Patricia MacDonald
Ein Fremder im Haus
s&c 03/2007
Vor elf Jahren wurde Annas kleiner Sohn entführt. Jetzt kehrt er z...
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Patricia MacDonald
Ein Fremder im Haus
s&c 03/2007
Vor elf Jahren wurde Annas kleiner Sohn entführt. Jetzt kehrt er zu seiner Familie zurück. Was ist damals geschehen? Was hat Paul gesehen? Ein Alptraum beginnt … ISBN: 978-3-423-24508-1 Original: Stranger in the House (1983) Deutsch von Nina Pallandt Verlag: Deutscher Taschenbuch Verlag Erscheinungsjahr: 2. Auflage April 2006 Umschlaggestaltung: Stephanie Weischer
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Vor elf Jahren wurde ihr Leben zerstört. Weil das Baby aufgewacht war, ließ Anna Lange ihren Sohn ein paar Minuten unbeaufsichtigt spielen. Als sie in den Garten zurückkam, war Paul verschwunden. Jahrelang war seine Mutter die Einzige, die fest davon überzeugt war, dass ihr Sohn lebte. Und sie hat Recht! Nach über einem Jahrzehnt bringt die Polizei den Jungen zurück. Aber was ein Freudentag hätte sein sollen, wird bald zum beklemmenden Alptraum. Paul ist ein Fremder geworden. Was hat der mittlerweile Fünfzehnjährige in all den Jahren erlebt? Wer hat ihn damals entführt? Und warum verfolgt ihn der Mann, der sich ein Jahrzehnt lang als sein Vater ausgegeben hat? Annas Mann und ihre Tochter fürchten sich vor dem Fremden, nur Anna versucht das schreckliche Trauma zu heilen, mit dem der Junge gelebt hat. Aber dazu muss das Geheimnis aufgeklärt werden, das sein Verschwinden von damals umgibt. Und es gibt jemanden, der genau das mit allen Mitteln verhindern will … Ein raffinierter psychologischer Thriller.
Autor
Patricia MacDonalds düster-hypnotische Familiengeschichten haben Leserinnen und Leser in Amerika und Frankreich gefangen genommen. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in New Jersey und schreibt an ihrem nächsten Roman.
Wie immer in Erinnerung an meine Eltern Olga und Donald MacDonald
Prolog Von einem Patschhändchen bewegt, mühte sich das rote Auto den Erdhaufen hinauf, schoß auf der anderen Seite hinunter und fiel in eine kleine Mulde. »Schau, Mommy! Ein Unfall. Erst ging’s den Berg hoch, und dann ist es in die Schlucht gestürzt.« Anna Lange brachte die sanft hin und her schwingende Hollywoodschaukel zum Stehen und lächelte ihren Sohn an. »Du hast das Auto fallen lassen, Paul.« Der Junge strahlte sie an, begeistert, daß er ihre Aufmerksamkeit geweckt hatte. Er wischte sich mit dem schmutzigen Unterarm über das ebenso schmutzige Gesicht und schüttelte widerspenstig den Kopf. »Es ist abgestürzt.« Wider Willen mußte Anna lachen über das Bild, das er abgab, wie er dort mit seinem gestreiften T-Shirt und den auch schon leicht schmutzigen blauen Shorts freudestrahlend im Gras hockte. Vom Schirm seiner Baseballmütze zwinkerte ihr der Hund Scooby-Doo zu und reckte eine Vorderpfote in die Luft. Als Paul zu ihr aufblickte, mußte er den Kopf verdrehen, um unter der Schirmmütze hervorsehen zu können. Anna sah, daß seine Socken verrutscht und schon halb in seinen Kinderschuhen verschwunden waren. Paul machte Brummgeräusche und fuhr das Auto aus dem Graben. »Jetzt müssen wir aber zur Arbeit«, sagte er. Auf krummen Beinchen wackelte er zum Sandkasten, in dem ein umgekippter Bagger lag. Paul legte das Auto beiseite, stieg über den niedrigen Rand des Sandkastens und ließ sich neben das Spielzeug fallen. Er stellte es aufrecht und begann die kleine Kurbel zu drehen, mittels derer sich die Baggerschaufel langsam
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in den Sand senkte – hochkonzentriert widmete er sich seiner neuen Aufgabe. Das Sonnenlicht schimmerte auf den zerzausten Locken, die unter seiner Baseballmütze hervorlugten. Liebevoll betrachtete Anna ihren Sohn, während sie sich kurz fragte, welche neuen Fahrzeuge es wohl zu seinem vierten Geburtstag im kommenden Monat geben würde. Bislang hatten ihre in Ohio lebenden Eltern dem Enkelsohn Miniaturausgaben von so gut wie jedem Auto geschenkt, das je in Detroit vom Band gelaufen war. Anna hob das Gesicht, als eine leichte Brise in der schwülen Nachmittagsluft aufkam. Schützend legte sie die Hand über ihren Bauch. Sie war im dritten Monat schwanger, und die Hitze schien drückender, die Luftfeuchtigkeit bleierner als in irgendeinem Sommer zuvor. Manchmal fragte sie sich, ob sie vielleicht nicht doch besser nachgegeben und dem Einbau einer Klimaanlage in ihrem schönen alten Haus zugestimmt hätte. Aber sie mochte keine Klimaanlagen. Sie verstand einfach nicht, weshalb manche Menschen künstlich kalte Luft vorzogen, statt den Sommer zu genießen. Neuerdings kam es ihr allerdings so vor, als würde sie immer im Sommer schwanger. »Tja, Roscoe«, sagte sie und tätschelte ihren Bauch, »sieht so aus, als kämst du direkt zu Neujahr.« Eine Woche, nachdem sie von ihrer Schwangerschaft erfahren hatte, hatten Thomas und sie ihren kommenden Sprößling »Roscoe« getauft – so wie Paul »Mortimer« und Tracy »Clem«, bevor sie zur Welt gekommen waren. Paul brabbelte und summte vor sich hin, bis er eine Schaufel zuviel auf seinen Sandhügel gebaggert hatte und der Haufen wegrutschte, als hätte plötzlich ein Erdbeben stattgefunden. Der Junge stieß einen kleinen Schrei aus. »Schhhhh, Paul«, ermahnte ihn Anna. »Nicht, daß du Tracy weckst.« Sie lauschte in Richtung des Hauses, dessen Hintertür und Fenster offenstanden. Ihre Tochter war am Tag zuvor an einer Sommergrippe erkrankt und hatte die Nacht über mit Fieber im Bett gelegen. Der Kinderarzt hatte Anna versichert, es 6
handele sich um nichts Ernstes, doch das Kind hatte die ganze Nacht wachgelegen und gequengelt. Erst gegen Morgen war die Kleine schließlich eingeschlafen, nach einem Hamamelis-Bad und viel Trost und Zuspruch von Anna. Mit großen, unschuldigen braunen Augen sah Paul zu seiner Mutter auf. »Darf Tracy auch mitspielen?« »Heute nicht, Schatz. Es geht ihr nicht gut.« Paul widmete sich wieder seinem Bagger, während Anna die Augen schloß. Die ganze Nacht hatte sie sich um Tracy gekümmert, damit Thomas ein wenig Schlaf finden konnte; am nächsten Morgen wartete ein wichtiges Meeting auf ihn, für das er ausgeruht sein mußte. Doch Tracys Weinen hatte ihn offenbar nicht gestört, jedenfalls hatte er beim Frühstück nichts gesagt. Er war wie üblich putzmunter und vollkonzentriert gewesen. »Unglaublich«, hatte sie einmal bei einer anderen Gelegenheit gesagt. »Manchmal machst du den Eindruck, als wärst du schon bei der Arbeit, obwohl du noch gar nicht aufgestanden bist.« Thomas hatte die Bemerkung mit einer Grimasse kommentiert, doch ihr Lächeln hatte ihn beruhigt. Er arbeitete mehr als jeder andere Mensch, den sie kannte; er tat es für sie und die Kinder. Nach Pauls Geburt hatte sie ihren Job bei der Werbeagentur wiederaufnehmen wollen, doch nach zwei Wochen im Büro war sie bei einem Telefonat mit der Babysitterin in Tränen ausgebrochen; worauf ihr klar geworden war, daß sie sich falsche Vorstellungen gemacht hatte. Thomas war sogar froh über ihren Entschluß, künftig zu Hause zu bleiben. »Ich werde für uns sorgen«, hatte er versprochen, und das Versprechen hatte er auch gehalten. Sie öffnete die Augen und ließ den Blick durch den großen, schattigen Garten schweifen; das angrenzende Wäldchen garantierte ihnen Ruhe und Abgeschiedenheit. Nur der Gesang der Vögel durchdrang die Stille, und manchmal war das leise, kaum wahrnehmbare Vorbeirauschen von Autos auf dem 7
Millgate Parkway zu hören, einer altehrwürdigen, von Bäumen gesäumten Straße, die durch Stanwich führte, vorbei an einigen der schönsten und luxuriösesten Anwesen im wohlhabenden Fairmont County. Ihr Haus war bei weitem nicht das größte in der Gegend. Tatsächlich hatte in dem schönen alten Gebäude einst der Verwalter eines riesigen Anwesens gelebt. Ihre nächsten Nachbarn, die Stewarts, wohnten im Herrenhaus des einstigen Landguts, das schon vor langer Zeit in verschiedene Grundstücke aufgeteilt worden war. Gegen den eleganten Wohnsitz der Stewarts nahm sich das Heim der Langes geradezu bescheiden aus, wenngleich es mehr als genug Platz für die junge Familie bot und gegen die Mietshäuser und Apartments, in denen sie bisher gewohnt hatten, fast majestätisch wirkte. Anna lächelte, während sie daran dachte, wie stolz Thomas auf ihr Haus war. Ihr war nur allzu bewußt, was es für ihn bedeutete. Seine vaterlose Kindheit war chaotisch gewesen, geprägt von einer Mutter, mit der er in billigen Pensionen und heruntergekommenen Apartments gehaust hatte. Nach dem College war er nach New York gegangen, wo sie sich kennengelernt und schließlich geheiratet hatten. Nach langen harten Jahren war er zum stellvertretenden Finanzabteilungsleiter der Phelps Corporation in New York aufgestiegen. Bald nach seiner Beförderung hatte Thomas ihr das wunderschöne viktorianische Haus am Stadtrand von Stanwich gezeigt. »Das ist doch viel zu groß«, hatte sie protestiert. »So ein Haus können wir uns doch gar nicht leisten!« »Wir müssen es uns leisten«, hatte Thomas sie aufgezogen. »Irgendwo müssen wir schließlich deinen ganzen alten Trödel unterbringen.« Sie lachte über den alten Scherz. Er hatte recht. Sie besaß ein Sammelsurium alter Flakons und Flaschen, jede Blume, die er ihr je geschenkt hatte, war fein säuberlich von ihr getrocknet und aufbewahrt worden, und sie brachte es nicht übers Herz, Zeitschriften wegzuwerfen, in denen sich ein 8
Strickmuster oder ein Rezept befand, das sie vielleicht noch ausprobieren wollte. Schon bald war das neue Haus vollgestopft mit allen möglichen Dingen. Wenn Thomas die finanziellen Belastungen schlaflose Nächte bereiteten, ließ er sich jedenfalls nichts anmerken; seit jeher war er ein Meister in der Kunst, seine Sorgen für sich zu behalten. Nach acht Jahren Ehe kannte sie ihn nur allzu gut. Manchmal sorgte sie sich, er könne ein Magengeschwür bekommen. Paul hatte genug von seinem Bagger, verließ den Sandkasten und ging auf Entdeckungsreise. Sie beobachtete ihn, wie er durch das Gras lief. Er bückte sich, pflückte einen Löwenzahn und pustete. Anna stand auf und trat zu ihrem Sohn. »Magst du ein bißchen schaukeln?« fragte sie. Paul nickte begeistert und griff nach ihrer ausgestreckten Hand. Zusammen gingen sie zu der Schaukel am anderen Ende des Gartens. Als sie fast dort waren, ließ Paul ihre Hand los, rannte zur Schaukel, zog sich auf den Sitz und bewegte ungeduldig die in Turnschühchen steckenden Füße. »He«, sagte Anna. »Nicht so aufgeregt.« In dem Moment, als sie an die Schaukel trat, stieß Paul einen Schrei aus und rutschte von seinem Sitz. So schnell die kleinen Beine ihn trugen, lief er laut kreischend durch den Garten. »Sieh mal, eine Katze!« rief er. »Können wir sie behalten?« »Das würde mir gerade noch fehlen«, sagte Anna und verdrehte die Augen. Die niedliche schwarzweiße Katze, die am Waldrand aufgetaucht war, blieb stocksteif stehen, als der Junge mit wild rudernden Armen auf sie zustolperte. Dann wandte sie sich um und war mit einem Satz zwischen den schützenden Bäumen verschwunden. Paul wollte ihr hinterher; Zweige und Blätter klatschten gegen seine nackten Beine.
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»Jetzt ist aber Schluß, mein Freund«, sagte Anna, beugte sich zu ihrem Sohn und hob ihn zurück in den sicheren Garten. Paul begann zu schreien. »Ich will das Kätzchen«, heulte er. »Du wirst ja immer schwerer. Also, bald kann ich dich nicht mehr tragen«, seufzte Anna. »Das Kätzchen mußte nach Hause.« Paul heulte weiter, während Anna ihn zum Haus zurücktrug. Er steckte sich den Daumen in den Mund und begann geräuschvoll daran zu lutschen. »Was soll denn das?« ermahnte sie ihn. »Ich dachte, das hättest du aufgegeben.« Er rieb sich die Augen mit den kleinen, schmutzigen Fäusten. Eine Hand unter seinem Hosenboden, hielt Anna ihn sicher in den Armen. Als sie sich dem Haus näherten, hörte sie, daß Tracy weinte. Anna ließ Paul zu Boden und streckte die Hand aus. »Komm. Wir sehen nach, wie es Tracy geht.« »Nein«, maulte Paul. »Will ich nicht.« »Okay«, sagte sie, hob ihn hoch und setzte ihn in der umzäunten Spielwiese nieder; Thomas hatte den Zaun eigenhändig gebaut. »Sei schön ruhig. Ich muß mich um Tracy kümmern. Sei ein guter Junge.« Spielerisch ermahnte sie ihn mit erhobenem Zeigefinger und lächelte, als sie das Tor zuschnappen ließ. »Wenn du brav bist, bringe ich dir auf dem Rückweg einen Keks mit.« Paul sah sie traurig an und wischte sich abermals über das Gesicht, ehe er auf den Sandkasten zutrottete. Dann warf er einen Blick über die Schulter, dorthin, wo die Katze gewesen war. »Wo ist das Kätzchen?« »Das Kätzchen ist weg, Paul. Spiel jetzt.« Anna lief die Verandastufen hinauf und öffnete die Tür. »Ich komme, Schatz«, rief sie. Sie stieg über einen Kinderbaseball und den
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dazugehörigen Plastikschläger und eilte die Treppe zum Zimmer ihrer Tochter hinauf. Tracy stand schluchzend in ihrem Bettchen, als Anna das sonnige, in Rosa und Gelb gehaltene Kinderzimmer betrat. Als die Kleine ihre Mutter erblickte, begann sie lauthals zu schreien. Anna nahm das weinende Kind auf die Arme und sprach leise murmelnd auf sie ein. Der leichte Pyjama der Kleinen war völlig verschwitzt. »Oh, du Arme! Dir muß ja schrecklich heiß sein! Arme Tracy.« Sobald Anna die Kleine wieder ins Bett gelegt hatte, fing sie erneut an zu schreien. Mit sanfter Stimme versuchte sie ihre Tochter zu beruhigen, während sie in der Kommode nach einem frischen Pyjama kramte, ehe sie ins Bad eilte, einen Waschlappen unter den Wasserhahn hielt und auswrang. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, daß es Zeit für einen weiteren Teelöffel Ibuprofen war. Nachdem sie Tracy den durchgeschwitzten Pyjama ausgezogen und die fiebernde Kleine mit dem feuchten Waschlappen abgerieben hatte, flößte sie ihr die Medizin und ein Glas Wasser ein. »Nanu, wo ist denn Fubby geblieben?« Anna warf einen Blick unter das Bettchen und hielt Ausschau nach dem Stoffkaninchen, das Tracy so liebte. Nachdem sie das zwischen Bett und Wand eingeklemmte Kaninchen entdeckt hatte, reichte sie es dem quengelnden Kind. Tracy drückte das Kaninchen fest an sich und lächelte schwach. »Soll ich dir eine Geschichte vorlesen?« Anna zeigte auf den Tisch, auf dem sich die gestapelten Kinderbücher befanden. »Nein«, sagte Tracy trotzig. »Oder lieber ein kleines Schlaflied?« fragte Anna. Tracy nickte. »Das Lied von den drei Babys«, rief sie. Sie ließ den Kopf auf das Kissen sinken, und Anna begann leise zu singen. Als die drei Babys unterwegs unter dem Sternenhimmel waren,
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schlossen sich Tracys Lider. Sanft streichelte Anna ihre Kleine, bevor sie auf Zehenspitzen aus dem Zimmer schlich. Anna lief die Treppe hinunter, auf dem Weg zu Paul. Als sie durch den Flur eilte, begann das Telefon in der Diele zu klingeln. Beim zweiten Läuten hielt sie bereits den Hörer in der Hand. »Hallo?« »Hallo, Anna. Ich bin’s, Iris. Bist du in Eile? Du klingst ganz außer Atem.« »Hallo, Iris. Ich war gerade oben bei Tracy. Sie hat eine Sommergrippe, aber jetzt schläft sie Gott sei Dank.« Annas Nachbarin klang zerknirscht. »Oh, hoffentlich habe ich sie nicht geweckt.« Anna lauschte. »Nichts zu hören«, beruhigte sie ihre Freundin. »Was gibt es denn?« »Ich wollte dir schon die ganze Zeit Bescheid geben. Ich treffe mich heute mit den Leuten von der Gemeindeinitiative ›Unser Ort soll schöner werden‹ zum Tee – und da habe ich mich gefragt, ob du nicht mitkommen willst. Lorraine könnte auf die Kinder aufpassen.« Anna dachte kurz über den Vorschlag nach. Iris war eine scheue, nervöse Frau, die ihren unzähligen sozialen Verpflichtungen eher widerstrebend nachkam – Anna vermutete, daß sie es nur ihrem Mann zuliebe tat, der großen Wert auf solche Dinge legte. Edward war Absolvent einer Eliteuniversität, ein Millionär mit einem Faible für die High-Society, während seiner aus einer Einwandererfamilie stammenden Frau gesellschaftliche Anlässe offenbar zuwider waren. Sie lud Anna häufig ein, sie zu Teegesellschaften und Wohltätigkeitsveranstaltungen zu begleiten, und bot ihr dann stets die Dienste ihres Hausmädchens, Lorraine Jackson, an. Gelegentlich kam Anna mit, im Gegensatz zu Iris fühlte sie sich wohl bei derartigen Geselligkeiten, zumal sie sie als angenehme Abwechslung empfand. Dennoch konnte 12
sie ihre kranke Tochter jetzt nicht im Stich lassen, was Iris, wie Anna dachte, wohl nicht verstand, da sie selbst kinderlos war. »Heute geht es nicht, Iris. Ich kann Tracy nicht allein lassen. Trotzdem vielen Dank.« »Oh«, sagte Iris, Anna hörte genau heraus, wie enttäuscht sie war. »Vielleicht nächstes Mal.« Ein wenig tat es Anna leid für ihre Freundin, da sie nur allzu gut wußte, wie unwohl sich Iris bei solchen Treffen fühlte. »Paul ist draußen im Garten«, sagte Anna. »Ich muß dringend nach ihm sehen. Noch mal danke, Iris.« Anna legte auf, horchte noch einmal nach Tracy und machte sich wieder Richtung Veranda auf. Dann erinnerte sie sich daran, daß sie Paul einen Keks versprochen hatte. Sie kramte in der Speisekammer, bis sie die Butterkekse gefunden hatte, die Paul so gut schmeckten. Anna nahm zwei, und dann, nachdem sie einen Moment mit leisem Schuldbewußtsein gekämpft hatte, noch einen dritten für sich aus der Packung. Sie ging zur Verandatür und trat hinaus. »Paul«, rief sie. »Ich habe dir einen Keks mitgebracht.« Der Junge antwortete nicht. Auch auf seiner Spielwiese konnte sie ihn nicht erspähen. Wahrscheinlich spielte er im Sandkasten. Mit leicht gerunzelter Stirn ging Anna die Stufen hinab. »Paul«, rief sie laut. Sie eilte zum Zaun. »Wo bist du denn?« schrie sie. Eine plötzliche Angst schnürte ihr die Kehle zu. Sie ließ den Blick über die eingezäunte Spielwiese und den Sandkasten schweifen. Der umgekippte gelbe Bagger lag verlassen da. Das rote Auto stand am Rand des Sandkastens. Aber ihr Junge war verschwunden. »Paul«, drang es heiser aus ihrer Kehle. Ihr Blick flog den Zaun entlang, und sie erstarrte. Einen Moment blickte sie 13
ungläubig auf das Tor, das einen halben Meter offenstand. Unwillkürlich hielt sie sich am Zaun fest; die Kekse zerbröselten in ihrer Hand. »Paul«, schrie sie gellend. »Paul!« Einen Moment lang konnte sie sich nicht von der Stelle rühren. Sie bekam kaum noch Luft. Ihre Beine fühlten sich an, als steckten sie in Zement. Sie blickte hinaus in den Garten und versuchte ruhig durchzuatmen. Ihre Stimme klang schrill. »Paul, hörst du mich? So antworte doch endlich!« Der stille, verlassen daliegende Garten schimmerte im Licht des Julinachmittags. Libellen schwirrten über den sonnenbeschienenen Rasen. Hinter der Schaukel und dem Schuppen am anderen Ende des Gartens raschelte es im Dunkel der hoch aufragenden Bäume. Keine Spur von ihrem Sohn. Anna ließ den Zaun los und zwang sich, ans andere Ende des Gartens zu gehen. Sie suchte den Rasen ab, blickte in die Bäume, hielt Ausschau nach seinem gestreiften T-Shirt, der gelben Baseballmütze, seiner rosigen Haut. »Paul!« schrie sie. Wie hatte er seine Spielwiese überhaupt verlassen können? Sie ging zurück und besah sich das Tor genauer. Eine der Schrauben am Schnappschloß fehlte. Vielleicht war das Schloß nicht richtig eingerastet. Ich hätte genauer hinsehen müssen, dachte sie. Warum habe ich nicht noch mal am Tor gezogen, um mich zu überzeugen, daß es auch richtig zu war? Er hatte wahrscheinlich nur leicht daran rütteln müssen, und schon war es auf gewesen. Wo war er nur? Im selben Augenblick erinnerte sie sich an die Katze. Er war völlig verrückt nach dem Kätzchen gewesen. Er mußte dem Tier in den Wald gefolgt sein. Wahrscheinlich war er noch ganz in der Nähe. Anna rannte los, und schon befand sie sich mitten zwischen den Bäumen, rief heiser nach ihrem Kind. Panisch stürzte sie mal in diese, mal in jene Richtung. Sie erhaschte einen Blick auf etwas Goldbraunes, das sich bewegte. »Paul!« rief sie. Ein vertrocknetes Farngebüsch verschwamm vor ihren naßgeweinten 14
Augen. Sie lief weiter über den moosigen, laubübersäten Waldboden, spähte hinter jeden einzelnen Baum. Während sie weiterstolperte, drang der Verkehrslärm vom Highway an ihre Ohren. »Bitte, lieber Gott«, flüsterte sie. »Bitte mach, daß ihm nichts passiert ist. Paul, Mommy braucht dich doch.« Wieder rief sie nach ihm, hörte ihre eigene tränenerstickte Stimme. Sonst herrschte nichts als Stille um sie herum. Urplötzlich nahm sie eine Bewegung zwischen den Bäumen wahr. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie abrupt herumschnellte. Am Fuße eines Baums saß die niedliche schwarzweiße Katze und fixierte sie mit unverwandtem Blick. Annas Lippen begannen unkontrolliert zu zittern. Sie spürte, wie das Beben auf Arme, Hände und Knie überging, bis es sie schließlich von Kopf bis Fuß ergriffen hatte. Sie war schweißgebadet. Sie starrte die Katze an, die sie unbewegt musterte. Tränen liefen ihr über die Wangen. »Wo ist mein Junge? Paul!« schrie sie. Ihr angsterfüllter Schrei übertönte das Grollen des Verkehrs auf dem Highway, das Rauschen der Bäume, verlor sich in der drückend schwülen Sommerluft. »Morgen früh ganz zeitig«, sagte Detective Mario »Buddy« Ferraro, richtete sorgfältig seine dunkelblaue Krawatte und knöpfte sich die graue Sportjacke zu. »Wir kommen, sobald es hell wird, und dann machen wir weiter mit der Suche nach Ihrem Jungen, Mr. Lange. Wir werden ihn schon finden. Wir tun alles, was in unserer Macht steht. Alles. Aber jetzt ist es zu spät. Da draußen ist es stockdunkel, und die Leute sind todmüde.« »Verstehe«, sagte Thomas mit tonloser Stimme. Er sah aus dem Fenster, ließ den Blick über die Männer und Frauen schweifen, die in seinem Garten standen, Taschenlampen schwenkten und leise miteinander redeten – Polizisten, Nachbarn, Leute aus dem Ort, die durch den lokalen Fernsehsender von Pauls 15
Verschwinden erfahren hatten. Sogar ein paar Jugendliche von der Highschool hatten sich erboten, bei der Suche nach Paul mitzuhelfen. Die Suche hatte um drei Uhr nachmittags begonnen; seitdem hatte die Zahl der freiwilligen Helfer stetig zugenommen. Mit aschfahler, ausdrucksloser Miene starrte Thomas die Leute an; er trug immer noch seinen Anzug, der vom stundenlangen Umherstreifen im Wald und am Highway zerknittert und verdreckt war. Die lose Krawatte hing wie eine Henkerschlinge um seinen Hals. »Die Leute müssen dringend ins Bett, und Sie sollten sich auch ein wenig Ruhe gönnen«, sagte der gutaussehende, braungebrannte Detective. »Ganz besonders Ihre Frau. Hat der Doktor ihr etwas gegeben?« »Er war vorhin hier«, erwiderte Thomas. »Er hat ihr ein paar Schlaftabletten dagelassen. Eine Beruhigungsspritze wäre wohl besser gewesen, aber wegen des Babys …« Seine Stimme versagte. »Kümmern Sie sich um sie«, drängte ihn der Detective. »Wir sind vor Sonnenaufgang wieder zurück. Wir finden Ihren Jungen, Mr. Lange. Ganz bestimmt.« Er faßte den hilflos vor ihm stehenden Vater kurz an der Schulter, ließ ihn aber sofort wieder los. »Ich würde mich gern noch von Ihrer Frau verabschieden.« Mit einem Kopfnicken wies er zum Eßzimmer. Wie betäubt ging ihm Thomas voran. Anna saß am Eßtisch; ihr Kopf ruhte auf ihren Unterarmen. Neben ihr saß Iris Stewart, die verkrampften Hände im Schoß, und sah Anna traurig an. Ihr Mann Edward trug einen maßgeschneiderten Nadelstreifenanzug und stand mit ernstem Gesichtsausdruck hinter den beiden. Besorgt sahen die Stewarts auf, als Thomas und Detective Ferraro das Eßzimmer betraten. Anna rührte sich nicht. Thomas beantwortete die unausgesprochene Frage mit einem knappen Kopfschütteln. 16
»Mrs. Lange«, sagte der Detective leise. Erschöpft hob Anna den Kopf. Ihr Gesicht wirkte aufgedunsen; die Augen waren rot und geschwollen. Sie legte die zitternden Hände flach auf den Tisch. Buddy Ferraro spürte einen Kloß im Hals, als er in ihr Gesicht blickte. »Mrs. Lange, ich muß die Suche für heute abbrechen. Es ist schon zwei Uhr. Wir machen gleich morgen früh weiter.« »Es ist schon so spät«, sagte sie. »Wir müssen ihn finden.« »Das werden wir auch, Mrs. Lange. Aber jetzt brauchen wir alle ein wenig Schlaf.« Mühsam erhob sich Anna. »Dann suche ich allein weiter«, sagte sie. »Ihr habt doch schon aufgegeben.« »Nein, Anna«, protestierte Iris. »Das darfst du nicht denken.« Der Detective räusperte sich. »Wir geben nicht auf«, sagte er. »Wir unterbrechen die Suche nur für ein paar Stunden. Sobald es wieder hell ist, setzen wir sie fort.« Ein unendlich schmerzlicher Ausdruck erschien auf Annas Gesicht. Stumm begann sie zu weinen; Tränen strömten ihr über die Wangen. »Versuchen Sie ein wenig zu schlafen«, sagte der Detective hilflos. »Wir sehen uns in ein paar Stunden wieder.« »Ihr solltet auch ins Bett gehen«, sagte Thomas zu seinen Nachbarn. »Laß mich hier auf der Couch schlafen«, bat Iris. »Komm, Iris«, sagte Edward. »Die beiden brauchen jetzt ihre Ruhe.« »Es geht schon«, versicherte ihr Thomas. »Mach dir keine Sorgen.« Iris zögerte. Dann ergriff sie Annas Hand. »Ich bin gleich nach dem Aufstehen wieder bei dir«, versprach sie.
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»Danke für alles«, sagte Thomas. Edward schüttelte seine Hand, bevor er Iris zur Eßzimmertür lotste. Eine Weile war es still im Haus. Anna stöhnte leise auf und vergrub das Gesicht in den Händen. Mit gesenktem Kopf flüsterte sie: »Ich war doch nur ein paar Minuten bei Tracy.« Thomas setzte sich seiner Frau gegenüber und starrte die Wand an. »Das weiß ich doch«, sagte er mit erstickter Stimme. »Du kannst nichts dafür, Liebes. Es ist nicht deine Schuld.« Anna gab keine Antwort. Stumm saßen sie da. Ein paar Minuten später sagte er: »Laß uns schlafen gehen.« Ein schwaches Jammern drang aus dem Obergeschoß an ihre Ohren. Anna schrak zusammen. Einen Moment saß sie wie erstarrt da, bevor von einer Sekunde auf die andere alle Kraft aus ihrem Körper zu weichen schien. »Tracy ist aufgewacht«, sagte Thomas. Er warf seiner Frau einen Blick zu, doch Anna reagierte nicht. »Soll ich nach ihr sehen?« fragte er. Anna wich seinem Blick aus. »Wenn es dir nichts ausmacht«, sagte sie. »Ich muß hier noch Ordnung machen.« Vage deutete sie auf die leeren, fleckigen Kaffeetassen, die die Suchmannschaft hinterlassen hatte. »Das ist jetzt nicht wichtig, Liebes«, sagte Thomas. »Komm mit nach oben.« »Nein, das muß noch aufgeräumt werden.« Sie erhob sich und begann mit zitternden Händen Tassen und zerknüllte Servietten einzusammeln. Thomas wollte etwas erwidern, sagte dann aber doch nichts. Müde stand er auf und machte sich durch das dunkle Wohnzimmer auf zur Treppe. Plötzlich ertönte hinter ihm ein lautes Krachen. »Ahhhh …« hörte er Anna aufschreien. Thomas stürzte zurück ins Eßzimmer. Anna saß zusammengekrümmt auf dem Boden 18
und hielt sich den Bauch; um sie herum lag zerbrochenes Porzellan. »Was ist, Liebes?« rief er, eilte zu ihr und nahm sie in die Arme. »Was ist mit dir?« Sie war totenblaß. Ihr Atem ging schwach, und sie hielt die Hände auf den Bauch gepreßt. »Was ist denn nur?« fragte er. »Ist etwas mit dem Baby? Soll ich den Doktor rufen?« Zögernd schüttelte Anna den Kopf. Sie holte tief Luft und richtete sich langsam auf. »Es geht schon wieder. Es ist gleich vorbei.« »Komm und leg dich hin«, beschwor er sie. »Ja. Sobald ich hier fertig bin.« Sie sah ihrem Mann kurz in die besorgten Augen, wandte den Blick aber gleich wieder ab. Tracys Jammern war lauter geworden. »Anna?« fragte er. »Ich komme gleich«, sagte sie. Sie wies auf die zerbrochenen Tassen. »Ich bin sofort bei dir.« Zögernd ließ Thomas sie los und machte sich abermals auf den Weg zur Treppe. Vom Wohnzimmer aus warf er einen bangen Blick zurück. Ohne ihn zu bemerken, sank Anna auf einen der Stühle und starrte durch ihr eigenes, verlorenes Spiegelbild im Fenster hinaus in die gähnende Dunkelheit. »Was für eine Nacht.« Buddy Ferraro seufzte, öffnete die Tür seines Wagens und setzte sich ans Steuer. Ein Streifenpolizist lehnte sich gegen die offene Wagentür. »Um wieviel Uhr geht’s weiter?« »Sagen wir, um sieben«, schlug der Detective vor. »Ich werde wohl schon eine halbe Stunde früher kommen.«
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»Die halbe Stunde wird’s wohl kaum rausreißen«, sagte der Streifenpolizist kopfschüttelnd. Der Detective musterte ihn mit finsterem Blick. »Jede Minute zählt«, blaffte er. »He, war nicht so gemeint«, sagte der junge Polizist. »Ich sehe die Sache genau wie Sie. Ich komme so früh wie möglich.« Buddy hob versöhnlich die Hand und startete den Wagen. »Dann bis nachher.« Der junge Cop klopfte auf die Motorhaube, bevor der Detective aus der Einfahrt der Langes fuhr. Buddy Ferraro fragte sich, ob er auch nur ein Auge zutun würde. Der Anblick Annas steckte ihm noch immer in den Knochen. Ihre Sorge hatte sich auf ihn übertragen, wühlte ihn zutiefst auf und erfüllte ihn mit einer Rastlosigkeit, wie er sie in seinen vierzehn Jahren bei der Polizei nur selten gespürt hatte. Ein Kind zu verlieren. Es war ein Alptraum. Der Junge schien sich geradewegs in Luft aufgelöst zu haben. Er dachte an seine Frau Sandy und seine kleinen Söhne, Buddy und Mark. Wenn ihnen je etwas zustoßen würde … Er beschloß, den Millgate Parkway zu nehmen; so würde er am schnellsten zu Hause sein. Er hatte Sandy gegen zehn angerufen, um ihr Bescheid zu geben, wann er nach Hause kommen würde, doch beim dritten Klingelton war ihm bewußt geworden, daß er sich nur überzeugen wollte, ob seine Familie wohlauf war. Buddy folgte den Schildern Richtung New York und bog schließlich auf den Zubringer zum Parkway ab; da hier Vorfahrt zu beachten war, stieg er auf die Bremse und hing für einen Moment seinen Gedanken nach. Weit und breit hatten sie keine Spur des Jungen gefunden, absolut nichts. Möglich, daß sie etwas übersehen hatten. Wenn es irgendwelche Spuren gab, würden sie sie auch finden. Er war fest entschlossen, unter keinen Umständen aufzugeben; dazu ging ihm die Sache zu nah. 20
Er schreckte aus seinen Gedanken hoch und merkte, daß er grundlos vor dem Stopschild verharrte. Auf dem Parkway war kein anderes Auto unterwegs. Er gab Gas, und der Wagen schoß vorwärts in die Nacht. Was er nicht sah, war eine Kinderbaseballmütze in einem Abwassergraben neben der Straße, nicht weit entfernt von der Stelle, an der er angehalten hatte. Obendrein wurde die Mütze von den tiefhängenden Ästen einer mächtigen Tanne verdeckt. Auf dem zerknickten Mützenschirm befanden sich eine Reihe von Schmutzflecken. Und noch etwas anderes. Ein vor Dreck starrender Scooby-Doo reckte eine Vorderpfote in die Luft. Sein zerknittertes Gesicht und sein Namenszug begannen zu erstarren, während der blutgetränkte Stoff langsam trocknete.
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1 Elf Jahre später »Wie schmeckt dir der Tee?« fragte Iris. »Hervorragend«, sagte Anna. »Ist das Minze aus eurem Garten?« Umringt von Pflanzen, saßen die beiden Frauen im geräumigen Wintergarten der Stewarts. Die Sonne schien durch das Glasdach; die Blätter der Pflanzen raschelten leise im Hauch einer Brise, die durch die offene Tür strich. Iris nickte. »Henry hat sie heute morgen frisch gepflückt.« »Ich will seit Ewigkeiten welche anpflanzen, vergesse es aber immer wieder.« »Ich sage Henry, er soll dir ein paar Setzlinge vorbeibringen«, erbot sich Iris. »Würdest du das tun? Wie lieb von dir.« Iris und Anna lehnten sich zurück, genossen den Sonnenschein und die leichte Brise. Anna bemerkte nach einem Bündel von Briefumschlägen – sorgsam adressiert in Iris’ akkurater Handschrift –, die auf dem Glastisch neben der Zierschale lagen. »Hast du etwas Besonderes vor?« fragte Anna. Ein genervter Ausdruck huschte über Iris’ Gesicht. »Oh, wir geben eine Party. Für den Freundeskreis des Krankenhauses. Das Ganze wird ziemlich aufwendig. Es geht um Spenden für das neue Herzzentrum.« Anna nickte. »Ich habe davon in der Zeitung gelesen. Aber da stand nicht, daß die Party bei euch stattfindet.« »Na ja, Edward ist eben der Vorsitzende der Stiftung.«
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Anna bemerkte, wie verkrampft Iris’ Hände in ihrem Schoß lagen. »Das schaffst du schon«, versicherte ihr Anna. »Die Party wird bestimmt ein voller Erfolg.« Iris stieß einen Seufzer aus. »Das hoffe ich«, sagte sie und deutete auf die Umschläge. »Es ist auch eine Einladung für euch dabei.« Anna fand den an die Langes adressierten Umschlag und lächelte. »Darf Tracy auch mitkommen?« »Nette Kinder sowieso.« Iris zuckte mit den Schultern. »Das war meine Idee. So wird das Ganze bestimmt etwas lockerer.« »Toll«, sagte Anna. »Wann findet die Party denn statt?« »Morgen in einer Woche. Am dreißigsten. Ich hoffe, du bist noch nicht verplant. Ich bin ein bißchen spät dran mit den Einladungen.« »Am dreißigsten«, sagte Anna leise und starrte in ihren Tee. »Das ist Pauls Geburtstag.« Sie sah wieder auf. »Er wird dieses Jahr fünfzehn.« Iris zog leicht die Augenbrauen hoch. Einen Moment betrachtete sie ihre Freundin nachdenklich. »Tatsächlich?« murmelte sie. »Nun … nun, gut. Was macht Tom heute?« »Er ist mit Tracy auf dem Tennisplatz. Ist Edward zu Hause?« »Oh, nein. Er ist beim Lunch mit Geschäftsfreunden. Er hat gerade eine neue Firma gekauft. Die Wilcox Company, wenn ich den Namen richtig behalten habe. Sie stellen Hubschrauberteile her.« Anna rührte das Eis in ihrem Glas um und sah durch die Wimpern zu Iris hinüber. Wenn man sie so ansieht, dachte Anna, würde man nie auf die Idee kommen, daß sie die Frau eines Millionärs ist. Edward, dessen Firma Privatflugzeuge baute, war stets ein Muster an Korrektheit und Eleganz, während Iris sich eher bescheiden kleidete und sich weder groß um ihre Frisur noch um ihr Make-up kümmerte. 23
Dennoch kamen sie gut miteinander aus, was Anna auf den alten Spruch zurückführte, daß sich Gegensätze anziehen. »Tja, ich muß wieder rüber.« Sie stellte ihr leeres Glas auf den Tisch und stand auf. »Anna, ich wollte dich noch etwas fragen. Wie macht sich Tracy in ihrem Job beim Tierarzt?« Anna runzelte die Stirn, während ihre Gedanken zu ihrer Tochter schweiften. »Oh, die fühlt sich pudelwohl bei den Tieren. Sie kriegt zwar kein Geld dafür, aber es scheint ihr zu gefallen.« »Na, siehst du! Alles läuft bestens«, sagte Iris. »Man muß nur ihre Interessen fördern, das habe ich mir gleich gedacht.« »Na ja, wenigstens ist das schon mal ein Anfang«, sagte Anna zerstreut, obwohl es ihr ein wenig gegen den Strich ging, wie Iris die Probleme mit ihrer Tochter vereinfachte. Ihre scheue, introvertierte Tochter verwandelte sich unausweichlich in einen launischen, schwierigen Teenager; mit jedem Tag schien sie ihre Mutter noch mehr abzulehnen. Während Iris stets so tat, als würde sich mit ein bißchen Abwechslung jede Situation zum Besten wenden. Und vielleicht war das ja auch wirklich alles, was Iris in ihrem sorgenfreien, kinderlosen Leben brauchte, dachte Anna bedrückt. »Wie wär’s, wenn ich Henry jetzt gleich bitte, ein paar Ableger für dich zu holen?« sagte Iris und öffnete die Glastür, um den strohhutbewehrten Gärtner heranzuwinken, der neben einem Beet auf der anderen Seite des Swimmingpools kniete. Plötzlich merkte Anna, daß sie die ganze Zeit unbewußt zu ihm hinübergestarrt hatte. »Nein, nein«, protestierte sie eilig. »Mach dir keine Umstände.« »Ach, das tu ich doch gern«, beharrte Iris. Anna schüttelte den Kopf, während sie ihre Freundin anlächelte, die sich so rührend um sie bemühte. Sie schämte sich 24
wegen ihrer ungerechten Gedanken, erinnerte sich daran, wie oft Iris’ Vertrauen in sie sie aufgerichtet hatte. So manches Mal, wenn sie bedrückt gewesen war, hatte ein Besuch von Iris sie wieder aufgemuntert. Sie drückte ihre Freundin kurz an sich. »Nicht heute«, sagte sie. »Zeit, daß ich mich auf die Socken mache.« »Na, wenn du meinst«, sagte Iris. »Vergiß die Party nicht. Schreib’s dir am besten auf.« »Mach ich«, sagte Anna. Sie trat aus der Tür, ging die Stufen hinab und über den leicht abfallenden Rasen am Pool vorbei, wobei sie den Gärtner grüßte. Der Weg über das Anwesen der Stewarts war lang und gewunden, doch genoß sie den Spaziergang immer wieder. Sie folgte dem Pfad durch den Garten, ging vorbei am Froschteich und durch den Weinberg, bis sie die hohe Hecke und den kleinen Bach erreichte, der ihre Grundstücke trennte. Anna beschloß, noch ein bißchen Gemüse fürs Abendessen aus dem Garten zu holen. In diesem Jahr war sie besonders stolz auf ihren Gemüsegarten. Sie hatte sich von Henry ein paar Ableger besorgt und verschiedenste Gemüsesorten gepflanzt. Alles wuchs und gedieh, wahrscheinlich, weil die Beete jahrelang brachgelegen hatten. Nachdem sie zwei riesige Auberginen, ein paar Tomaten und eine Handvoll Stangenbohnen gepflückt hatte, machte sie sich zum Haus auf. Manchmal – besonders im Herbst, wenn für Tracy wieder die Schule begann – überlegte Anna, ob sie nicht wieder arbeiten sollte. Sie entschied sich jedesmal dagegen, obwohl sie den wahren Grund dafür nie zur Sprache brachte. Sie wollte zu Hause sein, nur für den Fall. Sie wollte bereit sein, so unwahrscheinlich es auch sein mochte, daß Paul eines Tages vor der Tür stand. Anna kam an der Stelle vorbei, wo einst der Sandkasten gewesen war. Sie hielt inne, ließ sich in die rostige Hollywoodschaukel sinken und starrte mit düsterem Blick auf die Stelle, wo nun Gras und Blumen 25
wuchsen. Besser, ich erwähne Pauls Geburtstag gar nicht, dachte sie. Tom wird es sich doch nur zu Herzen nehmen. Sie wußte, daß er nicht gern darüber redete. Und doch fühlte sie sich jedes Jahr von neuem verpflichtet, das Thema aufzubringen, als sei es lebensnotwendig, daß sie seinen Namen aussprachen, sich an seine Geburt erinnerten. X-mal hatte sich Tom mit finsterer Miene von ihr abgewandt. Doch sprach sie ja nicht von Pauls Geburtstag, um ihn zu quälen. Es schien ihr einfach unendlich wichtig. Im letzten Jahr war Tom von einem Moment auf den anderen stocksauer geworden. »Anna, ich ertrage es einfach nicht mehr. Jedes Jahr die gleiche Leier. Heute wird Paul elf. Heute wird Paul zwölf. Heute wird Paul dreizehn. Wieso mußt du immer wieder damit anfangen?« »Weil er heute Geburtstag hat«, beharrte sie. »Weil ich mich daran erinnern will.« »Inzwischen ist sein Geburtstag doch nur noch ein grausiger Witz. Du redest, als würde er noch leben und jeden Augenblick zur Tür hereinkommen.« »Ja, ich glaube immer noch daran, daß er lebt«, gab sie zurück. »Du nicht, Tom? Es gibt keine gegenteiligen Beweise. Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben, Schatz.« Doch Thomas hatte sich wortlos von ihr abgewandt, und so war das Thema wieder einmal erledigt gewesen – und das ging nun schon seit Jahren so. Sie wußte nicht genau, wann sie aufgehört hatten, über Paul zu sprechen. Seit dem Verschwinden ihres Sohnes fehlte etwas in ihrer Ehe. Tom versuchte es zu kaschieren, so zu tun, als sei nichts passiert. Jedenfalls kam es Anna so vor, während sie verzweifelt nach Beistand suchte, nach Anhaltspunkten, daß sie ihren scheinbar unwiederbringlich verlorenen Sohn eines Tages wieder in den Armen halten wurde. Als hätten sie sich darauf geeinigt, vermieden sie es, über Paul zu sprechen. Es war das Beste, was sie tun konnten. 26
Von ihrem Platz auf der Hollywoodschaukel ließ Anna den Blick über den Boden schweifen, versuchte auszumachen, wo einst der Zaun von Pauls Spielwiese gestanden hatte. Aber dort wuchs nichts als Gras. Es war, als hätte es dort nie einen Zaun gegeben. Anna ging zur Veranda und betrat das kühle, stille Haus. Sie stellte ihren Korb auf der Anrichte neben der Spüle ab, drehte den Wasserhahn auf und stellte ein kupfernes Sieb in das blitzsaubere Porzellanbecken. Außer dem Rauschen des Wassers war nichts zu hören. Gewöhnlich fühlte sie sich nirgends wohler als in ihrer bestens ausgestatteten Küche, doch plötzlich überkam sie ein Anflug von Traurigkeit. Sie hielt ihr Handgelenk unter den Wasserstrahl und blickte über die Blumen auf der Fensterbank in den sonnigen Garten. Plötzlich meinte sie ein leises Pochen zu vernehmen. Sie drehte das Wasser ab und lauschte. Jemand klopfte an die Haustür. Sie trocknete sich die Hände mit dem weichen Frotteehandtuch ab, das neben der Spüle hing, eilte in die Diele und öffnete die Tür. Doch da war niemand. Als sie ein paar Schritte vortrat, erkannte sie die vertraute Gestalt eines Mannes, der die Treppe zur Einfahrt hinunterging, wo sein Wagen stand. »Buddy«, rief sie. »Hier bin ich!« Detective Mario Ferraro hielt in der Bewegung inne und wandte sich um. Die Frau vor der Haustür lächelte ihn herzlich an. Im Lauf der Jahre war sie ihm sehr vertraut geworden. Auch nachdem Pauls Fall offiziell zu den Akten gelegt worden war, hatte sie ihn immer wieder kontaktiert, ihn nach Hellsehern, anderen verschwundenen Kindern und ähnlichen Fällen befragt. Er hoffte, ihrem verzweifelten Bangen mit genügend Geduld und Behutsamkeit begegnet zu sein; er hatte jede noch so kleine Spur weiterverfolgt. »Da ist wieder diese arme Frau am Telefon«, hatte neulich ein junger Polizist namens Parker gesagt, als sie wegen eines Kindes angerufen hatte, das in Houston gefunden worden war. 27
Diese arme Frau. Er wußte, daß die anderen Cops so über sie dachten, doch insgeheim bewunderte er ihre Tapferkeit und Ausdauer. Obwohl sie ihren Sohn und auch ihr Baby verloren hatte, war es ihr gelungen, wieder ins Leben zurückzufinden; sie suchte immer noch nach ihrem Kind. Manche Leute hielten das für abnormal, doch Buddy wußte um die Logik, die hinter ihren Anstrengungen steckte. Gott sei Dank war ihm eine solche Prüfung erspart geblieben, wie er oft dachte. Er hatte beschlossen, ihr zu helfen. Eines Abends hatte Thomas ihn in die Küche geführt und sich dafür entschuldigt, daß Anna ihn ununterbrochen mit ihren Fragen behelligte. »Man dringt einfach nicht mehr zu ihr durch«, hatte Thomas gesagt. In gewisser Weise hatte den Detective das weit mehr gestört als Annas verzweifelte Erkundigungen. Dennoch hielt er seine Zunge im Zaum. »Ich bin immer für sie da«, hatte er erwidert. »Ich kann mir gut vorstellen, was sie durchmacht.« »Was ist denn mit Ihnen los?« fragte Anna, während sie ins Gegenlicht blinzelte. »Sie sehen mitgenommen aus.« Buddy Ferraro zog einen Mundwinkel hoch. »Freut mich, Sie zu sehen.« »Ich war draußen im Garten. Ich habe Ihren Wagen gar nicht gehört. Ich hoffe, Sie haben hier nicht zu lange rumgestanden.« Der Detective schüttelte den Kopf. Zögernd erklomm er die Stufen. Als er Anna gegenüberstand, sah er sie stirnrunzelnd an und preßte die Lippen zusammen. Anna hakte sich bei ihm ein und führte ihn ins Haus. »Alles wächst und gedeiht wie nie«, sagte sie. »Ich gebe Ihnen ein bißchen Gemüse für Sandra mit. Auberginen und Tomaten. Dann müssen Sie Ihre Frau nur noch überreden, Ihnen Auberginen mit Parmesan zuzubereiten. Keine Widerrede. Ich packe Ihnen eine große Tüte zusammen.« Arm in Arm traten sie aus dem Flur in das helle, L-förmige Wohnzimmer. Im Raum verteilt waren Pflanzen und Stapel von 28
Zeitschriften; auf dem Sofa und den Sesseln lagen Zierkissen. Anna ließ den Detective los und wies auf einen Stuhl neben dem Kamin am anderen Ende des Raums. »Setzen Sie sich doch«, sagte sie. »Wir haben uns ja seit Ewigkeiten nicht gesehen. Ich freue mich wirklich.« Sie entfernte ihr Strickzeug von einem zweiten Stuhl und setzte sich ihm gegenüber. Buddy rutschte auf der Kante des Stuhls herum und beugte sich vor. »Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Ein Wasser oder ein Bier?« Der Polizist schüttelte den Kopf. »Ich freue mich auch, Sie zu sehen«, sagte er leise. »Aber ich bin nicht einfach so vorbeigekommen. Es gibt Neuigkeiten.« Anna holte so tief Luft, als hätte er sie ins Gesicht geschlagen. Im Lauf der Zeit hatte sie sich gleichsam in eine enttäuschte Verliebte verwandelt, die auf einen Liebesbrief wartete, der nie eintraf; sie erwartete zwar den Postboten, aber keine Nachricht mehr. Und jetzt stellte der Detective mit einem Mal ihr Leben auf den Kopf. Sie sah ihm in die Augen, versuchte zu erkennen, was für Neuigkeiten er haben mochte. »Ist Thomas zu Hause?« fragte er. »Ich würde ihn gern ebenfalls dabeihaben.« »Nein … er ist unterwegs«, flüsterte sie. Buddy Ferraro runzelte die Stirn. »Vielleicht sollten wir lieber …« »Es geht um Paul, nicht wahr?« sagte sie. Sie verschränkte die Hände und preßte die Knöchel an die Lippen. »Sagen Sie es mir«, wisperte sie. Buddy nickte und räusperte sich. »Anna«, sagte er. »Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen beibringen soll. Es wird ein Schock für Sie sein.«
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Anna begann den Kopf zu schütteln, während sie ihn weiter anstarrte. Buddy zögerte. »Wir haben Paul gefunden. Er lebt.« Anna hielt ihre zitternden Fäuste an den Mund und schloß für einen Moment die Augen. Seine Worte hingen in der Luft, warteten gleichsam darauf, von ihr verstanden zu werden. Doch hatte eine Angst Besitz von ihr ergriffen, die sie zu lähmen schien. Sie fühlte sich, als ob sich in dem Moment, in dem sie die Tragweite seiner Worte wirklich erfaßte, alles irgendwie wieder in Luft auflösen würde – daß sich alle Hoffnung, alle Gebete und alles, an das sie sich im Laufe der Jahre geklammert hatte, von einer Sekunde auf die andere unausweichlich und für immer verflüchtigte. »Lügen Sie mich nicht an, Buddy«, warnte sie ihn mit bebender, kaum hörbarer Stimme. »Das würde ich nie tun, Anna, das wissen Sie genau. Es ist die Wahrheit. Sie können mir glauben. Er lebt.« Erstaunt merkte Buddy, wie ihm Tränen in die Augen traten. Er preßte die Lippen zusammen und lächelte sie schief an. Wie erstarrt saß Anna auf ihrem Stuhl. Dann, wie in Trance, ließ sie sich langsam auf die Knie gleiten und schlang die Arme um sich. Sie hielt den Kopf gesenkt; ihre Augen waren geschlossen. Buddy sprang auf, bereit, sie aufzufangen, da er im ersten Augenblick dachte, sie sei ohnmächtig geworden. Dann verstand er, atmete tief aus und setzte sich wieder. Er senkte den Kopf und bekreuzigte sich rasch. Als Anna den Blick hob, erinnerte ihr Gesicht an eine Blume, deren feine Blüten sich nacheinander öffnen. Buddy streckte eine Hand aus. Anna ergriff sie und drückte sie mit eiskalten Fingern. »Erzählen Sie mir alles«, wisperte sie mit erstickter Stimme. »Wo ist er? Wie geht es ihm? Ist er in Sicherheit?«
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»Es geht ihm gut«, sagte Buddy, griff in die Tasche und reichte ihr sein Taschentuch. »Hier.« Während Anna sich die Augen wischte, begann der Detective: »Heute morgen rief ein Sheriff an, aus Hawley, West Virginia. Ein Pfarrer hatte sich bei ihm gemeldet; er konnte beweisen, daß Paul all die Jahre bei einem Paar namens Albert und Dorothy Lee Rambo gelebt hatte. Offenbar litt die Frau an unheilbarem Krebs – jedenfalls hat sie sich letzte Woche mit dem Pfarrer in Verbindung gesetzt, einem gewissen Reverend Orestes Foster, und ihm einen Brief übergeben, den er an ihrem Todestag öffnen sollte. Vorgestern ist sie gestorben. Der Brief enthielt das Geständnis, daß sie und ihr Mann Paul entführt und als ihren eigenen Sohn aufgezogen hatten. Der Brief enthüllte auch Pauls wahre Identität. Anscheinend kannten sie sie von Anfang an.« »Und Sie sind sicher, daß es sich wirklich um Paul handelt.« Buddy nickte. »Es ist Ihr Junge, ganz sicher. Man hat die Kindersachen gefunden, die Paul am Tag seiner Entführung trug. Fotos. Und so weiter. Offenbar glaubte die Frau, daß ihre Krankheit eine Art Strafe für ihr Verbrechen sei. Sie wollte reinen Tisch machen und sichergehen, daß der Junge wieder zu seinen richtigen Eltern kommt.« »Was ist mit ihrem Mann?« Buddy zog eine Grimasse. »Tja, da gibt es ein kleines Problem. Es sieht so aus, als hätte sie ihm von der Sache erzählt, da er sich noch vor ihrem Tod aus dem Staub gemacht hat. Seitdem ist er auf der Flucht. Der Bursche ist offenbar leicht geistesgestört. So wie ich es verstanden habe, hat er einige Zeit in geschlossenen Anstalten verbracht.« »O Gott, nein.« »Soweit wir feststellen konnten, hat er Paul nie etwas zuleide getan. Er ist wohl einfach nicht ganz richtig im Kopf. Seine Frau war anscheinend ganz normal. Sie arbeitete als Krankenschwester und hat sich um die beiden gekümmert. Wie auch 31
immer, die Polizei ist bereits auf der Suche nach dem Kerl. Das FBI auch. Sie werden ihn schon finden.« »Wo ist Paul jetzt? Wann kann ich ihn sehen?« »Er wird noch von den Beamten in Hawley befragt. Sie wollen die Geschichte von Grund auf klären. Bis ins kleinste Detail. Sie sind immer noch ziemlich geschockt. Schließlich lebten die Rambos schon seit Ewigkeiten in dem Ort. Sie hätten den Sheriff mal hören sollen.« Buddy gab ein kurzes Kichern von sich. »Der sprach so breit, daß ich ihn kaum verstehen konnte.« »Buddy, ich will meinen Sohn sehen«, wiederholte Anna. Buddy drückte ihre Hand. »Vertrauen Sie mir, Anna. Paul ist in besten Händen. In ein paar Tagen können Sie ihn in die Arme schließen.« »Ich kann aber nicht noch länger warten!« »Wir wollen einen Medienauflauf vermeiden. Paul muß auch erst einmal mit der Sache fertig werden. Besser, wir hängen das Ganze nicht an die große Glocke.« Ratlos schüttelte Anna den Kopf. »Sie haben recht. Ich weiß, Sie haben das alles gründlich überlegt.« »Da gibt’s eine Menge Dinge, die erst noch ans Tageslicht gebracht werden müssen. Zum Zeitpunkt seiner Entführung war Paul zu jung, um sich an die damaligen Ereignisse erinnern zu können. Wir versuchen dennoch, alle Informationen zusammenzutragen. Aber am wichtigsten ist erst einmal, daß er lebt. Daß wir ihn endlich gefunden haben.« »Ich kann das erst glauben, wenn ich ihn in den Armen halte.« »Tja, es ist die Wahrheit. Ehe Sie sich versehen, ist Ihr Junge wieder da.« Anna sah mit ernsten, verweinten Augen zu ihm auf. »Ich habe nie aufgegeben, Buddy. Manchmal habe ich gedacht, ich würde den Verstand verlieren. Aber ich wußte immer, daß er eines Tages nach Hause zurückkehren würde.« 32
»Und Sie hatten recht«, sagte der Detective. Erneut begannen Tränen über Annas Wangen zu strömen. Zum ersten Mal seit elf Jahren stellte sie sich ihren Sohn vor, ohne daß sich ihr Herz zusammenzog; vor Freude schlug es ihr bis zum Hals. Wie er wohl aussehen mochte? Was für ein Mensch er war? Würde er sie erkennen, und sie ihn? Abrupt wandte sie ihren Blick dem Detective zu. »Ich muß es Thomas sagen. Und Tracy. Ich muß sofort zu ihnen.« »Wo sind sie überhaupt?« fragte Buddy. »Drüben im Park auf dem Tennisplatz. Ich muß los.« Anna rappelte sich auf und sah sich bestürzt um. »Die Schlüssel. Wo habe ich nur die Autoschlüssel hingelegt?« Sie wischte sich über das Gesicht, doch die Tränen strömten unablässig weiter. »Kein Problem.« Buddy erhob sich. »Ich fahre Sie rüber. In Ihrem Zustand sollten Sie sowieso nicht Auto fahren.« Einlenkend hob Anna die Hände. »Sie haben recht. Okay, gehen wir.« Auf dem Weg zum Park sprachen Anna und Buddy nur sehr wenig. Als Buddy kurz zu Anna hinüberblickte und das feine Profil ihres Gesichts sah, konnte er sich eines Gefühls der Sorge nicht erwehren. Das Leid hatte sich tief in ihre Züge eingegraben; ihre Stirnfalten fielen am meisten auf. Ihr weiches braunes Haar war von grauen Strähnen durchzogen. Doch ihre Augen leuchteten, und ihre sonst so blasse Haut hatte Farbe bekommen. Die Jahre hatten von ihr und ihrer Familie einen hohen Tribut gefordert. Er schickte ein stummes Gebet gen Himmel, daß ihr weiteres Leid erspart bleiben möge. Und doch wurde er das beunruhigende Gefühl nicht los, das ihn schon den ganzen Tag umtrieb, sobald er an Pauls Rückkehr dachte. Sie passierten die beiden Steinsäulen rechts und links des Parkeingangs. Nervös wies ihm Anna den Weg zu den Tennisplätzen, die hinter dem Baseballfeld lagen. Als sie vorfuhren, erspähte Anna durch die Kletterrosen und den grünen Maschendrahtzaun 33
Tracys staksige, in einer violetten Radlerhose steckende Beine und Thomas’ durchtrainierte, weißgekleidete Gestalt. »Okay«, sagte sie laut und deutlich, als wolle sie sich für die bevorstehende Begegnung wappnen. »Soll ich auf Sie warten?« Anna wandte sich zu ihm und sah ihn zerstreut an. Dann schüttelte sie den Kopf. »Ich fahre mit Tom nach Hause. Buddy, ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.« Sie beugte sich zu ihm, drückte ihn fest an sich und stieg aus. Die Hand am Türgriff, drehte sie sich noch einmal zu ihm. Besorgt runzelte sie die Stirn. »Was ist denn?« fragte er. »Buddy, ich muß dauernd an diesen Mann denken, diesen …« »Rambo?« »Ja. Sie haben gesagt, er sei nicht ganz richtig im Kopf. Man weiß doch nie, was solche Menschen …« Buddy versuchte ihre Ängste zu zerstreuen, indem er schlicht abwinkte. »Wenn Sie mich fragen, wird der Kerl im wahrsten Sinne des Wortes das Weite suchen – auf jeden Fall wird er sich bestimmt nicht in Ihre Nähe begeben. Ich rufe Sie morgen an und gebe Ihnen Bescheid, wann Paul nach Hause kommt. Wir tun unser Bestes, um kein Aufsehen zu erregen. Und jetzt weihen Sie Ihre Familie in die guten Neuigkeiten ein.« Anna lächelte und schlug die Autotür hinter sich zu. »Viel Glück«, rief Buddy noch, ohne selbst so recht zu wissen, warum. Grübelnd sah er ihr nach, wie sie zum Tennisplatz eilte. Er hatte ihr einiges von dem vorenthalten, was ihm der Sheriff von Hawley über die schwere Geisteskrankheit Albert Rambos mitgeteilt hatte. Auch hatte er ihr verschwiegen, daß der Sheriff den Jungen, den Anna mit so großer Freude erwartete, als bockigen, zutiefst verstockten Bengel beschrieben hatte. Warum sie beunruhigen? dachte er. Alles wird sich zum Besten wenden. 34
Und doch wurde Buddy dieses beklemmende Gefühl nicht los. »Jetzt zeig ich’s dir!« rief Tracy, als der Ball auf die Schlägerbespannung traf und zischend durch die Luft schoß. Thomas sah den Ball heranfliegen und holte aus, um den Ball mit voller Wucht zurückzuschlagen, doch dann verlor er die Konzentration, als er plötzlich Anna erblickte, die den Platz betreten hatte und auf ihn zueilte. Er lächelte und winkte, runzelte aber die Stirn, als er ihren Gesichtsausdruck sah. »Mutter!« rief Tracy mit schriller, zorniger Stimme. »Geh sofort runter vom Platz! Du hast hier nichts zu suchen!« Anna schien ihre Tochter gar nicht wahrzunehmen. Sie lief zu Thomas und blieb zwei Schritte vor ihm abrupt stehen. Sie verschränkte die Finger und blickte ihrem Mann ernst in das verblüffte Gesicht. »Tom, ich muß dir etwas sagen.« »Was ist denn, Schatz?« fragte er besorgt. »Ist irgendwas passiert?« »Es geht um Paul.« Ein angespannter Zug erschien um Thomas’ Lippen; er musterte sie mit müdem Blick. »Anna, wir sind mitten im Spiel«, sagte er. »Was ist denn los?« rief Tracy von der anderen Seite. Die Spieler auf dem angrenzenden Platz beäugten sie kurz durch den Drahtzaun, ehe sie ihr Spiel fortsetzten. »Tom, Buddy Ferraro war gerade bei mir. Sie haben Paul gefunden. Er lebt. Die Frau, die ihn entführt hat, ist gestorben und hat ein Geständnis hinterlassen. Tom, es geht ihm gut. Er kommt nach Hause. Paul kommt wieder nach Hause.« Erschöpft vergrub sie ihr Gesicht in den Händen. Thomas starrte seine Frau ungläubig an. »Was?« flüsterte er. Anna nickte. »Es ist wahr. Glaub mir, es ist die Wahrheit. Paul kommt endlich wieder nach Hause.« 35
Thomas war, als würde das Rauschen in seinen Ohren ihre Worte übertönen; Worte, mit denen er niemals gerechnet hatte. Als er sich seinen Sohn vorzustellen versuchte, herrschte nur gähnende Leere in seinem Kopf; nichts tat sich auf außer dem schwarzen Loch, mit dem er im Lauf der Jahre die Erinnerung an Paul bewußt ausgelöscht hatte. Anna hob den Blick und ergriff seine Hände. Die Wärme ihrer Finger und der innige Ausdruck ihrer Augen lösten ihn aus seiner Starre. Jäh durchströmte ihn ein Gefühl unendlicher Zärtlichkeit. Sie stand aufrecht vor ihm, wie ein Schößling, der einen erbarmungslosen Sturm überstanden hat. Er schlang die Arme um sie und drückte sie an seine Brust; linkisch ruhten seine Hände auf ihrem Rücken. »Ich habe es immer gewußt«, sagte sie, die Wange an sein schweißfeuchtes Tennishemd gepreßt. »Ich wußte, daß er lebt. Ich wußte, daß er eines Tages zurückkommt.« Thomas strich ihr über das Haar. »Paul lebt«, murmelte er. »Ja, du hast es immer gesagt. Ich hätte nie … Ich kann es immer noch kaum glauben.« Anna entwand sich ihm und sah ihrem Mann in die Augen. Sie spürte, wie abermals Tränen in ihr aufstiegen. »O Schatz«, flüsterte sie. Thomas umklammerte ihre Arme, während er sich wünschte, ebenfalls weinen zu können, doch fühlte er nur einen verhärteten Knoten in der Magengrube. »Wie ich mich freue«, sagte er. »Gott, das ist einfach unglaublich.« »Schluß jetzt«, rief Tracy von der anderen Seite des Tennisplatzes. Wütend warf sie den Schläger auf den Boden und marschierte zum Ausgang. »Ich weiß zwar nicht, was ihr da zu bereden habt, aber ich bin zum Tennisspielen hierhergekommen!« »Nein, Tracy«, rief Anna, löste sich aus Thomas’ Griff und eilte zu ihrer Tochter. Sie hielt sich an der Kante des Netzes fest. »Tracy, warte! Wir müssen dir etwas sagen. Warte auf mich, 36
bitte!« Anna wollte nicht, daß die anderen Spieler etwas mitbekamen. Trotzig öffnete Tracy die Tür im Maschendrahtzaun. »Tracy, hör mir zu«, beschwor Anna sie. »Man hat deinen Bruder gefunden. Paul. Paul kommt zurück nach Hause.« Tracy wandte sich um und musterte ihre Mutter, die sich über das Tennisnetz beugte. Hinter ihrer Mutter stand reglos ihr Vater mit schlaff herabhängenden Armen. Langsam wich das Blut aus Tracys sonnengebräunten, mit Sommersprossen übersäten Wangen. Wie angewurzelt stand sie da und sah mit leeren, geweiteten Augen zu ihren Eltern herüber. Einen Moment lang lag ihre Hand wie erstarrt auf der Klinke der Maschendrahttür. Dann ließ sie die Hand kraftlos sinken, während die Tür zurückschwang und scheppernd ins Schloß fiel.
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2 »Zeit zum Aufwachen, Dornröschen.« Anna öffnete mühsam die Augen, als würde sie aus einer Narkose erwachen, und sah sich schlaftrunken um. Thomas stand im Morgenmantel neben dem Bett; in den Händen hielt er ein Frühstückstablett, geschmückt mit einer Dahlie aus dem Garten, die er in ein Saftglas gestellt hatte. Sie zog sich die Decke über die Brust und setzte sich verschlafen lächelnd auf. »Was ist das denn, Schatz?« »Eier, Toast, Kaffee und Bloody Marys!« Er strahlte sie an. »Ich habe die Milch vergessen. Hier, halt mal«, sagte er und plazierte das Tablett auf ihrem Schoß. »Bin gleich wieder da.« »Wie spät ist es denn?« rief sie ihm hinterher. »Fast elf. Ich dachte, ein bißchen Schlaf würde dir guttun.« Anna lehnte sich zurück und betrachtete lächelnd das Tablett auf ihrem Schoß. Dann ließ sie den Blick durch das sonnige Schlafzimmer schweifen. Ihr Hochzeitsquilt lag am Fußende des Betts, und ihre und Toms Sachen waren über den Boden verstreut – eine untrügliche Spur von Liebe und Ungestüm. Nach ihrer Rückkehr vom Tennisplatz am Tag zuvor hatten sie nur noch am Telefon gehangen und Freunden und Verwandten die unglaubliche Neuigkeit mitgeteilt. Thomas war schließlich zum Chinesen gefahren, um etwas zum Abendessen zu holen, und um neun zurückgekehrt. Tracy klagte über Magenprobleme und verzog sich für den Rest des Abends auf ihr Zimmer. Gegen Mitternacht hatte Thomas das Telefon ausgestöpselt und Anna geradezu ins Schlafzimmer gedrängt, wo er sie mit einer Leidenschaft und Hingabe geliebt hatte wie schon lange nicht mehr, beinahe so, als sei es die letzte Liebesnacht in ihrem Leben. Als er zum Orgasmus kam, stieß er einen fast qualvollen 38
Schrei aus, der sie bis ins Mark traf. Sie streichelte ihn, bis er eingeschlafen war, lag aber selbst beinahe die ganze Nacht wach, da sie ununterbrochen daran denken mußte, was für ein Wunder geschehen war. Es dämmerte bereits, als die Erschöpfung sie schließlich übermannte. Die Tür des Schlafzimmers öffnete sich erneut; wieder war es Thomas, diesmal mit einem Milchkännchen in der Hand. Er stellte es auf das Tablett und setzte sich vorsichtig neben sie aufs Bett. »Ach was, dann krümeln wir eben. Komm, laß uns frühstücken!« Anna streckte die Hand aus und strich ihm über die Wange. »Wie lieb von dir«, sagte sie. Thomas zuckte mit den Schultern. »Wir haben doch was zu feiern. Und gestern hatten wir ja nun wirklich nicht einen Moment für uns – bei der ganzen Aufregung!« »Wo ist denn Tracy?« »Sie hat einen Zettel hinterlassen. Sie ist mit dem Rad zu Mary Ellen gefahren.« »Ich glaube, all das geht ihr ziemlich nahe«, sagte Anna. Thomas rührte die Bloody Mary mit einem Selleriestengel um und reichte ihr das Glas. Folgsam nahm Anna einen Schluck. »Jetzt wird sich so manches ändern«, sagte Thomas. »Für uns alle. Aber am Ende wird Tracy froh sein – sie muß das alles nur erst begreifen.« Anna seufzte und schenkte ihm ein Lächeln. »Das glaube ich auch. Unser Sohn. Bald ist er wieder bei uns.« Thomas nickte und nahm sich eine Gabel Rührei. »Endlich können wir wieder ein normales Leben führen. So wie andere Familien auch.« Annas Antwort kam ein bißchen zögernd. »Nun ja, den Umständen entsprechend war unser Leben ja relativ normal.«
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»Ich weiß«, sagte Thomas schnell. »So hatte ich es nicht gemeint.« »Es wird nur einfach soviel besser sein, wenn Paul wieder hier ist.« »Ich meinte bloß«, fuhr Thomas fort, »daß diese grauenhafte Zeit nun endlich hinter uns liegt. All die Male, als du dich sofort aufgemacht hast, wenn man irgendwo ein Kind gefunden hatte. Die Nächte am Telefon, die endlose Suche, all die Gespräche. Die ganzen Verrückten, die hier zu jeder Tageszeit angerufen haben, um dir irgendwelche nutzlosen Informationen zu geben. Dazu die Reporter, die Polizei, diese Wahrsagerinnen. Ich hoffe, ich muß keinen von ihnen je wiedersehen.« »Sie haben doch nur zu helfen versucht«, sagte Anna. »Ja, sicher, aber du hast soviel durchgemacht. Das weißt du genau. Wenn unser Junge wieder da ist, können wir diese Dinge endlich vergessen. So leben, wie wir es immer wollten.« Er streckte die Hand aus und drückte ihren Arm. »Du weißt gar nicht, wie ich unser ganz normales Familienleben vermißt habe.« Anna warf ihm einen ernsten Blick zu. »Ich auch«, sagte sie. »Aber was hätten wir denn tun sollen?« Thomas griff nach einer Serviette und wischte sich über die Lippen. »Ja, natürlich«, sagte er. »Hier, jetzt iß mal ein bißchen vom Ei, bevor es kalt wird. Und dann würde ich gern wieder zu dir unter die Decke kriechen.« Anna lachte und nahm sich eine Gabel Rührei. »Sieht lecker aus«, sagte sie. »Den Job kannst du in Zukunft immer übernehmen. Hat Buddy schon angerufen? Er wollte dafür sorgen, daß wir heute mit Paul telefonieren können. Komisch, daß er noch nicht angerufen hat.« »Wenn er angerufen hat, dann umsonst«, sagte Thomas. »Ich habe nämlich das Telefon ausgestöpselt.« 40
»Tom«, protestierte Anna. »Und was ist, wenn Paul in der Zwischenzeit versucht hat, uns zu erreichen?« »Ich wollte doch nur, daß du nicht gestört wirst«, sagte er. »Du warst todmüde.« Anna legte das Tablett beiseite und streckte die Hand nach dem Telefon auf dem Nachttisch aus. »Dann stöpsle es wieder ein, Schatz. Ich muß Buddy sofort anrufen.« »Warum frühstückst du nicht erst in Ruhe zu Ende?« »Zuerst muß ich das klären.« Thomas gab einen leisen Seufzer von sich, nahm das Tablett und stellte es auf den Boden. Dann kniete er neben dem Nachttisch nieder und kümmerte sich um das Telefon. Anna beugte sich zu ihm und küßte ihn auf die Wange. »Danke.« Sie nahm den Hörer ab und begann zu wählen. Formalitäten, Papierkram und schier endlose Wartezeit hatte Anna hinter sich bringen müssen, doch nun war auch das bewältigt. Während das Licht der frühen Morgensonne durch das Küchenfenster fiel, saß sie am Tisch und plante das Willkommensmahl. Der Holztisch war übersät mit aufgeschlagenen Kochbüchern. Die Baumwollbluse begann bereits an ihrem Rücken zu kleben; ein heißer Augusttag kündigte sich an. Normalerweise strich ein leichter Wind durchs Haus, der angenehme Kühle verbreitete; nur an wenigen Tagen im Jahr wurde es so unerträglich heiß, daß sie darüber nachdachte, ob sie sich nicht doch eine Klimaanlage anschaffen sollten. Sie hoffte, es würde keiner dieser drückenden Tage werden. Pauls erster Abend zu Hause sollte in jeder Hinsicht perfekt ausfallen. Sie würde alles tun, damit es ihm hier gefiel. Anna konzentrierte sich wieder auf die Kochbücher. Er würde erst gegen neun eintreffen. Sie mußte also etwas kochen, was man entweder warmhalten oder in letzter Minute zubereiten 41
konnte. Keine leichte Entscheidung; sie wußte ja nicht einmal, was er gern aß. Ihr Blick fiel auf ein Rezept für Hummer. Hummer war etwas Besonderes, und man konnte ihn auch kalt essen. Was aber, wenn er allergisch gegen Meeresfrüchte war? Viele Leute hatten solche Allergien. Plötzlich wurde ihr klar, wie wenig sie über ihren Sohn wußte. Sie stützte das Kinn in die Hand und blickte über die üppig wachsenden Pflanzen auf dem Fensterbrett hinaus in den Garten. Sie fragte sich, wie er wohl war, wie er aussah. Während der vergangenen elf Jahre hatte sie dauernd geglaubt, ihn irgendwo zu erblicken. Auf jedem Spielplatz, auf jeder Schaukel, an Straßenecken, die sie mit dem Auto passierte, und manchmal war er ihr sogar auf dem Korridor in Tracys Schule entgegengekommen. Und jedesmal hatte ihr das Herz bis zum Hals geklopft, wenn sie hinter ihm herrannte, todsicher, daß es sich um Paul handelte. Stets hatte sie seinen Namen bereits auf den Lippen, doch wenn sie dann genauer hinsah, verschwammen die Konturen seines Gesichts, bis sich jäh herausstellte, daß es sich um einen völlig fremden, honigblonden Jungen handelte, dessen Gesicht ihr alles andere als vertraut war. Abrupt hatte sie sich dann abgewandt, ehe der Kleine die Angst und den Schmerz in ihren Augen sehen konnte. Doch heute abend würde sie die Tür öffnen, und Paul würde endlich vor ihr stehen. Sie konnte es kaum erwarten. Tracy betrat die Küche. Sie trug Sportschuhe und eine schwarze Gymnastikhose und ließ sich grußlos auf einen Stuhl fallen. Anna schob die Kochbücher beiseite. »Hast du gut geschlafen?« fragte Anna. »Ich bin von dem Krach hier unten aufgewacht.« »Oh. Ich hoffe, ich habe dich nicht gestört, Liebes. Es gibt soviel zu tun, deshalb bin ich heute etwas früher aufgestanden«, sagte Anna, ohne Tracys düsterer Miene weiter Beachtung zu schenken. »Ich habe Staub gewischt, die Möbel poliert, und 42
anschließend habe ich gebacken.« Sie stand auf, ging zur Anrichte und lüftete den Deckel der Kuchenplatte. Dann hielt sie das Werk ihrer Tochter zur Begutachtung hin. Auf dem Schokoladenüberzug stand in bogenförmigen blauen Lettern »Willkommen zu Hause, Paul«. »Ich habe einen Schokoladenkuchen gebacken, den mag er bestimmt. Na, wie findest du ihn?« Tracy starrte auf die blauen Buchstaben, ehe sie zu ihrer Mutter aufsah. »Den hast du gebacken?« Anna nickte. »Sieht doch gut aus, oder?« Tracy verschränkte die Arme und sah mürrisch drein. »Ja. Klar.« Anna stellte den Kuchen zurück auf die Anrichte und deckte ihn wieder ab. Sie wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. »Was magst du zum Frühstück, Liebes?« »Nichts«, sagte Tracy. »Ach, komm. Du kannst doch nicht mit leerem Magen …« »Okay, ich nehme einen Saft.« »Wie wär’s mit Cornflakes? Wenn du willst, kann ich …« »Nein! Ich will bloß einen Saft!« In diesem Augenblick kam Thomas in die Küche, noch damit beschäftigt, seine Manschetten zuzuknöpfen. Er blieb stehen und musterte seine Tochter. »Bei der Schwüle kriegt man doch keinen Bissen runter«, ließ Tracy ihn wissen. »Kein Grund, hier so rumzukeifen«, sagte Thomas. »Dauernd versucht sie mich zu mästen«, murmelte Tracy. Anna stellte ein Glas Saft auf den Tisch und wandte sich zu Thomas. »Du hast dich die ganze Nacht hin und her gewälzt«, sagte sie. »Ich hoffe, ich habe dich beim Aufstehen nicht geweckt.« 43
»Ich bin nur kurz aufgewacht. Wann bist du denn aufgestanden? Es war ja noch stockdunkel draußen.« »So um halb fünf. Ich konnte nicht mehr schlafen«, sagte Anna. »Ich bin einfach zu aufgeregt.« Thomas nahm sie in die Arme, drückte sie an sich und gab ihr einen Kuß auf die Stirn. »Was willst du frühstücken?« fragte Anna. »Ich bin spät dran. Ich hole mir unterwegs was beim Milchhändler.« »Oh, Tom …« »Was ist das denn?« fragte er mit Blick auf die Kochbücher. »Ich überlege, was ich heute abend zu essen machen soll. Vielleicht sehe ich lieber noch mal in meinen Frauenzeitschriften nach.« »Ich dachte, die Rezepte hättest du dir für besondere Anlässe aufgehoben«, sagte er. Ausnahmsweise paßte der alte Witz. Anna strahlte. »Ich bin so aufgeregt, daß ich keinen klaren Gedanken mehr fassen kann.« Tracy schob ihren Stuhl zurück und stand auf. Anna fragte: »Was meinst du denn, was ich kochen soll, Tracy?« »Ich gehe jetzt«, sagte Tracy. »Willst du zum Tennis?« fragte Anna. »Mmmm«, murmelte Tracy. »Wärst du so lieb, vorher deine Sachen aus dem Gäste… aus Pauls Zimmer zu räumen, damit ich dort aufräumen kann?« »Mach ich später«, sagte Tracy. »Ciao, Dad.« Thomas lächelte. »Viel Spaß«, sagte er. Anna nahm das Saftglas vom Tisch. »Ich möchte, daß du es jetzt machst.« 44
Tracy blieb stocksteif in der Tür stehen. »Ich bin zum Tennis verabredet.« »Es sind doch nur ein paar Handgriffe«, beharrte Anna. »Du hättest es längst erledigen können. Manche Dinge sind eben wichtiger als deine Verabredungen. Dein Bruder kommt heute abend zu uns zurück.« Tracy wandte sich zu ihrer Mutter. Trotzig schob sie das Kinn vor; kalter Zorn stand in ihren braunen Augen. »Ist mir doch egal«, sagte sie. »Ich gehe.« Einen Augenblick fehlten Anna die Worte, als sie in die eisigen Augen ihrer Tochter blickte. »Tracy!« sagte Thomas. »Du tust jetzt, was deine Mutter gesagt hat!« »Scheiße!« rief Tracy und stampfte aus der Küche. »Ihr könnt mich mal!« Anna schüttelte den Kopf und setzte sich. »Du meine Güte, sie ist ja völlig verdreht. Ich verstehe es nicht. Hast du mal mit ihr geredet? Ich dringe einfach nicht mehr zu ihr durch.« Thomas seufzte, während er die Zeitung in seinem Aktenkoffer verstaute. »Mir geht’s genauso«, gab er zu. »Keine Chance.« »Vielleicht ist sie eifersüchtig, weil sich alles nur noch um Paul dreht. Vielleicht fühlt sie sich zurückgesetzt«, mutmaßte Anna. »Na ja, wir haben die ganze Woche kaum von etwas anderem gesprochen«, sagte Thomas. »Ich weiß«, sagte Anna, »aber das ist doch nur normal. Schließlich handelt es sich um ein Wunder. Und natürlich freuen wir uns darüber.« »Vielleicht glaubt sie, daß es immer so weitergeht, wenn er erst hier ist«, sagte Thomas. Anna warf ihrem Mann einen fragenden Blick zu. »Was meinst du?« 45
»Ich weiß nicht«, sagte Thomas, ohne weiter darauf einzugehen. Er sah auf seine Uhr. »Das wird schon wieder«, sagte er. »Anna, wir müssen los.« Anna nickte, obwohl sie das Gespräch gern fortgesetzt hätte. Sie stand auf und holte den Autoschlüssel, den sie in einer Teetasse neben der Spüle aufbewahrte. Ihr zweiter Wagen war in der Werkstatt, was bedeutete, daß sie ihren Mann zum Bahnhof fahren mußte. Thomas schlüpfte in seine Jacke und griff nach dem Aktenkoffer. »Ich wünschte, du müßtest heute nicht zur Arbeit«, sagte sie leise. »So komme ich auf andere Gedanken«, sagte er. »Und meinen Job sollte ich wohl besser nicht aufs Spiel setzen. Schließlich habe ich jetzt noch ein Kind, das demnächst aufs College geht.« Die alten Ahornbäume wölbten sich wie ein Baldachin über die stillen Straßen von Stanwich, an denen vornehme Villen mit gepflegten Rasenflächen lagen, getrennt durch Obstgärten und steinerne Einfriedungen. Nur wenige vorbeifahrende Wagen störten den wohlsituierten Frieden. Anna steuerte den Wagen; Thomas saß schweigend neben ihr. Er hielt den offenen Aktenkoffer im Schoß und blätterte in seinen Unterlagen. »Tom …« sagte sie schließlich. »Freust du dich auch so auf heute abend?« Thomas ließ die Hände auf seinem Aktenkoffer ruhen und nickte langsam. »Ja, natürlich.« »Ich kann es immer noch nicht glauben. Es ist wirklich ein Wunder«, fuhr sie fort. »Daß unser Sohn endlich zu uns
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zurückkehrt. Endlich können wir wieder so leben wie früher. Ich hoffe bloß, daß … daß mit ihm alles in Ordnung ist.« Thomas warf ihr einen Blick zu. »Warum denn nicht?« Anna biß sich auf die Unterlippe und schwieg eine Weile, bevor sie weitersprach. »Seit wir von Paul erfahren haben, mache ich mir tausend Gedanken«, sagte sie. »Eigentlich sogar Sorgen.« »Weswegen?« Anna zögerte. »Na ja, ich habe mir gedacht, er braucht vielleicht … Schutz.« Sie hielt den Blick auf die Straße gerichtet, spürte aber, daß er sie von der Seite musterte. »Wieso? Ich kann dir nicht folgen.« »Er geht mir einfach nicht aus dem Sinn.« »Wer? Paul?« »Dieser Mann.« Sie schauderte. Einen Augenblick lang herrschte Schweigen zwischen ihnen. »Rambo«, sagte Thomas dann. »Er läuft immer noch frei herum. Offenbar ist er geistesgestört. Wer weiß, wozu er fähig ist? Es wäre doch möglich, daß er Paul in seine Gewalt bringen will. Vielleicht hat er die fixe Idee, daß Paul ihm gehört, und ist bereits auf der Suche nach ihm.« »Wir sollten den Teufel nicht an die Wand malen, Anna. Es gibt nicht den geringsten Anlaß für solche Befürchtungen.« Anna wandte den Kopf und sah ihn an. »Wie kannst du dir so sicher sein? Schließlich hat er unseren Sohn schon einmal entführt.« »Anna, paß auf die Straße auf!« rief Thomas. Der Wagen schlingerte leicht, als Anna die Kurve nahm. Dann ging es wieder geradeaus. 47
»Also«, sagte Thomas. »Die Polizei hat uns gesagt, daß sich der Kerl wahrscheinlich auf Nimmerwiedersehen aus dem Staub machen wird. Und dein Freund Buddy geht ebenfalls davon aus. Wenn sie ihn erwischen, hat er eine Anklage wegen Kindesentführung am Hals. Hier wird er sich ganz bestimmt nicht blicken lassen. So verrückt ist auch dieser Rambo nicht. Ich glaube, du solltest ihn schnellstens vergessen.« »Das leuchtet mir ja alles ein. Aber andererseits haben wir es hier doch mit jemandem zu tun, der völlig unberechenbar ist. Jemand, der rational denkt, entführt auch nicht so einfach ein kleines Kind. Wie willst du voraussagen, was so jemand als nächstes tut? Immerhin wissen wir, daß er in einer geschlossenen Anstalt …« »Okay«, unterbrach Thomas sie. »Aber da er ja offenbar schlau genug war, sich aus dem Staub zu machen, nachdem seine Frau alles vermasselt hatte, können wir wohl davon ausgehen, daß er auch schlau genug ist, der Polizei nicht direkt in die Arme zu laufen.« Anna umklammerte das Lenkrad.»Vielleicht hast du ja recht. Aber ich habe trotzdem kein gutes Gefühl.« »Herrgott noch mal, Anna«, sagte Thomas leise, als der Bahnhof in Sicht kam. »Ich dachte, du könntest die Sache endlich vergessen, jetzt, da wir unseren Jungen wiederhaben. Mein Gott, macht dir das Spaß, dich pausenlos mit neuen Sorgen herumzuschlagen? Warum läßt du’s nicht endlich gut sein?« Anna fuhr an den Straßenrand und hielt an. »Du weißt genau, daß mir meine Sorgen alles andere als Spaß machen. Aber ich kann all das nicht so einfach vergessen. Nicht nach dem, was wir durchgemacht haben. Und deine Kritik hilft mir dabei gar nicht.« »Schon gut. Es tut mir ja leid«, sagte Thomas. Er öffnete die Beifahrertür und stieg aus. Dutzende von gleich gekleideten Pendlern eilten am Volvo der Langes vorbei. Thomas warf einen 48
Blick auf seine Uhr, ging um den Wagen herum zur Fahrerseite und beugte sich zum offenen Fenster. Er gab ihr einen Kuß auf die Stirn. »Versuch ein bißchen früher nach Hause zu kommen«, sagte sie. »Ich freue mich so auf heute abend.« »Ich weiß.« Thomas lächelte etwas angespannt und machte sich auf den Weg. Anna sah ihrem Mann hinterher, bis er ihrem Blick entschwunden war, zwischen den anderen Pendlern auf dem Bahnsteig, die rastlos auf und ab gingen und nach dem Zug in die Stadt Ausschau hielten. Durch den schmierigen Wandventilator des Schnellrestaurants drang der Geruch von Toastbrot, gebratenem Speck und brutzelnden Kartoffeln hinaus auf den Parkplatz hinter der kleinen Ladenzeile. Dem im frühmorgendlichen Schatten stehenden Mann lief das Wasser im Mund zusammen. Nervös knibbelte er an seinem Gesicht; seine Finger hinterließen rote Flecke auf seinem teigigen Teint. Im Innern des Diners flachsten die Kellnerinnen und der Koch miteinander. Obwohl der Mann genau hörte, was sie sagten, verstand er ihre Witze nicht. Er hatte noch nie verstanden, was an witzigen Bemerkungen witzig sein sollte oder warum Menschen über etwas lachten. Die anderen Geschäfte hatten noch nicht geöffnet, doch hinter dem Supermarkt stand ein großer Abfallcontainer – und genau auf den Müll hatte er es abgesehen. Er sah sich um und ging an den Rückseiten der Läden vorbei auf den Container zu. Seit zwei Tagen hatte er nichts außer ein paar Schokoriegeln gegessen, die er sich an Tankstellen aus Automaten gezogen hatte. Er besaß kaum Geld und hatte in seinem Wagen in stillen Straßen abseits der Highways geschlafen. Schließlich war ihm klar geworden, daß er dringend eine Pause einlegen mußte. Die Stimmen in seinem Kopf waren so übermächtig geworden, daß er um ein Haar in eine Leitplanke 49
gefahren wäre. Er beschloß, für ein paar Nächte in einem billigen Motel abzusteigen, aber dann blieb ihm nicht mehr genug Geld, um sich etwas zu essen kaufen zu können. Doch Supermärkte warfen abgelaufene Lebensmittel in den Müll, weshalb er davon ausging, daß er im Abfallcontainer etwas Eßbares finden würde. Er warf einen weiteren Blick über die Schulter und hob den schweren Metalldeckel an. Aus dem Container drang der Gestank verdorbener Lebensmittel. Er steckte den Kopf hinein und begann den Müll zu durchforsten. Unter einer zerknüllten Zeitung entdeckte er eine offene Eierschachtel, in der sich drei kaputte und zwei heil gebliebene Eier befanden, sowie eine offene Packung Kekse. Seine Hand streifte eine eingerissene, schleimige Milchtüte, als er nach der Eierschachtel griff. Gleichzeitig warf er die Zeitung auf den Asphalt. Auf der Titelseite erblickte er ein Bild seines Sohns, der zu ihm aufstarrte. Albert Rambo schnaubte grimmig, während er sich bückte, um die Zeitung wieder aufzuheben. Dann las er den Artikel, der davon berichtete, daß Paul Langes glückliche Wiedervereinigung mit seiner Familie unmittelbar bevorstand. Er schürzte die Lippen, während er den Bericht überflog. Im Innenteil der Zeitung stieß er auf ein Foto vom Haus der Langes, einem riesigen Palast in Stanwich, Connecticut. Genau der richtige Ort für den durchtriebenen Satansbraten und sein Teufelswerk, dachte Rambo. Da oben bei den Reichen und Gottlosen von Connecticut. Er gehörte in die Hölle, zusammen mit den anderen Teufeln, das war die Wahrheit. All die Jahre hatte er ihn wie seinen eigenen Sohn aufgezogen, sich für den Bengel das letzte vom Munde abgespart. In seinem Kopf hörte er die Stimme seiner Frau. »Der Junge braucht Schuhe. Er braucht einen Mantel. Billy braucht dies, Billy braucht das.« Rambo betrachtete das Haus, in dem der ruchlose Strick, dieser Adlatus Luzifers, von nun an leben würde. 50
Paul Lange. Abermals gab er ein dumpfes Schnauben von sich. Paul Lange – das klang wie der Name eines jungen Prinzen. Dorothy Lees Stimme verhallte, während sich die anderen Stimmen erneut meldeten, gleichsam aus seinem leeren Magen aufzusteigen begannen und unablässig auf ihn einredeten. Sie sprachen von Gottes Zorn auf die Sünder, seinem Verlangen, sie zur Rechenschaft zu ziehen, sie zu züchtigen und zu zermalmen. Die Stimmen bestürmten ihn, drängten ihn, erfüllten ihn mit neuer Gewißheit. Ein Kreischen neben seinem Ellbogen ließ Rambo zurückzucken; die Stimmen verschwanden von einer Sekunde auf die andere. Eine fette Ratte rannte die Containerwand entlang und flüchtete in den Müll. Rambo warf die Zeitung zurück in den Abfall, sah sich verstohlen um und griff sich die Kekse und die Eier. Er dachte daran, daß Stanwich gerade mal dreißig Meilen entfernt lag, während er gierig das erste kaputte Ei aussog. Er wußte genau, wo sich Billys neues Zuhause befand. Er erinnerte sich gut. Er klemmte sich die Packung mit den Keksen unter den Arm und ging zu seinem Wagen.
