Buch In zwölf Geschichten rund um Inspector John Rebus beweist Ian Rankin seine Meisterschaft als Krimiautor. So zum Be...
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Buch In zwölf Geschichten rund um Inspector John Rebus beweist Ian Rankin seine Meisterschaft als Krimiautor. So zum Beispiel in einem Fall, der zunächst nach einem makabren Scherz von Theaterleuten aussieht: Als ein junger Mann mitten auf dem Parliament Square tot an einem Galgen hängend gefunden wird, scheint das Ganze zunächst zu einer Theateraufführung zu gehören. Doch der Tote ist echt, auch wenn er tatsächlich zu einer der zahlreichen Theatergruppen gehört, die anlässlich des Edinburgh Festivals in der Stadt sind. Den Titel ihres Stücks, »Scenes from a Hanging«, hatte irgendjemand wohl zu wörtlich genommen. Bei einem anderen Fall hat der Mörder sogar selbst die Polizei angerufen, die Tat gestanden und war dann gefasst worden. So schnell konnte eine Morduntersuchung selten abgeschlossen werden. Nur dass der Täter dann plötzlich heftig seine Unschuld beteuert... Aber egal wie seltsam oder vertrackt ein Verbrechen erscheint, am Ende findet Rebus die Wahrheit heraus - einmal sogar mit Unterstützung eines französischen Kollegen namens Cluzeau... Autor Ian Rankin, geboren 1960, gilt als Großbritanniens führender Krimiautor, und seine Romane sind aus den internationalen Bestsellerlisten nicht mehr wegzudenken. Ian Rankin wurde unter anderem mit dem Gold Dagger für »Das Souvenir des Mörders«, dem Edgar Allan Poe Award für »Tore der Finsternis« und dem Deutschen Krimipreis für »Die Kinder des Todes« ausgezeichnet. »So soll er sterben« und »Im Namen der Toten« erhielten jeweils als bester Spannungsroman des Jahres den renommierten British Book Award. Der Autor lebt mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen in Edinburgh. Mehr Informationen zum Autor und seinen Büchern unter www.ian-rankin.de. Die Rebus-Romane in chronologischer Reihenfolge: Verborgene Muster (44607) ■ Das zweite Zeichen (44608) • Wolfsmale (44609) • Ehrensache (45014) -VerschlüsselteWahrheit (45015) Blutschuld (45016) • Ein eisiger Tod (45428) • Das Souvenir des Mörders (44604) • Die Sünden der Väter (45429) • Die Seelen der Toten (44610) • Der kalte Hauch der Nacht (45387) • Puppenspiel (45636) • Die Tore der Finsternis (45833) • Die Kinder des Todes (46314) • So soll er sterben (46440) • Im Namen der Toten (gebundene Ausgabe, 54606) Außerdem lieferbar: Die Kassandra Verschwörung.Thriller (46375)
Ian Rankin
Eindeutig Mord Zwölf Fälle für John Rebus Die Originalausgabe erschien 1992 unter dem Titel »A Good Hanging« bei Century, London
Meinem Lektor, Euan Cameron, der von Anfang an Vertrauen hatte
Inhalt Playback........................ 9 Der Fluch des Hauses Dean......... 37 Frank und frei.................... 71 Eine Leiche im Keller.............. 89 Ansichtssachen................... 117 Gut gehängt..................... 145 Von Meisen und Menschen.......... 179 Not Provan..................... 203 Sonntag ........................ 225 Auld Lang Syne .................. 241 Der Gentlemen's Club ............. 259 Monströse Trompete............... 283
Playback Es war der perfekte Mord. Perfekt jedenfalls aus der Warte der Polizei von Lothian and Borders. Der Mörder hatte angerufen und ein Geständnis abgelegt, war dann in Panik geraten und hatte versucht zu entkommen, nur um beim Verlassen des Tatorts gefasst zu werden. Ende der Geschichte. Bloß, dass er jetzt seine Unschuld beteuerte. Sie beteuerte, in die Welt hinausschrie und brüllte. Und das gab Detective Inspector John Rebus zu denken, gab ihm den ganzen Weg von seinem Büro bis zum vierstöckigen Mietshaus im trendigen Hafenbezirk von Leith über zu denken. Die Mietshäuser sahen hier praktisch genauso aus wie in jedem anderen Edinburgher Arbeiterviertel auch, außer dass sie mit knallbunten Rollläden oder chinesischen Bambusdingern an den Fenstern prahlten, ihre verrußten Steinfassaden mit dem Hochdruckreiniger abgespritzt worden waren und ihre Türen jetzt eindringlingsichere Gegensprechanlagen besaßen. Schon was anderes als die schmierigen Jalousien und eingetretenen Haustüren der Mietskasernen in der Easter Road oder in Gorgie, oder sogar in den angrenzenden Vierteln von Leith selbst, die sich die Immobilienspekulanten noch nicht vorgenommen hatten. Das Opfer, so viel wusste Rebus, hatte als Anwaltssekretärin gearbeitet. Sie war vierundzwanzig Jahre alt gewesen. Ihr Name war Moira Bitter. Darüber musste Rebus lächeln. Es war ein schuldbewusstes Lächeln, aber so früh 3 am Morgen war jede Art von Lächeln bei ihm schon ein mittleres Wunder. Er parkte vor dem Mietshaus, von einem Uniformierten eingewiesen, der die übel verbeulte Stoßstange von Rebus' Wagen erkannt hatte. Es ging das Gerücht, die Beule rühre daher, dass er zu viele alte Damen über den Haufen gefahren habe, und warum hätte Rebus das bestreiten sollen? Das war der Stoff, aus dem Mythen entstanden, und solche Mythen erhöhten sein Ansehen bei den eingeschüchterten jungen Rekruten. An einem der Erdgeschossfenster bewegte sich eine Gardine, und Rebus sah für einen Augenblick eine ältere Dame. Jedes Mietshaus, ob aufgemotzt oder nicht, verfügte offenbar über eine hauseigene ältere Dame. Alleinstehend, mit einem Hund oder vier Katzen als Gesellschaft, war sie Auge und Ohr des Gebäudes. Als Rebus den Hausflur betrat, öffnete sich eine Tür, und die alte Dame streckte den Kopf heraus. »Er wollte weglaufen«, flüsterte sie. »Aber der Bobby hat ihn geschnappt. Ich hab's gesehen. Ist das Mädel tot? Geht's darum?« Ihre Lippen waren in sensationsgierigem Grauen geschürzt. Rebus lächelte, sagte aber nichts. Sie würde es schon noch früh genug
erfahren. Sie schien schon jetzt so viel wie er selbst zu wissen. Das war das Problem, wenn man in einer Stadt von der Größe einer Kleinstadt wohnte, einer Kleinstadt mit einer Dorfmentalität. Während er langsam die vier Treppen hinaufstieg, hörte er sich den Bericht des Constable an, der ihn unerbittlich dahin führte, wo die Leiche der Moira Bitter lag. Sie sprachen mit gedämpfter Stimme - Treppenhauswände hatten Ohren. »Der Anruf kam um fünf Uhr, Sir«, erklärte PC MacManus. »Der Anrufer gab seinen Namen mit John MacFar-lane an und sagte, er habe gerade seine Freundin ermor 4 det. Er soll sehr verwirrt geklungen haben, und ich erhielt per Funk den Auftrag, der Sache nachzugehen. Als ich eintraf, kam ein Mann gerade die Treppe heruntergerannt. Er schien unter Schock zu stehen.« »Schock?« »Irgendwie durcheinander, Sir.« »Hat er etwas gesagt?«, fragte Rebus. »Ja, Sir, er sagte: >Gott sei Dank, dass Sie da sind. Moi-ra ist tot.< Dann habe ich ihn gebeten, mich zur fraglichen Wohnung hinaufzubegleiten, habe Unterstützung angefordert, und der Gentleman wurde festgenommen.« Rebus nickte. MacManus war ein Muster an Effizienz, nie ein falsches Wort, immer genau der richtige Ton. Alles streng nach Lehrbuch und durch nicht allzu viel eigenes Nachdenken beeinträchtigt. Er würde es als Uniformierter weit bringen, aber Rebus bezweifelte, dass der junge Mann es je zum CID schaffte. Als sie den vierten Stock erreichten, verschnaufte Rebus kurz und betrat dann die Wohnung. Die Pastelltöne der Diele setzten sich im Wohn- und Schlafzimmer fort. Gedämpfte Farben, zugleich warm und dezent. Das Blut hatte allerdings nichts Dezentes an sich. Blut gab es reichlich. Moira Bitter lag quer hingestreckt auf ihrem Bett, ihre Brust eine einzige Farborgie. Sie trug einen apfelgrünen Pyjama, und ihr Haar war seidig blond. Der Polizeipathologe untersuchte gerade ihren Kopf. »Sie ist seit ungefähr drei Stunden tot«, teilte er Rebus mit. »Drei oder vier Einstiche mit einem kleinen scharfen Gegenstand, den ich der Einfachheit halber als Messer bezeichnen werde. Nach der Obduktion kann ich Genaueres sagen.« Rebus nickte und wandte sich MacManus zu, dessen Gesicht eine ungesunde graue Färbung angenommen hatte. »Ihr erstes Mal?«, fragte Rebus. Der Constable nickte be 4 dächtig. »Machen Sie sich nichts draus«, fuhr Rebus fort. »Man gewöhnt sich sowieso nie daran. Kommen Sie.« Er führte den Constable aus dem Zimmer und zurück in die kleine Diele. »Dieser Mann, den wir festgenommen haben, wie war noch mal sein Name?« »John MacFarlane, Sir«, antwortete der Constable, tief durchatmend. »Er ist offenbar der Freund der Verstorbenen.« »Sie sagten, er schien unter Schock zu stehen. Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen?« Der Constable runzelte konzentriert die Stirn. »Zum Beispiel, Sir?«, fragte er endlich. »Blut«, sagte Rebus kühl. »Man kann nicht im Affekt auf jemanden einstechen, ohne Blutspritzer abzubekommen.« MacManus schwieg. Eindeutig kein CID-Material, und möglicherweise zum allerersten Mal mit dieser Erkenntnis konfrontiert. Rebus ließ ihn stehen und betrat das Wohnzimmer. Es wirkte fast zwanghaft ordentlich. Illustrierte und Zeitungen in ihrem Ständer neben dem Sofa. Ein Couchtisch aus Chrom und Glas, darauf nichts anderes als ein sauberer Aschenbecher und ein Liebesromänchen. Das Ganze hätte geradewegs aus einer Schöner-Wohnen-Aus-stellung stammen können. Keine Familienfotos, keinerlei Krimskrams. Das war die Behausung einer Individualistin. Keinerlei Bindungen an die
Vergangenheit, und eine Gegenwart, die en bloc im Einrichtungsdiscounter erworben worden war. Nichts deutete auf einen Kampf hin. Nichts deutete überhaupt auf irgendeine Form von Begegnung hin: keine Gläser oder Kaffeetassen. Der Mörder hatte sich nicht unnötig lang in der Wohnung aufgehalten, oder falls doch, hatte er dabei sehr darauf geachtet, keine Unordnung zu hinterlassen. Rebus ging in die Küche. Auch sie war tadellos aufgeräumt. Tassen und Teller, neben der leeren Spüle zum 5 Trocknen gestapelt. Im Abtropfgestell Messer, Gabeln, Teelöffel. Keine Mordwaffe. In und neben der Spüle gab es Wasserspritzer, aber Geschirr und Besteck sahen trocken aus. Hinter der Tür hing ein Geschirrtuch, und Rebus tastete es ab. Es war feucht. Er nahm es sich gründlicher vor und entdeckte einen kleinen Fleck. Vielleicht Soße oder Schokolade. Oder Blut. Jemand hatte vor kurzem etwas damit abgetrocknet - aber was? Er ging zur Besteckschublade und zog sie auf. Unter verschiedenen anderen Dingen lag darin ein Gemüsemesser mit kurzer Klinge und einem schweren schwarzen Griff. Ein Qualitätsmesser, scharf und blank. Alle übrigen Besteckstücke in der Schublade waren knochentrocken, aber der Holzgriff dieses Gemüsemessers fühlte sich feucht an. Rebus war sich sicher: Er hatte die Mordwaffe gefunden. Aber clever von MacFarlane, das Messer gereinigt und wieder weggeräumt zu haben. Gelassen und ruhig gehandelt. Moira Bitter war seit drei Stunden tot. Der Anruf war vor einer Stunde bei der Polizeiwache eingegangen. Was hatte MacFarlane während der verbliebenen zwei Stunden gemacht? Die Wohnung geputzt? Das Geschirr gespült und abgetrocknet? Rebus warf einen Blick in den Abfalleimer, fand aber keine weiteren Spuren, keine zerbrochenen Nippes, nichts, was auf einen Kampf hingedeutet hätte. Und wenn es keinen Kampf gegeben hatte, wenn der Mörder in das Haus und in Moira Bitters Wohnung gelangt war, ohne Gewalt anwenden zu müssen... wenn all das zutraf, dann hatte Moira ihren Mörder gekannt. Rebus ging den Rest der Wohnung ab, fand aber keine weiteren Spuren. Neben dem Telefon, in der Diele, befand sich ein Anrufbeantworter. Er spielte das Band ab und hörte Moira Bitters Stimme. »Hallo, hier ist Moira. Ich bin nicht da, im Bad oder anderweitig beschäftigt.« (Ein Kichern.) »Hinterlassen Sie 5 eine Nachricht, und ich rufe Sie zurück, sofern Sie nicht wie ein Langweiler klingen.« Es gab nur eine Nachricht. Rebus hörte sie ab, spulte dann das Band zurück und hörte sie sich noch einmal an. »Hallo, Moira, John hier. Ich hab deine Nachricht erhalten. Ich komm vorbei. Ich hoffe, du bist nicht >anderweitig beschäftigte Ich liebe dich.« John MacFarlane: Rebus zweifelte nicht an der Identität des Anrufers. Moira klang auf ihrer Ansage frech und unbekümmert. Aber deutete MacFarlanes Reaktion auf Eifersucht hin? Vielleicht war sie ja anderweitig beschäftigt gewesen, als er auftauchte. Er hatte die Beherrschung verloren, blinde Wut, ein griffbereit liegendes Messer. Rebus hatte das alles schon erlebt. Die meisten Opfer kannten ihre Mörder. Wäre das nicht der Fall, würde die Polizei nicht so viele Verbrechen aufklären. Das war eine schlichte und einfache Tatsache. Man verrammelte seine Tür vor dem Psychopathen mit der Kettensäge, nur um vom Liebhaber, Ehemann, Sohn oder Nachbar ein Messer in den Rücken zu kriegen. John MacFarlane war so schuldig, da biss die Maus keinen Faden ab. Man würde Blut an seiner Kleidung finden, auch wenn er versucht hatte, es zu entfernen. Er hatte seine
Freundin erstochen, sich dann beruhigt und die Polizei angerufen, um die Tat anzuzeigen, es dann aber mit der Angst zu tun bekommen und versucht zu fliehen. Die einzige Frage, die Rebus noch beschäftigte, war das Warum. Das Warum und diese zwei fehlenden Stunden. Edinburgh bei Nacht. Ein gelegentliches Taxi, das über Kopfsteinpflaster holperte, und einsame dunkle Gestalten, die mit Händen in den Taschen und hochgezogenen Schultern nach Hause schlurften. Während der Nachtstunden starben die Kranken und Alten friedlich, sei es zu 6 Hause oder in irgendeinem Krankenhauszimmer. Zwei bis vier Uhr früh: die toten Stunden. Und dann starben einige qualvoll, das nackte Grauen in den Augen. Die Taxis rumpelten weiter vorüber, die Nachtmenschen gingen weiter ihrer Wege. Rebus hockte in seinem Auto, wartete vor Ampeln, verpasste das Grün, kam erst wieder zu sich, wenn Gelb erneut auf Rot schaltete. Die Glasgow Rangers kamen am Samstag in die Stadt. Es würde gewalttätige Ausschreitungen geben. Der Gedanke beunruhigte Rebus nicht weiter. Selbst der übelste Hooligan hätte wahrscheinlich nicht mit einer solchen Blutrünstigkeit wie Moira Bitters Mörder zustechen können. Rebus senkte den Blick. Er steigerte sich bewusst in Wut hinein, Lust auf Konfrontation. Auf Konfrontation mit dem Mörder. John MacFarlane weinte, als man ihn in den Vernehmungsraum führte, wo Rebus es sich, Zigarette in der einen, Kaffee in der anderen Hand, demonstrativ bequem gemacht hatte. Rebus hatte alles Mögliche erwartet, aber keine Tränen. »Möchten Sie etwas trinken?«, fragte er. MacFarlane schüttelte den Kopf. Er war auf seinem Stuhl auf der anderen Seite des Tisches in sich zusammengesackt, mit hängenden Schultern, gesenktem Kopf, und kämpfte weiterhin mit den Tränen. Er murmelte etwas. »Das habe ich nicht verstanden«, sagte Rebus. »Ich hab gesagt, dass ich es nicht war«, antwortete MacFarlane leise. »Wie hätte ich es tun können? Ich liebe Moira.« Rebus nahm das Präsens zur Kenntnis. Er deutete auf das Bandgerät auf dem Tisch. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich unser Gespräch aufzeichne?« Wieder schüttelte MacFarlane den Kopf. Rebus schaltete das Gerät ein. Er schnippte Zigarettenasche auf den Fußboden, nahm einen 6 Schluck von seinem Kaffee und wartete. Schließlich sah MacFarlane auf. Seine Augen waren rot. Rebus starrte scharf in diese Augen, sagte aber immer noch nichts. MacFarlane schien sich allmählich zu beruhigen und auch zu wissen, was von ihm erwartet wurde. Er bat um eine Zigarette, bekam eine und begann zu reden. »Ich war im Wagen unterwegs gewesen. Bin einfach so rumgefahren und hab nachgedacht.« Rebus unterbrach ihn. »Um wie viel Uhr war das?« »Na ja«, antwortete MacFarlane, »seit ich von der Arbeit weg bin, würde ich sagen. Ich bin Architekt. Zurzeit läuft die Ausschreibung für den Entwurf eines neuen Kunstgalerieund Museumskomplexes in Stirling. Unsere Firma will sich bewerben. Wir hatten fast den ganzen Tag über Ideen diskutiert, Sie wissen schon, ein Brainstorming veranstaltet.« Rebus nickte. Brainstorming: interessantes Wort. »Und nach der Arbeit«, fuhr MacFarlane fort, »war ich so aufgedreht, dass ich einfach nur herumfahren wollte. Mir die verschiedenen Optionen und Pläne durch den Kopf gehen lassen. Mir überlegen, welcher davon der überzeugendste war -« Er unterbrach sich, vielleicht weil ihm bewusst wurde, dass er zu hastig redete, ohne nachzudenken oder sich vorzusehen. Er schluckte und zog an seiner Zigarette. Rebus musterte währenddessen MacFarlanes Kleidung. Teure Budapester, braune Kordhose, ein
weißes Hemd aus schwerer Baumwolle, wie es Kricketspieler trugen, am Hals offen, ein maßgeschneidertes Tweedjackett. MacFarlanes 3er BMW stand in der Polizeiwerkstatt, wo er momentan unter die Lupe genommen wurde. Man hatte seine Taschen geleert, seine gemusterte Liberty-Krawatte konfisziert, für den Fall, dass er auf die Idee kommen sollte, sich aufzuhängen. Die Schnürsenkel seiner Schuhe hatte man ihm bei der Gelegenheit ebenfalls abgenommen. Rebus hat 7 te sich angesehen, was man bei ihm gefunden hatte: eine Brieftasche, die nicht gerade von Geldscheinen überquoll, aber eine ordentliche Auswahl an Kreditkarten enthielt. Weitere Karten steckten in seinem Terminplaner. Rebus blätterte die Tageskalenderseiten durch, schaute sich dann den Notizen- und Adressenteil an. MacFarlane schien ein reges, aber durchaus normales Privatleben zu führen. Jetzt musterte Rebus ihn selbst über den alten Tisch hinweg. MacFarlane war gut gebaut, auch gut aussehend, wenn man auf den Typ stand. Er wirkte kräftig, aber nicht brutal. Wahrscheinlich würde er als der »Yuppie-Killer« in die lokalen Schlagzeilen kommen. Rebus drückte seine Zigarette aus. »Wir wissen, dass Sie es getan haben, John. Das steht gar nicht zur Debatte. Wir wollen lediglich wissen, warum.« MacFarlanes Stimme zitterte. »Ich schwöre, ich war's nicht, ich schwöre es.« »Sie werden sich schon ein bisschen mehr einfallen lassen müssen.« Rebus schwieg ein Weilchen. Tränen fielen auf MacFarlanes Kordhose. »Erzählen Sie weiter«, sagte er. MacFarlane zuckte die Schultern. »Das war's in etwa«, erklärte er und wischte sich die Nase mit dem Hemdsärmel ab. Rebus half ihm auf die Sprünge. »Sie haben nirgendwo angehalten, um zu tanken, etwas zu essen oder sonst was in der Art?« Er klang skeptisch. MacFarlane schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin einfach nur gefahren, bis ich wieder einen klaren Kopf hatte. Ich bin bis ganz rauf zur Förth Road Bridge. Bin abgebogen und rein nach Queensferry. Bin ausgestiegen, um einen Blick aufs Wasser zu werfen. Hab ein paar Steine reingeworfen, weil's Glück bringt.« Er lächelte bitter. »Dann bin ich die Küstenstraße entlang und zurück nach Edinburgh.« 7 »Und niemand hat Sie gesehen? Sie haben mit niemandem gesprochen?« »Nicht, soweit ich mich erinnern kann.« »Und Sie sind nicht irgendwann hungrig geworden?« Rebus klang absolut nicht überzeugt. »Wir hatten ein Geschäftsessen mit einem Kunden gehabt. Wir waren im Eyrie. Nach einem Lunch dort habe ich selten vor dem nächsten Morgen wieder Hunger.« Der Eyrie war Edinburghs teuerstes Restaurant. Man ging da nicht hin, um zu essen, man ging dahin, um Geld auszugeben. Rebus hätte jetzt durchaus was zwischen die Zähne gebrauchen können. Die Bacon-Sandwiches, die es in der Kantine gab, waren gar nicht so übel. »Wann haben Sie Miss Bitter zuletzt lebend gesehen?« Beim Wort »lebend« schauderte MacFarlane. Seine Antwort ließ lange auf sich warten. Rebus sah den Tonbandspulen dabei zu, wie sie sich drehten. »Gestern Morgen«, sagte MacFarlane endlich. »Sie war über Nacht bei mir geblieben.« »Wie lange kannten Sie sie?« »Seit ungefähr einem Jahr. Aber ich hatte erst vor ein paar Monaten angefangen, mit ihr auszugehen.« »Ach ja? Und wie war Ihr Verhältnis bis dahin?« MacFarlane schwieg kurz. »Sie war Kenneths Freundin«, sagte er endlich.
