Anna Bergmark
Ein praktischer Mann
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Bengt rühmt sich, ein normaler Mann zu sein, einer, der nie e...
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Anna Bergmark
Ein praktischer Mann
scanned 05_2007/V1.0
Bengt rühmt sich, ein normaler Mann zu sein, einer, der nie emotional reagiert. Aber da passiert etwas, das sein Leben radikal verändert: Seine Frau verschwindet spurlos. Ein wunderbar doppelbödiger Roman, hintergründig und spannend. Original: En praktisk man (1997) Aus dem Schwedischen von Angelika Gundlach Verlag: Scherz Erscheinungsjahr: Erste Auflage 2001 Umschlaggestaltung: Doris Katharina Künster
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Ein Suchtrupp durchkämmt die Umgebung, doch Eva ist wie vom Erdboden verschluckt. Nach Abzug der Polizisten, Freiwilligen Helfer und Polizeihunde bleibt Bengt allein zurück. Wo ist Eva? Hat sie ihn verlassen? Bengt fängt an, über ihr gemeinsames Leben nachzudenken. Ja, er vermisst sie. Ja, sie haben sich viel gestritten. Er packt alle ihre Sachen in Kisten und verstaut diese in der Garage. Vielleicht etwas übereilt, wie er sich selbst eingesteht, vor allem, als plötzlich Evas Eltern mit einem Besuch auftauchen, einer Frau, die von sich behauptet, verschwundene Dinge wieder finden zu können …
Autor
ANNA BERGMARK, geboren 1963, studierte Literaturwissenschaft und lebt heute in Nordschweden. Ihr erster Roman »Ein praktischer Mann« wurde in der schwedischen Presse sehr gefeiert.
PROLOG VERSCHWUNDEN VON DER ERDOBERFLÄCHE Sie war wie vom Erdboden verschluckt. Obwohl das Gelände um das Haus von Polizisten und Soldaten, von Freiwilligen und Suchhunden wimmelte und obwohl man sie bald hier, bald da suchte, bis zum Einbruch der fahlen Dunkelheit, war sie nicht zu finden. Das Ganze war ein Mysterium. Wo war sie?, fragte man sich. Sie hatte doch nur einen Spaziergang machen wollen. Der Ehemann hatte sie ja weggehen sehen, genau wie immer, wohin sie immer ging, wo war sie also, und was war eigentlich passiert? Spekulationen gab es viele. Manche dachten sofort an Selbstmord. Andere sprachen schlicht und einfach von Mord. Eine dritte Theorie, lanciert von einem älteren Naturliebhaber aus dem Nachbardorf, bestand darin, dass sie von einem Bären gerissen und aufgefressen worden sei, das aber waren die pessimistischen Stimmen. Andere wiederum fanden keinen Grund zu der Annahme, dass sie überhaupt tot sein sollte. Vielleicht, stellte man sich vor, hatte sie es ganz einfach satt gehabt und sich davongemacht wie diese Männer, von denen man hört, die aus dem Haus gehen, um Zigaretten zu holen, und nie mehr auftauchen, Frauen und Kinder und halbfeuchte Kippen zurücklassen. Doch, doch, nickte man nachdenklich. Möglich war es ja, besonders die Frauen im Bezirk schienen es zu glauben, und während der Suche am dritten Tag erlebte diese Interpretation 4
einen kräftigen Aufschwung auch bei den Polizisten. Da bekam nämlich ein Vertreter aus dem Ort ihr Bild in der Lokalzeitung zu Gesicht und behauptete steif und fest, er habe sie vor nur vierundzwanzig Stunden an einer Tankstelle gesehen, kurz vor Gävle. Für einen halben Tag oder so geriet die Suchaktion ins Stocken. Zur Hälfte verärgert, zur Hälfte erleichtert mussten die Suchtrupps einsehen, dass sie vielleicht trotz allem am falschen Ort gesucht hatten – bis weitere zwei beeidete Zeugenaussagen eingingen: eine, die besagte, sie sei (beinah zur selben Zeit wie in Gävle) an einem Buffet auf einer der Finnlandfähren aufgetaucht, sowie eine, die etwas so Prosaisches wie die Fischtheke im Domus-Laden der Stadt ins Spiel brachte. Nun ja. Die Leute meinten es ja nur gut, wollten im Grunde ja nur helfen. Deren Schuld war es nicht, dass sie auf dem blassen, grobkörnigen Zeitungsbild so unsagbar nichts sagend aussah oder dass die Angabe »in Jeans und T-Shirt und Trainingsjacke« wohl auf jeden x-Beliebigen zutreffen konnte. Nein, da konnte einem leicht ein Irrtum unterlaufen, das musste man einsehen, und ein Irrtum war es, denn natürlich war sie immer noch da. Ja, natürlich war es töricht gewesen zu glauben, sie habe sich davongemacht, sagte man sich jetzt im Nachhinein, verheiratet, wie sie war, und in der Gegend geboren und all das. Oder wie der Fahndungsleiter der Polizei es am vierten Tag im lokalen Radiosender ausdrückte: Sowohl ihr eigener als auch der Wagen des Ehemannes standen ja immer noch auf dem Hof, wie also sollte das zugegangen sein? So weit man wusste, war sie weder mit dem Bus noch mit einem Taxi gefahren noch getrampt, und wie er noch am Tag zuvor habe glauben können, sie sei anderswohin gegangen, ja, das sei jetzt plötzlich schwer zu verstehen. Ein Rätsel, wie er sagte, und jeder, der hinhörte, konnte sein aufrichtiges Erstaunen hören. Ein Mysterium – und so ging die eher lokale Suche weiter. 5
Überall standen geparkte Autos an den Straßen, Hundegebell hallte in der Ferne wider, auf Baumstämmen sitzend, kauten fröstelnde Männer in Regenmänteln an Hefeteilchen und Wurstbroten. Es war, als hätte die Elchjagd ein paar Monate zu früh begonnen. Ja, etwas von einem ernsten Volksfest lag über der Veranstaltung. Viele in der Gegend hatten Urlaub und wollten den Suchmannschaften helfen, Leute, die sie oder den Ehemann oder die Eltern kannten, und zunächst waren sie erfüllt von Zuversicht und Enthusiasmus. Ja, bestimmt würde man sie lebend finden, sagte man sich, mit einem gebrochenen Bein vielleicht; und hatte sie sich wider Erwarten an einer Fichte erhängt, würde man sie bestimmt auch da finden. Doch die Zeit verging, und der Zweifel kam gekrochen. Außerdem war das Wetter alles andere als freundlich gesinnt. Wenn es nicht nieselte, goss es in Strömen. Der Wind war kalt und schneidend. Obwohl es Hochsommer war und überall grün, bekam man Herbstgefühle; Gefühle von Tod und Dunkel und Hoffnungslosigkeit, die sich zusammen mit der Kälte unter die Helly-Hansen-Pullover schlichen, und am siebten Tag war alles vorbei. Mit ernster und bedauernder Miene schüttelte der Fahndungsleiter denen die Hand, die immer mehr als die nächsten Hinterbliebenen betrachtet wurden. Es erschien nicht länger sinnvoll, die Suche fortzusetzen. Man hatte getan, was man konnte, jetzt musste man abwarten. Punkt, aus, und dann stieg er in einen Polizeiwagen und wurde wieder in die Stadt gefahren. Die Stille im Kielwasser des Wagens war undurchdringlich, der Wind kalt, der Himmel drohend grau. Düster sahen Ehemann und Eltern einander an – und guckten dann wieder weg. Nun gab es niemanden mehr, der nach Eva Margareta Karlsson suchte. 6
Sie war und blieb verschwunden. Sie war wie vom Erdboden verschluckt.
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I DAS VERRÄTERISCHE HERZ
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TAG 1 MONTAG An diesem Morgen stand ich auf als ein amputierter Mann. Ein Schatten unseres früheren Wir. So war es – und dennoch schien die Ordnung der Dinge endlich so viel günstiger. Ja, plötzlich wandte Der Herr das Wetter. Der Sturm zog vorüber. Die Wolken zerstreuten sich. Die Sonne schien wieder durch die Sprossenfenster, malte schiefe, goldgelbe Rechtecke auf die Kiefernböden, füllte das Zimmer mit Horden tanzender Staubkornderwische. Idylle breitete sich aus. Als ich die Rollos an den Schlafzimmerfenstern hochzog, sah ich über die Äcker und Wiesen, sah ich, wie der mächtige, bleiche Hintern der Stille sich über die Gegend legte, es sich bequem machte. Demütig. Genügsam. Schwer. Und so war es wohl vorbei, dachte ich. Trotz allem. Es war der erste Tag. Ein neuer Anfang. Dies war der erste Tag ohne Polizisten, Wehrpflichtige und Freiwillige, ohne Hunde, die kläffend an allzu kurzen Koppeln zerrten, winselten und einander schamlos am Hinterteil beschnüffelten. Ja, der Hof war endlich leer. Alles war still und ruhig, und insofern war es wirklich vorbei. Die Normalität kehrte langsam, heiß ersehnt, aus dem Exil zurück. Das Gras leuchtete grüner. Gute astrologische Zeichen füllten den Morgenhimmel – und was passierte? Fühlte ich mich leichter? 9
Ging es mir besser? Nein. Die Antwort war nein. Es ging mir schlechter (wenn möglich ging es mir noch schlechter), und auch dies war eine Auswirkung der Ordnung der Dinge. Ist eine Schwierigkeit überwunden, wartet eine andere, so ist es, so wird es immer sein. Glaubt mir. Ich weiß es. Wenn es etwas gibt, das ich weiß, etwas, das ich gelernt habe aus dieser Geschichte, dann genau das: Wenn ein Elend endet, fängt ein anderes an – und dieses andere war zurzeit das Vermissen. Es war natürlich unvermeidlich. So im Nachhinein ist das leicht zu erkennen. Ich hatte ganz einfach keine Chance, nicht die geringste. Unsere Leben waren zu sehr ineinander verwoben. Es ist einfach festzuhalten: An diesem Morgen stand ich auf als ein amputierter Mann. Ja, schon die Tatsache, dass ich aus einem nur zur Hälfte zerknitterten Doppelbett aufstand, verursachte Phantomschmerzen, und so ging es weiter. Als ich in die Diele hinunterkam, war das Erste, was ich sah, ihre roten, abgelaufenen Gummistiefel. Als ich in die Küche ging, musste ich mich an einen einsamen, öden Frühstückstisch setzen. Als ich weiterging, ins Badezimmer, fand ich zwei Zahnbürsten im Badezimmerschrank, eine weiße und eine blaue, in einem abgestoßenen, kalkfleckigen Wasserglas. Ja, was ich auch tat, wie ich mich auch drehte und wendete, etwas erinnerte an Eva, oder genauer gesagt, etwas erinnerte daran, dass sie nicht mehr da war. Und wie gesagt … Das war natürlich zu erwarten, irgendwie unvermeidlich, unter den Umständen völlig natürlich – und merkwürdig. Klar. 10
In dem Punkt habt ihr Recht. Wenn ihr es so sagt … Klar. Es war vielleicht der erste Tag ohne schnuppernde Hunde und herumschnüffelnde Polizisten, aber es war ja nicht der erste ohne Ehefrau. Nein, an diesem Montagmorgen war sie seit einer Woche fort, tatsächlich auf den Tag eine Woche, und erst da anfangen, sie zu vermissen? Ja, rein gefühlsmäßig, meine ich. Erst da das Haus leer finden? Doch … Es kann schon etwas seltsam wirken, ich gebe es zu. Ich hatte ja mehrere Tage allein gefrühstückt (und zu Abend gegessen auch, wenn nicht die Schwiegereltern hier waren), hatte wieder und wieder die Gummistiefel und die blaue Zahnbürste gesehen, also klar, klar kann dieses Vermissen sowohl wie ein etwas zu später Plan als auch wie ein plötzlicher Einfall wirken, aber ihr versteht … Es war nie ruhig genug gewesen. Stellt es euch selbst vor. Stellt euch das Durcheinander vor, in dem ich gelebt habe. Mit den Fremden und den Fragen. Dem Regen und der Kälte. Den endlosen Waldpfaden und Mooren und Kahlschlägen und dem fernen Hundegebell, ebenso unheilschwanger wie Nebelhörner im ewigen Dunst. Es war wie einen Thriller im Fernsehen zu erleben. Gespenstisch. Vollkommen unwirklich. Irgendwie jenseits. Und dann waren da natürlich die Unruhe und die Hoffnung. Blütenblatt um Blütenblatt vom Stiel gezupft: Finden sie sie? Finden sie sie nicht? Finden sie sie? Finden sie sie nicht? Nein, stellt es euch selbst vor. Betrachtet man es aus diesem Winkel, entdeckt man, dass es vermutlich überhaupt nicht seltsam ist, dass es sich etwas hinzog. 11
Während der ersten, chaotischen Woche, als alle noch immer suchten, existierte ich wie im Traum. Das wirkliche Leben schob ich auf. Ja, während dieser Zeit war ich unempfänglich für alles, für alles außer dem eigenen Selbsterhaltungstrieb, und erst danach holten die Gefühle die sich überschlagende Entwicklung ein, erst als der Zirkus und all die Leute weitergezogen waren, wurde die Realität wieder zugänglich für mich: Eva war nicht mehr da. Wieder und wieder wurde ich daran erinnert. Nicht. Mehr. Da. Immer wieder war ich gezwungen, an den Worten zu schmecken, zu saugen, sie auszuspucken – und sie schmeckten, kurz gesagt, abscheulich. Ja, ohne Übertreibung kann ich sagen, dass sie mir Übelkeit verursachten, physische Übelkeit, und trotzdem … Als ich dort auf der Toilette saß und düster die vier Handtücher am Waschbecken anglotzte, von denen zwei von mir und zwei von ihr waren, und es mir den Magen umdrehte und das Vermissen ebenso konkret schien wie ein heftiger, schmerzhafter Durchfall, ja, da war es nicht das Vermissen. Es war nur der Vorname. Wie soll ich es erklären? Obwohl ich nicht daran denken wollte, war ich unfähig, es zu lassen, und obwohl ich immer wieder darauf zurückkam, war ich ebenso unfähig, es zu greifen. Vermutlich wollte ich es nicht. (Klage mich an, wer will.) Ja, vermutlich war es so. Es war zu schrecklich, und also wehrte ich mich. Obwohl ich glaubte, ich suhlte mich darin, wehrte ich mich, und übrig von dem Ganzen blieb eine knieweiche, 12
apathische Übelkeit. Energie hatte ich keine und auch keinen Willen. Die Hände tief in den Hosentaschen lief ich herum, im Haus herum, maß ich Schritt für Schritt die Räume aus, während meine Gedanken wie scheue, angsterfüllte Mäuse die Fußleisten entlangraschelten. Kam ich an einem Fenster vorbei, glotzte ich desinteressiert hinaus, starrte eine Weile den klaren blauen Himmel und das überwältigende Grün an, bevor ich die Achseln zuckte und wieder weitermarschierte. Es hätte ebenso gut regnen können. Ich sah, und ich sah doch nicht. Ich wusste, sie war fort, und weigerte mich doch, es einzusehen, aber die Einsicht war nicht nur schwer verdaulich, sie war auch hartnäckig. Während dieses ganzen ersten, ruhigen Tages setzte sie mir zu. Drückte sie, nagte, biss, zerrte sie. Ja, während dieses ganzen gelähmten, apathischen Tages, und schließlich, nach dem Abendessen (gebratene Fleischwurst und Schnellkochnudeln, weil ich etwas essen musste), ja, da sank sie schließlich in mich ein, die Einsicht, da traf sie mich mit voller Kraft. Unmittelbar. Vielleicht lag es daran, dass ich mit nur einem Teller dastand, einem Löffel, einer Kaffeetasse. Ich weiß nicht. Oder vielleicht war einfach etwas in mir, das herangereift war und jetzt aufplatzte wie ein eitriges Geschwür, denn wie durch einen Zauberschlag stand alles klar vor mir. Sie war fort. Jetzt begriff ich es. Begriff ich. Übers Spülbecken gebeugt, das fließende Wasser in den Ohren rauschend, erkannte ich die Konsequenzen dessen, was geschehen war, erkannte ich das Ausmaß meiner Einsamkeit. Zuerst weinte ich nur ein bisschen vor mich hin, beinah schön, glaube ich, den Kopf schwer gegen die Küchenschranktür gelehnt, aber als ich einmal angefangen hatte, konnte ich nicht aufhören, und zu meinem Entsetzen spürte ich, wie das Weinen 13
immer stärker und stärker wurde. Wie eine Krebsgeschwulst drohte es mich zu zerreißen, ging es in ein hemmungsloses Schluchzen über, in einen unkontrollierten Überfluss von Sentimentalität. Ein und aus atmete ich, schnell, schnell, schnaubend wie ein Pferd, hyperventilierend, mit heißen, brennenden Tränen, die mir über die Wangen strömten, und zähflüssigem Rotz, der aus den Nasenlöchern über die Oberlippe in den weit offenen, nach Luft schnappenden Mund kroch. Ob ich in diesem Augenblick trauerte oder nur mir selbst Leid tat, ist schwer zu entscheiden. Vielleicht ist das immer ein und dasselbe. Wie dem auch sei, ich konnte mich nicht mehr auf den Beinen halten. Benommen von einer Überdosis Sauerstoff sank ich auf alle Viere, schluchzend, schnüffelnd, brüllend wie ein verlassenes Elchkalb. Wie ein Faden aufgekochter Zuckerlösung näherte sich der Rotz jetzt dem Küchenbodenbelag, langsam, gewissermaßen zögernd, vor mir schwingend wie ein Pendel, im Takt mit den ruckartigen Bewegungen des Kopfes. Mein ganzer Körper bebte, Beine und Hinterbacken zitterten, die Ellbogen drohten wieder und wieder nachzugeben, aber im Einklang mit der zunehmenden Erschöpfung ließ allmählich auch das Weinen nach, wurde es zu einem Rinnsal, zu den letzten herausgeschüttelten Tropfen, und dann lag ich da auf dem noppigen Plastikbodenbelag, stumm und still, zusammengekrümmt in Fötushaltung, noch immer die rote Spülbürste krampfhaft umklammert, als wäre sie das einzig Bleibende in einer unzuverlässigen und unbeständigen Welt. Ja, mein Gott, wie das gehen kann. Und wie ich mich schämte. Nachher. Allein die Vorstellung von mir, zusammengekauert da auf dem Küchenboden, zog mir die Eingeweide zusammen, ließ mich, im rein physischen Sinn, eine Spur schrumpfen, als könnte ich einer barmherzigen Vernichtung meiner selbst näher nicht kommen. Aber was war es denn eigentlich, wofür ich mich schämte? Was mich so aufwühlte? 14
Dass ich geweint hatte? Nein, das nicht. Überhaupt nicht. Ein Mann ist ja auch ein Mensch (besonders, wenn kein anderer zusieht und zuhört, oder?), und ich habe schon früher geweint, klar habe ich das, wie etwa auf der Beerdigung meiner Mutter, aber was ich sagen wollte, ist, dass die Empfindsamkeit ihren Platz kennen muss. Ein paar Tränen zu vergießen, mit der Stimme zu zittern und schwer zu schlucken – das ist eine Sache, das ist völlig akzeptabel, Hauptsache, die Gefühle haben eine … tja … Perspektive. Genau. Da haben wir die Losung: Perspektive. Nicht wie da vor der Spüle. Nicht wie dieser – Anfall. Ja, ich kann es nicht anders bezeichnen, diesen unkontrollierten Ausbruch. Aber missversteht mich nicht. Es ist überhaupt nicht so, dass ich glaube, alles im Leben ließe sich kontrollieren. Weit gefehlt. Wenn nichts anderes, das habe ich jetzt gelernt. Es passieren Dinge. Man wird mitgerissen. Ohne eigenes Verschulden wird man zu einem schaukelnden, im Wind treibenden Korken. So ist es einfach. Es ist einfach nur festzuhalten, nichts dagegen zu machen, aber über sich selbst (und das ist das Wichtige bei alledem), über sich selbst darf man nicht die Herrschaft verlieren, seine Gefühle darf man nicht Amok laufen lassen. Dann geht es den Bach runter. Dann ergeht es einem wie Dieser Da. Und das war es, was mich aufwühlte. Da lag des Pudels Kern. Ihr versteht … Ich habe mich immer für einen praktischen, realistischen Mann gehalten. Ein Mann, der die Welt so angeht, dass er ruhig und methodisch tut, was er tun kann, und dann 15
ebenso ruhig oder stoisch, den Rest akzeptiert, aber da … als ich mich vom Boden aufrappelte und mit dem Handrücken den salzigen Schleim aus den Augenwinkeln wischte, ja, da fühlte ich mich wie eine Frau, ein Frauenzimmer, eine heulende Amöbe. Was ich durchmachte, war eine Identitätskrise. Immer noch zittrig, schleppte ich mich ins Badezimmer und sah mich plötzlich selbst im Spiegel. Das Gesicht war rotzig, geschwollen und voller roter Flecken. Es hatte einen Abdruck vom Küchenbodenbelag auf einer Wange. Kein Wunder, dass ich mich mit kaltem Wasser wusch, als wollte ich einen unangenehmen Fleck wegschrubben. Es war ganz einfach nicht mein Gesicht. Nein, es gehörte meiner Mutter. Es gehörte meiner Frau. Es gehörte der Hand voll Frauen, die ich dazwischen gekannt hatte. Eine Reihe rotfleckiger Gesichter, vielleicht ohne Abdruck von Plastikbelägen, aber doch gezeichnet von Überspanntheit, Schwäche, Sentimentalität. Nein, mein Gesicht war das nicht. Nicht meines. Konnte es nicht sein. Durfte es nicht sein. Ich meine, wie oft stand ich verständnislos vor Evas hysterischen Ausbrüchen. Heulen und Plärren, jämmerliches Selbstmitleid, zugeknallte Türen, wirkungsloses Geschrei – und was hatte ich gedacht? Wenn ich jetzt völlig ehrlich sein soll, ganz und gar wahrhaftig – was hatte ich empfunden? Doch, Distanz, Irritation, um nicht zu sagen Verachtung. Ja, ja … Ich weiß, wie das klingt, aber trotzdem, Verachtung. Ist euch übrigens bewusst, dass die Hysterie ihren Namen von der Gebärmutter hat? Von dem alten griechischen Wort für Gebärmutter, meine ich. Ist es euch bewusst? Das ist jedenfalls kein Zufall. Hysterie ist etwas ausgesprochen Weibliches (das ist meine feste Überzeugung), und es ist nicht Gefühllosigkeit, sondern einfach pure Biologie, was uns Männer so fassungslos 16
davor stehen lässt. Als Mann kann man ganz einfach nicht verstehen, was da passiert; diese krankhafte Fixierung darauf, in sich hineinzufühlen, und die darauf folgende Neigung, all diesen Gefühlen unbeherrschten, freien Lauf zu lassen, ohne Sinn und Verstand, ohne ein Gespür für Proportionen. Und jetzt hatte ich es selbst getan. Ich. Der praktische Mann. Wütend biss ich die Zähne zusammen, zog mit einem lautstarken Schnüffeln etwas Rotz wieder hoch, wütend, verzweifelt. Was ich im Spiegel sah, als ich da stand, die nassen Hände fest um den Waschbeckenrand geklammert, war die Unfähigkeit, mich um mich selbst zu kümmern, eine Schwäche, ebenso destruktiv wie widerlich, und ich dachte: Diese Frau. Du darfst absolut nicht den gleichen Weg gehen wie Diese Frau. Nicht werden wie diese – Monstrosität. Denn es war ja, wie es war. Wenn ich zu irgendetwas gezwungen war, dann dazu, mich zusammenzunehmen. Das Leben ging ja weiter, wie unglaublich mir das auch vorkommen mochte, und es wäre dumm von mir, nicht mitgehen zu wollen. Dumm, überlegte ich, damals wie heute. Dumm. Unlogisch. Unpraktisch. Ich machte den Rücken gerade, schnüffelte ein letztes nachdrückliches Mal und ging zurück in die Küche. Das Spülwasser war jetzt kälter und die Wurstreste auf dem Fleischmesser fetter denn je, aber trotzdem packte ich die Spülbürste, strich mit einem Fuß den Bodenbelag glatt und fing wieder an. Nicht mit größerem Enthusiasmus. Zur Hälfte geistesabwesend, zur Hälfte angeekelt, stocherte ich in dem furzwarmen, fettaugenverzierten Wasser herum. Mir war immer noch übel, noch mehr übel, nach all dem hochgeschnüffelten 17
Rotz, den ich geschluckt hatte, und die Lust zu weinen hatte trotz der Kaltwasserwaschung nicht gänzlich nachgelassen und doch … Im tiefsten Innern nahm ich doch an, dass das, was ich tat, das einzig Richtige war. Sich zusammenzunehmen und weiterzumachen. Alles auf einem einzigen unscheinbaren Wort ruhen zu lassen: Eva war fort, aber … Ich war zwar auf dem Plastikbelag zusammengebrochen und hatte geflennt wie ein hysterisches Frauenzimmer, aber … ich würde darüber hinwegkommen. Ich würde das ganze Elend hinter mich bringen – und an dieser als Überzeugung verkleideten Hoffnung hielt ich fest, als ginge es um mein Leben. Weil ich es nötig hatte. Und seien wir ehrlich. Weil ich eigentlich nichts anderes hatte, woran ich mich halten konnte. Mit einem tiefen Seufzer stellte ich das letzte Stück auf die Geschirrablage und zog den Stöpsel heraus. Niedergeschlagen sah ich das fettige, schmutzige Wasser ablaufen, eine Spirale bilden, die sich in den Abfluss drehte, die rundherum wirbelte, rundherum und fort, fort, bis schließlich die letzten Tropfen mit einem leisen Gurgeln verschwanden. Ich erinnere mich, ich dachte, es sehe aus wie eine Abfahrt in den Mahlstrom.
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TAG 2–5 DIENSTAG – FREITAG In der Nacht fühlte ich mich wie ein Hund. Vielleicht kehrte ich zu meiner Kotze zurück. Vielleicht war es nur die Hitze, wie auch immer, ich schlief schlecht. In dem konturlosen, verschwommenen Dunkel der Nacht wälzte ich mich auf der großen Matratze herum, warf mich hin und her, schwitzte, hatte Träume, an die ich mich nach dem Aufwachen nicht erinnern konnte, die aber dennoch ein unangenehmes und klebriges Gefühl hinterließen wie ein altes, dreckiges Pflaster. Unter dem viel zu dicken Federbett lag ich auf dem Rücken und starrte zur Decke. Gedankenverloren folgte ich den Fichtenbrettern von der roten Schornsteinwand zur Lampe und wieder zurück. Und noch einmal. Wieder und wieder. Drüben beim Fenster sickerte ganz bescheiden noch ein Tag mit schönem Wetter durch die hellgelben Rollos herein, aber das hatte überhaupt keine Wirkung auf mich. Ich sah es nicht einmal, kümmerte mich nicht darum. Ich war vollauf mit mir selbst beschäftigt, dachte nach über die vergangene Nacht. Was hatte ich eigentlich geträumt?, fragte ich mich unruhig und misstrauisch. Was hatte mich beschäftigt, und was war es, woran ich mich nicht erinnern konnte? Denn irgendetwas war es. Das spürte ich. Es hing noch immer in der Luft wie Pulverrauch unter Leuchtstoffröhren. Ja, irgendetwas war passiert, hier im Bett, heute Nacht. Etwas Ungreifbares und Unheilverkündendes. Ich schloss die Augen, runzelte die Stirn, konzentrierte mich. Was?, zermarterte ich mich. Was konnte ich wohl geträumt haben, das mich so stark beeinflusst hatte, dass ich jetzt, 19
mehrere Stunden später, immer noch im Bett lag und mich bis ins Mark frustriert fühlte. Aber nein. Mein Gedächtnis war ein juckender Fleck unter der Hirnschale. Wie ich mich auch anstellte, ich kam nicht dahinter, es war für die eifrigen Finger genau außer Reichweite. Ja, wie ich auch kratzte, es war ganz einfach hoffnungslos, und schließlich gab ich auf. Ohne größere Überzeugung schwang ich die Beine über die Bettkante. Ich schlenderte in die Diele hinaus, am Leib nur die blau gestreiften Boxershorts, die ich im Sommer immer als Pyjama verwende, kraulte ich meinen behaarten Bauch, gähnte ich. Stutzte ich. Es roch nach Kaffee. Die ausgetretene, gewundene Treppe herauf strömte mir der Geruch von frisch gekochtem Kaffee entgegen. Unverkennbar. Wohl bekannt. Erschreckend. Ich schnupperte in die Luft wie ein Trüffelschwein. Er war nicht stark, der Duft, aber er war da, war da wie früher so oft, wenn ich mich schlaftrunken aus dem Bett geschleppt hatte, eine halbe Stunde etwa, nachdem Eva aufgestanden war. In jener Zeit (in der guten alten Zeit) hatte der Duft mich munter gemacht. Ja, früher war ich ihm gefolgt wie einer markierten Spur, um schließlich und endlich eine warme, hell erleuchtete Küche zu finden, Brot und Marmelade auf dem Tisch, eine menschliche Stimme, die Morgenzeitung aus dem Briefkasten unten an der Straße geholt – aber diese Zeit war jetzt vorbei. Sollte es sein. Widerwillig, höchst widerwillig, schob ich mich die knarrende Treppe hinunter. Was ich dort wohl finden würde, wusste ich selbst nicht. Entweder wirbelten meine Gedanken ziellos herum, oder sie standen völlig still. Alles schien möglich, sogar die Vorstellung, Eva säße da am Esstisch und tunkte gut gebutterten Zwieback in dampfenden, kochend heißen Kaffee, genau wie 20
immer, aber als ich in die Küche trat, fand ich trotz allem nur das Erwartete: das heißt, gar nichts. So war es. Die Küche war leer, ganz leer, und in der Kaffeekanne auf ihrem Plastikperlenuntersatz war auch nichts, nicht einmal Kaffeesatz, da ich sie am Tag zuvor gründlich gespült hatte. Verwundert ließ ich mit einem Knall den Deckel fallen. Ich schnüffelte wieder um mich herum, aber der Geruch war weg. Wann war er verschwunden? Wann hatte ich ihn zuletzt gerochen? Auf der Treppe, unten in der Diele, auf der Schwelle? Hatte ich ihn überhaupt gerochen? Ich war nicht mehr sicher. Ich hatte mir eingebildet, ihn zu riechen, natürlich hatte ich mir eingebildet, ihn zu riechen, aber jetzt zweifelte ich, und nur ein paar Minuten später sollte er sich ganz und gar als Chimäre herausstellen. Und weshalb? Nun, weil ich ihn nicht gerochen haben konnte. So einfach war das. So geht ein praktischer Mann vor, wenn er die Welt untersucht – systematisch und rational. Logisch und umsichtig. Niemand hatte Kaffee gekocht, also hatte ich auch keinen Kaffee gerochen. Und das war es. So einfach. So leicht verständlich. Und was die Wahrnehmung selbst anging, die Halluzination selbst … Vertrauensvoll dachte ich zurück an Leo. Ihr versteht … Als ich sieben Jahre alt war, erquengelte ich mir einen Hund, Leo, einen kleinen Boxerwelpen, süß und gut zu haben am Anfang, immer eigensinniger, je mehr Jahre vergingen, aber treu, immer gleich treu. Überall, wo ich war, war Leo. Überall, wohin ich ging, kam Leo mit wie ein Schatten, ein fröhlicher, vertrauensvoller, sabbernder Schatten. Ein Freund, ebenso wortlos wie anspruchslos wie 21
selbstverständlich. Ja, wir wuchsen beinah zusammen, er und ich, und als er schließlich krank wurde und starb, irgendwann, als ich so um die siebzehn, achtzehn war, ja, da war das wirklich nicht lustig. Es wurde so furchtbar leer. Er war ja immer bei mir gewesen, und genau hier komme ich zu dem, was ich sagen wollte. Monate später konnte ich nämlich noch hören, wie Leo an der Haustür kratzte, die Treppe heruntergetrottet kam oder mit dem leeren Wassernapf schepperte – obwohl er tot war, obwohl ich ihn, wie auch die Leine und alle Näpfe, mit meinen eigenen Händen begraben hatte, neben einer Birke am Seeufer. Zunächst hatte ich das natürlich etwas mystisch gefunden, um nicht zu sagen unangenehm, aber dann hatte ich nachgedacht und die Erklärung gefunden. Zehn Jahre lang hatte ich mich um diesen Hund gekümmert; ihn ausgeführt, ihn gestreichelt, ihn verflucht, wenn er auf Brautschau verschwand. Ja, ein ganzes Dezennium lang hatte er mir Gesellschaft geleistet, und ich war es ganz einfach gewohnt, auf ihn zu achten. Dass der Hund selbst tot war, änderte nichts daran, zunächst jedenfalls. Wenn das schwere Holzhaus von einem Fuß auf den anderen trat und es in den Wänden knirschte und knackte, da glaubte ich, Leo zu hören. Tot oder lebendig – daran war nichts Merkwürdiges, nichts Übernatürliches, nichts Verrücktes. Auch meine Mutter glaubte mitunter, ihn zu hören. Nein, es war einfach ein Reflex, eine Gewohnheit, eine alte, ungebrochene Gewohnheit – und so war es jetzt auch, erklärte ich mir pädagogisch, während ich mir etwas wirklichen Morgenkaffee und etwas wirkliches Brot mit wirklicher Butter und wirklichem Käse zubereitete. Ich hatte wohl irgendetwas gerochen und es als Kaffee interpretiert, überlegte ich, denn es war ein Geruch, den zu riechen ich gewohnt war, wenn ich morgens aufstand. Überhaupt nichts Merkwürdiges, wie gesagt. Nein, völlig natürlich. 22
Genau. Die Logik wieder eingesetzt. Die Ordnung und der innere Frieden wiederhergestellt. Und dann hörte ich auf, daran zu denken. Dann frühstückte ich, widmete mich dem Tag und vergaß das Ganze. Glaubte ich. Ihr wisst, wie das ist. Es passiert ja fast jeden Tag. Man sieht im Augenwinkel, wie sich etwas bewegt, aber wenn man sich umdreht und hinguckt, sieht man überhaupt nichts Ungewöhnliches. Oder man steht im Badezimmer und wäscht sich und hört das Telefon klingeln, aber wenn man den Hahn zugedreht hat und sich mit dem Badetuch abhetzt, ja, da erkennt man, dass es überhaupt nicht klingelt, dass es nie geklingelt hat, außer in den eigenen Ohren – und es bedeutet nichts. Man erkennt seinen Irrtum, zuckt die Achseln, vergisst es. Solche Dinge passieren einfach. Mit so vielen Eindrücken, die die Sinne im Laufe eines Tages, eines Jahres, eines Lebens aufnehmen – klar, dass einem da hin und wieder ein Irrtum unterläuft. Damit muss man rechnen, aber das hier mit dem Kaffee … Im Nachhinein kann man natürlich sagen, es sei ein ungewöhnlich massiver Irrtum gewesen und ungewöhnlich anhaltend, und vielleicht hätte ich ein wenig misstrauisch werden müssen, ja und dann? Auch wenn ich gewusst hätte … Auch wenn ich begriffen hätte, was sich da zusammenbraute – was hätte ich dagegen tun können? Ich war ja nicht Herr der Lage. Nein, stattdessen glaubte ich wirklich, es ginge mir besser an diesem Tag. So allmählich. Nachdem die Alptraumstimmung und der Kaffeegeruch sich gelegt hatten. Ich war zwar fast genauso desinteressiert, fast genauso willenlos, aber ab und zu konnten sich die Nebel trotz allem lichten. Dann wurde mir zum Beispiel klar, dass das Wetter ja richtig schön war, dass die Hefeteilchen zum Kaffee ja richtig 23
gut schmeckten und dass Vivaldis »Frühling« immer noch leicht und luftig klang, wenn er aus den Stereolautsprechern strömte. Kleine, kleine Dinge nur, scheinbar belanglos und dennoch so lebenswichtig, so selbstverständlich … Allerdings glaubte ich, es ginge mir besser, ich wäre endlich auf dem Weg in die richtige Richtung. Ja, als ich mich an diesem Abend vor dem Fernseher niederließ, genau wie immer, bildete ich mir sogar ein, mich zu entspannen. Zwischen die Kissen gerutscht, die Füße gemütlich auf dem Couchtisch, sah ich die Nachrichten. Die Rede war von bevorstehenden Einsparungen, irgendeiner Seuche in Afrika, Ländern mit eventuellen Kernwaffen, der gefährlichen Ruhe im Nahen Osten. Es war wirklich richtig ermutigend, dass nicht nur ich es war, der Sorgen hatte, meine ich, und diese etwas größere Perspektive war sicher wohltuend, das auch. Mit einem doch erstaunlichen Interesse drückte ich die Hinterbacken ein paar Zentimeter tiefer ins Sofakissen und stellte den Ton lauter. Vermutlich dauerte es deswegen eine Weile, bis ich es bemerkte, wegen der Lautstärke und der kratzigen Leitung aus Jerusalem und alledem. Ja, ich hatte das Geräusch sicher gleich von Anfang an gehört, aber dennoch brauchte es eine Weile, bis ich begriff, dass ich noch etwas anderes hörte als den Fernseher, etwas Knackendes und Rhythmisches. Und Beunruhigendes. Es klang, als käme jemand die Treppe herunter. Mein entspannter Körper wurde steif wie ein Stock. Es klang, als käme jemand die Treppe herunter, als bewegte sich jemand langsam, aber sicher vom Obergeschoss ins Erdgeschoss, und da dies unmöglich war, gab ich nicht viel darauf. Ich war allein im Haus, niemand kam die Treppe herunter, und dennoch schaltete ich mit der Fernbedienung den Fernsehton ab, um auf die Schritte zu hören, um zu hören, was es eigentlich war, was ich hörte. 24
Es wurde eine Zeit lang betäubend still. Es verging eine Sekunde. Es vergingen zwei, drei … Bis das Geräusch, wie jemand auf die zwei letzten Treppenstufen trat, meine zum Zerreißen gespannten Ohren erreichte. Knarr … Knack … Charakteristische Geräusche, unverkennbar für einen Mann, der den größten Teil seines Lebens in diesem Haus verbracht hat. Mit großen Augen starrte ich auf die offene Tür, aber jetzt war es still und schien so zu bleiben. Es verging wieder eine Sekunde. Es vergingen zwei, drei, dreißig … Nichts rührte sich. Der Gefrierschrank draußen in der Küche surrte unverdrossen. Auf dem Bildschirm sperrten der Reporter und sein Interviewpartner weiterhin den Mund auf, wortlos wie Guppys. Es sah nicht besonders gut aus. Entweder stand da draußen jemand, irgendein Fremder, irgendein Unwillkommener, oder ich saß da und horchte auf etwas, das es nicht gab, weder Herr über meinen Verstand noch über meine durchgehende Phantasie. Ich überdachte die Möglichkeiten. Es sei bereitwillig eingestanden, dass mich keine der Alternativen reizte. Irgendwie war es unangenehm. Nicht, dass ich ein ängstlicher Mensch wäre. Im Gegenteil. Ich möchte schon behaupten, dass ich ziemlich hart sein kann, wenn ich es darauf anlege, aber meine Beine waren dennoch etwas wacklig, als ich von der Couch aufstand. Denn natürlich musste ich nachgucken, natürlich musste ich einen Blick darauf werfen, aber wenn ich mich recht erinnere (und das nehme ich an), dann wusste ich schon, wusste ich, dass 25
ich nichts finden würde, und vermutlich zitterten meine Beine nicht aus Angst vor etwas da draußen in der Diele, sondern eher aufgrund der Tatsache, dass ich mich nicht mehr auf das verlassen konnte, was ich wusste, dass ich mich nicht mehr auf mein eigenes Urteilsvermögen verlassen konnte. Ungeschickt stieß ich mit einem Zeh an den Fuß des Couchtisches, aber ich verzog nur das Gesicht, dem ziehenden Schmerz zum Trotz. Die eierschalendünne Stille zu durchbrechen schien frevelhaft, um nicht zu sagen physisch unmöglich. Ich schaffte es ganz einfach nicht, und so lautlos ich konnte, humpelte ich weiter über den Holzboden, stützte mich an den Türrahmen und guckte hinaus in die Diele. Kein Mensch. Kein Geist oder Einbrecher, so weit das Auge reichte, nur mein eigenes bekümmertes Spiegelbild im Wandspiegel neben dem Klappstuhl. Ich sah mich um, guckte die Treppe hinauf, öffnete die Haustür, aber nichts. Gar nichts. Nicht einmal ein mystisch hin- und herschwingender Kleiderbügel. Ich stand eine Weile regungslos da, leer vor mich hinstarrend. Was sollte ich tun? Ja, was hätte ich tun sollen? Was meint ihr? Hätte ich einfach die Achseln zucken und darauf pfeifen sollen? Doch … Ja … Vermutlich, aber gerade da war ich nicht bereit für ein so vernünftiges Handeln. Nein, stattdessen streckte ich den Arm aus und schloss mit einem Knall die Haustür, sehr entschieden, sehr entschlossen, und was danach kam, darauf bin ich nicht sehr stolz. Ich durchsuchte das Haus. Ich guckte in jedes Zimmer, in jeden Schrank, unter jedes Bett und jede Couch. Überall – und nichts fand ich. Nichts fand ich heraus oder erfuhr ich. Nun mag man das für eine Überreaktion halten, natürlich. War 26
ich es nicht, der gesagt hatte, das passiere fast jeden Tag? Dass man sieht, wie sich Dinge bewegen, die sich nicht bewegen, hört, wie Telefone klingeln, die nicht klingeln, Brandgeruch wittert, obwohl es nirgends brennt, dass man sich ganz einfach Dinge einbildet, ganz natürlichen Irrtümern aufsitzt, warum also klemmte ich mich so dahinter? Ja, einerseits beeinflusste mich wohl die Stimmung, glaube ich. Sie war irgendwie – wie am Jüngsten Tag, ernst, als wäre wirklich alles möglich, und andererseits wollte ich wohl einfach sicher sein, natürlich. Ganz sicher, dass ich nichts gehört hatte. Ganz und gar hundert Prozent sicher. Und als ich es war? Ja, dann ging ich zurück und setzte mich auf die Couch vor den Fernseher, weil es nichts anderes mehr zu tun gab. Ich stellte den Ton wieder an. Das Wort mute verschwand vom Bildschirm, und ein gewaltiger Applaus schlug mit der Kraft einer Sturzwelle über mir zusammen. Nach Luft schnappend fingerte ich an der Fernbedienung, rasend, fieberhaft, und endlich gelang es mir, die Lautstärke zu senken. Erschöpft, halb und halb abgesoffen, fiel ich rückwärts gegen die Lehne. Während der zehn Minuten oder so, die ich weg gewesen war, waren die Nachrichten offenbar zu Ende gegangen. Jetzt lief stattdessen etwas anderes, eine Art Unterhaltungssendung, nahm ich an, aber wie sehr ich auch hinguckte, ich kapierte nicht, was die Leute machten, ich begriff nicht, warum sie so hysterisch hin und her rannten, wie sie das überhaupt schafften, und lustig war es auch nicht. Gelangweilt schaltete ich auf einen anderen Kanal um, schaltete noch einmal um. Dann legte ich resigniert die Fernbedienung weg. Es hatte keinen Zweck. Die Konzentration wollte sich nicht einstellen. Was ich empfand, ist vielleicht schwer zu erklären. Ich hatte keine Angst, war aber doch leicht erschüttert. Man musste einfach zugeben: Klar hatte mich der Gedanke 27
überwältigt, es wäre Eva, die ich hörte. Klar hatte ich mir für den Bruchteil einer Sekunde eingebildet, sie käme die Treppe heruntergeschlendert, als ob nichts passiert wäre, aber das war vorbei, nur eine vorübergehende Geistesverwirrung, ein Versehen. Was ich dann aber als unangenehm empfand, war etwas anderes. Es war die Deutlichkeit, mit der ich die Schritte gehört, die Entschiedenheit, mit der ich die Bewegungen des Hauses gedeutet hatte, denn was anderes konnte das Knacken gewesen sein? Ja, was mich beunruhigte, war diese Kraft in meiner durchgehenden Phantasie, dass ich tatsächlich hörte oder glaubte zu hören … Obgleich ich wusste, dass ich nichts hörte. Obwohl ich wusste, dass Eva nicht zurück war. Denn das war sie ja nicht. Was passierte, war, dass sie sich in Erinnerung brachte, weder mehr noch weniger. War es wie mit Leo?, fragte ich mich, und plötzlich fiel mir der Kaffeegeruch wieder ein, den ich vergessen zu haben glaubte. Nachdenklich lehnte ich den Kopf gegen die Wand. Zweimal am selben Tag? War das nicht ein bisschen oft? Ein bisschen heftig? Aber es war wohl wie mit dem Hund, wie gesagt. Obwohl Eva fort war, war sie überall anwesend. Sie steckte noch in den Tapeten, die sie ausgesucht, und in den Gardinen, die sie genäht hatte. Sie steckte noch in den handgewebten Flickenteppichen, in den neuen Küchenschränken, in allen Blumentöpfen. Ja, sie steckte auch noch in mir – und beim geringsten Geräusch war sie wieder da, zurückgeholt, als wäre sie nie richtig weg gewesen. Und was konnte ich dagegen tun? Nichts. 28
Es gab nichts, was ich tun musste, überlegte ich mit zunehmendem Optimismus. Nein, man brauchte nur zu warten, sagte ich mir. Die Zeit an sich ist ein Exorzist, ein Geisteraustreiber, und wie Leo ganz allmählich verschwunden war, würde sie verschwinden. Man brauchte nur zu warten, ruhig und kalt sein, aber klar … Etwas zu sagen, ist eines, es zu tun, etwas anderes (ratet mal, ob ich das gelernt habe), und es war nicht immer so leicht, wie es wirken mochte. Nein, im Gegenteil, während der nächsten Tage sollte ich immer mehr hören, wovon ich wusste, dass ich es nicht hörte, in regelmäßigen Abständen, immer und immer wieder, und das ging so: Befand ich mich im Erdgeschoss, schien sich im Obergeschoss etwas zu bewegen und vice versa. Saß ich im Wohnzimmer, knackte es im Küchensofa. Saß ich auf dem Klo, konnte ich darauf schwören, dass jemand die Haustür aufmachte und so weiter und so weiter, was manchmal eine ganze Ewigkeit zu dauern schien – und, zum Teufel, es tat mir nicht gut. Nein, wenn ich am Dienstag geglaubt hatte, auf dem richtigen Weg zu sein, verhielt es sich jetzt genau umgekehrt. Die Hefeteilchen schmeckten wieder nach Pappe. Meine träge Lustlosigkeit wurde abgelöst von einer fieberhaften Inaktivität. Rastlos beschäftigte ich mich damit, absolut nichts zu tun. Kein Fingernagel war sicher vor mir. Ein harter, schmerzhafter Knoten zwischen den Schulterblättern kam zum Vorschein – alles, während ich, ständig unter Spannung, auf das nächste mystische Geräusch horchte. Glaubt mir, wenn ich sage, dass mir das allmählich auf die Nerven ging. Diese ganze Hilflosigkeit … Die Machtlosigkeit …
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Kein Wunder, dass ich mich bedroht fühlte, und das war nicht gerecht. Nach alldem, was ich durchgemacht hatte. Und dann all das hier. Das auch noch. Nein, es war ungerecht, sagte ich mir mit Nachdruck. Ungerecht. Unangenehm. Unbeeinflussbar. Das Radio oder den Fernseher auf volle Lautstärke aufzudrehen, erwies sich leider nicht als so gute Lösung, wie ich zunächst geglaubt hatte. Nach einer Weile wurde ich tatsächlich noch nervöser davon, nicht sicher zu sein, nicht zu wissen, ob die Geräusche verstummt waren, weil sie nicht mehr da waren oder weil ich sie ganz einfach übertönt hatte. Auf diese Weise begannen die Geräusche ihr eigenes Leben zu leben. Es war, als befürchtete ich, dass sie wirklich existierten, auch wenn ich die Ohren mit anderem zuschüttete, als könnten mir durch das Zuhören bei einem lautstarken Sportprogramm die eigenen Gehörhalluzinationen, die eigenen Hirngespinste entgehen, und natürlich war dies ein Zeichen von Schwäche. Der Zugriff auf diese Welt war etwas öliger geworden, das gebe ich zu, etwas schlüpfriger, aber noch ließ ich nicht los. Nein, noch nicht. Nicht ganz. Klar war ich enttäuscht über die unlogische und verkehrte Art, auf die das Vermissen sich auszudrücken schien, über die introvertierte Weise, mit der der Verlust sich bemerkbar machte, aber dennoch ertrug ich es. Biss die Zähne zusammen. Diskutierte mit mir selbst wie ein Volksschullehrer, und manchmal, wenn ich fand, die Worte müssten hervorgehoben werden, redete ich wirklich laut mit mir selbst, geradeaus in die Einsamkeit: Es ist nichts. Nimm dich zusammen. 30
Es geht vorbei. Wie ihr verstehen werdet, war das nicht ganz leicht. Es machte unruhig, dazusitzen und auf das zu horchen, was einmal gewesen war, aber jetzt nicht mehr war, und dass die Geräusche gewissermaßen nur in meinem Kopf existierten – was für ein Trost war das eigentlich? Keiner. Überhaupt keiner. Ganz im Gegenteil, und wieder begannen die Gedanken an diese Frau. Dieses Verwirrte-und-verschreckteDing. Und das war keineswegs aufmunternd. Während dieser ganzen schweren Zeit hatte ich ja sie auf der Netzhaut gehabt. Sie, Die Widrige. Das Gegenbild. Sie, Wiedie-zu-werden-von-mir-unbedingt-zu-vermeiden-war – und jetzt … War ich nicht auf bestem Weg, in die Grube zu rutschen? Pfui, nein, wie deprimierend. Kein Wunder, dass ich begann, immer mehr Zeit draußen im Garten zu verbringen. Es war fast wie eine Flucht. Da konnte ich in der Hängematte liegen oder im Gartenstuhl sitzen und ohne Einschränkung lauschen. Lauschen auf das Rauschen des Windes im Laubwerk, auf das Brausen der Autos unten auf der Straße, auf Kohlmeisen, Rosenfinken und Schwarzspechte, Geräusche, die so selbstverständlich wie natürlich wie harmlos waren. Vom Haus begann ich mich fern zu halten. Ich wollte nicht hineingehen, um Kaffee zu kochen, nicht einmal am Abend wollte ich hinein. Nein, es kam mir wirklich so vor, als wiese es mich zurück, als kehrte es mir zum ersten Mal den Rücken zu, und das war traurig. Ihr versteht, dieses Haus … Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Es klingt vielleicht verrückt, aber ich hänge sehr daran. Vielleicht sogar – nein –, es klingt lächerlich, aber was ich empfinde für dieses Haus, dieses ganze Anwesen hier, ist stark. In gewisser Hinsicht kann man wirklich sagen, es ist die Nabe, um die mein ganzes Leben kreist. 31
Nun kann einem das natürlich seltsam erscheinen. Ich weiß. Eva verstand es nie. Wenn sie böse war, konnte sie mit Behauptungen daherkommen wie, das Haus sei mein Surrogat für die Mutterbrust, ich hätte es nie geschafft, die Nabelschnur durchzuschneiden, und allerhand anderem amateurpsychologischem Quatsch, in dem sie so gut war. Na ja. Vielleicht hatte sie Recht. Weiß der Teufel. Zwölf Jahre lang wohnte ich in der Stadt, mit Arbeit, Freunden, einigen Frauen, und dennoch wohnte ich da nicht, schlug ich nie Wurzeln. Nein, nicht einmal als ich geheiratet hatte, als ich gesetzt wurde, wie man sagt, und mit einem anderen Menschen einen Hausstand gründete, war ich in dieser adretten, plastikbestückten Wohnung wirklich zu Hause. Für mich war zu Hause immer etwas anderes. Zu Hause lag die ganze Zeit zwanzig Kilometer weit weg, und nachdem meine Mutter gestorben und das Haus leer war, ja, da packte ich sofort meine Koffer, da nahm ich Eva bei der Hand und zog hierher zurück. Es gab nie einen Zweifel, nicht von meiner Seite. Es war, wie wenn ein Eisenspan den Magneten sucht, ein Naturgesetz einfach, etwas Vorherbestimmtes – und deshalb sage ich, es war traurig. Hinter dieser rot gestrichenen Bretterverkleidung und diesen in die Jahre kommenden Baumstämmen habe ich als Kind gewohnt, haben meine Eltern gewohnt, meine Großeltern. Hier habe ich meine Wurzeln, und auf die Gefahr hin, albern zu wirken, muss ich gestehen, dass dieses Haus, wenn schon nicht der Nabel der Welt, dann doch der von Bengt Karlsson ist, der natürliche Mittelpunkt, und jetzt verriet es mich also, jetzt konnte ich ihm nicht mehr trauen, jetzt spuckte es mich aus, auf den Rasen, als wäre ich ungenießbar, unappetitlich. Oder besser gesagt: Spuckte ich mich selbst aus. Genau. Denn, Teufel nochmal, es saß nicht im Haus. Das bildete ich mir nur in schwachen 32
Stunden ein, wenn die Geräusche mich allzu müde und kaputtmachten, um richtig klar zu denken. Nein, zum Teufel, nicht im Haus und in den Wänden saß es – es saß in mir selbst, und es fiel mir schwer zu verstehen, wie es dazu kam und warum es überhaupt notwendig war. Ja, warum war ich so furchtbar verstockt? Warum hörte ich nicht auf mich selbst? Ich fand das sehr merkwürdig. Obwohl ich im tiefsten Inneren wusste, was da passierte, half es nichts. Die Einsicht in die Krankheit war nicht der Schritt zur Genesung, wie ich geglaubt und gehofft hatte. Auch wenn ich mir, mit einer gewissen Strenge, selbst sagte, dass ich vorhandene Geräusche einfach falsch deutete, hörte ich weiterhin, wovon ich wusste, dass ich es nicht hörte. Starrsinnig. Starrköpfig. Als wollte ich es hören. Als könnte ich es nicht lassen. Und vielleicht war ich kränker, als meine Einsicht zugestand. Urteilt selbst, denn dann passierte Folgendes: Am Freitagnachmittag fuhr ich zum Konsum zum Einkaufen. Nichts Besonderes, nur frisches Obst, ein paar Schweinskoteletts, Eier für einen Speckpfannkuchen, Chips, einen Sechserpack Bier, aber zusammen mit der Milch und der Sauermilch und der Margarine und ein paar kleinen Leckereien wurden dennoch zwei Plastiktüten voll, zwei Tüten, die ich, als ich nach Hause kam, aus der Garage schleppen musste und mit denen ich, eine in jeder Hand, an der Hausecke stand, als die Geräusche mich erreichten. Jemand saß da und webte. Durch die Fensterscheiben des Obergeschosses drang der dumpfe Doppelschlag des Schlagbaums. Zuerst schlug er an den einen Schaft. Donk. 33
Dann an den anderen. Donk. Und wartete ich eine Weile, kam das Geräusch wieder. Donk – donk. Durch das Seihtuch des Fensterglases. Donk – donk. Wie ein Hammer gegen die Schädelknochen. Ich ließ die Tüten los, kümmerte mich nicht darum, dass sie umkippten und dass Sachen herausfielen, kümmerte mich nicht einmal um die Eier. Nein, ich selbst war schon oben auf den Windfangstufen, machte die Tür auf, trat in die Diele. Dort waren die Geräusche noch deutlicher. Der Schlagbaum des Webstuhls knallte derart, dass die Wände zitterten, wieder und wieder, und zwischendurch rasselten die Pedale, wenn das Fach gewechselt wurde. Rasseln und Schlagen. Unverkennbar. Jenseits allen Zweifels. Ohne einen Gedanken zu verschwenden, lief ich die Treppe hinauf, nahm zwei Stufen auf einmal, bog auf dem Absatz um die Ecke, bog in der Diele um die Ecke und sah direkt in das Zimmer hinein, wo das Doppelbett und der Webstuhl stehen. Sah direkt auf den Webstuhl. Nichts Besonderes. In der kompakten Stille. Ich konnte es jetzt bald auswendig. Wie etwas, das ich schon gesehen hatte – schon gehört – schon gedacht. Nein, nichts Neues. Nur das Alte, Gewohnte und Verschwundene, das aus dem Nebel aufstieg wie ein Vampir, um alle Kraft aus mir zu saugen. Ohne Hoffnung guckte ich etwas genauer hin. Er ist groß und blau, der Webstuhl, ein paar hundert Jahre alt, die Füße in zwei Paar abgetragenen Tennisschuhen, damit er nicht rutscht, eine abgewetzte Sitzfläche, ein paar fertig gewebte 34
Teppiche aufgerollt auf dem Warenbaum, und ich dachte, ich sollte die Kette zerschneiden, auseinander nehmen das Ganze, verbrennen den Mist – aber was hätte das geholfen. Es war schon zu spät. Was ich gehört hatte, hatte ich schon gehört, und außerdem, wenn ich darüber nachdachte, was hatte eigentlich der Webstuhl mit der Sache zu tun? Er war ganz einfach nicht involviert. Weder er noch knackende Holzwände noch ein pfeifender Wind noch am Fensterblech kratzende Vögel. Nein, das hier war nicht die Fehlinterpretation eines Geräusches gewesen, das ich wirklich gehört hatte. Diese Theorie war überholt. Passé. Vorbei. Jetzt ging es einfach um nichts anderes als Wahnsinn. Dem Zimmer zugewandt, setzte ich mich auf die Bank, auf der so viele Hintern vor meinem gesessen hatten. Ich fühlte mich müde, und das hatte nichts mit dem Laufschritt die Treppe hinauf zu tun. Die Sonne im Rücken betrachtete ich die Muster der Schatten auf dem goldgelben Boden. Es war heiß, sicher dreißig Grad oder mehr, und ich hätte das Fenster aufmachen müssen, aber ich konnte nicht. Ich war zerschlagen, am Boden zerstört, und ich stellte keine Analysen mehr auf, keine Theorien, versuchte nichts mehr zu erklären. Nein, ich hing einfach da, schlaff wie eine ungegossene Topfpflanze in der Hitze. Wo ich saß, wusste ich, aber nicht mehr, wo ich stand. Ich war wie desorientiert, planlos treibend in meiner eigenen kleinen Welt aus Erfindungen und Halluzinationen – und warum? Warum quälte ich mich so? Das sah mir ja gar nicht ähnlich, tatsächlich eher Eva, eher einer Frau als einem Mann, wenn man es so sieht; also was trieb ich eigentlich die ganze Zeit? Warum war ich so verstockt? So jenseits aller gesunden Vernunft? »Verdammt nochmal!«, schrie ich geradeaus auf die Schornsteinmauer zu. »Verdammt! Verdammte Scheiße!« 35
Ich hämmerte mit den Fäusten auf die Sitzfläche. Ich hätte etwas kurz und klein schlagen können, hätte ich nur geglaubt, es helfe.
