Betty Smith
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Betty Smith
Ein Baum wächst in Brooklyn Inhaltsangabe Dieses erfolgreiche Werk ist das Zeugnis einer großen Erzählerkunst und die sehr persönliche und schöpferische Tat einer Frau: Betty Smith, die in dieser Story das Kindsein und Frauwerden der Francie Nolan in Brooklyn, dem Arbeiterviertel am Rande der Weltstadt New York, darstellt. Es ist ein Buch, dem man in seinem vitalen Elan und seiner mutigen Daseinsbejahung einfach verfällt, weil es ein starkes Herz hat, und seine Gestalten begleiten uns durchs Leben. Insbesondere die Fein- und Kleinmalerei bei der Ausgestaltung unzähliger Einzelheiten, die von beschwingter Plastik sind, schaffen im Leser ein Gegengewicht zu der zerstörenden Hast unserer Tage. Ein Baum wächst in Brooklyn. Sein botanischer Name wird nicht genannt, aber er wird uns so genau beschrieben, daß wir ihn vor uns sehen und die Mühsal seines Wachstums spüren. Er wird diesen Menschen mit dem schattenden Grün seiner Zweige zum Inbegriff von Daseinsfülle und Geborgenheit. Der eigentliche Charme und Zauber dieses Buches liegt in dem blühenden Rankenwerk der unzähligen Gestalten und Situationen, deren Figuren und Muster sich zu einem echten Teppich des Lebens verschlingen. Die große Kunst, mit der gerade die ergötzlichen und drastischen Szenen gestaltet sind – ohne jede Sentimentalität –, bestimmt den Rang dieses Romans.
Titel des amerikanischen Originals ›A Tree grows in Brooklyn‹ Ins Deutsche übertragen von Ursula Markun Sonderausgabe der Naumann & Göbel Verlagsgesellschaft, Köln mit freundlicher Genehmigung des Gebrüder Weiß Verlags, Dreieich Gesamtherstellung: Druck + Repro-Zentrale, Bad Homburg v.d.H. Printed in West Germany Alle Rechte vorbehalten Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
ERSTES BUCH
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H
eiter war ein Wort, das zu Brooklyn, New York, paßte. Ganz besonders im Sommer 1912. Düster als Wort war besser. Aber es stimmte nicht zu Williamsburg, Brooklyn. Prärie war lieblich, und Shenandoah hatte einen schönen Klang, aber mit Brooklyn waren diese Wörter unvereinbar. Heiter war das einzig richtige Wort dafür, besonders an einem Samstagnachmittag im Sommer. – Gegen Abend schien die Sonne schräg in den moosigen Hof von Francie Nolans Haus und wärmte den alten Lattenzaun. Wenn Francie in die schrägen Sonnenstrahlen blickte, überkam sie dasselbe schöne Gefühl, wie wenn sie an das Gedicht dachte, das sie in der Schule aufsagen mußten: Dies sind die ewigen Wälder. Die murmelnden Tannen und Föhren – Bärtig, im moosig grünen Gewand – Stehen verschwommen im Zwielicht Wie Priester aus uralter Zeit. Der einzige Baum in Francies Hof war zwar weder eine Tanne noch eine Föhre. Er hatte spitzige Blätter, von grünen Blattrippen durchzogen, die strahlenförmig aus den Zweigen herauswuchsen und dem Baum ein Aussehen gaben, als bestünde er aus lauter offenen grünen Sonnenschirmen. Es gab Leute, die ihn Himmelsbaum nannten. Wohin seine Samen auch fielen, es wurde ein Baum daraus, der sich bemühte, den Himmel zu erreichen. Er wuchs auf eingezäunten Bauplätzen und auf Abfallhaufen, und er war der einzige Baum, der auch aus dem Zement wachsen konnte. Er wuchs üppig, aber nur im Viertel der Mietshäuser. 2
Du machtest am Sonntagnachmittag einen Spaziergang in ein schönes, vornehmes Quartier. Du sahst durch das Gartenportal ein kleines Exemplar dieses Baumes und wußtest, daß diese Gegend von Brooklyn sich bald in ein Mietskasernenviertel verwandeln würde. Der Baum wußte es. Er ging immer voran. Nachher folgten arme Einwanderer, und die stillen alten Backsteinhäuser wurden in Wohnungen zerstückelt, Bettzeug wurde zum Lüften aus den Fenstern gehängt, und der Himmelsbaum gedieh. Das war die Art, die dem Baum entsprach. Er liebte die armen Leute. Von dieser Art war auch der Baum in Francies Hof. Seine Sonnenschirmchen rankten sich von allen Seiten um die Eisenstäbe der Rettungsleiter im dritten Stockwerk. Ein elfjähriges Kind, das auf dieser Leiter saß, konnte sich vorstellen, es lebe in einem Baum. Und Francie stellte sich dies jeden Samstagnachmittag im Sommer vor. Und was für ein wunderbarer Tag war der Samstag in Brooklyn! Und nicht nur in Brooklyn, überall war er wunderbar! Samstag war Zahltag, er war ein Feiertag ohne die Strenge des Sonntags. Die Leute hatten Geld, sie konnten ausgehen und Sachen kaufen. Sie aßen wieder einmal gut, betranken sich, gingen zum Stelldichein, liebten sich und gingen bis in alle Nacht nicht zu Bett, sangen, spielten, rauften und tanzten, denn der nächste Tag war ein Tag, der ganz ihnen gehörte. Sie konnten sich ausschlafen, wenigstens bis zur Spätmesse. Am Sonntag war die Kirche bei der Elfuhrmesse immer gedrängt voll. Zur Sechsuhrmesse kamen nur ganz wenige. Man rechnete ihnen dies hoch an, obwohl sie es nicht verdienten, denn sie hatten ihr Nachtleben einfach so lange ausgedehnt, daß sie auf dem Heimweg zur Kirche gehen konnten. Sie gingen zur Frühmesse, um ihre Pflicht zu tun und danach den ganzen Sonntag, von Sünden freigesprochen, schlafen zu können. Für Francie begann der Samstag mit dem Gang zum Lumpensammler. Sie und ihr Bruder Neeley sammelten, wie viele Kinder in Brooklyn, Lumpen, Papier, Metall, Gummi und andere Abfälle, die sie in verschließbaren Eimern oder in Kisten unter dem Bett aufbewahrten. Die ganze Woche ging Francie langsam von der Schule heim, die Augen 3
immer in der Straßenrinne auf der Suche nach Silberpapier von Zigarettenschachteln und Kaugummihüllen. Das Silberpapier wurde in einem Büchsendeckel geschmolzen. Der Lumpensammler nahm keine uneingeschmolzenen Silberpapierkugeln an, weil viele Kinder eiserne Dichtungsringe hineinwickelten, um sie schwerer zu machen. Manchmal fand Neeley eine Seltersflasche. Francie half ihm, den Hals abzubrechen und das Blei daran zu schmelzen. Der Lumpensammler wollte nicht den ganzen Flaschenhals kaufen, weil er dann mit den Sodawasserleuten in Streit geriet. Aber eine Seltersflasche war wunderbar. Für das Metall daran bekam man einen Fünfer. Francie und Neeley gingen jeden Abend in den Keller hinunter und durchsuchten die Abfälle des Tages in den Kehrichteimern. Sie hatten dieses Vorrecht, weil ihre Mutter die Putzfrau des Wohnblocks war. Sie nahmen das Papier, die Lumpen und die alten Flaschen heraus. Papier galt nicht viel. Es gab nur einen Penny für zehn Pfund. Lumpen brachten zwei Cent pro Pfund ein und Eisen vier. Kupfer war gut – zehn Cent das Pfund. Hier und da stieß Francie auf eine Goldader: den Boden eines ausrangierten Waschkessels. Sie löste ihn mit einem Büchsenöffner ab, faltete ihn, stampfte ihn zusammen, faltete ihn wieder und stampfte ihn nochmals zusammen. Am Samstagmorgen nach neun Uhr begannen die Kinder aus allen Seitenstraßen in die Manhattan Avenue, die Hauptstraße, zu strömen. Sie schleppten sich langsam durch die Avenue bis zur Scholesstraße. Die einen trugen ihre Schätze auf den Armen. Andere hatten Wägelchen aus Seifenkisten mit soliden Holzrädern. Etliche schoben beladene Kinderwagen vor sich her. Francie und Neeley stopften all ihr Altmaterial in einen Emballagesack, jedes packte einen Zipfel, und so schleiften sie den Sack durch die Straßen, zuerst die Manhattan Avenue entlang, an Maujer, Ten Eyck und Stagg vorbei bis zur Scholesstraße. Schöne Namen für häßliche Straßen. Aus allen Seitenstraßen strömten Scharen von kleinen Lumpensammlern herbei, so daß der Hauptstrom immer mehr anschwoll. Auf dem Wege zu Carney begegneten sie Kindern, die mit leeren Händen zurückkamen. Sie hatten ihren Plunder verkauft und ihre Pennies 4
schon vertan. Und nun machten sie sich lustig über die andern Kinder. »Lumpensammler! Lumpensammler!« Francies Gesicht brannte vor Scham. Das Bewußtsein, daß die Spötter auch Lumpensammler waren, vermochte sie nicht zu trösten. Und auch der Gedanke nicht, daß ihr Bruder nachher ebenfalls mit leeren Händen zurückgehen und diejenigen, die später kamen, mit demselben Namen beschimpfen würde. Francie schämte sich. Carney betrieb seinen Altstoffhandel in einem baufälligen Stall. Als Francie um die Straßenecke bog, sah sie, daß beide Türen einladend offenstanden, und sie stellte sich schon vor, wie das große, kahle Zifferblatt der Waage ihr ein Willkommen zublinzeln würde. Sie sah Carney mit dem rostbraunen Haar, dem rostbraunen Schnurrbart und den rostbraunen Augen die Waage überwachen. Carney hatte die Mädchen lieber als die Jungen. Er gab den Mädchen immer einen Extrapenny, wenn sie sich gefallen ließen, daß er sie in die Wange kniff. Wegen der Möglichkeit dieser Vergünstigung ließ Neeley Francie den Sack in den Stall hineinschleppen. Carney kam schnell auf sie zu, schüttete den Inhalt des Sackes auf den Boden und kniff sie schon im voraus einmal in die Wange. Während er das Zeug auf die Waage schichtete, zwinkerte Francie, um die Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen, und atmete dabei die moderige Luft und den Geruch von feuchten Lumpen ein. Carney fixierte das Zifferblatt und sagte zwei Worte: sein Angebot. Francie wußte, daß man nicht feilschen durfte. Sie nickte. Und Carney ließ sie warten, bis er das Papier in einer Ecke, die Lumpen in einer andern verstaut und das Metall heraussortiert hatte. Erst dann langte er in die Hosentasche, zog einen alten, mit einer Wachsschnur umbundenen Lederbeutel hervor und zählte alte grüne Pennies heraus, die ebenfalls wie Altmaterial aussahen. Während sie ›danke‹ flüsterte, betrachtete Carney sie mit einem rostbraunen, gierigen Blick und kniff sie fest in die Wange. Sie hielt tapfer aus. Er lächelte und gab ihr den Extrapenny. Dann änderte er seinen Ton und wurde laut und barsch. »Komm her!« rief er dem nächsten, einem Jungen, zu. »Heraus mit 5
dem Blei!« Er bezwang das Lachen. »Und ich will kein Altmetall!« Die Kinder lachten pflichtschuldig. Das Lachen klang wie das Blöken von verlorenen Schäfchen, aber es schien Carney zu befriedigen. Francie ging wieder auf die Straße, um ihrem Bruder Bericht zu erstatten. »Er hat mir sechzehn Cent gegeben und einen Penny fürs Kneifen.« »Der Penny gehört dir«, sagte er, gemäß einer alten Abmachung. Sie steckte den Penny in die Tasche und übergab Neeley das restliche Geld. Er war zehn Jahre alt, ein Jahr jünger als Francie. Aber er war ein Junge, er besorgte die Geldangelegenheiten. Er verteilte die Pennies sorgfältig. »Acht Cent für die Bank.« Dies war die Regel: die Hälfte des Geldes, das sie von irgendwoher bekamen, wanderte in die Blechbüchse, die im dunkelsten Winkel des Wandschrankes am Boden festgenagelt war. »Und vier Cent für dich und vier für mich.« Francie knüpfte das Sparbüchsengeld ins Taschentuch. Sie schaute ihre eigenen fünf Pennies an, und der Gedanke, daß man sie in einen ganzen Nickel umwechseln konnte, machte sie glücklich. Neeley rollte den Emballagesack auf, stopfte ihn unter den Arm und drängte sich in den Kramladen ›Zum billigen Charlie‹; Francie folgte ihm. Cheap Charlie war der Zuckerladen unmittelbar neben Carney, der die Lumpensammlergesellschaft versorgte. Bis zum Samstagabend war Charlies Kasse voll von grünlichen Pennies. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, daß dieser Laden nur für Jungen war. Francie blieb deshalb unter der Tür stehen. Die Jungen von acht bis vierzehn Jahren sahen in ihren zu kurz gewordenen Knickerbockern und den Mützen mit geknicktem Schirm alle gleich aus. Sie standen herum mit den Händen in den Hosentaschen und mit nach vorne gekrümmten, mageren Schultern. Sie würden auch als Erwachsene noch so aussehen und in derselben Haltung unter andern Türen stehen. Der einzige Unterschied würde die Zigarette sein, die an die Lippen geklebt schien und beim Sprechen auf und ab wippte. Die Jungen drehten sich unruhig auf den Absätzen; sie blickten von 6
einem zum andern und dann wieder auf Charlie. Francie bemerkte, daß einige von ihnen schon den Sommerhaarschnitt hatten; ihre Haare waren so kurz geschnitten, daß sie an den Stellen, wo der Rasierapparat zu tief gegangen war, Scharten in der Kopfhaut hatten. Diese Glücklichen hatten ihre Mützen in die Hosentaschen gestopft oder trugen sie ganz tief im Nacken. Die Ungeschorenen, deren Haar sich wie bei kleinen Kindern sanft im Nacken lockte, schämten sich und hatten ihre Mützen so weit über die Ohren gezogen, daß sie trotz ihres burschikosen Benehmens etwas Mädchenhaftes an sich hatten. Der ›Billige Charlie‹ war nicht billig, und sein Name war nicht Charlie. Er hatte diesen Namen angenommen und ihn auch auf den Rol�laden seiner Bude geschrieben, und Francie glaubte daran. Bei Charlie konnte man Lose für einen Penny kaufen. Hinter dem Ladentisch war ein Brett mit fünfzig numerierten Haken, an denen je ein Preis hing. Es gab ein paar wunderbare Preise: Rollschuhe, ein Schmetterlingsnetz, eine Puppe mit echtem Haar und so weiter. An den übrigen Haken hingen Tintenlöscher, Bleistifte und andere Penny-Artikel. Francie schaute zu, wie Neeley ein Los kaufte. Er zog die schmutzige Karte aus dem zerfetzten Briefumschlag. Sechsundzwanzig! Francie blickte voller Hoffnung auf das Brett. Er hatte einen Federwischer gewonnen. »Preis oder Zuckerstengel?« fragte Charlie. »Zuckerstengel natürlich.« Es war immer dasselbe. Francie hatte noch nie gehört, daß jemand mehr gewonnen hatte als einen Penny-Preis. Die Räder der Rollschuhe waren aber auch ganz rostig und die Haare der Puppe mit Staub überpudert; es sah aus, als warteten diese Dinge schon unendlich lange auf Erlösung. Francie beschloß, alle Lose aufzukaufen, wenn sie einmal fünfzig Pennies haben würde, und alle Preise auf dem ganzen Brett zu gewinnen. Damit würde sie sicher ein gutes Geschäft machen: Rollschuhe, Schmetterlingsnetz, Puppe und alles übrige für fünfzig Pennies. Die Rollschuhe allein waren ja viermal mehr wert! Neeley würde an jenem großen Tage mitkommen müssen, denn die Mädchen gingen selten zu Charlie. An jenem Samstag waren zwar auch ein paar Mädchen dort … kühne, vorlaute, frühreife Mädchen, die laut schwatzten 7
und sich mit den Knaben herumrauften – Mädchen, von denen die ganze Nachbarschaft jetzt schon wußte, daß sie ein schlimmes Ende nehmen würden. Francie ging über die Straße in Gimpys Zuckerladen. Gimpy war lahm. Er war ein guter Mann, freundlich zu kleinen Kindern … wenigstens glaubte man dies bis zu jenem sonnigen Nachmittag, an dem er ein kleines Mädchen in sein düsteres Hinterzimmer lockte. Francie überlegte, ob sie einen Penny opfern solle für eine GimpySpezialität: die Preistüte. Maudie Donavan, ihre gelegentliche Freundin, war eben im Begriff, etwas zu kaufen. Francie drängte sich vor, bis sie hinter Maudie stand. Sie stellte sich vor, sie gebe den Penny aus. Sie hielt den Atem an, als Maudie nach langem Besinnen mit dramatischer Handbewegung auf einen aufgeblähten Papiersack im Schaukasten zeigte. Francie würde einen kleineren Papiersack ausgewählt haben. Sie spähte über die Schulter ihrer Freundin und sah, wie sie ein paar alte, zerbrochene Zuckerstengel herauszog und ihren Preis musterte: ein grobes, buntgewürfeltes Taschentuch. Francie hatte einmal ein Fläschchen starkes Parfüm gewonnen. Sie überlegte sich nochmals, ob sie auch eine Preistüte kaufen sollte. Es war schön, überrascht zu werden, wenn man auch das alte Zuckerzeug nicht mehr essen konnte. Dann fand sie aber, daß sie ja nun Maudies Überraschung miterlebt habe, und dies war fast ebensoviel wert. Francie ging die Manhattan Avenue entlang und las im Vorbeigehen laut die wohlklingenden Namen der Querstraßen: Scholes, Meserole, Montrose und dann Johnson Avenue. In den beiden letzten Straßen hatten sich die Italiener niedergelassen. Das Viertel, das man die ›Judenstadt‹ nannte, begann bei der Siegelstraße und erstreckte sich über die Moore- und die McKibbonstraße und bis über den Broadway hinaus. Francies Ziel war der Broadway. Und was war am Broadway in Williamsburg, Brooklyn? Das herrlichste Einheitspreis-Warenhaus der Welt! Es war groß und ungemein prachtvoll und enthielt alle Schätze der Welt, wenigstens schien es einem elfjährigen Mädchen so. Francie besaß einen Nickel. Francie besaß Macht. Sie konnte eigentlich alles kaufen, was in diesem Laden zu 8
haben war. In der ganzen Welt gab es keinen zweiten solchen Ort, wo sie dies tun konnte. Sie ging durch alle Abteilungen und berührte jeden Gegenstand, der ihre Phantasie anregte. Was für ein herrliches Gefühl, etwas herauszugreifen, es einen Augenblick lang in den Händen zu halten, seine Form zu befühlen, mit der Hand seine Oberfläche zu streicheln und es dann sorgfältig wieder an seinen Platz zu legen. Dieses Vorrecht hatte sie ihrem Nickel zu verdanken. Wenn ein Aufseher sie fragen würde, ob sie im Sinne habe, etwas zu kaufen, dann konnte sie ›ja‹ sagen und wirklich etwas kaufen. Sie begriff, daß Geld etwas Wunderbares war. Nachdem sie ihre Freude am Berühren der Dinge ganz ausgekostet hatte, schloß sie ihren vorausgeplanten Kauf ab – für fünf Cent Pfefferminzwaffeln mit weißer und rosa Füllung. Auf dem Heimweg ging sie durch die Graham Avenue, die Gettostraße. Sie begeisterte sich an den überladenen Schubkarren, von denen jeder ein kleiner Laden für sich war, an den feilschenden, gefühlvollen Juden und den eigenartigen Gerüchen des Viertels: gebackene, gefüllte Fische, frisches, saures Roggenbrot und etwas, das wie kochender Honig roch. Sie staunte die bärtigen Männer in ihren Alpakamützen und Kaftanen an und fragte sich, warum sie wohl so kleine, wilde Augen hatten. Sie schaute in ganz kleine, höhlenartige Kaufläden hinein und atmete den Geruch der Kleiderstoffe, die unordentlich auf den Tischen herumlagen. Sie betrachtete die Bettdecken, die bauchig aus den Fenstern hingen, die orientalisch buntfarbigen Kleider, die zum Trocknen an den Rettungsleitern hingen, und die halbnackten Kinder, die in der Straßenrinne spielten. Eine hochschwangere Frau saß geduldig in einem steifen Holzstuhl am Randstein. Sie saß da im heißen Sonnenschein und schaute dem Straßenleben zu, während sie das Mysterium des keimenden Lebens in ihrem eigenen Leibe hütete. Francie erinnerte sich daran, wie überrascht sie damals gewesen war, als ihre Mutter ihr sagte, daß Jesus ein Jude war. Francie hatte geglaubt, er sei ein Katholik gewesen. Aber Mama wußte es. Mama sagte, die Juden hätten Jesus nie als etwas anderes betrachtet denn als einen rebellischen Judenknaben, der das Zimmermannshandwerk sei9
nes Vaters nicht lernen, nicht heiraten, nicht seßhaft werden und keine Familie erhalten wollte. Und die Juden glauben, daß ihr Messias erst kommen werde, sagte Mama. Francie erinnerte sich an all dies, während sie die schwangere Jüdin betrachtete. Vielleicht haben die Juden deshalb so viele Kinder, dachte Francie. Und deshalb sitzen sie auch so ruhig da … und warten. Und sie schämen sich darum auch nicht, daß sie so dick sind. Jede Judenmutter glaubt, daß sie vielleicht den wirklichen Jesus hervorbringen werde. Deshalb gehen sie so stolz umher, wenn sie in diesem Zustand sind. Und die Irinnen sehen immer so verschämt aus. Sie wissen, daß es ihnen nie gelingen wird, einen Jesus auf die Welt zu bringen. Es wird einfach wieder ein Mick mehr. Wenn ich einmal groß bin und weiß, daß ich ein Kind bekommen werde, dann will ich auch so stolz und langsam einhergehen, auch wenn ich keine Jüdin bin. Es war zwölf Uhr, als Francie nach Hause kam. Bald darauf kam auch Mama heim mit dem Besen und dem Putzeimer, den sie mit jener energischen, abschließenden Bewegung, die bedeutete, daß sie ihn bis zum Montag nicht mehr berühren werde, in eine Ecke stellte. Mama war neunundzwanzig. Sie hatte schwarzes Haar und braune Augen und flinke Hände. Sie war auch schön gewachsen. Sie arbeitete als Putzfrau und hielt drei Mietshäuser sauber. Niemand hätte gedacht, daß Mama Fußböden fegte und damit eine vierköpfige Familie ernährte. Sie war so hübsch und schlank und lebhaft und sprudelte immer über vor Lebensfreude und Vergnügen. Wenn ihre Hände auch rot und zersprungen waren vom scharfen Sodawasser, so waren sie doch wohlgeformt und hatten schöne, geschweifte, ovale Fingernägel. Jedermann fand es eine Sünde, daß Katie Nolan ihren Unterhalt mit Putzen verdienen mußte. Aber was blieb ihr anderes übrig mit einem solchen Mann, sagten die Leute. Sie gaben zu, daß Johnny Nolan wirklich ein schöner, liebenswürdiger Kerl war, viel schöner und vornehmer als alle andern Männer des Wohnblocks. Aber er war ein Trinker. Das sagten die Leute, und es war wirklich so.
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Mama mußte zusehen, wie Francie die acht Cent in die Sparbüchse warf. Sie amüsierten sich ein paar glückliche Minuten lang mit Raten, wieviel Geld wohl schon in der Büchse wäre. Francie glaubte, es müßten nahezu hundert Dollar sein. Mama meinte, acht Dollar wären wohl eher richtig. Dann gab Mama Francie Instruktionen über die Einkäufe fürs Mittagessen. »Nimm acht Cent aus der zersprungenen Tasse und hol einen vierpfündigen Laib jüdisches Roggenbrot, aber achte darauf, daß es frisch ist! Und dann nimmst du einen Nickel und gehst zu Sauerwein und verlangst Zungenwurzel für einen Nickel.« »Aber das gibt er nicht gern.« »Sag nur, deine Mutter habe es gesagt«, beharrte Katie energisch. Dann überlegte sie. »Ich frage mich, ob wir für fünf Cent Zuckerbrötchen kaufen oder ob wir das Geld lieber in die Büchse tun sollen.« »O Mama, es ist doch Samstag. Die ganze Woche hast du uns versprochen, daß wir am Samstag etwas Süßes bekommen.« »Meinetwegen. Holt die Zuckerbrötchen!« Der kleine jüdische Delikatessenladen war voll von Christen, die jüdisches Roggenbrot kauften. Sie sah zu, wie der Mann ihren Vierpfünder in einen Papiersack schob. Es war mit seiner knusprigen und doch zarten Rinde und dem mehlbestäubten Boden sicher das wunderbarste Brot der Welt, wenn es frisch war. Dann ging sie zögernd in Sauerweins Laden. Manchmal ging es ganz gut mit der Zunge, manchmal aber auch nicht. Aufgeschnittene Zunge zu fünfundsiebzig Cent das Pfund war nur für reiche Leute. Aber wenn fast die ganze Zunge verkauft war, konnte man für einen Nickel die Zungenwurzel kaufen, wenn man es geschickt anstellte mit Herrn Sauerwein. Natürlich war an dem Rest nicht mehr viel Zunge dran. Meistens waren es weiche kleine Knochen und Fett – und nur noch eine schwache Erinnerung an Fleisch. Diesmal hatte Herr Sauerwein einen guten Tag. »Die Zunge ist gestern zu Ende gegangen«, sagte er zu Francie. »Ich habe den Rest für dich aufgehoben, weil ich weiß, daß deine Mama gerne Zunge hat, und ich mag deine Mama gut leiden. Mußt ihr das aber sagen, hörst du?« 11
»Ja, Herr Sauerwein«, flüsterte Francie. Sie blickte zu Boden, da sie fühlte, wie ihre Wangen heiß wurden. Sie haßte Herrn Sauerwein und würde Mama auf keinen Fall erzählen, was er gesagt hatte. Beim Bäcker suchte sie vier Brötchen aus; sie wählte sorgfältig diejenigen, auf denen am meisten Zucker war. Vor dem Bäckerladen traf sie Neeley. Er guckte in den Papiersack und machte einen Freudensprung, als er die Brötchen sah. Er war sehr hungrig, obwohl er schon für vier Cent Zuckerzeug gegessen hatte, und Francie mußte den ganzen Heimweg rennen. Papa kam nicht heim zum Mittagessen. Er war von Beruf Singkellner, ohne festes Engagement, und dies bedeutete, daß er nicht sehr oft arbeitete. Meistens verbrachte er den Samstagvormittag im Hauptquartier der Gewerkschaft und wartete dort auf Arbeit. Francie, Neeley und Mama hatten eine herrliche Mahlzeit. Jedes hatte eine dicke Schnitte ›Zunge‹, zwei Stücke von dem süß duftenden, mit ungesalzener Butter bestrichenen Roggenbrot, je ein Zuckerbrötchen und dazu einen Becher starken schwarzen Kaffee mit einem Löffel gezuckerter Kondensmilch. Die Nolans hatten ihre besondere Vorstellung von Kaffee. Der Kaffee war ihr einziger großer Luxus. Mama machte jeden Morgen einen großen Krug voll und wärmte ihn am Mittag und am Abend wieder auf, so wurde er im Laufe des Tages immer stärker. Er bestand aus sehr viel Wasser und ganz wenig Kaffeepulver, aber Mama tat ein Stück Zichorie hinein, so daß er einen starken, bitteren Geschmack bekam. Jedes durfte am Tag drei Tassen Kaffee mit Milch haben. Während des Tages durften sie sich eine Tasse schwarzen Kaffee einschenken, sobald sie Lust dazu hatten. Manchmal, wenn es überhaupt nichts zu essen gab und wenn es regnete und man allein in der Wohnung saß, war es wunderbar tröstlich, zu wissen, daß man etwas haben konnte, und wenn es auch nur eine Tasse schwarzer, bitterer Kaffee war. Francie und Neeley liebten den Kaffee, aber sie tranken ihn selten. Auch heute ließ Neeley wie gewöhnlich seinen Kaffee stehen und strich sich die kondensierte Milch aufs Brot. Er nippte nur der Form halber ein wenig am schwarzen Kaffee. Mama füllte Francies Tasse und rühr12
te die Milch hinein, obwohl sie wußte, daß Francie ihn nicht trinken würde. Francie liebte den Duft und die Wärme des Kaffees. Während sie das Brot und die Zunge aß, hielt sie die eine Hand um die Tasse geschmiegt und freute sich an der Wärme. Von Zeit zu Zeit sog sie den bittersüßen Duft des Kaffees ein. Das war viel schöner, als wenn man ihn trank. Als das Essen vorüber war, schüttete sie ihn in den Ausguß. Mama hatte zwei Schwestern, Sissy und Evy, die oft zu ihnen kamen. Jedesmals wenn sie sahen, wie der Kaffee ausgeschüttet wurde, hielten sie Mama eine Predigt über Verschwendung. Dann erklärte Mama: »Francie hat wie die andern das Recht, bei jeder Mahlzeit eine Tasse Kaffee zu trinken. Wenn sie den Kaffee lieber weggießt, statt ihn zu trinken, nun gut. Ich glaube, es ist gut, daß Leute wie wir hier und da etwas zu verschwenden haben und dabei erfahren, wie es ist, wenn man ganze Haufen Geld hat und nicht so zu knausern braucht.« Dieser merkwürdige Standpunkt befriedigte Mama und freute Francie. Mamas Erklärung war wie eine Verbindung zwischen den ausgehungerten Armen und den verschwenderischen Reichen. Francie hatte das Gefühl, daß sie mehr hatte als irgend jemand anderer in Williamsburg, auch wenn sie in Wirklichkeit weniger besaß als alle anderen. Sie war reicher, weil sie etwas zu verschwenden hatte. Sie aß ihr Zuckerbrötchen langsam, weil sie den süßen Geschmack möglichst lange genießen wollte, während der Kaffee eiskalt wurde. Dann schüttete sie ihn mit königlicher Gebärde in den Ausguß und kam sich dabei sehr extravagant vor. Dann war sie bereit, zu Losher zu gehen, um die Halbwochenration altes Brot zu holen. Mama erlaubte ihr, einen Fünfer mitzunehmen und eine alte Pastete zu kaufen, falls sie eine finden konnte, die nicht allzu zerdrückt aussah. Loshers Brotfabrik belieferte die Läden der Nachbarschaft. Das Brot war nicht in Wachspapier gehüllt und trocknete schnell aus. Losher nahm den Krämern das trockene Brot wieder ab und verkaufte es den Armen zum halben Preis. Das Verkaufslokal befand sich neben der Bäckerei. An der einen Wand war der lange, schmale Ladentisch, an 13
den beiden anderen Wänden standen lange, schmale Bänke. Hinter dem Ladentisch gähnte eine riesige Doppeltür. Der Bäckerwagen fuhr bis vor diese Tür und lud das Brot direkt auf den Ladentisch ab. Man bekam zwei Brote für ein Fünfcentstück, und sobald das Brot ausgeladen war, drängten sich die Käufer in den Laden und kämpften darum. Es war nie genug Brot da, und viele mußten warten, bevor sie zu ihrem Brot kamen. Da der Preis so niedrig war, mußten die Kunden die Verpackung selbst mitbringen. Die meisten Käufer waren Kinder. Einige von ihnen schoben das Brot unter den Arm und liefen unbekümmert heim, so daß die ganze Welt sehen konnte, wie arm sie waren. Die Stolzen wickelten das Brot ein, die einen in alte Zeitungen, die andern in saubere oder schmutzige Mehlsäckchen. Francie brachte einen großen Papiersack mit. Sie kaufte ihr Brot nicht sofort. Sie setzte sich auf eine Bank und beobachtete die andern. Ein Dutzend Kinder drängelte sich laut schreiend vor dem Ladentisch. Die alten Männer, die von ihren Familien erhalten wurden, mußten die Einkäufe besorgen und die kleinen Kinder hüten; es war die einzige Arbeit für die alten, abgearbeiteten Männer von Williamsburg. Auch sie schoben ihren Kauf so lange wie möglich hinaus, denn sie liebten den Brotduft bei Losher und den warmen Sonnenschein, der ihnen durch die Fenster den alten Rücken erwärmte. Sie saßen stundenlang da, dösten vor sich hin und hatten dabei das Gefühl, Zeit auszufüllen. Das Warten gab ihnen für ein Weilchen einen Lebenszweck, und sie fühlten sich dabei fast ein wenig unentbehrlich. Francie betrachtete den Ältesten unter ihnen. Sie spielte ihr Lieblingsspiel, das darin bestand, sich zu den Menschen Geschichten auszudenken. Sein dünnes, ungekämmtes Haar war vom selben schmutzigen Grau wie die Stoppeln auf seinen eingefallenen Wangen, seine Mundwinkel waren von eingetrocknetem Speichel verklebt. Er gähnte. Er hatte keine Zähne. Sie schaute gebannt und zugleich angewidert zu, wie er den Mund schloß und die Lippen einzog, bis kein Mund mehr da war, und wie sich sein Kinn immer mehr der Nase näherte. Sie besah seinen alten Mantel, dessen Futter aus dem zerrissenen Ärmels14
aum heraushing. Seine Beine waren in hilfloser Ruhestellung weit auseinandergespreizt, und Francie merkte, daß ihm an der fettigen, abgegriffenen Hosenöffnung ein Knopf fehlte. Sie sah auch, daß seine Schuhe zerschlissen und vorn bei den Zehen aufgebrochen waren. Der eine Schuh war mit einem vielfach verknüpften Schuhband zusammengeschnürt, der andere mit einem Ende schmutzigen Zwilchs. Sie sah zwei dicke, schmutzige Zehen mit grauen, gesprungenen Zehennägeln. Sie spann ihre Geschichte … Er ist alt. Er ist sicher über siebzig. Er ist zu der Zeit geboren worden, als Abraham Lincoln noch lebte und bald Präsident wurde. Williamsburg war wohl damals noch ein kleines Dorf, und vielleicht wohnten in Flatbush noch die Indianer. So lange war das her. Sie mußte immer wieder seine Füße ansehen. Auch er war einmal ein kleines Kind. Sicher war es süß und sauber, und seine Mutter küßte ihm die rosigen Zehlein. Und wenn es in der Nacht donnerte, dann kam sie an seine Wiege und deckte ihn besser zu und flüsterte, er solle sich nicht fürchten, die Mutter sei bei ihm. Dann hob sie ihn aus dem Bettchen, legte die Wange an sein Köpfchen und nannte ihn ihr Süßes, Kleines. Vielleicht war er später ein Junge wie mein Bruder, der im Hause ein und aus stürmte und die Türen zuschlug. Und seine Mutter schalt ihn aus und dachte dabei: vielleicht wird er einmal Präsident. Dann wuchs er heran zu einem starken, glücklichen jungen Mann. Wenn er die Straße hinunterging, lachten ihm die Mädchen zu und wandten sich nach ihm um. Er lachte auch, und vielleicht blinzelte er dem schönsten unter ihnen zu. Sicher hat er dann geheiratet und Kinder gehabt, die ihn für den wunderbarsten Papa der Welt hielten, weil er so viel arbeitete und ihnen zu Weihnachten Spielzeug kaufte. Und nun werden seine Kinder auch schon alt wie er und haben auch schon wieder Kinder, und niemand braucht den alten Mann; sie warten nun einfach, bis er stirbt. Aber er will nicht sterben. Er möchte weiterleben, obwohl er so alt ist und es nichts mehr gibt, das ihn glücklich machen kann. Es war ganz still geworden im Laden. Die Sommersonne schien herein und schuf staubige, schräge Straßen vom Fenster bis zum Boden. Eine große, grüne Fliege schoß summend durch die staubigen Sonnen15
strahlen. Außer Francie und dem schlummernden Greis war niemand mehr da. Die Kinder, die auf ihr Brot warteten, waren auf die Straße gegangen, um zu spielen. Ihre schrillen, schreienden Stimmen klangen wie aus großer Ferne. Plötzlich sprang Francie auf. Ihr Herz schlug schnell. Sie fürchtete sich. Sie wußte nicht, warum sie plötzlich an eine Ziehharmonika denken mußte, die für einen vollen Akkord weit ausgezogen worden war. Dann stellte sie sich vor, wie die Ziehharmonika immer mehr zusammengepreßt wurde. Eine schreckliche, namenlose Angst überkam sie bei dem Gedanken, daß unzählige süße, kleine Kinder auf der Welt geboren wurden, um eines Tages so auszusehen wie dieser alte Mann. Wenn sie den Laden nicht sofort verließ, würde sie plötzlich zu einer alten Frau mit zahnlosem Mund und abstoßenden Füßen werden. Aber in diesem Augenblick öffnete sich die Doppeltür hinter dem Ladentisch, und ein Brotwagen fuhr vor. Ein Mann stellte sich hinter dem Ladentisch auf, und ein anderer warf ihm Brote zu, die er auf dem Tisch auftürmte. Die Kinder strömten von der Straße herein und drängten sich um Francie, die schon am Ladentisch stand. »Ich möchte Brot!« rief Francie laut. Ein großes Mädchen stieß sie in die Seite und fragte höhnisch, wer sie denn zu sein glaube. »Laß mich in Ruh!« sagte Francie. Dann rief sie wieder: »Ich möchte sechs Brote und eine Pastete, die nicht so zerdrückt ist.« Der Verkäufer ließ sich von ihrem eindringlichen Ton beeindrucken und schob ihr schnell sechs Brote und die schönste der Ausschußpasteten hin und nahm ihre beiden Zehner entgegen. Sie zwängte sich durch die vielen Kinder hindurch und ließ ein Brot fallen. Sie konnte es nur mit Mühe wieder aufheben, da man sich in dem Gedränge kaum bücken konnte. Draußen setzte sie sich auf den Randstein und stopfte die Brote und die Pastete in den Papiersack. Eine Frau mit einem Kind im Kinderwagen ging vorüber. Das Kind strampelte mit den Beinchen in der Luft. Aber Francie sah nicht die Kleinkinderfüßchen, sondern etwas Groteskes in abgetragenen Schuhen. Die Angst packte sie wieder, und sie rannte den ganzen Weg, bis sie daheim war. 16
Die Wohnung war leer. Mama hatte sich umgezogen und war mit Tante Sissy gegangen, um von der Galerie aus für einen Zehner eine ›Matinee‹ zu sehen. Francie versorgte die Brote und die Pastete und faltete den Papiersack schön säuberlich zusammen, damit man ihn ein andermal wieder verwenden könne. Sie ging in das kleine, fensterlose Schlafzimmer, das sie mit Neeley teilte, setzte sich im Dunkeln aufs Bett und wartete, daß die Angstwellen verebben würden. Nach einer Weile kam Neeley herein, kroch unter sein Bett und zog ein zerfetztes Ballnetz hervor. – »Wohin gehst du?« fragte sie. »Ball spielen.« »Darf ich mitkommen?« »Nein.« Sie ging aber doch mit ihm auf die Straße. Drei seiner Kameraden warteten auf ihn. Der eine hatte einen Kricketschläger, der andere einen Baseball, der dritte hatte nichts, aber er trug dafür ein Paar Baseballhosen. Sie machten sich auf den Weg zu einem leeren Feld drüben in Greenpoint. Neeley hatte schon gesehen, daß Francie ihnen folgte, aber er sagte nichts. Einer der Jungen stieß ihn an und sagte: »Ho! Deine Schwester läuft uns nach.« »Ja«, bestätigte Neeley. Der Junge wandte sich um und schrie Francie an: »Mach, daß du fortkommst!« »Wir leben in einem freien Land«, konstatierte Francie. »Wir leben in einem freien Land«, wiederholte Neeley zu dem Jungen. Darauf ließen sie Francie in Ruhe. Sie folgte ihnen weiter. Sie hatte nichts zu tun bis um zwei Uhr, bis die Bibliothek ihres Quartiers geöffnet wurde. Sie kamen nur langsam vorwärts. Die Knaben suchten in der Straßenrinne nach Silberpapier und Zigarettenstummeln, die sie aufbewahrten und am nächsten regnerischen Nachmittag im Keller rauchten. Sie blieben stehen, um einen kleinen Judenknaben, der auf dem Wege zur Synagoge war, zu quälen. Sie hielten ihn fest und diskutierten, was sie mit ihm tun sollten. Der Knabe wartete mit bescheidenem Lächeln. Die Christen ließen ihn schließlich mit eingehenden Instruktionen, wie er sich während der nächsten Woche verhalten müsse, wieder frei. 17
»Zeig dich gefälligst nicht auf der Devoestraße, du falscher Hund«, befahlen sie ihm. »Nein«, versprach er. Die Knaben waren enttäuscht. Sie hatten mehr Widerstand erwartet. Einer von ihnen zog ein Stück Kreide aus der Hosentasche und zeichnete eine Wellenlinie auf das Trottoir. »Du darfst nicht über diese Linie hinausgehen.« Der kleine Knabe wußte, daß er sie mit seinem allzu schnellen Nachgeben beleidigt hatte, und er beschloß, auf ihr Spiel einzugehen. »Darf ich nicht einmal mit einem Fuß über den Randstein hinausgehen?« »Du darfst nicht einmal über den Randstein hinaus spucken.« »Also gut.« Er seufzte mit gespielter Resignation. Einer der größeren Knaben hatte einen Einfall. »Und laß die Christenmädchen in Ruhe, verstanden?« Dann liefen sie weg, während er ihnen verwundert nachstarrte. »Gol-lee!« flüsterte er und rollte seine großen, braunen jüdischen Augen. Der Gedanke, daß diese ›Goyems‹ ihn als männlich genug erachteten, um an irgendein Mädchen, jüdisch oder christlich, zu denken, verblüffte ihn, und er trollte sich davon und sagte einmal übers andere ›gol-lee‹. Die andern blickten verstohlen auf den großen Jungen, der die Bemerkung über die Mädchen gemacht hatte, und waren gespannt, ob er das Gespräch nun auf schmutzige Dinge bringen würde. Aber bevor er noch etwas sagen konnte, hörte Francie ihren Bruder sagen: »Ich kenne diesen Jungen. Er ist ein weißer Jude, kein Negerjude.« Neeley hatte seinen Papa so von einem jüdischen Tauschhändler sprechen hören, den er gut leiden mochte. »Es gibt gar keine weißen Juden«, sagte der große Junge. »Aber wenn es so etwas wie weiße Juden gäbe«, sagte Neeley, indem er einerseits nachgab, anderseits aber doch auf seiner eigenen Meinung beharrte – eine Eigenart, die ihn so liebenswert machte –, »dann wäre er einer.« »Es kann gar keine weißen Juden geben«, sagte der Große wieder, »nicht einmal in der Theorie.« 18
»Jesus war ein Jude.« Neeley zitierte Mama. »Und andere Juden kehrten sich gegen ihn und töteten ihn«, stellte der Große mit Nachdruck fest. Bevor sie sich aber weiter in ihr theologisches Gespräch vertiefen konnten, trafen sie wieder einen kleinen Knaben, der aus der Humboldt Avenue in die Ainsleestraße einbog und einen Korb am Arm trug. Der Korb war mit einem sauberen, zerfetzten Tuch bedeckt. Aus einer Ecke des Korbes ragte ein Stecken heraus, an dem sechs Brezeln hingen. Der Große in Neeleys Horde gab einen Befehl, und sie stürmten auf den Brezelverkäufer zu. Er blieb stehen, öffnete den Mund und plärrte: »Mama!« Im zweiten Stock über ihnen flog ein Fenster auf, und eine Frau, die einen Kimono über ihren fetten Brüsten zusammenhielt, schrie hinunter: »Laßt ihn in Ruhe und macht, daß ihr weiterkommt, ihr Lausbuben!« Francie hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu, damit sie bei der Beichte dem Priester nicht sagen mußte, sie habe zugehört, wie jemand fluchte. »Wir tun ihm ja gar nichts, Lady«, sagte Neeley mit jenem gewinnenden Lächeln, das seine Mutter immer wieder versöhnte. »Das will ich euch raten! Nicht, solange ich in der Nähe bin!« Dann wandte sie sich an ihren Sohn, ohne den Ton zu ändern. »Und du kommst jetzt herauf. Ich will dich lehren, mich zu stören, wenn ich ein Mittagsschläfchen mache.« Der Brezeljunge ging hinauf, und die Knaben zogen weiter. »Das ist ein wüstes Frauenzimmer.« Der Große wies mit dem Kopf zum Fenster hinauf. »Ja«, stimmten die andern bei. »Mein Alter auch«, gestand ein kleiner Junge. »Wer, zum Teufel, interessiert sich dafür?« fragte der Große blasiert. »Ich sag's ja nur so«, entschuldigte sich der Kleinere. »Mein Alter ist kein Grobian«, sagte Neeley. Die Knaben lachten. Sie schlenderten weiter. Von Zeit zu Zeit blieben sie stehen, um den Ge19
ruch des Newtown-Creek-Kanals, der sich in der Grand Street zwischen den Häuserblocks durchwand, einzuatmen. »Gott, wie er stinkt«, kommentierte der Große. »Ja-a!« Neeley schien davon tief befriedigt. »Dies ist sicher der ärgste Gestank der Welt«, prahlte ein anderer. »Ja-a!« Und Francie flüsterte in tiefem Einverständnis ebenfalls ›ja‹. Sie war begeistert von diesem Geruch. Er sagte ihr, daß es in der Nähe einen Wasserlauf gab, der, wenn er auch noch so schmutzig war, in einen Fluß mündete, der zum Meer führte. Für sie bedeutete dieser Gestank Schiffe, die über alle Meere fuhren, und Abenteuer; und deshalb liebte sie den Geruch. Gerade als die Knaben zu dem Platz kamen, wo sich ein zertrampeltes Baseballfeld befand, flog ein kleiner gelber Schmetterling über das Gras. Mit dem Jägerinstinkt, alles zu fangen, was kriecht und fliegt, schwimmt oder rennt, verfolgten sie den Schmetterling und warfen ihre Mützen über ihn. Neeley fing ihn. Sie betrachteten ihn eine Weile, verloren aber schnell das Interesse und organisierten eine eigene Variation von Baseball zu viert. Sie spielten leidenschaftlich, fluchend, schwitzend und ringend. Jedesmal wenn eine Baseballkanone aus dem Brooklyner Team vorüberging und eine Weile stehenblieb, spielten sie sich auf und prahlten. Es gab ein Gerücht, daß die ›Brooklyn Dodgers‹ am Samstagnachmittag hundert ›Spitzel‹ durch die Straßen laufen ließen, um die besten Spieler zu entdecken, und es gab keinen Jungen in Brooklyn, der nicht lieber zum ersten Team von Brooklyn gehört hätte, als Präsident der Vereinigten Staaten zu sein. Nach einer Weile wurde Francie des Zusehens müde. Sie wußte, daß sie spielen, raufen und prahlen würden bis zum Abend, bis es sie zum Nachtessen heimtrieb. Es war zwei Uhr. Die Bibliothekarin war nun sicher vom Mittagessen zurück. Von Vorfreude erfüllt, machte sich Francie auf den Weg zur Bibliothek.
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ie Bibliothek war klein, alt und schäbig. Aber Francie fand sie wunderbar. In der Bibliothek hatte sie dieselben Gefühle wie in der Kirche. Sie stieß die Tür auf und ging hinein. Der Geruch von alten Ledereinbänden, Kleister und frisch getränkten Stempelkissen war ihr lieber als der Geruch des Weihrauchs beim Hochamt. Francie glaubte, die Bibliothek enthalte alle Bücher der Welt, und sie hatte im Sinn, alle Bücher der Welt zu lesen. Sie las jeden Tag ein Buch – in alphabetischer Reihenfolge und ohne die trockenen zu überspringen. Der erste Autor war Abbott gewesen. Sie hatte schon vor langem damit angefangen, jeden Tag ein Buch zu lesen, aber sie war immer noch beim Buchstaben B. Sie hatte bereits von Bienen und Büffeln gelesen, über Ferien auf Bermuda und byzantinische Architektur, aber trotz ihrer Begeisterung mußte sie zugeben, daß es unter den Bs harte Nüsse gegeben hatte. Francie war ein Bücherwurm. Sie las alles, was ihr in die Hände kam: Schund, Klassiker, Fahrpläne und die Preisliste im Kolonialwarenladen. Einige Bücher waren herrlich gewesen, zum Beispiel die von Louisa Alcott. Sie nahm sich vor, alle Bücher nochmals zu lesen, wenn sie einmal mit Z fertig sein würde. Am Samstag machte sie eine Ausnahme. Sie machte sich ein Fest daraus, ein Buch außerhalb der alphabetischen Reihenfolge zu lesen. Am Samstag bat sie die Bibliothekarin, ihr ein Buch zu empfehlen. Als Francie drinnen war und die Türe leise hinter sich geschlossen hatte – wie es sich in einer Bibliothek schickt –, blickte sie schnell nach dem kleinen, goldbraunen Keramikkrug, der auf dem Pult der Bibliothekarin stand. Er war für sie wie ein Kalender. Im Herbst enthielt er ein paar Zweige Bittersüß und in der Weihnachtszeit Stechpalme. Sobald der Krug voll Weidenkätzchen war, wußte sie, daß der Frühling 21
im Anzug war, wenngleich noch Schnee auf den Straßen lag. Und heute, an diesem Sommersamstagnachmittag des Jahres 1912, waren Kapuziner im Krug! Rote, gelbe, goldene und elfenbeinweiße. Sie verspürte angesichts dieses zauberhaften Anblicks einen Schmerz zwischen den Augen. Diese Blumen würde sie nie mehr vergessen können. Wenn ich einmal groß bin, dachte sie, dann möchte ich auch so einen goldbraunen Krug mit Kapuzinern haben. Sie befühlte mit Wohlbehagen den Rand des polierten Pultes und bewunderte die wohlgeordnete Reihe der frisch gespitzten Bleistifte, das grüne Rechteck aus frischem Fließblatt, das dicke Glas mit sahnigem Kleister, die exakt aufeinandergeschichteten Karten und die abgegebenen Bücher, die darauf warteten, an ihren Platz zurückgestellt zu werden. »Ja, wenn ich einmal groß bin und ein eigenes Haus habe, dann will ich keine Plüschstühle und Spitzenvorhänge. Und keine Gummipflanzen. Aber ich möchte in meinem Wohnzimmer ein Pult wie dieses haben und weiße Wände und jeden Samstagabend ein sauberes Fließblatt und eine Reihe glänzender, gelber Bleistifte, die immer zum Schreiben bereit sind, und immer einen goldbraunen Krug mit Blumen oder Blättern oder Beeren, und Bücher … Bücher … Bücher …« Sie wählte sich das Buch für den Sonntag. Der Autor hieß Brown. Francie war überzeugt, daß sie nun schon seit Monaten bei den Browns war. Als sie bald fertig zu sein glaubte, bemerkte sie, daß auch auf dem nächsten Gestell noch viele Browns standen. Dann kam Browning. Sie stöhnte und erwartete mit Ungeduld den Moment, da sie bei dem C anlangen würde, denn dort war ein Buch von Marie Corelli, das sie einmal flüchtig durchstöbert und interessant gefunden hatte. Würde sie jemals so weit kommen? Vielleicht sollte sie zwei Bücher pro Tag lesen. Sie stand lange hinter dem Pult, bis sich die Bibliothekarin endlich herabließ, sie zu bedienen. »Ja?« fragte sie endlich ungeduldig. »Ich möchte gern dieses Buch.« Francie schob ihr das Buch samt der Karte hin. Die Kinder mußten die Bücher immer mit der Karte präsentieren, um der Bibliothekarin Arbeit zu ersparen. 22
Sie nahm die Karte, stempelte sie ab und ließ sie durch einen Einwurf ins Pult fallen. Dann stempelte sie Francies Karte ab und schob sie ihr hin. Francie nahm sie in Empfang, aber sie blieb stehen. »Ja?« fragte die Bibliothekarin, ohne aufzuschauen. »Könnten Sie mir ein Mädchenbuch empfehlen?« »Welches Alter?« »Elf Jahre.« Francie stellte jeden Samstag dieselbe Frage, und jeden Samstag fragte die Bibliothekarin nach dem Alter. Der Name auf der Karte bedeutete für sie nichts. Da sie sich die Gesichter der Kinder nie anschaute, lernte sie das kleine Mädchen nie kennen, das sich jeden Tag ein Buch holte und am Samstag zwei. Francie wäre für ein Lächeln so empfänglich gewesen, und eine freundliche Bemerkung hätte sie so glücklich gemacht! Sie liebte die Bibliothek und hätte die Bibliothekarin so gerne verehrt. Aber diese war mit andern Dingen beschäftigt. Und sie konnte Kinder ohnehin nicht leiden. Francie zitterte vor freudiger Erwartung, als die Frau unters Pult griff. Und als das Buch auftauchte, spähte sie nach dem Titel: ›Wenn ich König wäre‹ von McCarthy. Wunderbar! Letzte Woche war es ›Beverly von Graustark‹ gewesen, und die beiden vorhergehenden Wochen auch. Das McCarty-Buch hatte sie bis jetzt erst zweimal gehabt. Die Bibliothekarin empfahl immer die gleichen beiden Bücher. Vielleicht waren es die einzigen, die sie selbst gelesen hatte, vielleicht standen sie auf einer Liste empfehlenswerter Bücher, und vielleicht wußte sie einfach, daß sie harmlos genug für ein elfjähriges Mädchen waren. Francie drückte die Bücher an sich und rannte nach Hause. Sie widerstand der Versuchung, sich auf die erste beste Haustreppe zu setzen und mit dem Lesen anzufangen. Und dann kam endlich der Augenblick, auf den sie sich die ganze Woche so gefreut hatte: nun konnte sie auf der Feuerleiter sitzen und ihr Samstagbuch lesen. Sie legte einen kleinen Teppich über die Eisenstäbe, holte ihr Kopfkissen und legte es auf das Gitter. Glücklicherweise war auch Eis in der Eiskiste. Sie schlug ein Stückchen davon ab und tat es in ein Glas voll Wasser. Dann ordnete sie die rosa und weißen 23
Pfefferminzwaffeln auf einer schönen, wenn auch etwas beschädigten blauen Schale, stellte Glas, Schale und Buch auf das Fenstersims und kletterte auf die Feuerleiter hinaus. Und dann war sie in ihrer eigenen Wohnung auf dem Baum. Man konnte sie weder von oben noch von unten, noch von gegenüber sehen. Sie hingegen konnte durch die Blätter gucken und alles beobachten. Es war ein sonniger Nachmittag. Ein träger, warmer Wind brachte laue Seeluft mit. Die Blätter des Baumes warfen flüchtige spielende Muster auf das weiße Kissen. Im Hof unten war kein Mensch, und das war schön. Gewöhnlich war der Hof von dem Jungen, dessen Vater den Laden im Parterre gemietet hatte, beansprucht. Der Junge pflegte stundenlang Totengräber zu spielen. Er grub Miniaturgräber, füllte Streichholzschächtelchen mit lebenden Raupen, beerdigte sie unter formlosen Zeremonien und errichtete kleine Grabsteine aus Kieselsteinen über den winzigen Erdhügeln. Während des ganzen Spiels atmete er schwer und simulierte ein Schluchzen. Heute war der unheilvolle Knabe glücklicherweise bei einer Tante zu Besuch. Und das war für Francie wie ein Geschenk. Francie atmete die warme Luft ein, schaute dem Tanz der Blätterschatten zu, aß die Waffeln und nippte zwischendurch von dem eisgekühlten Wasser, während sie das Buch las. Oh, war' ich König, Liebste, Wenn ich doch König war' … Die Geschichte von Francois Villon war jedesmal wunderbarer. Manchmal fürchtete sie, das Buch könnte in der Bibliothek einmal verlorengehen, und dann könnte sie es nie mehr lesen. Sie hatte einmal sogar angefangen, das Buch in ein billiges Notizbuch abzuschreiben. Sie hätte so gern ein eigenes Buch gehabt. Aber die bleistiftbeschriebenen Seiten hatten weder das Aussehen noch den Geruch des Bibliothekbuches, und so gab sie das Abschreiben wieder auf und tröstete sich damit, daß sie später viel arbeiten und Geld zusammensparen und jedes einzelne Buch, das sie gern hatte, kaufen würde. 24
Während sie so friedlich und glücklich las, verschoben sich die Schatten der Blätter auf der Hausmauer. Der Abend kam. Gegen vier Uhr wurde es in den gegenüberliegenden Wohnungen lebendig. Francie schaute durch die Blätter in die offenen, vorhanglosen Fenster: man stellte Humpen auf den Tisch und füllte sie mit kühlem, überschäumendem Bier. Kinder rannten ein und aus, sie wurden zum Metzger, zum Spezereihändler und zum Bäcker geschickt. Hausfrauen kehrten mit umfangreichen Bündeln heim. Die Sonntagskleider der Männer waren wieder im Haus. Am Montag würde man sie wieder ins Leihhaus tragen und bis zum nächsten Samstag dort lassen. Der Pfandleiher florierte vom wöchentlichen Zins, und die Sonntagskleider profitierten dadurch, daß sie immer wieder ausgebürstet und eingekampfert wurden, so daß die Motten sie nicht anfressen konnten. Am Montag fort, am Samstag heim. Zehn Cent Zins für Onkel Timmy. Dies war der ewige Kreislauf. Francie sah junge Mädchen, die sich bereitmachten, mit ihren Burschen auszugehen. Da es in keiner der Wohnungen ein Badezimmer gab, standen die Mädchen in Hemd und Unterrock vor dem Spülbecken in der Küche. Francie fand die Linie der Arme, die über den Kopf gebogen waren, während sich die Mädchen unter den Armen wuschen, sehr schön. Es waren so viele Mädchen, die sich alle auf dieselbe Weise wuschen, daß es wirkte wie ein geheimnisvoller Ritus. Sie hörte auf zu lesen, als Frabers Pferd mit dem Wagen in den benachbarten Hof einbog, denn es war so reizvoll, dem schönen Pferd zuzuschauen. Der Hof nebenan war mit Steinen gepflastert. An seinem einen Ende lag ein gutgehaltener Stall. Ein schmiedeeisernes Portal trennte den Hof von der Straße. Am Rand des Pflasters sah man ein gutgedüngtes Stückchen Erde, auf dem ein herrlicher Rosenbusch und eine Reihe leuchtend roter Geranien wuchsen. Der Stall war schöner als alle Häuser der Nachbarschaft, und es gab in ganz Williamsburg keinen schöneren Hof. Francie hörte das Portal ins Schloß fallen. Das Pferd, ein schimmernder brauner Wallach mit schwarzer Mähne und schwarzem Schweif, tauchte auf. Es zog einen kleinen kastanienbraunen Wagen, an des25
sen Seitenwänden in goldenen Lettern geschrieben stand: Dr. Fraber, Zahnarzt, und seine Adresse. Dieser schmucke Wagen mußte nichts abliefern und nichts befördern, er wurde einfach als Reklame den ganzen Tag langsam durch die Straßen gezogen, ein verträumt wandelndes Plakat. Frank, ein schöner Jüngling mit rosigem Gesicht – wie der Prinz im Märchenbuch –, fuhr jeden Morgen mit dem Wagen aus und brachte ihn am Nachmittag wieder zurück. Er hatte ein herrliches Leben, denn alle Mädchen flirteten mit ihm. Er hatte nichts anderes zu tun, als mit dem Wagen durch die Straßen zu fahren, damit die Leute den Namen und die Adresse des Zahnarztes lesen konnten. Wenn jemand ein Gebiß brauchte oder einen Zahn ziehen lassen mußte, dann fiel ihm die Adresse auf dem Wagen ein, und er kam zu Dr. Fraber. Frank zog langsam und bedächtig seinen Rock aus und band sich eine Lederschürze um, während Bob, das Pferd, geduldig von einem Fuß auf den andern trat. Frank schirrte das Pferd aus, rieb das Lederzeug ab und hängte das Geschirr in den Stall. Dann wusch er das Pferd mit einem großen, nassen, gelben Schwamm. Das Pferd genoß diese Prozedur. Es ließ sich von der Sonne bescheinen und schlug von Zeit zu Zeit mit den Hufen einen Funken aus den Pflastersteinen. Frank drückte über seinem braunen Rücken den Schwamm aus und unterhielt sich fortwährend mit dem großen Tier, während er es abrieb. »Still, still, Bob! Guter, alter Kerl! Dreh dich! So, so!« Bob war nicht das einzige Pferd in Francies Leben. Der Mann ihrer Tante Evy, Onkel Willie Flittman, war auch Fuhrmann. Sein Pferd hieß Drummer, und es zog einen Milchwagen. Aber Willie und sein Pferd waren nicht so gut befreundet wie Frank und Bob. Willie und Drummer lebten in gegenseitiger Spannung und dachten sich fortwährend Beleidigungen aus. Onkel Willie beklagte sich stundenlang über Drummer. Wenn man ihn sprechen hörte, hätte man glauben können, das Pferd stehe die ganze Nacht wach im Stall der Milchzentrale und denke sich aus, wie es am Morgen seinen Fuhrmann wieder quälen könnte. Francie war überzeugt, daß Menschen, die ein Haustier hielten, die26
sem Tier glichen, und umgekehrt die Tiere den Menschen. In Brooklyn zum Beispiel gab es viele kleine weiße Pudel, und die Damen, denen sie gehörten, waren meist klein, untersetzt, blaß, schmutzig und hatten Triefaugen wie ein Pudel. Miß Tynmore, die zarte, lebhafte, zwitschernde alte Jungfer, die Mama Musikstunden gab, war genau wie der Kanarienvogel, der in einem Käfig in ihrer Küche wohnte. Wenn Frank sich in ein Pferd verwandeln könnte, dann wäre er genau wie Bob. Francie hatte Onkel Willies Pferd zwar noch nie gesehen, aber sie wußte genau, wie es aussah. Drummer war bestimmt so klein und mager und dunkelhaarig wie Willie und hatte nervöse Augen, in denen man zuviel vom Weißen sah. Es neigte sicher ebenso zum Jammern wie der Mann von Tante Evy. Dann schweiften ihre Gedanken wieder von Onkel Willie Flittman ab. Draußen auf der Straße hing ein Dutzend kleiner Jungen am eisernen Gittertor und schaute zu, wie das einzige Pferd in der Nachbarschaft gewaschen wurde. Francie konnte die Jungen nicht sehen, aber sie hörte sie schwatzen. Sie erfanden schauerliche Geschichten über das sanfte Tier. »Sieht es nicht brav und zahm aus?« sagte einer von ihnen. »Aber das ist nur eine Täuschung. Es wartet nur darauf, daß Frank einmal wegschaut, dann wird es ihn beißen und tottrampeln.« »Ja-a«, sagte ein anderer, »ich habe gestern gesehen, wie es ein kleines Kind überfahren hat.« Ein dritter hatte einen Einfall. »Ich habe gesehen, wie es etwas fallen ließ auf eine alte Frau, die am Straßenrand Äpfel verkaufte. Und direkt auf die Äpfel«, fügte er hinzu. »Wißt ihr, warum sie ihm Scheuklappen anlegen? Nur damit es nicht sieht, wie klein die Menschen sind. Wenn es sehen könnte, wie klein sie sind, dann würde es sie alle töten.« »Dann denkt es also, wegen der Scheuklappen seien die Leute so klein?« »So klein wie Möwen.« »Ach wo!« Die Knaben wußten genau, daß sie logen, und doch glaubten sie al27
les, was die andern über das Pferd sagten. Schließlich wurden die Knaben müde, einfach dazustehen und dem sanften Pferd zuzuschauen. Einer von ihnen las einen Stein auf und warf ihn nach dem Pferd. Bobs Fell zuckte, als ihn der Stein traf, und die Knaben zitterten vor Spannung, ob nun das Pferd toll werden würde. Frank blickte auf und sagte in sanftem Brooklyn-Tonfall: »Laßt doch das Pferd in Ruhe! Es hat euch ja nichts zuleid getan.« »So-o?« rief einer der Knaben entrüstet. »Nein«, antwortete Frank. »Ach, geh doch zum …«, war der unvermeidliche Fluch des Kleinsten. Frank sprach immer noch im gleichen sanften Ton weiter, während er weiter Wasserbächlein über den Rumpf des Pferdes rinnen ließ: »Nun, packt ihr euch, oder muß ich euch ein paar Knochen zerbrechen?« »Du und wer noch?« »Ich will euch zeigen, wer!« Plötzlich bückte sich Frank, hob einen losen Pflasterstein auf und tat, als wolle er ihn nach den Knaben werfen. Die Knaben wichen aus und stießen Verwünschungen aus. »Wir leben doch in einem freien Land.« »Ja-a, und die Straßen gehören nicht dir.« »Ich werde dich bei meinem Onkel, dem Polizisten, verklagen.« »Packt euch endlich«, sagte Frank gleichgültig. Er legte den Pflasterstein sorgfältig in die Lücke zurück. Die größeren Knaben schlenderten gelangweilt davon. Aber die kleinen näherten sich dem Gittertor wieder. Sie wollten zusehen, wie Bob seinen Hafer bekam. Frank hatte das Pferd fertig gewaschen und führte es unter den Baum, damit sein Kopf im Schatten war. Er hängte ihm einen vollen Hafersack um und machte sich pfeifend daran, den Wagen zu waschen. Er pfiff: »Ach wärst du meine Liebste«, und Flossie Gaddis, die unter den Nolans wohnte, steckte den Kopf zum Fenster hinaus, als sei Franks Pfeifen ein Signal gewesen. »Hallo, du dort unten!« rief sie lebhaft. Frank wußte schon, wer ihn rief. Er sagte lange nichts, und dann 28
antwortete er schließlich mit einem »Hallo«, ohne aufzusehen. Er ging auf die andere Seite des Wagens, wo Floß ihn nicht mehr sehen konnte, aber ihre beharrliche Stimme folgte ihm dennoch. »Fertig mit der Arbeit?« fragte sie munter. »Bald, ja-a.« »Du gehst doch sicher aus, um dich zu amüsieren, weil heute Samstag ist.« Keine Antwort. »Du wirst mir doch nicht weismachen wollen, daß ein so hübscher Junge wie du keinen Schatz hat.« Keine Antwort. »Im Kleeblattklub ist heute Tanzkonkurrenz.« »So-o.« Er schien sich nicht sehr dafür zu interessieren. »Ja-a. Ich habe ein Billett für eine Dame und einen Herrn.« »Tut mir leid. Bin schon besetzt.« »Du wirst zu Hause bleiben und deiner Mutter Gesellschaft leisten?« »Vielleicht.« »Ach, der Teufel soll dich holen!« Sie riß das Fenster hinunter, und Frank seufzte erleichtert auf. Es war wieder einmal überstanden. Flossie tat Francie leid. Sie gab die Hoffnung nie auf, sooft sie auch von Frank schon abgewiesen worden war. Flossie rannte den Männern immer nach, und sie rannten immer weg von ihr. Auch Francies Tante Sissy lief den Männern nach, aber dort war es anders, sie liefen ihr halbwegs entgegen. – Der Unterschied war der, daß Flossie Gaddis den Männern nachhungerte, und Sissy hatte einfach einen gesunden Appetit. Und dies war ein gewaltiger Unterschied.
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apa kam um fünf Uhr nach Hause. Bis dahin waren Pferd und Wagen in Frabers Stall verschwunden, hatte Francie ihr Buch zu Ende gelesen und ihre Waffeln gegessen. Sie bemerkte, wie bleich und dünn die Abendsonne auf den alten Lattenzaun schien, und drückte das sonnendurchwärmte, vom Wind durchlüftete Kopfkissen eine 29
Weile gegen ihre Wange, bevor sie es wieder in ihr Bett zurücktrug. Papa sang sein Lieblingslied ›Molly Malone‹. Er sang es immer, während er die Treppen hinaufstieg, damit alle wußten, daß er heimkam. In Dublin, dem Städtchen Der lieblichen Mädchen, Erblickte ich erstmals schön Molly Malone … Francie hatte die Tür schon mit einem glücklichen Lächeln geöffnet, bevor er die nächste Zeile singen konnte. »Wo ist Mutter?« fragte er. Er fragte das jedesmal, wenn er nach Hause kam. »Sie ist mit Tante Sissy ins Theater gegangen.« »Oh!« Er schien ein wenig enttäuscht. Er war immer enttäuscht, wenn Katie nicht daheim war. »Heute nacht habe ich Arbeit bei Klommer. Ein großes Hochzeitsessen.« Er wischte mit dem Rockärmel über den runden steifen Filzhut, bevor er ihn aufhängte. »Mußt du servieren oder singen?« fragte Francie. »Beides. Habe ich noch eine saubere Schürze, Francie?« »Hier ist eine, aber sie ist nicht gebügelt. Ich will sie dir bügeln.« Sie legte das Bügelbrett über zwei Stühle und stellte das Eisen auf den Herd. Sie holte ein viereckig geschnittenes, zerknittertes starkes Leinen mit Zwirnbändern daran und besprengte es mit Wasser. Bis das Bügeleisen heiß war, wärmte sie ihm den Kaffee und schenkte ihm eine Tasse ein. Er trank den Kaffee und aß dazu das Zuckerbrötchen, das sie ihm aufgespart hatten. Er war sehr glücklich, weil er in der kommenden Nacht Arbeit hatte und weil der Tag so schön war. »Ein solcher Tag ist wie ein Geschenk«, sagte er. »Ja, Papa.« »Heißer Kaffee ist doch etwas Herrliches. Wie haben's die Leute nur gemacht, bevor der Kaffee erfunden wurde?« »Ich liebe den Duft so sehr.« 30
»Wo hast du diese Brötchen gekauft?« »Bei Winkler. Warum?« »Sie machen sie jeden Tag besser.« »Wir haben auch noch ein Stückchen Judenbrot.« »Fein!« Er nahm das Endchen Brot und wandte es um. Es trug das Etikett der Gewerkschaft. »Gutes Brot, von einem Gewerkschaftsbäcker gebacken.« Er löste das Etikett ab. Dann fiel ihm etwas ein. »Das Gewerkschaftsabzeichen auf meiner Schürze!« »Es ist hier, auf dem Saum aufgenäht. Ich will es schön ausbügeln!« »Dieses Abzeichen ist wie ein Schmuck«, erklärte er, »wie eine Rose. Schau mal mein Kellnergewerkschaftsabzeichen.« Er trug den blassen, grün und weißen Knopf auf seinem Rockaufschlag. Er polierte ihn mit dem Ärmel. »Bevor ich in die Gewerkschaft eintrat, zahlten mir die Arbeitgeber, was sie wollten, manchmal auch gar nichts. Sie sagten, die Trinkgelder seien schon genug. An einigen Orten mußte ich sogar dafür bezahlen, daß ich überhaupt arbeiten durfte. Sie sagten, die Trinkgelder seien so hoch, daß sie die Kellnerkonzession verkaufen können. Dann trat ich in die Gewerkschaft ein. Deine Mutter hat es zwar nicht gern, daß man einen Beitrag zahlen muß. Aber die Gewerkschaft verschafft mir Arbeit, für die mir der Arbeitgeber meinen Lohn geben muß, ganz gleich, wieviel Trinkgeld ich daneben bekomme. Alle Berufe sollten sich zusammenschließen.« »Ja, Papa.« Francie bügelte drauflos. Sie liebte es, Papa zuzuhören. Francie dachte an das Hauptquartier der Gewerkschaft. Sie war einmal dort gewesen, um Papa eine Schürze zu bringen und das Fahrgeld, damit er zu seinem Arbeitsplatz fahren konnte. Sie sah ihn dort mit ein paar Männern zusammen. Er trug wie immer seinen schwarzen Kellnerfrack. Einen anderen Anzug besaß er nicht. Der steife schwarze Filzhut saß ein wenig schief, und er rauchte eine Zigarre. Als er Francie hereinkommen sah, nahm er den Hut ab und warf die Zigarre weg. »Meine Tochter«, sagte er stolz. Die andern schauten auf das schmächtige, armselig gekleidete Kind und tauschten unter sich Blicke aus. Sie waren besser dran als Johnny Nolan. Sie hatten alle eine feste Anstellung als Kellner und verschafften sich durch die Nachtarbeit am Sams31
tag noch einen schönen Nebenverdienst. Johnny hatte keine feste Anstellung. Er arbeitete hier und dort, wie die Gelegenheit sich gerade ergab. »Ich muß sagen, meine Freunde«, gestand er, »daß ich zu Hause ein paar Prachtkinder habe und eine hübsche Frau. Doch ich verdiene es eigentlich nicht, ich bin nicht gut genug für sie.« »Mach dir keine Sorgen«, sagte einer seiner Freunde und klopfte ihn beruhigend auf die Schulter. Francie hörte, wie zwei Männer, die außerhalb der Gruppe standen, über ihren Vater sprachen. »Hört, wie der da mit seiner Frau und seinen Kindern prahlt. Er ist ein merkwürdiger Kumpan. Er bringt seiner Frau den Lohn heim, aber die Trinkgelder behält er für sich zum Herumsaufen. Er hat eine Abmachung mit McGarrity, daß er ihm alle Trinkgelder bringt, und McGarrity liefert ihm dafür Getränke. Er weiß nie, ob er McGarrity etwas schuldig ist oder umgekehrt. Aber er scheint dabei nicht schlecht wegzukommen, wenigstens ist er fast immer voll.« Die Männer entfernten sich. Francie tat das Herz weh, aber als sie sah, wie die Männer, die ihren Vater umringten, ihn gut leiden mochten und wie sie ihm zulächelten und ihm aufmerksam zuhörten, wenn er sprach, löste sich der Schmerz wieder ein wenig. Jene beiden Männer verstanden ihn nicht. Sie wußte, daß ihr Vater von allen geliebt wurde. Und so war es. Johnny Nolan war überall beliebt. Er war ein schöner Sänger schöner Lieder. Alle, die ihn kannten, und ganz besonders die Iren, liebten es, ihn in ihrer Mitte zu haben und ihm zuzuhören. Auch die andern Kellner und seine Arbeitgeber mochten ihn gut leiden. Seine Frau und seine Kinder liebten ihn. Er war immer noch fröhlich, jung und schön. Seine Frau war noch nicht verbittert, und seine Kinder wußten noch nicht, daß sie Grund hatten, sich ihres Vaters zu schämen. Francie zwang sich, nicht mehr an jenen Tag zu denken, an dem sie das Gewerkschaftshaus besucht hatte. Sie hörte wieder ihrem Vater zu. »Sieh zum Beispiel mich an! Ich bin niemand.« Er zündete sich fried32
lich eine Fünferzigarre an. »Meine Leute wanderten aus Irland aus, als die Kartoffelernte mißriet. Der Besitzer einer Schiffahrtsgesellschaft erbot sich, meinen Vater nach Amerika zu bringen. Er sagte, er habe in Amerika eine Stelle für ihn. Er werde das Reisegeld von seinem Lohn abziehen. Und so kamen mein Vater und meine Mutter herüber.« »Mein Vater war wie ich – er blieb nie lang an derselben Stelle.« Er rauchte ein Weilchen schweigend weiter. Francie bügelte still vor sich hin. Sie wußte, daß er einfach laut dachte. Er erwartete gar nicht von ihr, daß sie ihn verstand. Er brauchte einfach jemanden, der ihm zuhörte. Er sagte fast jeden Samstag das gleiche. Während der Woche trank er viel, und dann kam und ging er, ohne viel zu reden. Aber heute war Samstag. Und am Samstag sprach er immer viel. – »Meine Leute konnten weder lesen noch schreiben. Und ich selbst kam nur bis zur sechsten Klasse. Ich mußte die Schule verlassen, als mein Alter starb. Ihr habt es besser. Ich werde dafür sorgen, daß ihr die Schule fertigmachen könnt.« »Ja, Papa.« »Ich war damals erst zwölf Jahre alt. Ich sang in den Kneipen vor den Trunkenbolden, die mir ein paar Pennies zuwarfen. Dann fing ich an, in den Kneipen und Restaurants zu servieren …« Er hing wieder eine Zeitlang still seinen Gedanken nach. »Ich wäre so gern ein richtiger Sänger geworden, einer von denen, die in schönen Kleidern auf der Bühne auftreten. Aber ich hatte keine Schulbildung und wußte nicht, wie man es anstellt, ein Opernsänger zu werden. ›Denk lieber an deine Arbeit‹, pflegte meine Mutter zu sagen. ›Du weißt nicht, wie gut du es hast, daß du überhaupt arbeiten kannst.‹ Und so wurde ich allmählich zum Singkellner. Es ist kein ordentlicher Beruf. Ich wäre besser dran, wenn ich ein ganz gewöhnlicher Kellner wäre. Und deshalb trinke ich«, schloß er scheinbar vernunftwidrig. Sie blickte zu ihm auf, als wollte sie ihn etwas fragen. Aber sie sagte nichts. »Ich trinke, weil aus mir doch nichts Ordentliches mehr wird. Ich könnte keinen Lastwagen lenken wie andere Männer, und ich könn33
te mit meiner Figur auch nicht Polizist werden. Ich muß Bier trinken und singen, wenn's mir ums Singen ist. Ich trinke, weil ich mit dem Leben nicht fertig werde, weil mir die Verantwortung zu groß ist.« Dann schwieg er wieder lange. Und darauf flüsterte er: »Ich bin kein glücklicher Mensch. Ich habe eine Frau und Kinder, und ich kann nicht richtig arbeiten. Ich habe eigentlich nie eine Familie gewollt.« Wieder tat Francie das Herz weh. Dann wollte er also sie und Neeley nicht? »Was soll ein Mensch wie ich mit einer Familie anfangen? Aber ich habe mich in Katie Rommely verliebt. Oh, ich will damit nichts gegen deine Mutter sagen«, fügte er schnell hinzu. »Wenn sie's nicht gewesen war', dann wär's eben Hildy O'Dair gewesen. Weißt du, ich glaube, deine Mutter ist immer noch eifersüchtig auf sie. Aber als ich Katie kennenlernte, sagte ich zu Hildy: ›Geh du deinen Weg, und ich gehe meinen!‹ Und dann habe ich deine Mutter geheiratet. Wir bekamen Kinder. Deine Mutter ist eine gute Frau, Francie. Vergiß das ja nie!« Francie wußte wohl, daß Mama eine gute Frau war. Sie wußte es. Und Papa sagte es auch. Aber warum liebte sie denn ihren Vater mehr als ihre Mutter? Warum? Papa war seine Familie nicht wert. Er hatte es selbst gesagt. Aber sie hatte ihn dennoch lieber. »Ja, deine Mutter arbeitet schwer. Ich liebe meine Frau, und ich liebe meine Kinder.« Francie war wieder glücklich. »Aber sollte ein Mensch nicht ein besseres Leben haben? Vielleicht kommt einmal die Zeit, da die Gewerkschaft es fertigbringt, einem Mann Arbeit und freie Zeit zu verschaffen. Aber das werde ich nicht mehr erleben. Jetzt ist es so: Entweder muß man den ganzen Tag schwer arbeiten oder ein Nichtsnutz sein … zwischendrin gibt es nichts. Wenn ich tot bin, wird man mich bald vergessen haben. Niemand wird sagen: ›Er war ein Mensch, der seine Familie liebte und an die Gewerkschaft glaubte.‹ Sie werden nur sagen: ›Schade! Aber er war halt einfach ein Trinker, man kann es ansehen, wie man will.‹ Ja, das werden sie sagen.« Es war ganz still im Zimmer. Johnny Nolan warf seine bis zur Hälfte gerauchte Zigarre aus dem offenen Fenster. Er hatte eine Vorahnung, daß er sein Leben zu schnell verzehrte. Er schaute das kleine Mädchen an, das mit gesenk34
tem Kopf so still vor sich hin bügelte, und die zarte Traurigkeit in dem schmalen Gesicht griff ihm ans Herz. »Hör mal!« Er ging auf sie zu und legte seinen Arm um ihre schmalen Schultern. »Wenn ich heute nacht viel Trinkgeld bekomme, werde ich das Geld auf ein gutes Pferd setzen, das am Montag beim Rennen mitmacht. Ich will ein paar Dollar auf das Pferd setzen und zehn gewinnen. Und dann will ich die zehn Dollar auf ein anderes Pferd setzen, das ich kenne, und hundert gewinnen. Wenn ich meinen Kopf gebrauche und ein wenig Glück habe, dann werde ich es auf fünfhundert Dollar bringen.« Er wußte schon, daß dies nur Luftschlösser waren. Aber er redete weiter auf sie ein: »Und weißt du, was ich dann tun werde, Primadonna?« Francie lächelte glücklich, weil er den Kosenamen gebraucht hatte, den er ihr schon als ganz kleines Kind gegeben, denn er behauptete, ihr Schreien sei so melodiös wie das einer Opernsängerin. »Nein. Was wirst du tun?« »Ich werde mit dir eine Reise machen. Nur mit dir allein, Primadonna. Wir werden in den Süden hinunterfahren, wo die Baumwollfelder blüh’n.« Der Satz entzückte ihn. »Dort, wo die Baumwollfelder blüh’n.« Dann fiel ihm ein, daß dies eine Zeile war aus einem Lied. Er grub die Hände in die Hosentaschen, begann zu pfeifen und ein paar Walzerschritte zu tun. Dann begann er das Lied: … ein Feld so weiß wie Schnee. Hör die Neger singen, sanft und leis. Ach, könnt ich dort sein, denn jemand wartet mein, Wo die Baumwollfelder blühn so weiß. Francie küßte ihn sanft auf die Wange. »O Papa, ich habe dich so lieb«, flüsterte sie. Er drückte sie ans Herz. Der Schmerz durchzuckte ihn wieder. »O Gott, o Gott!« seufzte er innerlich voller Qual. »Was für ein abscheulicher Vater bin ich.« Aber dann sagte er ganz ruhig: »Aber vom Reden und Singen wird meine Schürze nicht glatt.« 35
»Sie ist fertig, Papa.« Francie faltete sie sorgfältig zu einem kleinen Viereck zusammen. »Ist noch ein wenig Geld im Haus, Baby?« Sie untersuchte die zersprungene Tasse auf dem Gestell. »Ein Nickel und ein paar Pennies.« »Würdest du sieben Cent herausnehmen und mir ein Vorhemd und einen Papierkragen holen?« Francie lief hinüber in den Kurzwarenladen, um für ihren Vater die Samstagwäsche zu holen. Ein Vorhemd war eine Hemdbrust aus steifgestärktem Musselin. Man konnte es mit einem Kragenknöpfchen am Hals befestigen, und unten wurde es durch die Weste festgehalten. Man konnte es nur einmal tragen, und dann warf man es weg. Ein Papierkragen war eigentlich nicht aus Papier gemacht. Man nannte ihn nur so, um ihn zu unterscheiden von einem Zelluloidkragen, wie ihn die armen Leute sonst trugen, da man ihn nur mit einem feuchten Lappen abzuwischen und nicht zu waschen brauchte. Ein Papierkragen war aus dünnem, steifgestärktem Batist, und man konnte ihn nur einmal tragen. Bis Francie wieder zurückkam, hatte Papa sich rasiert, sein Haar mit Wasser gekämmt, seine Schuhe poliert und ein reines Unterhemd angezogen. Es war nicht gebügelt und hatte ein großes Loch im Rücken, aber es roch angenehm und sauber. Er stieg auf einen Stuhl und holte vom obersten Gestell ein Schächtelchen herunter. Es enthielt die Perlenhemdenknöpfchen, die er von Katie als Hochzeitsgeschenk bekommen hatte. Sie hatte dafür einen ganzen Monatslohn gegeben. Johnny war sehr stolz darauf. Und wie arm die Nolans auch sein mochten, die Hemdenknöpfchen wurden nie verpfändet. Francie half ihm, die Knöpfchen am Vorhemd festzumachen. Er befestigte den Sprungbrettkragen mit einem goldenen Kragenknopf, einem Geschenk, das er von Hildy O'Dair bekommen hatte, bevor er sich mit Katie verlobte. Auch von diesem Knopf wollte er sich nicht trennen. Seine Krawatte bestand aus einem Stück schwerer schwarzer Seide, und er schlang daraus eine elegante Schleife. Andere Kellner trugen Konfektionskrawatten, die sie mit Gummischnürchen befe36
stigten. Nicht aber Johnny Nolan. Andere Kellner trugen schmutzige, weiße oder schlechtgebügelte saubere Hemden und Zelluloidkragen. Nicht Johnny. Seine Wäsche war makellos, wenn auch nur eintägig. Endlich war er fertig. Sein blondes Lockenhaar glänzte, und er roch frisch und sauber vom Waschen und Rasieren. Er zog seinen eleganten Frack an. Die seidenen Überschläge waren fadenscheinig, aber wer achtete darauf, wenn ihm der Frack so tadellos saß und die Bügelfalten seiner Hose so vollkommen waren? Francie bewunderte seine glänzend polierten Schuhe, und es fiel ihr auf, wie elegant seine Hose bis fast zu den Absätzen hinabhing und wie schön sie sich über dem Rist brach. Kein anderer Vater hatte so elegante Hosen. Francie war stolz auf ihren Vater. Sie wickelte die frisch gebügelte Schürze in ein Stück sauberes, eigens für diesen Zweck aufbewahrtes Papier. Dann begleitete sie ihn zum Autobus. Die Frauen lächelten ihm zu, bis sie das kleine Mädchen an seiner Hand entdeckten. Johnny sah wie ein hübscher, sorgloser irischer Junge aus, niemand hätte in ihm den Mann einer Putzfrau und den Vater von zwei ewig hungrigen Kindern vermutet. Sie kamen an Gabriels Eisenwarenladen vorüber und blieben stehen, um die Rollschuhe im Schaufenster zu betrachten. Mama hatte nie Zeit für so etwas. Papa sprach so, als hätte er im Sinn, Francie eines Tages ein Paar Rollschuhe zu kaufen. Francie ging noch mit bis zur Straßenecke. Als ein Graham-Avenue-Autobus daherkam, schwang er sich behende auf die Plattform. Dann lehnte er sich weit über die Eisenstange hinaus, um Francie zu winken. Noch nie hatte ein Mann so stattlich ausgesehen wie ihr Vater, dachte Francie.
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achdem Francie Papa begleitet hatte, ging sie zu Floß Gaddis, um zu sehen, was für ein Kostüm sie sich für diesen Abend gemacht hatte. Flossie sorgte für den Unterhalt ihrer Mutter und ihres Bruders, indem sie als Wenderin in einer Glacehandschuhfabrik arbeitete. Die Handschuhe wurden mit der Maschine genäht, und Floß hatte die Aufgabe, sie nachher zu wenden. Oft brachte sie noch Heimarbeit mit, die sie nachts verrichtete. Jeder Penny zählte. Der Bruder konnte nicht arbeiten. Er hatte die Schwindsucht. Man hatte Francie schon oft gesagt, daß Henny Gaddis am Sterben sei, aber sie glaubte es nicht. Er schien gar nicht krank. Im Gegenteil, er sah prächtig aus. Er hatte eine zarte Haut und schöne rosenrote Wangen. Seine Augen waren groß und dunkel und brannten ruhig wie eine vor dem Wind geschützte Lampe. Aber er wußte, wie es um ihn stand. Er war neunzehn Jahre alt und voller Lebenshunger und konnte nicht verstehen, warum er zum Sterben verurteilt war. Mrs. Gaddis war froh, daß Francie kam; das würde Henny ein wenig ablenken. »Henny, schau, da kommt Francie«, rief sie fröhlich. »Hallo, Francie.« »Hallo, Henny.« »Findest du nicht auch, daß Henny prächtig aussieht, Francie? Sag ihm, daß er gut aussieht.« »Du siehst gut aus, Henny.« Henny schien sich an einen Unsichtbaren zu wenden. »Sie sagt einem Sterbenden, daß er gut aussieht.« »Nein, du siehst wirklich gut aus, es ist mir Ernst.« »Das glaube ich nicht. Du sagst es nur so.« 38
»Aber schau doch mich an, Henny, wie mager ich bin, und ich denke nie ans Sterben.« »Du wirst auch nicht sterben, Francie. Du bist dazu geboren worden, dieses elende Leben zu schlucken.« »Und doch möchte ich gern so rote Wangen haben wie du.« »Das glaube ich nicht. Nicht, wenn du wüßtest, weshalb sie so rot sind.« »Henny, du sollst dich mehr auf das Dach setzen«, sagte seine Mutter. »Sie sagt einem Sterbenden, er soll sich auf das Dach setzen«, erzählte er dem Unsichtbaren. »Du brauchst frische Luft und Sonne.« »Ach, Mama, laß mich doch in Ruhe!« »Es würde dir sicher guttun.« »Mama, bitte, laß mich in Ruhe!« Plötzlich preßte er das Gesicht auf seine Arme, und sein Körper wurde von heiserem, gequältem Schluchzen erschüttert. Flossie und ihre Mutter schauten einander schweigend an und wußten, daß sie ihn in Ruhe lassen mußten. Sie ließen ihn hustend und schluchzend in der Küche zurück und gingen ins vordere Zimmer, um Francie die Kostüme zu zeigen. Flossies Woche war mit dreierlei Arbeit ausgefüllt. Sie bearbeitete die Handschuhe, sie bearbeitete ihre Kostüme und sie bearbeitete Frank. Sie ging jeden Samstagabend zum Maskenball und trug jedesmal ein anderes Kostüm. Sie entwarf die Kostüme so, daß sie ihren entstellten Arm verbargen. Als Kind war sie in einen Waschzuber voll siedend heißem Wasser gefallen, den ihre Mutter unvorsichtigerweise in der Küche auf dem Boden hatte stehen lassen. Ihr rechter Arm war dabei schrecklich verbrüht worden und die Haut violett und faltig geblieben. Sie trug deshalb immer lange Ärmel. Es war vor allem wichtig, daß ein Maskenkostüm ›décollète‹ war. Sie hatte ein Kostüm entworfen, das ihre üppige Brust sehen ließ und einen tiefen Rückenausschnitt hatte. Es hatte nur einen Ärmel, um den verbrannten Arm zu verdecken. Die Preisrichter glaubten, dieser eine 39
Ärmel habe symbolische Bedeutung, und sie bekam unfehlbar den ersten Preis. Flossie zog das Kostüm an, das sie für diesen Abend bestimmt hatte. Es entsprach den landläufigen Vorstellungen von einem Kleid, das man in einem Nachtklub trug. Es bestand aus einem Oberkleid aus violetter Seide mit vielen kirschroten Tüllunterröcken. Mitten auf die linke Brust hatte sie einen schwarzen Schmetterling genäht. Der eine Ärmel war aus erbsgrünem Chiffon. Francie bewunderte das Kostüm. Flossies Mutter öffnete die Tür zum Wandschrank, und Francie bestaunte die Reihe von buntfarbigen Gewändern. Flossie besaß sechs Oberkleider in verschiedenen Farben, ebenso viele Tüllunterröcke und mindestens zwanzig Chiffonärmel in jedem erdenklichen Farbton. Jede Woche stellte Flossie die Kostüme anders zusammen, so daß sie immer wieder neu waren. Vielleicht würde sie am nächsten Samstag den kirschfarbenen Unterrock mit einem himmelblauen Überkleid und einem schwarzen Chiffonärmel kombinieren. Und so weiter. Im Wandschrank befanden sich auch zwei Dutzend fest zusammengerollte, nagelneue Seidenschirme, lauter Preise, die sie gewonnen hatte. Flossie sammelte sie, wie ein Sportsmann Preisbecher sammelt. Francie betrachtete mit Vergnügen alle diese Schirme. Arme Leute haben eine große Leidenschaft für das Sammeln von Gegenständen. Aber Francie hatte ein unheimliches Gefühl angesichts dieser prächtigen Gewänder. Sie sah hinter den schillernden Farben – Kirschrot, Orange, Hellblau, Rot, Gelb, Violett und Grün – den Tod verborgen. Es war eine Gestalt in einem langen, dunklen Mantel mit knochigen Händen und einem grinsenden Schädel. Er hielt sich hinter all dieser Farbenpracht verborgen und lauerte auf Henny.
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ama kam um sechs Uhr heim und brachte Tante Sissy mit. Francie war glücklich, Sissy zu sehen. Sie war ihre liebste Tante. Francie war immer fasziniert von ihr. Sissy führte ein interessantes Leben. Sie war nun fünfunddreißig Jahre alt und hatte schon drei Männer und zehn Kinder gehabt. Aber die Kinder waren immer gleich nach der Geburt gestorben. Sissy liebte Francie so sehr, als wären alle ihre zehn Kinder in einem verschmolzen. – Sissy arbeitete in einer Gummifabrik. Sie war sehr temperamentvoll, soweit es sich um Männer handelte. Sie hatte schwärmerische schwarze Augen, schwarze Locken und eine gesunde Gesichtsfarbe. Sie trug mit Vorliebe eine kirschrote Schleife im Haar. Mama trug ihren jadegrünen Hut, der ihren Teint so cremefarben erscheinen ließ. Die Rauheit ihrer schönen Hände war unter einem Paar schneeweißer Baumwollhandschuhe verborgen. Die beiden Schwestern unterhielten sich angeregt und lachten über die Späße, die sie eben auf der Bühne gehört hatten. Sissy brachte Francie ein Geschenk mit, ein Röhrchen, in das man hineinblasen konnte, bis ein Gummihühnchen heraussprang und sich aufblähte. Das Spielzeug stammte aus Sissys Fabrik. Die Fabrik stellte zum Schein eine Serie Kinderspielzeuge her, aber das Hauptgeschäft machte sie mit Gummiartikeln, die man nur ganz im geheimen kaufte. Francie hoffte, Sissy werde zum Abendessen bleiben. Sissys Gegenwart verwandelte alles in Glanz und Fröhlichkeit. Francie hatte das Gefühl, Sissy wisse genau, wie einem kleinen Mädchen zumute war. Die andern Leute behandelten Kinder wie notwendige Übel, wenn sie auch liebenswürdig zu ihnen waren. Sissy aber behandelte sie wie wichtige Persönlichkeiten. Doch Sissy wollte nicht bleiben, trotz Mamas Bitten. 41
Sie sagte, sie müsse nach Hause gehen und sehen, ob ihr Mann sie immer noch liebe. Darüber mußte Mama lachen. Francie lachte auch, obwohl sie nicht verstand, was Sissy damit meinte. Sissy ging mit dem Versprechen, am Ersten des neuen Monats mit den Magazinen vorbeizukommen. Sissys gegenwärtiger Mann arbeitete bei einem Verlag, der Magazine herausgab. Jeden Monat bekam er je ein Exemplar von allen Magazinen: von Liebesgeschichten, Wildwestromanzen, Detektivgeschichten, Schauermären und so weiter. Sie waren in glänzende, farbenfrohe Einbände gebunden und mit einer nagelneuen, gelben Schnur umwunden. Sissy brachte sie immer sofort zu Francie hinüber. Francie verschlang sie und verkaufte sie dann im benachbarten Papierladen zum halben Preis. Das Geld tat sie in Mamas Sparbüchse. Als Sissy fort war, erzählte Francie ihrer Mutter von dem alten Mann mit den widerlichen Füßen, den sie beim Bäcker gesehen hatte. »Nein, nein«, sagte Mama, »das Alter ist nicht so traurig wie du denkst. Ja, wenn dieser alte Mann allein wäre! Aber es gibt ja so viele, die ihm Gesellschaft leisten. Alte Leute sind gar nicht so unglücklich. Sie sehnen sich nicht mehr nach all den Dingen, die wir uns wünschen. Sie wollen es einfach warm haben und weiche Sachen zum Essen, und sie wollen jemand haben, mit dem sie alte Erinnerungen auffrischen können. Du darfst dir keine solchen Gedanken machen. Eines ist sicher, wir werden alle einmal alt werden.« Francie wußte, daß Mama recht hatte. Und doch war sie froh, als sie von etwas anderem zu sprechen begann. Sie überlegten gemeinsam, was sie alles aus dem alten Brot machen wollten. Das alte Brot war die Hauptmahlzeit der Nolans. Und was für erstaunliche Sachen konnte Katie daraus herstellen! Sie zerstückelte einen Laib des trockenen Brotes, goß heißes Wasser darüber, knetete es zu einem Teig zusammen, würzte es mit Salz, Pfeffer, Thymian und gehackten Zwiebeln, mischte ein Ei darunter – vorausgesetzt, daß Eier gerade billig waren – und backte das Ganze im Ofen. Dann machte sie eine Soße dazu mit einer halben Tasse Tomatenpüree, zwei Tassen heißem Wasser, Suppenwürze, einem Spritzer star42
kem Kaffee, dickte die Mischung mit etwas Mehl und goß sie über den braunen Brotkuchen. Es schmeckte gut und war nahrhaft. Der Rest wurde am nächsten Tag in Scheiben geschnitten und in Schweinefett gebraten. Mama machte auch einen wunderbaren Pudding aus Brotschnitten, Zucker, Zimt und einem in dünne Scheibchen geschnittenen Apfel. Wenn der Pudding braun gebacken war, schmolz Mama etwas Zucker und goß den Sirup darüber. Oder sie machte aus alten Brotrestchen, die andere Leute weggeworfen hatten, »Weckschnitten«. Sie tauchte sie in einen Teig aus Mehl, Wasser, Salz und einem Ei und backte sie im schwimmenden Fett. Francie holte dazu ein Stück braunen Kandiszucker, der zermalmt und zum Schluß über die fertiggebackenen ›Weckschnitten‹ gestreut wurde. Die Kristalle knusperten noch zwischen den Zähnen, und das machte das Gebäck ganz besonders köstlich. Am Samstag kochten sie ein Sonntagsessen. Mama löste einen Laib harten Brotes mit heißem Wasser zu einem Brei auf und mischte für zehn Cent Hackfleisch und eine feingehackte Zwiebel darunter. Dann fügte sie für einen Penny gehackte Petersilie hinzu und als Würze etwas Salz. Daraus wurden kleine Kugeln geformt, gebacken und mit heißer Tomatensauce serviert. Diese Fleischkugeln hatten einen interessanten Namen, »Frikadellen«, auf den Francie und Neeley sehr stolz waren. Das alte Brot war ihre Hauptnahrung, zusammen mit kondensierter Milch und Kaffee, Zwiebeln, Kartoffeln und den kleinen Süßigkeiten für einen Penny, die im letzten Moment noch gekauft wurden, um die Mahlzeiten etwas anregender zu machen. Hin und wieder bekamen die Kinder eine Banane. Francie sehnte sich immer nach Orangen und Ananas und vor allem nach Mandarinen, die sie höchstens zu Weihnachten einmal bekam. Francie kaufte sich manchmal zerbrochene Knallbonbons. Der Spezereihändler machte aus einem Stück Papier eine Tüte und füllte sie mit zerstückelten Bonbons, die er nicht mehr als richtige Knallbonbons verkaufen konnte. Mama sagte zwar immer: kauft euch keine Sü43
ßigkeiten; wenn ihr einen übrigen Penny habt, kauft lieber einen Apfel. Aber was war ein Apfel? Francie fand, sie könne ebensogut eine rohe Kartoffel essen, und die konnte sie umsonst haben. Manchmal gab es schlimme Zeiten, besonders nach einem langen, kalten Winter, wenn Francie nichts mehr schmeckte, auch wenn sie noch so hungrig war. Dies war die Zeit der sauren Gurken. Sie ging dann in einen Laden im Judenviertel, wo man nichts anderes kaufen konnte als saure Gurken, die in großen Gläsern in stark gewürztem Salzwasser schwammen. Ein Patriarch mit langem, weißem Bart, schwarzer Astrachanmütze und zahnlosem Mund saß mit einem gegabelten Stock hinter den Gläsern. Francie verlangte dasselbe wie die andern Kinder. »Bitte, für einen Penny ›scheene‹ Essiggurken.« Der Jude schaute das irische Kind mit seinen wilden, kleinen rotumränderten, gequälten, feurigen Augen an. »Goyem! Goyem!« Er spie sie an, weil ihm das Wort ›scheene‹ auf die Nerven ging. Francie wollte ihn nicht beleidigen. Sie wußte gar nicht, was ›scheene‹ bedeutete. Es war für sie einfach die Bezeichnung für etwas Ausländisches, das ihr begehrenswert schien. Der Jude wußte das natürlich nicht. Man erzählte, er habe ein Extraglas für die Gurken, die er den Christen verkaufte. Es hieß sogar, daß er aus Rache hineinspucke oder gelegentlich noch Schlimmeres tue. Doch dies konnte man dem alten Juden nicht nachweisen, und Francie glaubte nicht daran. Francie ärgerte ihn sehr dadurch, daß sie ganz speziell eine Gurke aus der tiefsten Tiefe des Glases wünschte. Als der Alte die dicke grünlichgelbe Gurke unter vielen Flüchen, die er in seinen schmutzigen Bart murmelte, herausgefischt hatte, drückte ihm Francie ihren Penny in die von Essig gebeizte Hand, und er zog sich grollend in den hinteren Teil seines Ladens zurück, um von den guten alten Zeiten in der alten jüdischen Heimat zu träumen. Die Essiggurke reichte aus für einen ganzen Tag. Francie aß sie eigentlich nicht, sie lutschte nur daran und knabberte ein wenig an den Enden herum. Aber so war es nun einmal: wenn sie eine Zeitlang im44
mer nur Brot und Kartoffeln gegessen hatten, dann ergriff sie ein großes Verlangen nach Essiggurken, und nachher schmeckten ihr das Brot und die Kartoffeln wieder besser. Manchmal freute sie sich richtig auf den Essiggurkentag.
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eeley kam nach Hause, und er und Francie mußten zusammen das Samstagsfleisch holen. Dies war beinahe wie eine Weihehandlung und bedurfte der sorgfältigsten Instruktionen. »Holt bei Haßler einen Suppenknochen für fünf Cent! Aber das Hackfleisch dürft ihr nicht dort kaufen. Das müßt ihr bei Werner holen. Laßt euch ein Stückchen vom Rumpf hacken, für zehn Cent, aber achtet darauf, daß er euch nicht einfach von der Platte gibt! Und dann nehmt eine Zwiebel mit!« Francie und ihr Bruder standen schon lange vor der Fleischbank, als der Metzger sie bemerkte. »Was bekommt ihr?« fragte er endlich. Francie eröffnete die Verhandlungen. »Für zehn Cent vom Rumpf.« »Gehackt?« »Nein.« »Es war eben eine Dame da, die ein Viertelpfund Gehacktes vom Rumpf kaufte. Ich habe ein bißchen zuviel in die Maschine gesteckt, und nun ist noch ein Rest auf der Platte. Grad für zehn Cent, ich hab' es grad vorhin gehackt.« Dies war die Falle, vor der Mama Francie gewarnt hatte. Kauf es nicht von der Platte, gleichgültig, was der Metzger auch sagen mag! »Nein. Meine Mutter hat gesagt für zehn Cent vom Rumpf.« Der Metzger hackte wütend ein Stückchen Fleisch ab, wog es und schmiß es auf das Papier. Und als er es einpacken wollte, sagte Francie mit zitternder Stimme: 45
»Oh, ich habe ganz vergessen. Meine Mutter möchte es gerne gehackt haben.« Er fluchte, zerstückelte das Fleisch und schob es in die Hackmaschine. Nun hat sie mich wieder erwischt, dachte er wütend. Das Fleisch kam in schönen hellroten Spiralen aus der Maschine. Er wischte es mit der Hand zusammen und wollte es gerade auf das Papier werfen, als Francie schüchtern hinzufügte: »Und Mama sagte auch, Sie sollen bitte diese Zwiebel noch mithacken.« Sie schob ihm zaghaft die geschälte Zwiebel hin, die sie von zu Hause mitgebracht hatte. Neeley stand daneben und sagte kein Wort. Seine Funktion war, mitzukommen und Francie als moralische Stütze zu dienen. »Verflucht!« explodierte der Metzger. Aber er ergriff zwei Hackmesser und bearbeitete damit die Zwiebel. Francie schaute andächtig zu. Sie liebte den Rhythmus der beiden Hackmesser. Als er fertig war, starrte er Francie feindselig an. Sie schluckte. Nun kam das Schwerste. Francie sagte atemlos: »Und-ein-Stückchen-Nierenfett-zum-Braten.« »Verfluchter Bastard«, zischte der Metzger. Er hieb ein Stückchen weißes Fett herunter, ließ es aus Rache zu Boden fallen, hob es auf und schmiß es auf das kleine Häufchen Fleisch. Er packte es wütend ein, entriß Francie das Zehncentstück, das sie ihm hinhielt, und verfluchte das Schicksal, das ihn zum Metzger bestimmt hatte. Darauf gingen Francie und Neeley zu Haßler, um den Suppenknochen zu erhandeln. Haßler war ein guter Metzger für Knochen, nicht aber für Hackfleisch, denn er hackte es hinter verschlossenen Türen, und kein Mensch wußte, was alles drin war. Neeley mußte mit dem Hackfleisch draußen warten, denn wenn Haßler es sah, würde er schnippisch sagen, Francie solle den Knochen nur dort holen, wo sie das Fleisch gekauft habe. Francie verlangte einen schönen Knochen mit etwas Fleisch dran für die Sonntagssuppe. Er durfte fünf Cent kosten. Haßler erzählte ihr den abgedroschenen Witz von dem Mann, der für zwei Cent Hundefleisch gekauft hatte und den er gefragt hatte: »Soll ich es einpacken oder wol46
len Sie es hier essen?« Francie lächelte pflichtschuldig. Der Metzger war zufrieden, ging zum Eisschrank und kehrte mit einem leuchtend weißen Knochen mit sahnigem Mark und roten Fleischfasern zurück. Francie mußte ihn bewundern. »Wenn er gekocht ist, sag deiner Mama, sie soll das Mark herausnehmen und es, mit ein wenig Pfeffer und Salz vermischt, auf ein Stück Brot streichen und dir ein feines Brötchen damit machen.« »Ja, ich will es ihr sagen.« »Das wird dir die hohlen Wangen ein wenig polstern, haha.« Als er das Fleisch eingepackt und das Geld entgegengenommen hatte, schnitt er ihr ein dickes Stück Leberwurst herunter. Es tat Francie leid, diesen guten Mann betrogen zu haben, indem sie das Hackfleisch anderswo gekauft hatte. Inzwischen war es ein wenig dämmrig geworden, aber die Straßenlaternen brannten noch nicht. Nur die Meerrettichfrau vor Haßlers Metzgerladen hatte ihren Stand aufgestellt und mahlte die beißend scharfen Wurzeln. Francie hielt ihr die Tasse hin, die sie von zu Hause mitgebracht hatte, und ließ sie für zwei Cent zur Hälfte füllen. Dann ging sie zum Gemüsehändler und kaufte für zwei Cent Suppengrün. Sie bekam eine ausgetrocknete Rübe, ein welkes Sellerieblatt, eine überreife Tomate und ein frisches Zweiglein Petersilie. Dies würde, mit dem Knochen gesotten, eine herrliche Suppe mit schwimmenden Fleischfasern geben. Dicke hausgemachte Nudeln und Brot mit gewürztem Mark würden mit der Suppe zusammen ein wunderbares Sonntagsessen geben. Nach dem Abendessen, das aus gebackenen Frikadellen, Kartoffeln, Abfallpastete und Kaffee bestanden hatte, ging Neeley auf die Straße zu seinen Kameraden. Es war ein stillschweigendes Übereinkommen, daß sich die Knaben des Viertels nach dem Essen an der Straßenecke trafen, wo sie dann den ganzen Abend mit den Händen in den Hosentaschen und mit eingezogenen Schultern herumstanden, diskutierten, lachten, einander herumstießen, die neuesten Schlager pfiffen und dazu tanzten. Maudie Donovan kam, um Francie abzuholen und mit ihr zur Beich47
te zu gehen. Maudie war ein Waisenkind, das bei zwei unverheirateten Tanten wohnte. Diese verfertigten zu Hause im Auftrage einer Bestattungsfirma Sterbehemden für Damen, für die sie dutzendweise bezahlt wurden. Sie machten weiße Hemden für tote Jungfrauen, zartlavendelgrüne für junge und violette für Frauen mittleren Alters, schwarze für die alten. Maudie brachte ein paar Seidenrestchen mit. Sie meinte, Francie würde vielleicht gern irgend etwas daraus machen. Francie tat so, als freute sie sich darüber, aber heimlich schauderte sie und legte die bunten Fetzen beiseite. Die Kirchenluft war erfüllt vom Weihrauch und vom Duft der tropfenden Kerzen. Die Altäre waren mit frischen Blumen geschmückt. Die schönsten Blumen standen auf dem Altar der Heiligen Jungfrau. Sie war bei den Nonnen beliebter als Jesus und Joseph. Vor den Beichtstühlen standen die Leute Schlange. Die Jungen wollten die Beichte noch schnell ablegen, bevor sie zu ihrem Stelldichein gingen. Die längste Schlange sah man vor dem Beichtstuhl Pater O'Flynns, denn er war jung, freundlich, tolerant und nicht allzu streng im Auferlegen von Bußen. Als Francie an die Reihe kam, schob sie den schweren Vorhang zur Seite und kniete im Beichtstuhl nieder. Das uralte Mysterium ergriff sie von neuem, als der Priester den schmalen Spalt öffnete, der ihn von dem Sünder trennte, und das Zeichen des Kreuzes schlug. Mit geschlossenen Augen murmelte er eine monotone lateinische Litanei. Sie atmete die vermischten Düfte des Weihrauchs, der Wachskerzen, der Blumen, des guten schwarzen Tuches und der Rasierseife des Priesters ein. »Vergebt mir, Vater, denn ich habe gesündigt …« Ihre Sünden waren bald bekannt und vergeben. Sie kam heraus, den Kopf über die gefalteten Hände gebeugt. Sie bekreuzigte sich vor dem Altar und kniete dann vor dem Gitter nieder, um mit dem Beten eines Rosenkranzes ihre Buße zu tun. Maudie, die ein weniger kompliziertes Leben führte, war schneller fertig mit ihrer Buße. Sie saß draußen auf der Steintreppe, als Francie aus der Kirche kam. Dann spazierten sie noch eine Weile eng umschlungen vor ih48
rem Wohnblock hin und her, wie es in Brooklyn unter Freundinnen Brauch war. Maudie hatte einen Penny. Sie kaufte sich eine Eistüte und ließ Francie einmal mit der Zunge drüberfahren. Dann mußte Maudie nach Hause gehen, denn sie durfte nach acht Uhr nicht mehr auf der Straße sein. Sie trennten sich, indem sie einander versprachen, am folgenden Samstag wieder gemeinsam zur Beichte zu gehen. Als Francie nach Hause kam, war Besuch im vorderen Zimmer. Es war Tante Evy mit ihrem Mann Willie Flittman. Francie mochte Tante Evy gut leiden. Sie sah ihrer Mama sehr ähnlich. Sie übersprudelte immer vor Lebensfreude und sagte so lustige Dinge, daß sie alle lachen mußten. Und sie konnte alle Leute nachahmen. Onkel Flittman hatte seine Gitarre mitgebracht. Er spielte, und die anderen sangen. Flittman war ein schlanker Mann mit glattem, schwarzem Haar und einem seidenen Schnurrbart. Er spielte sehr gut Gitarre, wenn man in Betracht zog, daß ihm an der rechten Hand der Zeigefinger fehlte. Jedesmal, wenn er seinen Zeigefinger gebrauchen sollte, strich er statt dessen mit einem kleinen Schlag über alle Saiten, und dies gab seinen Liedern einen merkwürdigen Rhythmus. Als Francie hereinkam, war er schon fast am Ende seines Repertoires angelangt. Sie kam gerade noch zurecht, um sein neuestes Lieblingslied zu hören. Dann legte er die Gitarre weg und ging hinaus, um einen Krug mit Bier zu holen. Tante Evy hatte einen Laib Pumpernickelbrot und für zehn Cent Limburger Käse mitgebracht. Sie aßen belegte Brote und tranken Bier dazu. Nach dem Bier wurde Onkel Flittman vertraulich. »Schau mich an, Katie!« sagte er zu Mama, »und du siehst einen Mann, dessen Leben verfehlt ist.« Tante Evy zog die Unterlippe ein und blickte seufzend nach oben. »Meine Kinder haben keinen Respekt vor mir«, sagte er. »Meine Frau kann mich nicht brauchen, und Drummer, das Pferd, das meinen Milchwagen zieht, hat es auf mich abgesehen. Könnt ihr euch vorstellen, was es mir letzthin wieder zuleide getan hat?« Er lehnte sich vor, und Francie sah, wie seine Augen feucht wurden. 49
»Ich habe es im Stall gewaschen, und als ich seinen Bauch wusch, machte es mich naß.« Katie und Evy schauten einander mit Augen an, die vor verhaltenem Lachen tanzten. Dann blickte Katie auf Francie. In ihren Augen lachte es immer noch, aber sie hielt den Mund fest verschlossen. Francie ihrerseits blickte stirnrunzelnd zu Boden, obwohl auch sie innerlich lachte. »Ja, das hat es getan. Und all die andern, die im Stall waren, lachten mich aus. Alle Leute lachen mich aus.« Er leerte ein zweites Glas. »Red doch nicht so, Will«, sagte Tante Evy zu ihm. »Evy hat mich nicht gern«, sagte er zu Mama. »Doch, Will, ich liebe dich«, sagte Evy mit ihrer weichen, zärtlichen Stimme, die wie eine Liebkosung war. »Du hast mich geliebt, als du mich kennenlerntest, aber jetzt liebst du mich nicht mehr, gelt?« Er wartete. Evy sagte aber nichts mehr. »Siehst du, sie hat mich nicht mehr gern«, sagte er zu Mama. »Es ist Zeit, daß wir nach Hause gehen«, sagte Evy. Vor dem Schlafengehen mußten Francie und Neeley eine Seite aus der Bibel und eine Seite aus Shakespeares Werken lesen. Das war immer so gewesen. Bevor sie lesen konnten, hatte ihnen Mama jeden Abend eine Seite aus den beiden Büchern vorgelesen. Und jetzt teilten sie sich in die Arbeit. Neeley las die Bibel-Seite und Francie die Shakespeare-Seite. Sie lasen nun schon seit sechs Jahren und waren in der Bibel schon in der Mitte und im Shakespeare bei ›Macbeth‹. Das Lesen wurde so schnell wie möglich erledigt, und um 11 Uhr war die ganze Familie im Bett, ausgenommen Johnny, der noch arbeitete. Am Samstag durfte Francie immer im vorderen Zimmer schlafen. Sie machte sich ihr Bett auf ein paar Stühlen zurecht, dicht beim Fenster, von wo aus sie die Leute auf der Straße beobachten konnte. Von dort aus hörte sie auch die nächtlichen Geräusche im Hause. Sie hörte, wie die Leute nach Hause kamen, die einen mit müden, schleppenden Schritten, die andern sprangen leichtfüßig über die Treppen. Jemand stolperte und fluchte über das alte Linoleum im Treppenhaus. 50
Ein kleines Kind wimmerte im Schlaf, und in einer der Parterrewohnungen machte ein Betrunkener seiner Frau Vorwürfe über ihr liederliches Leben. – Um zwei Uhr morgens hörte Francie das leise Singen ihres Vaters, der die Treppe hinaufstieg. … schön Molly Malone. Sie mußt' den Fischkarren Durch alle Straßen fahren … Noch bevor er ›fahren‹ fertig singen konnte, hatte Mama die Tür geöffnet. Es war ein altes Spiel: Wenn sie die Tür aufmachten, bevor Papa die Strophe zu Ende gesungen hatte, dann hatten sie gewonnen. Francie und Neeley sprangen aus dem Bett, und die ganze Familie versammelte sich um den Tisch und aß. Papa hatte drei Dollar nach Hause gebracht, und er schenkte jedem der Kinder ein Fünfcentstück. Aber Mama befahl ihnen, es in die Sparbüchse zu legen, da sie ja heute vom Lumpensammler schon Taschengeld bekommen hätten. Papa hatte auch einen Papiersack voller Überreste vom Hochzeitsessen mitgebracht. Die Braut hatte sie unter die Kellner verteilt. Da waren: die Hälfte eines gerösteten Hummers, fünf gebackene Austern, ein kleines Töpfchen mit Kaviar und ein Stück Roquefortkäse. Die Kinder mochten den kalten Hummer nicht, und die Austern schmeckten fad, und der Kaviar zu salzig, aber sie aßen alles auf. Sie würden Nägel verdaut haben, wenn sie sie hätten kauen können. Erst nachher kam Francie in den Sinn, daß sie nun das Fasten, das bis zur morgigen Kommunion hätte dauern sollen, gebrochen hatte. Nun durfte sie das Abendmahl nicht nehmen. Dies war eine richtige Sünde, die sie dem Beichtvater am nächsten Samstag beichten mußte. Neeley kroch wieder ins Bett und schlief sofort ein. Francie setzte sich ans Fenster des dunklen vorderen Zimmers. Sie mochte noch nicht schlafen. Mama und Papa saßen noch immer in der Küche. Sie pflegten bis zum Morgengrauen beisammen zu sitzen und zu plaudern. Papa erzählte von seiner Nachtarbeit, von den Leuten, die er gesehen hatte, und wie sie aussahen und wie sie sprachen. Die Nolans 51
konnten nie genug bekommen vom Leben. Es war nicht genug, daß sie ihr eigenes Leben bis zum Rande auskosteten, sie brauchten auch noch den Kontakt mit dem Leben anderer Leute. So plauderten Johnny und Katie die Nacht hindurch, und das leise Auf und Ab ihrer Stimmen war wie eine beruhigende Musik im Dunkel. Es war nun drei Uhr, und auf der Straße war es ganz still geworden. Francie schaute zum gegenüberliegenden Block hinüber, wo eben ein Mädchen mit ihrem Liebsten vom Tanz heimgekommen war. Die beiden standen unter der Haustür, hielten sich eng umschlungen und küßten sich schweigend. Das Mädchen lehnte sich dabei zurück und drückte, ohne es zu wissen, die verschiedenen Haustürklingeln. Da kam ihr Vater in seinen langen Unterhosen gelaufen und befahl dem Burschen ruhig, aber bestimmt, seiner Wege zu gehen. Das Mädchen sprang hysterisch kichernd die Treppe hinauf, ihr Freund ging indessen die Straße hinunter und pfiff: »Träfe ich dich doch allein heut nacht.« Mr. Tomony, der Leihhausbesitzer, ließ sich in einer Droschke von seinem kostspieligen Abend in New York heimfahren. Er hatte noch nie einen Fuß in sein Geschäft gesetzt, das er samt einem tüchtigen Manager geerbt hatte. Niemand wußte, warum ein so reicher Mann wie er in den Räumen oberhalb seines Geschäftes wohnte. Er lebte mitten in der traurigen Armut von Williamsburg das Leben eines aristokratischen New Yorkers. Ein Tapezierer, der in seiner Wohnung gewesen war, erzählte, die Räume seien voller Statuen und Ölgemälde und weißer Pelzteppiche. Mr. Tomony war Junggeselle. Man sah ihn die ganze Woche nie. Man sah ihn auch am Samstagabend nie das Haus verlassen. Nur Francie und der Polizist auf der Wache sahen ihn nach Hause kommen. Francie beobachtete ihn und hatte dabei das Gefühl, in einer Theaterloge zu sitzen. Er trug den seidenen Zylinder schief auf dem Kopf. Als er seinen Spazierstock unter den Arm schob, glänzte der silberne Knopf im Licht der Straßenlaterne auf. Er schwang seinen mit weißer Seide ausgeschlagenen schottischen Radmantel zurück, um das Geld für den Kutscher aus der Tasche zu nehmen. Der Kutscher nahm den Dollarschein ent52
gegen, berührte den Rand seines Zylinderhutes mit dem Peitschenstiel und zog die Zügel an. Mr. Tomony schaute ihm befriedigt nach, als sei die Droschke das Verbindungsglied zu einem Leben außerhalb Williamsburgs, das er schön fand. Dann schloß er die Tür, um in seine märchenhafte Wohnung hinaufzusteigen. Man erzählte sich, daß er sich oft in phantastischen Hotels wie dem ›Waldorf‹ oder dem ›Riesenweber‹ aufhalte. Francie sehnte sich danach, diese Zauberschlösser auch einmal zu sehen. Eines Tages wollte sie über die Williamsburgbrücke gehen, die nur ein paar Häuserblocks weiter oben lag, wollte sich den Weg zu diesen Palästen in New York suchen und sie wenigstens von außen gründlich betrachten. Auf diese Weise würde sie sich dann Mr. Tomonys Milieu viel besser vorstellen können. Ein frischer Wind, der vom Meer her kam, wehte über Brooklyn. Aus dem nördlichen Stadtteil, wo die Italiener wohnten, die in ihren Höfen Hühner hielten, hörte man einen Hahn krähen. Zur Antwort bellte aus weiter Ferne ein Hund, und Bob, das Pferd, wieherte in seinem Stall. Francie liebte es, den Samstag bis zum Morgengrauen auszudehnen. Sie fürchtete sich immer ein wenig vor der neuen Woche. Sie versuchte, diesen wunderbaren Samstag fest in Erinnerung zu behalten. Es war ein vollkommen schöner Samstag gewesen, ausgenommen das Erlebnis mit dem alten Mann im Brotladen. Während der Woche würde sie wieder in ihrem finsteren Schlafzimmer liegen müssen, wo sie durch den Luftschacht die gedämpften Stimmen der kindlichen jungen Frau und ihres affenartigen Mannes, der Chauffeur war, hören mußte. Die Stimme der Frau würde sanft und flehend klingen, seine rauh und herrisch. Dann würde eine kurze Stille eintreten, die mit einem Schnarchen endete. Und die Frau würde kläglich weinen bis zum Morgengrauen. Aber jetzt war erst Samstag, und sie hatte noch einen langen, friedlichen Sonntag vor sich, an dem sie Zeit hatte, den Kapuzinern im goldbraunen Krüglein nachzuträumen und dem Pferd, das im Sonnenschein gewaschen wurde und auf dessen Fell die Schatten der Blät53
ter spielten. Sie wurde schläfrig. Sie hörte noch ein Weilchen dem Gespräch von Johnny und Katie zu, die Erinnerungen auffrischten. »Damals, als ich dich kennenlernte, war ich siebzehn Jahre alt«, sagte Katie, »und ich arbeitete in der Litzenfabrik.« »Und ich war neunzehn«, sagte Johnny, »und war mit deiner besten Freundin, Hildy O'Dair, befreundet.« »Oh, mit der!« Der warme, süß duftende Meerwind strich sanft über Francies Haar. Sie verschränkte die Arme auf dem Fenstersims und schmiegte ihre Wange an den rechten Arm. Hoch über den Dächern der Mietshäuser konnte sie die Sterne sehen. Dann übermannte sie der Schlaf.
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ZWEITES BUCH
7
I
n einem anderen Brooklyner Sommer, zwölf Jahre früher, im Jahr 1900, lernte Johnny Nolan Katie Rommely kennen. Er war neunzehn und sie siebzehn. Katie arbeitete in einer Litzenfabrik. Und Hildy O'Dair, ihre beste Freundin, ebenfalls. Sie verstanden sich gut, obwohl Hildy eine Irländerin war und Katie von Eltern abstammte, die in Österreich geboren waren. Katie war hübscher, aber Hildy war kecker. Hildy hatte messingblondes Haar und trug eine granatrote Seidenschleife um den Hals. Sie kaute Sen-Sen, kannte immer die neuesten Schlager und tanzte ausgezeichnet. Hildy hatte einen Freund, einen ›Beau‹, der mit ihr alle Samstagabende tanzen ging. Er hieß Johnny Nolan. Manchmal holte er Hildy vor der Fabrik ab. Er brachte immer ein paar Kameraden mit, damit er nicht allein warten mußte. Sie standen müßig an der Ecke, erzählten sich Witze und lachten. Eines Tages bat Hildy Johnny Nolan, für ihre Freundin Katie jemand mitzubringen, wenn sie wieder tanzen gingen. Und Johnny tat ihr den Gefallen. Sie fuhren zu viert mit dem Autobus nach Canersie. Die Jungen trugen Strohhüte, die mit einer Schnur am Rockaufschlag befestigt waren. Der frische Meerwind blies ihnen die Hüte vom Kopf, und es gab jedesmal ein großes Gelächter, wenn die Burschen ihre Hüte an der Schnur zurückholten. Johnny tanzte mit seinem Mädchen Hildy. Katie weigerte sich, mit dem Burschen zu tanzen, den man für sie aufgetrieben hatte. Er war ein ausdrucksloser, gewöhnlicher Junge, der zu dummen Bemerkungen neigte. Als Katie von einem Gang zur Toilette zurückkehrte, sagte er: »Ich dachte schon, du bist hineingefallen.« Sie erlaubte ihm jedoch, ihr ein Glas Bier zu bezahlen. Sie saß hinter dem Tisch und schaute zu, wie John56
ny mit Hildy tanzte und fand, daß es auf der ganzen Welt keinen so netten Jungen wie Johnny gab. Johnny hatte lange, schmale Füße, die in hochpolierten Schuhen steckten. Er tanzte auf den Zehenspitzen und wippte mit den Füßen in einem wunderschönen Rhythmus. Johnny war vom Tanzen heiß geworden. Er zog den Rock aus und hängte ihn über die Stuhllehne. Die Hosen saßen ihm wie angegossen über den Hüften, und das weiße Hemd bauschte ein wenig über dem Gürtel. Er trug einen hohen steifen Kragen und eine getupfte Krawatte aus dem gleichen Stoff wie das Band um den Strohhut, himmelblaue Ärmelstulpen aus Seidenband mit eingewebten Gummischnüren, von denen Katie annahm, daß Hildy sie gemacht hatte. Sie war so eifersüchtig darauf, daß sie diese Farbe ihr Leben lang haßte. Katie konnte ihre Augen fast nicht mehr von ihm abwenden. Er war jung, wohlgebaut und strahlend, mit blondem, lockigem Haar und tiefblauen Augen. Seine Nase war fein und gerade, und seine Schultern waren breit und kräftig. Die Mädchen an den benachbarten Tischen sprachen über ihn und bewunderten seine elegante Art, sich zu kleiden. Die Burschen fanden, daß er auch ein sehr eleganter Tänzer war. Katie war stolz auf ihn, obwohl er ja gar nicht zu ihr gehörte. Johnny tanzte einmal mit ihr aus Höflichkeit, gerade als das Orchester ›Süße Rosie O'Grady‹ spielte. Als sie seine Arme um sich fühlte und sich unwillkürlich seinem Rhythmus anpaßte, wußte Katie, daß er der Mann war, den sie wollte, und kein anderer. Wenn sie ihn nur ihr Leben lang ansehen und ihm zuhören könnte, dann würde sie gerne hart arbeiten dafür. Dort und in jener Stunde entschied sie, daß ein solches Glück eine lebenslange Sklaverei wert sei. Vielleicht war diese Entscheidung ein großer Fehler. Vielleicht hätte sie lieber warten sollen, bis sie einen Mann kennenlernte, der für sie dieselben Empfindungen hatte. Dann wären ihre Kinder nie hungrig gewesen. Sie hätte ihr Brot nicht als Putzfrau verdienen müssen, und die Erinnerung an ihn wäre schön leuchtend geblieben. Aber sie hatte sich in den Kopf gesetzt, daß sie keinen anderen als Johnny Nolan wollte, und von dem Moment an tat sie alles, um ihn für sich zu gewinnen. 57
Schon am nächsten Tag begann sie ihren Feldzug. Sobald die Fabriksirene Feierabend gepfiffen hatte, lief sie aus der Fabrik, um vor Hildy an der Ecke zu sein, und rief: »Hallo, Johnny Nolan!« Und er antwortete: »Hallo, Katie!« Und dann konnte sie ihm jeden Tag ein paar Worte sagen, bevor Hildy kam. Und bald merkte Johnny, daß er eigentlich wegen dieser paar Worte an der Ecke stand und wartete. Einmal sagte Katie zu ihrer Vorarbeiterin, sie fühle sich nicht wohl und verließ die Fabrik eine Viertelstunde früher als sonst. Johnny war mit seinen Freunden schon an der Ecke. Um sich die Zeit zu vertreiben, pfiffen sie ›Annie Rooney‹. Johnny hatte seinen Strohhut schief auf dem Kopf, die Hände in den Hosentaschen und tanzte einen Walzer auf dem Trottoir. Passanten blieben stehen und bewunderten ihn. Der Polizist, der seine Patrouille machte, rief ihm zu: »Junger Mann, Sie verschwenden Ihre Zeit. Sie sollten zum Theater gehen.« Johnny sah Katie kommen, hörte auf zu tanzen und grinste sie an. Sie sah sehr anziehend aus in ihrem gutsitzenden grauen Kleid, das mit schwarzer Litze aus der Fabrik verziert war. Der Litzenbesatz war so angeordnet, daß er ihre schönen Formen betonte. Dazu trug sie ein kirschrotes Barett, das sie über das linke Auge gezogen hatte, und Knopfstiefel aus imitiertem Ziegenleder mit hohen Absätzen. Ihre schwarzen Augen funkelten, und ihre Wangen brannten vor Aufregung und Scham bei dem Gedanken, daß sie einem Burschen nachlief. Johnny rief ihr von weitem zu. Die anderen Burschen verschwanden allmählich. Was Katie und Johnny an jenem bedeutungsvollen Tag zueinander sagten, wußten sie später nicht mehr. Irgendwie begriffen sie aus ihren ziellosen und doch so bedeutungsvollen Gesprächen mit ihren köstlichen Pausen, der beklemmenden Steigerung des Gefühls, daß sie einander leidenschaftlich liebten. Die Fabriksirene pfiff und die jungen Mädchen strömten auf die Straße. Hildy trug ein erdfarbenes Kleid und eine schwarze Matrosenmütze, die sie mit einer bösartig aussehenden Hutnadel auf ihren messing58
farbenen Haarknoten aufgespießt hatte. Sie lächelte siegesgewiß, als sie Johnny erblickte. Aber ihr Lächeln wurde krampfhaft vor Beleidigung, Furcht und Haß, als sie Katie bei ihm stehen sah. Sie zog die lange Hutnadel aus der Matrosenmütze. »Er gehört mir, Katie Rommely«, schrie sie, »und du darfst ihn mir nicht wegschnappen.« »Hildy, Hildy«, beruhigte Johnny sie mit seiner sanften Stimme. »Wir leben in einem freien Land«, sagte Katie und warf den Kopf zurück. »Aber nicht für Diebe«, schrie Hildy aufgeregt, indem sie mit der Hutnadel auf Katie losging. Johnny warf sich zwischen die beiden Mädchen und fing den Kratzer mit seiner eigenen Wange auf. Inzwischen hatte sich eine Schar Fabrikmädchen um sie versammelt, die schadenfroh kicherten. Johnny nahm die beiden Mädchen am Arm und schob sie um eine Hausecke. Er drängte sie in einen Hauseingang und hielt sie in seinen Armen fest, während er ihnen zuredete. – »Hildy«, sagte er, »ich tauge nicht viel. Ich hätte mich nicht mit dir einlassen sollen, denn ich sehe jetzt, daß ich dich doch nicht heiraten kann.« »Sie ist schuld daran«, weinte Hildy. »Nein, ich«, sagte Johnny tapfer. »Ich wußte nie, was echte Liebe ist, bis ich Katie kennenlernte.« »Aber sie ist meine beste Freundin«, klagte Hildy. »Sie gehört jetzt zu mir, und darüber gibt es nichts mehr zu diskutieren.« Aber Hildy weinte und diskutierte weiter. Schließlich gelang es Johnny, ihr zu erklären, wie es mit ihm und Katie stand. Er sagte ihr, sie solle ihren Weg gehen, und er gehe den seinen. Er berauschte sich am Klang seiner eigenen Worte. Er kostete den dramatischen Augenblick aus und wiederholte nochmals: »So gehst du also deinen Weg, und ich gehe meinen Weg.« »Du meinst, ich soll meinen Weg gehen und du gehst ihren Weg«, sagte Hildy bitter. Schließlich ging Hildy ihren Weg. Sie lief mit vorgebeugten Schul59
tern die Straße entlang. Johnny war erschüttert, er rannte ihr nach, umarmte sie und küßte sie nochmals zärtlich zum Abschied. »Ich hätte dir das so gerne erspart«, sagte er mit trauriger Stimme. »Das glaube ich nicht«, gab sie schnippisch zurück. »Wenn es so wäre« – sie begann von neuem zu schluchzen –, »dann könntest du ihr ja den Laufpaß geben und wieder mit mir ausgehen.« Auch Katie weinte. Schließlich war Hildy doch ihre beste Freundin gewesen. Sie küßte Hildy auch, aber sie mußte die Augen abwenden, als sie sah, wie Hildys tränenüberströmte Augen sich vor Haß zusammenzogen. So ging Hildy also ihren Weg, und Johnny ging Katies Weg. Sie gingen eine Zeitlang miteinander aus, verlobten sich dann und heirateten am Neujahrstag in Katies Kirche. Es war am 1. Januar 1901. Sie kannten sich damals erst vier Monate. Thomas Rommely konnte seiner Tochter nie verzeihen. Es war bei all seinen Töchtern dasselbe. Er hatte seine eigene Theorie darüber, was die Schuldigkeit der Kinder sei. Der Vater zeugte sie mit Vergnügen, dann zog er sie so sparsam wie möglich auf, und sobald sie dreizehn Jahre alt waren, sollten sie verdienen und ihren Vater unterstützen. Katie war siebzehn, sie hatte also erst vier Jahre lang für ihren Vater gearbeitet. Er hatte das Gefühl, daß sie ihm noch viel Geld schuldig sei. Aber der alte Rommely haßte jedermann und alles. Niemand konnte eigentlich sagen, warum. Er war ein prächtiger, massiger Mann mit eisgrauen Locken auf seinem Löwenhaupt. Er hatte mit seiner jungen Frau Österreich verlassen, um nicht in die Armee eintreten zu müssen. Obwohl er seine alte Heimat haßte, weigerte er sich standhaft, seine neue Heimat zu lieben. Er verstand die englische Sprache und konnte sie auch sprechen, wenn er wollte. Aber er gab keine Antwort, wenn man ihn auf englisch anredete, und duldete es nicht, daß die Kinder zu Hause englisch sprachen. Die Kinder verstanden aber fast kein Deutsch, denn ihre Mutter wünschte, daß sie sowenig wie möglich Deutsch sprachen, weil sie glaubte, sie könne sie dadurch vor der Erkenntnis bewahren, wie grausam ihr Vater sei. So wuchsen die vier Töchter fast ohne Kontakt mit ihrem Vater auf. Er sprach nie mit ih60
nen, außer wenn er sie beschimpfte. Sie nahmen sein ›Gottverdammt‹ auf wie einen Gruß. Wenn er sehr wütend war, dann nannte er das Objekt seines Zornes ›Russe‹. Dieses Wort wurde von den Kindern als der kräftigste Fluch betrachtet. Er haßte Österreich. Er haßte Amerika. Aber am meisten haßte er Rußland, obwohl er in seinem Leben nie in Rußland gewesen und auch nie einen russischen Menschen gekannt hatte. Niemand verstand seinen Haß auf das wenig bekannte Land und das noch unbekanntere Volk. So war Francies Großvater mütterlicherseits. Und Francie haßte ihn nicht weniger, als ihn seine eigenen Töchter haßten. Mary Rommely aber, Francies Großmutter, war eine Heilige. Sie hatte gar keine Schulbildung, sie konnte ihren eigenen Namen weder lesen noch schreiben, aber sie wußte wohl tausend Geschichten und Legenden zu erzählen. Viele davon hatte sie selbst für ihre Kinder erfunden; die meisten stammten aber aus der alten Heimat und waren ihr von ihrer Mutter und ihrer Großmutter überliefert worden. Sie kannte auch viele alte Volkslieder und verstand die alten Zaubersprüche und Volksweisheiten. Sie war sehr religiös und wußte die Geschichte jedes Heiligen zu erzählen. Sie glaubte an Geister, Feen und alles Märchenvolk. Sie wußte viel von Kräutern und verstand sich darauf, einen Heil- oder Zaubertrank zu brauen, vorausgesetzt, daß niemand Böses im Sinne hatte mit diesem Zauber. In der alten Heimat war sie für ihre Weisheit bekannt gewesen und oft um Rat und Hilfe gebeten worden. Sie selbst war ganz ohne Sünde, aber sie hatte großes Verständnis für diejenigen, die sündigten. Von unbeugsamer Strenge in der eigenen Moral, verzieh sie doch andern ihre Schwächen. Sie fürchtete Gott und liebte Christus, aber sie begriff, warum viele Leute sich von ihnen abwandten. Sie war als Jungfrau in die Ehe getreten und hatte sich der brutalen Liebe ihres Mannes gefügt. Seine Brutalität hatte rasch ihre geheimen Wünsche getötet. Sie konnte verstehen, daß viele junge Mädchen aus Liebeshunger, wie man zu sagen pflegt, auf einen falschen Weg kamen, und sie verachtete einen Jungen nicht, wenn er des Diebstahls bezichtigt wurde, denn sie wußte, daß er im Herzen trotzdem 61
gut sein konnte. Sie verstand, warum viele Leute lügen und stehlen und einander Böses tun mußten. Sie konnte alle menschlichen Schwächen verzeihen. Aber lesen und schreiben konnte sie nicht. Sie hatte sanfte braune Augen, klar und geduldig. Sie trug ihr glänzendes braunes Haar in der Mitte gescheitelt und über die Ohren gelegt. Ihre Haut war blaß und durchsichtig, und sie hatte einen sanften Mund. Ihre Stimme war leise, warm und melodiös und wirkte beruhigend auf alle, die sie hörten. All ihre Töchter und Enkelinnen hatten diese Stimme von ihr geerbt. Mary Rommely glaubte, daß sie mit dem leibhaftigen Teufel verheiratet sei, weil sie in ihrem Leben einmal irgendeine Sünde begangen habe. Ihr Mann sagte oft zu ihr: »Ich bin der leibhaftige Teufel«, und sie glaubte es. Sie betrachtete ihn oft im geheimen, und wenn sie die beiden Korkzieherlocken sah, die sich links und rechts über seiner Stirn erhoben, und die schräg nach oben gezogenen Augenwinkel, seufzte sie und dachte bei sich: Ja, er ist gewiß der Teufel. Manchmal reizte ihn ihr Madonnengesicht dazu, über Christus die gotteslästerlichsten Dinge in einem falschen zärtlichen Ton zu sagen, so daß ihr himmelangst wurde. Sie pflegte dann, ihr schwarzes Kopftuch vom Nagel hinter der Tür zu nehmen, es sich über den Kopf zu werfen und auf die Straße zu stürzen. Draußen irrte sie so lange umher, bis sie die Sorge um die Kinder wieder nach Hause trieb. Sie ging in die Volksschule, die ihre drei jüngeren Kinder besuchten, und sagte der Lehrerin in gebrochenem Englisch, daß die Kinder immer englisch sprechen sollten und nie einen deutschen Satz sagen dürften. Sie glaubte, sie dadurch vor ihrem Vater zu beschützen. Sie sah es nicht gern, daß die Kinder schon nach sechs Jahren die Schule wieder verlassen mußten, um Arbeit zu suchen. Und sie war traurig, als sie alle unbedeutende Männer heirateten. Sie weinte, als ihre Töchter wiederum Töchter zur Welt brachten, denn sie wußte, daß das Leben einer Frau aus Demütigungen und Entbehrungen und aus schwerer Arbeit bestand. 62
Jedesmal, wenn Francie betete: »Heilige Maria, Mutter Gottes …«, mußte sie an Großmutter Rommely denken. Sissy war die älteste Tochter von Thomas und Mary Rommely. Sie war drei Monate nach der Ankunft ihrer Eltern in Amerika geboren worden. Sie hatte nie eine Schule besucht. Als sie sechs Jahre alt war, hatte Mary Rommely noch nicht gewußt, daß auch für Leute wie sie die Schule in Amerika unentbehrlich war. Wohl gab es ein Gesetz über die Schulpflicht der Kinder, aber niemand nahm sich die Mühe, dafür zu sorgen, daß dieses Gesetz ausgeführt wurde. Als die andern Kinder ins schulpflichtige Alter kamen, wußte Mary, daß es Volksschulen gab. Aber für Sissy war es zu spät, sie war schon zu alt, um nochmals mit den Sechsjährigen von vorne anzufangen. So blieb sie zu Hause und half der Mutter. Mit zehn Jahren war Sissy schon vollkommen entwickelt, und alle Knaben waren hinter ihr her, und sie hinter den Knaben. Mit zwölf Jahren begann sie mit einem zwanzigjährigen Burschen regelmäßig auszugehen. Ihr Vater machte der Geschichte ein Ende, indem er den Burschen verprügelte. Aber mit vierzehn Jahren ging Sissy mit einem fünfundzwanzigjährigen Feuerwehrmann. Da dieser ihren Vater verprügelte, statt umgekehrt, endete dieser Roman damit, daß der Feuerwehrmann Sissy heiratete. Sie gingen ins Stadthaus, wo Sissy schwor, sie sei achtzehn Jahre alt, und wurden von einem Zivilstandesbeamten getraut. Die Nachbarn waren entsetzt, aber Mary Rommely wußte, daß dies für ihre mannstolle Tochter das beste war. Jim, der Feuerwehrmann, war ein guter Mensch. Er galt als gebildet, da er das Examen im Progymnasium gemacht hatte. Er hatte einen schönen Lohn und war selten zu Hause, also ein idealer Ehemann. Sie waren sehr glücklich. Außer der Liebe verlangte Sissy nicht viel von ihm, und dies machte ihn seinerseits auch wieder glücklich. Manchmal schämte er sich seiner Frau ein wenig, weil sie weder lesen noch schreiben konnte. Aber mit der Zeit begann er dies zu übersehen, denn sie war so witzig und klug und warmherzig, daß das Leben mit ihr eine große Freude war. Sissy bekam ziemlich viel Haus63
haltungsgeld, so daß für ihre Mutter und die jüngeren Schwestern immer etwas übrigblieb. Einen Monat nach der Heirat wurde Sissy schwanger. Sie war, obwohl sie verheiratet war, immer noch eine wilde Hummel von vierzehn Jahren. Die Nachbarn waren entsetzt, wenn sie in ihrem Zustand immer noch mit den andern Kindern auf der Straße Seil sprang, unbekümmert darum, daß ihr bald zu erwartendes Kind ihren Leib schon unförmig machte. Wenn Sissy nicht mit Kochen, Putzen oder Seilspringen beschäftigt war oder gar mit den Knaben auf der Straße Baseball spielte, dachte sie über das kommende Kindchen nach. Wenn es ein Mädchen wurde, dann mußte es Mary heißen wie ihre Mutter. Wenn es ein Junge wurde, würde sie ihn John taufen, denn sie hatte aus irgendwelchen Gründen eine große Vorliebe für den Namen John. Sie begann auch ihren Jim John zu nennen, weil sie ihm den Namen des Kindes geben wollte. Anfänglich war es einfach ein Kosename, aber mit der Zeit glaubten alle Leute, dies sei sein wirklicher Name und nannten ihn auch John. Dann kam das Kindchen. Die Geburt war sehr leicht, und es war ein Mädchen. Man holte die Hebamme aus dem nächsten Häuserblock, und nach einer halben Stunde war das Kind da. Der einzige Nachteil war, daß das Kindchen tot war. Es ergab sich, daß es an Sissys fünfzehntem Geburtstag geboren wurde und starb. Eine Zeitlang trauerte sie um das Kind, und die Trauer verwandelte sie. Sie arbeitete fleißiger und sorgfältiger in ihrem Haushalt. Nun verstand sie auch ihre Mutter besser. Sie war nicht mehr derselbe Wildfang wie früher, denn sie war überzeugt, daß das Kindchen wegen des Seilspringens gestorben war. Als sie sich von ihrem Schmerz erholt hatte, schien sie noch jünger und kindlicher. Bis sie zwanzig Jahre alt war, hatte sie vier Kinder geboren. Aber sie waren alle tot gewesen. Schließlich kam sie zu dem Schluß, daß ihr Mann schuld sei. Sie konnte nichts dafür. Hatte sie nicht auf das Seilspringen verzichtet seit der ersten Totgeburt? Sie sagte Jim, sie könne ihn nicht mehr lieben, da aus ihrer Liebe nichts als tote Kinder entstünden. Sie bat ihn, sie zu verlassen. Er weigerte sich eine Zeitlang, 64
aber schließlich ging er. Am Anfang schickte er ihr hin und wieder noch etwas Geld. Wenn Sissy Sehnsucht bekam nach einem Mann, dann pflegte sie an der Feuerwehrkaserne vorbeizugehen, wo Jim saß, den Kopf gegen die Backsteinmauer gelehnt. Sissy ging langsam vorbei, lächelte ihm zu und wiegte sich in den Hüften, bis Jim unerlaubten Urlaub nahm und mit ihr ein glückliches Stündchen in der Wohnung verbrachte. Nach einiger Zeit traf Sissy einen anderen Mann, der sie heiraten wollte. Niemand wußte, wie er wirklich hieß, denn Sissy nannte ihn von Anfang an John. Die zweite Heirat ging sehr einfach vonstatten. Eine Scheidung war kompliziert und kostspielig. Zudem war sie katholisch und hielt eine Scheidung für unerlaubt. Sie und Jim waren von einem Zivilstandesbeamten im Stadthaus getraut worden. Sie legte sich zurecht, daß dies ja gar keine richtige Heirat gewesen sei, da sie nicht in der Kirche waren, warum sollte sie ihr also im Wege stehen. So ließ sie sich unter dem Namen ihres ersten Mannes nochmals im Stadthaus trauen und sagte nichts von ihrer früheren Heirat. Glücklicherweise war es ein anderer Zivilstandesbeamter, der sie traute. Ihre Mutter war traurig darüber, daß Sissy sich nicht hatte kirchlich trauen lassen. Nun hatte Thomas eine neues Mittel, seine Frau zu quälen. Er drohte ihr immer damit, er werde Sissy wegen Bigamie verklagen. Aber bevor er soweit kam, waren weitere vier Jahre vergangen. Sissy hatte nochmals vier Kinder tot geboren, und sie war nun überzeugt, daß auch der zweite John nicht der richtige Mann sei für sie. Die Auflösung dieser zweiten Ehe war sehr einfach. Da der Mann protestantisch war, sagte Sissy, die katholische Kirche anerkenne diese Ehe nicht, und somit sei sie also frei. John der Zweite nahm die Sache nicht tragisch. Er hatte Sissy gern gehabt und war glücklich mit ihr gewesen. Aber sie war wie Quecksilber. Trotz ihrer verblüffenden Offenheit und überwältigenden Naivität hatte er sie nie richtig kennengelernt, und er war es müde, immer mit einem Rätsel zusammenzuleben. So war es ihm auch recht, als er wieder gehen konnte. Sissy war nun vierundzwanzig Jahre alt und hatte acht Kinder gebo65
ren, von denen keines am Leben geblieben war. Sie kam zu dem Schluß, daß Gott nicht wolle, daß sie wieder heirate. Sie nahm Arbeit in einer Gummifabrik an, wo sie allen Leuten sagte, sie sei eine alte Jungfer, was ihr niemand glaubte. Sie wohnte wieder daheim bei der Mutter. Zwischen ihrer zweiten und dritten Ehe hatte sie eine Reihe von Liebhabern, die sie alle John nannte. Nach jeder Totgeburt war ihre Kinderliebe noch größer geworden. Sie verfiel oft in schwermütige Stimmungen, in denen sie glaubte, wahnsinnig zu werden, wenn sie nicht ein Kind bekam, das sie liebhaben konnte. Sie überschüttete dafür ihre Liebhaber, ihre Geschwister und deren Kinder mit ihren verhinderten Muttergefühlen. Francie vergötterte sie. Sie hatte wohl munkeln hören, daß Sissy ein schlechtes Leben führe, aber sie liebte sie deshalb nicht minder. Evy und Katie hätten ihre auf Abwege geratene Schwester gern verstoßen, aber sie konnten es nicht, weil sie so gut und so charmant war! Bald nach Francies elftem Geburtstag heiratete Sissy zum drittenmal im Stadthaus. Der dritte John war eben der, der bei dem Zeitschriftenverlag arbeitete und durch den Francie jeden Monat die prächtigen, nagelneuen Magazine bekam. Sie hoffte, schon um der Magazine willen, daß diese Ehe dauern werde. Eliza, die zweite Tochter von Mary und Thomas Rommely, hatte weder die Schönheit noch das Temperament ihrer drei Schwestern. Sie war auch nicht so intelligent, und das Leben interessierte sie nicht. Da Mary ohnehin im Sinn gehabt hatte, eine ihrer Töchter der Kirche zu weihen, bestimmte sie, daß Eliza Nonne werden solle. So trat Eliza mit sechzehn Jahren in ein Kloster ein. Es gehörte zu einem sehr strengen Orden. Sie durfte die Klostermauern nur noch verlassen, um zu der Beerdigung ihrer Eltern zu gehen. Sie wählte den Namen Ursula und wurde als Schwester Ursula für Francie zur unwirklichen Legende. Francie hatte sie nur einmal in ihrem Leben gesehen, und dies war bei Thomas Rommelys Begräbnis gewesen. Francie war damals neun Jahre alt. Sie hatte kurz vorher ihre erste Kommunion erlebt und war der Kirche so vollkommen ergeben, daß sie im Sinn hatte, Nonne zu werden. 66
Sie wartete deshalb mit Spannung auf Schwester Ursula. Sie war stolz darauf, eine Tante zu haben, die Nonne war. Aber als Schwester Ursula sich zu Francie herabneigte, um sie zu küssen, bemerkte Francie, daß ihre Oberlippe und ihr Kinn mit einem dunklen Flaum bedeckt waren. Francie erschrak. Sie glaubte, daß alle Nonnen, die früh ins Kloster eintraten, einen Schnurrbart und einen Bart bekämen und beschloß, lieber doch nicht Nonne zu werden. Evy war die dritte Rommely-Tochter. Auch sie hatte sich jung verheiratet. Willie Flittman, ein schöner schwarzhaariger Jüngling mit seidenem Schnurrbart und den glänzenden Augen eines Italieners, war ihr Mann geworden. Francie fand seinen Namen sehr komisch, und sie lachte jedesmal leise, wenn sie daran dachte. Flittman taugte nicht viel. Er war zwar kein richtiger Nichtsnutz, aber ein schwacher Mann, der sich immer über irgend etwas beklagte. Aber etwas konnte er, und das war Gitarre spielen. Die RommelyTöchter hatten alle eine Schwäche für Männer, die etwas von einem Schauspieler oder einem Künstler an sich hatten. Sie empfanden es als ihre Pflicht, dergleichen artistische Talente zu pflegen und zu hüten. Evy war die vornehmste von der ganzen Familie. Sie wohnte in einer billigen Wohnung im Unterparterre, aber in der Nachbarschaft eines vornehmen Viertels, und sie schaute den besseren Leuten ihre Manieren ab. Sie hatte das Bedürfnis, jemand zu sein. Und sie wollte, daß ihre Kinder es einmal besser haben sollten als sie selbst. Sie hatte drei Kinder: einen Knaben, der den Namens seines Vaters trug, ein Mädchen mit dem Namen Blossom und noch einen Knaben, der Paul Jones hieß. Ihr erster Schritt zur Vornehmheit war, daß sie ihre Kinder nicht mehr in die katholische Sonntagsschule gehen ließ, sondern in die Episkopalkirche schickte. Sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, daß die Protestanten vornehmer seien als die Katholiken. Evy hatte selbst kein musikalisches Talent, aber sie wollte es unbedingt in ihren Kindern sehen. Sie hoffte, daß Blossom einmal gern singen werde, daß Paul Jones Geige spielen wolle und Willie Klavier. Aber auch die Kinder waren ganz unmusikalisch. Doch Evy packte den Stier 67
bei den Hörnern. Sie zwang die Kinder, die Musik zu lieben, ob sie wollten oder nicht. Wenn sie kein Talent hatten, konnte man es ihnen vielleicht noch einflößen, für soundso viel pro Stunde. Sie kaufte Paul Jones eine antiquarische Geige und traf mit einem Musiklehrer, der sich Professor Allegretto nannte, ein Abkommen, daß er ihm für fünfzig Cent Stunden gab. Der kleine Flittman kratzte ein Jahr lang fürchterlich, und dann durfte er ein Stück spielen mit dem Namen ›Humoreske‹. Evy fand es wunderbar, daß er nun schon so weit war, ein Stück spielen zu können. Das war doch schon besser, als immer nur Tonleitern zu üben. Dann wurde Evy noch ehrgeiziger. »Da wir doch schon eine Geige haben für Paul Jones«, sagte sie zu ihrem Mann, »könnte Blossom auch Geigenstunden nehmen, und sie könnten beide auf derselben Geige üben.« »Aber hoffentlich zu verschiedenen Zeiten«, sagte Willie säuerlich. »Ja, was glaubst du denn«, antwortete Evy entrüstet. Und so wurden jede Woche nochmals fünfzig Cent zusammengekratzt und in die Hand der widerstrebenden Blossom gedrückt, und auch sie mußte zu Professor Allegretto in die Geigenstunde wandern. Nun hatte Professor Allegretto eine kleine Eigenart, die seine Schülerinnen betraf. Sie mußten die Schuhe und Strümpfe ausziehen und barfuß auf dem grünen Teppich stehen. Während sie über die Saiten sägten, starrte er die ganze Stunde träumerisch auf ihre nackten Füße, statt ihren Fingersatz zu korrigieren. Eines Tages sah Evy, wie Blossom vor der Geigenstunde sorgfältig die Füße wusch. Evy fand es lobenswert, aber etwas seltsam. »Warum wäschst du dir denn jetzt die Füße?« »Für die Geigenstunde.« »Aber du spielst doch mit den Händen, nicht mit den Füßen.« »Ich schäme mich eben, mit schmutzigen Füßen vor dem Professor zu stehen.« »Ach, glaubst du denn, er kann durch deine Schuhe sehen?« »Nein, das glaube ich nicht, denn ich muß die Schuhe und Strümpfe ausziehen.« Evy erschrak. Sie wußte nichts von Freud, und ihr spärliches Wissen 68
vom Geschlechtsleben schloß solche Abweichungen nicht ein, abgesehen davon, daß Professor Allegretto nicht fünfzig Cent für die Stunde verlangen durfte, um dann seine Pflicht nicht zu tun. Von diesem Moment an hörte Blossoms musikalische Ausbildung auf. Paul Jones wurde ausgefragt, aber es stellte sich heraus, daß er, wenn er zur Stunde kam, nie etwas anderes ablegen mußte als den Hut. Daraufhin durfte er weiterlernen. Nach fünf Jahren konnte er fast so gut Geige spielen wie sein Vater Gitarre, obwohl dieser nie in seinem Leben eine Stunde genommen hatte. Abgesehen von seiner Musikalität war Onkel Flittman ein langweiliger Mensch. Sein einziger Gesprächsstoff war Drummer, das Milchwagenpferd, und dessen Boshaftigkeiten. Flittman und das Pferd bekämpften sich nun schon seit fünf Jahren, und Evy hoffte immer, daß endlich eine der beiden Parteien endgültig gewinnen werde. Im Grunde liebte Evy ihren Mann, obwohl sie es nicht lassen konnte, ihn nachzuäffen. Sie pflegte bei den Nolans in der Küche zu stehen und so zu tun, als sei sie das Pferd Drummer. Dabei imitierte sie Onkel Flittman, wie er versuchte, dem Pferd den Hafersack umzuhängen. »Das Pferd steht so neben dem Randstein«, Evy lehnte sich vor, bis ihr Kopf über den Knien baumelte. »Dann kommt Will mit dem Hafersack. Und in dem Moment, wo er ihn Drummer umhängen will, wirft er den Kopf auf.« Hier warf Evy den Kopf hoch und wieherte wie ein richtiges Pferd. »Will wartet. Das Pferd läßt den Kopf wieder sinken und tut, als hatte es überhaupt keine Knochen, als könnte es den Kopf überhaupt nicht mehr heben.« Evys Kopf baumelte beängstigend. »Aber kaum kommt Will mit dem Hafersack – auf fliegt der Kopf in die Luft.« »Und dann, was passiert dann?« fragte Francie gespannt. »Dann gehe ich hinunter und ziehe den Hafersack an, das passiert.« »Aber läßt es dich das machen?« »Ob es mich läßt? Stell dir vor, es kommt mir sogar aufs Trottoir entgegen und steckt seinen Kopf in den Hafersack, ganz von selbst, bevor ich den Sack überhaupt heben kann.« Dann wandte sie sich wieder an Katie. »Weißt du, manchmal habe ich das Gefühl, Will ist eifersüchtig auf das Pferd, weil es mich so liebt.« 69
Katie sah sie zuerst einen Moment lang erstaunt an. Dann fing sie an zu lachen. Evy und Francie lachten auch. Die beiden Rommely-Töchter und Francie, die auch eine halbe Rommely war, lachten über ein Geheimnis, das sie teilten, über die Schwäche eines Mannes. Dies waren die Rommely-Frauen: Mary, die Mutter; Evy, Sissy und Katie, ihre Töchter; und Francie, die auch eine echte Rommely werden würde, obwohl sie Nolan hieß. Sie waren alle zarte, zerbrechliche Geschöpfe mit erstaunten Augen und weichen, sanften Stimmen. Aber sie waren wie aus dünnem, nicht sichtbarem Stahl gemacht.