»Und Kenneth ist -« Bevor MacFarlane sprach, röteten sich seine Wangen. »Mein bester Freund«, erwiderte er. »Kenneth war mein bester Freund. Man könnte sagen, ich habe sie ihm ausgespannt. So was kommt vor, oder?« Rebus hob eine Augenbraue. »Tut es das?«, erkundigte er sich. MacFarlane senkte erneut den Kopf. »Könnte ich einen Kaffee haben?«, fragte er leise. Rebus nickte und zündete sich eine weitere Zigarette an. 8 Während MacFarlane seinen Kaffee trank, hielt er die Tasse mit beiden Händen umklammert, wie der Überlebende eines Schiffbruchs. Rebus rieb sich die Nase und streckte sich, müde. Er sah auf seine Uhr. Acht Uhr morgens. Was für ein Leben. Er hatte zwei Bacon-Brötchen verspeist, und ein dünner Streifen Schwarte ringelte sich vor ihm auf dem Teller. MacFarlane hatte nichts essen wollen, aber seine erste Tasse Kaffee in zwei großen Schlucken geleert und dankbar eine zweite angenommen. »Also«, sagte Rebus, »Sie sind in die Stadt zurückgefahren.« »Ja.« MacFarlane nahm einen weiteren Schluck Kaffee. »Ich weiß nicht, warum, aber mir kam dann der Gedanke, dass ich meinen Anrufbeantworter abhören könnte.« »Sie meinen, als Sie wieder zu Haus waren?« MacFarlane schüttelte den Kopf. »Nein, vom Wagen aus. Ich habe vom Autotelefon aus bei mir zu Hause angerufen und den Anrufbeantworter per Fernabfrage aktiviert.« Rebus war beeindruckt. »Raffiniert«, sagte er. MacFarlane lächelte schwach, aber das Lächeln verblasste rasch. »Eine der Nachrichten war von Moira«, sagte er. »Sie wollte mich sehen.« »Um die Uhrzeit?« MacFarlane zuckte die Schultern. »Sagte sie, warum sie Sie sehen wollte?« »Nein. Sie klang... seltsam.« »Seltsam?« »Leicht... ich weiß nicht, reserviert vielleicht.« »Hatten Sie den Eindruck, dass sie allein war, als sie anrief?« »Ich hab keine Ahnung.« »Haben Sie sie zurückgerufen?« »Ja. Ihr Anrufbeantworter war dran. Ich habe eine Nachricht hinterlassen.« 8 »Würden Sie sich als einen eifersüchtigen Menschen bezeichnen, Mr. MacFarlane?« »Was?« MacFarlane klang so, als überraschte ihn die Frage. Er schien ernsthaft darüber nachzudenken. »Nicht eifersüchtiger als jeder andere auch«, sagte er endlich. »Warum hätte jemand Moira töten wollen?« MacFarlane starrte auf den Tisch und schüttelte langsam den Kopf. »Weiter«, sagte Rebus mit einem Seufzer, allmählich am Ende seiner Geduld. »Sie hatten gerade erzählt, wie Sie Moiras Nachricht gehört haben.« »Na ja, ich bin geradewegs zu ihr gefahren. Es war spät, aber ich wusste, ich konnte jederzeit zu ihr, auch wenn sie schlafen sollte.« »Ach?« Rebus horchte auf. »Und zwar wie?« »Ich hatte einen Schlüssel zu ihrer Wohnung«, erklärte MacFarlane. Rebus stand auf und ging, tief in Gedanken, quer durchs Zimmer und wieder zurück. »Sie wissen nicht zufällig«, sagte er, »wann Moira Sie angerufen hat?« MacFarlane schüttelte den Kopf. »Aber der AB dürfte die Uhrzeit aufgezeichnet haben«, antwortete er. Rebus kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Technik war eine wunderbare Sache. Aber auch über MacFarlane musste er staunen. Wenn der Mann ein Mörder war, dann ein sehr guter, denn er hatte Rebus dazu gebracht, ihn für unschuldig
zu halten. Es war verrückt. Rein gar nichts deutete darauf hin, dass er nicht der Täter gewesen wäre. Aber trotzdem, ein Gefühl war ein Gefühl, und Rebus hatte ganz eindeutig so ein Gefühl. »Ich will dieses Gerät sehen«, sagte er. »Und ich will die Nachricht darauf hören. Ich will Moiras letzte Worte hören.« 9 Es war interessant festzustellen, wie kompliziert selbst die simpelsten Fälle werden konnten. In Rebus' Umgebung hegte nach wie vor niemand - weder seine Vorgesetzten noch seine Untergebenen - einen Zweifel daran, dass John MacFarlane des Mordes schuldig war. Sie hatten sämtliche Beweise, die sie brauchten - von A bis Z Indizienbeweise. MacFarlanes Wagen war sauber: keine blutbefleckten Kleidungsstücke im Kofferraum. Auf dem Gemüsemesser gab es keine Fingerabdrücke, während man überall sonst in der Wohnung MacFarlanes Abdrücke fand - was nicht weiter verwunderlich war, wenn man bedachte, dass er sich in der fraglichen Nacht sowie in etlichen Nächten davor dort aufgehalten hatte. Ebenso wenig Abdrücke an der Küchenspüle oder den Wasserhähnen, obwohl der Mörder ein blutiges Messer abgespült hatte. Rebus fand das merkwürdig. Und was das Motiv anbelangte: Eifersucht, ein Streit, die Entdeckung eines früheren Seitensprungs. Das CID hatte das alles schon erlebt. Tod durch Erstechen wurde bestätigt und der Todeszeitpunkt auf drei Uhr früh plus minus fünfzehn Minuten eingegrenzt. MacFarlane behauptete, sich zu diesem Zeitpunkt auf dem Weg nach Edinburgh befunden zu haben, konnte aber keine Zeugen zur Bestätigung dieser Behauptung nennen. An MacFarlanes Kleidung hatte man kein Blut gefunden, aber wie Rebus wusste, bedeutete das noch lange nicht, dass er kein Mörder war. Interessanter war allerdings die Tatsache, dass MacFarlane bestritt, die Polizei angerufen zu haben. Aber irgendjemand - und zwar der Mörder Moira Bitters - hatte sie angerufen. Und als sogar noch interessanter entpuppte sich der Anrufbeantworter. Rebus fuhr nach Liberton, um sich MacFarlanes Wohnung anzusehen. Stadteinwärts herrschte reger Verkehr, stadtauswärts war jedoch wenig los. Liberton war eines 9 von Edinburghs zahlreichen anonymen gutbürgerlichen Vierteln, solide Häuser, kleine Läden, eine belebte Durchfahrtsstraße. Es sah um Mitternacht harmlos aus, und bei Tag war es noch ungefährlicher. Was MacFarlane als »Wohnung« bezeichnet hatte, nahm tatsächlich zwei ganze Etagen eines riesigen frei stehenden Hauses ein. Rebus durchstreifte das Gebäude, ohne recht zu wissen, ob er überhaupt nach etwas Bestimmtem suchte. Er fand wenig. MacFarlane führte ein geregeltes, ja geradezu reglementiertes Leben und besaß das zu einem solchen Lebensstil erforderliche Haus. Ein Zimmer war zu einem improvisierten Fitnessraum umfunktioniert worden, mit Hanteln und ähnlichen Trainingsgeräten. Es gab ein geschäftlich genutztes Büro und ein privat genutztes Arbeitszimmer. Sein Schlafzimmer war eindeutig nach männlichem Geschmack eingerichtet, wenngleich ein gerahmter weiblicher Akt in Öl von einer Wand abgehängt und hinter einem Sessel verstaut worden war. Rebus vermutete hier Moira Bitters Einfluss. Im Kleiderschrank fand er einige Sachen und ein Paar Schuhe von ihr. Ein gerahmter Schnappschuss von ihr stand auf MacFarlanes Nachttisch. Rebus betrachtete das Foto lange, seufzte dann, verließ das Schlafzimmer und zog die Tür hinter sich zu. Wann würde John MacFarlane sein Zuhause wohl wiedersehen? Der Anrufbeantworter stand im Wohnzimmer. Rebus spielte die Kassette mit den Anrufen der vergangenen Nacht ab. Moira Bitters Stimme klang abgehackt und
selbstsicher, ihre Mitteilung war kurz und bündig: »Hallo.« Dann eine Pause. »Ich muss dich sehen. Komm vorbei, sobald du diese Nachricht abgehört hast. Ich liebe dich.« MacFarlane hatte Rebus erklärt, dass das Display des Geräts die Anrufzeit anzeigte. Moiras Anruf war um 3.50 Uhr 10 aufgezeichnet worden, knapp fünfundvierzig Minuten nach ihrem Tod. Nun war bei der Bestimmung des Todeszeitpunkts eine gewisse Toleranzbreite immer gegeben, aber mit Sicherheit keine von einer Dreiviertelstunde. Rebus kratzte sich am Kinn und dachte nach. Er spielte das Band noch einmal ab. »Hallo.« Dann die Pause. »Ich muss dich sehen.« Er hielt das Band an und spielte es wieder ab, diesmal in voller Lautstärke, und hielt das Ohr ganz nah ans Gerät. Diese Pause war merkwürdig, und die Klangqualität der Aufzeichnung schlecht. Er spulte zurück und hörte sich einen anderen Anruf vom selben Abend an. Jetzt war die Qualität besser, die Stimme viel klarer. Dann hörte er sich noch einmal Moira an. Waren diese Aufnahmegeräte unfehlbar? Natürlich nicht. Die Zeitanzeige konnte manipuliert worden sein. Die ganze Aufnahme konnte eine Fälschung sein. Wer sagte ihm schließlich, dass das wirklich Moira Bitters Stimme war? Nur John MacFarlane. Aber John MacFarlane war beim Verlassen des Tatorts erwischt worden. Und jetzt fand Rebus so etwas wie ein Alibi für den Mann. Ja, das Band konnte ohne Weiteres eine Fälschung sein, die MacFarlane zur Untermauerung seiner Geschichte aufgenommen, aber dämlicherweise erst nach dem Eintritt des Todes abgespielt hatte. Trotzdem, nach der Bandansage zu urteilen, die Rebus auf Moiras eigenem Anrufbeantworter gehört hatte, konnte das durchaus ihre Stimme sein. Die Jungs im Labor würden das mit ihren Hightech-Apparaten bestimmt rauskriegen. Ein Techniker insbesondere war ihm einen ziemlich großen Gefallen schuldig. Rebus schüttelte den Kopf. Das ergab immer noch nicht allzu viel Sinn. Er spielte das Band wieder und wieder ab. »Hallo.« Pause. »Ich muss dich sehen.« »Hallo.« Pause. »Ich muss dich sehen.« »Hallo.« Pause. »Ich muss -« 10 Und plötzlich lichtete sich der Nebel in seinem Kopf ein wenig. Er holte die Kassette aus dem Gerät und steckte sie ein. Dann nahm er den Telefonhörer ab und rief die Wache an. Er verlangte nach Detective Constable Brian Holmes. Als er seine Stimme hörte, klang sie müde, aber amüsiert. »Sagen Sie nichts«, begann Holmes, »lassen Sie mich raten. Ich soll alles stehen und liegen lassen und eine wichtige Sache für Sie erledigen.« »Sie müssen hellseherisch begabt sein, Brian. Nur - es sind zwei Sachen. Erstens, die Anrufe von letzter Nacht. Besorgen Sie sich von der Telefonzentrale die Bandaufzeichnung, und suchen Sie den Anruf von John MacFarlane heraus, in dem er behauptet, er hätte gerade seine Freundin getötet. Machen Sie davon eine Kopie, und warten Sie auf mich. Ich habe noch eine andere Aufnahme für Sie, und ich möchte, dass beide ins Labor gehen. Warnen Sie die Jungs vor, dass Sie kommen und -« »>- und sagen Sie ihnen, dass es oberste Priorität hatHallo. Ich muss dich sehen.< Nach dem >Hallo< kam eine kurze Pause. Und die Pause war die Stelle, an der das Band geklebt worden war, nachdem der Mörder das hier herausgeschnitten hatte.« Rebus betrachtete das Stückchen Band. »Das eine Wort >KennethHallo, Kenneth, ich muss dich sehen. < Das war Moira Bitter, die zu Ihnen sprach, Mr. Thomson, vor langer Zeit zu Ihnen sprach.« Thomson schleuderte beide Gläser in Richtung Rebus, der sich aber rechtzeitig duckte. Die Gläser stießen über seinem Kopf aneinander und ließen Scherben auf ihn niederregnen. Thomson war schon an der Wohnungstür, hatte sie sogar schon aufgerissen, ehe Rebus ihn erreichte, sich auf ihn stürzte, den jüngeren Mann durch die offene Tür und weiter auf den Treppenabsatz stieß. Thomsons 15 Schädel knallte mit einem dumpfen Ton gegen das Metallgeländer. Er stöhnte einmal auf, bevor er zusammenbrach. Rebus schüttelte die Scherben ab und spürte, wie ein, zwei Glassplitter ihn ritzten, als er sich mit der Hand über das Gesicht fuhr. Er hielt sich die Hand an die Nase und atmete tief ein. Sein Vater hatte ihm immer gesagt, von Whisky würde er Haare auf der Brust bekommen. Rebus fragte sich, ob sich diese magische Wirkung auch an seinen Schläfen und auf seinem Kopf zeigen würde... Es war der perfekte Mord gewesen. Na ja, fast. Aber Kenneth Thomson hatte die Rechnung ohne Rebus' Fähigkeit gemacht, jemanden trotz aller gegenteiligen Beweise für unschuldig zu halten. Die Last der Indizien gegen John MacFarlane war erdrückend gewesen. Doch da Rebus das Gefühl gehabt hatte, dass etwas nicht stimmte, war er gezwungen gewesen, sich andere Szenarien, andere Motive und andere Mittel zum ziemlich grausigen Zweck auszudenken. Es hatte nicht gereicht, dass Moira gestorben, durch jemanden, den sie kannte, getötet worden war. Der Mord sollte außerdem MacFarlane in die Schuhe geschoben werden. Der Mörder hatte es auf beide abgesehen. Aber gehasst hatte er nur Moira, weil ihretwegen nicht nur ein Herz, sondern auch eine Freundschaft zerbrochen war. Rebus stand auf der Vortreppe der Polizeiwache. Thomson saß in einer Zelle irgendwo im Untergeschoss und legte ein volles Geständnis ab. Er würde ins Gefängnis kommen, während sich John MacFarlane, vielleicht ohne sich seines Dusels so recht bewusst zu sein, bereits auf freiem Fuß befand. Auf den Straßen war inzwischen einiges los. Mittagsverkehr, die vertrauten Geräusche des Alltags. Sogar die Sonne schaffte es, mit Ach und Krach aus den Federn zu kom15
men. Was Rebus insgesamt daran erinnerte, dass sein Tag zu Ende war, dass es jetzt alles in allem für ihn an der Zeit war, nach Hause zu fahren, unter die Dusche zu gehen und sich umzuziehen und, so Gott und der Teufel wollten, eine Runde zu schlafen.
Der Fluch des Hauses Dean Für die Bewohner von Barnton war er entweder »der Brigadier« oder »dieser Armytyp, der West Lodge gekauft hat«. West Lodge war ein riesiges, aber bis vor kurzem vernachlässigtes Herrenhaus auf einem ummauerten halben Hektar Wiese und Wald. Den meisten Einheimischen war es nur recht, dass die hohe Mauer das Haus verbarg, da sie es zu eckig und neugotisch für den modernen Geschmack fanden. Zweifellos war es für die Bedürfnisse eines Witwers und seiner niemals lächelnden Tochter ziemlich groß. Mrs. MacLennan, die beim Brigadier putzte, wurde von neugierigen Nachbarn gelöchert, konnte aber lediglich berichten, dass Brigadegeneral Dean einige Renovierungsarbeiten hatte durchführen lassen, dass der größte Teil des Hauses bewohnbar und aus einem Zimmer eine Bibliothek geworden war, aus einem anderen ein Billardzimmer, aus wieder einem anderen ein Arbeitszimmer, aus einem noch anderen ein Fitnessraum und so weiter. Die Zuhörer sogen das alles gierig in sich auf, aber es war ihnen nie genug. Was war mit der Tochter? Aus was für einer Familie stammte der Brigadier? Was war mit seiner Frau passiert? Ladenbesitzer wurden ebenfalls nach ihrer Meinung gefragt. Der Brigadier fuhr ein Sportkabrio, das mit viel Gedonner vor dem einen oder anderen Laden zu halten pflegte, wo Dean dann ein paar Sachen einkaufte, darunter - jeden Tag um dieselbe Zeit - eine Flasche Schnaps in dem eleganteren der zwei Spirituosengeschäfte am Platz. 16 Der Lebensmittelhändler, Bob Sladden, vertrat die Ansicht, dass Brigadegeneral Dean in der näheren Umgebung geboren sei und sogar, als Kind, ein paar Jahre lang in West Lodge gewohnt und eben wegen der heiteren Erinnerungen sich jetzt dort zur Ruhe gesetzt habe. Miss Dalrymple jedoch, mit dreiundneunzig die Älteste in diesem Teil von Barnton, konnte sich keiner Familie namens Dean entsinnen, die je in West Lodge gewohnt hätte. Ja, konnte sich überhaupt keiner Deans erinnern, die je in dieser Ecke von Barnton gewohnt hätten, ausgenommen Sam Dean. Doch wenn man sie nach Sam Dean fragte, schüttelte sie lediglich den Kopf und sagte: »Der taugte nichts, der Bursche, und er hat gekriegt, was er verdiente. Dafür hat der Weltkrieg schon gesorgt.« Dann nickte sie nachdenklich, und alle waren so schlau wie vorher. Je weniger neue Fakten zutage kamen, desto wilder schössen die Spekulationen ins Kraut, und eines Nachmittags wartete ein junger arbeitsloser Gipser namens Willie Barr im Claymore - einem Lokal, das der Brigadier nie mit seiner Anwesenheit beehrte (und wer, bitte schön, hatte je von einem Army-Mann gehört, der nicht für ein gelegentliches Gläschen zu haben gewesen wäre?) - mit einer brandneuen Theorie auf. »Vielleicht ist Dean ja gar nicht sein richtiger Name.« Doch alle, die um den Billardtisch herumstanden, lachten nur darüber. Willie zuckte mit den Achseln und bereitete sich auf den nächsten Stoß vor. »Tja«, sagte er, »richtiger Name oder nicht, dem seine Tochter würd ich ganz bestimmt nicht von der Bettkante stoßen.« Dann spielte er eine Kugel über die Bande an, verfehlte sie aber. Verfehlte sie, nicht weil es ein besonders schwieriger Stoß gewesen wäre oder er zu viele Pints Snakebite intus gehabt hätte, sondern weil sein Stoßarm beim Knall der Explosion zuckte. 16 Es war schon ein schickes Auto, keine Frage: ein knallrotes Jaguar XJ-S Kabrio. Jeder in Barnton hätte es auf den ersten Blick erkannt. Außerdem war jeder daran gewöhnt, es mit
donnerndem Motor an den Straßenrand fahren und dann zufrieden vor sich hin brummen zu hören, während der Brigadier seine täglichen Einkäufe erledigte. Manche beklagten sich - aber immer nur hinter seinem Rücken -über den Lärm, über die Abgase. Keiner konnte sich erklären, warum er den Motor nie abstellte. Er schien immer fluchtbereit sein zu wollen. An diesem bestimmten Nachmittag gelang die Flucht sogar noch schneller als sonst: Mit quietschenden Reifen schoss der Wagen auf die Fahrbahn und brauste an den Läden vorbei. Der Fahrer schien fest entschlossen zu sein, die rote Ampel an der belebten Kreuzung zu überfahren. Er kam nicht mehr dazu. Wo eben noch der Wagen gewesen war, gab es jetzt einen Feuerball und einen Knall, bei dem einem das Herz stehen blieb. Verbogenes Blech flog in die Luft und dann wieder herunter und verletzte Passanten, versengte Haut. Schaufenster gingen zu Bruch, scharfe Glasscherben fanden weiche Ziele. Die Ampel schaltete auf Grün, aber nichts rührte sich auf der Straße. Einen Augenblick lang herrschte Stille, lediglich unterbrochen von dem Geschepper, mit dem Einzelteile - Tacho, Scheinwerfer, ja sogar das Lenkrad - an Mutter Erdes Brust knallten. Dann ging das Geschrei los, als Einzelnen bewusst wurde, dass sie verletzt waren. Noch grauenerregender war das Schweigen, die stummen, entsetzten Gesichter der Menschen, die diesen Augenblick niemals vergessen, die von nun an jede Nacht aus dem Schlaf schrecken würden. Und dann erschien ein Mann in einer Tür, der Tür des bis vor wenigen Augenblicken noch unversehrten Weingeschäfts. Er hielt eine sorgfältig in grünes Papier eingeschla 17 gene Flasche in der Hand, und sein Mund stand vor Verblüffung offen. Als er sah, dass sein Auto nicht da stand, wo er es abgestellt hatte, als er begriff, dass das Motordonnern, das er gehört hatte und das ihm irgendwie bekannt vorgekommen war, tatsächlich von seinem davonfahrenden Wagen gestammt hatte, zerschellte die Flasche auf dem Boden. Auf dem Bürgersteig, direkt zu seinen Füßen, lag einer seiner Autohandschuhe. Er schwelte noch. Erst fünf Minuten zuvor hatte er auf dem lederbezogenen Beifahrersitz des Jaguars gelegen. Der Weinhändler stand jetzt neben ihm, bleich und zitternd, und brauchte sichtlich einen Drink. Der Brigadegeneral deutete mit einem Nicken auf das Wrack seines schnittigen roten Jaguars. »Da hätte ich drinsitzen sollen«, sagte er. Dann: »Hätten Sie was dagegen, wenn ich kurz bei Ihnen telefoniere?« Rebus schleuderte den Fluch des Hauses Dain in die Luft, so dass das Buch der Decke seines Wohnzimmers wirbelnd entgegenflog. Kurz vor Erreichen seines Ziels erlag es der Schwerkraft, fiel wie ein Stein herunter und knallte aufgeschlagen auf den nackten Fußboden. Es war eine billige Ausgabe, antiquarisch gekauft und ziemlich zerlesen. Aber nicht von Rebus; er war bis zum Anfang des dritten Teils, »Quesada«, gekommen, als er endgültig aufgab und das, was viele für Hammetts besten Roman halten, in die Luft schmiss. Beim Aufprall lösten sich Buchseiten vom Rücken und Kapitel in ihre Einzelteile auf. Rebus knurrte. Wie vom Ableben des Buches dazu angeregt, hatte das Telefon angefangen zu klingeln. Leise, beharrlich. Rebus hob den Apparat auf und musterte ihn. Es war sechs Uhr abends seines ersten freien Tages seit, wie ihm schien, Monaten. Wer mochte ihn anrufen? Geschäftlich oder privat? Und was von beidem wäre ihm lieber gewesen? Er nahm ab. »Ja?« In unverbindlichem Ton. 17 »DI Rebus?« Also dienstlich. Rebus grunzte etwas Bestätigendes. »DC Coupar am Apparat, Sir. Der Chief meinte, das würde Sie vielleicht interessieren.« Er legte eine Kunstpause ein. »In Barnton ist gerade eine Bombe hochgegangen.« Rebus starrte auf die bedruckten Seiten, die überall auf dem Fußboden herumlagen. Er bat den Detective Constable, die Meldung zu wiederholen.
»Eine Bombe, Sir. In Barnton.« »Was? Sie meinen, ein Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg?« »Nein, Sir. Nichts dergleichen. Überhaupt nichts dergleichen.« Ein Gedichtvers ging Rebus durch den Kopf, während er zu einem der zahlreichen ruhigen, gutbürgerlichen Vororte Edinburghs hinausfuhr, einem dieser Orte, in denen nichts passierte, dieser Orte, in denen sich die Kriminalstatistik in einem versuchten Einbruch oder einem Fahrraddiebstahl pro Jahr erschöpfte. Genau so war Barnton. Der Vers handelte aber nicht von Barnton. Er handelte von Slough. Das habe ich mir selbst zuzuschreiben, dachte Rebus; was musste ich mich auch darüber aufregen, wie hanebüchen dieses Buch von Hammett war? Unterhaltsam, das schon, aber die Leichtgläubigkeit des Lesers ließ sich nur bis zu einem gewissen Grad beanspruchen. Und Dashiell Hammett hatte den Bogen mehr als überspannt, er hatte sich so ins Zeug gelegt, als ginge es um einen Wettbewerb im Tauziehen. Ein Zufall jagte den anderen, ein Handlungsstrang folgte dem nächsten, Leichen wie vom Fließband. Eindeutig hanebüchen. Aber was sollte Rebus dann von diesem Anruf halten? Er hatte im Kalender nachgesehen: Es war nicht der erste April. Andererseits wäre es Brian 18 Holmes oder einem seiner anderen Kollegen durchaus zuzutrauen gewesen, dass sie ihn reinzulegen versuchten, bloß weil er einen freien Tag hatte, bloß weil er die letzten paar Tage an dem Buch herumgemäkelt hatte. Ja, das trug ganz eindeutig Holmes' Handschrift. Abgesehen von einer Kleinigkeit. Die Meldungen im Radio. Der Polizeifunk war voll davon; und als Rebus sein Autoradio auf den lokalen Privatsender umschaltete, kam es auch dort in den Nachrichten. Meldungen über eine Explosion in Barnton, nicht weit vom Kreisel. Es wird vermutet, dass ein Wagen explodiert ist. Weitere Einzelheiten sind nicht bekannt, man geht allerdings von einer hohen Zahl von Opfern aus. Rebus schüttelte den Kopf und fuhr weiter, dachte wieder an das Gedicht, dachte an alles Mögliche, solang es ihn nur davon abhielt, sich auf die Wahrheit der Meldung zu konzentrieren. Eine Autobombe? Eine Autobombe? In Belfast, klar; gelegentlich vielleicht sogar in London. Aber hier in Edinburgh? Rebus machte sich Vorwürfe. Wenn er nur nicht über Dashiell Hammett gelästert hätte, wenn er sich nur nicht über sein Buch abfällig geäußert hätte, über seine Übertreibungen und melodramatischen Einlagen, wenn er nur nicht... Dann wäre nichts von alldem passiert. Aber natürlich wäre es das doch. War es ja schließlich auch. Die Straße war gesperrt worden. Die Rettungswagen hatten ihre Fracht abtransportiert. Gaffer drängten sich am orange-weißen Band der hastig errichteten Absperrung. Alle bewegte eine einzige Frage: wie viele Tote? Die Antwort schien zu lauten: nur dieser eine. Der Fahrer des Wagens. Ein Bombenräumtrupp der Army war von irgendwoher aufgetaucht und überprüfte jetzt in Ermangelung anderer Betätigungsmöglichkeiten die Läden auf beiden 18 Seiten der Straße. Eine - soweit Rebus feststellen konnte, von weiteren ArmyAngehörigen verstärkte - Reihe von Polizisten bewegte sich, größtenteils auf allen vieren, langsam die Straße entlang, als veranstalteten sie ein Zeitlupenwettrennen. Jeder von ihnen hatte einen Plastiksack dabei, in den er alles, was er fand, hineinsteckte. Es war insgesamt eine Inszenierung von brillant organisiertem Chaos, und Rebus brauchte nicht länger als ein paar Minuten, um den Regisseur des Schauspiels zu entdecken: Superintendent »Farmer« Watson. »Farmer« natürlich nur hinter seinem Rücken - ein Spitzname, der sowohl auf seine nordschottische Herkunft als auch auf seine mitunter recht rustikalen Ermittlungsmethoden anspielte. Rebus beschloss, einen Bogen um seinen
Vorgesetzten zu machen und festzustellen, was er bei den verschiedenen weniger hochrangigen Beamten, die er hier und da sah, erfahren konnte. Er war mit einer Reihe von vorgefassten Meinungen nach Barnton gekommen, und er brauchte eine gewisse Zeit, um sie alle zu revidieren. Zum Beispiel war er davon ausgegangen, der im Wagen aufgefundene, bislang noch nicht identifizierte Tote sei der Besitzer des Wagens und der Bombenanschlag habe ihm gegolten (sämtliche sichergestellten Spuren deuteten einwandfrei eher auf eine Bombe als auf eine spontane Verpuffung oder jede andere, wahrscheinlichere Erklärung hin). Entweder das, oder jemand hatte den Wagen gestohlen oder sich ausgeliehen, und dieser Jemand war ein Terrorist gewesen und von seinem eigenen Sprengsatz in Stücke gerissen worden, bevor er ihn an seinem eigentlichen Bestimmungsort hatte deponieren können. An militärischen Einrichtungen herrschte in der Umgebung von Edinburgh gewiss kein Mangel: Kasernen, Waffenlager, Abhöreinrichtungen. Jenseits des Förth gab es die Marinewerft Rosyth -, oder was von ihr noch übrig war, und dann noch die unterirdische Einrichtung in Pit 19 reavie. Es existierten durchaus mögliche Zielobjekte. Bombe bedeutete Terrorist bedeutete Zielobjekt. So war das immer. Aber nicht in diesem Fall. Diesmal gab es einen wichtigen Unterschied. Die mutmaßliche Zielperson hatte den Wagen verlassen, um kurz in einen Laden zu gehen, und war dadurch dem Anschlag entkommen. Aber während sie sich im Laden aufhielt, hatte jemand versucht, den Wagen zu stehlen, und die Einzelteile dieses Jemand trockneten jetzt auf dem Asphalt unter den Knien der sich vorwärtsrobbenden Polizisten. So viel brachte Rebus in Erfahrung, bevor Superintendent Watson ihn entdeckte, ihn sah, wie er über das Pech des Autodiebs in sich hineinlächelte. Man bekam nicht jeden Tag die Chance, einen Jaguar XJ-S zu stehlen... aber einen ungünstigeren Tag hätte sich der Täter dafür nicht aussuchen können. »Inspector!« Farmer Watson winkte Rebus zu sich, und Rebus bügelte sich das Lächeln aus dem Gesicht und ging zu ihm. Bevor Watson anfangen konnte, ihm all das zu erzählen, was er ohnehin schon wusste, ergriff Rebus selbst das Wort. »Wer war die Zielperson, Sir?« »Ein Mann namens Dean.« Bedeutungsschwangere Pause. »Brigadegeneral a.D. Dean.« Rebus nickte. »Mir war schon aufgefallen, dass hier ziemlich viele Tommys rumkreuchen.« »Wir werden in diesem Fall mit der Army zusammenarbeiten, John. Das ist offenbar so üblich. Und Scotland Yard ist auch noch da. Deren Antiterrorleute.« »Zu viele Köche, wenn Sie mich fragen, Sir.« Watson nickte. »Trotzdem, diese Klugscheißer sollen ja Spezialisten sein.« »Und wir taugen bloß dazu, eine gelegentliche Trunken 19 heit am Steuer oder häusliche Prügeleien aufzuklären, was, Sir?« Die zwei Männer grinsten sich gegenseitig an. Rebus nickte in Richtung des demolierten Autos. »Eine Ahnung, wer am Lenkrad saß?« Watson schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Und auch nicht viel, wo wir ansetzen könnten. Vielleicht müssen wir warten, bis irgendeine Mutter oder Freundin ihn vermisst meldet.« »Nicht einmal eine Beschreibung?« »Keiner der Passanten ist vernehmungsfähig. Jedenfalls noch nicht.« »Und was ist mit Brigadegeneral Wie heißt er nochmal?« »Dean.« »Ja. Wo ist er?«
