Der junge und wenig erfolgreiche Advokat Odoaker M. Rieff steht vor einem für ihn fast unlösbaren Fall: In seiner Wohnu...
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Der junge und wenig erfolgreiche Advokat Odoaker M. Rieff steht vor einem für ihn fast unlösbaren Fall: In seiner Wohnung findet er am Morgen zwei Tote. Außerdem fehlen aus seiner Pistole zwei Schuß Muni tion. Zwar ist er sich ziemlich si cher, mit dem Mord an den ihm un bekannten Personen nichts zu tun zu haben, andererseits spielt ihm aber sein Gedächtnis einen Streich. Beim besten Willen kann er sich nicht mehr erinnern, wie er den tur bulenten Abend und die Stunden bis zum Erwachen verbracht hat. Um seine Unschuld beweisen zu kön nen, braucht er ein unantastbares Alibi. Fieberhaft beginnt er, nach dem Täter und seinem Motiv zu su chen. Mit Hilfe seiner Freunde und Bekannten will er die Vorgänge der vergangenen Nacht so lückenlos wie möglich rekonstruieren. Doch in seiner gereizten Phantasie erscheint ihm einer nach dem anderen des Mordes verdächtig. Schon glaubt er die Lösung zu haben, als sich der tatsächliche Mörder bei ihm für die Aufregungen und Verdrießlichkeiten an diesem „ergötzlichen“ Vormittag entschuldigen läßt.
Scanned and Corrected by
Pegasus37
Dieses eBook ist nicht für den Verkauf bestimmt.
Alojzy Kaczanowski
Ein ergötzlicher
Vormittag
Eulenspiegel Verlag Berlin
Titel des polnischen Originals:
Rozkoszne przedpołudnie
Ins Deutsche übertragen von Jutta Janke
Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten 1. Auflage • 1966 Eulenspiegel Verlag, Berlin Lizenz-Nr.: 540/12/66 • ES-8 C Einbandentwurf; Eberhard Binder-Staßfurt Lektor: Horst Roatsch Satz, Druck und Bindearbeiten: (87) BBS Rudi Arndt, 102 Berlin. 6270
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I
Ich weiß, was mir blüht, wenn ich die Augen öffne. Ich tu’s trotzdem. Was ich befürchtet habe, tritt ein: Unter der Schädeldecke setzen sich tausend kleine Hämmer chen in Bewegung, das Zimmer kreist träge um mein Bett. Schleunigst schließe ich die Augen, aber damit ist nichts gebessert. Wenn ich sie schon einmal aufge macht habe, muß ich sie auch offenhalten, sonst stür ze ich in einen Abgrund wie mit einem Fahrstuhl, dem das Seil gerissen ist. So schlage ich die Lider wieder auf und versuche, nicht zu blinzeln, denn das kleinste Zucken setzt das Hammerwerk im Kopf von neuem in Gang. Ich richte mich hoch. Das rächt sich auf der Stelle. Mein Schädel zerspringt. Das Zimmer fährt mit mir Ka russell. Vorsichtig strecke ich die linke Hand zur Seite und lange, ohne den Kopf zu wenden, nach dem Nachttisch. Es fällt etwas: die Uhr. Meine Hand erta stet das Telefon, eine Zigarettenschachtel, die Nacht tischkante. Behutsam schwenke ich die obere Körper hälfte mit dem Kopf nach links. Jetzt attackiert der Schmerz Genick und Schläfen. Die Mühe war umsonst: kein Glas Wasser auf dem Nachttisch. Langsam, mit Bedacht hieve ich die Beine aus dem Bett. Ich stehe auf. Sofort sitze ich wieder. In meinem Kopf dreht sich alles. Ich warte ein paar Sekunden, dann versuche ich’s nochmal. Diesmal gelingt es mir, die Hand gegen die Wand gestemmt, mich auf den Füßen zu halten. Noch ein kleines Weilchen, und ich werde in der Lage sein, mich ins Bad zu schleppen. Den Schlafanzug 6
brauche ich nicht erst auszuziehen, ich habe ihn gar nicht an. Er hängt friedlich auf der Leine über der Wanne. Die kalte Dusche wirkt Wunder. Als ich aus der Wanne steige, bin ich imstande, mich zu rasieren. Ich bin noch nicht ganz bei mir, aber der Mechanis mus funktioniert: Ich rasiere mich, stolpre zurück ins Zimmer, nehme ein sauberes Hemd und den gewirkten Schlips aus dem Schrank, ziehe ein Paar Hosen und das Tweedjacket an (der dunkelblaue Anzug liegt auf dem Fußboden, um den soll sich die Aufwartung küm mern), zünde in der Küche das Gas an und koche mir einen Mokka. Ich müßte unbedingt zuerst etwas essen. Rührei mit Speck… nein, bloß keinen Speck, schon bei dem Ge danken wird mir übel. Lieber zwei weichgekochte Eier. Ich öffne den Kühlschrank. Und da fällt es mir wieder ein. Nur nicht daran denken. Das ist die einzige Möglich keit, um einigermaßen im Gleichgewicht zu bleiben. Ich schlürfe einen Schluck bitteren Kaffee, puste, trin ke den Rest. Das hilft. Ich stecke mir eine Zigarette an. Eine zweite Tasse, und ich bin wieder in Form. Mein Kopf kommt mir wie ein ausgehöhlter Kürbis vor, aber der Schmerz ist weg. Vielleicht läßt sich auch ge gen das andere was tun. Am Ende ist alles pure Einbil dung. Ich schlendre hinüber ins Zimmer, hebe die Uhr auf. Sie geht. Es ist zehn nach neun. Ein neuer, schöner Tag liegt vor mir. Draußen scheint die Sonne, ein Herbstmorgen. Ich erinnere mich dunkel, daß es in der Nacht einen Wol kenbruch gegeben hat. Die Frontscheibe des Wagens, von Wasserströmen überflutet… Zwei Lichtbündel, die 7
sich durch den Regenvorhang bohren, und im Schein werferlicht, auf der nassen Straße… Stop, abschalten. Nicht daran denken. Ich muß mich zusammenreißen. Das beste wird sein, aus dem Hause zu gehen und die täglichen Besorgungen zu machen, die im übrigen nicht allzu anstrengend sein werden. Wo sind die Schlüssel? Vermutlich in der Mantelta sche. Wo ist der Mantel? Am Garderobenhaken im Flur hängt er nicht. Bin ich gestern etwa ohne Mantel nach Hause gekommen? Das ist mir noch nie passiert, der Mantel muß irgend wo sein. Das Zimmer ist geräumig. Es hat einen Alkoven, in dem das Bett, der Nachttisch, ein Sessel und eine Kommode stehen. Im Zimmer selbst findet man die sogenannte Klubgarnitur, zu der unter anderem ein großes Sofa gehört, das mit dem Rücken zur Tür auf gestellt ist und so den repräsentativen Teil meiner Be hausung vom übrigen trennt, also vom Flur und dem Alkoven. Können Sie sich ein Bild machen? Wenn man vom Flur ins Zimmer tritt, geht es links, hinter dem Sofa vorbei, zur Bettnische. Den Raum zwischen Sofa und Balkontür nimmt ein elegantes Meublement ein, wie es sich unsereins schuldig ist. Außer besagtem So fa stehen dort mehrere Sessel, eine Fernsehtruhe mit Radio und Plattenspieler (die ich nie benutze, denn ich höre weder Radio noch Schallplatten, und Fernsehen ist mir zuwider), ferner eine Hausbar, ein Sekretär, ein Bücherregal, in der Mitte ein niedriger, runder Tisch – alles überaus schick, wie mir meine Bekannten versi chern. Jetzt habe ich den Mantel entdeckt, ein Ärmel hängt über die Sofalehne. Ich muß ihn im Vollrausch dorthin 8
geworfen haben. Ich will ihn nehmen. Unter dem Man tel liegt etwas auf dem Sofa, was ich gestern offenbar nicht bemerkt habe, als ich ihn über die Lehne warf. Dieses Etwas ist eine Leiche. Eine Frauenleiche. Die Tote liegt bequem ausgestreckt, als sei sie hier zu Hause: ein Gast, der nach der Feier über Nacht geblie ben ist und den ich mangels einer Decke in den Mantel gehüllt habe. Aber die Feier war doch gar nicht bei mir, ich hatte gestern keinen Besuch. Soweit ich mich entsinnen kann, bin ich heute morgen allein nach Hau se gekommen. Wie ist die Tote in meine Wohnung ge raten? Vielleicht ist auch das nur eine Halluzination? Ich kneife die Augen zu, reiße sie wieder auf – sie liegt immer noch da. Noch mal die Augen zu, nun vorsichtig die Lider geöffnet… Nichts zu machen, die Leiche bleibt, sie existiert. Diesmal kann ich mich nicht damit trösten, daß das Delirium schuld ist. Vielleicht ist es auch besser so. Natürlich ist es so besser. Eine Leiche ist eine Lei che. Ein lebloser Körper, dessen Anwesenheit auf mei nem Sofa sich schon irgendwie erklären lassen wird. Das andere dagegen ist schlimmer. Das habe ich ge sehen, obwohl es nicht vorhanden war. Diese Leiche hier ist – ich würde sagen: eine ganz gewöhnliche Leiche. Eine hagere, unscheinbar geklei dete Frau. Ziemlich abgetragene schwarze Schuhe, die dürren Beine in Perlonstrümpfen, das schwarze Ko stüm nach der Mode von vorgestern, um den Hals ein schwarzweiß karierter Seidenschal. Ihre Wangen sind eingefallen, die schmalen Lippen zu einer Grimasse verzerrt, die halbgeschlossenen Lider fast wimpernlos. Die Haare, die unter dem unmodernen Hut hervorguk 9
ken, sind onduliert und von undefinierbarer Farbe. Das Alter der Frau ist schwer zu bestimmen, vermutlich um die Fünfzig, wobei jedoch zu berücksichtigen ist, daß der Tod älter macht. Keine Handschuhe, die Fingernä gel unlackiert. Zu Lebzeiten muß die Entschlafene wie eine Geographielehrerin oder so ausgesehen haben – Sie kennen den Typ. Ich nehme ihre Hand, versuche sie hochzuheben. Der Arm ist steif, mein Gast weilt schon seit Stunden in der Ewigkeit. Irgendwas vermisse ich an dieser Lei che, die so komplett bekleidet ist, als wolle sie soeben zum Sonntagsgottesdienst aufbrechen. Die Handta sche fehlt. Sie findet sich weder auf dem Fußboden noch irgendwo anders. Es wird also nicht so einfach zu erfahren sein, wessen sterbliche Hülle meine Gast freundschaft in Anspruch genommen hat, die Papiere dürften in der Handtasche sein. Plötzlich klappert das Schloß der Wohnungstür. Die Aufwartung! Ich könnte in den Flur laufen, die Tür hinter mir schließen, die Frau auf der Schwelle abfangen und un ter irgendeinem Vorwand wegschicken. Jeder vernünf tige Mensch würde das an meiner Stelle tun. Ich nicht. Auf diesen simplen Ausweg komme ich einfach nicht. In meiner Verwirrung fällt mir nur eine einzige Lösung ein. Ich schleife die Tote an den Armen zur Balkontür. Mit dem Ellbogen drücke ich die Klinke nieder, stoße mit dem Fuß die Tür auf. Mein Balkon ist kein richtiger Balkon. Hinter der Tür ist nur noch Platz für einen Blumenkasten, dann ein Eisengitter. Ich lehne die Lei che ans Gitter, werfe einen Blick hinab.
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Zwei Stockwerke unter mir, auf der breiten, ver kehrsreichen Straße, fahren Autos und Omnibusse vorbei, die Bürgersteige sind voller Menschen. Ich zäh le darauf, daß in diesem Augenblick niemand nach oben schaut. Zum Teil verbirgt mich der Balkon im ersten Stock vor den Blicken der Passanten. Denn der erste Stock hat im Unterschied zum zweiten zwar schmale, aber immerhin Balkons mit massiver Brüstung. Sie liegen unter mir einer neben dem andern, im Moment sind alle leer. Ich nehme die Tote flach auf die Arme, hebe sie über das Gitter, beuge mich vor und lasse sie fallen. Der Körper stürzt auf den Balkon unter mir, beim Auf prall gibt es einen unangenehmen, dumpfen Bums. Rasch schließe ich die Tür, wische mir den Schweiß von der Stirn. Jetzt darf ich keine Zeit verlieren. In der Küche klappert und schnauft es. Die Aufwar tefrau ist in voller Fahrt. Sie wird mir böse sein. Ge stern habe ich das Küchenfenster offenstehen lassen, es hat hereingeregnet. Auf Zehenspitzen schleiche ich durch den Flur ins Treppenhaus. Ich laufe hinunter in den ersten Stock. Die Wohnung geradezu hat kein Türschild. Ich klopfe. Keiner öffnet. Ich klopfe noch einmal. Nichts. Vorsichtig drücke ich die Klinke nieder. Die Tür ist unverschlossen. Ich trete ein. Der Raum ist der gleiche wie bei mir, eine Etage höher. Aber im ganzen ist die Wohnung kleiner. Sie hat weder Küche noch Bad, nur eine winzi ge Spülecke mit einem Abwaschbecken. Hier herrscht graues Elend. Ein paar vorsintflutliche Sessel, aus de nen die Sprungfedern quellen, ein Schreibtisch, dem ein Bein fehlt – er ruht statt dessen auf einem Stoß 11
alter Konversationslexika, ein leerer Schrank mit zer sprungener Scheibe, überall verstreut abgetragene Kleidungsstücke, auf Möbeln und Fußboden angeschla gene Teller und Pfannen mit Speiseresten, eine Etage re mit abgegriffenen Büchern und auf allem eine dicke Staubschicht, es ist eine Luft wie im Raubtierkäfig. Die Balkontür ist angelehnt. Von hier aus sieht man nicht, ob auf dem Balkon etwas liegt. Die Tür ist unten aus Holz, erst in Meterhöhe beginnt die Scheibe. Ich öffne die Tür einen Spalt weit, und da liegt schon meine Entschlafene friedlich hingestreckt auf dem Zementfußboden, vor Blicken von der Straße durch die Brüstung verborgen. Ich trete auf den Bal kon und mache mich an den schwierigsten Teil meines Vorhabens. Ich hebe die Leiche hoch, stütze sie mit dem Nacken an die linke Balkonwand, schätze die Entfernung zum Nachbarbalkon ab. Der Zwischenraum ist gering, er kann kaum anderthalb Meter betragen. Doch es wird nicht leicht sein, den Körper hinüberzuwerfen, ich kann nicht ausholen, es ist zuwenig Platz, auch ist die Tote schwerer als vermutet. Ich nehme alle Kraft zusammen und schleudere sie mit einem plötzlichen Ruck nach links zum Nachbar balkon. Die Leiche kommt drüben auf die Brüstung zu sitzen, verharrt einen Atemzug lang in dieser Stellung, als könne sie sich nicht entscheiden, nach welcher Sei te sie sich neigen soll. Wenn sie zuwenig Schwung mitbekommen hat, wenn die Beine das Übergewicht kriegen, kippt sie vornüber und fällt auf die Straße. Der Kopf behält die Oberhand. Der Körper senkt sich steif nach hinten und verschwindet hinter der Balkon brüstung. 12
Ich atme auf. Lehne die Balkontür an, laufe durchs Zimmer, ins Treppenhaus. Vor der Wohnung nebenan bleibe ich stehen. Hier prangt ein Kupferschild an der Tür: Eduard Rieff, Karl Opolsky, Rechtsberater. Neben der Tür ist die Nische mit dem Feuerlöschschlauch. Ich öffne das Glastürchen, schiebe die Hand unter den Schlauch und nehme den Schlüssel heraus. Nachdem ich aufgeschlossen habe, lege ich den Schlüssel an seinen Platz zurück und trete ein. Das ist das Vorzimmer. Es zeigt noch Spuren ver sunkenen Glanzes. Der Plüsch auf den Sitzmöbeln ist abgewetzt, sie müssen einmal viel Geld gekostet ha ben. Die Zeitschriften auf dem runden Tischchen sind nicht ganz so alt wie die Möbel, vom vorigen Jahr viel leicht. Die Tür zum Nebenzimmer ist geschlossen. Meine Kraft reicht nur noch dazu, mich zum näch sten Sessel zu schleppen. Schweratmend lasse ich mich in die Polster fallen. Mir zittern Arme und Beine. Plötzlich sträuben sich mir die Haare. Im Neben zimmer ist jemand. Eine Frauenstimme summt „It’s a long way to Tipperary“. Die Tote! Sie ist durch die bei den Stürze auf den Beton ins Leben zurückgekehrt, ich sehe sie vor mir, im schwarzen Kostüm, wie sie sich erhebt und vom Balkon hereintritt, ein sorgloses Lied chen auf den Lippen. Gleich wird sie hier im Vorzim mer sein. Da öffnet sich schon die Tür. Ich schlage die Hände vors Gesicht, ich kann ihr nicht in die Augen blicken. Das Summen bricht ab, einen Moment ist Stille, dann sagt eine Frauenstimme: „Zu wem möchten Sie?“ Die Stimme ist unsicher, schwach und viel jünger als der Körper in dem schwarzen Kostüm. Ich schaue auf.
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In der Tür steht ein junges Mädchen. Ich habe sie nie im Leben gesehen.
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II
Sie ist klein, nicht eben zierlich, hat einen Rock und einen billigen Pullover an. Ihr Gesicht ist blaß, die Au gen wäßrig, ihre Frisur: mausgraue, glatte Haarbü schel, die nach allen Seiten abstehen. Scharlachrote Fingernägel. Die Beine in Perlonstrümpfen, an den Fü ßen Pumps mit hohen Absätzen, zwei Nummern zu groß. Die eine Hand lehnt am Türrahmen, die andere hat sie kokett in die Hüften gestützt wie auf einem Stand foto von Marilyn Monroe. Aber ihre Augen sind furcht sam. „Was machen Sie hier, wie sind Sie hereingekom men?“ fragt sie. „Ich… verstecke mich“, antworte ich entsprechend meinem Seelenzustand. „Vor der Polizei?“ forscht sie. Ihr Blick wird noch ängstlicher. „Ich weiß noch nicht“, sage ich. „Wenn Sie zum Herrn Rechtsanwalt wollen, der ist noch nicht da.“ Sie hat Marilyn Monroe vergessen, hält die Hände ganz normal, die Füße leicht nach innen ge kehrt. Die Furcht macht ihren Gesichtsausdruck etwas einfältig, sie schürzt die bemalten Lippen wie ein Silve sterkarpfen. „Der Rechtsanwalt ist da“, widerspreche ich, „erzäh len Sie mir keine Märchen.“ „Sie nehmen sich reichlich viel heraus. Der Herr Rechtsanwalt ist noch nicht da, und ich weiß nicht, wann er kommt. Versuchen Sie’s in einer Stunde noch mal.“ „Ich bin der Rechtsanwalt“, erkläre ich ihr. 15
„Am Ende sind Sie noch der Kaiser von China“, ver setzt sie gewollt schnippisch, mit ihrer Impertinenz will sie sich selber Mut machen. „Wenn Sie ein Anliegen an Rechtsanwalt Rieff haben, kommen Sie später wieder.“ „Ich bin Rechtsanwalt Rieff, und wer sind Sie?“ „Das glaub’ ich nicht“, lacht sie, „Sie wollen mir was weismachen.“ „Ich mache Ihnen gar nichts weis. Ich heiße Rieff, und das ist mein Büro. Was treiben Sie hier?“ „Sie sind Rechtsanwalt Rieff? Wirklich?“ „Wollen Sie meinen Ausweis sehen? Soll ich Ihnen meine Anwesenheit in meinem eigenen Vorzimmer er klären?“ Die Situation fängt an, mich zu amüsieren. „Ja, wenn das so ist, entschuldigen Sie vielmals“, stottert das Mädchen. Sie tritt auf mich zu, läßt ein gewinnendes Lächeln sehen (Martine Carol in „Natalie“), streckt mir die Hand hin. „Ich bin Ihre neue Sekretärin.“ „Sehr angenehm“, sage ich und drücke ihre Hand. „Darf ich erfahren, welchem Umstand ich diese Ehre verdanke?“ „Nina hat mich hergeschickt, sie hat doch mit Ihnen in dieser Angelegenheit telefoniert.“ Stimmt, Nina hatte angerufen. Nina war meine vori ge Sekretärin. Sie hat mich vor einem Monat verlas sen, weil sie heiraten wollte. Sie versprach, eine Nach folgerin zu besorgen, und rief tatsächlich eines Tages an: Sie habe „eine geeignete Kraft“ gefunden und werde sie mir schicken. Aber das ist jetzt zwei Wochen her. „Warum haben Sie sich nicht eher gemeldet?“ frage ich. 16
„Wann, eher?“ „Als Nina anrief. Vor zwei Wochen.“ Das Mädchen errötet und wendet das Gesicht ab. Habe ich etwas Schlimmes gesagt? „Ist übrigens ganz egal“, beschwichtige ich. „Eine Sekretärin brauche ich zwar genauso dringend wie die Eskimos Kühlschränke, aber wenn Sie einmal da sind, bleiben Sie halt. Können Sie stenographieren?“ Das Mädchen macht große Augen. „Wenn Sie’s nicht können, um so besser“, sage ich, „es ist sowieso unnütz.“ In der Kanzlei klingelt das Telefon. Das Mädchen schaut mich fragend an. „Heben Sie ab“, gebiete ich. „Sagen Sie, ich bin nicht da.“ Das Mädchen geht hinüber, ich folge ihr. Ein Samt vorhang, der bis zum Fußboden reicht, verbirgt die Ni sche mit der Balkontür. Das Tageslicht fällt durch das Fenster in der Seitenwand ein, das auf eine Sackgasse hinausgeht. Im Zimmer ist es nicht sehr hell. Die ver glasten Eichenschränke, mit Büchern und Akten voll gestopft, die beiden monumentalen Schreibtische, der altmodische, feuerfeste Tresor und die gigantischen Klubsessel strahlen Ernst und Verläßlichkeit aus. Wenn hier etwas das Vertrauen der Klienten ins Schwanken bringen kann, so ist es meine Person. Sonst atmet al les Würde. Das Mädchen legt den Hörer auf. „Die Person hat schon zweimal angerufen“, meldet sie. „Muß viel Zeit haben. Wie heißen Sie?“ „Pums“, antwortet sie. „Mit Vor- oder Nachnamen?“ 17
„Mit Familiennamen. Mit Vornamen heiße ich Geno veva.“ „Da ist mir Pums schon lieber. Ich werde Sie beim Nachnamen nennen, einverstanden?“ „Wie Sie wünschen“, sagt sie gefügig. „Brauchst du Geld, Pums?“ „Etwas habe ich noch.“ „Das ist ausgezeichnet, die Firma ist sowieso im Au genblick zahlungsunfähig. Sobald ich was einnehme, teilen wir ehrlich. Kannst du mir vorläufig einen Zeh ner borgen? Wenn ich mir jetzt nicht einen genehmige, kippe ich um!“ Das Mädchen geht zum Schreibmaschinentisch, an dem sie sich bereits häuslich eingerichtet hat, was an dem rings um die Maschine verstreuten Puder zu er kennen ist. Die Puderstäubchen machen das Büro im Nu wohnlich. Nina hat auch immer, wo sie ging und stand, Puder hinterlassen. Neben der Maschine liegt ein weißes Handtäschchen. Pums nimmt zwei Bankno ten heraus und gibt sie mir. „Vergelt’s Gott“, sage ich. „Ich bin neugierig, wie du heute früh hier ‘reingekommen bist.“ „Ich habe den Schlüssel von Nina, den hat sie Ihnen zurückzugeben vergessen.“ „Ich besitze noch einen, der liegt immer in der Ni sche unter dem Feuerlöschschlauch. Ich zeige es dir – für den Fall, daß du deinen verlierst.“ Ich führe sie durchs Vorzimmer ins Treppenhaus und zeige ihr das Versteck. „Und Herr Opolsky, wann kommt der ins Büro?“ fragt Pums und deutet mit dem Kopf auf das Türschild. „Um den brauchst du dich nicht zu kümmern. Opolsky ist hundert Jahre alt, er übernimmt höchstens 18
einmal alle zwei Jahre einen Fall. Wenn jemand nach ihm fragen sollte, schick ihn ins Café Roma, dort ist er jeden Mittag zu treffen.“ Ich lehne mich neben der Nische an die Wand, mei ne Knie sind weich wie Watte. Wenn ich jetzt nicht ei nen Schnaps trinke, mache ich schlapp. Auf der Treppe nähern sich Schritte. Eine alte Frau mit grauen, ungekämmten Haaren, den Rock verkehrt zugeknöpft, steigt die Stufen hoch. Sie wohnt im Hau se, ich kenne sie vom Sehen, manchmal begegne ich ihr auf der Treppe. Für gewöhnlich geht sie langsam und ruht sich auf jeder dritten Treppenstufe aus, ich überhole sie stets. Diesmal ist sie in Eile. Sie stolpert auf uns zu. „Bitte, entschuldigen Sie, mein Herr, dürfte ich mal bei Ihnen telefonieren?“ fragt sie außer Atem. „Selbstverständlich“, sage ich. Wir gehen zu dritt in die Kanzlei. Die Grauhaarige nimmt den Hörer auf, sie wendet sich zu mir um. „Wissen Sie nicht, welche Nummer die Polizei hat? Ich muß die Polizei anrufen.“ Sie blickt etwas verstört drein, als sehe sie einen Geist vor sich. Soweit ich mich erinnere, ist das ihr gewöhnlicher Gesichtsausdruck. „Sechs fünf“, sage ich. Die Grauhaarige beginnt die Nummernscheibe zu drehen, verwählt sich. Sie legt den Hörer auf, versucht es noch einmal. Über mehrere Schritte Entfernung er reicht mich der Geruch, den sie ausströmt. Ich trete rasch neben sie und drücke die Gabel nieder. „Weshalb wollen Sie die Polizei anrufen?“ erkundige ich mich. Die Grauhaarige denkt nach. 19
„Sie sind Rechtsanwalt, nicht wahr?“ fragt sie. „Gewiß.“ „Dann raten Sie mir, was ich tun soll. Sie werden sich da auskennen. Bei mir in der Wohnung ist eine Leiche.“ Pums reißt die Augen auf. Ich nehme der Grauhaari gen den Hörer aus der Hand und lege ihn auf die Ga bel. „Ist wer gestorben?“ „Nein, nein“, wehrt die Frau ab, „bei mir ist niemand gestorben, ich wohne allein.“ „Sie wohnen hier nebenan, nicht wahr?“ „Ja, gleich nebenan“, bestätigt sie. „Ich kenne Sie vom Sehen.“ „Ich kenne Sie ebenfalls“, sage ich. „Also, wie ist das mit dieser Leiche? Wo ist sie denn hergekommen?“ „Vom Himmel ist sie gefallen. Vom Himmel direkt auf den Balkon. Und da liegt sie jetzt.“ Pums preßt beide Hände gegen die Brust und zieht den Kopf zwischen die Schultern. Doch gleich darauf läßt sie die Arme sinken und nimmt einen Ge sichtsausdruck an, als könne nichts in der Welt sie in Erstaunen versetzen (Françoise Arnoul in „Verbotene Früchte“). „Das wird Ihnen nur so vorgekommen sein“, erkläre ich entschieden. „Meinen Sie? Es ist allerdings schon öfter vorge kommen, daß ich mir was einbilde.“ Die Frau ist un schlüssig. „Wir werden uns gleich davon überzeugen, gehn wir hinüber.“
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Wir marschieren ins Treppenhaus, Pums hinterher. Vor der Nachbarwohnung bleiben wir stehen, die Grauhaarige sucht in ihrer Rocktasche. „Der Schlüssel ist weg“, murmelt sie. „Ich werde ihn in der Bar vergessen haben.“ ,Die Tür ist offen’, will ich sagen, kann es mir aber gerade noch verbeißen. „Ich wollte von der Bar aus telefonieren, aber da ist der Apparat kaputt, ich muß den Schlüssel neben dem Telefon liegengelassen haben.“ Sie wendet sich zur Treppe. „Augenblick noch“, halte ich sie zurück. „Vielleicht haben Sie den Schlüssel gar nicht eingesteckt?“ Die Grauhaarige drückt auf die Klinke, die Tür geht auf. „Tatsächlich, ich habe nicht abgeschlossen, ich war sehr aufgeregt.“ Wir treten ein. Der Raubtiergestank verschlägt mir den Atem. Pums ist bleich vor Angst. „Dort draußen liegt sie.“ Die Alte zeigt auf die Bal kontür. Ich gehe hin und öffne. „Hier ist nichts“, sage ich und streiche mit der Hand über Brüstung und Zementfußboden zum Beweis, daß dort wirklich nichts ist. Die Frauen kommen näher, sie starren den nackten Beton an. „Ich sag’s ja, Sie haben sich das nur eingebildet.“ Verstohlen werfe ich einen Blick zum Nachbarbalkon. Wenn man sich aufreckt, kann man den Hut meiner Entschlafenen erspähen. Ich hoffe inständig, daß die Grauhaarige keinen langen Hals machen wird. „Ich hab’s doch mit eigenen Augen gesehen“, be harrt sie. „Zuerst plumpste etwas auf den Balkon, ich
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gucke ‘raus, und da sehe ich die Leiche liegen, wie vom Himmel gefallen.“ „Wann war das?“ „So vor einer Viertelstunde. Ich hatte mir gerade Haferflocken gekocht, als auf einmal etwas auf den Balkon plumpste. Ich lief hin, und da lag sie.“ „Was haben Sie dann gemacht?“ „Ich machte das Gas aus. Dann lief ich aus dem Haus, um die Polizei anzurufen. Der Laden unten war zu. In der Bar war das Telefon kaputt. Da fiel mir ein, daß Sie Telefon haben müßten, und da bin ich umge kehrt.“ „Ich weiß!“ ruft Pums. „Sie haben die Tür offenge lassen, nicht wahr?“ „Es sieht so aus. Das ist mir übrigens schon öfter passiert.“ „Dann ist die Sache ganz einfach“, behauptet Pums. „Die Leiche ist aufgestanden und durch die Tür auf die Treppe gelangt.“ „Aber das war eine richtige Leiche“, beteuert die Al te, „ganz und gar tot, bestimmt!“ „Offenbar doch noch ein bißchen lebendig“, zweifelt Pums. „Vielleicht ist sie aus einem Flugzeug gefallen? Ich habe so was mal im Kino gesehen.“ „Jedenfalls ist keine Leiche hier“, schneide ich alle weiteren Erörterungen ab. „Meine persönliche Vermu tung ist, daß Sie eine Halluzination gehabt haben.“ (,Ich kann ein Lied davon singen’, liegt es mir auf der Zunge, ‚ich habe selbst welche.’) „Ich weiß nicht, was ich von der ganzen Geschichte halten soll“, seufzt die Grauhaarige. „Ich flehe Sie an, erzählen Sie niemandem im Hause davon, ja? Die Leu te halten mich so schon für eine Verrückte. Das hätte 22
noch gefehlt, daß mir Leichen vom Himmel auf den Balkon fallen. So was kann auch nur mir passieren.“ „Nicht nur Ihnen“, versichere ich ihr. „Ich muß jetzt gehen. Lassen Sie es mich wissen, wenn sich etwas Neues ereignen sollte.“ „Danke, vielen Dank, und entschuldigen Sie bitte. Sie sind sehr freundlich. Ich heiße übrigens Hildegard“, stellt sie sich vor und streckt mir die Hand hin. Wir verabschieden uns und verlassen sie. Als wir durchs Vorzimmer gehen, klingelt das Tele fon in der Kanzlei. Pums läuft hin und hebt ab. „Der Herr Rechtsanwalt ist noch nicht da“, spricht sie in den Hörer. „Er ist nicht hier, da kann man nichts machen… Ich weiß nicht, ob er nach Hause gekommen ist. Wann er zu erwarten ist? Einen Moment, ich frage mal…“ „Dumme Gans!“ fahre ich sie an und reiße ihr den Hörer aus der Hand. Pums duckt sich und weicht schuldbewußt hinter den Schreibmaschinentisch zu rück. „Hallo?“ sage ich. „Lebst du noch?“ meldet sich eine muntere Stimme. „Wer ist da?“ „Erkennst du mich nicht? Deine liebe Verlobte“, zwitschert die Stimme. „Seit wann?“ frage ich schroff. „Seit sieben Stunden, genau um drei Uhr morgens hast du dich verlobt.“ „Und mit wem?“ erkundige ich mich. „Mit mir natürlich.“
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„Wenn ich um den Namen bitten dürfte!“ sage ich sehr offiziell, obwohl mir in diesem Augenblick etwas dämmert, übrigens kenne ich die Stimme. „Mach keine Witze, geh lieber mit mir frühstücken. Ich hab’ einen schrecklichen Hunger“, tönt es aus dem Hörer. „Lädst du mich ein?“ „Also schön, ich spendiere. In einer Stunde, ja?“ Knack, Ende. Ich lege auf. Pums steht, den Rücken zum Zimmer, an der Balkontür. Sie spielt mit der Vor hangschnur. Jeden Augenblick kann sie daran ziehen. „Pums“, rufe ich. Sie dreht sich um. „Ich habe eine Dummheit gemacht“, sagt sie, „seien Sie mir nicht böse.“ „Unsinn, es ist doch gar nichts geschehen. Setz dich.“ Pums nimmt brav auf dem Schreibmaschinenstuhl Platz. Es wird mir nichts weiter übrigbleiben, als sie in die Leichenaffäre einzuweihen, ich brauche ihre Hilfe. „Was hältst du von der verrückten Alten?“ beginne ich. „Sie ist ganz nett, eine gute Haut, scheint’s.“ „Und wie denkst du über diese Leiche, die vom Himmel gefallen ist?“ „Eine rätselhafte Geschichte. Ich bin überzeugt, Sie werden die Sache herausbekommen“, erklärte sie mit Filmstimme (Loretta Young in „Der ungebetene Gast“). „Laß die Albernheiten, ich bin in einer verzweifelten Lage. Diese Leiche ist wirklich vorhanden, wir müssen etwas unternehmen.“ „Aber da war doch keine“, widerspricht Pums. „Da war keine, weil sie jetzt woanders ist. Die alte Frau hatte nämlich gar keine Halluzinationen. Es ist 24
nur jemand, als sie aus dem Haus gegangen war, in ihre Wohnung eingedrungen und hat die Leiche weg geschafft. Jetzt ist sie dort…“ Ich zeige mit dem Daumen über die Schulter, auf die Balkontür. Pums wendet den Kopf in die angege bene Richtung. „Wo denn?“ fragt sie zweifelnd. „Zieh den Vorhang auf, dann wirst du sie sehen.“ „Ich hab’ Angst.“ „Es gehört zu den Pflichten meiner Sekretärin, sich nicht zu fürchten. Deine Qualifikation ist ohnehin nicht groß. Wenn du obendrein feig bist, gib den Vorschuß zurück und bewirb dich als Sekretärin in einem Non nenkloster“, sage ich stirnrunzelnd. „Was für einen Vorschuß?“ wundert sie sich. „Lassen wir das. Hast du Angst oder nicht?“ „Ich habe keine Angst“, sagt sie. „Was soll ich tun?“ „Geh zum Vorhang und sieh nach, dann reden wir weiter.“ Pums bewegt sich gehorsam zur Balkontür. Ich wende mich ab, ich weiß ja genau, was es dort zu se hen gibt, und auf den Anblick bin ich ganz und gar nicht versessen. Schweigen. Dann leise Schritte. Pums kommt auf Zehenspitzen zu ihrem Stuhl zurück. Ich beobachte sie aus den Augenwinkeln. Sie ist blaß, aber gefaßt (Lucia Böse in „Die Verlassenen“). „Nun?“ „Es stimmt. Eine echte Leiche.“ Sie sagt es mit schwacher, aber tapferer Stimme. „Wir werden uns schon aus der Klemme ziehen, wir müssen’s nur gescheit anfangen. Was würdest du an meiner Stelle tun?“ 25
„Ich weiß nicht.“ „Ich weiß es auch nicht. Jedenfalls ist das gar nicht so einfach. Die Leiche ist ja nicht vom Himmel gefal len, sondern aus meiner Wohnung.“ „Von wo?“ Pums begreift nicht. „Aus dem zweiten Stock. Meine Wohnung liegt im zweiten Stock über der der Alten. Als ich heute mor gen aufwachte, fand ich die Leiche auf dem Sofa in meinem Zimmer. Weil mich die Aufwartung überrasch te, ließ ich die Leiche aus der Balkontür auf den Balkon unter mir fallen. Also auf den der alten Frau. Dann ging ich hinunter, schlich mich in ihre Wohnung und warf die Leiche auf den Balkon der Nachbarwohnung, also der, in der wir uns befinden, mit einem Wort: Ich habe sie aus meiner Privatwohnung in mein Anwalts büro übergeführt. Aber was weiter?“ „Ja, was weiter?“ echot Pums. „Das einfachste wäre, die Polizei anzurufen“, überle ge ich. „Nein, bloß das nicht!“ Pums wird plötzlich lebendig. „Das dürfen Sie nicht tun.“ „Und warum nicht?“ „Weil man Sie verdächtigen wird, die Polizei ver dächtigt jeden.“ „Des Mordes? Mich? Das ist unwahrscheinlich. Rechtsanwälte morden gewöhnlich nicht.“ „Bei der Polizei ist alles möglich“, sagt Pums mit sol cher Überzeugung, daß ich schwankend werde. Wahr haftig, warum sollten sie mich nicht verdächtigen? Der Schädel droht mir zu platzen. Ich muß unbe dingt auf einen Schluck hinunter, vielleicht kommt mir dann ein vernünftiger Gedanke.
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„Ich geh’ mal in die Bar ‘runter, bleib hier und paß auf den Laden auf.“ „Um nichts in der Welt bleibe ich hier allein, es sei denn. Sie nehmen die Leiche mit.“ Pums greift nach ihrer Handtasche, sie scheint entschlossen, auf der Stelle das Schlachtfeld zu räumen. „Du hast Angst vor einer armen, alten, toten Frau?“ versuche ich sie zu überreden. „Was für eine alte, tote Frau?“ wundert sich Pums. „Na, die da.“ Ich zeige auf die Balkontür. „Das da ist doch ein Mann“, behauptet sie. „Wo?“ „Da, hinter dem Vorhang. Sie haben doch selbst ge sagt, ich soll ihn mir ansehen.“ „Nein, das ist eine Frau. Sie ist zwar mager, aber ei ne Frau, so wahr ich hier stehe. Wo hast du nur deine Augen gehabt?“ Pums schaut mich niedergeschlagen an. Ich erhebe mich, gehe zur Balkontür, schiebe den Vorhang etwas beiseite, lege die Hand auf die Klinke… Mir schwankt der Boden unter den Füßen: Zwischen Vorhang und Tür liegt etwas auf dem Boden. Dieses Etwas ist eine Leiche. Eine männliche Leiche, ohne Zweifel. Ich werfe einen Blick auf den Balkon. Dort draußen liegt eine zweite Leiche, meine alte Be kannte im schwarzen Kostüm. Doch was, zum Teufel, macht diese außerplanmäßige Leiche hier im Zimmer? In meinem Kopf dreht sich’s. Das Ganze ist doch gro tesk. Schließlich findet niemand eine Leiche nach der andern in seiner Wohnung, und noch dazu völlig unbe kannte. Denn den Burschen da vor meinen Füßen habe ich nie im Leben gesehen, genausowenig wie die alte Dame im schwarzen Kostüm, die sich mein Sofa als 27
Stätte der ewigen Ruhe ausgesucht hat und jetzt draußen auf dem Balkon liegt. Können Sie sich ein Bild machen? Dort der Balkon, hier die Balkontür und die Türnische, durch den Vorhang verdeckt. Auf dem Bal kon die schwarzgekleidete Tote. Parallel zu ihr, jedoch durch die Tür von ihr getrennt und mit dem Kopf in entgegengesetzter Richtung, die Leiche des Mannes, in die Türnische gelagert. Ein hübsches Paar. Reizende Situation! Was soll man dazu sagen? Das Schicksal scheint es auf mich abgesehen zu haben. Und obendrein diese scheußlichen Kopfschmerzen. Daß mir ausgerechnet in diesem Zustand immer die schlimmsten Affären zustoßen müssen. (‚Wann sollen sie dir sonst zustoßen’, würde Nina sagen, ‚wo du doch jeden Tag trinkst.’) „Du hast recht, Pums“, gebe ich zu, „ein toter Mann ist auch da.“ „Sehen Sie.“ „Aber auf dem Balkon ist noch eine Leiche, eine Frau.“ „Das ist ein Tag!“ stöhnt Pums. „Ist die auch er schossen worden?“ „Wurde denn der Mann erschossen?“ „Überzeugen Sie sich selbst.“ Ich bücke mich, nehme den Toten in Augenschein. Er ruht in halb liegender Stellung, Kopf und Schultern gegen den Türrahmen gelehnt. Seine Jacke ist aufge knöpft, rechts auf dem Hemd ein dunkelroter Fleck. „Ins Herz getroffen“, konstatiere ich. „Er war auf der Stelle tot.“ „Bitte, mir ist ein bißchen übel“, sagt Pums. Ich schau sie mir an, sie ist ganz grün im Gesicht.
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„Lauf in die Bar ‘runter und hol eine Viertelliterfla sche, aber wie ein geölter Blitz.“ Pums steht auf und geht. In der Tür dreht sie sich um. „Ich hab’ kein Geld“, sagt sie. „Hier hast du welches.“ Ich gebe ihr einen von den Scheinen, die sie mir gepumpt hat. Sie verschwindet. Ich setze mich an den Schreibtisch, ziehe die unter ste Schublade auf, nehme den Revolver heraus, der dort seit Jahr und Tag herumliegt und noch nie ge braucht wurde, kontrolliere das Magazin. Zwei Kugeln fehlen, keine mehr und keine weniger. Ich erinnere mich, daß unlängst einer meiner Gäste den Revolver in der Schublade entdeckt hat. Bei der Gelegenheit stell ten wir fest, daß er komplett geladen war. Ich lege den Revolver in die Schublade zurück, nehme ihn dann aber wieder heraus und sehe mich nach einem besse ren Versteck um. Dann wähle ich eine Telefonnummer. Jemand meldet sich mit „Hallo“. „Hitchcock?“ frage ich. „Am Apparat. Mußt du uns jetzt stören?“ „Wen? Wobei?“ „Servus, Monty!“ unterbricht eine Frauenstimme. „Was gibt’s Neues, alter Säufer?“ „Hallo, Wanda“, sage ich. „Wann bist du angekom men?“ „Planmäßig, heute früh um sieben. Und mein lieber Gatte im Zustand totaler alkoholischer Auflösung, ich lese ihm gerade die Leviten. Ich nehme an, du bist nicht ganz unschuldig an diesem Saufgelage, oder soll te ich mich darin irren?“ „Dein teurer Gatte hat wie ein Heiliger gelebt. Ge stern ließ er sich zum erstenmal zu einem Gläschen 29
überreden, aus Freude darüber, daß seine liebe Frau von der Kur zurückkehrt. Das ist doch wirklich ein Grund zum Feiern, meinst du nicht?“ „Euch ist ja jeder Anlaß recht. Man braucht nur ein paar Wochen wegzufahren, prompt findet man eine Ruine statt eines normalen Mannes wieder. Dabei hat Frank früher nie getrunken. Was hast du nur aus ihm gemacht, Monty, du Schuft?“ „Reg dich ab“, sage ich. „Dein süßer Frank ist ein einziges Mal im Leben dem Alkohol erlegen, und da nur, weil ich ihn dazu überredet habe. Also, sei ver nünftig und schimpf nicht. Und nun gib ihn mir mal.“ „Ich rechne noch mit dir ab“, droht Wanda, und dann meldet sich wieder Frank. „Was willst du? Fasse dich kurz, ich hab’ anderes zu tun.“ „Wanda ist böse wegen gestern?“ „Sie ist, gelinde gesagt, nicht entzückt. Was hast du mir mitzuteilen?“ „Ich muß dich treffen.“ „Heute? Bist du verrückt? Du kannst dir wohl den ken, daß ich keine Zeit habe.“ „Fährst du ins Studio?“ „Ich fahre nicht ins Studio, ich bleibe heute zu Hau se bei meiner Frau, die ich sechs Wochen lang nicht gesehen habe. Vielleicht kannst du das bei deinem an geborenen Zynismus nicht verstehen, aber stell dir vor, es ist so, also laß mich in Ruhe.“ „Ich habe zwei Leichen in der Wohnung, es muß was geschehen“, sage ich. „Was hast du in der Wohnung?“ „Zwei Leichen. Und ich weiß nicht mal, wo sie her gekommen sind.“ 30
„Willst du mich auf den Arm nehmen?“
„Wenn’s doch so wäre! Aber das ist kein Spaß, ich
muß die Sache klären.“ „Zieh einen Anwalt zu Rate“, witzelt Frank. „Also komm, ich bin in der Bar, einverstanden?“ Ich lege auf.
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III
Noch während des Gesprächs ist Pums mit einer Fla sche zurückgekommen. Ich entkorke sie und nehme einen Schluck. Angenehme Wärme strömt mir durch die Adern. Ich reiche Pums die Flasche. Sie säuft wie ein Alter, nachdem sie die Öffnung mit der Hand ab gewischt hat. „Die Tragödie ist die“, versuche ich ihr zu erklären, „daß ich mich nicht mehr erinnern kann, was ich ge stern getan habe. Aber Frank wird das wissen, er war die ganze Nacht mit mir zusammen.“ „Wer ist Frank?“ „Ein Kumpel von mir, er schreibt Drehbücher und macht Filme. Seine Reißer hast du bestimmt gesehen. Er heißt Schmidt.“ „Kenne ich nicht“, meint Pums. „In welchen Filmen hat er denn gespielt?“ „Er spielt nicht, er schreibt nur das Drehbuch und führt Regie. Hast du ,Die schwarze Treppe’ gesehen?“ „Mit Maya Polack? Na klar!“ kreischt sie. „Genial! Was hat er sonst noch für Filme gemacht?“ „Einen ganzen Sack voll: ,Viel Geld für ein Paar Bei ne’, .Viertakter’, ,Der achte Baum’…“ „Hab’ ich alle gesehen“, schwärmt Pums, „tolle Fil me!“ „Kassenschlager“, sage ich. „Manche behaupten, daß sie auch künstlerisch was taugen. ,Er hat eine moderne Formel des Melodrams gefunden’, schreiben die Kritiker. Geld wie Heu, das kannst du annehmen. Trink aus, Pums.“ „Und Sie?“ 32
„Ich verzichte zu deinen Gunsten. Du mußt dir Mut antrinken, denn ich lasse dich jetzt allein. Bin schon weg.“ Ich steuere in die Bar, gehe an der Theke vor Anker und bestelle einen Klaren. Der Wirt steht selbst am Büfett, eine massige Gestalt in vorgerückten Jahren, eine schmuddlige Serviette über dem Arm. Während er einschenkt, gibt er dem Serviermädchen, das zwischen den Tischen herumkreuzt, seine Anweisungen. Jetzt kommt sie heran, gibt Bier in Bestellung und wartet, daß es gezapft wird. „Steh hier nicht ‘rum“, tadelt der Dicke, „es dauert etwas. Kassiere derweile am Fenstertisch. Siehst du nicht, daß der Gast zahlen will?“ Ich weiß, ich sollte jetzt nicht trinken. Die Folgen werden nicht ausbleiben. Aber versuch mal einer in meiner Lage, Abstinenz zu üben. Ich bestelle noch ei nen. Mich kann sowieso nichts mehr retten. In dem Augenblick schwappt mir was Feuchtes über die Hosenbeine. Das Serviermädchen hat die Bierglä ser zu schwungvoll von der Theke genommen. „Was hast du denn wieder angestellt, du Trampel!“ zetert der Dicke. Er stürzt hinter dem Schanktisch her vor und gibt mir seine Serviette zum Trockenreiben. „Es ist ja nichts passiert“, beschwichtige ich. „Sie ist nämlich keine gelernte Kellnerin, Herr Rechtsanwalt, sondern bloß Tellerwäscherin, aber was sollte ich machen, der Kellner ist nicht zur Arbeit er schienen, da mußte ich sie aus der Küche ins Lokal nehmen. Darf ich Ihnen noch einen einschenken?“ Er kehrt hinter die Theke zurück und greift nach der Fla sche. Ich lehne nicht ab.