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D
ie Rommelys brachten Frauen von starker Persönlichkeit hervor. Die Nolans dagegen schwache und talentierte Männer. Johnnys Familie war am Aussterben. Die Nachkommen der Nolans wurden mit jeder Generation schöner, zarter und bezaubernder. Sie verliebten sich leicht, aber sie drückten sich vor der Ehe. Das war der Hauptgrund, weshalb sie am Aussterben waren. Ruthie Nolan war bald nach ihrer Heirat mit ihrem schönen jungen Gemahl aus Irland ausgewandert. Innerhalb der folgenden vier Jahre gebar sie vier Söhne. Dann starb Mickey Nolan, und Ruthie mußte allein fertig werden. Es gelang ihr immerhin, Andy, Georgie, Frankie und Johnny durch die sechs Schuljahre hindurchzubringen. Mit zwölf Jahren mußten sie aber die Schule verlassen und versuchen, ein paar Pennies zu verdienen. Die Knaben wuchsen auf, wurden schön, waren musikalisch, konnten gut tanzen und singen und wurden von allen Mädchen umschwärmt. Obwohl die Nolans im armseligsten Haus von Irish Town wohnten, waren die Jungen immer am elegantesten angezogen. Das Bügelbrett war ständig in der Küche bereit. Immer mußte einer der Jungen seine Hosen bügeln oder seine Krawatte oder das Hemd. Sie waren der 70
Stolz von Shantytown, die großen blonden, gut aussehenden Nolans. Sie hatten flinke Füße in hochglanzpolierten Schuhen. Ihre Hosen saßen wie angemessen, und sie trugen ihre Hüte auf besonders schicke Art. Aber sie wurden alle nicht älter als fünfunddreißig Jahre. Und von den vieren war Johnny der einzige, der Kinder hinterließ. Andy war der älteste und der schönste. Er hatte rotgoldenes, lockiges Haar und ein feinmodelliertes Gesicht. Aber er hatte die Lungenschwindsucht. Er war mit einem Mädchen namens Francie Melaney verlobt. Sie schoben die Heirat immer wieder hinaus in der Hoffnung, daß er bald gesund werden würde. Aber er wurde nicht mehr gesund. Die Nolan-Söhne waren Singkellner von Beruf. Sie hatten zusammen das Nolan-Quartett gebildet, bis Andy zu krank wurde, um mitzusingen. Dann schmolzen sie zum Nolan-Trio zusammen. Sie verdienten nicht viel und vertranken das meiste oder verspielten es bei Pferderennen. Als Andy endgültig bettlägerig wurde, kauften ihm seine Brüder ein echtes Schwanenfederkissen für sieben Dollar. Sie wollten ihm vor dem Sterben noch einen Luxus verschaffen. Andy freute sich schrecklich über das Kissen. Er konnte es aber nur noch zwei Tage genießen. Dann kam ein letzter heftiger Blutsturz, der das feine neue Kissen rostbraun färbte, und Andy starb. Seine Mutter wehklagte drei Tage lang über dem toten Sohn. Francie Melaney legte ein Gelübde ab, daß sie nie heiraten werde. Und die drei zurückgebliebenen Nolan-Brüder schworen, daß sie ihre Mutter nie verlassen wollten. Sechs Monate darauf heiratete Johnny Katie. Ruthie Nolan haßte Katie. Sie hatte gehofft, ihre drei schönen Söhne bis zum Tod bei sich zu Hause zu haben. Bis jetzt hatten alle das Heiraten vermieden. Und nun kam dieses Mädchen, diese Katie Rommely, und nahm ihr den Johnny weg. Georgie und Frankie mochten Katie gut leiden, aber sie fanden es kläglich von ihrem Bruder, daß er ihnen die Sorge um die Mutter allein überließ. Immerhin fanden sie sich damit ab. Sie bemühten sich jedoch, Katie und Johnny ein schönes Hochzeitsgeschenk zu geben und 71
kamen schließlich auf die Idee, ihnen das wunderschöne Kopfkissen zu schenken, das Andy nur so kurze Zeit benutzt hatte. Die Mutter machte einen neuen Überzug, um den rostbraunen Fleck zu verdecken. Und so bekamen Katie und Johnny das Kissen. Sie fanden es aber zu gut für den täglichen Gebrauch, und es wurde nur hervorgeholt, wenn jemand krank war. Francie nannte es das ›Krankenkissen‹. Weder Katie noch Francie erfuhren jemals, daß es einmal ein Sterbekissen gewesen war. Ungefähr ein Jahr nach Johnnys Hochzeit kam Frankie, den viele hübscher fanden als Andy, betrunken von einem nächtlichen Gelage heim und stolperte über einen Draht, den ein Gassenjunge von Brooklyn um ein kleines Rasenstück vor der Haustür gespannt hatte. Der Draht war an kleinen spitzigen Stecken befestigt. Frankie fiel direkt auf einen dieser Stecken, und der durchbohrte seine Magenwand. Er konnte sich noch erheben und nach Hause gehen. Aber er starb in derselben Nacht. Er starb ganz allein und ohne vom Priester noch die Letzte Ölung bekommen zu haben. Seine Mutter ließ ihr Leben lang jeden Monat eine Messe lesen für seine Seele, die nun im Fegefeuer schmachtete. So hatte Ruthie Nolan binnen Jahresfrist drei Söhne verloren, zwei durch den Tod und einen durch Heirat. Sie trauerte um alle drei. Georgie, der ihr treu blieb, starb drei Jahre später im Alter von achtundzwanzig Jahren. Johnny war mit seinen dreiundzwanzig Jahren der einzige Überlebende der Familie Nolan. Er war der einzige, der seinen dreißigsten Geburtstag überlebte. Und sein Kind, Francie Nolan, vereinigte in sich sowohl das Erbgut der Rommelys als auch dasjenige der Nolans. Sie hatte, wie die degenerierten Nolans, eine große Leidenschaft für alles Schöne. Von ihrer mystischen Großmutter Mary Rommely hatte sie den Aberglauben, die Erzählkunst und das Mitleid mit den Schwachen und Hilfsbedürftigen geerbt. Aber sie hatte auch etwas von dem grausamen Willen ihres Großvaters mitbekommen. Von Evy hatte sie das Talent zum Schauspielern und von ihrer Großmutter Nolan die eifersüchtige Anhänglichkeit. Sie hatte Tante Sissys Lebenshunger und ihre Kinderlie72
be. Sie hatte ihres Vaters Sentimentalität, ohne jedoch seine Schönheit mitgeerbt zu haben. Sie hatte alle zarten Eigenschaften von Katie, aber nicht all ihre Widerstandskraft. Sie war eine Mischung von all diesen guten und schlechten Eigenschaften. Aber dies war nicht alles. Sie bestand auch aus den Büchern, die sie las und aus den Blumen im goldbraunen Krug. Ein Teil ihres Lebens war aus dem Baum, der sich in ihrem Hof zum Licht emporrang. Ein Stück von ihr war in den heftigen Zänkereien, die sie mit ihrem Bruder hatte, obwohl sie ihn sehr liebte. Und sie hatte Anteil an Katies heimlichem, verzweifeltem Weinen. Sie trug in sich die Scham über ihres Vaters nächtliche Trinkgelage, von denen er immer betrunken heimkehrte. Und darüber hinaus spürte sie in sich noch etwas, das weder vererbt noch erlebt war, es war einfach da, es war mit ihr geboren worden. Es war das, was Gott, oder wie man diese schöpferische Macht nennen will, in jede menschliche Seele hineingelegt und das zur Folge hat, daß es auf der Welt nicht zwei Fingerabdrücke gibt, die einander gleichen.
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ohnnys und Katies erste Wohnung lag in einer stillen Seitenstraße von Williamsburg, in der Bogart Street. Johnny hatte die Straße wegen ihres geheimnisvoll klingenden Namens gewählt. Sie waren sehr glücklich im ersten Jahr ihrer Ehe. Katie hatte Johnny geheiratet, weil sie ihn gern singen hörte und weil ihr seine Art, sich zu kleiden, und seine Art, zu tanzen, so gefielen. Aber als sie verheiratet waren, bemühte sie sich auf echt weibliche Art, all diese Dinge zu ändern. Sie versuchte, ihn dazu zu überreden, seinen Beruf als Singkellner aufzugeben. Und da er sie gern hatte und ihr alles zuliebe tat, was er konnte, erfüllte er ihr diesen Wunsch. Sie nahmen zusammen einen Hausmeisterposten in einem Schulhaus an. Und sie waren glücklich dabei. Ihr Tag begann, wenn alle andern Leu73
te zu Bett gingen. Nach dem Abendessen zog Katie ihren schwarzen Mantel mit den großen Schinkenärmeln an und warf sich ein kirschrotes wollenes Kopftuch über das Haar, und dann gingen sie gemeinsam an ihre Arbeit. Das Schulhaus war alt und klein und warm. Sie verbrachten die Nächte gern in diesem Haus. Sie gingen Arm in Arm: er in seinen glänzenden Lackschuhen und sie in ihren hochgeschnürten Ziegenlederstiefeln. In sternhellen, frostigen Nächten pflegten sie zu rennen, ein wenig zu hüpfen und dabei viel zu lachen. Sie kamen sich sehr wichtig vor, weil sie einen eigenen Schulhausschlüssel hatten. Die Schule gehörte während der ganzen Nacht ihnen allein. Während der Arbeit amüsierten sie sich mit allerlei Spielen. Johnny setzte sich in eine Schulbank, und Katie spielte den Schulmeister. Oder sie schrieben sich Liebesbotschaften auf die Wandtafel. Sie rollten die Landkarten auf und suchten darauf die wildfremden Länder. Sie staunten über die fremden Namen und die unbekannten Sprachen. (Er war neunzehn und sie siebzehn.) Am liebsten reinigten sie die Aula. Johnny wischte den Staub vom Klavier und ließ dabei die Finger über die Tasten gleiten. Er griff ein paar Akkorde. Katie setzte sich in die vorderste Bankreihe und bat ihn, zu singen. Er sang ihr sentimentale Schlager vor. Die Leute in der Nachbarschaft wurden von seiner süßen Stimme geweckt und blieben eine Weile wach, um ihm zuzuhören. »Dieser Kerl, der da singt, gehört auf die Bühne. Schade um ihn.« Manchmal tat Johnny so, als sei das Podium eine Bühne, und er fing an zu tanzen, so schön und graziös, so erfüllt von Lebensfreude, daß Katie glaubte, sie müsse sterben vor Glück. Um zwei Uhr gingen sie immer ins Lehrerzimmer, wo ein kleiner Gaskocher war. Dort machten sie sich Kaffee. Sie hatten in einem Kasten eine Büchse Kondensmilch verborgen. Sie freuten sich über den heißen Kaffee, der das ganze Zimmer mit seinem Aroma füllte. Dazu aßen sie Roggenbrot und Wurst. Manchmal gingen sie auch ins Ruhezimmer der Lehrer, wo eine mit buntem Chintz bedeckte Couch stand und legten sich dort eine Weile hin. 74
Ihre letzte Arbeit war, die Papierkörbe zu leeren, und Katie fischte alle längeren Kreide- und Bleistiftstummel heraus. Sie bewahrte sie zu Hause in einer Schachtel auf. Später, als Francie schreiben konnte, fühlte sie sich sehr reich, weil sie so viel Kreidestückchen und Bleistiftendchen besaß. In der Morgendämmerung verließen sie die blitzsaubere und warme Schule. Sie gingen unter dem verblassenden Sternenhimmel heim. Sie kamen am Bäckerladen vorbei, wo es aus der Backstube im Keller herrlich nach frischgebackenen Brötchen duftete. Johnny ging hinunter und kaufte für einen Fünfer Rosinenbrötchen, frisch aus dem Ofen. Zu Hause machten sie sich ein Frühstück aus heißem Kaffee und frischgebackenen, süßen Rosinenbrötchen. Dann ging Johnny das Morgenblatt holen und las ihr mit laufenden Nebenbemerkungen die Neuigkeiten vor, während sie die Wohnung in Ordnung brachte. Zur Mittagszeit hatten sie ein richtiges Mittagessen, Braten und Nudeln oder dergleichen. Und dann schliefen sie, bis sie wieder an die Arbeit gehen mußten. Sie verdienten im Monat fünfzig Dollar, und das war damals für Leute ihres Standes viel. Sie brauchten keinen Mangel zu leiden und führten ein glückliches Leben voll kleiner Abenteuer. Und sie waren so jung und liebten einander so zärtlich. Nach ein paar Monaten entdeckte Katie zu ihrem Erstaunen, daß sie ein Kind in sich trug. Sie sagte Johnny, daß sie ›so und so‹ sei. Johnny war zuerst höchst erstaunt und ein wenig verwirrt. Dann wollte er nicht mehr, daß sie weiter in der Schule arbeite. Sie sagte ihm aber, daß sie schon seit einiger Zeit ›so und so‹ sei, sie habe es nur noch nicht sicher gewußt, und die Arbeit habe ihr gar nichts geschadet. Erst als sie ihn davon überzeugt hatte, daß es besser sei für sie, wenn sie arbeite, gab er nach. Sie arbeitete so lange weiter, bis sie sich nicht mehr bücken konnte, um unter den Schulbänken Staub zu wischen. Schließlich ging sie nur noch mit ihm, um ihn zu begleiten, und legte sich dann auf die buntgeblümte Couch, während Johnny die ganze Arbeit allein verrichtete. Zu Liebesspielen war sie nicht mehr aufgelegt. Um zwei Uhr morgens machte er ihr klobige Butterbrote und zu lange gekochten Kaffee. 75
Sie waren immer noch glücklich, obwohl Johnny sich mehr und mehr Sorgen machte. Gegen das Ende einer eiskalten Dezembernacht verspürte sie die ersten Wehen. Sie legte sich auf die Couch und verbiß den Schmerz, da sie Johnny nichts davon sagen wollte, bis er mit der Arbeit fertig war. Auf dem Heimweg wurden die Schmerzen stärker, und sie stöhnte. Nun wußte Johnny, daß das Kind kommen würde. Er legte sie zu Hause samt den Kleidern ins Bett und deckte sie warm zu. Er rannte zum nächsten Häuserblock, wo Mrs. Gindler, die Hebamme, wohnte, und bat sie, sofort zu kommen. Aber sie hatte es nicht eilig und ließ Johnny in qualvoller Ungeduld schier vergehen. Zuerst mußte sie Dutzende von Lockenwicklern aus dem Haar entfernen. Dann konnte sie ihre Zähne nicht finden, doch sie wollte um keinen Preis ohne Zähne ihr Amt ausüben. Johnny half ihr beim Suchen, und sie fanden sie schließlich an der Außenseite des Fensters in einem Glas Wasser. Das Wasser war gefroren, und sie mußten es erst auftauen, bevor sie die Zähne herausnehmen konnte. Darauf mußte die Hebamme ein Zaubermittel bereiten aus einem geweihten Palmzweig, den sie am Palmsonntag von der Kirche mit nach Hause genommen hatte, aus einer Medaille der Heiligen Jungfrau, einer blauen Vogelfeder, einer zerbrochenen Sackmesserklinge und irgendeinem Kräutchen. All diese Dinge band sie zusammen mit einem Stück schmutziger Korsettschnur, die von einer Frau stammte, die innerhalb von zehn Minuten Zwillinge geboren hatte. Dann sprengte sie das ganze Gebilde mit Weihwasser, von dem sie sagte, es komme direkt von einem Brunnen aus Jerusalem, von dem Jesus einmal getrunken haben soll. Sie erklärte dem verzweifelten Jungen, daß dieses Zaubermittel die Wehen sofort mildern und ihm ein schönes, kräftiges Kind verschaffen werde. Endlich ergriff sie ihre Krokodilledertasche, die man in der ganzen Nachbarschaft wohl kannte; den kleinen Kindern erzählte man, daß man sie ihrer Mutter in dieser Tasche gebracht habe. Katie wimmerte vor Qual, als sie kamen. Die Wohnung war voll von Frauen aus der Nachbarschaft, die beteten oder ihre eigenen Kindbetterfahrungen mitteilten. 76
»Als ich meinen Vincent bekam«, sagte die eine, »glaubte ich …« »Ich war noch schlanker als sie«, sagte eine andere, »als ich …« »Niemand glaubte mehr daran, daß ich mit dem Leben davonkomme«, erklärte stolz eine dritte, »aber …« Sie empfingen die Hebamme mit erleichterten Seufzern und verscheuchten Johnny. Er saß unten auf der Treppe vor dem Haus und zitterte jedesmal, wenn er Katie schreien hörte. Er war ganz verwirrt. Es war alles so plötzlich gekommen. Es war nun schon sieben Uhr. Er hörte sie immer wieder schreien, obwohl die Fenster verschlossen waren. Die Leute, die zu ihrer Arbeit gingen und das Schreien hinter dem Fenster hörten, blickten auf Johnny und machten dazu finstere Gesichter. Die Wehen dauerten den ganzen Tag weiter. Johnny konnte nichts tun, gar nichts. Gegen Abend hielt er es nicht mehr aus. Er lief zu seiner Mutter, um sich Trost zu holen. Als er ihr sagte, daß Katie ein Kind bekomme, brach sie in lautes Jammern aus. »Nun hat sie dich ganz in den Klauen«, klagte sie. »Nun wirst du nie mehr zu mir zurückkehren.« Sie war nicht zu trösten. Dann suchte Johnny seinen Bruder auf, der gerade einen Tanz vorführte. Er wartete, bis er fertig war und trank in der Zwischenzeit. Er vergaß ganz, daß er an die Arbeit gehen sollte. Als Georgie Feierabend hatte, gingen sie von einem Nachtlokal zum andern, tranken überall ein Glas oder zwei und erzählten, was Johnny durchmachen mußte. Die Leute hörten ihm mitfühlend zu, stifteten Johnny ein Glas und versicherten ihm, daß sie das auch einmal erlebt hätten. Im Morgengrauen gingen die beiden Brüder zu ihrer Mutter nach Hause, und Johnny verfiel in einen tiefen, von schlimmen Träumen gequälten Schlaf. Erst um neun Uhr wachte er mit einer unheilvollen Vorahnung auf. Zuerst fielen ihm Katies Leiden ein und dann die Schule. Er wusch sich, zog sich an und machte sich auf den Heimweg. Er kam an einem Früchtestand vorbei, auf dem Avocados ausgestellt lagen. Er kaufte zwei für Katie. Er hatte keine Ahnung, daß seine Frau nach vierundzwanzig Stunden mitten in der Nacht einem zarten kleinen Mädchen das Leben ge77
schenkt hatte. Es war mit einer Glückshaut geboren, was bedeutete, daß das Kind dazu bestimmt war, in seinem Leben einmal große Dinge zu vollbringen. Die Hebamme eignete sich die Glückshaut im verstohlenen an und verkaufte sie später einem Matrosen in der Marinewerft in Brooklyn für zwei Dollar. Ein Matrose, der eine Glückshaut auf sich trug, konnte nicht ertrinken. Dies war ein Aberglaube der Seeleute. Der Matrose trug sie in einem Flanellsäckchen um den Hals. Er hatte auch keine Ahnung, daß, während er in den Nachtkneipen herumsaß und trank und während er zu Hause bei der Mutter schlief, das Feuer in der Heizung des Schulhauses ausgegangen war und daß infolge der kalten Nacht die Wasserleitungen gesprungen waren und der Keller und das Parterre überschwemmt wurden. Als er nach Hause kam, fand er Katie im dunklen Schlafzimmer liegen. Neben ihr, auf Andys Kissen, lag das Kindchen. Die Wohnung war von den Nachbarsfrauen gewissenhaft gereinigt worden. Es roch ein wenig nach Karbolsäure und nach Kinderpuder. Die Hebamme hatte sich verabschiedet mit den Worten: »Das macht fünf Dollar, Ihr Mann weiß, wo ich zu Hause bin.« Sie ging, und Katie wandte sich gegen die Wand und versuchte, nicht zu weinen. Während der Nacht hatte sie sich eingeredet, daß Johnny in der Schule an der Arbeit sei. Sie hatte sogar gehofft, er werde in der Eßpause um zwei Uhr schnell nach Hause kommen. Nun war es schon heller Tag, und er sollte längst zu Hause sein. Vielleicht war er zu seiner Mutter gegangen, um nach der Nachtarbeit ein wenig zu schlafen. Sie beruhigte sich, indem sie sich einredete, daß Johnny sicher das Richtige tue und daß er ihr dann schon sagen werde, warum er so gehandelt hatte, und dann würde ihr leichter sein. Bald nachdem die Hebamme fort war, kam Evy herüber. Katie hatte einen Jungen aus der Nachbarschaft nach ihr ausgeschickt. Evy brachte etwas süße Butter und ein Päckchen Zwieback mit und machte Tee dazu. Es schmeckte Katie wunderbar. Evy betrachtete das Kindchen und fand, daß es nicht besonders kräftig aussah, aber sie sagte nichts zu Katie. Als Johnny nach Hause kam, wollte ihm Evy eine Predigt halten. 78
Aber als sie sah, wie bleich und verstört er aussah, und als sie sich überlegte, wie jung er eigentlich noch war – erst zwanzig Jahre alt –, hielt sie inne, küßte ihn auf die Wange, sagte ihm, er solle sich nicht sorgen, und machte ihm frischen Kaffee. Johnny schaute das Kind kaum an. Er umklammerte die Avocados, kniete vor Katies Bett nieder und weinte all seine Angst und sein Entsetzen bei ihr aus. Und Katie weinte mit ihm. Während der Nacht mußte er bei ihr bleiben. Sie wünschte, sie hätte das Kind in aller Stille zur Welt gebracht, irgendwo, und ihm nachher einfach sagen können, es sei alles in bester Ordnung. Sie hatte die Schmerzen gehabt; es war, als hätte sie lebendig in siedendem Öl gelegen und nicht heraus können; bei Gott, sie hatte die Schmerzen gehabt; war das nicht genug? Warum sollte er auch leiden müssen. Er war nicht dazu geschaffen, Schweres zu ertragen, aber sie war es. Es war erst zwei Stunden her, daß sie das Kind geboren hatte. Sie war noch so schwach, daß sie den Kopf nicht vom Kissen heben konnte. Und doch war sie es, die ihn trösten mußte, die ihm versicherte, er solle sich keine Sorgen machen, sie werde schon für ihn sorgen. Johnny beruhigte sich allmählich. Er sagte ihr, daß weiter nichts dabei wäre. Er wußte nun ja, daß viele andere Ehemänner dasselbe erlebt hatten. Und er war stolz, auch einer von ihnen zu sein. Er sagte zu Katie: »Jetzt weiß ich auch, wie es ist. Jetzt bin ich ein Mann.« Dann machte er viel Wesens um das Kindchen. Er schlug vor, man solle es Francie nennen, nach Andys Braut. Dann würde es den Namen tragen, den Francie Melaney nie tragen konnte: Francie Nolan. Vielleicht würde es sie trösten, dem Kindchen Patin zu sein. Er machte aus den Avocados mit Essig und Öl einen Salat und brachte ihn Katie. Sie war enttäuscht über den faden Geschmack. Doch Johnny zuliebe aß sie den Salat, weil er so nett für sie gesorgt hatte. Evy wurde auch genötigt zu kosten. Sie tat es und sagte, Tomaten wären ihr lieber. Als Johnny in der Küche Kaffee trank, kam ein Schuljunge mit einem Zettel, auf dem geschrieben stand, daß Johnny entlassen sei, weil er seine Arbeit vernachlässigt habe. Er solle vorbeikommen und sich seinen Lohn abholen. Und er solle nicht damit rechnen, ein gutes Zeugnis 79
zu bekommen. Johnny wurde bleich, als er den Zettel las. Er gab dem Schuljungen einen Fünfer und einen andern Zettel, auf den er schrieb, er werde vorbeikommen. Dann zerriß er das empfangene Schreiben und sagte Katie nichts davon. Johnny sprach mit seinem Prinzipal und versuchte, ihm die Situation zu erklären. Der Prinzipal sagte aber nur, wenn er doch gewußt habe, daß seine Frau ein Kind bekomme, hätte er seinen Posten erst recht gewissenhaft versehen sollen. Wenigstens erließ er ihm den Schadenersatz für die geborstenen Leitungen, und Johnny dankte ihm dafür. Der Prinzipal zahlte ihn aus der eigenen Tasche aus, nachdem Johnny die Quittung für den nächsten Wochenlohn unterschrieben und ausgehändigt hatte. Alles in allem tat er sein Bestes, denn er konnte ja die Situation nicht richtig erfassen. Johnny bezahlte die Hebamme und brachte dem Hausbesitzer die Miete für den nächsten Monat. Der Gedanke, daß nun ein Kind da war und daß Katie für einige Zeit zu schwach sein würde, um zu arbeiten, und daß sie nun ihre Stelle verloren hatten, bedrückte ihn zuerst. Dann tröstete er sich damit, daß ja wenigstens die Miete bezahlt war und daß sich sicher während des nächsten Monats irgend etwas zeigen werde. Am Nachmittag ging er zu Mary Rommely hinüber, um ihr die Geburt des Kindchens zu melden. Unterwegs kam er an der Gummifabrik vorbei, wo er Sissys Vorarbeiter bat, Sissy die Nachricht zu übermitteln und ihr zu sagen, sie solle nach Feierabend vorbeikommen. Der Vorarbeiter blinzelte Johnny zu, gab ihm einen freundlichen Rippenstoß und sagte: »Ich gratuliere dir, Mac.« Johnny strahlte und gab ihm ein Zehncentstück. »Kauf dir eine gute Zigarre und rauch sie für mich!« »Das will ich, Mac«, versprach der Vorarbeiter. Er schüttelte Johnnys Hand heftig und versprach, Sissy die Botschaft auszurichten. Mary Rommely weinte, als sie hörte, daß Katie ein kleines Mädchen hatte. »Die arme Kleine! Der arme Wurm!« jammerte sie. »Ach, sie wird ja auch ein wenig glücklich sein, aber vor allem wird sie leiden müssen und schwer arbeiten in unserer traurigen Welt, ach, ach!« 80
Johnny war dafür, daß man es auch Thomas Rommely mitteilte, aber Mary bat ihn, damit noch etwas zu warten. Thomas haßte Johnny Nolan, weil er ein Irländer war. Er haßte die Amerikaner, er haßte die Russen, aber die Irländer konnte er schon gar nicht ausstehen. Er hatte einen übertriebenen Rassenstolz, obwohl er seine eigene Rasse haßte, und er hatte die Theorie aufgestellt, daß die Kinder aus einer gemischten Ehe scheußliche Wesen würden. »Was käme dabei heraus, wenn man einen Kanarienvogel mit einer Krähe paarte?« argumentierte er. Nachdem Johnny seine Schwiegermutter bis zu seiner Wohnung begleitet hatte, ging er wieder aus, um Arbeit zu suchen. Katie war glücklich, ihre Mutter zu sehen. Sie verstand nun, was ihre eigene Mutter bei ihrer Geburt durchgemacht hatte. Und sie bewunderte sie dafür, daß sie sieben Kinder geboren und aufgezogen hatte und daß sie hatte zusehen müssen, wie drei von ihnen starben und wußte, daß die andern zu einem harten Leben verurteilt waren. Katie fürchtete, daß ihrer eigenen kleinen Tochter dasselbe Schicksal blühen werde, und der Kummer wollte sie fast erdrücken. »Ich weiß ja so wenig, Mutter«, sagte sie. »Ich kann sie nicht mehr lehren, als ich selber weiß. Und wir sind ja alle arm. Du bist arm, Mutter, Johnny und ich sind arm. Auch das Kindchen wird einmal arm sein. Wir können ja aus unserer Armut nicht heraus. Vielleicht war dieses vergangene Jahr unser bestes, weil wir noch so jung waren und ohne Kinder. Aber was wird aus uns, wenn wir einmal alt sind und nicht mehr arbeiten können? Alles, was wir jetzt haben, ist, daß wir jung und kräftig zum Arbeiten sind, aber das wird mit den Jahren nachlassen.« Da wurde ihr zum erstenmal etwas klar. Ich kann schon arbeiten, dachte sie. Aber auf Johnny kann ich mich nicht verlassen. Ich werde immer für ihn sorgen müssen. O Gott, schick mir lieber keine Kinder mehr, denn dann werde ich für Johnny keine Zeit mehr haben! Und ich muß doch für Johnny sorgen können. Er kann es ja nicht selbst tun. Er ist ja so hilflos! Ihre Mutter unterbrach ihren Gedankengang. Sie sagte: 81
»Und was waren wir in der alten Heimat? Nichts. Wir waren Bauern. Und wir hungerten. Dann kamen wir herüber. Der einzige Vorteil davon war, daß dein Vater nicht zur Armee mußte. Aber alles andere war nur schwerer. Ich habe Heimweh nach der alten Heimat, nach den Bäumen und den weiten Feldern, nach der alten Lebensweise und den alten Freunden.« »Warum bist du denn nach Amerika gekommen, wenn hier doch nichts Besseres zu erwarten war?« »Um meiner Kinder willen, weil ich wollte, daß sie in einem freien Land geboren werden.« »Aber aus deinen Kindern ist auch nicht viel geworden, Mutter«, Katie lächelte wehmütig. »Aber hier gibt es etwas, was wir im alten Vaterland nicht hatten. Trotz all dem Fremden, Schweren, das es hier gibt, ist hier – die Hoffnung. Bei uns in Österreich kann ein Mann nicht mehr werden als sein Vater, und wenn er noch so schwer arbeitet. Wenn sein Vater ein Schreiner war, dann wird er auch wieder Schreiner, wenn es gut geht, aber ein Schulmeister oder ein Priester kann er nicht werden. Er kann sich wohl hinaufarbeiten, aber nicht über den Stand seines Vaters hinaus. In der alten Heimat ist ein Mann an die Vergangenheit gebunden. Hier aber gehört er der Zukunft. In diesem Land kann aus ihm etwas Großes werden, wenn er das Zeug dazu hat und ehrlich arbeitet.« »Aber warum ist denn aus uns Kindern nicht etwas Besseres geworden, als was ihr wart?« Mary Rommely seufzte. »Das ist wahrscheinlich meine Schuld. Das kommt daher, daß ich selbst so unwissend war, denn meine Familie hat seit Jahrhunderten auf einem Stück Land gearbeitet, und sie hatten immer einen Gutsherrn über sich – es war nicht einmal das eigene Land. Als ich hierherkam, wußte ich noch nicht, daß hier alle Kinder in die Schule gehen dürfen, und ich konnte selbst nichts, das ich sie hätte lehren können. Sissy ging nicht zur Schule, sie hatte also keine Chance, es weiterzubringen als ich. Aber die drei andern … du bist in die Schule gegangen.« 82
»Ich habe nur die ersten sechs Schuljahre gemacht, wenn man das Bildung nennt …« »Und dein Yohnny«, sie konnte das J nicht aussprechen, »hat die Schule auch so lange besucht. Verstehst du?« Ihre Stimme zitterte vor Begeisterung. »Es fängt schon an – das Aufwärtsgehen.« Sie hob das Kindchen hoch in die Luft. »Dieses Kind stammt von Eltern ab, die lesen und schreiben können«, sagte sie staunend, »für mich ist das ein großes Wunder.« »Mutter, ich bin noch jung. Ich bin erst achtzehn Jahre alt. Ich bin stark; ich will gerne schwer arbeiten, Mutter. Aber ich will nicht, daß dieses Kind auch einmal so leben muß wie ich. Was kann ich tun, Mutter, um ihm ein besseres Leben zu verschaffen?« »Das Geheimnis liegt im Lesen und Schreiben. Du kannst lesen. Nun mußt du deinem Kind jeden Tag eine Seite aus einem guten Buch vorlesen, und zwar so lange, bis das Kind selbst lesen kann. Und dann muß es selbst jeden Tag eine Seite lesen. Das ist das ganze Geheimnis.« »Gut, ich will lesen«, versprach Katie. »Aber was für ein gutes Buch gibt es?« »Es gibt zwei sehr gute Bücher. Eines davon ist Shakespeare. Ich habe sagen hören, daß in diesem Buch alle Wunder des Lebens enthalten seien, alles, was es an Schönheit gibt, und alle Weisheit des Lebens soll in diesem Buch stehen. Man sagt, es seien lauter Stücke, die man auf der Bühne spielen kann. Ich habe noch nie jemanden kennengelernt, der diese Herrlichkeit gesehen hat, aber ich habe unseren Gutsherrn zu Hause einmal sagen hören, daß man viele Stellen aus diesem Buch singen könne wie Lieder.« »Ist Shakespeare ein deutsches Buch?« »Nein, unser Gutsherr hat gesagt, es sei englisch.« »Und das andere große Buch?« »Das ist die Bibel, die die Protestanten haben.« »Aber wir Katholiken haben doch auch eine Bibel?« Mary blickte sich verstohlen im Zimmer um, ob niemand ihr zuhöre. »Eine gute Katholikin sollte so etwas vielleicht nicht sagen, aber ich 83
glaube, daß die protestantische Bibel schöner ist und daß mehr von der alten Geschichte der Menschen darin steht als in der katholischen. Eine protestantische Freundin, die mir sehr lieb war, hat mir einmal aus ihrer Bibel vorgelesen, und damals schien es mir so.« »Also die protestantische Bibel und das Buch von Shakespeare. Jeden Tag mußt du deinem Kind aus jedem der beiden Bücher eine Seite vorlesen, auch wenn du die Worte gar nicht richtig aussprechen kannst und sie nicht verstehst. Du mußt das tun, damit das Kind weiß, daß es jenseits der Mietskasernen von Williamsburg noch etwas Größeres gibt.« »Die protestantische Bibel und Shakespeare.« »Und dann mußt du deinem Kind die Legenden erzählen, die ich dir erzählt habe, wie ich sie von meiner Mutter und Großmutter im alten Lande erzählen hörte. Und die Märchen aus der alten Heimat mußt du ihm auch erzählen, von den Feen, den Elfen, den Zwergen und Kobolden, von den Riesen und von Rübezahl. Du mußt ihm von dem bösen Geist erzählen, der die Familie deines Vaters verfolgte, und vom bösen Blick, den eine Hexe auf deine Tante geworfen hat. Und das Kind soll an Gott, den Allmächtigen, und an Christus, seinen eingeborenen Sohn, glauben.« Sie bekreuzigte sich. »Oh, und du darfst das Christkind und den Sankt Niklaus nicht vergessen. Das Kind muß in seinen ersten Jugendjahren an sie glauben.« »Mutter, ich weiß doch, daß es keine Geister und keine Feen gibt. Ich kann doch das Kind keine solchen Lügen lehren.« Mary wurde fast zornig. »Wie kannst du das wissen?« »Ich weiß doch, daß es keinen Sankt Niklaus gibt.« »Aber du mußt dem Kind trotzdem von ihm erzählen.« »Warum denn, wenn ich doch selbst nicht daran glaube?« »Weil das Kind Nahrung haben muß für seine Phantasie, es muß eine heimliche Welt haben, in der Wesen leben, die man in der Wirklichkeit nie sieht. Es muß an diese Dinge glauben. Es muß diese unwirkliche Welt haben, um sich in sie zurückzuziehen, wenn die Wirklichkeit ihm zu hart und zu rauh wird. Ich selbst, in meinen alten Tagen, brauche dies noch. Ich muß mir die Lebensgeschichten der Hei84
ligen vorstellen können und die großen Wunder, die auf dieser armen Erde geschehen sind.« »Aber das Kind wird aufwachsen und entdecken, daß das, was ich ihm erzählt habe, nicht wahr ist. Dann wird es enttäuscht sein.« »Das heißt die Wahrheit begreifen. Es ist etwas wert, wenn man die Wahrheit aus sich selbst erkennen kann. Zuerst von ganzem Herzen glauben und später nicht mehr glauben, ist auch gut. Die Gemütsbewegungen werden stärker. Wenn die Frau vom Leben und von Menschen enttäuscht ist, dann wird sie auch Enttäuschungen überwinden lernen, und es wird ihr nicht zu schlecht gehen. Lehrst du dein Kind, so vergiß nie, daß Leiden sinnvoll ist. Es macht den Menschen charaktervoll und reich.« »Wenn das so ist«, sagte Katie wehmütig, »dann sind wir Rommelys alle reich.« »Ja, das sind wir. Wir leiden, unser Weg ist hart. Und doch sind wir bevorzugte Menschen, wir wissen mehr über das Leben als viele andere. Ich habe dir alles erzählt, was ich vom Leben gelernt habe, auch wenn ich nicht lesen und schreiben kann, und du mußt all dies deinem Kind auch sagen und hinzufügen, was du in deinem Leben lernst.« »Und was soll ich mein Kind noch lehren?« »Das Kind soll an den Himmel glauben. Nicht an einen Himmel, der voll fliegender Engel ist und wo Gott auf einem Thron sitzt. Aber an einen, in dem sich alle Wünsche erfüllen und von dem man träumen kann. Das ist wohl eine besondere Art Religion.« Mary formte ihre Gedanken mühsam und drückte sie halb in deutscher, halb in englischer Sprache aus. »Und dann mußt du dafür sorgen, daß du einmal ein Stückchen eigenen Boden haben wirst, das dein Kind oder deine Kinder erben können. Und ein eigenes Haus darauf.« Katie lachte. »Ich, ein Stück Boden! Und ein Haus? Wir müssen froh sein, wenn wir hier die Miete bezahlen können.« »Und doch mußt du es tun«, sagte Mary entschlossen. »Meine Leute haben jahrhundertelang fremdes Land bearbeitet. So war es bei uns in der alten Heimat. Hier tun wir besser daran, in einer Fabrik zu ar85
beiten. So gehört wenigstens ein Teil des Tages uns und nicht unserem Meister. Das ist gut so. Aber noch besser ist es, wenn man ein eigenes Stückchen Land hat, das man seinen Kindern vererben kann … Das wird uns zum Antlitz der Erde erheben.« »Aber wie sollen wir es anfangen? Johnny und ich arbeiten beide, aber wir verdienen ja so wenig! Es reicht gerade für die Miete und die Versicherung und das Essen, doch es bleibt nie etwas übrig. Wie sollten wir da noch Land kaufen können?« »Du mußt eine leere Kondensmilchbüchse nehmen und sie gut auswaschen.« »Eine Büchse?« »Ja, und dann nimmst du den Deckel weg und schneidest den oberen Teil der Büchse in Streifen. Jeder Streifen soll so breit sein.« Sie gab mit ihren Fingern eine Länge von fünf Zentimetern an. »Dann biegst du die Streifen zurück, so daß die Büchse wie ein dicker Stern aussieht. Du machst in den Boden einen Spalt und nagelst die Büchse im dunkelsten Winkel deines Wandschrankes fest, indem du durch jeden der Streifen einen Nagel hämmerst. Und dann tust du jeden Tag fünf Cent hinein, und in drei Jahren hast du ein kleines Vermögen. Fünfzig Dollar. Dann nimmst du das Geld und kaufst dir einen Bauplatz auf dem Land. Du mußt aber einen Schein verlangen, auf dem geschrieben steht, daß er dir gehört. So wirst du zum Grundbesitzer. Und wenn man einmal ein Stück Land sein eigen nennt, dann kann man nicht mehr in die Sklaverei zurückfallen.« »Fünf Cent täglich. Das ist nicht viel. Aber wo sollen wir es hernehmen? Jetzt, da wir noch ein Mäulchen zu füttern haben …« »Das machst du so: Du gehst zum Gemüsehändler und fragst, wieviel ein Büschel Rüben kostet. Er wird sagen drei Cent. Dann schaust du dich im Laden um, bis du ein anderes Büschel siehst, vielleicht nicht so frisch und nicht ganz so groß. Und du fragst ihn: Kann ich dieses welke Büschel für zwei Cent haben? Du mußt es nur entschlossen sagen und dann bekommst du's. Damit hast du einen Penny erspart, den du in die Sternenbüchse legen kannst. Im Winter machst du's so: Du hast vielleicht einen Scheffel Kohle gekauft für fünfundzwanzig Cent. 86
Es ist kalt. Du möchtest gern ein Feuer anzünden im Ofen. Aber warte! Warte nur eine Stunde lang! Friere eine Stunde lang! Leg ein Tuch um deine Schultern und sag dir: ich friere, damit ich ein Stück Land kaufen kann. In dieser Stunde ersparst du dir für drei Cent Kohle. Die drei Cent tust du in die Kasse. Und wenn du nachts allein bist, zünde die Lampe nicht an! Du kannst eine Zeitlang im Dunkeln sitzen und träumen. Du kannst ausrechnen, wieviel Öl du dir damit ersparst, und kannst das Geld in die Sparbüchse tun. So wird das Geld wachsen. Und eines Tages wirst du die fünfzig Dollar beisammen haben, und irgendwo auf dieser großen Insel ist gewiß ein Stück Boden, das du kaufen kannst.« »Aber führt denn dieses Sparen zu etwas?« »Ich schwöre dir bei der Heiligen Jungfrau, es ist so.« »Warum hast du denn nie Geld gespart, um Land zu kaufen?« »Ich habe gespart. Kaum waren wir in Amerika angekommen, fing ich an mit meiner Sternenbank. Ich brauchte zehn Jahre, bis ich die fünfzig Dollar beisammen hatte. Ich nahm das Geld und suchte einen Mann auf in unserer Nachbarschaft, von dem ich gehört hatte, daß er den Leuten auf ehrliche Art Land vermittle. Er zeigte mir ein schönes Stück Erde und sagte in meiner eigenen Sprache zu mir: ›Dies gehört dir.‹ Er nahm mein Geld und gab mir ein Stück Papier. Ich konnte nicht lesen. Später sah ich, wie jemand anders auf meinem Bauplatz ein Haus baute. Ich zeigte den Leuten mein Papier. Sie lachten mitleidig. Das Land hatte gar nicht dem Mann gehört, der es mir verkauft hatte. Es war ein Schwindel.« »Ein Schwindel?« »Ja, Leute wie wir, als Grünschnäbel aus der Alten Welt bekannt, die nicht einmal lesen konnten, wurden oft auf diese Weise betrogen. Aber dir wird das nicht passieren. Du kannst lesen. Du wirst zuerst auf dem Papier lesen, daß das Land dir gehört, und dann erst wirst du das Geld geben.« »Und nachher hast du's nicht mehr probiert, Mutter?« »Doch! Ich habe nochmals von vorne angefangen. Das zweitemal ging es noch langsamer, denn wir hatten so viele Kinder. Ich sparte, 87
soviel ich konnte, aber als wir umzogen, fand Vater die Büchse und nahm das Geld. Er wollte aber kein Land kaufen damit. Er hätte immer so gern Hühner gehalten. So ging er und kaufte einen Hahn und viele Hennen, die er im Hof unterbrachte.« »Ich glaube, ich kann mich noch an diese Hühner erinnern, vor langer, langer Zeit.« »Er sagte, er werde die Eier in der Nachbarschaft teuer verkaufen können. Ach, was für merkwürdige Träume die Männer doch haben! Schon in der ersten Nacht kam eine Menge ausgehungerter Katzen über den Zaun und fraß einen Teil der Hühner. In der zweiten Nacht kletterten Italiener hinüber und stahlen die meisten. Am dritten Tag kam ein Polizist und sagte, es sei nicht erlaubt, in einem Brooklynhof Hühner zu halten. Wir mußten ihm fünf Dollar geben, damit er Vater nicht mitnahm auf die Polizeistation. Vater verkaufte die paar übriggebliebenen Hühner und kaufte sich Kanarienvögel, die er in der Wohnung halten konnte. So verlor ich mein Erspartes zum zweitenmal. Aber ich habe wieder angefangen. Vielleicht werde ich einmal …« Sie saß eine Weile schweigend da. Dann stand sie plötzlich auf und legte sich das Schultertuch um. »Es dunkelt schon. Ich muß gehen, denn Vater wird bald von der Arbeit kommen. Die Heilige Jungfrau behüte dich und dein Kind!« Dann kam Sissy, direkt von der Fabrik. Sie hatte sich nicht einmal die Zeit genommen, den grauen Gummistaub aus ihrer Haarschleife zu bürsten. Sie geriet in helle Begeisterung beim Anblick des Kindchens und fand, daß es das schönste Kind von der Welt war. Johnny schaute skeptisch drein. Für ihn sah das Kindchen bläulichrot und runzelig aus, und er hatte das Gefühl, daß es nicht am besten dran sei. Sissy badete das Kindchen, obwohl es schon vorher einige Male gebadet worden war. Dann eilte sie hinüber in den Delikatessenladen und überredete den Besitzer dazu, ihr bis zum Samstag Kredit zu geben. Dann kaufte sie für zwei Dollar Delikatessen: aufgeschnittene Zunge, geräucherten Salm, elfenbeinweiße Schnitten von geräuchertem Störfisch und knusprige Brötchen. Dann kaufte sie einen Sack Holzkohle und machte ein tolles Feuer damit. Sie brachte Katie das Festessen 88
auf einem Servierbrett ins Zimmer. Sie selbst aß mit Johnny in der Küche. Die Wohnung war erfüllt von Wärme, vom Duft der guten Speisen, des Kinderpuders und dem stärkeren Duft, der von Sissys Riechbeutel ausging, den sie in einem imitierten Silberfiligranherz an einer Kette um den Hals trug. Johnny betrachtete Sissy, während er eine Abendzigarre rauchte. Er fragte sich, nach welchen Gesichtspunkten die Leute wohl urteilen, wenn sie ihren Mitmenschen das Etikett ›gut‹ oder ›schlecht‹ umhingen. Sissy zum Beispiel. Sie war schlecht. Aber sie war auch gut. Sie war nur schlecht, soweit es um Männer ging. Aber sie war gut, weil überall da, wo sie war, Leben war, gutes, zärtliches, übersprudelndes, humorvolles Leben. Er hoffte, daß seine neugeborene Tochter einmal ein wenig ähnlich sein werde wie Sissy. Als Sissy verkündete, sie werde über Nacht hierbleiben, sah Katie besorgt drein und sagte, sie hätten ja nur das eine Bett, das sie und Johnny miteinander teilten. Sissy erklärte, sie habe nichts dagegen, bei Johnny zu schlafen, wenn er ihr für ein so schönes Kind garantierte, wie es Francie sei. Katie zog die Brauen zusammen. Sie wußte natürlich, daß Sissy nur scherzte. Und doch war etwas Wahres hinter Sissys Worten. Sie wollte Sissy eben eine Moralpredigt halten, aber Johnny machte dem Gespräch ein Ende, indem er sagte, er müsse ja ins Schulhaus an die Arbeit gehen. Er brachte es nicht übers Herz, Katie zu sagen, daß sie durch seine Schuld ihre Stelle verloren hatten. Er suchte seinen Bruder Georgie auf, der in dieser Nacht arbeitete. Glücklicherweise konnten sie gerade jemanden gebrauchen zum Servieren und für Gesangseinlagen. Johnny wurde engagiert für die Nacht, und man versprach ihm, ihn auch nächste Woche wieder anzustellen. So kam es, daß er wieder in seinen alten Beruf eines Singkellners hineinrutschte, und von diesem Tag an tat er nie mehr etwas anderes. Sissy legte sich zu Katie ins Bett, und sie plauderten fast die ganze Nacht. Katie erzählte Sissy von ihren Sorgen um Johnny und wie sie sich vor der Zukunft fürchte. Dann sprachen sie von Mary Rommely und was für eine gute Mutter sie war für ihre Töchter. Darauf ka89
men sie auf Thomas Rommely zu sprechen. Sissy nannte ihn eine alten Lümmel, und Katie meinte, Sissy sollte nicht so respektlos reden. Aber Sissy sagte nur: »Natürlich ist er das«, und Katie lachte. Katie erzählte Sissy auch von der Unterhaltung, die sie mit ihrer Mutter am selben Abend gehabt hatte. Sissy war von der Idee der Sparbüchse so begeistert, daß sie sofort aufstand, eine Kondensmilchbüchse in eine Schüssel entleerte, sie reinigte und den Stern hineinschnitt, obwohl es mitten in der Nacht war. Sie versuchte, in den engen, überfüllten Wandschrank zu kriechen, aber ihr weites Nachthemd blieb hängen. Sie zog es aus und kroch splitternackt in den Kasten. Ihr leuchtendes Hinterteil hatte sie Katie zugekehrt, während sie kniend versuchte, die Sparbüchse in den Kasten zu nageln. Katie bekam einen solchen Lachanfall, daß sie fürchtete, es könnte ihr schaden. Das laute Hämmern um drei Uhr nachts weckte alle andern Mieter. Sie klopften von unten an die Decke und von oben auf den Boden. Katie bekam nochmals einen Lachanfall, weil Sissy aus dem Wandkasten herausmurmelte, das sei doch allerhand von diesen Mietern, einen solchen Lärm zu machen, wenn sie doch wußten, daß eine Kindbetterin im Hause war. »Wie soll man da noch schlafen können?« fragte sie und gab dem letzten Nagel einen wuchtigen Schlag. Als die Büchse an Ort und Stelle war, zog sie das Nachthemd wieder über den Kopf und legte den Grund für den Landbesitz, indem sie ein Fünfcentstück hineinsteckte. Darauf kroch sie wieder zu Katie ins Bett. Sie hörte begeistert zu, als Katie ihr von den Büchern erzählte. Sie versprach, ihr die beiden Bücher zu verschaffen. Sie sollten das Taufgeschenk sein für das Kindchen. Francie verbrachte die erste Nacht ihres Lebens behaglich schlafend zwischen ihrer Mutter und Sissy. Am nächsten Tage machte sich Sissy auf die Suche nach den Büchern. Sie ging in eine öffentliche Bibliothek und fragte den Bibliothekar, wie sie zu einem Shakespeare und einer Bibel kommen könnte, zum Behalten. Der Bibliothekar konnte ihr, was die Bibel betraf, nicht helfen, aber er hatte auf einem Büchergestell einen alten Shakespeare, der ausgesondert werden sollte. Den konnte Sissy haben. Sie kaufte ihn. Es 90
war ein zerlesener alter Band, der alle Dramen und Sonette enthielt. Er enthielt auch ausführliche Fußnoten und Erklärungen. Ganz vorn war Shakespeares Biographie mit einem Bild, und zu jedem Stück gab es ein paar Stahlstiche, die das Bühnenbild zeigten. Der Druck war sehr klein, jede Seite enthielt zwei Kolonnen, und das Papier war sehr dünn. Sissy bezahlte dafür fünfundzwanzig Cent. Die Bibel, die zunächst so schwer erhältlich schien, war letzten Endes billiger. Das heißt, sie kostete Sissy überhaupt nichts. Sie trug auf dem Einband den Namen ›Giddon‹. Ein paar Tage nachdem Sissy den Shakespeare gekauft hatte, erwachte sie an der Seite ihres derzeitigen Liebhabers, mit dem sie eine Nacht in einem stillen, kleinen Familienhotel verbracht hatte. »John« (sie nannte ihn John, obwohl sein wirklicher Name Charlie war), »was ist das für ein Buch auf dem Toilettentisch?« »Eine Bibel.« »Eine protestantische Bibel?« »Jawohl.« »Dann laß ich sie mitgehen.« »Tu das nur! Dazu hat man sie hingelegt.« »Nein!« »Natürlich!« »Spaß beiseite!« »Die Leute stehlen sie, lesen sie, bekehren sich und bereuen es. Sie bringen die Bibel zurück und kaufen sich eine neue, so daß andere die alte nochmals klauen können, die sie wiederum lesen, worauf sie sich ebenfalls bekehren. Auf diese Art verliert die Firma, die die Bücher aussetzt, nichts.« »Nun, diese werden sie nun einmal nicht zurückbekommen.« Sie wickelte sie in ein Handtuch, das Eigentum des Hotels war und das sie ebenfalls stibitzte. »Aber hör mal!« rief John in plötzlichem Schrecken. »Nicht daß du sie etwa liest und dich bekehrst! Sonst müßte ich ja zu meiner Alten zurück. Versprich mir, daß du dich nicht bekehren wirst!« »Das verspreche ich dir!« 91
»Wie kannst du aber wissen, daß du's nicht tust?« »Ich höre nie auf das, was mir die Leute sagen, und selbst lesen kann ich ja nicht. Wenn ich wissen will, was recht ist und was nicht, dann brauche ich nur mein Gefühl zu fragen. Wenn ich ein ungutes Gefühl habe, dann ist es falsch. Wenn ich ein gutes Gefühl habe, ist es richtig. Und ich habe ein gutes Gefühl, wenn ich bei dir bin.« Sie schlang ihren Arm um seine Brust und küßte ihn schmatzend aufs Ohr. »Ich möchte dich so gerne heiraten, Sissy.« »Ich dich auch, John. Ich glaube, wir wären glücklich miteinander. Wenigstens eine Zeitlang«, fügte sie ehrlich hinzu. »Aber ich bin verheiratet, und das ist der Nachteil der katholischen Religion: keine Scheidung.« »Ich halte sowieso nichts von Scheidung«, sagte Sissy, die sich immer wieder verheiratete, ohne sich vorher scheiden zu lassen. »Weißt du was, Sissy?« »Nein, was?« »Du hast ein goldenes Herz.« »Im Ernst.« »Ja, im Ernst.« Er sah zu, wie sie ein rotseidenes Strumpfband an ihrem Baumwollstrumpf befestigte, den sie sich eben über ihr wohlgeformtes Bein gezogen hatte. »Gib mir einen Kuß!« sagte er plötzlich. Und sie ließ das Strumpfband los. »Haben wir Zeit?« fragte sie umsichtig. Dabei zog sie ihren Strumpf wieder aus. Und so kam Francie Nolan zu ihrer Bibliothek.
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rancie war kein kräftiges Kind. Sie war schmächtig und wollte nicht recht gedeihen. Katie stillte sie mit Ausdauer, obwohl ihr die Nachbarsfrauen sagten, ihre Milch sei nicht gut für das Kind. Aber Francie mußte bald genug aus der Flasche trinken. Denn als Francie drei Monate alt war, versiegte Katies Milch plötzlich. Katie machte sich Sorgen. Sie zog ihre Mutter zu Rate. Mary Rommely schaute sie an, seufzte und sagte nichts. Dann ging Katie zur Hebamme. Die Hebamme stellte ihr eine merkwürdige Frage. »Wo kaufen Sie Ihren Fisch am Freitag?« »Auf dem Paddy-Markt, warum?« »Und haben Sie dort nicht zufällig eine alte Frau gesehen, die immer für ihre Katze einen Dorschkopf kauft?« »Ja, die sehe ich jede Woche, warum?« »Sie war es! Sie hat Ihre Milch ausgetrocknet.« »Ach, nein!« »Sie hat den bösen Blick auf Sie geworfen.« »Aber warum?« »Eifersüchtig ist sie, weil Sie mit Ihrem hübschen, jungen Irländer so glücklich sind.« »Eifersüchtig? Eine so alte Frau?« »Eine Hexe ist sie. Ich habe sie schon in der alten Heimat gekannt. Und ist sie nicht auf demselben Schiff herübergekommen wie ich? Als ich noch jung war, war sie in einen wilden Jungen aus der Grafschaft Kerry verliebt. Und dann kam sie in andere Umstände, und er wollte nicht zum Priester gehen mit ihr, als ihr alter Vater ihm auf die Spur kam. Sie machte sich mitten in der Nacht davon und ging auf ein Amerikaschiff. Ihr Kindlein starb bei der Geburt. Da verkaufte sie ihre See93
le dem Teufel, und der gab ihr die Macht, die Milch der Kühe, der Ziegen und der glücklich verheirateten jungen Frauen auszutrocknen.« »Ich erinnere mich jetzt, daß sie mich merkwürdig anschaute.« »Ja, sie hat sicher den bösen Blick auf Sie geworfen.« »Aber was kann ich tun, damit meine Milch wiederkommt?« »Ich will Ihnen sagen, was Sie tun müssen. Warten Sie bis zum Vollmond! Und dann machen Sie ein kleines Abbild aus einer Locke von Ihrem Kopf, einem abgeschnittenen Fingernagel und einem Restchen Stoff, das Sie mit Weihwasser besprengt haben. Taufen Sie es Nelly Grogan, denn dies ist der Name der Hexe, und durchbohren Sie es mit drei rostigen Stecknadeln. Das wird den Zauber brechen, den sie auf Sie geworfen hat, und sicher wird Ihre Milch wieder fließen wie der Shannon-Fluß. Das macht einen Vierteldollar.« Katie bezahlte sie. Als der Mond voll war, machte sie die kleine Puppe und durchbohrte sie und durchstach sie. Aber die Milch kam nicht. Francie kränkelte bei der künstlichen Ernährung. In ihrer Verzweiflung holte sich Katie bei Sissy Rat. Sissy hörte sich die Hexengeschichte an. »Ach, geh mit deiner Hexengeschichte!« sagte sie zornig. »Johnny hat das gemacht, aber nicht mit einem bösen Blick.« Und so wußte Katie, daß sie abermals ein Kind erwartete. Sie erzählte es Johnny, und es bedrückte ihn sehr. Es war ihm ziemlich wohl gewesen bei seiner alten Beschäftigung als Singkellner, und er hatte ordentlich viel gearbeitet, war solid gewesen und hatte den größten Teil seines Lohnes nach Hause gebracht. Die Nachricht, daß ein zweites Kind unterwegs sei, gab ihm das Gefühl, als habe man ihn in einer Falle gefangen. Er war erst zwanzig und Katie war achtzehn. Sie waren beide noch so jung und doch schon so belastet. Nach dieser Nachricht ging er aus und betrank sich. Nach einiger Zeit kam die Hebamme vorbei, um zu fragen, ob das Zaubermittel etwas genützt habe. Katie sagte ihr, daß die Hexe nicht schuld gewesen sei, denn sie sei wieder in Erwartung. Da hob die Hebamme ihren Rock und grub ihre Hand in eine tiefe Tasche im Unterrock. Sie brachte eine Flasche mit einer häßlichen dunkelbraunen Flüssigkeit hervor. 94
»Ach, du liebe Zeit, da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen«, sagte sie. »Eine kräftige Dosis von diesem Saft am Morgen und am Abend während drei Tagen, und Sie werden wieder in Ordnung sein.« Aber Katie schüttelte den Kopf. »Sie werden sich doch nicht vor dem Priester fürchten?« »Nein, aber ich möchte nichts töten.« »Das ist noch nicht getötet. Es zählt nicht, bis Sie seine Bewegungen spüren. Sie haben doch davon noch nichts gespürt?« »Nein.« »Da!« Sie schlug triumphierend mit der Faust auf den Tisch. »Danke, ich brauche sie nicht.« »Aber seien Sie doch nicht so dumm! Sie sind ja noch so jung und so zart! Und Sie haben schon Mühe genug mit dem kleinen Wurm da. Ihr Mann ist wohl ein hübscher Junge, aber er ist auch nicht der Solideste.« »Das geht niemanden etwas an, wie mein Mann ist, und das Kind ist mir keine Last.« »Ich habe Ihnen ja nur helfen wollen.« »Vielen Dank und auf Wiedersehen!« Die Hebamme verstaute die Flasche wieder in ihrer Unterrocktasche und erhob sich, um zu gehen. »Wenn Ihre Zeit gekommen ist, dann wissen Sie ja, wo ich wohne.« An der Tür wandte sie sich nochmals um. »Wenn Sie viel treppauf und treppab laufen, werden Sie vielleicht eine Fehlgeburt haben.« In jenem Herbst saß Katie auf der Freitreppe vor dem Haus in der trügerischen Wärme des Brooklyner Altweibersommers und hielt ihr schwächliches Kind vor den Leib, der bald das zweite Kind gebären sollte. Weichherzige Nachbarsfrauen standen still, um Francie zu beklagen. »Dieses Kind wird nicht alt werden«, sagten sie zu Katie. »Es hat keine gute Farbe. Wenn der gute Gott es zurücknimmt, ist es sicher für alle das beste. In einer armen Familie kann man keine schwächlichen Kinder brauchen. Es gibt auf dieser Welt ohnehin zu viele Kinder, und für die Schwachen ist kein Platz mehr.« 95
»Das dürft ihr nicht sagen.« Katie drückte das kleine Mädchen fest an sich. »Sterben ist nie gut. Wer wünscht zu sterben? Alles bemüht sich, zu leben. Schaut euch nur einmal den Baum dort drüben an, der aus dem Kellerloch herauswächst. Er bekommt keine Sonne und höchstens ein wenig Regenwasser. Und er wächst auf schlechtem Grund. Und er ist gerade deshalb stark, weil er so um sein Leben kämpfen muß. Meine Kinder werden auf dieselbe Weise stark sein.« »Ach, diesen häßlichen Baum hätte man schon längst fällen sollen.« »Wenn es nur einen Baum von dieser Sorte gäbe auf der ganzen Welt, dann würdet ihr ihn schön finden«, sagte Katie, »aber weil ihrer so viele sind, könnt ihr einfach nicht sehen, wie schön er in Wirklichkeit ist. Schaut diese Kinder an!« Sie zeigte auf ein Rudel schmutziger kleiner Kinder, die im Rinnstein spielten. »Ihr könntet irgendeins von ihnen herausholen und es sauber waschen und schön kleiden und es in ein vornehmes Haus versetzen, und dann würdet ihr es schön finden.« »Du hast großartige Ideen, Katie, aber trotzdem ein sehr kränkliches Kind«, antworteten sie ihr. »Aber dieses Kind wird nicht sterben«, sagte Katie energisch, »ich will, daß es lebt.« Und Francie lebte, wimmernd und speiend, ihr erstes Lebensjahr. Eine Woche nach Francies erstem Geburtstag kam ihr Bruder zur Welt. Diesmal war Katie nicht bei der Arbeit, als die Wehen begannen. Diesmal biß sie die Zähne zusammen und schrie nicht mehr in ihren Schmerzen. Während des vergangenen Jahres hatte sie gelernt, tapfer und selbständig zu sein. Als man ihr dann den kräftigen, gesunden, vor Entrüstung über die Plagen der Geburt heulenden Jungen an die Brust legte, empfand sie für ihn eine leidenschaftliche Zärtlichkeit. Das andere Kind, Francie, begann in seiner Wiege zu weinen, als es den Bruder schreien hörte. Als Katie das Kind, das sie vor einem Jahr geboren hatte, mit dem schönen, neugeborenen Sohn verglich, fühlte sie einen Augenblick lang eine gelinde Verachtung dafür. Aber dann schämte sie sich sofort dieses Gefühls. Was konnte die arme Francie dafür? Sie 96
wußte gleich, daß sie sich in acht nehmen mußte, es Francie nie spüren zu lassen, daß sie diesen kräftigen Jungen ihr immer vorziehen würde. »Es ist nicht recht, das eine Kind mehr zu lieben als das andere«, dachte sie, »aber es ist nun einmal so, und ich kann nichts dagegen tun.« Sissy bat sie, den Jungen auf Johnnys Namen zu taufen, aber Katie bestand darauf, daß der Junge ein Recht auf einen eigenen Namen habe. Sissy geriet darüber in Zorn und machte Katie Vorwürfe. Katie ihrerseits meinte, mehr im Zorn als weil sie es wirklich glaubte, Sissy sei in Johnny verliebt. Sissy sagte »vielleicht«, und Katie schwieg. Sie fürchtete, daß, wenn sie sich weiter zankten, Sissy in ihrem Zorn wirklich gestehen würde, daß sie Johnny liebte. Katie nannte ihren Jungen Cornelius nach einem edlen Mann, den sie einmal von einem schönen Schauspieler auf der Bühne dargestellt gesehen hatte. Als der Junge größer wurde, brooklynisierte man seinen Namen zu Neeley. Ohne falsches Räsonieren und ohne Vergewaltigung ihres Seelenlebens wurde der Knabe Katies ein und alles. Johnny rückte an die zweite Stelle, und Francie kam zuletzt. Katie liebt den Jungen so, weil er ihr mehr gehörte als Johnny und Francie. Neeley glich Johnny aufs Haar. Katie wollte ihn zu dem Mann machen, den sie in Johnny gern gesehen hätte. Er würde all die guten Seiten von Johnny haben, die wollte sie nach Kräften unterstützen. Aber all die schlechten Eigenschaften von Johnny wollte sie sofort im Keim ersticken. Wenn er einmal groß sein würde, dann konnte sie stolz sein auf ihn, und er würde ihr Leben lang für sie sorgen. Aber nun mußte sie vor allem um ihn besorgt sein. Johnny und Francie würden schon irgendwie durchkommen, aber mit dem Jungen durfte sie nichts riskieren. Er sollte es besser haben als einer, der gerade so ›durchkommt‹. Während der ersten Jugendjahre der Kinder verlor Katie ihre kindliche Zärtlichkeit und gewann dafür an dem, was man allgemein ›Charakter‹ nennt. Sie wurde tüchtig, energisch und weitsichtig. Sie liebte Johnny immer noch, aber die leidenschaftliche Vergötterung der ersten Zeit war verschwunden. Sie liebte ihr kleines Mädchen, weil es ihr 97
leid tat. Sie bemitleidete es mehr, als sie es liebte, und fühlte sich für es verantwortlich. Johnny und Francie empfanden wohl die Veränderung, die allmählich in Katie vorging. In dem Maß, wie der Junge stärker und schöner wurde, ging es mit Johnny abwärts. Und Francie spürte genau, wie ihre Mutter ihr gegenüber eingestellt war. Sie ihrerseits entwickelte ihrer Mutter gegenüber eine gewisse Härte, und diese Härte brachte beide einander etwas näher, weil sie sich dadurch ähnlicher wurden. Als Neeley ein Jahr alt war, hatte sich Katie von Johnny unabhängig gemacht. Johnny trank nun sehr viel. Er arbeitete nur noch, wenn man ihm für eine Nacht Arbeit anbot. Wohl brachte er seinen Lohn nach Hause, aber er behielt die Trinkgelder für sich zum Trinken. Johnny hatte den Eindruck, sein Leben vergehe zu schnell. Er hatte eine Frau und zwei Kinder, bevor er alt genug war, um das Stimmrecht zu haben. Sein Leben ging dem Ende entgegen, bevor er überhaupt die Möglichkeit gehabt hatte, es richtig zu beginnen. Er war dem Untergang geweiht, und niemand wußte das besser als Johnny Nolan. Aber Katie hatte dieselben Lasten zu tragen wie Johnny, und sie war erst neunzehn Jahre alt. Man hätte auch von ihr sagen können, sie sei verurteilt. Auch ihr Leben war vorüber, bevor es recht begonnen hatte. Aber in diesem Punkt schieden sich ihre Wege. Johnny wußte, daß er verurteilt war und akzeptierte es. Aber Katie wollte es nicht akzeptieren. Sie knüpfte an das alte, vergangene Leben ein neues an. Sie tauschte ihre Zärtlichkeit gegen Tüchtigkeit aus. Sie gab ihre Träume auf und fand sich statt dessen in die harte Wirklichkeit. Katie hatte ein wildes Verlangen danach, weiterzuleben, und dies machte aus ihr eine Kampfnatur. Johnny dagegen sehnte sich nach Unsterblichkeit, und dies machte ihn zu einem unnützen Träumer. Und hier lag der große Unterschied zwischen diesen beiden Menschenkindern, die einander so sehr liebten.
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ohnny feierte die Erlangung des Wahlrechts damit, daß er sich drei Tage hintereinander betrank. Als er wieder nach Hause kam, schloß ihn Katie im Schlafzimmer ein, wo er sich keinen Alkohol mehr verschaffen konnte. Aber statt nüchtern zu werden, fiel er in ein Delirium tremens. Er weinte und flehte um ein Getränk. Er wollte Katie damit erweichen, daß er sagte, er leide schrecklich. Aber sie antwortete ihm, das sei gut so, das Leiden werde ihn abhärten, es werde ihn lehren, nicht mehr so viel zu trinken. Aber der arme Johnny konnte sich nicht abhärten. Er wurde nur weicher und hörte nicht auf, zu jammern und zu klagen. Die Nachbarn klopften bei ihr an und baten sie, doch um Gottes willen etwas für den armen Kerl zu tun. Aber Katie kniff den Mund zu einer harten, geraden Linie zusammen und sagte den Nachbarn, es sei ihre Sache, was sie mit ihrem Mann tue. Sie wußte genau, das würde zur Folge haben, daß sie am Ende des Monats die Wohnung verlassen mußten. Sie konnten nicht länger in einem Quartier bleiben, wo Johnny so viel Schande über sie gebracht hatte. Gegen Abend hielt sogar Katie seine Klagen und sein Schreien nicht mehr aus. Sie packte die beiden Kinder in den Kinderwagen und fuhr mit ihnen hinüber in Sissys Fabrik. Der langmütige Vorarbeiter mußte Sissy von der Maschine wegholen. Katie erzählte ihr, was für eine Not sie mit Johnny gehabt hatte, und Sissy versprach, herüberzukommen und ihn ›in Ordnung zu bringen‹, sobald sie von der Arbeit wegkonnte. Sissy konsultierte einen ihrer Freunde über Johnnys Fall. Dieser gab ihr Instruktionen. Sissy ging daraufhin, einen halben Liter starken Whisky kaufen, verbarg die Flasche zwischen ihren vollen Brüsten, 99
schnürte ihr Korsett darüber zusammen und knöpfte das Kleid wieder zu. – Dann ging sie zu Katie hinüber und sagte ihr, daß sie Johnny wieder zurechtbringen würde, wenn man sie mit ihm allein lasse. Katie schloß Sissy mit Johnny im Schlafzimmer ein. Dann ging sie wieder in die Küche und verbrachte die Nacht mit dem Kopf auf den verschränkten Armen – wartend. Als Johnny Sissy erblickte, dämmerte es für einen Moment in seinem armen, verworrenen Gehirn, und er packte sie am Arm. »Du bist meine Freundin, Sissy. Du bist meine Schwester. Um Gottes willen, gib mir etwas zu trinken!« »Nur nicht so hitzig, Johnny«, sagte sie mit ihrer weichen, beruhigenden Stimme. »Ich habe dir etwas zum Trinken mitgebracht.« Sie knöpfte sich das Mieder auf und ließ die ganze Pracht von schneeweißen Krausen und dunkelrosaroten Bändern herausquellen. Das Zimmer füllte sich mit dem süßen, betäubenden Parfüm, das von Sissys Riechkissen ausging. Johnny staunte sie an, während sie eine verschlungene Schleife löste und die Korsettschnur aufzog. Er erinnerte sich an Sissys Eigenart und mißverstand sie. »Nein, nein, Sissy. Bitte!« stöhnte er. »Hab keine Angst, Johnny. Jedes Ding hat seine Zeit und seinen Ort, aber jetzt hast du etwas anderes nötig.« Sie zog die Flasche heraus. Er griff sofort danach. Die Flasche war noch ganz warm von Sissy. Sie ließ ihn einen langen Zug tun, dann entwand sie die Flasche seinen Händen, die sie heftig umklammert hielten. Nachdem er getrunken hatte, war er ein wenig ruhiger. Er wurde schläfrig und bat sie, ihn nicht allein zu lassen. Das versprach sie ihm. Sie nahm sich gar nicht die Mühe, ihr Mieder wieder zuzuknöpfen, sondern legte sich, wie sie war, neben ihn aufs Bett. Sie schob ihren Arm unter seine Schulter, so daß er mit dem Kopf auf ihre warme, parfümierte Brust zu liegen kam. Während er schlief, tropften unter seinen geschlossenen Lidern Tränen hervor, die heißer waren als das Fleisch, auf das sie fielen. Sissy lag wach, hielt ihn in ihren Armen und starrte ins Dunkel. Sie empfand für ihn dieselbe mütterliche Liebe, die sie ihren Kindern gegenüber empfunden hätte, wenn sie nur nicht alle gestorben wären. 100
Sie strich ihm über das lockige Haar und liebkoste sanft seine Wange. Wenn er im Schlaf stöhnte, beruhigte sie ihn jedesmal mit denselben zärtlichen Worten, die sie zu ihren Kindern hätte sagen wollen. Der Arm schmerzte sie, und sie versuchte, ihn zu verschieben. Er erwachte dabei für einen Augenblick, klammerte sich fest an sie und bat sie, ihn nicht zu verlassen; er nannte sie Mutter. Jedesmal, wenn er aufwachte und sich zu fürchten begann, gab sie ihm einen Schluck Whisky. Gegen Morgen wachte er vollends auf. Sein Kopf war nun wieder klarer, aber er schmerzte ihn sehr. Er wandte sich von ihr ab und stöhnte. »Komm du nur zur Mutter«, sagte sie mit ihrer sanften, warmen Stimme. Sie breitete ihre Arme aus, und er verkroch sich nochmals darin und schmiegte seine Wange an ihre üppige Brust. Dann weinte er still vor sich hin. Er schluchzte sein ganzes Leid, seine Ängste und Sorgen und seine wirres Staunen vor dieser merkwürdigen Welt heraus. Sie ließ ihn sich aussprechen und sich ausweinen. Sie hielt ihn so, wie ihn seine Mutter hätte halten sollen, als er noch klein war. Als er sich ganz ausgesprochen hatte, gab sie ihm den letzten Rest Whisky, und schließlich verfiel er in den tiefen Schlaf des Erschöpften. Sie lag lange ganz still da, weil sie nicht wollte, daß er das Gefühl habe, sie ziehe sich von ihm zurück. Dann löste sie allmählich die krampfhafte Umklammerung, sein Gesicht erfüllte sich mit Frieden und sah wieder ganz knabenhaft aus. Sissy legte seinen Kopf sanft auf die Kissen, zog ihn mit Geschick aus und deckte ihn zu. Dann warf sie die leere Whiskyflasche in den Luftschacht hinunter, damit Katie nichts davon erfuhr, schnürte sich das Korsett wieder zu und band nachlässig die rosaroten Bänder in Schleifen. Sie zog die Tür ganz leise hinter sich zu, als sie das Zimmer verließ.
Sissy hatte zwei große Qualitäten. Sie war in hohem Maß eine Liebende und in nicht weniger hohem Maße eine Mutter. Sie überströmte von 101
Zärtlichkeit; sie war immer zum Geben bereit, und sie gab allen, die etwas nötig hatten, was sie besaß, sei es ihr Geld, ihre Zeit, die Kleider von ihrem Leib, ihr Mitleid, ihr Verständnis, ihre Freundschaft, ihre Kameradschaft, ihre Liebe. Sie bemutterte alles, was ihr über den Weg lief. Sie liebte die Männer, ja. Aber sie liebte auch die Frauen, die alten Leute und die Kinder. Vor allem liebte sie die Kinder! Sie liebte die Unglücklichen. Sie wollte alle Menschen glücklich sehen. Sie hatte sogar versucht, den guten Priester, zu dem sie selten in die Beichte ging, zu verführen, weil er ihr leid tat. Sie fand, er verpasse die größte Freude, die man auf dieser Erde haben konnte, weil er zu einem Junggesellenleben verpflichtet war. Sie liebte jeden Köter, der sich auf der Straße sein Futter zusammenkratzte, und die ausgehungerten Katzen, die mit geschwollenen Bäuchen die Häuserblocks von Brooklyn entlangstrichen und sich ein Plätzchen suchten, wo sie ihre Jungen ablegen konnten. Sie liebte auch die rußigen Spatzen und jeden Grashalm auf den Sportplätzen. Sie suchte sich den weißen Klee auf den Fußballplätzen zusammen und glaubte, es gebe auf Gottes Erde keine schöneren Blumen. Wenn sie in ihrem Zimmer eine Maus hörte, stellte sie ihr ein kleines Schächtelchen mit Käsekrumen hin, damit sie es in der Nacht finde. Sie hatte Ohren für die Sorgen und das Leid aller Mitmenschen. Ihre eigenen Sorgen behielt sie für sich. Sie war eine Gebende, und nie eine Nehmende. Als Sissy in die Küche kam, schaute ihr Katie mit verschwollenen Augen mißtrauisch entgegen. »Ich vergesse nie«, sagte sie mit mitleiderregender Würde, »daß du meine Schwester bist. Und ich hoffe, du hast es auch nicht vergessen.« »Hab nur keine Angst, du Dummerchen«, sagte Sissy, die sofort wußte, was Katie meinte. Sie lächelte Katie mit strahlenden Augen an. Katie war plötzlich wieder beruhigt. »Wie geht es Johnny?« »Oh, er wird sehr gut dran sein, wenn er wieder aufwacht. Nur darfst du ihn dann um Himmels willen nicht ausschelten. Versprich mir, Katie, daß du ihm keine Vorwürfe machen wirst!« »Aber man muß ihm doch sagen …« 102
»Wenn ich erfahre, daß du ihn ausgescholten hast, dann hol' ich ihn weg von dir, und wenn du meine Schwester bist. Das schwör' ich dir.« Katie wußte, daß es Sissy ernst meinte mit ihrer Drohung, und sie bekam ein wenig Angst. »Gut, dann will ich es nicht tun«, murmelte sie. »Wenigstens diesmal nicht.« »Nun, du entwickelst dich allmählich zu einer reifen Frau«, lobte Sissy sie und küßte Katie auf die Wange. Katie tat ihr ebenso leid wie Johnny. Da brach Katie zusammen und weinte. Sie schluchzte hart und abgerissen, aber sie konnte nicht mehr anders. Sissy mußte ihr zuhören und nochmals alles miterleben, was sie vorher mit Johnny erlebt hatte, nur war es diesmal von Katies Gesichtspunkt aus gesehen. Mit Katie ging Sissy anders vor als mit Johnny. Mit Johnny war sie sanft und mütterlich gewesen, weil er dies brauchte. Aber sie wußte, daß Katie härter war. Und sie paßte sich dieser Härte an, als Katie mit ihrer Geschichte zu Ende war. »Und nun weißt du alles, Sissy – Johnny ist ein Trinker.« »Nun, jeder Mensch ist irgend etwas. Wir haben alle irgendein Laster. Ich zum Beispiel. Aber stell dir vor«, sagte sie mit ehrlichem, echtem Staunen, »daß es Leute gibt, die über mich reden und die mich ein schlechtes Frauenzimmer nennen. Kannst du dir das vorstellen? Ich gebe zu, daß ich von Zeit zu Zeit einmal eine Zigarette rauche. Aber schlecht …« »Nun, Sissy, die Art, wie du mit den Männern umgehst, macht die Leute …« »Katie! Jetzt fängst du schon wieder an, Moral zu predigen! Wir sind alle so, wie wir sein müssen, und jeder von uns lebt das Leben, das er in sich drin hat. Du hast einen guten Mann, Katie.« »Aber er trinkt.« »Und das wird er immer tun, bis er stirbt. So ist es nun einmal. Er trinkt. Du mußt das mit in Kauf nehmen.« »Mit was soll ich es in Kauf nehmen? Damit, daß er nicht arbeitet, daß er die ganze Nacht nicht nach Hause kommt, daß er lauter Nichtsnutze zu seinen Freunden hat?« 103
»Du hast ihn doch geheiratet! Irgend etwas muß dein Herz doch gefangengenommen haben!? Halt dich an das, und vergiß alles andere!« »Ja, manchmal weiß ich nicht mehr, warum ich ihn geheiratet habe.« »Das glaube ich dir nicht. Du hast ihn geheiratet, weil du mit ihm schlafen wolltest, und du warst zu religiös, um mit ihm ohne Zustimmung der Kirche zusammen zu sein.« »Wie kannst du so etwas sagen! Ich wollte ihn ganz einfach jemand anderem wegschnappen.« »Es war nichts anderes als das Schlafen. Es ist immer so. Und wenn das in Ordnung ist, dann ist auch die Ehe gut. Wenn es aber damit nicht stimmt, dann ist die Ehe schlecht.« »Nein, nein, es waren noch andere Gründe.« »Was für andere Gründe? Nun, vielleicht stimmt das«, gab Sissy nach. »Wenn noch andere Gründe da sind, desto besser …« »Du täuschst dich. Vielleicht scheint dir das Schlafen das Wichtigste, aber …« »Es ist bei allen das Wichtigste, oder es sollte so sein. Dann wären alle Ehen glücklich.« »Oh, ich gebe zu, daß ich ihm gerne zuschaute, wenn er tanzte, und daß ich ihn gern singen hörte … und daß mir sein Gesicht gefiel … die Art, wie er einen ansehen konnte … und wie er sprach …« »Nun sagst du dasselbe, was ich vorher gesagt habe, nur sagst du es mit andern Worten.« Gegen einen Menschen wie Sissy ist nicht aufzukommen, dachte Katie. Sie hat über alles ihre eigenen Ideen. Und vielleicht sind ihr Ideen so gut wie irgendwelche andern. Ich weiß es nicht. Sie ist meine Schwester, und ich weiß, daß die Leute über sie reden. Sie ist ein leichtfertiges Ding, das kann man nicht leugnen. Wenn sie einmal tot ist, wird ihre Seele für immer im Fegefeuer wandern müssen. Ich habe ihr das oft gesagt, aber sie antwortet mir immer, sie werde wenigstens nicht allein wandern. Stirbt Sissy vor mir, so muß ich für die Ruhe ihrer Seele Messen lesen lassen. Und doch ist sie gut zu allen Leuten, die ihr begegnen und sie nötig haben. Gott wird das auch berücksichtigen müssen. 104
Plötzlich neigte sich Katie vor und küßte Sissy auf die Wange. Sissy war erstaunt, denn sie konnte Katies Gedanken nicht erraten. »Vielleicht hast du recht, Sissy, vielleicht auch nicht. Für mich ist es aber so: Abgesehen von seinem Trinken gefällt mir ja alles an Johnny. Und ich will versuchen, gut zu ihm zu sein. Ich will versuchen, es zu übersehen …« Katie verstummte. In ihrem Innersten wußte sie ganz gut, daß sie nicht die Art Mensch war, die etwas übersehen kann. Francie lag wach in ihrem Wäschekorb neben dem Küchengestell. Sie sog an ihrem Daumen und hörte dem Gespräch zu. Aber sie verstand nichts davon, denn sie war erst zwei Jahre alt.
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atie schämte sich, nach Johnnys Anfall von Delirium tremens noch länger in der bisherigen Wohnung zu bleiben. Natürlich waren viele Männer in der Nachbarschaft nicht besser als Johnny, aber das war für Katie kein Trost. Sie wollte, daß die Nolans besser seien und nicht bloß ebensogut wie die andern. Zudem war es eine Geldfrage. Katie sah sich nach einer Wohnung um, für deren Miete sie arbeiten konnte. So würden sie wenigstens ein sicheres Dach über dem Kopf haben. Sie fand schließlich ein Haus, in dem sie gegen Reinigungsarbeiten eine Wohnung haben konnte. Johnny protestierte heftig dagegen, daß seine Frau eine Putzfrau wurde. Katie erklärte ihm in ihrer neuerworbenen energischen Art, entweder gehe sie putzen, oder sie hätten eben keine Wohnung mehr. Es werde ja von Monat zu Monat schwieriger, die Miete zusammenzubringen. Johnny willigte endlich ein und versprach, all die Reinigungsarbeiten selbst zu tun, bis er eine regelmäßige Arbeit gefunden habe. Dann könnten sie ja wieder umziehen. Katie packte ihre wenigen Sachen zusammen: ein Doppelbett, die Kinderwiege, einen klapperigen Kinderwagen, Salonmöbel aus grü105
nem Plüsch, einen Teppich mit hellroten Rosen, zwei Spitzenvorhänge aus dem Salon, einen Gummibaum und einen roten Geranienstock, einen gelben Kanarienvogel in einem Käfig, ein Fotoalbum mit Plüscheinband, einen Küchentisch und ein paar Stühle, eine Kiste mit Tellern, Schüsseln, Töpfen und Pfannen, ein vergoldetes Kruzifix, in dessen Fuß eine Musikdose eingebaut war, die ›Ave Maria‹ spielte, wenn man sie aufzog, ein einfaches hölzernes Kruzifix (ein Geschenk von Katies Mutter), einen Wäschekorb voll Kleider, ein Bündel Bettzeug, einen Stoß Notenblätter von Johnny und zwei Bücher: die Bibel und William Shakespeares Werke. All dies nahm so wenig Raum ein, daß der Eisverkäufer es auf seinen Wagen laden und sein zottiges Pferdchen es ziehen konnte. Und die vier Nolans setzten sich ebenfalls auf den Eiswagen, um so zu ihrem neuen Heim zu fahren. Die letzte Arbeit, die Katie in ihrer alten Wohnung verrichtete, als diese nackt und kahl dastand und das Aussehen eines kurzsichtigen Mannes ohne Brille hatte, war, die Sparbüchse aus dem Wandschrank herauszubrechen. Sie enthielt bereits drei Dollar und achtzig Cent. Leider würde sie dem Eisverkäufer für den Umzug einen Dollar geben müssen. Die erste Arbeit in der neuen Wohnung bestand darin, die Sparbüchse in den Wandschrank zu nageln, während Johnny dem Eismann half, die Möbel hinaufzutragen. Sie legte wieder zwei Dollar und achtzig Cent hinein. Dann fügte sie einen Zehner aus ihrem eigenen abgenützten Beutel hinzu. Dies war der Zehner, den sie eigentlich dem Eismann als Trinkgeld hätte geben sollen, denn es war Sitte in Williamsburg, nach dem Umzug dem Fuhrmann eine Flasche Bier zu stiften. Aber Katie überlegte sich: Wir werden ihn ja nie mehr sehen. Und übrigens ist ein Dollar genug. Wenn man bedenkt, wieviel Eis er verkaufen müßte, bis er einen Dollar beisammen hätte. Während Katie die Spitzenvorhänge festmachte, kam Mary Rommely die neue Wohnung mit Weihwasser besprengen, um böse Geister, die sich vielleicht in den Ecken verbargen, zu vertreiben. Wer konnte es wissen. Vielleicht hatten hier vorher Protestanten gewohnt? Oder 106
vielleicht war in einem der Zimmer ein Katholik gestorben, ohne die Letzte Ölung erhalten zu haben? Das Weihwasser würde das neue Heim wieder rein machen, so daß Gott hereinkommen konnte, wenn er wollte. Die kleine Francie jauchzte vor Entzücken, als die Großmutter das Weihwasserfäßchen gegen die Sonne hielt, so daß die Sonnenstrahlen sich darin brachen und auf die gegenüberliegende Wand einen deutlichen schmalen Regenbogen malten. Mary lachte mit dem Kind und ließ den Regenbogen tanzen. »Schön! Schön!« sagte sie. Und Francie streckte die Händchen in die Luft und plapperte ihr nach »Sön, sön!« Mary gab ihr das halbgefüllte Gefäß und ging Katie helfen. Francie war enttäuscht, weil der Regenbogen verschwand. Sie glaubte, er habe sich in der Flasche versteckt. Sie goß sich das Weihwasser in den Schoß, in der Hoffnung, der Regenbogen werde mit herausschlüpfen. Später bemerkte Katie, daß sie naß war, gab ihr ein paar sanfte Klapse und sagte ihr, sie sei nun zu groß, um immer noch ihr Höschen naß zu machen. Mary kam dazu und klärte Katie auf, daß dies Weihwasser war. »Ach, das Kind hat sich nur selbst gesegnet, und nun wird es dafür bestraft.« Katie mußte lachen. Francie lachte auch, weil die Mutter wieder zufrieden war. Und Neeley lächelte und zeigte seine drei Zähnchen. Mary war ebenfalls glücklich und sagte, es sei ein gutes Vorzeichen, wenn man das Leben in einem neuen Heim mit Lachen beginne. Bis zum Abendessen war alles eingeräumt. Johnny blieb bei den Kindern, während Katie zum Kolonialwarenhändler lief, um dort einen Kredit zu eröffnen. Sie sagte dem Kolonialwarenhändler, sie sei eben frisch ins Quartier gezogen und fragte, ob er ihr bis zum nächsten Zahltag, am Samstag, Kredit geben wolle. Der Kolonialwarenhändler war so gut und kam ihr entgegen. Er gab ihr, was sie brauchte, und händigte ihr ein kleines Buch aus, in dem er ihre Schuld vermerkte. Er bat sie, das Buch jedesmal mitzubringen, wenn sie wieder Kredit brau107
che. Durch diese kleine Zeremonie war Katies Familie bis zum nächsten Zahltag mit dem Nötigen versorgt. Nach dem Abendessen las Katie die Kinder in Schlaf. Sie las eine Seite aus der Einführung zu Shakespeare und eine Seite aus der Genesis. Weder Katie noch die Kinder verstanden, worum es ging. Das Lesen machte Katie sehr schläfrig, aber sie hielt standhaft durch, bis die beiden Seiten zu Ende gelesen waren. Dann deckte sie die Kinder sorgfältig zu, und Johnny und sie legten sich ebenfalls zu Bett, obschon es erst acht Uhr war, denn sie waren todmüde vom Umzug. So schliefen die Nolans zum erstenmal in ihrem neuen Heim in der Lorimerstraße, die immer noch zu Williamsburg gehörte, aber schon an Greenpoint grenzte.
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ie Lorimerstraße war vornehmer als die Bogartstraße. Sie war von Briefträgern, Feuerwehrmännern und von solchen Ladenbesitzern bewohnt, die wohlhabend genug waren, um nicht in den hinteren Räumen ihres Geschäftes hausen zu müssen. Die Wohnung hatte sogar ein Badezimmer. Die Badewanne war aus Holz und mit Zink ausgeschlagen. Francie konnte das Wunder der gefüllten Badewanne nicht genug bestaunen. Sie hatte noch nie so viel Wasser beisammen gesehen. Für ihre Kinderaugen war es wie ein Meer. Sie fühlten sich wohl in ihrer neuen Behausung. Katie und Johnny mußten den Keller, den Hausflur, das Dach und das Trottoir vor dem Haus tadellos sauberhalten, brauchten aber dafür keine Miete zu zahlen. Hier gab es keinen Luftschacht. Jedes Schlafzimmer hatte ein Fenster, und die Küche und das vordere Zimmer hatten deren drei. Im Herbst war es wunderschön. Die Sonne schien den ganzen Tag durch die Fenster. In jenem ersten Winter mußten sie auch nicht frieren, denn 108
Johnny arbeitete ziemlich regelmäßig und trank nicht viel, und es war immer ein wenig Geld da für Kohlen. Im Sommer verbrachten die Kinder die meiste Zeit draußen auf der Treppe. Da sie die einzigen Kinder im Haus waren, hatten sie immer Platz auf der Treppe. Francie, die nun bald vier Jahre alt war, mußte Neeley hüten, der bald drei war. Sie saß stundenlang auf der Treppe und hielt ihre dünnen Ärmchen um ihre dünnen Beine geschlungen, während ihr der sanfte Wind durch das braune Haar strich, der den Salzgeruch des nahen Meeres, das Francie so gern einmal gesehen hätte, mitbrachte. Sie bewachte Neeley, der die Treppe hinauf- und hinunterkletterte. Sie saß da, wiegte sich sanft hin und her und machte sich über viele Dinge ihre Gedanken: Woher kam der Wind, und was war das Gras, und warum war Neeley ein Junge und nicht ein Mädchen wie sie? Manchmal saßen Francie und Neeley nebeneinander und sahen sich unverwandt an. Ihr Augen hatten denselben Schnitt und dieselbe Tiefe, aber Neeleys Augen waren von einem hellen, klaren Blau und Francies von einem dunklen, klaren Grau. Die beiden Kinder waren innig miteinander verbunden. Neeley sprach sehr wenig, aber Francie plauderte drauflos. Manchmal redete sie so lange auf ihn ein, bis er einschlief und sein Köpfchen gegen die eisernen Gitterstäbe des Treppengeländers sank. In jenem Sommer fing Francie an, »auszunähen«. Katie kaufte ihr einen Ausnähfilz für einen Penny. Er war so groß wie ein Damentaschentuch. Auf dem Filz war ein sitzender Neufundländer vorgezeichnet, der seine Zunge weit heraushängen ließ. Katie hatte dazu noch für einen Penny roten Stickfaden gekauft. Großmutter Rommely zeigte Francie, wie man die Vorstiche machte, und Francie entwickelte dabei eine große Geschicklichkeit. Die Frauen, die auf der Straße an ihr vorübergingen, blieben stehen und zollten dem kleinen Mädchen, zwischen dessen Augenbrauen sich schon eine tiefe, senkrechte Linie eingegraben hatte, mitleidige Bewunderung. Neeley schaute ihr zu und staunte über die silberne Nadel, die bald über und bald unter dem steifen Stücklein Stoff erschien. Sissy hatte Francie eine dicke, 109
kleine Stofferdbeere geschenkt, an der sie die Nadel reinigen konnte. Wenn Neeley nicht mehr stillsitzen wollte, ließ ihn Francie eine Zeitlang die Nadel in das Erdbeer-Nadelkissen stupfen. Francie hatte gehört, daß es Frauen gebe, die Hunderte von diesen kleinen Vierecken ausgenäht und schließlich zu einem Bettüberwurf zusammengefügt hatten, und dies war das Ziel ihres Ehrgeizes. Doch wurde sie, obwohl sie den ganzen Sommer an der Decke arbeitete, bis zum Herbst nur halb fertig. Wieder kamen der Herbst, der Winter, der Frühling und der Sommer. Francie und Neeley wuchsen, Katie arbeitete mit jeder Jahreszeit mehr, und Johnny ein bißchen weniger. Dafür trank er immer ein bißchen mehr. Katie fuhr fort, den Kindern abends eine Seite aus der Bibel und eine Seite aus Shakespeares Werken vorzulesen. Manchmal übersprang sie eine Seite, wenn sie müde war, doch meistens blieb sie ihrem Vorsatz treu. Sie waren nun bei ›Julius Cäsar‹ angelangt, und die Bühnenanweisung ›Alarm‹ faszinierte Katie. Sie glaubte, das Wort habe etwas mit der Feuerwehr zu tun, und jedesmal, wenn sie darauf stieß, rief sie hinterher: »Klingklang«. Die Kinder fanden das wunderbar. Die Centstücke häuften sich in der Sparbüchse. Einmal mußte die Büchse vom Schrankboden losgerissen werden. Katie mußte zwei Dollar herausnehmen, um den Doktor zu bezahlen, denn Francie war mit dem Knie auf einen rostigen Nagel gefallen. Ungefähr ein dutzendmal mußte sie den Streifen losmachen und mit einem Messer ein Fünfcentstück herausfischen, um Johnny die Autobustaxe zu geben, damit er zu seinem Arbeitsplatz fahren konnte. Aber es bestand eine Regel, nach der Johnny dafür ein Zehncentstück von seinem Trinkgeld hineinlegen mußte. So profitierte die Kasse davon. An warmen Tagen spielte Francie allein auf der Straße oder auf der Treppe. Sie sehnte sich nach Spielkameraden, aber die andern Kinder gingen ihr aus dem Weg, weil sie so seltsame Sachen sagte. Dies war Katies nächtlichen Vorlesungen zu verdanken. Einmal sagte sie zu einem kleinen Jungen, der sie neckte: »Ach, du weißt ja gar nicht, was du redest, du bist voll von sinnlosem Lärm und Getöse.« 110
Einmal versuchte sie, sich mit einem kleinen Mädchen zu befreunden. Sie sagte zu ihm: »Wart schnell, ich will hineingehen und mein Springseil zeugen, dann wollen wir seilspringen.« »Du meinst, du willst dein Springseil holen«, korrigierte das kleine Mädchen. »Nein, ich will es zeugen. Man holt die Sachen nicht, man zeugt sie.« »Aber was heißt denn zeugen?« »Einfach zeugen. So wie Adam den Abel zeugte.« »Weißt du was?« »Nein. Was?« »Du sprichst wie ein Idiot.« »Nein, das tu ich nicht«, schrie Francie entrüstet. »Ich spreche wie … wie … wie Gott spricht.« »Du wirst tot zu Boden fallen, wenn du das noch mal sagst.« »Nein, das werde ich nicht.« »Niemand zu Hause im obern Stübchen bei dir.« Das kleine Mädchen tippte sich auf die Stirn. »Doch!« »Warum redest du denn solch dummes Zeug?« »Das ist kein dummes Zeug. Das ist, was meine Mutter mir vorliest.« »Dann ist halt deine Mutter ein bißchen verrückt.« »Nun, auf jeden Fall ist meine Mutter nicht so eine schmutzige Schlampe wie deine Mutter.« Francie wußte sich nicht mehr anders zu helfen. Dies war die einzige Antwort, die ihr einfiel. Aber das kleine Mädchen hatte dies schon oft zu hören bekommen. Sie war schlau genug, darüber nicht zu diskutieren. »Nun, ich möchte lieber eine schmutzige Schlampe zur Mutter haben als eine Verrückte. Und ich möchte lieber keinen Vater haben als einen Trunkenbold, wie deiner ist.« »Schlampe, Schlampe, Schlampe!!« schrie Francie leidenschaftlich. 111
»Verrückte, Verrückte, Verrückte!« sang das kleine Mädchen zurück. »Schlampe, schmutzige Schlampe!« schrie Francie schluchzend vor Hilflosigkeit. Das kleine Mädchen hüpfte davon und sang mit heller Stimme: Stock und Stein Bricht mein Gebein. Schimpfnamen kümmern mich nicht die Laus. Sterbe ich, So reut es dich, Und du weinst dir vor Kummer die Augen aus. Und Francie weinte wirklich. Nicht weil das Mädchen sie beschimpft hatte, sondern weil sie so einsam war und niemand mit ihr spielen wollte. Die verrohteren Kinder fanden Francie zu still, und die zahmeren gingen ihr aus dem Weg. Francie hatte das unbestimmte Gefühl, daß sie nicht allein schuld sei daran. Es hing mit Sissy zusammen, die so oft zu ihnen herüberkam. Es hing mit Sissys Aussehen zusammen und mit der Art, wie die Männer Sissy nachschauten, wenn sie vorüberging. Und es hing damit zusammen, daß Papa manchmal seitwärts über die Straße ging, wenn er nach Hause kam und daß er überhaupt oft nicht mehr geradeaus gehen konnte. Die Nachbarsfrauen hatten schon hin und wieder versucht, Francie auszufragen über Papa und Mama und Sissy. Aber Francie ließ sich von ihren einschmeichelnden Fragen nicht betören, denn Mama hatte sie gewarnt: »Laß dich nicht ausfragen von den Nachbarinnen!« So kam es, daß Francie an den warmen Sommertagen einsam auf ihrer Haustreppe saß und tat, als seien ihr die Kinder, die auf dem Trottoir spielten, nicht gut genug. Francie spielte mit Traumgestalten und bildete sich ein, die seien viel besser als die wirklichen Kinder. Aber ihr Herz schlug doch im Rhythmus der traurigen Lieder mit, die die Kinder bei ihren Kreisspielen sangen, indem sie sich alle bei den Händen hielten. 112
Walter, Walter Wildflower, wie wächst du auf so groß. Sind wir gleich junge Mädchen, ist Sterben unser Los. Es sei denn Lizzie Wehner die schönste von den Damen. Dreh dich um und dreh dich um, und sag dei'm Schatz sein' Namen. Dann blieben sie stehen, bis das auserwählte Mädchen nach langem Sichzieren endlich den Namen eines Jungen geflüstert hatte. Francie überlegte sich, was für einen Namen sie nennen würde, wenn man sie jemals einladen sollte, mitzuspielen. Ob man sie wohl auslachen würde, wenn sie Johnny Nolan sagte? Die kleinen Mädchen lachten kreischend auf, als Lizzie den Namen Hermy Bachmeier flüsterte. Dann faßten sie sich wieder bei den Händen und drehten sich im Kreis herum, indem sie den Knaben vorstellten: Hermy Bachmeier ist ein schöner Jungknab. Er klopft an die Tür, nimmt den Hut sich ab. Er kommt im seidenen Kleid so fein. Morgen, morgen, morgen soll die Hochzeit sein. Die Mädchen standen still und klatschten fröhlich in die Hände. Und dann kam ganz ohne Übergang und Begründung ein plötzlicher Stimmungswechsel. Die Mädchen gingen langsamer und mit gesenkten Köpfen im Kreis herum.
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Mutter, Mutter, ich bin so krank. Hol mir den Doktor, es geht nicht mehr lang. Doktor, muß ich sterben, sag? Ja, mein Liebling, am dritten Tag. Wieviel Kutschen hab' ich dann? Genug für dich, dein Kind und dein' Mann. In anderen Quartieren war der Wortlaut der Lieder wieder ein wenig verschieden, aber im Grunde war es dasselbe Spiel. Niemand konnte sagen, woher die Worte kamen. Die Lieder wurden von Generation zu Generation weitergegeben, und es war das Lieblingsspiel der Brooklyn-Kinder. Es gab aber noch andere Spiele. Es gab ein Kartenspiel, das zwei kleine Mädchen miteinander auf der Treppe spielen konnten. Francie spielte aber immer mit sich allein. Zuerst war sie Francie, und dann war sie Francies Spielpartner. Sie pflegte mit der imaginären Spielgenossin zu sprechen. »Du hast die Zweier, und ich habe die Dreier«, sagte sie. Das Büchsenspiel war ein Spiel, das die Jungen begannen und die Mädchen zu Ende spielten. Ein paar Jungen pflegten eine Büchse mitten auf die Straße in die Bahn der Lastwagen zu legen, sich dann mitten auf den Randstein zu setzen und mit fachmännischer Miene zuzusehen, wie die Räder des Fuhrwerks die Büchse flachdrückten. Dann falteten sie sie abermals und legten sie wieder auf die Fahrbahn. Und dieses Spiel wiederholte sich so lange, bis die Büchse zu einem viereckigen, flachen Metallklümpchen geworden war. Dann zeichneten sie mit Kreide eine Anzahl numerierter Vierecke auf das Trottoir, und nun kamen die Mädchen an die Reihe. Sie mußten auf einem Bein durch die Vierecke hüpfen und dabei das Metallklümpchen mit dem Fuß vor sich her stoßen. Wer am schnellsten und ohne Fehler durchkam, der hatte gewonnen. Francie machte das ganze Spiel von Anfang an allein. Sie legte eine 114
Büchse auf die Fahrbahn. Dann blickte sie mit Kennermiene auf die Räder, die die Büchse überfuhren. Sie zitterte vor Angst und Entzücken, wenn sie das Knirschen der Räder über der Büchse hörte. Sie fragte sich, ob der Fuhrmann wohl zornig werden würde, wenn er wüßte, daß sein Wagen für sie arbeiten mußte. Dann zeichnete sie die Kreidefelder ein, aber sie konnte nur die Zahlen Eins und Sieben hineinschreiben. Sie hüpfte durch die Felder und wünschte sich sehnlichst, daß doch jemand mit ihr spielen würde, denn sie war überzeugt, daß sie das Spiel vor allen andern kleinen Mädchen der Welt gewänne. Manchmal gab es Straßenmusik. Dies war etwas, das Francie auch ohne Spielkameradinnen genießen konnte. Ein aus drei Musikanten bestehendes Orchester kam jede Woche einmal in die Lorimerstraße. Sie trugen gewöhnliche Kleider, aber lustige hohe Hüte mit eingedrückter Spitze. Wenn Francie die Kinder draußen rufen hörte: »Die Bibelbuben kommen!«, dann pflegte sie auf die Straße zu rennen, und manchmal schleppte sie auch Neeley mit. Das Orchester bestand aus einer Geige, eine Pauke und einem Horn. Die Musikanten spielten Wiener Lieder und Walzer, und wenn sie nicht gut spielten, so spielten sie wenigstens laut. Die kleinen Mädchen walzerten miteinander auf dem sommerlich warmen Trottoir. Es waren auch zwei Knaben dabei, die einen grotesken Tanz aufführten und absichtlich die Mädchen stießen. Wenn die Mädchen dann zornig wurden, entschuldigten sie sich in überschwenglichen Ausdrücken und verbeugten sich dazu mit so viel Übertreibung, daß sie mit ihren Hintern ein anderes tanzendes Mädchenpaar anstießen. Francie wünschte sehnlichst, sie könnte unter den Glücklichen sein, die nicht mittanzten, sondern dicht neben dem Hornbläser herliefen und schmatzend an einer triefenden Essiggurke sogen. Dies regte die Speichelabsonderung an, und der Speichel tropfte ins Horn, was den Bläser wütend machte. Wenn das Maß voll war, dann ließ er eine Salve von Flüchen los, die schließlich in einem ›gottverdammter, elender Jude‹ mündeten. Die meisten Deutschen in Brooklyn pflegten jeden, der ihnen auf die Nerven ging, einen Juden zu schimpfen. Nach zwei Liedern spielten der Geiger und der Bläser allein weiter, 115
während der Trommler mit dem Hut in der Hand die Runde machte und mit unfreundlicher Miene die paar Cent einsammelte, die man ihm hineinwarf. Nachdem er die Straße abgeweidet hatte, pflegte er auf dem Randstein zu stehen und zu den Fenstern hinaufzublicken. Die Frauen wickelten zwei Pennies in ein Stücklein Papier und warfen sie hinunter. Es war wichtig, daß die Pennies eingewickelt waren. Denn jeder Penny, der unverpackt heruntergeworfen wurde, wurde von den Gassenjungen als freie Beute betrachtet, und sie hatten das Recht, sich mit den Pennies aus dem Staube zu machen, verfolgt von den fluchenden Musikanten. Aus irgendeinem Grund versuchten sie es aber nie, sich einen mit Zeitungspapier umwickelten Penny anzueignen. Sie lasen sie von der Straße auf und brachten sie den Spielmännern. Es bestand ein stillschweigendes Gesetz darüber, welche Pennies wem gehörten. Francie verfolgte das Einsammeln des Geldes mit besonderem Interesse. Wenn die Musikanten mit ihrer Ernte zufrieden waren, spielten sie noch ein Lied. Wenn sie aber karg war, dann zogen sie weiter in der Hoffnung auf eine üppigere Weide. Francie schleppte gewöhnlich Neeley mit und folgte den Musikanten von Straße zu Straße, bis es dunkelte und die Musikanten nach Hause gingen. Viele Brooklyn-Kinder liefen hinter den Spielmännern her wie hinter dem Rattenfänger von Hameln. Viele von den Kindern nahmen ihre kleinen Geschwister mit, sei es im selbstgemachten Wägelchen, sei es in Kinderwagen. Sie waren von der Musik so bezaubert, daß sie darüber das Essen vergaßen. Die kleinen Kinder weinten, machten ihre Hosen naß, schliefen schließlich ein und erwachten wieder, um abermals zu weinen, die Hosen zu nässen und wieder einzuschlafen. Und die ›Schöne blaue Donau‹ wurde weitergespielt. Francie fand, die Musikanten hätten ein herrliches Leben. Sie machte schon Pläne für später. Wenn Neeley größer war, dann würde er die Handorgel spielen, und sie würde ein Tamburin schlagen und die Pennies einsammeln, und dann hätten sie viel Geld, und Mama müßte nicht mehr arbeiten gehen. 116
Aber noch besser als das Orchester gefiel Francie der Drehorgelmann. Von Zeit zu Zeit kam er in ihr Quartier mit seiner Drehorgel und dem Äffchen, das darauf herumturnte. Das Äffchen trug eine rote, goldverzierte Jacke und eine Liftboymütze, die mit einem Band unter seinem Kinn befestigt war. Seine roten Hosen hatten hinten ein praktisches Loch, so daß sein Schwanz heraushängen konnte. Francie liebte dieses Äffchen. Sie pflegte ihm ihren kostbaren Penny, der für Kandiszucker bestimmt gewesen war, zu schenken, um des glücklichen Gefühls willen, das sie empfand, wenn es vor ihr seine Mütze lüftete. Wenn Mama in der Nähe war, kam sie auch und gab dem Mann einen Penny, der eigentlich für die Sparbüchse bestimmt gewesen war, und empfahl ihm eindringlich, das Äffchen nicht zu mißhandeln. Wenn er es trotzdem tue, sagte sie ihm, und wenn sie es erfahre, dann werde sie ihn anzeigen. Der Italiener verstand kein Wort von dem, was sie sagte, aber er gab ihr immer dieselbe Antwort. Er riß sich den Hut vom Kopf, verneigte sich demütig mit einem kleinen Knicks und rief begeistert aus: »Si, si!« Dann gab es noch eine große Orgel. Wenn diese ins Quartier kam, dann war es immer ein Fest. Ein dunkelhäutiger Mann mit schneeweißen Zähnen und lockigem Haar zog sie auf einem Wagen hinter sich her. Er trug grüne Manchesterhosen und eine braune Jacke aus demselben Stoff, aus der vorn ein rotes Halstuch heraushing. Im einen Ohr trug er einen großen Ohrring. Die Frau, die ihm beim Ziehen der Orgel half, trug einen weiten, roten Rock, eine gelbe Bluse und große Ohrringe. Die Drehorgel spielte mit schrillem, metallenem Ton ein Lied aus ›Carmen‹ oder aus dem ›Troubadour‹. Die Frau schüttelte dazu ein schmutziges, mit flatternden Bändern geschmücktes Tamburin und schlug es von Zeit zu Zeit einmal mit einer müden Geste an ihren Ellbogen, um den Takt zu akzentuieren. Wenn das Lied zu Ende war, drehte sie sich plötzlich auf den Zehenspitzen, so daß ihre dicken, in schmutzige weiße Strümpfe gekleideten Beine zum Vorschein kamen und eine ganze Anzahl buntfarbiger Unterröcke aufblitzte. Aber Francie sah den Schmutz und die Müdigkeit nicht. Sie hörte 117
nur die Musik, sah die aufblitzende Farbenpracht und empfand den Zauber des malerischen Volkes. Katie warnte sie davor, hinter der großen Drehorgel herzulaufen. Sie sagte, diese in so schöne Gewänder gekleideten Leute seien Sizilianer. Und die ganze Welt wußte, daß die Sizilianer der ›Schwarzen Hand‹ angehörten und daß die Mitglieder dieser Gesellschaft kleine Kinder entführten und sie nur gegen viel Geld wieder freigaben. Sie nahmen die Kinder, hinterließen auf einem Zettel, man solle auf dem Friedhof hundert Dollar aussetzen, und unterzeichneten diese Botschaft mit dem Stempelaufdruck einer schwarzen Hand. Das erzählte Mama von diesem Drehorgelvolk. Wenn die Drehorgel wieder einmal dagewesen war, spielte Francie nachher noch tagelang das Drehorgelspiel. Sie summte die Melodien von Verdi, die ihr in der Erinnerung geblieben waren, und schlug eine alte Kuchenform gegen ihren Ellbogen, um das Tamburin zu markieren. Das Spiel endete immer damit, daß Francie ihre Hand auf ein Stück Papier legte, mit einem Bleistift deren Konturen nachzeichnete und das Ganze nachher mit dem Bleistift ausfüllte. Francie war sich noch nicht ganz im klaren, ob sie später ein Orchester gründen oder ob sie nicht lieber allein mit einer Drehorgel herumziehen solle. Es wäre auch nett, wenn sie und Neeley eine kleine Orgel hätten mit einem koketten kleinen Äffchen. So könnten sie sich den ganzen Tag umsonst amüsieren und zusehen, wie das Äffchen den Hut abnahm. Die Leute würden ihnen viel Geld zuwerfen, und das Äffchen könnte mit ihnen essen und nachts vielleicht in ihrem Bett schlafen. Diese Idee bezauberte Francie so sehr, daß sie Mama davon erzählte, aber Katie nahm ihren Plänen den Zauber. Sie sagte nämlich, die Äffchen hätten Flöhe, und sie würde es niemals erlauben, daß ein solches Tier in einem ihrer sauberen Betten schlafe. Francie spielte auch mit der Idee, eine Tamburinschlägerin zu werden. Aber dann müßte sie wohl auch eine Sizilianerin sein und kleine Kinder stehlen, und dies wollte sie wieder lieber nicht tun, obschon das Zeichen einer schwarzen Hand lustig war. Aber trotz der Musik und der Tänzer, die es in den warmen Som118
mermonaten so oft in den Straßen von Brooklyn gab, waren diese Sommer ein wenig traurig. Es war traurig, die mageren Kinder, in deren Gesichtern etwas von der Pausbackigkeit des Kleinkindes zurückgeblieben war, singen zu hören, während sie durch die verschiedenen Stadien ihrer tragisch endenden Ringspiele gingen. Es war traurig, zu sehen, wie so kleine, vier- bis fünfjährige Knirpse sich schon so selbständig benahmen, und zu hören, wie altklug sie redeten. Auch die ›Schöne, blaue Donau‹ klang nicht nur fröhlich, sie hatte einen traurigen Unterton. Das Äffchen hatte unter seinem lustigen roten Hütchen traurige Augen. Und die Melodien, die aus der großen Drehorgel kamen, hatten trotz ihres schrillen Trällerns etwas Trauriges. Auch die Straßensänger, die in die Höfe kamen und sangen: Wenn's auf mich ankam, bliebst du ewig jung … waren traurig anzuhören, Sie waren hungrige Nichtsnutze und hatten nicht einmal das Talent zum Singen. Alles, was sie hatten, war die Unverschämtheit, die man brauchte, um mit der Mütze in der Hand in einem Hinterhof zu stehen und laut zu singen. Das Traurige daran war, daß sie einem zum Bewußtsein brachten, daß sie und all die andern Leute von Brooklyn es trotz all ihrem Mut zu nichts brachten und daß sie sich am Abend immer sehr einsam und verloren vorkamen, obwohl die Sonne noch in dünnen, blassen Strahlen in die schmutzigen Straßen schien.
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as Leben in der Lorimerstraße war angenehm, und die Nolans wären gerne dort geblieben, aber Tante Sissy mit ihrem großen, irregeführten Herz machte es ihnen unmöglich. Die Geschichte mit dem Dreirad und den Ballons brachte Schande über die Nolans. Eines Tages hatte Sissy früher Feierabend als sonst, und so beschloß sie, ein wenig nach Francie und Neeley zu sehen, solange Katie noch bei der Arbeit war. Vor dem benachbarten Häuserblock fing der blendende Glanz der messingnen Lenkstange eines Dreirades, auf welche die Sonnenstrahlen fielen, ihren Blick. Es war ein Fahrzeug, wie man es heutzutage nicht mehr sieht. Es hatte einen breiten ledernen Sitz, groß genug, um zwei Kinder daraufzusetzen, mit einer Rückenlehne und einer glänzenden Lenkstange, die mit dem kleinen Vorderrad verbunden war. Die beiden hinteren Räder waren größer. Oben an der eisernen Führungsstange war eine Querstange aus Messing mit Handgriffen angebracht. Die Pedale befanden sich vor dem Sitz, und ein Kind konnte bequem im Sattel sitzen, sich an die Rückenlehne schmiegen, die Pedale treten und das Vehikel mittels der Messingstange, die ihm fast in den Schoß zu liegen kam, lenken. Sissy sah dieses Dreirad ganz allein vor einer Haustreppe stehen. Sie hatte eine Idee. Ohne einen Augenblick zu zögern, nahm sie das Dreirad, schob es vor das Haus der Nolans, holte die Kinder herunter und ließ sie auf dem Dreirad fahren. – Francie fand es wunderbar. Sie saß mit Neeley auf dem Sattel, und Sissy schob sie rund um den Häuserblock herum. Der lederne Sitz war von der Sonne durchwärmt und roch so, als hätte er viel Geld gekostet. Die heiße Sonne tanzte auf der Messingstange, so daß sie wie lebendiges Feuer aussah. Francie war überzeugt, daß sie sich die Hände dar120
an verbrennen würde, wenn sie die Stange berührte. Und dann geschah etwas. Ein kleines Grüpplein Menschen, angeführt von einer hysterisch schreienden Frau und einem plärrenden Jungen, steuerte auf sie los. Die Frau stürzte auf Sissy zu und schrie: »Diebin!« Sie packte die Lenkstange und riß daran. Aber Sissy ließ nicht los. Francie wurde von der heftigen Bewegung fast heruntergeworfen. Ein Straßenpolizist kam schnell herbei. »Was soll das Geschrei bedeuten?« fragte er. »Diese Frau da ist eine Diebin!« schrie die Mutter. »Sie hat meinem kleinen Jungen das Dreirad gestohlen!« »Ich habe es nicht gestohlen, Herr Wachtmeister«, sagte Sissy mit ihrer weichen, ansprechenden Stimme. »Es stand einfach da, und so habe ich es schnell geborgt, um die Kinder ein wenig fahren zu lassen. Sie sind in ihrem Leben noch nie auf einem so schönen Dreirad gefahren. Und sie wissen doch, was für ein Erlebnis so eine Fahrt für ein Kind bedeutet. Es ist doch einfach himmlisch.« Der Polizist schaute die Kinder an, die stumm auf dem Sattel saßen. Francie lächelte ihn zitternd vor Schrecken an. »Ich wollte nur ein einziges Mal mit ihnen um den Block herumfahren und es dann wieder an seinen Platz stellen. Wirklich, Herr Wachtmeister!« Der Polizist ließ seine Augen eine Weile auf Sissys üppiger Gestalt, die sich durch kein noch so eng geschnürtes Korsett verbergen ließ, ruhen. Dann wandte er sich an die aufgeregte Mutter. »Wie können Sie denn so geizig sein?« fragte er. »Lassen Sie doch die Kinder einmal um den Block fahren. Das kann ja dem Vehikel nichts schaden. Lassen Sie sie einmal die Runde machen, und ich will dafür sorgen, daß Sie das Dreirad wiederbekommen.« Dies war die Stimme des Gesetzes. Was konnte die gute Frau tun? Der Polizist gab dem plärrenden Jungen ein Fünfcentstück und befahl ihm, den Schnabel zu halten. Die umstehenden Gaffer vertrieb er dadurch, daß er ihnen androhte, er werde das Narrenwägelchen kommen lassen und sie alle auf den Polizeiposten abführen, wenn sie sich nicht sofort aus dem Staube machten. 121
Die Gaffer zerstreuten sich. Der Polizist schwang seinen Gummiknüppel und gab Sissy und ihren Schützlingen sein ritterliches Geleit um den Häuserblock herum. Sissy blickte zu ihm auf und lächelte ihm in die Augen. Darauf steckte er seinen Gummiknüppel in den Gürtel und bestand darauf, das Dreirad für sie zu schieben. Sissy trippelte auf ihren kleinen, mit hohen Absätzen versehenen Schuhen nebenher und bezauberte ihn mit ihrer süßen Stimme. Sie spazierten dreimal um den Häuserblock herum. Die Passanten lächelten über den volluniformierten Vertreter des Gesetzes, der Sissys Zauber ganz verfallen war. Er redete eifrig auf Sissy ein und erzählte ihr vor allem von seiner Frau. »Sie ist eine gute Frau, wissen Sie, aber eine Art Invalidin, verstehen Sie?« Und Sissy sagte, ja, sie verstehe. Nach dieser Episode begannen die Leute zu klatschen. Sie redeten schon genug darüber, daß Johnny von Zeit zu Zeit betrunken nach Hause kam, und über die Art, wie die Männer Sissy nachschauten. Und nun hatten sie einen neuen Gesprächsstoff. Katie überlegte sich, ob sie nicht besser umziehen sollten. Es war nun wieder wie in der Bogartstraße: die Nachbarn wußten zuviel über ihre Familie. Und während sich Katie Gedanken über einen eventuellen Umzug machte, passierte etwas, was sie dazu zwang, das Quartier sofort zu verlassen. Was sie endgültig aus der Lorimerstraße vertrieb, war eine krasse sexuelle Angelegenheit. Nur war alles sehr harmlos, wenn man es im richtigen Licht sah. An einem Samstagnachmittag hatte Katie Arbeit in Gorlings großem Warenhaus in Williamsburg. Sie mußte Kaffee und belegte Brötchen machen für das Samstagabendessen, das der Chef den Ladenmädchen verabreichte, um ihnen die Überstunden nicht bezahlen zu müssen. Johnny war im Hauptquartier der Union und wartete auf Arbeit. Sissy hatte einen freien Tag. Da sie wußte, daß die Kinder allein in der Wohnung eingeschlossen waren, beschloß sie, hinüberzugehen und ihnen die Zeit zu vertreiben. Sie klopfte an die Wohnungstür und rief, sie sei Tante Sissy. Francie nahm die Vorlegekette erst ab, nachdem sie durch ein Spältchen geguckt und sich vergewissert hatte, daß es wirklich Sissy war. 122
Die Kinder sprangen Sissy entgegen und umarmten sie innig. Sie liebten sie über alles. In ihren Augen war Sissy eine wunderschöne Dame in feinen Kleidern, die immer herrlich duftete und ihnen erstaunliche Geschenke brachte. Diesmal brachte sie eine süß duftende Zigarrenschachtel aus Zedernholz mit, ein paar Blätter Seidenpapier, die einen rot, die andern weiß, und ein Töpfchen Kleister. Sie setzten sich alle drei um den Küchentisch und gingen daran, die Schachtel zu schmücken. Sissy zeichnete mit Hilfe eines Vierteldollars Kreise auf das Papier, und Francie schnitt sie aus. Sissy zeigte ihr, wie sie daraus kleine Becherchen machen konnte, indem sie die papierenen Taler um ein Bleistiftende faltete. Als sie eine Menge Papiertaler ausgeschnitten und sie zu kleinen Bechern geformt hatte, zeichnete Sissy ein Herz auf den Deckel der Zigarrenschachtel. Sie bestrichen den Boden eines jeden Papierbechers mit Kleister und klebten ihn auf das mit Bleistift eingezeichnete Herz. Das ganze Herz wurde mit roten, der Rest mit weißen Bechern ausgefüllt. Als das Ganze fertig war, sah es aus wie ein dichtbewachsenes Blumenbeet mit roten und weißen Nelken. Die Seitenwände wurden ebenfalls mit weißen Bechern beklebt, und das Innere mit rotem Seidenpapier ausgeschlagen. Schließlich war das Ganze so schön, daß kein Mensch mehr die Zigarrenschachtel darunter erkennen konnte. Das Ausschmücken hatte fast den ganzen Nachmittag in Anspruch genommen. Um fünf Uhr hatte Sissy ein Rendezvous, und sie machte sich bereit zum Gehen. Francie klammerte sich an sie und bettelte, daß sie dableiben solle. Sissy ließ die Kinder nicht gern allein, aber andererseits wollte sie auch ihr Stelldichein nicht verpassen. Sie durchsuchte ihre Handtasche nach etwas, mit dem sie während ihrer Abwesenheit spielen konnten. Die Kinder lehnten sich an ihre Knie und halfen ihr suchen. Francie entdeckte eine Zigarettenschachtel und zog sie heraus. Auf dem Deckel war das Bild eines Mannes, der mit übergeschlagenen Beinen auf einer Couch lag und eine Zigarette rauchte, die über seinem Kopf einen großen Ring aus Rauch bildete. In dem Ring war das Bild eines Mädchens mit aufgelöstem Haar und offenem Mieder. Auf 123
der Schachtel stand ›Amerikanische Träume‹. Die Schachtel stammte aus Sissys Fabrik. Die Kinder verlangten sie stürmisch. Sissy überließ sie ihnen nur zögernd und nachdem sie ihnen eingeschärft hatte, sie nicht zu öffnen, sondern nur zu halten und anzusehen. Sie dürften die Siegel unter keinen Umständen aufmachen, sagte sie. Nachdem Sissy gegangen war, vergnügten sich die Kinder ein Weilchen damit, daß sie das Bild auf der Schachtel betrachteten. Dann schüttelten sie sie, und es gab ein leise raschelndes Geräusch. »Es is Slangen drin un nich Singaretten«, entschied Neeley. »Nein«, korrigierte Francie, »es sind Würmer drin, lebende Würmer.« Sie zankten eine Weile hin und her. Francie sagte, die Schachtel sei zu klein für Schlangen, und Neeley meinte, doch, es seien Schlangen, aufgerollte Schlangen wie Heringe in einem Glastopf. Die Neugier wuchs so sehr, daß Sissys Warnung vergessen wurde. Die Siegel waren leicht zu entfernen, sie klebten gar nicht fest. Francie öffnete das Schächtelchen. Zuoberst lag ein Blatt weiches, mattes Silberpapier. Francie lüftete es sorgfältig. Neeley bereitete sich darauf vor, unter den Tisch zu kriechen für den Fall, daß die Schlangen herausspringen würden. Aber es waren weder Schlangen noch Würmer, noch Zigaretten drin, sondern etwas äußerst Uninteressantes. Francie und Neeley versuchten, irgend etwas damit anzufangen, verloren aber bald das Interesse, banden schließlich den Inhalt des Schächtelchens an ein Stück Schnur und ließen es aus dem Fenster baumeln. Sie sicherten die Schnur dadurch, daß sie das Fenster schlossen und die Schnur zwischen dem Fensterrahmen und dem Fenster einklemmten. Dann begannen sie, die leere Schachtel zu zerstören, indem sie abwechselnd darauf sprangen, und sie vertieften sich schließlich so sehr in dieses Zerstörungsspiel, daß sie die Schnur, die immer noch aus dem Fenster hing, ganz vergaßen. Johnny war deshalb sehr überrascht, als er nach Hause kam, um für seine nächtliche Arbeit ein frisches Vorhemd und einen sauberen Kragen anzuziehen. Er warf einen Blick auf das baumelnde Ding, und sein Gesicht brannte vor Scham. Er sagte es Katie, als sie nach Hause kam. 124
Katie fragte Francie gründlich aus, und es kam alles an den Tag. Sissy wurde verurteilt. Als die Kinder im Bett waren, saß Katie lange ratlos und mit brennendem Schamgefühl in der Küche. Johnny ging deprimiert an seine Arbeit. Später kam Evy noch schnell vorbei, und Katie beklagte sich über Sissy. »Nun ist's genug, Katie«, sagte Evy, »das ist nun wirklich zu stark. Es geht uns ja nichts an, was Sissy tut, aber wenn sie solche Sachen anstellt … Ich habe eine heranwachsende Tochter, und du auch, wir dürfen Sissy nicht mehr zu unsern Kindern lassen. Sie ist ein verworfenes Geschöpf, und das läßt sich nicht verbergen.« »Aber sie ist in manchen Dingen so gut«, milderte Katie. »Und das sagst du, nachdem sie dir heute einen solchen Streich gespielt hat?« »Nun … ja, du hast vielleicht recht. Aber sag um Gottes willen der Mutter nichts davon. Sie hat keine Ahnung davon, wie Sissy ist, und Sissy ist ihr Augenstern.« Als Johnny wieder nach Hause kam, sagte Katie, sie würden Sissy das Haus verbieten müssen. Johnny seufzte und fand, daß dies wohl das einzig Richtige sei. Johnny und Katie besprachen die Angelegenheit bis zum Morgen, und als es Tag wurde, hatten sie sich entschlossen, am Ende des Monats aus dieser Wohnung auszuziehen.
Katie fand in der Grand Street in Williamsburg eine Stelle als Putzfrau. Sie machte die Sparbüchse wieder los, als sie umzogen. Es waren etwas mehr als acht Dollar drin. Zwei davon mußte sie den Fuhrleuten geben, den Rest legte sie wieder in die Büchse, nachdem sie sie im neuen Heim wiederum festgenagelt hatte. Wieder kam Mary Rommely und besprengte die neu Wohnstätte mit Weihwasser. Und Katie lief wiederum zum Kolonialwarenhändler und zum Bäcker, um einen Kredit zu eröffnen. Sie bedauerten es alle sehr, daß die neue Wohnung nicht so schön 125
war wie diejenige in der Lorimerstraße. Diesmal wohnten sie nicht im Parterre, sondern im obersten Stock. Es gab keine Treppe vor dem Haus, weil sich im Parterre ein Kaufladen befand. Es gab auch kein Badezimmer, und die Toilette war im Hauseingang und mußte mit einer andern Familie geteilt werden. Der einzige Trost war, daß das Dach ihnen gehörte. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, daß die Leute im obersten Stockwerk das Dach für sich haben durften, ebenso wie die Leute im untersten Stock Anspruch auf den Hof hatten. Es war auch ein Vorteil, daß niemand über ihnen wohnte, und daß niemand die Zimmerdecken so erschütterte, daß der Gipsbelag abblätterte. Während Katie noch mit dem Fuhrmann zu tun hatte, nahm Johnny die kleine Francie mit aufs Dach. Sie sah dort oben eine ganz neue Welt. Nicht weit von ihrem Haus entfernt war der schöne Bogen der Williamsburger Brücke. Jenseits des East River türmten sich die hellen Wolkenkratzer auf wie in einer aus versilbertem Karton erbauten Märchenstadt. Etwas weiter entfernt sah sie die Brooklyner Brücke, die aussah wie der Schatten der Williamsburger Brücke. »Schön«, sagte Francie. »Auf dem Weg zur Arbeit gehe ich manchmal über diese Brücke«, sagte Johnny. Francie blickte voll Bewunderung zu ihm auf. Also er ging über jene Zauberbrücke, und doch sprach er mit ihr wie immer. Sie berührte seinen Arm, um zu sehen, ob er sich anders anfühlte als sonst, aber sie verspürte keinen Unterschied. Bei der Berührung des Kindes lächelte Johnny zu ihm hinunter und legte den Arm um seine Schultern. »Wie alt bist du, Primadonna?« »Schon mehr als sechs Jahre.« »Dann wirst du ja im September zur Schule gehen?« »Nein, Mama hat gesagt, ich muß warten bis zum nächsten Jahr, bis Neeley alt genug sei, so daß wir zusammen gehen können.« »Warum?« »Damit wir zu zweit sind und einander helfen können gegen die größeren Kinder, wenn sie uns schlagen wollen.« 126
»Deine Mutter denkt an alles.« Francie wandte sich um und schaute über die andern Dächer. Ganz in ihrer Nähe war eins, auf dem sich ein Taubenschlag befand. Die Tauben waren eingeschlossen. Aber der Besitzer der Tauben, ein siebzehnjähriger Junge, stand mit einem langen Bambusstock auf dem Dachrand. Er hatte am Ende des Stockes ein weißes Tuch befestigt, das er fortwährend schwenkte. Ein Schwarm weißer Tauben näherte sich. Eine der Tauben folgte dem weißen, flatternden Tuch. Der Knabe lockte sie so nahe heran, bis er sie fassen konnte. Dann steckte er sie zu den andern Tauben in den Schlag. Francie war entsetzt und tief betrübt. »Der Junge hat eine Taube gestohlen.« »Das macht nichts, morgen wird jemand anders eine von den seinen stehlen«, tröstete Johnny. »Aber nun hat er die arme Taube von ihrer Familie weggelockt. Vielleicht hat sie Kinder.« Francies Augen füllten sich mit Tränen. »Sei deswegen nicht traurig, Francie! Vielleicht ist sie gern von ihrer Familie weggegangen. Und wenn es ihr im neuen Taubenschlag nicht gefällt, wird sie schon wieder zurückfliegen, sobald sie frei ist.« Francie tröstete sich wieder. Dann standen sie lange Zeit schweigend Hand in Hand nebeneinander am Dachrand und schauten über den Fluß nach New York hinüber. Endlich flüsterte Johnny vor sich hin: »Sieben Jahre.« »Was sagst du, Papa?« »Deine Mama und ich sind nun schon sieben Jahre verheiratet.« »War ich dabei, als ihr Hochzeit hattet?« »Nein.« »Aber ich war schon da, als Neeley kam?« »Jawohl.« Johnny versank wieder in Gedanken, die er laut dachte. »Sieben Jahre verheiratet, und dies ist unser drittes Heim. Es wird mein letztes Heim sein.« Francie hatte nicht bemerkt, daß er gesagt hatte: mein letztes Heim, statt unser letztes Heim.
