Alexandra Raife
Ein Gefühl von Geborgenheit
Roman
Aus dem Englischen von Ursula Walther BASTEI LUBBE BASTEI LÜBBE T...
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Alexandra Raife
Ein Gefühl von Geborgenheit
Roman
Aus dem Englischen von Ursula Walther BASTEI LUBBE BASTEI LÜBBE TASCHENBUCH Band 14978 1. Auflage: Oktober 2003 Vollständige Taschenbuchausgabe Bastei Lübbe Taschenbücher ist ein Imprint der Verlagsgruppe Lübbe Deutsche Erstveröffentlichung Titel der englischen Originalausgabe: Return to Drumveyn © 2002 by Alexandra Raife © für die deutschsprachige Ausgabe 2003 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach Titelillustration: Look/Ingolf Pompe Einbandgestaltung: Tanja 0stlyngen Satz: Heinrich Fanslau, EDV & Kommunikation, Düsseldorf Druck und Verarbeitung: AIT Trondheim, Norwegen Printed in Norway ISBN 3-404-14978-5 Sie finden uns im Internet unter http://www.luebbe.de Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
1. Kapitel Die Rückkehr nach Drumveyn sollte ganz anders sein, dachte Cristi, als sie Muirend hinter sich ließ und, erleichtert aufatmend, in Richtung Berge fuhr. Sie war noch immer erschüttert von dem Inhalt des Briefes. Erschien ihr der Glen heute schöner denn je, weil die Neuigkeiten, die ihre ganze Zukunft so ungewiss machten, sie derart erschreckt hatten ? Sei nicht albern, ermahnte sie sich und strengte sich an, ihre Aufmerksamkeit auf das Normale zu konzentrieren, um die Furcht zu zerstreuen, die sie im Griff hielt, seit sie diesen Brief gelesen hatte. Der Glen zeigte sich heute wahrscheinlich nur von seiner schönsten Seite, weil der Winter so mild und der April sonnig gewesen war und es nur geregnet hatte, wenn die Natur dringend Wasser benötigt hatte. Aber der entsetzliche Gedanke, dass dies alles für sie verloren sein könnte, ließ sie die Schönheiten des Frühsommers - die Erhabenheit der Blutbuchen, das Weiß der Vogelbeerblüten, das Gelb des Besenginsters und des Goldregens, die Clematis, die die Veranden zierten, und die Rhododendren, die wie Mauern aus Blüten die Straße säumten - nur noch deutlicher sehen. Das klare Licht, die scharf umrissenen Schatten und die satten, frischen Grünschattierungen - das alles war fast zu viel, um es mit Blicken zu erfassen. Gestern, in den ersten Schrecksekunden war es ihr bedeutend und grausam erschienen, dass der hart verdiente Spaß am Ende des Semesters, die Partys und die Begeisterung über die bestandenen Prüfungen vorbei sein sollten und sich ihre Pläne für den Sommer in nichts auflösten. Jetzt hatte sie das Gefühl, dass diese Dinge wie auch die aufregenden Möglichkeiten für den Herbst, die sie mit Archie und Pauly hatte besprechen wollen, bereits zu einer entfernten, unwirklichen Welt gehörten. Die altbekannte Beklommenheit kehrte zur ück. Zweifel und Unsicherheiten, von denen sie von Zeit zu Zeit in ihrer Kindheit
und Jugendzeit geplagt worden war - die jedoch stets von der einen oder anderen auf seltsame Weise verbundenen Gruppe, die sie als ihre Familie betrachtete, zerstreut wurden -, erhoben sich mit neuer, erschreckender Macht. Ihre Familie ? Nicht ein Einziger von diesen Menschen in Drumveyn war auch nur im Entferntesten mit ihr verwandt. Vielleicht zählte jetzt, da Cristi längst über einundzwanzig war, nicht einmal mehr, dass Archies Schwester Lisa sie adoptiert hatte, als sie noch ein Kind gewesen war. Daran hatte Cristi bisher noch nie gedacht. Ihre wirkliche Familie bestand aus diesen Fremden in Brasilien - Fremde, die jahrelang feindselig und unnahbar geschwiegen und sie vollkommen zur ückgewiesen hatten. Die Familie ihrer Mutter, die ihr jetzt durch ihre Anwälte diese unglaubliche Entwicklung mitgeteilt hatte. »Ich denke immer noch, dass wir ihr den Brief nicht hätten nachschicken sollen«, sagte Pauly besorgt, sah zum hundertsten Mal auf die Küchenuhr und spitzte die Ohren, weil sie auf ein Motorengeräusch im Hof wartete. »Wir hätten ihn hier aufbewahren und sie das Ende des Semesters feiern lassen sollen. Das hätte bestimmt nicht viel Unterschied gemacht.« Archie kramte in einem Stapel Post, den der Postbote auf den Küchentisch gelegt hatte - das meiste davon war überflüssig, aber im Moment beschäftigte er sich mit dem dornigen Thema der Gesetzgebung für das Recht, Herden über die Weiden zu treiben. Paulys Unruhe, die so untypisch für sie war, lenkte ihn von den komplizierten Vorschriften ab, die den Hirten wahrscheinlich weniger Freiheiten einräumen würden als früher, und er sah mit einem Stirnrunzeln auf. Er warf die eng beschriebenen Seiten auf den Tisch, ging zu Pauly und legte den Arm um sie. »Pauly, komm schon. Es wäre nicht richtig gewesen, den Brief zurückzuhalten. Es hätte alles Mögliche drinstehen können. Und Cristi ist kein Kind mehr. Wir haben kein Recht, für sie derartige Entscheidungen zu treffen, und das weißt du auch.«
»Dann hätte ich den Brief nehmen und damit zu ihr fahren müssen, damit sie nicht allein ist, wenn sie ihn öffnet. Er musste ja nach all den Jahren des Schweigens schlechte Nachrichten enthalten.« Archie drückte sie an sich und verbarg ein müdes Lächeln. Nicht jeder würde die Botschaft als schlechte Nachricht ansehen. »Du wärst gefahren, wenn du gekonnt hättest«, erwiderte er. »Und ich übrigens auch. Aber du weißt, dass du versprochen hast, dich um Tom zu kümmern. Mum wäre nie zu diesem Termin gegangen, wenn du nicht hier gewesen wärst, und wenn sie ihn abgesagt hätte, wer weiß, wie lange sie dann auf einen neuen hätte warten müssen. Und ich musste hier sein wegen der Wasser-Nutzungs-Besprechung. Wenn die Hauptleitung durch Drumveyn führen soll, muss ich bei den Planungen ein Wörtchen mitreden.« »Oh, ich weiß«, räumte Pauly ein und rieb ihren Kopf an seiner Schulter. Sie genoss den Trost seiner Umarmung. »Wir waren beide wie üblich hier unabkömmlich. Wann können wir jemals wegfahren? Aber wenigstens war ich im Haus, um Cristis Anruf entgegenzunehmen, als sie den Brief gelesen hatte. Wie muss sie sich letzte Nacht gefühlt haben - und wie muss sie sich erst jetzt auf der Fahrt hierher fühlen ?« Sie schaute wieder auf die Wanduhr, dann auf ihre Armbanduhr, als verriete die ihr etwas Akzeptableres. »Sie war immer schon hart im Nehmen«, sagte Archie beschwichtigend. »Und da sie jetzt die Studententage hinter sich hat, müssen wir uns Mühe geben, sie als erwachsen anzusehen.« »Mit dreiundzwanzig ist man noch nicht erwachsen«, protestierte Pauly. »Und manchmal sieht sie noch genauso aus wie die Achtjährige, die ich sofort in mein Herz geschlossen hatte, als wir herkamen.« »Ja, aber lass sie das bloß nicht hören«, warnte Archie. »Denk dran, was für Probleme sie hatte, als sie an der