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Durch die Tür, die nach hinten, zu den Toiletten führt, tritt ein Bursche im Monteuranzug ein. Im Ge hen packt er sein Handwerkszeug zusammen. „Fertig, Chef. Funktioniert wieder.“ Er langt in die Tasche und hält dem Wirt eine Sil bermünze unter die Nase. „Hier, gucken Sie mal. Leute gibt’s! Stecken alles mögliche in den Automaten. Muß sich ja verklemmen.“ Der Dicke nimmt die Münze in die Hand und be trachtet sie. „Teufel noch mal, ausländisches Geld! Se hen Sie sich das mal an.“ Er reicht mir das Geldstück herüber. „Französisches, ein Zwanzigfrancstück“, stelle ich fest. Ich wiege die Münze in der rechten Hand, mit der linken taste ich in meiner Hosentasche nach dem Hun dertfrancstück, das ich auf dem Balkon der Grauhaari gen gefunden habe, vorhin, als ich ihr bewies, daß dort keine Leiche sei. „Die Größe stimmt fast“, sagt der Mechaniker. „Wahrscheinlich war sogar die Verbindung hergestellt. Aber das Geldstück hat den Einwurf blockiert, und wenn danach einer telefonieren wollte, ging’s eben nicht mehr. – Macht fünfachtzig.“ Der Dicke nimmt den Betrag aus der Kasse. „Wenn ich den Strolch erwische, der mir den Appa rat versaut hat!“ schimpft er. „Der Dreckskerl soll mir die Fünfachtzig blechen und obendrein eine Entschädi gung.“ „Seit wann war der Apparat kaputt?“ frage ich den Wirt. „Gestern ging er noch“, sagt er. „Verkehren bei Ihnen Franzosen?“
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„Wie soll ich alle Leute kennen, die hier aufkreuzen? Da kommt so ein Schweinehund ‘rein, schleicht sich ans Telefon, wirft Falschgeld oder einen Hosenknopf ein und macht sich aus dem Staube.“ „War gestern abend viel Betrieb?“ „Kann nicht klagen – und da ausgerechnet geht mir auch noch der Kellner auf und davon. Ich mußte das Bier selbst an die Tische bringen. Da konnte ich natür lich nicht aufpassen, wer zur Toilette und wer ans Te lefon geht, ich hab’ ja hinten keine Augen.“ Ich lasse mich vom Barhocker gleiten und gehe durch die Tür, die zu den Toiletten führt. Es ist eigent lich keine richtige Tür, nur ein Türrahmen mit einer Portiere, die immer zur Seite gezogen ist, damit sie nicht hindert. Dahinter liegt ein kurzer Korridor, an seinem Ende die Tür mit der Aufschrift 00. Auf halbem Wege rechts ein Fensterchen, durch das die Speisen aus der Küche gereicht werden. Daneben an der Wand der Münzfernsprecher, unter dem Apparat ein Tisch chen mit einem Telefonbuch und ein Stuhl. Sonst nichts. Als ich in die Gaststube zurückkehre, sitzt Frank schon am Fenstertisch. Ich begrüße ihn und nehme auf dem Kunstledersofa ihm gegenüber Platz. Der Tisch steht in einer verschwiegenen Nische, hier können wir ungestört reden. Ich berichte Frank von dem ganzen Wirbel seit mei nem Aufwachen und der Entdeckung der ersten Leiche auf meinem Sofa. Je länger ich erzähle, um so länger wird sein Gesicht. „Ruf sofort die Polizei an“, verlangt er kategorisch, „worauf wartest du noch?“ „Ja doch, immer ruhig Blut. Ich möchte nur erst von dir erfahren, was ich angestellt habe von gestern abend um zehn bis heute früh um neun, als ich wieder 35
zu mir kam. Ich muß schließlich was Vernünftiges aus sagen können.“ „Auf jeden Fall hast du ein Alibi“, lächelt Frank (den ersten Schock scheint er überwunden zu haben). „Wir haben uns erst gegen Morgen getrennt.“ „Mir fällt ein Stein vom Herzen. Aber halten wir erst mal die Tatsachen fest.“ „Gut, halten wir fest: Es begann damit, daß du mich anriefst, ob ich nicht Lust hätte, einen zu heben. Ich lehnte strikt ab. Es stimmt doch, daß ich abgelehnt habe? Wanda will mir das nämlich nicht glauben, du wirst es ihr gegenüber bezeugen.“ „Du lehntest ab“, beteuere ich, „daran kann ich mich haargenau erinnern. Ich erinnere mich auch noch an vieles, was später geschah. Du lehntest ab, und du meintest, wenn du schon die ganze Zeit während Wandas Sanatoriumsaufenthalt nicht getrunken hast, so willst du nicht ausgerechnet am Tag vor ihrer An kunft damit anfangen. Na schön, sagte ich, wenn der Fall so liegt, dann trinke ich eben allein, du brauchst nur die Rechnung zu bezahlen, denn ich für meine Per son bin momentan blank. Darauf du: Seit vier Uhr nachmittags habest du dich mit einem Drehbuch abge schunden, jetzt seist du müde und habest keine Lust, dich umzuziehen und aus dem Haus zu gehen; wenn ich wolle, könne ich ja hinkommen und die halbe Fla sche austrinken, die Wanda vor ihrer Abreise in den Kühlschrank getan hat – du würdest mir zuschauen. Richtig?“ „Stimmt. Und als die halbe Flasche leer war, hast du ganz hinten im Büfett noch eine volle aufgespürt, die sich da seit Jahr und Tag verkrochen hatte. Ich be wunderte deine detektivischen Fähigkeiten.“ 36
„Und zwar so sehr, daß du beschlossest, dich an der Leerung dieser zweiten Flasche zu beteiligen.“ „Ja, aber sehr mit Maßen! Als Gastgeber möchte ich dir nicht vorrechnen, wieviel du gekippt hast – auf mich kam jedenfalls höchstens ein Fünftel.“ „Klarer Fall – ich hab’ mich also vollaufen lassen.“ „Du hast sogar angefangen zu phantasieren. Du hast was von einem blauen Dämon gefaselt, der dich heimsucht…“ „Lassen wir das“, unterbreche ich, „das gehört nicht zur Sache. Ich habe Unsinn geredet, okay. Was war weiter?“ „Du hattest noch nicht genug. Im Hause war nichts mehr zu holen, und in die Stadt wollte ich dich nicht allein gehen lassen in deinem Zustand. Da rief Maya an.“ „Ja, ich kann mich erinnern. Ich hopste um den Ap parat herum und schrie: Laß mich mal ‘ran, mich wird sie verstehen, aber du wehrtest mich ab und machtest mit ihr Konversation. Schließlich riß ich dir den Hörer aus der Hand und sagte: Hilfe, Maya, wir haben nichts zu trinken. Darauf sie: Na, kommt doch zu mir, ich hab’ noch einen Schluck Pfirsichgeist. Ich sagte ihr, das sei ein widerliches Zeug, aber wir würden unter wegs was Anständiges kaufen. Na, und dann fuhren wir zu Maya, stimmt’s?“ „Erinnerst du dich, daß du unbedingt selbst fahren wolltest? Du behauptetest, ich sei zu betrunken dazu. Ich!“ Der Nebel in meinem Gehirn lichtet sich, jetzt sehe ich die Szene wieder ganz deutlich vor mir. Wir treten im Platzregen vor die Haustür, rennen zu Franks Auto, das um die Ecke steht, ich lasse mich auf den Fahrer 37
sitz fallen, drehe den Zündschlüssel, die Scheibenwi scher fangen an zu pendeln, ich lasse den Motor an. In dem Moment gibt mir Frank einen Rippenstoß, schubst mich zur Seite und setzt sich selbst ans Lenkrad. Ich versuche ihm klarzumachen, daß er zu betrunken sei, um den Wagen zu steuern, aber er hört nicht auf mich. Im strömenden Regen fahren wir ab, passieren ir gendwelche Straßen, die ich in der Dunkelheit nicht erkennen kann… Dann klafft eine Lücke in meinem Gedächtnis. Das nächste, woran ich mich erinnere, ist Maya im Morgenrock, wie sie mir einen Korkenzieher gibt, und meine hartnäckigen Versuche, eine Flasche zu öffnen. Nach einigen Mühen habe ich Erfolg. „Ich entsinne mich, wie ich bei Maya eine Flasche Calvados entkorkte. Wo war denn der hergekommen?“ „Wir hatten ihn, wie verabredet, unterwegs besorgt. Wir haben sogar noch eine zweite Flasche gekauft: für alle Fälle, wie du dich ausdrücktest.“ „Du kannst mich totschlagen, aber davon weiß ich nichts mehr. Wo haben wir denn den Calvados ge kauft?“ „Im Excelsior. Du bist im Wagen geblieben, ich bin selbst in Regen und Sturm hinaus, um dich mit Alkohol zu versorgen. Ich hoffe, du weißt meine Selbstaufopfe rung zu würdigen.“ Der Nebel im Gehirn ist wieder für einen Moment weggeblasen, aber diesmal wäre mir lieber, wenn es nicht so wäre. Das muß dort gewesen sein, vor dem Excelsior – ich erinnere mich: Über die vom Regen überflutete Scheibe huschen die Wischer, dahinter die Finsternis, von zwei Scheinwerferbündeln durchbohrt, im Lichtkreis Regengarben, die den Asphalt peitschen,
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und da – auf der nassen Straße, direkt vor dem Wa gen… da erschien es mir plötzlich wieder. Ich weiß noch, wie ich die Hände vors Gesicht schlug und zu zittern anfing. Erst Frank brachte mich in die Wirklichkeit zurück, als er mir einen Beutel mit Fla schen auf die Knie legte… Trotzdem wagte ich im Au genblick noch nicht, die Augen zu öffnen, sondern erst, als wir schon eine ganze Strecke gefahren waren. „Was war bei Maya?“ frage ich. „Die übliche Sauferei“ – Frank verzieht angewidert das Gesicht. „War außer uns noch wer da?“ „Ein Nachbar im Pyjama. Er klingelte Sturm, weil das Radio in voller Lautstärke lief – es war zwei Uhr nachts. Aber er beruhigte sich bald und ging sogar Nachschub holen, denn der Calvados war längst alle. Nach zwei Minuten war er zurück – mit einer Flasche Kirsch und seiner schlaftrunkenen Frau. Sie hatte Lok kenwickler im Haar, aber sonst war sie ganz hübsch. Die Lockenwickler nahm sie übrigens gleich ab.“ „Ja, ich entsinne mich. Ein flotter Käfer. Mir ist noch erinnerlich, wie sie dich mit Lippenstift vollschmierte. Ich unterhielt mich derweil mit ihrem Mann über Ky bernetik, um ihn abzulenken. Sag mal, was war das eigentlich für eine Type?“ „Der im Pyjama? Ich sagte doch, ein Nachbar. Er wohnt einen Stock tiefer.“ „Waren die beiden bis zum Schluß da?“ „Na und ob. Sie wollten unbedingt noch bleiben, als es mir endlich gelungen war, dich aus dieser Laster höhle loszueisen. Ich schätze, nach unserm Abgang werden sie wohl keinen Spaß mehr an der Sache ge
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habt haben und brav schlafen gegangen sein. Maya wollte um sieben zur Aufnahme fahren.“ „Und die ist gefahren, darauf kannst du Gift neh men, Maya hat einen eisernen Charakter. Seit früh um acht ruft sie ununterbrochen bei mir an.“ „So besorgt ist sie um dich?“ wundert sich Frank. Ich seufze, wehrlos meinem Schicksal ausgeliefert. „Wir sollen uns verlobt haben“, beichte ich mit ge senktem Kopf. „Gratuliere“, sagt Frank ungerührt. „Wanda wird sich sehr freuen.“ „Bist du verrückt geworden? Du sagst ihr kein Wort. Was war weiter?“ „Nichts von Belang. Ich brachte dich heim, setzte dich vor deiner Haustür ab, fuhr nach Hause und stell te den Wecker auf Viertel sieben, zehn nach sieben sollte Wandas Zug einlaufen.“ „Und warst du pünktlich?“ „Ich habe sogar noch zehn Minuten gewartet, wie es sich für einen von Sehnsucht verzehrten Gatten ge hört. Ja, das wäre alles. Die ganze Nacht klar und lük kenlos. Die beiden Morde wirst du wohl heute morgen begangen haben, nach deiner Rückkehr.“ „Unmöglich, die beiden sind schon länger tot, das wird die Obduktion beweisen.“ „Na, dann vielleicht, bevor du das Haus verlassen hast?“ „Ich habe ein Alibi seit sechs Uhr abends. Unser Freund Gustav ist mir mit seinem geplanten Mord an der Tante auf die Nerven gegangen. Drei Stunden lang hat er auf mich eingeredet, er war Zeuge meines Tele fongesprächs mit dir und fuhr mich in seinem Wagen
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bis vor deine Haustür, weil es nach Regen aussah und ein Taxi schwer zu kriegen war.“ „Dann bist du doch gedeckt“, sagt Frank. „Warum zitterst du wie ein nasses Huhn?“ In dem Augenblick betritt Wanda die Bar. Sie blickt sich suchend um, entdeckt uns und kommt an unsern Tisch. „Grüß dich, Monty. Eine Ewigkeit hab’ ich dich nicht gesehen, laß dich umarmen“, zwitschert sie und legt mir die Arme um den Hals. Kein Mann könnte dabei gleichgültig bleiben, sie ist viel zu hübsch. Wanda setzt sich mir gegenüber neben Frank auf das Sofa und zieht die Handschuhe aus. „Möchtest du was essen?“ frage ich einladend, ob wohl ich mit den paar Piepen, die ich in der Tasche ha be, nicht mal die Schnäpse bezahlen kann, die ich vor hin an der Theke konsumiert habe. „Als mustergültige Gattin und Hausfrau habe ich da heim einen üppigen Lunch bereitet. Rindslende mit Champignons, zum Nachtisch Schokoladenpudding mit Vanillinsoße. Ich lade euch ein“, sagt sie. „Habt ihr vielleicht eine Zigarette für mich?“ Wir zücken beide das Etui. Wanda bedient sich bei Frank, mir schenkt sie ein um Verzeihung bittendes Lächeln. Sie hat verteufelt viel Charme – Wanda ist der Typ „Sommerliebe mit Pferdeschwanz“, obwohl sie keinen solchen trägt, sondern eine Frisur nach der letzten Mode. Sie hat ein Talent, in jeder erdenklichen Toilette vertraut und heimisch und zugleich verdammt verführerisch auszusehen – Sie verstehen, was ich meine? Sie ist zart und schmächtig, eine Frau von der Art, in deren Gegenwart wir uns doppelt als Mann und ein wenig als älterer Bruder fühlen. Irgendwann hat sie 41
mal was mit der Lunge gehabt, seitdem muß sie sich schonen. Sie ist eine Frau, die man immerzu auf den Händen durch einen reißenden Wildbach tragen möch te. Eine Sensation. „Die Kur scheint dir bekommen zu sein“, lobe ich, „du schaust aus wie das blühende Le ben.“ „Soll ich dir ein Geheimnis verraten: Ich habe eine eiserne Gesundheit, nur Frank bildet sich ein, ich sei anfällig, und expediert mich jedes Jahr par force in die verschiedensten langweiligen Bäder. Diesmal habe ich mich sechs Wochen lang in Bandol gemopst.“ Das Servierfräulein bringt eine Orangeade, die Wan da in einem Zuge austrinkt. „Fahren wir zu uns“, schlägt Wanda vor, „der Braten darf nicht zu lange auf dem Herd stehen.“ „Das nächste Mal gern“, sage ich, „heute habe ich andere Verpflichtungen.“ „Er hat sich verlobt“, erklärt Frank mit perfider Ernsthaftigkeit. Ich möchte ihm ins Kreuz treten. „Gratuliere, mit wem?“ fragt Wanda lebhaft. „Frank wird dir alles unterwegs erzählen. Es dreht sich auch gar nicht um die Verlobte. Ich habe zwei Gä ste in der Wohnung. Ich mag die ganze Geschichte nicht noch mal von vorn herbeten, Frank kann mich vertreten, es ist ein dankbares Thema, ihr werdet reichlich Gesprächsstoff haben bei eurer Rindslende. Lebt wohl, teure Freunde, und vergeßt nicht, die Rech nung zu bezahlen – an der Theke hatte ich drei, am Tisch den vierten.“ Das Servierfräulein trödelt beim Abrechnen, auch mit dem Herausgeben kommt sie nicht zurecht, offen bar fehlt ihr die Übung. Umständlich langt sie eine Handvoll Wechselgeld aus ihrer Tasche und stochert 42
mit dem Zeigefinger darin herum. Frank winkt unge duldig ab. Doch Wanda ist ohnehin noch damit be schäftigt, ihr Make-up aufzufrischen. Mir kommt ein Gedanke. Ich rufe das Servierfräulein zurück, das schon wieder in Richtung Theke segelt. „Fräulein“, sage ich, „haben Sie gestern abend hier bedient?“ „Wieso?“ fragt sie. „Haben Sie bedient, oder haben Sie nicht bedient?“ „Zuerst habe ich nicht bedient, und dann habe ich bedient.“ Mit Intelligenz scheint sie nicht eben gesegnet zu sein. „Haben Sie eine ältere, hagere, schwarzgekleidete Frauensperson bemerkt?“ frage ich weiter. „Eine Frau?“ „Ja, eine Frau.“ „Hab’ keine gesehen“, sagt sie. „Wieso?“ „Sie haben den ganzen Abend keine Frau gesehen? Nanu!“ „Kann schon sein, daß eine hier war. Bei den vielen Gästen…“ Frank ist aufgestanden und wartet, daß Wanda fer tig wird. Sie befeuchtet gerade einen Finger und streicht sich die Augenbrauen glatt. „Eine ältere Frau“, wiederhole ich beschwörend, „ha ger, ganz in Schwarz.“ „Was hat sie denn gegessen?“ fragt das Servierfräu lein. ,Das wird sich bei der Obduktion herausstellen’, liegt es mir auf der Zunge, doch ich schlucke es hinunter. „Ich weiß nicht, was sie gegessen hat“, antworte ich, „daran müßten Sie sich doch erinnern.“ 43
„Sie kann entweder ein Steak oder Spiegeleier ge gessen haben, was anderes hatten wir nicht.“ „Aber darum geht es doch gar nicht, was sie geges sen hat“, sage ich. „Warum fragen Sie dann?“ „Es ist ganz unwichtig, was sie gegessen hat, ich möchte nur wissen, o b sie gegessen hat, ob sie hier gewesen ist.“ „Wieso?“ Die Arme sinken mir herab, dabei bin ich doch be griffsstutzige Zeugen wahrhaftig gewohnt. „Schaun Sie“, plappert Wanda, wobei sie fortfährt, ihr Haar zu ordnen, „der Herr hat sich vor kurzem ver lobt, aber seine Braut ist ihm ausgerückt, und nun sucht er sie, eben diese Magere im schwarzen Kostüm. Sie sind seine letzte Hoffnung, helfen Sie ihm, ihre Spur zu finden, geben Sie sich Mühe.“ „Wenn Ihnen etwas einfallen sollte, kommen Sie bit te zu mir hinauf, hier im gleichen Haus, erster Stock, Rechtsanwalt Rieff. Werden Sie das behalten?“ „Sie sind Rechtsanwalt?“ fragt das Serviermädchen. „So ist es. Falls Sie mich nicht antreffen, hinterlas sen Sie bitte eine Nachricht bei meiner Sekretärin.“ Wir gehen. Frank und Wanda steigen in den Wagen und fahren ab. Während ich durch den Hausflur schlendere, überlege ich mir, ob ich ins Büro gehen soll oder nicht. Ich dürfte ja Pums nicht so lange mit den beiden Toten allein lassen, die Ärmste wird ohne hin schon vor Angst den Verstand verloren haben. Ach was, die Welt wird nicht gleich einstürzen, wenn sie noch fünf Minuten allein bleibt. Ich muß mich erst mal hinlegen und einen Moment ausruhen. Trotz der
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vier Gläser, die ich in der Bar getrunken habe, fühle ich mich scheußlich ausgepumpt. Ich steige bis zum zweiten Stock. Die Wohnungstür ist nicht verschlossen, offenbar ist die Aufwartung noch nicht fertig. Ich drücke mich ins Zimmer. Nur ein kleines Weilchen die Augen schließen, für ein paar Mi nuten diesen Alptraum vergessen – ich meine nicht die beiden Leichen, ich meine es , vor dem ich mich fürch te. Doch zuvor muß ich noch etwas kontrollieren. Auf dem Sofa müßten Blutflecke zurückgeblieben sein. Ob die Putzfrau sie entdeckt hat? Vielleicht hat es auch gar keine Flecke gegeben? Ich beuge mich über das Sofa… da sträuben sich mir alle Haare: auf dem Sofa liegt eine Leiche. Das ist doch nicht möglich – nein, bitte nicht, das darf doch nicht wahr sein, das geht über meine Kräfte! Ich spüre, wie mir der kalte Schweiß aus den Poren bricht. ,Reiß dich zusammen, Monty, das kann nicht die Wirklichkeit sein, laß dich nicht zum Narren ma chen’, versuche ich mir einzureden, doch umsonst – alle vernünftige Überlegung ist zum Teufel, zurück bleibt das Ungeheuerliche, das nach und nach von meinem ganzen Bewußtsein Besitz ergreift. Die Leiche liegt auf dem Rücken, genau so wie vor hin die Frau im schwarzen Kostüm, nur daß die Füße auf der Seitenlehne und der Kopf niedrig zwischen den Kissen ruhen; das Gesicht ist mit etwas Weißem be deckt. Es ist die Leiche einer Frau. Sie hat ein leichtes, buntes Kleidchen an. Die Beine sind unbekleidet, ohne Strümpfe und Schuhe. Auf dem Fußboden vor dem So fa: eine Strandtasche, ein Strohhut und ein Paar San daletten. 45
Das ist der Gipfel des Entsetzlichen – so möchte man meinen. Aber nein. Das wahre Entsetzen steht mir noch bevor: Die weiße Maske hat sich bewegt. Sie hebt sich plötzlich. Die Leiche sitzt! Ich kann das nicht ertragen. Mit ein paar Sätzen bin ich im Badezimmer und schiebe den Riegel vor. Ich sinke auf den Rand der Badewanne und stammle das einzige Gebet, das ich aus den Tagen meiner Kindheit behalten habe. Jetzt höre ich Schritte, Absatzklappern. Die Schritte kommen näher, die Leiche klopft an die Badezimmer tür. Ich rühre mich nicht vom Fleck. „Monty, wo bist du?“ fragt eine Frauenstimme. Ich öffne. Es ist Maya, ich hätte es mir ja denken können. Jetzt hat sie ihre Sandaletten an, mit Absät zen so hoch wie der Eiffelturm. „Was fällt dir eigentlich ein?“ schimpfe ich. „Wolltest du mich erschrecken oder was sonst, zum Teufel?“ „Wovon sprichst du?“ fragt sie mit unschuldiger Mie ne. „Sei so gut und erkläre mir, was du in meiner Woh nung machst.“ „Ich entspanne mich. Relaxation auf wissenschaftli cher Grundlage: die Beine hoch, die Augen verhüllt, die Muskeln locker, freundliche Gedanken im Kopf und so weiter. Ich mache das immer in den Drehpausen, der Doktor hat es mir empfohlen.“ „Hat er dir dazu ausgerechnet mein Sofa empfoh len?“ „Ich soll mich überall entspannen, wo ich Gelegen heit dazu habe. Gestern habe ich mich auf den alten Jahrgängen des ,Filmspiegels’ ausgestreckt, was mir ausgezeichnet bekommen ist.“ 46
Ich gehe ins Zimmer zurück, Maya hinter mir her. Ich tue so, als wolle ich die Kissen auf dem Sofa ord nen. Auf dem Bezugsstoff ist ein bronzefarbener Fleck, allerdings kaum zu bemerken. „Komm mit frühstücken“, schlägt Maya vor. „Wohin?“ In Gedanken gehe ich die Lokale durch, in denen ich Kredit habe. „Ins Excelsior natürlich.“ Mir fällt ein, daß sie spendieren wollte. Dann soll mir das Excelsior recht sein. „Ich geh’ mich herrichten“, sagt Maya und ver schwindet mit ihrer Strandtasche im Bad. Nachdem ich die zweite Zigarette geraucht habe, erscheint sie wie der. Mir ist rätselhaft, was sie in der ganzen Zeit getan hat, denn sie kommt haargenau im gleichen Zustand heraus, wie sie hineingegangen ist. Maya macht auf Typ Nixe: hellblonde, glatte Haare, die bis auf die Schultern reichen, die Augen nicht untermalt, unlak kierte Nägel, die nackten Füße in Sandaletten ohne Ferse und Spitze. Wanda behauptet, solch eine Aufma chung erfordere mehr Aufwand als jede andere. Wahr scheinlich hat sie recht. Auch Mayas Garderobe ist an Einfachheit nicht zu übertreffen: ein kurzes Kleidchen, das nach billiger Konfektion aussieht, mit einem riesigen Dekollete. Sie zieht es auf den nackten Körper an. Der Effekt ist tod sicher. Mayas Anatomie ist weltberühmt. Millionen von Kinogängern des In- und Auslandes zahlen in klingen der Münze für das Vergnügen, sie in verschiedenen Variationen bewundern zu dürfen. Die Anomalie ihrer Figur besteht darin, daß die Verjüngungen übertrieben schmal und die Wölbungen übertrieben ausladend sind – und zwar derart, daß es an Surrealismus grenzt. 47
In dem Moment zuckt Maya nervös zusammen. Ein dumpfes Schnarren ist zu vernehmen, leise, seltsam unwirklich, wie ein Ruf aus einer andern Welt. Ich ge he ans Telefon und hebe ab. „Sind Sie’s, Herr Rechtsanwalt?“ Es ist Pums’ Stim me. „Irgendein Herr hat angerufen, er bat mich, Ihnen auszurichten, daß er später noch mal anruft. Was soll ich ihm sagen, wenn er wieder anruft?“ „Daß er sich ausstopfen und grün anmalen lassen soll“, fauche ich. „Ich verbiete dir, mich in meiner Pri vatwohnung anzurufen, wenn ich gerade einen Welt star der Filmkunst zu Besuch habe, verstanden?“ „Verzeihung“, murmelt sie und legt auf. „Mein Telefon ist in letzter Zeit ein bißchen heiser“, entschuldige ich mich, „aber findest du nicht, daß es jetzt einen angenehmen Klang hat?“ „Brrr, laß uns rasch von hier weggehen“, sagt Maya und greift nach ihrem Hut. Ich stecke den Schlüssel in die Manteltasche, wir gehen. Auf der Treppe fällt Maya ein, daß sie im Studio anrufen wollte, ob sie am Nachmittag zur Aufnahme kommen muß (durch Franks Abwesenheit haben sich Komplikationen ergeben, die Dreharbeiten sind ins Stocken geraten). Da wir schon im ersten Stock sind, führe ich Maya in mein Büro. Im Vorzimmer wartet eine Frau. Als sie mich bemerkt, erhebt sie sich. Es ist das Servierfräu lein aus der Bar. „Wenn Sie sich einen Augenblick gedulden wollen…“, vertröste ich sie. Ich betrete hinter Maya die Kanzlei. Pums klappt ha stig irgendein Buch zu, das aufgeschlagen auf der 48
Schreibmaschine liegt und in dem sie offenbar gelesen hat, sie lupft sich vom Stuhl und schiebt die Lektüre zwischen sich und die Sitzfläche. „Stell dich vor, Pums“, sage ich. „Oh, wir kennen uns schon“, fällt mir Maya ins Wort. „Ich habe dich zuerst hier im Büro gesucht und bin dann erst nach oben gegangen, deine Raumpflegerin hat mir aufgemacht. Aber zu Anfang habe ich hier ge wartet und ein Weilchen mit deiner Sekretärin geplau dert.“ „Du weißt also, wen du vor dir hast, Pums?“ Pums nickt heftig, sie verschlingt Maya mit Blicken inbrünstiger Anbetung. „Fräulein Pums ist furchtbar lieb, man kann dir zu dieser Errungenschaft nur gratulieren“, schmeichelt Maya. Pums errötet vor Freude. „Sie ist auf jeden Fall gebildet, ganz sicher hat sie alle deine Filme gesehen, stimmt’s Pums?“ Wieder nickt Pums eifrig mit dem Kopf, aber sie bringt kein Wort über die Lippen, die Erregung hat ihr die Sprache verschlagen. Maya Polack in eigener Per son gegenüberzustehen – das ist schon ein Erlebnis. „Ruf das Studio an, ich fertige inzwischen die Klien tin ab“, sage ich zu Maya. Hinter Mayas Rücken frage ich Pums durch Gebär den, ob alles in Ordnung ist. Pums antwortet mit ei nem Kopfnicken, daß sich keine neue Sensation ereig net hat. Ich ziehe mich ins Vorzimmer zurück. „Ich stehe zu Ihrer Verfügung“, wende ich mich an das Servierfräulein und setze mich zu ihr aufs Sofa. „Ich habe eine Bitte“, beginnt sie, „nur… ich weiß nicht, wieviel das kosten würde…“ „Was?“ frage ich. 49
„Eine Klage ans Gericht.“ „Auf was wollen Sie klagen und gegen wen?“ „Gegen diesen Lumpen, den Kellner aus unsrer Bar. Er hat mein ganzes Erspartes genommen und ist damit durchgebrannt. Aber das soll er mir büßen.“ „Wozu haben Sie ihm das Geld gegeben?“ Ich bekomme keine Antwort. „Er hat Ihnen den Kopf verdreht, wie?“ „Geflunkert hat er, daß er mich heiraten will und daß er die Wohnung nicht anzahlen kann. Ich hab’ alles abgehoben, was ich auf dem Sparbuch hatte, und ihm gegeben. Zuerst hat er mich einen Monat lang hin gehalten, und nun ist er verschwunden.“ „Wie heißt er, und wo wohnt er?“ „Er sagt, er heißt Pilz und wohnt in den Neubaublök ken, mit einem Kollegen zusammen. Jetzt war ich dort, aber da kennen sie keinen Pilz.“ „Wann ist er verschwunden?“ „Gestern, vor Feierabend. Von der Arbeit ist er weg, keinem hat er ein Wort gesagt. Der Dicke hat getobt, alle Knochen will er ihm brechen. Aber mein Pilz ließ sich nicht mehr blicken, er kam einfach nicht zur Ar beit, wahrscheinlich ist er längst über alle Berge – mit meinem Geld in der Tasche.“ „Kennen Sie wen von seinen Freunden?“ „Ein paarmal kamen welche in die Bar und flüsterten mit ihm in der Ecke, aber ich kenne sie nicht, ziemlich dunkle Gestalten, mit solcher Bekanntschaft will ich nichts zu tun haben.“ „Wo hat Pilz vorher gearbeitet?“ frage ich. „Weiß ich nicht“, sagt sie. „Ich glaube, er war gar kein gelernter Kellner, das Servieren ging ihm nicht von der Hand.“ 50
„Warum hat der Wirt ihn dann eingestellt?“ „Damit er weniger zu bezahlen brauchte, der Dicke ist ein Geizhals. Wissen Sie, was ich glaube? Ich glau be, Pilz hat im Kittchen gesessen. Er wollte mir nie sa gen, was er früher gemacht hat, ehe er zu uns kam. Er sah mir sehr nach einem Kriminellen aus.“ „Und sie wollten ihn heiraten?“ Das Mädchen schaut mich verständnislos an – sie scheint der Auffassung zu sein, daß das eine mit dem andern nichts zu tun hat. „Wir werden ihn suchen“, verspreche ich. „Zunächst müssen wir feststellen, ob er nicht zufällig wieder im Gefängnis gelandet ist. Wie heißt er mit Vornamen?“ „Anton. Aber ein paarmal habe ich gehört, wie ihn einer von seinen Freunden Nusio nannte.“ „Ich werde mich erkundigen. Sobald ich etwas weiß, gebe ich Ihnen Bescheid. Gehen Sie jetzt in die Bar zurück?“ „Ja. Der Dicke hat mir nur für eine halbe Stunde freigegeben, und dabei hat er noch ein Theater ge macht. Er kommt nicht zurecht. Die Frau in der Küche, er hinter dem Büfett, und dann muß er noch den gan zen Saal bedienen, das ist keine Kleinigkeit.“ „Und was haben Sie gemacht, als der Kellner noch da war?“ „Ich war in der Küche. Ich habe abgewaschen und die Portionen durchs Fenster gereicht… Ich muß Ihnen was im voraus bezahlen, nicht?“ fragt sie verlegen. „Sie zahlen, wenn der bewußte Herr Ihnen Ihr Geld zurückgegeben hat.“ (Ich weiß, die Hoffnung darauf ist gering.) „Fürs erste können Sie sich anders revanchie ren. Versuchen Sie, sich an die Dame im schwarzen
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Kostüm zu erinnern, die gestern abend von der Bar aus telefoniert hat.“ „Ich denke, die Frau hat bei uns gegessen?“ „Vielleicht hat sie was gegessen, aber auf jeden Fall hat sie von euerm Apparat aus telefoniert. Mir liegt sehr daran, auch an der kleinsten Information.“ „Vielleicht fällt mir was ein, ich werd’ mir Mühe ge ben. Wenn ich bloß wüßte, wie die Dame aussah…“ In diesem Augenblick öffnet sich die Tür zur Kanzlei, Maya steht auf der Schwelle und macht mir ungeduldig Zeichen. „Denken Sie genau nach, ich komme später noch mal in der Bar vorbei.“ Ich verabschiede mich von dem Mädchen und eile in die Kanzlei. „Sei ein Engel und warte noch einen Moment“, bitte ich Maya, „nur ein einziges Telefongespräch. Pums, verbinde mich mit der Nummer, die mit Rotstift an die Wand neben dem Schreibtisch geschrieben ist. Damit ich merke, daß ich eine Sekretärin habe.“ Pums springt mit solchem Eifer vom Stuhl auf, daß sie gegen das Büchergestell stößt und eine Gipsplastik herunterreißt, Amor und Psyche darstellend. Das Ab schiedsgeschenk von Nina. Krachend geht es in die Brüche. Mit einem verzweifelten Stöhnen wirft sich Pums auf die Knie, um die Stücke zusammenzulesen. Dabei kippt ihre Handtasche vom Schreibmaschinen tisch und ergießt ihren Inhalt auf den Fußboden, wo er sich mit den Gipsstücken vermengt. Ich sammle die bescheidenen Accessoires auf und tue sie in die Tasche zurück. Maya wirft noch einen zahnlosen Kamm dazu, den sie unterm Sessel hervorgeangelt hat. Pums wik kelt die Überreste des mythischen Paares in ein Tuch und verwahrt das Bündel in der Schreibtischschublade.
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„Es ist mir schrecklich peinlich“, sagt sie betreten. „Von meinem ersten Gehalt kaufe ich eine neue.“ „Untersteh dich!“ protestiere ich. „Du konntest gar nichts Gescheiteres tun, als diese Schweinerei aus Gips zu zertrümmern. Verbinde mich jetzt mit der Nummer, die ich dir genannt habe.“ „Herr Rechtsanwalt Rieff möchte Sie sprechen“, meldet sich Pums und reicht mir den Hörer. „Robert?“ frage ich. „Was gibt’s?“ „Ich brauche ein paar Auskünfte.“ „Der ganze Ermittlungsapparat steht zu deiner Ver fügung, ich harre deiner Befehle“, sagt Robert sal bungsvoll. „Ich möchte etwas über einen gewissen Pilz, Anton, wissen, auch Nusio genannt. Habt ihr den in eurer Kar tei?“ „Ich schaue nach. Ist Pilz sein richtiger Name?“ „Keine Ahnung. Unter diesem Namen arbeitete er bis gestern abend als Kellner in der Bar Unter den Bal kons.“ „Wird er vermißt?“ „Er ist nicht zum Dienst erschienen. In der Bar wis sen sie nicht, wo er abgeblieben ist.“ „Hast du seine Personenbeschreibung?“ „Alter: zirka dreißig, Augenfarbe weiß ich nicht, dunkelbraunes Haar, etwa mittelgroß, eher schmäch tig.“ „Wo ist er gemeldet?“ „Wie es scheint, nirgends. Er hat eine falsche Adres se angegeben.“
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„Ich prüf’s nach und ruf’ dich dann an. Du hast eine neue Sekretärin? Nach der Stimme zu schließen, mä ßiger Sexappeal, stimmt’s?“ „Du bist ein As in deinem Fach, ich hab’s schon im mer gesagt. Cheerio.“
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IV
Wir gehen hinunter und fahren mit dem Taxi ins Excel sior. Das liegt am andern Ende der Stadt, aber Maya bezahlt auch den Chauffeur. Das Excelsior ist nicht et wa ein Lokal wie die Bar Unter den Balkons, es ist in erster Linie Hotel, das teuerste am Platze. Der Gebäu dekomplex wird auf allen vier Seiten von Straßenzü gen begrenzt. Der Haupteingang befindet sich in der Mozartallee. Durch eine prächtige Halle gelangt man zum Restaurant und zur Bar. Doch es gibt noch einen zweiten Eingang in der Nebenstraße. Dort hält das Ta xi. Durch eine diskrete, von keinem Messingschild verzierte Tür betreten wir einen langen Korridor, der vor einem Vorhang endet; dahinter die Garderobe, der Re staurationssaal, eine Cocktailbar, ein Café. Der Treff punkt der eleganten Welt, das modernste Lokal in die ser Saison. Wir setzen uns in eine verschwiegene Ecke. Maya bestellt sich Selleriesaft und Fruchtgelee („aber nur, wenn er ungesüßt ist“), ich einen doppelten Calvados. Der Ober verschwindet. Wir sind allein. „Ich muß mit dir reden, Maya.“ „Ich lausche“, antwortet sie. „Aus deiner Miene habe ich schon erraten, daß du dich zu einem grundsätzli chen Gespräch anschickst.“ „Wechsle doch bitte vorher den Sessel. Wenn du dem Spiegel gegenüber sitzt, wirst du nicht in der La ge sein, dich zu konzentrieren.“ Maya tut mir den Gefallen, wir sitzen jetzt Seite an Seite. „Seit wann bist du Kleptomanin?“ frage ich sie. „Ich?“ staunt sie. 55
„Vielleicht ist das ein Publicity-Trick, was weiß ich, vielleicht erscheint es angebracht, daß sich Maya Po lack durch irgend etwas Sensationelles hervortut, durch eine Art ‚Neurose auf dem Hintergrund einer ständigen Persönlichkeitsspaltung infolge der schauspielerisch-schöpferischen Anspannung’, was sich in deinem Falle als Kleptomanie äußert. Daraufhin ellen lange Abhandlungen der Psychiater über das Phäno men der Kleptomanie, tränenreiches Bekenntnis der Maya Polack, die ihr schimpfliches Geheimnis im Busen verbarg, bis man ihr sagte, daß dies ein ehrenvolles Geheimnis sei, pikante Details über Diebstähle in den Wohnungen der Bekannten und den Garderoben des Filmstudios, eine Fotografie der gestohlenen Gegen stände, von Maya im Kohlenkasten versteckt, Inter views mit unfreiwilligen Zeugen ihrer krankhaften Ta ten, zu denen zu zählen auch ich die Ehre haben wer de – mit einem Wort: Riesenschlagzeilen im Dienste deiner Publicity.“ „Wozu, sagst du, wirst du dich zählen?“ fragt Maya. „Zu den Zeugen deiner kleptomanischen Neigungen. Ich sah, wie du Pums den Lippenstift gestohlen hast.“ „Ich habe einen Lippenstift gestohlen?“ „Du hast den Lippenstift, der ihr aus der Handtasche gefallen war, vom Fußboden aufgehoben und heimlich eingesteckt – in die Tasche deines Kleides, wo er sich noch jetzt befindet. Gib ihn mir heraus, und die Sache ist erledigt. Ich werde Pums sagen, ich hätte ihn unter dem Schreibtisch gefunden.“ „Ich werde ihn dir nicht geben“, sperrt sich Maya, und sie wird nicht einmal verlegen. „Das ist mein Lip penstift.“
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„Er ist aus Pums’ Handtasche gefallen. Ich habe doch gesehen, wie du ihn zusammen mit dem Kamm vom Fußboden aufgehoben hast.“ „Er ist herausgefallen, weil er in der Handtasche war. Pums hat ihn mir ausgespannt und in ihre Tasche getan, ganz einfach.“ Maya hat einen goldenen Lippenstift hervorgeholt und dreht ihn zwischen den Fingern. „Ist dir bekannt, wieviel so ein Lippenstift kostet?“ fragt sie. „Hast du deine Sekretärin im Verdacht, daß ihre Finanzen ihr solche Ausgaben erlauben?“ „Dann muß sich die Arme den Lippenstift vom Mun de abgespart haben, oder sie hat ihn von jemandem geschenkt bekommen.“ „Sei kein Dickkopf, Monty. Sie hat ihn mir gemaust, und damit Schluß. Unter uns gesagt, Frauen stiebitzen sich solche Kleinigkeiten oft und halten das für gar nichts Schlimmes. Aber da ich an diesem Lippenstift hänge, habe ich die Gelegenheit benutzt, ihn mir zu rückzunehmen – das ist alles, und du mach nicht aus einer Mücke einen Elefanten.“ „Wann hat sie ihn gestohlen, zu welchem Zeit punkt?“ „Als ich das erste Mal in deinem Büro war, noch be vor ich nach oben ging. Meine Handtasche hat keinen Verschluß, man kann leicht was ‘rausnehmen. Ich muß mal einen Moment weggesehen haben, eine Sekunde genügt ja. Vermißt habe ich den Lippenstift erst oben im Badezimmer, als ich mich herrichten wollte. Ich dachte, ich hätte ihn zu Hause liegengelassen. Erst als er aus Pums’ Täschchen fiel, wurde mir die Sache klar, und ich nahm ihn mir wieder.“
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„Du flunkerst“, sage. ich. „Du kamst geschminkt aus dem Bad, also hattest du den Lippenstift die ganze Zeit bei dir.“ „Ich habe mich auch geschminkt, aber mit einem andern. Nimm zur Kenntnis, daß jede Frau zwei Lip penstifte besitzt: einen für morgens und einen für den Abend. Ich habe mich mit dem für den Morgen ge schminkt, und gleichzeitig merkte ich, daß der für den Abend fehlte, nämlich dieser hier.“ Maya hält mir den Lippenstift vor die Nase, während sie mit der andern Hand in ihrer Handtasche kramt und einen zweiten, ähnlichen hervorholt. „Mit Calvados kann ich leider nicht dienen, mein Herr“, entschuldigt sich der Ober und stellt ein Glas Selleriesaft vor Maya hin. „Wir haben einen ausge zeichneten alten Branntwein.“ „Kein Calvados?“ wundere ich mich. „Gestern hatten Sie doch noch welchen.“ Der Ober zuckt bedauernd die Achseln. „Die Dame kann bezeugen, daß wir gestern bei Ih nen zwei Flaschen Calvados gekauft haben.“ „Ja, das stimmt“, bestätigt Maya, „ihr habt gestern abend aus dem Excelsior zwei Flaschen Calvados mit gebracht.“ „Ist ja auch egal“, lenke ich ein. „Dann also einen Kognak.“ Der Ober entfernt sich. „Und wodurch unterscheidet sich ein Lippenstift für den Morgen von einem für den Abend?“ setze ich die Unterhaltung fort. „Der für früh ist hell, hier bitte“, Maya schraubt den einen auf und präsentiert ihn mir, „der für den Abend ist dunkler, bitte, vergleiche.“ 58
Sie öffnet die zweite Hülse. Mein ungeübtes Auge nimmt keinen Unterschied in den Schattierungen wahr. Da bringt der Ober auch schon den Kognak und das Fruchtgelee. Ich nehme einen Schluck. „Ich werde ihr den Kopf waschen“, drohe ich. „Deiner Sekretärin? Wozu? Sag ihr besser nichts, es ist wirklich nicht der Rede wert“, beschwichtigt Maya. „Weißt du, was ich glaube? Sie hat ihn nicht gestohlen, sondern nur als Souvenir mitgehen lassen. Sie war so gerührt, der Hauptdarstellerin aus der ,Schwarzen Treppe’ zu begegnen, daß sie sich den Lippenstift als Fetisch angeeignet hat, die jungen Mädchen haben manchmal solche Einfälle.“ „Kommen wir zum Calvados zurück, denn das macht mir Kopf schmerzen. Weißt du genau, daß das Calva dos war, was wir gestern mitgebracht haben?“ „So wahr ich hier sitze“, entgegnet Maya. „Weshalb beunruhigt dich das?“ „Weil ich leider nur trübe Erinnerungen an diese Nacht habe, gewisse Umstände es aber erforderlich machen, daß ich mir alles genau ins Gedächtnis zu rückrufe, Minute für Minute. Gehen wir die Fakten der Reihe nach durch, ja?“ „Meinetwegen“, sagt Maya. „Ich war gestern abend auf einem Empfang, der für schwedische Schauspieler gegeben wurde. Gegen elf kam ich nach Hause und legte mich schlafen. Um zwölf holten mich zwei wider wärtige Säufer aus dem Bett, die vor Nässe trieften und nach Unterhaltung verlangten. Du und Frank.“ „Sachte, sachte“, unterbreche ich. „Vielleicht erin nerst du dich gütigst, daß du selbst uns eingeladen hast.“
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„Ja, so dumm war ich“, gibt sie zu. „Ich konnte nicht einschlafen und lernte im Bett meine Rolle. Da kam ich zu einer fatalen Stelle im Dialog, in der Szene mit den Kanarienvögeln. Absolut nicht zu sprechen, das bringt kein Schauspieler. Also rief ich Frank an, er soll den Dialog ändern. Erst sträubte er sich, schließlich gab er nach, und dann warst du auf einmal in der Leitung. Du beklagtest dich, daß du nichts zu trinken hättest. Ich erwähnte den Pfirsichgeist, aber dir war er nicht gut genug, und du tatest kund, daß du unterwegs noch was kaufen wolltest. Ich lernte meine Rolle weiter, dann klopftet ihr, ich zog den Morgenrock an und ließ euch ein. Wir tranken den Calvados aus, dann kam der Nachbar und brachte seine abscheuliche Frau mit den Lockenwicklern mit…“ „So abscheulich war die gar nicht. Sie hatte einen kirschroten Morgenrock an, soweit ich mich entsinne.“ „Nein, im roten Morgenrock, das war ich.“ „Du hattest doch einen grünen an.“ „Du bringst ja alles durcheinander“, lacht Maya. „Ich hatte einen roten an und sie einen blauen.“ „Ich erinnere mich an etwas leuchtend Grünes. Was kann das nur gewesen sein?“ „Der Pfefferminzlikör. Als der Kirschschnaps alle war, fand sich im Schrank hinter der Wäsche noch ein Rest Pfefferminzlikör. Da warst du schon so voll, daß du gegen Morgen feierlich um meine Hand anhieltest.“ „Ich war tatsächlich nicht ganz bei mir. Und wie hast du reagiert?“ „Ich habe dir eine sehr edle Antwort gegeben: ,Mein lieber Freund’, sagte ich, ,wir kennen uns nun seit Jah ren, und deine Freundschaft hat mich in vielen schwe ren Stunden aufgerichtet. Lassen wir es nicht dazu 60
kommen, daß dieses reine Gefühl im grauen Einerlei der Ehe abgenutzt wird…“ „‚Der achte Baum’, Szene auf der Terrasse“, stelle ich fest. „Du hast ein gutes Gedächtnis. Eine ausgezeichnete Szene, nicht?“ „Entsetzlich idiotisch. Manchmal sind Franks Texte einfach unausstehlich.“ „Drehbuch hin, Drehbuch her, ich war jedenfalls erstklassig“, behauptet Maya. „Du warst nicht schlecht. Trotzdem ist der Film mit telmäßig, das habe ich auch Frank nicht verschwie gen.“ „Ich persönlich glaube an Frank“, sagt Maya. „Jeder Film ist ein Erfolg.“ „Erfolg und Niveau sind zweierlei. Eigentlich hat er nur einen guten Film gemacht, du weißt ja…“ „Du meinst ,Die schwarze Treppe’. Weißt du, ich glaube nicht, daß seine späteren Filme schlechter wa ren. Mir persönlich haben die Rollen in den späteren Filmen sogar besser gefallen, sie lagen mir mehr. Was ich jetzt gerade drehe, verspricht eine Sensation zu werden.“ „Lassen wir das Thema. Was war weiter?“ „Du flehtest mich an, ich solle dich nicht zurücksto ßen, ich sei deine letzte Zuflucht, du stündest am Ran de des Abgrunds, dich könne nur die starke Hand einer Frau retten, nämlich meine, sonst, sagtest du, würde dich das blaue Scheusal vernichten…“ „Das ist unwichtig“, unterbreche ich. „Was war wei ter?“ „Nichts weiter. Frank brachte dich nach Hause, die Nachbarn verabschiedeten sich, ich stellte den Wecker 61
auf sechs und ging schlafen. Um sieben war ich im Studio. Um halb neun rief ich bei dir an, ich wollte wis sen, ob du gut nach Hause gekommen bist. Ich hab’s dann noch dreimal versucht, bis ich dich endlich er reichte.“ „Bezahl und laß uns gehen“, schlage ich vor. Maya zahlt, wir gehen. In der Garderobe bleibt sie vor dem Spiegel stehen, ich mache einen Abstecher in die Bar. Der Barkeeper lächelt mir entgegen und greift zur Flasche. „Ich habe schon am Tisch“, winke ich ab. „Was ist das mit dem Calvados?“ „Ach, Sie waren das, der Calvados bestellt hat“, sagt der Barkeeper. „Ich wußte nicht, daß Sie zu Calvados übergegangen sind. Den führen wir leider nicht. Der Chef meint, Calvados passe nicht zu unserm Hause.“ „Gestern nacht hat doch mein Freund bei Ihnen zwei Flaschen Calvados gekauft.“ „Bei mir bestimmt nicht“, entgegnet der Barkeeper. An der Taxihaltestelle verabschiede ich mich von Maya. Sie fährt ins Studio, ich lasse mich nach Hause bringen. Im letzten Moment borgt sie mir noch etwas Zaster. Sie ist wirklich anständig zu mir. In der Kanzlei ertappe ich Pums wieder über dem selben Band, den sie, als sie mich sieht, mit einer ra schen, geschickten Handbewegung unter ihren Aller wertesten praktiziert. Die Ärmste langweilt sich. War um sie nur ihre Lektüre vor mir versteckt? Nina hat ganz ungeniert tagelang Kriminalromane gelesen oder Illustrierte durchgeblättert. „Hat Robert angerufen?“ frage ich. „Was für ein Robert?“ Ich deute auf die Nummer an der Wand. 62
„Ja. Er hat was für Sie. Ich verbinde.“ Im Vollgefühl ihrer Würde schreitet sie zum Telefon und stellt die Verbindung her. Sie ist sichtlich zufrie den, daß sie sich endlich in einer effektiven Tätigkeit produzieren darf. „Hat dein Nusio Pilz zwei silberne Schneidezähne?“ will Robert wissen. „Wenn ja, könnte es sich um Zahnlücken-Nusio handeln, der von uns dringend gesucht wird.“ „Ich weiß nicht, ob er zwei Silberzähne hat, aber ich kann es nachprüfen“, sage ich. „Was ist denn dieser Zahnlücken-Nusio für einer?“ „Geldschrankknacker, dritte Garnitur, einschlägig vorbestraft. Er arbeitet übrigens nie allein, in letzter Zeit war der Lange Wenzel sein Komplize. Die ganze Bande sitzt, uns fehlt bloß noch Zahnlücken-Nusio. Wir wissen nicht, wo er Unterschlupf gefunden hat. Viel leicht ist dein Nusio identisch mit dem, den wir su chen.“ „Ich danke dir für die Auskunft, bei meiner Hochzeit mach’ ich’s wieder gut.“ Ich lege auf. Ich werfe einen Blick auf den Geldschrank, der in der Zimmerecke steht, gehe zur Balkontür, schiebe den Vorhang beiseite, bücke mich und stecke einen Finger zwischen die Lippen des Toten, der im Türrah men liegt. Die Lippen sind steif, aber sie geben soweit nach, daß ein silbriges Glänzen sichtbar wird. Pums beobachtet die Szene mit aufgerissenen Augen. Ich ziehe den Vorhang wieder zu und setze mich an den Schreibtisch. „Das war Zahnlücken-Nusio“, stelle ich fest. „Zuerst hatte ich ihn gar nicht erkannt.“ „Haben Sie ihn denn vorher gekannt?“ 63
„Ja, er war Kellner in der Bar im Erdgeschoß. Aber du weißt ja, wie schwer ein Kellner außerhalb des Lo kals wiederzuerkennen ist. Ich hab’ ihn immer nur in seiner weißen Weste gesehen und lebendig. In Zivil und als Leiche habe ich ihn nicht wiedererkannt, ich habe jetzt eben erst kombiniert, daß er es sein könn te.“ „Möchte mal wissen, wie der hierhergekommen ist“, meint Pums. „Das möchte ich auch. Jedenfalls ist er hier auf sei nen eigenen lebendigen Beinen hereinspaziert, erst hier wurde er erschossen, hinter dem Vorhang, wo er liegt.“ „Woher wissen Sie das?“ „Im Vorhang ist ein Loch, zirka ein Meter zwanzig über dem Fußboden. Nusio war hinter dem Vorhang versteckt, durch den Vorhang hindurch traf ihn die Ku gel in die linke Brustseite, direkt ins Herz, und wie er stand, sackte er zu Boden.“ „Und wer hat geschossen?“ „Das will ich ja gerade herauskriegen. Die schwarze Dame muß damit irgendwas zu tun haben.“ „Vielleicht hat sie ihn erschossen?“ „Vielleicht. Aber wer hat dann sie erschossen?“ „Zuerst hat sie ihn umgebracht und dann sich selbst“, mutmaßt Pums. „Und nach dem Selbstmord hat sie den Revolver in die Schublade zurückgelegt? Du redest Unsinn, Pums.“ „Den Revolver kann ja jemand anders dahin getan haben.“ „Richtig. Aber wer? Und warum mußte das alles in meiner Wohnung passieren? Weißt du vielleicht darauf auch eine Antwort?“ 64