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DRITTES BUCH
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ie neue Wohnung bestand aus vier Zimmern. Man nannte sie ›Eisenbahnzimmer‹, weil sie alle ineinandergingen. Die hohe, schmale Küche hatte ein Fenster gegen den mit Zementplatten belegten Hof hinaus, in dessen Mitte ein kleines Viereck saurer Erde freigelassen war, auf welcher unmöglich etwas wachsen konnte. Und doch wuchs darauf jener Baum. Als Francie ihn das erstemal sah, reichte er nur bis zum zweiten Stock. Sie konnte vom Küchenfenster aus auf ihn hinabschauen. Er sah aus wie ein Grüpplein Menschen von verschiedener Größe, die alle mit aufgespannten Schirmen dastanden. Hinten im Hof stand eine dünne Stange, von der aus sechs Wäscheleinen, die über kleine Rädchen liefen, mit den sechs Küchenfenstern verbunden waren. Die Buben aus der Nachbarschaft verdienten sich ihr Taschengeld damit, daß sie die Stange hinaufkletterten und die von den Rädern gerutschten Wäscheleinen wieder einhängten. Man munkelte, die Buben kletterten in der Dunkelheit hinauf, um die Leinen auszuhängen, damit sie am nächsten Tag sicher wieder zu ihren Fünfern kamen. Es war schön, an einem sonnigen, windigen Tag die vollen Wäscheleinen zu sehen. Die rechteckigen weißen Leintücher fingen den Wind auf wie die Segel eines Schiffes in einer Abenteurergeschichte, und die roten, grünen und gelben Kleidungsstücke flatterten und zerrten an den hölzernen Wäscheklammern, als wären sie lebendig. Die Stange stand vor einer Backsteinwand, der fensterlosen Rückwand eines Schulhauses. Francie entdeckte, daß, wenn man genauer hinsah, nie zwei Backsteine dieselbe Form hatten. Sie waren in einem schönen Rhythmus zusammengesetzt und durch bewegte Linien 129
von brockigem weißem Mörtel abgegrenzt. Wenn die Sonne daraufschien, glühten sie. Wenn Francie ihre Wange an die Backsteine preßte, gaben sie einen warmen Geruch von sich. Wenn es regnete, sogen sie den Regen auf und strömten einen feuchten Lehmgeruch aus, der wie das Leben selbst roch. Der zarte erste Schnee, der auf den Trottoiren noch schmolz, setzte sich auf der rauhen Oberfläche der Backsteinmauer fest, so daß die Wand aussah, als sei sie aus märchenhaften Spitzen gewoben. Ein paar Fuß des Schulplatzes grenzten an Francies Hof. Der Schulplatz war mit einem Drahtgitter umzäunt. Die wenigen Male, da Francie im Hof spielen konnte, weil der kleine Knabe, dem er eigentlich gehörte, nicht da war, gelang es ihr, eine Schulpause mitzuerleben. Sie schaute der Horde von Schulkindern zu, die auf dem Platz spielten. Die Schulpause bestand darin, daß Hunderte von Kindern gleich einer Herde in diesen gepflasterten Hof hinuntergetrieben und nachher wieder ins Haus gejagt wurden. Wenn sie alle im Hof versammelt waren, gab es kein Plätzchen mehr zum Spielen. Die Kinder trieben sich im Kreis herum und erhoben ihre Stimmen zu einem einzigen, zornigen, monotonen Schreien, das fünf Minuten lang in unverminderter Stärke anhielt. Dann wurde es durch das Klingeln der Glocke, die das Ende der Pause verkündete, wie mit einem scharfen Messer abgeschnitten. Nun folgte für einen Augenblick eine tödliche Stille, und jede Bewegung schien erstarrt zu sein. Darauf verwandelte sich das Herumtreiben im Kreis zu einem Vorwärtsdrängen und Stoßen. Die Kinder schienen es ebenso eilig zu haben, wieder ins Schulhaus hineinzukommen, wie sie es vorher eilig gehabt hatten, es zu verlassen. Das bis zu den höchsten Tönen getriebene Schreien und Kreischen wurde zu einem unterdrückten Wehklagen, während sich die Kinder ihren Rückweg zur Schulbank erkämpfen mußten. Einmal war Francie auch drunten im Hof, als ein kleines Mädchen ganz allein auf den Schulplatz hinauskam und wichtigtuerisch zwei Wandtafelreiniger gegeneinanderschlug, um sie vom Kreidestaub zu befreien. Francie schaute ihr durch das Drahtgitter zu und fand dies die faszinierendste Beschäftigung, die man sich ausdenken konn130
te. Mama hatte ihr gesagt, daß dies nur die Lieblinge der Lehrer tun dürften. Für Francie waren ›Lieblinge‹ Katzen, Hunde und Vögel. Sie schwor sich, daß sie, wenn sie alt genug war, um die Schule zu besuchen, so gut wie nur möglich miauen, bellen und zwitschern wolle, um ein solcher ›Liebling‹ zu werden und die Wandtafelreiniger ausklopfen zu dürfen. Francie drückte vor Eifer das Gesicht an das Drahtgitter, ganz erfüllt von Bewunderung. Das kleine Mädchen, das sich von Francie so bewundert fühlte, tat erst recht wichtig. Es klopfte mit den Tafelreinigern gegen die Backsteinmauer, auf die Steinplatten und schließlich noch auf seinen eigenen Hintern. Es sagte zu Francie: »Möchtest du sie gerne ganz aus der Nähe sehen?« Francie nickte schüchtern. Das Mädchen hielt einen der Reiniger ganz nahe an das Drahtgitter. Francie steckte den Finger zwischen dem Drahtgeflecht hindurch, um die mit Kreidepulver überpuderten, verschiedenfarbigen Filzlagen zu berühren. Als sie die bunte Herrlichkeit beinahe erreicht hatte, riß sie das kleine Mädchen wieder weg und spuckte ihr mitten ins Gesicht. Francie kniff die Augen fest zu, um die bitteren Tränen der Enttäuschung und des Zornes zurückzuhalten. Das kleine Mädchen stand neugierig da und wartete gespannt auf die Tränen. Als keine kamen, neckte es Francie: »Warum heulst du nicht, du Kamel? Soll ich dir noch mal ins Gesicht spucken?« Francie wandte sich ab und ging in den Keller hinunter, wo sie lange Zeit im Dunkeln saß und wartete, bis die Wellen ihrer schmerzlichen Empörung verebbten. Dies war die erste von vielen Enttäuschungen, die in dem Maße zunahmen, als ihre Sensibilität und ihr Verständnis wuchsen. Von jenem Tag an konnte sie den Anblick der Tafelwischer nicht mehr ertragen. Die Küche war Wohnzimmer, Eßzimmer und Feuerstätte in einem. In der einen Wand waren zwei lange, schmale Fenster. In einer Nische befand sich ein eiserner Kohlenherd. Die Nische war mit korallenfarbenen Backsteinen und elfenbeinweißem Gipsverputz verkleidet. Sie hatte ein steinernes Gesims. Vor dem Herd war eine Schieferplatte, 131
auf die Francie mit Kreide Bilder zeichnen konnte. Neben dem Herd stand ein Wasserboiler, der heiß wurde, wenn im Herd Feuer brannte. Wenn Francie an einem kalten Tag durchfroren nach Hause kam, pflegte sie den Boiler dankbar zu umarmen und ihre eiskalte Wange gegen das warme, silbrig glänzende Gefäß zu pressen. Links vom Herd standen zwei Waschtröge aus Speckstein mit Holzdeckeln, die mittels Scharnieren festgemacht waren. Die Scheidewand zwischen den beiden Trögen konnte man entfernen, und so wurde aus den beiden Trögen eine Badewanne. Aber sie war nicht so schön wie die der alten Wohnung. Manchmal, wenn Francie drin saß, fiel ihr der Holzdeckel auf den Kopf. Der Boden war brüchig, und statt daß man erfrischt aus dem Bade steigen konnte, war man ganz wund vom Sitzen auf dem nassen, brüchigen Steinboden. Und dann gab es erst noch vier Wasserhähne, die man irgendwie umgehen mußte. Und wenn sich Francie einmal vergaß und mit einem plötzlichen Ruck aufspringen wollte, schlug sie sich den Rücken wund. Sie hatte dort fast dauernd einen blauen Striemen. Nach der Küche kamen zwei Schlafzimmer, die ebenfalls ineinandergingen. Die beiden Zimmer hatten sargförmige Luftschächte. Die Fenster waren klein und schmutziggrau. Man konnte sie vielleicht mit Hammer und Meißel aufmachen, aber man wurde dafür nur mit einem Schwall kalter, feuchter Luft belohnt. Oberhalb der Luftschächte befand sich ein kleines abgeschrägtes Oberlicht, dessen dickes, undurchsichtiges, welliges Glas durch ein Eisengitter vor dem Zerbrechen geschützt war. Der Luftschacht selbst bestand aus Wellblechplatten. Diese Einrichtung sollte die Schlafzimmer mit Luft und Licht versehen. Aber das dicke Glas, das Eisengitter und der Schmutz von vielen Jahren ließen keinen Lichtstrahl mehr durch. Die Luftlöcher in den Wellblechplatten waren von Staub, Ruß und Spinngeweben verstopft. Die Luft konnte kaum passieren, dafür gelang dies dem Regen und Schnee unfehlbar. An stürmischen Tagen war der hölzerne Unterteil des Luftschachtes naß und rauchig und strömte einen modrigen Grabgeruch aus. Der Luftschacht war eine teuflische Erfindung. Auch wenn die Fen132
ster dicht verschlossen waren, diente er als Lautverstärker, und man konnte jedermanns Angelegenheiten belauschen. Ratten huschten darin herum. Auch bestand immer eine gewisse Feuergefahr. Wenn jemand aus Zerstreutheit oder vielleicht in betrunkenem Zustand ein Streichholz hinunterwarf, in der Meinung, es falle durch das Fenster in den Hof oder auf die Straße hinunter, würde das Haus in einem Augenblick Feuer fangen. Auf dem Grund des Luftschachtes lag eine Sammlung von häßlichen Gegenständen; weil dorthin kein Mensch Zugang hatte – die Fenster waren zu klein, um einen menschlichen Körper durchzulassen –, diente dieser Pfuhl als scheußlicher Friedhof für alles, was die Leute aus ihrem Leben wegschaffen wollten. Rasierklingen und blutige Tücher waren noch das Harmloseste. Francie warf einmal einen Blick hinunter. Was sie sah, erinnerte sie an das, was der Priester vom Fegfeuer erzählt hatte, nur war das Fegfeuer natürlich viel gewaltiger. Wenn Francie in die gute Stube gehen wollte, durchschritt sie das Schlafzimmer schaudernd und mit geschlossenen Augen. Die gute Stube oder das vordere Zimmer war das Zimmer. Es hatte zwei hohe, schmale Fenster, die auf die faszinierende Straße hinausmündeten. Das dritte Stockwerk war so hoch oben, daß der Straßenlärm zu einem beruhigenden Summen abgedämpft wurde. Das Zimmer hatte etwas Weihevolles. Es hatte eine eigene Tür, die direkt ins Treppenhaus hinausführte. Man konnte also Besuch empfangen, ohne die Gäste durch die Küche und die Schlafzimmer führen zu müssen. Die hohen Wände waren mit einer düsteren Tapete verkleidet, dunkelbraun mit goldenen Streifen. Die Fenster hatten innen Rolläden, die man zu beiden Seiten eng zusammenschieben konnte. Francie verbrachte viele glückliche Stunden damit, daß sie diese plissierten Läden auseinanderzog und sie mit einer einzigen Handbewegung zusammenfaltete. Es war für sie ein immer neues Wunder, daß die Fläche, die ein ganzes Fenster verdecken konnte, sich auf so kleinen Raum zusammenschieben und hinter einem schmalen Streifen Holztäfelung verstecken ließ. In einem schwarzen Marmorkamin war ein niedriger Ofen eingebaut. Man konnte nur dessen vordere Hälfte sehen. Er sah aus wie eine 133
halbierte Riesenmelone, deren Wölbung nach außen gekehrt war. Der Ofen bestand aus unzähligen Marienglasfensterchen, die von einem zarten schmiedeeisernen Gitterwerk zusammengehalten wurden. Zur Weihnachtszeit, der einzigen Zeit, da sich Katie in der guten Stube ein Feuer leisten konnte, glühten all die vielen kleinen Fensterlein, und Francie war tief beglückt, wenn sie vor dem Ofen sitzen und sich von seiner Wärme durchstrahlen lassen und dabei beobachten konnte, wie die Fensterlein im Verlauf der Nacht zuerst rosenrot leuchteten und allmählich verblaßten, bis sie nur noch bernsteinfarben waren. Wenn dann Katie hereinkam, die Gaslampe anzündete und damit die Schatten im Zimmer verscheuchte und das Licht in den Ofenfensterchen entzauberte, schien es Francie immer wie eine große Sünde. Aber das Schönste am vorderen Zimmer war das Klavier. Dies war eines der Wunder, um die man sonst ein Leben lang vergeblich beten mußte. Aber da stand es in der guten Stube der Nolans, und zwar ohne daß jemand es sich gewünscht oder erbeten hätte. Das Klavier war von den früheren Mietern, die es sich nicht leisten konnten, die Umzugskosten dafür zu bezahlen, stehengelassen worden. Denn in jenen Tagen war der Transport eines Klaviers von einer Wohnung in eine andere keine leichte Sache. Erstens konnte man durch die engen, steilen Treppenhäuser kein Klavier auf und ab tragen. Ein Klavier mußte unter endlosem Rufen, Gestikulieren und Fluchen der Umzugsmänner mit Seilen umwickelt und mit einem enormen Flaschenzug, den man auf dem Dach festmachen mußte, herabgelassen werden. Die Straßen wurden dann mit Seilen abgesperrt; ein Polizist mußte die Neugierigen zurückhalten, und die Schulkinder mußten auf Umwegen nach Hause gehen. Es gab immer einen großen, spannenden Moment, wenn das eingehüllte Monstrum vom Fenster wegbaumelte und sich ein paarmal um sich selbst drehte, bis es sich beruhigte und dann langsam auf die Straße herabgesenkt wurde, wo die Kinder es mit heiserem Beifallrufen empfingen. Das ganze Manöver kostete fünfzehn Dollar, also dreimal mehr als der Transport aller übrigen Möbel. Deshalb fragte die Besitzerin Katie, ob sie es nicht dalassen könnte und ob sie es ihr hüten wolle. Katie gab 134
ihr das Versprechen nur zu gern. Die Frau bat Katie eindringlich, es ja nicht der Feuchtigkeit und der Kälte auszusetzen und im Winter die Schlafzimmertür offenzulassen, so daß die Wärme von der Küche ein wenig zirkulieren konnte und das Klavier nicht verstimmt wurde. »Können Sie Klavier spielen?« fragte Katie. »Nein«, sagte die Frau kummervoll. »Niemand von unserer Familie kann spielen. Ich möchte es gern können.« »Aber warum haben Sie es denn gekauft?« »Es war in einem vornehmen Haus. Die Leute verkauften es billig. Ich wollte es so gern haben. Nein, spielen konnte ich nicht … Aber es war so schön … Es macht das ganze Zimmer so vornehm.« Katie versprach, für das Klavier zu sorgen, bis die Frau es sich leisten konnte, es abholen zu lassen. Aber es ergab sich, daß die Frau es nie abholen ließ, und so hatten die Nolans das kostbare Ding für immer. Es war klein, aus schwarzlackiertem Holz, das wunderbar glänzte. Vorn war aus dem dünnen Furnierblatt ein hübsches Muster ausgeschnitten, und hinter diesem Stabwerk war ein Stück rosa Seide gespannt. Der Deckel ließ sich nicht zurückrollen wie bei andern Klavieren, sondern man stellte ihn auf und lehnte ihn gegen den verzierten Klavierkasten, so daß er aussah wie eine schöne, glänzende Muschel. Auf beiden Seiten waren Kerzenhalter befestigt. Man konnte schneeweiße Kerzen hineinstecken und beim Kerzenlicht, das träumerische Schatten über die cremefarbenen Elfenbeintasten warf, spielen. Und dabei spiegelten sich alle Tasten in dem glänzenden Deckel. Als die Nolans die Wohnung zum erstenmal ansehen kamen, sah Francie nichts außer dem Klavier. Sie versuchte, es mit ihren Armen zu umspannen, aber es war zu groß. Sie mußte sich damit begnügen, den verfärbten rosa Brokatstuhl zu umarmen. Katie schaute das Klavier mit lachenden Augen an. Sie hatte im Fenster der unteren Wohnung ein weißes Plakat mit der Aufschrift ›Klavierstunden‹ gesehen. Katie hatte eine Idee. Johnny setzte sich auf den Zauberstuhl, der, wenn man ihn drehte, größer oder kleiner wurde, und spielte. Er konnte natürlich nicht richtig spielen, denn die Noten kannte er nicht, aber er konnte ein paar 135
Akkorde greifen. Er konnte ein Lied singen und von Zeit zu Zeit einen Akkord anschlagen, so daß es wirklich klang, als sänge er mit Klavierbegleitung. Er griff einen Moll-Akkord, blickte seinem ältesten Kind in die Augen und verzog die Mundwinkel zu einem Lächeln. Francie lächelte zurück und hielt den Atem an vor Spannung, was er nun tun werde. Er griff nochmals den Moll-Akkord und trat auf die Pedale. Dann begann er in das leise Echo hinein mit seiner hellen Stimme zu singen: Maxwelltons Tal ist lieblich, früh fällt der Tau herab, (Akkord – Akkord) dort war's, wo Annie Laurie mir ihr Versprechen gab. (Akkord – Akkord – Akkord – Akkord) Francie wandte den Kopf ab, damit Papa ihre Tränen nicht sah. Sie fürchtete, er werde sie fragen, warum sie denn weine, und dann würde sie ihm nicht zu antworten wissen. Sie liebte ihn, und sie liebte das Klavier. Ihre Tränen konnte sie sich selbst nicht erklären. Katie sprach mit ihrer alten, zärtlich klingenden Stimme, die Johnny während der letzten Jahre so vermißt hatte. »Ist das ein irisches Lied, Johnny?« »Schottisch.« »Das hast du noch gar nie gesungen.« »Ja, das ist möglich. Ich kenne das Lied schon lang, aber ich singe es nie, denn es ist nicht die Art Lied, die die Leute dort, wo ich arbeite, hören wollen. Sie hören lieber so etwas wie ›Hol mich mal ab an einem Regentage‹. Und wenn sie betrunken sind, dann wollen sie jedesmal die ›Süße Adeline‹ hören.« Die Nolans hatten sich in ihrer neuen Wohnung bald eingelebt. Zuerst sahen die altvertrauten Möbelstücke fremd aus. Francie setzte sich auf einen Stuhl, um ihn auszuprobieren, und war überrascht, daß er sich genauso anfühlte wie früher in der Lorimerstraße. Ihr 136
war doch ganz anders zumute. Warum war der Stuhl derselbe geblieben? Das vordere Zimmer sah hübsch aus, nachdem Papa und Mama es eingerichtet hatten. Da war der hellgrüne Teppich mit den großen hellroten Rosen. Und da waren die gestärkten elfenbeinfarbenen Spitzenvorhänge, ein Tisch mit marmorner Tischplatte, der mitten im Zimmer stand, und eine dreiteilige Salongarnitur aus grünem Plüsch. In der Ecke sah man einen Bambusständer mit einem in Plüsch gebundenen Fotoalbum, das Bilder von den Rommely-Schwestern im Säuglingsalter, wie sie bäuchlings auf einem Pelzteppich lagen, enthielt und alte Fotografien von geduldig aussehenden Großtanten, die hinter den breiten Schultern ihrer sitzenden schnurrbärtigen Ehemänner standen. Auf den schmalen Leisten des kleinen Möbels standen auch noch einige kleine Täßchen, auf die inmitten blauer Vergißmeinnicht und roter Rosen in goldenen Zierbuchstaben ›Zum Andenken‹ oder ›Aus treuer Freundschaft‹ gemalt war. Die kleinen Täßchen und Tellerchen stammten aus Katies Jugendzeit; sie hatte sie von ihren alten Schulfreundinnen geschenkt bekommen, und Francie durfte nie mit ihnen spielen. Auf dem untersten Brettchen lag eine verschlungene Schneckenmuschel mit zartem, rosigem Innern. Die Kinder liebten sie zärtlich und hatten ihr einen Kosenamen gegeben: Tutsy. Manchmal nahm Johnny zum großen Entzücken der Kinder die Muschel und hielt sie sich ans Ohr und lauschte hinein, dann hielt er sie mit dramatischer Geste hoch in die Luft, schaute sie mit schmelzendem Blick an und sang: Ich fand eine Muschel am Meeresstrand und hielt sie mir ans Ohr. Sie sang mir süßeste Melodei vom rauschenden Meere vor. Später, als Johnny sie einmal nach Canarsie mitnahm und Francie zum erstenmal das Meer sah, fand sie es nur deshalb wunderbar, weil es wirklich genauso sang wie Tutsy, die Schneckenmuschel. 137
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ie Kaufläden des Quartiers spielen im Leben eines Stadtkindes eine große Rolle. Durch sie kommt es mit all den Dingen in Berührung, die das Leben ermöglichen; sie enthalten auch die schönen Dinge, nach denen es sich sehnt, und die unerreichbaren Dinge, die es sich nur wünschen und erträumen kann. Francie liebte das Leihhaus fast am meisten – nicht um der Herrlichkeiten willen, die sich in verschwenderischer Weise hinter den Gitterfenstern auftürmten, und auch nicht der schattenhaften Frauengestalten wegen, die mit ihren geheimnisvollen Schultertüchern verstohlen durch die Seitentür schlüpften, sondern einzig und allein wegen der drei großen goldenen Kugeln, die hoch über dem Laden hingen und in der Sonne glänzten oder wie schwere goldene Äpfel sachte baumelten, wenn der Wind wehte. Auf der einen Seite des Leihhauses befand sich ein Bäckerladen, wo man wundervolle Charlottes russes mit Schlagsahne und einer roten kandierten Kirsche obendrauf haben konnte, wenn man Geld genug hatte. Gegenüber lag der Farbladen von Gollender. Auf dem Trottoir vor dem Laden war ein Ständer, an dem ein Teller mit einem geflickten Sprung hing. In den Teller hatte man ein Loch gebohrt und eine Kette hindurchgezogen, an der ein schwerer Steinblock baumelte. Dies sollte beweisen, wie gut das Zementit von Major war. Es gab allerdings Leute, die behaupteten, der Teller sei eigentlich aus Eisen, er sei nur so bemalt, um Porzellan vorzutäuschen. Francie aber war überzeugt, daß der gesprungene Teller aus richtigem Porzellan bestand und durch das Wunder des Zementits wieder ganz gemacht worden war. Der interessanteste Laden befand sich in einer kleinen Blockhüt138
te, die aus der Zeit stammte, da die Indianer noch durch Williamsburg streiften. Die Hütte mit ihren kleinen Fenstern und ihrem steilen Schindeldach nahm sich zwischen den Mietshäusern merkwürdig aus. Sie besaß ein großes, in viele kleine Felder aufgeteiltes Erkerfenster, hinter dem ein würdiger alter Mann an einem Tisch saß und Zigarren fabrizierte, lange, dünne, dunkelbraune, von denen man für einen Fünfer vier Stück bekam. Er hatte ein Häufchen Tabak vor sich, aus dem er das Blatt, das für die Umwicklung der Zigarre bestimmt war, sehr sorgfältig auswählte. Dann füllte er das Blatt sehr geschickt mit einer Mischung von kleineren Blättern und rollte das Ganze schön dicht zu einem dünnen Stengel, dessen Enden ein sauberes Viereck bildeten, zusammen. Er war ein Handwerker von der alten Schule und verabscheute die Erfindungen der Neuen Welt. Er weigerte sich, in seiner Bude das Gaslicht zu installieren. Im Winter, wenn die Tage kurz waren und er noch eine Menge Zigarren fertigmachen mußte, arbeitete er bei Kerzenlicht. Vor seinem Laden stand in drohender Positur ein hölzerner Indianer auf einem Holzblock. In der einen Hand hielt er den Tomahawk, in der andern ein Häuflein Tabak. Er trug römische Sandalen, deren Riemenwerk ihm bis zu den Knien reichte, einen kurzen Lendenschurz aus Federn und einen Kriegshelm aus knallroten, strahlendblauen und leuchtendgelben Federn. Der Zigarrenmacher malte ihn viermal im Jahr frisch an, und wenn es regnete, holte er ihn herein. Die Kinder aus der Nachbarschaft nannten den Indianer ›Tante Maimie‹. Dann gab es einen Spezereiladen, in dem man nur Tee, Kaffee und Gewürze verkaufte. Diesen mochte Francie fast am liebsten. Das Schaufenster war voll von interessanten chinesischen lackierten Büchsen, die romantische, exotische Düfte ausströmten. Da war auch ein Dutzend scharlachroter Kaffeebüchsen, auf die mit schwarzer Tusche abenteuerliche Namen gemalt waren: Brazil! Argentine! Turkish! Java! Mixed Blend! Der Tee war in kleineren, pagodenartig zugespitzten Büchsen. Sie las: Oolong! Formosa! Orange Pekoe! Black China! Flowering Almond! Jasmine! Irish Tea! Die Gewürze befanden sich in noch kleineren Büchsen hinter dem Ladentisch. Ihre Namen marschierten in ei139
ner langen Reihe über die Gestelle: Zimt – Nelken – Ingwer – Muskatnüsse – Curry – Pfefferkörner – Salbei – Thymian – Majoran. Wenn man Pfefferkörner kaufte, wurden sie in einer winzigen Pfeffermühle gemahlen. Es gab auch eine große Kaffeemühle, die man mit der Hand drehen mußte. Die Kaffeebohnen wurden in einen glänzenden Messingtrichter geschüttet, und dann drehte man mit beiden Händen das große Rad. Der duftende Kaffee prasselte in eine scharlachrote Büchse hinunter, die hinten wie eine Schaufel geformt war. Die Nolans mahlten ihren Kaffee zu Hause. Francie liebte es, ihre Mutter gemütlich mit der Kaffeemühle zwischen den Knien in der Küche sitzen und mit energischer Armbewegung drauflosmahlen zu sehen, während sie die ganze Zeit mit erhobenem Kopf und funkelnden Augen mit Papa redete und die Küche sich mit dem starken, behaglichen Duft des frisch gemahlenen Kaffees füllte. Der Teehändler besaß eine wundervolle Waage: sie bestand aus zwei glänzenden Messingwaagschalen, die seit mehr als fünfundzwanzig Jahren täglich frisch poliert wurden und infolgedessen sehr dünn und zart geworden waren und wie pures Gold glänzten. Wenn Francie ein Pfund Kaffee oder eine Unze Pfeffer holen mußte, schaute sie immer gespannt zu, wie der Händler den silbrig glänzenden Gewichtstein in die eine Waagschale legte und den aromatischen Kaffe aus einer kleinen, ebenfalls wie Silber glänzenden Schaufel in eine andere Waagschale laufen ließ. Sie hielt den Atem an, wenn ein paar Kaffeebohnen zuviel hineinrutschten und der Händler sie wieder sorgfältig herausfischte. Es war ein erhabener, von tiefem Frieden erfüllter Augenblick, wenn die beiden Waagschalen zum Stillstand gekommen waren und in vollkommenem Gleichgewicht ruhten. Francie schien es so, als könnte auf einer Welt, in der man die Dinge so vollkommen ausbalancieren konnte, nichts Unrechtes geschehen. Aber das Wunder aller Wunder war für Francie der einfensterige Kaufladen des Chinesen. Der Chinese trug seinen Zopf rund um den Kopf gewunden. Mama sagte, er behalte ihn, damit er jederzeit wieder nach China zurückkehren könne. Wenn er ihn einmal abschnitte, dann würden sie ihn nicht mehr in 140
sein Land hineinlassen. Er schlurfte in seinen schwarzen Filzpantoffeln lautlos hin und her und hörte geduldig die Instruktionen an, die ihm die Leute, die ihre Hemden in seine Wäscherei brachten, erteilten. Wenn Francie ihm etwas ausrichten mußte, faltete er die Hände in den weiten Ärmeln seines gelben Baumwollgewandes und blickte stumm zu Boden. Sie glaubte, er sei sehr weise und nachdenklich und höre ihr von ganzem Herzen zu. Aber er verstand nichts von dem, was sie ihm sagte, denn er konnte fast kein Englisch. Sein Wortschatz beschränkte sich auf ›Vorhemd‹ und ›Hemd‹. Wenn ihm Francie das schmutzige Hemd ihres Vaters brachte, ließ er es unter dem Ladentisch verschwinden, nahm ein Stück Pergamentpapier, tauchte einen dünnen Pinsel in ein Tuschfaß, zeichnete ein paar merkwürdige Figuren auf das Papier und händigte ihr das zauberhafte Dokument aus. Francie fand es einen wunderbaren Handel, gegen ein schmutziges Hemd so etwas Kostbares zu erhalten. Im Innern des Ladens herrschte ein sauberer, warmer, aber sehr fader Geruch wie in einem Treibhaus. Das Waschen besorgte er in einer geheimnisvollen Nische und wahrscheinlich zu nächtlicher Stunde, denn er stand von sieben Uhr morgens bis nachts um zehn im Laden hinter seinem Bügelbrett und schob mit träumerischer Bewegung ein schweres schwarzes Bügeleisen hin und her. Das Eisen wurde wohl innen mit Gas geheizt. Aber Francie wußte davon nichts. Sie glaubte, es hänge mit dem Mysterium seiner Rasse zusammen, daß er mit einem Bügeleisen bügeln konnte, ohne es je auf dem Herd zu erwärmen. Sie stellte sich unklar vor, daß die Wärme von einer Art Stärke, in die er die Hemden und Kragen eintauchte, ausgehe. Wenn Francie ihm dann sein Pergamentpapier und einen Zehner brachte, um das Hemd abzuholen, gab er ihr das säuberlich eingepackte Hemd samt zwei exotischen Nüssen. Francie liebte diese Nüsse sehr. Sie hatten eine knusprige, leicht zu knackende Schale und enthielten einen weichen, süßen Kern. Im Innern des Kerns befand sich ein harter Stein, den bis jetzt noch kein Kind hatte aufbrechen können. Man hatte Francie gesagt, daß sich innerhalb dieses Steins nochmals ein Stein befinde und in dem kleineren Stein ein noch kleinerer und so 141
weiter, bis die Steine so klein wurden, daß man sie nur noch mit dem Vergrößerungsglas sehen konnte, und auch diese enthielten noch kleinere Steine, bis man sie überhaupt nicht mehr wahrnehmen konnte. Aber sie waren immer da, und sie hörten überhaupt nie auf. Dies war Francies erste Begegnung mit der Unendlichkeit. Am liebsten hatte es Francie, wenn er ihr Geld wechseln mußte. Dann holte er einen kleinen hölzernen Zählrahmen hervor, der mit lauter dünnen Stäbchen bespannt war. Auf den Stäbchen liefen blaue, rote, grüne und gelbe Kügelchen. Er schob die Kügelchen die Messingstäbe entlang, dachte einen Moment tief nach, schnellte die Kügelchen wieder an ihren Platz zurück und verkündete: ›firrsig Cent‹. Die kleinen Kügelchen sagten ihm, wieviel er verrechnen und wieviel Geld er herausgeben mußte. Francie wünschte sich sehnlichst, ein Chinese mit einem so hübschen Spielzeug zu sein, so viel von den Nüssen essen zu können, wie sie nur wollte, das Geheimnis des ewig heißen Bügeleisens zu wissen und mit einem feinen Pinsel und einer eleganten Bewegung des Handgelenks jene zauberhaften Zeichen, die so zart und duftig waren wie Schmetterlingsflügel, machen zu können. Dies war Francies erste Begegnung mit der geheimnisvollen Welt des Orients.
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lavierstunden! Zauberhaftes Wort! Sobald sich die Nolans in ihrer neuen Wohnung eingerichtet hatten, machte Katie der Dame, die an ihrem Fenster Klavierstunden ausgeschrieben hatte, einen Besuch. Es gab zwei Fräulein Tynmore. Fräulein Lizzie gab Klavierstunden, und Fräulein Maggie schulte Singstimmen. Sie verlangten fünfundzwanzig Cent für die Stunde. Katie schlug einen Handel vor. Sie wollte bei den Tynmores jede Woche eine Stunde putzen als Entgelt für eine 142
wöchentliche Klavierstunde. Miß Lizzie machte den Einwand, daß ihre Zeit kostbarer sei als Katies Zeit. Aber Katie vertrat den Standpunkt, Zeit sei Zeit. Schließlich gelang es ihr, Miß Lizzie davon zu überzeugen, daß Zeit Zeit sei, und so kamen sie überein. Dann kam der große Tag der ersten Klavierstunde. Francie und Neeley mußten während der Stunde im vorderen Zimmer sitzen und die Augen und Ohren offenhalten. Für die Lehrerin stellte man einen Stuhl vor das Klavier. Die Kinder saßen nebeneinander auf der andern Seite des Klaviers. Während sie alle auf die Lehrerin warteten, rückte Katie aufgeregt ihren Stuhl zurecht. Miß Tynmore erschien Punkt fünf Uhr. Obwohl sie nur vom untern Stockwerk heraufkommen mußte, hatte sie sich in aller Form umgezogen. Sie trug einen straffen, getüpfelten Schleier vor dem Gesicht. Ihr Hut bestand aus der Brust und einem Flügel eines roten Vogels, die sie sich in grausamer Weise mit Hutnadeln ins Haar gesteckt hatte. Francie starrte voll Entsetzen auf den grausamen Hut. Mama ging schnell mit ihr ins Schlafzimmer und flüsterte, der Hut sei kein richtiger Vogel, es seien nur ein paar zusammengeleimte Federn, und sie solle ihn nicht so anstarren. Francie glaubte, was Mama gesagt hatte, aber sie konnte es doch nicht verhindern, daß ihre Augen immer wieder auf das gequälte Ebenbild eines Vogels abschweiften. Miß Tynmore brachte alles Nötige mit: einen vernickelten Wecker und ein vom häufigen Gebrauch abgenütztes Metronom. Der Wecker zeigte auf fünf Uhr. Miß Tynmore richtete ihn auf sechs Uhr und stellte ihn aufs Klavier. Sie nahm sich das Recht heraus, einen Teil der kostbaren Stunde mit ihren Vorbereitungen auszufüllen. Sie zog ihre perlgrauen, eng anliegenden Glacehandschuhe aus, blies jeden einzelnen Handschuhfinger auf, glättete und faltete die Handschuhe und legte sie ebenfalls aufs Klavier. Dann löste sie den Schleier und warf ihn über ihren Hut zurück. Sie massierte sich die Finger, blickte auf die Uhr, war befriedigt, daß schon soundso viele Minuten verstrichen waren, setzte das Metronom in Bewegung, nahm Platz auf ihrem Stuhl, und die Stunde begann. Francie war von dem Metronom so fasziniert, daß sie Mühe hatte, 143
Miß Tynmores Erklärungen zuzuhören und genau zu beobachten, wie sie Mamas Hand auf die Tasten legte. Das monotone, einschläfernde Ticken verleitete sie zum Träumen. Auch Neeleys runde blaue Augen rollten hin und her und verfolgten den Zeiger, bis er sich in den Schlaf hypnotisieren ließ. Sein Mund öffnete sich ein wenig, und sein blonder Lockenschopf sank allmählich auf die Schulter herab. Ein kleines Speichelbläschen kam und ging auf seinen Lippen. Katie wagte es nicht, ihn zu wecken, aus Furcht, Miß Tynmore könnte merken, daß sie drei Personen zum selben Preis unterrichten sollte, den sie sonst für einen Schüler verlangte. Das Metronom tickte verträumt weiter, und der Wecker tackte streitsüchtig drauflos. Miß Tynmore zählte, als traue sie dem Metronom nicht: eins, zwei, drei, eins, zwei, drei, während Katies von der Arbeit aufgeschwollene Finger mit unendlicher Ausdauer die ersten Tonleitern übten. Allmählich wurde es dämmerig im Zimmer. Dann schrillte plötzlich der Wecker. Francie schrak aus ihren Träumen auf, und Neeley fiel vom Stuhl. Die erste Stunde war vorüber. Katie übersprudelte vor Dankbarkeit. »Und wenn ich in meinem Leben nie mehr eine Klavierstunde nehmen würde, könnte ich mit dem auskommen, was Sie mir in dieser Stunde beigebracht haben. Sie sind wirklich eine ausgezeichnete Lehrerin.« Miß Tynmore war über dieses Kompliment sehr erfreut. Aber sie sagte Katie trotzdem, was sie zu sagen hatte. »Ich will Ihnen für die Kinder nichts extra verrechnen, aber ich möchte doch, daß Sie sich darüber im klaren sind, daß Sie mich nicht zum Narren halten können.« Katie wurde rot vor Scham, und die Kinder blickten zu Boden und schämten sich ebenfalls, daß man ihnen auf die Schliche gekommen war. »Ich will den Kindern erlauben, im Zimmer zu bleiben.« Katie dankte ihr. Miß Tynmore erhob sich und wartete. Katie vereinbarte mit ihr die Zeit, da sie ihre Reinigungsarbeiten bei Miß Tynmore tun würde. Aber Miß Tynmore blieb immer noch stehen. Katie hatte den Eindruck, als erwarte sie noch etwas von ihr. Schließlich sagte sie fragend: 144
»Und?« Miß Tynmore wurde rot wie das Innere einer Muschel und sagte stolz: »Die Damen – bei denen ich Stunden gebe –, nun – sie laden mich nachher immer zu einer Tasse Tee ein.« Sie legte die Hand aufs Herz und erklärte verwirrt: »Wissen Sie, diese Treppen …« »Würden Sie vielleicht mit Kaffee vorliebnehmen?« fragte Katie. »Wir haben nämlich keinen Tee.« »Aber gern!« Miß Tynmore setzte sich erleichtert. Katie stürzte in die Küche und wärmte den Kaffee, der immer auf dem Herd bereitstand. Während der Kaffee auf dem Feuer stand, arrangierte sie einen Löffel und einen Teller mit einem Zuckerbrötchen auf einem runden Servierbrett aus Zinn. Neeley war in der Zwischenzeit wieder auf dem Sofa eingeschlafen. Miß Tynmore und Francie saßen einander gegenüber und starrten sich an. Schließlich fragte Miß Tynmore: »Woran denkst du, kleines Mädchen?« »Ich denke einfach«, sagte Francie. »Manchmal sehe ich dich stundenlang auf dem Randstein sitzen. An was denkst du dann?« »An nichts. Ich erzähle mir einfach Geschichten.« Miß Tynmore erhob warnend einen Finger. »Kleines Mädchen, ich sage dir, wenn du groß bist, wirst du Geschichten schreiben.« Es klang vielmehr wie ein Befehl als wie eine Feststellung. »Ja, Madame«, sagte Francie aus Höflichkeit. Dann kam Katie mit dem Servierbrett herein. Sie entschuldigte sich: »Dies ist vielleicht nicht so vornehm, wie Sie es sonst gewohnt sind, aber wir haben gerade nichts anderes im Haus.« »Es ist schon recht«, sagte Miß Tynmore geziert. Und dann gab sie sich Mühe, das Brötchen nicht allzu gierig zu verschlingen. Um die Wahrheit zu sagen, ernährten sich die Tynmores von dem ›Tee‹, den sie von ihren Schülern bekamen. Ein paar Stunden zu fünfundzwanzig Cent am Tag waren nicht dazu angetan, jemanden reich zu machen. Es reichte gerade für die Miete, und fürs Essen blieb nicht mehr viel übrig. Die meisten Damen servierten ihnen schwachen Tee 145
und Zwieback. Die Damen wußten schon, was sich schickte, und waren gern bereit, eine Tasse Tee zu opfern, aber sie wollten doch nicht eine vollständige Mahlzeit servieren und außerdem noch einen Vierteldollar bezahlen. So begann Miß Tynmore sich auf die Stunde bei den Nolans zu freuen. Der Kaffee war erfrischend, und es gab immer ein Zuckerbrötchen oder ein belegtes Brötchen, mit dem sie ihren Hunger stillen konnte. Nach jeder Klavierstunde gab Katie das Gelernte an die Kinder weiter. Die Kinder mußten jeden Tag eine halbe Stunde üben. Mit der Zeit lernten sie alle drei Klavier spielen. Als Johnny vernahm, daß Maggie Tynmore Gesangstunden gab, glaubte er, es auch so machen zu können wie Katie. Er bot sich an, den zerrissenen Riemen an einem Rolladen zu reparieren, damit Francie dafür zwei Singstunden bekomme. Johnny, der in seinem Leben noch nie einen solchen Rolladenriemen gesehen hatte, ging mit Hammer und Schraubenzieher ans Werk und nahm den ganzen Fensterrahmen auseinander. Dann untersuchte er das zerrissene Seil, und weiter kam er nicht. Sein Geist war willig, aber er besaß nicht die nötige Geschicklichkeit. Als er versuchte, das Fenster wieder einzusetzen, um den kalten Winterregen, der vom Wind hereingeweht wurde, abzuhalten, zerbrach er eine Scheibe. Daran scheiterte der Handel. Die Tynmores mußten das Fenster von einem richtigen Handwerker in Ordnung bringen lassen. Und Katie mußte den beiden Schwestern zweimal umsonst die Wäsche besorgen, um den Schaden wieder abzuverdienen. So wurden Francies Gesangstunden für immer aufgegeben.
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rancie freute sich ungemein auf die Schule. Sie glaubte, daß die Schule all ihre Wünsche erfüllen würde. Sie war ein einsames Kind und sehnte sich nach der Kameradschaft der andern Schulkinder. Und 146
sie hätte schon lange gern einmal vom Brunnen auf dem Schulplatz Wasser getrunken. Francie stellte sich vor, es sei kein gewöhnliches Wasser, sondern Limonade. Sie hatte Mama und Papa schon oft vom Schulzimmer erzählen hören und hätte fürs Leben gern die Wandkarte gesehen, die man an einer Schnur aufziehen und wie einen Rolladen wieder aufrollen konnte. Aber vor allem freute sie sich auf die ›Schulsachen‹: ein Notizheft und eine Schiefertafel und eine Federschachtel mit Schiebedeckel, ganz angefüllt mit nagelneuen Bleistiften, ein Gummi, ein kleiner Bleistiftspitzer in Form einer Kanone, ein Tintenlappen und ein kleines gelbes Lineal. Bevor man in die Schule aufgenommen wurde, mußte man sich impfen lassen. Dies war gesetzliche Vorschrift. Und wie gefürchtet war diese Impfung! Wenn das Gesundheitsamt den unwissenden Eltern klarmachen wollte, daß die Impfung notwendig war, um tödlichen Krankheiten wie den Pocken vorzubeugen, wollten sie es nicht glauben. Alles, was sie dieser Aufklärung entnahmen, war, daß man in den gesunden Körper ihres Kindes Bazillen einspritzen wollte. Eltern, die selbst nicht in Amerika geboren waren, weigerten sich oft, ihre Kinder impfen zu lassen. Dann durften sie die Kinder nicht in die Schule schicken und wurden gerichtlich verfolgt, weil sie sich dem Schulzwang entzogen. Und das soll ein freies Land sein? fragten sie. Kann man das noch Freiheit nennen, wenn man vom Gesetz gezwungen wird, die Kinder in die Schule zu schicken und vorher ihr Leben aufs Spiel zu setzen, damit sie überhaupt in die Schule gehen können? Weinende Mütter brachten plärrende Kinder auf die Gesundheitsämter. Sie benahmen sich so, als müßten sie ihre unschuldigen Sprößlinge zur Schlachtbank führen. Die Kinder erhoben beim Anblick der Nadel ein hysterisches Geschrei, und die Mütter, die im Vorzimmer warteten, warfen sich das Schultertuch um den Kopf, um nichts zu hören, und weinten laut, als müßten sie schon ihre toten Kinder beklagen. Francie war sieben Jahre alt und Neeley sechs. Katie hatte Francie noch zurückbehalten, damit beide miteinander in die Schule eintreten konnten. So würden sie besser imstande sein, einander vor den älteren Schulkindern zu beschützen. An einem schrecklichen Samstag im Au147
gust kam Katie ins Schlafzimmer der Kinder, um ihnen nochmals die nötigen Instruktionen zu geben, bevor sie an ihre Arbeit ging. »Also vergeßt nicht, euch gut zu waschen, und wenn es dann bald elf Uhr ist, müßt ihr aufs Gesundheitsamt gehen und dort sagen, man solle euch impfen, weil ihr im September zur Schule gehen werdet.« Francie zitterte, und Neeley brach in Tränen aus. »Aber du kommst doch auch mit, Mama?« flehte Francie. »Ich muß doch an meine Arbeit. Wer tut denn meine Arbeit, wenn ich sie nicht tue?« fragte Katie, indem sie die Stimme ihres Gewissens mit lauter Entrüstung übertönte. Francie sagte nichts mehr. Katie wußte genau, daß sie nun ihre Kinder im Stich ließ. Aber sie konnte nicht anders, sie konnte einfach nicht anders. Sie wußte genau, daß sie eigentlich zum Schutz und zur Beruhigung der Kinder mitgehen sollte, aber sie wußte auch, daß sie die Folter der Augenblicke im Wartesaal nicht ertragen könnte. Und doch mußten die Kinder geimpft werden. Ob sie nun bei ihnen war oder nicht, das änderte nichts an der Tatsache. Warum sollte also nicht eines von den dreien verschont bleiben? Übrigens, sagte sie zu ihrem Gewissen, leben wir in einer harten, bitteren Welt. Und die Kinder müssen sich an diese Welt gewöhnen. Man muß sie früh abhärten und sie dazu erziehen, für sich selbst zu sorgen. »Dann geht vielleicht Papa mit uns«, sagte Francie hoffnungsvoll. »Papa ist auf der Union, um auf Arbeit zu warten. Er wird den ganzen Tag nicht nach Hause kommen. Ihr seid doch groß genug, um allein zu gehen. Außerdem tut es ja gar nicht weh.« Neeley fing wieder zu weinen an – noch kläglicher und herzzerbrechender als zuvor. Katie konnte es fast nicht ertragen. Sie liebte den Kleinen so sehr! Eigentlich war dies der Hauptgrund, warum sie nicht mitging: sie konnte es nicht mit ansehen, daß man ihrem Jungen einen Schmerz zufügte, und wäre es auch nur ein kleiner Nadelstich. Sie ließ sich beinahe dazu bewegen, doch mitzugehen. Aber nein! Wenn sie ging, würde sie einen halben Taglohn verscherzen, und dann mußte sie die Arbeit am Sonntag nachholen. Zudem würde sie nachher krank sein. Sie verabschiedete sich eilig, um an die Arbeit zu gehen. 148
Francie versuchte, den vor Angst und Schrecken zitternden Neeley zu trösten. Ein paar größere Knaben hatten ihm erzählt, daß sie einem auf dem Gesundheitsamt den Arm abschneiden. Um ihn von dieser Vorstellung abzulenken, nahm ihn Francie mit in den Hof hinunter und machte Sandkuchen mit ihm. Im Eifer vergaßen sie ganz, daß Mama ihnen ans Herz gelegt hatte, sich sauber zu waschen. Sie waren in ihr Spiel so vertieft, daß sie die Zeit darüber vergaßen. Das Kuchenbacken war so kurzweilig. Hände und Arme waren dabei ganz schmutzig geworden. Um zehn vor elf lehnte sich Frau Gaddis aus dem Fenster und rief hinunter, ihre Mutter habe ihr aufgetragen, sie daran zu erinnern, daß sie zur Impfung gehen müßten, wenn es bald elf Uhr sei. Neeley wollte noch seinen Sandkuchen fertigmachen und begoß ihn mit seinen Tränen. Dann nahm Francie ihn bei der Hand, und die beiden Kinder gingen schüchtern und zögernd aufs Gesundheitsamt, das um die nächste Straßenecke lag. Sie setzten sich auf eine Bank im Wartezimmer. Neben ihnen saß eine jüdische Mutter, die ihren großen Sechsjährigen weinend in den Armen hielt und ihn von Zeit zu Zeit leidenschaftlich küßte. Es waren auch noch andere Mütter da, deren Gesichter tiefe Sorge und großes Leid ausdrückten. Hinter der Milchglastür, wo das Schreckliche stattfand, hörte man ein ständiges Plärren, das für einen Augenblick von einem Schrei unterbrochen wurde und sich dann wieder fortsetzte, bis ein totenbleiches Kind mit einem schneeweißen Gazeverband um den linken Oberarm herauskam. Die Mütter stürzten sich auf ihre mißhandelten Kinder, rissen sie an sich und schüttelten mit einem fremdländischen Fluch zwischen den Lippen die Faust in die Richtung der Glastür, um schließlich die Folterkammer fluchtartig zu verlassen. Francie betrat das Zimmer sehr zaghaft. Sie hatte in ihrem ganzen kleinen Leben kaum einen Doktor oder eine Krankenschwester gesehen. Die weißen Mäntel, die glänzende Grausamkeit der Instrumente, die auf einem Servierbrett auf weißer Serviette ausgebreitet lagen, der Lysolgeruch und der gewaltige Sterilisator, auf den ein blutigrotes Kreuz gemalt war, erfüllten sie mit lähmender Angst. Die Krankenschwester rollte ihr den Ärmel hinauf und reinigte 149
an ihrem linken Oberarm mit Watte und Alkohol einen Fleck Haut. Francie sah den weißen Doktor mit der grausamen Nadel zwischen den Fingern auf sich zukommen. Er schwoll zu einem immer größeren Gespenst an, bis er sich schließlich selbst in eine dicke Nadel verwandelte. Sie schloß die Augen und erwartete den Tod. Aber es geschah nichts, sie spürte nichts. Dann öffnete sie vorsichtig wieder die Augen und wagte kaum zu glauben, daß alles vorüber sei. Zu ihrem Entsetzen sah sie, daß der Doktor immer noch mit erhobener Nadel dastand, zum Stechen bereit. Er starrte voll Ekel auf ihren Arm. Francie folgte seinem Blick. Sie sah einen kleinen weißen Fleck auf einem schmutzigbraunen Arm. Und dann hörte sie, was der Doktor zur Krankenschwester sagte. »Nichts als Dreck und nochmals Dreck vom Morgen bis zum Abend. Man weiß ja, daß sie arm sind, aber sie könnten sich wenigstens waschen. Das Wasser kostet nichts, und die Seife ist billig. Schauen Sie sich nur mal diesen Arm an, Schwester.« Die Schwester schaute hin und schnalzte pflichtschuldigst vor Entsetzen. Auf Francies Wangen brannte die heiße Schamröte. Der Doktor hatte auf der Harvard-Universität studiert. Er absolvierte sein Praktikum in einem benachbarten Spital. Er war verpflichtet, allwöchentlich für ein paar Stunden poliklinischen Dienst zu tun. Er beabsichtigte, nach Absolvierung seines Praktikums in Boston eine elegante Praxis zu eröffnen. Wenn er seiner sozial hochstehenden Verlobten nach Boston schrieb, schilderte er im Jargon seiner Umwelt seinen Aufenthalt im Spital von Brooklyn als Fegefeuer. Die Krankenschwester stammte selbst aus Williamsburg. Das merkte man ihrem Akzent an. Als Kind armer polnischer Emigranten hatte sie, strebsam wie sie war, tagsüber in einem Feinbäckereiladen gearbeitet und eine Abendschule besucht. Irgendwie war es ihr gelungen, zu ihrer Ausbildung als Krankenschwester zu kommen. Ihre große Hoffnung war, eines Tages einen Arzt zu heiraten. Sie verbarg ängstlich ihre Abstammung aus der armen Welt von Williamsburg. Nach dem zornigen Ausbruch des Doktors stand Francie mit hängendem Kopf da. Sie war also ein schmutziges Mädchen. Das hatte der 150
Doktor mit seinen heftigen Worten gemeint. Jetzt sprach er in etwas ruhigerem Ton und fragte die Schwester, wie sie sich vorstelle, daß diese Art Menschen überhaupt weitervegetieren könnte und ob es wohl nicht besser wäre, man würde sie alle sterilisieren, damit sie sich nicht mehr vermehrten. Meinte er damit, es wäre besser, sie würde sterben? Würde er jetzt irgend etwas tun, um sie zu töten, nur weil ihre Arme und Hände vom Spielen im Sand schmutzig waren? Sie blickte zur Krankenschwester auf. Für Francie waren alle Frauen Mütter wie ihre eigene und wie Sissy und Tante Evy. Sie hoffte, die Krankenschwester werde etwas sagen wie: Ach, vielleicht muß die Mutter dieses Kindes in einer Fabrik arbeiten und hat nicht Zeit gehabt, sie heute morgen sauber zu waschen, oder: Sie wissen doch, wie es ist, Herr Doktor, die Kinder spielen doch alle so schrecklich gern mit Sand, und wie leicht werden sie davon schmutzig. Aber die Schwester sagte nichts dergleichen. Sie sagte: »Ja, ich weiß. Ist es nicht schrecklich? Ich bin völlig Ihrer Meinung, Herr Doktor. Es gibt keine Entschuldigung dafür, daß diese Leute in einem solchen Schmutz leben.« Ein Mensch, der sich aus der untersten Schicht der Armen heraufgearbeitet hat, hat die Wahl zwischen zwei Wegen. Er kann, wenn er aus dem Elend heraus ist, seine Abstammung vergessen, oder er kann sich ihrer bewußt bleiben und für diejenigen, die er in der Armut zurückgelassen hat, ein mitleidiges Herz bewahren. Die Krankenschwester hatte entschieden den ersten Weg gewählt. Und doch wußte sie in ihrem Innersten, daß das traurige Gesicht dieses ausgehungerten Kindes sie noch jahrelang verfolgen würde und daß sie sich einst wünschen würde, sie hätte anders gesprochen, sie hätte irgendein begütigendes Wort zu dem Kind gesagt, das so voll flehender Erwartung zu ihr aufgeblickt hatte. Sie wußte genau, daß sie niederträchtig handelte, aber sie brachte nicht den Mut auf, sich anders zu benehmen. Als die Nadel ihren Arm ritzte, spürte Francie es gar nicht. Die Wunden, die ihr der Doktor mit seinen Worten geschlagen hatte, schmerzten sie so sehr, daß sie für körperlichen Schmerz ganz unempfindlich war. Während die Krankenschwester ihr mit großem Geschick einen 151
Gazeverband anlegte und der Arzt sein Instrument in den Sterilisator steckte und eine neue Nadel herausnahm, setzte sich Francie für ihren Bruder ein. »Jetzt kommt mein Bruder an die Reihe. Sie müssen nicht erstaunt sein, wenn sein Arm genauso schmutzig ist wie meiner. Und Sie brauchen es ihm nicht zu sagen, ich weiß es jetzt.« Der Arzt und die Schwester blickten erstaunt auf das kleine Menschenkind, das sich plötzlich so zur Wehr setzte. Francies Stimme wurde von einem Schluchzer zerrissen. »Sie brauchen es ihm nicht zu sagen. Es wird auch gar nichts nützen. Er ist ein Junge, und es ist ihm ganz gleich, ob er schmutzig ist oder nicht.« Dann stolperte sie aus dem Sprechzimmer. In der Tür hörte sie noch die erstaunte Stimme des Doktors. »Ich hatte keine Ahnung, daß sie verstehen würde, was ich sagte.« Darauf sagte die Schwester mit einem oberflächlichen Seufzer: »Ach, das ist nicht so schlimm.« Als die Kinder wieder nach Hause kamen, war Katie schon da, sie schaute mit mitleidigen Augen auf ihre verbundenen Arme. Francie machte ihrem Kummer mit leidenschaftlichen Worten Luft. »Warum, Mama, warum …? Warum müssen sie noch solche Sachen sagen, bevor sie einen mit der Nadel in den Arm stechen?« »Die Impfung«, sagte Mama mit Überzeugung, nun, da alles überstanden war, »hat etwas sehr Gutes an sich. Nun kannst du die rechte Hand besser von der linken unterscheiden. In der Schule mußt du mit der rechten Hand schreiben, und die Narbe wird dir immer sagen, nein, nein, nicht diese Hand. Ich muß die andere Hand nehmen.« Diese Erklärung befriedigte Francie, denn es war ihr bisher nie gelungen, ihre rechte Hand von der linken zu unterscheiden. Sie aß und zeichnete immer mit der linken Hand. Katie mußte sie oft korrigieren und ihr die Kreide oder den Löffel in die andere Hand legen. Jetzt, da Mama diese Erklärung abgegeben hatte, begann Francie selbst zu glauben, die Impfung sei wirklich etwas sehr Gutes. Es war doch eigentlich ein geringer Preis dafür, daß sie nun immer wissen würde, welches ihre rechte Hand war. Von jenem Tag an begann Francie ihre 152
rechte Hand zu gebrauchen, und das schwierige Problem war für immer gelöst. In der Nacht bekam Francie Fieber, und die Impfstelle juckte schmerzlich. Sie sagte es Mama, die darüber sehr beunruhigt war. Sie gab Francie sofort das strenge Verbot: »Du darfst auf keinen Fall kratzen, und wenn es noch so sehr beißt.« »Warum darf ich nicht kratzen?« »Wenn du kratzt, dann wird dein ganzer Arm anschwellen und schwarz werden, und schließlich wird er abfallen. Also kratz nicht!« Katie hatte nicht die Absicht gehabt, dem Kind einen Schreck einzujagen. Sie war ja selbst sehr erschrocken. Sie glaubte, daß, wenn man den Arm berühre, Francie eine Blutvergiftung bekommen würde. Sie wollte mit ihrer Warnung nur verhindern, daß Francie sich die Wunde kratzte. Francie brauchte ihre ganze Willenskraft, um sich vom Kratzen abzuhalten. Am nächsten Tag durchzuckten schmerzhafte Stiche den ganzen Arm. Bevor sie zu Bett ging, guckte sie ein wenig unter den Verband. Zu ihrem Entsetzen sah sie, daß die Impfstelle ganz geschwollen war und daß sich in der Mitte eine dunkelgrüne Stelle mit gelbem Eiterrand befand. Und doch hatte sie nicht gekratzt. Sie wußte es sicher, daß sie nicht gekratzt hatte. Und doch! Vielleicht hatte sie es letzte Nacht im Schlaf getan. Ja, so war es gewiß. Sie traute sich nicht, es Mama zu sagen. Mama würde sagen: »Siehst du, ich habe es doch immer wieder gesagt. Warum hast du nicht auf mich gehört? Nun hast du's.« Es war Sonntag abend. Papa war bei der Arbeit. Francie konnte nicht schlafen. Sie stand auf und schlich sich ins vordere Zimmer, wo sie sich ans Fenster setzte. Sie legte den Kopf auf die verschränkten Arme und wartete darauf, daß sie sterben würde. Um drei Uhr morgens hörte sie das Kreischen des Graham-AvenueAutobusses, der an der Ecke stoppte. Das bedeutete, daß jemand ausstieg. Sie lehnte sich aus dem Fenster. Ja, es war Papa. Er schlenderte die Straße hinunter mit seinem leichten, tänzerischen Schritt und pfiff 153
dazu: »Mein Liebster ist der Mann im Mond.« Die vertraute Gestalt in Kellnerfrack und Melone mit der sorgfältig eingewickelten Kellnerschürze unter dem Arm war für Francie das Leben selbst. Als er an die Tür kam, rief sie ihm einen Gruß zu. Er blickte zu ihr hinauf und lüftete galant den Hut. Dann öffnete sie ihm die Küchentür. »Was tust du denn noch so spät, Primadonna?« fragte er. »Es ist doch nicht Samstag abend.« »Ich habe am Fenster gesessen«, flüsterte sie, »und habe gewartet, daß mein Arm abfallen würde.« Er unterdrückte ein Lachen. Dann erklärte sie ihm, wie es ihr mit dem Arm ergangen war. Er schloß sachte die Tür, die zu den Schlafzimmern führte, und zündete die Gaslampe an. Er löste den Verband ab, und es wurde ihm fast übel beim Anblick des geschwollenen, eiterigen Armes. Aber er ließ es sich nicht anmerken. »Ach, du lieber Gott, das ist nicht so schlimm! Nein, nein, das ist gar nicht schlimm. Du hättest meinen Arm sehen sollen, als ich geimpft wurde! Er war zweimal so dick und geschwollen und rot, weiß und blau, statt nur gelb und grün wie deiner. Und schau nur, wie hart und stark er ist!« Er log aus purer Gutmütigkeit; er war in seinem Leben nie geimpft worden. – Er füllte ein Becken mit warmem Wasser und goß ein paar Tropfen Karbolsäure hinein. Dann wusch er die häßliche Wunde aus und betupfte sie immer wieder. Francie zuckte jedesmal zusammen, wenn die Säure sie brannte, aber Johnny tröstete sie und sagte, das Brennen bedeute, daß es besser werde. Während der Behandlung sang er mit leiser Stimme ein sentimentales Lied: Am liebsten sitzt er da mit seinen Füßen am Kamin, das Streifen und das Strolchen liegt ihm nicht … Dann sah er sich nach einem reinen Stück Stoff um, das er als Verbandstoff benützen konnte. Da er nichts fand, zog er seinen Frack und sein Vorhemd aus, zog sich das Unterhemd über den Kopf und riß mit dramatischer Gebärde einen Streifen davon ab. »Dein bestes Unterhemd!« protestierte Francie. 154
»Ach, es war ohnehin schon voller Löcher.« Er verband den Arm. Der Verband roch nach Johnny, warm und aromatisch vom Zigarrenrauch. Für Francie hatte es etwas sehr Beruhigendes. Er roch nach schützender Liebe. »So! Nun ist alles wieder in Ordnung, Primadonna. Wie bist du nur auf den Gedanken gekommen, dein Arm würde abfallen?« »Mama hat gesagt, er würde abfallen, wenn ich kratze. Ich wollte wirklich nicht kratzen, aber vielleicht habe ich es im Schlaf dann doch getan.« »Vielleicht.« Er küßte sie auf die schmalen Wangen. »Und nun husch ins Bett mit dir!« Sie ging und schlief friedlich bis zum Morgen. Als sie erwachte, hatte das heftige Pulsieren aufgehört, und nach wenigen Tagen war der Arm wieder geheilt. Nachdem Francie zu Bett gegangen war, rauchte Johnny noch eine Zigarre. Dann zog er sich langsam aus und schlüpfte zu Katie ins Bett. Sie spürte seine Gegenwart im Halbschlaf und schlang in einer ihrer seltenen Anwandlungen von Zärtlichkeit den Arm um seine Brust. Er löste den Arm sachte, um sie nicht ganz zu wecken, und rückte von ihr weg, so weit er konnte. Er lag dicht an der Wand, faltete die Hände hinter dem Kopf und starrte bis zum Morgen vor sich hin in die Dunkelheit.
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rancie erwartete große Dinge von der Schule. Seit die Impfung sie den Unterschied zwischen der rechten und der linken Hand gelehrt hatte, glaubte sie, daß sie in der Schule noch größere Wunder erleben werde. Sie glaubte, sie werde schon nach dem ersten Schultag lesen und schreiben können. Aber alles, was sie am ersten Schultag mit nach Hause brachte, war eine blutige Nase. Eine ältere Schülerin hatte ihr den Kopf gegen den steinernen Brunnenrand gestoßen, als sie ver155
sucht hatte, aus den sprudelnden Hähnen die lang ersehnte Limonade zu trinken. Übrigens war es gar keine Limonade gewesen, sondern ganz gewöhnliches Brunnenwasser. Francie war auch enttäuscht, weil sie eine einplatzige Schulbank mit einem andern Mädchen teilen mußte. Sie hätte so gern ein eigenes Pult gehabt. Sie nahm mit Begeisterung den Bleistift in Empfang, den man ihr am Morgen zuteilte, und gab ihn nur zögernd wieder aus der Hand, als man um drei Uhr die Bleistifte wieder einsammelte. Sie hatte schon nach einem halben Schultag begriffen, daß sie nie ein ›Liebling‹ sein würde. Dieses Vorrecht war für eine kleine Gruppe von Mädchen reserviert … Mädchen mit frischgelocktem Haar, mit steifen, frischgewaschenen Schürzen und seidenen Haarbändern. Sie waren die Kinder der reichen Ladenbesitzer des Quartiers. Francie bemerkte, wie Miß Briggs sie ganz anders anblickte als die andern und wie sie ihnen die auserlesensten Plätze in der vordersten Reihe zuwies. Von diesen Mädchen verlangte man nicht, daß sie ihr Pult mit jemand anderem teilten. Miß Briggs' Stimme nahm einen sanfteren Klang an, wenn sie mit diesen Bevorzugten sprach. Wenn sie sich aber an die große Menge der Ungewaschenen wandte, dann war ihre Stimme barsch und hart. Francie, die zum großen Haufen gehörte, lernte an diesem ersten Schultag mehr, als ihr im Augenblick bewußt wurde. Sie bekam die Klassenunterschiede innerhalb einer großen Demokratie schmerzlich zu spüren. Die Haltung der Lehrerin erstaunte und verletzte sie. Offensichtlich wurde sie mit den vielen andern, die so arm waren wie sie, einfach ihrer Armut wegen gehaßt und verachtet. Die Lehrerin verhielt sich so, als hätten sie alle kein Recht, in der Schule zu sitzen, als sei sie von irgend jemand gezwungen worden, sie dennoch aufzunehmen, und als würde sie die vielen Unerwünschten nun einfach dulden, und zwar mit so wenig Gnade wie nur möglich. Es war, als mißgönne sie ihnen die armseligen Brocken Wissen, die sie ihnen zuwarf. Wie der Doktor auf dem Gesundheitsamt, handelte auch sie so, als hätten sie alle überhaupt kein Recht zu leben. Man hätte meinen können, all die Unwillkommenen würden sich 156
zusammentun und gemeinsam gegen die Macht auftreten, die sie nicht aufkommen lassen wollte. Aber dem war nicht so. Sie haßten einander ebensosehr, wie die Lehrerin sie haßte. Sie imitierten die knurrende Sprechweise der Lehrerin, wenn sie miteinander sprachen. Es gab in jeder Klasse einen Unglücklichen, den die Lehrerin zum Sündenbock stempelte. Dieses arme Kind wurde unausgesetzt getadelt und gequält, an ihm reagierte sie ihre Unzufriedenheit mit sich selber ab. Und kaum hatten die andern Schüler erkannt, wen sich die Lehrerin zum Opfer erwählt hatte, wandten auch sie sich mit doppelter Grausamkeit und Herzlosigkeit gegen dieses arme Geschöpf. Dafür schmeichelten sie denjenigen, die bei der Lehrerin in Gunst standen. Vielleicht hatten sie irgendwie das Gefühl, dadurch dem Thron näherzukommen.
Dreitausend Kinder waren in dem häßlichen Schulhaus, das eigentlich nur für tausend Kinder bestimmt war, zusammengepfercht. Es war ein Brutkasten des Lasters. Die Schulkinder tuschelten einander schmutzige Geschichten zu. Von einer hyperblonden, hysterisch lachenden Lehrerin sagte man, sie gehe immer, wenn sie unter dem Vorwand, im Büro zu tun zu haben, das Klassenzimmer verließ, mit dem Hilfsabwart im Keller schlafen. Von der Oberlehrerin, einer energischen, grausamen Person mittleren Alters, die brokatverzierte Kleider trug und immer nach Schnaps roch, munkelte man, daß sie die widerspenstigen Knaben zu sich aufs Büro kommen lasse und sie zwinge, die Hosen auszuziehen, damit sie ihr bloßes Hinterteil mit einem spanischen Rohr züchtigen könne. Die kleinen Mädchen schlug sie durch die Kleider. Natürlich war die Körperstrafe verboten. Aber wer erfuhr etwas davon? Wer würde es an die Öffentlichkeit bringen? Sicher nicht die ausgepeitschten Kinder, denn es war allgemein üblich, daß derjenige, der in der Schule eine Prügelstrafe abbekommen hatte, zu Hause nochmals eine durchmachen mußte, wenn er etwas davon verlauten ließ. So schwiegen sich die Kinder über diese Körperstrafen aus. 157
Das Schlimmste an diesen unsauberen Geschichten war, daß sie wirklich den Tatsachen entsprachen. In jenen Tagen hatte man in Williamsburger Schulkreisen noch nichts von Kinderpsychologie gehört. Das Lehrerpatent war leicht zu erlangen. Man brauchte dazu nur die Abschlußprüfung einer Mittelschule und zwei Jahre Lehrerseminar. Die wenigsten Lehrer wählten den Beruf, weil sie sich dazu berufen fühlten. Die Frauen wählten den Lehrerinnenberuf, weil er fast der einzige war, der ihnen offenstand, und weil sie dabei besser bezahlt wurden als in einer Fabrik. Dazu hatten sie noch lange Sommerferien und wurden nach ihrem Rücktritt pensioniert. Sie wurden Lehrerinnen, weil niemand sie heiraten wollte. Verheirateten Frauen war es verboten, den Lehrerinnenberuf auszuüben. So kam es, daß die meisten Lehrerinnen infolge ihres unterdrückten Liebesbedürfnisses irgendwie verdreht und neurotisch waren. Sie rächten sich dafür an den Kindern anderer glücklicherer Frauen. Die grausamsten Lehrerinnen waren diejenigen, die selbst aus der Welt der Armen stammten. Es schien, als ob sie durch ihre Härte gegenüber diesen armen kleinen Geschöpfen ihre eigenen dunklen Kindheitserinnerungen rächen und bannen wollten. Natürlich waren nicht alle Lehrerinnen schlecht. Hier und da konnte man auch eine treffen, die die Kinder verstand, die mit ihnen litt und die versuchte, ihnen zu helfen. Aber sie blieben nie lange in ihrem Beruf. Entweder heirateten sie, oder sie wurden von ihren neidischen Kolleginnen hinausgeärgert. Das delikate Problem, das man diskret mit ›das Zimmer verlassen‹ bezeichnete, schaffte Kummer und Not. Man befahl den Kindern zu ›gehen‹, bevor sie in die Schule kamen, und bis zur Mittagszeit zu ›warten‹. In der Pause fanden die wenigsten Kinder die Gelegenheit, in den Toilettenraum zu gelangen. Meistens war der Raum viel zu stark belagert. Es waren ohnehin für je fünfhundert Kinder nur zehn Aborte vorhanden. Und wenn man das Glück hatte, bis vor die Türen zu kommen, so fand man sie bestimmt von einem der größten und am meisten verrohten Schulkinder belagert, das niemanden hineinließ. Sie waren taub gegen die flehentlichen Bitten der gequälten Kinder, die 158
sich vor ihnen drängten. Einige dieser Schülerinnen verlangten einen Penny als Eintrittsgeld, aber die wenigsten Kinder hatten Geld bei sich. Sie gaben die Türen erst wieder frei, wenn das Glockenzeichen den Wiederbeginn des Unterrichts verkündete. Kein Mensch hat je begriffen, warum ihnen dies niederträchtige Spiel soviel Vergnügen bereitete. Diese kleinen Tyrannen wurden nie bestraft, denn die Lehrerinnen kümmerten sich nicht um die Toilettenraumfrage und erfuhren daher nie etwas von diesem Mißbrauch. Und keines der Kinder hätte es sich einfallen lassen, ein anderes bei einer Lehrerin zu verklagen. Auch die Kleinsten taten es nicht. Sie wußten alle, daß sie von der Verklagten, wenn sie es erfuhr, halb zu Tode gequält würden. Und so wurde diesem Übelstand nie abgeholfen. Theoretisch durfte ein Kind das Zimmer verlassen, wenn es um Erlaubnis fragte. Wenn man einen Finger hochhielt, bedeutete es, daß man das Zimmer nur für kurze Zeit verlassen wollte, zwei Finger bedeuteten eine längere Frist. Aber die herzlosen Lehrerinnen waren alle überzeugt, daß dies alles nur Vorwände waren, um sich eine Weile außerhalb des Klassenzimmers aufhalten zu können. Francie bemerkte aber bald, daß die bevorzugten Kinder jederzeit hinausgehen konnten, sobald sie sich meldeten. Die übrigen gewöhnten sich entweder an diese Ordnung und richteten sich nach den Wünschen der Lehrerschaft, die anderen, die dies nicht konnten, wurden chronische Hosennässer. Schließlich mischte sich Tante Sissy ein und sorgte dafür, daß Francie von dieser Pein erlöst wurde. Sie hatte die Kinder schon lange nicht mehr gesehen, seit dem Tag, da Katie ihr das Haus verboten hatte. Und sie hatte große Sehnsucht nach ihnen. Sie wußte, daß sie nun zur Schule gingen und wollte unbedingt wissen, wie sie sich dabei fühlten. Es war im November. Sissy hatte einen freien Tag. Sie schlenderte die Schulstraße hinunter, gerade zu der Zeit, als die Schule aus war. Wenn die Kinder zu Hause erzählten, sie hätten Tante Sissy angetroffen, dann konnten sie denken, es sei ein Zufall gewesen. Zuerst entdeckte sie Neeley unter der wilden Horde. Ein größerer Junge riß ihm die Mütze vom Kopf, stampfte darauf herum und rannte davon. Sofort 159
wandte sich Neeley einem Kleineren zu und tat dasselbe mit dessen Mütze. Sissy packte Neeley am Arm, aber er riß sich mit einem heiseren Schrei los und lief die Straße hinunter. Sissy empfand mit Wehmut, daß Neeley nicht mehr der zarte Junge von ehemals war. Francie entdeckte Sissy und umarmte und küßte sie mitten auf der Straße. Sissy nahm sie mit in eine Konditorei und stiftete ihr ein Schokoladengetränk für einen Penny. Dann mußte Francie sich neben sie auf eine Treppe setzen und hier alles erzählen, was sie in der Schule erlebt hatte. Francie zeigte ihr das Lesebuch und das Schreibheft mit den Buchstaben in Blockschrift. Sissy war tief beeindruckt. Sie blickte Francie ins blasse Gesicht und bemerkte, daß sie vor Kälte zitterte. Sie sah auch, daß sie trotz der kalten Jahreszeit nur ein dünnes Baumwollkleidchen, einen zerschlissenen, abgetragenen Sweater und dünne baumwollene Strümpfe trug. Sie legte den Arm um das Kind und durchwärmte es mit ihrer eigenen Körperwärme. »Aber, Kind, du zitterst ja wie Espenlaub!« Francie hatte diese Redensart noch nie gehört. Sie gefiel ihr. Sie sah nach dem kleinen Baum, der an der Seite des Nachbarhauses wuchs. Ein paar trockene Blätter hingen noch an ihm. Eins davon raschelte im Wind, ›zitterte wie Espenlaub‹. »Was fehlt dir denn?« fragte Sissy. »Du bist ja ganz durchfroren!« Francie wollte zuerst nichts sagen, aber schließlich gab sie Sissys Drängen nach, schmiegte ihr verschämtes Gesicht an Sissys warmen Hals und flüsterte ihr etwas ins Ohr. »Ach deshalb! Aber warum hast du denn nicht gefragt, ob …« »Die Lehrerin schaut immer weg, wenn wir die Hand heben.« »Dann brauchst du dich doch nicht zu schämen. Das könnte jedem passieren. Die Königin von England hat das auch getan, als sie noch ein kleines Mädchen war.« Aber hatte sich die Königin auch so geschämt, war sie in dieser Hinsicht ebenso sensibel gewesen? Francie weinte vor Scham und Furcht. Sicher würde Mama sie ausschelten und ihr sagen, sie solle sich schämen. »Deine Mama wird dich sicher nicht schelten. Sie weiß schon, daß 160
das allen kleinen Kindern passiert. Sag nichts davon, daß ich dir das erzählt habe, aber deine Mama hat ihre Hosen auch naß gemacht, als sie klein war, und deine Großmutter ebenfalls. Es ist wirklich nichts Neues, und du bist sicher nicht die erste, der so etwas passiert ist.« »Aber ich bin zu groß dazu. Mama wird sich lustig machen über mich, wenn Neeley dabei ist.« »Sag's ihr nur gleich selbst, bevor sie es bemerkt, und versprich ihr, es nie wieder zu tun.« »Aber ich kann ihr das nicht versprechen, wenn mich die Lehrerin nicht hinausgehen läßt.« »Von jetzt an wird sie dich immer gehen lassen. Du glaubst Tante Sissy doch, nicht wahr?« »Ja-a-a, wieso weißt du das?« »Ich werde in der Kirche eine Kerze dafür opfern.« Dieses Versprechen vermochte Francie zu beruhigen. Als Francie nach Hause kam, wurde sie von Katie ein wenig ausgescholten; aber Francie war dagegen gewappnet. Am nächsten Morgen fand sich Sissy zehn Minuten vor Schulbeginn im Klassenzimmer. Sie sagte zu der Lehrerin: »In Ihrer Klasse ist ein kleines Mädchen mit dem Namen Francie Nolan.« »Frances Nolan«, korrigierte Miß Briggs. »Ist sie intelligent?« »Na, es geht so.« »Ist sie artig?« »Sie wird schon müssen.« »Ich bin nämlich ihre Mutter«, log Sissy. »Nein!« »Ja!« »Vielleicht möchten Sie gerne wissen, wie das Kind lernt, Frau Nolan?« »Ist Ihnen nie aufgefallen, daß das Kind ein Nierenleiden hat?« »Ein Nierenleiden?« »Ja. Und der Arzt hat gesagt, wenn man sie nicht sofort hinausge161
hen läßt, wenn sie es nötig hat, dann könnte sie eines Tages tot umfallen wegen überbeanspruchter Nieren. Denken Sie, wie schrecklich das wäre, wenn das Kind eines Tages hier im Schulzimmer plötzlich tot umfallen würde!« »Natürlich möchte ich das nicht, aber …« »Und wenn man sie mit dem Polizeiauto abholen würde und wenn Sie gestehen müßten, Sie seien verantwortlich dafür, weil Sie sie nicht hinausgehen ließen!« Log Sissy etwa? Fräulein Briggs wurde nicht klug aus ihr. Es kam ihr alles höchst phantastisch vor. All diese sensationellen Dinge sagte diese Frau mit der ruhigsten, freundlichsten Stimme. Dann blickte sie aus dem Fenster. Zufällig schlenderte unten auf dem Trottoir ein Polizist vorbei. »Sehen Sie diesen Polizisten dort?« Miß Briggs nickte. »Das ist mein Mann.« »Frances' Vater?« »Ja, wer sonst?« Sissy riß das Fenster auf und johlte hinunter »Juhhuu, Johnny!« Der Polizist blickte erstaunt zum Fenster hinauf. Zuerst glaubte er, es handle sich um eine toll gewordene alte Jungfer. Dann gab ihm seine angeborene männliche Eitelkeit ein, es könnte am Ende eine der jüngeren Lehrerinnen sein, die schon längst ein Auge auf ihn hatte und nun endlich den nötigen Mut aufbrachte, um ihm eine leidenschaftliche Liebeserklärung zu machen. Er ging darauf ein und warf ihr mit seiner fetten, rosigen Hand ebenfalls einen Handkuß zu. Dann nahm er galant die Mütze ab und setzte seine Patrouille wieder fort. Wenn all die Frauen, die in mich verliebt sind, wüßten, daß ich zu Hause sechs Kinder habe, dachte er. Fräulein Briggs' Augen quollen heraus vor Staunen. Es war ein schöner, stattlicher Polizist. Gerade in dem Augenblick kam eines der reichen kleinen Mädchen mit einer Schachtel voll Süßigkeiten für die Lehrerin herein. Fräulein Briggs gurrte vor Vergnügen und küßte die seidenweiche Rosenwange des Mädchens. Sissys Geist war wie eine frisch abgezogene Rasierklinge. Sie begriff blitzartig, von welcher Seite der 162
Wind wehte; sie sah, daß er gegen die Kinder von Francies Art wehte. »Hören Sie«, sagte sie, »Sie denken, wir haben nicht viel Geld.« »Ich habe gewiß nie …« »Wir sind eben nicht die Art Leute, die mit ihrem Geld prahlen. Aber nun steht Weihnachten vor der Tür«, köderte sie. »Es mag sein«, lenkte Fräulein Briggs ein, »daß ich es nicht jedesmal gesehen habe, wenn Francie die Hand erhob.« »Wo sitzt sie denn, daß Sie sie nicht so gut sehen können?« Die Lehrerin zeigte auf einen dunklen Platz im Hintergrund. »Vielleicht würden Sie sie besser sehen, wenn sie ein wenig weiter vorn sitzen dürfte.« »Die Sitzordnung ist schon längst festgelegt.« »Weihnachten steht vor der Tür«, warnte Sissy schlau. »Ich will sehen, was sich tun läßt.« »Ja, tun Sie das, und schauen Sie gut.« Sissy ging auf die Tür zu, und dann wandte sie sich nochmals um. »Denn es steht nicht nur Weihnachten vor der Tür, sondern mein Mann, der Polizist ist, wird zu Ihnen kommen, wenn Sie das Kind nicht anständig behandeln.« Francie hatte nach dieser Konferenz nie mehr Schwierigkeiten. Mochte sie ihre Hand noch so schüchtern heben, Fräulein Briggs bemerkte sie zufällig jedesmal. Francie durfte sogar eine Zeitlang in der vordersten Reihe sitzen. Als aber Weihnachten gekommen war, ohne daß Francie ein kostbares Geschenk für die Lehrerin brachte, wurde sie wieder in den dunklen Hintergrund zurückversetzt. Weder Francie noch Katie erfuhren je etwas von Sissys Schulbesuch. Aber Francie mußte nie mehr die Schmach des Hosennässens erleben; wenn Fräulein Briggs sie auch nicht freundlich behandelte, so ließ sie sie wenigstens in Ruhe und quälte sie nicht mehr. Natürlich wußte Fräulein Briggs genau, daß das, was diese Frau ihr gesagt hatte, lächerlich war. Und doch, wozu sollte sie etwas Derartiges riskieren? Sie konnte zwar die Kinder nicht leiden, aber ein Satan war sie deswegen nicht. Sie hatte kein Interesse daran zuzusehen, wie ein Kind vor ihren Augen tot umfiel. Ein paar Wochen später ließ Sissy durch ein anderes Fabrikmädchen 163
eine Postkarte an Katie schreiben. Sie bat ihre Schwester, das Vergangene zu vergessen und ihr zu erlauben, wenigstens hin und wieder zu den Kindern zu kommen. Aber Katie ignorierte die Karte. Mary Rommely kam und legte sich für Sissy ins Mittel. »Warum seid ihr denn so auseinandergekommen?« fragte sie Katie. »Das kann ich dir nicht sagen.« »Großmütiges Verzeihen kostet nichts und ist doch so kostbar«, sagte Mary Rommely. »Ich weiß schon, was ich tue«, sagte Katie trotzig. »Ja«, seufzte Großmutter Rommely und sagte nichts mehr. Katie wollte es nicht zugeben, daß sie Sissy vermißte. Sie vermißte ihren gesunden Menschenverstand, ihr warmes Herz und ihre Art, Schwierigkeiten auf so einfache Weise aus dem Weg zu räumen. Wenn Evy herüberkam, sprachen sie nie ein Wort über Sissy. Auch Mary Rommely wagte es nicht mehr nach ihrem ersten Vermittlungsversuch. Katie wurde über Sissys Ergehen vom gemeinsamen Versicherungsagenten, der zugleich Familienvertrauter und Bote war, auf dem laufenden gehalten. Die ganze Familie Rommely war bei derselben Versicherungsgesellschaft versichert, und derselbe Agent machte wöchentlich die Runde bei allen Schwestern. Er brachte Neuigkeiten, vermittelte Klatsch und war der Familienbote, der über alle Ereignisse auf dem laufenden war. Eines Tages erzählte er, Sissy habe wieder ein Kind geboren, das er aber nicht habe versichern können, denn es habe nur zwei Stunden gelebt. Als Katie dies hörte, erfüllte sie Mitleid, und sie schämte sich, daß sie so lange hart gegen ihre Schwester gewesen war. »Wenn Sie meine Schwester wieder sehen, sagen Sie ihr doch, sie soll wieder einmal vorbeikommen«, sagte sie zu dem Agenten. Und von da an besuchte Sissy die Familie Nolan wieder regelmäßig.
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chon am ersten Schultag begann Katies Kampf gegen Läuse und Flöhe. Der Kampf war heftig, kurz und erfolgreich. Da die Kinder so dicht zusammengepfercht waren, übertrugen sie fortwährend das Ungeziefer aufeinander. Jede Woche kam die ›Laustante‹ einmal in die Schule, und die Kinder mußten sich ganz unschuldigerweise der demütigendsten Untersuchung, die einem Kind zugemutet werden kann, ausliefern. Die kleinen Mädchen mußten alle in einer Reihe stehen und die Laustante untersuchte sie mit einem hölzernen Instrument, hob die Zöpfe hoch und suchte nach Läusen oder Nissen. Die Kinder, bei denen sie etwas gefunden hatte, wurden abgesondert, und am Ende der Untersuchung hielt sie eine kleine Predigt und sagte allen andern, wie schmutzig und verabscheuenswert die Verlausten seien und daß man ihnen aus dem Wege gehen solle. Die Unglücklichen wurden dann in die Drogerie geschickt, um ›blaues Öl‹ zu holen, damit ihre Mütter sie behandeln konnten. Auf dem Heimweg von der Schule wurden sie von einer schreienden Horde grausamer Kameradinnen eskortiert. »Schäm dich, schäm dich, pfui, du hast Läuse, Lausliese, Lausliese!« Wenn diese Unglücklichen bei der nächsten Untersuchung als ›sauber‹ befunden wurden, hatten sie die Demütigung und die Schmach, die man ihnen angetan hatte, schon vergessen, und sie verfolgten nun ihrerseits die nächsten Opfer mit demselben Geschrei. Ihr eigenes Unglück lehrte sie nicht, mitleidig zu sein. Und so war das Leiden umsonst. Katie war entschlossen, um jeden Preis zu verhindern, daß ihre Kinder jemals vom Ungeziefer und seinen Begleiterscheinungen gequält würden. Sie hatte genug andere Sorgen. Als Francie am ersten Tag aus 165
der Schule kam und erzählte, sie habe an der Banknachbarin Wanzen herumspazieren sehen, traf sie sofort Vorsichtsmaßregeln. Sie seifte Francies Haar mit starker gelber Schmierseife tüchtig ein, behandelte es am nächsten Morgen mit Petroleum und flocht es in harte, steife Zöpfe, so daß Francie an den Schläfen die Äderchen anschwollen. Sie warnte Francie davor, in die Nähe einer Gasflamme zu gehen und schickte sie so in die Schule. Francies Haar erfüllte das ganze Schulzimmer mit Petroleumgeruch. Ihre Banknachbarin rutschte so weit wie möglich von ihr weg. Die Lehrerin schrieb Katie einen Brief, in dem sie ihr verbot, Francies Haar mit Petroleum zu behandeln. Aber Katie reagierte nicht darauf. Leben wir nicht in einem freien Land? fragte sie. Von nun an wusch sie Francies Kopf jede Woche mit Schmierseife und rieb ihr das Haar jeden Morgen mit Petroleum ein. Als in der Schule eine Mumpsepidemie ausbrach, machte Katie zwei Säcklein aus Flanell, nähte eine Knoblauchzehe hinein und hängte sie den Kindern an einer sauberen Korsettschnur um den Hals. So verbreitete Francie in der Schule nicht nur den Petroleum-, sondern auch den Knoblauchgeruch. Die Kinder gingen ihr deshalb aus dem Weg. Sie hatte auf dem überfüllten Schulplatz immer einen kleinen freien Raum um sich, und im Autobus vermieden die Leute sorgfältig die Nachbarschaft der Nolan-Kinder! Und es half! Während der ganzen Schulzeit war keines von Katies Kindern auch nur einen Tag lang krank. Und sie blieben auch von jeglichem Ungeziefer verschont. Dafür wurde Francie ein einsames Kind. Aber sie gewöhnte sich bald daran. Sie war schon in ihren ersten Jugendjahren immer allein und ›anders‹ gewesen. Sie litt nicht allzusehr darunter.
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rotz all der Grausamkeiten und der Verlassenheit gefiel es Francie in der Schule. Das geordnete Tagesprogramm, das sie mit so vielen andern Kindern teilte, gab ihr ein Gefühl der Sicherheit, der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Die Nolans waren von Natur aus Individualisten. Sie paßten sich nur dann der Allgemeinheit an, wenn es für ihre Existenz unbedingt notwendig war. Aber sie hatten ihren eigenen Lebensstil. Sie gehörten keiner bestimmten sozialen Gemeinschaft an. Das war alles sehr schön für die Heranbildung von Individualisten, aber für ein kleines Kind wie Francie hatte es manchmal etwas Verwirrendes. Deshalb fühlte sie sich in der Gemeinschaft der Schule geborgen. Trotz aller Grausamkeiten spürte sie darin ein Ziel und einen gewissen Fortschritt. Und es gab auch einige lichte Stunden. Zum Beispiel, wenn Herr Morton, der Musiklehrer, jede Woche einmal für eine halbe Stunde kam. Er besuchte als Spezialist alle Schulen in Williamsburg. Es war immer ein Fest, wenn er kam. Er trug einen schwarzen Schwalbenschwanz und eine Lavaliiere. Er übersprudelte vor Lebensfreude und erschien den Kindern wie ein Wesen aus einer besseren Welt. Er verstand die Kinder und liebte sie, und sie vergötterten ihn. An dem Tag, da Herr Morton kam, war das Schulzimmer von Freude erfüllt. Die Lehrerin trug ihr Sonntagskleid und war ein wenig freundlicher. Manchmal hatte sie sich sogar das Haar gelockt und parfümiert. Er kam wie ein Wirbelwind, mit fliegenden Rockschößen, ins Schulzimmer, dessen Tür er weit aufstieß. Dann sprang er aufs Podium und begrüßte die Kinder mit fröhlicher Stimme. Die Kinder lachten alle vor Glück, und sogar die Lehrerin lächelte. Er zeichnete Noten auf die Wandtafel und versah sie mit kleinen 167
Füßchen, so daß es aussah, als wollten sie aus der Tonleiter herausspringen. Die ganzen Noten sahen aus wie kleine, dicke Männlein. Die Achtelnoten hatten eine scharfe, schnabelartige Nase, die aus dem Gesicht hervorsprang. Von Zeit zu Zeit brach er plötzlich, spontan wie ein Vogel, in Singen aus. Und manchmal übersprudelte er so von Temperament, daß er einen Takt vortanzte. Er brachte den Kindern wertvolle Lieder bei, ohne sie bei ihrem wahren Namen zu nennen. Er versteckte die großen Namen hinter einfachen Bezeichnungen wie ›Schlafliedchen‹, ›Straßenlied‹, ›Lied für einen sonnigen Tag‹. Unter dem Namen ›Hymne‹ ließ er Händels Largo in den kindlichen Stimmen erschallen. Beim Murmelspielen pfiffen die kleinen Knaben, ohne es zu wissen, Stücke aus Dvořáks Sinfonien. Fragte man sie nach dem Namen des Liedes, so antworteten sie: »O Heimkehr …« Oder sie machten das Büchsenspiel und summten dabei den Soldatenchor aus Gounuds ›Faust‹, den sie ›Gloria‹ nannten. Weniger geliebt, aber ebenso bewundert wie Herr Morton, war Fräulein Bernstein, die ebenfalls einmal wöchentlich kam, um Zeichenstunde zu geben. Auch sie kam aus einer anderen Welt, aus der Welt der schönen Kleider, der köstlichen, gedämpften Farben. Ihr Gesicht war weich und freundlich; sie liebte die armen, schmutzigen Kinder mehr als die wohlbehüteten. Die Lehrerinnen konnten sie nicht ausstehen. Sie schmeichelten ihr ins Gesicht und beschimpften sie, wenn sie unter sich waren. Sie beneideten sie um ihren Charme und um ihren Liebreiz, der die Männer so für sie einnahm. Sie war warm und strahlte eine stark weibliche Atmosphäre aus. Sie wußten, daß sie nachts nicht allein schlafen mußte wie sie. Sie hatte eine weiche, singende Stimme. Sie konnte in einem Augenblick mit einem Stück Kreide oder Holzkohle die schönsten Dinge hervorzaubern. Mit einer eleganten Bewegung des Handgelenks konnte sie einen Apfel erstehen lassen. Und mit zwei weiteren Bewegungen war auch schon eine süße Kinderhand da, die den Apfel umfaßte. An Regentagen pflegte sie keine Zeichenstunde zu geben. Dann setzte sie sich mit ihrem Block vor das ärmste, zerlumpteste Kind und zeichnete es, und wenn das Porträt fertig war, war es erschütternd schön. Dann 168
sah man in dem frühreifen Kindergesicht nicht mehr den Schmutz, sondern nur noch die Wehmut. Oh, Fräulein Bernstein war groß! Diese beiden Wanderlehrer waren die goldenen und silbernen Sonnenspritzer auf dem breiten, schlammigen Fluß der Schultage, Tage, die aus öden Stunden bestanden, in denen die Lehrerin ihre Schülerinnen zwang, reglos mit gefalteten Händen dazusitzen, während sie in einem Roman las, den sie auf ihrem Schoß verborgen hielt. Francie dachte, wenn alle Lehrer so wären wie Herr Morton und Fräulein Bernstein, dann wäre die Schule ein Himmelreich. Aber vielleicht war all das Dunkle nötig, damit das Gute an der Schule um so strahlender und glänzender hervorstach.
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ann kam plötzlich der große Augenblick, da Francie entdeckte, daß sie lesen konnte. Schon seit einiger Zeit hatte sie nun buchstabieren und lautieren gelernt; sie hatte Silben aneinandergefügt, so daß sich daraus Wörter bildeten. Aber eines Tages, als sie im Schulbuch blätterte, sprang ihr das Wort ›Maus‹ in die Augen. Sie erkannte den Sinn des Wortes auf den ersten Blick. Sofort sah sie im Geist eine graue Maus über das Buch springen. Dann sah sie das Wort ›Pferd‹, und schon hörte sie es scharren und sah ein Fell im Sonnenschein glänzen. Dann stieß sie auf das Wort ›rennen‹, und sie mußte schwer atmen, als würde sie selbst rennen. Von nun an war die Schranke zwischen dem bloßen Buchstabieren und dem Inhalt des Wortes verschwunden, und sie konnte die Wörter als Ganzes samt Inhalt mit einem einzigen Blick erfassen. Auf diese Weise las sie eine ganze Seite, und es schwindelte ihr fast vor Freude und Aufregung. Am liebsten hätte sie laut hinausgeschrien: Ich kann lesen! Ich kann lesen! 169
Von diesem Moment an gehörte die Welt ihr. Nie mehr würde sie sich nun so einsam fühlen, nie mehr die Kameradschaft der andern Kinder vermissen. Die Bücher wurden zu ihren Freunden, und es gab deren genug für jede Stimmung. Wenn sie einen stillen Gefährten brauchte, gab es Gedichte. Es gab Abenteuergeschichten, wenn ihr die stillen Stunden zu lang wurden. Später, im Backfischalter, konnte sie Liebesgeschichten lesen, und wenn sie sich danach sehnte, sich einem Menschen besonders nahe zu fühlen, dann konnte sie zu einer Biographie greifen. Noch am selben Tage tat sie einen Schwur, sie wolle von nun an jeden Tag ein Buch lesen, solange sie lebe. Sie liebte auch die Zahlen und machte mit ihnen ein Spiel. Jede Zahl bedeutete ein Familienmitglied, und ein paar Zahlen zusammen ergaben eine ganze Familiengeschichte. Die Null war ein Kindlein, das man auf dem Arm hielt. Es verursachte noch keine Schwierigkeiten. Die Zahl ›Eins‹ war ein einjähriges Kleinkind, das eben das Gehen erlernte und noch leicht zu führen war. ›Zwei‹ war ein zweijähriges Knäblein, das schon gehen und ein wenig sprechen konnte. Es ließ sich auch noch mühelos ins Familienleben (das heißt in die Rechnungen) hineinfügen. Die ›Drei‹ war schon größer und benötigte mehr Aufmerksamkeit. Dann kam die ›Vier‹, ein Mädchen in Francies Alter. Sie war wieder fast so leicht zu hüten wie die ›Zwei‹. Die ›Fünf‹ war die gütige, sanftmütige Mutter. In größeren Rechnungen kam sie oft dazwischen und machte alles leicht und gerade, wie eine richtige Mutter. Der Vater, die ›Sechs‹, war schwieriger als die andern, aber sehr gerecht. Aber die ›Sieben‹ war schlimm. Sie war ein buckliger alter Großvater, auf den man sich nie recht verlassen konnte. Auch die Großmutter, die ›Acht‹, war nicht leicht zu behandeln, aber leichter zu verstehen als die ›Sieben‹. Am schwersten aber war die ›Neun‹; sie war der Besuch, und man konnte ihn fast nicht ins Familienleben hineinfügen. Jedes Rechnungsresultat stellte eine kleine Geschichte dar. 924 bedeutete, daß der kleine Junge und das Mädchen allein zu Hause waren und vom Besuch gehütet werden mußten. Die Zahl 1.024 hieß, daß alle die kleinen Kinder miteinander im Hof spielten. 62 bedeutete, daß Papa mit dem kleinen Jungen einen Spaziergang machte, 50 dagegen, 170
daß Mama mit dem ganz Kleinen auf dem Arm herumspazierte, und 78, daß Großvater und Großmama an einem Winterabend vor dem Kaminfeuer saßen. Das Spiel war wunderbar, denn es ergab sich mit jeder Zahl eine neue Geschichte. Francie übertrug das Spiel auch auf Algebra. X war die Liebste des Sohnes, die ins Familienleben eindrang und alles komplizierte, und so weiter. Dadurch wurde das Rechnen für Francie etwas Beseeltes, und sie konnte sich damit manche einsame Stunde vertreiben.
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o verging ein Schultag nach dem andern. Die einen waren eintönig und öde, die andern waren erleuchtet durch die Stunden mit Fräulein Bernstein und Herrn Morton. Aber Francie tröstete sich damit, daß sie lesen, schreiben und rechnen lernte. An einem Samstagnachmittag im Oktober schlenderte Francie durch viele Straßen, bis sie in ein für sie ganz neues Quartier kam, in dem es weder armselige Kaufläden noch Mietshäuser gab. Es bestand aus lauter alten Häusern, die schon gestanden haben mußten, als George Washington mit seinen Truppen durch Long Island zog. Sie waren alt und baufällig, aber von Lattenzäunen umgeben, und wenn man hinein wollte, mußte man durch breite Tore gehen, auf denen Francie fürs Leben gern hin und her geschaukelt wäre. Die Gärten vor den Häusern waren mit bunten Herbstastern und mit Ahornbäumen bepflanzt, die ihre roten und gelben Blätter auf die Straße hinausstreuten. Über dem ganzen alten, von der Herbstsonne überfluteten Quartier lag eine tiefe, heitere, zeitlose Ruhe. Francie war so glücklich wie Alice im Wunderland, die durch einen Zauberspiegel getreten war. Als sie weiterging, fand sie ein kleines Schulhaus, dessen alte Backsteinmauern in der späten Abendsonne granatrot leuchteten. Der 171
Schulplatz war nicht eingezäunt und auch nicht zementiert, sondern mit weichem Gras bewachsen. Hinter dem Schulhaus befand sich eine große Wiese, die mit Goldrute, wilden Astern und Klee bewachsen war, so daß man das Gefühl haben konnte, man sei auf dem Lande. Francies Herz stockte vor Freude. In diese Schule wäre sie gern gegangen! Aber wie? Man konnte keine andere Volksschule besuchen als diejenige des Quartiers, in dem man wohnte. Und Francie wußte genau, daß Mama sich nicht dazu bewegen lassen würde, in diese Gegend zu ziehen, nur weil sie gern die Schule gewechselt hätte. Sie schlenderte gedankenvoll nach Hause. In der Nacht blieb sie auf, bis Papa nach Hause kam. Als sie sich alle an Hummer und Kaviar und an der Leberwurst, die er mitgebracht hatte, gütlich getan hatten, gingen Mama und Neeley zu Bett. Francie blieb noch bei Papa, bis er seine letzte Zigarre geraucht hatte. Sie erzählte ihm begeistert von der Schule, die sie entdeckt hatte. Und Papa sagte zuversichtlich: »Wir wollen sehen, was wir tun können.« »Glaubst du, wir könnten in die Nähe dieser Schule ziehen?« »Nein, aber irgendwie werden wir es schon einrichten. Ich will morgen mit dir hingehen, und dann wollen wir sehen.« Francie war so aufgeregt, daß sie die ganze Nacht nicht schlafen konnte. Als endlich Morgen war, stand sie auf, aber Papa lag noch in tiefem Schlaf. Er wachte erst gegen Mittag auf, und dann setzte sich die Familie zu Tisch. Francie konnte kaum essen. Sie blickte immer wieder zu Papa hinüber, aber er gab ihr kein Zeichen, als hätten sie ein Geheimnis. Aber als Katie nach dem Essen den Kaffee einschenkte, sagte er: »Vielleicht werde ich mit der Primadonna einen kleinen Spaziergang machen.« Francie wartete gespannt, was Mama nun sagen würde. Vielleicht war sie nicht einverstanden. Oder vielleicht würde sie sagen, sie komme auch mit. Aber Mama sagte nur »Schön«. Francie wusch das Geschirr. Dann mußte sie für Papa das Sonntagsblatt holen und eine Corona-Zigarre. Papa las die Zeitung, las sämtliche Spalten, auch diejenigen, die ihn unmöglich interessieren konnten. 172
Dazu mußte er noch mit Mama über seine Lektüre sprechen. Er legte die Zeitung gemütlich beiseite und sagte zu Katie: »Merkwürdige Dinge geschehen heutzutage, stell dir einmal vor …« Francie hätte weinen mögen vor Ungeduld. Inzwischen war es vier Uhr geworden. Die Zigarre war längst zu Ende geraucht, die Zeitung war ausgeplündert und lag auf dem Boden. Katie war mit Neeley zu Großmutter Rommely hinübergegangen. Endlich nahm Papa Francie bei der Hand. Er trug seinen einzigen Anzug und seine Melone und sah großartig aus. Es war ein herrlicher Oktobertag. Die warme Sonne und ein erfrischender Wind bewirkten gemeinsam, daß der Geruch des Meeres durch alle Straßen strich. Sie gingen durch ein paar Querstraßen, bogen um eine Ecke, und schon waren sie in dem so ganz andersartigen Quartier. Nur in einer so merkwürdigen gemischten Stadt wie Brooklyn konnte es derart schroffe Grenzen geben. In diesem Quartier wohnten lauter Leute, die schon seit etlichen Generationen Amerikaner waren, während man in Williamsburg selten ein Kind fand, dessen Eltern beide in Amerika zur Welt gekommen waren. In Francies alter Schule war sie die einzige gewesen, deren Eltern schon in Amerika geboren worden waren. Am ersten Schultag hatte die Lehrerin alle nach ihrer Abstammung gefragt. Die meisten Antworten lauteten: »Ich bin polnisch-amerikanisch. Mein Vater wurde in Warschau geboren.« »Irisch-amerikanisch, Vater und Mutter stammen aus der Grafschaft Cork.« Als Francie an die Reihe kam, sagte sie stolz: »Ich bin Amerikanerin.« »Ich weiß das schon, aber von welcher Nationalität bist du noch?« »Amerikanisch«, beharrte Francie. »Wirst du mir nun sagen, woher deine Eltern stammen, oder muß ich dich zur Oberlehrerin schicken?« »Meine Eltern sind amerikanisch; beide sind aus Brooklyn.« Die Kinder blickten sich alle neugierig nach Francie um, um zu sehen, 173
wie ein kleines Mädchen aussah, dessen Eltern nicht aus der Alten Welt eingewandert waren. Die Lehrerin spottete: »Brooklyn? So? Ja, dann bist du allerdings eine Amerikanerin!« Und Francie war stolz und glücklich. Wie wunderbar war Brooklyn, wenn man nur dort geboren zu sein brauchte, um einzig aus diesem Grund eine Amerikanerin zu sein.
Papa erzählte ihr, daß die Bewohner dieses alten Quartiers schon seit mehr als hundert Jahren hier lebten. Sie waren zum größten Teil aus Schottland, England und Wales eingewandert. Sie waren fast alle Kunsttischler und Drechsler von Beruf oder Gold-, Silber- und Kupferschmiede. Er versprach Francie, sie einmal ins spanische Quartier von Brooklyn zu führen. Die Spanier machten Zigarren und mieteten sich jemanden, der ihnen dazu Bücher vorlas. Und zwar lasen sie lauter gute Literatur. Sie gingen Hand in Hand durch die sonntagsstille Straße. Da sah Francie ein Blatt von einem Baum herunterwirbeln. Sie lief voraus, um es aufzufangen. Es war scharlachrot und hatte einen goldgelben Saum. Francie hielt es in der Hand wie einen kostbaren Schatz. Eine Frau kam von der andern Straßenseite herüber. Sie war stark geschminkt und trug einen auffälligen Federhut. Sie lächelte Johnny zu und sagte: »Einsam, Herr?« »Nein, Schwester«, sagte Johnny mit sanfter Stimme, nachdem er sie einen Augenblick lang still betrachtet hatte. »Sicher nicht?« fragte sie kokett. »Ganz sicher nicht«, antwortete er ruhig. Dann ging sie ihrer Wege. Francie hüpfte wieder auf Papa zu und nahm seine Hand. »War das eine schlechte Frau?« fragte sie neugierig. »Nein.« »Aber sie sah so aus.« »Es gibt sehr wenig schlechte Menschen, Francie. Es gibt nur sehr viel unglückliche.« 174
»Aber sie war doch so angemalt, und ihr Hut …« »Sie hat sicher früher einmal bessere Tage gesehen.« Der Satz gefiel ihm. Er sagte nochmals: »Ja, vielleicht hat sie einmal bessere Tage gesehen.« Dann gab er sich seinen eigenen Gedanken hin. Francie hüpfte immer wieder davon und fing fallende Blätter auf. Sie kamen zum Schulhaus, das Francie voll Stolz ihrem Vater zeigte. Die in viele kleine Scheiben aufgeteilten Fenster zwinkerten im Sonnenschein. Johnny schaute das rote Backsteinhaus lange an und sagte schließlich gedankenvoll: »Also das ist nun deine Schule. So, das ist sie nun.« Und dann tat er, was er jedesmal tat, wenn er von irgend etwas tief ergriffen war. Er nahm den abgetragenen Hut, hielt ihn ans Herz, stellte sich kerzengerade hin und sang, mit dem Blick aufs Schulhaus: Schulzeit, Schulzeit, liebe, alte Schulzeit, Lesen und Schreiben und 'rithmetik. Für einen unbeteiligten Passanten mochte der singende Johnny in seinem grünlich-schwarzen Kellnerfrack und dem frischen Vorhemd, der ein schmächtiges, dürftig gekleidetes Mädchen an der Hand hielt und ohne die geringste Selbstkritik ganz laut das naive Liedchen in die Welt hinaussang, eine merkwürdige Erscheinung sein. Aber Francie fand alles ganz in Ordnung und wunderschön. Dann durfte Francie auf der Wiese einen Strauß wilde Astern und Klee pflücken, um sie Mama zu bringen. Johnny erklärte ihr, die Wiese sei früher ein Indianerfriedhof gewesen, und er sei als Knabe oft hierhergekommen, um nach vergifteten Pfeilspitzen zu suchen. Sofort wollte sich Francie auch auf die Suche machen. Sie durchstöberten die Wiese während einer halben Stunde, aber ohne Erfolg. Johnny erinnerte sich daran, daß es ihm schon damals in seiner Knabenzeit so gegangen war. Schließlich kam es heraus, daß die Wiese vielleicht nie ein Indianerfriedhof gewesen und die Geschichte nur erfunden war. Plötzlich wollte Papa wieder nach Hause gehen. Francies Augen füll175
ten sich mit Tränen, denn er hatte ja noch nichts getan, um sie in diese schöne Schule einzuführen. Er sah, daß Francie traurig war und hatte sofort eine Idee. »Ich will dir sagen, was wir nun tun werden, Primadonna. Nun gehen wir und wählen uns ein vornehmes altes Haus aus. Wir schreiben die Hausnummer auf und die Straße. Dann schreibe ich einen Brief an deine Oberlehrerin und sage ihr, wir würden dorthin ziehen und du würdest von nun an in eine andere Schule gehen.« Sie fanden ein Haus – ein weißes, einstöckiges, mit einem schrägen Dach und späten Chrysanthemen, die im Vorgärtchen blühten. Er schrieb sich die Adresse sorgfältig auf. »Weißt du, daß das, was wir jetzt tun, nicht erlaubt ist?« »Wirklich Papa?« »Aber wir tun es nur, um dadurch etwas Besseres zu erreichen.« »Wie eine Notlüge, Papa?« »Ja, wie eine Lüge, die jemandem aus der Patsche hilft … Aber weißt du, dafür mußt du sehr brav sein, damit sie dir ja nie einen Brief nach Hause schreiben.« »Ich verspreche dir, daß ich immer artig sein will, Papa, wenn ich in diese Schule gehen darf.« »Und nun will ich dir einen schönen Weg durch einen kleinen Park zeigen. Nun hast du's schön, du wirst erleben, wie es Frühling wird und Sommer und wieder Herbst. Bist du zufrieden?« Francie erinnerte sich an eine Stelle aus der Bibel, die ihr Mama vorgelesen hatte, und sie wußte nichts Besseres zu antworten als dies: »Meine Schale fließt über.« Und genauso war ihr zumute. Als Katie von der Sache hörte, sagte sie: »Macht, was ihr wollt, aber ich will dann nicht schuld sein, wenn die Polizei kommt und dich abführt, weil du eine falsche Adresse angegeben hast.« Darauf mußte Francie in den Zeitungsladen laufen und für einen Penny Schreibpapier und einen Briefumschlag kaufen. Und Johnny schrieb, Francie werde von nun an bei Verwandten wohnen, und sie brauchte ein Austrittsformular der alten Schule. Dann fügte er bei, Neeley brauche keinen Austrittsschein, er werde weiterhin 176
bei den Eltern wohnen. Er unterschrieb mit seinem Namen und unterstrich ihn autoritativ. Francie brachte den Brief ihrer Lehrerin und erwartete zitternd ihre Reaktion. Die Lehrerin füllte das Austrittsformular anstandslos aus und sagte nur, gottlob sei nun einer weniger, die Schule sei ohnehin so überfüllt. Francie stellte sich in der neuen Schule vor. Der Oberlehrer schüttelte ihr die Hand und sagte, er hoffe, daß sie in seiner Schule glücklich sein werde. Dann wurde sie ins Klassenzimmer geführt und der Lehrerin und den Mitschülerinnen vorgestellt. Francie schaute sich die kleinen Mädchen an. Sie waren alle dürftig, aber sauber gekleidet. Sie bekam eine eigene Schulbank, und von nun an war die Schule für sie eitel Glück und Freude. Die Lehrerin und die Kinder waren hier nicht so verroht wie in der alten Schule. Natürlich waren einige unter den Kindern niederträchtig, aber es schien eine natürliche kindliche Eigenschaft zu sein, kein beabsichtigter Feldzug. Die Lehrerinnen waren auch oft ungeduldig und gehässig, aber sie waren nie absichtlich grausam. Es gab auch keine Körperstrafe mehr. Die Eltern waren allzu amerikanisch, sie waren sich ihrer bürgerlichen Rechte allzusehr bewußt, um Ungerechtigkeiten widerstandslos zu schlucken. Sie konnten nicht beschwichtigt und ausgenützt werden wie die Neueingewanderten und die Amerikaner zweiter Generation. Was Francie an der neuen Schule fast am besten gefiel, war der Schulwart. Er hatte ein rotes Gesicht und schneeweißes Haar, und alle, auch der Oberlehrer, nannten ihn Herrn Jenson. Er hatte viele eigene Kinder und Enkel, aber er liebte deshalb die Schulkinder nicht minder. Wenn sie an einem Regentag durchnäßt und durchfroren in die Schule kamen, dann ließ er sie in den Heizraum hinuntergehen, wo sie sich wärmen und trocknen konnten. Sie mußten alle ihre nassen Schuhe und Strümpfe ausziehen. Die Strümpfe hängte er an einer langen Leine zum Trocknen auf, die Schuhe stellte er in einer Reihe vor dem Ofen auf. Francie liebte es, in dem gemütlichen, weißgetünchten Heizraum zu sitzen und den züngelnden blauen und oran177
gefarbenen Flammen zuzusehen, wie sie über dem glühenden Kohlenbett tanzten. Man erzählte sich, Herr Jenson sei kein gewöhnlicher Hauswart, er sei einmal auf der Universität gewesen und habe dann früh geheiratet und Geld gebraucht. So habe er statt einer Lehrerstelle den Posten eines Schulwarts angenommen. Jedenfalls ging auch der Oberlehrer gern zu ihm in den Heizraum hinunter, um mit ihm zu politisieren und dabei eine Pfeife zu rauchen. Wenn ein Schüler sich schlecht aufführte, wurde er nicht zum Oberlehrer geschickt, um bestraft zu werden, sondern zu Herrn Jenson, damit er ihn ins Gebet nehme. Herr Jenson schalt die unartigen Schüler nie aus. Er unterhielt sich mit ihnen über die Ideale der Demokratie und über die Verantwortung, die jeder einzelne Bürger trage, und eine schöne Zukunft, in der alle Menschen ihr Bestes beitragen würden zum allgemeinen Wohl der Menschheit. Nach einer solchen Unterredung konnte man sich darauf verlassen, daß der betreffende Junge sich keines schlechten Betragens mehr schuldig machte. Nach dem Schlußexamen, bevor die Kinder die Schule verließen, mußte ihnen Herr Jenson etwas ins Album schreiben. Er machte daraus eine große Zeremonie. Er setzte sich an sein Rollpult, wählte sorgfältig eine Feder aus, tauchte sie ins Tintenfaß, wischte sie wieder ab und tauchte sie nochmals ein, nahm die Brille ab, rieb die Brillengläser, setzte sie wieder auf und schrieb dann seinen Namen so fein und klar, als wäre er in Kupfer gestochen. Dann trocknete er die Tinte sorgfältig mit dem Fließblatt. Seine Unterschrift war immer die vornehmste von allen. Er mußte auch alle Diplome schreiben, weil niemand so schön schreiben konnte wie er. Herr Morton und Fräulein Bernstein kamen auch in diese Schule. Wenn sie ihre Stunden erteilten, pflegte Herr Jensen oft hereinzukommen, sich in eine der hintersten Schulbänke zu zwängen und sich an der Stunde mitzufreuen. An kalten Tagen holte er Herrn Morton oder Fräulein Bernstein manchmal zu sich in den Heizraum zu einer Tasse heißen Kaffees, bevor sie zur nächsten Schule weitergehen mußten. Er besaß einen Gaskocher und eine Kaffeemaschine, die bei178
de auf einem kleinen Tischchen standen. Er servierte heißen, schwarzen Kaffee, und die beiden Wanderlehrkräfte waren ihm dafür von Herzen dankbar.
Francie war sehr glücklich in der neuen Schule. Sie gab sich alle Mühe, artig zu sein. Jeden Tag blickte sie dankbar zu dem weißen Haus auf, dessen Nummer ihr dieses Glück verschafft hatte. Sie fühlte sich auch verpflichtet, irgendwelche Abfälle und Zeitungspapiere, die vor ›ihrem‹ Haus im Rinnstein lagen, sorgfältig zu entfernen. Die wirklichen Bewohner des Hauses beobachteten sie oft dabei und fanden, daß sie ein merkwürdiges kleines Mädchen war, das wahrscheinlich einen Reinlichkeitskomplex hatte. Es war ein Glück für Francie, in diese neue Schule hineingeraten zu sein. So erfuhr sie, daß es neben ihrer eigenen Welt, in die sie hineingeboren war, noch andere, bessere Welten gab und daß diese nicht unerreichbar waren.
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F
ür Francie war das Jahr nicht in Monate und Tage eingeteilt, sondern in Festtage und Werktage. Das Jahr fing für sie mit dem 4. Juli, dem ersten Feiertag nach Schulschluß, an. Schon eine Woche zuvor begann sie, Feuerwerk zu sammeln. All die Pennies, die sonst in Kandiszucker umgewandelt wurden, mußten nun für Feuerwerk gespart werden. Sie bewahrte ihren Vorrat in einer Schachtel unter dem Bett auf, und zehnmal am Tag mußte sie die Schachtel hervorziehen, ihren Inhalt neu ordnen und die rosarote Seidenpapierumhüllung befühlen und sich fragen, was wohl alles drin war. Sie beschnupperte das Stücklein Zündschwamm, das man dazubekam, wenn man Feuerwerk 179
kaufte. Es wurde verwendet, um die Raketen in Brand zu stecken, und war es einmal angezündet, dann glomm es stundenlang weiter. Wenn dann der große Tag endlich da war, zögerte Francie mit dem Anzünden. Es war schöner, die Raketen zu besitzen, als sie loszulassen. Manchmal durften Francie und Neeley aber auch keine Raketen kaufen, weil die Nolans keine Pennies übrig hatten. Dann füllten sie Papiertüten mit Wasser, schnürten sie oben zusammen und ließen sie aus dem Fenster fallen, damit sie unten auf dem Trottoir mit lautem Knall zerplatzten. Die Passanten ärgerten sich und blickten wütend nach oben, wenn ein Sack ihnen vor der Nase herunterfiel, aber sie beschwerten sich nicht, sondern schickten sich drein, daß die Kinder der Armen den 4. Juli nun einmal auf diese Weise feierten. Der nächste Festtag war der Vorabend von Allerheiligen. An diesem Tag bemalte sich Neeley das Gesicht mit Ruß, trug die Mütze mit dem Schild nach hinten und den Rock mit dem Futter nach außen. Er nahm einen von Katies schwarzen Strümpfen, füllte ihn mit Asche und schloß sich einer ganzen Bande anderer, ähnlich ausgerüsteter Jungen an, die die Straßen durchzogen, ihre harmlosen Keulen schwangen und von Zeit zu Zeit in heiseres Geschrei ausbrachen. Die Mädchen zogen mit einem Stücklein weißer Kreide in der Hand durch die Straßen. Sie flitzten den Vorübergehenden, die ihre Röcke verkehrt trugen, schnell ein weißes Kreuz über den Rücken. Die tiefere Bedeutung dieses Brauches war ihnen unbekannt. Möglicherweise stammte er aus dem Mittelalter, aus der Zeit, da die Pest noch so schrecklich wütete und da man die betroffenen Häuser und Menschen mit dem Zeichen des Kreuzes markierte. Wahrscheinlich hatten die Raufbolde jener Zeit mit Unschuldigen ihren grausamen Spott getrieben und sie so gebrandmarkt, und dann hatte sich dieser Brauch durch Jahrhunderte überliefert, bis er zu einer Fastnachtsposse degeneriert war. Aber das größte Fest von allen war für Francie der Wahltag. Dieser Tag war mehr als irgendein anderer mit Brooklyn verbunden. Vielleicht waren die Leute auch in andern Landesteilen patriotisch gesinnt, aber so wie in Brooklyn konnte es sonst nirgends sein, fand Francie. 180
Sie durfte mit Papa das Austernhaus in der Scholes Street besuchen. Es war ein altes Haus aus der Zeit, als noch der große Häuptling Tammany selbst mit seinem Stamm in Brooklyn herumgelungert war. Nun war das Haus wegen seiner gebackenen Austern in ganz Amerika berühmt. Aber es hatte noch eine andere Bedeutung. Es war der geheime Treffpunkt der großen Parteihäuptlinge. Im Austernhaus wurden über Austern in einem Chambre separee die kommenden Präsidenten im voraus gewählt oder verworfen. – Francie ging oft an dem Haus vorüber und versuchte hineinzuspähen. Das Haus hatte nichts Außerordentliches an sich, nicht einmal eine Tafel über dem Austernrestaurant. Im Fenster befand sich nichts als ein Topf mit Farnkraut vor einem braunleinenen Vorhang. Einmal konnte Francie durch die offene Tür hineingucken und einen niedrigen, von roten Lampen schwach beleuchteten Raum sehen, der ganz von Zigarrenrauch erfüllt war. Francie schloß sich den andern Kindern an und beteiligte sich an den Wahltagszeremonien, ohne deren Bedeutung oder Ursache zu kennen. Am Vorabend des Wahltages stellten sich die Kinder des Quartiers in einer langen Reihe auf, wobei das hintere immer dem vorderen die Hände auf die Schultern legte. Auf diese Weise machten sie einen Schlangentanz durch die Straßen und sangen dazu: Tammany, Tammany, Tammany Häuptling sitzt im Kanu, ruft den Siegern hurrah zu, Tamma-nii, Tamma-nii. Sie liebte es, Papa und Mama bei ihren Debatten über die Verdienste und die Mängel der verschiedenen Parteien zuzuhören. Papa war ein glühender Demokrat, Mama aber war den Parteien gegenüber einfach gleichgültig. Sie kritisierte Papas Partei und sagte ihm, er brauchte ebensogut gar nicht zu stimmen. »Sag das nicht, Katie«, protestierte er. »Im großen und ganzen tut die Partei viel Gutes fürs Volk.« »Das kann ich mir vorstellen«, spottete Mama. 181
»Sie wollen ja wirklich nur die Stimme des Familienvaters, und dann solltest du sehen, was sie einem dafür geben!« »Zählt einmal etwas auf, das sie geben!« »Nun, wenn du zum Beispiel in einer Rechtsangelegenheit Rat brauchst. Du brauchst nicht zu einem Advokaten zu laufen. Du fragst einfach deinen Abgeordneten im Repräsentantenhaus.« »Das ist, wie wenn ein Blinder einen Blinden führte.« »Glaub das nicht, sie mögen in mancher Beziehung blind sein, aber sie kennen das Gesetz der City auswendig.« »Verklag einmal die City, und schau, wie weit dir Tammany helfen wird.« »Oder denk zum Beispiel an die zivile Verwaltung«, sagte Johnny, um die Sache von einem andern Gesichtspunkt aus zu betrachten. »Und wenn man denkt, wie sie alles wissen, zum Beispiel die Prüfungszeiten für Polizisten, Feuerwehrmänner und Briefträger! Wenn sich jemand dafür interessiert, geben sie ihm über alles Auskunft.« »So, und der Mann von Frau Lavay? Er hat das Briefträgerexamen schon vor drei Jahren gemacht und ist immer noch Chauffeur.« »Nur, weil er ein Republikaner ist. Wenn er ein Demokrat wäre, würden sie seinen Namen zuoberst auf die Liste setzen. Erst neulich habe ich von einer Lehrerin gehört, die versetzt werden wollte. Tammany hat es fertiggebracht.« »Ach, sicher nur, weil sie hübsch war.« »Nein, darauf kommt's nicht an. Es ist so: Die Lehrerinnen müssen die künftigen Stimmberechtigten erziehen. Sie wird nun sicher überall ein gutes Wort einlegen für die Demokratische Partei. Du weißt doch, daß jeder Schüler einmal zu einem Stimmberechtigten wird?« »Warum?« »Weil dies ein Vorrecht ist.« »Und was für ein Vorrecht!« spottete Katie. »Stell dir zum Beispiel vor, du hättest einen Pudel, und er würde sterben, was würdest du dann tun?« »Frag mich lieber zuerst, was ich mit einem lebendigen Pudel anfangen würde!« 182
»Aber kannst du dir nicht einfach um des Gespräches willen vorstellen, du hättest einen toten Pudel?« »Also, gut. Mein Pudel ist tot. Und dann?« »Dann gehst du aufs Parteibüro und sagst es, und sie schicken dir einen Jungen vorbei, der den Pudel abholt. Oder angenommen, Francie soll eine Arbeitsbewilligung haben und ist aber noch zu jung dazu.« »Tammany würde sie wahrscheinlich verschaffen.« »Sicher!« »Aber findest du es richtig, wenn man dafür sorgt, daß so kleine Kinder schon in der Fabrik arbeiten dürfen?« »Nun, angenommen, du hättest einen Sohn, der die Schule schwänzt und der zu einem Vagabunden wird, weil er müßig auf den Straßen herumlungert, und das Gesetz würde ihm verbieten, zu arbeiten. Ist es dann nicht besser, wenn er eine unrechtmäßige Arbeitsbewilligung hat?« »Ja, da hast du recht«, gab Katie zu. »Und wenn man denkt, wie sie den Parteimitgliedern Stellen verschaffen!« »Ja, man weiß ja, wie sie das machen. Sie inspizieren die Fabriken und drücken ein Auge zu, wenn der Fabrikherr gegen das Fabrikgesetz verstößt. Dafür meldet er es ihnen, wenn er einen Freiplatz hat und jemanden einstellen kann. Und hinterher sagt man, es sei nur Tammany zu verdanken, wenn die Leute Arbeit finden.« »Oder zum Beispiel dieser Fall: Ein Mann hat drüben in der Alten Welt Verwandte. Er möchte sie gern hier haben, aber sie können nicht herein wegen der Quote. Nun, Tammany bringt auch das fertig.« »Gewiß, sie lassen diese Fremden herein, aber nur deshalb, damit sie mehr Stimmen für sich haben. Wenn ein Fremder nicht so stimmen will wie die Demokratische Partei, dann kann er wieder dorthin gehen, wo er hergekommen ist.« »Du kannst sagen, was du willst, Tammany ist ein Segen für die armen Leute. Wenn zum Beispiel ein Mann krank gewesen ist und die Miete nicht bezahlen kann, glaubst du, die Partei würde es zulassen, daß man ihn hinauswirft? Nein, meine Liebe. Nicht, wenn er ein Demokrat ist.« 183
»Dann sind wahrscheinlich alle Hausbesitzer Republikaner«, sagte Katie. »Nein, die Gerechtigkeit ist auf beiden Seiten. Wenn der Mieter ein Nichtsnutz ist und den Hausherrn mit der Faust unters Kinn schlägt, statt ihm die Miete zu bezahlen, was passiert dann? Dann kommt die Partei und wirft ihn hinaus, damit der Hausherr es nicht zu tun braucht.« »Ja, und was Tammany den Leuten gibt, das nimmt er ihnen doppelt wieder weg. Wart nur, bis wir Frauen das Stimmrecht haben!« Johnny lachte laut auf. »Du glaubst nicht daran? Und ich sage dir, der Tag wird kommen. Du wirst dich dann an meine Worte erinnern. Dann werden wir all die schlauen, verschlagenen Politiker dorthin bringen, wo sie hingehören – hinter schwedische Gardinen!« »Wenn der Tag jemals kommen sollte, an dem die Frauen das Stimmrecht haben, dann werden wir beide Arm in Arm zur Urne wandern, und du wirst genauso stimmen wie ich.« Er umarmte sie spontan und drückte sie ans Herz. Katie lächelte ihn ein wenig seitwärts an, und Francie mußte an das Bild denken, das in der Aula ihrer Schule hing und das den Namen ›Mona Lisa‹ trug. Tammany verdankte einen großen Teil seiner Macht dem Umstand, daß er die Kinder früh erfaßte und sie zu seinen demokratischen Idealen erzog. Der dümmste Kerl war gescheit genug, um zu wissen, daß die Zeit verging und daß der Schuljunge von heute der Stimmberechtigte von morgen war. Die Demokratische Partei suchte die Knaben und Mädchen für sich zu gewinnen. Zu jener Zeit hatten die Frauen zwar noch kein Stimmrecht, aber die Partei wußte, daß die Frauen von Brooklyn einen großen Einfluß auf ihre Männer hatten. Man brauchte ein kleines Mädchen nur im Geiste der Partei zu erziehen, und wenn es dann einmal heiratete, würde es schon dafür sorgen, daß sein Mann den Demokraten seine Stimme gab. Um die Kinder zu gewinnen, organisierte der Mattie-Mahony-Verein jeden Sommer einen Ausflug, an dem auch die Eltern teilnehmen konnten. Obschon Katie nichts übrig hatte für die Partei, hatte sie doch nichts dagegen, die Gelegenheit zu 184
benützen, um einmal einen vergnügten Tag zu haben. Francie war begeistert, als sie hörte, man werde auf einem Schiff fahren. Sie war noch nie auf einem Schiff gewesen. Johnny wollte nicht mitgehen und konnte nicht verstehen, warum Katie so dafür war. »Ich gehe, weil ich das Leben liebe«, erklärte sie. »Wenn du diesen Trubel Leben nennst … Nicht geschenkt möchte ich das haben.« Aber er ging trotzdem. Er redete sich ein, die Fahrt mit dem Schiff sei vielleicht lehrreich, und er wollte auch gern etwas für die Bildung seiner Kinder tun. Es war ein glühend heißer Tag. Das Deck wimmelte von ausgelassenen Kindern, die überall herumkletterten und ständig in Gefahr waren, in den Hudson River zu fallen. Francie konnte sich nicht satt sehen am rhythmischen Wellenspiel. Johnny erzählte seinen Kindern, wie vor, ach, so langer Zeit Hendrick Hudson diesen Fluß hinaufgesegelt war. Francie fragte sich, ob ihm dabei wohl auch so schlecht geworden war wie ihr. Mama saß auf dem Deck und sah in ihrem jadegrünen Hut und dem gelbgetüpfelten Kleid mit Schweizer Stickerei, das sie sich von Tante Evy geborgt hatte, sehr hübsch aus. Sie war von vielen lachenden Leuten umgeben. Mama war sehr lebhaft und originell, und die Leute hörten ihr gern zu. Bald nach Mittag legte das Boot bei einer bewaldeten Schlucht an. Die Demokraten gingen an Land, und die Kinder verstreuten sich überall, um ihre Gutscheine zu verbrauchen. Ein paar Tage vorher hatte nämlich jedes Kind zehn Gutscheine mit verschiedenen Aufschriften wie ›Warmbier‹, ›Limonade‹, ›Karussell‹ und so weiter bekommen. Auch Francie und Neeley hatten je einen Streifen mit zehn Gutscheinen erhalten, aber Francie hatte sich von ein paar Gassenjungen dazu verleiten lassen, ihre Scheine aufs Spiel zu setzen. Sie hatte gehofft, sie werde mindestens fünfzig Billetts gewinnen, aber sie war eine schlechte Murmelspielerin und hatte bald zehn verloren. Neeley dagegen, der ein geübter Spieler war, hatte drei Streifen. Francie fragte Mama, ob sie nicht einen von Neeleys Streifen haben könnte. Und Mama hielt ihr eine Moralpredigt über das Spielen. 185
»Das hast du nun davon, daß du gemeint hast, du könntest mehr gewinnen, als dir eigentlich zukommt. So ist es mit diesen Spielern: Sie denken immer nur ans Gewinnen. Jemand muß verlieren, und es kann ebensogut dich treffen wie den andern. Wenn du diese Lektion dadurch lernst, daß du einen Streifen Freibilletts verlierst, dann kommst du wirklich billig weg.« Mama hatte recht. Francie wußte, daß Mama recht hatte, aber sie war trotzdem unglücklich. Sie wäre so gern mit den andern Kindern Karussell gefahren. Und sie hätte auch fürs Leben gern Limonade getrunken. Sie stand untröstlich vor dem Warmbierstand und schaute zu, wie die andern Kinder sich gütlich taten. Plötzlich sprach sie ein Mann an, der eine Polizistenuniform trug, die mit Goldschnüren verziert war. »Hast du keine Gutscheine, kleines Mädchen?« fragte er. »Ich habe sie vergessen«, log Francie. »Ja, ich weiß, ich war auch kein guter Murmelspieler als Junge.« Er zog drei Streifen aus seiner Tasche. »Wir rechnen jedes Jahr damit, daß einige kleine Mädchen wie du ihre Streifen zu Hause lassen. Aber es kommt selten vor, daß die Mädchen sie verspielen. Sie klammern sich an alles, was sie besitzen, und wäre es noch so wenig.« Francie nahm die Billetts strahlend an, bedankte sich schön und wollte eben davonstürmen, als der Mann sie fragte: »Ist das deine Mutter dort drüben, im grünen Hut?« »Ja.« Sie blieb stehen. Schließlich fragte sie: »Warum?« »Betest du auch jeden Abend dafür, daß du wenigstens halb so schön wirst wie deine Mutter?« »Und das ist mein Papa, der Mann, der neben Mama sitzt.« Francie wartete darauf, daß der Polizist sagen würde, Papa sei auch ein schöner Mann. Er schaute Johnny prüfend an, sagte aber nichts. Francie rannte davon. Francie mußte von Zeit zu Zeit wieder zu Mama zurück, um ihr über ihre Erlebnisse zu berichten. Als sie das nächste Mal kam, war Johnny gerade ein Glas Freibier trinken gegangen. Mama neckte Francie: »Du bist wie Tante Sissy, du hast es immer mit den Männern in Uniform.« 186
»Er hat mir einen Streifen Billetts geschenkt.« »Ja, das habe ich gesehen.« Dann fragte Katie, wie beiläufig: »Und was hat er dich gefragt?« »Er hat mich gefragt, ob du meine Mutter bist.« Francie sagte nichts davon, daß er sie so schön gefunden hatte. »Ja, das habe ich mir gedacht«, sagte Katie wie zu sich selbst. Dann blickte sie auf ihre roten, vom Arbeiten mit den ätzenden Putzmitteln aufgerauhten und zersprungenen Hände. Sie holte ein Paar geflickte Baumwollhandschuhe aus ihrer Handtasche hervor und zog sie an, obwohl es sehr heiß war. »Ach, ich vergesse ja vor lauter Arbeit oft ganz, daß ich eine Frau bin«, seufzte sie. Francie erschrak beinahe. Sie hatte Mama noch nie so reden hören. Sie wunderte sich auch, wieso sich Mama plötzlich wegen ihrer Hände schämte. Als Francie wieder davongestürmt war, fragte Katie ihre Nachbarin: »Wer ist eigentlich dieser Mann dort drüben – nein, der mit der Uniform, der zu uns herüberschaut?« »Das ist doch Polizeiwachtmeister McShane. Man sollte meinen, Sie kennen ihn. Er wohnt doch im selben Quartier wie Sie.« Der Freudentag nahm seinen Fortgang. Auf jedem der langen Gartentische stand ein Bierfaß, und das Bier war frei für alle guten Demokraten. Francie wurde von dem Freudentaumel ergriffen, rannte hierhin und dorthin, schrie und balgte sich wie die andern Kinder. Das Bier floß in Strömen wie das Wasser im Rinnstein nach einem Gewitterregen. Eine Blaskapelle spielte mit großer Ausdauer. Der Dirigent verkündete vor jedem neuen Stück: »Nun wird das Mattie-Mahony-Orchester spielen …« Und wenn das Lied zu Ende gespielt war, riefen die Bläser alle im Chor: »Ein Hoch für Mattie Mahony.« Der Mundschenk, der das Bierfaß bediente, sagte bei jedem frisch gefüllten, überschäumenden Glas: »Die besten Wünsche von Mattie Mahony.« Jedes Spiel hatte seine Aufschrift: ›Mattie-Mahony-Wettrennen‹, ›Mattie-Mahony-Erdnüßchenlauf‹, ›Mattie-Mahony-Preisschießen‹ und so weiter. Und bevor der Tag zu Ende war, wa187
ren alle Kinder fest davon überzeugt, daß Mattie Mahony wirklich ein außerordentlicher Mann sein mußte. Gegen Abend kam Francie auf die Idee, sie sollte eigentlich Mattie Mahony persönlich für den herrlichen Tag danken. Sie suchte ihn überall und fragte und fragte, ob ihn niemand kannte. Und siehe da, niemand kannte ihn, alle sagten, sie hätten Mattie Mahony noch gar nie gesehen. Vielleicht sei er überhaupt gar nicht hier. Ein alter Mann sagte ihr, vielleicht gebe es gar keinen Mattie Mahony. Dies sei vielleicht ein erfundener Name für den Führer der Demokratischen Partei. »Ich habe nun schon seit vierzig Jahren immer die vorgedruckte Wahlliste der Demokratischen Partei abgegeben, und wenn ich mich recht erinnere, war der Kandidat immer dieser Mattie Mahony. Aber ich weiß wirklich nicht, wer er ist, mein gutes Kind. Ich habe einfach immer den Wahlzettel abgegeben.«
Auf der Heimfahrt den mondbeschienenen Hudson hinunter brach unter den Männern alle Augenblicke eine heftige Diskussion aus, die nicht selten in einer Schlägerei endete. Die meisten der Kinder litten an Sonnenbrand und Übelkeit und machten ihren Müttern die Vergnügungsfahrt zu einer Plage. Neeley schlief auf Katies Schoß ein, und Francie saß neben Papa und Mama und hörte ihrem Gespräch zu. »Kennst du zufällig einen Polizeiwachtmeister mit dem Namen McShane?« fragte Katie. »Ich habe schon von ihm gehört. Man sagt, die Partei habe ein Auge auf ihn. Ich wäre nicht überrascht, wenn er eines Tages Abgeordneter im Repräsentantenhaus würde.« Ein Mann, der in der Nähe saß und Johnnys Worte aufgeschnappt hatte, lehnte sich vor und rief: »Polizeikommissar ist noch wahrscheinlicher, Mac.« »Und weißt du etwas über sein Privatleben?« fragte Katie. »Sein Leben ist ziemlich romantisch. Er ist vor fünfundzwanzig Jah188
ren aus Irland herübergekommen mit all seinen Habseligkeiten in einem Handkoffer. Zuerst war er Hafenarbeiter und arbeitete nachts für das Examen, bis er dann zur Polizei kam. Dann studierte er weiter und machte noch mehr Examen, bis er Polizeiwachtmeister wurde.« »Wahrscheinlich hat er eine gebildete Frau, die ihm helfen kann?« »Nein, soviel ich weiß, nicht. Als er frisch von Irland kam, wohnte er bei einer irischen Familie, die ihn bei sich aufnahm, bis er eine Existenz gefunden hatte. Die Tochter dieser Familie heiratete einen Nichtsnutz, der ihr nach den Flitterwochen davonlief und dann bei einer Schlägerei getötet wurde. Sie erwartete ein Kind, und die Nachbarn wollten nicht glauben, daß sie verheiratet war. Es sah so aus, als wäre die Familie entehrt, und deshalb heiratete McShane die Tochter, um ihre Ehre zu retten und damit die Wohltaten, die er von ihrer Familie empfangen hatte, wieder zurückzuzahlen. Es war nicht gerade das, was man eine Liebesheirat nennt, aber man sagt, er sei sehr gut zu ihr.« »Haben sie Kinder gehabt?« »Vierzehn, sagt man.« »Vierzehn!« »Aber es leben nur noch vier davon. Sie sind alle gestorben, bevor sie noch in die Schule kamen. Sie starben alle an der Schwindsucht, die sie von der Mutter geerbt hatten. Er hat mehr als genug Sorgen gehabt in seinem Leben«, schloß Johnny nachdenklich. »Und er ist ein so guter Mann!« »Lebt seine Frau noch?« »Ja, aber sie ist sehr krank. Man sagt, sie könnte nicht mehr lange leben.« »Oh, diese Art Leute sind zäh!« »Katie, wie redest du denn!?« Johnny schaute sie entsetzt an. »Wie ich denke. Daß sie einen Taugenichts geheiratet hat und von ihm ein Kind bekam, dafür kann sie ja nichts. Aber daß sie ihre Medizin nicht nahm, als sie wußte, daß wieder ein Kind kam, das doch zum Sterben verurteilt war, das kann ich ihr nicht verzeihen. Warum hat sie diesem guten Mann so viel Sorgen aufgebürdet, statt sie ihm zu ersparen?« 189
»Aber so darfst du doch nicht reden!« »Ich hoffe, daß sie stirbt, und zwar bald!« »Aber, Katie, sei still!« »Doch! Sie soll nur sterben, damit er wieder heiraten kann, und zwar eine junge, gesunde Frau, die ihm lebensfähige, kräftige Kinder schenkt. Jeder gute Mann hat ein Recht darauf.« Johnny sagte nichts mehr. Eine namenlose Angst war über Francie gekommen, als sie Mama so merkwürdige Dinge sagen hörte. Sie rutschte von ihrem Sitz hinunter und schlich sich an Papas Seite, nahm still seine Hand und drückte sie fest. Johnny erschrak über die leise Berührung. Dann zog er das Kind an sich heran und legte den Arm um seine Schultern. Aber er sagte nur: »Schau, wie der Mond auf dem Wasser spazierengeht.«
Kurze Zeit nach dem Parteiausflug begannen die Vorbereitungen für den Wahltag. Die Kinder von Brooklyn bekamen glänzende, weiße Ansteckknöpfe mit Matties Gesicht darauf. Francie schaute das milde Gesicht mit der halbmondförmigen Locke in der Stirn und dem Lenkstangen-Schnurrbart lange an, und dieser Mattie Mahony wurde für sie allmählich etwas Ähnliches wie der Heilige Geist. Man fühlte ihn überall, aber er blieb immer unsichtbar. Er sah aus wie irgendein Eintagspolitiker. Francie wünschte sich sehnlichst, ihn wenigstens einmal in ihrem Leben in Fleisch und Blut zu sehen. Die Kinder trieben mit diesen Knöpfen einen aufregenden Handel und mancherlei Spiele. Neeley verkaufte einem andern Jungen seinen Kreisel zum Preis von zehn Knöpfen. Gimpy, der Besitzer des Zuckerladens, gab Francie für fünfzehn Knöpfe so viel Kandiszucker, wie sie sonst nur für einen Penny erhalten hätte. (Er hatte nämlich mit der Partei ein Abkommen getroffen, daß er die Knöpfe abliefern konnte und dafür das Geld wiederbekam.) Francie ging wiederum auf die Suche nach Mattie, und sie fand ihn überall. Die Gassenjungen machten mit seinem Gesicht Wurfspiele. Sie fand ihn plattge190
drückt auf der Straße, weil man mit ihm ein Miniaturbüchsenspiel getrieben hatte. Sie fand ihn auch unter dem Krimskrams, den Neeley in seiner Hosentasche herumtrug. Sie guckte in die Abzugskanäle hinunter und sah ihn im Abwasser herumschwimmen, mit dem Gesicht nach oben. In der Kirche sah sie, wie Punky Perkins, der neben ihr saß, zwei Mattie-Mahony-Knöpfe in den Kollektenteller warf, statt der zwei Pennies, die ihm seine Mutter mitgegeben hatte. Nachher ging er zum Kandiszuckermann und kaufte für zwei Pennies Zuckerzigaretten. Sie sah Matties Gesicht überall, aber Mattie konnte sie nirgends finden.
In der Woche vor dem Wahltag ging sie mit Neeley und den andern Jungen Abfallholz sammeln für die großen Freudenfeuer, die man am Abend des Wahltages anzündete. Sie half den Jungen, das Holz im Keller aufzuschichten. Am Wahltag war Francie schon früh auf, um den Mann zu sehen, der an die Tür klopfte. Als Johnny antwortete, sagte der Mann: »Nolan?« »Ja«, bestätigte Johnny. »Zur Urne um elf Uhr!« Er machte ein Zeichen auf seiner Liste hinter Johnnys Namen. Dann gab er Johnny eine Zigarre. »Mit den besten Grüßen von Mattie Mahony.« Dann ging er weiter zum nächsten Demokraten. »Würdest du nicht sowieso gehen, ohne daß man es dir nochmals sagt?« wollte Francie wissen. »Doch, doch, aber sie sagen jedem einzelnen, wann er gehen muß, damit die Abstimmung ein wenig verteilt wird, weißt du, damit nicht alle Leute zur gleichen Zeit kommen.« »Warum?« fragte Francie weiter. »Darum«, wich Johnny aus. »Ich will dir sagen, warum«, rief Mama dazwischen. »Sie möchten die Kontrolle haben, sie möchten wissen, wer stimmt und wie. Sie wis191
sen genau, wann jeder einzelne an die Urne kommt, und Gott sei ihm gnädig, wenn er nicht für Mattie stimmt!« »Frauen verstehen nichts von Politik«, sagte Johnny, während er sich Matties Zigarre anzündete.
Am Abend half Francie ihrem Bruder, das Holz aus dem Keller zu schleppen. Sie trugen es zum größten Freudenfeuer ihres Wohnblocks. Francie stellte sich mit den andern Kindern im Kreis auf, und sie alle tanzten einen Indianertanz um das Feuer herum und sangen dazu ›Tammany‹. Als das Feuer zu einem glühenden Holzkohlenhaufen abgebrannt war, stürzten sich die Jungen auf die fahrenden Marktstände der Juden, stahlen Kartoffeln und rösteten sie in der glühenden Asche. Die so gebratenen Kartoffeln wurden ›Mickies‹ genannt. Sie reichten aber nicht für alle, und Francie ging leer aus. Sie stand auf der Straße und blickte auf das weiße Leintuch, das von einem Fenster zum andern quer über die Straße gespannt war und auf dem die Wahlergebnisse bekanntgegeben wurden. Die Zahlen wurden mit Hilfe einer Zauberlaterne auf das weiße Tuch projiziert. Bei jedem neuen Wahlbericht schrie Francie im Chor mit den andern Kindern: »Wieder ein Wahlbezirk!« Von Zeit zu Zeit erschien Matties Gesicht auf der Leinwand, und die Menge schrie sich heiser mit Hurrarufen. Man hatte einen demokratischen Präsidenten gewählt für Amerika und einen demokratischen Gouverneur für den Staat New York, aber alles, was Francie wußte, war, daß Mattie Mahony wieder ›drin‹ war.