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3 Die grauen Türme von Manhattan wurden von einer gerstenfarbenen Dunstwolke aus Hitze und Abgasen eingehüllt. Thomas sah aus seinem Bürofenster; ihm graute davor, später wieder hinaus auf die Straßen zu müssen. Als er zum Lunch gegangen war, hatte draußen drückende Schwüle geherrscht; der Asphalt schien in der Hitze langsam zu schmelzen. Er wußte nur allzu genau, was heute abend auf dem Weg zur Grand Central Station auf ihn zukam: Massen von Passanten, die einander wie fleischgewordene Autoscooter anrempelten, mit Knien und Aktenkoffern kollidierten und sich gegenseitig aus dem Weg drängten. Das dumpfe Dröhnen des Verkehrslärms auf der Madison Avenue drang bis hinauf in den neunzehnten Stock. Die Rushhour hatte begonnen. Seufzend wandte sich Thomas vom Fenster ab und warf erneut einen Blick auf die Uhr auf seinem Schreibtisch. Dank der Klimaanlage war es angenehm kühl in seinem Büro mit den großen, blitzsauberen und hermetisch verschlossenen Fenstern. Selbst das Design des Büros war kühl: beigefarbener Teppich, beigefarbene Wände, dezent blaues Sofa und ebensolche Vorhänge. Das einzige, was aus der sterilen Atmosphäre hervorstach, war ein gerahmtes Foto von Anna und Tracy auf seinem Schreibtisch. Während er die lachenden Gesichter seiner Frau und seiner Tochter betrachtete, fiel ihm ein, daß er nun auch ein Bild von Paul aufstellen mußte. Bei dem Gedanken zog sich ihm der Magen zusammen. Er griff nach dem Bericht, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Den sollte er auf jeden Fall noch lesen, bevor er nach Hause fuhr; von dem neuen Computersystem würde nicht zuletzt seine eigene Abteilung profitieren. Inzwischen war es fast fünf. Er zählte die Seiten und überschlug, wieviel Zeit ihn das kosten 52
würde. Dann schlug er das Deckblatt um und las den ersten Absatz. Es klopfte leise an der Tür. Als er aufsah, verwandelte sich sein Stirnrunzeln in einen angenehm überraschten Gesichtsausdruck. Eine elegant gekleidete junge Frau mit gewelltem schwarzen Haar lehnte sich zur Tür herein. »Haben Sie meinen Bericht schon gelesen?« fragte sie. Thomas hielt den Bericht hoch. »Ich bin fast fertig«, sagte er entschuldigend. Die junge Frau betrat sein Büro, machte es sich auf dem Sofa vis-à-vis des Schreibtischs bequem und schlug die Beine übereinander. »Soviel zu Ihrem Interesse für meine brillante Analyse«, sagte sie schmollend. »Ich finde, Sie haben in allen Punkten recht«, sagte Thomas ernsthaft. »Wir hätten uns der Sache schon vor zwei Jahren annehmen sollen. Sie haben ausgezeichnete Arbeit geleistet, Gail.« »Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen das Ganze auch bei einem Martini zusammenfassen. Beim Lesen langweilt man sich doch zu Tode«, sagte sie und fuhr sich mit der Hand übers Schienbein. »Oh, ich langweile mich gar nicht«, versicherte er ihr. »Ich habe nur Spaß gemacht«, sagte sie. »Oh«, sagte er, gleichermaßen verlegen wie geschmeichelt. Ein leiser Schauder überlief ihn, als er merkte, wie sie ihn musterte. Er tat sein Bestes, nicht allzu auffällig auf ihre Beine zu starren. »Und das mit dem Drink war auch Spaß?« fragte er. Gail Kelleher mußte laut lachen. »Keineswegs. Das Angebot steht.« Einen Augenblick lang stellte sich Thomas vor, wie er mit ihr in einer kühlen, schummrigen Bar saß, wie sie plauderten und lachten, während im Hintergrund leise Pianoklänge ertönten. 53
Dann aber erinnerte er sich, daß er dringend nach Hause mußte, und schüttelte den Kopf. »Klingt verlockend«, sagte er zerstreut. »Leider geht es nicht.« Er runzelte die Stirn und blickte wieder auf den Bericht. Sein bedauernder Tonfall entging Gail nicht. Thomas hatte gegenüber seinen Kollegen nicht davon gesprochen, doch das ganze Büro wußte, daß Pauls Rückkehr unmittelbar bevorstand. Obwohl ihr Verhältnis nach wie vor eher oberflächlich war, hatte Gail ihm mehr als einmal durch die Blume zu verstehen gegeben, daß sie jederzeit ein offenes Ohr für ihn hatte. Bei zwei Gelegenheiten hatte er sich ihr tatsächlich anvertraut. Beide Male war Anna zuvor wieder einmal losgezogen, um sich auf die Suche nach ihrem Jungen zu machen; zusammen waren sie nach der Arbeit noch in eine Bar gegangen, und nach dem zweiten Scotch ließ er ein bißchen davon durchblicken, wie sehr ihn Annas nicht enden wollende Suche frustrierte. Als Gail ihm zu verstehen gegeben hatte, wie gut sie ihm das nachfühlen könne, hatte er jedoch sofort dichtgemacht. Dennoch war Gail aufgegangen, daß dies sein wunder Punkt war. Seit ihrer ersten Begegnung schwärmte sie für diesen Mann, den sie außerordentlich attraktiv fand, und schon damals hatte sie gewittert, daß er nicht wirklich glücklich war. Auch heute blickte er so trübselig und geistesabwesend drein wie damals, als er sogar noch auf einen Drink länger geblieben war. Offenbar sah er der Rückkehr seines Sohns mit äußerst gemischten Gefühlen entgegen. »Sie wirken irgendwie ein wenig … erschöpft«, sagte sie. »Haben Sie Bammel vor heute abend?« »Was?« sagte Thomas. »Nein, eigentlich nicht. Nun ja, es war ein langer Tag. Komisch, oder? Jede Menge Glückwünsche, aber viele schleichen einfach nur um einen herum.« »Manche wissen eben einfach nicht, was sie sagen sollen.« »Verstehe ich ja.« Er seufzte. 54
Sie biß sich auf die Unterlippe. »Ich mache mir nur Sorgen um Sie«, sagte sie. »Mit mir ist alles okay«, sagte er und drehte sich mit dem Stuhl zum Fenster. »Alles bestens. Wirklich.« Gail zupfte an ihrem Ohrring. »Anna ist doch bestimmt ziemlich aufgeregt«, spann sie ihren Faden weiter. Thomas zog eine Grimasse. »Ja, die letzten Tage ging es ziemlich hektisch zu. Anna … nun ja, sie beschäftigt sich einfach mit nichts anderem mehr.« »Sie muß sicher auch eine Menge vorbereiten.« »Ja«, sagte Thomas. »Ihr ganzes Leben dreht sich nur noch um Paul.« »Seit der Entführung damals hat sie nie wieder den Weg zurück in die Normalität gefunden, nicht wahr?« Thomas musterte sie verdutzt. »Anna? Anna ist vollkommen normal. Sie ist bloß …« Er suchte nach einem passenden Wort. »Sie meinen, sie hat sich in eine fixe Idee verrannt?« fragte Gail. Thomas schien bei ihren Worten leicht zusammenzuzucken; Gail merkte, daß sie zu weit gegangen war. Er sagte keinen Ton mehr. Sie versuchte, den Mißton rasch wieder auszubügeln. »Ich kann mir gut vorstellen, welchem Streß Sie ausgesetzt sind. Das braucht eben alles etwas Zeit.« Thomas fuhr sich mit der Hand über die Augen und nickte. »Ich fühle mich einfach ein bißchen abgespannt.« Ebenso langsam wie überlegt stellte Gail die Beine nebeneinander und stand auf. Sie trat zu ihm und glitt hinter seinen Stuhl. »Was Sie brauchen«, sagte sie in gespieltem Ernst, »ist eine schöne, entspannende Massage.« Mit anmutig kreisenden Bewegungen begann sie seinen Nacken zu kneten. Sie spürte, wie sich seine Muskeln erst verhärteten, dann aber unter dem sanften Druck ihrer Finger nachgaben. 55
Thomas lachte nervös. »Das tut gut«, sagte er. Gail lächelte und fuhr fort, seinen Nacken zu massieren. »Ich habe letzten Sommer an einem Massagekurs teilgenommen«, sagte sie. »Da haben Sie bestimmt eine Eins bekommen«, sagte er. Seine Worte sollten beiläufig klingen, doch der Druck ihrer Finger schien eine tiefsitzende innere Spannung zu lösen, so daß er urplötzlich einen schweren Seufzer unterdrücken mußte, der unwillkürlich aus seiner Kehle zu dringen drohte. Ein wohliges Gefühl ergriff Besitz von ihm, während er die Augen schloß und sich ihren kundigen Händen hingab; jählings verspürte er die Begierde, sich umzudrehen und sie in die Arme zu schließen, sein Gesicht in ihrem Schoß zu vergraben. Er riß die Augen auf und entzog sich ihrem Griff. »Jetzt fühle ich mich besser«, sagte er. »So eine kleine Massage wirkt wirklich Wunder.« Demonstrativ warf er einen Blick auf seine Uhr. »Ich muß mich sputen. Mein Zug geht um zwanzig vor sechs.« Er sah auf den Schreibtisch. »Ihren Bericht lese ich dann unterwegs.« Gail schüttelte ihre Hände aus und ging zur Tür. »Falls Sie jemanden brauchen, mit dem Sie reden können, rufen Sie mich an. Sie können auch einfach vorbeikommen, jederzeit. Ich stehe im Telefonbuch. Hoffentlich läuft alles okay mit Paul.« »Danke«, sagte Thomas. »Bestimmt.« Er sah ihr hinterher, bewunderte die sinnliche Art, mit der sie sich in ihrem strengen Kostüm bewegte. Plötzlich wurde ihm bewußt, daß er sich nicht wie sonst nach seinem trauten Heim sehnte. Statt dessen wünschte er sich, mit Gail in einer dunklen Bar zu sitzen, ein paar Drinks zu kippen und alles zu vergessen. Alles außer ihren Fingern, die sanft seinen Nacken massierten. Anna wickelte die Flasche aus dem Glanzpapier, neigte den Kopf zur Seite und lächelte. Sie hielt die Flasche am Hals, 56
streckte den anderen Arm aus und umarmte ihre Freundin. »Champagner. Wie aufmerksam von euch, Iris.« Unsicher betrachtete Iris das Etikett. »Edward hat ihn ausgesucht. Es soll ein ausgezeichneter Jahrgang sein. Hast du alles soweit vorbereitet?« Anna ließ ihren Blick durch die unnatürlich blitzblanke Küche schweifen. »Ich glaube schon. Ich habe alles doppelt und dreifach gecheckt.« Iris nickte ermutigend. »Alles wird gut.« Die beiden Frauen begaben sich zur Haustür. »Es sieht nach einem wunderschönen Abend aus«, sagte Iris, während die beiden auf den Stufen vor der Haustür standen. Anna nickte und spähte mit gerunzelter Stirn nach oben, ob nicht doch Wolken im Anmarsch waren. »Mach dir keine Sorgen, Anna.« »Langsam werde ich wirklich nervös«, gab Anna zu. In diesem Moment kam ein schwarzer Cadillac um die Straßenecke und bog in die Einfahrt der Langes. Der Wagen war auf Hochglanz poliert; auf der Motorhaube, dort, wo sich sonst die charakteristische Cadillac-Kühlerfigur befand, prangte ein schimmernder goldener Adler mit weit ausgebreiteten Schwingen. »Sieh mal«, sagte Iris. »Die beiden haben sich bestimmt im Zug getroffen.« Thomas stieg aus und schloß behutsam die Beifahrertür hinter sich. Edward schaltete den Motor aus und kam hinter dem Steuer hervor. Verblüfft sah Anna, daß beide Männer lächelten. Sonst pflegten sie einen höflichen Umgang miteinander, aber Freunde waren sie nicht. Um so mehr freute sich Anna, als sie die beiden jetzt Seite an Seite über den Rasen kommen sah. Sie hob die Champagnerflasche. »Sieh mal, was wir von Iris und Edward bekommen haben«, rief sie Thomas entgegen.
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»Ganz herzlichen Dank euch beiden«, sagte Thomas. »Wirklich nett von euch, daß ihr an uns gedacht habt.« »Ach«, sagte Iris, während sie seine Hand ergriff und sie ungeschickt schüttelte, »wir freuen uns so für euch. In Gedanken werden wir den ganzen Abend bei euch sein.« »Ja«, stimmte Edward zu. Anna strahlte die beiden an, während sie sich daran erinnerte, wie selbstlos sie ihnen schon damals geholfen hatten, in jener Nacht, als Paul spurlos verschwunden war. »Mögt ihr auf einen Drink hereinkommen?« fragte Anna. Edward winkte ab. »Wir müssen nach Hause. Ich stecke bis über beide Ohren in Arbeit.« Edward hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als ein blaugrüner Van mit dem Logo eines Fernsehsenders vor dem Haus vorfuhr. »Was ist denn jetzt los?« fragte Thomas, als ein Mann im Sporthemd vom Fahrersitz rutschte und die Wagentür hinter sich zuschlug. Eine blonde Frau in einem maßgeschneiderten Kostüm gesellte sich zu dem Mann, der nun die hinteren Türen des Vans öffnete. Sie winkte den Langes zu und kam die Einfahrt hinauf. Anna gab ein leises Stöhnen von sich, als sie die Reporterin erkannte – Camille Mandeville, die über die Jahre eine ganze Reihe von Interviews mit ihr geführt hatte. Während Anna ihr über den Rasen entgegenlief, um sie aufzuhalten, stieg ein weiterer Mann aus dem Van und begann dem Fahrer zu helfen, die Videokamera und das Ton-Equipment auszuladen. »Camille, Sie haben mir versprochen, uns heute in Ruhe zu lassen«, sagte Anna. »Wir wollen unter uns sein, wenn unser Junge nach Hause kommt.«
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»Hallo, Mrs. Lange.« Die Reporterin ließ ein einstudiertes Lächeln aufblitzen. »Ich wollte schon früher bei Ihnen vorbeisehen, aber es ging den ganzen Tag über zu wie im Tollhaus!« »Bis jetzt haben sich alle kooperativ gezeigt«, sagte Anna. »Sie sollten allerdings wissen, daß uns die Polizei zugesagt hat, ungebetene Besucher sofort zu entfernen.« »Nur mit der Ruhe, Mrs. Lange«, sagte Camille in abwiegelndem Ton. »Wir bleiben nicht lange.« Inzwischen waren auch Thomas, Edward und Iris gekommen und reihten sich um Anna auf. »Hallo, Mr. Lange«, sagte Camille freundlich. »Sind das Verwandte von Ihnen?« »Das sind unsere Nachbarn, Mr. und Mrs. Stewart«, sagte Anna. Camille sah Iris und Edward mit strahlendem, wenn auch ein wenig abwesendem Lächeln an, während sie ihnen die Hände schüttelte; insgeheim überlegte sie bereits, wo der Kameramann stehen sollte. »Freut mich, Sie kennenzulernen.« »Camille, Sie haben sicher Verständnis dafür, daß uns momentan andere Dinge beschäftigen«, protestierte Anna. Camille signalisierte ihrem Kameramann, zu ihr zu kommen, wandte sich wieder Anna zu und hob einen tadelnden Finger. »Mrs. Lange«, sagte sie in nun etwas schärferem Ton. »Wie viele Male habe ich Ihre Geschichte neu aufgerollt und Ihnen Sendezeit eingeräumt, um vielleicht doch noch etwas über den Verbleib Ihres Sohnes zu erfahren? Unseren Zuschauern ist Ihr Schicksal sehr nahegegangen. Viele Menschen haben mit Ihnen gebangt und für Sie gebetet. Denken Sie nicht, daß sie auch ein Recht darauf haben, nun etwas über Ihre Gefühle zu erfahren?« Anna seufzte. Ja, viele Menschen hatten sich rührend um sie bemüht. Manchmal war ihr die Neugier der Leute auf die Nerven gegangen, doch letztlich war es ihre Unterstützung gewesen, die sie nie hatte aufgeben lassen: die Briefe anderer 59
Mütter, wildfremder Leute, die sie beschworen hatten, nicht den Mut zu verlieren. Sie sah zu Thomas, der die Reporterin mit gereiztem Blick fixierte. »Okay«, sagte Anna. »Aber bitte beeilen Sie sich.« »Wie wär’s, wenn Sie sich alle um Mrs. Lange gruppieren?« schlug Camille vor und dirigierte sie mit ihren melonenfarben lackierten Fingernägeln. »Es dauert nicht lange.« »Das tut mir wirklich leid«, sagte Thomas zu seinen verblüfften Nachbarn. »So ist es gut«, ließ sich Camille vernehmen. »Ja, nehmen Sie sie in die Mitte. Phantastisch. Das wird den Leuten gefallen. Freunde, die mit Ihnen den großen Tag feiern … Und jetzt alle lächeln.« »Machen Sie es bitte kurz, Camille«, beschwor Anna die Reporterin. »Unsere Freunde …« »Mach dir keine Sorgen, Anna«, versicherte Iris ihr. »Das ist doch mal eine amüsante Abwechslung.« Camille signalisierte mit erhobenen Händen, daß alles in Null Komma nichts über die Bühne gehen würde, und nahm ein Mikro von ihrem Kameramann entgegen. »Also dann«, sagte sie. »Nur ein paar kleine Fragen, das ist alles. Mr. Stewart, Sie zum Beispiel möchte ich fragen, wie lange Sie die Langes schon kennen, ob Sie sich an Paul erinnern, und so weiter – okay?« Camille hielt inne und musterte Edward, dessen graue Augen sich bestürzt zu weiten begannen. Der Arme, dachte Anna, als sie aus dem Augenwinkel zu ihm hinübersah. Fernsehen war nicht sein Medium. Gegen ein diskretes Portraitfoto im Wirtschaftsteil der New York Times hatte er sicher nichts einzuwenden, aber in den Zehn-UhrNachrichten neben all den Berichten über Morde, Brände und Lokalpolitik aufzutauchen, mußte ihm ein Greuel sein.
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Edward leckte sich über die Lippen und nickte der Reporterin zu. »Gut«, fuhr Camille fort, »und in dem Stil geht es dann mit Ihnen weiter, Mrs. Stewart. Anschließend werde ich dann Mr. und Mrs. Lange bitten, uns etwas über ihre Gefühle zu verraten. Soweit alles klar?« Erwartungsvoll sah sie in die Runde. Anna nickte und versuchte sich auf all die Menschen zu konzentrieren, die sie über all die Jahre mit in ihre Gebete eingeschlossen hatten. »Freunde, es gibt absolut keinen Grund zur Nervosität. Lächeln Sie einfach in die Kamera«, wies Camille sie an. »Mr. Lange, könnten Sie Ihre Frau vielleicht in den Arm nehmen?« Sie richtete den Blick auf die Kamera. »Von Zeit zu Zeit gibt es doch noch Geschichten mit Happy-End«, begann sie dann. »Und heute, hier bei Mr. und Mrs. Lange, wird ein solches Happy-End Wirklichkeit.« Anna griff nach einem der mit Troddeln geschmückten Zierkissen auf dem Sofa und drückte es an ihre Brust, während sie den Blick durch das Wohnzimmer schweifen ließ. Sie ging durch den Raum, plazierte das Kissen auf einem Polstersessel und trat einen Schritt zurück, um ihr Werk zu begutachten. Dann griff sie erneut nach dem Kissen und blieb vor dem Sekretär stehen. Thomas hatte sich ein frisches weißes Sporthemd angezogen. Er stand im Türrahmen und beobachtete sie. »Ist das ein neues Kleid?« fragte er. Anna sah an sich herunter. »Ja, das habe ich mir gestern gekauft«, sagte sie. »Ich habe vergessen, es dir vorzuführen.« Sie hielt das Kissen immer noch in der Hand. »Sieht hübsch aus«, sagte er. »Was hast du mit dem Kissen vor, Anna?« 61
Anna ließ sich auf die Sofakante sinken und legte das Kissen beiseite. Ein weiteres Mal arrangierte sie die blühende Begonie, die Zeitschriften und die Kunstbände auf dem Wohnzimmertisch. »Ich wollte es bloß woanders hinlegen«, sagte sie. »Was meinte Buddy, wann sie hier sein würden?« Anna warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »So gegen neun. Hast du das Licht in der Einfahrt angemacht?« Thomas nickte. »Wo steckt eigentlich Tracy?« Anna wies in Richtung des Flurs. »Sie ist noch oben.« Thomas setzte sich in einen der Ohrensessel. Anna faltete die Hände im Schoß und versuchte ihre Gedanken auf Thomas zu konzentrieren. »Wie war dein Tag?« fragte sie. Unwillkürlich mußte er daran denken, wie Gail ihm den Nacken massiert hatte. Er griff nach einer Zeitschrift und schlug sie auf. »Alles bestens.« »Und wie läuft’s mit dieser Computersache?« Thomas sah sie aufmerksam an. Er hatte Schuldgefühle wegen Gail, freute sich aber auch über Annas Interesse an seiner Arbeit. »Du meinst das neue Computersystem?« »Wie lange dauert es noch, bis ihr es endlich benutzen könnt?« »Nicht mehr lange, glaube ich.« »Was muß denn noch gemacht werden?« fragte sie, während sie gedankenverloren ihren Ehering hin und her drehte. »Ich bin vorhin erst den neuesten Bericht durchgegangen. Die Software ist bereits installiert, aber es muß noch einiges neu organisiert werden. Außerdem stehen noch die Mitarbeiterschulungen an.« »Auch für Kollegen aus deiner Abteilung?« Thomas legte die Zeitschrift beiseite und nickte. »Entscheidend ist, daß meine Mitarbeiter so schnell wie möglich an die notwendigen Informationen herankommen, aber das Hauptproblem liegt momentan noch darin …« 62
Auf der Treppe erklangen eilige Schritte. Gleich darauf betrat Tracy das Wohnzimmer; sie trug immer noch ihre Sportsachen. Anna musterte ihre Tochter mit ungläubigem Blick. »Tracy«, platzte sie heraus. »Wieso hast du dich nicht umgezogen?« Tracys Blick wanderte von ihrer Mutter zu ihrem Vater, der den Kopf schüttelte. »Was ist denn jetzt schon wieder los?« »So schlampig kannst du doch nicht herumlaufen«, sagte Anna. Thomas erhob sich. »Ich hole mir einen Drink. Willst du auch einen, Anna?« Anna warf Thomas einen Blick zu. »Hol doch den Champagner, den uns die Stewarts mitgebracht haben.« »Ich bin nicht in Champagnerlaune«, erwiderte Thomas säuerlich. »In der Küche ist auch noch Weißwein«, sagte Anna, ganz perplex über seinen Tonfall. »Ich habe jedenfalls Hunger«, sagte Tracy und flitzte an ihrem Vater vorbei Richtung Küche. »Es gibt doch gleich Abendessen«, rief Anna. Thomas folgte Tracy in die Küche und kam mit einem Glas Wein zurück. Er sah Anna an. »Willst du auch eins?« Anna schüttelte den Kopf. »Ich warte noch bis zum Dinner. Sobald Paul hier ist, können wir essen.« Thomas setzte sich wieder und trank das mitgebrachte Glas auf einen Zug aus. »Es gibt Steaks«, sagte Anna. »Oh«, sagte Thomas und starrte in das leere Glas. »Ich hoffe, das ist okay«, sagte sie. »Ich weiß ja nicht, was er gerne mag. Aber alle Jungs essen gern Steak, oder?« »Es wird ihm bestimmt schmecken«, sagte Thomas. Urplötzlich schoß Anna hoch. »Hörst du das, Tom?« 63
Thomas stellte das leere Glas auf den Untersetzer und stand auf. »Ich glaube, da ist gerade ein Wagen gekommen«, sagte er mit fester Stimme. »Tracy«, rief Anna laut. Statt einer Antwort drang ein urplötzliches Krachen aus der Küche. Anna lief los und riß die Küchentür auf. »Was ist denn jetzt passiert?« Tracy sah sie trotzig an. Annas Blick glitt von ihrer Tochter zu dem verformten Haufen auf dem Boden, der einmal ihr Schokoladenkuchen gewesen war. Überall auf dem Linoleum lagen Stücke der Tortenplatte. Ein weiteres Stück des Kuchens klebte an der Spülbeckenkante. Die Anrichte war über und über mit Schokolade verschmiert. »Ich wollte den Kuchen bloß zur Seite stellen. Als du plötzlich geschrien hast, ist er mir aus der Hand gefallen.« Anna ballte die Fäuste. »Du weißt genau, daß du den Kuchen nicht anfassen solltest. Ich habe ihn extra für Paul gebacken.« »Ich hab’s nicht absichtlich gemacht«, maulte Tracy. »Mach das sauber«, sagte Anna. »Auf der Stelle!« Thomas erschien im Türrahmen. »Beeil dich. Die Polizei steht in der Einfahrt.« »Sie soll das saubermachen«, beharrte Anna. »Später«, sagte Thomas. »Und jetzt laßt uns zur Tür gehen.« Tracy drückte sich an ihm vorbei, den Anflug eines höhnischen Lächelns auf den Lippen. Anna starrte wie gelähmt auf den Schokoladenhaufen. Dann ging sie in die Hocke und begann, die Überreste des Kuchens mit den Händen zusammenzuschieben. »Anna.« Thomas beugte sich über sie und zog sie sanft am Ellbogen. »Laß das jetzt.« Anna kam langsam hoch und wischte sich die Hände an dem Handtuch ab, das er ihr hinhielt. Hilflos sah sie ihren Mann an. 64
»Wir machen einfach die Küchentür zu«, sagte er. »Dafür ist später noch Zeit.« Vom anderen Ende des Flurs erklang die Türglocke. In banger Ahnung trafen sich ihre Blicke. »Da ist er, Schatz«, sagte Thomas leise. »Laß uns gehen.« Anna ergriff seine Hand. Er führte sie ins Wohnzimmer, wo Tracy auf dem Sofa hockte. Als er die andere Hand nach ihr ausstreckte, wehrte sie sie ab, ehe sie ruckartig aufstand. Wieder klingelte es. Anna eilte zur Haustür und blieb wie gelähmt vor ihr stehen. Thomas drückte sich an ihr vorbei und öffnete. Anna faltete die zitternden Hände und spähte über die Schulter ihres Mannes nach draußen. Es war eine dunkle Nacht, doch die Kutschenlampe neben der Tür warf ihr Licht über die Eingangsstufen und die dort stehende Gestalt. Vom Licht angezogen, schwärmten graubraune Motten auf die Fliegentür zu, flatterten wild mit ihren staubigen Flügeln. Durch das Muster der schwirrenden Insekten erblickte Anna das blasse, schmale Gesicht eines Jungen. Sein braunes Haar war lang und zerzaust, fiel über seine Stirn wie eine dunkle Narbe. Er trug verschlissene Jeans, schwarze, knöchelhohe Turnschuhe, T-Shirt und eine alte Militärweste mit ausgefransten Ärmeln. Seine bernsteinfarbenen, tief in den Höhlen liegenden Augen blickten mißtrauisch durch das von Nachtfaltern übersäte Netz auf das Paar, das hinter der Fliegentür stand. Thomas stieß die Fliegentür auf und hob eine Hand. »Komm herein«, sagte er. Mit zusammengezogenen Schultern quetschte sich Paul durch den Spalt und betrat die Diele. Über der Schulter trug er einen alten Seesack, unter dem anderen Arm einen Pappkarton. Einen Augenblick lang starrten sie sich wortlos an. Dann trat Anna auf ihn zu und streckte die Arme aus. 65
Der Junge hielt ihr den Pappkarton entgegen. Aus der Kiste drang das Miauen einer Katze. »Ich habe vergessen, am Telefon zu fragen, ob ich meinen Kater mitbringen darf«, sagte der Junge. Jäh vernebelten Tränen Annas Blick. Sie nickte, ohne ein Wort hervorzubringen. »Willkommen zu Hause, Paul«, sagte Thomas. »Ich heiße Billy«, sagte der Junge. Thomas starrte ihn verblüfft an. Der Junge wies auf den Namen, der auf der Brusttasche seiner Militärweste aufgenäht war. »Alle … alle nennen mich Billy«, sagte er, bevor er sich mit seinen Siebensachen an seinen neuen Eltern vorbeidrückte.
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4 Obwohl das verwitterte Holzschild des La-Z Pines Motel Zimmer mit Klimaanlage anpries, hatte das altersschwache Gerät in Albert Rambos Unterkunft nicht viel zu bieten; der Schweißfilm auf seiner Haut wollte einfach nicht verschwinden. Rambo wischte sich das Gesicht und seufzte. Sein Haar war schütter, und seine Halbglatze glänzte fahl in dem düsteren Raum. Ihm wurde leicht schwindlig, als der Geruch von gebratenem Huhn aus der kleinen gestreiften Pappschachtel, die er im Müllcontainer vor dem Kentucky Fried Chicken gefunden hatte, an seine Nase drang. Außerdem war er todmüde. Die Flucht setzte ihm zu; er konnte langsam nicht mehr. Ein niederschmetterndes Gefühl ergriff Besitz von ihm, als er abermals daran denken mußte, in welcher Klemme er sich befand. Nachdem er Dorothy Lee geheiratet hatte, war er mehr oder weniger seßhaft geworden. Davor war er kreuz und quer durchs Land gezogen, doch schließlich hatten sie sich für eine feste Bleibe entschieden. Danach waren sie nur noch zweimal umgezogen: einmal, nachdem sie sich Billy geholt hatten, und dann noch einmal, als sie sich den Wohnwagen gekauft und in dem Trailerpark niedergelassen hatten. Sicher, dazu kamen noch seine Aufenthalte in der Heilanstalt; er hatte es aufgegeben, sie zu zählen. Am Ende hatte er jedenfalls den Geschmack daran verloren, von einem Ort zum anderen zu ziehen. Davon abgesehen hatte sich Dorothy Lee stets nach einer festen Bleibe gesehnt, um dem Jungen ein Zuhause bieten zu können. Ein Anflug von Zorn überkam ihn, als er an seine Frau dachte, wich dann aber einem alles erstickenden Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Wie hatte sie ihm das nur antun können? Mit ihrem Brief an den Pfarrer hatte sie ihn den Wölfen zum Fraß vorgeworfen. Und das, obwohl er es in erster Linie für sie 67
getan hatte. Das war sein größter Fehler gewesen. Nach Billys Entführung hatte sie ihn völlig vernachlässigt, sich nur noch um den Satansbraten gekümmert. Die kleine Ratte mit dem bösen Blick. Sie hatte ihn immer in Schutz genommen, aber er wußte Bescheid. Und nun hatte er den Beweis. Seine Augen verengten sich zu bitteren Schlitzen, als er seinen Blick durch das schäbige Motelzimmer schweifen ließ. Nachdem er sich mühsam aus dem Stuhl hochgekämpft hatte, schaltete er den uralten Zenith-Fernseher an. Er wollte nicht länger grübeln, einfach nur dasitzen und sein Hähnchen essen. Morgen würde er weitere Pläne schmieden. Das Wasser lief ihm im Munde zusammen. Er wollte gerade in eine Hähnchenkeule beißen, als die Zehn-Uhr-Nachrichten begannen. Der Sprecher kündete einen Bericht über die Langes an. Erst wollte Rambo den Kanal wechseln, doch dann entschied er sich, die Nachrichten weiterlaufen zu lassen. Sosehr ihn all das auch erbitterte, zog es ihn gleichzeitig in seinen Bann. Er hoffte nur, daß sie nicht wieder das Fahndungsbild zeigen würden. Er war froh, daß es kaum Fotos von ihm gab. Sobald der Junge im Haus gewesen war, hatte Dorothy Lee dauernd nur ihn geknipst. Die Fotos, mit denen sie nach Rambo fahndeten, waren so grobkörnig und unscharf, daß man ihn nur schwer wiedererkennen konnte, ganz davon abgesehen, daß er stets eine Mütze trug, deren Schirm einen Schatten über seine Gesichtszüge warf. Kurz überlegte er, ob er sich nicht eine andere Kopfbedeckung besorgen sollte; dann aber fiel ihm ein, daß er ja sowieso kein Geld hatte. Vielleicht konnte er in einem Secondhandshop einen billigen Hut auftreiben, mit etwas Glück für einen Vierteldollar. Obwohl ihm der Gedanke mißfiel, den verdreckten Hut eines anderen zu tragen. Über die Haare fing er sich womöglich irgendwelche Krankheitserreger ein. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, als er sich sein Dilemma erneut vor Augen führte. Sein Magen zog sich unwillkürlich zusammen, und mit einem Mal war ihm jeder Hunger 68
vergangen. Die Hühnerkeule baumelte zwischen seinen Fingern, während er wie erstarrt auf dem Bett hockte, gelähmt vor Panik. Zwei Stimmen in seinem Kopf murmelten irgend etwas Unverständliches über den Tod. Rambo konzentrierte sich mit aller Macht, um zu verstehen, was sie sagten, doch ein plötzliches Magenknurren machte seine Bemühungen zunichte. Er führte die Hähnchenkeule zum Mund und biß hinein. Die Reporterin auf dem Bildschirm sprach von einem HappyEnd für die Langes, deren Haus im Hintergrund aufragte. Eine echte Villa. Und Billy, dieser Dämonensproß, durfte ab jetzt all den Luxus genießen. War das nicht der Gipfel? Das kleine Scheusal wurde auf Rosen gebettet, während er, der sich seinen Lebtag um den Jungen gekümmert hatte, zur Flucht verurteilt war. Die Hühnerkeule fiel ihm aus der Hand, und er starrte mit offenem Mund auf den Bildschirm. Der bittere Ausdruck wich aus seinem Gesicht, und urplötzlich begannen seine trüben Augen zu schimmern. Noch lange, nachdem der Beitrag vorbei war, saß Rambo auf dem Bett, während sich seine Gedanken überschlugen. Er versuchte zu begreifen, was er gesehen hatte, ehe die Stimmen in seinem Kopf wieder die Überhand gewinnen konnten. Und plötzlich ging ihm zu seiner eigenen Überraschung auf, daß Gott ihm mit diesen Fernsehbildern womöglich eine Botschaft gesandt hatte. Die Erlösung war zum Greifen nah. Mit der Gabel schob Paul die Champignons beiseite; dann begann er, die Soße von seinem Steak zu kratzen. Die Hände im Schoß gefaltet, saß Anna ihm gegenüber und beobachtete ihn. Als Paul aufsah, trafen sich ihre Blicke. Sofort starrte er wieder auf seinen Teller. »Tja«, sagte Thomas. »Was ist denn, äh, dein Lieblingsfach in der Schule?«
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Paul griff nach dem Messer und konzentrierte sich darauf, ein Stück von seinem Steak abzuschneiden. »Ich weiß nicht«, antwortete er. »Ich steh nicht so auf Schule.« »Du mußt das nicht essen, wenn es dir nicht schmeckt«, sagte Anna. »Ich kann dir auch etwas anderes machen.« Der Junge betrachtete das Stück Fleisch auf seiner Gabel und steckte es in den Mund. »Wirklich.« Anna stand auf. »Ist überhaupt kein Problem. Ich habe noch alles mögliche da. Wenn du willst, kann ich dir einen Hotdog machen.« »Nein. Ich esse das schon.« »Ich wußte ja nicht, was du gern ißt. Also, wenn du …« »Nein«, gab Paul zurück. »Anna«, sagte Thomas. »Du hörst doch, daß er nichts anderes will.« Zögernd nahm Anna wieder Platz. Schweigen senkte sich über den Tisch. »Ich wollte dich nicht unterbrechen«, meinte Anna schließlich. »Was sagtest du gerade über die Schule?« »Nichts.« Tracy schob ihren Teller beiseite; ihre Augen verengten sich, als sie das Kinn in die Hände stützte. »Worauf stehst du denn sonst?« fragte sie. Paul zuckte mit den Schultern und gab einen genervten Seufzer von sich. »Machst du keinen Sport oder so?« hakte Tracy nach. Der Junge warf ihr einen kurzen Blick zu. »Ich stehe auf Jagen«, sagte er. »Wir sind oft auf die Jagd gegangen.« »Das ist doch kein Sport«, verkündete Tracy. »Das finde ich widerlich. Man tötet keine Tiere bloß so zum Spaß.« »Tracy arbeitet im Tierheim«, erklärte Anna. »Sie liebt Tiere über alles.« 70
»Du brauchst dich gar nicht für mich zu entschuldigen«, sagte Tracy mit schriller Stimme. »Ich finde das einfach total widerlich!« »Ich mag auch Tiere«, sagte Paul. »Meinen Kater zum Beispiel.« »Ach so«, erwiderte Tracy. »Und wenn jemand plötzlich Jagd auf deinen Kater machen würde – fändest du das dann immer noch so toll?« »Tracy, es reicht«, sagte Thomas. Paul wurde blaß, während Tracy sich zurücklehnte und die Arme über der Brust verschränkte. Ihre Augen blitzten, und auf ihren Wangen bildeten sich rote Flecke. Besänftigend streckte Anna eine Hand aus, doch Tracy zuckte zurück. »Nun ja«, sagte Thomas. »Unsere Schule hier wird dir bestimmt gefallen. Sie bieten auch viele Freizeitaktivitäten an …« Seine Worte waren ihm selbst peinlich. Du weißt einfach nicht, was du mit deinem Sohn reden sollst, dachte er. Paul hielt den Blick gesenkt und schnitt sich ein weiteres Stück Fleisch ab. Anna strahlte ihn an. »New York liegt gleich um die Ecke«, sagte sie. »Da gibt es jede Menge Museen – oder wir könnten auch ins Theater gehen. Wenn du magst, machen wir bald mal einen Ausflug dorthin.« »Da soll es doch nur so vor Mördern und Gangstern wimmeln«, sagte der Junge. »Na ja«, gab Anna zurück. »Man muß natürlich vorsichtig sein.« »Ich hätte schon Lust drauf«, sagte Paul. »Meine Mom wollte da auch immer mit mir hin.« Alle schwiegen. Paul steckte sich das Fleisch in den Mund und begann geräuschvoll zu kauen. Tracy stand auf. »Äh, kann ich jetzt gehen?« 71
»Nein. Wir sind noch nicht fertig«, sagte Anna mit finsterem Blick. Sie wandte sich wieder an Paul. »Magst du vielleicht noch irgend etwas anderes?« »Habt ihr vielleicht ’ne richtig scharfe Soße? So wie bei uns im Süden.« Tracy zog eine Grimasse, und Anna warf ihr einen warnenden Blick zu. »Nein«, sagte sie. »Aber wenn du willst, kann ich dir Ketchup bringen.« »Okay«, sagte er. »Auch gut.« Anna ging in die Küche, öffnete den Kühlschrank und nahm die Ketchupflasche heraus. Dann drehte sie den Herd an, setzte den Wasserkessel auf und bereitete alles für den Kaffee vor. Aus dem Eßzimmer drang das eine oder andere gedämpfte Wort an ihre Ohren, die meiste Zeit aber herrschte Schweigen. Im Garten war es stockdunkel. Gott sei Dank hatte die drückende Schwüle nachgelassen; mittlerweile wehte ein angenehm lauer Wind. Über die Blumentöpfe auf dem Fensterbrett starrte sie hinaus in den Garten, dorthin, wo einst Pauls Sandkasten gewesen war. Als kleines Kind war ihr Sohn immer ein wenig pummelig gewesen, mit kleinen Speckfalten in seiner glänzenden Babyhaut. Die nichtigsten Anlässe hatten ihn zum Lachen gebracht. Es war einfach bezaubernd gewesen. Alles und jeden hatte er mit seinem Lachen angesteckt. Sie warf einen Blick auf die geschlossene Eßzimmertür. Dieser Junge – ihr Sohn – war spargeldünn. Seine Handgelenke waren knochig und sahen aus, als würden sie zerbrechen wie Zweige, wenn man sie etwas fester anfaßte. Seine Haare waren schwarz und strähnig. Gelächelt hatte er bislang noch kein einziges Mal. Plötzlich wurde ihr klar, daß sie den Jungen erwartet hatte, den sie von früher kannte. Mit goldblonden Löckchen und Grübchen in seinen rosigen Wangen. Während er mit den Jahren älter geworden war, hatte sie ihr Kind verloren. Der kleine Junge von damals war verschwunden. Sie würde ihn nie wiedersehen. Sie 72
hatte ihn für immer verloren. Ein jäher Schmerz zuckte in ihrer Brust. Auf Nimmerwiedersehen verschwunden. So, wie alle es immer gesagt hatten. Statt dessen saß nun ein anderer Junge an ihrem Tisch. Ein Fremder. Trotzdem ist er mein Sohn, rief sie sich ins Gedächtnis. Er ist endlich wieder bei uns. Und das ist alles, was zählt. »Mein Baby«, flüsterte sie. Entschlossen holte sie tief Atem, griff nach der Ketchupflasche und ging zurück ins Wohnzimmer. Die drei saßen immer noch am Eßtisch. Tracy lehnte mit geschlossenen Augen in ihrem Stuhl. Thomas schilderte dem Jungen ihren kleinen Ort, als sei er der Direktor des Fremdenverkehrsamts. Paul starrte mit ausdrucksloser Miene auf seinen Teller. »Dann gibt es da noch das Tenniszentrum, und der Strand ist auch nicht zu verachten. Jedenfalls kann man jede Menge unternehmen. Du wirst dich garantiert nicht langweilen.« Anna setzte sich und reichte Paul die Ketchupflasche. »Hier, dein Ketchup.« »Danke«, sagte Paul und ertränkte den Rest seines Steaks unter der zähflüssigen Würze. »Ich bin müde. Ich gehe jetzt nach oben und dusche«, verkündete Tracy. »Wir sind doch fast fertig. Außerdem gibt es noch Eis.« »Ich will kein Eis. Es ist sowieso schon so spät. Wieso kann ich nicht endlich gehen?« Anna sah Thomas an, wartete auf ein Machtwort von ihm, doch er starrte nur stumm auf den Tisch. Als ihr Blick zu Paul schweifte, bemerkte sie, daß er Messer und Gabel fest umklammert hielt und mit weit aufgerissenen Augen dasaß. Die Venen an seinem Hals traten deutlich hervor; es bereitete ihm sichtlich Mühe, sich auf seinem Stuhl zu halten. 73
»Paul«, sagte sie. Ein Röcheln drang aus seiner Kehle. Anna stand abrupt auf. »Paul, was ist denn?« Nun wandten auch Thomas und Tracy den Kopf. Während Anna ihn mit panischem Blick fixierte, wurde sein ohnehin blasser Teint mit einem Mal totenfahl; seine Lippen begannen sich bläulich zu verfärben. Die Augäpfel traten ihm aus den Höhlen, das Weiß um seine Pupillen schimmerte. Erneut gab er ein tiefes Röcheln von sich. »Was ist denn jetzt los?« fragte Thomas. Wie gelähmt starrte Anna ihren Sohn an, als dieser plötzlich mit einem Finger auf seinen Teller deutete. Im Bruchteil einer Sekunde ging ihr auf, was passiert war. »Er hat sich verschluckt!« sagte sie. Thomas sprang auf und begann, dem Jungen auf den Rücken zu klopfen. Paul saß stocksteif da und rang vergebens nach Luft. »Nein!« rief Anna und stieß Thomas zur Seite. Sie zog den Jungen von seinem Stuhl, legte ihm von hinten die Arme um den Bauch, bog seinen Oberkörper nach vorn und begann zu pressen. »Tief einatmen«, flüsterte sie, während sie fest gegen sein Zwerchfell drückte. Sie spürte, wie sein Herz hämmerte. Er blickte starr zu Boden; sein Körper versteifte sich weiter, während seine Finger sich klauengleich verkrampften. Anna preßte mit aller Macht. Hinter sich hörte sie Tracy entsetzt aufschluchzen. »Bitte«, flehte Anna. »So atme doch!« Nur das erstickte Pfeifen aus der Kehle des Jungen war zu hören. »Oh, bitte!« flehte Anna leise. Mit einem Mal begann er zu keuchen. Ein markerschütternder Laut drang aus seiner Kehle, als er einen Brocken grauen 74
Fleischs aus seiner Luftröhre würgte. Heftig hustend rang er nach Luft. Sein Körper erschlaffte. »Paul?« rief sie. »Geht es wieder?« Paul nickte. Er hatte die Augen geschlossen; Schweiß strömte über sein wächsernes Gesicht. Anna half ihm, sich zu setzen. Er schnappte nach Luft, während sein Teint allmählich wieder Farbe annahm. »Ich bin okay«, hauchte er. »O Gott«, stieß Tracy hervor. Anna vergrub ihr Gesicht einen Moment lang in den Händen, während Thomas den Jungen ungeschickt an den Schultern festhielt. »Bist du sicher, daß alles in Ordnung ist?« fragte er. »Vielleicht sollten wir einen Arzt rufen.« Matt schüttelte Paul den Kopf. »Nein. Es geht schon wieder.« Mit zusammengesunkenen Schultern und im Schoß gefalteten Händen saß er da. Die dunklen Ringe unter seinen Augen schienen noch tiefer geworden zu sein. Anna hätte ihn am liebsten in die Arme genommen und an sich gedrückt, doch wußte sie, daß er sie bloß abwehren würde. Er hockte da, als wolle er am liebsten auf der Stelle im Boden versinken. Er sah nicht auf. »Danke«, murmelte er dann. »Es tut mir so leid«, sagte Anna. »Ich hätte kein Steak machen sollen.« Thomas schenkte ein Glas Wasser ein und reichte es Paul. »Hier«, sagte er. »Nimm einen Schluck.« Paul trank. »Sollen wir wirklich keinen Arzt rufen?« fragte Anna. Paul schüttelte den Kopf. »Nein, nicht nötig. Ich würde mich einfach nur gern hinlegen.« »Ja, natürlich«, sagte Anna. »Gern. Komm, ich bringe dich nach oben.« 75
Tracy warf ihm einen ängstlichen Blick zu, als könne er jede Sekunde erneut kollabieren. »Ich habe dir dein altes Zimmer hergerichtet«, sagte Anna. Paul musterte sie mit ausdruckslosem Blick. »Ich hoffe, oben ist es einigermaßen kühl«, sagte Thomas. »Aber deine Mutter will ja keine Klimaanlage im Haus.« Anna bemerkte den verwirrten Blick des Jungen. »Er meint mich«, erklärte sie traurig. Sie streckte die Hand aus und berührte Pauls dünnen Unterarm. »Du hast mich zu Tode geängstigt. Ich bin ja so froh, daß dir nichts passiert ist.« Das Wehklagen einer Katze drang an ihre Ohren. Paul sah sich um und stand auf. »Wo ist Sam?« fragte er. »Ich muß ihn rauslassen. Nachts geht er immer auf die Jagd.« »Meinst du wirklich? Am Ende verläuft er sich noch da draußen«, sagte Anna. »Ich habe ihm ein Plätzchen in der Küche bereitet.« Paul seufzte. »Das ist er nicht gewohnt. Er will immer raus. Ist doch schlimm genug, daß er nicht mehr durch seinen alten Wald streifen kann.« Tracy erhob sich und ging zur Wohnzimmertür. »Ich geh dann rauf«, sagte sie. »Gute Nacht, Süße«, sagte Thomas. Paul verschwand in der Küche und rief nach Sam. Anna riß ihren Blick von der Küchentür los und sah ihren Mann über den Eßtisch hinweg an. »Tom«, sagte sie. »Das war ja grauenhaft. Ich bin fast gestorben vor Angst.« »Gott sei Dank hast du so schnell reagiert«, sagte er. »Wahrscheinlich hast du ihm das Leben gerettet.« »Er hätte ersticken können.« »Ich weiß«, sagte er. »Er hatte Glück im Unglück.« Thomas wandte sich um und sah geistesabwesend zur Küchentür. Zerstreut fuhr er sich mit den Fingern durch die Haare. 76
Paul kam zurück. »Sam ist losgezogen«, sagte er mürrisch. »Vielleicht freundet er sich ja mit ein paar anderen Katzen an. Und den Weg zurück findet er bestimmt auch. Katzen können so was«, sagte Anna. »Komm, ich zeige dir dein Zimmer.« »Gute Nacht«, sagte Thomas steif. Paul holte seinen Seesack und folgte Anna die Treppe hinauf zu seinem früheren Zimmer, das sie für ihn hergerichtet hatte. Gedämpft drang der Sound der Backstreet Boys durch Tracys geschlossene Zimmertür. Als sie den oberen Treppenabsatz erreicht hatten, warf Paul Anna einen hilfesuchenden Blick zu. Sie nickte in Richtung einer Tür; Paul trat auf sie zu und öffnete sie. Er sah sich in seinem Zimmer um und warf den Seesack auf den Stuhl neben der Kommode. Einen Augenblick lang fühlte sich Anna, als würde sie einem Gast ein Hotelzimmer zeigen. »Das ist dein ehemaliges Zimmer«, sagte sie. Er wandte sich um. »Ganz schön groß«, sagte er. »Das Bad ist am Ende des Flurs. Geht es dir wirklich besser?« Paul stand am Kopfende des Betts, die Hände in den Hosentaschen vergraben. »Ja«, sagte er. »Alles okay.« Es gab so vieles, was sie ihm sagen wollte. Doch das würde warten müssen. Er sah sie mißtrauisch an. »Tja«, sagte sie knapp, »dann schlaf gut.« Sie trat auf ihn zu und legte ihm einen Arm um die Schultern. Er drehte sich von ihr weg, so daß der Kuß, den sie ihm auf die Stirn geben wollte, bloß sein Ohr streifte. »Gute Nacht«, sagte sie noch einmal und verließ das Zimmer. Er sah sie nicht einmal an. Nachdem sie gegangen war, blieb Paul einige Minuten lang reglos stehen. Er starrte einfach geradeaus, bis ihm ein silberner Becher auf dem Schreibtisch ins Auge stach. Er ging hinüber und nahm ihn in die Hand. Der Becher war auf Hochglanz 77
poliert; in elegant geschwungener Schrift war der Name PAUL eingraviert. Ein flaues Gefühl überkam ihn, als ihm klar wurde, daß der Becher einmal ihm gehört hatte. Jemand mußte den Becher für ihn gekauft haben, wahrscheinlich, als er geboren wurde. Als er hier gelebt hatte. Paul ließ seinen Blick durch das fremde Zimmer schweifen. Vor ihrem Tod hatte ihm seine Mutter gesagt, bald würde er ein furchtbares Geheimnis erfahren. Das war es also. In der Hoffnung, einen Blick auf seinen Kater zu erhaschen, sah Paul hinaus in den dunklen Garten, doch das Tier war weit und breit nirgends zu sehen. Abermals betrachtete er den Becher. Sich weiter gegen seinen neuen Namen zu wehren, würde sowieso nichts bringen. Sie würden ihn weiter »Paul« nennen. Er schleuderte den Becher auf den Boden; er rollte unter einen Stuhl und prallte gegen die Wand. Langsam schnürte er seine Turnschuhe auf und zog sie aus. Er schlug die Bettdecke zurück und kroch in voller Montur darunter. Er trug immer noch die Militärjacke, die er vor zwei Jahren im Wald gefunden hatte. Dorothy Lee hatte sie für ihn gewaschen, geflickt und seinen Namen daraufgenäht. Trotz der Decke, seiner Klamotten und der warmen Nachtluft begann Paul zu zittern. Seine Zähne klapperten; er rollte sich zusammen, zog die Knie an die Brust und schlang die Arme um sich. Niemand hatte Dorothy Lee erwähnt, und auch über seinen Vater war kein Wort gefallen. Kein einziges Wort. Alle taten so, als sei alles in bester Ordnung. Er unterdrückte ein Lachen, doch der freudlose Ausdruck seiner Augen strafte sein Kichern Lügen. Seine Blase drückte, aber er wollte nicht noch einmal auf den Flur gehen. Am Ende lief ihm noch einer von denen über den Weg. Seine Zähne klapperten immer lauter. Er fragte sich, ob sie ihn hören konnten.
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Anna stellte den letzten Teller in die Spülmaschine und trocknete sich die Hände ab. Sie verschloß die Tür zur Veranda und drehte sicherheitshalber noch einmal am Türknauf. Dann ging sie zur Haustür, um dort ebenfalls abzuschließen und die Kette vorzulegen. Aus dem Fernsehzimmer drangen Fetzen der Spätnachrichten. Am liebsten hätte Anna auch die Fenster zugemacht, doch dazu war es einfach zu heiß. Sie würden vor Hitze ersticken. Dennoch gefiel ihr der Gedanke nicht, daß sie offen standen. Sie sah die Treppe hinauf. Alles war ruhig und dunkel. Wahrscheinlich schläft er schon, dachte sie. Einen Augenblick lang sah Anna ihn wieder vor sich, sein aschgraues Gesicht, die Adern, die an seinem Hals hervortraten, seine verkrampften Hände. Sie schüttelte den Kopf, um das schreckliche Bild zu vertreiben, und machte sich auf den Weg in den Keller, um dort die Fenster und die nach draußen führende Tür zu verriegeln. Im Hobbykeller brannte noch Licht; sie stieß die Tür auf und betrat den Raum. Doch es war niemand da. In einer Ecke sah sie Thomas’ Golfausrüstung. Sie nahm einen der Schläger und wog ihn in der Hand. Sie fühlte sich immer noch unbehaglich wegen der offenen Fenster im Erdgeschoß. Zumindest waren im Keller nun alle geschlossen. Hier unten konnte niemand hereinkommen. Und ob es hier ein bißchen wärmer war, spielte ja keine Rolle. Sie betrachtete den Golfschläger. Das schwere, glänzende Eisen wog schwer in ihrer Hand. Anna zögerte, dann packte sie den Stahlschaft mit festem Griff und machte sich wieder auf den Weg nach oben. Als sie auf der vorletzten Treppenstufe angekommen war, erspähte sie eine Gestalt im Dunkel. »Oh«, mühsam unterdrückte sie einen Schrei. »Was machst du denn hier?« fragte Thomas.
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»Ich habe nur überall abgeschlossen«, sagte sie und nahm die letzte Stufe. In der Hand hielt er die Champagnerflasche, die ihnen die Stewarts mitgebracht hatten. »Ich dachte, die nehmen wir vielleicht mit ins Schlafzimmer«, sagte Thomas unsicher. »Laß uns noch einen darauf trinken, daß alles glattgegangen ist. Unser Sohn ist endlich wohlbehalten zu Hause, und wir mußten Gott sei Dank nicht den Notarzt rufen. Kommst du mit nach oben?« »Ich komme gleich nach.« Jetzt erst bemerkte Thomas den Golfschläger in ihrer Hand. Er runzelte die Stirn. »Was ist das denn?« »Eins von deinen Eisen.« »Das sehe ich. Und was machst du damit?« Anna ging an ihm vorbei in die Küche. Thomas folgte ihr. »So fühle ich mich einfach sicherer«, sagte sie. »Nur für den Fall.« »Für welchen Fall? Anna, gib mir den Schläger. Ich bringe ihn wieder nach unten.« Sie hielt den Golfschläger außerhalb seiner Reichweite. »Nein«, sagte sie. »Man kann nie wissen. Vielleicht brauchen wir ihn noch.« Thomas ließ die Hand sinken. Sein Gesicht verhärtete sich. »Jetzt geht das schon wieder los.« »Tom, irgendwo da draußen treibt sich dieser Kerl herum.« Thomas wich ihrem Blick aus. »Ich verstehe dich nicht, Anna. Warum kannst du dich nicht einfach freuen? Du hast deinen Sohn doch wieder.« »Es ist unser Sohn«, sagte Anna. Rasch fügte sie hinzu: »Tut mir leid, Schatz.« Thomas musterte sie kalt und wandte ihr den Rücken zu.
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»Das mit dem Champagner ist eine gute Idee. Ich bin gleich bei dir, Tom.« Thomas stellte die Champagnerflasche auf den Tisch und verließ wortlos die Küche. »Tom«, rief Anna ihm nach, doch er lief bereits die Treppe hinauf. Seufzend begab sie sich ins Wohnzimmer. Sie zog einen Vorhang beiseite und spähte hinaus. Draußen rauschten die Bäume. Anna löschte die Lampen und setzte sich auf den Stuhl neben dem Fenster. Sie legte den Golfschläger vor sich über die Armlehnen; ihre Finger schlossen sich fest um das kalte Metall. Das Licht des Mondes brach sich auf dem stumpfen Eisen am Ende des Schafts. Ein Schlag damit reicht aus, dachte sie. Man mußte sich vorsehen. Sie traute dem Frieden einfach nicht. Anna sah auf die Uhr in der Ecke. Sie konnte kaum glauben, daß es schon fast zwölf war. Ich bleibe nicht lange hier, sagte sie sich. Nur ein kleines Weilchen. Sie beschloß, um eins hinaufzugehen. Thomas würde wahrscheinlich sowieso noch lesen. Sie würde Champagner und Gläser mit hinaufnehmen und ihn damit überraschen. Er würde nicht lange sauer auf sie sein. Er war nie nachtragend gewesen. Nur ein Stündchen. Anschließend würde sie ins Bett gehen. Es sei denn, daß sie irgend etwas Verdächtiges hörte. Wenn ja, würde sie die ganze Nacht hier sitzen bleiben. Anna warf einen Blick in den dunklen Flur. Sie würde alles tun, um ihren Sohn zu beschützen. Alles. Sie fuhr mit der Hand über das kalte, stumpfe Eisen und fragte sich, ob sie fähig war, jemandem mit dem tödlichen Stahl den Schädel einzuschlagen. Ihr Blick glitt zum Kaminsims hinüber, auf dem ein Foto von einem pummeligen Jungen mit goldenen Locken stand, der pausbäckig ins Dunkel strahlte. Anna faßte den Schläger fester. Ja, ich könnte es, dachte sie. Wenn mich jemand dazu zwingt, werde ich es tun. 81
Erst als das graue Licht der Morgendämmerung die Schatten zu vertreiben begann, schloß sie die Augen. Der Kopf sank ihr auf die Brust, doch schlief sie nur halb, während ihre Finger den Schaft des Golfschlägers umklammerten.
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5 »Könnten Sie freundlicherweise die Zigarette ausmachen, Sir?« Rambo taxierte das pferdeschwänzige Mädchen im schmutzigen Overall, das durch das offene Autofenster zu ihm hereinsah. »Schon klar, kein Problem«, sagte er und machte die Kippe im Aschenbecher aus. »Und? Was darf’s sein?« Rambo warf einen Blick auf seine schmale Börse und zog einen zerknitterten Fünfdollarschein hervor. »Sprit für ’nen Fünfer«, sagte er. Das Mädchen nickte und ging um den Wagen herum. Rambo beobachtete sie im Außenspiegel, während er sich fragte, wieso sie hier oben im Norden Mädels für solche Jobs anstellten – als wären noch nicht genug tüchtige Burschen arbeitslos. Er streckte den Kopf aus dem Wagenfenster. »Entschuldigung, Ma’am«, rief er. »Gibt’s hier ein Telefon?« Das Mädchen wies in Richtung der Tankstelle. Rambo rückte seine Sonnenbrille zurecht, zog sich die Mütze tief in die Stirn und stieg aus. Nachdem er sich genauestens umgesehen hatte, marschierte er auf das Münztelefon zu, das an der Wand zwischen den Türen zu den Toiletten hing. Erneut warf er einen Blick über die Schulter; aber es war früher Morgen und weit und breit niemand zu sehen. Er griff in die hintere Hosentasche, zog einen Zettel hervor und warf Geld in den Münzschlitz. Die ganze Nacht hatte er überlegt, ob er anrufen sollte oder nicht. Vergebens hatte er auf weitere Worte gewartet, auf ein weiteres Zeichen – und sich anschließend in die Gideon-Bibel vertieft, sich am Seitenrand Notizen gemacht und für seine Mission gewappnet. Im Morgengrauen hatte er sich schließlich dazu durchgerungen, doch anzurufen. Er wählte die von der 83
Auskunft erhaltene Nummer, klemmte sich den Hörer zwischen Ohr und Schulter. Noch vor dem ersten Klingeln öffnete sich die Tür der Herrentoilette; ein junger Mann in Jeans und einem khakifarbenen T-Shirt, auf dessen Brusttasche in roten Lettern der Name der Tankstelle stand, trat heraus und grüßte ihn mit erhobener Hand. »Morgen«, sagte der junge Mann. Rambo hängte sofort wieder auf. Während er den Gruß mit mißmutiger Miene erwiderte, klapperten seine fünfunddreißig Cent in den Rückgabeschacht. Der junge Bursche marschierte in Richtung der Zapfsäulen davon. Rambo sah ihm hinterher und wartete, bis er verschwunden war, ehe er abermals den Hörer abhob. Erneut wählte er die Nummer, während er sich nochmals überlegte, was er überhaupt sagen wollte. Unter seinen Achselhöhlen formten sich Monde von Schweiß; das Hemd klebte ihm am Rücken. Es ging darum, genau die richtigen Worte zu finden, damit diese gottlose Kreatur verstand, daß der Tag der Buße kommen und die Frevler ihre gerechte Strafe erhalten würden. Es war der Wille Gottes. Er hielt sich den Hörer ans Ohr und wartete, während er die Tankstelle im Auge behielt, falls ihm irgend jemand auf die Pelle rücken sollte. Er hörte es klicken. Rambo holte tief Luft. Dann ertönte die Stimme auf einem Anrufbeantworter, die ihn aufforderte, Namen und Rückrufnummer zu hinterlassen, sobald der Piepton erklang. »Verdammnis«, donnerte er und knallte den Hörer zurück auf die Gabel. Das Mädchen im Overall stand vor der Motorhaube seines Wagens und winkte ihm, daß alles soweit erledigt war. Rambo vergrub die Hände in den Hosentaschen, während er den Münzapparat mit zornentbrannten Augen fixierte. Im selben Moment ging ihm auf, daß er endlich das lang erwartete Zeichen
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erhalten hatte. Er sollte ohne Vorankündigung zuschlagen. Es gab keine Zeit zu verlieren. Mit einem erleichterten Seufzer klaubte Rambo sein Wechselgeld aus dem Rückgabeschacht und eilte zu seinem Wagen zurück. Nach einer knappen halben Stunde erreichte er den Millgate Parkway; mit leichtem Druck betätigte er das Gaspedal, während er seinen Blick unablässig vom Tachometer zum Straßenrand und wieder zurück schweifen ließ. Er wollte möglichst schnell an seinem Ziel ankommen, doch unter keinen Umständen die Aufmerksamkeit irgendwelcher Streifenpolizisten auf sich ziehen, die womöglich bereits auf der Lauer lagen. Das Beste am Millgate Parkway war, daß er kaum noch von jemandem benutzt wurde, seit es die neue Schnellstraße gab. Je weniger Autos und Menschen ihm begegneten, desto besser. Weniger großartig war, daß die Straße mittlerweile offenbar nicht mehr instand gehalten wurde. Jedes noch so kleine Schlagloch ließ Rambos blauen Chevy erbeben, eine alte Rostlaube mit komplett abgefahrenen Reifen, deren durchlöcherten Boden er mit Zeitungspapier ausgelegt hatte. Die Bibel, die er sich aus dem Motel geliehen hatte, machte einen Salto und prallte gegen seinen Oberschenkel. Rambo umklammerte das Lenkrad und behielt die Straße im Auge, während er unablässig Bibelverse vor sich hin murmelte. Obwohl er die ganze Zeit Ausschau danach gehalten hatte, schlug sein Herz doch um einiges schneller, als er das Schild sichtete, das die Ausfahrt nach Stanwich ankündigte. Er drosselte das Tempo und ging die letzten zwei Meilen betont langsam an. Alles sah noch genauso aus wie früher. Mehr als zehn Jahre waren vergangen, doch hatte sich die anonyme Ausfahrt unauslöschlich in sein Gedächtnis eingebrannt. Damals waren sie aus der anderen Richtung gekommen, von der Beerdigung 85
einer Cousine Dorothy Lees oben in New York State – und genau dieser Umstand hatte alles so kinderleicht gemacht. In West Virginia hatte niemand die Geschichte angezweifelt, die sie sich ausgedacht hatten: daß Paul das Kind einer verstorbenen Verwandten und völlig allein auf der Welt war. Rambo ließ den Blick über den Highway fliegen. Genau das war die Ausfahrt. Sie hatten nur kurz anhalten wollen, damit er pinkeln konnte. Und in dem Moment hatte er es gesehen. Im ersten Moment hatte er gar nicht verstanden, was sich vor seinen Augen abspielte. Aber dann war ihm schnell einiges klar geworden. Mehr als zehn Jahre war es nun her, daß er dort drüben im Unterholz gekauert hatte, erst Zeuge, dann Komplize. Seither hatte er vieles durchgemacht, wenn auch nie so gelitten wie heute. Doch hatte er sich immer durchgebissen. Und nun war der Tag der Rache gekommen. Wie Totengeläut erklangen die Stimmen in seinem Kopf. »Wehe denen, die die Sache der Armen beugen und Gewalt üben am Recht der Elenden unter meinem Volk.« Der Pfeil Richtung Stanwich zeigte nach rechts. Es war soweit. Langsam steuerte Rambo den Wagen über die Ausfahrt, auf die friedliche Landstraße, an der die Anwesen der Privilegierten lagen. »Hallo, Buddy. Entschuldigen Sie die Störung. Ich weiß, es ist noch ziemlich früh, aber ich muß einfach mit Ihnen sprechen. Ich habe letzte Nacht kein Auge zugetan. Dauernd mußte ich an diesen Rambo denken.« Paul blieb abrupt stehen, als er Annas ängstliche Stimme vernahm. Er verharrte auf der Treppe und lauschte. »Ich würde mich einfach sicherer fühlen, wenn Paul Polizeischutz bekommen könnte. Nur so lange, bis dieser Kerl gefaßt worden ist. Und jetzt fangen Sie nicht auch noch damit an, ich sei paranoid. Ich kann es langsam nicht mehr hören.« 86
Paul verzog die Lippen, während er an seinen Vater dachte. Wahrscheinlich stand er gerade irgendwo an einer Straßenecke und salbaderte über den Allmächtigen. Ihn schauderte, als er sich an Rambos irren Blick erinnerte, seine pausenlosen Strafpredigten, die endlosen Tiraden über den Teufel. Mit einem Mal hatte er keinen Hunger mehr. Aus der Küche hörte er wieder Annas Stimme. »Buddy, wir wissen nicht, ob er wirklich harmlos ist. Nur weil er den Jungen nie geschlagen hat, heißt das noch lange nicht, daß er nicht irgend etwas im Schilde führt. Solange er auf freiem Fuß ist, finde ich einfach keine Ruhe.« Paul nahm die letzten paar Stufen, ging zur Haustür und öffnete sie leise. Er trat hinaus und schloß die Tür hinter sich. Die taufeuchte Einfahrt glitzerte in der Morgensonne, und die Vorortstraße sah aus wie auf einem Kalenderbild. Er spürte ein flaues Gefühl in der Magengrube. Nichts kam ihm auch nur im mindesten vertraut vor. »Sam«, rief er leise nach seinem Gefährten. Doch der Kater befand sich offenbar nicht in unmittelbarer Nähe, da im ausladenden Blätterwerk der Bäume Vögel zwitscherten. Paul ging die Stufen hinunter und um das Haus herum zum Garten. »Sam«, rief er abermals. Er ließ den Blick durch den Garten wandern, über die Hollywoodschaukel und die Gemüsebeete. Am Waldrand stand ein kleiner Schuppen. Er ging hinüber und warf einen Blick hinein. Im Dunkel konnte er ein paar Harken und Spaten erkennen. Er schloß die Tür wieder und spähte in den angrenzenden Wald. Durch die Bäume drang Sonnenlicht, und vom jenseits des Waldes gelegenen Highway drang gedämpftes Motorengeräusch an seine Ohren. Er rief weiter nach Sam, doch er konnte den Kater nirgends entdecken. Er streifte am Waldrand entlang und sprang über einen kleinen Bach, der durch das Nachbargrundstück verlief. Hinter dem Bach erstreckte sich eine lange Fliederhecke, und dahinter lag 87
eine riesige Villa mit Stuckfassade und schwarz gerahmten Fenstern; mit seinen vielen Giebeln und Türmchen mutete das Haus an wie eine Burg. Staunend verharrte er einen Augenblick; es war das größte Haus, das er je gesehen hatte. Dann schlich er gebückt die Hecke entlang in Richtung der Villa, während er weiter Ausschau hielt, ob der Kater irgendwo zwischen den Zweigen hockte. Während er sich dem Haus näherte, stach ihm plötzlich ein ultramarinblaues Schimmern ins Auge. Er lugte durch die Zweige. Da lag ein großer, rechteckiger Swimmingpool; das Wasser glitzerte in der Sonne. Ein Modellschiff mit leuchtendweißem Rumpf und geblähten weißen Segeln trieb über die spiegelglatte, türkisfarbene Wasseroberfläche. Am anderen Ende des Pools standen schwarze, schmiedeeiserne Stühle und ein ebensolcher Tisch. Neben dem Swimmingpool kniete ein Mann in teurer Sportkleidung. Er steuerte das Segelschiff mit einem kleinen Gerät in seiner Hand; auf seiner Miene spiegelte sich schieres Entzücken, während er die eleganten Bewegungen des Bootes verfolgte. Er steuerte das Boot im Zickzack über die Wasseroberfläche; eine leichte Brise wölbte die makellosen Segel. Neben ihm am Poolrand stand ein älterer Herr mit silbernem Haar und einer dicken Hornbrille. Er trug einen klassisch geschnittenen Anzug, ein weißes Hemd und eine gedeckte Krawatte; ihm schien nicht sehr wohl in seiner Haut zu sein. Mit betretener Miene sah der ältere Herr zu, wie der andere das Segelschiff steuerte, ehe er sich schließlich räusperte. »Es tut mir leid«, sagte er, »daß ich Sie privat behellige, noch dazu am Samstag. Aber die Sache ist wirklich von äußerster Dringlichkeit.« »Kein Problem«, sagte der Mann mit dem Boot, ohne den Blick von seinem Spielzeug zu wenden.