Pums schüttelt den Kopf. „Aber vielleicht kannst du mir verraten, warum du den Lippenstift gestohlen hast?“ Pums wird rot und wendet den Kopf ab. „Wie haben Sie das herausgekriegt?“ fragt sie. „Das tut nichts zur Sache. Weshalb hast du’s ge tan?“ „Ich könnte mir doch so einen teuren niemals lei sten“, entschuldigt sie sich. „Und Nina hat gesagt, ich muß elegant sein, wenn ich will, daß Sie mich behal ten.“ „Nina ist dumm. Und du hast dich abscheulich benommen, du machst mir Schande!“ „Ich will’s auch nicht wieder tun“, verspricht Pums und schickt sich an, Tränen der Reue zu vergießen (Pascale Petit in „Die Betrüger“). „Hör auf zu flennen, und den Lippenstift schlag dir aus dem Kopf, der ist schon wieder dorthin zurückge kehrt, wo du ihn hergenommen hast. Heb ab“, gebiete ich, denn das Telefon klingelt. „Falsch verbunden“, spricht Pums in den Hörer, „hier ist die Kanzlei von Rechtsanwalt Eduard Rieff, einen Monty gibt es hier nicht.“ Ich nehme ihr den Hörer aus der Hand und melde mich. „Warum sagt sie, du bist nicht da, wenn du doch da bist?“ Es ist die Stimme des ehrenwerten Gustav Ko katsch, Pseudonym: Stan. W. Melton. „Was hast du auf dem Herzen?“ frage ich ihn. „Weißt du, ich habe die ganze Nacht über das Pro blem nachgedacht, das wir gestern im Wagen durch gesprochen haben. Ich bin nicht ganz überzeugt…“ „Siehst du eine andere Möglichkeit?“ 65
„Zyankali…“ „Zyankali ist unpraktisch“, gebe ich zu bedenken. „Erstens: Es ist nicht leicht zu beschaffen, das hätte zusätzliche Komplikationen zur Folge. Zweitens: Wie willst du es der Tante denn verabreichen, und wie willst du erreichen, daß der Eindruck entsteht, sie hät te Selbstmord begangen? Nein, nein, laß dir abraten.“ „Meiner Meinung nach ist es jedenfalls besser als Gas“, beharrt Gustav. „Meine Idee ist aber doch ausgezeichnet, daran ist nicht zu tippen“, versuche ich ihn zu überzeugen. „Du lädst die Tante zum Abendessen ein und tust ihr Schlafpulver in die Bouillon. Nach zwei Stunden schleichst du dich in ihre Wohnung. Neben dem Zim mer, in dem die Tante schnarcht, liegt die Küche. Du drehst den Gashahn auf, dann gehst du seelenruhig nach Hause und kannst dich auf deinen Lorbeeren aus ruhen – alles weitere erledigen andere für dich, inklu sive der amtlichen Bescheinigung, daß ein unseliger Selbstmord infolge Alterseinsamkeit vorliegt. Das geht doch alles wie am Schnürchen, was nörgelst du noch?“ „Mir paßt nicht, daß ich kein Alibi habe. Ich brauche aber eins, sonst werde ich verdächtigt. Das du mir ge stern vorgeschlagen hast, gefällt mir nicht besonders.“ „Dann gebe ich dir ein besseres: Du verabredest dich mit einem Freund und sumpfst mit ihm die ganze Nacht durch, ihr trennt euch keinen Augenblick.“ „Wenn wir uns nicht trennen, wie soll ich dann zur Tante in die Wohnung kommen?“ „Du schleppst ihn durch verschiedene Lokale, unter anderem in eins, das in der Nähe ihrer Wohnung liegt. Du gehst zur Toilette, verläßt das Lokal durch den Hin tereingang, in einer Minute erledigst du die Sache mit 66
der Tante und kehrst auf dem gleichen Wege zurück. Ganz einfach.“ „Aber schlecht. Ich kann mich nicht in einem Lokal zeigen, das in der Nähe ihrer Wohnung liegt – ganz ausgeschlossen. Denk dir was andres aus.“ „Wenn mir was einfallen sollte, rufe ich an“, ver spreche ich und lege auf. Wie ich feststelle, haben meine Ausführungen auf Pums großen Eindruck ge macht. „Du siehst, ich bin der genialste Rechtsanwalt der Welt. Andere mühen sich erst post factum, den Ver brecher aus dem Schlamassel zu ziehen, in das er hi neingeraten ist, ich dagegen lege vorher mit ihm zu sammen jede Einzelheit der Tat fest, und niemand wird ihm hernach etwas beweisen können.“ „Sie machen sich über mich lustig“, sagt Pums unsi cher. „Gustav ist tatsächlich ein Verbrecher, er hat ein paar miserable Romane verbrochen, ganz zu schwei gen von dem hundertfachen Blödsinn, den er in der ,Blauen Bibliothek’ in die Welt setzt.“ „Was macht der Herr denn?“ erkundigt sich Pums. „Er ist Direktor des Kriminalverlags, er gibt die Zeit schrift ,Der Detektiv’ und die Kriminalserie ,Die Blaue Bibliothek’ heraus. Einiges davon hat er selbst produ ziert, und ich habe einen bescheidenen Anteil daran. Ich bin der Rechtsberater des Kriminalverlags.“ „Denken Sie sich die Themen für ihn aus?“ „In der Hauptsache beseitige ich nur den sachlichen Unsinn, von dem es in diesen Schmökern wimmelt. Natürlich kann ich kaum eine von hundert Ungereimt heiten herausfischen, du kannst dir wohl denken, daß
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ich nicht imstande bin, all diesen Quatsch zu lesen, den der Kriminalverlag drucken läßt.“ „Ich könnte Ihnen ja helfen“, bietet Pums mir an. „Aber sehr doll kenn’ ich mich da nicht aus, mir gefal len Liebesromane besser.“ „Das schadet nichts, ich erwarte auch gar keine fachliche Unterstützung von dir. Wenn du dich nur nicht am Telefon mit ,Hier Kanzlei Rechtsanwalt Edu ard Rieff’ melden wolltest. Wie bist du bloß darauf ge kommen?“ „Na, Sie heißen doch so.“ „Rieff, ja, aber nicht Eduard. Eduard Rieff lebt nicht mehr. Er war mein Vater und ein hervorragender An walt, aber seit sechs Jahren ist er tot.“ „Das tut mir leid. Und wie ist Ihr Vorname?“ „Meine Freunde nennen mich Monty.“ „Von welchem Namen kommt denn das?“ „Das behalte ich lieber für mich. Meine Eltern haben eine ungewöhnliche Phantasie an den Tag gelegt, als sie mir diesen Vornamen gaben. Zum Glück heiße ich mit meinem zweiten Namen ganz schlicht Odoakar. Ich unterschreibe also Odoakar M. Rieff. Lern das auswen dig, ich verschwinde mal auf eine Viertelstunde.“ Ich gehe hinunter in die Bar, nehme am Fenstertisch Platz und winke dem Serviermädchen. „Sie hatten recht“, sage ich. „Dieser Anton Pilz ist ein Krimineller. Er ist als Zahnlücken-Nusio bekannt und wird von der Polizei gesucht.“ „Und wenn sie ihn finden, kriege ich dann mein Geld wieder?“ „Ich fürchte, kaum. Ich vermute, Nusio hat das Geld für falsche Papiere ausgegeben. Er mußte untertau chen, und falsche Papiere sind teuer.“ 68
„So ein Lump!“ fährt das Mädchen auf. „De mortuis nil nisi bene“, rutscht es mir ‘raus, aber zum Glück versteht sie kein Latein. „Ist Ihnen noch etwas über die schwarzgekleidete Dame eingefallen?“ frage ich. „Ich kann mich an eine erinnern, die hat erst telefo niert und dann ein Steak bestellt, aber ich weiß nicht, ob das die ist, die Sie meinen.“ Ich ziehe den schwarzweiß karierten Seidenschal der Toten aus der Jackentasche (ich hatte ihn ihr auf dem Balkon der Grauhaarigen abgenommen, damit er bei ihrer Überführung auf meinen Balkon nicht auf die Straße fiel). Beim Anblick des Schals erhellt sich die Miene des Mädchens. „Ja, an den Schal erinnere ich mich, den hatte sie um.“ „Sagen Sie mir bitte alles, was Sie beobachtet ha ben. Es sind ja kaum Gäste hier, der Wirt schläft hinter der Theke, wir können also ungestört reden.“ „Ich sah die Dame mit diesem Schal um den Hals, wie sie telefonierte. Ich war in der Küche, ich wusch gerade die Teller ab unter der Wasserleitung, die ist neben dem Fenster, und die Dame stand auf dem Gang dicht am Fenster und telefonierte. Ich weiß sogar noch, was sie gesagt hat.“ „Das ist ja das Wichtigste. Was hat sie gesagt?“ „Sie wählte eine Nummer und sagte, daß sie mit Herrn Rechtsanwalt soundso sprechen will. Ich hab’ ein bißchen gelauscht, weil ich ja auch zu einem Rechts anwalt gehen wollte wegen meinem Geld, deshalb war ich neugierig.“ „Nannte sie den Namen des Anwalts?“
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„Das hat sie wohl, aber ich habe ihn nicht verstan den. Ich weiß nur noch, daß sie mit ihm wegen der Treppe reden wollte, so ähnlich hat sie sich jedenfalls ausgedrückt. Anscheinend war der Anwalt da, denn sie hat gleich angefangen, ihm alles auseinanderzuset zen.“ „Wiederholen Sie mir bitte genau die Worte, die sie behalten haben.“ „Ich werd’s versuchen. Zuerst sagte sie: ,Die Treppe ist gestohlen worden’ – ich hab’ mich noch gewundert, wie kann man denn eine Treppe stehlen?“ „Wiederholen Sie nicht, was Sie gedacht haben, sondern nur, was die Frau gesagt hat.“ „Sie sagte: ,Ich habe den Beweis, ich habe mich vergewissert. In Ihrer Kanzlei habe ich es deponiert. Man wird mir dafür zahlen müssen.’“ „Was hatte sie deponiert?“ „Sie sagte, vor einigen Jahren hätte sie etwas bei dem Anwalt deponiert, was sehr viel wert ist. Sie sag te: ,Vor meinen Augen haben Sie das Depot im Tresor verschlossen, ich muß es wiederhaben, wann kann ich es mir abholen?’ Dann sagte sie, sie ist direkt vom Bahnhof gekommen, und sie will nicht bis zum näch sten Morgen warten, wozu soll sie Geld für ein Hotel zimmer ausgeben, und sie verlangt, daß es ihr der Anwalt sofort aushändigt. Dann sagte sie: ,Gut, ein, zwei Stunden kann ich warten, aber ich muß den Nachtzug noch erreichen, inzwischen esse ich Abend brot, enttäuschen Sie mich nur nicht, ich will es heute noch haben.’ Und dauernd wiederholte sie, wie unge heuer wertvoll es ist. Dann war von irgendeinem Schlüssel die Rede, aber daraus bin ich nicht ganz schlau geworden. Sie sagte: ,Und wie komme ich da 70
hinein?’ und dann: ,Ich verstehe, der Schlüssel liegt unter der Schlange.’ Unter was für einer Schlange, das hab’ ich nicht mitgekriegt. Vielleicht hab’ ich mich ver hört.“ „Was hat sie noch gesagt?“ „Nichts weiter, sie hat eingehängt. Dann hat mich der Dicke aus der Küche ins Restaurant geholt, weil Anton abgehauen war und ich die Gäste bedienen soll te.“ „Wann ist der Kellner verschwunden? Während die Frau telefonierte oder vorher?“ „Ich erinnere mich, daß ich ihm Steaks durchs Fen ster reichte, als sie noch sprach. Wann er genau weg gegangen ist, weiß ich nicht. Als mich der Dicke nach vorn rief, hing Antons weiße Jacke im Gang am Haken, da hatte er sich also schon umgezogen.“ „Um wieviel Uhr war das? Wann genau hat die Dame telefoniert?“ „Ich weiß es nicht mehr. Aber es muß vor neun ge wesen sein, vielleicht gegen halb neun, denn um neun war ich schon im Restaurant und habe bedient.“ „Haben Sie die Dame mit dem karierten Schal an ei nem der Tische sitzen sehen?“ „Freilich. Ich hab’ ihr doch ein Steak gebracht.“ „Haben Sie mit ihr gesprochen?“ „Nein. Sie ist auch nicht lange geblieben, nicht mal das Steak hat sie ganz aufgegessen. Sie zahlte und ging.“ „Und später haben Sie sie nicht mehr gesehen?“ „Nein, sie kam nicht mehr ins Restaurant zurück. Ich habe auch gar nicht mehr an sie gedacht, weil ich mich die ganze Zeit bloß über diesen Lumpen, den An
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ton geärgert habe, der Teufel soll ihn holen, den ge meinen Schuft!“ Ich könnte sie versichern, daß dies bereits gesche hen sei, aber ich ziehe es vor zu schweigen. Ich be danke mich für die Auskunft und gehe. Draußen winke ich einem Taxi und lasse mich ins „Roma“ fahren.
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V
Opolsky sitzt an einem Tisch auf der Terrasse bei ei nem Glas Milch. Er ist so alt, daß man ihn gar nicht anschauen möchte. Im Gerichtssaal sieht er viel bes ser aus, alles was recht ist – das Gebäude ist noch äl ter als er. Und er hat Erfolg, das muß der Neid ihm lassen. Doch er tritt dort nur noch selten auf. Wenn ich ihn besuche, rede ich zuerst immer sehr laut, weil es einem gar nicht in den Kopf will, daß ein so alter Mann nicht taub sein sollte. Aber er ist es nicht, er hat ein ausgezeichnetes Gehör. Nach ein paar Sätzen gehe ich auf normale Lautstärke herunter. Ich referiere die ganze Geschichte von Anfang an, mit allen Einzelheiten. Opolsky hört mit einer Art ge langweilter Höflichkeit zu, er scheint gar nicht erschüt tert, ja nicht einmal erstaunt zu sein. „Na schön, und wozu erzählst du mir das alles?“ fragt er, als ich geendet habe und mir eine Zigarette anstecke. Seine Stimme ist schwach – übrigens hat er sich nie durch tönende oder effektvolle Redeweise ausgezeich net, seine Begabung liegt auf ganz anderem Gebiet. „Weil die Ermordete niemand anderen als Sie ange rufen haben kann“, erwidere ich. „Was hatte sie ei gentlich auf dem Herzen?“ „Sie hat mich nicht angerufen“, sagt Opolsky. „Mit wem kann sie denn sonst telefoniert haben? Es paßt doch alles zusammen: der Schlüssel in der Nische unter dem Schlauch, der dort schon versteckt wurde, als mein Vater noch Ihr Sozius war, der Tresor, der Umstand, daß die Frau aus der Bar in unserm Haus telefonierte… Und dann dieses Depot – das muß doch 73
noch aus der Zeit stammen, als ich die Praxis noch nicht übernommen hatte, in den Jahren, als ich im Ausland war.“ „Bei mir hat sie nichts deponiert“, behauptet Opolsky. „Und sie kann auch gar nicht bei mir angeru fen haben, weil ich zu Hause kein Telefon habe.“ „Aber wen hat sie dann angerufen? Wer konnte sich mit ihr in unsrer Kanzlei verabreden und sie dann in meine Privatwohnung einlassen? Wer – außer Ihnen und mir – kann das alles arrangiert haben?“ „Ich nicht, vermutlich du“, sagt Opolsky. „Und ich vermute, Sie. Der Hergang wird so gewe sen sein: Die Frau hat vor vielen Jahren bei Ihnen ein Depot hinterlegt, dann fuhr sie ins Ausland, wahr scheinlich nach Frankreich. Sie glaubten, sie würde nicht zurückkehren, und veruntreuten ihr Depot – es stellte ja einen gewissen Geldwert dar, wie die Frau am Telefon betonte. Vor kurzem erfuhr sie nun, daß sie in irgendeinem Zusammenhang mit dem Depot be trogen worden ist. Sie setzte sich in den Zug und kam direkt vom Bahnhof zur Kanzlei. Dort traf sie nieman den an. Daher ging sie in die Bar und rief Sie an. Sie verlangte die Herausgabe ihres Depots. Da Sie es nicht mehr hatten, konnten Sie es der rechtmäßigen Eigen tümerin nicht mehr aushändigen. Sie sagten ihr, sie solle in die Kanzlei kommen, sich die Tür selbst auf schließen und auf Sie warten. Nach einiger Zeit er schienen Sie und schossen sie nieder – mit dem Re volver aus der Schublade. Sie kannten das Versteck, denn schon mein Vater hatte ihn dort aufbewahrt.“ „Und wie willst du deinen Zahnlücken-Nusio in der Geschichte unterbringen?“
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„Ganz einfach: Als die Frau telefonierte, trieb er sich die ganze Zeit in ihrer Nähe herum. Am Fenster neben dem Telefon nahm er die Speisen entgegen und hörte dabei alles mit an. Er brauchte Geld, der Boden brann te ihm unter den Füßen, er mußte von der Bildfläche verschwinden, und das ist ein teurer Spaß. Nachdem er spitzgekriegt hatte, daß in unserm Tresor etwas zu holen ist, kombinierte er, daß er es schaffen würde, hinaufzulaufen und den Tresor aufzubrechen, bevor die Frau im schwarzen Kostüm mit dem Abendbrot fertig sein würde – er hatte ja gehört, daß sie noch etwas essen wollte. Er ging also nach oben, nahm den Schlüssel aus der Nische, drang in die Kanzlei ein und machte sich über den Tresor her. Aber die alte Dame hatte es eilig, sie war nervös und aß nicht auf. Eher als erwartet erschien sie oben und störte Nusio bei der Arbeit. Nusio versteckte sich hinter dem Vorhang und verhielt sich ruhig. Dann kamen Sie, es wurden ein paar Worte gewechselt, währenddessen nahmen Sie den Revolver aus der Schublade und drückten ab. Aber das erste Mal schossen Sie daneben, die Kugel schlug durch den Vorhang und tötete Nusio. Erst mit dem zweiten Schuß trafen Sie die Frau.“ „Und dann schleppte ich sie hinauf in dein Zimmer? Wozu hatte ich das nötig?“ „Vielleicht, um den Verdacht auf mich zu lenken?“ „Aber wie gelangte ich in deine Wohnung?“ „Sie wissen genau, daß der Schlüssel zum Büro auch zu meiner Wohnung paßt, Sie und mein Vater haben die Wohnung doch selbst als Absteigequartier bei der Kanzlei gemietet, ich habe sie erst später übernom men. Als Sie die Leiche zu mir gebracht hatten, legten
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Sie den Schlüssel wieder in die Nische und gingen see lenruhig nach Hause.“ „Was hält dich davon ab, das alles der Polizei zu er zählen?“ „Mir wäre es lieber, wenn Sie das selbst täten. Es ist schließlich nicht nett, den Freund des eigenen Vaters wegen Mordes anzuzeigen.“ „Wir waren keine Freunde, wir hatten nur die Kanz lei gemeinsam. Dein Vater übernahm die Zivilprozesse, ich die Strafrechtsachen. Das war eine recht nützliche Arbeitsteilung, wir hatten einen ausgezeichneten Ruf.“ „Den ich von euch geerbt habe, zusammen mit dem Büro. Leider bin ich nicht in der Lage, die Tradition würdig fortzusetzen, ich bin aus einem andern Holz.“ „Du bist ein Dilettant, das ist deine Tragödie. Du hast Schulen besucht, aber du bist ein Dilettant ge blieben, nie wirst du etwas Vernünftiges zustande bringen.“ „Auch ich hatte ja ein paar bescheidene Erfolge.“ „Ich behaupte ja nicht, daß du gänzlich unbegabt bist. Aber Erfolge des Talents sind eben nur Zufallser folge.“ „Was war das eigentlich für ein Depot?“ frage ich. „Ich habe keine Ahnung. Das muß eine Klientin dei nes Vaters gewesen sein, ich habe nie von einem De pot gehört. Möglicherweise liegt es heute noch unbe rührt im Tresor. Ich verstehe nicht, warum du das nicht längst nachgeprüft hast.“ „Aus dem einfachen Grunde, weil ich den Tresor nicht öffnen kann. Ich habe ihn nie gebraucht, und es ist mir niemals in den Sinn gekommen, daß mein Vater dort etwas aufbewahrt haben sollte, was für mich von Nutzen sein könnte. Wenn ich den Tresor öffnen woll 76
te, müßte ich ihn aufsprengen lassen, ich kenne näm lich die Kombination nicht. Aber Sie müßten sie ken nen, und Sie sollten sie mir mitteilen.“ „Ich kenne sie auch nicht“, erwidert Opolsky. „Den Tresor hat dein Vater aufstellen lassen, und nur er hat ihn benutzt, wenn auch selten – er diente mehr zur Dekoration, um den Klienten Respekt vor unserm In stitut einzuflößen. Ich habe mir nie den Kopf darüber zerbrochen, wie man ihn öffnet.“ „Da kommt mir ein Gedanke“, sage ich. „Zahnlükken-Nusio ist bei uns nicht eingebrochen, um zu steh len, sondern weil Sie ihn als Fachmann im Geld schrankknacken engagiert hatten. Sie wußten nichts von dem Depot – bis gestern abend, als Sie durch den Anruf der Frau davon unterrichtet wurden, und sie te lefonierte mit Ihnen, weil sie ja wissen mußte, daß Eduard Rieff nicht mehr lebt. Daher wandte sie sich an seinen Sozius, dessen Name bis heute auf unserm Türschild prangt. Vielleicht hat sie gar nicht bei Ihnen zu Hause angerufen, sondern hier im ,Roma’, wo Sie ständiger Gast sind. Aus ihrem Munde erfuhren Sie, daß sich im Tresor ein Gegenstand von großem Wert befindet. Sie verdienen jetzt nicht viel, vor Ihnen liegt ein ungesichertes Alter. Dieses Depot reizte Sie, aber Sie konnten den Tresor nicht öffnen. Daher Nusios Be teiligung. Sie trafen mit der Frau zusammen, führten sie in meine Wohnung und brachten sie dort um, wäh rend Nusio in der Kanzlei den Tresor knackte. Sie ka men zurück, Nusio versteckte sich, als er Schritte hör te, für alle Fälle hinter dem Vorhang, und dort haben Sie ihn erschossen.“ „Und weshalb sollte ich Nusio erschießen, bevor er den Tresor geöffnet hatte? Das wäre doch Unsinn.“ 77
„Woher wissen Sie denn, daß er den Tresor noch nicht geöffnet hatte?“ hake ich ein, aber Opolsky läßt sich nicht aus der Fassung bringen. „Hatte er ihn denn geöffnet?“ fragt er zurück. „Nein. Aber Sie dachten, er hätte. Als Sie ins Zim mer traten, bemerkten Sie neben dem Tresor, viel leicht auch auf dem Schreibtisch irgendeinen Gegen stand, den Sie für den begehrten Schatz hielten. Sie schossen durch den Vorhang auf Nusio und machten sich mit Ihrer Beute aus dem Staube. Erst später muß ten Sie feststellen, daß es nichts von Wert war – was weiß ich, vielleicht Nusios Werkzeug, in einen Stoffet zen eingewickelt, oder irgendeine andere Lappalie. Sie haben ganz umsonst zwei Morde verübt.“ „Woher, glaubst du, kannte ich Nusio?“ „Sie haben ihn irgendwann mal verteidigt, daher die Bekanntschaft. Als Sie zu der Zusammenkunft mit der bewußten Dame gingen, warfen Sie zuvor einen Blick in die Bar, aber dort war sie nicht mehr. Dafür erkann ten Sie Nusio, und blitzartig wurde Ihnen klar, daß er Ihnen von Nutzen sein könnte. Sie versprachen ihm eine anständige Bezahlung, nahmen ihn mit nach oben, lockten die Frau aus der Kanzlei in meine Woh nung und ließen dafür Nusio ein.“ „Ebensogut könntest auch du das alles getan haben, das wirst du mir zugeben müssen.“ „Mein Alibi ist lückenlos. Haben Sie ein Alibi?“ „Nein, ich habe den ganzen Abend allein zu Hause gesessen. Anständige Leute haben in der Regel kein Alibi.“ „Ich bin unschuldig und habe zufällig trotzdem eins.“ „Wenn irgendein Gegner von dir mein Klient wäre, ich wollte es unternehmen, dein Alibi zu erschüttern. 78
Wenn ich richtig verstanden habe, stützt es sich auf diesen Frank Schmidt, von dem du dich die ganze Nacht nicht getrennt haben willst. Das stimmt aber gar nicht, mindestens einmal wart ihr nicht zusammen, und das für eine Zeitspanne, die vollkommen aus reicht, um zwei Menschen zu erschießen. Nämlich als dieser Schmidt den Schnaps kaufen ging.“ „Aber das war doch beim Excelsior, am andern Ende der Stadt. Der ganze Einkauf hat vielleicht fünf Minu ten gedauert. Kein Fortbewegungsmittel der Welt hätte mich in der kurzen Zeit hin- und zurückbringen kön nen, so daß mich Frank bei seiner Rückkehr wieder im Wagen vorfand – und er hat mich dort vorgefunden, das kann er beeiden.“ „Die Frau muß ja zu der Zeit gar nicht mehr in der Kanzlei gewesen sein. Du hast sie warten lassen, es dauerte ihr zu lange, sie änderte ihren Plan, verließ die Kanzlei und fuhr ins Excelsior, um dort zu übernach ten. Du bemerkst sie vor dem Hotel, erschießt sie und versteckst die Leiche im Wagen. Gegen Morgen fährt dich dein Freund nach Hause, du lenkst für einen Au genblick seine Aufmerksamkeit ab, zerrst die Tote aus dem Auto und trägst sie nach oben.“ „Und Nusio habe ich auch vor dem Hotel umge bracht?“ „Nusio wurde von der Frau erschossen, als sie ihn beim Tresor ertappte. Denn Nusio war in räuberischer Absicht in die Kanzlei eingedrungen, wie du richtig vermutet hast. Als die Frau den Einbrecher vor dem Tresor überraschte, in dem ja ihr Depot verwahrt ist, verlor sie den Kopf und knallte drauflos.“ „Nusio wurde hinter dem Vorhang erschossen, nicht vor dem Tresor.“ 79
„Schon möglich. Wahrscheinlich hat er sich rechtzei tig versteckt, aber die Gardine bewegte sich, die Frau bemerkte das und schoß.“ „Woher wußte sie, wo der Revolver liegt?“ „Sie fand ihn zufällig. Sie saß am Schreibtisch und zog aus lauter Langerweile die Schubladen auf, in ei ner war der Revolver. Sie nahm ihn in die Hand, in diesem Moment bewegte sich der Vorhang, sie drückte ab.“ „Kein Mensch feuert mir nichts, dir nichts auf einen Vorhang, auch nicht, wenn er wackelt, und erst recht nicht, wenn dahinter ein Mensch versteckt ist.“ „Sie wird erschrocken sein, Frauen machen die größten Dummheiten aus Furchtsamkeit. Die Gardine bewegte sich, der Frau wurde es unheimlich. Sie traute sich nicht, hinter der Gardine nachzugucken, sie schoß lieber – eine typisch weibliche Reaktion. Dann sah sie, was sie angerichtet hatte, und erschrak noch mehr. Sie wartete noch ein Weilchen auf dich, aber du kamst nicht. Ihre Angst wurde immer größer, schließlich flüchtete sie sich ins Hotel, und dort war dann die Rei he an ihr: sie wurde von dir erschossen.“ „Und womit?“ „Den Revolver hatte sie noch bei sich. Du wirst sie auf der Straße angesprochen haben, es wurden ein paar Worte gewechselt, während des Gesprächs nahmst du ihr den Revolver ab, und schon war’s pas siert.“ „Wie konnte ich sie denn nachts vor dem Hotel er kennen, wo ich sie doch nie im Leben gesehen hatte?“ „Das behauptest du. Doch vielleicht warst du von ih rer Ankunft unterrichtet, lange bevor sie sich bei dir
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angemeldet hat, und wußtest bereits genau, wie sie aussah.“ „Ich habe nichts von ihr gewußt, und sie hat sich nicht bei mir angemeldet. Als wir vor dem Excelsior hielten, hatte ich anderes im Kopf, als auf eine un schuldige Frau zu schießen. Ich hatte größere Sorgen, das können Sie mir glauben.“ „Hast du Zeugen dafür?“ fragt Opolsky. „Da war schon ein Zeuge“, sinniere ich, „aber der wird nichts aussagen… Ein Zeuge, der nicht existent ist.“ „Wie bitte?“ „Er war da und war zugleich nicht da. Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen erklären soll.“ „Dann laß es bleiben, was geht mich das alles an?“ „Waren Sie schon einmal in Ihrem Leben Alkoholi ker?“ frage ich ihn. „Doch, mit zwei Rückfällen sogar.“ „Haben Sie es einmal bis zum Delirium gebracht?“ „In meinem Alter hat man alle Erfahrungen hinter sich.“ „Ich bin beim Delirium angelangt“, bekenne ich. „Dabei habe ich doch gar nicht so schrecklich viel ge trunken, andere trinken mehr.“ „Du trinkst erst schrecklich viel, seit du das Delirium hast, hab’ ich recht? Weil ja sowieso schon alles egal ist.“ „Ja, seit zwei Monaten saufe ich wie ein Loch. Da mals hatte ich zum erstenmal eine Halluzination. Es war ein furchtbarer Schock. Was kann man anderes dagegen tun als trinken?“
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„Also trinkt man, und infolgedessen stellen sich die Halluzinationen immer öfter ein – ich kenne das“, sagt Opolsky. „Aber wenn du wirklich dem Alkoholismus verfallen bist, hast du die Chance, daß dich das Gericht für un zurechnungsfähig erklärt, du bist dann für deine Taten nicht verantwortlich.“ „Für welche Taten? Ich hab’ das Delirium, aber ich habe niemanden umgebracht.“ „Ich möchte eher bezweifeln, daß du das Delirium hast. Es gibt mehr Mörder als Leute mit Säuferwahn. Aber natürlich kannst du darauf deine Verteidigung aufbauen. Es ist nur fraglich, ob sich die Psychiater davon überzeugen lassen werden.“ „Sie hatten auch schon Halluzinationen? Was haben Sie denn gesehen?“ „Fledermäuse. Im Delirium erscheinen einem immer irgendwelche Tiere.“ „Stimmt. Aber meins ist ein außergewöhnlich scheußliches Vieh.“ „Sie sind nie sympathisch“, bestätigt Opolsky. „Das erste Mal ist es mir bei uns auf der Treppe be gegnet. Ich kam von einer Party, im Hausflur war es dunkel. Plötzlich merke ich, wie vor mir etwas die Treppe hochläuft. Als dieses Etwas am Flurfenster vor beikam und ich gewahr wurde, wie es aussieht, wäre ich beinah aus dem Anzug gekippt. Ich sagte mir so fort, du hast eine Halluzination, so eine Bestie gibt’s ja gar nicht, so was Scheußliches kommt in der ganzen Zoologie nicht vor. Ich stieg Stufe für Stufe, und das lief immer vor mir her. Erst auf dem Treppenabsatz im ersten Stock verschwand es. Mit schlotternden Knien schleppte ich mich bis in meine Wohnung, stürzte den 82
Rest Wodka hinunter, den ich im Küchenschrank fand, und versuchte mir einzureden, daß mir da wohl meine Phantasie einen Streich gespielt hätte und daß das nicht noch mal vorkommen würde. Aber drei Tage spä ter wiederholte es sich, offenbar hatte ich wieder einen in der Krone.“ „Wieder auf der Treppe?“ fragt Opolsky, zum er stenmal mit einem gewissen Interesse – wahrschein lich erinnert er sich lebhaft an sein eigenes Delirium. „In der Wohnung“, sage ich. „Ich lag im Bett, die Nachttischlampe brannte, es war also ganz hell. Da war es auf einmal wieder da – es hockte auf dem Fuß boden, drei Schritte von meinem Bett entfernt. Ich zog die Decke über den Kopf. Als ich sie nach einer Weile wieder zurückschlug, war es verschwunden. Ich stand auf, zog mich an und rannte aus dem Haus. Aber Weg laufen hilft gar nichts, sie werden das ja wissen.“ „Hast du im Delirium immer dasselbe gesehen?“ „Immer dasselbe – übrigens nicht mehr so oft, ge nau gesagt: noch zweimal, aber das reicht mir völlig, zumal ich jetzt weiß, daß das Scheusal nicht mehr von mir abläßt. Wie kann es auch, es ist ja in meinem Kopf. Es erscheint mir gewöhnlich abends, denn abends bin ich meistens betrunken. Einmal sah ich es noch vor dem Haus und dann wieder gestern vor dem Excelsior.“ „Wie sieht es denn aus?“ erkundigt sich Opolsky und nimmt einen Schluck Milch. „Ich möchte am liebsten gar nicht darüber reden. Es sieht grauenvoll aus: blau und ohne Haare, es hat eine nackte, runzlige Haut, eine Teufelsschnauze und ge fletschte Zähne, es läuft auf vier Beinen und ist sehr flink.“ 83
„Gibt es irgendwelche Laute von sich?“ „Ja, eine Art Piepsen.“ „Sie piepsen immer“, nickt Opolsky. „Wie war das gestern vor dem Excelsior?“ „Ich sagte Ihnen ja schon: Frank und ich fuhren mit dem Wagen in strömendem Regen los. Von Franks Haus bis zum Excelsior ist es ein ganzes Stück, Frank wohnt drüben, auf der andern Seite. Ich war schon ziemlich blau, an die Fahrt kann ich mich kaum erin nern, übrigens war sowieso nichts zu sehen, der Regen hüllte alles ein. Wir hielten vor dem Excelsior, aber vermutlich am Seiteneingang, denn ich entsinne mich nicht, irgendwelche Lichter gesehen zu haben. Frank ging den Schnaps holen, ich blieb im Auto. Ich sah nur die Scheibe mit den pendelnden Wischern, dahinter den Regen und ein Stück nassen Asphalt. Da entdeck te ich plötzlich auf diesem Stück Asphalt mein Scheu sal. Es stand da, rührte sich nicht vom Fleck und starr te unverwandt in die Autoscheinwerfer, also zu mir herüber. Ich schlug die Hände vors Gesicht, ich wollte es nicht sehen, aber ich wußte genau, daß es dort draußen auf der Straße lauert und mich ununterbro chen anglotzt. Dann kam Frank zurück, und wir fuhren weiter. Einen Augenblick lang hoffte ich, der Wagen würde das Untier überfahren und ins Jenseits beför dern. Das war natürlich Nonsens, Halluzinationen kann man nicht töten.“ „Es gibt Entziehungskuren“, wendet Opolsky ein und trinkt sein Glas aus. Er winkt dem Kellner und zahlt. „Was raten Sie mir?“ frage ich.
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„Ich würde dir raten, übergib die ganze Sache der Polizei. Du hättest das sofort tun sollen. Die Rolle des Anwalts beginnt erst, wenn jemand angeklagt ist.“ „Aber ich kann doch selbst angeklagt werden.“ „Schon möglich, aber noch ist es nicht soweit, noch hast du die Chance, daß sie jemand andern verdächti gen.“ „Zum Beispiel Sie.“ „Du wirst mich verteidigen, und zwar umsonst – im Angedenken an deinen verstorbenen Vater.“ Opolsky erhebt sich und stakst taperig die Straße hinunter, ich gehe zum Taxistand und lasse mich in die Sonnenal lee, zum Kriminalverlag fahren.
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VI
Der Kriminalverlag hat sich in einer Dreizimmerwoh nung im zweiten Stock eines schmuddligen Mietshau ses einquartiert. Gleich im ersten Zimmer sitzt das Verwaltungsper sonal, dahinter liegt das Redakteurzimmer (augen blicklich steht es leer) und am Ende Gustavs Chefzim mer. Von der Wand hinter Gustavs Sessel starrt in über dimensionaler Größe ein leichenblasses, von einem dämonischen Krampf verzerrtes Gesicht; rotes Blut rinnt aus einem Mundwinkel. Unten die Aufschrift „Stu fen zur Guillotine“, darüber, in kleineren Typen: St. W. Melton. Es ist, mehrfach vergrößert, der Umschlag des Buches, das die „Blaue Bibliothek“ berühmt gemacht und Rekordauflagen erzielt hat. Die Gestalt Gustavs hinter dem Schreibtisch steht zu diesem Bildwerk in denkbar größtem Kontrast. In der Schule nannten wir Gustav „Klößchen“. Ich finde ihn in Gesellschaft einer vollschlanken, äl teren Dame, die sich gerade verabschiedet. Dann sind wir allein. „Agatha Christie?“ frage ich mit einer Kopfbewegung zur Tür, durch die die Dame verschwunden ist. „So ungefähr“, sagt Gustav, „nur leider ohne Talent. Sie hat Einfälle, aber die gehen in einem Meer von Ge schwätzigkeit unter, dabei stemmt sie sich hartnäckig gegen eine Überarbeitung. Eine lästige Person. Sie hat acht Manuskripte bei uns eingereicht, es ist an allen was dran, man müßte freilich erst was draus machen, alles neu schreiben, und man weiß ja nie, ob sich das 86
bezahlt macht – vorausgesetzt, daß sie überhaupt einwilligt. Ich habe die Dame Frank zu verdanken.“ „Wahrscheinlich hat er sie in ihrer Überzeugung be stärkt, daß sie ein Genie ist, und dann hat er sie dir zusammen mit den Früchten ihrer Schreibkunst als Er be hinterlassen. Frank ist zu mitfühlend, er bringt es nicht fertig, jemandem ins Gesicht zu sagen: ,Sie lei den an Graphomanie.’ Ein weiches Herz ist eben ein schweres Gebrechen im Leben, findest du nicht?“ „Frank hat ja längst nicht mehr im Verlag gearbei tet, als die Dame ihre schöpferische Ader entdeckte. Aber Tatsache ist, daß er uns die Sache eingebrockt hat. Die Dame brachte ihr Erstlingswerk nämlich nicht zu uns, sondern ins Filmstudio – in der Überzeugung, sie hätte ein geniales Drehbuch geschrieben. Sie geriet an den braven Frank, der dort gerade erst angefangen hatte – er war kurz zuvor aus dem Verlag ausgeschie den. Der redete ihr ein, daß sich der Stoff zwar nicht für einen Film eigne, daß er aber eine ausgezeichnete Vorlage für einen Roman abgeben würde. Und wo schickte er sie hin? Natürlich zu mir, in den Kriminal verlag. Mit einem Empfehlungsschreiben, in dem er sich in Lobeshymnen auf die Begabung der Dame er ging. Kein Wunder, daß sie nun steif und fest an ihre Berufung glaubt – seit zwei Jahren liegt sie mir in den Ohren, wann wir nun endlich ihre Werke veröffentli chen. Trinkst du was?“ Ich sage nicht nein. Gustav nimmt eine Flasche und einen Pappbecher aus dem linken Schreibtischfach und gießt für mich ein. Nachdem ich den Becher geleert habe, schenkt er sich selbst ein und trinkt.
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„Ich habe ein Alibi für dich“, beginne ich. „Es fiel mir ein, als ich mich mit Opolsky unterhielt.“ „Der lebt noch?“ staunt Gustav. „Er lebt und ist noch unsympathischer geworden. Hör mal, was ich mir ausgedacht habe. Du täuschst einen Selbstmord der Tante vor – Leuchtgasvergiftung, wie ich es dir vorgeschlagen habe. Zuvor aber be schaffst du dir ein Alibi. Jetzt paß auf, das Alibi ist nämlich unerhört raffiniert: Gleich nach dem Abendes sen mit deiner Tante triffst du dich mit einem Freund in der Kneipe, ihr genehmigt euch einen und dann noch einen. Um Mitternacht verlaßt ihr das Lokal, es ist Polizeistunde. Dein Freund ist schon ganz schön angegangen, er will noch mehr haben. Du bringst ihn in die Wohnung eines deiner Bekannten, der, sagen wir, Bill heißt. Bill ist übers Wochenende weggefahren und hat dir seinen Wohnungsschlüssel dagelassen mit der Erlaubnis, von seiner Hausbar Gebrauch zu ma chen. Bills Wohnung liegt weit weg von der Kneipe und noch weiter weg von der Wohnung der Tante. Du bringst den Freund mit deinem Wagen hin. Zumindest behauptest du, daß du ihn dorthin bringst, in Wirklich keit fährst du ganz woanders hin, was der Freund aber nicht merkt, weil er voll ist, außerdem ist es dunkel, Nebel, nichts zu erkennen. Er glaubt, ihr steigt in der Aurikelstraße aus, in Wirklichkeit haltet ihr in der Sie gesallee, vier Schritte von der Wohnung der Tante ent fernt. Du gehst mit ihm hinauf, angeblich in Bills Woh nung, in Wirklichkeit aber in eine ganz andere Woh nung, und dort sauft ihr weiter. Irgendwann tust du so, als müßtest du dich übergeben. Du sagst, du gehst ins Badezimmer, verläßt unbemerkt die Wohnung, läufst zur Tante, drehst den Gashahn auf, kommst zu 88
rück. Alles zusammen hat fünf Minuten gedauert, dein Freund ist überzeugt, daß du Bills Wohnung überhaupt nicht verlassen hast, und wird das mit reinem Gewis sen bezeugen.“ „Zu künstlich“, meint Gustav. „Räumen wir einmal ein, ich finde einen Bill, der irgendwo an einem ent fernten Punkt der Stadt wohnt und mir für einen Tag seinen Wohnungsschlüssel überläßt; räumen wir weiter ein, ich gehe vor dem Abendessen in Bills Wohnung und nehme die Flaschen aus der Hausbar; räumen wir auch noch ein, daß ich gegen Morgen, nachdem ich mich von dem Betrunkenen getrennt habe, die leeren Flaschen in Bills Wohnung bringe und die Kippen nebst Asche in die Aschenbecher schütte, so daß Bill nach seiner Rückkehr annehmen muß, daß in seiner Jung gesellenbude eine Orgie stattgefunden hat, und unsere Aussagen bestätigen kann – alles in Ordnung, das schluckt der Leser noch. Aber ich werde ihn nicht da von überzeugen können, daß mir in einer Nacht zwei leere Wohnungen zur Verfügung standen, die oben drein so günstig gelegen sind.“ „Aber wieso“, widerspreche ich, „natürlich hattest du zwei Wohnungen: die von Bill und deine eigene. Da du das Verbrechen schon seit langem geplant hast, bist du bereits zwei Jahre zuvor in die Nähe der Tante um gezogen – nichts einfacher als das. Und in dieser dei ner Wohnung findet das Saufgelage statt. Genial, was?“ „Nicht ganz“, zweifelt Gustav. „Die Polizei kann sich von diesem Freund die Wohnung beschreiben lassen, in der wir gefeiert haben. Selbst wenn man voraus setzt, daß er niemals vorher bei Bill oder bei mir ge wesen ist und in der fraglichen Nacht betrunken war, 89
so würde er sich doch an irgendeine Einzelheit erin nern, sagen wir an blaue Gardinen, wodurch die Polizei darauf aufmerksam würde, daß es nicht Bills Wohnung war. Was machst du dann? Du wirst dem Leser nicht einreden wollen, daß ich meine Wohnung genauso wie Bills eingerichtet habe, im übrigen käme die Polizei so fort dahinter.“ „Das habe ich einkalkuliert. Wenn du mit deinem Freund Bills (das heißt deine) Wohnung betrittst, stellst du fest, daß die Sicherung durchgebrannt ist. Ihr werdet beim Schein eines Kerzenstummels sitzen, dein Freund wird nichts weiter sehen als ein Stück Tischtuch, die Flaschen und die Gläser. Im Dunkeln ist eine Wohnung wie die andere.“ „Es genügt schon, daß dieser Freund nur die Kerze, den Leuchter, das Tischtuch beschreibt. Die Polizei stöbert Bills Wohnung durch und findet nichts derglei chen, dafür entdeckt sie das Gesuchte bei mir.“ „Das Gesuchte wird bei Bill sein“, unterbreche ich. „Am Vortag, an dem du die Flaschen aus Bills Woh nung geholt hast, hast du auch das Tischtuch und die Kerze samt Untersatz mitgenommen, die Bill auf dem Küchenschrank stehen hat, und alles zu dir überführt. Gegen Morgen bringst du dann die leeren Flaschen, das fleckige Tischtuch und den Kerzenstummel in Bills Wohnung zurück, und bei der Gelegenheit fabrizierst du dort einen Kurzschluß, so daß Bill nach seiner Rückkehr die durchgebrannte Sicherung vorfindet. Ist doch ganz einfach.“ Gustav versinkt für geraume Weile in Nachdenken. Allmählich hellt sich sein pausbäckiges Gesicht auf. „Aber das ist ja… das ist der perfekte Mord!“ schreit er begeistert. 90
„Andere begehe ich nicht.“ „Ja, aber wie soll denn nun der Kommissar das Gan ze aufklären?“ fängt Gustav wieder zu nörgeln an. „Das ist deine Sache. Schließlich schreibst du den Roman und nicht ich. Gieß mir noch einen ein.“ „Das war der Rest“, sagt Gustav beim Einschenken. „Was meinst du dazu, wenn der Mörder in der Woh nung seiner Tante einen Schnürsenkel verliert?“ „Warum nicht gleich die Hosen? Hältst du die Leser für Idioten?“ „Na, dann laß ich mir eben was anderes einfallen… Wie wäre es, wenn der Kommissar dem Mörder eine Jacke gibt, die er angeblich der toten Tante ausgezo gen hat, und ihn fragt, wonach sie seiner Meinung nach rieche. Der Mörder sagt ,nach Gas’, bevor man ihn überhaupt vom Tod seiner Tante in Kenntnis ge setzt hat. Und damit ist er ‘reingefallen, denn der Kommissar hat die Jacke von einer Nachbarin ausge liehen, und in Wirklichkeit riecht sie nach Mottenpul ver. Gut, was?“ „So gut, daß wir’s schon mal hatten: im »Tödlichen Teekessel’, erinnerst du dich?“ „Na, dann wird sich eben herausstellen, daß der Mörder kurz zuvor hohe Schulden gemacht hat – in Erwartung der Erbschaft.“ „Das war in ,Stufen zur Guillotine’.“ „Ich hab’s! In der betreffenden Nacht hat es doch geregnet, nicht wahr? In Bills Wohnung aber finden sich keine schmutzigen Fußstapfen, das hat der Mörder übersehen.“ „Das hatten wir in ,Gebt mir einen Strick’. Ich würde vorschlagen, der Freund macht irrtümlich falsche An gaben, der Mörder wird durch die Ironie des Schicksals 91
zur Strecke gebracht. Der Freund, der als idealer Zeu ge vorgesehen war, sagt völlig unerwartet aus, unser Held habe ihn im Laufe der Nacht für ein, zwei Stun den allein gelassen. Er macht diese Aussage, weil sei ne Erinnerungsbilder unter dem Einfluß des Alkohols durcheinandergeraten sind, er selbst ist davon über zeugt, daß sein Zechkumpan wirklich so lange nicht in der Wohnung gewesen ist. Infolgedessen wird der Mörder auf Grund eines falschen Indizienbeweises we gen eines tatsächlich begangenen Verbrechens verur teilt. Das ist sehr modern.“ „Meinst du, der Leser nimmt uns ab, daß man durch Alkoholgenuß bis zu diesem Grade das Gedächtnis ver lieren kann?“ „Ich habe es gestern am eigenen Leibe erfahren. Heute versuche ich krampfhaft, mich an alles zu erin nern, was gestern passiert ist, und immer bleiben noch Lücken.“ „Die kann ich dir zum Teil ausfüllen“, sagt Gustav. „Ich nehme natürlich nur das auf meine Kappe, was bis neun Uhr geschehen ist, als wir uns vor Franks Haustür trennten. Was weiter war, weiß ich nicht.“ „Das hat mir Frank schon alles erzählt. Was war also bis neun?“ „Du willst doch wohl nicht behaupten, daß du dich nicht mehr daran erinnerst, wie ich dir in deiner Woh nung den Romanentwurf vorgelesen habe, über den wir hier seit einer halben Stunde debattieren. Das wirst du doch noch wissen.“ „Wie spät war es, als du zu mir kamst?“ „Sechs. Um halb sieben fing ich an vorzulesen. Kurz nach halb neun war ich fertig. Die ganze Zeit haben wir uns nicht vom Fleck gerührt. Dann brachte ich dich 92
zu Frank, unterwegs diskutierten wir über die ver schiedenen Methoden, wie man die Tante umbringen könnte, du warst so gütig, meine Idee für idiotisch zu erklären, und versprachst, dir was anderes auszuden ken. Gasvergiftung ist tatsächlich besser, das muß ich zugeben. Und das Alibi erst – einfach Klasse. Ich bin dir sehr zu Dank verpflichtet.“ „Das Alibi habe ich mir eben erst einfallen lassen. Hat jemand bei mir in der Wohnung angerufen, als du beim Vorlesen warst? Denk mal scharf nach.“ „Um sieben herum hat Maya angerufen, ich hab’ ihr gesagt, sie soll uns nicht stören, und aufgelegt.“ „Daran erinnere ich mich noch. Und sonst, hat sonst niemand angerufen?“ „Nein, wieso?“ „Ganz sicher nicht?“ „Nein, bestimmt nicht. Erst als ich mit dem Lesen zu Ende war, telefonierten wir mit Frank. Das war gegen halb neun.“ „Weißt du noch, worüber ich mit Frank gesprochen habe?“ „Worüber wohl? Daß du Durst hast. Frank versuchte, Ausflüchte zu machen, schließlich ließ er sich breit schlagen und meinte, du könntest hinkommen und austrinken, was er im Hause hat. Du versprachst, so fort zu erscheinen. Dann nahm ich dir den Hörer aus der Hand und fragte Frank, ob er einverstanden sei, daß ich sein Drehbuch zu ,Viertakter’ als Roman he rausbringe. Frank gab mir zur Antwort, vom Kriminal verlag habe er bis an sein Lebensende genug nach den fünf Jahren, die er dort mit dem Verbessern schlecht geschriebener Manuskripte zugebracht hat, und jetzt habe er keine Zeit zum Umarbeiten. Darauf teilte ich 93
ihm mit, daß ich die Umarbeitung bereits selbst be sorgt habe, er brauche sie nur noch zu autorisieren und die Hälfte des Honorars einzustreichen, ein Bom bengeschäft für ihn. Frank gab mir zu verstehen, wenn er noch am gleichen Abend das Manuskript zur Einsicht und einen Vertrag über achtzig Prozent Honoraranteil erhielte, würde er sich vielleicht bereit finden, den ,Viertakter’ im Kriminalverlag erscheinen zu lassen statt in einer Zeitung, die ihm eben dieses Angebot gemacht hätte. Ich eröffnete ihm, ich hätte das Manu skript und den Vertrag bei mir und würde ihm beides durch dich mitschicken, nachdem ich die fünfzig in sechzig Prozent geändert hätte. Damit beendeten wir das Gespräch. Ich korrigierte den Vertrag, wir gingen. Unterwegs unterhielten wir uns über den Mörder und seine Tante, vor Franks Haus gab ich dir den Vertrag und ein Exemplar der Romanfassung, dann verab schiedeten wir uns. Ich möchte über jede Summe mit dir wetten, daß Frank das Manuskript keines Blickes gewürdigt hat.“ „Ich kann mich nicht erinnern, daß er darin gelesen hätte, er warf es in die Schublade. Aber in die Veröf fentlichung wird er schon einwilligen, da sei unbe sorgt.“ „Das will ich wohl meinen“, mault Gustav, „sechzig Prozent für nichts und wieder nichts sind schließlich kein Pappenstiel.“ „Nur ruhig Blut, du wirst schon auch daran verdie nen, um den Erfolg dieses Schmökers ist mir nicht bange.“ „Erlaube mal, das ist ein ausgezeichneter Roman“, protestiert Gustav.