Nach der Wahl vergaßen die Politiker ihre Versprechen und pflegten bis zum neuen Jahr der verdienten Ruhe. Dann begannen sie mit den Vorbereitungsarbeiten für den nächsten Wahltag. Der 2. Januar war der Frauentag der Demokratischen Partei. Dies war der einzige Tag, 192
an dem die Frauen in dieses sonst ausschließlich für die Männer reservierte Revier eindringen durften. Man bewirtete sie mit Sherry und Mohnkuchen. Den ganzen Tag über wurden die Frauen von Matties Anhängern galant empfangen, aber Mattie selbst ließ sich nie sehen. Vor dem Gehen ließen die Frauen aber ihre kleinen dekorierten Visitenkarten in der geschliffenen Glasschale auf dem Tisch des Vorzimmers zurück. Katies Verachtung für die Politiker hinderte sie nicht daran, jedes Jahr am Frauentag auf dem Parteibüro ihren Besuch abzustatten. Sie zog ihr frischgebürstetes und aufgebügeltes graues Jackenkleid mit den schwarzen Bandverzierungen an und zog sich den jadegrünen Samthut schief über das rechte Auge. Sie gab sogar dem Schreibwarenhändler, der seine Bude vorübergehend vor dem Parteibüro aufgestellt hatte, ein Zehncentstück, damit er ihr eine Visitenkarte mache. Er schrieb ›Mrs. John Nolan‹ darauf und umrahmte die Anfangsbuchstaben mit Blumen und Engelchen. Das Zehncentstück war eigentlich für die Sparbüchse bestimmt gewesen, aber Katie fand, sie dürfe sich schon einmal im Jahr eine Extravaganz leisten. Die Familie erwartete ihre Rückkehr mit Spannung. Sie wollten immer das ganze Drum und Dran hören. »Wie war es diesmal?« fragte Johnny. »Ach, es war wie jedesmal. Dasselbe Getränk wie immer. Viele von den Frauen trugen neue Kleider, die sie bestimmt auf Abzahlung gekauft haben. Die Prostituierten waren natürlich die elegantesten«, sagte Katie in ihrer hemmungslosen Art, »und sie waren natürlich wie immer in der Mehrzahl.«
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ohnny war ein Mensch, der fixen Ideen unterworfen war. Er konnte plötzlich auf den Gedanken verfallen, daß das Leben zu schwer sei für ihn, und dann begann er häufiger zu trinken, um es ein wenig zu vergessen. Francie lernte zu unterscheiden, ob Johnny etwas mehr oder weniger getrunken hatte. Wenn er viel getrunken hatte, ging er gerader als sonst. Er ging sorgfältig und ein wenig seitwärts. Wenn er betrunken war, war er ganz still. Er zankte nicht, er wurde nicht sentimental. Er wurde nur nachdenklich. Die Leute, die ihn nicht kannten, hielten ihn für betrunken, wenn er nüchtern war, weil er dann voller Lieder und Lebensfreude war. Wenn er aber betrunken war, wurde er von solchen, die ihn nicht kannten, als ruhiger, nachdenklicher Mann angesehen, der ganz für sich lebte. Francie fürchtete sich vor den Zeiten, in denen Johnny mehr trank als gewöhnlich, nicht aus moralischen Gründen, sondern weil Papa dann für sie ein fremder Mann war. Er pflegte dann weder mit ihr noch mit jemandem zu sprechen. Er schaute sie mit fremden Augen an. Und wenn Mama mit ihm sprach, dann wandte er den Kopf ab. Wenn er eine Trinkperiode überstanden hatte, nahm er sich vor, seinen Kindern ein besserer Vater zu sein. Er hatte das Gefühl, sie in allem möglichen unterrichten zu müssen. Er hörte eine Zeitlang auf zu trinken, arbeitete viel und widmete all seine Freizeit Francie und Neeley. Er war mit Mary Rommely einig über den Wert der Bildung. Er wollte seinen Kindern alles beibringen, was er wußte, so daß sie mit vierzehn oder fünfzehn Jahren alles wissen würden, was er mit dreißig Jahren wußte. Er stellte sich vor, daß sie von diesem Alter an ihr Wissen selbst sammeln könnten und daß sie, nach seiner Berechnung, in seinem Alter dann doppelt so gescheit wären wie er. 194
Er hatte das Gefühl, daß sie Unterricht brauchten in dem, was er sich unter Geographie, Bürgerkunde und Soziologie vorstellte. Deshalb nahm er sie mit hinüber zur Bushwick Avenue. Die Bushwick Avenue war der eleganteste Boulevard von Brooklyn. Sie war breit, von Bäumen beschattet, und ihre Häuser waren vornehm und eindrucksvoll aus großen Granitblöcken gebaut und hatten breite steinerne Freitreppen. Hier wohnten die großen Tiere unter den Politikern, die bemittelten Bierbrauerfamilien, die wohlhabenden Einwanderer, die schon auf dem Dampfer in der ersten Klasse gefahren waren statt auf dem Zwischendeck. Sie hatten ihr Geld, ihre Statuen und ihre vor Alter dunkel gewordenen Ölgemälde eingepackt, waren nach Amerika gefahren und hatten sich in Brooklyn niedergelassen. Die meisten dieser vornehmen Familien hielten sich noch schöne Pferde und prächtige Kutschen, obwohl die Automobile gerade aufkamen. Papa zeigte Francie die verschiedenen Equipagen, und Francie starrte ihnen voll Bewunderung und Staunen nach, wenn sie vorüberrollten. Es gab kleine, exquisite, mit glänzendem schwarzen Lack bemalte, deren Polstersitze mit weißer Seide überzogen waren. An diesen waren große, befranste Sonnenschirme befestigt, unter denen schöne, zarte Damen saßen. Es gab aber auch solche, die auf beiden Seiten Peddigrohrbänke hatten, auf denen vom Glück begünstigte Kinder saßen und sich von einem Shetlandpony ziehen ließen. Francie bewunderte die imponierenden Gouvernanten, die diese Kinder begleiteten und seitwärts auf den Rohrsitzen saßen, um das Pony zu lenken – Frauen aus einer andern Welt in Capes und Hauben mit steifgestärkten Bändern. Francie sah auch schwarze einspännige Zweiplätzer, deren stolz tänzelnde Pferde von geschniegelten jungen Männern in Glacehandschuhen mit umgelegten Stulpen gezügelt wurden. Sie sah nüchterne Familienkutschen, die von zuverlässig aussehenden Gespannen gezogen wurden. Diese Kutschen machten auf Francie keinen besonderen Eindruck, weil jeder Begräbnisbesorger in Williamsburg eine ganze Anzahl davon hatte. 195
Francie gefielen die zweirädrigen Kabrioletts, die den Kutschersitz hinter dem Passagiersitz hatten, am besten. Wie wunderbar, daß sie auf nur zwei Rädern fahren konnten, und dann diese lustige Tür, die sich von selbst schloß, sobald sich der Passagier in seinem Sitz zurücklehnte! Francie glaubte in ihrer Unwissenheit, daß diese Türen dazu da seien, den Herrn im Gefährt vor dem fliegenden Roßmist zu schützen. Wenn ich ein Mann wäre, dann möchte ich Kutscher werden auf einem Kabriolett, dachte sie. Oh, wie herrlich mußte das sein, wenn man hinten auf dem hohen Bock sitzen und neben sich in einem Halter die wackere Peitsche haben konnte. Und dieser vornehme Mantel mit den großen Knöpfen und dem Samtkragen und der hohe Zylinderhut mit einer Kokarde im seidenen Band! Und wenn man eine so kostspielig aussehende Wolldecke über den Knien haben konnte! Francie übte schon den Ruf des Kutschers: »Wagen gefällig, mein Herr, Wagen gefällig?« »Jedermann«, sagte Johnny, der seinen eigenen Träumen von einer Demokratie nachgehangen hatte, »kann in einem solchen Kabriolett fahren, vorausgesetzt«, ergänzte er, »daß er das Geld dazu besitzt. Daraus könnt ihr ersehen, in was für einem freien Land wir hier leben.« »Was ist denn frei daran, wenn man doch bezahlen muß?« fragte Francie. »Es ist eben auf diese Art frei: wenn man das Geld dazu hat, darf man in einem Kabriolett fahren, ganz gleich, was man ist. In den alten Ländern dürfen gewisse Leute nicht in einer Kutsche fahren, und zwar auch dann nicht, wenn sie das nötige Geld haben.« »Aber wäre das Land nicht noch freier«, bestand Francie, »wenn wir Kutsche fahren könnten, ohne zu bezahlen?« »Nein.« »Warum nicht?« »Weil das Sozialismus wäre«, schloß Johnny triumphierend, »und so etwas wollen wir hier drüben nicht.« »Warum nicht?« »Weil wir keine Russen sind und nie Russen werden wollen«, sagte Johnny in entschiedenem Ton. 196
New York hatte einen Bürgermeister, der aus Brooklyn stammte und in der Bushwick Avenue wohnte. »Schau dir einmal alle Häuser an und sag mir, wo der Bürgermeister wohnt, Francie«, sagte Johnny. Francie tat es und mußte schließlich den Kopf hängen lassen und sagen: »Ich weiß es nicht, Papa.« »Dort!« verkündete Johnny. »Dort wohnt er! In dem Haus mit den beiden Laternenpfählen am Fuß der Freitreppe. Wenn du irgendwo in dieser großen Stadt herumwanderst«, dozierte er, »und du triffst ein Haus an mit zwei solchen Laternenpfählen, dann weißt du, daß dort der Bürgermeister der größten Stadt der Welt wohnt.« »Wozu braucht er denn zwei Laternenpfähle?« wollte Francie wissen. »Weil dies Amerika ist; und in einem Land, wo es solche Dinge gibt«, schloß Johnny unlogisch, aber sehr patriotisch, »weiß man, daß die Regierung durch das Volk, für das Volk und aus dem Volk ist und nie von der Erdoberfläche verschwinden wird wie die Regierungen in den alten Ländern.« Er fing an, leise zu singen. Aber bald ging sein Gefühl mit ihm durch, und er sang lauter und lauter. Francie stimmte mit ein. Johnny sang: Oh, du stolzes, altes Banner, oh, du hochflatterndes Banner, mögst du ewig im Frieden doch wehn. Die Leute starrten Johnny neugierig an, und eine freundliche Dame warf ihm einen Penny zu.
Francie hatte noch eine Erinnerung an die Bushwick Avenue. Sie war mit dem Duft von Rosen verbunden. Bushwick Avenue … Rosen … Rosen … Straßen ohne Lastwagen. Eine große Menschenmenge auf den Trottoiren und Polizisten, die sie eindämmten. Und immer der Duft der Rosen. Dann kam die Kavalkade: berittene Polizisten und 197
ein großes, offenes Auto mit einem munteren, freundlich blickenden Herrn, der einen Kranz aus Rosen um den Hals geschlungen trug. Einige der Zuschauer weinten bei seinem Anblick vor Freude. Francie klammerte sich an Papas Hand. Sie hörte die Leute in ihrer Nähe sprechen: »Denkt nur, auch er war einmal ein Junge aus Brooklyn.« »War? Du dummer Kerl, er wohnt immer noch in Brooklyn.« »Wirklich?« »Jawohl. Er wohnt mitten in der Bushwick Avenue.« »Schaut ihn an! Schaut ihn an!« rief eine Frau. »Er hat etwas Großes vollbracht, und doch ist er immer noch ein gewöhnlicher Mensch wie mein Mann, nur ein wenig schöner.« »Es muß kalt gewesen sein dort oben«, sagte ein unflätiger Junge. »Ein Wunder, daß er sich nicht den Hintern abgefroren hat.« Ein leichenblasser Mann klopfte Johnny auf die Schulter. »Mac«, fragte er, »glaubst du wirklich, daß ganz oben auf der Welt eine Stange aus dem Boden ragt?« »Gewiß«, antwortete Johnny. »Ist er nicht hinaufgeklettert und hat die amerikanische Flagge aufgehängt?« In diesem Augenblick schrie ein kleiner Junge aus Leibeskräften: »Da kommt er! Da kommt er!« »Ah-h-h-h!« Francie war tief ergriffen von der Welle der Bewunderung, die durch die Menschenmenge lief, als das Auto vorüberfuhr. Mitgerissen von der allgemeinen Begeisterung, schrie sie mit schriller Stimme: »Ein Hoch auf Kapitän Cook! Es lebe Brooklyn!«
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ie meisten Kinder, die vor dem ersten Weltkrieg in Brooklyn aufgewachsen sind, erinnern sich besonders lebhaft an das Erntedankfest. An diesem Tag pflegten sie als Kobolde verkleidet mit Masken vor dem Gesicht herumzulaufen. Francie wählte ihre Maske mit größter Sorgfalt aus. Sie kaufte sich eine gelbe Chinesenmaske mit einem hängenden Schnurrbart aus dünnen Seidenfäden. Neeley verschaffte sich einen kreideweißen Totenkopf mit grinsenden schwarzen Zähnen. Im letzten Augenblick kam noch Papa mit zwei Blechtrompeten für je einen Penny, einer roten für Francie und einer grünen für Neeley. Und was es brauchte, bis Francie den Neeley endlich in seinem Kostüm drin hatte! Er trug ein altes Kleid von Mama, das Francie ihm vorn in Höhe der Fußgelenke abschneiden mußte, damit er nicht darüber stolperte. Hinten blieb das Kleid in seiner ursprünglichen Länge und bildete eine schmutzige Schleppe. Neeley stopfte sich zusammengeballte Zeitungen in den Halsausschnitt, um einen enormen Busen vorzutäuschen. Unter dem Kleid guckten die Messingbeschläge seiner durchbrochenen Schuhe hervor. Um nicht zu frieren, trug er über dem Ganzen eine zerfetzte wollene Strickjacke, und über der Totenmaske hatte er versucht, eine von Papas alten Melonen schief auf den Kopf zu setzen, aber der Hut war zu groß und rutschte ihm bis auf die Ohren herunter. Francie trug eine von Mamas gelben Blusen, einen leuchtendblauen Rock und eine rote Schärpe. Sie befestigte die Chinesenmaske mit Hilfe eines roten, mit weißen Tupfen übersäten Kopftuches, das sie sich unter dem Kinn zusammenband. Mama riet ihr, darüber noch ihre aus einem wollenen Strumpf verfertigte Zipfelmütze zu tragen, denn 199
es war ein sehr kalter Tag. Dann hängte Francie ihr Obstkörbchen vom letzten Jahr an den Arm, legte als Köder zwei Baumnüsse hinein, und die Kinder begaben sich auf die Straße. Auf der Straße wimmelte es von maskierten und kostümierten Kindern, die mit ihren Pennyblechtrompeten einen betäubenden Lärm machten. Diejenigen Kinder, die zu arm waren, um sich eine Pennymaske kaufen zu können, hatten sich die Gesichter mit angebranntem Kork geschwärzt. Andere, die von glücklicheren Eltern abstammten, hatten gekaufte Kostüme: Sie waren als Indianer, als Cowboys oder als Holländer verkleidet. Einige phantasielose Kinder hatten sich einfach ein Stück schmutziges Linnen umgehängt und nannten es ein Kostüm. Francie tauchte in einem großen Haufen unter und machte mit diesem die Runde. Einige Ladenbesitzer hatten ihre Türen verriegelt, aber die meisten hielten für die Kinder irgend etwas bereit. Der Kandiszuckermann hatte schon seit Wochen die zerbrochenen Süßigkeiten aufbewahrt und sie in kleine Säckchen abgefüllt, die er jetzt den Kindern, die zu ihm betteln kamen, verabreichte. Er mußte dies tun, weil er auf die Pennies der Kinder angewiesen war und es sich nicht leisten konnte, boykottiert zu werden. Die Bäckereien beteiligten sich, indem sie für die Kinder ein paar Schübe teigige, klitschige Teeküchlein buken. Sie wußten wohl, daß die Kinder die Einkäufe besorgen mußten und daß sie natürlich diejenigen Läden bevorzugten, von denen sie etwas bekamen. Der Früchtehändler verschenkte überreife Bananen und angefaulte Äpfel. Diejenigen Läden, die nicht auf die Kinder angewiesen waren, schenkten den Kindern nichts und verriegelten auch ihre Türen nicht. Ihre Inhaber predigten den Bettlerscharen höchstens, wie verwerflich das Betteln sei. Die Kinder rächten sich dafür durch wiederholtes heftiges Zuschmettern der Ladentüren. Gegen die Mittagszeit war die Runde beendet. Francie fühlte sich in ihrem Kostüm beengt. Ihre billige Gazemaske war zerknittert und vom Atem aufgeweicht. Ein kleiner Junge hatte ihr die rote Blechtrompete entrissen und sie über seinem Knie entzweigebrochen. Neeley kam mit einer blutigen Nase daher. Er hatte sich mit einem andern Jungen 200
geschlagen, der ihm sein Körbchen wegnehmen wollte. Neeley wollte nicht sagen, wer gewonnen hatte. Jedenfalls trug er außer seinem eigenen Körbchen auch noch dasjenige des andern Knaben. Sie gingen zusammen nach Hause zu einem guten Erntedankfestessen, das aus einem Braten und hausgemachten Nudeln bestand. Am Nachmittag erzählte Papa seine Erinnerungen an die Zeit, da er selbst noch als kleiner Junge maskiert herumgegangen war. An diesem Erntedankfest log Francie zum erstenmal wissentlich. Ihre Lüge wurde aufgedeckt, und sie beschloß, Schriftstellerin zu werden. Am Tag vor dem Erntedankfest mußten in Francies Schule vier Kinder Danksprüche aufsagen und je ein Symbol des Festes in der Hand halten. Das eine Kind hielt eine dürre Ähre in der Hand, ein anderes den Fuß eines Truthahns, der den ganzen Truthahn verkörpern sollte. Das dritte Mädchen hielt einen Korb voll Äpfel und das vierte eine Kürbispastete für fünf Cent, die so groß war wie ein kleiner Unterteller. Nach der Rezitation wurden die dürre Ähre und der Truthahnfuß in den Papierkorb geworfen. Die Lehrerin stellte den Korb mit den Äpfeln beiseite, um ihn mit nach Hause zu nehmen. Dann fragte sie, ob jemand die kleine Kürbispastete wolle. In dreißig Mündern lief das Wasser zusammen. In dreißig Händen zuckte es, weil sie gern in die Luft geflogen wären, aber keine bewegte sich. Einige der Kinder waren arm, viele waren hungrig, aber alle waren zu stolz, sich etwas Eßbares schenken zu lassen. Als sich niemand meldete, befahl die Lehrerin, man solle die Pastete wegwerfen. Das war zuviel für Francie. Diese schöne Pastete sollte man wegwerfen?! Dabei hätte sie schon lange gern gewußt, wie Kürbispastete schmeckt. Sie hatte sich immer vorgestellt, daß fahrendes Volk und indianische Krieger sich von solchen Pasteten ernährten. Sie platzte fast vor Verlangen. Da schoß ihr ein Gedanke durch den Kopf, und ihre Hand flog auf. »Ich bin froh, daß sie jemand will«, sagte die Lehrerin. »Ich möchte sie nicht für mich selbst«, log Francie stolz. »Aber ich kenne eine sehr arme Familie, der ich sie gerne bringen möchte.« 201
»Schön«, sagte die Lehrerin. »Dies ist der richtige Geist für ein Erntedankfest.« Francie aß die Pastete auf dem Heimweg. War es nun, weil sie das Gewissen plagte oder weil ihr der Geschmack unvertraut war, jedenfalls fand sie die Pastete gar nicht gut. Am nächsten Montag traf die Lehrerin Francie im Gang und fragte sie, ob sich die arme Familie über die Pastete gefreut habe. »Und wie!« sagte Francie. Als sie sah, wie interessiert die Lehrerin war, schmückte sie die Geschichte noch ein wenig aus. »Die Familie hat zwei kleine Mädchen mit goldenen Locken und großen blauen Augen.« »Und?« fragte die Lehrerin. »Und … und … sie sind Zwillinge.« »Wie interessant!« Francie war inspiriert. »Das eine Mädchen heißt Pamela und das andere Kamilla.« Dies waren die Namen, die Francie sich für ihre nur in der Phantasie existierenden Puppen ausgewählt hatte. »Und sie sind sehr, sehr arm«, half die Lehrerin nach. »Oh, schrecklich arm! Sie hatten schon seit drei Tagen gar nichts zu essen gehabt, und der Doktor sagte, sie wären gestorben, wenn ich ihnen nicht diese Pastete gebracht hätte.« »Die Pastete war aber eigentlich doch zu klein, um zwei Leben zu retten«, kommentierte die Lehrerin freundlich. Nun merkte Francie, daß sie zu weit gegangen war. Sie haßte dieses merkwürdige ›Etwas‹ in sich, das sie veranlaßte, solche dicken Lügen zu erfinden. Die Lehrerin beugte sich zu Francie hinunter und legte ihr liebevoll den Arm um die Schultern. Francie sah, daß sie Tränen in den Augen hatte. Da zerfloß sie selbst in Tränen, und die Reue stieg in ihr auf wie eine bittere Flut. »Es ist alles eine dicke Lüge«, gestand sie. »Ich habe die Pastete selbst gegessen. Aber, bitte, schicken Sie keinen Brief nach Hause«, bettelte Francie im Gedanken an die falsche Adresse, die Papa für sie angegeben hatte. »Ich will jeden Tag nach der Schule dableiben, solange …« »Francie, ich will dich nicht strafen dafür, daß du Phantasie hast.« 202
Dann begann ihr die Lehrerin liebevoll den Unterschied zwischen einer Lüge und einer Geschichte zu erklären. Eine Lüge war etwas, das man aus Feigheit oder aus Gemeinheit sagte. Eine Geschichte hingegen war einfach das Weiterspinnen eines Geschehens, das man nicht so erzählte, wie es in Wirklichkeit war, sondern so wie man denkt, daß es hätte sein können. Während die Lehrerin über diese Dinge sprach, war es Francie, als würde ihr eine große Last abgenommen. Sie hatte in der letzten Zeit eine große Neigung zum Übertreiben an den Tag gelegt. Sie erzählte die Dinge nicht, wie sie waren, sondern färbte sie, gestaltete sie aufregend und verlieh ihnen dramatische Höhepunkte. Katie hatte keine Freude daran und ermahnte Francie oft, die einfache Wahrheit zu erzählen und nicht so zu flunkern. Aber dies wollte Francie einfach nicht gelingen, sie mußte immer noch etwas Romantisches hineinflechten. Obwohl Katie dieselbe Neigung zur Dramatisierung eines Ereignisses hatte und Johnny ebenfalls immer in einer Traumwelt lebte, versuchten sie, diese Eigenschaften in ihrem Kind auszurotten. Vielleicht hatten sie erkannt, daß ihre eigene Phantasie die brutale Armut ihres Lebens immer etwas zu rosig färbte und daß sie es deshalb ertragen konnten. Jedenfalls dachte Katie, daß sie ohne ihre reiche Phantasie die Dinge klarer, realistischer sehen könnten, daß sie sie dann nicht mehr ertragen könnten und vielleicht gerade deshalb einen Ausweg finden würden. Francie konnte die Worte dieser gütigen Lehrerin nie mehr vergessen. »Weißt du, Francie, die meisten Leute werden glauben, daß die Geschichten, die du erfindest, einfach Lügen sind, weil sie nicht dem entsprechen, was sie unter Wahrheit verstehen. Wenn dir so etwas nicht wieder passieren soll, dann mußt du in Zukunft die Dinge einfach genauso erzählen, wie sie sich ereignet haben, und dann kannst du immer noch für dich selbst aufschreiben, wie du dir vorstellst, daß die Dinge hätten geschehen können. Erzähl die Wahrheit und schreib die Geschichte!« Francie fand dies den besten Rat, den man ihr je gegeben hatte. Wie bei jedem einsamen Kind waren in ihrem Gemüt Dichtung und Wahr203
heit so miteinander verquickt, daß sie sie nicht mehr auseinanderhalten konnte. Die Lehrerin aber hatte ihr nun einen Ausweg gezeigt. Von jenem Tag an begann Francie kleine Geschichten zu schreiben über alles, was sie sah, fühlte und tat. Und mit der Zeit gelang es ihr wirklich, die Wahrheit nur noch ganz wenig auszuschmücken. Francie war zehn Jahre alt, als sie zum erstenmal im Schreiben ein Ventil für die Überfülle ihres Herzens fand. Was sie schrieb, war natürlich von geringer Bedeutung. Wichtig für sie war, daß das Schreiben ihr half, besser zwischen Dichtung und Wahrheit zu unterscheiden. Wenn sie nicht auf den Ausweg des Schreibens verwiesen worden wäre, hätte sie sich vielleicht zu einer pathologischen Lügnerin entwickelt.
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ie Weihnachtszeit war eine verzauberte Zeit in Brooklyn. Sie erfüllte die Luft schon lange, bevor sie wirklich kam. Der erste Bote war Herr Morton, der die Schulkinder Weihnachtslieder singen lehrte. Aber ein noch sichereres Anzeichen waren die Schaufenster. Nur ein Kind kann das Wunder eines mit Puppen und Schlitten und Spielsachen gefüllten Schaufensters ermessen. Und dieses Wunder konnte Francie ganz umsonst haben. Die Spielzeuge im Schaufenster bewundern zu dürfen, das war für sie beinahe so gut, wie sie zu besitzen. Oh, was für ein glücklicher Schauer überkam Francie, wenn sie um eine Straßenecke bog und sah, daß auch dort schon ein Weihnachtsfenster bereitet war! Ein mit schneeweißer Watte ausgelegtes Fenster, das ganz mit funkelndem Sternenstaub bestreut war! Darauf sah man flachshaarige Puppen und andere, deren Haar die Farbe von gutem, mit viel Sahne vermischtem Kaffee hatte und die Francie noch viel besser 204
gefielen. Sie hatten rosige Gesichter und trugen Kleider, wie sie Francie auf dieser Erde noch nie gesehen hatte. Die Puppen standen aufrecht in dünnen Kartonschachteln und waren mit dünnen Schnürchen daran befestigt, die sie um Hals und Fußgelenke hatten und die durch kleine Löcher in der Schachtel liefen, damit man sie auf der Rückseite zusammenbinden konnte. Oh, die tiefblauen, von dicken Wimpern umrahmten Augen, die einem kleinen Mädchen direkt ins Herz hineinguckten, und die zarten kleinen Händchen, die sich sehnsüchtig ausstreckten und zu betteln schienen: »Bitte, möchtest nicht du meine Mama sein?« Francie hatte nur eine fünf Zentimeter große Puppe, die sie für einen Fünfer erstanden hatte. Und die Schlitten! Sie waren der Traum eines jeden Kindes. Ein nagelneuer Schlitten mit einer Blume, die jemand geträumt hatte, daraufgemalt – eine tiefblaue Blume mit hellgrünen Blättern –, die ebenholzschwarz bemalten Kufen, die glänzende Querstange, die glänzend lackierten Brettchen, auf die verschiedene Namen gemalt waren! ›Rosenknospe‹, ›Magnolia‹, ›Schneekönig‹, ›Flieger‹. Wenn ich nur einen Schlitten haben könnte, dachte Francie, dann würde ich nachher mein Leben lang Gott nie mehr um etwas bitten. Auf dem wolkenähnlichen Wattebett, ganz mit glitzerndem Schnee bestreut, lagen kreuzweise übereinandergelegte Rollschuhe aus glänzendem Nickel mit schönen braunen Lederriemen und funkelnden Rädchen, die sich danach sehnten, rollen zu dürfen, und die sich gewiß schon beim bloßen Anhauchen drehen würden. Francie stand verwirrt vor Staunen vor dem Fenster und verlor sich in Träumen darüber, was sie mit all den Herrlichkeiten anfangen würde. In der Woche vor Weihnachten erschienen in ihrem Quartier die ersten Christbäume. Die Äste waren noch zusammengebunden, damit sie leichter transportiert werden konnten. Die Verkäufer mieteten sich ein Stück Randstein, spannten zwischen zwei Stangen ein Seil und lehnten die Weihnachtsbäume daran. Dann patrouillierten sie den ganzen Tag vor dieser einseitigen, wohlriechenden Allee auf und ab, bliesen sich in die steifen Hände und blickten hoffnungsvoll auf die paar Menschen, die beim Vorübergehen ein wenig stehenblieben. Einige weni205
ge bestellten einen Baum, den man ihnen beiseite stellen mußte. Andere verlegten sich aufs Handeln und aufs Schätzen oder aufs bloße Inspizieren. Die meisten aber wollten einfach die Bäume berühren und ein paar Nadeln abbrechen, um sie zwischen den Fingern zu zerreiben und den wunderbaren Duft zu riechen. Die Luft war kalt und still und erfüllt vom Duft der Tannen und der Mandarinen, die nur zur Weihnachtszeit in den Kaufläden zu sehen waren. So war die armselige Straße für eine kurze Zeit wie verzaubert. In Williamsburg gab es, was die Weihnachtsbäume betraf, eine grausame Sitte. Man sagte, man brauche nur zu warten bis zur Mitternacht des Heiligen Abends, dann würden sie einem die Christbäume, die noch nicht verkauft waren, geradezu nachwerfen. Und dies war wörtlich wahr. Am Heiligen Abend versammelten sich die Kinder um zwölf Uhr nachts vor den noch unverkauften Christbäumen. Der Verkäufer warf einen Baum nach dem andern weg. Er begann immer mit dem größten. Die Kinder boten sich an, die Bäume aufzufangen. Wenn sie unter dem Aufprall nicht zu Boden fielen, durften sie den Baum behalten. Wenn sie aber dem Wurf nicht standhielten, dann hatten sie ihre Chance, einen Baum zu gewinnen, verscherzt. Nur die stärksten unter den Knaben wagten es, sich mit dem größten Baum anwerfen zu lassen. Die andern warteten, bis ein Baum an die Reihe kam, dessen Gewicht sie zu ertragen hofften. Die kleinsten Kinder warteten auf die ganz kleinen, fußgroßen Bäumchen und jauchzten vor Entzücken, wenn es ihnen gelang, eins zu gewinnen. Als Francie zehn Jahre alt war und Neeley neun, erlaubte ihnen Mama zum erstenmal, ihr Glück mit einem Christbaum zu versuchen. Francie hatte sich ihren Baum schon während des Tages ausgesucht. Sie hatte den ganzen Abend danebengestanden und gebetet, daß ihn nicht vorher noch jemand kaufe. Zu ihrer großen Freude war er um Mitternacht immer noch da. Es war der größte Baum von allen, und er war so teuer, daß niemand ihn sich leisten konnte. Er war drei Meter hoch. Seine Zweige waren mit einer neuen Schnur zusammengebunden, und er hatte eine schöne, gerade Spitze. 206
Dieser Baum kam zuerst an die Reihe. Aber noch bevor sich Francie melden konnte, hatte Punky Perkins, einer der rauflustigsten Jungen der Nachbarschaft, der schon achtzehn Jahre alt war, den Mann aufgefordert, ihm den Baum anzuwerfen. Aber dem Mann gefiel die selbstsichere Art des Jungen nicht. Er schaute sich noch einmal um und fragte: »Ist sonst noch jemand da, der es wagen will?« Francie gab sich einen Ruck. »Ich, Mister.« Der Mann lachte spöttisch auf. Die andern Kinder kicherten. Die umstehenden Erwachsenen, die gekommen waren, um dem Wettbewerb beizuwohnen, staunten mit offenem Mund. »Ach, was denkst du denn, du bist doch viel zu klein«, wandte der Verkäufer ein. »Aber ich und mein Bruder zusammen, wir sind nicht zu klein.« Sie nahm Neeley beim Ärmel. Der Mann schaute die beiden Kinder an: ein schmächtiges zehnjähriges Mädchen mit vor Hunger eingefallenen Wangen und einem noch kindlich gerundeten Kinn und ein kleiner blonder Junge mit kugelrunden blauen Augen, Neeley Nolan, der ganz aus Unschuld und Vertrauen bestand. »Zwei ist nicht fair«, kläffte Punky. »Halt deinen lausigen Schnabel!« riet ihm der Mann, der in dieser Stunde das entscheidende Wort zu sprechen hatte. »Diese Kinder haben Mut. Weg mit euch allen! Diese Kinder sollen ihr Glück einmal probieren!« Die Zuschauer bildeten eine krumme Gasse. Francie und Neeley standen am einen Ende und der Mann mit dem Weihnachtsbaum am andern. Es war wie ein aus Menschen gebildeter Trichter, an dessen Öffnung Francie und Neeley standen. Schon bog der Mann seine kräftigen Arme, um den Baum zu werfen. Dann wurde ihm für einen Moment bewußt, wie klein die beiden Kinder noch waren, und in diesem Augenblick erfüllte Mitleid seine Seele. Ach Gott, dachte er, warum gebe ich den armen Würmern den Baum nicht einfach und sage ›Fröhliche Weihnachten‹ dazu? Der Baum ist ohnehin verloren für mich. Ich kann ihn dieses Jahr doch nicht mehr 207
verkaufen, und bis zum nächsten Jahr ist er verdorrt. Die Kinder schauten ihn ernst und feierlich an, während er dastand und sich diese Gedanken machte. Aber dann, überlegte er, werden alle andern auch von mir erwarten, daß ich ihnen den Baum schenke. Und im nächsten Jahr würde mir überhaupt niemand mehr einen Baum abkaufen. Sie würden alle warten, bis ich ihn ihnen auf einem silbernen Präsentierteller anbiete. Ich bin nicht so reich, daß ich diesen Baum umsonst verschenken kann. Nein, ich bin nicht reich genug. Ich bin nicht reich genug, um mir so etwas leisten zu können. Ich muß auch an mich und meine eigenen Kinder denken. Nun war sein Entschluß gefaßt. Ach, zum Teufel! Diese beiden Kinder müssen sich daran gewöhnen, daß sie in einer rauhen Welt leben. Sie müssen es lernen, Schmerz zu ertragen und Schmerz zuzufügen. Und, bei Gott, weniger zufügen als ertragen, ertragen, immer ertragen in dieser gottverdammten Welt. Während er den Baum mit aller Wucht auf die Kinder warf, schrie es in seinem Herzen: »Es ist eine gottverdammte, verdorbene, elende Welt!« Francie sah den Baum durch die Luft fliegen. Für den Bruchteil einer Sekunde hörten Raum und Zeit auf zu sein. Die ganze Welt schien stillzustehen, während das dunkle, ungeheure Ding auf sie zuflog. Das Entsetzen vor dem fliegenden Baum schien alle andern Erinnerungen ihres Lebens ganz auszulöschen. Es gab nichts mehr als schneidende Dunkelheit und etwas, das größer und größer wurde, während es auf sie zustürzte. Sie schwankte unter dem Anprall des Baumes. Neeley wollte in die Knie sinken, aber sie zog ihn energisch hoch, bevor er den Boden berührte. Der Baum fiel mit einem mächtigen Rauschen vor ihnen nieder. Vor ihren Augen war alles dunkel, grün und stachelig. Dann fühlte Francie einen stechenden Schmerz an der Schläfe, wo der Baum sie getroffen hatte. Sie spürte, wie Neeley zitterte. Als ein paar größere Jungen den Baum wegzogen, fanden sie Francie und Neeley aufrecht Hand in Hand dastehen. Das Blut strömte über Neeleys zerkratztes Gesicht. Er glich mehr denn je einem Baby mit seinen entsetzten blauen Augen und seiner zarten Haut, die zwischen 208
den roten Blutbächlein noch weißer schimmerte als sonst. Aber sie lächelten beide. Hatten sie nicht den größten Weihnachtsbaum des ganzen Quartiers gewonnen? Einige Knaben schrien laut: »Hurra!« Die Erwachsenen klatschten Beifall. Und der Christbaumverkäufer lobte sie mit den Worten: »Und nun macht, daß ihr zum Teufel kommt, ihr lausigen Bastarde!« Aber Francie war von klein auf ans Fluchen gewöhnt. Unanständigkeiten und wüste Wörter hatten unter ihresgleichen ihren ursprünglichen Sinn verloren. Die Flüche waren einfach Gefühlsausbrüche von ungebildeten Leuten mit begrenztem Wortschatz. Sie waren eine Art Armendialekt. Die Wörter konnten mancherlei bedeuten, je nach dem Ton, in dem sie gesagt wurden, und der Geste, die sie begleitete. So war es auch jetzt. Als Francie die Wörter ›lausige Bastarde‹ hörte, lächelte sie den freundlichen Mann zitternd an. Sie wußte ganz gut, daß er damit meinte: »Gott segne euch – Fröhliche Weihnachten!« Es war nicht leicht, den Baum nach Hause zu schleppen. Zudem wurden sie von einem Gassenjungen behindert, der ihnen nachlief und schrie: »Freie Fahrt! Einsteigen!« und dabei immer wieder auf den Baum sprang und sich mitschleppen ließ. Aber schließlich wurde ihm dieses Spiel zu dumm, und er ließ sie in Ruhe. Andererseits war es ein Vorteil, daß sie soviel Zeit brauchten, um den Baum heimzuschleppen. Sie konnten auf diese Weise ihren Triumph länger auskosten. Francie glühte vor Stolz, als eine Dame sagte: »Ich habe in meinem Leben noch nie einen so großen Baum gesehen.« Ein Mann rief ihnen nach: »He, Kinder, habt ihr eine Bank geplündert, daß ihr einen so schönen Baum habt kaufen können?!« Der Polizist an der Straßenecke hielt sie an, bewunderte den Baum und bot ihnen zehn Cent dafür an, fünfzehn Cent, wenn sie ihn bis vor sein Haus schleppten. Francie platzte fast vor Stolz, obwohl sie wußte, daß er nur Spaß machte. Sie sagte, nicht einmal für einen Dollar würde sie ihn hergeben. Er schüttelte den Kopf und sagte, sie sei aber dumm, daß sie das gute Geschäft ausschlage. Er steigerte sein Angebot bis zu einem Vierteldollar, aber Francie schüttelte immer lächelnd den Kopf und sagte: »Nein!« 209
Sie kam sich vor wie in einem Weihnachtsspiel, in dem die Szenerie eine Straßenecke war, die Zeit ein frostiger Heiliger Abend und die Personen ein freundlicher Polizist, ihr Bruder und sie selbst. Francie dachte sich den ganzen Dialog aus. Der Polizist konnte seine Rolle gut, und sie brauchte nur im rechten Moment fortzufahren. Vor dem Haus angelangt, mußten sie Papa herunterrufen, damit er ihnen half, den Baum die schmalen Treppen hinaufzutransportieren. Papa rannte die Treppen hinunter. Francie sah voll Erleichterung, daß er nicht seitwärts ging, was ein Beweis war, daß er noch nicht betrunken war. Papas Staunen über die Größe des Baumes war höchst schmeichelhaft. Er tat so, als könne er nicht glauben, daß der Baum wirklich Francie und Neeley gehörte. Es belustigte Francie sehr, ihn immer wieder davon zu überzeugen, obwohl sie genau wußte, daß das Ganze nur ein Spiel war. Papa zog vorn, während Francie und Neeley hinten schoben, und so schleppten sie den großen Baum das schmale Treppenhaus hinauf. Johnny war so begeistert, daß er zu singen anfing, ohne sich darum zu kümmern, daß es schon sehr spät in der Nacht war. Er sang: »Stille Nacht.« Seine helle, süße Stimme hallte in dem engen Treppenhaus wider. Quietschende Türen öffneten sich, und ganze Familien versammelten sich auf den Treppenabsätzen, glücklich und erstaunt darüber, daß plötzlich in ihrem Leben etwas so Schönes und Merkwürdiges passierte. Francie sah die beiden Schwestern Tynmore unter ihrer Wohnungstür stehen. Ihr ergrautes Haar war voller Lockenwickler, und unter ihren weiten Morgenröcken quollen die weißen, steifgestärkten und zerknitterten Nachthemden hervor. Sie stimmten mit ihren dünnen, spitzen Stimmen in Johnnys Lied ein. Auch Floß Gaddis stand mit ihrer Mutter und ihrem todkranken Bruder unter der Tür. Henny weinte, und als Johnny das sah, ließ er das Weihnachtslied ausklingen, weil er dachte, es stimme ihn vielleicht zu traurig. Flossie trug eines ihrer Abendkleider und erwartete ihren Kavalier, der sie zu einem Maskenball, der bald nach Mitternacht begann, abholen sollte. Sie stand da in ihrem farbigen Kostüm, und in ihrer einen 210
Hand baumelte die schwarze Maske. Sie lächelte Johnny in die Augen. Sie stützte eine Hand auf die Hüfte und lehnte sich in verführerischer Pose – sie glaubte wenigstens, verführerisch zu sein – gegen den Türpfosten. Um Henny wieder zum Lachen zu bringen, sagte Johnny: »Floß, wir haben noch keinen Engel für die Spitze unseres Weihnachtsbaumes; wie wäre es, wenn du hinaufsteigen würdest?« Floß war drauf und dran, eine schmutzige Bemerkung zu machen und zu sagen, der Wind könnte ihr ja die Hosen wegblasen, wenn sie gar so hoch oben stünde. Aber dann brachte sie es nicht über sich. Es war irgend etwas an dem großen, stolzen Baum, der sich nun so bescheiden ziehen lassen mußte, und in der strahlenden Freude der Kinder und der allgemeinen Mitfreude der Nachbarn, daß sie sich eines Bessern besann und statt dessen nur die Worte hervorbrachte: »Ach, Johnny Nolan, was Sie immer für Späße machen!« Katie stand mit gefalteten Händen allein auf dem obersten Treppenabsatz. Sie hörte dem Singen zu. Sie schaute hinunter und sah ihre Familie langsam die Treppen heraufkommen. Und sie machte sich ihre eigenen Gedanken. Sie finden das alles nun wunderbar, dachte sie. Sie finden es wunderbar, daß sie den Baum umsonst bekommen haben und daß ihr Vater auf ihre Scherze eingeht, daß er mit ihnen singt und daß die ganze Nachbarschaft sich mit ihnen freut. Sie sind glücklich darüber, daß sie leben und daß es wieder Weihnacht ist. Sie sehen noch nicht, daß wir in einer schmutzigen Straße und in einem armseligen Haus wohnen, zusammen mit lauter Leuten, die nicht viel wert sind. Johnny und die Kinder merken nicht, wie traurig es ist, daß unsere Nachbarn und Hausgenossen sich in diesem Schmutz ihr Glück zusammensuchen müssen. Aber meine Kinder müssen es einmal besser haben. Sie müssen etwas besseres werden als Johnny und ich und all die Leute, die wir kennen. Aber wie kann ich das fertigbringen? Es genügt nicht, daß sie jeden Tag eine Seite aus diesen beiden Büchern lesen und daß ich Pennies zusammenkratze für die Sparbüchse. Geld! Könnte Geld allein ihre Lage verbessern? Ja, es würde ihnen das Leben gewiß leichter machen. Aber mit dem Geld allein ist es nicht getan. McGarrity, der Knei211
penbesitzer an der Ecke, hat viel Geld. Seine Frau trägt Ohrringe mit Diamanten. Aber ihre Kinder sind nicht so gut wie meine Kinder und auch nicht so intelligent. Sie sind selbstsüchtig und gemein gegen die andern Kinder, weil sie die Dinge haben, nach denen die andern Kinder verlangen. Das McGarrity-Mädchen bringt es fertig, an der Straße zu stehen und inmitten eines Kreises hungriger Kinder Kandiszucker zu essen, ohne etwas zu verschenken. Und wenn sie sich vollgegessen hat, wirft sie den Rest lieber in die Kanalisation, als daß sie jemandem etwas schenkt. Nein, mit dem Geld allein ist es nicht getan. Das McGarrity-Mädchen trägt jeden Tag eine andere Haarmasche für fünfzig Cent – das würde unsere Familie einen Tag lang ernähren. Aber sie hat dünnes, rötliches Haar. Mein Neeley hat ein großes Loch in seiner verzogenen Zipfelmütze, aber darunter hat er einen dichten, goldenen Lockenschopf. Meine Francie hatte keine Haarschleife, aber sie hat schönes, glänzendes, langes Haar. Kann man so etwas mit Geld kaufen? Nein! Es muß also etwas Größeres geben als das Geld. Miß Jackson zum Beispiel. Sie gibt Stunden im Settlement House und hat kein Geld. Sie arbeitet für wohltätige Zwecke. Sie wohnt dort in einem kleinen Zimmer im obersten Stock. Sie hat nur ein einziges Kleid, aber es ist immer sauber und frisch gebügelt. Und wenn sie mit einem spricht, schaut sie einem direkt in die Augen. Wenn man ihre Stimme hört, ist einem zumute, als sei man vorher krank gewesen, und nun gehe es wieder besser. Sie weiß alles – Miß Jackson. Sie versteht alles. Sie kann mitten im größten Elend wohnen und doch fein und vornehm und sauber aussehen. Sie ist immer wie eine Schauspielerin auf der Bühne, die man nur ansehen darf, aber nicht berühren, weil sie zu fein ist. Das ist der Unterschied zwischen ihr und der Frau von McGarrity, die zwar reich ist, aber viel zu dick, und die sich auf schmutzige Weise mit den Chauffeuren abgibt, die ihrem Mann das Bier bringen müssen. Worin besteht also der Unterschied zwischen ihr und Miß Jackson, die gar kein Geld hat? Und plötzlich wußte Katie die Antwort. Die Antwort war so einfach, und doch verursachte ihr die blitzartige Erkenntnis fast einen Schmerz im Kopf. Bildung! Das war's! Der ganze Unterschied bestand in der Bil212
dung! Nur durch eine gute Bildung konnten ihre Kinder aus diesem Schmutz herauskommen. Den Beweis dafür lieferten die gebildete Miß Jackson und die Frau von McGarrity, die keine Bildung hatte. Das war es auch, was Mary Rommely ihr all die Jahre hindurch hatte klarmachen wollen. Nur hatte ihre Mutter nicht dies eine klare Wort zur Verfügung gehabt: Bildung! Während sie zuschaute, wie die Kinder langsam die Treppe heraufkamen, und ihre hellen, immer noch so kindlichen Stimmen hörte, arbeitete es in ihrem Kopf fieberhaft. Francie ist intelligent, dachte sie. Sie muß aufs Gymnasium und vielleicht noch mehr als das. Sie ist zum Lernen begabt, und eines Tages wird aus ihr etwas werden. Aber dann will sie vielleicht von mir nichts mehr wissen. Sie entfernt sich ja jetzt schon von mir. Sie liebt mich nicht auf dieselbe Weise wie der Junge. Ich spüre, wie sie mir langsam entgleitet. Alles, was sie versteht, ist, daß ich sie nicht verstehe. Vielleicht wird sie sich später einmal ihrer Mutter schämen, der Art, wie ich spreche. Aber sie wird zuviel Charakter haben, um es mir zu zeigen. Dafür wird sie versuchen, mich zu ändern. Sie wird mich besuchen kommen und probieren, mich in eine bessere Welt zu versetzen, und ich werde nicht gut zu ihr sein, weil ich darunter leiden werde, daß sie besser ist als ich. Sie wird sich über alles Gedanken machen, wenn sie größer wird, und sie wird viel mehr denken und wissen, als für ihr Glück gut ist. Sie wird herausfinden, daß ich sie nicht so innig liebe wie den Jungen. Aber ich kann nichts dafür, daß es so ist. Nur wird sie es nicht verstehen können. Manchmal glaube ich, sie weiß es schon jetzt. Sie fängt schon an, sich von mir zu entfernen, und bald wird sie darum kämpfen, möglichst weit von mir wegzukommen. Der Übertritt in diese andere Schule war ihr erster Schritt, den sie von mir weg tat. Aber bei Neeley weiß ich, daß er mich nie verlassen wird, und deshalb liebe ich ihn so. Er wird immer anhänglich bleiben und mich verstehen. Er soll einmal ein Doktor werden. Er muß ein Doktor werden. Vielleicht wird er auch einmal Geige spielen. Er ist voll von Musik. Das hat er von seinem Vater geerbt. Er kann jetzt schon besser Klavier spielen als Francie und ich. Ja, sein Vater ist auch so musikalisch, aber die Mu213
sik tut ihm nicht gut. Sie ruiniert ihn bloß. Wenn er nicht so gut singen könnte, dann würde man ihn auch nicht sooft zum Trinken einladen. Was nützt es ihm und uns allen, daß er eine so schöne Stimme hat, wenn wir trotzdem im Elend weiterleben müssen? Aber mit Neeley soll es anders werden. Er muß ausgebildet werden. Ich muß Mittel und Wege dazu finden. Johnny wird nicht sehr lange bei uns bleiben. Du lieber Gott, ich habe ihn einmal so geliebt – und eigentlich liebe ich ihn auch jetzt noch. Aber er ist ein Nichtsnutz – ein Nichtsnutz. Und Gott verzeihe mir, daß ich so von ihm denken muß. All diese Gedanken gingen Katie durch den Kopf, während Johnny mit den Kindern den Baum die Treppe hinaufschleppte. Die Hausgenossen, die zu ihr hinaufblickten und das hübsche, glatte, lebhafte Gesicht sahen, konnten nicht ahnen, was für mühsam geformte Entschlüsse hinter dieser Stirn gefaßt wurden. Sie stellten den Tannenbaum im vorderen Zimmer auf, nachdem sie ein Leinentuch über den rosenrot geblümten Teppich ausgebreitet hatten, um ihn vor den fallenden Nadeln zu schützen. Der Baum stand in einem großen Zinkeimer und wurde mit zerbrochenen Backsteinen festgeklemmt. Als sie die weiße Schnur aufgeschnitten hatten, breiteten sich die Zweige aus und füllten fast das ganze Zimmer. Sie ragten über das Klavier, und einige von den Stühlen standen buchstäblich zwischen den Zweigen. Für Kerzen oder Christbaumschmuck hatten die Nolans kein Geld, aber sie waren mit dem prächtigen, riesigen Baum zufrieden. Das Zimmer war kalt. Es war ein armes Jahr gewesen; die Nolans konnten sich dieses Jahr nicht einmal die nötigen Kohlen für das vordere Zimmer verschaffen. Das Zimmer roch nach Kälte, Sauberkeit und Tannenduft. Während der ganzen Woche, in der der Baum im vorderen Zimmer stand, schlich sich Francie im wollenen Jäckchen und der Zipfelmütze hinein und setzte sich darunter. Sie saß einfach da und freute sich über den würzigen Duft und das satte Grün. – Was für ein Wunder ist doch ein so großer, grüner Baum im Vorderzimmer einer Mietswohnung! Trotz der großen Armut war dieses Weihnachtsfest sehr schön, und es fehlte den Kindern auch nicht an Geschenken. Mama schenkte den 214
Kindern ein Paar lange wollene Hosen und ein wollenes Hemd mit langen Ärmeln und kratzender Innenseite. Von Tante Evy bekamen sie ein gemeinsames Geschenk: eine Schachtel Dominos. Papa zeigte ihnen, wie man spielt. Neeley hatte keine Freude an dem Spiel, aber Papa spielte mit Francie, und jedesmal, wenn er verlor, tat er so, als ärgere ihn dies furchtbar. Großmutter Rommely brachte etwas sehr Hübsches, das sie selbst verfertigt hatte. Sie brachte jedem der Kinder ein Medaillon, in Form von zwei kleinen Ovalen, das sie selbst aus feurigrotem Wollstoff geschnitten hatte. Auf das eine hatte sie mit hellblauem Garn ein Kreuz gestickt und auf das andere ein goldenes Herz, das mit einer braunen Dornenkrone gekrönt war. Das Herz war von einem schwarzen Dolch durchbohrt, und von der Dolchspitze fielen zwei hellrote Blutstropfen herab. Das Kreuz und das Herz waren sehr klein und mit winzigen Stichen genäht. Die beiden Ovale waren mit feinen Stichen zusammengenäht und an einem Endchen Korsettschnur befestigt. Mary Rommely hatte die Skapuliere vom Priester segnen lassen, bevor sie sie den Kindern schenkte. Als sie Francie das Geschenk um den Hals hängte, flüsterte sie: »Mögest du immer mit den Engeln wandeln!« Tante Sissy gab Francie ein winziges Päckchen. Sie öffnete es und fand darin ein Streichholzschächtelchen. Es sah sehr zerbrechlich aus, war mit Kreppapier überzogen, und oben auf den Deckel war ein winziges Zweiglein violetter Lavendel gemalt. Francie schob den Deckel zurück. Das Schächtelchen enthielt zehn Scheiben, die alle in rosenrotes Seidenpapier eingewickelt waren. Beim weiteren Auspacken erwiesen sich die Scheiben als glänzende, goldene Pennies. Sissy erklärte, sie habe ein wenig Goldstaub gekauft, ihn mit Bananenöl gemischt und mit dieser Mischung die Pennies vergoldet. Francie freute sich am allermeisten über Sissys Geschenk. Immer wieder mußte sie das Schächtelchen öffnen und das kobaltblaue Papier an den Seitenwänden und das hauchdünne weiße Holz des Bodens bestaunen. Die goldenen Pennies in dem zarten Seidenpapier waren ein immer neues Wunder. Am nächsten Tag verlor Francie zwei von den Pennies. Mama fand, sie wären wohl am sichersten in der Sparbüchse. Sie versprach, Francie dürfe 215
sie wiederhaben, wenn die Büchse einmal aufgemacht werde. Francie mußte zugeben, daß Mama recht hatte, wenn sie sagte, die Pennies wären in der Sparbüchse am sichersten, und doch war es bitter, die schönen, goldenen Münzen in das dunkle Gefäß hineinfallen zu lassen. Papa hatte für Francie etwas ganz Besonderes. Es war eine Postkarte mit einer Kirche darauf. Das Dach war mit Fischleim bestrichen, auf dem tausend kleine Silberkörnchen klebten, die schöner funkelten als richtiger Schnee. Die Fensterscheiben waren aus glänzendem, orangefarbenem Papier. Das Zauberhafte an der Karte war, daß durch die Fenster ein wunderbarer Glanz fiel, wenn man sie gegen das Licht hielt und dieses goldene Reflexe auf den glitzernden Schnee warf. Es war einfach wundervoll. Mama sagte, Francie könne die Karte, da sie unbeschrieben sei, bis zur nächsten Weihnacht aufbewahren und sie dann jemandem schicken. »O nein!« sagte Francie. Sie bedeckte die Karte mit beiden Händen und drückte sie fest ans Herz. Mama lachte. »Du mußt auch lernen, ein wenig Spaß zu verstehen, sonst wird dich das Leben sauer ankommen.« »Weihnachten ist kein Tag für Belehrungen«, sagte Papa. »Aber ist es etwa ein Tag, an dem man sich betrinken muß?« gab Katie hitzig zurück. »Ich habe ja nur zwei Glas getrunken, Katie«, verteidigte sich Johnny. »Es war sozusagen ein Weihnachtsgeschenk.« Francie schlich sich ins Schlafzimmer und zog die Tür hinter sich zu. Sie konnte es nicht ertragen, wenn Mama mit Papa zankte. Francie verteilte die Geschenke, die sie für die andern bereit hatte, erst vor dem Nachtessen. Für Mama hatte sie einen Hutnadelhalter. Sie hatte in der Apotheke für einen Penny ein Probiergläschen gekauft und es dann mit einem Stückchen blauem Seidenband, das auf beiden Seiten eine Krause bildete, überzogen. Oben hatte sie ebenfalls ein Stück Band angenäht, damit man den Halter neben der Waschkommode an die Wand hängen konnte. Für Papa hatte sie eine Uhrkette. Sie hatte sie mit Hilfe einer Fadenspule, in die sie vier kleine Nägel geschlagen, selbst verfertigt. Zwei 216
Schuhnestel waren dafür nötig gewesen. Johnny besaß zwar keine Uhr, aber er nahm einen eisernen Dichtungsring vom Wasserhahn und hängte ihn an die Uhrkette. Er trug den Ring den ganzen Tag in der Westentasche und tat so, als sei er eine Uhr. Für Neeley hatte Francie ein sehr feines Geschenk: eine große Glaskugel für fünf Cent, die eher einem Riesenopal glich als einer einfachen Kugel zum Murmelspielen. Neeley besaß eine ganze Schachtel voll braun und blau gesprenkelter Lehmkügelchen, von denen man für einen Penny zwanzig Stück bekam. Aber er hatte nie einen guten ›Schießer‹ besessen und konnte deshalb bei wichtigen Spielen nicht mitkonkurrieren. Francie schaute ihm zu, wie er die Glaskugel auf dem Zeigefinger hin und her rollen ließ und sie von hinten mit dem Daumen sicherte. Es sah so aus, als ob sich Neeley wirklich über ihr Geschenk freue, und sie war froh, daß sie sich zu diesem ›Schießer‹ entschlossen und nicht die kleine Pistole für fünf Cent gekauft hatte, wie sie zuerst im Sinne gehabt. Neeley steckte die Glaskugel in die Hosentasche und verkündete, auch er habe Geschenke. Er rannte ins Schlafzimmer, kroch unter sein Bett und holte einen klebrigen Papiersack hervor. Er warf ihn Mama zu und sagte: »Verteil du sie!« Er stand in einer Ecke. Mama öffnete den Papiersack. Er enthielt für jeden einen gestreiften Zuckerstengel. Mama geriet in Ekstase. Sie sagte, es sei das schönste Geschenk, das sie je bekommen habe. Dann küßte sie Neeley dreimal. Francie gab sich alle Mühe, nicht eifersüchtig zu sein, weil Mama aus Neeleys Geschenk soviel mehr Wesens machte als aus dem ihrigen. Noch in derselben Woche log Francie wieder einmal schrecklich. Tante Evy hatte zwei Freikarten gebracht. Irgendeine protestantische Sekte gab ein Weihnachtsfest für arme Kinder aller Konfessionen. Das Programm versprach einen geschmückten Weihnachtsbaum, ein Weihnachtsspiel, das Singen von Weihnachtsliedern und die Verteilung von Geschenken an jedes Kind. Katie konnte sich mit dem Gedanken nicht befreunden – katholische Kinder bei einer protestantischen Weihnachtsfeier! Aber Evy überredete sie zur Toleranz. Schließlich willigte Mama ein, und Francie und Neeley durften zu der Feier gehen. 217
Das Fest fand in einem großen Saal statt. Auf der einen Seite mußten die Mädchen sitzen, auf der andern die Knaben. Die Feier war wunderbar, nur das Spiel sehr frömmlerisch und langweilig. Nach dem Spiel gingen Komiteedamen zwischen den Bankreihen durch und verteilten die Geschenke. Alle Mädchen bekamen ein Lottospiel und alle Knaben Schachbretter. Nachdem man noch ein wenig gesungen hatte, trat eine Dame auf die Bühne und kündete eine besondere Überraschung an. Die Überraschung bestand darin, daß ein hübsches, elegant gekleidetes Mädchen, das eine Puppe im Arm hielt, hinter den Kulissen hervorkam. Die Puppe war dreißig Zentimeter groß und hatte goldenes Haar und blaue Augen, die sich öffnen und schließen konnten und richtige Wimpern hatten. Die Dame führte das Kind mitten auf die Bühne und hielt eine Rede. »Dieses kleine Mädchen hier heißt Mary.« Die kleine Mary verneigte sich lächelnd. Die kleinen Mädchen unter der Zuhörerschaft lächelten ihr begeistert zu, die größeren Knaben pfiffen schrill durch die Zähne. »Marys Mutter hat diese Puppe gekauft und ihr genau dieselben Kleider machen lassen, wie sie Mary selbst trägt.« Die kleine Mary trat in den Vordergrund der Bühne und hielt die Puppe hoch in die Luft. Dann überließ sie die Puppe der Dame, um ihr Röckchen auszubreiten und dazu einen Knicks machen zu können. Und Francie sah, daß die Puppe mit ihrem blauen, spitzenbesetzten Seidenkleid, der rosa Haarschleife, den schwarzen Lackschuhen und den weißen seidenen Socken wirklich das genaue Ebenbild der schönen Mary war. »Nun«, fuhr die Dame fort, »die Puppe heißt Mary, wie das freundliche kleine Mädchen, das sie verschenken will.« Wieder lächelte die kleine Mary gnädig. »Mary will die Puppe nämlich einem armen kleinen Mädchen schenken, das ebenfalls Mary heißt.« Ein rauschendes Gemurmel kam aus den Reihen der kleinen Mädchen im Saal, wie wenn der Wind durch ein Ährenfeld streicht. »Ist unter euch ein armes kleines Mädchen mit dem Namen Mary?« Alles blieb mäuschenstill. Es befanden sich mindestens hundert Ma218
rys unter der großen Kinderschar. Aber das Wort ›arm‹ hatte sie alle verstummen lassen. Keine Mary würde aufstehen und sich selbst als Vertreterin aller armen Kinder, die Mary hießen, bezeichnen wollen, und wenn sie sich die Puppe noch so heiß wünschte. Die Mädchen begannen, sich zuzuflüstern, daß sie nicht arm seien und daß sie zu Hause viel schönere Puppen besäßen und schönere Kleider als diese dumme kleine Mary da vorne, nur würden sie sich schämen, in solchen Kleidern herumzulaufen. Francie saß wie erstarrt da, ihre Seele brannte vor Verlangen nach der Puppe. »Wie?« sagte die Dame. »Keine einzige Mary unter euch?« Sie wartete und stellte ihre Frage noch einmal. Keine Antwort. Dann schüttelte sie bedauernd den Kopf. »Wie schade, daß keine Mary da ist. Nun wird die kleine Mary die Puppe wieder mit nach Hause nehmen müssen.« Das kleine Mädchen lächelte und verneigte sich abermals, dann wandte es sich um, um die Bühne zu verlassen. Francie konnte das nicht ertragen. Sie konnte es einfach nicht ertragen. Es war wie damals, als die Lehrerin die Kürbispastete hatte wegwerfen wollen. Sie erhob sich und hielt die Hand hoch in die Luft. Die Dame sah es und hieß die kleine Mary umkehren. »Aha, wir haben also doch eine Mary, eine sehr schüchterne Mary, aber immerhin, wir haben eine Mary. Komm nur herauf zu uns auf die Bühne, Mary!« Glühend vor Schüchternheit und Verlegenheit ging Francie durch den langen Gang zwischen den Bankreihen und auf die Bühne hinauf. Sie stolperte auf den Stufen, die zur Bühne führten. Die kleinen Mädchen kicherten, und die Jungen platzten laut heraus. »Wie heißt du?« fragte die Dame. »Mary Frances Nolan«, flüsterte Francie. »Sprich lauter und schau zum Publikum!« Tief gedemütigt wandte sich Francie an die Zuhörerschaft und sagte, so laut sie konnte: »Marie Frances Nolan.« Die vielen Gesichter sahen aus wie aufgeblasene Luftballons an dicken Schnüren, und Francie hatte das Gefühl, wenn sie noch lange hinsähe, würden die Gesichter anfangen, sich abzulösen und zur Decke aufzusteigen. 219
Das schöne kleine Mädchen kam auf Francie zu und legte ihr die Puppe in den Arm. Und Francies Arme schmiegten sich um die Puppe, als wären sie eigens dazu gemacht und als hätten sie die ganze Zeit nur darauf gewartet, diese Puppe zu halten. Das kleine Mädchen hielt ihr die Hand entgegen, damit Francie ihm danken könne. Trotz Verlegenheit und Verwirrung sah Francie, wie zart und weiß die Hand war mit dem feinen Netzwerk der blauen Äderchen und den ovalen Fingernägeln, die wie delikate rosafarbene Muscheln aussahen. Während Francie verschämt an ihren Platz zurückkehrte, begann die Dame wieder zu sprechen. »Ihr habt nun alle ein Beispiel des wahren christlichen Geistes gesehen. Die kleine Mary ist ein sehr reiches kleines Mädchen, und sie hat zu Weihnachten eine ganze Menge Puppen geschenkt bekommen. Aber sie ist nicht egoistisch. Sie wollte ein armes kleines Kind, das nicht so bevorzugt ist wie sie, glücklich machen. Und nun hat sie diese Puppe diesem armen Mädchen, das ebenfalls Mary heißt, geschenkt.« Francies Augen brannten von den aufsteigenden heißen Tränen. Warum können sie diese Puppe nicht einfach verschenken, dachte sie bitter, ohne allen Leuten zu sagen, daß ich arm bin und sie reich? Warum konnten sie sie nicht einfach verschenken, ohne soviel darüber zu reden? Aber dies war noch nicht alles. Während sie an ihren Platz zurückging, flüsterten ihr die andern kleinen Mädchen zischend zu: »Bettlerin, Bettlerin, Bettlerin!« Auf dem ganzen Weg mußte sie dieses Wort hören. Diese Mädchen kamen sich reicher vor als Francie. Sie waren so arm wie sie, aber sie hatten etwas, das Francie in jenem Augenblick nicht hatte – ihren Stolz. Und Francie wußte es. Deshalb hatte sie wegen ihrer Lüge keine Gewissensbisse, denn sie hatte die Puppe teuer genug erkauft, dadurch, daß sie ihren Stolz aufgegeben hatte. Sie mußte an die Lehrerin denken, die ihr den Rat gegeben, ihre Lügen lieber aufzuschreiben als zu äußern. Vielleicht hätte sie auch diesmal nicht lügen, hätte die Puppe nicht holen sollen auf der Bühne, sondern eine Geschichte schreiben über ein kleines Mädchen, das eine 220
wunderschöne Puppe besaß. Aber nein! Nein! Eine Puppe zu besitzen, war hundertmal besser, als nur von einer Puppe zu schreiben. Als man zum Schluß der Feier das Sternenbannerlied sang, neigte Francie ihr Gesicht dicht zum Gesicht der Puppe hinab. Sie zog den kühlen, zarten Geruch des bemalten Porzellans ein, den wunderbaren, unvergeßlichen Geruch des Puppenhaares, das himmlische Gefühl des seidenen Puppenkleides. Die echten Augenwimpern der Puppe berührten Francies Wange und ließen sie vor Ekstase zittern. Die Kinder sangen: Überm Lande der Freien Und der Heimat der Tapfern … Francie hielt eine Hand der Puppe fest in der ihren. Das Blut klopfte in ihren Daumen, und ein Nerv zuckte, aber Francie glaubte, das Puppenhändchen habe sich bewegt. Sie wußte wirklich nicht recht, ob die Puppe nicht lebendig sei. Zu Hause erzählte sie, sie habe die Puppe als Preis gewonnen. Sie wagte nicht, die Wahrheit zu sagen. Mama haßte alles, was nach Barmherzigkeit roch. Wenn sie den Sachverhalt gekannt hätte, hätte sie die Puppe weggeworfen. Und Neeley verriet seine Schwester nicht. Francie besaß die Puppe, aber die Lüge bedrückte sie nun doch. An jenem Nachmittag schrieb sie eine Geschichte von einem kleinen Mädchen, das sich so sehnlich eine Puppe wünschte, daß es dem Teufel seine Seele versprach, wenn er ihm dafür eine Puppe verschaffte. Es war eine leidenschaftliche Geschichte, aber als Francie sie am Ende nochmals las, dachte sie: Mit dem Mädchen in der Geschichte ist alles in Ordnung, aber mir ist deswegen doch nicht wohler. Sie nahm sich vor, am nächsten Samstag alles zu beichten und die Buße, die ihr der Pater auferlegen würde, freiwillig zu verdreifachen. Aber auch dieser Vorsatz erleichterte sie nicht. Dann hatte sie eine Idee! Vielleicht ließe sich die Lüge in Wahrheit verwandeln! Sie wußte, daß die katholischen Kinder bei ihrer Kommunion den Namen einer Heiligen wählen und ihrem eigenen Namen 221
beifügen konnten. Was für eine einfache Lösung! Nun würde sie einfach den Namen Mary wählen. Am Abend, nachdem die Seite aus der Bibel und aus Shakespeares Werken gelesen war, sprach sie mit Mama darüber. »Mama, kann ich bei meiner ersten Kommunion den Namen Mary als zweiten Namen wählen?« »Nein.« Francie war tief enttäuscht. »Warum nicht?« »Weil du bei deiner Taufe nach Andys Mädchen Francie genannt wurdest.« »Ja, aber als zweiten Namen?« »Du hast doch auch den Namen meiner Mutter bekommen. Dein ganzer Name lautet Mary Francie Nolan.« Francie war glücklich. Sie nahm die Puppe mit ins Bett. Sie lag ganz still, um den Schlaf der Puppe nicht zu stören. Sie wachte von Zeit zu Zeit auf, flüsterte selig »Mary« und fuhr mit dem Finger sanft über die glatte Oberfläche der winzigen Lackschuhe. Das Gefühl des zarten, weichen Leders ließ sie erschauern.
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ür Katie war die Zukunft etwas, das in nächster Nähe lag. Sie konnte sagen: »Weihnachten wird wieder da sein, bevor ihr es merkt.« Oder zu Beginn der Ferien hieß es: »Die Schule wird wieder anfangen, bevor ihr es merkt.« Oder im Frühling, wenn Francie voller Freude ihre langen Gamaschenhosen wegschleuderte, befahl ihr Mama, sie wieder aufzuheben, und sagte dazu: »Du wirst sie bald genug wieder brauchen; der Winter wird da sein, bevor du daran denkst.« Und Francie wunderte sich darüber, daß Mama so sprechen konnte. Der Frühling hatte doch eben erst begonnen. Es würde eine Ewigkeit dauern, bis der Winter kam. 222
Ein Kind hat keine klare Vorstellung von der Zukunft. Die nächste Woche scheint ihm in weiter Ferne, und die Zeitspanne von einer Weihnacht zur andern ist wie eine Ewigkeit. So war es auch für Francie, bis sie elf Jahre alt war. Zwischen ihrem elften und ihrem zwölften Geburtstag begannen sich die Dinge zu ändern. Die Zukunft kam schneller. Die Tage schienen kürzer und die Wochen schienen weniger Tage zu haben. Henny Gaddis starb, und dies änderte Francies Zeitgefühl. Man hatte ihr immer gesagt, daß Henny eines Tages sterben werde. Sie hatte dies so oft sagen hören, daß sie es schließlich gar nicht mehr glauben konnte, oder jedenfalls glaubte sie, daß es erst nach langer Zeit geschehen werde. Und nun war diese lange, lange Zeit plötzlich vergangen. Jenes merkwürdige ›Etwas‹, das einmal Zukunft geheißen hatte, war nun Gegenwart geworden und würde bald Vergangenheit sein. Francie fragte sich, ob es wohl jedesmal nötig war, daß jemand starb, damit ein Kind begriff, was die Zukunft war. Aber nein, als sie neun Jahre alt war, war Großvater Rommely gestorben, eine Woche nach ihrer ersten Kommunion. Weihnachten war ihr trotzdem unendlich weit entfernt erschienen. Die Dinge veränderten sich so schnell, daß Francie ganz verwirrt wurde. Neeley, der ein Jahr jünger war als sie, begann ihr über den Kopf zu wachsen. Maudie Donavan war weggezogen. Als sie nach drei Monaten wieder einmal zu Besuch kam, fand Francie sie sehr verändert. Maudie hatte sich während dieser drei Monate körperlich sehr entwickelt. Francie, die bis jetzt überzeugt gewesen war, daß Mama immer recht hatte, entdeckte plötzlich, daß sie manchmal auch unrecht hatte. Sie entdeckte auch, daß gewisse Eigenschaften ihres Vaters, die sie immer so geliebt und bewundert hatte, von andern Leuten als komisch beurteilt wurden. Die Waagschalen beim Teehändler schienen nicht mehr so golden, und eines Tages bemerkte Francie zu ihrer Enttäuschung, daß die Tee- und Kaffeebüchsen ziemlich schäbig aussahen. Sie gab es auch auf, Herrn Tomony zu beobachten, wie er am Samstagabend spät von New York zurückkam. Sie fand es plötzlich sinnlos, 223
daß er von Williamsburg nach New York fuhr, um sich zu amüsieren und nachher wieder zurückkehrte und sich nach dem Ort sehnte, den er eben verlassen hatte. Er hatte doch Geld. Warum ließ er sich denn nicht einfach in New York nieder, wenn es ihm dort so gut gefiel? Alles veränderte sich. Francie erschrak manchmal darüber. Sie fühlte, wie ihre frühere Welt ihr entschlüpfte. Und was kam nachher? Und doch verstand sie nicht recht, was denn eigentlich so anders war. Sie las ja immer noch, wie früher, jeden Abend eine Seite in der Bibel und eine aus Shakespeares Werken. Und sie übte jeden Tag eine Stunde am Klavier. Sie legte ihre erübrigten Pennies in die Sparbüchse. Sie ging immer noch Altstoff sammeln und verkaufte ihn dem Lumpensammler. Die Kaufläden ihrer Straße waren immer noch wie früher. In der Außenwelt hatte sich nichts verändert. Also mußte sie sich in ihrem Innern geändert haben! Sie sprach mit Papa darüber. Er veranlaßte sie, die Zunge herauszustrecken, und er fühlte ihr den Puls. Dann schüttelte er traurig den Kopf und sagte: »Du hast eine schlimme Krankheit, eine sehr schlimme Krankheit.« »Was für eine?« »Das Erwachsenwerden.« Dieses Älterwerden verdarb mancherlei Freuden. Es verdarb auch das schöne Spiel, das sie zu machen pflegten, wenn nichts Eßbares im Hause war. Wenn das Geld ausgegangen war und sie nichts mehr zu essen hatten, dann taten Katie und die Kinder so, als wären sie Nordpolforscher, die von einem Unwetter überrascht worden waren, den Weg verloren hatten und nun in einer Höhle saßen mit nur noch ganz wenig Notvorrat. Sie mußten die restliche Nahrung in ganz kleine Portionen einteilen, damit sie ausreichte, bis Hilfe kam. Mama pflegte dann die kleinen Restchen aufzuteilen und sie ›Rationen‹ zu nennen, und wenn die Kinder immer noch hungrig waren, nachdem sie ihr Teil aufgezehrt hatten, pflegte sie zu sagen: »Nur Mut, Matrosen, die Hilfe wird bald kommen!« Wenn dann wieder etwas Geld einging und Mama allerlei Lebensmittel kaufen konnte, brachte sie auch einen kleinen Ku224
chen mit zur Feier. Sie steckte eine kleine Flagge für einen Penny hinein und sagte dann jedesmal: »So, nun haben wir's geschafft. Nun sind wir am Nordpol!« Eines Tages, nach einer solchen ›Rettung‹, fragte Francie ihre Mama: »Wenn die Forscher Hunger leiden müssen, dann hat es doch einen Sinn. Sie erreichen dafür etwas Großes. Sie entdecken den Nordpol. Aber was für einen Sinn hat es bei uns, wenn wir immer so hungrig sind?« Und Katie sah plötzlich sehr müde aus. Sie sagte etwas, das Francie damals noch nicht verstand. Sie sagte: »Nun hast du den Haken entdeckt.« Das Älterwerden verdarb Francie auch die Freude am Theater oder, besser gesagt, an den Stücken, die dort gespielt wurden. Es beunruhigte sie, daß im Verlauf von wenigen Stunden so viele Dinge passierten. Noch mit elf Jahren hatte sie das Theater leidenschaftlich geliebt. Ganz früher hatte sie einmal gewünscht, mit einer Drehorgel durch die Straßen zu ziehen; dann wäre sie gerne Lehrerin geworden. Nach ihrer ersten Kommunion wollte sie Nonne und mit elf Jahren Schauspielerin werden. Das Theater war das Paradies der Kinder von Williamsburg. In jenen Tagen gab es in Francies Quartier eine Reihe von guten Theatergesellschaften: Blaney, Corse, Payton und Phillips Lyceum. Das ›Lyceum‹ war gleich an der nächsten Straßenecke. Die Leute in Williamsburg nannten es zunächst ›Das Lyce‹, dann ganz einfach ›Die Laus‹. Francie ging Samstag nachmittags ins Theater, sooft sie ein Zehncentstück auftreiben konnte. Sie hatte ihren Platz auf der Galerie und stellte sich schon eine Stunde vorher an, um ja einen Sitz in der vordersten Reihe zu bekommen. Sie war in Harold Clarence, den Hauptdarsteller, verliebt. Sie wartete auf ihn vor dem Bühnenausgang, wenn das Theater aus war, und folgte ihm heimlich bis zu dem armseligen Backsteinhaus, wo er auf sehr untheatralische Weise in einem bescheidenen möblierten Zimmer wohnte. Sogar auf der Straße hatte er den steifen, gezierten Gang eines altmodischen Schauspielers, und sein Gesicht war immer rosig, als hät225
te er die verjüngende Schminke noch nicht abgewaschen. Er rauchte immer eine gewichtige Zigarre und schaute weder rechts noch links, wenn er nach Hause ging. Bevor er das Haus betrat, warf er die Zigarre in den Rinnstein, denn seine Wirtin erlaubte es dem großen Mann nicht, daß er in ihren Räumen rauchte. Francie pflegte dann auf dem Randstein zu stehen und den weggeworfenen Zigarrenstummel ehrfurchtsvoll zu betrachten. Sie löste den goldenen Papierring von der Zigarre und trug ihn eine Zeitlang. Dabei bildete sie sich ein, es sei ein Verlobungsring, den er ihr geschenkt hatte. Eines Samstags spielte man ›Die Liebste des Landpfarrers‹. Der schöne Landgeistliche war in ein armes Mädchen verliebt. Das Mädchen mußte sich in einem Spezereiwarenladen Arbeit suchen. Die reichste Dame des Dorfes war aber ebenfalls in den Pfarrer verliebt. Sie war die böse Gegenspielerin. Sie rauschte in ihren seidenen Kleidern, Pelz und Diamanten in den Laden und bestellte hochmütig ein Pfund Kaffee. Dann kam der schreckliche Augenblick, in dem sie die schicksalsschweren Worte »Mahlen Sie ihn!« aussprach. Jedermann wußte, daß das junge Mädchen zu schwach war, um das große Rad der Kaffeemühle zu drehen, und daß sie ihre Stelle nur unter der Bedingung bekommen hatte, daß sie imstande sei, Kaffee zu mahlen. Sie mühte sich fast zu Tode, aber es gelang ihr nicht, das Rad auch nur einen Fingerbreit vorwärts zu bringen. Sie bat bei der bösen Gegenspielern um Gnade und sagte ihr, wieviel für sie davon abhing, daß sie die Stellung behielt. Aber die böse Frau wiederholte die grausamen Worte: »Mahlen Sie ihn!« Als alles verloren schien, kam der schöne Harold herein mit seinem rosigen Gesicht und seinem kirchlichen Gewand. Als er die Situation erfaßt hatte, nahm er den schwarzen, breitrandigen Hut ab, warf ihn mit dramatischer Geste über die Bühne, stelzte mit steifen Beinen zur Kaffeemühle hinüber, mahlte den Kaffee und rettete damit die Heldin. Einen Moment lang war es mäuschenstill im Theater, während sich der Duft des frisch gemahlenen Kaffees verbreitete. Dann brach ein Sturm der Begeisterung los. Wirklicher Kaffee! Wirklichkeit auf der Bühne! Jedermann im Zuschauerraum hatte schon hundertmal gesehen, wie man Kaffee mahlt, aber auf der Bühne war es einfach 226
revolutionär! Die böse Dame wandte sich zähneknirschend ab. Harold umarmte und küßte die Heldin, und der Vorhang fiel. Während der Pause amüsierte sich Francie nicht mehr mit den andern Kindern, indem sie auf die Plutokraten in den Orchestersesseln des Parterres hinunterspuckte, sondern sie dachte über die Situation auf der Bühne nach. Es war gut und recht, daß der Held im letzten Moment noch kam, um den Kaffee zu mahlen. Aber was wäre geschehen, wenn er nicht gekommen wäre? Dann wäre die Heldin entlassen worden. Und dann? Wenn sie hungrig gewesen wäre, hätte sie sich eine andere Stelle gesucht. Oder dann wäre sie Böden putzen gegangen wie Mama. Oder sie hätte sich wie Floß Gaddis von den Männern erhalten lassen. Die Stelle im Spezereiwarenladen war nur deshalb so wichtig, weil das Theaterstück es erforderte. Auch das Stück, das Francie am nächsten Samstagnachmittag sah, befriedigte sie nicht. Schön und gut! Der langvermißte Liebhaber kam gerade noch zur rechten Zeit nach Hause, um das Pfand einzulösen. Was wäre aber geschehen, wenn er irgendwie am Kommen verhindert worden wäre? Dann hätte der Hausbesitzer der gepfändeten Familie eine Frist von dreißig Tagen einräumen müssen, bevor er sie hinauswerfen konnte – so war es wenigstens in Brooklyn. Und während dieser Frist wäre vielleicht noch eine andere Rettung gekommen. Und wenn keine gekommen wäre, nun, dann hätten sie eben die Wohnung verlassen und sich anders weiterhelfen müssen. Die schöne Heldin hätte vielleicht in einer Fabrik im Akkord arbeiten und der sensible Bruder mit Papierwaren hausieren gehen müssen. Die Mutter wäre vielleicht Putzfrau geworden. Aber irgendwie hätten sie doch alle weitergelebt. Sie hätten bestimmt weitergelebt! dachte Francie mit Ingrimm. Es braucht allerhand, bis man umkommt. Francie konnte auch nicht verstehen, warum die Heldin den Bösewicht nicht heiratete. Er würde doch das Mieterproblem lösen, und sicherlich war ein Mann nicht zu verachten, der soviel auf sich nahm, um sie zu gewinnen. Sie schrieb selbst einen dritten Akt zu jenem Stück. Was würde geschehen, wenn … Sie schrieb ihn in Dialogform und fand diese Art zu 227
schreiben erstaunlich leicht. In einer Geschichte mußte man immer erst erklären, wie die Leute waren und warum sie so waren, aber in einem Drama mußte man die Leute einfach sprechen lassen, und dann kam von selbst zum Ausdruck, wie sie waren. Francie hatte keinerlei Schwierigkeiten, sich in dieser Form auszudrücken. Und sie beschloß, sie wolle nun doch keine Schauspielerin werden, sondern lieber Schauspiele schreiben.
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m Sommer desselben Jahres verfiel Johnny auf die Idee, seine Kinder sollten nicht aufwachsen, ohne einmal die große See, die Brooklyns Ufer bespülte, gesehen zu haben. Johnny meinte, sie sollten einmal mit einem Schiff auf dem Meer fahren können. Er beschloß deshalb, sie einmal nach Canarsie mitzunehmen, dort ein Ruderboot zu mieten und gleichzeitig ein wenig zu fischen. Er war noch nie fischen gewesen und hatte noch nie gerudert. Aber das war nun einmal seine Idee. Mit einer geheimnisvollen, nur für Johnny überzeugenden Logik war diese Idee mit dem Plan verbunden, auch die kleine Tilly an dem Ausflug teilnehmen zu lassen. Tilly war ein vierjähriges Kind aus der Nachbarschaft, deren Eltern Johnny gar nicht persönlich kannte. In Wirklichkeit hatte er die kleine Tilly noch nie mit eigenen Augen gesehen, aber er hatte das Gefühl, er müsse an ihr etwas gutmachen wegen ihres Bruders Gussie. Kurz, die Geschichte der kleinen Tilly verband sich bei Johnny mit der Idee, mit den Kindern nach Canarsie zu fahren. Von Gussie, einem sechsjährigen Knaben, erzählte man in der Nachbarschaft eine dunkle Geschichte. Er war als zäher, kleiner Bursche mit überentwickelter Unterlippe auf normale Weise zur Welt gekommen und an seiner Mutter üppiger Brust gestillt worden. Aber damit 228
hörte jegliche Ähnlichkeit mit irgendwelchem andern Kind auf. Seine Mutter versuchte, ihn zu entwöhnen, als er neuen Monate alt war, aber das duldete er nicht. Als er keine Muttermilch mehr bekam, weigerte er sich, irgendwelche Nahrung oder auch nur Wasser aufzunehmen. Er lag einfach in seiner Wiege und wimmerte. Darauf gab ihm seine Mutter, die befürchtete, er könnte verhungern, wieder die Brust. Er trank selig und zufrieden und wollte nie etwas anderes essen. Er lebte von der Milch seiner Mutter, bis er fast zwei Jahre alt war. Dann versiegte die Milch, weil seine Mutter abermals schwanger war. Gussie schmollte und ertrug es, neun Monate lang zu warten. Er wollte aber in keiner Form Kuhmilch zu sich nehmen und trank nichts als schwarzen Kaffee. Nachdem die kleine Tilly geboren war, hatte die Mutter wieder Milch im Überfluß. Als Gussie die kleine Schwester zum erstenmal trinken sah, verfiel er in hysterische Krämpfe. Er warf sich schreiend nieder und schlug mit dem Kopf auf den Fußboden. Er wollte vier Tage lang kein Essen zu sich nehmen und weigerte sich auch, auf die Toilette zu gehen. Er magerte ab, und seine Mutter geriet in Angst. Sie dachte, es werde wohl nichts schaden, wenn sie ihm die Brust nur ein einziges Mal gab. Aber das war ihr großer Fehler. Er stürzte sich wie ein Unhold auf die Brust und wollte nach den langen Entbehrungen nicht mehr aufhören zu trinken. Von diesem Moment an trank er wieder alle Muttermilch, und die kleine Tilly, ein kränkliches Kind, mußte mit der Flasche ernährt werden. Gussie war nun schon drei Jahre alt und sehr groß für sein Alter. Er trug Kniehosen wie die andern Jungen und schwere Schuhe mit festen Kappen. Aber sobald er sah, daß seine Mutter ihr Kleid aufknöpfte, stürzte er auf sie zu. Er trank stehend und stützte den Ellbogen auf das Knie der Mutter. Er stand mit elegant gekreuzten Beinen und ließ seine Augen während des Trinkens im Zimmer herumwandern. Im Stehen saugen war in diesem Falle keine Heldentat, denn seiner Mutter gewaltige Brüste ruhten tatsächlich in ihrem Schoß, wenn sie sie frei gemacht hatte. Gussie war schrecklich anzusehen, fast wie ein Mann, 229
der seinen Fuß auf den Absatz eines Bartisches gestellt hatte und eine dicke, bleiche Zigarre rauchte. Die Nachbarn begannen über Gussies pathologischen Zustand zu munkeln. Gussies Vater wollte nicht mehr bei seiner Frau schlafen; er sagte, sie bringe doch nur Ungeheuer hervor. Die arme Frau zerbrach sich den Kopf darüber, wie sie den Jungen entwöhnen könnte. Er war nun wirklich zu groß, um immer noch gestillt zu werden. Er war schon bald vier Jahre alt. Sie fürchtete, seine zweiten Zähne würden nicht geradestehen. Eines Tages schloß sie sich mit einer Büchse Ofenschwärze und einem Pinsel im Schlafzimmer ein und bestrich sich damit die linke Brust. Dann zeichnete sie um die Brustwarze herum mit dem Lippenstift ein breites, häßliches Maul mit schreckenerregenden Zähnen. Dann knöpfte sie das Kleid zu, ging in die Küche und setzte sich auf den niedrigen Stuhl am Fenster. Als Gussie sie dort sitzen sah, warf er die Würfel, mit denen er gespielt hatte, unter den Waschzuber und trippelte zu seiner Mutter hinüber, um zu trinken. Er kreuzte die Beine, stützte den Ellbogen auf ihr Knie und wartete. »Will Gussie Milch haben?« fragte die Mutter mit schmeichelnder Zärtlichkeit. »Milch haben!« echote Gussie. »Schön, schön, Gussie soll feine, süße Milch haben.« Dann riß sie plötzlich das Kleid auf und hielt ihm die so scheußlich bemalte Brust vors Gesicht. Gussie war einen Moment lang gelähmt vor Schrecken, dann rannte er schreiend davon und versteckte sich unter seinem Bett, unter dem man ihn während der nächsten vierundzwanzig Stunden nicht mehr hervorlocken konnte. Schließlich kroch er zitternd hervor. Von jenem Tag an trank er wieder nur noch schwarzen Kaffee, und der Anblick des Busens seiner Mutter ließ ihn jedesmal erschauern. Aber nun war er gründlich entwöhnt. Die Mutter berichtete der ganzen Nachbarschaft von ihrem Erfolg. Die neue Abstillmethode verbreitete sich unter dem Namen ›dem Kind den Gussie geben‹. Als Johnny die Geschichte hörte, interessierte er sich weniger für das 230
Ungeheuer Gussie als für seine arme kleine Schwester Tilly. Er hatte das Gefühl, sie sei um etwas sehr Wichtiges betrogen worden und werde wahrscheinlich später einen Nachteil davontragen. Er verfiel auf die Idee, vielleicht könnte eine Ruderbootfahrt etwas von dem Unrecht, das der ungeheuerliche Bruder ihr angetan hatte, wieder gutmachen. Deshalb schickte er Francie hinüber und ließ sie fragen, ob die kleine Tilly am Sonntag mit ihnen kommen dürfe. Die geplagte Mutter willigte mit Freuden ein. Am nächsten Sonntag machte sich Johnny mit den drei Kindern auf den Weg nach Canarsie. Francie war damals elf Jahre alt, Neeley zehn und die kleine Tilly ungefähr dreieinhalb. Johnny trug seinen schwarzen Anzug und die Melone, einen frischen Kragen und ein neues Vorhemd. Francie und Neeley hatten ihre Werktagskleider angezogen. Tillys Mutter hatte die Kleine zur Feier des Tages in ein billiges weißes, mit lachsfarbenen Seidenbändern verziertes Spitzenkleidchen gesteckt. Während der Fahrt im Autobus befreundete sich Johnny mit dem Chauffeur, und die beiden politisierten zusammen. Sie fuhren hinaus bis zur Endstation, bis Canarsie, und suchten sich den Weg zu einer kleinen Werft, wo ein kleiner Bootsschuppen stand. Ein paar lecke Ruderschiffe schaukelten an den morschen Seilen, mit denen sie an der Hafenmauer befestigt waren. Am Schuppen befand sich eine Tafel, auf der geschrieben stand: »Fischereigerät und Ruderboote zu vermieten!« Darunter war eine noch größere Aufschrift: »Hier werden frische Fische zum Mitnehmen verkauft!« Johnny verhandelte mit dem Mann und befreundete sich mit ihm, wie er es mit allen Leuten tat. Der Mann lud ihn in seine Bude ein zu einem Morgentrunk, den er Augenöffner nannte, betonte aber, daß er selbst dieses Zeug nur als Schlummertrunk nehme. Während Johnny drinnen damit beschäftigt war, »seine Augen zu öffnen«, dachten Neeley und Francie nach, wieso wohl ein ›Augenöffner‹ und ein ›Schlummertrunk‹ dasselbe waren. Die kleine Tilly stand da in ihrem Spitzenkleid und sagte nichts. 231
Schließlich kam Johnny mit einer Angelrute und einer rostigen Büchse, die mit Schlamm und Würmern gefüllt war, wieder heraus. Der freundliche Mann band das am wenigsten beschädigte Boot los, legte das Tau in Johnnys Hand, wünschte ihm Glück und ging wieder in den Schuppen zurück. Johnny legte die Angel und die Büchse in das Boot und half den Kindern beim Einsteigen. Dann kauerte er mit dem Tauende in der Hand auf der Hafenmauer und hielt eine Rede über die Ruderboote. »Es gibt immer eine richtige und eine falsche Art, in ein Ruderboot zu steigen«, dozierte Johnny, der, außer auf dem Flußdampfer anläßlich des Parteiausflugs, noch nie auf einem Schiff gewesen war. »Die einzig richtige Art ist, daß man dem Schiff zuerst einen Stoß versetzt und dann schnell hineinspringt, bevor es auf offene See hinausgleitet. So!« Er richtete sich auf, gab dem Boot einen kräftigen Stoß, tat einen Sprung … und fiel ins Wasser. Die Kinder starrten ihn entsetzt an. Noch vor einer Sekunde hatte Papa über ihnen auf der Mauer gestanden, und nun war er plötzlich unter ihnen im Wasser. Das Wasser reichte ihm bis zum Hals. Der kleine, gewichste Schnurrbart und der runde Filzhut, der immer noch aufrecht auf dem Kopf saß, ragten über den Wasserspiegel. Johnny, der so überrascht war wie die Kinder, mußte sich erst ein wenig sammeln, bevor er sagen konnte: »Es soll nur keines von euch verdammten Kindern wagen, über mich zu lachen!« Er kletterte ins Boot, das beinahe umkippte. Die Kinder wagten nicht, laut zu lachen, aber Francis schüttelte es innerlich so sehr, daß sie die Rippen schmerzten. Neeley durfte seine Schwester nicht ansehen. Er wußte, daß er sich dann nicht mehr beherrschen könnte und laut herausplatzen würde. Die kleine Tilly sagte nichts. Johnnys Kragen und Vorhemd klebten an ihm wie nasses Papier. Er zog beides aus und warf es über Bord. Er ruderte unsicher, aber mit großer Würde weiter ins Meer hinaus. Als er zu einer Stelle kam, die ihm vielversprechend schien, verkündete er stolz, nun werde er ›den Anker auswerfen‹. Die Kinder waren enttäuscht, als sie sahen, daß die ganze Romantik der großartigen Redewendung nur darin bestand, einen an einem Seil befestigten Eisenklumpen ins Wasser zu werfen. 232
Mit Ekel und Entsetzen sahen die Kinder zu, wie Papa einen schlammbedeckten Wurm an dem Angelhaken aufspießte. Das Fischen begann. Es bestand darin, daß Johnny den Köder befestigte, die Schnur mit dramatischer Bewegung auswarf, eine Weile wartete, die Schnur ohne Fisch und ohne Köder wieder hochzog und das Ganze wieder von vorne anfing. Die Sonne brannte immer heißer. Johnnys schwarzer Anzug trocknete zu einem grünlich schimmernden, steifen, zerknitterten Etwas ein. Die Kinder bekamen einen heftigen Sonnenbrand. Nach unerträglich langen Stunden verkündete Johnny zur großen Erleichterung der Kinder, es sei nun Zeit zum Essen. Er wickelte die Angelschnur auf, legte die Angel auf den Boden des Bootes, lichtete den Anker und ruderte wieder auf das Ufer zu. Das Boot schien sich im Kreise zu drehen und entfernte sich eher vom Ufer, statt sich ihm zu nähern. Endlich gelang es Johnny, ein paar hundert Meter weiter unten am Ufer zu landen. Er band das Boot fest, gebot den Kindern zu warten und ging an Land. Er sagte, er werde ihnen ein feines Mittagessen verschaffen. Nach einer Weile kam er wieder. Er ging etwas seitwärts und brachte Warmbier, Heidelbeerpastete und Erdbeerschnitten. Sie saßen im schaukelnden Boot, das an einem brüchigen Landesteg angebunden war, blickten ins schleimige, grünliche Wasser hinunter, das nach verwesenden Fischen stank, und aßen. Johnny hatte am Ufer ein paar Glas getrunken, und nun tat es ihm leid, daß er die Kinder so angeschrien hatte. Er sagte, sie dürften, wenn sie wollten, jetzt schon darüber lachen, daß er so ins Wasser geplumpst sei. Aber aus irgendwelchen Gründen konnten sie jetzt nicht mehr lachen. Der Moment war nun verpaßt, Francie fand aber Papa sehr heiter und aufgeräumt. »So sollte man immer leben«, sagte er. »Weit weg von der lärmenden Menge. Ach, gibt es denn Schöneres, als mit einem Boot aufs Meer hinauszufahren? So werden wir alles los«, schloß er geheimnisvoll. Nach dem merkwürdigen Mittagessen ruderte sie Johnny nochmals aufs Meer hinaus. Der Schweiß rann ihm unter der schwarzen Melone hervor, die Bartwichse an seinem Schnurrbart schmolz, und das, was vorher eine Zierde gewesen, löste sich nun auf zu einem unordent233
lichen, borstigen Gebilde. Aber es war ihm wohl. Er sang aus Leibeskräften: Segeln, segeln, über die wilde See. Aber er ruderte und ruderte immer im Kreis herum, ohne aufs offene Meer hinauszugelangen. Schließlich waren seine Hände so wund, daß er plötzlich keine Lust mehr hatte zu rudern. Er verkündete dramatisch, daß er nun ›ans Ufer hinüberrudern und anlegen‹ werde. Er ruderte und ruderte, und schließlich gelang es ihm, sich in immer kleineren Kreisen dem Ufer zu nähern. Er merkte überhaupt nicht, daß die Gesichter der Kinder an den Stellen, die die Sonne nicht krebsrot gebrannt hatte, erbsgrün waren. Er hatte nie daran gedacht, daß ihnen die Mischung von Warmbier, Heidelbeerpastete und Erdbeerschnitten zusammen mit der Erinnerung an die sich am Angelhaken windenden Würmer schaden könnte. Er sprang auf den Anlegeplatz hinüber, und die Kinder folgten seinem Beispiel. Es gelang allen außer der kleinen Tilly, die ins Wasser fiel. Johnny legte sich flach auf den Steg und fischte sie wieder heraus. Die kleine Tilly stand in ihrem verdorbenen Spitzenkleidchen da und sagte kein Wort. Obwohl es ein glühend heißer Tag war, zog sich Johnny den Kellnerfrack aus und hüllte ihn sorgfältig um die kleine Tilly. Sie schleppte die Ärmel im Sand nach. Dann nahm Johnny sie auf den Arm, klopfte ihr beruhigend auf den Rücken und sang ihr ein Schlafliedchen vor, indem er am Kai auf und ab spazierte. Die kleine Tilly verstand überhaupt nichts von all den Ereignissen dieses Tages. Sie begriff nicht, warum man sie in ein Ruderboot gesetzt hatte, warum sie ins Wasser gefallen war und warum dieser Mann so viel Wesens um sie machte. Deshalb sagte sie kein Wort. Als Johnny das Gefühl hatte, sie sei nun getröstet, stellte er sie wieder auf den Boden und ging in den Schuppen, wo er entweder einen ›Augenöffner‹ oder einen ›Schlummerpunsch‹ nahm. Dann kaufte er dem Mann für einen Vierteldollar drei Schollen ab. Er kam wieder heraus mit den nassen Fischen, die er in eine Zeitung eingewickelt hatte. Den 234
Kindern sagte er, er habe Mama versprochen, ein paar frisch gefangene Fische mit nach Hause zu bringen. »Die Hauptsache ist«, sagte Papa, »daß ich Fische heimbringe, die in Canarsie gefangen wurden. Es ist doch ganz egal, wer sie gefangen hat. Die Hauptsache ist, daß wir fischen gegangen sind und Fische heimbringen.« Die Kinder wußten genau, daß Mama glauben sollte, er habe die Fische gefangen. Papa verlangte von ihnen keine Lüge. Er verlangte nur, daß sie es mit der Wahrheit nicht allzu genau nahmen. Die Kinder verstanden. Sie stiegen in einen jener Autobusse, die zwei lange, einander gegenüberstehende Bänke hatten. Sie bildeten eine merkwürdige Gruppe. Da war Johnny mit seinen grünlichen, zerknitterten und vom Salzwasser gesteiften Hosen und einem Hemd voll großer Löcher, der schwarzen Melone und dem widerspenstigen Schnurrbärtchen. Neben ihm saß die kleine Tilly, die in seinem Kellnerfrack fast ertrank und zu deren Füßen sich ein kleiner Teich von Salzwasser bildete, das unter dem Frack hervortropfte. Dann kamen Francie und Neeley, beide mit sonnverbrannten und doch grünlichen Gesichtern. Sie saßen ganz still und steif da und gaben sich alle Mühe, nicht erbrechen zu müssen. Die Leute auf der gegenüberliegenden Bank starrten sie verwundert an. Johnny saß kerzengerade da mit den Fischen quer über den Knien und versuchte, möglichst wenig an die Löcher in seinem Hemd zu denken. Er sah über die Köpfe der Fahrenden hinweg und studierte scheinbar ein Abführmittelplakat an der Wagendecke. Es stiegen immer mehr Leute ein. Der Autobus war überfüllt, aber niemand wollte sich der merkwürdigen Reihe anschließen. Schließlich fiel einer der Fische durch das durchnäßte Zeitungspapier und lag schleimig im Staub vor Johnnys Füßen. Das war zuviel für die kleine Tilly. Sie blickte stumm in das erstarrte Fischauge und erbrach sich tonlos, aber gründlich über Johnnys Frack. Francie und Neeley taten dasselbe, als hätten sie nur auf Tillys Signal gewartet. Johnny saß mit den beiden Fischen auf den Knien und dem einen Fisch zu seinen Fü235
ßen hilflos da und starrte weiterhin auf das Plakat. Er wußte nichts anderes zu tun. Als der verhängnisvolle Ausflug zu Ende war, begleitete Johnny die kleine Tilly nach Hause, weil er das Gefühl hatte, es sei seine Pflicht, die nötigen Erklärungen abzugeben. Aber die Mutter ließ ihn gar nicht zu Wort kommen. Sie schrie laut auf, als sie ihr triefendes, besudeltes Kind sah. Sie riß Tilly den Frack ab und warf ihn Johnny ins Gesicht, wobei sie ihn einen Kinderdieb schalt. Johnny machte von Zeit zu Zeit einen Versuch, Tillys Zustand zu erklären, aber sie wollte ihm einfach nicht zuhören. Die kleine Tilly sagte kein Wort. Schließlich gelang es Johnny, wenigstens einen Satz zu sagen: »Hören Sie, ich glaube, Ihr Kind hat die Sprache verloren«, worauf die Mutter in hysterisches Schreien verfiel. »Sie sind schuld daran!« zeterte sie. »Können Sie nicht machen, daß sie einmal etwas sagt?« Die Mutter packte das Kind bei den Schultern und schüttelte es heftig. »Sprich! Sag doch etwas!« Endlich öffnete Tilly den Mund, und ein glückliches Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie sagte: »Danke.« Katie schalt Johnny tüchtig aus und sagte, er verdiene nicht, Kinder zu haben. Die Kinder wurden daneben abwechslungsweise von Kälteschauern und Hitzewellen geschüttelt, da sie sich einen heftigen Sonnenbrand geholt hatten. Katie weinte beinahe, als sie sah, in welch trostlosem Zustand Johnnys einziger Anzug war. Das Reinigen und Aufbügeln würde mindestens einen Dollar kosten, und sie wußte, daß er auch dann nie mehr so schön sein würde wie vorher. Die Fische aber waren bereits in einem Stadium der Zersetzung und mußten in den Kehrichteimer geworfen werden. Die Kinder gingen sofort zu Bett. Zwischen Fieberschauern, Schüttelfrösten und Anfällen von Brechreiz mußten sie bei der Erinnerung an Papa, wie er mit dem Hut auf dem Kopf im Wasser gestanden hatte, so schrecklich lachen, daß ihre Betten zitterten und sie die Gesichter ins Kopfkissen vergraben mußten. Johnny saß bis spät in der Nacht am Küchenfenster und versuchte zu ergründen, warum eigentlich alles so schiefgegangen war. Er hatte 236
schon so viele Lieder von Schiffen, vom Auf und Ab der Wogen und von der hohen See gesungen. Und er fragte sich, warum es bei ihrem Ausflug nicht auch so gewesen war wie in den Liedern. Die Kinder hätten begeistert und mit einer tiefen und nachhaltigen Liebe zum Meer zurückkehren sollen und er mit einem großen Haufen von Fischen. Warum, ach, warum waren die Lieder immer soviel schöner als die Wirklichkeit? Warum mußte all dies Häßliche passieren; seine wunden Hände, sein verdorbener Anzug, der stinkende Fisch, der Sonnenbrand und der Brechreiz? Warum konnte Tillys Mutter nicht einfach die freundliche Absicht anerkennen und den unglücklichen Ausgang übersehen? Er konnte es nicht verstehen – er konnte es einfach nicht verstehen. Die Lieder vom Meer hatten ihn betrogen.
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V
on heute an bin ich eine Frau«, schrieb Francie an einem Sommertag, als sie dreizehn Jahre alt war, ins Tagebuch. Sie schaute den Satz an und kratzte sich, in Gedanken versunken, einen Mückenstich am Bein. Dann blickte sie auf ihre langen, dünnen und immer noch so formlosen Beine. Darauf strich sie den eben geschriebenen Satz durch und schrieb daneben: »Bald werde ich eine Frau sein.« Dann blickte sie auf ihre Brust, die immer noch flach war wie ein Waschbrett, worauf sie die Seite aus dem Tagebuch riß und eine neue anfing. »Die Unduldsamkeit«, schrieb sie und drückte dabei fest auf den Bleistift, »ist etwas, das Kriege, Kreuzigungen, Lynchungen verursacht und das die Leute gegen Kinder und gegeneinander grausam macht. Sie ist verantwortlich für den größten Teil aller Bosheit, aller Gewalttätigkeit, allen Schreckens und allen Elends der Welt.« Sie las die Sätze nochmals laut. Sie klangen wie aus einer Konservenbüchse. Die Frische war aus ihnen herausgesotten. Sie schloß das Tagebuch und legte es beiseite. 237
Eigentlich hätte jener Sommertag in Francies Tagebuch als einer der glücklichsten Tage ihres Lebens notiert werden sollen. Es war der Tag, an welchem sie ihren Namen zum erstenmal gedruckt sah. Die Schule gab am Ende des Schuljahres ein Magazin heraus, in dem von jeder Klasse der beste Aufsatz abgedruckt wurde. Für die siebente Klasse war Francies Aufsatz über das Thema ›Winterzeit‹ als der beste ausgewählt worden. Das Magazin kostete zehn Cent, und Francie mußte bis Samstag warten, um es kaufen zu können. Die Sommerferien begannen aber schon am Freitag, und Francie befürchtete sehr, sie werde überhaupt kein Magazin mehr bekommen. Der freundliche Herr Jenson versprach ihr jedoch, er werde noch zu tun haben am Samstag, und wenn sie ihm dann das Zehncentstück bringe, wolle er ihr ein Exemplar reservieren. Am frühen Nachmittag stand Francie dann mit dem aufgeschlagenen Magazin vor der Haustür. Sie hoffte so sehr, daß jemand käme, dem sie ihre Geschichte zeigen konnte. Sie hatte sie mittags Mama gezeigt, aber Mama hatte keine Zeit gehabt, sie zu lesen, denn sie mußte sofort wieder an ihre Arbeit gehen. Mindestens fünfmal hatte Francie während des Essens davon gesprochen, daß man eine Geschichte von ihr veröffentlicht habe. Schließlich hatte Mama ungeduldig gesagt: »Ja, ja, ich weiß. Ich habe das kommen sehen. Das wird nicht das einzige Mal sein. Bilde dir nur nichts darauf ein! Denk lieber daran, daß es noch Geschirr abzuwaschen gibt!« Papa war im Hauptquartier der Union. Er würde die Geschichte erst am Sonntag sehen, aber Francie wußte, daß er sich sehr darüber freuen würde. So stand sie nun vor der Haustür und hielt das aufgeschlagene Magazin unter den einen Arm geklemmt. Sie konnte sich keine Minute davon trennen. Von Zeit zu Zeit mußte sie ihren gedruckten Namen wieder anschauen, und dieser Anblick ergriff sie immer wieder von neuem. Dann sah sie Joanna, die ein paar Häuser weiter oben wohnte, aus ihrer Tür kommen. Joanna wollte mit ihrem kleinen Kind ein wenig an die frische Luft gehen. Die Frauen, die bei ihren Einkäufen auf dem Trottoir stehengeblieben waren, um ein wenig miteinander zu klat238
schen, glotzten Joanna vorwurfsvoll an. Joanna war nämlich nicht verheiratet. Sie war ein Mädchen, das Unglück gehabt hatte. Ihr Kind war unehelich – ein Bastard, wie man es in Williamsburg nannte –, und diese guten Frauen fanden, Joanna habe kein Recht, sich wie eine stolze Mutter zu benehmen und mit ihrem Kind am hellen, heiteren Tag spazierenzugehen. Sie fanden, sie sollte das Kind lieber an einem dunklen, heimlichen Ort verstecken. Francie interessierte sich sehr für Joanna und ihr Kind. Sie hatte Papa und Mama über sie sprechen hören. Als der Kinderwagen an ihr vorüberfuhr, schaute sie das Kindchen neugierig an. Es war ein hübsches kleines Mädchen, das aufrecht und glücklich im Wagen saß. Vielleicht war Joanna wirklich ein schlechtes Mädchen, aber auf jeden Fall hielt sie ihr Kindchen sauberer und netter angezogen als die andern Frauen ihre Kinder. Ihres trug ein hübsches Häubchen mit einer Krause und ein schneeweißes Kleidchen mit einem sauberen Lätzchen. Die Wagendecke war ebenfalls makellos und die Stickerei darauf mit viel Liebe und Sorgfalt gemacht. Joanna arbeitete während der Woche in einer Fabrik, und ihre Mutter sorgte für das Kind. Die Mutter schämte sich aber zu sehr wegen des Kindes, als daß sie es einmal an die frische Luft gebracht hätte. Das Kindchen durfte also nur übers Wochenende spazierenfahren, wenn Joanna nicht in die Fabrik gehen mußte. Ja, beschloß Francie, Joanna hatte ein schönes Kind. Es sah Joanna sehr ähnlich. Francie erinnerte sich daran, wie Papa sie an jenem Tage beschrieben hatte, als er mit Mama über sie sprach. »Sie hat eine Haut wie ein Magnolienblatt.« (Johnny hatte zwar noch nie eine Magnolie gesehen.) »Ihr Haar ist so schwarz wie die Flügel eines Raben.« (Er hatte noch nie einen solchen Vogel gesehen.) »Und ihre Augen sind tief und dunkel wie ein Waldsee.« (Er war noch nie in einem Wald gewesen, und der einzige kleine See, den er je gesehen, war in einer Spielhalle, wo man einen Zehner auf kleine Boote setzen konnte, und wenn das Boot gewann, auf das man gesetzt hatte, konnte man alle Zehner gewinnen.) Und doch hatte er Joanna treffend beschrieben. Sie war ein schönes Mädchen. 239
»Das mag sein«, antwortete Katie. »Aber was nützt ihr ihre Schönheit? Sie ist für das Mädchen höchstens ein Verhängnis. Man sagt, ihre Mutter sei nie verheiratet gewesen und habe dennoch zwei Kinder gehabt. Und nun sitzt der Sohn in Sing-Sing im Staatsgefängnis, und die Tochter hat ein Kind. Es muß also an der Familie liegen, und es nützt gar nichts, wenn man sich hier vom Mitleid bewegen läßt. Es geht mich natürlich nichts an«, sagte sie mit einer Objektivität, deren sie manchmal in erstaunlichem Maße fähig war. »Ich brauche ja nicht auf die Straße zu gehen und das Mädchen verächtlich zu behandeln, weil sie etwas Unrechtes tat. Aber ich brauche sie auch nicht in meine Familie aufzunehmen, weil sie von den andern Leuten verstoßen wird. Ich nehme an, sie wird bei der Geburt des Kindes so viel Schmerzen erlitten haben, wie wenn sie verheiratet gewesen wäre, und dies hat sie vielleicht gelehrt, es nicht wieder zu tun. Wenn sie aber von Natur aus schlecht ist, dann wird es ihr gleich sein, wie die Leute sie behandeln. Wenn ich du wäre, Johnny, würde ich nicht zuviel Mitleid haben mit ihr.« Dann wandte sie sich plötzlich an Francie. »Laß Joanna eine Lehre für dich sein!« An jenem Samstagnachmittag, als Francie Joanna auf dem Trottoir auf und ab spazieren sah, fragte sie sich, wie Mama das mit der Lehre wohl gemeint habe. Joanna war sehr stolz auf ihr Kind. War dies vielleicht das Beispiel, das sie ihr geben sollte? Joanna war erst siebzehn Jahre alt und sehr freundlich. Sie erwartete von den andern dieselbe Freundlichkeit. Sie lächelte auch den klatschenden Hausfrauen auf dem Trottoir zu, aber ihr Lächeln erstarb, als sie die grimmigen Blicke sah. Sie lächelte auch den kleinen Kindern zu, die auf der Straße spielten, und viele von den Kindern lächelten zurück. Sie lächelte auch Francie zu. Francie wollte ebenfalls lächeln, aber sie tat es nicht, weil sie gerade an Mamas Worte denken mußte. Hatte Mama gemeint, sie solle mit einem Mädchen wie Joanna nicht freundlich sein? Die guten Hausfrauen, die die Einkaufstaschen voll Gemüse hatten und unter dem Arm das braune Paket mit dem Fleisch trugen, schienen an jenem Nachmittag sehr viel Zeit zu haben. Sie standen in kleinen Gruppen beisammen und tuschelten miteinander. Das Getuschel 240
hörte auf, sobald Joanna an ihnen vorüberging und setzte hinter ihrem Rücken wieder ein. Jedesmal, wenn Joanna vorüberging, waren ihre Wangen rosiger, trug sie ihren Kopf höher und flatterte ihr Rock herausfordernder. Sie schien mit jedem Schritt hübscher und stolzer zu werden. Sie stand öfter still als nötig war, um die Wagendecke zurechtzuzupfen, und sie reizte die Frauen zu neidischem Zorn, indem sie dem Kindchen die rosigen Wangen liebkoste und es zärtlich anlächelte. Wie konnte sie so etwas wagen! Wie konnte sie sich so unverschämt benehmen, als hätte sie ein Recht darauf! Viele von diesen Frauen hatten eigene Kinder, die sie mit Schlägen und Gezeter aufzogen. Viele von ihnen haßten die Ehemänner, die nachts an ihrer Seite lagen. Der Liebesakt bedeutete für sie keine Freude mehr, sie ließen ihn unbeteiligt über sich ergehen und baten Gott, er möge verhüten, daß sie wieder ein Kind bekämen. Diese zynische Stumpfheit machte die Männer tierisch und brutal. Für die meisten Frauen war der Liebesakt eine gegenseitige Brutalität geworden, die man wohl oder übel erdulden mußte, aber je schneller er erledigt war, desto besser. Sie beneideten und haßten Joanna, weil sie sich vorstellen konnten, daß es bei ihr und dem Vater ihres Kindes anders gewesen sein mußte. Joanna spürte ihren Haß wohl, aber sie dachte nicht daran, sich davon beeindrucken zu lassen. Sie wollte nicht nachgeben und mit dem Kind wieder ins Haus zurückgehen. Aber etwas mußte geschehen. Die Wut der Frauen explodierte. Sie konnten es nicht mehr länger mit ansehen, wie Joanna so stolz mit ihrem Kinde spazierenging. Sie mußten etwas dagegen tun. Als Joanna abermals an ihnen vorüberging, platzte ein sehniges Weib heraus: »Schämen Sie sich eigentlich nicht?« »Weshalb?« wollte Joanna wissen. Diese Frage reizte das Weib zum Zorn. »Weshalb? fragt sie noch«, wandte sie sich an die andern Frauen. »Ich will Ihnen schon sagen, weshalb. Weil Sie eine nichtsnutzige Schlampe sind. Sie haben kein Recht, Ihren Bastard auf den Straßen spazierenzufahren, wo unschuldige Kinder Sie sehen können.« 241
»Wir leben doch in einem freien Land«, sagte Joanna. »Das Land ist nicht frei für solches Pack wie Sie. Machen Sie, daß Sie von der Straße wegkommen!« »Unterstehen Sie sich, mich von der Straße zu verdrängen!« »Scheren Sie sich weg von hier, Sie Dirne!« befahl das sehnige Weib. Joannas Stimme zitterte, als sie sagte: »Nehmen Sie sich in acht, was Sie sagen!« »Wir brauchen uns nicht in acht zu nehmen, was wir zu einem Straßenmädchen sagen«, schnappte eine andere Frau dazwischen. Ein Vorübergehender stand einen Augenblick still, um sich das Gezänk mit anzuhören. Er berührte Joannas Arm. »Hör, Schwester, warum gehst du nicht einfach nach Hause, bis diese Zankhennen sich ein wenig beruhigt haben? Du wirst doch den kürzeren ziehen.« Aber Joanna schüttelte seine Hand von ihrem Arm und sagte: »Mischen Sie sich nicht in meine Angelegenheiten!« »Ich habe es nur gut gemeint, Schwester. Es tut mir leid.« Und er ging seiner Wege. »Warum gehen Sie nicht mit ihm«, hänselte die ausgemergelte Frau. »Er hätte Ihnen sicher einen Vierteldollar dafür gegeben.« Die andern lachten boshaft. »Ihr seid ja alle eifersüchtig«, sagte Joanna mit Gleichmut. »Sie sagt, wir seien eifersüchtig, hört, hört«, keifte die Angreiferin. »Eifersüchtig auf was, Sie?« (Sie sagte das ›Sie‹, als wäre es der Name des Mädchens.) »Eifersüchtig darauf, daß die Männer mich gern haben. Das ist es. Gut, daß Sie schon verheiratet sind«, sagte sie zu der Mageren. »Jetzt würden Sie keinen Mann mehr bekommen. Ich wette, Ihr Mann spuckt Sie an – nachher. Ich bin sicher, daß er das tut.« »Sauweib! Du Sauweib!« schrie die Magere hysterisch zurück. Dann folgte sie einem alten Instinkt, der schon zu Christi Zeiten stark war, las einen Stein aus der Straßenrinne auf und warf ihn auf Joanna. Es war, als ob die anderen Weiber nur auf dieses Signal gewartet hätten, um ebenfalls Steine zu werfen. Eine von den Frauen warf sogar einen Pferdeapfel, weil sie originell sein wollte. Einige von den Steinen 242
trafen Joanna, und plötzlich flog ein spitzer Stein dem Kind gegen die Stirn. Sofort rann ein dünnes, helles Bächlein über sein Gesicht und färbte das schneeweiße Lätzchen rot. Das Kindchen wimmerte und streckte seine Ärmchen nach der Mutter aus, damit sie es aus dem Wagen nehme. Die Weiber ließen ihre schon wurfbereiten Hände sinken und ließen die Steine verstohlen wieder in den Rinnstein fallen. Sie waren plötzlich nüchtern geworden und schämten sich sogar ein wenig. Sie hatten nicht beabsichtigt, das Kindchen zu verletzen. Sie hatten nur Joanna von der Straße vertreiben wollen. Sie gingen auseinander und schlichen sich still und verlegen nach Hause. Die herumstehenden Kinder, die dem Wortwechsel zugehört hatten, nahmen ihr Spiel wieder auf. Joanna weinte und hob das Kindchen aus dem Wagen. Das Kindchen wimmerte immer noch leise, als hätte es kein Recht, laut herauszuschreien. Joanna drückte ihre Wange an die Stirn des Kindes, so daß sich ihre Tränen mit seinem Blut vermischten. Die Weiber hatten gewonnen. Joanna trug das Kindchen ins Haus zurück und ließ den Wagen mitten auf dem Trottoir stehen. Und Francie hatte alles mit angesehen. Sie hatte alles gehört. Sie mußte daran denken, wie Joanna sie vorher angelächelt und wie sie, Francie, das Lächeln nicht erwidert hatte. Warum hatte sie nicht gelächelt? Warum hatte sie sich vor ihr verschlossen? Nun würde sie ihr ganzes Leben lang jedesmal, wenn sie an den Vorfall dachte, ein schlechtes Gewissen haben, weil sie Joanna das Lächeln nicht gegönnt hatte. Ein paar kleine Knaben begannen, um den Wagen herum zu spielen. Sie hielten sich an den Rädern des Wagens fest und rissen ihn herum, während sie ihrem Verfolger auszuweichen suchten. Francie verjagte die Knaben, stellte den Wagen vor Joannas Haustür und legte die Bremse an. Es gab ein ungeschriebenes Gesetz in Williamsburg, daß man nichts berühren durfte, was vor einer Haustür stand. Francie hielt immer noch das Magazin mit ihrer Geschichte unter den Arm geklemmt. Sie stand neben dem Kinderwagen und schaute den Titel nochmals an. ›»Winterzeit‹ von Frances Nolan.« Sie wollte irgend etwas tun, irgendein Opfer bringen dafür, daß sie Joannas Lä243
cheln nicht erwidert hatte. Sie hatte nichts als ihre Geschichte, auf die sie so stolz war und die sie so gern Tante Evy, Tante Sissy und Papa gezeigt hätte. Sie hätte sie so gerne immer behalten, um sie immer wieder ansehen zu können mit diesem schönen, warmen Gefühl. Wenn sie sie verschenkte, konnte sie sie niemals wieder kaufen. Doch sie steckte das Magazin, dort aufgeschlagen, wo ihre Geschichte gedruckt war, unter das Kopfkissen des Kindes. Sie sah ein paar kleine Blutflecke auf dem schneeigen Kissen des Kindchens. Dann sah sie das Kindchen wieder vor sich mit dem dünnen Blutbächlein übers Gesicht und wie es die Ärmchen nach seiner Mutter ausstreckte. Eine Welle des Schmerzes brach über Francie herein und hinterließ, als sie vorüber war, ein Schwächegefühl. Dann kam eine zweite Welle, eine dritte, eine vierte … Sie ging in den Keller ihres Hauses hinunter, verkroch sich in den dunkelsten Winkel und setzte sich auf einen Haufen Säcke. Dort wartete sie, daß die Schmerzwellen verebben würden. Sie zitterte und dachte, wenn es nicht bald aufhöre, dann müsse sie sterben, dann würde sie bestimmt sterben. Nach einer Weile beruhigte sie sich. Sie begann nachzudenken. Joanna hatte ihr wirklich ein Beispiel gegeben, aber wahrscheinlich nicht auf die Weise, die ihre Mutter gemeint hatte. Sie erinnerte sich daran, wie sie auf ihrem abendlichen Heimweg von der Bibliothek Joanna und ihren Liebsten oft unter der Tür hatte stehen sehen. Sie hatte gesehen, wie der Junge zärtlich über Joannas schönes Haar strich. Sie hatte gesehen, wie Joanna seine Wange streichelte. Und Joannas Gesicht hatte im Licht der Straßenlaterne friedlich und träumerisch ausgesehen. Und aus diesem schönen, zärtlichen Anfang heraus war dann also die Schande und die Sünde gekommen? Warum nur? Warum? Der Anfang hatte doch so richtig und gut geschienen. Und nun sollte das Kindchen eine Schande sein? Francie wußte, daß eine von den Frauen, die Joanna gesteinigt hatten, schon drei Monate nach der Hochzeit ein Kind bekommen hatte. Francie war mit andern Kindern auf dem Randstein gestanden und hatte die Hochzeitsgesellschaft in die Mietskutschen steigen sehen, als sie zur Kirche fuhr. Sie hatte unter dem Brautschleier wohl den gerun244
deten Leib der Braut gesehen. Und sie hatte auch gesehen, wie ihr Vater den Arm des Bräutigams fest umklammert hielt. Und der Bräutigam hatte sehr abgespannt und nicht gerade glücklich dreingeschaut. Aber Joanna hatte keinen Vater. Sie hatte niemanden, der ihren Liebsten fest am Arm hielt auf dem Wege zum Altar. Dies war Joannas Sünde, entschied Francie: nicht daß sie schlecht gewesen war, aber daß sie es nicht fertiggebracht hatte, den Burschen zum Altar zu bringen. Francie konnte den Verlauf von Joannas Geschichte nicht wissen. In Wirklichkeit verhielt es sich so, daß der Junge Joanna liebte und daß er sie heiraten wollte, als er wußte, daß er sie, wie man in Brooklyn sagte, ›in Schwierigkeiten gebracht hatte‹. Aber der Junge hatte eine Familie, eine Mutter und drei Schwestern. Er sagte ihnen, daß er Joanna heiraten wolle, aber sie redeten es ihm aus. »Mach keine Dummheiten!« sagten sie ihm. »Sie ist nichts wert. Ihre ganze Familie ist nichts. Du weißt ja nicht einmal, ob du wirklich der Vater bist. Wenn sie dich gehabt hat, hat sie auch andere gehabt. Oh, die Frauen sind schlau! Wir kennen sie. Du aber bist gut und weichherzig. Du merkst nicht, daß sie dich anlügt. Laß dich nicht so leicht erwischen, mein Sohn! Wenn du heiraten willst, dann heirate lieber ein gutes Mädchen, keins, das mit dir schläft, ohne daß der Priester seinen Segen dazu gegeben hat. Wenn du dieses Mädchen Joanna heiratest, dann bist du nicht mehr mein Sohn und nicht mehr der Bruder deiner Schwestern. Und du wirst nie sicher sein, ob du dein eigenes Kind ernährst. Und wenn du bei der Arbeit bist, wirst du dich immer sorgen müssen, ob wohl nicht ein anderer Mann neben ihr im Bett liegt. Jawohl, mein Sohn, so sind die Frauen, wir kennen sie.« Der Junge hatte sich schließlich überreden lassen. Mutter und Schwestern hatten ihm Geld gegeben, damit er sich drüben in Jersey ein Zimmer mieten und eine andere Stelle suchen konnte. Sie wollten Joanna nicht sagen, wo er war. Und er bekam sie nie wieder zu sehen. So kam es, daß Joanna nicht verheiratet war. Und ihr Kind hatte keinen Vater. Während Francie immer noch im dunklen Keller saß, spürte sie etwas Merkwürdiges. Sie legte die Hand aufs Herz und tastete nach einem Bruch in der Herzgegend. Sie hatte Papa schon so oft singen hören 245
von einem gebrochenen Herzen – von einem Herzen, das weh tat – das tanzte – das schwer beladen war – das vor Freude Sprünge machte – das vor Kummer still stand. Sie glaubte, daß das Herz all diese Dinge wirklich tun konnte. Sie war tief erschrocken bei dem Gedanken, daß ihr Herz beim Anblick von Joannas Kindchen gebrochen sei, daß das Blut nun aus ihrem Herzen herausrinne und ihren Körper verlasse. Sie ging hinauf in die Wohnung und schaute sich im Spiegel an. Wirklich, sie hatte dunkle Schatten unter den Augen, und der Kopf schmerzte sie. Sie legte sich auf das alte Ledersofa in der Küche und wartete, bis Mama nach Hause kam. Sie erzählte Mama, was im Keller mit ihr passiert war. Aber sie sagte nichts von Joanna. Katie seufzte und sagte: »Schon so früh? Du bist ja erst dreizehn Jahre alt. Ich hätte nicht geglaubt, daß es schon dieses Jahr kommen wird. Ich war schon fünfzehn.« »Dann … dann ist es also in Ordnung, das, was ich habe?« »Es ist etwas Natürliches, das alle Frauen haben.« »Aber ich bin doch keine Frau.« »Nein, aber es bedeutet, daß du dich von einem Mädchen in eine Frau verwandelst.« »Aber wird es wieder vergehen?« »In ein paar Tagen. Aber in einem Monat wird es wiederkommen.« »Wie lange?« »Oh, sehr lange. Bis du vierzig Jahre alt bist oder sogar fünfzig.« Sie hing eine Weile ihren Gedanken nach. »Meine Mutter war fünfzig, als ich geboren wurde.« »Ja, hat es denn etwas mit dem Kinderkriegen zu tun?« »Ja, nun mußt du immer schön brav sein, weil du jetzt ein Kindchen bekommen könntest.« Sofort mußte Francie an Joanna und ihr Kind denken. »Du darfst dich nie von einem Jungen küssen lassen«, sagte Mama. »Bekommt man denn von einem Kuß ein Kindchen?« »Nein, aber das, was die Kinder macht, beginnt oft mit einem Kuß.« Dann fügte sie hinzu: »Denk an Joanna!« Francie hatte nichts gesagt von der Szene auf der Straße. Im Zusam246
menhang mit ihrem Gespräch hatte Katie zufällig an Joanna gedacht. Aber Francie glaubte, Mama habe die übernatürliche Gabe, Gedanken zu lesen, und betrachtete sie mit neuem Respekt. Denk an Joanna! Denk an Joanna! Francie konnte sie nie mehr vergessen. Von dem Augenblick an, da sie gesehen, wie die Weiber Joanna gesteinigt hatten, haßte Francie die Frauen. Sie fürchtete sich vor ihren abwegigen Leidenschaften und mißtraute ihren Instinkten. Sie haßte sie, weil sie einander verrieten und weil sie grausam waren gegeneinander. Keine von den Frauen hatte es gewagt, ein gutes Wort für Joanna einzulegen, weil sie alle fürchteten, dann mit ihr in den gleichen Topf geworfen zu werden. Nur der vorübergehende Mann hatte ein freundliches Wort für Joanna eingelegt. Die meisten Frauen hatten doch etwas, das allen gemeinsam war: sie mußten ihre Kinder unter großen Schmerzen gebären. Dies sollte sie doch untereinander stark verbinden. Es sollte die Frauen dazu veranlassen, einander zu lieben und vor der Welt der Männer zu beschützen. Aber so war es nicht. Es sah viel eher aus, als würden die großen Schmerzen bei der Geburt ihre Herzen und ihre Seelen einschrumpfen lassen. Nur dann waren sie einig, wenn sie über eine andere Frau herfallen konnten … sei es nun mit Steinen oder mit bösen Worten. Ein anderes Bündnis schienen sie nicht zu kennen. Die Männer waren anders. Auch sie konnten sich hassen, aber sie hielten dennoch zusammen, wenn eine Frau einem von ihnen etwas anhaben wollte. Francie öffnete das Heft, das sie als Tagebuch benützte. Sie übersprang eine Zeile nach ihrer Eintragung über die Unduldsamkeit und schrieb: »Solange ich lebe, will ich nie eine Frau zur Freundin haben. Ich werde nie mehr Vertrauen haben zu einer Frau, ausgenommen zu Mama und Tante Evy und Tante Sissy.«
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ährend Francies dreizehntem Lebensjahr geschahen zwei große Dinge. Ein Krieg brach aus in Europa, und ein Pferd verliebte sich in Tante Evy. Evys Mann und sein Pferd Drummer waren nun schon seit acht Jahren erbitterte Feinde. Er war nicht gut zu dem Pferd. Er gab ihm Fußtritte, er schlug es mit der Faust, und er riß es brutal am Gebiß. Deshalb war das Pferd auch nicht gut zu Onkel Willie Flittman. Das Pferd kannte seine Route und blieb vor jedem Haus von selbst stehen. Es hatte die Gewohnheit weiterzutraben, sobald Flittman den Wagen wieder bestieg. In letzter Zeit aber hatte es angefangen weiterzugehen, während Flittman mit den Milchflaschen zu den Haustüren ging. Es setzte sich dann in Trab, und Flittman mußte ihm oft fast bis zur nächsten Querstraße nachrennen. Um die Mittagszeit war Flittman mit seiner Runde fertig. Dann pflegte er nach Hause zum Mittagessen zu gehen. Nach dem Essen brachte er Roß und Wagen in die Stallungen zurück, um Drummer und den Wagen zu waschen. Das Pferd hatte eine schlechte Gewohnheit. Fast jedesmal, wenn Flittman ihm den Bauch wusch, machte es ihn naß. Die andern Milchmänner schienen jedesmal auf diesen Moment zu warten, um dann in schallendes Gelächter auszubrechen. Flittman konnte das nicht ertragen. Er hatte deshalb angefangen, das Pferd vor seinem eigenen Hause zu waschen. Im Sommer ging dies ganz gut, aber im Winter war es für das Pferd zu kalt. Wenn es bitter kalt war, pflegte Evy hinunterzugehen und Willie zu sagen, es sei nicht recht, Drummer in dieser Kälte draußen zu waschen und dazu noch mit kaltem Wasser. Das Pferd schien zu spüren, daß Evy seine Partei ergriff. Während sie ihrem Mann Vorwürfe machte wegen seiner Grausam248
keit, wieherte Drummer kläglich und rieb seinen Kopf an Evys Schulter. Einmal, an einem sehr kalten Tag, nahm Drummer die Sache in seine eigenen Hände – oder, wie Tante Evy sagte, in seine eigenen Füße. Francie hörte entzückt zu, wie Tante Evy die Geschichte erzählte. Niemand konnte so gut Geschichten erzählen wie Tante Evy. Sie spielte die Rolle aller Personen, auch die des Pferdes. Dazu erzählte sie auf komische Weise die Gedanken der Beteiligten. Nach Evy hatte sich die Geschichte etwa folgendermaßen zugetragen: Willie war auf der Straße und wusch das vor Kälte zitternde Pferd mit kaltem Wasser und einer harten gelben Seife. Evy stand am Fenster und schaute zu. Willie kroch unter das Pferd, um ihm den Bauch zu waschen. Das Pferd spannte den Bauch an, und Willie fürchtete, es werde ihn wieder nässen. Dies war mehr, als der geplagte kleine Mann hätte ertragen können. Er holte aus und versetzte dem Pferd einen Faustschlag auf den Bauch. Das Pferd hob den Hinterfuß und gab ihm einen energischen Schlag auf den Kopf. Flittman rollte unter das Pferd und blieb bewußtlos liegen. Evy rannte sofort hinunter. Das Pferd wieherte glücklich, als es sie sah, aber Evy schenkte ihm keine Aufmerksamkeit. Als das Pferd über die Schulter blickte und sah, wie Evy versuchte, ihren Mann unter ihm hervorzuziehen, begann es vorwärts zu gehen. Vielleicht wollte es Evy helfen, den Bewußtlosen freizulegen, indem es den Wagen über ihn hinwegzog, oder es wollte Willie Flittman noch den Garaus machen, indem es mit dem Wagen über ihn hinwegfuhr. Evy rief laut: »Halt, halt, mein Junge!«, und Drummer hielt gerade noch rechtzeitig an. Ein kleiner Junge war auf die Polizei gerannt, von wo man den Krankenwagen benachrichtigte. Der Arzt konnte nicht feststellen, ob Flittman eine Gehirnerschütterung hatte oder einen Schädelbruch. Er nahm ihn mit ins Spital. Und nun stand das Pferd da vor einem Wagen mit leeren Milchflaschen, die wieder zur Zentrale zurückgebracht werden mußten. Evy hatte in ihrem Leben noch nie ein Pferd gelenkt, doch dies hieß nicht, 249
daß sie nicht imstande war, es zu tun. Sie zog einen alten Überrock ihres Mannes an, kletterte auf den Bock, ergriff die Zügel und rief: »Geh jetzt heim, Drummer!« Das Pferd warf den Kopf zurück, um ihr einen liebevollen Blick zuzuwerfen, und fiel dann in einen fröhlichen Trab. Glücklicherweise wußte es den Weg. Evy hatte nicht die geringste Ahnung, wo sich die Stallungen befanden. Es war ein kluges Pferd. Es blieb bei jeder Straßenkreuzung stehen und wartete, bis Evy sicher war, daß aus der Seitenstraße kein Fuhrwerk kam. Wenn alles frei war, sagte sie: »Nur weiter, alter Knabe!« Und wenn ein anderes Fuhrwerk daherkam, sagte sie: »Einen Augenblick bitte, alter Knabe!« Auf diese Weise erreichten sie die Stallungen ohne Zwischenfall, und das Pferd trabte stolz an seinen gewohnten Platz. Die andern Milchmänner, die gerade ihre Wagen wuschen, waren erstaunt, einen weiblichen Fuhrmann auf dem Bock zu sehen. Der Stallmeister kam angerannt, als er von der Sensation hörte, und Evy erzählte ihm, was geschehen war. »Das habe ich immer kommen sehen«, sagte der Stallmeister. »Flittman hat das Pferd nie leiden können, und das Pferd konnte auch ihn nicht ausstehen. Nun, wir werden eben einen andern Fuhrmann anstellen müssen.« Evy erschrak. Nun würde ihr Mann also seine Stelle verlieren. Sie fragte, ob nicht sie seine Route übernehmen könnte, solange ihr Mann im Spital sei. Sie sagte, die Milch werde ja ganz früh am Morgen, wenn es noch dunkel sei, ausgefahren, und niemand würde es je bemerken, daß eine Frau den Dienst versehe. Der Stallmeister lachte sie aus. Dann sagte sie ihm, wie sehr sie auf die zweiundzwanzigeinhalb Dollar pro Woche angewiesen seien. Sie bettelte so eindringlich und sah so hübsch und klein und unternehmungslustig aus, daß er schließlich nachgab. Er gab ihr die Kundenliste und versprach ihr, er werde dafür sorgen, daß die Stalljungen ihr die Kisten mit den Milchflaschen aufluden. Das Pferd kannte ja die Route, so würde es nicht schwer sein. Einer der andern Milchmänner schlug vor, man könne ihr ja den Stallhund zur Bewachung der Flaschen mitgeben. Der Stallmeister war einverstanden. Evy mußte um 2 Uhr morgens antreten. Sie war die erste Milchfrau in Brooklyn. 250
Sie machte ihre Sache sehr gut. Ihre Kollegen hatten sie gern und fanden, sie eigne sich viel besser für diese Arbeit als ihr Mann. Trotz der männlichen Arbeit blieb sie sanft und weiblich. Und Drummer war sehr glücklich und tat sein Bestes. Er blieb automatisch vor jedem Kundenhaus stehen und fuhr nie an, bevor Evy wieder sicher auf dem Bock saß. Um die Mittagszeit nahm sie das Pferd ebenfalls mit nach Hause. Während sie aß, stand Drummer drunten, bedeckt mit einer alten Steppdecke aus Evys eigenem Bett, damit er nicht frieren mußte. Den Hafer nahm sie mit hinauf und erwärmte ihn ein wenig im Ofen, bevor sie das Pferd fütterte. Sie fand, eiskalter Hafer sei sicher nicht sehr verlockend. Und das Pferd genoß den gewärmten Hafer sehr. Wenn es mit dem Hafer fertig war, gab ihm Evy einen halben Apfel oder ein Stück Zucker. Auch wollte sie es bei der Kälte nicht auf der Straße waschen, und so fuhr sie mit ihm in den Stall zurück. Sie fand auch die gelbe Waschseife zu scharf und nahm ein Stück Toilettenseife mit und ein altes Frottiertuch, um es damit abzureiben. Die Stallburschen boten sich an, das Pferd und den Wagen für sie zu waschen, aber Evy bestand darauf, das Pferd selbst zu waschen. Dann stritten sich zwei Burschen darum, wer ihr den Wagen waschen dürfe. Evy mußte für jeden einen Tag festlegen, an dem er ihr helfen durfte. Sie erwärmte Drummers Waschwasser im Büro des Stallmeisters. Es wäre ihr grausam vorgekommen, ihn mit kaltem Wasser zu waschen. Sie wusch ihn sorgfältig mit dem warmen Wasser und der duftenden Seife und trocknete ihn nachher liebevoll mit dem Tuch ab. Er beging nie irgendwelche Unanständigkeiten, wenn Evy ihn trockenrieb. Wenn sie ihm die Brust frottierte, ließ er seinen riesigen Kopf auf ihrer zarten Schulter ruhen. Es bestand kein Zweifel, das Pferd war bis über die Ohren in Evy verliebt. Als Flittman sich erholt hatte und seine Arbeit wieder aufnehmen wollte, weigerte sich das Pferd, mit ihm den Stall zu verlassen. Man mußte Flittman ein anderes Pferd und eine andere Route geben. Aber Drummer wollte auch mit einem andern Fuhrmann nicht fahren. Der 251
Stallmeister überlegte sich schon, ob er ihn wohl verkaufen mußte. Dann hatte er eine Idee. Einer seiner Fuhrmänner war ein weichlicher Junge mit heller Stimme, und er beschloß, ihm Flittmans Route zu geben. Drummer schien sich damit zufriedenzugeben. Das Pferd nahm seine tägliche Arbeit wieder auf. Aber um die Mittagszeit bog es immer in Evys Straße ein und blieb vor ihrer Tür stehen. Er wollte um keinen Preis in den Stall zurückkehren, bevor Evy heruntergekommen war, um ihm einen Apfel oder ein Stück Zucker zu geben, ihm über die Nase zu streicheln und dazu ›guter Junge‹ zu flüstern. »Was für ein lustiges Pferd!« sagte Francie, als die Geschichte zu Ende war. »Ja, jedenfalls weiß Drummer, was er will.«
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rancie hatte an ihrem dreizehnten Geburtstag ein neues Tagebuch angefangen mit der Eintragung:
15. Dezember. Heute bin ich dreizehn Jahre alt. Was wird das nächste Jahr wohl alles bringen? An den Tagebucheintragungen gemessen, brachte das Jahr nicht viel, und die Eintragungen wurden gegen das Ende des Jahres immer spärlicher. Sie hatte das Tagebuch angefangen, weil die Heldinnen der Romane, die sie las, auch Tagebücher führten. Und sie hatte sich vorgestellt, auch ihr Tagebuch werde sich mit tiefsinnigen Gedanken und romantischen Erlebnissen füllen. Aber sie fand bald, daß ihre Notizen, ausgenommen ein paar Herzensergüsse über Harold Clarence, recht prosaisch waren. Am Ende des Jahres durchstöberte sie das Heft nochmals und las hier und dort eine Eintragung. 252
8. Januar. Großmutter Rommely hat eine hübsche geschnitzte Holztruhe, die ihr österreichischer Urgroßvater vor mehr als hundert Jahren gemacht hat. Sie bewahrt darin ein schwarzes Kleid, einen weißen Unterrock, Schuhe und Strümpfe auf. Dies sind ihre Leichenkleider, da sie nicht in einem Totenhemd begraben werden will. Onkel Willie Flittman sagte, er wolle verbrannt werden, und dann müsse man seine Asche vom Gipfel der Freiheitsstatue aus in alle Winde streuen. Er glaubt, er werde im nächsten Leben ein Vogel sein und will deshalb einen günstigen Ausgangspunkt haben. Tante Evy sagte, er sei schon jetzt ein Vogel, ein Kuckuck. Mama hat mich ausgescholten, weil ich darüber gelacht habe. Ist die Einäscherung besser als eine gewöhnliche Bestattung? Das möchte ich wissen. 10. Januar. Heute ist Papa krank. 21. März. Neeley hat in McCarrens Park Weidenkätzchen gestohlen und sie Gretchen Hahn geschenkt. Mama sagte, er sei noch zu jung, um schon an die Mädchen zu denken. Er habe noch Zeit genug, sagte sie. 2. April. Papa hat nun schon drei Tage lang nicht mehr gearbeitet. Es ist etwas nicht in Ordnung mit seinen Händen. Sie zittern so sehr, daß er gar nichts mehr halten kann. 20. April. Tante Sissy sagte, sie werde ein Kind bekommen. Ich glaube es nicht, denn sie ist vorne ganz flach. Ich hörte, wie sie zu Mama sagte, sie habe es diesmal am Rücken. Ich kann es nicht glauben. 8. Mai. Papa wieder krank. 9. Mai. Heute abend ging Papa zur Arbeit, aber er kam bald wieder zurück. Er sagte, die Leute hätten ihn nicht gebraucht. 10. Mai. Papa krank. Er hatte böse Träume während des Tages und schrie laut. Ich mußte Tante Sissy holen. 12. Mai. Nun hat Papa schon länger als einen Monat nicht mehr gearbeitet. Neeley will seine Arbeitsbewilligung holen und aus der Schule austreten. Mama sagte nein. 15. Mai. Heute ist Papa wieder arbeiten gegangen. Er sagte, er wolle 253
von nun an für alles sorgen. Er hat Neeley ausgescholten wegen der Arbeitsbewilligung. 17. Mai. Papa kam wieder krank nach Hause. Die Kinder liefen hinter ihm her auf der Straße und machten sich lustig über ihn. Ich hasse Kinder. 20. Mai. Neeley hat jetzt eine Route als Zeitungsträger. Er will nicht, daß ich ihm dabei helfe. 28. Mai. Carney hat mich heute nicht mehr in die Wange gekniffen. Er hat mich in etwas anderes gekniffen. Wahrscheinlich bin ich nun zu groß, um Altstoff zu verkaufen. 30. Mai. Fräulein Garnder hat gesagt, sie werden meinen Aufsatz über die Winterszeit im ›Schulmagazin‹ abdrucken. 2. Juni. Papa kam heute krank nach Hause. Neeley und ich mußten Mama helfen, ihn die Treppe hinaufzubringen. 4. Juni. Ich habe heute für meinen Aufsatz die beste Note bekommen. Wir hatten einen Aufsatz zu schreiben über ›Meine Pläne‹. Ich habe nur einen Fehler gemacht, habe Schauspielschreiber statt Schauspieldichter geschrieben. 7. Juni. Heute haben zwei Männer Papa nach Hause gebracht. Er war sehr krank. Mama war nicht da. Ich habe Papa zu Bett gebracht und ihm einen schwarzen Kaffee gegeben. Als Mama nach Hause kam, sagte sie, das sei das einzig Richtige gewesen. 12. Juni. Miß Tynmore gab mir heute eine Serenade von Schubert. Mama ist mir voraus. Sie hat ›Tannhäusers Abendstern‹ bekommen. Neeley sagt, er sei weiter voran als wir beide. Er kann Alexanders Ragtime Band spielen, ohne auf die Noten zu sehen. 20. Juni. War im Theater. »Das Mädchen aus dem Goldenen Westen.« Es war das beste Stück, das ich je gesehen habe, und das Blut tropfte durch die Decke. 21. Juni. Papa kam zwei Nächte nicht nach Hause. Wir wußten nicht, wo er war. Dann kam er, und er war wieder krank. 22. Juni. Heute hat Mama meine Matratze gewendet. Sie hat mein Tagebuch gefunden und es gelesen. Überall dort, wo das Wort 254