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Der ältere Herr schien darauf zu warten, daß sich der andere erhob und ihm seine Aufmerksamkeit widmete, doch der Mann mit dem Boot hatte offenbar nichts dergleichen vor. Nervös zupfte der ältere Herr seine Manschetten zurecht und begann zu sprechen, obwohl ihm der andere nach wie vor den Rücken zuwandte. »Mr. Stewart, dem Verkauf meiner Firma habe ich unter der Bedingung zugestimmt, daß sowohl der Direktor als auch alle Abteilungsleiter gehalten werden. Gestern nachmittag haben Sie entgegen unserer Abmachung allen gekündigt und bekanntgegeben, daß Sie alle Posten neu besetzen wollen. Ich gehe davon aus, daß es sich dabei offensichtlich um ein Mißverständnis handelt. Und das wollte ich gern mit Ihnen erörtern.« »Nein, das ist kein Irrtum«, murmelte der Mann am Pool. Er dirigierte das Boot an den Poolrand und richtete liebevoll die Takelage. Dann stieß er das Boot wieder ab, ohne sich nach dem anderen Mann umzudrehen. Das Gesicht des älteren Herrn wurde puterrot, und seine Stimme begann leicht zu zittern, als er fortfuhr. »Mr. Stewart, die Wilcox Company ist ein Familienbetrieb. Wie Sie wissen, hat mein Vater die Firma gegründet, und wir haben unsere Angestellten stets wie Familienmitglieder behandelt. Viele unserer Mitarbeiter sind zwanzig Jahre oder länger für uns tätig, haben sich immer für das Wohl der Firma eingesetzt. Der Betrieb ist ihre Heimat. All das habe ich Ihnen vor Abschluß des Kaufvertrags mitgeteilt. Ich habe die Firma einzig und allein deshalb verkauft, weil es mit meiner Gesundheit nicht mehr zum Besten steht. Und Sie haben mir versichert, die Arbeitsplätze meiner Mitarbeiter seien sicher!« Edward Stewart wandte sich nun doch um. »Mr. Wilcox, Ihre Firma kann man wirklich nicht gerade profitabel nennen. Ich habe Ihren Betrieb erworben, um damit Geld zu verdienen. Sie und Ihre leitenden Angestellten haben nicht viel zuwege gebracht. Und das beabsichtige ich zu ändern.« 89
»Sie haben mir Ihr Wort gegeben«, bellte der alte Mann. »Sie haben es mir in die Hand versprochen.« »Mr. Wilcox«, sagte Edward Stewart seelenruhig. »Ich habe mir die Sache durch den Kopf gehen lassen und es mir anders überlegt. Und dazu habe ich jedes Recht. Ich bin nämlich jetzt Besitzer der Wilcox Company.« Der alte Mann schüttelte den Kopf und ballte die Fäuste. »Hätte ich das geahnt, hätte ich Ihnen meine Firma niemals verkauft. Ihre Praktiken sind das genaue Gegenteil dessen, woran ich immer geglaubt habe. Ich habe mich auf Ihr Ehrenwort verlassen, und Sie haben mir ins Gesicht gelogen.« Edward Stewart erhob sich und ging auf die andere Seite des Pools, den Blick unablässig auf sein geliebtes Segelboot gerichtet. Er ließ das Schiff wenden und weiter über die glitzernde Wasseroberfläche gleiten und schüttelte bewundernd den Kopf. »Einmalig, nicht wahr?« sagte er. »Es ist eines der schönsten Modelle, die ich je gebaut habe.« Wilcox musterte den Mann am Becken mit finsterem Blick; seine Augen glühten hinter den dicken Brillengläsern. »Ich bin nicht hierhergekommen, um Ihre Boote zu bestaunen.« Edward wandte den Blick von dem Modellschiff ab und taxierte sein Gegenüber mit kühlem Blick. »Wilcox«, sagte er. »Boote sind mein Hobby. Es entspannt mich, meine Modelle zusammenzubauen und sie schwimmen zu sehen. Es ist mir stets eine wahre Freude. Es gibt kaum Schöneres für mich, als meine Boote zu Wasser zu lassen und mit bloßem Knopfdruck zu steuern.« Die Schultern des alten Mannes versteiften sich, als wolle er jede Sekunde auf den anderen losgehen, ehe sie kraftlos herabsackten; er senkte den Blick, während Edward ihn gleichgültig musterte. Nur mit Mühe gelang es dem Alten, seine zitternden Glieder zu kontrollieren.
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»Sie sollten sich wirklich ein Hobby zulegen«, riet ihm Edward mit leichtem Lächeln. »Schließlich haben Sie jetzt jede Menge freie Zeit. Keinen geschäftlichen Ärger mehr am Hals. Modellboote kann ich Ihnen wärmstens empfehlen.« Wilcox starrte Edward mit bohrendem Blick an. »Dafür bringe ich Sie vor Gericht.« Edward zuckte mit den Schultern. »Was haben Sie denn in der Hand? Wie gesagt, Mr. Wilcox. So ein Hobby trägt ganz erheblich zum Seelenfrieden bei.« Die Augen des alten Mannes flackerten vor Wut, doch alle Kraft schien aus seinem Körper gewichen zu sein. Er wandte sich ab und ging auf die Terrassentüren zu. »Das Hausmädchen bringt Sie dann zur Tür«, rief Edward ihm hinterher, doch der alte Mann war bereits im Haus verschwunden. Edward schüttelte den Kopf und ging wieder in die Hocke. Er lenkte das Boot zu sich; als es den Beckenrand erreicht hatte, nahm er es aus dem Wasser und betrachtete eingehend den Rumpf. Paul zitterte ebenfalls am ganzen Körper; was er beobachtet hatte, war ihm sehr nahegegangen. Der alte Mann in seiner ohnmächtigen Wut tat ihm leid, und er empfand Abscheu vor der Arroganz, die der Mann mit dem Modellboot seinem Besucher gegenüber an den Tag gelegt hatte. Er fragte sich, ob alle Leute so waren, die hier in ihren Riesenvillen wohnten. Er sehnte sich zurück nach seinem alten Leben, dem schäbigen, in einer Senke stehenden Wohnwagen. Nach dem, was er gerade beobachtet hatte, wußte er eines jedenfalls genau: daß er diesen Mann ganz bestimmt nicht fragen würde, ob er seinen Kater gesehen hatte. Als sein Herzklopfen langsam abklang, kroch er davon. Er war gerade ein paar Meter weit gekommen, als sich ein Schatten aus den Büschen löste. »Sam!« rief er.
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Edward Stewart wandte abrupt den Kopf; das Boot glitt aus seinen Händen und landete mit einem Platschen im Pool. »Wer ist da?« bellte er. Beim Klang von Edwards Stimme flitzte Sam in Richtung des Bachs davon. Paul überlegte kurz, ob er ebenfalls davonlaufen sollte, richtete sich dann aber auf und trat aus den Büschen. Beschwichtigend hob er die Hände. »Ich habe nur nach meinem Kater gesucht. Er hatte sich hier in der Hecke versteckt.« Der Mann musterte den Jungen wortlos. »Ich wollte nur meinen Kater finden«, wiederholte Paul lahm. Während Paul sprach, schien sich der Mann zu entspannen. Seine zu Fäusten geballten Hände lockerten sich wieder. »Weißt du, wer ich bin?« fragte er. »Jedenfalls sind Sie wohl schwerreich«, sagte Paul. »Das kann man so sagen. Nun ja, Paul«, sagte Edward amüsiert. »Wenn du künftig einen Abstecher auf unser Grundstück machst, dann bitte ohne Heimlichtuerei, okay?« Einen Moment lang war Paul völlig perplex, als er seinen Namen hörte. Mit offenem Mund stand er da. »Sie kennen mich?« fragte er. Ein dünnes Lächeln umspielte die Lippen des Mannes. »Meine Frau und ich sind schon lange Nachbarn deiner Familie.« Edward nahm den Jungen genau ins Auge. »Ich weiß noch, wie du ein kleiner Junge warst. Na, erkennst du mich vielleicht sogar wieder?« Paul trat von einem Fuß auf den anderen und sah zu Boden. »Ich … ich war noch zu klein. Damals, als es passiert ist.« »Ja«, sagte Edward. »Ja, natürlich.« Abermals musterte ihn der Mann von oben bis unten, während Paul sich vorkam wie ein in die Enge getriebener Verbrecher. Fieberhaft überlegte er, was er sagen sollte. Sein Blick fiel auf das im Pool treibende Boot. »Ist das Ihrs?« fragte er. 92
»In der Windmühle da drüben ist mein Hobbyraum.« Edward wies vage in die Ferne. »Ich habe einige der schönsten Segelschiffe der Welt nachgebaut.« »Oh. Toll.« Paul stand da wie ein Häufchen Elend. Als plötzlich eine schrille, mißgelaunte Stimme seinen Namen rief, fühlte sich Paul unendlich erleichtert. Tracy kam um die Hausecke auf die Terrasse. Mißmutig musterte sie ihren Bruder. »Mom sucht überall nach dir.« »Ich komme schon. Ich habe bloß nach meinem Kater gesucht.« »Der ist mir eben über den Weg gelaufen«, sagte sie. »Hallo, Tracy«, sagte Edward. »Hallo, Mr. Stewart. Und jetzt komm endlich mit.« Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und marschierte los. Paul seufzte und folgte ihr. »Bis dann«, sagte Edward. Paul gab keine Antwort. Tracy stürmte die Verandastufen hinauf und an ihrer Mutter vorbei, die mit beiden Händen das Geländer umklammert hielt. »Er war bei den Stewarts. Er kommt gleich«, sagte Tracy und schlug die Fliegentür hinter sich zu. Anna schloß kurz die Augen, während die Anspannung langsam aus ihr wich. »Danke, Tracy«, sagte sie. Thomas trat durch die Tür; er zog seine Golftasche mit den Schlägern hinter sich her. Er lehnte die Tasche gegen die Verandabrüstung und ging die Schläger durch, ohne Anna weiter zu beachten. Anna sah ihm einen Augenblick lang zu. »Ich habe den Schläger wieder zurückgesteckt«, sagte sie.
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»Das sehe ich«, erwiderte Thomas kühl. »Hast du Paul gefunden?« »Tracy hat ihn entdeckt. Er war nebenan.« »Oh.« Thomas öffnete den Reißverschluß der Seitentasche, kramte darin herum und förderte zwei Golfbälle zutage. »Was hat er denn da gemacht?« »Ich weiß nicht«, sagte Anna. Sie lehnte sich an das Geländer und sah ihn an. »Wann hat Edward euch eigentlich zum Golfen eingeladen?« »Gestern, als wir vom Bahnhof kamen. Ich habe vergessen, es dir zu sagen.« »Ich glaube nicht, daß Paul viel vom Golfspiel versteht«, sagte sie. Thomas warf ihr einen Blick zu. »Das bringe ich ihm schon bei«, sagte er. »Hoffentlich wird Edward nicht nervös, wenn Paul sich langsamer anstellt als ihr.« Anna zuckte mit den Schultern. »Geduld ist ja nun nicht seine größte Stärke.« Thomas lächelte. »Nein, wirklich nicht. Aber er scheint sich für Paul zu interessieren. Jedenfalls hat er uns in den Club eingeladen. Vielleicht hat Iris ihn auf die Idee gebracht.« »Wahrscheinlich«, stimmte Anna zu, obwohl sie sich nicht recht vorstellen konnte, daß Edward viel auf die Anregungen seiner Frau gab. »Wir spielen nur neun Löcher«, sagte Thomas. »Vielleicht findet der Junge ja Geschmack daran.« Anna nickte. »Vielleicht können wir dann später noch zum Strand.« Thomas zählte die Tees in seiner Hand und steckte sie zurück in die Golftasche. »Das machen wir heute nachmittag«, sagte er. »Wenn wir zurück sind.«
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Anna schenkte ihm ein Lächeln. »Ich freue mich so, daß du etwas mit Paul unternimmst«, sagte sie. »Es wird bestimmt schön.« Thomas seufzte. »Hoffentlich.« »Schatz«, sagte sie. »Es tut mir leid wegen gestern abend. Ich war einfach so schachmatt, daß ich im Sitzen eingeschlafen bin.« »Schon okay«, sagte er. »Heute fangen wir noch mal von vorne an«, sagte sie. Sie umarmte ihn, und er drückte sie an sich, hielt sie noch einen kurzen Moment lang fest, nachdem sie ihn bereits wieder losgelassen hatte. Sie öffnete die Tür und wollte gerade ins Haus gehen, als Paul den Garten betrat. Sie blieb stehen und sah zu, wie er langsam auf die Veranda zuschlenderte und dabei mit seinem Kater flüsterte. Als er die grasüberwachsene Stelle erreichte, wo einst der Sandkasten gewesen war, blieb er plötzlich stehen. Anna sah, wie sich seine leicht verwirrte Miene in eine Grimasse verwandelte. Aus heiterem Himmel ließ er den Kater fallen, der auf allen vieren auf dem Boden landete. Er griff sich an die Stirn und rieb sich die Augenbrauen, während sein Stirnrunzeln einem zutiefst gepeinigten Gesichtsausdruck wich. »Tom«, flüsterte Anna. »Er hat doch irgend etwas.« Die Verandatür fiel scheppernd ins Schloß, als sie sie losließ. Nach einem Moment des Zögerns hastete sie die Treppenstufen hinunter. »Was ist denn? Ist alles okay mit dir?« Der Kater sah zu ihr auf, doch Paul mied ihren Blick. »Ja«, sagte er und trat mit gesenktem Blick auf sie zu. Er drückte sich an ihr vorbei und verschwand im Haus. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Sie beobachtete, wie er die Küche betrat, wo Tracy am Küchentisch saß. Tracy murmelte irgend etwas.
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Anna ballte die Hände zu Fäusten, während sie auf den Rasen starrte, dorthin, wo einst der Sandkasten gewesen war. Die Katze schnüffelte im Gras, schlich über das fremde Territorium – so langsam, als würde jedes Unkraut, jeder Stein ihr Mißtrauen erregen.
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6 Insekten umschwirrten sein Gesicht, und dürre Zweige peitschten gegen seine nackten Unterarme, als Rambo sich einen Weg durch das Dickicht aus Bäumen und Büschen am Rande des Fairway bahnte. Es war nicht schwer gewesen, die Hidden Woods Lane zu finden. Er hatte den Wagen in einem von der Straße abzweigenden Weg geparkt und dort gewartet. Er beobachtete, wie der Junge und sein Vater von dem Mann im Cadillac abgeholt wurden, und folgte ihnen zum Golfplatz, wo er über einen Zaun kletterte und sich im Gesträuch am Rande des Fairway versteckte. Mittlerweile war er ihnen bereits sechs Löcher weit durch das Dickicht gefolgt. Er verfolgte den Fortgang des Spiels und grinste darüber, wie der Junge schwitzend und sichtlich interesselos hinter den beiden Männern herschlurfte; er trug die Tarnweste, die er immer anhatte. Der Kerl, der Lange hieß, gab sich alle Mühe mit dem kleinen Satansbraten, aber der Junge schenkte seinen Tips keine Beachtung, trottete mit hängenden Schultern hinter den beiden Männern her, ohne auch nur einmal zu lächeln. Verbittert fragte sich Rambo, ob sich der Kerl wohl darüber freute, daß er den widerspenstigen Tropf zurückhatte. Wieder einmal meldeten sich die Stimmen in seinem Kopf, geiferten über die Undankbarkeit des nichtsnutzigen Bengels und seine Rückkehr ins Land von Gold und Silber, wo sich das Böse als Gutes ausgab. Seine Lippen formten die Worte, die er hörte; mühsam versuchte er, das aus seiner Kehle drängende Murmeln zu unterdrücken, um sich nicht plötzlich zu verraten. Thomas griff nach einem Schläger und schlug seinen Ball in hohem Bogen in Richtung des siebten Grüns.
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Edward schirmte die Augen mit der Hand ab, um zu sehen, wo der Ball auftraf. »Könnte ein Birdie werden«, räumte er knurrend ein. Thomas wandte sich um und reichte Paul einen Schläger. Während der ersten sechs Löcher hatte er dem Jungen ein ums andere Mal erklärt, wie er beim Abschlag optimal Schwung nehmen konnte; Thomas tat sein Bestes, die angeödete Miene des Junge zu ignorieren, und hatte ihm schon mehrmals Komplimente gemacht. »Versuch’s mal mit diesem Schläger. Damit hast du eine gute Chance, aufs Grün zu kommen.« Paul beäugte den Schläger einige Sekunden lang. »Ich bin ziemlich müde«, sagte er. »Ist es okay, wenn ich für heute Schluß mache?« Thomas verstaute den Schläger in seiner Tasche und sortierte sorgfältig die Eisen. »Na klar.« Er warf ihrem Gastgeber einen Blick zu. »Er kann ja im Clubhaus auf uns warten, nicht wahr, Edward?« Edward Stewart nickte. »Selbstverständlich«, erwiderte er. »Aber vielleicht ist es besser, wenn du deine Weste ausziehst. Sonst verwechselt dich noch jemand mit dem Greenkeeper.« Paul würdigte ihn keines Blickes. »Kann ich jetzt gehen?« »Wir sind so gut wie durch«, sagte Thomas. »Noch zwei Löcher. Willst du wirklich nicht bei uns bleiben?« »Nein«, sagte der Junge. »Na gut.« Thomas blickte Paul hinterher, der sich schlurfend in Richtung Clubhaus aufmachte. Dem Jungen konnte man beim besten Willen keinen Vorwurf machen, dachte Rambo. Es schien ein verdammt blödes Spiel zu sein. Er schlug nach einem Insekt, das an seinem Ohr summte, und wartete ungeduldig darauf, daß Edward endlich seinen Ball abfeuerte. Edward fixierte seinen Ball, schaukelte sacht auf den Füßen und brachte sich in Position. Als Rambo sich noch ein wenig 98
tiefer duckte, raschelten die Zweige um ihn herum. Edward schwang den Schläger eine Idee zu hektisch; der Ball flog in hohem Bogen davon, traf auf einem Hügel auf und rollte in einen Bunker – ein mit Sand gefülltes Hindernis, das der Spielerschwernis dient. Edward errötete leicht und räusperte sich. »Der hat die Büsche da drüben gestreift«, sagte er und warf einen Blick auf das Dickicht am Rande des Fairway, als wolle er die Sträucher persönlich zur Verantwortung ziehen. Er erklomm den Hügel und sah mißmutig auf den Ball herab, als handle es sich um ein ungehorsames Kind. »Ich gehe eben den Ball holen«, sagte er. »Mach du einfach dein Spiel. Sonst muß dein Sohn noch Ewigkeiten auf uns warten.« Thomas verdrehte die Augen hinter seiner Sonnenbrille, ehe er nach seinem Ball Ausschau hielt, der in weiter Entfernung auf dem Fairway lag. »Okay«, sagte er. »Wir sehen uns da drüben.« Er machte sich auf zu seinem Ball. Während er ihm hinterhersah, schlug Rambo das Herz bis zum Hals. Das war seine Chance. Nervös leckte er sich die Lippen und spähte durch das Buschwerk. Als Thomas die halbe Strecke zurückgelegt hatte, schlich Rambo hinüber zum Sandbunker, wo Edwards Ball gelandet war. Edward stakste durch den feinen Sand. Durch das Gesträuch schob sich Rambo an den Rand des Bunkers. Nachdem er sich nochmals vergewissert hatte, daß ihn niemand beobachtete, räusperte er sich. »He, Sie da.« Edward erstarrte und streckte das Kinn vor; es war ihm äußerst peinlich, daß er bei seinem Mißgeschick offenbar auch noch beobachtet worden war. Mit kaltem Blick sah er sich um, wer ihn angesprochen hatte. Er runzelte die Stirn, als er nicht weit entfernt einen blassen, sichtlich nervösen Mann erblickte. Er trug ein billiges Sporthemd, eine Baseballkappe und 99
Sonnenbrille. Wären da nicht die völlig abgetretenen schwarzen Schuhe gewesen, hätte man ihn für einen ältlichen Caddie halten können. Jedenfalls handelte es sich ganz sicher nicht um jemanden, der hier auf dem Golfplatz irgend etwas zu melden hatte. Leicht irritiert wandte Edward ihm wieder den Rücken zu. »Kommen Sie mal hier rüber«, rief Rambo, während er nervös den Blick über die smaragdgrünen Hügel der Anlage wandern ließ. »Ich muß mit Ihnen reden.« Edward musterte den Mann mit finsterem Blick, ehe er in eisigem Tonfall sagte: »Wenn Sie zum Golfclub gehören, Sir, sagen Sie mir das besser sofort. Falls nicht, muß ich Sie bitten, das Gelände umgehend zu verlassen und mich nicht weiter zu behelligen.« Rambo starrte Edward an und hob den Zeigefinger. »Ich verbreite das Wort des Herrn«, knurrte er. »Der göttlichen Gerechtigkeit muß Genüge getan werden!« Edward hob seufzend die Schultern und schüttelte den Kopf. »Ich kann Ihnen nur raten, sich schleunigst zu verziehen und Ihre Predigten irgendwo anders zu halten.« Er kehrte Rambo den Rücken zu und faßte seinen im Sand steckenden Golfball ins Auge. »Der Herr hat zu mir gesprochen. Der Allmächtige hat mir ein Zeichen gesandt, nicht einmal, sondern gleich zweimal. Ich bin hier, um Sie zur Rechenschaft zu ziehen.« »Ich warne Sie zum letzten Mal«, sagte Edward in drohendem Tonfall. »Für Ihre Schurkereien, Ihr frevlerisches Tun. Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, denn daß ein Reicher …« »Jetzt reicht’s!« sagte Edward, rammte seinen Schläger in den Sand und richtete seinen Zeigefinger auf Rambo. »Ich werde dafür sorgen, daß man Sie umgehend von hier entfernt!«
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Rambo trat einen Schritt zurück. »Ich habe Sie gesehen«, zischte er. »Damals am Highway. Vor elf Jahren. Ich weiß, was Sie getan haben.« Edward hielt abrupt inne. Der Schatten seiner Schirmmütze fiel über sein aschfahl gewordenes Gesicht. Seine Fingerknöchel traten weiß hervor, so fest umklammerte er den Schaft des Schlägers. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden«, sagte Edward leise. »Mit dem Jungen! Dem Sohn Ihres Freundes«, zischte Rambo und wies mit ausgestrecktem Arm in die Richtung, in der Paul davongegangen war. »Ich war in den Büschen, weil ich pinkeln mußte. Und da habe ich alles gesehen.« Edward musterte sein Gegenüber, während sein Körper vibrierte wie eine Violinsaite. Urplötzlich ging ihm auf, weshalb ihm der Mann irgendwie bekannt vorgekommen war. Vor seinem inneren Auge sah er Bilder aus Zeitungen, Fotos von einem hageren Mann, der stets eine Mütze trug. »Rambo«, platzte er heraus. »So ist es«, sagte Rambo triumphierend. »Albert Rambo. Die Stimme des Herrn auf dieser Erde.« Edward verspürte ein schmerzhaftes Rumoren in der Magengegend, während er das soeben Gehörte zu verarbeiten versuchte. Doch auch wenn sich seine Gedanken regelrecht überschlugen, erkannte er, daß der Kerl verrückt sein mußte, ihn hier an diesem Ort aufzusuchen, in unmittelbarer Nähe von Paul und seinem Vater. Komplett verrückt, dachte Edward. Aber er weiß alles. Edward leckte sich die Lippen und versuchte scharf nachzudenken, doch seine Gedanken schienen zu verschwimmen; kein Ausweg fiel ihm ein. »Sie irren sich«, sagte er heiser. »Ich habe nicht den leisesten Schimmer, worauf Sie hinauswollen.« 101
»Der Herr hat mich gesandt«, knurrte Rambo. »Er hat mich auserkoren, sein Werk zu vollenden. Erst gestern habe ich seine Stimme vernommen – er hat durch einen Fernseher zu mir gesprochen.« Edward fühlte sich, als sei ihm ein Racheengel erschienen, der alles zerstören würde, was er sich aufgebaut hatte. Der Tag, vor dem ihm insgeheim immer gegraut hatte, war gekommen. Er zwang sich, ruhig Blut zu bewahren, und erinnerte sich einmal mehr daran, daß er es mit einem Verrückten zu tun hatte. »Gott hat durch einen Fernseher zu Ihnen gesprochen?« Er lächelte herablassend. »Kommen Sie, Mr. Rambo. Ich glaube kaum, daß man Sie mit solchen Aussagen in den Zeugenstand rufen würde.« Rambo starrte ihn an. »Ich werde nicht eher ruhen, bis Sie Ihre Strafe erhalten haben. Dem Schwert der Gerechtigkeit können Sie nicht entkommen. Die Gerechten werden sehen, daß Sie Blut an den Händen haben und ich unschuldig bin wie ein Lamm …« Während er weiterschwadronierte, lief Edward ein kalter Schauder über den Rücken. In seinem Magen rumorte es immer noch, doch wußte er genau, daß er die Situation schleunigst zu seinen Gunsten wenden mußte. »Kommen Sie, Mr. Rambo. Sie sind genausowenig ein Unschuldslamm wie ich. Wenn es Ihnen um Gerechtigkeit ginge, hätten Sie ja die Polizei informieren können. Weshalb sind Sie wirklich hier?« sagte er. »Könnte es vielleicht sein, daß ein Preisschild an Ihrem Schweigen hängt?« »Schnöder Mammon?« schnaubte Rambo. »Die Wahrheit läßt sich nicht mit Rubinen aufwiegen.« »Wer weiß noch von der Sache?« fragte Edward. »Mann, reißen Sie sich zusammen. Antworten Sie mir!« Edwards schroffer Ton schien Rambo für Momente in die Wirklichkeit zurückzuholen. »Niemand. Nur ich allein. Dorothy Lee wußte Bescheid. Sie war mit dabei damals. Aber sie ist von uns gegangen. Und der Junge weiß natürlich auch davon.« 102
Rambo nickte nachdrücklich und wippte nervös auf seinen Füßen. »Sie haben ihm erzählt, was passiert ist?« »Er war doch dabei. Vielleicht erinnert er sich ja. Ich weiß es nicht.« »Und Sie haben mich erkannt, als Sie dem Jungen gefolgt sind«, sagte Edward halb zu sich selbst. »Nein«, blaffte Rambo. »Ich hab’s Ihnen doch schon gesagt. Ich habe Sie im Fernsehen gesehen. Sie und Ihr protziges Auto. In den Nachrichten.« »Den Nachrichten?« Einen Augenblick lang war Edward vollends verwirrt. Dann erinnerte er sich an das Interview vor dem Haus der Langes; sein Cadillac hatte hinter ihnen in der Einfahrt gestanden. Er unterdrückte ein Stöhnen, als er sich entsann, wie er überredet worden war, ebenfalls vor die Kamera zu treten. In seinem Kopf rauschte es, doch er sprach ruhig und beherrscht weiter. »Mr. Rambo, Sie scheinen sich einzubilden, daß ich irgendein Verbrechen begangen habe – obwohl in Wahrheit doch Sie es sind, nach dem die Polizei sucht.« Er hob den Golfball auf und ließ ihn auf seiner Handfläche kreisen. »Daher verstehe ich auch nicht ganz, wie Sie auf die Idee kommen, Sie könnten so einfach bei der Polizei vorbeisehen, um dort Ihre sogenannten Informationen an den Mann zu bringen. Wenn die Sie kriegen, gehen Sie wegen Kindesentführung hinter Gitter.« »Na ja«, wich Rambo aus. »Ich muß es ihnen ja nicht direkt sagen.« Edward musterte seinen Peiniger, während er spürte, wie seine Durchsetzungskraft wieder zurückkehrte. Rambo war nichts weiter als ein elender kleiner Dreckskerl. Ein einfältiger, jämmerlicher Verlierer. Er rief sich in Erinnerung, daß er diesem Niemand, der ihn einschüchtern wollte, unendlich überlegen
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war. »Ja? Wie denn?« hakte Edward nach. »Wollen Sie es mit einem anonymen Tip erledigen?« »Ich weiß schon, wie«, wehrte Rambo lahm ab. Fahrig knetete er seine knochigen Hände. Mit stählernem Blick taxierte Edward den hageren Mann, der nervös von einem Fuß auf den anderen trat. Er wirkte jetzt verwirrt, leicht verängstigt sogar, als sei er derjenige, der in der Klemme steckte. »Ich glaube Ihnen kein Wort«, sagte Edward kalt. »Sie haben nicht die geringste Ahnung, wie Sie es anstellen sollen.« Rambos Kinn sackte herunter. »Geben Sie mir Geld«, sagte er mit schriller Stimme. »Sonst verpfeife ich Sie.« Er griff in seine Brusttasche und kramte eine Zigarette und eine Packung Streichhölzer heraus. Er steckte sich die Zigarette in den Mund und zündete sie an. Hastig zog er an der Zigarette, als würde sie ihn mit frischem Sauerstoff versorgen. »Ich will Ihnen etwas sagen, Mr. Rambo«, sagte Edward mit schneidender Stimme. »Ich verkehre in den besten Kreisen dieser Stadt. Ich habe Geld und Macht, so einfach ist das. Meinen Sie wirklich, irgend jemand würde Ihnen mehr Glauben schenken als mir?« Edwards Worte schienen Rambo neu zu beleben. »Der Tag der Sühne wird kommen«, geiferte er. »Was wollen Sie dann machen? All Ihr Reichtum wird Ihnen nichts mehr nützen, und niemand wird Ihnen Zuflucht gewähren.« Edward fuhr ihm kurzentschlossen ins Wort. »Sie sind ein Krimineller auf der Flucht. Ein Verbrecher, nach dem die Polizei sucht.« Rambo ließ die Schultern hängen, als hätte ihn sein letzter Ausbruch völlig erschöpft. Edward spürte, daß er die Schlacht gewonnen hatte. »Denken Sie doch mal nach«, sagte er leise. »Ihre Geschichte ist doch völlig absurd.« 104
Hilflos starrte Rambo sein vermeintliches Opfer an. »Ich brauche dringend Geld«, jammerte er. »Das glaube ich gern«, knurrte Edward. »Aber von mir werden Sie nichts bekommen. Sie jagen mir keine Angst ein. Und jetzt gehen Sie, aber schnell. Andernfalls rufe ich die Polizei.« Einen Augenblick lang beäugte Rambo ihn mit offenem Mund. »Der Tag der Rache …« murmelte er. »Hauen Sie ab!« zischte Edward. Rambo trat ein paar Schritte zurück, ehe er sich umwandte und in den Büschen verschwand. Edward hörte, wie er sich eilig seinen Weg durch das Dickicht bahnte – wie ein Kaninchen, dem die Hunde auf den Fersen waren. Edward betrachtete den Golfball in seiner Hand. Dann warf er den Ball in hohem Bogen zurück auf den Fairway und stieg aus dem Sand. Thomas hielt bereits Ausschau nach ihm. Edward zwang ein Grinsen auf sein Gesicht und winkte ihm zu, zeigte an, daß er wieder im Spiel war. Er zog einen Schläger aus seiner Golftasche. Er wollte sich gerade in Position begeben, als ihm etwas Weißes ins Auge stach, das am Rand des Sandbunkers im Gras lag. Er ging hinüber, hob es auf und besah es sich genauer. Es war ein Streichholzbriefchen, auf dem LA-Z PINES MOTEL, KINGSBURGH, NEW YORK stand – in Lettern, die aus lauter winzigen Holzscheiten zusammengesetzt waren. Inhaber GUS DEBLAKEY. Beiläufig steckte er das Streichholzbriefchen ein. Er warf noch einen Blick auf die Büsche, in denen Rambo verschwunden war. Er hat alles gesehen, schoß es ihm durch den Kopf, und abermals lief es ihm kalt den Rücken herunter. Er hat mich beobachtet. Er weiß Bescheid.
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»Bist du gern am Meer, Paul?« fragte Anna, als Tracy und Paul aus dem Auto stiegen. Tracy überquerte die schmale Straße und marschierte auf der Strandpromenade weiter, die an die Dünen angrenzte. »Ich war noch nie am Meer«, antwortete er, während er einen der Liegestühle schulterte. Er sieht aus wie ein Straßenkind, dachte Anna. Er trug knöchelhohe Turnschuhe ohne Socken, eine schwarze, über den Knien abgeschnittene Hose und – trotz der Hitze – seine Militärweste. Anna hievte die Picknicktasche aus dem Kofferraum. »Von jetzt an kannst du ans Meer, wann immer du willst. Wir kaufen dir eine Jahreskarte für den Strand und eine Badehose – nicht wahr, Tom?« Thomas schloß die Fahrertür und rückte seine Sonnenbrille zurecht. »Was?« Anna reichte ihm die Picknicktasche, während Paul hinter Tracy herging. »Du bist schrecklich schweigsam«, sagte sie. »Ich denke bloß nach«, sagte er, während sie den beiden Teenagern folgten. »Und von heute morgen hast du auch nichts erzählt«, sagte sie. »Hat Paul das Spiel gefallen?« Thomas sah dem Jungen nach, der den Weg zum Strand hinunterging. »Keine Ahnung. Ich glaube schon.« Als sie die Dünen erklommen hatten, erblickten sie die spiegelglatte Oberfläche des Long Island Sound; die See war ruhig und erstreckte sich bis zum Horizont. Anna ging ein wenig schneller, bis sie Paul eingeholt hatte. »Na, wie gefällt es dir?« fragte sie. Der Junge ließ den Blick über die herrliche Sommerlandschaft schweifen. »Echt cool«, sagte er.
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Ein jähes Glücksgefühl durchströmte Anna bei seinen Worten. Sie wandte sich zu Thomas um, der gerade dabei war, die Liegestühle aufzuklappen. Aber offenbar hatte er gar nichts mitbekommen; er sah nicht einmal auf. »Tja, dann mußt du nur noch dein Badetuch ausbreiten«, sagte Anna zu Paul. Tracy hatte inzwischen ein paar Freundinnen entdeckt, die sich, um den Aussichtsstuhl des Rettungsschwimmers geschart, in der Sonne aalten. Tracy stimmte in ihr Kichern ein und mied jeden weiteren Blickkontakt mit ihrer Familie. »Nimm lieber etwas Sonnencreme«, sagte Anna mit einem Blick auf Pauls blasse Haut, als er die Weste auszog. »Ich sehe mich mal ein bißchen um«, sagte er. Aus dem Augenwinkel nahm Anna wahr, wie Tracy und ihre Freundinnen miteinander tuschelten. Eine von ihnen zeigte auf Pauls Turnschuhe und rümpfte die Nase, worauf alle miteinander in hämisches Gelächter ausbrachen. Paul beachtete sie nicht, doch Anna beschlich das dumpfe Gefühl, daß er alles genau mitbekam. Anna sah ihrem Sohn nach. Einem kleinen Jungen in Frotteebadehose, der am Fußende eines Badetuchs saß und im Sand schaufelte, schnitt er eine lustige Grimasse. Das Kind lachte vergnügt und deutete mit seiner Schaufel auf Paul. Die junge Mutter, die ihren Kleinen nicht aus den Augen ließ, warf Paul ein Lächeln zu und blickte dann zu Anna hinüber. »Ist das Ihr Sohn?« fragte die Frau. Anna sah Paul hinterher, der zum Wasser ging. Neben all den sonnenverwöhnten Körpern auf den Badetüchern wirkte er fast krankhaft blaß. Sie lächelte die junge Mutter an. »Ja«, erwiderte sie. »Was für ein netter Junge«, sagte die Frau. »Er ist fünfzehn«, sagte Anna. »Wie alt ist denn Ihr Kleiner?« Die Frau verdrehte die Augen und lachte. »Gerade mal zwei, 107
und von nichts kann er seine Finger lassen.« Als wollte er ihre Worte unter Beweis stellen, watschelte der Kleine just in diesem Augenblick los und zerrte am Eimer eines Mädchens, das an einem Priel spielte, den die Flut hinterlassen hatte. »Jeremy!« rief die Frau und eilte los, um die beiden zu trennen. »Gib ihr den Eimer zurück.« Der Junge ließ sich neben seine neue Freundin plumpsen; die Mutter ging zu ihrem Badetuch zurück. Anna lächelte. »Sie haben’s gut«, sagte die Frau. »Sie brauchen nicht mehr auf Ihren Sohn aufzupassen. Ich kann’s kaum erwarten, bis Jeremy so alt ist, daß ich nicht dauernd ein Auge auf ihn haben muß.« »Ach, ich weiß nicht. Kinder werden so schnell erwachsen«, sagte Anna, während ihr Blick wieder zum Saum der Brandung wanderte. Einen Augenblick konnte sie Paul nirgends entdecken. Mit einem Mal schlug ihr das Herz bis zum Hals. Nervös suchte sie die Uferlinie ab. Dann sah sie ihn plötzlich. Er watete durch das seichte Wasser und sah hinaus aufs Meer. Sie seufzte erleichtert und wandte sich zu Thomas, der es sich auf seinem Liegestuhl bequem gemacht hatte und Zeitung las. Anna ließ sich auf ihr Badetuch sinken und berührte ihn am Knie. Thomas blickte auf. »Soll ich dir den Rücken eincremen?« fragte er. Anna nickte und gab ihm die Sonnencreme. Er drückte ein wenig Creme auf seine Handfläche und begann ihr mit kreisenden Bewegungen den nackten Rücken einzureiben. »Oh, das tut gut«, sagte Anna. Sie legte den Kopf in den Nacken, behielt aber weiter das Ufer im Auge, wo Paul knöcheltief im Wasser stand. »Ich glaube, ich lese in meinem Buch weiter.« »Du siehst müde aus«, sagte Thomas. »Warum schläfst du nicht ein bißchen?« 108
»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Ich würde lieber ein Auge auf ihn haben.« »Wozu?« fuhr Thomas sie an und warf die Sonnencreme auf das Badetuch. »Er ist kein Baby mehr, Anna!« »Ich weiß doch nicht mal, ob er überhaupt schwimmen kann.« Thomas blickte zu Paul, der weiter durch das seichte Wasser watete. »Du tust gerade so, als würde er gleich aufs offene Meer hinausgespült«, sagte er. Anna hörte an seinem Tonfall, wie genervt er war, und versuchte ihn zu beschwichtigen. »Du hast recht«, sagte sie. »Ich sehe das alles zu verkrampft.« Sie schlug ihr Buch auf, hob aber dennoch alle paar Sätze den Kopf, um nach ihrem Sohn zu sehen. Die Hitze machte sie schläfrig. Schließlich legte sie das aufgeschlagene Buch neben sich auf das Badetuch und streckte sich aus. Sie hatte die ganze Nacht so gut wie kein Auge zugetan; nun wurde sie von Erschöpfung übermannt. Gelächter und Geräuschfetzen aus Radios vermischten sich allmählich zu einem angenehmen Summen, bis ihr die Augen zufielen. Sie träumte von einem kleinen Jungen in einer Wolke aus Licht. Plötzlich ertönte ein markerschütternder Schrei, der den Jungen in ihrem Traum zusammenschrecken ließ. Anna fuhr abrupt hoch. Das schrille Kreischen hörte nicht auf, während sie sich schlaftrunken umsah, noch völlig benommen. Wenn Kinder schrien, stieg jedesmal unwillkürlich Panik in ihr auf. Dann erblickte sie eine Möwe, die auf dem Rand eines Abfallkorbs saß und irgend etwas im Schnabel hielt. »Du kriegst einen neuen Keks«, versuchte die junge Mutter den kleinen Jeremy zu beruhigen, der immer noch außer sich über die Heimtücke des räuberischen Vogels war. »Weg mit dir«, rief die junge Mutter in Richtung der Möwe und klatschte in die Hände, doch der Vogel musterte sie ungerührt, ohne sich von der Stelle zu bewegen. 109
Seufzend ließ Anna sich auf ihr Badetuch zurücksinken. Im selben Moment kam ihr Paul in den Sinn. Sie fuhr wieder hoch und suchte den Strand ab. Im ersten Moment konnte sie ihn nirgends entdecken. Dann sah sie, warum. Paul hatte sich nicht weit fortbewegt, doch nun stand ein Mann bei ihm, der ein weites T-Shirt, eine Sonnenbrille und eine Baseballkappe trug. Sowohl Paul als auch der Mann standen mit dem Rücken zu ihr. Die Hände des Mannes ruhten auf Pauls schmächtigen Schultern. »Tom!« rief Anna. »Sieh doch! Da drüben!« Thomas senkte die Zeitung. »Was ist denn nun schon wieder?« »Da, dieser Mann«, sagte Anna. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie sich auf die Beine kämpfte. »Wo willst du hin?« fragte Thomas, aber Anna eilte bereits über den Strand, den Blick auf ihren Sohn und den Unbekannten geheftet. Als sie bei ihnen war, schrie sie mit so lauter Stimme, daß die beiden erschrocken zusammenfuhren: »Was machen Sie da?« Paul und der Mann mit der Baseballkappe drehten sich um und sahen Anna entgeistert an. Paul senkte das Fernglas, das ihm der Mann gegeben hatte, und trat zwei Schritte zurück. Der Mann runzelte die Stirn. »Ich habe ihm bloß …« Anna wollte Paul am Arm fassen, aber er entwand sich ihrem Griff. »Was willst du überhaupt?« schrie er sie an. »Er hat mich doch nur durch sein Fernglas sehen lassen.« Anna wandte sich an den Mann. »Was wollen Sie von meinem Sohn?« »Gar nichts«, erklärte der Mann. »Er hat mir nur die Fische da draußen gezeigt«, brüllte Paul.
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Aller Blicke hatten sich auf sie gerichtet; auch die Badenden starrten zu ihnen herüber. »Komm jetzt, Paul«, sagte Anna und versuchte abermals, ihren Sohn mit sich zu ziehen. »Laß mich in Ruhe!« schrie Paul und riß sich los. »Laß mich endlich zufrieden!« Anna ließ die Hände sinken. Hilflos starrte sie erst ihren Sohn, dann den Unbekannten an. Der Mann mit der Baseballkappe reckte die Schultern und holte tief Luft. »Hören Sie«, sagte er ernst. »Ihr Sohn hat mich gefragt, ob er mal durch mein Fernglas sehen darf. Sie haben mich in eine äußerst peinliche Lage gebracht. Was meinen Sie, was die Leute jetzt von mir denken?« Anna fiel ein Stein vom Herzen, doch gleichzeitig wäre sie am liebsten im Boden versunken. Sie legte eine Hand vor den Mund. Mit hängenden Schultern stand sie da. »Es tut mir leid«, sagte sie leise. »Man kann’s auch übertreiben, wissen Sie«, sagte der Mann, während er sich das Fernglas um den Hals hängte. »Es tut mir leid«, wiederholte Anna. »Das wollte ich wirklich nicht. Ich habe mir nur solche Sorgen gemacht, daß …« Ihre Arme hingen schlaff herab. Sie starrte auf ein kleines Loch im Boden, das wohl einer Krabbe als Versteck diente, und wünschte sich, sie könnte sich ebenso im Schlick verkriechen. »Das sollte Ihnen auch leid tun«, sagte der Mann und zog kopfschüttelnd sein T-Shirt zurecht. Mit gesenktem Blick wandte sich Anna von ihm ab, während Paul mit flammendrotem Gesicht vor ihr durch den Sand stakste. Thomas kam ihr entgegen und musterte sie mit grimmigem, ungläubigem Blick. Anna schüttelte den Kopf, als könne sie sich ihr Verhalten selbst nicht erklären. 111
»Laß uns zurückfahren«, sagte er. Schweigend marschierten sie zu ihrem Platz, vorbei an Tracy, die den neugierigen Blicken ihrer Freundinnen auswich. »Kommst du mit nach Hause, Tracy?« fragte Thomas. Tracy sah nicht auf. »Nein.« »Ruf an, wenn ich dich abholen soll.« Anna ging zu ihrem Badetuch. Paul war bereits hinter den Dünen verschwunden. Wahrscheinlich saß er schon im Auto, um bloß niemandem mehr in die Augen sehen zu müssen, nachdem sie ihn derart bloßgestellt hatte. Ihre Lippen bebten, als sie sich nach der Picknicktasche bückte, in der sich all die Leckereien befanden, die niemand angerührt hatte.
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7 Auf dem Parkplatz des La-Z Pines Motel angekommen, schlug Rambo die Tür des Chevy zu und schloß seine Zimmertür auf. Das Licht schaltete er nicht an, wohl aber die altersschwache Klimaanlage am Fenster. Dann ließ er sich auf die durchgelegene Matratze fallen und starrte auf die heruntergezogenen Jalousien. Vor seinem inneren Auge stand immer noch Edward Stewart, der ihn verächtlich anstarrte. Ihn schauderte, als er sich an die eiskalten Augen erinnerte. Bei der Erinnerung an ihr Gespräch überkam ihn ein düsteres Gefühl des Scheiterns. Ihm ging auf, daß er Edward entgegengetreten war, ohne auch nur den geringsten Beweis gegen ihn in der Hand zu haben. Er hatte schlicht darauf gesetzt, daß er, komplett überrumpelt, klein beigeben würde. Und außerdem hatte ihm der Herr ein Zeichen gegeben. Er war sein Gesandter. Rambo nahm die Bibel zur Hand und begann im trüben Licht dort weiterzulesen, wo er aufgehört hatte. Doch konnte er sich beim besten Willen nicht konzentrieren. Kurz darauf schlug er die Bibel wieder zu und legte sie beiseite. Müde griff er nach seiner Brieftasche und öffnete sie. Eine kleine Ewigkeit starrte er regungslos auf den mageren Inhalt. Um ihn herum war es totenstill. Auch die göttlichen Stimmen waren verstummt; er wußte nicht, was er tun sollte. Einer Tatsache konnte er jedenfalls getrost ins Auge sehen: daß ihm in spätestens zwei Tagen das Geld ausgehen würde. Er wollte die Brieftasche gerade wieder zuklappen und einstecken, als ihm auffiel, daß die Ecke eines Fotos aus einem der Fächer ragte. Erst wollte er es zurückschieben, zog es dann aber heraus.
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Es war ein altes Bild von Dorothy Lee: Sie trug ihre Schwesterntracht und lächelte ihn an. Das Foto war kurz nach ihrer Schwesternprüfung aufgenommen worden; wie stolz sie auf ihre Schwesternhaube gewesen war. Zärtlich hielt er das Bild an dem abgegriffenen Rand und dachte an seine verstorbene Frau. Das mit dem Jungen hatte er letztlich für sie getan. Sie hatte sich so sehnlich ein Baby gewünscht, doch war er zeugungsunfähig gewesen. Die Beamten von der Adoptionsbehörde hatten nicht einmal mit ihnen reden wollen, nachdem er so oft in der Anstalt gewesen war. Deshalb hatte er den Jungen geraubt. Und das habe ich jetzt davon, dachte er. Dorothy Lee hatte ihn immer gedrängt, auch ein Bild des Jungen in seine Brieftasche zu stecken, doch er hatte sich stets dagegen gesträubt. Er wollte kein Bild von dem teuflischen Balg mit sich herumtragen; schlimm genug, daß er seine Fratze tagtäglich ertragen mußte. Kalte Wut stieg in Rambo hoch, als er an den Jungen dachte, der sein Leben ruiniert hatte. Als sie dann endlich ein Kind hatte, spielte er nur noch die zweite Geige in ihrem Leben – manchmal war es ihm vorgekommen, als hätte sie ihn vergessen, als würde nur noch der Junge zählen. Er sah sie vor sich, wie sie in dem dunklen Wohnwagen auf dem Bett saß, Fernsehen guckte und den Kleinen im Schoß hielt. Pausenlos hatte sie ihm irgend etwas vorgesungen, mit seinem Haar gespielt und ihren Ehemann links liegengelassen. Als Rambo noch einen Blick auf das Foto warf, hörte er ihre sanfte Stimme in seinem Kopf. Du hast eben keine Ahnung, wie eine Mutter fühlt, Albert. Für ihr Kind würde eine Mutter alles tun. Er hatte sie gelegentlich daran erinnert, daß Billy nicht ihr richtiges Kind war, doch Dorothy Lee war achtlos über seine Bemerkungen hinweggegangen. Ich bin seine Mutter, pflegte sie zu sagen, genauso, als wäre er mein eigen Fleisch und Blut. Rambo seufzte und fuhr sacht mit dem Daumen über ihr 114
geliebtes Gesicht. Was sie wohl denken würde, wenn sie wüßte, daß ihr kleiner Billy jetzt Tür an Tür mit dem Mann wohnte, an dessen Wagen der goldene Adler prangte. Oh, sie wäre garantiert außer sich gewesen. Tag und Nacht hätte sie für den Jungen gebetet. Und dann erklang eine Stimme in dem stillen Raum. Nicht die des Herrn, sondern seine eigene. »Die Mutter«, stieß Rambo hervor. Lange saß er schweigend da, während er sich seine Eingebung in aller Ruhe durch den Kopf gehen ließ, genau überlegte, wie er vorgehen sollte. Dann schlug er die Beine übereinander und legte die Bibel auf sein spitzes Knie. Vielleicht gab es doch eine Möglichkeit, wie er Dorothy Lee eine letzte Ehre erweisen und trotzdem mit heiler Haut davonkommen konnte. Edward schlug das Ehemaligen-Magazin der University of Princeton zu und legte es mit einem Seufzer neben seinen Teller. Er und Iris saßen beim Dinner in ihrem geräumigen Speisezimmer. Iris griff nach dem bislang unberührten Brotkorb, nahm sich ein Brötchen und brach ein Stückchen ab. »Wie war es heute mit Paul?« fragte sie. »Wie ist er so?« Edward warf einen tadelnden Blick auf das Brötchen in ihrer Hand und griff nach der Gabel, bereit, sich über seinen Meeresfrüchtesalat herzumachen. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Er scheint ein ganz normaler Junge zu sein.« Iris steckte das Stück Brötchen in den Mund und kaute es langsam. Dann beugte sie sich vor und sah ihren Mann ernst an. »Hat er sich inzwischen ein wenig eingelebt?« Edwards Blick wanderte von der fragenden Miene seiner Frau zu ihrem ärmellosen Pikeekleid; eine der Seitennähte war ein Stück aufgeplatzt, zweifellos deswegen, weil sie in letzter Zeit 115
zugenommen hatte. Die Gabel in der Hand, langte Edward zu ihr hinüber. Iris sah ihn verwirrt an und zuckte jäh zusammen, als sich die kalten Zinken der Gabel durch das Loch im Kleid in ihre Haut bohrten. Mißbilligend verzog Edward die Nase. »Du platzt ja aus allen Nähten, Iris.« Iris war knallrot geworden. Sie rückte ihren Stuhl nach hinten und kreuzte die Arme, um die geplatzte Naht zu verbergen. »Oh, das habe ich gar nicht bemerkt.« »Es ist ja wohl nicht zuviel verlangt, daß du ein bißchen auf deine Garderobe achtgibst«, sagte Edward und wischte die Gabel an seiner Leinenserviette ab. »Ja«, murmelte sie. »Es tut mir leid.« Edward aß schweigend seinen Salat, während Iris auf ihrem Teller herumstocherte. »Ist alles arrangiert für die Party?« fragte Edward, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Iris biß sich auf die Unterlippe und nickte. »Bitte?« Edward warf ihr einen gereizten Blick zu. »Ja!« platzte Iris heraus. Edward seufzte. »Kein Grund zu schreien, Iris.« »Ich … ich habe heute mit dem Floristen und dem Partyservice telefoniert. Alles ist vorbereitet.« »Ach ja, streich doch bitte den alten Wilcox und seine Frau von der Gästeliste«, sagte Edward. »Sie werden nicht kommen.« »Der Arme sah ja heute morgen ganz verstört aus«, sagte Iris. »Was war denn los?« »Geschäftliche Dinge, Iris«, sagte Edward. »Nichts, was dich weiter kümmern sollte. Streich die beiden einfach von der Liste.« 116
Das Hausmädchen betrat den Raum, um den Tisch abzuräumen. Als Iris ihr den Teller reichte, starrte Edward demonstrativ auf die geplatzte Naht. Iris beeilte sich, den Arm schleunigst wieder herunterzunehmen. Edward griff wieder nach dem Ehemaligen-Magazin und blätterte darin herum. Es gelang ihm nicht, sich auf die Artikel zu konzentrieren, da ihm der Vorfall auf dem Golfplatz nicht aus dem Kopf ging. Aber wenigstens konnte er so tun, als würde er lesen; der Anblick seiner Frau in ihrem zerrissenen Fetzen trieb ihn zur Weißglut. Sie besaß nun wirklich genug Kleider, auch wenn sie sich neuerdings in die meisten hineinzwängen mußte. Einen Moment fragte er sich, was sie zur Party anzuziehen gedachte. Nicht auszudenken, wenn sie ihn auch noch vor den Gästen in Verlegenheit brachte. »Iris«, sagte er. »Ich hoffe, du findest wenigstens für die Party ein anständiges Kleid. Eines, das paßt.« »Ja, natürlich.« Das Hausmädchen kam wieder herein und servierte zwei Schälchen mit Eiscreme. Iris bedankte sich mit einem freundlichen Lächeln und griff nach ihrem Löffel. »Ich wollte das blaue anziehen«, sagte sie. »Das ich neulich auf der Benefizgala getragen habe. Es kam übrigens sehr gut an.« Angewidert verfolgte Edward, wie sie einen Löffel voll Eiscreme zum Mund führte. Er ertrug den Anblick, solange es eben ging; dann rollte er das Magazin zusammen und erhob sich ein Stück aus seinem Stuhl. Sein Handgelenk schnellte vor; ohne Vorwarnung schlug er mit der zusammengerollten Zeitschrift mitten in ihr Schälchen. Iris stieß einen spitzen Schrei aus, als das Eis über ihr Kleid spritzte. »Iris«, sagte er leise, »darf ich fragen, warum du dich noch mit Eiscreme vollstopfst, obwohl du nicht mehr in deine Kleider 117
paßt? Dieses süße Zeug ist nicht gut für dich. So bekommst du nur noch mehr Probleme mit deiner Figur.« Iris starrte auf die Schale herunter, während Edward das verschmierte Magazin mit spitzen Fingern auf dem Beistelltischchen deponierte. »Und nun geh bitte nach oben und zieh dich um«, sagte er. Hastig wischte sich Iris die Lippen und das Kleid mit ihrer Serviette ab, ehe sie mit zitternden Knien aufstand. Edward griff nach seinem Löffel und begann sein Eis zu essen. An der Tür blieb sie stehen und musterte ihren Mann mit erbitterter Miene. Dann verließ sie den Raum. Edward warf einen Blick auf das besudelte Magazin. Gereizt läutete er nach dem Hausmädchen, damit sie es wegschaffte. Eine Schande, daß er das Magazin hatte opfern müssen, um Iris eine Lektion zu erteilen. Die Lektüre bereitete ihm stets außerordentliches Behagen, da jede Ausgabe erneut belegte, daß es nur wenige seiner Kommilitonen ähnlich weit gebracht hatten wie er – und das, obwohl die meisten von ihnen mit Privilegien ausgestattet gewesen waren, die er nie genossen hatte. Es war nicht einfach für ihn gewesen. Während die anderen sich die Zeit mit Footballspielen und gemeinsamen Abendessen vertrieben, mußte er in einem Schnellrestaurant schuften; und da er so wenig Geld hatte, konnte er auch nicht auf dem Campus wohnen, sondern war gezwungen, sich ein Zimmer bei einer alten Frau zu nehmen, die ihren verwaisten Enkel aufzog und auf Untermieter angewiesen war. Zumindest war es dort sehr ruhig gewesen, so daß er sich auf seine Arbeit konzentrieren konnte. Der Alten und ihrem Enkel hatte er keine größere Beachtung geschenkt – bis diese verdammte Sache passiert war. Als er eine wichtige Seminararbeit nur ein paar Minuten unbeaufsichtigt auf dem Küchentisch hatte liegenlassen, hatte der Junge versehentlich ein
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Glas Kakao umgeworfen. Und Edward hatte vergessen, eine Sicherheitskopie auf dem Uni-Computer anzulegen. Er tat so, als sei es kein Problem. Doch als die alte Frau und der Junge beim Einkaufen waren, schlich er sich in die Garage und lockerte die Muttern am Fahrrad des Jungen; als er das nächste Mal losradelte, lösten sich die Räder, worauf der Bengel kopfüber auf den Asphalt stürzte. Hinter dem Vorhang hervor beobachtete Edward den Unfall; der Junge lag da wie tot, während sich eine Blutlache auf dem Pflaster sammelte. Der Junge mußte mit einem Dutzend Stichen genäht werden, was Edward mit tiefer Befriedigung erfüllte. Die Alte hatte ihn nie zur Rede gestellt, ihn aber am nächsten Tag gebeten, sein Zimmer zu räumen. Ein anderes Zimmer zu finden, stellte zwar eine kleine Unannehmlichkeit dar, doch das war ihm die Sache wert gewesen. Edward schüttelte den Kopf und warf einen Blick auf das Tablett mit dem Ehemaligen-Magazin, das das Hausmädchen gerade abräumte. Ja, er hatte es weit gebracht. Er durfte nicht vergessen, das Magazin zu informieren, daß er unlängst die Wilcox Company gekauft hatte. Als er sein Notizbuch hervorzog, hielt er plötzlich auch das Streichholzbriefchen aus dem La-Z Pines Motel in der Hand. Sofort waren seine Gedanken wieder bei dem Zusammenstoß auf dem Golfplatz, der ihn schon den ganzen Tag beschäftigte. Zunächst war er überzeugt gewesen, alles bestens im Griff zu haben. Diesem Rambo hatte er den Schneid abgekauft. Doch inzwischen war er sich nicht mehr ganz so sicher. Gut, der Mann mochte ein Irrer sein; dennoch lief er frei herum und wußte von Edwards Tat, ob er nun Beweise hatte oder nicht. Es gab keine Garantie, daß Rambo den Mund halten würde, falls ihn die Polizei doch zu fassen kriegte. Sicher, Rambo hatte absolut nichts gegen ihn in der Hand; insofern brauchte er sich keine Sorgen zu machen, daß man ihn verhaften würde. Aber abgesehen vom Arm des Gesetzes existierten noch 119
andere, weit gravierendere Bedrohungen. Da draußen gab es Dutzende von Leuten, die nur auf eine Gelegenheit warteten, ihn durch den Dreck ziehen zu können – es gab so viele, die ihn beneideten. Abermals kam ihm das Ehemaligen-Magazin in den Sinn; ihn schauderte bei dem Gedanken, irgendwann womöglich einen Artikel lesen zu müssen, der sich mit Anschuldigungen befaßte, die das Ende seiner Karriere bedeuten konnten. Er zerbrach sich derart angestrengt den Kopf, daß er nicht bemerkte, wie Iris wieder das Speisezimmer betrat. Mit gesenktem Kopf ging sie zu ihrem Stuhl und blieb dahinter stehen; sie hatte sich umgezogen. Edward musterte sie ärgerlich. »Ich habe nachgedacht«, sagte sie zögernd. »Vielleicht sollte ich nächste Woche für ein paar Tage auf eine Wellnessfarm gehen. Ich wollte es sowieso machen, und dabei könnte ich auch etwas für meine Figur tun.« Edward nahm die Kaffeetasse, die das Hausmädchen gebracht hatte. »Wie schade, daß du dich nicht vor der Party dazu durchringen konntest«, sagte er. Iris hob die Schultern. »Ich denke, ich fahre am Dienstag.« Edward öffnete seine Hand und warf einen Blick auf das Streichholzbriefchen. Es gab nur eine Möglichkeit, ganz sicherzugehen, daß Rambos Geschichte niemals an die falsche Adresse geriet. Ihm blieb schlicht keine Wahl. Solange Rambo am Leben war, stand seine Zukunft auf Messers Schneide. »Das macht dir doch hoffentlich nichts aus, Edward?« fragte Iris. »Nein, Iris«, sagte Edward. »Ganz und gar nicht.« Anna öffnete ihr Haar und zog sich aus. Sie nahm ihr Nachthemd vom Haken, hielt es sich vor die Brust und sah zu ihrem Mann, der schon im Bett lag, doch er erwiderte ihren 120
Blick nicht, offenbar völlig vertieft in seine Lektüre. Sie zog sich das Nachthemd über den Kopf und ging zur Kommode, um ihre Haarbürste zu holen. Thomas hob den Blick und sah ihr zu, während sie sich mit der Bürste durch die Haare fuhr, die sich sanft über ihren Schultern ausfächerten. »Ich nehme an, du schläfst heute nacht hier oben«, sagte er schroff. Anna kämmte sich ein paar widerspenstige Haare aus der Stirn. »Ich habe überall abgeschlossen«, sagte sie. »Ich fühle mich schon sicherer.« Thomas starrte über den oberen Rand seines Buchs ins Leere. Dann konzentrierte er sich wieder auf die Seiten. »Ich kann ja nicht in ihn hineinschauen«, sagte Anna. »Ich habe keine Ahnung, wie er über seine Rückkehr denkt. Aber wir können auch nicht erwarten, daß er sich gleich ganz zu Hause fühlt. Wir müssen Geduld mit ihm haben. Für ihn ist das alles neu. Ehrlich, ich glaube, er mag uns. Obwohl Tracy sich wirklich abscheulich benimmt. Aber was soll man von einem Teenager auch anderes erwarten?« Sie trat ans Fußende des Betts und berührte sein Bein über der Decke. »Tom, es tut mir leid wegen der Sache am Strand. Ich wollte euch nicht in Verlegenheit bringen. Dich genausowenig wie unsere Kinder.« Thomas blickte starr auf sein Buch. Seine Stimme klang angespannt, als er antwortete. »Du hast mich nicht in Verlegenheit gebracht.« »Ich war einfach übermüdet.« Anna schlüpfte unter die Decke. »Hoffentlich können wir morgen mal einen ganz ruhigen Tag verbringen. Und am Abend gehen wir dann zu der Party.« »Ich muß morgen erst mal den Wagen aus der Werkstatt holen«, sagte er. »Und dann wollte ich noch ein paar Sachen für den Garten besorgen.« 121
»Wäre doch schön, wenn wir anschließend etwas zusammen unternehmen könnten«, sagte Anna. »Ich habe Tracy gesagt, sie soll Paul morgen nachmittag das Tierheim zeigen.« »O nein. Wie bist du denn darauf gekommen?« »Wieso nicht? Die beiden müssen sich schließlich auch mal in Ruhe kennenlernen. Du hast dich doch gerade darüber beschwert, daß Tracy …« »Aber sie können doch nicht einfach allein losziehen. Was, wenn ihnen etwas passiert?« Thomas warf ihr einen finsteren Blick zu. »Tracy läßt du doch auch allein gehen. Du weißt genau, daß unsere Gegend absolut sicher ist.« »Ja, das stimmt, aber … Ich muß dauernd an diesen Kerl denken.« Anna lief es eiskalt über den Rücken, als ihr erneut Rambo in den Sinn kam. »Anna, warum läßt du’s nicht endlich gut sein? Reicht es dir nicht, was heute am Strand passiert ist?« Anna antwortete nicht. »Mit deinem Verhalten tust du dem Jungen keinen Gefallen«, sagte er. »Du weißt selbst, daß du ihn nicht ununterbrochen im Auge behalten kannst. Wieso läßt du ihm nicht einfach seine Ruhe? Hör auf, ihn dauernd einzuengen.« »Ich will nur sichergehen, daß ihm nichts passiert«, sagte sie. »Und eigentlich hatte ich gedacht, daß dir das auch wichtig ist.« Thomas preßte die Lippen zusammen. Er machte das Licht aus und drehte Anna den Rücken zu. Sie legte eine Hand über die Augen, streckte sie dann aus und berührte ihn an der Schulter. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich hab’s nicht so gemeint. Ich weiß doch, daß er dir genauso am Herzen liegt.« Thomas starrte ins Dunkel. »Ist schon okay.« 122
»Ich kann einfach nicht über meinen Schatten springen«, sagte sie. »Ich weiß, du hast mich immer gewarnt, Tracy nicht zu sehr zu bemuttern, wegen dem, was mit Paul passiert ist. Und du hattest recht.« Sie sprach leise, während sie sich erinnerte, wie oft sie sich wegen Tracy gestritten hatten. Wie schwer es für sie gewesen war, auf ihn zu hören und ihre Tochter ein ganz normales Leben führen zu lassen. Einen Augenblick lang hielt sie den Atem an, als ihr einmal mehr bewußt wurde, in welcher ständigen Angst sie gelebt hatte. Natürlich wußte sie, daß er recht hatte, doch zugleich hatte sich alles in ihr gegen seine Ratschläge gesträubt. Als Tracy vor einiger Zeit mit ihrer Klasse für zwei Tage nach Washington gefahren war, hatte Anna die halbe Nacht im Bad verbracht, sich vor Angst immer wieder übergeben müssen. »Ich sage mir ja selbst immer wieder, daß alles vorbei ist, aber …« Sie fuhr mit den Fingern über seinen starren Rücken. »Versteh mich doch. Ich wünsche es mir so sehr. Ich brauche dich, Tom. Gib mir das Gefühl, daß du zu mir stehst.« Zögernd umarmte sie ihn. »Wir haben immer alles zusammen durchgestanden. Laß mich nicht allein.« Thomas kniff die Augen zusammen, während sie seinen Arm streichelte. »Ich weiß nicht, wie ich dir beistehen soll, Anna. Irgendwie komme ich einfach nicht klar mit der neuen Situation. Ich muß mich erst an den Gedanken gewöhnen, daß unser Junge nach all den Jahren wieder zu Hause ist.« »Ich weiß, wie schwer das alles ist, Schatz«, sagte sie zärtlich. »Wenn sie diesen Rambo gefaßt haben, wird alles gut, das verspreche ich dir. Ich versuche ja, mir nicht allzu viele Sorgen zu machen. Ich wünschte nur, du würdest dich auch ein bißchen mehr freuen.« Er zog die Schultern noch weiter zusammen, doch gleichzeitig spürte er, wie sich ihre Brüste an seinen Rücken schmiegten, ein sanfter Druck, der seine Anspannung allmählich zu lösen begann. Im Widerstreit seiner Gefühle bildete sich ein 123
schmerzhafter Kloß in seiner Kehle. Am liebsten hätte er sich auf der Stelle zu ihr gedreht, seinen Kopf zwischen ihren weichen Brüsten vergraben und sie mit aller Macht an sich gedrückt. Mit einem Mal ließ sie ihn los und setzte sich abrupt auf. »Hörst du das?« sagte sie. Thomas wälzte sich herum und sah auf zu ihr; im Licht des Mondes konnte er die Konturen ihres Körpers unter dem dünnen Nachthemd erkennen. »Was ist denn?« fragte er. »Unten. Da war ein Geräusch.« Thomas vergrub das Gesicht in seinem Kissen. »Da, schon wieder« flüsterte sie. »Da ist jemand.« »Ich höre gar nichts«, sagte er und zog sich die Decke über den Kopf. Anna stand auf, zog sich den Morgenmantel über und lauschte. »Wahrscheinlich ist nur eins von den Kindern aufgestanden«, sagte sie zögernd, aber Thomas sah nicht auf. Reglos lag er unter der Bettdecke. »Das bildest du dir bloß ein«, sagte er mit dumpfer Stimme. Anna ging zur Tür und sah auf den Flur hinaus. Die Zimmertüren von Paul und Tracy waren geschlossen; im Haus war es dunkel. Sie spürte, daß Thomas schon wieder wütend auf sie war, aber sie konnte nicht anders. »Ich gehe kurz nachsehen«, sagte sie. Thomas gab keine Antwort. Anna schlüpfte auf den Flur hinaus und knipste das Licht an. Mit einer Hand stützte sie sich an der Wand ab, während sie leise die Treppenstufen hinunterging. Im Erdgeschoß war alles dunkel und totenstill. Sie blieb auf dem unteren Treppenabsatz stehen, während sie dachte, daß Thomas wieder einmal recht gehabt hatte. Sie hatte sich alles nur eingebildet. Auf Zehenspitzen schlich sie in das stockdunkle 124
Wohnzimmer. Plötzlich vernahm sie ein leises Geräusch aus der Küche. »Wer ist da?« sagte sie und knipste die Lampe an. Keine Antwort. Sie ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen, um sich zu vergewissern, daß sie allein war. Als sie ins Eßzimmer spähte, stachen ihr die schweren Kerzenständer aus Messing ins Auge. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie zum Eßtisch eilte und sich einen der Kerzenständer griff. Schwer lag er in ihrer Hand. »Wer ist da?« fragte sie wieder. »Tracy?« Den Kerzenständer in der schweißnassen Hand, stieß Anna die ans Eßzimmer angrenzende Küchentür auf und machte das Licht an. Niemand war zu sehen. Anna blickte sich um, ging dann zur Hintertür und sah nochmals nach, ob sie auch wirklich abgeschlossen war. Die Tür war fest verriegelt. Als sie sich umwandte, sah sie, daß die Tür zur Speisekammer einen Spalt offenstand. Sie hob den Kerzenständer, bereit, notfalls sofort zuzuschlagen. Als sie gegen die Tür trat, schwang diese nach innen. Verblüfft schnappte sie nach Luft. »Paul!« platzte sie heraus. »Was machst du denn hier?« Das Küchenlicht fiel in die dunkle Speisekammer. Der Junge kauerte auf dem Boden und sah zu ihr auf. Die Augen in seinem blassen Gesicht weiteten sich wie die eines in die Enge getriebenen Tiers. Er griff nach dem untersten Regalbrett, als würde er nach Halt suchen. Sein gehetzter Blick richtete sich auf den Kerzenleuchter in ihrer Hand. »Warum antwortest du denn nicht?« fragte Anna mit ebenso scharfer wie erleichterter Stimme. Der Junge zuckte mit den Schultern. Anna trat auf ihn zu und musterte besorgt sein fahles Gesicht. Erschrocken bemerkte sie, daß er am ganzen Körper zitterte.
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Er kämpfte sich auf die Füße und drückte sich, den Rücken eng an die Regale gepreßt, an ihr vorbei in die Küche. Anna ging ihm nach und stellte den Kerzenständer auf die Anrichte. Sie streckte eine Hand nach ihm aus, doch er drückte sich gegen den Kühlschrank. »Ich konnte nicht schlafen«, sagte er. »Ich hatte Hunger.« »Du mußt dich doch nicht vor mir verstecken, Paul«, sagte sie. »Du bist hier zu Hause.« Der Junge sah zu Boden. »Hast du denn etwas zu essen gefunden?« fragte sie. Er nickte eilig. Sie sah ihn forschend an; sie glaubte ihm zwar nicht, wollte ihn aber auch nicht unter Druck setzen. »Was ist denn los, Paul? Stimmt irgendwas nicht?« Er warf ihr einen flüchtigen Blick zu und holte tief Luft. »Ich hatte einen Alptraum. Und dann bin ich aufgewacht.« »Willst du mir erzählen, was du geträumt hast?« fragte sie. »Manchmal hilft es, wenn man darüber redet.« Der Junge schüttelte den Kopf. »Nein. Ich gehe wieder nach oben.« »Na gut«, sagte sie. »Gute Nacht.« Sie wartete, bis er hinaufgegangen war; dann löschte sie das Licht und folgte ihm. Als sie sich noch einmal ins Gedächtnis rief, wie er dort auf dem Boden der Speisekammer gehockt hatte, lief ihr ein kalter Schauder über den Rücken. Sie verdrängte den Gedanken, fragte sich aber, was das für ein Traum gewesen sein mochte, der ihn derart verstört hatte – so sehr, daß er sich vor ihr versteckt hatte. Nachdenklich kehrte sie zum Schlafzimmer zurück. Sie öffnete die Tür. Im Mondschein sah sie die Umrisse von Toms Körper, der mit dem Rücken zu ihr im Bett lag. »Es war Paul«, sagte sie. »Er hatte einen Alptraum.« 126
Sie erhielt keine Antwort. Nur sein schwerer Atem war zu hören. Sie wußte genau, daß er nur so tat, als würde er schlafen. Anna zog den Morgenmantel aus und schlüpfte neben ihm ins Bett. In dem großen dunklen Haus klang sein Atem wie das Rauschen von Bäumen auf einem Friedhof. Sie versuchte ruhiger zu werden. Nach einer Weile entspannte sich Toms Körper; nun war er wirklich eingeschlafen.
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8 Der Mechaniker wischte sich die schmutzigen Hände an einem alten Fetzen ab und rieb sich die Nase mit dem Unterarm. »Geben Sie mir ein paar Minuten, dann mach ich Ihnen die Rechnung fertig.« »Nur keine Hektik«, sagte Thomas, die Hand auf der Motorhaube. »War’s eine größere Sache?« »Halb so wild«, sagte der Mechaniker. »Läuft etwa auf die Summe hinaus, die ich Ihnen am Telefon genannt habe.« Thomas hob die Schultern. »Daß Sie auch sonntags geöffnet haben, hat mich schon ein bißchen überrascht.« »Sieben Tage die Woche, sonn- und feiertags«, sagte der Mann. »Bin gleich wieder da.« Der beißende Geruch von Öl stieg Thomas in die Nase, als er sich in der Werkstatt umsah. An einer alten Pinnwand hingen ein Kalender mit Cheerleader-Girls und eine Reihe von Notizen in unleserlicher Handschrift. Am anderen Ende der Garage befanden sich Regale mit gestapelten Reifen; der Zementboden war mit großen schwarzen Flecken übersät. Auf einem Tresen lagen eine Mappe mit Straßenkarten sowie ein paar Kugelschreiber mit dem aufgedruckten Namen der Werkstatt. Thomas fühlte sich wohl in dieser Umgebung. Hier konnten Männer in Ruhe ein Bierchen zischen und sich bei einem saftigen Sandwich durchaus auch mal einen schmutzigen Witz erzählen. Eine Werkstatt war ein Ort, an dem ein Mann seinem Sohn erklären konnte, wie ein Motor funktionierte. Immer vorausgesetzt, man hatte einen Sohn. Er überlegte, ob er Paul gelegentlich mit hierhernehmen sollte, schüttelte dann aber den Kopf.
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Er hatte schlecht geschlafen und kaum ein Wort mit Anna gewechselt, als sie ihn zur Werkstatt gefahren hatte. Ein leises Schuldgefühl ergriff Besitz von ihm, als er sich daran erinnerte, wie sie ihn angesehen hatte, bevor sie zurückgefahren war. Sie hatte sich bei ihm entschuldigen wollen, weil sie wieder mitten in der Nacht durchs Haus gestreift war, doch er hatte ihr den Rücken zugekehrt, noch ehe sie etwas sagen konnte. Obwohl er sich nun eingestand, daß sie ihn nicht um Verzeihung bitten mußte. Schließlich war Albert Rambo nach wie vor auf freiem Fuß – ein Krimineller, der ihren Sohn gekidnappt hatte. Vielleicht war es ganz normal, daß sie sich deswegen Sorgen machte. Vielleicht war es unnormal, daß ihm Rambo komplett egal war. Aber an einer Tatsache war nicht zu rütteln. Er scherte sich ebensowenig um Rambo wie um den Jungen. Thomas schloß die Augen, angewidert von seinen eigenen Gedanken. Das war nicht fair. So durfte er einfach nicht denken. Er konnte dem Jungen schlecht ankreiden, daß er schließlich gefunden worden war; und genausowenig konnte er dafür, daß sein leiblicher Vater nichts als Abneigung gegen ihn empfand. Erbittert trat er gegen einen der Reifen seines Wagens. »Die Reifen sind okay.« Der Mechaniker kam auf Thomas zu, die Rechnung in der Hand. »Hab ich alles gecheckt.« »Oh, gut«, sagte Thomas. »Hier, alles genau aufgelistet.« Thomas warf einen Blick auf die Rechnung und schrieb auf der Motorhaube einen Scheck aus. »Vielen Dank«, sagte er. »Keine Ursache.« Der Mechaniker ging wieder in sein Büro, während Thomas in den Wagen stieg. Er überlegte noch einmal kurz, was er im Baumarkt besorgen wollte; der Unkrautvernichter war alle, und sie benötigten eine neue Heckenschere. 129
Als er aus der Werkstatt fuhr, erinnerte er sich, daß sich gleich neben dem Baumarkt ein Bekleidungsgeschäft befand. Er beschloß, dort ebenfalls kurz vorbeizusehen; vielleicht fand er etwas für Paul. Und ein bißchen guten Willen konnte er ja ruhig zeigen. Nicht, daß ihm nachher noch jemand vorwarf, er habe es nicht versucht. Aber auch das war nicht richtig, dachte er. Jemandem ein Geschenk zu machen, weil man das Gefühl hatte, ihm etwas schuldig zu sein. Seinem Sohn etwas zu kaufen, statt ihn echte Zuneigung spüren zu lassen. Er wünschte, etwas für den Jungen empfinden, Gefallen an ihm finden zu können. Doch ihm war nur allzu bewußt, daß er sich betrogen fühlte. Bevor der Junge zurückgekommen war, hatte er wenigstens eine Frau gehabt. Aber auch sie schien er nun endgültig verloren zu haben. »Laß bloß die Finger von den Tieren«, schnauzte Tracy. »Guck sie dir an, aber anfassen ist nicht, verstanden?« Sie streifte sich einen schmutzigen Kittel über und verschwand in einem kleinen Raum nahe den Zwingern. Paul sah ihr hinterher, ehe er zu den Käfigen ging und leise mit den Hunden und Katzen sprach. Ein durchdringender Gestank lag in der Luft, und die Tiere heulten und bellten ohne Unterlaß. Paul warf einen Blick über die Schulter, um sich zu vergewissern, daß Tracy noch nicht wieder zurück war; dann steckte er die Hand in einen Käfig, in dem ein kleiner Terrier zusammengesunken an der Wand saß. Paul streichelte das drahtige Fell des Hundes. Das Tier winselte und schien sich unter seiner Hand zu ducken. Als er über die Schnauze des Hundes fuhr, merkte er, daß die Nase des Tiers warm war. Paul runzelte die Stirn und fühlte noch einmal. Das Tier kauerte sich noch weiter zusammen. »Der Hund hier ist krank«, rief er.