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„Ich habe den ganzen Anfang umgearbeitet, die Handlung beginnt im Zoo…“ „Auf den Inhalt bin ich nicht neugierig, ich habe an dere Sorgen, mach’s gut.“ Ich lasse die verstaubte Zimmerflucht des Verlages hinter mir, nehme ein Taxi und fahre zu Opolskys Wohnung.
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VII
Ich muß dreimal klingeln, ehe Opolsky sich entschließt zu öffnen. Bei seinem Anblick verschlägt es mir die Sprache. Opolsky hat ein Damenkleid an: grüne Seide mit weißen Punkten, locker geschneidert, mit einem Spitzenkragen – seit zwanzig Jahren aus der Mode. Unter dem Kleid schauen seine dürren, bestrumpften Waden hervor, die Füße in abgetragenen Pantoffeln. Zwischen den Zähnen seines künstlichen Gebisses steckt die erloschene Pfeife. Er hält eine Zeitung un term Arm. „Komm ‘rein“, sagt er. „Du wolltest sicher nachprü fen, ob ich nicht doch zufällig Telefon habe. Bitte sehr, überzeug dich.“ Opolsky führt mich ins Arbeitszimmer, mit einer Handbewegung zeigt er zur offenen Schlafzimmertür. Ich brauche gar nicht nachzuschauen, schon auf der Straße habe ich mich davon überzeugt, daß vom Tele fonmast keine Leitung zur Villa abzweigt. Opolskys Wohnungseinrichtung ist solide, ja wohl habend. Doch man hat den Eindruck, daß der ganze schöne Besitz schon seit langem zu nichts mehr nütze ist. Niemand macht es sich in den Ledersesseln be quem, niemand liest von der Empire-Uhr die Zeit ab, niemand öffnet die verglasten Schranktüren und nimmt eins der in Leder gebundenen Bücher heraus, niemand arbeitet an dem geschnitzten Schreibtisch, niemand betrachtet die Gemälde, unter denen übri gens das Porträt einer jungen Frau ist, die nach der Mode von vor vierzig Jahren gekleidet ist. Der Maler hat sich alle Mühe gegeben, trotzdem wirkt ihr Gesicht reizlos und gewöhnlich. Auf dem Bücherbord über dem 96
Schreibtisch steht eine gerahmte Fotografie der glei chen Dame, nur aus späteren Jahren. Auf der Fotogra fie hat die Frau dasselbe gepunktete Kleid an, dessen Original Opolsky augenblicklich als Hauskittel dient. Offensichtlich trägt der Alte die Kleider seiner verstor benen Frau auf, sei es nun aus Sparsamkeit oder aus Kauzigkeit. „Wenn du mit mir reden willst, komm in die Küche, der Griesbrei brennt mir sonst an“, sagt Opolsky. Die Küche scheint der einzige bewohnte Raum in der ganzen Wohnung zu sein. In der Mitte steht ein Schaukelstuhl mit geflochtener Lehne, auf dem Fußbo den sind Zeitungen und beschriebene Zettel verstreut. Hier hält sich Opolsky offenbar auf, wenn er zu Hause ist. Im Ausguß stapeln sich abgewaschene Töpfe und Teller. Auf dem Gasherd kocht in einer Kasserolle der Griesbrei. Opolsky rührt mit einem Löffel um, nimmt die Kasserolle von der Flamme, dreht das Gas aus. Er läßt sich in den Schaukelstuhl fallen und bietet mir den Küchenhocker an. „Ich habe über deine Geschichte nachgedacht“, sagt Opolsky. „Eins ist mir noch unklar: Wie war das mit dem Schlüssel?“ „Ich sagte es schon. Wie Sie wissen, liegt der Er satzschlüssel zur Kanzlei, der auch zu meiner Woh nungstür paßt, immer in der Nische unter dem Feuer löschschlauch. Der Jemand, mit dem die bewußte Da me telefoniert hat, forderte sie auf, sich die Tür mit dem Schlüssel zu öffnen und in der Kanzlei zu warten. Und das tat die Frau.“ „Aber Nusio war noch vor ihr da. Wie ist der denn hineingekommen?“ 97
„Genauso. Er hörte das Gespräch mit an, ging hin auf, nahm den Schlüssel aus der Nische und öffnete das Schnappschloß.“ „Und dann legte er den Schlüssel wieder in die Ni sche zurück? Das ist wenig wahrscheinlich. Wenn er kam, um zu stehlen, dann ließ er den Schlüssel nicht draußen, sondern nahm ihn mit und schloß die Tür von innen zu, damit ihn niemand überraschen konnte. Und wenn das so ist, auf welche Weise gelangte dann die Frau in die Kanzlei?“ „Vielleicht hat er den Schlüssel mitgenommen, ver gaß aber, die Tür zuzuklappen? Die Frau fand zwar den Schlüssel nicht, doch dafür war die Tür offen. Der nächste, der sich einstellte, also der Mörder, fand die Tür ebenfalls offen, oder aber, wenn die Frau sie ge schlossen hatte, klopfte er, und sie ließ ihn ein, sie war ja mit ihm verabredet. Zu dem Zeitpunkt lebte Nusio entweder nicht mehr (wenn nämlich die Frau ihn er schossen hat), oder aber er lebte noch und wurde von der ersten Kugel getötet, die ihr Ziel verfehlte – wenn man voraussetzt, daß die Frau in der Kanzlei ermordet worden ist und daß der Mörder erst später ihre Leiche in meine Wohnung brachte.“ „Ich glaube nicht, daß Nusio den Schlüssel mitge nommen und vergessen hat, die Tür zu schließen. Und ich glaube auch nicht, daß er den Schlüssel, nachdem er die Tür geöffnet hatte, in die Nische zurückgelegt hat, damit ihn der nächste Besucher benutzen konnte. Und weiter glaube ich nicht, daß er aufgemacht hätte, falls die Frau geklopft hätte. Das Ganze muß sich an ders abgespielt haben.“ „Sie haben recht. Aber wie?“
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„Wer hat noch so einen Schlüssel? Wie viele Schlüs sel existieren überhaupt?“ „Ach, mindestens fünf. Einen davon besitzen Sie.“ Opolsky wirft einen Blick auf seinen Schlüsselbund, der auf dem Fensterbrett liegt. Ich schaue genau hin und erkenne unter mehreren Schlüsseln auch den mir bekannten. „Tatsächlich“, meint Opolsky gleichmütig. „Möchte wissen, wozu ich den mit mir herumschleppe. Und wer hat noch einen?“ „Den zweiten besitze ich, den dritten meine Sekretä rin, der vierte liegt unter dem Feuerlöschschlauch. Den fünften hat die Aufwartung. Wenn sie ihren vergißt, nimmt sie den aus der Nische.“ „Kommt die Aufwartung jeden Tag?“ „Ja. Früh räumt sie die Kanzlei auf, und gegen neun fängt sie in der Wohnung an.“ „Hat sie heute früh auch die Kanzlei aufgeräumt?“ „Vermutlich. Ich habe sie nicht gefragt.“ „Dann müßte sie doch den toten Nusio hinter der Gardine gefunden haben.“ „Das ist nicht gesagt, sie ist ziemlich nachlässig. Vielleicht hat sie gar nicht hinter den Vorhang geguckt. Dagegen wird sie wohl alle Spuren verwischt haben, die der Mörder möglicherweise hinterlassen hat: Ziga rettenstummel, Fingerabdrücke…“ „Du glaubst an Fingerabdrücke?“ fragt Opolsky iro nisch. „Jedenfalls könnte es sein, daß sie irgendwas be merkt hat, ich werde sie aushorchen.“ „Und wer außer dir, mir, der Aufwartung und der Sekretärin weiß von dem Schlüssel unter dem Feuer löschschlauch?“ 99
„Alle meine Freunde, also ein gutes Dutzend Perso nen. Oft kommt einer in meiner Abwesenheit, schließt sich die Wohnungstür auf und wartet, oder er geht wieder, wenn es ihm zu lange dauert, und legt den Schlüssel ins Versteck zurück. Außerdem weiß noch der Portier davon, sicher auch die Nachbarn. Heute früh zum Beispiel kam die grauhaarige Frau aus der Wohnung nebenan dazu, wie ich gerade den Schlüssel herausnahm oder hineinlegte, ich habe ihn nämlich der neuen Sekretärin gezeigt. Auf diese Weise hätten mich auch noch andere beobachten und von dem Versteck erfahren können.“ „Wenn es sich so verhält, hilft dir der Schlüssel nicht weiter“, meint Opolsky, „da käme ja die halbe Stadt in Frage. Jetzt etwas anderes: Wer ist diese grauhaarige Nachbarin?“ „Keine Ahnung, ich habe zuvor nie mit ihr gespro chen. Sie heißt Geraldine oder so.“ „Hildegard“, verbessert Opolsky. „Ja richtig, Hildegard… Woher wissen Sie denn das, ich habe doch eben ihren Namen gar nicht genannt, soweit ich mich erinnere.“ Ich blicke Opolsky prüfend an. „Nein, hast du nicht, es war eine Vermutung von mir.“ „Sie kennen sie?“ „Ich kannte sie früher, sie hat schon immer in Nummer sechs gewohnt.“ „Das kann nicht stimmen. Ich weiß genau, daß die Wohnung früher leer stand. Erst seit einem halben Jahr sehe ich die Grauhaarige manchmal. Sie müssen eine andere Frau meinen.“
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„Ist sie groß und schlank? Blaue Augen? Locken bis auf die Schultern?“ „Nein, eher füllig, farblose Augen, die Haare kurz und zottlig – keine Spur von Locken.“ „Zu meiner Zeit hatte sie Locken“, sinniert Opolsky. „Sie wohnte in Nummer sechs, dann verschwand sie, ohne eine Adresse zu hinterlassen. Ich wußte nicht, daß sie in denselben Stall zurückgekehrt ist.“ „Ja, Stall ist das richtige Wort. Der Frau geht es schlecht, sie haust wie Diogenes.“ „Sie war mal eine begabte Pianistin, obwohl ihr Spiel zu exaltiert war, um wirklich gut zu sein.“ „Das würde passen, sie sieht mir ganz nach einer Verrückten aus. Jedenfalls spielt sie nicht mehr, ich habe kein Klavier bei ihr bemerkt.“ „Wahrscheinlich hat sie es verkauft, als sie verreiste. Sie brauchte das Geld zur Flucht. Möchte wissen, wo von sie all die Jahre gelebt hat.“ „Weshalb ist sie geflohen? Hat sie was verbrochen?“ „Ja, das hat sie“, nickt Opolsky. „Sie hat sich in ei nen verheirateten Mann verliebt und ist auf ihn he reingefallen. Dummheit ist ein Verbrechen.“ „Er hat ihr versprochen, er würde sich scheiden las sen, und hat’s dann nicht getan, wie?“ „Sie hätte schließlich wissen müssen, daß kein Mensch solche Versprechungen hält. Aber deshalb mußte sie ja nicht gleich weglaufen und vor die Hunde gehen, nicht wahr?“ „Ich weiß nicht. Das muß ja ein schönes Schwein gewesen sein, dieser verheiratete Liebhaber.“ „Da hast du recht“, brummt Opolsky und saugt grimmig an seiner kalten Pfeife. Er sieht in diesem Au genblick noch älter aus als sonst. 101
„Ich gehe schon“, sage ich. „Und entschuldigen Sie den Überfall.“ Opolsky winkt nachsichtig ab. „Ich werde dich nicht zur Tür begleiten, du findest den Weg wohl allein.“ Ich verlasse Opolskys Wohnung, halte ein Taxi an und fahre zu Frank. Hoffentlich hat das wiedervereinte Ehepaar inzwischen zu Mittag gespeist und ein paar Minuten Zeit für mich. Ich treffe die beiden in Franks Arbeitszimmer. Einen so vollgestopften Raum wie diesen habe ich nirgends sonst gesehen. Es stehen nicht einmal viele Möbel drin, dafür liegen überall auf dem Fußboden und auf den Sesseln Zeitschriften, Manuskripte, Fotos, Schnellhefter herum. Wanda wagt es nicht, hier aufzu räumen, nur ab und zu geht sie einmal oberflächlich mit dem Staubsauger durch das Archiv. Die Schmidts sitzen links und rechts vom Schreibtisch in zwei Ses seln, den einzigen, die nicht mit Papieren überhäuft sind. Ich bin also gezwungen, mich auf den Jahrgän gen einer Filmzeitschrift niederzulassen, die unter dem Fenster aufgestapelt sind und eine Art Bank bilden. Die Stöße ungebundener Hefte schwanken bedenklich un ter meinem Gewicht, aber sie halten. Wanda hat etwas Weißes aus der Hand gelegt, sie schaut mich besorgt und ängstlich an wie jemanden, der von der Pest ge zeichnet ist. „Frank hat mir alles erzählt“, sagt sie. „Was wirst du tun?“ „Ich weiß noch nicht… Du glaubst doch wohl nicht, daß ich zwei Menschen umgebracht habe? Übrigens ist Frank Zeuge, daß ich nicht der Täter bin. Aber ich werde vermutlich Unannehmlichkeiten haben.“ 102
„Falls du zufällig zum Tode verurteilt werden soll test, bin ich bereit, dir vor der Hinrichtung einen letz ten Wunsch zu erfüllen“, lächelt Wanda. Frank runzelt die Stirn, er mag keine Scherze über so ein Thema. „Wenn’s so ist, dann sehne ich mich nach dem To desurteil. Ich fürchte nur, es wird nicht dazu kommen, die Sache wird sich früher oder später ganz simpel und prosaisch aufklären.“ „Hast du was herausgebracht?“ erkundigt sich Frank. Ich erzähle ihnen von dem verklemmten Telefonau tomaten und von dem Zwanzigfrancstück, das der Me chaniker darin fand, woraus ich schloß, daß die Ermor dete aus der Bar angerufen hat. Ich resümiere das Te lefongespräch, dessen Zeugin das Servierfräulein war, und berichte, wie ich erfuhr, daß die zweite Leiche zu Lebzeiten Zahnlücken-Nusio war, ich spreche von mei nen Verdächtigungen gegen Opolsky, der aber wohl unschuldig ist, und schließlich davon, daß ich ein Alibi seit sechs Uhr abends habe, das ich Gustav verdanke. Dagegen verschweige ich vorerst mein Rendezvous mit Maya; ich fürchte, das könnte ein zu heikles Thema sein in Anbetracht der Ereignisse der letzten Nacht, über die Wanda sehr böse ist, wie mir Frank heimlich zu verstehen gab – lassen wir diese Dinge also lieber auf sich beruhen. Schließlich erwähne ich noch (worauf mich Opolsky aufmerksam gemacht hat), daß einer der vielen rätselhaften Punkte die Sache mit dem Schlüssel ist: Wer hat ihn benutzt und in welcher Rei henfolge; haben sich alle ein und desselben Schlüssels bedient, oder waren zwei oder sogar drei im Spiele? „Darüber braucht man sich gar nicht erst den Kopf zu zerbrechen“, wirft Frank ein. „Wie Opolsky richtig 103
bemerkt hat, bringt dich der Schlüssel nicht weiter. Ich vermute, Nusio hat überhaupt keinen benutzt. Er hat von dem Ersatzschlüssel nichts gewußt, denn in dem Augenblick, als die schwarzgekleidete Frau davon sprach, servierte er gerade im Saal. Er hörte nur etwas von einem wertvollen Depot, ging hinauf und brach auf ganz gewöhnliche Weise mit einem Dietrich ein. Hast du keinen Dietrich bei ihm gefunden?“ „Ich habe ihn nicht durchsucht. Vielleicht hast du recht, das wäre die einfachste Lösung, allerdings zeigt die Tür keine Spuren von einem gewaltsamen Ein bruch.“ „Und ist es ihm gelungen, den Tresor zu öffnen und dieses Wertstück herauszunehmen, was meinst du?“ fragt Wanda. „Nein. Vielleicht hat er es versucht, aber gelungen ist es ihm nicht, die Zeit hat ihm nicht ausgereicht. Der Tresor ist seit mindestens sechs Jahren verschlos sen, und ganz sicher hat ihn in der letzten Zeit nie mand geöffnet.“ „Vielleicht hat er ihn doch aufgekriegt, den Inhalt herausgenommen und die Tür wieder zugemacht?“ überlegt Wanda. „Ausgeschlossen, ich habe mich überzeugt. Wie ihr wißt, ist meine Putzfrau ziemlich nachlässig. Seit ei nem Monat hängt nun schon ein Spinnennetz zwischen der Oberkante des Tresors und der Tür. Ich mache kein Aufhebens davon, was stört mich das Spinngewe be. Heute früh, als ich erfuhr, daß Nusio Geldschrank knacker war, warf ich einen Blick auf den Tresor und fand mein Spinnennetz unberührt. Vielleicht hat Nusio versucht, die Wählscheibe zu drehen oder das Schloß mit einem Werkzeug zu bearbeiten, die Tür hat er je 104
denfalls nicht geöffnet, er wurde vorher vertrieben. Übrigens glaube ich nicht, daß das Tresorschloß so leicht zu bewältigen ist, diese alten Stahlschränke sind solide.“ Das Telefon läutet. Frank spricht eine Weile, dann legt er auf und seufzt. „Ich muß ins Studio. Mein Assistent kommt nicht zu recht.“ „Dein Assistent hat eine Damenstimme und eine so hervorragende Aussprache, daß ich von hier aus jedes Wort hätte verstehen können, wenn ich nicht zu dei nem Glück diskret wäre und angestrengt an etwas an deres gedacht hätte“, sagt Wanda. Sie hat eine ernste Miene aufgesetzt, hält es aber nicht lange durch und lächelt Frank an, der dankbar zurücklächelt. „Du hast recht, Sherlock Holmes, es war nicht mein Assistent, sondern Maya. Aber aus ihren Worten schließe ich, daß der Assistent seine liebe Not mit ihr hat, ich habe also nicht gelogen.“ „Dazu ist sie schließlich ein Star, um sich Allüren lei sten zu können.“ „Mäkelt sie immer noch an deinem Dialog herum?“ erkundige ich mich. „Wieso am Dialog?“ fragt Frank. „Sie hat doch, denke ich, verlangt, daß du den Dia log in der Szene mit den Kanarienvögeln änderst.“ „Davon weiß ich nichts. Diesmal gefällt ihr das Ko stüm nicht.“ Frank nimmt seinen Hut von einem Stapel Zeitungs ausschnitte. „Ich kann dich mitnehmen und irgendwo absetzen“, schlägt er vor.
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„Danke, ich bleibe noch ein Weilchen. Aber ich möchte mich später irgendwo mit dir treffen, wir ha ben immer noch nicht alles besprechen können.“ „In einer Stunde bin ich bei dir im Büro, okay?“ Wanda begleitet ihn hinaus. Ich beschließe, von den Zeitschriftenstapeln auf den frei gewordenen Sessel überzusiedeln, und stemme mich hoch. Dabei gerät ein Stoß ins Rutschen, die Hefte überfluten den Fußboden bis zur Zimmermitte, ich verliere das Gleichgewicht und lande auf allen Vieren. Aus der Froschperspektive entdecke ich unter dem Fenster, zwischen Zeitungs stößen und Wand, etwas Blankes auf dem Boden: ei nen goldenen Lippenstift. Ich hebe ihn auf, setze mich in den Sessel, drehe den Schminkstift heraus und wie der hinein und stecke ihn dann gedankenlos in die Ta sche. Wanda kommt mit einem dunkelblauen Pullover in der Hand zurück. Sie präsentiert ihn mir mit ausge streckten Armen. Auf der Vorderseite prangt ein hand tellergroßes norwegisches Muster. „Hier hast du die Früchte meines Liegestuhllebens in Bandol“, sagt sie. „Ein prächtiger Skipullover für dich. Probier ihn mal an.“ Der Pullover kneift unter den Achseln und würgt am Hals. Ich kann Dunkelblau ebensowenig leiden wie norwegische Muster, abgesehen davon fahre ich nicht Ski. Wanda tritt drei Schritte zurück, neigt den Kopf zur Seite und betrachtet entzückt ihr Werk. „Er ist noch nicht ganz fertig. Aber er steht dir wunderbar. Sieh dich mal im Spiegel an.“ „Auf jeden Fall ist er warm“, sage ich. „Im Gefängnis werd’ ich ihn gebrauchen können.“
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Mit Mühe schäle ich mich wieder heraus. Wanda trägt den Pullover an seinen Platz zurück, dann setzt sie sich mir gegenüber, nimmt das Hemd auf die Knie, das sie bei meinem Eintritt beiseite gelegt hatte, tränkt ein Läppchen mit Fleckenwasser und bearbeitet damit den Kragen. „Ich muß hier im Schweiße meines Angesichts die Spuren eurer schändlichen Orgie beseitigen“, stöhnt sie. „Wieso Orgie?“ winke ich ab. „Es war ein ganz harm loses fröhliches Beisammensein.“ „Wie kommt dann der Lippenstift auf Franks Hemd? Du hast keine Ahnung, wie schwer so was ‘rausgeht.“ Sie hält mir den Hemdkragen mit den Lippenstiftspu ren unter die Nase. „Wenn du wüßtest, wie sich alles abgespielt hat, würdest du dir keine grauen Haare wachsen lassen“, beruhige ich sie. „Wir haben weiter nichts getan als ein bißchen Schnaps getrunken, dann kam noch ein Nach bar mit einer Flasche Kirschwasser und seiner ver schlafenen Gemahlin, die durch einen abgetragenen Morgenrock und Lockenwickler glänzte. Frank tanzte ein paar Takte mit ihr, und dabei hat ihm die unge schickte Person Lippenstift an den Kragen geschmiert – es ist wirklich kein Grund zur Aufregung.“ „Sie hatte Lockenwickler auf dem Kopf und war ge schminkt? Das glaub’ ich dir nicht.“ „Sie hatte Lockenwickler und war nicht geschminkt. Ich selbst habe sie ins Bad geführt, die Lockenwickler entfernt und sie mit Lippenstift bemalt – der Stift stand offen auf dem Brett.“
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„Das ist wirklich Mayas Farbton“, gibt Wanda zu. „Aber war es nicht vielleicht Maya selbst, die meinen Mann mit Lippenstift beschmiert hat?“ „Das wäre doch erst recht harmlos. Maya ist keine Frau.“ „Und was für eine! Dafür werden ihr schließlich hor rende Gagen gezahlt.“ „Eben. Maya ist Schauspielerin, ich würde sagen: ei ne Attrappe von einer Frau. Eine Art Suppenextrakt. Die Bouillon ist ausgezeichnet, aber nur in der Verdün nung; in konzentrierter Form wird sie kein normaler Mensch genießen.“ „Frank ist kein normaler Mensch, er ist Cineast. Ich vermute eine Art geistige Verwandtschaft zwischen den beiden.“ „Um Frank brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Wie du übrigens um jeden Mann an seiner Stelle unbe sorgt sein könntest.“ Wanda blickt mich interessiert an. Sie hat etwas auf der Zunge, aber sie läßt es nicht heraus. Mit neuem Eifer macht sie sich über den Kragen her. „Ich bin gespannt, was in diesem Tresor ist“, sagt sie. „Ich auch. Wenn überhaupt was drin ist.“ „Was meinst du, ob dein Vater es vernichtet hat?“ „Ich weiß nicht. Wenn es etwas Kompromittierendes war, dann hat er es vielleicht kurz vor seinem Tode beseitigt, da es bis dahin niemand abgeholt hatte.“ „Glaubst du, daß es etwas war, was deinen Vater kompromittiert hätte?“ „Meinen Vater natürlich nicht, aber jemand anderen. Zum Beispiel könnte ihm die Frau Liebesbriefe zur Aufbewahrung gegeben haben, die ihr irgendwer aus 108
dem Gefängnis geschrieben hat. Nehmen wir an, die ser Mann bekleidet heute ein hohes Amt und verheim licht seine kriminelle Vergangenheit. Mit den Briefen hätte ihn die Frau erpressen können.“ „Du glaubst, es ging um Erpressung?“ „Natürlich nicht um so primitive Erpressung, wie ich es eben angedeutet habe, es war ja nur ein Beispiel. Die Frau sah nicht aus wie eine, der man Liebesbriefe schreibt. Sie hätte dann wohl auch nicht am Telefon so offen von einem Wertgegenstand gesprochen, wenn es sich dabei tatsächlich um ein Mittel zur Erpressung ge handelt hätte, schließlich ist Erpressung strafbar.“ „Was wirst du mit dem Depot anfangen, wenn du es aus dem Tresor herausbekommst?“ „Das weiß ich noch nicht, das hängt davon ab, was es ist.“ „Monty, verstell dich doch nicht. Du weißt ganz ge nau, was es ist.“ „Woher sollte ich das wissen?“ „Die Frau hat es dir doch durchs Telefon gesagt.“ „Du willst mir einreden, ich hätte mit ihr gespro chen?“ „Natürlich hast du. Mit wem soll sie denn sonst tele foniert haben?“ „Wenn du so weiterredest, spring ich dir an den Hals und begehe wirklich noch einen Mord. Seit dem frühen Morgen versuche ich mit allen Mitteln zu beweisen, daß ich dieses Telefongespräch nicht geführt habe, und ihr behauptet steif und fest, ich hätte es doch ge führt. Ich schwöre noch einmal feierlich, daß ich nicht mit der Frau gesprochen habe. Sie hat mich nicht an gerufen. Seit sechs Uhr habe ich mit Gustav zusam mengesessen und mir angehört, wie sein Held die ei 109
gene Tante ins Jenseits befördert. Ich bin nicht mal in die Nähe des Telefons gekommen. Von dem Depot weiß ich überhaupt nichts Genaues.“ „Und du hast auch keine Ahnung, was es sein könn te?“ „Natürlich habe ich meine Vermutungen. Aber wer weiß, ob sie sich bewahrheiten.“ „Wie willst du den Tresor öffnen?“ „Das wird wohl die Polizei erledigen, die finden schon eine Möglichkeit. Obwohl ich gern früher Be scheid gewußt hätte… Darf ich mal telefonieren?“ Mir ist etwas eingefallen. Ich wähle eine Nummer, warte, aber es meldet sich niemand. „Sie ist nicht zu Hause.“ „Wer?“ „Nina. Vielleicht kennt sie zufällig die Kombination. Ich werd’ es später noch mal versuchen.“ Wanda hat das gereinigte Hemd weggelegt, sie sitzt in Gedanken versunken. „Weißt du, ich verstehe auch die Sache mit dem Re volver nicht“, überlegt sie. „Warum hat der Mörder, den Revolver in die Kanzlei zurückgebracht, nachdem er die Frau erschossen hatte?“ „Vielleicht hat er sie in der Kanzlei erschossen? Viel leicht wurde sie auch mit einem andern Revolver er schossen?“ „Es fehlen doch zwei Kugeln, nicht? Ich bin ge spannt, ob auf dem Revolver Fingerabdrücke sind.“ „Es sind, nämlich meine. Ich nahm ihn aus der Schublade, kontrollierte das Magazin, betastete ihn von allen Seiten und versteckte ihn schließlich im ,Faust’.“
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Wanda lächelt, sie kennt das Versteck. In der Biblio thek, die mir mein Vater vererbt hat, steht unter ande rem Goethes „Faust“ in einer zweibändigen Prachtaus gabe, beide Teile in einer Schmuckkassette mit Gold druck auf dem Rücken. Da der erste Band irgendwann einmal abhanden gekommen ist, ist die Kassette zur Hälfte leer. Als Nina noch bei mir war, hatte ich mir angewöhnt, in dem Hohlraum meinen Schnaps zu ver wahren, denn Nina beschlagnahmte alle Flaschen, die sie fand. Seit sie mich verlassen hat, habe ich es nicht mehr nötig, den „Faust“ als Hausbar zu mißbrauchen. In der Kassette habe ich dafür heute den Revolver versteckt. Mal sehen, ob Pums auch Schnapsflaschen konfiszieren wird. Vorerst benimmt sie sich ja artig. Dafür hat sie andere Fehler. Ich stecke die Hand in die Tasche. Dabei gerät mir der Lippenstift in die Finger, den ich hinter den Zeitun gen auf dem Fußboden gefunden habe. „Sag mal, Wanda“, erkundige ich mich, „wie viele Lippenstifte hast du eigentlich?“ „Wieviel ich was habe?“ fragt sie verwundert. „Lippenstifte. Wie viele besitzt du?“ „Willst du mir einen schenken? Das find’ ich nett von dir. Aber merk dir bitte: Ich benutze nur Marke ,Mayo’.“ „Ich habe nicht die Absicht, deinen guten Charakter mit Geschenken zu verderben, ich stelle lediglich Er mittlungen über zwei Morde an. Also: Wie viele Lip penstifte hast du?“ „Acht oder neun, ich weiß nicht genau. Alle paar Wochen lasse ich mir irgendeinen neuen Farbton auf schwatzen. Frank behauptet, ab und an fände er einen von meinen Lippenstiften in den Makkaroni oder im 111
Automotor – na ja, ich verbummle sie eben leicht. Aber wozu brauchst du das?“ „Mich interessiert nicht, wie viele Lippenstifte du im ganzen besitzt, sondern wie viele du gleichzeitig be nutzt. Nimmst du ein und denselben für den ganzen Tag?“ „Nein, zwei: den helleren am Vormittag und den dunkleren am Abend, wie jede Frau, die auf sich hält. Warum?“ „Zeig mir doch bitte mal die beiden Lippenstifte, die du momentan in Gebrauch hast, ja?“ Wanda erhebt sich gehorsam, holt ihr Täschchen und nimmt einen Lippenstift heraus, der genau dem in meiner Hosentasche gleicht. Sie schraubt den Stift heraus. „Das hier ist der für abends, den für früh habe ich im Bad.“ Sie geht hinaus und kommt mit dem Gegen stück zurück. Bei diesem ist die Schminke etwas hel ler. „Wenn ich mich nicht täusche, ist das die gleiche Farbe, die du eben aus Franks Hemdkragen entfernt hast.“ „Du hast ein Auge!“ sagt Wanda bewundernd. „Stimmt, Maya benutzt auch Marke ,Mayo’. Dieser Farbton für den Vormittag ist jetzt in Mode, Millionen von Frauen tragen heute den gleichen Lippenstift in ihren Handtaschen.“ „Schade. Und ich dachte schon, der Lippenstift könnte eine Spur sein.“ „Das kann er, aber sicher!“ belehrt mich Wanda. „Ich merke, ich muß die Lücken in deinem kriminologi schen Wissen ausfüllen. Ein Lippenstift kann ein eben
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so entscheidendes Indiz sein wie Fingerabdrücke. Das wußtest du nicht?“ „Nein. Wenn ihr alle die gleiche Schminke mit der gleichen Schattierung von der gleichen Firma benutzt, dann sehe ich keine Möglichkeit, ein Rouge vom an dern zu unterscheiden.“ „Die Farben sind auch nicht zu unterscheiden, aber die Stifte“, sagt Wanda. „Jede Frau nutzt nämlich ihren Lippenstift anders ab. Beim Gebrauch entsteht eine unverwechselbare, nur ihr eigene Kegelform, daran kann man die Eigentümerin mit der gleichen Sicherheit erkennen wie an der Schrift oder am Abdruck ihres nackten Fußes.“ „Interessant, das habe ich noch nicht gewußt. Laß mal sehen.“ Ich mustere ihre beiden Lippenstifte, in der Tat ist bei beiden die Spitze in derselben Weise geformt. Wanda holt zwei weitere Lippenstifte aus dem Schlaf zimmer. Der eine ist schon fast aufgebraucht, der an dere gerade erst angefangen, aber auch bei diesem hat sich am Ende ein charakteristischer Schnabel her ausgebildet, der gleiche wie bei den anderen Stiften. „Ich danke dir für die wertvolle Belehrung“, sage ich und schicke mich an zu gehen. Wie heute früh bei unserer Begrüßung legt mir Wanda wieder die Hände um den Hals. Sie sollte das nicht tun. Ich möchte wetten, daß sie sich der Wirkung dieser Pose sehr wohl bewußt ist, denn sie lächelt schelmisch dazu. „Ciao“, sage ich, reiße mich aus ihren Armen und schlage die Tür hinter mir zu. Draußen nehme ich ein Taxi und lasse mich nach Hause fahren.
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VIII
Vor meiner Haustür steige ich aus und werfe einen Blick in die Bar Unter den Balkons. Ich bestelle einen Calvados, der Wirt schenkt ein und wendet sich sofort wieder dem Radrennen zu, das im Fernsehen übertra gen wird. Ich trinke aus und zahle. An der Tür winke ich das Servierfräulein heran. „Es geht immer noch um die schwarzgekleidete Da me“, sage ich. „Versuchen Sie sich bitte genau zu er innern, ob die Frau mit dem Anwalt persönlich telefo niert hat oder nur mit jemandem, der ihn vertrat, der ihm ihre Worte ausrichten sollte.“ „Was ist denn da für ein Unterschied?“ fragt das Mädchen. „Sagte sie wörtlich: ,Herr Rechtsanwalt’, oder hat sie vielleicht gesagt: ,Der Herr Rechtsanwalt hat dies und jenes, der Herr Rechtsanwalt wird Bescheid wis sen, ich werde mich beim Herrn Rechtsanwalt mel den…’ – verstehen Sie, so wie man mit einer Sekretä rin spricht, die dem Chef die Angelegenheit vortragen soll.“ „Ich glaube, sie hat mit dem Rechtsanwalt persön lich gesprochen. Ich hatte jedenfalls den Eindruck. Erst fragte sie: ‚Spreche ich mit Herrn Rechtsanwalt sound so?’ und dann sagte sie: ,Ich bin extra hierher ge kommen, um mein Depot aus ihrem Tresor abzuholen’, und dann von der Treppe, das hab’ ich Ihnen ja schon erzählt.“ „Das kann sie aber alles ebensogut zur Sekretärin gesagt haben. Versuchen Sie sich doch mal zu erin nern, ob Sie aus ihrem Munde die Anrede ,Herr Rechtsanwalt’ gehört haben.“ 114
„So genau weiß ich das nicht mehr“, stammelt das Mädchen verwirrt, es ist wohl auch ein bißchen zuviel von ihr verlangt. Ich gebe ihr ein bescheidenes Trinkgeld und gehe. In der Haustür treffe ich meine Raumpflegerin. Sie versorgt hier im Haus mehrere Wohnungen, jetzt scheint sie mit ihrer Arbeit fertig zu sein. Ihre Ein kaufstasche ist mit trockenem Brot vollgestopft, sie sammelt es in den Küchen und füttert damit ihre Ka ninchen. Ich habe keine besondere Lust, mit ihr zu pa lavern, aber ich muß sie aushorchen. „Guten Tag“, rede ich sie an, „schon nach Hause?“ „Ich will ja hier nicht übernachten“, brummt sie mich an. „Seit früh um fünf bin ich auf den Beinen – ich gehöre ja nicht zu den Leuten, die sich bis Mittag im Bett ‘rumsielen.“ Ich ringe mir das bezauberndste Lächeln ab, über das ich verfüge. „Zugegeben, ich habe heute ein bißchen verschla fen. Ich habe bis spät in die Nacht gearbeitet, müssen Sie wissen.“ „Was Sie heute Nacht gemacht haben, will ich gar nicht wissen, das geht mich auch nichts an.“ Ihrem Ton kann ich entnehmen, daß sie sich über meinen Lebenswandel keine Illusionen macht und auf plumpe Lügen nicht hereinfällt. „Den Revolver habe ich in die Kanzlei gebracht“, fügt sie sachlich hinzu. „Was für einen Revolver?“ „Na den, der immer in der Schublade liegt und den Sie heute nacht unter dem Feuerwehrschlauch ver steckt haben.“ „Ich habe den Revolver unterm Feuerwehrschlauch versteckt?“ frage ich erstaunt. 115
„Na, wer denn sonst, ich hab’ ihn doch da gefunden. Sie wissen es bloß nicht mehr, weil Sie wieder mal be soffen waren.“ „Erzählen Sie mir genau, wo und wann Sie den Re volver entdeckt haben.“ „Ich habe gestern meinen Staublappen in der Nische mit dem Feuerwehrschlauch gelassen, da wo der Er satzschlüssel ist. Heute nehme ich den Staublappen ‘raus, und da sehe ich den Revolver liegen. Ich denke mir, Sie werden in der Nacht mit dem Revolver ir gendwohin gegangen sein, und als Sie heute morgen bedudelt nach Hause kamen, haben Sie ihn unter den Feuerwehrschlauch getan statt ins Schreibtischfach, wo er hingehört.“ „Und war der Schlüssel an seinem Platz?“ „Das war er, und daneben lag der Revolver. Ich ha be das Ding mit ‘reingenommen und in den Schreib tisch getan, und dann habe ich angefangen aufzuräu men. Das ist doch gefährlich, wenn so’n Schießeisen so herumliegt. Sie sollten auch besser aufpassen.“ „Das sollte ich, da haben Sie recht“, gebe ich zu. „Aber haben Sie nicht in der Kanzlei noch irgendwas gefunden?“ „Was soll ich denn gefunden haben?“ echot das Weibsbild und fixiert mich prüfend. „Was weiß ich… zum Beispiel einen Lippenstift.“ „Sogar eine ganze Handtasche hat Ihre Donna bei Ihnen zurückgelassen“, empört sich meine Perle. „Die war wohl auch betrunken, was? Jetzt wird sie schön ihre Tasche suchen, aber Sie können sie beruhigen, das gute Stück liegt unbeschädigt in Ihrer Kanzlei in der Vase, ich vergreife mich ja nicht an fremder Leute Eigentum.“ Damit läßt sie mich stehen. 116
Ich brauche sie nicht zu fragen, in welcher Vase, es gibt nur eine in der Kanzlei, ein Klient hat sie einmal meinem Vater geschenkt. Ich springe die Treppe hin auf, stürze in die Kanzlei. Pums schrickt hoch und ver steckt hastig ihre Lektüre. Sie will etwas sagen, aber ich lasse sie nicht zu Worte kommen. Ich lange in die Vase, angle eine Handtasche heraus. Es ist ein ziem lich billiges, abgenutztes Stück aus schwarzem Leder, mit einem Nickelverschluß. Ich öffne die Tasche und leere sie auf den Schreibtisch aus. Pums guckt neugie rig zu. „Die Handtasche unserer Verblichenen“, erkläre ich ihr. „Die Aufwartung hat sie heute morgen gefunden und in die Vase gesteckt. Jetzt haben wir den Beweis, daß die schwarze Dame gestern hier im Zimmer war und erst später – tot oder lebendig – in meine Woh nung gelangt ist.“ Wir nehmen den Tascheninhalt in Augenschein. Zu nächst einmal die Ausweispapiere. Es findet sich übri gens nur ein einziges: die Mitgliedskarte eines Buch klubs, ausgestellt auf den Namen Clara Wixel, wohn haft in Groß-Luchow, Parkstraße 48. Die Inhaberin ist berechtigt, die Leihbibliothek zu benutzen. „Von so einer Ortschaft hab’ ich noch nie was ge hört“, sagt Pums. „Ein Provinznest im Nordosten, ungefähr siebzig Ki lometer von hier.“ Außer der Lesekarte keine weiteren Papiere. Ein Ta schenspiegel, ein Portemonnaie mit ein paar Bankno ten und Kleingeld (darunter auch französische Mün zen), ein Taschentuch, ein leeres Parfümfläschchen, drei Schlüssel an einem Ring. Ich untersuche die
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Handtasche. In einem Seitenfach steckt noch etwas Weißes: eine Fotografie, wie sich herausstellt. Die Frau auf dem Bild ist ohne jeden Zweifel die Er mordete. Sie sitzt in einem Liegestuhl und hat das gleiche schwarze Kostüm an, in dem ich sie heute morgen auf dem Sofa fand. In der Hand hält sie ein Buch, um ihren Kopf ist das wohlbekannte schwarz weiß gewürfelte Seidentuch gebunden. Der Liegestuhl steht auf einer Terrasse, vor einem weiß getünchten Gebäude, von dem nur eine kleine Ecke zu sehen ist; im Hintergrund ein Garten, von einer hohen Mauer umgeben. Neben dem Liegestuhl der Frau steht ein zweiter, er ist leer – das heißt, nicht ganz: ich kann eine Sonnenbrille unterscheiden und irgendein Klei dungsstück, an der Seite hängt ein Futteral von einem Fotoapparat. An der Hauswand lehnen, zusammengeklappt, wei tere Liegestühle. Auf der Rückseite ein Stempel: Ate lier M. Cassis, Montfleur. „Was sagt dir die Fotografie?“ frage ich Pums. „Daß die Frau ihre Ferien in Frankreich verlebt hat.“ „Richtig. Obwohl sie nicht danach aussah, als könne sie sich das leisten. Und wer, meinst du, hat die Auf nahme gemacht?“ „Wahrscheinlich dieser Herr Cassis, der seinen Stempel hinten draufgedrückt hat.“ „Nein, dort hat sie nur den Film entwickeln lassen. Siehst du das Futteral an der Armlehne? Das Bild hat der Liegestuhlnachbar aufgenommen. Er ist aufge standen, um die Frau zu knipsen. Ich würde ganz gern wissen, wer das war.“ „Das war ein Kind“, behauptet Pums, nachdem sie die Fotografie eingehend betrachtet hat. 118
„Woher weißt du das?“ „Sehen Sie die Sachen auf dem Liegestuhl?“ „Eine Sonnenbrille und irgendein Kleidungsstück.“ „Das ist ein Kinderpulli.“ Ich gucke genauer hin. Tatsächlich, es ist ein sehr kurzer Pullover. „Aber die Brille ist keine Kinderbrille“, wende ich ein, „sie hat normale Größe.“ „Die Sonnenbrille wird der Frau gehören. Sie hat sie wegen der Aufnahme abgesetzt und auf den andern Stuhl gelegt.“ Ich höre, wie jemand von draußen das Vorzimmer betritt. Rasch verstaue ich die Utensilien der Ermorde ten in der Handtasche und diese in der Vase. Die Tür wird geöffnet, herein kommt Robert in Begleitung ei nes jungen, blonden Mannes mit scheuem Blick. „Ich grüße dich, Zierde der Rechtsgelehrsamkeit. Sei so gut und stelle mich deiner bezaubernden Sekretärin vor, die kennenzulernen ich bereits per Telefon die Eh re hatte.“ „Das ist Robert“, sage ich. „Er ist bei der Polizei.“ Seit Robert anwesend ist, benimmt sich Pums ver dächtig. Sie wird abwechselnd rot und blaß und ver steckt die Hand hinter dem Rücken wie ein ungezoge nes Kind, das dem Besuch nicht guten Tag sagen will. „Was soll denn das, Pums?“ frage ich drohend. Dar auf reicht sie Robert, wenngleich widerstrebend, die Hand. Der schüchterne blonde Jüngling ist an der Tür stehengeblieben, er hat offenbar keine gesellschaftli chen Ambitionen. „Woher weißt du von Zahnlücken-Nusio?“ wendet sich Robert an mich.