›betrunken‹ stand, mußte ich es durchstreichen und dafür ›krank‹ schreiben. Ich bin froh, daß ich nichts über Mama geschrieben habe. Wenn ich einmal Kinder habe, dann werde ich ihre Tagebücher nie lesen, denn auch die Kinder haben ein Recht auf ein Privatleben. Wenn Mama mein Tagebuch wiederfindet und dies liest, dann merkt sie sich das hoffentlich. 23. Juni. Neeley sagt, er habe ein Mädchen. Mama sagt, er sei zu jung. 25. Juni. Heute abend waren Onkel Willie, Tante Evy, Sissy und ihr John bei uns. Onkel Willie trank viel Bier und weinte nachher. Er sagte, das neue Pferd, Bessie, das er nun habe, habe ihm noch Schlimmeres angetan als nur genäßt. Mama hat mich ausgescholten, weil ich lachen mußte. 27. Juni. Wir sind heute mit der Bibel fertig geworden. Nun müssen wir leider wieder von vorne anfangen. Wir haben Shakespeare schon viermal durchgelesen. 1. Juli. Die Unduldsamkeit … Francie legte die Hand aufs Herz. Sie fürchtete, die Wellen des Schmerzes könnten sie wieder überkommen. Aber es war nur ein einziger Stich gewesen. Sie wandte die Seite um und las weiter. 4. Juli. Heute hat Polizeiwachtmeister McShane Papa nach Hause gebracht. Zuerst glaubten wir, Papa sei festgenommen worden. Aber er war nur krank. Herr McShane gab Neeley und mir je einen Vierteldollar, aber Mama wollte, daß wir ihn wieder zurückgeben. 5. Juli. Papa ist immer noch krank. Wird er jemals wieder arbeiten? frage ich mich. 6. Juli. Wir haben wieder mit dem Nordpolspiel angefangen. 7. Juli. Nordpol. 8. Juli. Nordpol. 9. Juli. Nordpol. Die erwartete Hilfe kam nicht. 10. Juli. Heute haben wir die Sparbüchse aufgemacht. Es waren acht 255
Dollar und zwanzig Cent darin. Meine vergoldeten Pennies sind alle schwarz geworden. 20. Juli. Das ganze Geld aus der Sparbüchse ist weg. Mama hat für Frau McGarrity Wäsche mit nach Hause genommen. Ich half beim Bügeln und habe in Frau McGarritys Hosen ein Loch gebrannt. Jetzt will mich Mama nicht mehr bügeln lassen. 23. Juli. Ich habe für den Sommer eine Stelle in Hendlers Restaurant. Ich muß über die Mittags- und Nachtessenszeit Geschirr spülen helfen. Ich muß dazu aus einem Fäßchen Schmierseife nehmen. Jeden Montag kommt ein Mann und holt drei Fäßchen Fettabfälle ab und bringt dafür ein Fäßchen Schmierseife am Mittwoch. Nichts wird auf dieser Welt weggeworfen, nichts geht verloren. Ich bekomme zwei Dollar in der Woche und das Essen. Die Arbeit ist nicht schwer, aber ich mag diese Schmierseife nicht. 24. Juli. Mama sagte, ich werde eine Frau sein, bevor ich es wisse. 28. Juli. Floß Gaddis und Frank werden heiraten, sobald Frank Aufbesserung bekommt. Frank sagt, wenn Präsident Wilson so weiterwirtschafte, werden wir im Nu in den Krieg verwickelt sein. Er sagt, er heirate nur deshalb, damit er Weib und Kind habe und, wenn der Krieg komme, nicht mitmachen und kämpfen müsse. Flossie sagt, dies sei nicht wahr, es sei eine reine Liebesheirat. Ich glaube das nicht. Ich weiß noch gut, wie Flossie ihm immer nachstellte, schon vor Jahren, wenn er im Hof das Pferd wusch. 29. Juli. Heute war Papa nicht krank. Er will eine Stelle suchen. Er sagte, Mama dürfe nicht mehr waschen für Frau McGarrity, und ich müsse meine Stelle aufgeben. Er sagt, wir werden bald reich werden und aufs Land hinausziehen. Ich kann das nicht glauben. 10. August. Sissy sagt, sie werde ihr Kind nun bald bekommen. Ich glaube es nicht, denn sie ist so flach wie ein Pfannkuchen. 17. August. Papa arbeitet nun schon seit drei Wochen. Wir haben immer herrliches Abendessen. 256
18. August. Papa ist krank. 19. August. Papa ist krank, weil er seine Stelle verloren hat. Herr Hendler will mir meine Arbeit nicht wiedergeben. Er sagt, er könne sich ja doch nicht auf mich verlassen. 1. September. Tante Evy und Onkel Willie waren heute abend bei uns. Willie sang das Lied von Frankie und Johnny und fügte unanständige Wörter ein. Tante Evy stieg auf einen Stuhl und gab ihm einen Nasenstüber. Mama hat mich ausgescholten, weil ich lachen mußte. 10. September. Heute habe ich mein letztes Schuljahr angefangen. Fräulein Garnder sagte, wenn ich weiter so gute Aufsätze schreibe, wird sie mich das Festspiel für das Schlußexamen schreiben lassen. Ich habe eine wunderbare Idee. Es muß darin ein Mädchen in einem weißen Kleid und offenem Haar vorkommen, und ihr Name soll ›Fortuna‹ sein. Die andern Mädchen werden auf die Bühne treten und ihr sagen, was sie vom Leben erwarten, und Fortuna wird ihnen sagen, was sie wirklich bekommen. Am Ende des Spiels wird ein blaugekleidetes Mädchen die Arme ausbreiten und sagen: »Lohnt es sich denn, zu leben?« Und ein ganzer Chor müßte antworten: »Ja.« Aber das Ganze müßte in Versen geschrieben sein. Ich habe Papa davon erzählt, aber er war zu krank, um etwas zu verstehen. Der arme Papa. 18. September. Ich habe Mama gefragt, ob ich mir das Haar nicht abschneiden lassen darf. Aber Mama sagte nein, das Haar sei der schönste Schmuck der Frauen. Heißt das, daß sie glaubt, ich werde bald eine Frau sein? Ich hoffe es, denn ich möchte gern bald mein eigener Herr sein und mein Haar abschneiden lassen, wenn es mir paßt. 24. September. Heute abend, als ich badete, bemerkte ich, daß ich nun wirklich anfange, mich in eine Frau zu verwandeln. Es ist auch höchste Zeit. 25. Oktober. Ich bin froh, daß dieses Heft bald voll ist, denn ich bin es müde geworden, ein Tagebuch zu führen. Es passiert ja doch nie etwas Wichtiges. 257
Dann kam Francie zu ihrer letzten Eintragung. Nachher blieb nur noch eine einzige leere Seite übrig. Nun, je schneller sie etwas hineinschrieb, desto besser, dann war sie dieses Tagebuch endlich los. Sie feuchtete den Bleistift mit der Zunge an. 2. November. Das Geschlecht ist etwas, was unweigerlich in das Leben eines Menschen hineinkommt. Viele Leute schreiben dagegen. Die Priester predigen dagegen. Sie machen sogar Gesetze dagegen. Aber es läßt sich durch nichts unterdrücken. Alle Schulmädchen haben nur diesen einen Gesprächsstoff: das andere Geschlecht, die Jungens. Sie sind sehr neugierig, wie alles ist. Bin ich es eigentlich auch? Sie dachte über den letzten Satz nach. Die Linie über ihrer rechten Braue vertiefte sich. Sie strich den Satz durch und schrieb ihn in neuer Fassung, nicht mehr als Frage: »Ich bin es auch.«
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s war wirklich so, daß die sexuelle Frage die heranwachsende Jugend von Williamsburg sehr beschäftigte. Sie sprachen unendlich viel von diesen Dingen. Die jüngeren Kinder praktizierten eine Art Exhibitionismus. (»Zeig mir, wie du gemacht bist, und ich will dir zeigen, wie ich bin.«) Andere behalfen sich damit, daß sie ›Mutter und Kind‹ oder ›Doktor‹ spielten. Die Hemmungsloseren machten, was sie ›das schmutzige Spiel‹ nannten. Im ganzen Quartier wurde alles Geschlechtliche geheimnisvoll behandelt. Die Eltern hüteten sich, mit den Kindern über dieses Thema zu sprechen. Wenn sie von den Kindern ausgefragt wurden, wußten sie nicht, was sie antworten sollten, weil es ihnen an den nötigen Wörtern fehlte. Jedes Ehepaar hatte seinen selbstgeschaffenen, geheimen 258
Wortschatz, der nur flüsternd und in tiefster Nacht gebraucht wurde. Es gab wenig Mütter, die tapfer genug waren, ihre Kinder aufzuklären und sie mit diesen Wörtern vertraut zu machen. Wuchsen die Kinder heran, so erfanden sie ihrerseits Wörter, die sie ihren eigenen Söhnen und Töchtern nicht sagen konnten. Katie Nolan gehörte aber nicht zu jenen Feiglingen. Sie wurde mit jedem Problem meisterhaft fertig. Sie machte keine geplanten Aufklärungsversuche, aber wenn Francie etwas wissen wollte, antwortete sie, so gut sie es verstand. Einmal, als Francie und Neeley noch kleiner waren, hatten sie gemeinsam beschlossen, Mama über gewisse Dinge auszufragen. Sie stellten sich vor Katie auf, und Francie war der Wortführer. »Mama, woher sind wir gekommen?« »Gott hat euch mir geschenkt.« Sie waren von dieser Antwort aber nicht befriedigt und fragten weiter: »Aber wie hat Gott uns zu dir gebracht?« »Das kann ich euch nicht erklären, weil ich dazu eine Menge große Wörter brauchen müßte, die ihr ja doch nicht verstehen würdet.« »Sag uns nur einmal die großen Wörter, und dann wirst du sehen, ob wir sie nicht verstehen!« »Wenn ihr sie verstehen würdet, dann müßte ich sie euch nicht sagen.« »Dann sag es uns auf eine andere Art, mit andern Worten! Sag uns doch, wie die Kinder auf die Erde herabkommen!« »Nein, ihr seid noch viel zu klein. Wenn ich es euch sagte, dann würdet ihr auf die Straße gehen und es den andern Kindern weitererzählen. Und nachher würden alle Mütter kommen und sagen, ich sei ein schmutziges Weib, und es käme zu Schlägereien.« »Nun, dann sag uns wenigstens, warum die Mädchen anders sind als die Jungen.« Mama dachte eine Weile nach. »Der Hauptunterschied ist der, daß die kleinen Mädchen sitzen, wenn sie auf die Toilette gehen, und die kleinen Jungen bleiben stehen.« 259
»Aber Mama«, sagte Francie, »ich stehe auch, wenn ich mich auf unserer dunklen Toilette fürchte.« »Und ich«, gestand der kleine Neeley, »ich sitze, wenn ich …« Mama unterbrach ihn. »Nun, es ist eben in jedem Mann ein wenig von einer Frau und in jeder Frau ein wenig von einem Mann.« Damit endete das Gespräch, denn die Kinder fanden es so verwirrend, daß sie nicht mehr weiterfragen konnten. Als Francie spürte, daß sie sich in eine Frau verwandelte, ging sie zu Mama und fragte sie abermals aus. Und Katie erzählte ihr offen und ehrlich, was sie selbst wußte. Manchmal mußte sie Wörter brauchen, die als schmutzig galten, aber sie sprach die Wörter mutig und hemmungslos aus, weil sie doch keine andern dafür wußte. Niemand hatte je mit ihr über diese Dinge gesprochen, über die sie jetzt mit ihrer Tochter sprach. Und Katie wußte nichts von Aufklärungsliteratur, und wenn es zu jener Zeit auch dergleichen gegeben hätte, so wäre sie für Katie doch nicht zugänglich gewesen. Aber trotz der plumpen Worte und der familiären Ausdrucksweise hatten Katies Erklärungen nichts Abstoßendes an sich. Francie hatte es besser als die meisten Kinder aus der Nachbarschaft. Sie konnte von ihrer Mutter alles erfahren, was sie wissen mußte, und hatte es nicht nötig, wie andere Kinder in dunklen Durchgängen zu stehen und in schmutziger Weise Geheimnisse auszutauschen. Sie mußte über die sexuellen Fragen nie in verdorbener Weise reden hören. Während man in Williamsburg aus den normalen geschlechtlichen Vorgängen ein großes Geheimnis machte, waren die kriminellen das Tagesgespräch. In allen Armenvierteln waren die herumlungernden Sexualverbrecher der Schrecken der Eltern. Sie schienen in jedem Quartier aufzutauchen. In dem Jahr, als Francie vierzehn wurde, spukte auch einer in Williamsburg herum. Schon seit längerer Zeit wußte man, daß er kleine Mädchen belästigte, aber die Polizei hatte seiner trotz allen Bemühungen noch nie habhaft werden können. Der Hauptgrund dafür war, daß die Eltern der betroffenen Kinder es verschwiegen, damit man ihr Kind nicht ausschloß und aus ihm einen Sonder260
fall machte, was ihm unmöglich machen würde, auf natürliche Weise weiterhin mit den andern Kindern zu spielen. Aber eines Tages wurde ein kleines Mädchen aus Francies Block ermordet, und die Sache konnte nicht verborgen gehalten werden. Es war ein ruhiges, anständiges und gehorsames Mädchen von sieben Jahren gewesen. Als es nach der Schule nicht gleich nach Hause kam, machte sich seine Mutter noch keine Sorgen. Sie stellte sich vor, das Kind werde sich irgendwo beim Spielen vergessen haben. Erst nach dem Abendessen begannen sie das Kind zu suchen. Sie fragten die andern Schulkinder und Spielkameraden aus, aber niemand hatte die Kleine gesehen, seit die Schule aus war. Das ganze Quartier wurde von einer Panik ergriffen. Die Eltern riefen ihre Kinder herein und setzten sie hinter Schloß und Riegel. McShane kam mit einem halben Dutzend Polizisten und suchte mit ihnen die Dächer und die Keller ab. Schließlich wurde das Kind von seinem eigenen siebzehnjährigen Bruder gefunden. Sein kleiner Körper lag quer über einem alten Puppenwagen im Keller eines Nachbarhauses. Sein zerrissenes Kleid und seine Unterwäsche, seine Schuhe und die kleinen roten Socken lagen auf einem Haufen Asche. Der Bruder wurde ins Verhör genommen. Er war verwirrt und aufgeregt und stotterte verlegen, als man ihn ausfragte. Man nahm ihn als verdächtig fest. McShane war klug. Es war nur eine Scheinverhaftung, damit der Mörder glaubte, er müsse sich nun nicht mehr versteckt halten. McShane wußte, daß der Missetäter sich nun sicher fühlen und sich ein neues Opfer aussuchen würde. Und diesmal würde die Polizei bereitstehen und auf ihn warten. Die Eltern unternahmen einen Feldzug. Sie erzählten den Kindern von dem Lustmörder (ob sie die rechten Worte fanden oder nicht, das spielte nun keine Rolle mehr) und von den schrecklichen Dingen, die er mit den kleinen Mädchen tat. Sie warnten die kleinen Mädchen, von einem Fremden Süßigkeiten anzunehmen oder auch nur mit ihm zu sprechen. Die Mütter holten ihre Kinder vor dem Schulhaus ab. Am Abend waren die Straßen verlassen. Es war, wie wenn der Rattenfän261
ger von Hameln mit allen Kindern in einer Berghöhle verschwunden wäre. Das ganze Quartier lebte im Zeichen des Schreckens. Johnny machte sich wegen Francie so große Sorgen, daß er sich eine Waffe verschaffte. Johnny hatte einen Freund namens Burt, der bei einer Bank Nachtwächter war. Burt war vierzig Jahre alt und seine Frau erst zwanzig. Er war rasend eifersüchtig auf sie. Er hatte sie immer im Verdacht, daß sie während der Nacht, wenn er auf der Bank war, einen Liebhaber bei sich habe. Er wurde so oft von solchen Vorstellungen gequält, daß er schließlich fand, es wäre eine Erleichterung, zu wissen, daß es sich wirklich so verhielt. Lieber wollte er sich von der Gewißheit das Herz brechen lassen, als sich durch den ständigen Verdacht die Seele zerstören. Er schlich sich deshalb zu allen möglichen Nachtzeiten nach Hause, während sein Freund, Johnny Nolan, für ihn die Bank bewachte. Sie hatten ein Signal verabredet. Wenn der arme Burt mitten in der Nacht von seinem Verdacht so gequält wurde, daß er es nicht mehr aushielt, dann ging er zur nächsten Straßenecke, wo ein Polizist stand, und bat ihn, die Nolan-Glocke dreimal zu läuten. Wenn Johnny zu Hause war und das Signal hörte, sprang er aus dem Bett wie ein Feuerwehrmann, zog sich eiligst an und rannte zu der Bank, als ob es darum ginge, jemandem das Leben zu retten. Wenn Burt weggegangen war, legte sich Johnny auf das schmale Pritschenlager des Nachtwächters und spürte durch das dünne Kopfkissen hindurch den harten Revolver. Er hoffte sehr, jemand würde versuchen, die Bank auszuplündern, damit er das Geld retten und ein Held werden konnte. Aber seine Nachtwächterstunden verliefen immer ohne jeden Zwischenfall. Nicht einmal die Sensation war ihm vergönnt, daß sein Freund seine Frau wirklich bei einem Ehebruch ertappte. Die junge Frau schlief immer tief und ganz allein in ihrem Bett, wenn der geplagte Ehemann sich in die Wohnung schlich. Als Johnny von dem Kindsraub und dem Mord hörte, ging er sofort zur Bank, um seinen Freund Burt aufzusuchen. Er fragte ihn, ob er nicht noch einen Revolver habe. »Gewiß. Warum denn?« 262
»Ich möchte ihn mir gern für einige Zeit ausborgen, Burt.« »Warum, Johnny?« »Es ist ein Kindsmörder in unserem Quartier, weißt du.« »Ich hoffe nur, daß sie ihn bald erwischen, Johnny. Das hoffe ich wirklich, den Saukerl.« »Ich habe doch auch eine Tochter.« »Jawohl, Johnny, ich weiß, ich weiß.« »Und deshalb möchte ich mir gern deinen Revolver ausborgen.« »Aber das ist gegen das Sullivan-Gesetz.« »Es wird auch gegen irgendein Gesetz sein, wenn du nachts von deinem Posten weggehst und ich die Nachtwache für dich besorge. Ich könnte ja ebensogut ein Dieb sein. Das kannst du ja nicht wissen.« »Ach, geh, Johnny! Ich kenne dich doch!« »Ich denke, wenn wir ein Gesetz brechen, dann können wir ebensogut ein zweites brechen.« »Na, also gut, ich will ihn dir leihen.« Er öffnete die Schublade seines Pultes und zog einen zweiten Revolver heraus. »Nun will ich dir's zeigen. Wenn du jemanden töten willst, dann mußt du so zielen«, er zielte auf Johnny, »und an diesem Drücker ziehen.« »Ich verstehe. Laß mich einmal versuchen!« Und darauf zielte Johnny seinerseits auf Burt. »Natürlich«, sagte Burt, »habe ich mit dem verdammten Ding noch nie geschossen.« »Dies ist das erstemal in meinem Leben, daß ich überhaupt einen Revolver in der Hand halte«, gestand Johnny. »Dann paß aber auf!« sagte der Nachtwächter seelenruhig. »Er ist nämlich geladen.« Johnny erschauerte. Er legte den Revolver sachte auf das Pult. »Du meine Güte, Burt! Ich habe es nicht gewußt. Wir hätten einander ja töten können!« »Mein Gott, du hast recht.« Und nun schauderte auch der Nachtwächter. »Eine kleine Bewegung des Fingers, und ein Mensch ist tot«, sagte Johnny nachdenklich. 263
»Aber Johnny, du wirst doch nicht im Sinn haben, dich selbst umzubringen!?« »Nein, das überlaß ich dem Alkohol.« Johnny lachte laut heraus und brach dann plötzlich ab. Als er mit dem Revolver wieder gehen wollte, sagte Burt: »Sag's mir, wenn du den Bastard erwischt hast!« »Ja, das will ich«, versprach Johnny. »Also, auf Wiedersehn!« »Auf Wiedersehn, Burt!« Zu Hause versammelte Johnny seine Familie um sich und erklärte ihr den Revolver. Er verbot Francie und Neeley streng, ihn zu berühren. »Dieses kleine Rohr enthält den Tod für fünf Menschen«, erklärte er dramatisch. Francie fand, der Revolver sah aus wie ein winkender Finger, ein Finger, der dem Tod winkt, bis er dahergerannt kommt. Sie war froh, als Papa den Revolver unter seinem Kopfkissen verstaute. Der Revolver lag einen ganzen Monat unter Johnnys Kissen, ohne daß er benutzt wurde. Seit jenem Mord war in der Nachbarschaft nichts Aufregendes mehr geschehen. Es schien fast, als hätte sich der Bösewicht in ein anderes Quartier verzogen. Die Mütter begannen schon weniger ängstlich zu werden und holten ihre Kinder nicht mehr ab. Nur wenige, darunter Katie, fuhren fort, die Kinder wenigstens im Hausflur zu erwarten. Die Kindsmörder hatten die Gewohnheit, den Kindern in den dunklen Hausfluren und Korridoren aufzulauern. Katie fand, es koste ja nichts, wenn man ein wenig vorsichtig war. Als sich die meisten Leute wieder in Sicherheit wiegten, schlug der Perverse abermals zu. An einem Nachmittag reinigte Katie den Korridor des übernächsten Hauses. Sie hörte den Lärm von Kindern auf der Straße und wußte, daß nun die Schule aus war. Sie fragte sich, ob sie wohl nach Hause gehen solle und Francie im Hausflur erwarten, wie sie es immer getan hatte, seitdem der Mord vorgefallen war. Francie ist zwar bald vierzehn Jahre alt, dachte sie, und kann sich schon selbst wehren. Im übrigen griff der Bösewicht meistens jüngere, 264
sechs- oder siebenjährige Mädchen an. Vielleicht hatte man ihn auch wirklich irgendwo anders erwischt, und er saß sicher hinter Gitterstäben. Und doch … Es ließ ihr keine Ruhe. Sie beschloß, nach Hause zu gehen. Sie brauchte ohnehin ein frisches Stück Seife und konnte es ebensogut jetzt holen, dann hatte sie zwei Fliegen auf einen Schlag. Sie schaute sich auf der Straße um und war ein wenig beunruhigt, als sie Francie nicht sah. Da fiel ihr ein, daß Francie ja einen weiteren Schulweg hatte und immer ein wenig später kam als die andern Kinder. Als Katie in der Wohnung war, beschloß sie, sich eine Tasse Kaffee zu wärmen. Unterdessen würde Francie nach Hause kommen, und sie konnte beruhigt wieder an die Arbeit gehen. Sie ging ins Schlafzimmer, um nachzusehen, ob der Revolver immer noch unter Johnnys Kopfkissen lag. Natürlich war er dort, und sie schämte sich fast, daß sie so ängstlich sein konnte. Sie trank den Kaffee, holte ein Stück gelber Seife hervor und machte sich daran, in den Hausflur hinunterzugehen. Francie kam zur gewohnten Zeit nach Hause. Sie öffnete die Haustür, überblickte den engen Hausflur, sah nichts Verdächtiges und schloß die solide Tür hinter sich zu. Nun war es ziemlich dunkel im Hausflur. Sie ging bis zur Treppe. Als sie den Fuß auf die unterste Stufe setzen wollte, sah sie ihn. Er kam aus der kleinen Nische, in der sich die Kellertür befand, hervor. Er ging leise, aber mit ruckartigen Schritten. Er war mager und ungewöhnlich klein und trug einen schäbigen, dunklen Anzug und ein Hemd ohne Kragen und Krawatte. Das dicke, buschige Haar wuchs ihm tief in die Stirn hinunter, fast bis zu den Augenbrauen. Er hatte eine gebogene Nase und einen schmalen, krummen Mund. Sogar im Halbdunkel konnte Francie seine feuchten Augen glänzen sehen. Sie versuchte, noch einen Schritt zu machen, als sie ihn aber nochmals anblickte, erstarrten ihre Beine. Sie konnte keinen Muskel mehr bewegen. Sie umklammerte zwei Speichen des Treppengeländers. Was sie so zum Erstarren gebracht hatte, war die Tatsache, daß der Mann mit weitgeöffnetem Hosenschlitz auf sie zukam. Francie starrte mit lähmendem Schrecken auf die entblößten Teile seines Körpers. Sie waren 265
weiß wie Würmer im Gegensatz zu der häßlichen, dunkelblassen Farbe seines Gesichts und seiner Hände. Sie empfand denselben Ekel wie vor einer toten, von dicken, weißen Maden durchwühlten Ratte. Sie versuchte, »Mama« zu schreien, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt; sie konnte nur röcheln. Es war wie in einem schrecklichen Traum, in dem man schreien will und keinen Ton herausbringt. Und sie konnte sich nicht bewegen. Ihre Finger waren weiß und schmerzten vom heftigen Umklammern des Treppengeländers. Merkwürdigerweise konnte sie sich noch darüber wundern, warum die Speichen unter ihrem festen Griff nicht entzweibrachen. Und nun kam der Mann immer näher, und sie konnte nicht fortlaufen! Es ging einfach nicht! Sie flehte Gott an, er möchte doch einen der Mieter zu Hilfe schicken. In diesem Augenblick kam Katie mit einen Stück gelber Seife ruhig die Treppe herunter. Als sie zum letzten Treppenabsatz kam, sah sie, wie Francie sich ans Treppengeländer klammerte und wie der Mann langsam auf sie zukam. Sie blieb ganz still. Sie wandte sich sofort um, noch ehe Francie und der Mann sie gesehen hatten, rannte die Treppe wieder hinauf in die Wohnung, nahm mit ruhiger Hand den Schlüssel unter dem Teppich hervor und öffnete die Wohnungstür. Ohne zu wissen, was sie tat, legte sie das Stück Seife auf den Deckel des Waschzubers. Sie holte den Revolver unter dem Kopfkissen hervor, entsicherte ihn und steckte ihn unter die Schürze. Jetzt begann ihre Hand zu zittern. Sie schob auch die linke Hand unter die Schürze und hielt den Revolver mit beiden Händen fest. Dann schlich sie leise die Treppe hinunter. Der Verbrecher hatte soeben den Fuß der Treppe erreicht, sprang schnell wie eine Katze die zwei untersten Stufen hinauf und schlang den einen Arm um Francies Hals, um ihr den Mund zuzuhalten, damit sie nicht schreien konnte. Den andern Arm legte er um ihre Hüften und wollte sie wegschleppen. Er rutschte aus, weil ihre Hände nicht nachgaben, und der entblößte Teil seines Körpers berührte ihr nacktes Bein. Das Bein zuckte zusammen, als sei es von einer Flamme berührt worden. Die Lähmung löste sich, und Francie begann mit den Füßen auszuschlagen. Der Mann wollte dies verhindern, indem er sei266
nen Körper dicht gegen den ihren preßte, und sie hart an das Geländer drückte. Er machte sich daran, ihre erstarrten Finger einen nach dem andern von den Speichen des Geländers zu lösen. Schon war es ihm gelungen, ihre eine Hand freizubekommen. Er klemmte sie zwischen seinen und Francies Körper ein, indem er sie auf Francies Rücken legte. Dann begann er, die andere Hand loszumachen. Die Treppe knackte. Francie blickte auf und sah, daß ihre Mutter die unterste Treppe herabeilte. Katie rannte merkwürdig ungeschickt, weil sie den Revolver mit beiden Händen unter der Schürze umklammerte. Der Mann erblickte sie ebenfalls. Er konnte nicht sehen, daß sie eine Pistole hatte. Er ließ Francie zögernd los und ging rückwärts die beiden Stufen hinunter, während er Katie fortwährend mit seinen feuchten Augen fixierte. Francie stand immer noch wie gebannt da und hielt das Geländer mit der einen Hand umklammert. Sie konnte die Hand immer noch nicht lösen. Der Mann drückte sich mit dem Rücken die Korridorwand entlang und versuchte, in die Kellernische zurückzuschleichen. Katie stand still, kniete auf eine Stufe, schob die bauchige Schürze zwischen zwei Geländerspeichen durch, starrte auf den entblößten Körperteil und drückte den Revolver ab. Es gab eine laute Detonation; dann roch es nach verbranntem Stoff, weil das Loch in Katies Schürze glomm und schwelte. Der Mann zog seine Lippe hoch und zeigte schwärzliche, faule Zähne. Er hielt beide Hände über den Bauch und fiel vornüber. Er rollte mit ausgebreiteten Armen auf den Rücken, und der Körperteil, der vorher so eklig weiß gewesen, war nun rot von seinem Blut. Der enge Hausflur war von Rauch erfüllt. Dann hörte man Türen auffliegen, und Frauen kreischten. Oben in den Korridoren hörte man Leute herumrennen. Die Haustür wurde geöffnet, und bald hatte sich eine neugierige Menge unter der Tür angesammelt, so daß man weder ein- noch ausgehen konnte. Katie packte Francie am Arm und wollte sie die Treppe hinaufführen, aber die Hand war immer noch nicht loszubringen. Die Finger waren wie angefroren. In ihrer Verzweiflung schlug Katie mit dem Revolverkolben auf das Handgelenk, und die erstarrten Finger entspannten 267
sich endlich. Katie schleppte sie die Treppe hinauf und an den Frauen vorbei, die ihnen im Korridor begegneten. »Was ist passiert? Um Gottes willen, was ist passiert?« riefen die Frauen entsetzt. »Es ist alles schon wieder gut, es ist alles in Ordnung«, beruhigte sie Katie. Francie stolperte immer wieder und fiel auf die Knie. Katie mußte sie auf den Knien bis in die Wohnung schleppen. In der Küche legte sie Francie auf das Ledersofa. Dann verriegelte sie die Wohnungstür mit dem Kettenschloß. Als sie den Revolver sorgfältig neben die Waschseife auf den Zuberdeckel legte, berührte sie das Rohr zufällig mit der Hand und fand, daß es ganz warm war. Sie erschrak. Sie verstand nichts von der Schußwaffe. Sie fürchtete, der Revolver könnte durch die Hitze von selbst losgehen. Sie öffnete den Deckel des Waschzubers und warf den Revolver auf die darin befindliche schmutzige Wäsche, die im Wasser eingelegt war. Dann warf sie automatisch das Stück gelbe Seife hinein, weil es irgendwie mit der Sache zu tun gehabt hatte. Dann ging sie zu Francie. »Hat er dir etwas getan, Francie?« »Nein, Mama«, stöhnte sie. »Aber er hat … ich meine sein … weißt du, sein … hat mein Bein berührt.« »Wo?« Francie zeigte auf eine Stelle oberhalb der blauen Socke. Die Haut war weiß und unbeschädigt. Francie war erstaunt. Sie hatte geglaubt, die Haut müßte zumindest weggefressen sein. »Aber man sieht ja gar nichts davon«, sagte Mama. »Aber ich spüre die Berührung immer noch.« Francie stöhnte und rief dann hysterisch: »Man muß mir das Bein abschneiden!« Draußen klopften die Leute an die Tür und wollten wissen, was denn eigentlich geschehen sei. Aber Katie ignorierte das Klopfen. Sie gab Francie eine Tasse heißen, schwarzen Kaffee zu trinken. Dann ging sie in der Küche auf und ab. Sie zitterte. Sie wußte auch nicht recht, was sie jetzt tun sollte. Neeley hatte sich auf der Straße herumgetrieben. Als er sah, wie 268
sich die Leute um seine Haustür drängten, hatte er sich in den Hausflur hineingezwängt. Er ging halbwegs die Treppe hinauf und schaute übers Geländer hinunter. Der Mann lag immer noch da, wie er hingefallen war. Die Frauen hatten ihm die Hosen vom Leib gerissen, und alle, die nahe genug an ihn herankommen konnten, gruben ihm die Absätze ins Fleisch. Die andern versetzten ihm Fußtritte oder spuckten auf ihn. Alle schrien ihm obszöne Dinge zu. Neeley hörte aus dem Lärm heraus den Namen seiner Schwester. »Francie Nolan?« »Jawohl, Francie Nolan.« »War es wirklich Francie Nolan?« »Ich sage euch, ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen.« »Ihre Mutter ging und …« »Francie Nolan!« Neeley hörte das Klingeln des Krankenautos. Er war überzeugt, daß Francie getötet worden war. Er rannte schluchzend die Treppen hinauf. Er hämmerte schreiend gegen die verriegelte Tür: »Laß mich herein, Mama! Laß mich herein!« Und Katie machte ihm sofort auf. Als er Francie auf dem Ledersofa liegen sah, plärrte er noch lauter. Und Francie fing ebenfalls zu weinen an. »Seid still! Seid doch um Gottes willen still!« schrie Katie. Sie packte Neeley bei den Schultern und schüttelte ihn, bis der letzte Schluchzer aus ihm herausgeschüttelt war. »Geh und such deinen Vater! Such überall, bis du ihn hast!« Neeley fand Papa in der Schenke von McGarrity. Er hatte sich gerade für einen gemütlichen Abend hinter dem Glas einrichten wollen. Als er Neeleys Geschichte zugehört hatte, ließ er das Glas fallen und lief sofort nach Hause. Die Haustür war aber immer noch blockiert. Das Krankenauto stand vor dem Haus, und vier Polizisten versuchten, für den Arzt einen Weg zu bahnen. Johnny und Neeley gelangten durch den Keller des Nachbarhauses in den Hof, kletterten dort über ihren eigenen Gartenzaun und stiegen die Feuerleiter hinauf bis zum Küchenfenster. Als Katie Johnnys 269
Melone am Fenster auftauchen sah, schrie sie vor Entsetzen und wollte schon wieder nach dem Revolver greifen. Glücklicherweise fiel ihr nicht sofort ein, wohin sie ihn geworfen hatte. Johnny stürzte gleich zu Francie hin und nahm sie, groß wie sie war, auf den Arm wie ein kleines Kind. Er wiegte sie hin und her und sagte, sie solle nur versuchen, einzuschlafen. Francie beharrte immer noch darauf, daß man ihr das Bein abnehmen solle. »Hat er sie bekommen?« fragte Johnny. »Nein, aber ich habe ihn bekommen«, sagte Katie grimmig. »Hast du ihn mit der Pistole erschossen?« »Ja, womit soll ich es sonst getan haben?« Sie zeigte ihm das Loch in ihrer Schürze. »Hast du ihn auch richtig erschossen?« »So gut ich konnte. Aber Francie kann gar nicht von der Idee mit ihrem Bein loskommen. Sein …« ihre Augen schweiften zu Neeley hinüber, »nun, du weißt ja, was ich meine, hat ihr Bein berührt.« Sie zeigte auf die Stelle. Johnny untersuchte das Bein, aber er konnte auch nichts sehen. »Es ist wirklich ein Unglück, daß es gerade ihr passieren mußte. Sie kann ohnehin nichts vergessen«, sagte Katie. »Vielleicht hat sie einen solchen Schrecken bekommen, daß sie nie heiraten wollen wird.« »Wir werden das Bein schon in Ordnung bringen«, versprach Johnny. Er legte Francie wieder auf das Ledersofa, holte die Karbolsäure und rieb Francies Bein an der betreffenden Stelle mit der unverdünnten Säure ein. Francie war froh, den brennenden Schmerz zu spüren. Sie hatte das Gefühl, daß auf diese Weise die Berührung des bösen Mannes weggesengt werde. Dann hämmerte jemand gegen die Tür. Sie blieben still und antworteten nicht. Sie wollten in diesem Moment keine fremden Eindringlinge in ihrer Wohnung haben. Dann rief eine laute Stimme mit irischem Akzent: »Macht die Tür auf! Im Namen des Gesetzes.« Katie schob den Riegel zurück. Ein Polizist kam herein, gefolgt von einem Arzt, der eine Ledertasche trug. Der Polizist zeigte auf Francie. 270
»Ist dies das Mädchen, das er angegriffen hat?« »Ja.« »Der Doktor hier muß es schnell untersuchen.« »Nein, das laß ich nicht zu«, protestierte Katie. »Das Gesetz will es so«, antwortete er ruhig und gelassen. Katie ging mit dem Arzt ins Schlafzimmer, und die entsetzte Francie mußte sich der Demütigung einer Untersuchung unterziehen. Der Arzt untersuchte Francie rasch, aber sorgfältig. Als er die Instrumente wieder in der Tasche versorgte, sagte er: »Es ist alles in Ordnung. Er hat ihr nichts anhaben können.« Dann befühlte er Francies geschwollenes Handgelenk. »Und woher hat sie das?« »Ich mußte ihr mit dem Pistolenkolben einen Schlag geben, weil sie das Treppengeländer nicht mehr loslassen konnte«, erklärte Katie. Dann entdeckte er Francies abgeschürfte Knie. »Und das?« »Ich mußte sie durch den Korridor schleppen, weil sie fast nicht mehr gehen konnte.« Dann untersuchte er die schmerzhafte Brandwunde über Francies Fußgelenk. »Und was, zum Teufel, ist denn das?« »Dort hat der Vater sie mit Karbolsäure gewaschen, weil der Mann sie dort berührt hat.« »Mein Gott!« explodierte der Arzt. »Das ist eine Verbrennung dritten Grades!« Er öffnete seine Tasche nochmals, bestrich die Verbrennung mit Vaseline und legte einen sauberen Verband an. »Mein Gott!« sagte er nochmals, »ihr beide habt dem Kind wahrhaftig mehr Schaden zugefügt als der Verbrecher.« Er strich Francies Kleid wieder glatt und sagte: »Es ist alles in Ordnung, Kleine. Ich will dir jetzt etwas geben, damit du gut schlafen kannst, und wenn du wieder aufwachst, dann denkst du, du hast einen bösen Traum gehabt. Es war wirklich weiter nichts als ein kleiner Schrecken, verstanden?« »Jawohl, Herr Doktor«, sagte Francie dankbar. Wieder sah sie die gezückte Einspritznadel. Sie erinnerte sich an die längst vergessene Impfung. Sie blickte besorgt auf ihren Arm. War er wohl diesmal sauber? Oder würde er sagen … 271
»So, nun bist du tapfer gewesen«, sagte er, nachdem die Spritze die Haut durchbohrt hatte. Oh, er ist auf meiner Seite, dachte Francie verschwommen. Sie schlief nach der Spritze sofort ein. Katie ging mit dem Arzt in die Küche zurück. Johnny saß mit dem Polizisten am Tisch. Der Polizist hatte ein Stück Bleistift zwischen seinen dicken Fingern und nahm in einem kleinen Notizheft in winziger Schrift den Tatbestand auf. »Kind in Ordnung?« fragte er. »Vollkommen«, sagte der Arzt, »es leidet nur noch am Schock und an Parentinitis.« Er blinzelte dem Polizisten zu. »Wenn sie wieder aufwacht, vergessen sie nicht, ihr zu sagen, sie habe alles nur geträumt! Und reden sie sonst nicht mehr darüber!« »Was bin ich ihnen schuldig, Doktor?« fragte Johnny. »Nichts, Mac. Das ist die Sache der Stadt New York.« »Danke schön«, flüsterte Johnny. Der Arzt bemerkte Johnnys zitternde Hände. Er zog eine Flasche aus seiner Rocktasche und warf sie Johnny zu. »Hier!« Johnny schaute fragend zu ihm auf. »Trinken Sie nur, Mac!« beharrte der Arzt. Und Johnny nahm dankbar einen tüchtigen Zug. Dann gab der Arzt die Flasche an Katie weiter. »Trinken sie auch, Sie sehen aus, als hätten Sie einen guten Schluck nötig.« Und Katie nahm ebenfalls einen tüchtigen Zug. Dann meldete sich der Polizist. »Wofür haltet ihr mich eigentlich? Für ein Waisenkind?« Als der Arzt die Flasche vom Polizisten zurückbekam, war sie beinahe leer. Er seufzte und leerte die Flasche ganz. Der Polizist seufzte ebenfalls und wandte sich wieder an Johnny. »Und nun noch etwas. Wo haben Sie die Pistole?« »Unter meinem Kopfkissen.« »Holen Sie sie! Ich muß sie auf den Polizeiposten bringen.« Katie hatte vollständig vergessen, was sie mit der Pistole gemacht hatte. Sie ging ins Schlafzimmer, um unter dem Kissen die Pistole hervorzuholen. Dann kam sie mit besorgter Miene wieder zurück. »Sie ist nicht mehr da!« 272
Der Polizist lachte. »Natürlich nicht. Sie haben sie doch hervorgeholt, um den Hund zu erschießen.« Erst nach längerem Nachdenken fiel es Katie wieder ein, daß sie die Pistole in den Waschzuber geworfen hatte. Sie fischte sie wieder heraus, und der Polizist rieb sie trocken und nahm die Kugeln heraus. Dann fragte er Johnny. »Haben Sie eine Bewilligung für diese Pistole, Mac?« »Nein.« »Das ist aber dick!« »Die Pistole gehört nicht mir.« »Wer hat sie Ihnen gegeben?« »Niemand.« Johnny wollte den Nachtwächter nicht in Verlegenheit bringen. »Wo haben Sie sie denn her?« »Ich habe sie gefunden. Ich habe sie im Rinnstein gefunden.« »Geölt und geladen, wie sie war?« »Sicher.« »Und das erzählen Sie überall?« »Jawohl.« »Gut, ich will nichts sagen, Mac. Aber passen Sie auf, daß Sie bei dieser Geschichte bleiben!« Der Chauffeur des Krankenautos rief aus dem Hausflur herauf, er sei nun wieder zurück vom Spital und habe den Verbrecher eingeliefert. Ob der Doktor bereit sei, wieder mitzukommen. »Spital?« fragte Katie verwundert. »Dann habe ich ihn also nicht getötet?« »Nicht ganz«, sagte der Arzt. »Wir wollen ihn wieder auf die Beine bringen, damit er selbst zum elektrischen Stuhl gehen kann.« »Es tut mir leid«, sagte Katie, »ich wollte ihn wirklich ganz totschießen.« »Ich habe ihm noch ein Geständnis abringen können, bevor er bewußtlos wurde«, sagte der Polizist. »Jenes kleine Mädchen aus diesem Block: er hat es getötet. Und er hat auch noch zwei andere Fälle auf dem Gewissen. Ich habe sein Geständnis, unterschrieben und 273
von Zeugen bestätigt.« Er klopfte sich befriedigt auf die Rocktasche. »Ich wäre nicht überrascht, wenn ich dafür befördert würde, wenn der Kommissar dies erfährt.« »Ich hoffe es«, sagte Katie traurig. »Ich hoffe, irgend jemand wird einen Nutzen daraus ziehen.« Als Francie am nächsten Morgen erwachte, stand Papa vor ihrem Bett und sagte ihr, sie habe einen bösen Traum gehabt. Und mit der Zeit erschien es Francie tatsächlich nur wie ein Traum. Es blieb nichts Häßliches in ihrem Gedächtnis. Der physische Schmerz hatte ihre Erlebnisfähigkeit herabgesetzt. Die schrecklichen Momente auf der Treppe waren kurz gewesen, höchstens drei Minuten, und das lähmende Entsetzen hatte wie ein Betäubungsmittel gewirkt. Die folgenden Ereignisse verwischten sich in ihrem Geist, und die Einspritzung milderte den ganzen Eindruck erheblich. Sogar das Verhör vor Gericht, wo sie als Zeugin figurieren mußte, kam ihr eher vor wie eine Szene in einem unwirklichen Theaterstück, in dem sie nur wenige Worte zu sagen hatte. Man hatte Katie schon vorher mitgeteilt, daß das Verhör eine rein formelle Angelegenheit sein werde. Francie mußte einfach in wenigen Worten ihre Geschichte erzählen, und Katie erzählte die ihrige. Es brauchte nicht mehr viel Worte. »Ich kam gerade von der Schule heim«, bezeugte Francie, »und als ich in den Hausflur kam und die Treppe hinaufgehen wollte, kam der Mann hervor und packte mich, bevor ich schreien konnte. Als er versuchte, mich von der Treppe wegzuschleppen, kam meine Mutter die Treppe herunter.« Und Katie sagte: »Ich kam die Treppe herunter und sah, wie der Mann meine Tochter wegschleppen wollte. Ich rannte sofort wieder in die Wohnung hinauf, um die Pistole zu holen. Dann rannte ich wieder die Treppe hinunter und schoß auf ihn, als er versuchte, sich wieder in den Keller zurückzuschleichen.« Francie fürchtete, man werde nun Mama festnehmen, weil sie einen Mann getötet hatte. Aber nein, die ganze Geschichte endete damit, daß der Richter Mamas Hand schüttelte und die ihrige ebenfalls. 274
Auch mit den Zeitungen ging es gut ab. Ein oberflächlicher Zeitungsreporter, der nachts wie gewohnt das Polizeibüro anrief, um die neuesten Meldungen zu erfahren, verwechselte den Namen der Nolans mit dem des Polizisten. Es erschien ein Bericht von einer halben Spalte, in dem es hieß, Frau O'Leary aus Williamsburg habe in ihrem Hausflur einen Vagabunden erschossen. Am nächsten Tag widmeten zwei der New Yorker Zeitungen der Angelegenheit eine Spalte, in der stand, daß Frau O'Leary aus Williamsburg in ihrem Hausflur von einem Vagabunden erschossen worden sei. Mit der Zeit verblaßte die Geschichte. Katie galt eine Zeitlang als die Heldin des Quartiers, aber bald geriet der eigentliche Sachverhalt der Geschichte in Vergessenheit. Man erinnerte sich nur noch daran, daß Katie Nolan einen Mann erschossen hatte. Und wenn man über sie sprach, hieß es, sie sei eine Frau, mit der nicht gut Kirschen essen sei. Sie könne einen Menschen erschießen wie nichts. Die Narbe von der Karbolätzung blieb auf Francies Bein, aber sie schrumpfte ein, bis sie nur noch die Größe eines Zehners hatte. Schließlich gewöhnte sie sich daran, und als sie älter wurde, beachtete sie den Fleck kaum noch. Was Johnny anbetraf, mußte er eine Buße von fünf Dollar bezahlen, weil er dem Sullivan-Gesetz zuwidergehandelt hatte, indem er eine Schußwaffe im Hause hatte, ohne die nötige Bewilligung zu besitzen. Die junge Frau des Nachtwächters – nebenbei bemerkt – ging dann schließlich doch noch mit einem Italiener durch, der ihrem Alter etwas näher war. Ein paar Tage nach dem Vorfall kam Polizeiwachtmeister McShane herüber, um nach Katie zu sehen. Er kam gerade dazu, wie sie einen Eimer voll Asche auf den Randstein hinausschleppte, und sein Herz wurde vom Mitleid gerührt. Er half ihr, den Eimer zu tragen. Katie dankte ihm und blickte dabei zu ihm auf. Sie hatte ihn erst einmal gesehen, seit er Francie auf jenem Mattie-Mahony-Ausflug gefragt hatte, ob sie ihre Mutter sei. Und das war an dem Tage gewesen, als er Johnny betrunken nach Hause brachte. Katie hatte gehört, daß seine Frau nun 275
in einem Sanatorium für Unheilbare sei. Das bedeutete, daß sie nicht mehr lange leben würde. Ob er wohl wieder heiraten wird? fragte sich Katie. Natürlich wird er das, beantwortete sie ihre eigene Frage. Er ist ein schöner, gutgewachsener Mann mit einer guten Stelle, und gewiß wird ihn irgendeine Frau ergattern. Er lüftete den Hut, als er mit Katie sprach. »Frau Nolan, die Burschen auf dem Polizeiposten und ich, wir möchten Ihnen gerne danken für Ihre Mitarbeit beim Fangen des Verbrechers.« »Gern geschehen«, sagte Katie konventionell. »Und um ihre Erkenntlichkeit zu zeigen, was haben die Burschen getan? Für Sie gesammelt!« Er hielt ihr einen Briefumschlag hin. »Geld?« fragte sie. »Ja, mit Verlaub!« »Dann behalten Sie es!« »Sicher können Sie es brauchen, weil Ihr Mann doch nicht regelmäßig arbeitet und die Kinder dies und jenes nötig haben.« »Darum brauchen Sie sich nicht zu kümmern, Wachtmeister McShane. Sie sehen doch, daß ich arbeite und daß wir von niemandem etwas brauchen.« »Wie sie wollen, Frau Nolan.« Er steckte den Briefumschlag wieder in seine Tasche und sah sie dabei die ganze Zeit fest an. Was für eine hübsche, gutgewachsene Frau, dachte er, mit ihrem zarten, weißen Gesicht und dem schwarzen Lockenhaar. Und sie hat Mut für sechs von ihrer Art. Und ich bin ein fünfundvierzigjähriger Mann, wanderten seine Gedanken weiter, und sie ist immer noch wie ein junges Mädchen. (Katie war einunddreißig, aber sie sah viel jünger aus.) Wir haben beide kein Glück gehabt, als es ans Heiraten ging. Das ist sicher. McShane wußte alles über Johnny, und er wußte, daß er nicht mehr lange leben würde, wenn er es so weitertrieb wie bis jetzt. Er hatte großes Mitleid mit Johnny. Und er hatte auch großes Mitleid mit Molly, seiner Frau. Er hätte keinem von beiden etwas zuleid tun mögen. Es war ihm auch nie in den Sinn gekommen, seiner kränklichen Frau untreu zu werden. Aber kann die Hoff276
nung in meinem Herzen ihnen etwas anhaben? fragte er sich. Natürlich werde ich warten müssen. Wie viele Jahre? Zwei? Fünf? Ach, ich habe nun schon so lange ohne Hoffnung auf das Glück gewartet. Nun werde ich gewiß auch noch ein wenig länger warten können. Er dankte ihr nochmals und verabschiedete sich formell. Während er ihre Hand zum Gruß in der seinen hielt, dachte er: Eines Tages wird sie meine Frau sein, wenn es Gott will und sie damit einverstanden ist. Katie konnte kaum wissen, was er dachte. Oder fühlte sie es? Vielleicht. Denn irgend etwas gab ihr ein, ihm noch nachzurufen: »Ich hoffe, Sie werden eines Tages so glücklich sein, wie Sie es verdienen, Wachtmeister McShane.«
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A
ls Francie Tante Sissy erzählen hörte, sie werde ein Kind haben, fragte sie sich, warum Sissy wohl nicht sage, sie werde ein Kind bekommen, wie es die andern Frauen taten. Sie überlegte sich, es müsse doch ein Grund vorhanden sein, weshalb Sissy ›haben‹ sagte, statt ›bekommen‹. Sissy hatte schon den dritten Mann. Und sie hatte zehn kleine Grabsteine auf dem St.-Johanns-Friedhof in Cypress Hills. Und auf jedem Stein war der Todestag derselbe wie der Geburtstag. Sissy war nun fünfunddreißig Jahre alt. Sie war untröstlich, daß sie immer noch keine Kinder hatte. Katie und Johnny unterhielten sich oft über Sissys Kummer, und Katie fürchtete, Sissy werde eines Tages ein Kind stehlen. Sissy hätte gern ein Kind adoptiert, aber ihr John wollte nichts davon wissen. »Ich will nicht den Bastard eines andern Mannes ernähren, versteht du?« war sein Argument. 277
»Aber hast du denn die Kinder nicht gern, Liebster?« fragte sie schmeichelnd. »Natürlich liebe ich sie, aber sie müssen meine eigenen sein und nicht die eines andern Taugenichts«, antwortete er, indem er sich unabsichtlich selbst beleidigte. Sonst war John wie Teig in Sissys Händen. Aber in dieser Sache wollte er sich nicht von ihr kneten lassen. Wenn Sie ein Kind haben sollten, dann mußte es das seine sein und nicht das eines andern. Und Sissy wußte, daß es ihm Ernst war damit. Sie respektierte seine Haltung sogar. Aber nichtsdestoweniger mußte sie ein lebendiges Kindchen haben. Sissy hatte zufällig erfahren, daß ein schönes sechzehnjähriges Mädchen in Maspeth durch einen verheirateten Mann ›in Schwierigkeiten geraten war‹. Ihre Eltern, kürzlich eingewanderte Sizilianer, hatten das Mädchen in einem dunklen Zimmer eingesperrt, damit die Nachbarn nichts von ihrer immer offensichtlicher werdenden Schande erfuhren. Ihr zorniger Vater hatte ihr eine Diät von Wasser und Brot verschrieben. Er hoffte, diese werde sie so schwächen, daß sie mitsamt dem Kinde im Wochenbett sterben werde. Aus Furcht, die weichherzige Mutter werde Lucia während seiner Abwesenheit doch etwas Eßbares zustecken, ließ er nie Geld im Hause, wenn er zur Arbeit ging. Er brachte jeden Abend selbst eine Tüte voll Eßwaren heim und überwachte sie sorgfältig, damit ja nichts beiseite geschmuggelt wurde für Lucia. Nachdem die Familie gegessen hatte, verabreichte er seiner Tochter ihre Tagesration: einen halben Laib Brot und einen Krug Wasser. Sissy war entsetzt, als sie von der grausamen Aushungerungsgeschichte erfuhr. Sie heckte einen Plan aus. Sie stellte sich vor, die Familie werde wohl froh sein, das Kind wegzugeben, sobald es geboren war. Sie beschloß, sich die Leute einmal anzusehen. Wenn sie den Eindruck hatte, sie seien normal und gesund, wollte sie das Angebot machen, das Kind nach der Geburt abzuholen. Die Mutter wollte sie nicht hereinlassen, als sie ihren Besuch abstattete. Am nächsten Tag machte Sissy nochmals einen Versuch, nachdem sie sich eine Brosche an den Mantel gesteckt hatte. Sie klopfte 278
abermals an die Tür. Als die Tür einen Spalt geöffnet wurde, zeigte sie auf ihr Abzeichen und verlangte mit autoritativer Stimme Eintritt. Die erschrockene Mutter glaubte, Sissy komme vom Einwanderungsamt und machte sofort auf. Die gute Frau konnte nicht lesen, sonst hätte sie sehen müssen, daß auf der Brosche ›Hühnerinspektor‹ stand. Sissy ergriff sofort das Regiment. Die werdende Mutter war sehr blaß und mager wegen der spärlichen Nahrung. Sissy drohte der verwirrten Mutter, daß sie sie verhaften lassen werde, wenn sie dem Mädchen nicht mehr zu essen gebe. Unter vielen Tränen und in sehr gebrochenem Englisch erzählte die Mutter, wie der Vater das Mädchen und das ungeborene Kindchen verhungern lassen wolle und daß sie nichts dagegen tun könne. Sissy unterhielt sich stundenlang mit dem Mädchen und der Mutter. Schließlich gab Sissy zu verstehen, daß sie ihnen das Kind sofort nach der Geburt abnehmen wolle. Als die Mutter endlich begriff, was Sissy meinte, bedeckte sie ihre Hände mit dankbaren Küssen. Von diesem Tag an wurde Sissy die angebetete Vertraute der sizilianischen Familie. Jeden Morgen, wenn John zur Arbeit gegangen war, räumte Sissy die Wohnung auf, kochte dann einen Topf voll Essen für Lucia und brachte es ihr. Sie ernährte Lucia gut nach halb irischen, halb österreichischen Rezepten. Sie glaubte, wenn das Kind vor seiner Geburt solche Nahrung bekam, würde es nachher weniger italienisch aussehen. Sissy sorgte auch sonst gut für Lucia. An sonnigen Tagen holte sie sie ab und ging mit ihr in den Park. In der Zeit dieser ungewöhnlichen familiären Beziehungen war Sissy eine ergebene Freundin und ein fröhlicher Kamerad für das Mädchen. Lucia verehrte Sissy, denn sie war der einzige Mensch, der das Mädchen in der Neuen Welt so freundlich behandelte. Die ganze Familie – außer dem Vater, der nichts von Sissys Existenz wußte – war ihr sehr anhänglich. Die Mutter und die übrigen Kinder hatten sich verschworen, den Vater nicht aufzuklären. Wenn sie des Vaters Schritt auf der Treppe hörten, wurde Lucia wieder in ihr dunkles Zimmer eingeschlossen. Die italienische Familie verstand fast kein Englisch, und Sissy verstand kein Italienisch. Doch im Laufe der Monate lernten sie gegensei279
tig voneinander und unterhielten sich immer besser. Sissy nannte ihren Namen nie, deshalb nannte man sie ›Liberty Statue‹ nach der großen Frau mit der Fackel, die das erste gewesen war, was die Sizilianer von Amerika gesehen hatten. Als die Sache im reinen war, ging Sissy zu ihren Freunden und Verwandten und erzählte, sie werde wieder ein Kind haben. Niemand machte deswegen viel Aufhebens, denn das war man von Sissy gewohnt. Sie fand eine zweifelhafte Hebamme und bezahlte sie schon im voraus für die Entbindung. Sie gab ihr einen Schein, auf dem Katie ihren und Johns Namen und Sissys Mädchennamen hatte schreiben müssen. Sie instruierte die Hebamme, sie müsse das Papier sofort nach der Geburt auf dem Gesundheitsamt abgeben. Die unwissende Hebamme, die nicht Italienisch konnte – Sissy hatte sich davon überzeugt, bevor sie sie verpflichtete –, nahm an, daß die Namen auf dem Papier die Namen der Eltern des Neugeborenen seien. Sissy wollte, daß der Geburtsschein des Kindes auf alle Fälle in Ordnung war. Sissy nahm es mit ihrer stellvertretenden Schwangerschaft so ernst, daß sie sogar in den ersten Wochen vorgab, es sei ihr am Morgen immer sehr übel. Als Lucia die Bewegungen des Kindes zum erstenmal spürte und es Sissy mitteilte, erzählte Sissy ihrem John, sie spüre nun die Kindesbewegungen. An dem Nachmittag, als Lucias Wehen begannen, ging Sissy nach Hause und legte sich ins Bett. Als John von der Arbeit zurückkam, sagte sie ihm, die Geburt des Kindes sei nun im Gange. Er schaute sie an. Sie sah so schmuck aus wie eine Ballettänzerin. Er wollte es ihr nicht glauben, aber sie bestand mit solcher Überzeugungskraft darauf, daß er schließlich ging, um ihre Mutter zu holen. Mary Rommely schaute Sissy ebenfalls an und sagte, es sei doch ganz unmöglich, daß sie ein Kind bekomme. Als einzige Antwort stieß Sissy einen ohrenbetäubenden, herzzerreißenden Schmerzensschrei aus und sagte, sie könne die Schmerzen fast nicht mehr aushalten. Ihre Mutter blickte sie gedankenvoll an. Sie wußte nicht, was Sissy mit diesem Simulieren bezweckte, aber sie wußte, daß es aussichtslos war, mit ihr zu zan280
ken. Wenn Sissy sagte, sie würde ein Kind bekommen, dann wußte sie schon, warum sie es sagte, und es gab daran nichts zu rütteln. John war immer noch ungläubig. »Aber schau doch, wie schlank sie ist! Es kann doch in ihrem Leib gar kein Kind sein.« »Vielleicht kommt es diesmal aus dem Kopf. Der Kopf ist dick genug, wie du siehst«, sagte Mary Rommely. »Ach, so etwas gibt es doch gar nicht«, sagte John. »Wie kannst du das wissen?« fragte Sissy. »Hat nicht die Heilige Jungfrau auch ein Kind bekommen ohne einen Mann? Und wenn sie das konnte, dann kann ich es sicher noch besser, wenn man bedenkt, daß ich noch verheiratet bin und einen Mann habe.« »Wer weiß«, sagte Mary. Sie wandte sich an den gequälten Mann und sagte mit sanfter Stimme: »Es gibt so viele Dinge, von denen die Männer nichts verstehen.« Sie überredete den von Zweifeln Geplagten, sich nicht weiter darum zu sorgen, sie wolle ihm ein gutes Abendessen kochen und nachher solle er ruhig schlafen gehen. Während der ganzen Nacht lag John neben Sissy im Bett. Er konnte nicht ruhig schlafen. Von Zeit zu Zeit stützte er sich auf den Ellbogen und starrte sie an. Hin und wieder fuhr er ihr mit der Hand über den schlanken Leib. Sissy hingegen schlief die ganze Nacht durch. Am nächsten Morgen, bevor er zur Arbeit ging, sagte ihm Sissy, er werde am Abend, wenn er heimkomme, Vater sein. »Ich gebe es auf«, stöhnte John und ging an sein Tagwerk. Als er fort war, eilte Sissy zu Lucia hinüber. Das Kind war eine Stunde nachdem der Vater das Haus verlassen hatte, geboren worden. Es war ein gesundes, schönes Mädchen. Sissy war überglücklich. Sie sagte, Lucia solle das Kind nun noch zehn Tage stillen, damit es einen guten Anfang habe, und dann werde sie es holen. Sie ging aus und kaufte ein Brathuhn und eine Pastete. Die Mutter briet das Huhn auf italienische Art. Sissy holte beim italienischen Spezereihändler eine Flasche Chianti auf Kredit, und sie hielten ein herrliches gemeinsames Festessen. Alle waren glücklich. Lucias Leib war wieder wie zuvor. Er war nicht länger Ausdruck ihrer Schande. Al281
les war, wie es vorher gewesen war – oder würde es sein, sobald Sissy das Baby wegnahm. Sissy wusch das Kindchen dreimal am Tag und zog es jedesmal frisch an. Die Windeln wurden sehr oft gewechselt, auch dann, wenn es nicht nötig war. Sie wusch und pflegte auch Lucia und bürstete ihr Haar, bis es wie Seide glänzte. Sie konnte gar nicht genug tun für Lucia und das Baby. Bevor der Vater nach Hause kam, mußte Sissy sich wieder aus dem Staub machen. Als der Vater heimgekommen war, ging er ins dunkle Schlafzimmer, um Lucia ihre Tagesration zu verabreichen. Er zündete die Gaslampe an und fand eine strahlende Lucia mit einem runden, gesunden Kind, das an ihrer Seite schlief. Er war entsetzt. All dies war möglich gewesen mit Brot und Wasser! Angst überkam ihn. Sicher war dies ein Wunder! Gewiß hatte sich die Mutter Maria für die junge Mutter ins Mittel gelegt. Er hatte schon in Italien von solchen Wundern gehört. Vielleicht würde sie ihn nun dafür bestrafen, daß er sein eigenes Fleisch und Blut so unmenschlich mißhandelt hatte. Von Gewissensbissen geplagt, brachte er ihr einen enormen Teller voll Spaghetti. Aber Lucia lehnte ihn ab und sagte, sie sei nun so an Brot und Wasser gewöhnt. Die Mutter nahm für Lucia Partei und sagte zum Vater, er solle nur sehen, was für ein wundervolles Kind sie mit Brot und Wasser zustande gebracht habe. Der Vater gewann mehr und mehr die Überzeugung, daß es sich hier um ein Wunder handle. Er gab sich alle erdenkliche Mühe, mit Lucia nett zu sein; aber die Familie zahlte es ihm nun heim. Lucia wollte von ihm keine Freundlichkeit akzeptieren. Als John an diesem Abend nach Hause kam, lag Sissy friedlich im Bett. Er fragte sie scherzend: »Und? Hast du nun heute das Kind bekommen?« »Ja«, sagte Sissy mit schwacher Stimme. »Ach, geh, erzähl das einem andern!« »Es kam eine Stunde nachdem du weg warst auf die Welt.« »Das glaube ich nicht.« »Ich schwöre es!« Er blickte sich im Zimmer um. »Wo ist es denn?« 282
»In Coney Island im Brutkasten!« »Im … wo?!« »Weißt du, es war erst sieben Monate alt, eine Frühgeburt. Es war nur drei Pfund schwer. Deshalb hat man es kaum gesehen.« »Ach, das sagst du nur so.« »Sobald ich wieder stark genug bin, will ich mit dir nach Coney Island gehen und dir den Glaskasten zeigen, in dem es liegt.« »Was hast du eigentlich mit mir im Sinn? Willst du mich verrückt machen?« »Ich werde es in zehn Tagen mit nach Hause nehmen dürfen, sobald es Fingernägel hat.« Der letzte Satz war ihr gerade noch rechtzeitig eingefallen. »Was ist denn nur in dich gefahren, Sissy? Du weißt doch, zum Teufel, so gut wie ich, daß du heute morgen kein Kind bekommen hast.« »Aber ich habe ein Kind bekommen. Es war drei Pfund schwer. Man mußte es in den Brutkasten tun, damit es nicht stirbt. Aber in zehn Tagen darf ich es wieder holen.« »Ich gebe es auf! Ich gebe es auf!« schrie John, ging hinaus und betrank sich. Zehn Tage später brachte Sissy das Kind nach Hause. Es war groß und kräftig und wog beinahe elf Pfund. John versuchte zum letztenmal, sich zu behaupten. »Es scheint aber mächtig groß für ein zehn Tage altes Kind.« »Du bist eben selbst auch ein mächtig großer Mann, Liebster«, flüsterte sie. Sie sah, wie sein Gesicht selbstzufrieden aufleuchtete. Dann legte sie den Arm um ihn und flüsterte ihm ins Ohr: »Es geht mir nun wieder gut … falls du bei mir schlafen willst.« »Weißt du«, sagte er nachher, »ich glaube wirklich, es sieht mir ein wenig ähnlich.« »Ganz besonders um die Ohren herum«, flüsterte Sissy schlaftrunken. Ein paar Monate später reiste die italienische Familie wieder nach Sizilien. Die neue Welt hatte ihnen nichts als Kummer, Armut und Schande gebracht, und sie kehrten gerne wieder in die alte Heimat zurück. Sissy hörte nie mehr etwas von ihnen. 283
Jedermann wußte natürlich, daß das Kind nicht Sissy gehörte, daß sie es unmöglich geboren haben konnte. Aber sie hielt an ihrer Geschichte fest, und da niemand etwas dagegen sagen konnte, akzeptierten sie die Leute schließlich. Man wußte ja, daß manchmal wirklich merkwürdige Dinge passierten in dieser Welt. Sie taufte das Kind Sarah, aber nach einer Weile wurde es von jedermann Klein Sissy genannt. Katie war die einzige, der Sissy den wahren Sachverhalt anvertraute. Sie mußte sie aufklären, damit ihr Katie die Namen für den Geburtsschein schreiben konnte. Und Francie wußte auch um das Geheimnis. Sie hatte oft in der Nacht vom Bett aus zugehört, wie Mama und Sissy in der Küche von dem Kind sprachen. Francie schwor sich, Sissys Geheimnis nie zu verraten. Und Johnny wußte es auch. Katie erzählte es ihm einmal, als sie beide glaubten, Francie schlafe schon tief. Papa nahm den Standpunkt von Sissys Mann ein. »Das ist aber eine Ungerechtigkeit dem Mann gegenüber. Das sollte man ihm sagen. Ich werde es ihm erzählen.« »Nein, tu das um Gottes Willen nicht! John ist ja so glücklich. Laß ihm doch sein Glück!« »Glücklich, wenn man ihm den Bastard eines andern Mannes anhängt? Ich sehe nicht ein, wo da das Glück sein soll!« »Er ist doch bis über die Ohren in Sissy verliebt. Er hat immer Angst, sie werde ihn eines Tages verlassen, weil sie von ihm keine lebenden Kinder bekommt. Und das wäre sein Tod. Du kennst ja Sissy. Sie ist von einem Liebhaber zum andern, von einem Mann zum andern gegangen – und immer hätte sie gerne ein Kind gehabt. Sie war schon drauf und dran, auch diesen Mann zu verlassen, als sie zufällig von der italienischen Familie hörte. Sissy wird nun ein ganz anderer Mensch werden, das werdet ihr alle sehen. Sie wird nun endlich zur Ruhe kommen und wird ihrem John eine viel bessere Frau sein, als er es verdient. Wer ist er überhaupt, dieser John?« unterbrach sie sich selbst. »Sie wird eine gute Mutter sein. Das Kind wird für sie die ganze Welt bedeuten, und sie braucht nicht mehr andern Männern nach284
zulaufen. Also misch dich nicht drein, Johnny, es wird schon recht werden!« »Ihr Rommely-Frauen seid viel zu schlau für uns Männer«, sagte Johnny bewundernd. Dann kam ihm plötzlich ein Gedanke. »Hör mal, Katie, aber mir hast du es nicht auch so gemacht, gelt?« Als Antwort holte Katie die Kinder aus ihren Betten. Sie stellte sie vor ihm auf in ihren langen, weißen Nachthemden. »Schau sie dir einmal an!« kommandierte sie. Johnny musterte seinen Sohn. Es war, als schaue er in einen Zauberspiegel und erblicke darin sein genaues Ebenbild, nur in verkleinertem Maßstab. Dann besah er sich Francie. Sie war wie aus Katies Gesicht geschnitten, ausgenommen die Augen. Und Francies Gesicht war feierlicher und ernster. Die Augen hatte sie von Johnny. Impulsiv griff Francie nach einer Platte, hielt sie, wie Johnny seinen Hut beim Singen, und stimmte einen seiner Schlager an, begleitete ihn mit seiner Mimik und seinen Gesten. »Ich weiß, ich weiß«, flüsterte Papa. Er gab jedem einen liebevollen Klaps auf das Hinterteil und hieß sie wieder zu Bett gehen. Nachdem sie gegangen waren, zog Katie Johnnys Kopf zu sich herab und flüsterte ihm etwas ins Ohr. »Nein!« sagte er höchst überrascht. »Doch, Johnny«, sagte sie leise. Er nahm seinen Hut vom Nagel. »Wohin gehst du, Johnny?« »Ich muß noch ausgehen.« »Johnny, bitte, komm nicht …«, sie schaute zur Schlafzimmertür. »Nein, ich verspreche es dir«, sagte Johnny und küßte sie sanft. Francie wachte mitten in der Nacht auf und wußte nicht recht, warum. Aha! Papa war noch nicht nach Hause gekommen. Das war der Grund. Sie schlief nie ganz tief, bevor sie wußte, daß Papa auch daheim war. Sie lag wach im Bett und hing ihren Gedanken nach. Sie dachte zuerst an Sissys Kindchen. Sie machte sich Gedanken über die Geburt, und von diesen Gedanken kam sie zum Gegenstück der Geburt, zum Tod. Sie wehrte sich gegen den sich aufdrängenden Gedanken, daß alle Menschen nur geboren wurden, um einmal zu sterben. Dann hörte sie plötzlich Papa leise singend die Treppe heraufkommen. 285
Es kam ihr merkwürdig vor, daß er nun die letzte Strophe von ›Molly Malone‹ sang. Das tat er sonst nie. Nie! Warum …? Dann starb sie am Fieber und kehrt' niemals wieder. Und also verlor ich schön Molly Malone … Francie rührte sich nicht. Es war die Regel, daß, wenn Papa sehr spät nach Hause kam, Mama die Tür öffnen ging. Mama wollte nicht, daß die Kinder mit ihrem Schlaf zu kurz kamen. Nun war das Lied schon beinahe zu Ende gesungen. Und Mama hatte offenbar nichts gehört … sie stand nicht auf. Francie sprang aus dem Bett. Das Lied war zu Ende, bevor sie die Tür erreichen konnte. Als sie aufmachte, stand Papa ganz still da und hielt den Hut in den Händen. Er starrte gerade vor sich hin und über ihren Kopf hinweg. »Du hast gewonnen, Papa«, sagte Francie. »Wirklich?« fragte er. Er ging an ihr vorbei in die Küche, ohne sie anzusehen. »Du hast das Lied zu Ende gesungen.« »Ja, ich glaube auch, ich habe es zu Ende gesungen.« Er ließ sich in den Stuhl beim Küchenfenster fallen. »Papa …« »Lösch das Licht aus und geh wieder ins Bett!« Sie ließen immer ein schwaches Licht brennen, bis Papa heimkam. Francie löschte das Licht aus. »Papa, bist du … bist du krank?« »Nein, ich bin nicht betrunken«, sagte er klar und deutlich aus der Dunkelheit heraus. Und Francie wußte, daß er die Wahrheit sprach. Sie ging ins Bett und vergrub das Gesicht im Kopfkissen. Sie wußte nicht recht, warum sie so traurig war, aber sie mußte bitterlich weinen.
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W
ieder einmal stand Weihnachten vor der Tür. Francie hatte eben ihren vierzehnten Geburtstag gehabt, und Neeley wartete, wie er sagte, jeden Augenblick darauf, daß er dreizehn werde. Es sah aus, als würde es diesmal kein schönes Weihnachtsfest werden. Irgend etwas war mit Johnny nicht in Ordnung. Nicht daß er getrunken hätte! Es hatte ja immer wieder Zeiten gegeben, da Johnny nicht trank, und dann hatte er immer gearbeitet. Aber diesmal trank er nicht und arbeitete auch nicht. Das Merkwürdige an Johnny war, daß er nicht trank und trotzdem so handelte, als sei er betrunken. Er hatte schon seit zwei Wochen mit niemandem mehr gesprochen. Seit jener Nacht, da er nüchtern nach Hause gekommen war und die letzte Strophe von ›Molly Malone‹ zu Ende sang, hatte er kein Wort mehr zu Francie gesprochen. Und wenn man es sich genau überlegte, hatte er auch seit jener Nacht nie mehr einen Ton gesungen. Er kam und ging, ohne ein Wort zu sprechen. Er blieb immer bis spät in die Nacht von zu Hause weg und kam dann doch nüchtern nach Hause, und niemand wußte, wo er seine Zeit verbrachte. Seine Hände zitterten stark. Wenn er aß, konnte er die Gabel kaum halten. Und er sah auch mit einemmal sehr alt aus. Gestern war er nach Hause gekommen, als sie beim Abendessen waren. Er schaute sie an, als wollte er etwas sagen. Statt zu sprechen, schloß er aber die Augen für einen Moment und ging dann ins Schlafzimmer. Er hatte gar keine regelmäßige Tageseinteilung. Er kam und ging zu jeder Tages- oder Nachtzeit. Wenn er zu Hause war, lag er meistens vollständig angezogen und mit geschlossenen Augen auf dem Bett. Katie ging bleich und still ihrer Arbeit nach. Sie sah aus, als trage sie die ganze Traurigkeit der Welt in sich herum. Ihr Gesicht war 287
schmal geworden, und die Wangen waren eingesunken. Nur ihr Körper war ein wenig voller. In der letzten Woche vor Weihnachten hatte sie noch eine Extraarbeit angenommen. Sie stand früher auf und erledigte alles schneller, so daß sie mit ihren Reinigungsarbeiten schon am frühen Nachmittag fertig war. Dann eilte sie zu Gorlings Warenhaus am polnischen Ende der Grand Street, wo sie von vier bis sieben Kaffee und gestrichene Brötchen servieren mußte. Die Verkäuferinnen durften infolge des Arbeitsandranges vor Weihnachten nicht mehr zum Essen nach Hause gehen. Ihre Familie hatte die fünfundsiebzig Cent, die sie dabei verdiente, bitter nötig. Es war schon bald sieben Uhr. Neeley hatte seine Zeitungsroute erledigt, und Francie war eben von der Bibliothek zurückgekehrt. Die Wohnung war noch ungeheizt. Sie mußten warten, bis Mama nach Hause kam und ein wenig Geld mitbrachte, damit sie ein Bündel Holz kaufen konnten. Die Kinder behielten ihre Mäntel und Zipfelmützen an, da es in der Küche sehr kalt war. Francie sah, daß Mama Wäsche auf der Leine hatte, und sie zog sie herein. Die Kleidungsstücke waren zu grotesken Formen erstarrt und wollten sich nicht durch das Küchenfenster hereinziehen lassen. »Wart, laß mich sie hereinholen!« sagte Neeley. Er meinte ein gefrorenes paar Unterhosen. Die langen Beine waren in gespreizter Stellung hart gefroren, und Neeley mühte sich umsonst mit den Hosen ab. »Ich will dem verdammten Ding die Beine brechen«, sagte Francie. Sie hieb wütend drauflos, und die Hosen krachten und brachen zusammen. Dann riß sie das Kleidungsstück mit zorniger Bewegung zum Fenster herein. In diesem Moment sah sie genau aus wie Katie. »Francie!« »Was denn?« »Du hast geflucht!« »Na und?« »Gott hat dich gehört.« »Ach, dummes Zeug!« 288
»Er sieht und hört alles.« »Ach, Neeley, glaubst du, er hat nichts Gescheiteres zu tun, als ausgerechnet in diese alte kleine Küche hineinzuschauen?« »Ich wette, daß er das getan hat.« »Ach, glaube doch das nicht, Neeley. Er hat soviel damit zu tun, die kleinen Spatzen zu bewachen, daß sie nicht vom Dach fallen, und sich darum zu sorgen, daß im Frühling wieder alle Knospen aufgehen! Er hat keine Zeit für uns.« »Red doch nicht so, Francie!« »Doch, jetzt will ich einmal so reden. Wenn er nämlich herumginge und bei allen Leuten hineinschaute, wie du behauptest, dann würde er sehen, wie kalt es bei uns ist und daß wir nichts zu essen im Haus haben. Er würde sehen, daß Mama nicht stark genug ist, um soviel zu arbeiten. Und er würde sehen, wie Papa ist, und er würde etwas tun, damit es anders wird. Jawohl, das würde er!« »Francie …« Der Junge blickte sich ängstlich in der Küche um. Francie sah, daß es ihm ungemütlich wurde. »Schon recht, Neeley«, sagte sie beruhigend. Dann sprachen sie von etwas anderem, bis Katie nach Hause kam. Katie kam in großer Eile. Sie trug ein Bündel Holzscheite unter dem Arm, die sie für zwei Cent gekauft hatte, und brachte außerdem eine Büchse Kondensmilch und drei Bananen in einem Sack mit. Sie stopfte Papier und Holz in den Ofen und hatte im Handumdrehen ein schönes Feuer gemacht. »Nun, Kinder, ich denke, wir werden heute abend wieder Hafermus essen.« – »Schon wieder?« stöhnte Francie. »Es wird nicht so schlimm sein«, sagte Mama. »Wir haben ja Kondensmilch, und dann können wir obendrauf noch Bananenscheibchen streuen.« »Mama«, bat Neeley, »mische mir meine Kondensmilch nicht mit dem Hafermus, laß sie obendrauf!« »Zerschneide doch die Bananen vorher und koche sie mit dem Hafermus!« schlug Francie vor. »Ich möchte meine Banane lieber ganz essen«, protestierte Neeley. 289
Mama machte dem Argumentieren ein Ende. »Ich gebe jedem die ganze Banane, und dann könnt ihr sie essen, wie ihr wollt.« Als das Hafermus fertig war, füllte Katie damit zwei Suppenteller, stellte sie auf den Tisch, machte zwei Löcher in die Kondensmilchbüchse und legte neben jeden Teller eine Banane. »Mama, willst du denn nicht auch essen?« fragte Neeley. »Später, jetzt bin ich nicht hungrig.« Katie seufzte. Francie fragte: »Mama, wenn du nicht essen willst, könntest du vielleicht ein wenig Klavier spielen, während wir essen, dann ist es für uns wie in einem Restaurant.« »Es ist kalt im vorderen Zimmer.« »Zünd doch den Petroleumofen an!« riefen die Kinder einstimmig. »Also gut.« Katie nahm den tragbaren Petroleumofen aus dem Schrank. »Nur kann ich nicht so gut spielen.« »Du spielst großartig, Mama«, rühmte Francie aufrichtig. Katie freute sich über dieses Lob. Sie kniete nieder, um den Petroleumofen anzuzünden. »Was soll ich denn spielen?« »Kommt, kleine Blätter!« rief Francie. »Willkommen, holder Frühling«, schrie Neeley. »Ich will zuerst ›Kommt, kleine Blätter!‹ spielen, weil ich Francie kein Geburtstagsgeschenk geben konnte.« Sie ging in das kalte vordere Zimmer. »Ich glaube, ich zerschneide meine Banane und streue die Scheibchen über mein Hafermus. Ich schneide sie ganz dünn, damit es einen ganzen Haufen gibt«, sagte Francie. »Und ich esse meine ganz, und zwar ganz langsam, damit es möglichst lange dauert«, beschloß Neeley. Mama spielte unterdessen Francies Lieblingslied. Sie sang zu ihrer Klavierbegleitung: Kommt, kleine Blätter, sprach der Wind, kommt und tanzt auf dem Gras geschwind, zieht die rotgoldenen Röckchen an …! 290
»Ach, so ein Kinderlied!« unterbrach Neeley. Francie hörte auf zu singen. Als Katie Francies Lied zu Ende gespielt hatte, begann sie mit Rubinsteins ›Melodie in F-Dur‹. Auch dieses Lied hatten die Kinder bei Herrn Morton gelernt. Nur hatte er es ›Willkommen, holder Frühling‹ genannt. Diesmal begann Neeley zu singen. Seine Stimme überschlug sich plötzlich bei einem hohen Ton und verfiel vom Tenor in den Baß. Francie kicherte, und bald mußte auch Neeley so sehr lachen, daß er nicht mehr weitersingen konnte. »Weißt du, was Mama jetzt sagen würde, wenn sie bei uns säße?« fragte Francie. »Nein, was denn?« »Sie würde sagen: ›Der Frühling wird da sein, bevor ihr es wißt.‹« Sie lachten. »Es ist bald Weihnachten«, bemerkte Neeley nach einer Weile. »Weißt du noch, wie wir, als wir noch Kinder waren, die Luft beschnupperten, um zu spüren, ob Weihnachten bald kommt?« fragte Francie, die vor kurzem ihr dreizehntes Lebensjahr abgeschlossen hatte. »Ob wir auch jetzt etwas riechen?« sagte Neeley und stürmte impulsiv zum Fenster. Er öffnete es ein wenig und steckte die Nase durch die Spalte. »Jawohl!« »Wie riecht es?« »Ich rieche Schnee. Weißt du noch, wie wir als Kinder immer zum Himmel hinaufschauten und riefen: Federbub, Federbub, schüttle die Federn vom Himmel herab!« »Und wenn es dann schneite, dann glaubten wir wirklich, es sei dort oben ein Federbub. Laß mich auch riechen!« sagte Francie plötzlich. »Ja, ich rieche es auch, es duftet wie Orangenschalen, vermischt mit Weihnachtsbäumen.« Sie schlossen das Fenster wieder. »Ich habe dich nicht verraten, damals, als du die Puppe bekamst, weil du sagtest, du heißest Mary.« 291
»Nein«, sagte Francie dankbar. »Und ich habe dich auch nicht verpetzt, als du einmal aus Kaffeesatz eine Zigarette machtest und das Papier Feuer fing, als du sie rauchtest. Weißt du noch, wie die brennende Zigarette auf dein Hemd fiel und ein großes Loch herausbrannte? Ich habe dir auch geholfen, es zu verbergen.« »Weißt du was, Mama hat dieses Hemd einmal gefunden und einen Flicken daraufgenäht, und sie hat mich gar nicht darüber ausgefragt.« »Mama ist merkwürdig«, sagte Francie. Sie dachten eine Weile still über die unerforschliche Art ihrer Mutter nach. Das Feuer war schon am Ausgehen, aber die Küche war immer noch schön warm. Neeley setzte sich auf das vom Feuer entferntere Ende des Ofens, wo es nicht allzu heiß war. Mama hatte ihn schon oft gewarnt, er werde Frostbeulen bekommen, wenn er zuviel auf dem heißen Ofen sitze. Aber Neeley machte sich nichts daraus. Die Kinder waren beinahe glücklich. Die Küche war warm, und sie hatten etwas zu essen gehabt, und Mamas Klavierspiel gab ihnen ein Gefühl der Geborgenheit. Sie frischten Erinnerungen auf an frühere Weihnachtsfeste, oder, wie Francie es nannte, sie sprachen von den alten Zeiten. Plötzlich wurden sie durch ein lautes Klopfen an der Tür unterbrochen. »Es ist Papa«, sagte Francie. »Nein, Papa singt doch immer, wenn er die Treppe heraufkommt, damit wir wissen, daß er es ist.« »Aber Neeley, Papa hat doch nie mehr gesungen seit der Nacht …« »Laßt mich herein!« Es war Johnnys Stimme, und er hämmerte gegen die Tür, als wollte er sie zerbrechen. Mama kam aus dem vorderen Zimmer herbeigeeilt. Ihre Augen sahen in ihrem weißen Gesicht sehr dunkel aus. Sie öffnete die Tür. Johnny fiel beinahe in die Wohnung herein. Sie starrten ihn entsetzt an. Noch nie hatte Papa so ausgesehen. Er war immer so elegant gewesen, und nun war sein schwarzer Anzug schmutzig, als hätte er im Rinnstein gelegen, und die runde Melone war eingedrückt. Johnny hatte weder einen Mantel noch Handschuhe an. Seine vor Kälte roten Hände zitterten. Er stieß gegen den Tisch. »Nein, ich bin nicht betrunken«, sagte er. 292
»Niemand hat etwas gesagt …«, begann Katie. »Jetzt habe ich es endlich hinter mir. Ich hasse es, ich hasse es!« Er schlug mit der Faust auf den Tisch. Sie wußten, daß er die Wahrheit sprach. »Ich habe seit jener Nacht nie mehr einen Tropfen angerührt …«; er brach plötzlich ab. »Aber niemand wollte es mir glauben. Niemand …« »Wart nur, Johnny!« sagte Katie beruhigend. »Was hast du denn, Papa?« fragte Francie besorgt. »Pst! Laß Papa in Ruhe, Francie!« sagte Mama. Dann sprach sie wieder zu ihm: »Da ist noch ein wenig Kaffee von heute morgen, Johnny. Er ist schön heiß, und wir haben heute ein wenig Kondensmilch. Ich wollte warten, bis du nach Hause kommst, damit wir zusammen essen können.« Sie schenkte ihm Kaffee ein. »Wir haben schon gegessen«, platzte Neeley heraus. »Still!« flüsterte ihm Mama zu. Sie goß ein wenig Milch in den Kaffee und setzte sich Johnny gegenüber an den Tisch. »Trink ihn, Johnny, solange er noch heiß ist!« Johnny starrte auf die Tasse. Plötzlich stieß er sie von sich, und Katie hielt den Atem an, als sie auf dem Boden zerschellte. Johnny vergrub den Kopf in den verschränkten Armen und schluchzte herzzerbrechend. Katie stand auf und ging zu ihm. »Was hast du denn, Johnny, was hast du denn?« fragte sie sanft. Endlich brachte er es unter Schluchzen hervor: »Sie haben mich heute aus der Gewerkschaft hinausgeworfen. Sie sagten, ich sei doch ein Nichtsnutz und ein Trunkenbold. Sie sagten, sie würden mir nun mein Leben lang keine Arbeit mehr geben.« Er unterdrückte sein Schluchzen für einen Augenblick und sagte mit hoffnungsloser Stimme: »Mein Leben lang.« Dann brach er wieder in bittere Tränen aus. »Sie wollten mir auch das Gewerkschaftsabzeichen wegnehmen.« Er legte die Hand auf den winzigen grün-weißen Knopf, den er in seinem Rockaufschlag trug. Francie schluckte bei dem Gedanken daran, wie oft Papa gesagt hatte, er sei stolz auf dieses Abzeichen, er trage es wie einen Schmuck, wie eine Rose. Er war so stolz darauf, 293
der Gewerkschaft anzugehören. »Aber ich wollte es nicht hergeben«, schluchzte Johnny. »Das ist alles nicht so schlimm, Johnny. Nun schläfst du dich einmal gut aus und erholst dich ein wenig, und nachher sind sie bestimmt doch froh, wenn sie dich wieder haben können. Du bist doch ein guter Kellner und der beste Sänger weit und breit.« »Ich bin eben nichts mehr wert. Ich kann nicht mehr singen, Katie. Sie lachen mich jetzt aus, wenn ich singe. Die letzten paarmal, als sie mich engagierten, taten sie es nur, um die Leute zum Lachen zu bringen. Es ist nun soweit. Es ist aus mit mir.« Er schluchzte wild. Er schluchzte so heftig, als könne er überhaupt nie mehr aufhören. Francie wollte ins Schlafzimmer laufen, den Kopf in ihr Kissen vergraben, um nichts mehr zu hören. Sie näherte sich langsam der Tür. Aber Mama erriet ihre Absicht. »Bleib hier!« befahl sie streng. Dann sprach sie wieder mit Papa. »Komm, Johnny! Ruh dich ein wenig aus, und dann geht's dir schon wieder besser. Der Petroleumofen ist angezündet, und ich werde ihn ins Schlafzimmer tragen, damit du es schön warm hast. Ich werde neben dir sitzen bleiben, bis du eingeschlafen bist.« Sie legte ihre Arme um ihn. Aber er löste sich sanft aus ihrer Umarmung und ging allein ins Schlafzimmer. Sein Schluchzen war ein bißchen weniger heftig. Katie wandte sich an die Kinder. »Ich werde jetzt eine Weile bei Papa bleiben. Plaudert nur weiter miteinander oder tut, was ihr vorher getan habt!« Die Kinder starrten sie traurig an. »Warum schaut ihr mich denn so an?« sagte sie mit gebrochener Stimme. »Es ist doch alles in Ordnung.« Sie blickten zur Seite. Und Katie ging ins vordere Zimmer, um den Petroleumofen zu holen. Francie und Neeley blieben eine lange Weile stumm und wagten es nicht, einander anzusehen. Schließlich sagte Neeley: »Möchtest du weiter von den alten Zeiten reden?« »Nein«, sagte Francie.
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D
rei Tage später starb Johnny. An jenem Abend war er zu Bett gegangen, und Katie hatte neben ihm gesessen, bis er eingeschlafen war. Dann war sie zu Francie hinübergegangen, um ihn nicht zu stören. Während der Nacht war Johnny aufgestanden, hatte sich angezogen und war ganz leise fortgegangen. In der nächsten Nacht kam er nicht nach Hause. Am folgenden Tag begannen sie, ihn zu suchen. Sie fragten überall nach, aber Johnny war schon seit einer Woche nie mehr an seinen alten Stammplätzen gewesen. Am Morgen des dritten Tages kam McShane, um Katie in das benachbarte katholische Spital zu führen. Unterwegs berichtete er ihr so schonend wie nur möglich von Johnny. Johnny war tags zuvor bewußtlos unter einer Haustür gefunden worden. Er hatte den Kellnerfrack direkt über dem Unterhemd getragen, und der Polizist, der ihn fand, entdeckte an seinem Hals das Medaillon des heiligen Anton und ließ deshalb das Krankenauto des katholischen Spitals kommen. Näher war er nicht zu identifizieren. Später hatte der Polizist auf der Polizeistation seinen Rapport eingetragen und den bewußtlosen Mann so gut wie möglich beschrieben. McShane hatte bei seiner täglichen Kontrolle die Beschreibung gelesen, und sein sechster Sinn hatte ihm eingegeben, wer dieser Mann sein könnte. Er ging in das Spital hinüber und fand, daß es wirklich Johnny Nolan war. Johnny lebte noch, als Katie in das Spital kam. Er hatte eine Lungenentzündung, und es bestand keine Hoffnung, daß er sie überstehen würde. Es konnte sich nur noch um wenige Stunden handeln. Der Todeskampf hatte schon eingesetzt. Sie führten Katie an sein Bett. In dem langen, korridorartigen Krankenzimmer standen fünfzig Betten 295
nebeneinander. Katie dankte McShane und sagte ihm adieu. Er zog sich sofort zurück, da er spürte, daß Katie noch einmal mit Johnny allein sein wollte. Man hatte um Johnnys Bett eine spanische Wand aufgestellt, wie man es bei allen Sterbenden tat. Man brachte Katie einen Stuhl, und sie saß den ganzen Tag da und schaute Johnny an. Er atmete schwer, und auf seinen Wangen waren noch Spuren von eingetrockneten Tränen. Katie blieb dort, bis er zu atmen aufhörte. Er öffnete die Augen nicht ein einziges Mal. Er sagte auch kein einziges Wort mehr.
Als Katie wieder nach Hause kam, war es Nacht geworden. Sie beschloß, den Kindern bis zum nächsten Morgen noch nichts zu sagen. Sie sollen noch einmal gut schlafen, dachte sie, noch einmal eine Nacht ohne Kummer sein. Sie sagte ihnen nur, Papa sei schwer krank im Spital. Dann schwieg sie. Und der Ausdruck ihres Gesichtes verbot den Kindern jegliches Fragen. Francie erwachte in der Morgendämmerung. Sie sah Mama vor Neeleys Bett sitzen und auf sein Gesicht hinabschauen. Sie hatte dunkle Ringe um die Augen und sah aus, als hätte sie die ganze Nacht so dagesessen. Als sie sah, daß Francie wach war, sagte sie ihr, sie solle nun gleich aufstehen und sich anziehen. Sie schüttelte Neeley sanft, um ihn ebenfalls zu wecken, und befahl ihm dasselbe. Dann ging sie in die Küche. Das Schlafzimmer war grau und kalt, und Francie fröstelte beim Anziehen. Sie wartete, bis Neeley auch soweit war, weil sie sich fürchtete, allein zu Mama in die Küche zu gehen. Katie saß am Fenster. Sie stellten sich wartend vor ihr auf. »Vater ist tot«, sagte sie. Francie stand wie gelähmt. Sie empfand weder Überraschung noch Trauer. Sie empfand überhaupt nichts mehr. Was Mama eben gesagt hatte, schien ihr vollkommen ohne Sinn und Bedeutung. »Und ihr dürft ihm nicht nachweinen«, befahl Mama, ihre nächsten Worte hat296
ten ebensowenig Sinn. »Er hat es nun überstanden, und vielleicht hat er mehr Glück gehabt als wir.«
Ein Krankenwärter des Spitals wurde von einer Bestattungsfirma dafür bezahlt, daß er ihr immer sofort nach Eintritt eines Todesfalles Mitteilung machte. Dadurch hatte diese Firma gegenüber ihren Konkurrenzfirmen den Vorteil, immer zuerst informiert zu sein. Der unternehmungslustige Chef stattete Katie schon am frühen Morgen seinen Besuch ab. »Frau Nolan«, sagte er und blickte immer wieder auf den Zettel, auf den der Krankenwärter ihren Namen und ihre Adresse geschrieben hatte, »ich möchte Ihnen zu Ihrem großen Verlust mein herzlichstes Beileid ausdrücken. Und bedenken Sie eines: Was nun über Sie gekommen ist, wird einmal über uns alle kommen.« »Was wollen Sie?« fragte Katie ohne Umschweife. »Ich möchte Ihr Freund sein.« Dann beeilte er sich, weitere Erklärungen abzugeben, bevor sie ihn falsch verstehen konnte. »Es gibt doch allerlei Umstände, verbunden mit … nun … mit den sterblichen Überresten, ich meine …«, wieder mußte er schnell auf den Zettel in seiner Hand blicken, »ich meine Herrn Nolan. Ich möchte Sie bitten, mich als Ihren Freund zu betrachten, der Trost bringt in einer Zeit, in der … nun … ich möchte sagen … überlassen Sie doch alles meiner Obhut!« Nun verstand Katie. »Wieviel verrechnen Sie für eine einfache Bestattung?« »Nun, denken wir nicht gleich an die Kosten«, wich er aus. »Ich werde ihm ein feines Begräbnis verschaffen. Ich habe noch nie einen Mann so respektiert wie Herrn Nolan.« (Er hatte Johnny Nolan in seinem Leben nie gesehen.) »Ich will persönlich darum besorgt sein, daß er das Beste bekommt, was man haben kann. Machen Sie sich keine Sorgen wegen des Geldes!« »Nein, das tue ich nicht, denn es ist gar keines da, um das man sich Sorgen machen könnte.« 297
Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ausgenommen natürlich das Versicherungsgeld.« Es war eine Frage, keine Feststellung. »Es ist ein wenig Versicherungsgeld fällig.« »Ah!« Er rieb sich begeistert die Hände. »Sehen Sie, da kann ich Ihnen nun wieder helfen. Es ist immer eine bürokratische Sache mit dem Einziehen des Versicherungsgeldes. Es dauert immer lange Zeit, bis man sein Teil bekommt. Wie wäre es nun, wenn Sie mir auch diese Angelegenheit überließen? Natürlich werde ich Ihnen dafür gar nichts verrechnen. Sie brauchen nur diesen Schein zu unterzeichnen« – er zog ein Stück Papier aus seiner Rocktasche – »und zu bestätigen, daß Sie mir Ihre Police übergeben. Ich werde Ihnen das Geld vorschießen und nachher einfach Ihr Versicherungsguthaben einziehen.« Alle Bestattungsunternehmer leisteten diesen ›Dienst‹. Es war ihr Kniff, die Höhe der Versicherungssumme herauszufinden, und wenn sie diese einmal kannten, dann waren die Begräbniskosten ganz einfach achtzig Prozent davon. Man mußte den Leuten, um sie nicht unzufrieden zu machen, doch ein wenig Geld übriglassen für ihre Trauerkleider. Katie holte die Police. Als sie sie auf den Tisch legte, überflog sein geübtes Auge sie und hatte im Nu den Betrag ausfindig gemacht: zweihundert Dollar. Er tat aber so, als habe er die Police überhaupt nicht angeschaut. Nachdem Katie seinen Schein unterzeichnet hatte, sprach er eine Zeitlang von ganz anderen Dingen. Dann tat er so, als wäre er nun plötzlich zu einem Entschluß gekommen, und sagte: »Ich will Ihnen nun sagen, was ich tun werde, Frau Nolan. Ich will dem Abgeschiedenen ein erstklassiges Begräbnis geben mit vier Kutschen und einem Sarg aus vernickelten Handhaben, alles zusammen für hundertundfünfundsiebzig Dollar. Ich tue es sonst nur für zweihundertundfünfzig Dollar, und ich schwöre, daß ich daran keinen Penny verdiene.« »Warum tun Sie es dann?« fragte Katie. Aber er ließ sich durchaus nicht aus der Fassung bringen. »Ich tue es, Frau Nolan, weil ich Herrn Nolan so sehr schätze. Ein feiner Mensch und einer, der sich aufs Arbeiten verstand.« 298
»Ich weiß nicht«, zögerte sie. »Hundertundfünfundsiebzig scheint mir …« »Die Messe ist natürlich darin inbegriffen«, fügte er hastig hinzu. »Also gut«, sagte Katie mit müder Stimme. Sie mochte nicht mehr darüber sprechen. Der Bestattungsunternehmer nahm die Police in die Hand und tat so, als sähe er den Betrag zum erstenmal. »Aber, sehen Sie! Das ist ja für zweihundert Dollar!« sagte er mit gespielter Überraschung. »Das bedeutet, daß Sie, nachdem die Begräbniskosten gedeckt sind, noch fünfundzwanzig Dollar bekommen.« Er stellte das eine Bein vor und suchte mit der Hand in seiner Hosentasche herum. »Nun, ich finde immer, ein wenig Bargeld ist nicht unwillkommen bei solchen Gelegenheiten … überhaupt immer, wenn's auf das ankommt.« Er kicherte verständnisvoll. »So will ich Ihnen Ihr Guthaben aus meiner eigenen Tasche vorstrecken.« Er legte die fünfundzwanzig Dollar in lauter neuen Noten auf den Tisch. Katie dankte ihm. Sie wußte genau, daß sie betrogen wurde, aber sie wehrte sich nicht dagegen. Sie wußte, daß dies überall in Williamsburg so gemacht wurde. Er übte einfach seinen Beruf aus. Er bat sie noch, sich vom Arzt den Totenschein ausstellen zu lassen. »Und wollen Sie im Spital bitte melden, daß ich die Re … ich meine, daß ich den Ver… nun, daß ich Herrn Nolan abholen werde.« Als Katie in das Spital kam, fand sie im Büro des Oberarztes den katholischen Priester. Er war gerade dabei, dem Arzt die nötigen Unterlagen für den Totenschein zu geben. Als er Katie hereinkommen sah, bekreuzigte er sich und drückte ihr die Hand. »Frau Nolan kann Ihnen die Daten besser geben als ich«, sagte er zum Arzt. Als der Arzt Katie über Geburtsort und Geburtsdatum und so weiter ausgefragt hatte, richtete Katie auch an ihn eine Frage: »Und was schreiben Sie dort als Todesursache hin?« »Hochgradiger Alkoholismus und Lungenentzündung.« »Man hat mir doch gesagt, er sei an einer Lungenentzündung gestorben.« 299
»Dies war nur die indirekte Todesursache. Vor allem hat ihn der Alkohol getötet, wenn ich Ihnen die Wahrheit sagen darf.« »Ich möchte aber nicht, daß Sie auf diesen Zettel schreiben, daß er starb, weil er zuviel trank«, sagte Katie langsam, aber bestimmt. »Schreiben Sie, er sei an einer Lungenentzündung gestorben.« »Aber ich muß doch die volle Wahrheit schreiben.« »Er ist doch nun tot. Was macht es Ihnen noch aus, woran er gestorben ist?« »Aber das Gesetz schreibt vor …« »Sehen Sie, Doktor«, sagte Katie, »ich habe zwei nette Kinder. Sie werden hoffentlich einmal etwas Rechtes werden. Es ist doch nicht ihr Fehler, daß Ihr Vater … daß er an dem starb, was Sie eben gesagt haben. Es wäre für mich so wichtig, wenn ich ihnen erzählen könnte, ihr Vater sei an einer Lungenentzündung gestorben.« Der Priester legte sich ins Mittel. Und der Arzt erinnerte sich plötzlich daran, daß der Priester ja ein Mitglied des Spitalkomitees war, und er wollte doch so gern Chefarzt werden an diesem Spital. »Na also«, gab er nach. »Dann will ich es tun. Aber sagen Sie niemandem etwas davon. Es ist ein Entgegenkommen, das Ihnen gilt, Pater.« Und so füllte er denn die freie Zeile hinter dem Wort ›Todesursache‹ mit ›Lungenentzündung‹ aus. Somit stand es nirgends geschrieben, daß Johnny Nolan als Trinker gestorben war. Katie verwendete die fünfundzwanzig Dollar dazu, Trauerkleider zu kaufen. Sie kaufte für Neeley einen schwarzen Anzug mit langen Hosen. Es war sein erster Herrenanzug, und Stolz, Freude und Trauer bekämpften sich in seinem Herzen. Katie kaufte sich gemäß der Brooklyner Sitte einen neuen schwarzen Hut mit einem meterlangen Witwenschleier. Francie bekam neue schwarze Schuhe, denn sie hätte ohnehin schon längst ein Paar Schuhe nötig gehabt. Man beschloß, Francie keinen schwarzen Mantel zu kaufen, da sie jetzt so schnell wuchs und er ihr im nächsten Winter schon wieder zu klein sein würde. Mama sagte, der alte grüne Mantel würde es auch tun, wenn man ihr ein schwarzes Trauerband um den Ärmel nähe. Francie war froh, denn sie konn300
te die schwarze Farbe nicht leiden. Das wenige Geld, das nach diesen Einkäufen noch übrigblieb, wurde in die Sparbüchse gelegt. Der Bestattungsunternehmer sprach nochmals vor, um zu melden, daß Herr Nolan sich nun in seiner Leichenhalle befinde, daß er wunderbar hergerichtet sei und daß er ihn am Abend bringen werde. Katie befahl ihm ziemlich energisch, sie mit allen Einzelheiten zu verschonen. Dann kam der Schlag. »Frau Nolan, ich sollte noch die Urkunde haben für Ihren Platz.« »Was für einen Platz?« »Für den Platz auf dem Kirchhof. Ich brauche die Urkunde, damit ich das Grab ausschaufeln lassen kann.« »Ich habe gemeint, das sei alles in den hundertfünfundsiebzig eingeschlossen.« »Nein, nein, ich verdiene ohnehin nichts daran. Der Sarg kostet mich ja …« »Sie gefallen mir nicht«, unterbrach ihn Katie in ihrer aufrichtigen Art. »Ihr ganzes Geschäft gefällt mir nicht.« Dann fügte sie mit der erstaunlichen Objektivität, deren sie fähig war, hinzu, »aber ich nehme an, jemand wird halt die Toten begraben müssen. Wieviel brauchen Sie für den Platz?« »Zwanzig Dollar.« »Wo in aller Welt soll ich …« Sie hielt inne. »Francie, hol den Schraubenzieher.« Sie stemmte abermals die Sparbüchse auf. Sie enthielt achtzehn Dollar und zweiundsechzig Cent. »Das reicht nicht«, sagte der Begräbnisunternehmer, »aber ich will Ihnen den Rest schenken.« Er hielt die Hand hin, um das Geld in Empfang zu nehmen. »Ich will das Geld schon aufbringen«, wies ihn Katie ab. »Aber ich werde es ihnen erst geben, wenn ich die Urkunde in den Händen habe.« Er wandte dieses und jenes ein und erklärte sich schließlich bereit, die Urkunde zu bringen. Mama schickte die Kinder zu Sissy hinüber, um die fehlenden zwei Dollar zu borgen. Als der Mann mit der 301
Urkunde wiederkam, erinnerte sich Katie an das, was ihr ihre Mutter vor bald vierzehn Jahren gesagt hatte, und sie las das Dokument sorgfältig durch, und auch die Kinder mußten es nachprüfen. Der Unternehmer trat von einem Fuß auf den andern. Als sie alle drei überzeugt waren, daß die Urkunde in Ordnung war, händigte Katie das Geld aus. »Warum sollte ich Sie denn betrügen, Frau Nolan?« beklagte sich der Mann, als er das Geld in die Tasche steckte. »Warum sollte denn überhaupt irgend jemand irgend jemanden betrügen wollen?« gab Katie zur Antwort. »Und doch kommt es immer wieder vor.« Die Sparbüchse stand mitten auf dem Küchentisch. Sie war nun vierzehn Jahre alt, und die Streifen waren vom öfteren Aufreißen ziemlich mitgenommen. »Soll ich sie wieder festnageln, Mama?« fragte Francie. »Nein«, sagte Mama gedankenverloren. »Wir brauchen sie jetzt nicht mehr. Wir besitzen jetzt ja ein Stücklein Land.« Sie legte die zusammengefaltete Urkunde auf die Sparbüchse.
Francie und Neeley blieben während der ganzen Zeit, da der Sarg im vorderen Zimmer stand, in der Küche. Sie schliefen sogar in der Küche. Sie wollten ihren Vater nicht im Sarg sehen. Katie begriff dies und drängte sie nicht, ihren Vater nochmals zu sehen. Die Wohnung war voller Blumen. Die Gewerkschaft, die Johnny noch vor einer Woche hinausgeworfen hatte, schickte ein riesiges Kissen aus weißen Nelken, über das diagonal ein violettes Seidenband mit den goldenen Lettern ›Unserem Bruder‹ lief. Die Polizisten des Quartiers schickten, eingedenk der Geschichte mit dem erwischten Kindermörder, ein Kreuz aus roten Rosen. Wachtmeister McShane sandte einen Strauß weißer Lilien. Auch Johnnys Mutter und die Rommelys und einige Nachbarn schickten Blumen. Es kamen Blumen von Dutzenden von Johnnys Freunden, von denen Katie überhaupt nie gehört 302
hatte. McGarrity, der Schenkwirt, sandte einen künstlichen Lorbeerkranz. »Den würde ich in den Kehrichteimer werfen«, sagte Evy entrüstet, als sie die Karte las. »Nein«, sagte Katie sanft, »man kann McGarrity nicht schuld geben, Johnny ist ja freiwillig hingegangen.« (Johnny schuldete McGarrity noch achtunddreißig Dollar. Aber der Mann sagte aus irgendwelchen Gründen nichts zu Katie und strich die Schuld stillschweigend.) Die Wohnung war erfüllt von den gemischten Düften der Rosen, Nelken und Lilien. Francie konnte diese Blumen später ihr Leben lang nicht mehr ausstehen. Aber Katie freute sich, zu sehen, wie viele Menschen noch an Johnny dachten. Kurz bevor der Sargdeckel für immer über Johnny geschlossen werden sollte, kam Katie zu den Kindern in die Küche. Sie legte ihre Hände auf Francies Schultern und sagte leise zu den beiden: »Ich habe die Nachbarsfrauen flüstern hören, ihr wollt euern Vater nicht mehr sehen, weil er euch kein guter Vater gewesen sei.« »Er war aber ein guter Vater«, sagte Francie heftig. »Ja, das war er«, pflichtete Katie bei. Dann wartete sie und überließ es den Kindern, sich zu entscheiden. »Also komm, Neeley«, sagte Francie. Die Kinder gingen Hand in Hand zum Vater ins vordere Zimmer. Neeley warf einen schnellen Blick in den Sarg. Dann fürchtete er, er werde vor allen Leuten zu weinen anfangen, und rannte wieder hinaus. Francie hielt ihre Augen auf den Boden geheftet und wagte nicht, Papa anzusehen. Schließlich überwand sie sich. Sie konnte nicht glauben, daß Papa tot sein sollte. Er trug seinen frisch gereinigten und aufgebügelten schwarzen Anzug, ein frisches Vorhemd und einen neuen Kragen mit sorgfältig gebundener Krawatte. In seinem Knopfloch war eine Nelke und darüber das Abzeichen der Gewerkschaft. Sein Haar glänzte wie Gold und war so lockig wie immer. Eine der Locken war ihm ein wenig auf die Schläfe herabgefallen. Seine Augen waren wie zu einem leichten Schlaf geschlossen. Er sah jung und schön und wohlgepflegt aus. Francie sah 303
zum erstenmal, wie schön geschwungen seine Augenbrauen waren. Sein kleiner Schnurrbart war gestutzt und sah so elegant aus wie je. Sein Gesicht war frei von jedem Schmerz, von jeder Sorge und von jedem Kummer. Es war glatt wie das eines Knaben. Johnny war vierunddreißig Jahre alt gewesen. Aber jetzt sah er jünger aus, wie ein zwanzigjähriger Jüngling. Francie schaute seine Hände an, die wie zufällig über einem silbernen Kreuz gefaltet waren. Um seinen Mittelfinger lief ein schmaler Streifen hellerer Haut, es war die Stelle, wo er den Siegelring, den ihm Katie bei der Vermählung geschenkt hatte, zu tragen pflegte. Katie hatte ihm den Ring abgenommen, um ihn später einmal Neeley zu schenken. Es war seltsam, Papas Hände so ruhig daliegen zu sehen, wo sie doch sonst immer so gezittert hatten. Es fiel Francie auf, wie schmal und sensibel sie aussahen mit ihren langen, spitz zulaufenden Fingern. Sie blickte unverwandt auf seine Hände, bis sie glaubte, sie hätten sich bewegt. Sie wurde von panischem Schrecken ergriffen und wäre am liebsten davongelaufen. Aber das Zimmer war voller Nachbarsfrauen, die sie beobachteten. Sie würden sagen, sie laufe nur deshalb weg, weil Papa … Er war ein guter Vater! Er war der beste Vater, den man sich denken konnte! Sie fuhr mit der Hand über sein Haar und schob die auf die Schläfe herabgefallene Locke an ihren Platz zurück. Dann kam Tante Sissy, legte den Arm um sie und flüsterte: »Es ist Zeit.« Francie ging zu Mama, während man den Sargdeckel schloß. Während der Messe kniete Francie auf der einen Seite ihrer Mutter und Neeley auf der andern. Francie hielt die Augen auf den Boden geheftet, um nicht auf den blumenbedeckten Sarg schauen zu müssen, der vor dem Altar stand. Einmal blickte sie heimlich zu Mama auf. Katie blickte geradeaus; ihr Gesicht war weiß und ruhig unter dem Witwenschleier. Als der Priester sich dem Sarg näherte und die vier Ecken mit Weihwasser besprengte, begann eine Frau, die vorn in der Kirche kniete, wild zu schluchzen. Katie, die auch jetzt noch eifersüchtig und ihres Besitzes bewußt war, schaute sich energisch um nach der Frau, die es wagte, um Johnny zu weinen. Sie betrachtete die Frau gründlich und 304
wandte ihren Kopf wieder ab. Ihre Gedanken flatterten umher wie Papierfetzen im Wind. Hildy O'Dair sieht alt aus für ihre Jahre, dachte sie. Es sieht aus, als wäre ihr gelbes Haar mit Puder bestreut. Aber sie ist ja kaum älter als ich … zweiunddreißig oder dreiunddreißig. Sie war achtzehn, als ich siebzehn war. Geh du deinen Weg, und ich gehe meinen Weg. Du meinst, du gehst ihren Weg. Hildy, Hildy … er gehört mir, Katie Rommely … Hildy, Hildy … aber sie ist doch meine beste Freundin … ich tauge nicht viel, Hildy … ich hätte mich nicht mit dir einlassen sollen … so gehst du also deinen … Hildy, Hildy. Sie soll nur weinen, laßt sie weinen, dachte Katie. Irgend jemand, der Johnny liebte, soll doch um ihn weinen. Ich kann es nicht. Sie soll nur … Katie, Johnnys Mutter, Francie und Neeley fuhren in der ersten Kutsche hinter dem Leichenwagen zum Friedhof hinaus. Die Kinder saßen mit dem Rücken zum Kutscher. Francie war froh, denn so mußten sie den Leichenwagen nicht sehen. Sie sahen dafür die zweite Kutsche, in der Tante Sissy und Tante Evy allein fuhren. Ihre Männer hatten nicht kommen können, weil sie arbeiten mußten, und Großmutter Rommely war bei Sissys kleinem Mädchen geblieben. Francie wäre gerne mit Tante Sissy in der zweiten Kutsche gefahren. Johnnys Mutter weinte und wehklagte auf dem ganzen Weg. Katie saß in steinerner Ruhe da. Die Luft im Wagen war verbraucht und roch nach feuchtem Heu und eingetrocknetem Roßmist. Der Geruch und das Rückwärtsfahren und die seelische Spannung gaben Francie ein ungewohntes Gefühl der Übelkeit. Auf dem Friedhof stand ein ungehobelter, hölzerner Sarg neben einer tiefen Grube. Sie hoben den mit Tüchern bedeckten Sarg an den glänzenden Griffen hinein. Francie wandte den Kopf ab, als man ihn in die Grube versenkte. Es war ein grauer Tag. Ein kalter Wind blies. Kleine Staubwirbel tanzten um Francies Füße. In der Nähe streiften ein paar Männer bei einem einwöchigen Grab die verwelkten Blumen von den Drahtgestellen. Sie arbeiteten mit System, indem sie auf der einen Seite die welken Blumen hinwarfen und auf der andern die geplünderten Draht305
gestelle auftürmten. Ihre Arbeit war durchaus legitim. Sie kauften sich die Konzession dazu vom Friedhofsverwalter und durften dafür die Drahtgestelle an die Blumenhändler verkaufen, die sie immer wieder verwendeten. Niemand konnte sich beklagen, denn die Männer waren sehr gewissenhaft und plünderten die Drahtgestelle erst, wenn alle Blumen vollkommen verwelkt waren. Jemand drückte Francie eine Scholle kalter, feuchter Erde in die Hand. Sie sah, wie Mama und Neeley am Rande der Grube standen und eine Handvoll Erde auf den Sarg hinunterwarfen. Francie näherte sich dem Grabe langsam, schloß die Augen und öffnete die Hand. Sie hörte einen leisen Aufprall, und dasselbe Gefühl der Übelkeit überkam sie wieder. Nach dem Begräbnis fuhren die Kutschen in verschiedenen Richtungen weg. Die Trauernden wurden alle nach ihren Wohnungen zurückgeführt. Ruthie Nolan verschwand, ohne sich von jemandem zu verabschieden. Auch nach der Messe hatte sie kein Wort an Katie oder die Kinder gerichtet. Tante Sissy und Tante Evy stiegen zu Katie und den Kindern in die Kutsche. Francie durfte auf Tante Evys Schoß sitzen, weil sie sonst keinen Platz gehabt hätte. Sie waren alle sehr still während der Heimfahrt. Tante Evy machte einen Versuch, sie aufzuheitern, indem sie von Onkel Willie und seinem neuen Pferd erzählte. Aber niemand lachte, denn alle hingen ihren eigenen Gedanken nach. Als sie beinahe zu Hause waren, ließ Mama den Kutscher vor einem Friseurladen anhalten. »Geh da hinein«, sagte sie zu Francie, »und hol den Becher deines Vaters!« Francie verstand nicht, was Mama meinte. »Was für einen Becher?« fragte sie. »Frag einfach nach dem Becher deines Vaters!« Francie ging hinein. Es waren zwei Barbiere drin, aber keine Kunden. Einer der beiden Barbiere saß auf einem Stuhl an der Wand. Er hielt eine Mandoline im Arm und spielte ›O sole mio‹. Francie kannte das Lied. Herr Morton hatte es den Kindern beigebracht unter dem Namen ›Sonnenschein‹. Der andere Friseur saß in einem Stuhl, in dem 306
sonst die Kunden saßen, und betrachtete sich in dem hohen Spiegel. Als Francie hereinkam, stieg er von seinem hohen Stuhl herunter. »Ja?« fragte er. »Ich möchte den Becher meines Vaters.« »Sein Name?« »Ach, ja. Schade um ihn!« Er seufzte, während er von einem Gestell aus einer langen Reihe den Becher herunterholte. Der Becher war aus dickem, weißem Glas, und darauf stand in schöner, goldener Zierschrift ›John Nolan‹ geschrieben. Er enthielt ein kleines Restchen weißer Rasierseife und einen müde aussehenden abgenützten Pinsel. Der Coiffeur fischte die Seife heraus und tat sie samt dem Pinsel in einen andern, unbeschriebenen Becher. Dann wusch er Johnnys Becher. Während Francie warten mußte, blickte sie sich im Zimmer um. Sie war noch nie in einem Coiffeurladen drin gewesen. Es roch nach parfümierter Seife und sauberen Handtüchern und nach Haarwasser. Die Flamme unter dem Gasboiler zischte gesellig. Der zweite Barbier hatte sein Lied beendet und begann nochmals von vorne. Der etwas dünne Ton der Mandoline klang in dem warmen Raum ein wenig traurig. Francie sang in Gedanken die Worte mit: Dein Antlitz, hold und rein, soll meine Sonne auf immer sein. Jedermann hat sein geheimes Leben, dachte Francie. Papa hatte nie etwas von diesem Friseurladen erzählt, und doch war er dreimal pro Woche hiergewesen, um sich rasieren zu lassen. Der wählerische Johnny hatte sich seinen eigenen Becher gekauft und hatte es damit viel besser gestellten Männern nachgetan. Er hätte es nicht über sich gebracht, sich mit Seifenschaum aus irgendeinem Becher, den jedermann benutzte, einseifen zu lassen. Nicht Johnny. Er war dreimal pro Woche hierhergekommen – wenn er das Geld dazu hatte – und hatte auf einem dieser hohen Stühle vor dem Spiegel gesessen und sich mit dem Barbier darüber unterhalten, ob wohl das Fußballteam von Brooklyn richtig zusammengesetzt sei, und vielleicht auch über die Vorzüge der 307
Demokratie. Vielleicht hatte er mitgesungen, wenn der andere Barbier Mandoline spielte. Ja, Francie war überzeugt, daß Papa mitgesungen hatte. Das Singen war ihm so leichtgefallen wie das Atmen. Sie fragte sich, ob er wohl, wenn er warten mußte, das ›Polizeimagazin‹, das auf der Bank lag, gelesen hatte. Der Barbier überreichte ihr den gewaschenen und sorgfältig ausgeriebenen Becher. »Johnny Nolan war ein feiner Bürger«, sagte er. »Sag deiner Mutter, ich, sein Coiffeur, habe es gesagt!« »Danke schön«, flüsterte Francie dankbar. Dann schloß sie die Tür hinter sich, und der traurige Klang der Mandoline erstarb. Als sie wieder in der Droschke saß, hielt sie Mama den Becher hin. »Du darfst ihn behalten«, sagte Mama. »Neeley wird später einmal Papas Siegelring bekommen.« Francie strich mit dem Finger liebevoll über Papas goldenen Namen und flüsterte – zum zweitenmal innerhalb fünf Minuten – ein herzliches »Danke schön«. Johnny hatte vierunddreißig Jahre lang auf dieser Erde gelebt. Vor weniger als einer Woche war er noch durch diese Straße gegangen. Und nun waren der Milchglasbecher, der Siegelring und zwei ungebügelte Kellnerschürzen die einzigen sichtbaren Gegenstände, die von seiner Existenz zeugten. Andere konkrete Andenken hatte er nicht hinterlassen, da er in seinem einzigen Anzug samt den Hemdenknöpfen und seinem vierzehnkarätigen goldenen Kragenknöpflein begraben worden war. Als sie zu Hause anlangten, sahen sie, daß die Nachbarinnen inzwischen dagewesen waren und die Wohnung aufgeräumt hatten. Die Möbel im vorderen Zimmer waren wieder an ihrem Platz und die abgefallenen Blumenblätter weggeräumt. Die Zimmer waren gelüftet worden, und nachher hatten die Nachbarinnen Kohlen gebracht und im Herd ein schönes Feuer gemacht. Der Tisch war mit einem frischen, weißen Tischtuch bedeckt. Die Schwestern Tynmore hatten einen selbstgebackenen Kuchen hingestellt, der schon in Stücke geschnitten war. Floß Gaddis und ihre Mutter hatten eine Menge feingeschnittener Wurst gebracht; man konnte damit zwei Platten füllen. In einem Körbchen 308
lag frisch geschnittenes Roggenbrot, und die Kaffeetassen waren ebenfalls auf den Tisch gestellt worden. Auf dem Herd stand eine Kanne voll frischem Kaffee, und jemand hatte sogar ein Krüglein mit richtigem Rahm in die Mitte des Tisches gestellt. All dies hatten die Nachbarsfrauen in aller Stille getan, während die Nolans auf dem Friedhof waren. Dann hatten sie die Wohnung wieder abgeschlossen und den Schlüssel unter den Türvorleger gelegt. Tante Sissy, Tante Evy, Mama, Francie und Neeley setzten sich um den Tisch. Katie blickte lange stumm auf ihre Tasse. Sie mußte daran denken, wie Johnny noch zum letztenmal an diesem Tisch gesessen hatte. Und sie tat dasselbe, was er damals getan hatte: sie schob die Tasse von sich, legte den Kopf auf die verschränkten Arme und brach in hartes, tiefes, abgerissenes Schluchzen aus. Sissy ging zu ihr und legte tröstend den Arm um sie, während sie mit ihrer einschmeichelnden, weichen Stimme sagte: »Katie, Katie, weine doch nicht so! Du sollst nicht so weinen, sonst wird das Kleine, das bald zur Welt kommen soll, ein trauriges Kind werden.«
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A
m Tage nach dem Begräbnis blieb Katie im Bett, und Francie und Neeley schlichen verloren in der Wohnung umher. Gegen Abend stand Katie auf und kochte ihnen etwas. Als sie gegessen hatten, überredete sie die Kinder, doch einen kleinen Spaziergang zu machen, sie hätten die Luft bitter nötig. Francie und Neeley gingen die Graham Avenue gegen den Broadway hinauf. Die Nacht war bitter kalt und still, aber es lag kein Schnee. Die Straßen waren verlassen. Es war drei Tage nach Weihnachten, und die meisten Kinder waren zu Hause und spielten mit ihren neuen Spielsachen. Die Straßenlichter waren frostig und hell. Eine leichte, eisige Bri309
se, die vom Meer herkam, fegte dicht über dem Boden hin. Sie wirbelte schmutzige Papierfetzen den Rinnstein entlang. Während der letzten paar Tage waren die beiden ihrer Kindheit entwachsen. Sie hatten dieses Jahr gar keine Weihnachten gehabt, weil Papa gerade am Weihnachtstag gestorben war. Auch Neeleys dreizehnter Geburtstag war in den letzten beweglichen Tagen irgendwo untergegangen. Sie kamen zu der glänzend erleuchteten Fassade eines großen Varietetheaters. Da sie immer alles lasen, was ihnen unter die Augen kam, lasen sie auch das Programm der Woche. Unter anderem war da in dicken Lettern gedruckt: »Nächste Woche hier zu hören! Chauncy Osborn, der süße Sänger süßer Lieder. Man muß ihn gehört haben!« Süßer Sänger … Süßer Sänger … Francie hatte seit Vaters Tod noch keine Träne vergossen. Und Neeley auch nicht. Nun hatte Francie das Gefühl, als seien alle ihre Tränen in ihrer Kehle zu einem würgenden Klumpen gefroren, und der Klumpen wuchs und wuchs … Sie hatte das Gefühl, wenn der Klotz nicht bald schmolz und sich wieder in Tränen zurückverwandelte, müsse auch sie sterben. Sie schaute Neeley an. Die hellen Tränen rannen ihm aus den Augen. Da kamen auch ihr Tränen. Sie schlichen sich in eine dunkle Seitenstraße und setzten sich auf den Randstein des Trottoirs. Neeley dachte trotz seiner Tränen daran, sein Taschentuch auf dem Randstein auszubreiten, damit sein neuer schwarzer Anzug nicht schmutzig wurde. Sie drängten sich dicht aneinander, weil es kalt war und sie sich sehr einsam fühlten. So saßen sie lange in der kalten Straße und weinten sich aus. Nachher begannen sie zu sprechen. »Neeley, warum hat Papa wohl sterben müssen?« »Ich denke, Gott wollte es so haben.« »Aber warum?« »Vielleicht wollte Gott ihn strafen.« »Wofür strafen?« »Ich weiß nicht«, sagte Neeley ratlos und unglücklich. 310
»Glaubst du denn nicht auch, daß Gott Papa auf diese Welt gebracht hat?« »Doch!« »Dann wollte er doch gewiß, daß er lebt, oder nicht?« »Wahrscheinlich schon.« »Warum hat er ihn dann so bald wieder sterben lassen?« »Vielleicht wollte er ihn strafen«, wiederholte Neeley, da ihm nichts anderes einfiel. »Und wenn das so wäre, was würde es schon nützen? Papa ist tot und weiß es gar nicht, daß er zur Strafe sterben mußte. Gott hat Papa doch so gemacht, wie er war. Nachher hat Er sicher zu sich selbst gesagt: Und nun erkühne dich nicht, irgend etwas an ihm zu ändern! Ich wette, daß Er das gesagt hat.« »Vielleicht solltest du von Gott nicht so reden«, sagte Neeley ängstlich. »Man sagt immer, Gott sei so groß«, sagte Francie verächtlich, »und er wisse alles und habe Gewalt über alles. Wenn er wirklich so groß ist, warum hat er denn Papa nicht geholfen, statt ihn so zu strafen, wie du sagst?« »Ich habe ja nur gesagt ›vielleicht‹.« »Wenn Gott für die ganze Welt sorgen muß«, sagte Francie, »und für die Sonne, den Mond und die Sterne, für die Vögel, die Bäume und die Blumen und all die Tiere und Menschen, könnte man glauben, er wäre zu sehr beschäftigt und mit wichtigeren Dingen, als daß er daran denken könnte, einen einzelnen so zu strafen – einen Mann wie Papa.« »Du solltest wirklich von Gott nicht so sprechen«, sagte Neeley beunruhigt. »Er könnte machen, daß du tot hinfällst.« »Dann soll er!« rief Francie leidenschaftlich. »Er soll doch machen, daß ich hier tot in den Rinnstein falle!« Sie warteten eine Zeitlang gespannt und mit Furcht im Herzen, was nun geschehen werde. Aber es geschah nichts. Als Francie wieder zu sprechen begann, war sie ruhiger. »Ich glaube schon an Jesus Christus und an seine Mutter, die Heilige Jungfrau Maria. Auch Jesus war einmal ein kleiner Junge. Er ging bar311
fuß wie wir im Sommer. Ich habe einmal ein Bild gesehen von ihm, wo er ein kleiner Junge ist und keine Schuhe an den Füßen hat. Und als er groß war, ging er fischen, wie Papa es einmal tat, als er uns mitnahm. Und sie konnten ihn beleidigen und quälen, wie sie Gott nie quälen konnten. Ich bin überzeugt, Jesus Christus würde nicht herumgehen und die Leute bestrafen. Er kannte die Menschen. Ich werde immer an Jesus Christus glauben.« Sie bekreuzigten sich, wie sie es als Katholiken immer tun mußten, wenn sie Christi Namen aussprachen. Dann legte Francie ihre Hand auf Neeleys Knie und flüsterte ihm zu: »Neeley, ich will dir etwas sagen, das ich sonst niemandem sagen würde: Ich glaube nicht mehr an Gott!« »Ich möchte nach Hause gehen«, sagte Neeley. Er zitterte vor Furcht und Kälte.
Als Katie ihnen die Tür aufmachte, sah sie, daß ihre Gesichter müde, aber friedlich waren. Nun haben sie sich ausgeweint, dachte sie. Francie warf ebenfalls einen flüchtigen Blick auf Mamas Gesicht. Mama hat geweint, während wir fort waren, dachte sie, sie hat geweint und geweint, bis sie nicht mehr konnte. Aber keines von ihnen sprach davon, daß sie so sehr geweint hatten. »Ich habe gedacht, ihr werdet wohl ganz durchfroren nach Hause kommen, und euch deshalb eine warme Überraschung bereit gemacht.« »Was denn?« wollte Neeley wissen. »Das wirst du bald sehen.« Die Überraschung bestand aus ›heißer Schokolade‹, die Mama aus Kakao und Kondensmilch und darübergegossenem heißen Wasser bereitete. Katie goß das duftende Getränk in die Tassen. »Und das ist noch nicht alles«, sagte sie. Sie nahm aus einem Papiersack drei Meringues und ließ in jeder Tasse eins schwimmen. »Mama!« riefen die Kinder einstimmig und begeistert. Heiße Scho312
kolade war etwas ganz Besonderes, das es sonst nur an Geburtstagen gab. Mama ist wirklich ein Genie, dachte Francie voll Bewunderung, während sie versuchte, ihre Meringue mit dem Löffel unten zu halten und zuschaute, wie sich der weiße Schlagrahm mit der dunkelbraunen Schokolade zu einem schönen, marmorierten Muster vermischte. Mama weiß genau, daß wir geweint haben, aber sie plagt uns nicht mit Fragen darüber. Mama tut nie … Plötzlich stellte sich das richtige Wort ein: Mama kramt nie in unseren Herzen herum. Sie macht nie etwas Ungeschicktes. Und so war es. Was sie auch mit ihren abgearbeiteten und doch so schön geformten Händen berührte, sei es eine Blume, die sie in ein Glas Wasser stellte, sei es ein Putzlappen, den sie mit kräftiger, geschickter Bewegung der Handgelenke auswand, immer waren ihre Gesten schön und entschlossen. Und wenn sie sprach, gebrauchte sie einfache, aber aufrichtige, unmißverständliche Worte. Auch ihre Gedanken waren sauber und klar.
Mama sagte: »Neeley wird nun allmählich zu groß, um mit seiner Schwester im selben Zimmer zu schlafen. Ich habe deshalb das Zimmer, in dem euer …«, sie zögerte kaum merklich, bevor sie weitersprach, »… Vater und ich zu schlafen pflegten, für Neeley hergerichtet. Dieses Zimmer wird von nun an Neeleys Schlafzimmer sein.« Neeley warf seiner Mutter einen begeisterten Blick zu. Ein eigenes Zimmer! Wieder ein Traum erfüllt. Zuerst die langen Hosen und nun ein eigenes Zimmer! Dann kam etwas Trauriges in seinen Blick, weil er sich nachträglich überlegte, warum diese Wünsche wohl in Erfüllung gegangen waren. »Und ich will dein Zimmer mit dir teilen, Francie.« Katies angeborenes Taktgefühl gab ihr ein, es so zu sagen, anstatt umgekehrt: »Und du wirst mein Zimmer mit mir teilen.« Ich möchte auch gern ein eigenes Zimmer haben, dachte Francie in 313
einem Anflug von Eifersucht. Aber es wird schon recht sein, daß Neeley das Zimmer bekommt, denn es sind doch nur zwei Schlafzimmer da, und Neeley könnte nicht gut bei Mama schlafen. Katie erriet Francies Gedanken und sagte tröstend: »Und wenn es wieder warm wird, kann Francie das vordere Zimmer für sich haben. Wir wollen dann ihre Pritsche dort hineinstellen und sie tagsüber mit einem schönen Tuch zudecken, so daß es aussieht wie ein Wohnzimmer. Zufrieden, Francie?« »Ja, Mama.« Nach einer Weile sagte Mama: »Wir haben in den letzten Tagen das Leben ganz vergessen, aber jetzt wollen wir wieder anfangen.« So wird das Leben also weitergehen, trotz allem, dachte Francie staunend, während sie die Bibel vom Kaminsims herunterholte. »Da wir dieses Jahr Weihnachten nicht gefeiert haben«, sagte Mama, »wollen wir nicht dort weiterlesen, wo wir stehengeblieben sind, sondern wir wollen von der Geburt des Jesuskindleins lesen. Wir wollen jedes ein Stück vorlesen. Fang du an, Francie.« Francie las: »… Und als sie daselbst waren, kam die Zeit, da sie gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.« Da seufzte Katie tief. Francie unterbrach die Lektüre und blickte Mama fragend an. »Lies nur weiter, Francie«, sagte Mama. Katie spürte, wie sich ihr ungeborenes Kindlein bewegte. Hatte Johnny wohl deshalb zu trinken aufgehört, weil er von dem dritten Kind etwas wußte? Sie hatte ihm damals ins Ohr geflüstert, daß sie abermals ein Kind erwarte. Hatte er, als er es wußte, versucht, anders zu werden? Und war er wohl deshalb gestorben? Johnny … Johnny … Katie seufzte wieder. Sie lasen jedes ein Stück von der Weihnachtsgeschichte, von der Geburt Christi, und dachten dabei doch an Johnnys Tod. Aber jedes hielt seine Gedanken vor dem andern verborgen.
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Bevor die Kinder zu Bett gingen, tat Katie etwas, das sie sonst nie tat, da sie mit ihren Gefühlen sehr zurückhaltend war. Sie drückte die Kinder fest an sich und gab jedem einen Gutenachtkuß. Dann sagte sie: »Von nun an bin ich sowohl euer Vater als auch eure Mutter.«
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urz bevor die Weihnachtsferien zu Ende gingen, sagte Francie zu Mama, sie wolle nicht mehr in die Schule gehen. »Gehst du denn nicht gern zur Schule?« fragte Mama. »Doch, aber ich bin jetzt vierzehn Jahre alt, und nun kann ich eine Arbeitsbewilligung bekommen.« »Wozu willst du denn eine Arbeitsbewilligung?« »Um dir zu helfen.« »Nein, Francie. Ich will, daß du bis zum Schlußexamen in der Schule bleibst. Es handelt sich ja nur noch um ein paar Monate. Der Juni wird dasein, bevor du daran denkst. Du kannst dann im Sommer arbeiten, und Neeley vielleicht auch. Aber im Herbst müßt ihr beide aufs Gymnasium gehen. Also sprich nicht mehr davon, daß du jetzt schon arbeiten willst, und geh nur ruhig weiter in die Schule.« »Aber, Mama, wovon sollen wir denn bis zum Sommer leben?« »Wir werden es schon irgendwie schaffen.« Aber Katie war nicht so vertrauensvoll, wie sie sprach. Sie vermißte Johnny auch in dieser Beziehung. Wenn er auch nie regelmäßig gearbeitet hatte, so hatte er doch hin und wieder in der Nacht vom Samstag auf den Sonntag ein paar Dollars verdient. Und wenn es ganz schlimm stand mit ihnen, hatte Johnny sich eine Zeitlang zusammengenommen und mehr gearbeitet, bis sie wieder über den Graben waren. Aber jetzt war Johnny nicht mehr da. Katie machte einen Überschlag. Die Miete war bezahlt, solange sie 315
ihre Reinigungsarbeiten in den drei Häusern verrichten konnte. Neeley verdiente mit Austragen von Zeitungen anderthalb Dollar pro Woche. Das sollte ausreichen für die Kohlen, wenn sie nur abends ein Feuer anzündeten. Aber dann mußte davon auch noch die Versicherungsprämie bezahlt werden. Katie war für zehn Cent pro Woche und die Kinder für je fünf Cent versichert. Sie mußten sich also mit etwas weniger Kohle begnügen und dafür einfach ein wenig früher zu Bett gehen. Kleider? Daran war natürlich nicht zu denken. Francie hatte ja nun ein Paar neue Schuhe und Neeley einen neuen Anzug. Die Hauptsorge war das Essen. Vielleicht konnte sie für Frau McGarrity wieder die Wäsche besorgen. Dafür würde sie jede Woche einen Dollar bekommen. Und dann bekam sie vielleicht noch ein paar Putzstellen außerhalb des Hauses. Irgendwie mußte es einfach gehen. Bis Ende März ging es ganz gut. Dann wurde Katie immer schwerfälliger. Das Kind sollte im Mai zur Welt kommen. Die Frauen, für die Katie arbeitete, blickten verlegen zur Seite, wenn sie Katie in ihrer Küche am Herd stehen oder in einer ungeschickten Stellung die Fußböden reinigen sahen. Schließlich mußten sie ihr aus Mitleid helfen. Dann fanden sie, sie wollten nicht eine Putzfrau bezahlen und dann die Arbeit doch selbst tun. Schließlich sagte eine nach der andern, sie brauche jetzt keine Putzfrau mehr. Eines Tages konnte Katie dem Kassierer der Versicherungsgesellschaft die zwanzig Cent nicht mehr geben. Er hatte Verständnis für Katies Lage. »Es würde mir leid tun, wenn Sie Ihre Policen einbüßen müßten, Frau Nolan. Besonders, nachdem Sie ihre Prämien jahrelang so gewissenhaft bezahlt haben.« »Ich werde sie doch nicht einbüßen, nur weil ich einmal ein wenig mit dem Zahlen im Rückstand bin?« »Ich würde das natürlich nicht zulassen, wenn es auf mich ankäme, aber die Gesellschaft nimmt keine Rücksicht. Ich will Ihnen etwas sagen, liquidieren Sie doch die Policen der Kinder.« »Ich wußte nicht, daß man das kann.« »Die wenigsten Leute wissen das. Sie können eines Tages die Prämi316
en nicht mehr bezahlen, und die Gesellschaft geht stillschweigend darüber hinweg. Die Zeit vergeht, und die Gesellschaft behält das einbezahlte Geld für sich. Ich würde meine Stelle verlieren, wenn man wüßte, daß ich Ihnen dies sage. Aber ich kenne Ihre Familie nun schon so lange, ich habe schon Ihren Vater und Ihre Mutter gekannt und all Ihre Schwestern und deren Männer und Kinder, und ich weiß nicht, aber ich habe so viele Botschaften hin und her getragen über Krankheiten, Geburten und Tod, daß ich das Gefühl habe, ich gehöre fast ein wenig zur Familie.« »Ja, wir könnten es ohne Sie gar nicht machen.« »Aber ich gebe Ihnen den Rat, Frau Nolan. Liquidieren Sie die Policen der Kinder, aber behalten Sie Ihre eigene. Wenn irgend etwas mit den Kindern passiert, was Gott verhüten möge, dann könnten Sie es schon irgendwie einrichten, ihnen ein anständiges Begräbnis zu verschaffen. Wenn aber Ihnen etwas zustoßen sollte, was Gott ebenfalls verhüten möge, könnten die Kinder Sie nicht begraben lassen ohne das Versicherungsgeld, oder nicht?« »Nein, das könnten sie nicht. Ich muß meine Police behalten. Ich möchte nicht wie eine Armenhäuslerin in Potters Field begraben werden. Das würden die Kinder ihr Leben lang nie vergessen können und auch ihre Kinder und Kindeskinder nicht. Ich will also Ihrem Rat folgen.« Mit den fünfundzwanzig Dollar, die Katie für die liquidierten Policen der Kinder bekam, konnten sie bis Ende April leben. In ein paar Wochen würde das Kind zur Welt kommen. In acht Wochen war Francies und Neeleys Schlußexamen. Es handelte sich also darum, auf irgendeine Weise diese acht Wochen zu überstehen. Die drei Rommely-Schwestern saßen um den Küchentisch herum und hielten Rat. »Ich würde gerne helfen, wenn ich könnte«, sagte Evy. »Aber du weißt ja, daß Will nicht mehr ist wie früher, seitdem Drummer ihm den Schlag auf den Kopf gegeben hat. Er ist herausfordernd gegen seinen Arbeitgeber und kommt auch mit den Kollegen nicht mehr gut aus. Und es ist nun so weit, daß auch kein einziges Pferd mehr mit ihm 317
fahren will. Nun haben sie ihn versetzt, und er ist Stallputzer und muß die zerbrochenen Milchflaschen abführen. Sie haben seinen Lohn auf achtzehn Dollar pro Woche herabgesetzt, und wenn man drei Kinder hat, bleibt davon auch nichts mehr übrig. Ich muß mich nun selbst nach gelegentlichen Putzarbeiten umsehen.« »Wenn ich nur wüßte …«, begann Sissy. »Nein«, unterbrach Katie sie energisch. »Du hast genug für die Familie getan damit, daß du Mutter zu dir genommen hast.« »Ja, das ist wahr«, sagte Evy. »Wir haben uns doch immer solche Sorgen gemacht, was denn mit Mutter geschehen soll, wenn sie älter wird. Sie hätte doch nicht mehr länger in ihrem Mietsstübchen wohnen und immer noch Putzarbeiten übernehmen können, um die paar Pennies zu verdienen, die sie zum Leben braucht.« »Mutter ist mir keine Last, und sie braucht ja fast nichts«, sagte Sissy. »Und mein John hat nichts dagegen, wenn sie bei uns wohnt. Natürlich verdient er auch nur zwanzig Dollar pro Woche, und dann haben wir noch das Kindlein. Ich könnte ja wohl meine alte Stelle in der Fabrik wiederhaben, aber Mutter ist zu alt, um allein nach dem Kind zu sehen. Sie ist nun dreiundachtzig. Ich könnte schon arbeiten, aber dann müßte ich jemanden anstellen, der für Mutter und das Kindlein sorgt. Wenn ich meine frühere Stelle wieder annähme, dann könnte ich dir helfen, Katie.« »Das darfst du einfach nicht tun, Sissy, ich will es nicht«, wandte Katie ein. »Es gibt nur noch eins: du mußt Francie aus der Schule nehmen, und sie muß sich eine Arbeit suchen«, sagte Evy. »Nein, ich möchte doch, daß sie im Juni das Diplom macht. Meine Kinder sollen die ersten in der Nolan-Familie sein, die sich ein Diplom erworben haben.« »Aber von einem Diplom allein kannst du nicht leben«, sagte Evy. »Hast du denn keine Freunde, die dir heraushelfen können?« fragte Sissy. »Du bist doch eine schöne Frau!« »Oder sie wird wieder eine schöne Frau werden, wenn sie ihre Form wieder hat«, verbesserte Evy. 318
Katie dachte einen Augenblick an Wachtmeister McShane. Dann sagte sie: »Nein, ich habe keine Freunde. Ich habe immer nur Johnny gehabt und sonst niemanden.« »Dann gibt es leider nur noch den Ausweg, daß Francie sich eine Arbeitsbewilligung verschafft«, sagte Sissy. »Wenn sie aber die Volksschule verläßt, ohne das Examen zu bestehen, dann wird sie später nie aufs Gymnasium gehen können«, protestierte Katie. »Nun«, seufzte Evy, »dann gibt es ja noch die Unterstützungen der katholischen Kirche.« »Wenn wir einmal so weit sind, daß wir Armenunterstützung annehmen müssen, dann werde ich alle Fenster und Türen verriegeln und den Gashahn öffnen, sobald die Kinder tief schlafen.« »Sprich nicht so!« sagte Evy entsetzt. »Du willst doch irgendwie weiterleben.« »Ja, aber nicht mit Hilfe von Armenunterstützung.« »Dann sehe ich keinen andern Ausweg, als daß Francie sich eine Stelle sucht. Neeley kann es doch nicht tun, denn er ist ja erst dreizehn und wird keine Arbeitsbewilligung bekommen.« Sissy legte ihre Hand auf Katies Arm. »Es wäre ja nicht so schlimm, Katie. Francie ist so gescheit und liest so viel. Sie wird sich ihre Bildung schon irgendwie verschaffen.« Dann stand Evy auf. »So, nun müssen wir wieder gehen.« Sie legte einen halben Dollar auf den Tisch. Da sie im voraus wußte, daß Katie dagegen protestieren würde, sagte sie kriegerisch: »Und denk ja nicht etwa, dies sei ein Geschenk. Ich werde ihn eines Tages zurückverlangen.« »Du brauchst mich nicht so anzuschreien. Ich habe ja nichts dagegen, von meiner Schwester Geld anzunehmen.« Sissy machte es besser. Während sie Katie zum Abschied küßte, schob sie ihr heimlich eine Dollarnote in die Schürzentasche. »Wenn du mich brauchst«, sagte sie, »laß mich nur holen, ich werde gerne kommen, und wäre es auch mitten in der Nacht. Schick aber lieber Neeley. Francie sollte nicht nachts an den Kohlenschuppen vorbeigehen, es ist nicht ganz geheuer dort.« 319
Katie saß nachher noch bis tief in die Nacht hinein allein am Küchentisch. Zwei Monate … zwei Monate, dachte sie. Lieber Gott, hilf uns noch über zwei Monate hinweg! Es ist ja eine so kurze Zeit. Bis dahin wird mein Kind geboren sein, und ich kann wieder arbeiten. Die Kinder werden bis dahin ihr Schlußexamen bestanden haben. Wenn ich dann wieder im Besitz meiner Kräfte bin und Herr über meinen Körper und meinen Geist, dann werde ich nichts mehr von dir verlangen. Aber jetzt ist mein Körper Herr über mich, und ich muß dich um Hilfe bitten. Nur für zwei Monate … nicht länger als für zwei Monate. Sie wartete auf das warme Glühen im Innern, das bedeutete, daß sie mit ihrem Gott in Kontakt war. Aber sie empfand nichts. Dann versuchte sie es mit der Heiligen Jungfrau. Heilige Maria, Mutter Gottes, du weißt, wie es ist. Du hast auch ein Kind gehabt. Heilige Jungfrau … Sie wartete abermals. Und wieder vergeblich. Dann legte sie Sissys Dollarnote und Evys Fünfzigcentstück auf den Tisch. Von denen können wir noch drei Tage leben, dachte sie. Und nachher …? Halb unbewußt flüsterte sie: »Johnny, wo du auch sein magst, hilf uns doch nur noch ein einziges Mal. Nur noch ein einziges Mal …« Sie wartete wieder, und diesmal verspürte sie den warmen Schauer, auf den sie vorher umsonst gewartet hatte.