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TAG 6–11 SAMSTAG – DONNERSTAG Nach dem Webstuhl nichts Neues. Nicht ein Geräusch. Nicht den ganzen Abend, die ganze Nacht, den ganzen Morgen darauf. Vermutlich war es die reine Schocktherapie. Es war so weit gegangen, dass es nicht mehr weiterging. Doch, doch … Riss ich mich nicht zusammen, würde ich sie bald auch sehen, das spürte ich, das wusste ich beinah, und irgendwo gab es doch Grenzen. Insofern hatte die wilde Gehörhalluzination vom Freitagnachmittag auch ihr Gutes gehabt. Sie war ein Wecker gewesen. Nachher, als ich beim Abendessen mit Brechreiz über dem Ackerbeerauflauf hing (welch eine Verschwendung übrigens), ja, da war es leicht gewesen zu sehen, dass der Vorfall schlechterdings schrie: »Bis hierher und nicht weiter!«, dass er, koste es, was es wolle, zum Wendepunkt werden musste – und das wurde er auch. Erschüttert, aber gestärkt änderte ich am Samstag den Kurs. Die neue Strategie war einfach. Handeln – statt grübeln. Machen – statt nachdenken. Woher ich die Kraft hatte, weiß ich nicht. Schon seit Anfang der Woche hatte ich mir ja zugeredet, mich zusammenzunehmen und weiterzugehen und all das, aber erst jetzt schien die erforderliche Energie verfügbar. Ich schaffte es ganz einfach nicht mehr, mich mit nichts zu beschäftigen, schaffte es nicht, untätig von Zimmer zu Zimmer zu wandern und den Kopf hängen zu lassen, im Gartensessel dahinzuvegetieren, nicht mal fähig, den Sonnenschein oder die Sommerwärme zu genießen. 37
Nein, einfach raus an die Arbeit. Raus aus dem Kopf und der Lethargie. Und so nahm ich all das in Angriff, was während der letzten Wochen brachgelegen hatte, mähte ich den Rasen, jätete ich das Erdbeerbeet, das Himbeerbeet und die Rabatten, wusch ich das Auto, putzte ich das Haus. Zwischendurch ging es richtig gut. Manchmal ertappte ich mich sogar bei einem leisen Pfeifen, als ich da beim Unkraut kniete, ein Mann, der sein wahres Element gefunden hat, Erde, mit den Händen in der Erde, aber nur ein einziger verirrter Gedanke, schon schlug es um. Das war alles, was nötig war. Dann wurden die Glieder plötzlich zu Bleigewichten. Der Mut sank und die Laune ebenso. Dann erforderte die kleinste Aufgabe Selbstüberwindung, wurde die geringste Kleinigkeit zu einer Kraftprobe, und das Putzen war das Schlimmste. Es ist leicht zu verstehen, warum. Das Putzen war etwas, das wir zwischen uns aufgeteilt hatten, eine Art Vertrag, der ganz und gar von selbst zustande gekommen war. Ja, Eva wischte Staub und machte die kleineren Arbeiten, und ich saugte Staub und wischte die Böden. Die Teppiche und die Bettdecken reinigten wir gemeinsam. Wir hielten jeder seine Kante vom Teppich oder von der Decke fest, schüttelten acht Mal, drehten den Braten um und schüttelten dann weitere achtmal. Wir mussten nie laut zählen und wendeten immer in dieselbe Richtung, so dass wir nur einen Augenblick brauchten, zusammengekoppelt wie ein Pferdegespann. Gezwungen zu sein, alles allein zu machen, war daher in mehr als einer Hinsicht schwierig. In Evas Schuhe zu schlüpfen, ihre Aufgaben zu übernehmen, dazu überzugehen, den Staub aus den Teppichen zu klopfen – jede Umstellung war eine Erinnerung an das Frühere, ein Stich, ein Gefühl des Absackens im Zwerchfell, aber ich riss mich zusammen. 38
Neue Gewohnheiten sind wie Kuckuckseier. Sie verschaffen sich Platz und drängen hinaus, und das war es, worauf ich mich verließ. Machte ich es nur ein paar Mal, würde das Neue zum Alltag, dann würden die Erinnerungen nach und nach verschwinden. So funktioniert das schließlich. Mit der Zeit würde Eva verblassen und sich in Luft auflösen wie ein Gespenst bei Sonnenaufgang, dachte ich. Es galt nur, reinen Tisch zu machen. Nur. Ja, du liebe Zeit. So kann es gehen. Neue Gewohnheiten. Neue Routinen. Ein neues Leben. Ein neues Leben, da das alte unerbittlich zu Ende gegangen war. Daran musste ich mich gewöhnen. Das tun, was getan werden konnte, und den Rest akzeptieren. Genau. Reinen Tisch machen, und so nahm ich am Montag meinen ganzen Mut zusammen und räumte all ihre Sachen weg. Auf dem Dachboden hatte seit langem ein Stapel zusammengelegter Pappkartons gelegen. Jetzt faltete ich sie wieder auseinander, klebte sie mit breitem, braunem Klebeband zusammen. Sie waren groß und etwas weich durch die Feuchtigkeit. »Hygieneunterlagen« stand darauf, »Geriatrieartikel«, Schachteln, die Eva von der Arbeit mit nach Hause gebracht hatte. In dem Punkt waren wir praktisch gleich. Alle beide waren wir Eichhörnchen, gewohnheitsmäßige Sammler und Aufbewahrer. Alles Mögliche horteten wir: Konsum-Tüten, zerschlissene Betttücher, allerlei Schrauben und Muttern, große Stücke Plastikfolie, Kartons. Ding für Ding in Erwartung des magischen Augenblicks, da entfernt geahnte und offenbar 39
wirkliche Bedürfnisse sich plötzlich decken, falls sie das jemals tun. Ja, wir waren zwei Menschen in vier Zimmern und Küche, mit Holzschuppen und Doppelgarage und hatten nicht einen ungenutzten Winkel. Kein Wunder, dass die Kleiderschränke aus allen Nähten platzten. Kein Wunder, dass ich in einem Meer aus Jeans und Jacken, Strümpfen und Unterwäsche stecken blieb. Bestimmte Kleidungsstücke hatte ich seit Jahr und Tag nicht mehr getragen gesehen. Andere waren mir wesentlich vertrauter, wie die rot geblümte Seidenbluse, ihr Lieblingsstück, die sie immer am Heiligabend trug, und jetzt hing sie da am Kleiderbügel wie ein trauernder Hund, ohne Frauchen, elend, mit traurigen Augen. Ich konnte sie nur mit Mühe und Not anfassen, aber ich zwang mich, zwang mich dazu, alle Kleidungsstücke anzufassen, eines nach dem anderen. Langsam und mit masochistischer Sorgfalt legte ich sie in die Kartons, leerte ich die Kleiderschränke, das Regal in der Diele, das Aktenschränkchen, die Schreibtischschubladen, den Badezimmerschrank, ja, alle Winkel und Ecken, die mir einfielen. Alles, was von ihr war, sollte weg, wollte ich loswerden. So im Nachhinein ist es wohl offenkundig, dass meine Handlungsweise nicht völlig rational war, dass sie vielleicht sogar als übereilt betrachtet werden könnte. Es war ja noch viel zu früh. Natürlich hätte ich die Sachen lassen sollen, wo sie waren, aber es ging einfach nicht. Ich hielt es nicht aus, all das um mich zu haben, immer daran zu denken, damit umgehen, darin wühlen und graben zu müssen – und so kam es, wie es kommen musste. Das Hochzeitsfoto auf dem Bücherregal ließ ich allerdings stehen. Das wagte ich nicht anzurühren, als wäre das totale Auslöschen noch erschreckender als die ständige Erinnerung, aber sonst flog alles raus, raus in die hinterste, dunkelste Ecke 40
der Garage, die hinterste, dunkelste Ecke meines Bewusstseins. Und wie gesagt: Mein Vorgehen war eben nicht völlig rational. Bei reiflicher Überlegung ist es wohl eher als intuitiv und uralt zu betrachten. Gab es ihre Sachen nicht, dann gab es sie nicht (oder das Sie-Vermissen) – so, glaubte ich wohl, funktioniere der Zaubertrick, so bediente ich mich eines magischen Denkens, ohne mir dessen wirklich bewusst zu sein. Im Grunde ist es ziemlich lustig. In gewisser Weise war das ja ein vager Vorgeschmack auf das, was kommen sollte, nicht wahr? Als wäre ich schon da, wider jede Vernunft, bereit gewesen zu glauben, dass es eine Verbindung zwischen Menschen und leblosen Dingen gibt, eine Art Berührung durch Assoziation (auf die gleiche Weise, wie wenn eine empörte Frau die Unterhosen ihres untreuen Mannes zerschneidet) – und vielleicht funktionierte er trotz allem, mit etwas Hilfe von der vergehenden Zeit natürlich, denn die Geräusche kamen nicht zurück. Als der Gefrierschrank anging, nachdem er eine Weile aus gewesen war, hörte ich jetzt nur den Gefrierschrank angehen und nichts anderes. Als das Geschirr in der Ablage plötzlich ein bisschen verrutschte, hörte ich das Geschirr verrutschen. Nichts Ungewöhnlicheres, als wäre das Gehirn wieder normal, als wäre das Schlagen des Webstuhls trotz allem der Höhepunkt gewesen, der Fiebergipfel vor der Genesung – und das Vermissen, das ließ auch nach. Langsam begann das große Doppelbett zu schrumpfen. Obwohl ich noch immer auf der linken Seite schlief, schob ich mich Stück für Stück auf die Mitte zu, und auch der vorher so öde Frühstückstisch wirkte nach ein paar Tagen kleiner, immer überwindbarer, wenn ich nur die Morgenzeitung ordentlich ausbreitete und das Radio anmachte. Und so füllte ich die entstandenen Lücken. So verstopfte ich sie, eine nach der anderen, indem ich mich 41
ganz einfach selbst ausbreitete. Ich weiß nicht, ob ihr das irgendwann versucht habt, aber es hat seine Vorteile, sich selbst genug zu sein, nicht fragen zu müssen, nicht beobachtet und beurteilt zu werden. Es gibt eine gewisse Freiheit, und ich glaube, es war genau diese Freiheit, genau dieser extrakleine Spielraum, der bewirkte, dass ich mich allmählich entspannte, der mich dieses Andere abschalten, das Kabel rausziehen und stattdessen das beinah unnormal schöne Wetter genießen ließ. Denn schön war es. Jeden Tag wartete ich darauf, dass es wieder anfangen würde zu regnen, und jeden Tag schien weiter die Sonne, heiß und fern und weiß. Es war die reine Mittelmeerhitze. Wie wenn man in Urlaub fährt. Ein blauer, blauer Himmel mit leicht zu zählenden Wolken. Flirrender Hitzedunst. Beginnende Träume von Schatten und Eis und gut gekühlten Getränken. Mich dauernd zu beschäftigen war immer weniger wichtig. Als es allzu heiß wurde, legte ich mich mit einem Kissen in den Schatten unter die großen Birken oder setzte mich einfach auf den Steg, die Augen geschlossen und das Gesicht dem Himmel und dem Licht zugewandt wie ein sehnsuchtsvolles Heliotrop. Meine Gedanken durften frei herumschweifen, ungebunden, als ich merkte, dass sie sich tatsächlich anderem zuwenden konnten, und peu à peu fing ich an, Dinge wieder aus dem alten, gewöhnlichen Grund in Angriff zu nehmen: weil sie gemacht werden mussten, weil ich sie machen wollte, und nicht als ein Glied in einer Art mentaler Zerstreutheit, einer törichten Form von Ausweichmanöver vor mir selbst. Eigentlich arbeite ich gern, wenn ich nur selbst bestimmen darf, wann und was. So sind wir wohl alle, nehme ich an. Faulenzen ist schon angenehm, aber ab und zu muss man etwas tun, was auch immer, nur so zwischendurch, um sich tüchtig und nützlich zu fühlen und um ein bisschen Rastlosigkeit abzubauen, 42
und so fand ich am Donnerstagvormittag, es wäre an der Zeit, wieder den Rasenmäher rauszuholen. Der hat zwar Motorantrieb, fährt aber nicht von selbst, und das Grundstück ist groß. Ich musste um das Haus herum mähen, vor der Garage und an dem Grasfleck, wo früher eine Fahnenstange gestanden hatte. Ich musste den Bereich zwischen Hof und Holzschuppen angehen, wo die Gartenmöbel stehen, unter den Birken mähen, obwohl da meist Moos wächst, um das Erdbeerund Himbeerbeet herum, um die Apfelbäume und Johannisbeersträucher. Das ist eine richtige Plackerei, war eine richtige Plackerei da in der Sonne. Der Boden ist alles andere als eben. Ständig fuhr ich in Löcher, blieb ich in großen Erdschollen stecken, und der Weg runter zum See war so anstrengend wie immer. Ja, runter ging es natürlich gut, aber rauf, da musste ich den Rasenmäher hinter mir herschleppen, durfte ihn ziehen, als wäre ich ein Ochse oder ein Ardenner. Ich war richtig außer Atem und richtig zufrieden. Wie gesagt, ich mag arbeiten, tüchtig zupacken, spüren, dass ich etwas mache, die Körperkräfte einsetzen, aber nicht zum Joggen oder für ein Krafttraining oder solchen Quatsch. Nein, was ich mag, ist, richtige, ordentliche Dinge zu tun, solche, die getan werden müssen, die ein Ergebnis zur Folge haben, Dinge, die nicht nur Marotten und Zeitvertreib sind. Da stand ich also im tadellos frisch gemähten Hof und sah mich um, zufrieden lächelnd. Der Schweiß unter den Armen floss an mir herunter zum schon durchnässten Bund der Shorts, und Schweißtropfen schimmerten in den gekräuselten Haaren auf meiner Brust. Ich wischte die feuchten Handflächen am Hosenboden ab, hob einen Oberarm an die Nase, schnüffelte. Ich stank ganz und gar, stank nach Sommer und Anstrengung, stank nach Schweiß in der Sonne, ein Geruch, der mich an die Kindheit erinnerte und mich glücklich machte. 43
Vielleicht entstand so die Idee, aus den uralten Erinnerungen, die mich plötzlich überkamen: Bilder, Düfte, Bewegungen – und erfüllt von einer nahezu fremdartigen Heiterkeit, zog ich die vom Rasenmähen verdreckten Schuhe und Strümpfe aus und trabte barfuß hinunter zum See. An den rostigen Warmwasserboiler gelehnt, schälte ich mich aus Shorts und Unterhose, tapste ich vorsichtig über die aus alten Ziegelsteinen zusammengesetzte Treppe ins Wasser hinein. Zuerst war es ein bisschen steinig, aber dann versanken die Füße in dem weichen, schlammigen Boden. Mit ausgestreckten Armen, der Balance wegen, watete ich entlang der Brücke weiter. Der Schlamm war wie Erdbeercreme zwischen den Zehen, schwammige, schmutzig braune Wolken stiegen an den Waden hoch, breiteten sich kreisförmig um mich aus, und das Wasser war kühl auf der erwärmten Haut. Langsam stieg mir das Wasser bis über die Knie, den halben Oberschenkel, fast den ganzen – da trat ich plötzlich in ein Loch, taumelte und tauchte unfreiwillig mein Geschlecht unter. Stumm vor Schreck zogen sich die Eier in der Kälte zusammen, versuchten sich ganz und gar in dem schützenden Körper und der Wärme einzugraben, und es war beinah so, als könnte ich vor mir sehen, wie sich auch die weißen Arschbacken zu einer säuerlichen, missbilligende Miene verzogen. Eine Weile stand ich still da und holte tief Luft, aber dann lachte ich laut, frei heraus. Nackt in dem erfrischenden, schlammigen Wasser stehend, unter mir altes Schilfrohr, das in die Fußsohlen stach, und mit dem Pimmel, der wie ein missgelaunter, krummer kleiner Finger dahing, war ich verrückt und frei. Ein Wilder. Ein Naturkind. Klar fühlte ich mich prächtig, wie ich dastand, eingetaucht in 44
den See, bleich und breitbrüstig, zur Hälfte ein Zornsches Dalarna-Mädchen, zur Hälfte ein badender Kitschelch im Morgennebel. Entschlossen warf ich mich nach vorne, platschte ungeschickt durch den Vorhang aus lästigem Schilfrohr und Seerosenblättern, schwamm hinaus ins offene Wasser. Die Schwimmzüge wurden rhythmisch und ruhig. Es fühlte sich gut an. Der ganze Körper holte aus, Arme und Beine zogen große, schnell verschwindende Kreise, und ein wohl bekannter, aber seit langem vergessener Geruch stieg, vorbei an den geschlossenen Lippen, in die aufgesperrten Nasenlöcher auf: Eisen, Schlamm, etwas Saures, Sumpfbodenartiges. Ich machte Halt und trat Wasser. Ich blieb in »meinem« Teil des Sees, unsichtbar für das Dorf, zwischen den steilen, grünen Hängen. Es war herrlich, aber auch erschreckend. Ich konnte spüren, wie sich unter mir die Tiefe auftat, kälter und dunkler da unten unter meinen hellen, zappelnden Beinen, weniger sicher und sehr viel unbekannter. Vorsichtig rollte ich mich auf den Rücken und ließ mich treiben. Ich lag da mit weit ausgestreckten Armen und Beinen, so wie Kinder Schneeengel zeichnen, und der Himmel darüber war so blau, so blau, so blau … Meine Gedanken glitten dahin, ohne bei irgendetwas hängen zu bleiben. Ich hätte einschlafen können. Hätte auf ewig treiben können, da, über der unsichtbaren Tiefe, wie Sahne auf magerer, blauer Milch. Auf ewig darüber treiben … Aber das tat ich natürlich nicht. Langsam wurde es trotz allem ein wenig kalt, und ich schwamm auf das Land zu. Ich schwamm so weit ich konnte, bis ich mit den Händen an den Boden reichte. Dann stand ich auf und schlich vorsichtig hoch zur Brücke, vorsichtig, um nicht so stark im Schlamm zu 45
wühlen. Am Ufer entlang verläuft ein Gürtel aus Bäumen und Gebüsch, deshalb lag der Großteil der Brücke im Schatten, aber ganz außen, da war immer noch Sonne, und da legte ich mich der Länge nach auf das imprägnierte Holz, um mich zu trocknen. Es war natürlich etwas hart. Obwohl ich die Hände unter den Kopf gelegt hatte, war es nur so halbwegs bequem, und obwohl ich mich, so gut ich konnte, abgespült hatte, spürte ich, dass noch ein bisschen Schlamm zwischen den Zehen war. Es war wie damals, als ich klein war: die Sonne, die Gänsehaut, die Brücke und das braun wirbelnde Wasser. Damals badete ich immerzu. Der geringste Anflug von Sommer, und ich war drin, das geringste Anzeichen von Wärme, und ich platschte durch den Schlamm, um dann auf meiner blauroten Luftmatratze herumzuschwimmen, darauf liegend, rittlings darauf sitzend, paddelnd, plantschend, Seerosen pflückend, wenn die Saison war. Raus kam ich nicht, ehe meine Lippen blau waren und mir die Zähne klapperten, und dann hüllte mich meine Mutter in ein großes Badelaken, rieb meinen schlotternden Körper trocken, gab mir bei den Gartenmöbeln sonnenwarmen Apfelsinensaft. Eigentlich komisch, was so hängen bleibt. Ich kann diese Möbel immer noch vor mir sehen: zwei Stühle, eine Bank, ein Tisch – alle zusammenklappbar mit irgendeinem einfachen Klappmechanismus. Alle gerade und vertraut einfach. Weiß gestrichen, aber abblätternd. Immer abblätternd, Jahr um Jahr, aber nie so, dass die Farbe ganz verschwand, als wäre der Zustand beherrschten Verfalls permanent und absichtlich. Aber vielleicht erinnere ich mich falsch. Irgendwann müssen die Möbel ja neu gestrichen worden und irgendwann müssen sie ganz und gar verschwunden sein. Ich weiß es einfach nicht mehr, und vielleicht habe ich auch etwas vergessen, wenn ich 46
jetzt meine, es war eine herrliche Zeit, diese Kindheitsjahre, das Baden, eine ungehemmte Zeit, sorglos. Eine Zeit, noch nicht gebunden, abgestempelt, ausgeschlachtet. Jetzt bade ich nicht mehr. Als ich mich an diesem Donnerstag so überraschend darauf eingelassen hatte, war es das erste Mal seit mehreren Jahren. Na ja, klar gehe ich öfter runter zum See und spüle mich ab, nehme vielleicht einen Eimer mit oder setze mich auf die Kante der Brücke und kühle mir die Füße, aber baden … Schwimmen … Ausholen … Nein. Das ist mir zu mühsam. Zu kalt, zu nass. Und der Boden ist ja wirklich nicht besonders einladend, überzogen, wie er ist, mit Schmiere, grauem Schlamm und Pflanzenresten und solchem Zeug. Eva mochte das überhaupt nicht. Ja, am Anfang versuchte sie es schon, sicher. Stadtmensch oder nicht, sie legte sich einen ganz eigenen Stil zu. Zuerst watete sie mit Holzschuhen an den Füßen so weit, bis man schwimmen konnte, streifte sie ab, schwamm eine Weile, und dann kehrte sie um zu den auf dem Wasser treibenden Schuhen, zog sie unter der Wasseroberfläche an die Füße und watete wieder an Land – aber es war schon etwas ungeschickt. Das Wasser war ja trotzdem trübe, und wenn sie den Badeanzug auszog, klebte da immer alles mögliche Zeug auf ihrer blassen, nassen Haut (ekelhafter Kram, fand sie), und so gab sie es nach und nach auf. Dafür fingen wir an, zum Meer rauszufahren, wenn es sonnig und warm war, an eine abgelegene und ruhige Stelle, aber klar, so viel haben wir da wohl auch nicht gebadet. Meistens lagen wir nur im Sand oder auf den Klippen und sonnten uns und vertilgten unseren mitgebrachten Proviant: Kaffee und Hefeschnecken, Orangensaft, Semmeln mit geräuchertem Schinken und Eisbergsalat und Prinzenrolle mit halb geschmolzener, verschmierter Schokolade. 47
Auch das sind süße Erinnerungen, und natürlich kann man sich fragen … Als ich da mit geschlossenen Augen auf der Brücke lag und in der lauen, kaum spürbaren Brise alles, was ich hatte, auslüftete – fühlte ich mich da nicht einsam? Vermisste ich nicht jemanden da neben mir in der Sonne? Jemanden, mit dem ich reden und einen Keks teilen konnte? Ja. Doch. Natürlich. Wenn auch nicht gerade in diesem Augenblick, so fühlte ich mich doch manchmal einsam, hin und wieder, ab und zu, vor allem in den Situationen, wo ich daran gewöhnt war, jemanden bei mir zu haben, aber um die Wahrheit zu sagen, ich kam unverschämt gut auf eigene Faust klar. Ja, erstaunt musste ich zugeben, dass ich fast erschreckend gut zurechtkam. Zum ersten Mal seit acht Jahren lebte ich wieder ein Junggesellenleben. Fast noch zwei Wochen Ferien. Flexible Zeiten und einfaches Essen. Wenig müssen und lange, träge Spaziergänge. Zunehmende Neigung zum Faulenzen. Hin und wieder fuhr ich die fünf Kilometer durch den Wald zum Konsum zum Einkaufen, und da wechselte ich wohl ein paar alltägliche, nichts sagende Worte mit den Kassiererinnen, aber ansonsten traf ich keine Seele. Der Hof liegt einsam hier auf dem Hügel am See. Das Dorf selbst findet man erst ein paar Kilometer die Straße hinauf, und Nachbarn und Bekannte hielten sich fern. Vermutlich wussten sie nicht, wie sie sich mir nähern, was sie sagen sollten, und dafür war ich wirklich nur dankbar. Auch ich hätte es schwer gehabt, die Worte zu finden, die richtigen Gefühle, die richtigen Gesten. Dazu ging es mir allmählich viel zu gut.
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TAG 12 FREITAG Strahlender Sonnenschein. Leicht auflebende Brise aus Nordost. Schwiegereltern aus Süden. Doch sie kamen nicht unangemeldet. Die Sache war so: Während der vergangenen anstrengenden zehn Tage hatte sich das Telefon ab und zu bemerkbar gemacht. Ja, zum einen hatten die Lokalzeitungen angerufen (alle beide, beinah gleichzeitig), um sich auf den neuesten Stand zu bringen, mit einer Resolutheit, die sie nicht zu verbergen vermochten, und als dann auch dieser Polizist noch durchläutete … Na ja, er machte ja im Grunde nur seinen Job, oder, wie er selbst es ausdrückte: Er wollte mir nur versichern, dass die Suche tatsächlich weiterging, dass sie sie trotz der Misserfolge nicht ganz aufgegeben hatten – und ich höre immer noch, wie merkwürdig seine Stimme klang, als er es sagte. Nicht aufgeben, betonte er, und zu entscheiden, ob die Information als Drohung oder als Aufmunterung gedacht war, war ich wirklich nicht der Mann. Vielleicht war es einfach die Frustration, die durchschien. Ich meine, er konnte ja trotz allem nur die gleichen alten Fragen stellen, und ich hatte nur die gleichen alten Antworten. Da gab es nichts Neues, nichts zu greifen, und wenn er dann die Hilflosigkeit umschlagen ließ in einen Hauch von Aggressivität …? Was machte das schon? Nichts. Es machte mir fast nichts aus, als wäre ich irgendwie über all das hinweggekommen, aber Edna … über Edna war ich noch immer nicht hinweg. Ja, als die Stimme meiner Schwiegermutter auf diese selbstverständliche und unbegreifliche Weise zu mir drang, wie 49
das am Telefon immer so ist, fünfzig, sechzig Kilometer durch dünne, verschlungene Leitungen, da durchfuhr mich plötzlich ein Gefühl von Unlust – klar … Eigentlich war das ja gar nichts Besonderes. Es war ja wie mit den Zeitungen oder dem Polizisten. Ab und zu musste ich doch von ihnen hören, nicht wahr? So ist das einfach, das weiß ich, das wusste ich, und dennoch bekam ich eine Gänsehaut auf den Unterarmen, als sie anfing mit mir zu reden, als sie sagte: »Hallo, Bengt« und »Was für ein Wetter wir haben« und »Wie geht es dir eigentlich?« Nun ja, das hier passierte am Freitagabend (ihr wisst schon, an diesem elenden Webstuhlgeräuschtag), das heißt, so gut ging es mir wohl nicht, und das sagte ich dann auch. Ginge ein bisschen am Stock, erklärte ich wahrheitsgemäß. Hätte ein bisschen schlecht geschlafen. Und als sie dann weiterfragte, ob ich etwas gehört hätte … Gehört? Mein Gott. Es war beinah komisch, im galgenhumoristischen Sinne. Etwas gehört?, hatte sie gesagt. Über Eva? Von Eva? Ja, sicher, dauernd hatte ich etwas gehört, dieses und jenes, wie sie auf der Treppe erschien, wie sie Türen aufmachte, wie sie sogar webte. Ja, sogar das – aber das sagte ich natürlich nicht. Das war es ja nicht, was Edna gemeint hatte. Was sie wissen wollte, war ja ganz natürlich: ob etwas Besonderes passiert, ob die Polizei auf irgendetwas Neues gestoßen war oder so – und das Gleiche war es die Woche darauf, am Mittwoch, als sie zum zweiten Mal anrief. Zuerst fragte sie, wie es mir gehe, und ich sagte: Ja, ja. Hm, hm. So einigermaßen. Und dann fragte sie wieder, ob ich etwas gehört habe, und wieder hielt ich mich bedauernd an die 50
Wahrheit, in dem Glauben, dass es dabei bleiben würde wie beim letzten Mal. Dass diese Gespräche eine Routine annehmen könnten, ein gewohntes Muster, das mir helfen würde, sie zu überstehen, doch das war nicht der Fall. Zumindest diesmal nicht. Nein, entgegen meinen Erwartungen (und meinem Willen) hatte sie wissen wollen, ob sie herüberkommen dürften, mich besuchen, um mich etwas zu fragen, wie sie mit entsetzlicher Unbestimmtheit sagte, und natürlich hatte ich ihnen das nicht verweigern können. Ich meine, wie hätte das gehen sollen? Was hätte ich sagen sollen? Kommt nicht her – bleibt weg – ich will euch hier nicht sehen? Nein, Wahrheit oder nicht … Es gibt eine Grenze, an der (wenn auch noch so geringfügig) die Lüge anfangen muss, wo die Aufrichtigkeit sich der Realität beugen muss. Gebt ihr mir nicht Recht? Ist das nicht immer so? Und so sagte ich »Klar« und »Natürlich könnt ihr kommen«. Und so waren sie absolut nicht unangemeldet, als sie an diesem Freitagvormittag auftauchten, absolut nicht unerwartet, warum fühlte ich mich also so unvorbereitet? Warum wünschte ich mich anderswohin? Und so heftig! … Lasst mich erzählen, wie die Dinge lagen …
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II EIN UNGLÜCK KOMMT SELTEN ALLEIN
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5 Als die Schwiegereltern eintraten, befand er sich in der Küche. Er hatte gerade gefrühstückt und spülte am Spülbecken den Sauermilchteller, als er das Klopfen hörte, dicht gefolgt vom Geräusch der Haustür, die geöffnet wurde, und natürlich ging er hinaus in die Diele, um sie zu empfangen. Edna hatte wie immer die Spitze übernommen. Schlaksig und dürr und überwältigend kam sie über den Dielenteppich auf ihn zu. Lächelnd. Das gelblich weiße Haar aufgesteckt. Das geblümte Kleid um die dünnen Beine schlotternd. Hilflos wischte er seine Hände am Hosenboden ab. Er musste sie nur sehen, um sich sofort anderswohin zu wünschen, um es sich sofort zu wünschen, und zwar heiß. Von all den Menschen, die sich ihm in dieser ersten chaotischen Woche aufgedrängt hatten, waren diese beiden die Einzigen, die ihn so weit gebracht hatten, dass ihm richtig unangenehm zumute war. Alle anderen waren nur Insekten gewesen, ein wimmelndes, wuselndes Durcheinander, scheußliches Kleingetier ohne Gesicht oder Bedeutung und vor allem ohne Anlass, aber diese beiden … Und die ganze Zeit hatten sie versucht, ihn zu trösten. Ihn zu trösten. Genau das machte es so schwer, dass sie sich gleich von Anfang an, als sie atemlos, blass und ernst angefahren kamen, um ihn Sorgen gemacht hatten. Gefragt hatten, wie es ihm gehe, wie er zurechtkomme. Du lieber Gott. Diese starken, untadeligen Menschen, dachte er. Bis ins Mark wohlmeinend. Bis ins Mark unwissend. Irregeführt.
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Mit, wie er wusste, aufrichtigem Interesse fragte Edna, wie es ihm gehe, und tätschelte ihm freundlich die Wange. Sie hatte diese phantastisch weiche und schlaffe Haut, die nur alte Leute besitzen, und vom Handgelenk ging wie immer ein gesättigter, etwas scharfer Duft aus, der möglicherweise körpereigen, möglicherweise das Resultat einer ungewöhnlichen Seife war. Es war schwer, mit Sicherheit zu entscheiden, was von beiden, und im Grunde wollte er es nicht wissen. Die Berührung war schwer genug, wie sie war – der Geruch, die schlaffe Haut, das Gewissen. Er zuckte beinah zurück, murmelte: »Doch, doch, gut, gut«, aber zum Teufel, gut war es nicht. Er spürte, wie wieder das Unbehagen gekrochen kam, und das mochte er nicht, schätzte es nicht, wie er in dieser Gesellschaft auf das reduziert wurde, was zu verdrängen ihm ansonsten gelungen war: was er wirklich war. Obwohl, das war ja trotz allem zu erwarten gewesen. Ob er sich nun vorbereitet fühlte oder nicht, hatte er doch zumindest die Chance gehabt, sich zu verhärten und zu stählen. Schlimmer war das wirklich Unerwartete, das, was noch draußen auf den Stufen verharrte und das er erst gewahr wurde, als er sich an Edna vorbei bückte, um auch Konrad die Hand zu geben. Halb blind linste er durch die noch offene Haustür, misstrauisch, maulwurfartig, ja, und da stand doch jemand, jemand, von dem er nicht wusste, wer das war, und das machte Angst. Das Unerwartete. Das Unwillkommene und noch nicht Identifizierte. Womöglich war es das Gegenlicht oder sein Erstaunen, aber für einen Augenblick kam es ihm vor, als schwebte die Frau wie ein UFO, etwas Fremdes, Außerirdisches, bis Konrad sie zu sich winkte und sie wie jeder beliebige Mensch über die Schwelle trat, in die Diele, in sein Leben. 54
Sie fanden gerade so miteinander Platz: vier Menschen zwischen vier blau geblümten Wänden. Es waren drei zu viel. An die Einsamkeit gewöhnt, von ihr abhängig, fühlte er sich bedrängt, direkt übermannt, und als er sich rückwärts ins Wohnzimmer zurückzog, die anderen allein durch das Tempo hereinbittend, war er ein Mann auf dem offenen Rückzug. Nicht nur, dass er zahlenmäßig unterlegen war, auch die Tatsache, dass die fremde Frau nur ihm fremd war, schwächte seine Position, und zunächst begriff er überhaupt nichts. Er erfuhr, dass sie Sonja hieß. So weit kam Edna, bevor sie sich in einer langatmigen Erklärung darüber verlor, wie sie mit ihr in Kontakt gekommen waren. Bekannte einer Bekannten, sagte die Schwiegermutter. Einer Jonsson aus Soundso und einer Berglund aus Daundda. Er bekam nicht alles mit, es interessierte ihn wenig. »… und vielleicht kann sie dabei helfen, Eva zu finden«, beendete sie die Suada. Eva zu finden? Hier horchte er auf. Wie ein Hund, der seinen Namen gehört hat. Eva zu finden, tatsächlich? Seine Augen wurden eine Spur schmaler. Natürlich wusste Edna nichts davon, aber ihre Worte ließen seinen Selbsterhaltungstrieb die Nackenhaare aufrichten, und er betrachtete mit neuer Aufmerksamkeit die unbekannte Frau. Sie war noch recht jung. Irgendwo um die fünfundzwanzig vielleicht, mit ungewöhnlich schweren, schläfrigen Augenlidern und sehr, sehr hellen Augen, darüber hinaus war absolut nichts Bemerkenswertes an ihr. Sie hatte eigentlich etwas von einem Pferd, fand er, mit länglicher Nase und breitem Mund. Einfach alltäglich. Weder bedrohlich noch besonders Angst einflößend – und als er dann hörte, dass sie normalerweise Hunde suchte … 55
Er runzelte die Stirn. »Hunde?«, fragte er zweifelnd. Die Unbekannte nickte ernst. Die großen, dauergewellten Locken wippten. »Und wie findest du die?« »Ich finde sie nicht.« Ihre Stimme war erstaunlich tief, erstaunlich ausdruckslos. »Nicht?« »Die Besitzer finden sie. Ich sehe sie nur.« »Siehst sie?« Er war sich bewusst, dass er ihre Worte wiederholte wie ein Papagei, dass er alle dummen Fragen stellte, eine nach der anderen, aber er war dumm. Nicht einen Augenblick begriff er, wovon sie redete, und sein Gesicht zeigte das deutlich. Die Frau lächelte nachsichtig, als wäre sie es gewohnt. »Es ist so«, erklärte sie geduldig. »Wenn ein Jagdhund wegläuft, und die laufen ja ständig weg, ja, dann kommt es vor, dass ich helfe. Wenn ich nur etwas in die Hand nehmen kann, was mit dem Hund in Kontakt war, wie eine Leine zum Beispiel oder im Grunde egal was, dann sehe ich den Hund. Vor meinem inneren Auge sozusagen, wie im Traum. Verstehst du? Oder wie in der Erinnerung.« Sie sprach langsam und deutlich, etwas lehrerinnenhaft, und sie schien aufrichtig daran interessiert zu sein, dass er verstand. »Ich weiß absolut nicht, wo der ist, der Hund, meine ich«, verdeutlichte sie, »aber manchmal ist er an einer Straße oder einem Fluss oder irgendwo, in einer alten Scheune, auf einer Lichtung im Wald, an irgendeiner Stelle, die die Besitzer wieder erkennen, wenn ich sie ihnen beschreibe, und dann fahren sie hin und suchen. Aber manchmal sehe ich natürlich nur eine Menge Fichten, und dann ist es zwecklos. Dann kann ich nicht helfen.« 56
Sie verstummte, guckte ihn aber weiter an, ein bisschen forschend, durchaus nicht unfreundlich, aber vielleicht etwas zurückhaltend, und er guckte mit der gleichen Miene zurück – bis schließlich der Groschen bei ihm fiel. Nicht dass er nicht gehört hatte, was sie sagte. Taub war er nicht, aber die Erklärung wollte ihm gewissermaßen nicht in den Kopf, erschien ihm weder fassbar noch zusammenhängend, und wären die letzten beiden Sätze nicht gewesen, hätte die Einsicht vermutlich noch länger gebraucht. »… dann ist es zwecklos«, hatte sie gesagt. »Dann kann ich nicht helfen.« Und irgendwo in der Ferne ließen genau diese Worte eine Glocke klingeln. Durch irgendeine komische Assoziation, tief aus einer gekrümmten, kleinen, grauen Windung klaubte sein Hirn diese fette, humorlose Frau hervor, die einmal in einer Fernsehsendung nach verlegten Schlüsseln und verlorenen Trauringen gesucht hatte. Was war es nochmal, was die immer gesagt hatte?, dachte er. »Den hat jemand gestohlen. Den kriegst du nie zurück.« Ja, genau so. Das war es, was die Frau immer gesagt hatte, und war es nicht ein bisschen ähnlich? Dann ist es zwecklos – den kriegst du nie zurück. Nie zurück – zwecklos. Ja, klar war es ähnlich, und obwohl ihm die Schlussfolgerung mehr als unglaublich erschien, zog er sie. »Du meinst«, sagte er ungläubig, »du bist hellseherisch?« Wieder nickte die Frau ernst. »Es gibt Leute, die nennen es so, ja.« Hellseherisch? Er kaute wieder an dem Wort, kaute, es blieb ihm im Hals stecken, und er brach fast in Lachen aus. Im Fernsehen vielleicht, dachte er, und in Büchern, als Unterhaltung an 57
dunklen Herbst- und Winterabenden, aber nicht hier. Nicht hier im Wohnzimmer, umgeben von wohl bekannten, gewohnten Dingen, von der Sonne, die fröhlich an die Fensterscheiben klopfte. Nein, hier nicht. Nicht für einen Augenblick. Und die Schwiegereltern? Er sah sie, wie er sie nie zuvor gesehen hatte. Da saßen sie nebeneinander auf der deckenüberzogenen Couch. Groß, schmal und runzlig. Abgezehrt wie abgenagte Apfelgrutzen – und was dachten sie? Konrad, der seine Hände musterte. Edna, deren Augen von etwas leuchteten, das er für neu entflammte Hoffnung hielt. Vielleicht waren sie verrückt geworden. Vielleicht hatten sie die Dinge nicht mehr im Griff. Anzukommen mit einer Seherin, einem völlig oder halb verrückten Frauenzimmer, einem Scharlatan vermutlich. Er konnte nicht anders als staunen. Ja, was dachten sie sich eigentlich?, fragte er sich. Was, glaubten sie, könnten sie verändern? Die Wirklichkeit? Die raue Wirklichkeit, die sich nie erschüttern ließ, weder mit Vorschlaghammer noch Brecheisen? Obwohl er in seinem tiefsten Innern natürlich wusste, worum es ging. Es ging um Wissen, Wissen, über das er allein verfügte. Darum ging es und um die Schwierigkeiten, nicht zu wissen, und als er daran dachte, war es beinah lustig. Wenn er diesen beiden Alten, die jetzt auf seiner Couch saßen, unter seinem Dach und Schutz, und so hinfällig und zerbrechlich aussahen, etwas erzählte. Wenn er sagte … Ja, was? Im Grunde egal, was … Wenn er sagte, er hätte ihr einziges Kind 58
erschlagen und in einer Grube im Wald vergraben – dann würde dies vermutlich eine Art Erleichterung für sie bedeuten. Verglichen mit der Ungewissheit. Eine Erleichterung. Die Einsicht verblüffte ihn. Dass der Unterschied zwischen Wissen und Nichtwissen so gewaltig sein konnte, und für einen Augenblick schwebte ihm der Gedanke wirklich vor. Sie zu schockieren und zu erschüttern, dieses Egal-Was zu sagen und dann die Reaktionen zu beobachten. Zu sehen, wie sich Konrads zitternde Lippen verzerrten. Wie Ednas Augen vor Misstrauen, Einsicht, vielleicht Entsetzen groß wie Untertassen wurden … Die Perspektive war tatsächlich verlockend. Wie hässlich und gemein die Idee auch war, sie war auch scheußlich ansprechend. Es hatte etwas, einen Zauberstab zu schwingen, das Leben von Menschen zu verändern, sie zu beeinflussen, manipulieren zu können – wann man nur wollte. Ja, während er dasaß und mit den Möglichkeiten spielte, spürte er plötzlich den Duft von einer Art Macht, und niemand hätte erstaunter sein können als er selbst. Bis jetzt war das Geheimnis nichts anderes als eine Last gewesen, eine Bürde, die er hatte herumschleppen, verbergen, über die er sich hatte ängstigen müssen, und jetzt … Jetzt wurde es zu einer Inspiration. Er konnte es kaum glauben. Jetzt wurde sie zu einer Flut von Adrenalin, zur unterirdischen Freudenquelle eines Verschwörers, und er fühlte sich wie ausgewechselt. Selbstsicher. Beinah aufgekratzt. Er lächelte die überraschte Sonja an. »Nun kann man Eva wohl nicht mit einem entlaufenen Hund vergleichen«, sagte er, und es amüsierte ihn, dass er vernünftig klang. »Nicht?« 59
»Na ja, in gewisser Hinsicht vielleicht, aber trotzdem … Wenn ich wirklich ehrlich sein soll« (und das war er faktisch), »finde ich all das ein bisschen schwer zu glauben. Ich meine, innere Gesichte und sowas, ehrlich gesagt …« Die junge Frau zog einen Flunsch. Sie schien es absolut nicht übel zu nehmen und machte auch keine weiteren Versuche, ihn zu überzeugen. Dies war offenbar stattdessen Ednas Aufgabe. Auf der Couch eifrig vornübergebeugt, erzählte die Schwiegermutter, wie Sonja fast ein Dutzend Hunde gefunden hatte und einen Hund sogar zweimal. »Es funktioniert, Bengt«, beharrte sie. »Nur weil man nicht versteht, wie … Spielt das eine Rolle? Das Wichtige ist doch, dass es funktioniert, nicht wahr?« Sie sah ihn bittend an. »Nicht wahr, Bengt?« »Ein Dutzend Hunde, sagst du?« »Neun«, warf Sonja ein. »Was?« »Neun Hunde, nicht zwölf.« »Und einen von ihnen zweimal?« »Ja.« »Ah ja.« Er lehnte sich im Sessel zurück. Statistik – davon verstand er etwas. Ziffern hatten etwas Augenfälliges, etwas Plausibles und Sicheres, auch wenn die Ziffern von mit Hilfe eines inneren Auges wieder gefundenen Hunden handelten, und er fühlte sich sofort nicht mehr übermannt. Im Gegenteil. Er glaubte, die Oberhand zu haben, und noch einmal konnte er sich kaum halten vor Lachen. Das Unwirkliche der Situation, das Unfassbare, Schwindel erregende, und trotzdem saß die Frau da und sah so ernst aus, so unverhältnismäßig ernst und unverhältnismäßig alltäglich. Ganz vorn auf der Sitzfläche des Sessels. Die Füße zusammen. 60
Hellblaues Sommerkleid und dünne, weiße Strickjacke. Naturfarbene Sandaletten von Ecco, genau solche, wie Eva sie hatte oder gehabt hatte. Genauso als wäre das die natürlichste Sache der Welt. Und das war es vielleicht. Wer weiß? Ja, wer konnte wissen, was sie dachten, sagte er sich. All diese Frauen, die nicht einsehen wollten, wann sie die Grenze erreicht hatten, die Wand, den Punkt, hinter dem sich die Dinge nicht mehr beeinflussen ließen. Er hatte das schon erlebt, wusste genau, wie es ablief. Und zu sagen, es wäre nicht wichtig, sich zu fragen wie? Nein, auch das war nicht die Stimme eines Mannes. Wie? Die allerwichtigste Frage von allen, die Frage, die die Räder laufen, die Welt sich entwickeln ließ, und die nicht zu stellen …? »Und du, Konrad?«, fragte er von einem Mann zum anderen. »Was glaubst du?« »Glauben und glauben …« Der Schwiegervater zögerte mit der Antwort. Dass er das Ganze peinlich fand, war offensichtlich. Unter Schweigen hatte er der Reihe nach seine Hände, das Tischtuch, den lilageflammten Knüpfteppich gemustert, aber jetzt hob er trotz allem den Kopf und begegnete dem neugierigen Blick. »Was ich glaube, spielt keine Rolle«, seufzte er. Er klang sehr müde und sehr resigniert. »Das ist der letzte Strohhalm, und es schadet wohl nichts, es zu versuchen, nehme ich an. Schlimmer kann es schließlich nicht werden.« Der Schwiegersohn nickte, murmelte etwas unartikuliert seine Zustimmung und sah weg. Wieder berührte ihn die Trauer tragende Unwissenheit des alten Paars, wieder berührte ihn sein eigenes schlechtes Gewissen. Und die Hand war kalt. 61
Eine schwere Stille legte sich über die Couchecke. Es war, als hätte jeder Einzelne an das Seine zu denken: Edna und Konrad an ihre Unruhe. Er an sein Unbehagen. Sonja an ihr … weiß Gott was. Es wurde sehr still. An der Wand über dem abgelaugten Büfett tickte die Großvateruhr ihre Schicksalsstunden. Das Sonnenlicht fiel gedämpft durch das Südfenster. Unten auf der Straße brauste ein Auto vorbei, schwach, schwach, kaum hörbar durch die Holzwände, und es war, als stünde die Welt eine Weile, für ein paar kurze, kostbare Sekunden still, bis Konrad plötzlich ausrief: »Ja, ja!« Laut und deutlich. Einfach in die Luft, ohne jeden sichtbaren Anlass. Alle zuckten zusammen. Die Erdrotation kehrte zurück und der rote Faden ebenso, als Edna schließlich die Gelegenheit nutzte und dem Schwiegersohn mitteilte, weswegen sie eigentlich gekommen waren. Sie brauchten etwas, das Eva gehörte. Oder genauer gesagt: Sonja brauchte etwas, das Eva gehörte, um es in die Hand zu nehmen. (»Wie eine Leine zum Beispiel«, erinnerte er sich, hatte die Seherin gesagt, »oder im Grunde egal was …«) »Ein Kleidungsstück, dachten wir«, informierte ihn die Schwiegermutter, »vielleicht ein Schmuckstück …« Sein freundlich nachsichtiges Lächeln erstarb. Verdammt, dachte er für sich, und als er merkte, wie gut das Wort seine Gefühle ausdrückte: verdammt, verdammt, verdaammt. Alles, was Eva gehörte, befand sich ja inzwischen in der Garage, und wie sollte er das erklären? Mit etwas in der Richtung, er hätte es nicht ausgehalten? Er konnte hören, wie dünn das klingen würde. Nein, ein guter Ehemann packte nicht 62
so schnell er konnte die Habseligkeiten seiner verschwundenen Frau in einen Haufen Kartons. Ein guter Ehemann ließ stattdessen alles, wie es war. Glaubte so lange wie möglich an ein glückliches Ende. Hoffte. Träumte von einer Wiedervereinigung … Er spürte, wie ihn die drei Augenpaare musterten, wie er dort schwitzend in dem warmen, stickigen Zimmer saß. Verdammte Kisten, fluchte er irritiert. Was sollte er machen? Es ihnen einfach abschlagen war unmöglich. Sie verlangten ja gar nicht besonders viel, nur irgendeine Kleinigkeit, aber vom Großreinemachen erzählen … Da hörte es auf. Er würde es nie auf vernünftige Weise erklären können, das sah er ein, und wieder fluchte er still vor sich hin. Ja, verdammte Kisten. Und verdammte, verfluchte Menschen. Er wurde richtig verstockt. Was hatten sie eigentlich mit ihm zu tun?, fragte er sich empört. Nichts. Hatte er sie sich vielleicht ausgesucht? Nein, keineswegs. Er hatte sich ihre Tochter ausgesucht, aber nicht sie. Das war etwas ganz anderes. Nassauer, das waren sie. Blinde Passagiere in seinem Leben, und dennoch hatten sie die Stirn, in sein Zuhause zu kommen, ihn unter Druck zu setzen, in die Enge zu treiben, ihn anzuklagen, zu bedrängen. Er schlug die Augen nieder, um nicht wütend um sich zu stieren. Verfluchte Menschen, giftete er wieder und wieder. Verfluchte, verdammte Scheiße. Eva hatte immer gesagt, er hätte nur ein Reaktionsmuster, und das war wahr. Sie hatte behauptet, wenn er zufällig auf der Straße einen Menschen überführe, würde er vermutlich aus dem Auto steigen und die Leiche beschimpfen, und auch das war vielleicht wahr. So reagierte er eben: Er wurde wütend. War er wütend, wurde er wütend. War er unruhig, wurde er wütend. War er ängstlich oder traurig, wurde er wütend – und 63
das war natürlich völlig unnuanciert. Bei seltenen klarblickenden Gelegenheiten konnte er es sogar selbst zugeben, aber Eva …? War sie nicht, auf ihre Weise, genauso gewesen? Doch, so war es. War sie traurig, weinte sie. War sie ängstlich, weinte sie. War sie unruhig oder wütend, weinte sie. Ja, zuerst schrie und zankte sie natürlich eine Weile, aber wenn sie all das aus sich heraus hatte, dann kam wie das Amen in der Kirche: das Heulen, das Schluchzen. Und was sollte daran so gut sein? Das hatte er sich oft gefragt: Worin bestand der Witz? Wie so viele andere Frauen schien sie der Meinung gewesen zu sein, dass Weinen etwas Positives hatte, dass es eine hoch stehende, überlegene Art und Weise war, seinen Gefühlen Luft zu machen. Man fühle sich so viel leichter danach, sagte sie immer, und manchmal ließ sie sich sogar zu der Äußerung hinreißen, dass es auch Männern besser ginge, wenn sie weinen lernten. Weinen lernen? Darüber hatte er herzlich und hemmungslos gelacht. So eine Floskel, genau wie dieses Gerede davon, »mit seinen Gefühlen in Kontakt zu kommen«. Nein, in diesem Punkt war er standhaft (auch in diesem Punkt war er standhaft). Aufbrausen und im Laufe von Minuten man selbst zu sein – das würde er Sich-LuftMachen nennen, wirklich etwas loswerden und dann weitergehen, aber all dieses Geweine … Das war etwas ganz anderes gewesen. Stundenlang, sogar tagelang rotäugig und kläglich, schmollend, deprimiert. Das war wahrhaftig kein Sich-LuftMachen. Das war das genaue Gegenteil. Es war ein Sammeln, eine Lagerung von Kummer und Ärger, eine Inventur. Da wäre es ihr wirklich erheblich besser gegangen, hätte sie gelernt, sauer zu werden, meinte er, richtig ordentlich, nach 64
außen gerichtet giftsauer, statt sich nur hinzukauern und sich selbst Leid zu tun, mit einem ständigen Bedarf an Trost, an traurigen Gedichtsammlungen, an Papiertaschentüchern. »Bengt?« Die sonst so freundliche Edna klang eine Spur ungeduldig. »Bengt!« Er sah auf und lächelte sie breit an. Die Lösung des Problems war ihm plötzlich eingefallen wie im Traum, erkannte er ironisch, wie in der Erinnerung. Wut. So begann die Assoziation. Wut. Eva. Tränen. Trost. Kummerdecke. Da hatte er es: Kummerdecke, und es kostete ihn nicht einmal eine Minute, den fraglichen Gegenstand aus dem Schlafzimmer im Obergeschoss zu holen. Er legte ihn mitten auf den Couchtisch, so dass ihn alle sehen konnten. »Das ist Evas Stressei«, verkündete er zufrieden, als präsentierte er eine ungewöhnliche Zirkusnummer, während sich das Publikum gehorsam vorbeugte, um sich die Sache etwas näher anzusehen. Dass das Ei nicht mit den anderen Sachen draußen in der Garage lag, war natürlich ein Versehen (ein Lapsus, den er unter anderen Umständen irritierend gefunden hätte), aber es hatte sich in einer Keramikschale versteckt, thronend auf einer alten Sammlung glatter, schön gezeichneter Steine von einem Mittelmeerurlaub, und er hatte tatsächlich sowohl an die Schale als auch an deren Inhalt allenfalls als Schmuckgegenstand gedacht, nichts als eine Bücherstütze. Bis jetzt. »Sie konnte es stundenlang in der Hand halten, beim Lesen oder beim Fernsehen. Manchmal hat sie auch damit geschlafen. Das müsste doch funktionieren, oder?« Alle richteten die Blicke auf Sonja, und ihrer Gewohnheit treu nickte sie. 65
»Doch«, sagte sie nachdenklich, während sie den Hintern lüftete, so dass ihr ausgestreckter Arm das Ei erreichte. »Das müsste schon gehen.« Sie setzte sich wieder zurecht. Die Federn des alten DuxSessels quietschten unter ihrem Gewicht. Die Sitzfläche wippte ein paar Mal auf und ab und der Busen ebenso, aber dann kam alles zur Ruhe, und die Séance nahm ihren Anfang. Sie war auf ihre Weise imponierend. Nicht dass im Grunde etwas Besonderes passiert wäre. Der Couchtisch bewegte sich nicht, und Geister bekam er auch keine zu sehen. Nein, vielleicht war es nicht einmal eine Séance, obwohl es dieses Wort war, das ihm einfiel, als er dasaß und nur noch starrte. Doch die ernste Miene der jungen Frau hatte etwas, ihre langsamen, ausgewogenen Bewegungen hatten etwas, das bewirkte, dass sie nur das Ei anfassen musste, damit das schon so stille Zimmer noch stiller wirkte, noch mehr abgeschnitten vom Rest der summenden, lärmenden, normalen Welt. Zunächst guckte sie nur an, was da in ihrer hohlen Hand lag, dann aber schloss sie die Hand um das Ei, vorsichtig, als hätte sie Angst, der grün gesprenkelte Marmor könnte zerbrechen, und dann lehnte sie sich zurück und schloss die Augen. Ihr Gesicht entspannte sich. Der Flunsch wurde zum Mund. Es zitterte leicht hinter ihren Augenlidern, und sie leuchtete, leuchtete wie eine Lichtquelle unter Wasser. Er wollte sich beinah die Augen reiben. Was vor ihm geschah, war eine Verwandlung, eine Metamorphose. Die alltägliche Frau wurde zu etwas anderem, Bemerkenswerterem. Aus der Puppe schlüpfte ein hellblauer Schmetterling und flatterte, wenn nicht mit den Flügeln, so doch mit den Wimpern. Eine elektrische Ladung füllte die Luft, und es knisterte, ließ die Haare auf seinem Kopf senkrecht abstehen, oder, so hatte er zumindest das Gefühl, fing in ihm an zu kribbeln. Ja, sie war gut. Besser, als er je hätte glauben können. 66
Es war eine große Vorstellung. Sie war eine Zauberin. Ohne dass er wusste, wie das zuging, wurde ihre Person magnetisch, messbar mit Eisenfeilspänen, und so stark war ihre Anziehungskraft, dass sie die Luft aus ihm saugte, mit einer Vakuumpumpe, dass er den Atem anhielt, ohne dass es ihm selbst auffiel. Und dann verging eine Minute. Und noch eine. Die Sonne brannte herein. Es war heiß und stickig. Irgendwo, an einem der Küchenfenster vielleicht, pickte ein Vogel Fensterkitt. Es war sehr still und sehr ruhig, und dann öffnete sie die Augen. Die verschwindenden hellgrauen Iriden waren direkt auf ihn gerichtet, und nicht besonders rational dachte er sich, dass sie ihn die ganze Zeit angeguckt hatte, auch hinter den geschlossenen Augenlidern. »Lang? Langes blondes Haar? Pony und hellbraune Augen?« Sie sagte es fragend, wie um sich zu vergewissern, dass sie nicht den falschen Kanal sah, und noch einmal musste er zugeben, dass sie eindrucksvoll war. Sie war absolut in der richtigen Branche. Wäre er verzweifelter gewesen, wie Edna vielleicht, hätte er sich möglicherweise von ihr reinlegen lassen, denn das war es natürlich. Nein, er glaubte ihr nicht, trotz des suggestiven Auftritts. Stattdessen saß er da und dachte daran, dass Evas Beschreibung in beiden Lokalzeitungen gestanden hatte: 1,73 in groß. Blond und braunäugig. Trug bei ihrem Verschwinden … Dort war sogar ein Foto veröffentlicht worden, und so war es klar, dass sie wusste, wie seine Frau aussah, doch Edna nickte 67
aufmunternd. Ihre hohlen Wangen trugen jetzt zwei rote Flecken. Hitzeflecken, nahm er an, von der neu entflammten Hoffnung (flackernd, aber brennend), und so angefeuert tastete sich die Seherin weiter. »Ich … Ich glaube nicht, dass sie freiwillig verschwunden ist. Sie wirkt irgendwie so … stationär, so … anwesend.« Wieder packte ihn das Absurde der Situation. Da saß ein wildfremder Mensch in seinem Wohnzimmer, quetschte ein altes Stressei, beschrieb eine Frau, die dieser Frau nie begegnet war, dazu noch eine verschwundene Frau, benutzte Worte wie »anwesend«, als schwebte Evas Geist unter den Dachbalken, unfähig, sich von zu Hause loszureißen. Natürlich war es absurd, der schlichte, reine Irrsinn, und trotzdem konnte er nicht anders als fasziniert sein. Auf klinische, nahezu wissenschaftliche Weise fand er es in hohem Maße interessant. Wie verrückt war sie? Glaubte sie selbst, was sie sagte? Glaubte sie wirklich, Dinge zu sehen, oder fabulierte sie völlig frei, geführt von einer Art psychopathischem Fingerspitzengefühl? Er beschloss, die Sache näher zu untersuchen. »Und kannst du sehen, wo sie ist?«, fragte er ohne jede Unruhe. Bekümmert sah sie von Gesicht zu Gesicht. Sie wirkte beinah verlegen. »Njaa …«, sagte sie unsicher. »Nicht wirklich. Es ist etwas vage … Etwas, was ich noch nicht gesehen habe, etwas Seltsames …« Sie schien mehr zu sich selbst zu sprechen als zu den anderen, und vielleicht horchte sie auf ihre eigenen Worte, um zu begreifen, was sie da sagte. »Vielleicht kann ich mir das Ei 68
leihen?« Sie wandte sich ihm zu. »Wenn ich mehr Zeit hätte, vielleicht …« »Ja, sicher«, antwortete er, ohne zu zögern. Nimm es, wollte er sagen. Nimm es, behalt es, verschwinde damit. Amüsiert sah er, wie sie sich das Ei auf den Schoß fallen ließ. Sie war offenbar erleichtert, wollte die heiße Kartoffel nicht länger in der Hand halten. Ja, ja, dachte er boshaft. Es war wohl schwerer, als sie angenommen hatte, dazusitzen und ihnen mitten ins Gesicht zu lügen. Es ging ja trotz allem nicht um einen Wildfang von Jagdhund, sondern um einen Menschen, einen erheblich schwerer zu ersetzenden Menschen, und Ednas und Konrads Angst konnte sie nicht ungerührt gelassen haben. Nein, das konnte nicht so leicht sein. Vielleicht fing sie schon an zu bereuen, dass sie sich darauf eingelassen hatte, und es war beinah so, dass er ein wenig mit ihr fühlte, wie ein Lügner gegenüber einem anderen. Er betrachtete die verstummte Seherin. Sie sah wieder sehr alltäglich aus. Die Lichtquelle unter Wasser war erloschen. Die Illusion war Blendwerk, hatte sich in Luft aufgelöst, und es war schwer, sich überhaupt daran zu erinnern. Ja, jetzt, als er zurückgelehnt im Sessel saß und fühlte, wie der Schweiß aus seinen Achselhöhlen rann, war jede Magie und Fingerfertigkeit verschwunden. Die Stimmung im Zimmer war wieder da, wo sie angefangen hatte. Nichts leuchtete oder zog oder knisterte, und es war zweifelhaft, ob es das je getan hatte. Er wandte den Blick zu den Schwiegereltern. Es war leicht zu sehen, auch wenn die beiden versuchten, es zu verbergen: Edna war verstimmt und enttäuscht, während Konrad am ehesten erleichtert schien, und es war auch leicht zu sehen, dass was auch passiert (oder nicht passiert) war, jetzt vorbei war. Ein unverkennbares Gefühl, es überstanden zu haben, breitete sich um den abgenutzten Teaktisch aus. Nichts war mehr zu 69
erwarten, und nach einer Weile gepressten Smalltalks brach die Gesellschaft dann endlich auf. Dankbar begleitete er sie auf die Stufen hinaus, um sich zu verabschieden. Konrad und der Seherin gab er wohlerzogen die Hand, aber Edna sah so niedergeschlagen aus, dass er sie spontan und aufrichtig in den Arm nahm, bevor die drei zusammen zu dem wartenden Auto gingen. Er winkte ihnen nach und lächelte, lächelte nacheinander amüsiert, nachsichtig, gestärkt. Er war ja trotz allem wie jeder Beliebige, war genau wie alle anderen. Er war ein Mann. Ein Mann war ein Tier. Im süßen Duft der Schwäche witterte das Tier sein eigenes Überleben. Das war das Natürliche, das Instinktive, das Kraftvolle – und also lächelte er. Wenn es ihm gelungen war, die Schuldgefühle eine Spur in den Hintergrund zu schieben, dann mit dem Recht des Starken, im Namen des Bestangepassten, und wenn die nachsichtige Verachtung kleinlich erschien, war sie doch ein Recht, ein Recht unter anderen Rechten, die er vielleicht nicht hatte, die er sich aber nehmen konnte, wenn er das wollte und schaffte. Er hätte auf die Knie fallen und danken können. Ednas Art, sich an den Lippen der Seherin festzusaugen. Konrads sich windende Bewegungen in der Couchecke – sie waren so naiv und lächerlich, so … blöd. Kurz gesagt: Sie hatten die Dinge nicht mehr im Griff, und im Handumdrehen (vielleicht genau dieser leeren, schlaffen Hand) waren die Rollen vertauscht, saß jetzt der Schuh auf dem anderen Fuß. Er war es, er brach nicht zusammen. Er behielt die Kontrolle.
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Er beherrschte sich und nahm es wie ein Mann – und natürlich freute es ihn, freute es ihn und sein sündiges Herz. Er winkte wieder. »Es wird schon gut gehen«, rief er ihnen ermunternd zu, bevor sie die Autotüren schlossen. »Es kommt alles in Ordnung, ihr werdet sehen.« Und etwas anderes konnte er sich tatsächlich nicht vorstellen. Bis ins Mark überzeugt. Bis ins Mark ahnungslos, was noch kommen sollte.
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6 Später nahm er sich eine Tüte Eis aus dem Gefrierschrank und setzte sich, um sie zu genießen, in einen der Gartensessel. Zufrieden bohrte er sich in das geblümte Kissen und legte die Füße auf den Tisch, so wie er es immer machte, wenn er es sich bequem machen wollte. Er entspannte sich. In einem der großen Bäume trommelte ein Specht, vielleicht war es einer dieser lustigen Schwarzspechte, und ab und zu wisperte eine laue Brise durch das Blättermeer. Die Sonne brannte. Als sich das Eis nach und nach in Vanillesauce verwandelte, leckte er es auf, wollüstig, in langen, langsamen Zügen, und als ein Teil der gelbweißen Schmelze die Hand herunterfloss, steckte er, ohne zu zögern, die Finger in den Mund und saugte, genau wie ein Kind. Es war sehr genießbar – und vielleicht eine Spur erregend. Ebenso wie Blusen und Nylonstrümpfe waren ja die Schwiegereltern Glieder der Kette, die ihn an etwas in höchstem Maße Trauriges und Verwirrendes und Unangenehmes fesselte. Ja, auch als die Alten in die Knie gingen und den Kontakt zur Wirklichkeit verloren, hätten sie ihn an die größte Katastrophe seines Lebens erinnern müssen – und was tat er? Er aß Eis. Dem Anschein nach kalt, dem Anschein nach ungerührt, vertilgte er dort im Sonnenschein seine Waffeltüte, sah er lächelnd auf zu dem blauen, blauen Himmel, und falls man fragte, wie es dazu kam …? Er selbst hätte gesagt, dass er nur tat, was er tun musste. Die Wirklichkeit war ja, wie sie war. Die musste er in Angriff nehmen, ob er nun wollte oder nicht, und mehr war dazu nicht 72
zu sagen. Er musste ganz einfach weitergehen, und Worte wie kalt oder ungerührt oder böse hatten für keinen Augenblick etwas mit der Sache zu tun, sagte er sich. Nein, tun, was getan werden konnte, und dann den Rest akzeptieren. Das war seine Meinung. Das war seine Richtschnur und Sicherheitsleine, und also gestattete er sich, so weiterzumachen, als wäre nichts passiert. Leckte er die Vanillesoße auf. Guckte er in den Garten. Machte er sich dann auf zu einem langsamen, stillen Spaziergang. Er ging über die Wiesen, auf den Waldrand zu, die alte, verlassene Landstraße entlang. Sie war jetzt nicht viel mehr als ein Kuhpfad, ein paar von Traktorreifen aufgewühlte Furchen. Wenn es regnete, wurde es dort matschig und unangenehm, das reine Schlammbad, aber jetzt war es trocken, so knochentrocken, dass es um seine abgetragenen Turnschuhe staubte, wenn er nach Stöckchen und Steinchen trat, die ihm in den Weg kamen. Er brauchte nicht daran zu denken, wo er ging. Er kannte jeden Hang, jede Steigung, jede Nuance in der Landschaft. Wieder und wieder war er hier spazieren gegangen. Manchmal allein. Manchmal in Begleitung. Manchmal mit dem alten Boxer, der ruhig durch den Matsch platschte. Manchmal mit Eva, die an den Grabenrändern eifrig nach Ackerbeeren spähte. Wieder und wieder, Hunderte von Malen und immer mit demselben Ziel vor Augen. Wo Felder und Wiesen aufhörten, verlief eine Schlucht, in der Schlucht schlängelte sich ein Bach, und über dem Bach lag eine
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Brücke, eine mitgenommene, schmutzig graue Holzbrücke, auf der er immer eine Weile stehen blieb, bevor er umkehrte. Wie heiß die Sonne auch brannte, dort war es immer dunkel und kühl. Die Vegetation war dicht und wild. Hoch gewachsene Fichten schenkten Schatten. Halb vermoderte Erlen beugten sich weit und todesverachtend über den Bachlauf. Dem braunschwarzen, rauschenden Wasser mit dem Blick zu folgen war, als sähe er in einen Zeittunnel. Stromabwärts das, was gewesen war. Stromaufwärts das, was kommen sollte. Ja, was passiert war, war passiert und war Geschichte. Es war Wasser, durchgeflossen unter der Brücke, und in dieser Perspektive, mit der Unberechenbarkeit des Lebens und dem Lauf der Zeit im Gedächtnis – konnte man da wirklich einen Mann dafür anklagen, dass er versuchte, sich um sich selbst zu kümmern, so gut es eben ging? Nein. Nein, er war nicht dieser Meinung, und also machte er weiter so, schützte sich selbst. Was passiert war, war passiert, dachte er. Es hatte ihn wie ein Unfall getroffen, der jeden treffen konnte (wie ein Zusammenstoß mit einem Elch etwa, wie ein Kadaver, der, durch die Windschutzscheibe hereingebrochen, ihn zu erschlagen gedroht hatte), und damit musste es sein Bewenden haben. Schlauersein im Nachhinein war keine Hilfe, auch Reue nicht oder Hysterie und Schluchzen und zäher, zäher Rotz. Von so etwas distanzierte er sich. Nein, ein Unfall, das war alles, was er zugab, wie er dastand, den Blick verloren in dem schäumenden, rostfarbenen Wasser und die Hände tief in den Taschen vergraben. Und was wirklich passiert war?