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„Von jemandem, der ihn sucht“, antworte ich aus weichend. „Bist du deswegen hier?“ „Ja. Möglicherweise sind wir auf eine Spur gesto ben.“ Im Zimmer wird es dunkel, eine Wolke hat sich vor die Sonne geschoben. Robert wirft einen Blick zum Fenster und sagt zu seinem Assistenten: „Man sollte das Verdeck schliefen.“ Der Mann tritt ans Fenster und schaut nach oben, aber vom Himmel ist dort nicht viel zu sehen, die Pas sage ist eng. Wegen der Eisengitter vor dem Fenster kann man sich auch nicht hinauslehnen. Der Blonde steckt die Nase zwischen den Gitterstäben durch und beobachtet den Streifen Himmel. „Wir sind im offenen Wagen gekommen“, erklärt Robert. „Wenn es regnen sollte, müßte man die Plane hochziehen.“ Für einen Augenblick hellt es sich auf, dann wird es wieder dunkel. Auf Zehenspitzen, mit verrenktem Hals schielt der Blonde durch die Eisenstäbe nach oben. „Von dort aus wirst du nichts sehen. Gehen wir auf den Balkon“, sagt Robert und bewegt sich ent schlossen auf die Balkontür zu. Mir sträuben sich die Haare, zum sechsten oder siebenten Male an diesem Morgen. Hinter dem Vorhang liegt Nusio, und auf dem Balkon die Dame in Schwarz! Entsetzt drehe ich mich zu Pums um, aber die zwin kert mir zu, als fände sie die Situation furchtbar spa ßig. Robert braucht eine Weile, bis er die Gardinenschnur findet. Jetzt zieht er den Vorhang auf. Ich schließe die Augen, ich höre, wie er die Balkontür öffnet. Ich ma 120
che die Augen auf: Robert steht draußen und hält nach dem Wetter Ausschau. Der Balkon ist leer – kein Nu sio, keine schwarze Dame. Es wird wieder hell, die Sonne scheint durch ein Wolkenloch. Robert kommt ins Zimmer zurück. „Es wird nicht regnen“, stellt er fest. „Sag mir we nigstens, wo sich dieser Nusio zuletzt aufgehalten hat.“ „Er hat in der Bar Unter den Balkons gearbeitet, mehr weiß ich auch nicht von ihm.“ „In der Bar hier unten?“ „Ja.“ „Gut, schaun wir mal dort vorbei“, sagt Robert und winkt seinem Begleiter. Sie gehen. Ich stehe da und starre ungläubig auf den leeren Türrahmen, auf den leeren Balkon. Ich wage meinen Augen nicht zu trauen. Vor einer Stunde waren hier zwei Leichen, wo sind die geblieben? Es ist wie im Traum. „Ist noch was in der Flasche, die ich dir hiergelassen habe?“ frage ich Pums. Ich habe ein übermächtiges Verlangen nach einer Stärkung. Pums schüttelt den Kopf. „Kannst du mir verraten, was mit denen da passiert ist?“ Ich deute auf die Balkontür. Pums setzt die Miene einer allwissenden Sekretärin auf, in deren Büro nie etwas verlorengeht. Sie winkt mir, mit auf den Balkon zu kommen. Ich folge ihr. Pums zeigt mit dem Finger über die seitliche Brüstung nach unten. Ich beuge mich vor und sehe rechts unter dem Balkon zwei Paar Beine hervorragen: ein Paar in Perlonstrümpfen und schwarzen Pumps, das andere in
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abgetragenen Herrenschuhen. Die beiden Leichen lie gen in der Markise. Ich muß Ihnen das beschreiben. Meine Kanzlei be findet sich über der Bar. Vor der Bar, auf einer kleinen Terrasse, stehen drei Tischchen. Darüber ist eine Mar kise angebracht, deren Gestänge direkt unter meinem Balkon in der Hauswand verankert ist. Normalerweise, wenn sie ausgezogen ist, versperrt die Markise den Blick vom Balkon auf die Terrasse. Doch im Augenblick ist sie zurückgeklappt – das heißt, nicht gänzlich: Die Vorderkante steht ein Stück von der Wand ab, und zwar etwas weiter, als mein Balkon breit ist, so daß die Plane durchhängt. In der so entstandenen Mulde, vier Meter über der Straße, ruhen meine beiden Leichen. „Wie sind die denn dahin geraten?“ frage ich Pums. Ich wäre gar nicht erstaunt, wenn sie mir sagte, die beiden seien selbst hinausgesprungen. An so einem Tag ist alles möglich. „Ich mußte sie beiseite schaffen“, sagt Pums. „Die ser Herr Robert hat vor einer Weile angerufen, er wür de wegen Nusio selbst vorbeikommen. Ich wollte nicht, daß er sie in der Kanzlei findet.“ „Wie hast du denn das zuwege gebracht?“ staune ich. „Es war nicht leicht, das können Sie mir glauben. Ich habe sie nacheinander über die Brüstung gewälzt und sie dann sachte in die Markise hinuntergelassen.“ Sie muß sich schrecklich abgerackert haben. Ein schweres Stück Arbeit. Ich beuge mich vorn über die Balkonbrüstung. Von hier aus sieht man Nusios Arm, darunter einen zweiten in einem schwarzen Ärmel: die Leichen liegen übereinander.
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„Zum Glück hat dieser Herr Robert nicht nach unten geguckt“, sagt Pums, „sonst hätten wir jetzt die Be scherung.“ In der Tat, hätte Robert einen Blick vom Balkon hi nuntergeworfen, dann hätte er entdecken müssen, daß sich in der Markise jemand einquartiert hat. Wir stehen beide auf dem Balkon, auf die Brüstung gelehnt, und schauen dorthin, wohin Robert glückli cherweise nicht geschaut hat. Er kommt übrigens ge rade mit seinem Assistenten aus der Bar. Sie gehen zu dem offenen Ford, der vor dem Haus parkt. Der Blon de setzt sich ans Steuer, Robert neben ihn. Der Blonde läßt den Motor an. Plötzlich geschieht etwas Entsetzliches. Die Vorder kante der Markise hat sich bewegt. Ein Zittern und Knirschen geht durch die ganze Konstruktion. Ich beu ge mich vor und sehe, wie der dicke Barbesitzer an der Kurbel hantiert. Er spannt die Markise auf! Pums krallt die Finger in meinen Arm. Wir halten den Atem an. Die Szene, die sich jetzt abspielt, ist an grotesker Wirkung nicht zu überbieten. Die Stirnseite der Markise schiebt sich langsam nach vorn und nach unten (wenn sie ganz ausgefahren ist, spannt sich die Markise schräg abfallend über den Bür gersteig). Je mehr die Markise ausgezogen wird, desto weiter rutschen die beiden Leichen vorwärts, aufgehal ten durch die Vorderstange des Rahmens. So bleibt es, solange sich die Fuhre langsam bewegt und das Segel tuch nicht straffgezogen ist. Ein letzter, energischer Ruck wirft die Markise nach vorn, die Plane spannt sich und schleudert ihre Last in hohem Bogen heraus… und eine nach der andern plumpsen die Leichen in den of fenen Wagen der Polizei. Wie zwei steife Puppen kom 123
men sie auf die Rücksitze zu liegen, die Köpfe nach unten, nur die Beine ragen über die Karosserie heraus.
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IX
In dem Augenblick, als der Himmel die Polizei mit sei ner unverhofften Gabe überraschte, war der Ford schon angefahren. Jetzt bremst er, Robert springt aus dem Wagen. Was weiter passiert, weiß ich nicht. Ich flüchte ins Zimmer und ziehe Pums hinter mir her, schließe die Tür, ziehe den Vorhang zu und lasse mich schwer at mend in den Sessel fallen. Pums setzt sich – behut sam, als wäre er aus Glas – auf den Schreibmaschi nenstuhl. Sie steckt vier Finger der linken Hand in den Mund, reißt die Augen auf und erstarrt in dieser Pose. Auch ich rühre mich nicht vom Fleck. Von der Straße tönen Pfiffe, undeutliche Rufe, Ge trappel. Vor meinem geistigen Auge sehe ich, wie Ro bert in der Bar telefoniert, wie der blonde Polizist den Ansturm der Menge aufhält, die sich um den Wagen drängt, wie die Gäste der Bar auf die Terrassenstühle steigen und sich die Hälse ausrenken, um etwas zu sehen. Ich möchte wissen, ob das Serviermädchen oder der Wirt in diesem Durcheinander in einer der Leichen den ihnen wohlbekannten Pilz, Anton, erken nen können. Für das Mädchen dürfte das ein beson ders schmerzliches Wiedersehen werden: dahin alle Hoffnung, ihr Erspartes je zurückzubekommen. Jetzt nähert sich das Heulen eines Martinshorns. Bremsen quietschen, der Lärm nimmt zu, Kommando rufe ertönen. Das geht so eine ganze Weile. Schließlich fahren die Wagen wieder ab, das Stimmengewirr wird leiser, dann ist es still. „Sie sind nicht hochgekommen.“ Ich wische mir den Schweiß von der Stirn. 125
„Und was hätten Sie gemacht, wenn sie gekommen wären?“ fragt Pums. Allmählich kehrt die natürliche Farbe in ihr Gesicht zurück. „Ich hätte gesagt, was ich weiß.“ „Wissen Sie denn, wer Nusio und die schwarze Frau erschossen hat?“ „Bis jetzt kann ich nur ahnen, warum sie umge bracht wurden. Aber wer das getan hat, das weiß ich noch nicht, es kommen zwei oder drei Personen in Frage.“ „Meistens ist es doch so, daß der der Mörder ist, auf den am wenigsten Verdacht fällt.“ „Das weißt du aus dem Kino. Im Film und im Krimi nalroman ist immer die sympathischste Figur der Tä ter. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob man diesen Grundsatz auch im Leben anwenden kann.“ „Versuchen Sie’s doch mal“, ermuntert sie mich. „Denken Sie mal nach, welche von den in Frage kom menden Personen über jeden Verdacht erhaben ist – das ist dann bestimmt der Mörder.“ „Ich werd’s versuchen. Jetzt möchte ich etwas ande res nachprüfen. Mir ist da was eingefallen, als der Blonde aus dem Fenster guckte.“ Ich winke Pums ans Fenster. „Schau mal hinaus. Was siehst du?“ „Eine Mauer.“ „Und was siehst du direkt unter dem Fenster?“ „Einen Laufsteg. Wie kommt man denn da hinaus?“ „Genau so ein Steg ist im zweiten Stock. Die Stege sind durch Feuerleitern miteinander verbunden, aber sie werden nie benutzt.“ Pums steckt die Nase durch die Stäbe. Auf diese Weise kann sie ein Stück von der Feuerleiter sehen, 126
die ringsum von einem Drahtgitter gesichert ist – einer Art Käfig, der vom Parterre bis zum Dachgeschoß reicht und von dem in jeder Etage die eisernen Lauf stege abzweigen. „Alle Fenster auf dieser Seite sind vergittert, so daß man nicht von draußen in die Wohnungen gelangen kann“, erkläre ich Pums. „Auch mein Küchenfenster“ – ich deute mit dem Finger nach oben – „hat ein Eisen gitter.“ „Und wie kommt man dann auf den Laufsteg und die Feuerleiter, wenn es mal brennt?“ „Früher hatte das Treppenhaus in jedem Stockwerk einen Notausgang auf die Feuerleiter. Doch dann wur de das Haus umgebaut, und die Durchgänge wurden zugemauert. Dieses ganze Gerüst ist schon seit meiner Kindheit zu nichts mehr nütze, ich weiß nicht, warum man es nicht abgerissen hat. Als kleiner Junge spielte ich oft auf der Feuerleiter, wenn ich meinen Vater in der Kanzlei besuchte. Das war lustig, über die Stege zu kriechen und den Leuten in die Stuben zu gucken. Die Mieter waren schrecklich böse darüber, ich weiß noch, wie so eine Dicke im zweiten Stock auf mich und Gustav schimpfte, weil wir gerade in dem Augenblick hineinsahen, als sie sich einen künstlichen Dutt auf steckte. Seitdem habe ich eine Abneigung gegen Frau en mit langen Haaren, ich werde nie den Verdacht los, daß sie falsch sind.“ „Wie sind Sie denn hinausgekommen, wenn die Tür zugemauert war? Haben Sie sich durchs Fenstergitter gequetscht?“ „Ich hab’s versucht, aber mein Kopf war zu groß – durch diese Gitter kann sich nicht mal ein kleines Kind zwängen. Nein, wir sind einfach von unten, von der 127
Passage her, die Leiter hochgestiegen. Der Käfig hat unten eine Tür. Leider hat sie der Hausmeister dann abgesperrt, nachdem sich die Dicke bei ihm beschwert hatte, und ich konnte nie wieder aufs Gerüst klettern. Wahrscheinlich ist es bis zum heutigen Tag nicht zu gänglich, das Türschloß unten wird längst verrostet sein, der Schlüssel ist vermutlich nicht mehr vorhan den, weil ihn kein Mensch brauchte.“ „Ich möchte mal da hinaus“, sagt Pums, in der kind liche Regungen wach werden. „Wäre das nicht mög lich?“ „Darüber denke ich ja gerade nach. Vielleicht ist es doch möglich. Mal sehen.“ Ich öffne die Balkontür, trete hinaus, beuge mich über die Brüstung. Unter der Markise höre ich Stim men, die Leute sprechen über den makabren Vorfall von vorhin. Ich kann sie jedoch ebensowenig sehen wie sie mich. Ich rufe Pums und zeige ihr die Wand zwischen dem Balkon und der Hausecke. Meine Kanzlei ist ein Eckzimmer. Der Balkon liegt auf der Straßenseite, das vergitterte Fenster aber geht nach der Passage hinaus. An der Hausfront (dort, wo der Balkon ist) rankt Efeu, spärlich zwar und rachi tisch, aber uralt, mit starkem, holzigem Geäst. Etwa in gleicher Höhe wie der Laufsteg auf der Passageseite verläuft entlang der Frontseite ein Ziersims. Er ist sehr schmal, aber man kann darauf stehen, und wenn ich mich an den Efeuranken festhalte, müßte ich auf dem Mauervorsprung vom Balkon bis zur Ecke gehen kön nen. Gleich hinter der Hausecke aber beginnt der Steg, der zur Feuerleiter führt, das ist mir noch aus meiner Kindheit gut erinnerlich.
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„Stell dich ans Fenster, wir treffen uns dort“, sage ich zu Pums und schwinge ein Bein über die Balkon brüstung. „Tun Sie das nicht“, bittet sie ängstlich, „Sie werden ‘runterfallen.“ „Na wenn schon. Ich lande höchstens in der Markise, von da ist es nicht mehr weit bis zur Erde.“ Ich steige auf den Sims und kralle mich am Efeu fest. Er bietet keinen sehr sicheren Halt, aber zur Not geht es. Rasch tue ich die paar Schritte bis zur Haus ecke, vorsichtig beuge ich mich vor: Tatsächlich, gleich hinter der Ecke fängt der Laufsteg an. Mit der rechten Hand lasse ich den Efeu los, hebe das rechte Bein vom Sims, umklammere mit dem ganzen Körper die Haus ecke und angle nach dem Geländer des Laufstegs. In diesem Augenblick reißt das ganze Rankenwerk ab, an dem ich mich mit der Linken festhalte. Mit übermenschlicher Anstrengung werfe ich mich nach vorn, kriege das Geländer zu fassen, erwische mit dem Knie die Kante des Laufstegs. Ich klettere über das Geländer auf den Steg, ich bin gerettet. Ein paar Schritte bis zum Fenster. Pums wartet schon hinter dem Gitter. „Ich dachte, Sie bringen sich um.“ „Mir ist nichts passiert“, beruhige ich sie. „Ich weiß nur noch nicht, wie ich wieder zurückkomme. Der Efeu ist abgerissen, ich finde keinen Halt mehr auf dem Sims. Du wirst einen Schlosser holen müssen, damit er die Gitterstäbe durchsägt.“ „Vielleicht ist eins von den Fenstern nicht vergit tert?“ Ich schreite den Steg bis ans Ende ab, kehre um.
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„Alle haben Gitter. Ich versuch’s mal im zweiten Stock. Wenn du willst, geh in meine Wohnung, wir treffen uns am Küchenfenster. Hier hast du den Schlüssel, Wohnung zweiundzwanzig.“ Ich steige die Feuerleiter hinauf, gehe auf dem Steg einmal hin und zurück und bleibe vor dem Küchenfen ster stehen. Es ist komisch, von außen in die eigene Wohnung zu gucken. Sie sieht irgendwie anders aus, fremd, aber anziehend. Die Türen stehen auf, so daß ich die ganze Wohnung überblicke: die aufgeräumte Küche, den Flur und dahinter ein Stück Zimmer mit dem Sofa und dem Bild an der Wand gegenüber. Zum erstenmal im Leben erscheint mir meine Wohnung gemütlich und erstrebenswert – wahrscheinlich, weil ich nicht hinein kann. Die Wohnungstür geht auf. Pums tritt ein und schaut sich im Flur um. „Pums“, rufe ich. „Haben Sie einen Ausgang gefunden?“ „Nein, hier sind auch alle Fenster vergittert, und ei nen dritten Stock hat das Haus nicht, die Leiter ist hier zu Ende. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als den Schlosser zu rufen.“ „Könnten wir die Stäbe nicht selber ‘rausbrechen? Ich bin ganz schön stark“ – sie strafft ihren kümmerli chen Busen (Audrey Hepburn in „Sabrina“). „Ich weiß nicht recht… Aber vielleicht kann ich die Tür unten an der Feuerleiter aufbrechen. Hol mir mal den Hammer aus dem Werkzeugkasten – im Flur, hin ter dem Garderobenständer.“ Pums bringt mir den Hammer und sagt: „Ich gehe nach unten. Vielleicht kann ich Ihnen von draußen hel fen.“ 130
Unten erwartet mich eine Überraschung. Die Tür ist offen. Pums steht fröhlich lächelnd auf der untersten Stufe der Feuerleiter. „Gratuliere. Wie hast du die Tür aufgekriegt?“ „Sie war auf“, sagt sie. Ich sehe mir die Tür etwas genauer an. Sie ist stark verrostet, aber am Schloß ist der Rost an einigen Stel len abgekratzt, das Schloß ist beschädigt. „Aufgebrochen“, stelle ich fest. „Jemand hat die Tür gewaltsam aufgebrochen.“ „Wann kann denn das passiert sein?“ „Die Kratzer sind frisch, wahrscheinlich von gestern, und sie befinden sich außen. Also ist jemand von der Straße aus eingebrochen, um über die Feuerleiter nach oben zu gelangen.“ Wir gehen die Passage hinunter, biegen in die Stra ße ein. Die Terrasse vor der Bar ist voller Leute, sie diskutieren immer noch das mysteriöse Auftauchen der beiden Leichen. Auf dem Bürgersteig vor der Haustür patrouilliert ein Polizist. Er mustert uns, läßt uns aber ungeschoren. Wir treten in den Hausflur, steigen die Treppe hinauf. „Wozu sind Sie eigentlich vom Balkon auf den Lauf steg geklettert?“ fragt Pums. „Wollten Sie da was ent decken?“ „Naives Kindchen! Ich wollte feststellen, ob man vom Balkon auf den Steg und ans Fenster gelangen kann. Nehmen wir mal an, Nusio wurde von der schwarzen Dame in der Kanzlei überrascht und ver steckte sich hinter dem Vorhang. Kurz darauf kam der Kerl, der sich mit der Frau verabredet hatte, und er schoß sie. Nusio hörte alles mit an, konnte aber durch den Vorhang nichts sehen. Er öffnete die Balkontür, 131
kletterte über die Brüstung auf den Laufsteg und schaute von draußen durchs Fenster. Der Mörder be merkte das, aber Nusio merkte nicht, daß ihn der Mör der bemerkt hatte, verstehst du? Nusio kehrte auf dem gleichen Wege hinter den Vorhang zurück. Der Mörder sah das und schoß ihn nieder, dann trug er die Leiche der Frau hinauf in meine Wohnung.“ Pums ist skeptisch. „Erstens, wozu soll er die Leiche hinaufgetragen haben, das war doch riskant. Und zweitens glaube ich nicht, daß Nusio noch Lust gehabt haben, soll, in die Kanzlei zurückzukehren, nachdem er durchs Fenster den Mörder und die Tote gesehen hat te. Er hätte sich viel wahrscheinlicher über die Feuer leiter davongemacht.“ „Aber die Tür unten war doch zugeschlossen… Warte mal, vielleicht war sie gar nicht zu“, kombiniere ich. „Na klar, Nusio war derjenige, der das Schloß aufge brochen hat! Er ist über die Feuerleiter hier heraufge kommen, nicht über die Treppe. Entweder hat er das mit dem Schlüssel unter dem Feuerlöschschlauch nicht gehört, oder er zog es vor, den ungefährlicheren Weg zu benutzen. Er brach die Tür an der Passage auf, stieg die Feuerleiter hoch und gelangte über den Lauf steg, den Sims und den Balkon in die Kanzlei. Dann machte er sich über den Tresor her, dabei störte ihn die Schwarze, er versteckte sich hinter dem Vorhang… Was weiter geschah, weiß ich nicht. Entweder erschoß ihn die schwarze Dame oder ihr Mörder.“ „Nehmen wir doch mal an, der Mörder der Frau. Wen hat er dann zuerst erschossen: Nusio oder die Frau?“ „Keine Ahnung. Es kann sich ja auch so abgespielt haben: Nusio saß hinter dem Vorhang und hörte mit 132
an, wie der Kerl die Frau überredete, mit ihm nach oben in die Wohnung zu gehen – du hast natürlich recht, die Frau wurde in der Wohnung erschossen, nicht in der Kanzlei. Das Gespräch machte Nusio neu gierig, er kletterte vom Balkon auf den Laufsteg – den selben Weg, den er gekommen war, nur statt nach un ten stieg er nach oben, und durch mein Küchenfenster beobachtete er die Mordszene – oder auch nicht, je denfalls kehrte er über den Balkon in die Kanzlei zu rück. Auch der Mörder kam zurück, über die Haupt treppe, um das Depot zu holen. In dem Moment stieß er auf Nusio und legte ihn um. Logisch, nicht?“ Ehrlich gesagt, mir kommt das Ganze weder logisch noch sinnvoll vor, aber Pums schaut voller Bewunde rung zu mir auf. Sie öffnet mit dem Schlüssel, den ich ihr vorhin durchs Fenster gereicht habe, gibt ihn mir zurück. Wir gehen durchs Vorzimmer in die Kanzlei.
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Wir treten ein und bleiben angewurzelt stehen. Pums stößt ein schwaches Piepsen aus wie ein Kaninchen in der Agonie. Die Situation ist in der Tat abscheulich. Mitten im Zimmer steht ein Kerl mit Trenchcoat und Hut, das Gesicht bis an die Augen mit einem Lappen verhüllt, und zielt mit einem Revolver auf uns. Ein paar Sekunden stehen wir regungslos. Plötzlich zucken wir drei wie elektrisiert zusammen: der Ham mer ist mir polternd aus der Hand gefallen. Unwillkür lich bücke ich mich. „Stehenbleiben!“ kommandiert der Maskierte halb laut. Ich richte mich auf. Durch beredte Bewegungen mit dem Revolver fordert uns der Strolch auf, zum Schreibtisch zu gehen. Wir bewegen uns mit unsicheren Schritten in die an gegebene Richtung, der Kerl im Kreis um uns herum, ohne die Hand mit dem Revolver sinken zu lassen. Schließlich ist er an der Tür angelangt – er hat uns den Rückzug abgeschnitten. „Geldschrank aufmachen“, befiehlt er. Pums wirft mir einen fragenden Blick zu. Ich zucke mit den Achseln. „Der Tresor geht nicht zu öffnen“, sage ich. „Aufmachen, oder ich schieße“, knurrt der Halunke undeutlich, aber der Wink mit dem Revolverlauf ist unmißverständlich. „Ich kenne die Kombination nicht“, sage ich. „Der Tresor ist seit Jahren verschlossen.“
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Der Strolch stößt einen unartikulierten Laut aus (es hört sich an wie „Quatsch nicht“), offenbar glaubt er mir nicht. Er hebt den Revolver etwas höher. Der knallt uns glatt über den Haufen, da kann man nichts machen. Ich kriege den Tresor nicht auf, selbst wenn ich wollte. Im Geiste nehme ich Abschied vom Leben. Ich kann mein nahes Ende nicht einmal sehr bedauern, wenn ich an mein blaues Scheusal denke – es wird mir ja wohl nicht ins Jenseits folgen. Nur Pums tut mir leid. Ich blicke mich nach ihr um. Sie ist verängstigt, hält sich aber tapfer. Plötzlich macht sie kehrt und geht zum Tresor. Und jetzt geschieht etwas Merkwürdiges. Pums legt die Hand auf die Nummernscheibe des Tre sorschlosses und preßt das Ohr an die Tür wie ein Arzt bei seinem Patienten. Sie blufft, um Zeit zu gewinnen. Oder blufft sie nicht? Behutsam dreht sie an der Scheibe, ohne das Ohr von der Tür zu lassen. Ihr Ge sichtsausdruck ist konzentriert und – zum erstenmal, seit ich sie kenne, sogar intelligent. Sie dreht die Scheibe bald nach links, bald nach rechts, wobei sie angespannt lauscht. „Beeilung!“ drängelt der Strolch. Pums winkt ihm, er solle sich ruhig verhalten. Sie manipuliert weiter an der Scheibe. Plötzlich läßt sich ein leises Knarren ver nehmen. Pums wird rot vor Erregung, ihre Hand bleibt an der Scheibe. Da ein zweites Knarren, ein drittes… schließlich noch einmal, etwas lauter – und die Tresor tür öffnet sich einen Spalt weit. Pums wendet uns ihr Gesicht zu, Triumph leuchtet aus ihren Augen. Der Strolch bedeutet ihr mit einer ungeduldigen Geste, sie solle die Tür noch weiter öff nen. In dem Augenblick bewege ich mich, mit einem 135
drohenden Knurren richtet der Kerl den Revolver wie der auf mich. Ich blinzle in die fatale, schwarze Mündung, aber gleichzeitig bemerke ich noch etwas anderes, was sich hinter dem Rücken des Einbrechers abspielt: Die Tür zum Vorzimmer wird lautlos geöffnet. Zuerst kommt ein grauer Haarschopf zum Vorschein, dann Hildegard selbst in Lebensgröße. Ich will sie warnen, ihr ein Zei chen geben, aber da bückt sie sich schon, richtet sich wieder auf… und in der nächsten Sekunde bricht der maskierte Strolch wie vom Blitz gefällt zusammen, wobei er den Stuhl vor dem Schreibmaschinentisch umreißt. Mit einem Satz bin ich bei ihm, schlage ihm mit dem Fuß den Revolver aus der Hand, bücke mich, um ihm den Lappen vom Gesicht zu reißen. Da höre ich hinter mir etwas plumpsen. Ich drehe mich um und sehe Pums mit geschlossenen Augen auf dem Boden liegen: sie ist in Ohnmacht gefallen. Ich eile ihr zu Hilfe, nachdem ich den Revolver auf gehoben und in die Tasche gesteckt habe. Mit Hilde gards Hilfe versuche ich, die Ohnmächtige durch Fä cheln und leichte Schläge auf Wangen und Hände wie der zu Bewußtsein zu bringen. Endlich öffnet Pums die Augen. „Was war das?“ fragt sie mit ersterbender Stimme (Jaqueline Sassard in „Guendalina“). Sie richtet sich auf. Plötzlich ergreift sie meine Hand und zeigt auf die Tür. Ich drehe mich um, setze zum Spurt an – zu spät. Alles hat sich blitzschnell abgespielt: Der Maskierte hob den Kopf, stützte sich mit der Hand auf das Buch,
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das neben dem umgefallenen Stuhl lag, sprang auf und war durch die Tür verschwunden. Ich hinter ihm her durchs Vorzimmer in den Haus flur, aber da höre ich ihn schon die Treppe hinunter laufen. Ich verfolge ihn bis auf die Straße… Doch dort läßt mein Schwung plötzlich nach. Der Polizist, der auf dem Bürgersteig patrouilliert, bleibt ausgerechnet vor der Haustür stehen. Sekundenlang sehen wir uns an, dann mache ich mit möglichst gleichgültiger Miene auf dem Absatz kehrt und steige lässig, ohne Hast wieder die Treppe hinauf. Hildegard und Pums stehen wie zwei Salzsäulen mit ten im Zimmer. Das einzige, was von dem Strolch zu rückgeblieben ist, ist sein Hut, der ihm beim Sturz vom Kopf gefallen ist. Ich hebe ihn auf und mustere ihn von allen Seiten. „In Kriminalromanen läßt sich durch einen Hut spie lend leicht die Identität des Täters feststellen“, doziere ich. „Es finden sich Spuren über Spuren: die Firmen marke, Haare, eine Fahrkarte hinter dem Hutband. Ich fürchte, dieser hier wird uns überhaupt nichts nützen.“ Der Hut ist tatsächlich neu und so alltäglich, daß wahrscheinlich ein Drittel der Bürger dieser Stadt den gleichen trägt. „Vielleicht ist trotzdem was damit anzufangen“, sage ich und drehe das Corpus delicti in den Händen. „Der Hut ist neu und trotzdem beschädigt. Hier hat er eine Delle, es sieht aus, als hätte jemand draufgetreten.“ „Das ist vom Hammer“, klärt mich Hildegard auf und zeigt auf das Schlagwerkzeug, das mir vorhin aus der Hand gefallen ist. „Also damit haben Sie ihn niedergestreckt?“ frage ich. 137
Ich hebe den Hammer auf, wiege ihn in der Hand, werfe einen Blick auf Hildegards üppige Gestalt. „Da hat er Glück gehabt, daß er mit einer Beule da vongekommen ist. Welchem Wunder verdanken wir es, daß Sie gerade zur rechten Zeit hier aufgetaucht sind?“ „Ich war im Vorzimmer, als dieser Mensch Sie be drohte“, berichtet Hildegard. „Ich hörte durch die Tür, wie er sagte, er würde schießen. Also machte ich die Tür auf, sah den Hammer liegen, ja und dann… hab’ ich ihn wohl damit auf den Kopf gehauen, ich weiß nicht mehr genau, ich war schrecklich aufgeregt.“ „Sie sind eine großartige Frau!“ Ich nehme den Revolver aus der Tasche und be trachte ihn nachdenklich. Pums ist inzwischen wieder ganz auf Deck, sie pudert sich die Nase, hebt den um gekippten Stuhl auf. Als sie den Revolver in meiner Hand sieht, meint sie: „Fabelhaft, daß Sie ihm den abgenommen haben. Damit werden wir ihn finden. Ein Revolver ist schließ lich kein Hut.“ „Du hast vollkommen recht. Wenn es nur nicht mein eigener wäre.“ „Der aus dem Schubfach?“ „Zuletzt war er im ,Faust’, erster Teil. Ich verstehe nicht, warum es seit gestern alle darauf abgesehen haben, zu den verschiedensten Zwecken ausgerechnet und ausschließlich meinen Revolver zu benutzen.“ „Verstecken Sie ihn doch irgendwo“, rät Pums. „Zwecklos. Es findet ihn doch jeder.“ Ich bin halb hinüber, der idiotische Vorfall mit dem Einbrecher hat mir den Rest gegeben.
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„Ich habe mit dir zu reden, Pums“, sage ich. „Aber erst hol mir einen Viertelliter Schnaps, ich bin voll kommen erledigt.“ Ich gebe ihr den Rest des Geldes, das mir Maya geliehen hat. „Horch mal ein bißchen herum, was sich die Leute in der Bar erzählen, aber du selbst gibst keinen Mucks von dir, verstanden?“ Mit einer Miene wie ,Das versteht sich doch von selbst’ verläßt uns Pums. Ich ziehe die Kassette vom „Faust“ heraus, um den Revolver zurückzutun, aber da fällt mir ein besseres Versteck ein: Wenn sich der Tresor schon wie durch ein Wunder geöffnet hat, dann kann er schließlich auch in Benutzung genommen werden. Ich wollte sowieso mal nachsehen, ob was drin ist. Die Tresortür steht immer noch einen Spalt weit auf, so wie sie Pums vorhin hinterlassen hat. Ich öffne sie vollends und werfe einen Blick hinein. In derselben Sekunde taumle ich mit weichen Knien rückwärts, aber sofort stürze ich wieder vor und schla ge die Tür zu. Ich muß mich an der Tresorkante fest halten, alles dreht sich um mich wie verrückt. Dabei bin ich es wohl selbst, der verrückt geworden ist. Jetzt bin ich fest davon überzeugt, daß ich reif fürs Irren haus bin. Ich hatte nicht erwartet, im Tresor etwas zu finden. Höchstens alte Quittungen oder (was ich kaum zu hof fen wagte) das berüchtigte Depot der Toten oder Lie besbriefe meines Vaters oder was weiß ich. Auf keinen Fall konnte ich vorhersehen, daß mir in dem seit sechs Jahren verschlossenen Geldschrank es erscheinen würde. „Was ist Ihnen?“ fragt Hildegard besorgt.
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Ich kann mich bis zum Schreibtisch schleppen, lasse mich in den Sessel fallen, werfe den Revolver ins Schubfach. „Soll ich Ihnen Wasser holen?“ „Nicht nötig, das geht vorüber.“ Ich versuche mir wie eine Mutter ihrem verängstig ten Kind einzureden, daß schließlich nichts Ungewöhn liches passiert ist – nichts Ungewöhnliches im Rahmen meiner Wahnvorstellungen. Nimmt man die Halluzina tionen erst einmal als existent an, so ist die Tatsache an sich sogar etwas ganz Gewöhnliches. Wenn es mich in der Wohnung, auf der Straße und im Regen vor dem Excelsior verfolgt, weshalb sollte es mir nicht auch im Tresor erscheinen? Ich hätte sogar damit rechnen müssen, es war dumm von mir, mich so überrumpeln zu lassen, ich brauche mir das wirklich nicht so zu Herzen zu nehmen. Da ich ohnehin im Irrenhaus ende, ist es zwecklos, sich dagegen zu wehren oder noch lange darüber nachzudenken. „Mir ist schlecht geworden, aber es geht schon wie der“, sage ich. „Gleich wird Pums wie ein Hund vom Sankt Bernhard erscheinen und mich retten.“ „Wie was?“ fragt Hildegard. „Wie ein Bernhardiner: mit einem Schnapsfäßchen um den Hals. Ihnen wird auch ein Schluck guttun.“ „Ja, das ist wahr. Ich habe mich doch sehr aufge regt. Noch nie habe ich jemanden mit einem Hammer niedergeschlagen, das hat mich sehr mitgenommen.“ „Aller Anfang ist schwer“, philosophiere ich. „Sie ha ben einen Schlag – alle Achtung! Unverkennbar Piani stin.“ „Ja, ich habe kräftige Arme. Es freut mich, daß ich Sie aus dieser unangenehmen Lage befreien konnte.“ 140
„Aber wie ich vermute, sind Sie nicht zu diesem Zweck zu mir gekommen. Was war Ihr eigentlicher Grund? Welcher Engel hat Sie gerade im richtigen Au genblick hierher geleitet?“ „Ich wollte eine Angelegenheit mit Ihnen bespre chen. Mit Ihnen als Anwalt. Ich möchte, daß Sie mir helfen.“ „Bis zu meinem Lebensende stehe ich zu Ihren Dien sten. Wollen Sie jemanden gerichtlich belangen?“ „Nein, Sie sollen mir jemanden verteidigen helfen…“ Hildegard verstummt. „Wen soll ich verteidigen? Was wirft man ihm vor? Ist jemand in Gefahr?“ „In der größten Gefahr.“ Hildegard kämpft mit den Tränen. „Bis jetzt habe ich ihn in der Wohnung ver steckt, aber er rückt mir immer wieder aus. Wenn ihn jemand so sieht, ist es sein Ende. Die Leute verzeihen so was nicht.“ „Was verzeihen sie nicht?“ Ich begreife überhaupt nichts. „Häßlichkeit“, flüstert Hildegard und wischt sich mit einem schmutzigen Taschentuch die Tränen aus dem Gesicht. „Er ist tatsächlich sehr häßlich. Aber soll er deshalb ums Leben kommen? Für mich ist er jedenfalls der Allerschönste.“ „Er ist Ihr Freund?“ frage ich unsicher. „Woran liegt es denn, daß er so häßlich ist? Wovon ist überhaupt die Rede?“ „Ihm sind die Haare ausgegangen!“ Hildegard be deckt ihre Augen mit dem Tuch. Sie sitzt reglos, offen bar hat sie alles gesagt, was zu sagen war, und nun wartet sie auf mein Urteil. „Moment. Wieso sind ihm die Haare ausgegangen?“ 141
„Er wurde krank und verlor sämtliche Haare“, schluchzt Hildegard. „Jetzt ist er ganz und gar kahl.“ „Nun gut, er ist kahl. Aber was ist daran so schlimm? Das passiert doch manchem, auch ohne Krankheit. Weshalb soll denn das so ein Unglück sein, wo ist hier die Gefahr?“ „Wenn Sie ihn sehen würden, würden Sie das be greifen“, sagt Hildegard. „Oh, ich weiß, Sie würden ihm nichts Böses antun. Sie sind ein guter Mensch, deshalb komme ich auch zu Ihnen. Aber wenn ihn je mand von den Nachbarn sieht oder der Hauswart oder ein Passant… Er läuft nämlich immer auf die Straße, jeden Abend treibt er sich herum, ich kann ihn nicht davon überzeugen, daß er zu Hause bleiben muß.“ „Und jetzt ist er in Ihrer Wohnung?“ Ich weiß nicht mehr, was ich von dieser merkwürdigen Geschichte halten noch wie ich das verrückte Gespräch fortsetzen soll. „Er ist verschwunden“, sagt Hildegard verzweifelt, „und ich weiß nicht, wo er sich augenblicklich aufhält und ob er überhaupt noch am Leben ist – nichts weiß ich.“ „Wann ist er weggegangen?“ „Ich habe es nicht bemerkt, er schlüpft hinaus wie ein Schatten. Wenn ich gesehen hätte, daß er fortlau fen will, hätte ich ihn ja zurückgehalten.“ „Konnten Sie nicht die Tür abschließen?“ „Was hilft das?“ seufzt sie. „Er zwängt sich ja durch den kleinsten Spalt. Vor ein paar Tagen ist er durch die Luftklappe gekrochen.“ „Durch die Luftklappe? Das muß ja ein Akrobat sein.“
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„Doch, er ist sehr geschickt“, gesteht Hildegard nicht ohne Stolz. „Lieber Herr“, bittet sie mit flehend erho benen Händen, „nehmen Sie ihn unter Ihren Schutz, damit ich nicht dauernd um ihn zittern muß, ich kann ihn ja nicht ewig vor aller Welt verstecken. Machen Sie den Leuten klar, daß er völlig harmlos ist, daß er ein liebes, sanftmütiges Kerlchen ist.“ „Ich werde tun, was in meinen Kräften steht“, ver spreche ich, „aber ich müßte ihn erst mal kennenler nen.“ „Aber selbstverständlich, ich bringe ihn zu Ihnen, sobald er zurück ist.“ „Er kommt bestimmt zurück?“ „Bestimmt – wenn er noch am Leben ist. Er kommt immer wieder zu mir zurück. Übrigens geht er nie weit weg.“ „Er ist heute früh verschwunden?“ „Gestern abend, vor dem Abendessen. Ich kochte Haferflocken, und auf einmal war er fort. Fast die gan ze Nacht habe ich auf der Treppe gesessen und auf ihn gewartet, aber er blieb weg. Heute bin ich seit dem frühen Morgen auf den Beinen, alle Ecken habe ich ab gesucht, im Keller nachgesehen, auf dem Boden…“ Hildegard verstummt, denn ich bin vom Sessel auf gesprungen und führe rund um den Schreibtisch einen Indianertanz auf. Dann nehme ich ihren strubbligen Kopf in beide Hände und drücke einen Kuß auf ihre Stirn. Hildegard ist derart verdutzt, daß sie sich nicht zur Wehr setzt. Sie schaut mich furchtsam und zu gleich vertrauensvoll an. Nachdem ich mich etwas be ruhigt habe, frage ich sie: „Sie möchten ihn gern wiedersehen?“
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„Helfen Sie mir ihn suchen? Sie sind so nett zu mir. Ich wußte ja, daß Sie mir beistehen würden.“ „Aber gewiß. Auf unsere Firma können Sie sich ver lassen. Haben Sie etwas verloren? Wir machen es für Sie auf Wunsch innerhalb von fünf Minuten ausfindig. Ohne langes Suchen, ohne große Unkosten, ohne Ver zug. Auf der Stelle.“ Ich gehe zum Tresor und öffne die Tür. Aus seinem Schlund schießt es mit einem gewalti gen Satz hervor – direkt auf Hildegards Schoß: das kahle, blaue Scheusal. „Seraphimchen! Du unartiges Kind“, ruft Hildegard und drückt das Monstrum an die Brust, das seinerseits durchdringende Mißtöne – ein Mittelding zwischen Piepsen und Jaulen – von sich gibt. Oh, ich kenne die se Laute! Das erste Mal hörte ich sie, als das Untier vor mir die Treppe hinauflief, das zweite Mal, als es vor meinem Bett hockte und seine Teufelszähne fletschte. Jetzt betrachte ich es ohne Angst, wenn auch mit Abscheu. Es sieht tatsächlich gespenstisch aus: nackt und blau. Oder eher faulig-lila. Ekelhaft. Hildegard küßt wieder und wieder seine runzlige Schnauze, den faltigen Hals, die Pfoten. „Es ist ein Kater, ja?“ erkundige ich mich. „Ein Siamkater, ein Rassetier!“ lobt Hildegard. „Und dann gingen ihm die Haare aus. Ich gab ihm Vitamin H, rieb ihn mit dieser violetten Salbe ein – es half nichts. Irgendeine seltene Krankheit. Seitdem das mit ihm passiert ist, gebe ich mir alle Mühe, ihn nicht aus der Wohnung zu lassen. Ich fürchte, die Jungens könn ten mit Steinen nach ihm werfen. Außer ihm habe ich niemanden auf der Welt.“
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Bei diesen Worten preßt sie ihren Schatz so heftig an sich, daß das Tier ein schrilles Quieken von sich gibt. „Still, still, mein Seraphimchen“, beschwichtigt Hil degard, aber Seraphimchen hört nicht auf zu mauzen. „Warum weinst du, hab’ ich dir wehgetan?“ erkun digt sie sich bekümmert und untersucht den nackten Katzenkörper. „Sehen Sie sich das an!“ jammert sie plötzlich. Sie stellt Seraphimchen auf den Schreibtisch und zeigt auf eine Stelle des violetten Rumpfes. Ich beuge mich vor und betrachte, meinen Ekel überwindend, das Scheusal aus der Nähe. Tatsächlich, an der rechten Seite ist die Haut verletzt: eine längli che Blessur wie von einem Schlag oder einer Verbren nung. „Sehen Sie? Jemand hat ihn verwundet. Der arme Seraphim, wahrscheinlich hat man nach ihm geworfen. Er muß sich furchtbar erschrocken haben, er ist so sensibel.“ Ich glaube freilich eher, daß der Angreifer er schrocken sein muß, aber ich schweige still. Übrigens scheint der Kater wirklich leidend. Als ihn Hildegard losläßt, rückt er nicht aus, er schleppt sich nur mit schwankenden Beinen über die Schreibtischplatte. „Aber er ist ja krank!“ schreit Hildegard auf und reißt den Kater zurück auf ihren Schoß. Sie legt das Ohr an seinen nackten Bauch (um diesen Anblick braucht mich niemand zu beneiden) und seufzt be kümmert: „Das Herz! Er hatte schon immer ein schwa ches Herz, heftige Gemütsbewegungen sind schädlich für ihn. Gewiß hat er sich sehr aufgeregt, als Sie ihn im Geldschrank einschlossen.“ 145
„Ich begreife überhaupt nicht, wie er da hineinkom men konnte“, verteidige ich mich. „Sicherlich doch erst, nachdem Pums die Tresortür geöffnet hatte, nicht früher. Aber wann?“ „Und weshalb nicht früher? Haben Sie denn den Geldschrank seit gestern nicht aufgehabt?“ „Seit mindestens sechs Jahren hat ihn niemand ge öffnet, er ist seit dem Tode meines Vaters verschlos sen. Wochenlang hing immer das gleiche Spinngewebe vor der Tresortür, erst vorhin hat es Pums zerrissen. Der Kater muß hineingehuscht sein, als sich der Ver brecher davonmachte und niemand von uns auf den Tresor achtete. Aber wie kam er ins Zimmer?“ „Er kann ja hinter mir durch die Tür geschlüpft sein, oder er ist über den Balkon oder durchs Fenster her einspaziert, er klettert oft über diese Eisentreppe oder vorn am Efeu hinauf, das ist für ihn eine Kleinigkeit. Ich möchte nur wissen, wo er sich in der Nacht he rumgetrieben hat.“ „Im Regen vor dem Excelsior“, liegt es mir auf der Zunge, aber dann überlege ich mir, daß das doch we nig wahrscheinlich ist. „Sagten Sie nicht, daß er sich nie weit vom Hause entfernt?“ „Ja, er bleibt immer in der Nähe, oder er verkriecht sich in irgendeinen Winkel und schläft. Einmal habe ich ihn unter der Treppe in einem Kinderwagen gefunden. Ich muß ihm ja Herztropfen geben“, fällt ihr ein. Sie erhebt sich, den Kater auf dem Arm. „Kann ich nach her noch mal zu Ihnen kommen? Wir müssen uns doch beraten, wie wir ihn in Zukunft beschützen können.“ Im Hinausgehen flüstert sie dem nackten Scheusal zärtlich etwas ins Ohr. Ich vollführe eine neue Serie 146
von Freudensprüngen rings um den Schreibtisch. Das Klappen der Vorzimmertür unterbricht meine Ballett übungen, Pums kehrt mit einer Viertelflasche Schnaps zurück.
