensgefährlichem Glatteis, halb verweht im Schnee und bei trostlosem Regen mit riesigen Schmutzpfützen. Schon nach ihrer ersten Schulwoche hatte es Selina heraus, wie sie das Rechenexempel ihres morgendlichen Aufstehens auf den kleinsten Generalnenner bringen konnte. Um sechs Uhr hieß es heraus aus dem Bett und Hals über Kopf hinein in die eiskalten Kleider. Hastig schlang sie ihr Frühstück hinunter: Brot, Käse, manchmal ein Stück Speck und den unvermeidlichen Kornkaffee ohne Milch und Zucker. Dann fuhr sie in Mantel, Fäustlinge, Mütze, Schal und Gummischuhe. Und nun hinaus auf die Landstraße, dem eisigen Präriewind entgegen, der ihr die Tränen in die Augen trieb, durch fußhohe Schneewehen hindurch. Bei klarem Frostwetter konnte man auf den harten Gleisen und gefrorenen Furchen entlangschlittern. 55
Aber ihre Gedanken waren in Sonnenschein oder Regen, in Wind oder Schnee schon bei dem greulichen Schulofen. An der Schultür ging der Kampf mit dem riesigen verrosteten Schlüssel los. Endlich sprang die Tür auf. Der typische Schulgeruch schlug ihr entgegen und nahm ihr fast den Atem. Es roch nach kalter Asche, nach Petroleum und schlecht gewaschenen Kin dern; nach Mäusen, Staub und Kreide; nach Brennholz, Frühstücksresten und ähnlichen Dingen. Mit Todesverachtung stürzte sich Selina hinein und zog noch im Gehen Schal und Handschuhe ab. Im Vorraum stand ein Kasten mit dicken Holzkloben und ein zweiter mit trockenen Maishülsen. Daneben eine Kanne mit Petroleum. Die Maishülsen dienten als Feueranzünder. Man tunkte ein Dutzend oder noch mehr in Petro leum und stopfte sie in den dickbauchigen Ofen hinein. Dann hielt man ein Streichholz darunter, und schon flammten die Maishülsen auf. Nun mußte man schnell ein kleines Stück Holz auflegen, ein zweites flog zur Gesellschaft hinterher. Alle Zug- und Luftklappen auf. Rauch, atemlose Spannung: wird's oder wird's nicht? Eine Flamme leckte um sich. Dann knackte und knisterte es. Das Holz war angegangen. Nun konnte man schon ein großes Stück Holz darauf werfen. Nach einer Weile noch eins. Und nun zu mit der Tür. Gottlob! Für heute brannte der Schulofen. Ganz allmählich taute das Zimmer auf, und Selina legte nach und nach ihre Oberkleider ab. Als nach einer kleinen halben Stunde die ersten Kinder kamen, konnte man es schon im Schulzimmer aushaken. Natürlich brieten die Kinder, die nahe am Ofen saßen, und die in der Nähe der Fenster froren. Je mehr sich das Zimmer erwärmte, um so unerträglicher wurde den 56
armen Kindern ihr kratziges wollenes Unterzeug. Die ganze Klasse fing an, sich zu jucken, und saß nicht einen Augenblick mehr still. Selina war einfach in Ver zweiflung. Sie hatte es sich so wunderhübsch ausgedacht, mit wieviel Würde und Langmut sie ein ganzes Zimmer voll engelhaft artiger holländischer Kinder in die Grundbegriffe der Schulweisheit einführen würde. Wo aber nimmt man Würde und Langmut her, wenn man selber qualvoll an Frostbeulen leidet? Jedes Kind im Zimmer empfand genau den gleichen unerträglichen Juckreiz an Zehen und Hacken. Selina saß an ihrem schäbigen kleinen Tisch oder ging im Zimmer auf und ab. Wenn es der Wind zu toll trieb oder der Ofen seinen störrischen Tag hatte, nahm sie ihren schwarzwol lenen Schal um und sah in diesem dunklen Kleidungsstück noch blasser aus als gewöhnlich. Ihre Hände waren längst genauso rauh und aufgesprungen wie die ihrer Schüler. Das älteste ihrer Schulkinder war dreizehn, das jüngste viereinhalb. Von halb neun Uhr morgens bis nachmittags um vier kommandierte Selina dieses jammervolle Häufchen: ein erbärmlich geheiztes Zimmer voll halbverschlafener, niesender, hustender, sich unaufhörlich juckender Kinder. »Aggie van der Sijde, zerlege den Satz: Der Erdboden ist naß, weil es geregnet hat.« Aggie van der Sijde, elf Jahre alt, warf den Hängezopf nach hinten und erhob sich mit fliegendem Röck chen. »Erdboden ist Subjekt, ist naß Prädikat, weil...« Selina setzte ihr schönstes Lehrerinnengesicht auf und hörte ermutigend und beifällig zu. »Jan Snip, zerlege den Satz: Die Blume welkt, wenn man sie pflückt.« In braunem Leinwandkleid und schwarzem Wollschal, 57
die Kreide in der Hand, so stand sie vor ihren Schülern. Nur eine Phase, ein kurzes Kapitel ihres Lebens. Das große Abenteuer, das Wunder war gewiß schon unter wegs. Das Leben wartete auf sie! In fünf Jahren, in zwei - womöglich schon in einem würde sie vielleicht an so einem kalten Wintermorgen unter einer seidenen Daunendecke und auf spitzenbesetztem Kopfkissen er wachen. Weiche, rosafarbene Vorhänge würden das Tageslicht nur gedämpft hereinfallen lassen. (So ähnlich hatte sie es unzählige Male in Romanen gelesen.) »Wie spät ist es, Celeste?« »Eben elf Uhr, gnädige Frau.« »Erst!« »Wünschen gnädige Frau gleich ihr Bad, oder wollen gnädige Frau noch etwas ruhen?« »Bringen Sie mir erst meine Schokolade, Celeste. Ich bade später. Geben Sie mir meine Briefe herein ...« »Und wenn ist das Bedingungswort...« Gleich zu Beginn des Winters war Selina auf die unglückliche Idee verfallen, in jeder Pause die zugefrorenen Schulfenster für ein paar Minuten öffnen zu lassen und mit den Kindern Freiübungen zu machen. Im Handumdrehen war die Luft im Zimmer frisch, waren die Köpfe klar und die Glieder erholt. Wild wogten die vielen kleinen Arme durch die Luft, die kurzen Beine flogen auf und ab, und für ein paar Augen blicke war das ganze Zimmer voller Leben und Bewegung. Am Ende der Woche aber erhoben mindestens zwanzig Elternpaare mündlich oder schriftlich energischen Protest. Jan und Cornelius, Kathrina und Agathe gingen in die Schule, um lesen, schreiben und rechnen zu lernen, aber nicht um sich im Winter bei offenem Fenster den Tod zu holen.
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Bei Pools hatte man mit der Winterarbeit begonnen. Klaas fuhr nur noch einmal in der Woche mit Wintergemüse nach Chikago. Im übrigen mußten Kartoffeln, Kohl und Rüben in Mieten untergebracht, mußten Zäune ausgebessert, Kästen für die ersten Frühlingspflanzen gezimmert und Samen aussortiert werden. Rolf hatte Selina das Feueranmachen in der Schule beigebracht. Er hatte sie auf ihrem ersten Schulweg begleitet und den Ofen für sie instand gesetzt, die Was serpfanne gefüllt und sie in die Geheimnisse von Maiskolben, Petroleum und Luftklappen eingeweiht. Selina hatte den stillen, schüchternen Jungen vom ersten Tage ins Herz geschlossen und gab sich viel Mühe, seine Freundschaft zu gewinnen. »Rolf, ich habe oben ein herrliches Buch. Es heißt >IvanhoeGerade< steht hier als näheres Bestimmungswort. Das heißt: >Gerade< bedeutet hier: zu der Zeit als... Und Wellington ist...« So ging es eine halbe Stunde lang weiter. Selina blickte unverwandt in ihr Buch. Geduldig zerlegte Pervus indessen seine langweiligen Sätze. Selina hörte kaum, was er sagte. Sie lauschte nur auf den Klang seiner tiefen Stimme, die in ihrem Inneren ein geheimnisvolles Echo weckte, so wie eine Harfe antwortet, wenn eine Hand 102
leise über ihre Saiten streicht. Oben wirtschaftete der alte Jakob noch eine Weile in seiner Kammer herum. Dann lag das Haus in tiefstem Schweigen. Selina starr te in ihr Buch. Und obwohl sie gar nicht zu Pervus hin blickte, sah sie die ganze Zeit über seine großen, starken Hände mit dem goldenen Haarflaum, der nach den Ge lenken zu dunkler wurde. Und plötzlich begann sie zu beten, um Kraft zu flehen gegen ihre Schlechtigkeit, ge gen die Sünde, in die sie verstrickt war. Sie betete inbrünstig und stark, wie sie es aus der Bibel gelernt hatte: »O Gott, halte meine Augen und meine Gedanken von ihm fern. Fern von seinen Händen. Hilf mir, daß ich meine Augen und meine Gedanken von den goldenen Härchen an seinen Handgelenken abwenden kann. Laß mich nicht mehr an seine Handgelenke denken ...« »Ein Bauer verkauft ein Stück Land von zwanzig Qua dratruten. Wieviel bekommt er dafür, wenn der Acker hundertfünfzig Dollar kostet?« Die Aufgabe brachte er glücklich zustande. Jetzt sollte er die Quadratwurzel aus fünfhundertsechsundsiebzig ziehen. Quadratwurzeln brachten ihn um. Sie wusch die Schiefertafel mit dem kleinen Schwamm ab. Er beugte sich weit vornüber, um keine der teuflischen kleinen Zahlen zu übersehen, die unter ihrem sachverständigen Stift fügsam aufmarschierten. Sie schnurrte das Ganze geläufig herunter. »Der Rest muß das doppelte Produkt aus Zehnern und Einern plus dem Quadrat der Einer enthalten.« Er sah sie ratlos an. »Und«, fuhr Selina munter fort, »das doppelte Produkt aus Zehnern und Einern plus dem Quadrat der Einer ist dasselbe wie die Summe der doppelten Zehner und der Einer, multipliziert mit den Einern. Daher« — jetzt kam's! — »muß man vier Einer zu vierzig hinzu 103
zählen und den Rest mit vier multiplizieren. Also ist die Quadratwurzel aus fünfhundertsechsundsiebzig gleich vierundzwanzig.« Sie war ganz außer Atem. Das Feuer im Küchenofen prasselte gemütlich. »Also jetzt versuchen Sie es mal selbst! Wir wischen das aus. Da! Was muß der Rest enthalten?« Er fing an, zögerte, stotterte ... Das Haus ringsum war so bedrückend still. Kein Laut außer seiner eigenen Stimme. »Der Rest... zweimal... Produkt... Zehner ... Einer ...« Etwas in seiner Stimme, eine Schwingung, ein Tonfall, war anders als sonst. Sie fühlte ein seltsames Schwanken, als ob das ganze Haus sich um sie drehte. Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt, wohlige kleine Schauer liefen ihr die Arme hinauf, die Beine hinunter, über das Rückgrat... »plus dem Quadrat aus den Einern ist dasselbe wie die doppelte Summe der Zehner ... doppelte Summe der Zehner ...« Seine Stimme brach ab. Ihre Augen stürzten sich unbezwinglich auf seine Hände, und sie erschrak: die Hände waren zu Fäusten geballt. Ihre Blicke flogen weiter von diesen geballten Fäusten zu dem Gesicht des Mannes neben ihr. Ihr Kopf hob sich ihm entgegen, beugte sich zurück. Ihre weit geöffneten, verschreckten Augen begegneten den seinen, einer blendenden blauen Glut in seinem gebräunten Gesicht. Mit dem letzten Rest klaren Bewußtseins, der ihr geblieben war, nahm sie es auf. Dann lösten sich seine geballten Fäuste. Die blaue Glut versengte sie, hüllte sie ein. Ihre Wange empfand die harte, kühle Berührung einer männlichen Wange. Sie spürte den starken, erregenden, durchdringenden Duft seiner Nähe, eine Mischung aus Tabakrauch, seinem Haar, 104
frischgewaschener Wäsche, einen undefinierbaren Körpergerudi, der sie zugleich abstieß und anzog. Dann fühlte sie seine Lippen auf den ihren, und das Unglaubliche geschah, daß sie seine Küsse verlangend und hingegeben erwiderte.
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Sie heirateten zwei Monate später, im Mai. In High Prairie endete der Schulunterricht praktisch mit dem Erscheinen der ersten grünen Schößlinge, das heißt, sobald Zwiebeln, Spinat und Radieschen aus dem schwarzen Boden hervorsproßten. Selinas Klassen lichteten sich täglich mehr. Und schließlich war aus der Schule ein richtiger Kindergarten geworden, denn nur die Fünfjährigen krabbelten noch im Schulsaal durcheinander. Alle Fenster standen weit offen, so daß die warme Frühlingsluft hereinströmen konnte. Es roch nach Erde und blühenden Wiesen. Der Schulofen stand rot vom Rost und kalt da, und die Wärmeröhre in Selinas Schlafzimmer vermochte sie nicht mehr zu verhöhnen. Selinas Stimmung schwankte noch immer zwischen Unruhe, Auflehnung und Zufriedenheit. Nach außen hin rettete sie sich gern in eine Art Galgenhumor. Im tiefsten Herzen aber hatte sie Angst. High Prairie war im Mai eine einzige Farbensinfonie in Grün, Gold, Rosa und Blau. Bunte Frühlingsblumen blühten auf allen Feldern und in allen Straßengräben. Leuchtend hoben sich Veilchen, Butterblumen, Alraunen und Leberblumen von dem frischen Grün der Wie 105
sen ab. Vom See her wehte es weich und kühl. Selina hatte niemals zuvor einen ländlichen Frühling erlebt. Sie litt fast körperlich unter den ungewohnt starken Eindrücken. Sie ging den ganzen Tag wie in halber Be täubung umher. Es kam ihr vor, als würde sie von einer geheimnisvollen Macht gegen ihren Willen und gegen alle eigenen Pläne zu etwas getrieben, was süß und schrecklich zugleich war. Nur wenn sie mit Pervus zusammen war, wurde sie vergnügt und mitteilsam. Er selbst redete nicht viel; ihm genügte es, wenn er sie an sehen durfte. Eines Tages brachte er ihr einen halbverwelkten Strauß Lilien mit. Tränen traten ihr in die Augen — er war stundenlang nach diesen Blumen gelaufen, nur weil sie eines Tages davon gesprochen hatte, wie sehr sie Lilien liebte. Da es sehr heiß war und er sie so lange hatte in der Hand halten müssen, waren sie schlaff und welk geworden. Er stand unten auf den Stufen, die in die Küche führten, sie in der offenen Küchentür. Sie nahm die Blumen und legte ihre Hand zärtlich auf seinen Kopf. Er war wie ein guter großer Hund, der im Hofe einen alten Knochen ausgegraben hat und ihn seinem Herrn vor die Füße legt. Es gab Tage, an denen ihr alles das unwirklich vorkam. Es konnte doch wohl nicht wahr sein, daß sie einen Ge müsefarmer heiraten und ihr ganzes Leben in High Prairie verbringen sollte? Das konnte, das durfte nicht sein! Wo blieb das große Abenteuer, von dem ihr Vater immer gesprochen hatte? Was wurde aus ihren heimlichen Luftschlössern, was aus ihren ganzen stolzen Zukunftsplänen? Der Winter in High Prairie hatte ja nur eine Episode sein sollen. Aber doch nicht ihr Leben selbst. Sie dachte an Maartje. Oh, so brauchte sie trotz 106
dem nicht zu werden. Das war unnötig und dumm. Sie würde im Hause nur rosa oder blaue Kleider tragen, bluten weiße Vorhänge an den Fenstern haben und natürlich Blumen in allen Zimmern. Sie faßte schließlich Mut und vertraute Maartje ihre geheimen Ängste und Kümmernisse an. »War Ihnen eigentlich auch so . . . so unheimlich ums Herz, wenn Sie ans Heiraten dachten, Frau Pool?« Maartjes Arme steckten bis zu den Ellbogen in einem Riesenklumpen Brotteig. Sie walkte und knetete aus Leibeskräften. Zwischendurch hielt sie den Teig mit einer Hand hoch, um mit der anderen frisches Mehl über das Backbrett zu stäuben. Bei Selinas Frage lachte sie kurz auf. »Ich bin sogar davongelaufen.« »Tatsächlich? Sie sind wirklich davongelaufen? Aber warum? Hatten Sie Klaas denn nicht lie ... gern?« Maartjes Gesicht war mit Röte übergössen. Es war nicht sicher, ob das von der Anstrengung des Knetens oder von Selinas Frage herrührte. Jedenfalls sah sie im Augenblick ganz anders aus als sonst, auffallend jung und mädchenhaft. »Natürlich hatte ich ihn gern. Sogar sehr.« »Und trotzdem liefen Sie davon?« »Ich lief ja nicht weit. Und kam auch wieder. Es hat noch nicht einmal jemand gemerkt. Aber ich lief eben weg.« »Warum sind Sie denn wiedergekommen?« Maartje erläuterte ihre Philosophie, ohne zu ahnen, daß man ihre Erklärungen mit einem so hochtrabenden Ausdruck hätte bezeichnen können. »Man kann überhaupt nicht weit genug fortlaufen. Vor dem Leben kann man nicht davonlaufen, oder man hört gleich ganz zu leben auf.« 107
Der mädchenhafte Ausdruck ihres Gesichts war ver schwunden. Plötzlich sah sie uralt und weise aus. Sie ließ die starken Arme einen Augenblick von der Arbeit ruhen ... Es fiel Selina nicht leicht, Rolf von neuem für sich zu gewinnen. Er war wie ein scheues kleines Tier, das un gerechterweise von seinem Herrn schlecht behandelt worden ist und nun nichts mehr von ihm wissen will. Sie verschwendete mehr Zärtlichkeit an diesen drei zehnjährigen Knaben, als sie dem Mann, den sie heiraten würde, je gewährt hatte. Rolf fragte sie eines Tages gerade heraus: »Warum heiraten Sie ihn eigentlich?« Den Namen sprach er nie aus. Sie dachte lange über die Antwort nach. Was sollte sie sagen? Der Junge konnte sie doch nicht verstehen. Da fiel ihr ein Vers aus »Lancelot und Elaine« ein, und sie erwiderte: »Um ihm zu dienen und ihm durch die gan ze Welt zu folgen.« Sie war stolz auf ihre poetische Antwort. Aber Rolf wies sie prompt zurück. »Das ist kein Grund. So was steht nur in Büchern. Ihm durch die ganze Welt zu folgen, ist sowieso Blödsinn. Er bleibt ja doch sein Leben lang in High Prairie.« »Woher willst du denn das wissen?« entgegnete Selina ärgerlich und überrascht. »Das weiß ich ganz genau. Er geht bestimmt nicht weg.« Und doch konnte er ihr nicht lange widerstehen. Sie brachten zusammen Pervus' kleinen Vorgarten in Ord nung, gruben und pflanzten mit Feuereifer. Pervus hat te aus der Stadt allerlei Blumensamen mitgebracht: Mohn, Astern, Iris und Clematis. Diese sollten an Stelle von wildem Wein zu beiden Seiten der Gartenpforte 108
gesät werden, weil sie so schnell wuchsen. Selinas Kenntnisse von den einzelnen Blumensorten waren die eines richtigen Stadtkindes; sie wußte nur, daß sie einen altmodischen Blumengarten haben wollte mit Ringelblumen, Nelken, Reseda und Phlox. Das DeJongsche Gehöft fiel selbst unter diesen bescheidenen Häusern als besonders häßlich auf. Die anderen hoben sich von ihm durch ihre tadellose Sauberkeit ab. Das Haus war schon über dreißig Jahre alt, ein alter, verwitterter Kasten aus grauem Fachwerk mit einem Mansardendach und einer geschmacklosen, kahlen Vor derfront. Es hätte neu angestrichen werden müssen. Alle Zäune waren wackelig, die Fenstervorhänge schief. In der Wohnstube roch es feucht und muffig. Die alte Frau, die für Pervüs den Haushalt führte, schlurfte den ganzen Tag mit einem Eimer und einem nassen grauen Lappen umher. Stets sah man auf dem Tisch einen Berg von schmutzigem Geschirr, der niemals abnahm; denn wenn sie noch mitten im Abwaschen war, wurde es schon wieder Zeit zur nächsten Mahlzeit. Das ganze Haus war unwohnlich und kahl und verriet auf Schritt und Tritt das Fehlen einer liebevollen weiblichen Hand. Selina versicherte sich und Pervüs, daß alles bald anders werden würde. Sie sah sich schon im Geist mit einem Pinsel und einem Topf weißer Farbe am Werk, um überall Schönheit zu verbreiten, wo vorher nur Häßlichkeit gewesen war. Ihre Aussteuer war denkbar bescheiden. Pervüs hatte in seinem Haushalt reichlich Wäsche und Möbel. Viel schwieriger war die Frage des Brautkleides. Aber Maartje kam ihr zu Hilfe und schlug ihr vor, sich in der holländischen Brauttracht aus der alten Truhe trauen zu lassen. 109
»Dann sind Sie eine richtige holländische Braut«, sagte Maartje. »Das wird Ihrem Mann gefallen!« Pervus strahlte wirklich vor Entzücken, und Selina fühlte sich in seiner Liebe so wohl wie ein Kätzchen im Sonnenschein. Das alte holländische Brautkleid war ihr natürlich viel zu weit. In den Rockbund hätte sie zweimal hineingepaßt. Ihre schmalen, zarten Schultern ver schwanden fast in dem reichlich geschnittenen Oberteil, aber die Wirkung des Ganzen war unsagbar eigenartig und rührend. Die Flügel der reichgestickten weißen Haube umrahmten malerisch ihr blasses Gesichtchen, aus dem die Augen noch größer und dunkler leuchteten als sonst. Sie hätte gar zu gern auch die handgeschnitzten Schuhe angezogen; aber sie gab den Gedanken gleich beim ersten Versuch auf. Ihre Füße waren darin so verloren wie ein kleiner Stichling in einem großen Ruder boot. Die Hochzeit wurde bei Pools gefeiert. Klaas und Maartje hatten es sich nicht nehmen lassen, das Hoch zeitsessen auszurichten. Es gab Schinken, gebratene Hähnchen, Würste, Kuchen, Eingemachtes und Bier. Pastor Dekker traute sie. Selina schämte sich noch lange hinterher, daß sie von der Predigt so gut wie nichts be halten hatte, weil sie immerfort auf seinen struppigen kurzen Bart hatte blicken müssen, der bei jedem Wort hin und her wackelte. Man sah es Pervus an, daß er sich in seinen steifen, feierlichen Sonntagskleidern gar nicht wohl fühlte - in seinen gewöhnlichen Manchesterhosen und seinem einfachen blauen Hemd sah er tausendmal hübscher aus. Mitten in der Trauzeremonie hatte Selina wieder einen ihrer Angstanfälle: sie sah sich plötzlich laut schreiend aus der Kirche stürzen und auf der Land straße davonrennen, so schnell sie ihre Füße trugen. So 110