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Er war nicht gewillt, es zu berühren. Es war das Schlimmste, was in seinem ganzen Leben je passiert war, und er wollte es nicht wieder beleben. Wollte nicht davon sprechen. Wollte nicht daran denken. Wollte nicht einmal daran denken, dass er nicht daran denken wollte. Dagegen dachte er eine Menge über Eva nach, das tat er tatsächlich. Obwohl es einem ein bisschen sehr spät vorkommen mochte, dachte er darüber nach, was schief gegangen war, wie er wohl Ordnung in das Knäuel all der Widersprüchlichkeiten hätte bringen können, aber es war ja klar … So viel klüger wurde er wohl nicht. Nein, manchmal, wenn er sich richtig hoffnungslos fühlte, konnte er sogar denken, dass Männer und Frauen nicht so füreinander geschaffen waren, wie man sich verleiten lassen könnte zu glauben, dass sie ganz einfach unvereinbar waren. Nimm zum Beispiel die Sache mit der Kindererzeugung, konnte er deprimiert vor sich hin murmeln. Mann und Frau in süßer, reproduktiver Vereinigung, würde man glauben, und was war das Resultat? Ein neuer Mann oder eine neue Frau. Es wurde entweder das eine oder das andere, immer entweder oder, zwei Arten, als wäre all dieses Streben vergebens. Zwei wurden nie eines. Es wurde dieses oder jenes, und näher kam man der Sache nicht. Die zwei Geschlechter waren ganz einfach wesensverschieden. Die Frau war ein fremdes Wesen, von einer anderen Art, und irgendwo da war der springende Punkt. Das Problem war, dass sie so unterschiedlich gewesen waren, so unterschiedliche Bedürfnisse gehabt hatten oder die gleichen Bedürfnisse, aber ganz verschiedene Methoden, sie zu befriedigen. An diesem Punkt war es etwas unklar.
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Faktum war, dass er sie nie voll und ganz verstanden hatte und dass sie ihn nie voll und ganz verstanden hatte. Doch das, womit er hatte leben können, konnte sie nie völlig akzeptieren. Es war ein Ungleichgewicht entstanden. Wenn ihre Beziehung hie und da mit dem Kopf gegen die Wand fuhr, war er die Wand, und sie war der Kopf. Sie hatten beide die Stöße gespürt, aber sie hatte am meisten gelitten. So im Nachhinein war es leicht, das zu sehen, es war sogar offensichtlich, aber die wirklich große Frage, schien ihm, bestand weiter: Warum kam sie wieder und wieder mit so einem Tempo angerast, wenn sie wusste, dass er nicht aus dem Weg gehen würde? Er fand, sie hätte es besser wissen müssen, sie hätte es lernen müssen, aber nein. Und er? War er auf keine Weise mitverantwortlich, mitschuldig? Gewiss war er das. Das räumte er ein. Natürlich hätte er irgendwie anders handeln müssen. Er wusste nur nicht wie. Hätte er sich selbst Gewalt antun müssen? Eva sprach oft von Flexibilität, von Diplomatie, von Geben und Nehmen. Es war die ewig weibliche Strategie auf den Punkt gebracht. »Du denkst nur an dich«, war der Satz, den sie immer, früher oder später, aussprach, wenn er sich weigerte, bei etwas nachzugeben. »Du denkst nur an dich.« Natürlich stritt er diese Behauptung regelmäßig ab, und natürlich traf sie zu. Sicher dachte er an sich. Wenn nicht er, wer hätte dann an ihn denken sollen? Sie? Während von ihm erwartet wurde, an sie zu denken? Das schien unnötig kompliziert, hatte er gefunden. Fand er immer noch.
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Das Einfachste war ja, dass beide an sich selbst dachten. Keiner war dann ohne Fürsprecher, und die Missverständnisse darüber, wer Verantwortung für wen hatte, waren bedeutend weniger. Wer war im Übrigen besser geeignet zu wissen, was man wollte und was man brauchte, als man selbst? Nein, natürlich hatte er an sich gedacht, natürlich, während sie an Gott weiß was dachte. Er verstand es nie richtig, schaffte nie, es herauszubekommen. Sie dachten unterschiedlich, funktionierten unterschiedlich, lebten unterschiedlich – und schließlich nahm es ein Ende mit Schrecken. Das war einfach nur festzuhalten. Zum Schluss … Na ja. Und wie es angefangen hatte? Ja, er war dreißig gewesen. Allein in einer Wohnung in der Stadt. Mit wenigen Interessen. Mit zunehmendem Junggesellenverfall. Mit schmerzhaft unregelmäßigem Sexualleben. Kein Wunder, dass sie verlockend gewirkt hatte. Sie war ein frisches Lüftchen, sie wurde gebraucht, und er war so reif, dass er nahezu Fallobst war. Sicher hatte er ein paar Beziehungen vor Eva gehabt. Er hatte sogar im Laufe der Jahre mit zweien oder dreien zusammengewohnt, variierende Zeiträume, aber letztendlich hatte immer etwas gefehlt. Meistens Motivation. Wäre eine von ihnen schwanger geworden (aber das wurden sie ja selbstverständlich nicht), oder wenn eine von ihnen – mehr gedrängt hätte. Er war sich selbst nicht sicher gewesen, was es war, das gebraucht wurde, oder was es war, das fehlte, und so waren die Beziehungen stecken geblieben. Eine nach der anderen verlief im Sand, erstarb auf eine mystische Art und Weise, an die er sich, glaubte er, nicht erinnerte, die er aber 77
tatsächlich nie begriffen hatte. Das heißt, bis Eva auftauchte. Da verging nur ein gutes Jahr, bis er plötzlich ein seriöser, verheirateter Mann war, und natürlich konnte man sich fragen warum. Warum wurde ausgerechnet mit ihr etwas daraus? Warum passte er sich ihr so an, wie er sich keiner anderen angepasst hatte? Ja, zum Teil war es die Sache mit der Zeit und dass er reif war. Halbalt, geil, irgendwie heimatlos – klar, klar war er bereit gewesen für etwas Neues, aber das allein hätte nie zu einer Veränderung geführt. Nein, Eva selbst war das Zünglein an der Waage gewesen, ihre Energie und Beharrlichkeit. Sicher war sie nett gewesen und ein hübscher Anblick, und sicher hatte sie reell gewirkt und so weiter, aber was den Ausschlag gegeben hatte, war die Tatsache, dass sie so fest entschlossen war, ihn zu bekommen. Aus welchem Grund wusste er nicht. Das war wieder eines von diesen Dingen, die er nie begriff, aber sie hatte sich ausgerechnet für ihn entschieden, vom ersten Augenblick an, so war es einfach gewesen, und so war er verführt worden oder breitgeschlagen oder beides. Ob sie ihn wirklich geliebt hatte, war schwer zu sagen. Er selbst hatte Mühe mit ebendiesem Wort. Lieben – das war so groß, blieb so leicht im Halse stecken und ließ ihn würgen, und wie auch immer, es hatte Augenblicke gegeben, wo ihm der Gedanke gekommen war, dass er jeder Beliebige hätte sein können, im Großen und Ganzen nämlich. Dass er in ihr Muster passte, wie ein Mann sein sollte, aber dass nicht er, niemand anders als er, sondern die Ehe selbst sie gereizt und den Glanz in ihren Augen entzündet hatte. Aber dann … Vielleicht hatte sie sich nur eingeredet, dass sie verliebt war, aber das hatte er ja auch getan. Er war überhaupt nicht besser. 78
Nein, sie hatten sich beide nichts genommen, und vielleicht lief das immer so ab. Sie waren ganz einfach zwei Menschen gewesen, die diesseits und jenseits der dreißig standen, und natürlich hatten sie gern geglaubt, dass es etwas gab über die Einsamkeit und die Geilheit hinaus, etwas, das mit ihnen persönlich zusammenhing, das das Gelegene in das Besondere, das Austauschbare in das Auserwählte verwandelte und einen Frosch in einen Traumprinzen – in einen Kürbis. Denn allmählich löste sich natürlich die Verzauberung. Das tat sie ja immer. Es klang so romantisch und herzzerreißend: eine Heirat, eine gemeinsame Entscheidung für ein gemeinsames Leben, aber was bedeutete das? Zwei Menschen, die in das eheliche Bett krochen und die eines Tages mit der Einsicht aufwachten, dass das Einzige, was sie wirklich gemeinsam hatten, eine Hand voll Zimmer, eine Reihe Gebrauchsgüter und eine komplette Sammlung abgestandener Gewohnheiten waren. Das wurde selten als ausreichend betrachtet. Selten – für ihn aber war es das gewesen. Für ihn war es tatsächlich ausreichend gewesen, wie schrecklich es auch klang, wie prosaisch es auch war, mit dem Sicheren und Bequemen, mit dem Praktischen zufrieden zu sein, damit, jemanden zu haben, mit dem man nur über das Wetter reden konnte, aber so war es. So wenig poetisch und so wenig gerecht. Denn für Eva war es nicht ausreichend gewesen. Irgendwo hatte es für sie zu scheuern begonnen, wie Kies im Schuh oder eine Erbse unter der Matratze. Irgendetwas war da, das nicht stimmte, und schließlich wurde für sie zum Stein des Anstoßes (das heißt, einer von vielen), dass aus der Ehe nichts geworden wäre, wäre sie nicht gewesen, dass seine Glut nicht 79
nur schwach war, sondern dass sie immer schwach gewesen war, dass nichts passiert wäre, wäre sie nicht selbst die treibende Kraft gewesen, wie es der Fall war – und dass zu allem Elend auch noch er zufrieden war und nicht sie. Nein, gerecht war es nicht. Indem er weniger verlangte, hatte er mehr bekommen, und wenn ihre Beziehung nicht gleichgestellt gewesen war, hatte dort die Ungleichheit gesteckt; nicht in der Tatsache, dass er auf Kochen und Waschen gepfiffen hatte, sondern darin, dass sie mehr gewollt und gebraucht hatte, dass sie zuständig gewesen war für die Gefühle und das Interesse. Nun war er sich natürlich all dessen nicht wirklich bewusst, hätte es vielleicht nicht einmal sein wollen, aber auf seine Weise hatte er doch eine Ahnung davon. In seinen Augen war seine Frau die ganze Zeit irgendwohin unterwegs gewesen, zu einem entfernten und unbekannten Ziel. Ja, wie er es sah, musste sie in ihrem tiefsten Inneren einen Traum davon genährt haben, wie die Dinge sein sollten, ein vages, konturloses Ideal, eine Art flimmerndes, unscharfes Bild, das mit der Wirklichkeit nie übereinstimmte. Aber klar, wissen tat er es nicht. Es waren trotz allem unbestimmte Spekulationen von seiner Seite, denn sie sagte nie etwas davon, und er fragte auch nicht. Träume waren Privatangelegenheit. Sie hatte ihre und er seine, aber er glaubte, dass es so war, denn das würde diesen starken Trieb erklären, den sie gehabt hatte, Dinge zu verändern, sie abzustellen, neu zu machen. Ja, sie hatte immer an irgendeinem Projekt gearbeitet. Zunächst war es selbstverständlich er gewesen. Das war vielleicht unvermeidlich, vielleicht versuchte man immer, den, mit dem man zusammenlebte, zu prägen, und dann war es die Wohnung, und danach, als sie umgezogen waren, nahm sie das Haus in Angriff. Da war die Kücheneinrichtung, da waren Möbel, Tapeten und Gardinen. Da war der Garten und die 80
Ordnung im Holzschuppen, und als alles tipptopp war und wie sie es haben wollte, ja, da war es etwas anderes. Immer hatte etwas zwischen ihr und ihrem Wohlbefinden gestanden, etwas, das nicht gestimmt hatte und das sie weitertrieb, in die Wenn-sie-nur-das-und-das-getan-hatte-dannwürde-es-besser-werden-Spirale. Wenn er nur anfinge, den Klodeckel zuzumachen, würde es sicher leichter, mit ihm zu leben. Wenn sie nur dieses alte, unförmige Sideboard rausschmeißen konnte, würde das Haus sicher gemütlicher werden. Wenn sie nur wieder in die Stadt zögen, wenn sie nur den Job wechselte, wenn sie nur ein Kind bekämen … Und in diesem letzten Punkt hatte er ihr Recht gegeben. Ein erwachsener Mann und ein gezimmertes Haus – das waren Dinge, die sich ganz einfach nicht verrücken ließen und deren eventuelle Veränderungen kosmetisch waren und blieben, aber ein Kind … Das hätte ihr gepasst wie eine Hand in den Handschuh, hätte ihr etwas anderes gegeben, worüber sie hätte nachdenken können. Kinder waren ja wie geschaffen für energische Frauenhände, wie geschaffen, um geformt, verändert, geführt zu werden. Außerdem waren sie Kleister in der Ehe, Spachtel, um die Löcher und Ritzen zu füllen. Das hatte er bei Bekannten gesehen und sie beneidet. Wie es ihm und Eva ergangen wäre … Er war unsicher. Auf die Dauer, glaubte er, schafften es wenige Männer und Frauen, miteinander allein zu sein, und da traten die Kinder auf den Plan, als zwanzigjährige Zerstreuung, als die Dichtungsmasse, die die Lücke füllte zwischen der Zeit, in der die Verliebtheit aufhörte, bis zu dem Punkt im Leben, an dem man zu alt war für Aufbruch und Neuorientierung. Möglicherweise war das zynisch, aber so glaubte er es nicht zu meinen. Wenn man sich nur gut um die Kinder kümmerte, was 81
spielte dann der Anlass ihrer Entstehung für eine Rolle. Man musste ja praktisch sein, sagte er sich. Die Dinge sehen, wie sie waren, alles für sich nach bestem Vermögen einrichten, also war es sicher schade gewesen … Schade, dass sie keine Kinder bekommen hatten. Schade, dass sie nicht zufriedener gewesen war. Schade, dass er … Aber dieses Letzte dachte er selbstverständlich nicht. (Dachte nicht einmal, dass er es nicht dachte.) Stattdessen pflegte er, wenn er auf diesem Geleise war, ein Glied in der Argumentation zu überspringen und direkt auf das Faktum zu kommen, dass es zwischen ihnen vermutlich ohnehin vorbei gewesen wäre. Diese letzte Schlappe hätte sie ihm nie verziehen. Nein, warum hätte sie das tun sollen, wenn sie nichts anderes verzieh. Ungerecht oder nicht, war dies nämlich eine der stärkeren Erinnerungen, die er an seine Frau hatte: Sie war nachtragend gewesen. Unerhört und elefantenartig nachtragend. Sobald sie über etwas gestritten hatten, hatten sie nicht nur über dieses »Etwas« gestritten, sondern auch über alles andere, über das sie jemals gestritten hatten. Das Verfahren war sehr ermüdend gewesen und hörte nie auf, ihn zu verblüffen. Er selbst war der Ansicht, dass das, was gewesen war, gewesen war, ein abgeschlossenes Kapitel. Man stritt, einigte sich über etwas, legte es beiseite, und damit war die Sache erledigt, aber Eva … Eva hatte eine ganz andere Taktik gehabt. Sie legte wahrhaftig nichts beiseite. Worüber sie auch uneins gewesen waren, musste er sich ihre Rede von dieser phantastischen Wohnung in der Stadt (»mit Wintergarten«) anhören, in der sie hätten wohnen können, hätte
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er nicht so krankhaft an diesem alten, baufälligen Haus gehangen, wie sie es ausdrückte. Wieder und wieder hörte er von dem Job an diesem schicken, neu erbauten Pflegeheim im Süden, um den sie aus demselben Grund gekommen war wie um die Wohnung. Und dann kam sie noch mit einer ganzen Masse anderer Dinge, die sie im Laufe der Jahre angesammelt hatte. Nörgelte sie über dies und das, dieses und jenes, darüber, wie er sich geweigert, nein gesagt, sich quer gestellt, sie überfahren hatte, über das, was er getan, und das, was er unterlassen hatte. Es gab kein Halten und keine Proportionen. Nichts war vergessen und nichts verziehen. Wieder und wieder waren alte Kränkungen ausgegraben worden, wurden wie neu. Nur ein bisschen kratzen, ein bisschen zupfen, dann war das Blut wieder rot und frisch aus den Wunden geflossen. Und wozu? Dieses Nerven, Nerven, Nerven. Glaubte sie, die Vergangenheit würde sich ändern, wenn sie nur beharrlich genug war? Die Welt würde sich ändern, er sich ändern? Glaubte sie, sie könnte ihn stilllegen wie einen abschließenden Schussfaden im Gewebe? Er hatte sich das mehr als einmal gefragt. All diese Bitterkeit, die sie mit sich herumtrug – sie hatte sich durch sie ja nur schlecht gefühlt, sich selbst gequält, und er konnte nicht begreifen warum. Zwischendurch war es ihnen ja richtig gut gegangen, und wenn er darüber nachdachte, nicht nur zwischendurch. Mit Meinungsverschiedenheiten musste man rechnen. Das bedeutete schließlich nichts. Ja, trotz allem war es seine Überzeugung, dass sie eine gute Ehe gehabt hatten oder gehabt hätten, wenn sie nur gewollt hätte, aber das hatte sie 83
nicht. Alles, was sie gewollt hatte, war, in der Vergangenheit zu graben. Alles, was sie gewollt hatte, war, sich an das Schlechte und Jämmerliche zu erinnern – und immer war nur er es, der Schuld hatte. Er. Er. Er. Was ihm mehr als ungerecht vorkam. Ebenso wenig, wie sie ihn zum Umziehen hatte er sie zum Bleiben zwingen können. Oder, was das betraf, irgendetwas anderes zu tun. Nein, alles, was in ihrer Ehe passiert war, war das Resultat von Überlegung und Entscheidung gewesen, und es waren zwei, die sie getroffen hatten. Zwei – und in diesem Punkt war er unerschütterlich. Wenn er Eva freie Hand gelassen hatte, sein Elternhaus zu verändern, dann deshalb, weil er sich für sie entschieden hatte und gegen seinen ursprünglichen Willen, das Alte zu behalten, wie es war, und als sie beschlossen hatte, trotz allem nicht den Job zu wechseln, dann deshalb, weil sie sich für ihn entschieden hatte (oder die Ehe oder das Gewohnte oder was es nun war) und gegen das lockende Neue und Unbekannte. Merkwürdiger als das war es nicht. Eine Entscheidung. Ob sie es nun zugeben wollte oder nicht, und dann nahm alles ein Ende mit Schrecken. Und so stand er da auf der Bachbrücke im tiefen Schatten und wollte an das Elend nicht einmal denken. Irgendwo tief im Wald rief ein wohl bekannter Vogel, ein Todeskuckuck oder möglicherweise ein Trostkuckuck. Er war nicht ganz sicher, aus welcher Himmelsrichtung die Stimme kam, und eigentlich konnte es auch egal sein. Er war überhaupt nicht abergläubisch. Mit weit geöffneten Pupillen sah er über den Bach. Es war bei weitem kein Hochwasser, aber das leise Rauschen war dennoch anhaltend genug, um hypnotisierend zu sein. Wieder und wieder 84
verfolgte er Schaum und Strudel von der Brückenkante bis zur Biegung, wo das Flüsschen im Wald verschwand. Von der Brückenkante bis zur Biegung. Von der Brückenkante bis zur Biegung. Brücke, Biegung – bis die Kälte den erwärmten Körper frösteln ließ und er sich entschloss, nach Hause zurückzukehren. Mühsam klomm er den steilen Hang hinauf, hinauf zur offenen, sonnenüberfluteten Landschaft. Er wandte das Gesicht dem wolkenlosen Himmel zu und blinzelte. So steigen wir dem Licht entgegen, murmelte er zwischen den schweren Atemzügen vor sich hin. So steigen wir dem Licht entgegen. Die Worte gefielen ihm, aber es fiel ihm ums Verrecken nicht ein, wo er sie herhatte.
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7 Stromrechnung, Telefonrechnung, Fernsehgebühren. Morgenzeitung, Müllabfuhr, Versicherungen. Grundsteuer. Ja, mein Gott – die Grundsteuer. Es war nicht möglich, von alledem abzusehen. Obwohl es absolut nicht das Erste war, woran er gedacht hatte (bei weitem nicht – das musste man tatsächlich zu seiner Verteidigung sagen), aber trotzdem … Nach und nach war es ihm natürlich dennoch aufgegangen: dass er von nun an nur noch einen Lohn zum Leben hatte, während die festen Ausgaben weiterhin dieselben waren. Ja, der halbe Haushalt, den es früher gegeben hatte, existierte vielleicht nicht mehr, doch die Kosten waren erschreckend gleich. Da gab es kein Pardon – und wenn er das Ganze etwas ungerecht fand (als wäre etwas Wesentliches in die Berechnungen nicht einbezogen worden), so war es natürlich doch auch traurig. Er war der Erste, das zuzugeben: dass Eva zu etwas so Schäbigem wie einem wirtschaftlichen Aktivum reduziert worden war, einem verlorenen wirtschaftlichen Aktivum … Es war zu betrüblich, das war es wirklich, und er konnte darauf schwören, dass ihm der Gedanke vorher nie eingefallen war. Zwei Löhne. Ein Portemonnaie. Es war völlig natürlich gewesen. Wer was verdient oder wer was bezahlt hatte, darüber hatte sich keiner Gedanken gemacht. Die Mittel waren gemeinsam gewesen. Auf der Ebene war zwei 86
wirklich zu eins geworden, was das krasse Finanzielle betraf, und jetzt … Jetzt würde es knapper werden. Ganz sicher würde er gezwungen sein, jede Krone umzudrehen, aber war das der Grund dafür, dass er an diesem Freitagnachmittag mit dem Holzhacken anfing? Weil er an die Stromrechnung und den Kachelofen, an den Winter und die Ersparnisse dachte? Nein. Nein, kaum. Worum es ging, war eher, das Ganze hinter sich zu bringen, sich selbst beweisen zu können, dass er es schaffte. Denn ganz so einfach war es nicht. Obwohl er oft daran gedacht hatte, dass es Zeit war, sich das Holz vorzunehmen, war irgendwie nichts daraus geworden. Wiederholte Male war er darauf verfallen, alles Mögliche andere zu tun, nur um dies zu vermeiden. Ja, er hatte es aufgeschoben, immer und immer wieder, und nachdem der Besuch der Schwiegereltern ihn jetzt endlich so weit aufgemuntert hatte, dass er sich tatsächlich bereit fühlte … Da war es das Beste, die Sache anzupacken. Niemand wusste ja, wie lange die Entschlossenheit anhalten würde. Nein, so etwas kam und ging, das hatte er gelernt, und also hob er schließlich den rostigen Haken, betrat trotz allem das Holzschuppendunkel und nahm es wieder in Besitz. Zwar war er in der letzten Woche mehrmals dort drinnen gewesen, aber nur vor und zurück, um Gartengeräte zu holen oder zu bringen, nur rein und raus, manchmal beinah ohne Bewusstsein davon, dass da drinnen etwas war, das er mied, diesmal aber sah er sich richtig um. Da stand die grüne Schubkarre neben dem roten Laubkorb. Da standen alle wieder benutzten Plastikeimer (die einmal vol1er roter Falu-Farbe gewesen waren), und da lagen die Gartenschläuche und die Wühlmausnetze für die Apfelbäume. Alles an seinem Platz. 87
Großes wie Kleines. Die Blumentöpfe und der Eisenspieß. Die Heckenschere und die mannshohen Holzstöße und mitten zwischen alledem der große Hackklotz, in einem Meer zugeschnittener, aber noch ungespaltener, zylinderförmiger Scheite von Erle und Birke. Jedes Ding wohl bekannt. Ja, nur gewohnte Gegenstände, die immer klarer und klarer vor ihm standen, je mehr seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten. Er fröstelte. Zwar war es nicht so kühl und klamm wie sonst, auch bis hierher war die Hitzewelle nach und nach vorgedrungen, aber es war trotz allem kälter als draußen im Sonnenschein, und als er auch die zweite Tür geöffnet, die Doppeltüren weit aufgeschlagen hatte, um noch etwas mehr Licht hereinzulassen, ja, da blieb er eine Weile in der warmgelben Hitze stehen, beide Arme eng um den Körper gelegt, bevor er seinen Mut zusammennahm und ins Innere der Höhle tauchte. Es war fast schwierig, vorwärts zu kommen. Auf kleinen leeren Flächen gestampften Erdbodens und auf verdächtig rollenden Scheiten unbehauenen Holzes schwankte er zum Hackklotz. Und dort? Im Herzen der Finsternis, sozusagen? Zauderte er? Nein, er staunte selbst. Ohne die geringste Verzögerung packte er die Axt und fing einfach an. Es war so, als hätte er nichts anderes getan. Als wäre Holzhacken wirklich der natürliche, unkomplizierte Prozess, der es immer gewesen war. Er stellte ein Holzscheit auf den Hackklotz und halbierte es. Er stellte die Hälfte auf den Klotz und hackte sie zu Vierteln. Und so ging es weiter. So machte er weiter. Ruhig und rhythmisch. Locker und leicht. 88
Bis es dann schwerer ging. Zunächst hatte er wohl nicht so sehr daran gedacht, aber je müder seine Arme wurden, desto deutlicher war es, dass die Axt alt und stumpf war. Ganz unglaublich stumpf sogar, mit Scharten und Schäden hier und da an der Schneide, und außerdem fehlte ein kleines Stück vom Schaft, ganz unten, wo er eigentlich breiter hätte werden sollen, um einen besseren Griff zu bieten, deshalb sicher … Auf die Dauer wurde es ein bisschen schwer. Es war, als ob er eher zerschlug als spaltete, und gab es Äste und Harz, musste er wirklich schuften. Mit glühenden Wangen und nass vor Schweiß machte er eine Pause. Es wurde sehr ruhig und sehr still. Durch die zwei Türöffnungen schlug das Sonnenlicht herein wie der Schein von einem Paar Scheinwerfern, und irgendwo in der Ecke knackte es ein bisschen, weil das aufgeschichtete Holz trocknete und schrumpfte und sich ein paar Millimeter verschob. Er zog die Arbeitshandschuhe aus. Langsam rieb er sich die schmerzenden Hände, rieb sie so, dass sie abwechselnd aneinander entlangglitten, von den Nagelspitzen hinunter zu den Handwurzeln und wieder zurück, während die Fingerspitzen jede Veränderung ablasen: die Linien der Handfläche, die Verhärtungen, den Ehering. Hätte ihn jemand genau in diesem Augenblick gefragt, hätte er geschworen, dass sein Hirn leer, dass absolut nichts gedacht wurde – und er hätte sich geirrt. Irgendwo im Verborgenen reifte die Idee, formte sich der Gedanke in den Schatten (um ihn nicht zu erschrecken), und als er dann schließlich ins Licht hinaustrat, ja, da hatte er sich an ihn gewöhnt, da akzeptierte er ihn, ohne zu blinzeln. Entschlossen stolperte er durch das Klotzmeer wieder hinaus. Es war so selbstverständlich für ihn. Alles andere war so dumm, so unpraktisch, sagte er sich – und sobald er die Turnschuhe gegen Gummistiefel ausgetauscht 89
hatte, bahnte er sich den Weg den Hang hinter dem Haus hinunter, durch den Dschungel aus Geißblatt und Weidenröschen, bis hinunter zum Ufer, wo er ein Stück ins Wasser watete. Er war geradewegs darauf zugegangen. Geführt von der Landmarke mit den beiden dicht beieinander wachsenden Birken war er genau an der richtigen Stelle angekommen: wo der große, kantige Stein zur Hälfte sichtbar in dem braun schimmernden Wasser lag und wo er nach einigem Graben im Schlamm, unter den kleineren beschwerenden Steinen das schwere plastikumhüllte Paket erwischte. Er öffnete es erst, als er wieder oben auf dem Hof angekommen war. Mit einem Mora-Messer, das er aus der Garage geholt hatte, schnitt er säuberlich das zähe, schwarze Klebeband auf und nahm den Inhalt heraus. Das heißt, nahm er noch ein Paket heraus, ebenso groß wie das Erste, ebenso schwarz, ebenso klebebandüberkreuzt, und erst, als auch diese wasserdichte Schotte mit dem Messer zerschnitten worden war, kam sie endlich hinaus ins Sonnenlicht: die neue Axt. Er wickelte die braune Papiertüte auf, die er um das Axtblatt gehüllt hatte (um die Schneide daran zu hindern, das Plastik zu beschädigen), und ergriff dann den Schaft. Die Axt war völlig trocken und völlig glatt, anscheinend unbenutzt. Ja, obwohl sie im Jahr davor gekauft hatte, zum Sonderpreis bei Beijers Baumaterial, und sie seitdem benutzt hatte, wirkte sie jungfräulich, gescheuert mit Svinto, wie sie war, tadellos rein und glänzend. Nachdenklich wog er sie in der Hand, prüfte die scharfe Schneide mit dem Daumen. Nie hätte er wohl geglaubt, er würde … Aber das hatte er. Und nie hätte er wohl geglaubt, er würde sich so … Aber das tat er, und als er nach zwei Glas Saft (ausgetrunken stehenden Fußes an der Spüle) zum Holzhacken zurückkehrte, ja, da 90
verstärkte sich dieses Gefühl noch mehr. Den Teufel einschiffen. Das war es, was er dachte. Dass er den Teufel eingeschifft hatte und jetzt unterwegs war, ihn an Land zu bringen. Es war kein unangenehmer Gedanke. Zufrieden schwitzend sah er den Keil des neuen Axtblattes die Holzstücke sprengen, leichter jetzt, manchmal mit einer solchen Kraft, dass die Holzscheite mit taubem Bumsen die Wände entlangflogen und sogar die widerspenstigsten Stücke nachgaben. Wenn er nur hart genug schlug, wenn er nur auf den narbigen Hackklotz hämmerte und hämmerte. Es war nicht schwer zu verstehen, dass das die Entschlossenheit förderte. Dieses Handfeste. Dieses Offensichtliche. Beeinflussbare. Vorangehende. Aber wenn er dastand und die Axt schwang und die Kraft (und den Hahnenkamm) wachsen spürte und dachte, dass das Schlimmste jetzt vorbei war, dann war das nicht nur das Verdienst des Holzhackens. Nein, es war auch die Erinnerung an all dieses Plastik, und man konnte sich fragen: Warum hatte er sich so angestrengt mit dem Isolierungsstreifen und dem aufgeschnittenen Müllsack? Warum war es so wichtig gewesen, die Axt nicht nur versteckt, sondern auch trocken zu halten? Ja, weil er gewusst hatte, dass er sie wieder benutzen würde. So sah er es. Das war die Erklärung, die er fand. Weil es in seinem Kopf die ganze Zeit die Überzeugung gegeben hatte, dass das Normale, gegen jede Wahrscheinlichkeit, eines Tages zurückkehren würde. Weil er es gewusst hatte. Und darin lag ein solcher Trost. 91
Nicht darin, dass er im Tal des Todesschatten gewandert und wieder herausgekommen war. Das war trotz allem nur schlichter, reiner Selbsterhaltungstrieb (das sah er ein), etwas Wildes, Rückgratmäßiges, das eher ihn getrieben hatte als umgekehrt, aber bei der Sache mit der Axt … Das war ein Gedanke, sagte er sich. Ein Gedanke so klar und scharf, dass er ihn nicht einmal gesehen hatte, bevor er sich wieder über die Wasserfläche erhob. Er hatte es gewusst. Mitten in einer Welt des Chaos hatte er vorausgesehen, dass er allmählich den Punkt erreichen würde, wo eine Axt wieder eine Axt war und weiter nichts. Ja, mit überwältigender Zuversicht hatte er erkannt, dass sie trotz allem vor dem Wasser geschützt werden musste, vor dem Schlamm, vor dem schleimigen, grünen Wachstum – und jetzt … Als er mit erneuten Kräften die Arbeit wieder in Angriff nahm … Da kam sie ihm so trostreich vor. Ein solcher Glaube an sich selbst, dachte er. An die Zukunft. An die Möglichkeit eines Menschen, sein Leben zu beeinflussen. Und dann umfasste er ein bisschen stärker den Axtschaft und fühlte, wie der ihm einen Gruß sandte, quer durch das raue Leder der Arbeitshandschuhe.
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8 Die Sache mit dem Holzhacken – eine Weile ging es gut, bis es nicht mehr ging. Stunde um Stunde mit der Axt … Den halben Freitag, den ganzen Samstag und Sonntag … Vermutlich packte er zu sehr zu. Die Bewegungen waren ja ungewohnt und nahmen den Körper mit. Ja, vielleicht hatte er allzu viel allzu schnell gemacht in diesen ersten Tagen (weil er aus verschiedenen Gründen das Ganze aus der Welt schaffen wollte), und schließlich musste er einsehen, dass es hakte. Es tat richtig weh. Sein Rücken wurde steif wie ein Brett. Vom Nacken hinunter zur Taille liefen die Muskeln wie gespannte, schmerzende Saiten. Die Schultern taten weh und die Arme ebenso. Trotz der Arbeitshandschuhe entstanden Scheuerwunden an den Händen, und am Montag … Am Montag war er gezwungen, sich etwas leichteren Tätigkeiten zu widmen. Wie Unkrautjäten (bis auch das zu mühsam für den Rücken wurde). Und wie den ganzen großen Garten zu sprengen. Das war mehr als nötig. Langsam und methodisch ging er von köpfehängender Vegetation zu köpfehängender Vegetation, zog er den orangefarbenen Plastikschlauch von der neu gepflanzten Erbsenstrauchhecke hinten an der Garage zu der Rabatte an der Südwand, zur Steinpartie am Hang unterhalb des Hauses. Gierig saugte die trockene Erde die Flüssigkeit ein. Das Grün begann zu glitzern. Wie kleine blinkende Diamantknöpfe blieb das Wasser auf den spannungslosen Blättern liegen, suchte sich seinen Weg durch alle sich windenden Schleifen der schmalen Röhre, um schließlich in einer strahlenden Kaskade aus dem Mundstück zu spritzen. 93
Wieder und wieder wechselte er den Griff um den Schlauch. Das Wasser, das Plastik, die Hände – bald war alles gleich eisig kalt, aber das machte ihm nichts aus. Wollüstig legte er bald die eine, bald die andere gekühlte Handfläche an Stirn, Wange, Hals, legte sie sogar an den Schritt und genoss dann den ziehenden Schmerz, der sich nach unten über die Schenkel ausbreitete. Langsam wanderte er zum Erdbeerbeet, setzte er sich auf den alten, viereckigen Stein neben dem Rosenbusch. So weit konnte er ohne Verlängerungsschlauch kommen, das heißt, nicht bis ganz hin, aber nahe genug. Er richtete den Strahl die Pflanzreihen entlang, nivellierte die Distanz, indem er das Wasser in der Luft einen Bogen beschreiben ließ. Platsch, tschafs, klang es, wenn der künstliche Regenschauer auf die Erde und die zitternden Blätter aufschlug. Platsch, tschafs. Plipp, plopp. Er schob die Hinterbacken auf der harten Unterlage zurecht. Vor ihm duckten sich die Pflanzen, wenn sie eine nach der anderen in Reih und Glied ihren Teil der Nässe abbekamen. Die Gerechtigkeit war total. Auf eine zerstreute und improvisierte Art rechnete er die Rationen genau aus, bekam jede Pflanze die gleiche Menge Wasser wie die anderen. Er lauschte dem hypnotischen Ploppen und sah in dem konzentrierten Schauer den Ansatz eines Regenbogens entstehen. Das war sehr schön, beinah inspirierend, und nicht ganz ohne Grund fing er an, sich zu fühlen wie Gott: Leben spendend, allmächtig, abwesend. Mit einer einigermaßen sauberen Hand wischte er sich den Nacken. Es war heiß wie in der Hölle. Der Schweiß strömte. Ungehindert floss er den bloßen Oberkörper, Rücken, Bauch und die Arme hinunter, und er lachte. Ja, alles war, wie es sein sollte, alles, was er sah, war gut. 94
Rund um ihn lag der Garten grün und wohl gepflegt und prächtig. Die Sonne schien. Nicht eine Gewitterwolke, so weit das Auge reichte. Nicht am Himmel – und nicht in ihm selbst. Dass Evas Ei, irgendwo an unbekanntem Ort, sich in den forschenden Händen einer Seherin befand, warf keinen Schatten über den Tag. Die Fähigkeit, das Verborgene, das vielleicht mühsam Versteckte zu sehen, bekümmerte ihn nicht – all seinen Geheimnissen zum Trotz. Und warum nicht? Ja, weil er es nicht glauben konnte, weil er sich weigerte, es zu glauben. Er war jetzt fast vierzig. Fast vierzig Jahre lang war die Welt ein und dieselbe gewesen: unveränderlich und messbar, voller Realitäten und Offensichtlichkeiten. Für Seherinnen und innere Gesichte hatte es keinen Platz gegeben, und so etwas änderte man nicht Hals über Kopf. Stand man mit beiden Beinen auf der Erde, dann tat man das. War man ein praktischer, realistischer Mann, dann war man einer, beinah egal, was passierte, aber sicher … Ab und zu musste er doch an sie denken. Obwohl er es zunächst vergessen zu haben schien, kam es trotzdem nach und nach zurück, die Erinnerung daran, wie das fischbauchbleiche Gesicht gewissermaßen strahlte, wie radioaktives Meißener Porzellan, daran, wie der Raum schrumpfte und die Zeit stillzustehen schien, aber da war auch noch anderes. Da war der feste, wenn auch eilige Händedruck, die kräftigen Waden, da waren die schweren, hüpfenden Hinterbacken unter dem Kleiderstoff – kleine Details nur, kleine, unbedeutende Details, die sich hartnäckig hielten und sich bei den abwegigsten Gelegenheiten in Erinnerung brachten: wenn er abwusch, 95
duschte, sich die Zähne putzte. Dass sie sich wieder begegnen würden, fand er nicht wahrscheinlich. In Verbindung brachte er sie mit den Schwiegereltern. An sie, erwartete er, würde sie sich mit dem Ei und eventuellen Gesichten wenden, waren es nun Lügen oder Halluzinationen – und dennoch tauchte sie wieder auf, ohne Vorwarnung. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Ja, er hatte gerade beschlossen, sich einen Verlängerungsschlauch zu besorgen und weiter zu den Himbeerbüschen zu ziehen, als das unbekannte Auto den ausgefahrenen Kiesweg entlanggeholpert kam. Erstaunt zog er das Mundstück ab und trabte zum Haus. Ein hellgrauer, alter Volkswagen war es, Modell Käfer, und kannte er jemanden, der so einen hatte? Er dachte nach, während das Auto näher kam. Jemand aus der Stadt vielleicht? Ein Arbeitskollege? Nein, nein. Wie er sich den Kopf auch zerbrach, er kam nicht dahinter, wer es war, nicht bis das Auto vor der Garage parkte und sie ausstieg. Sie hatte das Kleid mit einem Paar abgeschnittener Jeans vertauscht, trug aber im Übrigen dieselbe Jacke, dieselben Sandalen, hatte dasselbe längliche Pferdegesicht. Es war nichts dagegen zu machen, dass er einen Stich der Unruhe empfand. Er wusste ja überhaupt nicht, was sie wollte, hatte nicht die blasseste Ahnung, warum sie überhaupt zurückkam, aber wenn er es wissen wollte, war er allzu erstaunt oder zu wohlerzogen, um zu fragen. Stattdessen grüßte er etwas lahm und sah genauso überrumpelt aus, wie er war. »Störe ich?« Sie nickte ihm fragend zu. »Was? Nein … Aber nein. Überhaupt nicht. Ich hab nur …« Er folgte ihrem Blick und fühlte sich plötzlich idiotisch. Ja, er konnte sich selbst richtig sehen: halb nackt, schweißglänzend, irgendwie kompromittiert. Mit einem entschuldigenden Lächeln ging er rückwärts zum Windfang und zog, trotz des Schweißes, 96
das Hemd an, das er schlampig zusammengeknüllt über dem Geländer gelassen hatte. »Ich war nur dabei, ein bisschen zu sprengen«, sagte er und fand, gestärkt durch die Kleidung, etwas von seiner Haltung wieder. »Gar nichts Besonderes.« »Dann darf ich vielleicht reinkommen?« »Sicher.« Mit einer höflichen Geste ließ er sie durch die schon weit offen stehende Tür vorgehen. Da war ein gewisser Unterschied. Wenn sie drei Tage zuvor draußen auf den Stufen gezögert hatte, trat sie jetzt ganz resolut ein, beschleunigte eher, anstatt höflich hereinzukommen, als hätte sie sich lange vorher entschieden, dies zu tun, und er musste sich geradezu beeilen, um mit ihr Schritt zu halten. Die erdigen Pranken an der Hemdbrust abwischend, bat er sie ins Wohnzimmer, wo sie sich bereits befand, und als er fragte, ob sie sich setzen wolle, schien sie das nicht zu hören oder wollte ganz einfach nicht. Stattdessen sah sie sich neugierig um, spazierte zwischen den Bildern, Buchrücken und Fotorahmen, sondierte sie das Terrain, als hätte sie es nie zuvor gesehen. Sie schien tausend Fragen zu haben: Wer waren die Maler?, erkundigte sie sich wissbegierig. Hatte er die alle gelesen? Wie lange waren sie verheiratet gewesen? Fragen, Fragen, Fragen. Alle mit derselben flachen, sachlichen Stimme gestellt, demselben indifferenten Ernst, demselben unterschiedslosen Interesse – und alle gleichermaßen höflich beantwortet. Es war möglich, dass er genau das Gegenteil hätte tun sollen. Ein Mann ohne Geheimnisse, ohne etwas zu verbergen … Hätte er nicht lieber fragen sollen, was zum Teufel sie wollte, sich erkundigen, worum es ginge, sie vielleicht rausschmeißen 97
und etwas von Hausfriedensbruch sagen? Ja, vielleicht war seine wohlerzogene Bereitwilligkeit das Allerverräterischste, etwas, das sie trotz allem nur misstrauisch machte, aber zu diesem Zeitpunkt dachte er nicht so. Nicht zu antworten – das, fürchtete er, würde merkwürdig wirken, und also stand er schließlich da, mitten im Zimmer, mit leicht idiotisch baumelnden Armen, während sie ihn umkreiste und alles erfuhr, was sie wissen wollte. Lars Norrman, sagte er und deutete die Wände entlang. Jean Ragnar. Sixten Fager. Nein, nicht wirklich alle. Sieben Jahre. »Sieben Jahre?« Sie wiegte den Kopf. »Und ihr wart glücklich verheiratet?« »Warum sagst du wart?« »Und ihr seid glücklich verheiratet?« »Ja.« »Aber ihr habt keine Kinder?« »Nein.« »Und warum nicht?« Er zuckte leicht zusammen. Zwar hatte sie eine überwältigende Selbstsicherheit, sicher war das so. Fremd oder nicht, es lag eine einlullende Selbstverständlichkeit in der Art, mit der sie sich ihm ohne weitere Präludien näherte, fragte, immer näher rückte, aber trotzdem … Er konnte es nicht ändern. »Und warum nicht!«, wiederholte er mit einer Erregung, die er nicht zu verbergen vermochte. »Das geht ja wohl mit dem Teufel zu«, fauchte er. »Sobald zwei Menschen zusammenleben, wird erwartet, dass sie sich Kinder anschaffen. Das gilt als selbstverständlich. Als ob es nichts anderes gäbe, was man miteinander machen kann, und ich begreife das nicht. 98
Was soll diese ungesunde Fixierung auf Kinder? Diese … gewohnheitsmäßige Vermehrung?« »Ja, frag nicht mich«, antwortete sie mit großen Augen. »Ich hab doch …« »Und außerdem«, hetzte er weiter, »wenn wir uns Kinder angeschafft hätten wie alle anderen, wie man es offensichtlich machen soll – was hätten wir mit ihnen machen sollen? Zwei Berufstätige wie wir. Hätten wir sie vielleicht wegschicken sollen, in ein Heim, damit sie mit einer Masse von zwanzig, dreißig anderen Kindern erzogen werden, ständig verrotzt und krank, gestresst wie Hähnchen – und zu welchem Zweck? Letzten Endes sterben sie dann an Krebs, sie auch, oder werden senil und kriegen MS und Gott weiß was … Was Langwieriges und Schlimmes.« Er verstummte, um Luft zu holen. Die junge Frau guckte ihn an. Sie wirkte nicht ängstlich. Nein, trotz seines kampflustigen Starrens sah sie wirklich nur interessiert aus, verdammt interessiert, und langsam fiel die Wut von ihm ab. »Na ja«, sagte er leise und räusperte sich. »Es war nicht meine Absicht zu … Ja, das ist wohl vielleicht ein bisschen ein Lieblingsthema …« »Kein Problem.« Anscheinend unbekümmert stellte sie endlich das Hochzeitsfoto zurück an seinen Platz im Bücherregal. »Ich bin wirklich furchtbar neugierig, das bin ich. Ich weiß. Mein Fehler. Ich frage und frage und frage …« Sie bedachte den Fotorahmen mit einer letzten vorsichtigen Liebkosung mit dem Zeigefinger. »Und du? Gibt es nichts, was du mich fragen möchtest?« Er guckte sie an und dachte aufrichtig nach. Ihm gefielen ihr Hintern und ihre Schenkel, das gab er zu, und er konnte jederzeit die Augen schließen und ihr Gesicht vor sich sehen, wie trivial das auch klang, aber gab es etwas, das er über sie wissen wollte? 99
Er legte den Kopf schief und überlegte. Was sie für den Alltagsgebrauch arbeitete, vielleicht? Was für Interessen sie hatte? Etwas so Einfaches wie, wie sie mit Nachnamen hieße? Aber nein. Gab er der Wahrheit die Ehre, gab es tatsächlich nichts, was er wissen wollte, nichts, was er zu wissen brauchte, und er wollte deswegen gerade eine Frage erfinden, als ihm endlich aufging, was sie gemeint hatte. Eva. Natürlich fand sie, dass er nach seiner Frau fragen, etwas Interesse dafür zeigen sollte, wo sie sich befinden mochte, für ihr Wohl und Wehe. Dafür, ob das Ei etwas zu erzählen gehabt hätte. Er fluchte im Stillen ein bisschen. Er war in der letzten Zeit viel zu viel für sich gewesen, hatte sich angewöhnt, der zu sein, der er war, und sich abgewöhnt, der zu sein, der er sein sollte, aber glücklicherweise schien das den Besuch nicht zu kümmern. Nein, statt eine Antwort abzuwarten, huschte sie einfach weiter. Vom Bücherregal zum Fenster. Von der Ehe zum Verschwinden. »Und dann machte sie einen Spaziergang und kam nicht zurück?« »Nein. Nein, genau das«, sagte er, erleichtert, dass das Gespräch eine andere und neutralere Wendung genommen hatte. »Wenn du da drüben hinsiehst«, fuhr er zuvorkommend fort und machte mit dem deutenden Finger Flecken auf die Fensterscheibe, »genau da, jenseits der Straße, bei der großen Salweide. Da ist eine alte Landstraße, und irgendwo auf der … ist sie einfach verschwunden.« »Aber du hast sie gesehen?« »Eva? Dooch … Ja, sicher, das heißt, als sie ging.« 100
»Da drüben?« »Genau.« »Aha …« Sie warf einen Blick auf ihn, wandte sich dann aber wieder zum Fenster. Geduldig beobachtete er das blasse Gesicht, die Haut weiß in dem scharfen Sonnenschein, das Profil lang, die Augäpfel gewölbt und wohl geformt (genau wie bei einer Kuh, dachte er, ganz genau wie bei einer Kuh), doch obwohl er wartete und wartete, sagte sie nichts. Sie stand nur da, anscheinend abwesend und verloren, als sähe sie nicht nur quer über die Straße, sondern weiter als das, als bewegte sie sich in Gedanken bis zur Brücke, in den Wald hinein, bis zur Eisenbahn, weg zur Stadt, ans Meer, ans Ende der Welt. Und wieder zurück. Sie schüttelte entschlossen den Kopf. »Aber ich glaube trotzdem nicht, dass sie freiwillig gegangen ist.« Er seufzte hörbar. »Das hast du gesagt, ja«, sagte er. »Voriges Mal.« »Sie wirkt nämlich so stationär.« »Das hast du auch gesagt.« Sie lächelte blass. »Na ja«, sagte sie vage. Nur das: »Na ja …«, und zu seiner großen Freude ging sie endlich zu einem der Sessel und setzte sich und kam zur Sache, ohne dass er es auch nur hätte verlangen müssen. Ja, so verhielt es sich, erklärte sie, dass sie zugeben müsse, dass sie in gewisser Weise festgefahren sei. Sie wusste noch immer nicht, wo Eva sich befand (eine Äußerung, die ihn nicht halb so viel erstaunte wie die Tatsache, dass er tatsächlich eine gewisse Erleichterung darüber empfand, es zu erfahren), und auch wenn sie Eva zwar sehen konnte, ihr »Wesen« sehen konnte, wie sie es ausdrückte, ihren »Charakter«, hörte es 101
danach auf, und daran war etwas Seltsames. »Ich sehe nämlich Bilder«, behauptete sie und sah absolut glaubwürdig aus, »Bilder von einer Art – Waldumgebung, aber deine Frau ist nicht dabei, überhaupt nichts Lebendiges ist dabei, nichts, nicht einmal ein Tier. Verstehst du?« Er schüttelte aufrichtig den Kopf. »Es sind leere Bilder«, fuhr sie fort. »So was sehe ich normalerweise nicht. Entweder sehe ich das, was ich suche, oder ich sehe gar nichts. Ich meine, es ist schwarz, es funktioniert eben nicht, aber leere Bilder … Es ist, als wäre sie in gewisser Weise weg …« »Ich weiß.« »Und ich verstehe überhaupt nicht, was das bedeutet oder woran es liegt.« Sie hatte die ganze Zeit an etwas gefingert, das sie in der Jackentasche hatte, jetzt aber nahm sie es heraus, so dass er es sehen konnte, und natürlich war es das Ei. Sie hielt es etwas linkisch, zwischen Daumen und Zeigefinger, und für ein paar Augenblicke saß sie still da und starrte nur, als versuchte sie, ihre eigenen kryptischen Gesichte bis ins Letzte zu deuten. Und dann legte sie wieder los. »Und du bist sicher, dass sie verschwunden ist?« Ach, du liebe Zeit. Er stöhnte beinah laut. Natürlich war Eva verschwunden, und das erzählte er ihr sehr deutlich. »Klar ist sie verschwunden«, fertigte er sie ab. »Das weiß jeder Mensch.« »Und du bist wirklich sicher?« »Klar bin ich sicher.« »Hm …« Das Murmeln klang bei weitem nicht überzeugt, tatsächlich an 102
der Grenze zum Zweideutigen, und für den Bruchteil einer Sekunde wurde er unruhig, schwindelte es ihm, als ihm der Gedanke, die Möglichkeit vorschwebte, dass sie wirklich wusste, dass sie vor ihrem inneren Auge (oder was es nun war) sehen konnte, dass Eva nicht mehr verschwunden war, als dass er sie jederzeit wieder finden konnte. Wenn er nur wollte. Und mitnehmen musste er einen … »… denn normalerweise kann ich so etwas sehen, das verschwunden ist, verstehst du.« »Wie Hunde?«, murmelte er ironisch. »Ja, wie Hunde, aber auch anderes, wie Schlüssel oder verloren gegangene Schmuckstücke oder … oder Gartenscheren.« Er lehnte sich amüsiert zurück, da auf seinem Platz auf der Couch. Ihr zuzuhören war, als litte man an Aphasie. Er hörte, aber verstand nicht. Wesen und Charaktere? Leere Bilder und Gartenscheren? Gartenscheren. Sie hätte genauso gut in Zungen reden können. Für ihn war es Chinesisch, schlichter, reiner Galimathias. Wenn sie die Lippen bewegte, kam eine Stimme aus einer anderen Welt. Er verstand die Sprache nicht – und verstand sie sie selbst? Die Frage war nicht ganz uninteressant. Ja, sozusagen während des Freitagsbesuchs ertappte er sich dabei, dass er die Frage geradezu faszinierend fand. Saß sie da und spielte Theater – oder war dieses verrückte Zeug für sie wirklich? Bluffte sie oder war sie krank?, fragte er sich. War sie berechnend oder irre – und vielleicht sah man seinem Gesicht seinen Zweifel an.
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»Du glaubst mir nicht, stimmts?« Sie klang überhaupt nicht vorwurfsvoll, eher, als ob sie es einfach feststellte (als wäre sie es gewohnt, in Zweifel gezogen zu werden), aber er lächelte dennoch höflich und entschuldigend. »Ich muss wohl zugeben, dass es ein bisschen schwer verdaulich ist, ja. Die Sache mit Seherinnen … Es passt mit meiner Weltanschauung irgendwie nicht zusammen.« »Seherinnen?« Sie klang erstaunt. »Seherinnen sehen in die Zukunft. Sie können Dingen voraussagen. Ich sehe nur Gegenwart und Vergangenheit.« »Und wie nennt man dann so eine?« »So eine«, sagte sie und lächelte, »nennt man Sonja.« Zum ersten Mal riss das längliche Gesicht ernstlich auf, und der Anblick war schlagend. Auf ungewöhnliche Weise zogen sich die Mundwinkel nach hinten, weit, weit nach hinten, schienen sich auf eine physisch beinah unmögliche Art zu krümmen, und obwohl er es sofort wieder erkannte, obwohl er, sobald er es sah, wusste, dass es ihn an etwas erinnerte, dauerte es doch eine Weile, bis ihm aufging, was es eigentlich war, dem sie ähnelte: Es war ein Delphin. Sie hatte das Lächeln eines Delphins. Selbstzufrieden. In sich gekehrt. Ansteckend. So ansteckend, dass er gestehen musste, dass sie ihn anzog. Bestimmte Teile von ihr hatten ihm zwar schon vorher gefallen. So war es fast immer. Meistens gab es irgendetwas, das ihm gefiel, doch jetzt fühlte er sich auch zum Ganzen hingezogen (zu ihrem »Wesen« und »Charakter« vielleicht), zu diesem blassen, halb irren Wesen im Sessel. Das war eigentlich kein Wunder. Es war schon früher vorgekommen. Die schönen, schlankgehungerten Schauspielerinnen im Fernsehen in allen Ehren, aber letztendlich waren es doch die wirklichen Frauen, die ihn ansprachen. Es waren einigermaßen 104
betagte Serviererinnen mit schweren Brüsten und hässlichen Schürzen im Fernlastercafé. Gelangweilte Kassiererinnen mit finsterem Flunsch. Sittsame, aber entgegenkommende Bibliothekarinnen, die vor ihm zwischen den Bücherregalen entlanggingen und mit allzu breiten Hinterteilen wackelten. Ja, einfach normale Frauen, die alle das gemeinsam hatten, dass sie da waren, dass sie Körper und Präsenz besaßen, und bei denen er ruhig phantasieren konnte, die Hände auf sie zu legen. Denn trotz allem war dies das Schlüsselwort: phantasieren. Während seiner Zeit mit Eva war er nie untreu gewesen. Weder die Energie noch die Gelegenheit hatte sich je eingestellt, und als notwendig hatte er es auch nicht empfunden. Ihr Sexualleben war ganz okay oder zumindest das gewesen, was man erwarten konnte, nahm er an, aber er phantasierte eben gern. Es machte ihm Spaß, seine Begierden im Verborgenen zu trainieren, fast widerwillig die Möglichkeiten der bei weitem nicht Perfekten zu erforschen. Letzten Endes: Wer konnte sich selbst zusammen mit den Filmstars und Fotomodellen sehen, zusammen mit den Langbeinigen und Glitzernden? Aber die alltäglichen Frauen … Mit ihnen war es anders. Sie hatten gewissermaßen ihre eigene Anziehungskraft. Doch, so war es. Gerade durch ihre Mangelhaftigkeit wurden sie sinnlich und attraktiv. Bei ihnen fand er die Zugänglichkeit, die den schönen Schwänen fehlte und die bewirkte, dass er sie vor sich sehen konnte: die schwellenden Hintern und die übergewichtigen Rundungen, die zellulitisgedetschten Schenkel und die lächerlichen Grenzen zwischen Sonnenverbranntem und Blaubleichem, wo während der Wochen auf Kreta oder Mallorca der Bikini gesessen hatte. Wirkliche Körper. Wirkliche Frauen. Frauen, die unter den heißen Handflächen nicht wie Butter schmelzen würden, wie sie da mit dem Pferdegesicht, nach wie 105
vor mit dem Ei zwischen Daumen und Zeigefinger (als hielte sie Hundedreck) und nach wie vor mit diesem seltsamen, archaischen Lächeln in den Mundwinkeln hängend. Angeregt wanderte er unter die aufgeknöpfte und auseinander gezogene Strickjacke. Und weiter. Unter das dünne T-Shirt. Die Brüste waren vielleicht nicht sehr groß, aber BHlos. Wie eifrige Retrievernasen strebten sie unter dem weichen Baumwolltrikot aufwärts. Er konnte ihr Gewicht spüren, ihre Elastizität, als hielte er sie schon in der Hand. Ja, samtweich waren sie, und wenn er sie nur anfasste, würde er die flachen Brustwarzen dazu bringen, sich aufzurichten und zu herrlich harten unreifen Himbeeren zu werden, würde er … »Aber sie könnte selbstverständlich tot sein.« »Was?« Er zog die Gedanken an sich wie Tentakel. »Dass sie tot ist. Vielleicht kann ich sie deswegen nicht sehen. Ich weiß nicht. Ich habe noch nie etwas Totes gesucht.« Sie machte eine Kunstpause. »Schockiere ich dich?« »Nein, nein …«, räusperte er sich und nahm sich zusammen. »Ich fürchte, dass …« Er fing von vorn an, um sich nicht zu versprechen. »Du kannst sehr wohl Recht haben. Die Polizei war auch nicht besonders hoffnungsvoll, und man … Ja, man muss ja realistisch sein, gefasst auf das Schlimmste.« Er setzte eine betrübte Miene auf. Nein, setzte nicht auf. Er war betrübt. Fühlte er nur ein bisschen nach, vorsichtig, um den schlafenden Bären nicht ganz und gar zu wecken, gab es wirklich nicht den geringsten Anlass, Theater zu spielen. Im Übrigen war es so, dass sich die ganze Zeit alles geregelt hatte. Wie als die Polizei zum ersten Mal auftauchte und andeutete, dass er sie wohl etwas spät angerufen habe. Natürlich hatte er schuldbewusst ausgesehen, was sonst, er hatte es nicht ändern können, und trotzdem … Zu dem Zeitpunkt war es 106
beinah wie ein Wunder erschienen. Dass sie gesehen, aber trotzdem nichts gesehen hatten. Dass sie den niedergeschlagenen Blick nur für eine Entschuldigung gehalten hatten (obwohl die Verzögerung ja darauf beruhte, dass er mit all dem anderen zu beschäftigt gewesen war) – und ebenso war es später, bei der Suche selbst. All diese Menschen, die gesucht hatten und hatten finden wollen. All diese Menschen – und dann er, der alles zu verbergen zu haben schien. Ja, er hatte schon geglaubt, dass es schwer werden würde, die Maske zu behalten, dass alle es ihm ansehen, es erraten könnten, doch so, stellte sich heraus, war es durchaus nicht. Sogar die Sorge der Schwiegereltern zu managen war unerwartet leicht gewesen, gerade deshalb, weil er sich Sorgen gemacht hatte, Sorgen, sich zu versprechen, etwas vergessen zu haben, Sorgen wegen diesem oder jenem – und die ganze Zeit hatte die Umgebung ihn falsch interpretiert, hatte alles in Ordnung gebracht, aus reinem Wohlwollen und reiner Gutgläubigkeit. Und jetzt? Ließ sich auch diese junge Frau von seiner trügerischen Ehrlichkeit hereinlegen? Vielleicht. Vielleicht nicht. Es war schwer zu sagen. Ihrem Gesicht war keine Information zu entnehmen, und er kam sowieso nicht weiter, als die angemessen betrübten Falten zu legen, bis sie das Thema wechselte oder zumindest dem Gespräch eine neue Richtung gab. Sie wusste nicht, was sie machen sollte, behauptete sie, und deshalb war sie gekommen, um ihn um Rat zu fragen. Ja, worüber sie nachdachte, war, was sie Edna und Konrad sagen sollte. »Sie scheinen so viel zu hoffen«, sagte sie fast klagend. »Besonders Edna … Soll ich also sagen, dass ich glaube, sie ist 107
tot und sie enttäuschen, oder soll ich ihnen die Hoffnung lassen, auch wenn sie falsch ist? Was ist besser? Was meinst du? Du kennst sie ja … Außerdem ist es ja nur mein Verdacht. Ich weiß es ja nicht, nicht bestimmt. Verstehst du, was ich meine?« Er antwortete etwas Vages und Ausweichendes. Die Sache war die, dass er sehr wohl verstand, was sie meinte. Wissen kontra Hoffnung. Doch, er wusste genau, worin das Problem bestand, und das deshalb, weil das Problem auch seines war. Solange die Schwiegereltern nichts mit Bestimmtheit wussten, würden sie glauben. Und wenn sie hundert Jahre alt würden, würde ein kleiner, kleiner Teil von ihnen immer hoffen, immer hoffen, ihre Tochter werde auf irgendeine Weise von sich hören lassen. Ja, solange nichts Neues an den Tag kam, würden sie weiter davon reden, anrufen, zu Besuch kommen, darauf herumreiten, würden sie ihm weiter zusetzen und ihn quälen. Solange Eva nicht auftauchte – und das würde sie nicht. (Das zu sehen fiel ihm schwer.) Und deswegen war sein Problem unlösbar. Und ihres nichtexistent. Was die Seherin glaubte (und sie konnte gegen den Titel protestieren, so viel sie wollte, er dachte trotzdem so an sie), spielte nämlich keine größere Rolle. Zwar würden die Schwiegereltern es vorziehen, wenn sie etwas Positives sagte, dass es Eva gut gehe, dass sie bald zurückkommen werde – aber wenn nicht … Was hatte das für einen Einfluss? Solange sich nichts beweisen ließ, würde es Raum für Zweifel geben, und solange es Raum für Zweifel gab, würden Edna und Konrad an ihren Hoffnungen festhalten. So war es einfach. Daran war nichts zu ändern, und tatsächlich ärgerte es ihn ein bisschen. Da saß sie und machte sich Gedanken über die Gefühle und Bedürfnisse seiner Schwiegereltern, fragte sich, wie sie es aufnehmen und 108
reagieren würden, aber auf ihn schien sie zu pfeifen. All dieses scheußliche Gerede, Eva wäre … Na ja. Nun nährte er zwar keine Hoffnung auf das Gegenteil, doch das konnte die Seherin ja nicht wissen, also sollte sie nicht auch etwas an ihn denken?, fragte er sich und fühlte sich benachteiligt, so kindlich und abgrundtief benachteiligt, dass er es nicht lassen konnte, das zu zeigen. »Und ich?«, klagte er gekränkt. »An sie denkst du, aber mir sagst du es … gerade heraus … als ob ich keine Gefühle hätte.« »Ach was«, sagte sie unbekümmert und ließ das Ei wieder in die Tasche gleiten. »Du glaubst ja sowieso nicht, was ich sage, stimmts? Und außerdem dachte ich, du könntest vielleicht helfen, sie zu finden.« »Eva?« »Mm …«, sagte sie ernst. Er runzelte die Stirn. »Mal sehen, ob ich das richtig verstehe«, sagte er und klang fast irritiert. »Erst sagst du, dass sie …« »Dass es die Möglichkeit gibt, ja.« »Und dann behauptest du trotzdem, ich könnte helfen, sie ausfindig zu machen. Und wie zum Teufel sollte das zugehen?« »Wer weiß.« Sie zuckte die Achseln, anscheinend unberührt von seiner Wut wie auch seinem Mangel an Logik. »Ich dachte, du würdest es selbst wissen.« Und so machte sie es wieder: ihn beunruhigen. Erschrecken. Ihm eine Welle von Schauern das Rückgrat hinunterschicken. Für einen Augenblick guckte er weg. Was sie andeutete, war, dass sie wusste, dass er wusste, vielleicht sogar, dass sie wusste, dass er wusste, dass sie wusste, und nur mit einer gewissen Anstrengung gelang es ihm, das irrationale Unlustgefühl 109
abzuschütteln, aufzusehen, ihrem Blick zu begegnen – und erschauerte erneut. Sie war so furchtbar aufmerksam. Sie guckte ihn nicht an, sie nagelte ihn fest, mit Fünf-Zoll-Nägeln, sie trieb den Blick quer durch ihn und auf der anderen Seite hinaus. Er guckte zurück, erheblich bescheidener. In ihrem Gesicht war so schwer zu lesen: die zu nichts verpflichtende Miene. Die regelmäßige Nase. Die grauen Iris, so hell, dass sie mit den Augenweißen mehr gemeinsam zu haben schienen als mit den abgegrenzten und stark betonten Pupillen. Schöne Augen, konstatierte er. Charismatisch. Durchschauend. Und obwohl er sein Hemd angezogen hatte, fühlte er sich bis auf den bloßen Körper ausgezogen. Ohne wirklich sicher zu sein, ob das ein Witz war oder nicht, dachte er, dass sie vielleicht nicht nur Dinge las, sondern auch Gedanken. Es war etwas Besonderes mit diesen Augen, etwas Röntgenblickartiges. Hätte er einen Riss im Schädel gehabt, hätte sie den sicher gesehen und dass sie ihn für den Bruchteil einer Sekunde beim Wickel gehabt, dass er gezittert und wirklich geglaubt hatte … Das war ihr vermutlich auch nicht entgangen. Nein, sie war geschickt darin, Leute aus dem Gleichgewicht zu bringen, geschickter, als er je geglaubt hatte, und er musste auf der Hut sein. Es war einfach nur festzuhalten: Er sprach mit einem Borkenkäfer, einem Erzschürfer, einem Minensucher. Sie befühlte ihn, genau das tat sie, tastete, quetschte wie an einer halb reifen Melone, und würde sie ihn kaufen? Kaufen, was er sagte? Ja, so war es, sagte er sich plötzlich mit realistischerer und glaubwürdigerer Überzeugung. Natürlich war das ihre 110
Spezialität. Nicht Informationen aus Hundeleinen und Marmoreiern zu gewinnen. Nein, nicht von toten Dingen abzulesen, sondern von lebenden Menschen, und das hatte absolut nichts zu tun mit Röntgenblicken oder Übernatürlichem. Sie blickte nicht nach innen, sondern nach außen. Sie sah nicht das Verborgene, aber doch das Sichtbare, und er musste sich hüten, damit er nicht irrtümlich verriet, was er am allerliebsten verbergen wollte. »Du verstehst«, fuhr sie fort und funkelte (war es mutwillig?) mit den hellgrauen Augen, »als ich dir die Hand gab … Ja, letzten Freitag«, erklärte sie, als sie seine fragende Miene sah, »als wir uns draußen auf den Stufen die Hand geschüttelt haben, da hab ich irgendwie gespürt, dass du trotz allem was wusstest.« »Wusste – was?«, fragte er mit natürlichem Misstrauen. »Tja … Etwas. Ich weiß nicht genau. Aber irgendetwas hat mir gesagt, dass wir gewissermaßen nicht dieselben Fragen hatten, dass du über was – anderes verfügt hast. Etwas, das ich nicht hatte, und dass ich, wenn mir das zugänglich wäre, ja, dann würde ich besser verstehen, besser sehen …« »So ein Quatsch«, entgegnete er mit spontanem und hemmungslosem Nachdruck. Sie zuckte ungerührt die Schultern. »So funktioniert es jedenfalls. Ich gab dir die Hand, und sofort kam mir der Gedanke, dass du etwas weißt und vielleicht sogar …« Die etwas heisere Altstimme zögerte und erstarb. »Und was?!« »Na ja … Es war ja nur für einen Augenblick, klar … ein schwaches Aufblitzen … nichts Kräftiges, Eindeutiges oder so, aber der Gedanke kam mir, er kam mir wirklich …« »Was denn?« »Ja, dass du … dass du vielleicht in gewisser Weise froh bist, sie los zu sein.« 111
Froh? Eva los zu sein? Er traute seinen Ohren kaum. »Aber ich kann mich ja geirrt haben, klar«, leierte sie sorglos weiter. »Es blitzte ja nur so auf, wie ich sagte, ganz kurz. Und vielleicht warst du nur über etwas anderes erleichtert, so hab ich dich gespürt«, sagte sie und schien in die Zeit vor dem Handschlag zurückzugleiten. »Erleichtert.« Sie nickte abwesend vor sich hin. »Mm … oder zufrieden, kann auch sein …« Zufrieden? Ihm stand vor Unglauben der Mund offen. Was sagte diese geistesverwirrte Person da? Ja, er begriff nicht, wovon sie redete (wollte es nicht begreifen). Zufrieden! Und wie aufgeschreckt aus einem Traum erwachte er zum Leben und beugte sich heftig über den Couchtisch vor. »Mein Gott!«, rief er aus, mit gleichen Teilen von Gefühl und Erstaunen. »Du weißt ja nicht, wovon du redest. Wie ich unter der Sache gelitten habe, wie ich …« Er suchte nach den Worten. »Ja, die Hölle ist es gewesen, schlicht und einfach die Hölle.« »Gewesen?« Sie spitzte nachdenklich den Mund. »Ist«, korrigierte er sich automatisch und ohne eigentlich den Abgrund zu ahnen. »Ist die Hölle« – und wie im Blitzlicht sah er plötzlich, dass es jetzt anders war. Es war absolut nicht so wie mit der Polizei. Mit denen hatte er sich ja tatsächlich befassen müssen, aber diese Frau hier …? Dieses Frauenzimmer, das da vor ihm im Dux-Sessel kauerte, entspannt und handzahm wie eine Katze, beinah miauend, schnurrend, aber mit gewetztem Irrsinn und gerade außer Sichtweite … Er fluchte darüber, wie bescheuert er gewesen war. Ja, endlich ging ihm auf, dass er sie ja praktisch hätte rausschmeißen können, ohne sich deshalb schuldig zu fühlen. Nichts hinderte ihn daran. Er war ein freier Mann in einem freien Land. Es gab nichts, was ihn zwang, sich diesem aufdringlichen Wahnsinn auszusetzen, all diesen »Gefühlen«, »Gesichten«, Andeutungen, und wenn er ihr am Anfang schöngetan hatte (vielleicht weil er eigentlich etwas anderes mit ihr hätte tun wollen), war es damit 112
auch vorbei. Er rappelte sich auf. Jetzt war es genug, nahm er Anlauf. Edna und Konrad sollten sagen, was sie wollten. Jetzt würde er … »Und dann ist da natürlich die Sache mit den Steinen.« »Steinen?« Sein Inneres verstummte, setzte sich, erschlaffte. Obwohl er wusste, dass es unmöglich war, ahnte er schon das Schlimmste. »Ja, wenn ich das Ei halte, sehe ich eine Menge Steine«, fuhr sie pädagogisch und mit unschuldiger Miene fort, »einfach kleine, runde Steine, gar nicht bemerkenswert, aber das ist ein bisschen ulkig. Weißt du, warum ich sie sehe?« »Steine?«, wiederholte er noch einmal, wobei er versuchte, etwas Zeit zu gewinnen. »Nein … Keine Ahnung …« Er zwang sich, ihrem Blick zu begegnen. Das Lächeln, das er vorher das eines Delphins genannt hatte, kam ihm jetzt wolfsähnlicher vor als irgendetwas anderes. Es war, als wollte sie ihn verschlingen. Wenn sie es nicht schon getan hatte. Vom Stressei war nicht mehr die Rede. Sie machte nicht einmal mehr Anstalten, es zurückzugeben, als sie ging.