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Tracy erschien im Korridor zwischen den Zwingern; sie schleppte einen Sack Hundefutter. »Was ist denn mit ihm?« »Seine Nase ist warm.« Tracy ließ den Sack mit dem Hundefutter zu Boden fallen. »Ich hab doch gesagt, du sollst die Tiere nicht anfassen.« Paul musterte sie nur mit kaltem Blick. »Welcher ist es denn?« fragte sie. Paul wies auf den Terrier. »Mach dir mal keine Sorgen um den«, sagte Tracy, aber Paul sah, daß sie beunruhigt war. »Wieso gehst du nicht einfach nach draußen? Hier bist du mir bloß im Weg.« Paul langte zwischen die Stäbe und streichelte den Terrier noch einmal. Dann verließ er den Korridor mit den Zwingern und trat in den angrenzenden, sonnigen Garten. Er ging zu einem großen Baum hinüber und setzte sich in den Schatten. Er schwitzte in seiner Tarnweste, hatte aber keine Lust, sie auszuziehen. Eine leichte Brise strich durch den Garten; er lehnte sich gegen den Baum und streckte die Beine aus. Nach einer Weile erschien Tracy und kam zu ihm herüber. Paul schloß die Augen und tat so, als würde er den Windhauch genießen. Dann hörte er, wie sie sich neben ihn auf den Rasen fallen ließ. Er öffnete die Augen; sie hatte sich im Schneidersitz neben ihm niedergelassen. Vor ihr lag ein kleiner Plastikbeutel, in dem sich irgendein getrocknetes Kraut befand. Tracy nahm ein Blättchen Zigarettenpapier und streute ein wenig von dem Marihuana hinein. Dann begann sie einen Joint zu drehen. Paul sah aus dem Augenwinkel zu ihr hinüber. Tracy hielt ihm den Joint hin. »Rauchst du?« fragte sie. »Klar«, log er. Tracy leckte noch einmal über die Gummierung und biß das Ende des Joints ab. Dann kramte sie ein Päckchen Streichhölzer aus ihrem Nylonrucksack und zündete den Joint an. Paul sah ihr 131
zu, wie sie den Rauch tief einsog und in der Lunge behielt. Er hatte sich schon an Zigaretten und Whiskey versucht, aber Gras hatte er bislang nicht geraucht. Tracy hielt ihm den Joint hin; er nahm ihn aus ihren Fingern entgegen. Er hatte gehört, das Zeug sei ziemlich teuer, und fragte sich, wie sie sich das leisten konnte. »Wirst du bezahlt für den Job?« Er wies in Richtung der Zwinger. »Spielt doch keine Rolle«, sagte sie abweisend. »Ich mach’s einfach gerne.« »Verstehe.« Er führte den Joint zum Mund und inhalierte, während er sich verstohlen umsah, ob auch niemand in der Nähe war. Sam, sein Kater, war ihnen gefolgt, als sie mit den Rädern hierhergefahren waren. Er schnupperte an der Hintertür; sonst war nur das Rauschen der Bäume zu hören. Paul reichte ihr den Joint zurück; unwillkürlich mußte er husten. Tracy warf ihm einen verächtlichen Blick zu. »Na, wie findest du’s?« fragte sie. Paul rang nach Luft. Tränen stiegen ihm in die Augen. »Ich hab mich verschluckt«, erklärte er. »Hier, zieh einfach noch mal«, sagte sie. Er atmete tief ein und nahm noch einen Zug. Er spürte ein Kribbeln in Füßen und Unterschenkeln; sein Mund war unangenehm trocken. Plötzlich fiel ihm auf, wie strahlend blau der Himmel war. Er blickte auf, verzaubert vom Anblick der zarten, langsam dahintreibenden Wolken. Schließlich sah er zu Tracy hinüber, die sich auf dem Rasen ausgestreckt hatte und ihn zerstreut betrachtete. Rasch wandte sie den Blick ab. Paul seufzte und schlang die Arme um die Knie. Wortlos nahm sie den Joint, als er ihn ihr zurückreichte. »Was ist das eigentlich für eine Party heute abend?« fragte er beiläufig. 132
Angewidert blies Tracy Rauch aus. »Irgendeine öde Wohltätigkeitsgala bei den Stewarts. Mr. Stewart ist ’ne ganz große Nummer. Er hat in so ziemlich allen Stiftungen die Finger drin.« Paul runzelte die Stirn und schloß die Augen. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, daß Mr. Stewart sich für gute Zwecke einsetzte. Er dachte daran, wie schäbig er den alten Mann in seinem Garten behandelt hatte. Die Sache wollte ihm einfach nicht aus dem Kopf gehen, und er hätte gern mit jemandem darüber gesprochen. Auf dem Golfplatz hatte er Mr. Stewart die ganze Zeit im Auge behalten und sich gedacht, daß er nur einen auf nett machte. Er überlegte, ob er Tracy berichten sollte, was er im Garten der Stewarts beobachtet hatte. Er konnte ihr ja so davon erzählen, daß sie darüber lachen mußte, und abwarten, was sie zu der Sache meinte. Doch dann schwante ihm plötzlich, daß sie wahrscheinlich nicht lachen würde –, bloß um es ihm zu zeigen. Sie war eine echte Kratzbürste. Er versuchte sie auszublenden. Sam, der den Garten genug erkundet hatte, kam zu ihm und kletterte auf seinen Schoß. Paul begann ihn zu streicheln; sein Fell war warm von der Sonne. Der Kater machte es sich in seinem Schoß bequem und begann zu schnurren. »Ich glaube, da ist gerade ein Wagen vorgefahren«, sagte Tracy. Langsam öffnete Paul die Augen. »Da ist jemand«, sagte sie. »Besser, ich tu das Zeug wieder weg. Ich gehe mal nachsehen.« »Ich hab nichts gehört«, sagte Paul. Seine Glieder waren bleischwer; träge hob er die Lider, als er zu ihr hinüberblickte. »Wie spät ist es?« fragte er. »Woher soll ich das denn wissen?« sagte Tracy. Sie stand auf und klopfte sich die Sachen ab. Sie griff nach ihrem Rucksack
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und verstaute das Marihuana in der Seitentasche. »Bin gleich wieder da«, sagte sie. »Okay«, sagte Paul. Er sah ihr nach, als sie auf den Hintereingang des Tierheims zuging. Neugierig geworden, erhob sich der Kater und sprang von Pauls Schoß, um ihr zu folgen. Paul fand es schade, nicht mehr die Wärme des Tiers auf seinen Beinen zu spüren. Erneut schloß er die Augen und ließ sich in seinen Gedanken treiben. Lichtpunkte tanzten vor seinen Lidern, glitzerten und lösten sich wieder auf. Die leichte Brise war angenehm kühl. Sein Körper fühlte sich schwerelos an; er war ganz im Einklang mit sich selbst. Er versuchte an gar nichts zu denken, einfach nur seine Empfindungen zu genießen. Ein seltsames Gefühl ergriff Besitz von ihm, als er seine Gedanken schweifen ließ, sich Erinnerung und Traum vermischten – ein Gefühl, das ihn schon mehrmals überkommen hatte, seit er bei den Langes war. Obwohl Erinnerung das falsche Wort war, wie er dachte; er erkannte nichts wieder, keine Gesichter, keine Häuser, absolut gar nichts. Doch manchmal überkam ihn ein flüchtiges Gefühl der Vertrautheit. Paul fragte sich, ob ihm das Marihuana vielleicht sogar helfen konnte, sich an früher zu erinnern. Tracys Gesicht erschien vor seinem inneren Auge; er versuchte, seine Erinnerungen zurück in die Vergangenheit zu lenken, sie sich als kleines Kind vorzustellen. Er konzentrierte sich auf ihre wachsam blickenden, haselnußbraunen Augen, versuchte sie sich in einem Babygesicht vorzustellen. Er malte sich aus, wie er mit seiner kleinen Schwester spielte, streifte in Gedanken durch das Haus der Langes. Plötzlich erschien ein Holztor vor seinem inneren Auge, so schlagartig wie das Blitzlicht einer Kamera. Er war sich nicht ganz sicher, aber offenbar schien es zu seinen Erinnerungen zu gehören, obwohl er auf dem Grundstück der Langes nirgends ein solches Holztor gesehen hatte. 134
Er überlegte fieberhaft, warum ihm das Holztor irgendwie bekannt vorkam, und während er sich konzentrierte, erinnerte er sich plötzlich an den Alptraum von letzter Nacht. Nackte Angst ergriff Besitz von ihm, als er den Alptraum noch einmal durchlebte. Er lag auf dem Boden, doch obwohl er aufzustehen versuchte, gelang es ihm nicht, sich auch nur einen Zentimeter vom Fleck zu rühren. Die Erde unter ihm war hart und kalt. Hilflos lag er da, während sich eine gewaltige schwarze Masse auf ihn zubewegte, ihn zu zermalmen drohte. Plötzlich tauchte ein riesiger goldener Adler über ihm auf, breitete die Schwingen aus, bereit, über ihn herzufallen. Und dann beugte sich ein Mann über ihn, jemand, der ihm irgendwie bekannt vorkam, auch wenn er sein Gesicht nicht erkennen konnte – Panik schnürte ihm die Kehle zu. Paul riß die Augen auf. Er hatte fast vergessen, wo er sich befand. Er rieb sich die Hände; sie fühlten sich eiskalt an. Sein linkes Auge tat ihm weh. Er wußte nicht, wie lange er unter dem Baum gesessen hatte. Er runzelte die Stirn, während er zu den Zwingern hinüberblickte. Er rappelte sich auf und lief zum Hintereingang des Tierheims. »Tracy?« rief er. Die Tiere in den Zwingern begannen erneut lauthals zu heulen und zu kläffen. Eilig ging Paul zwischen den Käfigen hindurch und die Treppenstufen hinauf, die zu den Räumen des Tierarztes führten. Im Untersuchungsraum war niemand, die Behandlungstische waren leer. Die gläsernen Medizinschränke waren abgeschlossen. Der Terminkalender auf dem Schreibtisch zeigte bereits die Seite für Montag. Auch das Wartezimmer war leer. Tracy konnte er nirgends entdecken. Kurz fragte er sich, ob ihr etwas passiert war. Was, wenn derjenige, dessen Wagen sie gehört hatte, hierhergekommen war, um die Praxis auszurauben? Ein Kloß bildete sich in seiner Kehle, als ihm plötzlich der Verdacht kam, daß sie womöglich 135
entführt worden war. Er lief zum Eingang und riß die Tür auf. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Kein Wagen. Er sah sich weiter um. Im Gras neben der Einfahrt stand nur ein Fahrrad – sein eigenes. Sie hatte ihn allein gelassen. Leise Wut stieg in Paul auf. Er rief nach Sam, doch auch sein Kater war spurlos verschwunden. Sie war einfach abgehauen, ohne ein Wort zu sagen. Plötzlich wurde ihm klar, daß er den Rückweg nicht kannte. Er war ihr einfach hinterhergefahren, hatte ihren roten Rucksack im Auge behalten, während sie in die Pedale trat. Er überlegte, ob er zu Hause anrufen sollte, doch dann fiel ihm ein, daß er die Nummer ebenfalls nicht wußte. Immerhin kannte er den Straßennamen – Hidden Woods Lane. Außerdem konnte er die Nummer notfalls bei der Auskunft erfragen. Andererseits wollte er nicht als hilfloses Häufchen Elend dastehen. Seine Wut auf Tracy bestärkte ihn noch in seinem Entschluß. Sie hielt das offenbar für lustig, aber er würde sich von ihr nicht bloßstellen lassen. Er würde schon zurückfinden. Paul lief die Treppenstufen des Tierheims hinunter und schwang sich auf sein Rad. Er erinnerte sich, daß sie nach links in die Einfahrt eingebogen waren. Womit er schon mal einen ersten Anhaltspunkt hatte. Er spürte, wie er schwitzte, als er aus der Einfahrt radelte, doch in gewisser Weise war er auch erleichtert. Als er einen Blick zurückwarf, war ihm, als habe er nicht nur das Tierheim verlassen, sondern auch seinen Alptraum abgeschüttelt. Nur seine Kopfschmerzen erinnerten ihn noch daran. Langsam radelte er zum Tor, wo er rechts abbog. Auf einem Pappaufsteller gleich vor der Kasse waren Serviettenpackungen gestapelt. Auf einem Plakat darüber stand, mit Leuchtstift geschrieben: FAMILIENPACKUNG. NUR 99 136
CENTS. FÜR IHR NÄCHSTES PICKNICK. Anna blieb mit ihrem Einkaufswagen stehen. Während sie die farbenfrohen Servietten in Augenschein nahm, erinnerte sie sich an die Familienfeste, die sie als Kind in Ohio erlebt hatte. Familientreffen an langen Feiertagswochenenden, bei denen gegrillt und Kaffee getrunken wurde, man sich die Zeit mit Hufeisenwerfen und Crocket vertrieb. Als sie Tom zum ersten Mal zu ihrem Familienpicknick am Vierten Juli mitgenommen hatte, war er ganz begeistert gewesen; er hatte das Treffen sichtlich genossen. »Das habe ich mir immer gewünscht«, sagte er. »So eine Familie möchte ich auch mit dir haben.« Die kühle, klimatisierte Luft ließ Anna frösteln. Der Supermarkt war so gut wie leer; an einem schönen Sonntagnachmittag wie diesem ging kaum jemand einkaufen. Doch sie hatte beschlossen, ihre Besorgungen heute zu erledigen, da sowieso niemand zu Hause war. Nachdem Thomas ihre unfreiwillige Allianz erzwungen hatte, waren Tracy und Paul zum Tierheim geradelt. Und Tom hatte ihr schon auf dem Weg zur Werkstatt gesagt, daß er ebenfalls noch ein paar Dinge einkaufen wollte. Also machte sie sich auch lieber nützlich, ehe ihr zu Hause die Decke auf den Kopf fiel. »Das ist unser Supersonderangebot«, sagte die übergewichtige dunkelhaarige Frau hinter der Kasse; sie hatte Anna vor den Servietten stehen sehen und angenommen, daß sich die Kundin nicht entscheiden konnte. Anna lächelte gedankenverloren und legte ein Päckchen in ihren Einkaufswagen, während ihr im selben Moment aufging, daß sie es vor allem deshalb tat, weil sie den Eindruck erwecken wollte, sie kaufe für ein großes Familienfest ein. Anna schob den Wagen zur Kasse und legte ihre Sachen auf das Band. Die Frau tippte die Beträge in die Kasse und packte die Sachen in braune Papiertüten. Durch das große Fenster des Supermarkts sah Anna zwischen den aufgeklebten 137
Werbeplakaten hinaus auf den Parkplatz. Vielleicht würden die Kinder schon wieder zu Hause sein, wenn sie zurückkam; und Tom mußte ja auch irgendwann kommen. Am Abend war die Party bei den Stewarts. Das wird bestimmt amüsant, sagte sie sich. Trotzdem glaubte sie nicht wirklich daran. Seufzend hob sie die Papiertüten in ihren Einkaufswagen, bedankte sich bei der Kassiererin und ging durch die automatischen Türen nach draußen. »Wollen Sie ein Los kaufen?« hörte sie jemanden von links rufen, als sie aus dem Supermarkt kam. Sie wandte den Kopf und erblickte einen Mann mit marineblauer Mütze, der an einem Campingtisch saß und ihr zuwinkte; am Ende seines Arms befand sich statt einer Hand ein Haken. Anna starrte auf die gekrümmte Stahlklaue, auf der sich das Sonnenlicht brach, während der Mann damit auf einen Stapel weißer Lose auf dem Tisch wies. »Kriegsveteranenhilfe«, sagte er. »Sie können einen Geländewagen gewinnen.« Der Mann winkte ihr mit dem blinkenden Haken, doch Anna wandte sich ab. »Nein, danke«, sagte sie leise und schob den Einkaufswagen eilig über den heißen Asphalt zu ihrem Auto. Der Kundenparkplatz des Supermarkts war so gut wie leer. Sie schob den Einkaufswagen an die hintere Stoßstange und kramte nach ihren Schlüsseln. Ihre Hände zitterten leicht; plötzlich wurde ihr bewußt, daß ihr der Mann mit dem Haken Angst eingejagt hatte. Sie steckte den Schlüssel ins Schloß und öffnete den Kofferraum. Ein paar Parkplätze von ihr entfernt beobachtete sie ein Mann in einem blauen Wagen. Als sie den Kofferraumdeckel anhob, stieg der Mann aus. Er trug eine graue Baseballkappe und eine Sonnenbrille; nervös sah er sich in alle Richtungen um. Anna hob die erste Tüte aus dem Einkaufswagen und verstaute sie im Kofferraum. Der Mann trat zu ihr. »Mrs. Lange«, sagte er. 138
Anna wandte sich um und erspähte eine hagere Figur. Im selben Augenblick wußte sie auch schon, um wen es sich handelte. Sie rang nach Luft und ließ die Tüte fallen, die sie in der Hand hielt. Vier Orangen kullerten in den Kofferraum, gefolgt von einer Tüte Cornflakes. »Keine Angst«, sagte er. »Ich tue Ihnen nichts.« Anna starrte ihn an. Ihr schlimmster Alptraum war Wirklichkeit geworden. Da stand er, eine dürre, bleiche Gestalt mit schwammigen Zügen, dunkelgrauer Baseballkappe und blankgeputzten Schuhen. Mit einem Mal wurde ihr bewußt, daß sie nicht einmal in Erwägung zog, laut um Hilfe zu rufen. Es war, als hätte sie schon immer gewußt, daß er irgendwann vor ihr stehen würde – der Verbrecher, der ihren Sohn gekidnappt hatte. Rambo zündete sich eine filterlose Zigarette an und spuckte ein paar Tabakkrümel auf den Boden. Seine Stimme klang nervös. »Fangen Sie bloß nicht an zu schreien«, sagte er hastig. »Ich will nichts von Ihrem Jungen. Ich will nur mit Ihnen reden.« »Ich wußte, daß Sie kommen würden«, sagte Anna. Sie erkannte ihre eigene Stimme nicht wieder; sie klang völlig ruhig, ja eiskalt. »Sobald Sie ihm zu nahe kommen, werde ich Sie töten.« Rambo hob die Hände. »Nur mit der Ruhe. Ich will nichts von ihm. Deswegen bin ich nicht hier, glauben Sie mir. Der Allmächtige hat mich hierhergeschickt, damit ich …« Anna schlug den Kofferraum zu. »Ich rufe die Polizei«, sagte sie. »Das sollten Sie nicht tun«, knurrte Rambo und packte ihren Arm, als sie an ihm vorbei zur Fahrertür wollte. »Lassen Sie mich los, Sie dreckiger …« Anna versuchte sich loszureißen. Seine Finger krallten sich in ihren Arm. 139
Gehetzt sah Rambo sich um. »Hören Sie mir zu. Wenn Sie so weitermachen, wird bloß noch jemand auf uns aufmerksam. So beruhigen Sie sich doch endlich!« Gnadenloser Zorn hatte Besitz von Anna ergriffen; mit haßerfüllter Miene starrte sie Rambo an. All die Jahre hatte sie sich kein Bild von ihrem Peiniger machen können. Seine müde, kraftlose Erscheinung steigerte ihre Wut ins Grenzenlose. »Sie … Sie Ungeheuer«, fuhr sie ihn an. »Diesmal werden Sie nicht davonkommen!« Mit einer behenden Bewegung versetzte sie ihm einen Schlag gegen die Brust und riß sich los. Während sie nach hinten stolperte, hielt sie panisch Ausschau nach einem Polizisten oder einem Streifenwagen, doch es befand sich niemand sonst auf dem Parkplatz. »Hilfe«, rief sie. »Polizei!« Rambo trat auf sie zu und packte abermals ihren Arm. »So hören Sie mir doch zu«, stieß er hervor. »Keine Polizei!« »Lassen Sie mich endlich los!« schrie sie. »Hilfe!« Sie warf einen Blick in Richtung des Supermarkts, doch weit und breit war niemand zu sehen. Sie taumelten über den Asphalt. »Ich will Ihnen doch nur etwas sagen«, zischte er verzweifelt. »Das Leben des Jungen ist in Gefahr. Interessiert Sie das überhaupt nicht?« Anna fuhr herum. In ihren Augen spiegelte sich blanker Haß. »Sie werden ihm nichts mehr antun! Weil ich Sie ins Zuchthaus bringe!« Abermals wand sie sich aus seinem Griff und rief um Hilfe. »Ich will doch überhaupt nichts von ihm!« brüllte Rambo sie an. »Verdammt noch mal, ich hab’s Ihnen doch gesagt. Es geht um Leben und Tod!« Es war sein letzter Versuch, zu ihr durchzudringen. Wenn sie sich weiter so aufführte, mußte er sich schleunigst aus dem Staub machen. 140
Als sie ihn erneut anschreien wollte, wurde ihr schließlich bewußt, was er da gerade gesagt hatte. Obwohl sie ihm gar nicht zuhören wollte, klangen ihr seine Worte in den Ohren. Sie hielt inne, während sie sich selbst dafür verwünschte, daß sie ihm plötzlich doch Gehör schenkte. »Was?« fragte sie. Plötzlich fühlte sie sich schwach und verwundbar. »Wovon reden Sie?« »Hören Sie mir einfach zu«, sagte er mit leiser, eindringlicher Stimme. »Es geht um Ihren Sohn – um etwas, wovon Sie unbedingt wissen sollten. Das schwöre ich bei der Seele meiner armen Frau. Aber hier können wir nicht in Ruhe reden.« »Sagen Sie mir, was Sie wissen, oder ich …« »Hören Sie auf, mir zu drohen«, sagte Rambo. »Ich erfülle nur den Willen Gottes.« Anna zitterte. Sie mußte an sich halten, um ihm nicht mitten ins Gesicht zu spucken. Gebannt starrte sie ihn an. »Sie sind nichts als ein dreckiger Lügner«, sagte sie. »Warum sollte ich Ihnen zuhören?« »Ich habe Sie nicht angelogen, Ma’am«, sagte Rambo. »Es geht um Leben und Tod.« »Was ist denn hier los?« drang eine Stimme zu ihnen herüber. Beide wandten sich um und sahen den Kriegsveteranen mit dem Haken in militärisch straffer Haltung über den Parkplatz auf sich zukommen. Zur Flucht war es zu spät, wie Rambo erkannte; während Panik in ihm aufstieg, wünschte er sich, nie hierhergekommen zu sein. In Annas Miene spiegelte sich Unschlüssigkeit. Der Mann mit dem Haken kam näher und näher. Rambo umklammerte seine Autoschlüssel; er konnte nur hoffen, daß der alte Chevy sofort ansprang. Anna sah dem Veteranen entgegen, der sich mit besorgter Miene wie in Zeitlupe auf sie zubewegte. Sie mußte ihn lediglich um Hilfe bitten, und Rambo hatte für immer ausgespielt. Ihr gesunder Menschenverstand trieb sie dazu an, 141
auf der Stelle lauthals loszuschreien, doch irgendein seltsames Gespür sagte ihr, daß etwas nicht stimmte. Rambo hatte nicht gelogen. Er sprach die Wahrheit, und obendrein war er der einzige Mensch, der über Pauls Vergangenheit Bescheid wußte, über das, was in all den Jahren geschehen war. Sie erinnerte sich an Pauls Blässe, an die Kopfschmerzen, die ihn plagten, an die Nacht, als sie ihn zusammengekauert in der Speisekammer entdeckt hatte, verwirrt und zitternd, von Alpträumen gequält. Vielleicht war er krank, vielleicht hatte er vor irgend etwas Angst. Wer wußte schon, welche Geheimnisse die letzten elf Jahre bargen – Rambo war der einzige, der sie lüften konnte. Der Veteran baute sich vor ihr auf. Er war hochrot im Gesicht. »Belästigt Sie der Kerl, Ma’am?« Einen Moment lang starrte Anna ihren Retter wortlos an. Ihr Magen krampfte sich zusammen, doch dann schüttelte sie den Kopf. »Alles in Ordnung«, sagte sie. »Wir haben uns nur gestritten. Tut mir leid, daß ich so laut geworden bin.« Der Veteran warf einen finsteren Blick auf Rambo, der zu Boden starrte; der Schirm der Baseballkappe verdeckte sein Gesicht. »Wenn ich sie noch mal schreien höre«, sagte er, »rufe ich die Polizei. Ich kenne jeden Cop hier in der Gegend. Also reißen Sie sich gefälligst am Riemen.« »Danke«, sagte Anna. »Vielen Dank, daß Sie mir helfen wollten.« Der Veteran gab ein Grunzen von sich und salutierte, ehe er sich abwandte und zu seinem Campingtisch zurückmarschierte. Anna blickte ihm nach und wandte sich dann Rambo zu. Sie hatte sich auf die Sache eingelassen. Rambo zitterte. »Was ist passiert?« fragte sie. »Sie müssen es mir sagen.« Rambo schüttelte den Kopf. »Nicht hier. Das ist zu riskant.« Er reichte ihr ein Stück Papier. »Kommen Sie zu dieser Adresse«, sagte er. »Morgen früh. Keine Polizei. Nur Sie allein. 142
Ich lasse die Tür unverschlossen. Wenn ich sehe, daß Sie allein sind, werde ich Ihnen alles erzählen.« »Für wie dumm halten Sie mich?« sagte Anna halb zu sich selbst, obwohl sie genau wußte, daß ihr keine Wahl blieb. »Es ist Ihre Entscheidung«, sagte er. »Das Leben des Jungen könnte davon abhängen.« »Was springt dabei für Sie heraus?« fragte Anna. »Wenn die Polizei Sie schnappt, sind Sie …« »Eine kleine Spende wär nicht schlecht«, sagte er. »Nur soviel, daß ich mich wieder in andere Gefilde begeben kann, um dort dem Herrn zu dienen.« »Warum sollte ich Ihnen auch noch bei der Flucht helfen?« platzte Anna heraus. »Sie haben mir meinen Sohn geraubt.« »Ma’am«, sagte er. »Ich habe ihn gerettet. Gott ist mein Zeuge.« Bevor Anna auch nur ein weiteres Wort hervorbringen konnte, wandte er sich um und hastete zu seinem Wagen.
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9 Anna trocknete sich die Hände an einem Geschirrtuch ab und sah auf die Uhr. Es war bereits fast fünf und Thomas immer noch nicht zu Hause. Einerseits war sie ein wenig ärgerlich auf ihn, doch andererseits fühlte sie sich auch erleichtert. Sie fragte sich, wie sie vor ihm verbergen sollte, was ihr auf der Seele lag. Wie auch immer, je weniger Zeit blieb, bevor sie zu den Stewarts mußten, desto besser. Anna wischte noch einmal über die Anrichte. Normalerweise hielt sie sich gern in der Küche auf, die ihre Zuflucht und den Mittelpunkt des Hauses darstellte. Doch nun ergriff leise Panik Besitz von ihr, während sie den Blick durch den Raum schweifen ließ. Auch wenn die Küche nur so blitzte und alles fein säuberlich an seinem Platz stand, war ihr Leben das reine Chaos. Bloß kein Selbstmitleid, schalt sie sich. Du wirst die Sache in die Hand nehmen. Was bringt es, noch zwei Dutzend Mal hin und her zu überlegen? Vor einiger Zeit hatte Thomas sie angefahren, was sie denn noch alles unternehmen wolle, um ihren Sohn zurückzubekommen. Nun hatte sie ihn wieder, und sie würde alles tun, um ihn zu beschützen. Es ist mir völlig gleich, wie er sich aufführt, wenn er davon erfährt. Aber sie würde ihm nichts erzählen. Das Risiko konnte sie nicht eingehen. Anna hörte, wie die Haustür geöffnet wurde. Sie ging ins Eßzimmer und sah, wie ihr Mann die Diele betrat. Unter dem Arm hielt er eine große weiße Schachtel. »Tut mir leid, daß es ein bißchen später geworden ist.« Er zog eine verlegene Miene. »Wo ist Paul?« »In seinem Zimmer«, erwiderte sie. »Er ist ziemlich wütend. 144
Er hat gedacht, sein Kater wäre bei Tracy, aber sie hat ihn nirgends gesehen. Nun ja, jedenfalls ist der Kater bislang nicht wieder aufgetaucht. Und Paul hängt doch so an ihm.« Anna zupfte ein paar verwelkte Blätter von einer Pflanze. »Wie läuft der Wagen?« »Oh, bestens«, sagte Thomas. »Ich war anschließend noch einkaufen. Ich habe ihm ein Geburtstagsgeschenk mitgebracht.« »Für Paul?« »Er hat doch heute Geburtstag, und deswegen …« »Na ja …« Thomas sah sie verblüfft an. »Ist irgendwas?« Anna breitete die Hände aus. »Als ich ihm heute morgen gratuliert habe, sagte er, sein Geburtstag wäre im Oktober.« »Was?« Schmerzlich verzog Anna das Gesicht. »Sie haben sich einfach ein Geburtsdatum für ihn ausgedacht.« Thomas kräuselte angewidert die Lippen. »Ist ja nicht seine Schuld«, sagte Anna. »Ich weiß.« »Was hast du ihm gekauft?« Sie trat auf ihn zu. »Zeig doch mal.« »Eine Jacke. Damit er etwas Anständiges für die Party hat.« Anna lächelte ihn nervös an. »Bring sie ihm doch nach oben. Er freut sich bestimmt.« »Ich hoffe es«, sagte Thomas. Er musterte sie kurz. »Ist alles in Ordnung? Tut mir wirklich leid, daß ich so lange gebraucht habe.« »Alles okay«, sagte sie. »Ich habe mir nur Sorgen gemacht, du hättest die Party vergessen.« Während Thomas nach oben ging, stiegen Anna Tränen in die Augen. Er hatte sich an Pauls Geburtstag erinnert und ihm ein 145
Geschenk gekauft. Vielleicht würde ja doch noch alles gut werden. Er hatte auch sichtlich bessere Laune. Ach, wenn erst alles ausgestanden war … Anna sah die Treppe hinauf. Ob sie Thomas vielleicht doch besser von Rambo und ihrem Vorhaben erzählen sollte? Nein. Er würde nur darauf bestehen, die Polizei zu informieren; und damit hätte sie alles aufs Spiel gesetzt. Sie würde ihm alles beichten, wenn die Sache erledigt war. Im selben Moment hörte sie laute Stimmen, die sogar die dröhnende Rockmusik in Tracys Zimmer übertönten. Dann knallte eine Tür, und kurz darauf kam Thomas mit finsterer Miene die Treppe herunter. »Er will die Jacke nicht«, sagte Thomas. »Er will den dreckigen Fetzen anziehen, mit dem er sowieso die ganze Zeit herumläuft.« »Oh, Tom, das tut mir leid.« »Ich habe ihm gesagt, daß er hierbleibt, wenn er die Jacke nicht anzieht. Ich nehme niemanden mit, der wie ein Penner aussieht.« »Aber das hast du hoffentlich nicht gesagt.« Thomas sah sie böse an. »Und ob. Genau das habe ich gesagt. Und auch so gemeint!« »Er hängt einfach so an der alten Weste. Es ist so was wie ein Erinnerungsstück für ihn.« »Ich gehe jetzt duschen«, sagte Thomas. »Laß uns doch ein Glas Wein trinken«, sagte sie. »Wir könnten uns auf die Terrasse setzen.« »Nein«, sagte er und ließ sie stehen. Anna seufzte und warf einen Blick auf die Uhr. Bald begann die Party. Und sie mußte sich auch noch zurechtmachen. Aber zuerst … Nervös wischte sie sich die Hände an ihren Shorts ab und ging zur Treppe. Zuerst wollte sie dem Jungen ins Gewissen reden. 146
Die Sichel des Mondes hing wie ein Vanilleplätzchen am lilafarbenen Himmel; rund um eine große Rasenfläche und die Terrasse der Stewarts hingen Girlanden und pastellfarbene Papierlaternen. Ein Trio in Dinnerjacketts gab nahe der Terrassentüren sanft dahinperlende Jazz-Ohrwürmer zum Besten, auch wenn bislang keine Gäste tanzten. Überall standen Grüppchen elegant gekleideter Leute, die im Dämmerlicht plauderten und scherzten. Ein paar Teenager, die mit ihren Eltern gekommen waren, hatten sich am Pool versammelt; die Jungs schubsten sich gegenseitig gegen die Mädchen, die loskreischten, wenn Limonade auf ihre Sommerkleider spritzte. Anna spielte mit ihrem Armreif und warf einen Blick hinüber zu Paul, der mit steifen Schultern vor der Terrassentür stand; er schien sich in seiner neuen Jacke nicht sehr wohl zu fühlen. Tracy fegte an ihnen vorbei, grüßte die Stewarts und gesellte sich zu den Teens am Swimmingpool. »Ist doch hübsch hier, nicht wahr?« sagte Anna zu Paul. Paul betrachtete die Lampions. »Die haben bestimmt Geld wie Heu.« Anna nickte und warf ihm einen liebevollen Blick zu. »Die neue Jacke steht dir ausgesprochen gut.« Er murmelte etwas und sah sich nervös um, die weißgedeckten Tische, die umhereilenden Kellnerinnen, die Band. Anna spürte genau, daß er sich am liebsten sofort wieder verkrümelt hätte. Auch sie selbst fühlte sich beklommen. Es gelang ihr einfach nicht, sich zu entspannen und ein wenig Lockerheit zu verbreiten, die bestimmt auf ihn abgefärbt hätte. Hilflos sah sie zu, wie er hölzern die Hände in den Taschen vergrub. Sie wollte ihn nicht ins Gedränge zerren. Am liebsten wäre sie einfach hier auf der Terrasse mit ihm geblieben, in Ruhe und Sicherheit. Als Anna sich umsah, bemerkte sie Thomas, der sie mit ungeduldigem Blick musterte. 147
»Laß uns mal der Gastgeberin hallo sagen«, sagte Anna. Paul zuckte zurück und schien im Boden versinken zu wollen. Im selben Moment hatte Iris sie auch schon erspäht. Sie unterhielt sich mit einer Frau mit ausdrucksvollem Gesicht und kurzem, lockigem Haar, die einen Kaftan und lange Ohrringe trug. Kurz darauf gesellten sich Iris und die Frau in dem Kaftan zu Anna und Paul. Iris’ hochrotes Gesicht und ihre fahrigen Gesten machten Anna sofort klar, daß sie völlig aufgelöst vor Aufregung war. Sie fühlte mit ihr, obwohl sie im Augenblick mindestens ebenso nervös war. »Und du bist bestimmt Paul!« platzte Iris heraus. »Ich freue mich, daß du mitgekommen bist. Ich bin Mrs. Stewart.« »Hallo«, sagte Paul. »Darf ich euch Angelica Harris vorstellen? Sie leitet meinen Töpferkurs. Außerdem ist sie eine der rührigsten ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen am Krankenhaus.« Anna lächelte und schüttelte der Frau die Hand. »Ihr Töpferkurs trägt ja schönste Früchte. Iris hat mir schon so einiges gezeigt – wirklich tolle Sachen!« Als Angelica Harris ihr Lächeln erwiderte, zeigte sich eine Lücke zwischen ihren Schneidezähnen. »Nun ja, das ist auch kein Wunder – sie ist enorm talentiert.« Iris errötete heftig. Edward trat zu ihnen. Flüchtig musterte er das weite Gewand der Keramiklehrerin und wandte sich an seine Frau. Ein dünnes Lächeln huschte über seine Miene. »Du wirst doch hoffentlich nicht unsere anderen Gäste vergessen, Iris.« Iris erblaßte und senkte den Blick. »Entschuldigen Sie mich«, sagte Angelica, der Edwards mißfälliger Unterton offenbar nicht entgangen war. »Ich mische mich mal unters Volk.« Alle lächelten, nur Edward nicht. »Vielen Dank für die Einladung«, sagte Anna zu Edward.
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»Wie nett von dir, daß du Tom und Paul gestern mit auf den Golfplatz genommen hast.« Edward nickte. »Das Vergnügen war ganz meinerseits«, sagte er. »Geh ruhig rüber zu den anderen jungen Leuten, Paul.« Edward verschränkte die Hände hinter seinem Rücken. »Die scheinen sich doch königlich zu amüsieren.« »Ich weiß nicht«, gab Paul unentschlossen zurück, während er mißtrauisch zu den Teenagern am Pool hinübersah. Anna legte ihm eine Hand auf die Schulter, zog sie aber sofort wieder zurück, als er sie mit einem Schulterzucken abwehrte. Nur allzugern wäre sie ihm verbal zur Seite gesprungen, doch sie behielt lieber für sich, was ihr wirklich durch den Kopf ging. Ich will, daß er in meiner Nähe bleibt. Ich will ihn nicht aus den Augen verlieren. Er schwebt immer noch in Gefahr. Zum tausendsten Mal an diesem Tag fragte sie sich, was Rambo gemeint hatte. War der Junge krank? Erneut kamen ihr seine Kopfschmerzen und seine Schlaflosigkeit in den Sinn. Sicher, sie konnte einfach mit ihm zum Arzt gehen und ihn untersuchen lassen. Was aber, wenn es sich um irgend etwas Kompliziertes handelte, worüber nur Rambo Aufschluß geben konnte? Und vielleicht ging es ja gar nicht um Pauls Gesundheit. Vielleicht war irgend jemand hinter ihm her – ein Todfeind Rambos oder seiner Frau. Anna sah zu Paul. Wie gern wäre sie ihm zärtlich mit der Hand durchs Haar gefahren. Paul schob die Hände noch tiefer in die Taschen. Er tat sein Bestes, um sich seine Beklommenheit nicht anmerken zu lassen, doch sein Blick sprach Bände. Iris schien zu merken, wie unbehaglich ihm zumute war. »Ich glaube, Paul hat das Haus noch gar nicht gesehen«, sagte sie. »Hättest du Lust auf eine kleine Tour, Paul?« Ihr Angebot schien Paul immer noch besser zu gefallen als die Aussicht, sich mit Tracys Freunden abgeben zu müssen. »Warum nicht?« sagte er. 149
»Iris«, mischte sich Edward ein, »bis jetzt hast du dich noch so gut wie überhaupt nicht um unsere Gäste gekümmert. Meinst du nicht, daß es jetzt dringlichere Aufgaben gibt, als sich ins traute Heim zurückzuziehen?« »Ach, so schnell vermißt mich hier niemand. Ich wollte Paul doch nur …« Edward musterte den Jungen mit kritischem Blick. »Das übernehme ich«, sagte er. »Komm, ich zeige dir das Haus.« Paul wich zurück, als ihm klar wurde, wer ihn nun begleiten würde; und nun blieb ihm keine Chance, sich irgendwie herauszureden. Er warf Anna einen Blick zu und folgte Edward, der bereits das Haus betreten hatte. Ein vorbeigehender Gast streifte Iris, die sich umdrehte und ein Lächeln auf ihre Lippen zwang. Thomas gesellte sich zu Anna, die ihrem Sohn nachsah, während er mit Edward im Haus verschwand. Sie fuhr zusammen, als Thomas ihren Arm berührte. »Wie hast du das denn hinbekommen?« fragte er. »Hast du ihn bestochen, oder wieso trägt er die Jacke jetzt doch?« »Man muß nur mit ihm reden. Er ist ein guter Junge, Tom«, sagte Anna. »Er braucht nur ein bißchen Einfühlungsvermögen.« Thomas zuckte mit den Schultern. »Und Edward führt ihn jetzt auch noch höchstpersönlich herum. Normalerweise wäre er sich doch viel zu fein für so etwas, oder?« »Wahrscheinlich mag er Paul einfach«, erwiderte Anna. »Er will einfach nur nett sein, glaube ich.« »Hmmmm …« »Meinst du, Edward macht es etwas aus, ihn durchs Haus zu führen?« fragte Anna. Thomas schüttelte den Kopf. »Das ist genau seine Kragenweite. Mal so richtig seine Besitztümer zur Schau zu 150
stellen. Obwohl der Junge wohl kaum ein Auge dafür hat, was das hier alles kostet. Aber Edward wird es ihm wohl haarklein vorrechnen.« »Wie unfreundlich von dir«, sagte Anna und lächelte. »Aber du hast natürlich recht.« In diesem Augenblick gesellte sich Iris wieder zu ihnen, ein Martiniglas in der Hand, das sie Anna reichte. »Na, wie wär’s mit einer kleinen Erfrischung?« Anna bedankte sich. »Was für ein netter Junge«, sagte Iris. »Und so elegant angezogen.« »Die Jacke hat ihm Tom heute erst gekauft«, sagte Anna mit einem Seitenblick auf ihren Mann. »Die steht ihm wirklich. Er hat sich bestimmt gefreut wie ein Schneekönig.« »Entschuldigt mich«, sagte Thomas abrupt. »Ich hole mir etwas zu trinken.« Iris runzelte die Stirn und fragte Anna: »Sag mal, wie geht’s dir eigentlich? Du wirkst ziemlich gestreßt.« »Ich bin einfach nur müde«, sagte Anna rasch. »Ja, du hast recht. Ich fühle mich ein bißchen angespannt.« »Gibt’s irgendwelche Neuigkeiten über diesen Kerl? Diesen Rambo?« Anna zuckte zusammen, und der Martini schwappte über den Glasrand. »Nein … Nein, bisher überhaupt nicht.« »Sie werden ihn schon kriegen, Anna«, sagte Iris ernst. »Mach dir nicht allzu viele Sorgen.« »Ich weiß«, sagte Anna. Sie konnte das Glas kaum noch halten, so sehr zitterte ihre Hand.
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»Der arme Paul«, sagte Iris, während sie einen Blick zum Haus zurückwarf. »Ich hoffe bloß, er langweilt sich nicht zu Tode, während Edward ihn herumführt.« »Das da ist mein Schlafzimmer.« Edward wies auf eine geschlossene Tür im ersten Stock. Als er sie öffnete, lugte Paul in das dunkle Zimmer. Vor den Fenstern hingen schwere Vorhänge; im Dunkel schimmerten antike Möbel und ein Ledersessel, der in einer Ecke stand. Edward zog die Tür wieder zu. »Und hier schläft meine Frau«, sagte er, als sie an einem Zimmer mit eierschalenfarbenen Wänden und einem Himmelbett mit verschwenderisch geblümtem Baldachin vorbeikamen. Paul hatte noch nie von Ehepaaren gehört, die in getrennten Zimmern schliefen, kam aber zu dem Schluß, daß es sich um eine Eigenart der Reichen handeln mußte. »Das Dach über dem Bett«, sagte er. »Ist das dafür da, falls es mal reinregnet?« »Guter Witz«, sagte Edward, ohne eine Miene zu verziehen. Paul hatte es allerdings gar nicht witzig gemeint. Durch die offenen Fenster drangen Musik und Gelächter zu ihnen herauf, und plötzlich wäre er tausendmal lieber unter den Gästen gewesen, statt sich von diesem Mann das Haus zeigen zu lassen. Edward schien Pauls Unbehagen nicht zu bemerken. »Die Gästezimmer hast du ja schon gesehen. Das wäre jetzt unser Gästebadezimmer«, sagte Edward. »Schau mal aus dem Fenster. Da drüben, das ist mein ein und alles.« Paul folgte Edward in das Badezimmer und spähte aus dem Fenster, versuchte auszumachen, wohin Edward mit ausgestrecktem Zeigefinger wies, doch er sah nichts als Dunkelheit und die Umrisse von ein paar Bäumen. »Meine Windmühle«, sagte Edward voll Besitzerstolz. Er bemerkte Pauls ratlose Miene. »Im Dunkeln kann man sie nicht 152
richtig sehen. Selbst tagsüber muß man die Augen zusammenkneifen. Sie ist ganz schön weit entfernt. Wenn du willst, zeige ich sie dir.« Sie waren schon wieder an der Treppe. »Ach«, sagte Paul. »Machen Sie sich keine Umstände.« »Ist doch kein Problem, Paul«, sagte Edward, während er hinter dem Jungen die Treppe hinunterging und dabei an seinem Ehering drehte. »Als kleiner Junge warst du auch oft hier. Erinnerst du dich noch?« Paul schüttelte den Kopf. »Nein. Ich glaube, ein so großes Haus habe ich noch nie gesehen. Aber eigentlich kann ich mich an gar nichts erinnern.« »Nun ja«, sagte Edward, während er den Jungen durch die weitläufigen Flure führte, »das ist ja auch lange her. Vorsicht, Stufe. Hier entlang.« Die beiden traten hinaus in die Nacht. Paul folgte Edward über ein paar flache Stufen auf den Rasen. Er wünschte, er hätte eine Taschenlampe dabei, um sehen zu können, wo er hintrat, doch Edward schien den Weg zu kennen wie seine Westentasche; er kam nicht einmal aus dem Tritt. Paul warf einen Blick zu den Lichtern der Party, die in vollem Gange war. Er zögerte. Edward wandte sich um. »Na komm schon«, sagte er. Paul trabte weiter hinter ihm her und tat sein Bestes, den Weg im Auge zu behalten, bis Edward schließlich eine Hand hob. »Da drüben«, sagte Edward. Durch die Bäume hindurch erblickte Paul den hoch aufragenden, obeliskenhaften Umriß der Windmühle; die weißen Flügel schimmerten im fahlen Licht des Mondes. Schwarze Schindeln bedeckten die Außenwände der Mühle, in die winzige Fenster eingelassen waren. Edward stieß die Tür auf und knipste das Licht an. Eine gelbe Funzel warf ihren Schein über die Schwelle. »Willkommen in
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meiner Werkstatt«, sagte Edward und winkte Paul, ihm zu folgen. Paul schlüpfte durch die Tür. Es war still in der Mühle; er blinzelte, doch dann hatten sich seine Augen auch schon an das Licht gewöhnt. Er rieb sich die Lider und ließ den Blick durch den sechseckigen Raum schweifen, der das Fundament der Mühle bildete. In der Mühle war es kälter als draußen. Edward trat vor seine Werkbank, die eine der sechs Wände einnahm, und knipste auch dort eine Lampe an. Die Werkbank hatte Dutzende von Schubladen und Fächern, in denen sich Nägel, Schrauben und Bolzen befanden. Auf der Arbeitsfläche lagen akkurat geordnete Bücher, Werkzeuge, Schmirgelpapier und kleine Modellteile. Als Paul nach oben sah, erblickte er über sich einen offenen Dachboden; neben einer Stiege nahe der Wand standen Blecheimer mit Farbe und ein Stapel Segelzeitschriften. Zufrieden sah sich Edward in seiner penibel aufgeräumten Werkstatt um. »Hier baue ich meine Flotte«, sagte er. Paul beschlich ein mulmiges Gefühl, als er Edwards entrückten Blick wahrnahm. Er trat zur Tür. »Danke, daß Sie mir alles gezeigt haben«, sagte er. Edward musterte ihn einen Moment lang mit leicht befremdetem Blick. »Schau dich in Ruhe um«, sagte er. »Wir haben Zeit.« Paul zögerte eine Sekunde, doch dann besah er sich die Modellboote. Edward trat hinter ihn und schloß die Tür. Er beobachtete den Jungen, der sich über die Boote beugte. »Wirklich toll«, sagte Paul. »Mit Booten kennen Sie sich echt aus.« »Setz dich doch.« Edward wies auf einen Stuhl. Paul nahm Platz und sah sich nochmals um. Für eine Werkstatt schien ihm der Raum viel zu sauber und ordentlich, aber offenbar gefiel es 154
Mr. Stewart so. Unwillkürlich fröstelte er. Edward lehnte sich gegen die Werkbank. »Ist dir kalt?« »Ziemlich kühl hier drin«, sagte Paul. »Das liegt am Steinboden«, sagte Edward. »Darum sollte ich mich wirklich mal kümmern.« Während er auf dem Stuhl saß und Edward beinahe den Rest des engen Raums einnahm, fühlte sich Paul regelrecht in die Enge getrieben. Er fragte sich, wie Edward es aushielt, so wenig Platz beim Arbeiten zu haben. Edward langte über die Werkbank und griff nach einem bunten Stück Seidenstoff. Er entfaltete es und hielt es Paul hin. »Das ist der Spinnaker für das Segelboot da.« Er wies auf ein großes, detailliert gearbeitetes Modell mit poliertem Holzdeck und glänzendem weißen Rumpf. »Den Saum habe ich mit der Maschine da drüben genäht.« Paul beäugte die alte Singer-Nähmaschine, die halb versteckt in einer Ecke stand. »Sie können nähen?« Er lachte nervös, als er sich einen Moment lang vorstellte, wie Edward vor der ratternden Maschine saß. »Und ob«, sagte Edward. »Meine Mom hatte auch eine Nähmaschine. Sie wollte mir beibringen, wie man damit umgeht, aber mein Daddy hat gesagt, das wäre nichts für einen Jungen …« Paul brach mitten im Satz ab. Edward ignorierte die Unterbrechung. »Hier, schau dir das mal an. Ein Segel mit sieben verschiedenen Farben kriegt man wahrlich nicht oft zu sehen.« Paul griff nach dem Segel, doch der glatte Stoff glitt ihm durch die Finger und fiel zu Boden. Edward bückte sich, um das Segel wieder aufzuheben. »Lassen Sie nur«, sagte Paul, rutschte von seinem Stuhl und ging in die Hocke, um das Segel aufzuheben, das zu Edwards 155
Füßen lag. Als er nach dem Stoff griff, blickte er auf die Spitzen von Edwards Budapestern. Edwards hoch aufragende Gestalt verdeckte den Schein der Lampe. Paul wollte aufstehen, als ihm plötzlich schwindlig wurde. Es war, als flackere ein Blitzlicht in seinem Kopf auf, und dann sah er einen goldenen Adler aus einer schwarzen Wolke hervorschweben, mit weit ausgebreiteten Schwingen und kalten, erbarmungslosen Augen. Pauls Hände begannen unkontrolliert zu zittern. Von einer Sekunde auf die andere wurde er kalkweiß im Gesicht. Edward sah mit ausdrucksloser Miene auf ihn herab. »Was ist los? Ist dir schlecht?« Paul schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht.« Edward beugte sich zu Paul und streckte die Hand aus, um ihm aufzuhelfen. »Nein!« Paul zuckte jäh zurück. In seiner Panik stieß er gegen den Tisch mit dem weißen Segelboot. Das Modell geriet ins Wanken und fiel über die Tischkante. Die fein gearbeitete Takelage ging krachend zu Bruch, als das Schiff auf den Boden stürzte. Pauls Atem kam stoßweise. Er starrte auf das Modell, doch im ersten Augenblick schien er gar nicht zu registrieren, welches Mißgeschick ihm passiert war. Edward stand wie angewurzelt da; sein linkes Augenlid zuckte, während er den Jungen mit eisigem Blick fixierte. »Das ist sehr bedauerlich«, sagte er dann leise. Seine Worte schienen Paul aus seiner Trance zu reißen; erschrocken blickte er auf das kaputte Schiff. »Es tut mir leid«, sagte er. »Es tut mir wirklich leid.« Edward leckte sich über die Lippen. »Das Modell war ein Unikat«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Es ist extra für mich angefertigt worden.« 156
»Es tut mir leid«, jammerte der Junge. Verängstigt sah er zu Edward auf. »Ich weiß selbst nicht, wie das passieren konnte.« Edwards graue Augen waren stumpf wie Nietnägel. »Eine unbedachte Bewegung«, sagte er. »Aber für Fahrlässigkeit gibt es keine Entschuldigung.« »Ich weiß«, sagte Paul zerknirscht. »Kann ich jetzt gehen?« Edward trat zur Tür und sah hinaus in die Nacht. »Ich werde versuchen, Ihnen den Schaden zu bezahlen«, sagte der Junge mit elender Miene. Edward wandte sich um und musterte ihn einen Augenblick. Wieder kam es Paul vor, als bekäme er plötzlich keine Luft mehr. »Schon in Ordnung«, sagte Edward. »Betrachte die Sache als vergessen.« Sein Tonfall klang nicht so, als hätte er Paul verziehen. »Danke«, murmelte der Junge, drückte sich eilig an Edward vorbei und lief in Richtung der erleuchteten Terrasse los. »Ich komme gleich nach«, rief Edward. Er wandte sich um und betrachtete die Überreste seines Modellboots. Vorsichtig kniete er nieder und begann die zerbrochenen Teile aufzusammeln. Angst und Panik waren bohrenden Kopfschmerzen gewichen. Bei jedem Schritt wurden sie schlimmer, so unerträglich, daß sich Paul fast der Magen umdrehte; immer wieder atmete er tief durch, um die aufkommende Übelkeit im Zaum zu halten. Als er sich der Party näherte, zögerte er. Die vielen fremden Leute machten ihn unsicher, und der Schein der Laternen tat ihm in den Augen weh. Iris stand am Rand der Terrasse. Plötzlich erspähte sie den Jungen in der Dunkelheit. »Paul!« rief sie. »Da bist du ja!«
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Lächelnd kam sie auf ihn zu. »Na, hat Edward dir alles gezeigt?« Paul nickte. Fieberhaft hielt er Ausschau nach Anna, um ihr zu sagen, daß er nach Hause wollte. Kurz überlegte er, ob er Iris fragen sollte, wo sie war, doch er brachte es nicht über sich, Anna als seine »Mutter« zu bezeichnen. Iris wies in Richtung der anderen Partygäste. »Komm, es sind ja noch andere junge Leute da. Und essen willst du doch sicher auch etwas.« Widerwillig ließ er sich zu den anderen Teenagern führen. Als sie sich dem Tisch näherten, stieg ihm der Geruch von Marihuana in die Nase, doch Iris schien davon nichts zu bemerken. Sie zeigte auf einen Stuhl und sagte: »Ich lasse dir etwas zu essen bringen, okay?« Paul lächelte gezwungen. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Tracy ihn vom anderen Ende des Tischs anstarrte. »Na, dann viel Spaß«, sagte Iris und klopfte ihm auf die Schulter. Paul nickte, obwohl er es vor Kopfschmerzen kaum noch aushielt. Tracy beugte sich über den Tisch und sah ihn aus schmalen Augen an. »Wo hast du gesteckt?« »Ich war im Haus«, murmelte Paul. »Mit Mr. Stewart.« Tracy tuschelte mit ihren Freundinnen, die daraufhin in spöttisches Gelächter ausbrachen. Paul versuchte, sie einfach nicht zu beachten. Eine Kellnerin erschien und servierte Paul sein Essen. Mißtrauisch beäugte Paul das rosafarbene Stück Fisch auf dem Teller. »Was ist denn das?« »Lachs«, sagte Tracy. »Hast du noch nie welchen gegessen?« Paul schüttelte den Kopf. »Ich habe keinen Hunger.« Er tat sein Bestes, den Blick nicht auf den Teller zu richten, doch der Geruch des Fischs drehte ihm auch so den Magen um. 158
»Hier, nimm mal ’nen Zug.« Tracy zog einen glimmenden Joint unter dem Tisch hervor. »Dann kriegst du auch Hunger.« Ein hübsches, braunhaariges Mädchen in einem enganliegenden pinkfarbenen Kleid beugte sich zu Tracy, sagte etwas und hielt sich lachend die Hand vor den Mund. »Danke, ich will nicht«, sagte Paul. Er schob den Teller mit dem Lachs beiseite. »Mary Ellen wollte dich etwas fragen«, sagte Tracy mit hinterhältiger Miene. Paul erstarrte, während er zu den beiden Mädchen hinübersah. Das Mädchen in dem pinkfarbenen Kleid begann wieder zu kichern, worauf Tracy ihr den Ellbogen in die Seite stieß. »Na los«, sagte Tracy. »Frag ihn schon.« Die stechenden Kopfschmerzen wurden schlimmer und schlimmer; seine Augen schmerzten. Er konnte sich kaum auf das Gesicht des Mädchens konzentrieren. »Hast du schon mal …« Mary Ellen prustete abermals los. Sie mußte so lachen, daß ihr Tränen in die Augen traten. »Mary Ellen, du blöde Kuh«, sagte Tracy und stieß ihre Freundin abermals mit dem Ellbogen an. Paul wäre am liebsten im Erdboden versunken, verzog aber keine Miene. »Hast du …« Abermals konnte Mary Ellen nicht an sich halten und begann zu kichern, als könne sie nicht mehr damit aufhören. »Schluß jetzt«, sagte Tracy. »Laß Paul in Ruhe seinen Lachs essen.« Sie schubste den Teller zu Paul hin, wobei der Lachs herunterrutschte und auf Pauls neuer Jacke landete. Die beiden Mädchen brachen in schallendes Gelächter aus; Paul kam es wegen seiner Kopfschmerzen so vor, als würde es von weither an seine Ohren dringen. Er klaubte den Fisch von seiner Jacke; kalt und glitschig fühlte er sich an. Gleichzeitig war ihm, als hätte er noch nie etwas so Widerliches gerochen. Er ließ den Fisch fallen und stand abrupt auf. Plötzlich bekam er weiche 159
Knie; vor seinen Augen tanzten schwarze Pünktchen. Er nahm noch wahr, wie Tracy und ihre Freundin zu ihm herüberstarrten, doch sie schienen allmählich in einem schwarzen Loch zu verschwinden, während sich eine dunkle Wolke über ihn zu senken schien. Dann gaben seine Beine nach; er riß einen Stuhl mit sich, als er zu Boden fiel. Tracy stieß einen spitzen Schrei aus, und kurz darauf waren von überallher aufgeregte Stimmen zu vernehmen. Angeregte Plaudereien verwandelten sich in betroffenes Gemurmel, während sich die Partygäste um den gestürzten Jungen scharten. Paul sah zu ihnen auf; er fühlte sich, als wäre alle Kraft aus seinen Gliedern gewichen. Er griff nach dem Stuhl, versuchte sich daran hochzuziehen, während er den Blicken der Umstehenden auswich. Er fühlte sich eingekreist; es kam ihm vor, als würde die Gegenwart der anderen Gäste ihn ersticken, während er sich zu erinnern versuchte, wieso ihm seine Beine von einer Sekunde auf die andere den Dienst versagt hatten. Plötzlich kniete Anna neben ihm und ergriff ihn an den Schultern. »Paul«, sagte sie. Er warf ihr einen kurzen Blick zu. »Ich bin ohnmächtig geworden«, sagte er. Zutiefst erschrocken über die Hilflosigkeit, die sich in seinen Augen spiegelte, wußte Anna, daß sie augenblicklich handeln mußte. »Okay«, wandte sie sich mit fester Stimme an die Umstehenden. »Es ist alles in Ordnung. Wir gehen jetzt.« Beherzt griff sie Paul unter die Arme und half ihm auf. »Lassen Sie uns bitte durch.« Paul schwankte leicht und hielt sich an ihr fest. Thomas wollte zu Hilfe kommen, blieb dann aber stehen. Anna brauchte ihn nicht. Sie hatte alles im Griff. »So, wir gehen jetzt«, sagte sie. Sie wandte sich zu Iris, die sie mit besorgter Miene ansah. »Es tut mir leid, Iris. Ich rufe dich sobald wie möglich an.«
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Zusammen mit Paul bahnte sie sich den Weg durch den Pulk der Gäste. Mit verstörtem Blick stolperte er neben ihr her. Sein Gesicht war totenbleich.
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10 Edward schlenderte über den schräg abfallenden Rasen seines Grundstücks. Die japanischen Lampions waren gelöscht, und die Aushilfen des Partyservice räumten im Schein der Terrassenbeleuchtung auf. Dann sah er Iris, die im Schatten außerhalb des Flutlichts stand. Sie trug einen geblümten Kimono und Slipper und verspeiste ein Cremetörtchen, das sie von einem der Tabletts auf den Büfettischen genommen hatte. Als sie Edward auf sich zukommen sah, zuckte sie zusammen und legte das Törtchen rasch auf das Tablett zurück. Edward warf ihr einen grimmigen Blick zu, bevor er sich an eine der Aushilfen wandte, die gerade dabei war, den Nebentisch abzuräumen. »Räumen Sie endlich das Büfett ab, aber dalli«, herrschte er sie an. »Wie lange soll das denn noch dauern?« Das Mädchen sah verblüfft auf, kam eilig herüber und trug das Tablett weg. Edward wandte sich wieder Iris zu. »Nun denn«, sagte er. »Du siehst ja recht zufrieden aus.« »Was willst du damit sagen?« fragte Iris verdutzt. »Daß der Abend ein komplettes Desaster war.« »Das fand ich gar nicht, Edward. Unsere Gäste haben sich doch gut amüsiert.« »Der verdammte Bengel hat alles versaut. Kollabiert hier vor allen Leuten. Danach haben sich alle im Nu verabschiedet.« Iris schüttelte den Kopf. »Der arme Junge. Er hat mir so leid getan. Es war ihm so unendlich peinlich.« Edward gab ein mißfälliges Schnauben von sich. »Peinlich 162
war es wohl höchstens mir. Er hat mich vor meinen Gästen bloßgestellt.« »Aber das hat er doch nicht absichtlich getan«, sagte Iris mit ergebener Miene. »So etwas kann jedem passieren.« »Trotzdem frage ich mich, weshalb du diese Leute überhaupt eingeladen hast.« »Welche Leute?« »Die Langes, Iris. Wen sonst? Die sind doch völlig unter unserem Niveau. Sie gehören nicht hierher. Und jetzt haben sie auch noch meine Party versaut.« »Das stimmt doch nicht, Edward. Wir sind mit ihnen befreundet.« Mürrisch wandte sich Edward von ihr ab. Iris warf ihm einen unsicheren Blick zu, während sie nervös am Gürtel ihres Kimonos nestelte. »Ich gehe dann jetzt ins Bett«, sagte sie. »Wer war eigentlich diese Frau in dem Walle-Walle-Kleid?« wollte Edward wissen. »Was hatte die hier zu suchen?« Iris senkte den Blick. »Das war Angelica. Sie leitet den Töpferkurs, zu dem ich gehe. Außerdem arbeitet sie ehrenamtlich in der Klinik – auf der Kinderstation.« »Mit ihren Klamotten sollte sie sich lieber einem Zirkus anschließen.« Iris seufzte. »Ich bin todmüde, Edward. Ich muß ins Bett.« »Ich will diese Kuh nicht noch einmal sehen«, sagte Edward. »Und die Langes werden in Zukunft auch nicht mehr eingeladen.« »Gute Nacht, Edward.« »Ich gehe noch auf einen Sprung rüber in die Mühle«, sagte Edward. »Ich muß mich irgendwie auf andere Gedanken bringen.« »Oh«, sagte Iris. »Ja, mach nur.« 163
Edward sah ihr nach, als sie zum Haus ging; ihr Kimono bauschte sich hinter ihr wie Wäsche an einer Leine. Was für ein Trampel, dachte er. Und das war sie schon immer gewesen, schon damals, als er sie kennengelernt hatte. Das war auf einer Party gewesen, die ein steinreicher Rechtsanwalt, Sproß einer der angesehensten Familien von Neuengland, für Freunde und Bekannte gegeben hatte, um sich auf diese Weise bei all jenen zu bedanken, die ihn bei seiner siegreichen Kandidatur für den Senat unterstützt hatten. Edward hatte sich dem Wahlkampf angeschlossen, weil er darauf hoffte, dabei die richtigen Leute kennenzulernen, die seiner Karriere auf die Sprünge helfen konnten. Viel war dabei allerdings nicht herausgekommen. Er hatte Tag und Nacht geschuftet und war Dutzenden von Leuten in den Hintern gekrochen. Und dennoch war er am Ende auf der Party gelandet, ohne einen gutdotierten Job ergattert zu haben; er stand mit leeren Händen da. Stinksauer und frustriert war er an jenem Abend; wie schon in Princeton ließen ihn die Reichen und Privilegierten letztlich nur in die Röhre schauen. Iris, eine farblose Erscheinung in einem mausgrauen Kleid, war ihm einzig und allein deshalb aufgefallen, weil sie hinter der Theke stand und Punsch ausschenkte. Er hielt sie für eine Kellnerin und wurde immer erboster, während er in der Schlange anstand und zusah, wie unglaublich lahm und ungeschickt sie sich beim Einschenken anstellte. Als er schließlich an der Reihe war, reichte sie ihm zu allem Überfluß auch noch ein gesprungenes Glas. Edward konnte es einfach nicht fassen; es war der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Es kam ihm vor, als hätte diese niedere Bedienstete ihm absichtlich ein kaputtes Glas in die Hand gedrückt. Doch just in dem Moment, als er ihr die rote Flüssigkeit über das Kleid kippen wollte, trat der schwerreiche Besitzer einer Papiermühle zu ihr, küßte sie auf die Wange und stellte sie dem siegreichen Senator in spe als seine Tochter vor.
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Was Edward vor einem folgenschweren Fauxpas bewahrte – und Iris in seinen begehrlichen Augen vom Frosch in eine Prinzessin verwandelte. Alles in allem hatte er es verdammt schlau eingefädelt, dachte er. Keine Frage, sie war so ziemlich das Letzte, was er sich erträumt hatte, doch erst das Geld ihres Vaters hatte seine Karriere in Gang gebracht. Alles weitere war sein eigenes Werk, und heute besaß er alles, was das Herz begehrte, alles, wonach er sich als kleiner Junge gesehnt hatte. Er hatte Macht und Einfluß, und er war wahrhaft reich. Sein Plan war absolut perfekt gewesen. Eine der Aushilfen trat zu ihm und entfernte das Tischtuch vom Büfettisch. »Beeilen Sie sich«, zischte Edward, »und den Rest des Büfetts nehmen Sie bitte auch mit.« So würde zumindest nichts übrigbleiben, womit sich Iris mästen konnte, bevor sie auf die Wellnessfarm fuhr. Angeekelt schüttelte er den Kopf. Es war pure Zeitverschwendung, über Iris und ihre Belange zu grübeln; es gab weiß Gott Wichtigeres zu tun. Ein leiser Schauder überlief ihn, als er daran dachte, was er noch vorhatte. Die Angestellten des Partyservice verließen nacheinander die Terrasse. Und nun wurde es wirklich Zeit. Er mußte noch ein paar Dinge aus der Mühle holen, um sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Thomas spähte durch das Fenster hinaus auf die Veranda, wo der Junge zusammengesunken in der Hollywoodschaukel saß. »Er hockt immer noch da draußen.« Anna seufzte und sah ebenfalls aus dem Fenster. »Ich weiß nicht, was ich noch machen soll.« »Lassen wir ihn einfach in Ruhe«, sagte Thomas. Tracy betrat die Küche und nahm sich eine Birne aus dem Kühlschrank. Sie rieb sie an ihrem Bademantel und biß hinein. 165
Anna schüttelte den Kopf. »Er ist total durcheinander. Ich glaube, ich versuche doch noch mal, mit ihm zu reden.« »Laß es, Anna«, sagte Thomas. »Wahrscheinlich will er einfach nur allein sein.« Anna wandte sich an Tracy, die sich an den Küchentisch gesetzt hatte, an ihrer Birne nagte und gedankenverloren in den Raum starrte. »Tracy«, sagte sie, »was war los bei den Stewarts?« »Nichts. Wieso? Wir haben ein bißchen rumgealbert, und plötzlich steht er auf und fällt in Ohnmacht.« »Rumgealbert? Was soll das heißen? Habt ihr euch über ihn lustig gemacht?« »Nein«, maulte Tracy. »Meine Güte, ein kleiner Spaß hat ja wohl noch niemandem geschadet.« »Ein kleiner Spaß? Auf seine Kosten? Wahrscheinlich ist genau das der Punkt. Vielleicht solltest du dich bei Paul entschuldigen.« »Ich? Wieso denn ich?« »Hast du nicht gehört, was deine Mutter gesagt hat?« fuhr Thomas sie an. »Du gehst jetzt raus und entschuldigst dich bei deinem Bruder!« Tracy zog eine widerwillige Miene, doch sie wußte genau, daß mit ihrem Vater nicht gut Kirschen essen war, wenn er in diesem Tonfall sprach. Sie ging zur Tür, trat hinaus in die Nacht und wartete ein paar Sekunden, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. In gebührendem Abstand blieb sie stehen und wartete darauf, daß Paul den Blick auf sie richtete. Doch er sah nicht auf. Was sollte sie jetzt machen? In Filmen räusperten sich die Schauspieler immer, wenn sie jemandes Aufmerksamkeit erwecken wollten. Es war einen Versuch wert. Sie gab ein leises Hüsteln von sich. Paul zog es vor, sie weiter zu ignorieren. 166
»Wie wär’s, wenn du reinkommst?« fragte sie leise. »Es ist schon spät.« »Nein«, sagte er mit ausdrucksloser Stimme, während er in den nächtlichen Garten hinaussah. »Meine Eltern machen sich Sorgen um dich. Wieso hockst du hier draußen herum und sagst keinen Ton mehr?« Paul gab keine Antwort. »Hey, wir haben doch nur ein bißchen herumgealbert. Ich wußte ja nicht, daß es dir nicht gutgeht. Du hättest ja auch was sagen können.« Tracy warf einen Blick über die Schulter. Hinter dem Fenster sah sie Annas Schatten. Tracy seufzte und startete noch einen Versuch. »Okay, ich verstehe ja, daß du dir Sorgen machst, weil dein Kater weggelaufen ist. Aber das ist ja wohl kein Grund, sich jetzt in den Schmollwinkel zurückzuziehen. Wenn du willst, helfe ich dir morgen beim Suchen.« Paul erhob sich zögernd und sah Tracy an. Einen Moment lang spürte sie ein Gefühl der Erleichterung, nachdem er nun endlich auf sie reagierte. Dann sah sie, wie seine Augen blitzten. »Was hast du mit ihm gemacht?« fragte er. Tracy runzelte die Stirn und trat einen Schritt zurück: »Was?« »Was hast du mit Sam gemacht? Wo ist er?« Tracy schüttelte den Kopf. »Tu nicht so unschuldig. Was hast du mit ihm gemacht?« »Du spinnst wohl«, zischte sie. Paul trat noch einen Schritt näher und baute sich vor ihr auf. »Deswegen habt ihr doch so gelacht, oder? Du und deine verdammten Freundinnen.« Tracy reckte das Kinn. »Wenn deinem Kater was passiert wäre, würden wir garantiert nicht darüber lachen, du Arsch!« 167
»Ich bin hier der Arsch, ja?« Er kehrte ihr den Rücken zu und setzte sich wieder in die Hollywoodschaukel. »Hau doch ab, und zwar ein für allemal, okay?« Tracy rührte sich einen Moment lang nicht, völlig perplex über seine Anschuldigungen. Dann trat sie auf ihn zu, während sie mühsam die Tränen zurückhielt. »Hör auf, das Kleinkind zu spielen. Ich bin doch nicht schuld, daß dein Kater weg ist. Und auch nicht daran, daß du überhaupt hier bist. Von mir aus hättest du ruhig da bleiben können, wo du hergekommen bist!« Er sah sie nicht an, starrte nur mit leerem Blick ins Dunkel. »Danke«, sagte er. »Das wußte ich schon.« Tracy lief rot an. »Das war nicht so gemeint.« »Und ob«, gab er zurück. »Du bist eine verwöhnte kleine Ratte. Immer muß sich alles um dich drehen, stimmt’s? Aber ich habe gute Neuigkeiten für dich. Ich will hier nämlich schleunigst wieder weg. Bloß damit ich deine blöde Fresse nicht mehr sehen muß.« Tracy stürmte auf ihn zu und versetzte ihm einen Schlag gegen die Schulter, der die Hollywoodschaukel ins Schwingen brachte. »Ich hasse dich!« schrie sie. Paul sprang auf, wirbelte herum und ergriff ihr Handgelenk. »Faß mich nicht noch mal an!« knurrte er. Er schüttelte sie kurz, ließ sie aber sofort wieder los. Plötzlich stöhnte er laut auf. Er hielt sich den Kopf und sank auf die Knie. Mit offenem Mund blickte Tracy ihn an. Dann wurde die Verandatür aufgerissen, und Anna kam zu ihnen gelaufen. »Was ist denn passiert?« rief sie. »Was macht ihr beiden da?« Erschrocken sah Tracy ihre Mutter an, während Paul sich vornüberkrümmte und seinen Kopf umklammerte. »Er hat gesagt, ich sei eine Ratte«, kreischte sie. »Ich habe dich gebeten, dich bei ihm zu entschuldigen«, sagte Anna böse. »Und was machst du?« 168
»Er hat gesagt, ich hätte seinem Kater was getan!« heulte Tracy. »Was hast du denn?« fragte Anna ihren Sohn flehentlich. »So sag doch etwas!« »Mein Kopf«, stöhnte er. »Ich hab’ damit nichts zu tun«, sagte Tracy. »Du gehst jetzt rein«, befahl Anna. »Verdammt noch mal, reicht dir immer noch nicht, was du angerichtet hast?« Mit waidwundem Blick zog sich Tracy zurück. Anna ergriff Pauls Arm und half ihm behutsam auf. »Komm«, sagte sie. »Wir fahren ins Krankenhaus.« »Nein«, ächzte der Junge. »Nicht ins Krankenhaus.« Er versuchte sich aus ihrem Griff zu winden. »Laß mich einfach in Ruhe.« »Na gut«, sagte sie beruhigend. »Aber komm wenigstens herein.« Die Luft war erfüllt vom Geräusch der Grillen und anderer friedlicher Insekten, als sie ihn zur Tür führte. Er zitterte am ganzen Körper. »Ich will dir doch nur helfen«, sagte Anna. »Es geht mir schon wieder besser«, sagte er, als sie gemeinsam das Haus betraten. Kaum hatte sie ihn zu Bett gebracht, war er auch schon eingeschlafen. Sie saß am Fußende des Betts und betrachtete das blasse Gesicht ihres Sohnes. Sein Mund öffnete sich, als würde er nach Luft ringen; im fahlen Licht des Mondes traten die Konturen seines hageren Gesichts noch stärker hervor. Schlaff und kraftlos lagen seine Hände auf der Decke. Auf seiner Stirn und der Oberlippe glänzte Schweiß.
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Irgend etwas ist nicht mit ihm in Ordnung, schoß es ihr durch den Kopf. Er hat irgendeine schlimme Krankheit. Ja, das mußte Rambo gemeint haben. Und so sehr sie die schrecklichen Gedanken auch zu verdrängen versuchte, hegte sie doch die schlimmsten Befürchtungen. Vielleicht hatte er einen Gehirntumor, irgend etwas, das diese furchtbaren Kopfschmerzen verursachte. Sie überlegte, ob sie nicht gleich morgen früh mit dem Jungen zum Arzt fahren sollte, statt Rambo aufzusuchen. Nun war ihr sonnenklar, daß Rambo sie über die Krankheit aufklären wollte, die dem Jungen derart zusetzte. Ein Arzt konnte sicher in Null Komma nichts herausfinden, was Paul hatte. Andererseits jedoch wurde sie den Gedanken nicht los, daß Rambo vielleicht noch mehr wußte, was von Wichtigkeit sein mochte. Schließlich war der Junge bei ihm und seiner Frau aufgewachsen. Vielleicht hatte er im Lauf der Zeit irgendeinen Unfall gehabt oder war in Kontakt mit Drogen geraten. Sie mußte herausfinden, was Rambo wußte. Wenn er plötzlich die Flucht ergriff und verschwand, würde sie nie erfahren, wovon er gesprochen hatte. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Wenn Paul krank war, konnte sie es sich eigentlich nicht leisten, ihre Zeit mit Rambo zu verschwenden – und doch war es ihre einzige Chance, endlich herauszufinden, was mit Paul los war. Sie mußte zu einer Entscheidung kommen. Mach es wie geplant, sagte sie sich. Nimm deinen ganzen Mut zusammen. Morgen weißt du Genaueres. Kurz mußte sie daran denken, wie gern sie mit Thomas über alles gesprochen hätte; doch sie wußte, er würde niemals zulassen, daß sie sich mit Rambo traf. Und deshalb würde sie die Sache auf eigene Faust durchziehen. Leise erhob sie sich. Wenigstens atmete Paul nun wieder ruhig und tief. Sie öffnete die Zimmertür und trat auf den Flur. Als sie an Tracys Zimmer vorbeikam, bemerkte sie, daß durch den Spalt unter der Tür gedämpftes Licht fiel. Tracy war also 170
noch wach. Als sie die Ohren spitzte, hörte sie leises Schluchzen. Anna zögerte einen Augenblick, dann klopfte sie leise. Keine Antwort. Sie öffnete die Tür einen Spalt und sah hinein. Eine kleine Leselampe warf einen Lichtkegel auf den Boden des ansonsten dunklen Zimmers. Am Rand des Lichtkegels saß Tracy mit gesenktem Kopf. In den Armen hielt sie Fubby, das Stoffkaninchen, das sie schon als Baby so geliebt hatte. Tracys Schultern bebten, während sie das Kaninchen fest an ihre Brust drückte. »Tracy«, flüsterte Anna. Tracy zuckte zusammen, versteckte das Kaninchen hinter ihrem Rücken und schaute ihre Mutter böse an. Anna sah ihre geröteten Augen; Tränen glänzten auf Tracys sommersprossigem Gesicht. »Hau ab!« schrie Tracy. Anna trat zu ihr. »Tracy, was ist denn bloß los? Laß uns doch einfach miteinander reden.« »Verschwinde«, sagte Tracy nur. »Bitte, Tracy«, sagte Anna flehentlich. »Sprich mit mir.« »Vergiß es!« Tracy spie die Worte regelrecht aus. Anna biß sich auf die Unterlippe und strich ihrer Tochter über das wutverzerrte Gesicht. »Es tut mir leid, daß ich dich angeschrien habe«, sagte sie leise. »Ich bin einfach überreizt. Trotzdem hätte ich dich nicht so anfahren dürfen.« Tracy wich zurück und drehte ihrer Mutter den Rücken zu; in den Armen hielt sie ihr geliebtes Kaninchen. Anna seufzte und wandte sich zur Tür, als sie hinter sich Tracys klägliche Stimme vernahm: »Ich hab’s einfach satt, pausenlos als Sündenbock herhalten zu müssen. Immer bin ich an allem schuld.« »Oh, Tracy«, sagte Anna. »Das stimmt doch gar nicht. Ja, ich habe dich angeschrien, aber ich habe mir nur Sorgen um Paul 171
gemacht. Wegen seiner Kopfschmerzen. Ich habe einfach Angst, es könnte etwas Ernstes sein.« »Immer muß ich für alles herhalten«, sagte Tracy bitter. Anna schüttelte den Kopf. »Das darfst du nicht denken. Es stürmt momentan nur so wahnsinnig viel auf mich ein – und da habe ich einfach die Nerven verloren. Ich verstehe doch, daß sich Schwestern und Brüder ab und zu mal in die Haare kriegen. Und es wird bestimmt nicht das letzte Mal sein, daß …« »Ja?« Tracys Augen blitzten. »Sogar für seine Entführung macht ihr mich doch verantwortlich!« Anna sah ihre Tochter fassungslos an. »Was?« »Von Anfang an habt ihr es mir in die Schuhe geschoben«, sagte Tracy verbittert. »Alles ist nur wegen mir passiert – das denkt ihr doch, nicht wahr?« Entgeistert sah Anna ihre Tochter an. Wieder traten Tränen in Tracys Augen, doch schien sie es gar nicht zu bemerken. »Das haben wir nie gedacht, Tracy«, protestierte Anna, die es kaum ertragen konnte, ihre Tochter so bedrückt zu sehen. »Und ob! Einer mußte ja schuld sein, stimmt’s?« »Tracy«, sagte Anna, nun selbst den Tränen nahe. »Du warst noch ein Baby, als Paul entführt wurde. Du konntest absolut nichts dafür.« Sie streckte die Hand aus, doch Tracy wich abermals zurück und schüttelte den Kopf. »Wie kannst du nur so etwas denken?« sagte Anna. »Du hast es selbst gesagt!« »Was denn?« »Daß ich krank war!« platzte Tracy heraus. »Krank!« Anna blickte sie nur verständnislos an. »Jedesmal, wenn ihr von der Entführung redet, geht es wieder von vorne los. Daß ich krank war. Daß du nach mir gesehen hast 172
– und als du wieder in den Garten gegangen bist, war er verschwunden. Immer wieder dieselbe Leier! Daß es nur deswegen passiert ist, weil du nach mir sehen mußtest. Weil ich krank war!« Tracy blickte auf das Kaninchen in ihrem Arm, als hätte sie sich gerade daran erinnert. »Krank«, murmelte sie. »Nur deswegen konnte es überhaupt geschehen.« Anna spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. »Nein«, flüsterte sie. »Dabei wollte ich das doch gar nicht«, sagte Tracy. »Er war doch mein Bruder.« Anna kämpfte mit ihren Schuldgefühlen, während sie in die unversöhnlichen Augen ihrer Tochter starrte. »Ich wollte doch nie …« Impulsiv wollte sie ihre Tochter um Vergebung bitten. Dann aber kam sie zu dem Schluß, daß sie erst darüber nachdenken mußte, was sie Tracy über all die Jahre unabsichtlich angetan hatte. Sie war so niedergeschmettert wie jemand, der gerade erfährt, daß die Zigarettenkippe, die er sorgfältig ausgedrückt zu haben glaubt, ein Haus in Brand gesetzt hat. »Und das hast du all die Jahre gedacht?« flüsterte sie bestürzt. »Laß mich endlich in Ruhe«, sagte Tracy. Ohne ihre Mutter weiter zu beachten, ging sie ins Bett und drückte das Stoffkaninchen fest an sich. Anna legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Es tut mir alles so leid, Schatz. Das konnte ich doch nicht ahnen. Du hast mich einfach falsch verstanden. So hatte ich das nie gemeint.« Ohne sie auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen, löschte Tracy die Leselampe. Anna verharrte im Dunkel, während sie sich fragte, wie sie ihren Fehler wiedergutmachen konnte. Sie starrte auf die Umrisse ihrer Tochter. Ich werde alles wieder in Ordnung bringen, versprach sie ihr insgeheim. Doch sie fragte sich gleichzeitig, wie sie das bewerkstelligen wollte. 173
Albert Rambo beugte sich über das Waschbecken in seinem Motelzimmer und schüttelte den Kopf; kaffeefarbene Tröpfchen flogen in alle Richtungen. Er glättete sich die nassen Haare mit der Hand, verteilte die dünnen Strähnen gleichmäßig über seinem bleichen, mit Leberflecken übersäten Schädel. Dann trat er einen Schritt zurück, richtete den Blick auf den Badezimmerspiegel und betrachtete sich von beiden Seiten im Halbprofil. Sein sonst graues Haar schimmerte nun in einem tiefen Kastanienbraun. Es sah richtig gut aus, dachte er. Er beschloß, sich einen Schnauzbart wachsen zu lassen und auch diesen zu färben. Es hatte ihm schwer zu denken gegeben, daß ihn Anna Lange so schnell erkannt hatte. Immerhin würde er nun endlich zu ein wenig Geld kommen und sich davon zuallererst eine neue Mütze kaufen, bevor er sich endgültig aus dem Staub machte. Er griff nach dem Handtuch und rieb sich die schütteren Haare trocken. Dann zog er die engen Plastikhandschuhe aus und legte sie zusammen mit dem Färbemittel und der Tube mit dem Haarfestiger in die Schachtel zurück. Er warf einen letzten Blick in den Spiegel, zog sein Hemd an und knöpfte es zu. Dann nahm er die Schachtel mit zurück ins Zimmer und verstaute sie in seinem Koffer. Zerstreut fuhr er sich mit dem Finger über die Oberlippe, während er sich fragte, wie lange es wohl dauern würde, bis ihm ein anständiger Bart gewachsen war. Er hatte nie besonders starken Haarwuchs gehabt. Wahrscheinlich würde er ein paar Wochen lang schlicht unrasiert aussehen. Bis er einen richtigen Schnauzbart hatte, war er längst weit, weit weg. Im selben Moment klopfte es mehrmals hintereinander an der Tür. Rambo erstarrte; mit weit aufgerissenen Augen blickte er zur Tür, während ihm das Herz mit einem Mal bis zum Hals schlug. Polizei, schoß es ihm durch den Kopf. Sie hatten ihn aufgespürt. Anna Lange mußte die Cops informiert haben – doch dann fiel ihm ein, daß die Polizei sich bestimmt nicht die 174
Mühe gemacht hätte, vorher höflich anzuklopfen. Wahrscheinlich handelte es sich um ein Mißverständnis. Wenn er sich ruhig verhielt, würde die Person da draußen bestimmt schnell merken, daß sie sich in der Tür geirrt hatte. Als es wider Erwarten abermals klopfte, ballte Rambo die Fäuste. Dann ertönte eine gedämpfte Stimme. »Entschuldigen Sie, daß ich so spät noch störe. Hier spricht Gus DeBlakey. Der Inhaber.« Der Inhaber. Erleichtert atmete Rambo aus, wurde aber sofort wieder argwöhnisch. »Was wollen Sie?« bellte er. »Es geht um Ihren Wagen, Sir. Er steht vor dem falschen Zimmer, und der andere Gast macht mir die Hölle heiß. Könnten Sie das Auto umparken?« Genervt schüttelte Rambo den Kopf. »Komme gleich«, gab er mürrisch zurück. »Schönen Dank, Mr. Rambo.« »Vor dem falschen Zimmer?« murmelte Rambo verdrossen, während er in seine Schuhe schlüpfte und die Tür entriegelte. »Ich habe den Wagen doch direkt vor der Tür abgestellt. Wo, zum Teufel, soll man denn sonst parken?« Er hatte den Türknauf bereits in der Hand, als es ihm wie Schuppen von den Augen fiel. Er hatte sich im Gästebuch als Mr. Smith eingetragen. Mr. Willard Smith. Im selben Moment wurde die Tür von außen aufgestoßen; durch den Aufprall taumelte Rambo zurück ins Zimmer. Eine Sekunde lang war er wie gelähmt, stumm vor Schreck – es gelang ihm nicht, einen einzigen Laut aus seiner Kehle zu pressen. Rambo wehrte sich mit aller Kraft, als eine dunkle Gestalt über ihn herfiel, doch er war zu schwach, um auch nur das mindeste gegen den Unbekannten ausrichten zu können. Der Mann riß Rambos Kopf zurück und drückte sein Gesicht in einen übelriechenden Lappen, den er in seinen 175
behandschuhten Fingern hielt. Rambo rang nach Luft und versuchte sich aus dem gnadenlosen Griff zu winden; ein erstickender Geruch stieg ihm in Nase und Kehle. Während er in ein Paar eiskalter Augen starrte, hörte er die Stimmen in seinem Kopf, deren Raunen sich zum Geheul auswuchs. Und dann hörte er plötzlich gar nichts mehr.