Universität anfing. Und da wir gerade vom Erwachsensein reden - wie alt warst du, als du Ehefrau und gleichzeitig Mutter von zwei Kindern wurdest, denen bald zwei weitere folgten, wenn ich fragen darf?« »Zum Glück sind wenigstens Nicholas und die kleinen Mädchen in der Schule.« Pauly, die zwanzig gewesen war, als sie Archie geheiratet hatte, wechselte mit einem Grinsen das Thema. Er hatte natürlich Recht. Archie und Pauly hatten Cristi großgezogen, obwohl Lisa, Archies Schwester, sie offiziell adoptiert hatte, da sie die Tochter von Lisas erstem Mann Howard Armitage war. Howard hatte seiner Frau und England rücksichtslos den Rücken gekehrt und war mit Cristis Mutter verschwunden, mit der er, wie sich später herausstellte, schon vor längerer Zeit einen zweiten Haushalt in Brasilien eingerichtet hatte. Seither hatten sie nie wieder etwas vo n sich hören lassen. Mit einer Kaltblütigkeit, die immer noch alle in der Familie aufbrachte, hatte das feine Pärchen Cristi, die sie nie haben wollten, bei Lisa zurückge lassen wie ein altes Gepäckstück. Und Howard hatte bei seiner gründlichen Planung die Formalitäten für die Adoption bereits erledigt. Cristi wurde in die Napier-Familie aufgenommen und wuchs mit Nicholas, dem um neun Jahre jüngeren Sohn von Archie aus erster Ehe, und den beiden kleinen Mädchen auf, die Archie und Pauly später adoptiert hatten. Cristis Eltern hatten all die Jahre eisern geschwiegen, und die brasilianische Familie hatte das Kind rundweg abgelehnt. Archie hatte nur ein einziges Mal Verbindung zu ihnen aufgenommen, kurz nach Cristis Ankunft, als es selbstverständlich erschiene n war, sie nach Brasilien zurückzuschicken. Die Unterredung mit Cristis Großvater in Brasilien war kurz und barsch verlaufen und hatte zu nichts geführt. Der arrogante,
verbitterte alte Mann, ein Aristokrat alter Schule, dessen Macht über die Familie, die Angestellten auf der Ranch im Süden von Santa Catarina und sogar über die nahe gelegene Stadt offenbar noch nie infrage gestellt worden war, hatte sich geweigert, die Existenz des Kindes seiner Tochter anzuerkennen. Eines Kindes, das nicht nur unehelich geboren, sondern auch noch nicht-katholisch erzogen worden war. Seit dieser spannungsgeladenen, unerfreulichen Begegnung hatte Archie nur noch mit den Anwälten der Familie Kontakt gehabt. In dem Versuch, eine wie auch immer geartete Verbindung zur Familie herzustellen, hatte er ihnen geschrieben, als Cristi achtzehn geworden war, und noch einmal nach ihrem einundzwanzigsten Geburtstag. Doch beide Male hatte er nicht einmal eine Antwort erhalten. Cristi wusste nichts von diesen Bemühungen, weil Archie fürchtete, die alten Wunden könnten wieder aufreißen, wenn er ihr von dieser neuerlichen Zurückweisung erzählte. Aber jetzt war Cristis Großvater gestorben. Und er hatte unter all den vielen Familienmitgliedern ausgerechnet Cristi als Erbin eines beträchtlichen Kapitals und der großen Rinderranch Estancia dos Tres Pinheiros bestimmt. Fast am Ziel. Der Fahrer eines staubigen Pick-ups, der vom Dorf herunterkam, hob lässig einen Finger vom Steuerrad, als er an Cristi vorbeifuhr. Cristi winkte zurück, aber für einen Moment konnte sie weder den Fahrer noch den Wagen einordnen. Es war, als wären ihr die vertrauten Dinge zu Hause schon jetzt fremd geworden, als wären sie nicht mehr Teil der sicheren, bekannten Umgebung. Sie war erleichtert, als ihr der Name des Mannes wieder einfiel. Noch größere Erleichterung empfand sie, als sie end lich auf die Einfahrt von Drumveyn einbog und dem kurvigen Weg zum Fluss hinunterfolgte. DerAugenblick der Orientierungslosigkeit erschütterte Cristi immer noch, als sie auf der Plankenbrücke stehen blieb und den Motor ausschaltete. In der plötzlichen
Stille hörte Cristi den Ruf eines Brachvogels, die süße Melodie der Heimat, und sie sah die Silhouette über der Wiese, die zwischen Zufahrt und dem Loch lag. Seitlich davon leuchtete der Stechginster in den niedereren Regionen des Moors. Hier am Fluss wehte der Geruch des Weißdorns in das voll beladene Auto. Wie sehr hatte sie sich danach gesehnt, wieder hier zu sein, und wie viel hatte sie sich von diesem Sommer in Drumveyn erhofft! Würden ihr diese seltsamen und Furcht einflößenden Neuigkeiten all das nehmen ? Angst beschlich sie, und für eine Sekunde, als sie die Stirn aufs Steuerrad legte, hätte sie dieser Angst beinahe nachgege ben. Die Furcht hatte die ganze Zeit hinter dem Schock und der Aufregung des gestrigen Tages gelauert, während sie sich bemüht hatte, die losen Enden zusammenzuknüpfen, hastig die Sachen mithilfe der anderen in der Wohnung zusammengesucht und gepackt, die Bücher in die Bibliothek zurückgebracht, willkürlich ihre Habseligkeiten verteilt und allen Bescheid gegeben hatte, die von ihrer Abreise erfahren mussten - kurz ausgedrückt: während sie vier Jahre ihres Lebens an einem einzigen Tag aufgedröselt und für immer hinter sich gelassen hatte. Es war ihr keine Zeit zum Nachdenken geblieben. Sie war auch kaum dazu im Stande gewesen, und in den wenigen Stunden, in denen sie versucht hatte, Schlaf zu finden, hatten sie nur schlechte Träume und lodernde Angst geplagt. Jetzt musste sie sich den Tatsachen stellen, denen sie sich durch hektische Aktivität zu entziehen versucht hatte. Von Drumveyn wegzugehen, wie man es von ihr forderte (und dieses Wort war nicht zu stark, wenn man die Formulierungen der brasilianischen Anwälte genau durchlas), bedeutete, dass sie Dougal verla ssen musste und die Gelegenheit verpasste, wieder mit ihm zusammen zu sein, obwohl sie sich so sehr darauf gefreut hatte. Wie konnte sie diesen erschreckenden neuen Anforderungen ohne seine Unterstützung und seinen ruhigen
gesunden Menschenverstand entgege n treten ? Dougal hatte sich seit ihrem ersten Tag in Drumveyn um sie gekümmert und schien, obwohl er nur drei Jahre älter als sie war, begriffen zu haben, wie groß die Umstellung von ihrem beschützten Leben in der tropischen Hitze von Rio de Janeiro zu der winterlichen Kälte und Nässe im Glen Ellig war. Er hatte sie beschützt, ihr geduldig alles beigebracht, was sie wissen musste, und immer ein Auge auf sie gehabt, als sie die Schule im Glen besucht hatten. Obwohl ihnen seine Schwester Jill, die eher in Cristis Alter war, manchmal das Leben schwer gemacht hatte, war ihre Freundschaft in all den Jahren unverbrüchlich gewesen. Sie hatte Cristis Internatszeit überlebt, aber leider nicht die anschließenden Jahre, die sie im College verbracht hatte. Die Veränderung war nicht sofort erkennbar gewesen, und anfangs hatte sie sogar mehr denn je auf die Bezie hung zwischen ihnen gebaut, die sie als ganz selbstverständlich angesehen hatte. Aber während ihres zweiten Jahres in Edinburgh hatten sich die Spannungen eingeschlichen. Nein, es waren keine Spannungen, korrigierte sie sich schnell. »Spannung« wäre eine zu krasse Bezeichnung. Sie hatten sich schlicht in ihren verschiedenen Welten auseinander gelebt und waren erwachsen geworden. Im Grunde war es überraschend, dass ihre unbeschwerte, bedingungslose Freundschaft überhaupt so lange Zeit überdauert hatte. Cristi hatte gehofft, dass sie jetzt, da sie ihr Studium hinter sich hatte, die frühere Nähe zu Dougal würde wiederherstellen können, und dieser Sommer, in dem sie sich auf ihren zukünftigen Beruf vorbereiten wollte, war ihr als ideale Gelegenheit dafür erschienen. Sie wusste, dass Dougal eigene Probleme hatte. Er hatte auf ein Studium verzichten müssen, und die Arbeit sowie die Verantwortung für seine Familie kostete ihn viel Zeit, aber zumindest konnte sie sicher sein, dass er noch immer in dem Hirten-Cottage auf dem Gut lebte, in dem
er aufgewachsen war. Aber mit einem Mal war alles anders. Cristi verzog enttäuscht das Gesicht, als ihr das richtig zu Bewusstsein kam. Sie konnte jetzt nichts anderes tun, als einen Schritt nach dem anderen zu machen. Sie musste den Motor starten, über den Weg zwischen den Bäumen hinauf zum großen Haus fahren, den Wagen im Hof abstellen und wie immer durch den Küchenflur laufen und nach Pauly und Archie rufen. Plötzlich wünschte sie sich nichts mehr, als Paulys Stimme zu hören und ihre warmherzige Umarmung zu spüren.