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XI
„In der Bar wissen sie schon, daß das ihr Kellner war, der vom Dach gefallen ist“, berichtet sie. „Die Polizei hat das Servierfräulein mitgenommen, er soll ihr Ver lobter gewesen sein.“ „Sie glauben, er ist vom Dach gefallen?“ „So erklären sie sich’s. Sie können ja nicht ahnen, daß er in der Markise war.“ Sie reicht mir die Flasche, nachdem sie fachgerecht den Korken herausgeschlagen hat. Mein ganzer Organismus dürstet nach Alkohol. Gie rig setze ich die Flasche an die Lippen… und halte inne. Ich betrachte die Flasche nachdenklich, schließlich ge be ich sie Pums zurück. „Da, nimm. Trink, wenn du Lust hast.“ „Aber Sie wollten doch.“ „Ich mag jetzt nicht. Ich werde niemals mehr mö gen, das ganze Saufen hat doch keinen Sinn.“ „Gott sei Dank, daß Sie das endlich eingesehen ha ben“, seufzt sie erleichtert. „Aber wie lange werden Sie das durchhalten?“ „Oh, jetzt muß ich ja nicht mehr trinken“, sage ich, und ich fühle, daß das die Wahrheit ist. „Und warum mußten Sie bis jetzt?“ „Du bist reichlich neugierig, du solltest dich nicht in meine Privatangelegenheiten einmischen. Komm, sei nicht böse“, füge ich rasch hinzu, als ich ihre betretene Miene sehe. „Ich hatte in letzter Zeit allerhand unan genehme Sachen auf dem Hals, aber das ist nun vor bei, ein für allemal vorbei, ich bin ein neuer Mensch, das andere war zum Glück nur ein dummer Irrtum.“ 148
„Na, dann Prost.“ Pums nimmt einen Schluck und stellt die Flasche auf den Schreibtisch. Als sie am Tre sor vorbeikommt, klopft sie zärtlich auf seine ver staubte Oberfläche. „So, Pums, nun mal ‘raus mit der Sprache. Wie kam es, daß du den Geldschrank aufgekriegt hast, woher kanntest du die Kombination?“ „Na, hab’ ich das nicht gut gemacht?“ „Ich frage, woher du die Kombination kanntest. Hat Nina sie dir gesagt?“ „Nein.“ „Wer dann? Der Heilige Geist?“ „Ich möchte, daß dies ein Geheimnis bleibt“, sagt sie feierlich (Kim Novak in „Picknick“). „Laß den Unfug. Du sagst mir auf der Stelle, wie du es fertiggebracht hast, den Tresor zu öffnen.“ „Wollen Sie nicht wenigstens einen Schluck trinken?“ versucht sie abzulenken. „Ich trinke nichts. Antworte auf meine Frage.“ „Ich… Ich habe die Kombination gar nicht gekannt.“ „Was dann? Hattest du eine Offenbarung? Bist du zufällig auf die Kombination verfallen?“ „Ja, ganz zufällig!“ Ihre Miene klärt sich auf. „Es war purer Zufall.“ „Das glaub’ ich dir nicht. Solche Zufälle gibt es nicht.“ Pums senkt den Kopf und schweigt. „Sag, wie es war, sonst bin ich dir böse.“ Diese Drohung scheint einigen Eindruck auf sie zu machen. Sie öffnet den Mund, schlieft ihn wieder, öff net ihn von neuem, holt tief Luft – und hüllt sich in Schweigen. „Also?“ dränge ich. 149
„Wissen Sie… Ich habe ein bißchen Talent“, läßt sie sich schließlich vernehmen. „Zum Geldschranköffnen?“ Pums nickt verschämt. „Hast du es früher schon mal ausprobiert? Über haupt, was hast du mit Geldschränken zu tun? Woher hast du diese Begabung?“ „Das liegt in der Familie“, haucht sie. „Was heißt das? Ist in deiner Familie noch jemand so talentiert?“ „Onkel Wenzel“, sagt Pums. „Vielleicht haben Sie schon von ihm gehört?“ „Der Lange Wenzel!“ fährt es mir heraus. „Der ist dein Onkel?“ „Mein Onkel und mein Vormund. Ich bin in seinem Hause aufgewachsen.“ „Gratuliere. Jetzt begreife ich, daß du mit Geld schränken umzugehen verstehst. Bist du mit ihm auf Tour gegangen?“ „Nur ein einziges Mal, und ausgerechnet da mußten sie uns schnappen.“ „Du hast gesessen?“ „Ja, drei Monate. Vor ein paar Tagen haben sie mich entlassen.“ „Woher kennst du Nina?“ „Aus dem Gefängnis. Sie kam ein paarmal wegen eines Ihrer Klienten in die Gefängniskanzlei. Ich habe in der Kanzlei gearbeitet.“ „Jetzt verstehe ich erst, warum dich Nina mir als ‚qualifizierte Kraft’ empfohlen hat. Schöne Referenzen, das muß ich schon sagen.“
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„Sie dürfen nicht böse auf sie sein“, bittet Pums. „Wenn Sie mich nicht haben wollen, suche ich mir eben eine andere Arbeit.“ „So eine wie vorher, was? Aber denk dran, daß du beim nächsten Mal nicht wieder so billig davon kommst. Wenn man erst einmal gesessen hat…“ „Ich suche mir eine Arbeit im Büro. Oder als Kin dermädchen. Ich habe beschlossen, ehrlich zu werden“ (Maya Polack in „Gesang um Mitternacht“). „Und der Lippenstift?“ hake ich ein. „Das war das allerletzte Mal. Schön, ich habe ihn genommen, aber ich werde es nie wieder tun. Ich hat te ja keine andere Wahl. Lippenstifte sind teuer, und ich konnte mich doch hier nicht ohne Make-up vorstel len, nicht?“ „Sachte, sachte. Du hast dir doch den Lippenstift erst hier unter den Nagel gerissen. Pums, du machst schon wieder Ausflüchte.“ „Wieso?“ wundert sie sich. „Du behauptest, du habest den Lippenstift gestoh len, um auf mich einen guten Eindruck zu machen. Wenn das so wäre, dann müßtest du dir den Lippen stift ja besorgt haben, bevor du hierher kamst.“ „Das hab’ ich doch auch. Ich bin gestern ins Waren haus gegangen und habe mich bedient. Es war das letzte Mal, das schwöre ich Ihnen.“ „Du hast den Lippenstift im Warenhaus gestohlen?“ „Das wußten Sie doch. Ich weiß nicht, woher, aber Sie wußten es. Sie haben mir doch den Lippenstift aus der Handtasche genommen und ihn zurückgegeben. Oder nicht?“ „Es war nicht ganz so. Bist du sicher, daß der Lip penstift aus dem Warenhaus war?“ 151
„Natürlich. In einem gewöhnlichen Laden gucken sie einem zu sehr auf die Finger. Aber den nächsten kaufe ich mir bestimmt von meinem Gehalt, das müssen Sie mir glauben.“ „Nimm vorläufig den da.“ Ich werfe ihr den Lippen stift zu, den ich in Franks Wohnung gefunden habe. „Sie sind ein Engel“, strahlt Pums. „Sogar die gleiche Firma! Nur die Farbe ist etwas dunkler, ich werde ihn für den Abend nehmen.“ „Noch eins, Pums. Du müßtest doch Nusio durch deinen Onkel gekannt haben.“ „Den habe ich kaum gekannt. Zuerst bin ich gar nicht auf den Gedanken gekommen, daß er der Tote sein könnte. Erst als Sie nach seinen Zähnen sahen, merkte ich, daß es Nusio war. Ich wollte mir aber nicht anmerken lassen, daß ich wußte, wer er ist.“ Ich höre, daß die Vorzimmertür geöffnet wird. Gleich darauf tritt Frank ein, ihm folgt Wanda. „Ich habe beschlossen, am Lokaltermin teilzuneh men“, erklärt sie. „Frank habe ich unten vor dem Haus getroffen.“ Ich stelle Pums vor, hole ein Glas aus dem Schreib tisch, schenke es voll und reiche es Frank. Er kippt den Schnaps automatisch ‘runter, dann wirft er der Seinen einen schuldbewußten Blick zu. „Gebt mir auch einen“, begehrt Wanda. „Was Neues?“ erkundigt sich Frank. „Hast du den Mörder?“ „Fast. Mir fehlen nur noch ein paar Details. Nehmt Platz.“ Sie setzen sich. Ich gehe ans Telefon, wähle. „Maya? Störe ich?“
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„Du störst. Aber seinem Verlobten muß man das nachsehen. Was willst du?“ „Nimm dir rasch ein Taxi und komm her. Wenn du dich beeilst, kriegst du noch einen Schluck Kognak ab. Sofern Frank nicht bis dahin alles ausgetrunken hat.“ „Frank ist bei dir?“ „Ja. Wanda auch. Ich muß mich mit euch beraten, ich sitze verflucht in der Klemme.“ „In fünf Minuten bin ich da.“ Sie legt auf. Man muß zugeben, für eine Schauspielerin ist sie ausnehmend umgänglich. Ich wähle eine andere Nummer. Nina meldet sich. „Wo treibst du dich herum, daß man dich nie errei chen kann?“ begrüße ich sie. „Oh, du hast schon mal angerufen? Was kann ich für dich tun?“ „Ich wollte dich nach der Kombination vom Tresor fragen. Aber inzwischen haben wir ihn auch so aufge kriegt. Leider war er leer.“ „Der Tresor in deiner Kanzlei?“ „Ja. Kennst du die Kombination?“ „Nein“, sagt Nina. „Der Tresor ist sowieso nie in Ge brauch gewesen.“ „Aber mein Vater muß ihn doch benutzt haben.“ „Nur ganz kurze Zeit, dann hatte er’s satt. Er hatte sich die Kombination in sein Notizbuch geschrieben, aber das hat er immer verlegt, und dann konnte er den Tresor nicht aufmachen, wenn er etwas brauchte. Schließlich riß ihm die Geduld, er nahm alles ‘raus, was drin war, und ließ es mich woanders hintun, dann schloß er das gute Stück zu und rührte es nie wieder an. Das war zirka zwei Jahre vor seinem Tode. Kein
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Wunder also, daß du im Tresor nichts gefunden hast. Wie hast du ihn denn aufgekriegt?“ „Das ist eine andere Geschichte. Was war im Tresor, als ihn Vater ausräumte?“ „Nichts von Belang. Zwei Mappen mit Akten, die ebensogut im Regal liegen konnten – es waren ja kei ne Geheimakten, und ein paar Mietquittungen, soweit ich mich entsinne.“ „Sonst nichts?“ „Monty, verschone mich, das ist so viele Jahre her, ich kann mich nicht mehr genau erinnern.“ „War da kein Depot?“ „Was?“ „Ein Depot. Hat Vater nicht irgendein Depot aus dem Tresor genommen und dir zum Aufbewahren gege ben?“ „Ich glaube nicht. Ich weiß nicht mehr… Warte mal… Da war irgend so was… Nein, so auf Anhieb kann ich mich nicht dran erinnern, ich müßte mal nachdenken.“ „Denk nach und ruf mich an, wenn dir was einfällt, es ist wichtig.“ In dem Moment, als ich den Hörer auflege, erscheint Hildegard im Zimmer. Beim Anblick der Gäste bleibt sie in der Tür stehen. „Sie sind beschäftigt“, stellt sie fest, „ich komme später noch mal wieder.“ „Bleiben Sie doch. Ich werde Sie brauchen. Das ist meine Nachbarin“, stelle ich sie Frank und Wanda vor. „Vielleicht hat sie etwas beobachtet.“ „Beobachtet? In welcher Beziehung?“ fragt Hilde gard ängstlich. „Im Zusammenhang mit der Leiche, die heute mor gen auf ihrem Balkon lag.“ 154
„Da war doch gar keine Leiche“, wehrt sie ab, „Sie haben doch selbst nachgesehen.“ „Da war keine mehr, weil ich sie kurz zuvor auf mei nen eigenen Balkon hinüberbefördert hatte“, kläre ich sie auf. „Übrigens werden Sie gleich erfahren, worum es geht. Wir müssen die Sache gemeinsam bespre chen.“ Maya tritt ein. Ich stelle sie Hildegard vor, die von ihrer Schönheit offenkundig fasziniert ist. Übrigens starren alle wie gebannt auf Maya. Sie ist hinreißend. Wir setzen uns im Kreis. Ich nehme im Schreibtisch sessel Platz, zu meiner Linken sitzt Wanda, dann Frank, mir gegenüber vor dem Schreibtisch Hildegard, am Schreibmaschinentisch Pums, schließlich an meiner rechten Seite Maya.
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XII
„Ich eröffne die Sitzung“, beginne ich und klopfe man gels einer Klingel an die Kognakflasche. „Worum geht es denn?“ will Maya wissen. „Um zwei Leichen. Frank und Wanda wissen Be scheid, Fräulein Hildegard hatte Gelegenheit, die Tote in Augenschein zu nehmen, Pums ist ebenfalls infor miert.“ „Handelt es sich um ein Drehbuch?“ fragt Maya. „Etwas in der Art. Aber es fehlt noch das Finale. Wir müssen ein Finale finden.“ „Monty hat Sorgen“, wird Maya von Wanda aufge klärt. „Er hat heute früh in seiner Wohnung zwei Lei chen entdeckt.“ Maya schaut mich fragend an. „Das beste wird sein, wenn ich noch einmal alles von vorn erzähle“, schlage ich vor. „Hört genau zu, vielleicht hat einer von euch einen klugen Einfall.“ Ich berichte über alle Einzelheiten. Nur die Ge schichte mit Seraphimchen übergehe ich fürs erste mit Stillschweigen, sie ist mir peinlich. Dafür schildere ich mit allen Details die Szene, wie die beiden Leichen aus der Markise in den Polizeiwagen übersiedelten, und den Zwischenfall mit dem Maskierten. „Das sind die Tatsachen“, schliefe ich. „Was haltet ihr davon?“ Keiner tut den Mund auf. „Ich brauche eure Hilfe“, dränge ich. „Strengt euren Grips an.“ „Warum erzählst du das alles uns und nicht der Poli zei?“ fragt endlich Maya. Alle schweigen. 156
Frank meldet sich als erster zu Wort. „Es besteht kein Grund zur Beunruhigung“, meint er. „Du hast ein Alibi. Ich bin bereit zu beeiden, daß ich von neun Uhr abends bis drei Uhr morgens nicht von deiner Seite gewichen bin.“ „Die Hälfte dieser Zeit haben wir zu dritt verbracht“, fällt Maya ein, „und rechnet man die Nachbarn mit, sogar zu fünft.“ „Und vorher“, fährt Wanda fort, „von sechs bis neun, warst du ununterbrochen mit Gustav zusam men. Noch nie in der Geschichte der Kriminalistik hatte jemand ein so lückenloses Alibi.“ Erneut Schweigen. „Ja, ich habe ein Alibi“, sage ich schließlich. „Was nicht hindert, daß ich der Verdächtige Nummer eins bin. Vergeßt bitte nicht, daß die Ermordete sich angeb lich mit mir in diesem Zimmer verabredet hatte. Das Serviermädchen aus der Bar war Zeuge dieses Ge sprächs. Sie hörte, wie mich die Frau wegen des De pots anrief und mir ankündigte, daß sie deswegen in die Kanzlei kommen würde. Daraus folgt: Ich habe ihr Depot veruntreut, daher mußte ich sie töten.“ „Aber du hast sie nicht getötet, du hast ein Alibi“, wiederholt Wanda. „Ich habe dich keine Sekunde aus den Augen gelas sen“, pflichtet Frank bei. „Ach, hört auf, wir drehen uns im Kreis“, resigniere ich. „Dabei kommt nichts heraus.“ Ich bin erschöpft. Niemand will mir helfen. Alle wie derholen immer dieselben dummen Phrasen. Es ist Zeit, Schluß damit zu machen. Ich stecke mir eine Zigarette an. Das Telefon läutet. Nina ist am Apparat. 157
„Du hast recht, da war ein Depot“, bestätigt sie. „Gleich nach unserm Gespräch vorhin ist mir’s wieder eingefallen. Aber es war nichts von Wert. Dein Vater nahm das Ding aus dem Tresor und sagte: Tu das in die Ablage, danach wird keiner mehr fragen.“ „Was war es denn?“ „Ein Buch. Ein ziemlich dickes.“ „Was für ein Buch? Wie war der Titel?“ „Na ja, eigentlich war es kein richtiges Buch, nur einzelne Seiten, mit der Schreibmaschine geschrieben, in einem grünen Aktendeckel. Ich hab’ es nicht gele sen, keine Ahnung, was drinstand.“ „Wo ist das Buch? Weißt du noch, wo du es hingetan hast?“ „Es hat sich großartig als Sitzunterlage geeignet“, sagt Nina. „Der Schreibmaschinenstuhl war mir immer zu niedrig, ich hab’ das Buch draufgepackt, und da hat es seitdem gelegen, du mußt es doch bemerkt haben.“ „Ich danke dir für die Auskunft. Mach’s gut.“ „Gern geschehen. Wie läßt sich denn die neue Se kretärin an?“ „Sie zeigt außergewöhnliches Talent, aber davon ein andermal.“ Ich lege auf. Ich trage eine so gleichgültige Miene zur Schau, daß niemand danach fragt, was mir Nina mitgeteilt hat. Wieder herrscht eine Weile Schweigen. Plötzlich erhebt sich Hildegard und schleicht geduckt, auf Zehenspit zen, zur Tür. „Halt“, rufe ich und winke sie zurück. Sie kehrt ge horsam um und nimmt auf der Sesselkante Platz. Auch den andern steht es im Gesicht geschrieben, daß sie es vorziehen würden, woanders zu sein als ausgerech
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net in diesem Zimmer. Aber das hilft ihnen nichts, ich muß die Sache zu Ende bringen. „Mein Alibi ist durchaus nicht hieb- und stichfest“, sage ich ruhig, „ganz im Gegenteil.“ „Wir haben uns doch…“ fängt Frank wieder von vorn an. „Wir hätten uns nicht voneinander getrennt, willst du sagen? Das habe ich schon gehört. Aber es stimmt nicht. Wir waren mindestens fünf Minuten lang nicht zusammen, und fünf Minuten reichen aus, um einen Menschen oder zwei zu erschießen.“ „Was meinst du?“ „Ich meine den Zeitpunkt des gestrigen Abends, als ich im Auto blieb und du nach Schnaps gingst. Da war ich gut und gerne fünf Minuten lang allein.“ „Unsinn“, unterbricht Wanda. „In dieser kurzen Zeit vor dem Excelsior hättest du gar nicht zwei Morde ver üben können. Außerdem waren die beiden Opfer ge stern abend hier, am entgegengesetzten Ende der Stadt. Wie sollte es denn möglich sein, daß sie sich genau im richtigen Augenblick vor dem Excelsior auf gehalten haben? Das kann doch kein Mensch glauben.“ „Es ist in der Tat wenig wahrscheinlich“, räume ich ein. „Aber es hätte ja auch umgekehrt sein können, versteht ihr: Sie kamen nicht zu uns, sondern wir zu ihnen.“ Alle starren mich verblüfft an. Keiner sagt ein Wort. „Aber wir waren doch nicht hier!“ redet Frank auf mich ein. „Bist du dessen sicher? Die Nacht war so dunkel…“ „Entweder bist du verrückt geworden oder ich“, schimpft er. „Ich habe den Wagen doch selbst gesteu
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ert. Wir sind von unsrer Wohnung zum Excelsior ge fahren, nirgends sonst hin.“ „Hast du Zeugen?“ „Ich habe einen Zeugen: dich. Du warst zwar be trunken, aber zum Glück brauche nicht ich dich als Zeugen, sondern du mich. Und ich war nüchtern. Ich kann beeiden, daß wir auf kürzestem Wege zum Excel sior gefahren sind. Und von dort zu Maya, ohne noch einmal anzuhalten. Wo siehst du da eine Möglichkeit, zwei Morde auszuführen?“ „Eben“, nicke ich. „Das ist ja gerade der springende Punkt, daß wir beide gegenseitig unsere Zeugen sind. Darin besteht der ganze Dreh. Saubere Arbeit, gratu liere!“ „Ich verstehe kein Wort“, beschwert sich Wanda. „Nie wäre ich darauf gekommen“, bekenne ich, „wenn nicht Gustav mit seinem idiotischen Krimi ge wesen wäre, bei dessen Herstellung er mich als Ratge ber beschäftigt. Heute dachte ich über das ideale Alibi nach, das der Knalleffekt in Gustavs neuestem Elabo rat werden soll, und ich hab’ mir da was wirklich Origi nelles einfallen lassen. Plötzlich schießt es mir durch den Kopf, daß ich, ohne es zu wollen, ins Schwarze getroffen habe: Ich hatte etwas ausgetüftelt, was wirklich passiert ist, versteht ihr? Ich grübelte über meine eigenen Kalamitäten mit den beiden Leichen und gleichzeitig über Gustavs Roman nach, und da verfiel ich unbewußt auf eine Lösung, die zu Gustavs Krimi so leidlich, zu meiner wirklichen Geschichte aber wie angegossen paßt.“ Ich mache eine Pause, um mir eine neue Zigarette anzustecken.
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Maya schaut auf die Armbanduhr, sie ist wohl mehr mit der Frage beschäftigt, ob sie noch rechtzeitig zu ihren Aufnahmen kommt, als mit einem Doppelmord. „Wie verschafft man sich ein ideales Alibi?“ fahre ich fort. „Ganz einfach: Man verabredet sich mit einem Freund und fährt mit ihm an irgendeinen Punkt mög lichst weit weg vom Schauplatz des geplanten Verbre chens – das heißt, der Freund glaubt, daß man dorthin fährt, in Wirklichkeit geht es ganz in die Nähe des Or tes, an dem das Opfer wartet. Man erledigt das Nötige, läßt die Leiche, wo sie ist, läuft zurück zum Wagen und fährt mit dem Freund in eine neutrale Gegend. Der Freund wird beschwören, daß er mit einem – sagen wir, im Stadtwäldchen war, zehn Kilometer vom Tatort entfernt, während beide in Wirklichkeit am Tatort wa ren, nur weiß das der Freund nicht und wird es nie er fahren. Schlau eingefädelt, wie?“ „Ich wüßte nicht, wie man das anstellen sollte“, wi derspricht Wanda. „Dieser Freund hat schließlich Au gen im Kopfe, er sieht, wohin die Fahrt geht, oder?“ „Nehmen wir an, die Nacht ist dunkel, es ist neblig, es regnet. Der Freund ist außerdem ziemlich betrun ken. Er merkt gar nicht, daß er ganz woandershin ge fahren wird, zumal er ja keinen Argwohn schöpft. Es kommt ihm überhaupt nicht in den Sinn, hinauszu schauen und zu kontrollieren, ob die Richtung stimmt. Wenn der Wagen hält und der Fahrer sagt: ,Wir sind vor dem Excelsior, warte eine Minute’, wird er felsen fest davon überzeugt sein, daß er vor dem Excelsior wartet – in Wirklichkeit ist er ganz woanders, nämlich dort, wo der andere hinwollte, begreift ihr nun?“
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„Willst du damit sagen, daß ich dich gestern nacht nicht vors Excelsior gefahren habe, sondern woan dershin?“ erkundigt sich Frank ironisch. „Genau das. Du hast mir eingeredet, wir fahren zum Excelsior, und ich war sicher, vor dem Excelsior auf dich zu warten. In Wirklichkeit haben wir hier irgendwo in der Nähe geparkt, ich vermute, in einer der Seiten straßen, die sich nachts alle aufs Haar gleichen. Es war nicht zu befürchten, daß ich aussteigen und Umschau halten würde, denn es goß in Strömen. Ich hätte bis an mein Lebensende geschworen, daß wir vor dem Ex celsior gehalten haben – Irrtum: hier waren wir.“ „Weshalb sollte dich denn Frank unter Vorspiegelung falscher Tatsachen hierher gefahren haben?“ will. Wanda wissen. „Ganz einfach: um eine gewisse schwarzgekleidete Dame zu erschießen und gleichzeitig einen Zeugen zu haben, daß er sie gar nicht erschossen haben kann, weil er ja um diese Zeit ganz woanders war.“ Alle Blicke richten sich auf Frank, der seinerseits et was verdattert dreinschaut. Hildegard und Pums star ren ihn mit frommem Schauder an. Maya hat ihre Auf nahmen vergessen. Sie öffnet den Mund, um etwas zu sagen, aber es kommt kein Laut über ihre Lippen. Wanda ist die einzige, die nicht die Fassung verliert. „Franks Meisterstück“, fahre ich fort, „besteht in fol gendem: Wen von uns beiden man auch beschuldigen mag, stets wird ihm der andere ein Alibi liefern. Fällt der Verdacht auf mich, in dessen Wohnung sich ja die beiden Leichen anfanden, dann würde Frank beschwö ren, daß ich in der fraglichen Zeit nicht hier gewesen sein kann. Und verdächtigt man ihn, so würde ich mit
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reinem Gewissen das gleiche über ihn aussagen. Das ist Maßarbeit, alles was recht ist.“ „Und weshalb sollten sie Frank verdächtigen?“ er kundigt sich Wanda im Ton höflichen Interesses. „Weil er ein Motiv hatte. Is fecit, cui prodest.“ Maya schaut fragend zu Wanda hinüber, aber die macht sich nicht die Mühe, ihr mein Latein zu überset zen. „Was für ein Motiv?“ fragt sie. „Schluß jetzt“, fährt Frank dazwischen. „Hört auf herumzublödeln, die Sache ist ernst.“ „Glaub mir, ich bin ehrlich verzweifelt“, wende ich mich ihm zu. „Aber wir wollen es wie Männer tragen: Du hast gemordet, das ist eine Tatsache.“ „Er ist übergeschnappt“, sagt Frank mit betrübter Stimme zu Wanda. „Er hat zuviel getrunken in letzter Zeit.“ Er schaut sie hilfesuchend an, aber Wanda ignoriert seinen Blick. Sie zündet sich eine Zigarette an und wartet auf die Fortsetzung. „Dein Motiv“, nehme ich den Faden wieder auf, „er riet ich aus dem, was das Servierfräulein berichtet hat, und Nina hat jetzt meine Vermutung bestätigt.“ „Der meint es ernst“, stellt Frank beunruhigt fest – überflüssigerweise, denn daran zweifelt niemand. „Unterbrich nicht immer“, rügt Wanda, „das ist doch sehr aufregend.“ „Hört auf, zum Teufel“, brüllt Frank. Erst jetzt ist er in Wut geraten. Er knallt die Faust auf den Schreibtisch und läuft rot an wie eine Tomate. Es wird totenstill. Frank läßt seinen Blick über die Anwesenden gleiten, und plötzlich wird ihm bewußt, daß die Frauen wegse 163
hen. Mit Mühe beherrscht er sich. Er zuckt die Achseln und läßt sich in den Sessel zurücksinken. Sein Ge sichtsausdruck ist der eines Menschen, der – einziger Normaler in der Runde – in die Gesellschaft gefährli cher Irrer geraten ist. Mit ironischem Lächeln gibt er mir zu verstehen, daß er bereit sei, weiter zuzuhören. „Vor acht oder zehn Jahren“, beginne ich, „spielte sich in diesem Raum folgende Szene ab. Bei Rechts anwalt Rieff ließ sich eine Klientin aus der Provinz mit Namen Clara Wixel melden. Sie muß wohl den Ein druck einer etwas verschrobenen alten Jungfer ge macht haben. Ihr Spleen war übrigens ganz harmlos: Sie schrieb Kriminalerzählungen und schickte sie unter einem Pseudonym an verschiedene Zeitschriften. Wie ich annehme, erlaubte sich eins dieser Magazine ein starkes Stück mit ihr: Man arbeitete ihre Geschichte um und druckte sie unter anderem Namen – oder et was in der Art. Da sie keinen Beweis für ihre Autor schaft in Händen hatte, konnte sie nichts unterneh men, um zu ihrem Recht zu gelangen. Aber sie schwor sich, daß ihr das nicht noch einmal passieren sollte, und beschloß, in Zukunft sicherzugehen. Als sie dann später mit einem neuen Werk niederge kommen war, das sie diesmal an den Kriminalverlag schickte, behielt sie eine Abschrift zurück, die sie zu sammen mit der Einschreibquittung für das abgesand te Original hierher, zu Rechtsanwalt Rieff brachte und ihm in Verwahrung gab. Ich glaube, mein Vater hat die Angelegenheit nicht allzu ernst genommen. Er wird nicht daran gezweifelt haben, daß er es mit einer Graphomanin zu tun hatte, die von der fixen Idee be sessen war, daß ihr die Verlagspiraten ihr Kunstwerk abzujagen trachten. Er nahm das Manuskript an sich, 164
begrub es im Tresor und vergaß den Vorfall augen blicklich. Als er später einmal im Tresor Ordnung machte, behandelte er dieses Depot als eine Sache, die keine besondere Beachtung verdiente und ,nach der keiner mehr fragen’ würde. Auch seine Sekretärin hielt es für überflüssig, das Konvolut unter Verschluß zu halten. Sie packte es auf den Stuhl am Schreibma schinentisch, um nicht so niedrig zu sitzen, und so thronte sie jahrelang auf dem kostbaren Stück, das mit dem Stuhl zu einem Ganzen verwuchs und von niemandem mehr auch nur bemerkt wurde.“ Bei diesen meinen Worten schnellt Pums vom Stuhl hoch und fährt nervös mit der Hand über den Sitz. Aber dort ist nichts mehr. „Seit ich von meinem Vater die Kanzlei übernommen habe“, rede ich weiter, „hatte ich diesen Band Tag für Tag vor Augen. Aber es kam mir nie der Gedanke, daß das Ding irgendeinen Wert haben könnte. Literarischen Wert hatte es wohl sicher nicht. Statt dessen gab es Anlaß zu einem Mord.“ Ich stecke mir eine neue Zigarette an. Wanda tut das gleiche. Ihre Hände zittern nicht ein bißchen. Frank schaut gelangweilt aus dem Fenster, als ginge ihn das, was sich hier abspielt, nicht das geringste an. Ich fahre fort: „Während das Duplikat hier unbeachtet auf dem Stuhl herumlag, hatte das Original ein interessanteres Schicksal. Von der Post dem Kriminalverlag zugestellt, landete es wie alle Einsendungen auf dem Schreibtisch des Chefredakteurs, und der hieß damals Frank Schmidt. Frank blätterte in dem Elaborat, merkte auf den ersten Blick, daß es hoffnungslos war, und packte es auf den Stapel der unverwendbaren Manuskripte. 165
Wahrscheinlich machte er sich nicht einmal die Mühe, der Autorin ein paar bedauernde Floskeln zu schreiben, und sie schloß aus dem Ausbleiben der Antwort – zu Recht –, daß ihr Kunstwerk keinen Beifall gefunden hatte. Sie verwand es, und vielleicht dachte sie am Ende gar nicht mehr an das Produkt ihrer Phantasie – bis zu dem Augenblick, als sie im Kino den Kriminalfilm ,Die schwarze Treppe’ sah.“ Wie von der Tarantel gestochen fährt Frank hoch, Maya wirft ihm einen erschrockenen Blick zu. Aber sie schweigen. Ich lasse mich dadurch nicht stören. „Ob Frank hier bewußt oder unbewußt plagiiert hat, ist mir nicht bekannt. Vielleicht ist er sogar bereit zu beschwören, daß er die Fabel seines Drehbuchs selbst erfunden hat, während sie doch eine Reminiszenz an den Schmarren war, den er damals gelesen und wieder vergessen hatte. ,Die schwarze Treppe’ machte ihn berühmt – ihn und Maya Polack. Jahrelang flimmerte der Streifen über die Kinoleinwände, noch heute wird er in der Provinz gezeigt. Clara Wixel scheint keine Ki nogängerin gewesen zu sein, deshalb sah sie den Film nicht in der Zeit seines größten Erfolges. Selbst wenn sie den Titel auf den Plakaten gelesen hat, sagte ihr das nichts, denn der war natürlich geändert. In diesem Jahr nun reiste Clara in die Ferien nach Frankreich, nach Montfleur. Vielleicht war es das erste Mal in ih rem Leben, daß sie sich eine Auslandsreise leisten konnte, sie war ja arm. In Montfleur hatte sie keine Bekannten, Zerstreuung gab es wenig, also ging sie ins Kino. Dort wurde ,Die schwarze Treppe’ gespielt. Und Clara erkannte ihr geistiges Eigentum wieder.“ Ich mache eine Pause, um mir eine neue Zigarette anzustecken. 166
„Sie setzte sich in den Zug und fuhr hierher, um für ihr Recht zu kämpfen. Um ihre Ansprüche beweisen zu können, brauchte sie nur das Duplikat abzuholen, das im Tresor des Rechtsanwalts ruhte, und es zusammen mit der Postquittung dem Gericht vorzulegen. Wie ich vermute, kam sie direkt vom Bahnhof hierher. Da sie im Büro niemanden antraf, ging sie unten in die Bar, suchte im Telefonbuch meine Privatnummer heraus und rief an. Jemand nahm den Hörer ab und behaup tete, Rechtsanwalt Rieff zu sein. Sie erzählte ihm die ganze Geschichte und bat ihn, ihr das Manuskript aus zuhändigen. Dieser Jemand sagte ihr, er sei im Mo ment beschäftigt, aber sie möge sich mit dem Schlüs sel aus der Nische die Kanzlei aufschließen und dort auf ihn warten, er werde bald kommen. Sie ging also wieder hinauf, nahm den Schlüssel aus dem Versteck, betrat die Kanzlei… und überraschte Nusio dabei, wie er am Geldschrank herumfingerte. Nusio hatte nämlich das Telefongespräch mit angehört und so erfahren, daß der Tresor Dinge von Wert enthalte. Er hatte die Tür zur Feuerleiter aufgebrochen und war über den Laufsteg, den Mauersims und den Balkon hier einge drungen. Kaum hatte er sich über den Tresor herge macht, als Clara auf der Bildfläche erschien. Nusio sprang hinter den Vorhang, er wollte auf dem gleichen Weg zurück, auf dem er hereinspaziert war, aber er kam nicht weit. Clara ergriff den Revolver, der auf dem Tisch lag, und schoß. Wahrscheinlich glaubte sie, der Einbrecher habe das kostbare Stück aus dem Tre sor entwendet und wollte damit fliehen. Ich weiß nicht, was sie sich dabei gedacht hat, jedenfalls schoß sie und traf. Möglich auch, daß sie es gar nicht war und daß Nusio erst nachher von Frank umgebracht wurde. 167
Vielleicht hat sie Nusio überhaupt nicht bemerkt und seelenruhig auf den Rechtsanwalt gewartet, während Nusio hinter dem Vorhang blieb in der Hoffnung, daß Clara bald verschwinden würde und daß er sich dann wieder an die Arbeit machen könnte. Zu dieser Zeit saßen wir – Frank und ich – bei ihm zu Hause und pi chelten. Frank überlegte, wie er unbemerkt hierher gelangen und die Sache in Ordnung bringen könnte. Zufällig hatte er das für mich bestimmte Telefonat an genommen. Er wußte, daß ihm ein Prozeß und die öf fentliche Blamage drohten. Das mußte er um jeden Preis verhindern. Er hatte Clara gesagt, sie solle in der Kanzlei auf ihn warten, und nun ging er mit sich zu Ra te, was zu tun sei. Er war froh, daß er mich bei sich hatte. Auf diese Weise war er sicher, daß ich nicht im unpassenden Augenblick in meiner eigenen Kanzlei auftauchen würde. Dagegen wußte er noch nicht, wie er selbst hierher kommen sollte, ohne daß es jemand merkte. Da rief Maya an.“ Ich halte ein, streife Frank mit einem Blick. Er sitzt steif, mit verschränkten Armen im Sessel, die Lider halb geschlossen. Auf seinem Gesicht liegt ein Aus druck von Resignation. Ich hole tief Atem und fahre fort: „Maya erleichterte ihm die Sache. Sie lud uns zu sich ein, erklärte aber, keinen Alkohol im Hause zu ha ben. Der Rest ist schnell erzählt: Frank fuhr mit mir hierher, behauptete, wir hielten vor dem Excelsior, und ließ mich im Wagen zurück. Er lief hinauf, betrat die Kanzlei, wechselte wohl ein paar Worte mit Clara, fand irgendwo den Revolver und erschoß sie. Ob er auch Nusio ins Jenseits befördert hat, entzieht sich, wie ge sagt, meiner Kenntnis. Es kann sein, daß Nusio schon zwei Stunden tot war. Es kann aber auch sein, daß er 168
noch am Leben war, daß er unvorsichtigerweise hinter dem Vorhang hervorlugte und von Frank erledigt wur de. Vielleicht erzählst du uns, wie es war“, wende ich mich an Frank. Der hebt die Lider, aber er sagt nichts. Niemand sagt etwas. Ich bin sehr erschöpft. „Ist ja auch egal“, winke ich ab. „Ich glaube, für heute ist unser Bedarf gedeckt. Ich hätte nichts dagegen, wenn ihr euch jetzt empfehlen würdet.“
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XIII
Keiner rührt sich. Schließlich bricht Wanda das Schweigen: „Kannst du beweisen, daß ihr in der Nacht hierher und nicht zum Excelsior gefahren seid?“ „Im Excelsior führen sie keinen Calvados“, sage ich, „das habe ich heute herausgekriegt. Hier unten in der Bar dagegen gibt es Calvados in beliebigen Mengen zu kaufen. Und wir haben Calvados zu Maya mitgenom men.“ „Unsinn, nachts um zwölf ist die Bar geschlossen“, widerspricht Wanda. „Offensichtlich war hinten noch auf, vielleicht hat der Wirt abgerechnet oder aufgeräumt, das werde ich noch herauskriegen. Übrigens habe ich noch einen zweiten Beweis dafür, daß wir gestern nacht hier ir gendwo in der Nähe waren, das erzähle ich euch spä ter.“ „Und wo ist der Beweis dafür, daß es um die ,Schwarze Treppe’ ging?“ fragt Wanda. „Das Serviermädchen hörte, wie Clara Wixel am Te lefon sagte, ihre Treppe sei gestohlen worden. Wovon soll denn sonst die Rede gewesen sein, wenn nicht von der berühmten ,Schwarzen Treppe’? Frank hat das al les ganz meisterhaft inszeniert. Er ließ mich im Wagen zurück, lief in die Kanzlei hinauf, gab sich der armen Frau gegenüber für mich aus, während des Gesprächs nahm er heimlich den Revolver aus dem Schreibtisch fach, erschoß sein Opfer und trug die Leiche in meine Wohnung hinauf. Oder aber – das ist wohl wahrschein licher – er lockte sie nach oben, erschoß sie dort und lief zurück in die Kanzlei, um den Tresor zu öffnen und das kompromittierende Manuskript herauszuholen. 170
Den Tresor kriegte er nicht auf, dafür entdeckte er Nu sio hinter dem Vorhang. Auf einen Mord mehr oder weniger kam es ihm nun nicht mehr an. Dann rannte er hinaus und merkte erst auf der Treppe, daß er den Revolver noch in der Hand hielt. Da er sich beeilen mußte, legte er ihn zusammen mit dem Schlüssel in die Nische unter den Feuerlöschschlauch. Anschließend betrat er durch die Hintertür die Bar, kaufte den Cal vados und kam zum Wagen zurück.“ „Weshalb sollte er denn die Frau in die Privatwoh nung gelockt haben?“ zweifelt Wanda immer noch. „Vielleicht, weil die Wohnung abgelegener ist, weil dort die Gefahr geringer war, daß jemand den Schuß hörte“, erläutere ich. „Es ist allerdings merkwürdig, daß niemand einen Schuß gehört hat“, überlegt Wanda. „Die Nachbarn sind in die Ferien gefahren. Vielleicht hat auch jemand was gehört, es war mir noch nicht möglich, alle zu befragen.“ „Und der Maskierte?“ bohrt Wanda weiter. „Wer war der Maskierte? Glaubst du, daß Frank sich für diese Szene einen Gangster angeheuert hat?“ „Weshalb sollte das nicht Frank selber gewesen sein?“ pariere ich. „Der Einbrecher kam mir gleich ir gendwie bekannt vor. Er glaubte, ich kenne die Kom bination und werde den Tresor öffnen, wenn er mir mit dem Revolver droht. Er konnte ja nicht wissen, daß sich das Manuskript seit Jahren nicht mehr im Tresor befand, sondern als Sitzunterlage diente.“ „Und was ist damit geworden?“ fragt Wanda. „Es ist fort, wir werden es nie wieder zu Gesicht be kommen“, eröffne ich der Versammlung. „In dem Au genblick, als Frank wieder zu Bewußtsein kam, nach 171
dem ihm Fräulein Hildegard eins mit dem Hammer verpaßt hatte, merkte er, daß er mit dem Kopf auf ei nem grünen Aktendeckel lag, der mit Manuskriptseiten gefüllt war – auf genauso einem wie dem im Kriminal verlag, aus dem er sich die Idee für die ,Schwarze Treppe’ geborgt hatte. Blitzschnell schaltete er, daß dies das gesuchte Duplikat sein mußte. Er riß es an sich und machte sich davon. Jetzt dürfte das kostbare Stück kaum mehr vorhanden sein, Frank wird es sofort vernichtet haben.“ „Hurra!“ jubelt Wanda, „dann ist ja das Corpus de licti beseitigt. Mir fällt ein Stein vom Herzen.“ „Sachte, sachte“, bremse ich ihre Freude. „Das Ma nuskript existiert zwar nicht mehr, aber es läßt sich durchaus noch feststellen, was dringestanden hat. Pums hat es ja gründlich gelesen.“ Diese Enthüllung elektrisiert alle Anwesenden. Selbst Frank gibt seinen vorgetäuschten Schlummer auf und sieht Pums fragend an. Die kriegt einen roten Kopf. „Als noch kein Mensch ahnte, daß dieses vergilbte Manuskript einmal als Beweisstück in einem künftigen Prozeß dienen würde, machte sich Pums die Mühe, es zu studieren. Das nenne ich mir eine vorbildliche Se kretärin.“ „Ich… ich hab’ doch nur einen flüchtigen Blick hi neingeworfen“, stottert Pums. „Du hast geschmökert, daß dir die Ohren glühten, zweimal habe ich dich dabei ertappt. Du brauchst es gar nicht abzustreiten, ich bin es gewohnt, daß meine Sekretärinnen in der Dienstzeit Bücher lesen, sonst würden sie ja vor Langerweile sterben. Vielleicht könn test du uns mal referieren, was du gelesen hast.“ 172
„Das waren so verschiedene Geschichten… von lau ter Morden“, berichtet sie. „Kriminalerzählungen?“ „Ja, Erzählungen, aber nichts Gescheites, man wuß te immer gleich, wer der Mörder war.“ „Wie viele Erzählungen waren es denn?“ „Eine Menge, ich hab’ sie nicht alle gelesen.“ „Was stand auf dem Titelblatt? Was stand denn da für ein Name?“ „Darauf habe ich nicht geachtet“, sagt sie. Pums ge hört offenbar zu den Leserinnen, denen der Name des Autors völlig gleichgültig ist. „Hat dich eine von diesen Geschichten an etwas er innert?“ forsche ich weiter. Alle erstarren in Erwartung der Antwort. Jetzt muß die Bombe platzen. „Ja…“ antwortet Pums zögernd. „Eine handelte von etwas, was ich schon mal gesehen habe.“ „Und wovon? Rede!“ „Vom Geldschrankknacken“, murmelt Pums und schlägt die Augen nieder. „Das war aber ganz schlecht beschrieben, ganz laienhaft.“ Das will ich ja gar nicht wissen. Ich muß deutlicher werden. „Du hast doch den Film ,Die schwarze Treppe’ gese hen?“ „Dreimal sogar.“ „Hatte eine von diesen Erzählungen eine Ähnlichkeit mit dem Film? Denk mal scharf nach.“ „Nein, so eine war nicht dabei“, antwortet sie ohne Zögern. „Sie müßte höchstens auf den letzten Seiten gestanden haben, den Schluß habe ich nicht ge schafft.“ 173
„Ich hatte also recht: Es war ein Band Kriminaler zählungen“, fasse ich zusammen. „Ich will gern glau ben, daß sie unter aller Kritik waren. Aber eine von ihnen muß die Idee enthalten haben, die Frank dann für sein geniales Drehbuch verwendete.“ „Na und?“ wirft Wanda ein. „Und wenn es so war. Aber Frank ist kein Mörder. Erstens hat er nicht mit der Frau telefoniert – wie sollte er auch?“ „Was das betrifft“, unterbreche ich sie, „wird es sich etwa so abgespielt haben: Als Clara Wixel feststellen mußte, daß man ihre Idee gestohlen hatte, merkte sie sich Franks Namen, der ja auf allen Plakaten steht. Doch zuerst wollte sie ihr Manuskript abholen und dann erst Frank aufs Dach steigen. Sie schlug im Tele fonverzeichnis nach und notierte sich meine und Franks Nummer, und dann verwechselte sie die Num mern in der Aufregung. Statt meiner Nummer wählte sie die von Frank, und sie war überzeugt, bei mir an zurufen. Frank meldete sich mit ,Hallo’, und sie erzähl te ihm gleich die ganze Geschichte. Frank war sich so fort klar über die Gefahr, die ihm drohte. Im weiteren Verlauf des Gesprächs gab er sich nun bewußt für mich aus, um die Frau über alles auszuhorchen und die Affäre in die gewünschten Bahnen zu lenken. Er konnte sich unbesorgt mit ihr in meiner Kanzlei verab reden, denn er wußte bereits, daß ich zu ihm unter wegs war und hier bei mir alles leer stand.“ „Du bist ganz schön gewieft“, muß Frank zugeben. „Ich kapituliere.“ Er erhebt sich, geht ans Telefon, wählt eine Nummer. „Tu’s nicht“, bittet ihn Maya, aber Frank läßt sich nicht abhalten. Offenbar will er die Polizei anrufen, um ein Geständnis abzulegen. So sehr brauchte er sich 174
nun auch wieder nicht zu beeilen, er sollte sich vorher ein System für seine Verteidigung zurechtlegen. Aber darüber wird er wohl schon die ganze Zeit nachge dacht haben, während ich redete. „Ist dort das Excelsior?“ spricht Frank in den Hörer. „Bitte den Portier.“ Und nach einer kleinen Pause: „Ist da der Portier? Hier spricht Schmidt, Frank Schmidt, Sie kennen mich?“ Der Gesprächspartner scheint zu bejahen. Frank fährt fort: „Ich gebe Ihnen gleich mal meinen Freund Rieff. Er möchte gern wissen, ob Sie noch ei nen größeren Vorrat Calvados haben oder ob Sie mir gestern die letzten beiden Flaschen verkauft haben. Er behauptet, so einen erstklassigen Calvados hätte er noch nie getrunken. Ich übergebe.“ Ich nehme den Hörer und sage: „Guten Tag. Waren Sie das, der gestern Nacht meinem Freund den Calva dos verkauft hat? Ich wollte heute in Ihrer Bar welchen bestellen, aber die hatten keinen.“ „Der Chef meint, Calvados ist zu billig“, klärt mich der Portier auf. „Aber ich weiß, daß viele Gäste Calva dos verlangen, deshalb hab ich immer ein paar Fla schen auf Lager, ich kann Ihnen gern welchen abge ben.“ „Sagen Sie, haben wir den Calvados gestern oder vorgestern bei Ihnen gekauft?“ „Gestern natürlich“, versichert der Mann. „Das heißt, eigentlich war es schon heute – so gegen Mitternacht, als dieser Platzregen niederging. Herr Schmidt war ja ganz naß, als er hereinkam. Ich habe übrigens auch einen ausgezeichneten Wermut, den kann ich Ihnen sehr empfehlen, ich werde Sie gern bedienen.“ Ich lege auf und wende mich zu Frank um. 175
„Warum, zum Teufel, mußtest du denn den Schnaps beim Portier kaufen und nicht, wie üblich, in der Bar?“ „Weil ich schlecht im völlig durchnäßten Mantel durch die Halle marschieren konnte“, entgegnet Frank. „Und den Mantel in der Garderobe abzugeben hätte sich für die kurze Zeit nicht gelohnt.“
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XIV
Die allgemeine Spannung hat sich gelöst. In die Ge sichter kehrt die natürliche Farbe zurück. Die Versam melten machen es sich wieder bequemer in ihren Ses seln und mustern mich mit wohlwollend spöttischen Blicken. „Holla, noch ist nicht alles geklärt“, protestiere ich – es bleibt eine letzte Hoffnung. „Willst du mir nicht ver raten, warum wir ausgerechnet ins Excelsior fahren mußten?“ „Wohin hätten wir denn sonst fahren sollen?“ fragt Frank etwas zu natürlich. „Das Excelsior ist sehr weit von deiner Wohnung entfernt, und es liegt ganz und gar nicht auf dem We ge zu Maya. Gestern Nacht habe ich dem keine Bedeu tung beigemessen, aber jetzt muß ich schon sagen, es war ein Blödsinn, kilometerweit durch den Regen zu gondeln, nur um Schnaps zu kaufen, den wir an jeder Ecke gekriegt hätten – an Kneipen ist schließlich kein Mangel in unsrer Stadt.“ „Weiter hast du keine Sorgen?“ weicht Frank aus. „Ich lasse dich nicht eher weg, als bis du mir eine eindeutige Antwort gegeben hast. Diese Fahrt ins Ex celsior ist sehr verdächtig.“ „Na schön, ich werd’s dir sagen“, bequemt er sich. „Nein!“ schreit Maya auf – mit einer Stimme, daß al le zusammenfahren. Frank verstummt wie ein abgestelltes Grammophon. Alle schweigen. Langsam dämmert’s bei mir. Was bin ich doch für ein Hornochse! „Also Maya“, sage ich nachdenklich. 177
„Nein, ich war es nicht“, kreischt sie – das ist nicht mehr jene berühmte gutturale und von Leidenschaft durchglühte Stimme, wie sie die Filmrezensenten rüh men, sie erinnert eher an das Quieken einer in die Fal le gegangenen Ratte. „Bei der Geschichte mit dem Lippenstift hätte mir ja schon ein Licht aufgehen müssen“, überlege ich. „Aber irgendwie habe ich die Fakten in keinen rechten Zu sammenhang bringen können. Jetzt ist mir alles klar.“ Maya verbirgt das Gesicht in den Händen. Ich denke darüber nach, wie die einzelnen Fäden, die ich in der Hand halte, miteinander zu verknüpfen sind, und sie he: Alles fügt sich ganz logisch zusammen. „Heute vormittag“, beginne ich meine Beweisfüh rung, „hat Pums ihre Handtasche vom Tisch geschubst und den ganzen Inhalt auf dem Boden verstreut. Maya war zugegen. Sie hob den Lippenstift auf, der aus der Tasche gefallen war, und steckte ihn ein. Später versi cherte sie mir, das sei ihr Stift gewesen, den ihr Pums gestohlen habe.“ Pums macht ein erstauntes Gesicht, aber ich gebe ihr ein Zeichen, mich nicht zu unterbrechen. „Maya brachte vor, sie besitze für den Vormittag ei nen hellen und für den Abend einen dunklen Lippen stift. Den hellen habe sie die ganze Zeit bei sich ge habt, den dunklen habe ihr Pums heute früh gemaust. Wir sprachen beim Frühstück darüber. Maya nahm beide Stifte heraus und drehte sie auf, um sie mir zu zeigen. Und wißt ihr was? Keiner war heller oder dunk ler, beide waren gleich hell. Das heißt also, daß der zweite Stift gar nicht Maya gehörte. Ich merkte das natürlich, und ich wartete, wie sich Maya verhalten würde. Aber Sie zuckte mit keiner Wimper. Sie 178