»Bei sich zu Haus. Ein Arzt hat ihn sich angesehen, aber er scheint soweit in Ordnung zu sein. Steht leicht unter Schock.« »Leicht? Jemand bombt seinem Schlitten den Arsch weg, und er steht leicht unter Schock?« Rebus klang skeptisch. Watsons Blick war auf die vorrückende Reihe von Spurensammlern gerichtet. »Ich hab das Gefühl, dass er schon Schlimmeres erlebt hat.« Er wandte sich Rebus zu. »Warum unterhalten Sie sich nicht einfach ein bisschen mit ihm, John? Verschaffen Sie sich selbst einen Eindruck.« Rebus nickte langsam. »Klar, warum nicht«, erwiderte er. »Hauptsache, man schlägt die Zeit irgendwie tot, was, Sir?« Watson schien auf Anhieb keine passende Antwort einzufallen, und bis er sich eine zurechtgelegt hatte, war Rebus schon, die Hände in den Hosentaschen, wieder durch die Absperrung zurückgeschlendert, ganz wie ein Spaziergänger, der den linden Sommerabend genießt. Erst da er 20 innerte sich der Superintendent, dass das Rebus' freier Tag war. Er fragte sich, ob es so eine brillante Idee gewesen war, ihn zu einem Gespräch mit Brigadegeneral Dean abzukommandieren. Dann lächelte er, als ihm wieder einfiel, dass er John Rebus genau deswegen hierhergerufen hatte, weil ihm irgendetwas nicht ganz koscher erschien. Wenn er es spüren konnte, würde es Rebus ebenfalls spüren und tief buddeln, um an die Wurzeln dieses Gefühls zu gelangen -so tief wie nötig und vielleicht sogar noch tiefer, als es sich für einen Superintendenten gehörte. Ja, es gab Situationen, da erwies sich selbst Detective Inspector Rebus als brauchbar. Es war ein großes Haus. Rebus wäre sogar noch weiter gegangen: Es war größer als das letzte Hotel, in dem er gewohnt hatte - obgleich dem Stil nach nicht unähnlich: eher Horrorfilm als House and Garden. Ein Hotel in Scarborough war das gewesen; drei Tage purer Lust mit einer geschiedenen Angestellten einer Schulkantine. Zu Rebus' Schulzeit waren die Kantinenkräfte noch nicht so gewesen ... oder vielleicht hatte er damals einfach nicht so darauf geachtet. Jetzt achtete er auf alles. Er sah sich auch den Typ in Militäruniform genau an, der die Tür von West Lodge öffnete. Schon am Tor hatte er einiges an Überredungskunst aufbieten müssen, damit die Wache, bestehend aus einem verlegenen PC und zwei unnachgiebigen Soldaten, ihn vorbeiließ. Deswegen hatte er an Scarborough denken müssen - um sich davon abzuhalten, diesen Kommissköpfen in die quadratische Visage zu hauen. Je mehr er sich Brigadegeneral Dean näherte, desto aggressiver und unliebenswürdiger wirkten die Soldaten. Die zwei am Tor waren im Vergleich zu dem an der Haustür die reinsten Lämmer gewesen, und doch war dieser, gemessen an dem einen, der 20 Rebus in ein behaglich eingerichtetes Wohnzimmer führte und ihn aufforderte, da zu warten, die Sanftmut in Person. Rebus hasste das Militär - und das aus gutem Grund. Er hatte das Soldatenleben am eigenen Leib erfahren, und es hatte Spuren in ihm hinterlassen, die einem Traktor alle Ehre gemacht hätten. Traktor? Im Augenblick fühlte es sich eher an, als wäre ein Schützenpanzer durch ihn hindurchgefahren. Dagegen half nur eins. Rebus ging zur Anrichte, schnupperte an der Karaffe, die dort stand, und schenkte sich zwei Fingerbreit Whisky ein. Er leerte gerade das Glas, als die Tür aufging. Rebus hatte heute einfach zu viele vorgefasste Meinungen im Gepäck. Brigadegeneräle waren vierschrötige Männer mit gut durchbluteten Gesichtern, borstigen Schnauz-bärten und Cognacnasen, ein paar angeklatschten silbrigen Haarfusseln und vielleicht sogar
einem Gehstock. Aus dem Dienst schieden sie mit über siebzig aus und brabbelten beim Dinner unentwegt von irgendwelchen Feldzügen. Nicht so Brigadegeneral Dean. Er sah wie Mitte, Ende fünfzig aus, war über eins achtzig groß, hatte ein jugendliches Gesicht und dichtes dunkles Haar. Schlank war er auch noch, keine Spur von Rentnerwanst oder den rot geäderten Wangen eines Portweinpichlers. Er sah doppelt so fit aus, wie Rebus sich fühlte, und für einen kurzen Moment ertappte sich der Polizist tatsächlich dabei, wie er den Rücken streckte und die Schultern straffte. »Gute Idee«, sagte Dean und gesellte sich zu Rebus an die Anrichte. »Darf ich mich anschließen?« Seine Stimme war weich, ohne scharfe Kanten, die Stimme eines gebildeten, kultivierten Mannes. Rebus versuchte, sich Dean dabei vorzustellen, wie er einem Trupp von ungehobelten Tommys Befehle erteilte. Versuchte es und scheiterte. »Detective Inspector Rebus«, stellte er sich vor. »Tut mir 21 leid, Sie zu belästigen, Sir, aber ich hätte da ein paar Fragen —« Dean nickte, während er sein Glas leerte, und bot dann Rebus an, seines nachzufüllen. »Warum nicht?«, meinte Rebus. Aber irgendwie komisch: Er hätte schwören können, dass dieser Whisky kein Whisky, sondern Whiskey war - irischer Whiskey. Weicher als sein schottischer Cousin, irgendwie blasser im Charakter. Rebus nahm auf dem Sofa Platz, Dean in einem gut eingesessenen Sessel. Der Brigadegeneral wünschte släinte, bevor er seinen zweiten Drink in Angriff nahm, und atmete dann geräuschvoll aus. »Früher oder später musste es ja wohl so kommen«, sagte er. »Tatsächlich?« Dean nickte langsam. »Ich habe eine Zeit lang in Ulster gearbeitet. Eine ziemliche Zeit lang. Ich stand vermutlich sehr weit oben auf der Abschussliste und wusste, dass man mich im Visier hatte. Die Army wusste es natürlich auch, aber was soll man da machen? Man kann schließlich nicht für jeden Soldaten, der in den Konflikt verwickelt ist, Bodyguards abstellen, oder?« »Kaum, Sir. Aber ich gehe davon aus, dass Sie Vorsichtsmaßnahmen getroffen haben?« Dean zuckte die Schultern. »Ich stehe weder im Who's Who noch im Telefonbuch. Um ehrlich zu sein, benutze ich nicht einmal meinen Dienstgrad allzu häufig.« »Aber ein Teil Ihrer Post wird doch wohl an Brigadegeneral Dean adressiert sein.« Ein ironisches Lächeln. »Wie kommen Sie denn darauf?« »Worauf, Sir?« »Darauf, dass ich ein hohes Tier wäre. Ich bin kein Brigadegeneral. Ich bin im Rang eines Majors aus dem Dienst ausgeschieden.« 21 »Aber die -« »Die was? Die Leute im Ort? Ja, ich kann mir schon denken, dass Klatsch zu Übertreibungen führt. Sie wissen ja selbst, wie es in einem solchen Kaff zugeht, Inspector. Ein nicht sehr geselliger Neuankömmling. Ein militärisches Auftreten. Sie zählen zwei und zwei zusammen und multiplizieren das Ganze dann mit zehn.« Rebus nickte nachdenklich. »Ich verstehe.«Typisch Watson, selbst bei den elementarsten Dingen schiefzuliegen. »Aber was ich in Bezug auf Ihre Post meinte, bleibt davon unberührt, Sir. Ich frage mich einfach, wie man Sie gefunden hat, verstehen Sie?« Dean lächelte. »Die IRA ist heutzutage ziemlich geschickt, Inspector. Was weiß ich, sie könnte sich in einen Computer gehackt, einen Eingeweihten bestochen haben -oder vielleicht war es auch bloß Glück, purer Zufall.« Er zuckte die Schultern. »Jetzt werden
wir uns wohl überlegen müssen, woanders hinzuziehen, wieder ganz von vorn anzufangen. Arme Jacqueline.« »Jacqueline?« »Meine Tochter. Sie ist oben, furchtbar durcheinander. Sie geht im Oktober auf die Uni. Ihretwegen tut es mir leid.« Rebus machte ein mitfühlendes Gesicht. Er fühlte auch wirklich mit. Das Leben beim Militär und bei der Polizei hatten eines gemeinsam - beide konnten eine verheerende Wirkung auf das Privatleben haben. »Und Ihre Frau, Sir?« »Tot, Inspector. Seit mehreren Jahren.« Dean musterte sein inzwischen leeres Glas. Jetzt sah man ihm sein Alter an, jetzt wirkte er wie jemand, der einen langen Urlaub nötig gehabt hätte. Aber er strahlte noch etwas anderes aus, etwas Kaltes und Hartes. Rebus hatte in der Army - und danach - die verschiedensten Typen von Menschen ken 22 nengelernt. Auf Fassaden fiel er nicht mehr herein, und hinter Major Deans kultivierter Fassade war etwas anderes zu erkennen, etwas aus seiner Vergangenheit. Dean war nicht lediglich ein guter Soldat gewesen. Früher war er lebensgefährlich gewesen. »Haben Sie eine Vermutung, wie man Sie gefunden haben könnte, Sir?« »Ehrlich gesagt, nein.« Dean schloss einen Moment lang die Augen. In seiner Stimme schwang Resignation. »Aber was spielt es auch für eine Rolle, da sie mich gefunden haben?« Er starrte Rebus an. »Und sie können mich wieder finden.« Rebus veränderte seine Haltung. Herr Jesus, was für eine Vorstellung. Was für eine... tja, Zeitbombe. Ständig auf der Hut zu sein, ständig in Erwartung, ständig in Angst. Und nicht nur um sich selbst. »Ich würde mich gern mit Jacqueline unterhalten, Sir. Es könnte sein, dass sie eine Ahnung hat, wie es die Leute geschafft haben -« Aber Dean schüttelte den Kopf. »Nicht jetzt, Inspector. Noch nicht. Ich möchte sie nicht nun, Sie verstehen. Außerdem könnte ich mir vorstellen, dass Ihnen die Sache spätestens morgen aus der Hand genommen wird. Ich glaube, ein paar Leute von der Antiterrorabteilung sind auf dem Weg hierher. Und wenn die und die Army sich der Sache annehmen... nun, wie gesagt, dann haben Sie nichts mehr damit zu tun.« Rebus verspürte wieder ein Kribbeln. Aber Dean hatte schließlich recht. Wozu sich jetzt noch ein Bein ausreißen, wenn sich schon morgen jemand anders mit dem Fall herumschlagen würde? Rebus schürzte die Lippen, nickte und stand auf. »Ich begleite Sie zur Tür«, sagte der Major und nahm Rebus das leere Glas ab. 22 Als sie in die Eingangshalle kamen, erhaschte Rebus einen Blick auf eine junge Frau vermutlich Jacqueline Dean. Sie hatte am Fuß der Treppe, neben dem Telefontisch gestanden, stieg jetzt aber langsam die Treppe hinauf, eine schmale weiße Hand auf dem Geländer. Auch Dean sah ihr nach. Dann drehte er sich mit einem halben Lächeln, einem halben Achselzucken zu Rebus. »Sie ist sehr durcheinander«, erklärte er unnötigerweise. Aber Rebus fand nicht, dass sie durcheinander gewirkt hatte. Sie hatte bedrückt ausgesehen. Am nächsten Morgen fuhr Rebus wieder hinaus nach Barnton. Ein paar Schaufenster waren mit Brettern vernagelt worden, aber ansonsten zeugte wenig von der gestrigen Tragödie. Die Wachposten am Tor von West Lodge waren durch sture Zivilbeamte mit Londoner Akzent ersetzt worden. Sie hatten Walkie-Talkies bei sich, aber ansonsten sahen sie aus wie Rausschmeißer, Schuldeneintreiber oder Gerichtsvollzieher. Sie funkten das Haus an. Rebus konnte nicht umhin zu denken, dass einfach kurz rüberrufen es auch getan hätte. Aber die Leute waren offensichtlich Technikfreaks; man erkannte es daran,
wie sie ihre Walkie-Talkies in der Hand hielten. Er hatte Soldaten eine neue Waffe genauso halten sehen. »Der Chef kommt gleich«, sagte einer der Männer endlich. Rebus stand sich eine volle Minute die Beine in den Bauch, bevor der Mann sich blicken ließ. »Was wollen Sie?« »Detective Inspector Rebus. Ich habe mich gestern mit Major Dean unterhalten und -« »Wer hat Ihnen seinen Rang genannt?«, bellte der Mann. »Major Dean selbst. Ich wollte nur fragen, ob ich -« »Nun, das wird nicht mehr nötig sein, Inspector. Jetzt 23 haben wir die Sache übernommen. Natürlich werden wir Sie auf dem Laufenden halten.« Der Mann machte auf der Stelle kehrt und ging mit einem festen, entschlossenen Schritt durchs Tor zurück. Die Wachposten grinsten, als sie das Tor hinter ihrem »Chef« schlossen. Rebus kam sich wie ein dummer Schuljunge vor, den man von einem Fußballspiel ausgeschlossen hatte. Die Mannschaften standen, und ihn hatte keiner gewollt. Diese Leute rochen förmlich nach London, nach dieser aufgeblasenen Arroganz einer selbsternannten Elite. Wie bezeichneten die sich noch mal? C13 oder was in der Richtung, der Anti-Terrorist Branch. Eng verbandelt mit dem Special Branch, und wie dessen Kürzel, S. B., landläufig übersetzt wurde, war ja allgemein bekannt: selbstgefällige Blödmänner. Der Mann war ein bisschen jünger als Rebus gewesen, gepflegt und Typ Buchhalter. Zweifellos intelligenter als die Gorillas am Tor, aber wahrscheinlich durchaus imstande, bei Bedarf auch einiges auszuteilen. In der Achselhöhle seines maßgeschneiderten Anzugs konnte ohne Weiteres eine schicke Pistole versteckt gewesen sein. Das spielte alles keine Rolle. Was eine Rolle spielte, war die Tatsache, dass der Mannschaftskapitän Rebus ausgeschlossen hatte. Das ärgerte ihn; und wenn ihn etwas ärgerte, dann richtig. Rebus hatte sich ein Dutzend Schritte vom Tor entfernt, als er sich halb umdrehte und den Wachen die Zunge rausstreckte. Zufrieden mit diesem Abschluss seiner morgendlichen Bemühungen, beschloss er, auf eigene Faust zu ermitteln. Es war halb zwölf. Wenn du über jemanden etwas rauskriegen willst, überlegte sich ein durstiger Rebus, dann geh in seine Stammkneipe. Die Überlegung erwies sich in diesem Fall als falsch: Dean hatte noch nie einen Fuß ins Claymore gesetzt. 23 »Die Tochter, die war allerdings schon hier«, bemerkte ein junger Mann. Zu dieser frühen Tageszeit hielten sich noch nicht viele Leute im Pub auf, lediglich ein paar pensionierte Herrschaften, die sich gerade mit drei, vier Reportern unterhielten. Auch der Barkeeper hatte alle Hände voll damit zu tun, einer Journalistin beziehungsweise ihrem Kassettenrecorder seine Lebensgeschichte zu erzählen. Worunter natürlich, auch ohne Mittagszeitgedränge, der Service litt. Der junge Mann hatte dieses Problem allerdings dadurch gelöst, dass er sich sein Glas eigenhändig mit Cider und Lager nachfüllte und dafür Geld auf den Tresen legte. »Ach ja?« Rebus deutete mit einem Kopfnicken auf das dreiviertel volle Glas. »Noch eins?« »Wenn ich mit dem hier fertig bin, gern.« Er leerte es gierig, und bis dahin war auch der Barkeeper - zur (ihrem Gesicht nach zu urteilen) großen Erleichterung der Reporterin mit seinen Bekenntnissen fertig. »Pint Snakebite, Paul«, rief der junge Mann. Als das Glas vor ihm stand, verriet er Rebus, er heiße Willie Barr und sei arbeitslos. »Sie sagten, Sie hätten die Tochter hier drinnen gesehen?« Rebus wollte unbedingt seine Fragen loswerden, ehe sich bei Barr der Alkoholpegel bemerkbar machte.
»Stimmt. Sie kam hier ziemlich regelmäßig vorbei.« »Allein?« »Nein, immer mit irgendeinem Typ.« »Einem bestimmten, meinen Sie?« Doch Willie Barr lachte und schüttelte den Kopf. »Jedes Mal ein anderer. Sie wird allmählich stadtbekannt. Und« -jetzt lauter, damit der Barkeeper es auch mitbekam - »sie ist nicht mal achtzehn, würd ich sagen.« »Waren das Jungs hier vom Ort?« »Keine, die ich gekannt hätte. Hab auch nie mit denen 24 ein Wort gewechselt.« Rebus ließ sein Glas kreisen und erzeugte aus nichts eine Schaumkrone. »Irgendwelche dabei mit irischem Akzent?« »Hier drinnen?« Barr lachte. »Hier doch nicht! Herrgott, nein. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, ist sie seit ein paar Wochen nicht mehr hier gewesen. Vielleicht hat ihr Vater ja ein Machtwort gesprochen. Ich meine, wie würde das in den Sonntagszeitungen aussehen? >Brigadierstochter mischt sich in Barnton unters Volk. Abbotsford< klingt, Sie verstehen? Wie das Haus von Sir Walter Scott? Wohlgemerkt, das war nur eine kleine 42 Firma. Aber den einen von beiden kennen Sie ja vielleicht, Alexander Abbot.« »Von Abbot Building?« »Genau. Er hat es inzwischen ordentlich zu was gebracht, nicht? Zu einem richtigen Vermögen. Hat auch ein recht ansehnliches Unternehmen aufgebaut, aber angefangen hat er ganz klein, wie die meisten von uns auch.« »Wie klein, was würden Sie sagen?« »Och, klein, klein. Grad ein paar Mann.« Er erhob sich und streckte die Hand nach der Weinflasche auf dem Kaminsims aus. »Ich glaube, der dürfte jetzt bereit zum Verkosten sein, Inspector. Wenn Sie mir Ihr Glas hinhalten -« Hillbeith schenkte langsam, bedächtig ein, sorgsam darauf bedacht, dass nichts vom Depot in das Glas kam. Sich selbst goss er ziemlich großzügig ein. Der Wein war rötlich braun. »Robe und Spiegel nicht vielversprechend«, murmelte er in sich hinein. Er schwenkte das Glas und musterte es. »Tränen ebenso wenig.« Er seufzte. »O je.« Schließlich schnüffelte Hillbeith ängstlich gespannt am Glas und nippte dann daran. »Prost«, sagte Rebus und genehmigte sich einen Mundvoll. Einen Mundvoll Essig. Er schaffte es irgendwie, ihn hinunterzuschlucken, sah dann, wie Hillbeith ins Glas spuckte. »Oxidiert«, sagte der alte Mann in einem Ton, als hätte man ihm einen grausamen Streich gespielt. »Das kommt vor. Am besten überprüfe ich noch ein paar weitere Flaschen, um den Umfang des Schadens abschätzen zu können. Bleiben Sie noch, Inspector?«, fragte Hillbeith hoffnungsvoll. »Tut mir leid, Sir«, antwortete Rebus, der seinen Abgangsspruch parat hatte. »Ich bin noch im Dienst.« 42 Alexander Abbott, fünfundfünfzig Jahre alt, empfand sich nach wie vor als die treibende Kraft hinter der Abbot Building Company. Es mochten ein Dutzend Führungskräfte wie besessen unter ihm arbeiten, aber hervorgegangen war die Firma aus seiner Energie und seiner Besessenheit. Er war der Generaldirektor und ein vielbeschäftigter Mann dazu. Als
er Rebus im Direktionsbüro von ABC empfing, ließ er diesbezüglich keine Zweifel aufkommen. Das Büro strahlte unternehmerisches Selbstbewusstsein aus, aber andererseits bedeutete das nach Rebus' Erfahrung für sich genommen noch nicht viel. Häufig waren es gerade die finanzschwachsten Firmen, die sich bemühten, möglichst gute Außenwirkung zu erzielen. Trotzdem, Alexander Abbot schien mit dem Leben durchaus zufrieden zu sein. »In einer Rezession«, erklärte er, während er sich eine überlange Zigarre ansteckte, »reduziert man ruckzuck seine Belegschaft. Man hält sich an Stammkunden mit guter Zahlungsmoral und nimmt nicht zu viele Aufträge von Kunden an, die man nicht kennt. Das sind diejenigen, die einen am ehesten linken oder in den Bankrott treiben und nichts als Rechnungen hinterlassen. Junge Firmen... die erwischt's in einer Rezession immer am härtesten: keine Rücklagen, Sie verstehen. Dann, wenn's mal wieder ein paar Jahre lang aufwärts geht, klopft man sich den Staub ab, haut wieder mächtig auf die Werbetrommel und stellt die Leute, die man entlassen hatte, wieder ein. In dem Punkt sind wir Jack Kirkwall immer um ein paar Nasenlängen voraus.« Kirkwall Construction war ABCs größter Konkurrent in den Lowlands, zumindest was Aufträge mittlerer Größe anbelangte. Ohne Frage war Kirkwall das größere Unternehmen von beiden. Es wurde ebenfalls von einem Selfmademan geführt, Jack Kirkwall. Einem wahren Koloss. Die zwei Rivalen, begriff Rebus schnell, hatten herzlich wenig füreinander übrig. 43 Schon die bloße Erwähnung von Kirkwalls Namen schien Alexander Abbot die Laune zu verderben. Er kaute an seiner Zigarre, als wäre sie der Finger eines Gläubigers. »Aber angefangen haben Sie ziemlich klein, nicht wahr, Sir?« »Ach, aye, viel kleiner war gar nicht möglich gewesen. Zu der Zeit waren wir bloß mal ein Pickel auf dem Arsch der Bauindustrie.« Er deutete mit einer breiten Geste auf die Wände seines Büros. »Kann man sich jetzt gar nicht mehr vorstellen, was?« Rebus nickte. »1960 waren Sie doch noch immer eine kleine Firma, oder?« »1960. Mal überlegen. Damals haben wir grad erst angefangen. War natürlich noch nicht ABC. Mal sehen. Ich glaube, ich hab 1957 ein Darlehen von meinem Dad gekriegt und mich mit einem gewissen Hugh Ford zusammengetan, noch so einem selbständigen Bauunternehmer. Ja, stimmt. 1960 hießen wir Abbot & Ford. Genau.« »Erinnern Sie sich zufällig daran, in einer Weinhandlung auf der Cowgate gearbeitet zu haben?« »Wann?« »Im Frühling 1960.« »Eine Weinhandlung?« Abbot legte die Stirn in Falten. »Müsste ich doch eigentlich noch wissen. Ist natürlich lange her. Eine Weinhandlung?« »Sie haben, neben anderen Arbeiten, in einem der Weinkeller einen neuen Fußboden verlegt. Hillbeith Vintners.« »Ach, aye, Hillbeith, jetzt fällt's mir wieder ein. Ich erinnere mich an ihn. Komischer kleiner Kerl mit Brille. Hat uns eine Kiste Wein geschenkt, als wir mit der Arbeit fertig waren. Nett von ihm, aber soweit ich mich erinnere, war der Wein schon ein bisschen umgekippt.« »Wie viele Männer haben an dem Auftrag mitgearbeitet?« 43 Abbot atmete geräuschvoll aus. »Na, Sie stellen Fragen! Das ist über dreißig Jahre her, Inspector.« »Das ist mir bewusst, Sir. Gibt es vielleicht noch irgendwelche Aufzeichnungen?«
Abbot schüttelte den Kopf. »Bis vor zehn Jahren könnte es welche gegeben haben, aber als wir in dieses Gebäude umgezogen sind, haben wir einen Großteil des alten Krempels weggeworfen. Jetzt tut es mir leid. Wäre nett, ein paar Sachen aus der Anfangszeit zu haben, die man im Empfang in einer Vitrine ausstellen könnte. Aber nein, alles aus der Abbot-&-Ford-Zeit ist auf dem Müll gelandet.« »Sie erinnern sich also nicht, wie viele Männer an diesem Auftrag gearbeitet haben? Gibt es sonst noch jemanden, mit dem ich reden könnte, jemanden, der sich vielleicht -« »Wir waren damals klein, das können Sie mir glauben. Haben hauptsächlich Gelegenheitsarbeiter und Teilzeitkräfte beschäftigt. Bei einem Auftrag von dem Volumen kann ich mir nicht vorstellen, dass wir mehr als drei, vier Mann gebraucht haben, wenn überhaupt.« »Und Sie erinnern sich nicht zufällig daran, dass einer von denen plötzlich verschwunden ist? Nicht zur Arbeit gekommen, so was in der Art?« Abbot empörte sich. »Ich nehm's mit der Arbeitszeit sehr genau, Inspector. Wenn einer getürmt wäre, würde ich mich daran erinnern, da bin ich mir sicher. Außerdem haben wir schon sehr darauf geachtet, wen wir anstellten. Keine faulen Säcke, keinen, der sich mitten in einem Auftrag absetzen würde.« Rebus seufzte. Das war jetzt eine dieser Sackgassen. Er stand auf. »Nun, trotzdem danke, Mr. Abbot. Er war sehr freundlich von Ihnen, dass Sie sich die Zeit genommen haben.« Abbot stand ebenfalls auf, und die zwei Männer gaben sich die Hand. 44 »Keine Ursache, Inspector. Schade, dass ich Ihnen bei Ihrer kleinen Kriminalgeschichte nicht helfen konnte. Ich hab durchaus eine Schwäche für gute Detektivstorys.« Sie hatten jetzt schon beinah die Tür erreicht. »Ach«, sagte Rebus, »nur noch eins. Wo könnte ich wohl Ihren alten Partner, Mr. Ford, finden?« Abbots Gesicht verlor all seine Lebendigkeit. Seine Stimme war plötzlich die eines alten Mannes. »Hugh ist gestorben, Inspector. Ein Bootsunfall. Er ist ertrunken. Scheußliche Sache. Ganz scheußliche Sache.« Zwei Sackgassen. Mr. Hillbeith rief am selben Nachmittag an, während Rebus sich durch die Abschrift der Vernehmung eines Vergewaltigers kämpfte. Sein Kopf war wie voll von übelriechendem Kleister, sein Magen übersäuert von Koffein. »Spreche ich mit Inspector Rebus?« »Ja, hallo, Mr. Hillbeith. Was kann ich für Sie tun?« Rebus rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel und kniff die Augen zu. »Ich habe die ganze letzte Nacht über dieses Skelett nachgedacht.« »Ja?« Zwischen der einen und der anderen Flasche Wein, da hatte Rebus keinen Zweifel. »Nun, ich habe versucht, mich an die Zeit zu erinnern, als diese Arbeit durchgeführt wurde. Das hilft Ihnen wahrscheinlich nicht weiter, aber ich bin mir absolut sicher, dass daran vier Männer beteiligt waren. Mr. Abbot und Mr. Ford haben praktisch ganztags gearbeitet, und dann gab es da noch zwei Männer, der eine noch unter zwanzig, der andere in den Vierzigern. Die haben eher gelegentlich mitgemacht.« »An deren Namen erinnern Sie sich nicht zufällig?« »Nein, ich weiß bloß noch, dass der Junge einen Spitzna 44 men hatte. Alle haben ihn nur so genannt. Ich glaube nicht einmal, seinen richtigen Namen je gehört zu haben.«
»Tja, danke jedenfalls, Mr. Hillbeith. Ich werde mich noch einmal mit Mr. Abbot in Verbindung setzen und sehen, ob das, was Sie gesagt haben, seiner Erinnerung auf die Sprünge hilft.« »Ach, Sie haben also mit ihm gesprochen?« »Heute Vormittag. Keine Fortschritte zu vermelden. Ich hatte nicht gewusst, dass Mr. Ford tot ist.« »Tja, nun, das ist die andere Sache.« »Was?« »Der arme Mr. Ford. Segelunfall, nicht?« »Richtig.« »Daran habe ich mich eben auch erinnert. Wissen Sie, dieser Unfall ereignete sich, gleich nachdem sie die Arbeiten bei mir beendet hatten. Sie redeten die ganze Zeit davon, dass sie sich ein paar Tage frei nehmen und angeln gehen würden. Mr. Abbot meinte, das würde ihr erster Urlaub seit Jahren sein.« Rebus hatte seine Augen jetzt weit geöffnet. »Wie bald, nachdem sie mit dem Fußboden fertig waren, war das?« »Na ja, direkt anschließend, vermute ich.« »Erinnern Sie sich an Mr. Ford?« »Nun, er war sehr still. Das ganze Reden hat eigentlich Mr. Abbot übernommen. Ein sehr stiller Mann, aber ein fleißiger Arbeiter, hatte ich den Eindruck.« »Ist Ihnen irgendetwas an seinen Händen aufgefallen? Ein deformierter kleiner Finger?« »Tut mir leid, Inspector, es ist sehr lange her.« Das sah Rebus ein. »Natürlich, Mr. Hillbeith. Sie sind mir eine große Hilfe gewesen. Danke.« Er legte auf. Sehr lange her, ja, aber trotzdem immer noch Mord, immer noch vorsätzlicher, kaltblütiger Mord. Dennoch, ein Weg hatte sich vor ihm aufgetan. Vielleicht 45 bloß ein Trampelpfad, ziemlich überwachsen und tückisch. Aber dennoch... Ein Schritt nach dem anderen, John. Ein Schritt nach dem anderen. Natürlich, sagte er sich immer wieder, war er nach wie vor eher dabei, Möglichkeiten aus- als einzuschließen, und das war der Grund, warum er ein bisschen mehr über den Bootsunfall in Erfahrung bringen wollte. Alexander Abbot wollte er allerdings nicht danach fragen. Stattdessen ging Rebus am Morgen nach Hillbeiths Anruf zur National Library of Scotland auf der George IV Bridge. Nachdem ihn der Pförtner durch das Drehkreuz gelassen hatte, stieg er die imposante Treppe zum Lesesaal hinauf. Die Frau an der Ausleihe stellte ihm einen Tagesausweis aus und zeigte ihm, wie der Online-Katalog funktionierte. Es gab zwei Reihen von Terminals, mit denen man die benötigten Bücher aus dem Katalog heraussuchen konnte. Rebus musste in den Lesesaal gehen und einen freien Platz finden, sich dessen Nummer notieren, und sobald er entschieden hatte, welches Buch er brauchte, diese Nummer auf seine Leihkarte schreiben. Dann kehrte er an seinen Platz zurück, setzte sich und wartete. Der Lesesaal hatte zwei Geschosse, beide voller Regale mit Nachschlagewerken. Die Leute, die an den langen Tischen im unteren Geschoss arbeiteten, wirkten müde. Für sie war es bloß ein weiterer Vormittag Büffeln; Rebus aber fand das alles faszinierend. Jemand vor ihm arbeitete mit einem Karteikasten, in dem er häufig etwas nachsah. Ein anderer schien zu schlafen, den Kopf auf die Arme gestützt. Stifte kratzten auf Notizblockseiten. Ein paar von jeglicher Inspiration verlassene arme Seelen kauten lediglich an ihren Stiften und starrten die anderen an, genauso wie Rebus es gerade tat. Endlich wurde ihm das bestellte Buch gebracht. Es wa
46 ren die gebundenen ersten sechs Monate des Jahrgangs 1960 des Scotsman. Zwei dicke Lederriemen hielten den Band geschlossen. Rebus öffnete sie und begann zu blättern. Er wusste, wonach er suchte, und auch ziemlich genau, wo er es finden würde, doch das hielt ihn nicht davon ab, Fußballberichte und Schlagzeilen zu überfliegen. 1960. Damals hatte er alle Hände voll damit zu tun gehabt, seine Jungfräulichkeit zu verlieren und für die Hearts zu fiebern. Ja, sehr lange her. Die Nachricht hatte es nicht ganz bis auf die erste Seite geschafft. Dafür gab es zwei Absätze auf Seite drei. »Mann ertrinkt vor Lower Largo«. Das Opfer, Mr. Hugh Ford, war sechsundzwanzig Jahre alt (ein Jahr älter als der Überlebende, Mr. Alex Abbot) und in Duddingston, Edinburgh, wohnhaft gewesen. Die zwei Männer, zu einem kurzen Angelurlaub in Fife, waren am frühen Morgen mit einem Boot hinausgefahren, das sie von einem Einheimischen, Mr. John Thomson, gemietet hatten. Es kam eine Sturmbö auf, und das Boot kenterte. Mr. Abbot, ein guter Schwimmer, hatte es zum Ufer zurückgeschafft. Mr. Ford, ein schlechter Schwimmer, nicht. Mr. Ford wurde des Weiteren als »ein Junggeselle« beschrieben, als ein stiller, ja laut Mr. Abbot, der noch immer im Victoria Hospital, Kirkcaldy, unter Beobachtung stand, »schüchterner Mann«. Ansonsten kam nicht mehr viel. Offenbar waren Fords Eltern tot, er hatte allerdings eine Schwester, Mrs. Isabel Hammond, die irgendwo in Australien lebte. Warum hatte Abbot das nicht erwähnt? Vielleicht wollte er alles vergessen. Vielleicht bereitete ihm die Sache gelegentlich noch immer Albträume. Und natürlich hatte er gerade deswegen alle näheren Einzelheiten des Hillbeith-Auftrags vergessen - eben weil diese Tragödie sich so kurz danach ereignete. So kurz danach. Probleme bereitete Re 46 bus lediglich eine Druckzeile; der eine Satz machte ihm zu schaffen. »Mr. Fords Leichnam ist noch immer nicht aufgefunden worden.« Aufzeichnungen konnten im Lauf der Zeit verlorengehen, aber nicht bei der Polizei von Fife. Sie schickte, was sie hatte, ein Großteil davon in verblassender Tinte auf brüchiges Papier geschrieben, ein Teil davon - nicht ganz fehlerfrei - getippt. Die beiden Freunde und Kollegen, Abbot und Ford, waren Freitagabend spät im Fishing-Net-Hotel in Largo eingetroffen. Wie vereinbart, waren sie am nächsten Morgen früh mit einem Boot hinausgefahren, das sie beim ortsansässigen John Thomson mieteten. Der Unfall hatte sich schon eine knappe Stunde nach ihrer Ausfahrt ereignet. Das Boot konnte geborgen werden. Es war gekentert, doch von Ford fehlte jede Spur. Es wurden Ermittlungen angestellt. Mr. Fords Sachen nahm Mr. Abbot, der sich beim Kentern des Bootes den Kopf angeschlagen hatte und außerdem erschöpft war und unter Schock stand, sobald er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, mit zurück nach Edinburgh. Mr. Fords Schwester, Mrs. Isabel Hammond, wurde niemals ausfindig gemacht. Die Kollegen in Fife hatten noch ein bisschen tiefer gegraben. Das von Abbot und Ford gemeinsam geführte Unternehmen ging nun in Mr. Abbots Besitz über. Die Ermittlungsnotizen enthielten eine ganze Menge Fakten und - zwischen den Zeilen, gewissermaßen - Vermutungen. O ja, sie hatten Alexander Abbot unter die Lupe genommen, aber es war nichts Konkretes dabei herausgekommen. Sie hatten nach der Leiche gesucht und keine gefunden. Ohne eine Leiche blieben ihnen lediglich ihr Verdacht und ihre nagenden Zweifel. »Ja«, sagte Rebus leise zu sich, »aber was, wenn ihr an 46 der falschen Stelle nach der Leiche gesucht habt?« An der falschen Stelle und zur falschen Zeit. Die Arbeiten im Weinkeller waren am Freitag Nachmittag abgeschlossen gewesen, und bereits Samstag früh hatte Hugh Ford aufgehört zu existieren.