2. Kapitel Liebling, Cristi, es ist wunderbar, dich früher hier zu haben als erwartet. Aber für dich war es sicher schwer, so überstürzt aufzubrechen und auf all die Feiern am Ende deines letzten Semesters verzichten zu müssen, nur weil diese vermaledeiten Leute mit den Fingern schnipsen, nachdem sie praktisch dein ganzes Leben lang nichts von sich haben hören lassen.« Archie lächelte über die Mischung aus liebevoller Freude und beschützerischem Zorn mit einem Schuss Übertreibung, die Pauly zur Schau stellte. Die Begrüßung hatte stattgefunden, die oberste Schicht der Sachen war aus dem Wagen geladen und ins Haus gebracht, und die erste Reaktion auf die Neuigkeiten lag hinter ihnen. Obwohl Archie keinen Grund sah, einen Kommentar über Cristis überstürzten Aufbruch nach Hause abzuge ben - sie war hier, und er freute sich, sie zu sehen -, tat er so ziemlich als Erstes seine besänftigend wirkende Ansicht kund, dass kein Grund bestehe, jetzt sofort Entscheidungen zu fällen. Ohnehin konnte keine ängstliche Frage Cristis Freude, wieder zu Hause zu sein, trüben. Sie tranken am Küchentisch Tee und verputzten den größten Teil der Zitronenrolle, die Pauly gebacken hatte, als sie erfahren hatte, dass Cristi kommen würde. Genau genommen hatte sie
ein Dutzend davon gebacken. Selbst wenn die anderen Kinder in der Schule waren, fiel es Pauly schwer zu glauben, dass ein Kuchen für alle reichte. Da Kochen ihre Leidenschaft war, fand man sie gewöhnlich in dieser Küche, und die meisten Gespräche und Diskus sionen wurden hier geführt. Das große Erkerfenster bot Ausblick nach Westen und auf die Wipfel der Nadelbäume, die in der Schlucht des Baches standen. Die gepolsterte Bank mit den vielen Kissen war gemütlich und bei allen Familienmitgliedern sehr beliebt. »Ich musste herkommen«, antwortete Cristi auf eine entsprechende Frage Paulys, obwohl es ihr jetzt, im Schoß der Familie, unwirklich vorkam, dass sie den Drang verspürt hatte, sofort alle Brücken hinter sich abzubrechen. »Alles um mich herum schien in Stücke zu zerfallen, nachdem ich den Brief gelesen hatte, als wäre meine Welt irreal geworden. Und ich konnte es nicht ertragen, allein über all das nachdenken zu müssen. Na ja, die anderen waren natürlich da, und sie haben sich großartig verhalten und alles nur Erdenkliche für mich getan, doch das ist nicht dasselbe wie hier bei euch ...« Sie brach erschrocken ab, weil ihre Stimme zu zittern anfing und ihre Kehle eng wurde. Torie und Isa waren schwer beeindruckt von Cristis exotischer Herkunft und der Tatsache gewesen, dass sie sozusagen über Nacht zu einer reichen Erbin und Besitzerin einer südamerikanischen Rinderranch geworden war. Was spielten im Vergleich dazu ein paar fröhliche Tage am Ende des Semesters schon für eine Rolle ? Sogar Torie hatte jeden Gedanken an die Veränderungen in Cristis Leben und an das, was sie möglicherweise hinter sich lassen musste, vergnügt beiseite geschoben. Isa und Torie hatten sich ange boten, alle Sachen, die Cristi ihrer Meinung nach nicht mehr brauchte, zu verteilen oder selbst zu behalten, und ihr bereitwillig geholfen, den Rest zusammenzupacken. So lieb das auch gemeint war, so sehr hatte es in Cristi den Wunsch verstärkt, einen Schnitt zu machen und sich in die
Geborgenheit ihres Zuhauses und zu den Menschen zu flüchten, auf deren Verständnis und Unterstützung sie sich immer hatte verlassen können. Auf der Heimfahrt an sich sehnte sie sich nach kleineren, scheinbar banalen Dingen, die Teil des Ganzen waren, zum Beispiel nach dieser Bank im Erker, nach dem Hund Broy, einem Dan-die Dinmont, der sich neben sie legte und sich an sie drückte, nach der Luft, die durchs Fenster hereinströmte und den abendlichen Duft nach dem sommerlichen Garten mit sich brachte, nach dem Plätschern des Baches, dem Vogelgezwitscher und dem gelegentlichen Ruf eines Kuckucks. Das Zusammensein mit ihren Lieben. Wie gut es gewesen war, in dem Augenblick, bevor er sie in die Arme schloss, in Archies Augen zu lesen, dass er alles, was in seiner Macht stand, tun würde, um ihr zu helfen, wie er es immer getan hatte und immer tun würde. Archie, ein Mann Anfang vierzig, war zweifellos die Vaterfigur für Cristi. Sein braunes Haar war dicht wie immer, doch bereits mit silbernen Fäden durchzogen, und die harte Arbeit und die Verantwortung hatten tiefe Linien in sein Gesicht gegraben, das vorzeitig gealtert war. Er hatte kräftige Muskeln, und man sah ihm an, dass er ein starker, verlässlicher Mann mit Charakter und Selbstbewusstsein war. In einem Moment der reifen Einsicht erkannte Cristi, wie viel Glück sie gehabt hatte, weil sie immer auf Archies Freundlichkeit und seine Integrität hatte vertrauen können. Das traf auch auf Pauly zu, obwohl Pauly einen anderen Platz in ihrem Herzen einnahm. Als Cristi sie das erste Mal gesehen hatte, war sie in ihren Kinderaugen »keine echte Erwachsene« gewesen, und sofort hatte ein ganz besonderes Band zwischen ihnen bestanden. Pauly hatte zwar die Mutterrolle ausgefüllt, und ihre Autorität wurde nie angezweifelt, aber oft war sie Cristi eher wie eine ältere Schwester erschienen, eine Schwester, die manchmal ganz schön verrückt und albern sein konnte. Zwischen ihnen gab es