Und Johnny half ihnen wirklich. McGarrity, der Schenkwirt, konnte Johnny nicht vergessen. Nicht, daß er seinetwegen ein schlechtes Gewissen gehabt hätte, nein, das war es nicht. Er zwang ja niemanden, in seine Schenke zu kommen. Er hielt nur immer die Türangeln gut geölt, so daß die Flügeltüren sich bei der leichtesten Berührung öffneten, aber sonst bot er seinen Kunden nicht mehr Vorteile als die übrigen Wirte. Sein freies Mittagessen war nicht großartiger als das der andern, und es gab bei ihm keine verlockende Unterhaltung außer derjenigen, zu der die Gäste spontan selbst beitrugen. Nein, er hatte keine Ursache, ein schlechtes Gewissen zu haben. 320
Aber er vermißte Johnny. Das war's. Und es war auch nicht wegen des Geldes, denn Johnny stand immer in seiner Schuld. Er hatte Johnny gern in seiner Schenke gesehen, denn er hatte ihr einen gewissen Stil verliehen. Es hatte ihm immer Vergnügen gemacht, die schlanke, elegante Figur von Johnny Nolan inmitten der Bauarbeiter und der Lastwagenlenker an der Bar stehen zu sehen. Sicher, gab McGarrity zu, hat Johnny Nolan immer mehr getrunken, als ihm guttat, aber wenn er es nicht bei mir getan hätte, dann hätte er es eben bei einem andern getan. Aber er war nie ein Raufbold. Er verfiel nie ins Fluchen oder in irgendwelches lärmendes Benehmen, wenn er zuviel getrunken hatte. Ja, beschloß McGarrity bei sich, Johnny ist ein feiner Kerl gewesen. Was McGarrity am meisten fehlte, waren Johnnys Gespräche. Wie dieser Johnny Nolan Geschichten erzählen konnte! Er konnte von den Baumwollfeldern des Südens oder von den Küsten Arabiens oder Südfrankreichs erzählen, als sei er selbst dort gewesen. Dabei hatte er sein ganzes Wissen nur aus den Liedern, die er sang. Ich habe ihn wirklich gern von diesen fremden Ländern erzählen hören, dachte McGarrity. Aber am schönsten war es immer, wenn er von seiner Familie erzählte. McGarrity hatte sich eine Familie ausgedacht, wie er sie gern gehabt hätte. Seine Traumfamilie wohnte weit weg von der Schenke. So weit weg wohnte sie, daß er in der frühen Morgenstunde, nachdem er seine Schenke geschlossen hatte, einen Autobus nehmen mußte, um nach Hause zu fahren. Dort erwartete ihn die liebevolle Gattin seines Traumes und hatte für ihn heißen Kaffee und irgend etwas Gutes zum Essen bereit. Nachdem sie gegessen hatten, würden sie plaudern … plaudern über alles mögliche, nur nicht über die Schenke. Er hatte sich auch Traumkinder ausgedacht – saubere, hübsche, intelligente Kinder, die sich ein wenig schämten, daß ihr Vater ein Schenkwirt war. Er war aber stolz darauf, daß sie sich seiner schämten, denn dies bewies, daß er imstande gewesen war, verfeinerte Kinder zu zeugen. So hatte er sich sein Familienleben zurechtgeträumt. Dann aber hatte er Mae geheiratet. Sie war ein schlankes, sinnliches Mädchen gewesen mit einem breiten Mund und dunkelrotem Haar. Nachdem sie eine 321
Zeitlang verheiratet gewesen waren, hatte sie sich in eine dicke, hochbusige Frau verwandelt, in eine typische Schenkwirtin. McGarrity war ein oder zwei Jahre lang ganz glücklich gewesen, bis er eines Morgens erwachte und sich klar darüber war, daß er sich getäuscht hatte. Mae wollte sich nicht in die Traumgemahlin verwandeln. Sie liebte das Leben als Schenkwirtin. Sie wollte unbedingt über der Schenke wohnen. Sie wollte kein Häuschen in Flushing. Sie wollte keine Hausarbeit tun. Sie wollte viel lieber Tag und Nacht in der Schenke sitzen und mit den Kunden lachen und trinken. Und die Kinder, die sie ihm schenkte, liefen wie Gassenlümmel auf der Straße herum und prahlten damit, daß ihr Vater eine Schenke besaß. Zu seiner bitteren Enttäuschung waren sie stolz darauf, statt sich zu schämen. Er wußte genau, daß Mae ihm untreu war. Er machte sich aber nichts daraus, solange es nicht publik wurde und die Männer sich hinter seinem Rücken über ihn lustig machten. Seit er aufgehört hatte, Mae zu begehren, hatte ihn auch jegliche Eifersucht verlassen. Er hatte schon längst nicht mehr den Wunsch, mit ihr oder irgendeiner andern Frau zu schlafen. Er hatte die feste Überzeugung, daß nur eine Frau, die klug zu reden verstand, eine gute Gemahlin sein konnte. Er wünschte sich vor allem eine Frau, mit der er sprechen konnte, der er all seine Gedanken anvertrauen konnte und die auch mit ihm auf warme, intelligente und intime Weise zu reden verstand. Wenn er eine solche Frau finden könnte, dachte er, dann würde er auch ihren Körper wieder begehren. In seiner unbestimmten Vorstellung wünschte er sich nicht nur eine körperliche, sondern gleichzeitig eine geistige und seelische Vereinigung. Im Laufe der Jahre wurde für ihn diese Vorstellung zu einer fixen Idee. Sein Beruf bot ihm Gelegenheit, die Menschen zu beobachten und aus ihrem Verhalten gewisse Schlüsse zu ziehen. Seine Schlüsse waren weder genial noch originell, aber für ihn waren sie trotzdem wichtig, weil er sie selbst gezogen hatte. In der ersten Zeit ihrer Ehe hatte er versucht, Mae seine Gedanken über die menschliche Natur mitzuteilen, aber sie hatte immer nur die eine Antwort gehabt: »Das kann ich mir vorstellen.« Die einzige Variation, die sie aufbrachte, war: »Das 322
kann ich mir gut vorstellen.« Mit der Zeit hatte er, weil er sein innerstes Wesen nicht mit seiner Frau teilen konnte, auch seine physische Fähigkeit, ihr Mann zu sein, verloren, und sie war ihm deswegen untreu geworden. McGarrity war ein Mann mit einer großen Sünde auf dem Gewissen. Er haßte seine Kinder. Seine Tochter Irene war in Francies Alter. Sie hatte rötliche Augen, und ihr Haar war von einem so blassen Rot, daß man es rosa nennen konnte. Sie hatte einen minderwertigen Charakter und war ganz und gar nicht intelligent. Sie war in der Schule schon so oft sitzengeblieben, daß sie mit ihren vierzehn Jahren immer noch in der sechsten Klasse saß. Sein Sohn Jim, der zehn Jahre alt war, zeichnete sich durch nichts weiter aus, als daß sein Hinterteil immer zu dick war für seine Hosen. Nun hatte McGarrity nur noch den einen Traum: er stellte sich immer vor, Mae werde eines Tages zu ihm kommen und ihm gestehen, daß die Kinder gar nicht von ihm seien. Dieser Traum machte ihn glücklich. Er hatte das Gefühl, er könnte die Kinder viel eher lieben, wenn er wüßte, daß sie nicht von ihm waren. Dann könnte er ihre schwache Begabung und ihren schlechten Charakter objektiv betrachten. Dann könnte er Mitleid für sie empfinden und ihnen zu helfen versuchen. Solange er aber annehmen mußte, sie seien sein eigenes Fleisch und Blut, haßte er sie, denn er sah in ihnen seine und Maes schlimmste Eigenschaften summiert. Während all der acht Jahre, da Johnny in McGarritys Schenke ein so häufiger Gast gewesen, hatte er McGarrity täglich das Lob seiner Frau und seiner Kinder gesungen. Und während all der acht Jahre hatte McGarrity sich vorgestellt, er sei Johnny, und er, McGarrity, spreche in dieser Weise von Mae und ihren Kindern. »Ich will Ihnen etwas zeigen«, hatte Johnny einmal stolz verkündet, während er einen zusammengefalteten Bogen Papier aus seiner Rocktasche zog. »Meine kleine Tochter hat diesen Aufsatz in der Schule geschrieben und dafür die beste Note bekommen. Und sie ist doch erst zehn Jahre alt. Hören Sie zu, ich will Ihnen den Aufsatz einmal vorlesen.« 323
Und während der ganzen Zeit, da Johnny las, bildete sich McGarrity ein, seine kleine Tochter habe den Aufsatz geschrieben. Ein anderes Mal hatte Johnny ein Paar ungeschlachte Bücherstützen aus Holz mitgebracht und sie mit elegantem Schwung auf den Ausschanktisch gestellt. »Sehen Sie sich das einmal an«, hatte er stolz gesagt. »Mein kleiner neunjähriger Junge, Neeley, hat sie in der Schule gemacht.« »Mein kleiner Junge, Jimmy, hat sie in der Schule gemacht«, redete sich McGarrity ein, während er die Bücherstützen sorgfältig untersuchte. Einmal hatte McGarrity, um mit Johnny ins Gespräch zu kommen, gefragt: »Was meinst du, Johnny, werden wir auch in den Krieg hineinkommen?« Und Johnny hatte geantwortet: »Merkwürdig! Gerade gestern haben Katie und ich in der Küche bis zum Morgengrauen darüber gesprochen. Es gelang mir schließlich, sie davon zu überzeugen, daß Wilson uns schon draußen halten wird.« Wie wäre es, dachte McGarrity, wenn ich mit Mae die ganze Nacht hindurch aufbleiben und über etwas reden könnte? Und wenn sie am Ende sagen würde: »Du hast recht, Jim!« So kam es, daß McGarrity seine Träume verlor, als Johnny tot war. Er versuchte wohl, sich allerlei vorzustellen, aber es wollte ihm nicht recht gelingen. Er brauchte jemanden wie Johnny, um sich inspirieren zu lassen. Ungefähr zur selben Zeit, als Katie mit ihren Schwestern in der Küche Rat hielt, hatte McGarrity eine Idee. Er besaß mehr Geld, als er nötig hatte, dafür aber fehlte es ihm sonst an allem. Vielleicht konnten ihm Johnnys Kinder wieder zu seinen Träumen verhelfen. Er konnte mit ziemlicher Sicherheit annehmen, daß Katie in Geldnöten war. Vielleicht ließe sich für Johnnys Kinder irgendeine leichte Arbeit finden, die sie nach der Schule noch tun konnten. Das würde ihnen sicher helfen … Und weiß Gott, er konnte sich das leisten. Vielleicht bekam er dafür etwas anderes. Vielleicht würden sie mit ihm so sprechen, wie sie früher mit ihrem Vater zu sprechen pflegten. 324
Er sagte zu Mae, er wolle Katie aufsuchen und ihr für die Kinder eine Arbeit offerieren. Mae warnte ihn lachend, er solle aufpassen, daß sie ihn nicht hinauswerfe. McGarrity glaubte nicht, daß sie ihn hinauswerfen würde. Als er sich vor dem Gehen noch rasierte, erinnerte er sich an den Tag, an dem Katie vorbeigekommen war, um sich für den Lorbeerkranz zu bedanken. Nach Johnnys Begräbnis war Katie zu allen Blumenspendern gegangen, um sich persönlich zu bedanken. Sie war bei McGarrity, in Mißachtung des deutlich gekennzeichneten ›Dameneingangs‹, durch die Haupttür und an den erstaunt gaffenden Männern vorbei zu McGarrity gegangen. Als er sie kommen sah, steckte er den einen Schürzenzipfel in den Gürtel, was bei ihm bedeutete, daß er für seine Kunden nicht zu sprechen war, und ging auf sie zu. »Ich komme, um Ihnen für den Kranz zu danken«, sagte Katie. »Ach, deshalb«, sagte er erleichtert. Er hatte befürchtet, sie würde ihm Vorwürfe machen. »Es war sehr nett von Ihnen.« »Ich habe Johnny sehr gern gehabt.« »Ich weiß.« Sie streckte ihm die Hand entgegen. Er starrte sie zuerst einen Moment lang verwundert an, bevor er begriff, daß sie ihm zum Dank die Hand drücken wollte. Als er ihr die Hand schüttelte, fragte er: »Sie tragen mir also nichts nach?« »Warum sollte ich? Johnny war ein freier Mann, er war doch mündig.« Dann hatte sich Katie abgewandt und war auf dem nächsten Weg wieder aus der Schenke hinausmarschiert. Nein, McGarrity war sicher, da sie ihn nicht hinauswerfen würde, wenn er in so guter Absicht kam.
Er saß verlegen vor Katie auf einem Küchenstuhl. Die Kinder waren ebenfalls dabei und sollten eigentlich ihre Schulaufgaben machen. Aber Francie täuschte nur vor, eifrig in ihrem Buch zu lernen, in Wirklichkeit hörte sie dem Gespräch zu. 325
»Ich habe es mit meiner Frau besprochen«, träumte McGarrity, »und sie meinte auch, daß wir Ihr Töchterchen brauchen könnten. Wissen Sie, es ist keine schwere Arbeit. Sie müßte nur das Schlafzimmer machen und ein bißchen Geschirr spülen. Den Jungen könnte ich unten in der Küche brauchen, zum Eierschälen und ‑zerschneiden, wissen Sie, für das Gratisessen am Abend. Er würde mit der Bar gar nicht in Berührung kommen. Er würde in der hinteren Küche arbeiten. Es wäre nur für ungefähr eine Stunde nach der Schule und am Samstag für den halben Tag. Ich würde jedem von den Kindern in der Woche zwei Dollar geben.« Katies Herz tat einen Freudensprung. Vier Dollar in der Woche, rechnete sie sich vor, und anderthalb Dollar durch Neeleys Zeitungsaustragen. So könnten beide Kinder in der Schule bleiben, und sie hätten trotzdem genug zu essen. Das würde ihnen über die zwei Monate hinweghelfen. »Was sagen Sie dazu, Frau Nolan?« fragte er. »Das müssen die Kinder entscheiden«, antwortete sie. »Nun?« Er wandte sich jetzt an die Kinder. »Was sagt ihr dazu?« Francie tat so, als müßte sie sich erst von ihrem Buch losreißen. »Zu was?« »Ich meine, ob ihr meiner Frau ein wenig helfen möchtet?« »Ja, gern«, sagte Francie. »Und du?« er schaute auf Neeley. »Ja, gern«, echote Neeley. »Dann bleiben wir also dabei.« Er wandte sich wieder an Katie. »Es ist natürlich nur vorübergehend, bis wir jemand gefunden haben, der uns regelmäßig die Haus- und Küchenarbeit besorgt.« »Es ist mir sowieso lieber, wenn es nur vorübergehend ist«, sagte Katie. »Vielleicht sind Sie ein wenig knapp daran.« Er grub in seiner Hosentasche herum. »Ich will Ihnen gern den ersten Wochenlohn im voraus bezahlen.« »Nein, danke, Herr McGarrity. Wenn sie das Geld verdient haben, dann sollen sie am Ende der Woche auch das Vergnügen haben, es selbst einzukassieren.« 326
»Da haben Sie recht.« Aber statt seine Hand wieder aus der Tasche zurückzuziehen, grub er weiter, bis er auf ein dickes Bündel Banknoten stieß. Er hatte eine Idee. Ich habe soviel Geld, mit dem ich nichts anzufangen weiß. Und sie haben überhaupt keines, dachte er. Dann sagte er zu Katie: »Frau Nolan, Sie wissen doch noch, wie Johnny und ich miteinander gehandelt haben. Ich gab ihm Kredit, und er gab mir dafür all seine Trinkgelder. Nun, als er starb, hatte er bei mir noch ein kleines Guthaben.« Er zog das Bündel Banknoten heraus. Francie machte große Augen, als sie das viele Geld sah. McGarrity hatte eigentlich sagen wollen, er schulde Johnny noch zwölf Dollar. Während er das Gummiband von den Noten löste, um Katie diese Summe auszuhändigen, schaute er sie an und bemerkte, wie sie zweifelnd die Augen zusammenzog. Er besann sich schnell anders, wohl wissend, daß sie ihm die Geschichte mit den zwölf Dollar niemals glauben würde. »Es ist natürlich nicht sehr viel«, sagte er beiläufig. »Nur zwei Dollar. Aber ich denke, Sie haben doch ein Recht darauf.« Er nahm zwei Dollarscheine und wollte sie Katie geben. Aber Katie schüttelte den Kopf. »Ich weiß genau, daß Sie uns nichts schuldig sind, Herr McGarrity.« McGarrity stopfte die Banknoten wieder in die Hosentasche, ein wenig beschämt, daß Katie ihn durchschaut hatte, und der dicke Wulst gab ihm ein unangenehmes Gefühl. »Aber Herr McGarrity, ich danke Ihnen von Herzen für Ihre gute Absicht«, sagte Katie. Diese letzten paar Worte brachen den Bann und lösten McGarritys Zunge. Er begann zu sprechen. Er erzählte von seiner Jugendzeit in Irland, von seiner Mutter, seinem Vater und seinen vielen Geschwistern. Er sprach von seiner Traumehe. Er schüttete all seine Gedanken, die er in den letzten Jahren gedacht hatte, vor ihr aus. Er beklagte sich weder über seine Frau noch über seine Kinder, aber er ließ sie einfach aus der Sache heraus. Er erzählte von Johnny, und wie er ihm täglich von seiner Frau und seinen Kindern erzählt hatte. »Diese Vorhänge zum Beispiel«, sagte McGarrity und wies mit seiner dicken Hand auf die halben Vorhänge am Küchenfenster, die aus gel327
bem, mit einem roten Rosenmuster bestreuten Kattun verfertigt waren. »Johnny erzählte mir, wie Sie ein altes Kleid aufgetrennt haben und daraus diese Vorhänge machten. Er sagte, die Küche sehe nun so wunderbar aus wie das Innere eines Zigeunerwagens.« Francie hatte längst aufgehört, das Aufgabenmachen vorzutäuschen, und hörte interessiert zu. Zigeunerwagen, dachte sie und schaute die Vorhänge mit neuen Augen an. Also das hatte Papa gesagt. Sie hätte gar nicht geglaubt, daß er die neuen Vorhänge überhaupt gesehen hatte. Er hatte sie also doch gesehen. Und er hatte zu diesem Mann etwas so Nettes darüber gesagt. Wenn sie soviel von Papa erzählen hörte, hatte sie fast das Gefühl, er sei gar nicht tot. Papa hatte also so nette Sachen zu diesem Mann gesagt?! Sie staunte McGarrity mit neuem Interesse an. Er war ein dicker, untersetzter Mann mit fetten Händen, einem kurzen, roten Hals und schütterem Haar. Wer würde jemals annehmen, dachte Francie, wenn man ihn so von außen sieht, daß er inwendig ganz anders ist? McGarrity blieb zwei Stunden lang und sprach ununterbrochen. Katie hörte ihm interessiert zu. Sie hörte natürlich nicht um McGarritys willen zu, sondern weil McGarrity von Johnny sprach. Wenn er einen Moment lang aufhörte, gab sie ihm kleine fragende Antworten wie »Ja?« oder »Und dann?«, und wenn er nach einem Wort suchte, fand sie es für ihn, und er nahm es dankbar an. Und während er so sprach, geschah etwas Bemerkenswertes. Er fühlte, wie seine verloren geglaubte Männlichkeit sich wieder in ihm regte. Nicht, daß er durch Katies Gegenwart angeregt worden wäre, denn sie war ja in diesem Moment so unförmig, daß ihm ihr Anblick weh tat. Es war nicht die Frau, es war die Tatsache, daß er so schön mit ihr reden konnte, was seine schlafenden Triebe wieder geweckt hatte. Es wurde allmählich dunkel im Zimmer. McGarrity hörte auf zu sprechen. Er war heiser und müde. Aber es war eine sehr wohltuende Müdigkeit. Er dachte nur ungern daran, daß er ja wieder gehen mußte. Die Schenke würde sich nun mit Männern füllen, die von ihrer Arbeit heimkehrten und vor dem Nachtessen bei ihm noch ei328
nen Aperitif nahmen. Er hatte es nicht gern, wenn Mae in Gegenwart von so vielen Männern allein hinter der Bar stand. Er erhob sich langsam. »Frau Nolan«, sagte er, während er seinen braunen, steifen Filzhut verlegen in den Fingern drehte, »könnte ich nicht hin und wieder zu Ihnen kommen, um ein wenig zu plaudern?« Sie schüttelte langsam den Kopf. »Nur um zu plaudern«, bettelte er. »Nein, Herr McGarrity«, sagte sie wieder so freundlich wie möglich. Er seufzte und ging.
Francie war froh, so beschäftigt zu sein. Es hinderte sie daran, Papa allzusehr zu vermissen. Sie und Neeley standen jeden Morgen um sechs Uhr auf und halfen Mama bei ihren Reinigungsarbeiten, bis sie in die Schule gehen mußten. Mama konnte nun nicht mehr so schwer arbeiten. Francie polierte die messingnen Glockenzüge und putzte die Speichen der Treppengeländer mit einem öldurchtränkten Lappen. Neeley kehrte die Keller und die mit Teppichen belegten Treppen. Mit vereinten Kräften schleppten sie täglich die vollen Aschenkübel auf das Trottoir hinaus. Es war zuerst ein Problem gewesen, denn beide zusammen waren nicht stark genug, die vollen Kübel zu transportieren. So leerten sie den Inhalt zuerst auf den Kellerboden und trugen den leeren Eimer hinauf. Dann mußten sie die Asche mittels Kohleneimer wieder nachfüllen. Dieses System bewährte sich gut, wenn es auch bedeutete, daß sie unzählige Male mit der Asche hin- und herlaufen mußten. So mußte Mama also nur noch die linoleumbelegten Korridore und Hausflure reinigen. Drei Mieterinnen boten sich an, diese Arbeit selbst zu besorgen, bis Katies Kindlein geboren war, und das war für Katie eine große Erleichterung. Nach der Schule mußten die Kinder in die Kirche zur ›Unterweisung‹ gehen, da sie beide im Frühling konfirmiert werden sollten. Nach der 329
Unterweisung arbeiteten sie bei McGarrity. Die Arbeit war leicht, wie er versprochen hatte. Francie mußte vier zerzauste Betten machen, ein wenig Geschirr spülen und die Zimmer fegen. Mit alldem war sie in kaum einer Stunde fertig. Neeley hatte dieselbe Tageseinteilung wie Francie, mit dem Unterschied, daß er am Ende noch die Zeitungen austragen mußte. Manchmal kam er erst um acht Uhr zum Abendessen. Bei McGarrity arbeitete er in der Küche. Er mußte täglich vier Dutzend hartgekochte Eier schälen, harten Käse in kleine Würfel zerschneiden, in jeden Würfel einen Zahnstocher stecken und Cornichons der Länge nach in dünne Scheiben schneiden. McGarrity wartete ein paar Tage, bis sich die Kinder bei ihm ein wenig eingewöhnt hatten. Dann fand er, es sei nun an der Zeit, sie zum Reden zu bringen, so wie er es mit Johnny getan hatte. Er ging in die Küche, setzte sich auf einen Stuhl und schaute Neeley zu, wie er seine Arbeit verrichtete. Er ist seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten, dachte McGarrity. Er verhielt sich lange still, damit der Junge mit seiner Gegenwart vertraut werde. Dann räusperte er sich und sagte: »Hast du in letzter Zeit wieder einmal hölzerne Bücherstützen gemacht?« »Nein … nein, Herr McGarrity«, stammelte Neeley, den die merkwürdige Frage etwas aus der Fassung brachte. McGarrity wartete. Warum begann der Junge nicht einfach zu sprechen? Neeley bemühte sich, die Eier noch flinker zu schälen. McGarrity machte noch einen Versuch. »Glaubst du, es wird Wilson gelingen, uns aus dem Krieg herauszuhalten?« »Ich weiß nicht«, sagte Neeley. McGarrity saß wieder lange Zeit schweigend da. Neeley dachte, er wollen sehen, wie schnell er arbeite. Und weil er seine Sache möglichst gut machen wollte, arbeitete er so schnell, daß er früher fertig war als sonst. Er legte das letzte geschälte Ei in die Glasschale und schaute auf. Ah, aber jetzt wird er dann mit mir sprechen, dachte McGarrity. »Ist das alles, was ich für Sie tun kann?« fragte Neeley. 330
»Das ist alles.« Und wieder wartete McGarrity. »Ja, dann könnte ich ja nach Hause gehen«, schlug Neeley schüchtern vor. »Ja, das kannst du, mein Sohn«, seufzte McGarrity. Er sah dem Jungen nach, wie er durch die hintere Haustür hinausging. Wenn er sich nur schnell umdrehen und irgend etwas Persönliches sagen würde, dachte McGarrity. Aber Neeley drehte sich nicht um. Am folgenden Tag probierte es McGarrity mit Francie. Er stieg die Treppe hinauf in seine Wohnung, setzte sich auf einen Stuhl und schwieg. Francie erschrak ein wenig und machte sich in der Nähe der Tür zu schaffen. Wenn er mir etwas tun will, dachte sie, kann ich hinauslaufen. McGarrity blieb eine Weile schweigend sitzen und hoffte, sie werde sich dadurch an seine Gegenwart gewöhnen. Er hatte keine Ahnung, daß er ihr nur Furcht einflößte. »Hast du letzthin wieder einmal die beste Note für einen Aufsatz bekommen?« fragte er schließlich. »Nein, Herr McGarrity.« »Glaubst du, daß wir in diesen Weltkrieg verwickelt werden?« »Ich … ich weiß nicht.« Sie trat näher an die Tür heran. Er dachte: Ich erschrecke sie. Sie denkt, ich bin wie der Mann, der sie damals im Hausflur angegriffen hat. Dann sagte er laut: »Fürchte dich nicht vor mir. Ich will schon wieder gehen. Wenn du willst, kannst du ja die Tür hinter mir verriegeln.« »Ja, Herr McGarrity.« Erst nachdem er draußen war, fiel Francie ein, daß er vielleicht nur ein wenig mit ihr hatte plaudern wollen. Aber sie hatte ihm nichts zu sagen. Einmal kam auch Mae McGarrity herauf. Francie kniete gerade vor dem Ausguß und versuchte, den Staub hinter der Wasserleitung abzuwischen. Mae sagte ihr, sie solle es doch nicht so genau nehmen. »Gott segne dich, Kind! Aber bring dich nicht um mit solchen Arbeiten. Diese Wohnung wird uns beide trotzdem überleben.« Sie nahm einen Berg von Fruchtgelee aus dem Eisschrank, teilte ihn in zwei Teile und schob Francie die eine Hälfte auf einem Teller hin. 331
Sie verzierte das Gelee reichlich mit Schlagrahm, warf zwei Löffel auf den Tisch und bedeutete Francie, sie solle sich setzen und mitessen. »Ich bin nicht hungrig«, log Francie. »Dann ißt du eben, um mir Gesellschaft zu leisten«, sagte Mae. Es war das erste Mal, daß Francie Fruchtgelee mit Schlagrahm aß, und sie mußte sich alle Mühe geben, manierlich zu essen, weil sie es so herrlich fand. Während sie aß, dachte sie: Frau McGarrity ist schon recht. Und Herr McGarrity ist sicher auch recht. Der Fehler liegt wahrscheinlich darin, daß sie miteinander nicht recht sind. Am Abend saßen Mae und Jim McGarrity allein an einem kleinen runden Tisch im Hintergrund der Schenke und nahmen stumm ihr gewohntes flüchtiges Abendessen zu sich. Ganz unerwartet legte sie ihre Hand auf seinen Arm. Er zitterte unter der ungewohnten Berührung. Seine kleinen hellen Augen blickten in ihre großen mahagonibraunen und sahen darin etwas wie Mitleid. »Es will nicht recht funktionieren, Jim«, sagte sie sanft. Eine Welle der Begeisterung schäumte in ihm auf. Sie weiß es! dachte er. Sie versteht mich, sie weiß, was ich von den Kindern wollte. »Es gibt eine alte Redensart«, fuhr Mae fort. »Mit Geld läßt sich nicht alles kaufen.« »Ich weiß«, sagte er. »Dann lasse ich sie eben wieder gehen.« »Wart noch bis ein paar Wochen bis nach der Geburt des Kleinen.« Sie stand auf und ging in den Barraum hinüber. McGarrity blieb sitzen, überwältigt vom Sturm seiner Gefühle. Wir haben ein Gespräch geführt, dachte er staunend. Wir haben einander verstanden, ohne irgendwelche Namen zu nennen. Sie wußte genau, wie mir zumute war, und ich wußte, was sie empfand. Er folgte seiner Frau spontan. Er sah sie hinter der Bar stehen. Ein heiserer Fuhrmann hielt sie mit seinem Arm umschlungen und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie hielt die Hand vor den Mund, um nicht laut herauszuplatzen. Als McGarrity hereinkam, ließ der Fuhrmann seinen Arm läppisch sinken und gesellte sich zu einer Gruppe von Männern, die vor der Bar standen. McGarrity ging hinter den Schanktisch und schaute seiner Frau fragend in die Augen. Sie blickte ihn leer und verständ332
nislos an. – McGarritys Gesicht nahm wieder den alten, resignierten Ausdruck an, und er machte sich mit bitterer Enttäuschung im Herzen an seine Arbeit. Mary Rommely war sehr alt geworden. Sie konnte nicht mehr allein auf den Straßen von Brooklyn umhergehen. Sie sehnte sich sehr danach, Katie vor ihrer Niederkunft noch einmal zu sehen, und gab deshalb dem Versicherungseinnehmer eine Botschaft mit. »Wenn eine Frau ein Kind gebiert«, sagte sie ihm, »dann hält der Tod sie eine Zeitlang bei der Hand. Manchmal läßt er sie nicht mehr los. Sagen Sie meiner jüngsten Tochter, ich möchte sie noch einmal sehen, bevor ihre Zeit kommt.« Der Einnehmer überbrachte Katie die Botschaft. Am nächsten Sonntag ging Katie hinüber zu ihrer Mutter und nahm Francie mit. Neeley ließ sich beurlauben, denn er hatte einer Fußballmannschaft versprochen, auf dem Spielplatz beim Pfähleeinschlagen zu helfen. Sissys Küche war groß, warm und sonnig und tadellos sauber. Großmutter Rommely saß vor dem Herd in einem niedrigen Schaukelstuhl, der nebst der Truhe das einzige Möbelstück war, das sie aus der alten Heimat herübergebracht hatte. Der Schaukelstuhl hatte in der Hütte ihrer Familie schon vor mehr als hundert Jahren vor dem Herd gestanden. Sissys John saß beim Fenster, hielt das Kind im Arm und gab ihm die Flasche. Nachdem Katie und Francie Mary Rommely und Sissy begrüßt hatten, sagten sie zu ihm: »Hallo, John!« Und er antwortete: »Hallo, Katie. Hallo, Francie!« Dann sagte er während des ganzen Besuches kein Wort mehr. Francie schaute ihn neugierig an. Die Familie nahm ihn nicht recht ernst, sie hielt ihn für ein zeitweiliges Mitglied, wie Sissys frühere Männer und Liebhaber. Francie hätte gern gewußt, ob er selbst sich wohl auch so vorkam. Sein wirklicher Name war Steve, aber Sissy nannte ihn immer John, und wenn man in der Familie von ihm sprach, dann nannte man ihn ebenfalls ›den John‹ oder dann ›Sissys John‹. Francie fragte sich, ob die Leute in seinem Geschäft ihn wohl auch John 333
nannten. Ob er wohl nie protestierte? Hatte er denn nie zu Sissy gesagt: »Hör mal, Sissy! Ich heiße doch Steve und nicht John. Sag deinen Schwestern und ihren Kindern, sie sollen mich auch Steve nennen!« »Sissy, du wirst allmählich ordentlich rundlich«, sagte Mama. »Das ist doch natürlich, nachdem man ein Kind gehabt hat«, sagte Sissy mit unschuldigem Gesicht. Dann lächelte sie Francie an. »Möchtest du gern das Kindlein ein wenig halten, Francie?« »O ja!« Ohne ein Wort zu sagen, stand Sissys großer Mann auf, übergab Francie das Kindlein samt der Flasche und ging wortlos aus der Küche. Niemand sagte etwas, als er verschwand. Francie setzte sich in seinen Stuhl beim Fenster. Sie hatte bis jetzt noch nie ein kleines Kind auf dem Arm gehabt. Sie strich ihm mit dem Finger über die zarten, weichen Bäcklein, wie sie es bei Joanna gesehen hatte. Bei der zarten Berührung lief ihr ein Schauer von der Fingerspitze durch den ganzen Körper. Wenn ich einmal groß bin, dachte sie, dann will ich immer ein kleines Kindlein im Haus haben. Während sie das Kind auf dem Arm hielt, hörte sie zu, wie Mama mit Großmutter Rommely sprach, und beobachtete Sissy, die für einen ganzen Monat Hausmachernudeln verfertigte. Sissy hielt einen Klumpen gelben Teig in der Hand, rollte ihn dann mit einem Wallholz flach aus, rollte ihn zusammen wie eine Omelette, nahm ein scharfes Messer und schnitt die Rolle in hauchdünne Scheiben. Dann rollte sie die Streifen auseinander und hängte sie an einem hölzernen Gestell, das vor dem Herd stand, zum Trocknen auf. Francie fand, Sissy habe sich sehr verändert. Sie war nicht mehr die Sissy von früher. Der Unterschied bestand aber nicht nur darin, daß sie nicht mehr so schlank war wie früher. Francie hätte gerne gewußt, woran es lag, daß Sissy ihr so anders vorkam. Mary Rommely wollte alles bis ins Detail wissen, und Katie erzählte ihr alles, was in ihrer Familie geschehen war. Zuerst erzählte sie davon, wie die Kinder nun bei McGarrity arbeiteten und wie sie von ihrem Lohn lebten. Dann ging sie zurück bis zu dem Tag, an dem Mc334
Garrity in ihrer Küche gesessen und soviel von Johnny erzählt hatte. Am Ende sagte sie: »Ich sage dir, Mutter, wenn McGarrity damals nicht gekommen wäre, dann weiß ich nicht, was aus uns geworden wäre. Ich war so ratlos, daß ich vorher zu Johnny gebetet habe, er solle uns doch helfen. Ich weiß schon, daß dies sehr kindisch war.« »Nicht so kindisch, wie du denkst. Er hat dich doch gehört, und er hat euch geholfen.« »Aber ein Geist kann einem doch nicht helfen«, wandte Sissy ein. »Es gibt eben nicht nur Geister von der Art, die durch geschlossene Türen spazieren können«, sagte Mary Rommely. »Katie hat doch erzählt, wie Johnny mit diesem Schenkwirt zu sprechen pflegte. Nun, in all den Jahren, als Johnny mit diesem Mann sprach, hat er immer einen Teil seines Wesens gegeben. Und als Katie nun Johnny um Hilfe anflehte, kamen in der Seele dieses Mannes all die Teile von Johnny wieder zusammen, und der Schenkwirt hat seine Stimme gehört und ist euch zu Hilfe gekommen.« Francie mußte darüber nachdenken. Wenn das so ist, dachte Francie, dann hat uns McGarrity all diese Teile von Papa zurückgegeben an dem Tag, da er so lange von ihm erzählte. Und jetzt ist nichts mehr von Papa in ihm. Vielleicht können wir deshalb nicht so mit ihm sprechen, wie er es von uns erwartet. Bevor sie wieder nach Hause gingen, packte Sissy für Katie eine Schuhschachtel voll Nudeln ein. Als Francie ihrer Großmutter den Abschiedskuß gab, hielt diese sie fest umfangen und flüsterte ihr in ihrer eigenen Sprache zu: »Im kommenden Monat sollst du deiner Mutter mehr als nur Gehorsam und Respekt geben. Sie wird sehr liebebedürftig sein und dein Verständnis nötig haben.« Francie verstand kein Wort von dem, was Großmutter sagte, aber sie antwortete feierlich: »Ja, Großmutter.« Während sie im Autobus nach Hause fuhren, hing Francie ihren Gedanken nach. Wenn das, was Großmutter Rommely gesagt hat, wahr ist, dann stirbt eigentlich niemand ganz. Papa ist 335
tot, aber er ist trotzdem immer noch unter uns auf mancherlei Art. Er ist in Neeley, der ihm so ähnlich sieht, und in Mama, die ihn schon so lange kannte. Er ist hier in seiner Mutter, die ihn gebar und die immer noch da ist. Und vielleicht werde ich auch einmal einen Sohn haben, der aussieht wie Papa und der alle Eigenschaften von Papa hat, ausgenommen das Trinken. Und dieser Sohn hat vielleicht wieder einen Sohn, und dieser wieder einen. Vielleicht gibt es gar keinen wirklichen Tod. Dann schweiften ihre Gedanken wieder zu McGarrity zurück. Niemand würde jemals denken, daß etwas von Papa in ihm ist Sie dachte an Frau McGarrity und wie leicht sie es ihr gemacht hatte, sich zu setzen und das wunderbare Fruchtgelee zu essen. Und plötzlich fiel ihr ein, warum Sissy so anders war als früher. Sie sagte es ihrer Mutter. »Tante Sissy nimmt dieses starke, süße Parfüm nicht mehr, gelt, Mama?« »Nein. Sie hat es jetzt nicht mehr nötig.« »Warum nicht?« »Weil sie jetzt ein Kind hat und einen Mann, der für sie und das Kind sorgt.« Francie hätte gerne noch weiter gefragt, aber Mama hatte die Augen geschlossen und den Kopf gegen die Rücklehne gestützt. Sie sah bleich und müde aus, und Francie beschloß, sie nun nicht mehr mit Fragen zu belästigen. Sie mußte sich die Antworten selbst ausdenken. Es wird schon so sein, dachte sie, daß der Gebrauch des starken Parfüms etwas mit dem Wunsch einer Frau nach einem Kind und einem Mann, der ihr das Kind geben und für sie und das Kind sorgen kann, zu tun hat. Sie schob diese kostbare Erkenntnis in ein Fach ihres Gedächtnisses, wo sie schon viele ähnliche Schätze, nach denen sie beständig auf der Suche war, verstaut hatte. Plötzlich verspürte Francie Kopfweh. Sie wußte nicht, ob die Begeisterung für das kleine Kind, das Rütteln des Autobusses, die Erkenntnis über Papas Tod oder die Einsicht in bezug auf Sissys Parfüm daran schuld waren. Vielleicht kam es auch nur daher, weil sie so früh aufstand und den ganzen Tag soviel arbeitete. Vielleicht aber war es nur 336
deshalb, weil die Zeit im Monat gekommen war, da sie Kopfweh zu erwarten hatte. Nein, beschloß Francie, das, was mir dieses Kopfweh gibt, ist das Leben, und nichts anderes. »Denk nicht so dummes Zeug«, sagte Mama ruhig. Sie hatte immer noch den Kopf zurückgelehnt und die Augen geschlossen. »Tante Sissys Küche war zu heiß. Ich habe auch Kopfweh.« Francie erschrak. War es nun so weit, daß Mama direkten Einblick in ihre Gedanken hatte? Dann merkte sie, daß sie ja den letzten Satz laut gedacht hatte, und sie mußte zum erstenmal seit Papas Tod laut lachen. Mama öffnete die Augen und lächelte.
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rancie und Neeley wurden im Mai konfirmiert. Francie war vierzehneinhalb Jahre alt und Neeley genau ein Jahr jünger. Sissy, die eine Künstlerin im Kleidermachen war, nähte Francies einfaches weißes Kleid. Katie konnte ihr sogar ein Paar weiße Chevreaulederschuhe kaufen und ein Paar weiße Seidenstrümpfe. Francie hatte bis dahin noch nie seidene Strümpfe besessen. Neeley trug den schwarzen Anzug, den er für die Beerdigung seines Vaters bekommen hatte. Es bestand eine Legende, daß man an diesem Tag drei Wünsche haben könne, die dann in Erfüllung gingen. Der eine Wunsch mußte etwas Unmögliches sein, der zweite etwas, zu dessen Erfüllung man selbst beitragen konnte, und der dritte mußte sich auf die Zukunft beziehen. Francie wünschte sich erstens, daß sich ihr steckengerades Haar zu Locken verwandle, zweitens, daß sie eine so schöne Stimme bekommen wie Mama und Tante Evy und Tante Sissy, und drittens, daß sie später einmal um die ganze Welt werde reisen können. Und Neeley wünschte sich erstens, daß er einmal sehr reich werde, zwei337
tens, daß er in seinem Zeugnis bessere Noten bekomme, und drittens, daß er später einmal nicht so viel trinken werde wie Papa. Es bestand eine feste Tradition, daß man sich bei der Konfirmation von einem richtigen Fotografen aufnehmen ließ. Katie konnte sich das aber nicht leisten. Sie mußte sich damit begnügen, daß Floß Gaddis, die einen eigenen Apparat besaß, die Kinder aufnahm. Floß stellte die beiden auf dem Randstein auf und drückte gerade in dem Moment ab, als ein großer Autobus vorüberfuhr. Sie ließ die Fotografie vergrößern und einrahmen und schenkte sie Francie als Konfirmationsgabe. Sissy war gerade da, als das Bild kam. Katie hielt es in der Hand, und die andern schauten ihr über die Schulter. Die Kinder waren bis zu diesem Tag noch nie fotografiert worden. Francie sah sich zum ersten Mal so, wie die andern sie sahen. Sie stand steif und aufrecht auf dem Rand des Trottoirs, und ihr weißes Kleid flatterte im Wind. Neeley stand neben ihr und überragte sie um Haupteslänge. Er sah sehr vornehm und elegant aus in seinem frisch gebügelten schwarzen Anzug. Die Sonne hatte schräg über das Dach geschienen, und es ergab sich so, daß Neeleys Gesicht von den Sonnenstrahlen übergossen wurde und hell und strahlend aussah, während Francie mit dunklem, finsterem Gesicht im Schatten stand. Hinter ihnen war das verwischte Bild des vorüberfahrenden Autobusses. Sissy sagte: »Ich wette, dies ist das einzige Konfirmandenbild auf der ganzen Welt, das als Hintergrund einen Autobus hat.« »Es ist ein gutes Bild«, sagte Katie. »Sie sehen doch viel natürlicher aus hier auf der Straße, als wenn sie vor dem künstlichen Kirchenfenster des Fotografen stünden.« Sie hängte es über dem Kaminsims auf. »Was für einen Beinamen hast du gewählt, Neeley?« fragte Sissy. »Papas. Jetzt heiße ich Cornelius John Nolan.« »Das ist ein guter Name für einen Arzt«, kommentierte Katie. »Und ich habe Mamas Namen genommen«, sagte Francie wichtig. »Jetzt ist mein voller Name Mary Frances Catherine Nolan.« Francie wartete auf Mamas Kommentar. Aber Mama sagte nicht, dies sei ein guter Name für eine Schriftstellerin. »Katie, hast du eigentlich keine Bilder von Johnny?« fragte Sissy. 338
»Nur dasjenige, das an unserm Hochzeitstag aufgenommen wurde … Warum?« »Ich mußte nur denken, wie schnell doch die Zeit vergeht.« »Ja«, seufzte Katie. »Das ist eine der wenigen Erkenntnisse, auf die wir uns verlassen können.«
Nach der Konfirmation mußten die Kinder die Unterweisung nicht mehr besuchen. Dies verschaffte Francie eine Freistunde, in der sie an ihrem Roman schreiben konnte. Sie schrieb diesen Roman, um Fräulein Garnder zu beweisen, daß sie doch wußte, was Schönheit war. Seit dem Tode ihres Vaters hatte Francie aufgehört, von den Vögeln und Bäumen und von ›Meinen Eindrücken‹ zu schreiben. Sie hatte angefangen, über Papa kleine Geschichten zu schreiben, denn sie vermißte ihn so sehr. Sie versuchte, in diesen Geschichten zu beweisen, daß er trotz seiner Fehler ein guter Vater und ein edler Mensch gewesen war. Sie hatte drei solche Geschichten hintereinander geschrieben und jedesmal eine schlechtere Note dafür bekommen als das gewohnte ›Sehr gut‹. Beim vierten hatte die Lehrerin einen Vermerk hingeschrieben, in dem es hieß, sie solle nach der Schule dableiben. Als alle Kinder nach Hause gegangen waren, stand Francie allein mit Fräulein Garnder im Schulzimmer. Die vier letzten Aufsätze von Francie lagen auf Fräulein Garnders Pult. »Was ist denn mit deinen Aufsätzen los, Francie?« fragte Fräulein Garnder. »Ich weiß nicht.« »Du bist doch sonst eine meiner besten Schülerinnen gewesen. Du hast immer so hübsche Sachen geschrieben. Ich habe deine Aufsätze immer sehr genossen. Aber die letzten paar …« Sie deutete verächtlich auf die Aufsätze auf dem Pult. »Ich habe doch alle schwierigen Wörter nachgeschlagen und habe mir mit dem Stil so Mühe gegeben und …« 339
»Das meine ich nicht, ich spreche von deinen Themen.« »Sie haben doch gesagt, wir können Themen selbst wählen.« »Aber Armut, Hunger und Trunksucht sind häßliche Themen. Wir wollen zugeben, daß es diese Dinge gibt. Aber man soll nicht von ihnen schreiben.« »Wovon soll man denn schreiben?« »Man taucht ins Reich der Phantasie ein und findet dort die Schönheit. Der Schriftsteller muß ebenso wie der Maler immer nach der Schönheit suchen.« »Was ist denn Schönheit?« fragte das Kind. »Ich kann mir keine bessere Definition vorstellen als die von John Keats: ›Schönheit ist Wahrheit, Wahrheit Schönheit …‹« Francie nahm ihr Herz in beide Hände und sagte: »Aber diese Geschichten sind Wahrheit.« »Unsinn!« explodierte Fräulein Garnder. Dann milderte sie ihren Ton und fuhr weiter fort: »Unter Wahrheit verstehen wir die ewigen Dinge, die immer da sind, wie die Sterne und die Sonne, die jeden Tag aufgeht, und der wahre Edelmut eines Menschen, die Mutterliebe und die Liebe zum Vaterland«, schloß sie mit einem Höhepunkt. »Ich verstehe«, sagte Francie. Während Fräulein Garnder weitersprach, antwortete Francie nur noch im stillen mit bitteren Bemerkungen. »Die Trunksucht ist weder schön noch wahr. Sie ist einfach ein Laster. Die Trinker gehören alle hinter Schloß und Riegel, aber nicht in Geschichten hinein. Und die Armut! Sie ist nicht zu entschuldigen. Es gibt Arbeit genug auf der Welt für alle, die arbeiten wollen. Die Leute sind nur arm, weil sie zum Arbeiten zu bequem sind. Auch Faulheit und Bequemlichkeit sind nicht schön.« (Man stelle sich vor, Mama sei faul!) »Der Hunger ist auch nicht schön. Er ist auch gar nicht notwendig. Niemand braucht hungrig zu sein. Wir haben ja so gut organisierte Wohltätigkeitsinstitutionen.« Francie biß auf die Zähne, daß es knirschte. Ihre Mutter haßte das Wort ›Wohltätigkeit‹ mehr als jedes andere Wort, und sie hatte ihre Kinder dazu erzogen, es ebenfalls zu verabscheuen. 340
»Ich will nicht überheblich sein«, stellte Fräulein Garnder fest. »Ich stamme selbst aus einer armen Familie. Mein Vater war Landpfarrer und hatte ein sehr kärgliches Gehalt.« (Aber es war immerhin ein Gehalt, Fräulein Garnder.) »Und die einzige Hilfe, die meine Mutter hatte, waren junge Mädchen, die meistens vom Lande waren und nichts vom Haushalt verstanden.« (Ich verstehe, Fräulein Garnder, Sie waren so arm, daß Sie sich ein Mädchen leisten konnten!) »Und manchmal waren wir sogar ohne Mädchen, und meine Mutter mußte die ganze Hausarbeit selbst verrichten.« (Und meine Mutter, Fräulein Garnder, muß auch die ganze Hausarbeit selbst tun und dazu noch zehnmal mehr putzen als ihre eigene Wohnung!) »Ich wäre gerne auf die Columbia-Universität gegangen, aber wir konnten uns das nicht leisten. Mein Vater mußte mich auf eine kleine, von der Kirche gegründete Universität schicken.« (Aber geben Sie doch zu, daß Sie keinerlei Schwierigkeiten hatten, eine Universität zu besuchen!) »Und du kannst mir glauben, nur arme Leute gehen auf eine solche Universität. Ich weiß auch, was es heißt, hungrig zu sein. Es kam hin und wieder vor, daß meines Vaters Gehalt mit Verspätung eintraf, und dann hatten wir kein Geld, um Essen zu kaufen. Einmal mußten wir drei Tage lang von Tee und Toast leben.« (Dann glauben Sie also, Sie wissen, was hungern heißt?) »Aber es wäre doch merkwürdig, wenn ich deshalb von nichts anderem schreiben würde als vom Hunger und von der Armut, nicht wahr?« Francie antwortete nicht. »Nicht wahr?« wiederholte Fräulein Garnder eindringlich. »Ja, Fräulein Garnder.« »Und nun zu deinem Examensfestspiel.« Sie zog ein Manuskript aus der Schublade ihres Pultes. »Einige Stellen darin sind wirklich sehr gut, aber manchmal bist du ganz auf Abwege geraten. Hier zum Beispiel«, sie schlug eine Seite auf, »sagt Fortuna: ›Und du, Jüngling, was möch341
test du werden?‹ Und der Junge antwortet: ›Ich möchte gern ein Heiler sein. Ich möchte die zerbrochenen Körper der Menschen wieder gesund und ganz machen.‹ Diese Idee finde ich wunderschön, Frances. Aber nachher verdirbst du sie wieder. Fortuna sagt: ›Das wünschest du dir. Aber schau! Ich will dir zeigen, was du sein wirst.‹ Der Scheinwerfer fällt auf einen alten Mann, der den Boden eines Ascheneimers lötet. Alter Mann: ›Ach, einmal wünschte ich, ein Heiler der Menschheit zu werden, und nun bin ich ein Flicker von …‹« Fräulein Garnder blickte zornig auf: »Du hast doch nicht etwa geglaubt, das sei lustig, Frances?« »O nein, Fräulein Garnder.« »Nach dem, was ich dir nun gesagt habe, wirst du verstehen, warum ich dein Stück als Festspiel nicht brauchen kann.« »Ich verstehe.« Francie glaubte, das Herz müsse ihr brechen. »Beatrice Williams hat einen hübschen Einfall gehabt. Eine Fee winkt mit dem Zauberstab, und dann kommen kostümierte Knaben und Mädchen auf die Bühne. Jedes von ihnen verkörpert einen Festtag und sagt ein kleines Gedicht über den Feiertag, den es darstellt. Die Idee ist ausgezeichnet, aber leider kann Beatrice Williams keine Verse schreiben. Möchtest du nicht die Idee übernehmen und sie in Verse kleiden? Beatrice hätte gewiß nichts dagegen. Wir könnten es ja auf dem Programm vermerken, daß die Verse von dir sind. Das ist doch gerecht, findest du nicht?« »Ja, Fräulein Garnder. Aber ich möchte nicht ihre Idee übernehmen. Ich möchte lieber meine eigenen Ideen ausführen.« »Das ist natürlich empfehlenswert. Nun, ich will dich nicht zwingen.« Sie erhob sich. »Ich habe mir die Mühe genommen, dir all dies zu sagen, weil ich wirklich glaube, daß in dir etwas steckt. Und jetzt, da wir darüber gesprochen haben, wirst du sicher aufhören, diese sordiden kleinen Geschichten zu schreiben.« Sordid. Francie besann sich. Nein, dieses Wort kannte sie nicht. »Was heißt das – sordid?« »Was – habe – ich – gesagt – daß – ihr – tun – sollt – wenn – ihr – ein – Wort – nicht – versteht?« leierte Fräulein Garnder in schulmeisterlicher Weise herunter. 342
»Ach, ich hatte es ganz vergessen.« Francie ging zum großen Lexikon und suchte das Wort. Sordid: schmutzig. Schmutzig? Sie mußte an Papa denken, wie er jeden Samstag ein frisches Vorhemd und einen neuen Kragen angezogen hatte. »Unsauber.« Papa hatte beim Friseur seinen eigenen Rasierbecher gehabt. »Niederträchtig.« Francie ging über dieses Wort hinweg, weil sie sich nichts Richtiges darunter vorstellen konnte. »Plump.« Niemals! Papa war ein Tänzer gewesen, schlank und beweglich. »Niedrig und gemein.« Francie erinnerte sich an hundert kleine Zärtlichkeiten und Aufmerksamkeiten, wie alle Leute ihn geliebt hatten. Ihre Wangen brannten. Sie konnte nicht mehr weiterlesen, denn die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen. Sie wandte sich wieder Fräulein Garnder zu. Es zuckte um ihren Mund vor verhaltenem Zorn und unterdrücktem Weinen. »Probieren Sie es ja nie mehr, in solchen Worten über uns zu sprechen!« »Über euch?« fragte Fräulein Garnder verständnislos. »Wir sprachen doch von deinen Aufsätzen. Aber, Frances!« rief sie in höchster Überraschung. »Ein so wohlerzogenes Mädchen wie du. Was würde wohl deine Mutter sagen, wenn sie wüßte, daß du deiner Lehrerin gegenüber so ungezogen warst?« Francie erschrak. In Brooklyn galt Ungezogenheit einer Lehrerin gegenüber beinahe als Staatsverbrechen. »Bitte, entschuldigen Sie. Bitte, nehmen Sie es mir nicht übel«, wiederholte sie niedergeschlagen. »Ich habe es nicht so gemeint.« »Ich verstehe dich schon«, sagte Fräulein Garnder sanft, Sie legte ihren Arm um Francies Schultern und begleitete sie zur Tür. »Unsere Unterredung hat großen Eindruck auf dich gemacht, und du hast ein wenig den Kopf verloren. Sordid ist wirklich ein häßliches Wort, und ich bin froh, daß du mich verstanden hast. Vielleicht hast du mich nun nicht mehr so gern wie früher, aber du kannst mir glauben, daß ich es nur gut mit dir meine. Eines Tages wirst du dich an das erinnern, was ich dir gesagt habe, und du wirst mir dafür dankbar sein.« Francie wünschte, die Erwachsenen würden endlich aufhören, ihr diesen Satz immer wieder zu sagen. Sie litt jetzt schon unter der Last 343
all der Dankesschulden, die sie in ihrer Zukunft abzutragen haben würde. Sie stellte sich vor, sie müßte ihre besten Jahre damit verbringen, all diese Leute aufzusuchen, ihnen zu gestehen, daß sie recht gehabt hatten, und ihnen dafür zu danken. Fräulein Garnder überreichte ihr die ›sordiden‹ Aufsätze und das Festspiel und sagte: »Wenn du nun nach Hause kommst, verbrennst du sie alle im Herd! Zünde sie eigenhändig an! Und wenn die Flammen sie verzehren, dann mußt du dir immer wieder vorsagen: ›Ich verbrenne etwas Häßliches.‹« Auf dem Heimweg versuchte Francie, sich über das Gespräch mit Fräulein Garnder klarzuwerden. Sie wußte, daß Fräulein Garnder nicht schlecht war. Sie hatte es gut mit ihr gemeint. Nur schien es ihr jetzt nicht gut. Sie begann aber zu begreifen, daß ihr Leben für einen Menschen aus andern Kreisen etwas Abstoßendes an sich haben mußte. Sie fragte sich, ob sie wohl später, wenn sie gebildet sein würde, sich ihrer Herkunft schämen würde. Würde sie sich dann ihrer Familie schämen, ihres schönen Vaters, der so leichtfertig, aber so gutherzig und verständnisvoll gewesen war; ihrer tapferen, aufrichtigen Mutter, die auf ihre eigene Mutter so stolz war, obwohl sie weder schreiben noch lesen konnte; ihres Bruders Neeley, der ein so guter, ehrlicher Junge war? Nein! Niemals! Wenn das die Frucht der Bildung sein sollte, dann wollte sie lieber ungebildet bleiben. Aber das will ich Fräulein Garnder zeigen, schwor sie sich, daß es mir nicht an Phantasie fehlt. Jawohl, das will ich ihr beweisen. Und noch am selben Tag begann sie, einen Roman zu schreiben. Die Heldin trug den Namen Sherry Nola und war ein in übermäßigem Reichtum geborenes und aufgewachsenes Mädchen. Der Roman war betitelt ›Das bin ich‹ und war die unwahre Lebensgeschichte von Francie Nolan.
Francie hatte nun schon zwanzig Seiten geschrieben. Sie waren voll von bis ins kleinste Detail gehenden Beschreibungen der luxuriösen 344
Innenausstattung von Sherrys Haus, von Rhapsodien über Sherrys elegante Kleider und die märchenhaften Mahlzeiten, die die Heldin zu sich nahm. Wenn der Roman fertig war, wollte Francie Sissys John fragen, ob er ihn nicht in seiner Firma drucken lassen könnte. Francie stellte sich vor, wie es sein würde, wenn sie das Buch Fräulein Garnder präsentieren könnte. Sie hatte sich die Szene schon ein dutzendmal ausgedacht. Sie lautete folgendermaßen: Francie (während sie Fräulein Garnder das Buch überreicht): Ich glaube, Sie werden in diesem Buch nichts Sordides finden. Bitte betrachten Sie es als meinen Schlußaufsatz für dieses Quartal. Ich hoffe, Sie werden nichts dagegen haben, daß er gedruckt ist und veröffentlicht wird. (Fräulein Garnder öffnet den Mund vor Staunen. Francie achtet nicht darauf.) Es ist ein wenig leichter, Gedrucktes zu lesen. Finden Sie nicht? (Während Fräulein Garnder das Buch durchblättert, blickt Francie unbeteiligt aus dem Fenster.) Fräulein Garnder (nachdem sie es ein wenig angeschaut hat): Aber Frances! Das ist einfach wunderbar! Francie (als ob sie sich erst jetzt wieder daran erinnere): Was? – Ach so, mein Roman. Oh, ich habe ihn nur so nebenbei geschrieben. Es braucht nicht viel Zeit, wenn man von Dingen schreibt, von denen man nichts weiß. Wenn man von seiner eigenen Erfahrung schreibt, dann dauert es länger, weil man die Dinge zuerst wirklich erleben muß. (Francie strich diesen letzten Abschnitt durch. Sie wollte Fräulein Garnder nicht merken lassen, daß sie in ihren Gefühlen verletzt worden war. Sie schrieb ihre Rolle nochmals um.) Francie (sich erinnernd): Was? – Ach so, mein Roman. Es freut mich, daß er Ihnen gefällt. Fräulein Garnder (schüchtern): Frances, könnte ich … dürfte ich dich bitten, mir eine Widmung hineinzuschreiben? Francie: Aber natürlich. (Fräulein Garnder schraubt den Füllfederhalter auf und präsentiert ihn Francie, die Feder gegen sich selbst gerichtet. Francie schreibt: »Gewidmet von Mary Frances Katherine Nolan.«) 345
Fräulein Garnder (nachdem sie die Unterschrift betrachtet hat): Was für eine vornehme Unterschrift! Francie: Oh, das ist nur mein legaler Name. Fräulein Garnder (schüchtern): Frances? Francie: Bitte, sprechen Sie mit mir so frei wie in den alten Zeiten. Fräulein Garnder: Dürfte ich dich bitten, über deine Unterschrift zu schreiben: »Meiner Freundin Muriel Garnder?« Francie (nach einer merklichen Pause): Warum nicht? (mit einem ironischen Lächeln): Ich habe doch immer geschrieben, was Sie von mir verlangten. (Schreibt die Widmung.) Fräulein Garnder (flüsternd): Danke vielmals. Francie: Fräulein Garnder … es kommt ja zwar jetzt nicht mehr darauf an … aber würden Sie mir eine Note geben für diese Arbeit … als eine Art Erinnerung an die alten Zeiten? (Fräulein Garnder nimmt einen roten Bleistift und schreibt ein riesiges ›Sehr gut‹ auf das Buch.) Francie war von dieser Vorstellung so begeistert, daß sie mit großem Eifer an das Schreiben der nächsten Seite ging. Sie wollte nun schreiben und schreiben, um so bald wie möglich fertig zu sein und die Szene in die Wirklichkeit umzusetzen. Sie schrieb: »Parker«, fragte Sherry Nola ihre Kammerzofe, »was gibt uns wohl die Köchin zum Nachtessen?« »Ich glaube, Fasanenbrust unter Glas mit Treibhausspargeln, importierten Pilzen und Ananasmousse, Fräulein Sherry.« »Das klingt schrecklich langweilig«, bemerkte Sherry. »Ja, Fräulein Sherry«, pflichtete die Zofe respektvoll bei. »Weißt du, Parker, ich möchte einmal ganz nach meinem Geschmack essen.« »Ihr Geschmack ist für uns alle Befehl.« »Ich möchte eine ganze Menge ganz einfacher Desserts und mir daraus mein Abendessen zusammenstellen. Bring mir bitte ein Dutzend Charlottes russes, ein Paar Erdbeerwaffeln und ein Vierte] Glace – Schokoladenglace, ein Dutzend Löffelbiskuits dazu und eine Schachtel Pralines.« »Sehr wohl, Fräulein Sherry.« 346
Ein Tropfen Wasser fiel auf das Heft. Francie blickte auf. Nein, das Dach ließ kein Wasser durch. Das Wasser war ihr nur im Munde zusammengelaufen. Sie war sehr, sehr hungrig. Sie ging zum Herd hinüber und guckte in die Pfanne. Es war ein bleicher Knochen darin, umgeben von Wasser. In der Brotbüchse war noch ein wenig Brot. Es war ein wenig hart, aber doch besser als gar nichts. Sie schnitt sich ein Stück ab und füllte sich eine Tasse mit Kaffee. Dann tauchte sie das Brot hinein, um es ein wenig aufzuweichen. Während des Kauens überlas sie nochmals das Geschriebene. Und da machte sie eine erstaunliche Entdeckung. Schau mal, Francie Nolan, sagte sie zu sich selbst, du schreibst ja in dieser Geschichte wieder genau dasselbe wie in den Aufsätzen, die Fräulein Garnder so schlecht gefielen. Du schreibst ja wieder davon, wie hungrig du bist. Nur schreibst du es in einer dummen, verbogenen, unaufrichtigen Weise. Der Roman ärgerte sie plötzlich, sie riß die beschriebenen Seiten aus dem Heft und stopfte sie in den Herd. Als die Flammen das Manuskript zu umzüngeln begannen, rannte sie ins Schlafzimmer und holte unter ihrem Bett die Schachtel mit den Aufsätzen hervor. Sie legte die vier über ihren Vater sorgfältig beiseite und steckte den Rest in den Ofen. Sie verbrannte all ihre schönen, mit ›Sehr gut‹ bewerteten Aufsätze. Bevor die Blätter sich in der Hitze krümmten und schwarz wurden, stachen ihr noch einzelne Sätze in die Augen: »Eine riesige Pappel, schlank und groß, die sich heiter und kühl in den Himmel hob …« – »Der blaue Himmel wölbte sich sanft über ihr … Es war ein vollkommener Oktobertag …« – »Stockrosen wie destillierte Sonnenuntergänge und Rittersporn so blau wie Himmelskonzentrat.« Ich habe in meinem Leben nie eine Pappel gesehen, und das vom blauen Himmel habe ich irgendwo anders schon einmal gelesen. Und Stockrosen und Rittersporn habe ich nur einmal in einem Samenkatalog gesehen. Aber ich habe lauter ›Sehr gut‹ bekommen dafür, daß ich so wunderbar lügen konnte. Sie stieß die Blätter mit dem Schüreisen zusammen, damit sie besser verbrannten. Und während sie in Flammen aufgingen, sang sie vor sich hin: Ich verbrenne lauter Häßlich347
keiten und Lügen. Als die letzte Flamme erlosch, verkündete sie dem Wasserboiler mit dramatischer Geste: »Dies ist das Ende meiner literarischen Karriere!« Plötzlich fühlte sie sich einsam und verlassen, und sie fürchtete sich ein wenig. Sie sehnte ihren Vater herbei. Papa sollte jetzt hereinkommen. Es konnte nicht wahr sein, daß er nicht mehr lebte. Es war einfach nicht möglich. Wenn sie noch ein wenig wartete, würde er singend die Treppen heraufgesprungen kommen. »Molly Malone.« Sie würde die Tür aufmachen, und er würde ausrufen: »Hallo, Primadonna!« Dann würde sie zu ihm sagen: »Papa, denk dir nur, ich habe einen schrecklichen Traum gehabt; ich habe geträumt, du seiest gestorben.« Dann würde sie ihm alles erzählen, was Fräulein Garnder gesagt hatte, und er würde die richtigen Worte finden, um sie zu überzeugen, daß alles recht war, wie sie es gemacht hatte. Sie wartete und lauschte. Aber nein, es war doch kein Traum. Es war Wirklichkeit. Papa würde nie, nie mehr wiederkommen. Sie legte den Kopf auf den Tisch und begann zu weinen. Mama hat mich nicht so gern wie Neeley. Ich habe so sehr versucht, ihre Liebe zu gewinnen. Ich setze mich immer ganz dicht neben sie, und ich begleite sie überallhin und tue alles, worum sie mich bittet. Aber sie wird mich nie so innig lieben, wie Papa mich geliebt hat. Dann sah sie das Gesicht ihrer Mutter vor sich, wie sie mit zurückgelehntem Kopf und geschlossenen Augen im Autobus gesessen hatte. Sie hatte so bleich und müde ausgesehen. Mama liebt sie doch. Natürlich tat sie das. Sie konnte es nur nicht so zeigen, wie Papa es gekonnt hatte. Und Mama war doch wirklich gut. Sie erwartete ihr Kind jeden Augenblick, und doch ging sie immer noch arbeiten. Wenn Mama nur nicht sterben mußte bei der Geburt des Kindes. Francie schauderte bei dem Gedanken. Was würden Neeley und sie tun ohne Mama? Wohin sollten sie denn gehen? Tante Sissy und Tante Evy waren nicht in der Lage, sie bei sich aufzunehmen. Sie hätten keine Heimat mehr. Sie hatten ja auf der ganzen Welt niemanden außer Mama. Lieber Gott, betete Francie, laß Mama nicht sterben. Ich weiß schon, daß ich zu Neeley gesagt habe, ich glaube nicht mehr an Dich. Aber 348
es ist nicht wahr! Es ist sicher nicht wahr! Ich habe es nur so gesagt. Straf Mama nicht. Sie hat nie etwas Unrechtes getan. Und nimm sie uns nicht weg, weil ich gesagt habe, ich glaube nicht mehr an Dich. Wenn Du sie leben läßt, will ich Dir meine ganze Schriftstellerei opfern. Ich will nie mehr eine Geschichte schreiben, wenn du Mama leben läßt. Heilige Maria, bitte deinen Sohn Jesus, er solle Gott bitten, unsere Mutter nicht sterben zu lassen. Aber sie fürchtete trotzdem, ihr Gebet werde nichts nützen. Gott würde es ihr nicht verzeihen, daß sie gesagt hatte, sie glaube nicht mehr an ihn, und zur Strafe würde er ihr Mama wegnehmen, so wie er Papa genommen hatte. Sie geriet in große Verwirrung und sah ihre Mutter schon tot vor sich. Sie rannte aus der Wohnung, um sie zu suchen. Katie war nicht in ihrem Haus. Dann eilte Francie ins dritte und letzte Haus. Mama war nicht im ersten Stock. Sie war auch nicht im zweiten Stock. Nun blieb nur noch der dritte Stock. Wenn Mama nicht dort war, dann war sie tot. Francie rief wieder: »Mama, Mama!« »Ich bin hier oben«, antwortete Katies ruhige Stimme. »Schrei doch nicht so!« Francie war so erleichtert, daß sie beinahe in die Knie sank. Sie wollte nicht, daß Mama merkte, daß sie geweint hatte. Sie suchte nach einem Taschentuch, fand aber keines und trocknete sich die Tränen mit dem Unterrock. Dann ging sie möglichst langsam die oberste Treppe hinauf. »Hallo, Mama!« »Ist etwas mit Neeley passiert?« »Nein, Mama.« (Sie denkt immer zuerst an Neeley.) »Also, hallo, Francie«, sagte Mama und lächelte. Katie vermutete, es sei in der Schule irgend etwas schiefgegangen und Francie habe deshalb ein wenig die Fassung verloren. Nun, wenn sie gekommen war, um ihr Herz auszuschütten … »Hast du mich gern, Mama?« »Ich wäre eine merkwürdige Mutter, wenn ich meine Kinder nicht liebte.« »Findest du, ich bin so hübsch wie Neeley?« Sie wartete gespannt auf 349
Mamas Antwort, denn sie wußte, daß Mama nie log. Es dauerte ziemlich lange, bis Mamas Antwort kam: »Du hast sehr hübsche Hände und schönes, glänzendes Haar.« »Aber bin ich so hübsch wie Neeley?« fragte Francie beharrlich. »Schau, Francie, ich weiß, daß du irgend etwas aus mir herauswinden willst, aber ich bin jetzt zu müde, um so viel zu sprechen. Hab noch ein wenig Geduld, bis das Kind da ist. Ich habe euch beide gern, und ich finde, ihr seid beide nette Kinder. Und nun hör bitte auf, mich zu plagen!« Francie war zerknirscht. Es kam ihr plötzlich zum Bewußtsein, daß Mama in einer unbequemen Lage vor ihr auf dem Boden kniete, Mama, die doch jeden Tag ihr Kind erwartete, und ihr Herz wurde vom Mitleid gerührt. Sie kniete sich neben ihre Mutter. »Steh doch auf, Mama, und laß mich hier fertigmachen! Ich habe nichts anderes zu tun.« Sie tauchte die Hand in den Eimer voll Wasser. »Laß das!« gebot Katie energisch. Sie zog Francies Hand aus dem Sodawasser heraus und trocknete sie rasch an ihrem Schürzenzipfel. »Du darfst deine Hände nicht solchem Wasser aussetzen. Es enthält Soda und Lauge. Schau, wie es mir die Haut zerfressen hat!« Katie hielt Francie ihre eigenen, vom ätzenden Wasser angegriffenen und doch so wohlgeformten Hände hin. »Ich möchte nicht, daß du dir deine Hände auch so verdirbst. Ich möchte, daß sie immer schön bleiben. Übrigens bin ich beinahe fertig mit meiner Arbeit.« »Wenn ich nicht helfen darf, kann ich wenigstens auf der Treppe sitzen und dir zuschauen?« »Wenn du nichts Besseres zu tun hast.« Francie setzte sich und schaute Mama zu. Es war so beruhigend, einfach dazusitzen, in Mamas Nähe, und zu wissen, daß sie noch lebte. Das Fegen mit der Bürste klang Francie wie Musik in den Ohren. Swisch-e-swisch-e-swisch-e-swisch machte die Fegbürste. Dann kam der Putzlappen und machte schlupp-a-schlupp-a-schlupp-schlupp. Dann warf Mama die Bürste und den Lappen in den Eimer mit einem abschließenden Klunk-flump. Dann stieß Mama den Eimer ein Stück 350
weiter und begann von neuem zu fegen. »Hast du denn keine Freundinnen, mit denen du reden kannst, Francie?« »Nein, ich hasse die Frauen.« »Das ist nicht natürlich. Es täte dir gut, wenn du dich mit Mädchen in deinem Alter aussprechen könntest.« »Hast du denn Freundinnen, Mama?« »Nein, ich kann die Frauen nicht ausstehen.« »Siehst du! Du bist genau wie ich.« »Aber ich habe einmal eine Freundin gehabt. Durch sie habe ich deinen Vater kennengelernt. Du siehst also, daß eine Freundin manchmal ganz nützlich sein kann.« Sie sagte es lachend, aber ihre Bürste schien zu flüstern: Geh-du-deinen-Weg-und-ich-gehe-meinen-Weg. Sie mußte gegen die Tränen kämpfen. Sie sprach weiter: »Ja du brauchst doch wirklich eine Freundin. Du sprichst ja nie mit jemandem außer mit mir und Neeley, und daneben liest du soviel und schreibst deine Geschichten.« »Ich habe das Schreiben aufgegeben.« Nun wußte Katie, daß das, was Francie im Moment plagte, mit ihren Aufsätzen zusammenhing. »Hast du etwa eine schlechte Note bekommen für einen Aufsatz?« »Nein«, log Francie. Sie war wieder einmal höchst erstaunt über die Einsicht, die Mama in ihre Seele hatte. Sie erhob sich. »Ich glaube, es ist jetzt Zeit, daß ich zu McGarrity gehe.« »Warte!« Katie warf die Bürste und den Putzlappen in den Eimer. »Ich bin fertig für heute. Kannst mir noch schnell beim Aufstehen helfen.« Sie streckte Francie die Hände entgegen. Francie ergriff die Hände ihrer Mutter. Katie zog sich schwerfällig daran hoch. »Begleite mich noch nach Hause, Francie!« Francie trug den Eimer. Katie hielt sich mit der einen Hand am Treppengeländer fest, mit der andern umschlang sie Francies Schulter. Sie stützte sich schwer auf Francie, während sie langsam die Treppen hinunterstiegen. Francie versuchte, sich dem unsicheren Schritt ihrer Mutter anzupassen. »Francie, das Kindlein kann nun jeden Tag kommen, und es wäre 351
mir eine Beruhigung, wenn du immer ein wenig in der Nähe wärest. Komm doch von Zeit zu Zeit nach mir sehen, ob alles in Ordnung ist, wenn ich noch weiterarbeite. Ich kann dir nicht sagen, wie sehr ich mich auf dich verlasse. Ich kann nicht auf Neeley zählen, denn einen Jungen kann man zu einer solchen Zeit nicht brauchen. Aber dich habe ich jetzt sehr nötig, und ich fühle mich sicherer, wenn ich weiß, daß du in der Nähe bist. Also gelt, du gehst in den nächsten Tagen nie weit weg von mir.« Eine große Zärtlichkeit überkam Francie. »Ich will von nun an keinen Schritt mehr von dir weggehen, wenn ich nicht muß, Mama«, sagte sie. »Das ist lieb von dir, Francie.« Katie strich ihr über die Schulter. Vielleicht liebt mich Mama nicht so sehr wie Neeley, dachte Francie. Aber sie braucht mich mehr als ihn. Und vielleicht ist es ebensogut, wenn man einen nötig hat, wie wenn man einen liebt. Vielleicht sogar besser.
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wei Tage darauf kam Francie am Vormittag aus der Schule und blieb am Nachmittag zu Hause. Mama war im Bett. Neeley wurde wieder in die Schule geschickt, und Francie wollte nachher Tante Sissy oder Evy holen. Aber Mama sagte, es sei noch zu früh. Francie kam sich sehr wichtig vor, weil sie die Verantwortung ganz allein hatte. Sie reinigte die Wohnung, überprüfte die vorhandenen Lebensmittel und dachte sich ein Abendessen aus. Alle zehn Minuten schüttelte sie Mamas Kissen und fragte sie, ob sie einen Schluck Wasser wünsche. Bald nach drei Uhr kam Neeley nach Hause gerannt, warf seine Bücher in eine Ecke und fragte, ob es noch nicht Zeit sei, jemanden zu holen. Katie lächelte über seinen Eifer, sagte aber, es habe keinen Sinn, 352
Sissy und Evy von ihrer Arbeit wegzuholen, bevor es unbedingt nötig sei. Neeley ging zu McGarrity und fragte ihn, ob er nicht auch Francies Arbeit verrichten könnte, da Francie bei der Mutter zu Hause bleiben müsse. McGarrity war nicht nur damit einverstanden, sondern er half Neeley auch beim Eierschälen, so daß er schon um halb fünf fertig war. Sie aßen schon früh zu Abend. Neeley wollte so bald wie möglich die Zeitungen austragen gehen, um schnell wieder zu Hause zu sein. Mama sagte, sie brauche nichts als eine Tasse heißen Tee. Aber als Francie den Tee brachte, wollte Mama ihn nicht mehr trinken. Francie machte sich Sorgen, weil Mama nichts essen wollte. Nachdem Neeley weggegangen war, brachte sie Mama einen Teller Suppe. Sie versuchte, Mama dazu zu überreden, die Suppe zu essen. Aber Katie wurde beinahe zornig und befahl ihr, sie in Ruhe zu lassen. Sie werde schon selbst sagen, wenn sie etwas brauche. Francie goß die Suppe wieder in den Kochtopf zurück und schluckte die Tränen der Enttäuschung hinunter. Sie hatte ja Mama nur helfen wollen. Mama rief sie wieder zu sich und schien nicht mehr zornig zu sein. »Wie spät ist es?« fragte Katie. »Fünf vor sechs.« »Bist du sicher, daß die Uhr nicht nachgeht?« »Nein, Mama.« »Dann geht sie vielleicht vor.« Mama schien sich darüber solche Sorge zu machen, daß Francie zum Fenster hinaus auf die Uhr des Uhrmachers Woronov an der Straßenecke schaute. »Unsere Uhr geht richtig«, berichtete Francie. »Ist es draußen schon dunkel?« Katie konnte es nicht wissen, denn auch zur hellen Mittagszeit sickerte nur düsteres, graues Licht durch das Fensterchen im Luftschacht. »Nein, es ist immer noch hell draußen.« »Es ist dunkel hier drinnen«, sagte Katie beängstigt. »Ich will die Nachtkerze anzünden.« An der Wand war ein kleines Gestell festgenagelt, auf dem eine Gipsstatuette der blaugekleideten Jungfrau Maria stand, die die Hände flehend erhoben hielt. Zu ihren Füßen hing ein Behälter aus dickem ro353
tem Glas, der mit gelbem Wachs gefüllt war und einen Docht enthielt. Daneben hing eine Blumenvase mit künstlichen roten Rosen. Francie hielt ein brennendes Streichholz an den Docht. Das Licht glühte rubinrot durch das dicke Glas. »Wie spät ist es jetzt?« fragte Katie nach einer Weile. »Fünf Minuten nach sechs.« »Bist du sicher, daß die Uhr jetzt richtig geht?« »Ganz genau.« Katie schien befriedigt. Aber nach fünf Minuten wollte sie schon wieder wissen, wie spät es war. Es war, als hätte sie irgendein wichtiges Stelldichein und fürchte, sich zu verspäten. Um halb sieben Uhr sagte Francie der Mutter nochmals, wie spät es war, und fügte hinzu, Neeley werde in einer Stunde daheim sein. »Sobald er nach Hause kommt, mußt du ihm sagen, er solle Tante Evy holen. Sag ihm, er soll nicht zu Fuß gehen. Gib ihm ein Fünfcentstück für den Autobus und sag ihm, er solle Evy holen, da sie näher wohnt als Sissy.« »Aber, Mama, wenn das Kind plötzlich käme und ich wüßte nicht, was ich tun soll?« »Dieses Glück wird mir nicht blühen – daß das Kind so plötzlich kommt. Wie spät ist es jetzt?« »Fünf nach halb sieben.« »Sicher?« »Ganz bestimmt, Mama, ich glaube, es wäre besser, Neeley wäre bei dir statt ich, obwohl er ein Junge ist.« »Warum?« »Weil er dich immer so schön trösten kann.« Sie sagte es ohne jede Eifersucht. Sie stellte es einfach fest als Tatsache. »Und ich … ich … kann einfach nicht die richtigen Worte finden, damit du dich wohler fühlst.« »Welche Zeit ist jetzt?« »Sechs nach halb sieben.« Katie schwieg längere Zeit. Als sie wieder sprach, kamen die Worte ruhig und sanft, als ob sie zu sich selbst sprechen würde. »Nein, 354
die Männer sollten in diesen Augenblicken nicht dabeisein. Und doch wollen die Frauen sie immer in der Nähe haben. Sie wollen, daß sie jeden Seufzer und jedes Stöhnen hören, daß sie jeden Blutstropfen sehen und … Was müssen sie für ein grausames Vergnügen daran haben, wenn sie bewirken können, daß die Männer mit ihnen leiden müssen. Sie scheinen sich dafür rächen zu wollen, daß Gott sie zu Frauen gemacht hat. Wie spät ist es?« Ohne jedoch die Antwort abzuwarten, fuhr Katie weiter fort. »Bevor sie verheiratet sind, meinen sie, sie müßten sterben, wenn ein Mann sie mit ihren Lockenwicklern oder ohne Korsett sehen würde. Aber wenn es ans Gebären geht, dann wollen sie, daß die Männer sie in der häßlichsten Situation sehen, in der man eine Frau überhaupt sehen kann. Ich weiß nicht, warum. Ich weiß wirklich nicht, warum. Ein Mann muß dann daran denken, daß dieser Schmerz, diese Qualen die Folge ihres Zusammenseins sind, und von diesem Moment an ist es ihm keine Freude mehr. Ich weiß nicht, warum. Ich weiß nicht, warum. Dann fangen die Männer an, nach der Geburt eines Kindes ihren Frauen untreu zu werden …« Katie gab sich kaum darüber Rechenschaft, was sie sagte. Im Grunde vermißte sie Johnny schrecklich und räsonierte so, um sich seine Abwesenheit leichter zu machen. »Und dann noch dies: Wenn man jemanden wirklich liebt, dann möchte man den Schmerz lieber ganz allein erleiden, um ihm alles zu ersparen. Ich rate dir, Francie, wenn deine Zeit einmal kommt, dann halte deinen Mann fern vom Haus.« »Ja, Mama! Es ist fünf Minuten nach sieben.« »Schau einmal, ob Neeley noch nicht kommt.« Francie ging schauen und mußte mit dem Bericht zurückkommen, daß von Neeley noch nichts zu sehen war. Katies Gedanken wanderten zurück zu Francies Bemerkung über Neeley, daß er ihr eine größere Beruhigung wäre. »Nein, Francie, du bist mir jetzt die größere Beruhigung.« Sie seufzte. »Wenn es ein Junge ist, dann wollen wir ihn Johnny nennen.« »Es wird schön sein, Mama, wenn wir wieder zu viert sind.« »Ja! Es wird schön sein.« Darauf sagte Katie eine Zeitlang nichts. Als sie wieder nach der Zeit fragte, sagte Francie, es sei nun ein Viertel 355
nach sieben, und Neeley werde bald dasein. Katie bat Francie, Neeleys Nachthemd, seine Zahnbürste, ein sauberes Frottiertuch und ein Stück Seife in Zeitungspapier zu wickeln, da Neeley bei Tante Evy schlafen werde. Francie lief noch zweimal mit dem Bündel unter dem Arm auf die Straße hinunter, um zu sehen, ob Neeley nicht endlich kam. Endlich kam er dahergerannt. Sie lief ihm entgegen, übergab ihm das Bündel, das Fahrgeld und die nötigen Instruktionen und bat ihn, sich zu beeilen. »Wie geht es Mama?« fragte er. »Gut!« »Bist du sicher?« »Aber ja! Ich höre den Autobus kommen. Lauf jetzt lieber!« Und Neeley rannte, so schnell er konnte. Als Francie wieder zurückkam, sah sie, daß Mamas Gesicht in Schweiß gebadet war und daß ihre Unterlippe blutete, als hätte sie sie mit den Zähnen durchbissen. »Oh, Mama, Mama.« Sie ergriff ihre Hand und drückte sie an ihre eigene Wange. »Tauch ein Tuch in kaltes Wasser, winde es aus und wisch mir das Gesicht ab!« flüsterte Mama. Nachdem Francie dies getan hatte, nahm Katie ihren unterbrochenen Gedankengang wieder auf. »Natürlich bist du mir eine Beruhigung.« Ihre Gedanken wandten sich einem Gegenstand zu, der sehr ausgefallen scheinen mochte, aber in Wirklichkeit sehr naheliegend war. »Ich habe immer im Sinn gehabt, einmal deine besten Aufsätze zu lesen, aber ich habe nie Zeit gehabt dazu. Jetzt hätte ich ein wenig Zeit. Möchtest du mir nicht einen davon vorlesen?« »Ich kann nicht, ich habe sie alle verbrannt.« »Nun hast du sie ausgedacht und geschrieben und sie der Lehrerin abgegeben, du hast weiter über sie nachgedacht und sie schließlich verbrannt, und all dies, ohne daß ich einen einzigen davon gelesen habe!« »Das macht nichts, Mama. Sie waren alle nicht viel wert.« »Aber es plagt mich doch.« 356
»Es lohnt sich nicht, Mama, und ich weiß doch, daß du fast keine Zeit hattest.« Katie dachte: Aber für Neeley habe ich immer Zeit gehabt. Ich habe sie mir einfach genommen. Dann dachte sie laut weiter: »Aber Neeley braucht mehr Aufmunterung. Du kommst wie ich auch mit dem aus, was du in dir hast. Er aber braucht so viel Ansporn von außen!« »Es ist schon in Ordnung, Mama, mach dir keine Sorgen!« »Es ließ sich einfach nicht anders machen. Aber es wird mich trotzdem immer plagen. Wie spät ist es?« »Beinahe halb acht.« »Das Tuch, Francie, das Tuch!« Es schien, als suche Katie nach einem Halt für ihre Gedanken. »Und hast du denn gar keinen mehr, den du mir vorlesen könntest?« Francie dachte an die vier Aufsätze, die sie über Papa geschrieben, und es fiel ihr ein, was Fräulein Garnder darüber gesagt hatte, und sie antwortete: »Nein!« »Dann lies mir etwas aus dem Shakespeare-Buch vor!« Francie holte das Buch. »Lies die Stelle ›In einer solchen Nacht‹, ich möchte gern an etwas recht Schönes denken, gerade bevor das Kindlein zur Welt kommt.« Der Druck war so klein, daß Francie die Gaslampe anzünden mußte, um lesen zu können. Als das Licht einen Moment lang überhell aufflammte, schaute sie ihre Mutter an. Ihr Gesicht war grau und schmerzverzerrt. Mama sah ganz anders aus als sonst. Sie sah aus wie Großmutter Rommely, wenn sie Schmerzen hatte. Das Licht schmerzte Katie, und Francie löschte es wieder aus. »Mama, wir haben diese Dramen so oft gelesen, daß ich sie beinahe auswendig weiß. Ich brauche weder das Licht noch das Buch.« Und sie begann zu rezitieren: »Der Mond scheint hell. In einer solchen Nacht, wo sanfter, linder Wind lautlos die Bäume küßt, in solcher Nacht, scheint mir, bestieg Trollus die Mauern Trojas …« 357
»Wie spät ist es?« »Zwanzig Minuten vor acht.« »… seufzte seiner Seele Qual gegen der Griechen Zelte, wo die Nacht verbrachte Cressida …« »Und hast du je erfahren, wer Trollus war, Francie? Und Cressida?« »Ja, Mama.« »Dann mußt du's mir einmal sagen. Wenn ich einmal Zeit habe zum Zuhören.« »Das will ich, Mama.« Katie stöhnte. Francie wischte ihr den Schweiß wieder von der Stirn. Katie streckte beide Hände aus wie an jenem Tag, als Francie ihr beim Aufstehen helfen mußte. Francie ergriff die Hände und stemmte ihre Füße fest auf den Boden. Katie zog und zog, bis Francie glaubte, ihre Arme würden aus den Gelenken gehen. Dann gab Mama nach und ließ ihre Hände wieder los. Auf diese Weise verging die nächste Stunde. Francie rezitierte immer wieder Stellen, die sie auswendig wußte: Portias Monolog, Mark Antons Leichenrede, ›Sein oder Nichtsein, das ist die Frage‹, Orlandos Lieder aus ›Wie es euch gefällt‹ und Ariels Lied aus dem ›Sturm‹. Hin und wieder unterbrach Katie sie mit einer Frage. Manchmal bedeckte sie sich das Gesicht mit den Händen und stöhnte. Sie tat es, ohne daß es ihr bewußt war, und immer wieder wollte sie wissen, wie spät es war, wenn sie dann auch gar nicht auf Francies Antworten reagierte. Francie wischte ihr von Zeit zu Zeit das Gesicht ab, und Katie hielt ihr wiederholt die Hände zum Ziehen hin. Als um halb neun Uhr Evy endlich kam, war Francie unendlich erleichtert. »Sissy wird in einer halben Stunde auch hier sein«, sagte Evy, während sie ins Schlafzimmer trat. Nachdem sie einen Blick auf Katie geworfen hatte, riß sie das Leintuch von Francies Lager, knüpfte das eine Ende an Katies Bettpfosten und gab ihr das andere in die Hand. »Versuch einmal, an diesem Leintuch zu ziehen«, schlug sie vor. 358
»Wie spät ist es?« flüsterte Katie, nachdem sie mit aller Kraft an dem Leintuch gezogen hatte. So gewaltig hatte sie sich angestrengt, daß ihr der Schweiß wieder im Gesicht stand. »Das ist doch ganz egal, du mußt ja jetzt nirgends hingehen«, antwortete Evy munter. Katie wollte lächeln, aber eine neue Schmerzenswelle überkam sie und verzerrte ihr die Lippen. »Wir könnten ein besseres Licht gebrauchen«, meinte Evy. »Aber das Gaslicht blendet Mama«, wandte Francie ein. Evy holte die Glasglocke aus dem vorderen Zimmer, rieb sie mit Seife ein und machte sie im Schlafzimmer fest. Die Lampe gab ein weiches, helles Licht, ohne zu blenden. Obwohl es eine warme Mainacht war, zündete Evy im Herd ein großes Feuer an. Sie kommandierte Francie hierhin und dorthin. Francie mußte den Kessel mit Wasser füllen und aufs Feuer stellen. Dann mußte sie das Emailwaschbecken ausputzen, es mit Speiseöl füllen und hinten auf den Herd stellen. Sie mußte die schmutzige Wäsche aus dem Wäschekorb nehmen und ein sauberes, wenn auch zerrissenes Leintuch hineinlegen. Sie stellten den Korb auf zwei Stühle vor dem Herd. Evy stellte alle Teller auf den Herd und befahl Francie, die heißen Teller in den Korb zu legen und sie auszuwechseln, sobald sie abgekühlt waren. »Hat Mama ein wenig Wäsche für das Kleine?« fragte Evy. »Wofür hältst du uns denn?« fragte Francie fast beleidigt und holte ein Körbchen mit der Kinderaussteuer, bestehend aus vier handgenähten Kimonokleidchen aus Flanell, vier Nabelbinden, einem Dutzend handgesäumten Windeln und vier fadenscheinigen Hemdchen, die sie und Neeley seinerzeit schon getragen hatten. »Das habe ich fast alles selbst genäht«, sagte Francie stolz, »ausgenommen die Hemdchen.« »Hm. Ich glaube, deine Mutter hofft auf einen kleinen Jungen«, meinte Evy, als sie den blauen Hexenstich auf den Kimonokleidchen sah. »Nun, wir werden ja sehen.« Als Sissy kam, gingen die beiden Schwestern wieder miteinander ins Schlafzimmer. Francie mußte draußen bleiben. Francie hörte alles, was sie sprachen. 359
»Es ist Zeit, die Hebamme zu holen«, sagte Sissy. »Weiß Francie, wo sie wohnt?« »Ich habe mit der Hebamme nichts verabredet«, sagte Katie. »Ich wüßte nicht, wo ich die fünf Dollar hernehmen sollte.« »Ach, vielleicht können Sissy und ich das Geld gemeinsam aufbringen«, sagte Evy, »wenn …« »Nein«, sagte Sissy, »das machen wir anders. Ich habe zehn – nein – elf Kinder geboren. Und du hast drei gehabt und Katie zwei. Wir haben also alle miteinander sechzehn Kinder zur Welt gebracht. Wir sollten eigentlich genug wissen, um es ohne Hebamme zu machen.« »Gut«, stimmte Evy zu, »dann machen wir's allein.« Dann schlossen sie die Schlafzimmertür. Francie konnte nur noch ihre Stimmen hören, aber sie verstand kein Wort mehr. Sie nahm es ihren Tanten ein wenig übel, daß sie sie so ausschlossen, nachdem sie doch vorher, bis sie gekommen waren, die Verantwortung ganz allein getragen hatte. Sie nahm zwei heiße Teller vom Herd und wechselte sie gegen zwei kalte im Kinderbettchen aus. Sie fühlte sich furchtbar einsam, als sei sie ganz allein auf der Welt. Sie wünschte sich sehnlichst, daß Neeley daheim wäre und daß sie mit ihm über die alten Zeiten reden könnte.
Francie fuhr hoch und riß die Augen auf. Sie konnte doch nicht geschlafen haben. Sie befühlte die Teller im Wäschekorb. Sie waren kalt. Sie legte schnell wieder heiße hinein. Das Bettchen mußte doch warm gehalten werden für das Kleine. Sie lauschte nach der Schlafzimmertür. Irgend etwas war anders. Sie hörte nicht mehr das ruhige Auf- und Abgehen der Tanten. Sie hörte schnelle, aufgeregte Schritte und kurze, abgerissene Worte. Sie schaute auf die Uhr. Halb zehn. Evy kam aus dem Schlafzimmer und schloß die Tür sachte hinter sich. »Hier hast du fünfzig Cent, Francie. Lauf schnell und hol ein Viertelpfund Butter, ein Paket Zwieback und zwei Orangen!« »Aber die Kaufläden sind doch alle geschlossen.« 360
»Dann gehst du eben ins Judenviertel, dort sind die Läden immer offen.« »Kann ich nicht erst am Morgen gehen?« »Geh jetzt, wenn ich dir's sage«, befahl Evy energisch. Francie ging widerwillig. Als sie auf der untersten Treppe war, hörte sie einen heiseren, gutturalen Schrei. Sie stand still und wußte nicht, sollte sie umkehren oder weitergehen. Dann fiel ihr Evys energischer Befehl wieder ein, und sie rannte weiter. Als sie bei der Haustür war, kam wieder ein Schrei, und diesmal noch erschütternder. Francie war froh, auf die Straße entfliehen zu können. Sie konnte es nicht ertragen, daß Mama so leiden mußte.
In einer der unteren Wohnungen befahl gerade der affenartig aussehende Chauffeur seinem widerstrebenden Weib, das Bett zu richten, als er Katies ersten Schrei hörte. »Jesus!« rief er aus, und bei dem zweiten Schrei: »Ich hoffe zu Gott, daß sie mich nicht die ganze Nacht wachhält!« Seine mädchenhafte Frau weinte, als sie ihr Kleid öffnete.
Flossie Gaddis saß mit ihrer Mutter in der Küche. Sie nähte an einem neuen Kleid; es war das Hochzeitskleid aus weißer Seide für die lange hinausgeschobene Hochzeit mit Frank. Frau Gaddis strickte an einer Socke für Henny. Henny war zwar gestorben, aber seine Mutter hatte nun während so vieler Jahre Socken für ihn gestrickt, daß sie nicht mehr damit aufhören konnte. Als Katies erster Schrei kam, ließ Frau Gaddis eine Masche fallen. Floß sagte: »Die Männer haben immer nur das Vergnügen und die Frauen die Schmerzen.« Die Mutter sagte nichts. Sie zitterte, als Katie das zweite Mal aufschrie. »Es ist merkwürdig«, sagte Floß, »daß ich nun einmal ein Kleid mit zwei Ärmeln mache.« »Ja.« 361
Dann arbeiteten sie eine Weile schweigend weiter, bis Floß sagte: »Ich frage mich, ob sie das wert sind. Die Kinder, meine ich.« Frau Gaddis dachte an ihren toten Sohn und an den verbrannten Arm ihrer Tochter. Sie sagte nichts. Sie neigte den Kopf über ihr Strickzeug. Sie war nun wieder an der Stelle, wo sie die Masche fallen gelassen hatte. Sie konzentrierte sich auf das Aufnehmen der Masche.
Die dürren Schwestern Tynmore lagen in ihren harten, jungfräulichen Betten. Jede tastete im Dunkeln nach der Hand der andern. »Hast du das gehört, Schwester?« fragte Fräulein Maggie. »Ihre Zeit ist gekommen«, antwortete Fräulein Lizzie. »Das ist der Grund, warum ich Harvey nicht heiraten wollte, damals als er mich darum fragte. Ich hatte davor Angst. Ich hatte schreckliche Angst.« »Ich weiß nicht«, sagte Fräulein Lizzie. »Manchmal denke ich, es wäre doch besser, bittere Qualen zu leiden, zu kämpfen und zu schreien und sogar diese schrecklichen Schmerzen zu erdulden, als einfach so … sicher zu sein.« Sie wartete, bis der nächste Schrei verklungen war. »Sie weiß wenigstens, daß sie lebt.« Miß Maggie wußte darauf keine Antwort.
Die andere Wohnung im dritten Stockwerk, die derjenigen der Nolans gegenüberlag, war leer. Aber im zweiten Stock wohnte noch ein polnischer Hafenarbeiter mit seiner Frau und vier Kindern. Er goß sich eben ein Glas Bier ein, als er Katies Schrei hörte. »Ach, die Weiber«, grunzte er verächtlich. »Sei du nur still!« zischte seine Frau. Alle Frauen im ganzen Haus teilten Katies Schmerzen. Es war das einzige, was sie gemeinsam hatten, das sichere Wissen darum, daß sie ihre Kinder mit Schmerzen gebären mußten. 362
Francie mußte weit in die Manhattan Avenue hinauflaufen, bis sie eine jüdische Milchhandlung fand, die noch nicht geschlossen war. Den Zwieback mußte sie in einem andern Laden holen, und schließlich mußte sie noch einen Früchtestand suchen, wo man Orangen verkaufte. Auf dem Rückweg schaute sie auf die große Straßenuhr über der Drogerie und sah, daß es beinahe halb elf Uhr war. Eigentlich war es ihr vollkommen gleichgültig, wie spät es war; sie schaute nur, weil die Zeit ihrer Mutter so wichtig schien. Als sie in die Küche eintrat, hatte sie das Gefühl, als hätte sich irgend etwas verändert. Es herrschten ein undefinierbarer Geruch und eine eigenartige Stille. Sissy stand mit dem Rücken gegen das Kinderbettchen. »Denk dir, Francie«, sagte sie, »du hast ein kleines Schwesterchen!« »Und Mama?« »Oh, es geht ihr sehr gut.« »Also deshalb habt ihr mich so weit weggeschickt?« »Wir fanden, du weißt ohnehin schon zuviel für dein Alter«, sagte Tante Evy, die eben aus dem Schlafzimmer kam. »Ich möchte nur eines wissen«, sagte Francie leidenschaftlich, »hat Mama mich weggeschickt?« »Ja, Francie«, sagte Sissy freundlich. »Sie sagte, man solle diejenigen verschonen, die man lieb hat.« »Ja, dann verstehe ich's«, sagte Francie glücklich und beruhigt. »Möchtest du nicht dein Schwesterlein anschauen?« Sissy machte den Platz vor dem Wäschekorb frei. Francie lüftete das Leintuch über dem Köpfchen. Es war ein süßes kleines Ding mit weißer Haut und flaumigen schwarzen Locken, die genau wie bei Mama über der Stirn einen keilförmigen Ansatz bildeten. Das Kind blinzelte ein wenig mit den Äuglein. Francie sah, daß sie milchigblau waren. Sissy erklärte ihr, daß alle Neugeborenen blaue Augen hätten und daß sie wahrscheinlich später so dunkelbraun wie Kaffeebohnen werden würden. »Es sieht Mama ähnlich«, fand Francie. »Ja, das fanden wir auch«, sagte Sissy. 363
»Ist alles ganz in Ordnung mit ihm?« »Vollkommen!« »Ist gar nichts an ihm verkrümmt oder verbogen?« »Gewiß nicht! Woher hast du denn solche Ideen?« Francie sagte nichts davon, daß sie große Ängste ausgestanden hatte, da sie glaubte, das Kindlein werde ganz krumm sein, weil Mama bis zur letzten Minute in gebückter Stellung arbeiten mußte. »Darf ich zu Mama hineingehen?« fragte Francie bescheiden, als sei sie eine Fremde im eigenen Haus. »Du darfst ihr den Zwieback bringen.« Francie nahm den Teller mit dem gebutterten Zwieback und öffnete die Tür. »Hallo, Mama!« »Hallo, Francie!« Nun sah Mama wieder aus wie sonst, nur sehr müde. Sie konnte den Kopf nicht heben, und Francie half ihr beim Zwiebackessen. Nachher stand sie mit dem leeren Teller vor dem Bett. Mama sagte nichts. Francie hatte das Gefühl, nun sei die Vertrautheit der letzten paar Tage wieder vorüber und sie und Mama seien einander wieder fremd geworden. »Und du hattest einen Jungennamen bereit, Mama.« »Ja, aber ich freue mich trotzdem, daß es ein Mädchen ist.« »Es ist hübsch.« »Ja, es wird schwarze Locken haben. Und Neeley hat blonde Locken. Nur die arme Francie hat glattes braunes Haar.« »Ich mag glattes braunes Haar«, sagte Francie herausfordernd. Sie hätte fürs Leben gern den Namen des Schwesterleins erfahren, aber sie scheute sich, direkt danach zu fragen, weil ihr Mama wieder so fremd vorkam. »Soll ich das Formular ausfüllen für das Gesundheitsamt?« »Das wird der Priester nach der Taufe schon besorgen.« »Ach so«, seufzte Francie enttäuscht. Katie spürte die Enttäuschung heraus und sagte: »Aber du kannst die Tinte hereinbringen und die Bibel. Dann darfst du den Namen ins Buch schreiben.« 364
Francie holte die Gideon-Bibel, die Sissy vor bald fünfzehn Jahren stibitzt hatte, vom Kaminsims herunter. Sie las die vier Eintragungen auf dem Vorsatzblatt. Die ersten drei waren in Johnnys feiner, sorgfältiger Handschrift gemalt. 1. Januar 1901. Hochzeit von {Catherine Rommely und John Nolan. 15. Dezember 1901. Geburt von Mary Frances Nolan. 23. Dezember 1902. Geburt von Cornelius Nolan. Die vierte Eintragung war in Katies energischer, nach links geneigter Handschrift. 25. Dezember 1915. Tod von Johnny Nolan, Alter 34. Sissy und Evy folgten Francie ins Schlafzimmer. Auch sie waren gespannt auf den Namen, den Katie ihrem Kind geben würde. Sarah? Eva? Ruth? Elisabeth? »Schreib, Francie«, diktierte Katie. »28. Mai 1916. Geburt von Annie Laurie Nolan.« »Annie! Ein so gewöhnlicher Name«, stöhnte Sissy. »Aber warum denn, Katie, warum Annie?« fragte Evy sanft. »Er ist aus einem Lied, das Johnny einmal sang«, erklärte Katie. Während Francie den Namen niederschrieb, hörte sie Johnnys Akkorde auf dem Klavier. Und sie hörte Papa singen. »Dort war's, daß Annie Laurie …« Papa! … Papa … »Ein Lied, das einer besseren Welt angehört, sagte er damals«, fuhr Katie fort. »Es würde ihn sicher freuen, zu wissen, daß das Kind nach einem seiner Lieder benannt wurde.« »Laurie ist ein hübscher Name«, sagte Francie. Und das Kind sollte Laurie heißen.
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aurie war ein anspruchsloses Kind. Sie schlief meistens selig und zufrieden. Wenn sie wach war, lag sie da und fixierte ihre winzigen Hände mit ihren nußbraunen Äuglein. Katie stillte das Kindlein nicht nur deshalb, weil es das Natürliche war, sondern weil es ihr am nötigen Geld fehlte, um frische Milch zu kaufen. Sobald das Kindlein nicht mehr allein sein konnte, begann Katie mit ihren Reinigungsarbeiten in den andern beiden Häusern schon um fünf Uhr morgens. Sie arbeitete bis gegen neun Uhr. Dann mußten Francie und Neeley in die Schule gehen. Nachher reinigte sie das eigene Haus und ließ die Wohnungstür offenstehen, damit sie allenfalls das Kindlein schreien hörte. Am Abend ging Katie immer schon nach dem Essen zu Bett, und Francie sah ihre Mutter so wenig, daß es beinahe war, als sei sie nicht da. McGarrity entließ die Kinder nicht nach der Geburt des Kleinen, wie er sich eigentlich vorgenommen hatte. Er konnte sie nun plötzlich nicht mehr entbehren, denn sein Geschäft blühte in jenem Frühling 1916. Die Schenke war andauernd überfüllt. Es fanden große Umwälzungen statt in Amerika, und seine Kunden mußten wie alle Amerikaner so oft wie möglich zusammenkommen, um sich über die Neuerungen zu unterhalten. McGarritys Schenke war der Klub der armen Leute von Williamsburg. Wenn Francie über der Schenke in der Wohnung arbeitete, hörte sie durch die dünne Bretterdiele die vor Eifer erhobenen Stimmen der Männer heraufklingen. Sie hielt oft inne mit der Arbeit und lauschte. Ja, die Welt hatte sich schnell verändert. Und diesmal wußte Francie, daß es die Welt war und nicht sie. Die Veränderung wurde ihr klar, wenn sie den Worten der Männer zuhörte. 366
Tatsache! Sie werden nun keine alkoholischen Getränke mehr machen, und in ein paar Jahren wird das ganze Land trocken sein. Ein Mann, der schwer arbeiten muß, hat ein Recht auf sein Bier. Sag das dem Präsidenten und schau, was es nützt. Das Land gehört dem Volk, und wenn das Volk nicht will, dann soll es nicht trocken sein. Natürlich gehört das Land dem Volk, und trotzdem werden sie dir die Prohibition in den Hals stopfen. Bei Gott, dann werde ich eben den Wein selbst machen. Mein Alter hat drüben im Alten Lande auch Wein gemacht. Man nimmt einen Eimer voll Trauben und … Ach was, die Frauen werden das Stimmrecht nie bekommen. Sag das nicht zu laut. Wenn es so weit kommt, dann muß meine Frau so stimmen, wie ich es will, oder ich werde ihr den Hals brechen. Meine Alte würde ohnehin nicht zur Urne gehen und sich unter ein Rudel Raufbolde und Taugenichtse mischen. … vielleicht werden wir einmal eine Präsidentin haben. Niemals werden sie einer Frau die Regierung des Landes anvertrauen. Und doch werden wir jetzt von einer Frau regiert. Und wie! Wilson darf ja nicht einmal auf die Toilette gehen, ohne seine Frau zu fragen, ob es ihr paßt oder nicht. Wilson ist selbst ein altes Weib. Aber er hält uns doch aus dem Krieg heraus. Ach, so ein Universitätsprofessor und Vielwisser! Was wir im Weißen Haus brauchen, ist ein gesunder Politiker und kein Schulmeister. … Automobile. Bald wird es keine Pferde mehr geben. Dieser Kerl in Detroit macht die Autos so billig, daß bald jeder Arbeiter eins haben wird. 367
Ein Arbeiter und ein eigenes Auto! Das kannst du einem andern weismachen! Flugzeuge! Einfach eine verrückte Laune. Werden bald wieder verschwinden. Aber die lebenden Bilder behaupten sich. In Brooklyn machen sie ein Theater nach dem andern zu. Ich zum Beispiel: ich möchte hundertmal lieber diesen Charlie Chaplin sehen als … Radio! Die größte Sache, die jemals erfunden wurde. Die Wörter kommen durch die Luft, wohlverstanden, ganz ohne Drähte. Man braucht nur eine Art Maschine, um sie aufzufangen, und ein Hörrohr, um hineinzuhorchen. … man nennt es Dämmerschlaf, und die Frauen spüren überhaupt nichts mehr davon, wenn die Kinder kommen. Als meine Frau davon hörte, sagte sie, es sei höchste Zeit, daß man so etwas gefunden hat. Was sagst du da? Das Gas ist doch ganz aus der Mode. Jetzt haben sie ja schon in die billigsten Mietshäuser Elektrizität gelegt. Ich weiß nicht, was in die heutige Jugend gefahren ist. Sie sind alle so aufs Tanzen versessen, ganz verrückt. Tanzen … tanzen … tanzen. So ließ ich also meinen Namen Schultz in den Namen Scott umändern. Der Richter fragte mich, warum in aller Welt ich das tun wolle. Schultz sei ein rechter Name, sagte er. Er war eben selbst ein Deutscher, verstehst du? Hör mal, Mac, sage ich … so habe ich mit ihm gesprochen. Richter hin oder her. Hör mal, Mac, ich bin fertig mit dem Alten Land, sage ich. Nach dem, was sie mit diesen belgischen Kindern gemacht haben, sage ich, will ich nichts mehr mit Deutschland zu tun haben. Ich bin jetzt ein Amerikaner, sage ich, und ich will einen amerikanischen Namen. 368
Und wir rennen Hals über Kopf in den Krieg hinein, Mensch, das sehe ich kommen. Wir brauchen diesen Herbst nur Wilson wieder zu wählen. Er wird uns schon heraushalten. Verlaßt euch nicht auf die Versprechungen der Wahlpropaganda. Wenn ihr einen demokratischen Präsidenten habt, dann habt ihr einen Kriegspräsidenten. Lincoln war Republikaner. Aber im Süden hatten sie einen demokratischen Präsidenten, und sie waren es, die den Bürgerkrieg begannen. Ich möchte nur wissen, wie lange wir da noch zusehen sollen. Nun haben die lausigen Bastarde schon wieder eines unserer Schiffe versenkt. Wie viele müssen sie wohl noch versenken, bis wir endlich die Courage aufbringen, hinüberzufahren und ihnen den Teufel auszutreiben? Wir müssen draußen bleiben. Unserem Lande geht es gut. Und die andern sollen selber fertig werden mit ihren Kriegen, sie sollen uns nicht mit hineinverwickeln. Wir wollen keinen Krieg. Sobald der Krieg erklärt ist, werde ich mich melden. Du hast gut reden. Du bist fünfzig. Dich würden sie sowieso nicht mehr nehmen. Ich möchte lieber im Gefängnis sitzen, als in den Krieg gehen. Ein Mensch muß doch für das kämpfen, was er für richtig hält. Ich würde mich keinen Moment besinnen. Ich brauche mir keine Sorgen zu machen, ich habe einen doppelten Bruch. Der Krieg soll nur kommen. Dann werden sie uns Arbeiter nötig haben, um Schiffe und Kanonen zu bauen. Sie werden auch den Farmer brauchen, der ihnen die Nahrungsmittel liefert. Du wirst sehen, wie sie uns dann umwerben. Wir Arbeiter werden dann die gottverdammten Kapitalisten unter dem Pantoffel haben. Die werden schwitzen müssen, bei Gott. Wenn es auf mich ankäme, dann müßten wir schon morgen in den Krieg eintreten. 369
Es ist, wie ich dir gesagt habe. Heute wird alles mit Maschinen gemacht. Ich habe neulich einen Witz gehört. Ein Mann ging mit seiner Frau in die Stadt und kaufte sich Essen und Kleider, alles von Maschinen gemacht. Dann kommen sie zu einer Kindermaschine, und der Mann wirft das Geld hinein, und heraus kommt: ein Kind. Der Mann wendet sich ab und sagt: gebt mir die guten alten Zeiten wieder. Die guten alten Zeiten! Ja, ja, die sind wohl für immer vorbei. Füll uns die Gläser noch mal, Jim! Und Francie, die das alles hörte, versuchte, die Bruchstücke zusammenzusetzen und die toll gewordene, verworrene Welt zu verstehen. Es schien ihr, die ganze Welt habe sich in der kurzen Zeit zwischen Annie Lauries Geburtstag und dem Examenstag verändert.
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rancie hatte kaum Zeit gehabt, Laurie zu genießen, als schon der Examenstag vor der Tür stand. Da Katie nicht beiden Examen beiwohnen konnte, beschloß sie, mit Neeley zu gehen. Sie fand es richtig so, denn Neeley konnte ja nichts dafür, daß Francie sich eine andere Schule ausgesucht hatte. Francie begriff das Argument, aber es tat ihr doch ein wenig weh. Papa wäre bestimmt mit ihr gekommen, wenn er noch dagewesen wäre. Es wurde beschlossen, Sissy solle mit Francie gehen, während Evy das Kleine hüten mußte. Am Abend des letzten Junitages im Jahre 1916 machte Francie zum letztenmal den Weg nach ihrer geliebten Schule. Sissy, die viel ruhiger geworden war, seit sie das Kind hatte, ging gesetzt neben ihr her. Sie begegneten zwei Feuerwehrmännern, aber Sissy sah sie nicht einmal, und doch hatte es einmal eine Zeit gegeben, da sie einer Uniform nicht hatte widerstehen können. Francie wünschte sich im stillen, Sissy wäre noch wie früher. Sie kannte sie kaum mehr, und das gab ihr ein Ge370
fühl der Einsamkeit. Sie haschte heimlich nach Sissys Hand, und Sissy drückte sie fest. Francie war getröstet, Sissy war sich in ihrem Innern gleichgeblieben. Die Kinder saßen in der vorderen Hälfte der Aula, die Erwachsenen hinten. Der Oberlehrer hielt eine ernste Ansprache, in der er den Kindern sagte, sie würden nun in eine verworrene Welt hinauskommen und es sei ihre Aufgabe, nach dem Krieg, der bestimmt auch über Amerika kommen werde, eine neue, bessere Welt aufzubauen. Er legte ihnen ans Herz, sich nach Möglichkeit weiterzubilden, damit sie für den Aufbau der neuen Welt besser ausgerüstet sein würden. Francie war tief beeindruckt und gelobte im stillen, daß sie auch zu den ›Fackelträgern‹ gehören wolle, von denen der Oberlehrer sprach. Dann folgte das Festspiel. Francies Augen brannten von den unvergossenen Tränen. Während der gehaltlose Dialog rezitiert wurde, mußte sie immer wieder denken: Mein Spiel wäre viel besser gewesen. Ich hätte ja das mit dem alten Mann, der den Aschenbehälter flickte, weglassen können und alles, was die Lehrerin häßlich fand. Wenn sie mich nur mein Spiel hätte fertigschreiben lassen. Nach dem Spiel mußten sie der Reihe nach ihr Diplom in Empfang nehmen. Dann mußten sie den Fahneneid schwören und das Sternenbannerlied singen.
Und dann kam der bittere Augenblick, dem Francie mit soviel Bangen entgegengesehen hatte. Es war nämlich Sitte, daß die Mädchen Blumen bekamen. Da man in der Aula keine Blumen haben durfte, wurden sie ins Klassenzimmer geschickt, wo die Lehrerin sie jeder Schülerin aufs Pult stellte. Francie mußte ins Klassenzimmer zurück, um ihr Zeugnis und die Schulsachen zu holen. Sie bereitete sich schon vor der Tür darauf vor, daß ihr Pult das einzige sein würde, auf dem keine Blumen standen. Sie hatte Mama nie etwas von dieser Sitte gesagt, da sie ja wußte, daß kein Geld für Blumen da war. 371
Sie nahm ihr Herz in beide Hände und ging direkt auf das Pult der Lehrerin zu, um sich ihr Zeugnis zu holen und nachher so schnell wie möglich zu verschwinden. Sie wagte nicht, einen Blick auf ihr eigenes Pult zu werfen. Das Zimmer war erfüllt von Blumenduft. Sie hörte die andern Mädchen jubeln und aufjauchzen vor Entzücken. Sie hörte, wie sie gegenseitig ihre Blumensträuße bewunderten. Sie hielt das Zeugnis in den Händen. Vier ›Sehr gut‹ und ein ›Genügend‹. Das ›Genügend‹ war die Note für Englisch. Früher war sie immer die Erste gewesen, und nun hatte sie in diesem Fach gerade mit knapper Not bestanden. Plötzlich haßte sie die Schule und sämtliche Lehrerinnen, und Fräulein Garnder am allermeisten. Und es war ihr vollkommen gleichgültig, ob sie Blumen bekam oder nicht. Das kümmerte sie nun nicht mehr. Es war ohnehin eine stupide Sitte. Ich will jetzt zu meinem Pult gehen und meine Sachen holen, beschloß sie. Und wenn irgend jemand mit mir reden will, dann sage ich, er soll den Mund halten. Und dann werde ich für immer dieses Schulhaus verlassen und mich von niemandem verabschieden. Sie hob die Augen. Das Pult ohne Blumen ist das meinige. Aber es war kein Pult ohne Blumen! Es waren Blumen auf jedem Pult! Francie ging an ihr Pult und dachte, eines der Mädchen habe zwei Bukette bekommen und eins aus Platzmangel dorthin gestellt. Sie nahm sich vor, den Strauß zu nehmen und ihn der Eigentümerin hinzuhalten mit den Worten: »Entschuldige bitte, ich muß etwas aus meinem Pult herausnehmen.« Sie nahm den Strauß in die Hand – zwei Dutzend dunkelrote Rosen auf einem Farnkrautzweig. Sie hielt sie einen Augenblick im Arm wie die andern Mädchen und tat so, als gehörten sie ihr. Dann suchte sie eine Karte, um den Namen der Eigentümerin ausfindig zu machen. Wie merkwürdig! Ihr eigener Name stand auf der Karte! Und darunter stand geschrieben: »Für Francie am Examenstag mit tausend Grüßen von Papa.« Papa! Die Karte war in Papas zarter, sorgfältiger Handschrift geschrieben und mit der schwarzen Tinte aus dem Kasten im vorderen Zimmer. 372
War es am Ende doch ein böser Traum gewesen, daß Papa gestorben war? War Laurie ein Traum und die Arbeit bei McGarrity und das Festspiel und die schlechte Note in Englisch? Wachte sie erst jetzt davon auf, und war alles wieder in Ordnung? Wartete Papa draußen im Korridor auf sie? Aber als sie das Schulzimmer verließ, stand nur Sissy vor der Tür. »Dann ist Papa also doch tot«, sagte Francie. »Ja«, antwortete Sissy. »Es ist nun ein halbes Jahr her.« »Aber wie kommt es denn, daß er mir Blumen schicken konnte?« »Ungefähr vor einem Jahr hat er mir die fertig geschriebene Karte und zwei Dollar gegeben und gesagt: ›Das ist für Francies Examen, damit du ihr Blumen schicken kannst – für den Fall, daß ich es vergessen sollte.‹« Da begann Francie zu weinen. Es war nicht nur aus Ergriffenheit darüber, daß Papa an sie gedacht hatte. Es war die Nachwirkung all der Sorgen und Ängste um Mama, der harten Arbeit, es war aus Kummer, weil sie das Festspiel nicht hatte schreiben dürfen und weil sie im Englischen eine so schlechte Zeugnisnote hatte und weil sie gar nicht darauf gefaßt gewesen war, Blumen zu bekommen. Sissy ging mit ihr auf die Mädchentoilette und schob sie in eine der Zellen hinein. »Weine dich nur aus, so fest du kannst«, befahl sie, »aber mach schnell damit, denn Mama wird sich fragen, wo wir solange bleiben.« Francie stand in dem Bretterverschlag, hielt die Rosen umklammert und schluchzte. Jedesmal, wenn sie draußen die Tür gehen hörte und wieder ein Rudel schwatzender, fröhlich lachender Mädchen hereinkam, zog sie an der Wasserspülung, damit ihr Schluchzen im Rauschen des Wassers unterging und nicht gehört wurde. Nach einer Weile beruhigte sie sich. Als sie wieder herauskam, stand Sissy mit einem feuchten Taschentuch bereit, damit sich Francie damit die Augen kühlen konnte. Während Francie sich die Tränen abwischte, fragte Sissy, ob sie sich nun wieder wohler fühle. Francie nickte und bat sie, noch eine Weile auf sie zu warten, damit sie sich verabschieden könne. 373
Sie ging zuerst zum Oberlehrer ins Büro, um ihm die Hand zu drücken. »Vergiß deine Schulzeit nicht so bald, Francie. Komm wieder einmal vorbei und zeig, was aus dir geworden ist«, sagte er. »Das will ich«, versprach Francie. Dann ging sie, um der Klassenlehrerin adieu zu sagen. »Du wirst uns fehlen«, sagte diese. Francie holte ihren Bleistift und ihr Album aus dem Pult. Dann ging sie zu ihren Mitschülerinnen. Sie drängten sich alle um sie herum. Eine von ihnen legte ihr den Arm um die Hüften, und zwei küßten sie sogar auf die Wange. Sie riefen ihr noch allerlei Wünsche und Einladungen nach. »Komm mich doch einmal besuchen, Frances!« »Schreib mir einmal, wie es dir geht!« »Frances, wir haben jetzt Telefon. Läute doch einmal bei mir an, tu es gleich morgen!« »Schreib mir etwas ins Album, Frances, willst du? Damit ich es dann verkaufen kann, wenn du einmal berühmt bist.« »Ich gehe in ein Ferienlager. Hier ist meine Adresse, schreib mir doch einmal, Frances, hörst du?« »Ich gehe auf ein Mädchengymnasium, Frances. Kommst du auch?« »Ach nein, komm doch lieber mit mir in die Eastern-District-Mädchenschule.« »Erasmus Hall ist die beste Mädchenschule. Komm doch dorthin mit mir, Frances, und wir werden für immer Freundinnen sein. Ich werde nie mit jemand anderem gehen als mit dir, wenn du kommst.« »Frances, du hast mich noch gar nie in dein Album schreiben lassen.« »Und mich auch nicht!« »Gib es mir zuerst!« »Nein, mir!« Sie schrieben in das noch fast leere Album. Wie nett sie eigentlich sind, dachte Francie. Ich hätte mich vielleicht schon früher mit ihnen befreunden können. Aber ich habe immer gedacht, sie wollten nichts von mir wissen. Vielleicht lag es an mir, daß sie es nicht wagten. 374
Sie schrieben in das Buch. Einige klein und verkrampft, andere locker und weit. Aber sie schrieben noch wie Kinder. Francie las die Sprüche, während sie geschrieben wurden. Ich wünsch' dir Glück, ich wünsch' dir Freud' und einen Jungen seinerzeit. Und wenn der Bub beginnt zu geh'n, Dann wünsch' ich dir ein Mädelchen. Florence Fitzgerald Hast du mal 'nen Mann, der will zanken und streiten, dann hau ihn mit der Kelle und laß dich scheiden.
Jeannie Leigh
Und hebt die Nacht den Vorhang und steckt ihn fest mit einem Stern, dann denk an deine Freundin, und weilst du noch so fern.
Noreen O'Leary
Beatrice Williams schlug die letzte Seite des Albums auf und schrieb: Dir zum Trotz und zum Verdruß schreib' ich meinen Namen ganz zum Schluß. Sie unterzeichnete mit ›Deine Mitschriftstellerin Beatrice Williams‹. Das sieht ihr wieder einmal ähnlich, dachte Francie, und die Eifersucht wegen des Festspiels flackerte wieder auf in ihrem Herzen. Dann riß sich Francie endlich los. Draußen im Korridor sagte sie zu Sissy: »Jetzt muß ich nur noch einem Menschen adieu sagen.« »Dein Examen nimmt aber viel Zeit in Anspruch«, protestierte Sissy gutmütig. Fräulein Garnder saß an ihrem Pult im hell erleuchteten Zimmer. Sie war ganz allein. Sie war nicht sehr beliebt, und bis jetzt hatte noch nie375
mand daran gedacht, sich von ihr zu verabschieden. Sie blickte erfreut auf, als Francie hereinkam. »So, und nun willst du also von deiner alten Englischlehrerin Abschied nehmen«, sagte sie munter. »Ja, Fräulein Garnder.« Fräulein Garnder konnte das Schulmeistern nicht lassen und mußte noch eine Bemerkung machen: »Wegen deiner Note wollte ich noch etwas sagen. Du hast in diesem Quartal gar keine Aufsätze mehr abgeliefert. Ich hätte dich eigentlich durchfallen lassen sollen. Erst im letzten Moment habe ich mich noch entschlossen, dich passieren zu lassen, damit du mit deiner Klasse das Examen bestehen kannst.« Sie wartete. Francie sagte nichts. »Nun? Willst du mir dafür nicht danken?« »Danke, Fräulein Garnder.« »Erinnerst du dich noch an unsere kleine Unterhaltung?« »Ja, Fräulein Garnder.« »Warum wurdest du denn verstockt und hast mir keine Arbeiten mehr abgegeben?« Francie hatte keine Antwort. Es war etwas, das sie Fräulein Garnder nicht erklären konnte. Sie streckte die Hand aus. »Adieu, Fräulein Garnder.« Fräulein Garnder war höchst erstaunt. »Nun – also adieu«, stammelte sie, Sie schüttelte Francies Hand. »Später wirst du einmal einsehen, daß ich recht hatte, Frances.« Francie erwiderte nichts. »Glaubst du's nicht?« fragte Fräulein Garnder ungehalten. »Ja, Fräulein Garnder.« Francie verließ das Zimmer. Sie haßte Fräulein Garnder nicht mehr. Aber sie liebte sie auch nicht mehr. Sie empfand nur eine Art Mitleid mit ihr. Fräulein Garnder hatte nichts in der Welt als die Überzeugung, wie recht sie immer hatte. Drunten auf der Treppe stand Herr Jenson und ergriff die Hand jeder Schülerin mit seinen beiden Händen, schüttelte sie kräftig und sagte: »Auf Wiedersehen und Gott behüte dich.« Als er Francies Hand 376
schüttelte, fügte er noch hinzu: »Bleib brav, arbeite tüchtig und mach deiner Schule Ehre.« Francie versprach, dies zu tun. Auf dem Heimweg sagte Sissy: »Hör, Francie, wir sagen deiner Mama lieber nichts davon, wer dir die Blumen geschickt hat. Es wird sie nur von neuem traurig machen, und nun fängt sie eben an, sich von der Geburt ein wenig zu erholen.« Sie verabredeten, Mama zu sagen, Sissy habe die Blumen gekauft. Francie löste die Karte ab und legte sie sorgfältig in die Federschachtel.
Als Francie zu Hause erzählte, Sissy habe ihr Blumen gekauft, schalt Mama Sissy aus und sagte, sie hätte doch nicht soviel Geld ausgeben sollen. Aber Francie wußte genau, daß Mama sich im Grunde darüber freute. Die beiden Diplome wurden bewundert, und alle waren sich einig, daß Francies das schönere war wegen der gestochenen Handschrift von Herrn Jenson. »Die ersten Diplome in der Familie Nolan«, sagte Katie stolz. »Aber ich hoffe, es sind nicht die letzten«, sagte Sissy. »Ich will schon dafür sorgen, daß jedes meiner Kinder deren drei bekommt: Volksschule, Gymnasium und Universität«, beteuerte Evy. »In fünfundzwanzig Jahren wird unsere Familie, wenn man alle zusammenlegt, einen solchen Stoß von Diplomen besitzen.« Sissy stellte sich auf die Zehenspitzen und hielt den Arm, so hoch sie nur konnte. Mama schaute die Zeugnisse an. Neeley hatte im Betragen ›Gut‹ und im Turnen und in all den andern Fächern auch. Mama sagte: »Das ist recht, mein Sohn.« Dann nahm sie Francies Zeugnis zur Hand. Sie übersah alle ›Sehr gut‹ und konzentrierte sich auf das ›Genügend‹. »Francie! Das überraschst mich, wie hast du das nur gemacht?« »Mama, ich möchte lieber nicht darüber sprechen.« »Und dann noch in Englisch, wo du doch immer am besten warst.« Francies Stimme kletterte um ein paar Töne höher, als sie nochmals flehentlich sagte: »Mama, ich möchte wirklich lieber nicht darüber sprechen.« 377
»Sie hat früher immer die besten Aufsätze geschrieben«, erklärte Mama ihren Schwestern. »Mama!« Es klang beinahe wie ein Schrei. »Katie, laß sie doch in Ruhe damit«, legte sich Sissy ins Mittel. »Also gut«, lenkte Katie ein, die sich plötzlich dessen bewußt wurde, daß sie Francie durch ihr beständiges Draufherumreiten zusetzte und sich deshalb fast ein wenig schämte. Evy rettete die Situation, indem sie dem Gespräch eine andere Wendung gab. »Und nun, werden wir die Diplome feiern, oder werden wir sie nicht feiern?« fragte sie. »Ich gehe nur schnell den Hut aufsetzen«, sagte Katie. Sissy blieb bei Laurie, während Katie und Evy mit den Kindern in Scheefleys Eissalon gingen. Der Salon war überfüllt von diplomierten Schulkindern und ihren Eltern. Die Kinder hatten ihre Diplome unter dem Arm, und die Mädchen brachten sogar ihre Blumensträuße mit. Die Nolans fanden noch einen freien Tisch in einer Ecke. Es wimmelte von schreienden Kindern, strahlenden Eltern und gehetzten Kellnern. Einige von den Kindern waren dreizehn, einige auch fünfzehn, aber die meisten waren in Francies Alter. Die meisten Jungen waren Neeleys Klassenkameraden, und er amüsierte sich sehr damit, durch den ganzen Salon hierhin und dorthin Grüße zu schreien. Francie kannte kaum eines unter den Mädchen, und doch nickte sie nach allen Seiten, winkte und schrie, als sei sie die ganze Schulzeit hindurch eng mit ihnen befreundet gewesen. Francie war sehr stolz auf Mama. Die anderen Mütter hatten meist schon graue Haare und waren so dick, daß ihr Hinterteil über den Rand des Stuhls hinausquoll. Mama war mädchenhaft schlank und sah keineswegs aus, als sei sie schon dreiunddreißig. Ihre Haut war so hell und glatt und ihr Haar so schwarz und lockig wie je. Wenn man ihr ein weißes Kleid anzöge und ihr einen Blumenstrauß in den Arm legte, könnte sie ebensogut eines von den Mädchen sein, ausgenommen vielleicht die Linie zwischen den Brauen, die sich seit Papas Tod noch etwas tiefer eingegraben hat, dachte Francie. Sie bestellten. Francie hatte sich im Kopf eine Liste sämtlicher Li378
monadenaromas aufgestellt, damit sie einmal sagen konnte, sie habe von allen einmal gehabt. Nun kam Ananas an die Reihe, und sie bestellte Ananaslimonade. Neeley bestellte sein Lieblingsgetränk: Limonade mit Schokoladenaroma. Und Katie und Evy ließen sich Vanilleeis servieren. Evy erzählte den Kindern kleine Geschichten über die anwesenden Gäste, die sie vorweg erfand, und sie lachten alle drei herzlich miteinander. Von Zeit zu Zeit warf Francie einen Blick auf Mama, die nicht mitlachte, sondern die Augenbrauen zusammenzog, so daß sich die Falte über der Nase noch vertiefte. Francie wußte, daß Mama über irgend etwas nachdachte, während sie langsam und gedankenverloren ihr Eis aß. Meine Kinder, dachte Katie, haben mit dreizehn und vierzehn Jahren mehr Schulbildung als ich mit dreiunddreißig. Und doch ist es noch nicht genug. Wenn ich denke, wie unwissend ich in ihrem Alter noch war! Und sogar später noch, als ich schon verheiratet war und ein Kind hatte. Wenn ich mir das vorstelle! Ich glaubte noch an Hexenzauber damals, als die Hebamme von der bösen Alten auf dem Fischmarkt sprach. Sie haben mir so vieles voraus. Sie sind in ihrem Leben nie so unwissend gewesen. Ich habe sie nun so weit gebracht, daß sie das Volksschuldiplom erwerben konnten. Ich kann jetzt nichts mehr für sie tun. All meine Pläne … Neeley ein Doktor, Francie auf der Universität … ich kann sie jetzt nicht ausführen. Die kleine Laune … Haben Sie nun genug in sich, um sich selbst weiterzuhelfen? Shakespeare … die Bibel … Sie können Klavier spielen … Ich habe sie gelehrt, sauber und aufrichtig zu sein und keine Almosen anzunehmen. Aber wird das genügen? Bald werden sie einen fremden Meister über sich haben, dem sie es recht machen müssen, und sie werden es mit andern Menschen zu tun haben. Sie werden vielleicht andere Sitten annehmen? Gute? Schlechte? Sie werden am Abend nicht mehr bei mir zu Hause sitzen wollen, wenn sie den ganzen Tag arbeiten müssen. Neeley wird mit seinen Freunden ausgehen. Und Francie? Sie wird lesen … Sie wird in die Bibliothek gehen oder ins Theater, in eine Gratisvorlesung oder in ein 379
Orchesterkonzert. Dann habe ich natürlich noch Laune. Und sie wird es einmal leichter haben. Wenn sie so alt ist wie Francie, dann können ihr vielleicht die Geschwister schon helfen, damit sie aufs Gymnasium gehen kann. Laude muß es besser haben als die andern. Sie haben nie genug zu essen gehabt und keine ordentlichen Kleider. Das Beste, was ich für sie tun konnte, war nicht gut genug. Und nun müssen sie sich schon selbst Arbeit suchen gehen und sind doch immer noch kleine Kinder. Wenn ich sie nur wenigstens diesen Herbst aufs Gymnasium bringen könnte! Ach Gott, ich würde dafür zwanzig Jahre meines Lebens geben. Ich würde Tag und Nacht arbeiten. Aber das geht natürlich nicht. Jemand muß doch bei Laune sein. Ihr Gedankengang wurde unterbrochen durch eine Welle des Gesanges, der plötzlich den ganzen Salon erfüllte. Irgend jemand hatte ein Antikriegslied zu singen begonnen, und alle andern hatten eingestimmt. Mein Junge soll mal nicht zu den Soldaten, ich zog ihn auf zu meiner eignen Freud' … Katie nahm ihre Gedanken wieder auf. Ich wüßte niemanden, der uns helfen könnte. Niemanden. Sie dachte einen Augenblick an Wachtmeister McShane. Er hatte einen großen Korb mit Früchten geschickt, nachdem Laurie zur Welt gekommen war. Sie wußte, daß er nur noch bis September bei der Polizei sein würde. Nachher würde er sich als Kandidat für seinen Wahlbezirk, Queens, präsentieren, um bei der nächsten Wahl Abgeordneter im Repräsentantenhaus zu werden. Jedermann war überzeugt, daß man ihn wählen würde. Katie hatte gehört, seine Frau sei schwer krank und werde wahrscheinlich den Tag nicht mehr erleben, an dem er gewählt würde. Er wird bestimmt wieder heiraten, dachte Katie. Eine Frau, die sich aufs politische Leben versteht und ihm helfen kann … wie man es von der Frau eines Politikers erwartet. Sie blickte lange auf ihre abgearbeiteten Hände und verbarg sie schließlich unter dem Tisch, als schäme sie sich ihrer. 380
Francie beobachtete ihre Mutter. Sie denkt gewiß an Wachtmeister McShane, erriet sie, denn sie erinnerte sich, wie Mama bei jenem Parteiausflug ihre weißen Handschuhe anzog, nachdem McShane sie angeschaut hatte. Er hat sie gern, dachte Francie. Ich möchte wissen, ob sie es weiß. Ich glaube schon. Sie scheint ja alles zu wissen. Ich wette, sie könnte ihn heiraten, wenn sie nur wollte. Aber er soll sich nicht einbilden, daß ich ihn jemals Papa nennen würde. Mein Vater ist tot, und wenn auch Mama heiratet, er wird für mich immer nur Herr Soundso sein. Die Feiernden waren bei der letzten Strophe des Liedes angelangt: Nie gab' es wieder Krieg, käme das Wort zum Sieg: Mein Junge soll mal nicht zu den Soldaten. Neeley! dachte Katie. Er ist dreizehn. Wenn es wirklich zum Krieg kommt bei uns, dann wird er vorbei sein, bevor Neeley alt genug ist, um mitzumachen. Gott sei Dank! Tante Evy sang eine Parodie auf dieses Lied, und Francie und Neeley mußten überlaut lachen, so daß Katie aus der Bahn ihrer Gedanken geworfen wurde. Sie schaute auf und lächelte ebenfalls. Dann kam der Kellner und legte die Rechnung vor Katie. Sie verstummten alle und waren gespannt, was Katie nun tun würde. Hoffentlich ist sie nicht so dumm und gibt ihm ein Trinkgeld, dachte Tante Evy. Weiß Mama wohl, daß man ein Fünfcentstück geben muß als Trinkgeld? Ich hoffe es, dachte Neeley. Und Francie dachte: Was Mama auch tun wird, es wird das Richtige sein. Für gewöhnlich gab man im Eissalon überhaupt kein Trinkgeld, höchstens bei besonderen Gelegenheiten, wo man ein Fünfcentstück zurücklassen mußte. Katie warf einen Blick auf die Rechnung. Dreißig Cent. Sie hatte nur eine Münze in ihrer abgegriffenen Geldtasche, ein Fünfzigcentstück, das sie auf die Rechnung legte. Der Kellner nahm 381
es mit und brachte das Wechselgeld zurück, vier Fünfcentstücke, die er in einer Reihe vor Katie hinlegte. Er blieb in der Nähe und wartete darauf, daß Katie drei von ihnen einstecken würde. Sie blickte auf die vier Geldstücke. Vier Laib Brot, ging es ihr durch den Kopf. Vier Augenpaare beobachteten Katies Hand. Mit einem sicheren Griff, ohne Zögern, legte Katie ihre Hand auf die Münzen und schob sie mit einer großartigen Geste dem Kellner zu. »Behalten Sie das!« Francie mußte sich beherrschen, um nicht auf den Stuhl zu steigen und auf Mama ein Hoch auszurufen. Mama ist wirklich eine Persönlichkeit, mußte sie sich immer wieder sagen. Der Kellner strich die vier Geldstücke schmunzelnd in die hohle Hand und stürzte davon. »Zwei Limonaden verpufft«, stöhnte Neeley. »Katie, aber Katie, wie leichtsinnig«, protestierte Evy. »Ich wette, dies war dein letztes Geld.« »So ist es. Aber vielleicht ist es auch unsere letzte Examensfeier.« »McGarrity wird uns morgen vier Dollar auszahlen«, sagte Francie, um ihre Mutter in Schutz zu nehmen. »Und morgen wird er uns auch den Laufpaß geben«, fügte Neeley hinzu. »Dann werdet ihr also nach diesen vier Dollar kein Geld mehr haben, bis die Kinder Arbeit finden«, schloß Evy. »Das ist mir ganz egal«, sagte Katie. »Ich wollte nur, daß wir uns ein einziges Mal als Millionäre fühlen konnten. Und wenn zwanzig Cent uns das Gefühl des Reichtums geben können, dann ist dies wirklich ein billiges Vergnügen.« Evy erinnerte sich wieder daran, wie Katie es zugelassen hatte, daß Francie ihren Kaffee in den Ausguß schüttete, und sie sagte nichts mehr. Es gab verschiedene Dinge, die sie an ihrer Schwester nicht verstehen konnte. Die verschiedenen Familien begannen den Salon wieder zu verlassen. Albie Seedore, der langbeinige Sohn eines wohlhabenden Spezereihändlers, kam an den Tisch der Nolans herüber. 382
»Willst – du – morgen – mit – mir – ins – Kino – gehen – Francie?« fragte er in einem Atemzug. »Ich – will – für – dich – bezahlen«, fügte er hastig hinzu. (Ein Lichtspielhaus ließ für fünf Cent je zwei Frischdiplomierte zur Samstagmatinee herein, wenn sie ihre Diplome als Passierscheine mitbrachten.) Francie blickte fragend zu Mama auf. Mama nickte. »Gern, Albie«, akzeptierte Francie. »Dann hol' ich dich ab. Um zwei. Morgen also!« Dann trottete er mit langen Schritten davon. »Dein erstes Rendezvous«, sagte Evy. »Wünsch dir etwas!« Sie hielt Francie den gekrümmten kleinen Finger hin, und Francie hakte mit dem ihren ein. »Ich wünsche, ich könnte immer ein weißes Kleid und rote Rosen haben und wir könnten immer Geld hinauswerfen wie heute abend«, sagte Francie.
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VIERTES BUCH
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S
o, nun hast du's kapiert«, sagte die Vorarbeiterin zu Francie. »Ich glaube, du wirst mit der Zeit eine gute Stielmacherin werden.« Sie ging weg und ließ Francie allein. Es war die erste Stunde des ersten Tages an ihrer ersten Stelle. Gemäß den Anweisungen der Vorarbeiterin nahm sie mit der Linken ein dreißig Zentimeter langes Stück glänzenden Draht. Mit der Rechten nahm sie gleichzeitig einen schmalen Streifen dunkelgrünes Seidenpapier. Sie netzte das eine Ende des Streifens mit dem Schwamm und wand dann den Streifen um den Draht, indem sie diesen mit Daumen und Zeigefinger so flink wie möglich drehte. Dann legte sie den umwickelten Draht beiseite. Er war nun ein Blumenstiel. Von Zeit zu Zeit holte Mark, der Aushilfsjunge mit dem pickligen Gesicht, die fertigen Stiele ab und verteilte sie unter die ›Blütenmacherinnen‹, die an den Stielen mit feinen Drähtchen Rosenblätter befestigten. Ein anderes Mädchen mußte die Rosen mit Kelchen versehen und sie dann an die ›Blattmacherinnen‹ weitergeben, die von einem Haufen fertig präparierter Blätter, von denen je drei an einem kurzen Stiel zusammengebunden waren, ein solches Dreiblatt aussuchten und es ebenfalls am Stiel festmachten, worauf sie es der ›Fertigmacherin‹ übergaben. Diese wickelte einen Streifen dickeres grünes Papier um den Kelch und den ganzen Stiel, so daß Stiel, Kelch, Rose und Blätter zu einer schönen Einheit wurden und ganz natürlich aussahen. Francie hatte Rückenweh, und ein stechender Schmerz durchbohrte ihre Schulter. Sie glaubte, schon mindestens tausend Stiele umwickelt zu haben. Sicher war es bald Zeit zum Mittagessen. Sie wandte sich um, um auf die Uhr zu schauen, und stellte zu ihrer Enttäuschung fest, daß sie erst eine Stunde lang gearbeitet hatte! 385
»Uhrengucker«, bemerkte ein Mädchen höhnisch. Francie blickte erschrocken auf, sagte aber nichts. Allmählich fand sie einen bestimmten Rhythmus heraus, der ihr die Arbeit zu erleichtern schien. Eins. Sie legte einen umwickelten Draht weg. Und ein halb. Sie nahm einen frischen Draht und gleichzeitig einen neuen Streifen Seidenpapier. Zwei. Sie feuchtete das Papier an. Drei-vier-fünf-sechs-sieben-acht-neun-zehn. Und schon war der Draht umwickelt. Bald wurde der Rhythmus mechanisch. Sie brauchte nicht mehr zu zählen und sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Der Rücken entspannte sich, und die Schulter hörte auf zu schmerzen. Die Gedanken konnten ihre eigenen Wege gehen, und sie begann, über allerlei nachzudenken. Wenn man ein ganzes Leben so verbringen müßte! dachte sie. Wenn man acht Stunden lang Drähte umwickeln müßte, nur um so viel Geld zu verdienen, daß man sich das Essen kaufen und die Miete für ein Zimmer bezahlen kann; und all dies, nur um am andern Morgen wieder mit Drahtumwickeln weitermachen zu können! Es gibt doch Leute, die auf diese Art ihr Leben verbringen müssen. Natürlich werden etliche von diesen Mädchen heiraten, sie werden Männer heiraten, die ein ähnliches Leben führen. Aber was haben sie davon? Sie haben dann jemanden, mit dem sie sprechen können in ein paar Stunden, die zwischen der Arbeit und dem Schlafen übrigbleiben. Aber sie wußte genau, wie es dann weiterging. Sie hatte schon zu viele Arbeiterehepaare gesehen, die, nachdem die Kinder gekommen waren und die Rechnungen sich aufgehäuft hatten, nur noch in bitteren, häßlichen Worten miteinander sprachen. Diese Menschen sind in die Falle geraten, dachte sie. Und warum? Sie mußte an ihre Großmutter denken und an ihre fixe Idee in bezug auf Schulbildung. »Weil sie zuwenig Bildung haben.« Und Francie wurde von einer plötzlichen Angst gepackt. Vielleicht würde sie nie aufs Gymnasium gehen können. Vielleicht würde sie nie mehr Bildung haben als jetzt. Vielleicht würde sie ihr Leben lang Drähte umwickeln müssen … Drähte umwickeln … Eins … und ein halb … zwei … drei-vier-fünf-sechs-sieben-acht-neun-zehn. Dieselbe unsinnige Angst packte sie wie damals im Bäckerladen, als sie 386
den alten Mann mit den obszönen Füßen gesehen hatte. In ihrer Panik begann sie schneller zu arbeiten, damit sie sich auf die Arbeit konzentrieren mußte und keine Zeit mehr zum Nachdenken hatte. »Neue Besen kehren gut«, sagte eine Fertigmacherin höhnisch. »Sie will beim Meister Eindruck schinden«, war die Meinung einer Blütenmacherin. Bald hatten sich die Hände aber auch an das schnellere Tempo gewöhnt, und Francies Gedanken wurden wieder frei. Sie beobachtete verstohlen die andern Mädchen, die am selben Tisch arbeiteten. Es waren ihrer ein Dutzend, lauter Polinnen und Italienerinnen. Die Jüngste mochte etwa sechzehn Jahre alt sein, die Älteste dreißig. Sie waren alle von dunkler Gesichtsfarbe. Aus einem unerklärlichen Grund trugen sie alle schwarze Kleider; offenbar waren sie sich nicht bewußt, wie schlecht ihnen das Schwarz bei ihrem dunklen Teint stand. Francie war die einzige, die ein buntfarbiges Waschkleidchen trug, und sie kam sich darin vor wie ein dummes, kleines Kind. Die luchsäugigen Arbeiterinnen fingen Francies verstohlene Blicke auf und reagierten darauf mit der ihnen geläufigen Art, andere zu schikanieren. Das Mädchen, das zuoberst am Tisch saß, begann: »Jemand, der an diesem Tisch sitzt, hat ein schmutziges Gesicht«, verkündete sie. »Ich nicht«, antworteten die andern der Reihe nach. Als die Reihe an Francie kam, hörten sie auf zu arbeiten und warteten, was Francie sagen würde. Aber Francie sagte nichts, da sie keine Antwort bereit hatte. »Die Neue sagt nichts«, ergriff die Anführerin das Wort. »Dann hat sie also das schmutzige Gesicht.« Francies Gesicht glühte, und sie arbeitete noch schneller, in der Hoffnung, die andern würden das Spiel wieder aufgeben. »Jemand an diesem Tisch hat einen schmutzigen Hals.« Es begann wieder von vorn. »Ich nicht«, lief es wieder um den Tisch. Als die Reihe an Francie war, sagte sie ebenfalls »Ich nicht.« Aber statt sie zu beruhigen, gab ihnen diese Bemerkung mehr Stoff, von dem sie weiterzehren konnten. »Die Neue sagt, ihr Hals ist nicht schmutzig.« »Das sagt sie so!« 387
»Wie kann sie das wissen? Sie kann ja ihren Hals nicht sehen.« »Und würde sie es zugeben, wenn er schmutzig wäre?« Sie erwarten irgend etwas von mir, dachte Francie gequält. Aber was? Hoffen sie, ich werde wütend werden und sie beschimpfen? Oder hoffen sie, ich werde meine Stelle wieder aufgeben? Oder möchten sie mich gerne heulen sehen wie damals das kleine Mädchen im Schulhof, das die Wandtafelwischer ausklopfte? Was sie auch von mir erwarten, ich werde es nicht tun! Sie neigte den Kopf über den Draht und arbeitete schneller. Das lästige Spiel dauerte während des ganzen Vormittags. Die einzigen Pausen traten ein, wenn Mark, der Aushilfsjunge, hereinkam. Dann ließen sie Francie eine Zeitlang in Ruhe und nahmen dafür ihn aufs Korn. »Hör mal, Neue, hüte dich vor Mark«, warnten sie Francie. »Er ist schon zweimal wegen Frauenraubes festgenommen worden und einmal wegen Mädchenhandel.« Die Beschuldigungen waren von größter Ironie, denn Mark war ein ausgesprochen mädchenhafter Junge. Francie sah, wie der unglückselige Mark bei jeder Neckerei bis zu den Haarwurzeln errötete, und er tat ihr leid. Der Morgen schien endlos. Francie hatte es längst aufgegeben, auf die Uhr zu schauen. Plötzlich läutete eine Glocke zum Zeichen, daß die Mittagspause begann. Die Mädchen ließen die Arbeit sofort sinken, fischten ihren Lunch hervor und begannen, ihre mit Zwiebeln belegten Brötchen zu essen. Francies Hände waren heiß und klebrig. Sie hätte sie gerne vor dem Essen gewaschen und fragte deshalb eines der Mädchen, wo der Toilettenraum sei. »Ich nich spreggen Englisch«, antwortete das Mädchen in übertrieben fremdem Akzent. »Nix verstandt«, sagte ein anderes, das Francie den ganzen Vormittag in bestem Englisch geneckt hatte. »Was ist das, ein Toilettenraum?« fragte ein dickes Mädchen. »Wo man Toiletten macht«, antwortete ein Spaßvogel. Mark sammelte gerade Schachteln ein. Er stand mit beladenen Ar388
men unter der Tür, schluckte, so daß sein Adamsapfel zweimal auf und ab ging, und Francie hörte ihn zum erstenmal sprechen. »Jesus Christus starb am Kreuz für solche Menschen, wie ihr es seid«, verkündete er leidenschaftlich, »und nun wollt ihr einem neuen Mädchen nicht einmal zeigen, wo die Toilette ist!« Francie starrte ihn erstaunt an. Die kleine Predigt wirkte so komisch auf sie, daß sie nicht anders konnte, als herauszuplatzen. Mark schluckte, wandte sich ab und verschwand im Korridor. Von diesem Moment an war alles wie verwandelt. Ein Murmeln lief um den Tisch. »Sie hat gelacht!« »He! Hast du's gesehen? Die Neue hat gelacht!« »Hat sie wirklich?!« Eine junge Italienerin hakte sich an Francies Arm und sagte: »Komm, Kleine, ich will dir zeigen, wo die Toilette ist.« Draußen im Toilettenraum drehte sie Francie den Wasserhahn auf, kippte die Glaskugel mit der flüssigen Seife nach vorne und blieb besorgt in Francies Nähe, während sie sich die Hände wusch. Als Francie sich die Hände an dem schneeweißen, offensichtlich noch ganz frischen Rollhandtuch abtrocknen wollte, hielt sie ihre Beschützerin heftig davor zurück. »Berühre dieses Handtuch nicht!« »Warum nicht? Es sieht doch sauber aus!« »Es ist gefährlich. Ein paar von den Arbeiterinnen sind geschlechtskrank, und du könntest angesteckt werden, wenn du dir die Hände damit abtrocknest.« »Was soll ich denn tun?« Francie schüttelte die triefenden Hände. »Mach's doch wie wir! Nimm den Unterrock!« Francie trocknete die Hände am Unterrock und blickte mit Entsetzen auf das tödliche Handtuch. Als sie wieder ins Arbeitszimmer kam, sah sie, daß die andern ihren Papiersack ebenfalls in ein Tischtuch verwandelt und die zwei Wurstbrötchen, die ihr Mama gemacht hatte, darauf gelegt hatten. Sie sah, daß irgend jemand ihr eine schöne rote Tomate danebengelegt hatte. Die Mädchen begrüßten sie diesmal alle mit einem Lächeln. Das Mäd389
chen oben am Tisch, das während des ganzen Vormittags bei den Neckereien die Anführerin gewesen war, tat einen tüchtigen Schluck aus einer Whiskyflasche und ließ sie dann bis zu Francie weiterreichen. »Nimm einen Schluck, Kleine!« befahl sie. »Damit du die trockenen Brötchen besser hinunterbringst.« Francie lehnte es hastig ab, zu trinken. »Trink doch, Kleine, es ist nur kalter Tee!« Francie dachte an das Handtuch im Toilettenraum und schüttelte energisch den Kopf. »Aha, jetzt weiß ich, warum du nicht aus meiner Flasche trinken willst. Anastasia hat dir im Waschraum einen Schreck eingejagt. Aber das mußt du nicht glauben, Kleine. Der Chef hat das Gerücht selbst in Umlauf gebracht, damit wir die Handtücher nicht benutzen. Dadurch erspart er sich jede Woche ein paar Dollar an Wäschereilohn.« »Wirklich?« sagte Anastasia. »Und doch habe ich noch nie jemanden von euch das Handtuch benützen sehen.« »Natürlich nicht, wir haben ja nur eine halbe Stunde Mittagszeit. Wer möchte da seine Zeit mit Händewaschen verschwenden? Trink nur, Kleine!« Francie nahm einen tüchtigen Schluck aus der Flasche. Der kalte Tee war stark und erfrischend. Sie bedankte sich und versuchte dann, die Spenderin der Tomate ausfindig zu machen. Aber niemand wollte es gewesen sein. »Wovon sprichst du eigentlich?« »Was für eine Tomate?« »Ich sehe keine Tomate.« »Bringt sie eine Tomate mit zum Lunch und weiß es nachher nicht mehr.« Auf diese Weise ging das Necken weiter. Aber nun war es nicht mehr grausam, sondern kameradschaftlich. Francie fühlte sich wohl während der Mittagspause und war sehr froh, daß sie herausgefunden hatte, was die Mädchen von ihr wollten. Es war ja so einfach gewesen, sie hatten von ihr nichts anderes gewollt als ein Lachen. Der Nachmittag verlief angenehm. Die Mädchen sagten Francie, sie solle sich nicht allzusehr abmühen, es sei ohnehin nur Saisonarbeit, und sobald die Herbstaufträge ausgeführt seien, würden sie für eine 390
Zeitlang entlassen werden. Je schneller sie mit der Arbeit fertig würden, desto schneller müßten sie aussetzen. Und Francie verlangsamte ihr Tempo wieder, erfreut darüber, daß sie von den älteren, erfahreneren Arbeiterinnen ins Vertrauen gezogen worden war. Sie erzählten sich während des ganzen Nachmittags Witze, und Francie lachte über jeden, ob sie ihn lustig fand oder einfach schmutzig. Nur dann plagte sie ihr Gewissen ein wenig, wenn sie mithalf, Mark, den Märtyrer, zu quälen, der nicht wußte, daß er sich mit einem einzigen Lächeln selbst von seinen Qualen erlösen konnte.