schraubte die Lippenstifte zu und steckte sie in ihre Handtasche. Wollte sie ihren Irrtum nicht zugeben, weil sie sich schämte, daß sie das Mädchen fälschlich beschuldigt hatte? So dachte ich zu Anfang. Aber der wahre Grund lag tiefer.“ Ich mache eine Pause, mir ist eben etwas eingefallen. „Übrigens kann ich noch auf andere Art beweisen, daß Pums Mayas Lippenstift nicht gestohlen hat. Pums war schon geschminkt, als sie heute früh hierherkam. Und Mayas dunkler Lippenstift fehlte schon seit gestern abend. Ich habe der Nachba rin, die mit Lockenwicklern in Mayas Wohnung kam, eigenhändig die Lippen bemalt. Im Bad stand aufge schraubt Mayas Lippenstift. Es war ein heller, Wanda kann es bezeugen, sie hat die Spuren davon aus Franks Hemdkragen beseitigt. In meinem ganzen Le ben habe ich nicht so viel über Lippenstifte erfahren wie am heutigen Tage, man lernt eben nie aus. Später stellte sich dann heraus, daß Pums ihren Stift aus dem Kaufhaus hatte. Sie hatte Mayas Lippenstift gar nicht an sich genommen, Maya hatte ihn verloren.“ Maya hebt den Kopf, sie will etwas sagen. „Gleich bist du dran, laß mich erst zu Ende kom men“, sage ich. „Wann hat Maya ihren Lippenstift ver loren? Gestern natürlich, denn in der Nacht hatte sie ihn nicht mehr. Und wo verlor sie ihn? Das eben ist der springende Punkt. Sie dachte, sie hätte ihn hier in der Kanzlei verloren. Als sie nun einen ähnlichen Lippen stift auf dem Fußboden unter dem Schreibtisch liegen sah, hob sie ihn rasch auf und steckte ihn ein. Ich nehme an, sie ist heute früh nur deshalb hierherge kommen, um ihren Lippenstift zu suchen. Sie wollte nicht, daß ihn jemand anders findet, denn der Lippen stift war der Beweis, daß Maya gestern hier gewesen 179
ist, und sie wollte um keinen Preis, daß das heraus kommt.“ „Moment mal“, unterbricht Wanda. „Du sagst doch selbst, daß dieser Lippenstift gar nicht Maya gehörte.“ „Weil Maya ihren in Wirklichkeit ganz woanders ver loren hatte. Aber sie glaubte, das hier sei ihr verloren gegangener. Sonst hätte sie sich nicht wie ein Habicht darauf gestürzt. Und nachher gab sie ihren Irrtum nicht zu, weil sie mich nicht einweihen wollte. Ich soll te nicht erfahren, daß sie gestern abend hier gewesen ist.“ „Warst du hier?“ fragt Wanda. Maya gibt keine Antwort. „Sie ist hier gewesen, sie hat Clara Wixel und viel leicht auch Nusio umgebracht“, konstatiere ich. „Aber vorher war sie bei Frank. Ich habe ihren Lippenstift in eurem Arbeitszimmer hinter den ,Filmspiegeln’ gefun den. Sie war Zeuge des Telefongesprächs, das Frank an meiner Stelle führte – des Gesprächs mit Clara Wi xel. Frank brauchte Maya den Inhalt des Gesprächs nicht zu wiederholen, euer Telefon ist so laut, daß man noch am andern Ende des Zimmers jedes Wort ver steht. Die beiden erkannten die Gefahr, in der sie schwebten. Wenn es zu einem Skandal um die ,Schwarze Treppe’ gekommen wäre, wäre auch Maya kompromittiert. Sie verließ Frank, fuhr hierher und räumte die Frau aus dem Wege. So war es doch?“ Maya schüttelt den Kopf. „Sie hat sich selbst umge bracht“, flüstert sie. „Woher weißt du das?“ „Ich war dabei. Es war alles ganz anders – nicht so, wie du denkst.“
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„In den Einzelheiten kann ich mich irren. Es wäre nett von dir, wenn du mich korrigieren würdest. Also wie war das?“ „Ich sollte mich gestern mit schwedischen Schau spielern treffen“, berichtet Maya, „aber ich hatte abso lut keine Lust, allein hinzugehen, weil ich kein Wort Schwedisch kann. Ich wollte dich mitnehmen, und deshalb kam ich hier vorbei.“ „Unsinn, ich kann doch auch kein Schwedisch.“ „Wenn du getrunken hast, sprichst du alle Sprachen fließend“, beharrt Maya. „Ich kam also hierher…“ „Wann war das, um wieviel Uhr?“ „Ich bin gegen halb neun bei Frank weggegangen. Dann war ich kurz zu Hause, mich umziehen. Um neun oder viertel zehn müßte ich hier gewesen sein.“ „Ich hatte mich telefonisch bei Frank angesagt, du mußt doch dabeigewesen sein und wußtest also, daß du mich nicht antreffen würdest.“ „Nein, das wußte ich nicht, ich muß vor deinem An ruf gegangen sein.“ „Um wieviel Uhr genau hast du Frank verlassen?“ „Ich sagte doch, um halb neun. Ist das so wichtig?“ „Ja. Ich vermute, daß Clara Wixel nach meinem Ge spräch mit Frank bei ihm angerufen hat. Ich telefonier te um acht Uhr vierzig, das weiß ich genau, denn ich habe während des Gesprächs auf die Uhr geschaut. Clara Wixel muß daher zwischen acht Uhr fünfundvier zig und neun Uhr telefoniert haben, denn ab neun war ich bei Frank, und während meiner Anwesenheit hat sie nicht angerufen. Übrigens erinnert sich auch das Servierfräulein, daß die Frau kurz vor neun telefoniert hat. Gut. Jetzt ist wichtig, ob du bei Frank warst, als die Frau anrief. Ich vermute, du warst dort. Wenn es 181
so ist, bist du kurz vor neun bei Frank weggegangen und nicht früher.“ „Die Frau hat Frank nicht angerufen, wie oft soll ich dir das noch sagen? Jedenfalls nicht, solange ich dort war. Ich habe Franks Wohnung um halb neun verlas sen. Bis ich ein Taxi fand und bis ich hier anlangte, war es neun, viertel zehn, genau kann ich das nicht sagen. Wenn ich dich richtig verstanden habe, warst du zu dieser Zeit auf dem Wege zu Frank, wir haben uns also verfehlt. Ich ließ mich hierherfahren, stieg die Treppe hinauf und wollte an der Kanzlei klopfen. In dem Moment wurde die Tür geöffnet, eine Frau kam heraus und zielte mit einem Revolver auf mich.“ „Eine Dame in Schwarz?“ „Sie war schwarz gekleidet, hager, verängstigt. Ich erschrak natürlich auch, noch nie hat jemand mit ei nem Revolver auf mich gezielt. Ich fragte sie: ,Was tun Sie hier?’, und da fing sie an zu zittern und sagte, sie habe ein Gespenst erschossen.“ „Ein Gespenst? Hat sie dieses Wort gebraucht?“ „Ja, ein Gespenst. Ich wunderte mich und fragte sie, was sie damit meine. Aber sie wiederholte immer nur, sie habe ein Gespenst erschossen, das ihr in der Kanz lei aufgelauert hätte. Ich glaubte, ich hätte es mit ei ner Verrückten zu tun. Ich redete ihr gut zu, das sei doch gar nicht möglich, ich wisse hier genau Bescheid, gespukt habe es an diesem Ort noch nie. Um sie zu beruhigen, ging ich in den Warteraum und weiter in die Kanzlei, ich schaute mich um, entdeckte aber nichts. Da rief ich ihr, sie solle sich selbst davon über zeugen, daß die Kanzlei leer sei. Schließlich ließ sie sich überreden, aber kaum hatte sie die Schwelle überschritten, da fing sie an, hysterisch zu kreischen 182
und sich in Zuckungen zu winden. Sie schrie, man ha be ein Gespenst auf sie gehetzt, alle hätten sich zu ih rem Untergang verschworen, aber sie ließe sich das nicht gefallen, sie habe das Gespenst erschossen und würde alle erschießen, die ihr nachstellen, und so fort in dieser Art.“ „Hast du hinter den Vorhang geguckt?“ frage ich und deute auf die Balkontür. „Nein. Mir war, ehrlich gesagt, auch nicht ganz ge heuer, ich hatte nicht die geringste Lust, in allen Ecken nachzusehen. Ich versuchte, die Frau zu beschwichti gen, und schließlich gelang es mir, sie hinauszuführen. Ich schloß die Tür und wollte sie auf die Straße brin gen, aber sie sagte, sie werde nicht fortgehen, sie müsse auf Rechtsanwalt Rieff warten, so leicht würdet ihr sie nicht los. Und dann kriegte sie wieder einen hy sterischen Anfall. Ich nahm ihr den Schlüssel ab und brachte sie nach oben in die Wohnung. Ich konnte schließlich nicht zulassen, daß sie im Treppenhaus ei nen Skandal machte und dich vor allen Mietern kom promittierte, außerdem tat sie mir auch ein bißchen leid. In der Wohnung fing sie wieder schrecklich an zu zittern und bekam einen Weinkrampf. Ich legte ihr meinen Mantel um, gab ihr Wasser zu trinken, klopfte ihr auf den Rücken, aber es half alles nichts, ihre hy sterischen Zustände hörten nicht auf.“ „Hat sie was gesagt?“ „Sie hat nur wirres Zeug geredet, es war nicht her auszukriegen, was sie wollte. ,Die haben mich bestoh len’, kreischte sie, ,aber das werden sie mir büßen’, und dann: ,Ich gehe vor Gericht, die müssen zahlen und meinen Namen drucken…’“
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Es ist faszinierend: Mayas Stimme und Mimik hat sich auf einmal verändert. Das hier im Zimmer ist nicht mehr Maya, sondern eine vertrocknete alte Jung fer mit einem hysterischen Anfall. Die Tote scheint ins Leben zurückgekehrt zu sein und ihre letzten Worte vor dem Ende zu wiederholen. Genauso muß es gewe sen sein. Was für eine Schauspielerin! „Streng dein Gedächtnis ein bißchen an“, bitte ich Maya. „Versuche, dich genau an ihre Worte zu erin nern.“ „Sie sagte: ,Ich werde Ihnen alles erzählen, da wer den Sie staunen, was es für Menschen gibt.’ Aber sie brachte nichts Vernünftiges heraus, sie fing nur noch mehr an zu zittern und zu schluchzen. Es wurde immer später. Ich hatte es eilig, ich wußte nicht, was ich mit der armen Frau anfangen sollte. Da fiel mir ein, daß ich Frank anrufen könnte, du würdest vielleicht bei ihm sein, auf jeden Fall könnte mir Frank einen Rat geben. Aber ich wollte nicht von der Wohnung aus telefonie ren, sondern lieber aus der Kanzlei, damit sie das Ge spräch nicht mithörte. Sie saß auf der Sofalehne und jammerte vor sich hin. Ich ging auf Zehenspitzen hin aus, durch den Flur ins Treppenhaus. Da hörte ich in der Wohnung den Schuß.“ „Wann? In dem Augenblick, als du hinausgingst oder als du schon auf der Treppe warst?“ „Sofort, nachdem ich die Tür hinter mir zugemacht hatte. Ich hatte noch die Hand auf der Klinke. Ich lief zurück und sah sie neben dem Sofa auf dem Fußboden liegen. Als ich sie auf den Rücken drehte, merkte ich, daß der ganze Mantel blutig war. Ich bekam einen fürchterlichen Schreck. Ich hob sie auf und legte sie aufs Sofa. Sie lebte nicht mehr.“ 184
„Woran hast du das erkannt?“ „Dreimal habe ich eine Tote gespielt, ich kenne mich aus. Sie war bestimmt nicht mehr am Leben, sie hatte Selbstmord verübt.“ „Woher weißt du, daß es Selbstmord war?“ „Was soll es denn sonst gewesen sein? Du wirst ja wohl nicht behaupten wollen, daß das Gespenst sie er schossen hat. Ich habe sie auch nicht erschossen. Au ßer ihr war doch niemand in der Wohnung. Der Revol ver lag neben ihr auf dem Boden.“ „Hatte sie den Revolver mitgenommen? Kannst du dich genau erinnern, daß sie ihn oben in der Wohnung bei sich hatte?“ „Das weiß ich nicht mehr, aber sie muß ihn ja mit genommen haben, wenn sie sich damit erschossen hat.“ „Bist du sicher, daß außer euch beiden niemand in der Wohnung war? Vielleicht hatte sich dort wer ver steckt.“ „Ich bin sicher, da war niemand. Als wir eintraten, verlangte die Frau von mir, daß ich alle Winkel absu che und mich überzeuge, ob dort keiner von den ,Verschwörern’ lauert. Ich guckte überall nach, sogar im Schrank und unter dem Bett, es war kein Mensch da.“ „Vielleicht wäre es besser gewesen, du hättest nicht nachgesehen“, sage ich bekümmert. „Dann hättest du noch eine Chance, dich aus der Affäre zu ziehen. Das Gericht würde vielleicht die Theorie akzeptieren, daß der Mörder in der Wohnung versteckt war. Aber wenn du selbst aussagst, es sei ganz bestimmt niemand da gewesen, wird man daraus logisch schließen müssen, daß du geschossen hast.“ 185
„Ich war draußen im Treppenhaus, und die Woh nungstür war geschlossen“, beharrt Maya. „Die Frau hat Selbstmord begangen.“ „Sie soll sich selbst in den Rücken geschossen ha ben? Es ist das erste Mal, daß ich so etwas höre.“ „Der Einschuß war am Rücken?“ fragt Maya er staunt. „Weißt du das genau?“ „Ganz genau. Ich habe mich gewundert, daß die To te so wenig Blut verloren hat, aber jetzt weiß ich: Der Mantel hat das Blut aufgesaugt. Wo ist der Mantel ge blieben?“ „Als ich mich überzeugt hatte, daß die Frau tot war, verließ ich die Wohnung und fuhr zu dem Treffen mit den schwedischen Filmleuten. Den Mantel nahm ich über den Arm. Ich konnte ihn nicht anziehen, weil er blutgetränkt war. In diesem Zustand konnte ich ihn auch nicht in der Garderobe abgeben. Ich wickelte ihn zu einem Bündel zusammen und versteckte ihn in dem Kamin im Vestibül des Saales, in dem die Gesellschaft stattfinden sollte. Als ich ging, hatte ich keine Gele genheit, den Mantel zu holen und mitzunehmen, es waren zu viele Leute da. Dann fuhr ich nach Hause und rief Frank an.“ „Aha, du hast mit ihm also nicht über deinen Dialog gesprochen, sondern über den Mantel im Kamin. Ver stehe. Dieses Treffen fand natürlich im Excelsior statt?“ „Ja. Ich habe Frank nicht alle Einzelheiten erklärt, ich habe ihn nur gebeten, ins Excelsior zu fahren und den Mantel aus dem Kamin mitzubringen, und er solle mit niemandem über die Sache sprechen, weil ich da durch kompromittiert werden könnte.“
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„Jetzt erinnere ich mich wieder, daß ich den Mantel bei dir gesehen habe“, werfe ich ein. „Ich dachte, das sei ein Morgenrock, aber es war der Mantel. Er lag zu sammengeknüllt unter der Badewanne, ich entdeckte ihn, als ich der Nachbarin die Lippen bemalte. Was hast du denn Frank über den Mantel erzählt?“ „Die Wahrheit. So, wie alles war. Wir berieten uns, ob wir dich schonend darauf vorbereiten sollten, daß du eine Leiche in der Wohnung hast, aber wir waren uns einig, daß das nicht nötig sei.“ „Eure Loyalität mir gegenüber ist kaum noch zu übertreffen.“ „Wieso?“ staunt Maya. „Ich dachte, mit einer Leiche wirst du schon zurechtkommen, du bist doch noch mit ganz anderen Sachen fertig geworden. Mir dagegen konnte absolut nichts daran liegen, in diese Geschichte hineingezogen zu werden. Ich muß auf mein Image achten, das steht sogar in meinem Vertrag.“ „Wenigstens du hättest es mir sagen müssen“, nehme ich mir Frank vor. „Warum hast du den Mund nicht aufgekriegt?“ „Maya hat mich gebeten, nichts zu verraten“, ent schuldigt sich Frank. „Ich weiß, warum du nichts gesagt hast. Weil du wußtest, daß Maya die Frau erschossen hat, sei es im Einverständnis mit dir oder aus eigenem Antrieb. Viel leicht hast du sie nur zu Clara Wixel geschickt, damit sie mit ihr redet und sie im guten zum Stillschweigen bewegt. Doch die Frau empfing Maya mit dem Revol ver in der Hand, mit dem sie zuvor Nusio erschossen hatte, und da erst verfiel Maya auf den Gedanken, sie kurzerhand und ein für allemal aus dem Wege zu räu men. Sie hat dir über alles per Telefon berichtet oder 187
mündlich, nachdem wir mit Calvados und Mantel bei ihr eingetroffen waren, und du mußtest sie decken, denn sie hat ja in euer beider Interesse gemordet.“ „Ich hatte keine Ahnung von der Existenz dieser Frau“, verteidigt sich Frank gelangweilt. „Sie hat mich nicht angerufen, und sie konnte keine Ansprüche an mich stellen. Ich habe nämlich nicht plagiiert, die ,Schwarze Treppe’ ist auf meinem eigenen Mist ge wachsen.“ „Du willst behaupten, du hättest das Manuskript von Clara Wixel nie in der Hand gehabt? Sie hat es doch noch zu deiner Zeit an den Kriminalverlag geschickt.“ „Du glaubst doch nicht etwa, daß ich jeden Quatsch gelesen habe, der beim Kriminalverlag einging. Nach solcher Arbeit habe ich mich nie gerissen. Ich bin überzeugt, daß das Meisterwerk der Seligen noch heu te verschnürt und versiegelt irgendwo im Verlagsarchiv schmort.“ „Vielleicht“, kombiniere ich, „hat Maya wirklich nichts von Clara Wixel und ihren Ansprüchen gewußt. Vielleicht war sie wirklich gekommen, um mich ins Ex celsior mitzunehmen. Und hier hat sie dann zufällig die Frau getroffen und alles von ihr erfahren. Sie erkannte die Gefahr, griff zum Revolver… und die Fortsetzung kennen wir ja.“ „Was ist das bloß für ein Mensch!“ platzt Maya her aus. „Ich sage dir doch, ich habe sie nicht umgebracht. Ich hatte keine Ahnung, daß sie etwas mit der ,Treppe’ zu tun hat, sie hat mir nichts davon gesagt. Ich bin sicher, daß es Selbstmord war. Kein Mensch würde daran zweifeln, wenn ich nicht die Dummheit mit dem Revolver gemacht hätte.“ „Ach ja, wie war das doch mit dem Revolver?“ 188
„Der Tod der Frau hat mich so durcheinanderge bracht, daß ich im Augenblick nicht wußte, was ich tat. In meiner Verwirrung nahm ich den Revolver mit und legte ihn zusammen mit dem Schlüssel in die Nische, wo du den Schlüssel immer versteckst. Ich weiß auch nicht, wie ich darauf verfallen bin. Wenn man den Re volver neben der Toten gefunden hätte, wäre es gar nicht zu dem ganzen Durcheinander gekommen.“ „Doch, es wäre“, widerspreche ich. „Erstens schießt sich niemand in den Rücken. Zweitens glaube ich, daß der Schuß aus einiger Entfernung abgegeben worden ist. Ich habe das nicht genau nachprüfen können, aber sicher wird sich das bei der Untersuchung der Leiche herausstellen. Und da außer der Frau nur du in der Wohnung warst…“ „Ich war im Treppenhaus“, stöhnt Maya. „Wie soll ich dir das nur beweisen?“ „Du kannst es nicht beweisen, du hast keinen Zeu gen. Außer dir war niemand dort.“ „Ich war dort“, meldet sich eine schüchterne Stim me. Alle wenden die Köpfe und starren Hildegard an. Die fährt sich nervös mit den Fingern durch die Haare, bevor sie die Katze aus dem Sack läßt: „Ich habe die ganze Nacht auf der Treppe geses sen… und auf jemanden gewartet. Ich hatte es mir ge rade auf dem Treppenabsatz zwischen dem ersten und zweiten Stock bequem gemacht, als oben eine Woh nungstür geöffnet wurde und diese hübsche junge Dame herauskam“ – Hildegard zeigt auf Maya. „Sie war schon im Treppenhaus und hatte noch die Hand auf der Klinke, als es in der Wohnung einen Knall gab. Die Dame ging in die Wohnung zurück. Nach einer Weile kam sie wieder heraus und lief die Treppe herab. 189
Ich drückte mich in einen Winkel, sie hat mich nicht bemerkt. Im ersten Stock machte sie sich an dem Ka sten mit dem Schlauch zu schaffen, dann ging sie hin unter, auf die Straße. Ich habe alles ganz genau beo bachtet.“ „Wann war das, um wieviel Uhr?“ frage ich. „Ich habe keine Uhr. Es war noch nicht sehr spät, es wird vor zehn gewesen sein.“ „Sie haben den Schuß in der Wohnung gehört?“ „Ich wußte nicht, daß das ein Schuß war. Der Knall war nicht sehr laut. So, als wenn ein Fenster oder eine Tür zuschlägt. Ich erfahre erst jetzt, daß es ein Schuß gewesen sein soll.“ „Sind Sie bereit zu beschwören, daß diese junge Dame auf der Treppe war, als der Schuß fiel, und daß die Wohnungstür in diesem Augenblick geschlossen war?“ „O ja, das kann ich beschwören“, versichert Hilde gard. „Sie sind ein Engel!“ ruft Maya. Sie beugt sich hin über und küßt das alte Mädchen auf die Wange. Hilde gard lächelt beglückt. Alle sind auf einmal wieder guter Laune. „Verzeihen Sie mir die Geschichte mit dem Lippen stift“, sagt Maya zu Pums. „Bitte, nehmen Sie Ihr Ei gentum zurück.“ „Und das hier ist gewiß Ihr Lippenstift“, strahlt Pums und holt aus ihrer Handtasche den Stift, den ich ihr gegeben habe. Sie tauschen ihre Lippenstifte aus. Eine wirklich rüh rende Szene.
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Da höre ich, wie die Wohnungstür geht. Kurz darauf klopft es. Auf mein „Herein“ wird die Zimmertür geöff net. Es ist unser ehrbarer Hausmeister, ein mickriges Männchen um die Fünfzig. Entgegen seinem unbedarf ten Aussehen ist er recht gescheit. Sooft ich ihm be gegne, ist sein Gesicht mit zwei Tage alten Bartstop peln bedeckt. Ich habe mir schon oft den Kopf zerbro chen, wie er das macht. Nie ist er rasiert, auch sonn tags nicht, und trotzdem ist sein Bart nie länger als drei Millimeter. „Ist die Frau von Nummer sechs hier?“ fragt er. Da entdeckt er Hildegard und spricht sie direkt an. „Es hat jemand nach Ihnen gefragt. Er wartet drau ßen auf Sie.“ „Auf mich?“ wundert sich Hildegard. „Das ist sicher ein Irrtum.“ „Vielleicht reden Sie selbst mal mit ihm“, schlägt der Hausmeister vor. Seine rechte Hand ist geschlossen, zwischen den Fingern guckt die Ecke von einem Geld schein hervor. Hildegard erhebt sich und stelzt mit Gi raffenschritt hinaus. „Ist noch was?“ frage ich den Hausmeister, der sich nicht vom Fleck rührt. „Ja.“ Und zu Frank gewendet: „Es wäre besser, wenn Sie Ihren Wagen woanders hinfahren, er steht wieder im Parkverbot.“ „Sie haben recht, aber wir brechen sowieso gleich auf“, sagt Frank und steht auf. „Treibt sich der Polizist immer noch vor dem Haus herum?“ „Gewiß doch. Bis jetzt hat er noch nicht gemerkt, daß Sie falsch parken, er wird wohl andere Dinge im
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Kopf haben. Aber am Ende merkt er’s doch noch, und wozu sollen Sie Strafe zahlen?“ „Hat man Sie wegen der beiden Leichen verhört?“ erkundige ich mich. „Na freilich, eine ganze Stunde haben sie mich auf der Polizeiwache festgehalten“, berichtet er empört. „Dabei, was soll ich schon wissen? Da waren Leichen auf dem Dach, die fielen ins Auto, na schön. Aber ich hab’ sie nicht aufs Dach getragen, und ich hab’ sie auch nicht ‘runtergeschmissen. Mir können sie nichts nachweisen.“ Er sagt das wie einer, der nicht zum er stenmal mit den Strafverfolgungsbehörden zu tun hat und der weiß, wie man sich in einem solchen Fall zu verhalten hat. „Was meinen Sie, wer das getan haben könnte?“ horche ich ihn aus. „Den Anton Pilz hat die Brünette aus der Kneipe auf dem Gewissen“, versichert der Hausmeister ohne Zö gern. „Sogar die Polizei glaubt das, die haben sie näm lich dabehalten.“ „Auf dem Kommissariat?“ „Ja. Mich haben sie freigelassen, und sie mußte da bleiben.“ „Weshalb sollte sie ihn denn umgebracht haben?“ „Weil er sie angeschmiert hat. Er hat ihr verspro chen, sie zu heiraten, und ihr das ganze Geld abge nommen, und dann wollte er verduften. Ich hab’s ihr ja vorher gesagt, sie soll doch nicht so dumm sein und sich mit diesem Kerl einlassen, dem Pilz sieht man doch von weitem an, was das für einer ist. Aber dem Mädel war ja nicht zu helfen, die war ja so schlau. Der sind die Augen erst aufgegangen, als sich der Pilz ver krümeln wollte. Mit einem Bein war er schon weg, aber 192
sie hat ihn noch erwischt und mit dem feinen Herrn abgerechnet.“ „Wo hatte sie den Revolver her?“ „Was weiß ich? Das wird sich schon herausstellen.“ „Sie hat heute früh aber noch gar nicht gewußt, daß Pilz tot ist“, wende ich ein. „Sie ist sogar in die Neu bausiedlung gegangen, um ihn zu suchen, er hatte ihr diese Adresse angegeben.“ „War doch alles Bluff.“ „Und die andere Leiche? Die schwarzgekleidete Frau? Hat das Mädchen auch die umgebracht? Weshalb sollte sie das getan haben?“ „Die Frau wird sie beobachtet haben, wie sie den Pilz umgelegt hat, darum mußte sie zum Schweigen ge bracht werden“, erklärt der Hausmeister. „Ist die Polizei auch dieser Ansicht?“ „Na wahrscheinlich, wo sie doch das Mädchen fest genommen haben… Gehen Sie lieber gleich zu Ihrem Wagen“, wendet er sich wieder an Frank, „der Polizist kann jeden Moment einhaken. Gestern haben Sie an der gleichen Stelle geparkt, Sie haben Glück gehabt, daß es keiner gemerkt hat.“ Damit dreht er sich um und will gehen. „Einen Augenblick“, halte ich ihn zurück. „Sie haben gestern den Wagen von Herrn Schmidt vor unserm Haus stehen sehen?“ „Na freilich hab’ ich ihn stehen sehen. Ich sage noch zu meiner Frau: Der Herr Schmidt, sage ich, hat wie der auf der falschen Seite geparkt, das wird Strafe ko sten.“ „War das ganz bestimmt der Wagen von Herrn Schmidt? Ich nehme an, Sie haben sich da geirrt. Vor
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dem Haus hat gestern der Wagen von Herrn Kokatsch geparkt, nicht der von Herrn Schmidt.“ „Dieser rote? Ja, der hat auch hier geparkt, aber später stand der Wagen von Herrn Schmidt da“, be harrt der Hausmeister. Dabei sind die beiden Wagen gar nicht zu verwech seln. Ein Auto wie das von Gustav gibt es nur einmal. Er hat es vor kurzem in einem so knalligen Rot sprit zen lassen, daß man es im größten Verkehrsgewühl auf den ersten Blick herauskennt. „Um wieviel Uhr haben Sie Herrn Schmidts Wagen vor dem Haus gesehen?“ frage ich. „Das kann ich nicht genau sagen. Es war noch nicht zehn, ich bin mit meiner Frau zu Bekannten gegan gen.“ „Und als Sie wieder nach Hause kamen, stand der Wagen da noch vor der Tür?“ „Nein, das war ja nach Mitternacht“, und zu Frank gewandt: „Um die Zeit werden Sie ja sicherlich schon lange weggewesen sein.“ „Wann haben Sie die Haustür abgeschlossen?“ for sche ich weiter. „Als wir nach Hause kamen, kurz nach zwölf. Ich sagte zu meiner Frau: Die Welt wird nicht gleich un tergehen, wenn ich das Tor mal ein bißchen später zu sperre.“ „Haben Sie vielleicht beobachtet, wer sich gestern abend in der Nähe des Hauses aufgehalten hat?“ „Nein. Zuerst hab’ ich mich umgezogen für den Be such, und nachher war ich ja nicht zu Hause. Ich hab’ niemanden gesehen. Auf der Polizei haben sie mich auch schon danach gefragt. Ich kann nichts aussagen, die sollen sich man selbst anstrengen.“ 194
Mit diesen Worten verläßt der brave Mann die Kanz lei. Wir blicken uns schweigend an. Nachdem uns die Fährte im Kreis geführt hat, sind wir also wieder bei Frank angelangt. „Graue Standards gibt es in der Stadt wie Sand am Meer“, kommt mir Frank zuvor. „Ganz klar, daß das nicht mein Wagen war. Um zehn saßen wir beide bei mir zu Hause und tranken. Ich bin doch nirgends hingefahren.“ „Das war dein Wagen“, widerspreche ich. „Erinnerst du dich, wie sich die Wischer von allein in Bewegung setzten, als wir ins Excelsior fuhren?“ „Die Wischer? Was meinst du?“ „Als mich Gustav gestern abend zu dir brachte, stand dein Wagen nicht vor der Tür.“ „Er stand um die Ecke, ich parke ihn immer dort“, sagt Frank. „Na schön, darum geht es mir auch gar nicht. Je denfalls regnete es da noch nicht, stimmt’s?“ „Stimmt. Und weiter?“ „Wann bist du gestern vor meinem Besuch das letz te Mal mit deinem Wagen gefahren?“ „Am Nachmittag, gegen drei, als ich vom Studio heimkam. Da hat es auch noch nicht geregnet. Und was tut das zur Sache?“ „Es regnete also nicht. Den ganzen gestrigen Tag hat es nicht geregnet, es fing erst nach neun an. War um waren dann aber die Scheibenwischer eingeschal tet? Vielleicht erinnerst du dich an gestern nacht: Wir stiegen ein, ich drehte den Zündschlüssel, und sofort setzten sich die Wischer in Bewegung.“ „Ja, ich erinnere mich. Ich dachte, du hättest sie angestellt.“
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„Nein, ich war es nicht, da bin ich ganz sicher. Sie fingen sofort an zu pendeln, als ich die Zündung ein schaltete. Ich habe gestern nicht weiter drauf geach tet, aber jetzt ist mir klar, daß jemand deinen Wagen benutzt hat, und zwar in der Zeit zwischen neun Uhr, als die ersten Tropfen fielen, und Mitternacht, als wir einstiegen und zum Excelsior fuhren.“ „Sehr effektvoll“, lobt Wanda. „Auf solche oder ähn liche Weise wird in Kriminalromanen immer der Mörder zu Fall gebracht, was nichts daran ändert, daß Frank die Schlüssel nicht immer im Wagen lassen sollte, ich hab’ es ihm schon hundertmal gesagt.“ „Meistens stecke ich sie ja auch ein“, beschwichtigt Frank, „nur manchmal vergesse ich’s eben, ich geb’s ja zu. Ist doch kein Beinbruch, Hauptsache, die Tür ist zu, und man kann sie nicht von außen öffnen.“ „Wenn die Schlüssel im Wagen sind und man die Tür nicht öffnen kann, wie kommen Sie denn dann ‘rein?“ erkundigt sich Pums. So eine geistesgegenwärtige Fra ge hätte ich ihr gar nicht zugetraut. Vielleicht behalte ich sie doch. „Früher habe ich in solchen Fällen die Scheibe ein geschlagen“, sagt Frank. „Aber das war auf die Dauer zu unpraktisch. Deshalb habe ich einen Mechanismus installieren lassen, mit dem die Tür von außen zu öff nen ist: Man braucht nur auf einen Knopf zu drücken, der für Uneingeweihte nicht zu sehen ist.“ „Es kann also kein Fremder Ihren Wagen öffnen?“ vergewissert sich Pums. „Nein, ausgeschlossen.“ „Aber Maya weiß von dem Knopf?“ hake ich ein.
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„Ich habe Franks Wagen nicht genommen“, wehrt sich Maya. „Ich bin mit einem Taxi nach Hause gefah ren, und ein anderes Taxi hat mich hierher gebracht.“ „Nur du kannst gestern abend Franks Wagen be nutzt haben“, rede ich ihr ins Gewissen. „Von dem Knopf wissen außer Frank nur ich, Wanda und du. Oder gibt es noch jemanden?“ wende ich mich zu Frank um. „Wohl kaum.“ „Na also. Ich habe den Wagen nicht benutzt. Frank war nach neun Uhr zu Hause, Wanda war auf Reisen. Bleibt nur Maya. Ich begreife nicht, warum du das ab streitest, Maya. Du kannst doch den Wagen genom men haben und brauchst trotzdem keinen Mord be gangen zu haben, was hat denn das eine mit dem an dern zu tun? Du hast dich in den Wagen gesetzt und bist hierher gefahren, du wurdest Zeuge, wie Clara Wixel auf geheimnisvolle Weise ums Leben kam, dann fuhrst du mit demselben Wagen ins Excelsior zu dei nem Schwedentreffen. Hinterher hast du den Wagen wieder an seinem alten Platz abgestellt, und ein Taxi brachte dich nach Hause. War es nicht so?“ „Nein“, stöhnt Maya. „Ich kam mit dem Taxi hierher, von hier ins Excelsior bin ich ebenfalls mit dem Taxi gefahren, und vom Excelsior hat mich ein sehr netter junger Schwede nach Hause chauffiert. Leider verstand ich kein Wort von dem, was er sagte. Aber du kannst den Dolmetscher fragen, der wird es dir bestä tigen.“ „Du bist mit dem Taxi hergekommen? Hast du den Standard vor der Tür stehen sehen?“ „Nein.“
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„Und als du ‘rauskamst, nachdem die Frau tot war? Stand da irgendein Auto vor dem Haus?“ „Nein, ganz bestimmt nicht. Es regnete, ich hielt Ausschau nach einem Taxi, ein Auto vor dem Haus hätte ich sicher bemerkt. Da stand keins.“ „Tja, der Mörder führte sein Vorhaben aus und machte sich sofort aus dem Staube“, überlege ich. „Er fuhr in der Minute ab, als du die Leiche aufs Sofa leg test. Eins verstehe ich allerdings nicht: Als ich dich heute früh bei mir in der Wohnung fand, hattest du dich auf dem gleichen Sofa ausgestreckt – seelenru hig, als sei nichts geschehen – und ,entspanntest’ dich. In der Tat ein wunderbarer Platz für Entspan nungsübungen, genau dort, wo noch ein paar Stunden zuvor die Tote geruht hatte, die du obendrein selbst auf das Sofa gebettet hattest. Du hast Nerven wie Stricke, ich muß dir gratulieren.“ „Ich wollte den Fleck verdecken“, erklärt Maya. „Ich kam her, weil ich wissen wollte, wie du mit der Leiche fertig geworden bist. Und weil ich den Lippenstift su chen mußte. Den Lippenstift fand ich nicht, die Leiche war auch nicht mehr da, aber auf dem Sofa war ein Blutfleck. Als ich dich kommen hörte, legte ich mich rasch aufs Sofa, um den Fleck zuzudecken, und als ich aufstand, warf ich ein Kissen darauf.“ „Aber du konntest dir doch denken, daß ich den Fleck schon vorher bemerkt hatte – was heißt den Fleck: die ganze Leiche.“ „Die konnte ja auch wer anders weggebracht haben, du brauchtest doch von der Leiche gar nichts zu wis sen.“ „Lassen wir deine Mutmaßungen“, winke ich ab. „Es geht jetzt um etwas anderes. Wir müssen dreierlei 198
herauskriegen: Wer hat an meiner Stelle den Anruf entgegengenommen, und wie konnte es dazu kom men? Warum hat sich dieser Jemand Franks Wagen ausgeliehen? Auf welche Weise hat er die Frau er schossen, nachdem sie in der leeren Wohnung allein zurückgeblieben war?“ „Und wie wurde Nusio umgebracht?“ ergänzt Frank. „Ich weiß, wie Nusio ums Leben kam“, sage ich. „Wir werden die Einzelheiten nicht mehr nachprüfen können, aber ich weiß es so genau, als wäre ich dabei gewesen. Das ist zwar eine sehr merkwürdige Ge schichte, aber für mich ist dieses Rätsel gelöst. Mir wurde die Sache klar, als Maya berichtete, was sie er lebt hat.“ Alle sehen mich erwartungsvoll an. Ich stecke mir eine Zigarette an, dann beginne ich meine Beichte.
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XV
„Ihr habt sicher bemerkt, daß ich in letzter Zeit etwas viel getrunken habe…“ „Wir haben es bemerkt“, bestätigt Maya eilfertig. „Unterbrich mich nicht… Ich habe dermaßen getrun ken, daß ich das Delirium bekam. Ein klassisches Deli rium mit Halluzinationen. Ich will nicht in die Details gehen, ihr würdet es sowieso nicht begreifen. Niemand ist imstande, die Schrecken dieser Krankheit nachzu empfinden, der sie nicht selbst durchgemacht hat. Opolsky hat das Delirium gehabt. Ich hatte es zum Glück nicht.“ „Hattest du es nun, oder hattest du es nicht?“ un terbricht mich Frank. „Ich dachte, ich habe es. Ich sah ein abscheuliches blaues Monstrum, eine wahre Ausgeburt der Hölle. Das hat mich so fertiggemacht, daß ich immer noch mehr trank. Wieder und wieder erschien mir das Scheusal. Ich war nahe am Selbstmord. Das ging so zwei Monate lang. Erst heute habe ich erfahren, daß ich kerngesund bin. Das Monstrum war keine Halluzination, es war ein ganz gewöhnlicher Kater. Ich bin heute der glücklich ste Mensch von der Welt. Vielleicht werde ich wegen der beiden Morde vor Gericht gestellt, vielleicht muß ich mein Leben im Gefängnis beschließen, aber dafür werden mich keine Monstren mehr bedrohen, weder blaue noch anders gefärbte. Ich komme mir vor wie neugeboren, könnt ihr das verstehen? Ich werde kei nen Schnaps mehr anrühren, ich brauche gar keinen, der ganze Suff ist vollkommen idiotisch.“ „Du hast dich vor einem ganz gewöhnlichen Kater gefürchtet?“ zweifelt Frank. 200
„So gewöhnlich ist er nun auch wieder nicht. Er ist infolge einer Krankheit entsetzlich häßlich. Er gehört übrigens Fräulein Hildegard. Sie hält ihn bei sich ver steckt, aber manchmal reißt er aus. Dann klettert er durchs Fenster in meine Wohnung oder geht vor dem Haus spazieren. Der Zufall wollte es, daß ihn außer mir niemand zu Gesicht bekam. Ich aber hielt ihn für eine Erscheinung meines Säuferwahns. Das letzte Mal sah ich ihn heute nacht vor dem Auto, als Frank hielt, um den Calvados zu kaufen. Da stand das Scheusal im Regen auf der Fahrbahn und glotzte in die Scheinwer fer. Ich geriet völlig aus der Fassung wie immer, wenn es mir erschien. Heute früh war mir alles entfallen, was gestern passiert ist, aber diese Szene drängte sich sofort wieder in mein Bewußtsein, sowie ich aufge wacht war. Vor Angst fing ich gleich wieder an zu zit tern. Und nun, vor einer Stunde erfahre ich auf ein mal, daß meine Deliriumshalluzination ein Kater aus Fleisch und Blut ist, nur einer, dem die Haare ausge gangen sind. Vor Freude habe ich Hildegard geküßt, hab’ ihr aber verschwiegen, daß ihr Kater heute nacht den Tod eines Menschen verursacht hat.“ Ich stecke mir eine neue Zigarette an. Wanda sieht mich mit einer Mischung aus Argwohn und Mitleid an. (,Wenn er bis jetzt noch kein Delirium gehabt hat, jetzt hat er es bestimmt.’) „Mit dem Kater ist das so eine Geschichte“, fahre ich fort. „Solange ich ihn für eine Halluzination hielt, wun derte ich mich natürlich gar nicht, daß er mir nachts vor dem Excelsior begegnet ist, Gespenster können sich ja aussuchen, wo sie einem erscheinen wollen. Als ich aber erfuhr, daß ich es mit einem lebendigen Kater zu tun hatte, da dämmerte mir, daß da irgendwas 201
nicht in Ordnung war. Wie konnte denn der Kater im Regen so weit gelaufen sein? Und ausgerechnet dahin, wo ich mich befand? Für mich gab es nur eine Erklä rung: Nicht der Kater war zum Excelsior spaziert, son dern Frank und ich waren hierhergefahren. Deshalb fiel mein Verdacht auf Frank, das ist doch klar.“ „Vollkommen klar“, wirft Frank ein. „Als sich aber herausstellte, daß wir doch vor dem Excelsior gehalten haben, mußte ich über das nächtli che Erscheinen des Katers an einem so entlegenen Ort eine andere Hypothese aufstellen: Er ist nicht auf sei nen eigenen Sohlen dorthin gekommen. Jemand hat ihn hingebracht.“ Ich mache eine Pause. Wanda meldet sich zu Wort. „Ich kann mir denken, wie das war. Du bist mit Gu stavs Wagen zu Frank gefahren, nicht?“ „Ja, Gustav hat mich mitgenommen.“ „Dann muß der Kater in Gustavs Auto gesprungen sein, bevor ihr abfuhrt. Vor unserm Haus schlüpfte er heraus und versteckte sich im Flur, und als ihr nachts in Franks Wagen einstiegt, schlich er sich mit hinein, machte die Fahrt mit und kam heraus, als der Wagen vor dem Excelsior hielt. Da ist er dir dann erschienen.“ „Ausgeschlossen. Erstens wäre das zu kompliziert, eine Katze steigt nicht von einem Auto ins andere um wie Maya, wenn sie die Taxis wechselt. Zweitens war der Kater nach unserer Abfahrt noch hier. Er hat Nusi os Tod verursacht.“ „Hat er ihn totgebissen?“ fragt Pums mit wollüsti gem Grauen in der Stimme. „Ich werde euch erzählen, wie es sich zugetragen hat. Nusio hörte mit an, wie Clara Wixel telefonierte, und beschloß, den Tresor auszurauben. Er brach die 202
Tür zur Feuerleiter auf, gelangte in den ersten Stock und drang hier ein. Kaum hatte er sich an die Arbeit gemacht, da erschien auch schon Clara Wixel. Nusio versteckte sich hinter dem Vorhang und verhielt sich ruhig. Die Frau setzte sich an den Schreibtisch und wartete. Aus Langerweile, nehme ich an, zog sie die Schubfächer auf, ganz mechanisch, um mit irgend et was beschäftigt zu sein. In einem fand sie den Revol ver. Dieser Gegenstand interessierte sie – erinnern wir uns, daß sie Kriminalerzählungen schrieb. Sie nahm den Revolver in die Hand, betrachtete ihn, spielte am Schloß. Vielleicht dachte sie über einen neuen Krimi nach – mit einem Revolver als Mordwaffe. Inzwischen kletterte Fräulein Hildegards Kater durchs offene Fen ster herein, spazierte durchs Zimmer und sprang plötzlich am Vorhang hoch, Siamkatzen tun das für ihr Leben gern. Da bemerkte ihn Clara Wixel. Sie bekam einen fürchterlichen Schock. Dieser Kater kann einem schon einen Schreck einjagen, das dürft ihr mir glau ben, er sieht ja überhaupt nicht aus wie ein Kater. Cla ra hat nie starke Nerven gehabt. Sie neigte dazu, an übernatürliche Kräfte zu glauben, die sie allenthalben bedrohten. Und so hielt sie den Kater für ein Gespenst, das man auf sie losgelassen hatte. Mich wundert’s nicht, ich selbst hab’ ihn für ein Gespenst gehalten. Sie schoß. Durch den Vorhang hindurch traf die Kugel Nu sio ins Herz. Der sank, so wie er da stand, zu Boden, immer noch durch den Vorhang verborgen. Die Frau bemerkte nichts davon, sie starrte nur auf die Stelle des Vorhangs, wo eben noch das Gespenst gelauert hatte. Aber das Gespenst war verschwunden, spurlos. Es hatte sich in Luft aufgelöst, wie es sich für ein Ge spenst gehört. Der erschrockene Kater, den die Kugel 203
nur gestreift hatte, war nämlich hinter den Vorhang retiriert und hatte sich über Nusios Leiche hinweg durch die offene Balkontür ins Freie gerettet. Ich hatte den Eindruck, daß er von der Aufregung einen Herzan fall bekommen hat. Als ich ihn vorhin sah, schwankte er noch auf den Beinen. Aber auch Clara Wixel hatte einen Schock erlitten. Es ist ja keine Kleinigkeit, einem Gespenst zu begegnen und es durch einen Revolver schuß zu erledigen. Hier hielt sie es nicht länger aus. Sie lief hinaus ins Treppenhaus, Maya direkt in die Ar me. Alles Weitere wißt ihr. Und jetzt habt ihr vielleicht auch schon erraten, wie sich der Kater vors Excelsior verirrt hat: Nachdem die Frau auf ihn geschossen hat te, flüchtete er auf die Straße. Er trieb sich ein bißchen herum und verkroch sich schließlich vor dem Regen in dem Auto, das vor der Tür stand – in dem gleichen, in dem der Mörder hergekommen war, in Franks Auto also. Nach der Tat brachte der Mörder den Wagen an seinen Platz zurück – zusammen mit dem Kater im Fond. Dann fuhr der Kater mit uns zum Excelsior, wo er für einen Augenblick hinaussprang, doch da es im mer noch regnete, stieg er, als Frank zurückkam, mit ihm zusammen wieder ein. Dann schlief er ein Weil chen, während wir bei Maya feierten, und verließ den Wagen erst wieder, als Frank mich zu Hause absetzte. Danach streunte er hier in der Gegend herum. Am En de schlich er sich sogar in meinen Tresor ein, wo ich ihn entdeckte und erleichtert feststellte, daß das ein leibhaftiger Kater und keine Ausgeburt meines Säu ferwahns ist. Da habt ihr des Rätsels Lösung.“ „Und wer hat die Frau getötet? Das ist doch die Fra ge“, wirft Wanda ein.
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„Es gibt noch eine andere Frage“, sage ich: „Warum kommt Robert nicht?“ „Warum sollte er?“ meint Wanda. „Robert sind zwei Leichen auf den Kopf gefallen. Seit zwei Stunden führt er die Ermittlungen. Von dem Ser viermädchen müßte er schon alles erfahren haben: daß die Frau gestern in der Bar telefoniert hat, daß ich sie nach der Toten ausgefragt habe, daß ich den ka rierten Schal der Ermordeten in der Hand hielt – mit einem Wort: Er weiß ganz genau, daß ich hoffnungslos in die Affäre verwickelt bin. Ich verstehe gar nicht, weshalb er noch nicht hier ist und mich verhaftet.“ „Aus alter Freundschaft“, behauptet Frank. „Er war tet darauf, daß du dich stellst und ein Geständnis ab legst, das gibt mildernde Umstände. Robert will dei nem zukünftigen Verteidiger die Arbeit erleichtern.“ „Ich habe nichts zu gestehen, ich bin unschuldig.“ „Bravo, das ist die beste Methode: nicht weich wer den. Aber jetzt mußt du mich entschuldigen, ich werde bei den Dreharbeiten gebraucht.“ Er nimmt seinen Hut vom Schreibtisch. „Komm, Maya“, sagt er, und zu mir, schon auf der Schwelle: „Mach’s gut, wir sehen uns bei der Verhandlung wie der.“ „Es wird zu keiner Verhandlung kommen, ich habe ja ein Alibi.“ „Schon möglich“, grinst Frank. „Auf Wiedersehen.“ „Was heißt: Schon möglich?“ fahre ich auf. „He, bleib stehen! Was soll der Unsinn?“ „Hör mal zu“, sagt Frank von der Tür her. „Vorhin hast du mit nicht zu übertreffendem Scharfsinn bewie sen, daß ich der Mörder bin. Aber deine Geschichte war so dilettantisch ausgedacht, daß sie drei Meilen 205
gegen den Wind nach Gustavs ,Blauer Bibliothek’ roch, hol’s der Teufel. Ich bin kein Detektiv und habe auch zum Glück nichts mehr mit dem Kriminalverlag zu tun, ich bin nur ein bescheidener Drehbuchautor ohne lite rarische Ambitionen, aber eins ist sicher: auf so einen Blödsinn wäre ich nie verfallen. Wenn ich ein Drehbuch über deine beiden Leichen schreiben müßte, ich würde es ganz anders anlegen. Weniger Gags, dafür glaub würdig.“ „Erzähl doch“, bittet Wanda. „Ich hab’ keine Zeit. Die Details sind ja auch unwe sentlich. Aber offenbar ist Monty der Mörder. Gehabt euch wohl.“ „Halt, zum Kuckuck!“ schreie ich. „Wieso denn ich? Wann hätte ich sie denn umbringen sollen?“ „Bevor du mit Gustav das Haus verließest“, erwidert Frank. „Gustav ging hinunter zum Wagen, du bliebst auf der Treppe hinter ihm zurück und verschwandest in der Kanzlei, wo dein Opfer schon wartete, du brach test die Frau um, und weil sich auch Nusio dort einge funden hatte, machtest du ihn gleich mit kalt. Das ging so rasch, daß Gustav, als du nachkamst, gar nicht ge merkt hatte, daß du einen Moment weggewesen warst. Er wird in gutem Glauben aussagen, er sei die ganze Zeit mit dir zusammen gewesen.“ „Also ich selbst soll mich nach deiner Meinung mit der Frau verabredet haben?“ „Du selbst, das ist die einzig logische Erklärung. Es gibt keine Wunder!“ „Aber Clara Wixel telefonierte um halb neun, das Serviermädchen kann es bezeugen. Um diese Zeit saß ich mit Gustav oben in meiner Wohnung und lauschte
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seinen Ergüssen. Währenddessen hat niemand angeru fen.“ „Könntest du mir den Schluß erzählen?“ „Den Schluß wovon?“ „Von Gustavs Roman. Um halb neun muß Gustav schon auf den letzten Seiten gewesen sein, wenn ihr zehn Minuten später, nach Beendigung der Vorlesung, bei mir angeläutet habt. Ich frage dich also, ob du mir den Schluß erzählen kannst. Ein paar Sätze genügen, ich werde es nachprüfen, indem ich Gustav anrufe. Al so?“ „Der Schluß war genauso idiotisch wie alles übrige. Ich versuchte Gustav klarzumachen, daß das Ganze von A bis Zet umgeschrieben werden müßte, den Schluß inbegriffen.“ „Als ich noch im Kriminalverlag war“, sagt Frank, „habe ich das den Autoren auch immer vorgeschlagen. Und weißt du, wann ich besonders hartnäckig darauf bestand? Wenn ich den betreffenden Schmarren gar nicht gelesen hatte, weil mir das Zeug zum Halse ‘raushing. Ich frage dich also zum letztenmal: Wie war Gustavs Schluß?“ „Gesetzt den Fall, ich kenne den Schluß nicht. Was würde daraus folgen?“ „Vieles. Vor allem wäre dann das Alibi, das dir Gu stav geliefert hat, wertlos. Du hast den Schluß der Ge schichte nicht gehört, weil du nicht im Zimmer warst.“ „Unsinn, Gustav wird bezeugen, daß ich nie weg war. Wozu hätte ich auch ‘rausgehen sollen?“ „Um einen zu heben“, sagt Frank. „Gustavs Romane kann man gar nicht im nüchternen Zustand ertragen, so viel steht fest. Gustav war so in die Lektüre versun ken, daß er alles um sich herum vergessen hatte, und 207
du langweiltest dich zu Tode. Zu einem günstigen Zeitpunkt bist du leise aufgestanden, hast dich hi nausgestohlen und in der Kanzlei bei der Flasche Zu flucht gesucht. In diesem Augenblick klingelte das Te lefon. Denn die Frau hat natürlich in der Kanzlei ange rufen. Du nahmst den Hörer ab, sagtest ihr, sie solle in einer Viertelstunde hinaufkommen, du würdest dann dasein, und begabst dich in die Wohnung zurück, wo Gustav noch immer vorlas, ohne dein Verschwinden bemerkt zu haben. Dann rieft ihr bei mir an, du ließest Gustav vorausgehen und machtest selbst noch eine kurze Visite in der Kanzlei, wo das Opfer bereits warte te. Auch diesmal fiel deine Abwesenheit Gustav nicht auf, der war von seiner Schöpfung viel zu berauscht, um für etwas anderes Gedanken zu haben. Das ist mein Drehbuch, Monty. Mach’s gut.“ Hinter Frank und Maya schließt sich die Tür. Wir sind nur noch zu dritt. Wanda, Pums und ich.