eine besondere Beziehung, die die jüngeren Kinder nicht teilten und die Cristi jetzt, in diesem Augenblick der Klarheit, als Liebe erkannte, die kein Etikett oder ein spezielles Verwandtschaftsverhältnis brauchte. »Es kam mir plötzlich alles so unwichtig vor«, erklärte Cristi noch einmal, als wäre sie immer noch erstaunt über diese Erkenntnis. »Ich meine, es war wunderbar in Edinburgh, ich habe das Studium, das Zusammensein mit Isa und Torie und all das wirklich geliebt, aber mit einem Mal erschien es mir trotzdem so ... ja, fast kindisch.« Sie sah die beiden scharf an, weil sie wusste, dass dieses eine Wort ein wohlwollendes Lächeln auf die Gesichter der Erwachsenen zaubern würde. Doch sie wollte ihnen diese Gefühle übermitteln und die Versicherung haben, dass sie für sie da waren, was immer ihr auch bevorstand. Weder Archie noch Pauly war nach lächeln zu Mute. Obschon es Archie, wenn er Cristis mädchenhafte Figur, ihre schmalen Schultern und den schlanken Hals mit dem wohl geformten Kopf und den blau schimmernden schwarzen Haaren betrachtete, kaum fassen konnte, dass ihr vierundzwanzigster Geburtstag kurz bevorstand. In ihrem winzigen lindgrünen Top und der gelben Jeans sah sie für ihn immer noch aus wie das bezaubernde, dem neuen Leben gegenüber so aufgeschlossene Kind, das Lisa vor mehr als vierzehn Jahren nach Drumveyn gebracht hatte. Er verspürte den Drang, Cristi zu beschützen, und gleichzeitig war er zornig auf diese Fremden, die so rücksichtslos Anspruch auf sie erhoben und ihr höchstwahr scheinlich Kummer und Schmerz bereiten würden. Aber er konnte nicht abstreiten, dass sie, so gleichgültig und überheblich diese Menschen auch sein mochten, das Recht hatten, auf die Verwandtschaft zu pochen. Cristis dunkles, kräftiges Haar, der cremefarbene Teint, der sich im Sommer golden färbte, die zarte Gestalt - obwohl sie tatsächlich zäh wie Schuhleder war, wie sich Archie mit Liebe und »Besit-
zerstolz« eingestand - verrieten ihre Herkunft. Ein bunter, exotischer Vogel, der in den kühlen Norden gezogen war. »Ich weiß, was du meinst«, sagte er und hörte selbst, dass seine Stimme rauher klang als gewöhnlich. »Die Zeit zum Spielen ist vorbei. Aber ein paar Tage Spaß hätten bestimmt nicht geschadet.« Er wusste, dass er das aussprach, was Pauly dachte, und wollte die finstere Wahrheit negieren, dass Cristi auf diese Weise abkommandiert werden konnte und sie keine Möglichkeit hatten, Protest einzulegen. »Das ist jetzt nicht mehr wichtig«, erwiderte Cristi. »Eine Menge Leute sind gleich nach den Prüfungen abge reist. Aber der Mietvertrag für die Wohnung läuft noch bis Ende des Monats, und wir dachten einfach, ein paar Tage zur Erholung wären ganz lustig.« »Du hast es sicherlich nicht geschafft, all deine Sachen in dein Auto zu quetschen«, meinte Pauly. »Muss noch etwas abgeholt werden?« Cristi zuckte mit den Schultern. »Ich habe den Rest weggegeben.« Ihr war klar gewesen, dass an eine Rückfahrt gar nicht zu denken war. Pauly und Archie wechselten einen Blick. Das verriet ihnen viel. Pauly verkniff sich die Frage nach Cristis Arbeit - der Gedanke, dass sie nicht viel von dem sehen würde, was Cristi in diesem letzten Jahr vollbracht hatte, machte sie traurig. »Himmel, seht euch an, wie spät es schon ist!«, rief sie statt dessen aus. »Wir sollen heute in der Scheune zu Abend essen, um es Tom und Madeleine zu ersparen, herunterkommen zu müssen. Ist dir das recht, Cristi ? Ich dachte, es würde dir nichts ausmachen.« Wäre es Cristi lieber, Dougal auf zu suchen ? Unter die sen Umständen war sich Pauly mit einem Mal in gar nichts mehr sicher, und sie hasste dieses Gefühl. »Selbstverständlich macht mir das nichts aus«, beteuerte
Cristi. »Ich freue mich sehr, sie zu sehen. Aber wird es Madeleine nicht zu viel, wenn wir hinaufgehen?« »Kein Problem, ich nehme eine Lasagne mit. Allerdings hab ich vergessen, sie rechtzeitig aus der Kühltruhe zu nehmen. Du kennst mich j a. Ich stelle sie lieber erst ein bisschen in die Mikrowelle, dann hat Madeleine keine Last.« »Wie die Mitglieder dieser Familie bisher überleben konnten, ist mir ein Rätsel«, brummte Archie, doch der Blick, mit dem er Pauly nachsah, als sie in den Wirtschaftsraum ging und ihre karamelfarbene Haarmähne aus dem Nacken strich, war voller Liebe. Cristi sah das und lächelte. Das war das Wesentliche an ihrem Zuhause. Und sie war drauf und dran, dieses Zuhause zu verlassen. Sie stand schnell auf, stieß dabei gegen Broy, der auf dem Boden schlief, sich aber nicht viel aus dieser rüden Behandlung zu machen schien. Der Hund hieß eigentlich Rob Roy, weil man der Tradition gefolgt war, den Dinmonts schottische Namen zu geben, doch Toms ältester Sohn hieß auch Rob, deshalb hatte man die beiden Namen in Kindermanier zu Broy zusammengezogen. Cristi, die diesen Gedanken verfolgte, wusste, dass sie sich an Kleinigkeiten klammerte, um die Angst in Schach zu halten. Jede Facette ihres Heims erschien ihr kostbar und bedeutsam. Sie fragte sich, wie sie die Tage bis zu ihrer Abreise überstehen sollte, wenn sie so wie jetzt unter Spannung stand. Allerdings war ihr bewusst, dass Dougal das eigentliche Problem für sie war - wie sollte sie ihm begegnen und Abschied von ihm nehmen ? Wie konnte sie von hier fortgehen, solange alles zwischen ihnen in Unordnung war? Aber das musste warten. Erst kamen Madeleine, Archies und Lisas Mutter, und ihr Mann Tom an die Reihe. Madeleine hatte Cristi als Erste in Drumveyn unter ihre Fittiche genommen, nachdem das verängstigte und verwirrte Kind um den halben
Erdball geschickt und von einer fremden Person an andere Fremde übergeben worden war. Damals war sie in winterlicher Dunkelheit in ein gänzlich unbekanntes Haus gekommen. Es war alles kalt und düster gewesen, in den kaum beheizten Räumen zog es, vor den Fenstern standen dunkle Bäume, und das Leben war von den Regeln der Vergangenheit bestimmt. Dennoch hatte Cristi in dieser Umgebung Wärme, Herzlichkeit und Verständnis vorgefunden und instinktiv darauf reagiert. Mit einem Mal konnte sie es kaum erwarten, Madeleine wiederzusehen. »Ich gehe rauf und ziehe mich um«, meinte sie, blieb aber kurz neben Archie stehen und legte ihm die Hand auf die Schulter. Er schlang den Arm um sie; sie schmiegte sich an ihn und schloss die Augen - so beschworen sie beide für einen Augenblick die Vergangenheit herauf. »Du bist unsere Älteste, Cristi«, sagte Archie und zog sie fest an sich. »Daran wird sich nie etwas ändern.« Sie nickte, brachte aber kein Wort heraus. Schließlich drückte sie ihm einen Kuss auf die Stirn und flüchtete sich in ihr Zimmer. Es war das ehemalige Ankleidezimmer von Madeleines erstem Mann Charles - ein kleines, dunkles Kämmerchen, in dem Cristi unbedingt bleiben wollte, obwohl man ihr, als sie älter wurde, größere und behaglichere Räume angeboten hatte. Es war das erste Zimmer, in dem sie jemals allein geschlafen hatte, aber es grenzte an Madeleines Zimmer, und Cristi hatte sich immer geborgen und sicher gefühlt. Das war für sie das Wichtigste. Zudem erfüllte es ein kaum bewusstes Bedürfnis nach funktioneller Schlichtheit, und während all der Veränderungen im Haus hatte sie nie etwas anderes gewollt. Es war ein sehr kleines Kämmerchen, aber Archie und Pauly hatten die alte Waschküche auf der anderen Seite des Hofes zu einem Atelier umfunktioniert und es Cristi zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag geschenkt. So hatte sie genügend