Der Pfad, dem Rebus folgte, war inzwischen weniger überwuchert, aber doch noch steinig und gefährlich - und weiterhin eine potenzielle Sackgasse. Das Fishing-Net-Hotel existierte noch immer, wenngleich gegenüber 1960 in stark veränderter Form. Der jetzige Besitzer empfahl Rebus, nach Möglichkeit rechtzeitig zum Mittagessen zu kommen, das dann aufs Haus gehen würde. Largo lag nördlich von Burntisland, aber am selben Küstenabschnitt. Alexander Selkirk, das reale Vorbild für Defoes Robinson Crusoe, war in diesem Fischerdorf geboren worden. Irgendwo stand ein kleines Standbild von ihm, das irgendjemand Rebus (allerdings erst nach längerem Suchen, wie er sich erinnerte) als Junge zeigte. Largo war malerisch, aber das galt schließlich für die meisten, wenn nicht sogar alle Dörfer an der Küste des »East Neuk« oder »Ostzipfels« von Fife. Die eigentliche Touristensaison hatte allerdings noch nicht begonnen, und die Mittagsgäste im Fishing-Net-Hotel waren Geschäftsreisende und Ortsansässige. Das Mittagessen war gut, ebenso pittoresk wie die Umgebung, aber mit etwas mehr Pfiff. Und danach bot der Besitzer - ein Engländer, für den in Largo zu leben die Erfüllung eines lang gehegten Traums darstellte - sich an, Rebus herumzuführen und ihm auch »das Originalzimmer« zu zeigen, »in dem Ihr Mr. Ford in der Nacht vor seinem Tod schlief«. »Wie können Sie das so genau wissen?« »Ich habe im Gästebuch nachgeschlagen.« Rebus schaffte es, kein allzu überraschtes Gesicht zu 47 machen. Das Hotel war seit 1960 durch so viele Hände gegangen, dass er nicht gehofft hatte, noch jemanden zu finden, der sich an die Ereignisse jenes Wochenendes erinnern würde. »Das Gästebuch?« »Ja, als wir das Haus kauften, hat man uns jede Menge alten Krempel dagelassen. Die Abstellräume waren gestopft voll. Alte Geschäftsbücher und was weiß ich nicht alles, noch aus den Zwanziger- und Dreißigerjahren. Es war nicht schwer, 1960 zu finden.« Rebus blieb abrupt stehen. »Vergessen Sie Mr. Fords Zimmer, hätten Sie etwas dagegen, mir dieses Gästebuch zu zeigen?« Er saß an Mr. Summersons Schreibtisch vor dem aufgeschlagenen Gästebuch, während Mr. Summersons Finger auf die entsprechende Zeile tippte. »Bitte schön, Inspector, H. Ford. Ankunftszeit 23.50 Uhr, Heimatadresse Duddingston. Zimmer sieben.« Daneben nicht so sehr eine Unterschrift als ein Gekrakel, und darüber, in einer eigenen Zeile, Alexander Abbots leserlichere Unterschrift. »Ein bisschen spät, um einzuchecken, nicht?«, kommentierte Rebus. »Stimmt.« »Gibt es bei Ihnen zufällig noch jemanden, der damals im Hotel gearbeitet hat?« Summerson lachte leise. »In diesem Land pflegen die Leute irgendwann auch in Rente zu gehen, Inspector.« »Natürlich, aber - hätte ja sein können.« Er erinnerte sich an die Zeitungsmeldung. »Was ist mit John Thomson? Sagt Ihnen der Name was?« »Der alte Jock? Jock Thomson? Der Fischer?« »Wahrscheinlich.« »O ja, der ist noch munter. Den finden Sie fast mit Si 47 cherheit unten am Hafen oder sonst in der Harbour Tavern.« »Danke. Wenn's Ihnen recht ist, würde ich dieses Gästebuch gern mitnehmen.« Jock Thomson paffte an seiner Pfeife und nickte. Er sah wie der Inbegriff des alten Seebären aus, angefangen bei seiner ausgebeulten Kordhose bis hin zu seinem zerfurchten
Gesicht und silbergrauen Bart. Das Einzige, was vielleicht nicht ganz zu dem Klischee passte, war das Glas Perrier, das vor ihm auf dem Tisch in der Harbour Tavern stand. »Ich mag das Prickelwasser ganz gern«, erklärte er, nachdem er seine Bestellung aufgegeben hatte, »und außerdem hat mein Arzt mir eingeschärft, die Finger vom Alkohol zu lassen. Totale Abstinenz, meinte er, totale Abstinenz. Entweder es ist Schluss mit dem Fusel, Jock, oder mit der Pfeife. Beides ist einfach nicht drin.« Und er sog gierig an der Pfeife. Dann beschwerte er sich, als sein Sprudel ohne »das Schnitzchen Zitrone« kam. Rebus ging wieder an den Tresen, um das Verlangte zu holen. »Ach, aye«, sagte Thomson, »ich erinner mich noch, als wär's gestern gewesen. Bloß, dass es da nicht viel zu erinnern gibt, nicht?« »Warum sagen Sie das?« »Zwei unerfahrene junge Männer fahren mit dem Boot raus. Boot kentert. Ende der Geschichte.« »War für den Morgen schlechtes Wetter vorhergesagt?« »Gar nicht mal. Aber es gab einen Sturm. Kam und war in ein paar Minuten wieder weg. Hat aber gereicht.« »Wie haben die zwei Männer gewirkt?« »Wie meinen Sie das?« »Na ja, schienen sie sich auf die Fahrt zu freuen?« 48 »Keine Ahnung, ich hab die überhaupt nicht zu Gesicht gekriegt. Der Jüngere - Abbot, nicht? -, der hat bei mir angerufen, um ein Boot zu buchen, meinte, sie würden früh rausfahren, so um sechs rum. Ich hab ihm gesagt, er hätte sie wohl nicht mehr alle, aber er meinte, ich brauchte gar nicht zum Hafen runterzukommen, ich sollte bloß dafür sorgen, dass das Boot klar war, und ihm sagen, welches es war. Und das hab ich denn auch gemacht. Als ich an dem Morgen aufgewacht bin, kraulte er schon zum Ufer zurück, und seinen Kumpel, den kraulten die Fische.« »Dann haben Sie Mr. Ford also nie gesehen?« »Nee, und das Jungchen Abbot hab ich auch erst hinterher gesehen, als der Rettungswagen ihn abgeholt hat.« Jetzt fügte sich eines fast zu glatt zum anderen. Und Rebus dachte, manchmal sind solche Dinge erst im Nachhinein, aus einem Abstand von Jahren, deutlich zu sehen. »Sie kennen nicht zufällig jemanden«, fragte er ohne allzu viel Hoffnung, »der damals im Hotel gearbeitet hat?« »Der Besitzer ist weggezogen«, antwortete Thomson, »keine Ahnung, wohin. Mag sein, dass Janice Dryman damals da gearbeitet hat. Kann mich nicht mehr erinnern.« »Wo könnte ich sie wohl finden?« Thomson spähte nach der Uhr hinter dem Tresen. »Warten Sie noch zehn, fünfzehn Minuten, und Sie können sie nicht verfehlen. Sie ist nachmittags in der Regel immer hier. Inzwischen werd ich noch so eins trinken, wenn Sie zahlen.« Thomson schob Rebus sein leeres Glas zu. Keine Frage, dass Rebus zahlte. Miss Dryman - »nie verheiratet gewesen, wozu denn auch?« - war Anfang fünfzig. Sie arbeitete in einem Geschenkladen im Ort, und wenn sie Schluss hatte, schaute sie normalerweise auf einen Softdrink und »einen kleinen 48 Schwatz« in der Kneipe vorbei. Rebus fragte sie, was sie gern trinken wolle. »Limo, bitte«, sagte sie, »mit einem Tröpfchen Whisky drin.« Und sie und Jock Thomson lachten, als ob das ein alter, eingespielter Witz zwischen ihnen wäre. Nicht gewohnt, die Rolle des Stichwortgebers zu spielen, trottete Rebus wieder zur Theke.
»O ja«, sagte sie, das Glas an den Lippen. »Und ob ich da gearbeitet hab, die ganze Zeit. Zimmermädchen war ich und Mädchen für alles.« »Aber die beiden haben Sie nicht ankommen sehen?« Miss Dryman machte ein Gesicht, als würde sie gleich ein Geheimnis verraten. »Niemand hat die kommen sehen, das weiß ich hundertpro. Mrs. Dennis, der damals das Hotel gehörte, sagte, sie würde nicht im Traum dran denken, die halbe Nacht auf zwei Angler zu warten. Die wussten ihre Zimmernummern, und die Schlüssel lagen an der Rezeption.« »Und was war mit der Eingangstür?« »Nicht abgeschlossen, nehm ich mal an. Die Welt war damals weniger gefährlich.« »Aye, das ist wohl wahr«, gab Jock Thomson seinen Senf dazu und lutschte an seinem Zitronenschnitz. »Und Mr. Abbot und Mr. Ford wussten von dieser Vereinbarung?« »Nehm ich doch mal an. Andernfalls hätt's ja kaum geklappt, oder?« Dann hatte Abbot also gewusst, dass bei seiner Ankunft niemand im Hotel auf sein würde - wenn er in Edinburgh nur spät genug aufbrach. »Und am nächsten Morgen?« »Mrs. Dennis meinte, die wären schon auf und aus dem Haus gewesen, bevor sie auch nur was mitgekriegt hätte. War ziemlich sauer, weil sie die Bücklinge fürs Frühstück schon in der Pfanne hatte, bevor sie das merkte.« 49 Dann hatte sie am Morgen also auch keiner gesehen. Tatsächlich... »Tatsächlich«, sagte Rebus, »hat also überhaupt niemand Mr. Ford gesehen. Niemand vom Hotel, Sie nicht, Mr. Thomson nicht, kein Mensch.« Die beiden bestätigten es. »Sein Zeug hab ich aber gesehen«, sagte Miss Dryman. »Was für Zeug?« »In seinem Zimmer, seine Klamotten und so. An dem Morgen. Ich wusste nichts von dem Unfall und bin rein, um das Zimmer zu machen.« »Hatte jemand in dem Bett geschlafen?« »Sah so aus. Die Laken ganz zerknittert. Und sein Koffer lag auf dem Boden, nur halb ausgepackt. Nicht dass da viel auszupacken gewesen wäre...« »Ach nein?« »Nur genug zum einmal Umziehen, würd ich sagen. Ich erinner mich an die Sachen, weil die irgendwie schmuddelig aussahen. Sie wissen schon, nicht frisch. Nicht gerade, was ich für den Urlaub einpacken würde.« »Was denn? Als hätte er in den Sachen gearbeitet?« Sie dachte darüber nach. »Vielleicht.« »Hat wenig Sinn, sich zum Angeln saubere Klamotten anzuziehen«, meinte Thomson. Aber Rebus hörte nicht zu. Fords Sachen, die Sachen, die er während der Arbeit am Fußboden getragen hatte. Das passte. Abbot hatte ihn niedergeschlagen, ihn ausgezogen und seine Leiche mit frischem Zement bedeckt. Er hatte seine Kleidungsstücke mitgenommen und in einen Koffer gepackt, den im Hotelzimmer aufgemacht, die Laken zerwühlt. Simpel, aber effektiv. War ja auch dreißig Jahre lang gut gegangen. Das Motiv? Ein Streit vielleicht, oder auch schlichte Gier. Es war ein kleines, aber expandierendes Unternehmen gewesen, und vielleicht hatte Abbot nicht teilen wollen. Rebus legte einen Fünf-Pfund-Schein auf den Tisch. 49 »Für die nächsten paar Runden«, sagte er und stand auf. »Ich muss jetzt. Manche von uns sind noch im Dienst.«
Es gab einiges zu tun. Er musste mit seinem Vorgesetzten reden, Chief Inspector Lauderdale. Und das war nur der Anfang. Vielleicht würde man es ja diesmal schaffen, Fords australische Schwester ausfindig zu machen. Irgend-jemanden musste es doch geben, der bezeugen konnte, dass Ford sich in seiner Jugend ein Bein gebrochen und einen krummen Finger gehabt hatte. Bislang fiel Rebus nur einer ein - Alexander Abbot. Aber irgendwie konnte er sich nicht so recht vorstellen, dass er von ihm die Wahrheit, die ganze Wahrheit erfahren würde. Dann gab es das Hotel-Gästebuch. Das kriminaltechnische Labor konnte daran sein Können unter Beweis stellen. Vielleicht würde es den Jungs gelingen, eindeutig zu klären, ob Fords Unterschrift echt oder lediglich eine schlechte Imitation durch Abbot war. Andererseits hätte er zum Vergleich eine Schriftprobe von Ford beibringen müssen. Wen kannte er, der ein solches Dokument hätte besitzen können? Nur Alexander Abbot. Oder Mr. Hillbeith, aber Mr. Hillbeith hatte in der Hinsicht nichts für ihn tun können. »Nein, Inspector, wie ich Ihnen sagte, um den ganzen Papierkram, um diesen Aspekt des Geschäfts hat sich Mr. Abbot gekümmert. Wenn es irgendwo noch eine Rechnung oder eine Quittung gibt, dann wird sie seine Handschrift tragen, nicht die von Mr. Ford. Ich kann mich nicht erinnern, Mr. Ford je etwas schreiben gesehen zu haben.« Durchfahrt gesperrt. Chief Inspector Lauderdale zeigte nicht übermäßig viel Verständnis. Bislang hatte Rebus nichts anderes zu bieten als weitere Vermutungen, die man zu denen der damaligen Beamten in Fife hinzufügen konnte. Es gab keinen Beweis dafür, dass Alexander Abbot seinen Partner getötet hatte. 50 Keinen Beweis dafür, dass es sich bei dem Skelett um die Überreste von Hugh Ford handelte. Ja selbst an bloßen Indizien gab es herzlich wenig. Sie konnten Abbot zur Vernehmung auf die Wache bestellen, aber er brauchte nichts anderes zu tun, als sich für unschuldig zu erklären. Er konnte sich einen guten Anwalt leisten; und selbst schlechte Anwälte waren nicht so dumm, dass sie der Polizei gestatten würden, zu tief zu bohren. »Wir brauchen Beweise, John«, sagte Lauderdale, »konkrete Beweise. Am einfachsten wäre diese Unterschrift aus dem Hotel. Wenn wir nachweisen können, dass sie nicht von Ford stammt, dann haben wir Abbot in diesem Hotel, Abbot im Boot und Abbot, der lautstark behauptet, sein Freund wäre ertrunken - und das alles, ohne dass Ford nachweislich je da gewesen wäre. Das brauchen wir. Alles Übrige ist, so wie es aussieht, Schrott. Das wissen Sie selbst.« Ja, Rebus wusste das. Er zweifelte nicht daran, dass er nicht mehr als eine Stunde Zeit und eine dunkle Gasse gebraucht hätte, um Abbot zu einem Geständnis zu überreden. Aber so lief das nun mal nicht. Es lief nach dem Buchstaben des Gesetzes. Außerdem wär's ja möglich gewesen, dass Abbots Herz nicht hundertprozentig gesund war. GESCHÄFTSMANN (5 5) STIRBT WÄHREND VERNEHMUNG. Nein, man musste irgendwie einen anderen Weg finden. Das Problem war - es gab keinen anderen Weg. Alexander Abbot kam, wie es aussah, mit einem Mord davon. Oder vielleicht doch nicht? Warum musste seine Geschichte erfunden sein? Warum musste das Skelett unbedingt das von Hugh Ford sein? Die Antwort lautete: weil das Ganze zusammenzupassen schien. Lediglich das letzte, noch fehlende Teil des Puzzles war vor langer Zeit unter ein Sofa oder einen Sessel gefallen - vor so langer Zeit, dass man es vielleicht nie wiederfinden würde. 50 Er wusste nicht, warum er es tat. Wenn du nicht weiterweißt, geh wieder ein paar Schritte zurück... so was in der Art. Vielleicht mochte er auch nur die Atmosphäre dort. Aus welchem Grund auch immer saß Rebus wieder an seinem Tisch in der National Library
und wartete darauf, dass der Bibliotheksdiener ihm seinen gebundenen Wälzer voll alter Neuigkeiten brachte. Während er wartete, sang er lautlos den Text von »Yesterday's Papers« vor sich hin. Als dann der Band kam, ließ er die Schließen geübt aufschnappen und schlug ihn auf. Diesmal blätterte er über den April hinaus, las bis in die Mai- und Juni-Ausgaben hinein. Fußballergebnisse, Schlagzeilen - und was war das? Eine kurze Meldung im Wirtschaftsteil, ein Lückenfüller in der rechten unteren Ecke der Seite. Die Kirkwall Construction Company schluckte gerade ein paar kleinere Konkurrenten in Fife und Midlothian. »Die Sechzigerjahre werden ein Jahrzehnt großer Umwälzungen in der Bauindustrie sein«, erklärte der geschäftsführende Direktor Mr. Jack Kirkwall, »und Kirkwall Construction hat sich zum Ziel gesetzt, dieser Herausforderung durch Wachstum und Qualität zu begegnen. Je größer wir sind, desto besser sind wir. Diese Übernahmen stärken das Unternehmen, und für die Beschäftigten werden sie sich ebenfalls positiv auswirken.« Das war die Aufbruchstimmung, die sich bis in die Achtzigerjahre hinein gehalten hatte. Jack Kirkwall, Alexander Abbots erbitterter Rivale. Das war doch ein Mann, den Rebus kennenlernen sollte... Das Treffen musste dann allerdings auf die folgende Woche verschoben werden. Kirkwall lag wegen eines kleineren Eingriffs im Krankenhaus. »Ich bin in dem Alter, Inspector«, sagte er, als sie sich schließlich trafen, »in dem Einzelteile anfangen kaputtzuge 51 hen und repariert oder ausgetauscht werden müssen. Wie bei jeder anderen stark beanspruchten Maschine auch.« Und er lachte, aber in Rebus' Ohren hatte dieses Lachen einen hohlen Klang. Kirkwall sah älter aus als seine zweiundsechzig Jahre, sein Gesicht wirkte schlaff, seine Haut bleich. Sie saßen in seinem Wohnzimmer, wo er in letzter Zeit den größten Teil seiner Arbeit erledigte. »Seit meinem sechzigsten Geburtstag lasse ich mich nur noch ab und an zu einem gelegentlichen Meeting in der Firmenzentrale blicken. Die Routinearbeit überlasse ich meinem Sohn, Peter. Er scheint ganz gut zurechtzukommen.« Das Lachen klang diesmal selbstironisch. Rebus hatte vorgeschlagen, ihr Gespräch noch einmal zu verschieben, aber sobald Jack Kirkwall erfahren hatte, dass es dabei um Alexander Abbot gehen würde, ließ er sich nicht davon abbringen, die Sache sofort zu erledigen. »Steckt er also in Schwierigkeiten?« »Wäre möglich«, räumte Rebus ein. Kirkwalls Wangen schienen etwas Farbe anzunehmen, und er lehnte sich entspannter ein bisschen weiter in seinen ledernen Ruhesessel zurück. Rebus wollte Kirkwall die Story nicht verraten. Kirkwall und Abbot waren schließlich nach wie vor Konkurrenten. Ja, wie es aussah, Feinde. Hatte er erst mal die Fakten, könnte Kirkwall irgendeine krumme Tour versuchen, Gerüchte in den Medien verbreiten lassen, und wenn herauskam, dass die Information von einem Police Inspector gekommen war, na ja. Hallo, Verleumdungsklage, und bye-bye, ab in den Ruhestand. Nein, das wollte Rebus auf keinen Fall. Wohl aber wollte er wissen, ob Kirkwall irgendetwas wusste, ob er sich vorstellen konnte, warum Abbot den Wunsch gehabt - die Notwendigkeit gesehen - haben könnte, Ford zu töten. »Reden Sie weiter, Inspector.« »Die Sache liegt ziemlich lang zurück, Sir. Es geht um 51 das Jahr 1960, um genau zu sein. Ihre Firma befand sich damals im Prozess der Expansion.« »Korrekt.«
»Was wussten Sie damals über Abbot & Ford?« Kirkwall strich sich mit der Handfläche über die Knöchel der anderen Hand »Nur dass sie ebenfalls wuchsen. Natürlich waren sie jünger als wir, viel kleiner als wir. ABC ist noch heute viel kleiner als wir. Aber sie waren frech, sie schnappten uns mehrere Aufträge vor der Nase weg. Ich hab sie im Auge behalten.« »Kannten Sie Mr. Ford?« »O ja. Er war auf jeden Fall der Gescheitere von beiden. Vor Abbot habe ich nie allzu viel Respekt gehabt. Hugh Ford aber war ein stiller, fleißiger Mann. Abbot war der Marktschreier, derjenige, der die Werbetrommel rührte.« »Hatte Mr. Ford einen krummen Finger?« Die Frage schien Kirkwall zu überrumpeln. »Ich habe keine Ahnung«, antwortete er schließlich. »Persönlich habe ich mit dem Mann nie zu tun gehabt, ich hatte nur von ihm gehört. Warum? Ist das wichtig?« Rebus hatte endlich das Gefühl, dass sein sich schlängelnder, immer enger werdender Pfad endlich den Rand eines Abgrunds erreichte. Jetzt blieb nur noch der Rückzug. »Na ja«, sagte er, »es hätte einiges klarer gemacht.« »Wissen Sie, Inspector, meine Firma war daran interessiert, Abbot & Ford unter ihre Fittiche zu nehmen.« »Ach ja?« »Aber dann kam der Unfall, dieser tragische Unfall... Wie auch immer, Abbot übernahm die Geschäftsleitung, und er war nicht im Geringsten an unseren Angeboten interessiert. Er hat uns regelrecht abblitzen lassen. Ja, ich habe immer gedacht, dass das für Abbot ein verdammt glücklicher Unfall gewesen war.« »Wie meinen Sie das, Sir?« 52 »Ich meine, Inspector, dass Hugh Ford mit uns einig war. Er wollte verkaufen. Aber Abbot war dagegen.« Gut, damit hatte Rebus sein Motiv. Aber was nutzte das schon? Ihm fehlte nach wie vor der handfeste Beweis, den Lauderdale verlangte. »...wäre das an seiner Handschrift zu erkennen?« Rebus hatte nicht mitbekommen, was Kirkwall gesagt hatte. »Tut mir leid, Sir, ich habe gerade nicht zugehört.« »Ich sagte, Inspector, wenn Hugh Ford einen krummen Finger gehabt hätte, wäre das an seiner Handschrift zu erkennen?« »Handschrift?« »Denn ich hatte seine Einwilligung zu unserem Übernahmeangebot. Er hatte mir persönlich geschrieben. Hinter Abbots Rücken, wie ich vermute. Ich wette, Alex Abbot ist fuchsteufelswild geworden, als er davon erfahren hat.« Kirkwalls Lächeln hatte jetzt etwas Triumphierendes. »Ich hatte schon immer gefunden, dass das für Abbot ein zu glücklicher Unfall war. Ein bisschen zu sehr wie bestellt. Aber keine Beweise. Es gab nie irgendwelche Beweise.« »Haben Sie den Brief noch?« »Was?« »Den Brief von Mr. Ford, haben Sie den noch?« Rebus war jetzt ganz kribbelig, und Kirkwall sah ihm die Aufregung an. »Ich werf nie irgendwas weg, Inspector. O ja, und ob ich ihn hab. Er dürfte oben sein.« »Kann ich ihn sehen? Ich meine, kann ich ihn jetzt sehen?« »Wenn Sie möchten.« Kirkwall machte Anstalten aufzustehen, hielt aber dann inne. »Steckt Alex Abbot in Schwierigkeiten, Inspector?«
»Wenn Sie diesen Brief von Hugh Ford noch haben, dann ja, Sir, dann würde ich sagen, dass Mr. Abbot in sehr ernsten Schwierigkeiten stecken könnte.« 53 »Inspector, Sie haben einen alten Mann sehr glücklich gemacht.« Natürlich stand der Brief gegen Alex Abbots Wort, und er stritt alles ab. Aber jetzt gab es genug Material für eine Anklage. Die Eintragung im Hotel-Gästebuch stammte zwar nur möglicherweise von Alexander Abbots Hand, aber mit Sicherheit nicht von der Hand des Mannes, der Jack Kirkwall den Brief geschrieben hatte. Ein richterlicher Beschluss ermächtigte die Polizei, sich in Abbots Haus und den Geschäftsräumen von ABC umzusehen. Ein zwischen Abbot und Ford zu der Zeit, als sie ihre Gesellschaft gründeten, geschlossener Vertrag befand sich, wie die Ermittlungen ergaben, im Safe eines Anwalts. Die Unterschrift stimmte mit derjenigen auf dem Brief an Jack Kirkwall überein. Kirkwall erschien persönlich als Zeuge vor Gericht. Er wirkte auf Rebus, im Vergleich mit dem Mann, den er kennengelernt hatte, wie umgewandelt: munter, vital, geradezu lebenshungrig. Alexander Abbot starrte ihn von der Anklagebank aus fast vorwurfsvoll an, als wäre das alles lediglich ein weiteres Glied in einer lebenslangen Kette von üblen geschäftlichen Tricks. Und lebenslänglich war auch das Urteil des Richters.