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9 Assoziationen. Der kleine, holpernde Volkswagen brauchte nicht mehr als außer Sichtweite zu verschwinden, schon musste er an den Vorfall denken. Es war vor zwei, drei Jahren gewesen, im Herbst. Er hatte am Küchentisch gesessen und das Gewehr gereinigt, und im Fenster neben ihm war das Radio gelaufen, von den Nachrichten zum Wetterbericht zu einer Sendung über das so genannte Übernatürliche. Zunächst hatte er nicht besonders stark darauf geachtet, sich nur berieseln lassen. Normale Menschen, oder was wie normale Menschen wirkte, hatten offenherzig von allen möglichen merkwürdigen Dingen erzählt, die sie erlebt hatten. Ja, es waren abwechselnd Hausfrauen und Postamtsleiter, doch obwohl sie sagten, wie sie hießen und wo sie wohnten, war es trotzdem schwer gewesen zu glauben, dass sie und ihre Geschichten wirklich waren. So war es ja einfach: Man hörte sich so was an und ließ sich ein bisschen kitzeln, fand es unterhaltend, aber man glaubte es verdammt nochmal nicht. Man konnte es sich irgendwie nicht vorstellen, in Wirklichkeit. Auch wenn sie Namen und Wohnort nannten, waren es ja Fremde. Was gesagt wurde, wurde zu Spukgeschichten, Erfindungen und Edgar Allan Poe, deshalb stellt euch sein Erstaunen vor, als er nach einer Weile begriff, dass er jemandem zuhörte, von dem er wusste, wer er war. Nicht dass er den betreffenden Mann besonders gut gekannt hätte, aber er war ihm auf jeden Fall ein paar Mal begegnet: ein Landwirt aus einem der Nachbardörfer, ein Mann, der so normal und erdgebunden gewirkt hatte wie nur einer und der also 114
plötzlich da im Äther aufgetaucht war mit der Erzählung, wie es im Haus der Familie spukte. Es war gelinde gesagt faszinierend gewesen. Man hörte Schritte auf den Windfangstufen, obwohl niemand kam, behauptete der Mann. Man hörte Gemurmel von Stimmen wie von einem Fest, obwohl der Hof leer war. Bilder fielen von den Wänden. Der Katze sträubte sich das Fell wegen nichts und wieder nichts, und die Decken wurden aus den Betten gezogen, mitten in der Nacht, von unsichtbaren Händen. Assoziationen. Ja, das hatte er vor zwei, drei Jahren gehört, mindestens, aber sobald die Seherin aufgebrochen war und es still und ruhig um ihn wurde, sobald er nachzudenken begann, was eigentlich passiert war, da kam ihm die Erinnerung mit erstaunlichem Detailreichtum. Das Herbstdunkel und der Lichtkegel der Küchenlampe über dem Wachstuch. Der Duft von Waffenöl und der Gedanke an all dies Unwahrscheinliche, erlebt von einem Mann, den er kannte, das sich zugetragen hatte in einem Haus, von dem er wusste, wo es lag, an dem er ab und zu mit dem Auto vorbeifuhr. Er hatte alles beiseite gelegt, was er in den Händen gehabt hatte, und nur noch zugehört. Die Perspektive wurde gewissermaßen eine andere. Das Unglaubliche war näher gekommen, bis zum eigenen Haus, und wurde dadurch wahrscheinlicher, praktisch beinah wirklich und eine Spur unheimlich, für eine Viertelstunde oder so. Und jetzt war es also in seinem Haus passiert. Ja, selbstverständlich in sehr kleinem Maßstab. Im Vergleich zu fallenden Bildern und beweglichen Bettdecken war es natürlich rein gar nichts. Sogar verglichen mit dem Geräusch von einem Webstuhl, an dem niemand webte, aber das war anders gewesen. Das war ja trotz allem seine eigene Erfindung, 115
sein eigenes Hirngespinst, aber das hier … Das hier war nichts, das sich als Halluzination abtun ließ. Das hier war wirklich, und es war merkwürdig. Wieso hatte sie gewusst – wenn sie nicht wissen konnte, wenn sie nicht hätte wissen sollen? Die Frage störte ihn wirklich. Obwohl er absolut nicht glaubte, dass das Ganze zu etwas Unangenehmem führen würde (trotz einer gewissen Folgerichtigkeit fiel ihm dieser Gedanke nicht ein), aber trotzdem … Es hatte etwas Beunruhigendes. Natürlich waren ja die Steine an sich eine Kleinigkeit, die kleinstmögliche vermutlich, das gab er bereitwillig zu, aber nicht das war das Wichtige. Im Grunde genommen glaubte er nicht an eine Invasion von Geistern oder so. Er war ein moderner Mensch, sagte er sich. Aufgeklärt und rational. Er glaubte weder an Gespenster noch an fliegende Untertassen, weder an Wichtel noch an Trolle, und was diese Frau von der Keramikschale wusste oder nicht wusste, war ja ebenso wenig von größerem Gewicht. Nein, es ging um das Prinzip. Darum, dass er es verstehen sollte – aber scheiterte. Darum, dass er in einer begreiflichen Welt begreifen können sollte – und das nicht tat. Und für einen prinzipienfesten Mann wie ihn ging das mit dem Teufel zu. Ja, allerdings hatte sie einen Hausfriedensbruch begangen, diese Sonja. Sie war eingebrochen – in seinen Sinn für Logik –, und das war es, was nagte, was ihn sich winden ließ wie ein Wurm am Haken. Wie um Himmels willen konnte sie wissen, dass das Ei normalerweise in einer Schale mit vom Meer geschliffenen Steinen lag?
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Edna und Konrad wussten es nicht. Das war so gut wie sicher. Wenn sie zu Besuch kamen, gingen sie nicht ins Obergeschoss, da war ja nur das Schlafzimmer, und auch wenn sie es ausnahmsweise mal getan hätten, auch wenn sie wider Erwarten zufällig die versteckte Schale und deren Inhalt gesehen hätten, warum sollten sie sich daran erinnern und, darüber hinaus, es interessant genug finden, um es anderen gegenüber zu erwähnen? Nein, er zweifelte … zweifelte daran, dass es so zugegangen war und dass es ein Zufall war, ein weit hergeholtes Raten von Seiten der Seherin, fand er auch mehr oder weniger ausgeschlossen. Die Chance, zufällig den etwas abwegigen Standort eines abwegigen Gegenstandes in einem wildfremden Haus beschreiben zu können, musste ja minimal sein, um nicht zu sagen vernachlässigbar. Was blieb also? Was sollte er eigentlich glauben? Das Problem schien unlösbar, und dennoch musste es eine Lösung, eine rationale Erklärung geben. Er überlegte weiter. Er jätete Unkraut und überlegte. Er machte Abendessen und überlegte. Er wusch ab und versuchte, mit dem Überlegen aufzuhören, doch seine Gedanken wollten die Sache nicht auf sich beruhen lassen, und bald waren die Steine wieder da. #Es war nicht besonders angenehm. Im Gegenteil. Es war frustrierend. Aus allen möglichen Winkeln und Ecken betrachtete er die wenigen Möglichkeiten. Von vorn und hinten. Von hinten und vorn. Verwarf sie. Griff sie wieder auf. Und schließlich rief er sogar seine Schwiegereltern an und fragte sie geradeheraus, fragte sie, was sie über das Stressei eigentlich gesagt hatten. 117
Edna, die abhob, schien nicht zu verstehen, wovon er redete. »Aber lieber Bengt«, sagte sie nur erstaunt, vielleicht direkt verwirrt, und als sie auf seinen dringenden Wunsch hin auch Konrad fragte, war die Antwort die gleiche. Beide behaupteten, sie hätten weder von der Existenz des Eis noch der der übrigen Steine gewusst. Und das war es dann also. Vollbremsung. Sackgasse. Mit der Lüge, dass das Kartoffelwasser koche (er hatte ja schon zu Abend gegessen und dann auch noch Nudeln), schnitt er Ednas neugierige Gegenfragen ab und legte jäh auf. Es ging wirklich mit dem Teufel zu, und vielleicht war es sogar schwer zu verstehen, was eigentlich passiert war. Es war weder lustig noch kribbelnd. Das war es vielleicht, wenn man davon las oder es im Film sah, ja, wenn es einem anderen passierte, aber wenn es die eigene Wirklichkeit war, die angeschlagen wurde … Dann war das etwas ganz anderes. Dann war es störend, so störend, dass ihm an diesem Abend sogar das Fernsehen schwer fiel. Er konnte sich nicht richtig konzentrieren. Auch wenn er sich befahl, nicht mehr daran zu denken, schwammen die Steine wieder an die Oberfläche. Obwohl er glaubte, sie beiseite gelegt zu haben, und es schaffte, sich eine Weile einer Comedy-Serie zu widmen, waren sie doch bald wieder da, erwog er plötzlich wieder eine unmögliche Möglichkeit – bis er ganz und gar aufgab und stattdessen zu Bett ging, um die Sache zu überschlafen. Das pflegte gewöhnlich zu funktionieren. Im Licht eines neuen Tages pflegten die Probleme anders auszusehen. Sie wirkten verhältnismäßiger, überwindbarer. Ja, man sah die Dinge von einer anderen Seite, in einer anderen 118
Perspektive, oder man war ganz einfach weniger müde oder beides zugleich. Und funktionierte es dieses Mal? Die Antwort war ja und nein. Nein – insofern, als er auch am Dienstagmorgen nicht begriff, wie es zugegangen war. Ja – insofern, als ihm tatsächlich eine Idee kam, als er vor dem Kühlschrank stand und sich Dickmilch und Kaviar und Butter und Knäckebrot auf den Arm füllte. Wie geht ein praktischer Mann zu Wege, wenn er die Welt untersucht, wenn nicht systematisch, gründlich und rational? Und so dachte er: Wenn da etwas war, das er nicht verstand, dann war es etwas, das er nicht wusste, und wenn da etwas war, das er nicht wusste, dann war es etwas, das er ausfindig machen konnte, ein Puzzleteil, ein ersehntes Stück entscheidender Information. Genau das. Das war der Ausweg, dachte er an diesem Vormittag, als er sich am Küchentisch niederließ und seine Butterbrote schmierte. Wenn er nur etwas mehr wüsste, würde ihm ein Licht aufgehen – und gesagt, getan. Als er gegessen und abgewaschen hatte, ging er zum Bücherregal im Wohnzimmer. Dort gab es nämlich etwas, das er, ebenso wie das Stressei, vergessen hatte wegzuräumen: einen guten Meter Bücher, Evas Bücher, trotz des gemeinsamen Portemonnaies und des gemeinsamen Bücherinteresses eher ihre als seine, weil sie die Einzige war, die sie gelesen hatte. Vor dem niedrigen Regal kniend, nahm er sie, eines nach dem anderen heraus, las die Vorder- und Rückseiten, stapelte er die, die geeignet schienen, zu einem schwankenden, schlampigen Stapel neben sich auf dem Boden auf.
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Die Titel variierten. Manche von ihnen benutzten das »Übernatürliche«, »Ungelöste« und »Mystische«, während andere mit Worten wie »Wissenschaft« und »Psychologie« das Seriösere betonten, aber der Inhalt war dennoch mehr oder weniger der gleiche. Zumindest wirkte es so auf ihn, und ohne mehr als ihn ganz grob gesichtet zu haben, nahm er den Stapel mit und ging hinaus, setzte sich in den Baden-Baden-Sessel und verteilte alle Bücher um sich im üppigen Gras. Aufs Geratewohl wählte er ein Buch mit farbenprächtiger, einladender Vorderseite aus. »Feuer der Vorzeit« las er im Inhaltsverzeichnis, »Eigentümliche Wolken«, »Riesen in der Erde«, »Landschaftsfiguren« … Na ja, vielleicht nicht ganz die richtige Richtung. Er legte es beiseite und nahm ein anderes Buch und dann noch eines und noch eines. Er las nicht alles. Bestimmte Teile übersprang er, und andere überflog er nur. Worauf er aus war, war etwas, das möglicherweise ein wenig Licht auf die Seherin werfen konnte, darauf, womit sie sich, wie sie glaubte oder zu glauben vorgab, beschäftigte. Ja, etwas, Gott weiß was, das eine Art Erklärung geben konnte. Aber es war ja klar … Manchmal wurde er auf ein Nebengeleise gelockt, manchmal konnte er nicht anders, als sich auch noch für andere Themen zu interessieren. Es war nicht die Literatur, die er normalerweise zu lesen pflegte. Ein Krimi konnte natürlich ab und zu hindurchschlüpfen, sicher, wenn ihm der Sinn nach etwas Leichtem, Unterhaltendem stand, aber nicht etwas wie das hier, das sich für die Wahrheit des Tages ausgab. Das war Evas Abteilung. In regelmäßigen Abständen war sie mit einem neuen Buch über das wohl bekannte Thema angekommen und hatte gefragt, ob er es nicht auch lesen wolle, und in ebenso regelmäßigen Abständen hatte er sich nachsichtig (und eine Spur herablassend) bedankt. 120
Tatsache war, dass er das Genre immer als etwas Minderbemitteltes betrachtet hatte oder vielleicht eher als eine Spekulation in einer naiven, minderbemittelten Disziplin. Es gibt Dinge, die kann man nicht erklären, konnte seine Frau zu ihm sagen, während er die Augen verdrehte und glaubte oder sich wünschte, er hätte sich verhört. Oft waren sie dann beide sauer gewesen. Sie, weil er »so ein unerträglicher Besserwisser« war, er, weil man »mit ihr nicht diskutieren konnte« – aber das lag ja inzwischen in der Vergangenheit, und also bitte … Als er einmal angefangen hatte und niemand in der Nähe war, der sehen konnte, wie er schwach geworden war, da hatte er es da draußen in der Sonne richtig nett. Ja, die Bücher waren auf ihre Weise interessant, manchmal sogar spannend. Es lag ein reizvolles Element darin, für einen Augenblick aus der Deckung zu gehen und sich überzeugen zu lassen, darin, den Gedanken zu denken, dass die Wirklichkeit, die man in- und auswendig zu kennen glaubte, eine ganz andere war, wo das Obskure eine Selbstverständlichkeit und das Unmögliche Alltagskost waren, und langsam ging ihm auf, warum Literatur dieser Art so populär war. Es war tatsächlich wie Krimis lesen. Es gab eine Möglichkeit, aus der alten, langweiligen, gewohnten Welt, in der nie etwas Interessantes geschah, zu fliehen und sich stattdessen in eine neue, eher flimmernde und haarsträubende zu begeben, deshalb, klar … Er unterhielt sich ganz gut, und die Zeit verging, wenn nicht schnell, so doch ohne dass er daran dachte. Es wurde eins. Es wurde zwei. Schneckengleich langsam glitt die unbewegliche Sonne weiter über das Himmelsgewölbe, und gegen halb drei nahmen die langen Schatten der Birken seinen Sitzplatz ein. Da zog er ins Haus um, aber nicht weil es zu kalt und dunkel geworden wäre. Vielmehr war die Temperatur im Schatten eher angenehmer als 121
in der Sonne. Ja, er klebte vor Schweiß und das Baden-BadenPolster ebenso, aber er fühlte sich etwas rastlos. Er hatte sich vielleicht nicht gelangweilt, aber er war auch nicht weitergekommen, hatte nicht gefunden, wonach er gesucht hatte, und deshalb war es schön, eine Pause zu machen. Die Bücher umständlich in die Arme gepackt, ging er wieder ins Haus, nahm eine lange kalte Dusche, stärkte sich mit einem Schluck Milch und Haushaltswaffeln – und fing starrköpfig von vorn an. Bald auf dem Rücken, bald auf dem Bauch auf der Wohnzimmercouch liegend, vertiefte er sich weiter in das Unglaubliche und Paranormale. Inzwischen war ihm nichts mehr fremd. Leute, deren Träume in Erfüllung gingen, die unter der Decke schwebten oder Sprachen sprachen, die sie nie gelernt hatten. Gegenstände, die den Standort wechselten, ohne dass jemand sie berührte. Durchsichtige Damen, die durch uralte Pfarrhöfe fegten, begleitet von eiskalten Windstößen und Wolkenbrüchen geleebedeckter Kressesamen, die unerwartet über stille, ruhevolle Gärten hereinbrachen. Doch wirklich genauso interessant wie vorher war es nicht. Die Wahrheit war, dass er die Merkwürdigkeiten langsam satt bekam und hungrig wurde auf etwas anderes, und erst eine gute Stunde später, als er sich gerade entschlossen hatte, eine verspätete Mittagspause zu machen, fand er, worauf er eigentlich aus war. »Psychometrie« las er in einer der Überschriften. »Psychometrie ist eine Form außersinnlicher Wahrnehmung, bei welcher eine Person Eindrücke eines Sachverhaltes oder eines Vorgangs, in der Regel bereits eingetreten, zu empfangen scheint, allein durch die Berührung eines Gegenstandes, der Verbindung zu dem Vorgang hatte.« Bingo. 122
Da hatte er es. Etwas trocken und umständlich erklärt vielleicht, aber das war es, was er gesucht hatte, und die Trockenheit nahm er eigentlich nur für ein gutes Zeichen. Versprach sie etwa nicht Wissenschaftlichkeit? Fakten statt freien Phantasien? Er setzte sich in der Couchecke auf, gewissermaßen um die richtige Perspektive auf das zu bekommen, was er las. »Man weiß noch nicht, warum ein Gegenstand die außersinnliche Fähigkeit bestimmter Menschen im Verhältnis zu Vorgängen, die Verbindung zu dem Gegenstand haben, zu schärfen scheint. Etliche Psychologen glauben, der Gegenstand sei nur deshalb so hilfreich, weil die Leute glauben, er sei es. Andere sind der Ansicht, der Gegenstand stehe tatsächlich in Verbindung mit den Vorgängen, von denen er einst Teil gewesen ist.« Ja, ja. Er wusste sehr gut, welcher Ansicht bestimmte andere waren, aber wie ging das eigentlich vor sich? Worin bestand diese Verbindung, von der sie sprachen? Er ging oberflächlich die Seiten durch, ohne etwas Spezielles zu finden. Er lernte, dass die junge Frau etwas war, das »psychometrisches Medium« genannt wurde und dass die psychometrisch eingeholte Information in erster Linie den Eigentümer des Gegenstandes zu betreffen schien, dessen Persönlichkeit, Aussehen und Erfahrungen. »Es kommt allerdings vor«, las er im selben Abschnitt weiter, »dass der benutzte Gegenstand mit Menschen nicht einmal in Berührung gewesen sein muss und sehr wohl von anderen Gegenständen erzählen kann.« Wie Steine in einer Keramikschale. Vielen Dank. Auch das wusste er schon, aber wie…? Die Antwort auf diese Frage konnte er nicht finden, wie sehr er es auch versuchte. Nein, es gab darin keinen Leitfaden, wie es rein 123
praktisch funktionieren sollte. Niemand schien daran gedacht oder sich dafür interessiert zu haben. Psychometrie. Ja, ja. Der Begriff an sich klang ja genauso klinisch und greifbar wie, sagen wir – Neurose oder – Lobotomie, aber mehr als das war es nicht. Irgendwelche wirklichen Erklärungen waren da nicht zu finden, und als ein neues Kapitel mit der Überschrift »Gedankenbilder« anfing, war er gezwungen festzustellen, dass er nicht so sehr viel klüger geworden war. Teufel auch, fluchte er vor sich hin. Empört über den Mangel an Wissenschaftlichkeit blätterte er zurück zum Anfang des Kapitels, irritiert und unsystematisch zwischen den Seiten wechselnd. So wie er es verstand, war die (anscheinend) allgemein anerkannte Theorie die folgende: Ohne dass noch jemand gewusst hätte, wie das vor sich ging, konnte ein Gegenstand Vorgänge oder Personen oder anderes, womit er in Kontakt kam, »aufnehmen«, und dann konnten bestimmte Menschen mit spezieller Begabung denselben Gegenstand »abspielen«, als wäre er ein Tonband oder vielleicht eher ein Videoband. Die Frage war nur, ob es wahrscheinlich klang. Tat es das? Absolut nicht. Und glaubte er daran? Nein, kaum. Und trotzdem saß er da und zog das Ganze genau in Erwägung. Es war schwer zu erklären und noch schwerer zu verstehen. Vermutlich hatte er eine Gehirnwäsche hinter sich. Nach all diesen Stunden mit all diesen Büchern … Ja, vermutlich war er beeinflusst, denn so waren die meisten der Texte angelegt. Sie wollten nicht nur darlegen, sie wollten überzeugen. Sie wollten eine alternative Welt mit alternativen 124
Spielregeln präsentieren, und sie waren sehr hartnäckig. Menschen wurden mit Namen und Beruf genannt. Plätze und Zeitpunkt präzise beschrieben. Anscheinend ehrenwerte Wissenschaftler und Spezialisten äußerten sich, und sie waren auf ihre Weise schon überzeugend. Ja, vielleicht ließ er sich ganz allmählich in diese alternative Welt entführen. Eine andere Erklärung für sein Verhalten konnte er nachher nicht finden. Es war, als hätte er angefangen, zumindest bestimmte der übernatürlichen Verrücktheiten gelten zu lassen. Wenn irgendein Frauenzimmer ein Ticken und Stundenschläge aus einer Topfscherbe hören konnte, die im Gehäuse einer Wanduhr gelegen hatte, dann konnte er das beinah verstehen, glaubt es oder nicht, dann konnte er trotz allem eine Art Ordnung mitten im Irrsinn finden, eine Art wahnsinnigen, aber logischen Zusammenhang zwischen Scherbe und Uhr. Aber es war ja klar … Auch mit Gehirnwäsche hatte er seine Beschränkungen, und wenn ein Medium, indem es die alte Mütze eines verschwundenen Mannes hielt, denselben angeblich gefunden hatte, zig Kilometer weg, hängend in dem Kiefernwald, in dem er sich das Leben genommen hatte, ja, dann kam er einfach nicht mehr mit. Wie konnte eine Mütze, die daheim in der Diele hing, wissen, was ihr Eigentümer ganz woanders unternahm? Worin bestand die Verbindung?, fragte er sich wieder und ohne nur die Spur zu begreifen. Und was konnte eine Hundeleine daheim auf dem Hof über den Aufenthaltsort eines entlaufenen Hundes zu berichten haben? Er überlegte. Allein das. Dass er überhaupt versuchte, eine Art System in etwas so Unglaubliches, Unmögliches, Lächerliches zu bringen, doch das tat er, und sicher, dachte er großzügig, sicher konnte ja 125
der Mann seinen Selbstmord an einem Tag geplant haben, an dem er die Mütze aufhatte (du lieber Gott, wie das klang), sicher konnte die Mütze ihre Information an Ort und Stelle aufgenommen haben, direkt aus dem Schädelknochen sozusagen, aber ein Hund … Die irrende Fortbewegung eines Hundes, auf der Jagd nach einem Hasen oder einer läufigen Hündin – die konnte nicht einmal ein Computer vorhersehen und noch weniger eine seelenlose Hundeleine. Nein, das ging einfach nicht zusammen, wie großzügig er auch war. Das war nicht zu begreifen. So war es einfach. Punkt, aus. Aber wie um Himmels willen hatte sie dann von der Sache mit den Steinen wissen können? Mit einem Knall legte er das Buch weg auf den Couchtisch. Er hatte mehr als genug von außersinnlich eingeholtem Wissen. Er brauchte etwas Greifbareres. Er brauchte etwas zu essen, und als der wohl bekannte Geruch gut gebratenen Specks ihm zwanzig Minuten später in die Nasenlöcher stieg, war das wie das Aufwachen aus einem Traum, war es wie die Genesung von einer vorübergehenden Geisteskrankheit.
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10 Er war ein bisschen wie ein Hund. Er vergrub Dinge. Als er mit dem Problem nicht weiterkommen konnte und die Frustration über das Misslingen ihm anstrengend vorkam, ja, da entschied er sich dafür, es zu vergessen. Sollte es einem Mann so gehen müssen?, fragte er sich. Sollte ein Mann seine Zeit, seine wertvolle, einzige, die letzte Woche des Urlaubs noch dazu, darauf verwenden müssen, das anscheinend Unmögliche wiederzukäuen? Nein, er war nicht dieser Meinung. So verdammt wichtig war es nicht, nicht wenn er nachdachte (sagte er sich), und was war denn eigentlich passiert? Er war sich nicht mehr sicher. Was sie gesagt hatte. Ihres Gesichtsausdrucks. Seines eigenen Schwindelgefühls. Nach ein paar Tagen wurden die Erinnerungen an all das immer vager, immer diffuser und unzuverlässiger. Vielleicht war es nicht einmal passiert, log er sich schamlos vor, oder vielleicht hatte es sich nicht wirklich so abgespielt, wie er sich zu erinnern meinte. Genau. Irgendeine Erklärung gab es ja dafür, dass es keine Erklärung gab. Das war ja offensichtlich, und also sanken die Steine schließlich auf den Grund, schaufelte er sie zu als die Dinge von geringem Wert, die sie trotz allem waren, und dann war das erledigt.
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Ja, er war ein Hund. Er war wahrhaftig ein Hund. Fast vierzig Jahre lang hatte er Unangenehmes vergraben, liegen gelassen, aus den Augen, aus dem Sinn, und war weitergegangen. Ob das eine gute oder eine schlechte Gewohnheit war, darüber konnte man natürlich diskutieren (hatte man diskutiert, fleißig), aber zu funktionieren schien es immer. Nach allem, was er durchgemacht hatte – mit Scheußlichkeiten und Halluzinationen, mit besorgten Schwiegereltern und nachforschenden Seherinnen –, und dennoch schien er unversehrt, so gut wie unbeeinflusst. Es war nahezu bewundernswert. Hätte die Umgebung es gewusst, sie hätte sich gefragt, wie um Himmels willen er das machte. Wie ging das nur? Letzten Endes derselbe Mann zu bleiben … Ja, bis auf den schlimmen Rücken war er vom Zustand her so gut wie neu (anscheinend so gut wie neu), und warum? Weil er akzeptierte, sagte er. Weil er mit dem lebte, woran er nichts ändern konnte. Und so wurde Eva zu einem abgeschlossenen Kapitel. Und die Geräusche von Eva. Und die Steine und die schändliche Affäre mit der Quasiwissenschaft ebenso. All dieser vorübergehende Wahnsinn vergraben. In guter alter Ordnung. Im alten, gewohnten Stil. All diese unbequemen Erinnerungen in eine tiefe Grube befördert, denn er betrachtete sie als überstanden, geschehen, als totes Fleisch. Und die Seherin? Nein, der Körper zappelte noch immer, war noch immer und immer öfter in seinen Gedanken. Kurz gesagt: Sie machte ihn an, und wenn die Anziehung zunächst zaghaft gewesen war, an 128
der Grenze zum Unbewussten, schlug sie jetzt aus in voller Blüte. In der Stille und dem ruhigen Tempo, noch ruhiger jetzt, wo er den schmerzenden Körper ausruhte, waren reichlich Zeit und Raum, um von ihr zu phantasieren, und Dienstagnacht kam sie sogar im Traum zu ihm. Entspannt und dampfend lag er still unter dem Laken. Er war eben wach gewesen, hatte in dem dunstigen Schlafzimmer schläfrig um sich geblinzelt und versucht, die Zeit zu schätzen, war aber zu müde gewesen, zurück aufs Kissen gefallen, mit geschlossenen Augen davongetrieben, und dann schlief er wieder. Ja, schlief er auf diese leichte, unmerkliche Art, direkt unter der Oberfläche, wo man beinah weiß, dass man schläft, und wo die Träume am allerklarsten und zugänglichsten sind. Rundherum war das Zimmer heiß. Einen weiteren Tag hatte die Sonne auf das glänzende Blechdach gehämmert, und nicht einmal jetzt, mitten in der Nacht, wollte sie eigentlich erlöschen und heimgehen. Nein, schwach, aber hartnäckig hielt sich das Licht hinter den undichten Rollos, sickerte es ins Zimmer, unter die flatternden Augenlider. Er drehte sich ein wenig, wechselte von der Rücken- in die vornübergebeugte Seitenlage, und als die Traumgestalt, die sie war, war sie plötzlich einfach da, eine Vorspiegelung, ein Wärmezittern auf der Matratze. Er war überhaupt nicht erstaunt. Es war völlig selbstverständlich. Weiß wie Alabaster lag sie ausgestreckt unter ihm. Nackt. Selbstleuchtend in einem Nachtdunkel schwärzer als das, das er um sich hatte. In Zeitlupe sah er seine eigenen unnatürlich großen Hände über ihr Fleisch tasten, die runden Formen schwellend und willig unter den Fingerspitzen, die Brust schwer hängend und spitz zugleich, wie gemacht, um in seine eifrigen, umschließenden Handflächen zu passen. 129
Auch in schlafendem Zustand war es ein Erlebnis. Die Wollust dabei … Sie endlich in Besitz zu nehmen. Endlich zu beherrschen – und das Gefühl der Befriedigung war klar sexuell. Ja, die Wollust dabei, ihr unergründliches Gesicht aufreißen und aufblühen zu sehen, sich zusammenziehend von Schauer um Schauer der Befriedigung, und wenn in den hellgrauen Augen etwas aufleuchtete, dann war es nicht mehr etwas Unbekanntes oder Entferntes oder jenseits aller Kontrolle. Nein, das war er. Die Reflexion von ihm selbst, der rittlings über ihrem Körper saß. Sein Zeichen in die weiche, mondscheinweiße Haut kerbte. Einen Abdruck hinterließ. Sie spielte wie eine Violine (obwohl er eindeutig unmusikalisch war), und nicht ein einziges Detail gab es, das ihm nicht ausgeliefert wurde. Alles konnte er studieren, alles bekam er zu sehen – und als er gegen Morgen langsam wieder aufwachte, ja, da konnte er sie immer noch vor sich sehen. Auch jenseits des Traumes konnte er sehen, wie das feste, braune Schamhaar sich lockte, wie es sich zu einem Wirbel und einem Kamm sammelte, einem lustigen, widerspenstigen Hahnenkamm, der von oben nach unten verlief, über die weiche Wölbung des Venusbergs. Er lachte zufrieden, wie er so dalag, die Hände unter dem Kopf gefaltet. Der Gedanke war wirklich sehr amüsant, der Gedanke, dass er vielleicht etwas Wahres über sie gesehen hatte, auf die gleiche Weise, wie sie die Sache mit den Steinen gesehen zu haben schien. Ja, es war ihm beinah so, als hätte er eine Offenbarung gehabt, als wäre es nicht um eine Illusion gegangen, sondern um Wirklichkeit, als hätte er sie tatsächlich gesehen, wenn auch in einem inneren Gesicht, wäre ihr nahe gekommen, hätte Kontakt geknüpft, sich ihrer auf Distanz bemächtigt. Doch das war in der Nacht. 130
Am Tag war es komplizierter. Sie machte ihn schon an, das tat sie. Auch bei vollem Tageslicht reizte sie ihn, aber da war auch noch etwas anderes, etwas Unangenehmes, das zu greifen er sich nicht in der Lage sah. Nein, ganz und gar zufrieden war er nicht damit, wie die Seherin ihn beeinflusste. Sie hatte etwas an sich, wovon er absolut nichts wissen wollte, eine Irritation, ein Unruhemoment, und ganz freiwillig war die Anziehung nicht. Nein, es gab Gelegenheiten, da fand er seine Schwäche für sie widerlich, wie etwa, als er am Donnerstagmorgen Boxershorts und Bettlaken wechseln musste, doch das half nichts. Die Fixierung wollte nicht aufhören. Er war ganz einfach nicht Herr darüber, und auch in dieser Hinsicht war er ein Hund. Der Körper eines Mannes. Mit einer Hundesexualität. Er hätte es nie selbst gesagt, erkannte aber die Symptome wieder. Es war der Penis, der den Weg zeigte. Es war der Schwanz, der mit halsstarriger Beharrlichkeit geradeaus in die Luft stand, und was anderes konnte die Nase (oder Schnauze) tun, als in dieselbe Richtung zu zeigen? Nichts. Auch wenn sie eine Gefahr witterte, musste sie sich fügen. Er war wie gesagt nicht Herr darüber (nicht über sie und nicht über sich selbst), und also wollte er und wollte er zugleich nicht. Er wünschte, sie würde irgendeinen wahnsinnigen Anlass finden, wieder aufzutauchen, und er wünschte, er müsste sie nie mehr sehen. Er lockte an und hielt ab. Stieß von sich und zog an, im selben Atemzug – und dann begann sie auch anzurufen.
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Der erste Anruf kam am Donnerstagabend. Scharf wie eine Sirene hatte das Telefon dort im Wohnzimmerfenster geklungen, hatte das abrupte Signal ihn zusammenzucken lassen, als er sich vor dem Fernseher niedergelassen hatte, um die Achtzehnuhrnachrichten zu sehen. Natürlich hatte er geglaubt, es sei Edna. Es war genau die Tageszeit: nicht am Tag, aber auch nicht spät am Abend, und so hatte er ein paar Signale vergehen lassen, hatte er sich gestählt, bevor er den Hörer abhob und sich meldete. »Hallo, hier ist Sonja«, hörte er die Seherin mit entsetzlicher Energie sagen. »Sonja Lundmark. Störe ich?« Er sank auf den Stuhl am Eichentisch. Störe ich? Die Worte verschafften ihm ein eisiges Gefühl von déjà vu. Ja, es war dieselbe verlogen-bescheidene Anfrage wie voriges Mal, beantwortet vom gleichen zweifelhaften Dementi, einem dahingekrächzten »Nein, nein, gar nicht«, während ihm die Haare auf den Unterarmen zu Berge standen und die Finger an der verwickelten Spiralschnur fummelten. Er hätte am allerliebsten wieder aufgelegt. Das war seine erste Reaktion. Und zweite. Und dritte. Obwohl er behauptete, es vergessen zu haben (dass es überhaupt nichts zum Vergessen gegeben hatte), war es natürlich noch da. Bewusst oder unbewusst spielte keine Rolle. Die Erinnerung daran, dass sie ihn beunruhigen, ja sogar erschrecken konnte, war noch nicht ganz ausradiert, und er hätte sich schützen wollen, abbrechen, weggehen, aber da war auch noch die Verlockung … Widerwillig zwang er sich zum Zuhören. Hörte der leisen Altstimme zu, der flachen, sachlichen Stimme, und sicher … Sicher spürte er den Sog, und bald saß er
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da und schloss die Augen, den Kopf an die Wand gelehnt und den Hörer dicht ans Ohr gedrückt. Hätte er gekonnt, er hätte die Stimme genossen, ohne zuzuhören, was sie sagte, doch da dies nicht möglich war, musste es trotzdem gehen, und ganz so schwierig, wie er geglaubt hatte, wurde es nicht. Das Gespräch dauerte nicht lange, nur fünf, zehn Minuten etwa, und an den beiden folgenden Abenden war es ebenso. Manchmal fragte sie noch immer nach irgendwelchen Dingen, das tat sie: über Eva, über ihn, über Eva und ihn, »um es in sich zu fühlen«, wie sie mit einer Vagheit sagte, die wie eine Ausflucht klang, aber so besonders aufdringlich wurde es eigentlich nicht. Nein, meistens war es einfaches Geplauder. Erstaunt entdeckte er, dass sie es anscheinend vorzog, über sich zu sprechen, über dieses und jenes, über die Hunde, die sie fand, darüber, dass »die Gabe« in der Familie lag. Ja, die Mutter wie die Großmutter, auch sie hatten sehen können, was nicht zu sehen war, behauptete sie, hatten sogar die Toten sehen können (die Toten, nanu – eine Äußerung, die ihn sich fragen ließ, ob der Wahnsinn genetisch bedingt oder vielleicht eingepaukt sei, von Frau zu Frau, als ein mündlich tradiertes Erbe) – aber warum sie anrief …? Tatsächlich …? Das war und blieb ihm ein Rätsel. Im Grunde genommen waren die Gespräche ja sinnlos. Etwas anderes konnte er nicht sehen. Sie kam ja nie auf etwas Bestimmtes, sondern redete nur von dem einen oder anderen, von diesem und jenem, aber es war klar … So naiv, dass er glaubte, sie wolle nichts, das war er nicht. Nein, da kannte er die Frauen schon besser, sagte er sich mit Überzeugung. Na klar, sie hatten etwas auf dem Herzen, sie hatte etwas auf dem Herzen, wenn sie so beharrlich anrief, mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks, und also wartete er ab an seinem Ende des 133
Telefondrahtes, während er ab und zu einen Schnörkel auf den Notizblock auf dem Tisch zeichnete und nichts von Gewicht gesagt wurde. Langsam nahm seine Nervosität ab. Zwar waren die Gespräche an sich bizarr, aber sie sagte nichts, was ihn wunderte, enthüllte keine neue Information, die sie nicht hätte haben sollen, ja, nichts anderes, als jeder Beliebige hätte erraten können. »Ihr habt ziemlich viel gestritten«, konnte sie sagen. »Wir sind verheiratet.« »Und sie hat recht oft geweint.« »Sie ist ja eine Frau.« »Und was meinst du damit?« Er lächelte beinah. Er konnte hören, wie sie unterschiedliche Strategien testete. Während des ersten Gesprächs verhielt sie sich in hohem Maß neutral, hatte sie dieselbe Stimme, an die er sich gewöhnt hatte, aber am Freitag gurrte sie wie eine Taube, klang sanft und besorgt und sprach davon, wie schrecklich es für ihn gewesen sein müsse, und am Samstag war sie wieder anklagend und provozierend und kam erneut auf die Behauptung zurück, er wäre froh darüber gewesen, sie (das heißt Eva) loszuwerden – etwas, das er ohne Zögern dementierte und das er vielleicht empörend fand, das er aber dennoch mit Gleichmut aufnahm, da er wusste, dass sie ihn nur testete. Denn so war es. Sie tastete sich vor. Versuchte bald das eine, bald das andere, und auch wenn er nicht wusste, worauf sie aus war, veranlasste ihn diese Erkenntnis, sich sicher zu fühlen. Es war so vorhersehbar. Ja, schon am Samstag war das Ganze so etwas wie eine Routine. Viertel nach sechs rief sie an. Sobald der Wetterfrosch in der Nachrichtensendung seine Arbeit getan hatte, übernahm sie, und dann sprach sie zu ihm (oder plapperte, 134
wie er es für sich nannte), während er gelegentlich ja oder doch oder nein sagte und so aufrichtig oder verlogen antwortete, wie die einzelnen Fragen es gestatteten – und sich für nachsichtig hielt, während er in Wirklichkeit allmählich mürbe wurde. Sie war mit der Stimme so nahe, davon abgesehen aber so weit weg, und die Distanz verlieh den Gesprächen einen Reiz. Es wirkte so ungefährlich, als wäre es der sicherste Sex, den er je gehabt hatte. Am Freitag zum Beispiel, als sie im Ton so sanft und weich und zugänglich gewesen war, musste er wieder daran denken, wie er ihr Schamhaar sich zu einem Hahnenkamm zwischen den Schenkeln hatte kräuseln sehen, und es war beinah so, dass er sie gefragt, beinah so, dass er alles Mögliche dafür gegeben hätte, um zu erfahren, ob es wirklich wahr war, aber nicht nur das … Die Gespräche wurden auch zu einer eher geistigen Gemeinschaft, wie jämmerlich verkümmert sie auch waren. Der Hof war jetzt am Tage still. Sprach er nicht mit sich selbst, gab es dort keinen Grund, etwas zu sagen, und wenn sie anrief, wurde deshalb ein Bedürfnis befriedigt, von dem er wusste, dass er es hatte. Ja, obwohl er beinah nichts sagte (und obwohl er sich vorgenommen hatte, nichts zu sagen), dachte er an die Telefongespräche als einen Dialog, einen Austausch, eine Zweisamkeit, und als der Sonntag kam, saß er da und freute sich geradezu auf den kommenden Anruf. Es dauerte nicht lange, ihre Gemütsstimmung oder Taktik für diesen Abend zu ergründen. Sie war nicht unangenehm. Ein Karonetz auf den Block zeichnend, quer über die Kreise und Bögen und Ellipsen von drei Tagen, hörte er, wie sie sich entschuldigte. »Ich war eine Klette, stimmts?« »Nein, nein.« »Doch, das war ich. Es ist unverzeihlich. Ich habe dich angerufen und gestört. Dich nicht in Ruhe gelassen, und ich bitte 135
vielmals um Entschuldigung, das tu ich wirklich.« »Nicht nötig.« »Doch«, sagte sie wieder mit Bestimmtheit. »Ist es. Du musst ja glauben, ich bin nicht ganz dicht. Wie ich geredet habe und rangegangen bin. Und gefragt habe … War ich aufdringlich? War ich das?« Sie ließ ihm keine Zeit zu antworten. »Und dabei glaubst du nicht mal an so etwas wie Dinge sehen …« GLAUBST, schrieb er in eine der Maschen des Karonetzes, druckte er mit großen Buchstaben und fetter Schrift: GLAUBST, KLETTE, SEHEN. »Nein, du warst sehr geduldig«, fuhr sie fort und klang lobend, »und ich anstrengend.« »Mm.« »Was?« »Nein, nein.« »Und dann hab ich noch nicht mal helfen können. Das tut mir auch Leid. Ich hab wirklich geglaubt … Ja, dass ich etwas sehen würde, sonst hätte ich es nie übernommen. Normalerweise funktioniert es, normalerweise, und Edna und Konrad …« Ihre Stimme wurde zögernd und erstarb. EDNA, schrieb er. KON… »Und hast du ihnen irgendwas gesagt?«, fragte er neugierig. »Worüber?« Mitten in all den Entschuldigungen klang sie plötzlich defensiv, und aufgemuntert drängelte er weiter. »Ja, über das, worüber wir gesprochen haben, als du hier warst, dass du glaubst, Eva ist … Ja, dass sie …« »Oh. Das.« Sie seufzte. »Nein, hab ich nicht. Ich habe nur gesagt, ich würde nichts sehen. Ist wohl das Beste so, glaube ich …« »Bestimmt.« 136
»Und vermutlich war ich deshalb so eine Plage.« Sie war eine Weile still, aber da er sich nicht genötigt fühlte, die Selbstkritik zu dementieren, machte sie weiter. »Ich sehe ja etwas, das tu ich, und auch wieder nicht … Deswegen hab ich dir wohl zugesetzt, nehme ich an. Um zu sehen, ob du vielleicht etwas sagen könntest, etwas auslösen.« AUSLÖSEN. »Es war so frustrierend. So nahe dran zu sein, ohne es greifen zu können. Verstehst du?« »O ja.« Ja, und wie er verstand. »Und das ist so komisch, so … Die Sache mit dem leeren Bild, normalerweise seh ich so was nicht. Das hab ich gesagt, nicht?« »Mm.« »Und hab ich es dir beschrieben?« »Das leere Bild?«, sagte er und tat, was er konnte, um nicht ironisch zu klingen. »Ja.« »Es war irgendwas mit Wald und so.« »Genau, und das ist merkwürdig. Zuerst kommt da eine Art Waldfahrweg. Eine Steigung. Oder ein Gefälle, kommt darauf an, aber ich folge ihm aufwärts, und da sind nicht besonders viele Bäume, ist wohl ein Kahlschlag mit vielen Steinen und Felsblöcken, und dann hört der Weg auf. Glaube ich. Vielleicht geht er in den Wald hinein weiter. Vielleicht. Das sehe ich nicht, aber am Waldrand ist jedenfalls ein offener Platz, wie ein – ja, wie eine Art Rondell, und jenseits davon, wenn man nach links geht, meine ich, geht der Kahlschlag runter in ein langes Tal weiter und dann einen Hügel rauf. Einen ziemlich steilen Hügel übrigens mit einem großen Stein darauf und dann … Ja, mehr ist da eigentlich nicht. Nur Fichtenwald rundherum. Wenn ich das Ei in die Hand nehme, sehe ich das. Nicht Eva, kein Tier, nichts. Nichts Lebendiges jedenfalls, also, warum sehe ich das? Weißt 137
du übrigens, wo das ist? Erkennst du es?« Sie machte eine Pause, um ihn antworten zu lassen. »Hallo. Bist du noch da?« Doch das war er nicht. Natürlich hatte sie die Stelle völlig korrekt beschrieben, das Grab geschildert bis ins kleinste Detail, es völlig richtig dargestellt. Ja, natürlich war es so. Was hatte er eigentlich erwartet, der elende Schwächling? Er ließ den Hörer fallen und ließ ihn an der lang gezogenen Schnur hängen. Wie alles andere an diesem Abend erweiterte sie ihre Grenzen.
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III DEN TEUFEL EINGESCHIFFT
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TAG 22–23 MONTAG – DIENSTAG Eine Abfahrt in den Mahlstrom. Genau. Eine Abfahrt in den Mahlstrom. Davonzuwirbeln in einem Sog von Kräften jenseits der eigenen Kontrolle, aber ich verstehe schon, was ihr meint. Hast du dir selbst zuzuschreiben, sagt ihr. Selber schuld. Habe ich mich vielleicht nicht herumkommandieren lassen wie ein Tropf? Sie reingelassen, mit ihr geredet, auf all ihre neugierigen Fragen geantwortet (obwohl ich sie vom allerersten Augenblick an ein bisschen widerlich fand) – und warum? Warum hab ich ihr überhaupt das Stressei gegeben, wo sie doch ganz direkt gesagt hatte, wozu sie es haben wollte, und wo es doch (wenn sie die Wahrheit sagte) das Einzige war, was mich überhaupt fertig machen konnte? Tja … Man kann erstaunt den Kopf schütteln, das kann man sicher. Es unbegreiflich dumm und nicht vorausschauend finden, und vielleicht habt ihr Recht, vielleicht, aber denkt selbst nach. Wenn in eurem Zuhause, mitten am helllichten Vormittag, eine unscheinbare Person angestiefelt käme, die behauptet, im Besitz übernatürlicher Fähigkeiten zu sein – würdet ihr ihr glauben? Hand aufs Herz. Würdet ihr? Und, was wichtiger ist: Sollte man ihr glauben? Naja … Ich habe es nicht getan, das gebe ich bereitwillig zu. Sie wirkte so alltäglich, so harmlos, aber nicht nur das. Es war ja unmöglich, nicht wahr? Unmöglich (ist es praktisch immer 140
noch), und nie hätte ich geahnt, dass ich ihr glauben würde. Ich erkannte mich nicht wieder. Versteht ihr? Begreift ihr das Prinzip? Es war nicht nur die unterschwellige Drohung (auch wenn das erschreckend genug hätte sein können). Es war auch noch dieses Andere. Dass ich in dem Kopf, den ich so gut zu kennen glaubte, eine dunkle, primitive Ecke hatte entdecken müssen, eine Windung, in der ich bereit war, das Mystische zu akzeptieren, in der ich das annahm, was jeder gesunden Vernunft zuwiderlief, und es als Wahrheit betrachtete. Es war, als wäre ich zwei Personen zugleich. Eine, die wusste, dass es nicht möglich war, und eine, die bereit war, es zu glauben. Eine, die zur Seite trat, und eine, die ans Licht trat, um die Regie zu übernehmen. Und ich sage euch: Ein Schlag in den Solarplexus hätte keine größere Wirkung haben können. Ich fiel schlicht und einfach zusammen. Fiel. Tastete. Kollabierte. Und wenn mir schlecht war, lag das ausschließlich an der Übelkeit beim Fliegen, an dieser Höhenangst. Ja, es war die völlig natürliche Reaktion eines Mannes ohne festen Boden unter den Füßen, so einfach war es. Nicht mal in meinen wildesten Phantasien … Aber das ist ja das, was Leben ist, oder? Nicht zu wissen. Ich meine, hätte ich nur gewusst an diesem verhängnisvollen Tag vor gut einem Monat … Dann wäre ich morgens nie aufgestanden. Dann hätte ich mir die Decke über den Kopf gezogen und weitergeschlafen, aber das habe ich nicht getan. 141
Sicher nicht. Bin nicht liegen geblieben. Nein, stattdessen bin ich aufgestanden und habe getan, was ich bereute, was ich für den Rest meines Lebens bereuen werde. Und stattdessen bin ich einen Schritt zurückgetreten, um der Seherin Platz zu machen, als sie in die Diele trat, habe ich dem Elend Platz gemacht, das ich hätte aussperren sollen. Und stattdessen habe ich mit ihr geredet, auf ihre Fragen geantwortet, ihr das Ei gegeben. Als ich es hätte bleiben lassen sollen. Weil ich es nicht besser wusste. Und dann kam es, wie es kommen musste. Dann brach die Hölle los, wieder, und plötzlich war das Unmögliche nicht mehr unmöglich, sondern etwas, das eingetroffen war. Ja, ja … Eine Seherin. Ein Mensch, der von sich behauptete, hinter die Grenzen menschlichen Sehens sehen zu können … Noch in diesem Augenblick komme ich nicht ganz über das hinweg, was passiert ist. Die Erinnerung an sie ist wie ein Traum. Ihr wisst, so einer, der etwas unentschieden anfängt, der sich zunächst damit begnügt, die Wirklichkeit nachzuahmen, aber nach und nach schief zu gehen beginnt und schließlich in vollen Irrsinn ausbricht, und sicher … Ich hätte wohl etwas misstrauischer sein sollen, etwas weniger schnell bereit, ihr entgegenzukommen. Seherisch oder nicht – sie war ja auch eine Frau, und die Frauen sind gleich. Die Frauen wollen hinein in jede Pore. Sie tun alles, um zu wissen. Sie machen Probebohrlöcher und bringen die Männer dazu, sich wie Schweizer Käse zu fühlen. 142
Ja, ich habe es schon gesagt: Wir haben unsere Unterschiede. Wenn Männer, und es ist nicht meine Absicht, grob zu sein, aber wenn Männer sich in ihre Frauen reinzwängen wollen, ist das nur in rein physischem Sinne, während die Frauen … Ja, mein Gott. Die Frauen. Sie müssen wissen, was wir fühlen, was wir denken, worüber wir nachdenken – alles. Etwas anderes reicht nicht. Wir wollen doch nur verstehen, sagen sie. Nahe kommen. Und dann graben sie weiter, beharrlich wie Borkenkäfer, unermüdlich wie Bohrmaschinen. Erkennt ihr das wieder? Ja, ich glaube schon, wenn ihr so ehrlich seid wie ich. Im Grunde ist jede Frau ein Medium. Alle wollen sie das Verborgene enthüllen. Alle wollen sie einem unter die Haut, lassen nichts in Ruhe, und man kann sich fragen warum. Worauf sind sie eigentlich aus? Warum sind sie so interessiert daran, und woher nehmen sie die Kraft? Vielleicht kann ich es nicht verstehen, weil ich ein Mann bin. Ich meine, wenn man die Sache umdrehen, wenn man sich ein männliches Medium denken würde … In meinen Augen ist der Begriff der reine Widerspruch. Ehrlich gesagt: ein spiritistisch veranlagter Mann? Wenn Männer ja nicht sehen wollen und nicht wissen wollen, ja, zumindest nicht solchen Gefühlskram. Und warum klingt das so schlimm? Ihr merkt es, nicht? Ich muss es nur sagen, schon wirkt es negativ. Nicht wissen zu wollen … Wie suspekt, wie gefühllos. Nicht das Bedürfnis zu haben … Nein, das klingt nicht gut, tatsächlich fast an der Grenze zum Kriminellen, und dennoch, dennoch ist es ja im Grunde genau umgekehrt. Es ist ein Vorteil. Das ist ja das Beste an uns Männern: Wir lassen die Leute in
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Ruhe, wir geben ihnen Raum, wir drängen uns nicht ununterbrochen auf und verlangen Resonanz. Stimmts nicht? Findet ihr nicht auch? Während die Frauen … Ich erinnere mich an ein Mal mit Eva, wie ich mich gewundert habe. Vermutlich war es vor unserer Heirat, wir wohnten jedenfalls in der Stadt, und wir waren an dem Abend aus gewesen, im Kino, glaube ich, und dann kamen wir nach Hause und setzten uns in die Küche, jeder mit einer Tasse Tee. Es war vollkommen schwarz draußen, so schwarz, dass man nicht aus den Fenstern sehen konnte, weil sie zu Spiegeln geworden waren, ihr wisst schon, und es war vollkommen still. Wir sagten nichts, schlürften Tee, lauschten dem Heizlüfter und ein paar vereinzelten vorbeifahrenden Nachtbussen. Es war richtig heimelig. Es war so ruhig, wie es nur nachts in der Stadt wird, bis Eva plötzlich das Schweigen brach und sagte, sie wünschte, sie hätte meinen Kopf, ja, nur für eine Minute, erklärte sie, um zu erfahren, was eigentlich darin vor sich ging. Ich erinnere mich, dass ich lachte und dass sie ärgerlich wurde. Die Absicht war natürlich, dass auch ich ihren Kopf hätte haben wollen, das verstehe ich (verstand ich damals, nur eine Spur zu spät), und als ich nicht das rechte Interesse zeigte, war sie sauer, war sie vielleicht direkt verletzt. Aber nicht so, dass sie aufgab. Nein, es war die ganze Zeit gleich, während unserer ganzen Ehe. Es war, als versuchte sie etwas herauszufinden, als wollte sie aus einem unerfindlichen Grund in mich hinein, um jeden Preis – und ich selbst empfand nichts anderes als Widerwillen. Ja, je mehr sie sich anstrengte, je mehr sie mir zusetzte, desto weniger war ich bereit mitzuteilen. Warum, weiß ich nicht.