stark war diese Vorstellung, daß sie später nie begriff, wie sie hatte stehenbleiben und an der richtigen Stelle »Ja« sagen können. Das kostbarste ihrer wenigen Hochzeitsgeschenke war eine Hängelampe von Pools, wie sie sich jede Farmersfrau im Traume wünscht, ein scheußliches gelbes Ungetüm mit rosa Rosen auf dem Schirm und baumelnden Glasprismen. Sie sollte im Wohnzimmer über dem Tisch hängen und ließ sich hinauf- und herunterbewegen. Von der Witwe Paarlenberg kam ein Bowlenservice aus mattiertem Glas, das in allen Farben vom hellsten Rosa bis zum tiefsten Pupurrot schimmerte. Rolf schenkte ihr eine Brauttruhe. Wochenlang hatte er abends heimlich daran gearbeitet und sich genau an das Vorbild der alten Truhe in Selinas Schlafzimmer gehalten. Er hatte sogar auf die Vorderseite ihre Initiale geschnitzt, die denen auf der alten Truhe so merkwürdig ähnlich waren: S. P. D., daneben die Jahreszahl - 1890. Es war für einen dreizehnjährigen Knaben eine außerordentliche handwerkliche Leistung, die jedem Mann Ehre gemacht hätte. Neben den anderen unschönen Hochzeitsgeschenken sah die Truhe doppelt wundervoll aus. Selina hatte sich mit Tränen in den Augen bei ihm bedankt. »Rolf, versprich mir, daß du mich oft besuchen wirst. Oft!« Als er nicht gleich antwortete, fügte sie hinzu: »Ich werde dich brauchen. Du bist ja alles, was ich habe.« Für eine Braut entschieden ein merkwürdiger Ausspruch. »Ich komme«, hatte Rolf so kühl und gleichgültig wie möglich geantwortet. »Ich komme bestimmt bald mal.« Gleich nach der Hochzeit fuhren sie nach Hause. Im Mai kann ein Gemüsefarmer seinen Garten keinen einzigen Tag lang im Stich lassen. Das Haus war für ihre 111
Ankunft vorbereitet worden. Die alte Haushälterin hatte ausgewirtschaftet. Ihr Schlafzimmer neben der Küche stand leer. Während des ganzen Hochzeitsessens hatte Selina lauter beängstigend törichte und absonderliche Gedanken gehabt: Jetzt bin ich also wirklich verheiratet. Ich bin Frau Pervus DeJong. Ein hübscher Name. Würde gar nicht übel auf einer eleganten kleinen Visitenkarte aus sehen: FRAU PERVUS DEJONG freitags zu Hause
Später, als sie, Frau Pervus DeJong, nicht nur freitags, sondern auch sonnabends, sonntags, montags, dienstags, mittwochs und donnerstags zu Hause war, mußte sie oft voll Galgenhumor an diese Phantasien zurückdenken. Sie fuhren die Landstraße entlang zur Farm. Selina mußte sich immer wieder vorsagen, daß sie mit ihrem Mann auf dem Weg nach Hause sei, daß sie seine Schulter an der ihren fühle. Sie wäre froh gewesen, wenn er etwas gesagt, wenn er sich mit ihr unterhalten hätte. Aber Angst hatte sie doch wohl nicht mehr? Pervus' Marktwagen stand mit herabhängender Deichsel im Hof. Eigentlich hätte er heute zum Markt fahren müssen. Morgen würde er es ganz gewiß tun, und zwar zeitig am Nachmittag, um sich einen guten Platz auf dem Heumarkt zu sichern. Im Laternenlicht erschien ihr der Wagen geradezu symbolisch. Sie hatte ihn vorher schon oft gesehen, jetzt aber gehörten sie beide eng zusammen, der DeJongsche Marktwagen und sie, Frau 112
DeJong. Erst jetzt kam ihr zum Bewußtsein, was für ein jämmerlicher alter Karren er war gegen den hüb schen festen Wagen im Poolschen Hof mit dem lustigen grünen Anstrich und den roten Buchstaben darauf: »Klaas Pool, Handelsgärtnerei«. Pervus half ihr vom Wagen. Dabei legte er den Arm um sie und hielt sie so einen Augenblick fest. Selina sagte: »Du mußt den Wagen anstreichen lassen, Pervus, und die Federn unter dem Sitz müssen festgemacht werden, und das Brett an der Seite ist entzwei.« Er war sprachlos. »Den Wagen?« »Ja, er sieht geradezu unmöglich aus!« Das Haus war leidlich aufgeräumt, sauber war es deshalb noch lange nicht. Pervus machte Licht. Im Küchenofen brannte Feuer, obwohl der Maiabend warm war. Die Luft im Hause erschien dadurch nur noch dumpfer. Selina dachte an ihr kleines Zimmer bei Pools, das ihr nun nicht mehr gehörte, und wie herrlich kühl und still es jetzt dort sein mußte. Pervus brachte das Pferd in den Stall. Das Schlafzimmer lag hinter dem Wohnzimmer. Das Fenster war natürlich geschlossen. Selina hatte im letzten Jahr gelernt, schon am Abend zuvor alles so für den nächsten Morgen zurechtzulegen, daß sie beim Aufstehen möglichst wenig Zeit verlor. Mechanisch verfuhr sie jetzt ebenso. Sie zog ihre weiße, gestickte und gefälbelte Unterwäsche aus, die drei steifgestärkten Unterröcke, die kleine Untertaille, und tat alles in die Kommode, die sie selbst in der vorhergehenden Woche gesäubert und mit Papier ausgelegt hatte. Sie bürstete genauso sorgfältig wie sonst ihr Haar und ordnete die Kleider für den kommenden Tag. Endlich zog sie ihr
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langärmeliges, hochgeschlossenes Nachthemd an und schlüpfte in das fremde Bett. Sie hörte, wie Pervus DeJong die Küchentür zumachte; die Klinke schnappte ein, der Schlüssel drehte sich im Schloß. Schwere schnel le Schritte auf dem kahlen Küchenfußboden. Dieser Mann kam jetzt gleich in ihr Zimmer... »Man kann überhaupt nicht weit genug fortlaufen«, hatte Maartje Pool gesagt. Als Pervus sie am nächsten Morgen um vier Uhr weckte, war es noch dunkel. Sie fuhr mit einem leisen Schrei in die Höhe und saß aufrecht im Bett, angespannt lauschend, mit weit geöffneten Augen. »Bist du's, Vater?« Sie war wieder die kleine Selina Peake, und Simeon Peake war eben nach einer durchspielten Nacht angeregt und guter Dinge nach Hause gekommen. Pervus lief schon in Strümpfen durchs Zimmer. »Wie ... wie spät ist es denn? Was ist los, Vater? Warum bist du noch nicht im Bett?...« Dann fiel ihr alles wieder ein. Pervus DeJong lachte und kam näher zu ihr. »Aufstehen, kleiner Faulpelz. Es ist schon vier vorbei. Die ganze Arbeit von gestern wartet auf mich, und die von heute dazu. Schnell, mach Frühstück, kleine Lina. Du bist jetzt eine Farmersfrau.«
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Anfang Oktober erzählte es in High Prairie eine Frau der anderen, daß Frau DeJong in anderen Umständen sei. Am 15. März wurde Dirk DeJong in dem Schlafraum hinter dem Wohnzimmer geboren, von einer ver störten und etwas ungnädigen, aber tief berührten Mutter. Der Vater trug in seinem närrischen Stolz eine Siegermiene zur Schau, die in keinem Verhältnis stand zu der geringfügigen Rolle, die er in der ganzen langwierigen und beschwerlichen Angelegenheit gespielt hatte. Mit dem Namen Dirk verband Selina die Vorstellung von etwas Großem, Aufrechtem und Schlankem. Pervus hatte ihn ausgesucht. Sein Großvater hatte so geheißen. In den ersten Monaten nach ihrer Heirat mußte Selina oft an ihren ersten Winter in High Prairie denken. Sie hatte weder ihr eiskaltes Schlafzimmer mit der frostigen Wärmeröhre noch den Schulofen, ihre Frostbeulen und das unvermeidliche Schweinefleisch vergessen, und trotzdem erschienen ihr die Wochen bei Pools wie ein lieblicher Traum, wie eine Zeit voller Behagen, Freiheit und sorglosem Glück. Das eiskalte Schlafzimmer hatte ihr gehört; der weite Schulweg war auch an bitterkalten Wintermorgen ein Spaziergang gewesen und der widerspenstige Schulofen die reinste Spielerei. Pervus DeJong liebte seine hübsche junge Frau ebenso wie sie ihn. Aber junge Liebe braucht Wärme und Schönheit zu ihrem Gedeihen. Sie wird prosaisch und verliert ihren heimlichen Zauber, wenn jeder Tag unweigerlich morgens früh um vier beginnt; wenn man unausgeschlafen nach seinen Kleidern tastet, die an Stuhl oder Bettpfosten baumeln; und wenn man abends
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um neun mit tauben Gliedern und erschlagen vor Müdigkeit nach siebzehn Stunden schwerer körperlicher Arbeit ins Bett fällt. Es war ein nasser Sommer. Pervus' sorgsam ausgewähl te Tomatenpflanzen, die er in der Hoffnung auf einen trockenen Sommer so sorgfältig gepflanzt hatte, standen trostlos und halb verfault in einer Schlammwüste. Das ganze Feld trug schließlich eine einzige Tomate, so groß wie eine Kindermurmel. Im übrigen hatte Pervus eine einigermaßen gute Ernte. Aber mit welch harter Arbeit war sie erkauft! Er und sein Tagelöhner Jan Steen hatten keinerlei landwirtschaftliche Maschinen, sondern gebrauchten den Handpflug und den Handsäer. Sie kamen Selina wie Sklaven der unzähligen kleinen Keime und Schößlinge vor, die mit hunderttausend Stimmen unaufhörlich riefen: »Laßt mich heraus, laßt mich heraus!« Auch bei Pools hatte sie gesehen, daß Klaas, Jakob und Rolf von früh bis spät zu tun hatten. Aber sie war im Winter dort gewesen, und im Winter hat der Gemüsefarmer ja bei nahe Ferien. Im November war sie hingekommen, im Mai hatte sie geheiratet. Von Mai bis Oktober aber verlangten die Felder eine Anspannung der Kräfte, die schon an Wahnsinn grenzte. Selina hatte früher keine Ahnung davon gehabt, daß es Menschen gab, die sich so für ihren Lebensunterhalt abrackern mußten. In High Prairie erlebte sie das zum erstenmal. Jetzt sah sie täglich, wie ihr eigener Mann unter Schweiß und unsäglicher Mühe mit der Kraft seiner Muskeln dem Boden das Notwendigste abrang. Im Sommer strotzte der gute schwarze Boden meilenweit in der Runde von Fruchtbarkeit wie ein einziges überquellendes Gewächshaus. In dieser Zeit wurde in 116
Selina eine Liebe zur Erde wach, die ihr Leben lang an hielt. Vielleicht hing es auch mit dem Kind in ihrem Leibe zusammen. Sie fühlte sich tief im Innern mit dem Erdreich verwandt, das soviel Kraft verschwendete und so reiche Erfüllung verhieß. Manchmal hielt sie in der Hausarbeit einen Augenblick inne und stand in der of fenen Küchentür, das erglühende Gesicht den Feldern zugewandt. Welle auf Welle von sattem Grün, Welle auf Welle, bis alles zu einem einzigen blühenden See zusammenfloß. Genauso wie Kohl für Klaas Pool eben Kohl war und nichts weiter, sah auch Pervus in seinen Mohren, Rüben, Zwiebeln und Radieschen nichts als Gemüse, das man pflanzen, pflegen, ernten und zu Markt bringen mußte. Aber für Selina wurden sie in diesem Sommer ein lebendiger Teil in dem Riesenmechanismus der gan zen Welt. Pervus, Erde, Sonne, Regen - lauter Elementarkräfte, die für Millionen Lebewesen Nahrung schaff ten. Der schmutzige kleine Bauernhof wurde zu einem Königreich, die behäbigen holländisch-amerikanischen Gemüsefarmer zu Hohenpriestern, die im Dienst der Gottheit Erde standen. Sie dachte an die vielen tausend Kinder in Chikago. Wenn sie rote Backen, helle Augen und einen klaren Verstand besaßen, so hatten sie das alles Pervus zu verdanken, der ihnen zu ihrer richtigen Ernährung verhalf. Man sprach damals noch nicht so viel von Eisen, Arsen und Vitaminen in Zusammenhang mit der menschlichen Ernährung. Und doch ahnte Selina, was es bedeutete, wenn die zahllosen, unermüd lich arbeitenden Gestalten auf den Feldern mit gebeugtem Rücken tagaus tagein geduldig die gleiche schwere Arbeit verrichteten. Sie versuchte zuweilen, ihre Gedanken Pervus mitzuteilen.
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Aber er starrte sie ohne einen Schimmer von Verständnis in seinen blauen Augen an. »Farmarbeit nennst du wundervoll! Farmarbeit ist das Trostloseste, was es gibt. Für den ganzen Wagen voll Mohren habe ich gestern nicht einmal so viel bekommen, daß ich dir die Sachen für das Kind hätte mitbringen können, damit du ihm etwas anziehen könntest, wenn es zur Welt kommt. Am besten wirft man alles gleich dem Vieh vor!« Pervus fuhr jeden zweiten Tag nach Chikago auf den Markt. Im Juli und August kam er manchmal eine ganze Woche nicht aus den Kleidern. Gleich nach dem Mittagessen lud er mit Jan Steen zusammen das Gemüse in den Wagen. Um vier fuhren sie ab. Auf dem historischen alten Heumarkt in Chikago westlich der Randolfstraße versammelten sich alle Gemüsegärtner aus der Umgebung. Hier stellten sie ihre Wagen auf, damit der Verkauf gleich früh am nächsten Morgen beginnen könne. In drei Reihen standen die Karren nebeneinander, zwei Reihen an den Bordsteinen entlang, die dritte in der Straßenmitte. Wer zuerst kam, erwischte den besten Platz, eine feste Verteilung der Standplätze gab es nicht. Pervus versuchte es möglichst so einzurichten, daß er stets vor neun auf dem Heumarkt war. Oft aber zwangen ihn die schlechten Straßen zu beträchtlichen Umwegen, und er kam zu spät. Das bedeutete dann gewöhnlich für den nächsten Tag ein schlechtes Geschäft. Die Männer schliefen zum größten Teil auf ihren Wagen. Sie legten sich, so gut es eben ging, auf den vorderen Sitz oder streckten sich auf den Säcken aus. Die Pferde hatten es tatsächlich besser als ihre Herren, denn sie wurden in benachbarten Schuppen und Ställen untergebracht. In den gegenüberliegenden, mehr als be 118
scheidenen kleinen Gasthäusern konnte man für fünf undzwanzig Cent ein Zimmer bekommen. Aber die Zimmer waren klein und muffig, nicht besonders sauber, und die Betten nicht viel bequemer als die Wagen. Und überdies, fünfundzwanzig Cent! Soviel bekam man für einen halben Zentner Tomaten und für einen ganzen Sack Kartoffeln. Ein Sack Zwiebeln brachte fünfundsiebzig Cent ein, und wenn man für hundert Kohlköpfe zu je fünf Pfund zwei Dollar bekam, konn te man froh sein. Fuhr man mit zehn Dollar in der Ta sche nach Hause, so war der Verdienst im Grunde gleich Null; man mußte schon zusehen, daß man mehr ein nahm. Nein, man warf nicht fünfundzwanzig Cent zum Fenster hinaus, nur um in einem Bett schlafen zu dürfen. An einem schönen Junitag, ungefähr einen Monat nach ihrer Hochzeit, fuhr Selina mit Pervus nach Chikago. Sie saß in ihrem besten Staat neben ihrem Mann vorn auf dem Sitz, eine kleine, auf dem hoch mit Frischgemüse beladenen Karren etwas seltsam wirkende Gestalt. Sie waren am Nachmittag schon vor vier Uhr fortgefahren und kamen um neun in der Stadt an. Eine mühselige Fahrt, denn die Straßen waren von den letzten Mairegen her noch aufgeweicht — sozusagen ihre Hochzeitsreise. Selina hatte seit ihrem Hochzeitstag die Farm nicht verlassen. Die Sonne meinte es gut. Selina hatte ihren Sonnenschirm aufgespannt und sah sich ver gnügt und voller Interesse nach allen Seiten um. Ihr Mund stand keinen Augenblick still. Ihr Kopf flog bald nach rechts und bald nach links, und sie hatte tausenderlei zu fragen. Sie wünschte sich manchmal, daß Per vus auf ihre gute Laune mehr einginge. Sie war ein leb haftes, gesprächiges kleines Personellen und schien ihn 119
zu umkreisen wie ein munterer kleiner Foxterrier einen schwerfälligen Bernhardiner. Auf der Fahrt rückte sie endlich auch mit den großarti gen Plänen heraus, mit denen sich ihre Phantasie in den vergangenen vier Wochen unaufhörlich beschäftigt hatte. Aber sie hatte keine vier Wochen - sie hatte wahrscheinlich keine vier Tage gebraucht, um dahinterzu kommen, daß ihr großer breitschultriger Mann im Grunde ein Kind war. Er war zartfühlend und gut, doch er hatte auch nicht eine Spur Unternehmungslust oder Phantasie. Sie wunderte sich jetzt noch darüber, woher er damals bei der Versteigerung den Mut genommen hatte, auf ihren Korb mitzubieten. Es schien un glaublich, obwohl er selbst gern darauf zurückkam mit einem männlich selbstgefälligen Kopfnicken und einem breiten Grinsen. Er war trotz allem ein ziemlich dumpfer, schwerfälliger Mensch. Selinas sprühendes Temperament, ihre gesunde Durchtriebenheit und ihre Abenteuerlust blieben ihm immer unverständlich. Das Feuer werk ihrer Worte ließ er mit gemischten Gefühlen halb Stolz, halb Unbehagen - über sich ergehen. Mit der Tatkraft Jungverheirateter Frauen ging Selina daran, ihren Mann umzumodeln. Ihr hübscher, gutmütiger Pervus war langsam, konservativ und verschlos sen. Sie aber wollte ihn durchaus unternehmungslustig, wendig und draufgängerisch haben. So setzte sie ihm jetzt während der rumpligen Fahrt auf der Halsteder Straße in großen Zügen ihre Pläne auseinander. »Pervus, sowie die Sommerarbeit vorbei ist, müssen wir das Haus anstreichen lassen. Am besten im Oktober, ehe der Frost einsetzt. Weiß wäre hübsch, mit grünen Fensterläden. Aber vielleicht ist Weiß nicht sehr praktisch. Man könnte auch Grün nehmen, mit dunkelgrü
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nen Fensterläden. Das wäre ein entzückender Hinter grund für die Stockrosen. Und dann wollen wir mit Drainieren anfangen.« »Ach, drainieren«, murmelte Pervus, »bei dem Lehm boden! Da kannst du drainieren, soviel du willst. Es ist und bleibt harter Lehmboden.« Aber Selina ließ sich nicht einschüchtern. »Das weiß ich auch. Du mußt eben richtige Tonröhren legen. Und ... einen Augenblick ... Humus brauchen wir. Ich weiß, was Humus ist ... verfaultes Gemüse. Neben der Scheune liegt immer ein ganzer Haufen. Und du hast ihn auf das gute Land getan! Mit dem Lehm ist es gar nicht so schlimm; ein Teil davon ist guter Mutterboden. Er muß bloß drainiert und ordentlich gedüngt werden. Auch mit Pottasche und Phosphorsäure.« Pervus ließ ein breites Lachen hören, das Selina gegen ihn aufbrachte. Er legte eine seiner großen braunen Hände beschwichtigend an ihre rot gewordene Wange und kniff sie leicht hinein. »Laß das!« sagte Selina und wandte unwillig den Kopf ab. Es war das erstemal, daß sie eine Liebkosung von ihm zurückwies. Pervus lachte nur noch mehr. »Sieh einer an, aus dem Schulmeister ist ein Bauer geworden, was? Ich wette, die Witwe Paarlenberg weiß nicht halb soviel wie mein kleiner Farmer von« - er prustete von neuem los »von Pottasche und - wie hieß das andere Zeug? Ja, sag mal, kleine Lina, wo hast du denn diese ganze Weisheit her?« »Aus einem Buch«, sagte Selina ziemlich schnippisch. »Ich habe es mir aus Chikago kommen lassen.« »Aus einem Buch!« Er schlug sich aufs Knie. »Ein Gemüsefarmer aus einem Buch!« 121
»Warum eigentlich nicht? Der Mann, der das geschrieben hat, versteht mehr vom Gemüsebau als ganz High Prai rie zusammen. Er weiß über alle neuen Methoden Bescheid. Du bewirtschaftest die Farm noch genauso, wie du es von deinem Vater gelernt hast.« »Was für meinen Vater gut genug war, ist auch für mich gut genug.« »Nein«, rief Selina, »das ist es nicht! In dem Buch steht zum Beispiel, daß Lehmboden sich für Kohl, Erbsen und Bohnen gut eignet. Man muß eben nur wissen, wie man's macht! Das steht ja gerade drin!« Sie war ganz außer sich über seine Schwerfälligkeit und hätte ihn am liebsten bei den Schultern genommen und geschüttelt. Einmal im Zuge, fuhr sie fort: »Wir brauchten dringend ein zweites Pferd für den Marktwagen. Überlege nur, wieviel Zeit du dadurch sparen würdest, die dir bei der Feldarbeit zugute käme! Zwei Pferde und einen neuen Wagen, am liebsten grün und rot wie der von Klaas Pool.« Pervus starrte zwischen den beiden Pferdeohren hindurch geradeaus auf die Straße. Selina mußte an ihre erste Fahrt mit Klaas Pool denken. »Das ist doch Geschwätz!« »Gar kein Geschwätz. Das sind Pläne! Du mußt planen.« »Geschwätz!« »Ah!« Selina kochte innerlich vor Wut. Es fehlte nicht viel, und sie hätten sich zum erstenmal gezankt. Dabei sah es wirklich so aus, als ob Pervus recht behalten sollte. Denn nach zwei Jahren waren die Äcker noch dieselbe zähe, lehmige unergiebige Masse. Und das alte 122
Haus starrte noch ebenso schäbig und ungestrichen aus den dichten Weiden am Straßenrand. Sie schliefen in dieser Nacht für fünfundzwanzig Cent in einem Logierhaus. Das heißt, nur Pervus schlief. Die Frau lag wach und horchte auf die ungewohnten nächtlichen Geräusche der großen Stadt. Sie starrte so lange in das blauschwarze Rechteck des offenen Fensters, bis es zu dämmern begann. Vielleicht weinte sie ein wenig. Aber am Morgen hätte Pervus - wäre es ihm gegeben gewesen, solche Beobachtungen zu machen - bemerken können, daß sich jene feine Linie am Kinn nachdrücklicher denn je abzeichnete: Selina dachte nicht daran, auch nur einen einzigen ihrer Plane fallenzulassen. Sie stand wie Pervus kurz vor vier auf und war froh, als sie aus dem dumpfen kleinen Zimmer mit der fleckigen grünen Tapete und den wackeligen alten Möbeln herauskam. Unten im Gastzimmer tranken sie eine Tasse Kaffee und aßen eine Schnitte Brot dazu. Selina wartete, bis Pervus das Pferd versorgt hatte. Fünfundzwanzig Cent bekam der Wächter, der in der Nacht auf den Wagen aufgepaßt hatte. Es war noch beinahe dunkel, als der Verkauf begann. Selina sah vom Wagen aus, der mit Hunderten anderer auf dem Heumarkt in einer Reihe stand, aufmerksam zu. Immer deutlicher kam ihr zum Bewußtsein, von wie vielen widrigen Zufällen diese rückständige Art des Verkaufens abhing: und dafür hatte Pervus mit schmerzendem Rücken und müden Armen arbeiten müssen. Aber sie sagte nichts. Das ganze erste Jahr hindurch und auch das zweite kam sie kaum aus dem Hause. Pervus hatte bestimmt, daß seine Frau niemals wie viele andere Frauen und Mäd chen aus High Prairie auf dem Felde arbeiten dürfte. Bares Geld war fast nie im Hause. Pervus brachte mit 123