Dann kam der erste Samstag. Es war ein paar Minuten nach zwölf Uhr. Francie stand an der Flushing-Avenue-Haltestelle der BroadwayHochbahn und wartete auf Neeley. Sie hielt einen Briefumschlag in der Hand, der fünf Dollarscheine enthielt – ihr erster Lohn. Neeley würde auch fünf Dollar nach Hause bringen. Sie hatten verabredet, zusammen nach Hause zu gehen und aus der Überreichung ihres ersten Wochenlohnes eine kleine Zeremonie zu machen. Neeley arbeitete als Ausläufer in einem New Yorker Maklergeschäft. Sissys John hatte ihm den Posten durch einen Freund verschafft, der ebenfalls dort arbeitete. Francie beneidete Neeley. Er durfte jeden Tag über die große Williamsburger Brücke in die zauberhafte Stadt hinüberfahren, während Francie zu Fuß zu ihrer Arbeit im nördlichen Stadtteil von Brooklyn gehen mußte. Und Neeley durfte in einem Restaurant essen. Am ersten Tag hatte er wie Francie seinen Lunch mitgenommen, aber die andern Jungen hatten sich über ihn lustig gemacht und ihn den Bauernjungen von Brooklyn genannt. Daraufhin hatte ihm Mama täglich fünfzehn Cent mitgegeben, damit er im Restaurant essen könne. Er erzählte Francie, wie er in einem Automatenrestaurant aß, wo man ein Fünfcentstück in eine Maschine hineinwarf und wo dann Kaffee mit Schlagrahm herauskam, nicht zuviel und nicht zuwenig, gerade eine Tasse voll. Francie wünschte sich sehnlichst, sie könnte auch über die Brücke fahren und im ›Automa391
ten‹ essen, anstatt ihre belegten Brötchen von zu Hause mitnehmen zu müssen. Neeley kam die Treppe der Hochbahn heruntergerannt. Er trug ein flaches Paket unter dem Arm. Francie bemerkte, wie er seitwärts herunterkam, damit der ganze Fuß auf den Stufen Platz hatte, statt nur der Absatz. Dies gab ihm einen sicheren Stand. Papa war immer auf diese Art die Treppen heruntergegangen. Neeley wollte Francie nicht sagen, was in dem Paket drin war. Er meinte, das würde nur die Überraschung verderben. Sie gingen in ein Bankgeschäft und baten den Mann am Schalter, ihnen nagelneue Dollarnoten für ihre alten zu geben. »Wozu braucht ihr denn neue Noten?« fragte der Schalterbeamte. »Es ist unser erster Lohn, und wir möchten ihn gern so schön wie möglich nach Hause bringen«, erklärte Francie. »Soso, der erste Lohn?« sagte der Beamte. »Wie mich das an alte Zeiten erinnert! Wirklich, es erinnert mich ganz an meine eigene Jugendzeit. Ich weiß noch gut, wie es war, als ich meinen ersten Lohn nach Hause brachte. Ich war damals auch noch ein Junge … arbeitete auf einer Farm in Manhasset, Long Island. Damals …« Er ließ sich in eine kleine autobiographische Skizze ein, während die Leute, die hinter Francie und Neeley Schlange standen, ungeduldig zu scharren begannen. Schließlich schloß er: »… und als ich meiner Mutter meinen ersten Lohn heimbrachte, standen ihr die Tränen in den Augen. Ja, ich sage euch, Tränen standen ihr in den Augen.« Er riß die Umhüllung von einem Bündel neuer Banknoten und tauschte ihre alten Noten gegen neue ein. Dann sagte er: »Und hier schenke ich Euch etwas.« Er gab jedem einen frisch geprägten, golden glänzenden Penny, die er aus einer Schublade voll blankem Kleingeld genommen hatte. »Neue 1916er Pennies«, erklärte er. »Die ersten, die wir hier haben. Aber gebt sie nicht aus, spart sie noch ein wenig.« Er entnahm seiner eigenen Tasche zwei alte Kupfermünzen und warf sie in die Schublade, um das Defizit wieder auszugleichen. Francie bedankte sich. Als sie vom Schalter weggingen, hörte sie den Mann hinter sich sagen: »Ich erinnere mich auch noch an den Moment, als ich meiner Mutter den ersten Lohn heimbrachte.« 392
Im Hinausgehen fragte sich Francie, ob nun wohl alle Wartenden sich darüber unterhalten würden, wie es damals war, als sie ihren ersten Lohn der Mutter brachten. »Alle Leute, die arbeiten«, sagte Francie, »haben dies miteinander gemeinsam: sie erinnern sich alle, wie sie ihren ersten Lohn nach Hause brachten.« »Ja-a«, stimmte Neeley bei. Francie mußte noch über den Satz nachdenken: »Die Tränen standen ihr in den Augen.« Sie hatte diesen Ausdruck noch nie gehört, und er gefiel ihr sehr. »Wie konnte das sein?« wollte Neeley wissen. »Tränen haben doch keine Beine. Sie können doch nicht stehen. Stehen ist kein Wort, das man auf diese Weise gebrauchen kann.« »Doch«, behauptete Francie, »hier in Brooklyn gebraucht man ›standen‹ als Vergangenheit des Verbes ›bleiben‹.« »Vielleicht hast du recht«, gab Neeley nach. »Komm, wir wollen die Manhattan Avenue heruntergehen, nicht die Graham Avenue.« »Neeley, ich habe eine Idee. Wir wollen eine Sparbüchse anlegen, ohne Mama etwas davon zu sagen, und sie in deinem Wandschrank festnageln. Wir wollen sie mit diesen neuen Pennies beginnen, und wenn Mama uns Taschengeld gibt, wollen wir jede Woche zehn Cent hineinlegen. Vor Weihnachten machen wir sie dann auf, um für Mama und Laurie Weihnachtsgeschenke zu kaufen.« »Und für uns auch«, machte Neeley zur Bedingung. »Jawohl! Ich werde eins für dich kaufen und du eins für mich. Ich werde dir dann vorher sagen, was ich mir wünsche.« Sie gingen schnell und überholten die herumlungernden Kinder, die vom Altstoffhändler zurückkamen. Sie schauten zu Carney hinüber, als sie die Scholes Street passierten, und sahen vor dem Laden des Billigen Charlie das gewohnte Rudel Kinder. »Ach, diese Kinder!« sagte Neeley verächtlich und klingelte mit dem Geld in seiner Hosentasche. »Weißt du noch, Neeley, wie wir früher zu Carney gingen, um Altstoff zu verkaufen?« »Ja, das ist nun schon lange her.« 393
»Wirklich«, stimmte Francie bei. In Wirklichkeit war es genau zwei Wochen her, daß sie selbst ihren letzten Sack voll Altmaterial zu Carney geschleppt hatten.
Neeley hielt Mama das flache Paket hin. »Für dich und Francie«, sagte er. Mama öffnete das Paket. Es enthielt ein Pfund Biskuitbruchstücke. »Und ich habe es nicht von meinem Lohn gekauft«, erklärte Neeley geheimnisvoll. Sie baten Mama, für ein paar Augenblicke ins Schlafzimmer zu gehen. Sie legten die zehn neuen Banknoten in eine Reihe und riefen sie wieder zurück. »Für dich, Mama«, sagte Francie mit einer großartigen Geste. »Du meine Güte!« rief Mama. »Das ist ja unerhört!« »Und das ist noch nicht alles«, sagte Neeley. Er fischte achtzig Cent aus seiner Hosentasche und legte sie auf den Tisch. »Trinkgeld, weil ich die Botengänge so schnell besorgt habe«, erklärte er. »Ich habe sie während der ganzen Woche zusammengespart. Ich habe noch mehr gehabt, aber damit habe ich die Biskuits gekauft.« Mama schob Neeley die Kupfermünzen wieder zu. »Die Trinkgelder darfst du immer für dich behalten als Taschengeld.« Genau wie Papa, dachte Francie. »Gern! Aber ich gebe Francie ein Viertel davon.« »Nein, wart!« Mama holte ein Fünfzigcentstück aus der zersprungenen Tasse auf dem Kaminsims und gab es Francie. »Das ist dein Taschengeld. Fünfzig Cent pro Woche.« Francie strahlte. Sie hatte nicht so viel erwartet. Die Kinder überschütteten Katie mit Dankesworten. Katie blickte auf die Schachtel mit den Biskuits, auf die neuen Banknoten und dann auf ihre Kinder. Sie biß sich auf die Lippe, wandte sich ab und ging ins Schlafzimmer. »Ist Mama wegen irgend etwas böse?« flüsterte Neeley bestürzt. »Nein«, sagte Francie. »Sie ist nicht böse. Sie wollte nur nicht, daß wir sie weinen sehen.« »Wieso weißt du, daß sie weint?« 394
»Darum. Als sie die Dollarscheine und uns anschaute, sah ich, wie ihr die Tränen in den Augen standen.«
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rancie hatte erst zwei Wochen gearbeitet, als die vorübergehende Entlassung erfolgte. Die Mädchen tauschten untereinander Blicke aus, als der Chef erklärte, es sei nur für ein paar Tage. »Ein paar Tage, die sechs Monate dauern«, erklärte Anastasia, damit Francie es ja nicht mißverstand. Die Mädchen gingen daraufhin in eine Fabrik in Greenpoint, die für ihre Winteraufträge eine Anzahl Arbeiterinnen brauchen konnte. Sie machten dort Klatschrosen und künstliche Stechpalmenkränze. Und wenn dort die vorübergehende Entlassung erfolgte, rutschten sie weiter zu einer andern Fabrik. Und so ging es das ganze Jahr hindurch. Sie gehörten zu den Wanderarbeiterinnen von Brooklyn, die in verschiedenen Stadtteilen ihrer Saisonarbeit nachgingen. Sie wollten Francie dazu überreden, es ihnen gleichzutun, aber Francie beschloß, eine andere Sparte auszuprobieren. Sie dachte sich, wenn sie doch schon in einer Fabrik arbeiten müsse, dann wolle sie wenigstens dabei so viel Abwechslung wie möglich haben. Dann würde sie einst wie bei den Limonaden sagen können, sie habe von jeder Sorte einmal gekostet. Katie fand in der ›Welt‹ ein Inserat, in dem ein Registraturangestellter gesucht wurde. Anfänger würden eventuell berücksichtigt, Alter sechzehn Jahre, Staatsreligion. Francie kaufte einen Bogen Schreibpapier und einen Briefumschlag für einen Penny, schrieb mit aller Sorgfalt eine Bewerbung und adressierte sie an die Chiffre des Inserates. Sie war zwar erst vierzehn, aber Mama fand, man könnte sie leicht für sechzehn halten. Sie schrieb also in ihrem Bewerbungsschreiben, sie sei sechzehn. 395
Zwei Tage darauf erhielt Francie einen Brief mit einem interessanten Briefkopf: eine große Schere, die auf einer gefalteten Zeitung lag. Daneben stand ein Topf voll Kleister. Der Brief war vom Presseausschnittbüro in der Canal Street, New York, und enthielt die Aufforderung, Fräulein Nolan solle sich persönlich vorstellen kommen. Sissy ging mit Francie in ein Kaufhaus und half ihr, ein Damenkleid auszuwählen und das erste Paar Pumps mit hohen Absätzen. Als sie ihre neue Garderobe anprobierte, schworen Mama und Sissy, daß sie aussehe wie eine Sechzehnjährige. Nur die Zöpfe gaben ihr ein ausgesprochen kindliches Aussehen. »Mama, bitte, erlaube mir doch, sie abschneiden zu lassen.« »Nun hast du vierzehn Jahre gebraucht, um so schöne Zöpfe zu bekommen«, sagte Mama, »auf keinen Fall darfst du sie jetzt abschneiden!« »Huh, Mama, bist du aber altmodisch!« »Wozu willst du denn kurzes Haar wie ein Junge?« »Weil es so viel einfacher zu pflegen wäre.« »Die Pflege des Haares sollte für eine Frau eine Freude sein.« »Aber, Katie«, legte sich Sissy ins Mittel, »alle Mädchen lassen sich doch heutzutage das Haar abschneiden.« »Das ist eine Torheit. Das Haar macht die Frau doch so geheimnisvoll. Tagsüber ist es aufgesteckt. Aber in der Nacht, wenn sie mit ihrem Mann allein ist, löst sie das Haar und läßt es wie einen schimmernden Mantel über ihre Schultern fallen. Das macht sie doch für den Mann so reizvoll.« »In der Nacht sind alle Katzen schwarz«, sagte Sissy boshaft. »Behalte deine Bemerkungen für dich!« sagte Katie scharf. »Ich würde genauso aussehen wie Irene Castle, die Filmdiva, wenn ich kurzes Haar hätte«, beharrte Francie. »Die Jüdinnen müssen ihr Haar abschneiden, wenn sie verheiratet sind, damit sie kein anderer Mann mehr ansieht. Und die Nonnen schneiden sich das Haar ab, um damit zu beweisen, daß sie ein für allemal mit den Männern nichts mehr zu tun haben wollen. Aber warum sollte ein junges Mädchen sich freiwillig die Haare abschneiden las396
sen?« Francie wollte gerade Einspruch erheben, als Mama ihr das Wort abschnitt. »Nun reden wir nicht mehr davon!« »Gut«, sagte Francie, »aber wenn ich achtzehn bin, dann mache ich, was ich will.« »Wenn du achtzehn bist, kannst du dir meinetwegen die Kopfhaut glattrasieren lassen, aber bis dahin …« Sie wand Francie die schweren Zöpfe um den Kopf und steckte sie mit zwei beinernen Haarnadeln, die sie sich selbst aus dem Haarknoten zog, fest. »So!« Sie trat ein paar Schritte zurück und betrachtete ihre Tochter wohlgefällig. »Es sieht aus wie eine glänzende Krone«, verkündete sie dramatisch. »So sieht sie wenigstens aus wie eine Achtzehnjährige«, gab Sissy zu. Francie schaute in den Spiegel. Im Grunde freute sie diese Frisur, die ihr das Aussehen einer Achtzehnjährigen gab. Aber sie war zu stolz, dies zuzugeben. »Ich werde mein ganzes Leben lang Kopfweh haben, wenn ich diese Haarlast herumtragen muß«, klagte sie. »Sei nur froh, wenn du aus keinem andern Grund Kopfweh haben wirst«, sagte Mama. Am nächsten Morgen begleitete Neeley seine Schwester nach New York hinüber. Als die Hochbahn über die Williamsburger Brücke fuhr, standen fast alle Leute wie in stillschweigendem Einverständnis einen Moment auf und setzten sich dann wieder. »Warum tun sie das, Neeley?« wollte Francie wissen. »Weil gerade vor der Brücke eine Bank ist mit einer großen Uhr. Die Leute schauen alle auf diese Uhr, um zu wissen, ob sie früh oder spät dran sind. Ich wette, daß jeden Tag eine Million Menschen auf diese Uhr schauen«, schätzte Neeley. Francie hatte sich vorgestellt, es werde ein großes Erlebnis sein, das erste Mal über diese Brücke zu fahren. Sie fand aber das Tragen von Damenkleidern viel aufregender als diese Fahrt. Das Interview war kurz. Sie wurde probeweise angestellt. Die Arbeitszeit dauerte von neun Uhr morgens bis halb sechs Uhr abends. Eine halbe Stunde Mittagszeit und sieben Dollar Wochenlohn für den Anfang. Sie durfte mit dem Chef die Runde durchs Büro machen. 397
Die zehn Lektorinnen saßen an langen, schrägen Pulten. Sie teilten sich in die Zeitungen aller Staaten. Zu jeder Tagesstunde kamen die Zeitungen aus jeder Stadt aller Staaten von Amerika. Die Lektorinnen mußten die gesuchten Artikel anzeichnen und einrahmen und die Gesamtzahl der markierten Artikel samt ihrer Erkennungsnummer oben auf die vorderste Seite schreiben. Die so markierten Zeitungen wurden eingesammelt und der Druckerin übergeben, die vor einer Handpresse mit verstellbarem Datumstempel saß und ganze Berge von Stempeln neben sich hatte. Sie stellte das Datum der betreffenden Zeitung ein, schob den Stempel, auf dem der Name, die Stadt und der Staat der betreffenden Zeitung in Gummilettern geschrieben stand, in die Maschine und druckte so viele Zettel, wie die Zahl auf der vordersten Seite angab. Dann wanderten die Zeitungen samt den Zetteln zur Ausschneiderin, die vor einem großen, abgeschrägten Pult stand und mit einem scharfen, gebogenen Messer die Artikel herausschnitt. Trotz der Schere auf dem Briefkopf war im ganzen Büro keine Schere zu sehen. Neben der Ausschneiderin türmte sich jede Viertelstunde ein Berg von Abfallpapier auf, bis es von einem Mann abgeholt wurde, der es in Ballen zusammenpreßte. Die Zeitungsausschnitte wurden samt den Zetteln an die ›Kleberin‹ weitergegeben, die die Ausschnitte auf die Zettel kleben mußte. Dann wurden sie geordnet, eingesammelt, in Briefumschläge gesteckt und versandt.
Francie arbeitete sich schnell ein als Ordnerin der Zeitungsausschnitte. Nach zwei Wochen kannte sie die über zweitausend Aufschriften der Kartothek. Dann wurde sie zur Lektorin ausgebildet. Während zwei Wochen tat sie nichts anderes, als die Kundenkarten studieren, die noch detaillierter waren als die Aufschriften der Kartothek. Als es sich bei einer unformellen Prüfung erwies, daß sie die Bedürfnisse der Kunden auswendig kannte, übergab man ihr die Zeitungen des Staa398
tes Oklahoma zum Lesen. Der Chef überprüfte ihre Zeitungen, bevor sie zur Ausschneiderin kamen, und strich die Fehler an. Als sie genügend geübt war, um keine Kontrolle mehr zu benötigen, bekam sie auch noch die Zeitungen des Staates Pennsylvania. Bald darauf folgten die Zeitungen des Staates New York. So hatte sie die Zeitungen dreier Staaten zu lesen. Bis zum Ende des Monats August las sie mehr Zeitungen und markierte mehr Artikel als irgendeine andere Lektorin im Büro. Für sie war die Arbeit noch neu, es lag ihr daran, die Zufriedenheit des Chefs zu erlangen, und sie hatte noch gute, scharfe Augen. Sie war die einzige Lektorin, die keine Brille trug. Sie hatte sich in kürzester Zeit den ›fotografischen Blick‹ angeeignet. Sie konnte mit einem einzigen Blick übersehen, ob ein Artikel markiert werden mußte oder nicht. Sie las zwischen hundertachtzig und zweihundert Zeitungen pro Tag. Die zweitbeste Lektorin las nur hundert bis hundertzehn Zeitungen. Ja, Francie war die schnellste Lektorin des Büros – und die am schlechtesten bezahlte. Obwohl ihr Wochenlohn auf zehn Dollar erhöht worden war, nachdem sie mit Lesen begonnen hatte, verdiente die nächstbeste Lektorin fünfundzwanzig Dollar, und die andern erhielten zwanzig. Da Francie aber mit ihren Kolleginnen nie vertraut genug wurde, um von diesen Dingen zu sprechen, hatte sie keine Ahnung davon, wie lächerlich schlecht sie für ihre Arbeit bezahlt wurde. Obwohl Francie das Zeitungslesen liebte und auch stolz war, zehn Dollar pro Woche zu verdienen, war sie doch nicht glücklich. Sie hatte es sich wunderbar vorgestellt, in New York zu arbeiten. Wenn die paar Blümchen in dem goldbraunen Krug in der Bibliothek sie so tief bewegen konnten, wieviel mehr mußte sie dann eine solche Riesenstadt wie New York erschüttern! Aber dem war nicht so. Die Brücke war die erste Enttäuschung gewesen. Seit sie sie von ihrem Hausdach aus erblickt hatte, hatte sie sich immer vorgestellt, wenn man über diese Brücke ging, müsse einem zumute sein wie einer Fee, die auf hauchdünnen Flügeln durch die Luft schwebt. Und dann hatte es sich erwiesen, daß die Fahrt über die Brücke nicht anders war als das Befahren einer gewöhnlichen Straße von Brooklyn. Die Brüc399
ke war abgeteilt in Trottoire und eine Fahrstraße genau wie der Broadway, und die Hochbahnspuren waren auch genau dieselben. Man hatte gar kein besonderes Gefühl, wenn man über die Brücke fuhr. New York war eine Enttäuschung. Der einzige Unterschied zwischen Brooklyn und New York war, daß die Häuser höher waren und das Menschengedränge größer. Francie fragte sich, ob wohl von nun an alle Dinge, die sie sich so herrlich vorstellte, zu Enttäuschungen werden würden. Sie hatte schon oft die Karte der Vereinigten Staaten studiert und Reisen über ihre Ebenen, Berge, Wüsten und Flüsse unternommen, und alles war ihr wunderbar in der Phantasie vorgekommen. Ob sich diese Reisen in der Wirklichkeit auch in Enttäuschungen verwandeln würden? Angenommen, sie müßte dieses mächtige Land durchwandern, dann würde sie morgens früh um sieben Uhr aufbrechen und nach Westen gehen. Sie würde einen Fuß vor den andern setzen, um möglichst weit zu kommen; sie würde so flink ihre Füße bewegen, immer in der Vorstellung, daß ihre Schritte Teile einer in Brooklyn beginnenden Kette seien, daß sie kaum noch alle Berge, Flüsse, Ebenen und Wüsten in sich aufnehmen könnte. Vielleicht würde sie höchstens hier und da etwas Merkwürdiges finden, weil es sie an Brooklyn erinnerte oder weil es ganz anders war als in Brooklyn. Vielleicht gibt es überhaupt auf der ganzen Welt nichts Neues mehr, schloß Francie mit traurigem Herzen ihren Gedankengang. Wenn es überhaupt etwas gibt, das überraschend und schön ist, dann habe ich es sicher schon in Brooklyn erlebt, und es fällt mir in der Welt draußen gar nicht mehr auf. Francie machte sich Sorgen wie Alexander der Große, der traurig war, weil er glaubte, es gäbe nun keine neuen Welten mehr zu erobern. Sie paßte sich dem hastigen New Yorker Rhythmus an. Die Wege zum Geschäft waren eine Belastung für die Nerven, ein ängstliches Eilen von und zur Arbeit. Traf sie einige Minuten vor neun Uhr ein, so war sie ein freier Mensch. Kam sie eine Minute später, so litt sie, weil der Chef daraus das Recht ableitete, an dem betreffenden Tag schlechter Laune zu sein. Sie lernte es wie die andern, Bruchteile von Sekun400
den dadurch einzusparen, daß sie sich in der Hochbahn schon lange vor der Haltestelle an die Tür heranmachte, um in dem Moment hinausspringen zu können, da sie sich automatisch öffnete. Dann rannte sie die Treppe hinauf, die zur Straße führte. Bei der letzten Strecke, die sie zu Fuß gehen mußte, hielt sie sich dicht an den Häusern, um die Ecken möglichst scharf nehmen zu können. Sie kreuzte die Straßen diagonal, um sich einen Winkel zu ersparen, und nachher drängte sie sich in den Lift, obwohl der Liftboy verkündete, er sei bis zum letzten Platz besetzt. Und all dies nur, um eine Minute vor neun Uhr im Büro zu sein, statt eine Minute nach neun. Francie war im Büro das einzige Mädchen aus Brooklyn. Die andern kamen aus Manhattan, Hoboken, The Bronx und eine sogar aus Bayonne, New Jersey. Zwei von den ältesten Lektorinnen, die Schwestern waren, stammten aus Ohio. Am ersten Tag hatte eine von ihnen zu Francie gesagt: »Du hast einen Brooklyner Akzent.« Es hatte wie eine Anklage geklungen, und von dem Moment an wagte Francie es nicht mehr, so zu reden, wie sie es gewohnt war. Sie vermied es sorgfältig, ›Goil‹ zu sagen für ›Girl‹ und ›Apperntment‹ für ›Appointment‹. Es gab nur zwei Menschen im Büro, mit denen sie unbefangen sprechen konnte. Der eine war der Manager, ein Mann, der auf der Harvard-Universität studiert hatte und trotzdem seine einfache Sprache mit einem breiten ›a‹ und ein unkompliziertes Vokabular beibehalten hatte, im Gegensatz zu den Lektorinnen, die fast alle das Gymnasium absolviert und sich während vieler Jahre vielseitiger Lektüre einen umfangreichen, etwas affektierten Wortschatz angeeignet hatten. Der zweite Mensch war Fräulein Armstrong, die ebenfalls Universitätsbildung hatte. Fräulein Armstrong war die Speziallektorin für die Großstädte. Ihr Pult stand isoliert am günstigsten Platz des Büros, in einer Ecke, wo ein Fenster gegen Norden und eins gegen Osten ging. Sie hatte also das beste Licht zum Lesen. Sie las nur die großen Blätter von Chicago, Boston, Philadelphia und New York. Ein Extrabote brachte ihr jede neue Ausgabe der New Yorker Zeitungen, sobald sie die Presse verlassen hatte. Wenn sie mit ihren Zeitungen fertig war, dann mußte sie 401
nicht wie die andern Mädchen denjenigen helfen, die im Rückstand waren. Sie häkelte oder polierte sich die Fingernägel, bis die nächste Ausgabe erschien. Sie hatte auch den höchsten Lohn, dreißig Dollar pro Woche. Fräulein Armstrong war ein liebenswürdiger Mensch, und sie versuchte immer wieder, Francie ins Gespräch zu ziehen, damit sie sich nicht so einsam fühlte. Einmal hörte Francie im Toilettenraum davon sprechen, daß Fräulein Armstrong die Mätresse des Chefs sei. Francie hatte schon hier und da von diesen sagenhaften Wesen gehört, aber noch nie eins gesehen. Sofort betrachtete sie Fräulein Armstrong unter diesem neuen Gesichtspunkt. Sie fand sie nicht hübsch. Ihr Gesicht mit dem breiten Mund und den flachen, dicken Nasenflügeln hatte beinahe etwas Asiatisches, und ihre Figur war nicht überdurchschnittlich schön. Francie prüfte ihre Beine. Sie waren lang, schlank und sehr wohlgeformt. Sie trug die zartesten Seidenstrümpfe und kostbare Pumps mit hohen Absätzen an ihren wundervoll geschwungenen Füßen. Dann ist also dies das Geheimnis einer Mätresse, daß sie schöne Beine hat, schloß Francie aus ihrer Untersuchung. Sie blickte auf ihre eigenen langen, dünnen, formlosen Beine. Ich glaube, ich werde es nie so weit bringen. Sie seufzte und fand sich damit ab, daß sie wohl ein sündloses Leben führen mußte. Das Büropersonal zerfiel in zwei verschiedene Klassen. Die Ausschneiderin, die Druckerin, die Kleberin, der Mann, der sich mit dem Abfallpapier beschäftigte, und der Ausläufer bildeten eine Kaste. Sie waren unbelesen, aber schlau und nahmen ohne weiteres an, die Lektorinnen würden auf sie herabschauen. Sie nannten sich aus irgendwelchen Gründen ›Klub‹ und bemühten sich, aus Rache für das Verachtetwerden unter den Lektorinnen so viel Unfrieden zu stiften, wie ihnen möglich war. Francie wußte nicht recht, zu welcher Klasse sie sich zählen sollte. Sie sympathisierte mit beiden. Durch ihre Abstammung und ihre Bildung fühlte sie sich mit dem Klub verbunden, aber ihre Intelligenz und ihre Tüchtigkeit versetzten sie eher in die obere Klasse. Der Klub war schlau genug, diese Spaltung zu bemerken, und deshalb benützte 402
er Francie als Vermittlerin. Man erzählte Francie all die unheilvollen Gerüchte über das Personal und erwartete von ihr, daß sie den Klatsch unter den Lektorinnen verbreiten und dadurch Uneinigkeit stiften würde. Aber Francie war mit den andern Lektorinnen nicht so intim, daß sie mit ihnen über dergleichen Dinge hätte sprechen können, und so versandeten die Klatschgeschichten bei ihr. Als ihr die Ausschneiderin eines Tages mitteilte, daß Fräulein Armstrong im September austreten und daß sie, Francie, ihren Posten bekommen werde, dachte Francie, dies sei wieder einmal ein Gerücht, das man in Umlauf bringen wolle, um unter den Lektorinnen, die alle auf Fräulein Armstrongs Stelle reflektierten – falls sie sich wirklich zurückziehen würde –, Eifersucht zu entfachen. Francie hätte es anmaßend gefunden, mit ihren vierzehn Jahren und ihrer Volksschulbildung zu hoffen, die Stelle einer Dreißigjährigen, die auf der Universität studiert hatte, einzunehmen.
Es war nun schon bald Ende August, und Francie war sehr besorgt, weil Mama noch nie etwas davon gesagt hatte, daß sie im Herbst ins Gymnasium eintreten könne. Und sie wünschte sich doch so sehnlich, wieder in die Schule gehen zu dürfen. Jahrelang hatte sie nun ihre Großmutter, Mama und die Tanten von höherer Schulbildung reden hören. Dadurch war sie sehr bildungshungrig geworden. Der Mangel an Bildung mußte daher einen Minderwertigkeitskomplex bei ihr erzeugen. Sie dachte mit Sehnsucht an die Mädchen, die ihr ins Album geschrieben hatten. Sie hätte so gern wieder zu ihnen gehört. Sie waren auf derselben Stufe wie sie, sie hatten ihr nicht so viel voraus. Ihr natürlicher Platz war auf der Schulbank unter ihresgleichen und nicht in einem Büro, wo sie mit älteren, besser geschulten Frauen konkurrieren mußte. Sie arbeitete auch nicht gern in New York. Die Menschenmassen hatten für sie etwas Erdrückendes. Sie hatte das Gefühl, in eine Lauf403
bahn hineingedrängt zu werden, der sie nicht gewachsen war. Und das Schlimmste an New York waren die überfüllten Hochbahnen. Einmal, als sie in der überfüllten Hochbahn stand und sich, zwischen Menschen eingeklemmt, an einem von der Decke herabhängenden Lederriemen hielt, spürte sie plötzlich die Hand eines Mannes. Und wie sehr sie sich auch wand und drehte, es gelang ihr nicht, von dieser Hand loszukommen. Wenn die Hochbahn schwankte und all die Stehenden ins Wanken gerieten, packte die Hand fester zu. Sie konnte nicht einmal den Kopf wenden, um zu sehen, wer dieser Mann war. So stand sie in verzweifelter Ohnmacht und mußte die Schmach hilflos über sich ergehen lassen. Sie hätte ja protestieren können, aber sie schämte sich, die Aufmerksamkeit der Menge auf ihre fatale Lage zu lenken. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die Menge sich ein wenig lichtete und sie sich einen andern Platz suchen konnte. Von diesem Tag an war ihr das Fahren in einem überfüllten Wagen ein Schrecken. Eines Sonntags, als sie mit Mama und Laurie zur Großmutter gingen, erzählte Francie Sissy von dem Mann in der Hochbahn, in der Hoffnung, Sissy werde sie trösten. Aber Sissy nahm die Sache von der spaßhaften Seite. »Soso, dich hat also in der Hochbahn ein Mann gekniffen«, sagte sie. »Ich würde mir deswegen keine grauen Haare wachsen lassen. Das bedeutet nur, daß du anfängst, eine gute Form anzunehmen, und es gibt eben Männer, die einer guten Figur nicht widerstehen können. Ich glaube, ich werde allmählich alt! Mich hat schon seit Jahren niemand mehr gekniffen. Aber es gab eine Zeit, da ich nicht in einer Straßenbahn fahren konnte, ohne ganz blau und grün nach Hause zu kommen«, sagte Sissy stolz. »Ist das etwa etwas zum Prahlen?« fragte Katie. Sissy ignorierte diese Bemerkung und fuhr fort: »Es wird eine Zeit kommen, Francie, wo du eine Figur haben wirst wie ein Hafersack, den man in der Mitte zusammengeschnürt hat. Dann wirst du mit Sehnsucht an die Tage denken, da dich die Männer in der Hochbahn nicht in Ruhe lassen konnten.« 404
»Wenn sie das wirklich tun sollte, dann nur, weil du es ihr in den Kopf gesetzt hast, aber nicht etwa, weil es etwas Wunderbares war«, sagte Katie. Dann wandte sie sich an Francie. »Und dir rate ich, in der Hochbahn stehen zu lernen, ohne dich oben an dem Riemen zu halten. Behalte deine Hände unten und halte in der Tasche eine lange, scharfe Stecknadel bereit. Und wenn du die Hand eines Mannes fühlst, dann stich ihn tüchtig!« Und Francie tat, was Mama gesagt hatte. Sie lernte es, ohne die Hilfe der Deckenriemen fest zu stehen, und hielt in der Manteltasche eine lange, boshafte Nadel bereit. Sie hoffte geradezu, es würde sie jemand kneifen, um ihn dann mit der Nadel durchbohren zu können. »Sissy kann lange reden von einer schönen Figur – ich habe es nun einmal nicht gern, wenn man mich berührt. Und wenn ich einmal alt und formlos bin, dann werde ich hoffentlich schönere Erinnerungen haben. Sissy sollte sich schämen …« Dann mußte sie über sich selbst nachdenken. Was ist denn eigentlich mit mir los? Nun fange ich auch noch an, Sissy zu kritisieren, die doch sonst immer so gut zu mir gewesen ist. Und ich bin nicht zufrieden mit meiner Stelle, statt glücklich zu sein, daß ich eine so interessante Arbeit habe. Wenn man denkt, daß ich bezahlt werde fürs Lesen, das doch ohnehin immer meine Leidenschaft war! Und alle andern Leute halten New York für die wunderbarste Stadt der Welt, und ich kann mich nicht einmal so weit bringen, es ein wenig gern zu haben. Sicher bin ich der unzufriedenste Mensch auf der ganzen Erde. Oh, wenn ich doch noch einmal jung sein könnte! Damals schien alles so wunderbar!
Kurz vor dem Arbeiterfeiertag ließ der Chef Francie in sein Büro rufen, wo er ihr mitteilte, daß Fräulein Armstrong aus dem Geschäft austreten werde, weil sie sich verheiraten wolle. Er räusperte sich und fügte hinzu, daß sie ihn heiraten werde. Francies Vorstellung von einer Mätresse zerbrach in tausend Stücke. Sie hatte geglaubt, daß die Männer ihre Mätresse nie heirateten, 405
sondern sie wegwarfen wie abgetragene Handschuhe. Nun sollte also Fräulein Armstrong eine Gemahlin werden statt eines weggeworfenen Handschuhs! »Nun brauchen wir also eine neue ›Stadtlektorin‹«, sagte der Chef. »Fräulein Armstrong selbst hat vorgeschlagen, wir könnten es … hm … mit Ihnen probieren, Fräulein Nolan.« Francies Herz tat einen Freudensprung. Sie Stadtlektorin! Der begehrteste Posten im ganzen Büro! Dann waren also die Gerüchte des Klubs diesmal Wahrheit gewesen. Und wieder mußte sie eine Vorstellung aus der Kinderzeit fallenlassen. Sie hatte bisher immer geglaubt, alle Gerüchte seien falsch. Der Chef hatte im Sinn, ihr fünfzehn Dollar pro Woche zu offerieren. Auf diese Weise würde er eine ebenso gute Lektorin wie seine künftige Frau haben – zum halben Lohn. Sie konnte sich die Finger lecken … die Kleine mit einem solchen Lohn. Sie behauptete, sie sei sechzehn, und doch sah sie aus wie dreizehn. Natürlich kümmerte ihn ihr Alter nicht, solange sie ihrer Arbeit gewachsen war. Das Gesetz konnte ihm nichts anhaben, weil er eine allzu jugendliche Arbeitskraft beschäftigte. Er würde einfach sagen, sie habe ihn über ihr Alter getäuscht. »Natürlich ist mit dem Posten eine kleine Aufbesserung verbunden.« Francie lächelte glücklich. Hätte ich am Ende nichts sagen sollen? dachte er. Vielleicht hätte sie gar keine Aufbesserung erwartet. Er wollte seinen Fauxpas hastig wiedergutmachen. »… eine kleine Aufbesserung, nachdem wir gesehen haben, wie Sie mit der Arbeit fertig werden.« »Ich weiß nicht …«, begann Francie zweifelnd. Sie ist doch über sechzehn, sagte sich der Chef. Und sie wird versuchen, ihren Lohn möglichst in die Höhe zu treiben. Um ihr zuvorzukommen, sagte er. »Ich werde Ihnen fünfzehn Dollar pro Woche geben, vom …« Er zögerte. Man durfte auch nicht allzu menschenfreundlich sein. »Vom 1. Oktober an.« Er lehnte sich in seinem Ledersessel zurück und kam sich so gnädig und gütig vor wie der liebe Gott. »Ich meine, ich glaube nicht, daß ich noch sehr lange hierbleiben werde.« Nun beginnt sie mit mir herumzuhandeln, dachte er. Dann fragte er. 406
»Warum nicht?« »Weil ich nach dem Arbeiterfeiertag wieder in die Schule gehen werde. Ich wollte es Ihnen schon sagen, sobald meine Pläne fest wären.« »Universität?« »Gymnasium.« Dann muß ich die Pinsky aufrücken lassen, dachte er. Sie hat nun fünfundzwanzig und wird dann dreißig erwarten. Dann bin ich wieder so weit wie vorher. Und außerdem ist diese Nolan besser als die Pinsky. Daß seine Irma aber auch die fixe Idee hatte, eine verheiratete Frau solle nicht mehr arbeiten gehen! Sie hätte doch weitermachen können … das Geld in der Familie behalten … ein Haus kaufen. Er wandte sich wieder an Francie. »Ach, das tut mir aber leid. Nicht, daß ich etwas gegen eine gute Schulbildung hätte. Aber ich finde das Zeitungslesen eine ebenso gute Bildungsmöglichkeit. Es ist doch eine lebendige, vielseitige und zeitgemäße Ausbildung. Während man in der Schule immer nur Bücher vor sich hat. Tote Bücher«, fügte er verächtlich hinzu. »Ich will … ich will es zuerst noch mit meiner Mutter besprechen.« »Auf jeden Fall müssen Sie das tun. Sagen Sie ihr nur, was Ihr Chef über die Schulbildung gesagt hat. Und sagen Sie ihr auch, daß er sagte«, er schloß die Augen und wagte den Sprung, »er werde Ihnen zwanzig Dollar pro Woche geben. Vom 1. November an.« Er rasierte noch schnell einen Monat weg. »Das ist aber schrecklich viel Geld«, sagte sie in ehrlichem Staunen. »Wir haben unsere Mitarbeiter immer gut bezahlt, damit sie uns treu bleiben. Und … eh … Fräulein Nolan, sagen Sie bitte niemandem etwas von Ihrem künftigen Gehalt. Keine von den andern bekommt so viel«, log er, »und wenn es die andern erführen … Also, Sie verstehen. Keine Vertraulichkeiten im Waschraum …« Francie kam sich gnädig vor, als sie ihm versicherte, sie werde ihn niemals im Waschraum verraten. Dann begann der Chef, Briefe zu unterzeichnen und bedeutete ihr damit, daß das Gespräch zu Ende sei. »Das ist alles, Fräulein Nolan. Wir müssen Ihren endgültigen Bescheid am Tag nach dem Arbeiterfeiertag haben.« 407
»Ja, mein Herr.« Zwanzig Dollar pro Woche! Francie war überwältigt. Noch vor zwei Monaten war sie dankbar gewesen, fünf Dollar pro Woche zu verdienen. Onkel Willie verdiente mit seinen vierzig Jahren nur achtzehn Dollar pro Woche. Sissys John war ein kluger Mann, aber auch er verdiente nur zweiundzwanzigeinhalb Dollar. Die wenigsten Männer aus ihrem Quartier verdienten zwanzig, und dabei mußten sie noch ihre Familie ernähren. Wenn ich so viel verdiene, dann werden all unsere Sorgen ein Ende haben, dachte Francie. Wir könnten eine Dreizimmerwohnung mieten, und Mama müßte nicht mehr arbeiten gehen. Laurie müßte nicht so oft allein gelassen werden. Es wäre doch wunderbar, wenn ich für unsere Familie so wichtig werden könnte. Aber ich will wieder in die Schule gehen. Sie hörte wieder all die Lobreden über Schulbildung, die sie in ihrer Familie so oft zu hören bekommen hatte. Evy: Jedes meiner Kinder soll drei Diplome erhalten. Sissy: Und wenn Mutter einmal stirbt – was Gott noch lange verhüten möge –, dann will ich die kleine Sissy in den Kindergarten bringen und wieder arbeiten gehen. Dann will ich meinen Lohn auf die Bank bringen, und wenn Klein Sissy groß ist, dann soll sie auf die beste aller Universitäten gehen. Mama: Ich will nicht, daß meine Kinder dasselbe harte Leben haben wie ich. Eine gute Schulbildung ist das einzige, was diesem Zustand abhelfen kann. Und doch ist dies eine so gute Stelle, dachte Francie. Wenigstens für den Augenblick. Aber wenn dann meine Augen angegriffen werden von der Arbeit? Die älteren Lektorinnen tragen alle Brillen. Fräulein Armstrong sagte, eine Lektorin sei nur gut, solange ihre Augen sie nicht im Stich lassen. Die andern Lektorinnen waren früher auch besser, als ihre Augen noch scharf waren. Sie waren einmal wie ich. Aber jetzt sind ihre Augen … Nein, ich muß meine Augen schonen … sonst verliere ich auch noch diese Stelle. Wenn Mama wüßte, daß ich zwanzig Dollar verdienen könnte, dann 408
würde sie mich vielleicht nicht mehr aufs Gymnasium gehen lassen. Und ich würde das verstehen. Wir sind nun so lange arm gewesen. Mama ist ja sonst in allem so gerecht. Aber vielleicht würde sie sich von dem vielen Geld blenden lassen, und das wäre ja sehr begreiflich. Ich will ihr lieber nichts sagen von der großen Aufbesserung, bis sie weiß, ob sie mich aufs Gymnasium schicken will oder nicht.
Francie erwähnte daheim etwas wegen der Schule, und Mama sagte, sie wollten dann nach dem Abendessen darüber sprechen. Nachdem sie ihren Abendkaffee beendet hatten, verkündete Katie in ganz überflüssiger Weise, daß die Schule am nächsten Montag wieder beginne. »Ich möchte, daß ihr beide aufs Gymnasium gehen könntet, aber es hat sich gezeigt, daß in diesem Herbst erst eines von euch gehen kann. Ich spare jeden Penny von eurem Lohn zusammen, den wir nicht unbedingt zum Leben brauchen, damit ihr nächstes Jahr beide wieder in die Schule gehen könnt.« Sie wartete und wartete. Aber keines der Kinder gab eine Antwort. »Nun? Wollt ihr denn nicht mehr zur Schule gehen?« fragte sie schließlich erstaunt. Francie sprach mit eingezogenen Lippen. Es hing so viel von Mamas Entscheid ab, und Francie wollte, daß ihre Worte einen möglichst guten Eindruck machten. »Doch, Mama. Es ist mein größter Wunsch, wieder zur Schule zu gehen.« »Ich möchte nicht mehr gehen«, sagte Neeley. »Zwing mich nicht, Mama. Ich arbeite ja gern, und ich werde am 1. Januar eine Aufbesserung von zwei Dollar pro Woche bekommen.« »Möchtest du denn nicht Doktor werden?« »Nein. Ich möchte ein Makler werden und viel Geld machen wie mein Chef. Ich will an die Börse, und dann werde ich eines Tages eine ganze Million auf einmal machen.« »Aber mein Sohn soll ein berühmter Arzt werden.« »Wie kannst du das wissen? Vielleicht würde ich nur einer wie Doktor Huller in der Maujer Street, der in der Kellerwohnung sein Sprech409
zimmer hat und immer ein schmutziges Hemd trägt. Ich weiß überhaupt genug und brauche nicht mehr zur Schule zu gehen.« »Neeley will nicht mehr zur Schule gehen«, sagte Katie. Sie sprach beinahe flehend mit Francie. »Du weißt, was das bedeutet, Francie.« Francie biß sich auf die Lippen. Sie durfte jetzt um alles in der Welt nicht weinen. Sie mußte ruhig bleiben und den Kopf nicht verlieren. »Es bedeutet«, antwortete Mama selbst, »daß Neeley wieder in die Schule gehen muß.« »Ich will nicht!« schrie Neeley. »Du kannst sagen, was du willst, aber ich will nicht! Ich habe meine Arbeit und verdiene Geld, und ich will dabei bleiben. Ich gelte etwas bei meinen Kameraden. Wenn ich aber wieder zur Schule gehe, dann bin ich wieder ein blödes Kind. Übrigens brauchst du mein Geld, Mama. Wir wollen doch nicht wieder so arm sein wie zuvor.« »Du gehst wieder zur Schule«, verkündete Katie kühl. »Francies Geld wird schon ausreichen.« »Warum zwingst du ihn denn, wenn er doch nicht will«, schrie Francie, »und mich hältst du zurück, obwohl ich doch so schrecklich gern ginge.« »Jawohl, warum?« stimmte Neeley ein. »Weil er von selbst nicht mehr ginge, wenn ich ihn nicht zwingen würde«, sagte Mama. »Und bei dir, Francie, weiß ich sicher, daß du dir den Weg zur Schule auf irgendwelche Art erkämpfen wirst.« »Wie kannst du nur immer so sicher sein?« protestierte Francie. »In einem Jahr werde ich zu alt sein für die Schule. Neeley ist erst dreizehn. Er wird auch nächstes Jahr noch jung genug sein.« »Dummes Zeug! Auch du wirst erst fünfzehn sein im nächsten Herbst.« »Siebzehn, beinahe achtzehn, zu alt, um auf der Schulbank zu sitzen«, korrigierte Francie. »Was soll dieses dumme Geschwätz bedeuten?« »Es ist kein dummes Geschwätz. Im Büro bin ich sechzehn. Ich muß so aussehen und mich so benehmen, als wäre ich sechzehn. Nächstes Jahr werde ich nach den Jahren fünfzehn sein, aber nach meiner Le410
bensweise um zwei Jahre älter. Dann bin ich zu alt, um mich wieder in ein Schulmädchen zurückzuverwandeln.« »Neeley wird nächste Woche zur Schule zurückkehren«, sagte Katie beharrlich, »und Francie nächstes Jahr.« »Ich hasse euch beide«, schrie Neeley leidenschaftlich. »Und wenn ihr mich zwingt, werde ich davonlaufen. Jawohl, das werde ich!« Er stürzte aus der Küche und schlug die Tür hinter sich zu. Katies Gesicht nahm einen unglücklichen Ausdruck an, und Francie empfand Mitleid für sie. »Mach dir keine Sorgen, Mama. Er wird schon nicht davonlaufen. Er hat es nur so gesagt.« Die sofortige Erleichterung, die sich auf Katies Gesicht spiegelte, machte Francie zornig vor Eifersucht. »Aber ich werde davonlaufen, und ich werde vorher nicht lange davon reden. Sobald du meinen Lohn nicht mehr nötig hast, werde ich gehen.« »Was ist denn in meine Kinder gefahren, die sonst immer so lieb waren?« fragte Katie bitter. »Die Jahre sind in uns gefahren.« Katie schaute verständnislos drein. »Wir haben ja noch nicht einmal unsere Arbeitsbewilligung.« »Es war aber auch fast unmöglich, sie zu bekommen. Der Priester verlangte für jeden Taufschein einen Dollar, und ich hätte mit euch aufs Stadthaus gehen sollen. Ich mußte aber damals Laurie alle drei Stunden stillen und konnte nicht weg. Wir haben deshalb alle gefunden, es sei viel einfacher, wenn wir sagen, ihr seid vierzehn; das würde uns all die Umstände mit der Arbeitsbewilligung ersparen.« »Das war schon in Ordnung. Aber wenn wir uns als Sechzehnjährige benehmen müssen, darfst du uns nicht mehr behandeln wie Dreizehnjährige.« »Wenn nur Vater noch da wäre! Er hat dich immer viel besser verstanden als ich.« Francie wurde von einer schmerzlichen Sehnsucht nach Papa gepackt. Als sie sich wieder ein wenig beruhigt hatte, erzählte sie Mama, daß ihr Gehalt vom November an verdoppelt würde. »Zwanzig Dollar!« Katie behielt vor Staunen den Mund offen. »Du meine Güte!« Das sagte sie immer, wenn sie von etwas sehr überrascht war. »Seit wann weißt du das?« 411
»Seit Samstag.« »Und das sagst du mir erst jetzt?« »Ja.« »Du hast wahrscheinlich gedacht, wenn ich das wüßte, dann würde ich dich erst recht nicht mehr in die Schule zurück lassen?« »Ja.« »Aber siehst du, ich habe es also nicht gewußt, als ich sagte, Neeley müsse wieder in die Schule zurück. Das Geld hat also dabei keine Rolle gespielt, ich sagte einfach, was ich für richtig hielt. Das mußt du doch zugeben?« fügte sie fast flehend hinzu. »Ich sehe nur dies: daß du Neeley lieber hast als mich. Du sorgst immer nur für ihn, und mir sagst du, ich werde meinen Weg schon selber finden. Aber eines Tages werde ich mich rächen, Mama. Vielleicht werde ich eines Tages tun, was ich für richtig halte, und dann findest du es vielleicht nicht richtig.« »Darüber mache ich mir keine Sorgen; ich weiß, daß ich mich auf meine Tochter verlassen kann.« Katie sagte dies mit solch selbstverständlicher Würde, daß Francie sich schämte. »Und ich habe auch Vertrauen zu meinem Sohn. Jetzt ist er zornig, weil er etwas tun muß, das er nicht will. Aber er wird schon darüber hinwegkommen und seine Sache gut machen in der Schule. Neeley ist ein guter Junge.« »Ja, er ist ein guter Junge«, gab Francie zu. »Aber auch wenn er nicht gut wäre, würdest du es gar nicht merken. Nur wenn ich …« Der Satz endete in einem Schluchzen. Katie seufzte tief, aber sie sagte nichts. Sie stand auf und begann den Tisch abzuräumen. Sie streckte die Hand aus nach einer Tasse, und Francie sah zum erstenmal in ihrem Leben, daß Mamas Hand unsicher war. Sie zitterte und konnte die Tasse nicht sofort aufheben. Francie legte ihr die Tasse in die Hand. Sie sah, daß die Tasse einen langen Sprung hatte. Unsere Familie war früher immer wie eine starke Tasse, dachte Francie. Sie war ganz und hielt fest zusammen, was drin war. Als Papa starb, bekam sie den ersten Riß. Und unser Streit von heute abend hat den zweiten Sprung verursacht. Bald wird die Tasse so vie412
le Risse haben, daß sie in Stücke geht, und wir werden kein Ganzes mehr bilden. Ich möchte nicht, daß es soweit kommt, und doch bin ich es, die diesmal den tiefen Riß gemacht hat. Sie seufzte genauso tief wie Katie. Katie ging zum Waschkorb, in dem das Kindlein trotz des heftigen Wortwechsels friedlich weitergeschlafen hatte. Francie sah, wie ihre Mutter mit immer noch unsicheren Händen die Kleine aus ihrem Bettchen hob. Katie setzte sich in den Schaukelstuhl beim Fenster, drückte das Kindlein fest an sich und schaukelte sanft. Francie wurde von Mitleid überwältigt. Ich sollte nicht so niederträchtig sein mit ihr, dachte sie. Sie hat ja ihr Leben lang nichts als schwere Arbeit und Sorgen gehabt. Und jetzt muß sie sich bei Laurie Trost holen. Vielleicht denkt sie jetzt, auch Laurie, die sie so liebt und die so von ihr abhängig ist, werde sich eines Tages gegen sie wenden, wie ich es eben getan habe. Sie legte ihre Hand ein wenig linkisch auf die Wange ihrer Mutter. »Es tut mir leid, Mama, ich habe es nicht so bös gemeint. Du hast recht, und ich will dir gehorchen. Neeley soll wieder zur Schule gehen, und du und ich werden dafür sorgen, daß alles gut geht.« Katie legte ihre Hand auf Francies. »Das ist lieb von dir«, sagte sie. »Sei mir nicht bös, Mama, weil ich gegen dich aufgetreten bin. Du hast mich ja selbst gelehrt, für das zu kämpfen, was ich für richtig halte … und ich habe wirklich gemeint, ich bin im Recht.« »Ich weiß schon, Francie. Und ich freue mich ja darüber, daß du kämpfen kannst und wirst für das, was dir zukommt. Und es wird sich bei dir immer alles zum besten wenden – was es auch sein mag. Du bist in dieser Beziehung genau wie ich.« Das ist es ja eben, dachte Francie. Wir sind uns zu ähnlich, um einander verstehen zu können, weil wir uns ja selbst nicht verstehen. Papa und ich waren grundverschieden, und deshalb verstanden wir einander so gut. Mama versteht Neeley, weil er so anders ist als sie. Ich wünschte, ich wäre auch so verschieden von Mama wie Neeley. »Dann ist also alles wieder in Ordnung zwischen uns?« fragte Katie mit einem Lächeln. 413
»Natürlich, Mama!« Francie erwiderte das Lächeln und küßte ihre Mutter auf die Wange. Aber im Innersten wußten beide, daß es nicht in Ordnung war und daß es überhaupt zwischen ihnen nie mehr in Ordnung sein konnte.
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E
s war wiederum Weihnachten. Aber in diesem Jahr war Geld da für Geschenke, und die Eiskiste war voll von Eßwaren, und die Wohnung war nicht mehr kalt. Wenn Francie von der kalten Straße hereinkam, dachte sie, die Wärme sei wie der Arm eines Geliebten, der sie ins Zimmer hereinzog. Dies machte sie neugierig, wie sich wohl der Arm eines wirklichen Geliebten anfühlte. Francie hatte sich darüber, daß sie nicht aufs Gymnasium gehen konnte, mit dem Gedanken getröstet, daß das Geld, das sie verdiente, ihnen wenigstens das Leben angenehmer machte. Mama war sehr gerecht gewesen. Als Francie die zwanzig Dollar nach Hause brachte, gab Mama ihr fünf Dollar Taschengeld für ihre Kleider, ihre Fahrtspesen und ihr Mittagessen. Außerdem brachte Katie jede Woche fünf Dollar auf die Williamsburger Sparkasse: für die Universität, erklärte sie. Katie kam gut aus mit den übrigen zehn Dollar und dem einen Dollar, den Neeley beitrug. Es war nicht viel Geld, aber das Leben war billig im Jahre 1916, und die Nolans waren der bitteren Armut enthoben. Neeley hatte sich in der Schule bald zurechtgefunden, nachdem er entdeckt hatte, daß viele seiner früheren Schulkameraden auch da waren. Nach der Schule ging er wieder, wie früher, zu McGarrity, und Mama gab ihm den einen der beiden Dollar, die er dort verdiente, als Taschengeld. Er war keine Null in der Schule, wie er geglaubt hatte, denn er hatte mehr Taschengeld als die meisten Schüler und er konnte den ›Julius Cäsar‹ vorwärts und rückwärts auswendig. Als Francie und Neeley vor Weihnachten die Sparbüchse öffneten, 414
waren beinahe vier Dollar drin. Neeley legte noch einen Dollar dazu und Francie fünf, so daß sie im ganzen zehn Dollar besaßen, um Weihnachtsgeschenke zu kaufen. Am Tag vor Weihnachten gingen sie alle vier aus, um ihre Weihnachtseinkäufe zu besorgen. Zuerst gingen sie Mama einen neuen Hut kaufen. Sie standen im Hutgeschäft hinter Mamas Stuhl, während Mama, mit Laurie auf den Knien, Hüte anprobierte. Francie wollte wieder einen jadegrünen Samthut, aber es war in ganz Williamsburg keiner in dieser Farbe aufzutreiben. Mama war eher für einen schwarzen. »Wir kaufen jetzt den Hut und nicht du«, sagte Francie, »und wir sagen: keinen Trauerhut mehr!« »Probier einmal diesen roten, Mama«, schlug Neeley vor. »Nein. Ich möchte lieber den dunkelgrünen dort im Fenster.« »Dies ist eine hochmoderne Farbe«, sagte die Modistin, während sie ihn aus dem Fenster hereinholte. »Wir nennen es Moosgrün.« Sie setzte ihn kerzengerade auf Katies Kopf. Katie zog ihn mit einer flinken Handbewegung über das eine Auge. »Das ist besser!« erklärte Neeley. »Mama, du siehst wunderschön aus«, war Francies Urteil. »Er gefällt mir auch«, sagte Mama entschlossen. »Was kostet er?« Die Modistin holte tief Atem, und die Nolans bereiteten sich aufs Handeln vor. »Es ist eben so …«, begann die Modistin. »Was kostet er?« wiederholte Katie ungeduldig. »In New York würden Sie für denselben Hut zehn Dollar bezahlen. Aber …« »Wenn ich zehn Dollar ausgeben wollte, dann wäre ich nach New York gegangen, um einen Hut zu kaufen.« »Sagen Sie das nicht so! Genaue Kopie von diese Hut ist bei Wanamakers im Fenster für sieben Dollar fünfzig Cent.« Bedeutungsvolles Schweigen. »Ich Ihnen gebe diese Hut für fünf Dollar.« »Ich habe nicht mehr als zwei Dollar übrig für einen Hut.« »Dann gehen Sie aus meinem Laden!« rief die Modistin dramatisch. »Wie Sie wollen.« Katie nahm Laurie auf den Arm und erhob sich. 415
»Müssen Sie so schnell gehen?« Die Frau schob sie in den Stuhl zurück. Sie warf den Hut in einen Papiersack. »Sie dürfen ihn für viereinhalb Dollar nach Hause nehmen. Glauben Sie mir, nicht einmal meine Schwiegermutter könnte haben diese Hut für diesen Preis.« Das glaube ich, dachte Katie, besonders wenn sie ist wie meine Schwiegermutter. Dann sagte sie laut: »Der Hut ist sehr schön, aber ich kann ihn mir nicht leisten, wenn er mehr als zwei Dollar kostet. Es gibt noch viele andere Hutläden, und ich werde sicher für diesen Preis irgendwo einen Hut bekommen.« »Ich möchte, daß Sie mir zuhören.« Die Modistin ließ ihre Stimme tief und aufrichtig klingen. »Man sagt, daß bei den Juden das Geld ist alles. Bei mir ist es anders. Wenn ich haben eine schöne Hut und eine schöne Kundin, dann geschehen etwas hier drin.« Sie legte sich die Hand aufs Herz. »Ich werde so … Geschäft ist nix … ich geben gratis.« Sie drängte Katie den Papiersack mit dem Hut auf. »Nehmen Sie die Hut für vier Dollar. Soviel ich habe bezahlt beim Einkaufen.« Sie seufzte. »Glauben Sie mir, eine Geschäftsfrau ich sollte nicht sein, besser wäre, ich bin eine Malerin von Bildern.« Das Handeln ging weiter. Als sie bei zweieinhalb Dollar angelangt waren, wußte Katie, daß die Frau nun nicht mehr mit sich feilschen lassen würde. Sie prüfte sie damit, daß sie tat, als wolle sie den Laden verlassen. Diesmal machte die Modistin keinen Versuch mehr, sie zurückzuhalten. Francie gab Neeley ein Zeichen mit dem Kopf. Neeley gab der Frau zwei Dollar und fünfzig Cent. »Sagen Sie aber niemandem nicht, wie billig Sie die Hut haben«, warnte die Frau. »Gewiß nicht«, versprach Francie. »Tun Sie den Hut in eine Schachtel.« »Zehn Cent extra für die Schachtel. Soviel muß ich selbst bezahlen.« »Ein Papiersack tut's auch«, protestierte Katie. »Dies ist dein Weihnachtsgeschenk«, sagte Francie, »und du mußt eine Schachtel haben.« Neeley fischte noch ein Zehncentstück hervor. Der Hut wurde in Seidenpapier gehüllt und in die Schachtel gelegt. »Ich gebe Ihnen diese 416
Hut so billig, so Sie sollen wiederkommen das nächste Mal, Sie brauchen eine. Aber denken Sie nicht, Sie wieder so billig zu haben.« Als sie den Laden verließen, rief ihnen die Frau noch nach: »Tragen Sie ihn bei guter Gesundheit!« Als die Tür sich hinter ihnen geschlossen hatte, zischte die Modistin giftig ›Goyem‹ und spuckte ihnen nach. Auf der Straße sagte Neeley: »Kein Wunder, daß Mama fünf Jahre wartet, bis sie einen neuen Hut kauft, wenn man dabei so viel Schwierigkeiten hat.« »Schwierigkeiten?« sagte Francie. »Das ist doch eher ein Amüsement.« Dann gingen sie zu Seigier, um für Laurie ein wollenes Strickkleidchen zu kaufen. Als Seigier Francie sah, ließ er eine Salve von Vorwürfen los. »So! Endlich kommt sie in meinen Laden! Hat sie etwa in einem andern Kurzwarenladen etwas nicht bekommen, daß sie jetzt wieder zu mir kommt? Vielleicht ist in einem andern Laden ein Vorhemd um einen Penny billiger und dafür lumpige, beschädigte Ausschußware, nicht?« Er wandte sich an Katie. »So viele Jahre hindurch ist dieses Mädchen immer zu mir gekommen, um für ihren Papa ein Vorhemd und einen Papierkragen zu kaufen. Und nun ist sie ein ganzes Jahr nicht mehr erschienen!« »Ihr Vater ist schon vor einem Jahr gestorben«, erklärte Katie. Herr Seigier gab sich mit der flachen Hand einen schallenden Schlag auf die Stirne. »Oh! Bei mir ist der Mund so groß, daß mein Fuß hineingeht«, entschuldigte er sich. »Schon recht«, beruhigte ihn Katie. »Es ist eben so: niemand hat mir etwas davon gesagt, und ich weiß es nicht bis heute.« »So ist es immer«, sagte Katie. »Und nun«, fragte er, schnell zur Sache kommend, »was kann ich Ihnen zeigen?« »Einen gestrickten Anzug für ein sieben Monate altes Kind.« 417
»Hier habe ich die exakte Größe für das Kind.« Er entnahm einer Schachtel ein blaues Jäckchen mit Strampelhosen. Aber als sie es an Laurie maßen, stellten sie fest, daß das Jäckchen ihr nur bis zum Nabel reichte und die Hosen gerade bis über die Knie. Sie probierten andere Nummern und fanden schließlich etwas Passendes, das eigentlich für ein Zweijähriges bestimmt war. Herr Seigier fiel von einem Staunen ins andere. »Ich bin nun schon seit fünfzehn Jahren in der Kurzwarenbranche, aber noch nie habe ich ein so großes sieben Monate altes Kind gesehen«, versicherte er. Und die Nolans glühten vor Stolz. Hier gab es nichts zu handeln, denn Seigier war ein Kaufmann mit Einheitspreisen. Sie zogen Laurie den neuen Anzug schon im Laden an. Sie sah sehr komisch aus mit der über die Ohren gezogenen Zipfelmütze. Ihre blühende Farbe wurde durch das helle Blau noch stärker hervorgehoben. Man hätte glauben können, sie habe verstanden, was für ein wunderbares Weihnachtsgeschenk sie bekommen hatte, denn sie lächelte mit ihren beiden Zähnchen die ganze Familie an. »Ach, du Liebchen«, gurrte Seigier und fügte mit wie zum Gebet gefalteten Händen hinzu: »Möge sie es bei guter Gesundheit tragen!« Er widerrief seinen Wunsch nicht, indem er ihnen nachspuckte. Mama ging mit Laurie nach Hause, während Francie und Neeley noch weitere Einkäufe besorgten. Sie kauften kleine Geschenke für die Flittman-Kinder und für Sissys kleines Mädchen. Und dann mußten sie an ihre eigenen Geschenke denken. »Ich will dir jetzt sagen, was ich mir wünsche, und du kannst hineingehen und es mir kaufen«, sagte Neeley. »Also gut. Was?« »Gamaschen!« »Gamaschen?« Francies Stimme schraubte sich hoch hinauf. »Perlgraue«, sagte er entschlossen. »Wenn du das willst …«, begann sie zweifelnd. »Mittlere Größe.« »Wieso weiß du, welche Größe du brauchst?« »Ich war gestern schon drinnen und habe sie anprobiert.« 418
Er gab Francie einen Dollar und fünfzig Cent, und Francie ging hinein und kaufte die Gamaschen. Sie ließ sie in eine Geschenkschachtel verpacken. Auf der Straße präsentierte sie Neeley das Päckchen, und sie blickten einander feierlich in die Augen. »Von mir für dich. Fröhliche Weihnachten«, sagte Francie. »Ich danke dir«, antwortete er formell. »Und jetzt, was willst du?« »Eine schwarze Spitzengarnitur. Ich habe eine in dem Laden an der Union Avenue gesehen.« »Ist das etwas Spezielles für Damen?« fragte Neeley mißtrauisch. »Ja-a. Vierundzwanzig Hüftumfang und zweiunddreißig Oberweite. Zwei Dollar.« »Geh das selbst kaufen. Ich frage nicht gern nach so etwas.« Sie kaufte sich die lang ersehnte Garnitur, die aus kurzen Höschen und einem Büstenhalter aus schwarzen Spitzen, die mit schwarzen Seidenbändern zusammengehalten wurden, bestand. Neeley fand es ein wenig merkwürdig und antwortete auf ihren Dank mit einem ungnädigen »Bitte schön.« Sie gingen am Christbaummarkt vorbei. »Weißt du noch, Francie, damals, als wir uns den größten Weihnachtsbaum anwerfen ließen?« »Und ob! Jedesmal wenn ich Kopfweh habe, ist es an der Stelle, wo der Baum mich getroffen hat.« »Und wie Papa gesungen hat, als er uns half, den großen Baum die Treppe hinaufzuschleppen?« An diesem Tag sprachen sie viel von Papa oder wurden oft an ihn erinnert. Und jedesmal empfand Francie statt des früheren Schmerzes eine Welle von Zärtlichkeit. Fange ich an, ihn ein wenig zu vergessen? fragte sie sich. Werde ich in einigen Jahren überhaupt Mühe haben, mich noch an ihn zu erinnern? Vielleicht ist es, wie Großmutter Rommely immer sagt: »Mit der Zeit vergeht alles.« Das erste Jahr war schwer, weil man dann denken mußte, daß er am letzten Wahltag noch gestimmt und am Erntedankfest noch mit uns gegessen hat. Aber nun wird es bald schon zwei Jahre her sein, und die Erinnerungen werden sich immer mehr verwischen. 419
»Schau!« Neeley packte sie am Arm und zeigte auf ein zwei Fuß hohes Tännchen in einem hölzernen Pflanzenkübel. »Es wächst ja!« rief Francie begeistert aus. »Ja, was hast du denn geglaubt? Sie müssen doch alle einmal wachsen.« »Ich weiß schon. Aber wir haben sie bis jetzt immer nur in abgehauenem Zustand gesehen. Komm, Neeley, wir wollen es kaufen!« »Es ist aber schrecklich klein.« »Aber es hat doch Wurzeln.« Als sie es nach Hause brachten, betrachtete Katie es tiefsinnig, so daß sich die Linie zwischen ihren Brauen vertiefte wie immer, wenn sie über eine Sache nachdenken mußte. »Ja«, sagte sie, »nach Weihnachten wollen wir es auf die Feuerleiter hinausstellen und dafür sorgen, daß es Sonne und Wasser bekommt und einmal im Monat ein wenig Pferdemist.« »Ach nein, Mama, du wirst uns doch den Pferdemist nicht zumuten wollen«, protestierte Francie. Als sie noch klein waren, war das Roßmistsammeln für sie eine der verhaßtesten Arbeiten gewesen. Großmutter Rommely hatte auf ihrem Fenstersims eine Reihe von scharlachroten Geranien gehabt, die immer kräftig und strahlend und leuchtend waren, weil Francie oder Neeley jeden Monat einmal mit einer Zigarrenschachtel auf die Straße gehen mußten, um sie mit zwei säuberlich geordneten Reihen von Pferdeäpfeln zu füllen. Großmutter gab ihnen dafür jedesmal zwei Cent als Lohn. Francie hatte sich immer vor den andern Kindern geschämt, wenn sie Roßmist sammeln mußte. Einmal hatte sie sich weigern wollen, aber da hatte die Großmutter gesagt: »Ei, das Blut verdünnt sich in der dritten Generation. Bei uns in Österreich haben meine Brüder große Wagen mit Roßmist beladen, und sie waren starke, ehrbare Männer.« Sicher waren sie das, hatte Francie gedacht, sonst hätten sie sich nicht mit solchem Zeug abgeben können. 420
Katie sagte: »Wenn wir schon einen Baum besitzen, dann müssen wir ihn auch pflegen. Ihr könnt ja den Roßmist im Dunkeln sammeln gehen, wenn ihr euch schämt.« »Es gibt heute so wenig Pferde, fast lauter Automobile«, wandte Neeley ein. »Man findet sicher keinen Roßmist mehr.« »Geht auf eine Straße mit Pflastersteinen! Dort fahren die Automobile nicht. Und wenn ihr dort keinen findet, dann wartet ihr, bis ein Pferd kommt, und folgt ihm, bis es ihn fabriziert.« »Ach Gott«, seufzte Neeley, »hätten wir doch den dummen Baum nicht gekauft!« »Das können wir doch ganz anders machen«, sagte Francie. »Wir sind ja nun nicht mehr so arm wie früher. Wir haben Geld. Wir brauchen ja nur einem armen Jungen aus unserm Block ein Zehncentstück zu geben, und er wird uns den Roßmist gern suchen.« »O ja«, stimmte Neeley erleichtert bei. »Ich hätte geglaubt, ihr wollt euern Baum mit eigenen Händen pflegen«, sagte Mama. »Der Unterschied zwischen reich und arm«, philosophierte Francie, »ist der, daß die Armen alles selbst mit ihren eigenen Händen tun müssen, die Reichen aber können jemanden anstellen, der die Dinge für sie tut. Wir sind nun nicht mehr so arm. Wir können es uns leisten, einmal jemanden anzustellen.« »Dann möchte ich lieber arm bleiben«, sagte Katie, »ich mache lieber alles mit meinen eigenen Händen.« Neeley begann sich zu langweilen, wie immer, wenn Mama und Francie ins Philosophieren gerieten. Um das Thema zu wechseln, sagte er: »Ich wette, Laurie ist so groß wie das Tännchen.« Sie fischten Laurie aus ihrem Korb heraus und stellten sie neben dem Bäumchen auf die Füße. »Genauso groß«, sagte Francie. »Ich bin gespannt, wer schneller wachsen wird«, meinte Neeley. »Neeley, weißt du was? Wir haben nie ein Kätzchen oder ein junges Hündchen besessen. Wollen wir nicht das Tännchen zu unserem Liebling machen?« 421
»Ach, geh, ein Tännchen kann doch kein ›Liebling‹ sein.« »Warum denn nicht? Es lebt und atmet wie ein Tier. Wir können ihm einen Namen geben. Annie! Das Bäumchen heißt Annie und das Kindlein Laurie, das macht zusammen den Namen des Liedes.« »Weißt du was?« fragte Neeley. »Nein. Was?« »Du bist verrückt, wenn du's wissen willst.« »Ich weiß schon. Und ist es nicht herrlich. Heute habe ich gar nicht das Gefühl, als wäre ich Fräulein Nolan, Stadtleserin vom Presseausschnittbüro. Ich fühle mich vielmehr in die alten Zeiten zurückversetzt, wo ich dir das Geld von Carney abliefern mußte. Ich fühle mich wieder ganz wie ein Kind.« »Und das bist du auch«, sagte Katie. »Ein Kind, das eben erst seinen fünfzehnten Geburtstag gehabt hat.« »Meinst du? Das wirst du aber nicht mehr glauben, wenn du gesehen hast, was Neeley mir zu Weihnachten gekauft hat.« »Was du dir selbst durch mich gekauft hast«, korrigierte Neeley. »Zeig Mama, was ich dir zu Weihnachten kaufen mußte, kleiner Geck. Zeig's ihr nur einmal!« drängte Francie. Als er Mama Francies Geschenk zeigte, schraubte sich ihre Stimme um ein paar Töne höher als Francies, als sie sagte: »Gamaschen?« »Damit meine Fußgelenke warm bleiben«, erklärte Neeley. Francie zeigte ihre Garnitur, und Mama ließ ihr »Du meine Güte!« los, wie sie es bei jeder großen Überraschung tat. »Glaubst du, daß die eleganten Frauen so etwas tragen?« fragte Francie hoffnungsvoll. »Wenn sie es tun, dann werden sie sicher alle Lungenentzündung kriegen. Und nun? Was wollen wir zum Abendessen haben?« »Dann hast du also gar nichts dagegen, Mama?« fragte Francie enttäuscht, weil Mama gar keinen Einspruch erhob. »Nein! Alle Mädchen haben einmal ihre Zeit, wo sie sich eine schwarze Spitzengarnitur kaufen. Du hast dieses Stadium etwas früher erreicht, als die meisten, dafür wirst du's auch schneller überstanden ha422
ben. Ich glaube, wir wollen Suppe aufwärmen und dazu das Suppenfleisch und Kartoffeln essen …« Mama meint immer, sie wisse alles schon längst, dachte Francie mit einem leichten Ressentiment. Am Weihnachtsmorgen gingen sie zusammen zur Messe. Katie ließ ein Gebet sprechen für Johnnys Seelenfrieden. Sie sah sehr hübsch aus in ihrem neuen Hut. Auch Lauries neue Ausrüstung wirkte sehr vornehm. Neeley, der seine Gamaschen trug, erbot sich ritterlich, das Kind zu tragen. Als sie durch die Stagg Street gingen, pfiffen ihn ein paar Gassenjungen, die sich vor dem Kandiszuckerladen herumtrieben, aus. Er wurde feuerrot. Francie begriff sofort, daß der Spott seinen Gamaschen galt, tat aber Neeley zuliebe so, als glaube sie, man pfeife ihn aus, weil er ein kleines Kind auf dem Arm trug, und bot sich an, ihm Laurie wieder abzunehmen. Aber er nahm das Anerbieten nicht an. Er wußte so gut wie sie, daß das Pfeifen seinen Gamaschen galt; er war empört über die Beschränktheit der Jugend von Williamsburg. Er beschloß, die Gamaschen wieder in die Schachtel zu tun und sie erst wieder zu tragen, wenn sie einmal in ein besseres Quartier umzögen. Francie trug ihre Spitzengarnitur und fror sich fast zu Tode. Jedesmal wenn ein eisiger Windstoß ihr den Mantel auseinanderblies und durch ihr dünnes Kleid drang, hatte sie das Gefühl, als trage sie überhaupt keine Unterwäsche. Ach, hätte ich doch meine Flanellhosen angezogen, wünschte sie. Mama hat natürlich wieder einmal recht gehabt, man könnte sich wirklich eine Lungenentzündung holen. Aber sie soll den Triumph nicht haben, ich werde kein Wort davon sagen, wie sehr ich friere. Ich werde dieses Spitzenzeug wieder beiseite legen müssen bis zum Sommer.
In der Kirche belegten sie eine ganze Bank, da sie Laurie der Länge nach hinlegten. Verschiedene Kirchgänger, die sich etwas verspätet hatten, knixten neben der Bank und wollten sich nachher hineinset423
zen, froh darüber, noch zwei leere Plätze gefunden zu haben. Als sie aber das Kind sahen, das längelang über zwei Plätze lag, blickten sie Katie finster an, und Katie saß steif da und blickte doppelt so finster zurück. Francie fand die Kirche die schönste von allen in ganz Brooklyn. Sie war aus grauem Sandstein und besaß zwei gotische Türme, die elegant zum Himmel hinaufstrebten und auch die höchsten Mietshäuser überragten. Die Kreuzgewölbe wurden von hohen Säulen getragen, und die dicken Mauern waren von schmalen Fenstern mit bunter Glasmalerei durchbrochen. Sie hatte einen reichgeschnitzten Altar und sah überhaupt ein wenig wie eine Kathedrale en miniature aus. Francie war stolz darauf, daß ihr Großvater, als er vor einem halben Jahrhundert als junger Handwerker herübergekommen war, den linken Altarflügel geschnitzt hatte, denn er hatte seinen Zehnten, den er ohnehin widerwillig leistete, nicht in Bargeld geben können. Der sparsame Mann hatte das Abfallholz gesammelt und mit nach Hause genommen, wo er aus den Bruchstücken des geheiligten Holzes mit Mühe und Not noch drei Kruzifixe zurechtgezimmert hatte. Mary Rommely hatte jeder ihrer drei Töchter eines davon geschenkt mit der Anweisung, es jeweils an ihre älteste Tochter weiterzugeben. Katies Kruzifix hing hoch über dem Kaminsims in der Küche. Francie würde es einmal mit in ihre Aussteuer bekommen, und sie war stolz darauf, ein Kreuz zu besitzen, das aus demselben Holz geschnitzt war wie der Altar der schönen Kirche. Am Weihnachtstag war der Altar lieblich geschmückt mit scharlachroten Klatschrosen, Tannenzweigen und weißen Kerzen, deren goldene Spitzen zwischen den Zweigen hervorleuchteten. Hinter dem Altargitter stand die mit Stroh bedeckte Krippe. Francie wußte, daß auch die winzigen handgeschnitzten Figuren von Maria und Josef, den Königen und den Hirten, die um das Jesuskind herum gruppiert waren, aus dem alten Lande Österreich stammten. Der Priester kam herein. Über seinem Priesterkleid trug er ein weißseidenes Meßgewand, das auf dem Rücken und auf der Brust ein in Gold gesticktes Kreuz hatte. Francie wußte, daß das Meßgewand den 424
ungesäumten Mantel symbolisieren sollte, welchen Maria eigenhändig für ihren Sohn gewoben haben soll und den er getragen hatte, bevor sie ihn kreuzigten. Es war der Mantel, um den die römischen Soldaten auf dem Ölberg würfelten, weil sie es schade fanden, ihn in Stücke zu schneiden. Und noch während sie würfelten, war Jesus gestorben. Francie hatte, da sie diesen Gedanken nachgehangen hatte, den Anfang der Messe verpaßt. Erst nach einer Weile klangen die altvertrauten Worte an ihr Ohr. »Dich, o Gott, mein Gott, will ich preisen auf meiner Harfe. Warum bist du betrübt, meine Seele, und warum beunruhigst du dich?« sang der Priester mit seiner tiefen, vollen Stimme. »Hoffe auf Gott, ihn will ich lobpreisen immerdar«, antwortete der Chorknabe. »Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist.« »Wie er war von Anbeginn, wie er heute ist und wie er in Ewigkeit sein wird, Welt ohne Ende, Amen«, kam die Erwiderung. »Ich will vor Gottes Altar gehen«, sang der Priester weiter. »Zu Gott, der meine Jugend mit Freude erfüllt«, echote der Chorknabe. »Unsere Hilfe ist im Herrn, welcher Himmel und Erde geschaffen hat.« Der Priester verneigte sich vor dem Allerheiligsten und begann, das Konfiteor zu rezitieren.
Francie glaubte von ganzem Herzen, daß der Altar wirklich der Ölberg sei und daß Christus von neuem geopfert werde. Während sie den Weihen lauschte, die für sein Blut und seinen Leib ausgesprochen wurden, glaubte sie fest, daß die Worte des Priesters ein Schwert waren, mit dem auf mystische Weise das Blut vom Leibe getrennt werde. Und sie war überzeugt, daß Christus vollkommen gegenwärtig war mit Leib, Blut und Seele, daß seine Göttlichkeit im Wein des goldenen Kelchs und im Brot auf dem goldenen Teller lebte. 425
Es ist eine wunderbare Religion, dachte sie bei sich, ich möchte sie nur ein wenig besser verstehen. Nein, ich will gar nicht alles verstehen. Sie ist so schön, weil sie immer ein Geheimnis bleibt, so, wie Gott ein ewiges Geheimnis ist. Manchmal sage ich, ich glaube nicht an Gott. Aber das sage ich nur, wenn ich böse bin auf ihn … In Wirklichkeit glaube ich doch an ihn, ich glaube wirklich an ihn! Ich glaube an Gott und an seinen Sohn und an die Heilige Jungfrau Maria. Ich bin eine schlechte Katholikin und drücke mich von Zeit zu Zeit einmal um die Messe herum, oder ich murre, wenn ich bei der Beichte eine schwere Buße auferlegt bekomme für etwas, das ich doch tun mußte. Aber ich bin eine Katholikin mit Leib und Seele, und ich möchte nie etwas anderes sein. Ich bin froh, daß ich als Katholikin und als Amerikanerin geboren wurde, obwohl ich ja vorher nicht darum bitten konnte. Ich bin froh, daß es so gut herausgekommen ist.
Der Priester stieg die Wendeltreppe zur Kanzel hinauf. »Die Gemeinde wird gebeten, für die Seele des John Nolan ein Gebet zu sprechen«, erschallte eine prächtige Stimme. »Nolan … Nolan …«, seufzte das Echo zwischen den Kreuzgewölben. Wie ein ängstliches Geflüster klang das Gebet von den Lippen tausend Gläubiger, die kniend für die Seele des John Nolan, den höchstens zwölf unter ihnen gekannt hatten, Fürbitte hielten. Francie begann das Gebet für die armen Seelen im Fegefeuer. »Gütiger Jesus, dessen liebendes Herz sich immer des Kummers der andern angenommen hat, schaue mit Erbarmen auf die Seele unseres lieben Verstorbenen im Fegefeuer. Erhöre unsere Bitte und sei ihm gnädig …«
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och zehn Minuten«, verkündete Francie, »und dann wird das alte Jahr zu Ende sein.« Francie und ihr Bruder saßen nebeneinander vor dem Kochherd und streckten ihre bestrumpften Füße in den noch warmen Bratofen. Mama war im Bett, hatte aber strengen Befehl erteilt, man müsse sie fünf Minuten vor Mitternacht aufwecken. »Ich habe das Gefühl«, sagte Francie, »als würde das Jahr 1917 für uns wichtiger als irgendein anderes.« »Das sagst du von jedem Jahr«, spottete Neeley. »Zuerst war es 1915, dann 1916 und jetzt ist es 1917.« »Aber es wird bestimmt ein wichtiges Jahr werden. Erstens werde ich dann wirklich sechzehn, nicht nur im Büro. Und dann sind doch andere wichtige Dinge im Anzug. Der Hausherr hat schon angefangen, Drähte zu installieren. In ein paar Wochen werden wir die Elektrizität im Hause haben statt des Gases.« »Das paßt mir.« »Und nachher will er diese alten Öfen herausbrechen und die Zentralheizung einrichten.« »Hm. Der alte Ofen wird mir fehlen. Weiß du noch, wie ich in den alten Zeiten (vor kaum zwei Jahren!) auf dem Ofen zu sitzen pflegte?« »Und ich hatte immer ein wenig Angst, du würdest einmal Feuer fangen.« »Ich möchte am liebsten wieder einmal auf dem Ofen sitzen.« »Warum nicht?« Er setzte sich auf den Teil der Herdplatte, der am weitesten vom Feuerloch entfernt war. Es war angenehm warm, aber nicht zu heiß. »Weißt du noch«, fuhr Francie fort, »wie wir auf dieser 427
Schieferplatte vor dem Herd unsere Rechnungen machten und wie uns Papa einen richtigen Wandtafelreiniger heimbrachte, und dann war die Platte wie die Wandtafel in der Schule, nur lag sie am Boden, statt zu stehen.« »Ja-a. Das ist schon unendlich lange her. Aber hör mal! Du kannst doch nicht sagen, das Jahr 1917 werde ein wichtiges Jahr, bloß weil wir nun elektrisches Licht und Zentralheizung bekommen. In andern Häusern haben sie dies alles schon seit Jahren. Das ist doch nicht so wichtig.« »Nein, aber das Wichtigste an diesem Jahr wird sein, daß wir in den Krieg eintreten werden.« »Wann?« »Schon bald. Vielleicht schon nächste Woche … vielleicht im nächsten Monat.« »Wie kannst du das wissen?« »Ich lese die Zeitungen jeden Tag, Bruder, zweihundert Zeitungen.« »Oh, Boy, ich hoffe nur, der Krieg wird so lange dauern, bis ich alt genug bin, um zur Marine zu gehen.« »Was sagst du von der Marine?« Sie blickten sich erschrocken an. Mama stand unter der Schlafzimmertür. »Wir haben nur ein wenig geplaudert, Mama«, erklärte Francie. »Und habt dabei vergessen, mich zu wecken«, sagte Mama vorwurfsvoll. »Ich glaube, ich habe eine Pfeife gehört. Das neue Jahr hat sicher schon begonnen.« Francie riß das Fenster auf. Es war eine eiskalte, windstille Nacht. Auch sonst herrschte eine große Stille. Jenseits des Hofes brüteten die Rückwände der Häuser dunkel vor sich hin. Dann ertönte in die Stille hinein plötzlich das fröhliche Läuten einer Kirchenglocke. Dann stimmten andere Glocken ein. Es begann von allen Seiten zu pfeifen. Eine Sirene heulte. Dunkle Fenster wurden weit aufgestoßen. Blechtrompeten mischten sich in die Kakophonie. Jemand feuerte eine Platzpatrone ab. Aus allen Himmelsrichtungen ertönten Stimmen und Pfeifen. Neunzehnhundertsiebzehn! 428
Dann verstummten die Klänge und Rufe, und die Luft war von einem Warten erfüllt. Jemand begann zu singen: Should auld acquaintance be forgot, and never brought to mind … Die Nolans stimmten ein. Und nacheinander schlossen sich auch die übrigen Nachbarn an. Sie sangen das Lied alle gemeinsam. Dann mischten sich plötzlich ein anderer Rhythmus und andere Töne in ihr Lied. Einige Deutsche hatten ebenfalls zu singen begonnen, und sie versuchten, das alte schottische Freundschaftslied zu übertönen: Ja, das ist ein Gartenhaus Gartenhaus Gartenhaus? Ach, du schönes, ach, du schönes, ach, du schönes Gartenhaus. Jemand schrie: »Haltet den Schnabel, ihr lausigen Heinis!« Als Antwort ließen die Deutschen ihr Lied mächtig anschwellen und ertränkten damit das schottische Lied vollkommen. Die Iren rächten sich dadurch, daß sie über die dunklen Höfe hinweg eine Parodie riefen: Yeah, das ist ein God-damned song, god-damned song, god-damned song, oh, du lausigs oh, du lausigs oh, du lausigs Heini-song. Die Juden und die Italiener begannen ihre Fenster zu schließen. Sie wollten das Wettsingen den Deutschen und den Iren überlassen. Die 429
Deutschen sangen immer übermütiger, und ihre Stimmen mehrten sich, bis es ihnen gelang, auch die Parodie zu übertönen. Die Deutschen gewannen den Kampf. Sie sangen ihr endloses Lied mit schreiendem Triumph zu Ende. Francie erschauerte. »Ich mag die Deutschen nicht«, sagte sie. »Sie sind so … so beharrlich, wenn sie etwas im Kopf haben, und sie wollen immer überall die Nase zuvorderst haben.« Draußen war es wieder still geworden. Francie umfaßte mit dem einen Arm ihre Mutter, mit dem andern den Bruder. »Alle miteinander, jetzt!« kommandierte sie. Sie lehnten sich alle drei aus dem Fenster und riefen im Chor: »Ein glückliches Neujahr euch allen!« Eine kurze Stille, dann kam von irgendwoher aus dem Dunkel eine Stimme, die mit stark irischem Akzent schrie: »Glückliches Neujahr, ihr Nolans!« »Wer kann das nur sein?« fragte Katie erstaunt. »Glückliches Neujahr, du Schmutzfink von einem Iren!« schrie Neeley zurück. Mama hielt ihm mit der flachen Hand den Mund zu und zog ihn vom Fenster weg, während Francie das Fenster eiligst herunterließ. Sie brachen alle drei in krampfhaftes Gelächter aus. »Nun hast du uns etwas eingebrockt!« keuchte Francie, die Tränen lachte. »Er weiß, wer wir sind, und nun wird er kommen und dich verprügeln«, gurgelte Katie, die vor lauter Lachen so schwach geworden war, daß sie sich an der Tischkante festhalten mußte. »Wer war es denn?« »Der alte O'Brian. Letzte Woche hat er mich mit Flüchen aus seinem Hof vertrieben, der Schmutzfink …« »Pscht!« sagte Katie. »Weißt du nicht, daß man, was man ganz am Anfang des neuen Jahres tut, nachher das ganze Jahr hindurch tun muß?« »Du wirst doch nicht herumgehen und fortwährend ›Schmutzfink von einem Iren‹ sagen wollen wie eine Grammophonplatte, die steckengeblieben ist?« fragte Francie. »Übrigens bist du ja selbst ein Ire.« 430
»Du auch«, gab Neeley zurück. »Wir sind alle irisch, außer Mama.« »Und ich bin durch meine Heirat ebenfalls Irin.« »Und wie steht's, trinken wir Iren einander zu in der Silvesternacht oder nicht?« wollte Francie wissen. »Natürlich tun wir das«, sagte Mama. »Ich will einen Punsch brauen.« McGarrity hatte den Nolans eine Flasche feinsten alten Kirsch zu Weihnachten geschenkt. Katie goß jedem ein kleines Gläschen voll in ein hohes Bierglas. Dann füllte sie die Gläser auf mit einer Mischung von Ei, Milch und Zucker, und zuletzt streute sie noch ein wenig Muskat auf die vollen Gläser. Sie arbeitete mit ruhigen, sicheren Händen, obwohl sie das Trinken als etwas sehr Gefährliches empfand. Sie fürchtete immer, die Kinder könnten die Neigung der Nolans zum Trinken geerbt haben. Sie hatte versucht, ihrer Familie gegenüber zu einer bestimmten Einstellung zum Alkohol zu kommen. Wenn sie gegen ihn predigte, so fürchtete sie, würden ihre Kinder als unverbesserliche Individualisten das Trinkverbot als Anreiz betrachten. Machte sie es ihnen dagegen leicht, so konnten sie dahin kommen, Trunkenheit als eine natürliche Angelegenheit zu betrachten. Sie entschloß sich, weder zuviel noch zuwenig daraus zu machen. Sie wollte es einfach als etwas Natürliches, Alltägliches behandeln. Sie fand, die Kinder sollten bei angemessenen Gelegenheiten einmal mit Maß etwas Alkohol genießen, und eine solche Gelegenheit war nun eben die Silvesternacht. Sie überreichte jedem ein Glas und war sehr gespannt, wie sie darauf reagieren würden. »Worauf wollen wir anstoßen?« fragte Francie. »Auf eine Hoffnung«, sagte Katie. »Auf die Hoffnung, daß unsere Familie immer so friedlich beisammenbleiben wird wie jetzt.« »Wart!« sagte Francie. »Dann müssen wir aber noch Laurie holen, sie soll auch dabeisein.« Katie holte die schlafende Kleine aus ihrem Bettchen und brachte sie in die Küche. Laurie öffnete die Äuglein, hob den Kopf und ließ in einem schlaftrunkenen Lächeln ihre beiden Zähnchen aufblitzen. Dann 431
sank ihr Köpfchen wieder auf Katies Schulter herab, und schon schlief sie wieder. »Also!« sagte Francie und hielt das Glas in die Höhe. »Auf daß wir immer beisammenbleiben!« Sie stießen an und tranken. Neeley nippte nur an seinem Glas, runzelte die Stirn und sagte, er möchte lieber pure Milch haben. Er schüttete sein Getränk in den Ausguß und füllte sich ein Glas mit reiner weißer Milch. Katie sah mit Besorgnis, wie Francie ihr Glas bis auf den letzten Tropfen austrank. »Es ist gut«, sagte Francie, »wirklich gut. Aber nicht halb so gut wie ein Vanilleeis mit Limonade.« Wozu mache ich mir immer diese Sorgen? jubilierte Katie. Die Kinder sind doch ebensosehr Rommelys wie Nolans, und wir Rommelys waren nie dem Alkohol verfallen. »Neeley, komm, wir wollen aufs Dach steigen!« sagte Francie mit plötzlicher Begeisterung. »Ich möchte einmal sehen, wie die Welt von oben aussieht am ersten Tag des neuen Jahres.« »Okay«, stimmte Neeley bei. »Aber zieht zuerst eure Mäntel an!« befahl Mama. Sie kletterten die wackelige Holzleiter hinauf. Neeley schob die Rolltür weg, und sie stiegen aufs Dach hinaus. Die Nacht war klar und frostig. Es war vollkommen windstill, und die Luft war kalt und trocken. Die Sterne glänzten hell und hingen tief am Himmel. Es waren so viele, daß der Himmel nicht mehr schwarz schien, sondern kobaltblau. Es war kein Mond zu sehen, aber die Sterne kamen um so schöner zur Geltung. Francie streckte sich, stellte sich auf die Zehenspitzen und breitete ihre Arme weit aus. »Oh, ich möchte alles umschlingen!« rief sie aus. »Ich möchte die ganze Nacht in meinen Armen halten – die windstille Kälte. Und all die Sterne, die so nah und leuchtend sind. Ich möchte dies alles so fest an mich drücken, bis es schreien würde: ›Laß mich los, laß mich los!‹« »Steh nicht so weit draußen am Rand!« sagte Neeley besorgt. »Sonst fällst du noch vom Dach hinunter.« 432
Ich brauche jemanden, dachte Francie voll Sehnsucht. Ich brauche jemanden, den ich fest an mich drücken kann. Und ich brauche mehr als nur die Umarmung. Ich brauche jemanden, der genau versteht, wie mir in einem solchen Augenblick zumute ist. Und dieses Verständnis müßte ich aus der Umarmung heraus spüren. Ich liebe Mama und Neeley und Laurie. Aber ich brauche jemanden, den ich auf eine andere Art lieben kann. Wenn ich Mama etwas davon sagte, dann würde sie sagen: ›Ja, wenn du aber derartige Gefühle hast, dann mußt du dich davor hüten, mit den Jungens in dunklen Hausgängen zu stehen.‹ Sie würde sich Sorgen machen darüber, daß ich vielleicht so werde, wie Sissy einmal war. Aber es hat ja gar nichts mit dem zu tun. Viel mehr als die Umarmung wünsche ich mir ja das Verständnis. Wenn ich es Tante Sissy oder Tante Evy sagte, würden sie so reden wie Mama. Natürlich hat Tante Sissy mit vierzehn Jahren geheiratet und Tante Evy mit sechzehn. Auch Mama war noch ein sehr junges Mädchen, als sie heiratete. Aber sie haben vergessen, wie es ist … und sie werden mir alle sagen, ich sei noch zu jung für solche Gedanken. Und doch habe ich das Gefühl, daß ich in manchen Dingen älter bin als fünfzehn. Aber es ist niemand da, den ich umarmen könnte und niemand, der mich versteht. Vielleicht später einmal … »Neeley, wenn du jetzt sterben müßtest, wäre es nicht herrlich, gerade in diesem Augenblick zu sterben, wo man glauben könnte, es sei alles vollkommen, so vollkommen wie diese schöne Nacht?« »Weißt du, was du bist?« fragte Neeley. »Nein. Was?« »Du bist betrunken von diesem Milchpunsch, das bist du.« Sie ballte die Fäuste und kam auf ihn zu. »Sag das noch einmal! Untersteh dich und sag das noch einmal!« Neeley erschrak über ihren leidenschaftlichen Ton und wich ihr aus. »Sch… sch… schon recht«, stammelte er. »Ich bin auch einmal betrunken gewesen.« Sie vergaß ihren Zorn vor lauter Neugier. »Wirklich, Neeley? Warst du tatsächlich betrunken?« 433
»Jawohl. Einer meiner Kameraden hatte einmal ein paar Flaschen Bier. Wir gingen in den Keller und tranken es. Ich habe zwei Flaschen getrunken, und nachher hatte ich einen Rausch.« »Was hast du denn dabei für ein Gefühl gehabt?« »Ja, zuerst schien die ganze Welt auf dem Kopf zu stehen. Dann war alles wie in einem – weißt du, in einem dieser Penny-Kaleidoskope, in die man am engen Ende hineinschaut, wobei man am weiten Ende dreht und wo die kleinen farbigen Papierfetzchen umhertanzen und fallen und nie zweimal auf dieselbe Art. Aber vor allem war mir schrecklich schwindlig. Und dann mußte ich erbrechen.« »Dann habe ich auch schon einmal einen Rausch gehabt«, gestand Francie. »Auch von Bier?« »Nein. Das war im letzten Frühling in McCarrens Park, als ich zum erstenmal in meinem Leben eine richtige Tulpe sah.« »Wie konntest du denn wissen, daß es eine Tulpe war, wenn es das erstemal war, daß du eine sahst?« »Ich hatte vorher Bilder gesehen. Als ich die Tulpe anschaute und sah, wie die Blüte aus dem Stengel herauswuchs und wie schön sich die grünen Blätter drehten, wie das helle Gelb der Blütenblätter allmählich in ein reines, tiefes Rot überging, da wurde mir auch ganz schwindlig, und die ganze Welt schien sich um mich zu drehen, so daß ich mich auf eine Bank im Park setzen mußte.« »Hast du auch erbrechen müssen?« »Nein, das nicht. Aber heute nacht auf diesem Dach habe ich wieder genau dasselbe Gefühl, und ich weiß ganz genau, daß es nichts mit dem Milchpunsch zu tun hat.« »Wer weiß?« zweifelte Neeley. Dann fiel Francie etwas ein. »Weißt du was, Neeley? Mama hat uns gewiß auf die Probe stellen wollen mit dem Punsch.« »Die arme Mama«, sagte Neeley. »Aber um mich braucht sie sich keine Sorgen zu machen. Ich werde mich nie wieder betrinken, weil ich es verdammt unangenehm finde, wenn man erbrechen muß.« »Und um mich auch nicht. Ich brauche keinen Alkohol, um be434
rauscht zu sein. Ich kann mich an einer Tulpe oder an einer solchen Nacht wie dieser berauschen.« »Die Nacht ist wirklich nicht übel«, bestätigte Neeley. »Sie ist so still und hell … beinahe … heilig.« Sie mußte an Papa denken. Wenn Papa hier wäre, dann würde er … Neeley begann zu singen: Stille Nacht, heilige Nacht, alles schläft, einsam wacht … Er ist genau wie Papa, dachte sie glücklich.
Sie schaute über die Dächer von Brooklyn. Das Sternenlicht schuf tiefe Schatten und helle Flecken. Sie blickte über die unregelmäßigen Flachdächer, die hier und dort von einem abgeschrägten Dach, das aus einer früheren Zeit stehen geblieben war, unterbrochen wurden. Die Schornsteine, die auf den Dächern saßen, schienen zu schlafen, und aus den Taubenschlägen tönte von Zeit zu Zeit das schläfrige Gurren der Tauben. Im Hintergrund ragten die beiden Türme der katholischen Kirche über die dunklen Mietshäuser hinaus. Am Ende ihrer Straße schwang sich die große Brücke über den East River und verlor sich in der Ferne. Der East River lag dunkel da, und weit hinten lagen die verschwommenen Konturen der Häuser von New York, das aussah wie eine aus Karton ausgeschnittene Stadt. »Es ist einfach unvergleichlich«, sagte Francie. »Was ist unvergleichlich?« »Brooklyn. Es ist eine verzauberte Stadt, es ist gar nicht wirklich.« »Es ist so wirklich wie jede andere Stadt.« »Nein, das ist nicht wahr! Ich gehe doch jeden Tag nach New York hinüber, aber New York ist ganz anders. Und einmal war ich in Bayonne bei einer kranken Kollegin, aber auch Bayonne ist ganz anders. Brooklyn ist so geheimnisvoll. Es ist … ja … es ist wie ein Traum. Die 435
Häuser und die Straßen scheinen gar nicht wirklich. Auch die Leute nicht.« »Oh, sie sind wirklich genug, wenn man ihre Schlägereien sieht und wenn man hört, wie sie einander anschreien, wenn man sieht, wie arm sie sind und wie schmutzig.« »Aber es ist immer so, als wären sie nur im Traum arm und streitsüchtig. Sie empfinden es gar nicht als wirklich. Es ist immer, wie wenn alles nur im Traum geschähe.« »Brooklyn ist gar nicht anders als irgendeine andere Stadt«, sagte Neeley nochmals mit Nachdruck. »Du machst es nur anders mit deiner Phantasie. Aber das macht ja nichts«, fügte er großmütig hinzu, »solange es dich so glücklich macht.« Neeley! So ähnlich wie Mama. Und so ähnlich wie Papa. Neeley hatte von beiden das Beste. Sie liebte ihren Bruder. Sie hätte am liebsten ihre Arme um ihn geschlungen und ihn geküßt. Aber er war wie Mama. Er konnte es nicht leiden, wenn man seine Gefühle zeigte. Wenn sie es versuchte, ihn zu küssen, dann würde er zornig werden und sie von sich stoßen. Deshalb hielt sie ihm nur die Hand hin: »Ein glückliches neues Jahr, Neeley!« »Gleichfalls!« Sie schüttelten einander feierlich die Hand.
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ber die Festtage hatten die Nolans beinahe so gelebt wie in den alten Zeiten. Aber nach dem Neujahrstag verfielen sie wieder in den neuen Rhythmus, der seit Johnnys Tod über sie gekommen war. Seit Johnny tot war, hatten sie keine Klavierstunden mehr genommen. Und Francie hatte schon seit vielen Monaten nicht mehr geübt. Und Neeley übte sich am Abend in den Eissalons im Klavierspielen. Er war ein äußerst geschickter Ragtime-Spieler gewesen, und nun be436
gann er, ein noch viel geschickterer Jazz-Spieler zu werden. »Er kann ein Klavier reden machen«, so sagten die Leute, und er war deshalb sehr beliebt. Er bekam freie Limonaden für sein Spielen. Scheefley gab ihm manchmal einen Dollar, nachdem er den ganzen Samstagabend gespielt hatte. Francie sah das nicht gern, und sie sprach sich mit Katie darüber aus. »Ich würde ihm das nicht erlauben, Mama«, sagte sie. »Ach, es ist doch etwas so Harmloses!« »Du wirst doch nicht wollen, daß er sich angewöhnt, für freie Getränke zu spielen, wie …« Sie stockte. Katie sprach den Satz zu Ende. »Wie dein Vater? Nein, Neeley ist ganz anders. Dein Vater hat nie die Lieder gesungen, die ihm gefielen, wie ›Annie Laurie‹ oder ›Des Sommers letzte Rose‹. Er sang immer das, was die Leute von ihm verlangten: ›Süße Adeline‹ und andere Lieder dieser Art. Aber Neeley macht es anders. Er spielt immer nur das, was ihn freut und kümmert sich keinen Deut darum, ob es dem Publikum gefällt oder nicht.« »Du willst also damit sagen, daß Papa nur zur Unterhaltung des Publikums gesungen habe, während Neeley ein Künstler sei?« »Nun … ja«, sagte Katie trotzig. »Ich finde, du übertreibst ein wenig mit der Vergötterung deines Sohnes.« Katie runzelte die Stirn, und Francie ließ das Thema fallen.
Seit Neeley aufs Gymnasium ging, hatten sie aufgehört, des Abends in der Bibel und im Shakespeare zu lesen. Neeley erzählte, sie läsen nun in der Schule den ›Julius Cäsar‹, und der Oberlehrer lese jeden Morgen ein Stück aus der Bibel vor, und das genüge ihm völlig. Francie wollte am Abend auch nicht mehr lesen, weil sie ihre Augen tagsüber genug anstrengen mußte. Katie beharrte nicht auf dem Weiterlesen, da es ja nun nicht mehr unbedingt nötig war.
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An den Abenden war Francie immer sehr einsam. Die Familie war nur noch beim Abendessen versammelt, wobei sogar Laurie auf ihrem hohen Stuhl mithielt. Nach dem Abendessen ging Neeley aus, um sich mit seinen Kameraden herumzutreiben oder um in einem Eissalon Klavier zu spielen. Mama las die Zeitung, und dann ging sie mit Laurie schon um acht Uhr zu Bett. Sie mußte immer noch um fünf Uhr aufstehen, um ihre Reinigungsarbeiten erledigen zu können, solange Francie und Neeley noch daheim bei Laurie waren. Francie ging nicht gern ins Kino, weil das ständige Flimmern auf der Leinwand ihren Augen weh tat. Und die Theater waren fast alle eingegangen. Übrigens war sie einmal in einem Broadway-Theater gewesen und hatte dort Barrymore in Galsworthys ›Gerechtigkeit‹ gesehen. Und nachher war sie zu verwöhnt, um sich die tragikomischen Stücke der Brooklyner Theatergesellschaften anzusehen. Im Herbst hatte sie einen Stummfilm gesehen, der sie beeindruckt hatte. »Kriegsbräute« mit Nazimova. Nachher war der Film verboten worden, weil der Krieg auch in Amerika vor der Tür stand. Einmal war sie in einem ihr sonst unbekannten Quartier von Brooklyn gewesen, um in einem Vaudeville-Theater die große Sarah Bernhardt in einem Einakter zu sehen. Die große Schauspielerin war damals schon über siebzig Jahre alt, aber auf der Bühne hätte man sie für fünfunddreißig halten können. Sie spielte die Rolle eines französischen Soldaten, der im Krieg ein Bein verloren hatte. Francie verstand kein Wort von dem Französisch, sie erhaschte nur hin und wieder das Wort ›Boche‹. Aber sie konnte das flammendrote Haar und die goldene Stimme der großen Bernhardt nie mehr vergessen. Sie bewahrte das Programm sorgfältig in ihrem Tagebuch auf. Aber diese drei Abende waren die einzigen gewesen in einer langen, monatelangen Reihe von einsamen Abenden. In jenem Jahr kam der Frühling früh, und sie konnte in den süßen, lauen Nächten nicht schlafen. Abends spazierte sie auf den Straßen und durch den Park. Und wo sie auch hinging, überall sah sie junge Pärchen, die Arm in Arm durch die Straßen gingen, die im Park eng umschlungen auf den Bänken saßen oder schweigend dicht beieinan438
der unter einer Haustür standen. Jedermann schien einen Schatz oder einen Freund zu haben. Sie schien in Brooklyn die einzige Einsame zu sein. Im März 1917 war man allgemein von der Unvermeidlichkeit eines Krieges überzeugt. In Francies Block wohnte eine Witwe, die einen einzigen Sohn hatte. Sie lebte in ständiger Angst, er werde in den Krieg gehen müssen und werde getötet werden. Sie kaufte ihm ein Horn und ließ ihn Stunden nehmen in der Hoffnung, man werde ihn dann zur Musik tun, und er würde nur bei Paraden und Defilees spielen müssen und nie an die Front kommen. Die anderen Mieter wurden fast zu Tode gequält von dem ewigen stümperhaften Spiel. Schließlich kam einer der Geplagten aus lauter Verzweiflung auf die Idee, der besorgten Mutter zu sagen, er wisse es aus geheimer, aber sicherer Quelle, daß die Musik immer die Soldaten anführen müsse und deshalb an der Front zuvorderst sei. Die Musikanten seien immer die ersten, die getötet würden. Die entsetzte Mutter trug das unheilvolle Instrument sofort ins Pfandhaus und verbrannte den Pfandschein, den sie dafür bekam. Damit war dem schrecklichen Üben ein Ende gemacht. Jeden Abend stellte Katie beim Essen dieselbe Frage an Francie: »Ist der Krieg schon erklärt worden?« »Noch nicht, aber es kann jeden Tag soweit sein.« »Nun, ich wünschte, es würde endlich einmal losgehen.« »Möchtest du denn den Krieg?« »Nein, natürlich nicht. Aber wenn er doch kommen muß, dann soll er lieber bald kommen. Je eher er beginnt, desto schneller wird er vorüber sein.« Dann kam Sissy mit einer so großen Sensation, daß die Nolans den Krieg für eine Weile fast vergaßen. Sissy, von der man geglaubt hatte, sie habe nun ihre wildesten Jahre überstanden und werde sich allmählich in den geruhsamen Zustand finden, der dem Matronenalter vorausgeht, brachte die Familie in Aufruhr dadurch, daß sie sich bis über die Ohren in den John verliebte, mit dem sie nun schon seit mehr als fünf Jahren verheiratet war. Und nicht nur dies. 439
Sie wurde innerhalb von zehn Tagen Witwe, ließ sich scheiden, heiratete wieder und wurde schwanger – all dies in wenig mehr als einer Woche! Vor Büroschluß hatte man Francie die letzte Nummer des ›Standard Union‹, der Lieblingszeitung von Williamsburg, aufs Pult gelegt. Sie nahm die Zeitung wie gewöhnlich mit nach Hause, damit Katie sie nach dem Nachtessen lesen konnte. Francie würde sie am nächsten Morgen wieder mitnehmen, um sie zu lesen und zu markieren. Da sie außerhalb der Bürozeit nie eine Zeitung las, hatte sie keine Ahnung, was für eine wichtige Neuigkeit dieses Blatt enthielt. Nach dem Abendessen setzte sich Katie ans Fenster, um die Zeitung zu überfliegen. Kaum hatte sie die dritte Seite aufgeschlagen, als sie in ihr gewohntes »Du meine Güte!« ausbrach, wie immer, wenn sie eine große Überraschung erlebte. Francie und Neeley eilten herbei und schauten ihr über die Schulter. Katie zeigte auf eine Schlagzeile: »Heldenhafter Feuerwehrmann kommt ums Leben bei einem Brand in Wallabout Market.« Darunter war in kleinem Druck vermerkt: »Er hatte die Absicht, sich nächsten Monat pensionieren zu lassen.« Als Francie den Artikel las, entdeckte sie, daß dieser Feuerwehrmann ja Sissys erster Mann gewesen war. Der Artikel enthielt auch eine Fotografie von Sissy, wie sie vor zwanzig Jahren gewesen war – Sissy mit einem abstehenden Haarknoten ganz oben auf dem Kopf und riesigen Schinkenärmeln – Sissy im Alter von sechzehn Jahren. Unter dem Bild stand: »Witwe des heldenhaften Feuerbekämpfers.« »Du meine Güte!« rief Katie nochmals aus. »Dann hat er sich also nicht mehr verheiratet! Er muß Sissys Bild die ganze Zeit aufbewahrt haben, und als er starb, hat man wahrscheinlich seine Sachen geordnet und – Sissy gefunden! Nun muß ich aber sofort zu Sissy hinübergehen.« Katie band sich die Schürze los und ging ins Schlafzimmer, um den Hut zu holen. »Sissys John liest die Zeitung auch, und sie hat ihm damals gesagt, sie sei geschieden. Wenn er nun die Wahrheit erfährt, 440
wird er sie töten. Oder er wird sie zum mindesten hinauswerfen«, verbesserte sich Katie. »Und wo soll sie dann hingehen mit dem Kindchen und mit Mutter?« »Er scheint doch ein netter Mann zu sein«, meinte Francie, »ich glaube nicht, daß er dazu imstande wäre.« »Wir können nicht wissen, wozu er imstande ist. Wir wissen ja eigentlich nichts von ihm. Er ist ein Fremdling in der Familie. Gott verhüte, daß ich mit meiner Warnung zu spät komme!« Francie wollte unbedingt mitgehen, und Neeley ließ sich dazu überreden, bei Laurie zu bleiben unter der Bedingung, daß man ihm nachher alles haargenau erzähle. Als sie in Sissys Wohnung kamen, fanden sie sie glühend vor Aufregung. Großmutter Rommely war mit Klein Sissy ins vordere Zimmer gegangen, wo sie unablässig dafür betete, daß alles eine gute Wendung nehmen möge. Sissys John erzählte die Geschichte folgendermaßen: »Ich bin bei meiner Arbeit, versteht ihr? Da kommen diese Männer in unsere Wohnung und sagen zu Sissy: ›Ihr Mann ist eben tödlich verunglückt, verstanden?‹ Sissy denkt natürlich, sie meinen mich.« Er wandte sich plötzlich Sissy zu: »Hast du auch geweint?« »So laut, daß man mich im nächsten Häuserblock noch hören konnte«, versicherte sie. Er schien befriedigt. »Sie fragen Sissy, was sie mit dem Leichnam machen sollen. Und Sissy fragt, ob er versichert gewesen sei, verstanden? Und es erweist sich, daß er für fünfhundert Dollar versichert war, seit zehn Jahren einbezahlt und immer noch auf Sissys Namen. Und was glaubt ihr, daß Sissy tut? Sie sagt den Männern, sie sollen ihn bei Specht aufbahren lassen, verstanden? Sie geht hin und bestellt ihm ein Begräbnis für fünfhundert Dollar.« »Ich mußte doch die nötigen Anordnungen treffen«, entschuldigte sich Sissy. »Ich bin doch seine einzige lebende Verwandte.« »Aber das ist noch nicht alles«, fuhr er fort. »Nun wollen sie Sissy noch eine Pension bezahlen. Das ist mir denn doch zu dick!« brüllte er plötzlich heraus. »Wie ich sie geheiratet habe«, fuhr er in ruhigerem 441
Tone fort, »hat sie mir gesagt, sie sei eine geschiedene Frau. Und jetzt stellt sich heraus, daß sie es nicht ist.« »Aber bei den Katholiken gibt es das gar nicht, eine Scheidung«, sagte Sissy. »Du bist gar nicht in der katholischen Kirche getraut worden.« »Ich weiß schon. Deshalb fand ich, ich sei nicht verheiratet und brauche mich infolgedessen auch nicht scheiden zu lassen.« Er rang die Hände und stöhnte: »Ich gebe es auf!« wie damals, als Sissy darauf beharrte, daß sie Klein Sissy geboren habe. »Ich heirate sie in gutem Glauben, verstanden? Und was tut sie?« fragte er rhetorisch. »Sie sagt kein Wort davon und weiß genau, daß wir die ganze Zeit im Ehebruch leben.« »Sag das nicht!« verbot ihm Sissy energisch. »Das ist gar nicht Ehebruch, das nennt man Bigamie.« »Aber das soll nun ein Ende nehmen, verstanden? Du bist nun Witwe deines ersten Mannes, und vom zweiten mußt du dich sofort scheiden lassen, und dann mußt du mich nochmals heiraten, verstanden?« »Ja, John«, sagte sie sanftmütig. »Und mein Name ist nicht John!« brüllte er. »Ich heiße Steve! Steve! Steve!« Bei jeder Wiederholung seines rechtmäßigen Namens schlug er mit der Faust so heftig auf den Tisch, daß die Löffelchen, die an der blaugläsernen Zuckerdose aufgehängt waren, zu tanzen begannen. Dann fuhr er mit dem Zeigefinger auf Francies Gesicht los. »Und du! Von nun an bin ich Onkel Steve, verstanden?« Francie starrte den so verwandelten Mann in stummem Entsetzen an. »Nun? Wer bin ich von nun an?« bellte er. »O … O … Onkel Steve.« »Also gut!« Er beruhigte sich schon wieder. Er nahm den Hut vom Türnagel und drückte ihn auf den Kopf. »Wohin gehst du, John … Ich meine Steve?« fragte Katie besorgt. »Damit ihr's wißt, als ich noch ein Junge war, ging mein Alter immer aus, um Eis zu holen, wenn wir Besuch hatten. Nun, hier bin ich Meister, verstanden? Und ich habe Besuch. Und deshalb gehe ich nun, um ein Viertel Erdbeereis zu kaufen, verstanden?« Er ging. 442
»Ist er nicht wunderbar?« seufzte Sissy. »Eine Frau könnte sich in einen solchen Mann geradezu verlieben.« »Es sieht aus, als hätten die Rommelys endlich einen richtigen Mann in der Familie«, kommentierte Katie trocken. Francie ging ins dunkle vordere Zimmer. Beim Licht der Straßenlaterne sah sie, wie ihre Großmutter mit Sissys kleinem Mädchen im Schoß am Fenster saß. Die bernsteinfarbenen Rosenkranzperlen baumelten an ihren zitternden Fingern. »Du mußt jetzt nicht mehr beten, Großmutter«, sagte Francie. »Es ist schon alles in Ordnung. Er ist ausgegangen, um Erdbeereis zu holen.« »Ehre sei dem Vater, dem Sohne und dem Heiligen Geiste, Amen«, pries Mary Rommely. Dann schrieb John in Sissys Namen an ihren zweiten Gemahl und setzte dessen letzte Adresse mit dem Vermerk ›Bitte nachsenden‹ auf den Briefumschlag. Sissy bat ihn in diesem Brief, sein Einverständnis zu ihrer Ehescheidung zu geben, damit sie wieder heiraten könne. Eine Woche darauf erhielt sie einen dicken Brief aus Wisconsin. Ihr zweiter Mann teilte ihr mit, daß es ihm sehr gut gehe, daß er sich schon vor sieben Jahren im Staate Wisconsin habe scheiden lassen, daß er sich sofort wieder verheiratet habe, daß er sich in Wisconsin niedergelassen und dort eine gute Stelle gefunden habe und daß er Vater von drei Kindern sei. Er sei sehr glücklich, schrieb er, und er gab ihr in kriegerisch unterstrichenen Worten zu verstehen, daß er die Absicht habe, es zu bleiben. Er legte einen alten Zeitungsabschnitt bei, der ihr beweisen sollte, daß sie auf gesetzliche Weise, das heißt durch Publikation, von seinem Schritt unterrichtet worden war. Er legte auch eine Fotokopie des richterlichen Entscheides bei, der auf Grund von Sissys Desertion gefällt worden war, sowie eine Fotografie von drei blühenden Kindern. Sissy war so glücklich über die so rasch vollzogene Scheidung, daß sie ihm eine versilberte Fruchtschale als verspätetes Hochzeitsgeschenk schickte. Sie hatte das Gefühl, sie sollte ihm auch einen Gratulationsbrief schreiben. Steve weigerte sich aber, sich dafür herzugeben, und deshalb bat sie Francie, es für sie zu tun. 443
»Schreib ihm, ich hoffe, er werde sehr glücklich sein«, diktierte sie. »Aber Tante Sissy, nun ist er ja schon seit sieben Jahren verheiratet, und es wird sich schon längst entschieden haben, ob er glücklich ist oder nicht.« »Aber wenn man zum erstenmal erfährt, daß jemand Hochzeit gehabt hat, ist es doch nichts als Anstand, wenn man ihm Glück dazu wünscht. Also schreib das auf!« »Wie du willst.« Sie schrieb den Wunsch nieder. »Und was soll ich ihm sonst noch schreiben?« »Schreib ihm etwas über seine Kinder, wie nett sie sind … etwas wie …« Die Worte blieben ihr im Hals stecken. Sie wußte genau, daß er die Bilder nur deshalb geschickt hatte, um ihr zu beweisen, daß ihre totgeborenen Kinder nicht ihm zuzuschreiben waren. Das tat ihr weh. »Schreib ihm, ich sei die Mutter eines schönen, gesunden kleinen Mädchens, und unterstreiche ›gesund‹!« »Aber Onkel Steve hat doch in seinem Brief geschrieben, daß ihr erst im Sinne habt, euch zu verheiraten. Dieser Mann wird es vielleicht ein wenig merkwürdig finden, daß ihr schon so bald ein Kind habt.« »Schreib nur, was ich dir gesagt habe!« befahl Sissy. »Schreib, daß ich nächste Woche ein Kind erwarte!« »Aber Sissy! Das ist doch gar nicht wahr!« »Natürlich nicht. Aber schreib es trotzdem!« Francie brachte auch dies zu Papier. »Noch etwas?« »Sag ihm, ich danke ihm für die Papiere. Und dann schreibst du, ich habe meine Scheidung schon ein Jahr vor ihm erreicht, ich habe es nur vergessen.« »Aber das ist doch eine Lüge!« »Nein, ich habe die Scheidung wirklich durchgeführt, bevor er es tat. In meinem Kopf.« »Also gut«, ergab sich Francie. »Schreib ihm, ich sei sehr glücklich und habe die Absicht, es zu bleiben, und unterstreiche diesen Satz, wie er es gemacht hat!« »Aber Sissy, mußt du denn unbedingt das letzte Wort haben?« 444
»Ja, genau wie deine Mutter und Tante Evy es immer haben müssen und auch du.« Francie machte keine weiteren Einwände mehr. Steve verschaffte sich die nötigen Papiere und heiratete Sissy wirklich noch einmal. Diesmal gingen sie in eine Methodistenkirche und ließen sich vom Methodistenprediger trauen. Es war Sissys erste kirchliche Trauung, und diesmal glaubte sie auch endlich daran, daß sie wahrhaftig verheiratet sei, ›bis der Tod sie trenne‹. Steve war überglücklich. Er liebte Sissy aufrichtig und hatte immer ein wenig Angst gehabt, er werde sie eines Tages verlieren. Hatte sie nicht ihre andern Männer auch verlassen, leichtsinnig und ohne Bedauern! Er hatte immer befürchtet, sie werde auch ihn verlassen und das Kind, das er schon sehr ins Herz geschlossen hatte, ebenfalls mitnehmen. Er wußte, daß Sissy fest an die Kirche glaubte … sei es nun die katholische, die protestantische oder eine freie Kirche, und daß sie es nie wagen würde, nach einer kirchlichen Trauung ihre Ehe nicht ernst zu nehmen. Zum erstenmal, seit er Sissy kannte, fühlte er sich restlos glücklich, sicher und kompetent. Und Sissy entdeckte plötzlich, daß sie bis über die Ohren in ihn verliebt war. Eines Abends, als Katie schon im Bett war, kam Sissy noch zu den Nolans hinüber. Sie bestand darauf, daß Katie im Bett bleiben solle, daß sie ins Schlafzimmer kommen wolle und neben Katies Bett plaudern. Francie saß am Küchentisch und klebte Gedichte in alte Schulhefte. Sie hatte in ihrem Lesepult im Büro eine Rasierklinge, mit der sie sich Gedichte und Kurzgeschichten, die ihr gefielen, für ihre Sammelhefte herausschnitt. Sie hatte eine ganze Reihe solcher Hefte. Das eine trug die Aufschrift ›Das Nolan-Buch der klassischen Gedichte‹, ein anderes ›Das Nolan-Buch der modernen Poesie‹, ein drittes hieß ›Das Buch von Annie Laurie‹. In diesem sammelte Francie alle Kinderverse und Tiergeschichten, die sie Laurie einmal vorlesen wollte, wenn sie alt genug sein würde, sie zu verstehen. Die Stimmen aus dem Schlafzimmer drangen als beruhigender Rhythmus an Francies Ohr. Francie hörte dem Gespräch ein wenig zu, während sie ihre Ausschnitte einklebte. Sissy sagte: 445
»… Steve ist so fein und anständig. Und als mir das klar wurde, fand ich es abscheulich von mir, daß ich jemals andere Männer gehabt habe – abgesehen von meinen Ehemännern natürlich.« »Du hast ihm aber doch von den andern nichts gesagt?« fragte Katie ängstlich. »Wofür hältst du mich denn? Aber ich wünsche mir von ganzem Herzen, er wäre der erste und einzige gewesen.« »Wenn eine Frau so spricht«, sagte Katie, »bedeutet es, daß sie sich den Wechseljahren nähert.« »Wie kommst du auf diese Idee?« »Wenn sie nie einen Liebhaber gehabt hat, dann ärgert sie sich grün und blau, sobald der Wechsel eintritt, weil sie daran denken muß, wie viele Freuden sie verscherzt hat, die sie jetzt nicht mehr haben kann. Wenn sie aber eine ganze Menge von Liebhabern gehabt hat, dann redet sie sich ein, sie habe unrecht getan und es tue ihr leid. Das tut sie nur, weil sie im stillen weiß, daß es bald vorbei sein wird mit ihrer Weiblichkeit. Wenn sie sich weismachen kann, daß das Zusammensein mit Männern nichts als Sünde war, kann sie sich leichter über den Verlust ihrer Jugendlichkeit hinwegtrösten.« »Bei mir kann aber keine Rede sein von Wechseljahren«, sagte Sissy entrüstet. »Erstens bin ich noch viel zu jung dazu und zweitens könnte ich das gar nicht ertragen.« »Und doch werden wir es alle einmal erleben müssen«, seufzte Katie. Sissy stellte sich das schrecklich vor. »Keine Kinder mehr haben können … nur noch ein halbes Weib sein … dick werden … Haare am Kinn bekommen. Nein, eher werde ich mich umbringen!« rief sie leidenschaftlich aus. »Aber wie dem auch sei, ich bin gewiß noch weit davon entfernt, in die Wechseljahre zu kommen«, fügte sie selbstgefällig hinzu, »denn ich bin wieder in andern Umständen.« Man hörte ein Rascheln aus dem dunklen Schlafzimmer. Francie konnte sich vorstellen, wie ihre Mutter vor Überraschung aus den Kissen aufschnellte und sich auf die Ellbogen stützte. »Nein, Sissy! Nein! Du kannst doch das nicht nochmals durchma446
chen. Nun hast du's schon zehnmal erleben müssen – ein totgeborenes Kind. Und diesmal wird es noch schwerer sein, denn du wirst doch schon bald siebenunddreißig.« »Das ist nicht zu alt, um ein Kind auf die Welt zu bringen!« »Nein, aber in diesem Alter kommt man nicht mehr so leicht über eine solche Enttäuschung hinweg.« »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Katie. Dieses Kind wird bestimmt leben!« »Das hast du noch jedesmal gesagt.« »Diesmal bin ich sicher, denn ich habe das Gefühl, Gott ist auf meiner Seite«, sagte sie mit großer Seelenruhe. Nach einer Weile fügte sie hinzu: »Ich habe Steve gebeichtet, wie ich zu Klein Sissy kam.« »Was hat er gesagt?« »Er hat die ganze Zeit gewußt, daß ich sie nicht selbst geboren habe, aber er sagte, die Art, wie ich es behauptete, habe ihn doch ein wenig unsicher gemacht. Er sagte, es mache ihm nichts aus, solange ich sie nicht von einem andern Mann habe, und da wir sie von ihrer Geburt an gehabt hätten, habe er doch beinahe das Gefühl, als sei sie sein Kind. Es ist übrigens interessant, wie sehr ihm das Kind ähnlich sieht. Es hat dieselben dunklen Augen und dasselbe runde Kinn und sogar dieselben dichtanliegenden kleinen Ohren wie er.« »Die dunklen Augen hat es von Lucia, und viele Millionen Menschen haben ein rundes Kinn und kleine Ohren. Aber wenn es Steve glücklich macht, zu denken, die Kleine gleiche ihm, dann ist es ja sehr gut.« Es trat ein längeres Schweigen ein. Schließlich fragte Katie: »Sissy, hast du von der italienischen Familie jemals etwas über den Vater des Kindes gehört?« »Nein.« Dann versank auch Sissy eine geraume Weile in Schweigen, bevor sie weitersprach. »Weißt du überhaupt, wer mir von dem Mädchen erzählt hat, daß sie ein Kind erwarte, wo sie wohne und all dies?« »Nein, wer?« »Steve.« »Du meine Güte!« 447
Beide versanken wieder längere Zeit in Gedanken. Dann sagte Katie: »Das war natürlich ein Zufall.« »Natürlich«, stimmte Sissy bei. »Einer von seinen Kollegen hatte ihm davon erzählt. Er sagte, der Vater sei ein Bursche, der in Lucias Block wohne.« »Natürlich«, wiederholte Katie. »Weißt du, es geschehen hier in Brooklyn so viele merkwürdige Dinge, denen man keine weitere Bedeutung zumessen darf. Manchmal, wenn ich durch die Straßen gehe und an jemanden denke, den ich vielleicht seit fünf Jahren nicht mehr gesehen habe, und ich gehe um die Ecke, kommt genau diese Person daher.« »Ich kenne das auch«, sagte Sissy. »Manchmal tue ich auch etwas, das ich nie zuvor getan habe, und dann habe ich plötzlich das Gefühl, daß ich es schon einmal so erlebt habe … vielleicht in einem früheren Leben …« Ihre Stimme verklang. Nach einer Weile sagte sie gedankenvoll: »Steve hat immer gesagt, er wolle nie ein Kind annehmen, das nicht von ihm sei.« »Oh, das sagen alle Männer. Das Leben ist merkwürdig«, fuhr Katie fort. »Manchmal trifft eine ganze Reihe von Zufällen aufeinander und nachher könnte man glauben, es steckte doch etwas dahinter. Natürlich war es nur ein Zufall, daß du von dem Mädchen Lucia hörtest. Derselbe Kollege, der es Steve sagte, hat es sicher auch noch einem Dutzend anderer Kollegen im Geschäft erzählt. Und Steve hat es dir auch nur zufällig weitererzählt. So war es also ein reiner Zufall, daß du die Familie kennenlerntest, und ein ebenso großer Zufall ist es, daß das Kind ein rundes Kinn hat statt eines eckigen. Es ist vielleicht …« Katie stockte und suchte nach einem passenden Wort. Francie in der Küche hatte an dem Gespräch so stark Anteil genommen, daß sie ganz vergaß, daß sie eigentlich nicht zuhören sollte. Als sie spürte, daß ihre Mutter um den passenden Ausdruck rang, half sie ihr unbedenklich aus: »Du meinst, es sei eine Fügung des Schicksals, Mama?« rief sie laut ins Schlafzimmer hinüber. Erschrockenes Schweigen war die Antwort. Nachher drangen die Stimmen nur noch im Flüsterton zu Francie in die Küche. 448
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A
uf Francies Pult lag eine Zeitung. Es war ein ›Extrablatt‹, das direkt von der Druckerei gekommen war. Die Druckerschwärze der Schlagzeile war noch feucht. Die Zeitung lag schon seit fünf Minuten da, aber Francie hatte sie noch nicht in die Hand genommen, um sie durchzublättern und mit dem Stift zu markieren. Sie starrte auf das Datum 6. April 1917. Die Schlagzeile bestand aus einem einzigen Wort und war sechs Zoll hoch. Die fünf Buchstaben waren etwas verwischt, und das Wort ›Krieg‹ schien zu taumeln. Francie hatte eine Vision. Sie sah sich als Großmutter; sie erzählte ihren Enkeln, wie es damals vor fünfzig Jahren gewesen war, als sie im Büro an ihrem Pult saß und eine Zeitung gebracht wurde, in der stand, daß der Krieg erklärt worden war. Sie wußte es von ihrer eigenen Großmutter, daß das Alter aus lauter Jugenderinnerungen bestand. Aber sie wollte nicht bloß Erinnerungen haben. Sie wollte die Erinnerungen nochmals miterleben. Sie nahm sich deshalb vor, diesen Augenblick mit allen Einzelheiten und mit größter Intensität ihrem Gedächtnis einzuverleiben. Vielleicht würde er ihr dadurch in all seiner Lebendigkeit erhalten bleiben und nicht einfach zu einer Erinnerung verblassen. Sie untersuchte die Maserung des Holzes, aus dem ihr Pult gemacht war. Sie fuhr mit dem Finger die Vertiefung entlang, in der die Bleistifte lagen, um das Gefühl, das ihr der Finger vermittelte, ebenfalls in ihrem Gedächtnis festzuhalten. Sie nahm den Bleistiftspitzer, spitzte den Bleistift und hielt nachher die zarte Spirale in der Handfläche. Sie berührte sie ebenfalls mit der Fingerspitze. Dann ließ sie sie in den me449
tallenen Papierkorb fallen und zählte die Sekunden, die der Fall dauerte. Sie lauschte gespannt nach dem leisen Aufprall, den die Spirale auf dem Boden des Papierkorbes verursachen würde. Sie drückte die Finger auf die noch feuchte Schlagzeile, betrachtete die geschwärzten Fingerspitzen, nahm ein Stück weißes Papier und drückte darauf ihre Finger ab. Ohne sich darum zu kümmern, ob das Extrablatt eventuell Ausschnitte für die Kundschaft enthielt, faltete sie es sorgfältig zu einem Rechteck zusammen, wobei sie beobachtete, wie es sich von ihrem Daumen flachdrücken ließ. Dann schob sie es in einen der starken Briefumschläge, die man im Büro zum Versand der Zeitungsausschnitte benützte. Sie hörte zum erstenmal auf das Geräusch, das ihre Schublade machte, wenn sie sie öffnete, um ihre Handtasche herauszuziehen. Sie bemerkte den Patentverschluß an ihrer Tasche und hörte, wie er beim Schließen klickte. Sie befühlte das Leder, merkte sich seinen Geruch und prägte sich die verschlungenen Linien des moirierten Seidenfutters ein. Sie las die Daten auf den Münzen in ihrem Portemonnaie. Sie fand darunter einen neuen Penny aus dem Jahre 1917 und legte ihn ebenfalls zu der Zeitung in den Briefumschlag. Sie öffnete die Hülse ihres Lippenstiftes und unterstrich damit die schwarzen Fingerabdrücke auf dem weißen Papier. Sie freute sich an dem schönen Rot und dem zarten Parfümduft, den es ausstrahlte. Sie schaute in die Puderdose, betrachtete die feinen Wellen an ihrer Nagelfeile, untersuchte den Kamm auf seine Biegsamkeit und betrachtete die Fäden im Gewebe ihres Taschentuches. Sie fand in ihrer Handtasche einen alten Zeitungsausschnitt, ein Gedicht, das sie einmal aus einer Oklahomazeitung herausgerissen hatte. Es war von einem Dichter geschrieben, der auch in Brooklyn geboren worden war, der die Brooklyner Volksschule besucht und als junger Mann den ›Brooklyner Adler‹ herausgegeben hatte. Sie las es zum zwanzigsten Male durch und prägte sich jedes Wort fest ein.
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Ich bin ebenso jung wie alt, bin töricht und weise zugleich, losgelöst von den Menschen und dennoch aufs tiefste verbunden. Ich bin sowohl Vater als Mutter, bin Kind und bin dennoch ein Mann, in mir ist alles vereinigt sei es nun grob oder fein. Auch das zerknitterte Gedicht wanderte in den Briefumschlag. Im Spiegel ihrer Puderdose beschaute sie ihr Haar, die Flechten, und wie sie um ihren Kopf gewunden waren. Sie entdeckte, daß ihre geraden schwarzen Augenwimpern ungleich lang waren. Dann betrachtete sie ihre Schuhe. Sie fuhr sich mit der Hand über das bestrumpfte Bein und entdeckte zum erstenmal, daß sich die Seide rauh anfühlte und nicht fein und glatt. Das Gewebe ihres Kleides war wie aus winzigen Schnürchen gewoben. Sie schlug den Saum um und betrachtete das diamantförmige Muster an der schmalen Unterrockspitze. Wenn ich jedes Detail dieses Augenblicks in meinem Gedächtnis festhalten kann, dann kann ich ihn für immer lebendig erhalten, dachte sie. Mit der Rasierklinge schnitt sie sich eine Haarsträhne ab, wickelte sie in das weiße Papier mit den Fingerabdrücken, faltete es und schob es ebenfalls in den Briefumschlag, den sie dann versiegelte. Auf den Umschlag schrieb sie: »Frances Nolan, Alter 15 Jahre und 4 Monate. 6. April 1917.« Sie dachte: Wenn ich in fünfzig Jahren diesen Briefumschlag wieder öffne, dann werde ich wieder genau wissen, wie ich vor fünfzig Jahren war. Aber bis dahin werde ich noch Millionen von Stunden zu leben haben. »Lieber Gott«, betete sie, »mach, daß ich in jeder Stunde und in jeder Minute meines Lebens etwas bin. Laß mich fröhlich sein oder traurig. Laß mich frieren oder unter der Flitze leiden, laß mich hungrig sein oder überfüttert. Laß mich in Lumpen gehen oder in guten Kleidern. 451
Laß mich aufrichtig sein – oder falsch. Laß mich die Wahrheit sagen oder lügen. Laß mich ehrbar sein oder laß mich sündigen. Aber laß mich in jeder einzelnen, gesegneten Minute etwas sein. Und wenn ich schlafe, dann laß mich immer träumen, so daß keine einzige Minute meines Lebens verloren ist.« Der Laufbursche kam und warf ihr eine andere Zeitung auf das Pult. Diesmal bestand die Schlagzeile aus vier Worten: »Der Krieg ist erklärt!« Der Boden schien zu wanken, vor ihren Augen flimmerte es in allen Farben, Francie legte den Kopf auf die intensiv nach frischer Druckerschwärze riechende Zeitung und begann leise zu weinen. Eine der älteren Lektorinnen, die eben aus dem Toilettenraum kam und an Francies Pult vorüberging, blieb einen Augenblick neben ihr stehen. Sie las die Schlagzeile und bemerkte, daß Francie weinte. Und sie glaubte zu verstehen, warum. »Ach, der Krieg!« Sie seufzte. »Sie haben wahrscheinlich einen Liebsten oder einen Bruder?« fragte sie in der gespreizten Art der Lektorinnen. »Ja, ich habe einen Bruder«, antwortete Francie der Wahrheit gemäß. »Ich kann Ihnen nachfühlen, was Sie empfinden, Fräulein Nolan.« Die Lektorin kehrte an ihr eigenes Pult zurück. Ich bin schon wieder betrunken, dachte Francie, und das wegen einer Zeitungsschlagzeile. Und diesmal ist es ganz schlimm.
Der Krieg berührte das Presseausschnittbüro mit seinem Panzerhandschuh und ließ es verdorren. Am Tage nach der Kriegserklärung erschien der Kunde, von dem das Büro in erster Linie lebte – ein Mann, der Tausende von Dollar pro Jahr für Zeitungsausschnitte über den 452
Panamakanal und ähnliches zahlte –, und sagte, er werde, da seine Adresse nun sehr unbestimmt sei, seine Ausschnitte täglich selbst abholen. Zwei Tage später kamen zwei bedächtig schreitende Männer zum Chef. Einer von ihnen hielt ihm auf seiner Handfläche etwas unter die Augen, worüber der Chef erbleichte. Er holte ein dickes Bündel Zeitungsausschnitte aus dem Dossier seines wichtigsten Kunden. Die bedächtig schreitenden Männer durchblätterten die Ausschnitte, gaben sie dem Chef zurück, der sie in einen Briefumschlag steckte und in einer Schublade seines Pultes verwahrte. Die beiden Männer verschwanden im kleinen Toilettenzimmer neben dem Büro des Chefs und ließen die Tür einen Spalt offen. Sie blieben den ganzen Tag dort drin. Um die Mittagszeit mußte der Laufbursche für sie Kaffee und Sandwiches holen. Sie verzehrten ihren Lunch im Toilettenzimmer des Chefs. Um halb fünf Uhr kam der wichtige Panamakanalkunde wieder ins Büro. Der Chef überreichte ihm sein dickes Kuvert so gemächlich wie nur möglich. Während der Kunde es sich in die innere Rocktasche zwängen wollte, traten die beiden bedächtig Schreitenden aus dem Toilettenzimmer heraus. Einer von ihnen faßte den Kunden bei der Schulter. Dieser seufzte, zog den Briefumschlag wieder hervor und lieferte ihn aus. Der zweite der geheimnisvollen Männer faßte ihn bei der andern Schulter. Der Kunde schlug die Absätze zusammen, machte eine steife Verbeugung und ließ sich von den beiden andern Männern hinausführen. Der Chef ging an diesem Abend mit einem schweren Kolikanfall nach Hause. Abends erzählte Francie ihrer Mutter und Neeley, wie man mitten in ihrem Büro einen deutschen Spion gefaßt hatte. Am nächsten Tag erschien ein energisch aussehender Mann mit einem Formular, um den Tatbestand aufzunehmen. Der Chef mußte eine Menge Fragen beantworten, und der energische Mann schrieb die Antworten auf die vorgedruckten Zeilen des Formulars. Dann kam der Schlag. Der Chef mußte einen Scheck von beinahe vierhundert Dollar ausfüllen – das Guthaben des Panamakanalkunden, den er unfreiwillig hatte streichen müssen. Nachdem der Gerichtsbeam453
te wieder weggegangen war, ging der Chef aus, um irgendwo Geld zu borgen. Nach diesem Ereignis kam die allgemeine Auflösung. Der Chef wagte es nicht mehr, neue Kunden anzunehmen, und wenn sie noch so unschuldig schienen. Dazu kam, daß die Wintersaison zu Ende ging und somit die Theaterkunden ausfielen. Die sonst übliche Flut der Frühjahrsneuerscheinungen auf dem Büchermarkt, die Hunderte von temporären Kunden eingebracht hatte – Schriftsteller, die fünf Dollar für die Ausschnitte bezahlten, Verlage, die hundert Dollar bezahlten –, war diesmal nur ein dünnes Rinnsal. Die wichtigsten Publikationen wurden zurückgehalten, bis die Lage sich ein wenig geklärt haben würde. Viele Wissenschaftler machten ihre Aufträge rückgängig, da sie ihre Einberufung erwarteten. Zudem begannen auch die Lektorinnen zu kündigen. Die Regierung, die den kommenden Personalmangel voraussah, organisierte Prüfungen für den Verwaltungsdienst. Die Prüfungen für Frauen fanden in dem großen Postgebäude in der vierunddreißigsten Straße statt. Die meisten der Lektorinnen meldeten sich zu den Examen, bestanden sie und wurden sofort einberufen. Der ›Klub‹ ging geschlossen zu einer Munitionsfabrik über. Seine Mitglieder verdreifachten dabei nicht nur ihr Einkommen, sondern ernteten auch noch das Lob, in uneigennütziger Weise patriotisch zu sein. Die Frau des Chefs erschien wieder als Lektorin im Büro, und der Chef entließ alle andern außer Francie. Das geräumige Büro widerhallte vor Leere, als die drei versuchten, das Geschäft allein weiterzuführen. Francie und die Frau des Chefs lasen und registrierten, während der Chef selbst mit ungeschickter Hand die bezeichneten Artikel ausschnitt, auf der Handdruckerei Zettel mit verwischter Schrift druckte und die Ausschnitte schief aufklebte. Mitte Juni gab er es auf. Er schrieb sein Büromobiliar zum Verkauf aus, löste den Mietvertrag auf und erledigte die Frage der Rückerstattung von Kundenguthaben ganz einfach, indem er sagte: »Sie sollen mich gerichtlich verfolgen, wenn sie etwas wollen.« Francie rief bei dem einzigen Presseausschnittbüro an, um zu fragen, 454
ob es keine Lektorin brauchte. Man sagte ihr aber, daß man nie neue Lektorinnen einstelle. »Wir behandeln unsere Arbeitskräfte gut«, sagte eine streitsüchtige Stimme, »so daß wir es nicht nötig haben, Ersatzkräfte einzustellen.« Francie fand das sehr nett, gab ihrem Gedanken Ausdruck und hängte den Hörer wieder auf. Sie verbrachte ihren letzten Vormittag im Büro damit, daß sie die Zeitungen auf Stellenanzeigen hin durchsuchte. Sie übersprang die Bürostellen, da sie wußte, daß sie in einem Büro wieder ganz unten bei der Registratur anfangen müßte. Wenn man es in einem Büro zu etwas bringen wollte, mußte man sowohl Stenographie als auch Maschineschreiben beherrschen. Sie zog aber Fabrikarbeit vor, denn erstens fand sie die Menschen in einer Fabrik viel netter, und zweitens war es viel schöner, neben der Arbeit die Gedanken noch frei zu haben, während nur die Hände beschäftigt waren. Aber natürlich würde Mama ihr nicht erlauben, wieder in einer Fabrik zu arbeiten. Schließlich stieß sie auf ein Inserat, das ihr eine glückliche Kombination von Fabrikarbeit und Büroarbeit zu offerieren schien. Ein Nachrichtenbüro erbot sich, jungen Mädchen die Bedienung ihrer Fernschreibmaschine beizubringen und ihnen während ihrer Lehrzeit zwölf Dollar und fünfzig Cent pro Woche zu zahlen. Die Arbeit dauerte von fünf Uhr abends bis ein Uhr morgens. Das würde ihr wenigstens über die einsamen Abende hinweghelfen – wenn sie die Stelle wirklich bekam. Als sie sich von ihrem früheren Chef verabschiedete, sagte er mit bedauerndem Achselzucken, er werde ihr den letzten Wochenlohn einstweilen schuldig bleiben müssen; er kenne ja ihre Adresse und werde ihn später überweisen. Francie sagte dem Chef, seiner Frau und ihrem letzten Wochenlohn adieu. Das Nachrichtenbüro befand sich in New York in einem Wolkenkratzer, von dessen Fenstern aus man auf den East River hinunterschauen konnte. Zusammen mit einem Dutzend anderer junger Mädchen füllte Francie ein Bewerbungsformular aus, nachdem sie zuerst einen glühenden Empfehlungsbrief ihres Exchefs vorgewiesen hatte. Sie mußte sich einer Eignungsprüfung unterziehen, bei der sie eine 455
Reihe von Fragen zu beantworten hatte, die ihr sehr töricht vorkamen, wie zum Beispiel: »Was ist schwerer, ein Pfund Blei oder ein Pfund Federn?« Offenbar hatte sie die Prüfung bestanden, denn man gab ihr eine Nummer samt einem Schrankschlüssel, für den sie einen Vierteldollar Depot bezahlen mußte, und man sagte ihr, sie solle am nächsten Tag um fünf Uhr antreten. Es war noch nicht ganz vier Uhr, als Francie nach Hause kam. Katie sah Francie mit besorgtem Gesicht entgegen. »Mach dir keine Sorgen, Mama, ich bin nicht krank!« »Oh«, sagte Katie erleichtert. »Im ersten Moment habe ich geglaubt, du hättest am Ende deine Stelle verloren.« »Das habe ich auch.« »Du meine Güte!« »Und ich werde auch meinen letzten Wochenlohn nicht bekommen. Aber ich habe schon eine andere Stelle … morgen muß ich anfangen … zwölfeinhalb Dollar pro Woche. Aber ich werde bald mehr bekommen, glaube ich.« Katie begann sie mit Fragen zu bestürmen. »Oh, Mama, ich bin müde. Ich mag jetzt nicht soviel reden. Wir können das ja morgen tun. Ich möchte auch lieber kein Abendessen. Ich möchte am liebsten zu Bett gehen.« Sie ging an Katie vorbei die Treppe hinauf. Katie setzte sich mit ihren Sorgen auf die Treppe. Seit Kriegsausbruch waren die Lebensmittelpreise rapid gestiegen. Im letzten Monat hatte Katie Francies ganzen Lohn aufgebraucht, ohne ihr etwas auf die Sparkasse legen zu können. Die zehn Dollar pro Woche hatten nicht mehr gereicht. Laurie mußte jeden Tag ihre frische Milch haben und Orangensaft. Und nun mit zwölfeinhalb Dollar pro Woche … Aber bald würden ja die Ferien kommen. Neeley konnte während des Sommers wieder eine Stelle annehmen. Aber dann im Herbst? Neeley mußte wieder aufs Gymnasium. Und Francie sollte ebenfalls gehen. Aber wie? Wie? Katie saß da und fand aus ihren Sorgen keinen Ausweg.