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Es war eine reine Abwehrreaktion. Nichts Durchdachtes, Bewusstes. Es war wie in dem Augenblick, als die Seherin nach den verflixten Steinen fragte. Kleine, runde Steine, die sie sehe, wenn sie das Ei in der Hand halte, hatte sie gesagt, und ob ich wisse, warum sie sie sehe? An sich eine ziemlich harmlose Frage, kann man finden. Ich meine, ich hätte ja sagen können: Du liebe Zeit, so ein Zusammentreffen – und von der Schale erzählen können, in der das Ei normalerweise lag. Ja, ich hätte es ja direkt zugeben können, dass sie »richtig« gesehen hatte. Das war ja nichts Gefährliches, nichts Verbrecherisches, und trotzdem tat ich es nicht. Tatsache war, dass mir nie auch nur einfiel, ihr die Wahrheit zu sagen. Nein, das Leugnen kam stattdessen instinktiv (wie wenn man die Augen zumacht, wenn ihnen etwas zu nahe kommt), und wenn ich jetzt daran denke: An mich und die Seherin … An mich und Eva … Wissen ist Macht, sagt man ja, und vielleicht ging es ja trotz allem darum, um ein Machtgleichgewicht, eine Stärkebeziehung, einen Stellungskampf (den ich gewann und sie verloren). Ja, vielleicht schützte ich mich einfach. So kann es sehr wohl gewesen sein. Vielleicht wehrte ich mich gegen sie beide. Ihre Angriffsmuster waren absolut identisch. Sie fragten höflich oder drohten oder lockten abwechselnd. Ja, als die Seherin anrief und anfing, von sich selbst zu reden, von den Problemen mit der »Gabe«, von der Pein, die sie mit Edna und Konrad hatte, von allem möglichen diesem und jenem Privaten, da hätten die Warnglocken schrillen müssen, was das Zeug hielt. Sicher hätte ich es wieder erkennen müssen. Natürlich wollte sie immer noch wissen. Sie hatte doch nicht aufgegeben, nur weil die Fragen weniger wurden. Nein, absolut 145
nicht. Sie änderte nur eine Spur den Kurs, und natürlich hätte ich auflegen müssen. So gehen Frauen ja vor. Sie vertrauen einem Dinge an, um auf diese Weise Intimität herzustellen. Ja, oder zu erzwingen durch emotionale Erpressung. Zeige ich mein Schaf, musst du deines zeigen, das ist der Grundgedanke. Die andere Seite soll sich ganz einfach verpflichtet fühlen zurückzugeben. Die Frauen öffnen sich und verursachen so eine Art Durchzug, einen Sog, in dem man leicht mitgerissen wird, und ehe man sichs versieht, hat man etwas gesagt, das man lieber für sich behalten hätte, ist man hereingefallen. Ja, das ist listig, genau das ist es. Es ist listig und heimtückisch vorbereitet, und Geduld haben sie. Sie bohren, sie dringen ein in die kleinste Ritze – sogar da, wo keine Ritzen sind, wie sie, diese Sonja, und das war zum Teufel nochmal nicht gerecht. Ja, ihr müsst entschuldigen. Ihr müsst ein bisschen Nachsicht haben, wenn ich mir selbst Leid tue, aber wenn ich zurückdenke an diese Tage, an die Seherin, an das, was sie mich durchzumachen zwang … Hättet ihr nur eine Ahnung … Ich rege mich immer noch auf, kann es nicht lassen. Ich hatte den Teufel eingeschifft, das stimmt. Es war meine Entscheidung, aber ich hatte ihn auch an Land gebracht. So war es. Ich hatte den Teufel eingeschifft. Ich hatte ihn an Land gebracht – und dann einsehen zu müssen, dass der Teufel nicht aussteigen wollte … Stellt es euch selbst vor. Als ich glaubte, es sei vorbei, fing es einfach wieder von vorn an. Zuerst winkte das Zielband, und ritsch ratsch, war es weg. Kein Wunder, dass ich mich müde fühlte. Die Glieder wurden
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zu Blei. Der Boden schwankte unter meinen Füßen, und nie hätte ich geglaubt, dass ich die Kraft habe. Nicht noch einmal. Ich konnte es beinah nicht glauben. Ich hatte alles getan, an alles gedacht, alles vorausgesehen, was vorauszusehen war – und letzten Endes war es nicht genug gewesen. Das Elend war noch nicht zu Ende. Es schien immer nur weiterzugehen und weiterzugehen, bis ins Unendliche, und zum Teufel nochmal, das war nicht gerecht. Das Gefühl hatte ich. Nach dieser ganzen Plackerei … Nein, ich hatte etwas Besseres verdient. Ich war ja kein böser Mann. Ich hatte nur Pech gehabt und getan, was ich konnte, fand ich. Finde ich noch. Man muss die Dinge in der richtigen Perspektive sehen. Wenn ich herumgekommen war um die so genannte Gerechtigkeit, dann deshalb, weil ich es verdient habe klarzukommen. Weil ich dafür gearbeitet habe und was ich dafür hatte tun müssen … Nein, das war nicht falsch. Ich hatte das Recht, es zu tun. Jeder Mensch hat das Recht, sich zu schützen, das Recht, an sich selbst zu denken. Jeder mit ein bisschen Selbsterhaltungstrieb im Leib hätte das Gleiche getan. Glaubt mir. Ihr hättet es getan, das heißt, wenn ihr die Kraft dazu gehabt hättet, denn es war nicht leicht. All diese Rückschläge … Ihr konntet sicher nicht umhin, es selbst zu merken. Mein Leben war wie eine Berg- und Talbahn. Zuerst kam die große Katastrophe, die akute, mit den Polizisten und alldem – und dann wurde es friedlich – und dann kamen die Halluzinationen – und dann beruhigte es sich wieder – und dann kam sie … Ja, es ging wie in Wellen. Bald schwamm ich, bald ertrank ich. 147
Bald hoffte ich, bald wurde mir die Hoffnung genommen – und dann wusste sie also, wo das Grab lag, oder wusste sie so viel, um es einen anderen wissen zu lassen, wenn sie es nur erzählte, wenn sie nur das richtige Ohr fand. Und das durfte sie nicht. Das durfte sie ganz einfach nicht tun. So selbstverständlich war es. Wie auch immer, ich war gezwungen, das zu unterbinden, und ich glaube, dass ich es schon da erkannte, schon als ich den Hörer losließ, begriff ich, was ich tun musste. Aber auf der anderen Seite … Es ist möglich, dass es nur eine Konstruktion im Nachhinein ist. Vielleicht will ich nur glauben, dass es so war, weil ich ein Mann bin, der die Dinge unter Kontrolle haben will, der sich selbst unter Kontrolle haben will, und weiß der Teufel … Um die Wahrheit zu sagen (und das soll man ja vielleicht trotz allem), war dies eine Zeit äußerster Verwirrung. Von dem Augenblick an, als der Hörer mit einem tauben, hohlen Schlag auf den Fußboden traf, war ich ein Mann auf schwankendem Boden. Es ist nicht lustig, das zuzugeben, aber so war es. Ein neues Wellental, wie gesagt. Wieder ging der Stöpsel raus, und wieder war ich auf dem Weg zum Grund. In der Nacht schlief ich überhaupt nicht, schien es nicht zu brauchen. Entweder lag ich nur still und starrte geradeaus ins Leere, oder ich schloss die Augen und drehte mich ab und zu um. Es kam, wie auch immer, auf eins heraus. Ich zog weder das eine noch das andere vor, hatte überhaupt keine Präferenzen und bewegte mich von einer der beiden unterschiedlichen Varianten zur anderen, nur der Abwechslung halber. Langsam schwand die Nacht, entsetzlich langsam. Stufenlos 148
wurde das Mitternachtsdunkel immer heller und heller. Die Fledermäuse fanden sich raschelnd wieder auf dem Boden ein, summend, wie ein Zwischending zwischen Biene und Wühlmaus. Die Vögel zwitscherten. Die Rollos schwangen, als die Morgenbrise an die weit offenen Fenster pochte. Ich wartete. Guckte auf den Wecker. Wartete noch eine Weile. Und noch eine – bis ich schließlich Nägel mit Köpfen machte und aufstand. Obwohl ich es lange aufgeschoben hatte, war es früh. Ja, es war nicht einmal halb sechs, als ich, ohne die Füße zu heben, in die Küche trottete. Lustlos (hört ihr, da ist das Wort wieder), lustlos kochte ich meinen Kaffee und ließ mich am Tisch nieder. Montagmorgen. Montagmorgen im allerschlimmsten Sinne des Wortes, Ende des Urlaubs, aber wenn der Gedanke, zur Arbeit zurückzukehren, nicht erhebend war, so war das auch kein anderer Gedanke. Es war wie an diesem ersten Morgen, als die Polizisten verschwunden waren, als das neue Leben seinen Anfang nehmen sollte – und zum glatten Tod wurde. Ja, es war ebenso ruhig, ebenso still, ebenso hohl zwischen den lindgrünen Wänden und den gekalkten Schranktüren mit Dekorleiste. Ich rührte im Kaffeebecher. Pling, plong, klang der Löffel an der Keramik. Ding, dang. Ding, dang. Frage nicht, wem die Stunde schlägt, sie schlägt dir. Widerwillig biss ich ein Stück vom Butterbrot ab, kaute ich und kaute ich, während der Klumpen aus Fett und Krume in meinem Mund wuchs und wuchs. Schlucken schien unmöglich, und schließlich spuckte ich ihn in den Becher. Mit sadistischer Abwesenheit von Gefühlen sah ich ihn im Kaffee versinken und ertrinken, half sogar mit dem Löffel, ihn zu beschweren. Er hatte 149
keine Chance, wie sehr er auch kämpfte. Ich hasste ihn und fühlte zugleich mit ihm. Angeekelt ging ich zur Samstagszeitung über, aber nicht einmal, wenn sie neu und ungelesen gewesen wäre, hätte ich etwas von Interesse darin gefunden. So lagen die Dinge ganz einfach nicht. Nein, stattdessen blätterte ich eine Weile die unförmigen Seiten um, zeichnete ich mit Hilfe des kleinen Fingers und eines Kaffeeflecks Kreise auf das Wachstuch, tat ich überhaupt nichts, lauschte nur dem Brummen von Kühl- und Gefrierschrank, bis ich es nicht mehr aushielt und aufstand und hinausging. Bekleidet mit Holzschuhen, Boxershorts und Trainingsanzugjacke machte ich weite Achten über den Hof. Ich hatte kein bestimmtes Ziel. Rastlos, aber langsam bewegte ich mich von Punkt zu Punkt, schwebte ich durch den Garten wie ein Irrlicht, ein unseliger Geist zwischen Apfelbäumen und Johannisbeerbüschen, zwischen Himbeergestrüpp und Rhabarberblättern auf der Jagd nach ausgebliebenem Frieden. Die Beine getüpfelt von Gänsehaut ging ich am Erdbeerbeet in die Hocke, guckte die Beeren an, wischte mir den Tau von den kalten, nackten Fersen. Es war kühler, als ich erwartet hatte. Die Luft war so feucht, beinah rau, und gleichzeitig war es doch stickig. Ja, es war, als befände sich die Landschaft unter Druck, als würden Gras und Büsche von einer höheren Macht an den Boden gepresst, und ich wusste sehr wohl, woran das lag. Wandte ich das Gesicht nach oben, gab es dort wieder Wolken. Zum ersten Mal seit langem, direkt über mir, weiße, segelnde Wattetupfer, aber noch mehr: Gewitterwolken. Dunstige, graublaue Haufen, die sich am Horizont auftürmten, das herannahende grande finale der Hitzewelle, ein Menetekel, ein Vorzeichen, ein Omen für … Ja, ich wusste nicht was. Irgendetwas. Verfinsterter Himmel vielleicht. Kühle und Regen. 150
Schwarze, wässrige Erdbeeren in einem Meer schmieriger Erde in Verwesung begriffen. Einfach das übliche Elend. Ich stand wieder auf. Mutlos machte ich noch eine Runde und holte die Morgenzeitung, aber da ich immer noch nicht ins Haus gehen wollte, legte ich sie auf die Stufen und ging weiter den Pfad hinunter zum See (der Weg des geringsten Widerstandes, wie ich es empfand), und bald saß ich mit übereinander geschlagenen Beinen ganz draußen auf der Brücke und sah mich um. Die Morgensonne stand vor mir, bleich, aber im Kommen. Der See lag blau und zu Rüschen gekräuselt. Der Wind bog leicht das Schilfrohr, das sich neigte und aufrichtete, und unter mir, jenseits der Brückenkante, flitzten unsichtbare Plötzen hin und her, verraten nur von ihren quecksilberschnellen Schatten. Es war sehr schön oder hätte es sein können, hätte ich es so gesehen, doch das tat ich nicht. Stattdessen runzelte ich bekümmert die Stirn und dachte: Warmes Oberflächenwasser. Kalte Tiefe. Hunderttausend Sonnenreflexe. Bodenloser Schlamm. Ja, in diesem Augenblick hatte alles, was ich sah, eine Kehrseite und einen Gegensatz. Alles war Blendwerk mit unbekannten Innenseiten und Böden. Nicht nur das, was es zu sein schien. Das Schöne erschreckend und hässlich. Das Stille wimmelnd vor Leben oder noch stiller, vielleicht einfach tot. Ich fröstelte. Der Wind über dem See war schwach, aber feucht. Fast sofort faltete ich die Beine auseinander und zog sie dafür hoch an die Brust. Die offene Anzugjacke war zwar nicht so weit (verblichen und eingelaufen, wie sie nach unzähligen Wäschen war), aber wenn ich sie ordentlich dehnte, reichte sie auch um die knochigen Knie. Ich neigte den Kopf und guckte unter die Jacke, betrachtete die haarige Brust, die haarigen Schenkel, den kleinen, grün schimmernden Fleck aus imprägniertem Holz zwischen dem Schritt und den 151
Holzschuhhacken. Dann legte ich die Stirn auf die Knie und schloss die Augen. Es war nicht besonders bequem. Die vom Holzhacken noch schmerzenden Muskeln protestierten, aber was machte das schon. Eine Qual mehr oder weniger … Ich fühlte es kaum, dachte nicht daran. Nein, mein Problem war ein anderes, etwas weniger greifbar, aber doch so viel größer. Mein Weltbild war zusammengebrochen. Ja, ja. Ihr lacht, ihr. Ich kann es spüren. Ihr meint, daß ich überdramatisiere, stimmts? Dass es zu einer Art »Angst, Angst ist mein Erbteil« wird, mit ernstem Bass und bebender Stimme und so weiter, aber es war nicht angenehm. Wie soll ich euch das begreiflich machen? Alles, was ich je gekannt hatte, war plötzlich unbekannt. Nichts war da, worauf man sich verlassen, nichts, woran man sich halten konnte. Nein, sogar die Naturgesetze schienen in ihren Fugen zu knacken. Verzweifelt hatte ich eingestehen müssen, dass es eine Art gab, sich der Wirklichkeit zu nähern, die ich nie geahnt hatte. Das, was nicht zu sehen war, hatte sich als sichtbar erwiesen – und die Perspektive war erschreckend. Ja, so bedrohlich erschien sie mir, dass ich lautstark vor mich hin jammerte. Wie konnte es …? Wie konnte es nur – und mit einer solchen Leichtigkeit? Nur ein paar wenige Worte, das war alles, was es gebraucht hatte. Die harmlose Beschreibung eines Ortes, und da waren meine tiefsten Grundfesten erschüttert. Da war mein rationales Ich zerplatzt, war in tausend Stücke zersprungen, mit dem Winde zerstreut – und was war da wohl zu tun? Nichts. Gar nichts, sagte ich mir mit bedrückter Resignation. Die Sache war ja, wie sie war. Das Zeugnis meiner eigenen Ohren 152
war unbestechlich. Ich lebte in einer neuen Welt. Meine Fötushaltung da auf der Brücke war ebenso symbolisch wie die wachsende Gewitterwolke über mir. Ich war ein neugeborener Mann, der lieber zurück zum alten, zum sicheren Ursprungsstadium wollte, aber wie bei allen anderen Geburten gab es keinen Weg zurück. Langsam hob ich den Kopf und sah hinaus über den See. So schön, so glitzernd. Dort war ich vor ein paar Wochen geschwommen, ein Mann, der immer noch an der Oberfläche schwamm. Das schien genau so wirklich, die Erinnerung eines anderen Mannes in meiner Erinnerung, in einer anderen Zeit, und hol mich der Teufel, verschwand da auch die Sonne nicht in den Wolken. Ich ging wieder zum Haus hinauf. Eigentlich hätte ich mich anziehen und losfahren sollen. Ich war schon spät dran, aber ich wollte nicht. Konnte nicht. Und dann rief ich an, um mich krank zu melden. Ich fand den Telefonhörer, wie ich ihn zurückgelassen hatte, auf dem Fußboden, an der gedehnten Schnur hängend. Er sah sehr tot aus und war es auch. Nicht ein Tuten entschlüpfte ihm, nicht ein Piep. Ich legte ihn kurz auf die Gabel, nahm meinen Mut zusammen und tätigte den notwendigen Anruf. Es war Agneta, die sich meldete, eine der neuen Angestellten, und darüber war ich froh. Hätte jemand von den alten Kollegen den Hörer abgehoben, hätten sie sich sicher gezwungen gefühlt, etwas Persönliches zu sagen, wie Leid es ihnen tat oder irgendeine andere klebrige Halbwahrheit, und das hätte ich einfach nicht ausgehalten, dann hätte ich wieder aufgelegt. Nein, es war ein Glück, dass es dieses junge Ding war, das war es, denn jetzt genügte es, dass ich meinen Namen sagte und dass ich heute nicht reinkommen würde. 153
»Ah ja …«, sagte sie abwartend und nervös, als begriffe sie nicht, was ich eigentlich wollte. »Du meinst …« »Dass ich mich krankmelde.« »Ja klar!«, rief sie aus, erleichtert darüber, dass sie verstand, erleichtert über das rein Praktische der Aufgabe. »Klar. Das erledige ich. Ich fülle alle Papiere aus. Ich will nur …« Ich hörte sie zwischen den Ordnern wühlen, ja, ich konnte es förmlich vor mir sehen, wie sie geräuschvoll in der Federschale wühlte, auf der Jagd nach etwas Brauchbarem zum Schreiben, und erheblich geräuschloser grimassierte: »Das ist er, das ist er«, zu der kleinen Schar Neugieriger, die sich genötigt gesehen hatten, sich ebenfalls in den engen Schreibraum zu zwängen. Ich warf einen Blick auf die Wanduhr. Halb acht. Dreißig Minuten lang hatten sie auf mich gewartet, gezischelt und getuschelt, ob ich nun auftauchen würde oder nicht, also waren sie schon die ganze Zeit da. Ich brauchte keinen inneren Gesichtssinn, um das zu wissen. Klar waren sie neugierig, klar wollten sie wissen, wie der Fortsetzungsroman weiterging. »Erkältet«, sagte ich. »Was?« »Ich bin erkältet«, wiederholte ich und unternahm nicht die leiseste Anstrengung, überzeugend zu klingen. Ich schnüffelte oder hustete nicht einmal. Was sollte das? Sie würden es sowieso nicht glauben, würden eher annehmen, ich sei viel zu gebrochen vor Trauer oder etwas anderem, und dann würden sie noch eine Weile tratschen und Meinungen und Theorien austauschen und das Dasein für kurze Zeit interessant finden. Und warum auch nicht? Nicht dass ich es ihnen missgönnte. Ich hätte es genauso gemacht, wäre ich in ihrer Haut gewesen. Ja, es hatte tatsächlich eine Zeit gegeben, da hatte auch ich das Leben stillstehend und 154
ereignisarm gefunden. Glaubs der Teufel, aber so war es. Jetzt schien das einfach unfassbar. Nun ja. Agneta sagte etwas in der Richtung, jetzt habe sie die Papiere gefunden, aber als ich hörte, dass sie Luft holte für einen weiteren Anlauf zum Gespräch, sagte ich danke und legte hastig auf. Die persönlichen Angaben und so weiter musste sie anderswo finden. Die waren sicher irgendwo, wenn sie nur ein bisschen suchte. Ich atmete auf. Erleichtert, dass es vorbei war. Unzufrieden, dass es so weit gekommen war, denn es war schon etwas erbärmlich. Das war es wirklich. Ein großer, kräftiger Mann wie ich, zitternd vor Unbehagen vor etwas so Einfachem wie einem Telefongespräch … Wohin war ich eigentlich auf dem Weg?, fragte ich mich resigniert. Oder fragte ich mich absolut nicht, weil ich es im tiefsten Innern nicht wissen wollte. Nein, da verschloss ich lieber die Augen vor der Zukunft, da bückte ich mich instinktiv und zog den Stecker aus der Dose. Von Telefonen hatte ich genug. Und von Verbindungen. Und menschlichen Stimmen. Und allem anderen lebendigen und toten Elend. Und dann? Tja, dann … Eigentlich weiß ich absolut nicht, was ich tat. Nichts vermutlich. Ich wartete einfach. Wartete darauf, dass das Leben anfangen würde, heller zu wirken. Oder dunkler. Was auch immer. Wartete auf meine eigene Wiederkehr, auf den rationalen Mann, auf die Revanche der gesunden Vernunft … Aber vielleicht ist auch das eine Konstruktion im Nachhinein. Wer weiß? Es ist nicht so einfach … So nach alldem … Wenn man weiß, wenn man zurückguckt. Das müsstet ihr selbst wissen. 155
Es passiert leicht, dass die Dinge verzerrt werden, ja zurechtgelegt, und zwar nicht, weil man lügen will, sondern weil die Zeit eine andere Perspektive bringt. Ich meine, bestimmte Dinge vergisst man, im wirklichen Sinne des Wortes, und bei anderen Dingen sieht man zu, dass man sie vergisst, um sich selbst zu schützen, weil man weitermachen muss, und wieder andere … Ja, vielleicht fällt es mir heute schwer, mir vorzustellen, dass ich ganz und gar die Hoffnung hätte verlieren können, weil ich jetzt den Handlungsverlauf im Rückspiegel sehe und deshalb weiß, dass sich die Dinge geregelt haben, so mit der Zeit, aber da … Tja, wer weiß, wie gesagt? Vielleicht hielt ich die Schlacht für ewig verloren, vielleicht sah ich die Rückeroberung meiner selbst und meiner Welt als eine Unmöglichkeit. Ja, möglicherweise … Tatsache ist, dass ich an diesem Tag ziemlich fertig war, tatsächlich völlig am Ende. Ich hörte sogar auf zu essen. Ich trank nur, Saft zum Beispiel und Hagebuttensuppe und später ein paar Bier und noch ein paar Bier und Lauder’s Scotch und Absolut Wodka und noch ein paar andere Kleinigkeiten, die ich ganz unten im Kühlschrank auf Vorrat fand. Ja, beinah schäme ich mich, es zu sagen, aber am Abend besoff ich mich zum ersten Mal seit mehreren Jahren. Mit etwas, das wohl mit Zielstrebigkeit zu vergleichen war, holte ich alle Flaschen Schnaps heraus, die ich finden konnte, stellte sie auf den Eichentisch im Wohnzimmer, öffnete jede einzelne, auch die, die neu und versiegelt waren, und legte los. Zuerst trank ich einen Schluck aus der einen Flasche und dann aus der zweiten und der dritten und so weiter, bis es Zeit war, wieder mit der ersten anzufangen. Das Verfahren war natürlich sehr eigenartig. Warum trank ich aus allen Flaschen gleichzeitig? Warum begnügte ich mich nicht 156
damit, eine einzige bis zur Neige zu leeren, wenn das Resultat ja letzten Endes ein und dasselbe gewesen wäre? Nun ja. Ich weiß es tatsächlich nicht. Vielleicht war es nur eine ausgeklügelte Art, die Menge meiner Alkoholaufnahme zu verbergen, sogar vor mir selbst. Möglich ist es ja. Einen Schluck hier und einen Schluck da, und wie voll oder halb leer die Flaschen gewesen waren, als ich anfing, und wie viele Runden ich machte, wie viele Male einen Mund voll aus jeder Flasche, fünfmal oder sechs, und wie viele Zentiliter waren das …? Ich hatte am Ende nicht die blasseste Ahnung. Ich marschierte einfach weiter. Von einer Flasche zur anderen. In sicherem Takt. Mit immer weniger sicherer Hand. Und was dann passierte, das weiß ich nicht so genau. Aus erklärlichen Gründen ist die Erinnerung danach vage. Möglicherweise sang ich Strangers in the Night oder das Ochsentreiberlied unter der Birkenrindenlampe vor mich hin, genau wie ich es in früheren Jahren getan hatte, wenn ich betrunken war, aber ich zweifle daran. Es war ja kein fröhlicher Rausch, kein festliches Besäufnis (eher wie ein düsteres Totenmahl), aber sagt mir das Schlechte, das nicht etwas Gutes hat. In dieser Nacht schlief ich zumindest mit Hilfe des Alkohols und der akkumulierten Erschöpfung von der Nacht zuvor. Ja, zu irgendeinem mir unbekannten Zeitpunkt schlummerte ich auf der Wohnzimmercouch ein (das weiß ich, weil ich dort aufwachte), und zunächst schnarchte ich wohl ganz gemütlich, halb bewusstlos, wie ich war, aber gegen Morgen … Vermutlich war ich im Schlaf etwas nüchterner geworden, denn nach und nach war ich klar genug, um zu träumen, und vermutlich war das Ganze recht chaotisch, so wie Träume oft sind, ohne Sinn und Verstand. Ich kann mich an Details überhaupt nicht erinnern, das heißt, bis sie auftauchte und der Traum zum Alptraum wurde. Ihr habt es sicher schon erraten. 157
Die Seherin. Klar war sie es, klar, und sie war splitterfasernackt. Ja, ihr müsst entschuldigen. Ich sage das nicht, um zu schockieren, sondern weil der Traum wirklich so war. Sie war nackt, und irgendwie glaube ich, auch ich war ausgezogen, und sie saß rittlings auf mir und ritt mich wie ein Alp. Nun könnte das selbstverständlich als erotisch interpretiert werden, all dieser Naturalismus als stimulierend und erregend, aber so war es nicht. Stattdessen war es nur erschreckend. Sie wirkte so gewaltig. Ihr wisst, wie Träume sein können. Es war so wirklich und gleichzeitig völlig verzerrt. Als ich die Arme nach ihr reckte, entdeckte ich, dass die schmal waren wie Stöckchen und kurz. Sie reichten ganz einfach nicht hin. Ich kriegte sie nicht zu fassen, kam nicht dran, aber nicht weil ich so klein war, sondern sie so groß. Ja, sie war sicher doppelt so groß, wie sie sein sollte. Die enormen Brüste baumelten hin und her, die Brustwarzen ragten vor, steif und abstehend, in der gleichen Größenklasse wie Türknöpfe. Drohend türmte sie sich über mir auf. Wohin ich auch sah, war nur sie. Sie mit ihrer leichenweißen, kränklichen Haut. Sie mit ihrem wabbelnden Fleisch und ihrem blutroten, gierigen Lächeln. Ich versuchte, mich herauszuwinden. Ich zappelte hilflos mit den Beinen, ruderte mit den Händen, zerrte und schlängelte mich. Ich schüttelte den Kopf, aber nichts geschah. Stattdessen schien sie nur zu wachsen, und sie wurde schwerer. Und schwerer. Und schwerer. Es war, als presste mich ein Marmorblock, ein Bleigewicht. Ich war festgenagelt. Ich konnte nicht loskommen, und sie zerquetschte mich. Die Eingeweide im Bauch drohten zu platzen. Es knackte im Skelett, in den Rippen, denn sie begann näher zu kommen. Noch immer in sitzender Haltung, aber rutschend, wippend, kam sie über meinen Brustkorb, kam sie näher und näher. 158
Entsetzt fixierte ich den hüpfenden Nabel, das buschige, blonde Schamhaar. Das blonde … Ich sah wieder den Körper hinauf und war bestürzt. Das war nicht mehr der Kopf der Seherin, der da thronte, mehrere Meter hoch, wie es schien. Nein, es war Eva. Es war Evas Gesicht, Evas braune Augen unter den schweren Lidern, und sie lächelte nicht. Sie war ernst, ausdruckslos, und jetzt kniete sie sich hin. Ja, sie packte mit beiden Händen meinen Kopf und führte ihn an ihren Schritt. Ich schrie lautlos mit weit aufgesperrtem Mund. Ich schrie und schrie – bis ich nicht mehr konnte, bis das enorme Geschlecht mein ganzes Gesicht bedeckte wie ein nasser, schleimiger Saugnapf. Und es wurde völlig schwarz. Und ich konnte nicht atmen, bekam keine Luft, konnte einfach nicht, konnte nicht, erstickte … Ja, und dann wachte ich auf. Von Verwirrung und Schrecken erfüllt, schlug ich die Augen auf. Mit einem Ruck streckte ich mich und setzte mich in der Wohnzimmercouch auf – und mir wurde es wieder schwarz vor den Augen. Ich sank zurück auf die karierte Decke, die als Kopfkissen gedient hatte. Ruhte eine Weile. Wartete darauf, dass das Zimmer aufhörte zu tanzen und rundherum, rundherum, rundherum zu wirbeln und zu kreisen. Vorsichtig blinzelte ich zur Decke, vorbei an der diskreten Tapete und dem erheblich kühneren Fager. Es war völlig still, bis auf die Vögel und den Gefrierschrank, und es war hell, sicher mitten am Vormittag. Ich stöhnte laut. Ich fühlte mich wie ausgeschissenes Apfelmus. Die Hände, die ich um die Decke hielt, und die Wirbelsäule zitterten. Der Mund war trocken wie Zunder, und den Traum gestattete ich mir vorübergehend zu vergessen. Mir reichte vollauf, was war. Die Kopfschmerzen waren mehr als 159
genug, und der schauderhafte, unbeschreibliche Geschmack, der an Zunge und Gaumen klebte. Langsam kam ich auf die Beine. Es war nicht leicht. Nein, mein Zustand war gelinde gesagt betrüblich und mein Weg hin zu Küche und Wasserhahn unsicher. Es war, als befände ich mich im Körper eines anderen Mannes. Nichts wirkte richtig. Weit, weit unter mir stolperten die Füße ohne Gefühl über den Holzboden, die Arme hingen schlaff wie gekochte Spaghetti, und als ich mich am Eichentisch mit all den offenen Flaschen vorbeischleppte … Der Schnapsgeruch war überwältigend. Die Alkoholdämpfe betäubend. Nein, nicht betäubend. Im Gegenteil. Sie ließen etwas aufwachen: den schlummernden Brechreiz. Instinktiv schlug ich die Hand vor den Mund. Zuerst kam nur ein Aufstoßen mit dem Geschmack von Kotze, doch als ich den niedergekämpft hatte und glaubte, ich hätte es geschafft, ja, da kam plötzlich alles andere auch. Wie eine Flutwelle stieg es mir im Hals auf, füllte den Mund, kam beinah bis in die Nase. Schwankend lief ich in die Küche. Vornübergebeugt, noch immer mit der Hand über dem Mund erbrach ich einen Streifen in Richtung Spüle, bis ich sie schluchzend erreichte und dort den Rest des Mageninhalts ausleerte. Der Geruch … Gnadenlos stieg er zu mir auf, konzentriert aus dem Kognakschwenker des Ausgusses, steckte er mich an, wie ich so dastand, den Rücken zu einem U gekrümmt, die Hände (auch die beschmierte) die kühle Blechkante umfassend. Nein, er gönnte mir keine Ruhe, der Geruch, sondern hetzte mich weiter, hetzte den Magen weiter. In Welle um Welle aus Krämpfen beförderte er herauf, was er hatte, und als die Vorräte erschöpft schienen, griff er zur Galle. 160
Der Geschmack im Mund wurde falls möglich noch schlimmer. Ich schloss die Augen, um nichts zu sehen. Der Magen schmerzte, konnte aber dennoch nicht aufhören, und also gingen mein Schluchzen, mein Auswerfen, mein Erbrechen weiter, bis ich schließlich im Leerlauf lief und nicht der geringste kleine, grüne Rest von Schleim zum Kotzen da war. Ich spuckte ein paar Mal. Der ganze Körper zitterte. Unter verzweifelten Versuchen, nicht den Blick auf etwas zu richten, drehte ich mit der sauberen Hand das Wasser auf und spülte die andere. Dann ließ ich das Wasser laufen. Ja, zuerst das kalte wegen des Geruchs und dann das warme, um das Fett zu lösen. Auf der Flucht vor dem Odeur ging ich hinaus ins Badezimmer. Noch einmal wusch ich mir die Hände, jetzt mit der parfümierten Seife, spülte ich mir den Mund aus, setzte ich mich auf den Klodeckel, um mich auszuruhen. Die Beine zitterten unter mir. Ich war wie ein ausgewrungener alter Lappen, schlaff und übel riechend – und trotzdem hatte es seine Vorteile. Ja, es ist komisch, aber so war es. Ein Gutes brachte der Kater mit sich: dass ich eine Weile all das andere vergaß, das mich bedrückte. Ihr habt sicher die gleichen Erfahrungen gemacht. Nichts beseitigt Probleme wie neue Probleme. Hast du Zahnschmerzen, brich dir ein Bein, und also ging es mir schlecht und ungewöhnlich gut zugleich, als ich mich schließlich wieder in die Küche verfügte, um das Durcheinander zu beheben. Zwar tut man immer, was man tun muss. Eigentlich ist das nur das Natürliche, aber ich fühlte mich trotzdem wie ein Held. Mit Hilfe des Fensterkratzers schabte ich die noch übrige Kotze in die Spüle, wischte mit großen Mengen Küchenpapier sauber, wischte mit dem Spüllappen und dem blauweißen Konsum-Reinigungsmittel nach – und nicht ein einziges Mal wurde mir übel. Das war erstaunlich. Möglicherweise war mein 161
System jetzt so rein, dass kein Brechreiz mehr da war, aber ich ging kein Risiko ein. Mit weit aufgesperrtem Mund atmete ich, ohne die Nase zu benutzen, machte ich die beiden Fenster auf, um Durchzug zu bekommen, und zum Abschluss trug ich die Mülltüte mit dem Küchenpapier und dem Spüllappen zur kommunalen grünen Mülltonne unten an der Straße. Der kurze Spaziergang tat mir gut. Die frische Luft. Die lang gestreckten, zielbewussten Schritte. Ja, als ich zum Haus zurückkam, ging es sogar so gut, dass es mir gelang, die Schnapsflaschen wegzutragen. Sobald meine unsicheren Hände es zuließen, verschloss ich die Flaschen, sperrte ich den Geruch ein und versteckte die Versündigung, wo sie hingehörte, auf einem der untersten Regale im Kühlschrank. Nur eine Flasche war leer. Es war die kleine, uralte Kognakflasche, die Eva jedes Jahr beim Safranbrotbacken benutzt hatte. Düster musterte ich sie eingehend. Den zerbeulten Leichtmetallverschluss. Die zerrissene, fleckige Etikette: GRÖNSTEDTS COGNAC, geschrieben mit Goldbuchstaben, ein Memento ebenso alt und ausgetrunken wie die Ehe selbst, ein bitterer Kelch, bei dem ich mich jetzt fragte, wie ich ihn überhaupt hinunterbekommen hatte (ich nahm an, ich hatte mich zuerst stärken müssen mit dem Genießbareren), aber nicht nur das … Wenn ich daran denke, war es beinah wie Psychometrie oder so. Als ich mich dort auf einen der guten Stühle setzte, wurde die Flasche ein Bindeglied zur Vergangenheit, streckte sie sich nach hinten über Backbleche und Ofentüren, beschwor sie Gesichte in mir herauf. Eva – blond und glühend mit Haube und Schürze. Im Bikini auf einem Felsen. 162
Über die Wiese hinunter zum Briefkasten gehend. Auf mich herunterstarrend, leichenblass, gleichgültig, oder noch schlimmer, verurteilend, meinen Kopf an ihr Geschlecht pressend, in einem Griff ebenso erschreckend wie tödlich. Erstaunt stellte ich die Flasche auf den nunmehr fleckigen Läufer. Wie aus dem Nichts war der Traum zu mir zurückgekommen, klar und gegenwärtig, mit entsetzlicher Schärfe und reich an Details. Ich war gelinde gesagt verblüfft, verblüfft darüber, dass das so benebelte Hirn etwas so exakt hatte registrieren können, und überrascht über den Inhalt: Die Seherin und Eva in holder Vereinigung. Zwei Frauen im selben Körper. Die eine die andere ablösend, und das erstickende, blauweiße Fleisch … Die Feuchtigkeit … Die Hilflosigkeit … Es war fast amüsant mitten in all dem Elend. Was hätte wohl Onkel Freud dazu gesagt? Welche Deutungsmöglichkeiten! Welch ein Leckerbissen für den analytisch Veranlagten! Doch da war auch noch etwas anderes, etwas, das mich wieder an Sie denken ließ. Beinah ohne es zu sehen, zeichnete ich mit Hautfett einen Ring auf die glänzende Tischplatte, zeichnete ein paar andere dazu, verband sie mit Strichen. Im Grunde hatte ich es gleich von Anfang an gewusst. Schon als ich schniefend auf dem Küchenfußboden zusammengebrochen war, hatte ich erkannt, dass es der Anfang vom Ende war, wenn ich zuließ, dass es so weiterging, und das meine ich nicht als Prahlerei. Es ist kein Ach-ich-habe-eskommen-sehen-Gerede. Absolut nicht. Es war keine bemerkenswerte Erkenntnis, nur etwas völlig Natürliches, das von selbst kam. Ich begriff. 163
Wenn ich auf dem eingeschlagenen Weg weiterging, würde ich werden wie Sie, Sie, Diese Frau, wenn ich mich nicht zusammennahm, doch das tat ich oder glaubte es jedenfalls zu tun. Hinterlistig hatte ich sie benutzt, hatte sie zum Werkzeug meiner geplanten Genesung gemacht. Ja, zunächst fand ich, wie seltsam es auch klingen mag, Kraft in dem abschreckenden Beispiel. Freiwillig beschwor ich die Erinnerung an sie herauf, anderen zur Warnung sozusagen, mir zur Warnung und jetzt …? Jetzt, wo ich wieder weich wurde und zitterte …? Da war sie nur noch erschreckend. Da war sie nur noch eine von all diesen Frauen, die rittlings auf mir zu sitzen schienen, schwer wie Bleigewichte. Da war sie nur noch eine von denen, die mich ritten wie ein Alp, spornstreichs, über Stock und Stein, die dafür sorgten, dass ich keine Ruhe fand, und erschöpft musste ich mich selbst fragen, ob ich trotz allem ebenso war. Ob ich trotz allem verwandt war mit Dieser Entsetzlichkeit? Ja, ja. Ich begreife sehr wohl. Ihr fragt euch, von wem ich rede, kein Wunder. Ich habe sie schon erwähnt, wenn ich mich nicht irre, wenn auch ohne sie vorzustellen, und na ja … Sie ist keine angenehme Bekanntschaft. Glaubt mir. Eher so eine, um die man große Bögen machen würde, um sie zu vermeiden, ein regelrechtes Monster, wenn nicht Frankensteins, so irgendeines anderen (Gott weiß wessen), aber klar … Habe ich sie zur Sprache gebracht, muss ich natürlich von ihr erzählen. Letzten Endes ist sie ja durchaus nicht unwichtig, tatsächlich eher eine richtige treibende Kraft. Ohne sie, weiß der Teufel … Doch das lassen wir dahingestellt. Also. Es war so: 164
Es ist jetzt sicher zwei, drei Jahre her, vielleicht länger. Eva und ich saßen nebeneinander auf der Couch und sahen fern, eher nebenbei, vielleicht waren gerade Nachrichten gewesen, und dann tauchte sie auf, Die Grässliche Frau. Natürlich erinnerten wir uns beide an sie, etwas vage, als der Reporter von ihr zu reden begann. Es war ein ziemlicher Spektakel gewesen, als es passiert war: eine Frau, die nach Jahren der Misshandlung ihren Mann getötet, ihn erschossen hatte, während er schlief, versucht hatte, den Körper zu verbrennen – ja, natürlich erregte es ein gewisses Aufsehen in den Medien, und jetzt wurde also ein Interview mit ihr gezeigt, aus dem Gefängnis. Eva war sofort Feuer und Flamme. »So ist es richtig«, rief sie begeistert zum Bildschirm hin. »Geschieht ihnen recht. Gibs ihnen nur. Zeig diesen Mannsbildern, dass sie uns nicht behandeln können, wie sie wollen.« Ja, oder etwas Ähnliches jedenfalls, etwas mit diesem Inhalt, denn so war sie, Eva. Es konnte ihr manchmal gefallen, radikal und feministisch zu wirken. Männer sind nur Gewalttäter und Finsterlinge und so weiter. Regierten Frauen die Welt, würde alles so viel besser, denn die Frauen stehen für das Licht und das Leben und das Kindergebären. Ja, ihr wisst schon. Ihr seid sicher auch damit in Kontakt gekommen: mit solchem übertriebenen Anderssein-Quatsch, dem, von dessen Breittreten bestimmte Poetinnen und Tendenzreiterinnen leben können, während ein Mann nicht den kleinsten Piep darüber sagen darf, wie Frauen sind, ohne dass die Hölle losbricht und irgendwo eine Frau etwas von Unterdrückung und männlichem Chauvinismus und Vergewaltigung und dem Teufel und seiner Großmutter schreit, aber bitte … Ich fand auch, dass es eine richtige Tat war, die Sache mit dem Mord, meine ich. Frauenmisshandler sind für mich keinen Pfifferling wert. Nie legte ich Hand an Eva. Nein, ein gesunder 165
Hund beißt weder Hündinnen noch Welpen, das ist meine Meinung, und dass Diese Frau es ihm heimgezahlt hatte … Was war denn daran komisch? Es war beinah logisch, bewies sogar Zivilcourage – so sah ich also die Sache, so sah ich es, bis sie den Mund aufmachte und zu erzählen anfing. Ja, du liebe Zeit. Zuerst war sie natürlich verliebt gewesen in den Kerl, allein das, verliebt wie eine Hinterhofkatze, obwohl er trank und sie schlug und ganz allgemein ein Schwein war, aber zeigt mir das Schwein, das so groß ist, dass nicht irgendwo ein Frauenzimmer um ihn seufzte (weiß der Teufel, wie das kommt), also hielt sie es aus, sicher tat sie das. Manchmal wurde er ja Gott sei Dank nüchtern und sagte »Verzeih mir« und »Das wollte ich nicht« und anderen Mist. »Das passiert nie wieder.« »Doch, doch«, und das glaubte sie. Das glaubte sie offensichtlich beliebig oft, weil sie sich in den Kopf gesetzt hatte, dass ausgerechnet sie von allen Menschen, durch ihre Gefühle und ihre große, überwältigende Liebe, sein besseres und tief schlummerndes Ich zum Leben erwecken könne (siehe da, noch eine Frau mit Träumen von Resonanz bei einem Stein), und dann fing sie an, Pläne für die Erlösung ihres Mannes zu machen. Wenn wir nur umziehen, dachte sie. Wenn wir nur irgendwoanders von vorn anfangen, wird es bestimmt besser. Ja, und dann zogen sie schließlich um, aber nichts wurde besser. Und gab sie da endlich auf? O nein! Keineswegs. Mitnichten. Da legte sie sich nur eine neue Strategie zu. Da dachte sie: Wenn wir nur Kinder bekommen, wird er bestimmt ein neuer, besserer Mann, fürsorglicher und verantwortungsvoller. Du lieber Gott. 166
Ihr hört ja, wie das klingt. Da saß sie in einer elenden, nein, grauenvollen Ehe mit einem unheilbaren Alkoholiker und Gewalttäter fest, und was machte sie? Sie bekam Kinder. Sehenden Auges und vorsätzlich bekam sie Kinder, ein paar Kleine, damit sie ihr in der Hölle Gesellschaft leisteten, schenkte sie ihrem Mann ein paar Sandsäcke dazu, vielleicht der Abwechslung halber. Wer weiß? Welcher vernünftige Mensch kann sich überhaupt vorstellen, was im Inneren dieses wahnsinnigen Kopfes vor sich ging? Sogar Eva sperrte Mund und Augen auf. Ungläubig starrte sie auf den Bildschirm, schrumpfte neben mir gewissermaßen zusammen, und ich tadelte sie nicht. Sicher diente die Sendung der Aufklärung, sicher, aber wie aufgeklärt will man werden, wie viel Licht verträgt man, bis die Augen zu schmerzen beginnen und man wünschte, man hätte die Augen zugemacht? Nein, wie gesagt, ich tadelte sie nicht. Es kann nicht leicht gewesen sein, das zu verdauen, als Frau, meine ich. Zusammengehörigkeit empfinden zu müssen mit Der Da. Kein Wunder, dass sie verstummte, kein Wunder, dass ihr die Worte fehlten. Es muss sie getroffen haben. Sogar ich war verstummt, und ich teilte zumindest nicht das Geschlecht mit Der Schrecklichkeit. Ja, sogar ich fand es schwer, dem Zeugnis meiner Ohren zu trauen. Natürlich hätte sie nicht ihren Mann erschießen sollen, das war es, was ich dachte, als ich dasaß und ihr zuhörte. Nein, sich selbst hätte sie erschießen sollen, in einem früheren Stadium. Der Welt hätte dieses schwachsinnige, rasende Muttertier erspart werden sollen, etwas anderes konnte ich nicht sehen, und sicher … Sie weckte schon starke Gefühle in mir, das tat sie. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass ich Zorn wie auch Abscheu empfand – und trotzdem … 167
Hätte die Sendung da aufgehört, hätte ich mich kaum an sie erinnert, wie sehr sie mich auch anekelte. Nein, trotz allem war es das, was danach kam, was mich wirklich berührte, oder eher, was mich unangenehm berührte. Das war die Sache mit dem Töten. Bereits da. Obwohl ich da noch nicht … Ja, ihr wisst schon. Ich habe ja schon davon erzählt. Obwohl ich da nicht die mindeste, leiseste Ahnung davon hatte, was kommen würde – und trotzdem hielt ich mich bei der Sache mit dem Töten auf. Es war so … kopflos. So … Ja, urteilt selbst. Jahr um Jahr misshandelte er sie, ging es ihr und den Kindern schlechter – bis sie eines Tages beschloss, ihn loszuwerden, sich sagte, dass es jetzt reiche. Ein Opfer, das es satt bekommt, Opfer zu sein, und zum Täter wird, könnte man glauben. Na gut. Ungesetzlich, mag sein, aber verständlich, sogar beinah akzeptabel. Und dann erschoss sie ihn mit einem Gewehr. In den Kopf. Während er schlief. Noch immer ungesetzlich und noch immer verständlich, um nicht zu sagen verständig. So riskierte sie zumindest nicht, auf Widerstand zu treffen, und dann? Wie wollte sie die Leiche loswerden? Wie wollte sie um das Gefängnis herumkommen? Was hatte sie für Pläne? Die Antwort war: keine Pläne. Gar nichts. Nein, nichts, von dem was sie tat, war verständig oder überlegt, nicht einmal der Mord selbst. Alles passierte einfach. Die Schreckliche Frau war wie ein Automat, ein Zombie. Heute kann ich mich natürlich nicht mehr an alle Einzelheiten erinnern. Es war ja vor ein paar Jahren, und für eine lange Zeit lag diese Erinnerung nur brach, das versteht ihr sicher. Sie war ja gar nicht aktuell, hielt gewissermaßen Winterschlaf, aber ich 168
glaube, es war so, dass die Leiche zunächst eine Weile liegen blieb. Doch … So war es schon; lag dort in der Wohnung, weil sie absolut nicht wusste, was sie damit machen sollte, weil sie nicht imstande war, etwas zu tun, und als ihr dann einfiel, die Leiche zu verbrennen … Ja, teils misslang ihr das (was war anderes zu erwarten), teils war es keineswegs die symbolische Handlung, an die zu glauben man sich verleiten lassen könnte: die lang ersehnte Rache und Revanche eines Opfers. Nein, überhaupt nicht. Das Opfer war noch immer das Opfer. Der Täter noch immer der Täter. Auch getränkt mit Benzin, leise kokelnd, war der Mann ihr Meister, ihr Quälgeist bis in den Tod. Sie wurde ihn nicht los. Dachte keinen klaren Gedanken. Machte nichts richtig. Konnte noch immer nicht das eigene Leben in die Hand nehmen, die eigene Zukunft planen, die der Kinder. Alles war ein einziger Mischmasch. So viele zerschlagene Eier, und ein Omelett wurde nicht daraus. Nur Pfannkuchen. Nur Pfannkuchen aus alldem. Und warum regte mich das so auf? Regt mich immer noch auf, wenn ich nur davon erzähle. Mit Eva konnte ich es nicht diskutieren. Sie begriff nicht, was ich meinte, wollte nicht begreifen. Für sie war das Kinderkriegen der große Stein des Anstoßes, die Hürde, über die sie (merkwürdigerweise) nicht hinwegkam, für mich aber war es die Planlosigkeit – und warum? Ja, weil Diese Frau, Dieses Pathetische Frauenzimmer, das Sinnbild all dessen war, was ich instinktiv verabscheute. Und verabscheue. Des Gefühlsmäßigen, Verwirrten, Unlogischen, Hysterischen. 169
Des blind Flatternden, Kopflosen, Hühnerartigen. Des Schwachen, Untüchtigen, Überhitzten, Weiblichen. All das, was mir im Laufe der Jahre so unsympathisch geworden war. All diese … Sentimentalität – und alle scheinen sie gleich zu sein. Ja, ich weiß noch, ich saß da und dachte, dass sie sich in nichts nachstanden, Eva und Diese Grässliche Frau. Wenn ich nur ein bisschen darüber nachdachte, wurde es offensichtlich. Punkt für Punkt gab es Übereinstimmungen, wie diesen naiven Glauben, es sei möglich, Menschen zu ändern. Nun ja. Ich sage nicht, dass Eva es leicht hatte, so ist es nicht. Was sie wollte, war ein sensibler Mann, und was sie kriegte, waren 190 Zentimeter Holzstock. Klar war sie enttäuscht, aber war es meine Schuld, dass sie auf das falsche Pferd gesetzt hatte? Es fällt mir schwer, es so zu sehen, ich weiß außerdem nicht einmal, ob es eine richtige Beschreibung der Wirklichkeit ist. Es ist sehr wohl möglich, dass sie die ganze Zeit wusste, wusste, wie ich war und mit wem sie es zu tun hatte, aber dass sie mich trotzdem nahm. Ja, weil sie mich gleich von Anfang an nur als Rohmaterial betrachtete, als etwas, das sie nach und nach zurechtschreinern könnte, abrunden, beschneiden, zur Zufriedenheit und Funktionalität. Ich weiß, dass sie während der ersten Zeit meiner Mutter gegenüber angab, worin ich besser geworden sei. In diesem und jenem. Ich weiß nicht genau, worin eigentlich, es war etwas vage, etwas in der Richtung, dass in ihren Händen aus mir ein Mensch geworden sei, als wäre ich ein Kind oder ein Hund, noch unerzogen und nicht stubenrein. Dass meine Mutter ihr das übel nahm, verstand sie nie. Nein, dass Elsa bis zu dem Zeitpunkt, als Eva übernahm, die gewesen war, die mich zu dem gemacht hatte, der ich war, und das Resultat gern hatte, fiel meiner Frau nie ein. Für sie war es so 170
selbstverständlich. Der Wille zu ändern so groß, beinah ebenso überwältigend wie die Unfähigkeit, sicher war es so. Hätte sie gekonnt, hätte sie mir beigebracht, mich beim Pinkeln hinzusetzen (wegen des Putzens), aber auch wenn ich sie wider Erwarten hätte machen lassen, wenn ich mich wider Erwarten hingesetzt hätte, was für einen Unterschied hätte das eigentlich gemacht? Ich wäre ja nach wie vor derselbe gewesen. Das war ich immer, selbst wenn sie meine Kleidung kaufte, blieb ich gleich. Geschmackvoller vielleicht, aber mir doch verdammt gleich. Im tiefsten Inneren passierte nichts. Ihre Eingriffe waren und blieben äußerlich, sonst hätte ich sie nicht vornehmen lassen, und am Ende konnte sie wohl nicht vermeiden, das zu bemerken. Da fing sie dann an, an den immer größeren Dingen zu rütteln. Wenn wir nur umzögen. Wenn wir nur Kinder bekämen. Ja, ja. Sie waren schon in allem Mitschwestern, Mitschwestern in ihrem Glauben an die magische Veränderung wie auch in ihrer Taubheit gegenüber den Realitäten. Nicht dass Eva auf allen Ebenen wie diese Mörderin im Fernsehen gewesen wäre. Du lieber Gott. Absolut nicht. Das dürft ihr nicht glauben. Wenn ich dieses Bild von ihr vermittle, bin ich nicht gerecht. Dann bitte ich um Entschuldigung. In vielerlei Hinsicht war sie eine kluge Frau, ja, das war sie tatsächlich, da war eben nur diese Schwäche … Wie soll ich es erklären? Diese nahezu religiöse Gewissheit, sie könnte durch ihre Einsätze oder Gefühle, durch ihre Taten oder ihre Schreie, die Welt beeinflussen, während es tatsächlich nur die Art und Weise der Welt war, sie zu beeinflussen. Versteht ihr, was ich meine? Versteht ihr? 171
Dass sie sich immer durch die Hintertür, durch die Gefühle und all das, in ihre Pläne einschleichen und sie manipulieren konnte, ohne dass sie es zu merken schien, wie zum Beispiel, als sie sich entschloss, umzuziehen und diesen Job im Süden anzunehmen, und ich sie im letzten Augenblick dazu brachte, ihre Meinung zu ändern, indem ich weinte (ja, mein Gott, aber wenn nun alles ans Licht soll, warum dann nicht auch das), als ich weinte und sie bat zu bleiben und sagte, ich brauchte sie, und sie so schließlich dazu brachte, die schon verschlossenen Koffer wieder auszupacken. Niederträchtig? Sicher. Schändlich? Jedes Mal, an doppelter Front, aber was sollte ich machen? Ich wollte sie ja behalten, und wenn rationale Argumente nicht verfingen, was blieb mir anderes übrig, als an den schwachen Punkt zu appellieren, von dem ich trotz allem wusste, dass es ihn da drinnen gab. »Verzeih mir.« »Das wollte ich nicht.« »Es wird nicht wieder vorkommen« – wenn auch nicht ganz so schlimm, will ich meinen, nicht ganz so furchtbar falsch und böswillig, aber klar … Ich habe ja schon gestanden. Es war eine Schande, das war es. Nichts, um stolz darauf zu sein, nicht im Geringsten, und zu allem Überfluss: Obwohl ich es war, der gewonnen, obwohl ich meinen Willen bekommen hatte, war es dennoch sie, die glaubte, gesiegt zu haben. Nicht, dass sie ihre Koffer mit einem Lächeln auf den Lippen ausgepackt hätte. Nein, so war es nicht. Sie ächzte und stöhnte und fluchte, aber sie strahlte dennoch etwas Zufriedenes aus. Das sah ich. So gut kannte ich sie. Als ich weinte, fauchte sie mich zwar an, fand mich 172
vermutlich pathetisch (was ich war, denn man kann sich fragen, was ich eigentlich hatte), aber ich glaube auch, dass ich trotz allem die Überzeugung bestätigte, die sie immer gehegt hatte: dass die Erde aufhören würde, sich zu drehen, wenn sie nicht da wäre und dafür sorgte, und dass dies sie befriedigte, als ließe sie die Verachtung mit einer Art Zärtlichkeit verschmelzen, oder was es nun war. Es war sehr vage und unausgesprochen, aber ich witterte es. Und dass sie mir später vorwerfen würde, was passiert war, sagen, ich hätte sie gezwungen zu bleiben … Na ja. Das ist eine andere Geschichte. Das dachte ich damals nicht. Ich meine, ich verglich Eva mit Dieser Katastrophalen Frau, das tat ich und fand bestimmte Ähnlichkeiten, aber im Grunde war es nichts, nur eine Petitesse, kurios. Nein, da war dieses Andere … Dass auch ich (Gott helfe mir) mit ihr verwandt zu sein schien. Es war einfach nur festzuhalten. Es war nicht länger zu leugnen. Ebenso wie Diese Da hatte ich die Kontrolle verloren. Auch ich blieb mit meinem Geheimnis nicht allein. Auch ich vermochte die Spuren nicht loszuwerden – denn die Seherin wusste es. In einer Welt, in der tote Dinge zu sprechen schienen, wusste sie es. Es war wie ein Alptraum, aber richtig. So empfand ich es, als ich eilig die Kognakflasche in den Pappkarton mit all dem anderen klirrenden Glasabfall packte. Was ich verabscheute wie die Pest, schnappte mir in die Fersen: Schwäche, Verwirrung, Mangel an Logik – all das jagte mich, zog bei mir ein, und was konnte ich machen? Es war wie eine Verschwörung. Die Seherin. Die Debile Mörderin. 173
Meine Frau. Ja, ich war ein Mann, heimgesucht von Frauen. Von anwesenden und abwesenden. Von bekannten und unbekannten. Von Frauen, Frauen, Frauen – und Gewinnern. Genau. All meiner Arbeit zum Trotz war ich zum Opfer geworden, war es vom allerersten Augenblick an gewesen, ohne es zu merken. Ja, ich hatte geschuftet und versucht, ausgerechnet und geplant, war aber doch verdammt nochmal ein Opfer, und die Entdeckung ließ mich erschauern. Nicht einmal die Sonne auf den Windfangstufen konnte mich wärmen. Mit hämmernden Schläfen blinzelte ich ins Licht, sah ich hinunter zu den Füßen und dem Unkraut in den Fugen zwischen den Steinplatten. Ich pulte etwas abblätternde Farbe von der Treppenstufe, auf der ich saß. Darunter lag das Holz, schmierig und grau, verfaulte es etwas, ganz langsam, heimlich. All dieser Verfall, dachte ich. Dieser ständige, ewige. Ich seufzte deprimiert und müde. Es kam mir verkehrt vor. Je kleiner mein Kater wurde, desto düsterer schien das Leben – und war es nicht früher umgekehrt gewesen? Früher. Vor hundert Jahren und einer Frau. Eine Kohlmeise zwitscherte fröhlich und gellend in einer der Birken. Ich wünschte, sie würde aufhören. Ich hätte ihr den Hals umdrehen können. Wie nichts.