Mühe und Not den geringen Monatslohn für den halb kindischen Jan Steen auf, der im Sommer bei ihm arbeitete. Selina lernte viel in diesem ersten Jahr, aber sie sprach nicht darüber. Sie hielt das Haus in Ordnung und brachte es trotz der vielen groben Arbeit wie durch ein Wunder fertig, stets frisch und sauber auszusehen. Jetzt verstand sie Maartjes vernachlässigte Kleidung, ihr gehetztes Gesicht, ihre Ruhelosigkeit besser. Schon im Juli verzichtete sie endgültig auf ihre Pläne von hübschen Blumentöpfen in allen Fenstern. Und es lag nur an Rolfs treuer Pflege, wenn die mit soviel stolzen Hoffnungen angelegten Blumenbeete nicht gänzlich verküm merten. Rolf kam oft. Die Stille und der Frieden im Hause hat ten es ihm angetan. Selina hatte das von ihrem Vater geerbte kleine Bankguthaben für die Verschönerung des Hauses ausgegeben. Aber sie besaß noch einen der wei ßen Diamanten. Sie hatte ihn in den Saum eines alten wollenen Unterrockes eingenäht. Eines Tages hatte sie ihn Pervus gezeigt. »Wenn ich den verkaufe, dann können wir vielleicht genug Geld dafür bekommen, um die Felder zu drainieren.« Pervus wog den Stein zweifelnd in seiner großen Hand und blinzelte unsicher wie immer, wenn er von einer Sache nichts verstand. »Wieviel bekommt man dafür? Höchstens fünfzig Dollar. Ich brauche aber mindestens fünfhundert.« »Soviel hatte ich auf der Bank liegen.« »Na, vielleicht nächstes Frühjahr. Jetzt habe ich zuviel zu tun.« Das schien Selina kaum ein stichhaltiger Grund. Aber 124
sie war zu jung verheiratet, um ihren Willen mit Gewalt durchsetzen zu wollen, zu verliebt und noch zu unerfahren in landwirtschaftlichen Dingen. Aber es reichte wenigstens zu einem Topf mit weißer Farbe und zu einem ordentlichen Pinsel. Wochenlang war es im DeJongschen Hause gefährlich, sich irgendwo hinzusetzen oder sich anzulehnen. Selina hätte sich sogar mit einer Riesenkanne Farbe und einem zwei Meter langen Pinsel an die Außenseite des Hauses gewagt, wenn Pervus sich nicht ins Mittel gelegt hätte. Sie nähte hübsche weiße Vorhänge und bunte Überzüge für das Wohnzimmersofa und die Stühle und abonnierte eine Zeitschrift mit dem Titel »Haus und Garten«. Rolf und sie vertieften sich gemeinsam in diese spannende Lektüre. Mit leidenschaftlichem Interesse und teils begeisterten, teils kritischen Ausrufen verschlangen sie lange Artikel über Terrassen, Teiche, Butzenscheiben, kattunbezogene Möbel, Kamine, Eibenbäume, Gartenlauben und Springbrunnen. Selina schwankte, wofür sie sich entscheiden sollte: für ein englisches Schlößchen mit Säulengang, Erkern und Fliesen oder für ein italienisches Landhaus mit einer breiten Terrasse, auf der sie im schleppenden weißen Gewände mit einem russischen Windhunde stehen würde. Ein Glück, daß niemand diese Unterhaltungen belauschte, diese Gespräche zwischen der jungen Frau, die ihr Leben lang ein Kind bleiben sollte, und dem Bauernjungen, der nie ein richtiges Kind gewesen war. Die guten High Prairier hätten wahrscheinlich mit dem Schrei »Gerechter Himmel« beide Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Selina hatte überhaupt seltsame Einfälle: sie stellte zum Beispiel Rolfs schöne geschnitzte Truhe so auf, daß ihr Kind sie morgens beim 125
Erwachen sofort sehen mußte. Die Truhe war ihr kostbarster Besitz. Sie hatte auch ein unvollständiges altes holländisches Tonservice, das von Pervus' Großmutter stammte. Davon aßen sie jeden Sonntagabend, obwohl es Pervus nicht recht war. Dirk erhielt seine Milch in einer der wundervollen rubinroten Tassen, was Pervus reichlich verrückt vorkam. Selina stand jeden Tag um vier Uhr auf. Das Anziehen besorgte man rein mechanisch so schnell wie möglich. Das Frühstück mußte auf dem Tisch stehen, wenn Pervus und Jan aus dem Stall kamen. Dann hieß es sauber machen, Hühner füttern, nähen, waschen, plätten und kochen. Sie rechnete sich aus, wie sie die Anzahl der notwendigen Schritte auf ein Mindestmaß beschränken und sich die Arbeit erleichtern könne. Sie sah immer deutlicher, wie schlecht die kleine Farm bewirtschaftet wurde, daß es an Umsicht, Anpassungsfähigkeit und - sie gab es tapfer zu - an einer klugen Leitung fehlte. Sie hatte den großen, schwerfälligen guten Jungen, den sie geheiratet hatte, von Herzen gern. Aber durch den Schleier ihrer Liebe sah sie ihn mit erstaunlicher Klarheit so, wie er wirklich war. Mit einer Art von sechstem Sinn erwarb sie sich Kenntnisse von Farmarbeit, Gemüseanbau und Marktwesen. Sie machte Augen und Ohren auf und lernte stillschweigend eine ganze Menge über Pflanzen, Bodenbeschaffenheit, über Witterungseinflüsse und Verkaufsbedingungen. Die ganze Plage des Farmlebens kannte sie jetzt zur Genüge; von seiner Großzügigkeit und Fülle aber, wie sie etwa auf den weiten Kornfarmen in Illinois oder Kansas zu finden war, merkte sie nichts. Sie war sich völlig darüber klar, daß eigentlich jede Krume Land aufs äußerste hätte ausgenutzt werden müssen. Statt dessen blieben ganze 126
Äcker einen großen Teil des Jahres über so gut wie ohne Ertrag, und es war kein Geld da, um sie zu drainieren oder sonst etwas für ihre Verbesserung zu tun; viel weniger noch konnte man von dem benachbarten guten Land etwas hinzukaufen. Sie kannte den Ausdruck »intensive Bodenbewirtschaftung« nicht, aber genau das schwebte ihr vor. Pervus kam es nicht in den Sinn, dem tückischen Klima im Gebiet der Großen Seen mit künst lichen Schutzmaßnahmen zu begegnen. Bald herrschte eine solche Bruthitze, daß die Erde dampfte und die Pflanzen förmlich aus dem Boden hervorschossen, so daß man sie buchstäblich wachsen sehen konnte. Dann wieder wehte ohne Vorzeichen ein eisiger Wind vom Michigansee herüber und vernichtete heimtückisch alle zarten grünen Triebe. Mistbeete, Blumenkästen und Ge wächshäuser wären am Platze gewesen. Fast nichts von alledem war da. Das alles sah Selina wohl, aber sie gab sich keine Rechenschaft darüber. Sie hatte genug im Hause zu tun. Ihr körperlicher Zustand beherrschte ihre Stimmung: halb verträumt und halb glücklich tat sie ihre Arbeit. In den ersten kühleren Herbstwochen ging sie manch mal gegen Abend zu Pervus und Jan hinaus aufs Feld. Die Männer waren eifrig bei ihrer Arbeit. Selina stand da und sah ihnen zu. Der Wind zerzauste ihr das Haar und spielte in ihren Röcken. Sie hob ihr braungebranntes Gesicht wie eine Blume der Sonne entgegen. Bisweilen hockte sie wie ein kleiner Vogel auf einem Haufen leerer Säcke oder auf einem ungekehrten Korb, aber niemals ohne eine Näharbeit in den Händen. Das wa ren ihre glücklichsten Stunden, nicht gerechnet den Stich, den es ihr gab, wenn sie die dunklen Schweißflecke auf Pervus' blauem Hemd sah. 127
So war sie auch an einem schönen Herbstnachmittag hinaus aufs Feld gegangen. Sie fühlte sich froh und leicht. Rolf Pool war in seiner Freizeit, die immer seltener wurde, gekommen und hatte ihr bei den Päonienwurzeln geholfen, die ihr Pervus aus Chikago mitgebracht hatte. Er hatte einen tiefen Graben ausgehoben und reichlich Kuhdünger hineingetan. Dann hatte er die Wurzeln eingesetzt und Erde um jede einzelne gehäu felt. Die Pflanzen sollten in zwei Reihen vorm Hause am Weg entlang stehen. Selina konnte die Zeit bis zum nächsten Frühjahr kaum erwarten und sah schon in Ge danken die dicken roten Blumenbälle im Garten leuchten. Jetzt ging Rolf Pervus und Jan beim Einbringen der letzten Rüben und Radieschen zur Hand. Es war ein wundervoller warmer Herbsttag mit goldenen, blauen und scharlachroten Farbtönen. Die abgeernteten Gemüsebeete lagen tiefschwarz zwischen all dem Grün und Gelb. Bündelweise war das herausgenommene Gemüse am Wege aufgeschichtet und wartete darauf, in die Körbe eingesammelt zu werden. Selinas Augen weideten sich daran, wie das kräftige Korallenrot der Radieschen sich gegen das fette schwarze Erdreich abhob. »Ein Rubin, Pervus!« rief sie. »Ein Rubin in einem Ne gerohr!« Pervus sah auf. »Wie?« fragte er freundlich, aber verständnislos. Rolf lächelte. Er wußte, was Selina meinte. Plötzlich bückte sie sich und hob eines der grünen und scharlach roten Bündel auf. Lachend zog sie eine Haarnadel her aus und steckte die Radieschen in ihren Haaren hinter dem Ohr fest. Sie sahen aus wie ein Busch roter Rosen. Selinas Wangen waren von der heißen Sonne rot über 128
glüht. Aus ihren schönen dunklen Haaren hatten sich ein paar weiche Strähnen gelöst und wehten ihr ums Gesicht. Ihr Kleid ließ Hals und Nacken frei. Ihre Gestalt war voller geworden, der Busen hatte sich sanft ge rundet, denn sie trug das Kind schon vier Monate. Auf einen leisen Ausruf Rolfs hoben Pervus und Jan den Blick. Selina hatte beide Arme emporgestreckt und machte in einem langsamen, wiegenden Rhythmus ganz in sich versunken ein paar Tanzschritte: eine unsäglich liebliche, lockende bacchantische Erscheinung in den Feldern unter dem sengend heißen blauen Himmel. Da überkam Pervus einer seiner seltenen Leidenschafts ausbrüche. Seit dem Abend vor Monaten in der Poolsclien Küche hatte Selina diesen blauen Glanz in seinen Augen nicht mehr gesehen. Aber damals war es ein heißes, loderndes Blau gewesen wie das des Himmels am heutigen Tage, nicht bitter, kalt und frostig wie das stählerne Blitzen von Eis in der Sonne. »Nimm sofort die Dinger aus dem Haar! Schämen soll test du dich!« Mit ein paar Schritten war er neben ihr, riß ihr das Büschel aus dem Haar, warf es auf die Erde und trat es mit seinem schweren Absatz in den weichen Erdboden hinein. Bei seinem ungestümen Griff hatte sich eine lange Strähne ihres seidigen Haares gelöst und ringelte sich über ihre Schulter. Sie stand wie angewurzelt und sah ihn mit unnatürlich großen schwarzen Augen an. Kein Tropfen Blut war mehr in ihrem Gesicht. Sein Zorn entsprang der Angst aller ein wenig engherzigen und einfältigen Menschen vor dem Gerede der Leute. Er wußte, Jan Steen würde in ganz High Prairie herumerzählen, daß sich Pervus DeJongs junge Frau rote Radieschen ins Haar gesteckt habe und wie eine leichtfertige Person über die Felder getanzt sei. 129
Selina hatte sich umgedreht und war wie gejagt nach Hause geflohen. Es war ihr erster ernster Streit. Sie konnte tagelang nicht über das Vorgefallene hinwegkommen, so sehr fühlte sie sich verletzt, beschämt, niedergeschlagen. Sie versöhnten sich natürlich wieder. Pervus war zerknirscht und fast untröstlich. Aber ein Stück ihrer Jugend war Selina an diesem Tage verlorengegangen. Den ganzen Winter hindurch litt sie unter ihrer Einsamkeit. Sie empfand ein unstillbares Verlangen nach Gesellschaft. Sie, die Fröhlichkeit und Menschen um sich herum liebte, saß hier in diesem verschneiten Farmhaus begraben, mit einem Mann, der nicht mehr sprach, als unbedingt nötig war. In diesem Winter lernte sie die ganze Trostlosigkeit des Landlebens kennen. Mit Pools kam sie nur selten zusammen; wochenlang sah sie außer Pervus und Jan keine Menschenseele. Im Wohnzimmer war es bitter kalt. Manchmal aber legte sie sich ein Tuch um und schlüpfte hinein, nur um an dem zugefrorenen Fenster zu sitzen und aufzupassen, ob nicht zufällig ein Wagen oder ein Fußgänger vorbeikäme. Sie bemitleidete sich nicht selbst und bereute nicht, was sie getan hatte. Körperlich ging es ihr während ihrer ganzen Schwangerschaft recht gut, und Pervus war liebevoll und aufmerksam, wenn er sie auch nicht immer verstand. Sie kämpfte tapfer, um die kleinen Annehmlichkeiten und Rücksichten des täglichen Lebens aufrechtzuerhalten. Sie liebte das Aufleuchten in Pervus' Augen, wenn sie mit einem hellen Bande oder einem frischen Kragen erschien, obwohl er niemals etwas darüber sagte und sie es sich vielleicht nur einbildete, daß er es merkte. Ein 130
oder zweimal hatte sie die anderthalb Meilen beschwerlichen Fußmarsches auf der glitschigen Landstraße nicht gescheut, war zu Pools gegangen und hatte mit Maartje in ihrer warmen, gemütlichen Küche geplaudert. Es erschien ihr fast unglaublich, daß sie vor wenig mehr als einem Jahr in ihrem modernen braunen Tuchkleid in eben diese Küche gekommen war, ganz durchfroren von der langen Wagenfahrt, aber berstend vor Unternehmungslust, Neugierde und Tatendrang. Und jetzt saß sie hier in derselben Küche und war wirklich und wahrhaftig Frau Pervus DeJong, die Frau eines Gemüsefarmers, und würde in kurzer Zeit ein Kind zur Welt bringen. Wo war das große Wunder geblieben? Wo das Leben, das sie sich erträumt hatte? Wo die Liebe zum Abenteuer, die sie von ihrem Vater geerbt hatte? An die zwei Jahre nach Dirks Geburt dachte Selina später zurück wie an einen Traum, in dem Glück und Entsetzen untrennbar verschmelzen. Dirk war ein fester kleiner Junge, der sich heiter mit sich selbst beschäftigte, wo seine Mutter ihn auch hinsetzen mochte. Er war genauso blond wie sein Vater, hatte aber Selinas Lebhaftigkeit geerbt. Mit zwei Jahren war er ein durchschnittlich entwickeltes, körperlich kräftiges Kind, das stets guter Laune war und fast nie schrie. Er war ein Jahr alt, als Selinas zweites Kind — ein Mädchen - tot zur Welt kam. Pervus hatte seit ihrer Heirat zweimal seine Rheumatismusanfälle gehabt, und zwar jedesmal im Frühjahr, wenn er beim Pflanzen oft bis zu den Knöcheln im Wasser gestanden hatte. Er mußte viel aushaken und war in dieser Zeit so reizbar wie ein verwundeter Stier. Selina wunderte sich nicht mehr, daß halb High Prairie vom Rheumatismus krumm und steif war.
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Während Pervus' Krankheit standen ihnen alle Dorfbewohner bei. Die Männer halfen auf den Feldern, obwohl sie gerade im Frühjahr mit ihren eigenen Saaten alle Hände voll zu tun hatten. Die Frauen schickten allerlei für die Küche. Der hübsche Einspänner der Witwe Paarlenberg hielt beinahe jeden Tag an den Weiden in Pervus DeJongs Hof. Die Paarlenberg, immer noch Witwe, brachte Suppen und Hühner und Kuchen, die Selina nur deshalb nicht in der Kehle stecken blieben, weil sie sie nicht anrührte. Die Witwe Paarlenberg hatte sozusagen ein gutes Herz. Sie war am glücklichsten, wenn es ändern recht schlecht ging. Sobald sie etwas von einer Krankheit oder einem Unglücksfall erfuhr, schlug sie mit dem Schrei »Hilf Himmel« die Hände überm Kopf zusammen und kam den Betroffe nen so schnell wie möglich mit einem Topf kräftiger Suppe zu Hilfe. Sie gehörte zu der Sorte von mitleidigen Frauen, die mit eigenen Augen sehen wollen, wie ihre Wohltaten Früchte tragen. Wenn sie jemandem morgens um zehn Uhr Suppe brachte, so wollte sie auch sehen, wie ihre Suppe aufgegessen wurde. Das Unglück im DeJongschen Haus erfüllte sie mit einer gewissen Befriedigung, die sie freilich unter dem Mantel tiefsten Mitgefühls verbarg. Selina, die nach ihrer zweiten Niederkunft blaß und schwach im Bett lag, hatte dennoch die Kraft, die Krankensuppen der Witwe zurückzuweisen. Frau Paarlenberg kam mit rauschenden Seidenröcken in das bescheidene kleine Schlafzimmer und sah Selina mit Augen an, in denen Mitleid und Schadenfreude heftig miteinander stritten. Selina war nichts als eisig höfliche Ablehnung. »Sie sind sehr freundlich, Frau Paarlenberg, aber ich mache mir nichts aus Suppe.« 132
»Es ist Bouillon von einem ganzen Huhn.« »Gerade Hühnersuppe kann ich nicht essen. Und Per vus ebensowenig. Aber Frau Voorheers wird sich sicher sehr darüber freuen.« Das war Pervus' alte Haushälterin, die vorübergehend zur Aushilfe gekommen war. Es war wirklich kein Wunder, daß das Haus noch im mer nicht angestrichen war, daß die Zäune schief hin gen, daß der Wagen in allen Fugen krachte und das eine Pferd noch immer allein zum Markt trottete. Im dritten Jahre ihrer Ehe ging Selina zum erstenmal mit zur Arbeit aufs Feld. Pervus hatte sich mit Händen und Füßen dagegen gesträubt, obwohl das Gemüse am Boden verdarb. »Laß es meinetwegen verfaulen«, sagte er. »Die DeJongschen Frauen haben niemals auf dem Felde gearbeitet. Nicht einmal in Holland. Meine Mutter nicht und meine Großmutter nicht. Es ist keine Arbeit für Frauen.« Selina war jetzt wieder stark und kräftig, nachdem sie zwei Jahre gekränkelt hatte. Auch ihr Lebensmut war zurückgekehrt, der beste Beweis für ihr körperliches Wohlergehen. Schon lange hatte sie vorausgesehen, daß es eines Tages so kommen würde. Darum gab sie ihm nur kurz zur Antwort: »Unsinn, Pervus. Feldarbeit ist auch nicht anstrengender als Waschen oder Plätten oder Scheuern oder als im August am heißen Ofen stehen. Frauenarbeit! Hausarbeit ist das Schlimmste, was es gibt. Deshalb will ja auch kein Mann etwas davon wissen.« Sie nahm den kleinen Dirk am liebsten mit aufs Feld und setzte ihn im Schatten auf einen Haufen leerer Kartoffelsäcke. Schon nach kurzer Zeit kletterte er jedesmal von diesem bescheidenen Thron herunter und 133
grub und wühlte in dem warmen schwarzen Erdboden. Er wollte sogar schon seiner Mutter helfen und zupfte so lange aus Leibeskräften mit seinen unnützen kleinen Fingern an den eben gesetzten Pflanzen, bis sie nachgaben und er sich mit einem Plumps auf den Boden setzte. »Sieh! Er ist schon ein richtiger kleiner Farmer«, sagte Pervus. Nein, nein! wehrte Selina im stillen ab. Während der ganzen Sommermonate arbeitete Pervus nicht nur von morgens bis abends, sondern auch nachts bei Mondschein, und Selina half ihm. Oft schliefen sie kaum drei oder vier Stunden. So vergingen zwei, drei Jahre - vier. Im vierten Jahr ihrer Ehe verlor Selina ihre einzige Freundin in High Prairie. Maartje Pool starb im Kindbett. Das Kind war tot zur Welt gekommen. »Man kann gar nicht weit genug davonlaufen«, hatte Maartje gesagt. Nun, dieses Mal war sie weit genug gelaufen. Rolf war jetzt sechzehn Jahre alt, Geertje zwölf, Jozina elf. Was sollte nun aus dem Haushalt werden ohne die Frau, die sich ihr ganzes Leben lang für ihn geopfert hatte? Wer sollte die beiden Mädchen in saubere Kleider und Schuhe stecken? Wer sollte begütigend dazwischentreten, wenn Klaas in Wut geriet über das, was er Rolfs »dämliche« Art und Weise nannte, und zu ihm sagen: »Ach Klaas, laß den Jungen endlich in Ruhe. Er tut doch nichts Böses!« Und wer sollte Klaas selbst, diesen rauhen kindlichen Riesen, versorgen? Klaas antwortete auf diese Fragen neun Monate spä ter damit, daß er die Witwe Paarlenberg heiratete. High Prairie stand vor Überraschung kopf. Monate 134
lang war diese Heirat das Tagesgespräch in der ganzen Gegend. Sie machten eine Hochzeitsreise zu den Niagarafällen; Pools Gehöft sollte ausgebaut, das Haus vollständig neu eingerichtet werden; nein, sie zogen in das große Haus der Witwe Paarlenberg (dieser Name blieb ihr für immer); Pool ließ ein Badezimmer einbauen mit einer Wanne aus weißen Kacheln und mit fließendem Wasser; nein, sie kauften die Stikkersche Farm zwischen dem Poolschen und dem Paarlenbergschen Hof und machten eine einzige große Farm daraus, die größte in ganz High Prairie, Low Prairie und NewHaarlem. Ein alter Esel treibt's am schlimmsten. Unter der großen Portion Klatsch, die die High Prairier mit unersättlicher Neugier verschlangen, war die Nachricht von Rolfs Flucht nur ein Körnchen. Selina hatte Bescheid gewußt. Eines Abends um acht, als Pervus in der Stadt war, hatte Rolf geklopft. Er trug seinen besten Anzug, den er zum Begräbnis seiner Mutter bekommen hatte. Er stellte seinen billigen gelben Koffer neben sich auf den Fußboden. »Ach, du bist's, Rolf!« »Ich gehe fort. Ich kann nicht mehr bleiben.« Sie nickte. »Wohin willst du?« »Nur fort. Vielleicht nach Chikago.« Er war sehr bewegt, obwohl er gleichgültig tat. »Gestern abend sind sie nach Hause gekommen. Ich habe noch ein paar Bücher von Ihnen.« Er wollte den Koffer aufmachen. »Nein, nein! Behalte sie!« »Leben Sie wohl.« »Leb wohl, Rolf.« Sie nahm seinen Kopf zwischen beide Hände, hob sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn. Er wandte sich zum Gehen. »Warte noch einen Augenblick, nur einen Augenblick.« 135
Sie besaß etwas Geld - lauter kleine Münzen, alles in allem vielleicht zehn Dollar -, das sie heimlich in einer Büchse auf ihrem Büchergestell aufbewahrte. Sie holte sie hervor. Aber als sie mit der Büchse in der Hand zurückkam, war er schon fort.