Ansichtssachen Wenn man irgendwo in Edinburgh Christus sehen wollte, dann war die »Einsiedelei« der ideale Ort. Oder, um sie mit vollem Namen zu nennen, die »Hermitage of Braid«, so genannt nach dem Braid Burn, dem Bach, der durch die enge buschige Wildnis zwischen Blackford Hill und Braid Hills Road dahinplätscherte. Jenseits dieser Straße verwandelte sich die Hermitage in einen welligen Golfplatz, gepflegt und stark frequentiert. Doch an sonnigen Wochenendnachmittagen war die eigentliche Hermitage so wild und verwunschen, wie man es sich nur vorstellen konnte. Kinder liefen zwischen den Bäumen umher oder warfen Stöcke in den Bach. Liebespärchen stiegen Hand in Hand den steilen Hang des Blackford Hill hinab. Hunde rannten schnüffelnd von Stumpf zu Strauch, vielleicht von Punks beobachtet, die auf einer Felsnase hockten. Bierdosen wurden genüsslich an die Lippen geführt. Picknickgesellschaften versuchten, sich zu einigen, welches Fleckchen am windgeschütztesten war. Man konnte es manchmal kaum glauben, dass man sich hier mitten in Edinburgh befand, dass der Haupteingang zur Hermitage keine paar Schritte von der belebten Comiston Road entfernt lag, am südlichen Ende von Morningside. An diesem Tor hielten Demonstranten seit einigen Tagen eine Mahnwache ab, sangen Lieder und warnten mit Flugblättern gegen die Papisterei. Gelegentlich tauchte ein Megaphon auf, so dass sie ihre Schimpftiraden vom Sta 53 pel lassen konnten. Ein Händler von Devotionalien und Kerzen hatte auf der anderen Straßenseite - und ein Stück weiter die Straße entlang, in wohlweislichem Abstand von den Demonstranten - seinen Stand aufgebaut. In Ermangelung sonstiger sichtbarer Ziele richtete sich das Megaphon meist auf ihn. Eine solche Schimpftirade war gerade in vollem Gange, als Inspector Rebus eintraf. Würde es am Jüngsten Tag auch so zugehen?, fragte er sich, während er ein Flugblatt entgegennahm. Würde das lauteste Geschrei vonseiten der Erlösten kommen? Megaphone werden vom Veranstalter zur Verfügung gestellt, dachte er, während er durch das Tor trat. Er vertiefte sich in das Flugblatt. Keine Papisterei, aber klar.
»Und warum eigentlich nicht?« Und mit dieser Frage knüllte er das Blatt zusammen und warf es in den nächsten Papierkorb. Die Stimme verfolgte ihn, als hätte sie eine Mission, und die wäre er. »Jeder Götzendienst ist ein GRÄUEL vor dem HERRN! Es gibt nur EINEN Gott, und IHM müsst ihr dienen! Wendet euer Antlitz keinen GÖTZEN zu! Die SCHRIFT ist die EINZIGE Wahrheit, derer ihr BEDÜRFT!« Fasel du nur... Sie waren natürlich nur eine Minderheit, den Neugierigen, die sie angaffen kamen, zahlenmäßig bei weitem unterlegen. Doch die wiederum sahen so aus, als könnten sie schon sehr bald ihrerseits den Pilgern unterliegen. Rebus begriff sich gern als Christen, wenngleich als einen mit zu vielen Fragen und Zweifeln, als dass er sich auf die eine oder andere, katholische oder protestantische, Seite hätte schlagen mögen. Er konnte die Tatsache nicht verleugnen, dass er als Protestant geboren war; aber seine Mutter, eine gläubige Frau, war jung gestorben, und sein Vater hatte mit Religion nicht viel am Hut gehabt. 54 Bis zu seiner Einschulung hatte Rebus nicht einmal gewusst, dass ein Unterschied zwischen Katholiken und Protestanten besteht. Sein bis dahin bester Freund war ein Katholik gewesen, ein Junge namens Miles Skelly. Gleich am ersten Schultag waren die beiden Jungen getrennt und in zwei weit voneinander entfernte Schulen geschickt worden. So auseinandergerissen, hatten sie bald neue Freunde gefunden und aufgehört, miteinander zu spielen. Das war Rebus' erste Lektion in Sachen »konfessionelle Spaltung« gewesen. Aber er hatte nichts gegen Katholiken. Die Protestanten mochten sie als »Linksfüßer« bezeichnen, aber Rebus kickte den Ball selbst mit dem linken Fuß. Wohl misstraute er allerdings der Pilgermentalität. Sie bereitete ihm ein ungutes Gefühl: Statuen, die weinten oder bluteten oder sich bewegten. Plötzliche Marienerscheinungen. Der Abdruck eines Gesichts auf einem Leichentuch. Glaube, fand Rebus, sollte einfach nur das sein: Glaube. Und wenn man glaubte, was brauchte man da noch Wunder - besonders solche, die eher ins Varietetheater als ins Reich Gottes gehörten? Je mehr er sich also der eigentlichen Stelle näherte, desto weichere Knie bekam er. Im Hintergrund ausgedehntes Buschwerk, davor ein verkümmerter Baum. Um diesen Baum herum waren im Lauf der letzten zwei, drei Tage Kerzen, Statuetten, Fotos, handschriftliche Gebete und Blumen arrangiert worden. Ziemlich beeindruckend, das Ganze. Unweit davon, aber doch in respektvollem Abstand, kniete ein Grüppchen von Leuten. Ihre Köpfe waren andächtig gesenkt. Andere saßen, die Arme hinter sich aufgestützt, zurückgelehnt im Gras. Sie hatten alle das gleiche verzückte Lächeln im Gesicht, als hörten oder sähen sie etwas, von dem Rebus nichts mitbekam. Er horchte angestrengt, hörte aber nur geflüsterte Gebete, fernes Hundegebell. Er sah sich um, erblickte aber nur einen Baum - wenngleich man zugeben musste, dass 54 die Sonne ihn recht eindrucksvoll beleuchtete, so dass er sich vom Buschwerk dahinter deutlich abhob. Jenseits des Baums ließ sich ein Geraschel vernehmen. Rebus machte einen Bogen um die Gemeinde - anders konnte man die Versammlung nicht nennen - und ging auf das Dickicht zu, wo mehrere Polizeikadetten sich auf Händen und Knien fortbewegten, allerdings nicht mit frommen Andachtsübungen beschäftigt, sondern mit dem Absuchen des Bodens. »Irgendwas gefunden?«
Einer der Männer richtete sich auf und presste sich die Hand stöhnend ins Kreuz. Rebus konnte es knacken hören. »Nichts, Sir, nicht einen verdammten Krümel.« »Pfui, Holmes, keine solchen Ausdrücke. Vergessen Sie nicht, wir weilen an einer heiligen Stätte.« Detective Constable Brian Holmes brachte ein schiefes Lächeln zustande. An diesem Morgen hatte er schon viel zu lächeln gehabt. Ausnahmsweise einmal hatte man ihm Verantwortung übergeben, und es war ihm egal, dass er durch ein feuchtes Dickicht kriechen musste, die Haare voller Zweige hatte oder für eine Bande mürrischer Kadetten verantwortlich war. Er besaß Verantwortung. Nicht einmal Rebus konnte ihm das nehmen. Bloß dass er's doch konnte. Und das auch tat. »In Ordnung«, sagte Rebus, »das genügt. Wir werden mit dem auskommen müssen, was wir haben, beziehungsweise mit dem, was die Jungs vom Labor haben.« Die Kadetten standen dankbar auf. Ein, zwei von ihnen klopften sich weißes Kreidepulver von den Knien, andere kratzten an Erd- und Grasflecken herum. »Gut gemacht, Jungs«, lobte Rebus sie. »Nicht besonders aufregend, ich weiß, aber so ist nun mal Polizeiarbeit. Wenn ihr euch also Spannung und Action davon versprochen hattet, überlegt's euch besser noch mal.« 55 Die Ansprache hätte ich halten sollen, dachte Holmes, als die Kadetten über Rebus' Worte grinsten. Sie würden zu allem, was er sagte, allem, was er tat, Ja und Amen sagen. Er war Inspector. Er war der Inspector Rebus. Holmes spürte, wie er selbst an Statur und Substanz verlor und sich zu einem Bodennebel oder einem harmlosen Schatten verflüchtigte. Jetzt trug Rebus die Verantwortung. Die Kadetten hatten ihren bisherigen Boss so gut wie vergessen und nur noch Augen für einen Mann, und dieser Mann befahl ihnen gerade, abzurücken und sich einen Tee zu gönnen. »Was ist los, Brian?« Holmes, der den davonschlurfenden Kadetten nachschaute, begriff, dass Rebus mit ihm redete. »Bitte?« »Sie sehen so aus, als hätten Sie einen Sechser gefunden und einen Shilling verloren.« Holmes zuckte die Achseln. »Ich stell mir wohl nur vor, dass ich jetzt anderthalb Shilling haben könnte. Noch nichts über das Blut?« »Bloß, dass es ebenso sehr Christis ist wie Ihrs und meins.« »Wer hätte das gedacht.« Rebus deutete mit einem Nicken zur Lichtung. »Versuchen Sie, das denen da zu sagen. Die werden Ihnen was husten.« »Ich weiß. Ich hab schon einen Anpfiff wegen Entweihung einer heiligen Stätte bekommen. Wussten Sie, dass die schon angefangen haben, nachts Wachen aufzustellen?« »Wozu?« »Für den Fall, dass die Wee Frees den Baum umhauen und damit verschwinden.« Sie starrten sich gegenseitig an und platzten dann laut los. Sofort legten sie sich eine Hand vor den Mund, um das Geräusch zu dämpfen. Entweihung über Entweihung. 55 »Kommen Sie«, sagte Rebus, »Sie sehen so aus, als könnten Sie auch ein Tässchen vertragen. Geht auf mich.« »Na also, das ist ein Wunder!«, sagte Holmes und folgte seinem Vorgesetzten aus dem Wäldchen hinaus. Ein großer, muskulöser Mann kam ihnen entgegen. Er trug Jeans und
ein weißes T-Shirt. An seinem Hals, um den er auch ein rotes Tuch gebunden hatte, baumelte ein großes Holzkreuz. Sein Bart war so dicht und schwarz wie sein Haar. »Sind Sie Polizeibeamte?« »Ja«, antwortete Rebus. »Dann sollte ich Ihnen wohl sagen, dass die versuchen, den Baum zu stehlen.« »Ihn zu stehlen, Sir?« »Ja, ihn zu stehlen. Wir müssen rund um die Uhr Wache halten. Letzte Nacht hatte einer von ihnen ein Messer dabei, aber Gott sei Dank waren zu viele von uns da.« »Und Sie sind?« »Steven Byrne.« Eine Pause. »Father Steven Byrne.« Rebus legte ebenfalls eine Pause ein, um diese neue Information zu verdauen. »Nun, Father, würden sie den Mann wiedererkennen? Den mit dem Messer?« »Ja, wahrscheinlich.« »Schön, dann könnten wir ja zur Wache fahren und uns ein paar Fotos ansehen.« Father Byrne schien Rebus abzuschätzen. Als er begriff, dass er ernst genommen wurde, nickte er langsam. »Danke, das wird, glaube ich, nicht nötig sein. Aber ich dachte, Sie sollten Bescheid wissen. Die Situation könnte eskalieren.« Rebus verkniff sich eine Bemerkung zum Thema »andere Backe«. »Wir werden unser Bestes tun, damit es nicht dazu kommt«, sagte er stattdessen. »Wenn Sie den Mann noch einmal sehen, Father, informieren Sie uns sofort. Unternehmen Sie selbst nichts.« Father Byrne sah sich um. »Ich sehe hier nicht allzu viele 56 Telefone.« Seine Augen blitzten schalkhaft. Ein attraktiver Mann, dachte Rebus. Sogar mit einer Spur von Charisma. »Gut«, sagte er, »wir werden dafür sorgen, dass ein Streifenwagen in Abständen vorbeikommt und nach dem Rechten sieht. Wie klingt das?« Father Byrne nickte. Rebus wandte sich ab. »Gott segne Sie«, hörte er den Mann sagen. Er ging einfach weiter, doch aus irgendeinem Grund waren seine Wangen sehr rot geworden. Aber es war schließlich nur recht und billig, oder? Recht und billig, dass er gesegnet wurde. »Selig sind die Friedfertigen«, zitierte er, als sie wieder in die Nähe des Megaphons kamen. Es handelte sich um eine ganz einfache Geschichte. Eines Spätnachmittags waren drei Mädchen in der Hermitage gewesen. Nach der Schule hatten sie beschlossen, eine Abkürzung durch den Park zu nehmen, über den Blackford Hill zu steigen und auf der anderen Seite dann ihren jeweiligen Heimweg einzuschlagen. Ziemlicher Umweg für eine Abkürzung, wie Rebus seinerzeit dachte. Es waren fünfzehnjährige, vernünftige Mädchen aus guten katholischen Familien mit Plänen für die Zukunft -Pläne, die Studium, Beruf und Heirat einschlossen. Sie schienen nicht zu Hirngespinsten oder Übertreibungen zu neigen und blieben bis zum Schluss bei ihrer Geschichte. Sie waren knapp dreißig Meter vom Baum entfernt gewesen, als sie einen Mann sahen. Von einem Moment zum anderen war er plötzlich da gewesen. In Weiß gekleidet und von einem Lichtschein umgeben. Langes, welliges, dunkles Haar und ein Bart. Ein sehr blasses Gesicht, da waren sie sich einig. Mit einer Hand stützte er sich gegen den Baum, die andere hielt er sich an die Seite. An die rechte Brustseite - auch darin stimmten sie alle überein. Dann nahm er die Hand weg, und sie sahen, dass da Blut war. Ein dun 56
kelroter Fleck. Sie unterdrückten einen Schrei, tauschten einen Blick, um sich gegenseitig zu bestätigen, dass es wirklich stimmte, was sie gesehen hatten. Als sie wieder zum Baum schauten, war die Gestalt verschwunden. Sie liefen schnurstracks nach Hause, aber während des Abendessens erzählte jede von ihnen die Geschichte - und fand vielleicht im ersten Moment keinen Glauben. Aber warum sollten die Mädchen denn lügen? Die Eltern gingen zusammen zur Hermitage. Man zeigte ihnen die Stelle, den Baum. Es war weit und breit niemand zu sehen. Dann stieß aber eine der Mütter einen Schrei aus und bekreuzigte sich. »Seht euch das an!«, rief sie. »Seht euch das nur an!« Es war ein verschmierter roter Fleck, noch feucht, auf der Rinde des Baums: Blut. Die Eltern gingen zur Polizei, und die Polizei nahm eine erste Durchforstung des Geländes vor. Doch inzwischen hatte ein Nachbar einer der Familien einen Freund angerufen, der als freier Journalist für ein Sonntagsblatt schrieb. Die Zeitung brachte die Story von der »Vision in der Hermitage«, und die Sache begann sich auszuweiten. Das Blut, hieß es, sei nicht getrocknet. Und das stimmte auch, aber Rebus wusste, dass das auch auf eine Reaktion zwischen Blut und Baumrinde zurückzuführen sein konnte. Man fand Fußspuren, aber so viele und so unterschiedliche, dass es unmöglich war zu bestimmen, wann und von wem sie hinterlassen worden waren. Die Eltern beispielsweise hatten das Gebiet gründlich durchstöbert und dabei jede Menge potenzielle Indizien vernichtet. Auf dem Boden fanden sich keinerlei Blutflecken. In keinem Krankenhaus und von keinem Arzt der Stadt war ein Patient mit einer entsprechenden Verletzung behandelt worden. Die Beschreibung der Gestalt war recht vage: eher groß, eher mager, natürlich das lange Haar und der Bart - aber 57 war das Haar nun braun oder schwarz gewesen? Das hatten die Mädchen nicht genau erkennen können. Kleidung weiß - »wie so ein langer Kittel«, hatte sich eine von ihnen später erinnert. Aber mittlerweile war die Geschichte Gemeingut; inwieweit beeinflusste das jetzt im Nachhinein ihre Erinnerung? Und was den Lichtschein anging - nun, Rebus hatte ja selbst gesehen, wie die Sonne auf diese bestimmte Stelle schien. Am besagten Spätnachmittag hatte die Sonne schon relativ tief gestanden. Damit hätte man den Lichtschein ohne Weiteres erklären können - jedenfalls einem rationalen Menschen. Aber dann traten die Eiferer - auf beiden Seiten - auf den Plan. Die Gläubigen und die Zweifler, mit Kerzen oder Megaphonen bewaffnet. Neuigkeiten erfuhr man kaum. Die Medien stürzten sich auf die Story. Die Mädchen waren fotogen. Als sie im Fernsehen erschienen, wurde aus dem eher bescheidenen Strom von Neugierigen eine regelrechte Sintflut. Busladungsweise kamen sie von Wales und England herauf. Aus Irland trafen die ersten organisierten Reisegruppen ein. Ein Pariser Magazin war auf das Rätsel aufmerksam geworden; desgleichen, so wurde gemunkelt, ein Halleluja-Kabelsender aus den USA. Rebus hätte am liebsten die Hände erhoben und der Flutwelle Einhalt geboten. Stattdessen wurde er glatt von ihr überrollt. Superintendent Watson wollte Antworten. »Ich mag diesen ganzen Hokuspokus nicht«, sagte er mit presbyterianischer Entschiedenheit und einem singenden Aberdeener Tonfall. »Ich will etwas Greifbares. Ich will eine Erklärung, eine, an die ich glauben kann. Klar?« Klar. Rebus war das klar; ebenso Chief Inspector Lauderdale. Chief Inspector Lauderdale war klar, dass Rebus gefälligst was unternehmen sollte. Rebus war klar, dass die eine oder andere Hand in Unschuld gewaschen wurde; dass nur seine eigenen Hände sich an dieser Sache schmut 57
zig machen würden. Im Zweifelsfall delegieren. Und genau da waren Holmes und seine Polizeischüler ins Spiel gekommen. Da sie keine neuen Indizien - besser gesagt: überhaupt keine Indizien - gefunden hatten, beschloss Rebus, die Sache abzublasen. Das Interesse der Medien ließ ohnehin schon merklich nach. Irgendein Heimatforscher meldete sich in Abständen mit »Fakten« oder einer »Theorie« und gab damit der Story eine Zeit lang neuen Auftrieb - vom Einsiedler, der in der Hermitage gelebt hatte, 1714 wegen Hexerei hingerichtet worden war und noch immer dort herumgeistern sollte -, aber lange würden solche Märchen nicht mehr ziehen. Es war so, als fachte man die Glut an, ohne Holz nachzulegen. Ein kurzes Aufflackern, und das war's dann. Sobald die Medien das Interesse verloren, würden auch die religiösen Spinner müde werden. Es hatte schon Trittbrettfahrer-»Erscheinungen« in Cornwall, Caerphilly und East Croydon gegeben. Die »Ungläubigen Thomasse« krochen aus ihren Löchern. Und schlimmer noch: Das Blut war verschwunden, von einem nächtlichen Wolkenbruch weggespült, der auch die um den Baum herum aufgestellten Kerzen ausgelöscht hatte. Wenn sich die »Erscheinung« nicht bald wiederholte, würde die Sache endgültig sterben. Darum betete Rebus allabendlich. Die Erlösung blieb aus. Stattdessen kam ein Anruf um vier Uhr morgens. »Ich hoffe, Sie haben eine gute Ausrede.« »Hab ich.« »Dann schießen Sie los.« »Wie schnell können Sie in der Hermitage sein?« Rebus setzte sich im Bett auf. »Klartext.« »Man hat eine Leiche gefunden. Na ja, >Leiche< ist vielleicht ein bisschen zu viel gesagt. Sagen wir, man hat einen Torso gefunden...« 58 Es war in der Tat ein Torso, wenngleich nicht von der Art, die man in Museen sieht. »Gütiger Gott im Himmel«, flüsterte Rebus, während er das Ding anstarrte. »Wer hat den gefunden?« Holmes sah selbst nicht allzu gut aus. »Einer von den dreien da«, antwortete er. »Wollte hier ein ruhiges Plätzchen suchen, um ein größeres Geschäft zu erledigen. Hatte eine Taschenlampe dabei. Hat das hier gefunden. Man kann, glaube ich, sagen, dass es ihn schwer mitgenommen hat. Und seine Hose offenbar auch.« »Kann ich irgendwie beides nachvollziehen.« Ein Generator summte im Hintergrund und lieferte den nötigen Saft für die drei Halogenscheinwerfer, die von ihren hohen Ständern aus die Lichtung ausleuchteten. Ein paar uniformierte Beamte waren dabei, das Areal mit orangefarbenen Plastikstreifen abzusperren. »Niemand hat ihn angerührt?« »Niemand hat sich auch nur in die Nähe gewagt.« Rebus nickte zufrieden. »Belassen wir es am besten dabei, bis die Spurensicherung kommt. Wo, zum Teufel, bleibt der Pathologe?« Holmes deutete mit einem Kopfnicken auf etwas hinter Rebus. »Wenn man vom Teufel spricht...«, sagte er. Rebus drehte sich um. Zwei Männer in düsteren Crombie-Mänteln kamen flotten Schritts auf die Fundstelle zu. Der eine trug eine Arzttasche, der andere hatte zum Schutz vor der kalten Luft beide Hände tief in seine Manteltaschen vergraben. Das Halogenlicht hatte ein paar ortsansässige Vögel geschreckt, die sich jetzt die Seele aus dem Leib zwitscherten. Aber bis zum Morgen war es sowieso nicht mehr lang. Chief Inspector Lauderdale bedachte Rebus mit einem knappen Nicken, was er unter den gegebenen Umständen offenbar für eine ausreichende Begrüßung hielt. Der Pathologe, Dr. Curt, hingegen war so gesprächig wie eh und je. 58
»Einen wunderschönen guten Morgen, Inspector.« Rebus, der Dr. Curt seit Ewigkeiten kannte, machte sich auf den unvermeidlichen Kalauer gefasst. Der Arzt ließ ihn nicht lange warten. »Na, dem Burschen sollte aber schleunigst jemand Beine machen!« Wie an dieser Stelle von ihm erwartet, stöhnte Rebus. Der Arzt strahlte. Rebus wusste, was als Nächstes kam: die fiktive reißerische Schlagzeile. Wieder enttäuschte ihn Dr. Curt nicht. »Kopflos im Wald - Polizei tappt im Dunkeln«, sagte er munter-sinnierend, während er Überschuhe und Overall überstreifte, um sich dann zur Leiche zu begeben. Chief Inspector Lauderdale schien seinen Ohren nicht zu trauen. Er rückte näher an Rebus heran. »Ist er immer so?« »Immer.« Der Arzt hatte sich hingehockt, um den Leichnam in Augenschein zu nehmen. Er bat die Techniker, die Scheinwerfer anders auszurichten, und begann mit seiner Untersuchung. Vorher fand er aber noch Zeit, sich Rebus ein letztes Mal kurz zuzuwenden. »Ich fürchte, wir kommen zu spät«, rief er. »Der arme Bursche ist tot.« Vor sich hin schmunzelnd, machte er sich an die Arbeit, fischte ein Diktiergerät aus seiner Arzttasche und murmelte von Zeit zu Zeit etwas hinein. Lauderdale sah eine Minute lang zu. Was ungefähr neunundfünfzig Sekunden zu lang war. Er wandte sich wieder zu Rebus. »Was können Sie mir sagen?« »Über Dr. Curt? Oder über den Toten?« »Über den Toten.« Rebus fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und kratzte sich am Kopf. Er erstellte gerade im Geist eine Liste aller geschmacklosen Kalauer, die Dr. Curt noch hätte an 59 bringen können: Der kriegt kein Bein mehr auf die Erde, lässt mit Sicherheit keinen mehr am ausgestreckten Arm verhungern, ist seine Kopfschmerzen ein für allemal los, wurde offenbar von einigen Leuten geschnitten, aber das ist ja nun wirklich kein Beinbruch, auch wenn man ihm nicht mehr Hals- und Beinbruch wünschen kann, denn dafür hat er jetzt wirklich nichts mehr am Hals... »Inspector?« Rebus zuckte zusammen. »Was?« Lauderdale starrte ihn streng an. »Ach so«, sagte Rebus, der sich jetzt wieder erinnerte. »Na ja, er ist nackt, wie man sieht. Und der oder die Täter haben nicht jedes Glied abgetrennt, dadurch wissen wir mit Sicherheit, dass er ein Er ist. Sonst nichts, Sir. Sobald es hell wird, suchen wir das ganze Gelände nach den fehlenden Extremitäten ab. Was ich aber mit ziemlicher Sicherheit sagen kann: Er wurde nicht hier zerlegt.« »Wie kommen Sie darauf?« »Kein Blut, Sir. Jedenfalls soweit ich feststellen kann.« »Gentlemen!« Curt hatte gerufen, winkte die beiden zu sich. Jetzt mussten auch sie die Überschuhe, eigentlich nicht viel mehr als schlecht sitzende Plastiktüten, und die Overalls anziehen. Die Leute von der Spusi würden jeden Quadratzentimeter Boden rings um die Leiche absuchen. Es wäre nicht nett gewesen, falsche »Spuren«, wie Fasern vom Jackett oder eine verlorene Münze, zu hinterlassen. »Was gibt's, Doktor?« »Zunächst einmal kann ich Ihnen sagen, dass es ein Mann ist, Alter zwischen fünfunddreißig und fünfzig. Entweder verlebte fünfunddreißig oder recht gut erhaltene fünfzig. Und untersetzt, es sei denn, er hatte im Verhältnis zum Rumpf lächerlich lange Beine. Ich kann eine bessere Schätzung abgeben, sobald wir ihn auf dem Tisch gehabt haben.« Sein Lächeln schien speziell Lauderdale zu gelten. 59 »Tot seit einem Tag oder länger. Er wurde natürlich in diesem Zustand hier abgeladen.« »Natürlich«, sagte Lauderdale. »Kein Blut.«