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TAG 24 MITTWOCH Es war ein bedrohlicher Tag, ganz im Einklang mit meinem Inneren. Den dritten Tag nacheinander hing ein Gewitter in der Luft. Die Hitze war schwer und drückend. Dunkel und düster trieben die Wolken über den Himmel dahin. Ein Wind ohne Kühle ließ das Laub zittern, änderte aber nichts an meinem Zustand, und ich beschloss, einen Spaziergang zu machen. Irgendetwas musste ich ja anfangen, lustlos und elend oder nicht, und also stiefelte ich kurz vor der Kaffeezeit über die Wiesen, die gewohnte Route hinunter zur Brücke. Der Lehm auf dem Weg war so trocken, dass er Risse bekommen hatte. Wie krakeliertes Porzellan lag er vor meinen Füßen, und zog ich die Sohle etwas hart über den Boden, bildete sich der feinste Staub, hellgrau und puderig und leicht. Auch der Bach war übrigens ausgetrocknet. Ja, nicht ganz und gar natürlich, aber er war entschieden kleiner als normalerweise, gewissermaßen hinfälliger, sich um die zunehmenden Steine im Bett herumtastend, und das Murmeln war stiller und weniger fröhlich. Wie gewöhnlich blieb ich eine Weile stehen, sah ich das Wasser durch die Schlucht fließen, ständig neu, sich ständig gleich, alles, während ich mich nicht entschließen konnte zurückzugehen. Ja, hätte ich an dem Tag gemacht, was ich in meinem tiefsten Inneren wollte, ich wäre einfach geradeaus weitergegangen. Da gibt es gar keinen Zweifel. Wäre ich weitergelaufen, den steilen Hang jenseits der Brücke hinauf, auf dem von Motorrädern kaputtgefahrenen Pfad, vorbei an trockenem Himbeergestrüpp und Blaubeerbüschen, hinauf auf den Bergkamm mit den großen, moosbewachsenen Felsplatten und weiter und weiter und weg, weg, weg. 175
Als ob ich schon wusste oder ahnte oder instinktiv erkannte, dass es wieder Zeit war. Denn als ich schließlich trotz allem dennoch umkehrte …
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IV EIN HUND KEHRT ZURÜCK ZU SEINER KOTZE
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13 Am Montag hatte er sich zugesoffen. Am Dienstag hatte er aufgeräumt. Und am Mittwoch …? Ja, da trauerte er nur, trauerte nur um den Zugriff auf die Welt und um sich selbst, was beides verloren gegangen war – und es war eine pechschwarze Trauer. Nichts war mehr angenehm oder machte Spaß. Ein Spaziergang zur Bachbrücke resultierte nur in dem flauen Gefühl, dass er nicht nach Hause gehen sollte, und wenn er dann doch widerwillig zurückwanderte, um seinen Kaffee zu trinken … Nein, nichts war mehr angenehm oder machte Spaß. Das war einfach nur festzuhalten. Nicht einmal der Nachmittagskaffee, nicht einmal die Stunde am Tag, die immer die beste gewesen war, hatte jetzt noch Charme oder Magie. Langsam und methodisch kaute er einen Zwieback, eine Scheibe Stuten, ein Maryland Cookie (oder zwei), aber wie er es auch anfing: eintunkte, mit Teelöffel aß, schlürfte …, das rechte Gefühl von Sicherheit und Geschütztheit wollte sich nicht einstellen. Er hätte genauso gut Pappkarton kauen können. Es hatte keineswegs den gewohnten, lieb gewonnenen Geschmack, an den er sich erinnerte, den Geschmack, der verloren gegangen zu sein schien, den er aber so heiß ersehnte und so sehr brauchte. Er führte einen verirrten Kekskrümel an der Spitze des Zeigefingers zum Mund und lauschte, während er ihn schluckte. Ein Auto? War es das Geräusch eines Autos, das er hörte? Misstrauisch ging er ins Wohnzimmer und sah durch das Westfenster hinaus. Na klar. Da war er, der alte, hellgraue 178
Volkswagen, die paar letzten Meter rollend, bis er auf dem vergilbten, trockenen Grasfleck vor der Garage ganz und gar zum Stehen kam. Er zog sich eilig wieder ins Zimmer zurück, fiel beinah über Couchtisch und Flickenteppich. In ihm herrschte voller Alarm. Vom schlammigen Grund seiner Erinnerungen stieg ein ausgeprägtes Gefühl der Verzweiflung auf. Er wollte ihr nicht begegnen. Sein ganzer Körper sagte es ihm, forderte es. Nein, er wollte sie nicht sehen, konnte es nicht, hatte wirklich nicht die leiseste Absicht, es zu tun. Stattdessen ging er geradewegs zur Haustür, schloss sie ab, erklomm im Laufschritt die Treppe zur oberen Diele und blieb stehen, außer Sichtweite für alles und jeden, mitten zwischen der uralten, ockerfarbenen Holzkiste und den neuen, plastikweißen Kleiderschränken. Es war in letzter Minute. Er hatte nicht lange dort gestanden, als er Schritte auf den Windfangstufen und ein Klopfen an der Tür hörte. Er rührte sich nicht, atmete kaum. Es klopfte wieder. »Hallo«, rief sie von jenseits der Tür, und er erschrak darüber, wie nah sie klang. »Ist jemand zu Hause?« Es wurde erneut still. Er konnte hören, wie sie wartete, genau wie er, aber außen und auf etwas anderes. »Hallo?«, beharrte sie. Geduldig verlagerte er das Körpergewicht von einem Fuß auf den anderen, lauschte er, zuckte er unwillkürlich zusammen, als sie die Türklinke ausprobierte. Sie ruckelte so daran herum, dass er glaubte, die Schrauben würden sich lösen. Ja, sie riss unnötig stark, fand er, und unnötig lange. Merkte sie nicht, dass abgeschlossen war? Aber dann gab sie schließlich auf und trat von den Stufen. Erleichtert atmete er auf. Das Kratzen einer Fußsohle auf den Steinplatten, das war das Letzte, was er hörte, bevor das Gras ihre Schritte verschluckte, und dann wartete er, wartete darauf, die Autotür aufgehen und zuschlagen zu hören. 179
Wartete. Und wartete … Doch es kam nichts. Eine Minute nach der anderen ging vorbei, alle voll von der gleichen Stille. Er lauschte unruhig. Zu diesem Zeitpunkt hätte sie mehrmals zum Auto und wieder zurückgehen können, wenn sie gewollt hätte, also was machte sie nun? Und wo war sie? Wo …? Es klopfte erneut, diesmal aber an einem Fenster und nur einen Augenblick später an einem anderen, etwas weiter weg, irgendwo auf der Rückseite. Langsam ging es ihm auf. Sie hatte überhaupt nicht die Absicht, sich zu entfernen. Nein, sie ging da draußen nur rundherum, rundherum, guckte durch die Fensterscheiben herein, sah sich um, und wenn sie ihn nicht fand, würde sie sich schließlich auf die Stufen setzen und einfach warten, wie lange auch immer. Hektisch flackerte sein Blick von den Schränken zur Deckenlampe und zu der farbenfrohen, geblümten Tapete. Er musste sich beinah in die Knöchel beißen, um nicht zu jammern. Es war schon ein etwas merkwürdiges Gefühl, gleich von Anfang an, sich in seinem eigenen Zuhause wie eine Ratte zu verstecken, die Tür abzuschließen und so zu tun, als wäre nichts, doch das hatte erträglich gewirkt. Sich einfach ein paar Minuten zurückziehen und dann weitermachen wie gewöhnlich – so hatte er es sich vorgestellt, nichts wirklich Bemerkenswertes, aber jetzt … Jetzt begann es direkt unangenehm zu werden. Jetzt war es wie eine Belagerung. Eingesperrt zwischen den Wänden in der engen, länglichen Diele fühlte er sich gejagt und blind. Wenn sie an die Fenster klopfte, war es, als klopfte sie an ihn selbst, als berührte sie seine Haut. Er konnte nicht anders als zusammenzuzucken, und als es dann wieder still wurde … Da kam wieder die Frage, wo sie war, womit sie sich beschäftigte, 180
was sie plante. Da war die Ungewissheit noch schlimmer als der unfreiwillige Kontakt. Nachdenklich ging er zum großen Schlafzimmer. Natürlich war es ein Risiko, sagte er sich. Wenn er sie sah, konnte sie ja auch ihn sehen, aber damit mochte es sich nun verhalten, wie es wollte. Es war nicht zu ändern. Er musste einfach nachsehen. Er musste einfach wissen, wo zum Teufel sie steckte. In der Türöffnung zögerte er einen Augenblick. Allein schon der Anblick des Sonnenlichtes und der Fensterscheiben machte ihn nervös, bewirkte, dass er sich nackt und verletzlich fühlte, ja, im Grunde schon entlarvt, aber dann nahm er sich zusammen und setzte sich wieder in Bewegung. Auf den Zehenspitzen schlich er sich weiter die Wand entlang, bis zum Fenster, das zum Hof hin lag. Aufgrund des Mansardendachs war es kleiner als die übrigen des Hauses und saß niedriger, so niedrig, dass er in die Hocke gehen musste, um überhaupt etwas sehen zu können. Vorsichtig steckte er die Nase hervor und guckte hinaus. Er wurde sofort enttäuscht. In seiner Position, mit dem Arm und der Hüfte eng an die Wand gedrückt, war der Winkel schief. Alles, was er sehen konnte, war ein begrenzter Teil der Birkenreihe, ein sehr begrenzter und uninteressanter Teil, eine Stelle, wo man ihre Anwesenheit kaum erwarten konnte. Nein, um sein Gesichtsfeld zu erweitern, war er gezwungen, den Kopf noch weiter hervorzustecken (oder zu exponieren, wie es ihm vorkam), bis er nach und nach auch des Rondells mit den großen Erbsensträuchern ansichtig wurde und des Erdbeerbeets und des Holzschuppens, bis er wirklich alles sah, was es vom Windfangdach bis zu den Apfelbäumen und dem Waldrand zu sehen gab – und dort war kein Mensch, so weit das Auge reichte. Sorgfältig überprüfte er die Aussicht noch einmal. Und noch einmal. Aufmerksam, wie ein Mann, der eine Straße überquert, 181
schlüpfte er zur anderen Seite des Fensters, um auch in die andere Richtung so weit sehen zu können, wie es ging, doch da war nichts. Nicht bei den Gartenmöbeln und nicht beim Dreikammerbrunnen, womit sie sich in Gottes Namen dort auch hätte beschäftigen sollen. Nachdenklich legte er den Kopf an die Rollostange. Was er überlegte, war, ob er bleiben sollte, wo er war, und sie dort erwarten, oder ob er sich ein anderes Fenster suchen sollte. Es fiel ihm schwer, sich zu entscheiden, das heißt, wäre ihm schwer gefallen, sich zu entscheiden, hätte er Zeit dazu gehabt, doch das hatte er nicht. Nein, stattdessen tauchte sie plötzlich auf. Ohne Vorwarnung war sie einfach da, da unten an der Gartenbank, als wäre sie von der Rückseite des Hauses gekommen oder herauf vom See oder aus dem Nichts. Die Möglichkeiten, schien ihm, waren zahlreich. Eilig machte er einen Schritt zur Seite, musste er sich überraschend in den kleinen, kleinen Zwischenraum zwischen Webstuhl und Wand quetschen. Der war gerade so groß, dass er hineinpasste, gerade so groß, dass sein aufgeschreckter Körper Platz fand, sich zu verstecken. Atemlos stieß er mit dem Kopf gegen die schräge Holzdecke. Die Beine unter ihm zitterten, aber nicht angesichts ihres Anblicks. Nein, eher bei dem Gedanken, sie habe vielleicht ihn gesehen, hockend in seinem eigenen Zuhause, schamlos kauernd, feige lauernd. Das wollte er selbst ja kaum sehen. Er kehrte ans Fenster zurück. Bebend wie ein Hasenjunges in einem Roggenfeld guckte er so weit hervor, wie er es wagte, Zentimeter für Zentimeter, bis sie für ihn endlich wieder sichtbar wurde, aber keine Gefahr. Sie stand halb abgewandt von ihm, konnte nichts entdecken. Erleichtert ging er in die Knie, um den gebeugten Rücken zu schonen. Dass er etwas sah, sie jedoch nicht, war die einzige Oberhand, die er über sie hatte (vielleicht die einzige Oberhand, die er jemals gehabt hatte), und er zögerte nicht, sie 182
auszunutzen. Gierig sog er jedes Detail ein: die enge, weiße Jeans und die kurzärmelige Bluse, das zum Pferdeschwanz zusammengebundene Haar und die entspannte Unwissenheit – der geheime Traum des Voyeurs, aber war das befriedigend? Mehr als Test als sonst irgendetwas versuchte er, sich seine großen Hände um die fülligen, schwellenden Hinterbacken vorzustellen, aber nichts geschah … Kein Schauer, keine Wallung, nicht das kleinste Zucken im Geschlecht. Das war nahezu überraschend. In seinen Träumen hatte er sie sich immer wirklich gewünscht, und jetzt, wo sie hier war … Da wollte er am liebsten, dass es wieder ein Traum wäre. Es wäre besser so gewesen, und das war ein bisschen traurig, praktisch eine Art Verlust. Durch ihre aufdringliche Indiskretion hatte sie in gewisser Weise die Grenze passiert, hatte sie die haarfeine Linie zwischen aufreizen und reizen überschritten, und plötzlich war er nicht mehr so eifrig, nicht mehr so interessiert, ja, abgesehen vom eher prosaisch Handfesten, wie zum Beispiel, wohin sie unterwegs war, jetzt, wo sie sich nach kurzem Zögern wieder in Bewegung setzte. Etwa drei Sekunden lang schwebte er in Ungewissheit, dann wurde es offensichtlich. Sie marschierte mit solcher Entschlossenheit los, steuerte direkt auf den Holzschuppen zu, als zöge der sie an wie ein Magnet – und er hatte keine Zweifel daran weshalb, brauchte nicht einmal nachzudenken, um zu begreifen. Von stiller, siedender Verzweiflung erfüllt, sah er sie durch die erste der offenen Holzschuppentüren verschwinden. Er wartete. Wenn sie nur ihn suchte, würde sie schnell wieder herauskommen. Ja, wenn sie nur hinter ihm her war, doch so war es nicht, denn es verging eine Viertelminute, und es verging eine halbe, und es verging eine ganze, und sie war noch immer da drinnen verschwunden. Zeigte sich nicht. Kam nicht heraus. Es ging im Handumdrehen. Ohne Zeit zu verlieren, stürzte er sich die Treppe hinunter, polterte er durch die Tür hinaus auf 183
den Hof. Sich zu verstecken hatte keine Priorität mehr. Jetzt war es etwas anderes, das ihn trieb. Jetzt galoppierte er mit großen Elchsätzen über den Rasen, hin zur Holzschuppentür, wo sie verschwunden war, und guckte hinein. Die Axt … Wenn sie die Axt anfasste … Natürlich war es das, was er überlegte. Schon bevor er auch nur in der Diele angekommen war, hatte ihm das Schlimmste, das passieren konnte, vor Augen gestanden. Wenn sie die Axt anfasste … Sie hätte genauso gut einen bloßliegenden Nerv berühren können. Das war ja nicht irgendein Werkzeug, das musste er wohl wissen. Es war ja DAS WERKZEUG, in Großbuchstaben. Es war dabei gewesen. Es war nicht etwas so Lahmes, Schales, Fades wie ein Stressei, ein Glied zu einem Glied zu einem Glied … Nein, es war das Juwel in der Krone. Es war der Kern aller seiner Versündigungen, und wenn sie es anfasste, in ihm »sähe« … O Gott, dann wüsste sie alles. Also hatte sie? Eben das war die Frage. Hatte sie? Oder hatte sie nicht? Keuchend blieb er in der Türöffnung stehen. Sie stand, wo er gewusst hatte, dass sie stehen würde, am Hackklotz, das tat sie, aber darüber hinaus … Es war so dunkel, zumindest im Vergleich zum schattenlosen Sonnenlicht, aus dem er kam, und bevor er die Augen ganz und gar hatte daran gewöhnen können, hatte sie sich schon umgedreht und alles fallen lassen, was sie eventuell angefasst hatte. Sie standen schweigend und starrten einander nur an. Das heißt, er starrte sie an, in einem nichtigen Versuch, ihr die Wahrheit direkt vom Körper abzulesen, und sie starrte ihn an, wohl mit dem Gleichen beschäftigt (wie er annahm), nur so viel 184
weniger amateurhaft. Wenig ehrenvoll versuchte er, sich klein zu machen, als er unschlüssig auf der kräftigen Holzschwelle stand. Es war eine schlechte Idee gewesen, das erkannte er jetzt. In diesem Zusammenhang war er ein Leichtgewichtler. Er hatte nichts entgegenzusetzen, nur seine Angst und seine schwache, flackernde Hoffnung, und was war das schon? Nein, es war dumm und undurchdacht gewesen hinauszulaufen. Es gab ohnehin nichts, was er tun konnte, so empfand er es. Wenn sie die Axt schon berührt hatte, ja, dann war es zu spät, und wenn sie es nicht getan hatte … Die Frage war, ob es überhaupt eine Rolle spielte. Etwas in die Hand nehmen, hatte sie bei jenem ersten Mal gesagt, als sie sich kennen lernten. Um zu »sehen«, musste sie etwas in die Hand nehmen, das mit dem Gesuchten in Kontakt gewesen war – aber was war etwas? Was war die Definition? Ja, warum beim Marmorei oder bei der Axt oder seiner eigenen schweißigen Handfläche bleiben? Warum sich bei solchen Kleinigkeiten aufhalten, wenn ja der ganze Holzschuppen an sich ein Ding war? Das Ding, in dessen Mitte sie stand und bei dem sie die Vibrationen möglicherweise direkt aus den Wänden saugen, die Gesichte aus dem Erdboden oder den Deckenbalken graben konnte – denn so war es ja. Wandte er nur die allermindeste Logik auf das Übernatürliche an, gab es dort keine Grenzen. In einer physischen und verdinglichten Welt waren ihre Arbeitsgebiete unüberschaubar und die Konsequenzen ebenso, waren die Wirkungen so weitgehend, dass er weder folgen wollte noch konnte. Jedenfalls nicht bis zu Ende. Er brach das peinliche Schweigen. »Ich bin spazieren gegangen«, sagte er wenig wahrheitsgemäß, »und hab das Auto gesehen, und da …« Er ließ den Satz in der 185
Luft hängen. Als Lüge betrachtet war die Behauptung natürlich schwach. Die Chance war ja groß, dass sie ihn gehört hatte, gehört hatte, wie er die Haustür aufgerissen hatte und auf die Windfangstufen hinausgetrampelt war, aber trotzdem … Irgendwo musste er ja anfangen, und also drehte er sich leicht um und zeigte auf den Volkswagen, um sich den Anschein zu geben, wirklich an ihm vorbeigegangen zu sein. »Und was machst du?« Er zwang sich dazu, sie anzulächeln. Ja, trotz seines brennenden Interesses versuchte er, so nonchalant wie möglich auszusehen, als wäre es nur üblicher Smalltalk, ihre Situation überhaupt zur Sprache zu bringen, doch ob sie sich überzeugen ließ, war unklar. Nicht einmal mit dem besten Willen der Welt konnte man behaupten, dass sie sich zu genieren schien, weil sie so gefunden wurde, wie eine Ratte, herumschnüffelnd, wo sie nicht hingehörte, und als sie schließlich auf die Frage antwortete, kam keineswegs eine Antwort, es war eine Gegenattacke. »Du gehst nicht ans Telefon.« Einfach so. Kurz und konzis. Nicht für einen Moment entschuldigend oder verlegen. Nein, ein Akt der Anklage war das. Als wäre er es ihr schuldig zu antworten (schuldig, dachte er erschreckt), aber wenn sie es wirklich wusste …? Behielt sie es für sich. Das mürrische Gesicht war die Unergründlichkeit selbst. Außer einem gewissen Maß an Misstrauen (und vielleicht einer Spur von Abneigung) gab es dort nichts zu entdecken. Nein, er konnte starren, so viel er wollte. Sie war wie stumm. Von all den Frauenzimmern, auf die er getroffen war, von all den Frauengesichtern, die er gesehen hatte, sagte ihm dieses am wenigsten, und das war unangenehm. Sie sperrte ihn aus, schwieg, schwieg oder redete von seiner Kleinheit und seinen Schwächen – und wer wollte sich so etwas schon anhören? 186
Eingeschüchtert stützte er sich an den Türpfosten. »Nein. Nein, das stimmt«, sagte er und schlug die Augen nieder. »Ich habe den Stecker aus der Dose gezogen. Es … Ja, ich fand vielleicht, es ging ein bisschen weit. Ich bitte um Entschuldigung. Es war sehr unerzogen, einfach – den Hörer – aber ich konnte nicht mehr zuhören. Du verstehst vielleicht«, flehte er und legte den Kopf schief. »Eigentlich will ich all das hinter mir lassen, wie schrecklich das auch klingen mag. Das Leben geht schließlich weiter, stimmt’s nicht? Ich muss irgendwie weitermachen, und du machst es ein bisschen – kompliziert für mich. Oder Edna und Konrad im Grunde«, fügte er schnell hinzu, um sie zu besänftigen. »Sie haben dich ja gebeten, es ist ja eigentlich nicht deine Schuld, aber sie … Sie wollen es einfach nicht akzeptieren.« Seine Stimme wurde jammernd vor ungeniertem Selbstmitleid. »Sie glauben, sie tun das Richtige, ich weiß, aber sie machen es nicht leichter, das wissen die Götter – und ich … ich würde lieber all dem hier ein Ende machen. Das ist doch wohl kein Wunder? Das Ei zurückbekommen«, fügte er eine Spur plump hinzu, »und dem hier ein Ende machen.« Der eifrige Wortschwall verebbte und legte sich. Wieder breitete sich im Holzschuppen Schweigen aus. Die Seherin nickte leicht, sagte aber nichts. Sie guckte ihn nur an, mit gerunzelter Stirn und in dem staubschweren Gegenlicht leicht blinzelnden Augen. Er begegnete ihrem Blick. In gewisser Weise fühlte er sich ruhiger, jetzt, wo er alles herausgehaspelt und wieder angefangen hatte. Das Leugnen war so gewohnt, beinah wie zu Hause. Es war ein anderer Satz Hände, der es ihm erlaubte, sich gegen die Welt zu wehren, und obwohl er in die Knie gegangen und gekrochen und mit dem Blick ausgewichen war, war er stolz. Ja, er hielt immer noch stand, sagte er sich, wenn auch mit gewissem Erstaunen. Obwohl die Beine unter ihm wackelten, machte er nicht schlapp, gab er nicht nach, stand er gegen sie auf, indem er sich weigerte, 187
ihr zu geben, was sie haben wollte, und das war ermunternd. Mit erneuerter Kraft beschloss er, so zu tun, als wäre nichts. »Soll ich vielleicht etwas anbieten?« Er machte sich in der Türöffnung so klein, wie er konnte, und nickte in Richtung Haus, sie auffordernd, an ihm vorbei- und hinauszugehen. »Kaffee vielleicht, oder jedenfalls was zu trinken. Es ist ja so furchtbar warm, fast so, dass man …« »Du hast es also wieder erkannt?« Ihre Art, ihn zu unterbrechen, war bei weitem nicht höflich und bei weitem nicht untypisch. »Was denn wieder erkannt?« »Was ich dir beschrieben habe.« »Beschrieben …?« »Am Telefon.« »Oh … Du meinst diese – Stelle.« »Im Wald, ja. Die Stelle.« Seine Mundwinkel zogen sich nach unten. Irritiert ließ er die Hand auf den nackten, haarigen Schenkel patschen. Es tat richtig weh. »Nein«, antwortete er mit Nachdruck. »Das habe ich nicht.« »Und du bist völlig sicher?« »Jaa.« »Es ist nur so«, nervte sie weiter, »dass mir der Gedanke kam, dass du vielleicht trotz allem …« »Aber ich habe es nicht.« Als eine freudige Überraschung stieg die Wut in ihm auf, wie ein Brief in der Post, eine ferne, ersehnte Stimme in der Wüste. Seine Hände schlossen sich langsam zu Fäusten. Die Augen wurden finster. Falls sie glaubte, sie konnte so dastehen und ewig weiterbohren, sagte er sich, dann war das ein verdammter Irrtum. Falls ihr der Gedanke gekommen war, sie könne einfach 188
hierher kommen und ihm auf die Pelle rücken und … Zielbewusst trat er in den Holzschuppen, bereit, sie hinauszuwerfen, bereit, sie zu packen, zu schütteln, ja, vielleicht sogar zuzuschlagen, falls nötig … Aber war es nötig? Nein, wie sich zeigte, war es absolut nicht notwendig. Sie konnte sich ganz allein bewegen und tat es wirklich. Ja, als er einen Schritt vorwärts machte, machte sie einen zur Seite, ihn die ganze Zeit anstarrend, mit schweigendem, aber offenem Mund, mit den Fingerspitzen an den Seitennähten der Hose entlangkratzend, und als er dann noch einen Schritt machte … Ja, da machte sie auch einen, als führten sie ein Paarungsritual aus, ein Spiel, einen Tanz – bis sie beide einen weiteren Schritt taten und die Seherin schief auf eines der Holzscheite trat, das Gleichgewicht verlor und hintenüberfiel. Er schaltete sofort. Der Bums hatte scheußlich geklungen (scheußlich bekannt), und wenn er wirklich böse, wütend, rasend gewesen war … Dann war er es nicht mehr. Mit bekümmerter Miene eilte er stattdessen zu ihr, ja, fiel in der mitfühlenden Eile beinah selbst hin und stand dann hoch über ihr, wankend und vorgebeugt, noch immer mit geballten Fäusten wie zum Kampf. Drohend und erstaunt sah er auf sie herunter. Es war genau wie beim vorigen Mal. Der auf dem Rücken liegende Körper, die ausgestreckten Glieder, die Gespreiztheit – doch wo die eine ganz und gar still gewesen war, war die andere voller Leben und Angst. Er konnte nicht anders als den Mund aufsperren. Die Frau starrte ihn an, voller Angst. Blinzelte einige Male. Starrte wieder. Ihn an. Mit Angst. Zwar war er überrascht gewesen, als sie das Ei in der Hand 189
gehabt und angefangen hatte, von den Steinen der Urlaubsreise zu reden, zwar hatte sie ihn verblüfft, das eine Mal am Telefon, als er den Hörer fallen ließ und wusste, dass sie wusste, wo die Stelle lag – und trotzdem, trotzdem war das nichts im Vergleich zu dem Gefühl des Staunens, das ihn jetzt überspülte. Nie zuvor hatte ihn jemand auf diese Weise angesehen. Niemals zuvor. Nicht einmal Eva (sie hatte keine Zeit gehabt) – und die Entdeckung nahm ihm buchstäblich die Luft. Atemlos blieb er stehen und glotzte, aber nicht auf die Seherin. Nein, nicht eigentlich. Nein, es war nicht das Entsetzen in ihrem Gesicht, es war das Entsetzliche in seinem eigenen. Es war der kurze, durchschauende Augenblick, als er durch ihre Augen das Tier sah, den Gewalttäter. Als er umgekehrt hinaufstarrte zu seinem eigenen Körper und etwas sah, wovon er nichts wissen wollte, als er sich selbst sah – und wieder wegguckte. »Alles in Ordnung?«, stammelte er schließlich und reichte ihr die Hand. »Hast du dir wehgetan?« Doch die Seherin wollte von ihm nichts wissen. Ohne den ausgestreckten Arm zu beachten, rutschte sie unbeholfen weg, sich mit Handflächen und Fersen an dem schmutzigen Erdboden abstützend. Dass sie es wusste, schien ihm jetzt jenseits jedes Zweifels. Das Wissen leuchtete ihr aus den Augen, leuchtete durch den Ernst, mit dem sie die lächerlichen, plumpen Bewegungen ausführte, denn lächerlich waren sie. Unter anderen Umständen hätte er gegrinst. Ihr Krabbeln war so unwahrscheinlich. Sie sah aus wie eine Schildkröte auf dem Rücken, ein verletztes Insekt, ein Fisch auf dem Trockenen, und dann kam sie nur mit größter Schwierigkeit ganz allmählich und unbeholfen wieder auf die Füße. Sie verzog ein wenig das Gesicht, als hätte sie sich trotz allem irgendwo wehgetan, sagte aber nichts, beklagte sich nicht. 190
Stattdessen entfernte sie sich langsam von ihm, rückwärts hinaus durch die schon offenen Doppeltüren, und für keinen Augenblick ließ ihr Blick ihn los. »Aber«, sagte er und suchte nach etwas, das er sagen konnte. »Aber ich …«, und obwohl die Worte sich nicht einfinden wollten, fühlte er sich ruhiger, jetzt, wo er nicht mehr begriff, jetzt, wo er wieder blind und verwirrt und unschuldvoll war. Er trat hinaus auf den Rasen, um sie nicht aus der Sicht zu verlieren. Sie ging noch immer rückwärts, war unterwegs zum Auto, das war offensichtlich (ab und zu peilte sie mit einem raschen Blick über die Schulter die Richtung), und wie ein gehorsamer Hund folgte er ihr. Es ging nicht schnell, praktisch beinah in Zeitlupe, und der Abstand zwischen ihnen war die ganze Zeit der gleiche. Ja, in drei, vier Metern Entfernung behielt er sie im Auge, trieb er in ihrem Kielwasser mit, einzelne, sinnlos aus dem Zusammenhang gerissene Worte ausstoßend, bugsiert wie am Ende eines unsichtbaren Taus. Was er von ihr wollte, sagte er sich, dessen war er sich nicht bewusst. Er wollte doch nichts, passte nur auf, wartete ab. Nein, er wollte ihr weder Angst machen noch wehtun, redete er sich beharrlich ein. Darum ging es absolut nicht. Das war wohl deutlich, fand er, wenn sie plötzlich stehen blieb und er seine Meter einhielt – und auf seine Weise hatte er selbstverständlich recht. Als sie unerwartet bei der Birkenreihe stehen blieb, ja, da blieb auch er stehen. Mit schlaff hängenden Armen stand er da, genauso ratlos und inaktiv, wie er sich vorstellte, dass er war, und vermutlich überzeugte er auch die Seherin. »Du hast sie umgebracht, stimmts?«, sagte sie und röntge ihn lange und gründlich. »Du hast sie umgebracht mit dieser Axt da … sie totgeschlagen … vielleicht sogar da drinnen …« Sie nickte in Richtung Holzschuppen, aber er guckte nicht hin. Er wusste schon, wie es passiert war und wo. Ja, wusste sogar 191
warum (wenn er nachdachte und ehrlich genug war, es zu sehen, wie es war), und so war es nicht das, was bewirkte, dass ihm unbehaglich zumute wurde. Nein, er wusste schon immer, hatte es gewusst, seit es passiert war, aber es sagen zu hören, es laut und deutlich zu hören, aus dem Mund eines anderen Menschen … Du hast sie umgebracht. Umgebracht. Um-ge-bracht. Das Wort kam für ihn überraschend. Er erkannte es beinah nicht wieder. Es war so, als hätte er sich das Ganze auf diese Art und Weise noch nicht vorgestellt. Umgebracht?, sagte er sich erstaunt und erschrocken. Totgeschlagen? Und er war dankbar, dass sie die Worte so leise und beherrscht aussprach, wie sie es tat. Es klang besser so, erträglicher. »Na? Ist es nicht so?«, insistierte sie. »Ist es nicht so?« Sie klang jetzt etwas strenger, hatte offenbar keine Angst mehr. Als sie eine Weile dastand und auf das Geständnis wartete (ohne zu wissen, dass sie da bis zum Jüngsten Tag hätte warten können), strahlte sie sogar ein gewisses Maß an Verachtung aus, anders konnte er es einfach nicht interpretieren, und als sie sich dann umdrehte und ging, achtete sie nicht darauf, wo er sich befand. Sie warf nicht einmal auch nur einen Blick über die Schulter. Gelähmt stand er da und ließ sie gehen. Der wohlgerundete Hintern wippte beherrscht unter dem straffen, verschmutzten Jeansstoff. Den wusste er womöglich noch weniger zu schätzen, jetzt, wo sie das Unsagbare ausgesprochen hatte, aber er konnte es doch nicht lassen hinzugucken, als hoffte er immer noch. »Sie haben genug gelitten, so wie es ist.« Er zuckte zusammen, als sie ihm dies über das Autodach 192
zurief. Sie?, wiederholte er für sich und glotzte idiotisch. Welche sie? Die Polizei?, konnte er sich noch fragen. Die Allgemeinheit? – bis er begriff, dass sie von den Schwiegereltern sprach. Er schüttelte den Kopf über seine eigene Dummheit. Edna und Konrad, klar, natürlich, doch die waren ihm ganz einfach entfallen (wie so oft). Er hörte weiter zu, jetzt, wo er wusste, wovon sie redete. »… Recht zu erfahren, was mit ihr passiert ist«, fuhr sie fort, »und wenn du es ihnen nicht erzählst, dann geh ich zur Polizei. Hörst du, was ich sage? Dann geh ich zur Polizei.« Ohne eine Antwort abzuwarten, stieg sie ins Auto. Das Geräusch der zugeknallten Tür wurde zu einem Schlusspunkt, der über die Gegend hallte: die Diskussion beendet und der Monolog und seine Freiheit ebenso. Langsam rollte das Auto davon. Er machte einen Schritt vorwärts. Die ganze Zeit hatte er sich selbst als ungefährlich sehen wollen. Als die Drohung in der Luft hing und er die Seherin Schritt für Schritt vom Holzschuppen weg verfolgt hatte, hatte er seine Gedanken zuversichtlich auf Leo konzentriert. Der Hund seiner Kindheit, der Katzen nur gejagt hatte, solange sie wegliefen. Der Boxer, der zu friedfertig (oder zu feige) gewesen war, um das Wild zu attackieren, wenn es stehen blieb und sich umdrehte und fauchte, und natürlich … Das Beispiel hatte schon beruhigend gewirkt, als gäbe es wirklich einen Trieb, der zu nichts führen musste, und einen Instinkt, der sich anscheinend selbst entwaffnete – aber was war mit all den Wühlmäusen? Den Wühlmäusen, die das freundlich sabbernde Vieh im hohen Gras erschnüffelt und die er gebissen und spielerisch hoch in die Luft geworfen und fröhlich herbeigetragen hatte, mit den schlaffen, toten Schwänzen aus den Mundwinkeln baumelnd? Nein, das war einfach nur festzuhalten. Und wenn er sich selbst als ungefährlich gesehen hatte, dann hatte er falsch 193
gesehen, und die Seherin …? Auch sie hatte sich geirrt. Als sie in das verwirrte Gesicht gestarrt hatte, als sie die hilflose Haltung betrachtet und innegehalten und sich sicher genug gefühlt hatte, ihn in die Enge zu treiben … Eigentlich war es erstaunlich. Was hatte sie sich gedacht? Eine Frau wie sie, mit Röntgenblick und eingebautem Echolot, und trotzdem hatte sie nicht erkannt, wie gefährlich nahe es gewesen, wie dünn das Eis in der klebrigen Hitze geworden war. Ja, plötzlich, und ohne Anlass, hatte sie geglaubt, ihn zu kennen, zu verstehen, und sie war gründlich getäuscht worden. Nichts in der Situation war unter Kontrolle gewesen. Sie war nur um ein Haar davongekommen. Der winzigste, kleinste Fehltritt – und alles wäre anders gewesen. Hätte sie sich umgedreht und wäre sie gerannt, anstatt sich sachte zurückzuziehen und langsam zu gehen. Hätte sie ihn angeschrien, anstatt leise zu sprechen. Ja, hätte sie nicht den Blick auf ihm behalten, wie einen Schild und wie einen Spiegel … Dann wäre die Hölle los gewesen da draußen auf dem Hofplatz. Dann hätte er sie eingeholt, sie angegriffen, sich auf sie gestürzt und nicht aufgehört, bevor sie still und schweigend dagelegen hätte. So war es einfach. In seinem tiefsten Inneren wusste er es, ob er nun wissen wollte oder nicht. Trotz des idiotisch aufgesperrten Mundes hatte er es in sich. Es lag latent in jeder Zelle seines Körpers, genau so wie es sein sollte. Keine hängenden Arme der Welt änderten etwas daran, und er brauchte nur das Auto davonrollen zu sehen, schon ging es ihm tatsächlich auf: Er hätte etwas tun sollen. Ja, erst jetzt, wo das Wild in einer Geschwindigkeit vor ihm 194
floh, die ihn zum Jäger machte, erst jetzt kam der Instinkt zum Vorschein: sie aufzuhalten, sie zu zwingen, es zu begreifen, ihr seine Unschuld, oder Schuld, einzubläuen, direkt durch das Stirnbein (es war wohl gleichgültig welches, Hauptsache, er hätte etwas getan), und also machte er einen Schritt vorwärts, machte er zwei, machte er drei, doch er rannte nicht. Das Auto war schon zu weit weg, die Chance war vorbei, und ratlos blieb er unter den gewaltigen Bäumen stehen. »Ich habe es nicht getan«, schrie er in die Luft, hinter dem holpernden Auto her. »Ich habe es nicht getan«, und obwohl die Worte falsch und Lüge waren, war die Verzweiflung vollkommen echt.
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14 Zuerst pochte es vorsichtig an die Fensterscheiben. Dann goss es in Strömen. Ja, zuerst klatschten die Tropfen einer nach dem anderen gegen das Glas, schüchtern, jedes Knacken ein unterscheidbares Individuum, aber nach und nach öffneten sich die Tore des Himmels ganz, und da regnete es plötzlich Bindfäden, da schüttete es förmlich. Melancholisch sah er durch die offene Garagentür hinaus. Die Welt da draußen war gestreift und grau, drapiert in der überwältigenden Nässe, und er zögerte. Eigentlich wollte er zurück zum Haus (für ein Wurstbrot oder zwei und vielleicht ein Bier), aber der Gedanke, sich hinauszubegeben, war nicht ansprechend. Er hatte weder Regenzeug noch Regenschirm. Nein, er war gekommen, während es noch getropft hatte, und jetzt zurückzugehen …? Er wäre pitschnass, bevor er auch nur den halben Weg geschafft hätte. Die großen Tropfen hagelten weiter. So kräftig schlugen sie auf den Boden, dass sie beim Aufprall zu Spritzern zersplitterten und wieder ein Stück zurücksprangen, bis sie ganz und gar nachgaben und in den entstehenden Pfützen liegen blieben. Und wie es auf das Blechdach prasselte … Es war ohrenbetäubend. Überall hämmerte es und klopfte es und schlug es. Es knatterte und floß. Lautstark strömte das Wasser durch Rinnen und Rohre, und es war, als stünde man trockenen Fußes in einem Wasserfall; rundherum rieselte und rann es, tropfte und troff es, bis er schließlich sich selbst nicht einmal mehr denken hörte – und vielleicht war das ganz gut so.
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Ohne größere Eile drehte er sich um. Irgendetwas zum Schutz, dachte er und sah sich um. Vielleicht war da etwas Brauchbares. Er drängte sich zwischen die beiden Autos, hin zu den übervollen Regalen an der hinteren Wand. Womit er sich in der letzten halben Stunde beschäftigt hatte – den Gedanken daran versuchte er zu vermeiden. Es war sowieso, wie es war. Der Rücksitz des Mazdas war umgekippt. Der vergrößerte, aber dennoch bescheidene Kombiladeraum war sorgfältig mit den aufgeschnittenen Müllsäcken aus Plastik tapeziert worden, und da lagen die Axt und der Spaten, die Handschuhe und das zusätzliche Paar Schuhe. Nein, er brauchte nicht nachzugucken. Er wusste auch so, dass alles Nötige da war, wusste es aus Erfahrung, und im Augenblick war es wirklich nicht interessant, aber klar … Es hatte schon Anlass gegeben, ein bisschen mehr darüber nachzudenken, ja, tatsächlich ein-, zweimal. Nur zu schnell machte man einen Fehler, das hatte er gemerkt (Gott, wie er das gemerkt hatte), und keineswegs war beim vorigen Mal alles so perfekt gegangen. Nein, das war einfach nur festzuhalten. Keineswegs war es so fehlerfrei gelaufen, wie er sich hatte verleiten lassen zu glauben, und natürlich war die Axt das klar leuchtende Beispiel. Wie, hatte er sich gefragt, sobald das Auto der Seherin auf die Landstraße eingebogen und verschwunden war, wie hatte er so saudumm sein können, sie überhaupt aufzubewahren? Er wollte sich da nicht festlegen. Dass er sie nicht zusammen mit dem Körper begraben hatte, so weit war es wohl intelligent. Hätte jemand die Leiche gefunden, hätte es für ihn zwar sehr schlecht ausgesehen (doch, doch, das hätte es wahrhaftig), aber wäre sie zusammen mit der Axt gefunden worden, ja, dann wäre er direkt geliefert gewesen. Anders konnte er es nicht sehen, denn die Axt hätte zum Hof geführt und zum Holzschuppen und zu dem alten, offensichtlich 197
unbrauchbaren Werkzeug, das er auf dem Hackklotz gelassen hatte, und er hatte doch nicht riskieren können, eine neue zu kaufen, nicht so kurz nacheinander, das hätte auch verdächtig gewirkt, und, und … also klar. Es war schon richtig gewesen, sie nicht dort zu lassen, aber die Alternative? Warum hatte er sie nicht dauerhaft versteckt, sie sich für ewig vom Halse geschafft? Er hätte es nicht erklären können, nicht einmal sich selbst. Womit hatte er sich eigentlich beschäftigt? Und war er nicht, wenn er sich recht erinnerte (und das tat er), froh gewesen an dem Tag, als er die Axt wieder hervorholte, froh und auf eine verdrehte Art stolz? Nein, unbegreiflich, genau das war es. Vollkommen irrational – und dennoch hatte er in dem Augenblick geglaubt, das Richtige zu tun. So komisch und gefährlich war es eingerichtet. Genau wie der Einfall, den Körper nur fünf Kilometer die Straße hinunter zu begraben. Es hatte so logisch gewirkt, aber mit dem Fazit in der Hand … Tatsache war ja, dass die Wegbeschreibung der Seherin nicht viel wert gewesen wäre, hätte er seine Frau irgendwo anders begraben. Ein Weg und ein Kahlschlag – was hätte das wohl bedeutet, wenn die Stelle weiß Gott wo hätte liegen können, weit weg, vielleicht am anderen Ende des Regierungsbezirks, doch so war es nun mal nicht. Nein, stattdessen hatte er sich durch die Dörfer eingegrenzt gefühlt: das eine in Sichtweite einfach die Straße hinauf, das andere fünf, sechs Kilometer weg in der anderen Richtung, und in diesem schmalen Gebiet hatte er sein Arbeitsfeld gesehen. Die Bebauung hatte ihm ganz einfach Angst gemacht. Mit einem Misstrauen, das an Paranoia grenzte, hatte er vor sich gesehen, wie irgendein schlafloser Alter an seinem Küchenfenster stehen und ihn vorbeifahren sehen und sich alle
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Details einprägen würde, zum Nutzen der Polizei – und das ging einfach nicht. Obwohl er begriffen hatte, dass die Möglichkeit nicht nur klein, sondern sogar minimal war, hatte er es in jener Nacht nicht riskieren können, beobachtet zu werden, und also war er so weit gefahren, wie er gewagt hatte, bis weit vor ihm der erste Giebel des Nachbardorfs sichtbar geworden war, und dann in den ersten besten Waldfahrweg eingebogen. Nahezu zufällig, musste er gestehen, wenn auch nicht ganz planlos, so doch etwas absichtslos, und das war ein wenig nahe gewesen. Ja, auch wenn man von der Seherin absah (die Sache mit ihr war ja trotz allem nicht besonders leicht vorauszusehen gewesen, das durfte er zu seiner Verteidigung hinzufügen), wusste er ja, dass man nach seiner Frau suchen würde, und gefährlich war es immer gewesen. Während der Tage mit den Suchtrupps war das seine ständige Sorge gewesen: dass sie, trotz seiner Versuche, sie fehlzulenken, plötzlich auch dort suchen würden, dass das Suchgebiet weiter und weiter werden und nach und nach bis dahin reichen würde. Doch so war es nicht gekommen. Das Gefühl war noch immer in frischer Erinnerung. Als dieser Polizist auf ihn zugestiefelt war und gesagt hatte, es sei an der Zeit aufzugeben … Er war mehrere Kilo leichter geworden, hätte schweben können, als die Last so plötzlich und ersehnt von ihm genommen wurde und er wieder sicher war. Sicher, das heißt, bis sie auftauchte. Während er noch einen Müllsack von der Rolle abriss (sie begann, bedenklich dünn zu werden), ging er wieder zur Türöffnung. Er zögerte etwas und sah auf seine Sandalen hinunter. Da draußen fiel es dem Lehmboden unangenehm schwer, die Flüssigkeit aufzunehmen. Die Pfützen wurden immer größer und immer mehr, oder waren es vielleicht
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weniger, jetzt, wo sie so groß wurden, dass sie anfingen, zu einem einzigen seichten See zusammenzufließen. Es blitzte, und er hob den Blick. Genauso schnell, wie er gekommen war, verschwand der gleißende Lichtschein, dicht gefolgt von dem krachenden Grollen und dem metallischen Donner, die die Gegend widerhallen und die Garage unter seinen Füßen beben ließen. Er seufzte, schwer und beeindruckt. Naturkräfte, sagte er sich. Strahlenblitze und Springfluten. Gezeitenwasser und Lavaströme. Heiße, treibende Dämpfe aus unterirdischen Quellen – und wo hatte er seine?, fragte er sich. Wo waren die? Wo versteckten sie sich, wenn er sie am dringendsten brauchte? Mit dem Müllsack über dem Kopf lief er hinüber zum Haus. Das Wasser spritzte ihm die bloßen Beine hoch. Ja, er war pitschnass, bevor er auch nur den halben Weg geschafft hatte, aber das machte nichts. Er hatte reichlich Zeit zum Trocknen. Es war erst Viertel vor fünf. Es lagen noch viele lange Stunden vor ihm. Der Waldfahrweg. Der steile Hang. Der Wendehammer. Alles war genau so, wie die Seherin es gesehen hatte, wie er es gesehen hatte, als er das vorige Mal da war. Ganz da unten entlang der Landstraße der Vorhang, der ihn vor der Welt verbarg und der ihm die Arbeitsruhe gab, die er so nötig brauchte, das heißt, der Streifen halbwüchsigen Waldes (viel zu dicht, voller schmächtiger Fichten und Kiefern), hinter dem sich dann die Aussicht und der große Kahlschlag ungestört in alle Richtungen ausbreiteten. Es war kein schöner Anblick. Nicht für einen Grabschänder, nicht bei schlechtem Licht, unter gar keinen Umständen. Nein, 200
der Eindruck, den er vermittelte, war einzig der von Öde und Leere, und die einzelnen zurückgelassenen Bäume machten die Sache nicht besser. Sie sahen so herzzerreißend verlassen aus, weit verstreut, wie sie in dem elenden Gelände standen. Eine stattliche Espe, doch davon abgesehen nichts von Wert. Eine Birke, so dünn und hoch wie eine Fahnenstange, mit der jämmerlichsten aller Kronen, nur einer Ansammlung traurig hängender Äste. Eine Hand voll halber Bäume, geknickt, misshandelt von Wetter, Wind und Waldmaschinen – und mitten in alledem: der Weg. Gesäumt von einem tiefen Graben, von Weidenbüschen und eingetrockneten Himbeersträuchern, wand der sich auf ihn zu, herauf auf das herausgeschlagene Plateau, wo er das Auto geparkt hatte und hinter der dem noch unberührte Wald anfing. Oder beinah unberührt. Das war es, was ihn bei jenem ersten Mal überrascht hatte, dass es dort jetzt einen neuen Weg gab, der sich weiter den Berg hinauf und unter die gewaltigen Fichten schlängelte, hin zu weiteren geplanten oder begonnenen Kahlschlägen, und von dessen Rodung noch Haufen von Stämmen dalagen, wohl geordnete, dreieckige Stapel, die an einer Ecke des Wendehammers warteten und überwältigend stark nach Harz und Borke und Holzschuppen und Terpentin dufteten. Unruhig guckte er durch die Windschutzscheibe hinaus. Er wollte absolut nicht aussteigen. Der krampfhafte Griff um das Lenkrad war wie der Griff um eine Sicherheitsleine. Er wollte nicht loslassen, nicht raus in die Ungemütlichkeit des Regens und in die anderen Ungemütlichkeiten auch nicht. Ohne sich zu rühren, lauschte er dem Tropfen aufs Autoblech, den Scheibenwischern, die mit mechanischer, nervtötender Einförmigkeit vor ihm hin und her gingen, hin und her. Irritiert
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drehte er den Zündschlüssel um. Das Motorgeräusch und die schwache Beleuchtung erstarben. Der Regen kam näher. Als es halb eins geworden war, hatte er nicht länger warten können. Mit etwas, das sich beinah mit Eifer vergleichen ließ, hatte er sich ins Nachtdunkel aufgemacht. Verbissen am Lenkrad hockend, war er die wohl bekannten, bewaldeten fünf Kilometer gefahren und abgebogen, den holperigen Waldfahrweg hinaufgesteuert, im Lehm dahingerutscht, hatte an einer Stelle sogar geglaubt, in der schlüpfrigen Wagenspur stecken geblieben zu sein, war aber dennoch weitergekommen, und als er dann schließlich den Endhalteplatz erreicht und das Auto angehalten hatte, wo er wusste, dass er anhalten musste … Da verblasste der frische Teint der Entschlossenheit. Da zögerte er in dem trockenen, sicheren Wageninneren. Da kam er nur mit der äußersten Kraftanstrengung überhaupt aus dem Auto. Auf einmal widerstand ihm alles: das Wetter, die Nachtluft, der starke Duft feuchten Holzes. Er beeilte sich, die Kapuze der Regenjacke hochzuschlagen. Es donnerte zwar nicht mehr, und es goss auch nicht mehr. Nein, der Regen war in ein Rieseln übergegangen, in ein so beharrliches wie unangenehmes Strömen, aber das war nass genug. Unter dem schwachen Schutz der Kapuze zog er die Handschuhe an, nahm den Spaten heraus und ging los, bevor er dazu kam, es zu bereuen. Sein Ziel war offenkundig. Evas Grab. Die kahle Fläche zu überqueren, hinein in die kleine Senke und wieder hinauf. Ja, zu dem zusätzlichen kleinen Kahlschlag, der den sonst so gleichmäßigen Waldrand unterbrach, weiterzugehen, zu dem versenkten, glatt rasierten Viereck, das versteckt im Hang lag, umgeben vom dunklen, hoch gewachsenen Wald – denn dort lag sie. 202
Beinah in der Mitte. Auf halbem Wege zwischen dem großen Stein und der mitgenommenen, abgeknickten Kiefer – dort war es. Dort ruhte sie. Aber dort hinzukommen war schwieriger, als er sich vorgestellt hatte. Es war so dunkel. Ja, es war jetzt einen Monat später. Die Sonne sank tiefer und tiefer hinter den Horizont. Die Nächte waren langsam länger geworden und immer weniger hell, doch nicht nur das. Es war auch das Wetter, oder vielleicht vor allem das Wetter. Der Regen, der düstere, undurchdringliche Himmel … Nein, kein Wunder, dass es jetzt anstrengender war. Es wurde ihm gewissermaßen schwarz vor Augen. Zu sehen, wohin er die Füße setzte, war nicht mehr so leicht, und das Gelände gelinde gesagt schwierig. Da waren Stümpfe und große Grassoden. Da waren Zweige und Äste von der Abholzung. Da waren Felsen und Steine, Löcher und Haufen – und das erstaunte ihn. Das Erinnerungsbild, das er in sich trug, war überhaupt nicht so, war überhaupt nicht so schlimm (sagte er sich, bis er einsah, dass er fast gar keine Erinnerungsbilder hatte), und wie auch immer: Was hätte er daran ändern können? Die Wirklichkeit war ja, wie sie war. Wo sein Fuß auch Halt suchte, schien etwas im Weg zu sein. Ja, es war tatsächlich beinah unpassierbar. Alle naselang stolperte er, musste er sich mit dem Spaten oder den Händen abstützen, und als er schließlich an der richtigen Stelle ankam, war er unter dem dichten Regenzeug nass von Schweiß. Keuchend sah er sich um. Da war der Stein – da der misshandelte Baum … Er maß, fuhr mit dem Blick über den Boden, und da … Da lag der Haufen aus Zweigen und Kleinholz, den er zusammengekehrt hatte, um die frisch aufgegrabene Erde zu verbergen. Noch immer außer Atem räumte er ihn weg, dann aber ruhte er sich eine Weile aus, stand er ein paar Minuten da und starrte nur den länglichen, moosfreien Fleck an, den er vor sich hatte. Er empfand es als völlig unwirklich. 203
Er. Da. In Dunkelheit und Regen. Sie. Darunter. In einer noch größeren Dunkelheit. Nein, es war nicht zu begreifen. Es war unfassbar. Obwohl er an den Rändern schnappte, konnte er nicht hineinbeißen, konnte er nicht begreifen, was er finden würde, und also fing er schließlich an zu graben. Zunächst ging es leicht. Die Erde war locker, schon einmal umgegraben und überhaupt nicht wie beim ersten Mal. Da war sie hart gewesen, fast unmöglich hart, und da hatte er Wurzeln abhacken und Steine herausstemmen, arbeiten und arbeiten müssen, Stunde um Stunde. Ja, obwohl er zunächst (etwas naiv, wie sich herausstellen sollte) ein Grab wie auf einem Friedhof vor sich gesehen hatte: ordentlich, sechs Fuß tief, mit glatten Seiten und rechtwinkligen Ecken, hatte er (oder sie) sich schließlich mit einer rauen, schalenförmigen Grube begnügen müssen, keinen ganzen Meter tief, und trotzdem war es fast Morgen gewesen, bis die letzten Zweige wieder an ihrem Platz obendrauf lagen und er abgehetzt zum Auto und zum Leben und zum kommenden Ansturm zurückkehren konnte. Nein, zunächst ging es vergleichsweise leicht. Solange er sich keine Sorgen machen musste, aus Versehen in den toten Körper zu hauen. Solange die Erde noch nicht so nass und matschig war, wie sie später wurde, als das Regenwasser sich auf dem Boden der flachen, aufgegrabenen Grube sammelte und jeder Spatenvoll am Blatt festklebte, so dass er ihn mit einem Ruck, den er bis in die Achselhöhlen spürte, vom Spaten werfen oder ganz einfach mit dem Fuß abkratzen musste. Langsam wurden die Arme immer schwerer und schwerer, und der Spaten auch, was das betraf. Mit seinem durch und durch echten Holzstiel und seinem breiten, lehmschweren Blatt wurde er bald zu einem unhandlichen Stück, und langsam ging ihm die Kraft aus. Er ruhte eine Weile aus. 204
Grub weiter. Ruhte wieder aus. Da er aber wusste, dass die Zeit begrenzt war, arbeitete er trotz allem recht tüchtig. Systematisch bewegte er sich am Rand der Grube entlang: grub am Kopfende, in der Mitte, an den Füßen, stieg er auf die andere Seite der Grube hinüber und arbeitete dort ein Weilchen – alles, um überall gleich viel zu graben und das Risiko, den Grabinhalt zu beschädigen, zu mindern. Dass er an der richtigen Stelle grub, darüber herrschte absolut kein Zweifel. Sobald er im Geringsten abdriftete, spürte er es im Spaten. Jenseits der Grenzen der alten Grube war die Erde so hart und unzugänglich, wie sie immer gewesen war. Der Unterschied war offenkundig und unmissverständlich. Es gab nicht die Möglichkeit, auf Abwege zu geraten, und allmählich fand er natürlich, was er suchte. Etwas anderes wäre nicht möglich gewesen. Ja, plötzlich stieß der Spaten an etwas, das hart und weich zugleich war. Und etwas, das raschelte. Vorsichtig schob er mit der Längsseite des Spatenblattes noch eine Schicht Erde weg, doch dann schreckte er zurück und machte ein paar schwankende Schritte nach hinten. Da war die Sache mit dem Geruch. Der teuflische Geruch. Im Grunde hatte er den fast die ganze Zeit bemerkt. Schon als er nur ein Stück gegraben hatte, war er den Holzstiel heraufgestiegen, unangenehm kriechend, aber jetzt … Jetzt, wo alles offen dalag … Ja, erst da schlug er mit voller Kraft zu, als hätte er da unten gelegen und gewartet und sich gesammelt und verstärkt und wäre dann mit einer gewissen Verzögerung losgebrochen. Verwirrt ließ er den Spaten los. Er wusste beinah nicht, wo er war. Der Geruch war plötzlich alles, was er wahrnahm. Wie der 205
leichteste aller Nebel stieg er ihm in die Nasenlöcher, und wie ein Bleigewicht fiel er dann geradewegs in die Magengrube: erstickend und eklig, ungreifbar und klebrig, süß und sauer und unbeschreiblich, alles zusammen auf einmal. Einen der nassen Handschuhe ans Gesicht gedrückt, hielt er den Atem an, stand er nur da und tat buchstäblich überhaupt nichts, bis sich die Lungen bemerkbar machten und er wieder zu atmen begann, jetzt aber durch den Mund. Einfältig glotzte er in den Regen. Naiv, sah er ein, das war er gewesen. Er hatte sich bereit geglaubt, hatte behauptet, sich bewusst zu sein, dass der Tod seinen Verlauf und die Zeit und die Materie ihren Gang hatten, und trotzdem, in seinem tiefsten Inneren … Nein, das war nicht das, was er erwartet hatte. Nicht so stark. Nicht so handgreiflich. Auf irgendeine Weise hatte er es trotz allem für möglich gehalten, zu demselben Körper zurückzukehren, in dieselbe Zeit und denselben Raum, am selben Punkt in dem Zusammenhang anzufangen, wo er ihn verlassen hatte. Doch so war es natürlich nicht. (Naiv war das Wort.) So konnte es nicht sein. Nein, nichts stand still. Während er weg gewesen war, war etwas passiert. Der Körper in der prosaischen Plastikumhüllung, sie, seine Frau, Eva, war in Verwesung begriffen. War es schon die ganze Zeit. Von jener verhängnisvollen Sekunde an war alles verändert, waren Verfall und Auflösung alles, was übrig blieb, und was er auch zu finden geglaubt hatte (Gott weiß was, ein Skelett oder einen ungerührten, unberührten Körper), dies war die Wirklichkeit: eine stinkende, verwesende Leiche. Und etwas anderes stand nicht zu Gebote. Langsam ging er wieder zum Grab. Was jetzt zu tun war, war Archäologie. Auf den Knien, mit den Händen vorsichtig in der Erde scharrend, legte er frei, was früher seine Frau gewesen war. 206
Er war froh, dass nicht so viel zu sehen war. Sie war zwar in kräftiges, durchsichtiges Plastik eingehüllt, aber um das Plastik war Runde um Runde breites, braunes Klebeband gewickelt. Ja, so viel Klebeband war da, dass die Durchsichtigkeit nur zu einzelnen offenen Spalten geführt hatte, und so dicht war der eingeschlagene Körper umwunden, dass das Paket sogar Kopf und Hals hatte. Für einen Augenblick stand er still und guckte nur. Über ihm fiel der Regen. Und fiel. Und fiel. Einer nach dem anderen bohrten sich die Tropfen in alle Knicke und Falten des Plastiks. Schmale, dünne Rinnsale schmutzig braunen Wassers begannen die Seiten herunterzufließen, wuschen sie ab, legten eine Ahnung von etwas Gelbem, etwas Blauem, etwas Blondem frei. Heftig, weil er es nicht aushielt, es länger aufzuschieben, ging er ans Werk. Es erforderte sowohl Kraft als auch Selbstüberwindung. Allein, ihr so nahe kommen zu müssen … Die Hände unter den Körper zu schieben und ihn in die Arme zu nehmen. Und allein, sich wieder in stehende Position hochzustemmen, mit sechzig Kilo extra wie einen Mühlstein um den Hals. Nein, es war schwer, das war es, schwer in der einen wie der anderen Hinsicht, und es wurde nicht leichter, als er sich in Bewegung setzte. Es war so, als hätten sich alle Schwierigkeiten der Welt gegen ihn verbündet. Da war das Gewicht, das schlimmer war, als er sich vorgestellt hatte, und das er gerade so schaffte. Da war das Gefälle, das die Last noch augenfälliger und schwerer kontrollierbar machte. Da war die Tatsache, dass er seine Füße nicht mehr sah. Da war der Gedanke, was eigentlich gegen seine Brust drückte, nur unter ein paar armseligen Schichten Plastik, und da war der Geruch, nein, der Gestank, der sich trotz der Mundatmung aufdrängte und tief in ihn eindrang.
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Langsam suchte er seinen Weg den Hang hinunter. Beherrscht zunächst, tastend, mit den Schuhsohlen sorgfältig das Gelände sondierend, aber das Gefälle war teuflisch. Beim kleinsten Fehltritt wollte der tote Körper einfach vorwärts. Wenn er stehen bleiben, sich aufrichten, das Gleichgewicht zurückgewinnen wollte, dann wollte der Mühlstein durchgehen, dann wollte er weiter, abwärts, schneller. Nein, es genügte nicht, ihn nur zu tragen, er musste ihn auch zurückhalten, als hätte der sein eigenes Ziel und sein eigenes Tempo, als trüge er zwei Lasten statt einer, und auf die Dauer war das allzu viel. All diese verdammten Äste und Löcher und Stümpfe. Mit zitternden Armen und Beinen begann er, bald hierhin, bald dorthin zu schwanken. Getäuscht von dem ungleichmäßigen Untergrund, eifrig angefeuert von seiner Last, machte er mehr und mehr unkontrollierte Schritte, musste er ab und zu rennen, um sich selbst einzuholen. Stolperte er. Landete er auf einem Knie, kam aber mühsam wieder hoch. Schleppte (sich) weiter. Stolperte er noch einmal, fiel wie ein Stock und blieb quer über der Leiche liegen. Wirr stützte er sich mit einem Arm auf und sah unter sich. Da, in einer Spalte zwischen zwei Klebebandwindungen … Was war das? Die Nase? Ja, die Nase, nicht weit von seiner Nase. Die Haut gräulich hinter den doppelten Plastikschichten, vielleicht fast grün (das war im Dunkeln schwer zu entscheiden), und was war das da? Dieses Schwarze, das aus den Nasenlöchern geflossen war. Sie hatte doch nur ein wenig aus einem Ohr geblutet, da war er sicher, nur aus dem Ohr und in einem dünnen, dünnen Rinnsal, also was war das? Verschreckt krabbelte er rückwärts, weg von ihr. Sie hatte sich unter ihm so weich und dick angefühlt, beinah angeschwollen, dachte er und schauderte. Und der Geruch nach Aasgeier, nein, Aas, musste er sich erinnern, von Aas … O Gott.