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Dirk war acht Jahre alt. Er trug einen Anzug, den ihm seine Mutter aus einem Stück Sackleinwand zusammengenäht hatte, ein blondes, braungebranntes Kerl chen mit Beinen, die von Mückenstichen übersät waren und nie stillstanden. Von einem Träumer hatte er nicht das geringste an sich. Die Schule mit dem einen Klassenzimmer, wie sie Selina noch erlebt hatte, war inzwischen durch ein stattliches zweistöckiges Backsteinhaus ersetzt worden, auf das High Prairie außerordentlich stolz war. Der verrostete alte eiserne Ofen hatte einer Zentralheizung weichen müssen. Dirk ging von Oktober bis Juni in die Schule. Pervus protestierte gegen diesen »Unsinn«, der Junge könne ihm von April bis November auf dem Feld schon zur Hand gehen. Aber Selina kämpfte mit aller Kraft für seinen Schulbesuch und setzte schließlich ihren Willen durch. Ihr Junge sollte kein Gemüsefarmer werden, ausgesogen und zermürbt von der unerbittlichen Arbeit, ein Sklave des Bodens. Sie sprach nicht darüber, aber sie wußte, daß sie sich dagegen wehren würde, solange sie atmete ... wenn die Zeit kam. Selina war inzwischen eine richtige Farmersfrau gewor 136
den. Sie näherte sich den Dreißigern. Die Arbeit hatte sie kleingekriegt, genau wie Maartje Pool auch. Sie stand genau wie jede andere Frau frühmorgens um vier Uhr auf, fuhr aufs Geratewohl in die Kleider, drehte mit zwei schnellen Griffen ihr schönes lockiges Haar zu einem einfachen festen Knoten zusammen und steckte ihn mit einer grauen Haarnadel am Hinterkopf fest. Darauf tauchte sie schnell Gesicht und Hände in kaltes Wasser und stürzte an den Herd. Immer brannte ihr die Arbeit auf den Nägeln, fertig wurde sie nie. Ganze Körbe voll Flickwäsche türmten sich auf und ängstigten sie noch nachts im Traum. Wer sie so sah, hätte glauben können, die alte Selina Peake mit ihrer frohen Laune und ihrer Unternehmungslust sei für immer verschwunden. Und doch war das alles noch da. Sogar das weinrote Kaschmirkleid exi stierte noch, obwohl es längst altmodisch geworden war. Sooft Selina es wieder unter die Hände bekam, strich sie liebkosend über die weichen Falten. Und jedesmal war wie mit einem Zauberschlag Frau Pervus DeJong weggewischt, und an ihrer Stelle stand die neunzehnjährige Selina Peake auf den Zehenspitzen auf einer Seifenkiste im Oomsschen Saal. Sie hatte wohl manch mal flüchtig daran gedacht, das Kleid zu zerschneiden oder es zu färben und sich ein Sonntagskleid daraus zu machen. Aber sie ließ es immer wieder sein. Wie gern würden wir berichten, daß Selina in den acht oder neun Jahren wahre Wunder auf der DeJongschen Farm vollbracht hätte, daß das Haus von oben bis unten in neuer Schönheit erstrahlte, daß das Gemüse wunderbar gedieh und glatte Rinder die Ställe füllten. Aber es entpräche nicht der Wahrheit. Es ließ sich zwar nicht leugnen, daß manches sich geändert hatte, aber 137
das Erreichte stand in keinem Verhältnis zu der aufgewendeten ungeheuren Mühe. Eine weniger hartnäk kige Natur hätte an Selinas Stelle den Kampf längst aufgegeben. Das Haus hatte wirklich einen neuen Anstrich bekommen, bleigrau, weil es so am billigsten war. Und es gab ein zweites Pferd; sie hatten die altersschwache Mähre für fünf Dollar von einem Milchhändler erstanden, der sie sonst für drei Dollar an den Schin der verkauft hätte. Nach einem Monat Ruhe und guter Pflege hatte sich das Tier so weit erholt, daß es kaum wiederzuerkennen war. Selina hatte den Handel abgeschlossen und war dafür von Pervus hart angefahren worden. Jetzt spannte er es mit vor den Marktwagen und stellte fest, daß es besser zog als sein anderes Pferd; aber er nahm sein Urteil nicht zurück. Das meinte er nicht böse. Pervus war nun einmal so. Ihr größter Triumph war die Bebauung des Lehmbodens. Es dauerte Jahre, ehe ihr Plan in bescheidenem Rahmen verwirklicht wurde. Aber wie hatte sie ihrem Mann auch zugesetzt! »Warum pflanzen wir eigentlich keinen Spargel?« »Spargel!« Der reinste Luxus, etwas, womit sich ein High Prairier Gemüsefarmer überhaupt nicht abgab. »Und drei Jahre auf die Ernte warten!« »Ja, dann hätten wir's aber auch geschafft! Und die Plantage trägt zehn Jahre lang, wenn es erst einmal so weit ist!« »Plantage? Was heißt Plantage? Ich habe bisher nur was von Spargelbeeten gehört.« »So machte man's früher. Ich habe darüber nachgelesen. Nach der heutigen Methode pflanzt man Spargel in Reihen, wie Rhabarber oder Korn. Immer sechs Fuß Zwischenraum, möglichst gleich vier Äcker.« 138
»Vier Äcker! Kannst du mir vielleicht verraten, wo? Auf dem Lehmboden?« Er lachte kurz and bitter auf. »Bücherweisheit!« »Jawohl, den Lehmboden meine ich«, sagte Selina spröde. »Bücherweisheit? Meinetwegen! Jeder Farmer in High Prairie baut Kohl, Rüben, Bohnen, Zwiebeln und Erbsen, und zwar bessere als wir. Der Lehmboden bringt dir ohnedies nichts ein, was macht es also aus, selbst wenn ich unrecht habe! Bitte, laß mich mein eigenes Geld hineinstecken, Pervus. Ich habe alles genau durchdacht. Wir legen Entwässerungsröhren. Zunächst nur in fünf oder sechs Äckern. Wir düngen kräftig - so viel wie wir aufbringen können — und bauen fürs erste zwei Jahre Kartoffeln an. Im dritten Frühling setzen wir dieSpargel, einjährige Samenpflanzen. Ich verspreche dir, daß ich die Anlage ganz allein mit Dirk jäte und in Ordnung halte. Dirk ist dann ja schon ein großer Junge.« »Wieviel Dünger?« »Oh, zwanzig bis vierzig Tonnen je Acker -« Er schüttelte widerspenstig den Kopf. »— aber wenn ich Humus nehmen darf, brauche ich lange nicht soviel. Laß es mich doch wenigstens versu chen, Pervus. Laß mich bitte versuchen!« Schließlich ließ er ihr den Willen, denn einmal hatte Pervus viel zuviel mit seiner eigenen Arbeit zu tun, um ihr lange zu widersprechen, zweitens aber war er immer noch, so wenig er es zeigte, in seine lebhafte, kluge Frau verliebt, mochte er auch gegen ihr beständiges Anspornen und Pieken nicht empfindlicher sein als ein Elefant gegen einen Stecknadelstich. Er blieb jahraus, jahrein derselbe und machte alles genauso weiter, wie er es von seinem Vater gelernt hatte. Seine unwandelbare Ruhe 139
und Gleichmäßigkeit konnten Selina fast zur Verzweiflung bringen. Dann stürzte sie auf ihn zu, fuhr mit beiden Händen in seine dicken Haare, die schon mit einzelnen grauen Fäden durchzogen waren, und schüttelte ihn in ohnmächtiger Wut an den Schultern. »Pervus, Pervus! Wenn du doch nur einmal wild werden wolltest! Richtig wild! Toben! Alles kurz und klein schlagen! Prügele mich doch! Verkaufe die Farm! Lauf davon!« »Was ist das nun wieder für ein Blödsinn!« Er sah sie würdevoll-mißbilligend durch eine ganze Wolke von Tabakrauch an und paffte ruhig weiter. Sie arbeitete nicht weniger als jede andere Frau in High Prairie und war auch nicht besser angezogen; Pervus aber sah in ihr immer noch einen Luxus, ein auserlesenes Spielzeug, das er in einem Anfall von Verrücktheit für sich selbst begehrt hatte. »Kleine Lina« nannte er sie nachsichtig, zärtlich. Man hätte sie verwöhnen, sie auf Händen tragen müssen. Sooft sie von moderner Landbewirtschaftung oder von Büchern über Gemüsebau sprach, wurde er ungeduldig, wenn er sich nicht einfach darüber lustig machte. Landwirtschaftliche Kurse an Hochschulen hielt er für Unsinn. Von Linne hatte er in seinem ganzen Leben noch nichts gehört. Kopfsalat war für ihn eine alberne Spielerei. Selina sprach oft davon, Kopfsalat anzubauen und ihn auf dem Markt anzubieten, obwohl doch jedes Kind wußte, daß richtiger Salat Blattsalat war, den man mit Essig und etwas Zucker anmachte oder mit einer Sauce aus zerlassenem Speck. Er warf ihr auch vor, daß sie den Jungen verwöhne. Vielleicht steckte Eifersucht dahinter. »Immer der Junge; immer der Junge«, murmelte er vor sich hin, wenn 140
Selina für Dirk Pläne machte und seine Partei ergriff (nicht immer zu Recht). »Du wirst ein Muttersöhnchen aus ihm machen, wenn du ihn so verhätschelst.« Von Zeit zu Zeit machte er einen Versuch, Dirk abzuhärten. Der Erfolg war meistens kläglich. In einem Fall wäre die Sache beinahe schlimm ausgegangen. Es war in den großen Sommerferien. Der ganze Wald hinter High Prairie schimmerte blau von Heidelbeeren. Überreif hingen sie an den Büschen. Geertje und Jozina wollten Beeren suchen gehen und hatten eingewilligt, Dirk mitzunehmen. Aber die letzten Tomaten auf den Feldern waren ebenfalls reif und mußten gepflückt wer den. Rot und prall hing eine neben der anderen, gute Ware für den Markt in Chikago. Dirk konnte beim Pflücken helfen. So bekam er auf seine Frage: »Kann ich Beeren suchen gehen?« von seinem Vater nur ein Kopfschütteln zur Antwort. »Die Tomaten sind auch reif, mein Junge, und die sind wichtiger als die Heidelbeeren. Bis heute nachmittag um vier müssen sie alle abgenommen sein.« Selina hob den Kopf, sah erst ihren Mann, dann den Jungen an und sagte nichts. Dirk wurde rot vor Enttäuschung. Sie saßen beim Früh stück. Der Tag dämmerte erst. Dirk blickte still auf sei nen Teller; seine Lippen zitterten, und seine langen Augenwimpern lagen schwer auf den Wangen. Pervus stand auf und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. »In deinem Alter war ich froh, wenn ich einen ganzen Tag lang nichts Schwereres zu tun hatte, als Tomaten abzunehmen!« Dirk blickte schnell auf. »Wenn ich damit fertig bin, kann ich dann gehen?« »Du hast daran den ganzen Tag zu tun!« 141
»Aber wenn ich mit dem ganzen Stück fertig bin - und wenn's dann noch Zeit ist, darf ich dann gehen?« Pervus sah in Gedanken das Tomatenfeld vor sich, das schon mehr rot als grün war, so dicht hingen die Früchte an den Stöcken. Er lächelte. »Ja. Du nimmst erst die Tomaten ab, dann kannst du gehen. Aber daß du sie nicht in die Körbe schmeißt und Mus daraus machst!« Selina nahm sich vor, Dirk zu helfen, aber sie würde erst am Nachmittag dazu kommen. Bis zu den Blaubeeren waren es gut drei Meilen. Dirk mußte spätestens um drei Uhr nachmittags fertig sein, wenn er noch hinkommen wollte. Noch vor sechs war er mit fieberhafter Eile an der Arbeit. Die abgenommenen Tomaten stapelte er in kleinen Haufen am Wege. Scharlachrot leuchteten die überreifen Früchte in der Sonne. Das Kind arbeitete wie eine Maschine und vermied ängstlich die kleinste unnötige Bewegung. Unbarmherzig stach die Augustsonne vom wolkenlosen Himmel. Die Haare klebten ihm feucht an der Stirn, Schweiß rann ihm die Wangen herunter, die sich mit jeder Stunde röter färbten. Zum Essen schlang er nur ein paar Bissen hinunter und war sofort wieder draußen in der kochenden Mittagshitze. Selina ließ das Geschirr unabgewaschen auf dem Tisch stehen und wollte ihm helfen, aber Pervus mischte sich ein. »Der Junge soll es allein machen«, beharrte er. »Er kann es nicht, Pervus. Er ist erst acht Jahre!« »Als ich acht Jahre war -« Um drei Uhr war Dirk tatsächlich fertig. Er rannte zum Brunnen und stürzte sich auf das kalte Wasser; er trank zwei Schöpfkellen voll auf einen Zug aus und schlürfte gierig wie ein junges Pferd. Dann goß er sich 142
zwei weitere über seinen heißen Kopf und Nacken, ergriff einen kleinen Eimer für die Beeren und rannte auf der staubigen Landstraße und über die Felder davon. Seine Beine flogen trotz der zitternden Hitzewellen, die zwischen dem glühenden Himmel und der ausgedörrten Erde zu tanzen schienen. Selina stand in der Küchentür und blickte hinter ihm her. Er sah sehr klein und sehr zielbewußt aus. Er fand Geertje und Jozina im Walde auf dem Rücken liegen. Sie konnten sich kaum mehr rühren, soviel Bee ren hatten sie gegessen; Gesicht und Hände waren blau, die Schürzen von Brombeerranken zerrissen. Er pflückte von den dicken blauen Beeren, aber er aß sie ohne rechten Appetit und eigentlich nur aus Prinzip: einmal war er ja dazu hergekommen, und zweitens hatte er den Dickkopf seines Vaters geerbt. Als Geertje und Jozina kaum eine Stunde später nach Hause gehen wollten, hatte er nichts einzuwenden. Er fühlte eine ungewohnte Schwere in allen Gliedern und trottete mühsam dahin. Sein Eimer war nur halb gefüllt. Er fühlte sich schwindlig und übel. Zudem tat ihm der Kopf weh. In dieser Nacht wand er sich in Fieberphantasien, wollte durchaus nicht im Bett bleiben und war dem Tode ge fährlich nahe. Selinas Herz schlug wie ein Hammer. Schrecken, Haß und Todesangst tobten in ihrem Blut. Haß auf ihren Mann, der dem Jungen das angetan hatte. »Du bist schuld! Du ganz allein. Er ist noch ein kleines Kind, und du hast von ihm verlangt, daß er wie ein Mann arbeitet. Wenn er stirbt! Wenn er mir stirbt...« »Wie konnte ich wissen, daß der Junge so eigensinnig ist! Ich habe ihn nicht geheißen, erst Tomaten abzuneh men und dann noch in die Beeren zu gehen. Er fragte
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mich, ob er's dann noch dürfe, und ich sagte ja. Wenn ich nein gesagt hätte, wäre es wahrscheinlich auch nicht richtig gewesen.« »Es ist immer dasselbe. Denke doch nur an Rolf Pool. Aus dem wollten sie auch durchaus einen Farmer machen und haben ihn damit zugrunde gerichtet.« »Du hast deine Ansichten sehr geändert. Früher sprachst du nicht so. Da fandest du die Farmarbeit wundervoll.« »O ja, und ich bleibe auch dabei. Sie könnte wundervoll sein. Sie ... doch wozu jetzt davon reden! Sieh ihn doch an! Nicht doch, Dirk. Nicht doch, mein Liebling! Wie sein Kopf glüht! Horch! Ist das Jan mit dem Doktor? Nein. Noch immer nicht. Senfpflaster, weißt du be stimmt, daß sie das richtige sind?« Damals gab es noch nicht wie heute in jedem Farmhaus Telefon und ein Auto. Es konnten Stunden vergehen, ehe Jan im Dorf anlangte und mit dem Doktor zurück kam ... Aber nach zwei Tagen war der Junge wieder auf den Beinen; noch etwas bleich zwar, aber die Erfah rung schien ihm nicht geschadet zu haben. So war Pervus. Kleinlich und genau wie der ganze Schlag, aber nicht ebenso schlau. Und sparsam an der unrichtigen Stelle. Das war es schließlich auch, was frühzeitig seinen Tod herbeiführte. Während der September in Illinois gewöhnlich eine einzige Kette von goldenen Tagen und neblig schimmernden Abenden ist, war er in diesem Jahre kalt und regnerisch. Der große, kräftige Pervus wurde von Rheumatismusanfällen geplagt. Er war schon über vierzig, aber immer noch ein Riese an Kraft. Ihn leiden zu sehen, zerriß Selina das Herz. Dreimal wöchentlich machte er die mühsame Fahrt zum Markt, 144
denn der September war der letzte Monat für den Gemüsefarmer. Dann kamen schon die ersten Nachtfröste, die nur die härteren Pflanzen überlebten; außer Kohl, Rüben, Mohren und Kürbissen war alles abgeerntet und untergebracht. Die Landstraßen waren ein einziger Morast, so daß die Wagen bis an die Achsen im Schlamm versanken. Saß man erst fest, so blieb einem nichts weiter übrig, als zu warten, bis ein anderes Gespann vorbeikam und einem heraushalf. Pervus brach in diesen Tagen zeitiger auf als sonst und machte meilenweite Umwege, um die schlechtesten Stellen zu vermeiden. Jan war zu dumm, zu alt und viel zu unerfahren, als daß man ihm den Verkauf auf dem Heumarkt hätte anvertrauen können. Selina stand vor der Tür, als Pervus den wackeligen alten Wagen zurechtmachte und alles Gemüse sorgfältig mit Segeltuch zudeckte. Er selber aber war naß, noch ehe er auf den Sitz kletterte. Für ihn schien das wasserdichte Segeltuch nie zu reichen. »Pervus, nimm es gleich von den Säcken fort und lege es dir selber um!« »Da sind die weißen Zwiebeln drin. Die letzten! Ich kann ein schönes Stück Geld dafür kriegen, aber nicht wenn sie durch und durch naß sind.« »Schlafe heute nacht nicht im Wagen, Pervus. Nimm dir ein Zimmer. Für alle Fälle! Das ist keine Verschwendung. Du weißt, das letztemal hast du eine ganze Woche im Bett gelegen.« »Es wird sich aufklären. Siehst du, dort hinten wird's schon wieder ganz hell.« Die Wolken verzogen sich wirklich am Spätnachmittag; die Sonne schien trügerisch und heiß. Pervus schlief draußen im Wagen. Die Nacht war 145
schwül und feucht. Gegen Mitternacht kam ein kalter Seewind auf und trieb Regenwolken vor sich her. Am nächsten Morgen war Pervus durch und durch naß; er klapperte vor Frost und fühlte sich jämmerlich. Er trank um vier Uhr eine Tasse heißen Kaffee und eine zweite um zehn, nachdem der Ansturm auf dem Markt vorbei war. Aber es wurde ihm nicht wohler davon. Nachmittags um drei war er zu Hause. Sein Gesicht schimmerte unter der bronzenen Haut graublaß. Selina brachte ihn ins Bett. Sie packte ihn von Kopf bis Fuß zwischen Wärmflaschen und legte ihm ein heißes, in Flanell gewickeltes Eisen an die Füße. Aber an Stelle des befreienden Schweißausbruches setzte plötzlich starkes Fieber ein. Selbst in seiner Krankheit sah er noch röter und robuster aus als die meisten gesunden Menschen. Selina aber fühlte plötzlich, wie sich ihr Herz in eisigem Entsetzen zusammenkrampfte; lauter schwarze Linien standen ihm, wie mit einem Stichel gezogen, um Augen, Mund und Wangen. Pervus' Kampf gegen die Krankheit war verloren, noch ehe der Wagen des Doktors in den Hof rumpelte, wo er während der ganzen langen Nachtstunden stehenblieb. Damals sah man Lungenentzündung noch als Lungenfieber an und behandelte sie mit einer Schwitzkur bei geschlossenen Fenstern. Gegen Morgen ließ der Doktor sein Pferd von Jan Steen in den Stall bringen. Die Nacht war schwül, es wetterleuchtete am Horizont. »Ich glaube, wenn Sie die Fenster aufmachten«, sagte Selina zu dem alten Doktor, »könnte er besser Luft bekommen. Er atmet so ... er atmet so ... mühsam.« Sie lauschte in verzweifelter Angst auf seine Atemzüge, und jeder der rasselnden Töne zerriß ihr das Herz. 146
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Der Anblick des gefällten Riesen, der majestätisch und fremd in den ungewohnten schwarzen Kleidern im Sarge lag, war vielleicht nicht einmal das Ergreifendste in den folgenden Tagen. Auch nicht der kleine Junge, der doch bei allem Entsetzen die allgemeine Aufregung als erhebend und angenehm erregend empfand. Ebensowe nig die kümmerliche kleine Farm, die im Brennpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit noch mehr in sich zu sammenzuschrumpfen schien. Es war Selina: sie, die Witwe, hatte keine Zeit zum Weinen. Die Farm war da und forderte ihr Recht. Krankheit, Tod, Kummer - der Garten mußte besorgt, die Gemüse mußten herausge nommen, zum Markt gefahren und verkauft werden. Vom Garten hing die Zukunft des Jungen, hing ihre eigene ab. In den ersten Tagen nach dem Begräbnis fuhren benachbarte Farmer den DeJongschen Wagen zum Markt und halfen dem gänzlich verstörten Jan auf den Feldern. Aber jeder hatte mit seiner eigenen Arbeit genug zu tun. Am fünften Tag mußte Jan Steen allein mit dem Gemüse nach Chikago fahren. Selina ahnte nichts Gutes. Aber sie fand ihre schlimmsten Befürchtungen übertroffen, als Jan Steen am näch sten Tage spät zurückkam, den Wagen noch halb voll, mit einer so geringen Einnahme, daß der Reinverdienst gleich Null war. Die verwelkten Überreste des Gemüses kamen auf einen Haufen hinter die Scheune, um später als Dünger verwendet zu werden. »Diesmal ging's nicht so gut«, erklärte Jan, »weil ich keinen richtigen Platz auf dem Markt kriegte.« »Sie sind doch früh genug fortgefahren!« 147
»Ja, aber sie haben mich 'rausgedrängt. Sie haben gleich gemerkt, daß ich zum erstenmal da war, und in der Zeit, wo ich fort war und die Pferde in den Stall brach te, haben sie den Wagen herausgedrängt.« Selina stand in der offenen Küchentür, Jan bei den Pferden im Hof. Sie hatte das Gesicht den Feldern zugewandt; ein aufmerksamerer Beobachter als Jan hätte bemerkt, daß die eigensinnige Kinnlinie sich scharf abzeichnete. »Montag fahre ich selbst.« Jan starrte sie an. »Selbst? Wohin?« »Auf den Markt.« Das konnte doch wohl nur ein Scherz sein. »Auf den Markt!« Sie hatte ihn noch nie so aufgeregt gesehen. »EineFrau geht doch nicht auf denMarkt! EineFrau-« »Diese Frau tut es eben.« Um drei Uhr morgens stand sie am Montag auf und jagte Jan aus dem Bett. Um fünf kam Dirk zu ihnen hinaus aufs Feld. Zu dritt machten sie eine Wagenladung Gemüse aus und banden es zusammen. »Ordnet sie nach der Größe«, befahl Selina, als sie an die Radieschen, Rüben und Mohren kamen. »Und bindet sie nicht zu locker zusammen. Zweimal herum mit dem Strick und durchgeschlungen. Und wir wollen sie gründlich abwaschen.« In High Prairie wusch man das Gemüse nur sehr oberflächlich; meistens auch überhaupt nicht. Selina schrubbte die Mohren unter dem Brunnen ab und fand, daß sie nach dem ungewohnten Bad wie pures Gold glänzten. Jan war wie vor den Kopf geschlagen. Er wollte es einfach nicht glauben, daß sie ihre Worte wahrmachen würde. Eine Frau - eine Farmersfrau aus High Prairie - wollte wie ein Mann zum Markt fahren! Und nachts 148
allein auf dem Markt schlafen oder, was auch nicht viel besser war, in einem der billigen Gasthöfe! Schon am Sonntag war die Nachricht von Selinas unglaublichem Vorhaben überallhin durchgesickert. Ganz High Prairie war in der Kirche und brannte vor Neugierde, Selina zu sehen und zu sprechen. Aber Frau DeJong kam nicht zum Morgengottesdienst. Das waren ja nette Zustände. Und Pervus lag kaum eine Woche unter der Erde! Am Sonntagnachmittag erschien Pfarrer Dekker auf seinem Weg zum Abendgottesdienst bei Selina. »Ich höre von allen Seiten, Frau DeJong, daß Sie auf den Heumarkt fahren wollen. Sie als alleinstehende Frau!« »Dirk fährt mit!« »Sie wissen nicht, was Sie tun, Frau DeJong. Der Heumarkt ist kein Aufenthaltsort für anständige Frauen. Und für das Kind erst recht nicht. Man spielt da Karten, es wird getrunken - nichts als Schlechtigkeit, wohin man sieht. Das Laster lauert auf den Gassen, und die Töcher Jesabels treiben zur Nacht auf dem Markt ihr schamloses Wesen.« »Nicht möglich«, sagte Selina. Es klang aufreizend nach zwölf Jahren auf der Farm. »Sie dürfen nicht fahren.« »Die Gemüse verfaulen im Boden. Und Dirk und ich müssen leben.« »Denken Sie an die Sperlinge auf dem Dach. Es fällt nicht einer zu Boden ohne ... Matthäus X, 29.« »Ich sehe nicht ein«, antwortete Selina schlicht, »was das dem Sperling hilft, wenn er erst einmal unten liegt.« Am Montagnachmittag zwischen vier und fünf, in der Stunde, in der gewöhnlich die Wagen nach Chikago 149
vorbeikamen, bewegten sich die Wohnzimmervorhänge in jedem Farmhaus an der Halsteder Straße, als wäre ein Zugwind in sie hineingefahren. Beim Mittagessen hatte sich auch Klaas Pool über Selinas beabsichtigte Fahrt halb mißbilligend und halb mitleidig geäußert: »Es schickt sich nicht, daß eine Frau zum Markt fährt.« Frau Pool (bei den Leuten hieß sie noch immer die Witwe Paarlenberg) lächelte so süß und falsch wie nur je. »Was hast du denn anderes erwartet? Denke nur dar an, wie sie sich von jeher benommen hat!« Klaas hatte nicht zugehört. Er verfolgte seine eigenen Gedankengänge. »Es ist kaum zu glauben. Als sie hierherkam als Lehrerin, habe ich sie selbst hergefahren. Wie ein Heinzelmännchen hat sie neben mir auf dem Wagen gesessen. Sie sagte - das weiß ich noch, als war' es gestern gewesen -, Kohl sei wunderschön! Jetzt wird sie es bestimmt besser wissen!« Klaas Pool war im Irrtum. Selina hatte offensichtlich in den zwölf Jahren nichts dazugelernt. Sie stand im Hof vor dem hochbeladenen Gemüsewagen und betrachtete ihr Werk mit leuchtenden Augen. Kaum eine Woche war sie Witwe und konnte beim Anblick eines Gemüsewagens strahlen. Sie hatten unter dem Spätgemüse nur das beste ausgesucht und zusammengebunden: die festesten, rötesten Radieschen, die rundesten, saftigsten Rü ben; Mohren von mindestens sieben Zoll Länge, fehlerlos gewölbte grüne Wirsingköpfe, lange saftige Gurken und schneeweiße Blumenkohlköpfe, die sie auf eigene Verantwortung trotz Pervus'Widerstand gepflanzt hatte. Selina trat einen Schritt zurück und betrachtete die Farbenpracht von Hellrot, Grün, Weiß, Gold und Purpur. »Wie wunder-wunderhübsch! Dirk, sieh doch nur, wie hübsch das aussieht!« 150