Der Arzt nickte, noch immer lächelnd. »Aber da ist noch was. Hier, sehen Sie.« Er zeigte auf das, was von der rechten Schulter übriggeblieben war. »Sehen Sie diese Läsion?« Er beschrieb mit dem Finger einen Kreis um die Schulter. Sie mussten sich tiefer beugen, um zu erkennen, was er meinte. Die Schulter war mit einem Messer bearbeitet worden, so als hätte jemand versucht, sie zu schälen. Das sah im Vergleich zu den sonstigen, sauberen Schnitten ungeschickt und amateurhaft aus. »Eine Tätowierung«, sagte Rebus. »Kann nichts anderes sein.« »Ganz recht, Inspector. Der oder die Täter haben versucht, sie zu entfernen. Nachdem sie den Rumpf hier abgeladen hatten. Sie haben offensichtlich gesehen, dass noch ein Teil der Tätowierung zurückgeblieben war, genug, um uns zu helfen, das Opfer zu identifizieren. Also...« Er bewegte die Finger vom Schulterstumpf zum Boden darunter. Rebus konnte gerade eben die Hautfetzen ausmachen. »...können wir sie wieder zusammensetzen«, vollendete Rebus den Satz. »Natürlich können wir das!« Der Arzt stand auf. »Die müssen uns ja für blöd halten. Erst machen sie sich die ganze Mühe, und dann lassen sie so was liegen...« Er schüttelte gemächlich den Kopf. Rebus wartete mit angehaltenem Atem. Das Gesicht des Arztes erhellte sich. »Es ist Jahre her, dass ich zuletzt ein Puzzle gemacht habe«, sagte er, während er seine Tasche öffnete, seine Sachen darin verstaute und den Verschluss mit einem lauten Klack wieder zuschnappen ließ. »Aber was man schwarz auf weiß besitzt...«, sagte er und entfernte sich in Richtung der Absperrung. 60 Nachdem Curt gegangen war, zurück zu seinem Seziertisch, um auf die Anlieferung der Leiche zu warten, wollte sich Lauderdale noch vergewissern, dass alles seinen Gang ging. Es ging, versicherte ihm Rebus. Daraufhin entbot ihm Lauderdale eine gute Nacht. Rebus glaubte nicht, dass ihm jemand je zuvor eine gute Nacht »entboten« hatte; er bezweifelte, dass überhaupt jemand jemandem je eine gute Nacht entboten hatte, außer in ältlichen Büchern und Theaterstücken. Besonders seltsam war es, im Morgengrauen eine gute Nacht entboten zu bekommen. Er hätte schwören können, dass irgendwo in der Ferne ein Hahn krähte, aber wer würde andererseits in Morningside schon Hühner halten? Er machte sich auf die Suche nach Holmes und fand ihn drüben bei den Baumanbetern. Für die restliche Nacht war ein Wachdienst eingerichtet, jeweils zwei, drei Leute für zwei Stunden. Holmes plauderte, gab sich locker. Er verlagerte sein Gewicht immer wieder von einem Fuß auf den anderen, als ob er einen Krampf hätte oder die Kälte durch die Strümpfe an seinem Bein hinaufkroch. Sich die Beine in den Bauch stehen: Daraus hätte Dr. Curt auch gut was basteln können. »Sie wirken heute Morgen sehr vergnügt, Inspector. Andererseits ist ja jeder Morgen Anlass genug, sich zu freuen.« Ganz auf Holmes konzentriert, hatte Rebus die andere Gestalt, die wie er auf den Baum zuging, nicht bemerkt. In Jeans, Tartan-Hemd und Lumberjack gekleidet, aber dasselbe Holzkreuz am Hals. Es war Father Byrne. Himmelblaue Augen, durchdringender Blick, die Pupillen wie winzige Pünktchen von Tusche. Das Lächeln ging von Lippen und Mund auf Augen und Wangen über. Sogar der Bart des Mannes schien sich an dem Vorgang zu beteiligen. »Von vergnügt kann keine Rede sein, Father Byrne -« »Bitte, nennen Sie mich Steven.« 60 »Schön, wie gesagt, von vergnügt kann keine Rede sein. Wussten Sie, dass sich letzte Nacht ein Mord ereignet hat?« Jetzt waren die Augen weit aufgerissen. »Ein Mord? Hier?« »Na ja, streng genommen nicht, nein. Aber die Leiche wurde hier abgelegt. Wir werden mit allen reden müssen, die gestern hier waren. Sie könnten etwas gesehen haben.«
Holmes schwenkte ein Notizbuch. »Ich hab schon ein paar Namen und Adressen notiert.« »Braver Junge. Hat es weitere Drohungen gegeben, Father?« »Drohungen?« »Sie erinnern sich, der Mann mit dem Messer.« »Nein, nicht dass ich wüsste.« »Tja, es wäre mir wirklich lieb, wenn Sie auf die Wache kommen und sich ein paar Fotos ansehen könnten, ob Sie ihn vielleicht erkennen...« »Jetzt?« »Irgendwann im Lauf des Tages.« Rebus schwieg kurz. »Wann es Ihnen am besten passt.« Father Byrne erfasste die Bedeutung der Pause. »Nun, natürlich. Wenn Sie glauben, dass es etwas nützt. Ich komme heute Vormittag vorbei. Aber Sie glauben doch nicht...? Bestimmt nicht.« Rebus zuckte die Schultern. »Wahrscheinlich bloß ein Zufall, Father. Aber Sie müssen zugeben, es ist schon ein ziemlicher Zufall. Jemand taucht hier mit einem Messer auf. Ein paar Tage später wird, keine dreihundert Meter entfernt, eine Leiche gefunden. Ja, Zufall.« Wieder diese Pause. »Meinen Sie nicht auch?« Aber Father Byrne schien keine Antwort darauf zu wissen. 61 Nein, es war kein Zufall, da war sich Rebus sicher. Schön, wenn man eine Leiche loswerden wollte, war die Hermitage sicher ein geeigneter Ort. Aber keine Lichtung, wo früher oder später jemand darüber stolpern würde. Und auch nicht so nah am berühmten Baum, wo sich, wie jeder wusste, rund um die Uhr Leute herumtrieben, was das Ablegen einer Leiche zu einem recht riskanten Unterfangen machte. Einem zu riskanten. Es musste einen Grund dafür geben. Eine Erklärung. Vielleicht etwas wie eine Botschaft. Ja, eine Botschaft. Und waren dreihundert Meter nicht ein ziemlich langer Weg, nur um eben mal einen Haufen zu machen? Nun, der Punkt ließ sich rasch klären. Der Mann gab zu, dass er nicht allein unterwegs gewesen war. Er hatte seine Freundin dabeigehabt. Als er auf den Leichnam stieß, hatte er sie nach Haus geschickt. Einerseits weil sie unter Schock stand, andererseits, damit »ihr Ruf keinen Schaden nahm«. Father Byrne teilte das Rebus mit, als er auf der Wache erschien, um sich die Verbrecherkartei anzusehen - was zu nichts führte. Jetzt war es eine neue Kategorie von Touristen, die zur Hermitage strömten, eine neue Art von »Heiligtum«, zu der sie pilgerten. Sie wollten die Stelle sehen, an der man den Rumpf entdeckt hatte. Anwohner führten weiterhin dort ihre Hunde spazieren, und Liebespärchen schlenderten wie immer am Bach entlang; aber sie hatten jetzt einen starren Ausdruck im Gesicht, als wollten sie nicht akzeptieren, dass die Hermitage, ihre Hermitage, zu etwas anderem geworden war, zu etwas, das sie nie von ihr erwartet hätten. Rebus vertrieb sich derweil die Zeit mit einem Puzzle. Die Tätowierung nahm allmählich, wenn auch sehr langsam, Gestalt an. Es passierten immer wieder Fehler. Und das führte dazu, dass weitere Stücke falsch eingesetzt wur 61 den, bis man das Ganze wieder auseinander- und neu in Angriff nehmen musste. Die vorherrschende Farbe war Blau, daneben gab es vereinzelte rote Partien. Die dunklen Tintenstriche verliefen in der Regel gerade. Das Ganze sah wie Profiarbeit aus. Tattoostudios wurden abgeklappert, aber die Beschreibung des Musters, die man bislang geben konnte, war noch zu vage. Rebus zeigte Holmes ein weiteres mögliches Bild, das fünfte dieser Art in einer Woche. Die Kriminaltechniker hatten durch gestrichelte Linien angedeutet, wie die Zeichnung ihrer Ansicht nach weitergehen konnte. Holmes nickte.
»Das ist ein Kandinsky«, erklärte er. »Oder einer seiner Schüler. Kompakte, balkenartige Farbflächen. Ja, eindeutig ein Kandinsky.« Rebus war platt. »Sie meinen, Kandinsky hat diese Tätowierung gemacht?« Holmes sah vom Bild auf, grinste verlegen. »Tut mir leid, das war nur ein Witz. Oder sollte einer sein. Kandinsky war ein Maler.« »Ach so.« Rebus klang enttäuscht. »Ja«, sagte er, »ja, natürlich, der Maler. Klar.« Weil er sich mies fühlte, seinem Vorgesetzten falsche Hoffnungen gemacht zu haben, konzentrierte sich Holmes jetzt umso mehr auf das Bild. »Könnte ein Hakenkreuz sein«, schlug er vor. »Diese Linien...« »Ja.« Rebus drehte das Foto zu sich herum, knallte dann mit der flachen Hand darauf. »Nein!« Holmes zuckte zurück. »Nein, Brian, kein Hakenkreuz... ein Union Jack! Das ist ein gottverdammter Union Jack!« Sobald die Jungs vom Labor das Muster vor sich liegen hatten, war es ein Kinderspiel, das Puzzle zusammenzusetzen. Aber wie sie feststellten, handelte es sich nicht lediglich um einen Union Jack, sondern einen Union Jack mit den schräg darüber verlaufenden Buchstaben UFF und ei 62 ner hinter den Buchstaben hervorlugenden Maschinenpistole. »Ulster Freedom Fighters«, murmelte Rebus. »Okay, dann nehmen wir uns wieder die Tattoostudios vor.« Für den Durchbruch sorgte ein CID-Beamter in Musselburgh. Ein dortiger Tätowierer glaubte, in der Zeichnung die Arbeit Tarn Finlaysons zu erkennen, aber Finlayson hatte sich schon ein paar Jahre zuvor aus dem Geschäft zurückgezogen, und ihn aufzuspüren war nicht leicht. Einen Augenblick lang befürchtete Rebus sogar, der Mann könnte schon tot und begraben sein. Er war's nicht. Er wohnte mit seiner Tochter und seinem Schwager in Brighton. Ein Detective aus Brighton suchte ihn auf und gab die Ergebnisse telefonisch nach Edinburgh durch. Beim Anblick des Bildes war Finlayson zusammengezuckt und hatte dann, wie seine Tochter es formulierte, »einen seiner Anfälle« gekriegt. Er bekam Pillen verabreicht, und schließlich war er in der Lage zu reden. Aber er hatte Angst, daran war kein Zweifel. Durch die Tatsache beruhigt, dass die Tätowierung zu einer Leiche gehörte, rückte der Tätowierer aber zuletzt doch mit der Wahrheit heraus. Ja, das war seine Arbeit. Die hatte er vor vielleicht fünfzehn Jahren gemacht. Und der Kunde? Ein junger Mann namens Philips. Rab Philips. Kein Terrorist, bloß ein Rabauke auf der Suche nach einer »guten Sache«. »Rab Philips?« Rebus starrte sein Telefon an. »Der Rab Philips?« Wer sonst? Ein unterbelichteter Kleinganove, der genügend Zeit im Gefängnis, dieser Universität des Lebens, zugebracht hatte, um zu einem cleveren Kleinganoven zu werden. Und der dann zu einer großen Nummer herangewachsen war - oder gereift, wenn man so wollte. Nicht direkt Oberliga, aber auch kein Sonntagskicker mehr. Die letzten paar Jahre war er wenig in Erscheinung getreten. Kein Klatsch über ihn auf der Straße; kein Dreck 62 am Stecken; ja genau genommen überhaupt nichts Neues. Nun, jetzt gab es etwas Neues. Pubs und Klubs wurden abgeklappert, Drinks spendiert, gelegentlich ein Arm verdreht, und die Informationen begannen, wenn auch zaghaft, zu fließen. Philips' Haus wurde durchsucht und Philips' Frau vernommen. Laut ihrer Aussage hatte er ihr gesagt, er würde geschäftlich für ein paar Tage nach London reisen. Rebus nickte wortlos und reichte ihr ein Foto. »Ist das Rabs Tätowierung?« Sie wurde blass. Dann hysterisch.
Inzwischen hatte man Philips' Kumpel und »Geschäftspartner« eingefangen und verhört. Ein, zwei von ihnen wurden freigelassen und dann wieder festgenommen, freigelassen und wieder festgenommen. Die Botschaft war klar: Das CID war davon überzeugt, dass sie mehr wussten, als sie erzählten, und solange sie nicht erzählten, was sie wussten, würde das Spielchen so weitergehen. Sie waren natürlich nervös, und wer hätte es ihnen verdenken können? Sie konnten nicht wissen, wer das Revier ihres Exbosses übernehmen würde. Es gab in der Stadt jede Menge Leute mit Ressentiments und entsprechenden Messern. Je länger sie auf Polizeiwachen herumlungerten, desto mehr würde man sie als Risikofaktor betrachten. Sie erzählten, was sie wussten - oder zumindest, was das CID wissen wollte. Rebus war's recht. Rab Philips, sagten sie, hatte angefangen, mit Drogen zu dealen. Nichts Ernstes, hauptsächlich Cannabis, aber in beträchtlichen Mengen. Das CID von Edinburgh hatte viel getan, um das Problem der harten Drogen aus der Welt zu schaffen - vor allem, indem es die Dealer aus dem Verkehr zog. Neue Dealer tauchten zwar immer wieder auf, aber das waren kleine Fische. Rab Philips allerdings hatte sich so lange so ruhig verhalten, dass er nicht verdächtigt wurde. Und au 63 ßerdem wurden die Drogen in Edinburgh lediglich umgeschlagen; sie blieben nicht in der Stadt. Boote luden sie an der Küste von Fife oder weiter nördlich ab. Dann wurden sie nach Edinburgh geschafft und von dort aus weiter nach Süden. Nach England. Was konkret nach London bedeutete. Rebus hörte sich nach einer möglichen nordirischen Connection um, aber keiner hatte etwas zu berichten. »Also, zu wem gehen die Drogen in London?« Wieder stellten sich alle dumm. Rebus saß an seinem Schreibtisch und arbeitete an einem weiteren Puzzle - aber diesmal im Kopf: einem Puzzle von Fakten und Möglichkeiten. Ja, er hätte es von Anfang an wissen müssen. Zerstückelung bedeutete Unterwelt. Einen Verrat, ein falsches Spiel. Und die dafür vorgesehene Strafe. Rebus griff wieder zum Telefon, ließ sich diesmal mit London verbinden. »Inspector George Flight, bitte.« Typisch Flight, alles ganz einfach erscheinen zu lassen. Rebus gab ihm die Beschreibung durch, und eine Stunde später rief Flight zurück und hatte einen Namen. Rebus steuerte noch ein paar Details bei, und Flight machte einen Besuch. Als er diesmal zurückrief, befand sich Rebus schon zu Haus. Es war später Abend, und Rebus döste, das Telefon auf dem Schoß, in seinem Sessel. Flight war bester Laune. »Ich bin froh, dass Sie mir von der Stichwunde erzählt haben«, begann er. »Ich hab ihm ein paar Fragen gestellt und gleich gemerkt, dass er ein bisschen steif war. Als er aufgestanden ist, um mich zur Tür zu begleiten, habe ich ihm einen Klaps auf die rechte Brustseite gegeben. Aber so, dass es scherzhaft wirkte. Sie wissen schon, ganz ohne Aggressivität.« Er schmunzelte. »Sie hätten ihn sehen sollen, John. Wie ein Taschenmesser ist er zusammengeklappt. Natürlich fing die Wunde wieder an zu bluten. Der Blödmann hatte sie nicht versorgen lassen. Würd mich nicht wundern, wenn sie vereitert wäre oder sonst was.« 63 »Wann ist er aus Edinburgh zurückgekommen?« »Vor ein paar Tagen. Meinen Sie, wir können ihn dran-kriegen?« »Vielleicht. Wir könnten allerdings ein paar Beweise brauchen. Aber ich glaube, was das angeht, lässt sich was machen.« Wie Rebus Brian Holmes erklärte, war es mehr als eine bloße Ahnung gewesen. Eine Ahnung war nicht mehr als ein Schuss ins Blaue - oder ein Stich im Dunkeln, wie Dr. Curt vermutlich gekalauert hätte. Rebus stand allerdings ein bisschen mehr Licht zur
Verfügung. Er erzählte die Geschichte, während sie durch das frühmorgendliche Edinburgh zur Hermitage fuhren. Die drei Mädchen hatten einen Mann aus dem Wäldchen auftauchen sehen. Einen verletzten Mann. Jetzt schien klar zu sein, dass er bei einem Handgemenge in der Nähe oder direkt an der Braid Hills Road einen Messerstich abbekommen hatte. Drogen waren von einem Auto ins andere umgeladen worden. Eine versuchte krumme Tour. Er war verletzt worden und den Hügel hinunter in die eigentliche Hermitage geflohen, hatte die Lichtung zur selben Zeit wie die Mädchen erreicht und sich, als er sie entdeckte, augenblicklich verdrückt. Denn natürlich hatte er etwas zu verbergen: seine Wunde. Er hatte sich irgendwie selbst zusammengeflickt, war aber dann in Edinburgh geblieben, um Rache zu nehmen. Rab Philips war geschnappt und zerstückelt worden, und seinen Rumpf hatte man als eine Botschaft an Philips' Gang in der Hermitage liegen lassen. Die Botschaft bedeutete: Legt euch nicht mit London an. Dann hatte sich der verletzte Gangster endlich wieder nach Süden verzogen. Aber er war das genaue Gegenteil von Philips; er trug sehr auffällige Sachen. »Wahrscheinlich einen weißen Mantel«, hatte Rebus zu George Flight 64 gesagt. »Eine weiße Hose. Er hat lange Haare und einen Bart.« Flight hatte die Beschreibung präzisiert. »Es ist ein weißer Trenchcoat«, erklärte er. »Und eine gelbe Hose, ob Sie's glauben oder nicht. Der ist ein waschechter Ex-Althippie.« Er hieß Shaun McLafferty. »Auf der Straße kennt jeder Shaun«, fuhr Flight fort. »Aber dass er angefangen hatte, mit Dope zu dealen, wusste ich nicht. Obwohl mich das nicht überrascht - der würde es mit allem probieren.« McLafferty. »Er ist nicht, rein zufällig, Ire?«, fragte Rebus. »Londoner Ire«, antwortete Flight. »Würd mich nicht wundern, wenn die IRA zehn Prozent von seinen Gewinnen einstreicht. Vielleicht auch mehr. Schließlich entweder er zahlt, oder sie übernehmen das Geschäft. Kommt vor.« Vielleicht war es also wirklich so simpel. Ein Streit um Konfessionen. Ein IRASympathisant, der sich bei einer geschäftlichen Transaktion plötzlich, nichts Böses ahnend, einem UFF-Tattoo gegenübersah. Genau die Mischung, an der der alte Molotow seine helle Freude gehabt hätte. »Dann«, sagte Brian Holmes, nachdem er das alles verdaut hatte, »hat Inspector Flight also McLafferty einen Besuch abgestattet?« Rebus nickte. »Und McLafferty war an der rechten Seite verletzt. Stichwunde, meinte George.« »Warum sind wir dann hier?«, fragte Holmes. Sie hatten den Wagen vor dem Tor stehen lassen und gingen jetzt in die Hermitage hinein. »Weil uns«, sagte Rebus, »noch immer Beweise fehlen.« »Was für Beweise?« Aber Rebus wollte nichts verraten; vielleicht weil er die Antwort selbst nicht wusste. Sie näherten sich dem Baum. Von den bis dahin stets gegenwärtigen Wachen war weit 64 und breit nichts zu sehen, aber vor dem Baum kniete eine vertraute Gestalt. »Morgen, Father.« Father Byrne hob den Kopf. »Guten Morgen, Inspector. Auch Ihnen, Constable.« Rebus sah sich um. »Ganz allein?« Byrne nickte. »Die Begeisterung scheint sich gelegt zu haben, Inspector. Keine Megaphone mehr, keine Reisegesellschaften oder Kameras.« »Sie klingen erleichtert.«
»Bin ich auch, das können Sie mir glauben.« Father Byrne breitete die Arme aus. »So ist es mir viel lieber, Ihnen nicht?« Rebus musste ihm beipflichten und nickte. »Wie auch immer«, sagte er dann, »wir glauben, erklären zu können, was die Mädchen damals gesehen haben.« Father Byrne zuckte lediglich die Schultern. »Keine Wachen mehr?«, fragte Rebus. »Die Männer haben aufgehört, uns Ärger zu machen.« Rebus nickte nachdenklich. Seine Augen waren auf den Baum gerichtet. »Sie hatten es nicht auf Sie abgesehen, Father. Es ging um den Baum. Aber nicht aus dem Grund, den Sie vermuten. Dürfte ich um Ihre Hand bitten, Brian?« Eigentlich brauchte er beide. Holmes sollte eine Räuberleiter machen, damit Rebus auf den Baum steigen konnte. Holmes lehnte sich mit dem Rücken gegen den Stamm und hielt, nicht ohne ein inneres Aufstöhnen, die verschränkten Hände hin. Rebus wog gut und gern zwanzig Kilo mehr als er. Aber nun - nicht murren, gehorchen... und hau ruck! Rebus tastete den Stamm ab, fand Astlöcher, Moos, aber sonst nichts, nichts Verstecktes. Er reckte sich höher, spähte in jeden Riss in der Rinde, jede Vertiefung. Nichts. 65 »Okay, Brian.« Dankbar ließ Holmes Rebus wieder hinunter. »Was gefunden?« Rebus schüttelte den Kopf. Er nagte an der Unterlippe. »Wollen Sie mir nicht sagen, wonach wir suchen?« »McLafferty hatte noch etwas anderes vor den Mädchen zu verbergen - außer der Tatsache, dass er verletzt war. Mal nachdenken.« McLafferty war durch das Wäldchen gekommen, dann durch das Gestrüpp, hatte sich einen Augenblick lang an den Baum gelehnt, war wieder im Wäldchen verschwunden. »Kreide!« Rebus schlug mit der Faust gegen den Baum. »Bitte?« »Kreide! An dem Morgen, an dem ich nach Ihnen schaute. Als die Kadetten aufstanden, hatten sie weißes Kreidepulver an den Knien.« »Ach ja?« »Jetzt sehen Sie selbst!« Rebus führte Holmes ins Wäldchen hinein. »Hier ist weit und breit kein weißes Gestein. Keine Kalksteinbröckchen. Das war keine Kreide!« Er ließ sich auf die Knie fallen und begann, wie wild mit den Händen im Erdreich zu scharren. Die Eltern der Mädchen hatten den Boden zertrampelt, so dass man das weiße Pulver nicht mehr sehen konnte. Genug, um Flecken an Hosenknien zu hinterlassen, aber ansonsten kaum zu erkennen. Mit Sicherheit nichts, worauf ein Polizeischüler groß geachtet hätte. Und schließlich hatten sie nach Gegenständen auf dem Boden gesucht und nicht darunter. »Aha!« Er hielt kurz inne, stocherte an einer Stelle mit den Fingern in der Erde, fing dann an, darum herum zu graben. »Hier«, sagte er, »nur der eine Beutel, und der ist aufgeplatzt. Das war's. Muss aufgeplatzt sein, als McLafferty ihn vergraben hat. Rufen Sie am besten die Spusi an, 65 Brian. Da dürften überall Blut und Fingerabdrücke von ihm drauf sein.« »Ja, Sir.« Erstaunt sprintete Holmes los, blieb dann stehen und drehte sich wieder um. »Schlüssel«, sagte er. Rebus fischte seine Autoschlüssel aus der Tasche und warf sie ihm zu. Father Byrne, der die ganze Szene als stummer Besucher verfolgt hatte, kam etwas näher. »Heroin, Father. Entweder das oder Kokain. Allemal profitabler als Cannabis. Letzten Endes geht's immer nur ums Geld. Sie zogen gerade einen Deal durch. McLafferty hat
sich einen Messerstich eingehandelt. Als es passierte, hatte er gerade einen Beutel in der Hand. Irgendwie konnte er entwischen, ist ohne nachzudenken hier runtergerannt. Er wusste, dass er das Zeug unbedingt loswerden musste, also hat er es vergraben. Die Männer, die Ihnen Ärger machten, McLaffertys Männer - die waren hinter dem hier her. Dann haben sie stattdessen Rab Philips in die Finger bekommen und sind zufrieden nach Hause gefahren. Wären nicht Ihre Nachtwächter gewesen, hätten sie das Zeug hier auch noch gekriegt.« Rebus verstummte, als ihm klar wurde, dass der Priester ihm wahrscheinlich nicht ganz folgen konnte. Father Byrne schien seine Gedanken zu lesen und lächelte. »Einen Moment lang, Inspector«, sagte er, »glaubte ich, Sie redeten in Zungen.« Rebus grinste ebenfalls und stellte fest, dass er ganz außer Atem war. Mit McLaffertys Fingerabdrücken auf dem Beutel hatten sie den Beweis, den sie brauchten. »Tut mir leid, dass es dann doch nichts war mit Ihrem Wunder«, meinte er. Father Byrnes Lächeln wurde breiter. »Wunder geschehen jeden Tag, Inspector. Ich hab es nicht nötig, dass man eigens welche für mich inszeniert.« Sie drehten sich um und sahen Holmes auf sie zukom66 men. Aber sein Blick war auf einen Punkt links von ihnen gerichtet. »Sie sind schon unterwegs«, sagte er und gab Rebus seine Schlüssel zurück. »Fein.« »Wer war das eben?« »Wer?« »Der andere Mann.« Holmes sah von Rebus zu Byrne und dann wieder zu Rebus. »Der andere Mann«, wiederholte er. »Der, der bei Ihnen beiden stand. Als ich zurückkam, war er...«Jetzt gestikulierte er, zeigte zurück zum Tor, dann auf eine Stelle links vom Baum. Aber seine Stimme wurde dabei immer leiser. »Nein, vergessen Sie's«, sagte er dann. »Ich dachte... ich meinte bloß - nein, vergessen Sie's. Ich sehe offenbar -« »Gespenster?«, schlug Father Byrne vor. Seine Finger berührten ganz leicht das Holzkreuz an seinem Hals. »Ja, genau. Ja, ich seh Gespenster.« Gespenster, dachte Rebus. Waldgeister. Rab Philips vielleicht oder den Hexer der Hermitage. Mein Gott, die beiden hätten sich bestimmt eine Menge zu erzählen...