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Noch immer mit sperrangelweit offenem Mund verschnaufte er etwas. Der Brustkorb hob sich schwer unter der raschelnden Regenjacke. Er hätte weiß Gott was gegeben, seinen rechten Arm vielleicht, um wie gewöhnlich tief und natürlich atmen zu können, um den Sauerstoff von der Nase bis hinunter in die Fußzehen einsaugen zu können, aber natürlich wusste er es besser. Ausgelaugt hustete er matt. Er war nicht weit gekommen. Ein Zehntel des Weges vielleicht oder nur ein Zwanzigstel. Er hatte keine Ahnung, konnte es nicht einschätzen. Das Auto war sowieso außer Sichtweite. Er sah sich um, wo er saß, hinausgeworfen am Ende des widerstrebenden Hangs. Unterhalb von ihm, in einem langen, leichten Bogen, verlief die Senke, wo der kleine, herausgeschlagene Kahlschlag unmerklich in den großen, mehr Respekt einflößenden überging. Er seufzte laut. Der Gedanke daran, was er noch vor sich hatte: Zuerst das, was er sehen konnte, jenseits der Senke, die steile Steigung, voller Gestrüpp und Stümpfe und anderem Teufelszeug, und dahinter: der ganze gewaltige Kahlschlag. Oder der halbe zumindest. Der ganze Weg zum Wendehammer und dem wartenden, lockenden Auto. Ohne Enthusiasmus kam er wieder auf die Füße. Natürlich musste er weiter. Natürlich. Hier konnte er nicht bleiben, doch da gab es ein Problem. Nämlich das, dass er es mit der Leiche nicht mehr schaffte. Wie er es auch versuchte, wie er sich auch anstrengte, wollten die Beine die Last nicht mehr tragen, erschlafften die Arme zu Gummi. Nein, es ging einfach nicht. Die Energie war wie weggeblasen, und bekam er wider Erwarten den Körper ein Stück vom Boden hoch, bis zum Schenkel oder Schritt oder so, ja, dann schwankte der immer und kippte um, bald in die eine, bald in die andere Richtung, da hing er nur widerstrebend an seinen Händen wie das unwillige tote Fleisch, das er auch buchstäblich war. 209
Resigniert packte er das Fußende und fing an zu schleppen. Er versuchte, nur das Plastik anzufassen, nicht sie, aber obwohl es zunächst abwärts ging, war die ganze Zeit etwas im Weg, blieb er wieder und wieder stecken, musste er unaufhörlich rütteln und ziehen und reißen, um loszukommen, und bald fasste er trotz seiner Vorsätze um die Fußgelenke und das nur allzu weiche, nachgebende Fleisch. Auf dem Grund der Senke ruhte er sich eine Weile aus. Es ging nicht schnell. Nein, es ging tatsächlich langsamer, als sie zu tragen, und die ganze Zeit machte er sich Sorgen, etwas Scharfes, Abstehendes könnte Löcher in die Plastikumhüllung reißen, in den letzten knackenden Damm, den einzigen schwachen, kleinen Schutz, den er gegen die stinkende Wirklichkeit noch hatte. Stehend, die Hände auf den Knien, wartete er darauf, dass das Herz sich beruhigte. Er wischte sich schlampig unter der Nase ab. In gewisser Weise wunderte er sich. Das war nicht das, was er erwartet hatte: so überwältigend erledigt, so erschöpft zu sein, nachdem es beim vorigen Mal so gut gegangen war – doch auch da war etwas passiert. Ja, voriges Mal, sagte er sich, aber voriges Mal war der Himmel heller gewesen, hatte er die Leiche getragen, bevor er sich die Arme müde gegraben hatte, und vor allem hatte er einen barmherzigen Schock gehabt. Tatsache war, dass er in dieser ersten Nacht alles Mögliche geschafft hätte (es vielleicht sogar hatte), und da lag der große, entscheidende Unterschied. Als er vor einem Monat über den Kahlschlag gegangen war, ungerührt wie ein Elch, die erstarrte Leiche schaukelnd im Arm, ja, da hatte er es geschafft, weil er eigentlich nicht dort war, weil es von einem anderen getan wurde, weit weg, außerhalb und jenseits von ihm selbst, und danach … Da hatte er sich kaum daran erinnern können, sah er es nur in kurzen Momentaufnahmen von Spaten und Wurzeln, von 210
ausgebeultem Plastik und grauen Stümpfen, in Schlafwandlergesichten, und richtig wach wurde er erst später – klar … Sicher war etwas passiert. Es war nicht so wie jetzt, wo er, sich jedes Details quälend bewusst, wieder die Leiche packte, wo ihm nichts, sei es von Gewicht oder geringem Wert, entging. Er packte zu, dass es knackte. In der Steigung abwärts gewandt, gekrümmt, an dem schweren Ballast zerrend … Kein Wunder, dass es ihm allmählich die Kraft nahm. Er war ja nicht mehr als ein Mensch. Ja, er hatte ja trotz allem seine Grenze, und vielleicht lag die genau hier: in einer Gaswolke von Gestank zu stehen, mit dem Rotz über die Lippen fließend, weil die Mundatmung Hochziehen nicht zuließ, mit dem Schweiß eisig und abgekühlt an der Haut und den Fingern erstarrt in den durchnässten Handschuhen. Und da blieb sie schon wieder hängen. Auf halbem Weg den Hang hinauf. Er traute seinen Augen oder Armen nicht. Es ging einfach nicht mehr weiter. Sie ließ sich nicht bewegen, wie er auch zerrte und zog, als säße sie irgendwo fest, für ewige Zeiten – und da riss etwas in ihm. Unter Aufbietung seiner allerletzten Kräfte hob er das Elend hoch, so dass nur das Kopfende an den böswilligen Boden stieß, und dann warf er den Körper hinunter, schleuderte er ihn von sich, während er einen Schrei ausstieß, ebenso unartikuliert wie hemmungslos. Keuchend sah er das längliche Paket davonrollen, hopsend, springend, kullernd. Es war beinah verblüffend, beinah lachhaft. Ja, es war Murphys Gesetz, wenn auch umgekehrt. Als er sie geschleppt hatte, hatte es nichts gegeben, was nicht im Wege war, hatten sich überall Hindernisse aufgetürmt, aber jetzt … Jetzt, wo sie ohne Unterstützung in die entgegengesetzte Richtung unterwegs
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war, da ging es wie ein Tanz. Da wälzte sie sich zum Boden der Schlucht, als wäre es nichts. Verzweifelt setzte er sich hin und weinte. Er war völlig erschöpft, ausgepumpt. Im Grunde wäre es so einfach gewesen. Die Seherin wusste, wo die Leiche lag, und also musste sie verlegt werden. Genau so. Überhaupt nichts Kompliziertes. Ja, es war ein völlig logischer Gedanke gewesen – nur wirklichkeitsfremd. Es war ein ganz und gar rationaler Plan gewesen – nur undurchführbar. Und wie hätte er den Unterschied erkennen sollen? Er saugte etwas Rotz in den Mund und schluckte ihn. Alles war plötzlich sehr ruhig und still. Es raschelte nur ein wenig in dem steifen Regenzeugstoff, und der Regen fiel und fiel auf die Kapuze, beharrlich und enervierend wie die chinesische Folter. Irritiert riss er sie sich herunter, ließ sich eine stillere Flüssigkeit herunterlaufen, über die Schädelbasis, über den Hals. Es war kalt, aber nicht unangenehmer als alles andere. Irgendwo weit, weit weg grollte noch das entschwindende Gewitter. Aufkommender Wind rauschte durch die Fichtenwipfel, legte dabei den Regen noch ein paar Grad schräger in den Luftraum, und vielleicht wurde es etwas heller, trotz allem. Blass und frierend fing er erneut an, sich zu bewegen. Langsam, langsam, es dauerte eben, solange es dauerte, schleppte und stemmte er die Leiche zurück zum Grab hinauf. Eine andere Lösung sah er nicht. Seine Energie war verbraucht. Die physische, die mentale – was es auch war, sie war verbraucht. Die Last den ganzen Weg über den Kahlschlag zu schleppen, eine neue Stelle zu finden, noch ein Grab zu graben … All dies war jetzt jenseits von ihm. Jetzt musste er sich mit dem begnügen, was sich wirklich machen ließ, mit dem einfachsten, und also grub er sie wieder 212
ein, in Zeitlupe, begrub er sie zum zweiten Mal, trat die Erde fest, legte den Kleinholzhaufen an seinen Platz und wankte dann zum Auto, über Wurzeln, Soden und trügerische Löcher. Ohne sich länger zu erinnern warum, zog er die Regenjacke aus und wechselte die Schuhe, bevor er in das wenn nicht warme, so zumindest trockene Auto kroch. Er strich sich das nasse Haar zurück und drehte den Zündschlüssel um. Er war schon auf halbem Wege nach Hause, als er wieder anfing, durch die Nase zu atmen. Und jetzt? Er hatte versucht, ein Problem zu lösen. Es war ihm misslungen. Und was kam jetzt? Ja, rein automatisch nahm er zuallererst die Nacharbeit in Angriff. Die Autospuren musste er zwar dem Regen überlassen (da konnte er nichts machen), aber darüber hinaus räumte er auf, so gut er konnte. Wenn das Grab wider Erwarten gefunden wurde (nein, nicht wider Erwarten. Wenn. Falls er da nichts machte – wenn es gefunden wurde), wollte er nicht die allerkleinste Spur um sich haben, keinen entsprechenden Schuhabdruck, kein Erdpartikel, nichts, und so ging er ans Werk. Spaten- und Axtstiel sägte er ab und verbrannte sie im Kachelofen. Spatenblatt und Axtkopf, Regenkleidung und Plastikschutz aus dem Auto, die Handschuhe und die alten, ausgedienten Segelschuhe – alles stopfte er in ein paar Konsumtüten, die er, obwohl zum Bersten voll, oben ordentlich zuknotete, und dann machte er sich auf den Weg. Dann fuhr er in die Stadt, wo er nach einer halben Stunde Suchen zwischen unbekannten Reihenhäusern und Garagenreihen schließlich einen geeigneten, unverschlossenen Müllraum fand, wo er die 213
Last ungesehen in einen riesigen, grünen Container kippte – aber dann? Das, was das letzte Handanlegen hätte sein sollen, eine ermunternde Abrundung, was war es wohl jetzt? Es war nicht einmal der Anfang. Es war das hohle Geräusch einer gesprungenen Tonne, und er hatte keine Freude daran. Nein, alles war nach wie vor beim Alten. Das Problem blieb bestehen, also was jetzt?, fragte er sich, als er die neu gekauften Werkzeuge achtlos auf den Rücksitz warf und vom öde regenglänzenden Parkplatz von Lantmännen fuhr. Was sollte er jetzt machen? Frustriert jammerte er mit den Scheibenwischern um die Wette. An die Übung der Nacht wollte er nicht denken, tat es aber dennoch. Es war so quälend, dass er es nicht lassen konnte. Ein um das andere Mal sah er das Fiasko vor sich. Wie er gehockt, geschuftet, gerotzt hatte, gekrabbelt, gefallen war – und es trotzdem nicht geschafft hatte. Er begriff noch immer nicht, wie es dazu gekommen war. Ja, was war eigentlich schief gegangen, wo hatte der Knoten gesessen? Hatte er wirklich nicht die Kraft dazu gehabt, das heißt, rein muskelmäßig, oder war es etwas anderes gewesen, wie die Stimmung oder der Gestank oder vielleicht der Gedanke an den Zustand des Körpers unter dem Plastik? Es verging ein Kilometer und noch einer und noch einer. Er quälte sich hinter dem Lenkrad. Er käute wieder und fing von vorn an, und das Allerschlimmste, das, was am allerwiderwärtigsten und am schwersten zu schlucken war, war die Tatsache, dass er es die ganze Zeit gewusst hatte. Denn so war es, redete er sich ein. Die Leiche auszugraben … Die Idee war von Anfang an idiotisch gewesen, die Energie fehlgerichtet. Ja, es war schlechte Kunst gewesen, so sah er es, wie Sturm und Drang auf niedrigstem Niveau, Grabschänder in 214
Gewitternacht, und alles vergebens, alles. Jeder Spatenstich gedankenlos, jeder schwankende Schritt eine Äußerung der Verzweiflung. Nein, selbst wenn es ihm gelungen wäre, die Leiche bis zum Auto zu bugsieren, wenn er mit ihr weggefahren wäre, weit, weit weg – welchen Sinn hätte das eigentlich gehabt? Auf die Dauer? Sie wäre ja noch da gewesen. Sie hätte es gewusst. Sie hätte weitergenervt und -gebohrt und Probleme gemacht und einfach etwas anderes »gesehen«, eine neue Art gefunden, ihn zu quälen und sein Leben zu einer leibhaftigen Hölle zu machen. Er knirschte mit den Zähnen, wenn er daran dachte: Evas toter Körper, der Anblick unter dem Plastik, die Verwesung, alles, wozu ihn diese Frau gezwungen, was sie ihn hatte durchmachen, wieder erleben lassen. Und mit welchem Recht? Ah, er könnte …, zischte er der uninteressierten Straße leise zu. Er könnte … Und plötzlich war das Ganze völlig selbstverständlich. Wie aus dem Nichts kam die Lösung an den Mittelmarkierungen des Asphalts entlang auf ihn zugerast. Eine Nachricht in Morseschrift, von einem Punkt verborgen hinter endlosen Reihen von Biegungen, Erinnerungen und Assoziationen: Sie sich vornehmen. Natürlich war dies die Alternative, die noch blieb. Nicht wie die Katze um den heißen Brei herumzugehen, sondern sich zu trauen. Nicht Auswege an Nebengleisen zu suchen, sondern sich mit ihr zu befassen, wie widerwärtig und riskant das auch war, denn der Wahrheit musste er ins Auge sehen. Irgendwie war er gezwungen, die Bedrohung, die sie bedeutete, aus dem Weg zu räumen (ein für alle Mal – das war das einzig Praktische). Und 215
wie das zugehen sollte? Er begann, den Plan in die Tat umzusetzen, sobald er nach Hause kam. Ja, mit dem Telefonbuch in höchster Bereitschaft ließ er sich am Küchentisch nieder und fing mit dem ersten Schritt an. Sonja, dachte er. Sonja und weiter? Wie hieß sie noch mit Nachnamen? Er zerbrach sich den Kopf. Er wusste, dass er ihn gehört hatte. Sie hatte ihn mal genannt, als sie anrief, so weit war es klar, aber dann … »Sonja«, sagte er laut vor sich hin, wieder und wieder, während er versuchte, sich heranzuhören, was danach paßte. Es war etwas Alltägliches, da war er sich sicher. Lundberg vielleicht, probierte er. Lundström. Bergström. Bergkvist. Aber wie er die Naturphänomene auch drehte und wendete, einen Treffer landete er nicht. Kein Name klang so, dass er ihn wieder erkannte, und schließlich wusste er sich keinen anderen Rat mehr, als um Hilfe zu bitten. Zögernd steckte er den Telefonstecker wieder in die Steckdose und wählte die wohl bekannte Nummer. Es war Edna, die dranging (sie war es fast immer), und sie schien aufzuleuchten, als sie hörte, wer es war. »Nein, du, Bengt«, rief sie aus und schien sich aufrichtig zu freuen. »Wie nett …« Bevor eine kurze, kleine Pause entstand und sie ernster fortfuhr: »Es hat doch nicht …« »Nein«, antwortete er und bereute beinah, dass er angerufen hatte. »Sowas nicht. Es ist nichts Neues aufgetaucht.« Er glaubte beinah einen Seufzer der Erleichterung zu hören, als wüsste sie in ihrem tiefsten Inneren, dass jede Nachricht über die Tochter dazu verurteilt war, eine schlechte Nachricht zu sein, aber möglicherweise war es nur ein Rauschen in der Leitung. »Ja, ja«, sagte sie laut. Nur das. »Ja, ja.« Er tat so, als hätte er es nicht gehört. 216
»Ich ruf nur an, weil ich hören wollte, ob diese Sonja … Wie heißt sie noch gleich? Sonja …?« Er ließ sich anmerken, dass er nachdachte, dass es krachte. »Lundmark?« »Ja, genau, ja. Sonja Lundmark. Ich hab mich nur gefragt … Ist da was draus geworden? Ich meine, hat sie was gesagt?« »Nein«, sagte Edna. »Nein, hat sie nicht.« Sie lachte ein wenig und zwar nicht nur resigniert. »Und etwas anderes war wohl auch nicht zu erwarten. Es war ja etwas lächerlich.« Die Stimme senkte sich zum Flüstern. »Um bei der Wahrheit zu bleiben, Konrad war nicht besonders begeistert davon. Hätte ich nicht gebeten und gebettelt, dann … Er fand es wohl peinlich, glaube ich, aber ich weiß, dass du es verstehst.« »O ja.« »Man muss ja tun, was man kann.« Sie ließ die Stimme wieder stärker werden. »Stimmt’s?« »Absolut.« »Und wer weiß? Es hätte ja funktionieren können.« »Klar.« »Es war ja den Versuch wert.« »Auf jeden Fall, aber es gab überhaupt kein Resultat?« »Was? Resultat? Nein, gab’s nicht. Sie hat nie etwas gesehen, hat sie gesagt.« »Kein bisschen?«, beharrte er jetzt, nachdem er schon mal auf das Thema gekommen war, aber falls Edna fand, dass er nervte, war sie eine viel zu hilfsbereite Seele, um es übel zu nehmen, und was er herausbekam, war auf seine Weise sehr interessant. Wenn seine Schwiegermutter die Wahrheit sagte (und das tat sie bestimmt, etwas anderes konnte er sich im Grunde kaum vorstellen), hatte die Seherin wirklich nichts gesagt. Nichts davon, dass sie ihn angerufen und besucht hatte. Nichts 217
von den kleinen Steinen und der Stelle im Wald. Nichts davon, dass er nicht mehr ans Telefon ging und sich seltsam verhalten hatte. Nein, absolut nichts. Weder von diesem noch von jenem. Sie schien geschwiegen zu haben wie ein Grab, und auch wenn er natürlich nichts dagegen hatte, konnte er nicht umhin, sich zu fragen warum. Weil sie es unwichtig gefunden hatte? Weil sie sie nicht unnötigerweise hatte beunruhigen wollen? Oder weil es einen anderen Grund gab, es nicht zu tun? »Ist sie verheiratet, weißt du das?« Er hörte, wie abrupt die Frage klang, konnte es aber nicht lassen, sie zu stellen. »Neein …«, sagte Edna und überlegte. »Das glaube ich nicht. Sie trug jedenfalls keine Ringe.« »Und hat sie Kinder?« »Nein, das glaube ich auch nicht.« Er nickte erleichtert. »Warum fragst du?« »Nun, ich hab nur mit jemand auf der Arbeit geredet«, log er mit einer Leichtigkeit, die ihn verblüffte. »Ein Kollege meinte, er kennt sie vielleicht, aber die war verheiratet. Ja, die Frau, von der er meinte, sie wäre es.« »Ah so, ja.« »Und wie geht es Konrad?« Ohne allzu offensichtliche Eile beendete er das Gespräch. Was ihn interessiert hatte, war schon geklärt, doch er ließ sie geduldig noch eine Weile weiterreden, bevor er sich bedankte und sagte, er werde wieder von sich hören lassen, und auflegte. Er ging zum Telefonbuch zurück. »Sonja Lundmark«, leierte er vor sich hin, während er blätterte. »Lundmark.« Und da waren sie endlich, all die Lundmarks. Sein Finger hakte einen nach dem anderen ab. Ragnhild, Roland und Kerstin. 218
Staffan, Stellan und Agneta, Stig, Stig, Stig. Er ging ein paar Schritte zurück. O. O kam ja vor T. Sonja vor Staffan, also, wo war sie? Er starrte eine Weile, bis es ihm klar wurde. Sie wohnte natürlich nicht hier. Sie wohnte woanders, hatte eine andere Vorwahl. Er blätterte zurück und las die Überschriften der Seiten: Storuman, Sorsele, Skellefteå – na ja. Ein bisschen weit weg vielleicht. Robertsfors? Er guckte nach. »Lundmark, Lundmark«, wiederholte er. Lundmark, Rune. Sigvard. Solvig. Nahe, aber nicht nahe genug, und in Nordmaling? Nein, da war auch nichts. Er blätterte stattdessen vorwärts. Suchte sie in Vindeln. Fand sie in Vannäs. Er las den klein gedruckten Text mehrere Male, um sicher zu sein: Lundmark, Sonja. Fällforsv. Er sah sich nach etwas zu schreiben um und nahm das, was am nächsten zur Hand war: ein Werbeblatt von ICA, auf dessen Rand er gewissenhaft die Telefonnummer notierte. Das Gespräch kam nämlich nicht sofort zustande. Nein, erst mehrere Stunden später nahm er die Sache in Angriff. Viertel nach sechs, zu dem Zeitpunkt, wo er aus Erfahrung wusste, dass sie normalerweise zu Hause war, setzte er sich ans Telefon und rief an. Sie klang nicht besonders erstaunt, ihn zu hören. »Ja?«, sagte sie nur reserviert, als er sich gemeldet hatte. »Ja?«, und obwohl der Tonfall ihm Übelkeit bereitete, ja, ihn fuchsteufelswild machte, hielt er dennoch die Stimme ruhig und sittsam nachgiebig. »Ja, ich hab nachgedacht über die Sache …, und ich … Ja, ich dachte …« 219
Er hielt inne, um nach Worten zu suchen. Er hatte sich nicht im Voraus überlegt, was er sagen wollte. Nein, es hatte so einfach und selbstverständlich gewirkt. Er wollte sie ja auch nur zurücklocken, weiter nichts, weder mehr noch weniger, und trotzdem geriet er ins Stocken. Das ging doch mit dem Teufel zu. Es wollte einfach nicht heraus, und obwohl ihn ihre Stimme vor ein paar Sekunden aufgeregt hatte, wollte er jetzt, dass sie etwas sagte, irgendetwas, nur ein kleines Stichwort, um ihm auf die Sprünge zu helfen, aber es kam nichts. Weit weg am anderen Ende war sie kalt wie ein Fisch und genauso stumm. Er nahm sich zusammen. »Wenn du Zeit hast, nochmal herzukommen«, fuhr er tapfer fort, »dann werd ich dir alles erzählen.« So. Da war es. Da war es gesagt. Er tat einen Seufzer vor Erleichterung und lauschte in den scheinbar leeren Hörer. Es dauerte ein wenig. »Was denn erzählen?«, fragte sie platt. Was denn? Er hätte laut schreien können. Was denn, was denn? Was sollte das? Klar wusste sie es. »Was … was passiert ist natürlich«, antwortete er ungläubig. »Ich dachte … Ich könnte erklären, was du da siehst und … und alles erzählen vom Anfang bis zum Ende.« Er lauschte wieder unruhig der hallenden Stille. Es gab so viele Arten, auf die es schief gehen konnte. Sie konnte ihm sagen, er solle sich an die Schwiegereltern wenden. Sie konnte sich weigern zu kommen. »Denn ich nehme an, du willst es wissen«, argumentierte er. Keine Antwort. »Stimmt’s?« Kein Piep. »Und ich hatte niemand, mit dem ich darüber reden konnte. Keine Seele«, sagte er kläglich. »Bitte …« 220
»Dann am Sonnabend.« Er atmete auf, so lautlos er konnte. »Am Sonnabend«, bestätigte er. »Das ist der einzige Tag, wo ich frei habe«, fuhr sie fort, als hätte sie ihn nicht gehört. »Irgendwann am Vormittag.« »Prima. Gut. Ja … Da sehen wir uns dann.« Er hörte sie ohne die geringste Abschiedsfloskel auflegen und legte bereitwillig ebenfalls auf. Er war völlig verschwitzt, aber nicht unruhig. Nein, noch war es erst Donnerstagabend. Reichlich Zeit, um einen Plan zu machen, und reichlich Zeit, um es aufzuschieben. Er setzte sich in den Schaukelstuhl am Fenster. Eine bleiche, niedrige Abendsonne schien durch eine Lücke in den Wolken auf ihn und ließ das Zimmer glühen. Er lehnte den Kopf nach hinten auf das goldgelbe Schaffell, schloss die Augen, wiegte sich zur Ruhe. Als die absolut letzte Kraftanstrengung, so sah er die Sache. Als die ultimative, entscheidende – und ob er es schaffen würde? Ob er das Stahlbad, das, da war er sicher, vor ihm lag, würde aushalten können: kochend, brodelnd, siedend? Im Grunde zweifelte er nicht. Irgendwie, aus einer unbekannten, innen liegenden Tiefe stieg eine Welle der Zuversicht in ihm auf. Es war, als erkannte er sich wieder. Genau. Déjà vu war der Begriff. Er hatte es mit Eva getan, und er konnte es wieder tun. Ja, er hatte es einmal geschafft, also warum nicht zweimal – und klang das kalt, dann war es nicht Kälte, sondern ein Recht, argumentierte er. Das Recht, zuerst an sich zu denken. Und die Seherin …? Er dachte an das, worüber ihn Edna aufgeklärt hatte: dass sie nicht verheiratet war und keine Kinder hatte. Nun gut. Darüber war er froh, musste er zugeben, denn hätte sie Kinder gehabt, 221
wäre sie Mutter gewesen … Die Frage war, ob sie dann nicht irgendwie weniger – zugänglich gewesen wäre. Ja, hätte er es dann überhaupt versucht? Das war schwer zu entscheiden. Vielleicht nicht. Vielleicht hätte er dann die Sache undurchführbar gefunden, aber dann … Die Frage war ja akademisch. Jetzt spürte er nur, dass es glatt gehen würde. Ja, biss er nur die Zähne zusammen, würde er sie schon loswerden, und dann würde es wieder ruhig. Genau. Ruhe und Frieden. Das war es, was er brauchte. Hatte er etwa nicht ein Leben zu leben? Doch, das hatte er. Ein Leben zu leben, und jetzt, zum Teufel, war es höchste Zeit, weiterzumachen. Koste es, was es wolle. Er schaukelte noch eine Weile und ließ sich dann vor dem Fernseher nieder. Es wurde eine Art unterhaltendes Quiz gezeigt. Ja, es war laut und grell und geschmacklos, und er verpasste keine Minute. Aus alter Gewohnheit legte er die Füße auf den Couchtisch.
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15 Sonnabendvormittag. 11.02 Uhr. Und seine Entschlossenheit hielt noch an. Ja, entschlossen war er, verbissen, überzeugt – und war das nicht etwas merkwürdig, etwas übermütig? Wenn man nur daran denkt, dass er nicht einmal für einen Augenblick daran zweifelte, dass sie wieder auftauchen würde. Ja, ja. Darüber konnte man ja diskutieren … War das eigentlich tatsächlich realistisch? Wie sie dort gelegen hatte, auf dem gestampften Erdboden, mit vor Angst leuchtenden Augen. Als sie ihn eine oder zwei entsetzliche Minuten lang alles Möglichen für fähig gehalten hatte: Meineid, Misshandlung, Mord … Und war es wirklich möglich, über so etwas hinwegzukommen? Würde sie das wirklich vergessen, beiseite schieben und wiederkommen können, als wäre nichts gewesen? Ja. Ja, offensichtlich. Genau wie er prophezeit hatte, denn jetzt war sie hier. Sonnabendvormittag. 11.03 Uhr. Und jetzt kam das graue Auto auf ihn zugeholpert, wohl bekannt und leicht erschreckend, platschte durch die einzelnen, zurückgebliebenen Pfützen, und er ging in die Hocke, um besser durch die sonnenbeschienene Windschutzscheibe sehen zu können. Es war nämlich so, dass es eines gab, weswegen er sich 223
Sorgen machte, um widerwillig der Wahrheit die Ehre zu geben, sagen wir, einen Umstand, der all seine Pläne über den Haufen werfen konnte, nämlich wenn sie nicht allein kam. Ja, früh am selben Morgen war er plötzlich aufgewacht, diese Erkenntnis wie einen schweren Klumpen in der Magengrube. Er wusste nicht, warum, wusste absolut nicht, wo der Gedanke hergekommen war, vielleicht aus einem Traum, denn trotz seiner Selbstverständlichkeit war es ihm erst da eingefallen: Stell dir vor, sie kommt nicht allein. Stell dir vor, sie hat jemand bei sich. Das hatte nicht unmöglich gewirkt. Im Gegenteil. Je mehr er darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher wirkte es, denn natürlich sollte sie nicht allein kommen. Eine vernünftige Frau sollte sich natürlich eine Begleitung verschaffen, eine Art Schutz oder Unterstützung. Und zwei? Vielleicht zwei Frauen? Das würde er nie schaffen. Das hatte er schon dort im Bett begriffen. Sogar eine war ja eigentlich eine zu viel. Auch eine Einzelne würde schwer an der Selbstüberwindung zehren, aber zwei …? Nein, nicht zwei. Nicht auf einmal. Nicht einmal, wenn seine weitere Existenz daran hing (was sie in gewisser Weise ja auch tat), also was würde er machen? Wenn da in dem kleinen Auto jemand neben ihr saß, wenn er noch eine Person sehen würde … Doch das tat er nicht. Trotz des Spiegelns und der Schatten war er ziemlich bald sicher. Sie war allein. Das sah er. Es saß niemand sonst in dem engen, gewölbten Wageninneren, nicht da vorn und nicht da hinten, und erleichtert atmete er auf. Eine Hürde genommen, dachte er. Eine Hürde von vielen, vielen. Langsam trat er von den Windfangstufen, um sie zu 224
empfangen. Das war nicht das Leichteste. Mit der vorigen Begegnung in frischer Erinnerung, mit dem Gedanken daran, was da passiert war und was jetzt passieren würde … Er biss noch etwas mehr die Zähne zusammen. Dass sie allein war, spielte plötzlich eine geringere Rolle. Zu zweit oder nicht, als sie zwischen den Baumstämmen auf ihn zukam, löste sie dennoch ein Ziehen in den Zahnhälsen, einen Schmerz in den Testikeln aus. Er lächelte tapfer. Ja, obwohl es überall juckte und kribbelte und krabbelte, stählte er sich und sagte »hallo«, etwas lahm vielleicht, aber trotzdem freundlich und entgegenkommend. Sie nickte gnädig zurück. Sie wirkte nicht ängstlich, kam aber dennoch nicht ganz zu ihm hin. Nein, durch das Stehenbleiben in nur ein paar Metern zusätzlichem Abstand drückte ihr ganzer Körper Distanz und Wachsamkeit aus, und die kalten, hellgrauen Augen blieben nicht weit dahinter zurück. Er erschauerte leicht in der Sommerwärme. Es würde nicht leicht werden. Allein, sie so zu sehen … Im selben Kleid wie beim ersten Mal, in derselben Strickjacke, mit denselben Sandalen und demselben Deodorant war sie wie eine Erscheinung aus der Vergangenheit. Dieselbe Frau, aber trotzdem nicht dieselbe Frau. Ein Wiedergänger, entschlüpfte es ihm, ehe er sich’s versah, ein Gespenst aus einer anderen und unschuldigeren Zeit, doch er war klug genug, sich damit nicht aufzuhalten. Nein, das Unerreichbare erreichen. Das Unerträgliche ertragen. So war es nun einmal entschieden, und er wollte nicht zurück. Was auch kommen sollte, er würde damit umgehen, so ruhig und unsentimental wie möglich, würde es nehmen wie ein Mann, denn jetzt war er nicht mehr weit vom Ziel. Das wusste er. Das sah er vor allem an der kleinen, aber unverkennbaren Ausbuchtung in einer Jackentasche der Seherin, und also ließ er 225
sich nicht beirren. »Ich …«, half er sich selbst auf die Sprünge. »Ich bin froh, dass du kommen konntest. Ich war mir nicht sicher, dass du …« Er wandte sich zum Haus. »Wollen wir reingehen?« Mit einem auffordernden, angewinkelten Arm machte er sich bereit voranzugehen, hielt aber inne, als sie den Kopf schüttelte. »Ich glaube eher, ich möchte hier draußen sitzen«, sagte sie entschieden. Hier draußen? Er guckte zu den Gartenmöbeln. Er selbst hatte das Ganze natürlich eher im Haus gesehen, hinter verschlossenen Türen sozusagen, denn dort würde er sich entspannter fühlen, weniger – beguckt, aber »sicher« sagte er dennoch so verbindlich, wie er konnte. »Sicher.« Und warum nicht? Wenn sie es so haben wollte, dann … Zog sie es vor, hier draußen auf dem Rasen zu sitzen, dann sollte sie das natürlich auch tun können. Je sicherer sie sich fühlte, desto besser. Je weniger unruhig und auf der Hut … »Ich hole nur ein paar Kissen.« Er machte einen Schritt auf die Windfangstufen und die offene Tür zu, aber weiter kam er nicht. Ihr scharfes, heftig herausgeschrienes »Nein« reichte, um ihn wieder stehen bleiben zu lassen, und vermutlich hörte sie selbst, wie übertrieben stark der Protest ausgefallen war. »Nein«, sagte sie noch einmal, jetzt aber sanfter, beinah höflich. »Es geht auch so.« Einen Augenblick lang starrte er sie nur an. Die Stimme war so – verzweifelt. Das war das Wort. Verzweifelt. Ja, der Schrei war so direkt aus dem Herzen gekommen, dass sie ihn selbst mit größter Mühe nicht hätte unterdrücken können – also was hatte sie eigentlich erwartet? Dass er reingehen würde, um die Elchbüchse zu holen? Dass er vorhatte, wirklich kurzen Prozess zu machen? 226
Er lächelte bei dem Gedanken, fand ihn auf perverse und ungesunde Art ermunternd, fast verlockend, bis ihm klar wurde, worum es ging, und er sich zu größerem Ernst zwang. Ungefährlich – musste er sich erinnern. Das war seine wichtigste Aufgabe: ungefährlich, harmlos, unfähig zu wirken. Ja, wollte er ihr Vertrauen gewinnen, es schaffen, sie zu dem Punkt zu manövrieren, wo sie sich nicht mehr vor ihm schützen könnte, da hieß es erst einmal abwarten. Er zuckte die Achseln. »Ja gut«, sagte er und ging vor ihr zur Sitzgruppe. »Aber hier ist etwas Vogelscheiße, fürchte ich. Hätte ich nur daran gedacht …« »Das macht nichts.« Sie setzte sich resolut in einen der Sessel, und er, ihrem Beispiel folgend, nahm Platz auf der Gartenbank, ihr gegenüber, in angemessenem Abstand (nahe, aber nicht zu nahe), mit dem Tisch als praktische Sicherheitsschranke. Sie saßen eine Weile da und schwiegen. Abwartend. Sie sahen beide etwas verloren aus. Ohne die dicken Kissen saßen sie im Verhältnis zu der kräftigen Tischfläche ziemlich tief. Ja, die reichte ihnen beinah bis zur Brust, als wären sie kleine, kleine Kinder in einer großen, großen Welt, in Erwartung von Himbeersaft und Wecken. Er räusperte sich. »Ich weiß nicht recht, wie ich anfangen soll«, sagte er wahrheitsgemäß. »Es ist etwas schwer zu erklären«, und auch diese Behauptung war im Grunde keine Lüge. Es war schwer zu erklären. Auch sich selbst gegenüber musste gestehen, dass es zumindest einen Punkt gab, aus dem er noch immer nicht recht klug wurde, der dunkel und ungeklärt war, so sehr er ihn auch unter die Lupe nahm, und genau da begann das wirkliche Problem. Sie einfach nur zu treffen, das war nichts, 227
Wiedergänger oder nicht, Gespenst oder greifbares Fleisch. Nein, der Umstand, erst erklären, sie in die richtige Lage manövrieren zu müssen. Er prüfte sein Inneres. Auch wenn er recht viel darüber nachgedacht hatte, was er sagen würde, so im Voraus, war das nur ganz allgemein gewesen. Auf die Einzelheiten war er nicht eingegangen. Nein, Tatsache war, dass er es teilweise vermieden hatte, sich vorzubereiten, vielleicht in erster Linie aus Feigheit (weil er an das Elend ganz einfach nicht mehr hatte denken wollen), aber auch aus einem rationaleren Grund. Wenn es nicht so gut einstudiert war, hatte er überlegt, würde es natürlicher und mehr aus dem Herzen klingen, würde seine Erzählung spontaner wirken, wenn es nun mal an der Zeit war. Wie jetzt. Wenn alles, was zur Verfügung stand, »ich« und »tja« und »ja« und »es« zu sein schien. Wenn die Worte entweder stecken blieben oder wie weggeblasen waren und er unsicher war, ob dies wirklich den Eindruck von Realismus hervorrief, den er sich vorgestellt hatte. Beharrlich hangelte er sich weiter. »Aber ich nehme an, ich bin …«, sagte er und legte die Finger umeinander. »Ja, ich bin …« Und dann verlor er wieder den Faden, denn da war etwas Merkwürdiges. Beobachtet. Doch … Ja, so war es. Das war es, was ihn gestört hatte, die Tatsache, dass er sich plötzlich beobachtet fühlte, und nicht nur das. Das Gefühl war so stark, so überwältigend. Er konnte es einfach nicht lassen, sich umzudrehen und zu gucken, und was überraschend war: Auch die Seherin drehte sich um, genau gleichzeitig (wenn nicht eine Sekunde früher), und auch sie guckte. Es wurde absolut still. Unabhängig voneinander saßen sie beide da und starrten zum Wohnzimmerfenster, auf das schimmernde, nichts sagende Glas, auf dasselbe unhörbare Kommando, und es war einfach nichts zu machen. Fünf lange 228
Sekunden lang fragte er sich tatsächlich, war er nahe daran, sie zu fragen, ob wider jede gesunde Vernunft da drinnen etwas war, etwas gewöhnlichen Sterblichen Verborgenes, das sie aber vielleicht sehen konnte, mit ihrem notorischen inneren Augen. Ja, für den kürzesten aller Augenblicke war er wirklich offen für die Möglichkeit (weit offen), glaubte er schwach, schwach – bis er mit sich selbst und den Umständen ganz und gar die Geduld verlor. Was war das hier eigentlich?, fragte er sich böse. Warum kam immer etwas dazwischen? Was war es, das bewirkte, dass er nicht sagen konnte, was er gesagt haben wollte oder was er auf jeden Fall sagen musste, um in Gang zu kommen, um das Ganze endlich überstanden und hinter sich gelassen zu haben? »Ja, es ist wahr«, sagte er laut und deutlich, unnötig laut und deutlich, um sowohl sich selbst als auch die Seherin zur Ordnung zurückzuführen, die gedroht hatte, in Chaos überzugehen. »Was denn?« Sie guckte ihn erwartungsgemäß wieder an. »Dass ich«, begann er bestimmt. »Dass ich es war, der …« Doch obwohl er sich diesmal wirklich vorgenommen hatte, es zu sagen, wollte es trotzdem nicht heraus. Es war wie verhext. Sicher hatte er begriffen, dass es schwer werden würde, aber so schwer? So verdammt unmöglich? Er seufzte und sah zum Himmel. Er war vollkommen blau. Ja, es war ein schöner Tag. Das Gewitter war überstanden. Jetzt schien wieder die Sonne, wenn auch nicht so mörderisch heiß wie während der Hitzewelle, aber trotzdem, und die Vögel zwitscherten in den Bäumen. Und weit, weit weg jenseits des Berges erscholl das Signal eines Zuges. Und die vom Platzregen niedergedrückte Vegetation versuchte, sich zu erholen – genau wie er. 229
Er fing noch einmal von vorn an. Ganz von vorn. Um Unterstützung für das Gedächtnis und die nachlassende Selbstüberwindung zu suchen. »Wir hatten eine gute Ehe«, hielt er fest. »Das hatten wir tatsächlich. Sie war genauso gut wie irgendeine andere«, beharrte er, auch um sich selbst zu überzeugen, »mindestens genauso gut, und schließlich … Ja, da haben wir beschlossen, Kinder zu kriegen. Wie alle anderen. Das ist ja ganz natürlich, oder nicht? Das ist ja das, was man macht. Kinder kriegen.« Nachdem er zunächst geradeaus in die Luft geredet hatte, zum Himmel und vor allem zu den Vögeln, nahm er jetzt seinen Mut zusammen, wandte er sich jetzt direkt an die Seherin und zu ihrem Gesicht, und obwohl sie nicht antwortete, wusste er, dass sie zuhörte. Das sah er, wenn er diesem Blick begegnete, so unergründlich grau wie gewöhnlich, so hell und fern, aber auch neugierig. Da gab es gar keinen Zweifel. Nein, sie wollte es wissen, dachte er. So war es einfach. Wollte es wissen, nicht nur für die Schwiegereltern, sondern auch für sich selbst. Das konnte sie nicht verbergen. Aus diesem unerklärlichen, weiblichen Grund wollte sie seinen Kopf (wenn auch nur für diese einzige, einzelne Minute), um endlich zu erfahren, was da drinnen vor sich ging – und vielleicht war er jetzt bereit, ihr entgegenzukommen. Ja, wenn er zunächst gezweifelt und gezaudert hatte, kamen die Worte jetzt allmählich leichter. Ohne Anstrengungen waren sie einfach da, flossen sie im selben Tempo wie die Gedanken, und so saß er da und erzählte alles, was gewesen war. Wie sie ein, zwei Jahre versucht hatten, dass es klappte. Wie Eva darauf bestanden hatte, dass sie die Sache untersuchen müssten. Wie er sich als steril erwiesen hatte.
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Ja, sogar so etwas bekam er aus sich heraus, anscheinend ohne Probleme, und er jammerte, wenn die unangenehmen Erinnerungen wieder an die Oberfläche kamen. »… und plötzlich gab es nur noch Kinder«, beklagte er sich eintönig. »Sie konnte an keinem Kinderwagen vorbeigehen … und an keinem Kinderspielplatz. Ja, sie musste nur ein Kind im Fernsehen sehen, dann ging es bei ihr los …, und ich hab versucht, sie zu trösten, das habe ich. Ich hab gesagt, wir könnten auch so glücklich sein, es gäbe noch anderes im Leben, aber sie hat nicht zugehört. Sie war wie in einer anderen Welt, in einer Kinderwelt. Es war nicht möglich, sie zu erreichen, und es wurde schlimmer und schlimmer. Sie war ganz einfach nicht rational …, funktionierte nicht mehr. Es gab nur noch Kinder, Kinder, Kinder. Tag und Nacht. Ständig. Überall. Und als sie anfing, von künstlicher Befruchtung zu reden … Das klang ja gut. Ich meine, ich wollte ihr ja geben, was sie wollte, aber … Ich konnte nicht. Letzten Endes … Ja, es war einfach …« Wieder blieb er stecken, doch jetzt war es anders. Es war nicht so, dass ihm die Worte fehlten. Nein, es waren zu viele, denn sie kamen alle auf einmal und stauten sich vor lauter Eifer. »Ja, ich weiß, es war meine Schuld«, brach es schließlich aus ihm heraus. »Ich weiß das, aber je mehr ich daran dachte, desto unmöglicher war es. Ich wollte Kinder, das wollte ich wirklich, mindestens genauso sehr wie sie, aber als es darauf ankam … Ja, ich wollte meine eigenen Kinder«, klagte er so lautstark, dass ein Paar Rotkehlchen aufflogen und verschwanden. »Ist das denn so abwegig? Ich wollte meine Kinder, unsere – nicht die von jemand anders. Denn so wäre es ja gewesen. Sie schwanger von den Spermien eines anderen Mannes; das ging einfach nicht. Ich hab es nicht über mich gebracht. Obwohl sie mich die ganze Zeit bekniet hat, konnte ich einfach nicht. Obwohl es die reine Hölle war …«
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Er machte eine Pause, um Luft zu holen. Die Seherin guckte ihn an, völlig still und stumm, aber mit etwas größeren Augen, darauf konnte er schwören. Mit größeren Augen. Mit größeren Ohren. Er überlegte, was er gesagt hatte: über die Misshelligkeiten, über die Sterilität. Das war eigentlich unerwartet. Es war ihm schließlich so problemlos entschlüpft. Er war so … Er suchte nach dem Wort und stellte erstaunlicherweise fest: Er war offenherzig. Offenherzig, du lieber Gott. Unumwunden. Obwohl, na ja … Warum nicht?, fragte er sich großmütig (und nichts Böses ahnend). Warum nicht sagen, wie es war? Es war ja nicht seine Schuld. Das fühlte er, wenn er anfing, davon zu erzählen. Nein, seine Schuld war es nicht. Nicht wirklich. Nicht auf die Weise, die zählte, sagte er sich, während die Großmut in Überzeugung überging, und auch wenn er vielleicht etwas zu verbergen hatte, so hatte er doch nie etwas gehabt, dessen er sich hätte schämen müssen. Genau. So war es, absolut. So musste es sein. Weder die Schuld noch die Schande lag bei ihm – das war die Botschaft, die jetzt in ihm aufwallte, die jede seiner Poren füllte. Ja, im Grunde genommen war er unschuldig, und das konnte er sie ebenso gut wissen lassen. Sie würde sowieso nicht schwatzen. Dafür würde er sorgen – und also nahm das Ganze schließlich seinen Anfang. In dem üblichen, tief verwurzelten Gefühl von Ungerechtigkeit kam er in Fahrt, setzte er den Plan ins Werk: Sie unschädlich zu machen. Sich erst ein wenig zu öffnen, zu gestehen, vielleicht sogar ein paar Tränen zu vergießen, falls das nötig war, um sie ihre Barriere senken zu lassen, und dann … Doch es gab einen Haken. 232
Im Planungsstadium hatte er sich die ganze Zeit als beherrscht gesehen. Unkonturiert und vielleicht einem Wunschdenken verhaftet, hatte er den Prozess als durch und durch kontrolliert betrachtet. Vielleicht würde er gezwungen sein, ihr einen Teil der Wahrheit zu sagen – aber ohne Aufrichtigkeit. Und vielleicht würde er gezwungen sein, Gefühle zu zeigen – aber ohne etwas zu fühlen. Nein, es würde um eine Imitation gehen. Das war die offizielle Linie. Er würde die Illusion vermitteln, dass er sich öffnete, während er in allem Zentralen verschlossen blieb, doch wie gesagt … Es gab einen Haken. Es gab eine Öse, und vermutlich saß die in ihm selbst, in den Gefühlen, denen er auszuweichen versuchte, in der eigenen ach so verächtlichen Psyche, denn was hatte er ihr am Telefon gesagt? Dass er niemand gehabt habe, um darüber zu sprechen? Das war wahr gewesen, wie er es gesagt hatte. Mit jemandem darüber sprechen. Es nicht verbergen müssen. Er musste nur anfangen, schon spürte er, dass schleichend Behagen entstand wie aus einem Bedürfnis hervorgerufen. Ja, er entdeckte, dass er tatsächlich erklären wollte, wie es dazu gekommen war, wollte, dass sie verstand, und sofort war die Situation schief. Vorgeblich zu gestehen und zu kriechen und zu bitten – wenn er sich so heiß wünschte, zu gestehen und zu kriechen und zu bitten? Es war nicht leicht, nicht leicht, zwischen Imitation und Original zu unterscheiden, wenn sie sich im Grunde so gleich waren, und auf die Dauer … Auf die Dauer ließ es sich nicht machen. 233
Beinah sobald er den Plan ins Werk setzte, ging der in schlichte, reine Planlosigkeit über. Kaum war er über die Hürde gekommen, als er nach und nach die Worte fand, als er die Situation endlich in den Griff bekam – ja, da entglitt sie ihm gleich wieder. Peu à peu lockte das Künstliche das Reale hervor, rief das Kleine nach dem Großen, wurde wieder zum Leben erweckt, was er friedlich entschlafen geglaubt hatte – und erneut fühlte er. Fühlte er die Verwirrung und die Wut, die Angst und die Trauer, und während das Schauspiel erstarb, trat die Wirklichkeit ins Rampenlicht. Es war nichts zu machen. Er hätte es nicht einmal aufhalten können, wenn er es gewollte hätte, nicht, nachdem es einmal angefangen hatte, nicht, als er sich ein für alle Mal gezwungen hatte, damit anzufangen. Nein, er war ein Mann an einer Deichschleuse. Ein ganz klein wenig öffnete er. Vorsichtig, vorsichtig – bis die Dämme ganz und gar brachen und die drängende Flut herausstürzte, bis die ersehnte Kontrolle in den Wellen verloren ging und alles aus ihm herauszufließen begann, ohne Hintergedanken (ohne Gedanken überhaupt), bis zum letzten kostbaren Tropfen. Mit bekümmerter, unzufriedener Stimme erzählte er, wie Eva und er angefangen hatten, einander auf die Nerven zu gehen. Ja, sie hatte einfach immer weitergemacht, sagte er. Sie hatte nicht loslassen können, und als der Urlaub kam, war der wie der letzte Sargnagel gewesen. Sich von morgens bis abends aneinander zu reiben … Er ritzte mit dem kräftigen Daumennagel einen Strich in die Tischkante. »… und dann haben wir mit dem Holz angefangen«, sagte er, während die Augen bald hier, bald da um die Sitzgruppe Halt suchten. »So hatten wir es abgemacht. Dass wir es am Anfang gleich erledigen wollten, um dann frei zu haben, und … ich hab 234
gehackt, und sie hat gestapelt. Genau wie immer. Wie wir’s immer gemacht haben, und dann … Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, wie es dazu kam. Es war einfach …« Die Stimme zitterte und versagte. Die Seherin zog einen Flunsch. Ein Schwarzspecht überflog lautstark das Dach, von niemandem beachtet, und die feuchten Handflächen strichen über den Hosenstoff. »Aber sie fing an, mich anzuklagen«, fuhr er erregt fort. »Schrie mich an, nannte mich Sachen. Sagte, sie wäre eine halbe Frau, bloß weil ich ein halber Mann wäre. Solche Sachen. Wie dass ich zu nichts gut wäre, nicht mal zum Elementarsten, und ich wurde traurig. Und sauer. Das war ja nicht gerecht. Ich konnte ja nichts dafür, dass ich … Ja, ich wollte es ja auch. Ich war ja genauso verzweifelt, aber da gab’s nur sie und sie und sie und sie, ging es nur darum, was sie fühlte, wie sie litt, als hätte sie ein Monopol darauf … Und dann stand sie da hinter meinem Rücken und schrie, und ich rackerte mich ab mit dem verdammten Holz, und dann … dann lag sie da. Ich weiß nicht … Es … es war ein Unfall. Ich wusste nicht … Sie muss … sie war so nahe, als ich mich umdrehte, und die Axt einfach … Aber es war keine Absicht …« Er knirschte es sozusagen zwischen den Zähnen hervor. »Ich hatte nie vor … wollte nicht. Es ist einfach … Oh, mein Gott.« Er schlug die Hände vors Gesicht. »Aber ich wusste nicht«, schluchzte er dumpf zwischen den Fingern, »dass sie so da … Ich glaubte einfach, es wär … nur Luft, und ich schwang … und … Mein Gott«, stöhnte er noch einmal, wenn auch stiller, sozusagen für sich, und dann noch einmal. »Mein Gott.« Die Seherin guckte ihn an, von sehr, sehr weit weg. Er war mehr als unansehnlich, wie er zusammengesunken in der großen, kahlen Bank saß. Eine Ameise vielleicht. Ein Schwächling. Übermannt von einem Flennen, das an Stärke nur 235
zuzunehmen schien, und er war sogar schwer zu verstehen. Hicksend und heulend, wieder und wieder unterbrochen von heftigem Ein- und Ausatmen, von Seufzern und Schnüffeln, verwandelte sich seine Rede in einen Code, in Morsesignale. Unzusammenhängend und stakkatoartig quetschten sich die Worte über seine Lippen, und sie musste sich anstrengen, um zu verstehen, musste eins und eins und zwei zusammenzählen, um vier zu bekommen. Unfall, wiederholte er mehrere Male. Blut … au-au-aus dem Ohr. Tot. Sie nickte, als hätte sie es immer gewusst. »Und dann hast du den Körper versteckt, stimmt’s?« Er zuckte zusammen, als er die Stimme hörte. Die Tränen und den Rotz mit einer Handfläche abwischend, blinzelte er erstaunt über den Tisch. Obwohl er die ganze Zeit zu ihr gesprochen hatte, hatte er vergessen, wer sie war, war es ihm gelungen, sie zu vergessen, sie, die Seherin. Das Auge in der Frau. »Jaa«, gestand er kaum hörbar. »Ich kriegte Panik. Ich wusste nicht. Was ich mache-e-en sollte.« »Da hast du sie im Wald vergraben, an einem Hang, auf einem Kahlschlag.« »Ja.« »Und zwar genau so, wie ich es gesehen, wie ich es dir beschrieben habe?« »A-ah.« Ein rasches, aber zufriedenes Lächeln zog über ihr Gesicht. »Und wo ist das?« »Ich. Weiß nicht«, flüsterte er, und zum ersten Mal (und in letzter Sekunde) gelang es ihm, zu einer Lüge zu greifen, die er vorbereitet hatte. »Nicht genau. Ich bin gefahren. Den Fluss 236
rauf. Hab mich entlanggeschlän…schlängelt … Bin ir-irirgendwo reingefahren. Einen Waldfahr…weg. Ich bin da noch ni-hi-hie gewesen.« Er japste und seufzte auf. Er legte den Zeigefinger unter die Nase und zog den Rotz hoch. »Panik«, wiederholte er still. »Ein Unfall.« »Aber du hast sie umgebracht?« »Ich …«, begann er, als wollte er etwas erklären, aber dann nickte er resigniert, wieder auf die Wahrheit verwiesen. »Und Edna und Konrad, hast du je an die gedacht? Was sie haben durchmachen müssen, weil sie nichts wissen? Wolltest du es ihnen nie erzählen, wolltest du wirklich einfach weiter mit ihnen umgehen, als wäre nichts passiert?« Sie wartete eine Weile auf eine Antwort, doch jetzt weinte er nur wieder. Irritiert lehnte sie sich zurück, erreichte nicht ganz die Rückenlehne, beugte sich wieder vor. Die Distanziertheit ging in Unbehagen über. Das geschwollene, rotfleckige Gesicht, der Rotz, der unter der Nase (und an den Handknöcheln) glänzte, die pathetische Schwäche … Die Schuld. Nein, es war kein angenehmer oder erbaulicher Anblick, und sie runzelte die Stirn, als sie seine Hände über die Tischplatte auf sich zukriechen sah. »Bitte«, hörte sie ihn sagen. »Bitte …«, und jetzt bat er wirklich. Jetzt flehte er sie an, nichts zu sagen, nichts zu tun. »Du musst verstehen«, wimmerte er, bevor er stammelnd zu erklären versuchte, was für ihn so selbstverständlich war: dass es geschehen war und nicht ungeschehen gemacht werden konnte, dass das, was er durchgemacht hatte, Strafe genug war, dass auch er ein Opfer war, ein Opfer, konnte sie das nicht begreifen, dass auch er gelitten hatte, absolut entsetzlich. »Geliii-iiih-tten.« Sie zog sich auf dem Sitz zurück und stierte nur. Vornübergebeugt über den Tisch guckte er zu ihr auf, grotesk 237
gaffend, sabbelnd und sabbernd, schäumend vor überkochender Schuld und mit Unschuld abwechselnd – und offensichtlich fiel es ihr schwer, daran zu glauben. Ja, dass er schließlich klein beigegeben und gestanden hatte, das war vielleicht einfach das Natürliche. In ihrem tiefsten Inneren wollen alle, dass sie gesehen, akzeptiert werden als das, was sie sie sind, dass ihnen verziehen wird – aber das hier … Es war schon erstaunlich. Ein so großer, kräftiger Mann … Großäugig beobachtete sie ihn. Den kriechenden Körper. Die glänzenden Augen. Die Gefügigkeit. Tatsache war, dass er am ehesten an einen Hund erinnerte. Richtig. Genau wie ein Hund war er (bis hin zu dem realistischen Japsen), und sollte sie schlagen oder streicheln? Treten oder ein Stück Zucker geben? Es war schwer zu entscheiden was. Nicht dass sehr viel zu sehen gewesen wäre, nicht wenn man nur in ihrem Gesicht las, aber trotzdem … Wer wusste schon, was dahinter vor sich ging. Ja, vielleicht war es trotz allem noch immer in der Schwebe, die Möglichkeit gab es ja, und vielleicht spürte er das (mit seiner hundeartigen Witterung zumindest), denn wieder ging er zum weinerlichen Angriff über, bat er inständig weiter, bat er mit den Händen, mit den Augen, mit dem Mund. »Sie kommt. Nicht zu…rück«, hickste er. »Was du auch. Tust. Nicht zu Edna und Kohonrad. Und ni…icht zu mir. Ach, bitte … Das war nie…ie Absicht. Es ist einfach … und sie … kommt nicht zu…rück. Sie ist we-e-eg«, sagte er und verzerrte das Wort in einem zitternden Einatmen. »We…eg. Und ich vermisse … sie.« Er ließ den Kopf fallen. Mit einem scheußlichen Bums schlug die Stirn auf die stabile Unterlage, und jetzt weinte er nicht mehr. Jetzt heulte er. Ja, völlig hemmungslos und ungeniert 238
strömten jetzt die eingekorkten Gefühle aus ihm, ließen sie die kleinen Vögel erschreckt verstummen (oder übertönten sie), breiteten sie sich in konzentrischen Ringen über die Gegend aus, zwischen Baumstämmen und Gebüschen und den leuchtenden, falunroten Hauswänden widerhallend. Der große Körper lag auf der Tischplatte. Angetrieben von dem pumpenden Brustkorb hob und senkte er sich, hob und senkte er sich auf dem gut geölten Holz, zuckte er, zitterte er, wackelte er wie eine Masse unappetitlicher Aspik. Er murmelte etwas vor sich hin. »Bitte« vielleicht, zum wer weiß wievielten Mal, oder möglicherweise »vermisse«. Es war schwer zu hören, aber irgendetwas Vages mit einem gestotterten i war es, und obwohl das einzelne Wort selbst verloren ging, trat die jämmerliche Bedeutung umso klarer hervor. Die Seherin seufzte. Ob er ihr in diesem Augenblick auch nur im Geringsten Leid tat, ob sie mit ihm fühlte oder ihn verstand, ja, das war schwer zu entdecken. Alles, was ihr Gesicht zu zeigen schien, war Ekel, zeigte ihn offen, jetzt, wo sie wusste, dass er es nicht sehen konnte, und ungeduldig glitt ihr Blick weg von dem breiten Rücken über die Wiese, den See, den Waldrand, den Himmel – und wieder zurück, zurück zu Dem Verlorenen, Hilflosen, zu Dem Ganz In Ihre Hände Gegebenen. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn dann aber wieder und schwieg. Vielleicht hatte sie trotz allem nichts hinzuzufügen, und selbst wenn sie es gehabt hätte, selbst wenn sie sich so weit erholt hätte, um die Stimme zu erheben und ihn zu beschimpfen … Ja, als was? Einen Schwächling und Weichling? Einen Gewalttäter? Einen egoistischen, selbstzentrierten Lumpen und Schurken? Es hätte keine Rolle gespielt. Solche Dinge spielten überhaupt keine Rolle, hatten mit dem Ausgang letzten Endes nichts zu tun, und er selbst hätte auch nicht zugehört. Er hatte weder 239
Augen noch Ohren für sie, war schon hinüber. Nein, was sie sagte oder nicht sagte, war ganz einfach belanglos. Er schien voll beschäftigt mit sich selbst, hatte vollauf damit zu tun zu trauern, zu bereuen oder zu atmen, was es nun war, was er da auf der Tischplatte machte. Sie drehte sich um und guckte zum Auto. Es war gerade so weit, dass sie es hinter all den Baumstämmen sehen konnte, aber es war jedenfalls da, trostreich und da. Sie seufzte wieder, aber noch resignierter, noch vernehmlicher, während das Schluchzen immer nur weiterging, als gäbe es kein sichtbares Ende, keinen Schluss. Ruhelos schlängelte sie sich aus dem Sitz nach vorn. »Du«, sagte sie und beugte sich über den Tisch. »Jetzt musst du dich beruhigen. Hörst du mich?« Die Stimme klang bestimmt, aber nicht ganz und gar unfreundlich, beinah wie die Stimme einer Mutter, einer irritierten, die Geduld verlierenden Mama. »Bitte, Bengt. Jetzt musst du aufhören.« Doch das tat er nicht. Er rührte sich nicht einmal. Es war, als hätte er sie gar nicht gehört, und unsicher hob sie einen Arm. Natürlich wollte sie ihn berühren, ihn schütteln, vielleicht sogar schlagen, doch es schien ihr auch zu widerstreben. Unentschlossen schwebte die blasse Hand über dem Geschnüffel. Sie schien nicht zu wissen, wo sie landen sollte. Nicht da auf dem Kopf. Nicht da auf dem feuchten Handrücken, aber schließlich: da auf dem Unterarm und dem frisch gebügelten Hemd. Sie schüttelte vorsichtig. Wartete. Schüttelte noch ein bisschen und ein bisschen stärker und sagte: »Nimm dich jetzt zusammen. Hörst du? Nimm dich …« Und saß plötzlich fest. Sie konnte nur starren. Ja, sie war so baff, dass sie nicht einmal aufschrie. Das Ganze war so schnell gegangen, kam so 240
unerwartet. Im einen Augenblick war da überhaupt nichts, und im nächsten … Da war sie einfach da, seine Hand, quer über ihrer, und so saß sie in der Falle. Wie sehr sie auch zerrte, sie kam nicht los. Die kräftigere Männerhand war wie eine Klaue um ihr Handgelenk, wie eine große, haarige Spinne, die sich festgebissen hatte und sich weigerte loszulassen. Langsam hob er den Kopf und guckte sie an. Sie guckte zurück. Es war so drückend still da unten unter den Baumwipfeln, so verblüffend warm zwischen der Südwand und dem Holzschuppen – und obwohl eine Wacholderdrossel lachte, als hätte sie etwas Humoristisches daran gefunden, war das, was dann passierte, dennoch absolut nicht besonders lustig.