Platz für ihre Habseligkeiten, sie schlief jedoch nach wie vor im Haus. Als Archie und Pauly heirateten, wollte keiner von ihnen den dunklen, unpersönlichen Raum bewohnen, der Archie schon in seiner Kindheit unheimlich erschienen war, als seine gestrenge Großmutter und später seine Eltern darin schliefen. Irgendwann hatte sich Pauly aufgerafft, es zu renovieren und anders einzurichten. Mit den Turmfenstern, dem großartigen Rundblick und nicht zuletzt dem viktorianischen Prunk im Badezimmer, das Cristi die meiste Zeit für sich allein hatte, war es zu einem sehr beliebten Gästezimmer geworden. Cristi freute sich nach Wochen der Abwesenheit immer auf ihr kleines Reich, doch heute, da die Sonne durch das einzige Fenster fiel und die Baumwipfel sowie die gr ünen Hänge des Berges Ben Breac in goldenes Licht tauchte, war diese Freude beinahe zu schmerzhaft für sie. Nicht nachdenken, einfach eines nach dem anderen tun. Es war eine Wonne, in der großen Badewanne zu versinken und den Druck der letzten dreißig Stunden fort zu spülen. Dreißig Stunden. Sie hatte gestern zur Mittags zeit den Brief aus dem Postkasten geholt und Pauly unverzüglich angerufen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich ihr ganzes bisheriges Leben auf den Kopf gestellt. Archies Worte fielen ihr wieder ein: »Du musst nichts tun, was du nicht willst.« Stimmte das? Hatte sie überhaupt eine Wahl ? Konnte sie das Ganze als eine Art fabelhaftes Abenteuer betrachten? Aber die mehr auf einer vagen Vorstellung als auf tatsächlichen Erfahrungen basierenden Erinnerungen daran, wie die Familie ihrer Mutter ihre Existenz verleugnet hatte, kam zurück. Sie hievte sich mit einem ärgerlichen Laut, weil der Moment des Friedens zerstört war, aus der Wanne und wickelte sich in ein behaglich angewärmtes Badetuch, das auf dem Gestell vor der Heizung gehangen hatte. Sie tapste in ihr kleines
Zimmer und zog sich Unterwäsche, ein Top und einen Rock über die noch feuchte Haut. Es wird bestimmt nicht leicht, warnte sie sich selbst. Auf dem Weg zu Madeleine und Tom erzählten sie sich die Neuigkeiten und genossen den wunderschö nen Abend. Archie trug den Korb mit der Lasagne, und Broy trottete hinter ihnen her. Er hatte es aufgegeben, Kaninchen, Katzen oder anderes Getier zu jagen, und führte jetzt ein ruhiges, beschauliches Leben. Im oberen Raum der umgebauten Scheune standen die großen Balkonfenster unter dem Giebel weit offen und vermittelten den Eindruck von viel Licht und Platz. Tom eilte in seinem Rollstuhl über die rötlichen Bodendielen aus Paranä-Pinienholz auf sie zu. Er strahlte vor Freude, Cristi wiederzusehen. Madeleine, die in der Küche am anderen Ende des offenen Wohnraums beschäftigt war, ließ alles stehen und liegen und lief ihm nach. »Liebling, mein liebes Mädchen!« Sie hatte sich geschworen, ganz nüchtern zu bleiben und mit Vernunft das Unausweichliche hinzunehmen, aber als sie Cristi und ihre jungen, verletzlichen Augen sah, kamen ihr doch die Tränen. Cristi, deren Augen ebenfalls brannten, sank ihr dankbar in die Arme. Später, als sich langsam die Highland-Dämmerung über den Glen senkte, waren sie im Stande, sachlich über die Entscheidungen zu sprechen, die getroffen werden mussten. »Ich kann mich nicht weigern hinzufahren«, sagte Cristi. »Das ist das Fazit, stimmts ?« »Du musst nur hin, wenn du selbst es willst.« Tom war in diesem Punkt ebenso bestimmt wie Archie. »Aber trotzdem kann ich mich nicht gut davor drücken, findet ihr nicht ?« Cristi kam immer wieder darauf zurück. »Abgesehen von der Verpflichtung und der Verantwortung oder der Notwendigkeit, die Dinge zu regeln - Gott, Besitzerin einer
Rinderranch, ic h kann mir das überhaupt nicht vorstellen! Selbst wenn man das alles außer Acht lässt, muss ich mich darum kümmern, oder? Um meinetwillen, meine ich.« Alle warteten, während sie nach den richtigen Worten suchte, und sie spürten, was jetzt kam. »Es geht im Grunde darum, wer ich bin.« Plötzlich hatte ihre Stimme einen fast trotzigen Unterton, und das weckte in Madeleine unwillkürlich Protest. Tom legte eine Hand auf die seiner Frau und drückte sie warnend. Sie durften ihre eigenen Gefühle nicht ins Spiel bringen. »Ihr wisst, dass ich monate-, ach, jahrelang nicht einen Gedanken daran verschwendet habe«, erklärte Cristi unbeholfen, weil sie fürchtete, ihre Lieben verletzt zu haben. »Das müsst ihr gemerkt haben. Ihr seid meine Familie. Nur manchmal werde ich eben an das andere erinnert, wenn jemand über mein Aussehen spricht oder so was.« Solche Kommentare waren in ihrem ersten Semester in Edinburgh ständig gefallen und einer der Gründe, warum sie sich anfangs dort gar nicht wohl gefühlt hatte. »Es ist so eine Sache, wenn man mit niemandem wirklich verwandt ist. Selbst Lisa, die mein Vormund ist - zumindest auf dem Papier -, hat genau genommen nicht das Geringste mit mir zu tun.« Lisa, das Familienmitglied, dem Cristi am wenigsten nahe stand, war bis zu ihrer Scheidung von Cristis leiblichem Vater ihre Stiefmutter gewesen, aber das war nicht mehr als eine formelle Beziehung. Cristi holte tief Luft. »Es ist nur ... na ja, manchmal habe ich das Bedürfnis, mehr zu erfahren...« Archie hörte die Verzweiflung in ihrer Stimme und ging rasch zu ihr, um sich auf die Lehne ihres Sessels zu setzen und den Arm hinter sie zu legen. Er berührte Cristi nicht - er war nicht sicher, ob er selbst mit alldem fertig wurde, und wollte es ihr nicht noch schwerer machen fort zu fahren -, aber er musste ihr zeigen, dass er für sie da war, dass sie alle für sie da waren.