Gut gehängt Es war eine ganze Weile her, dass man in Edinburgh auf dem Parliament Square zuletzt einen Gehenkten gesehen hatte. Obwohl man, grub man ein bisschen tiefer in der Vergangenheit, den Eindruck gewann, dass das früher ein recht vertrauter Anblick gewesen sein musste. Detective Inspector John Rebus erinnerte sich, irgendwann mal im Pub die Geschichte gehört zu haben, dass zum Tod durch den Strang verurteilten Verbrechern früher die Möglichkeit geboten wurde, von einer geifernden Volksmenge gehetzt, die ganze Royal Mile, vom Parliament Square bis runter nach Holyrood zu rennen. Wenn der Verbrecher den königlichen Park erreichte, bevor er gefasst wurde, durfte er dort bleiben und unbehelligt umherstreunen, solange er die Grenzen des Parks nicht überschritt. Ob wahr oder nicht, beschwor die Geschichte immerhin das schaurig-schöne Bild von Gaunern und Vagabunden herauf, die zwischen Arthur's Seat, Salisbury Crags und Whinny Hill eingesperrt ihr Dasein fristeten. Ganz ehrlich, da hätte Rebus allemal den Strick vorgezogen. »Das kann doch nur ein schlechter Witz sein, oder?« Ein Jux. Zu dieser Zeit des Jahres war Edinburgh voll von Aktionen der verschiedensten Art. Es war Festivalzeit, und junge Leute, Theaterfreaks, überschwemmten die Stadt mit ihrem Enthusiasmus und ihrer Energie. Man
67 konnte keine zehn Schritte laufen, ohne dass jemand einem einen Handzettel aufdrängte oder einen beschwor, seine Produktion zu besuchen. Das waren die »Fringe-Irren«, wie Rebus sie nach dem alternativen Festival, dem Fringe, nicht sehr originell, aber zu seiner Zufriedenheit getauft hatte. Sie kamen, meist für zwei, drei oder vier Wochen aus London und quetschten sich überall in der Stadt in feuchte Schlafsäcke auf dem Fußboden von möblierten Zimmern, um dann viel blasser, müder und fast immer ärmer wieder nach Hause zurückzukehren. Es war nicht ungewöhnlich, dass die Fringe-Produktionen, die das Pech hatten, sich mit einem Aufführungsort am Stadtrand begnügen zu müssen, die keine Kritiken vorzuweisen hatten und denen es an Publicity wie an Inspiration mangelte, nur wenig Publikum anlockten, wenn sie nicht sogar lediglich vor einem einköpfigen Publikum spielten. Rebus mochte die Festivalsaison nicht. Die Straßen waren verstopft, die ganze Kunstbegeisterung schien ihm eine deutliche Komponente von Verzweiflung zu haben, und natürlich stieg die Anzahl der Straftaten. Taschendiebe liebten das Festival. Einbrecher fanden in den überbelegten und ungenügend gesicherten Privatquartieren leichte Beute. Und wenn sie feststellen mussten, dass ihr Stamm-Pub von den »Sassenachs« okkupi ert worden war, zeigten die Einheimischen die Neigung, sich gelegentlich auch mal mit Fäusten, Flaschen oder Stühlen zu artikulieren. Was erklärte, warum Rebus während des Festivals das Stadtzentrum mied und es auf Gassen und halb vergessenen Schleichwegen umfuhr. Was gleichfalls erklärte, warum es ihn so aufregte, heute zum Parliament Square, dem Herzen des Fringe, gerufen worden zu sein, um sich einen Gehenkten anzusehen. »Das muss ein missglückter Jux sein«, wiederholte er, zu Detective Constable Brian Holmes gewandt. Die zwei 67 Männer standen vor einem Galgen, an dem der sanft hin und her pendelnde Leichnam eines jungen Mannes hing. Dass der Leichnam pendelte, lag an der frischen Brise, die vom Holyrood Park aus die Royal Müe heraufwehte. Rebus dachte an die Geister der einstigen Bewohner des königlichen Parks. Sorgten sie für den Wind? »Ein missglückter Publicitygag«, fügte er nachdenklich hinzu. »Wie es aussieht, nicht, Sir«, sagte Holmes. Er hatte ein paar Worte mit den Arbeitern gewechselt, die gerade versuchten, eine Art Vorhang zu spannen, um das Schauspiel vor den Blicken Hunderter neugieriger Touristen zu verbergen, die sich lärmend um die Polizeiabsperrung drängten. Holmes konsultierte jetzt sein Notizbuch, während Rebus um den Galgen herumspazierte. Er war eine ziemlich wacklige Konstruktion, die allerdings durchaus ihren Dienst getan hatte. »Der Tote wurde heute Morgen um 4.50 Uhr entdeckt. Er kann da unserer Meinung nach noch nicht sehr lang gehangen haben. Ein Streifenwagen war gegen vier vorbeigefahren, und die Kollegen hatten nichts gesehen.« »Was nicht viel heißen will«, murmelte Rebus dazwischen. Holmes ignorierte die Bemerkung. »Der Tote gehörte zu einer Fringe-Gruppe namens Ample Reading Time. Das ist ein Wortspiel, denn es bedeutet nicht nur >reichlich Zeit zum LesenSzenen einer Hinrichtung Spannung, Gänsehaut und eine LiveHinrichtung auf der BühneZu schade, dass es nicht die Zwölfte Nacht warSzenen einer Hinrichtung< geschrieben.« Rebus nickte. »Wie waren die Kritiken?« Marty Jones schnaubte verächtlich. »Nicht berauschend«, gab Charles Collins zu. »Wir hatten bloß vier«, fuhr er fort. »Sie waren nicht gerade schmeichelhaft.« Marty Jones schnaubte wieder. Das Kinn nach vorn gereckt, als machte er sich auf einen weiteren Hieb gefasst, schenkte ihm Collins keinerlei Beachtung. »Und die Besucherzahlen?«, fragte Rebus interessiert. »Beschissen.« Dies von Seiten Pams, die dazu vergnügt mit den Beinen schlenkerte, als wäre diese Mitteilung nicht nur kein bisschen ehrenrührig, sondern sogar ziemlich erfreulich. 69 »Durchschnittlich, würde ich sagen«, korrigierte Charles Collins. »Nach dem zu urteilen, was mir andere Truppen erzählt haben.«
»Das ist immer das Problem, wenn man ein neues Stück auf die Bühne bringt, stimmt's?«, sagte Rebus, als ob er eine Ahnung hätte, während Holmes ihn mit großen Augen ansah. Rebus stand jetzt im Zentrum der Gruppe, als hielte er vor der Premiere eine letzte Anfeuerungsrede. »Es ist immer ein Problem, für eine neue Produktion ein Publikum zu finden. Die Leute halten sich eben lieber an Klassiker.« »Völlig richtig!«, pflichtete ihm Charles Collins enthusiastisch bei. »Genau das habe ich denen« - mit einem Kopfnicken in die Runde - »ja gesagt! Die Klassiker sind >ungefährlichSzenen einer Hinrichtung< ihr ganzes Potenzial ausspielen können.« »Sie meint«, sagte Hugh Clay mit zusammengebissenen Zähnen, »dass ihr Marie leidtut, weil sie David verloren 73 hat, nicht weil sie nicht mehr in deinem grottenschlechten Stück spielen kann!« Rebus konnte vorübergehend nicht mehr folgen, bemühte sich allerdings, es sich nicht anmerken zu lassen. Marty Jones hatte es aber doch mitbekommen. »Das letzte Mitglied von ART«, erklärte er. »Sie ist in der Wohnung. Sie wollte ein Weilchen allein sein.« »Sie ist ziemlich fertig«, bestätigte Peter Collins. Rebus nickte langsam. »Sie und David waren...?« »Verlobt«, sagte Pam, und die Tränen flössen jetzt. Peter Collins' Arm legte sich um ihre Schultern. »Sie hätten nach dem Ende des Fringe geheiratet.« Rebus warf Holmes einen verstohlenen Blick zu, und Holmes hob die Augenbrauen. Wie jedes gute Melodrama, sagten sie: ein Knaller am Ende jedes gottverdammten Akts. Die Wohnung, die die Theatergruppe - wie Rebus annahm, für eine Stange Geld gemietet hatte, war eine spießige, aber sehr großzügige Räumlichkeit im zweiten Stock eines Hauses auf der Morrison Road, direkt um die Ecke von der Lothian Road. Rebus war schon früher mal, im Zusammenhang mit Einbruchsermittlungen, in diesem Block gewesen. Das lag Jahre zurück, aber die einzige Veränderung, die an dem Mietshaus in der Zwischenzeit vorgenommen worden war, schien die Installation einer Gegensprechanlage an der Haustür zu sein. Rebus ignorierte die Klingeln und stieß die schwere Außentür auf. Wie er vermutet hatte, war sie ohnehin nicht abgeschlossen. »Scheißstudenten«, war einer von Rebus wenigen Kommentaren während der kurzen, kurvenreichen Fahrt um 73 die Burg herum und hinunter in Richtung Usher Hall und Lothian Road gewesen. Aber andererseits war Holmes, der am Lenkrad saß, ja auch mal Student gewesen. Also hatte sich Rebus über dieses Thema nicht weiter ausgelassen. Jetzt stiegen sie die steile gewundene Treppe in den zweiten Stock hinauf. Marty Jones hatte ihnen gesagt, der Name an der Tür sei BLACK. Nachdem sie den Studenten eine haarsträubende (wenngleich fraglos zur Festivalsaison übliche) Miete abgeknöpft hatten, waren Mr. und Mrs. Black zu einem mit dem Erlös finanzierten einmonatigen Urlaub aufgebrochen. Rebus hatte sich von Jones einen Schlüssel ausgeliehen und sperrte damit die Wohnungstür auf. Der Flur war lang, schmal und noch schlechter beleuchtet als das Treppenhaus. Davon gingen drei Schlafzimmer, ein Bad, eine Küche und das Wohnzimmer ab. Eine junge Frau, noch keine zwanzig, kam mit einem Becher Kaffee in der Hand aus der Küche. Außer einem langen schlabbrigen T-Shirt hatte sie nichts an. Sie sah irgendwie verschlafen und zerzaust aus, wozu auch ihre rot geäderten Augen passten. »Oh«, sagte sie erschrocken. Rebus reagierte schnell. »Inspector Rebus, Miss. Das ist Detective Constable Holmes. Einer Ihrer Freunde hat uns den Schlüssel gegeben. Könnten wir uns kurz unterhalten?« »Über David?« Sie hatte große Rehaugen und ein kleines rundes Gesicht. Ihr Haar war kurz und blond, ihr Körper schlank und zerbrechlich. Obwohl von Schmerz gezeichnet vielleicht sogar gerade deshalb -, wirkte sie unglaublich attraktiv. Als sie die zwei Polizisten ins Wohnzimmer führte, hob Holmes die Augenbrauen. Auf dem Fußboden lagen zwei Schlafsäcke, außerdem ein paar Taschenbücher, ein Wecker, Teebecher. Vom Wohnzimmer ging eine Abstellkammer ab, ein großer
begehbarer Wandschrank. Solche Schränke wurden von Studenten, die sich vorübergehend einmieteten, oft als zusätzlicher Raum 74 genutzt, und das Licht, das aus der halb offenen Tür drang, verriet Rebus, dass dieser Brauch noch nicht ausgestorben war. Marie ging hinein und löschte das Licht, bevor sie wieder ins Wohnzimmer kam. »Da wohnt eigentlich Pam«, erklärte sie. »Sie meinte, ich könnte mich dort hinlegen. Ich wollte nicht in unserem... meinem Zimmer schlafen.« »Natürlich«, sagte Rebus, ganz Verständnis und Mitgefühl. »Natürlich«, wiederholte Holmes. Sie forderte die beiden mit einer Geste auf, sich zu setzen. Sie versanken sogleich in einem Marshmallow-weichen Sofa. Rebus befürchtete, dass es ihm nicht gelingen würde, ohne fremde Hilfe wieder aufzustehen, und versuchte krampfhaft, sich aufrecht zu halten. Marie hatte sich derweil mit untergeschlagenen Beinen im einzigen Sessel niedergelassen und zeigte eine beneidenswert anmutige Haltung. Sie stellte den Becher neben sich auf den Boden, dann kam ihr ein Gedanke. »Möchten Sie...?« Die Männer schüttelten gleichzeitig den Kopf. Etwas an ihrer Stimme kam Rebus irgendwie merkwürdig vor. Holmes war schneller als er. »Sind Sie Französin?« Sie lächelte schwach, nickte dann dem Detective Constable zu. »Aus Bordeaux. Kennen Sie es?« »Nur vom Wein her.« Rebus schnäuzte sich wieder, obwohl er einige Mühe gehabt hatte, das Taschentuch aus der Tasche zu ziehen. Holmes verstand den Wink und hielt fortan den Mund. »Also gut, Miss...?«, begann Rebus. »Hivert, Marie Hivert.« Rebus nickte langsam und spielte dabei mit dem Taschentuch. »Wie man uns erzählt hat, waren Sie mit Mr. Caulfield verlobt.« 74 Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Ja. Also, nicht offiziell. Aber es gab so ein Versprechen.« »Ich verstehe. Und wann wurde dieses Versprechen gegeben?« »Ach, ich weiß nicht so genau. März, April. Ja, Anfang April, glaube ich. Im Frühling.« »Und wie lief es zwischen David und Ihnen?« Sie schien nicht ganz zu verstehen. »Ich meine«, sagte Rebus, »wie wirkte David auf Sie?« Sie zuckte die Achseln. »David war David. Er konnte -«, sie richtete die Augen zur Decke, suchte nach Worten, »- unmöglich, nervös, aufregend, mies gelaunt sein.« Sie lächelte. »Aber hauptsächlich aufregend.« »Nicht auch selbstmordgefährdet?« Sie dachte ernsthaft darüber nach. »Doch, ja, wahrscheinlich«, räumte sie ein. »Selbstmordgefährdet, wie Schauspieler eben sein können. Er nahm sich jede Kritik zu Herzen. Er war ein Perfektionist.« »Wie lange kannten Sie ihn schon?« »Zwei Jahre. Kennengelernt hab ich ihn durch die Theatergruppe.« »Und haben sich verliebt?« Sie lächelte wieder. »Nicht sofort. Zwischen uns bestand eine gewisse... Konkurrenz, könnte man sagen. Für unsere Schauspielerei war es gut, ob für unsere Beziehung, weiß ich nicht. Aber wir haben überlebt.« Als ihr bewusst wurde, was sie gesagt hatte, verschleierte sich ihr Blick. Sie führte eine Hand an die Stirn, während sie mit gesenktem Kopf versuchte, die Fassung wiederzugewinnen.
»Tut mir leid«, sagte sie und brach in Schluchzen aus. Holmes hob erneut die Augenbrauen: Jemand sollte hier bei ihr bleiben. Rebus antwortete mit einem Achselzucken: Sie kommt schon allein zurecht. Holmes' Brauen blieben oben: Wirklich? Rebus richtete den Blick wieder auf die im 75 Sessel versunkene kleine Gestalt. Schafften es Schauspieler immer, die reale Welt von der fiktiven zu unterscheiden? Wir haben überlebt. Das war eine interessante Formulierung. Andererseits war sie ja auch eine interessante junge Frau. Sie ging ins Bad, um sich das Gesicht zu waschen. Während ihrer Abwesenheit nutzte Rebus die Gelegenheit, sich mühsam hochzustemmen. Er warf einen Blick auf das Sofa. »Scheißding«, sagte er. Holmes lächelte nur. Als sie zurückkam, fragte Rebus sie, ob David Caulfield irgendwo ein paar Zeilen hinterlassen haben könnte. Sie zuckte die Achseln. Er wollte wissen, ob sie etwas dagegen hätte, wenn sie sich schnell mal umsahen. Sie schüttelte den Kopf. Also machten sich Rebus und Holmes auf die Suche. Die Raumverteilung war ziemlich klar. Pam schlief in der Abstellkammer, Marty Jones und Hugh Clay im Wohnzimmer, in Schlafsäcken auf dem Fußboden. Marie und David Caulfield hatten sich das größte der drei Schlafzimmer geteilt, während Charles und Peter Collins jeder einen eigenen Raum hatten. Charles Collins' Zimmer war zwanghaft aufgeräumt, das schmale Einzelbett schon für die Nacht gerichtet. Auf der Steppdecke lag eine Arbeitskopie von »Szenen einer Hinrichtung«, voll handschriftlicher Randbemerkungen und mit mehreren langen Streichungen, durchweg in Caulfields Part. Auf dem Typoskript ruhte ein Bleistift, Beweis dafür, dass Charles Collins sich die Meinung der Kritiker ebenfalls zu Herzen genommen und versucht hatte, das Stück, so gut er konnte, zu straffen. Peter Collins' Zimmer entsprach eher Rebus' persönlichem Geschmack; Holmes rümpfte allerdings die Nase über die gebrauchte Unterwäsche auf dem Fußboden, und den Inhalt des hastig ausgepackten Rucksacks, der, wahl 75 los verstreut, jede freie Fläche bedeckte. Neben dem ungemachten Bett und einem überquellenden Aschenbecher lag auch hier eine Kopie des Stücks. Rebus blätterte sie durch. Als er sie wieder zuklappen wollte, erregten ein paar Kritzeleien auf der Innenseite des Umschlags seine Aufmerksamkeit. Um die Worte »I Love Edinburgh« hatte jemand primitive Herzchen gezeichnet. Sein Lächeln verflog schlagartig, als Holmes ihm den Aschenbecher hinhielt. »Nicht direkt Feinschnitt«, kommentierte Holmes. Rebus sah genauer hin. Was er für normale Stummel gehalten hatte, waren in Wirklichkeit die Mundstücke von Joints aufgerollte Pappstreifen, an denen noch die Reste von abgebrannten Zigarettenpapierchen klebten. Roaches, »Kakerlaken«,wie Kiffer dazu sagten. Warum, wusste er auch nicht mehr so genau. Er gab ein missbilligendes Geräusch von sich. »Und was wollten wir hier gerade, als wir die gefunden haben?«, fragte er. Holmes nickte resigniert. Wahrscheinlich hätten sie Peter Collins, auch wenn sie es vorgehabt hätten, nicht drankriegen können, da es keinen stichhaltigen Grund gab, sich in seinem Zimmer aufzuhalten. Wir waren auf der Suche nach dem Abschiedsbrief eines Selbstmörders hätte eine Jury wahrscheinlich nicht sonderlich beeindruckt. Der größte Saustall herrschte in Marie Hiverts und David Caulfields gemeinsamem Zimmer. Marie half ihnen, ein paar von Caulfields Sachen zu sichten. Sein Tagebuch erwies sich als eine Sackgasse, da er es gewissenhaft am ersten Januar angefangen hatte,
die letzte Eintragung aber vom achten Januar stammte. Rebus, der selbst mal versucht hatte, ein Tagebuch zu führen, wusste, wie das war. Hinten im Tagebuch steckten allerdings Zeitungsausschnitte, die Caulfields Triumph bei der letztjährigen Inszenierung von Was ihr wollt dokumentierten. Auch Marie 76 wurde, in ihrer Rolle als Viola, lobend erwähnt, aber der Star war eindeutig Malvolio gewesen. Sie weinte wieder ein bisschen, als sie die Kritiken durchlas. Holmes bot an, noch mal Kaffee zu machen, und fragte ob er Pam vom Theater herbringen solle. Sie schüttelte den Kopf. Sie würde schon zurechtkommen. Ganz bestimmt, Ehrenwort. Während Marie auf dem Bett saß und Holmes den Wasserkessel füllte, schlenderte Rebus ins Wohnzimmer zurück. Er warf einen Blick in die Abstellkammer, entdeckte aber nichts, was für ihn von Interesse gewesen wäre. Schließlich wandte er sich wieder den Schlafsäcken zu. Marie betrat gerade das Zimmer, als er sich bückte und das Taschenbuch aufhob, das neben einem der Schlafsäcke lag. Es war Tom Wolfes Fegefeuer der Eitelkeiten. Rebus hatte davon eine gebundene - und noch jungfräuliche - Ausgabe zu Hause. Etwas fiel hinten aus dem Buch heraus. Rebus hob es vom Boden auf. Es war ein Foto von Marie, auf der Mauer der Burg, vor dem Hintergrund des Scott-Denkmals aufgenommen. Der Wind wehte ihr das Haar ins Gesicht. Sie versuchte, es sich aus den Augen zu streichen, und grinste dabei in die Kamera. Rebus reichte ihr das Bild. »Ihr Haar war damals länger«, stellte er fest. Sie nickte und lächelte, die Augen noch immer feucht. »Ja«, sagte sie. »Das war im Juni. Wir waren hergekommen, um uns den Saal anzusehen.« Er hielt das Buch hoch. »Wer ist hier der Tom-Wolfe-Fan?« »Och«, sagte sie, »es macht die Runde. Ich glaube, im Augenblick liest es Marty.« Rebus blätterte das Buch noch einmal flüchtig durch, und sein Blick verweilte kurz auf der Innenseite des Umschlags. »Tom Wolfe hat ganz schön Karriere gemacht«, meinte er, bevor er das Buch wieder neben den Schlafsack legte. Er zeigte auf das Foto. »Soll ich es zurücktun?« Sie schüttelte den Kopf. 76 »Das gehörte David«, sagte sie. »Ich glaube, ich würd's gern behalten.« Rebus lächelte, ganz der gute Onkel. »Natürlich«, sagte er. Dann fiel ihm etwas ein. »Davids Eltern. Wissen sie überhaupt Bescheid?« Sie schüttelte mit wachsendem Entsetzen den Kopf. »O Gott«, sagte sie, »das wird sie völlig umschmeißen. David hatte ein sehr enges Verhältnis zu seinen Eltern.« »Geben Sie mir ihre Nummer«, sagte Rebus. »Ich rufe sie an, sobald ich wieder auf der Wache bin.« Sie runzelte die Stirn. »Aber ich... nein, tut mir leid«, sagte sie, »ich weiß nur, dass sie in Croydon wohnen, das ist alles.« »Kein Problem«, erwiderte Rebus, der sehr wohl wusste, dass die Eltern bereits benachrichtigt worden waren, es aber interessant fand, dass Caulfields angebliche Verlobte kaum etwas über dessen Eltern wusste. Wenn David ein so enges Verhältnis zu seiner Familie gehabt hatte, konnte man dann nicht annehmen, dass sie über die Verlobung informiert war? Und hätte sie dann nicht den Wunsch geäußert, Marie kennenzulernen? Rebus' Kenntnis der englischen Geographie hatte nicht direkt Fernsehquizniveau, aber er war sich doch ziemlich sicher, dass Reading und Croydon nicht gerade an entgegengesetzten Enden des Landes lagen. Interessant, alles sehr interessant. Holmes erschien mit drei Bechern Kaffee, aber Rebus, plötzlich ganz der diensteifrige Vorgesetzte, schüttelte den Kopf.