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11 Anna hielt besorgt Ausschau nach dem La-Z Pines Motel; irgendwann mußte doch das Motelschild kommen. Sie hatte Angst, daran vorbeizufahren und so noch mehr Zeit zu verlieren. Es war bereits nach zwölf. Bei drei verschiedenen Banken hatte sie Geld abgehoben – insgesamt mehrere hundert Dollar – und dann im Städtchen Kingsburgh zweimal anhalten müssen, bis ihr endlich jemand sagen konnte, wo das La-Z Pines lag. Plötzlich tauchte das Schild zu ihrer Rechten auf; Anna bog in die Einfahrt, fuhr im Schneckentempo über den kiesbestreuten Hof und hielt Ausschau nach dem Zimmer mit der Nummer 17. Ein großer, grauhaariger Mann im Overall, der Eimer und Mop in den Händen hielt, blieb für einen Moment stehen und sah zu ihr herüber. Dann wandte er sich ab und verschwand hinter einer Tür mit der Aufschrift REZEPTION. Anna wartete, bis er hinter der Fliegentür verschwunden war; dann parkte sie den Wagen. Der Motelparkplatz lag im Schatten mächtiger Kiefern und machte einen fast beschaulichen Eindruck. Die ehemals weißen Wände der einzelnen Hütten wurden langsam grau, doch die dunkelgrün gestrichenen Fenster- und Türrahmen waren erst kürzlich auf Vordermann gebracht worden. Anna schwitzte; Rock und Bluse klebten an ihrer Haut. Auf dem Beifahrersitz lag eine braune Einkaufstüte, in der sich das Geld befand. Sie hatte keine Ahnung gehabt, wieviel er wollte. Ironie des Schicksals, dachte sie. Nach Pauls Entführung hatte sie sich gewünscht, einen Erpresserbrief zu erhalten, irgendein Zeichen, daß es dem Kidnapper um Geld ging – weil es die Chance bedeutet hätte, ihren Sohn zurückzubekommen. Und nun war sie hier, um den einstigen Entführer ihres Sohnes für seine Hilfe zu bezahlen. Um ihn für Informationen zu 177
entlohnen, die vielleicht überhaupt nichts brachten, und mit dem Geld half sie ihm auch noch, sich weiter dem Arm des Gesetzes zu entziehen. Aber das Risiko mußte sie eingehen. Sie war sich sicher, daß er ihr irgend etwas Wichtiges mitteilen wollte. Und nach Pauls Anfällen in der letzten Nacht war sie bereit, jeden Preis für Rambos Aufschlüsse zu bezahlen. Anna warf einen Blick in den Rückspiegel und hielt Ausschau nach Rambo. Er hatte gesagt, er würde die Tür unverschlossen lassen und warten, bis sie das Zimmer betreten hatte. Sie erblickte nichts als ein paar geparkte Autos, zugezogene Vorhänge und die hoch aufragenden Kiefern. Okay, dachte sie. Los jetzt. Sie griff nach der Packpapiertüte, klemmte sie sich unter den Arm und stieg aus. Während sie die Wagentür behutsam schloß, warf sie einen Blick über die Schulter; dann eilte sie zur Tür mit der Nummer 17 und klopfte zweimal an. Sie blickte sich nochmals um, niemand zu sehen. Sie ergriff den Türknauf und wollte die Tür öffnen, aber der Türknauf ließ sich nicht drehen. Sie versuchte es noch einmal, doch die Tür war abgeschlossen. Sie rüttelte, so fest sie konnte, doch es hatte keinen Zweck. Blut stieg ihr in die Wangen. Sie wandte sich um, ließ den Blick über die anderen Hütten und die Bäume schweifen, unsicher, ob er sich nicht irgendwo versteckt hielt und über ihre vergeblichen Anstrengungen schieflachte. Doch nirgends rührte sich etwas. Sie legte das Ohr an die Tür und rief mit gedämpfter Stimme seinen Namen. »Mr. Rambo. Ich bin’s, Anna Lange. Machen Sie auf.« Keine Antwort. Sie sah hinaus auf den Parkplatz, ratlos, was sie jetzt unternehmen sollte. Plötzlich hörte sie, wie eine Tür geöffnet wurde. Als sie den Blick nach links wandte, erblickte sie einen untersetzten Mann und eine rothaarige Frau in Bowlinghemden,
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die aus der übernächsten Hütte traten und sie kurz musterten, ehe sie in einen Chrysler stiegen und wegfuhren. Die Papiertüte fest in der Hand, marschierte Anna zurück zu ihrem Auto. Sie setzte sich hinters Steuer und zog die Tür zu. Sie behielt die Hütte Nummer 17 im Auge, während sie plötzlich dachte, daß Rambo sie wie eine Marionette an seinen Fäden tanzen ließ. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, die ganze Sache als üblen Scherz abzutun und zurückzufahren. Am besten, sie vergaß das Ganze so schnell wie möglich. Doch sie wußte genau, daß sie die Sache nicht so einfach auf sich beruhen lassen konnte. Wenn sie doch wenigstens einen Blick in Rambos Zimmer werfen könnte. Selbst wenn er die Nerven verloren und Hals über Kopf die Flucht ergriffen hatte, bestand immer noch die Möglichkeit, daß er etwas zurückgelassen hatte, irgend etwas, was ihr vielleicht weiterhelfen mochte. Nein, so einfach konnte sie nicht aufgeben. Entschlossen stieg sie wieder aus. Sie überlegte, ob sie die Tüte mit dem Geld besser im Wagen lassen sollte, doch soviel Geld ließ man nicht einfach auf dem Beifahrersitz liegen. Dann machte sie sich auf zu der Tür mit der Aufschrift REZEPTION. Die Rezeption des La-Z Pines bestand aus zwei Plastikstühlen, einem hohen Resopaltresen und einem Holzständer mit Broschüren über Ausflugsmöglichkeiten in Kingsburgh und Umgebung. Der braune Linoleumboden hatte schon bessere Zeiten gesehen. Hinter dem Tresen saß Gus DeBlakey, völlig versunken in eine Folge seiner Lieblingsserie Schatten der Leidenschaft. Er verpaßte nie eine Folge, weshalb ihm die Frau – ihr Volvo war ihm gleich aufgefallen – alles andere als gelegen kam. Er hatte das Gefühl, daß sie ihn mit Fragen behelligen würde, die wahrscheinlich nicht auf ein einfaches Ja oder Nein hinauslaufen würden. Sie sah nicht gerade aus wie die Gäste, die 179
er normalerweise beherbergte. Wahrscheinlich hat sie sich verfahren, dachte er. Er wandte den Blick vom Bildschirm und sah zu ihr auf, als sie sich an den Tresen lehnte. »Kann ich Ihnen helfen?« fragte er, während er aus dem Augenwinkel mitverfolgte, wie ein Mann im Smoking einer Todkranken seine Liebe gestand. »Ich bin auf der Suche nach einem Ihrer Gäste«, sagte Anna. »Einem … einem Freund von mir. Er hat die Siebzehn gemietet.« Gus runzelte die Stirn. Die Dame sah ganz und gar nicht aus wie jemand, der mit dem Kerl aus Zimmer 17 befreundet war – dem schmierigen alten Sack mit dem blauen Chevy. »Haben Sie’s mal mit Anklopfen versucht?« fragte er, ohne den Fernseher aus dem Blick zu lassen. »Es macht keiner auf.« »Dann ist er wohl ausgeflogen«, sagte Gus. »Ist sein Wagen da? Der blaue Chevy? Schauen Sie doch mal eben raus.« Anna trat vor die Tür und ließ den Blick über die geparkten Autos schweifen. Unweit der 17 stand ein schmutzstarrender blauer Wagen mit einer Riesendelle in der vorderen Stoßstange. »Da steht ein blauer Wagen«, rief Anna. »Ich weiß aber nicht, ob es ein Chevy ist.« »Was?« rief Gus zurück, während er zusah, wie sich das Paar auf dem Bildschirm zärtlich in die Arme nahm. Anna kam wieder herein. »Können Sie mal gucken? Es ist wichtig!« Gus warf ihr einen erbosten Blick zu, knipste seufzend den Fernseher aus und folgte Anna zur Tür. Sie wies auf den Wagen mit der lädierten Stoßstange. »Das ist er«, sagte Gus. »Aber warum öffnet er nicht?« fragte Anna. 180
Gus zuckte mit den Schultern. »Das ist ein freies Land. Vielleicht hat er Sie versetzt.« Als er Annas besorgte Miene sah, fügte er ein wenig höflicher hinzu: »Wahrscheinlich ist er spazierengegangen.« »Aber wir waren verabredet«, sagte sie. »Er muß da sein. Sonst würde sein Wagen ja nicht da stehen.« »Keine Ahnung, wo er steckt«, sagte Gus. »Könnte ich wenigstens kurz einen Blick in sein Zimmer werfen? Ich mache mir Sorgen, daß ihm etwas passiert sein könnte. Wenn er nicht da ist, kann ich ihm ja eine Nachricht hinterlassen.« Gus schüttelte den Kopf. »Bitte«, sagte Anna. »Ich will doch bloß nach ihm sehen.« Gus zog die Stirn in Falten. Es war nicht seine Aufgabe, wildfremde Leute in die Zimmer seiner Gäste zu führen, aber die augenscheinliche Besorgnis der Frau schien echt zu sein. Was auch immer sie von dem Kerl wollte, es war offenbar ziemlich wichtig für sie. Außerdem hatte der Bursche nur bis heute bezahlt; bis zwölf hätte er das Zimmer räumen müssen. »Okay«, willigte er ein. »Oh, danke«, sagte Anna. »Vielen Dank.« Sie folgte Gus über den Hof, während er die Schlüssel an seiner Kette durchging, bis er den richtigen gefunden hatte. »Also dann«, sagte er, als sie vor Nummer 17 standen. Er klopfte energisch an und rief: »Mr. Smith, sind Sie da?« Dann wandte er sich zu Anna. »Hoffentlich hat er sich nicht einen angesoffen und ist eingepennt.« Ja, natürlich, dachte Anna. Das klang absolut einleuchtend. Mit einem Mal war ihr klar, warum Rambo nicht geöffnet hatte. Und wenn sie jetzt mit dem Motelinhaber hereinplatzte, würde er ganz bestimmt nicht mehr mit ihr reden. Sie hatte alles verdorben. Sie sah zu, wie der Motelinhaber den Schlüssel ins 181
Schloß steckte, während sie sich in einem Anflug von Panik fragte, ob sie ihn nicht doch bitten sollte, Rambo besser nicht zu stören. »Tja«, sagte Gus. »Dann will ich mal hoffen, daß Sie wirklich so gut mit ihm befreundet sind, wie Sie behaupten.« Er stieß die Tür auf und betrat den dämmrigen Raum. Anna spähte über seine Schulter. Die Vorhänge waren allesamt zugezogen, und nirgends brannte Licht. Auf dem Doppelbett hatte zwar jemand gesessen, aber nicht geschlafen. Sie erhaschte einen Blick auf Rambos geöffneten Koffer, der neben dem Tisch auf dem Boden lag. Auf dem Tisch lagen seine Wagenschlüssel und ein paar Münzen. Was hieß, daß er zumindest nicht Hals über Kopf geflüchtet war. »Könnten Sie Licht machen?« fragte sie. »Neben dem Bett ist ’ne Lampe«, sagte Gus und streckte den Zeigefinger aus. Anna knipste die Lampe an. Die trübe Birne erleuchtete gerade mal ein Eckchen des Zimmers. »Wahrscheinlich ist er Zigaretten holen«, sagte Gus, während er auf die zerknitterten Packungen und die Kippen im Aschenbecher auf dem Nachttisch wies. »’ne halbe Meile von hier ist ein kleiner Laden. Problemlos zu Fuß zu erreichen.« Er ging zum Fenster und versuchte es zu öffnen. Er rümpfte die Nase. »Hier stinkt’s.« Anna sah sich so genau wie möglich um; sie wußte, daß der Motelinhaber sie gleich bitten würde, ihm wieder nach draußen zu folgen. Sie bemerkte, daß die Tür zum Badezimmer ein paar Zentimeter offenstand, aber auch dort kein Licht brannte. »In welche Richtung muß ich denn fahren, um den Laden zu finden?« fragte sie. »Eigentlich hätte er mir doch unterwegs entgegenkommen müssen.« Sie ging zum Badezimmer, stieß die Tür auf und knipste das Licht an. »Ich glaube, wir gehen jetzt besser«, sagte Gus ungeduldig. 182
»Kommen Sie einfach später noch mal wieder. Wahrscheinlich hat er sich in der Uhrzeit vertan.« Er sah zum Bad hinüber, doch Anna gab keine Antwort. »Kommen Sie, Miss. Ich habe nicht ewig Zeit«, sagte er. Sie reagierte immer noch nicht. Gus ging zum Bad und trat hinter Anna, die reglos in der Tür stand. »Heilige Scheiße«, platzte er heraus. Ein Paar blitzblanker schwarzer Schuhe hing fast einen Meter über dem Boden. Als er aufsah, erblickte er zwei erschlaffte Beine und eine Hose mit durchnäßtem Schritt. Die herabbaumelnden Hände waren steif, die Fingernägel blau verfärbt. Ein Strick schnitt tief ein in den verrenkten Hals; aus Rambos Mund hing seine graue, geschwollene Zunge. Die blicklosen Augen traten weit aus den Höhlen seines bläulich angelaufenen Gesichts. Ein paar kastanienbraune Strähnen standen von seinem fahlen Schädel ab. Annas Gesicht war so weiß wie ein Papiertaschentuch. Entsetzt starrte sie die Leiche an. Gus schob sich an ihr vorbei. Um ein Haar wäre er über den umgekippten Stuhl gestürzt, der auf dem Boden lag. »Du meine Güte!« stieß er hervor, während er mit zitternden Händen den Stuhl aufrichtete. »O Gott«, hörte er die Frau hinter sich flüstern. »O mein Gott!« Buddy Ferraro sah von dem Blatt Papier auf, das vor ihm lag, und musterte Annas todmüdes Gesicht. »Und das war alles, was er gesagt hat? Wirklich alles?« Sie saßen sich an Annas Küchentisch gegenüber. Ein unangetastetes Glas Eistee stand neben seinem Ellbogen. Thomas lehnte mit verschränkten Armen an der Spüle. Es war
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bereits dunkel; durch die Fliegentür drang das Geräusch der Grillen zu ihnen herein. Anna nickte. Als sie Buddy ansah, bemerkte sie, daß er graue Schläfen bekam. Es war ihr vorher nie aufgefallen. Buddy faltete das Blatt Papier zusammen und steckte es in seine Jackentasche. »Und was glauben Sie?« fragte Anna. »Er war am Ende«, sagte Buddy. »Er sah keinen Ausweg mehr.« »Ich verstehe einfach nicht, warum er sich umgebracht hat, bevor wir miteinander reden konnten«, wandte sie ein. »Er wollte doch unbedingt mit mir sprechen.« Buddy warf ihr einen ernsten Blick zu. »Ich kann es immer noch nicht fassen, daß Sie sich darauf eingelassen haben, Anna. Und das wider besseres Wissen. Sie wissen doch genau, wie viele Betrüger Ihnen über all die Jahre Informationen angeboten haben. Und immer wollten sie Geld dafür haben.« »Aber diesmal war es der Entführer selbst. Und er wollte mir etwas Wichtiges sagen.« Anna rieb sich die Augen. »Und jetzt ist er tot. Dabei hätte er so vieles aufklären können.« »Da haben Sie wohl recht. Ich hätte ihm auch gern die eine oder andere Frage gestellt.« »Aber warum hätte er mich warnen sollen? Glauben Sie wirklich, er hat das einfach nur erfunden?« »Anna, er stand mit dem Rücken zur Wand. Hören Sie mir zu. Erstens war er nicht ganz richtig im Kopf. Das belegen unsere Akten. Zweitens war er auf der Flucht. Er hatte sein gesamtes Geld verbraucht, stand buchstäblich vor dem Nichts. Und vergessen Sie nicht, daß Sie sich verspätet haben. Er wußte schlicht nicht mehr, was er noch machen sollte.« »Das leuchtet mir ja alles ein«, sagte Anna. »Trotzdem glaube ich, daß er mir etwas Wichtiges sagen wollte. Er hat mich nicht 184
belogen.« Sie sah den Polizisten eindringlich an. »Es geht um Paul. Was, wenn er an einer schweren Krankheit leidet?« Schweigend stieß sich Thomas von der Spüle ab und verließ die Küche, ohne ein Wort an die beiden zu richten. Buddy blickte ihm hinterher. Dann wandte er sich wieder zu Anna, die gedankenverloren die Stirn runzelte. »Dann suchen Sie am besten einen Arzt auf«, sagte er. »Das werde ich auch tun«, gab sie zurück. »Und zwar gleich morgen früh.« Buddy stand auf. »Wie kommt denn der Junge mit den Neuigkeiten klar?« fragte er. Anna seufzte. »Schwer zu sagen. Er behauptet, es würde ihn nicht berühren. Er hockt schon seit Stunden auf seinem Zimmer.« Buddy schüttelte den Kopf. »Er hat eine verdammt harte Zeit hinter sich. Ich glaube, ich mache mich jetzt besser auf den Weg. Ich muß morgen früh raus. Sandy und ich bringen Mark morgen zu seinem College.« »Wie schnell die Kinder erwachsen werden«, sagte Anna. »Ist es weit von hier?« »Ein paar Stunden Fahrt sind es schon«, erwiderte Buddy. »Aber wir bleiben noch ein paar Tage bei ihm. Dort gibt es ein hübsches kleines Gasthaus. Und die Teegesellschaften und Cocktailparties lassen wir natürlich auch nicht aus.« »Klingt doch wunderbar«, sagte Anna. »Bei dem, was das College kostet, erwarte ich das auch«, sagte Buddy mit gespielt strenger Miene. Anna stand auf, doch er hob die Hand und bedeutete ihr, sitzen zu bleiben. »Keine unnötige Mühe, Anna. Ich kenne den Weg zur Tür.« Anna seufzte. »So zynisch es klingt, zumindest bin ich die Sorge los, daß er Paul irgendwo auflauert.« 185
Buddy musterte sie nachdenklich. »Passen Sie gut auf sich auf.« »Versprochen«, sagte sie lächelnd. Buddy runzelte die Stirn, als er ihr den Rücken zukehrte. Er hatte gewisse Zweifel an Rambos Selbstmord, doch wollte er sie nicht damit belasten. Anna Lange hatte genug andere Sorgen. »Nochmals vielen Dank«, rief Anna ihm nach. Sie hörte, wie die Haustür hinter ihm ins Schloß fiel. Dann lehnte sie sich zurück und faltete die Hände im Schoß. Obwohl sie hundemüde war, ängstigte sie sich davor, die Augen zu schließen. Sie fürchtete sich davor, Rambo erneut vor ihrem inneren Auge zu sehen: wie er von der Decke des Badezimmers baumelte, sein verzerrtes Gesicht, die Augen, die aus den Höhlen hervortraten. Plötzlich mußte sie würgen. Sie rappelte sich auf. Sie wollte nicht weiter allein hier sitzen und grübeln. Mit einem Mal verspürte sie das dringende Bedürfnis, mit Thomas zu reden. Bisher hatten sie kaum Gelegenheit gehabt, in aller Ruhe miteinander zu sprechen. Den ganzen Tag über war sie von der Polizei und Reportern befragt worden, und natürlich hatte sie auch Paul erklären müssen, was geschehen war. Thomas war sehr schweigsam gewesen; schwer zu sagen, was wirklich in ihm vorging. So müde sie auch war, konnte sie den Tag nicht enden lassen, ohne Thomas über ihre Beweggründe aufzuklären. Anna ging zur Treppe und stieg die Stufen zum ersten Stock hinauf. Die Schlafzimmertür stand offen; das gedämpfte Licht der Nachttischlampe fiel in den Flur. Im Haus war es still. Selbst der Ghettoblaster in Tracys Zimmer war verstummt; die Ereignisse des Tages hatten sie offenbar ziemlich mitgenommen. Leise trat Anna ins Schlafzimmer. Thomas stand mit hängenden Schultern vor der Kommode; mit den Fingern strich er über den Rücken einer silbernen Haarbürste. Als sie ihn dort so stehen sah, bildete sich ein Kloß in Annas Kehle. Sie trat zu ihm, um ihn zu umarmen und sich an 186
seinen breiten Rücken zu pressen. Doch dann erblickte sie die Reisetasche, die am Fußende des Betts stand. Sie blieb wie angewurzelt stehen. »Tom?« Langsam wandte er sich zu ihr um. »Was ist denn jetzt los?« fragte sie ungläubig. »Tom, was hast du vor?« Steif ging er zum Nachttisch und griff nach dem dort liegenden Buch. »Ich packe«, sagte er. Anna ließ sich auf die Bettkante sinken; einen Moment lang wußte sie nicht, was sie sagen sollte. Dann sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus. »Tom, ich verstehe ja, daß du sauer bist. Aber wir müssen miteinander reden. Es stimmt, ich hätte dich nicht außen vor lassen dürfen. Und glaub mir, ich habe wirklich mit mir gekämpft. Ich wollte dich ja einweihen, aber er hat gedroht, ich würde nichts erfahren, wenn irgend jemand mit mir käme. Und das Risiko konnte ich nicht eingehen.« »Die Geschichte kenne ich inzwischen auswendig«, sagte Thomas mit dumpfer Stimme. »Du hast sie ja heute oft genug erzählt.« »Das ist keine Geschichte, Tom«, gab Anna zurück. »Es ist die Wahrheit.« »Okay, wenn du meinst.« Anna beugte sich vor. »Es tut mir trotzdem unendlich leid, Schatz. Kannst du mir denn nicht verzeihen?« »Du mußt mir nichts erklären«, sagte Thomas. »Ich verstehe ja, daß du nicht anders konntest.« Anna breitete die Hände aus. »Aber … warum packst du dann deine Sachen?« Thomas schwieg einen Moment, ehe er sie mit ebenso eisigem wie schmerzerfülltem Blick ansah. »Weil der Wahnsinn einfach kein Ende hat, Anna. Und ich kann es nicht mehr ertragen.« »Wovon redest du?« 187
»Von dir. Von dir und deinen fixen Ideen. Seit zehn Jahren dreht sich alles ausschließlich um Paul. Ununterbrochen hast du nur daran gedacht. All die Jahre war dir das das Wichtigste, aber ich habe mich nie beklagt. Und als Paul schließlich gefunden worden war, habe ich gedacht, wir könnten wieder ein normales Leben führen. Ich habe geglaubt, damit wärst du endlich geheilt von deiner … deiner Obsession. Aber nun ist es schlimmer als je zuvor.« Annas Bestürzung über seine Vorwürfe verwandelte sich in nackte Empörung. »Wie kannst du so etwas sagen? Eine Obsession? Ich habe nach meinem Sohn gesucht. Hätte ich etwa klein beigeben und ihn einfach vergessen sollen? Ich hätte nie mehr in den Spiegel sehen können! Und das hast du allen Ernstes von mir erwartet?« Thomas sagte keinen Ton. Er wandte den Blick ab. »Rambo hat gesagt, es ginge um Leben und Tod. Ist es so schwer zu verstehen, daß ich herausfinden wollte, was er damit meinte?« »Für Paul«, unterbrach Thomas sie leise. »Ja«, gab Anna zurück. »Um Pauls willen. Um zu verhindern, daß ihm noch einmal etwas zustößt.« »Denkst du eigentlich auch mal an Tracy und mich? Was, wenn dir etwas passiert wäre?« »Ich kann durchaus auf mich aufpassen. Und soweit ich es beurteilen kann, bestand kaum Gefahr für mich.« »Du hast dich mit einem flüchtigen Verbrecher eingelassen. Einem Geisteskranken.« »Ich war verzweifelt. Ich konnte die Sache nicht einfach auf sich beruhen lassen. Rambo hat gesagt, Pauls Leben sei bedroht!« »Hör dir doch nur mal selbst zu, Anna«, fuhr Thomas sie an. »Merkst du nicht, was du da redest? Kein Opfer ist dir zu groß, 188
wenn es um Paul geht. Erst die jahrelange Suche. Dann die Geschichte mit Rambo. Jetzt hast du dir in den Kopf gesetzt, der Junge sei krank, und als nächstes wirst du mit ihm von einem Arzt zum anderen rennen. Und was kommt dann? Wo soll das alles enden, Anna?« Anna starrte ihn entrüstet an. Erst wollte sie ihm widersprechen, doch dann schüttelte sie den Kopf. »Es wird nie enden«, sagte sie leise. »Ich werde nie aufhören, mich um das Wohl meines Sohnes zu sorgen – und das gilt genauso für Tracy und dich!« Thomas gab ein geringschätziges Schnauben von sich. »Red dir dein Verhalten ruhig weiter schön.« Er ging zum Schrank, öffnete ihn und inspizierte seine Sachen. Anna stand auf und schüttelte entgeistert den Kopf. »Hast du vielleicht mal eine Sekunde in Betracht gezogen, daß du es bist, der sich hier merkwürdig verhält? Seit uns die Polizei Bescheid gegeben hat, daß Paul gefunden wurde, ziehst du dich immer weiter zurück. Du sprichst nicht über deine Gefühle. Nicht ein einziges Mal hast du erkennen lassen, daß du dich über seine Rückkehr freust! Verstehst du denn nicht, was für unendliches Glück wir hatten? Wieso kommt von dir nicht die kleinste menschliche Regung?« Thomas blickte sie nur müde an. »Er ist ein Fremder, Anna. Du kennst diesen Menschen doch überhaupt nicht.« Anna sah ihn entsetzt an. »Wie kannst du nur so etwas sagen? Er ist dein Sohn.« Thomas schüttelte den Kopf und schlug die Schranktür zu. »Für mich ist er ein Fremder. Ich kann keine Vaterliebe heucheln. Ich empfinde absolut nichts für ihn.« Seine Worte bestürzten Anna so, daß ihr einen Moment die Stimme versagte. Sie räusperte sich. »Dann ist es vielleicht wirklich besser, wenn du gehst.«
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Thomas nahm seine Tasche und zog den Reißverschluß zu. »Ich kann keine Gefühle vortäuschen, wo keine sind.« »Dann geh. Geh endlich«, sagte sie. Sie öffnete die Schlafzimmertür. »Du gehörst nicht mehr hierher.« Thomas zögerte einen Augenblick, dann ging er die Treppe hinunter. »Wie konntest du nur?« sagte Anna leise, während sie auf den leeren Flur hinausstarrte. Durch seine Tür vernahm er aufgebrachte Stimmen, doch konnte er nicht heraushören, weshalb sich die beiden stritten. Paul hatte sich auf dem Stuhl neben seinem Tisch zusammengekauert, die Arme um die Knie geschlungen. Nur das durchs Fenster einfallende Mondlicht erhellte sein Zimmer; die Möbel warfen lange, unheimliche Schatten. Vor ein paar Jahren war er zusammen mit einem anderen Jungen im Wald auf eine Leiche gestoßen. Der Tote war ein Landstreicher. Unweit der Leiche fanden sie die Reste eines Lagerfeuers. Es war Winter; die Lumpen des Landstreichers hatten nicht genug Schutz gegen die Kälte in den Bergen geboten. Paul hatte den Anblick des Toten nie vergessen, den zusammengekrümmten, steifen Körper, die zerrissene Kleidung, an der der Wind zerrte, die bläulich verfärbten Glieder, den offenen Mund und die weit aufgerissenen Augen, gefroren in einem Ausdruck von Erschöpfung und Entsetzen. Als er sich seinen toten Vater vorzustellen versuchte, kam ihm jetzt unweigerlich wieder der Tote in den Sinn, den sie damals im Wald gefunden hatten. Er sah den offenen Mund seines ewig eifernden Vaters vor sich, der nun für immer verstummt war, die blitzenden, fanatischen Augen, nun blicklos in die Ewigkeit gerichtet. Beklommen fragte sich Paul, ob Albert Rambo in den Himmel kommen würde, falls es einen solchen Ort wirklich gab. Bestimmt nur, wenn seine Mutter ein gutes Wort für ihn einlegte. 190
Andererseits gab es für Kidnapper wohl kaum Platz im Himmel. Jedenfalls waren sie jetzt beide tot. Er fragte sich, ob er an ihrem Tod mitschuldig war – ein Gedanke, bei dem ihm plötzlich mulmig wurde. Sie waren für immer fort. Die beiden Menschen, die über all die Jahre seine Eltern gewesen waren. Und Sam war ebenfalls verschwunden. Alle Spuren seines bisherigen Lebens schienen vom Erdboden getilgt zu sein. Doch obwohl er gern Trauer empfunden hätte, berührte ihn der Tod seines Vaters nicht wirklich. Der Tod seiner Mutter war ihm viel mehr zu Herzen gegangen. Was er nun spürte, war Angst. Solange Albert Rambo am Leben gewesen war, hatte es einen Menschen gegeben, der ihn von klein auf kannte. Nun war er völlig auf sich gestellt, allein mit diesen Leuten, den Langes. Plötzlich war er ihr Sohn. Es kam ihm vor, als sei sein Leben nichts als eine einzige große Lüge – und er verdammt, sich auf immer und ewig mit dieser Lüge abfinden zu müssen. Doch in dem Moment, als ein rauher Schluchzer aus seiner Kehle drang, mußte er an Anna denken, seine andere Mutter, daran, wie sie Rambo mit einer Tüte voller Geld aufgesucht hatte, um etwas über sein früheres Leben in Erfahrung zu bringen. Irgendwie kam ihm die Idee ziemlich hirnverbrannt vor, doch gleichzeitig breitete sich ein warmes Gefühl in seiner Magengrube aus. Für einen Augenblick verflog das erdrückende Gefühl der Einsamkeit, nur um gleich darauf erneut Besitz von ihm zu ergreifen.
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12 Thomas trommelte nervös mit den Fingern auf Gail Kellehers Couchtisch. »Danke für die Einladung«, sagte er. »Tut gut, mal ein freundliches Gesicht zu sehen.« Gail zog die Beine unter sich und lehnte sich auf dem teuren Sofa zurück. Sie nippte an ihrem Wein und musterte Thomas über den Glasrand. »Nichts zu danken«, sagte sie. »Ich freue mich, daß Sie angerufen haben.« »Ich hab’s einfach aufs Geratewohl versucht. Ich wußte ja nicht mal, ob Sie überhaupt zu Hause sind. Na ja, ein Mädchen wie Sie ist doch bestimmt … häufig unterwegs.« Gail lächelte. »Bis morgens in der Disco und Champagner bis zum Abwinken?« Thomas zuckte mit den Schultern. »So ähnlich.« »Tja«, sagte sie, während sie den Kopf zurückwarf, als wolle sie etwas von der Zimmerdecke ablesen. »Am Freitagabend habe ich mich auf einen Drink mit einem Freund vom College getroffen. Nach drei Cocktails wollte er mich im Taxi begrapschen, aber die Tour zieht bei mir nicht. Samstag habe ich Wäsche gewaschen und war mit meiner besten Freundin einen Hamburger essen. Und gestern habe ich mir ein Baseballspiel im Fernsehen angeguckt. Ganz schön extravagant, was?« »Jetzt überraschen Sie mich aber«, sagte er. »Ich hätte mir das ganz anders vorgestellt bei einer so attraktiven Frau wie Ihnen. Mal ganz davon abgesehen, daß Sie noch Single sind.« »Oh, an Männern herrscht wirklich kein Mangel«, erwiderte sie. »Aber die meisten interessieren mich nicht. Dauernd geht es um irgendwelche Investments oder die neuesten Stereoanlagen. Echte menschliche Wärme findet man nur bei den wenigsten.
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Wann trifft man denn schon mal jemanden, mit dem man wirklich reden kann?« Als Thomas in ihre Augen sah, verspürte er einen wohligen Schauder. Er wandte den Blick ab und schaute sich in dem eleganten Apartment um, das nach dem letzten Schrei eingerichtet war. »Hier fühlt man sich wirklich wohl«, sagte er, obwohl er sich tatsächlich ein wenig fehl am Platz vorkam. Er richtete den Blick wieder auf Gail, die barfuß auf dem Sofa saß und ein Sommerkleid trug, das offenbar nur von einem einzelnen Knopf in Hüfthöhe zusammengehalten wurde. »Das wurde aber auch Zeit, daß Sie mal vorbeischauen«, sagte sie lächelnd. »Möchten Sie ein Glas Wein?« »Äh, gern«, gab er nervös zurück. Er sah zu, wie sie zur Bar ging und ihm ein Glas einschenkte. »Sie haben mir noch gar nicht erzählt, was Sie hier machen«, sagte Gail. »Am Telefon meinten Sie nur, Sie seien über Nacht hier in der Stadt.« Sie trat ans Sofa und reichte ihm das Glas. Dann setzte sie sich wieder neben ihn, nur ein ganz kleines bißchen näher als vorher. Thomas starrte in sein Glas. »Ich bin zu Hause ausgezogen«, sagte er, während er sich dabei vorkam wie ein kleiner Ausreißer, der sich Mut zusprechen will. »Was ist denn passiert?« wollte sie wissen. »Nun ja, Sie haben bestimmt mitbekommen, daß Anna den Kidnapper in einem Motel aufgespürt hat …« Gail nickte. »Ich habe die Nachrichten gesehen.« Thomas gab einen Seufzer von sich. »Ich weiß auch nicht. Ich hab’s einfach nicht mehr ausgehalten.« »Ich verstehe nicht, wieso sie das getan hat«, sagte Gail. »Das ist doch verrückt.« Thomas wand sich innerlich bei dem harten Wort. Instinktiv versuchte er seine Frau in Schutz zu nehmen. »Sie hat viel 193
durchgemacht in letzter Zeit. Offenbar ist sie außer sich vor Sorge um den Jungen.« »Trotzdem hört sich das krank an. Unglaublich, daß Sie das so lange ausgehalten haben.« Thomas seufzte und starrte auf seine ineinander verschränkten Hände. Er verspürte den Drang, endlich jemandem sein Herz auszuschütten, um so mehr, als er wußte, daß Gail auf seiner Seite war; dennoch brachte er es nicht über sich, seine widerstreitenden Gefühle vollends zu offenbaren. Er fühlte sich schuldig, weil er Anna so bloßstellte, doch überwältigte ihn ein tiefes Verlangen nach Zuspruch. Am liebsten hätte er sich auf der Stelle in Gails sanfte, sonnengebräunte Arme geschmiegt. Als hätte sie seine Gedanken gelesen, legte Gail plötzlich eine Hand auf seinen Unterarm. Thomas starrte auf ihre Finger. »Als Paul am Freitag zu uns kam …«, begann er. Er schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn. »Er sieht dem kleinen Jungen, den ich kannte, kein bißchen ähnlich.« Er gab sich alle Mühe, die in ihm aufsteigende Verzweiflung zu unterdrücken. »Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Er ist mir einfach so unendlich fremd.« Gail neigte den Kopf leicht zur Seite. »Die letzten Tage müssen eine wahre Tortur für Sie gewesen sein, nicht wahr?« Thomas schwieg eine Weile. Dann schüttelte er unwillig den Kopf. »Ich fürchte, mit mir ist heute nicht viel anzufangen«, sagte er. Er trank den Wein aus und stellte das Glas auf den Tisch. »Ich fahre dann wieder ins Hotel.« Gail stellte ihr Glas neben seines und rückte ein Stück zu ihm heran. Als sie sich zu ihm beugte, sah er ihre nackten Brüste unter dem Kleid. »Sie müssen nicht im Hotel übernachten«, sagte sie. Thomas sah ihr in die Augen. Sie waren dunkel, tief und voller Anteilnahme. 194
»Ich bin froh, daß Sie angerufen haben«, sagte sie leise. Thomas schloß die Augen und schluckte. Obwohl die Klimaanlage auf Hochtouren lief, war ihm plötzlich heiß wie selten. Ihre Finger schienen sich in seine Haut zu brennen. Mit einem Aufstöhnen nahm er sie in die Arme. Anna tastete über den Quilt nach Thomas’ vertrautem Körper und wachte plötzlich auf; ihre Finger umklammerten ein gemustertes Stück Stoff. Sie wandte den Kopf und warf einen Blick auf die unbenutzte Decke neben sich. Die Sonne tat ihr in den Augen weh, nachdem sie die halbe Nacht Tränen des Zorns vergossen hatte. Wenigstens war die grauenhafte Nacht nun vorbei. Anna ließ sich wieder zurücksinken und starrte an die Decke. Thomas’ Worte gingen ihr immer noch nach; sie konnte nicht vergessen, mit welcher Gefühlskälte er von seinem Sohn gesprochen hatte. Doch nun, da der Morgen angebrochen war und sie tatsächlich ein paar Stunden Schlaf gefunden hatte, war sie eher fassungslos als wütend. Schon seit Jahren war ihr klar gewesen, daß Thomas die Hoffnung aufgegeben hatte. Doch die Hoffnung aufzugeben war etwas anderes, als sein eigenes Kind mit solcher Vehemenz abzulehnen. So hatte sie ihn nie zuvor erlebt; ihr war, als hätte sie ihn nie richtig gekannt. Sie versuchte sich zu erinnern, ab welchem Zeitpunkt ihr seine wahren Gefühle verborgen geblieben waren. In dem Jahr nach Pauls Entführung und dem Verlust ihres Babys war sie oft mitten in der Nacht schweißgebadet hochgeschreckt; ein unendliches Gefühl der Trauer drohte sie gleichsam zu ersticken. Thomas war dann ebenfalls aufgewacht, als habe er gespürt, daß sie ihn just in dem Moment brauchte; stets hatte er sie in die Arme genommen, ihren angespannten, schlaflosen Körper an sich gedrückt. Er wollte sie trösten, doch spürte sie stets, daß ihn ihr tränenloser Gram beklommen 195
machte, weshalb sie seine Umarmungen wie eine zusätzliche Bürde empfand. Eines Morgens sprach sie mit ihm darüber. Auch danach versuchte er ihr Trost zu spenden, wenn sie nachts erwachte, doch nun ergriff er nur noch ihre Hand, und nach einer Weile vermied er es schließlich, sie überhaupt zu berühren; er lag dann da und starrte ins Dunkel, ohne ihr Beistand leisten oder selbst Schlaf finden zu können. Von einem Arzt ließ er sich Schlaftabletten verschreiben. Von da an wachte sie nachts allein auf. Tatsächlich war sie sogar erleichtert, allein ihren Gedanken nachhängen zu können, nicht auf seine unausgesprochenen Ängste reagieren zu müssen. Gleichgültig sah sie ihn an, während er neben ihr schlief wie ein erschöpfter Soldat, mit dunklen Augenringen und offenem Mund. Wann hatte er die Hoffnung aufgegeben, daß Paul eines Tages zurückkehren würde? Damals, als er angefangen hatte, Schlaftabletten zu nehmen? Sie hingegen hatte noch viele schlaflose Nächte ohne seinen Zuspruch verbracht. Es hatte lange gedauert, bis sie wieder ein wenig inneren Frieden gefunden und schließlich sogar wieder mit ihm geschlafen hatte. Mit der Zeit fand ihr Leben allmählich in die Bahnen des Alltags zurück, und sie vermieden es, je über ihre Probleme zu sprechen. Es gab so unendlich vieles, was sie stets ausgeklammert hatten, tausend Dinge, die zu heikel erschienen, um sie zur Sprache zu bringen. Nun fragte sich Anna, ob sie je darüber reden würden. Ihr Hals schmerzte, als würde ihr der bloße Gedanke die Kehle zuschnüren. Eins nach dem anderen, sagte sie sich. Oberste Priorität hatte zunächst, daß sie mit Paul zum Arzt fuhr, und genau das würde sie heute tun. Inzwischen war sie überzeugt, daß er eine ernste Krankheit hatte, und sosehr sie sich auch vor der Diagnose fürchtete, wollte sie endlich Klarheit haben. Im Grunde war sie fast dankbar, eine so dringliche Obliegenheit in Angriff nehmen zu müssen. Das zwang sie zum Aufstehen. 196
Sie rappelte sich auf und zog sich das Nachthemd aus. Sie nahm den Bademantel vom Haken, ging ins Bad und duschte. Das warme Wasser tat richtig gut, und sie dachte, wie wenig es doch bedurfte, jemandes Lebensgeister zu wecken. Sie erinnerte sich an die Tage nach Pauls Entführung und dem Verlust ihres ungeborenen dritten Kindes. Damals hatte sie sich auf die kleinen Freuden des Lebens zu konzentrieren versucht – eine schön geformte Muschel, die sie am Strand gefunden hatte, frische Wäsche, ein Eiszapfen an der Veranda, der langsam in der Sonne schmolz. Diese kleinen Dinge hatten ihr zuweilen Tränen in die Augen getrieben, sie aber stets auch daran erinnert, daß sie am Leben war. Die Trauer hatte sie gelähmt, aber nicht umgebracht. Während sie sich langsam ankleidete, kam ihr einmal mehr in den Sinn, daß diese Tage nun endgültig der Vergangenheit angehörten – seit jener Stunde, als sie erfahren hatte, daß Paul nach Hause zurückkehren würde. Sie hatte immer daran geglaubt. Als sie das Schlafzimmer verließ, sah sie, daß die Türen zu Tracys und Pauls Zimmern noch geschlossen waren. Auf Zehenspitzen ging sie die Treppe hinunter, um die beiden nicht zu stören. Irgendwie kam es ihr so vor, als hätte Paul Angst vor dem Arztbesuch, auch wenn er nichts dergleichen gesagt hatte. Was Tracy anging, fürchtete sich Anna ein wenig davor, ihr zu erklären, daß Thomas seine Sachen gepackt hatte; sie war schon immer mehr Papas Mädchen gewesen. Sie wünschte, sie hätte sich ein wenig ausgeschlafener gefühlt. Anna ging in die Küche und deckte den Frühstückstisch. Unwillkürlich fragte sie sich, ob Thomas überhaupt richtig gefrühstückt hatte; für sich selbst zu sorgen, hatte nie zu seinen Stärken gehört. Wahrscheinlich aß er ein Doughnut am Schreibtisch und trank schwarzen Kaffee, bis ihm die Hände zitterten. Obwohl sie zugeben mußte, daß er ihre Arbeit im Haushalt nie als selbstverständlich hingenommen hatte. Anna seufzte und füllte Milch in einen Krug. 197
»Mom?« Als Anna sich umwandte, erblickte sie Tracy, die in T-Shirt und Jogging-Shorts in der Küchentür stand. Seit Sonntagabend hatten sie nicht viele Worte gewechselt, doch nach all den Anschuldigungen, mit denen sie ihre Mutter überhäuft hatte, schien ihr Zorn allmählich zu verebben, so wie ein Fieber nach dem Höhepunkt einer Infektion langsam abklingt. Anna spürte die unheilvolle Gewißheit in sich aufsteigen, daß sich die Fronten nur noch weiter verhärten würden, sobald Tracy erfuhr, was passiert war. Sie stellte den Milchkrug auf den Tisch und steckte zwei Schnitten Brot in den Toaster. »Hallo, Schatz. Wann bist du denn aufgestanden? Ich hab dich gar nicht gehört.« »Gerade eben«, sagte Tracy. »Wo ist Daddy?« Mit der Tür ins Haus, dachte Anna. Sie gab einen Seufzer von sich. »Er ist nicht da.« Tracy nahm sich eine Orange aus der Schale, die auf dem Tisch stand, und begann sie zu schälen. »Mußte er denn so früh weg?« fragte sie, während sie ihre Mutter skeptisch beäugte. Anna konnte geradezu spüren, wie sich jedes einzelne Härchen an Tracys Körper aufstellte. Offenbar hatte sie instinktiv gespürt, daß etwas nicht in Ordnung war. Anna fragte sich, wie ihre Tochter wittern konnte, daß etwas vorgefallen war, und sie mußte sich schweren Herzens eingestehen, daß Tracy von frühester Kindheit an mit Unheil konfrontiert gewesen war – offenbar hatte sie so etwas wie einen siebten Sinn entwickelt für Situationen, in denen irgend etwas nicht stimmte. Es hatte keinen Zweck, die Wahrheit vor ihr verbergen zu wollen. Zögernd setzte sich Anna und legte die Hände auf den Küchentisch. Sie wußte nicht genau, wie sie anfangen sollte. Tracy ersparte ihr die Mühe. »Was ist denn los?« fragte sie knapp, doch Anna hörte ein leises Beben in ihrer Stimme.
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»Tracy … Daddy und ich haben uns letzte Nacht gestritten. Deshalb hat er beschlossen, für ein paar Tage wegzugehen.« »Was willst du damit sagen?« fragte Tracy. »Daß er ausgezogen ist?« Anna war versucht, es zu leugnen. Dann ließ sie die Schultern sinken und nickte. »Für eine Weile.« »Für eine Weile?« Tracy spie die Worte geradezu aus. »Wann kommt er wieder nach Hause?« Anna schwieg ein paar Sekunden. »Ich weiß es nicht«, erwiderte sie dann. Tracy spuckte ein Stückchen Orange in ihre Hand. »Du meinst, er kommt überhaupt nicht mehr zurück?« »Ich weiß es nicht, Tracy.« »Er ist einfach so abgehauen? Ohne mir auf Wiedersehen zu sagen?« »Du hast schon geschlafen. Er wollte dich nicht wecken. Du siehst ihn bestimmt bald wieder, Tracy. Es hat nichts mit dir zu tun.« »Was hast du gemacht?« fuhr Tracy sie an. »Ich halte das nicht mehr aus!« Mit einer ärgerlichen Geste wischte sie sich die Tränen weg, die ihr plötzlich in die Augen traten. Niedergeschlagen sah Anna ihre Tochter an, die sich mit aller Macht dagegen wehrte, ihre Gefühle zu zeigen. Was habe ich dir nur angetan, dachte Anna. »Es tut mir leid, Tracy«, sagte sie dann. »Ich weiß, wie sehr du an Daddy hängst. Aber auch wenn du jetzt mir die Schuld gibst – ich habe nur getan, was jede Mutter tun würde, und ich würde immer wieder so handeln. Ich möchte nur, daß dein Vater das auch begreift … Und wenn nicht, dann weiß ich auch nicht weiter.« »Getan? Was denn? So einfach zieht Daddy doch nicht von einer Minute auf die andere aus!« 199
Anna überlegte, ob sie einfach sagen sollte, daß es eine Sache zwischen ihr und Thomas war. Sie hatte es schlicht satt, dauernd von ihrer Tochter unter die Nase gerieben zu bekommen, daß sie an allem schuld war. Aber vielleicht hatten sie sowieso schon über zu viele Dinge geschwiegen. Anna holte tief Luft. »Dein Vater war wütend auf mich. Weil ich gestern zu dem Motel rausgefahren bin.« »Weil du diesen Kerl aufgespürt hast?« »Nein. Weil ich mit ihm reden wollte. Weil ich es auf eigene Faust getan habe, ohne vorher mit deinem Vater darüber zu sprechen. Du hast gestern ja alles mitbekommen.« »Ja, ich hab’s gehört«, gab Tracy zurück. »Du hast dich mit ihm getroffen, weil er dir was über Paul erzählen wollte.« »Ja«, sagte Anna. »Ich wußte, daß nach ihm gefahndet wurde, aber davon konnte ich mich nicht abhalten lassen. Er wollte Geld für seine Informationen, und deswegen habe ich ein paar hundert Dollar von der Bank geholt – ohne deinem Vater etwas davon zu sagen.« »Und jetzt ist er sauer wegen dem Geld.« »Nein, Schatz. Er wirft mir vor, verantwortungslos gehandelt zu haben. Er meint, ich hätte keine Rücksicht auf seine Gefühle genommen, ebensowenig wie auf deine. Daß ich völlig egoistisch gehandelt hätte, ohne auch nur einen Gedanken an euch beide zu verschwenden. Das ist nicht wahr, aber er will mir einfach nicht glauben.« Nachdenklich lutschte Tracy ein weiteres Stück Orange aus. »Ich kapier’s echt nicht.« Anna warf ihr einen fragenden Blick zu. »Na ja«, sagte Tracy, »hätten wir etwa mitkommen sollen? Wie hätte das denn gehen sollen?« »Nein. Daddy meint, es hätte etwas Unvorhergesehenes passieren können. Was, wenn Rambo mir etwas angetan hätte?« 200
Anna zögerte. »Er meint, ich hätte mich in tödliche Gefahr begeben … Und das alles nur wegen Paul.« Tracy nickte und spuckte einen Orangenkern aus. Nachdem sie ihn beiseite gelegt hatte, wischte sie sich die Finger an ihrem TShirt ab. »Schon klar. Aber du mußtest doch herausfinden, was er über Paul wußte«, sagte sie. Einen Augenblick war Anna völlig perplex. Mit offenem Mund starrte sie Tracy an. Dann biß sie sich auf die Unterlippe. »Ja«, sagte sie, »genau darum ging es mir.« Sie wollte weitersprechen, hielt dann aber inne, um das fragile Einvernehmen nicht durch endlose Erklärungen aus dem Gleichgewicht zu bringen. Tracy ließ sich auf den Stuhl neben ihr fallen und stützte den Kopf in die Hände. »Was für eine Scheiße«, murmelte sie. Anna legte eine Hand auf Tracys Rücken und streichelte sie in kreisenden Bewegungen. Tracy ließ es regungslos geschehen. »Alles wird wieder gut«, versicherte Anna ihr leise. »Er braucht nur ein wenig Zeit, um alles zu verstehen.« Mit einem Mal klang sie völlig überzeugt. »Mach dir keine Sorgen. Du wirst schon sehen.« Als Edward den morgendlichen Pendlerzug bestieg, war ihm, als träte er ins Fegefeuer ein. Er keuchte und trat unwillkürlich einen Schritt zurück, als ihm ein brühwarmer Hitzeschwall entgegenschlug. Hinter ihm kam die Schlange der aktentaschenbewehrten Pendler ins Stocken; ein paar Unmutslaute wurden hörbar. Ein Schaffner in blauer Uniform kam durch den Mittelgang und bellte: »Weitergehen, bitte! Vorsicht, die Türen schließen.« Edward blieb wie angewurzelt stehen und musterte den Schaffner mit finsterem Blick, während sich die anderen Männer murrend an ihm vorbeischoben. Der Schaffner sah Edward an und schüttelte den Kopf. »Ich verstehe Sie ja«, sagte er 201
gelangweilt. »Aber da kann man nichts machen. Der ganze Zug ist wie ’ne Sauna.« Edward war höchst verärgert darüber, daß der Schaffner den Ausfall der Klimaanlage so beiläufig abtat; es war ihm offenbar völlig gleichgültig. Leise fluchend begab sich Edward an einen Fensterplatz und zog sich das Jackett aus. Die Hitze war schier unerträglich. Er hätte sich ein Taxi nehmen sollen. Zu spät, dachte er. Instinktiv hielt er das Jackett außer Reichweite und strich es glatt, als sich ein Mann schnaufend auf dem Platz neben ihm niederließ. Sorgfältig legte Edward das Jackett zusammen, ehe er einen Blick zu seinem Sitznachbarn hinüberwarf; um ein Haar hätte er entnervt aufgestöhnt, als er Harold Stern erkannte, ein Mitglied des Country-Clubs. Harold besaß eine Warenhauskette und gehörte Edwards Meinung nach nicht in den erlauchten Kreis des Clubs. Edward wandte sich wieder ab und tat so, als hätte er ihn nicht bemerkt. »Hallo, Edward«, sagte Harold, ohne sich weiter um Edwards Unhöflichkeit zu kümmern. »Ganz schön heiß heute, was?« Mit einem humorlosen Lächeln pflichtete Edward ihm bei. Einen Augenblick lang saßen die beiden schweigend nebeneinander. »He«, sagte Harold, als Edward das Wall Street Journal zur Hand nahm und aufschlug. »Unglaublich, diese Sache mit den Langes, oder? Du bist doch gut mit ihnen befreundet, nicht wahr?« Edward nickte herablassend. »Wir pflegen gute Nachbarschaft. Sehr erfreulich, daß man den Jungen nach all den Jahren endlich gefunden hat.« »Und dann findet seine Mutter gestern auch noch den Kidnapper. Er soll Selbstmord begangen haben. Eine furchtbare Sache.« »Anna hat … den Entführer des Jungen gefunden?« 202
»Meine Frau hat es gestern abend im Radio gehört.« Edward brach der kalte Schweiß aus. »Ich verstehe kein Wort. Woher wußte Anna denn, daß …« »Keine Ahnung. Aber wahrscheinlich steht was in der Morgenzeitung, so sensationsgeil, wie die Reporter sind.« Harold öffnete seinen Aktenkoffer und förderte die Daily News zutage. »Habe ich gerade eben am Bahnhof gekauft. Meine Frau will heute abend alles in Ruhe nachlesen.« Gebannt sah Edward zu, wie sein Sitznachbar das Revolverblatt aufschlug. »Hier ist es«, dröhnte Harold. »Seite drei.« »Laß mal sehen«, sagte Edward. »Momentchen«, gab Harold zurück. Er runzelte die Stirn, während er den Artikel überflog. »Jetzt gib endlich her«, herrschte Edward ihn mit schriller Stimme an. Verdutzt sah Harold auf. »Die Langes sind Freunde von uns. Ich mache mir Sorgen«, erklärte Edward, während er Harold die Zeitung entwand. Er überflog hastig den Artikel, dessen oberflächliche Informationen ihn nur noch nervöser machten. Edward wurde blaß und blasser, während die Buchstaben ihm förmlich in die Augen sprangen. Einen Augenblick lang kam ihm die Schreckensvision, daß in Grand Central Station bereits eine Phalanx von Polizisten auf ihn wartete. Sein Herz hämmerte so laut, daß es ihm vorkam, als könne man es im ganzen Waggon hören. Harold musterte Edward von der Seite. »Du meine Güte«, sagte er. »Du bist ja kreidebleich. Alles in Ordnung mit dir?« Edward hielt die Zeitung, als wolle er sie zerknüllen; seine Finger waren fleckig von der Druckerschwärze. »Alles okay. Das sind ja schreckliche Nachrichten«, murmelte er.
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»Na, könnte schlimmer sein. Ist ja niemand zu Schaden gekommen. Außer diesem Verrückten natürlich.« »Unerträglich, diese Hitze«, sagte Edward, gab Harold die Zeitung zurück und sah zum Fenster hinaus. Wie in aller Welt hatte Anna den Mistkerl aufgespürt? Anscheinend hatte er irgendwie Kontakt mit ihr aufgenommen. Und was hatte er ihr verraten? Er mußte sofort zurück, um herauszufinden, was geschehen war. Er würde in Grand Central gleich den nächsten Zug zurück nehmen. Immer vorausgesetzt, daß die Polizei dort nicht bereits auf ihn wartete.
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13 Das Telefon klingelte, und Anna sah nervös auf, während die Sprechstundenhilfe abnahm und sich in dezentem Ton meldete. In einer Ecke hockten zwei kleine rotblonde Mädchen in adretten Kleidchen mit konzentrierten Mienen über einem Puzzle. Neben ihnen saß ein rothaariger Mann in Khakihose und Lacoste-Hemd, der auf seine Uhr und dann zur offenen Tür blickte. Am Fenster saß eine korpulente Frau in einem geblümten Kleid und blätterte in einer Zeitschrift; ab und zu sah sie ebenfalls zur Tür. Anna seufzte. Seit geschlagenen vierzig Minuten befand sich Paul nun schon im Sprechzimmer ihres Hausarztes. Sie fragte sich, was Dr. Derwent alles mit ihm anstellte. »Mrs. Lange«, rief die Sprechstundenhilfe, während sie den Hörer zurück auf die Gabel legte. »Der Doktor möchte Sie kurz sprechen.« Anna lächelte matt und erhob sich; ihre Beine fühlten sich taub an. Das eine Mädchen in der Ecke begann plötzlich zu weinen. Anna klopfte an und betrat das Sprechzimmer; überall an den Wänden waren Bücherregale und gerahmte Urkunden. Angespannt nahm sie auf dem schwarzen Ledersessel vor dem Schreibtisch Platz und wartete. Kurz darauf öffnete sich die Tür des angrenzenden Zimmers. Der Doktor musterte sie durch seine Brille und drückte ihre Schulter, bevor er sich ihr gegenübersetzte. »Paul kommt sofort, Anna«, sagte er. »Er zieht sich gerade an.« Vergebens versuchte Anna, etwas aus der Miene des Arztes herauszulesen. »Was haben Sie herausgefunden?« fragte sie, während sie sich innerlich auf das Schlimmste einstellte.
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Dr. Derwent lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Nun, ich habe eine ganze Reihe von Tests durchgeführt. Die meisten Ergebnisse haben wir natürlich erst in ein paar Tagen.« Anna verschränkte die Hände. »Verstehe.« »Aber soweit ich es beurteilen kann, brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.« Ungläubig weiteten sich Annas Augen. »Es ist alles in Ordnung?« flüsterte sie. Der Doktor hob eine Hand. »Wie Sie wissen, bin ich kein Spezialist auf diesem Gebiet. Dennoch kann man einen Gehirntumor oft schon erkennen, indem man sich die Augen des Patienten ansieht und seine Reflexe testet. Dabei habe ich nichts Auffälliges gefunden. Wir schicken seine Blutwerte ins Labor, und es muß noch ein EEG gemacht werden. Alles, was ich untersucht habe, ist völlig normal. Vielleicht sollte ich Ihnen das lieber nicht sagen, solange nicht die endgültigen Ergebnisse vorliegen, aber ich denke, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.« »Aber woher kommen dann diese Kopfschmerzen und die Übelkeitsanfälle?« fragte Anna. »Ich habe Ihnen ja erzählt, daß er ohnmächtig geworden ist.« »Für Kopfschmerzen kann es eine Vielzahl von Ursachen geben, die nicht organisch bedingt sind, Anna. Der Junge war großem Streß ausgesetzt. Er ist schlicht erschöpft und braucht ein wenig Ruhe.« »Er hat Alpträume«, sagte sie. »Ich kann ihm etwas verschreiben, das ihm beim Schlafen hilft. Auf jeden Fall sollten Sie morgen mit ihm ins Krankenhaus fahren und dort die anderen Untersuchungen durchführen lassen.« »Langsam bin ich völlig ratlos.«
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»Suchen Sie einen Spezialisten auf, wenn Sie das beruhigt. Ich kann Ihnen jemanden empfehlen, wenn Sie wollen. Aber offen gesagt bin ich mir ziemlich sicher, was den Gesundheitszustand Ihres Sohns angeht.« Anna schüttelte den Kopf und brachte ein schiefes Lächeln zustande. »Ich kann gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin, Doktor. Mir fällt wirklich ein Stein vom Herzen.« Dr. Derwent lächelte ebenfalls. »Und ich freue mich, daß ich Ihre Befürchtungen zerstreuen konnte.« Etwas zittrig erhob sich Anna. »Die anderen Untersuchungen werden auf jeden Fall gemacht.« »Anna«, sagte der Doktor, während er ebenfalls aufstand, »vielleicht sollten Sie einen Psychologen aufsuchen. Es könnte sich um eine emotionale Störung handeln. Was angesichts Pauls momentaner Situation nun wirklich kein Wunder wäre.« »Das habe ich schon zu Tom gesagt, noch bevor Paul wieder zu Hause war«, antwortete sie. »Aber er war nicht begeistert von der Idee. Er meinte, wir sollten uns einfach ganz normal verhalten und uns nicht von irgendwem reinreden lassen.« »Sprechen Sie noch mal mit ihm«, sagte der Doktor. »Sie können sich ja auf mich berufen.« Anna nickte; daß Tom zu Hause ausgezogen war, wollte sie lieber nicht erwähnen. Irgendwie war ihr leicht schwindlig, als sie ins Wartezimmer zurückging. Alles in Ordnung. Er scheint kerngesund zu sein. Anna wollte der unerwarteten Diagnose wirklich Glauben schenken, doch gleichzeitig fühlte sie sich wie gelähmt. Sie hatte sich auf das Schlimmste gefaßt gemacht, um nicht die Nerven zu verlieren und vor dem Doktor in Ohnmacht zu fallen. Nachdem sie all die Jahre der Ungewißheit überstanden hatte, wollte sie sich keine derartige Blöße geben.
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Alles ist in Ordnung, sagte sie sich. Er hat keinen Gehirntumor. Du hast dich so sehr auf das Schlimmste eingestellt, daß du die guten Neuigkeiten schlicht nicht begreifen kannst. Sie merkte, daß die anderen Patienten im Wartezimmer sie neugierig musterten. Sie zwang ein Lächeln auf ihre Lippen, als wolle sie den anderen Wartenden zeigen, daß sie sich über die frohe Kunde von ganzem Herzen freute. Wie wunderbar, sagte sie sich. Ihm fehlt nichts, überhaupt nichts. Es ist vorbei, es gibt keinen Anlaß zu Befürchtungen mehr. Einen Augenblick lang fragte sie sich, ob Thomas womöglich doch recht hatte mit seinen Vorwürfen. Vielleicht wollte sie ja in Angst leben, weil ihr die Furcht zur zweiten Natur geworden war. Vielleicht waren ihr die permanenten Sorgen ja tatsächlich zu einer Lebenseinstellung geworden, ohne die sie nicht mehr existieren konnte. Nach dem, was sie eben erfahren hatte, hätte sie doch eigentlich vor Freude jauchzen müssen. Und bei diesem Gedanken durchströmte sie endlich doch so etwas wie ein Glücksgefühl, ein winziger Anflug von Erleichterung. Komm, du mußt es einfach erst richtig begreifen, sagte sie sich. Die Euphorie wird sich schon noch einstellen. Sie würde erst einmal mit Paul ins Kino gehen oder sonst etwas mit ihm unternehmen, wonach ihm der Sinn stand. Aber wenn er nicht krank war – wieso hatte Rambo dann gesagt, daß Gefahr für sein Leben bestand? »Hi«, sagte eine leise Stimme. Als Anna herumfuhr, blickte sie in das unbewegte Gesicht ihres Sohnes. »Paul!« platzte sie heraus. »Wie geht es dir?« »Alles okay«, sagte er. »Können wir jetzt gehen?« Thomas ließ den Blick über eine Reihe pastellfarbener Seidenkrawatten wandern. Er nahm eine zwischen Daumen und Zeigefinger, ließ sie wieder los und wandte sich ab. 208
Er stand zwischen zwei Glasvitrinen; Frauen mit Einkaufstüten eilten an ihm vorbei. Er blickte auf zu der vergoldeten Uhr über den Aufzügen und überlegte, wieviel Minuten ihm noch blieben, bis seine Mittagspause vorüber war, doch die Ziffern der Uhr schienen ihm ein Rätsel; er fühlte sich wie ein Schlafwandler. Eine energisch dreinblickende junge Frau in einem olivfarbenen Hosenanzug drängte sich an ihm vorbei, wobei sie verärgert »Sie entschuldigen?« murmelte. Der Hauch ihres Parfums hing in der Luft, während sie davonging. Thomas erkannte den Duft sofort. Es war das Parfum, das er Anna vor ein paar Jahren zum Hochzeitstag geschenkt hatte; sie trug es immer bei besonderen Anlässen. »Hier, die sieht gut aus.« Gail war zu ihm getreten und nahm eine braungestreifte Seidenkrawatte in Augenschein. Sie bemerkte Thomas’ verwirrten Gesichtsausdruck und lächelte. »Was ist denn mit dir los? Du siehst ja aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.« »Es ist bloß so voll hier.« »Immer das gleiche um die Mittagszeit«, erwiderte sie. »Laß uns gehen«, sagte er. »Was ist mit der Krawatte? Du hast doch gesagt, du bräuchtest eine, die zu deinem grauen Anzug paßt.« Thomas hob die Schultern. »Anscheinend war ich mit den Gedanken völlig woanders, als ich meine Sachen gepackt habe.« Beim Anblick seines geistesabwesenden Gesichts verspürte Gail ein unangenehmes Gefühl in der Magengrube. Sie hob die Krawatte, die sie in der Hand hielt. »Also, wie wär’s mit der hier? Ich finde sie genau richtig.« Ohne große Begeisterung betrachtete Thomas die Krawatte. »Ja. Sieht gut aus. Laß uns zur Kasse gehen, und dann nichts wie raus hier.« Er wollte seine Brieftasche hervorholen, doch Gail bedeutete ihm, sie steckenzulassen. 209
»Das übernehme ich«, sagte sie munter. »Ein kleines Geschenk für dich.« Ein flüchtiges Lächeln erschien auf Thomas’ Miene. »Geh ruhig schon mal vor«, sagte sie. »Danke«, sagte er. »Ich warte vor der Kirche auf dich.« Er sah ihr hinterher, wie sie sich an der Kasse anstellte, wo eine altjüngferlich gekleidete Verkäuferin, die ihre Brille an einer Kette um den Hals trug, gerade ins Telefon sprach. Er bahnte sich seinen Weg zum Ausgang und trat schließlich durch die Drehtür hinaus auf die Fifth Avenue. Auf der Straße herrschte fast ebenso ein Gedränge wie im Kaufhaus; dennoch gab er einen erleichterten Seufzer von sich. Tief sog er die schwüle Sommerluft ein, in der sich der Geruch warmer Brezeln mit den Abgasen der Autos vermischte. Thomas überquerte die Straße, ging hinüber zur St. Patrick’s Cathedral und setzte sich auf die Stufen. Unweit entfernt standen ein paar Leute um einen schwarzen Zocker mit roter Strickmütze, der ihnen das Geld beim Kartenspiel aus der Tasche zog. Hinter ihm posierte eine Latino-Familie, um sich vor dem prächtigen Kirchenportal knipsen zu lassen. Thomas richtete den Blick wieder nach vorn und starrte gedankenverloren über die Straße. Wahrscheinlich waren Anna und Paul inzwischen zurück vom Arzt. Zu seiner eigenen Überraschung hatte er sich den ganzen Morgen wieder und wieder gefragt, was wohl bei den Untersuchungen herauskommen mochte. Der Gedanke, daß Anna jetzt womöglich allein mit einer Hiobsbotschaft fertig werden mußte, gefiel ihm nicht. Sein schlechtes Gewissen meldete sich, als er unwillkürlich daran denken mußte, daß Anna letzte Nacht wahrscheinlich kein Auge zugetan hatte; er sah sie vor sich, mit dunklen Rändern um die Augen, zu Tode erschöpft. Du wolltest ihr einen Denkzettel verpassen, erinnerte er sich. Und letzte Nacht war er auch der Meinung gewesen, daß es dringend Zeit 210
war, daß Anna endlich zur Besinnung kam. Am Morgen aber hatte er bereits wieder das Gefühl gehabt, sie beschützen zu müssen. Er öffnete den Aktenkoffer, nahm sein Handy heraus und hielt es unschlüssig in der Hand. Vielleicht sollte er Anna einfach kurz anrufen und nachfragen, zu welcher Diagnose der Arzt gekommen war. Im selben Moment sah er aus dem Augenwinkel, wie Gail die Straße überquerte. Unter ihrem Arm hielt sie eine flache Schachtel, in der Hand eine Riesenbrezel, von der sie gerade ein Stück abbrach. Thomas legte das Handy zurück in den Aktenkoffer. Falls Gail das Handy in seiner Hand gesehen hatte, ließ sie jedenfalls kein Wort darüber verlauten. Sie hielt ihm die Brezel hin, aber Thomas schüttelte den Kopf. »Diese Verkäuferin war wirklich das Allerletzte«, erklärte Gail. »Ich dachte schon, die hört überhaupt nicht mehr auf zu telefonieren!« Thomas nickte. »Aber Beharrlichkeit führt schließlich doch ans Ziel, wie ich sehe.« Gail reichte ihm die Schachtel. Ungeduldig klopfte er damit gegen seinen Oberschenkel. »Ich glaube, wir sollten uns auf die Socken machen«, sagte er. Gail nickte. Zusammen gingen sie die Stufen hinunter. Er spürte, wie sie ihn von der Seite musterte, aus seiner Miene herauszulesen versuchte, wie ihm der kleine Ausflug in die Stadt gefallen hatte. Er wollte sie nicht verletzen, doch gelang es ihm einfach nicht, die düstere Stimmung abzuschütteln, die ihn überkommen hatte. Nicht gerade das, was man sich bei einem Mann, der mit seiner neuen Geliebten unterwegs war, vorstellte. »Bei mir um die Ecke gibt’s einen gemütlichen kleinen Italiener«, sagte Gail. »Na, wär das was für heute abend?« »Hört sich gut an.« Er gab sich alle Mühe, begeistert zu klingen. 211
Gails Absätze klapperten auf dem Pflaster. Auf ihrem Weg kamen sie an einem Abfallkorb vorbei; mit einer schwungvollen Handbewegung warf sie den Rest der Brezel aus gut anderthalb Metern genau ins Ziel. Thomas drückte ihren Arm und lächelte. »Jahrelanges Basketballtraining«, gab sie zu. Thomas schüttelte den Kopf. »Unglaublich«, sagte er. »Gibt’s eigentlich irgendwas, das du nicht kannst?« Gail sagte nichts, warf ihm aber ein fröhliches, unkompliziertes Lächeln zu, während sie sich bei ihm einhakte und die Finger fest um seinen Unterarm schloß. »Dutzi, dutzi, du«, gurrte der stolze Großvater, während die Fensterscheibe unter seinem Atem beschlug. Gus DeBlakey strahlte über das ganze Gesicht; er winkte dem Säugling zu, den die mit einem Mundschutz bewehrte Krankenschwester auf der anderen Seite der Scheibe hochhielt. Er konnte gedämpft die Schreie der anderen Babys hören, die in ihren Bettchen die kleinen Fäuste ballten und mit den Füßen strampelten. Gus’ Enkelsohn blinzelte und gähnte, gab aber keinen Ton von sich, während ihn die Schwester vorzeigte. »Was für ein hübscher kleiner Bursche du bist«, säuselte Gus, ein verzücktes Lächeln auf den Lippen, während sich tausend Fältchen um seine Augen bildeten. »Ja, wirklich. Ein kleiner Engel bist du, ein süßer kleiner Engel.« »Mr. DeBlakey?« Gus wandte sich zögernd um und musterte den gutaussehenden, elegant gekleideten Mann, der vor ihm stand. »Das bin ich«, sagte er. »Na, ist eins von den Kerlchen Ihres?« Buddy Ferraro schüttelte den Kopf. Gus DeBlakey warf noch einen letzten Blick durch die Scheibe, während die Schwester
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das Baby wieder in sein Bettchen legte. Sobald er dort lag, stimmte der Säugling ins Geschrei der anderen ein. »Hier, gönnen Sie sich mal eine zur Feier des Tages«, sagte Gus, griff in seine Brusttasche und fischte eine Zigarre heraus. »Sein Daddy ist mit dem Truck auf Achse, also muß Großpapa die Honneurs machen.« Buddy nahm die Zigarre und ließ sie in seiner Jackentasche verschwinden. »Tut mir leid, Sie zu stören, aber ich würde gern ein paar Takte mit Ihnen reden, Mr. DeBlakey.« Gus preßte die Lippen zusammen. »Schon wieder Polizei«, sagte er kopfschüttelnd. »Ich komme gerade von Ihrem Motel. Das Zimmermädchen hat mir gesagt, wo ich Sie finde.« »Oh, Mann«, sagte Gus DeBlakey, biß die Zigarrenspitze ab und spuckte sie in die Handfläche. »Das hört wohl nie auf mit diesem Rambo. Was für eine üble Geschichte.« »Das kann man wohl sagen«, pflichtete Buddy ihm bei. Gus warf einen sehnsüchtigen Blick zurück zu den Babys in ihren Bettchen. Es dauerte einen Moment, bis er seinen Enkel zwischen den anderen Säuglingen wiederentdeckt hatte. »Ist er nicht süß?« fragte er. »Hübsches Kerlchen«, sagte Buddy. »Na gut«, sagte Gus. »Kommen Sie. Hier drin ist Rauchen verboten.« Er deutete mit seiner Zigarre Richtung Tür, und die beiden Männer machten sich zum Besucherzimmer auf. »Ich habe euch doch schon alles lang und breit erzählt«, brummte er, doch Buddy hörte aus seinem Tonfall heraus, daß ihm durchaus bewußt war, welch wichtige Rolle er als Zeuge in diesem Fall spielte. »Ich bin nicht von der Polizei in Kingsburgh«, erklärte Buddy. »Ich komme aus Stanwich, dem Wohnort der Langes.«
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»Oh«, sagte Gus kopfschüttelnd. »Nun ja, was wollen Sie denn wissen?« Aber Buddy war sich selbst nicht mehr sicher, was er den Mann überhaupt fragen wollte. Daß Rambo Selbstmord begangen hatte, glaubte er immer noch nicht, und zwar aus zwei Gründen. Zunächst einmal sagte ihm sein Gefühl, daß irgend etwas nicht stimmte. Dazu kam der ein wenig handfestere Umstand, daß Albert Rambo sich erst am selben Tag die Haare gefärbt hatte. Und trotz aller Indizien, die auf Selbstmord hindeuteten, verstand Buddy beim besten Willen nicht, wieso sich jemand – selbst ein Geistesgestörter wie Rambo – erst die Haare färbte und das Färbemittel anschließend auch noch sorgfältig in seinem Koffer verstaute, bevor er sich das Leben nahm. Das eine paßte nicht mit dem anderen zusammen, und Buddy hatte eine schlaflose Nacht hinter sich. Eigentlich wollte er längst auf dem Weg zu Marks College sein, doch er hatte die Fahrt um zwei Stunden verschoben, um dem Gedächtnis des Motelinhabers noch einmal auf die Sprünge zu helfen. »Ich versuche herauszufinden, ob Rambo noch andere Besucher hatte. Haben Sie vielleicht irgend etwas Verdächtiges beobachtet?« »Nein«, erwiderte Gus DeBlakey. »Ich habe niemanden gesehen – außer Anna Lange, aber das wissen Sie ja schon.« »Ist Ihnen ein Wagen aufgefallen, den Sie nicht kannten?« »Hören Sie, Mister«, sagte Gus. »Ich betreibe ein Motel. Da stehen immer irgendwelche Wagen herum, die ich vorher noch nie gesehen habe.« »Und als Sie in seinem Zimmer waren?« bohrte Buddy. »Haben Sie da irgend etwas Ungewöhnliches bemerkt?« »Nichts«, sagte Gus. »Die Polizei hat alles aufgelistet, was dort herumlag. Sie haben alles mitgenommen. Sehen Sie sich doch mal deren Unterlagen an.« Buddy seufzte. »Das habe ich schon.« 214
»Tja.« Gus zuckte mit den Schultern. »Ich wünschte, ich könnte Ihnen weiterhelfen.« »Ich weiß, ich weiß«, sagte Buddy. »Ich hab’s ein bißchen eilig, weil ich meinen Sohn ins College bringen muß, aber ich lasse Ihnen meine Karte da. Auf dem Revier in Stanwich können Sie mir jederzeit eine Nachricht hinterlassen.« Buddy zückte seine Brieftasche und reichte Gus eine Karte, die dieser stirnrunzelnd in Augenschein nahm. »Wenn Ihnen noch irgend etwas einfällt, egal, wie nebensächlich oder blödsinnig es Ihnen erscheinen mag … Rufen Sie mich einfach an, okay?« »Mach ich«, sagte Gus. »Obwohl ich nicht verstehe, warum Sie so ein Trara um diesen Kerl machen, nach all dem, was er dem Jungen angetan hat. Dem weint doch keiner eine Träne nach.« »Ich glaube, ich bin schon so lange hinter ihm her, daß ich einfach nicht so schnell lockerlassen kann«, gab Buddy zurück. Er schüttelte Gus die Hand, und dann war er auch schon auf dem Weg zum Ausgang.