Broy überlegte, ob er sich dorthin begeben sollte, wo sich etwas rührte, doch er hatte zu viel gefressen und döste gleich wieder ein. Cristi drehte den Kopf, um Archie zuzulächeln, dann sprach sie weiter. »Vielleicht klingt es weit hergeholt, aber irgendwie hängt vieles damit zusammen, wie ich aussehe.« Sie hatte noch nie zuvor den Versuch unternommen, über dieses Thema zu reden. »Würde ich meinem englischen Vater ähnlich sehen, wäre alles anders. Aber schaut mich doch an. Es ist ganz offensichtlich, dass ich im Grunde nicht hierher gehöre.« »O Cristi, wie kannst du so was nur sagen?«, meldete sich Madeleine bekümmert zu Wort, doch wieder einmal brachte Tom sie zum Schweigen. »Ihr wisst, dass ich damit bestimmt nicht meine ...« Cristi war nicht sicher, ob sie diese Gedanken weiterverfolgen sollte, versuchte es aber dennoch. »Das klingt sicher scheußlich undankbar nach allem, was ihr für mich getan habt...« »Hey, komm schon.« Diesmal fiel ihr Archie ins Wort. »Cristi, wir wissen, was du sagen willst. Zerbrich dir nicht den Kopf über Nebensächlichkeiten, sprich einfach aus, was du loswerden möchtest. Uns ist allen zweifellos klar, was du empfindest.« Cristi nickte dankbar, dann presste sie die Finger an die Stirn und ordnete ihre Gedanken. Archie ertappte sich dabei, wie er ihre Hände ansah und feststellte, dass sie das, was Cristi vorher geäußert hatte, unter Beweis stellten. Diese Hände waren anders als alle Frauenhände, die er kannte - inklusive denen seiner Mutter, die als junge Frau ausgesprochen schöne Hände gehabt hatte. Cristis hinge gen waren anders - zart und feingliedrig, als gehörten sie zu einem Menschen anderer Rasse. »Es gab immer Fragen«, bekannte Cristi, als würde sie eher mit sich selbst reden. »Mir war bewusst, dass es einen Teil von mir gibt, von dem ich keine Ahnung hatte, den ich gar nicht
überblicken konnte. Dann habe ich mir Gedanken über meine ... meine Eltern gemacht.« Es fiel ihr nicht leicht, Howard und Justina als »Eltern« zu bezeichnen. »Über das, was sie getan haben und warum sie es getan haben. Wohin sie gegangen sind. Wo sie im Augenblick sind.« Es war immer wieder ein Schock, sich vorzustellen, dass sie ihr Leben irgendwo anders lebten, vielleicht mit anderen Kindern, und älter wurden. »Aber ich bin nicht überzeugt, dass du viele Antworten auf deine Fragen finden wirst«, meinte Pauly besorgt. Sie hatte schreckliche Angst, dass Cristi noch mehr Schmerz erdulden musste - das war in ihren Augen die schlimmste Gefahr bei diesem Unternehmen. »Ich denke, diese Angelegenheit betrifft hauptsächlich Justinas Familie, oder nicht? Den Tod ihres Vaters.« Sie brach ab und sah Archie schuldbewusst an. Justinas Vater, aber auch Cristis Großvater. Wie hatte sie nur so taktlos sein können ? Doch sie konnte sich kaum vorstellen, dass Cristi viel empfinden würde, wenn sie hörte, wie feindselig und unnachgiebig sich der alte Mann bei der einzigen Begegnung mit Archie gezeigt hatte. Archie schüttelte den Kopf und verzog ein wenig das Gesicht, um ihr zu signalisieren, dass er sie verstand. Pauly fühlte sich gleich besser. »Cristi, hör mal.« Archie fand, dass ein etwas sachlicherer Ton angebracht war. »Wenn du das Gefühl hast, hinfahren zu müssen, dann werden wir alles Notwendige arrangieren, das weißt du - Flüge, Termine bei den Anwälten, Unterkunft und so weiter, das regeln wir alles, und es stellt überhaupt keine Schwierigkeit dar. Ich weiß nur nicht, wer dich begleiten kann.« Seit dem Unfall, bei dem Tom zum Invaliden geworden war und Dougals Vater den ersten der Schlaganfälle erlitten hatte, die ihn schließlich das Leben gekostet hatten, hatte Archie mehr zu tun als je zuvor. Madeleine konnte Tom nicht allein lassen,
und sie baute darauf, dass Pauly ihr jeden Tag ein wenig unter die Arme griff. Außerdem kamen die Kinder bald nach Hause, denn die Ferien begannen bald. Lisa, die theoretisch verpflichtet wäre, würde sich bestimmt nicht frei nehmen und ihre Hunde allein lassen können. Zudem wäre sie als Reisebegleitung wohl kaum geeignet, denn sie war nie sehr einfühlsam und immer ungehalten, wenn es um »sentimentalen Quatsch« ging, wie sie es nannte. »Archie, nein«, protestierte Cristi. »Es ist ehrlich wahnsinnig lieb, dass du daran denkst, aber das ist etwas, womit ich allein fertig werden sollte. Ich muss es«, setzte sie hinzu und flehte mit einem Blick um Verständnis und darum, dass er diesen Entschluss ohne Widerspruch akzeptierte. Archie verstand sie tatsächlich. Sie musste diesen Teil ihrer Herkunft unabhängig von Drumveyn und ihrem Leben hier entdecken, und vermutlich hatte sie Recht, wenn sie darauf bestand, die Reise allein anzutreten.
3. Kapitel Von der Scheune bis zum Hirten-Cottage waren es nur zweihundert Meter. Licht brannte in der Küche, genau wie Cristi es erwartet hatte. Jean war immer schon eine Nachtschwärmerin gewesen, und man hatte auch nicht das Gefühl, dass es richtig Nacht war, denn hier oben auf dem Berg war es noch nicht ganz dunkel. Tom blieb in letzter Zeit nicht mehr lange auf, weil ihn das tägliche Training, bei dem er langsam und schmerzhaft ein wenig mehr Muskeln aufbaute, sehr ermüdete. Ihn zur Physiotherapie zu bringen, kostete Madeleine viel Mühe und Anstrengung, besonders während der Wintermonate, wenn sie bis nach Ninewells fahren musste. Jetzt, da Tom zweimal in der Woche im Krankenhaus in Muirend behandelt werden konnte, war alles ein bisschen leichter, und Tom hatte mittlerweile so große Fortschritte gemacht, dass er sich ohne jede Hilfe vom
Bett in den Stuhl und zurück bewegen konnte. Dann hatte er die ersten Schritte gemacht; sie waren alle deswegen sehr aufgeregt gewesen, und Madeleine war furchtbar stolz auf seine Leistung. Sie hielt sich unglaublich tapfer, doch es stand außer Zweifel, dass der Schock über den Unfall, die Angst, Tom für immer zu verlieren, und seine Behinderung nicht spurlos an ihr vorübergegangen waren. Ihr dunkles Haar war silbrig geworden, und sie hatte beträchtlich an Gewicht verloren. Sie war dünner, als es Tom gefiel, und das betonte er auch immer wieder und gab sich alle Mühe, sie zu überreden, dass sie mehr aß, weniger arbeitete und sich selbst ein bisschen mehr verwöhnte. Cristi lächelte. Es war immer schön, die beiden zusammen zu erleben und ihre stille Zufriedenheit zu beobachten. Tom und Madeleine fühlten sich unwohl, wenn sie getrennt waren, und es war ihnen gelungen, die alte Scheune ganz und gar ihren Bedürfnissen anzupassen. Diese glückliche Beziehung war ein bereicherndes Element in den Jahren gewesen, in denen Cristi hier aufge wachsen war. Anfangs, als Tom noch im Krankenhaus lag, hatte es ausgesehen, als könnten sie nicht weiter in der Scheune wohnen, und Madeleine machte sich auf einen Umzug ins große Haus oder sogar in eine »bequemere« Wohnung weiter unten im Glen gefasst. Aber Archie sah kein Problem darin, die nötigen Umbauten in der Umgebung vorzunehmen, die Tom für sich geschaffen hatte, als er - im selben Jahr wie Cristi - nach Drumveyn gekommen war, um als Verwalter auf dem Gut zu arbeiten. Am Eingang zur ehemaligen Scheune wurde eine Rampe angebracht und ein Lift installiert. Die unteren Schlafzimmer, die eigentlich für Toms Söhne gedacht waren, bewohnten jetzt Tom und Madeleine, und Archie hatte eine rollstuhlgerechte Dusche eingebaut. Der offene obere Raum konnte bleiben, wie er war. In der ersten Zeit, nachdem Tom aus der Klinik entlassen worden war, war ein Krankenpfleger unten im großen Haus