Dirk, der vor Aufregung über die bevorstehende Fahrt ruhelos herumhüpfte, schüttelte ungeduldig den Kopf. »Was? Ich sehe nichts Wunderhübsches! Was ist wunderhübsch?« Selina breitete die Arme aus. »Der ... der ganze Wagen. Der Kohl.« »Ich weiß nicht, was du meinst«, sagte Dirk. »Komm, Mutter, wir wollen fort. Geht's denn noch nicht los? Du hast gesagt, sobald der Wagen fertig wäre.« »O Sogroß, du bist genau wie dein -« Sie hielt inne. »Wie mein ... wen meinst du?« »Jetzt fahren wir gleich, mein Junge. Jan, hier habe ich Ihnen kaltes Fleisch zum Abendessen hingestellt. Und Kartoffeln, schon geschnitten, Sie brauchen sie nur auf zubraten. Waschen Sie aber das Geschirr gleich ab, daß es nicht schmutzig in der Küche herumsteht. Und sehen Sie zu, daß Sie bis zum Abend die letzten Kürbisse hereinbekommen. Vielleicht kann ich sie gleich im ganzen los werden und brauche sie gar nicht in die Stadt zu fahren. Ich werde sie einem Händler anbieten. Ich gebe sie eben billiger, wenn es nicht anders geht.« Sie zog dem Jungen einen Anzug an, der aus Pervus' Kleidern genäht war. Einen Mantel aus derbem Sackleinen und ein altes schwarzes Umschlagetuch steckte sie zuletzt noch unter den Wagensitz, denn sie wußte, wie wenig man dem Wetter im September trauen durfte. Behend schwang sich Selina in ihrem weiten schwarzen Wollkleid auf den Sitz, ergriff die Zügel, überzeugte sich mit einem raschen Blick, daß Dirk bequem neben ihr Platz gefunden hatte, und trieb die Pferde an. Jan Steen sah ihr sprachlos nach. Selbst als zwanzig Jahre ins Land gegangen waren, pflegte er noch von jenem denkwürdigen Tag zu erzählen, an dem Selina 151
DeJong wie ein Mann zum Markt gefahren sei, mit ei nem ganzen Wagen voll selbstgewaschenem Gemüse und dem kleinen Dirk neben sich auf dem Sitz. Der Anblick war ja auch merkwürdig genug. Alte, wak kelige Gemüsewagen gab es reichlich auf der Halsteder Straße, die schmächtige Frau aber auf dem Wagensitz mit den glänzenden Augen in dem blassen Gesicht, in dem unscheinbaren schwarzen Kleid und mit dem alten zerbeulten Filzhut auf dem Kopf fiel sofort als ungewöhn lich auf. Ihr Gesicht mit den hohen Backenknochen wirkte eher streng als anziehend, denn sie hatte die Haare straff zurückgestrichen, und ein ungenauer Beob achter konnte die feine kleine Nase und die fast unna türlich großen, wundervollen Augen leicht übersehen. Der neunjährige Junge neben ihr mit den Sommer sprossen in dem braungebrannten Gesicht, in dem un förmigen selbstgemachten Anzug hatte die gleichen leuchtenden Augen wie sie. Zu ihren Füßen lag Pom, der Hund, eine merkwürdige Mischung. Er lag und schlief mit gutem Gewissen, denn nachts ließ ihm die Pflicht keine Zeit dazu, weil er auf den Wagen aufzupassen hatte. Schäbig genug sah die kleine Fuhre aus. Selina selbst aber kam sie eher prächtig vor. War es nicht besser, auf der Halsteder Straße in die Stadt zu fahren, anstatt zu Hause im Wohnzimmer die Beileidsbesuche von ganz High Prairie über sich ergehen zu lassen? Je länger sie auf der heißen, staubigen Straße entlangzottelten, um so stärker wallte in ihr ein frohes, erhebendes Gefühl empor. Sie rief sich selbst zur Ordnung: »Selina Peake, schämst du dich denn gar nicht? Du bist eine herzlose Frau. Du kannst dich schon wieder fast freuen, statt traurig zu sein. Der arme Pervus ... die Farm ... Dirk 152
. .. und du kannst froh sein? Schämen solltest du dich!« Aber sie schämte sich nicht und gab es tapfer zu. Und sie dachte daran, wie sie vor mehr als zehn Jahren mit Klaas Pool zum ersten Male diese Landstraße entlang gefahren war und dieselbe freudige Spannung in sich gespürt hatte wie heute, obwohl sie eben erst ihren Vater verloren hatte, obwohl sie ganz allein auf der Welt stand und ihr vor der Fremde und den fremden Menschen graute. »Das Ganze ist weiter nichts als ein großartiges Abenteuer«, hatte Simeon Peake gesagt. Und genau wie damals war sie im Begriff, etwas Unherkömmliches und Gewagtes zu tun, etwas, was die Leute mit Schrecken und Abscheu betrachteten. Auch heute rechnete sie mit sich selbst ab. Die Jugend war dahin, aber Gesundheit und Mut waren ihr geblieben; sie hatte ihren Jungen und fünfundzwanzig Morgen kümmerliches Land. Wohnhaus und Ställe waren nicht in bestem Zustand; ihr Herz aber war noch immer das gleiche unbesiegliche und unternehmungslustige, obwohl es sie seltsame Wege führte und sie sich oft am Ende in einer pfadlosen Wüste wiederfand, aus der sie sich nur mühsam zurücktastete. Aber stets war Kohl für sie wie Jade und Burgunder, wie Chrysopras und Porphyr. Über eine solche Frau hat das Leben keine Macht. Und das weinrote Kaschmirkleid! Sie lachte laut auf. »Worüber lachst du denn, Mami?« Das brachte sie zur Besinnung. »Ach, über nichts, Sogroß. Ich habe gar nicht gemerkt, daß ich gelacht habe.« Weiter ging es die Landstraße entlang. Selina war ernst geworden. Die Begräbniskosten mußten bezahlt werden, der Arzt, Jans Lohn. Sie dachte an die vielen großen und kleinen Ausgaben, die das Leben auf der Farm mit sich brachte. 153
»Dort an der Tür sitzt Frau Pool, Mami. Mit dem Spinnrad.« Tatsächlich, die frühere Witwe Paarlenberg saß vor der Haustür und spann. Sie starrte den knarrenden alten Gemüsewagen an, den Jungen auf seinem hohen Sitz und die ärmlich gekleidete Frau, die das klägliche Gefährt lenkte. Frau Pools Gesicht strahlte vor Freundlichkeit. »Wo wollen Sie denn hin, Frau DeJong, bei dem heißen Wetter?« Selina richtete sich gerade auf. »Nach Bagdad, Frau Pool.« »Nach ... Wo ist das? Was wollen Sie dort?« »Meine Juwelen verkaufen, Frau Pool. Und Aladin besuchen und Harun al Raschid und Ali Baba. Und die vierzig Räuber.« Frau Pool ließ ihr Spinnrad stehen und kam die Stufen herunter. Der Wagen fuhr schon an der Pforte vorbei. Sie machte ein paar Schritte und rief hinter ihm her: »Das habe ich noch nie gehört. Bag ... Wie kommt man denn dahin?« Selina rief über die Schulter zurück: »Man geht so lange geradeaus, bis man an eine verschlossene Tür kommt, dann ruft man: Sesam, öffne dich, und schon ist man da.« Frau Pools Gesicht war starr vor Staunen. Als der Wagen weiterratterte, hatten sie die Rollen vertauscht: jetzt war Frau Pool ernst, und Selina lächelte. Weiter ging die Fahrt. Ab und zu erschien ein Kopf am Fenster, stand eine Frau in der Tür. Frau van der Sijde lehnte in der offenen Gartenpforte und fächelte sich das erhitzte Gesicht mit ihrer Schürze; Cornelia Snip band im Hofe eine herunterhängende Kletterrose hoch und sah dem Gespann neugierig nach. 154
Lauter kalte, feindselige Frauenaugen. Es wurde fünf ... sechs. Dirk kletterte über das Rad hinunter und holte aus einem Brunnen einen Becher "Wasser. Sie aßen und tranken im Weiterfahren, denn sie hatten keine Zeit zu verlieren, Brot und Fleisch und Gurken und kalte Pastete. Der Junge hatte sich den ganzen Tag über trotz Hitze und Staub wacker gehalten. Jetzt wurde er müde. Die Dämmerung brach herein. Plötzliche Kühle überfiel sie vom See her. Nebelschwaden zogen über die Wiesen und ließen die Umrisse der herbstlichen Stoppelfelder verschwimmen, löschten den Staub auf der Landstraße und hüllten Weiden und Häuser in immer dichtere Schleier. Selina strich die Krumen fort, packte die Überreste an Fleisch und Brot sorgfältig in den Korb und legte eine Serviette darüber. Dirk konnte in der Nacht aufwachen und Hunger bekommen. »Müde, Sogroß?« »Nein. Keine Spur.« Dabei fielen ihm die Lider zu. Gesicht und Körper entspannten sich. Die Sonne stand schon tief. An dem westlichen Horizont flammte es noch einmal orangefarben und rot auf, dann erloschen die letzten Strahlen. Die Dämmerung breitete sich aus. Der Kopf des Kindes lag schwer an ihrem Arm. Sie breitete Dirk das alte schwarze Um schlagetuch über die Schultern. Er riß die Augen noch einmal auf und zerrte an der warmen Hülle. »Will das alte Ding nicht ... bin kein Mädchen ...«, schlief mit einem Seufzer wieder ein und kuschelte sich eng an sie. Weiß schimmerte im Zwielicht der Staub auf Busch und Gras. Irgendwo in der Ferne läutete melodisch eine
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Kuhglocke. Pferdehufe klapperten hinter ihnen auf der Straße, ein Wagen fuhr in einer Staubwolke an ihnen vorbei. Neugierige Blicke streiften sie, ab und zu wurde ein Gruß gewechselt. Sie feuerte die Pferde an und wollte es nicht wahrhaben, daß sie plötzlich voller Angst an den weiteren Ver lauf ihres Unternehmens dachte. Lichter flammten in den Häusern zu beiden Seiten des Weges auf, und immer dichter rückten sie aneinander. Sie wickelte die Zügel um die Peitsche, hielt den schlafenden Jungen mit einer Hand fest und langte nach dem Mantel unter dem Sitz. Sie hüllte ihn warm hinein, faltete einen leeren Sack zu einem Kopfkissen zusammen, hob Dirk in die Höhe und legte ihn sanft auf einen Haufen Kartoffelsäcke, unmittelbar hinter das Sitzbrett im Wagen. Er schlief fest und rührte sich nicht. Es war inzwischen vollends Nacht geworden. Langsam knarrte der alte Wagen Chikago zu. Die Gestalt der Frau sank ein wenig in sich zusammen. Wie ein kleiner schwarzer Schatten hockte sie auf ihrem Sitz, ein Tuch um die Schultern. Den schwarzen Filzhut hatte sie abgenommen. Der Abendwind zerzauste ihr das Haar. Sie wandte ihr leuchtend weißes Gesicht dem Himmel zu. Ich werde ruhig mit Sogroß im Wagen schlafen, überlegte sie. Das schadet uns nichts. Auf dem Markt mitten in der Stadt ist es sicherlich warm. Fünfundzwanzig Cent - für uns beide womöglich fünfzig - im Gasthof ausgeben! Fünfzig Cent fürs Übernachten. Wie viele Stunden muß man dafür arbeiten! Sie war jetzt auch müde. Die Nachtluft wehte köstlich weich und beruhigend. Unbestimmt empfand sie den Geruch von Äckern, von taunassem Gras, von feuchtem 156
Staub, von Vieh; Zweige streiften ihr Gesicht, und hin und wieder roch es betäubend nach wildem Phlox. Sie holte tief Atem; ihr Körper und ihr Geist waren in der Dunkelheit von gesteigerter Empfänglichkeit für Töne, Gerüche und selbst Formen. In den letzten Wochen hatte sie viel durchgemacht; wenig geschlafen und nichts gegessen; war zwischen Schrecken, Ratlosigkeit, Todesangst und Kummer hin und her geworfen wor den. Jetzt kam die Entspannung. Sie fühlte eine seltsame Leichtigkeit im Kopf. Die Erschütterungen der letzten Tage hatten wie ein Reinigungsprozeß gewirkt. Ihr Hirn war klar, ihre Empfindungsfähigkeit aufs äußerste geschärft. Sie war wie ein hochempfindliches elektrisches Empfangsgerät, das die feinsten Schwingungen im Äther registriert. Hinter ihr schlief das Kind ruhig und fest auf seinem harten, unbequemen Lager. Die Lichter in den Farmen verlöschten eins nach dem ändern. Dunkelheit ver schluckte die Häuser. Immer näher kamen die Lichter der Stadt. Die fünfunddreißigste Querstraße. Noch anderthalb Stunden bis zum Heumarkt ... Nein, sie hatte keine Angst mehr. Schließlich würde sie das Gemüse so gut wie möglich verkaufen ... Dirk sollte es einmal anders machen als sie. Sie würde dafür sorgen, daß er sich nicht so treiben ließe, sondern sich ein festes Ziel steckte. Für seine Mutter war es nun zu spät... zweiundzwanzigste Querstraße ... zwölfte. Was für eine Menge Menschen ... Und trotz allem Bitteren, was sie erlebt hatte, machte es ihr Spaß. Warum es leugnen? ... Sie mußte ihn nun wecken ... »Dirk, Dirk! Wir sind gleich da. Sieh doch nur die vielen Menschen und die Lichter! Wir sind gleich da.« 157
Der Junge wachte auf, richtete sich halb empor, sah sich um, blinzelte, fiel zurück und rollte sich wie ein Igel zusammen. »Will keine Lichter sehen ... keine Leute ...« Selina lenkte die Pferde durch die Vorstadtstraßen. Sie sah sich aufmerksam um. Andere Wagen ratterten vorüber. Eine ganze Reihe fuhr vor ihr her. Neugierige Blicke streiften sie. Man rief sich gegenseitig an und zeigte mit dem Finger nach ihr hin, aber sie achtete nicht darauf. Nur wollte sie den Jungen jetzt neben sich auf dem Bock haben. »Dirk! Komm, wach auf. Setz dich neben mich!« Verschlafen kletterte er auf den Sitz, gähnte und rieb sich mit den Knöcheln die Augen. »Was machen wir hier?« »Unser Gemüse verkaufen, damit wir Geld bekommen.« »Wozu?« »Damit du in die Schule gehen und lernen kannst.« »Ach! Ich gehe doch schon in die Schule.« »Ich meine eine andere, viel größere.« Er war jetzt ganz wach und sah sich aufmerksam um. Sie bogen in den Heumarkt ein. Ein Getriebe und Getöse von Pferden, Wagen und Menschen. Von Norden her kamen die deutschen Farmer mit ihren Wagen, von Südwesten, wie Selina, die holländischen. Ganze Wagenladungen von Obst und Gemüse, so daß der alte historische Marktplatz bald vollgestopft war. Eine friedliche Armee, die einer großen Stadt zu essen brachte. Hier und in der South-Water-Straße stapelten sich die grünen Gewächse, die Chikagos Millionen zu ihrer Ernährung brauchten. Selina fühlte ein wenig Stolz in dem Bewußtsein, daß auch sie dazu beitrug. Geschickt lenkte sie ihr Gefährt durch die sich stauende 158
Menge. Seit ihrer ersten Fahrt nach Chikago am Anfang ihrer Ehe war sie nicht mehr als etwa zwölfmal mit Pervus in der Stadt gewesen. Aber sie hatte aufgepaßt und wußte genau Bescheid. Ihr schwebte eine bestimmte Stelle vor, wo sie hinstrebte: nämlich mitten hinein in die doppelte Wagenlinie und nahe an die Ecke der einen großen Querstraße. Hier hatten die Gemüsehändler und Kaufleute am leichtesten Zugang zu den Wagen. Hier konnte sie ihre Waren am sichersten an den Mann bringen. Gerade gegenüber lagen Chris Spanknoebels Gastwirtschaft und Logierhaus. Christian kannte Selina; er hatte Pervus von Kind auf gekannt und auch seinen Vater; er würde ihr gewiß zu Hilfe kommen, wenn es nötig sein sollte. Dirk war jetzt völlig wach. Die vielen Lichter, die fremden Menschen, die Pferde, das Stimmengewirr und das Gläserklirren aus den Gasthöfen zu beiden Seiten der Straße waren für ihn ungewohnte und aufregende Eindrücke. Unter den großen Laternen an den Straßenecken standen überall Buden, in denen Schokolade, Zigarren, Kra genknöpfe, Hosenträger, Schuhbänder und allerlei andere kleine Artikel verkauft wurden. Je mehr man sich aus dem Bereich der grellen Laternen entfernte, um so unheimlicher wirkten die Männer in dem Halbdunkel: braungebrannte, derbe Gesichter, das Weiß der Augen sehr hell, die Schnurrbärte tiefschwarz, klobige Schultern. Hier spielten zwei Männer unter einer Laterne Karten, dort schäkerten Mädchen mit einem Polizisten. »Hier ist ein feiner Platz, Mutter! Sieh doch, der Hund auf dem Wagen sieht genau wie Pom aus.« Pom hörte seinen Namen, erhob sich und sah Dirk an. Er wedelte aufgeregt mit dem Schwanz und fing an zu 159
bellen. Pom kannte das Nachtleben auf dem Heumarkt zur Genüge, und doch versetzte es ihn jedesmal wieder in Erregung. Unzählige Male hatte er in Pervus' Abwesenheit auf den Wagen aufgepaßt. Sprungbereit stand er auf dem Sitzbrett und knurrte drohend, sobald jemand ein Radieschen auch nur anzufassen wagte. »Still, Pom! Leg dich!« Selina wollte nicht die Aufmerksamkeit auf sich und den Jungen lenken. Es war noch früh. Sie hatte gute Fahrt gemacht. Pervus war unterwegs meistens ein bißchen eingenickt und hatte die Pferde laufen lassen, wie sie wollten. Selina aber hatte sie angetrieben, so daß sie eine halbe Stunde früher als sonst angekommen waren. Ein Stück weiter erkannte sie schon die Stelle, wo sie hinwollte. Aber von der ent gegengesetzten Seite kam ein anderer Gemüsewagen, offenbar in derselben Absicht. Zum erstenmal während der ganzen Fahrt nahm Selina die Peitsche und zog den beiden erschrockenen Gäulen eins über. Mit einem jähen Ruck setzten sie sich schwer fällig in Galopp. Zehn Sekunden zu spät durchschaute der andere Farmer ihre Absicht. Er nahm die Peitsche und hieb auf seine müden Pferde ein. Aber schon ver sperrte ihm Selinas Wagen den Weg. »Machen Sie gefälligst Platz, Sie -« brüllte er. Dann erst merkte er in der halben Finsternis, daß sein Konkurrent eine Frau war. Er stotterte und starrte sie mit offenem Mund an. Nun versuchte er es auf andere Weise. »Da dürfen Sie nicht hin, Frau.« »O ja, das darf ich wohl.« Ihr Wagen stand bereits. »Jawohl, das dürfen wir!« schrie Dirk herausfordernd. Köpfe tauchten hüben und drüben aus den Wagen her vor. »Wo ist Ihr Mann?« wollte der besiegte Farmer wissen. 160
»Hier«, sagte Selina, die Hand auf Dirks Kopf. Der andere zog die Zügel an. Wahrscheinlich steckte der dazugehörige Mann irgendwo in der Nähe, vielleicht bei Christian Spanknoebel, oder er verhandelte mit einem Bekannten wegen der Marktpreise, anstatt auf seinen Wagen aufzupassen. So nützte er die Abwesenheit ihres natürlichen Beschützers aus und machte seiner Wut Luft. »Frauen haben auf dem Heumarkt nichts zu suchen. Ihnen täte es auch besser, wenn Sie zu nachtschlafender Zeit in Ihrer Küche blieben, wo Sie hingehören!« Gerade das konnte Selina am wenigsten vertragen. Zu oft hatte sie in den vergangenen Tagen dieses gedankenlose Gerede über sich ergehen lassen müssen. Jetzt riß ihr die Geduld. Der deutsche Farmer glaubte seinen Ohren nicht zu trauen, als ihn die kleine Person in dem zerbeulten schwarzen Filzhut unvermittelt anschrie: »Behalten Sie Ihre Weisheit gefälligst für sich, Sie Dummkopf! Soll ich vielleicht in meiner Küche sitzen bleiben und mit dem Jungen zusammen verhungern? Ich muß Geld verdienen! Ich verkaufe hier mein Gemüse, und das geht keinen Menschen etwas an! Machen Sie schleunigst, daß Sie weiterkommen, sonst zeige ich Sie noch an!« Behend kletterte sie vom Wagen herunter, um die Pferde abzuschirren. Wer weiß, was ihr der verdutzte Bauer noch alles zutraute. Obwohl er von der schmächtigen Frau bestimmt nichts zu fürchten hatte, nahm er die Zügel und machte sich aus dem Staube. »Teufel! Das ist ein Weib!« Und schon war er in der Dunkelheit verschwunden. Selina beeilte sich. »Du bleibst mit Pom hier, Dirk. Mutter ist gleich wieder da.« Sie trieb die Pferde vor 161
sich her zum Stall, wo sie für fünfundzwanzig Cent untergebracht wurden. Als sie zurückkam, fand sie Dirk in eifriger Unterhaltung mit zwei Frauen. Sie waren noch jung, hatten rote Blusen an und lang schleppende karierte Röcke. Auf ihrer modischen hohen Frisur saß schief und kokett ein Matrosenhut. »Komm weiter«, sagte die eine. »Es ist schon nach neun und noch kein -« sie wandte sich um und sah gerade in Selinas weißes Gesicht. »Da ist meine Mutter«, rief Dirk triumphierend. Die drei Frauen betrachteten einander stillschweigend. Die zwei sahen den abgeschabten Filzhut und das altmodische Kleid und wußten Bescheid. Selina sah die roten Blusen und die geschminkten roten Lippen - und wußte auch Bescheid. »Wir haben nur ein bißchen mit dem Kleinen geschwatzt«, sagte das eine Mädchen, als müsse sie sich verteidigen. »Wir wollten nur wissen, wie er heißt und so.« »Er heißt Dirk«, sagte Selina freundlich. »Es ist ein niederländischer Name - stammt aus Holland. Wir kommen aus High Prairie. Ich bin Frau DeJong.« »So«, sagte das andere Mädchen. »Ich heiße Elsie. Und ich bin aus Chelsea. Los, Mabel. Schwatz nicht soviel.« Sie war blond und laut. Die andere war älter und dunkel und sah keineswegs verdorben aus. Sie musterte Selina eingehend. Aus dem Wagen nebenan kamen kräftige Schnarchtöne. Weiter unten stritten sich Männer beim Würfelspiel. »Was machen Sie hier?« »Ich will morgen früh hier mein Gemüse verkaufen.« Mabels Verstand arbeitete etwas langsam. »Und wo ist Ihr Mann?« 162
»Mein Mann ist vor acht Tagen gestorben.« Selina begann ihr Lager für die Nacht zurechtzumachen. Sie zog einen Sack voll Heu unterm Sitz hervor und schüttete ihn vorn im Wagen aus, nachdem sie das Sitzbrett her untergenommen und als Kopfkeil gegen die eine Wagenseite gelehnt hatte. Über das Heu legte sie ein paar alte Säcke. Der große wollene Schal sollte als Decke dienen. Mabel beobachtete diese Vorbereitungen aufmerksam. Allmählich glomm Verständnis in ihren Augen auf. Und Schrecken. »Sagen Sie, Sie wollen doch nicht etwa mit dem Kleinen hier draußen schlafen?« »Doch.« »Was! Um alles . . .« Ihre Augen wurden rund und starr. Sie wandte sich zum Gehen, kam zurück. An ihrem flott nach unten gezogenen Gürtel baumelte ein ganzes Arsenal von kleinen metallenen Gegenständen: eine Börse, ein Bleistift, ein Spiegel und ein Taschenkamm. Sie öffnete die Börse, nahm einen Silberdollar heraus und reichte ihn mit einer beinahe schroffen Bewegung Selina hin. »Hier, stecken Sie den Kleinen in ein anständiges Bett. Und sich selber auch.« Selina starrte die runde, glänzende Silbermünze an. Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Das macht uns gar nichts aus, hier draußen zu schlafen. Aber ich danke Ihnen wirklich sehr für Ihre Freundlichkeit- Mabel.« Das Mädchen steckte den Dollar verlegen wieder ein. »Na ja, es gibt so'ne und so'ne. Ich dachte immer, mir ginge es dreckig, aber wenn ich Sie dagegen sehe, hab' ich's gar nicht mal so schlecht. Ein Bett zum Schlafen hab' ich immer noch, wenn's auch . . . na, gute Nacht. Nun hör' einer bloß diese Elsie an, was die ruft! Ich komme ja schon! Mach nicht so'n Krach!« 163
Beide entfernten sich lachend und schwatzend Arm in Arm. »Komm, Dirk!« »Schlafen wir hier?« Dirk strahlte. »Jawohl, mein Herz. Wie zwei Handwerksburschen im Heu.« Das Kind legte sich hin, strampelnd vor Vergnügen. »Wie die Zigeuner. Gelt, Mami?« Sie legte sich neben ihn. Er war viel zu aufgeregt zum Schlafen. »Die Mabel gefiel mir besser. Sie war die net teste, nicht?« »O ja, sehr nett«, sagte Selina, legte den Arm um ihn und zog ihn dicht an sich. Und plötzlich hörte sie ihn tief und ruhig atmen — er war eingeschlafen. Es wurde stiller auf der Straße. Gespräche und Geläch ter verstummten. Bei Christian Spanknoebel erlosch ein Licht nach dem anderen. Hin und wieder verrieten Hufeklappern und Räderrollen die Ankunft eines ver späteten Farmers, der irgendwo noch ein Plätzchen suchte. Es war angenehm kühl, nicht kalt. Über ihnen, zwi schen den Backsteinhäusern, war ein breiter Streifen Himmel zu sehen. Zwei Männer kamen laut singend vorbei. »Mund halten«, schrie es aus einem Wagen. Der Gesang verstummte. Es mußte zehn Uhr sein oder vielleicht später. Selina hatte Pervus' alte Nickeluhr bei sich, aber sie konnte das Zifferblatt nicht erkennen und wollte kein Streichholz opfern. Regelmäßige Schritte kamen und gingen: die nächtliche Polizeistreife. Sie lag und sah mit trockenen Augen zum Nachthimmel auf; Tränen hatte sie nicht mehr. Sie dachte: Da liege ich, Selina Peake, und schlafe in einem Wagen im Stroh, wie ein Muttertier mit seinem Jungen. Und habe
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doch einmal von seidenen Decken und spitzenbesetzten Kopfkissen geträumt. Jetzt habe ich Männerstiefel an den Füßen und trage ein selbstgefärbtes Kleid . . . Wie lang, wie lang ist es noch bis morgen früh . . . Ich muß versuchen einzuschlafen . . . Ich muß versuchen einzuschlafen .. . Sie schlief wirklich ein. Die Sterne schienen blinkend auf sie herab. Wie sie so schlafend da lag, ihr Kind im Arm, kam Friede in ihr angespanntes Gesicht, und die müden Glieder lösten sich.