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14 Ein halb gegessenes Thunfischsandwich lag auf dem Teller, daneben die übriggebliebenen Pommes frites. Anna stellte den Teller auf die Anrichte neben der Spüle. Als sie vom Arzt zurückgekommen waren, hatte Paul zuerst gesagt, er habe keinen Hunger, aber als sie ihm dann das Sandwich gemacht hatte, hatte er doch ein bißchen davon gegessen. Danach war er nach oben auf sein Zimmer gegangen. Ich werde schon dafür sorgen, daß du ein bißchen Fleisch auf die Rippen kriegst, dachte Anna. Das nehmen wir als nächstes in Angriff, nachdem wir nun wissen, daß dir körperlich nichts fehlt. Endlich war ihr richtig bewußt geworden, was die Worte des Doktors bedeuteten; selten war sie so froh gewesen. Paul war wohlauf. Sie hatte einen starken, gesunden Sohn, und nun, da Rambo tot war, ging auch von seinem einstigen Kidnapper keine Gefahr mehr aus. Anna lehnte sich an die Spüle und genoß das Gefühl der neugewonnenen Sicherheit. Ihr Sohn hatte nichts mehr zu befürchten. Nun konnte sie endlich ihre Sorgen vergessen, auch wenn Thomas glaubte, Sorgen seien ihr einziger Lebensinhalt. Schluß damit. Es war an der Zeit, ihr Leben zu ordnen und in neue Bahnen zu lenken. Ein leises Geräusch drang an ihre Ohren. Auf Zehenspitzen ging sie durch Eßzimmer und Wohnzimmer zur Treppe und legte die Hand aufs Geländer. Sie lauschte, aber von oben war nichts zu hören. Es geht ihm gut, versicherte sie sich nochmals. Alles kommt wieder in Ordnung. Einen Augenblick lang fragte sie sich, was Thomas wohl zu den Neuigkeiten sagen würde. Plötzlich verspürte sie das dringende Bedürfnis, mit ihm zu reden und ihm die guten Nachrichten mitzuteilen. Sie blieb vor dem Telefon stehen und streckte zögernd die Hand nach dem Hörer aus. Wenn sie den ersten Schritt tat, 216
würde sie ihm damit nicht zuletzt zu verstehen geben, daß sie auch weiterhin mit ihm zusammenbleiben wollte. Im selben Moment aber erinnerte sie sich daran, was er über Paul gesagt hatte: daß er für ihn ein Fremder war. Anna schüttelte den Kopf, wandte sich ab und marschierte in die Küche. Sie trat an die Spüle, nahm den Teller mit den Essensresten und schüttete sie in den Müllzerkleinerer, in dem Essensreste zerhackt und anschließend über das Abflußrohr entsorgt werden konnten. Sie benutzte den Zerhacker nicht gerne; es war ihr stets ein bißchen unheimlich, daß sich in ihrer Spüle eine Maschine befand, die selbst Silberbesteck in Null Komma nichts zermalmen konnte – doch Tom hatte darauf bestanden, als sie vor ein paar Jahren eine neue Kücheneinrichtung gekauft hatten, weil er der Meinung war, daß ihr der Zerhacker die Hausarbeit erleichtern würde. Sie seufzte, drehte den Wasserhahn auf und betätigte den Schalter. Der Müllzerkleinerer fing an zu arbeiten; das dumpfe Dröhnen ließ sie wie üblich leise schaudern. Sie wußte aus eigener Erfahrung, wie eine Gabel aussah, die versehentlich in den Zerhacker gefallen war, und sie wollte sich lieber nicht vorstellen, was die Maschine mit menschlichen Fingern anrichten konnte. Ein Stück Brot fiel ihr ins Auge, das sie vorsichtig in Richtung der Öffnung beförderte, bereit, die Hand abrupt zurückzuziehen, sobald es in den Zerhacker fiel. Plötzlich spürte sie einen Griff um ihre Schulter, der sie in Richtung des Zerhackers zu drängen schien. Erschrocken schrie sie auf, während sie sich instinktiv gegen die Spüle stemmte. Edward Stewart hob entschuldigend die Hände und versuchte den Lärm mit seiner Stimme zu übertönen. Annas Hand zitterte, als sie nach dem Schalter langte und den Zerhacker abstellte. »Edward!« stieß sie hervor und faßte sich an die Brust, als wolle sie ihr rasendes Herz beruhigen. »Ich habe dich gar nicht reinkommen hören.« 217
»Die Tür stand offen.« »Oh.« Sie atmete tief aus. »Ich war völlig in Gedanken versunken. Setz dich doch.« Sie nahm einen Stapel sauberer, frisch gefalteter Geschirrtücher von einem der Küchenstühle und musterte ihren Gast, der einen Anzug trug. Es verblüffte sie, Edward in ihrer Küche zu sehen; es war überhaupt das allererste Mal in all den Jahren ihrer Nachbarschaft, daß Edward ohne offizielle Einladung vorbeikam. »Mußt du heute nicht in die Firma?« fragte sie. »Es gab nichts Wichtiges zu tun, deshalb habe ich mir für den Rest des Tages freigenommen.« Anna nickte, obwohl sie nur zu gut wußte, daß Edward ein Getriebener war, der seine Firma grundsätzlich als letzter verließ. Sie und Tom hatten sich so manches Mal gefragt, wann Iris ihren Mann überhaupt zu sehen bekam. »Anna«, sagte er, »ich wollte mich nur vergewissern, ob alles in Ordnung ist. Mir standen die Haare zu Berge, als ich vorhin die Zeitung gelesen habe. Da stand, Pauls Entführer hätte sich erhängt – und daß du seine Leiche gefunden hast.« Darum geht es also, dachte Anna, ebenso erstaunt wie gerührt über seine Besorgnis. Selbst der stets so reservierte Edward schien vorübergehend aus der Fassung geraten; er entwickelte regelrecht menschliche Züge. »Es war entsetzlich«, sagte sie. »Wie nett von dir, daß du deshalb vorbeikommst.« »Ich … Wir wußten ja nichts davon, daß sich dieses Ungeheuer mit dir in Verbindung gesetzt hat«, sagte Edward. »Was wollte er denn von dir?« Anna rieb sich die Augen. »Oh … Er hat mir auf dem Parkplatz vom Supermarkt aufgelauert. Am Sonntag.« »Am Sonntag«, murmelte Edward, während er kurz zurückrechnete. »Also vor unserer Party.«
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»Es ging um Paul. Er hat gesagt, er befände sich in Gefahr. Und er wollte Geld für seine Informationen.« »O Gott«, sagte Edward. »Ja, genau«, sagte Anna. »Willst du vielleicht etwas trinken? Ein Bier oder ein Mineralwasser?« »Nein, danke«, sagte Edward hastig. »Und das war alles, was du in Erfahrung bringen konntest?« »Ich habe ihn angefleht, mir mehr zu sagen … aber er wollte nicht damit herausrücken.« Edward war so erleichtert, daß er am liebsten lauthals losgelacht hätte, bewahrte aber ernste Miene. »Wieso bist du überhaupt dorthingefahren? Warum hast du nicht einfach die Polizei eingeschaltet?« »Nun ja, um ehrlich zu sein … Weil ich selbst das Gefühl hatte, daß irgend etwas nicht stimmt.« Edward beugte sich schlagartig vor. »Das verstehe ich nicht«, sagte er. »Mit Paul. Es geht ihm nicht gut, wie du ja selbst gesehen hast. Und ich meine nicht nur den Vorfall auf eurer Party. Seit er bei uns ist, hat er schwere Migräneanfälle und Alpträume.« »Das ist ja furchtbar. Und dieser Kerl war also tot, als du ihn aufsuchen wolltest. Er konnte dir nichts mehr sagen.« »Nein«, gab Anna zu. »Es war ein ziemlicher Schock für mich. Aber heute morgen bin ich mit Paul bei Dr. Derwent gewesen. Wir haben zwar noch nicht alle Laborwerte, aber der Doktor meint, daß es keinen ernstlichen Grund zur Sorge gibt.« »Da ist dir bestimmt ein Stein vom Herzen gefallen.« »Ja«, erwiderte Anna. »Und was für einer. Ich bin wirklich gottfroh.« »Nun ja«, sagte Edward. »Am besten, ihr laßt jetzt in aller Ruhe wieder den Alltag einkehren.« Er stand auf. »Sag dem Jungen einen schönen Gruß von mir.« 219
»Das mache ich gern«, gab Anna zurück. Sie fand sein Interesse an Paul irgendwie eigenartig, aber liebenswert – plötzlich entdeckte sie Seiten an Edward, die ihr vorher nie aufgefallen waren. Stets hatte sie geglaubt, die Stewarts hätten sich bewußt gegen eigene Kinder entschieden. Nun fragte sie sich kurz, ob das wirklich der Wahrheit entsprach. »Vergiß nicht, daß wir jederzeit für euch da sind«, sagte Edward. »Ruf einfach an, wann immer du willst. Iris und ich …« Ein erstickter Schrei unterbrach ihn. Anna stürzte zur Treppe. »Paul?« rief sie. »Was ist denn nur los?« fragte Edward. Anna eilte bereits die Treppe hinauf, nahm jeweils zwei Stufen auf einmal. Edward folgte ihr schwer atmend. Anna lief über den Flur und riß die Tür zu Pauls Zimmer auf. Paul lag angezogen auf dem Bett; ein durchdringendes Stöhnen entrang sich seiner Kehle. Anna ließ sich auf der Bettkante nieder, griff nach seiner Hand und strich ihm das schweißfeuchte Haar aus der Stirn. Seine Augen waren offen, aber glasig und starr. Beruhigend sprach Anna auf ihn ein. Edward näherte sich ihr auf Zehenspitzen. »Ist er wach?« flüsterte er. Im selben Moment zuckte Pauls Kopf in seine Richtung. »Was ist denn?« wisperte Anna. »Hast du wieder einen Alptraum gehabt?« Pauls leerer Blick war auf Edward gerichtet. Urplötzlich begann er zu heulen wie ein gefangenes Tier. Er entriß Anna seine Hand, robbte rücklings ans Kopfende des Betts. »Hilfe«, wimmerte er. »Hilfe!« Er stieß das Wort so panisch hervor, daß man es kaum verstehen konnte. »Ist ja gut«, versuchte ihn Anna mit sanfter Stimme zu beruhigen. »Ist ja gut.«
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Der Junge klammerte sich an den Bettpfosten, den glasigen Blick auf Edward geheftet. »Hilf mir! Laß mich nicht allein!« »Paul!« Anna griff nach seinen Handgelenken und schüttelte sie. »Wach auf! Wach endlich auf!« Sie war so auf ihren Sohn konzentriert, daß sie Edward völlig vergessen hatte. Als hätte er eine Klapperschlange vor sich, trat Edward Schritt für Schritt zurück, den Blick starr auf das gefährliche Tier vor sich gerichtet. »Paul, bitte wach auf!« flehte Anna. Mit einem Mal löste sich Pauls Anspannung; seine Hände erschlafften in Annas Griff. Endlich schien er zu erwachen. Er blinzelte und ließ sich gegen das Kopfende des Betts sinken. »Was ist denn?« fragte er. Anna ließ seine Handgelenke los. »Du hattest einen Alptraum.« Paul setzte sich ächzend auf. »Ja«, sagte er. »Jetzt erinnere ich mich wieder.« »Was träumst du denn? Was macht dir so furchtbare Angst?« Paul ging zum Tisch und sah in den Spiegel. Er fuhr sich durch die strähnigen, schweißverklebten Haare und preßte die Handflächen an die Schläfen. Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. »Es ist immer derselbe Traum.« »Kannst du dich erinnern?« »Nicht an alles. Im Traum liege ich auf dem Boden. Irgendeine riesige schwarze Masse kommt auf mich zu, und dann ist da ein großer goldener Adler, der sich mit ausgestreckten Krallen auf mich stürzt.« »Und das ist alles?« fragte Anna. »Nein. Da ist noch etwas. Ein Mann, der auf mich zukommt und sich über mich beugt«, stieß er hervor. »Es ist alles so wirklich.« »Und was macht dieser Mann?« 221
»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß er mir weh tun will. Sein Gesicht ist irgendwie verwischt, aber jedesmal kommt es mir vor, als würde ich ihn jede Sekunde erkennen.« Paul schauderte und schüttelte den Kopf. »Und der Traum kommt immer wieder. Jedesmal, sobald ich eingeschlafen bin.« »Irgend etwas muß dir tonnenschwer auf der Seele liegen«, sagte Anna. »Jedenfalls hast du uns einen gehörigen Schrecken eingejagt.« Der Junge warf ihr einen erstaunten Blick zu. »Wieso uns?« »Mr. Stewart und ich …« Anna wandte sich um und stutzte, als sie sah, daß Edward nicht mehr im Zimmer war. »Er muß gegangen sein. Wahrscheinlich wollte er nicht stören, als er gesehen hat, in welchem Zustand du warst. Er macht sich große Sorgen um dich, Paul.« Der Junge nickte. »Ja.« Edward stand draußen auf dem Flur und bekam jedes Wort mit. Er stand da wie festgefroren, außerstande, sich von der Stelle zu rühren. Seine Arme schienen an seinem Körper festgeklebt zu sein, und sein Puls ging so rasend schnell, daß er nur mühsam atmen konnte. Er verspürte das dringende Bedürfnis zu urinieren, während sich ihm gleichzeitig vor Panik der Magen umdrehte. Während er lauschte, wie Anna leise mit dem Jungen redete, fragte er sich, warum er den Tatsachen nicht von vornherein ins Auge geblickt hatte. Er hatte sich derart auf Rambo konzentriert, daß er den Jungen darüber völlig außer acht gelassen hatte. Aber nur, weil sich der Junge bislang nicht an ihn erinnert hatte, konnte man keineswegs davon ausgehen, daß ihm nicht irgendwann doch ein Licht aufgehen würde. Und wenn er sich an ihn erinnerte und es herausposaunte … Plötzlich hatte Edward das Gefühl, als ob ihm etwas jäh die Luft abschnürte. Jeder im Ort wußte, daß Anna geradezu fanatisch um das Wohl des Jungen bedacht war. Wenn ihn der Bengel plötzlich 222
anschwärzte, würde sie keine Ruhe geben, niemals, bis sie ihn zur Strecke gebracht und komplett ruiniert hatte. Es war genau die Art Story, nach der sich die Schmierer der Revolverblätter die Finger leckten. Ein erfolgreicher Unternehmer wie er, der durch die Bezichtigungen eines Lausebengels zu Fall gebracht wurde. Sie würden ihn durch den Dreck ziehen, und all seine Neider würden sich daran weiden, wie ihm erst der Strick gedreht und anschließend der Garaus gemacht wurde. Es war sonnenklar, worauf alles hinauslaufen würde. Es reichte nicht, daß er sich Rambo vom Hals geschafft hatte. Edward wurde beinahe schwarz vor Augen; er mußte raus hier, an die frische Luft, wieder zu Atem kommen. Er konnte nicht zulassen, daß ihn jemand in diesem Zustand zu Gesicht bekam. Er zwang sich, langsam einen Fuß vor den anderen zu setzen, und schlich lautlos die Treppe hinunter. Immerhin hatte er verdammtes Schwein gehabt; nun wußte er jedenfalls, woran er war. Das Gehörte hatte ihm die Augen geöffnet – keine Sekunde zu früh. Während er so leise wie nur irgend möglich die Treppe hinabstieg, mußte er sich eingestehen, daß er es in seinem tiefsten Innern immer gewußt hatte. Seit er von der Rückkehr des Jungen erfahren hatte, war ihm klar gewesen, daß er ihn zum Schweigen bringen mußte. Daran war nun nicht mehr zu rütteln. Ihm blieb keine andere Wahl. Ein unablässiger Strom von Menschen schob sich an Thomas vorbei, der an einer Wand in der Lobby des Wolkenkratzers lehnte. Hübsche Sekretärinnen mit magentaroten Lippen und klappernden Absätzen schnatterten und lachten auf dem Weg nach draußen. Bürohengste und Geschäftsfrauen mit Aktenkoffern eilten an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, und auch die dunkelgrün livrierten Männer des Sicherheitsdienstes schenkten ihm keine Beachtung. 223
Thomas hielt sein Handy in der Hand. Er mußte endlich zu einer Entscheidung kommen, und zwar schnell. In Kürze würde Gail auftauchen, und sobald er mit ihr zusammen war, konnte er den Anruf vergessen. Und bis er wieder in ihrem Apartment war und endlich die Gelegenheit fand, ungestört zu telefonieren, war es garantiert schon zu spät. Er wünschte, er hätte nicht eingewilligt, eine weitere Nacht bei ihr zu verbringen. Schon beim Aufwachen am frühen Morgen war ihm klar gewesen, daß er keineswegs die Gefühle hegte, die sich aus seiner Übernachtung bei ihr womöglich ableiten ließen. Ab morgen würde er sich ein Hotelzimmer nehmen. Obwohl Gail ihn nicht einmal unter Druck setzte, wofür er ihr dankbar war. Dennoch wußte er genau, daß sie nicht sonderlich begeistert sein würde, wenn sie ihn dabei ertappte, wie er mit Anna telefonierte. Dabei wollte er einfach nur kurz mit ihr reden, das war alles. Er wollte lediglich wissen, wie der Arztbesuch mit Paul verlaufen war. Und wie es Tracy ging. Schließlich hatte er sich verdrückt, ohne ihr irgend etwas zu erklären. Nur das Nötigste, sagte er sich, dann mache ich wieder Schluß. Er stellte seinen Aktenkoffer ab und tippte die Nummer ein. Er spähte durch die Eingangstüren hinaus auf die belebte Straße, während er auf die Verbindung wartete. Vielleicht wollte Anna ja gar nicht mit ihm sprechen. Auch das war möglich. Thomas verspürte ein flaues Gefühl in der Magengrube, als er darüber nachdachte. Er kam seit jeher nicht gut klar damit, wenn Anna böse auf ihn war; er hatte sich auch deshalb in sie verliebt, weil sie so ausgeglichen und fröhlich war. Sie wurde nur selten böse, doch wenn, fühlte er sich stets wieder wie ein kleiner Junge, der von seiner Mutter ausgeschimpft wurde. Wenn sie ihm die kalte Schulter zeigte, würde er einfach darauf bestehen, mit Tracy sprechen zu wollen. Schließlich hatte er ein Recht darauf zu erfahren, wie es seinen Kindern ging. Immerhin war er ihr Vater. 224
Als es klingelte, war ihm unwohl wie selten zuvor. Halb hoffte er, sie würde nicht drangehen, doch beim nächsten Klingeln ergriff ihn Panik bei dem Gedanken, daß sie vielleicht gar nicht da war. »Hallo?« Thomas zuckte zusammen. Er räusperte sich. »Anna?« »Oh«, sagte sie leise. »Hi.« Sie klang reserviert, aber nicht aufgebracht. Thomas holte tief Luft. »Störe ich dich bei irgendwas?« »Eigentlich nicht«, sagte sie. »Ich bin gerade beim Gemüseputzen.« Er sah sie vor sich, wie sie in der Küche stand und aus dem Fenster blickte. »Was willst du?« fragte sie tonlos. »Na ja, ich … Ich wollte nur fragen, ob du heute morgen mit Paul beim Arzt warst?« »Paul?« Thomas hörte das Mißtrauen in ihrer Stimme. »Ja, da waren wir.« »Ich war bloß neugierig. Was hat der Arzt denn gesagt?« »Dr. Derwent meint, daß mit Paul soweit alles in Ordnung ist. Er wartet noch auf ein paar Laborwerte, aber einen Tumor oder so etwas ähnliches kann man wohl ausschließen.« »Das sind ja gute Nachrichten.« Er war selbst erstaunt, wie erleichtert er sich plötzlich fühlte. Anna zögerte. »Ja, aber heute nachmittag hatte er wieder einen Alptraum. Er war schweißgebadet und hat am ganzen Leib gezittert. Nun ja«, sagte sie kühl, »das interessiert dich ja sicher nicht.« Er wollte einwerfen, daß ihm das Wohlergehen seines Sohnes sehr wohl am Herzen lag, doch die Kälte in ihrem Tonfall 225
entmutigte ihn. Ein paar Augenblicke herrschte Schweigen zwischen ihnen. »Wie geht es Tracy?« fragte er schließlich. »Gut. Ich habe ihr erklärt, daß du und ich eine Auseinandersetzung hatten, und sie hat das akzeptiert.« »Kann ich kurz mit ihr sprechen?« »Sie ist gerade nicht da. Sie ist zu Mary Ellen gefahren, und anschließend wollte sie noch ins Tierheim.« »Ach, ja«, murmelte Thomas. »Sie hat ja heute Abenddienst.« Er wartete darauf, daß Anna ihn fragte, wie es ihm ging; merkwürdig, sonst fragte sie ihn das doch immer. Er merkte, daß sich ihr Gespräch dem Ende näherte. »Anna«, platzte er heraus. »Ich denke, wir sollten dringend miteinander reden.« Sie zögerte mit ihrer Antwort; ihr Schweigen war ihm unerträglich. »Das denke ich auch«, sagte sie dann. Mit einem Mal fühlte er sich unendlich erleichtert; am liebsten hätte er sein Handy geküßt. »Gut«, sagte er. »Und wann?« »Ich möchte unsere Probleme aber nicht am Telefon besprechen«, sagte Anna. »Nein, nicht am Telefon«, antwortete er hastig. »Wir sollten uns treffen.« »Na schön«, sagte sie. Irgendwie kam es ihm vor, als würde auch sie erleichtert klingen. »Wie wär’s mit heute abend?« sagte er. »Ich lasse uns einen Tisch reservieren. In dem netten französischen Lokal an der West Side, wo wir schon öfter waren. Mit dem Zug ist das ein Katzensprung.« »Heute abend?« »Ja. Dann können wir beim Essen alles besprechen. Das Restaurant ist in der 74. Straße. Le Chevalier Blanc.« 226
»Ich weiß nicht, ob ich heute abend kann«, sagte sie. »Wieso denn nicht?« Er verstummte, verletzt, weil sie ihn so zappeln ließ. Anna dachte an Paul, der nach den Untersuchungen und dem Alptraum völlig erschöpft war. Der Gedanke, ihn allein zu lassen, gefiel ihr ganz und gar nicht. Einen Moment lang war sie hin und her gerissen, doch dann kam sie zu dem Schluß, daß Thomas sich abermals zurückgesetzt fühlen würde, wenn sie Paul als Entschuldigung vorbrachte. Sie konnte Thomas jetzt nicht abweisen. »Okay«, sagte sie. »Dann treffen wir uns dort. Ich bin um halb acht da.« »Gut«, sagte er. Eine verlegene Pause entstand. »Tschüs«, sagte sie. »Bis dann.« Er machte sein Handy aus und steckte es zurück in den Aktenkoffer. Seine Achselhöhlen waren schweißnaß; er fühlte sich schachmatt, doch nun war ihm nicht mehr übel, sondern flau vor Aufregung. Als er geistesabwesend den Blick durch die Lobby schweifen ließ, sah er Gail am Zeitungsstand neben dem Eingang; sie überreichte dem Händler gerade Geld für eine Zeitschrift. Als sie sich umwandte, trafen sich ihre Blicke. Obwohl er ein Lächeln auf seine Lippen zwang, schaute sie ihn ernst an. Ihre Mundwinkel zeigten nach unten, und auf ihrer Miene lag ein Schatten – ein Gesichtsausdruck, den er an ihr noch nie gesehen hatte. In seine Erleichterung über das kurze Telefongespräch mischte sich jähes Schuldbewußtsein. Es würde nicht leicht werden, Gail zu erklären, daß er sich mit seiner Frau zum Dinner traf – einen Abend, nachdem ihre Affäre begonnen hatte.
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15 »Hallo, ihr beiden«, sagte Anna, während sie über die Terrasse zum Pool ging, wo Iris und Edward saßen. Iris’ Miene hellte sich auf, als sie ihre Freundin sah. Edward erhob sich von seinem Stuhl. »Setz dich doch.« »Ich habe keine Zeit«, sagte Anna. »Ich wollte euch nur um einen Gefallen bitten.« »Kein Problem«, sagte Iris. »Worum geht es denn?« Edward rückte ihr den Stuhl hin, und Anna setzte sich. »Tom hat angerufen«, sagte sie. »Und jetzt treffen wir uns in der Stadt zum Dinner.« Iris griff nach einem Handtuch und begann sich abzutrocknen. »Wie romantisch.« »Eher nicht.« Anna zog eine Grimasse. »Wir haben uns gestern abend ziemlich gestritten.« »War es deine Idee mit dem Abendessen?« wollte Iris wissen. Nervös setzte sich Anna zurecht. Iris war seit jeher ihre Vertraute, doch wollte sie ihre ehelichen Probleme nicht vor Edward ausbreiten; auch wenn Iris ihrem Mann wahrscheinlich stets alles brühwarm weitererzählte, wie Anna insgeheim argwöhnte. »Nun ja«, sagte sie. »Er hat gestern in der Stadt übernachtet.« »Was?« platzte Iris heraus. »Das darf ja wohl nicht wahr sein!« »Eben deshalb muß ich mich unbedingt mit ihm treffen«, fuhr Anna hastig fort. »Wir müssen dringend miteinander reden.« »Aber natürlich«, sagte Iris. »Und wie können wir dir helfen?« »Es geht um Paul. Ich war heute mit ihm bei Dr. Derwent.«
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»O Gott«, sagte Iris. »Er hat doch hoffentlich nichts Schlimmes.« »Alles scheint soweit okay zu sein«, sagte Anna. »Nur die Kopfschmerzen gehen einfach nicht weg. Deshalb wäre es gut, wenn jemand ein Auge auf ihn haben könnte.« Iris biß sich auf die Unterlippe. »Das würde ich wirklich gern machen, aber ich muß bald los. Ich nehme mir eine Auszeit auf einer Wellnessfarm. Ach, dann verschiebe ich das eben auf morgen.« »Nein, mach dir keine Umstände«, sagte Anna. »Ich wollte einfach nur fragen, ob Lorraine im Haus ist – damit Paul jemanden anrufen kann, falls es ihm nicht gutgeht.« »Ich glaube, Edward hat heute sowieso nichts mehr vor«, sagte Iris und warf ihrem Mann einen fragenden Blick zu. Edward setzte sich auf. »Ist Tracy denn nicht da?« fragte er. »Sie ist bis zehn im Tierheim«, erklärte Anna. »Ich bin auf jeden Fall hier«, sagte Edward. »Paul kann mich jederzeit anrufen, falls irgend etwas sein sollte.« »Vielen, vielen Dank«, sagte Anna. »Sonst hätte ich Tom sagen müssen, daß ich wegen Paul hierbleiben muß. Und das hätte er bestimmt wieder in den falschen Hals bekommen.« Iris warf ihr einen besorgten Blick zu. »Tom und du – ich hoffe, ihr könnt eure Probleme schnell bereinigen.« »Das hoffe ich auch«, sagte Anna ernst. »Wann kommst du zurück von der Wellnessfarm?« »Am Sonntag«, sagte Iris. »Nichts als Joghurt und Massagen, was?« zog Anna sie scherzhaft auf. Iris zog eine gequälte Miene. »Ach, so schlimm ist es gar nicht.«
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»War nur ein Witz«, erwiderte Anna. »Aber die verlangen dir bestimmt einiges ab. Versuch es trotzdem zu genießen. Wir werden dich jedenfalls vermissen.« Sie warf Edward einen Blick zu. »Nicht wahr?« Edward lächelte säuerlich und nickte. »Also«, sagte Anna. »Ich muß dann los.« Sie tätschelte Iris die Schulter. »Ruf mich an, wenn du wieder zurück bist.« Sie erhob sich und lächelte Edward an. »Noch mal vielen Dank. Tut mir leid wegen heute nachmittag. Paul hatte wieder einen Alptraum. Er war völlig durcheinander.« Iris sah ihren Mann fragend an, doch Edward wich ihrem Blick aus. »Mach dir keine Gedanken«, sagte er zu Anna. Anna nickte den beiden zu, bereit, sich auf den Weg zu machen. »Warte«, sagte Iris. »Ich komme ein Stück mit. Ich wollte sowieso noch kurz ins Solarium.« Mit flackerndem Blick sah Edward den beiden Frauen nach. Der Junge war also heute abend allein zu Hause. Das Glück war auf seiner Seite; auf eine derartige Gelegenheit hätte er nicht zu hoffen gewagt. Er mußte handeln, rasch und präzise. Edwards linkes Augenlid zuckte, aber er achtete nicht darauf, während er einen Plan zu schmieden begann. Das Licht funkelte auf der geschliffenen Oberfläche von Annas Topasohrringen, während sie ihr Spiegelbild in Augenschein nahm. Es waren ihre Lieblingsohrringe – ein Geschenk von Thomas. Erst hatte sie gezögert und sich gefragt, ob sie sie wirklich anlegen sollte. Im ersten Moment erschienen sie ihr wie eine allzu aufdringliche Erinnerung an glücklichere Zeiten, doch dann fand sie die Ohrringe genau richtig. Sieh einfach optimistisch in die Zukunft, dachte sie. Vielleicht würden ja wieder bessere Zeiten kommen. Just als sie sich vom Spiegel abwenden wollte, fiel ihr das Parfum wieder ein. Er hatte es für 230
sie ausgesucht. Mit der Berechnung einer Kurtisane benetzte sie die Innenseiten ihrer Handgelenke mit dem Duft. Dann strich sie über ihren marineblauen Hosenanzug und ging die Treppe hinunter. Unten lief der Fernseher. Sie betrat das Fernsehzimmer, wo Paul auf dem Sofa vor dem Bildschirm kauerte. »Paul, ich muß los«, sagte sie. »Du kommst doch allein klar, oder?« Der Junge nickte, ohne den Blick vom Fernseher zu wenden. »Tracy kommt gegen zehn«, sagte Anna. »Wenn du irgend etwas brauchst, kannst du jederzeit Mr. Stewart anrufen. Die Nummer liegt neben dem Telefon.« Der Junge blickte weiter starr auf den Bildschirm. »Okay«, sagte er abwesend. Dann warf er ihr doch einen Blick zu. »Du siehst toll aus«, sagte er. Das unerwartete Kompliment ließ Anna alle Sorgen vergessen. Sie strahlte über das ganze Gesicht. »Danke.« »Das ist alles wegen mir passiert, stimmt’s?« sagte der Junge. »Was?« fragte Anna verblüfft. »Daß er ausgezogen ist.« »Nein«, sagte Anna hastig. »Wir haben uns gestritten, das war alles.« Paul sah wieder auf den Fernseher. »Er haßt mich«, sagte er tonlos. Einen Augenblick lang war Anna völlig perplex. Dann griff sie nach der Fernbedienung und schaltete den Ton ab. Sie trat vor den Fernseher und versperrte ihm die Sicht. »Das ist nicht wahr«, sagte sie. »Er haßt dich nicht.« Paul schüttelte den Kopf. »Ihm wäre es am liebsten, ich wäre nie zurückgekommen«, sagte er. »Deswegen hat er ja auch seine Sachen gepackt.« Er reckte das Kinn, um ihr zu bedeuten, daß jeder Widerspruch zwecklos war. 231
Unwillkürlich mußte Anna daran denken, wie vehement und abfällig sich Thomas über seinen Sohn geäußert hatte, doch sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Der Junge nickte, als habe er sie durchschaut. »Warte, Paul. Dein Vater … Du hast keine Ahnung, was er durchgemacht hat. All diese Jahre des Bangens und der Ungewißheit. Es war einfach schrecklich, für uns alle«, sagte sie. »Wir waren verzweifelt. Wir wußten nie, was der nächste Tag bringen würde.« »Vielleicht war er ja froh, mich los zu sein«, sagte Paul. »Dich los zu sein?« gab Anna aufgebracht zurück. »Wie kannst du so etwas von deinem Vater denken?« Paul wich ihrem Blick aus. Anna schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, Paul. Aber du kennst ihn nicht richtig. Er spricht nicht oft über seine Gefühle. Du warst sein ein und alles. Er war im siebten Himmel, als du geboren wurdest. Er war der glücklichste Mensch auf der ganzen Welt.« »Das war mal«, sagte Paul. »Nein«, protestierte Anna. »Du siehst das falsch.« Mit leerem Blick starrte sie auf das Bücherregal über dem Sofa, während sie nach den richtigen Worten suchte, um Toms Gefühlswelt zu beschreiben. Der Junge schwieg, doch Anna spürte genau, wie angespannt er war. »Ich habe immer daran geglaubt, daß du eines Tages zurückkehren würdest. Aber Tom …« Sie überlegte, wie sie es sagen sollte. »Er hat irgendwann den Glauben verloren.« Paul sah sie erwartungsvoll an. »Ich weiß noch genau, wie es war«, sagte sie. »Obwohl ich mich nicht mehr an den genauen Zeitpunkt erinnern kann. Irgendwann fing er an zu glauben … Nun ja, er hat gesagt, wir sollten uns besser auf das Schlimmste einstellen. Aber ich habe trotzdem nie auch nur eine Sekunde gezweifelt, daß du 232
zurückkommen würdest. Tom konnte einfach nicht verstehen, woher ich diese Gewißheit nahm.« Anna schüttelte den Kopf, den Blick auf einen unbestimmten Punkt gerichtet. »Dann kam der Tag, an dem wir uns wegen deines Zimmers gestritten haben. Er wollte, daß ich deine Sachen ausräume. Weil er meinte, wir sollten das Zimmer als Gästezimmer nutzen. Ich habe mich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt.« Anna schwieg einen Augenblick, während sich ihre Augen verdunkelten. »O Gott, ich war so unendlich zornig auf ihn. Wir hatten damals schon eine ganze Weile nicht mehr von dir gesprochen. Ich glaubte zu wissen, was in ihm vorging, auch wenn wir nie wirklich miteinander über unsere Gefühle redeten. Und an diesem Tag fing er plötzlich damit an, ich solle dein Zimmer ausräumen. Ich kann mich genau erinnern, daß ich ihn richtiggehend gehaßt habe dafür. Schließlich ging er nach oben, und ich hörte, wie er in deinem Zimmer rumorte, Sachen in Pappkartons verpackte – während ich wie versteinert unten im Wohnzimmer saß. Anschließend trug er die Kartons in den Keller, und dann hörte ich, wie er auch noch irgendwelche Sachen in die Mülltonne warf. Ich saß einfach nur da, unfähig, mich zu rühren. Und die ganze Zeit über dachte ich, daß ich ihm das niemals verzeihen würde.« Sie hielt kurz inne. Paul sah sie aufmerksam an. »Er räumte weiter dein Zimmer aus, ohne ein Wort zu sagen, und schließlich kam er wieder die Treppe herunter. In der Hand hielt er einen blauen Stoffelefanten, das erste Spielzeug, das er dir geschenkt hatte, direkt nach deiner Geburt, in der Klinik, weil er nicht warten konnte, bis du zu Hause warst. Und diesen Elefanten hielt er nun in der Hand, und er weinte«, sagte sie leise. »Die Tränen strömten nur so über sein Gesicht.« Annas Augen wurden feucht, als sie an jenen Moment zurückdachte. »Er sagte keinen Ton, und ich war so zornig, daß ich nicht das geringste Mitleid mit ihm empfand. Das geschieht dir recht, 233
dachte ich. Jemand wie du hat es nicht verdient, seinen Sohn jemals wiederzusehen.« Paul forschte in ihrem Gesicht, während sie sich erinnerte. Ihr Blick wirkte gleichzeitig entrückt und hochkonzentriert. Traurig schüttelte sie den Kopf. »Warum hat er uns dann verlassen?« fragte der Junge leise. Anna zögerte ein paar Sekunden. Dann sagte sie: »Weil er Angst hat, glaube ich.« »Aber wovor?« Anna warf dem Jungen einen hilflosen Blick zu. »Ich weiß es nicht genau«, sagte sie. »Vielleicht hat er irgendwann aufgegeben, nicht mehr geglaubt, daß sich eines Tages alles zum Besseren wenden würde. Er hat vergessen … was Hoffnung ist.« Paul und Anna sahen sich lange an. Dann nickte Paul. »Tja«, sagte sie. »Jetzt sollte ich mich aber beeilen.« Sie gab Paul die Fernbedienung zurück. »Viel Glück«, sagte Paul. Anna wollte sich zu ihm beugen und ihn in die Arme nehmen, doch sein skeptischer Blick ließ sie davon absehen. Sie begnügte sich damit, ihm einen Kuß über die Stirn zu hauchen. Mit einem halben Lächeln und einem Winken verabschiedete sie sich, und dann war sie auch schon aus der Tür. »Es wird immer früher dunkel«, sagte Iris bekümmert, während sie aus dem Fenster der Bibliothek nach draußen starrte. »Wie schade, daß der Sommer bald zu Ende ist.« Edward sah auf seine Uhr. »Wird’s nicht langsam Zeit für dich?« Er griff nach einem Brieföffner und begann ungeduldig damit auf den Schreibtisch zu klopfen. »Ich wollte doch nur …« Sie brach ab und fuhr hastig fort: »Ich hoffe, du kommst hier zurecht, während ich weg bin.« 234
Edward hätte ihr am liebsten hämisch ins Gesicht gelacht, verzog aber keine Miene. »Mach dir keine Sorgen«, sagte er. »Du solltest dir lieber Gedanken machen, wie du das wieder loswirst.« Er deutete mit dem Brieföffner auf ihre Hüften. Iris seufzte. »Okay«, sagte sie. »Was machst du heute abend?« »Ich werde wohl noch ein bißchen an meinen Booten basteln«, sagte er. »Gut. Dann mache ich mich jetzt auf den Weg. Bis Sonntag.« Edward nickte gleichgültig. »Laß dir Zeit.« »Und vergiß Paul nicht«, sagte Iris. »Was?« zischte er. »Ich habe Anna doch versprochen, daß er dich jederzeit anrufen kann – erinnerst du dich?« »Ja, natürlich«, gab er zurück. »Kein Problem. Und schau nicht so besorgt.« Iris zögerte einen Moment, als wolle sie noch etwas sagen, wandte sich dann aber ab und verließ die Bibliothek. Edward wartete, bis er hörte, wie sie den Wagen anließ und aus der Einfahrt fuhr. Er klopfte sich mit dem Brieföffner auf die Handfläche und überlegte, mit was für einem Werkzeug er vorgehen sollte. Es sollte nach einem Einbruch aussehen. Er würde sich Zutritt zum Haus der Langes verschaffen, sich den Jungen vornehmen und anschließend alles verwüsten. Dazu würde er ein paar Wertsachen mitnehmen, damit es aussah, als sei der Junge Opfer eines Einbrechers geworden. Es war ein ganz einfacher Plan, aber durchaus einer mit Hand und Fuß. Die Häuser in der Umgebung waren einsam gelegen; außerdem wohnten hier ausschließlich wohlhabende Leute. Die Gegend stellte geradezu ein Eldorado für Einbrecher dar. Ein Brecheisen bot sich an, war aber ziemlich unhandlich. Eine Schußwaffe besaß er nicht. Kurz überlegte er, ob er einen Meißel benutzen sollte, doch das war wiederum kein typisches Einbrecherwerk235
zeug. Mit einem Messer war er auf der sicheren Seite. In der Windmühle bewahrte er verschiedene große Jagdmesser auf. Ja, ein Jagdmesser war genau das Richtige für seine Zwecke; er würde es in einer Scheide unter der Jacke tragen. Zugegeben, es würde eine ziemliche Sauerei geben, doch das würde er in Kauf nehmen. In der Mühle konnte er anschließend auch seine Kleidung wechseln. Er würde einfach noch ein Weilchen abwarten, und dann … Er war derart in seinen Gedanken versunken, daß er nicht hörte, wie Lorraine den Raum betrat; er bemerkte sie erst, als sie wie ein dunkles Gespenst neben ihm stand. Er schrak zusammen, als sie ihn ansprach. »Was gibt es denn?« wollte er wissen. »Sie haben doch gesagt, Sie bräuchten mich heute nicht mehr. Mein Bruder wartet draußen auf mich«, sagte das Hausmädchen. »In Ordnung«, sagte Edward. »Dann bis nächste Woche.« Er begleitete sie zur Tür; in der Diele hatte sie bereits ihren Handkoffer abgestellt. Er wartete, bis die Rücklichter des Wagens in der Dunkelheit verschwunden waren. Nichts rührte sich im Haus; während er regungslos dastand, spürte er, wie er zu schwitzen begann. Noch nie waren ihm Minuten und Sekunden so bewußt gewesen. Es war totenstill wie in einer Gruft; er hörte nichts als das Rauschen seines eigenen Blutes. Ohne Licht zu machen, ging er zur Veranda, öffnete die Tür und verschwand in der Nacht.
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16 Paul blätterte in der Fernsehzeitschrift; er hörte noch, wie Anna wegfuhr und das Motorengeräusch kurz darauf verklang. Mit der Fernbedienung ging er ein paar Minuten lang die Kanäle durch, bis er den Fernseher schließlich ausschaltete. Es lief nichts, was er sehen wollte. Er ging ins Wohnzimmer, ließ sich in einen der Sessel sinken und nahm eine Zeitschrift aus dem Zeitungsständer. Unkonzentriert blätterte er darin herum, ehe er das Magazin zurücklegte und wieder aufstand. Anna hatte ihm etwas zum Abendessen gemacht, bevor sie abgefahren war, doch er war immer noch hungrig. Er ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank; schließlich sagte sie ja immer, er solle sich nach Herzenslust selbst bedienen. Und es war auch jede Menge zu essen da. Im Kühlschrank von Dorothy Lee – der Frau, die er nach wie vor als seine richtige Mutter ansah – hatte es ganz anders ausgesehen; nur das Eisfach war stets voll gewesen, mit eingefrorenen Mahlzeiten in türkisfarbener Tupperware. Dorothy Lee arbeitete von drei bis elf im Krankenhaus; er hatte sich immer irgend etwas aufgewärmt und seine Mahlzeiten schnell hinuntergeschlungen, bevor sein Vater nach Hause kam. Paul entdeckte ein Stück Cremetorte. Er hätte das ganze Riesenstück essen können, aber das erschien ihm dann doch etwas unverschämt. Nachdem er sich ein Messer und einen Teller geholt hatte, schnitt er sich etwa ein Drittel des Stücks ab. Im Nu war es verputzt, und er überlegte kurz, ob er sich noch etwas abschneiden sollte, doch dann schloß er die Kühlschranktür. Er spülte Messer und Teller ab und räumte die Sachen wieder weg. Auch das Geschirrtuch hängte er zurück, zufrieden, daß er keine Spuren hinterlassen hatte. So konnte hinterher wenigstens niemand sagen, er hätte irgend etwas in Unordnung gebracht. 237
Im Haus war es mucksmäuschenstill, und einen Augenblick wünschte er sich sehnlich, daß jemand da wäre. Sam kam ihm in den Sinn. Er seufzte und versuchte, den Gedanken an seinen verschwundenen Kater zu verdrängen. Er streifte durch die Zimmer, besah sich die Möbel, die Pflanzen und die Bilder an den Wänden. Alles sah aus wie in einer Zeitschrift, oder wie im Fernsehen. Hätte ihn jemand aus Hawley in dieser piekfeinen Umgebung gesehen, er hätte ihn wohl für den glücklichsten Menschen der Welt gehalten. Paul betrat abermals das Wohnzimmer, zog die Vorhänge zurück und spähte hinaus in die Dunkelheit. Jeden Tag dachte er erneut darüber nach, seine Sachen zu packen und abzuhauen. Er brauchte nur seine Klamotten in seine Tasche zu stopfen und verschwinden. Vielleicht hörten dann auch endlich diese unerträglichen Kopfschmerzen auf. Vermissen würde ihn sowieso keiner. Nun ja, Anna vielleicht. Er seufzte leise. Er hätte sowieso nicht gewußt, wohin er fliehen sollte. Und da er kein Geld hatte, würde er auch nicht weit kommen. Wahrscheinlich würde er irgendwo im Haus Geld finden, wenn er danach suchte, aber er wollte nicht stehlen. So wenig es ihm gefiel, er mußte sich eingestehen, daß er Angst davor hatte, sich ins Ungewisse zu begeben. Dennoch war ihm der Gedanke, weiter hier bei dieser Familie zu bleiben, schrecklich. Ich gehöre hier nicht her, dachte er. Das Dunkel draußen brachte ihn auch nicht weiter bei seinen Überlegungen. Er zog die Vorhänge wieder zu und fragte sich, wie er den Abend totschlagen sollte. Das gegen das Fenster gepreßte, totenblasse Gesicht des Jungen schien mit der Scheibe zu verschmelzen. Edwards kalte Augen beobachteten die bedrückte Miene, während er unter der Veranda kauerte. Zunächst hatte er eine Runde ums Haus gemacht und überlegte noch, wo er sich am besten Zugang verschaffte, als er unvermittelt das Gesicht des Jungen am 238
Fenster auftauchen sah. Einen Moment lang dachte er, der Junge hätte ihn gehört; das Herz schlug ihm bis zum Hals, doch als er genauer hinsah, merkte er, daß Paul nicht in den dunklen Garten blickte, sondern einfach nur gedankenverloren vor sich hinstarrte. Edwards Knie schmerzten vom Kauern im Gras; eine unwürdige Position, die ihn richtig böse machte. Er wollte endlich losschlagen und fluchte leise. Wie lange wollte der Bengel noch aus dem Fenster starren? Es ging ihm gehörig gegen den Strich, hier im feuchten Gras zu knien. Er wollte die Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen und sich danach schleunigst in die Windmühle zurückziehen. Der Vorhang wurde wieder zugezogen, und Edward atmete tief ein, während er sich erhob. Inzwischen wußte er, wie er ins Haus kommen würde. In Kniehöhe befanden sich zwei Kellerfenster, sie waren mit simplen Haken gesichert. Kinderleicht, dort einzusteigen. Wie er im Schein seiner Taschenlampe bereits gesehen hatte, stand unter dem einen Fenster sogar ein Stuhl; dort würde er eindringen. Er kniete sich vor das Fenster, führte die Messerklinge in den Spalt des Fensterrahmens und fummelte herum, bis er den Haken berührte. Vorsichtig hob er ihn mit der Messerspitze an. Auf seinem Streifzug durch das Haus kam Paul an der Tür zur Kellertreppe vorbei. Ihm fiel ein, daß sich dort auch ein CDPlayer befand. Die Totenstille im Haus bedrückte ihn, und vielleicht konnte ein bißchen Musik ja Abhilfe schaffen. Er öffnete die Tür und stieg die Treppe hinunter. Plötzlich drang ein leises Geräusch an seine Ohren; er blieb wie angewurzelt stehen und lauschte. Nichts. Jetzt fang bloß nicht an, dir irgendwelche Geräusche einzubilden, dachte er. Meine Güte, du bist doch kein Baby.
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Während er die letzten Stufen nahm, fragte er sich, was wohl gerade bei der großen Versöhnung vor sich ging. Die Geschichte von Thomas und dem Stoffelefanten hatte ihn ziemlich beeindruckt. Irgendwie meinte er sogar, sich an den Elefanten erinnern zu können. Vielleicht war der neue Vater ja gar kein so übler Kerl. Die Mutter war jedenfalls sehr nett. Und ihr schien wirklich etwas an ihm zu liegen. Es war schwer zu sagen, was Menschen zueinander hinzog. Er hatte nie so recht begriffen, was seine Eltern – die Rambos – aneinander fanden. Sein Vater war immer ein Wirrkopf gewesen, obwohl Dorothy Lee nie ein böses Wort über ihn verloren hatte. Er war in der Schule immer damit aufgezogen worden, daß sein Vater nicht alle Tassen im Schrank hatte. Eigentlich war Paul sogar erleichtert gewesen, als er erfahren hatte, daß Albert Rambo nicht sein richtiger Vater war. Einen Moment lang empfand Paul tiefes Mitleid mit ihm, doch dann packte ihn nackte Abscheu, als er daran dachte, wie sich sein Vater in diesem Motelzimmer erhängt hatte. Wie hatte er das nur tun können? Paul legte den Kopf schief und las die Titel auf den Rücken der gestapelten CDs. Die meisten guten Scheiben befanden sich ohnehin in Tracys Zimmer, aber er wollte lieber nicht riskieren, ihr Zimmer zu betreten. Aber auch hier unten im Hobbykeller gab es ein paar annehmbare CDs. Paul zog einen BeatlesSampler heraus und besah sich die Rückseite. Seine Mutter hatte immer Country-Musik gehört. Unten in Hawley hörte kein Mensch Rock’n’Roll; aber ihm hatte dieser Sound insgeheim schon immer gefallen. Er kannte die Beatles, eine alte Band aus den Sixties, die aber immer noch sehr beliebt war. Er kannte eine ganze Reihe ihrer Songs. Er legte die CD in den Player und stöpselte die Kopfhörer ein; er wollte sich einfach auf den Teppich legen, die Augen schließen und sich ganz auf die Musik konzentrieren. Im selben Augenblick fielen ihm ein paar in Leder gebundene Fotoalben auf dem Regal über dem CD-Player 240
auf. Er griff nach einem der Alben, während er in der anderen Hand die Kopfhörer hielt, aus denen gedämpft ›Norwegian Wood‹ an seine Ohren drang. Als er das Album aufschlug, fiel ein Umschlag mit alten Schnappschüssen heraus. Das Album selbst war von vorn bis hinten voll mit sorgfältig eingeklebten Bildern. Er ließ sich im Schneidersitz auf dem Boden nieder, schlug das Album auf und streifte sich die Kopfhörer über. Völlig in die Bilder vertieft, bemerkte er nicht, wie sich die Tür hinter ihm einen winzigen Spalt öffnete. Die Leute auf den Fotos lächelten ungeachtet der Tatsache, daß die Bilder im Lauf der Zeit ein wenig verblaßt waren. Sie erinnerten Paul an Reisende an Deck eines Schiffs, das langsam aus dem Blick entschwand. Langsam blätterte er um, während er den Fuß im Takt der Musik bewegte und die Bilder in aller Ruhe betrachtete. Er entdeckte Hochzeitsfotos von Thomas und Anna, dann ein paar Bilder von ihren Flitterwochen auf den Bermudas; scheu standen sie Schulter an Schulter und lächelten. Anna lächelte stets in die Kamera, während Thomas den Blick auf sie gerichtet hielt. Auf der nächsten Seite stieß er auf Babyfotos; ein leiser Schauder überlief ihn, als ihm klarwurde, daß es Bilder von ihm selbst waren. Eingehend betrachtete er das Gesicht des Säuglings. Auf den folgenden Seiten befanden sich Dutzende von Fotos, die ihn in allen nur erdenklichen Posen zeigten, mal mit seiner Mutter, mal mit seinem Vater, vor und in einem Haus, in dem sie früher gelebt haben mußten. Er mußte laut lachen, als ihm ein Bild mit der Unterschrift Pauls zweiter Geburtstag ins Auge fiel, auf dem er, ein spitzes Partyhütchen auf dem Kopf, vor einem Kuchen mit brennenden Kerzen saß, während ihm ein etwas älterer, schwarzhaariger Junge mit einer Tröte ins blinzelnde Gesicht blies. Während er sich das Bild besah, klangen die Rhythmen der Beatles in seinen Ohren. »I’ve just seen a face«, sangen sie.
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Wie ein Sichelhieb fiel plötzlich ein Schatten über das Fotoalbum, verdunkelte die fröhlichen Gesichter von einer Sekunde auf die andere. Paul schrak zusammen. Er riß sich die Kopfhörer von den Ohren und fuhr herum. Völlig perplex starrte er die über ihm aufragende Gestalt an. Im ersten Moment brachte er keinen Ton heraus. »Was machst du denn hier?« sagte er dann. Tracy warf einen Blick über seine Schulter auf das Fotoalbum. »Ich hab dir jemanden mitgebracht«, sagte sie. Paul sah sie verwirrt an, während sie ihren Rucksack von den Schultern streifte und vorsichtig öffnete. Sie griff hinein und holte den grauschwarz gestreiften Kater hervor, der sich in ihren Fingern wand. »Sam!« platzte Paul heraus. »Wo hast du ihn gefunden?« Er nahm das Tier entgegen und drückte es fest an seine Brust. Der Kater wehrte sich mit aller Macht und sprang aus seinen Händen. »Er ist vorhin vor dem Tierheim aufgetaucht«, erklärte Tracy mit triumphierendem Lächeln. »Sie haben mich sogar früher gehen lassen, damit ich ihn dir vorbeibringen kann.« Paul hielt den Blick auf den Kater gerichtet, der auf das Sofa gesprungen war. »Danke«, sagte er leise. »Schon okay.« Tracy ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Siehst du dir die alten Fotos an?« Paul nickte. Hinter ihnen schloß sich die Tür, so langsam, daß sie nichts davon merkten. »Wie wär’s noch mit einem kleinen Spaziergang?« fragte Thomas, als sie das Restaurant verließen. »Warum nicht?« erwiderte Anna. »Tut gut, sich jetzt die Beine zu vertreten«, sagte Thomas. 242
»Ziemlich schwer, das Essen. Vor allem die Saucen.« Anna murmelte etwas Zustimmendes, obwohl ihr nicht entgangen war, daß er sein Essen kaum angerührt hatte. Sie gingen die Columbus Avenue hinunter, mischten sich unter die vielen Fußgänger, die auf der schicksten Straße der West Side unterwegs waren. Obwohl es warm war, hing nicht die übliche Schwüle in der Abendluft, und am Firmament konnte man sogar einige Sterne erkennen. Ihre Unterhaltung beim Essen war ziemlich schleppend verlaufen; während sie ihm gegenübergesessen hatte, war es Anna vorgekommen, als würde sie erst jetzt richtig begreifen, was das Wort »Entfremdung« bedeutete. Als sie nun Seite an Seite über die Straße schlenderten, fühlte sie sich wieder ein wenig unbefangener, während ihre Schritte wie immer genau aufeinander abgestimmt schienen und sie automatisch um dieselben Ecken bogen, obwohl sie ohne festes Ziel dahinbummelten. Gleichzeitig blieben sie an einer roten Ampel stehen, während die New Yorker sich nicht darum scherten und todesmutig über die Straße hetzten. Anna musterte das Profil ihres Mannes, während sie warteten. Er hatte ein unauffälliges, wenig markantes Gesicht, doch klare, ausdrucksvolle Augen. Nun spiegelte sich Unruhe in ihnen, ja sogar ein Hauch von Traurigkeit. Am liebsten hätte sie sich bei ihm eingehakt, doch riß sie sich in letzter Sekunde zusammen. »Sollen wir zum Lincoln Center rübergehen?« fragte er. »Es ist ja nicht weit.« Anna nickte. »Ja, ich würde gern mal wieder den Springbrunnen sehen.« In verlegenem Schweigen marschierten sie nebeneinander her. »Ist die Krawatte neu?« fragte Anna. Thomas befingerte den Knoten seines Schlipses. »Ja.« Er berührte sie leicht am Ellbogen. »Komm, es ist grün.«
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Irgendwie sah er schuldbewußt aus, fand Anna, während er sie über die Straße lenkte. »Ich hatte vergessen, eine passende einzupacken«, sagte er, als sie auf der anderen Straßenseite waren. »Ich muß morgen mit dem Zehn-Uhr-Flieger nach Boston. Und ohne Krawatte kann ich mich bei dem Termin nicht blicken lassen.« »Bist du länger dort?« fragte sie beiläufig. »Nur eine Nacht.« Instinktiv wollte sie sagen, er hätte doch nur kurz Bescheid geben müssen wegen der fehlenden Krawatte, doch dann befahl sie sich zu schweigen. Er hat dich verlassen, hämmerte sie sich ein. Er hat einfach seine Sachen gepackt, hast du das schon vergessen? Dennoch gelang es ihr nicht, wirklichen Zorn zu empfinden. Er schien so verletzlich. Sie spürte seine Hand an ihrem Arm, als wäre sie sengend heiß. »Und wo übernachtest du?« fragte sie. »Du meinst, in Boston?« »Nein, hier.« Thomas schien die Frage unangenehm zu sein. »In einem Apartment an der East Side. Nicht weit von der Firma.« Sie überquerten die Straße und gingen die Stufen zum Platz vor dem Lincoln Center hinauf. Das Panorama war so majestätisch, daß Anna einen Moment den Atem anhielt, wie immer, wenn sie hierherkam. Durch die riesigen Fenster der Oper konnte sie die farbenprächtigen Wandmalereien erkennen, die Kronleuchter, die alles in funkelndes Licht tauchten. In der Mitte des von Theatern gesäumten Platzes befand sich der runde, beleuchtete Brunnen mit seinen Fontänen. Langsam gingen Thomas und Anna auf den Springbrunnen zu. Thomas lächelte etwas gequält und bedeutete Anna, sich doch auf den Brunnenrand zu setzen.
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Wieder schwiegen sie, während Anna das ungute Gefühl beschlich, daß ihnen die Zeit davonlief – bislang hatten sie nicht das geringste geklärt. Fieberhaft überlegte sie, wie sie das Gespräch auf ihre Probleme lenken konnte, ohne gleich einen Streit zu provozieren. Doch Thomas kam ihr zuvor. »Ich bin so erleichtert, daß Paul keine ernste Krankheit hat«, sagte er. Anna sah ihn verblüfft an. Es war das erste Mal an diesem Abend, daß er seinen Sohn erwähnte. Fast hätte sie einfach gesagt, daß auch ihr ein Stein vom Herzen gefallen war, doch dann ergriff sie die Gelegenheit und nahm den Faden auf. »Wir haben heute abend über dich gesprochen.« »Du und Paul?« fragte er. »Ja. Er glaubt, daß du ihn haßt.« Thomas schloß die Augen; Anna sah den Schmerz in seinem Gesicht. Er schluckte schwer, als müsse er etwas unendlich Bitteres hinunterwürgen. »Aber ich habe ihm gesagt, daß das nicht stimmt«, fügte sie hinzu. Thomas warf ihr einen überraschten Blick zu. »Du hast mich verteidigt?« Anna nickte. »Ich habe versucht, ihm dein Verhalten zu erklären. Ich habe ihm ein paar Dinge über dich erzählt. Wie überglücklich du warst, als er zur Welt kam. Und mehr.« Thomas starrte auf die Musikbegeisterten, die zur Oper eilten. Tiefe Kerben hatten sich um seinen Mund gebildet. »Wie könnte ich ihn hassen?« sagte er. »Wie kann er das nur glauben?« Er verfiel in Schweigen. Anna empfand tiefe Hilflosigkeit; nichts wünschte sie sich mehr, als daß er sie endlich ansehen würde. Schließlich räusperte er sich. »Langsam fange ich an, mich selbst zu hassen«, sagte er. »Tom«, entfuhr es ihr. »Das darfst du nicht sagen.« 245
Er schüttelte den Kopf. »Du weißt nicht, wie ich mich fühle«, sagte er. »Du empfindest eben anders.« »Was meinst du damit?« »Du warst immer felsenfest davon überzeugt, daß er eines Tages zurückkommen würde. Du hast immer daran geglaubt, daß er noch lebt. Und die Hoffnung nie aufgegeben. Selbst die kleinste Kleinigkeit hat dich wieder hoffen lassen.« Er wandte sich zu ihr und sah sie an. »Ich habe mir nie Hoffnungen gemacht, Anna. Ich habe geglaubt, er sei tot.« »Aber du wußtest es doch nicht. Niemand wußte, was mit Paul geschehen war.« »Ich habe ihn abgeschrieben, Anna. Meinen eigenen Sohn.« Thomas seufzte. Er senkte den Blick und legte die Hand auf den Magen, als sei ihm übel. »Jedesmal, wenn ich ihn sehe, fühle ich mich so … Ich fühle mich einfach so verdammt schuldig.« »Schuldig?« sagte Anna. »Wie kannst du nur so denken, Tom? Dafür gibt es doch nicht den geringsten Anlaß!« »Dabei war er immer mein ein und alles«, sagte er. »Das weiß ich«, sagte sie. »Und Paul weiß es auch. In seinem tiefsten Innern. Er braucht nur etwas Zeit, um alles zu verstehen.« »Ich habe dich dafür gehaßt, daß du nie aufgegeben hast«, sagte er. »Für all die Hoffnung, die in dir war.« »Ich hatte einfach keine andere Wahl«, sagte sie. »Manchmal«, sagte er, »hätte ich dich am liebsten nur noch angeschrien. Weil du so unendlich selbstlos warst – immer hast du dich aufgeopfert, nie resigniert.« Sie rang nach Worten. »Selbstlos? Darum ging es doch gar nicht. Ich habe oft selbst gedacht, daß ich mich einer Illusion hingebe. Aber ich brauchte etwas, woran ich mich festhalten konnte. Ohne Hoffnung hätte ich nicht weiterleben können.« 246
Thomas legte seine Hand auf die ihre. Schweigend saßen sie am Brunnenrand. Als sich ihre Finger ineinander verschränkten, war es, als würde ein Stromkreis geschlossen. Der Trost, die Zuneigung, die in dieser Berührung lag, ließ in Anna jäh ein heftiges Verlangen nach ihm aufsteigen – ihrem Partner, ihrem Mann. Sie schloß die Augen und spürte, wie sich eine wohlige Wärme in ihrem Körper ausbreitete. Am liebsten hätte sie sich auf der Stelle zu ihm gedreht und ihren Kopf an seiner Schulter vergraben, seine kraftvollen Hände gespürt. Sie überlegte, wie sie ihm wohl am besten sagte, daß er nach Hause zurückkommen sollte, dann ging ihr auf, daß mehr als ein simples »Komm zurück« gar nicht nötig war. Ihr fehlte die Kraft, es laut über die Lippen zu bringen. Aber sie konnte es ja auch flüstern. Mit einem Mal ließ Thomas ihre Hand los. »Es gibt noch einen anderen Grund, weshalb ich ein schlechtes Gewissen habe«, sagte er leise. Sein Tonfall ließ sie erschaudern. Sie setzte sich kerzengerade auf und sah ihn an. »Was meinst du?« Ein verliebtes Pärchen, das auf der anderen Seite des Brunnens gesessen hatte, stand auf und begann, Arm in Arm über den Platz zu flanieren. Gedankenverloren sah Thomas den beiden nach. »Tom?« »Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll. Aber ich muß es einfach tun. Ich will dir nichts verschweigen. Ich würde immer in der Angst leben, daß du es eines Tages doch herausfindest.« Nervös fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich hatte etwas mit … einer anderen.« Anna zuckte zurück, als hätte er ihr ins Gesicht geschlagen. Ihre Gedanken waren die ganze Zeit ausschließlich um ihn und die Kinder gekreist – in hundert Jahren wäre sie nicht auf die Idee gekommen, daß eine andere Frau im Spiel war. 247
»Ich weiß nicht, warum es passiert ist«, sagte er. »Ich war einsam und enttäuscht von dir. Ich brauchte jemanden, mit dem ich reden konnte. Ich weiß, das sind alles ziemlich lahme Entschuldigungen.« »Wer ist sie?« fragte Anna. »Das spielt keine Rolle«, sagte Thomas. »Du kennst sie sowieso nicht.« »Verstehe«, sagte Anna. Das verliebte Pärchen hatte bereits den halben Platz umrundet, als der Mann der Frau plötzlich einen Arm um die Taille legte und ihre Hand ergriff, als wolle er mit ihr tanzen. Einen Moment lang sah ihn die junge Frau verdutzt an, dann lachte sie. Dann begannen die beiden Walzer zu tanzen, zu einer Musik, die nur sie selbst hören konnten. »Deswegen hast du uns also verlassen«, sagte Anna, klemmte sich ihre Handtasche unter den Arm und stand abrupt auf. Thomas sah verdutzt zu ihr auf. Anna musterte ihn mit eisiger Miene, während ihr das Herz bis zum Hals schlug. »Nein«, sagte er. »Das stimmt nicht.« »Jetzt wird mir einiges klar«, sagte sie. »Warte«, sagte Thomas hastig. »Wo willst du hin?« »Ich fahre nach Hause.« Sie spie die Worte beinahe aus. »Zurück zu meinen Kindern.« Thomas trat ihr in den Weg. »Anna«, sagte er beschwörend. »Du verstehst das falsch. Es ist passiert. Ja. Aber ich will die Beziehung nicht weiterführen. Ich wollte dir gegenüber nur ehrlich sein. Es war ein einmaliger Ausrutscher. Ein Fehler. Ich wollte doch nie … Ich will wieder zurück zu dir und den Kindern.« Zutiefst verletzt wandte sich Anna ab. »Ich will nichts mehr hören«, zischte sie. Mit eiligen Schritten ging sie davon, vorbei an den tanzenden Verliebten, die sie nicht bemerkten. Sie lief die Stufen hinab und winkte nach einem Taxi. 248
Thomas trat neben sie. »Ich verstehe ja, daß du wütend auf mich bist«, sagte er leise. »Aber meinst du nicht, daß ich eine zweite Chance verdient habe? Nach all den Jahren? Ich war so beschäftigt mit meinem Selbstmitleid, daß ich mich wie ein Idiot verhalten habe. Ja, ich war dir eine Nacht untreu, aber an meinen Gefühlen für dich hat sich nichts geändert. Kannst du mir wirklich nicht vergeben?« Anna funkelte ihn böse an, doch Thomas ließ sich nicht beirren. »Ich wollte ehrlich mit dir sein«, sagte er. »Ich habe geglaubt, du könntest mir verzeihen.« Anna schloß einen Moment lang die Augen. »Es reicht«, sagte sie. »Ich kann keine weiteren Hiobsbotschaften mehr ertragen.« »Laß uns miteinander reden, Anna. Bitte. Aber morgen muß ich erst mal nach Boston. Ich habe soviel um die Ohren, daß ich nicht mehr klar denken kann.« »Da kann ich dir auch nicht helfen«, sagte sie. »Ich muß selbst in Ruhe nachdenken.« Sie stieg in das Taxi und schlug die Tür hinter sich zu. Als das Taxi anfuhr, streckte er unwillkürlich die Hand aus, als wolle er es festhalten. Kurz darauf war das Taxi im Abendverkehr verschwunden.
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17 Leise und verstohlen zog Edward das Kellerfenster zu und schlich geduckt über den Rasen zurück, während er lautlos über das helle Licht der Sterne fluchte. Er schrak zusammen, als unvermittelt laute Musik aus dem Haus dröhnte. Schwitzend wartete er einen Augenblick. Dann schlich er weiter, die Finger um den Griff des Jagdmessers geklammert, das er unter seiner Jacke verborgen hielt. Versteckt hinter der Tür, hatte er mit dem Gedanken gespielt, ob er nicht aufs Ganze gehen und versuchen sollte, beide Teenager zu töten. Doch nach kurzer Überlegung hatte er sich dagegen entschieden. Es war schlicht zu gefährlich, und vielleicht hätte er bei einem Kampf selbst Blessuren davongetragen. Dennoch wäre er um ein Haar durchgedreht, als plötzlich das Mädchen mit der verdammten Katze aufgetaucht war; er mußte sich mit aller Macht zusammenreißen, um nicht durch die Tür zu brechen und sich auf die beiden zu stürzen. Die blöde Kuh hatte seinen perfekten Plan durchkreuzt. Obwohl er sich wieder halbwegs in der Gewalt hatte, packte ihn von neuem kalte Wut, als er daran dachte, wie sein minutiöser Plan vereitelt worden war. Er war bereit gewesen, den Jungen ein für allemal zum Schweigen zu bringen – und auf der ganzen Linie gescheitert. Auf dem Weg zur Windmühle machte er einen weiten Bogen um die Rückseite seiner Villa. Die Flügel der Mühle ragten schwarz in den nächtlichen Himmel, schienen ihm regelrecht zuzuwinken. Noch war nichts verloren. Er würde sich einen anderen Plan zurechtlegen und morgen erneut zuschlagen. Blieb nur die Frage, wie. Edward öffnete die Tür der Mühle. Den ganzen Tag über hatte er sich vorgestellt, wie er nach seiner blutigen Tat hierher zurückkommen, das Messer verstecken und seine Sachen 250
wechseln würde. Und nun war er unverrichteter Dinge zurückgekehrt. Hätte er die Sache doch nur ein für allemal hinter sich gebracht. Er betrat den kühlen Raum, zog das Messer unter der Jacke hervor und warf es auf die Werkbank. Dann wandte er sich zur Tür, um sie zu schließen. »Edward?« Die Tür fiel krachend ins Schloß, während er herumfuhr; mit einem Mal war alle Farbe aus seinem Gesicht gewichen. In einer dunklen Ecke stand Iris, die die Hände rang und zögernd lächelte. »Iris? Was machst du denn hier?« fuhr er sie mit Stentorstimme an. Er zitterte am ganzen Körper; weit traten seine Augen aus den Höhlen, während er sie ungläubig fixierte. Iris zuckte zusammen. »Es … es tut mir leid. Ich wollte dich nicht erschrecken.« Edwards Gedanken überschlugen sich. Die Vorstellung, daß er, wäre alles glattgelaufen, nun blutbesudelt vor seiner Frau stünde, erfüllte ihn mit derartigem Grauen, daß er einen Moment lang keinen Ton hervorbrachte. Aber es war ja Gott sei Dank nichts passiert. Sie hatte nichts mitbekommen. Er versuchte, seinen rasenden Puls wieder unter Kontrolle zu bringen, doch noch immer versagte ihm die Stimme, während er Iris anstarrte, die ihn ihrerseits völlig entgeistert musterte. »Ich dachte, du wärst hier. Und als ich dich nicht gefunden habe, dachte ich, ich warte hier auf dich.« Edward schüttelte den Kopf, als hätte er sie nicht richtig verstanden. »Wo warst du denn?« fragte sie. »Wieso läufst du mit einem Messer herum?« Am liebsten hätte er sie angeschrien, nach allen Regeln der Kunst zur Schnecke gemacht und mit erhobener Faust aus 251
seinem Refugium vertrieben – doch kam ihm instinktiv zu Bewußtsein, daß er ihre Neugier damit nur noch angefacht hätte. »Was, um Himmels willen, hattest du denn vor?« fragte Iris. »Hast du irgend etwas Verdächtiges gehört?« Edward fiel ein Stein vom Herzen. Ja, natürlich. Damit hatte sie ihm die richtige Ausrede frei Haus geliefert. »Ja«, sagte er. »Ich habe draußen ein Geräusch gehört und gedacht, es wäre ein Einbrecher. Deswegen das Messer, ich mußte mich ja schließlich irgendwie bewaffnen. Im ersten Moment dachte ich, hier hätte sich jemand versteckt.« Zwar stand kalter Schweiß auf seiner Stirn, doch nun wußte er, daß er noch einmal Glück im Unglück gehabt hatte. Iris sah ihn erschrocken an. »Hast du irgend jemanden gesehen?« fragte sie. »Nein«, sagte Edward, während er sich erschöpft an die Werkbank lehnte. »Nichts. Wahrscheinlich war es nur der Wind.« »Ich weiß nicht, Edward. Vielleicht sollten wir doch lieber die Polizei rufen.« »Nicht nötig«, gab er zurück. »Ich habe übertrieben reagiert, das war alles.« Iris schien etwas durch den Kopf zu gehen. »Paul!« rief sie plötzlich. »Er ist ganz allein da drüben.« »Ich hab’s dir doch schon gesagt. Ich habe weit und breit niemanden gesehen.« »Ich finde, wir sollten trotzdem kurz mal drüben anrufen.« »Iris«, sagte Edward mit schneidender Stimme. »Was machst du überhaupt hier? Ich dachte, du wärst auf deiner Wellnessfarm.« Verlegen senkte Iris den Blick. »Ich habe mitten auf dem Weg umgedreht«, sagte sie. »Ich wollte mit dir reden, deshalb bin ich zurückgekommen.« 252
»Und wieso hast du nicht einfach angerufen?« fragte er, als hätte er es mit einer Minderbemittelten zu tun. Iris biß sich nervös auf die Unterlippe. »Ich dachte, wir sollten einmal in aller Ruhe miteinander reden. Edward, ich habe in letzter Zeit viel über uns nachgedacht … über unsere Ehe.« Bei ihren Worten kam Edward die Galle hoch. Jetzt wollte sie auch noch über Eheprobleme reden. Das war einfach lächerlich. Er wußte im selben Augenblick, was Iris dazu getrieben hatte. Anna hatte Probleme mit ihrem Mann, und da wollte Iris natürlich nicht nachstehen. Affen äffen alles nach. Er zog eine Leidensmiene. »Iris, wärst du so nett, mir zu sagen, wovon du redest?« »Ich denke schon so lange darüber nach«, fuhr Iris bedrückt fort. »Ich glaube, ich mache dich nicht mehr glücklich. Falls ich dich überhaupt je glücklich gemacht habe. Ich kann deine Ansprüche einfach nicht erfüllen.« Edward traute seinen Ohren nicht. Ihr betroffenes Gestammel amüsierte ihn beinahe, doch er gab sich alle Mühe, keine Miene zu verziehen. Nun hatte er sich wieder komplett unter Kontrolle, aber es gelang ihm kaum, sich auf ihr Geschwätz zu konzentrieren. Er mußte sie schleunigst loswerden, um sich dann in aller Ruhe zu überlegen, wie er weiter vorgehen wollte. »Iris«, sagte er, »willst du das wirklich zu dieser nachtschlafenden Zeit erörtern? Kann das nicht bis nach dem Wochenende warten?« »Ja, sicher«, sagte Iris geknickt. »Ich wollte ja nur …« »Ich bin hundemüde«, sagte Edward. »Ich hatte mich auf einen ruhigen Abend mit meinen Modellbooten gefreut.« »Verstehst du denn nicht?« platzte Iris heraus. »Manchmal kommt es mir vor, als würde es dir besser gehen, wenn ich gar nicht da wäre.«
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Edward sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an, als könne er soviel geballte Unverfrorenheit kaum fassen. »Ich habe mich nie beschwert über unsere Ehe«, sagte er mit eisiger Stimme. »Was treibt dich dazu, ausgerechnet jetzt eine Diskussion vom Zaun zu brechen? Muß ich dir eigentlich jeden Tag aufs neue versichern, daß du dir keine Sorgen um deine Rolle an meiner Seite zu machen brauchst? Mit deinem Selbstbewußtsein scheint es nicht zum Besten bestellt zu sein, Iris. Ich bin ganz und gar zufrieden mit unserer Ehe. Und ich sehe wirklich keinen Grund, warum du daran zweifeln solltest.« Iris seufzte und ließ die Schultern sinken. »Wahrscheinlich hast du recht«, sagte sie. »Wieso machst du dich nicht endlich auf die Socken, damit du noch rechtzeitig auf der Wellnessfarm ankommst? Du kannst getrost fahren, und mach dir keine Gedanken. Was mich betrifft, ist zwischen uns alles in bester Ordnung.« Iris gab einen weiteren Seufzer von sich, nickte dann aber und ging zur Tür. »Soll ich dich zum Wagen bringen?« fragte Edward. »Nicht nötig«, sagte Iris. »Ich glaube, ich komme doch besser mit«, sagte Edward aalglatt. »Man sollte wachsam sein, auch wenn ich vorhin wohl falschen Alarm geschlagen habe. Da draußen ist es stockdunkel, also paß auf, wo du hintrittst.« Und mit diesen Worten trat er hinter ihr aus der Tür. Die Soulstimme von Alicia Keys schallte Anna entgegen, als sie das Haus betrat. Auf einem der Stühle im Eßzimmer erblickte sie Tracys Jacke. Früh zu Hause, dachte Anna. Sie hatte kein Licht in den oberen Zimmern gesehen. Sie ging zur Kellertür. Bestimmt waren die beiden im Hobbykeller.
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»Ich bin wieder da«, rief sie. »Hi«, ertönten die Stimmen von Paul und Tracy. Anna zog verblüfft die Augenbrauen hoch und lächelte. Sie ging zum Kühlschrank und warf einen Blick hinein. Auf dem Küchenregal stand eine Flasche Mineralwasser. Sie schenkte sich ein Glas ein. Während sie daran nippte, dachte sie über ihr Treffen mit Tom nach. Schon auf der Rückfahrt mit dem Zug hatte sie unentwegt über ihr Gespräch gegrübelt. Er hatte also mit einer anderen Frau geschlafen. Sie fragte sich, ob sie vielleicht etwas davon bemerkt hätte, wäre sie nicht die ganze Zeit über mit Paul beschäftigt gewesen. Vielleicht hatte sie Thomas schlicht nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt. Am schlimmsten war die Vorstellung, wie er im Bett einer anderen lag; höchstwahrscheinlich einer Frau, die keine Falten um die Augen und keine grauen Strähnen hatte, einer Frau mit schlankem, festem Körper, die sich nicht lange bitten ließ. Ihre Wangen brannten beim bloßen Gedanken daran. Erschrocken zuckte Anna zusammen, als plötzlich etwas ihre Unterschenkel berührte. Dann erkannte sie, daß es nur Pauls Kater war, der sich an ihrem Bein rieb. Anna beugte sich zu ihm und hob ihn hoch. »Sam!« rief sie. »Wo kommst du denn plötzlich her?« Sie ging zur Kellertür, um nach den Kindern zu rufen, doch dann hatte sie keine Lust, gegen die laute Musik anzubrüllen. Den Kater auf dem Arm, stieg sie die Treppe hinunter. Sie war einigermaßen verblüfft über den Anblick, der sich ihr bot. Tracy und Paul hatten es sich auf dem runden Fransenteppich bequem gemacht und spielten Karten. »Zehn«, sagte Paul und legte einen Buben auf den Boden. »Zwanzig, für zwei«, verkündete Tracy und zog eine triumphierende Miene, während sie mit einem eigenen Buben konterte. 255
»Hallo, ihr beiden«, sagte Anna und hielt ihnen den Kater entgegen. »Seht mal, wer mir gerade über den Weg gelaufen ist.« Paul sah auf; sein Blick war so unerwartet offen und vertrauensvoll, daß Anna für einen winzigen Augenblick die Luft wegblieb. Es war, als hätte sie in das Gesicht des kleinen Jungen geblickt, der er einmal gewesen war. »Tracy hat ihn mitgebracht«, sagte er. »Er ist zum Tierheim zurückgelaufen.« Anna betrachtete den Kater und lächelte. »Willkommen zu Hause, Sam.« »Was hat Daddy gesagt?« fragte Tracy, den Blick auf die Karten geheftet. »Hmm.« Anna zögerte. »Er läßt euch lieb grüßen. Euch beide«, setzte sie hinzu. Paul hob die Arme, und Anna übergab ihm den Kater. Zärtlich strich der Junge über Sams Fell. »Komm schon«, sagte Tracy. »Spiel weiter.« Paul warf einen Blick in seine Karten und spielte die nächste aus. »Sechsundzwanzig«, sagte er. Tracy runzelte die Stirn und überlegte, wie sie kontern sollte. Anna verschränkte die Arme und sah den beiden beim Spielen zu. Sie wünschte, Thomas hätte ebenfalls sehen können, wie gut Bruder und Schwester sich plötzlich verstanden. Sie setzte sich. »War alles soweit ruhig?« fragte sie. »Ja«, erwiderte Paul. »Und was hat Daddy sonst noch gesagt?« Tracy spielte die nächste Karte aus. »Kommt er wieder nach Hause?« »Ich weiß es nicht«, sagte Anna. Sie lehnte sich zurück, während sie sich wünschte, Tracys Fragen bejahen zu können. »Ich hoffe es«, fügte sie dann hinzu, überrascht, wie sehr sie es 256
wirklich hoffte. Als sie den Kopf von rechts nach links drehte und langsam kreisen ließ, um ihre völlig verspannten Nackenmuskeln zu lockern, fiel ihr auf, daß die angrenzende Kellertür einen kleinen Spalt offenstand. Seufzend stand sie auf, um die Tür zu schließen. »Wer hat denn die Tür offengelassen?« fragte sie. »Keine Ahnung«, erwiderte Tracy. »Warst du im Keller, Paul?« Der Junge sah kurz auf. »Nein.« Sie zögerte einen Moment, ehe sie die Tür öffnete und den dunklen Keller betrat. Sie tastete sich an den Kartons und den alten Möbeln entlang und machte Licht. Das Licht der nackten Glühbirne fiel über die alten Sachen; die Ecken des Kellers lagen im Halbdunkel. Vielleicht habe ich die Tür selbst nicht richtig zugemacht, dachte Anna, während sie den Blick über den alten Trödel schweifen ließ. Hier müßte dringend mal klar Schiff gemacht werden, war ihr nächster Gedanke. Just in dem Moment, als sie das Licht löschte, blieb ihr Blick am Fenster hängen. Einer der kurzen Vorhänge hatte sich im Fenster verklemmt. Der Stoff blähte sich leicht im Wind. Anna ging zum Fenster und berührte den Vorhang. Im selben Moment fiel ihr auf, daß der Fensterhaken nicht eingehängt war. Anna spürte ihr Herz klopfen, während sie argwöhnisch auf den eingeklemmten Vorhang starrte. Mit scharfer Stimme rief sie: »Wer hat denn das Fenster hier aufgemacht?« »Ich verstehe kein Wort«, ertönte Tracys Stimme über der Musik aus dem CD-Player. Anna trat ein paar Schritte zurück, den Blick auf den Vorhang geheftet. Dann ging sie zurück zum Hobbyraum. Paul, eine Spielkarte in den Fingern, sah auf zu ihr. »Was gibt’s denn?« fragte er. Tracy wandte sich ebenfalls um. 257
Wie erstarrt stand Anna im Türrahmen. »Hat einer von euch das Fenster drüben aufgemacht?« Die beiden schüttelten unisono den Kopf. »Wieso fragst du?« sagte Tracy. »Habt ihr irgendwas gehört?« fragte Anna. »Nein«, sagte Tracy genervt. Paul runzelte die Stirn und zuckte dann mit den Schultern. »Paul?« hakte Anna nach. Den Blick auf ihn gerichtet, versuchte sie sich zu erinnern, wann sie zuletzt nachgesehen hatte, ob das Fenster verschlossen war. Sie wußte genau, daß sie es seit Pauls Rückkehr nicht mehr geöffnet hatte. »Vielleicht hat Daddy ja gelüftet«, meinte Tracy. Anna überlegte. »Das könnte sein.« Sie nickte, wollte ihnen und sich selbst versichern, daß alles in Ordnung war. Als sie sah, wie die beiden schulterzuckend wieder ihr Kartenspiel aufnahmen, wurde ihr klar, daß sie sich nicht die geringsten Sorgen machten. Wenn man so jung war, dachte man nicht daran, was alles passieren konnte. Ein leiser Schauder lief ihr über den Rücken, als sie abermals an das offene Fenster dachte. Ja, wahrscheinlich hatte Tom es aufgemacht. Dennoch fühlte sie sich alles andere als wohl. Man konnte gar nicht vorsichtig genug sein, vor allem, wenn man Kinder hatte. Und eins stand fest: Niemand wußte das besser als sie. Leise klopfte Iris an die Tür, hinter deren Scheibe ein Schild mit der Aufschrift GESCHLOSSEN hing. Kurz darauf wurde die Tür von einer Frau mit kurzen braunen Haaren geöffnet, die eine staubige Jeans trug. Von ihren Ohren baumelten lange Silberohrringe mit eingefaßten Türkisen. Als die Frau sah, daß
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es Iris war, lächelte sie, wobei sich eine kleine Lücke zwischen ihren Schneidezähnen zeigte. »Arbeitest du noch?« fragte Iris zögernd. »Ich brenne nur noch ein paar Sachen. Komm rein.« Die Frau ging zur Seite, und Iris betrat das Studio. Tonreste lagen auf der Werkbank. In der Mitte des Raums stand eine Töpferscheibe; die hintere Wand wurde von zwei schwarzen Brennöfen eingenommen. Alles im Raum war mit feinem weißen Staub überzogen. »Wo hast du denn deinen Koffer?« fragte die Frau. »Ich habe ihn zu Hause gelassen«, sagte Iris. »Tut mir leid, daß es später geworden ist, Angelica.« Die Frau legte Iris ihre muskulösen, tonverkrusteten Hände auf die Schultern. »Noch habe ich mir keine Sorgen gemacht.« Sie zog Iris eng an sich; die beiden Frauen küßten sich sanft auf den Mund. Mit einem Seufzer löste sich Iris aus der leidenschaftlichen Umarmung der anderen. Angelica trat an eine kleine Kochnische. Sie nahm den Kessel vom Herd, goß heißes Wasser in einen Keramikbecher und reichte ihn Iris, die sich auf einem Stuhl niederließ. »Kräutertee«, sagte Angelica. »Du siehst aus, als wäre das jetzt genau das richtige für dich.« Iris gab einen weiteren Seufzer von sich. Angelica legte den Kopf schief und lächelte. »Was ist denn los?« Iris zuckte mit den Schultern wie ein Kind. »Du hast es ihm nicht gesagt, oder?« fragte Angelica. Iris sah sie beschwörend an. »Ich wollte es ja. Den ganzen Tag habe ich nachgedacht, wann ich es ihm am besten sage – aber irgendwie war nie der richtige Zeitpunkt. Ich habe sogar noch einmal kehrtgemacht, als ich bereits auf dem Weg zu dir war. Weil ich mir gesagt habe, daß ich endlich einen Schlußstrich ziehen muß. Schließlich geht es um mein Lebensglück, und das 259
wollte ich ihm endlich ins Gesicht sagen. Aber dann habe ich doch kein Wort herausgebracht.« Angelica zündete sich eine Zigarette an und ließ sie zwischen den Lippen baumeln, während sie das Streichholz ausschüttelte. Sie inhalierte tief, blies den Rauch aus und nahm einen Schluck Tee, bevor sie weitersprach. »Vielleicht willst du es ja gar nicht wirklich«, sagte sie. »Kann doch sein, daß dir deine Ehe am Ende doch wichtiger ist.« Iris warf ihr einen waidwunden Blick zu und schüttelte den Kopf. »O nein«, sagte sie. »Ich werde diese Ehe beenden. Das kann ich dir versprechen.« »Versprich nichts, was du nicht halten kannst«, sagte Angelica lächelnd. »Du mußt es nicht für mich tun, verstehst du? Wenn du Angst davor hast, daß die Sache in den Medien breitgetreten wird … Glaub mir, ich verstehe dich. Dann bin ich eben deine heimliche Geliebte.« Iris griff nach Angelicas Hand und drückte sie. »Nein«, sagte sie. »Endlich weiß ich, was wahres Glück ist. Zum ersten Mal in meinem Leben. Manchmal kommt es mir vor, als hätte ich all die Jahre, bevor ich dich getroffen habe, im Dornröschenschlaf gelegen. Nun weiß ich endlich, was mir all die Jahre gefehlt hat. Ich will mit dir zusammenleben. Und es ist mir egal, was die Leute dazu sagen werden.« Angelica musterte sie eindringlich und nahm einen weiteren Zug von ihrer Zigarette. »Es wird alles andere als einfach. Er wird versuchen, dir das Leben zur Hölle zu machen.« »Er hat gesagt, er sei zufrieden mit unserer Ehe.« »Zufrieden«, schnaubte Angelica. »Ganz ehrlich, Iris, ich habe keine Ahnung, wie du es so lange mit ihm ausgehalten hast. Er behandelt dich wie Dreck. Dir kann es doch völlig egal sein, wie er sich fühlt.« »Ich kann einfach nicht aus meiner Haut«, rechtfertigte sich Iris. »Mein schlechtes Gewissen, verstehst du? Im Grunde habe 260
ich ihn nie geliebt. Letztlich habe ich ihn nur geheiratet, weil mein Vater meinte, er sei der Richtige für mich, und eine gute Ehefrau bin ich ihm auch nie gewesen. Der Skandal wird ihn bis ins Mark treffen.« »Du mußt die Sache ja nicht an die große öffentliche Glocke hängen«, sagte Angelica. »Meine Güte, heutzutage läßt sich doch jeder zweite scheiden. Dein Privatleben geht den Rest der Welt nichts an, so einfach ist das.« Iris’ Augen leuchteten, als sie ihre Freundin ansah. »Ich will aber, daß es der Rest der Welt erfährt«, sagte sie. »Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich wirklich in jemanden verliebt, und am liebsten würde ich es laut herausschreien.« »Wie lieb von dir«, sagte Angelica, »wenn auch ein bißchen naiv. Aber gerade das mag ich so sehr an dir.« Iris errötete, und im selben Moment traten Tränen in ihre Augen. »Ich werde mit ihm reden«, sagte sie. »Gib mir einfach noch ein paar Tage. Vielleicht rufe ich ihn am Sonntag an und sage ihm, daß ich nicht zurückkomme. Aber die nächsten Tage möchte ich einfach nur mit dir genießen.« »Okay«, sagte Angelica. »Geh alles ganz in Ruhe an.« Sie drückte ihre Zigarette aus und lächelte. »Ich glaube, ich sollte die Sachen aus dem Ofen holen. Geh bloß nicht weg.« Iris schüttelte den Kopf. »Ganz bestimmt nicht«, sagte sie. Gus DeBlakey zog eine Grimasse, als er die Jalousie in der Rezeption herabließ. Ein Mann und eine Frau kamen auf sein Büro zu; ihre mißmutigen Mienen ließen darauf schließen, daß sie sich über eine verstopfte Toilette oder ähnliches beschweren wollten. Das Paar gehörte zu den Gläubigen, die an der großen Methodistentagung im Ort teilnahmen. Gus wußte, daß es das Paar aus Zimmer 17 war – dem mit Abstand saubersten Zimmer in seinem Etablissement. Nach dem Vorfall mit dem 261
Selbstmörder hatte er das Zimmermädchen richtig schrubben und wienern lassen. Gus hatte bereits eine dunkle Ahnung, wo das Problem lag. Wahrscheinlich hatte jemand den beiden gesteckt, daß sich in ihrem Zimmer jemand aufgehängt hatte, und jetzt wollten sie nicht länger bleiben. Blieb nur zu hoffen, daß sich nicht in Windeseile verbreitete, was in Zimmer 17 geschehen war, sonst war die Bude keinen Heller mehr wert. Die Türglocke läutete, als das Paar die Rezeption betrat. »Schönen guten Abend«, sagte Gus und zwang sich ein Lächeln ab. »Was kann ich für Sie tun?« Der Mann – er trug eine Brille mit Metallrahmen und hatte graumeliertes Haar – räusperte sich. Seine Frau stand neben ihm und zog eine indignierte Miene. »Entschuldigen Sie, Sir«, sagte der Mann. »Es geht um das Zimmer, das meine Frau und ich gemietet haben.« »Nummer siebzehn«, sagte seine Frau. »Genau«, sagte der Mann. »Wir sind Methodisten.« Wie zur Erklärung hielt er eine Gideon-Bibel hoch. »Es ist mir ein Vergnügen, Sie zu Gast zu haben«, sagte Gus. »Wie gefällt Ihnen das Zimmer?« »Sehr gut«, sagte der Mann. »Aber das hier geht wirklich zu weit.« Er hielt Gus die Bibel unter die Nase und wedelte damit herum. Stirnrunzelnd beäugte Gus die Bibel, während er sich fragte, ob Methodisten irgendeine andere Version der Bibel hatten. Er wußte nicht allzuviel über Methodisten; die Baptisten vom letzten Jahr hatten sich bloß über die fehlende Minibar beschwert. »Eine Schande.« Die Frau warf einen verächtlichen Blick auf die Bibel.