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Nach einem kurzen Blick auf die schlafende Laurie entkleidete sich Francie und kroch ins Bett. Sie faltete die Hände im Nacken und starrte auf den grauen Fleck an der Wand, das Fenster im Luftschacht. Da bin ich nun, dachte sie, nun ist's noch kein Jahr her, seit ich mit Arbeiten begonnen habe, und schon habe ich die dritte Stelle. Früher dachte ich immer, es werde lustig sein, von einer Arbeit zur andern zu wandern, aber jetzt fürchte ich mich davor. Nun bin ich schon an zwei Stellen entlassen worden, ohne daß ich etwas dafür konnte. Ich habe doch überall mein Bestes getan. Ich habe alles gegeben, was ich nur konnte. Und nun muß ich wieder von vorne anfangen. Solange ich immer etwas finde, ist es nicht so schlimm, aber wie wird es einmal werden, wenn nichts mehr zu finden ist? Und daheim sind sie doch so abhängig von mir. Wie haben wir es denn nur früher gemacht, als ich noch nicht arbeitete? Natürlich hatten wir Laurie noch nicht, und Neeley und ich waren kleiner und brauchten nicht soviel. Aber wir waren hungrig. Dann war Papa noch da und half ein wenig. Nun … adieu Gymnasium, adieu Universität und alles andere! Sie wandte ihr Gesicht ab von dem Grau des Zimmers, drehte sich gegen die Wand und schloß die Augen.
Francie saß in einem großen Büroraum hinter einer Schreibmaschine. Über der Tastatur hatte man einen metallenen Deckel befestigt, so daß sie die Buchstaben nicht sehen konnte. Vorne im Saal war an der Wand eine riesige Karte mit den farbigen Typen aufgehängt. Francie blickte auf die Karte und fühlte nach den Tasten unter dem Deckel. Dies war der erste Tag. Am zweiten Tag mußte sie ein Bündel Telegramme abschreiben. Ihre Augen flogen hin und her, während ihre Finger nach den Typen tasteten. Nach zwei Tagen hatte sie die Karte ihrem Gedächtnis einverleibt und brauchte nicht mehr nach vorne zu schauen. Nach einer Woche nahm man ihr den Deckel von der Maschine weg. Er war nun nicht mehr notwendig, denn Francie war inzwischen eine Blindschreiberin nach dem Zehnfingersystem geworden. 457
Dann erklärte ein Instruktor, wie die Fernschreibmaschine funktionierte. Francie übte sich einen Tag lang im Senden und Empfangen von fingierten Botschaften. Dann überließ man ihr die Linie New York-Cleveland. Sie empfand es als phantastisches Wunder, auf einer Maschine Wörter zu schreiben, die Hunderte von Meilen weiter entfernt auf der Walze einer Maschine in Cleveland, Ohio, herauskamen! Und nicht weniger wunderbar war es, daß ein anderes Mädchen, das in Ohio saß, ebenfalls Wörter schrieb, die dann auf Francies Walze herabgehämmert wurden. Es war keine schwere Arbeit. Francie pflegte eine Stunde lang zu senden und dann wieder eine Stunde lang zu empfangen. Es gab zweimal eine Viertelstunde Ruhepause und eine halbe Stunde ›Mittagszeit‹ um neun Uhr abends. Sobald sie die New York-Cleveland-Linie bediente, hatte man ihren Lohn auf fünfzehn Dollar pro Woche erhöht. Im großen ganzen war es keine schlechte Stelle. Die Familie hatte sich bald an Francies neue Tageseinteilung gewöhnt. Sie ging bald nach vier Uhr nachmittags von zu Hause weg und kam kurz vor zwei nachts wieder heim. Sie drückte dreimal auf die Glocke, bevor sie den Hausflur betrat, damit Mama oben auf dem Sprung sein konnte, falls Francie von jemandem angegriffen wurde. Francie schlief bis elf Uhr. Mama mußte also nicht mehr so früh aufstehen, weil nun Laurie nicht mehr allein in der Wohnung war. Sie begann wieder damit, ihr eigenes Haus zuerst zu reinigen. Bis sie damit fertig war, hatte Francie sich ausgeschlafen und konnte Laurie hüten. Francie mußte auch am Sonntagabend arbeiten, dafür hatte sie aber den Mittwoch ganz frei. Francie gefiel dieser neue Stundenplan. Sie brauchte nun keine einsamen Abende mehr zu verbringen, dafür konnte sie tagsüber Mama aushelfen, und dann konnte sie noch ein paar Nachmittagsstunden mit Laurie im Park verbringen. Die warme Sonne und die frische Luft taten beiden sehr gut.
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Eines Tages hatte Katie eine Idee. Sie sprach mit Francie darüber. »Wirst du wohl immer bei der Nachtschicht bleiben?« fragte sie. »Das glaube ich! Niemand will die Nachtarbeit auf sich nehmen, deshalb schieben sie sie möglichst auf die Neuen.« »Ich habe nur gedacht, du könntest vielleicht den Winter durch nachts arbeiten und tagsüber doch aufs Gymnasium gehen. Ich weiß schon, daß das sehr streng sein wird, aber es ließe sich doch gewiß irgendwie einrichten.« »Aber Mama, das kommt doch gar nicht mehr in Frage. Ich will gar nicht mehr aufs Gymnasium.« »Und doch hast du dich letztes Jahr so sehr dafür eingesetzt.« »Ja, aber das war letztes Jahr. Jetzt ist es zu spät.« »Es ist nicht zu spät. Sei doch nicht so querköpfig!« »Aber was auf der Welt könnte ich denn jetzt noch auf dem Gymnasium lernen? Du mußt nicht glauben, ich sei überheblich und eingebildet, aber verstehst du denn nicht, daß ich jetzt, nachdem ich fast ein Jahr lang jeden Tag acht Stunden lang gelesen und dabei so vieles gelernt habe, nicht mehr in die Schule gehen kann? Ich habe meine eigenen Ansichten über Geschichte und Verfassung unseres Landes, über die Weltgeschichte, über Kunst und Literatur. Ich kenne die Geographie der ganzen Erde. Ich kenne auch die Menschen viel zu gut, ich weiß, was sie tun und wie sie leben. Ich habe von Verbrechen und Heldentaten gelesen. Mama, ich habe überhaupt über alles gelesen. Ich könnte niemals wieder in einer Schulbank still sitzen mit einer Schar kleiner unerfahrener Mädchen und einer altjüngferlichen Lehrerin zuhören, wie sie der Klasse etwas vordoziert. Ich müßte ja dauernd aufspringen und sie korrigieren, weil ich alles besser wüßte. Oder ich müßte still sitzen wie ein Schaf und mich schämen, weil ich … nun … weil ich Steine äße statt Brot. Ich möchte also auf keinen Fall mehr aufs Gymnasium gehen. Aber auf die Universität will ich einmal.« »Aber du mußt doch zuerst durchs Gymnasium gehen, bevor sie dich auf die Universität lassen.« »Vier oder fünf Jahre Gymnasium! Dann vier Jahre Universität. Ich 459
würde ja eine ausgetrocknete alte Jungfer von fünfundzwanzig Jahren sein, bis ich endlich etwas wäre.« »Du wirst ohnehin einmal fünfundzwanzig, ob es dir angenehm ist oder nicht.« »Aber eines ist sicher, Mama, ich werde niemals aufs Gymnasium gehen.« »Das werden wir sehen«, sagte Katie mit energisch vorgeschobenem Kinn. Francie sagte nichts mehr. Aber ihr Kinn sah genauso energisch aus wie das ihrer Mutter. Wenigstens hatte die Unterhaltung mit Katie Francie eine Idee gegeben. Wenn Mama glaubte, sie könne nachts arbeiten und tagsüber auf die Schule gehen, warum sollte es nicht ebensogut die Universität sein? Sie nahm eine Zeitung zur Hand, in der Brooklyns älteste und angesehenste Universität Sommerkurse ausgeschrieben hatte für Studenten, die sich auf die Herbstkurse oder irgendwelche Examen vorbereiten wollten. Francie fand, dies war gerade, was sie brauchte. Sie war zwar keine Gymnasiastin, aber sie konnte wohl für eine solche angesehen werden. Sie ließ sich das Vorlesungsverzeichnis kommen. Aus dem Verzeichnis wählte sie drei Vorlesungen aus, die jeweils am Nachmittag stattfanden. Sie würde wie gewohnt bis elf Uhr ausschlafen können, dann die Kurse besuchen und nachher direkt von der Universität ins Büro gehen. Sie wählte Französisch für Anfänger, elementare Chemie und eine Vorlesung, die hieß: »Das Drama in der Restaurationszeit.« Dann rechnete sie ihr Kolleggeld aus. Etwas mehr als sechzig Dollar inklusive Laboratoriumsgebühr. Sie hatte auf der Bank hundertundfünf Dollar. Sie ging zu Katie. »Mama, könnte ich bitte fünfundsechzig Dollar haben von dem Geld, das du mir für die Universität zusammengespart hast?« »Wofür?« »Nun, für die Universität natürlich.« Sie sagte es absichtlich mit möglichst gleichgültiger Stimme, um das Ganze noch dramatischer zu gestalten. Sie wurde für ihre Überraschung reichlich belohnt durch die 460
Art, wie Mamas Stimme in die Höhe ging, als sie ungläubig wiederholte: »Universität?« »Sommerkurse auf der Universität.« »Aber … aber … aber …«, stammelte Katie. »Ich weiß schon. Kein Gymnasium. Aber vielleicht lassen sie mich dennoch zu, wenn ich ihnen sage, ich wolle kein Diplom und keine Titel – ich wolle nur die Kurse mitmachen.« Katie holte ihren grünen Hut vom oberen Brett des Wandschranks. »Wohin gehst du, Mama?« »Auf die Bank, um das Geld zu holen.« »Die Bank ist doch schon geschlossen. Es eilt auch gar nicht so. Die Einschreibungen finden erst in einer Woche statt.« Die Universität lag in Brooklyn Heights, einem fremden Stadtteil des geheimnisvollen Brooklyn, den Francie noch nicht erforscht hatte. Als sie das Einschreibeformular ausfüllen mußte, stutzte ihre Feder vor der Frage: »Früher besuchte Schulen?« Es waren da drei Kolonnen: Volksschule, Gymnasium, Universitäten. Nach einigem Besinnen strich sie die drei Überschriften durch und schrieb darunter: Private Ausbildung. »Und wenn man sich das genau überlegt, ist es gar keine Lüge«, beruhigte sie sich selbst. Zu ihrem Erstaunen und zu ihrer großen Beruhigung wurde sie in keiner Weise zur Rechenschaft gezogen. Der Kassierer nahm ihr Geld entgegen und gab ihr eine Quittung für bezahltes Kolleggeld. Sie bekam eine Matrikulationsnummer, einen Erlaubnisschein für die Benützung der Bibliothek, einen Stundenplan für ihre Kurse und eine Bücherliste für die dazu erforderlichen Lehrmittel und Texte. Sie lief hinter den andern Studenten drein zur Universitätsbuchhandlung, die weiter unten an der Straße lag. Sie konsultierte ihre Liste und bestellte ›Elementare Grammatik der französischen Sprache‹ und ›Elementarlehre der Chemie‹. »Neu oder antiquarisch?« fragte der Verkäufer. »Nun, ich weiß nicht, was hat man für gewöhnlich?« 461
»Neu«, sagte der Verkäufer schnell. Jemand tippte ihr von hinten auf die Schulter. Sie wandte sich um und sah einen gutaussehenden, sorgfältig gekleideten jungen Mann. Er sagte: »Antiquarisch, tut denselben Dienst und kostet nur halb soviel.« »Danke!« Sie wandte sich wieder dem Verkäufer zu. »Antiquarisch«, sagte sie energisch. Dann wollte sie eben die beiden Bücher für die Vorlesung über das Drama der Restaurationszeit bestellen, als sie wiederum von hinten angestoßen wurde. »Pscht, pscht«, zischte der Junge verneinend. »Die kannst du doch in der Bibliothek lesen.« »Danke nochmals.« »Gern geschehen«, antwortete er und schlenderte davon. Francie folgte ihm mit den Augen. Gott, wie groß und schön er ist, dachte sie. Es ist sicher herrlich auf der Universität. Als sie nachher mit ihren beiden Büchern, die sie fest an sich drückte, wieder in der Hochbahn saß, um zur Arbeit zu fahren, schienen die Räder auf den Geleisen fortwährend ›Kolleg-Kolleg-Kolleg‹ zu singen. Francie begann sich unwohl zu fühlen. Es wurde ihr so übel, daß sie bei der nächsten Haltestelle aussteigen mußte, ganz gleich, ob sie zu spät aufs Büro kam oder nicht. Sie lehnte sich gegen eine automatische Waage und überlegte, warum ihr wohl so übel war. Vielleicht, weil sie vergessen hatte, etwas zu essen? Dann ging ihr plötzlich ein Licht auf. Meine Großeltern konnten weder lesen noch schreiben. Und ihre Vorfahren konnten es auch nicht. Auch Tante Sissy kann nicht lesen und schreiben. Und meine Eltern haben beide nicht einmal das Volksschuldiplom gemacht. Ich selbst bin nie auf dem Gymnasium gewesen. Aber ich, Mary Frances Katherine Nolan, ich bin nun auf der Universität eingeschrieben. Hast du verstanden, Francie? Du gehst nun auf die Universität! Gott, wie mir übel ist!
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rancie kam glühend vor Begeisterung aus ihrer ersten Vorlesung über Chemie. In einer einzigen Stunde hatten sie gelernt, daß alles aus winzigen Atomen bestand, die sich fortwährend bewegten. Sie war zu der erstaunlichen Erkenntnis gekommen, daß nichts endgültig zerstört werden oder verlorengehen konnte. Sogar wenn etwas verbrannte oder verfaulte, verschwand es nicht von der Erde, sondern es wurde einfach verwandelt in Gase, in Flüssigkeit oder in Staub und Asche. Alles vibrierte von Leben, und in der Welt der Stoffe gab es keinen Tod. Sie fragte sich, warum die Gelehrten die Chemie nicht zu ihrer Religion erhoben. Die Literaturvorlesung war, abgesehen von der zeitverschlingenden Lektüre von Dramen, die dazu nötig war, leicht zu bewältigen, da Francie ihren Shakespeare so gründlich studiert hatte. Aber im Französischkurs für Anfänger war sie vollkommen verloren. Der Kurs war nicht für eigentliche Anfänger. Der Professor nahm ohne weiteres an, seine Studenten hätten schon auf dem Gymnasium Französisch studiert, und ging sehr rasch über die Anfangselemente hinweg. Und dann begann er, Übersetzungen aus dem Englischen zu machen. Und Francie war nicht einmal in der englischen Grammatik, Orthographie und Interpunktion sattelfest. Sie wußte, daß sie die Prüfung am Ende dieses Kurses niemals würde bestehen können. Sie nahm sich aber vor, doch jeden Tag so viele Wörter wie möglich auswendig zu lernen und den Kurs weiter zu besuchen. Sie studierte in der Hochbahn. Sie studierte während der viertelstündigen Pausen und während der ›Mittagspause‹, und beim Essen hatte sie stets ein aufgeschlagenes Buch vor sich. Sie schrieb ihre Notizen auf einer Schreibmaschine des Lernbüros ab. Sie versäumte keine einzige 463
Vorlesung. Ihr höchstes Ziel war, wenigstens die Examen in den beiden andern Fächern zu bestehen. Der Junge, der sie im Bücherladen beraten hatte, wurde ihr Schutzengel. Er hieß Ben Blake und war der erstaunlichste Mensch, den sie je kennengelernt hatte. Er war noch Gymnasiast, Herausgeber der Schülerzeitung, Klassenpräsident, Half-Back im Fußballteam seiner Schule und Ehrenstudent. Schon während dreier Sommer hatte er nun Kurse auf der Universität mitmachen dürfen. Er hatte also die Arbeit eines Universitätsjahres schon während seiner Gymnasialzeit geleistet. Neben seiner Schularbeit arbeitete er an den freien Nachmittagen noch auf einem Advokaturbüro. Er verfaßte Anklageschriften, schrieb gerichtliche Vorladungen, prüfte Urkunden und Protokolle nach und suchte Präzedenzfälle heraus. Er war so vertraut mit dem Strafgesetz, daß er einen ganzen Prozeß hätte allein durchführen können. Er verdiente mit seiner Büroarbeit fünfundzwanzig Dollar pro Woche. Seine Firma wünschte, daß er nach dem Maturitätsexamen sich ganz der Praxis widme und daneben noch privat weiterstudiere, um schließlich das Anwaltsexamen zu bestehen. Aber Ben verachtete die Juristen, die kein ordentliches Universitätsstudium absolviert hatten. Er hatte sich zu seiner weiteren Ausbildung bereits eine Universität im Mittelwesten ausgewählt. Mit neunzehn Jahren hatte er sein Leben schon vollkommen bis in jedes Detail vorausgeplant. Wenn er einmal mit dem Studium fertig war, wollte er auf dem Lande eine Praxis übernehmen. Er glaubte, daß ein junger Jurist in einer kleinen Provinzstadt mehr politische Chancen habe. Er wußte auch schon genau, in welcher Stadt er seine Praxis haben würde. Er hatte einen entfernten Verwandten, der schon ziemlich alt war und ihm dann seine Praxis abtreten würde. Er stand jetzt schon in ständigem Kontakt mit seinem Vorgänger und erhielt von ihm jede Woche einen langen Instruktionsbrief. Später wollte er Staatsanwalt werden. Dadurch würde er in die Politik hineinkommen. Er würde so viel und so gut arbeiten, daß er bald das Vertrauen der Bevölkerung gewinnen und schließlich als Abgeordneter seines Staates ins Repräsentantenhaus gewählt werden würde. Er würde seine Aufga464
be so gewissenhaft erfüllen, daß man ihn wieder wählen würde. Nachher wollte er wieder in seinen Staat zurückkehren und dessen Regierung übernehmen. Dies waren seine Pläne. Das Erstaunliche an der Sache war, daß jedermann, der Ben Blake kannte, vollkommen überzeugt war, daß er all seine Pläne verwirklichen würde. Mittlerweile lag das Ziel seiner Träume, ein großer Staat im Mittleren Westen, unter der heißen Sonne, und die Besitzer der endlosen Weizenfelder und Obstgärten wußten noch nichts davon, daß sie dereinst von einem Jungen, der jetzt noch in Brooklyn lebte, regiert werden sollten. Dies war Ben Blake, gutgekleidet, fröhlich, hübsch, brillant, selbstsicher, von seinen Schulkameraden geliebt und von allen Mädchen vergöttert. Und Francie Nolan war sterblich verliebt in ihn. Sie sah ihn täglich. Seine Füllfeder huschte über ihre französischen Übungen. Er prüfte ihre Chemieaufgaben und klärte mysteriöse Stellen in den Dramen auf. Er half ihr beim Aussuchen der nächsten Sommerkurse und war so zuvorkommend, daß er auch für sie den ganzen Rest ihres Lebens vorausplante. Als der Sommer seinem Ende entgegenging, wurde Francie über zwei Dinge traurig. Erstens würde sie Ben Blake bald nicht mehr sehen, und zweitens wußte sie, daß sie das Französischexamen nicht würde bestehen können. Sie vertraute Ben diesen letzten Kummer an. »Ach wo!« platzte er heraus. »Du hast doch den Kurs bezahlt und hast den ganzen Sommer durch dringesessen. Du bist doch keine Gans. Natürlich wirst du durchkommen!« »Nein, ich werde durchfallen«, sagte sie lachend. »Wir werden noch ein wenig pauken müssen mit dir. Dazu brauchen wir einen ganzen Tag. Wohin sollen wir gehen?« »Zu mir nach Hause?« schlug Francie zaghaft vor. »Nein, da wären wir ja doch nicht allein.« Er besann sich einen Augenblick. »Ich weiß, wohin. Wir treffen uns am Sonntagvormittag um 9 Uhr an der Ecke Broadway und Gates!« Als sie aus dem Autobus stieg, stand er schon da. Sie war sehr neugie465
rig, wohin in aller Welt er sie nun führen würde. Er ging mit ihr bis vor den Bühneneingang eines Broadway-Theaters. Er durchschritt die geheimnisvolle Tür, indem er zum Wächter sagte: »Morgen, Pop!« Dann erzählte er Francie, er sei hier immer am Samstagabend als Platzanweiser tätig. Sie war bis dahin noch nie hinter den Kulissen gewesen. Dieses Erlebnis ergriff sie so sehr, daß sie beinahe Fieber bekam. Die Bühne war riesig, und das Dach über dem Zuschauerraum schien himmelweit entfernt. Als sie über die Bühne ging, nahm sie den langsamen, stelzigen Schritt von Harold Clarence an. Als Ben etwas zu ihr sagte, wandte sie sich mit theatralischer Langsamkeit nach ihm um und fragte mit tiefer, ganz im Hals steckender Stimme: »Du« (dann eine bedeutungsvolle Pause) »sprachst?« »Soll ich dir etwas zeigen?« fragte er. Er zog den Vorhang zurück und drehte die Rampenlichter an. Francie ging zum Souffleurkasten und schaute hinunter auf die tausend leeren, wartenden Sitze. Sie hob den Kopf und warf ihre Stimme hinauf zur obersten Galerie. »Hallo, dort oben!« rief sie, und ihre Stimme schien um das Hundertfache verstärkt durch die dunkle Leere. »Hör mal«, sagte Ben gutmütig drängend, »interessierst du dich eigentlich mehr für das Theater oder für das Französisch?« »Für das Theater natürlich!« Und das war die Wahrheit. In diesem Augenblick ließ sie alle ihre andern Träume fahren und kehrte wieder zu ihrer ersten Liebe, dem Theater, zurück. Ben drehte lachend die Rampenlichter wieder aus, ließ den Vorhang fallen und stellte zwei Stühle einander gegenüber. Er hatte auf irgendeine Weise die Prüfungsfragen der letzten vier oder fünf Jahre aufgetrieben und hatte daraus die häufigsten und die seltensten Fragen herausgeschrieben. Nun wurde Francie auf diese Fragen und Antworten abgerichtet. Nachher mußte sie eine Seite aus Molieres ›Tartuffe‹ samt der englischen Übertragung auswendig lernen. Er sagte ihr, warum. »Es wird eine Frage kommen, die du unmöglich beantworten kannst. 466
Du mußt es gar nicht versuchen. Sag lieber offen, du könntest es nicht und offeriere ihnen dafür, eine Stelle aus Moliere zu rezitieren und zu übersetzen. Damit wirst du sicher fein wegkommen.« »Aber wenn sie mich schon vorher danach fragen?« »Das werden sie nicht tun. Ich habe absichtlich eine etwas ausgefallene Stelle gewählt.«
Und wirklich – sie bestand das Examen, wenn auch mit der niedrigsten Note. Dafür bestand sie in den beiden andern Fächern mit Glanz. Sie verabredete mit Ben, ihn in acht Tagen wieder zu treffen. Er lud sie zu einer Schokoladenlimonade ein. »Wie alt bist du eigentlich, Francie?« fragte er über das Glas hinweg. Sie rechnete schnell nach. Zu Hause war sie fünfzehn. Im Büro war sie siebzehn. Ben war neunzehn. Er würde sicher nie mehr ein Wort mit ihr sprechen, wenn er wüßte, daß sie erst fünfzehn war. Er bemerkte ihr Zögern und sagte: »Aber paß auf, daß du mir die Wahrheit sagst, ich könnte dich sonst verklagen.« Sie nahm ihr Herz in beide Hände und sagte so fest wie möglich: »Ich bin … fünfzehn.« Dann errötete sie vor Scham und ließ den Kopf hängen. »Hm. Du gefällst mir, Francie.« Und ich liebe dich, dachte sie. »Du gefällst mir besser als alle andern Mädchen, die ich kenne. Aber ich habe natürlich keine Zeit für Mädchen.« »Nicht einmal eine Stunde, am Sonntag zum Beispiel?« schlug sie vor. »Meine wenigen freien Stunden gehören meiner Mutter. Ich bin alles, was sie hat.« Francie hatte bis zu diesem Augenblick noch nie von seiner Mutter gehört. Aber sie haßte sie sogleich, weil sie die Frau war, die sie ein paar glücklicher Stunden beraubte. 467
»Aber ich werde an dich denken«, fuhr er fort. »Ich werde dir schreiben, wenn ich Zeit habe.« (Er wohnte nur eine halbe Stunde weit weg.) »Aber wenn du mich jemals nötig haben solltest – natürlich nicht wegen irgendeiner Belanglosigkeit –, dann schreib mir, und ich werde versuchen, dich zu treffen.« Er gab ihr eine Visitenkarte seiner Firma, auf der in einer Ecke sein voller Name stand: Benjamin Franklin Blake. Sie verabschiedeten sich vor der Konditorei und schüttelten sich herzlich die Hände. »Also, im nächsten Sommer wieder!« rief er noch zurück, nachdem er schon weggelaufen war. Francie verfolgte ihn mit den Augen, bis er um die Ecke verschwand. Im nächsten Sommer! Nun war es erst September, und der nächste Sommer schien noch unendlich viele Jahre entfernt.
Sie hatte die Universität auf den Brooklyn Heights so ins Herz geschlossen, daß sie im Herbst am liebsten wieder dorthin zurückgekehrt wäre. Aber sie konnte die dreihundert Dollar Kolleggeld niemals aufbringen. In einem Katalog der Bibliothek entdeckte sie schließlich eine Universität, auf der Bürger des Staates New York unentgeltlich studieren konnten. Sie nahm ihre letztjährigen Ausweise mit und wollte sich immatrikulieren lassen. Man sagte ihr aber, sie könne das unmöglich tun, da sie ja kein Gymnasium besucht habe. Sie erklärte, sie sei doch in Brooklyn Heights auch für die Sommerkurse zugelassen worden. Ja, aber das war etwas anderes. Dort handelte es sich nur darum, sich auf ein Examen vorzubereiten, aber nicht darum, einen Grad zu erwerben. Sie fragte, ob sie denn nicht auch jetzt Kurse besuchen könnte, ohne dafür einen Grad zu wollen. Nein! Wenn sie jetzt über fünfundzwanzig wäre, dann gebe es eine Möglichkeit, sich als Hospitantin einschreiben zu lassen und die Vorlesungen zu besuchen, ohne sich nachher den Prüfungen unterziehen zu müssen. Nun gab es nur noch den einen Ausweg. Wenn es ihr gelänge, die Aufnahmeprüfung zu bestehen, dann würde man sie trotz mangelnder Gymnasialbildung als reguläre Studentin immatrikulieren. 468
Francie probierte es mit der Aufnahmeprüfung und fiel überall durch außer in Chemie. »Ach, das habe ich schon gewußt«, tröstete sie ihre Mutter. »Wenn man sich die Universität so leicht verdienen könnte, dann würde sich niemand mehr die Mühe nehmen, vier Jahre lang auf dem Gymnasium herumzurutschen. Aber mach dir nur keine Sorgen, Mama. Ich weiß jetzt ja, was sie bei der Aufnahmeprüfung alles verlangen, und ich werde mir die Bücher verschaffen und büffeln und die Prüfung im nächsten Herbst bestehen. Du wirst sehen, ob ich dazu imstande bin!« Übrigens wurde sie nun zur Tagesschicht versetzt und hätte ohnehin die Vorlesungen nicht mehr besuchen können. Sie hatte sich inzwischen zu einer flinken, tüchtigen Telegrafistin entwickelt, und man konnte sie während der strengsten Tageszeit sehr gut brauchen. Man versprach ihr, sie im Sommer wieder auf die Nachtschicht zu setzen, wenn sie das wünsche. Sie bekam abermals eine Lohnaufbesserung. Nun verdiente sie siebzehneinhalb Dollar pro Woche. Wieder die einsamen Abende. Francie schlenderte in den herrlichen Herbstnächten durch die Straßen von Brooklyn und dachte an Ben. »Wenn du mich jemals nötig haben solltest, schreib mir, und ich werde es einrichten, dich zu treffen.« Ja, sie hatte ihn nötig, aber sie wußte nicht, ob er kommen würde, wenn sie einfach schrieb: »Ich bin einsam. Komm doch bitte, um ein wenig mit mir zu sprechen!« Sie wußte schon, daß es in seinem gutausgefüllten Stundenplan keine Rubrik ›Einsamkeit‹ gab. Die altvertrauten Quartiere hatten sich ein wenig verändert. In einzelnen Fenstern der Mietswohnungen waren goldene Sterne zu sehen. Am Abend versammelten sich die jungen Burschen immer noch an den Straßenecken, aber es kam nicht selten vor, daß einer unter ihnen in brauner Uniform war. Die Burschen summten immer noch die neuesten Schlager vor sich hin wie ehemals. Manchmal lernten sie von den Uniformierten ein Soldatenlied. Aber was sie auch singen mochten, immer sangen sie zum Schluß die alten aus Brooklyn stammenden Volkslieder ›Mutter 469
Machree‹, oder ›Wenn irische Augen lächeln‹, oder ›Die Musik spielt weiter‹. – Und Francie schlenderte an ihnen vorüber und fragte sich, warum die altvertrauten Lieder einen so traurigen Klang hatten.
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issy erwartete ihr Kind gegen Ende November. Katie und Evy vermieden es sorgfältig, mit Sissy über das Kind zu sprechen. Sie waren überzeugt, daß es wieder eine Totgeburt sein würde. Sie fanden, je weniger sie davon sprachen, desto weniger Erinnerungen würde Sissy später daran haben. Aber dann tat Sissy etwas so Revolutionäres, daß sie darüber sprechen mußten. Sie verkündete, sie werde das Kind unter ärztlicher Aufsicht auf die Welt bringen, und zwar werde sie in ein Spital gehen. Mutter und Schwestern waren sprachlos. Es war noch nie vorgekommen, daß eine Rommely bei ihrer Niederkunft ärztliche Hilfe genossen hatte. Es schien irgendwie unnatürlich. Man rief doch einfach die Hebamme, eine Nachbarin oder die eigene Mutter, und man überstand das Ganze heimlich hinter verschlossenen Türen, und kein Mann durfte dabeisein. Das Kindergebären war die Sache der Frauen. Und was das Spital anbetraf, so wußte doch jedermann, daß man dorthin nur ging, um zu sterben. Sissy belehrte sie aber, daß sie rückständig seien, daß die Hebammen der Vergangenheit angehörten. Übrigens, fügte sie stolz hinzu, habe sie dazu gar nichts zu sagen, ihr Steve bestehe darauf, daß sie ins Spital gehe und einen Arzt habe. Und dies war noch nicht alles. Sissy würde sogar einen jüdischen Arzt haben! »Aber warum denn, Sissy? Warum?« fragten die schockierten Schwestern. »Weil die jüdischen Ärzte in einem so kritischen Moment viel mehr Verständnis für einen haben.« 470
»Ich habe ja eigentlich nichts gegen die Juden«, begann Katie, »aber …« »Glaubt ihr denn, ein jüdischer Arzt sei schlechter als ein christlicher, bloß weil er beim Beten auf einen Stern schaut statt auf ein Kreuz, wie wir es tun?« »Ich hätte nur gedacht, du möchtest doch bei deinem …« (Katie war im Begriffe, zu sagen ›Tod‹, verbesserte sich aber noch rechtzeitig) »… bei deiner Niederkunft …« »Ach, Unsinn!« sagte Sissy verächtlich. »Aber man sollte doch zu seinesgleichen halten. Die Juden lassen doch auch keine christlichen Ärzte zu sich kommen«, argumentierte Evy. »Warum sollten sie?« entgegnete Sissy. »Jedermann weiß doch, daß die jüdischen Ärzte viel gescheiter sind.« Die Geburt verlief so rasch wie immer. Diesmal wurde sie durch die Hilfe des Arztes sogar noch leichter gemacht. Als das Kindchen geboren war, kniff Sissy fest die Augen zu. Sie wagte nicht, es anzusehen. Sie war so überzeugt gewesen, daß dieses Kind leben würde. Aber nun regten sich Zweifel in ihrem Herzen. Als sie die Augen endlich doch öffnete, sah sie das Kind neben ihrem Bett auf einem Tisch liegen. Es war bläulich und regte sich nicht. Also wieder tot, dachte sie. Wieder und wieder und wieder. Elfmal. O Gott, warum hast du mir nicht wenigstens eins lassen können. Ein einziges von elf. In ein paar Jahren werde ich keine Kinder mehr gebären können. Ich werde sterben müssen, ohne einem Kind das Leben geschenkt zu haben. O Gott, warum hast du deinen Fluch auf mich geworfen? Dann hörte sie die Stimme des Arztes. Er verlangte ›Sauerstoff‹, ein Wort, das Sissy bisher noch nie gehört hatte. »Schnell, schnell den Sauerstoffapparat«, rief er. Dann sah sie, wie er sich über das Kind neigte, und vor ihren Augen geschah ein Wunder, das alle Wunder, die ihre Mutter ihr früher erzählt hatte, übertraf. Sie sah das tödliche Blau allmählich in ein lebendiges Zartrosa übergehen. Sie sah, wie das scheinbar leblose Kind ei471
nen tiefen Atemzug tat. Und zum erstenmal in ihrem Leben hörte sie den Schrei eines eigenen Neugeborenen. »Ja … lebt es denn wirklich?« fragte sie ungläubig. »Ja, warum denn nicht? Sie haben einen Prachtjungen.« »Aber wird er auch weiterleben?« »Warum denn nicht? Es sei denn, sie ließen ihn aus dem Fenster fallen.« Sissy ergriff seine Hand und bedeckte sie mit Küssen. Und Dr. Aaron Aaronstein war wegen dieses Gefühlsausbruchs keineswegs so verlegen, wie es ein christlicher Arzt gewesen wäre. Sissy nannte den Jungen Stephen Aaron. »Das ist noch immer so gewesen«, sagte Katie. »Jedesmal, wenn eine kinderlose Frau ein fremdes Kind annimmt, wird sie bestimmt ein oder zwei Jahre darauf ein eigenes bekommen. Es ist gerade, als ob Gott erst dann ihr gutes Herz erkennen würde. Es ist gut, daß Klein Sissy nicht das einzige Kind bleibt, sie würde sonst viel zu sehr verwöhnt werden.« »Nun sind Klein Sissy und Steve grad zwei Jahre auseinander, das wird einmal wie bei Neeley und mir«, sagte Francie. Sissys lebender Junge war die große Sensation und das Familiengespräch, bis Onkel Willie Flittman ihnen einen andern Gesprächsstoff lieferte. Willie hatte nämlich versucht, Soldat zu werden und war abgewiesen worden. Darauf hatte er seine Stelle bei der Milchzentrale gekündigt, war nach Hause gekommen, hatte behauptet, sein Leben sei verfehlt, und war zu Bett gegangen. Weder am nächsten noch am übernächsten Morgen wollte er das Bett wieder verlassen. Er verkündete, er werde nun, solange er noch lebe, im Bett bleiben. Er sei nun ein Leben lang ein Mensch gewesen, bei dem immer alles schiefgegangen sei, und je schneller er dieses Leben aufgebe, desto besser. Evy ließ ihre Schwestern holen. – Evy, Sissy, Katie und Francie umringten die messingne Bettstatt, in der sich Willie Flittman verkrochen hatte. Willie blickte die energischen Rommely-Frauen der Reihe nach mit einem verzweifelten Blick an, wimmerte: »Bei mir geht immer alles schief«, und zog sich die Wolldecke über den Kopf. 472
Evy überließ es Sissy, ihren Mann wieder auf die Beine zu stellen. Sissy zog die Wolldecke zurück, richtete den willenlosen Willie auf, legte seinen Kopf an ihre Brust und begann auf ihn einzureden. Schließlich gelang es ihr, ihn davon zu überzeugen, daß nicht jeder Tapfere in einem Schützengraben sterben konnte, daß unzählige Helden täglich ihr Leben in einer Munitionsfabrik aufs Spiel setzten. Sie redete so lange auf ihn ein, bis Willie, erfüllt von Begeisterung, daß er mithelfen konnte, den Krieg zu gewinnen, aus dem Bett sprang und Evy herumkommandierte, damit sie ihm seine Hosen und seine Schuhe herschaffe. Steve war Vorarbeiter in einer Munitionsfabrik auf der Morgan Avenue. Er konnte Willie eine gutbezahlte Stelle mit doppelt bezahlten Überstunden verschaffen. Traditionsgemäß durfte Willie das Geld, das er mit den Überstunden verdiente, für sich behalten. Willie kaufte sich davon eine Trommel mit zwei Schallbecken. Von nun an verbrachte er all seine freien Stunden im vorderen Zimmer mit Üben. Francie schenkte ihm zu Weihnachten eine kleine Harmonika für einen Dollar. Er befestigte sie an einem Stock und band den Stock an seinem Gürtel fest, so daß er die Harmonika sozusagen freihändig spielen konnte. Er versuchte, die Gitarre, die Harmonika, die Trommel und die Schallbecken gleichzeitig zu handhaben und auf diese Weise ein Einmannorchester zu bilden. Und so saß er Abend für Abend im vorderen Zimmer. Er blies in die Mundharmonika, zupfte mit den Fingern an der Gitarre und bediente mit den Füßen die Trommel und die Schallbecken. Und dabei beklagte er sich, er sei ein Mann, dem nichts gelingen wolle.
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ls es zum Spazieren zu kalt wurde, ließ sich Francie im Settlement House in zwei Kurse einschreiben: Nähen und Tanzen. Sie lernte es, nach Mustern Kleider zuzuschneiden und mit einer Nähmaschine zu nähen. Und sie lernte ›Gesellschaftstänze‹, obwohl weder sie noch ihre Partner Chancen hatten, jemals bei einer Abendgesellschaft Zutritt zu haben. Ihre Partner waren entweder Burschen aus der Nachbarschaft mit reichlich viel Brillantine auf dem Haar, die sich aufs Tanzen gut verstanden und sie ständig korrigierten, oder unbeholfene Vierzehnjährige in kurzen Kniehosen, bei denen sie das Korrigieren besorgen mußte. Sie liebte das Tanzen und tat es mit natürlicher Grazie. Das Jahr ging seinem Ende entgegen.
»Was für ein Buch hast du da, Francie?« »Neeleys Geometriebuch.« »Was ist Geometrie?« »Ein Fach, das man beherrschen muß, wenn man auf die Universität gehen will.« »Aber geh nicht allzu spät ins Bett!«
»Was haben sie Neues von meinen Schwestern und meiner Mutter gehört?« fragte Katie eines Tages den Versicherungskassierer. »Nun, ich habe soeben die Kinder Sarah und Stephen versichert.« 474
»Aber sie waren doch schon seit ihrer Geburt versichert?« »Ja, aber diesmal ist es eine andere Police. Aussteuer.« »Wie geht denn das zu?« »Man braucht nicht erst zu sterben, um den Nutzen davon zu haben. Wenn sie achtzehn Jahre alt sind, bekommt jedes von ihnen tausend Dollar. Damit werden sie die Universität bestreiten können.« »Du meine Güte! Zuerst das Spital und den Doktor, um das Kind zur Welt zu bringen, und nun noch diese Universitätsversicherung! Was wird sie noch für Einfälle haben?«
»Hat der Briefträger nichts gebracht, Mama?« fragte Francie wie immer, wenn sie von der Arbeit heimkehrte. »Nur eine Karte von Tante Evy.« »Was schreibt sie denn?« »Sie müssen wieder umziehen wegen Willies Orchester.« »Wohin ziehen sie diesmal?« »Evy hat ein Einfamilienhaus in Cypress Hills gefunden. Ist das wohl noch in Brooklyn?« »Grad noch an der Grenze.«
Mary Rommely lag auf ihrem schmalen weißen Bett. An der kahlen Wand über ihrem Bett hing ein Kruzifix. Neben ihrem Bett standen ihre drei Töchter und Francie, ihre älteste Enkelin. »Ja, jetzt bin ich fünfundachtzig, und ich habe das Gefühl, dies ist mein letztes Krankenlager. Ich erwarte den Tod mit dem ganzen Mut, den ich in meinem langen Leben gewonnen habe. Ich will nicht heucheln und zu euch sagen: ›Weint nicht um mich, wenn ich gegangen bin.‹ Ich habe meine Kinder geliebt und habe mich bemüht, ihnen eine gute Mutter zu sein; es ist also nur recht und billig, wenn sie um mich weinen. Aber die Trauer soll kurz sein. Nachher sollt ihr euch mit mei475
nem Tod abfinden. Ihr wißt ja, daß ich glücklich sein werde. Ich werde die großen Heiligen, die ich mein Leben lang geliebt habe, von Angesicht zu Angesicht schauen.«
Francie zeigte einer Gruppe Mädchen im Lesesaal ein paar Fotografien. »Dies hier ist Annie Laurie, meine kleine Schwester. Sie ist erst anderthalb Jahre alt, aber sie rennt überall herum. Und wenn ihr sie erst plaudern hörtet!« »Sie ist gerissen!« »Und dies hier ist mein Bruder Cornelius. Er wird später Medizin studieren.« »Er ist gerissen!« »Und hier ist meine Mutter.« »Sie ist gerissen! Und jung sieht sie noch aus!« »Und das bin ich auf dem Dach.« »Das Dach ist gerissen!« »Ich bin gerissen!« sagte Francie angriffslustig. »Wir sind alle gerissen.« Sie lachten und kicherten. »Worüber lachen wir eigentlich?« fragte Francie. »Über nichts!« Und das Gelächter verdoppelte sich.
»Schick doch Francie, Mama! Das letzte Mal, als ich sagte, ich müsse Sauerkraut holen, haben sie mich aus dem Laden hinausgejagt«, beklagte sich Neeley. »Ach, weißt du denn nicht, daß man nicht mehr Sauerkraut sagen darf! Man sagt doch jetzt Freiheitskohl«, bemerkte Francie. »Und habt ihr auch gesehen, daß man die Hamburg Avenue jetzt Wilson Avenue nennt?« »Der Krieg läßt die Menschen merkwürdige Dinge tun«, seufzte Katie. 476
»Wirst du es Mama sagen?« fragte Neeley etwas ängstlich. »Nein! Aber du bist doch noch viel zu jung, um mit einem Mädchen von dieser Art auszugehen. Sie ist keine von den Unschuldigen«, sagte Francie. »Wer interessiert sich schon für die Unschuldigen?« »Und du weißt ja so wenig von alledem!« »Wahrscheinlich weiß ich mehr als du.« Er stützte die Hände in die Hüften und piepste mit hoher Mädchenstimme: »Oh, Mama, werde ich ein Kind bekommen, wenn mich ein Mann küßt? Sag, Mama! Bekommt man davon ein Kind?« »Neeley! Du hast mich damals belauscht?!« »Natürlich! Ich war direkt vor der Küchentür und habe jedes Wort gehört.« »Was für eine Gemeinheit, Neeley!« »Du belauschst die andern auch. Wie oft hast du schon zugehört, wenn Mama mit Tante Sissy oder Tante Evy sprach und sie glaubten, daß du im Bett bist und tief schläfst.« »Das ist etwas anderes. Ich bin eine Frau und muß diese Dinge wissen.«
»Francie! Francie! Es ist sieben Uhr. Steh auf!« »Wozu?« »Du mußt doch um halb neun im Büro sein.« »Erzähl mir etwas Neues, Mama!« »Du bist heute sechzehn.« »Erzähl mir etwas Neues! Ich bin nun schon seit zwei Jahren sechzehn.« »Nun mußt du aber noch ein Jahr lang sechzehn sein.« »Wahrscheinlich werde ich mein Leben lang sechzehn sein.« »Das würde mich gar nicht wundern.«
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»Ich habe nicht geschnüffelt«, sagte Katie entrüstet. »Ich brauchte unbedingt noch fünf Cent für den Gasmann und glaubte, du hättest nichts dagegen. Du hast schon oft in meinem Portemonnaie nach Kleingeld gesucht.« »Das ist etwas anderes«, sagte Francie. Katie hielt eine kleine violette Zigarettenschachtel in der Hand. Sie enthielt parfümierte Zigaretten mit Goldspitze. Die Schachtel war nicht mehr ganz voll. »So, nun weißt du also das Schlimmste von mir. Ich habe eine ›Milo‹ geraucht.« »Sie riechen aber sehr angenehm«, sagte Katie. »Also los, Mama, halt mir doch schnell eine Strafpredigt und dann habe ich's überstanden.« »Ach, wenn man bedenkt, wie viele von unseren Soldaten jetzt in Frankreich sterben müssen, dann scheint einem so etwas nicht mehr wichtig.« »Ach, Mama! Du nimmst ja den Dingen allen Reiz – wie letztes Jahr, als du gar nichts gegen meine Spitzengarnitur hattest.« »Nun, dann wirf die Zigaretten halt weg!« »Nein, das werde ich nicht tun! Viel lieber streu ich sie in meine Wäscheschublade, damit meine Nachthemden davon parfümiert werden.«
»Ich habe gedacht«, sagte Katie, »wir könnten dieses Jahr, statt Weihnachtsgeschenke zu machen, unser Geld zusammenlegen und ein Brathuhn, einen großen Kuchen und ein Pfund guten Kaffee kaufen und …« »Ach, Mama, wir haben doch genug Geld fürs Essen«, protestierte Francie. »Wir brauchen doch unser Weihnachtsgeld nicht dafür!« »Ich meine, wir könnten dies alles den Schwestern Tynmore zu Weihnachten schenken. Sie haben ja gar keine Schülerinnen mehr. Ihre Methode sei veraltet, sagt man. Und sie haben bestimmt nicht genug zu essen. Fräulein Lizzie war doch immer so gut zu uns.« 478
»Na, meinetwegen«, willigte Francie mit geringer Begeisterung ein. »Ach die!« Neeley schlug boshaft mit dem Fuß gegen das Tischbein. »Mach dir keine Sorgen, Neeley!« lachte Francie. »Du wirst trotzdem ein Weihnachtsgeschenk bekommen. Ich werde dir dieses Jahr rehfarbene Gamaschen kaufen.« »Och, halt den Schnabel!« »Redet nicht so wüst miteinander!« schalt Katie zerstreut. »Ich möchte dich etwas fragen, Mama. Du erinnerst dich doch noch an den Jungen, den ich diesen Sommer auf der Universität kennenlernte. Er sagte damals, er werde mir schreiben, aber er hat es doch nicht getan. Findest du, es wäre aufdringlich, wenn ich ihm jetzt ein Weihnachtskärtchen schickte?« »Aufdringlich? Ach wo! Schick doch die Karte, wenn's dir danach ist! Ich kann nicht verstehen, warum die Frauen sich immer so zieren. Das Leben ist doch viel zu kurz. Wenn du jemals einen Mann liebst, dann verlier nicht viel Zeit mit Liebeskummer und Kopfhängen! Sag ihm lieber gerade heraus: ›Ich liebe dich. Und wie wäre es, wenn wir heiraten würden?‹ Das heißt«, fügte sie mit einem ängstlichen Seitenblick auf ihre Tochter hinzu, »wenn du alt genug bist, um zu wissen, was du willst.« »Dann will ich ihm die Karte schicken«, beschloß Francie.
»Mama, Neeley und ich möchten lieber Kaffee trinken als Milchpunsch.« »Meinetwegen.« Katie stellte die Flasche mit dem Kirsch wieder in den Küchenschrank. »Und mach den Kaffee sehr stark und heiß, und füll die Tassen halb mit heißer Milch! Wir werden mit ›Cafe au lait‹ auf das Jahr 1918 trinken.« »S'il vous plaît«, fügte Neeley stolz hinzu. »Wui-wui-wui«, sagte Katie. »Auch ich kann ein paar Worte Französisch.« 479
Katie hielt die Kaffeekanne in der einen und den Topf mit der heißen Milch in der andern Hand und goß beides gleichzeitig in die Tassen. »Ich weiß noch«, sagte sie, »wie es war, wenn wir keine Milch hatten. Johnny pflegte dann, wenn Butter da war, ein Stückchen im Kaffee schmelzen zu lassen. Er sagte, Butter sei in erster Linie Rahm, und das sei sehr gut im Kaffee.« Papa …!
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n einem sonnigen Frühlingstag des Jahres 1918 kam Francie aus dem Büro und sah ihre Kollegin Anita mit zwei Soldaten in der Tür des Nachrichtenvermittlungsbüros stehen. Der eine, ein untersetzter, borstiger, strahlender Bursche, hielt Anitas Arm mit Besitzermiene. Der andere, ein großgewachsener Junge, stand mit verlegen hängenden Armen da. Anita stürzte sich sofort auf Francie und bestürmte sie mit Bitten. »Francie, hilf mir doch! Joey ist zum letztenmal hier auf Urlaub. Nachher muß er nach Frankreich fahren, und wir sind verlobt.« »Wenn ihr verlobt seid, brauche ich euch doch nicht mehr zu helfen«, sagte Francie scherzend. »Nein, so meine ich es nicht. Aber dieser andere Soldat hier. Joey konnte ihn einfach nicht loswerden. Siehst du, sie sind so gute Freunde; wo der eine ist, da ist auch der andere. Er stammt aus einer Provinzstadt in Pennsylvanien und kennt in New York keine Seele. Und nun werden wir ihn nicht los, und ich möchte doch mit Joey so gerne noch ein wenig allein sein. Bitte, Francie, sag nicht auch nein! Ich habe schon drei Körbe bekommen.« Francie warf einen prüfenden Blick auf den Jungen aus Pennsylvania, der nur ein paar Schritte weiter weg stand. Er sah nicht sehr verlockend aus. Kein Wunder, daß die andern drei Mädchen Anita nicht 480
helfen wollten. Dann erblickte er Francie und lächelte langsam und schüchtern. Plötzlich fand Francie, er sei eigentlich eher sympathisch als hübsch. Das schüchterne Lächeln hatte sie für ihn gewonnen, und sie sagte, gut, sie wolle helfen. »Hör mal!« sagte sie zu Anita, »wenn ich meinen Bruder am Telefon erwische, kann ich ihm auftragen, er solle meiner Mutter sagen, ich komme zum Abendessen nicht nach Hause. Wenn er aber nicht mehr auf seinem Arbeitsplatz ist, werde ich nach Hause gehen müssen, denn sonst macht sich meine Mutter Sorgen.« »Also, lauf und rufe ihn an!« drängte Anita. »Hier!« Sie fischte in ihrem Portemonnaie nach Kleingeld. »Ich gebe dir gern die fünf Cent fürs Telefon.« Francie telefonierte vom Zigarrenladen an der Straßenecke aus. Neeley war zufällig noch bei McGarrity, und sie konnte ihm die Botschaft für Mama übermitteln. Als sie wieder zurückkam, waren Anita und ihr Joey verschwunden. Der Soldat mit dem schüchternen Lächeln war ganz allein. »Wo ist ›Nita‹?« fragte sie erstaunt. »Oh, die hat Sie im Stich gelassen und ist mit ihrem Joey auf und davon gegangen.« Francie war empört. Sie hatte geglaubt, sie würden zu viert miteinander ausgehen. Was sollte sie nun mit diesem Fremdling anfangen? »… Ich verstehe das schon. Ich bin selbst verlobt. Der letzte Urlaub – das einzige Mädchen!« Also verlobt ist er, dachte Francie. Nun, dann wird er wenigstens von mir kein romantisches Abenteuer erwarten. »Aber das ist kein Grund, warum Sie sich mit mir abplagen sollten«, sagte er. »Wenn Sie mir zeigen wollen, wo die Untergrundstation ist, von der aus ich wieder in mein Hotel in der vierunddreißigsten Straße zurückkehren kann … Man kann ja immer Briefe schreiben, wenn man nichts anderes zu tun hat.« Und wieder lächelte er sein einsames, schüchternes Lächeln. »Nun habe ich aber schon nach Hause telefoniert, daß ich nicht zum Abendessen kommen werde. Wenn Sie also nichts dagegen haben …« 481
»Ob ich etwas dagegen habe! Natürlich nicht, Fräulein …« »Nolan. Frances Nolan.« »Und ich heiße Lee Rhynor. Eigentlich heiße ich Leo, aber sie nennen mich alle Lee. Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Fräulein Nolan.« Er hielt ihr die Hand entgegen. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Korporal Rhynor.« Sie schüttelten einander die Hände. »Oh, Sie haben meine Streifen gesehen?« Er lächelte glücklich. »Sie sind sicher hungrig, nachdem Sie den ganzen Tag gearbeitet haben? Haben Sie ein Lieblingslokal, wo wir etwas essen könnten?« »Es gibt ein nettes Restaurant mit Musik in der zweiundfünfzigsten Straße.« »Also, los!« Unterwegs fragte er sie: »Fräulein Nolan, haben Sie etwas dagegen, wenn ich Sie einfach Frances nenne?« »Nein, ich habe nichts dagegen. Man nennt mich zwar sonst Francie.« »Francie!« wiederholte er. »Und nun noch etwas, Francie. Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich so täte, als wären Sie meine Freundin – nur für heute abend?« Hm, dachte Francie, am Ende ist er doch nicht so schüchtern, wie er aussieht. Er schien ihre Gedanken erraten zu haben. »Sie denken gewiß, ich sei ein Draufgänger. Aber es ist eben so: Ich bin schon seit bald einem Jahr nicht mehr mit einem Mädchen ausgegangen, und in wenigen Tagen schon werde ich übers Meer nach Frankreich fahren müssen, und was nachher kommt, kann man ja nicht wissen. Wenn Sie also nichts dagegen haben, möchte ich gern heute abend das Gefühl haben, Sie seien meine Freundin. Sie würden mir damit eine große Freude machen.« »Also gut, ich habe nichts dagegen.« »Danke!« Er wies auf seinen Arm. »Einhängen, Liebste!« Als sie die Treppe zur Untergrundbahn hinabgingen, befahl er: »Sag einmal ›Lee‹ zu mir!« 482
»Lee«, sagte sie schüchtern. »Sag: ›Hallo, Lee, es ist so nett, dich wieder einmal zu sehen, mein Liebster.‹« »Hallo, Lee, es ist so nett, dich wieder einmal zu sehen …«, wiederholte sie verschämt. Er drückte seinen Arm fester gegen den ihren. Der Kellner brachte ihnen das Abendessen und stellte ein kugelrundes Teekrüglein zwischen sie. »Schenk du mir den Tee ein, es ist dann viel gemütlicher«, sagte Lee. »Wieviel Zucker?« »Ich nehme keinen Zucker.« »Ich auch nicht.« »Interessant! Wir haben genau denselben Geschmack, gelt?« Da sie beide sehr hungrig waren, gaben sie sich eine Zeitlang schweigend dem Essen hin. Jedesmal, wenn Francie aufblickte, lächelte er sie an. Und jedesmal, wenn er sie anschaute, verzog auch sie den Mund zu einem glücklichen Lächeln. Als sie den Hunger gestillt hatten, lehnte er sich zurück und zog eine Schachtel Zigaretten aus der Rocktasche. »Rauchst du?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe es einmal probiert, aber ich habe es nicht sonderlich schön gefunden.« »Schön. Ich habe es nämlich nicht gern, wenn Mädchen rauchen.« Dann begann er zu erzählen. Er erzählte ihr seine ganze Lebensgeschichte. Er erzählte von seiner Jugendzeit in einer kleinen Provinzstadt in Pennsylvanien. Sie erinnerte sich an den Namen der Stadt. Sie hatte deren Zeitung allwöchentlich gelesen, als sie noch in dem Presseausschnittbüro arbeitete. Er erzählte ihr von seinen Eltern und von seinen Geschwistern. Er sprach von seiner Schulzeit, von den Stellen, die er seither gehabt hatte, und wie er dann mit einundzwanzig Jahren Soldat geworden war. Nun war er zweiundzwanzig. Er erzählte vom Soldatenleben und wie es kam, daß er schon Korporal war. Er erzählte ihr alles von sich selbst, nur nicht von dem Mädchen in seiner Heimat, das seine Verlobte war. Und Francie erzählte ihre Lebensgeschichte ebenfalls. Sie ver483
schwieg aber alles Dunkle und erzählte nur das Heitere: wie schön Papa gewesen, wie klug ihre Mama sei, was für ein flotter Bruder Neeley sei und was für eine niedliche kleine Schwester sie noch hätten. Sie erzählte ihm vom goldbraunen Krüglein in der Bibliothek und von ihrem nächtlichen Neujahrsgespräch mit Neeley auf dem Dach. Sie sagte nichts von Ben Blake, weil sie im Moment überhaupt nicht mehr an ihn dachte. Und als sie mit ihrer Geschichte fertig war, sagte er: »Mein ganzes Leben lang bin ich immer so einsam gewesen. Mitten im Getümmel eines Festes war ich einsam. Und sogar wenn ich ein Mädchen küßte, war ich allein. Ich habe mich im Lager und in der Kaserne unter Hunderten von Soldaten immer ganz verlassen gefühlt. Aber jetzt bin ich nicht mehr einsam.« Wieder lächelte er sein besonderes, langsames, schüchternes Lächeln. »So ist es mir auch ergangen«, gestand Francie. »Ausgenommen, daß ich noch nie einen Jungen geküßt habe. Dies ist auch mein erster Abend, an dem ich mich nicht so einsam fühle.« Der Kellner füllte schon wieder ihre noch fast vollen Wassergläser nach. Dies bedeutete, daß sie nun schon allzulange dasaßen und andern Leuten Platz machen sollten. Sie fragte Lee, wie spät es denn sei. Beinahe zehn Uhr! Dann hatten sie sich also fast vier Stunden lang unterhalten! »Nun muß ich aber nach Hause gehen«, sagte sie bedauernd. »Ich will dich begleiten. Wohnst du in der Nähe der Brooklyn-Brücke?« »Nein, bei der Williamsburger Brücke.« »Ich habe mir nämlich immer vorgestellt, wenn ich jemals nach New York komme, dann will ich einmal über die Brooklyn-Brücke gehen.« »Das können wir schon tun. Ich nehme dann einfach einen GrahamAvenue-Autobus; der bringt mich bis beinahe vor meine Haustür.« Sie fuhren mit der Untergrundbahn bis zur Brücke. Dann gingen sie zu Fuß über die Brücke. In der Mitte blieben sie stehen und schauten auf den dunklen East River hinunter. Sie standen dicht beieinander, 484
und er hielt ihre Hand. Er schaute zu den Konturen der Wolkenkratzer auf dem Manhattan-Ufer hinüber. »New York! Ich hätte es schon längst gern einmal gesehen. Es ist wirklich wahr, was die Leute sagen: es ist die wunderbarste Stadt, die man sich vorstellen kann.« »Brooklyn ist schöner.« »Aber es hat keine Wolkenkratzer wie New York, gelt?« »Nein, aber es hat eine ganz andere Atmosphäre. Oh, ich kann es gar nicht mit Worten erklären. Man muß dort gewohnt haben, um zu wissen, wie es ist.« »Dann werden wir eines Tages in Brooklyn wohnen«, sagte er ruhig. Francies Herz tat einen Freudensprung. Sie sah den auf der Brücke patrouillierenden Polizisten auf sie zukommen. »Ich glaube, wir müssen weitergehen«, sagte sie beunruhigt. »Der Brooklyner Hafen liegt grad da drüben, und dieses getarnte Schiff dort ist ein Transporter. Die Polizisten sind immer auf der Lauer nach Spionen.« Als der Polizist näher kam, sagte Lee: »Wir werden nichts in die Luft sprengen. Wir haben uns nur den East River angeschaut.« »Schon recht, schon recht«, sagte der Polizist. »Weiß ich etwa nicht, wie es ist in einer schönen Maiennacht? Bin ich nicht selbst einmal jung gewesen? Es ist auch noch gar nicht so lange her, wie man glauben könnte.« Er lächelte ihnen zu. Lee lächelte ebenfalls, und Francie strahlte sie beide an. Der Polizist erblickte Lees Korporalstreifen am Ärmel. »Also, auf Wiedersehen, General«, sagte er. »Zeigt ihnen den Meister, wenn ihr einmal drüben seid!« »Ganz bestimmt«, versprach Lee. Der Polizist nahm seine Patrouille wieder auf. »Netter Kerl«, kommentierte Lee. »Alle Leute sind so nett«, erwiderte Francie glückstrahlend. Als sie auf dem Brooklyner Ufer angelangt waren, sagte Francie, er brauche sie nun nicht mehr weiter zu begleiten, sie sei zu den Zeiten, 485
als sie Nachtschicht hatte, schon unzählige Male allein in der Dunkelheit nach Hause gegangen. Er würde nur den Weg verlieren, denn in Brooklyn könne einem das sehr leicht passieren, wenn man sich nicht genau auskenne. In Wirklichkeit wollte sie verhüten, daß er sah, wo sie zu Hause war. Sie liebte ihr Quartier und schämte sich seiner nicht. Aber sie hatte das Gefühl, daß ihr Quartier auf einen Fremden vielleicht schmutzig und ärmlich wirke. Zuerst aber wollte sie ihm noch die Trambahnstation zeigen. Dann ließ sie sich noch bis zur Autobushaltestelle begleiten. Sie kamen an einer Tätowierbude vorbei. Durch das Fenster sahen sie drinnen einen jungen Matrosen mit aufgerolltem Ärmel sitzen. Der Tätowiermeister saß vor ihm auf einem Stuhl und hatte neben sich den Farbtiegel stehen. Er war eben dabei, in den Arm des Jungen ein von einem Pfeil durchbohrtes Herz einzuritzen. Francie und Lee blieben vor dem Fenster stehen, um der Prozedur zuzuschauen. Der Matrose winkte ihnen mit seinem freien Arm zu. Sie winkten ebenfalls. Der Künstler bedeutete ihnen mit einer Handbewegung, sie sollten doch hereinkommen. Francie runzelte die Stirn und schüttelte verneinend den Kopf. Im Weitergehen sagte Lee voller Staunen: »Dieser Kerl hat sich tatsächlich tätowieren lassen! Ich wußte gar nicht, daß es das noch gibt!« »Laß dich nur ja nie, nie von mir dabei ertappen, daß du dich tätowieren läßt«, sagte sie mit gespielter Strenge. »Nein, Mutter«, sagte er unterwürfig und sanft. Und sie lachten beide herzlich. Sie standen an der Ecke und warteten auf den Autobus. Eine peinliche Stille schlich sich zwischen sie. Sie standen einander gegenüber, und er zündete sich immer wieder eine neue Zigarette an, nachdem er die alte weggeworfen hatte, bevor sie nur zur Hälfte aufgeraucht war. Endlich hörten sie einen Autobus kommen. »Hier kommt mein Wagen«, sagte Francie. Sie hielt ihm die rechte Hand hin. »Gute Nacht, Lee.« 486
Er warf die eben erst angezündete Zigarette weg. »Francie?« Er breitete seine Arme aus. Sie schmiegte sich hinein, und er küßte sie.
Am nächsten Morgen zog sie ihren neuen marineblauen Seidenrock mit der weißen Crêpe-Georgette-Bluse an und ihre Lackschuhe, die sie sonst nur am Sonntag trug. Sie hatte zwar mit Lee kein Stelldichein verabredet, aber sie war überzeugt, daß er um fünf Uhr vor dem Geschäft auf sie warten würde. Neeley stand eben auf, als sie gerade weggehen wollte. Sie bat ihn, Mama auszurichten, daß sie zum Abendessen nicht zu Hause sein werde. »Francie hat einen Schatz, Francie hat endlich einen Schatz!« neckte Neeley. Er ging zu Laurie, die auf ihrem hohen Stuhl beim Küchenfenster saß. Sie hatte ein Schüsselchen voll Haferbrei vor sich. Sie war tief beschäftigt damit, ein Löffelchen voll nach dem andern auf den Boden zu platschen. Neeley nahm sie beim Kinn und rief ihr zu: »He, Kleine, hast du's gehört? Francie hat endlich einen Schatz gefunden!« Eine kleine Denkerfalte grub sich über dem Näslein in die Stirn des kleinen Kindes (die Rommely-Linie nannte sie Katie), als es versuchte, den Sinn von Neeleys Worten zu erfassen. »Fran-nii?« sagte sie in erstaunt fragendem Ton. »Hör mal, Neeley, ich habe sie nun aufgenommen und ihr den Haferbrei gekocht. Nun ist es an dir, sie zu füttern. Und schwatz ihr keine solchen Dummheiten vor!« Als sie auf das Trottoir herauskam, hörte sie ihren Namen rufen. Sie schaute zu den Fenstern hinauf und sah Neeley im Pyjama weit hinauslehnen, wobei er aus Leibeskräften sang: Seht sie dort geht sie fort 487
im Sonntagskleid und sagt kein Wort … »Neeley, sei doch still! Du bist schrecklich, einfach schrecklich!« rief sie hinauf. Neeley tat, als verstände er sie nicht richtig. »Was sagst du? Dein Schatz ist schrecklich? Er hat einen großen Hängeschnurrbart und eine Glatze?« »Geh du lieber das Kind füttern!« rief sie zurück. »Was sagst du, Francie? Du wirst ein Kind bekommen? Habe ich recht verstanden, du wirst ein Kind bekommen?« Ein Vorübergehender blinzelte Francie an. Zwei junge Mädchen, die vorüberspazierten, bekamen einen Lachanfall. »Du verdammter Lausbub!« schrie Francie in ohnmächtiger Wut. »So! Nun hast du wieder geflucht. Ich werde es Mama sagen. Diesmal werde ich's ihr aber sagen, daß du geflucht hast!« hänselte Neeley sie. Sie hörte den Autobus surren und rannte in großen Sprüngen zur Haltestelle.
Als sie am Abend das Büro verließ, wartete er wirklich auf sie. Er begrüßte sie mit dem für ihn so charakteristischen Lächeln. »Hallo, meine Liebste!« Er schob ihren Arm unter den seinen. »Hallo, Lee, es ist nett, dich wiederzusehen.« »… Liebster«, soufflierte er. »Liebster«, fügte sie nachträglich noch hinzu. Sie saßen im Automatenrestaurant, einem Ort, den er schon längst gerne einmal aufgesucht hätte. Da das Rauchen dort verboten war und Lee nicht lange stillsitzen konnte, ohne zu rauchen, verweilten sie nicht mehr lange bei Dessert und Kaffee. Sie beschlossen, tanzen zu gehen. Sie fanden ein Tanzlokal, wo man für jeden Tanz zehn Cent bezahlte. Soldaten mußten nur die Hälfte bezahlen. Er kaufte einen Bon für zwanzig Tänze, und sie mischten sich sogleich unter die Tanzenden. 488
Nach wenigen Schritten schon hatte Francie entdeckt, daß er gar nicht so ungeschickt war, wie er aussah, im Gegenteil, er war sogar ein ausgezeichneter Tänzer. Sie hielten einander fest umschlungen und sprachen kein Wort mehr. Das Orchester spielte eines von Francies Lieblingsliedern: Am Sonntagmorgen, wenn die Sonne scheint. Sie summte den Kehrreim mit, als der Sänger ihn anstimmte. Als Braut in Gingham wie schön werd' ich sein. Sie fühlte, wie Lees Arm sie fester umschlang. Und die Freundinnen all schaun mir neidisch nach. Francie war unendlich glücklich. Als sie noch einmal herumgetanzt hatten sang der Vorsänger wieder den Kehrreim, ihn dieses Mal zu Ehren der anwesenden Soldaten verändernd: Als Bräut'gam in Khaki wie schön wirst du sein. Sie umschlang seine Schulter fester und fester und lehnte ihre Wange an seinen Soldatenrock. Sie hatte denselben Gedanken wie Katie vor siebzehn Jahren, damals, als sie mit Johnny tanzte. Sie fühlte, daß sie mit Freuden jedes Opfer auf sich nehmen würde, wenn sie nur immer in der Nähe dieses Mannes bleiben könnte. Und wie Katie dachte auch Francie keinen Augenblick an die Kinder, die das harte Schicksal mit ihr teilen und sich wieder herausarbeiten müßten. Eine Gruppe Soldaten verließ das Tanzlokal. Traditionsgemäß un489
terbrach das Orchester die Melodie, die es gerade spielte und wechselte hinüber auf ein Soldatenlied ›Wenn wir uns wiedersehn‹. Alles hörte auf zu tanzen und sang den Soldaten ein Abschiedslied. Francie und Lee hielten sich bei der Hand und stimmten ein, obwohl keines von ihnen die Worte richtig kannte. … wenn die Wolken wandern, dann kehr' ich wieder heim. Und die Sonne scheint noch mal so hell … Als das Lied zu Ende war, ertönten von allen Seiten Rufe: »Auf Wiedersehn, Soldaten!« – »Viel Glück!« – »Auf Wiedersehn!« Lee zog Francie zur Ausgangstür. »Komm, wir wollen jetzt gehen. Dieser Augenblick wird uns dann immer in schönster Erinnerung bleiben.« Sie gingen langsam die Treppen hinunter, begleitet von dem Gesang. Drunten auf der Straße blieben sie stehen, bis die letzte Strophe verklungen war. … bet jede Nacht für mich, bis wir uns wiedersehn! »Dies soll von nun an unser Lied sein«, flüsterte er. »Denk immer an mich, wenn du's hörst, ja!« Während sie durch die Straßen gingen, fing es plötzlich an zu regnen. Sie flüchteten sich eiligst unter den Türeingang eines leeren Kaufladens. Dort standen sie im Schutze des Torbogens und der Dunkelheit Hand in Hand und schauten zu, wie der Regen auf die Straße fiel. Wie einfach ist es doch, glücklich zu sein. Es braucht ja so wenig dazu, dachte Francie. Ein Obdach im Regen, eine Tasse starken, heißen Kaffee, wenn man sich einsam fühlt, eine Zigarette zum Zeitvertreib, ein schönes Buch oder die Gegenwart eines geliebten Menschen. All diese Dinge machen das Glücklichsein aus. »Morgen früh muß ich wegfahren.« 490
»Aber nicht nach Frankreich!« Plötzlich war es mit dem seligen Glück zu Ende. »Nein. Aber nach Hause. Meine Mutter möchte mich noch ein paar Tage bei sich haben, bevor …« »Oh!« »Ich liebe dich, Francie.« »Aber du bist doch verlobt. Das hast du mir ja gleich am Anfang gesagt.« »Verlobt«, sagte er wehmütig. »Jedermann ist verlobt oder verheiratet in einer kleinen Stadt wie der meinigen. Das ist alles, was man in einer Provinzstadt tun kann.« »Man geht in die Schule. Dann begleitet man ein Mädchen nach Hause – vielleicht nur aus dem einzigen Grund, weil sie zufällig in der Nähe wohnt. Dann wird man älter. Man wird von diesem Mädchen eines Tages zu einem Fest eingeladen bei ihm zu Hause. Dann geht man irgendwohin zum Tee, und die Leute sagen, man solle das Mädchen auch wieder mitbringen. Und bald ist es so weit, daß niemand anders mehr das Mädchen einladet. Jedermann denkt, sie gehöre nun zu einem und dann … nun, dann muß man immer wieder mit ihr ausgehen, wenn man nicht als schlechter Kerl gelten will. Und schließlich heiratet man, weil man niemand anders mehr kennenlernt. Und wenn sie einigermaßen nett ist (und meistens ist es so), dann kommt alles ganz gut heraus. Keine große Leidenschaft, weißt du, aber eine Art anständiger Kameradschaft. Und dann kommen die Kinder, und ihnen geben die Eltern dann die große Liebe, die sie zueinander vermissen. Und auf die Dauer gewinnen die Kinder.« »Ja, ich bin wirklich auch verlobt. Aber es ist nicht dasselbe zwischen dir und mir.« »Aber du wirst sie dennoch heiraten.« Er schwieg lange, bevor er Antwort gab. »Nein.« Francie war wieder glücklich. »Sag's, Francie, sag's«, flüsterte er. Sie sagte: »Ich liebe dich, Lee.« 491
»Francie …«, sagte er eindringlich, »vielleicht werde ich nicht mehr zurückkommen von dort drüben, und ich fürchte … ich fürchte, ich könnte sterben, ohne jemals gewußt zu haben, wie … Francie, könnten wir nicht eine Weile beisammen sein?« »Aber wir sind ja beisammen«, sagte Francie naiv. »Ich meine in einem Zimmer … allein … Nur bis morgen früh, wenn ich wegfahren muß?« »Ich … weiß nicht.« »Dann willst du also nicht?« »Doch«, antwortete sie aufrichtig. »Warum sagst du denn …« »Siehst du, ich bin eben erst sechzehn Jahre alt«, gestand sie. »Ich habe noch nie so etwas erlebt. Ich wüßte gar nicht einmal …« »Das macht doch gar nichts aus.« »Und ich bin noch nie von zu Hause weggeblieben über Nacht. Meine Mutter würde sich schrecklich Sorgen machen.« »Du könntest ihr ja sagen, du hast bei einer Freundin geschlafen.« »Mama weiß aber, daß ich gar keine Freundin habe.« »Aber du könntest doch irgendeine Entschuldigung finden … morgen.« »Ich brauche gar keine Entschuldigung zu erfinden. Ich würde ihr die Wahrheit sagen.« »Wirklich?« fragte er in höchstem Erstaunen. »Ich liebe dich doch. Ich würde mich nicht schämen … wenn ich bei dir geblieben wäre. Ich wäre stolz und glücklich, und ich würde das Erlebnis nicht mit einer Lüge beschmutzen.« »Ich konnte es nicht wissen, ich konnte es ja nicht wissen«, flüsterte er wie zu sich selbst. »Du möchtest doch auch nicht, daß es eine Lüge dazu brauchte, Lee?« »Francie, vergib mir! Ich hätte dich nicht fragen sollen. Ich konnte es ja nicht wissen.« »Was konntest du nicht wissen?« fragte Francie verwundert. Er umarmte sie und drückte sie fest ans Herz. Sie sah, daß er weinte. 492
»Francie … Ich habe Angst, ich habe solche Angst, daß ich dich verlieren werde, wenn ich jetzt weggehe. Daß ich dich nachher nie mehr sehen werde. Sag doch, ich soll nicht nach Hause gehen, und ich werde hierbleiben. Dann haben wir noch morgen und übermorgen. Wir werden zusammen essen und spazieren, im Park sitzen oder im Autobus fahren und miteinander sprechen und einfach beisammen sein. Sag doch, ich soll dableiben!« »Ich denke, du wirst wohl gehen müssen. Ich denke, es wird schon recht sein, daß du deine Mutter nochmals siehst, bevor du so weit weggehst. Ich weiß nicht. Aber es wird schon so sein müssen.« »Francie, wirst du mich heiraten, wenn der Krieg vorüber ist, falls ich zurückkomme?« »Wenn du zurückkommst, will ich dich heiraten.« »Wirklich, Francie? Willst du wirklich?« »Ja.« »Sag's noch mal!« »Ich will dich heiraten, wenn du zurückkommst, Lee.« »Und dann wollen wir in Brooklyn wohnen.« »Wir werden überall da wohnen, wo es dir gefällt.« »Dann wollen wir in Brooklyn wohnen.« »Aber nur, wenn du wirklich willst, Lee.« »Und wirst du mir jeden Tag schreiben? Jeden Tag?« »Jeden Tag«, versprach sie. »Und wirst du mir heute abend schreiben, wenn du nach Hause kommst, und mir sagen, wie sehr du mich liebst, so daß der Brief schon bei mir zu Hause ist und auf mich wartet, wenn ich heimkomme?« Sie versprach es. »Willst du mir versprechen, nie zu erlauben, daß jemand anders dich küßt? Und wirst du nie mit einem andern ausgehen? Wirst du auf mich warten … gleichviel, wie lange der Krieg dauern wird? Und wenn ich nicht mehr zurückkomme, willst du mir versprechen, daß du auch dann keinen andern liebst?« Sie versprach alles. Er bat sie um ihr ganzes Leben, als handle es sich nur um ein kleines Stelldichein. Und sie versprach ihr ganzes Leben, als handle es 493
sich nur darum, jemandem zum Gruß die Hand zu reichen. Nach einer Weile hörte es auf zu regnen, und der Himmel war wieder voller Sterne.
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I
n dieser Nacht schrieb sie, wie sie versprochen hatte. Sie schrieb einen langen Brief. Darin schüttete sie ihre ganze Liebe aus und wiederholte all die Versprechen, die sie gegeben hatte. Am nächsten Morgen ging sie etwas früher von zu Hause weg, um den Brief noch auf das Postbüro in der vierunddreißigsten Straße bringen zu können. Der Postbeamte versicherte ihr, der Brief werde sein Ziel bestimmt noch am selben Tag erreichen. Es war Mittwoch. Am Donnerstagabend hoffte sie auf einen Brief. Sie bemühte sich aber, ihn nicht mit allzu großer Bestimmtheit zu erwarten. Wahrscheinlich hatte er packen und sehr früh aufstehen müssen am nächsten Morgen, um seinen Zug nicht zu verpassen. (Es kam ihr nicht in den Sinn, daß sie es fertiggebracht hatte, Zeit zu finden.) Am Donnerstagabend war kein Brief da. Am Freitag mußte sie ganz durcharbeiten – sechzehnstündige Tour –, denn eine Anzahl ihrer Kolleginnen war von der Grippeepidemie erfaßt worden. Als sie kurz vor zwei Uhr morgens nach Hause kam, fand sie auf dem Küchentisch, an die Zuckerdose gelehnt, einen Brief. Sie riß ihn sofort mit größter Spannung auf. »Liebes Fräulein Nolan!« Sie erschrak. Der Brief konnte nicht von Lee sein, denn er hätte bestimmt geschrieben: »Liebe Francie!« Sie wandte den Brief, um die Unterschrift zu lesen. ›Elizabeth Rhynor (Mrs.)‹ Oh! Seine Mutter. Oder seine Schwägerin. Vielleicht war er krank und konnte nicht schreiben. Vielleicht war es denjenigen Soldaten, die bald nach Frankreich verschifft werden sollten, von der Ar494
mee aus verboten, Briefe zu schreiben. Und nun hatte er jemand anders gebeten, es für ihn zu tun. Natürlich, das war's. Sie begann, den Brief zu lesen. »Lee hat mir alles von Ihnen erzählt. Ich möchte Ihnen bestens danken dafür, daß Sie so freundlich zu ihm waren, während er in New York war. Er kam am Mittwochnachmittag an, mußte aber am darauffolgenden Tag schon wieder einrücken. Er war also nur anderthalb Tage zu Hause. Wir hatten ein sehr ruhiges Hochzeitsfest, nur die Familien und die nächsten Freunde …« Francie ließ den Brief auf den Tisch fallen. Ich habe nun sechzehn Stunden lang ununterbrochen gearbeitet und bin zu müde, um diesen Brief zu verstehen. Ich habe Tausende von Telegrammen gelesen, und nun kann ich den Sinn dieser Worte nicht mehr erfassen. Irgendwie habe ich schlechte Lesemanieren bekommen – mit einem Blick eine Spalte überfliegen und ein einziges Wort in ihr sehen. Ich will mir erst die Augen auswaschen und ein wenig Kaffee trinken, und dann werde ich besser verstehen, was ich lese, dachte sie. Während der Kaffee auf dem Herd stand und Francie sich das Gesicht mit kaltem Wasser wusch, stellte sie sich vor, wie der Brief weiter lauten würde. Lee war der Brautführer. Sein Bruder war der Bräutigam. Katie lag wach in ihrem Bett und hörte Francie in der Küche herumhantieren. Sie horchte gespannt und wußte doch nicht recht, worauf sie so lauschte. Francie las den Brief zum zweitenmal. ›Lee bat mich, Ihnen zu schreiben und Ihnen zu erklären, warum er Ihren Brief nicht beantwortet hat. Ich danke Ihnen nochmals für Ihre Liebe und Güte. Mit freundlichen Grüßen. Elizabeth Rhynor (Mrs.)‹ Der Brief enthielt noch einen Nachsatz: »Ich habe den Brief gelesen, den Sie Lee geschrieben haben. Es war nicht schön von ihm, daß er tat, als wäre er in Sie verliebt. Ich habe ihm das 495
gesagt. Er bat mich, Ihnen zu sagen, wie schrecklich leid es ihm tut. E. R.« Francie zitterte am ganzen Körper. »Mama«, stöhnte sie, »oh Mama!«
Katie hörte sich die Geschichte an. Nun ist es also soweit, dachte sie, nun kann ich meinem Kind das Herzeleid nicht mehr ersparen. Früher, wenn wir nicht genug zu essen hatten, konnte ich tun, als wäre ich nicht hungrig, damit die Kinder größere Portionen bekamen. Und im Winter, wenn es kalt war, konnte ich nachts aufstehen und die schlafenden Kinder mit meiner eigenen Wolldecke zudecken, damit sie nicht froren. Ich habe den Mann erschossen, der Francie ein Leid antun wollte drunten im Hausflur. Und dann, eines schönen Tages, gehen sie in aller Unschuld aus und laufen dem Leid, das man ihnen fürs Leben gern erspart hätte, direkt in die Arme. Francie zeigte ihrer Mutter den Brief. Sie las ihn langsam, und es war ihr, als sähe sie den Jungen leibhaftig vor sich. Er war ein zweiundzwanzigjähriger junger Mann, der, wie Sissy sagen würde, mit allen Wassern gewaschen war. Und Francie war ein sechzehnjähriges Mädchen, genau sechs Jahre jünger als er. Sie war trotz dem grellroten Lippenstift und den Damenkleidern und dem vielen Wissen, das sie da und dort gesammelt hatte, von kindlicher Unschuld. Sie hatte in ihrem Leben schon viel Schlimmes und Trauriges gesehen und gehört, und doch war sie davon seltsam unberührt geblieben. Ja, Katie konnte es wohl verstehen, daß sie ihm gefallen hatte. Und was sollte sie nun ihrem Kind sagen? Wie konnte sie es trösten? Daß der Junge ein Nichtsnutz war oder im besten Fall ein charakterloser Schwächling, der sich in jedes Mädchen verliebte, mit dem er zusammen war? Nein, sie durfte nicht so grausam sein und ihr so etwas sagen. Außerdem würde ihr Francie dies gar nicht glauben. »Sag etwas, Mama!« befahl Francie. »Sag doch etwas! Warum sagst du nicht irgend etwas?« 496
»Was soll ich denn sagen?« »Sag doch, ich sei ja noch jung und werde das alles schon wieder vergessen. Sag's doch, oder sag mir sonst irgendeine Lüge!« »Ich weiß schon, daß man das immer so sagt: ›Du wirst schon wieder drüber hinwegkommen‹. Aber ich glaube es selbst nicht. Natürlich wirst du wieder einmal glücklich sein. Aber vergessen wirst du den Jungen nie. Jedesmal, wenn du dich wieder verliebst, wird es deshalb sein, weil dich irgend etwas an dem Mann an ihn erinnert.« »Mutter …« Mutter! Katie mußte an ihre eigene Jugend denken. Sie selbst hatte ihre Mutter ›Mama‹ genannt bis zu dem Tage, an dem sie ihr gestand, daß sie Johnny heiraten werde. An jenem Tage aber hatte sie gesagt: »Mutter, ich werde mich bald verheiraten …« Dann hatte sie nie mehr ›Mama‹ gesagt, denn nun war es mit ihrer Jugendzeit endgültig vorbei. Und nun Francie … »Mutter, er hat mich gebeten, ich solle die Nacht bei ihm bleiben. Hätte ich es tun sollen?« Katies Herz suchte eine Weile nach der richtigen Antwort. »Sag mir aber die Wahrheit, Mutter! Mach mir nichts vor!« Katie hatte Mühe, die richtigen Worte zu finden. »Ich verspreche dir, Mutter, daß ich nie mit einem Mann gehen werde, ohne mit ihm verheiratet zu sein – wenn ich überhaupt heirate. Und wenn ich das Gefühl habe, daß ich es doch tun muß – auch wenn ich nicht verheiratet bin –, dann will ich's dir vorher sagen. Du kannst dich darauf verlassen. Du kannst mir also ruhig die Wahrheit sagen, du brauchst deswegen nicht zu fürchten, ich komme dann auf einen falschen Weg.« »Es gibt zweierlei Antworten«, sagte Katie schließlich. »Als Mutter müßte ich sagen, es wäre etwas Furchtbares gewesen, wenn meine Tochter mit einem fremden Mann beisammen gewesen wäre, einem Mann, den sie noch keine vierundzwanzig Stunden kannte. Es hätte die schlimmsten Folgen haben können für dich. Es hätte dir das ganze Leben ruinieren können. Dies müßte ich vom Standpunkt einer Mutter aus sagen. 497
Aber als Frau …« Sie zögerte. »Ich will dir sagen, wie ich es nur als Frau empfinde. Es wäre wahrscheinlich etwas Wunderbares gewesen, denn man kann nur einmal in seinem Leben auf diese Art lieben.« Francie dachte: Dann hätte ich also doch mit ihm gehen sollen. Ich werde nie mehr einen Menschen so liebhaben wie ihn. Ich hätte doch meinem Gefühl gehorchen sollen. Jetzt will ich ihn nicht mehr, denn jetzt gehört er ihr. Jetzt ist es zu spät. Sie ließ ihren Kopf auf den Tisch sinken und weinte. Nach einer Weile sagte Katie: »Ich habe auch einen Brief bekommen.« Katies Brief war schon vor ein paar Tagen eingetroffen, aber sie hatte immer auf einen günstigen Augenblick warten wollen, um davon zu sprechen. Sie fand, der Augenblick sei jetzt gekommen. »Ich habe auch einen Brief«, wiederholte sie. »Von … von wem?« schluchzte Francie. »Wachtmeister McShane.« Francie schluchzte heftiger. »Interessiert's dich nicht?« Francie bemühte sich, nicht mehr zu weinen. »Was will er denn?« »Nichts. Er will uns nur nächste Woche einen Besuch machen.« Sie wartete eine Weile. Francie schien kein Interesse zu zeigen. »Was würdest du dazu sagen, wenn Herr McShane dein Vater würde?« Francie fuhr zusammen. »Mutter! Wie kommst du auf so einen Gedanken, wo er doch nur schreibt, er werde uns besuchen? Wieso weißt du immer alles so sicher?« »Ich weiß gar nichts. Ich habe einfach das Gefühl, es könnte so sein. Und wenn das Gefühl sehr stark ist, dann sage ich immer, ich weiß es. Nun, was hältst du davon?« »Nun, da ich mir mein eigenes Leben so verpfuscht habe, bin ich gewiß die letzte, die dir einen Rat geben kann.« »Ich frage dich ja nicht um deinen Rat. Ich möchte nur gerne wissen, wie meine Kinder darüber denken.« Francie hatte ihre Mutter im Verdacht, daß dieses Gespräch über McShane nur ein Ablenkungsmanöver sei, und sie wurde ein wenig zornig, weil sie beinahe auf den Trick hereingefallen wäre. 498
»Ich weiß nicht, Mutter. Ich weiß es wirklich nicht. Und ich möchte jetzt überhaupt über nichts mehr sprechen. Bitte, geh doch wieder zu Bett und laß mich allein! Ich möchte wirklich am liebsten allein sein.« So ging Katie wieder ins Schlafzimmer.
Ja, ein Mensch kann nur soundso lange weinen. Dann setzt er sich irgendwie in Beziehung zur Zeit. Es war fünf Uhr morgens. Francie fand, es habe keinen Zweck mehr, zu Bett zu gehen. Um sieben Uhr mußte sie wieder aufstehen. Plötzlich fühlte sie sich sehr hungrig. Sie hatte nichts mehr zu sich genommen seit dem Mittagessen des vorhergehenden Tages. Sie machte sich frischen Kaffee, Toast und Rührei und war erstaunt, wie herrlich ihr alles schmeckte. Aber während des Essens wanderten ihre Augen immer wieder zu dem Brief zurück, und sie begann von neuem zu weinen. Sie warf den Brief in den Ausguß und zündete ihn mit einem Streichholz an. Dann drehte sie den Wasserhahn auf und schaute zu, wie der Wasserstrahl die schwarzen Fetzen hinunterspülte. Danach wandte sie sich wieder ihrem Frühstück zu. Nach dem Essen holte sie das Schreibzeug aus dem Schrank und setzte sich wieder an den Tisch. Sie schrieb: »Lieber Ben! Du hast einmal gesagt, ich solle dir schreiben, wenn ich dich nötig habe. Deshalb schreibe ich dir jetzt …« Sie riß den Brief entzwei. »Nein, nein, ich will niemanden nötig haben. Ich möchte viel lieber, daß jemand mich nötig hätte … Ach, ich sehne mich so schrecklich danach, daß mich jemand nötig hat.« Sie brach wieder in Tränen aus, aber diesmal war es ein ruhigeres, sanfteres Weinen.
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D
ies war das erste Mal, daß Francie McShane ohne Uniform sah. Sie fand, er sehe sehr imposant aus in seinem erstklassig geschneiderten doppelreihigen grauen Anzug. Natürlich war er nicht annähernd so schön, wie Papa gewesen war, er war größer und massiger. Aber er war trotz seinem schon ergrauten Haar auf seine eigene Art schön. Neben Mama schien er ein schrecklich alter Mann. Natürlich war Mama auch nicht mehr so jung, beinahe fünfunddreißig. Er aber sicher fünfzig. Jedenfalls war es gewiß eine Ehre, McShane zum Mann zu haben. Er sah wie ein gewiegter Politiker aus, aber seine Stimme hatte einen weichen Klang. Sie saßen um den Tisch bei Kaffee und Kuchen. Francie empfand einen leisen Schmerz bei dem Gedanken, daß nun McShane an Papas Platz saß. Katie hatte ihm soeben alles erzählt, was seit Johnnys Tod bei ihnen geschehen war. McShane schien höchst erstaunt über die großen Fortschritte, die sie gemacht hatten. Er schaute Francie an. »Also dieses kleine Mädchen ist schon letzten Sommer auf die Universität gegangen?« »Und sie wird diesen Sommer wieder gehen!« verkündete Katie stolz. »Das finde ich großartig!« »Und daneben arbeitet sie noch und verdient zwanzig Dollar pro Woche.« »Und dabei ist sie so gesund?« sagte er ehrlich staunend. »Und Neeley hat schon zwei Jahre Gymnasium hinter sich.« »Nicht möglich!« »Und am Abend arbeitet er da und dort und verdient manchmal bis zu fünf Dollar pro Woche neben der Schule.« 500
»Ein flotter Junge! Wirklich, einer der prächtigsten Jungen, die ich je gesehen habe. Und wie gesund er aussieht, es ist einfach eine Freude!« Francie wunderte sich zuerst, warum er denn immer soviel von der Gesundheit sprach, die doch für sie von jeher selbstverständlich gewesen war. Dann fiel ihr ein, daß er selbst ja eine ganze Reihe von Kindern gehabt hatte, die fast alle schon in frühester Jugend gestorben waren. Kein Wunder, daß die Gesundheit ihm als solch großes Glück erschien. »Und die Kleine?« fragte er. »Geh, hol sie, Francie!« Die Kleine schlief in ihrem Bettchen im vorderen Zimmer. Eigentlich war dies ja Francies Zimmer, aber sie hatten alle gefunden, die Kleine müsse in einem Zimmer schlafen, in dem genügend Luft war. Francie nahm das schlafende Kind aus dem Bettchen. Es öffnete die Augen und war sofort hellwach. »Ada-ada, Fran-nii? Park? Park?« fragte es. »Nein, Schätzchen, ich muß dich einem Mann vorstellen.« »Mann?« sagte Laurie zweifelnd. »Ja, ein großer, großer Mann.« »Großer Mann«, echote das Kind glückstrahlend. Francie trug sie in die Küche. Das Kind war wirklich allerliebst. Es hatte in seinem rosa Flanellnachthemdchen ein Gesichtchen wie ein Pfirsich. Sein Köpfchen war voll dunkler Locken. Seine weit auseinander liegenden dunklen Augen sprühten vor Übermut. »Ach, da kommt ja die Kleine«, gurrte McShane. »Ein Röschen ist sie, ein wildes Heckenröschen.« Wenn Papa da wäre, dachte Francie, dann würde er jetzt sofort zu singen beginnen: »Meine wilde irische Rose …« Sie hörte ihre Mutter seufzen und hätte gerne gewußt, ob sie wohl denselben Gedanken gehabt hatte. McShane nahm das Kind zu sich. Es saß mit weit zurückgebogenem, widerspenstigem Rücken auf seinen Knien und blickte ihn kritisch an. Katie hoffte, es werde nicht plötzlich zu schreien beginnen. »Laurie«, sagte sie, »sag Herr McShane. Herr McShane!« 501
Das Kind senkte das Köpfchen, schielte zwischen den Augenwimpern durch nach oben, lächelte siegesgewiß und schüttelte den Kopf. »Nicht magsein«, sagte sie trotzig. »Mann!« rief sie triumphierend. »Großer Mann!« Sie lächelte McShane bezaubernd an und bettelte schmeichelnd: »Ada-ada gehn mit Laurie? Park? Park?« Dann lehnte sie ihre rosige Wange an seine Schulter und schloß die Augen. Nach wenigen Sekunden schlief sie in seinen Armen.
»Frau Nolan, Sie werden sich vielleicht fragen, weshalb ich heute zu Ihnen gekommen bin. Ich will es Ihnen nun sagen. Ich bin gekommen, um Ihnen eine persönliche Frage zu stellen.« Francie und Neeley machten Anstalten aufzustehen, um Mama allein zu lassen. »Nein, nein, Kinder, bleibt nur da! Die Frage geht euch ebensosehr an wie eure Mutter.« Sie setzten sich wieder. Er räusperte sich. »Frau Nolan, es ist nun schon einige Zeit her, daß Ihr Mann, Gott habe ihn selig …« »Ja, zweieinhalb Jahre! Gott habe ihn selig!« »Und meine Frau – sie ist nun auch seit einem Jahr tot – Gott habe sie selig!« »Gott habe sie selig!« murmelten auch die Nolans. »Ich habe nun so lange gewartet, und ich glaube, jetzt ist es den Toten gegenüber nicht mehr respektlos, wenn ich meinen Wunsch ausspreche. Katherine Nolan, ich möchte gerne mit Ihnen nähere Bekanntschaft schließen mit dem Ziel, Sie im Herbst zu heiraten.« Katie warf Francie einen raschen Blick zu und runzelte die Stirn. Was meinte sie wohl damit? Francie hatte mit keinem Gedanken daran gedacht, zu lachen. »Ich bin in der Lage, für Sie und die drei Kinder zu sorgen. Ich verfüge über zehntausend Dollar im Jahr, und daneben habe ich noch eine Versicherung. Ich möchte gerne das Mädchen und den Jungen auf der 502
Universität ausbilden lassen, und ich verspreche Ihnen, ein treuer Ehemann zu sein, wie ich es bisher auch war.« »Aber haben Sie es sich auch gründlich überlegt, Herr McShane?« »Ich brauche es mir nicht zu überlegen. Habe ich diesen Entschluß nicht schon vor fünf Jahren gefaßt, damals, als ich Sie bei dem MattieMahony-Ausflug zum erstenmal sah und als ich ihre Tochter fragte, ob Sie ihre Mutter seien?« »Ich bin aber eine Putzfrau ohne jegliche Bildung.« Sie wollte dies einfach als Tatsache feststellen, nicht etwa als Entschuldigung oder weil sie Minderwertigkeitsgefühle gehabt hätte. »Ach, Bildung! Wer hat denn mich schreiben und lesen gelehrt? Niemand anders als ich selbst.« »Aber ein Mann wie Sie – ein Mann der Öffentlichkeit – braucht eine Frau, die sich im Gesellschaftsleben auskennt, die seine einflußreichen Kollegen bewirten und unterhalten kann. Ich bin aber nicht diese Art Frau.« »Meine Geschäfte erledige ich in meinem Büro. Und zu Hause will ich nur leben. Ich will aber damit nicht sagen, daß Sie mir nicht Ehre machen würden, Sie würden einem noch viel besseren Mann als mir Ehre machen. Aber ich brauche meine Frau nicht in meinem Beruf. Damit werde ich schon allein fertig. Ich denke, ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß ich Sie liebe …«, er zögerte ein wenig, bevor er es wagte, ihren Vornamen auszusprechen, »… Katherine? Und werden Sie noch Zeit brauchen, um darüber nachzudenken?« »Nein, ich brauche keine Bedenkzeit. Ich will Sie heiraten, Herr McShane. Nicht etwa wegen Ihres hohen Einkommens, wenn es mich auch nicht ganz gleichgültig läßt. Zehntausend im Jahr ist sehr viel Geld. Aber für Leute wie wir sind auch tausend sehr viel. Wir haben immer sehr wenig Geld gehabt, und wir sind es gewohnt, mit fast nichts auszukommen. Ich will Sie auch nicht deshalb heiraten, damit die Kinder auf die Universität gehen können. Ihre Hilfe wird eine große Erleichterung sein, aber wir hätten es auch ohne Ihre Hilfe irgendwie fertiggebracht. Es ist auch nicht wegen Ihrer großartigen Stellung in der Öffentlichkeit, obwohl es sehr schön sein wird, einen Mann zu haben, 503
auf den man stolz sein kann. Ich will Sie heiraten, weil Sie ein so guter Mensch sind und weil ich gerne die Frau eines solchen Mannes sein möchte.« Und so war es. Katie hatte sich schon vor längerer Zeit dazu entschlossen, McShane zu heiraten, falls er sie fragen würde, weil ihr das Leben unvollkommen erschien ohne einen Mann, der sie liebte. Es hatte mit ihrer Liebe zu Johnny gar nichts zu tun. Sie würde ihre Liebe zu ihm für immer bewahren. Ihre Gefühle für McShane waren viel ruhiger. Sie bewunderte und respektierte ihn, und sie wußte, daß sie ihm eine gute Frau sein würde. »Ich danke Ihnen, Katherine. Es ist ja gewiß wenig genug, was ich zu bieten habe für eine hübsche junge Frau und drei gesunde Kinder«, sagte er in aufrichtiger Bescheidenheit. Er wandte sich an Francie. »Und du, als älteste von den Kindern, bist du auch einverstanden?« Francie blickte auf ihre Mutter, die ebenfalls mit Spannung auf ihre Antwort zu warten schien. Dann schaute sie Neeley an. Er nickte. »Ich glaube, mein Bruder und ich, wir hätten Sie beide gern zu unserem …« Die Tränen kamen ihr in die Augen, als sie an Papa dachte, und sie konnte das Wort ›Vater‹ nicht aussprechen. »Nun, nun«, sagte McShane tröstend, »du sollst deswegen nicht traurig sein.« Er wandte sich an Katie. »Ich will natürlich von den beiden Älteren nicht verlangen, daß sie mich ›Vater‹ nennen. Sie haben einen andern Vater gehabt und einen so schönen Menschen – seine Art, zu singen! –« Francie spürte wieder den Klotz in ihrer Kehle. »Und ich verlange auch nicht von ihnen, daß sie meinen Namen annehmen, denn Nolan ist ja ein so vornehmer Name. Aber die Kleine hier, die in meinen Armen schläft – sie hat ja ihres Vaters Gesicht nie erblickt: darf sie mich wohl Vater nennen und darf sie denselben Namen tragen, den Sie und ich gemeinsam haben werden?« Katie blickte fragend ihre beiden Ältesten an. Wie würden sie es wohl aufnehmen, daß ihre kleine Schwester den Namen McShane tra504
gen würde statt den Namen Nolan? Francie nickte zustimmend. Neeley nickte ebenfalls zustimmend. »Wir wollen Ihnen das Kind schenken«, sagte Katie. »Wir können Sie nicht ›Vater‹ nennen«, sagte Neeley spontan, »aber vielleicht werden wir Sie ›Dad‹ nennen.« »Ich danke euch«, sagte McShane schlicht. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und lächelte. »Und nun möchte ich fragen, ob ich mir meine Pfeife anzünden darf.« »Aber natürlich, das hätten Sie schon längst tun dürfen, ganz ohne zu fragen«, sagte Katie überrascht. »Ich wollte mir keine Rechte herausnehmen, bevor es sich wirklich schickte«, erklärte er. Francie nahm ihm die schlafende Laurie aus den Armen, damit er rauchen konnte. »Komm, wir wollen sie wieder zu Bett bringen«, sagte sie zu Neeley. »Warum?« Neeley war in McShanes Gesellschaft sehr glücklich gewesen und wäre gern noch länger sitzen geblieben. »Du mußt mir doch helfen, das Bettchen in Ordnung zu bringen, während ich die Kleine auf den Armen trage.« Hatte Neeley denn nicht begriffen, daß Mama mit McShane sicher noch gern ein wenig allein wäre? In der Dunkelheit des vorderen Zimmers flüsterte Francie Neeley zu: »Was sagst du dazu?« »Es ist sicher eine gute Partie für Mama. Natürlich ist er nicht zu vergleichen mit Papa …« »Nein, niemand wird je mit Papa zu vergleichen sein. Aber abgesehen davon ist er doch wirklich ein netter Mensch.« »Laurie wird jedenfalls ein schrecklich leichtes Leben haben.« »Annie Laurie McShane! Sie wird nie so schwere Zeiten durchmachen müssen, wie wir sie hatten, gelt!« »Nein. Aber sie wird auch all die Freuden nicht haben, die wir hatten.« »Gott ja, wir hatten es doch wirklich lustig. Neeley, weißt du noch?« »Natürlich!« »Arme Laurie!« sagte Francie. Sie empfand fast ein wenig Mitleid mit ihr. 505
FÜNFTES BUCH
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rancie fuhr zusammen, als ihr jemand von hinten auf die Schulter klopfte. Dann lehnte sie sich zurück und lächelte. Natürlich! Es war ein Uhr morgens, die Nachtschicht war beendet und ihre Ablösung stand hinter ihr, um den Dienst zu übernehmen. »Laß mich nur noch eine einzige Meldung senden!« bat Francie. »Merkwürdig, daß es Leute gibt, die mit solcher Begeisterung arbeiten können!« bemerkte die Ablösung lächelnd. Francie sandte ihre letzte Botschaft langsam und liebevoll. Sie freute sich darüber, daß es eine Geburtsanzeige war und nicht eine Todesanzeige. Es war ihre letzte Meldung. Sie hatte zwar niemandem etwas davon gesagt, daß sie ihre Stelle aufgeben werde. Sie hatte Angst davor, Abschied zu nehmen, weil sie wußte, daß sie die Fassung verlieren und zu weinen beginnen würde. Sie tat es wie ihre Mutter, sie ging jeder Gefühlsäußerung in der Öffentlichkeit möglichst aus dem Wege. Statt direkt zu ihrem Schrank zu gehen, verweilte sie noch ein wenig im Erholungsraum, wo sich einige Mädchen während ihrer viertelstündigen Erholungspause so gut wie möglich amüsierten. Sie hatten sich um das Klavier gruppiert, auf dem eins der Mädchen den neuesten Schlager spielte: »Hallo, Zentrale, gib mir Niemandsland!« Als Francie hereinkam, begann die Klavierspielerin, inspiriert durch Francies neues graues Herbstkleid und ihre grauen Pumps, ein anderes Lied zu spielen, und die Mädchen sangen dazu: Meine Liebste trägt ein graues Quäkerkleid …
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Eines der Mädchen schlang seinen Arm um Francies Schultern und zog sie in den Kreis der Singenden hinein. Francie sang tapfer mit: Doch im Herzen ist sie keine graue Maid … »Francie, wo hast du nur die Idee her, dich ganz in Grau zu kleiden?« »Oh, ich weiß es nicht, vielleicht habe ich es einer Schauspielerin, die ich als Kind einmal verehrte, abgeguckt.« »Es ist schick.« Dann sangen sie: »Du findest Texas auch in Frankreich wieder.« Francie ging zu dem großen Fenster hinüber, dort konnte sie vom zwanzigsten Stockwerk aus auf den East River hinunterschauen. Dies war das letztemal, daß sie den Fluß von hier aus sehen würde. Wenn man etwas zum letztenmal sieht, empfindet man dabei etwas wie Todesschmerz. Das, was ich jetzt sehe, werde ich nie mehr auf dieselbe Weise sehen. Wie klar und deutlich man die Dinge sieht, wenn man weiß, daß es das letzte Mal ist, wie von Rampenlicht Übergossen. Und dann ist man traurig, weil man es nicht schon früher so gesehen und erlebt hat. Was hatte Großmutter Rommely einmal gesagt? »Man soll alle Dinge so ansehen, als sähe man sie zum ersten- oder zum letztenmal. Dann ist unser irdisches Dasein voller Glanz und Freuden.« Großmutter Rommely! Sie hatte noch einige Monate krank zu Bett gelegen. Dann war Steve einmal am frühen Morgen, noch vor der Dämmerung, herübergekommen, um sie alle zu holen. »Ich werde sie sehr vermissen«, sagte er, »sie war eine große Dame.« »Du meinst eine große Frau«, verbesserte Katie.
Warum, fragte sich Francie, hatte Onkel Willie seine Familie ausgerechnet in diesem Moment verlassen? Sie schaute einem Boot nach, das unter der Brücke durchglitt, und konnte erst nachher ihren Ge508
dankengang weiter verfolgen. Hatte ihn der Tod von Mary Rommely dazu veranlaßt, weil nun eine der starken Rommely-Frauen weniger war, vor denen er sich zu verantworten hatte? Oder war es so, wie Tante Evy sagte: er hatte einfach die Verwirrung, die damals in der Familie herrschte, ausgenutzt und war gemein genug gewesen, sie in diesem Augenblick zu verlassen? Was auch der Grund gewesen sein mochte, jedenfalls war Willie Flittman verschwunden. Willie Flittman! Er hatte so eifrig geübt, bis er alle seine Instrumente gleichzeitig bedienen konnte. Dann hatte er sich als Einmannorchester bei einem Wettbewerb in einem Lichtspielhaus gemeldet und den ersten Preis von zehn Dollar gewonnen. Er war mit den zehn Dollar und seinen Instrumenten nie mehr nach Hause gekommen, und weder Evy noch die Kinder hatten ihn jemals wiedergesehen. Sie hörten nur hin und wieder etwas von ihm. Es schien, als ziehe er als Einmannorchester durch die Straßen von Brooklyn und lebe von den Pennies, die man ihm zuwarf. Evy war überzeugt, daß er wieder nach Hause kommen werde, sobald der Schnee kam. Aber Francie zweifelte daran. Evy nahm in derselben Munitionsfabrik, in der er gearbeitet hatte, eine Stelle an und verdiente dreißig Dollar pro Woche. Es ging ihr dabei sehr gut, außer in den Nächten, denn da fühlte sie sich, wie alle Rommelys, einsam ohne einen Mann an ihrer Seite.
Francie stand am Fenster und blickte auf den Fluß hinunter. Sie mußte über all das Vergangene nachdenken, wobei ihr alles mit Onkel Willie Verbundene unwirklich vorkam. Der Mann, der sie im Hausflur überfallen hatte, haftete in ihrer Erinnerung ebenfalls nur wie ein böser Traum. Dann Papas Tod und McShane, der jahrelang auf Mama gewartet hatte. Auch Annie Laurie schien aus irgendeiner unwirklichen Welt zu stammen, das Kind eines Vaters, der bei seiner Geburt schon 509
seit bald einem halben Jahre tot war. Brooklyn selbst war wie eine Stadt aus einem Traum. Oder lag es nur daran, daß sie, Francie, eine Träumerin war? Nun, sie würde es bald herausfinden, wenn sie einmal in Michigan war. Wenn Michigan ähnliche Traumvorstellungen erzeugte, dann erst würde sie überzeugt sein, daß sie die Träumerin war. Ann Arbor! In zwei Tagen würde sie im Zug sitzen und nach Ann Arbor fahren, wo die Universität war. Die Sommerkurse in Brooklyn Heights waren vorüber. Mit Bens Hilfe hatte sie die vier Examen sowie die Aufnahmeprüfung bestanden. Das bedeutete, daß sie, ein Mädchen von sechzehneinhalb Jahren, die Universität beziehen konnte und dabei schon die Arbeit eines ganzen Semesters im voraus geleistet hatte. Eigentlich wäre sie am liebsten auf die Columbia-Universität in New York oder auf die Adelphi-Universität in Brooklyn gegangen, aber Ben fand, es sei viel besser, wenn man einmal seine Umgebung wechsle, es sei sozusagen ein Teil der Ausbildung, sich an einem fremden Ort einzuleben. Ihre Mutter und McShane waren damit einverstanden. Sogar Neeley fand, es könne ihr nur guttun, sie werde dann vielleicht ihren Brooklyner Akzent verlieren. Aber Francie wollte dies nicht, sowenig wie sie ihren Namen verlieren wollte. Sie wollte ein Mädchen aus Brooklyn bleiben. Sie wollte nicht irgendeine fremde Sprache annehmen. Ben hatte Michigan für sie ausgewählt, weil das Kolleggeld nicht so hoch war und man dort ausgezeichnete Professoren für englische Literatur hatte. Ben selbst wollte die Universität des Staates besuchen, in dem er später eine große Rolle zu spielen gedachte; er fand, es sei für ihn viel besser, wenn er die prominenten Bürger schon auf der Schulbank kennenlernte. Ben war nun zwanzig Jahre alt. Er war dem Reserveoffizierkorps seiner Universität beigetreten und sah in seiner Uniform sehr schön aus. Ben! Sie betrachtete den Ring am Mittelfinger ihrer linken Hand. Sie hatte ihn von Ben bekommen. Auf der Innenseite hatte er eingravieren las510
sen ›B.B. an F.N.‹. Er sagte ihr, er wisse genau, was er wolle, aber sie sei noch zu jung dazu, um zu wissen, was sie wolle. Er gab ihr den Ring, um das zu besiegeln, was er ihr gegenseitiges Verständnis nannte. Natürlich würde es noch fünf Jahre dauern, bis er sich verheiraten könnte. Bis dahin würde sie auch alt genug sein, um über ihr Schicksal entscheiden zu können. Wenn das gegenseitige Verständnis dann immer noch bestünde, sagte er, würde er sie bitten, von ihm noch einen andern Ring anzunehmen. So hatte Francie also noch fünf Jahre vor sich, und die Entscheidung belastete sie noch nicht. Erstaunlicher Ben! Er hatte im Januar 1918 das Abitur bestanden und war sofort danach auf die Universität gegangen; er hatte sich für eine erstaunliche Anzahl von Kursen einschreiben lassen und war dann im Sommer wieder nach Brooklyn Heights gekommen, um die Sommerkurse zu besuchen und – wie er am Ende des Semesters gestand – um Francie wiederzusehen. Und nun, im September 1918, kehrte er nach dem Mittelwesten auf seine Universität zurück. Guter alter Ben! Er war eine ehrliche Haut und ein gescheiter Kerl. Er wußte, was er wollte. Er würde nie ein Mädchen fragen, ob es ihn heiraten wolle und am Tag darauf ein anderes Mädchen heiraten. Er würde nie ein Mädchen bitten, ihm über seine Liebe zu schreiben und dann den Brief einer andern zeigen. Nein, Ben wäre dazu niemals imstande. Ben war aufrichtig, Ben war wunderbar. Sie war stolz, ihn zum Freund zu haben. Und doch dachte sie immer wieder an Lee. Lee! Wo mochte er jetzt sein? Er war nach Frankreich gefahren auf einem der getarnten Transporter, von denen eben jetzt, vor ihren Augen, einer den Hafen verließ mit den schweigsamen, weißen Gesichtern von tausend Soldaten, die, vom zwanzigsten Stockwerk aus gesehen, wie Stecknadelköpfe in einem langen, schmalen Stecknadelkissen aussahen. (»Francie … ich habe Angst … ich habe solche Angst. Ich fürchte, wenn ich jetzt weggehe, werde ich dich nie mehr sehen … werde ich dich verlieren. Sag doch, ich soll dableiben! …« 511
»Ich denke, es wird schon recht sein, wenn du deine Mutter nochmals siehst, bevor du … Ich weiß nicht …«) Er war bei der ›Regenbogen‹-Division, der Division, die gerade im Begriff war, in die Argonnen vorzudringen. Lag er wohl schon begraben in Frankreich, unter einem einfachen, weißen Holzkreuz? Und wer würde es ihr mitteilen, wenn er tot war? Gewiß nicht seine Frau in Pennsylvanien! (»Elizabeth Rhynor [Mrs.]«) Anita war schon vor Monaten weggegangen und arbeitete nun irgendwo anders. Sie konnte also niemanden fragen … Sie wünschte mit allen Fasern, er möge umgekommen sein, damit ihn die Frau in Pennsylvanien nicht mehr haben konnte. Mit dem nächsten Atemzug aber betete sie leidenschaftlich: »O Gott, behüte ihn vor dem Tod, es ist mir ja ganz gleich, wer ihn hat, wenn er nur am Leben bleiben darf! Bitte … bitte!« »Du wirst wieder einmal glücklich sein, aber du wirst ihn nie vergessen«, hatte Mama gesagt. Das war nun schon vier Monate her. Wie konnte sie denn jemals wieder glücklich sein, wenn sie ihn nicht vergessen konnte? O Zeit, große Heilerin, zieh vorüber und nimm die Erinnerungen an ihn mit! (»Jedesmal, wenn du dich wieder verliebst, wird es deshalb sein, weil dich irgend etwas an dem Mann an ihn erinnert.«) Ben hatte dasselbe Lächeln wie Lee. Sie hatte letztes Jahr geglaubt, sie sei in Ben verliebt. Aber nein! Lee! Lee!
Die Viertelstunde der Erholungspause war vorüber. Eine neue Schar von Mädchen strömte ins Zimmer. Sie stellten sich ebenfalls ums Klavier und begannen zu singen. Lauf doch weg, lauf, lauf, bevor das Lied kommt, das das unsrige sein sollte! 512
Aber sie konnte sich nicht rühren. Sie sangen Ted Lewis' Lied: »Denn wenn meine Kleine lächelt.« Danach würden sie unfehlbar übergehen zu: »Es ist ein Lächeln, das dich glücklich macht.« Und dann kam es: Gib mir lächelnd deinen traur'gen Abschiedskuß! (»Denk immer an mich, wenn du dieses Lied hörst! …«) Sie rannte aus dem Zimmer. Sie holte ihren grauen Hut, ihre graue Handtasche und die grauen Handschuhe aus ihrem Kasten. Dann flüchtete sie sich in den Lift. – Sie blickte die schluchtartige Straße auf und ab. Sie war dunkel und verlassen. Ein großer Junge in Uniform stand im Schatten der Haustür des nächsten Hauses. Er kam auf sie zu mit einem schüchternen, einsamen Lächeln. Sie schloß die Augen. Großmutter Rommely hatte immer gesagt, die Rommelys hätten die Gabe, ihre toten Geliebten als Geister zu sehen. Francie hatte es nicht so recht glauben wollen, denn sie war Papas Geist nie begegnet. Aber nun … »Hallo, Francie!« Sie öffnete die Augen. Nein, es war kein Geist. »Ich habe mir gedacht, es wird dir sicher merkwürdig zumute sein – die letzte Nacht im Büro –, und da bin ich nun, um dich nach Hause zu begleiten. Überrascht?« »Nein, ich habe es gewußt, daß du kommen würdest.« »Hungrig?« »Wie ein Wolf!« »Wohin sollen wir gehen, ins Automatenrestaurant?« »Nein, bitte nicht!« »Oder in ein Kaffeehaus?« »Ja, laß uns in ein Kaffeehaus gehen und Zuckerbrötchen essen mit Kaffee!« Er nahm sie bei der Hand und zog ihren Arm unter den seinen. 513
»Francie, du bist heute abend so merkwürdig. Du bist mir doch nicht böse?« »Nein, nein.« »Bist du froh, daß ich gekommen bin?« »O ja«, sagte sie träumerisch, »es ist so nett, dich wieder einmal zu sehen, Ben.«
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S
amstag! Der letzte Samstag im alten Heim. Am nächsten Tag sollte Katies Hochzeit sein, und sie würden von der Kirche aus direkt in ihr neues Heim gehen. Am Montagmorgen würden die Umzugsleute ihre Habseligkeiten holen. Die meisten Möbel ließen sie zurück für die neue Putzfrau. Sie nahmen nur die Plüschgarnitur aus dem vorderen Zimmer mit und ihre privaten Schätze. Francie wünschte sich, in ihrem Zimmer, das man für sie im neuen Heim reservierte, die Möbel aus dem vorderen Zimmer samt dem grünen Teppich mit dem großen roten Blumenmuster und den cremefarbenen Spitzenvorhängen zu haben. Und natürlich das hübsche kleine Klavier. Katie bestand darauf, an diesem letzten Samstagmorgen ihre Reinigungsarbeiten nochmals zu verrichten. Die Kinder lachten hinter ihr drein, als sie mit dem Besen und dem Eimer auszog. McShane hatte ihr einen Scheck von tausend Dollar als Hochzeitsgeschenk geschickt. In den Augen der Nolans war Katie nun eine reiche Frau und brauchte keinen Finger mehr zu rühren. Und doch ließ sie es sich nicht nehmen, ihre Pflicht bis zum letzten Tag zu tun. Francie hatte sie sehr im Verdacht, der Abschied von den Häusern, die sie so oft gereinigt hatte, falle ihr schwer und sie wolle sie zum Schluß noch einmal recht liebevoll behandeln. Francie nahm sich die Freiheit, das Scheckbuch ihrer Mutter aus deren Handtasche zu nehmen und es durchzublättern. 514
Auf dem ersten Scheck stand geschrieben: Nummer 1 Datum: 20. September 1918 An: Eva Flittman Für: Weil sie meine Schwester ist Betrag: 200 Dollar Saldo: 800 Dollar Francie fragte sich, wieso Mama ausgerechnet auf den Betrag von 200 Dollar kam. Dann ging ihr ein Licht auf. Onkel Willie war für 200 Dollar versichert gewesen. Tante Evy hätte bei seinem Tod diesen Betrag bekommen. Sicher hielt Mama den Onkel Willie für so gut wie gestorben und schickte Tante Evy deshalb diesen Betrag. Kein Zweifel, in Katies Augen war ihr Schwager Willie so gut wie tot. Für Katies Hochzeitskleid war kein besonderer Scheck ausgesetzt worden. Sie erklärte, daß sie nicht eher für sich selbst Geld gebrauchen wollte, als bis sie mit dem Geber verheiratet wäre. Um nun doch das Kleid kaufen zu können, hatte sie das für Francie gesparte Geld entlehnt mit dem Versprechen, es gleich nach der Feier zurückzugeben. An diesem letzten Samstagvormittag schnallte Francie die kleine Laurie in ihren kleinen zweirädrigen Ausgangswagen und ging mit ihr auf die Straße hinunter. Sie blieb lange an der Hausecke stehen und schaute den Kindern zu, die ihre Altstoffsäcke und Wägelchen die Straße hinauf schleppten, zogen und schoben, um sie zu Carney zu bringen. Dann ging sie ebenfalls die Manhattan Avenue hinauf und betrat den Laden des ›Billigen Charlie‹. Sie legte ein Fünzigcentstück auf den Ladentisch und verlangte dafür sämtliche Preise auf dem Brett. »Ach geh, Francie, was fällt dir denn ein?« sagte Charlie. »Ich habe mir schon lange vorgenommen, einmal das ganze Brett zu kaufen.« »Aber wirklich! So eine Idee! Das ist doch unmöglich!« »Dann sind also auf all den Losen gar keine Nummern?« »Gott, Francie, jeder Mensch muß sich doch auf irgendeine Weise 515
sein Brot verdienen. Es geht langsam genug bei mir, so ein Penny nach dem andern.« »Ich habe Sie immer im Verdacht gehabt, daß das mit den Preisen ein Schwindel ist. Es ist eigentlich eine Schande, die armen kleinen Kinder so zum Narren zu halten.« »Das darfst du nicht sagen. Ich betrüge sie ja nicht. Ich gebe ihnen ja wirklich für einen Penny Kandiszucker. Die Preise sind nur dazu da, um es für die Kinder ein wenig spannender und interessanter zu machen.« »Und damit sie immer wiederkommen – immer mit neuen Hoffnungen.« »Wenn sie nicht zu mir kommen, dann gehen sie eben zu Gimpy dort drüben. Es ist aber viel besser, wenn sie zu mir kommen, denn ich bin ein verheirateter Mann und nehme die kleinen Mädchen nicht ins Hinterstübchen, verstanden?« »Ach ja, Sie haben wahrscheinlich recht. Hören Sie! Haben Sie nicht eine Puppe für fünfzig Cent?« Er zog eine Puppe mit häßlichem Gesicht unter dem Ladentisch hervor. »Ich habe nur eine für neunundsechzig Cent, aber du kannst sie für fünfzig Cent haben.« »Ich kaufe sie aber nur, wenn Sie sie als Preis aufhängen und wenn ein Kind sie wirklich gewinnen darf.« »Aber, hör mal, Francie: ein Kind gewinnt sie! Gut! Aber dann hoffen nachher alle Kinder, eine Puppe zu gewinnen. Es ist unpädagogisch.« »Aber, um Christi willen«, sagte sie, und es war ihr Ernst damit, »lassen Sie doch wenigstens ein einziges Mal ein Kind etwas gewinnen!« »Also gut, dann will ich es tun. Aber reg dich nicht so auf!« »Ich möchte nur, daß ein kleines Kind einmal etwas umsonst bekommt.« »Gut, dann will ich sie aufhängen und ihr eine Nummer geben. Und ich werde die Nummer nicht aus der Ziehschachtel herausnehmen, nachdem du gegangen bist. Bist du nun zufrieden?« »Ja, danke Charlie.« 516
»Und ich werde dem Kind, das die Puppe gewinnen wird, sagen, daß sie Francie heißt.« »Nein, das dürfen Sie wirklich nicht tun, die Puppe ist viel zu häßlich!« »Weißt du was, Francie?« »Nein, was?« »Du bist schon ein rechtes Fräulein geworden. Wie alt bist du nun?« »Siebzehn, in ein paar Monaten.« »Ich weiß noch gut, was für ein schmächtiges, langbeiniges Mädchen du warst. Aber jetzt, glaube ich, wirst du bald eine ganz nette Frau werden – nicht eine Schönheit, aber doch ganz hübsch.« »Danke für das Kompliment!« sagte sie lachend. »Ist das deine kleine Schwester?« Er wies mit dem Kopf auf Laurie. »Jawohl!« »Es wird nicht mehr lange dauern, dann wird sie mit Altmaterial zu Carney wandern und nachher ihre Pennies zu mir bringen. Zuerst sind sie kleine Kinder im Kinderwagen, und im Handumdrehen sind sie bei mir und kaufen Penny-Lose. Die Kinder der armen Leute werden schnell groß.« »Aber sie wird nie Altmaterial sammeln müssen. Und sie wird auch nie bei Ihnen Lose kaufen kommen.« »Ach ja! Ich habe gehört, daß ihr wegzieht aus unserem Quartier.« »Ja, wir ziehen weg.« »Also, viel Glück, Francie!«
Sie fuhr mit Laurie in den Park, hob sie aus dem Sportwägelchen und ließ sie auf dem Gras herumtollen. Ein kleiner Brezeljunge ging an ihnen vorüber. Francie kaufte ihm eine Brezel für einen Penny ab, zerkrümelte sie und streute die Brosamen ins Gras. Ein Schwarm rußiger Spatzen kam von irgendwo herbeigeflogen und zankte sich um die Krumen. Laurie stolperte dazwischen und versuchte vergeblich, einen Spatz zu erwischen. Die zahmen Vögel ließen sie bis auf Reich517
weite herankommen, bevor sie mit ein paar flatternden Flügelschlägen ein wenig weiter weg flogen. Laurie jauchzte jedesmal vor Vergnügen, wenn ein Spatz davonflatterte. Dann setzte Francie die Kleine wieder in den Wagen und fuhr mit ihr zur alten Schule hinüber. Das Schulhaus befand sich ganz in der Nähe des Parks, den sie mit Laurie schon so oft aufgesucht hatte, aber aus irgendwelchen Gründen war Francie seit jenem Abend, an dem sie mit Sissy ihr Diplom geholt hatte, nie mehr in seine Nähe gegangen. Zu ihrer Überraschung fand sie das Schulhaus sehr viel kleiner, als sie es in Erinnerung gehabt hatte. Das kam davon, daß sich ihre Augen seither an viel größere Gebäude gewöhnt hatten. »Das ist das Schulhaus, in dem Francie zur Schule ging«, sagte sie zu Laurie. »Schulhaus, Fran-nii Schule ging«, echote Laurie. »Dein Papa ist einmal mitgekommen und hat ein Lied gesungen.« »Papa??« fragte Laurie verwundert. »Ach ja, dein Papa, den du nie gesehen hast.« »Laurie hat Papa gesehen. Mann. Großer Mann.« Sie meinte McShane damit. »Ja, Laurie, ganz richtig.« Innerhalb der zwei Jahre, in denen Francie ihre alte Schule nicht mehr gesehen hatte, war sie den Kinderschuhen entwachsen. Auf dem Heimweg ging sie an dem Haus vorüber, dessen Adresse Papa einst für sie beansprucht hatte. Es machte ihr jetzt den Eindruck eines kleinen, schäbigen Häuschens, aber sie liebte es trotzdem noch. Sie kam auch an McGarritys Schenke vorbei. Sie gehörte zwar jetzt nicht mehr McGarrity. Dieser hatte Neeley einmal im Vertrauen gesagt, er sei eben ein Mensch, der seine Ohren und Augen offenhalte, und er sehe den Tag kommen, an dem das Alkoholverbot eingeführt werden würde. Und er traf die nötigen Vorbereitungen dafür. Er kaufte sich einen großen Gasthof auf Long Island und füllte dessen Keller systematisch mit den künftig verbotenen Getränken. Sobald das Alkoholverbot in Kraft gesetzt würde, wollte er einen sogenannten ›Klub‹ eröffnen. Der Name war schon bereit: »Mae-Marie-Klub«. Seine Frau 518
sollte dann ein Abendkleid tragen und die Wirtin spielen, was ganz ihrer Veranlagung entspreche, erklärte McGarrity. Francie war überzeugt, daß Frau McGarrity sich in der Rolle einer Wirtin sehr wohl fühlen würde. Sie hoffte nur, auch McGarrity werde eines Tages sein Glück finden. Nach dem Mittagessen ging Francie in die Bibliothek, um zum letztenmal ein geliehenes Buch zurückzubringen. Die Bibliothekarin stempelte ihre Karte ab und schob sie ihr wieder hin, ohne ihr auch nur einen einzigen Blick zu schenken. »Könnten Sie mir ein Buch empfehlen für ein kleines Mädchen?« »Wie alt?« »Elf Jahre.« Die Bibliothekarin holte unter dem Pult ein Buch hervor. Francie schaute gespannt auf den Titel: »Wenn ich König wäre.« »Ich habe es nicht ernst gemeint mit dem Buch, ich brauche es nicht. Ich bin auch gar nicht elf Jahre alt.« Nun blickte die Bibliothekarin zum erstenmal in ihrem Leben in Francis Gesicht. »Ich komme nun schon seit Jahren in diese Bibliothek, schon seit ich lesen kann«, sagte Francie. »Und dies ist das erste Mal, daß Sie mich anschauen.« »Es kommen so viele Kinder«, antwortete die Bibliothekarin ungehalten. »Ich kann sie doch nicht alle ansehen. Wünschen Sie noch etwas?« »Ich möchte Ihnen nur noch sagen, wieviel mir dieser goldbraune Krug immer bedeutet hat … und die Blumen, die immer drin waren.« Die Bibliothekarin blickte nach dem Krug. Er enthielt ein paar Zweiglein rosaroter Herbstastern. Francie hatte den Eindruck, als sähe die Bibliothekarin auch den Krug zum erstenmal. »Ach, der! Wahrscheinlich stellte die Putzfrau die Blumen hinein oder sonst irgend jemand. Wünschen Sie noch etwas?« fragte sie ungeduldig. »Ich möchte meine Karte abgeben.« Francie schob ihr die abgegriffene, mit Eselsohren versehene Karte zu, die ganz mit Stempeln bedeckt 519
war. Die Bibliothekarin wollte sie eben entzweireißen, als Francie noch schnell die Hand ausstreckte und sagte: »Warten Sie, ich will sie lieber doch behalten.« Sie ging hinaus und schaute die armselige Bibliothek noch einmal gründlich von außen an. Sie wußte, daß sie sie nun nie mehr sehen würde, wenigstens nicht mehr auf dieselbe Weise wie jetzt. Und sie wollte sie so in Erinnerung behalten, wie sie ihr als Kind erschienen war. Nein, sie würde wahrscheinlich nie mehr in dieses Quartier von Brooklyn zurückkehren. Übrigens sollten nach dem Kriege die alten Quartiere abgerissen werden samt dem häßlichen Schulhaus, in dem die Oberlehrerin die kleinen Jungen zu schlagen pflegte, und die Regierung sollte an ihrer Stelle eine moderne Wohnkolonie bauen, in der Sonnenlicht und Luft eingefangen, abgemessen und in bestimmten Rationen an die Mieter ausgeteilt würden. Katie stellte Besen und Putzeimer mit der energischen Bewegung, die bedeutete, daß sie mit ihrer Arbeit fertig war, in die Ecke. Dann nahm sie Besen und Eimer nochmals zur Hand und stellte sie nochmals, diesmal aber sanft und liebevoll, an ihren Platz. Nachher rüstete sie sich zum Ausgehen, denn sie mußte noch zur letzten Anprobe gehen für ihr jadegrünes Samtkleid, das sie sich als Hochzeitskleid ausgesucht hatte. Während sie sich umkleidete, meinte sie besorgt, es könnte am Ende zu heiß sein für ein Samtkleid, denn der September jenes Jahres war ungewöhnlich mild. Sie war ein wenig ärgerlich, daß der Herbst dieses Mal so spät einsetzte. Sie widersprach Francie, als diese behauptete, der Herbst sei trotzdem da. Francie wußte, daß der Herbst gekommen war. Sie hatte das sichere Anzeichen dafür in den Straßen von Brooklyn getroffen. Mochte der Wind noch so warm wehen, mochten die Tage noch so lau sein, sobald es Abend wurde und die Straßenlaternen brannten, stellte der Maroniverkäufer seinen Stand an der Ecke auf. Auf dem Rost über dem glühenden Kohlenfeuer rösteten die Kastanien in einer großen, bedeckten Eisenpfanne. Der Italiener stand daneben und schnitt mit einem 520
stumpfen Messer kleine Kreuzchen in die noch ungebratenen Kastanien, worauf er sie in die Röstpfanne warf. Ja, der Herbst war gewiß gekommen, wenn der Maroniverkäufer wieder eingezogen war – ganz gleich, ob das Wetter das Gegenteil beweisen wollte. Nachdem sie Laurie für ihren Nachmittagsschlaf ins Bettchen gesteckt hatte, fing Francie an, noch ein paar letzte Kostbarkeiten in eine Seifenkiste zu verpacken. Sie nahm das Kruzifix und die Konfirmationsfotografie von Neeley und ihr vom Kaminsims herunter, wickelte beides in ihren Kommunionsschleier ein und legte es zuunterst in die Kiste. Dann faltete sie die beiden Kellnerschürzen von Papa zusammen und legte sie ebenfalls hinein. Sie wickelte Papas Rasierbecher mit dem in goldenen Buchstaben geschriebenen Namen ›John Nolan‹ in eine weiße Crêpe-Georgette-Bluse, die Mama zum Weggeben beiseite gelegt hatte, weil das Spitzenjabot bei der Wäsche sehr gelitten hatte. Es war dieselbe Bluse, die sie in jener Nacht, als sie mit Lee im Regen unter der Haustür stand, getragen hatte. Dann folgten die Puppe Mary und die hübsche, kleine Streichholzschachtel, die ihr Sissy einst mit den vergoldeten Pennies zu Weihnachten geschenkt hatte. Dann ihre armselige Bibliothek: die Gideon-Bibel, Shakespeares sämtliche Werke, ein abgegriffener Gedichtband, die drei Sammelbücher ihrer Lesefrüchte: das ›Nolan-Buch der klassischen Gedichte‹, das ›Nolan-Buch der modernen Poesie‹ und das ›Buch der Annie Laurie‹. Nachher ging sie ins Schlafzimmer, hob die Matratze auf und zog ein Notizbuch hervor, in dem sie während ihres dreizehnten Jahres ein abgerissenes Tagebuch geführt hatte, und ein großes, rechteckiges Briefkuvert. Vor der Seifenkiste kniend, schlug sie das Tagebuch an irgendeiner Stelle auf und stieß zufällig auf eine Eintragung, die sie am 24. September vor drei Jahren gemacht hatte: Heute abend entdeckte ich im Bad, daß ich mich allmählich in eine Frau verwandle. Es ist auch höchste Zeit! Sie lächelte vor sich hin und legte das Tagebuch zu den übrigen Sachen in die Kiste. Dann las sie die Aufschriften auf dem Briefumschlag. Inhalt: 521
1 verschlossener Briefumschlag, der erst im Januar 1967 wieder aufgemacht werden darf 1 Diplom 4 Geschichten Vier Geschichten, die sie auf Fräulein Garnders Wunsch hätte verbrennen sollen. Francie erinnerte sich daran, wie sie Gott seinerzeit versprochen hatte, sie wolle nie mehr schreiben, wenn er Mama am Leben lasse. Sie hatte ihr Versprechen gehalten. Aber nun kannte sie Gott ein wenig besser. Sie war überzeugt, daß er es ihr nicht übelnehmen würde, wenn sie wieder zu schreiben begänne. Nun, vielleicht würde sie dies wirklich eines Tages tun. Sie fügte dem Inhalt des großen Briefumschlages noch die Bibliothekskarte bei, vermerkte es auf dem Inhaltsverzeichnis und legte den Umschlag zuoberst in die Kiste. Nun war sie fertig mit Packen. Die Seifenkiste enthielt all ihre Habseligkeiten außer den Kleidern. Neeley kam pfeifend die Treppe heraufgestürmt. Er platzte mit schon halb ausgezogenem Mantel in die Küche herein. »Ich bin in schrecklicher Eile, Francie. Habe ich noch ein sauberes Hemd?« »Es ist noch eins da, aber es ist noch nicht gebügelt. Ich will es dir schnell bügeln.« Sie machte das Eisen heiß, dann besprengte sie das frisch gewaschene Hemd mit Wasser und legte das Bügelbrett über zwei Stuhllehnen. Neeley holte den Beutel mit dem Schuhputzzeug aus dem Wandschrank hervor und machte sich daran, seine bereits makellos sauberen Schuhe noch etwas glänzender zu polieren. »Gehst du aus?« fragte Francie. »Jawohl! Ich komme grad noch recht, wenn ich mich furchtbar beeile. Ich gehe zu Van und Schenk und ihrem Jungen. Gott, wie dieser Schenk singen kann! Er setzt sich so ans Klavier.« Neeley setzte sich an den Küchentisch, um es vorzumachen. »Er sitzt seitwärts mit gekreuzten Beinen und schaut das Publikum an. Dann stützt er den linken Ellbogen auf den Notenständer und spielt mit der rechten Hand die Begleitung zu seinen Liedern.« Neeley konnte auch sein Singen beinahe vollkommen imitieren. 522
»Er ist wirklich wunderbar. Singt ein wenig ähnlich, wie Papa zu singen pflegte.« Papa! Francie suchte das Unionsabzeichen auf Neeleys Hemd und bügelte es zuerst. (»Dieses Abzeichen ist wie ein Ornament … wie eine Rose, die man trägt.«) Die Nolans kauften sich lauter Sachen, die mit dem Unionsabzeichen versehen waren. Sie taten es zur Erinnerung an Johnny.
Neeley betrachtete sich im Spiegel, der über dem Ausguß hing. »Findest du, ich sollte mich rasieren?« fragte er. »Damit kannst du schon noch fünf Jahre warten.« »Och, halt's Maul!« »Sagt – keine – wüsten – Wörter – zueinander!« sagte Francie, indem sie ihre Mutter imitierte. Neeley lachte und ging dazu über, sich Gesicht, Hals, Arme und Hände zu waschen. Während des Waschens sang er: Ägypten träumt in deinem Blick, und Kairo spricht aus deinem Stil … Und Francie bügelte glücklich drauflos. Endlich war Neeley angekleidet. Er stellte sich in seinem dunkelblauen, doppelreihigen Anzug, dem frischen, weißen Hemd mit dem weichen Umlegekragen und einem seidenweichen getupften Selbstbinder vor Francie hin. Er roch frisch und sauber nach dem Waschen, und sein lockiges Haar schimmerte wie Gold. »Wie sehe ich aus, Primadonna?« Er knöpfte sich den Rock elegant zu, und Francie bemerkte, daß er den Siegelring seines Vaters trug. 523
Sie mußte wieder an Großmutter Rommely denken und wie sie einmal sagte, die Rommely-Frauen hätten die Gabe, die Geister ihrer geliebten Toten zu sehen. Francie sah Papa zum erstenmal wieder. »Neeley, erinnerst du dich noch an das Lied von Molly Malone?« Er steckte eine Hand in die Rocktasche, wandte sich ein wenig von Francie ab und begann zu singen: In Dublin, dem Städtchen der lieblichen Mädchen, erblickte ich erstmals schön Molly Malone … Papa … Papa! Neely hatte die klare, sichere Stimme. Und wie unglaublich schön er war! So schön war er, daß sich, obwohl er noch nicht sechzehn Jahre alt war, die Frauen nach ihm umwandten, wenn er die Straße hinunterging. So schön war er, daß sich Francie neben ihm immer ganz schäbig und liederlich vorkam. »Neeley, findest du, ich bin hübsch?« »Wenn ich du wäre, würde ich einmal eine Pilgerfahrt zur heiligen Therese machen. Ein Wunder könnte dir vielleicht helfen.« »Nein, sag's richtig, ich meine es ernst.« »Warum läßt du dir die Haare nicht abschneiden, du könntest doch wie die andern Mädchen kurze Locken tragen, statt dir solche Klumpen um den Kopf zu winden.« »Ich muß damit noch warten, bis ich achtzehn bin, ich habe es Mama versprochen. Aber findest du denn nicht, daß ich trotzdem ganz nett bin?« »Frag mich später wieder einmal, wenn du ein wenig rundlicher geworden bist!« »Bitte, sag's mir doch jetzt!« Er schaute sie von oben bis unten prüfend an und sagte schließlich: »Es geht.« Und damit mußte sie sich zufriedengeben. Er hatte es eigentlich sehr eilig gehabt, aber nun verweilte er doch gern noch ein wenig. 524
»Francie! McShane – ich meine Dad, wird heute abend zu uns zum Essen kommen. Und nachher muß ich arbeiten gehen. Morgen ist die Hochzeit und am Abend dann das Fest im neuen Heim. Am Montag muß ich wieder zur Schule. Und unterdessen wirst du den Zug nach Michigan nehmen und wegfahren. Ich werde also keine Gelegenheit mehr haben, dir allein adieu zu sagen. Drum will ich es lieber jetzt tun.« »Ich werde aber zu Weihnachten nach Hause kommen, Neeley.« »Aber dann ist es nicht mehr dasselbe.« »Ja, ich weiß.« Er zögerte. Francie hielt ihm die rechte Hand hin. Er schob die Hand weg, umarmte die Schwester und küßte sie auf die Wange. Francie umklammerte ihn und begann zu weinen. Er schob sie von sich. »Gott, die Mädchen gehn mir auf die Nerven«, sagte er. »Immer werden sie gleich so sentimental.« Aber seine Stimme klang so unsicher, als hätte er selbst das Weinen zuvorderst. Er wandte sich plötzlich ab und verließ die Wohnung fluchtartig. Francie ging in den Korridor hinaus und sah ihm nach, wie er die Treppen hinuntersprang. Drunten im Hausflur, der wie ein dunkler Pfuhl war, wenn man von oben hinunterschaute, blieb er stehen und wandte sich nochmals nach Francie um. Sein Haar schimmerte wie ein helles Licht aus der Dunkelheit herauf. Er sieht Papa so ähnlich … er ist wirklich fast wie Papa, dachte Francie. Nur daß mehr Energie ist in seinem Gesicht. Er winkte ihr zu. Dann war er verschwunden.
Vier Uhr. Francie beschloß, sich zuerst anzukleiden und dann das Abendessen zuzubereiten, damit sie, wenn Ben sie abholen kam, schon fertig angezogen war. Er hatte zwei Billetts fürs Theater. Sie wollten miteinander Henry Hull in ›Der Mann, der zurückkehrte‹ sehen. Es war ihr letztes Rendezvous, denn Ben mußte am nächsten Tage in seine Universitäts525
stadt fahren. Sie würden sich also erst zu Weihnachten wiedersehen. Sie mochte Ben gut leiden. Sie mochte ihn wirklich schrecklich gut leiden. Sie wünschte sich nur, sie könnte ihn auch lieben. Wenn er nur nicht immer gar so selbstsicher wäre! Wenn er nur ein einziges Mal einen Fehler beginge! Wenn er sie nur einmal nötig hätte! Wer weiß, in den nächsten fünf Jahren konnte ja noch manches geschehen. Sie stand in ihrem weißen Unterrock vor dem Spiegel. Während sie beim Waschen den Arm über den Kopf gebogen hielt, mußte sie daran denken, wie sie damals als kleines Mädchen auf der Feuerleiter zu sitzen pflegte und den großen Mädchen zusah, wie sie sich vor dem Ausguß wuschen und sich zu ihrem Stelldichein rüsteten. Ob ihr jetzt wohl auch jemand zusah, wie sie damals andern zugeschaut hatte? Sie blickte aus dem Fenster. Ja, jenseits des Hofes saß ein kleines Mädchen auf der Feuerleiter mit einem Buch im Schoß und einem Säckchen voll Kandiszucker in der Hand. Das Mädchen guckte zwischen den Eisenstäben hindurch zu Francie hinüber. Francie kannte die Kleine. Sie war ein schmächtiges kleines Ding von zehn Jahren und hieß Florrie Wendy. Francie bürstete sich ihr langes Haar, flocht es in Zöpfe und wand sich die Zöpfe um den Kopf. Sie zog frische Strümpfe an und weiße Pumps mit hohen Absätzen. Bevor sie in ihr frisch gewaschenes rosafarbenes Leinenkleid schlüpfte, bestreute sie ihr kleines Taschentuch mit Veilchenpuder und steckte es ins Mieder. Dann hörte sie Frabers Wägelchen in den Hof einfahren. Sie lehnte sich aus dem Fenster. Ja, da war es, aber es war nicht mehr dasselbe braune Wägelchen mit dem Pferd davor, sondern ein kleines, kastanienbraunes Auto, auf dessen Seiten Frabers Name in goldenen Lettern gemalt stand. Der junge Mann, der sich anschickte, das kleine Fahrzeug zu waschen, war auch nicht mehr Frank, sondern ein krummbeiniger, saftloser Junge. Sie schaute zu den Fenstern jenseits des Hofes hinüber und sah, wie Florrie immer noch auf der Feuerleiter saß und zu ihr herüberstarrte. Francie winkte ihr und rief: »Hallo, Francie!« 526
»Ich heiße gar nicht Francie, ich heiße Florrie«, schrie das kleine Mädchen zurück. »Das weißt du doch!« »Ja, ich weiß schon«, sagte Francie. Sie blickte in den Hof hinunter. Der Baum, dessen regenschirmförmige Blätter sich einst um die Eisenstäbe ihrer Feuerleiter gewunden hatten, war umgehauen worden, denn die Hausfrauen hatten sich beklagt, ihre Wäsche verfange sich in seinen Ästen. Der Hausbesitzer hatte zwei Männer vorbeigeschickt, und diese hatten den Baum umgehackt. Aber der Baum hatte sich nicht umbringen lassen … er war einfach nicht umzubringen. Der Wurzelstrunk hatte wieder ausgeschlagen, und der neue Baum hatte sich den Boden entlanggeschlängelt, bis er eine Stelle fand, über die keine Wäscheleinen hingen. Dann hatte er sich aufgerichtet und war wieder gen Himmel gewachsen. Annie, das Tannenbäumchen, das die Nolans mit Wasser und Roßmist so liebevoll gepflegt hatten, hatte bald zu welken begonnen und war schließlich verdorrt. Aber dieser Baum im Hof, dieser Baum, den die Männer umgehackt und dessen Wurzeln sie sogar mit Feuer ausgebrannt hatten, dieser Baum lebte! Er lebte! Und es gab nichts, was ihn ausrotten konnte. Francie sah noch ein letztes Mal zu Florrie Wendy hinüber, die lesend auf der Feuerleiter hockte. »Leb wohl, Francie«, flüsterte sie. Dann schloß sie das Fenster.
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