II
Um drei Uhr früh wachte Selina auf. Es war noch stockfinster, aber auf den Straßen wurde es schon lebendig. Sie klopfte das Heu von ihrem Rock und säuberte sich, so gut es ging. Dirk ließ sie ruhig weiterschlafen und befahl Pom, den Wagen zu bewachen. Dann ging sie über die Straße zu Christian Spanknoebels Gastwirtschaft. Christian würde gewiß nichts dagegen haben, daß sie sich unterm Wasserhahn Gesicht und Hände abspülte. Auch wollte sie gern für sich und Dirk eine Tasse heißen Kaffee zur Belebung kaufen. Butterbrote waren noch vom vorhergehenden Abend übrig. Christian Spanknoebel stand wohlbeleibt und freundlich lächelnd hinter seinem Büfett und wischte die Platte mit einem Tuch ab. Im Nu war der Tisch trocken und funkelte vor Sauberkeit. Später durfte Dirk bisweilen dieses Geschäft übernehmen — worauf er nicht wenig stolz war. Christian Spanknoebel schien niemals zu 165
schlafen. Trotzdem war sein Gesicht stets rosig und seine blauen Augen blitzblank. Noch der letzte Farmer, der spät in der Nacht hereinkam und eine Tasse Kaffee, ein Glas Bier oder ein Butterbrot haben wollte, fand Christian, so wie jetzt, in seiner weißen Schürze mit rosa Bäckchen hinter dem Schenktisch stehend und mit seinem Tuch über die blitzblanke Platte wischend. Als Selina den langgestreckten Raum betrat, empfand sie den Anblick Christians als beruhigend und ermutigend. Von der Küche im Hintergrund her hörte man es vielversprechend zischen und brutzeln, auch roch es köstlich nach Kaffee, gebratenem Fleisch und Kartoffeln. Die Männer vom Markt saßen bereits zum Frühstück an den Tischen, tranken dampfenden Kaffee und verzehrten eilig ungeheure Portionen: dicke Schinkenenden, hartgekochte Eier, Bratkartoffeln und riesige Brotscheiben, die sie reichlich mit Butter bestrichen. Selina ging auf Christian zu. Wie die Sonne aus dem Nebel, so leuchtete sein rotes rundes Gesicht aus dem Tabakrauch. »Na, wie geht's denn immer?« Erst jetzt erkannte er sie. »Ach, das ist ja Frau DeJong!« Er wischte sorgfältig seine Hand an einem Tuch ab und streckte sie teilnehmend der Witwe entgegen. »Ich habe es gehört«, murmelte er, »ich habe es gehört.« »Wir sind mit dem Wagen hier, Herr Spanknoebel. Mein Junge und ich. Er schläft noch. Darf ich ihn wohl hier bei Ihnen ein bißchen waschen, ehe wir frühstücken?« »Aber selbstverständlich!« Dann, mit ungläubigem Staunen: »Sie haben doch nicht etwa im Wagen geschla fen, Frau DeJong? Um Gottes willen!« »Doch. Es ging ganz gut. Der Junge hat die ganze Nacht geschlafen, und ich habe ein bißchen geduselt.«
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»Warum sind Sie nicht hereingekommen? Warum -« Er sah Selina ins Gesicht und wußte den Grund. »Sie hätten mit dem Jungen umsonst hier schlafen können.« »Das wußte ich. Deshalb bin ich nicht gekommen.« »Reden Sie keinen Unsinn, Frau DeJong. Die Hälfte der Zimmer steht sowieso leer. Sie hätten mir für sich und den Jungen meinetwegen zwanzig Cent geben können und nicht gleich zu bezahlen brauchen, sondern wenn es mal gepaßt hätte. Aber Sie wollen doch wohl nicht regelmäßig zum Markt kommen? Das ist nichts für Frauen!« »Es bleibt mir nichts anderes übrig. Ich könnte höchstens Jan schicken, aber dann könnten wir auch gleich ganz zu Hause bleiben. Im September und Oktober, denke ich, werde ich fahren. Später vielleicht -« Ihre Stimme brach plötzlich ab. Es ist nicht so einfach, mor gens früh um drei Uhr mit nüchternem Magen hoffnungsfroh in die Zukunft zu blicken. Sie wusch und kämmte sich in dem kleinen Waschraum und fühlte sich sofort um vieles besser. Als sie zum Wagen zurückkam, fand sie Dirk in heller Verzweiflung. Er war aufgewacht, und seine Mutter war verschwunden! Eine Viertelstunde später saßen sie beide an einem Tisch, auf dem aufgetragen war, was Christian Spanknoebel als angemessenes Frühstück betrachtete. Ein verheißungsvoller Anfang für den Tag, aber ein trüge rischer. Denn die Käufer wollten Selina DeJongs Gemüse nicht haben. Von Frauen kaufte man nicht, man verkaufte nur an sie. Gemüsehändler und kleine Kaufleute kamen scharenweise um vier Uhr früh auf den Markt, Griechen, Italiener. Sie kauften mit allen erdenklichen Listen und Schlichen und betrogen, wo sie konnten. Sie ver 167
tauschten die Tomatenkisten, sobald man den Rücken drehte, oder stahlen einen Kopf Blumenkohl. Es fehlte an Aufsicht und an einer strengen Regelung. Selina hatte die Decken von den Gemüsekörben heruntergenommen. Frisch und farbig kam der Inhalt zum Vorschein. Aber sie wußte, wie entscheidend es war, das Gemüse schnell an den Mann zu bringen. Sobald die Blätter welkten, sobald die Ränder der Blumenkohlköpfe sich krausten und braun und schlaff wurden, sank ihr Wert sofort auf die Hälfte, mochten die Köpfe auch noch so weiß und fest sein. Die Käufer gingen von Wagen zu Wagen; schwarzäugige fette kleine Gestalten, Männer in Hemdsärmeln und Schurzfellen, Kautabak im Munde; derbe, rote holländische Köpfe; schmale dunkle fremdländische Gesichter. Lärm, Geschrei, Durcheinander. »He! Nehmen Sie gefälligst Ihren Gaul da fort! Donnerwetter noch eins!« »Was soll der ganze Zentner kosten?« »Haben Sie Bohnen? Nee, Blumenkohl will ich keinen. Bohnen!« »Taugt nichts!« »Behalten Sie sie. Ich will sie nicht haben.« »Einen Vierteldollar für den Sack.« »Was! Das sind keine Fünf-Pfund-Köpfe. Ich will mich hängen lassen, wenn die mehr als vier wiegen.« »Geben Sie meinetwegen fünf Bund her.« Lebensmittel für Millionen Menschen, in Wagen aufgehäuft und zwischen den Rädern und Pferdehufen verstreut. Barfüßige Kinder mit Körben sammeln das heruntergefallene Gemüse vom Pflaster auf. Eine ausge mergelte Frau wühlt im Straßenschmutz nach verlorenen Kartoffeln, Zwiebeln und Äpfeln. Zu niedrigen 168
Preisen kauft eine dicke Person leicht angewelkte Mohren, Petersilie, Rüben und Bohnen, macht kleine Bün del daraus und veräußert sie als Suppengrün an die Händler weiter. Die Sonne ging rot am Horizont auf. Der Tag würde feucht und warm werden. Man mußte zusehen, daß man sein Gemüse schnell los wurde. Am Nachmittag würde es nichts mehr wert sein. Selina stand neben ihrem Wagen. In ihrer Nähe sah sie die bekannten Gesichter von einem halben Dutzend Far mern aus High Prairie. Sie riefen ihr zu oder kamen einen Augenblick herüber und maßen ihre Waren mit prüfenden Blicken. »Na, Frau DeJong, wie geht's? Hübsches Gemüse haben Sie! Halten Sie sich dran, daß Sie's bald verkaufen! Es wird verteufelt heiß heute!« ihr Ton war freundlich und doch mißbilligend. Ihr Blick sagte: Kein Ort für eine Frau. Die Händler betrachteten neugierig ihre Gemüsebündel, aber sie gingen weiter. Nicht aus Unfreundlichkeit, son dern aus einer gewissen Scheu vor dem Ungewohnten. Sie sahen sehr wohl ihr blasses Gesicht mit den großen, dunkel umschatteten Augen, die zierliche Gestalt in dem einfachen schwarzen Kleid, die angstvoll zusam mengepreßten Hände; das Gemüse der Frau war bestechend schön - aber sie gingen vorüber in einer in stinktiven Abneigung gegen das Außergewöhnliche. Es wurde neun, und das Geschäft ließ nach. Verzweifelt rechnete Selina aus, daß sie für kaum zwei Dollar verkauft hatte. Wenn sie bis Mittag stehenblieb, konnte sie die Summe vielleicht verdoppeln, mehr aber schlug sie auf keinen Fall heraus. So schirrte sie die Pferde an, lenkte sie vorsichtig aus dem Getriebe des Heumarktes hinaus 169
und schlug die Richtung nach der South-Water-Straße im Osten Chikagos ein. Dort lagen die Kommissionsgeschäfte. Allenthalben versperrten ebensolche hochbeladenen Wagen und Karren den Weg, aber man handelte in ganz anderem Maßstab. Sie wußte, daß Pervus hier oft seine ganze Fuhre einem Händler in Kommis sion überlassen hatte. Auch der Name - Talcott - fiel ihr wieder ein; es konnte nicht schwer sein, ihn zu finden. »Wo fahren wir denn jetzt hin, Mami?« Der Junge war bisher bemerkenswert brav und geduldig gewesen. Er hatte die überwältigenden Eindrücke der ungewohnten Umgebung mit der Anpassungsfähigkeit des Kindes in sich aufgenommen. Tapfer hatte er neben seiner Mutter am Wagen gestanden und ihr bei ihrem kläglich geringen Verkauf geholfen; er hatte die welken Blätter abgezupft und die schönsten und frischesten Gemüse herausgesucht. Aber genau wie das Gemüse hinten im Wagen unter der Hitze und der Trennung vom heimatlichen Boden zu leiden hatte, so ließ auch Dirk den Kopf jetzt hängen. »In eine andere Straße, Sogroß -« »Dirk!« »— Dirk, zu einem Mann, der vielleicht unser ganzes Gemüse auf einmal kauft. Wäre das nicht fein? Dann fahren wir sofort nach Hause. Komm, hilf mir den Namen auf dem Ladenschild suchen. Talcott . . . T-a-1c-o-t-t-.« Die South-Water-Straße hatte ihren Charakter mit dem Wachstum der Stadt geändert. Früher hatte man lauter amerikanische Namen gesehen: Flint - Keen - Rusk Lane. Jetzt fand man statt dessen Cuneo - Meleges Garibaldi - Campagna. Und da stand es auch schon: »William Talcott. Obst und Gemüse«. 170
Von der kühlen Toreinfahrt zu seinem großen, hallenartigen Lager aus beobachtete William Talcott das fieberhafte Gedränge auf der Straße. Er war die Ruhe selbst. Vierzig Jahre arbeitete er schon im Proviantgeschäft. Er trug das unerschütterliche Benehmen eines Mannes zur Schau, der weiß, daß die Welt braucht, was er zu verkaufen hat. An jedem Wochentag türmten sich in seinen Kellergewölben schon morgens um sechs ganze Berge von Säcken, Körben, Kisten und Tonnen, aus denen grüne Blätter herauslugten, scharlachrote Tomaten oder tiefgelbe Gurken. Er kaufte nur das Beste ein und verkaufte es zu den höchsten Preisen weiter. Er hatte Pervus gekannt und seinen Vater und sie als rechtschaffene Männer geschätzt. Von ihrem Gemüse freilich war er weniger entzückt gewesen. Die Schleppkähne vom Michigansee brachten ihm täglich auserlesene Pfirsiche und Trauben; riesengroße Lastwagen kamen mit eisgekühlten Früchten und Gemüse aus Kalifornien für diejenigen Käufer, die sich den Luxus von frischen Erdbeeren und Ananas zu jeder Jahreszeit leisten konnten. Talcott trug schwarzweißkarierte Hosen; seine weißen Hemdsärmel stachen von den blauen Hemden und Overalls der anderen Männer auffallend ab. Eine dicke goldene Uhrkette spannte sich über seine behäbige Mitte. Eine erstklassige Zigarre hing unangezündet in seinem Mundwinkel. Er hatte scharfe blaue Augen und nur wenig Haare, ungefähr von der Farbe seines Anzuges. Feist und schweigsam wie ein chinesischer Buddha stand er in der Toreinfahrt und prüfte die Früchte der Erde, die die Händler ihm anboten. »Ausgeschlossen, Jakob. Keine Verwendung. Hm! Na - nimm die lieber wieder mit, Tunis. Die Blätter sehen schon braun aus. Welkes Zeug.«
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Chikagos erste Hotels schickten ihre Küchenchefs zu William Talcott zum Einkaufen. Zu ihm kamen die Händler, die ihre Waren an die reichen Familien im Norden und in der Umgebung der Prairie Avenue im Süden der Stadt weiterverkauften. Jetzt entdeckte er die schmächtige Gestalt in verschossenem Schwarz mit den großen eingesunkenen Augen in dem überanstrengten Gesicht. »DeJong? Habe mit Bedauern von Ihrem Verlust ge hört. Pervus war ein Prachtkerl, wenn er auch nicht besonders viel vom Gemüsebau verstand. Also Sie sind die Witwe? Hm.« Er sah sofort, daß er keine einfältige Bauersfrau vor sich hatte. Höflich kam er an ihren Wagen und kniff Dirk in die Wange. »Tja, Frau DeJong, da haben Sie ja einen ordentlichen Wagen voll Gemüse, und es sieht recht hübsch aus. Nichts dagegen zu sagen. Sie kommen nur zu spät! Es ist schon bald zehn!« »O nein!« rief Selina. »O nein! Nicht zu spät!« In ihrer Stimme lag soviel Verzweiflung, daß er sie scharf ansah. »Ich werde Ihnen etwas sagen: vielleicht kann ich die Hälfte davon für Sie loswerden. Gemüse hält sich bloß nicht bei dem Wetter. Wird gleich welk und bleibt liegen . . . Zum ersten Male hier, was?« Sie fuhr sich übers Gesicht. Es war feucht und eisig kalt. »Zum ersten Male.« Sie konnte plötzlich kaum Atem holen. Er rief in den Lagerraum hinein: »George! Ben! Bringt mal das Zeug hier 'rein! Die Hälfte! Sucht das Beste aus! Ich schicke Ihnen gleich morgen einen Scheck, Frau DeJong. Sie haben einen schlechten Tag erwischt für Ihre erste Fahrt!« 172
»Sie meinen, es ist zu heiß?« »Ja, heiß ist es auch. Aber ich meine, an so einem Feier tag wie heute kauft kein Grünkramhändler viel ein.« »Feiertag?« »Ja, Sie wußten doch, daß heute ein jüdischer Feiertag ist? Nein? Ja, du lieber Himmel! Der ungünstigste Tag im ganzen Jahr. Alle jüdischen Händler stecken heute in der Kirche, und ihre Kunden haben schon am Sonn abend für zwei Tage eingekauft. Die ganzen Geflügel läden unten in der Straße haben sie leergekauft. Die Juden essen doch das meiste Geflügel auf der ganzen Welt! . . . Tja . . . Sie fahren am allerbesten gleich nach Hause und werfen den Rest auf den Mist, meine gute Frau DeJong.« Selina legte eine Hand auf den Sitz und machte Miene, wieder auf den Bock zu steigen. Der eine Fuß in dem lächerlichen alten Männerstiefel stand bereits auf dem Rade. »Wenn Sie mein Gemüse nur kaufen, weil ich Ihnen leid tue -« Der Peakesche Stolz. »Geschäft ist Geschäft. Kann ich mir nicht leisten. Meine Tochter studiert Gesang. Augenblicklich ist sie in Italien und kostet mich ein Heidengeld. Alles, was ich zusam menkratze, verbraucht Karoline.« Die Farbe kehrte in Selinas Wangen zurück. »Italien! O Mr. Talcott!« Soviel Entzücken stand in ihrem Gesicht, als wäre sie selbst wer weiß wie oft dort gewesen. Dann bedankte sie sich bei Talcott. »Nichts zu danken, Frau DeJong. Ich sehe, daß Sie das Zeug auf besondere Art zusammengebunden haben, al les nach Größe. Wollen Sie es weiter so machen?« »Ja. Ich dachte . . . es sähe so hübscher aus . .. natürlich brauchen Gemüse ja eigentlich nicht hübsch auszusehen -« sie brach verlegen ab.
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»Madien Sie es nur weiter so zurecht, und bringen Sie es gleich zu mir, oder schicken Sie es mir. Meine Kundschaft verlangt etwas Besonderes. Jawohl.« Als sie davonfuhr, sah sie ihn wieder kühl und unbeweglich im Torweg stehen, die unangezündete Zigarre im Mundwinkel. Um ihn herum türmten sich Fässer und Kisten, Wagen ratterten dröhnend vorbei, alles schrie und rief durcheinander. »Fahren wir jetzt nach Hause?« fragte Dirk. »Ich habe Hunger!« »Ja, mein Herz.« Zwei Dollar in der Tasche! Dafür all die Plackerei gestern und heute und die monatelange Arbeit vorher. ZweiDollar! »Wir kaufen uns unterwegs etwas zu essen. Milch und Brot und Käse.« Die Sonne stach unbarmherzig. Sie nahm seine Mütze herunter und strich ihm mit der zarten, verarbeiteten Hand das feuchte Haar aus der Stirn. »Na, war das nicht fein?« sagte sie. »Ein richtiges Abenteuer! Denk nur an all die freundlichen Menschen, die wir getroffen haben! Herrn Spanknoebel und Herrn Talcott -« »Und Mabel.« Zögernd: »Und Mabel.« Plötzlich hätte sie ihn küssen mögen, aber sie wußte, daß er Zärtlichkeiten verabscheute. Der Junge in ihm und das holländische Erbteil wehrten sich dagegen. Sie entschloß sich, noch in den Osten und dann in den Süden der Stadt zu fahren. Pervus hatte manchmal ganz zuletzt in den abgelegenen Läden Glück gehabt. Jans Gesicht, wenn sie mit dem halben Wagen voll Gemüse nach Hause kam! Und was sollte aus den unbezahlten Rechnungen werden? Sie besaß alles in allem vielleicht dreißig Dollar. Und schuldete vierhundert 174
oder noch mehr. Pervus hatte im April Stecklinge gekauft, die im Herbst bezahlt werden mußten. Und es war schon Herbst. Furcht überfiel sie. Sie suchte sich damit zu beruhigen, daß sie müde und nervös sei. Die aufregende Woche, die hinter ihr lag. Und dazu der heutige Mißerfolg. Die fürchterliche Hitze. Bald würden sie zu Hause sein. Wie kühl und still es dort sein mußte! Sehnsüchtig dachte sie an ihre Küche, an ihr sauberes kleines Schlafzimmer mit dem schwarzen Nußbaumbett, an das Sofa im Wohnzimmer mit dem zerknitterten Kattunbezug. Es schien Jahre her, seit sie das alles gesehen hatte. Dort war Trost und Frieden ... Keine Arbeit für eine Frau. Vielleicht hatten sie recht. Sie fuhren die Wabash-Allee entlang. Über ihre Köpfe hinweg donnerten die Züge. Die Pferde, schon vorher scheu geworden von dem ungewohnten Lärm, bäumten sich und waren zu keiner ruhigen Gangart mehr zu bewegen. Der wackelige Farmwagen paßte schlecht in diese Umgebung von Läden, Straßenbahnen, Droschken, Autos, Lastwagen und Fahrrädern. Die Hitze wurde von Stunde zu Stunde unerträglicher. Dirk sah mit großen Augen um sich. »Bald haben wir's geschafft. Hier ist die Prairie-Allee. Große schöne Häuser mit Rasenplätzen davor. Und so schön ruhig.« Sie brachte sogar ein Lächeln zustande. »Zu Hause gefällt mir's besser.« Sie kannte Gemüsehandlungen in der Nähe der 18. Querstraße und von da an beinahe an jeder Straßenecke. Die großen Steinhäuser zu beiden Seiten stammten fast durchweg aus den neunziger Jahren und sahen sich auffallend ähnlich; fast alle hatten die gleichen Türmchen und Giebel, Säulen und Kuppeln, Gewächshäuser, 175
Erker und Bogenfenster. Hier wohnten die reich ge wordenen ehemaligen Schlächter, Getreidehändler und Warenhausbesitzer. Sie hatten mit den Erzeugnissen Handel getrieben, die die Bevölkerung der Riesenstadt am nötigsten brauchte. Gerade wie ich, dachte Selina voller Galgenhumor. Dann kam ihr ein neuer Einfall. Ihr Gemüse war unter den schützenden Segeltuchdecken frischer als das auf den benachbarten Märkten. Warum sollte sie nicht den Versuch machen, wenigstens einen Teil davon in den großen Häusern zu verkaufen? Vielleicht könnte sie in einer Stunde ein paar Dollar verdienen, wenn sie Klein verkaufspreise nahm, die immer noch ein wenig hinter den Preisen der benachbarten Gemüsehandlungen zurückblieben. An der 24. Querstraße machte sie halt, sprang behend herunter und warf Dirk die Zügel zu. Die Pferde dach ten ebensowenig ans Fortlaufen wie ihre hölzernen Kol legen auf einem Karussell. Sie füllte einen Korb mit dem schönsten und frischesten Gemüse, hob ihn auf den Arm und besah sich das Haus, vor dem sie stand. Es war aus braunem Sandstein, hatte vier Etagen und eine häßliche steile Freitreppe. Unter den Stufen befand sich ein besonderer Eingang: Für Lieferanten. Sie wußte, daß es einen zweiten Eingang zur Küche, an der Rückseite des Hauses, gab, aber den wollte sie nicht benutzen. So stieg sie kurz entschlossen die paar Stufen zum Erdgeschoß hinab. Man brauchte nur an der Klingel zu ziehen, dann läutete es drinnen im Flur. Selinas Hand lag am Klingelknopf. Zieh, sagte sie sich voller Ver zweiflung. - Ich kann nicht, ich kann nicht, schrie das Peakesche Blut in ihr. - Schön. Dann verhungere und laß Dirk und die Farm im Stich. 176
Endlich packte sie zu und zog an dem Knopf. Schritte näherten sich in der Halle. Die Tür ging auf, und es erschien eine derbknochige Frau in einer Arbeits schürze. »Guten Morgen«, sagte Selina. »Brauchen Sie frisches Gemüse?« »Nein.« Sie hatte die Tür schon halb wieder zugemacht. Dann öffnete sie sie wieder und fragte: »Haben Sie frische Eier oder Butter?« Selina verneinte; die Tür fiel ins Schloß, der Riegel wurde vorgeschoben. Drinnen entfernten sich schwere Fußtritte in der Richtung nach der Küche. Das war in Ordnung; nichts Erschreckendes dabei. Sie brauchten eben kein Gemüse. Also weiter, ins nächste Haus. Und ins übernächste. Auf der einen Seite der Straße hinauf und auf der anderen herunter. Viermal konnte sie ihren Korb frisch füllen. In einem Haus verkaufte sie Gemüse für einen Vierteldollar. In einem anderen für fünfzig Cent. Für zwanzig Cent hier, für fast fünfzig dort. Jedesmal sagte sie in demselben klaren und freundlichen Tonfall: »Guten Morgen.« Und wurde fast stets verwundert angestarrt. Selten warf man ihr einfach die Tür vor der Nase zu. »Wissen Sie keine gute Stelle für mich?« fragte ein Küchenmädchen. »Hier ist's nicht besonders. Ich bekomme nur drei Dollar statt vier wie viele andere. Vielleicht kennen Sie eine Herrschaft, die ein gutes Mädchen sucht?« »Nein«, antwortete Selina. »Nein.« In einem anderen Hause bot ihr die Köchin nach einem Blick in ihr abgespanntes, blasses Gesicht eine Tasse Kaffee an. Selina dankte höflich. Etwas über vier Dollar hatte sie jetzt im Geldbeutel. Dirk war müde und hungrig und kämpfte mit den Tränen.