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»Die liegt in allen Zimmern aus«, erklärte Gus. »Ein alter Brauch. Seelische Labung für den erschöpften Reisenden.« »Das ist uns bekannt, Sir. Ein ehrenwerter Brauch. Aber diese Bibel ist entweiht worden.« »Entweiht?« fragte Gus. »Meine Frau wollte vorhin darin lesen. Und als sie sie aufschlägt, da sieht sie das hier!« Der Mann schlug die Bibel auf und hielt sie Gus hin. Gus sah, daß die Seitenränder von oben bis unten mit irgendwelchen Schreibereien vollgekritzelt waren; sofort stachen ihm ein paar anstößige Worte ins Auge. Er nahm dem Mann die Bibel aus den Händen und deponierte sie hinter der Rezeption. »Das bedaure ich außerordentlich, Sir«, sagte er, öffnete eine Schublade und förderte eine andere Bibel zutage, die er dem aufgebrachten Methodisten reichte. »Manche Gäste haben offenbar keinen Respekt vor dem Wort Gottes. Es tut mir außerordentlich leid.« Die Frau schlug die neue Bibel auf und blätterte darin herum. »Schon besser«, sagte sie. »Kann ich Ihnen sonst noch mit etwas dienen?« fragte Gus. »Danke, das war alles«, sagte der Mann und ergriff den Arm seiner Frau. An der Tür wandte er sich noch einmal um. »An Ihrer Stelle würde ich so was nicht offen hier herumliegen lassen. So etwas darf nicht in die Hände von Kindern geraten!« »Ich kümmere mich drum«, versicherte ihm Gus. Nachdem das Paar gegangen war, griff er sich die Bibel, um sie genauer zu inspizieren. Er blätterte, bis er die Stelle mit den Kritzeleien wiedergefunden hatte. Das war dieser Verrückte, dachte er, während er mühsam Rambos Gekrakel entzifferte. Das Geschmiere ergab wenig Sinn, weshalb Gus sich nicht lange damit aufhielt, sich einen Reim darauf zu machen. Er wollte die verunstaltete Bibel gerade 263
zuschlagen und in seinen Schreibtisch legen, als ihm am unteren Rand der einen Seite ein relativ deutlich geschriebener Name ins Auge fiel: Edward Stewart. Darunter stand eine Telefonnummer. Gus überlegte, ob der Name oder sonst irgend etwas von Rambos Gekrakel möglicherweise von Belang für den Detective sein mochte, der ihn auf der Säuglingsstation angesprochen hatte. Der Detective hatte nachgehakt, ob Rambo während seines Aufenthalts irgendwelche Besucher gehabt hatte. War dieser Edward Stewart ein Freund Rambos, der vielleicht Näheres wußte? Einen Moment lang dachte Gus, daß er die Polizei vielleicht besser nicht mit Kleinkram behelligen sollte; andererseits wollte er sich nicht so verhalten wie manche New Yorker, die offenbar nicht mal dann die Polizei riefen, wenn auf der Straße jemand Zeter und Mordio schrie. Er griff in seine Hemdtasche und zog die Visitenkarte des Detectives hervor. Es konnte ja nicht schaden, ihn mal kurz anzurufen. Er nahm den Hörer ab und wählte die Nummer des Polizeireviers in Stanwich. Es meldete sich ein schroff klingender Polizist, der »Revier Stanwich, Sergeant McDonough« in den Hörer raunzte. Gus warf einen Blick auf die Karte in seiner Hand und bat, mit Detective Mario Ferraro verbunden zu werden. »Er ist gerade nicht da«, sagte der Cop am anderen Ende. »Kann ich Ihnen weiterhelfen?« »Nicht im Dienst heute?« sagte Gus leutselig. »Wann erreiche ich ihn denn am besten?« »Er ist die nächsten Tage nicht da«, sagte der Polizist. »Wie ist denn Ihr Name, bitte?« Im selben Augenblick erinnerte sich Gus. Der Detective hatte gesagt, er müsse seinen Sohn zum College bringen. »Und wann kommt er wieder?« fragte Gus. Er hatte wahrhaft keine Lust,
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irgendeinem Uneingeweihten alles haarklein auseinandersetzen zu müssen. »Am Freitag.« »Verstehe«, sagte Gus, während er abermals einen Blick in die Bibel warf und sich fragte, ob der Detective in der Lage war, sich einen Reim auf das Gekrakel zu machen. »Kann Ihnen vielleicht ein anderer Kollege weiterhelfen?« »Nein«, gab Gus zurück. »Ich rufe ihn an, wenn er wieder da ist. Am Freitag, sagten Sie doch?« »Wollen Sie Detective Ferraro eine Nachricht hinterlassen?« Gus zögerte. »Nicht nötig«, sagte er schließlich. »Das hat Zeit. Ich rufe noch mal an, wenn er wieder zurück ist.« Er legte auf und deponierte die Bibel unter dem Rezeptionstresen. Er griff nach seinen Schlüsseln, löschte das Licht und hängte das »Geschlossen«-Schild mit der Telefonnummer für Notfälle an die Tür. Er beschloß, seiner Frau lieber nichts von der Geschichte zu erzählen; sie würde sowieso nur sagen, er solle sich lieber aus der Sache heraushalten. Aber als er abgeschlossen hatte und zu seinem Wagen ging, fühlte er sich dennoch seltsam erleichtert. Irgendwie war ihm wohler nach getaner Bürgerpflicht.
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18 Die Morgensonne fiel über Annas Schultern, als sie vor dem Wäschetrockner hockte, die warme Wäsche herauszog und in einen Plastikkorb legte. Sie hörte, wie Tracys Turnschuhe auf dem Küchenboden quietschten, und rief nach ihr. Tracy kam herein und gab ihrer Mutter einen flüchtigen Kuß auf die Wange. Anna war ebenso erstaunt wie gerührt über den Kuß. Sie legte zwei Socken zusammen. »Du bist ja ganz schön früh wach.« »Mary Ellen hat mich eingeladen, mit ihr und ihrem älteren Bruder segeln zu gehen.« »Klingt toll.« »Hast du Parfüm aufgelegt?« fragte Tracy. Anna stand auf und stellte den Wäschekorb auf die Maschine. »He, sogar Lippenstift«, sagte Tracy. »Wo willst du denn hin.« Anna holte tief Luft. »Zum Flughafen«, sagte sie. »Zum Flughafen?« fragte Tracy. »Dein Vater fliegt heute morgen nach Boston. Ich wollte ihm tschüs sagen.« »Oh.« Tracy war sichtlich bemüht, sich ihre Freude nicht allzusehr anmerken zu lassen. »Obwohl wir immer noch einiges klären müssen«, sagte Anna. »Würdest du diese Sachen mit auf dein Zimmer nehmen, Schatz?« Tracy nahm ihre bereits gefalteten Sachen entgegen. »Ich wollte Paul fragen, ob er nicht Lust hat, mit uns zu segeln«, sagte sie.
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»Wie lieb von dir«, sagte Anna. »Aber wir haben heute nachmittag einen Termin im Krankenhaus. Es müssen noch ein paar Tests gemacht werden. Ich nehme ihn mit zum Flughafen, und danach fahren wir in die Klinik.« Sie wollte Tracy nicht damit belasten, daß ihr die Geschichte mit dem offenen Kellerfenster nach wie vor Sorgen bereitete. »Er darf also mit zu Daddy?« fragte Tracy leicht beleidigt. »Du kannst auch mitkommen, wenn du willst«, sagte Anna. Mutter und Tochter schwiegen einen Moment. »Nein«, sagte Tracy schließlich. »Ich gehe lieber segeln. Kannst du mich bei Mary Ellen absetzen?« »Na klar«, sagte Anna. »Könntest du Paul wecken? Wir müssen bald los.« »Okay«, gab Tracy zurück. Anna tätschelte ihrer Tochter den Rücken, doch Tracy beachtete die zärtliche Geste nicht weiter. Sie nahm den Wäschestapel und eilte nach oben. Anna ging in die Küche und setzte sich an den Tisch. Sie hatte fast die ganze Nacht wachgelegen, war aber nicht müde. Sie fühlte sich aufgedreht und konnte es kaum erwarten, endlich zum Flughafen zu fahren. Das offene Kellerfenster hatte ihr keine Ruhe gelassen. Sie hatte das ganze Haus gecheckt und anschließend bei der Polizei angerufen. Der Beamte am anderen Ende war ziemlich genervt gewesen, das hatte sie genau gemerkt. Er erklärte ihr, daß ein offenes Fenster gewöhnlich kein zwingender Grund sei, gleich einen Streifenwagen loszuschicken. Sie solle sich keine Sorgen machen; er würde die Streife nur dann alarmieren, wenn sie unbedingt darauf bestand. Anna überlegte, blieb dann aber hart. Bald darauf war ein Streifenpolizist vorbeigekommen, einmal ums Haus gegangen und hatte ihr versichert, daß es keinen Grund zur Sorge gab. Anna ließ sich vom gelangweilten Gehabe 267
des Polizisten zwar nicht beirren, doch schließlich verdrängte sie ihre Befürchtungen wegen des offenen Fensters. Es gab schließlich noch ein anderes Problem, das ihr auf den Nägeln brannte. Während der langen Nacht hatte sie genug Zeit gehabt, über Thomas nachzudenken. Er war also mit einer anderen Frau im Bett gewesen, und nun wollte er, daß sie ihm verzieh. Es hing ganz von ihr ab. Die ganze Nacht hatte sie mit sich gerungen. Um halb fünf war sie schließlich eingeschlafen – doch beim Aufwachen hatte sie endlich Klarheit über ihre Gefühle. Sie hatte sich entschieden, und nun konnte sie es kaum erwarten, endlich Nägel mit Köpfen zu machen. Aber vorher mußte sie unbedingt noch mit Edward sprechen; es war früher Morgen, und aller Wahrscheinlichkeit war er noch nicht auf dem Weg in die Firma. Anna griff zum Telefon und wählte die Nummer der Stewarts. Die Glastüren der Apartmenthaus-Lobby wurden von einem schmalen, schon etwas älteren Mann in einer blauen Uniform geöffnet. »Guten Morgen, Sir«, sagte der Portier höflich. »Was für ein schöner Tag, nicht wahr?« »Wunderbar«, erwiderte Thomas, während er die elegante Lobby betrat. »Bei wem darf ich Sie melden, Sir?« fragte der Portier. Wie Thomas sah, war es derselbe Mann, der auch gestern Dienst gehabt hatte. Er fragte sich, ob der Portier sich ebenfalls an ihn erinnerte. Thomas kam es vor, als würde sich sein Ehering in seinen Finger einbrennen. »Bei Miss Kelleher. Zwanzigster Stock.« »Und Ihr Name, Sir?« »Mr. Lange.«
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Der Portier nickte, ging zu seinem Schreibtisch und griff zum Telefon. Thomas stellte seine Reisetasche ab und setzte sich auf eines der Sofas. In anderthalb Stunden mußte er am Flughafen sein, doch hatte er sich vorgenommen, vorher noch mit Gail zu reden, so schwer es ihm auch fiel. Nach seinem Treffen mit Anna hatte er sich ein Hotelzimmer genommen und dort den Rest des Abends verbracht, allein mit seinen Gedanken und einer Flasche Bourbon. Am Morgen war er hundemüde, und sein Schädel pochte; aber immerhin hatte er keine Schuldgefühle mehr. Der Portier wies zum Lift. »Bitte sehr, Sir.« »Danke«, sagte Thomas. Er stand auf, nahm seine Sachen und ging zum Fahrstuhl. Er dachte, daß Gail wohl nicht allzu überrascht sein würde. Sie hatten nur noch wenige Worte gewechselt, nachdem er ihr erklärt hatte, daß er sich mit Anna zum Dinner treffen wollte. Er hatte seine Sachen mitgenommen und ihr erklärt, er würde die Nacht in einem Hotel verbringen, daß er allein sein wolle, um in Ruhe über alles nachzudenken. Obwohl sie sich alle Mühe gegeben hatte, ihre Gefühle zu verbergen, war sie doch ziemlich einsilbig gewesen. Er hatte mit dem Gedanken gespielt, sich überhaupt nicht mehr bei ihr blicken zu lassen. Ihm graute davor, daß sie ihm womöglich eine Szene machte. Dennoch wollte er nicht einfach kneifen. Er ging den mit Teppich ausgelegten Flur hinunter und klingelte an ihrer Tür. Zwei Sekunden später öffnete sich die Tür, und sie stand vor ihm, offenbar drauf und dran, zur Arbeit zu gehen. Er sah sie kurz an, senkte dann aber den Blick. Gail musterte ihn und lachte. »Na, willst du bei mir einziehen?« fragte sie. Thomas war nicht zum Lachen zumute. »Ich habe einen Geschäftstermin in Boston«, sagte er. »Weiß ich doch«, sagte sie und trat beiseite, um ihn einzulassen. 269
Er sah sie nicht an, als er an ihr vorbei ins Wohnzimmer trat. Er spürte, daß ihr Blick auf ihn gerichtet war; wahrscheinlich ahnte sie bereits, weshalb er hergekommen war. »Tut mir leid wegen letzter Nacht«, sagte er. »Ich hätte dich vom Hotel aus noch anrufen sollen.« »Hab ich gar nicht erwartet«, gab sie zurück. Sie trat zu ihm, während er aus dem Fenster über die Skyline sah. Als er sich zu ihr umwandte, erkannte er im grellen Licht des Tages, daß sie dunkle Ringe unter den Augen hatte, wenn auch fast perfekt mit Make-up abgedeckt. »Wie war dein Treffen mit Anna?« fragte sie. Er überlegte, wie er ihr das Ganze erklären sollte, doch wußte er einfach nicht, wie er anfangen sollte. Wie willst du jemandem etwas erklären, das du selbst nicht verstehst, dachte er. »Ich habe Mist gebaut, Gail. Ich hätte vorher nachdenken sollen. Jetzt habe ich Angst, dir weh zu tun – und das habe ich doch nie beabsichtigt.« Gail nickte mit einem Blick, als sei sie Meilen von ihm entfernt. »Nein«, sagte sie leise. »Das habe ich auch nicht angenommen.« Edward legte den Hörer auf, ging wieder ins Eßzimmer und setzte sich. Schwein gehabt, dachte er. Unfaßbar, was er für einen Dusel hatte. Anna war am Telefon gewesen und hatte ihn gelöchert, ob er am Abend zuvor irgend etwas von einem Einbrecher bemerkt hätte. Zuerst war ihm der kalte Schweiß ausgebrochen, als sie das offene Kellerfenster erwähnt hatte, doch war es ihm gelungen, sie schließlich davon zu überzeugen, daß es nicht den geringsten Anlaß zur Sorge gab. Mehrmals hatte er ihr versichert, daß alles ruhig gewesen sei. Und dann hatte sie ihm erzählt, daß sie auf dem Sprung zum Flughafen war – und das Beste war, daß der Bengel sie auch noch begleitete. Und es gab nun wahrhaft keinen besseren Ort 270
als einen riesigen, anonymen Flughafen, um den Jungen in seine Gewalt zu bringen. Es würde ein Leichtes sein, sich irgendeine Geschichte auszudenken, um den Jungen wegzulocken. Und wenn er ihn erst einmal in seinen Fängen hatte, mußte er lediglich noch ein Versteck für ihn suchen, bevor er die Leiche im Schutz der Dunkelheit entsorgen würde. Ebenso simpel wie perfekt. Edward wischte sich die Krümel seines gerade gegessenen Croissants von den Fingern. Und jetzt wurde es langsam Zeit. Er warf einen Blick auf seine Uhr. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis Anna und der Junge sich auf den Weg machten. Er beschloß, sich bereit zu machen und direkt an ihre Fersen zu hängen – natürlich in gebührendem Abstand. Heute abend, dachte er, ist alles ein für allemal vorbei. Der Gedanke erfüllte ihn mit tiefer Erleichterung. Er würde in aller Ruhe im Club zu Abend speisen, im Wissen darum, daß der lästige Bursche, der sein friedliches Leben bedrohte, endlich tot und begraben war, und mit ihm auch all die Ängste, die ihn lange genug umgetrieben hatten.
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19 Anna parkte den Wagen zwischen den anderen Autos vor dem Terminal. Sie warf einen Blick auf Paul, der fasziniert das Treiben vor dem Flughafengebäude verfolgte. »Gut, daß du mitgekommen bist«, sagte sie. »Wie soll man sich aufs Fahren konzentrieren und dabei gleichzeitig die ganzen Schilder lesen? Wahrscheinlich wäre ich am Ende noch auf dem Rollfeld gelandet.« Paul zuckte mit den Schultern. Er wäre lieber zu Hause geblieben oder mit Tracy zum Segeln gegangen und war ein bißchen eingeschnappt. »Ach, das hättest du bestimmt auch allein hingekriegt«, sagte er. »Möglich. Aber mit einem Kopiloten geht’s eben leichter.« Sie wollte nicht, daß er sich wie ein kleines Kind vorkam, das keinen Schritt allein tun durfte, doch das offene Kellerfenster bereitete ihr nach wie vor Sorgen. Dauernd gingen ihr Rambos ominöse Andeutungen durch den Kopf, auch wenn sie darüber Stillschweigen bewahrte. Gleichzeitig versicherte sie sich in einem fort, daß keine Bedrohung für Paul bestand. Dennoch hatte ihr das offene Kellerfenster in Erinnerung gerufen, daß man nie sicher sein konnte. Thomas hätte Rambos Gefasel mit einem Schulterzucken abgetan; plötzlich kam Anna der Gedanke, daß sie es mit der Vorsicht vielleicht wirklich übertrieb. Nichtsdestotrotz war ihr schlicht wohler, wenn sie den Jungen bei sich hatte. Und wenn Thomas erst einmal wieder zu Hause war … Sie kramte in ihrer Handtasche und förderte einen Lippenstift zutage. Sorgfältig trug sie ihn auf und besah sich im Rückspiegel. Dann drehte sie den Lippenstift wieder zu und wandte sich an ihren Sohn. »Willst du mitkommen?« 272
Paul schüttelte den Kopf. Anna sah zum Eingang des Terminals; überall wimmelte es nur so von Polizisten. »Ich glaube, hier bist du sicher«, sagte sie. »Aber laß die Türen verschlossen. Ich sage dem Polizisten da drüben, daß er ein Auge auf dich haben soll.« »Wieso?« fragte Paul. »Wir sind in New York, Schatz. Hier muß man immer beide Augen offenhalten. Willst du wirklich nicht mitkommen und dir das Terminal ansehen? Im Auto langweilst du dich doch nur.« »Keine Lust«, sagte Paul mißmutig. Anna runzelte die Stirn. »Ist alles okay?« »Ja«, gab er genervt zurück. »Na gut«, sagte sie. »Ich bin bald zurück. Paß gut auf den Wagen auf.« Sie stieg aus und schloß ab. Sie winkte Paul noch einmal, blickte nach rechts und links und eilte auf den Eingang des Terminals zu. Paul beugte sich vor und drehte das Autoradio an. Der Sprecher redete mit durchdringender Stimme vom Ende der Ferien, was Pauls Laune auf den Nullpunkt sinken ließ. Ihm graute vor dem Schulbeginn. Wahrscheinlich würden sie ihn alle anglotzen. Er hatte keine Freunde hier, und obwohl das während des Unterrichts eigentlich egal war, würde er in den Pausen wohl ziemlich allein herumstehen. Immerhin hatte er die leise Hoffnung, daß er über Tracy den einen oder anderen kennenlernen würde. Schließlich hatte sie ihn heute sogar eingeladen, mit ihr und ihren Freunden segeln zu gehen. Es war zwar wahrlich nicht das Gelbe vom Ei, sich an den Rockzipfel seiner kleinen Schwester zu hängen, aber immer noch besser als gar nichts. Ein plötzliches Klopfen an der Fensterscheibe ließ ihn zusammenfahren; halb erwartete er, daß es Anna war, halb, daß irgendein kaputter Typ ihm eine Pistole vors Gesicht hielt. New York, hatte sie gesagt. Hier muß man immer beide Augen 273
offenhalten. Aber er sah in die besorgte Miene Edward Stewarts, der zu ihm hereinspähte. Paul sah ihn verblüfft an, während Edward ihm bedeutete, die Scheibe herunterzulassen. Paul schaltete das Radio aus und ließ das Fenster herunter. »Paul«, sagte Edward in eindringlichem Ton. »Wo ist deine Mutter?« Paul nickte in Richtung des Flughafengebäudes. »Da drin«, sagte er. »Mein Vater fliegt nach Boston. Was machen Sie denn hier?« »O nein«, stieß Edward hervor. Er richtete sich auf und zog eine alarmierte Grimasse. »Was ist denn los?« fragte der Junge. »Du meine Güte«, sagte Edward. »Dein Vater ist nicht am Flughafen, Paul. Er … Er ist heute morgen in der Stadt von einem Straßenräuber niedergestochen worden. Er liegt im Krankenhaus.« »O Gott«, sagte Paul leise. »Und da bei euch niemand zu Hause war, hat die Polizei bei mir angerufen. Deine Mutter sucht Tom jetzt bestimmt überall.« »Ich kann ja versuchen, sie zu finden«, erbot sich Paul. Edward schien zu überlegen, schüttelte dann aber den Kopf. »Nein. Besser, wenn ich das übernehme. Ich wollte euch zum Krankenhaus fahren. Mein Wagen steht in dem Parkhaus da drüben.« Er zeigte auf ein etwas weiter entferntes Gebäude gegenüber dem Hauptterminal. »Ebene H, Stellplatz 13. Meinst du, du findest ihn?« »Na klar«, sagte Paul. »Warte dort auf mich. Ich gehe unterdessen Anna suchen.« »Und was ist mit unserem Auto?« fragte Paul, während er aus dem Volvo stieg und die Tür hinter sich zuschlug. 274
»Das muß solange stehenbleiben«, erwiderte Edward. »Ich sage dem Polizisten da drüben Bescheid. Und du setzt dich solange in meinen Wagen und wartest auf uns. Ich habe die Türen offengelassen.« »H-13?« »Genau.« Paul betrat das Parkhaus. Draußen herrschte strahlender Sonnenschein; hier drin war es düster und totenstill. Ein paar Leute eilten schweigend an ihm vorbei zum Ausgang, aber sonst war das Parkhaus so gut wie leer; es sah aus wie ein Friedhof für Kraftfahrzeuge. Er sah, daß er nach oben mußte. Er ging die Rampe hinauf in die vollbesetzte erste Etage, stellte aber fest, daß die Stellplätze hier nur bis zum Buchstaben F gingen, und machte sich seufzend auf zum nächsten Stockwerk; hier standen schon erheblich weniger Autos, und dazu war es still wie in einer Gruft. Er dachte an Thomas, und unwillkürlich stellte er sich vor, wie sein Vater blutend auf dem Trottoir lag, während ein Straßenräuber sich mit seiner Brieftasche aus dem Staub machte. Ein leiser Schauder überlief ihn bei dem Gedanken. Das düstere Parkhaus wirkte plötzlich bedrohlich, und er beschleunigte seine Schritte. Er würde sich in den Wagen setzen, die Knöpfchen herunterdrücken und auf Mr. Stewart warten. Während er die Reihen der Autos entlangging, hielt er nach Parkebene H Ausschau. Dabei kam er am Aufzug vorbei. Das Display über den Türen zeigte an, daß der Lift gerade auf dem Weg nach oben war. Der Parkplatz neben dem Aufzug war H-7; es konnte also nicht mehr weit sein. Er zählte die einzelnen Parkplätze und erkannte beim Näherkommen, daß Mr. Stewart einen großen, auf Hochglanz polierten Cadillac fuhr. Er trat auf den Wagen zu und wollte schon die Beifahrertür öffnen, als er mitten in der 275
Bewegung erstarrte. Die endlos lange Motorhaube glänzte wie ein schimmernder schwarzer Spiegel. Und ganz vorn befand sich eine prächtige Kühlerfigur, wie er sie noch nie gesehen hatte – ein goldener Adler mit ausgebreiteten Schwingen und ausgefahrenen Krallen, geöffnetem Schnabel und zornigen, zu Schlitzen verengten Augen. Ein jäher, erbarmungsloser Schmerz zuckte durch seinen Schädel; unwillkürlich krümmte er sich vornüber. Er hielt sich am Türgriff fest, während ihm schwindelte und seine Beine nachzugeben drohten. Den Blick auf den Adler geheftet, machte er zwei Schritte rückwärts. Plötzlich spürte er eine schwere Hand auf seinem Rücken. Jemand riß die Wagentür auf und stieß ihn in den Cadillac; er knallte mit dem Kinn gegen das Armaturenbrett. Im ersten Moment fühlte er sich wie gelähmt, und im nächsten Augenblick entfuhr ihm ein heiserer Aufschrei, als er in das Gesicht des Angreifers starrte. Edward Stewarts eiskalte Augen fixierten ihn aus dem Halbdunkel der Parkgarage. Paul hob die Faust, doch Edward rang ihn nieder und drückte ihn mit dem Knie in den Sitz. Mit einem feuchten Lappen erstickte er Pauls Schreie; ein durchdringender Geruch mischte sich in den Atem des Jungen. In den Sekunden, ehe er das Bewußtsein verlor, wurde er in seine Kindheit zurückversetzt: Er war wieder ein kleiner Junge, der benommen am Rand einer Einfahrt lag, unfähig, sich zu bewegen, während sich von oben ein Paar eiskalter Augen auf ihn richtete. Er hatte um Hilfe gefleht, doch schon damals hatte er gewußt, daß die riesigen Hände, die sich nach ihm ausstreckten, keine Rettung, sondern nur weiteres Unheil brachten. Anna ließ den Blick über die Schlange der Passagiere schweifen, die mit ihren Taschen vor der Sicherheitskontrolle anstanden. Dann sah sie seine hängenden Schultern – eine 276
Körperhaltung, die sie an Paul erinnerte, der an jenem Morgen ebenso halb zusammengesackt in der Küchentür gestanden hatte. Wie sehr sich Vater und Sohn doch glichen! Thomas rückte in der Schlange auf, ohne zu bemerken, daß sie ihn beobachtete. Kurz fragte sie sich, ob sie wirklich den Mut hatte, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Während er vor das Sicherheitspersonal trat und seine Sachen auf das Laufband stellte, schwand plötzlich die Entschlossenheit, die ihr den ganzen Morgen Auftrieb gegeben hatte. Vielleicht hatte sie alles bloß falsch verstanden. Vielleicht wollte er bei dieser anderen Frau bleiben. Anna spürte, wie sich ihr die Kehle zuschnürte. Er ist mein Mann, sagte sie sich. Nicht irgendein Fremder. Obwohl sie seine Beweggründe nicht verstand, kannte sie ihn doch besser als jeden anderen Menschen. So sehr konnte sie sich nicht in seinen Gefühlen täuschen. Du hast doch bloß Angst, sagte sie sich. Das ist alles. Kämpfe um ihn. Und das wirst du jetzt tun. Sie zwang sich, endlich zur Tat zu schreiten, und rief nach ihm. Thomas wandte sich um und ließ suchend den Blick schweifen. Als er sie erblickte, erschien ein Lächeln auf seiner niedergedrückten Miene. »Anna!« rief er. Er trat aus der Schlange und kam zu ihr. Alles wird wieder gut, dachte sie. »Was machst du denn hier?« Sein warmes Lächeln machte sie ganz verlegen. »Ich … ich wollte dir nur tschüs sagen.« In seinem erschöpften Blick spiegelte sich leise Hoffnung. Er stellte seine Taschen auf den Boden und wischte sich die Hände an der Hose ab.
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Anna sah, daß er nicht wußte, was er sagen sollte. Sie hatte ihm immer goldene Brücken gebaut, und so war es auch diesmal an ihr, den ersten Schritt zu tun. »Ich habe so gut wie kein Auge zugetan letzte Nacht«, sagte sie. »Ich habe darüber nachgedacht, was du gesagt hast. Deine Worte sind mir ziemlich an die Nieren gegangen.« »Ich weiß«, sagte er. »Ich habe mich wie ein Idiot verhalten.« »Aber ich wollte nicht, daß du nach Boston fliegst, ohne daß wir uns noch einmal gesehen haben.« Thomas nickte bedrückt. »Ich weiß, wir können die offenen Fragen jetzt nicht klären«, sagte sie. »Aber je länger ich über unsere Probleme nachdenke, desto mehr komme ich zu dem Schluß, daß wir beide unseren Teil dazu beigetragen haben. Ich war so sehr mit Paul beschäftigt, daß ich überhaupt nicht mehr gemerkt habe, was du durchmachst. Nun ja. Du hast mich gebeten, dir zu verzeihen. Und das will ich hiermit tun. Ich verzeihe dir.« Verlegen standen sie da und starrten einander an. Zögernd ergriff Thomas ihre rechte Hand. Er nahm sie zwischen seine Hände; seine Augen wurden feucht, während er ihre Hand streichelte und schließlich drückte. Sie sah ihm ins Gesicht, spürte die Wärme seiner Hände; der gepreßte Zug um seinen Mund sagte ihr, daß er mit aller Macht versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Anna mußte ebenfalls schwer schlucken. Überwältigt von ihren Gefühlen, wußte sie, daß sie das Richtige getan hatte. Sie würden alles in Ruhe aufarbeiten, alle Mißverständnisse der Vergangenheit klären. Wir sind wieder ein Paar, dachte sie, während sie auf ihre ineinander verschränkten Hände sah. Eine Lautsprecherdurchsage ertönte. »Die Passagiere des Zehn-Uhr-Flugs nach Boston werden zum Abflugsteig gebeten.« Thomas gab einen Seufzer von sich. »Mein Flug«, sagte er. 278
»Dann beeil dich besser«, sagte sie. »Ich rufe dich heute abend an«, sagte er, aber es klang mehr wie eine Frage. Anna nickte. »In welchem Hotel bist du denn?« »Im Copley Plaza.« »Okay. Ja, ich würde mich freuen, wenn du anrufst.« Er griff nach seinem Aktenkoffer. »Und?« sagte er. »Ist zu Hause alles in Ordnung?« Anna zögerte, als ihr abermals das offene Kellerfenster in den Sinn kam. Aber er wollte los und sie ihn nicht noch zusätzlich belasten. Außerdem würde bald alles wieder gut werden, wenn er erst wieder zu Hause war. Sie lächelte. »Alles bestens.« »Wo sind die Kinder?« »Tracy ist mit Mary Ellen segeln gegangen. Paul wartet draußen im Wagen.« Anna sah, wie ein Schatten über seine Miene huschte; instinktiv wurde ihr klar, daß er sich verletzt fühlte, weil der Junge nicht mit ihr gekommen war. »Er wollte dich auch sehen«, sagte sie, »aber ich habe ihn gebeten, im Auto zu bleiben. Ich stehe direkt vor dem Terminal.« Thomas warf einen Blick auf die Schlange vor dem Checkin. »Sag den beiden liebe Grüße von mir.« »Mach ich.« Anna lächelte. Unvermittelt stellte er seine Sachen wieder ab und nahm sie in die Arme. Sie erwiderte seine Umarmung; sie hielten sich eng umschlungen. Er vergrub sein Gesicht in ihrem Haar, und sie spürte, wie er zitterte. Ihr wurden die Knie weich. »Du fühlst dich so gut an«, flüsterte er. Sie klopfte ihm auf den Rücken. »Beeil dich, sonst verpaßt du noch deine Maschine.«
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Er küßte sie leidenschaftlich auf den Mund, ehe er sie zögernd losließ. Dann war er auch schon fort; er wandte sich noch einmal um und winkte, als er durch den Metalldetektor trat und Richtung Gate lief. Anna winkte zurück, allein und doch auch glücklich. Sie rief sich in Erinnerung, daß er ja nur eine Nacht in Boston war. Morgen würde er wieder zurücksein. Wieder zu Hause, und sie würden neu anfangen. Sie sah ihm nach, bis er aus ihrem Blick entschwunden war, und machte sich auf den Weg zum Ausgang. Geschäftsleute in Anzügen eilten an ihr vorbei, auf dem Weg zu ihren Maschinen. Vor den Ticketschaltern standen die unterschiedlichsten Leute. Ein junger Typ mit Sonnenbrille und Sportschuhen kehrte den Popstar heraus. Eine Frau in einem adretten, maßgeschneiderten Hosenanzug kramte in ihrer Handtasche, während ein leger gekleidetes Paar seine Tickets studierte. Menschen auf Reisen, dachte Anna. Leute, die in den Urlaub flogen oder eine wichtige Dienstreise antraten. Dennoch beneidete sie sie nicht. Sie war froh, wieder nach Hause zu fahren, sich um den Haushalt und die Kinder kümmern zu können. Das Haus an der Hidden Woods Lane bedeutete ihr mehr als jede fremde, noch so vielversprechende Stadt. Morgen würden sie alle wieder unter dem vertrauten Dach vereint sein. Erneut mußte sie unwillkürlich an das offene Kellerfenster denken, doch dann schüttelte sie entschlossen den Kopf. In Zukunft würde Thomas wieder nach dem Rechten sehen. Anna ging durch die Halle, vorbei an Flughafenangestellten in blauen Uniformen und vorbeieilenden Passagieren. Sie trat durch die automatischen Türen aus dem klimatisierten Terminal auf die sommerlich warme, nur so von Menschen wimmelnde Straße. Nicht weit entfernt stand ihr Wagen; sie war erleichtert, als sie sah, daß kein Polizist danebenstand und ihr einen Strafzettel ausstellte. 280
Sie schlängelte sich zwischen den Gepäckträgern und Taxis durch und eilte über die Straße, wobei sie versuchte, durch die Heckscheibe einen Blick auf Paul zu erhaschen, ohne ihn jedoch erspähen zu können. Wahrscheinlich ist er eingenickt, dachte sie. Teenager. Sie aßen wie die Scheunendrescher und schliefen wie die Murmeltiere. Sie trat an die Beifahrertür, hatte bereits einen flotten Spruch auf den Lippen – Na, du bist mir ja ein toller Aufpasser –, dann sah sie, daß ihr Sohn gar nicht im Auto saß. Einen Moment lang stand sie wie erstarrt neben dem Wagen. Nachdem sie sich vom ersten Schock erholt hatte, blickte sie sich in alle Richtungen um. Keine Spur von ihm. Sie überlegte. Vielleicht war er auf der Suche nach ihr. Oder er war kurz ins Terminal gegangen, um sich etwas Süßes zu kaufen. Anna überquerte die Straße und eilte zurück zum Terminal. Dort angekommen, sah sie sich in alle Richtungen um, hielt Ausschau nach Pauls Militärweste und den schwarzen Turnschuhen, konnte aber weit und breit nichts dergleichen entdecken. Sie lief zum Zeitschriftenstand, wo es ihr schließlich gelang, die Aufmerksamkeit des Verkäufers zu erlangen, der mit einer Reihe von Kunden beschäftigt war. »Entschuldigen Sie«, unterbrach Anna ihn. Mit eulenhaften Augen blickte sie der Mann durch seine dicken Brillengläser an. »Haben Sie vielleicht meinen Sohn gesehen? Er ist fünfzehn, hat braune Haare und trägt eine Militärweste mit abgeschnittenen Ärmeln.« »Nein«, sagte der Mann und wandte sich an den nächsten Kunden. »Er ist ziemlich dünn. Und etwa so groß.« »Nein, Lady«, sagte der Mann und kehrte ihr den Rücken zu.
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Anna sah sich hektisch im Terminal um. Vielleicht wollte er ja den Start von Thomas’ Maschine mitverfolgen. Sie warf einen Blick auf die Anzeigetafel und eilte durch die Korridore zum Wartebereich. Wahrscheinlich kommt er mir gleich entgegen, dachte sie. Wie sie sah, war der Boarding-Bereich verlassen; nur ein paar Flughafenangestellte standen dort und genossen sichtlich die Pause vor dem nächsten Ansturm. Anna fragte auch sie nach Paul, aber keiner hatte ihren Sohn gesehen. Verdammt noch mal, dachte Anna, als sie zurückging. Warum hatte er das gemacht – sie hatte ihm doch ausdrücklich gesagt, er solle im Wagen bleiben! Sie versuchte, die dunkle Ahnung zu unterdrücken, die wie ein Phantom aus der Vergangenheit Besitz von ihr ergriff. Die Herrentoilette befand sich direkt neben einer Reihe von Telefonkabinen. Sie sah auf einen Blick, daß Paul in keiner der Kabinen war. Im selben Moment trat ein Mann in einem grauen Anzug aus der Herrentoilette. Anna zögerte, richtete dann aber doch das Wort an ihn; sie versuchte, so beiläufig wie möglich zu klingen. »Entschuldigung«, sagte sie, »aber ich suche nach meinem Sohn. Unser Flug geht in ein paar Minuten. Ist er vielleicht da drin?« Sie wies auf die Tür der Herrentoilette. »Ein Teenager, etwa so groß. Er trägt eine Militärweste mit abgeschnittenen Ärmeln.« Der Mann blickte erst erstaunt, dann peinlich berührt drein. Brüsk schüttelte er den Kopf. »Ich habe ihn nicht gesehen«, sagte er schroff und ließ sie stehen. Langsam ging Anna zurück durch das Terminal. Unwillkürlich begann sie zu zittern, und es nützte nichts, daß sie sich sagte, ihre Ängste seien lächerlich. Wahrscheinlich saß er mittlerweile längst wieder im Auto. Tatsache war, daß sie ihm ordentlich den Marsch blasen würde.
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Mit Adleraugen hielt sie weiter Ausschau nach ihm, während sie dem Ausgang zustrebte. Langsam trat sie durch die automatischen Türen, als wolle sie ihm noch ein paar Sekunden mehr Zeit lassen, zum Wagen zurückzukehren. Ihre Finger krampften sich um die Autoschlüssel. Auf der Straße staute sich der Verkehr. Sie ging zwischen den Autos durch, wobei sie es vermied, in Richtung ihres eigenen Wagens zu sehen. Als sie den Volvo schließlich erreicht hatte, wußte sie bereits, was sie erwartete. Weit und breit war nichts von Paul zu sehen. Sie starrte auf den Beifahrersitz. Sie schloß auf und stieg ein. Ich bleibe einfach hier sitzen und warte, dachte sie. Es kann nicht mehr lange dauern, bis er zurückkommt. Ein paar Minuten lang saß sie wie gelähmt da und starrte durch die Windschutzscheibe. In ihrem Kopf war nichts als weißes Rauschen; es gelang ihr nicht, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Sie zuckte zusammen, als es nachdrücklich am Fenster klopfte. Eine Politesse sah zu ihr herein; in den Händen hielt sie Kugelschreiber und Strafzettelblock. »Sie können hier nicht stehenbleiben. Mehr als fünfzehn Minuten Parkdauer sind nicht gestattet.« Anna blickte die Politesse an. Wie in Zeitlupe öffnete sie den Mund. Die Politesse runzelte die Stirn, als sie bemerkte, daß die Frau im Wagen leichenblaß war. »Stimmt irgend etwas nicht?« fragte sie. Der offizielle Tonfall war völlig aus ihrer Stimme gewichen. »Geht es Ihnen nicht gut?« »Helfen Sie mir«, flüsterte Anna. »Mein Sohn ist verschwunden. Er wurde schon einmal entführt. Und jetzt ist wieder etwas passiert … Ich kann ihn nirgends finden.«
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20 Auf allen vieren kroch Edward über den offenen Dachboden der Windmühle, räumte Stapel alter Zeitungen und braune Pappkartons aus dem Weg. Es war nur ein kleiner, aber solide gezimmerter Dachboden. Eigentlich hatte er dort einen Teil seiner Modelle unterbringen wollen, doch befand sich dort ausschließlich altes Gerümpel. Edward besah sich den Stützpfeiler in der einen Ecke; genau das Richtige für seine Zwecke. Er ging in die Hocke, wobei er sich duckte, um sich nicht den Kopf am Querbalken zu stoßen. Über ihm befand sich keine Decke, da die Wände der Mühle konisch nach oben zuliefen; dort war nichts als der dunkle, fensterlose Mühlturm. Bestens. Als er sich zur Stiege wandte, fiel einer der Kartons über die Kante und schlug dumpf auf dem Boden auf. Edward spähte über die Kante nach unten. Der Karton lag auf der Seite; alte Farbtuben und Pinsel waren quer über den Boden verstreut, und aus einer umgefallenen Kaffeekanne lief Terpentin. Das Rinnsal floß über den Boden und sickerte dann in die abgetragene Militärweste des Jungen, der auf dem nackten Beton lag. Paul lag reglos da. Sein Mund stand offen, und seine Augenlider waren nur halb geschlossen; das Weiß seiner Augäpfel schimmerte fahl im Zwielicht der düsteren alten Windmühle. Edward gab einen Seufzer von sich. Der Gedanke, den Bengel die Stiege hinaufschleppen zu müssen, gefiel ihm nicht besonders. Dennoch war er auf dem Dachboden besser verwahrt, nur für den Fall, daß vor Einbruch der Dunkelheit jemand zufällig die Mühle betreten sollte; was unwahrscheinlich, aber eben auch nicht völlig unmöglich war. Er zog eine finstere Miene, als er daran dachte, wie ihn Iris am Abend zuvor 284
überrascht hatte. Er fuhr fort, Kartons beiseite zu räumen und Platz für den Jungen zu schaffen. Wenn es erst dunkel war, würde er die Leiche wegschaffen und an einem abgelegenen Ort entsorgen – einer Müllkippe zum Beispiel, etwa der großen Deponie in Kingsburgh. Gut möglich, daß es Monate dauerte, bis sie ihn fanden. Die auf dem Boden liegende Gestalt gab ein leises Stöhnen von sich. Als Edward einen Blick nach unten warf, sah er, daß die Augenlider des Jungen zuckten; schwach bewegte sich sein rechter Arm. Edward griff sich einen alten Lappen und ein Seil; dann kletterte er die Leiter herunter und trat zu dem benommen daliegenden Jungen. »Hilfe«, sagte der Junge. Edward kniete sich neben ihn und stopfte ihm den Stoffetzen in den Mund. Als Paul die Augen aufriß, spiegelte sich in ihnen jene nackte Angst, die Edward vor so vielen Jahren in denselben Augen gesehen hatte. Er fesselte Hände und Füße des Jungen und drehte ihn dann auf den Rücken. Panisch schüttelte der Junge den Kopf, während ihm die Augen aus den Höhlen traten. Edward schenkte ihm keine weitere Beachtung. Er erhob sich und trat an eines der sechs bullaugenähnlichen Fenster der Mühle. Es war ein diesiger, unangenehm schwüler Nachmittag. Das Anwesen der Stewarts bot einen stillen, beschaulichen Anblick; weit und breit war niemand zu sehen, der den Frieden gestört hätte. Beruhigt widmete sich Edward wieder seiner Aufgabe. Er warf einen Blick nach oben. Ihm blieb keine Wahl. Er mußte den Bengel nach oben tragen. Er holte tief Luft und wappnete sich innerlich für sein strapaziöses Vorhaben. Während er in die Knie ging und den Jungen unter den spitzen Schultern und den Knien faßte, erinnerte er sich daran, daß bald alles vorbei sein würde. Er hievte den Jungen hoch; einen Moment lang kämpfte er um sein Gleichgewicht, ehe er sich mit seiner Last auf die Stiege zu bewegte. 285
Gleichzeitig erinnerte er sich, wie er den Jungen damals auf den Armen gehalten hatte. Allerdings war Paul um einiges leichter gewesen; ein Kleinkind eben. Er sah ihn vor sich, im Gras neben der Einfahrt, nachdem er ihn angefahren hatte. Edward verharrte am Fuß der Stiege, während er sich des flehentlichen Blicks des Kindes entsann, das völlig verängstigt zu ihm aufgesehen hatte. Er erinnerte sich, wie ihm der Schreck durch Mark und Bein gefahren war, als er erkannte, daß es sich bei dem blutenden Kind um den Sohn seiner Nachbarn handelte. Das Herz hatte ihm bis zum Hals geschlagen. Er hatte eine Entscheidung treffen müssen, und zwar schnell. Und er war seit jeher ein Mensch, der nicht lange zögerte; Reichtum und Erfolg wurden eben nur jenen zuteil, die auch in prekären Situationen zu handeln wußten. Von einer Sekunde auf die andere hatte er seine Entscheidung gefällt. Und sofort die Initiative ergriffen. Es war ein beherzter Entschluß gewesen, und alles hätte auch funktioniert, wäre ihm Rambo nicht in die Quere gekommen – Rambo, der das Kind gerettet hatte. Dennoch war ihm jahrelang niemand auf die Schliche gekommen. Und stünde er heute noch einmal vor derselben Entscheidung, dachte er, würde er wieder genauso handeln. Den Jungen auf den Armen, sah Edward die Holzstiege hinauf. Nach jedem Schritt machte er eine kleine Pause. Er spürte die Anspannung im Körper des Jungen, aber er machte keine Anstalten, sich zu wehren. Sein Kopf sackte nach hinten, doch kein Ton drang aus seinem geknebelten Mund. Edward zählte die Stufen; es waren nur noch wenige Schritte. Anna schloß die Augen und ließ den Kopf gegen die Stuhllehne sinken. Ihre Augen brannten, und sie rieb sie mit den Fingerknöcheln, als könne sie den Schmerz so ein wenig lindern, doch es wurde einfach nicht besser.
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Sie blinzelte und ließ den Blick durch das Polizeirevier schweifen. Es herrschte geschäftiges Treiben, ein stetes Kommen und Gehen von Polizisten in blauen Uniformen; hier auf der Dienststelle wirkten die Waffen an ihren Hüften seltsam fehl am Platz. Anna wandte sich an die Polizistin, die am Schreibtisch vor ihr saß. »Kann ich mal telefonieren?« fragte sie. »Sie müssen zuerst die Neun drücken«, sagte die Polizistin. Anna wählte die Nummer in Boston und blickte sich nach dem jungen Officer um, der sich um sie kümmern sollte. Nach zwei ergebnislosen Stunden bei der Flughafenpolizei am La-Guardia Airport hatten ihr die dortigen Beamten geraten, nach Hause zu fahren und abzuwarten. Der junge Polizist hatte sie nach Stanwich zurückgefahren und gesagt, sie solle sich keine Sorgen machen, sondern erst einmal in Ruhe abwarten. Daß Jugendliche vorübergehend Reißaus nahmen, kam alle Naselang vor. Anna hatte darauf bestanden, daß er sie zum Polizeirevier von Stanwich brachte; und hier befand sie sich nun seit einer guten halben Stunde. »Copley Plaza Hotel«, meldete sich eine Stimme am anderen Ende. Anna bat darum, mit Thomas verbunden zu werden, doch offenbar war er nicht auf seinem Zimmer. »Möchten Sie eine Nachricht hinterlassen?« fragte die Rezeptionistin. »Ja«, sagte Anna leise. Sie überlegte kurz, was sie sagen sollte. »Bitte richten Sie ihm aus, seine Frau hätte angerufen. Er soll sofort nach Hause kommen. Paul ist verschwunden.« Die Rezeptionistin notierte die Nachricht und versprach, ihn zu unterrichten, sobald er wieder da war. Die Polizeibeamtin tat so, als hätte sie nichts mitbekommen. Anna lehnte sich zurück und schloß abermals die Augen. Sie hatte hin und her überlegt, ob sie ihn anrufen sollte, hatte sich doch die Situation zwischen ihnen gerade erst wieder 287
beruhigt. Sie wollte nicht schon wieder eine Krise heraufbeschwören. Dennoch mußte sie mit Tom sprechen; sie brauchte ihn jetzt. Paul war irgend etwas Furchtbares zugestoßen, da war sie sich sicher; sie spürte es mit jeder Faser ihres Körpers, egal, was die Polizei glauben mochte. »Mrs. Lange?« Anna sah auf und erhob sich; vor ihr stand der junge Streifenpolizist. »Ja?« fragte sie besorgt. »Wir wären dann soweit.« »Was werden Sie unternehmen?« fragte sie. Der junge Officer lächelte ermutigend und steckte sein Notizbuch in die Hosentasche. »Im Moment können wir nicht viel tun. Wir werden erst einmal abwarten, ob er nicht von selbst wieder auftaucht.« Anna starrte ihn ungläubig an. »Was? Sie wollen nicht nach ihm suchen?« Der Polizist zuckte bedauernd mit den Schultern. »Wir haben nicht den geringsten Anhaltspunkt. Er hat ja keinen Zettel oder so hinterlassen. Dennoch gut möglich, daß er einfach ausgerissen ist. Das wäre nun wirklich nichts Ungewöhnliches.« Anna spürte, wie ihr die Zornesröte ins Gesicht stieg; sie zwang sich, ruhig zu bleiben. »Es geht hier nicht um einen Ausreißer, Officer Parker. Meinem Jungen ist irgend etwas zugestoßen. Wir können nicht einfach abwarten und Tee trinken.« Der junge Beamte verschränkte die Arme. »Mrs. Lange, ich hätte nicht einmal einen Bericht aufnehmen müssen. Offiziell gesehen gilt der Junge bislang nicht als vermißt.« »Aber er sollte doch im Wagen auf mich warten. Und als ich zurückkam …« Anna merkte, wie sie lauter und lauter wurde; sie senkte die Stimme, so schwer es ihr auch fiel. »Was ist mit den Datenbanken über verschwundene Kinder? Ich weiß, daß 288
Sie darauf Zugriff haben. Ich kenne mich aus mit diesen Dingen.« »Wir werden auf unsere Datenbanken zurückgreifen, wenn es notwendig sein sollte«, sagte der Officer. »Aber bislang gibt es nicht das geringste Indiz dafür, daß ihm irgend etwas passiert sein könnte.« Anna musterte den jungen Beamten mit eindringlichem Blick. »Officer«, sagte sie. »Sie haben doch bestimmt davon gehört, was vor elf Jahren mit meinem Sohn passiert ist.« »Ja, Ma’am«, sagte der junge Polizist leise. »Und ich bin fest davon überzeugt«, sagte Anna zögernd, »daß mein Sohn möglicherweise in großer Gefahr schwebt. Es wäre doch möglich« – und bei diesen Worten überlief sie ein Schauder –, »daß er wieder entführt worden ist.« Der Cop sah sie mitfühlend an. »Ich verstehe ja, daß Sie sich Sorgen machen, Ma’am – nach allem, was Sie durchgemacht haben. Aber Paul ist inzwischen ein Teenager. Und solche Fälle haben wir dauernd. Ich bin ganz sicher, daß er in Kürze wieder auftauchen wird. Wahrscheinlich ist er schon wieder zu Hause.« Wortlos starrte Anna den distanziert lächelnden Beamten an. Dann warf sie einen Blick zu der Polizistin hinüber, die sie von ihrem Platz hinter dem Schreibtisch musterte. Verlegen senkte die Beamtin den Blick. Hilflos ballte Anna die Fäuste. »O Gott – wenn doch bloß Buddy hier wäre! Er würde garantiert etwas unternehmen.« Der junge Polizist reagierte keineswegs eingeschnappt. »Machen Sie sich keine Sorgen, Mrs. Lange. Wenn Paul bis morgen nicht wieder auftaucht, werden wir alle Hebel in Bewegung setzen. Morgen ist auch Lieutenant Ferraro wieder im Dienst. Versuchen Sie sich ein bißchen zu entspannen.« Ohne ein weiteres Wort griff Anna nach ihrem Notizbuch und verließ das Polizeirevier. Officer Parker sah ihr mit einer Miene 289
hinterher, auf der sich Mitleid und kopfschüttelnde Bewunderung spiegelten. Wegen ihrer verbissenen Suche nach ihrem entführten Sohn war Anna Lange schon seit langem so etwas wie eine Legende für die Beamten auf dem Revier. Obwohl die meisten sie nie persönlich kennengelernt hatten, wußten doch alle von ihrer Obsession. Gut, am Ende hatte sie tatsächlich recht behalten. Das mußte man ihr zugestehen – doch mittlerweile schien ihr die Sache mit ihrem Sohn über den Kopf gewachsen zu sein. Officer Parker hatte an ein paar Abendseminaren in Psychologie an der Universität teilgenommen und sich seine eigene Theorie über Anna zurechtgelegt. Ihm war zu Ohren gekommen, daß sie am Abend zuvor wegen eines offenen Kellerfensters im Revier angerufen hatte. Ihr jetziges Verhalten bestätigte ihn nur in seinen Mutmaßungen: Das Verschwinden ihres Sohnes war ihr über die Jahre so sehr zur fixen Idee geworden, daß sie nun nicht akzeptieren konnte, daß er wieder bei ihr war. Die Suche nach ihrem Sohn war ihr zur Lebensaufgabe geworden. Es war wirklich eine bittere Geschichte. »Sie tut mir von Herzen leid«, riß ihn die hinter dem Schreibtisch sitzende Beamtin aus seinen Gedanken. »Ja, mir auch«, sagte er. »Kein Wunder, daß sie derart überreagiert. Und man kann ihr ja auch schwer einen Vorwurf machen, nach allem, was sie durchgemacht hat. Tja, Marian, ich mach mich dann wieder an die Arbeit.« Marian Hammerfeldt lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und tippte nachdenklich mit ihrem Kugelschreiber auf die Tischplatte, während sie über das Gespräch zwischen der völlig aufgelösten Mutter und Officer Parker nachdachte. Der junge Streifenpolizist hatte kaum verhehlen können, daß er Mrs. Lange für ein Opfer ihrer Einbildung hielt. Marian jedoch war sich da nicht so sicher. Während des Morgenkaffees hatte sie oft mit Buddy Ferraro über den Fall Lange gesprochen. 290
Einmal hatte er ihr gesagt, daß ihm Annas mütterliche Instinkte eine Menge Respekt abnötigten. Was Marian, die selbst Mutter war, sehr gut nachvollziehen konnte. Sie rief sich die Datei auf den Bildschirm, in der die Dienstpläne verzeichnet waren, aber auch, wo abwesende Beamte erreicht werden konnten. Auch die Adresse von Buddys Pension – sie lag ganz in der Nähe des Colleges, das sein Sohn künftig besuchen würde – war hier notiert, ebenso wie die Telefonnummer, unter der man ihn im Notfall erreichen konnte. Marian überlegte und griff dann schließlich zum Telefonhörer. Es war sein Fall, dachte sie. Er hatte die Ermittlungen im Fall Lange von Anfang an geleitet. Die aktuellen Ereignisse würden ihn sicher interessieren. Jetzt ist wieder alles beim alten, dachte Anna und sah sich müde im Wohnzimmer um. Sie fühlte sich völlig entkräftet, doch entging ihr nicht, was alles noch zu erledigen war. Die Blumen brauchten frisches Wasser, es mußte mal wieder Staub gewischt werden, und ums Abendessen mußte sie sich auch noch kümmern. Aber sie brachte nicht einmal die Energie auf, sich aus ihrem Sessel zu erheben. Damals, während der Monate nach Pauls Entführung und dem Verlust ihres ungeborenen Babys, war es genauso gewesen. Das Haus war ihr wie ein Gefängnis vorgekommen; jede noch so einfache Aufgabe im Haushalt hatte sie vollkommen überfordert. Das Warten hatte sie so unendlich viel Kraft gekostet, das Warten darauf, daß endlich das Telefon klingelte, und wenn es still blieb, das Warten darauf, daß der Tag zu Ende ging. Sie fühlte sich wie gelähmt in ihrem namenlosen Leid, das ihr jede Energie zu rauben schien. Und nun war alles wieder genau wie damals, nur daß sie zweifelte, ob es ihr gelingen würde, sich noch einmal gegen die innere Lähmung aufzubäumen. 291
»Gott bürdet einem nicht mehr auf, als man tragen kann«, hatte ihre Mutter oft gesagt. Anna wandte den Kopf und sah zu Pauls Babyfoto auf dem Kaminsims hinüber. Sie brachte es einfach nicht fertig, ihre Eltern in Ohio anzurufen und ihnen zu erzählen, was passiert war. Nicht jetzt jedenfalls. Sie waren so glücklich, daß ihr Enkel gefunden worden war, und hatten bereits angekündigt, sie bald zu besuchen. Außerdem mußte sie auf ihr Alter Rücksicht nehmen. Solche Nachrichten mochten einen neuerlichen Schlaganfall bei ihrem Vater auslösen. Nein, Mutter, dachte sie, du hattest nicht recht. Es ist mehr, als ich ertragen kann. Doch auch wenn sie immer tiefer in ihrem Kummer versank, war da doch noch ein winziger Willensfunke, der sie drängte, nicht weiter untätig herumzusitzen, etwas zu unternehmen, um ihren Sohn zu finden. Da war dieser Sheriff in West Virginia. Vielleicht sollte sie ihn anrufen und sich erkundigen, ob er etwas wußte. Oder ihn bitten, die Augen offenzuhalten. Wenn Paul ausgerissen war, würde er wahrscheinlich eine ihm vertraute Umgebung aufsuchen – doch während sie diese Möglichkeit noch einmal in Betracht zog, wußte sie mit absoluter Gewißheit, daß der Junge nicht auf eigene Faust abgehauen war. Sie erinnerte sich an ein Medium, eine nette, übersinnlich begabte Frau aus New Jersey, die ihr vor ein paar Jahren gesagt hatte, daß Paul am Leben sei und sich an einem Ort mit wärmeren Klima aufhielte. Sie hatte recht behalten mit ihrer Prophezeiung. Vielleicht konnte sie ja weiterhelfen. Der Gedanke gab ihr die Kraft, sich aus dem Sessel hochzustemmen. Die Telefonnummer der Frau befand sich in einem der Aktenordner, die sie über die Jahre angelegt und in denen sie alle wichtigen Informationen gesammelt hatte. Sie mußte die Ordner herauskramen und die Nummer suchen. Der Gedanke, auf die alten Akten zurückgreifen zu müssen, erfüllte sie mit so abgrundtiefer Verzweiflung, daß sie am liebsten in 292
sich zusammengesunken wäre, doch dann nahm sie alle Kraft zusammen und ging ins Arbeitszimmer, wo sie ihre Unterlagen aufbewahrte. Das Klingeln des Telefons ließ sie zusammenfahren. Sie lief zum Telefon und nahm den Hörer ab, noch bevor es ein zweites Mal geklingelt hatte. »Ja, hallo«, sprach sie atemlos in den Hörer. Am anderen Ende herrschte für einen Moment Stille, ehe Iris’ schüchterne Stimme an Annas Ohr drang. »Anna, ich bin’s. Iris.« Anna schloß die Augen und lehnte sich gegen die Wand. »Oh, Iris. Hi.« Iris zögerte. »Störe ich dich?« Anna spürte, wie ihr beim Klang der vertrauten Stimme Tränen in die Augen traten; Tränen, die sie den ganzen Tag zurückgehalten hatte. »Oh, Iris. Es tut mir leid, aber ich fühle mich nicht besonders gut.« »Was ist denn los?« fragte Iris. »Hast du wieder Streit mit Tom?« »Nein«, sagte Anna mit tränenerstickter Stimme. »Es ist wegen Paul. Er ist verschwunden.« »Verschwunden? Was meinst du?« »O Gott, das ist alles ein einziger Alptraum. Tom mußte heute morgen nach Boston, und ich habe Paul mit zum Flughafen genommen … und als ich zum Auto zurückkam, war er nicht mehr da. Spurlos verschwunden.« »Hast du die Polizei eingeschaltet?« »Ja. Ich habe ihnen alles gesagt, aber sie waren keine große Hilfe. Als das Telefon klingelte, habe ich erst gedacht, jemand vom Revier wäre dran.«
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»Es tut mir leid«, sagte Iris. »Ich wollte nicht die Leitung blockieren. Ich kann mir gut vorstellen, wie du dich jetzt fühlen mußt.« »Schon okay«, sagte Anna müde. »Es tut gut, deine Stimme zu hören. Wahrscheinlich rufen sie sowieso nicht an. Die glauben, ich bin hysterisch. Weil ich sie schon gestern abend gerufen habe, weil ich dachte, jemand hätte bei uns eingebrochen. Und jetzt ist Paul verschwunden. Aber ich glaube einfach nicht, daß das alles nur Zufälle sind.« »Jemand hat bei euch eingebrochen?« sagte Iris. »Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht habe ich mich ja wirklich getäuscht.« »Aha«, sagte Iris halb zu sich selbst. »Edward hatte also doch recht.« »Was meinst du?« fragte Anna. »Womit?« »Wegen gestern abend«, sagte Iris. »Er dachte, er hätte einen Einbrecher gehört. Aber als er dann nachgesehen hat, konnte er niemanden entdecken.« »Tatsächlich?« Annas Hand krampfte sich um den Hörer. »Er meinte, er hätte draußen jemanden gehört, aber dann war wohl doch nichts.« »Aber als ich heute morgen mit ihm telefoniert habe, hat er davon kein Wort gesagt. Obwohl ich ihn ausdrücklich gefragt habe, ob er irgend etwas bemerkt hat.« »Wahrscheinlich wollte er dich nicht beunruhigen, Anna«, sagte Iris unschlüssig. »Das verstehe ich nicht«, platzte Anna heraus. »Er muß doch gemerkt haben, wie ernst mir die Sache war.« »Es tut mir leid, Anna.« Iris klang betreten. »Ich weiß wirklich nicht, warum er nichts gesagt hat.« »Mach dir keine Gedanken, Iris. Es ist ja nicht deine Schuld. Ich werde einfach noch mal mit Edward sprechen.« 294
»Kann ich irgend etwas für dich tun?« fragte Iris. »Wenn du meine Unterstützung brauchst …« »Nein, mach dir keine Gedanken. Es geht mir schon wieder besser.« Annas Gedanken überschlugen sich, während sie überlegte, was es mit dem Einbrecher auf sich hatte. Wenn Edward ihr doch bloß reinen Wein eingeschenkt hätte … »Er wollte dich nicht verängstigen«, sagte Iris. »Edward wollte einfach Rücksicht auf dich nehmen, das ist alles.« »Ja, sicher«, murmelte Anna. Gleichzeitig überlief sie eine Gänsehaut. Es hatte also tatsächlich jemand versucht, bei ihnen einzubrechen. Und Edward konnte das bei der Polizei bestätigen. Dann kam ihr noch ein anderer Gedanke. »Wo bist du überhaupt, Iris? Ich dachte, du wärst auf der Wellnessfarm.« Iris verließ der Mut; das war ganz und gar nicht der richtige Zeitpunkt, ihre persönlichen Probleme vor Anna auszubreiten. »Bin ich ja auch«, sagte sie. »Ich habe einfach nur so angerufen.« »Oh.« Anna verlor sich wieder in ihren Gedanken. Mit einem Mal stieg Zorn in ihr auf; wenn da draußen tatsächlich ein Einbrecher sein Unwesen getrieben hatte, waren sie alle in Gefahr gewesen. Wie hatte Edward ihr das nur verschweigen können? Diesmal hatte er es mit seiner Arroganz wirklich zu weit getrieben. »Also«, sagte Iris. »Jetzt habe ich die Leitung lange genug blockiert. Ich rufe morgen wieder an, vielleicht hat sich bis dahin ja schon etwas getan. Mach dir keine allzu großen Sorgen, Anna. Paul ist bestimmt bald wieder da.« Anna wußte bereits, was sie unternehmen würde, noch bevor sie aufgelegt hatte. Sie würde zu den Stewarts hinübergehen und, falls Edward zu Hause war, ihn mit den Neuigkeiten konfrontieren, die sie soeben von Iris erfahren hatte. Und wenn sie die Polizei erst über den Einbrecher informiert hatten, 295
würden die Beamten bestimmt ihre zögernde Haltung aufgeben. Jedenfalls waren diese Informationen um einiges handfester als die Ahnungen einer Spiritistin. Wie auch immer, wenigstens wußte sie jetzt, was sie tun konnte. Und das war immer noch tausendmal besser als herumzusitzen, zu warten und sich zu fragen, ob sie ihren Sohn je wiedersehen würde.