»Keine Zeit dafür, Holmes«, sagte er. »Auf dem Revier wartet jede Menge Arbeit auf uns.« Dann, zu Marie: »Passen Sie auf sich auf, Miss Hivert. Wenn wir etwas tun können, zögern Sie nicht, uns anzurufen.« Sie lächelte gewinnend. »Danke, Inspector.« Sie wandte sich zu Holmes und nahm ihm einen Becher ab. »Und auch 77 Ihnen danke, Constable«, sagte sie. Uber den Gesichtsausdruck Holmes' musste Rebus während der ganzen Rückfahrt zur Wache grinsen. Dort verschwand das Grinsen schlagartig. Rebus fand eine als DRINGEND markierte Nachricht des Polizeipathologen vor, in der er um Rückruf gebeten wurde. Rebus tippte die siebenstellige Nummer in sein neumodisches Telefon ein. Das Ding hatte einen Zielwahlspeicher für zwanzig Telefonnummern, und irgendwo in diesem Speicher befand sich auch die einstellige Zahl, die ihn direkt mit dem Pathologen verbunden hätte, aber Rebus konnte sich einfach nicht merken, welche Zahl für was stand, und verschlampte andauernd den Zettel mit der Liste sämtlicher Zielwahlnummern. »Es ist die Vier«, erinnerte ihn Holmes, gerade als er die letzte Zahl eingetippt hatte. Er war noch dabei, Holmes mit einem halb bösen Blick zu bedenken, als sich der Pathologe meldete. »Ach ja, Rebus. Hallo. Es geht um den Gehenkten, den Sie da haben. Ich hab ihn mir angesehen. Manuelle Strangulation, würde ich sagen.« »Ja?« Rebus, der in Gedanken bei Marie Hivert war, wartete auf irgendeine Pointe. »Ich glaube, Sie verstehen mich nicht, Inspector. Manuelle Strangulation. Von lateinisch manus, die Hand. Der Kerntemperatur nach zu urteilen, dürfte er zwischen Mitternacht und zwei Uhr früh gestorben sein. An dieser Konstruktion aufgeknüpft hat man ihn einige Zeit danach. Die Blutergüsse am Hals sind eindeutig Würgemale und zeigen, dass vor allem mit den Daumen Druck ausgeübt wurde.« 77 »Sie meinen, jemand hat ihn erwürgt?«, fragte Rebus, vor allem zu Holmes' Information. »Ich dachte eigentlich, genau das hätte ich Ihnen gerade gesagt, ja. Sollte ich mehr herausfinden, lass ich es Sie wissen.« »Sind die Jungs von der Technik bei Ihnen?« »Ich hab im Labor angerufen. Sie schicken jemanden mit ein paar Plastikbeuteln vorbei, aber um ehrlich zu sein, waren wir zunächst von der Annahme ausgegangen, dass es sich um einen einfachen Suizid handelte. Wir könnten kleinere Beweisstücke versehentlich zerstört haben.« »Kein Problem«, sagte Rebus, jetzt ganz der Gewissensbisse lindernde Beichtvater. »Tun Sie einfach, was Sie können.« Er legte auf und starrte seinen Detective Constable an. Oder besser gesagt, starrte durch ihn hindurch. Holmes wusste, dass alles seine Zeit hatte: Reden hatte seine Zeit, und Schweigen hatte seine Zeit, und momentan war Letzteres angesagt. Rebus brauchte eine geschlagene Minute, um wieder in die Gegenwart zurückzuschalten. »Leck mich doch einer...«, sagte er. »Heute Morgen haben wir uns mit einem Mörder unterhalten, Brian. Und zwar einem kaltblütigen. Und wir haben's nicht mal gemerkt. Ich frag mich, was aus dem berühmten >Polizeiriecher< geworden ist. Haben Sie eine Idee?« Holmes runzelte die Stirn. »Hinsichtlich der Frage, was aus dem berühmten >Polizeiriecher< geworden ist?« »Nein«, rief Rebus genervt aus. »Ich meine, eine Idee, wer es gewesen sein könnte!« Holmes zuckte die Schultern, zog dann das aufgerollte Fringe-Programm aus seiner Jacketttasche. Er fing an zu blättern. »Ich glaube, mich zu erinnern«, sagte er, »dass ir-
gendwo ein Stück von Agatha Christie aufgeführt wird. Vielleicht würde uns das auf eine Idee bringen?« 78 Rebus' Augen leuchteten auf. Er riss Holmes das Programm aus der Hand. »Vergessen Sie Agatha Christie«, erklärte er und fing seinerseits an, das Programm durchzublättern. »Was wir brauchen, ist Shakespeare.« »Was, Macbeth? Hamlet? König Lear?« »Nein, keine Tragödie, eine schöne Komödie - was, um die Seele aufzuheitern. Ah, da hätten wir's.« Er klopfte mit dem Finger auf die aufgeschlagene Seite. -»Zwölfte Nacht, oder Was ihr wollt. Das ist das Stück, das wir brauchen, Brian. Das ist genau das richtige Stück für uns.« Am Ende lautete die Frage allerdings: welche Zwölfte Nacht? Es standen drei zur Auswahl und dazu noch eine auf dem eigentlichen Festival. Eine der Fringe-Versionen verlegte die Fabel ins Chicagoer Gangstermilieu, eine andere brachte das Stück mit ausschließlich weiblicher Besetzung, und die dritte lockte mit futuristischem Bühnenbild. Aber Rebus war nach traditionellerer Kost, und so entschied er sich für die Festivalinszenierung. Es gab nur einen Haken: Sämtliche Vorstellungen waren komplett ausverkauft. Doch das beunruhigte Rebus nicht weiter. Er wartete, während Holmes seine Freundin, Neil Stapleton, anrief und ihr mit Bedauern mitteilte, dass er die abendliche Verabredung absagen müsse. Dann fuhren er und Rebus zum Lyceum, das sich so gut hinter der Usher Hall versteckte, dass es mit bloßem Auge fast nicht auszumachen war. »Es läuft eine Vorstellung um fünf«, erklärte Rebus. »Wir müssten es gerade noch schaffen.« Sie schafften es. Es gab eine geringfügige Verzögerung, bis Rebus dem Menschen an der Kasse klargemacht hatte, dass das wirklich eine Polizeiaktion und keine Last-Minute-Kulturparty war, und in einer staubigen Ecke am äußersten Rand des Parketts zwei Sitzplätze für sie gefunden worden waren. Als sie hineingingen, wurde das Licht gerade heruntergedimmt. 78 »Ich war seit Jahren nicht mehr im Theater«, sagte Rebus zu Holmes und lächelte vor Freude. Holmes erwiderte verwirrt sein Lächeln, aber die Augen seines Vorgesetzten waren schon auf die Bühne gerichtet, wo sich der Vorhang hob, eine Gitarre ertönte und ein Mann in blassrosa Strumpfhose quer über eine verschnörkelte Bank drapiert lag und genauso vom Leben angeödet wirkte, wie Holmes sich momentan fühlte. Warum musste Rebus aber auch immer aus dem Bauch heraus arbeiten, und immer allein, ohne je irgendjemandem zu verraten was er wusste oder zu wissen glaubte? Lag es daran, dass er Angst vor Fehlern hatte? Holmes vermutete, dass es so war. Wenn man seine Vermutungen für sich behielt, konnte einem hinterher keiner nachweisen, dass man unrecht gehabt hatte. Schön, Holmes hatte selbst so seine Ideen zu dem Fall, und er wollte verdammt sein, wenn er Rebus auch nur ein Sterbenswörtchen davon verraten würde. »Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist...«, tönte die Stimme von der Bühne her. Und das kam noch dazu -Holmes war am Verhungern. Jede Wette, dass die letzten paar Sitzreihen bald Probleme damit haben würden, bei seinem Magenknurren noch ein einziges Wort der Schauspieler zu verstehen. »Wollt Ihr nicht jagen, gnäd'ger Herr?« »Was, Curio?« »Den Hirsch.« »Das tu ich ja: den edelsten, der mein...«
Holmes warf Rebus einen verstohlenen Blick zu. Zu sagen, dass sein Vorgesetzter hin und weg war, wäre eine grobe Untertreibung gewesen. Holmes würde noch bis zum Ende des ersten Akts durchhalten und sich dann zum nächsten Chip-Shop davonschleichen. Rebus konnte sich seinen Shakespeare gern an den Hut stecken; wenn's um Literatur ging, war Holmes Nationalist. Ein Jammer, 79 dass Hugh MacDiarmid nie was fürs Theater geschrieben hatte. Tatsächlich wurde es eine ziemliche Wanderung, die ganze Lothian Road einmal rauf und wieder runter, nach Norden bis zum Caledonian Hotel und nach Süden bis Tollcross. Die Lothian Road war Edinburghs Fastfoodmeile, und die dargebotene Vielfalt machte Holmes die Entscheidung schwer. Pizza, Hamburger, Kebabs, Chinesisch, Ofenkartoffeln, mehr Hamburger, mehr Pizza und zwischendurch die einst allgegenwärtigen Fish and Chips (mittlerweile meist nebenher von einer Kebab- oder Hamburger-Bude angeboten). Unfähig, sich zu entschließen, wurde Holmes immer hungriger und genehmigte sich einen Pint Lager in einem lärmenden Schuppen, der sich Pub schimpfte, bis er sich schließlich im Kulinarischen ebenso sehr wie im Literarischen zu seinem Nationalismus bekannte und sich für Fisch und Pommes entschied. Als er endlich wieder das Theater betrat, versammelten sich die Schauspieler schon alle auf der Bühne, um ihren Applaus entgegenzunehmen. Rebus klatschte laut und sichtlich begeistert. Aber als der Vorhang fiel, drehte er sich um und zog Holmes aus dem Zuschauersaal, ins Foyer und hinaus auf die Straße. »Fish and Chips, hm?«, fragte er. »Also, das ist mal 'ne Idee.« »Woran haben Sie es gemerkt?« »Ich riech den Essig an Ihren Händen. Also, wo ist nun der Laden?« Holmes nickte in Richtung Tollcross. Sie marschierten los. »Und, haben Sie was rausgefunden?«, fragte Holmes. »Durch das Stück, meine ich?« Rebus lächelte. »Mehr, als ich mir erhofft hatte, Brian. Wenn Sie aufgepasst hätten, wäre Ihnen das auch aufge 79 fallen. Die einzige Stelle, auf die es ankam, war ganz am Anfang, im ersten Akt. Ein Ausspruch des Narren, der übrigens Feste heißt. Würd mich doch interessieren, wer den Feste in der ART-Inszenierung von letztem Jahr gegeben hat. Na, eigentlich kann ich mir das denken. Also kommen Sie, wo ist dieser Chip-Shop? Man kann ja glatt verhungern, bevor man auf der Lothian Road etwas auch nur annähernd Genießbares findet.« »Ist direkt bei Tollcross. Ist nichts Besonderes.« »Solang ich da satt werde, Brian... Wir haben einen langen Abend vor uns.« »Ach ja?« Rebus nickte. »Wir jagen den Hirsch, Brian.« Er zwinkerte dem jungen Mann zu. »Den Hirsch des Herzens...« Es war Peter Collins, der ihnen in der Morrison Street die Wohnungstür öffnete. Er schien überrascht, sie zu sehen. »Keine Sorge, Peter«, sagte Rebus und drängte sich an ihm vorbei in den Flur. »Wir sind nicht da, um Sie wegen Drogenbesitzes hochzunehmen.« Er schnüffelte demonstrativ, schnalzte dann mit der Zunge. »Schon dabei? In dem Tempo sind Sie noch vor den ZehnUhr-Nachrichten zugedröhnt.« Peter errötete. »Was dagegen, wenn wir reinkommen?«, fragte Rebus, schon auf dem Weg ins Wohnzimmer. Holmes folgte ihm in die Wohnung, ein entschuldigendes Lächeln auf den Lippen. Peter schloss die Tür hinter ihnen.
»Die meisten sind unterweg's«, rief Peter. »Das sehe ich«, sagte Rebus, der jetzt ins Wohnzimmer trat. »Hallo, Marie, wie geht's Ihnen?« 80 »Gleichfalls hallo, Inspector. Ein bisschen besser.« Sie war angezogen und saß, die Hände auf den Knien, sittsam auf dem Sessel. Rebus warf einen Blick auf das Sofa, überlegte es sich dann aber anders und nahm lieber quer auf der halbwegs stabilen Armlehne Platz. »Wie ich sehe, sind Sie alle so gut wie abreisebereit.« Er deutete mit dem Kopf auf die zwei Rucksäcke, die an der Wand des Wohnzimmers lehnten. Die Schlafsäcke waren weggeräumt worden, ebenso Bücher und Wecker. »Wozu sollten wir noch bleiben?«, fragte Peter. Er ließ sich aufs Sofa plumpsen und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Wir dachten, wir fahren die Nacht durch. Dass wir mit etwas Glück am frühen Morgen in Reading sind.« Rebus nickte. »Die Show goes also nicht ow?« »Das war irgendwie ganz schön herzlos, meinen Sie nicht?«, sagte Peter Collins mit einem kurzen Blick in Richtung Marie. »Natürlich«, gab ihm Rebus recht. Holmes hatte sich zwischen der Wohnzimmertür und den Rucksäcken postiert. »Und, wo sind die anderen?« Marie antwortete. »Pam und Marty machen einen letzten Stadtbummel.« »Und Charles lässt sich mit fast hundertprozentiger Sicherheit irgendwo volllaufen«, fügte Collins hinzu. »Trauert über seine missglückte Inszenierung.« »Und Hugh?«, fragte Rebus. Collins zuckte die Achseln. »Ich glaube«, sagte Marie, »Hugh wollte sich ebenfalls betrinken.« »Aber zweifellos aus anderen Gründen«, mutmaßte Rebus. »Er war Davids bester Freund«, antwortete sie ruhig. Rebus nickte nachdenklich. »Tatsächlich ist er uns vorhin in die Arme gelaufen - fast buchstäblich.« »Wer?«, fragte Peter. 80 »Mr. Clay. Er scheint dabei zu sein, sämtliche Pubs der Lothian Road abzuarbeiten. Wir kamen gerade aus einem Chipsladen, und da torkelte er uns entgegen, auf dem Weg zur nächsten Abfüllstation.« »Ach ja?« Collins klang nicht sonderlich interessiert. »Ich hab ihm gesagt, wo die besten Pubs in der Gegend sind. Er schien sie nicht zu kennen.« »Das war nett von Ihnen«, sagte Collins mit vor Ironie triefender Stimme. »Und nett von den anderen, Sie beide allein zu lassen, nicht?« Die Frage blieb im Raum hängen. Endlich sprach Marie. »Wie meinen Sie das?« Aber Rebus veränderte lediglich seine Position und ließ es bei dem Kommentar bewenden. »Nein«, sagte er stattdessen, »ich hatte nur gedacht, Mr. Clay könnte eine bessere Vorstellung von den Pubs haben, wo er doch schon letztes Jahr hier war und dann noch mal im Juni, um sich den Saal anzusehen. Nur dass er mir gesagt hat, dass er im Juni eben nicht hier war. Es gab Prüfungen. Manche Leute mussten mehr pauken als andere. Nur drei von Ihnen sind im Juni nach Edinburgh gekommen.« Rebus hob einen von Frittenfett glänzenden Finger. »Pam, die, wie nicht zu übersehen, in Sie verknallt ist, Peter.« Collins lächelte matt. Rebus hob einen zweiten und dann einen dritten Finger. »Und Sie beide. Lediglich Sie drei. Und da, nehme ich mal an, hat es angefangen.« »Was?« Alles Blut war aus Maries Gesicht entwichen, wodurch sie irgendwie noch schöner geworden war. Rebus setzte sich erneut um, schien ihre Frage überhört zu haben. »Es ist eigentlich egal, wer das Foto von Ihnen aufgenommen hat, das Foto, das ich im Fegefeuer der Eitelkeiten gefunden habe.« Jetzt fixierte er sie ruhig. »Wichtig ist nur,
81 dass es da war. Und auf der Innenseite des Umschlags hatte jemand ein paar Herzchen gekritzelt, die ein paar anderen, die ich zufällig in Peters Kopie des Stücks gefunden hatte, täuschend ähnlich sahen. Wichtig ist, dass Peter in seine Kopie des Stücks auch die Worte >I Love Edinburgh« geschrieben hatte.« Peter Collins wollte schon protestieren, aber Rebus ignorierte ihn und wandte kein Auge von Marie, fixierte sie, als wären sie beide die Einzigen im Raum. »Sie haben mir erzählt«, fuhr er fort, »Sie seien nach Edinburgh gereist, um sich den Saal anzusehen. Ich verstand Ihr >wir< in dem Moment so, dass Sie alle gekommen waren, aber Hugh Clay hat mich diesbezüglich korrigiert. Sie sind ohne David hier gewesen, der damals zu sehr mit Lernen beschäftigt war, um mitfahren zu können. Und Sie haben mir noch etwas anderes gesagt, nämlich, Ihre Beziehung zu ihm hätte >überlebtlieben< Edinburgh«, fuhr er fort, »weil hier Ihre kleine Affäre mit Marie begonnen hat. Schön, für so was kann ja niemand was, nicht? Sie haben es geschafft, es relativ geheim zu halten. Aber das TomWolfe-Buch gehört Ihnen, und dieses Foto, das Sie darin aufbewahrten - vielleicht wussten Sie schon gar nicht mehr, dass es überhaupt da 81 war hätte Sie möglicherweise verraten, obwohl ja andererseits alles ganz harmlos gewesen sein könnte, stimmt's? Aber es ist schwierig, so etwas innerhalb einer kleinen Gruppe wirklich geheim zu halten. Letztes Jahr waren Sie bei ART noch sechzehn Leute; da wäre es vielleicht gegangen. Aber nicht jetzt, wo Sie nur noch zu siebt sind. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, wer noch davon weiß. Aber so viel ist sicher - David Caulfield fand es heraus.« Rebus brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass Marie wieder angefangen hatte zu schluchzen. Er starrte unverwandt auf Peter Collins. »Er fand es heraus, und gestern Nacht hatten Sie beide, hinter der Bühne und vielleicht in alkoholisiertem Zustand, eine Schlägerei. Ganz schön dramatisch, nicht? Der Kampf um das Burgfräulein und so. Aber rein zufällig haben Sie David Caulfield während dieses Kampfes erwürgt.« Er schwieg, wartete auf einen Einwand, der nicht kam. »Vielleicht«, fuhr er fort, »wollte Marie zur Polizei gehen. Ich weiß es nicht. Aber falls ja, haben Sie es ihr ausgeredet. Sie kamen auf eine noch dramatischere Idee. Sie sorgten dafür, dass das Ganze wie Selbstmord aussah. Und bei Gott, was für ein Selbstmord! Genau die Art, auf die David selbst hätte verfallen können.« Rebus hatte sich währenddessen unmerklich auf Peter Collins zubewegt, so dass er jetzt unmittelbar vor ihm stand und auf ihn hinuntersah. »Ja«, fuhr er fort, »äußerst dramatisch. Aber der >Abschiedsbrief war ein Fehler. Es war einfach ein bisschen zu clever. Sie dachten, jeder würde daraus eine Anspielung auf Davids Erfolg bei der Produktion vom letzten Jahr herauslesen, aber Sie wussten selbst, dass man den Satz auch anders verstehen konnte. Ich habe gerade Was ihr wollt gesehen. Und es war verdammt gut. Letztes Jahr haben Sie den Feste gespielt, stimmt's, Peter? Da gibt's eine Stelle bei ihm... wie geht die noch mal?« Rebus tat so, als versuchte 81
er, sich zu erinnern. »Ach ja: >Wer gut gehängt ist, der erspart sich oft, schlecht verheiratet zu sein.< Ja, das ist es. Und in dem Moment war ich mir sicher.« Peter Collins verzog den Mund zu einem schmallippigen Lächeln. Er starrte an Rebus vorbei auf Marie, die Augen voller Tränen. Als er sprach, hatte seine Stimme einen weichen, zärtlichen Klang. »>Wer gut gehängt ist, der erspart sich oft, schlecht verheiratet zu sein; und was das Fortjagen betrifft, im Sommer ist's zu ertragene« »Genau«, sagte Rebus, eifrig nickend. »Im Sommer war's zu ertragen. Eine Sommerliebe. Eine kleine Affäre, das ist alles. Kaum wert, deswegen einen Menschen umzubringen, oder, Peter? Aber das hat Sie nicht davon abgehalten, es doch zu tun. Und der Galgen passte so schön, drängte sich geradezu auf. Als Sie sich an den Spruch des Narren erinnert haben, konnten Sie der Versuchung nicht widerstehen, David den Zettel in die Tasche zu stecken.« Rebus schüttelte den Kopf. »Ganz schön närrisch, Mr. Collins. Ganz schön doof.« Als Brian Holmes an dem Abend von der Wache heimfuhr, war er gedrückter Stimmung. Auch der Verkehr schleppte sich so dahin, und Scharen von Theaterbesuchern schlängelten sich zwischen den so gut wie stehenden Autos hindurch. Er kurbelte das Fenster herunter, damit es im Wageninneren ein bisschen weniger heiß, weniger stickig wurde und dafür Auspuffgase und laue spätabendliche Luft hereinkamen. Warum musste Rebus nur immer - oder meistens - so ein cleveres Arschloch sein? Er schien grundsätzlich jeden Fall irgendwie schief anzugehen, wie jemand, der scheinbar planlos an einem Stück Papier herumschnippelte - bloß dass sich das zugeschnittene Stück anschließend zu einem Origami falten ließ, kunstvoll und erkennbar. »Cleverer, als es für ihn gut ist«, sagte er zu sich. Tatsäch82 lich aber meinte er, dass sein Vorgesetzter cleverer war, als es für ihn, Holmes, gut war. Wie sollte er glänzen, positiv auffallen, auf seine Beförderung hinarbeiten, wenn es grundsätzlich Rebus war, der, immer zwei Schritte voraus, mit den Lösungen aufwartete? Holmes erinnerte sich an einen Jungen, der ihn in der Schule immer in jedem Fach außer Geschichte geschlagen hatte. Trotzdem war Holmes auf die Universität gegangen, der Junge zurück auf den väterlichen Bauernhof. Dinge konnten sich also ändern. Auch wenn er andererseits von Rebus lediglich zu lernen schien, dass man seine Gedanken für sich behalten, verschlagen sein, ja, schauspielern sollte. Wie auch immer, er würde die beste zweite Besetzung sein. Eines Tages würde Rebus nicht mehr da sein, um die Antworten zu liefern, oder - eine sogar noch erfreulichere Aussicht - nicht imstande sein, sie zu liefern. Und wenn es so weit war, würde Holmes für seinen Auftritt bereit sein. Ja, er fühlte sich schon jetzt dazu bereit - aber vermutlich wurde das von jeder zweiten Besetzung erwartet. Ein lächelndes junges Mädchen warf ein Flugblatt durch sein Fenster. Er hörte, wie sie die Autoschlange weiter abging und dabei immer wieder »Kommen Sie sich unsere Show ansehen!« rief. Das kleine gelbe Blatt Papier flatterte auf den Beifahrersitz und blieb, die Schrift nach oben, da liegen, um Holmes für die Dauer der ganzen Fahrt zu Neil hämisch anzugrinsen. Wieder zunehmend gedrückter, dachte er darüber nach, wie viel anders alles hätte sein können, wenn Priestley sein Stück nicht Ein Inspector kommt, sondern Ein Detective Constable kommt überschrieben hätte.
Von Meisen und Menschen Schon bevor Inspector John Rebus 1970 nach Edinburgh gezogen war, hatte er sich eine feste Meinung über das Leben in einem Mietshaus gebildet. Mietshäuser - Mietskasernen - waren Gebäude aus den Glasgower Slums des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, Orte der Armut und Hoffnungslosigkeit, Brutstätten von Ungeziefer und Krankheit. Sie
stellten die erzwungenen Wohnorte der Ärmsten aus der Arbeiterklasse dar, einer Klasse fast ohne Klasse, einer Unterklasse. Mietskasernen ragten zwar hoch in den Himmel, aber sie hätten sich ebenso gut in den Boden hineinbohren können. Sie waren der moderne Ersatz für die Höhle. Natürlich waren die Stadtplaner in den Sechzigerjahren auf etwas noch Empörenderes verfallen: das Hochhaus. Selbst Städte, die über mehr als genug Bauplatz verfügten, fingen an, diese platzsparenden Gräuel zu bauen. Vielleicht hatte die Mietskaserne ihre moralische Rehabilitation diesem neuen Konkurrenten zu verdanken. Heutzutage konnte ein Mietshaus einen repräsentativen Querschnitt der ganzen Gesellschaft beherbergen die vornehme alte Jungfer im Parterre, den ledigen Buchhalter ein Stockwerk darüber, dann den Barkeeper, und über dem Barkeeper, offenbar immer unterm Dach, den oder die Studenten. Diese spezielle Mischung ließ sich nur deswegen erzielen, weil die Wohnungen der zwei obersten Stockwerke von auswärtigen Eigentümern vermietet wurden. Manche dieser Vermieter konnten mitunter mehr als hundert Wohnungen be 83 sitzen, wofür Glasgow spektakuläre Beispiele bot, wo die entsprechende Zahl, Gerüchten zufolge, in ein, zwei Fällen sogar in den vierstelligen Bereich kletterte. In Edinburgh aber lagen die Dinge anders. Hier hatten die Planer der »Neustadt« im neunzehnten Jahrhundert ganze Straßenzüge mit eleganten Gebäuden errichtet, die in Rebus' Augen jedoch ebenfalls wie Mietskasernen aussahen. Manche der besseren Stadtteile, wie etwa Marchmont, wo Rebus selbst wohnte, bestanden praktisch aus nichts anderem als solchen »Mietskasernen«. Und bei den gängigen Immobilienpreisen erlebten selbst die heruntergekommeneren Straßenzüge etwas wie eine Renaissance und wurden von den neuen Eigentümern außen mit dem Sandstrahler bearbeitet und innen »stilecht« renoviert. Die Straßen rings um die Easter Road waren dafür ein gutes Beispiel. Dieser allgemeine Aufwärtstrend hatte die Easter Road ziemlich spät erreicht. Die Leute mussten erst zu der Einsicht gelangen, dass sie sich Stockbridge nicht leisten konnten, dass sie sich eigentlich die ganze »Neustadt« und auch die angrenzenden Viertel nicht leisten konnten, damit sie zu guter Letzt vielleicht in der Easter Road landeten - nicht durch Zufall, sondern eher durch die Macht des Schicksals. Bald erkannte ein schlauer Kopf seine Chance und eröffnete einen Delikatessenladen oder ein etwas schickeres Cafe, zur großen Verwirrung der »Einheimischen«. Letztere waren größtenteils ruhige, einsichtige Leute, die es begrüßten, dass ihre Wohnblocks saniert wurden. Trotzdem konnte es gelegentlich vorkommen, dass ein Alfa Romeo oder Golf GTI böswillig zerkratzt wurde, ebenso ein blitzblanker 2CV oder ein statussymbolträchtiger Morris Minor. Aber Brandstiftung? Versuchter Mord? Also, das war schon eine ernstere Sache, eine sehr ernste sogar. Die dabei angewendete Methode hatten Rassis 83 ten in ethnisch gemischten Vierteln perfektioniert. Man goss Benzin durch den Briefschlitz, steckte einen Lappen in Brand und schob ihn hinterher, wodurch der Flurteppich in Flammen aufging und die Flucht aus der brennenden Wohnung erschwert, wenn nicht sogar unmöglich gemacht wurde. Natürlich hatten die unvermeidlichen Geräusche und der Benzingeruch gewöhnlich zur Folge, dass die Bewohner es rechtzeitig bemerkten, weswegen sich solche Brände meist nicht nennenswert ausbreiteten. Aber manchmal... manchmal... »Sein Name ist John Brodie, Sir«, teilte der Polizeibeamte Rebus mit, während sie beide im Krankenhauskorridor herumstanden. »Vierunddreißig Jahre alt. Arbeitet als Buchhalter bei einer Versicherung.«
Was Rebus alles schon wusste. Er war bereits in der Wohnung gewesen - im zweiten Stock eines Hauses direkt um die Ecke von der Easter Road -, in der es jetzt nach nassem Ruß stank; das würde unangenehme Aufräumarbeiten zu Folge haben. Das Feuer hatte sich rasch entlang des Korridors ausgebreitet. Ein paar Jacken und Mäntel, die an einem Kleiderständer hingen, hatten Feuer gefangen und Wände und Decke in Mitleidenschaft gezogen. Brodie, der im Bett lag und schlief (das alles war gegen ein Uhr nachts passiert), war vom Feuer aufgewacht. Er hatte den Notruf gewählt und anschließend - mit einem gewissen Erfolg - versucht, den Brand selbst zu löschen. Ein Teppich aus dem Wohnzimmer und ein paar Kochtöpfe Wasser hatten sich als nützlich erwiesen, um die weitere Ausbreitung des Feuers im Korridor zu verhindern. Aber das alles hatte seinen Preis gefordert - Verbrennungen an Händen, Armen und Gesicht sowie eine Rauchvergiftung. Die Nachbarn waren auf den Rauch aufmerksam geworden und hatten die Tür gerade in dem Moment eingerannt, als die Feuerwehr erschien. Von einem argwöhnischen Polizisten geru 84 fen, hatte sich das CID mit einigen Nachbarn unterhalten. Ein ruhiger Mann, Mr. Brodie, sagten sie. Ein anständiger Mann. Er war erst ein paar Monate zuvor eingezogen. Arbeitete bei einer Versicherung. Niemand glaubte, dass er rauchte, aber sie schienen alle anzunehmen, dass er irgendwo eine brennende Zigarette liegengelassen hatte. »Ganz schön unvorsichtig, das. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass wir in >Auld Reekie< leben, der >Alten StinkerinVogelbeobachter