einquartiert worden, und danach waren Archie und Pauly Madeleine zur Hand gegangen, wenn Tom hatte gehoben oder getragen werden müssen. Es gab viele hilfsbereite Menschen auf dem Gut, und Dougal, der im nahe stehenden Hirten-Cottage wohnte, hatte mehr für Tom und Madeleine getan als jeder andere. Lisa lebte nicht weit entfernt in Achalder in einem ehemaligen Gutscottage, und ihr Mann Stephen war, wenn man ihn darum bat, jederzeit bereit, sich nützlich zu machen. Mittlerweile war Tom nicht nur ein wenig mobiler, sondern besaß auch noch einen elektrischen Rollstuhl, in dem er allein über die Wege und Straßen flitzen konnte. Die auf diese Weise zurückgewonnene Freiheit und Unabhängigkeit bedeutete ihm viel und war auch für Madeleine eine große Erleichterung. Heute Abend würde Archie Tom zu Bett bringen, und Pauly half Madeleine, die Küche in Ordnung zu bringen. Niemand störte sich daran, dass Cristi aus dem Haus schlüpfte. Sie hatte sich sehr gefreut, Tom so wohlauf zu sehen. Er hatte sichtlich nicht mehr so große Schmerzen wie bei ihrem letzten Aufenthalt zu Hause, und es war wunderbar, wie Madeleine und er mit dem Alltag zurechtkamen, doch es blieb nicht aus, dass Cristi, als sie auf das Hirten-Cottage zuging, einige Überlegungen anstellte. Geld. Geld könnte eine anständige Pflege und alle notwendigen Gerätschaften, Installationen, Umbauten sowie das Asphaltieren der Wege ermöglichen. Geld, von dem sie, wie es schien, jetzt jede Menge besaß — obwohl Tom und Archie sie eindringlich vor trügerischen, gefährlichen Fehleinschätzungen gewarnt hatten. Oft war ein großes Erbe nicht das, was es versprach. Sie prophezeiten, dass es viele Menschen geben würde, die sich auf alles stürzten, was vorhanden war. Niemand wusste, in welchem Zustand die Ranch war, ob es finanzielle Verpflichtungen oder vielleicht sogar Schulden und Hypotheken gab, die zurückgezahlt werden mussten. Und es war auch nicht vorauszusehen, welche Forderungen andere
Familienmitglieder stellten, welche Einwände gegen den letzten Willen erhoben wurden, der nur als bizarr, wenn nicht gar als Rachsucht ihres Großvaters angesehen werden konnte. Dennoch flogen Cristis Gedanken davon. Es würde ihr nichts ausmachen, wenn sich herausstellen sollte, dass die unerwartete Hinterlassenschaft ihres Großvaters wenig oder gar keine Substanz hatte. Ihr Vater hatte sie mit ein wenig Kapital ausgestattet, bevor er verschwunden war, genau wie Lisa auch. Archie hatte dieses Vermögen in all den Jahren nicht nur für sie verwaltet, sondern ihr selbst auch noch ein großzügiges Taschengeld überlassen. Obwohl Cristi beabsichtigte, sich ihren Lebensunterhalt in Kürze selbst zu verdienen - und alle waren damit einverstanden -, hatte sie die Gewissheit, dass das Napier-Geld ihr immer zur Verfügung stand, falls sie es brauchen sollte. Geld. Sie wusste, warum das Widerstand, ja fast ein schlechtes Gewissen hervorrief, als sie in Richtung Cottage ging. Der Kontrast, die Gegensätze in der Gesellschaft, in jeder Gesellschaft, bereiteten ihr mehr und mehr Unbehagen, und es schien keine Möglichkeit zu geben, diese Gegensätze aufzulösen. Sie rief sich ins Gedächtnis, dass trotz der Standesunterschiede nach dem Unfall fast so viel für Donnie Galloway getan worden war wie für Tom, wenn auch in unterschiedlicher Weise. Während sich Donnie von seinem ersten Schlaganfall erholte, hatte Archie ihm das volle Gehalt bezahlt und dafür gesorgt, dass Jean all die praktische Hilfe bekam, die sie brauchte. Donnie hatte sich bis zu einem gewissen Grad erholt, und er konnte wieder die Schafe hüten, aber trotz seiner Proteste war offensichtlich, dass er die Arbeit nicht mehr allein verrichten konnte, und Archie hatte eine Teilzeithilfe eingestellt. Donnie war das gar nicht recht, und er machte dem Helfer das Leben nicht gerade leicht. Bei der Erinnerung daran musste Cristi fast
lachen. Als Donnie danach noch zwei, wenn auch kleinere, Schlaganfälle erlitt, erfüllten nach und nach andere Do nnies Pflichten. Gegen Ende konnte er kaum noch den Schein aufrechterhalten, dass er seine Arbeit verrichtete. Dennoch machte Archie deutlich, dass Jean niemals befürchten musste, nicht mehr im Cottage leben zu können. Aber natürlich hatte Jean immer Angs t, eines Tages keine Bleibe mehr zu haben. Sie bewohnten ein Haus, das dem Hirten des Gutes zustand, und ihr Mann war krank und bemühte sich, mehr zu arbeiten, als er konnte, doch ihm fehlte die Kraft. Und Donnie wusste das selbst, sagte aber nichts, sondern verwünschte nur im Stillen seine Nutzlosigkeit. Er sah seine Zukunft in dem kleinen Haus klar vor sich: nichts, womit er sich beschäftigen konnte, all seine Stärke dahin und seine Hände für immer untätig. Er war am Boden zerstört und langweilte sich zu Tode. Als Donnie im vergangenen Februar starb, erklärte Archie Jean unverzüglich, dass das Cottage zu ihrer Verfügung stand, solange sie es brauchte. Für Donnie und Jean war auf die traditionelle Art gesorgt worden, die heutzutage auf den Gütern nicht mehr üblich war. Und auch für Tom wurde gesorgt, allerdings auf ganz andere Weise. Donnie und Jean waren Angestellte, die Hilfe brauchten und kaum Vorkehrungen fürs Alter getroffen hatten. Sie hatten sich darauf verlassen, später einmal in ein Gemeindehaus überzusiedeln, und hatten nie etwas auf die hohe Kante gelegt, damit sie sich selbst mal eine Bleibe kaufen konnten. Jean hatte nie gearbeitet, um etwas dazuzuverdienen. Sie war Hausfrau und Mutter, aber auch die Frau eines Hirten, die helfen musste, wenn die Schafe lammten, jede Menge Hackfleisch und Kartoffeln kochte, solange die Schafscherer auf dem Gut waren, Kälber fütterte, Hennen hielt, Gemüse anbaute, Marmelade einkochte, dagegen ankämpfte, dass die Schule im Glen geschlossen wurde, und so gut wie nie Urlaub oder auch nur
freie Tage hatte. Jetzt lebte sie in einem Haus und wusste, dass sie keinen Anspruch darauf hatte. Sie lag jede Nacht wach und allein in dem großen Bett, starrte an die Decke und überlegte, was sie tun sollte. Ihre Sorgen waren wie die schwarzen Fledermäuse, die durch die halb dunklen Sommernächte flatterten. Cristi legte die Hand auf die Türklinke, hielt aber inne. Mit einem Mal war sie sich bewusst, dass sie allen Mut zusammennehmen musste, bevor sie die Tür öffnete. Es ging nicht nur um Jean. Auch in ihrem eigenen Leben hatte Geld und alles, was es mit sich brachte, die Macht, tiefe Gräben aufzureißen. Und gerade jetzt schien in einem fernen Land, an das sie sich kaum noch erinnern konnte, eine erschreckend große Menge Geldes darauf zu warten, in Anspruch genommen zu werden. Eine groteske Vision von Truhen, aus denen Goldstücke quollen, stand ihr plötzlich vor Augen. Sie schauderte, weil sie dieses Bild als unheilvoll und zerstörerisch erachtete. Es wurde Zeit für eine Dosis von Jeans Bodenständigkeit und Vernunft. Sie drückte auf die Klinke und rief: »Hi, Jean! Ich bin es nur, steh nicht auf.« Aber Jean stand schon auf der Schwelle zur Küche. Ihr Willkommenslächeln verzog sich, als andere Emotionen sie überkamen, und sie breitete die Arme aus. »O Mädchen, es tut mir gut, dich zu sehen. Wie geht es dir und was hat es mit all dem Zeug auf sich, das mir über dich zu Ohren gekommen ist? Ach, achte gar nicht auf mich, ich bin nur ein dummes, altes Weib.« Sie schniefte, als Cristi sie fest an sich drückte, und suchte unter ihrer Schür ze nach einem Taschentuch. »Komm rein, steh nicht so da. Du trinkst doch eine Tasse Tee mit mir ? Natürlich...« Jean war allein. Eine der Katzen saß unter dem Schrank und beäugte Cristi argwöhnisch, die andere räkelte sich auf dem