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16 Das war das. Erleichtert und angeekelt übergab er sich wieder. Gelehnt an einen Baum am Hang hinter dem Haus kotzte er das beißende Unbehagen aus, ließ es in einem säuberlichen, stinkenden, kleinen Haufen (in einem verschwindend kleinen Haufen in dem üppigen, gut gediehenen Elchgras) hinter sich zurück, und dann war die Sache erledigt. Das war das. Dann war es überstanden. Mit zitternden Beinen ging er hinauf zum Hof und setzte sich auf die Windfangstufen, um auszuruhen. Es wurde ruhig und still um ihn. Die Vögel zwitscherten. Das Laubmeer rauschte, schwach, schwach, zischelnd, tuschelnd, und es war, als wäre sie nicht einmal dort gewesen. Ja, es war jetzt leicht zu zweifeln. Die Gartenmöbel standen wieder leer und der Grasfleck an der Garage ebenso. Nicht ein Staubkorn schien noch in der Luft über der Auffahrt zu hängen, nicht auch nur der Schimmer einer hellblauen Abgasspiegelung, und vielleicht war das etwas gespenstisch: als wäre sie aufgesaugt worden vom Nichts. Traumartig … Spurlos … Oder vielleicht nicht. Weit zurückgelehnt schob er die Hand in die Hosentasche, wühlte herum, grub sich mühsam in den rauen, schwer zugänglichen Baumwollbeutel – und nahm das Marmorei heraus. Mit gerunzelter Stirn hielt er es vor sich hoch. Es sah genauso aus wie immer, schien sich auf den ersten Blick überhaupt nicht verändert zu haben, und doch … Er musterte es misstrauisch. Es war sehr schön, das musste er zugeben. Je nachdem, wie er es drehte, leuchtete die harte, blanke Oberfläche im Licht auf, 242
wechselte sie die Farbe von Grün zu Grünlich und Türkis, breiteten sich die Adern in einem gesprenkelten, unergründlichen Muster auf der Schale aus, ständig variierend und nuancenreich – aber sprach es zu ihm? Es war schwer zu entscheiden. Er hielt es zwischen Daumen und Zeigefinger, genau wie es die Seherin getan hatte, als sie nichts hatte sehen können, und vielleicht war es verwandelt. Vielleicht. Er wusste es nicht sicher, wusste nicht einmal, ob er es wissen wollte, bis er energisch die Hand darum schloss und nachfühlte. Er lehnte sich zurück an das Geländer und schloss die Augen. Das Ei war noch immer sonnenwarm. Wie gebrütet, mit Körpertemperatur wie ein Lebewesen, sank es ihm in die Hand, wurde es ohne Anstrengung zu einer Verlängerung seiner selbst, aber sagte es etwas? Etwas über Eva? Er konzentrierte sich. Während weinrote und orangefarbene Schatten unter seinen Augenlidern auf und ab tanzten, saß er still und lauschte nur, lauschte nach innen, jenseits von Windrauschen und Vogelgesang, jenseits des lautstarken Flugzeugs, das schnell über dem Blechdach erschien und wieder verschwand – aber nichts. Obwohl er mehrere Minuten lang bewegungslos und unter Spannung dasaß, fühlte er absolut nichts, hörte er nichts anderes als das Schweigen des Todes, und wie passend das in diesem Zusammenhang auch sein mochte, war er nicht großzügig genug, um dies ein Zeichen zu nennen. Er öffnete die Augen und dann die Hand. Wieder betrachtete er den Gegenstand eingehend, aber jetzt war er sicher. Es war wirklich dasselbe alte Stressei. Das war nicht verwandelt. Nein, es war stumm, und falls es je etwas gesagt hatte, falls sie eine Fähigkeit gehabt hatte, die ihm vielleicht fehlte … Tatsache war, dass es ihm mit jeder Minute, die verging, immer schwerer fiel, es zu glauben, tatsächlich so schwer, dass 243
er schon am Morgen darauf den Gedanken ganz und gar abtun sollte. Ja, das sollte er wirklich. Darüber hinaus sollte er verleugnen, dass es überhaupt stattgefunden hatte (es vor dem Hahnenschrei mehrere Male verleugnen, während er noch im Bett lag und sich fragte, ob das Ganze möglicherweise ein Traum gewesen war), und warum nicht? Die Zeit hatte ja glücklicherweise diese Wirkung. Sie war eine Hilfe zur Selbsthilfe, ein Kurs im Überleben. »Das war das«, artikulierte sie deutlich, während er die Lippen bewegte und nachsprach. »Das war das. Dann war es überstanden.« Und vielleicht hatten sie beide recht. Ebenso wie seine Frau war die Seherin jetzt ein vergangenes Stadium, war sie ebenso weggesteckt und versteckt – und dass er weiter an sie denken würde, hin und wieder einmal, wie jetzt, wo die Übelkeit und die Gänsehaut für einen scheußlichen Augenblick zurückkehrten … Na ja. Das war wohl vorübergehend, nahm er an. Was blieb, war ja trotz allem nur das verblassende Erinnerungsbild von ihr. Das Bild dieses Schädlings, der sich in seinem Leben in dem Maß eingenistet hatte, dass er sich nicht mehr selbst gehörte. Und die Erinnerung an dieses verdammte Frauenzimmer, das über ihn zu Gericht gesessen hatte, durch und durch bereit, ihn minderwertig und erbärmlich, pathetisch und lächerlich zu finden, das ihn dazu gebracht hatte, alles auszugraben (buchstäblich wie bildlich), das ihm bis zum Letzten die Wahrheit und das Mark aus dem Körper gesogen hatte, und das das eine und das das andere und das Gott weiß was … Aber hatte sie das? Abwesend ließ er das Marmorei auf den Stufenplanken trudeln. Mit einem eintönigen Klackern schlingerte es hierhin und dorthin, bis es zur Ruhe kam und auf ein und demselben 244
staubigen Fleck zu Ende kreiste. Er setzte es wieder in Bewegung. Und dann, als es zum Stehen gekommen war, noch einmal und noch einmal, bis er es schließlich satt bekam und das Ei dort liegen ließ – aber hatte sie? Das war die Frage, die sich zu stellen er hartnäckig vermied. Ja, hatte sie wirklich die Wahrheit aus ihm gesaugt? Die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit? Hatte sie das? Na ja … Da war natürlich die Sache, wo Eva begraben war. Diesbezüglich, das war ihm immerhin gelungen, hatte er gelogen. Er war ja nicht dumm. Zuzugeben, dass der Körper ganz in der Nähe vergraben war, nachdem die Seherin ja tatsächlich die Stelle der Polizei hätte beschreiben können, das heißt, wenn etwas schief gegangen wäre, wenn es ihm missglückt wäre, sie zu … neutralisieren. Nein, so blöd war er nicht gewesen. So offenherzig nicht. Und außerdem … War alles passiert, wie er es erzählt hatte? Sie hatten darüber schon am Morgen geredet an diesem verhängnisvollen Tag. Ja, es war das übliche alte Lied gewesen, Kindererzeugung mit Versen und Strophen und Kehrreim, und eigentlich hatte es ihn doch erstaunt. Sollte sie nicht allmählich aufgeben, hatte er für sich gedacht, während er die Frühstücksdickmilch zuckerte, einsehen, wie unvernünftig sie war, oder zumindest anfangen, stattdessen von Adoption zu reden, um sie der theoretischen Elternschaft biologisch gleichzustellen – aber nein. Für keinen Augenblick. Es war, als hätte er sie unterschätzt, ihr Bedürfnis unterschätzt, »ein Leben zu tragen«, wie sie es feierlich nannte, »stillen« und »nähren«, »vom ersten, phantastischen Anfang an dabei sein« zu können – und im Grunde genommen war es wohl eine Art Ironie 245
des Lebens und des Schicksals, das musste er zugeben. Seit acht Jahren waren sie verheiratet, fast acht Jahren, und in den fünf ersten waren Kinder nicht einmal aktuell gewesen. Das heißt, er selbst war wohl nicht direkt abgeneigt, auf gar keine Weise eigentlich, aber Eva hatte gezweifelt. War es wirklich richtig, Kinder in die Welt zu setzen?, konnte sie ihn fragen, während er leer und verständnislos die Tapeten hinaufstarrte. Man konnte ja das Kind nicht vorher fragen, pflegte sie zu überlegen, ob es denn überhaupt geboren werden wollte, und aus einer globalen Perspektive, wurden nicht schon viel zu viele geboren? Doch. Doch, so war es, sagte sie sich. Dann kam das eine oder andere und das Dritte dazwischen. Dann wurde sie dreißig und zweiunddreißig und vierunddreißig. Die fruchtbaren Jahre vergingen immer schneller. Eines nach dem anderen zerrann ihr zwischen den Fingern, während die Freundinnen mit ihren Kleinen herumpusselten und Edna und Konrad mit ihren als Scherz verkleideten Anspielungen kamen – und schließlich … Schließlich war der Druck vielleicht zu groß. Ja, allmählich kam eine Veränderung zustande. Die Zweifel wurden niedergewalzt. Ohne »Recht« oder »globale Perspektive« zu erwähnen, wurde der Entschluss gefasst: Kinder. Sie würden Kinder bekommen – und zwei Jahre lang versuchten sie es wirklich, zu allen möglichen Zeitpunkten, unter allen möglichen Umständen, und als sie sich dann schließlich untersuchen ließen und er als steril befunden wurde … Da brach es los. Diesbezüglich hatte er nicht gelogen. Da gab es kein Halten mehr. Nein, nie war ein Kind ein solches Muss gewesen wie dann, als sie erfahren hatte, dass sie keine kriegen konnten. Kinder waren plötzlich alles für sie. Sie waren lebensnotwendig. Sie 246
waren das Leben selbst, und er …? Er war tatsächlich auch enttäuscht. Im Stillen, wenn er nachts manchmal wachlag und in das leere, friedliche Dunkel hinausstarrte, musste er einsehen, dass es vielleicht trotz allem der Gedanke an eine Familie gewesen war (nicht der an die Zweisamkeit, an die Beziehung zwischen Mann und Frau), der ihn veranlasst hatte zu heiraten, und auch wenn es falsch gewesen wäre zu behaupten, er hätte über die Sache besonders viel nachgedacht, über sich selbst als Vater, hätte die kleinen Wesen vor sich gesehen, und trotzdem … Und trotzdem. Vielleicht war es so selbstverständlich gewesen, dass es gerade deshalb ungesagt geblieben war. Er hatte beinah angefangen, das zu glauben. Doch. Doch, so war es. Kinder bekommen war etwas, das er immer gewollt hatte, sagte er sich mit Gewicht und Schärfe in den Worten – bis Eva anfing, von künstlicher Befruchtung zu reden. Da hatte er plötzlich und mit blendender Klarheit erkannt, dass er nicht einfach Kinder haben wollte, welche auch immer, sondern dass er sich im Gegenteil nach seinen eigenen Kindern gesehnt hatte, und der Gedanke, den Nachwuchs eines anderen ins Haus zu bekommen, ohne Verbindung zu ihm selbst und dem Hof und dem Ursprung, ohne Verbindung zu den Eltern seines Vaters und seines Großvaters, zu denen, die aufgebaut und zusammengeschuftet hatten … Nein, das war ihm ganz einfach zuwider gewesen. In seinem Inneren hatte er einen Wechselbalg vor sich gesehen, ein Kuckucksjunges, ganz anders als er selbst, mit ständig offenem Schnabel und forderndem Geschrei – und Insemination oder Adoption oder was es auch sein mochte … Er musste zugeben, dass es nicht die geringste Rolle spielte. Solange das Kind nicht seines war, war es nicht seines. Da war nichts zu machen. Ja, solange das Kind nicht seines war, wollte er nicht, konnte 247
er nicht, war es, kurz gesagt, ein Ding der Unmöglichkeit; das sagte er ihr, und zunächst nahm sie es erstaunlich gut auf. Ja, sie war tatsächlich vernünftig gewesen, das war gar keine Frage. Mit einem milden Lächeln hatte sie gesagt, sie verstehe, wie er empfinde, aber er solle sich keine Sorgen machen. Dass die Spermien von anderswo kämen, bedeute ja absolut nicht, dass es nur ihr Kind würde, sondern mehr als zur Hälfte ihrer beider Kind. So müsse er das Ganze sehen, als etwas, das sie in jeder Hinsicht teilten, und die Sache mit dem Genetischen … Sei das denn so wahnsinnig wichtig? Ein Kind sei ja ein Kind, betonte sie. Sobald er es kennen lerne, werde er es lieben, sobald er es sehe und anfasse und mit ihm spiele – und so versuchte sie, ihn herumzukriegen, argumentierte sie so vernünftig und methodisch wie möglich, so ruhig und solange sie es ohne Echo konnte – und dann war es gelaufen. Dann nannte sie ihn verstockt. Einen verdammten Stein. Sagte sie, er habe vom ersten Augenblick an ihr Leben zerstört – ob wahr oder unwahr … Vielleicht hatten sie sich beide in der Routine sicher gefühlt. Wie durch einen Zauberschlag war alles wieder beim Alten gewesen – nichts vergessen und nichts verziehen – genauso wie es immer war. Ja, dann waren all die alten Kränkungen wieder auferstanden, eine Schar unseliger Geister, ohne Ruhe, ohne Frieden, jeden Winkel der ehelichen Institution heimsuchend – und also hatten sie darüber auch an diesem Morgen geredet. Natürlich. Warum nicht? So viele andere gemeinsame Gesprächsthemen hatten sie ja nicht, also hatten sie immer darüber gesprochen. Diskussion im Schlafzimmer. 248
Meinungsaustausch über den Frühstückstisch. Hatten sie den Disput in den Holzschuppen mitgenommen, um ihn dort fortzusetzen – und natürlich war das ein Fehler gewesen. Natürlich hätte sie ihn das verflixte Holz selbst stapeln lassen, hätte sie sich mit etwas anderem beschäftigen sollen, so wie die Dinge lagen, anstatt sich unter dasselbe schwankende Dach wie das Mannsbild zu quetschen, zwischen dieselben vier schiefen Wände, doch so war es. Obwohl sie einander zum Thema eigentlich nichts mehr zu sagen hatten, blieb sie ihm so nahe sie konnte (ob in einem Anfall von Sadismus oder Selbstquälerei, war schwer zu entscheiden), und dann hackte er das Holz, und sie stapelte, dann gingen sie in dem beschränkten kleinen Raum immer wieder umeinander herum, balancierten sie zwischen Haufen von Gehacktem und Ungehacktem, von Gestapeltem und Ungestapeltem, während der dünne, zivilisierte Firnis der »Diskussion« langsam zerrieben wurde und die Schlagworte härter wurden (die Stimmen ebenso) und das Problem mit der Sterilität in allgemeinere Stichworte der Unzufriedenheit überging. Enttäuschung. Wut. Es wurde richtig scheußlich. So scheußlich, wie es nur zwischen Eheleuten werden kann, und während Bengt hackte und schwieg, schwieg und hackte, gab Eva all das von sich, was sie nicht länger für sich behalten konnte. »Du taugst zu gar nichts«, konstatierte sie bitter. »Zu nichts bist du gut. Fünf Minuten langer Beischlaf und Schneeschippen. Mein Gott.« Sie warf achtlos eine Armvoll Holz auf den neu begonnenen Stapel. »Soll das alles sein?« Sie klang selbst erstaunt. »Soll das alles sein, womit du beiträgst? Was?« Er antwortete nicht. Über die Befruchtung und dieses Zeug diskutierte er noch, das war ja trotz allem etwas Handgreifliches, 249
etwas, wovon er meinte, sie könne es verstehen, aber das? … Er biss die Zähne zusammen. Was sagte man zu so was? Zu solchen Angriffen und Ungerechtigkeiten und solchem – Bockmist. Er machte bewusst eine Vierteldrehung um den Hackklotz, um ihr den Rücken zuzuwenden, und sie … Irritiert riss sie sich die Arbeitshandschuhe herunter, strich sich das lange, blonde Haar aus dem Gesicht – und dann standen sie da. Eine zornige Frau. Ein verstummter Mann. Sie hätten einander nicht heißer hassen können, und sie errötete. Dieses wütende Schweigen, der abgewandte, abweisende Körper – sie erkannte es nur zu gut wieder. Es war die ganze Zeit dasselbe Lied. Er war wie ein Moor, dachte sie. Voll von still stehendem Wasser, sauren Bodendünsten, blubbernden Sumpfgasen, und Gott im Himmel, da war sie eingesackt, bis zu den Knien, der Taille, dem Hals, und sie schrie ihn an: »In dir ist kein Leben. Du bist verdammt noch mal toter als ein Stein. Sogar das Sperma in dir ist tot. Hörst du mich? Tot. Und das ist nicht mal überraschend. Ja, ich hätte das erwarten müssen, stimmt’s? Es war idiotisch von mir, auch nur zu hoffen, du hast mir nie was geben können, du geiziger Arsch. Nie was, was ich gebraucht habe.« Sie trat einen Schritt näher und hieb mit den leeren, flatternden Handschuhen in die Luft. »Nein, dies Haus hier«, fuhr sie hitzig fort, nachdem sie schon mal dabei war, »das ist das Einzige, woraus du dir je was gemacht hast. Das ist das Einzige, was wichtig war. Dein eigener, isolierter, kleiner Teil der Welt, deine blöden Kindheitserinnerungen oder was nun so verflucht bemerkenswert sein soll an dieser Klitsche, aber jetzt ist es aus. Merk dir das. Jetzt geh ich hier weg, und wenn es das Letzte ist, 250
was ich tue, denn in dir ist kein Leben. Hast du gehört? Kein Leben. Du bist verdammt nochmal wertlos. Hörst du mich? Wertlos.« Sie machte noch einen Schritt auf den sich auftürmenden Rücken zu, und war es womöglich ein Zufall? Dass sie beide zugleich aus dem Konzept kamen, bei ganz falscher Gelegenheit, in ganz falscher Umgebung? Die Frage sollte sich sofort einstellen, denn da stand er und schwitzte und schuftete, während das Birkenholz ihn ärgerte und Eva nervte und nervte und nervte – und schließlich … Schließlich riss etwas in ihm. Und als in ihm etwas riss, riss etwas in Eva, blutete sie plötzlich aus dem Ohr, zerfloß sie im dünnsten aller Rinnsale, und es war eigentlich seltsam, wie bemerkenswert wenig es brauchte und wie unwiderruflich es war. Noch bevor die Breitseite der Axt die Schläfe getroffen hatte, hatte er es schon bereut (und sie vermutlich auch), noch bevor der scheußliche, dumpfe Laut seine Ohren erreichte, aber Reue am Richtblock (wenn auch am Richtblock eines anderen), was war die wohl wert? Nichts. Absolut nichts. Sie war ebenso nichts sagend und unbrauchbar wie der Körper zu seinen Füßen – und genau da hatte die Lüge gesteckt. Ich hatte nie vor, hatte er zur Seherin gesagt, wollte nicht … Aber natürlich hatte er gewollt. Ohne Willen hätte er es nie über sich gebracht. Ohne Willen brachte er niemals irgendetwas über sich, also hatte er schon gewollt. Drei intensive Sekunden lang. Gewollt, vielleicht nicht umbringen, aber zum Schweigen bringen. Sie um jeden Preis zum Schweigen bringen. 251
Barzahlung. Und es war auch kein Zufall und kein Unfall gewesen. Nein, wenn es etwas Zufälliges oder Unglückliches gegeben hatte, dann bestand es nur in der Tatsache, dass er während dieser drei längsten Sekunden seines Lebens ein Axt in der Hand gehabt hatte. Sonst nichts. Dass er im Unterschied zu all den anderen niederschmetternden Sekunden etwas so Hartes und Unnachgiebiges in der Hand gehabt hatte …, und dann war der Gedanke eine Tatsache gewesen. Voller Wut hatte er sich umgedreht. Einen Schritt vorwärts gemacht. Und zugeschlagen. Drei Sekunden. Sie fiel wie ein geschlachteter Ochse. Tjoff, machte es auf sehr unangenehme Art, und dann lag sie da auf den Scheiten, in der unbequemsten der Stellungen, den Kopf zurückgebeugt und die Glieder in alle Richtungen gespreizt. Er traute seinen Augen nicht. Nein, wenig überraschend war Verleugnen seine erste Reaktion. Das ist nicht wahr, wiederholte er wieder und wieder, leierte er es wie ein Mantra: nicht wahr … nicht wahr … nicht wahr, während er frenetisch (und vergeblich) ihren Atem und Puls suchte, sie schüttelte, ihren Namen rief – und aufgab. Sie war offenbar tot. Nicht bewusstlos. Nicht weggetreten. Sondern gestorben. Tot. Rasch zog er die Hände an sich, wollte sie nicht länger anfassen. Nein, wollte nicht einmal sehen, und bald hierhin, bald dorthin schwankend, über Axt und Holzscheite trampelnd, sich wie ein Betrunkener an die Wände stützend, eilte er hinaus zur Sonne und Luft und zum leuchtenden grünen Rasen. Verwirrt sah er sich in der Idylle um. Es war so wohl bekannt: die großen Bäume, die Büsche, die 252
Blumen, das rote Haus. Aber erkannte er es wieder? Wusste er tatsächlich, wo er war? Nein. Nein, das war zweifelhaft. Und wusste er, was er tun sollte? Nein, auch das war ihm nicht klar. Nicht sofort. Stattdessen sollte er während der nächsten Stunden wie in Trance bleiben. Welle um Welle sollten ihn alle Stadien des Traumas überspülen, sollte er Phase um Phase zitternden und blind starrenden, heulenden und geschockten Schweigens, der Lähmung und des rastlosen Wanderns durchmachen – und als sich das Hirn ganz allmählich wieder sammelte und zu funktionieren begann … Da kehrte er zurück zum Holzschuppen. Langsam und lautlos schlich er hinein, als näherte er sich einer Schlafenden, mit Stielaugen und vorsichtig tastenden Füßen. Er konnte noch immer nicht glauben, dass es wahr war, hegte vielleicht sogar die Hoffnung, dass es nicht so war. Es war ja trotz allem ein Traum. Schien nicht wirklich. Konnte einfach nicht passiert sein – aber da war sie. Nichts verändert. Alles gleich. Aber jetzt war er natürlich unschuldig. Zwei Stunden später – und die drei Sekunden waren weg. Hux flux. Verschwunden. Ausradiert aus seinem Leben, und als er neben dem Körper in die Hocke ging, um besser zu sehen, ja, da war das Ganze ein Unfall und sollte es bleiben, war die Gedächtnislücke wie eine schutzsichere Weste über seiner Brust, ein Schutz vor dem Herzen, und das war wohl auch gut so. Es gab Augenblicke, da musste sich ein Mensch verhärten, um nicht unterzugehen, da waren die Gefühle der Ballast, der nicht stabilisierte, sondern versenkte. Es gab Augenblicke … und einer von ihnen war jetzt gekommen. 253
Er musterte seine Frau (das, was seine Frau gewesen war, musste er sich in Erinnerung rufen, was sie gewesen war), und als die Augen sich das Sonnenlicht abgewöhnt hatten, sah er, wie phantastisch bleich sie war. Blau schimmernd. Wie die allerdünnste Magermilch. Er saß eine Weile still, überlegte, fummelte unbewusst an seinen Schnürsenkeln. Einer ihrer Arme lag ausgestreckt über dem Kopf, irgendwie verdreht, mit der Handfläche in die falsche Richtung. Er guckte sie unentschlossen an. Es sah sehr unbequem aus. Es sah so unbequem aus, dass es wehtat, in seinem Arm, als empfände er Phantomschmerzen von einem toten Körperteil, und schließlich fasste er sich ein Herz und legte den Arm wieder an die Hüfte und Seite. Es war nicht angenehm. Die Haut war völlig kalt unter seinen Fingern, erdkellerkalt (als bereitete sie sich vor auf das, was kommen sollte), und noch mehr: Das Fleisch hatte eine Trägheit gehabt, die er absolut nicht wieder erkannt hatte. Obwohl der Arm schlaff und bereit gewesen war, sich lenken zu lassen, hatte es in ihm eine Andeutung von Widerstand gegeben. Er hatte nicht umhin gekonnt, das zu bemerken, als wäre das Glied mit etwas Weichem und zugleich Widerspenstigen armiert worden, und es sollte noch schlimmer werden. Als er später am Nachmittag kam, um sie in Plastik einzurollen und zuzukleben, ja, da sollte sich der Körper mit seiner unwilligen Starrheit gegen ihn wehren, und als er sie in der Nacht zum Auto hinaustrug … Steif wie ein Brett sollte sie sein … So hart wie der Stein, der zu sein sie ihm immer vorhielt … Und wusste er es? Hatte er schon dort, im Holzschuppen, gewusst, dass er all das vor sich hatte? Die Leichenstarre, die Leichenkälte, die Widerspenstigkeit? Dass dies der Weg war, 254
den er gehen musste? Ja, das hatte er. Gewusst oder geahnt. Und unwillkürlich war sein Blick hinauf zum Spaten geglitten, der da an einem Nagel an der Holzschuppenwand hing, denn da war ja die Sache mit den Folgen. Sie waren entsetzlich. Als er nach und nach darüber nachdachte, war das Ganze ein einziger großer Verlust. Er war seine Frau losgeworden. Das war offensichtlich. Es war furchtbar, aber nicht nur das. Er hatte auch etwas anderes verloren. Verloren hatte er seine – Normalität. Wie konnte man das ausdrücken? Seine Gewöhnlichkeit, seine Anonymität unter allen anderen. Doch, so war es. Kaum dass es bekannt wäre, würde alles verändert sein. Sobald es herauskam, würde alles verloren gehen: Nachbarn und Arbeitskollegen. Das Recht auf Freiheit. Auf das Zuhause. Auf das Leben, das er kannte, sich wünschte, schätzte – und insofern kam die Entscheidung nicht als Überraschung. Er musste zurückgewinnen, was noch zurückzugewinnen war. So war der Plan zu ihm gekommen. Er musste die Schäden und Verluste minimieren, musste tun, was getan werden konnte, um dann mit dem Rest zu leben. Was sonst? Es war so selbstverständlich gewesen. So richtig. So instinktiv. Und es hatte Panik geherrscht. Sicher war es so. Es war nicht ganz so kalt und klinisch gewesen, wie es vielleicht gewirkt hatte, durchaus nicht, doch es war die richtige Sorte Panik 255
gewesen, jene, die die Natur hervorbrachte, nicht nur, um das Tier zum Flüchten zu bringen, sondern um es dazu zu bringen, in die richtige Richtung zu flüchten – und danach war er erstaunt, sogar beeindruckt. Es war so logisch und folgerichtig gewesen, wie das Kofferpacken für eine lange Reise im Grunde. Alle Eventualitäten hatte er sich vorher überlegen müssen, alles, was gebraucht werden könnte, alles, was nötig war (weil das, was vergessen wurde, dann ein für alle Mal vergessen sein würde, unabänderlich), und auf diese Weise war er ans Werk gegangen. Ja, ganz allmählich, als der Schock von seinem akutesten Schmerz in ein leiseres, erträgliches Ziehen übergegangen war – da hatte er sich zusammengenommen. Da war sein Leben plötzlich Kleben und Verpacken, Graben und Wegräumen gewesen. Da war er rückwärts in seiner eigenen Spur zurückgegangen und hatte den Spaten sauber geschrubbt, die Axt versteckt, die Schuhe, die er auf dem Kahlschlag getragen hatte, weggeworfen und all das übrig gebliebene Plastik und Klebeband ebenso – und an alles hatte er gedacht. Na ja, das heißt, fast alles, denn sicher hätte er schon da die Axt für immer verschwinden lassen sollen. Nicht nur verbergen, nicht wieder hervorholen, das war ein Fehler, aber trotzdem … In der Verlängerung war es doch das, was den Ausschlag gegeben, war es diese allererste Entschlossenheit, die dazu geführt hatte, dass er endlich hier auf den Windfangstufen sitzen, jetzt mit weniger Übelkeit, das Marmorei selig eingeschlummert neben sich, und ohne Zögern sagen konnte, dass es im Grunde genommen um Kontrolle gegangen war. Ja, natürlich nicht um die Kontrolle über das Schicksal oder die Umstände (die waren allzu wilde Kräfte, um sich zähmen zu lassen), sondern über sich selbst. Da hatte der Knoten gesessen und war gelöst worden, triumphierte er immer schamloser. In der Kontrolle über sich selbst, sein Leben und seine 256
Gefühle. In einem gesunden, praktischen Charakter und in der Fähigkeit, sich um sich selbst zu kümmern. Doch, doch. Absolut, genau. Er nickte entschieden und aufgemuntert. Zu wissen, dass man zuerst an sich denken muss, und damit ohne Schuld zu sein. Ohne Reue. Ohne Verantwortung. Und damit frei zu sein. Zufrieden lächelnd ging er in sein Haus und schloss die Tür. Er glaubte das Recht dazu zu haben. Es war wie die natürlichste Sache der Welt.
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V EIN ABGESCHLOSSENES KAPITEL
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TAG 28 SONNTAG Aha. Da sitze ich hier. Ganz draußen auf der Brücke. Es ist etwas kalt, so eine Morgenkühle, ziemlich rau und feucht allerdings, aber die Sonne scheint, und der Himmel ist blau. Ja, es wird ein schöner Tag werden, das spüre ich. Rundherum tanzen Tausende von Reflexen auf dem sich kräuselnden See, Sonnenkatzen, die mir zuwinken und lächeln, lauter Diamanten, und das Licht schmerzt so in den Augen, dass ich blinzeln muss, um die Stelle zu sehen, wo das Ei die Oberfläche zerteilt hat und verschwunden ist. Ich habe es ziemlich lange in der Hand gehalten, bevor ich es warf, aber nicht, weil ich gezögert hätte. Nein, daran lag es überhaupt nicht. Das war nichts, was man aufbewahrt, es war nur so schwer, es sich vorzustellen. Es war so klein und unscheinbar, so ungefährlich mit seiner runden, geschlossenen Form und seinem bekannten Grün – und trotzdem … Wenn man all das zusätzliche Elend bedenkt, das es hatte anrichten können … Und wie? Eigentlich ist es so unglaublich, dass ich nur staune. Wenn ich an all das zurückdenke … Ich weiß nicht. Sicher hat es manchmal etwas seltsam gewirkt. Oder sehr. Sicher sind mir in dieser Zeit etliche scheinbar komische Dinge passiert, das ist wirklich so, wie gestern Abend zum Beispiel, als ich im Garten herumlief und nach den Erdbeeren sah und mich plötzlich wieder beobachtet fühlte, wie wenn die Seherin hier wäre, aber von einem der Fenster im Obergeschoss aus – aber wie gesagt … Ich weiß nicht. Soll man diese Art Dinge wirklich so ernst nehmen? Als ich nachsah, war es ja nur ein Blumentopf, diese große rosa Fuchsie, 259
die mich an all die Topfpflanzen denken ließ, die jetzt im Winter sterben werden, weil ich nicht weiß, welche kalt stehen müssen und von welchen ich Ableger nehmen soll und so, und bestimmt liegt da die Erklärung, denke ich mir. Für dieses Gefühl, betrachtet zu werden, meine ich, und zu den Geräuschen, die ich eine Weile gehört habe, und dem Kaffeegeruch und alledem. Ja, wenn es etwas gibt, das spukt, ist es natürlich Eva: die Sehnsucht nach Eva, die überfließt und sich neue, verblüffende Wege bahnt – und das kann man beinah verstehen. Ich bin ja nicht mehr als ein Mensch. So ist man ja beschaffen. Auch wenn man völlig normal ist, hat man ja manchmal seine Flausen im Kopf, und was die Seherin und das Ei betrifft … Na ja. Sie musste wohl nicht in die Axt hineinsehen, um herauszufinden, wozu sie benutzt worden war. Sie sah es sicher mir an: an den Augen, an meinem Auftreten und meinen Reaktionen, als sie da draußen im Holzschuppen stand, denn bestimmte Menschen sind ja so, stimmt’s? So furchtbar aufmerksam, durchschauend. Und vielleicht am allermeisten Frauen. Gut gestimmt wie Violinen. Reine Verstärker von Vibrationen. Also spürte sie bestimmt, wenn ich anfing zu zittern. Bestimmt wurde ich zum Ton in ihren sensiblen Ohren – bis er sich überschlug, und deshalb brauchte sie nicht hellseherisch zu sein. Ja, ist man nur im Geringsten realistisch, muss man es begreifen: Irgendwo muss es Leute gegeben haben, die glaubten, ich hätte Eva ermordet. Das war wohl nicht anders zu erwarten; so etwas passiert ja tatsächlich, und obwohl sie sich natürlich irrten, hatten sie ja trotz allem auch ein bisschen Recht. Ich hatte ja einen Finger mit im Spiel (doch, doch, wenn auch einen sehr unglücklichen), und irgendwann muss es Leuten eingefallen 260
sein, das zu ahnen. Sogar Freunde und Bekannte müssen die Möglichkeit erwogen haben (wenn auch nur nebenbei), und die Seherin auch. Ehegatten haben ja die Tendenz, einander auf die Nerven zu gehen. Jeder weiß das. Jeder weiß ja, wie das ist, manchmal verliert man die Fassung. Das gehört ja eher zum Natürlichen als zum Übernatürlichen, und dass sie den Braten langsam riechen würde … War das eigentlich so verwunderlich? Geschickt, ja – aber verwunderlich? Wenn man nachdenkt? Nein. Nein, das war es nicht, und das versuche ich wohl zu sagen, dass es Erklärungen gibt. Es gibt sie. Es geht nur darum, es auf die richtige Weise zu sehen, sich nicht verführen und mitreißen zu lassen. Wie ich es habe. Doch, das ist wahr. Es lässt sich nicht leugnen. So im Nachhinein ist es beinah ein Gefühl wie aus einem Traum zu erwachen, und wie ich in den hineingeraten bin, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich bis zuletzt in eine solche Stimmung versetzt war, dass ich das Unmögliche für möglich hielt. Dass ich mitgerissen wurde. Sicher. Sicher war es so. (Dass ich schließlich glaubte, ich müsse bei der Seherin etwas unternehmen – und es auch tat, obwohl es vielleicht gar nicht nötig war.) Aber es gibt rationale Erklärungen. Es muss sie geben. Das ist meine Überzeugung, und das sage ich, obwohl ich weiß, was ihr sagen werdet: Und die Steine?, werdet ihr fragen. Diese kleinen, glatten Steine, von denen sie gesagt hatte, sie sehe sie – wie konnte sie von denen etwas wissen? Und dieser ganz und gar korrekte Anblick des Grabes und des Kahlschlags – wo kam der her? 261
Und ihr habt Recht. Sicher habt ihr recht. Es kann schwer erklärbar wirken, das kann es. Dass sie Dinge zu wissen schien, die sie nicht hätte wissen sollen. Dass daran etwas Mystisches gewesen sein muss, aber muss es das? Ist es zum Beispiel nicht weiter hergeholt, an Psychometrie zu glauben als ganz einfach anzunehmen, dass Edna oder Konrad trotz allem die Keramikschale einmal gesehen und von ihr erzählt haben? Ja, ich frage nur, aber mir erscheint die letztere Erklärung plausibler, auch wenn sie es selbst abstreiten, und was die Beschreibung des Begräbnisortes anbelangt, ist die vielleicht auch nicht so bemerkenswert. Ich wohne ja auf dem Lande, und wenn man auf dem Lande mit einem Körper dasteht, den man nicht haben will …, dann ist die Chance groß, dass man ihn im Wald vergräbt und dass es dort einen Waldfahrweg gibt und vielleicht einen Kahlschlag, also warum nicht? Vielleicht war es nur eine intelligente Mutmaßung (die ich wieder einmal durch mein eigenes Verhalten bestätigt habe), und die Details über den Hang und den kleineren Kahlschlag und den Stein … Die Frage ist, ob sie es überhaupt erwähnt hat. Ich bin tatsächlich nicht mehr sicher. Nein, ob die Beschreibung wirklich so gut war, wie sie zu sein schien, oder ob ich es war, der glaubte, dass sie gut war, das weiß ich nicht. Die Möglichkeit gibt es, dass ich selbst die Teilchen, die fehlten, ergänzt habe, ohne sie überhaupt zu hören. Klingt das unglaubhaft, findet ihr? Unglaubhafter als ein spezielles Talent, durch das man seelischen Kontakt mit toten Gegenständen bekommt, durch die man ein Feedback erhält, etwas zurückkriegt von dem, das normalerweise gar kein Leben hat? Nein, ich habe es wohl nicht geglaubt, und das Hirn ist ein komisches Ding. Glaubt mir. Ich weiß es. Manchmal spielt es 262
einem einen Streich, und auch wenn das nur eine Theorie ist – dass ich so baff und ängstlich war, dass ich mehr zu hören meinte, als ich wirklich hörte – ist es dennoch eine natürliche Theorie. Ja, ich weiß, dass ich nicht exakt weiß, was passiert ist und wie. Ich weiß, dass ich nur spekuliere, aber das sind zumindest plausible Spekulationen, also warum Eulen nach Athen tragen? Das Übernatürliche, auch das sind ja nur Theorien. Unterhaltend zwar, spannende kleine Einfälle zu Gedankenübertragungen und Astralleibern und dem Teufel und seiner Großmutter, aber auf so losem Grund kann man sein Dasein nicht aufbauen, nicht auf so unsicherem Boden. Dann wird man verrückt. Nein, leben muss man in der Wirklichkeit, sonst sackt man ein in ein Moor von »wenn« und »aber« und verrückten Ideen, und das ist nicht gesund. Nicht auf die Dauer. Auch wenn ich vielleicht nicht begreife, was mir in der letzten Zeit passiert ist (nicht voll und ganz, noch nicht), muss ich trotzdem rational bleiben. Wo würde ich sonst landen? Hielte ich mich nicht an das, was ich greifen kann, an die alltägliche Welt, an die ich, komme was da wolle, gebunden bin? Nein, so ist es. Ich weiß, dass ich Recht habe. An solchen übernatürlichen Quatsch kann man sich nicht halten. Davon hat man nichts. Das ist, als würde man sagen, Gott hat die Welt erschaffen, aber wer erschuf dann Gott? Kapiert ihr, was ich meine? Das ist eine Erklärung, die vielleicht nicht widerlegt werden kann, aber die auch nirgends hinführt und … Ein kräftiges Platschen unterbricht die Stille, und ich zucke leicht zusammen. Vermutlich ein Hecht, der eine Plötze 263
erwischt hat, und er ist nahe gekommen. Ja, ich habe so still gesessen, dass er mich nicht gesehen oder nicht beachtet hat, und jetzt fließen die sich weitenden Kreise des Aufschlags auf die Brücke zu und werden gebrochen. Ich verfolge die stillen Wellenbewegungen, wie sie sich aus dem Schilfvorhang auf mich zubewegen. Und ich denke: Das ist das Leben. So soll man leben: so eins mit der Natur werden, dass man nicht bemerkt wird. Ich seufze und schließe eine Weile die Augen. Mit jeder Minute, die vergeht, wird die Sonne wärmer. Die feuchte Brise nimmt ab. Eine Schwalbe schreit. Und es ist so schön, so befreiend, nichts sagen zu müssen, nur hier zu sitzen und zu spüren, wie sich die Welt rund um mich weiterdreht: den Wind, die Vögel, die Plötzen unter der Brücke – und ohne dass ich raus und nachhelfen muss. Allein so etwas. Dass es sich von sich aus bewegt. Eigenes Leben in eigenen Bahnen. Ohne Forderungen, aber in Kontakt, in Kontakt miteinander und mit mir. Ich gucke wieder über den See. Sehe die Sonnenkatzen, das Schilfdickicht, die Seerosenblätter. Sehe die Landschaft meiner Kindheit, wie sie sich vor mir erstreckt, und der Mangel an Veränderung macht mich ruhig. Ja, ich bin klein hier am Wasser, so vergänglich. Was ich für Stürme halte, ist nur ein leichtes Kräuseln an der Oberfläche: Es wird ersterben, nachlassen, verschwinden – denn so ist die Perspektive hier. Seit unvordenklichen Zeiten haben sich die Hügel um den See erhoben. Jahrhundert für Jahrhundert haben sich die Hänge hinunter zum Wasser gesenkt und weiter, sind die Erinnerungen da unten in den Schlamm eingebettet worden, Schicht um Schicht in dem gestreiften Bodensediment, und bald bin auch ich eine Schicht dort im Dunkel. 264
Einfach ganz natürlich. Bald ist auch meine Zeit nur noch eine Erinnerung, und warum nicht? Hier gehöre ich ja hin. Mein Platz auf der Erde. Die zweite unschuldige Heimat, wo ich mein Asyl habe. Und so einfach ist es. Wäre das mit Eva irgendwo anders passiert … In einer Wohnung in der Stadt vielleicht … Dann wäre es vermutlich anders gewesen. Ja, ich glaube es beinah. Dann wäre ich wohl zur Polizei gegangen, hätte aufgegeben, gestanden, meine Strafe auf mich genommen und all das – aber nicht hier. Nein, das nicht. Genau im Gegenteil. Hier wäre es verbrecherisch gewesen, es nicht mal zu versuchen. Klingt das unverständlich? Dass das, was ich getan habe, dieses Platzes wegen getan wurde (ja, teilweise, meine ich, in symbolischer Hinsicht, unscharf und vage und völlig selbstverständlich), und ob ich das Richtige getan habe? Mir ist natürlich klar, dass manche unter euch meinen, dass ich es nicht getan habe, dass es feige und unmoralisch war. Ja, nicht die Sache mit diesem … Unfall. Eben das war es ja: ein Unfall, aber danach … Bestimmt meinen manche von euch, ich hätte für meinen Fehler einstehen, auf irgendeine Weise dafür Buße tun sollen oder so, aber ich weiß nicht … Es gibt wohl zwei Arten, die Angelegenheit zu betrachten, nehme ich an: Eine, die besagt, ich hätte mich vor meiner Verantwortung gedrückt. Und eine, die findet, das, was ich getan habe, sei das einzig Vernünftige gewesen – und aus meiner Perspektive … Ihr versteht, danach, nach ein paar Stunden war das, glaube ich, als ich zum Holzschuppen und zum Körper zurückgekehrt bin, um … Ja, um was? Um zu sehen, ob es wirklich wahr war 265
vielleicht, da hatte ich zumindest eine Art Hoffnung, ihr wisst schon, so eine unmögliche, naive, gegen jede Wahrscheinlichkeit, gegen alle bekannten Tatsachen – und möglicherweise dachte ich auch, dass ich mich trotz allem geirrt hätte, als es passierte, meine ich, dass meinen tastenden Händen Lebenszeichen entgangen wären (das geht einem leicht so, selbst wenn man ein wenig von Krankenpflege versteht) und dass sie in Wirklichkeit nur schlief wie ein Dornröschen, dass sie mit einem Kuss oder einer Ohrfeige oder weiß der Teufel was, geweckt werden konnte, aber als ich sie anfasste … Sie war so kalt. Ihr habt keine Ahnung. Als ich ihre Finger und ihre Haut berührte … Es war so, dass ich fröstelte, und natürlich musste ich es sehen, wie es war. Es war vorbei. Ganz einfach aus. Der Körper vor mir war eine Leiche. Er war auf die gleiche Art eine Leiche, wie der Spaten an der Wand ein Spaten war. Ich musste es nennen, was es war, auch wenn es mir widerstrebte, und das Einzige, was mir blieb, war, es loszuwerden. Unbedingt. Den Körper dessen loszuwerden, was einmal meine Ehehälfte gewesen war, es jetzt aber nicht mehr war. Eine andere Wahl gab es nicht. Nicht wie ich es sah. Sie würde ohnehin nicht zurückkommen, und das war doch besser als Gefängnis, stimmt’s? Besser, als zwischen vier gut gemauerten Wänden festzusitzen, ohne eigenes Leben, denn was hätte ich sonst tun können? Mit ihr ins Grab gehen? Nein, ich tat das das Richtige, davon war ich überzeugt. Man muss an sich selbst denken, sich um sich selbst kümmern. Es gibt niemanden sonst, der das tut. Das soll man nicht glauben. Dann ist man naiv. Alles muss man selbst machen, sollte man 266
selbst machen, für sich selbst, und man darf nicht weich werden und sich von den Gefühlen davontragen lassen. Ja, ihr müsst entschuldigen, aber ich glaube nicht an Aufopferung. Von Aufopferung hat man nichts, nicht auf die Dauer. Ich meine, ich hätte mich schon aufopfern können, damit die Schwiegereltern alles erfahren hätten oder damit Eva sicher in geweihter Erde hätte ruhen können, oder aus welchem Grund hätte ich mich opfern sollen, aber was hätte das genützt? Ja, was meinte die Seherin eigentlich, wenn sie sagte, ich hätte an Edna und Konrad denken sollen? Meinte sie, sie hätten wichtiger sein sollen als mein eigenes Leben? Du liebe Zeit. Zwar habe ich sie gern, das habe ich tatsächlich. Es sind nette Menschen, brav und aufrecht, und obwohl sie von der Sache mit dem Kinderproblem gewusst haben, haben sie nie etwas gesagt. Das ist, muss man auch sagen, eine gute Tat: dass sie nie etwas angedeutet oder mir deshalb Vorwürfe gemacht, nie gefragt haben (zumindest nicht laut), ob dies vielleicht irgendwie die Wurzel von allem war, aber trotzdem … Von daher zu verlangen, ich solle mich für sie aufopfern, gefühlsbetont und unpraktisch werden, mich von Sentimentalität leiten lassen … Nein, es gibt Grenzen. Das kann wohl jeder begreifen, und eigentlich ist wohl offensichtlich, meine ich: dass ich nur getan habe, was ich tun musste. Weder mehr noch weniger. Dass ich, als ich Eva vergrub, das Notwendige durchführte, als ich sie hinten ins Auto legte und zum Kahlschlag hinausfuhr und für sie einen anderen, neutraleren Platz fand, wo sie ruhen konnte. Und die Seherin?, wollt ihr wissen. Ob ich sie auch vergraben habe? Totgeschlagen und vergraben und versteckt …? Nein, du lieber Gott. Wofür haltet ihr mich eigentlich? Für eine Art unverbesserlichen, rückfälligen Verbrecher? Einen 267
Mördertyp? Einen Gewalttäter von Geburt und aus ungebrochener Gewohnheit? Denn das bin ich nicht. Und ich habe sie auch nicht verletzt. Ich gelobe und schwöre. Ich habe sie nicht mal angerührt. Oder doch … Das habe ich. An einer Stelle habe ich um ihr Handgelenk gefasst, das stimmt, und sie hat sich zwar ein bisschen gesträubt, als hätte sie Angst oder so, aber das war nur am Anfang. Als ich sie dann losließ, zog sie sich nicht mal zurück. Ja, für einen Augenblick hielt sie mich tatsächlich ganz freiwillig an der Hand. Glaubt ihr mir nicht? Aber so war es. Sie hielt mich an der Hand, daran erinnere ich mich deutlich, hielt sie oder drückte sie gewissermaßen, streichelte sie, und auch wenn es nicht besonders lange war, war es lange genug. Es war schon viel, damit ich es ganz sicher wusste, also, zum Teufel, ich habe sie nicht verletzt. Überhaupt nicht. Warum hätte ich das eigentlich tun sollen? Wenn ich es gar nicht brauchte? Ich bin ja trotz allem kein Steinzeitmensch. Ich meine, zu würgen, schlagen und treten … Das ist ja nicht nur primitiv und unzeitgemäß, es ist auch gefährlich, und also entschied ich mich selbst dafür, stattdessen an sie zu appellieren, an ihr Bedürfnis, gebraucht zu werden – und an das Bedürfnis einer Frau, gebraucht zu werden, appelliert man selten vergebens. So ist es einfach. Leugne dies, wer kann, und deshalb tat ich so, als ergäbe ich mich, auf Gnade und Ungnade, verwandelte ich mich in ein zitterndes, blutendes Kaninchen, um sie dazu zu bringen, sich über mich zu erbarmen. Und das tat sie. Was sonst? Es war so einfach. Es war so natürlich, dass ich mich nicht einmal listig fühlte.
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Alles, was ich tun musste, war, sie dazu zu bringen, sich für mein Schicksal verantwortlich zu fühlen, das heißt, auf die gleiche Weise, wie sie sich offenbar Ednas wie Konrads angenommen hatte: ohne Zwang, weil sie sie ganz einfach gebeten hatten und weil Frauen nun einmal so geschaffen sind. Ja, ich weiß es nicht, aber bestimmt hat es etwas mit dieser eingebauten Mutterschaft zu tun. Sie können es ja anscheinend nicht ändern. Ihr habt es sicher selbst bemerkt. Es ist, als hätten sie einen Hang, sich zu kümmern und zu schützen und Verantwortung zu übernehmen, einen Hang, bald nachsichtig zu sein oder auf die Finger zu klopfen, bald zu trösten oder zu schulmeistern und es besser zu wissen – und es spielt nicht die geringste Rolle, ob sie je schwanger waren oder nicht. Das ist nicht der Punkt. Nein, von all den Frauen, mit denen ich irgendwann zusammengewohnt habe, war keine Mutter (nicht im herkömmlichen Sinne des Wortes), und dennoch hatten sie es alle in sich: eine Selbstlosigkeit, die sie nicht beherrschen konnten, eine Kükenmama, angelegt in jedem Eileiter, eine Florence Nightingale, genährt an jeder Brust. Oder etwas Ähnliches jedenfalls. Etwas Latentes. Und Überwältigendes. Und Voraussagbares. Das ist das Wort: voraussagbar, und wenn es wie etwas Waghalsiges wirkte, sich hinzusetzen und alles zu gestehen – ja, war es das doch nicht. War es kein Wagnis. War es nicht einmal ein großes Risiko, denn auf diese Weise stehen die Chancen bei Frauen gut. Wenn man nur seine Karten richtig ausspielt, dann … Wenn man ihnen nur gibt, was sie, wie sie glauben, haben wollen … Dann kann man seine ganze Zukunft auf sie setzen. In einen einzigen großen Pott. Ohne eigentlich besonders viel zu 269
riskieren – und also hatte ich es gewusst. Versteht ihr? Es war genauso wie an dem Abend, als ich ein paar Tränen vergoss und Eva bat zu bleiben. Konnte ich die Seherin dazu bringen, etwas für mich zu empfinden, war das alles, was ich brauchte. Bekam ich sie so weit, dass ich ihr auch nur ein bisschen Leid tat, in irgendeinem einzelnen kleinen Detail, irgendetwas Unwichtigem, Undefinierbarem … Und das tat ich. Auf irgendeine Weise tat ich es, und wie ging das vor sich? Nun ja. Was kann ich sagen? Zuerst erzählte ich, was passiert war, und dann bat ich sie, nichts zu sagen. So einfach war das, so wenig bemerkenswert. Zuerst befriedigte ich ihr Bedürfnis zu wissen, und dann appellierte ich an ihr Verantwortungsgefühl (oder ihren Mutterinstinkt, wenn man so will, oder ihre Sentimentalität oder ihren Mangel an Härte), und wenn sie in diesem Moment irgendwo sitzt und sich hin- und hergerissen fühlt zwischen doppelten Loyalitäten, eingeklemmt zwischen den Bestrebungen, sich sowohl um mich als auch um meine Schwiegereltern zu kümmern, gleichzeitig, ja, dann ist es wirklich ihre eigene Schuld. Stimmt ihr mir nicht zu? Ich meine, ich habe sie ja zu nichts gezwungen. Wie hätte ich das gekonnt? Wo ich nicht mal bemerkt habe, als sie ging, nicht mal das Auto gehört habe, als sie losfuhr, weil ich in dem Augenblick mit anderem beschäftigt war (ja, mit Weinen, wenn ihr es unbedingt wissen wollt, weil ich sentimental geworden bin und ein bisschen geheult habe), und als ich dann wieder zur Besinnung kam und mir den salzigen, brennenden Nebel aus den Augen wischte … 270
Da lag es einfach da. Das Stressei, meine ich, und die von euch, die das nicht glauben, können zweifeln, so viel sie wollen, können die Version vorziehen, ich hätte sie erwürgt, verpackt und im See versenkt … Ja, ihr könnt meinetwegen alles Mögliche glauben, wenn das so aus irgendeinem Grund wahrscheinlicher oder angenehmer wirkt, aber so war es nicht. Ich versichere es. Es war genau umgekehrt. Als die Not (und die Erniedrigung) am größten war, gab sie einfach auf. Völlig freiwillig. Glaubt mir. Verzichtete sie auf ihre (diskutable) Oberhand, legte das Ei neben mich auf den Tisch und stand auf und ging, und das war alles. Da war es vorbei. Das wusste ich, sobald mein Blick wieder auf den gesprenkelten Stein fiel. Ja, obwohl sie nicht ein Wort zur Erklärung gesagt hatte, war es doch selbstverständlich. Das Ei war eine symbolische Geste. Indem sie es zurückließ, sagte sie mir, dass sie nichts mehr sehen oder wissen wollte, dass sie mir all ihre Information, all ihre Kraft und potentielle Macht zurückgab – und sich zu fragen, warum … Sicher kann man das, wenn man will. Sicher kann man über das Motiv spekulieren. Gab sie auf, weil sie allmählich einsah, dass ihr die Polizei nicht unbedingt glauben würde, wenn sie mit ihren Gesichten und übernatürlichen Informationen ankam? Oder hatte sie das Ganze so widerwärtig gefunden, dass sie sich damit nicht mehr hatte befassen wollen? Oder weil sie ganz einfach geglaubt hatte, es sei besser so, das Ganze in Frieden ruhen zu lassen, besser für Evas Eltern, für sich selbst, besser für alle beteiligten Parteien? Tja … Das ist ja offensichtlich nicht leicht zu wissen. Vielleicht wusste sie es nicht mal selbst, aber ich weiß es. Ja, trotz der vielen Möglichkeiten ist meine Interpretation nur eine: 271
Als sie nachgab, gab sie nach, weil sie eine Frau ist. Ganz genau. Was sie auch dachte und wie sie auch argumentierte, war es trotz allem letzten Endes das, was die Sache zu meinem Vorteil entschied. Dass ich ein Mann war. Und sie eine Frau. Und etwas anderes kann ich, ehrlich gesagt, nicht sehen. Nein, welche andere Erklärung kann es da wohl noch geben? Was meint ihr? Wie sonst konnte sie schlucken, was sie wusste, das, was sie, Gott behüte, »gesehen« und was ich ihr selbst erzählt hatte? Ja, wie sonst – wenn nicht wegen dieser weiblichen Sentimentalität? Ich frage nur … Und dass es dann auch mit mir ein bisschen durchging, dass mehr und stärkere Gefühle auftauchten, als ich erwartet hatte, und dass ich heulte und ebenfalls rührselig wurde … Das ist eigentlich verzeihlich, finde ich. Es ging ja trotz allem um etwas so Großes wie … Ja, wie den Tod nämlich, um das Scheußlichste und Entsetzlichste, das in meinem ganzen Leben passiert ist, also, wenn ich etwas in die Knie gegangen bin … Das muss man verstehen, und im Übrigen war es vielleicht nur ein Vorteil. Wenn ich nachdenke, dann … Tatsächlich war es wohl nur gut, dass es ging, wie es ging, denn wie sonst hätte ich sagen können, was ich sagen musste? Mit Beherrschung? Kaum. Mit Beherrschung hätte ich es nie herausgebracht. Nicht die Wahrheit. Nicht die Bitten, und insofern war der Überschlag sicher notwendig. Einfach die Augen zu und los … Sicher war das immer so. Ich machte die Augen zu und tat mir 272
selbst Gewalt an, ließ es um der guten Sache willen zu, zum zweiten Mal in meinem Leben, und wenn es peinlich und unangenehm, schändlich und, sagen wir, wie es ist, unmännlich, hol mich der Teufel, schlicht und einfach unmännlich ist – dann war es auch vom Bedürfnis hervorgerufen. Da gibt’s gar keinen Zweifel. Es war nötig. Unausweichlich. Das erkenne ich jetzt. Ja, früher oder später erkennen wohl alle Männer, wie es funktioniert. Ab und zu muss man sich ein wenig öffnen, ob man will oder nicht, muss man einer Frau den Kraftstoff geben, den sie braucht, denn so ist das System angelegt. Man muss einen Preis zahlen für die zärtliche Fürsorge. Ja, manchmal ist man gezwungen, hier ein bisschen Gefühl und da ein bisschen Interesse zu zeigen. Zu nicken, zu lächeln, zu schwatzen. So zu tun, als engagiere man sich. Die Hand zu halten und »Arme Kleine« zu sagen und nachzugeben in etwas, das nur halbwichtig ist – einfach irgendetwas, bevor man abschalten und weiter seinen Kram machen kann, und im Grunde, wenn man es sich überlegt, ist das doch überhaupt nicht so schlimm, wie es vielleicht klingt. Nein, im Grunde ist es merkwürdig. Obwohl sie immer so viel verlangen, begnügen sie sich meistens mit ganz wenig. Habt ihr je darüber nachgedacht? Wie erstaunlich weit sie in ihren Phantasien gehen können. Wie sie sich Meile um Meile und Jahr um Jahr nur von Träumen und Idealen treiben lassen (welche es sind, das ist nicht so leicht zu sagen, aber irgendetwas hat es wohl damit zu tun, gut zu sein, verzeihend, fürsorglich – was meint ihr? Damit, weiblich zu sein), und wenn ich daran denke, wie ich mich in der letzten Zeit habe anstrengen müssen … Mit Eva. Und mit der Seherin. 273
Dann wird mir klar, welches Pech ich gehabt habe, denn normalerweise … Normalerweise wird ja so wenig verlangt. Es ist genau, wie ich sage: Meistens ist fast überhaupt nichts nötig, das Allerwenigste, nicht einmal das Pfund Fleisch, das zu opfern von mir erwartet wurde, also, es war schon Pech. Ein höllisches Pech. Dass ich dem stärksten Traum von ihnen allen im Wege stehen musste: der Mutterschaft. Dass ich schließlich gezwungen war, Eva den Trost, den jede verheiratete Frau so dringend zu brauchen scheint, zu verweigern: den Trost, zumindest zu einem Zugang zu haben (solange das nun dauert) – und wäre es nicht ausgerechnet um diese eine Enttäuschung gegangen … Dann wäre alles anders gewesen. Oder genauer gesagt: Dann wäre alles wie vorher gewesen. Könnt ihr euch das vorstellen? Wie immer. Mein Gott. Mir schnürt sich die Kehle zusammen, schon bei dem Versuch, es vor mir zu sehen. Wie sie da oben im Erdbeerbeet stehen würde, den breiten Hintern in die Luft, mit flatterndem rotem Schal. Oder wie sie drinnen in der Küche wirtschaften würde oder neben mir auf der Brücke knien, mit Teppichen und Seife und weit ausholender Scheuerbürste, und über all die Arbeit fluchen und sagen würde, dass man keine Teppiche haben sollte, bis sie sie nach ein paar Tagen guten Trockenwetters wieder auf den Fußböden auslegte, jeden einzelnen, und sich dann hinsetzte, um noch einen zu weben und noch einen und noch einen, bis ins Unendliche. Genau wie immer. Auf den Punkt. Ganz so wie es sein sollte – und nicht mehr ist …
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Es platscht wieder im Wasser, jetzt aber weiter weg, nicht so laut, nicht so nahe, dass die Ringe angeflossen kämen, einer nach dem anderen, ungebrochen. Ich sehe mich um. Ich weiß nicht genau, wie lange ich hier unten gesessen habe. Aus irgendeinem Grund habe ich mich eine Weile treiben lassen, vor mich hin gestarrt, an überhaupt nichts gedacht. Oder an etwas, das ich glücklicherweise vergessen habe. Ich weiß nicht. Es ist etwas unsicher, als wäre ich eigentlich für eine Weile woanders gewesen. Ich richte mich auf, gehe aber nicht. Es ist so unglaublich schön hier an der Brücke: das Glitzern, der blaue Himmel, die Wiesen und der Wald. All das, was ständig in Bewegung ist, sich aber nie zu verändern scheint. Ich sauge den Anblick in mich auf wie ein Pilz. Stehe still. Atme ein. Wachse. Und plötzlich weiß ich wieder meinen eigenen Wert, weiß ich für mich, es ist ein Sieg, dass ich stehe, wo ich stehe, dass ich immer noch da bin, und ich rufe laut. Laut und kräftig schallt der Ruf über die Wasseroberfläche, erreicht er wortlos die Böschungen und kehrt wieder um. Oh-ah … Oh-ah … Oh-ah … hallt er zu mir zurück, wieder und wieder, zunächst stark und dann schwächer, meine Existenz in mehrfachen Exemplaren bestätigend, und ich lächle hier unter den Erlen. Ja, um bei der Wahrheit zu bleiben, bin ich in ebendiesem Augenblick stolz. Bin ich stolz darauf, was ich geschafft, bewerkstelligt habe, stolz auf meine Kraft und meinen Willen und meine Fähigkeiten. Ich meine, wäre das nicht gewesen, wie hätte es dann gehen sollen? Ihr könnt sagen, was ihr wollt, mich hart, gefühllos, kalt nennen – ich bleibe trotzdem dabei … 275
Den erstarrenden Körper in Plastik einzupacken, ihn zu vergraben, danach den Blicken zu begegnen und zu tun, als wäre nichts – das war wirklich eine Leistung. Es zu wagen und dem Druck zu widerstehen … Und das sage ich nur: Nur wenige von euch würden das schaffen. Wenige von euch würden es über sich bringen, und manchmal, wenn ich mit der Möglichkeit spiele: Wäre die Welt umgekehrt gewesen, ich eine Frau und sie … Nein, so nicht. (Obwohl: Die Idee ist interessant. Wäre ich eine Frau, wäre ich wirklich eine neue Art Frau. Allein dieser Gedanke. Dann wäre ich ein Ideal, wenn ich selbst das sagen darf. Ein wirkliches Vorbild. Stimmt ihr mir nicht zu?) Aber wie gesagt, das war nicht ganz das, was ich meinte. Ich dachte wohl mehr so: Hätte Eva in meiner Haut gesteckt … Sie hätte es nie bewältigt. Nein, hätte sie dagestanden mit meinem toten Körper, dann hätte sie geheult. Dann hätte sie nach dem Notarztwagen telefoniert und das Beste gehofft – und wäre eingelocht worden. Und auf diese Weise sind sie immer gehandicapt. Ja, die Frauen meine ich. Dass es ihnen gestattet wird, schwach zu sein, führt dazu, dass sie schwach werden. Sie fallen gewissermaßen in die Rolle. Nach einer Weile werden sie zu Opfern, gerade weil es ihnen gestattet wird, Opfer zu sein. Aber jetzt protestiert ihr wieder (manche von euch), das spüre ich, sagt, dass es ein Vorteil ist, so verdammt sensibel sein zu dürfen, dass es irgendeine Freiheit ist, aber ist es das? Denkt nach. Ist es nicht eher eine Zwangsjacke? Ja, vielleicht sogar so ein verdeckter Druck, von dem paranoide Feministinnen öfter sprechen, ein Druck, der auf die Dauer dafür sorgt, dass das schwache Geschlecht eben schwach bleibt. Dass Eva nie geschafft hätte, was ich geschafft habe, weil es bei ihr ein bedingter Reflex war, es nicht zu schaffen, ein windelweiches 276
Scheitern, eingebaut als Erbe von Generation zu Generation, über Hunderte von Jahren von Frauenzimmer zu Frauenzimmer eingepaukt. Wenn es denn nicht biologisch ist, natürlich … Aber weiß der Teufel. Wenn ich die Augen zumache, kann ich es tatsächlich beinah vor mir sehen: wie sie mich stur und verbissen über den Kahlschlag schleppt, wie eine giftige, kleine Ameise eine große, schwere Larve, so unmöglich ist es vielleicht doch nicht. Manchmal konnte sie Berge versetzen, das konnte sie wirklich. Ja, sie hatte so eine Energie. Bedeutend größer als meine. Bedeutend größer, aber trotzdem … Ja, ihr müsst entschuldigen, aber ich muss es einfach loswerden. Es gibt etwas, das mich trotz allem zweifeln lässt. Versteht ihr? (Dass es das ist, was ich meine, wenn ich sage, ich wäre als Frau wirklich ein Vorbild.) Dass dieser ganze rastlose, frenetische Tatendrang, den Eva hatte, gewissermaßen so – fehlgerichtet und – unkontrolliert war. Nicht dass ich mich beklagen würde. Warum sollte ich? Er ging ja so oft in meine Richtung, aber mag sein, aus ihrer Perspektive gesehen … Ich weiß nicht. Etwas hat nicht gestimmt, und vielleicht hätte sie all diese Kraft zu etwas anderem benutzen sollen, als sie es tat. Ab und zu fand sie sie ja vergeudet, weiß Gott: an mich, an uns, an das Praktische rundherum, und das war natürlich nicht gut für sie. Oder für mich, was das betrifft. Am Ende stand sie ja zwischen uns, all diese Bitterkeit über »Versklavung« und »Aufopferung« und »Vergeudung« – und die war ja so unberechtigt. Ich zwang sie ja zu nichts Bestimmtem. Ja, ich hielt sie vielleicht nicht auf, aber ich zwang sie doch auch nicht, da bin ich sicher. Wie hätte ich sie zwingen können? Nein, das glaubte sie allein. Das war einer ihrer vielen Irrtümer, und ich habe mir darüber Gedanken gemacht. 277
So funktionieren Krisen wohl, nehme ich an. Sie bringen uns zum Nachdenken, lassen uns mit neuen Augen sehen, und obwohl ich natürlich auch ohne all dies Wissen hätte leben können, ist es lehrreich gewesen. Ganz bestimmt. Es ist so viel, was ich jetzt weiß und weiß, dass ich nicht weiß. Es ist so viel, was ich über mich selbst gelernt habe und über andere und darüber, wie wir zusammen funktionieren – und so weiß ich jetzt zum Beispiel, dass keiner von uns verantwortlich sein will. Ja, wer will sich wohl als Täter sehen? Hand aufs Herz. Wollen wir nicht lieber Opfer sein? Opfer der Umstände? Ohne eigenes Verschulden? Im Großen und Ganzen unschuldig? Ja, sicher ist es so. So verhalten wir uns, im Großen wie im Kleinen, wir geben anderen die Schuld und erfinden Entschuldigungen und sagen, dass wir es eigentlich nicht gewollt und uns nicht selbst dafür entschieden haben. Genau wie Eva. Ja, wenn ich zurückdenke, habe ich es eigentlich die ganze Zeit gesehen: ihre Art, für alles und alle verantwortlich zu sein außer für sich selbst, ihre Weigerung zu erkennen, dass sie selbst auf das falsche Pferd gesetzt hatte. Nicht hingetrieben, hingetragen, draufgesetzt. Nicht gelockt. Und natürlich hatte sie einen Teil der Schuld. Ja, ganz allgemein natürlich, nicht spezifisch. Es ist absolut nicht so, dass ich sage, sie hätte darum gebettelt, dass sie … ja, dass sie … denn so war es nicht. Das seht ihr sicher selbst, aber betteln tat sie wie verrückt. Bettelte die ganze Zeit, und das Problem war, dass ich nicht wusste, worum – und sie vielleicht auch nicht. Nein, was es auch war, was sie wollte, ich hatte es nicht. 278
Traurig, aber wahr. Befand sich nicht in meinem Besitz. So war es. So muss es sein, denn hätte ich es gehabt (was es auch war), dann hätte ich es ihr ja gegeben, stimmt’s? Sie hätte es doch sicher bekommen, hätte es in meiner Macht gestanden? Hätte ich nur gekonnt, oder …? Aber das mag nun sein, wie es will. Jetzt ist es vorbei, und ich werde es nicht wieder aufrühren. Getan ist getan. Dinge im Nachhinein durchzukauen, davon hat man nicht viel. Das Leben ist, wie es ist. Jetzt geht es weiter. Jetzt setzt es sich wieder in Bewegung – und ich auch. Laut knallen die Holzschuhe auf der Brücke, als ich wieder an Land gehe, klappern sie auf der Ziegeltreppe, verstummen sie im Gras. Langsam schlendere ich den Hang hinauf zum Haus. Ich habe alles geplant. Sobald ich gefrühstückt habe, werde ich in der Garage ausmisten. Alles soll weg. Jedes Ding in den Kisten werde ich verbrennen, jedes ihrer Kleidungsstücke, jeden Schuh, jeden Schal und jedes Haarband, und dann, morgen … Dann fahre ich zuerst zur Polizeiwache. Ja, sie haben letzten Freitag wieder angerufen, wollten, daß ich reinschaue und mit ihnen rede, na meinetwegen. Es ist natürlich unvermeidlich (unvermeidlich und ungefährlich, da sie ja nichts wissen und nie etwas wissen werden), und danach, da gehe ich wieder zur Arbeit. Es ist beinah so, daß ich mich danach sehne, ausnahmsweise: endlich wieder in normale Gänge zu kommen, etwas zu haben, woran man sich halten kann und so, und wenn es am Anfang etwas schwer wird …? Doch, das wird es wohl werden, das ist mir klar, mit einer Menge komischer Blicke und Menschen, die sich räuspern und sich gezwungen fühlen, etwas zu sagen, oder die nur offen und schamlos neugierig sind, aber trotzdem … Am Ende wird all das vergessen werden. Alles wird vergessen, ist es etwa nicht so? 279
Alles verwittert und vergeht. Und das ist nicht nur traurig. Es ist auch ein Trost. Eine Art Grundvoraussetzung. Stimmt ihr mir nicht zu? Aus dem Alten sprießt das Neue, und so ist es für mich. Das hier ist ein neuer Anfang. Ich blättere um, und ich … … gucke rauf zum Haus.
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EPILOG EIN GRUß VON DER ANDEREN SEITE Majestätisch schwebt Eva über die Bodenbretter und die Teppiche. Sie ist nicht immer hier, aber immer, wenn sie irgendwo ist, wo sie wirklich ist, ist sie hier: gleitet sie von Fenster zu Fenster, von Wand zu Wand, während all die gewohnten Dinge sie heimsuchen und sie sie heimsucht (absolut gerecht, kann man finden), aber sie will nicht gesehen werden. Noch nicht. Nur wenn das Haus still und leer ist, taucht sie auf. Außerordentlich bleich und zerbrechlich erscheint sie in den Räumen, und dann sitzt sie da am Webstuhl oder Küchentisch, dann streift sie dort herum, zwischen den Blumentöpfen und Ziergegenständen, und dann bleibt sie an einem Fenster stehen und beobachtet ihren Mann, wenn er sich da unten auf dem Hof bewegt … Ja, dann gleitet sie rasch beiseite, wenn er sich umdreht und zu ihr heraufguckt, löst sie sich augenblicklich in Luft und fein verteiltes Ektoplasma auf und verschwindet dorthin, wo sie keinen Körper und keine Position hat. Aber sie kommt immer zurück. Sie ist eine Wiederholung in der Zeit, ein Film, der wieder und wieder gespielt wird, und sie kann es nicht ändern. Die Anziehungskraft ist zu groß. In einer endlosen Wiederholung von Szenen kehrt sie in ihr früheres Zuhause zurück. Dicht gefolgt von einem eisig kühlen Zug fegt sie rastlos zwischen den Stockwerken weiter, bleibt irgendwo stehen, guckt, berührt etwas und zieht wieder los – und manchmal mag es so wirken, als suche sie etwas. 281
Den Sinn des Todes. Des Lebens, das vergangen ist. Das Stressei. Doch was es auch ist, sie findet es nicht. Die kalten, irrenden Schleifen durch das Haus führen nirgendwohin. Sie gehen einfach rundherum, rundherum – und sie auch. Möglicherweise intakt, aber erschreckend unscharf an den Rändern geht sie planlos von einem zum anderen. Wie jetzt. Als sie via Büfett und Schaukelstuhl und Yuccapalme das wohl gefüllte Bücherregal erreicht. Vorsichtig streicht sie über das Hochzeitsfoto mit dem großen Mann in dem dunklen Anzug und der lächelnden Frau in dem blauen Kleid. Mit dem Finger folgt sie dem Silberrahmen, streichelt sie über das Glas, lässt sie die rauchgraue Hand durch das Foto gleiten und auf der anderen Seite hinaus und wieder zurück, aber ohne wirklichen Kontakt. Und das ist eigentlich merkwürdig. Nach dem, was passiert ist, müsste sie nicht eigentlich woanders sein? Wo auch immer. Nur nicht hier, nicht auf diese Weise: eine Erinnerung, verwurzelt in den Wänden, eine Fliege, an die Fensterscheiben prallend. Aber im Tod oder im Leben … Es spielt offensichtlich keine Rolle. Sie ist noch immer unfähig, sich loszureißen. Auch in einer anderen Welt ist sie noch hier: eine neue, halb durchsichtige Frau, verändert in jeder Hinsicht – und der alten beunruhigend ähnlich. Ruhelos schwebt sie wieder weiter, begibt sie sich gänzlich ohne Füße in die Küche. Die Lampe über dem Tisch schaukelt leicht in dem kühlen Luftstrom, der sie begleitet, aber abgesehen
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davon ist es überall still. Nur der Gefrierschrank surrt ein bisschen, ein Specht hämmert in einer der Birken. Zart streicht die Hand die Kante der Spüle entlang. Es ist so gemütlich hier. Es riecht so gut nach Kaffee und Essen und menschlicher Gegenwart, dass sie vermutlich ewig bleiben könnte – und es vielleicht sogar tut. Es ist schwer, das ganz genau zu wissen. Sie stellt sich ans Fenster und sieht über den See. Reflexmäßig versucht der Zeigefinger zu fühlen, wie feucht die Blumenerde ist, quer durch die rote Terrakotta des Topfes, und die Zeit vergeht. Langsam, langsam bewegt sich die Sonne über den Himmel. Ein unbekannter Vogel sucht im Steingarten nach Würmern. Die Ebereschenblätter zittern im Wind, und es wird warm, da hinter ihrer Glasscheibe. Warm. Heiß. Beinah dampfend, aber sie schwitzt nicht. Alles, was passiert, ist, dass sie etwas gelber wird da im Sonnenschein, weniger fahl und bleich … Und dann kommt er auch. Natürlich kommt er. Zunächst unwissend und harmlos. Den schweren Körper in der Steigung wiegend, der Mund mahlend in heimlichem Selbstgespräch, aber dann … Dann, als er, noch lächelnd, den Kopf zum Haus hinaufwendet und guckt wie aus Zufall … Da gleitet sie nicht beiseite wie sonst. Nein, aus irgendeinem Grund gleitet sie nicht beiseite. Beharrlich bleibt sie stattdessen am Paradiesbaum stehen, lässt sie die Hände ein Stück in den Fensterrahmen sinken, als imaginärste aller Stützen, und jetzt guckt sie auch. Guckt ihn offenbar direkt an, scheint seinem Blick zu begegnen, ihm entgegenzutreten – und plötzlich steht er da wie vom Blitz getroffen. 283
Armer Mann. Einzusehen, dass er wirklich sieht, was er sieht. Kein Wunder, dass die Arme hängen und der Mund offen steht – und ist das ihre Schuld? Vielleicht findet sie die Frage flüchtig interessant, stellenweise inspirierend. Dass er festgefroren da unten am Hang steht, getroffen von Eiszeit und Dauerfrost, während Lebenslust und Lächeln verglimmen … Hat das sie zu verantworten? Nein. Nein, das findet sie nicht, und aufgemuntert hebt sie eine leuchtende Hand und winkt ihm zu. Schenkt ihm einen stolzen, beherrschten Gruß von der anderen Seite. Eine symbolische Geste von einem neuen Blatt, einer neuen Frau, einer neuen Lebensform. Sagt sie, dass dies das Letzte ist, was er von ihr sieht, und dass sie jetzt ein selbständigeres Wesen ist, standhafter … … oder vielleicht nicht. Nein, vielleicht hat sie nur einen Fleck von der Scheibe gewischt, absolut nichts Bemerkenswertes, nur ein Rückgratreflex von früher, und vielleicht ist sie nichts weiter als eine herumirrende Erinnerung, eine gespenstische und willenlose Gewohnheit, die eine Spur verspätet ins Zittern gerät und sich unter der Holzdecke auflöst, ja, die schließlich wie eine Spiegelung verschwimmt und zerbricht und verschwindet … Allerdings vorübergehend. Um wiederzukehren, wieder und wieder und wieder … Und er? Er steht noch da, wo er steht. Was kann er anderes tun? Wie kann das alles so verdammt unmöglich sein, fragt er sich, so … so teuflisch, so infernalisch zäh und langwierig und anscheinend ohne Ende? Er fasst es nicht. 284
Er fasst es einfach nicht. Begreift nicht. Verzweifelt – für einen Augenblick oder zwei zumindest, und langsam verschwindet die treulose Sonne in den Wolken. Es ist, als wollte auch sie nichts mehr wissen. Und jetzt? Was passiert jetzt?
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