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»Das ist das letzte Haus«, versprach ihm Selina. »Wir kaufen uns unterwegs etwas zu essen, und dann schläfst du ein bißchen, kleiner Dirk. Ich spanne das Segeltuch über dich und mache es hinten fest. Dann liegst du darunter wie in einem Zelt. Und wir sind im Nu zu Hause.« Das letzte Haus war ein neues großes Gebäude aus grauem Sandstein, aber über und über schmutzig von dem Rauch der Vorortzüge. Große Bogenfenster glänzten in der Sonne. Auf dem gepflegten Rasenplatz vor dem Haus standen mehr kostbare als schöne Statuen, dahinter lag ein Gewächshaus. Ein hohes eisernes Gitter umschloß das Gebäude und gab ihm ein gesichertes, wachsames Aussehen. Selina betrachtete den handgeschmiedeten Zaun. Sie hatte die deutliche Empfindung, daß er sie abwehrte, daß er sich drohend vor ihr aufreckte und sie nicht hineinlassen wollte. »Nur noch fünf Minuten«, sagte sie zu Dirk und gab sich die größte Mühe, ihren Ton hell, ihre Stimme fröhlich zu machen. Sie nahm einen Armvoll Gemüse vom Wagen und füllte ihren Korb von neuem. Da sagte eine Stimme hinter ihr: »Wo haben Sie Ihren Erlaubnisschein ?« Sie drehte sich um. Ein Polizist stand einen Schritt vor ihr. Sie sah ihn verwundert an. Er war ungewöhnlich groß und hatte ein sehr rotes Gesicht. » Erlaubnisschein ?« »Hören Sie nicht gut? Ihren Erlaubnisschein für den Verkauf von Gemüse. Ich nehme an, Sie haben einen?« »Nein.« Sie sah ihn immer noch erstaunt an. Sein Gesicht rötete sich noch mehr. Selina wurde beinahe ängstlich. Wenn es noch röter würde . . . 178
»Ja, was fällt Ihnen denn ein? Keinen Erlaubnisschein! So eine Unverschämtheit! Machen Sie, daß Sie weiterkommen, und sehen Sie zu, daß ich Sie nicht zum zweitenmal hier erwische!« »Was ist denn los, Wachtmeister?« fragte eine Frauenstimme. Ein flotter offener Zweispänner hielt neben ihnen. Zwei braune Pferde tänzelten unruhig in silberbeschlagenem Geschirr. Verächtlich musterten die beiden stolzen Traber Selinas armselige Klepper, die ein paar Grashalme von den gepflegten kleinen Rasenstükken zwischen Straße und Gehsteig abzupften. »Was ist denn los, Reilly?« Die Frau stieg aus dem Wagen. Sie trug ein elegantes schwarzseidenes Kleid und einen schwarzen Hut mit einer Straußenfeder. »Ach, nur eine Frau, die ohne Erlaubnis Gemüse verkauft, Frau Arnold. Man muß aufpassen wie ein Schießhund ... Marsch, machen Sie, daß Sie weiterkommen.« Er faßte Selina bei der Schulter und versetzte ihr einen leichten Stoß. Das war zuviel für Selina. Sie zitterte von Kopf bis Fuß vor leidenschaftlicher Empörung. Die ganze Straße, der Wagen, die Dame im seidenen Kleid, die Pferde und der Polizist verschwammen vor ihren Augen in einem einzigen Nebel. Ihr weiblicher Stolz flammte auf bei der Berührung der groben fremden Hand. Jeder Blutstropfen war aus ihrem Gesicht gewichen. Schwarz und unwahrscheinlich groß glühten ihre Augen, und sie schien einen Kopf gewachsen zu sein. »Lassen Sie mich sofort los.« Schneidend und stahlhart kam es von ihren Lippen. »Wie können Sie es wagen ... Lassen Sie mich sofort los —!« Er ließ sie los. Langsam kehrte das Blut in ihr Gesicht
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zurück. Schwer atmend stand sie vor ihm. Eine braungebrannte, von Wind und Wetter hart mitgenommene Frau. Ihr reiches Haar war zu einem einfachen Knoten zusammengedreht und mit einer langen grauen Haarnadel aufgesteckt. Der Saum ihres weiten Kattunkleides hatte das schmutzige Wagenrad gestreift. Ihre schmalen Füße steckten in alten Männerschaftstiefeln, auf dem Kopf trug sie einen geradezu unwahrscheinlich abgenutzten alten Filzhut (er stammte von ihrem Mann). In den Armen hielt sie ganze Bündel von Maiskolben, Mohren, Rettichen und roten Rüben. Ihre Zähne waren nicht mehr ganz tadellos, ihre Brust eingesunken. Und doch hatte Julia sie sofort an ihren Augen erkannt. Und stürzte auf sie zu in ihrem seidenen Kleid und dem kostbaren Federhut mit dem lauten Aufschrei: »O Selina, liebe,liebe Selina.« Und schluchzte gleich danach erschrocken und jammervoll auf: »Meine Selina!« Selina, Mohren, Rüben, Rettiche - alles zusammen schloß sie in ihre Arme. Neben ihnen auf dem Pflaster lagen die Gemüse verstreut, gerade vor Julia HempelArnolds großem steinernen Haus in der PrairieAllee. Und sonderbar genug, Selina war es schließlich, die Julias plumpe seidene Schulter streichelte und immer wieder beruhigend sagte, wie man zu einem Kinde spricht: »Komm! Es ist ja alles gut, Julia. Weine doch nicht. Warum weinst du nur? Still! Ist doch alles gut.« Julia hob den Kopf, fuhr sich über die Augen und putzte sich geräuschvoll die Nase. »Machen Sie, daß Sie weiterkommen«, sagte sie zu dem Schutzmann Reilly und gebrauchte dieselben Worte, die 180
er zu Selina gesagt hatte. »Ich werde Herrn Arnold über Sie Bescheid sagen, das kann ich Ihnen versprechen. Und Sie wissen, was das heißt.« »Ja, aber ... Frau Arnold, ich habe doch nur meine Pflicht getan. Ich konnte wirklich nicht ahnen, daß diese ... diese Dame eine Freundin von Ihnen ist. Weiß Gott ... ich -« Seine Augen musterten ratlos Selina, den Karren, die beiden Klepper und die halbverwelkten Gemüse. »Wie hätte ich das ahnen sollen, Frau Arnold!« »Und weshalb nicht?« fragte Julia mit großartigem Unverstand. »Weshalb nicht, das möchte ich gern wis sen. Machen Sie, daß Sie weiterkommen!« Tief gekränkt in seiner Unschuld zog er sich zurück. Und jetzt war es Julia, die Selina, den Karren, Dirk, die beiden Gäule und die traurigen Gemüseüberreste ratlos musterte. »Selina, um alles in der Welt! Was tust du denn mit -« Ihr Blick fiel auf Selinas unförmige Schaftstiefel, und sie fing von neuem an zu weinen. Auch Selina konnte sich nicht mehr beherrschen; ihre überreizten Nerven gaben nach, und sie brach in ein hysterisches Gelächter aus. Julia starrte sie voller Entsetzen an. »Selina, hör auf! Komm mit mir ins Haus! Worüber lachst du denn? Selina!« Mit zitternden Fingern zeigte Selina auf das am Boden verstreut umherliegende Gemüse. »Siehst du den Kohl, Julia? Weißt du noch, wie ich mich über Frau Trebbit lustig machte, weil sie Montag abends immer Kohl kochte?« »Das ist doch kein Grund zum Lachen. Hör sofort auf zu lachen, Selina Peake!« 181
»Ich höre ja schon auf. Ich habe ja nur über meine eigene Dummheit lachen müssen. Jedes bißchen Kohl ist mit Blut und Schweiß, mit Gesundheit und Jugend erkauft. Wußtest du das, Julia? Wenn man das erst weiß, macht man sich nicht mehr über Kohl lustig. - Komm, klettere herunter, Dirk. Siehst du, diese Dame habe ich schon vor vielen, vielen Jahren gekannt, als ich noch ein kleines Mädchen war, ja vor tausend Jahren.«
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Es ist für Dirk am besten so. Der Satz kam in den fol genden Tagen immer wieder in Selinas Worten vor. Julia Arnold wollte ihn durchaus zu sich nehmen, ihn wie einen kleinen Lord kleiden und in die Privatschule schicken, die ihre beiden Kinder, Paula und Eugen, besuchten. Es war fast genauso wie damals bei Simeon Peakes Tod: Selina mußte es sich gefallen lassen, daß Julia ihre augenblickliche Ratlosigkeit und Abspannung ausnutzte und ihr Schicksal in die Hand nahm. Und genau wie damals spannte sie ihren allmächtigen, ihr sklavisch ergebenen Vater vor den verfahrenen Karren. Ihren Mann ließ sie mit freundlicher Geringschätzung aus dem Spiel. »Michael«, hatte sie gleich am ersten Tage ihres Wiedersehens Selina erklärt, »ist in Ordnung, sobald du ihm sagst, was er zu tun hat. Aber Papa denkt und organisiert. Er ist der General und Michael sein Ad jutant. Also, Papa kommt morgen hinaus und ich 182
wahrscheinlich mit. Ich habe zwar eine wichtige Zu sammenkunft, aber schließlich kann ich —« »Du sagst ... sagtest du, dein Vater käme hinaus? Wo hinaus denn?« »Auf deine Farm.« »Und was soll er da? Es sind lumpige fünfundzwanzig Morgen, und die Hälfte davon steht noch dazu meistens unter Wasser.« »Papa wird das in Ordnung bringen, das kannst du mir glauben. Er macht nicht viele Worte, aber er wird sich die Sache gründlich überlegen. Und dann wird alles in Ordnung kommen.« »Es ist sehr weit weg. Halb aus der Welt.« »Na, wenn du es mit deinen Pferden hast schaffen können, dann werden wir es mit Papas beiden Grauen ja wohl auch fertigbringen. Oder wir nehmen das Auto. Papa kann es freilich nicht leiden. Michael ist der einzige in der ganzen Familie, der gern fährt.« Ein häßlicher Stolz ergriff von Selina Besitz. »Ich brauche keine Hilfe. Wirklich, Julia, ich werde allein fertig. So wie heute ist es noch nie gewesen. Noch nie! Pervus und ich kamen ganz gut vorwärts. Als Pervus dann so plötzlich starb, verlor ich den Kopf. Dirks wegen. Er sollte nichts entbehren, er sollte schöne Dinge um sich haben. Ich wünschte so sehr, daß er es gut hätte im Leben. Das Leben kann so widerwärtig sein, Julia. Du kannst das nicht wissen, Julia, nein, du kannst es nicht wissen.« »Deshalb sage ich ja, wir kommen hinaus, Papa und ich. Dirk soll es gut haben. Dafür laß uns nur sorgen.« Da aber fuhr Selina auf: »Aber das ist es ja gerade. Ich will selber für mein Kind sorgen. Und ich kann es auch. Ich will ihm alles das selbst geben.«
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»Das ist egoistisch.« »Egoistisch will ich nicht sein. Ich will nur das Beste für Dirk.« Bald nach Mittag fuhr ganz High Prairie bei dem ungewohnten Geräusch eines Motors in die Höhe und stürzte an die Fenster oder vor die Tür. Männer, Frauen und Kinder standen und starrten mit offenen Mündern: Selina DeJong mit ihrem zerbeulten alten Filzhut und Dirk, seine Mütze schwenkend, fuhren in einem prachtvollen, roten Automobil vorbei, ihrer Farm zu. Von den DeJongschen Pferden, dem Hunde Pom und dem Gemüsewagen war weit und breit nichts zu sehen. Während der nächsten vierundzwanzig Stunden war man in High Prairie zu keiner vernünftigen Arbeit fähig. Julia hatte die Heimfahrt im Auto angeordnet, und Selina hatte es sich gefallen lassen, weil sie viel zu erschöpft war, um sich gegen irgend etwas oder irgend jemand zur Wehr zu setzen. Wenn Julia ihr zugemutet hätte, auf einem Elefanten in High Prairie einzuziehen mit einem Neger als Treiber, so hätte sie auch eingewilligt - oder jedenfalls nichts dagegen zu sagen ver mocht. »Dann bist du wenigstens schnell zu Hause«, hatte Julia erklärt. »Du siehst wie ein Geist aus, und der Junge kann sich nicht mehr wachhalten. Ich rufe gleich Papa an, daß er mir einen Mann herausschickt, der deinen Wagen zurückfährt. Dann kann er um sechs dort sein. Überlaß das alles ruhig mir.« Dirk hatte sich schnell an die ungewohnte Fahrgelegenheit gewöhnt und sogar großartig erklärt: » Wenn ich groß bin, kauf ich mir auch ein Auto. Aber eins, das viel schneller fährt!« 184
Der gute Jan verlor vor Schrecken fast die Sprache. Er hielt den Wagen und die Pferde so lange für unwiederbringlich verloren und Pervus DeJongs Witwe für rettungslos verrückt geworden, bis das Gespann tatsächlich abends um sechs in den Hof fuhr. Als am nächsten Tag August Hempel mit Julia in einem eleganten leich ten Zweispänner mit zwei schlanken, feurigen Grauschimmeln vorfuhr, war Jan außerstande, sich weiterhin zu wundern. Von nun an hielt er einfach alles für möglich. In den zwölf Jahren des Übergangs vom Fleischer zum Großkaufmann hatte August Hempel eine gewisse Gesetztheit und Würde angenommen. Jetzt, mit fünfundfünfzig, war er grauhaarig, was den Eindruck seines allzu roten Gesichts etwas milderte. Er sprach fast ohne Akzent das landläufige kräftige Amerikanisch, das er täglich von seinen zahllosen Angestellten hörte. Während der letzten Jahre hatte er auf einem Ohr das Gehör verloren, so daß er während der Unterhaltung sein Gegenüber durchdringend anzusehen pflegte. Das hatte ihm den Ruf besonderen Scharfsinns und unfehlbarer Menschenkenntnis eingetragen, während er doch nur zu eitel war, um seine Schwerhörigkeit zuzugeben. Seine altmodischen, teuren grauen Anzüge stammten von einem erstklassigen Schneider, und trotzdem sah er in ihnen stets so aus, als trüge er die abgelegten Sachen eines viel größeren Mannes. Er betrachtete Selinas kleines Besitztum mit scharfen Blicken und wußte sofort Bescheid. »Wollen Sie verkaufen?« »Nein.« »Das ist recht. In ein paar Jahren wird das Land den zehnfachen Wert haben.« Er hatte in einer knappen 185
Viertelstunde das ganze Gehöft mit Feldern, Ställen und Haus bis ins kleinste gemustert. »Also worauf wol len Sie hinaus, Selina?« Sie saßen in dem kleinen Wohnzimmer. Das prachtvolle alte holländische Tongeschirr funkelte in der Glasvitrine, hübsch gebundene Bücher standen auf kleinen Regalen an der Wand; der Raum sah überraschend wohnlich und behaglich aus. Dirk war mit einem der van Ruysschen Jungen im Hof und hütete die beiden Grauen, als ob sie ihm gehörten. Jan jätete auf dem Felde. Selinas Hände lagen fest ge faltet im Schoß - Arbeitshände, denen man das Graben und Wühlen im Erdboden ansah. Die Nägel waren kurz, mißfarbig und spröde, die Handflächen rauh und schwielig. Die ganze Geschichte ihrer letzten zwölf Lebensjahre stand in ihren beiden Händen geschrie ben. »Ich möchte hierbleiben, die Farm bewirtschaften und etwas daraus machen. Ich kann es auch. Im nächsten Frühjahr fängt der Spargel an zu tragen und Geld einzubringen. Das gewöhnliche Gemüse, das jeder in High Prairie baut, will ich nicht mehr ziehen oder jedenfalls nicht viel davon. Ich will mich in den feineren Gemüsen spezialisieren — wie sie die Kommissionäre in der South-Water-Straße verlangen. Und dann möchte ich unser nasses Land drainieren und Tonröhren legen. Das Land ist jahrelang in Ruhe gelassen worden und müßte eigentlich sehr gut tragen, wenn es richtig drainiert wäre. Ich würde Dirk gern in die Schule schicken. In eine sehr gute Schule. Mein Sohn soll niemals auf den Heumarkt fahren. Niemals, niemals!« Julia rückte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her, ihr seidenes Kleid knisterte, und ihre kostbaren Perlen 186
klirrten. Die eiserne Entschlossenheit in Selinas Stimme begann sie zu beunruhigen. »Ja, aber was wird aus dir, Selina?« »Aus mir?« »Ja, aus dir. Du sprichst, als zähltest du überhaupt nicht ... ich meine dein eigenes Leben, das, was dich glücklich machen könnte.« »Mein Leben zählt auch nicht mit, oder wenigstens nur soweit, wie es für Dirk wichtig ist. Ich habe mit allem abgeschlossen. Oh, ich will damit nicht sagen, daß ich den Mut verloren hätte, daß mich das Leben enttäuscht hätte oder etwas dergleichen. Ich meine nur, daß ich von falschen Vorstellungen ausgegangen bin. Jetzt weiß ich es besser! Und ich bin dazu da, Dirk vor den Fehlern zu bewahren, die ich selber gemacht habe.« August Hempel hatte die ganze Zeit breit und behäbig in seinem Stuhl gesessen und Selina unverwandt ange sehen. Jetzt wandte er den Blick nach draußen, wo die beiden Grauen standen, unbeweglich wie lebende Statuen. Nachdenklich und ohne jede Schärfe im Ton wi dersprach er: »So kann man das nicht anpacken. Mit den Fehlern ist es eine eigene Sache. Jeder muß seine Fehler selbst machen, und damit nicht genug: will man anderen Fehler ersparen, so werden sie erst recht verrückt dabei.« Er pfiff leise durch die Zähne und trom melte mit den Fingern einen Marsch auf der Stuhl lehne. »Ach - das Schöne wollte ich!« rief Selina fast leidenschaftlich aus. Und als August Hempel und Julia sie verständnislos ansahen, fuhr sie lebhaft fort: » Ich habe immer geglaubt, wenn man Schönheit nur ersehne wenn man sie heiß und zuversichtlich genug herbeiwünsche -, so müßte sie zu einem kommen. Man 187
brauchte nur zu warten und sein Leben so gut wie möglich zu leben in der festen Überzeugung, daß das Schöne schon hinter der nächsten Ecke zu finden sei. Man brauchte nur zu warten - und eines Tages wäre es plötzlich da.« »Schönheit!« rief Julia leise. Sie starrte Selina an und war offensichtlich des Glaubens, diese hagere, abgearbeitete Frau beklage sich über den Mangel an persönlicher Schönheit. »Ja. Alle Dinge, um derentwillen es sich zu leben lohnt. Räume im Kerzenlicht. Freie Zeit. Farben. Reisen. Bücher. Musik. Bilder. Und Menschen — Menschen jeder Art. Arbeit, die man gern tut. Und Wachsen. Wachsen! Menschen größer werden sehen! Alles stark empfinden und dieses Gefühl entwickeln, bis ... bis etwas Schönes und Großes daraus wird.« Ehe die Begriffe »persönliche Kultur« und »Wohnkultur« modern wurden, hatte Selina sie für sich selbst entdeckt. Sie machte mit beiden Händen eine weite, unbestimmte Bewegung: »Das verstehe ich unter dem Schönen. Und das alles soll Dirk haben.« Julia blinzelte und nickte verständnisvoll, obwohl sie kein Wort begriffen hatte. August Hempel räusperte sich. »Ich glaube, ich weiß, was Sie meinen, Selina. Genauso ist es mir damals mit Julia ergangen. Sie sollte alles haben, was das Leben schön macht. Und sie bekam es auch. Und wenn sie den Mond vom Himmel begehrt hätte, so hätte ich ihn ihr heruntergeholt.« »Nie im Leben habe ich so was bekommen, Papa.« »Hast's ja auch nicht haben wollen, soviel ich weiß.« »Aber um alles in der Welt«, rief Julia und besann sich auf den Zweck ihres Kommens, »jetzt wollen wir end
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lich mit Reden aufhören und lieber was tun. Lieber Himmel, man braucht doch wirklich nicht viel Geld, um Bücher und Kerzen und Bilder und Reisen zu haben. Wenn das alles ist! Also handeln wir! Papa, du hast doch ganz gewiß deine Pläne schon fertig im Kopf. Rücke endlich damit heraus. Selina war eine der beliebtesten Schülerinnen in Fräulein Fisters Schule und nach Ansicht verschiedener Leute sogar die hübscheste. Und sieh sie dir jetzt an!« Eine Spur ihres früheren sprühenden Temperamentes flammte in Selina auf. »Schmeichelkatze«, murmelte sie. August Hempel stand auf. »Wenn Sie glauben, daß Sie den Jungen glücklich machen können, indem Sie Ihr ganzes Leben dafür opfern, ihn glücklich zu machen, sind Sie nicht der Mensch, für den ich Sie gehalten habe. Man kann nicht das Leben eines anderen für ihn leben!« »Ich will ja gar nicht sein Leben für ihn leben. Ich will ihm nur zeigen, wie er sein Leben einrichten muß, damit er den vollen Wert daraus schöpfen kann.« »Was hat es für einen Zweck, wenn Sie ihm durchaus den Heumarkt ersparen wollen? Woher wissen Sie denn, daß der Heumarkt nicht der richtige Ort für ihn ist? Kein Mensch kann in die Zukunft blicken. Ich bin jeden Tag draußen auf den großen Viehhöfen, in den Ställen und Gehegen, unterhalte mich mit den Treibern und Hirten und komme mit vielen Käufern zusammen. Ich brauche nur einmal hinzusehen, dann weiß ich, wie viel ein Eber oder ein Stier wiegt und wieviel er wert ist. Mein Schwiegersohn, Michael Arnold, sitzt den ganzen Tag in seinem Büro und diktiert Briefe. Dafür riechen seine Kleider auch nicht nach Stall wie meine ... 189
Nein, nein, Julia, ich sage ja nichts gegen ihn. Aber ich schwöre Ihnen, mein Enkel Eugen« - er wiederholte den Namen und betonte ihn so, daß man merkte, wie sehr er ihm mißfiel — »Eugen wird einen großen Bogen um jeden Viehstall machen, sobald er erwachsen ist und ins Geschäft eintritt, und er wird sein Büro in einem großen neuen Bürohaus in einer schönen Straße haben mit Aussicht auf den See. So ist das Leben! Man hetzt sich ab, und am Ende weiß man nicht, wie man es herumgebracht hat.« »Laß ihn reden«, flüsterte Julia. »Das ist sein Lieblingsthema. Immer die alten Viehställe!« August Hempel biß die Spitze von seiner Zigarre ab und wollte das Ende im Bogen auf die Erde spucken, besann sich jedoch eines Besseren und steckte es in seine Westentasche. »Ich möchte nicht mit Mike tauschen, nicht —« »Bitte, Papa, nenne ihn nicht Mike!« »Na, dann mit Michael. Nicht um zehn Millionen. Obwohl ich im Augenblick zehn Millionen dringend nötig hätte.« »Wahrscheinlich«, sagte Selina lebhaft, »wird Ihr Schwiegersohn, Michael Arnold, in Ihrem Alter seinem Sohn Eugen erzählen, wie schwer er es in seinem Büro gegenüber den Viehställen in der guten alten Zeit gehabt habe. Das wird dann eben die gute alte Zeit sein.« August Hempel lachte gutmütig. »Sie mögen recht haben, Selina. Es wird wohl so kommen.« Er kaute an seiner Zigarre und kam endlich auf das Nächstliegende zu sprechen. »Also Sie wollen drainieren und Tonröhren legen. Und erstklassiges Gemüse ziehen. Sie brauchen einen tüchtigen Mann, der etwas von der Sache 190