zerschlissenen Polster des alten Sessels und bohr te die Krallen in den Stoff, um auf sich aufmerksam zu machen. Donnies Sessel. Cristi sah Donnie regelrecht vor sich - seine kräftige Gestalt, die breiten Schultern, die wettergegerbte Haut am Hals und an den Armen, das verblasste karierte Hemd, die dunkelblaue Arbeitshose, die er stets getragen hatte, den Teebecher auf der hölzernen Armlehne, auf der noch immer unzählige helle Ringe zu sehen waren. Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie ging schnell zu Jean, die Wasser aufsetzte. Jetzt stand kein alter, geschwärzter Kessel mehr am Rand des Kamins und wartete darauf, über die Flamme gezogen zu werden, wann immer jemand das Bedürfnis nach Tee verspürte. Auch den Kessel mit der Pfeife, den Jean auf den Gasherd stellte, wenn kein Feuer brannte, gab es nicht mehr. Das Cottage verfügte seit einiger Zeit über die moderne eingebaute Küche, von der Jean lange geträumt hatte. Archie hatte sie nach Jeans Anweisungen installiert. »Wie gehts dir?«, fragte Cristi einfühlsam und kam näher. Jean umklammerte mit ihrer starken Hand kurz Cristis Arm und nickte heftig. »Es geht mir gut«, antwortete sie. »Mach dir keine Sorgen um mich.« »Und was ist mit Dougal und Jill ?« Es war unverfänglicher, sich nach beiden gleichzeitig zu erkundigen. »Ach, sie sind wie immer. Über meinen Dougal kann ich mich sowieso nicht beklagen.« Jean presste die Lippen zusammen, und Cristi akzeptierte die stumme Botschaft: Dieses Wiedersehen sollte nicht durch ein Gespräch über das Desaster, das Jill aus ihrem Leben gemacht hatte, verdorben werden. »So«, sagte Jean in einem Ton, der deut lich machte, dass dieses Thema abgehakt war. »Ist dir nach Kuchen oder Plätzchen oder nach etwas anderem zumute ? Obwohl dein Dinner bestimmt noch nicht lange zurückliegt. Ich könnte mich nicht so spät am Abend noch zu einer warmen Mahlzeit hinsetzen.« Und sie konnte das
auch nicht gutheißen. »Aber ich wette, du bist daran gewöhnt.« »Danke, Jean. Du hast natürlich Recht, und ich kann wirklich nichts mehr essen«, gestand Cristi. »Aber lass dich durch mich von nichts abhalten.« »Ja, vielleicht nehme ich noch einen Bissen zu mir.« Jean ging hin und her und suchte sich ein paar Sachen für ihr schlichtes Mahl zusammen. Ein Stück Hackfleischpastete, Käse, Cracker, vielleicht eine Scheibe Ingwerbrot oder ein Stück Kuchen. Donnie hatte es geliebt, abends noch einen kräftigen Imbiss zu sich zu nehmen. Normalerweise gab es schon um fünf Uhr das Abendessen. Jean dachte in letzter Zeit oft an Donnie und hörte seine Stimme und seine Worte. Bei die sen Gelegenheiten erschien er ihr so nahe, dass sie sich nicht mehr erinnerte, was sie eigentlich hatte tun wollen; dann stand sie plötzlich mitten im Zimmer und starrte verwirrt auf das, was sie in den Händen hielt. Diese Momente waren kaum zu ertragen. Cristi beobachtete Jeans Hände, die weit weniger kräftig zuzupacken schienen als früher. Sie erschrak, weil Jean so schlampig aussah, als achtete sie gar nicht mehr auf sich - auch das war neu. Es war schwer, die Veränderung zu benennen, denn Jean hatte sich nie sehr für Kleider interessiert. Sie hatte ihren »Sonntagsstaat« - ein mit Blumen bedrucktes Kleid mit Rüschen am Ausschnitt, wie es die Frauen im Glen trugen, wenn sie auf Partys oder ceilidhs gingen -, einen dunklen Mantel für Beerdigungen, einen Faltenrock, eine hübsche Bluse und eine Strickjacke für die seltenen Gelegenheiten, wenn sie Besuch erwartete. Aber die Alltagskleidung trug sie immer auf, bis sie fadenscheinig war, und sie band sich stets eine Schürze um. Da sie bei Wind und Wetter täglich mehrmals über den Hof laufen musste und hier und dort zu tun hatte, war ihr Haar meistens in Unordnung, und ihren Händen sah man die harte Arbeit an. Aber jetzt wirkte ihre Haut grau, ihr Haar müsste dringend gewaschen werden, ihre Schultern waren schlaff, und die Mundwinkel
hingen herunter. »Du hast aufregende Neuigkeiten, hab ich gehört«, drängte Jean, als sie die große braune Teekanne, die sie immer so voll machte, als müsste sie nach wie vor eine fünfköpfige Familie versorgen, auf den fleckigen Untersetzer stellte. Ihrer Ansicht nach schmeckte der Tee nicht, wenn man nur wenig davon aufbrühte. »Setz dich«, befahl sie. Donnie hatte es immer bevorzugt, sich am Küchentisch niederzulassen, wenn er spätabends noch etwas gegessen hatte. Und Jean hielt es genauso, selbst wenn sie sich nur eine Tasse Tee gönnte. »Ich weiß nicht, ob es aufregende oder einfach nur erschreckende Neuigkeiten sind«, gestand Cristi und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch mit der vertrauten roten Leinentischdecke. Zu den richtigen Mahlzeiten legte Jean immer eine saubere weiße Tischdecke diagonal darüber. Cristi hatte den Tisch nie ohne dieses rote Tuch gesehen, aber sie wusste, dass es nach jeder Mahlzeit zur Tür gebracht und im Freien ausgeschüttelt wurde. Heute entdeckte sie allerdings Krümel und eingetrocknetes Eigelb darauf. Sie wandte den Blick ab. Die Jean, die in früheren Jahren immer so stolz auf ihren makellosen Haushalt gewesen war, hätte so etwas niemals geduldet. Jean betrachtete Cristi über den Rand ihres Bechers hinweg, den sie in beiden Händen hielt. Sie trank nicht von ihrem Tee und rührte das Essen, das sie auf den Tisch gestellt hatte, nicht an. »Es war bestimmt nicht leicht für dich, nach all den Jahren von deiner Familie zu hören«, bemerkte sie. Diese unverblümten Worte brachten augenblicklich die Jean zurück, an die sich Cristi erinnerte, die vernünftige, tüchtige Hausfrau und Mutter, die immer herzlich und gutmütig war und im Kreise ihrer Familie in dem winzigen Cottage ein glückliches Leben führte. Dieser Blick in die Vergangenheit war beruhigend
und vertrieb für den Augenblick Cristis Besorgnis. Außerdem ermöglichte er ihr, sich Jean zu öffnen und ihr von ihren Zweifeln und Ängsten, aber auch von der Aufregung und Neugier zu erzählen, die der Brief aus Brasilien geweckt hatte. Bei dem Gespräch mit der Familie war immer die Angst da gewesen, sie durch irgendeine Äußerung zu verletzen. Jetzt konnte sie unbeschwert wilden Spekulationen nachhängen, ohne Fragen aufzuwerfen, die dann doch taktvoll unterdrückt wurden. Es bestand keine Gefahr, jemandem Schmerzen zu bereiten, während sie für sich selbst ihre Reaktion auf das, was mit ihr geschah, zu ergründen versuchte und zum ersten Mal die erschreckend starke Sehnsucht zuließ, diesen Teil ihres Erbes zu erforschen. Es konnte Jean weder aufmöbeln noch niederbügeln, wie sie selbst es ausdrücken würde, wenn Cristi die bruchstückhaften Erinnerungen ihrer frühen Jahre in Rio aufleben ließ Erinnerungen an die Tage, in denen sie abgeschieden und isoliert in einem kleinen, aber wunderschönen, luxuriösen Haus gelebt und ihre leichtlebige, gesellschaftlich aktive Mutter kaum zu Gesicht bekommen hatte. Lediglich die Dienstboten, insbesondere ihr eigenes Mädchen Isaura, hatten ihr Geborgenheit und Stabilität vermittelt. Doch dann schlichen sich Misstöne ein. Cristi, der es immer noch schwer fiel, all das zu begreifen, sprach darüber, dass sie es als Ironie ansah, dass ihr Großvater ausge rechnet ihr seine Rinderranch hinterlassen hatte. »Die Ranch heißt >Drei Pinien