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XVI
„Nie und nimmer werde ich das glauben“, versichert Pums. Sie langt sich die Flasche vom Schreibtisch und trinkt den Rest aus. Offenbar hat Franks Auftritt Ein druck auf sie gemacht. „Monty, wie war der Schluß?“ fragt Wanda leise. „Ich weiß nicht“, bekenne ich, „ich habe geschlafen.“ „Du hast geschlafen?“ „In den letzten Nächten hab’ ich viel getrunken, ich war scheußlich müde. Und Gustavs Roman war so hoffnungslos langweilig. Ich war fest eingeschlafen, als Gustav den Schluß vorlas. Ich wurde erst dadurch wach, daß ich mir an der Zigarette, die ich in der Hand hielt, die Finger verbrannte. Da, sieh mal.“ Ich weise ihr den Mittelfinger meiner rechten Hand vor, aber zu meinem Leidwesen ist nichts mehr zu se hen, der Brandfleck ist über Nacht verschwunden. Wanda schüttelt den Kopf und enthält sich jeden Kommentars. Sie glaubt mir kein Wort, natürlich. Pums beobachtet alles aufmerksam, man merkt, wie sie gegen den aufsteigenden Argwohn ankämpft. Ich wüßte gern, ob sie glaubt, daß ich der Mörder bin. Ich wollte, sie glaubte es nicht. Es würde mir zwar nicht viel helfen, aber ein bißchen doch. Solange auch nur einer an meine Unschuld glaubt, werde ich die Kraft besitzen, bis zum letzten Atemzug zu leugnen. Frank hat recht, das ist die beste Verteidigungsmethode. Pums runzelt auf einmal die Stirn, was auf geistige Konzentration schließen läßt, dann hellt sich ihre Miene auf. „Aber das ist ja gar nicht möglich. Sie können gar nicht der Mörder sein. Fräulein Maya Polack hat doch 209
mit der Frau noch gesprochen, eine halbe Stunde, nachdem Sie das Haus verlassen hatten. In der Zeit waren Sie schon bei Herrn Schmidt. Herr Schmidt hat nur Spaß gemacht, nicht wahr?“ „Nach Franks Theorie hat Maya gelogen“, seufze ich, „um mich zu retten. Als sie hierherkam, lebte Clara Wixel nicht mehr – glaubt Frank. Maya trug die Tote in die Wohnung hinauf und täuschte einen Selbstmord vor. Als sie Fräulein Hildegard auf der Treppe bemerk te, beschloß sie, sie als Zeugin zu benutzen. Sie legte irgendeinen schweren Gegenstand auf den Schrank, band ihn an eine Schnur und ging aus der Wohnung, das andere Schnurende in der Hand. Als sie sich ver gewissert hatte, daß Hildegard sie beobachtete, zog sie an der Schnur, es gab einen Knall, Maya kehrte um, brachte besagten Gegenstand an seinen Platz zu rück und verließ dann die Wohnung endgültig. Fräulein Hildegard hat ja ausgesagt, daß dieser Knall für einen Schuß etwas schwach gewesen sei – mit Recht, wie Frank meint, denn nach seiner Theorie ist es gar kein Schuß gewesen.“ „Weshalb sollte Fräulein Polack Sie retten wollen? Sie kann doch bezeugen, daß sie die Ermordete noch lebend angetroffen hat.“ „Sie wird es bezeugen, aber man wird ihr keinen Glauben schenken. Siehst du, Pums, in der letzten Nacht habe ich eine große Dummheit begangen. Ich habe Maya nämlich im volltrunkenen Zustand einen Heiratsantrag gemacht. Das hat Frank gehört, das ha ben auch die Nachbarn gehört, die dort anwesend wa ren. Ich war nicht zurechnungsfähig, ich weiß nicht, was für ein Teufel mich geritten hat, aber das Gericht wird nun glauben, daß wir wirklich was miteinander 210
haben. Der Aussage der Verlobten wird man keinen Wert beimessen.“ „Na, dann werden sie der Kellnerin glauben“, be harrt Pums. „Mit der haben sie sich doch nicht auch verlobt?“ „Nein, aber was hilft das?“ „Die Kellnerin wird aussagen, daß die Frau erst nach neun aus der Bar weggegangen ist. Um die Zeit waren Sie schon bei Herrn Schmidt.“ „Die Kellnerin wird die genaue Uhrzeit nicht angeben können. Clara Wixel telefonierte gegen halb neun, so viel wissen wir. Dann bestellte sie sich ein Steak, aß es aber nicht auf, sondern ging hinauf. Alles zusammen genommen, vom Telefongespräch bis zum Verlassen der Bar, kann das kaum fünfzehn Minuten gedauert haben. Vielleicht saß die Frau schon in der Kanzlei, als ich mich mit Gustav auf den Weg machte. Es ist wenig wahrscheinlich, aber doch nicht ausgeschlossen.“ „Ganz egal. Jedenfalls steht fest: Sie haben sie nicht ermordet, dafür lege ich meine Hand ins Feuer.“ „Das ist kein Beweis. Aber es ist gut gemeint, ich danke dir, Pums, du bist ein braves Mädchen. Ich bin dir auch nicht böse, daß du“ – ich deute auf das leere Büchergestell – „das berühmte Kunstwerk von Thor waldsen zerschmissen hast.“ „Von Canova“, berichtigt Wanda. „Eine Sache gibt mir noch zu denken. Wenn die Frau hier auf dich ge wartet hat und eine Weile allein im Zimmer war, wie kommt es dann, daß sie das Manuskript, das auf dem Stuhl lag, nicht entdeckt und an sich genommen hat? Sie müßte es doch wiedererkannt haben.“ „Sie hat nicht darauf geachtet“, sage ich. „Sie sah das Manuskript, ohne es wahrzunehmen, ebenso wie 211
wir es jahrelang nicht bemerkt haben. Sie glaubte es im Tresor eingeschlossen, es wäre ihr gar nicht in den Sinn gekommen, es auf dem Stuhl zu vermuten.“ „Hat die Frau ganz sicher keinen Selbstmord began gen?“ fragt Wanda. „Vielleicht hat Maya doch recht, daß sie sich selbst erschossen hat. Schließlich kann man sich auch in den Rücken schießen, oder nicht?“ „Wozu sollte sie sich in den Rücken geschossen ha ben?“ „Und was willst du nun mit der ganzen Geschichte anfangen, Monty?“ „Ich rufe gleich Robert an. Soll der sich den Kopf zerbrechen. Pums, geh mal auf den Balkon und schau nach, ob der Polizist noch vor dem Haus steht.“ Pums läuft auf den Balkon, nach ein paar Augenblik ken ist sie zurück. „Er ist nicht zu sehen, aber vielleicht ist er unter der Markise. Dafür habe ich die Kellnerin gesehen. Sie ist eben in die Bar gegangen.“ „Sie haben sie freigelassen, das ist gut. Jetzt möchte ich nur noch ein Experiment machen. Wanda, du könn test mir dabei helfen.“ „Was soll ich tun?“ „Hier hast du meinen Wohnungsschlüssel. Geh hin auf und warte auf mich. Ich gehe für einen Augenblick nach unten, Pums, du bleibst hier und erwartest Ro bert, compris?“ Ich stecke den Revolver ein und gehe hinunter auf die Straße. Nachdem ich mich vergewissert habe, daß der Polizist im Eingang der Bar steht und dem Ser viermädchen zuhört, das über ihre Erlebnisse auf dem Kommissariat berichtet, biege ich um die Ecke, öffne die Tür zur Feuertreppe, steige zum zweiten Stock 212
hinauf und gehe den Laufsteg entlang bis zu meinem Küchenfenster. „Wanda“, rufe ich. Sogleich erscheint sie in der Küchentür und kommt ans Fenster. „Willst du versuchen, ob man von draußen einstei gen kann? Das wird kaum möglich sein“, sagt sie und rüttelt an den Gitterstäben. „Es ist nicht möglich“, bestätige ich. „Aber das wuß te ich schon vorher. Ich werde dir mal etwas anderes demonstrieren. Geh bitte ins Zimmer und setz dich doch einmal auf die Sofalehne.“ Sie tut, wie ich ihr gesagt habe. „Ist es so richtig?“ ruft sie und wendet den Kopf nach mir um. „Ja, gut so. Jetzt paß auf. Wenn ich ,paff’ sage, laß dich auf den Boden fallen.“ Ich rufe „paff“, Wanda gleitet von der Lehne und setzt sich neben dem Sofa auf den Teppich. Ich stecke den Arm mit dem Revolver durchs Gitter und hole kräftig aus. Der Revolver fliegt durch die Küche und den Flur, er landet drüben neben Wanda auf dem Tep pich. „So, nun weißt du, wie die Frau ums Leben kam“, sage ich. „Wäre nicht der Umstand, daß sie in den Rücken getroffen wurde, dann könnte man ohne wei teres auf Selbstmord schließen.“ „Köpfchen“, lobt Wanda. Sie hebt den Revolver auf, betrachtet ihn, kommt in die Küche und setzt sich ne ben dem Fenster auf den Tisch. „Bleibt nur noch zu fragen, wer diesen Einfall hatte“, bemerkt sie. „Wie ich annehme, hast du da auch schon deine Vermutungen?“ 213
„Es sind ja nicht mehr viele Verdächtige übrig. Ich war es nicht. Das Serviermädchen war es auch nicht, sie hat die Bar keinen Augenblick verlassen. Frank und Maya kommen ebenfalls nicht in Betracht. Bleibt ei gentlich nur noch eine Person.“ „Du spannst mich auf die Folter.“ Ich ziehe die Fotografie hervor, die ich in der Hand tasche der Ermordeten gefunden habe, und winke Wanda ans Fenster. Sie tritt dicht zu mir heran, nur die Gitterstäbe trennen uns. „Erkennst du diese Frau?“ Ich halte ihr die Aufnahme hin. Wanda nimmt das Bild, betrachtet es ein Weilchen und gibt es mir dann zurück. „Hat das Foto irgendeine Bedeutung?“ fragt sie. „Allerdings. Es zeigt Clara Wixel im Urlaub, und zwar in Montfleur. Aber das ist unwesentlich. Wichtiger ist: Wer hat die Aufnahme gemacht?“ „Nun, wer?“ „Geh bitte hinüber ins Zimmer und bring mir aus dem obersten Fach des Sekretärs die Lupe.“ Wanda verschwindet und kommt mit der Lupe zu rück. Ich betrachte die Fotografie durchs Vergröße rungsglas, dann gebe ich beides Wanda. „Sieh mal, was auf dem Liegestuhl nebenan liegt“, sage ich. Wanda legt den Revolver auf den Tisch und vertieft sich ins Studium der Fotografie. „Eine Strickarbeit“, stellt sie nach einer Weile fest. „Richtig, eine Strickarbeit. Man erkennt genau die Nadeln, nicht? Und was soll das mal werden?“ „Wahrscheinlich ein Pullover.“ „Genau. Zuerst dachte ich, es sei ein Kinderpulli, weil er so kurz ist, und erst mit der Lupe habe ich ent 214
deckt, daß das ein ganz normaler Männerpullover wer den soll, der erst zur Hälfte fertig ist. Das norwegische Muster ist allerdings schon fertig gestrickt, man sieht es auf dem Bild ganz deutlich.“ „Und was folgt daraus?“ fragt Wanda und gibt mir Foto und Lupe zurück. „Die Aufnahme hast du gemacht. Du saßest neben Clara Wixel im Liegestuhl und plaudertest mit ihr, während du den Pullover für mich stricktest. Zwi schendurch standest du auf und knipstest sie. Du lie ßest den Film bei dem dortigen Fotografen entwickeln und gabst Clara einen Abzug. Ich fand ihn in ihrer Handtasche.“ „Ich war in Bandol und nicht in Montfleur“, sagt Wanda. „Einen Pullover mit norwegischem Muster kann jeder stricken, findest du nicht?“ „Kann sein, daß du in Bandol warst, aber du bist nach Montfleur übergesiedelt. Warum, weiß ich nicht. Jedenfalls hast du Clara Wixel in Montfleur kennenge lernt. Vielleicht hast du sie sogar ins Kino eingeladen, in die ,Schwarze Treppe’?“ „Erbarmen! Die ,Schwarze Treppe’ hab’ ich ein dut zendmal gesehen. Ich wäre außerstande, sie noch ein weiteres Mal zu ertragen. Übrigens lief die ,Treppe’ gar nicht, es gab bloß drittrangige Western.“ „Du kanntest also Clara Wixel?“ „Ich habe nicht mal gewußt, daß sie so hieß. Nur einmal in meinem Leben habe ich mit ihr gesprochen, damals im Liegestuhl, im Park der Pension. Ich foto grafierte sie und schenkte ihr kurz vor der Abreise ei nen Abzug. Eine ganz gewöhnliche und zufällige Feri enbekanntschaft. Wie konnte ich voraussehen, daß die Frau eine Woche später in deiner Wohnung erschossen 215
werden würde? Bis jetzt hatte ich nicht die geringste Ahnung, daß es sich um eben diese Frau handelt.“ „Du wußtest es genau. Vielleicht erinnerst du dich, wie ich heute morgen in der Bar das Serviermädchen fragte, ob es gestern abend eine ältere, hagere, dun kelgekleidete Frau gesehen habe, und wie du hinzu fügtest: ,im schwarzen Kostüm’. Woher wußtest du, daß sie ein Kostüm trug? Kannst du mir das erklären?“ „Das war nicht schwer zu erraten. Um diese Jahres zeit tragen alle Frauen ein Kostüm.“ „Gut, lassen wir das. Erzähl mir alles über diese Be kanntschaft. Warum bist du nach Montfleur gefahren?“ „Das tut nichts zur Sache. Sagen wir mal, es war mir zu langweilig in Bandol. Ich setzte mich also in den Zug und fuhr nach Montfleur. Dort wohnte ich in der Pension ,Mimose’. Eines Tages saß ich im Park im Lie gestuhl und strickte. Da kam deine Clara und nahm im Liegestuhl nebenan Platz. Ich wußte natürlich nicht, wer sie ist, ich kannte sie überhaupt nicht. Wir plau derten vielleicht eine halbe Stunde, dann las sie ein Buch, dann sprachen wir noch ein paar Worte, ich knipste sie, und dann ging ich spazieren. Ich habe sie nur noch einmal wiedergesehen, als ich ihr das Foto gab. C’est tout.“ „Was hat sie dir von sich erzählt?“ „Sie sagte, glaube ich, daß die Verwalterin der Pen sion, eine entfernte Cousine von ihr, sie eingeladen habe, und dadurch sei es ihr, also Clara, möglich, ei nen ganzen Monat dort zu leben, ohne einen Pfennig auszugeben. Sie schien arm zu sein. Dann sprachen wir noch über dieses und jenes, schließlich machte ich die Aufnahme und ließ sie allein. Bist du nun zufrie den?“ 216
„Ich werde erst zufrieden sein, wenn du mir bewei sen kannst, daß du sie nicht ermordet hast. Aber ich fürchte, das wird dir nicht gelingen. Hör zu. Du lern test in Montfleur Clara Wixel kennen. Mag sein, du warst mit ihr nicht in der ‚Schwarzen Treppe’, vielleicht lief der Film gar nicht in Montfleur. Aber vielleicht wur de er in einem Kino der Umgebung gezeigt, und Clara hat ihn sich zufällig angesehen. Kurz und gut, sie er zählte dir, sie sei die Verfasserin des Drehbuchs und nicht der Mann, dessen Name auf dem Plakat steht. Du hast ihr natürlich nicht auf die Nase gebunden, daß du die Gattin dieses Mannes bist. Statt dessen hörtest du dir ihre ganze Geschichte an: von ihren Kriminalerzäh lungen, die sie an den Verlag geschickt, und von dem Duplikat, das sie in meinem Tresor hinterlegt hatte. Clara verschwieg dir auch nicht, daß sie die Absicht habe, von Montfleur direkt hierherzufahren und ihr Recht zu verlangen. Du lobtest diesen Entschluß und erbotest dich sogar, ihr zu helfen. Du teiltest ihr mit, daß du Rechtsanwalt Rieff kennst, den Sohn und Nach folger des alten Rieff, und gabst ihr seine Privatnum mer. Natürlich war das gar nicht meine Telefonnum mer. Dir lag nämlich daran, daß ich nicht erfuhr, was sich in meinem Tresor befindet.“ „Und wessen Nummer habe ich ihr gegeben?“ fragt Wanda. „Die Nummer deines Liebhabers. Denn außer dir ist noch irgendein Mann im Spiele. Ein Liebhaber offen bar. Du bist nach Montfleur gefahren, um dich mit ihm zu treffen. Ihr wart dort zusammen – vielleicht in ver schiedenen Pensionen, um eure Liaison geheimzuhal ten. Clara notierte also die Telefonnummer, und ihr trenntet euch. Du erzähltest alles deinem Liebhaber. 217
Ihr reist ab, und hier, in seiner Wohnung, wartet ihr auf den Anruf. Endlich, gestern abend, meldet sich Clara Wixel am Telefon. Dein Geliebter stellt sich als Rechtsanwalt Rieff vor und verabredet sich mit ihr in meiner Kanzlei. Aber nicht er kommt hierher, er bleibt, wo er ist. Du aber läßt dich von einem Taxi zu eurer Wohnung bringen und fährst mit Franks Wagen hier her. Ich vermute, daß du Maya ins Haus gehen sahst, als du vor der Tür hieltest (im Parkverbot, wie der Hausmeister sagt). Das brachte deine Pläne etwas durcheinander. Statt die Haupttreppe hinaufzugehen, stiegst du von der Passage aus die Feuerleiter hoch, die Tür hatte ja Nusio zuvor aufgebrochen. Im ersten Stock konntest du durchs Fenster beobachten, wie Cla ra Wixel und Maya in der Kanzlei das Gespenst such ten. Als Clara in die Nähe des Fensters kam, bücktest du dich, und als du wieder ins Zimmer schautest, wa ren die beiden nicht mehr da. Aber auf dem Fenster brett lag der Revolver, den Clara in ihrer Aufregung dort vergessen hatte. Da hörtest du die Stimmen der beiden von oben, aus dem zweiten Stock. Mein Kü chenfenster war offen, du konntest jedes Wort verste hen. Du nahmst den Revolver und stiegst hinauf. Vor dem Küchenfenster hörtest du, wie Clara Wixel zu Maya sagte, sie wolle ihr ihre ganze Tragödie erzählen. Dazu durftest du es nicht kommen lassen. In dem Au genblick, als Maya hinausging, gabst du einen Schuß auf Clara ab. Dann warfst du den Revolver durch die Gitterstäbe ins Zimmer. Du liefst nach unten, brach test den Wagen vor euer Haus zurück und fuhrst wie der zu deinem Liebhaber. Heute morgen standst du früh auf, um rechtzeitig am Zug zu sein, mit dem du ankommen solltest. Ich nehme an, du hast Frank kein 218
Wort von der ganzen Sache erzählt. Heute mittag tele foniertest du mit deinem Liebhaber und trugst ihm auf, hierherzukommen und mir das kompromittierende Ma nuskript zu entreißen. Ihr werdet es wohl inzwischen vernichtet haben.“ „Du bist einfach genial“, sagt Wanda bewundernd. „Wie machst du das bloß, daß du ohne jeden Anhalts punkt so viel ‘rauskriegst? Ein paar Details in deiner Geschichte stimmen nämlich tatsächlich. Gratuliere.“ „Nur ein paar? Du enttäuschst mich. Und ich dachte, ich wüßte nun endlich alles.“ „Bis dahin ist es noch weit“, lacht Wanda. „Weshalb sollte ich mich zum Beispiel so für Franks Interessen einsetzen, wenn ich einen andern liebe? Das erkläre mir bitte.“ „Du liebst einen andern Mann, aber du liebst auch Franks Geld. Dein Liebhaber hat keins. Ein Plagiatspro zeß hätte für Frank den Ruin bedeutet, das aber paßt dir ganz und gar nicht in den Kram.“ „Und weshalb hätte ich dir meinen ,Liebhaber’, wie du dich ausdrückst, ins Haus schicken sollen, damit er dich zur Herausgabe des Manuskripts zwingt, wo du mir doch erst kurz zuvor versichert hattest, daß du den Tresor nicht öffnen kannst? Da du die Kombination nicht kanntest, gab es doch wohl keine Hoffnung, daß sie dir einfallen würde, wenn man dir mit einem Revol ver droht, hab’ ich recht?“ „Ich sagte dir zwar, daß ich die Kombination nicht kenne, aber ich sagte auch, daß Nina sie vielleicht wüßte. Als ich von euch aus bei ihr anrief, war sie nicht zu erreichen, aber du konntest dir ausrechnen, daß ich es eine halbe Stunde später noch einmal ver suchen würde und daß mir Nina dann die Kombination 219
mitteilen würde. Übrigens hast du dich selbst verraten, indem du mir diesen maskierten Trottel auf den Hals hetztest. Als der Bursche mit meinem Revolver in der Hand in der Kanzlei vor mir stand, da war mir sofort klar, daß du die Hände im Spiel hast.“ Wanda wiegt ungläubig den Kopf. „Nur dir gegenüber habe ich erwähnt, daß ich den Revolver im ,Faust’ versteckt hatte. Niemand außer uns beiden wußte davon. Wäre der Maskierte nicht eingeweiht gewesen, er hätte den Revolver tagelang suchen können und nicht gefunden. Aber er fand ihn auf Anhieb. Weil du ihm gesagt hattest, wo er ist.“ „Ach, du mein Sherlock Holmes“, spottet Wanda. „Zu Scherzen ist es jetzt zu spät“, sage ich traurig. „Du bist tapfer, aber nichts kann dir mehr helfen.“ „Mich bedroht doch gar nichts“, lacht sie. „Du kannst nur überhaupt nichts beweisen. Auf das Kostüm bin ich ganz zufällig gekommen, und ich habe auch keinen Liebhaber auf dich gehetzt. Nur einen Fehler habe ich gemacht, aber der wird ohne schwerwiegende Folgen bleiben. Ich habe in dir den Verdacht geweckt, daß ich gestern hier in der Kanzlei gewesen bin.“ „Nach meiner Theorie warst du gar nicht drin, son dern draußen vor dem Fenster. Von draußen bemerk test du auch die Gipsplastik auf dem Büchergestell, die vor deiner Abreise noch nicht da war – Nina hat sie mir erst vor einem Monat geschenkt. Heute früh hat Pums diese Scheußlichkeit zerschmissen und die Stücke in die Schublade geräumt. Trotzdem wußtest du, daß die Figur von Canova war. Du wußtest es, weil du sie ge stern noch heil und ganz vor Augen hattest, eine ande re Erklärung gibt es nicht.“
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„Trotzdem ist deine ganze Geschichte aus der Luft gegriffen“, widerspricht Wanda. Sie läßt sich vom Tisch gleiten, jetzt steht sie mitten in der Küche und wendet mir das Gesicht zu. Mit dem Revolver zielt sie auf meine Brust. Sie ist auf einmal nicht mehr das zarte, sentimentale Mädchen, als das ich sie kenne. Ihre Blicke sind Dolche. „Keine Bewegung!“ faucht sie. „Wenn du dich zwei Minuten lang nicht von der Stelle rührst, stirbst du, nachdem du die Wahrheit erfahren hast. Aber wenn du auch nur mit der Wimper zuckst, ist es sofort aus mit dir.“
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XVII
Ich muß gestehen, das ist die blödsinnigste Situation, in die ich je im Leben geraten bin, und es sieht so aus, als sollte ich überhaupt nie mehr in irgendeine Situati on geraten. „Hör mal, Wanda“, versuche ich sie zu bereden, aber sie schneidet mir das Wort ab. „Halt den Mund! Du hast genug gefaselt. Manchen wir’s kurz. Ich hab’ dich eigentlich immer ganz gern gehabt, aber jetzt wirst du mir gefährlich, du bist mir zu gerissen.“ Ich könnte mich zur Seite werfen und aus dem Schußfeld herauszukommen versuchen, aber wird mir das gelingen? Wanda steht so nahe, daß ich ihr den Revolver abnehmen könnte, wenn ich den Arm durchs Gitter steckte, aber das werde ich doch lieber nicht versuchen. Es wird immer erzählt, daß einem Men schen in einer solchen Lage das ganze bisherige Leben vorm geistigen Auge vorbeizieht. Ich kann nichts der artiges bemerken. Mein Gehirn ist wie eine ausge quetschte Zitrone. Vielleicht gibt es irgendeinen Aus weg, aber mir fällt keiner ein. „Du sollst erfahren“, beginnt Wanda, „daß es weder um Frank noch um irgendein Drehbuch ging. Vielleicht hatte die Frau berechtigte Ansprüche, aber davon habe ich nichts gewußt. Ich hatte gar nicht die Absicht, sie zu erschießen, weshalb auch? Ihr Tod ist reiner Zufall. Stehenbleiben!“ schreit sie, denn ich habe gewackelt. Ich erstarre zur lebenden Statue. Wanda fährt fort: „Daß du nicht auf diese einfache Lösung gekommen bist! Dabei hattest du Indizien. Du hast doch Mayas 222
Lippenstift in Franks Arbeitszimmer gefunden. Welche Schlüsse hast du daraus gezogen?“ Ich schweige. Wanda wartet meine Antwort auch gar nicht ab. „Natürlich wußte ich längst Bescheid. Aber ich hatte keine Beweise. Deshalb kam ich drei Tage früher aus den Ferien zurück als vorgesehen. In diesen drei Tagen spürte ich ihnen nach. Ich beobach tete, wie Maya gestern abend von Frank wegging, ich fuhr ihr nach, ich ging hinter ihr die Treppe hoch und wurde Zeuge, wie sie in der Tür deiner Kanzlei auf die Frau im schwarzen Kostüm stieß. Ich kehrte also wie der um und stieg die Feuerleiter hoch. Als ich durchs Fenster hereinschaute, bemerkte ich, daß die beiden drin hin und her liefen. Ich erkannte meine Ferienbe kanntschaft aus Montfleur, aber ich hatte keine Ah nung, was sie hier wollte. Nach einer Weile verließen sie das Zimmer, und auf dem Fensterbrett lag, wie du richtig vermutet hast, der Revolver. Ich nahm ihn an mich und stieg einen Stock höher. Ich stand dort, wo du jetzt stehst. Durchs Fenster sah ich Maya auf der Sofalehne sitzen. Sie hielt den Kopf gesenkt. Ich hatte gar keinen Zweifel: das war Maya in ihrem Kamel haarmantel. Ich schoß, lief hinunter und fuhr zurück ins Hotel. Heute morgen traf ich mich mit Frank auf dem Bahnhof… Und dann mußte ich erfahren, daß er die Nacht bei Maya zugebracht hatte und daß sie ge sund und munter ist. Ich hatte statt ihrer meine Be kannte aus Montfleur erschossen. Lustig, wie? Jetzt sprich dein letztes Gebet, es ist aus.“ Hinter Wandas Rücken bemerke ich, wie sich etwas im Flur bewegt. An der Tür taucht Pums’ Struwwelkopf auf. Wanda dreht sich um, läßt den Revolver sinken und sagt 223
freundlich: „Wir haben gerade ein Experiment ge macht, schade, daß Sie nicht dabei waren. Monty ist tatsächlich verdammt scharfsinnig, Sie haben ein Ge nie zum Chef.“ „O ja“, nickt Pums überzeugt. „Irgendein Herr hat angerufen“, teilt sie mir mit. „Er bat. Sie möchten sich doch gleich mit ihm in Verbindung setzen. Ich habe die Nummer notiert.“ „Ich komme gleich. Deine Geschichte“, sage ich zu Wanda, „wäre ausgezeichnet, wenn sie stimmen wür de. Maya hat gestern nicht ihren Kamelhaarmantel ge tragen, sondern einen Nylonmantel, einen grasgrünen Nylonmantel. Ich sah ihn bei ihr zusammengeknüllt unter der Badewanne.“ „Pech“, meint Wanda. Sie schaut auf ihre Armband uhr, überreicht mir den Revolver und zieht die Hand schuhe an. „Ich bin beim Schneider angemeldet. Adieu, Kinder, bis morgen.“ „Geh ins Büro“, sage ich zu Pums, „ich komme auch gleich.“ Ich steige die Feuerleiter hinunter und biege um die Ecke. Vor der Haustür treffe ich Wanda, die nach ei nem Taxi Ausschau hält. „Hab’ ich gut gespielt?“ empfängt sie mich. „Du mußt gestehen, dem Film ist an mir ein großer Star verlorengegangen. Gib zu, daß du Angst hattest.“ „Du glaubst doch nicht im Ernst, daß Frank was mit Maya hat?“ „I wo.“ Wanda zuckt die Achseln. „Und wenn schon. Davon geht die Welt nicht unter.“ „Wozu bist du eigentlich nach Montfleur gefahren?“
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„Um mir die Haare färben zu lassen. Dort gibt es ei nen berühmten Coiffeur, einen Spezialisten für Henna. Du mußt nämlich wissen, ich werde grau.“ „Worüber hast du mit Clara Wixel gesprochen?“ „Das hab’ ich dir doch schon erzählt. Über ihre Cou sine, die der Pension vorsteht. Über das Mittagessen. Lauter Banalitäten. Die Ärmste war nicht gerade un terhaltsam, sie hat sich fast nur beklagt, sie langweilte mich. Um meine Ruhe zu haben, gab ich ihr einen von Gustavs Schmökern zu lesen. Da war sie dann be schäftigt. Sie fragte mich sogar, ob ich noch mehr Bü cher von diesem Autor hätte, und war sehr enttäuscht, als ich ihr sagte, daß der große Stan. W. Melton ein biederer, braver Bürger mit Bauch in mittleren Jahren ist und in Wirklichkeit Gustav Kokatsch heißt. Dann kamen wir auf die überfüllten Züge zu sprechen, und bei der Gelegenheit prahlte die Frau damit, daß sie vor acht Jahren einmal ein Eisenbahnunglück miterlebt und daß man sogar ihren Namen irrtümlich auf die Li ste der Opfer gesetzt hat. Sie hielt das wohl für eine speziell gegen sie gerichtete Bosheit der Zeitungsre dakteure. Dann machte ich die bewußte Aufnahme, und später sah ich sie nur noch einmal, als ich ihr den Abzug gab. Weiter weiß ich nichts von ihr.“ „Wann war das? Wann hast du sie zum letztenmal in Montfleur gesehen?“ „Vorgestern. Sie fuhr noch am gleichen Tag ab, ich blieb einen Tag länger.“ „Bist du wirklich erst heute früh angekommen? Wo her wußtest du von der Gipsfigur?“ „Ich habe sie mit Nina zusammen in der Markthalle gekauft, bevor ich nach Bandol abreiste. Wir fanden beide, daß sie ausgezeichnet in dein Arbeitszimmer 225
passen würde. Bei den meisten Rechtsanwälten sieht man solchen Kitsch herumstehen.“ „Bei den meisten Zahnärzten“, korrigiere ich. „Rechtsanwälte haben gewöhnlich bronzene Schreib tischgarnituren.“ „Dann weiß ich ja fürs nächste Mal Bescheid. Auf Wiedersehen, Monty, komm zu uns zum Abendessen, wenn du bis dahin nicht verhaftet bist, es gibt Knödel“, verabschiedet sich Wanda, indem sie in ein Taxi steigt. Ich gehe hinauf und finde Pums im Vorzimmer vor dem Spiegel. Sie probiert an ihrem Ausschnitt herum und prüft mit kritischem Blick die Wirkung. „Mach dir keine Illusionen“, unterbreche ich sie, „mit Maya kannst du’s nicht aufnehmen.“ „Sie ist unerhört schön, nicht?“ seufzt Pums. Wir gehen hinüber ins Arbeitszimmer. Pums nimmt hinter der Maschine Platz, ich am Schreibtisch. „Ist das Experiment gelungen?“ erkundigt sie sich. „Haben Sie den Mörder gefunden?“ „Du hast mir doch geraten, ich solle die Person su chen, die am wenigsten verdächtig ist, nicht? Vielleicht hast du recht, das könnte eine brauchbare Methode sein. Laß uns mal überlegen, wer bis jetzt noch gar keinen Verdacht erregt hat, wer scheinbar völlig au ßerhalb der Sache steht und doch von Anfang an da zugehört, nur daß man erst mal draufkommen muß. Denk nach, ob es jemanden gibt, der diese Vorausset zungen erfüllt.“ „Mich“, antwortet Pums. „Niemand verdächtigt mich, und ich bin die ganze Zeit dabei.“ „Und du hattest ein Motiv. Du wolltest nicht, daß ich etwas von deiner kriminellen Vergangenheit erfahre, 226
denn dann hätte ich dich vielleicht nicht als Sekretärin genommen. Nina hatte dir Diskretion versprochen. Aber dann trafst du Nusio. Du kamst gestern abend her, um das Terrain zu sondieren, vielleicht wolltest du feststellen, wie dein zukünftiger Chef aussieht, bevor du ihm Auge in Auge gegenübertrittst, oder du wolltest die Kanzlei besichtigen, zu der dir ja Nina den Schlüs sel gegeben hatte. Vor der Bar läuft dir Nusio über den Weg. Nusio wußte über alles Bescheid, er hätte dich ‘reinlegen können. Du lockst ihn in die Kanzlei, er schießt ihn, und dann bringst du Clara Wixel um, weil sie etwas gesehen hat. Ist das logisch?“ „Wenn Sie noch zwei Minuten weiterreden, haben Sie mich überzeugt“, sagt Pums. „Ich bin mir jetzt schon nicht ganz sicher, ob es nicht wirklich so gewe sen ist.“ „Aber ich bin sicher, daß es nicht so war“, wider spreche ich. „Eigentlich ist ja alles klar, bis auf einen Punkt.“ „Und wo stimmt es nicht?“ „Mit der Treppe haut es nicht hin. Das Serviermäd chen sagte, die Frau hätte sich per Telefon beschwert, man habe ihr die Treppe gestohlen. Nun ist aber die ,Treppe’ gar nicht gestohlen worden. Weshalb hat sie also von einer Treppe gesprochen? Diese Treppe hat mich von Anfang an in die Irre geführt.“ „Es ging also gar nicht um die ,Schwarze Treppe’?“ „Nein, absolut nicht.“ „Dann ist Herr Schmidt unschuldig? Das freut mich, er ist sehr sympathisch.“ „Er ist unschuldig wie ein Baby. An seine Schuld ha be ich nie so recht geglaubt. Ich habe nur allerlei zu sammengeredet, um Zeit zu gewinnen.“ 227
„Sie haben fabelhaft geredet“, versichert mir Pums. „Ich habe richtig eine Gänsehaut gekriegt, wie Sie ihm so Stufe für Stufe den Mord nachwiesen.“ „Was sagst du da?“ schreie ich und springe auf. „Daß ich fest davon überzeugt war, daß Herr Schmidt der Mörder ist“, entgegnete Pums erstaunt. „Was ist Ihnen denn?“ Ich ziehe die Fotografie aus der Tasche und betrach te sie noch einmal genauestens durch die Lupe. Die Buchstaben sind winzig, aber man kann sie entziffern.
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XVIII
Ich nehme den Hörer ab und wähle. Eine undeutliche Stimme meldet sich mit „Hallo“. „Gustav? Hör zu, was ich dir zu sagen habe, und un terbrich mich nicht. Weißt du, welches das beste Alibi ist? Ich weiß es. Nicht spitzfindige Kombinationen mit arrangierten Saufgelagen, falschen Zeugen und aus geklügeltem Zeitplan – nichts von alledem. Ein gutes Alibi ist: wie ein Biedermann aussehen. ,Anständige Leute haben kein Alibi’, hat mir Opolsky heute morgen gesagt. Sie haben keins, weil sie keins brauchen. Ein anständiger Mensch kann ruhig einen Mord verüben, niemand wird ihn verdächtigen. Man muß ein Genie sein wie ich, um unter solchen Bedingungen die Wahr heit herauszufinden. Unterbrich mich nicht, laß mich erst ausreden. Ich wäre längst auf die richtige Spur gekommen, wenn nicht diese Treppe gewesen wäre. Ein Serviermädchen hörte, wie Clara Wixel am Telefon sagte, man habe ihre Treppe gestohlen. Ich konnte mir lange keinen Reim darauf machen. Jetzt ist mir ein Licht aufgegangen: Das Serviermädchen hat die Wör ter verwechselt. Die Frau hat nicht von ihrer ,Treppe’ gesprochen, sondern von ihren ,Stufen’. Für das Mäd chen war das Jacke wie Hose, aber faktisch ist es ein riesiger Unterschied. Clara Wixel schrieb Kriminaler zählungen. Einige ihrer Schöpfungen hat sie seinerzeit an den Kriminalverlag geschickt, ein Duplikat hinter legte sie im Tresor meines Vaters. Nachdem ein, zwei Jahre verstrichen waren, brachte eine Zeitung die Nachricht, Clara Wixel sei bei einem Eisenbahnunglück ums Leben gekommen. Daher meinte mein Vater, daß niemand mehr nach diesem Depot fragen würde, und 229
hatte nichts dagegen, daß die Sekretärin das kostbare Stück als Sitzunterlage benutzte. Das Original schmor te im Kriminalverlag, Frank hat es dir bei seinem Weg gang hinterlassen. Er hat keinen einzigen Blick in das Manuskript geworfen. Du aber hast es gelesen, und es stellte sich heraus, daß aus einer Erzählung was zu machen war. Du hast sie dann ja auch verwendet und – selbstverständlich unter deinem eigenen Namen – veröffentlicht. Damit war der Grundstein zu deiner ,Blauen Bibliothek’ gelegt. Später, in deinen folgenden Romanen, hast du vielleicht noch andere Ideen der Wixel verwertet. Sie war eine miserable Schriftstelle rin, aber sie hatte Einfälle. Du dagegen schreibst kei nen üblen Stil, aber du bist nicht imstande, dir eine spannende Kriminalhandlung auszudenken. Die Zu sammenarbeit mit der Toten war also recht ersprieß lich. Dein Pech, daß die Tote gar nicht tot war. Die Meldung in der Zeitung war falsch gewesen. In diesem Jahr fuhr Clara Wixel nach Montfleur, und dort fielen ihr durch Zufall deine ,Stufen zur Guillotine’ in die Hände, die heute bereits zur klassischen Kriminallitera tur gezählt werden. Clara war sich über das Plagiat so fort im klaren. Sie fuhr hierher und rief bei mir an, um sich ihr Duplikat herausgeben zu lassen, mit dem sie ihre Autorschaft an deinem Meisterwerk beweisen konnte. Das war gestern abend gegen halb neun, als du bei mir in der Wohnung warst. Du gabst dir Mühe, mir den Entwurf deines neuen Romans vorzulesen, ich saß im Sessel… und machte ein Nickerchen. Unter dem Eindruck deines ungemein packenden Vortrags war ich so fest eingeschlafen, daß mich nicht einmal das Läu ten des Telefons weckte – es klingelt allerdings etwas leise. Du nahmst den Hörer ab und stelltest gleichzei 230
tig fest, daß ich schlief. Wahrscheinlich hast du dich nur aus Jux mit meinem Namen gemeldet, du dachtest wohl, es ist irgendein Mädchen dran, mit dem du mich nachher aufziehen kannst. Aber dann merktest du so fort, wie der Hase läuft. Du fühltest dich bedroht. Du mußtest einen Skandal und sogar den Ruin befürchten. Kurz entschlossen sagtest du der Anruferin, sie möge in die Kanzlei kommen, und legtest auf. Als ich er wachte, riefen wir Frank an, du brachtest mich zu ihm und fuhrst wieder hierher zurück, um Clara Wixel zu treffen. Aber nicht mit deinem eigenen Auto, das ist zu auffällig. Du nahmst Franks unscheinbaren Standard, der vor dem Haus stand. Als du hier ankamst und die Treppe hinaufstiegst, sahst du eine ältere Frau mit Maya vor der Kanzlei stehen. Du kanntest Clara Wixel nicht, aber du errietest, daß sie es war. Sie hatte kurz zuvor in der Kanzlei ein unangenehmes Erlebnis ge habt, bei dem zufällig ein Einbrecher ums Leben kam; Aber das betrifft dich nur insofern, als Clara einen Re volver in der Hand hatte. Du gingst zurück auf die Straße und klettertest über die Feuerleiter zum ersten Stock hinauf. In der Kanzlei wirbelten die beiden Frau en aufgeregt herum und suchten ein Gespenst. Dann verließen beide das Zimmer, aber zuvor hatte Clara den Revolver auf das Fensterbrett gelegt. Kurz darauf hörtest du ihre Stimme von oben aus meiner Woh nung. Du nahmst den Revolver an dich, stiegst über die Leiter hinauf in den zweiten Stock und lauschtest am Küchenfenster. Du konntest verstehen, wie Clara Wixel zu Maya sagte, sie wolle ihr von dem Unrecht erzählen, das man ihr angetan hatte. Du zielst, schießt die Frau nieder, wirfst den Revolver neben die Leiche, läufst hinunter und fährst fort. Du bringst Franks Auto 231
wieder an seinen Platz, setzt dich in deinen Wagen und fährst nach Hause. Das alles hat nur kurze Zeit gedau ert, niemand hat dich gesehen. Aber da war noch das Manuskript, das, wie du glaubtest, im Tresor ruhte. Heute vormittag kamst du es holen. Du hofftest viel leicht, der Tresor würde offen sein und es würde dir ohne große Mühe gelingen, das Dokument herauszu nehmen. In der Kanzlei trafst du niemanden an, doch der Tresor war verschlossen. Da faßtest du den Plan, auf mich zu warten und mich durch eine List zum Öff nen des Panzerschranks zu bewegen. Derweil hieltest du nach etwas Trinkbarem Ausschau, um deine stra pazierten Nerven zu beruhigen. Du sahst in dem alten Versteck in der ,Faust’-Kassette nach. Schnaps fandest du dort keinen, aber meinen Revolver, und zwar den selben, mit dem du dir am Abend vorher Clara Wixel vom Halse geschafft hattest. Als dir der Revolver in die Hände fiel, kam dir ein Gedanke. In deinen Schmökern wimmelt es von maskierten Gangstern, die alle mögli chen armen Tölpel terrorisieren und spielend jede ge wünschte Auskunft aus ihnen herauspressen. Du be schlossest, diesen genialen Trick in der Praxis auszu probieren. Auf dem Höhepunkt der Szene wurdest du von einer Pianistin niedergestreckt, aber es ging noch alles gut für dich aus, denn du erwachtest aus deiner Bewußtlosigkeit mit dem Kopf auf dem begehrten Ma nuskript, das nicht im Tresor, sondern auf dem Büro stuhl gelegen hatte. Du packtest deine Beute und nahmst Reißaus. Das Corpus delicti wirst du wohl in zwischen vernichtet haben. Eigentlich fehlt mir jeder Beweis gegen dich. Die Zusammenhänge sind mir klar, aber ich wiederhole, ich könnte nicht beweisen, daß du gemordet hast. Tu mir den Gefallen und gib zu, daß 232
sich alles so abgespielt hat, wie ich es rekonstruiert habe. Es hat mich viel Mühe gekostet. Also: stimmt meine Lösung?“ „Sie stimmt“, tönt es aus dem Hörer. Aber das ist nicht Gustavs, sondern Roberts Stimme. „Du bist ein heller Kopf“, fährt er fort. „Gustav hat gestanden, er hat mich über den ganzen Hergang ins Bild gesetzt. Im großen und ganzen war es so, wie du vermutest. Er wußte allerdings nicht, wie Zahnlücken-Nusio umge kommen ist, du wirst seine Aussage ergänzen müs sen.“ „Wo ist Gustav jetzt?“ „Er ist nicht mehr hier“, sagt Robert. „Er wollte dich anrufen und sich wegen der Scherereien entschuldi gen, die er dir gemacht hat, aber du warst nicht zu er reichen, und wir konnten nicht länger warten. Er bat mich, dir den Ausdruck seines tief empfundenen Be dauerns zu übermitteln, und du möchtest dich des Kriminalverlags annehmen. Seinen Hut könntest du behalten, läßt er dir ausrichten.“ „Ist Gustav selbst zu dir beichten gekommen, oder hat dich dein eigener Spürsinn auf seine Fährte ge bracht? Wenn ja, dann bist du wirklich ein schlauer Fuchs. Denn alle Spuren führten zu mir, nicht zu Gu stav.“ „Ich habe meine Methoden, und vielleicht sind die nicht schlechter als die deinen“, wehrt Robert beschei den ab. „Wenn du den Mörder finden konntest, warum sollte ich es nicht auch können? Ich begreife nur nicht, wieso mir die beiden Leichen von oben auf den Kopf gefallen sind, kannst du mir das erklären?“ „Gewiß. Wenn du mir vorher verrätst, wie du Gustav auf die Schliche gekommen bist, und das schneller als 233
ich – ich hatte immerhin mehr Anhaltspunkte als du, und dann bin ich schließlich genial.“ „Das bist du“, pflichtet mir Robert bei, „aber nicht so genial, um in der Tasche der Toten nachzusehen. Dort hatte sie einen Zettel mit Gustavs Namen und Adres se. Gehab dich wohl.“ Er hat aufgelegt. „Idiot!“ knurre ich in den Hörer. Pums schaut mich mit einer stummen Frage im Blick an (Ava Gardner in „Die barfüßige Gräfin“). „Ich bin der Idiot, ich! Weshalb habe ich nur nicht ihre Taschen durchsucht? Merk dir, Pums: Bei einer Leiche immer zuerst die Taschen durchsuchen!“ Mit diesen Worten verlasse ich die Kanzlei. Meine Kehle ist völlig ausgetrocknet. Ich muß rasch mal hinunter auf einen… Auf ein Selterwasser.
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XIX
Im Treppenhaus treffe ich Fräulein Hildegard. Sie steht mit einer Reisetasche in der Hand in ihrer Wohnungs tür. Der Hausmeister bringt gerade einen alten, abge nutzten Koffer nach unten. Das alte Mädchen trägt ei nen vorsintflutlichen Hut mit kokett umgeschlagener Krempe, unter der ihre grauen Haarbüschel hervorlu gen. Sie hat sich geschminkt und schaut jünger aus als sonst, ihre Augen leuchten. Sie schließt hinter sich ab und hängt den Schlüssel an einen Nagel. „Ziehen Sie aus?“ erkundige ich mich. Hildegard nickt und errötet wie eine Siebzehnjähri ge. Ich nehmen ihr die Reisetasche ab, wir gehen hinun ter. Schon von der Treppe aus sehe ich ein Taxi vor der Haustür stehen. Der Hausmeister lädt gerade Hil degards Koffer ein. Im Taxi sitzt Opolsky und saugt an seiner kalten Pfeife. „Ich danke Ihnen“, sagt sie. „Leben Sie wohl.“ Sie läßt sich ihre Reisetasche geben und schreitet würde voll durch den Flur dem Ausgang zu. „Einen Augenblick noch“, rufe ich ihr nach. „Was wird denn mit Seraphimchen? Er ist schließlich mein Klient, ein wenig geht mich sein Schicksal ja auch an.“ „Wie meinen Sie?“ fragt Hildegard und bleibt stehen. „Was werden Sie mit Ihrem Kater machen, mit Se raphimchen?“ wiederhole ich. Hildegard sieht mich groß an. „Ich habe nie einen Kater gehabt“, sagt sie, dreht sich um und stakst davon. 235