versteht, und nicht so einen Schafskopf, wie wir ihn vorhin auf den Feldern getroffen haben. Und ein paar ordentliche Pferde, einen Wagen.« Er kniff nachdenklich die Augen zusammen. Tausend listige kleine Falten bildeten sich in den Winkeln. »Ich wette, daß ich noch die Zeit erlebe, wo ihr Gemüsefarmer eure Waren auf großen Lastkraftwagen in die Stadt fahrt. Und weniger als eine Stunde Zeit dazu braucht. So kommt es, das ist nicht mehr aufzuhalten. Das Pferd hat ausgedient, daran läßt sich nicht rütteln.« Unvermittelt fuhr er fort: »Ich werde Ihnen die Pferde auf dem Viehmarkt besorgen.« Er zog ein langes flaches Scheckbuch aus der Tasche und schrieb darin mit einem Federhalter, der schon mit Tinte gefüllt zu sein schien und an dem man oben und unten herumschrauben mußte. Er blickte schief durch den Rauch seiner Zigarre nach unten; das Scheckbuch lag auf seinen Knien. Mit einem Ruck riß er den Scheck heraus und reichte ihn Selina. »Um die Sache in Schwung zu bringen«, bemerkte er. »Na also«, rief Julia triumphierend. »Nun geschieht endlich etwas.« Aber Selina nahm den Scheck nicht. Sie saß still mit gefalteten Händen in ihrem Stuhl. »Das ist nicht der übliche Weg«, sagte sie. August Hempel schraubte den Verschluß auf seinen Füllfederhalter. »Nicht der übliche Weg? Was meinen Sie damit?« »Ich borge das Geld. Ich nehme es nicht geschenkt. Ge borgt nehme ich es mit Dank an. Ich käme sonst nicht weiter. Das weiß ich seit gestern zu genau. Oh, gestern! Aber in fünf Jahren — oder in sieben — werde ich es zurückzahlen.« Auf Julias halblauten Protest fuhr sie fort: »Sonst kann ich es überhaupt nicht annehmen. Ich 191
tue es ohnedies nur Dirks wegen. Aber ich werde es herauswirtschaften ... und zurückzahlen. Ich hätte gern einen ... einen Wechsel darüber, ein schriftliches Versprechen, Ihnen das Geld zurückzuzahlen, sobald es mir möglich ist. So ist es ein richtiges Geschäft, nicht wahr? Und dann muß ich unterschreiben.« Sie hatte Freude an ihrer eigenen Geschäftstüchtigkeit. »Freilich«, sagte August Hempel und schraubte seinen Füllfederhalter zum letzten Male auf. »Freilich, so ist es ein richtiges Geschäft.« Mit todernstem Gesicht kritzelte er eifrig auf einem Stück Papier. Ein Jahr später kam Selina halb lachend und halb weinend zu August Hempel ins Büro. Sie hatte in diesem einen Jahr viel gelernt, unter anderem auch, daß Zins und Zinseszins nicht nur in Rechenbüchern stehen, um unglückliche Schüler zu ärgern. »Sie haben damals mit keiner Silbe von Zinsen gesprochen. Mit keiner Silbe. Für was für eine dumme Gans müssen Sie mich gehalten haben!« »Zwischen Freunden«, protestierte August Hempel. Aber Selina ließ nicht locker. »Nein«, sagte sie, »sonst muß ich Ihnen das Geld zurückgeben.« »Wenn Sie darauf bestehen, weiter so geschäftsmäßig mit mir zu verkehren, werde ich am Ende selber eine Bank aufmachen müssen.« Zehn Jahre später war er tatsächlich Vorsitzender im Aufsichtsrat einer großen Bank. Und Selina bewahrte jene Quittung in ihrer alten geschnitzten Truhe sorgfältig auf, zusammen mit anderen Heiligtümern, die sie törichterweise immer noch wie einen Schatz hütete, lächerliches altes Zeug, das nur für sie allein Wert und Bedeutung hatte: eine kleine Kinderschiefertafel (die, 192
auf der Pervus schreiben und rechnen gelernt hatte); einen vertrockneten Lilienstrauß, ein altmodisches rotes Kaschmirkleid; ein Paar alte Männerschaftstiefel; eine rohe, halb verwischte Zeichnung auf einem Fetzen braunen Packpapiers, auf der der Heumarkt zu sehen war - Rolfs kindliche Skizze. Unter diesem Plunder kramte sie von Zeit zu Zeit. Noch zwanzig Jahre später erwischte Dirk sie dabei. »Tatsächlich wieder über deinen Herrlichkeiten. Was seid ihr doch für eine sentimentale Generation, Mutter! Wenn das Haus mal abbrennen sollte, so würdest du wahrscheinlich zuallererst den alten Kram retten! Dabei ist das ganze Zeug nicht einen roten Heller wert.« »Wahrscheinlich nicht«, sagte Selina langsam. »Immerhin ist eine Skizze von Rolf Pool dabei. Letzte Woche hat man für eine seiner Skizzen in New York tausend Dollar bezahlt. Und das war keine sorgfältig ausge führte Zeichnung, sondern nur ein skizzenhafter Entwurf zu einem Denkmal.« »Dagegen sage ich ja auch nichts. Aber der übrige Kram, den du so sorgsam aufhebst... wertloses altes Zeug. Ja, wenn es wenigstens schön wäre!« »Schön!« sagte Selina und schloß den Deckel der alten Truhe. »Ach Dirk - Dirk! Du hast ja keine Ahnung, was schön ist, und wirst es nie im Leben wissen.«
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Wenn so schwer bestimmbare Kennzeichen wie gute Lebensart, Anmut, Liebenswürdigkeit, Sicherheit im Auf treten und Anziehungskraft das sind, was wir unter Charme verstehen, und wenn der Besitzer dieser Eigenschaften aufs beste ausgerüstet ist für das, was unsere Philosophen den Lebenskampf nennen, dann war Dirk DeJong ein Glückspilz, dann lag das Leben verheißungsvoll vor ihm. Zweifellos hatte er Charme, und zweifellos hatte er Grund, zuversichtlich in die Zukunft zu blicken. Seine Freunde pflegten zu behaupten, daß ihm alles in den Schoß falle. Das fand er selbst auch. Aber es lag nicht in seiner zurückhaltenden Natur, sich damit zu brüsten. Er sprach überhaupt nicht viel. Das war vielleicht eine seiner charmantesten Eigenschaften. Dafür verstand er gut zuzuhören; seine Gesellschaft war so beruhigend wenig anstrengend. Er hörte zu, während die anderen sich unterhielten, den feinen Kopf ein wenig dem Sprecher zugeneigt. Man hielt ihn für außergewöhnlich intelligent und verständnisvoll. Diese Gabe, liebenswürdig und schweigsam zuzuhören, war mehr wert, als wenn er wer weiß welche anderen geselligen Talente besessen hätte. Er selbst ahnte nicht, wie sehr ihm diese Eigenschaft später noch zugute kommen sollte in einer Zeit, da es eine Seltenheit wurde, wenn jemand einen anderen überhaupt einen Satz zu Ende sprechen ließ. Besonders ältere Herren stellten wohlwollend fest, daß er ein junger Mann sei, der seinen Weg machen werde. Und zwar sagten sie das überraschenderweise nach einer Unterhaltung mit ihm, zu der er außer »Ja« oder »Nein« oder »Wahrscheinlich haben Sie recht, Herr X« kein einziges Wort beigetragen hatte. 194
Selinas Gedanken drehten sich ausschließlich um Dirks Zukunft. Und wenn ihr im Laufe des Tages tausender lei durch den Kopf ging - Pläne für die Farm oder für das Haus - der Grundton in dem vielfältigen Zusam menklang ihrer Gedanken war und blieb Dirk. Er kam auf dem Gymnasium recht gut vorwärts. Er war nicht gerade ein glänzender Schüler, vielleicht nicht einmal ein guter. Aber seine Leistungen genügten, und Lehrer und Schüler hatten ihn gern. Während Dirk sorglos seine Kindheit genoß und zu einem fünfzehnjährigen Jungen heranwuchs, verwandelte seine Mutter die vernachlässigten und heruntergewirtschafteten DeJongschen Äcker mit ihrem kärglichen Ertrag, der nur zu Schleuderpreisen abzusetzen war, in eine blühende Mustergärtnerei. Die Kommissionäre in der South-Water-Straße bestellten ihr Gemüse ein Jahr im voraus. Der DeJongsche Spargel mit seinen dicken weißen Stangen, die sich nach der Spitze zu zartgrün und lila verjüngten, war in ganz Chikago berühmt. Ebenso die Tomaten, die scharlachrot und saftig im Februar aus den Gewächshäusern kamen und für die die höchsten Preise gezahlt wurden. Während dieser sechs oder sieben Jahre hatte Selina rastlos gearbeitet. Sie trugen ihr keinen rauschenden Erfolg ein, der sie als großartige Geschäftsfrau auswies. Nein, der Kampf war hart und mühsam gewesen wie bei allen Plänen, deren Verwirklichung vom Grund und Boden abhängt. Sie rang dem Boden buchstäblich mit ihren eigenen zwei Händen den Lebensunterhalt ab. Sie holte das letzte aus sich selbst heraus. Und trotz dem wäre niemand auf den Gedanken gekommen, die schlanke, zielbewußte Frau von fünfunddreißig oder vierzig Jahren zu bemitleiden. Soviel wirkliche Größe
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ging von ihr aus, soviel Sicherheit. Selina DeJong war eine Persönlichkeit - darin lag das Geheimnis ihres Er folges. Wer weiß, ob sie ohne August Hempels Geld und ohne seinen klugen Rat je hätte vorwärtskommen können. Oft unterhielt sie sich mit ihm darüber. Er widersprach: »Leichter ist es wahrscheinlich so gewesen. Aber Sie wären Ihren Weg trotzdem gegangen. Julia nicht. Aber Sie ganz gewiß. Sie haben's in sich. Genau wie ich auch. Sehen Sie, viele, die wie ich vor zwanzig Jahren in der Clarkstraße Fleischer waren, sind es heute noch und schneiden immer noch ihre Beefsteaks und Koteletts ab.« Hempels Aktiengesellschaft hatte sich mittlerweile in ein Riesenunternehmen entwickelt und sich überall in Südamerika und in Europa festgesetzt. Hin und wieder erschien in einer der weitverbreiteten Zeitschriften eine Karikatur vom alten August Hempel als Polyp mit kalten Fischaugen und hundert gierigen Fangarmen. Hempel ärgerte sich nicht wenig darüber, obwohl er es nicht zugab. »Was fällt ihnen eigentlich ein, solch ein Biest aus mir zu machen? Ich verkaufe anständiges Fleisch und nehme, was ich dafür bekommen kann. Das ist nun mal mein Geschäft.« Auch Dirk hatte seine Pflichten auf der Farm. Darauf hielt Selina. Aber sie waren nicht schwer. Um acht Uhr morgens fuhr er zur Schule. Es wurde später Nachmit tag, ehe er zurückkam. In der Zwischenzeit hatte Selina für zwei gearbeitet. Während der Hochsaison hatte sie ständig zwei Arbeiter auf dem Feld und eine Frau zur Hilfe im Hause. Der alte Jan wirtschaftete noch in den Ställen herum; er sah nach den Mistbeeten und Gewächshäusern und hatte den ganzen Tag zu klopfen
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und auszubessern. Er mißtraute Selinas neuen Methoden, musterte geringschätzig jede moderne Maschine und prophezeite Unheil, als Selina die angrenzende Boutssche Farm mit zwanzig Morgen Land hinzukaufte. »Bei Ihnen sind die Augen größer als der Magen«, sagte er zu ihr. »Sie werden noch an der Suppe erstik ken, die Sie sich da einbrocken.« Wenn Dirk gegen Abend nach Hause kam, war die schlimmste Arbeit getan. Stets fand er einen appetitlich gedeckten Tisch mit reichlichem guten Essen vor. Das ganze Haus war tadellos imstande und sehr behaglich. Selina hatte ein Badezimmer einrichten lassen - nun gab es zwei in High Prairie! Die Nachbarschaft hatte sich noch nicht von ihrem Schrecken darüber erholt, als Jan mit einer neuen, aufregenden Nachricht herausrückte: Selina und Dirk verzehrten ihr Abendbrot bei Kerzenlicht. High Prairie wälzte sich vor Lachen. »Kohl ist wunderschön«, sagte der alte Klaas Pool, als die Nachricht auch zu ihm kam. »Kohl ist eben wunderschön!« Niemals hatte Selina Dirk zu einer Entscheidung über seine Zukunft gedrängt. Das würde schon von selber kommen, meinte sie. Als die Farm sich gut entwickelte und sie etwas aufatmen konnte, suchte sie auf alle mögliche Weise herauszubekommen, ob nicht eine Neigung zu diesem oder jenem Beruf oder eine besondere Bega bung in ihm steckte. So wie sie selbst in den schlechte sten Zeiten sich lieber ein gutes Buch als ein Paar Schuhe gekauft hatte, gab sie auch jetzt alles Geld, für das sich eine andere Frau schöne Kleider oder Schmuck gekauft hätte, für Bücher aus. Die vielen Jahre persönlicher Entbehrung hatten ihre Vorliebe für schöne seidene 197
Stoffe, zarte Farben und auserlesene Werkstücke nicht zu töten vermocht. Aber sie brachte es nicht mehr übers Herz, alle diese Dinge für sich selber zu begehren. Sie sah sie gern an, nahm sie wohl auch einmal in die Hand. Aber tragen oder gebrauchen konnte sie sie nicht mehr. Jahre später, als sie sich sehr wohl einen Hut aus den teuersten Putzgeschäften in der Michiganstraße hätte leisten können, sah sie sich die Kostbarkeiten aus Samt und Seide, die wie exotische Blumen in den Schaufen stern prangten, aufmerksam an - und kaufte sich für 2,95 Dollar eine ungarnierte Form in einem billigen Warenhaus. Man bricht nicht so schnell mit den Gewohnheiten eines Menschenlebens. Einmal ging sie hin und erstand eine dieser extravaganten Kostbarkeiten aus Seide und Spitzen. Kalt entschlossen tätigte sie den Kauf, wie ein Mann, der sich einmal in seinem Leben betrinkt, nur weil er diese Erfahrung machen will. Sie setzte den Hut niemals auf. Bis zu seinem sechzehnten Jahr ließ sie Dirk sich so natürlich wie möglich entwickeln und unbewußt die Eindrücke sammeln, die sie mit viel List und Überlegung auf ihn einwirken ließ. Sie schmuggelte Bücher in seine kleine Bibliothek, die von dem Leben und der Entwick lung großer Männer handelten, Bücher über Lincoln, Washington, Gladstone, Disraeli und Voltaire, Werke über Geschichte und Malerei, über Archtitektur, Jura und sogar Medizin. Sie abonnierte zwei der besten technischen Zeitschriften und richtete ihm einen Schuppen als Werkstatt ein, wo er alle erdenklichen Werkzeuge vorfand. Nach ein paar Wochen ging er kaum noch hin ein. Er interessierte sich freundlich und mäßig für alles, was seine Mutter ihm vorsetzte; auf die Dauer aber fesselte ihn nichts. 198
Selina hatte bei der Einrichtung der kleinen Werkstatt an Rolf denken müssen. Nur ein einziges Mal hatten Pools etwas von dem ältesten Sohn gehört. Eines Tages war ein Brief aus Frankreich gekommen. Darin lag eine Geldsumme für Geertje und Jozina — eine lächerlich geringe Summe, um sie so weit übers Meer zu schicken, meinte man im wohlhabenden Poolschen Haushalt. Geertje war mit Gerrit van der Sijde verheiratet und wohnte auf einer Farm in Low Prairie. Jozina dagegen hatte es sich in den Kopf gesetzt, in der Stadt eine Stelle als Kinderfräulein anzunehmen. Rolfs bescheidene Geldsendung machte keinen besonderen Eindruck auf sie. Sie erfuhren niemals, wie mühsam der mittellose Pariser Kunstschüler das Geld in kleinen Münzen zusammengespart hatte. Selina hatte nie wieder etwas von Rolf gehört. Aber eines Tages kam sie mit einer Zeitschrift zu Dirk gelaufen. »Sieh«, rief sie und zeigte auf ein Bild. Er hatte sie selten so aufgeregt, so außer sich gesehen. Das Bild zeigte die Reproduktion einer Skulptur. Die Unterschrift lautete: La Seine. Eine weibliche Gestalt von schlangenartiger Geschmeidigkeit, anmutig, wundervoll, beunruhigend, aufreizend, grauenhaft. Das Gesicht lokkend, unersättlich, großmütig, tückisch - alles in einem. Das war die Seine, die grüne Täler und Wiesen speiste; die Seine, die Tausende von aufgeblähten leblosen Dingen mit sich führte; das war die rotäugige Furie von 1793 und die schelmische Kokette von 1650. Unter dem Bilde standen ein paar erklärende Zeilen: Rolf Pool. . . Salon . . . Amerikaner . . . neuer Stern am Kunsthimmel . .. »Das ist Rolf!« rief Selina. »Rolf. Der kleine Rolf Pool!« Tränen standen in ihren Augen. Dirk zeigte nicht 199
mehr als höfliches Interesse. Schließlich hatte er ihn kaum richtig gekannt, nur seine Mutter von ihm sprechen hören . . . Selina fuhr eines Abends mit dem Bilde zu Pools hinüber, um sie zu überraschen. Frau Pool erstarrte ge radezu vor Entsetzen über die nackte Frauenfigur und stieß einen Schrei aus: »O Himmel!« Sie schien der Meinung zu sein, daß Selina das Bild nur mitgebracht hätte, um sie zu ärgern. Wollte sie es vielleicht in ganz High Prairie herumzeigen? Selina verstand sich jetzt schon besser auf die High Prairier, wenn auch nach zwanzig Jahren des Miteinanderlebens noch nicht gut genug. Sie waren kühl von Natur, aber gutmütig. Mißtrauisch, aber freigebig. Sie hielten unverrückbar am Althergebrachten fest, aber sie kamen doch durch Sparsamkeit und unermüdliche Arbeit voran. Nüchtern und phantasielos lebten sie Generationen lang dahin — bis schließlich ein Rolf Pool aus ihnen hervorging. Sie bemühte sich, die Bedeutung der meisterhaft model lierten Figur zu erklären. »Sie müssen sich vorstellen, daß das der Seinefluß sein soll. Die Seine fließt durch ganz Paris hindurch und weiter durch die Landschaft nördlich davon bis ins Meer. Die Geschichte von Paris, ja von ganz Frankreich verkörpert sich sozusagen in der Seine, ist untrennbar damit verflochten. Schönes und Ungeheuerliches. Sie fließt am Louvre vorbei und an der Bastille. Und bildet mitten in Paris eine große Insel, darauf steht Notre-Dame. Ach, was hat die Seine nicht alles gesehen, Frau Pool!« »Unsinn!« unterbrach sie die einstige Witwe. »Ein Fluß hat keine Augen, das weiß jedes Kind.« Dirk war siebzehn Jahre alt, als Selina eines Tages mit 200
ihm über seine Ausbildung sprach. Er sollte eine Universität besuchen. Aber welche? Und was wollte er stu dieren? Ja, das war nicht so einfach. Zunächst eine Art allgemeine Bildung. Sprachen, ein bißchen Französisch vielleicht, Nationalökonomie und etwas Literatur und Geschichte. »Oh«, hatte Selina geantwortet. »Das ist nicht schlecht. Allgemeine Bildung. Freilich, wenn jemand z. B. Architekt werden will, geht er am besten nach Cornell. Jura studiert man in Harvard und Naturwissenschaften auf der Technischen Hochschule in Boston und -« O ja, wenn man wirklich darauf aus war. Immerhin keine schlechte Idee, erst einmal allgemeine Kurse mit zumachen, bis man sich für etwas Bestimmtes entschied. Sprachen und Literatur und dergleichen. Selina war durchaus einverstanden. Sie wußte, daß man es in England so machte. Man schickte seinen Sohn nicht auf die Universität, um sofort lauter naturwissenschaft lichen Kram in ihn hineinzustopfen oder um ihn mit Theorie für einen bestimmten Beruf zu füttern. Man schickte ihn vielmehr dorthin, damit er in die Atmosphäre von Büchern und Gelehrsamkeit langsam hineinwüchse und genußreiche Stunden in der Gesellschaft von Männern verlebte, denen das Lehren und Unterrichten ein Fest war, die den jungen Studenten zu sich ins Haus einluden und ihm in einem Gespräch vorm Kaminfeuer mehr Weisheit beibrachten, als er im Hörsaal im ganzen Semester mitbekam. So stand es in den englischen Romanen. Sie hatte von Oxford und Cambridge ge lesen, von efeuumrankten Universitäten, von Bootsfahrten, von Spitzbogenfenstern, schönen Büchern, Dis kussionen und literarischen Klubs. So war es in England - eine ältere Kultur, gewiß, aber 201
etwas Ähnliches mußte es doch auch an den amerikani schen Universitäten geben. Und wenn Dirk danach ver langte, so machte es sie glücklich. War es doch ein Stre ben nach reiner Schönheit. Von der Midwest-Universität in Chikago hörte man viel Gutes. Sie war freilich noch neu. Aber seltsamerweise wirkten diese gotischen Gebäude schon nach ver hältnismäßig kurzer Zeit alt und ehrwürdig. (Der Rauch und der Ruß von den zahllosen Vorortzügen und der Kohlenstaub aus den tausend benachbarten Schornsteinen brachten hauptsächlich dieses Wunder zu stande.) Und überdies wuchs tatsächlich Efeu an den Wänden. Und Spitzbogenfenster waren auch da. Der Gedanke kam von Dirk, nicht von ihr. Die Gebüh ren waren erschwinglich. Harvard? Yale? Nur etwas für Millionärssöhne. Eugen Arnold paßte dorthin mit seinem Auto. Die Midwest-Universität in Chikago, im Süden dicht am See gelegen, war unbedingt das richtige. Dirk konnte dort zunächst die allgemeinen Vorlesungen belegen. Die ganze Welt stand ihm offen. Er konnte es sich mit dem alten Kindervers an den Knöpfen abzählen, was er werden wollte: Kaiser, König, Edelmann, Bürger, Bauer, Bettelmann. Aber sooft sie auch zusammen abzählten — nie kam das selbe heraus. Eugen Arnold wollte in Yale Jura studieren. Das brauche er später fürs Geschäft, behauptete er. Zu Dirk redete er anders darüber; da sprach er nur von dem verdammten alten Schweinegeschäft. Pauline (sie wollte durchaus Paula genannt werden) war am Hud 202
son in einem Mädchenpensionat — in einer jener Schulen, zu denen nur wenige Auserlesene Zugang haben. So bezog Dirk mit achtzehn Jahren die Midwest-Universität. Es war auf jeden Fall billiger, als wenn man eine andere Universität weiter östlich gewählt hätte. Einer seiner früheren Schulkameraden fragte ihn: »Gehst du nach Wisconsin? Du willst wohl Landwirt schaft studieren?« »Gott bewahre«, hatte Dirk erwidert. Er erzählte es lachend Selina. Aber sie blieb ernst. »Ich würde selbst gern Vorlesungen über Landwirtschaft hören, wenn du's wissen willst. Sie sollen großartig sein.« Plötzlich sah sie ihn an. »Dirk, hast du wirklich keine Lust dazu? Hast du noch nie daran gedacht?« Er sah sie groß an. »Ich! Nein . . . Aber wenn du es gerne möchtest, dann tue ich es natürlich sofort. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß du dich hier auf der Farm abplagst, während ich auf die Universität geschickt werde. Ich komme mir geradezu schlecht dabei vor, wenn ich meine Mutter für mich arbeiten lasse. Meine Kameraden —« »Ich arbeite das, woran ich Freude habe, und ich tue es für den Menschen, den ich am meisten auf der Welt liebe. Ohne die Farm käme ich mir unglücklich und überflüssig vor. Wenn die Stadt wirklich bis zu uns her auskriecht, wie sie immer prophezeien, so weiß ich überhaupt nicht, was ich anfangen soll.« Aber Dirk hatte seine eigene Meinung über diese Sache. »Chikago denkt nicht daran, sich bis zu uns auszudehnen, da doch im Süden all die häßlichen Fabriken und Schornsteine stehen. Man wird im Norden leben wollen. Soweit ist es jetzt schon!« »Wer wird im Norden leben wollen?« 203
»Die Leute, die Geld haben.« Sie lachte so, daß sich an ihrer Nasenwurzel krause Fältchen bildeten. »Na, dann werden wir ja noch einige Zeit hier im Süden wohnen bleiben.« »Warte nur, Mutter, bis ich ein gemachter Mann geworden bin, dann brauchst du keinen Finger mehr zu rühren.« »Was meinst du damit, Sogroß, ein gemachter Mann