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21 Am Ende der Einfahrt, die fast so lang wie eine Privatstraße war, erhob sich der Wohnsitz der Stewarts düster gegen den Nachmittagshimmel. Den Blick auf das Haus gerichtet, eilte Anna die Einfahrt hinauf. Seit jeher hegte sie das Gefühl, nie in einem derartigen Haus leben zu können, so prächtig es auch sein mochte. Häufig fragte sie sich, ob sich ein einfacher Mensch wie Iris in diesem Palast nicht völlig verloren vorkam. Sie hatte schon immer gedacht, daß Edward das Haus ausgesucht haben mußte. Kurz hielt sie inne und ließ den Blick über das Haus schweifen. Die Fenster waren allesamt dunkel; nichts schien sich drinnen zu rühren. Sie wußte, daß Edward an Wochentagen so gut wie immer in der Firma war. Aber gestern war er ja früher nach Hause gekommen; vielleicht hatte er auch heute zeitig Schluß gemacht. Halb wünschte sie sich, Iris wäre bei ihr; Edwards steife Art war ihr seit jeher nicht besonders angenehm. Obwohl er nur wenige Jahre älter als sie war, fühlte sie sich in seiner Gegenwart stets wie ein kleines Mädchen. Sie beschloß, zuerst einmal einen Blick in die Garage zu werfen und nachzusehen, ob Edwards Wagen da war. Der Kies knirschte unter ihren Füßen, als Anna auf die enormen Garagentore zuging. Sie preßte ihr Gesicht gegen das Fenster und sah hinein; nach ein paar Sekunden hatten sich ihre Augen auf das Dunkel eingestellt, und sie erblickte die Konturen des großen schwarzen Cadillacs. Edward fuhr stets schwarze Cadillacs, auch wenn er sich alle paar Jahre ein neues Modell kaufte. Gleichzeitig fiel ihr der goldene Adler ins Auge, die Kühlerfigur, die seit jeher die Motorhaube seiner Cadillacs zierte. Unter vier Augen hatten sie und Thomas sich so manches 297
Mal über Edwards Eitelkeit lustig gemacht, nicht zuletzt, weil seine dünkelhafte Art kaum zur Natur eines majestätischen Raubvogels passen wollte. Während sie die Kühlerfigur betrachtete, beschlich sie plötzlich ein seltsames Gefühl, auch wenn sie nicht genau wußte, warum. Schließlich wandte sie sich ab. Über den Adler konnte sie ein andermal nachdenken. Edward war jedenfalls zu Hause, und sie mußte dringend mit ihm sprechen. Mit energischen Schritten ging Anna zur Haustür und klingelte. Sie hörte, wie das Läuten durch das Haus hallte, doch niemand kam an die Tür. Ungeduldig trat sie von einem Fuß auf den anderen und versuchte, durch die bleiverglasten Fenster links und rechts der Tür zu spähen, doch die schweren Vorhänge waren fast ganz zugezogen; um einen Blick ins Hausinnere werfen zu können, hätte sie sich durch die dichten Rhododendronbüsche zwängen müssen. Wahrscheinlich hat er sich für ein Stündchen hingelegt, dachte sie. Sie stieg die Treppenstufen wieder hinab und wollte gerade über die Einfahrt zurückgehen, als ihr noch eine Idee kam. Vielleicht war er ja drüben in der Windmühle; von Iris wußte sie, daß Edward dort fast seine gesamte Freizeit verbrachte. Anna ließ den Blick über die protzige Tudor-Fassade des Hauses wandern. Vielleicht mag er das Haus insgeheim ja auch nicht, dachte sie. Wer weiß? Sie betrat den Steinpfad, der um die Villa der Stewarts herumführte, und ging zur Rückseite des Hauses. Dann war sie auch schon auf der Terrasse, wo schwarze, schmiedeeiserne Gartenstühle um den Swimmingpool standen. Weit und breit war niemand zu sehen. In einiger Entfernung ragten die Flügel der Windmühle über die Bäume. Wahrscheinlich war er dort. Anna zögerte kurz, als ihr einfiel, daß Edward ihr unangemeldetes Auftauchen als Störung seiner Privatsphäre empfinden mochte. Aber schließlich hatte sie ein wichtiges Anliegen, und es konnte ihr letztlich egal sein, wie er reagieren würde. Sie hätte alles getan, um Paul zu finden. 298
Hinter ihr wurden die Terrassentüren geöffnet. Als Anna abrupt herumfuhr, stieß sie sich das Knie am Gartentisch. Edward trat hinaus und kam auf sie zu, den kalten Blick starr auf ihre verblüffte Miene gerichtet. »Wo willst du denn hin?« sagte er. »Edward«, sagte sie. »Ich dachte, du wärst nicht zu Hause. Ich habe mehrmals geklingelt.« »Das Hausmädchen ist nicht da«, antwortete er, als würde das erklären, warum er nicht an die Haustür gegangen war. Aber Anna hakte nicht weiter nach. Vielleicht stand ihm einfach nicht der Sinn nach Gesellschaft. »Ich hoffe, ich habe dich nicht gestört.« »Nein«, sagte er. »Komm doch herein.« Mit einer Geste bat er sie ins Haus; Anna trat ein und wartete, bis er die Türen wieder geschlossen hatte und sie zur Bibliothek geleitete. »Ich dachte, du wärst vielleicht drüben in der Windmühle.« Ihr entging nicht, daß sich seine Schultern versteiften, als sie seinen Hobbyraum erwähnte. Wahrscheinlich wollte er nicht, daß jemand sein Allerheiligstes betrat, dachte sie. »Nimm doch Platz.« Er wies auf einen braunen Ledersessel. Anna setzte sich auf die Stuhlkante, während Edward sich ihr gegenüber niederließ. »Ich kann nicht lange bleiben. Und du hast wahrscheinlich auch zu tun«, sagte Anna. »Ich wollte dich nur kurz etwas fragen.« »Ah, ja? Was denn?« Anna holte tief Luft. »Iris hat mich vorhin angerufen.« Edward runzelte die Stirn. »Iris?« »Ja.«
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»Und warum? Soweit mir bekannt, gibt es auf der Wellnessfarm doch gar kein Telefon. Damit die Gäste völlig ungestört sind.« »Tatsächlich?« sagte Anna, während ihr gleichzeitig klar wurde, daß sie beim besten Willen nicht wußte, warum Iris überhaupt angerufen hatte. Sie war so mit ihren Problemen beschäftigt gewesen, daß ihr nicht eingefallen war, Iris danach zu fragen. Einen Augenblick lang war sie leicht irritiert, beschloß dann aber, sich darüber später Gedanken zu machen. Aus Edwards indignierter Miene schloß sie, daß er offensichtlich sauer war, weil Iris zwar sie, aber nicht ihn angerufen hatte. Edward musterte sie mit schmalen Augen. »Was wollte sie denn nun?« »Ich weiß nicht«, sagte Anna entschuldigend. »Ich habe sie nicht gefragt.« Edward war die Sache bereits klar. Es ging um den Unsinn, den Iris letzte Nacht verbreitet hatte – daß sie ihn nicht mehr glücklich machen würde. Und nun hatte sie ihrer Freundin ihr Herz ausschütten wollen. Wahrscheinlich quatschten die indiskreten Ziegen dauernd über ihre Eheprobleme. Einfach taktlos, dachte Edward. Und ungehörig obendrein. »Ich habe ihr erzählt, was passiert ist. Mit Paul. Oh, du weißt wahrscheinlich noch gar nichts davon.« Leise Unruhe ergriff Besitz von Edward. Er schüttelte den Kopf und setzte eine unschuldige, fragende Miene auf. »Ich habe ihn heute morgen mit zum Flughafen genommen – aber das weißt du ja, wir hatten ja vorher telefoniert. Ich habe Tom zum Gate gebracht, und als ich zum Wagen zurückkam, war Paul verschwunden. Und seitdem gibt es kein Lebenszeichen von ihm.« »Ist er ausgerissen?« fragte Edward. 300
»Niemals«, erwiderte Anna scharf. »Es muß etwas passiert sein.« Edward schwieg einen Moment. Dann räusperte er sich. »Nun ja«, sagte er. »Kann ich dir irgendwie helfen?« »Deswegen bin ich ja hier«, sagte Anna. »Heute morgen habe ich dir erzählt, daß gestern abend jemand versucht hat, bei uns einzubrechen – erinnerst du dich?« Edward musterte sie mit leerem Gesichtsausdruck, ehe er so tat, als würde er sich erinnern. »Ach, ja. Natürlich. Die Sache mit dem Fenster. Das Kellerfenster, nicht wahr?« Im selben Augenblick war ihm klar, was Iris ihr erzählt haben mußte. Er mimte weiter einen zerstreuten Gesichtsausdruck, während er fieberhaft nach einer Ausrede suchte. »Ja«, sagte Anna. »Wieso hast du nichts davon gesagt, daß du einen Einbrecher gehört hast?« Er tat so, als sei er nun vollends verwirrt. »Was?« »Als ich dir heute morgen von dem offenen Fenster erzählt habe, hast du kein Wörtchen davon verlauten lassen. Iris sagt aber, du hättest einen Einbrecher gehört.« Edward rieb die Hände aneinander und sah sie entschuldigend an. »Ich dachte, das wäre nicht wichtig. Ich wollte dich nicht grundlos in Panik versetzen. Schließlich habe ich ja auch niemanden gesehen.« »Verdammt noch mal, ich bin doch kein kleines Kind, das man nicht verschrecken darf! Wieso hast du es mir nicht einfach gesagt, als ich dich gefragt habe? Das hätte es mir heute bei der Polizei um einiges einfacher gemacht!« »Kein Grund, laut zu werden«, schnitt ihr Edward in kaltem Tonfall das Wort ab. »Ich hielt es für das Beste.« Anna atmete tief ein und nickte. »Ich weiß. Entschuldige. Das hat Iris ja auch gesagt.« »Was?« fragte Edward mißtrauisch. 301
»Das du es für dich behalten hast, um mich nicht zu beunruhigen.« Edward unterdrückte ein Grinsen. Iris. Kein Wunder, daß das Leben mit ihr so einfach und reibungslos verlief. Er war ihr einfach meilenweit überlegen. Ihre Gutgläubigkeit kannte keine Grenzen. »Aber jetzt möchte ich, daß du mir reinen Wein einschenkst«, sagte Anna. »Was hast du gestern abend mitbekommen?« Edward nahm ein teures Feuerzeug aus einem von Iris’ Tonaschenbechern und spielte damit herum. »Ich war drüben in meiner Werkstatt, und plötzlich dachte ich, ich hätte etwas gehört. Deswegen habe ich mich draußen umgesehen. Aber da war niemand. Alles war absolut ruhig.« »Kannst du das bei der Polizei aussagen?« fragte Anna. »Wozu?« Edward ließ das Feuerzeug in den Aschenbecher fallen. »Was soll das bringen?« »Eine Menge«, gab Anna zurück. »Augenblicklich nimmt mich die Polizei doch überhaupt nicht ernst. Die behandeln mich, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank. Aber wenn du bei ihnen aussagst, werden sie womöglich endlich etwas unternehmen!« Edward musterte sie mit schmallippigem, frostigem Lächeln, während er überschlug, was er jetzt tun sollte. Wenn er Annas Bitte ablehnte, würde das nur ihr Mißtrauen wecken, und er durfte nicht unkooperativ erscheinen. Nichts mißfiel ihm mehr als der Gedanke, sich mit der Polizei einlassen zu müssen, doch wenn er nicht freiwillig eine Aussage machte, würde sie trotzdem zur Polizei gehen; was bedeutete, daß er ihre Fragen so oder so beantworten mußte. Vielleicht würden sie ihn sogar hier aufsuchen. Und das mußte er um jeden Preis verhindern. »Ich werde sie anrufen«, sagte er aalglatt. »Überhaupt kein Problem.« 302
»Oh, danke, Edward.« Anna atmete tief aus und lehnte sich erleichtert zurück. »Und zwar jetzt sofort«, sagte er. Er erhob sich aus seinem Sessel, betont langsam, um sich nichts anmerken zu lassen, und ging zum Telefon. Während er die Nummer wählte, probte er in Gedanken, wie er seine Information möglichst beiläufig durchgeben würde. Er lauschte dem Klingeln in der Leitung, und plötzlich fiel ihm ein, daß ihm dieser Anruf vielleicht sogar in die Hände spielen mochte. Ein bißchen nachbarliche Besorgnis würde genau den richtigen Eindruck hinterlassen. Und Anna würde ihm dankbar sein, daß er ihr geholfen hatte. Anna schloß kurz die Augen und hörte mit einem Ohr zu, wie Edward mit der Polizei telefonierte. Sein Tonfall war sachlich, fast emotionslos; von der Aufregung, die sie selbst verspürte, klang absolut gar nichts durch. Aber so war Edward eben, dachte sie. Zumindest sprach er jetzt mit der Polizei. Sie ließ den Blick durch die Bibliothek schweifen; es war ein eleganter, wenn auch ein wenig unheimlicher Raum. Die Ledersessel sahen aus, als hätte noch nie jemand in ihnen gesessen. Die antiken Möbel waren auf Hochglanz poliert und wurden offensichtlich ebenfalls nie benutzt. In den Regalen und auf zwei Tischchen standen einige von Edwards Modellbooten. Er schien wirklich großes Geschick zu besitzen. Die Schiffe waren wunderschön; man konnte sich schier nicht satt sehen an den fein ausgearbeiteten Details. An der getäfelten Wand ihr gegenüber hing eine Serie von alten Kupferstichen, die verschiedenste Raubvögel zeigten: Adler, Falken, Bussarde. Anna fand die Art der Dekoration ziemlich seltsam. Leute wie die Stewarts bevorzugten sonst Bilder von Rassepferden oder Wildenten in idyllischen Teichen. Gleichzeitig fiel ihr auf, daß die Augen der Raubvögel sie ein wenig an Edwards Blick erinnerten. Vielleicht mag er sie ja deshalb, dachte sie. Auf einmal überlief es sie heiß und kalt. Im Zentrum der abgebildeten Raubvögel stand ein goldener Adler, der fast 303
genauso aussah wie jener auf der Kühlerhaube von Edwards Cadillac. Plötzlich erinnerte sich Anna, wann sie zuletzt von einem goldenen Adler gehört hatte. »So.« Edward trat zu ihr. »Ich habe der Polizei alles mitgeteilt.« »Danke«, murmelte Anna. Sie mußte sich regelrecht zwingen, den Blick von den Raubvögeln an der Wand zu lösen. »Nun ja«, sagte er. »Mach dir nicht allzu viele Gedanken, Anna. Wahrscheinlich taucht Paul in Kürze wohlbehalten wieder auf. Vielleicht wollte er dir einfach einen Streich spielen. Du weißt doch, wie Jugendliche sind.« Anna vermied es, ihm in die Augen zu sehen, als sie zögernd aufstand. »Ich hoffe, du hast recht«, sagte sie. »Die Polizei denkt ja offenbar dasselbe.« »Die wissen schon, was sie tun«, erwiderte er. »Ja.« Sie zwang sich zu einem entschuldigenden Lächeln. »Ich mache mir wohl einfach zuviel Sorgen.« »Bei dem, was du erlebt hast, ist das nun wahrlich kein Wunder«, sagte Edward. Gott sei Dank war der Polizeibeamte am Telefon nicht auf die Idee gekommen, die Gegend noch einmal nach Spuren des Einbrechers abzusuchen. »Ich bin dir wirklich dankbar, daß du das für mich getan hast«, sagte Anna. »Entschuldige nochmals die Störung.« »Keine Ursache«, erwiderte er lächelnd, froh, daß er sie endlich wieder los war. »Das habe ich doch gern getan.« Er brachte sie zur Haustür und sah ihr nach, als sie die Einfahrt hinunterging. Auf halbem Weg wandte sie sich um und winkte. Er winkte zurück und schloß die Haustür. Während sie weiterging, grübelte Anna darüber nach, was ihr in der Bibliothek so unvermittelt klar geworden war. Paul hatte davon geträumt, wie eine riesige schwarze Masse auf ihn zukam, und von einem goldenen Adler mit ausgestreckten 304
Krallen. Einen Moment lang war sie vorhin regelrecht geschockt gewesen. Aber natürlich gab es noch andere Adler auf der Welt. Pauls Alptraum mußte nicht zwingend etwas mit der Kühlerfigur auf Edwards Wagen zu tun haben. Plötzlich blieb sie stehen. Sie wandte sich um und starrte zu Edwards Garage hinüber. Mit einem Mal kam es ihr vor, als könne sie durch das Tor ins Innere der Garage blicken, während gleichzeitig ein seltsames Gefühl Besitz von ihr ergriff – ihr war, als sei ihr Sohn in greifbarer Nähe, als müsse sie nur noch einen weiteren Blick auf den Adler werfen, den goldenen Raubvogel berühren, um ihren Gedanken auf die Sprünge zu helfen. Ja. Von einer Sekunde auf die andere war sie davon überzeugt, daß sie sich den goldenen Adler unbedingt noch einmal ansehen mußte. Wie in Trance strebte sie der Garage zu, öffnete die Seitentür und schlüpfte hinein. Sicher, eigentlich hätte sie Edward um Erlaubnis fragen müssen. Doch als ihr in der Bibliothek jäh der Zusammenhang zwischen Pauls Alptraum und dem goldenen Adler aufgegangen war, hatte sie gewußt, daß sie Edward nichts davon sagen würde. Es war eine instinktive Überzeugung, daß dies das Richtige war. Einen Moment tadelte sie sich dafür, doch dann erinnerte sie sich daran, daß ihr Instinkt sie selten getrogen hatte. Sie war Pauls Mutter, und bestimmte Dinge fühlte man als Mutter einfach. Und wenn manche Leute das als verrückt bezeichneten, war das ihre Sache. Die Garage war dunkel und leer bis auf den Cadillac. Es war ein imposanter, makellos gepflegter Wagen. Anna preßte die Hand wie haltsuchend gegen das kalte, schimmernde Metall, als wolle sie sich Halt geben, und trat vor die Motorhaube. Die Schwingen des Adlers waren ausgebreitet und seine zornigen Augen auf den Asphalt gerichtet. Genauso hatte Paul den Raubvogel aus seinem Alptraum beschrieben. Vielleicht hatte er den Wagen ja zufällig irgendwo gesehen, überlegte sie – und die außergewöhnliche Kühlerfigur nicht 305
vergessen können. Doch das erklärte noch lange nicht, warum ihn der Adler derart verängstigte oder warum der Traum immer wiederkam. Sie hielt den Atem an, während sie auf den bedrohlichen Raubvogel starrte. Es war Zeit, schleunigst wieder zu verschwinden, damit Edward nicht noch etwas bemerkte. Für heute hatte sie genug von ihm. Sie wollte zurück nach Hause, in Ruhe nachdenken und ihre Gedanken ordnen, die sich regelrecht überschlugen. Während sie langsam zur Tür zurückging, ließ sie noch einmal den Blick über den glänzenden Wagen gleiten. Im selben Moment fiel ihr ein unter den Scheibenwischer geklemmtes Stück Papier auf. Im Halbdunkel erspähte sie die Buchstaben LaG. Sie griff über die Motorhaube und zog den Zettel unter dem Scheibenwischer hervor. Es war ein Parkschein aus einem Parkhaus am LaGuardia Airport. Er trug Datum und Uhrzeit von diesem Morgen. Annas Knie wurden weich, während sie auf den Zettel in ihrer Hand starrte. Sie hatte das Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden, und kämpfte mit aller Macht dagegen an, während sie die Hand fest um den Parkschein schloß. Nach ein paar Sekunden hatte sie sich wieder in der Gewalt. Sie ging zur Tür, die sie beim Eintreten hinter sich zugezogen hatte. Den Blick starr auf die Tür gerichtet, stolperte sie darauf zu. Sie drehte den Knauf und stieß die Tür auf, die im selben Augenblick von der anderen Seite aufgerissen wurde. Als Anna nach vorn taumelte, blickte sie in die kalten Augen Edward Stewarts. Verblüfft starrte sie in Edwards fahle, wutverzerrte Miene. »Ich …«, stammelte sie. »Ich wollte nur …« »Was hast du da in der Hand?« fragte er. »Nichts«, sagte sie, doch im selben Moment hatte er auch schon ihr Handgelenk ergriffen und zwang ihre Finger 306
auseinander. Er wurde noch blasser, als er den Parkschein erblickte. »Wie töricht von mir«, sagte er düster. Anna versuchte sich an ihm vorbeizudrängen, nach draußen zu gelangen, doch im selben Moment packte er sie blitzschnell an der Kehle. Ihre Zähne schlugen hart aufeinander, und es kam ihr vor, als würde ihr der Unterkiefer ausgerenkt. Er riß sie von den Beinen und stieß sie brutal in die Garage zurück. Sie prallte gegen den Cadillac, landete auf dem nackten Zementboden und schürfte sich Hände und Knie auf. Dann spürte sie, wie ein Fuß sie zu Boden drückte. Sie stemmte sich dagegen und stieß einen gellenden Schrei aus. Hinter ihr knurrte Edward wie ein wildes Tier. Es war das letzte, was sie hörte, ehe ein harter, stumpfer Gegenstand sie mit voller Wucht an der Schläfe traf.
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22 Buddy Ferraro nippte an dem mit rosa Bowle gefüllten Plastikbecher, in dem ein sich allmählich auflösendes Stück Grapefruit schwamm, stupste seine Frau sanft mit dem Ellbogen an und nickte in Richtung seines Sohnes, der mit einer Gruppe anderer Jungen am anderen Ende des Raums stand, in dem der Empfang für die Erstsemester und ihre Eltern stattfand. »Sieh dir unseren Sohn an«, sagte er. »Kaum hier, und schon steht er im Mittelpunkt.« Versonnen betrachtete Sandy ihren ältesten Sohn. »Er scheint sich wirklich wohl zu fühlen«, sagte sie seufzend. »Das ist ja wohl das mindeste«, knurrte Buddy. »Bei den Studiengebühren.« Sandy lächelte und hakte sich bei ihm ein. »Er wird mir fehlen.« »Mir auch«, sagte Buddy. »Keiner mehr da, der meinen Rasierer benutzt und seine dreckigen Socken im Bad liegenläßt. Und die Anrufe seiner Freundinnen um Mitternacht werde ich auch vermissen.« Ein schmerzlicher Ausdruck erschien auf Sandys Gesicht. »Bis Thanksgiving ist es noch eine kleine Ewigkeit.« Buddy sah sich kurz in alle Richtungen um und gab ihr einen Kuß. Sie drückte seine Hand. »Komm«, sagte er. »Laß uns zum Hotel zurückgehen und uns noch ein bißchen hinlegen, ehe wir zum Dinner müssen. Er kommt ganz gut ohne uns klar.« Sandy zog eine Augenbraue hoch, sträubte sich aber nicht, als Buddy sie in Richtung der Studenten zog, unter denen sich ihr Sohn befand. 308
»He, Junge«, sagte Buddy. »Deine Mutter und ich nehmen uns mal ’ne kurze Auszeit.« Mark wandte den Blick von einem hübschen Mädchen, das sich gerade zu der Gruppe gesellt hatte und die blonde Mähne schüttelte. »Okay, Dad.« »Wir sehen uns dann um halb sieben beim Dinner.« »Okay«, sagte Mark. »Dann bis nachher.« Während er mit seinen neuen Freunden weiterplauderte, führte Buddy seine Frau zur Tür, lächelte dabei freundlich den Fakultätsmitgliedern und den sichtlich angespannten Eltern zu. »Der Bursche kann’s kaum erwarten, uns endlich loszuwerden«, sagte Buddy, als sie das Gebäude verlassen hatten und über den Campus zu ihrem Hotel gingen, das auf der anderen Straßenseite lag. »Ich weiß«, sagte Sandy traurig. Nach einer Pause lächelte sie. »Aber das ist wohl gut so, oder?« Buddy nickte. Schweigend betraten sie die gepflasterte Auffahrt des Hotels. »Mr. Ferraro«, rief der Rezeptionist, als sie durch die Lobby gingen, und hielt ein Blatt Papier hoch. »Hier, eine Nachricht für Sie.« Buddy bat seine Frau, kurz zu warten, und begab sich an die Rezeption. Sandy setzte sich und griff nach einer blauen Broschüre, die auf dem Tisch vor ihr lag. Das Titelbild zeigte den herbstlichen, von Blättern übersäten Universitätscampus, über den ein paar lachende Studenten schlenderten. Buddy kam mit grimmiger Miene von der Rezeption zurück. Sandy erhob sich. »Was ist denn los?« fragte sie. Buddy schüttelte den Kopf. »Eine Nachricht von Marian vom Revier. Paul Lange ist wieder verschwunden.« »O nein«, sagte Sandy.
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»Hör zu, Schatz«, sagte er. »Ich muß sofort los. Es tut mir wirklich leid.« »Aber was ist denn passiert?« fragte sie. »Ich weiß es nicht«, sagte Buddy. »Aber ich habe geahnt, daß irgendwas nicht stimmt.« Er zerknüllte die Nachricht. »Ich muß unbedingt herauskriegen, was passiert ist.« Um Anna herum war es dunkel, als sie zu sich kam; ihr Kopf schmerzte, und ihre Glieder fühlten sich steif an. Als sie sich die Augen reiben wollte, merkte sie, noch halb benebelt, daß ihre Arme hinter dem Rücken gefesselt waren; auch ihre Füße waren fest zusammengeschnürt. Sie lag auf einem kalten Steinboden. Als sie sich die trockenen Lippen lecken wollte, spürte sie, daß ihre Zunge schwer wie Blei war. Im ersten Moment wäre sie am liebsten wieder in der Schmerzlosigkeit ihrer Ohnmacht versunken. Ihre Gedanken schienen in alle Richtungen auseinanderzustreben, ohne daß sie auch nur einen richtig zu fassen bekam; die Schmerzen waren übermächtig, und sie fühlte sich so erschöpft, daß sie eigentlich nur schlafen wollte. Sie zwang sich, die Augen zu öffnen, und ließ den Blick durch ihren Kerker wandern. Wegen des kalten Bodens und des Dunkels dachte sie erst, sie sei immer noch in der Garage, und im ersten Moment war sie völlig desorientiert, als sie merkte, daß es sich um einen anderen Ort handelte. Die Holzplatten und Modellteile, die sie erblickte, verwirrten sie nur noch mehr. Sie mußte ihre ganze Konzentration aufbringen, um schließlich zu begreifen, daß sie sich in Edwards Windmühle befand. Und im selben Augenblick erinnerte sie sich an das, was in der Garage passiert war. Panik stieg in ihr auf, als Edwards wutverzerrte Miene vor ihrem inneren Auge erschien. Sie biß die Zähne zusammen, bis sie ihre Angst einigermaßen niedergekämpft hatte. Edward – nie hätte sie ihm zugetraut, daß er so brutal und rücksichtslos vorgehen könnte. Einen 310
Sekundenbruchteil lang fragte sie sich, ob es sich vielleicht um irgendeinen perversen Scherz handelte. Dann aber kam ihr der Parkschein an der Windschutzscheibe seines Cadillacs in den Sinn. Es war kein Scherz, sondern kaltes, erbarmungsloses Kalkül. Ein leises Stöhnen drang vom Dachboden der Mühle an ihre Ohren. Mit einem Mal waren all ihre Sinne scharf wie nie zuvor, »Paul?« rief sie mit gedämpfter, heiserer Stimme. Sie wagte es nicht, laut zu rufen, da sie befürchtete, Edward sei vielleicht in unmittelbarer Nähe. »Paul, bist du das?« »Ich bin hier oben«, antwortete eine schwache Stimme. Er trat gegen irgend etwas, und eine Sekunde später landete ein Pappkarton auf dem Boden, gefolgt von zwei Sperrholzplatten, die mit dumpfem Knall auf dem Boden aufschlugen. Anna verzog das Gesicht. »Hör auf damit«, zischte sie. »Sei ganz still. Und paß auf, daß du nicht selbst runterfällst, verstanden?« Einen Augenblick lang herrschte Stille, ehe ein Ächzen erklang, das ihr durch Mark und Bein ging. »Paul, was ist mit dir?« rief sie. »Hat er dich verletzt?« Er stöhnte abermals auf. »Nein, ich bin soweit okay«, sagte er. »Gott sei Dank.« »Ich hab’s geschafft, den Knebel durchzubeißen«, sagte Paul. »Er hat mich gefesselt. Ich kann mich kaum bewegen. Wir sollten um Hilfe rufen. Vielleicht hört uns ja jemand.« »Hier wird uns nur einer hören, und das ist … er«, flüsterte sie. »Was hat er mit dir gemacht?« »Er hat mich am Flughafen ausgetrickst. Er hat gesagt, Dad wäre im Krankenhaus. Und dann bin ich hier wieder aufgewacht.« Anna kam ein schrecklicher Gedanke. »Hat er … sich an dir vergangen?« 311
»Nein«, gab Paul nachdrücklich zurück. »Darum geht es nicht.« Anna fiel ein Stein vom Herzen. Andererseits konnte sie sich beim besten Willen nicht erklären, warum Edward das getan hatte. »Er muß komplett verrückt sein«, sagte sie. »Nein«, gab Paul leise zurück. »Er hatte Angst, ich würde mich irgendwann an alles erinnern. Tja, und genau das ist schließlich auch passiert.« Ein hoffnungsloses Lachen erstickte in seiner Kehle. »Zu spät, wie es aussieht.« Anna verlagerte ihr Gewicht und sah hinauf zu den Deckenbalken. »Erinnern? An was?« Sie verstand kein Wort, während vor ihren Augen schwarze Flecken tanzten. »An damals. Es war einfach so lange her.« »Was, Schatz? Wovon redest du?« »Als ich seinen Wagen im Parkhaus gesehen habe, wußte ich endlich wieder alles. Seit ich hier bin, hatte ich dauernd diesen Alptraum. Ich bin damals von einem Wagen angefahren worden. Ich muß auf der Straße oder in seiner Einfahrt gespielt haben. Es war eine schwarze Limousine mit einem Adler auf der Motorhaube.« »Der Adler«, sagte sie. Sie hatte also recht gehabt mit ihrer Ahnung. »Edwards Wagen.« »Und dann war da plötzlich jemand, der sich über mich beugte. Er.« »Daran kannst du dich erinnern?« fragte Anna. »Ja. Es muß weh getan haben, aber davon weiß ich nichts mehr. Ich lag im Gras neben der Straße und konnte mich nicht bewegen. Und dann war er plötzlich da. Ich hatte furchtbare Angst. Ich habe die Hände nach ihm ausgestreckt. Ich kannte ja sein Gesicht, und ich dachte, er wolle mir helfen. Ich glaube, ich habe geweint. Und dann hat er mich hochgehoben und weggetragen.« 312
»Bist du dir wirklich sicher, Paul? Edward soll dich mit seinem Wagen angefahren haben? Das kann ich mir einfach nicht vorstellen.« »Doch. Er hat mich angefahren. Er war es. Ich sehe sein Gesicht genau vor mir. Er hat mich in seinen Wagen gelegt, und dann ist er ein Stück weit mit mir gefahren.« Pauls Stimme klang dumpf und tonlos. »Dann hat er mich auf die Straße gelegt. Auf den Highway. Und mich dort liegenlassen. Und heute morgen wußte ich plötzlich alles wieder.« Reglos lag Anna auf dem Boden, versuchte sich bildlich vorzustellen, was Paul ihr gerade erzählt hatte. Einen Moment lang versagte ihr die Stimme. »Er … er hat dich auf den Highway gelegt«, flüsterte sie dann. »Und dann kam noch jemand. Jemand, den ich noch nie gesehen hatte. Es war mein Vater … Rambo. Er hat mich von dort weggetragen.« Einen Augenblick lang war es still in der Mühle. Der Junge schwieg; endlich hatte er sich seiner Mutter anvertrauen können. Anna brauchte ein paar Minuten, um das Gehörte zu begreifen. Plötzlich begann sie so heftig zu zittern, daß es ihr vorkam, als würde der Boden unter ihr erbeben. »Wie konnte er dir das nur antun«, sagte sie tonlos. Sie konnte es nicht fassen. Ihr Nachbar hatte ihren Sohn versehentlich angefahren und das Kind dann zum Highway verschleppt, um es dort sterben zu lassen. Plötzlich wußte Anna, was es für ein Gefühl war, jemanden töten zu wollen. Mit geradezu elektrisierender Klarheit wurde ihr bewußt, daß sie Edward Stewart ohne die geringsten Gewissensbisse ein Messer ins Herz hätte rammen können. Ohne jedes Mitleid. Sie schloß die Augen, während eine mörderische Wut Besitz von ihr ergriff; langsam atmete sie durch, bis sie sich wieder unter Kontrolle hatte. Dann waren ihre Rachegelüste versiegt, und mit einem Mal traten ihr Tränen in die Augen, als sie sich vorstellte, wie 313
ihr hilfloses Kind allein auf der Straße gelegen hatte. Niemand anderer als Rambo hatte ihren Sohn vor dem sicheren Tod gerettet. Gott segne ihn, dachte sie. Anna holte tief Luft, zwang sich, so ruhig wie möglich zu bleiben. Es mußte irgendeinen Ausweg geben. Für Paul und sie ging es ums nackte Überleben – alles andere zählte momentan nicht. Sie durfte ihre Energie jetzt nicht an Rachephantasien verschwenden. Sie brauchte einen kühlen Kopf, mußte auf eine Idee kommen, wie sie sich befreien konnten. Und danach würde sie dafür sorgen, daß Edward für seine Tat zur Rechenschaft gezogen wurde. Langsam begann sie rückwärts zu zählen, versuchte das Bild ihres hilflosen, auf dem Highway liegenden Kindes zu verdrängen. Dann hörte sie, wie Paul abermals ein gequältes Ächzen von sich gab – er muß Todesängste ausstehen, dachte sie. Endlich fand sie ihre Stimme wieder. »Hab keine Angst, Schatz. Wir kommen hier schon raus. Ich werde nicht zulassen, daß er dir etwas antut.« Paul schwieg einen Moment. »Okay«, sagte er. »Aber was sollen wir machen?« Aus seiner Stimme sprach das Urvertrauen eines Kindes, das sich ganz darauf verließ, daß seine Mutter schon die richtige Antwort geben würde, daß sie bestimmt eine Lösung wußte. Und obwohl Anna nicht die geringste Ahnung hatte, was sie tun sollte, gab ihr sein Vertrauen neue Kraft. »Wir schaffen das schon«, sagte sie. Ihr vages Versprechen verklang in der Luft, während sich die Tür der Windmühle öffnete und Edward Stewart eintrat. Er hatte einen großen Koffer bei sich. Anna starrte ihn haßerfüllt an; ihre Abscheu vor ihm war so stark, daß sie wie Schweiß aus ihren Poren zu dringen schien. Edward sagte kein Wort; schweigend knipste er ein kleines Wandlicht an und stellte den Koffer ab, ehe er in den Schubladen unter seiner Werkbank zu kramen 314
begann. Dann wanderte sein Blick über die Regale; schließlich fiel ihm eine elektrische Kochplatte ins Auge, die dort stand. Er griff danach und beförderte sie auf die Werkbank. Bei Edwards Anblick drehte sich Anna der Magen um, wenngleich ihr klar war, daß sie nichts gegen ihn ausrichten konnte. Sie versuchte ganz ruhig zu bleiben, als sie ihn ansprach. »Nimm uns die Fesseln ab, Edward. Das führt doch zu nichts.« »Würdest du freundlicherweise den Mund halten, Anna?« »Denk doch mal nach«, sagte sie tonlos. »Wie weit willst du denn noch gehen? Man wird nach uns suchen – und hier werden sie zuallererst nachsehen.« Ohne ihr zu antworten, begann Edward, Schubladen herauszuziehen und auszuleeren, bis der ganze Boden von Papier und Holzteilen übersät war. Dann griff er nach einem Stoffsack, in dem sich alte, mit Farbe und Terpentin verklebte Lappen und Stoffetzen befanden. Er drehte den Sack um und ließ die alten Fetzen auf den Boden fallen. »Wenn sie euch finden, seid ihr längst Geschichte«, sagte er. »Thomas wird garantiert hier herüberkommen, sobald er zu Hause ist. Und Tracy auch«, sagte Anna. »Was hast du vor? Willst du uns irgendwohin verschleppen?« »Keineswegs«, sagte er. »Ihr bleibt schön hier.« Er öffnete den mitgebrachten Koffer, plazierte ihn sorgfältig auf dem Boden und besah sich seine Modellboote. Mehr als drei wollten beim besten Willen nicht in den Koffer passen. Seufzend ließ er die Verschlüsse zuschnappen. Anna beobachtete ihn stirnrunzelnd, während er das Gewicht des Koffers prüfte. Einen Moment lang spürte sie ein vages Gefühl der Erleichterung. Das also hatte er vor – er wollte sich klammheimlich aus dem Staub machen. »Das ist doch sinnlos«, sagte sie. »Am Ende kriegen sie dich ja doch, so oder so.« 315
Edward musterte sie mit ungläubigem Blick, ehe er laut zu lachen begann. Es war ein böses, hohles Lachen, das sofort wieder verklang. »Soll das ein Witz sein?« sagte er. »Der einzige Ort, den ich heute noch aufsuche, ist der Country Club. Irgendwo muß ich ja zu Abend essen. Aber es wäre doch jammerschade, wenn all meine schönen Modellboote den Flammen zum Opfer fallen.« Anna starrte ihn an. Im ersten Moment verstand sie gar nicht, was er da sagte. Doch dann erkannte sie in seinem unerbittlichen Blick eine Entschlossenheit, die ihr einen kalten Schauder über den Rücken jagte. »Den Flammen«, wiederholte sie tonlos. Edward nickte und schichtete altes Zeitungspapier zu einem Haufen zusammen. »Eigentlich wollte ich den Jungen an einem anderen Ort beseitigen. Aber nachdem du dich ja unbedingt einmischen mußtest, habe ich meinen Plan geändert. Und so wird nun leider ein tragischer Unfall passieren – ich werde mir die Haare raufen, daß ich nicht zu Hause war.« »Das bringst du nicht fertig«, sagte Anna. »Niemand wohnt nah genug, um die Feuerwehr zu alarmieren. Zumindest nicht, ehe es zu spät ist. Ja, ich glaube auch, daß Tom und Tracy euch finden werden … das, was dann noch von euch übrig ist. Pardon, das war wirklich taktlos von mir.« Edward trat an die Werkbank und nahm die Kochplatte zur Hand. Er wandte sich um und schüttelte den Kopf. »Du hättest mir nicht in die Quere kommen sollen, Anna.« Er stellte die Kochplatte auf ein niedriges Bänkchen und stöpselte den Stecker ein. Er nahm ein paar Stoffetzen und verteilte sie zusammen mit ein paar alten Zeitungen sorgfältig um die Kochplatte; einen der Lappen plazierte er so, daß eine Ecke auf der Heizspirale lag. »So«, sagte er. »Sobald der Draht heiß ist, wird der Brand im Nu um sich greifen.« Anna schlug das Herz bis zum Hals, doch mit einem Mal brach sich erneut der Haß seine Bahn, den sie so vehement zu 316
unterdrücken versucht hatte. »Du ekelhafter Waschlappen«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen. »Was bist du nur für ein erbärmliches Schwein!« »Hüte deine Zunge, Anna!« zischte er. »War es noch nicht genug, daß du meinen kleinen Sohn zur Schnellstraße gebracht hast, um ihn dort sterben zu lassen?« schrie sie ihn an. »Du elender, dreckiger Feigling!« Edward fuhr herum; seine Augen blitzten. Im selben Augenblick war er auch schon bei ihr und verpaßte ihr einen brutalen Tritt in die Seite. Anna schrie gellend auf. »Schrei, soviel du willst«, sagte er. »Hier hört dich sowieso keiner.« Edward wandte sich um und griff nach seinem Koffer. Er sah auf zu Paul, der am Rand des Dachbodens lag. »Bye, bye«, sagte er ungerührt. Paul spuckte nach ihm; der Speichel landete auf Edwards Ärmel. Sorgfältig wischte Edward sich den Ärmel mit einem Papiertaschentuch ab, knüllte es zusammen und warf es neben die Kochplatte. Ohne ein weiteres Wort verließ er die Windmühle und schloß die Tür hinter sich. Anna lag auf der Seite, den Blick auf die Kochplatte gerichtet. Die Heizspirale begann langsam zu glühen. Sie sah den alten Lappen; der Stoff verfärbte sich bereits braun. »Hat er dir weh getan?« erklang Pauls ängstliche Stimme. Als sie Luft holte, verspürte sie einen scharfen Schmerz in der Brust, doch ihre Stimme klang fest, als sie ihm antwortete. »Alles okay«, sagte sie. Langsam robbte sie auf die Kochplatte zu, Zentimeter für Zentimeter; jeder einzelne Knochen schien ihr weh zu tun. Der Rand des Stoffetzens war bereits schwarz, und eine winzige Flamme begann allmählich zu züngeln. »Hab keine Angst«, rief sie ihm zu. »Hab keine Angst.«
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23 Thomas nahm seinen Aktenkoffer und die Reisetasche vom Rücksitz und bezahlte den Taxifahrer. »Danke«, sagte der Fahrer. »Schönen Abend noch.« Thomas nickte und sah zu, wie der Taxifahrer aus der Einfahrt der Langes auf die Straße zurücksetzte. Er wandte sich um und sah zum Haus. Er hatte die vage Erwartung gehegt, Anna würde ihn begrüßen, doch im Haus brannte nirgends Licht, und von ihr war weit und breit nichts zu sehen; nur ihr Volvo stand in der Einfahrt. Er warf einen Blick durch das Garagenfenster, aber sein eigener Wagen war ebenfalls da. Er erklomm die Stufen und schloß die Haustür auf. Einen Moment lang blieb er in der Diele stehen und lauschte, aber nichts war zu hören. Das war nicht der insgeheim von ihm erwartete Empfang, aber wahrscheinlich genau die Art von Willkommen, die er verdient hatte, wie ihm durch den Kopf schoß. »Anna?« rief er, doch niemand antwortete. Er betrat das Wohnzimmer und knipste das Licht an. Es war noch nicht ganz dunkel, doch allmählich brach der Abend an. Zum Glück war er nach dem Lunch noch kurz im Hotel gewesen, um ein paar Unterlagen zu holen – und dort hatte er Annas Nachricht erhalten, daß Paul verschwunden war. Er hatte ein paar Anrufe getätigt, die ausstehenden Meetings abgesagt und sofort einen Rückflug gebucht. Er ging in die Küche und warf einen Blick auf die Anrichte, wo sie ihm normalerweise einen Zettel hinterließ. Doch auch dort war nichts. Thomas seufzte und trommelte mit den Fingern auf die Anrichte. »Tracy?« rief er, obwohl er schon wußte, daß er keine Antwort bekommen würde. Einen Moment lang kam er sich vor wie in dem Alptraum, den er als Kind oft 318
gehabt hatte: Er kam von der Schule nach Hause, und niemand war mehr da. Er schüttelte das ungute Gefühl ab, während er sich gleichzeitig erinnerte, daß Tracy ja mit Mary Ellen segeln gegangen war. Er nahm den Telefonhörer ab, wählte die Nummer von Mary Ellens Eltern und wartete. Ihre Mutter meldete sich und sagte, die Mädchen seien noch unterwegs. Thomas bat sie, Tracy auszurichten, sobald wie möglich zu Hause anzurufen, er würde sie dann abholen. Dann legte er auf. Wahrscheinlich war Anna noch bei der Polizei, dachte er. Sicher hatte sie sofort Buddy eingeschaltet, und die beiden suchten zusammen nach Paul. Wie schon auf dem Rückflug nach New York fragte sich Thomas, ob der Junge schlicht ausgerissen war; und ihn beschlich vages Schuldbewußtsein, weil sein eigenes egoistisches Verhalten dazu beigetragen haben mochte. Er schickte ein Stoßgebet zum Himmel, daß seine Frau und sein Sohn wohlbehalten zurückkehren würden, während er zugleich die Nummer des Polizeireviers wählte. Es klingelte fünfmal, ehe abgehoben wurde; eine Zumutung, ihn so lange warten zu lassen, wie er fand. Als sich am anderen Ende eine junge Frau meldete, bellte er in den Hörer, er wolle mit Buddy Ferraro sprechen. Die Frau erwiderte, Detective Ferraro sei nicht da. »Hier spricht Thomas Lange«, sagte er. »Mein Sohn ist verschwunden, und ich wüßte gern, ob meine Frau vielleicht mit Detective Ferraro unterwegs ist. Ich bin eben aus Boston zurückgekommen.« Die Frau am anderen Ende schwieg einen Moment. »Oh, hallo, Mr. Lange«, sagte sie dann. »Officer Hammerfeldt am Apparat. Ich habe von der Sache mit Ihrem Sohn gehört.« »Können Sie mir sagen, was passiert ist?« »Ihr Junge ist verschwunden. Am Flughafen. Bislang gibt es keine Spur von ihm.«
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»Ich verstehe das alles nicht. Ist Buddy Ferraro über alles unterrichtet?« »Detective Ferraro war gar nicht in der Stadt. Er ist extra zurückgekommen, um sich um die Angelegenheit zu kümmern. Er hat vor ein paar Minuten angerufen und ist bereits unterwegs. Aber Ihre Frau ist nicht bei ihm. Seit heute mittag habe ich sie nicht mehr gesehen.« Ratlos starrte Thomas den Hörer an. »Detective Ferraro müßte in zwanzig Minuten hier sein«, sagte die Beamtin. »Soll er Sie zurückrufen? Oder direkt zu Ihnen herauskommen?« Thomas dachte kurz nach. »Nein«, sagte er dann. »Ich muß noch meine Tochter bei einer Freundin abholen. Sagen Sie ihm, er soll mich sobald wie möglich anrufen.« Thomas legte auf. Er fühlte sich unwohl in seinen zerknitterten Sachen. Er ging ins Wohnzimmer, nahm seine Tasche und stieg die Treppe hinauf, um sich umzuziehen. Das Schlafzimmer war ordentlich und anheimelnd wie immer; der Hochzeitsquilt lag sorgfältig ausgebreitet auf dem Bett, und auf dem Nachttisch stand eine Vase mit frischen Blumen. Keine Nachricht zu hinterlassen, paßte überhaupt nicht zu Anna. Vielleicht hatte sie gedacht, er würde ihren Anruf ignorieren und in Boston bleiben. Wieder mußte er daran denken, was für einen Scherbenhaufen er angerichtet hatte, und plötzlich verspürte er ein ungeheures Bedürfnis danach, alles wiedergutzumachen. Am liebsten hätte er sofort damit angefangen, doch das leere Haus erfüllte ihn mit einem frustrierenden Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit. Er zog eine Jeans und ein Sweatshirt an. Als er seine Sportschuhe zuband, hatte er plötzlich eine Idee. Natürlich. Wenn Anna nur kurz zu Iris hinübergegangen war, hätte sie es bestimmt nicht als notwendig erachtet, ihm eine Nachricht zu hinterlassen. Plötzlich fiel ihm ein Stein vom Herzen. 320
Wahrscheinlich war sie nach nebenan gegangen, weil sie jemanden brauchte, mit dem sie reden konnte. Er setzte sich auf das Bett und griff nach dem Telefon auf dem Nachttisch. Für Notfälle klebte auf dem Telefon neben den Nummern von Polizei und Feuerwehr auch die der Stewarts. Er wählte zügig, wartete darauf, daß Iris drangehen würde. Aber das Telefon klingelte und klingelte, ohne daß abgenommen wurde, so daß ihm schließlich nur die niederschmetternde Erkenntnis blieb, daß niemand zu Hause war. Er knallte den Hörer auf die Gabel und starrte mutlos zu Boden. Sosehr er sich auch den Kopf zerbrach, ihm fiel nicht ein, wo Anna stecken mochte. Vielleicht war sie ja mit Iris unterwegs; möglich, daß sie sich zusammen auf die Suche nach Paul gemacht hatten. Er rieb sich die Augen. Vielleicht saßen sie auch draußen im Garten oder machten einen Spaziergang über das weitläufige Gelände. Ja, das war durchaus möglich. Er überlegte, ob er kurz nach den beiden sehen sollte; vielleicht hockten sie ja zusammen am Pool. Doch dann schüttelte er den Kopf. Anna würde es sich niemals draußen am Pool bequem machen, während Paul vermißt wurde. Aber vielleicht wußte Iris ja etwas. Er war drauf und dran, sich auf den Weg zu machen, als ihm Edward in den Sinn kam. Dem jetzt über den Weg zu laufen, hätte ihm gerade noch gefehlt. Bei Edward fühlte er sich immer so willkommen wie eine Hepatitisinfektion. Reglos blieb Thomas auf dem Bett sitzen. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis Tracy anrief; schließlich hatte er ja versprochen, sie abzuholen. Und sicher würde Buddy sich auch noch melden. Er mußte warten. Zentimeter für Zentimeter bewegte sich Anna auf die Kochplatte zu. Der kalte Zementboden war übersät mit Lumpen und Zeitungsresten. Als sie sich weiterrollte, brach der Rumpf eines Modellboots unter ihrem Gewicht in tausend Stücke; die Splitter bohrten sich durch ihre Sachen. Altes Papier knisterte unter ihr, 321
und dann schrammte sie sich den Kopf an einem Hammer, der auf dem Boden lag. Auf einmal stießen ihre Füße hart gegen ein Stuhlbein; als der Stuhl umkippte, fiel auch ein Pappkarton zu Boden, in dem sich lauter kleine Segel aus Seide befanden. Ein paar der bunten Stoffdreiecke landeten auf der glühenden Heizspirale und flammten kurz und hell auf, ehe sie sich in Asche verwandelten. Der Lumpen, den Edward an die Heizspirale gelegt hatte, brannte nun; Flämmchen tanzten über den schwarz verfärbten Rand und arbeiteten sich weiter vor. Anna zögerte, zunächst hatte sie versucht, das Feuer zu ersticken, doch dann fiel ihr das Kabel der Kochplatte ins Auge. Wenn es ihr gelang, den Kopf so weit anzuheben, daß sie das Kabel mit den Zähnen fassen konnte, würde sie den Stecker ziehen können. Der Gedanke, das alte Kabel zwischen die Zähne zu nehmen, behagte ihr gar nicht; aber der Lappen neben der Kochplatte brannte nun lichterloh. Sie mußte die verdammte Kochplatte unschädlich machen, sonst hatten sie keine Chance. »Was machst du da?« rief Paul. »Paß auf, daß du nicht herunterfällst«, rief sie. »Ich werde versuchen, den Stecker zu ziehen.« »Sei bloß vorsichtig!« gab er zurück. Anna nahm das Kabel ins Auge. Mit letzter Kraft stützte sie sich auf ihren aufgeschürften Ellbogen und nahm vorsichtig das Kabel zwischen die Zähne. Sie drehte den Kopf und klemmte sich das Kabel zwischen Kinn und Schulterblatt. Los, dachte sie. Beiß bloß nicht zu fest zu. Sie kniff die Augen zusammen und zog, so fest sie nur konnte. Erst passierte gar nichts, doch dann schnellte der Stecker aus der Buchse, so abrupt, daß die Kochplatte von dem Bänkchen gerissen wurde, sich überschlug und ein paar Zentimeter neben dem Pedal der Nähmaschine auf den Boden prallte.
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Anna spie das Kabel aus. »Es hat geklappt«, rief sie. »Der Stecker ist draußen!« »Gut gemacht, Mom«, rief Paul zurück. Kurz mußte Anna insgeheim lächeln, daß er sie Mom genannt hatte, doch dann konzentrierte sie sich wieder. »Ich werde jetzt versuchen, meine Fesseln durchzubrennen, solange der Draht noch glüht. Aber dieser Lumpen da brennt immer noch!« »Vorsicht!« rief Paul. Sie mußte das Feuer löschen, ehe die Flammen um sich griffen. Anna graute davor, was sie jetzt tun mußte, aber ihr blieb keine Wahl. Es konnte dauern, bis sie sich der Fesseln entledigt hatte, und solange hier noch irgend etwas brannte, befanden sie sich in tödlicher Gefahr. Die Heizspirale der Kochplatte würde nicht so schnell auskühlen. Sie mußte die Flammen ersticken, und sie wußte bereits, wie sie es bewerkstelligen würde. Sie rollte sich auf den brennenden Fetzen zu, bereit, ihn niederzuwalzen und die Flammen zu ersticken, ehe sie sich ausbreiten konnten. Sie hoffte inbrünstig, daß alles auf Anhieb klappen würde. Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel und atmete noch einmal tief ein, als sie sah, wie sich die züngelnden Flammen in Richtung eines braunen Flecks fraßen. Im selben Moment schoß auch schon eine Stichflamme empor, die glühende Funken in alle Richtungen sandte. Anna stieß einen Schrei aus, als ihr die Hitze das Gesicht versengte. Als sie sich zurückstieß, hörte sie Paul ängstlich keuchen. »Was ist passiert?« rief er. »Ich weiß nicht«, rief sie zurück. »Vielleicht eingetrocknete Lacke.« Glühende Lumpenfetzen landeten auf dem Boden; ein paar Funken erstarben sofort, aber ein paar fielen auf die leicht brennbaren Kartons und die Zeitungsreste. Ein letzter glimmender Rest fiel auf einen an der Wand lehnenden Besen,
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der sofort Feuer fing. Hilflos sah Anna zu, wie sich überall kleine Feuer ausbreiteten und Rauch aufzusteigen begann. Edwards Finger zitterten, als er seine Krawatte band, doch davon abgesehen fühlte er sich relativ entspannt. Das Klingeln des Telefons hatte ihn einigermaßen nervös gemacht, doch war er einfach nicht an den Apparat gegangen. Wer auch immer angerufen hatte, würde auf jeden Fall später bezeugen können, daß er nicht zu Hause gewesen war. Er zog ein Jackett über und warf einen Blick in den Spiegel, um sich zu vergewissern, daß er tadellos gekleidet war. Dinner im Club waren ein echter Genuß, insbesondere wenn Iris nicht dabei war. Egal, wie sehr sie sich auch herausputzte, am Ende sah sie doch stets aus wie eine abgehalfterte Kuh, mit der man sich nur ungern unter Leute begab. Er hatte sich alles perfekt ausgedacht. Im Country Club würde er von allen gesehen werden. Er würde feudal speisen, ein paar Drinks nehmen und dem einen oder anderen Bekannten die Hand schütteln, und wenn er zurückkam, hatten sich all seine Probleme im wahrsten Sinne des Wortes in Rauch aufgelöst. In der Mühle würde ein Höllenfeuer lodern, und nach dem Löschen würde die Feuerwehr die verkohlten Überreste von Mutter und Sohn finden, den Opfern eines tragischen Unfalls; von ihren Fesseln würde nichts als Asche zurückbleiben. Es war ein gewagter Plan, den Unfall auf seinem eigenen Besitz zu inszenieren, doch nach reiflicher Überlegung war er zu dem Schluß gekommen, genau die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Bei Annas plötzlichem Auftauchen hatte er um ein Haar die Nerven verloren; kurz hatte er erwogen, beide Leichen auf der Müllhalde zu entsorgen, doch je länger er überlegte, desto ratsamer erschien es ihm, alles an Ort und Stelle zu erledigen. Davon abgesehen, daß man ihm nicht das geringste Motiv nachweisen konnte, war er hundertprozentig davon überzeugt, daß ihm niemand zutrauen würde, auf seinem 324
eigenen Anwesen Feuer zu legen. Jeder, der ihn auch nur ein wenig kannte, wußte genau, daß die Windmühle sein ein und alles war. Und in der Tat reute es ihn zutiefst, seine über alles geliebte Mühle wegen des verdammten Bengels und seiner herumschnüffelnden Mutter opfern zu müssen. Außerdem, sagte er sich, gehörten die Langes ja seit jeher zu den Leuten, die sich unbefugt auf Privatgelände begaben. Dauernd waren diese Kleinbürger unangemeldet auf seinem Besitz aufgetaucht – Iris war sein Zeuge. Er würde bei der Polizei aussagen, daß er dem Jungen erlaubt hatte, sich jederzeit in der Mühle aufzuhalten. Es würde sich herausstellen, daß er in jeder Hinsicht schuldlos war – tatsächlich sogar ein Opfer nachbarlicher Fahrlässigkeit. Nun aber war es erst einmal Zeit für den Country Club. Edward nahm die Schlüssel für den Cadillac von der Kommode und öffnete eine Schublade, in der sich sein goldener Geldclip und eine dicke lederne Brieftasche befanden. Er klemmte ein paar Scheine in den Clip und steckte ihn ein. Dann löschte er das Licht und verließ den Raum. Als er die Treppe hinunterging, hörte er es plötzlich an der Haustür klopfen. Edward erstarrte. Einen Moment lang erwog er, sich nicht weiter um das Klopfen zu kümmern; wer immer es war, würde über kurz oder lang wieder verschwinden. Dann aber fiel ihm siedendheiß ein, daß der Besucher eventuell ums Haus gehen und im Garten nach ihm sehen würde – und dieses Risiko konnte er nicht eingehen. Er glaubte zwar nicht, daß man bereits etwas von dem Brand sehen konnte, aber Vorsicht war die Mutter der Porzellankiste. Nun denn. Er würde also an die Tür gehen und den Besucher abwimmeln. Schließlich war er ein Mann mit Verpflichtungen und auf dem Weg in den Country Club. Edward nahm die letzten Stufen und blickte zum Fenster hinaus, sah aber keinen Wagen in der Einfahrt. Auf 325
Zehenspitzen schlich er zur Haustür und spähte durch die Vorhänge nach draußen. Vor der Tür stand Thomas Lange. Edwards Herz krampfte sich zusammen. Wie kam er hierher? Anna hatte ihm doch gesagt, daß Thomas in Boston war. Ruhig Blut, schärfte er sich ein. Wahrscheinlich hat Anna ihm eine Nachricht zukommen lassen. Verhalte dich einfach völlig normal. Wenn er nach Anna fragt, sagst du ihm, daß du sie zuletzt heute mittag gesehen hast. Edward atmete tief ein, schnippte eine Fluse von seinem Revers und öffnete die Haustür. »Thomas«, sagte er lächelnd. »Was kann ich für dich tun? Sorry, aber ich wollte gerade weg.« »Kann ich eine Minute hereinkommen?« fragte Thomas. »Ich bin gottfroh, daß du zu Hause bist.« Edward sah demonstrativ auf seine Uhr, aber Thomas war offensichtlich zu besorgt, um den Wink mit dem Zaunpfahl zu bemerken. »Nun ja«, sagte Edward zögernd, »eine Minute sollte schon noch drin sein.« Thomas trat an ihm vorbei und ging zum Wohnzimmer. Edward folgte ihm. »Ich dachte, du wärst auf Geschäftsreise. Jedenfalls hat Anna das gesagt, als sie heute morgen anrief.« Müde schüttelte Thomas den Kopf. »Ja, ich war in Boston. Aber Anna hat eine Nachricht im Hotel hinterlassen, Paul wäre spurlos verschwunden. Deshalb habe ich den nächsten Rückflug genommen. Aber ich kann Anna nirgends finden.« »Oh, sie ist bestimmt nicht weit«, sagte Edward trocken. »Ich dachte, sie ruft bestimmt an, aber dann habe ich’s einfach nicht mehr ausgehalten. Hast du eine Ahnung, wo Anna steckt? Oder weiß Iris irgendwas?« »Iris ist verreist. Anna war heute mittag kurz hier, aber seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen. Tut mir leid.« »Was wollte sie denn?« fragte Thomas. 326
»Sie war auf der Suche nach Paul«, sagte Edward. »Furchtbar, was ihr alles durchstehen müßt.« Thomas zog die Stirn in Falten. Offenbar ging ihm irgend etwas durch den Kopf. »Gibt’s ein Problem?« fragte Edward. Thomas musterte ihn eindringlich. »Ich habe vor zehn Minuten hier angerufen. Wieso bist du nicht ans Telefon gegangen?« »Wahrscheinlich habe ich nichts gehört, weil ich auf der Terrasse war.« Edward sah abermals auf seine Uhr. »Ich halte dich bloß auf«, sagte Thomas. »Ich gehe dann wieder rüber.« »Aber mitnichten«, sagte Edward, dem plötzlich einfiel, daß es vielleicht doch nicht ideal war, wenn Thomas sich so nah am Geschehen aufhielt; am Ende wehte der Wind den Rauch noch zum Grundstück der Langes hinüber. »Du störst mich überhaupt nicht. Sag mal, was hältst du davon, wenn wir uns mal im Ort nach Anna umsehen? Ich fahre natürlich – in deinem Zustand gehörst du nun wirklich nicht hinters Steuer.« Thomas sah ihn verblüfft an. »Ja, aber ich muß auch noch Tracy abholen.« »Das können wir doch unterwegs machen. Und dann fahren wir zum Polizeirevier und fragen, ob es schon Neuigkeiten gibt.« Thomas zögerte; er sah todmüde aus. »Du hast recht«, sagte er dann. »Ich werde noch verrückt, wenn ich weiter neben dem Telefon hocke und darauf warte, daß es endlich klingelt.« »Na also«, sagte Edward. »Komm, laß uns gehen.« Er lenkte Thomas zur Haustür, und dann waren die beiden Männer auch schon auf dem Weg zur Garage. »Das ist mir wirklich peinlich«, sagte Thomas. »Wolltest du nicht irgendwohin?« 327
»Nur zum Dinner in den Club«, gab Edward zurück. Er warf einen verstohlenen Blick in Richtung der Windmühle, konnte aber nichts Verräterisches entdecken; noch stieg kein Rauch auf. »Außerdem helfe ich dir gerne. Wozu sind Freunde da?« Die beiden Männer betraten die Garage, und Edward schloß den Wagen auf. Aalglatt wie immer, dachte Thomas, während er auf der Beifahrerseite einstieg, aber immerhin gibt er sich wirklich Mühe. Erleichtert nahm Edward hinter dem Steuer Platz; er hatte alles im Griff. Er tat sein Bestes, eine ernste Miene zu bewahren, und warf seinem Nachbarn einen mitfühlenden Blick zu. Wie simpel gestrickt doch manche Menschen sind, dachte er. Schafe können nicht dümmer sein. Dann ließ er den Motor an. Überall brannte es nun; die Hitze nahm stetig zu, verwandelte die Windmühle allmählich in einen Backofen. Verzweifelt robbte Anna auf die Kochplatte zu. Sie stieß an das Gestell der alten Nähmaschine und tastete hinter sich nach der Kochplatte. Als sie sie zu fassen bekam, verbrannte sie sich die Finger; zwar spürte sie den Schmerz, achtete aber nicht darauf. Sie zerrte an ihren Fesseln, während sie sie gegen die Heizspirale drückte. »Bitte!« flüsterte sie inbrünstig, während die Flammen auf einen Korbsessel neben der Werkbank übergriffen. »Oh, bitte!« Sie preßte die Fesseln gegen die Heizspirale, während sie gleichzeitig mit aller Kraft an ihnen zerrte. Wegen des Rauchs bekam sie kaum noch Luft. Ihre Augen tränten so sehr, daß sie sie zusammenkneifen mußte. »Mom!« ertönte Pauls Stimme. »Hilfe!« Sie hörte, wie er keuchend zu husten begann.
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Der brennende Besen kippte um und setzte einen Stapel alter Zeitungen in Brand. Anna riß mit aller Macht an ihren Fesseln, doch die Kochplatte kühlte allmählich aus; sie spürte, wie die Heizspirale zu erkalten begann. »Mom!« erklang abermals Pauls verzweifelte Stimme. Nicht aufgeben!, hämmerte sie sich immer wieder ein. Er braucht deine Hilfe. Doch die Szenerie, die sie durch den Tränenschleier wahrnahm, glich mehr und mehr einer Höllenvision. Sie versuchte so flach wie möglich zu atmen. »Atme ganz flach!« rief sie Paul durch das Knacken und Prasseln der Flammen zu. »Nicht den Rauch einatmen!« Tränen strömten ihr über die Wangen, wenngleich sie nicht wußte, ob sie dem Qualm oder ihrer Verzweiflung geschuldet waren. »Hörst du mich?« schrie sie lauthals. »Paul!« Doch von oben kam keine Antwort.
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24 »Es gibt garantiert eine ganz einfache Erklärung«, sagte Edward und schaltete die Klimaanlage des Cadillacs ein. »Aber du machst momentan wirklich schwere Zeiten durch.« Thomas saß zusammengesunken neben ihm und schien gar nicht zuzuhören. »So wie ich Anna kenne«, fuhr Edward fort, »hat sie die Warterei bestimmt ebenfalls nicht mehr ausgehalten. Wahrscheinlich ist sie irgendwo …« Thomas drückte auf den Knopf zu seiner Rechten und ließ das Fenster herunter. »Klimaanlagen sind nichts für mich«, sagte er. »Anna kann sie auch nicht ausstehen. In klimatisierten Räumen fange ich immer an zu frösteln.« Edward warf seinem Beifahrer einen mürrischen Blick zu. »Würdest du das Fenster freundlicherweise wieder schließen?« Plötzlich reckte Thomas seinen Kopf aus dem offenen Fenster. »Im Haus klingelt das Telefon«, sagte er. »Laß es läuten«, sagte Edward. »Ich habe ja einen Anrufbeantworter. Das sind die Meechams, mit denen ich mich zum Dinner treffe. Aber wir sehen uns ja sowieso nachher im Club.« »Aber es könnte doch auch Anna sein«, sagte Thomas. »Vielleicht hat sie schon zu Hause angerufen und versucht es jetzt noch mal bei euch. Halt an. Ich muß wissen, wer dran ist.« »Du meine Güte«, sagte Edward. »Bis wir im Haus sind, hat der Anrufer doch längst wieder aufgelegt.« »Wenn es Anna ist, hinterläßt sie mit Sicherheit eine Nachricht.« Ehe Edward etwas unternehmen konnte, war Thomas auch schon aus dem Wagen gesprungen und rannte auf 330
das Haus zu. Edward schaltete den Motor ab und stieg ebenfalls aus. Als er zu Thomas trat, lehnte dieser an der Haustür und lauschte. »Na, siehst du?« sagte Edward. »Das Klingeln hat aufgehört.« »Ich wette, es war Anna«, sagte Thomas. »Komm, mach schon auf.« Edward musterte Thomas mit gereiztem Blick. Als er einen Blick Richtung Windmühle warf, sah er, wie sich eine kleine Rauchwolke gen Himmel erhob. »Was soll denn das Theater?« sagte er. »Das ist doch komplett lächerlich.« »Vielleicht braucht sie Hilfe. Vielleicht hatte sie einen Unfall. Jetzt mach endlich auf!« »Jetzt übertreibst du aber gewaltig«, sagte Edward kühl. »Findest du nicht?« Mit entschlossenem Blick musterte Thomas seinen Nachbarn. »Du hast gesagt, du willst mir helfen«, sagte er mit eisiger Stimme. »Und wenn du mir helfen willst, dann machst du jetzt diese verdammte Scheißtür auf – sonst schlage ich das Fenster ein.« Einen Augenblick lang starrten die beiden Männer einander an. Edward gab sich alle Mühe, seine Wut im Zaum zu halten; am liebsten hätte er Thomas mitten ins Gesicht geschlagen. Wenn Thomas das Fenster einschlug, ging die Alarmanlage los – und im Nu würde es hier nur so von Streifenwagen wimmeln. Und wer auch immer angerufen hatte, eins stand fest: daß es nicht Anna gewesen sein konnte. Wenn es ihm gelang, Thomas zu beruhigen, blieb ihm vielleicht noch genug Zeit, um ihn endlich wegzulotsen. »Jetzt überspannst du den Bogen aber, Thomas«, sagte er, steckte den Schlüssel ins Schloß und öffnete die Tür.
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Thomas folgte Edward in die Bibliothek. Das Lämpchen am Anrufbeantworter blinkte. Edward seufzte und drückte auf den Knopf. Dann hörte Thomas die Stimme seiner Tochter. »Hallo, Mr. Stewart«, sagte Tracy. »Sorry, wenn ich Sie störe, aber ich bin auf der Suche nach meinen Eltern. Zu Hause nimmt keiner das Telefon ab. Wenn Sie Mom oder Dad sehen, richten Sie ihnen doch bitte aus, daß sie mich bei meiner Freundin Mary Ellen anrufen sollen.« Edward wandte sich zu Thomas. »Den Rückruf kannst du dir schenken«, sagte er. »Laß sie uns auf dem Weg in die Stadt abholen.« Thomas schüttelte den Kopf. »So kann nur jemand reden, der selbst keine Kinder hat.« Er nahm den Hörer ab und wählte, während Edward in die Diele trat. Es war keine Zeit zu verlieren. Er mußte schleunigst handeln und Thomas von hier wegbringen, ehe die Mühle lichterloh in Flammen stand. Abermals warf er einen Blick auf seine Uhr. »Du sollst sie abholen, richtig?« sagte Edward, als Thomas zu ihm trat. Thomas gab keine Antwort, sondern ging schnurstracks zur Haustür. Edward folgte ihm hinaus auf die Einfahrt. »Hör zu, Edward«, sagte Thomas. »Vielen Dank für dein Angebot, aber ich glaube, ich suche lieber allein nach Anna. Ich hole jetzt erst mal Tracy ab, und dann werde ich mich mit ihr zusammen auf die Suche machen.« Edward wollte protestieren, überlegte es sich im letzten Moment dann aber doch anders. Die Hauptsache war, daß Thomas endlich aus seinem Haus verschwand. »Bist du sicher?« fragte er steif. »Wie gesagt, ich stehe dir voll und ganz zur Verfügung.« Thomas schüttelte den Kopf. »Nochmals, danke.«
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Edward öffnete die Tür des Cadillacs. »Komm, ich fahre dich kurz rüber«, sagte er. »Ich gehe lieber«, sagte Thomas höflich. »Mach dir keine Umstände.« »Red keinen Unsinn. Ich wollte doch sowieso in den Club.« Abwehrend hob Thomas die Hand. »Du bist sowieso schon zu spät. Fahr ruhig los. Ein kleiner Spaziergang wird mir guttun.« Edward spürte, daß sein Gesicht puterrot wurde, bemühte sich aber, so ruhig wie möglich weiterzusprechen. »Ach, komm«, sagte er. »Mit dem Auto geht das schneller.« »Nein, nein«, sagte Thomas. »Wenn du nichts dagegen hast, nehme ich die Abkürzung durch den Garten.« Edward schlug das Herz bis zum Hals. Er mußte Thomas irgendwie dazu bewegen, in den Wagen zu steigen. Er durfte auf keinen Fall ums Haus gehen; dabei würde er garantiert den aufsteigenden Rauch erspähen. »Ich bestehe darauf«, sagte Edward. »Jetzt sei nicht stur, sondern laß dich fahren.« Thomas gab einen genervten Seufzer von sich. »Wie gesagt, ich gehe lieber zu Fuß. Ich habe deine Großzügigkeit schon genug strapaziert.« Er wandte sich ab und ging auf den Pfad zu, der zum Garten der Stewarts führte. Edward biß die Zähne zusammen. Dann rief er laut: »Was fällt dir eigentlich ein?« Thomas blieb abrupt stehen und starrte ihn verdutzt an. »Wie kannst du es wagen, nach Belieben über mein Grundstück zu trampeln? Ich habe es satt, daß deine Familie pausenlos meinen Rasen verwüstet. Das hier ist kein öffentlicher Park!« Thomas traute seinen Ohren nicht. Eben noch hatte ihm derselbe Mann seine Hilfe angeboten. Du blasiertes, eingebildetes Arschloch, dachte er. Auf gute Nachbarschaft! 333
Aber wenigstens weiß ich jetzt, wie du wirklich über uns denkst, und irgendwie habe ich es schon immer geahnt. Er unterließ es aber, seine Gedanken laut zu äußern. »Sorry, Nachbar«, sagte er nur. »Ich werde die Abkürzung trotzdem nehmen.« Und mit diesen Worten marschierte er den Pfad entlang zur Rückseite des Hauses, ohne sich noch einmal zu Edward umzudrehen. Edward eilte hinter ihm her. »Du bleibst jetzt auf der Stelle stehen«, donnerte er. Thomas ließ sich nicht beirren, wandte sich aber nach ein paar Schritten um. Die beiden Männer musterten sich kurz. »Da drüben steigt Rauch auf«, sagte Thomas. »Es sieht so aus, als würde deine Windmühle brennen.« Edwards Augen flackerten. »Was für ein bodenloser Unsinn«, gab er zurück. »Verlaß endlich mein Grundstück, aber auf der Stelle!« »Du wolltest verhindern, daß ich das mitbekomme, stimmt’s?« sagte Thomas leise. »Verschwinde, sonst rufe ich die Polizei«, sagte Edward. »Wohl besser erst die Feuerwehr«, sagte Thomas. Als Edward ihn aufzuhalten versuchte, holte er mit der geballten Faust aus und schlug ihn zu Boden. Ehe Edward sich wieder aufrappeln konnte, war Thomas bereits um die Ecke gebogen. Von der Terrasse aus sah er, wie sich graue Rauchschwaden in den Abendhimmel erhoben. Er überlegte nicht lange und lief los. Seine Absätze bohrten sich in den manikürten Rasen, als er über das weitläufige Grundstück rannte. Er setzte über eine niedrige Steinmauer, stolperte über ein paar Stufen und hetzte weiter. Der Blick auf die Windmühle wurde von einer Baumgruppe verstellt, doch beim Näherkommen sah er die unnatürlich hellen Flammen, die aus den kleinen, 334
bullaugenähnlichen Fenstern loderten. Der Türrahmen war vom Rauch bereits schwarz verfärbt. Und dann hörte er durch das Prasseln des Feuers eine vertraut klingende, schwach um Hilfe rufende Stimme, die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Tränen traten in seine Augen, obwohl er nichts davon merkte. Völlig außer Atem rannte er auf die Tür der Mühle zu. »Anna!« rief er. Als er die Tür aufreißen wollte, versengte er sich die Hand am glühendheißen Türknauf. Hastig streifte er seine Jacke ab, wickelte sie um den Knauf und öffnete die Tür. Hitze und Rauch schlugen ihm entgegen. Durch den schwarzen Qualm erblickte er züngelnde Flammen, die über die Wände leckten, brennende Haufen von Holz und Papier. »Anna!« schrie er mit gellender Stimme. »Anna!« Und plötzlich hörte er durch das dämonische Prasseln des Feuers, wie jemand mit erstickter Stimme antwortete. Überall um ihn herum stoben Funken, flogen brennende Fetzen herum, als er sich seinen Weg durch die Flammen bahnte. »Anna!« rief er wieder. »Wo bist du?« Als sich seine Augen an das Inferno gewöhnt hatten, erblickte er die Umrisse einer Gestalt, die an der Wand neben der Nähmaschine kauerte. Er bedeckte Mund und Nase mit seiner Jacke und stürzte auf sie zu, kniete nieder neben seiner gefesselten Frau, deren linker Ärmel bereits in Flammen stand. Sie richtete den Blick auf ihn, aber eine Sekunde später sah er nur noch das Weiße ihrer Augen. Nachdem er die an ihr hochzüngelnden Flammen erstickt hatte, wollte er sie hochheben, doch im selben Moment schoß eine Flammengarbe hinter ihr empor; Thomas riß Anna an sich und versuchte, die lodernden Flammen zu ersticken. Eine unbändige Wut stieg in ihm auf, als er ihre gefesselten Arme an sich drückte. Doch blieb ihm keine Zeit, die Fesseln zu lösen; das würde warten müssen, bis er sie in Sicherheit gebracht hatte. Die Flammen breiteten 335
sich in Windeseile aus, während er sich die Seele aus dem Leib hustete. Als er einen Blick zur Tür warf, erkannte er, daß der Rückweg von Flammen versperrt war. Anna auf den Armen, richtete er sich schwankend auf. Er sprach beruhigend auf sie ein, obwohl er genau wußte, daß er nur Unsinn faselte. In der Windmühle herrschte eine schier unerträgliche Hitze, die lodernden Flammen zuckten wie Tausende von Schlangen, stetig auf der Suche nach neuer Nahrung. Durch die Flammen taumelte Thomas auf die Tür zu, während er seine Frau an sich drückte wie ein neugeborenes Kind. Ein brennender Balken stürzte von oben herab und verfehlte Annas Beine nur um Haaresbreite. Die Flammen versengten seine Haare, seine Haut, trafen ihn wie gnadenlose Peitschenhiebe, doch er achtete nicht darauf, während er sich blind den Weg nach draußen bahnte. Als sie die Tür beinahe erreicht hatten, flog plötzlich der brennende Rumpf eines Modellboots durch die Luft. Thomas wich instinktiv aus, und dann waren sie endlich draußen. Er spürte den weichen Rasen unter seinen Schuhen, stolperte noch ein paar Schritte weiter; er rang nach Luft, während er sich auf die Knie fallen ließ und Anna in das akkurat gemähte Gras bettete. Anna stöhnte, als die Fesseln abermals schmerzhaft in ihre Knöchel schnitten. Thomas strich ihr sanft über die Wangen und drückte sie fest an sich. Während sie hustete und wieder und wieder nach Luft schnappte, begann er sie von ihren Fesseln zu befreien. Dann öffnete sie die Augen und starrte in das rußgeschwärzte Gesicht ihres Mannes, der sie liebevoll anlächelte. »Alles okay mit dir?« fragte er, mußte aber sofort selbst wieder husten. Sie streckte eine Hand aus, und er ergriff sie und preßte sie an seine Wange. Mühsam setzte Anna sich auf; nervös blickte sie sich um. 336
»Paul«, krächzte sie mit heiserer Stimme. Thomas sah sie erschrocken an. Plötzlich spiegelte sich nackte Panik in ihrem Blick. »Er ist in der Mühle, Tom«, stieß sie hervor; ihre heisere Stimme überschlug sich fast. Thomas schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn nirgends gesehen.« Ihre Hand krallte sich in sein Hemd. »Oben … auf dem Dachboden«, hustete sie. Thomas sprang auf und lief zur Windmühle zurück. Anna sah, wie die Flammen aus den Fenstern schlugen, während aus der Tür dichter Rauch drang. Sie preßte die Hände an den Mund. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie zu ihrem Mann hinüber, der einen Augenblick zögerte, bevor er sich erneut in die Flammenhölle stürzte. Tränen liefen Anna über das Gesicht, hinterließen tiefe Spuren auf ihren rußgeschwärzten Wangen. Als Thomas davongerannt war, dauerte es ein paar Sekunden, bis Edward aufging, daß er ruiniert war. Thomas würde seine Frau und seinen Sohn in ihrem Kerker finden. Kurz überlegte Edward, ob er sie alle töten sollte. Keine Chance, dachte er. Er wischte sich mit dem Ärmel über das schweißnasse Gesicht und wankte zurück zur Haustür. Er fühlte sich wie gelähmt, als ihm durch den Kopf schoß, daß er alles verlieren würde, was er sich aufgebaut hatte. Sein perfekter Plan war vereitelt, und ihm blieb keine Zeit, sich einen anderen auszudenken. Erst jetzt begriff er so richtig, in welcher Bredouille er sich befand. Seine einzige Chance bestand darin, sich sofort aus dem Staub zu machen. Er stürzte ins Haus, während er fieberhaft überlegte, was er mitnehmen sollte. Das Geld in der Kommode fiel ihm ein. Er lief die Treppe hinauf, riß die Schublade heraus und stopfte sich die Scheine in die Hosentasche. Sein nächster Gedanke galt seinen Booten. Er griff nach dem Koffer, in dem 337
er die Modellboote verstaut hatte, und schleppte ihn die Treppe hinunter. Auf dem Treppenabsatz blieb er stehen, ließ den Blick durch die Diele schweifen, während er an all die Kostbarkeiten dachte, die er im Lauf seines Lebens angehäuft hatte. Einen Moment lang setzte sein Herz aus, als er daran dachte, daß er nun alles zurücklassen mußte. Er mußte sich regelrecht zwingen, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Dann war er bei seinem Wagen; völlig außer Atem beförderte er den Koffer mit den Booten auf den Rücksitz und setzte sich hinters Steuer. Mit zitternden Fingern startete er den Motor und gab Gas. Als er einen Blick zurückwarf, sah er die Rauchwolken, die gen Himmel stiegen. Die Zeit verrann ihm unter den Fingern. Hart stieg er aufs Gaspedal. Der Wagen schoß nach vorn und geriet leicht ins Schlingern. Vorbei huschten die gepflegten Rasenflächen seines Domizils, während er den Blick auf das Ende der Einfahrt richtete und überlegte, in welche Richtung er sich davonmachen sollte. Er beschloß, den Millgate Parkway und dann die nördliche Route zu nehmen. Mehr wollte ihm momentan beim besten Willen nicht einfallen. Am Ende der Einfahrt lenkte er den Wagen so scharf nach rechts, daß die Reifen kreischten, als er auf die Bremse stieg. Von links kam niemand, ganz wie er es erwartet hatte. Als er in weitem Bogen auf die Straße einbog, sah er von rechts einen Streifenwagen heranbrausen, höchstens noch dreißig Meter entfernt. Verzweifelt versuchte er den Cadillac auf seine Spur zu lenken, doch er bekam den Wagen nicht mehr unter Kontrolle. Der Streifenwagen versuchte noch auszuweichen, aber es war zu spät. Die beiden Wagen kollidierten und blieben mitten auf der Straße stehen.
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Einen Augenblick lang saß Edward wie gelähmt hinter dem Steuer seines Cadillac. Dann öffneten sich die Türen des Streifenwagens, und Edward erkannte den Polizisten in Zivil, der auf der Beifahrerseite ausstieg. Es war Buddy Ferraro, der Detective, der all die Jahre mit dem Fall Lange betraut gewesen war. Ruhig Blut, dachte Edward. Denk daran, du bist der reichste und einflußreichste Mann weit und breit. Du mußt sie nur ordentlich einschüchtern, dann werden sie dich auch gehen lassen. Und wenn sie merken, daß sie einen Fehler gemacht haben, bist du längst über alle Berge. Edward setzte eine Miene auf, in der sich kalte Wut spiegelte. Buddy Ferraro kam ans Fenster und bedeutete Edward, die Scheibe herunterzulassen. »Mr. Stewart«, sagte Buddy. »Sie haben’s aber mächtig eilig.« »Ihr Fahrer ist ja wohl die Rücksichtslosigkeit in Person. Das wird Sie Ihre Marke kosten, Detective. Sehen Sie sich bloß an, was Sie angerichtet haben. Das werde ich Ihrem Vorgesetzten melden, verlassen Sie sich drauf. Und jetzt gehen Sie mir freundlicherweise aus dem Weg.« Buddy zog eine Grimasse und schüttelte den Kopf. »Tja, das geht leider nicht, Mr. Stewart. Wir wollten nämlich mit Ihnen reden.« »Mit mir reden?« fragte Edward. »Was in aller Welt hätten wir denn miteinander zu besprechen?« »Nur ein paar Fragen, Mr. Stewart«, sagte Buddy. »Und jetzt steigen Sie bitte aus.« »Was fällt Ihnen ein?« schnauzte Edward ihn an. »Sie können sich schon mal nach einem anderen Job umsehen.« Buddy musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen und warf einen Blick auf den Rücksitz. »Wollen Sie verreisen, Mr. Stewart?« »Das geht Sie ja wohl nichts an.« 339
»Ganz im Gegenteil, fürchte ich, Mr. Stewart. Wenn Sie so freundlich wären, jetzt endlich auszusteigen.« Edward zitterte vor Wut und Empörung, als er die Wagentür öffnete. Unfaßbar, daß dieser dahergelaufene Polizist die Stirn hatte, ihm gegenüber den dicken Max zu markieren – als würden seine Macht und sein Reichtum keine Rolle spielen. Edward wußte genau Bescheid, was Existenzen wie diesen Detective anging. Er gehörte zu jenen elenden Armleuchtern, die von einem Leben, wie er es führte, nur träumen konnten. Mit seinem großspurigen Getue wollte er nur beweisen, daß er ihm ebenbürtig war. Was für ein armseliger Hohlkopf, dachte Edward. Er stieg aus und nahm den Schaden an seinem Cadillac in Augenschein. Mitleidig schüttelte er den Kopf. »Tja, Detective, die Reparatur wird wohl ein ziemliches Loch in Ihre Ersparnisse reißen. Sind Sie sich überhaupt im klaren, was ein Wagen dieser Klasse …« »Das bereitet mir wenig Kopfzerbrechen«, sagte Buddy. »An Ihrer Stelle würde ich mir über ganz andere Dinge Sorgen machen, Mr. Stewart.« Plötzlich kam Edward die brennende Mühle wieder in den Sinn – wahrhaft ein Grund, sich Sorgen zu machen. Er mußte hier schleunigst verschwinden, ehe sie davon Wind bekamen. Verstohlen sah er zu dem Cop hinüber, der neben dem Streifenwagen hockte und den Schaden inspizierte. Der Cop erhob sich wieder und runzelte die Stirn. »Lieutenant?« sagte er. »Nicht jetzt«, sagte Buddy. »Mr. Stewart, vorhin rief mich ein gewisser Mr. DeBlakey an. Der Inhaber des La-Z Pines Motel, in dem Albert Rambo abgestiegen war. Er hat eine Bibel gefunden, in der sich Rambo einige Notizen gemacht hat.« Edward verdrehte die Augen und sah ihn gelangweilt an. »Ach ja? Und was geht mich das an?«
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»Nun ja, Rambo hat dort auch Ihren Namen und Ihre Telefonnummer notiert – und zwar offenbar an dem Abend, bevor er tot aufgefunden wurde. Haben Sie vielleicht eine Erklärung dafür, Mr. Stewart?« Edward spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich; plötzlich schwindelte ihn leicht. Vergiß es, hämmerte er sich ein. Sie haben nichts gegen dich in der Hand. Sie können dir nichts am Zeug flicken, bloß weil irgendein Verrückter deinen Namen in eine Bibel geschrieben hat. Dennoch geriet sein Selbstvertrauen allmählich ins Wanken. Was würde der Detective als nächstes aus dem Ärmel ziehen? Buddy musterte Edward, doch dieser wich seinem Blick aus. »Mr. Stewart?« »Ich habe Ihnen nichts zu sagen«, erwiderte Edward steif. Der Streifenpolizist verzog die Nase. »He, Lieutenant«, sagte er. »Tut mir leid, wenn ich Sie unterbreche, aber – merken Sie nichts? Hier brennt’s doch irgendwo.« O nein, dachte Anna. Ich hätte nicht zulassen dürfen, daß er die Mühle noch einmal betritt. Da kommt er niemals lebend raus. Ich werde sie beide verlieren. Sie wollte sich aufrappeln, doch ihre Beine knickten unter ihr weg. Auf Hände und Knie gestützt, blickte sie zur Tür der Windmühle; ihr Kopf schien Tonnen zu wiegen. Sie versuchte auf das brennende Gebäude zuzukriechen, hatte aber keine Kraft mehr. Tom, dachte sie. Paul. Sie mußte doch etwas unternehmen. »Bitte, lieber Gott«, stieß sie hervor. »Laß sie nicht sterben!« Anna stöhnte laut auf. Ihre Arme gaben allmählich unter ihrem Gewicht nach, und ihre Handgelenke fühlten sich an, als würden sie jede Sekunde brechen. Sie ging auf die Knie und lauschte. Sie hörte nichts außer dem Prasseln des Feuers. Und Tom war jetzt schon seit einer kleinen Ewigkeit in der Mühle. 341
Sie mußte nach ihnen sehen. Halb verspürte sie den Drang, in die Mühle zu laufen und sich wie eine trauernde Witwe in die Flammen zu stürzen. Mit einem Mal erschien ihr die Vorstellung beinahe verlockend – so würde all der Schrecken wenigstens ein Ende haben. »Tom!« schrie sie, doch dann dachte sie an Tracy. Auch wenn sie nicht mehr leben wollte, hatte sie immer noch eine Tochter, die sie brauchte. Von weitem hörte sie Sirenen, ohne zunächst zu begreifen, daß die Feuerwehr bereits auf dem Weg war. Erst als der Alarm immer lauter wurde, begriff sie endlich, daß Rettung unterwegs war. Plötzlich brach eine dunkle, geduckte Gestalt durch den Türrahmen der Windmühle – eine Gestalt, die jemanden auf den Armen hielt. Ein Schrei der Erleichterung entrang sich ihrer Brust, als Thomas keuchend auf sie zutaumelte. »Tom!« rief sie und kämpfte sich auf die Füße. »Tom!« Dann erblickte sie die menschliche Last in seinen Armen. Der Körper des Jungen schien erstarrt; sein Kopf baumelte leblos herab. Seine Sachen waren versengt, und die rußgeschwärzte Haut schien zu rauchen. Sein Mund stand offen, als hätte er bis zuletzt verzweifelt nach Atem gerungen. Mit weit aufgerissenen Augen sah Anna ihren Mann an, während sie abwehrend die Hände hob. Plötzlich drang ein Schrei aus ihrer Kehle, der nicht mehr menschlich klang. Sanft bettete Thomas den Jungen ins Gras und sah auf zu ihr. »Nein, Anna«, brachte er rauh hervor, ehe er abermals husten mußte. »Er lebt. Er lebt – so glaub mir doch!« Anna bedeckte den Mund mit den Händen und sank auf die Knie, während Thomas sich über Paul beugte und mit Wiederbelebungsversuchen begann. Wie gelähmt sah sie zu, als Thomas tief Luft holte und anfing, Paul zu beatmen – nach jedem Hauch drehte er den Kopf zur Seite und lauschte nach einem Lebenszeichen. 342
Anna schloß die Augen. Sie legte die eine Hand auf Pauls Arm, klammerte sich mit der anderen an Thomas, während er abermals tief Luft holte. »Geht es noch?« fragte Anna. Thomas nickte nur. Wieder senkte er den Kopf und begann von neuem, Paul zu beatmen, so lange, bis Anna sah, wie sich die Brust des Jungen langsam wieder zu heben begann; und allmählich bekam auch sein Gesicht wieder Farbe. Von weitem hörte sie die Feuerwehr und die Ambulanz, die Buddy über Funk gerufen hatte. »Tom, sieh nur!« rief Anna, als sich Pauls Augen öffneten. Thomas stützte sich auf die Arme. Beide sahen sie auf den Jungen herab und lächelten. »Bist du okay?« fragte Anna leise. Der Junge nickte, doch dann begann er zu husten, als würde er jede Sekunde ersticken. »Tom!« rief Anna, während sich ihre Finger in den Arm ihres Mannes krallten. »Was ist mit ihm?« »Irgendwie muß er ja den Rauch aus der Lunge bekommen.« Thomas ergriff Pauls Hand, bis sich sein Keuchen wieder gelegt hatte. »Das wird schon, Paul. So schnell gibst du nicht auf, stimmt’s? Du bist eben ein echter Fighter.« Paul lächelte schwach und umklammerte die Finger seines Vaters. Thomas lächelte Anna an. »Das hat er von dir.« Er beugte sich zum Ohr des Jungen und flüsterte: »Mach dir keine Sorgen. Der Krankenwagen ist gleich da.« Er hörte bereits, wie Ambulanz und Feuerwehr über den gepflegten Rasen der Stewarts näher und näher kamen. Paul nickte und schloß die rotgeränderten, tränenden Augen. Thomas musterte das hagere Gesicht seines Sohns. »Ich frage mich bloß, was er von mir hat«, sagte er mit einem traurigen Seufzer. 343
Anna nahm ihn in die Arme, während sie ihren Sohn keine Sekunde aus den Augen ließ. »Einfach alles«, sagte sie. »Alles Gute dieser Erde.«
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