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J. G. Ballard, Avram Davidson, Philip K. Dick, Lester del Rey, Jack Vance
Eiland des Todes … und andere Utopia-Kurzgeschichten
ERICH PABEL VERLAG • RASTATT (BADEN)
Inhaltsverzeichnis
J. G. Ballard
Eiland des Todes (The Terminal Beach)
Avram Davidson
Der Golem (The Golem)
Philip K. Dick
Spielzeug (The little Movement)
Jack Vance
Die Dekabrache (The Gift of Gab)
Lester del Rey
Alles andere ist nichts (Forsaking all others)
Eiland des Todes (The Terminal Beach) von J. G. Ballard In der Nacht ruhte er auf seinem Lager aus alten Zeitungen und Magazinen in der Bunkerruine und hörte die langen Brecher auf den Strand der Lagune rauschen. Das erinnerte ihn an die Wellen des Atlantiks am Strand von Dakar, wo er aufgewachsen war. Er entsann sich des Wartens auf seine Eltern, die mit dem Wagen vom Flugplatz über die Uferstraße kamen. All diese Erinnerungen tauchten wieder auf und beruhigten ihn. Er stand auf und rannte zu den hohen Dünen, die den vom Meer herüberwehenden Wind abschirmten. Im Mondlicht sah er die leicht schwankenden Palmen und die Trümmer der auf dem Notflugplatz verrottenden Superfestungen. Traven wanderte durch den rieselnden Sand und erinnerte sich plötzlich nicht mehr an die Lage des Strandes, obwohl das Atoll nur einen Durchmesser von einem Kilometer hatte. Er sah die auf den Dünen stehenden Palmen, die aus dieser Sicht wie unerklärliche Symbole wirkten, Traven taumelte in die von einem Raupenfahrzeug zurückgelassene Spur. Sein Ziel hatte er schon vergessen. Die enorme Hitze einer Atombombenexplosion hatte den Sand stellenweise zu einer festen Schicht verschmolzen. Der Wind hatte die Spur der breiten Raupenketten vom Flugsand befreit, so daß sie wie der Abdruck eines technischen Fossils wirkte. Bill Traven war zu schwach, um weiterzugehen. Er 4
hockte sich schon nach kurzer Zeit nieder und wühlte mit dem Finger in dem trockenen Sand unter der festgebrannten Spur. Kurz vor Sonnenuntergang torkelte er wieder in den Bunker und warf sich auf sein Lager. Er schlief sofort ein und erwachte erst gegen Mittag wieder. Wie an jedem der heißen und absolut windstillen Nachmittage saß Traven im Schatten eines der vielen Bunker und lehnte sich gegen die harte Betonwand. Er starrte auf die Wände der anderen Bunker und die vielen dunklen Türöffnungen. Jeden Nachmittag machte er seine Wanderung zum äußeren Bunkerring. Er hatte einen rostigen Schlüssel gefunden, den er an den verschlossenen Türen ausprobierte. Fast immer verirrte er sich in dem Gewirr der verlassenen Betonklötze, raste hin und her und sank schließlich erschöpft zusammen. Er suchte immer wieder einen Ausweg aus dem Labyrinth, geriet aber immer weiter nach innen und gab es schließlich auf. Aus irgendeinem Grund verirrte er sich stets dann, wenn die Sonne über dem Eniwetok-Atoll am höchsten stand. Dann hockte er in einer Ecke, beobachtete die träge kriechenden Schatten und hing seinen sonderbaren Gedanken nach. Eine Frage beschäftigte ihn besonders: Welche Art von Menschen würde diese Bunkerstadt bewohnen? „Diese Insel ist das Symbol einer Geisteshaltung“, erklärte Osborne, einer der später eintreffenden Biologen. Traven hatte das schon drei Wochen nach seiner Ankunft herausgefunden. Trotz des Sandes und der wenigen Palmen wirkte die Insel wie ein künstliches Gebilde. Das Atoll war eine Insel aus Beton und Stahl. Traven hatte ein System von Wegen und ringförmig angeordneten Bunkern vorge5
funden, alles halb unter dem Flugsand vergraben und scheinbar längst vergessen. Die Insel war nach dem Verbot der Atombombenversuche aufgegeben worden. Die vielen Betonbunker und Anlagen machten die Rückverwandlung der Insel in ein Südseeparadies unmöglich. Sie wurde aufgegeben und vergessen. Traven wußte aber, daß es noch andere Motive dafür gab. Der primitive Mensch hatte die Notwendigkeit gespürt, die Ereignisse seiner Umwelt in seine Psyche zu assimilieren. Der Mensch des 20. Jahrhunderts hatte diesen Prozeß umgekehrt. Und doch existierte die Insel. Nur einige Wissenschaftler hatten sich mit dem ehemaligen Versuchsatoll beschäftigt. Das Vorpostenboot der Marine war bereits einige Jahre vor Travens Ankunft zurückgezogen worden. Den meisten Menschen galt die mißbrauchte Insel als ein erschreckendes Symbol für die Zeit des kalten Krieges. Das Atoll wirkte so deprimierend wie die letzten Spuren der Konzentrationslager, vielleicht noch entsetzlicher, denn es war ein Mausoleum für die noch nicht Gestorbenen, für die vom Atomkrieg bedrohten Massen. Traven hatte die Zeit des kalten Krieges und der Versuche mit immer größeren Atombomben, die Periode zwischen 1945 und 1965, das Pre-Drittel genannt. Es war ein schreckliches Kapitel der Weltgeschichte gewesen, und von allen nur zu gern vergessen worden. Es hatte ihn wegen der vorherrschenden moralischen und psychologischen Momente beeindruckt. Die Welt war zwei Dezennien lang am abbröckelnden Rand eines Vulkans in Bewegung gewesen. Traven war überzeugt, daß die Menschheit auch weiterhin auf den Untergang zusteuerte. 6
Der Tod seiner Frau und seines sechsjährigen Sohnes, die bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, paßte zu seinem Weltbild und war nur ein Teil der historischen und psychischen, direkt auf den Nullpunkt zuführenden Synthese. Auch die Autobahnen, die vielspurigen Bahnen des Todes, auf denen unzählige Menschen täglich ins Verderben rasten, waren nur Abkürzungen zum weltweiten Armageddon. * Bill Traven war bei der gefährlichen Suche nach einer Öffnung im Riff ans Ufer gelangt. Scharfe Korallen hatten das kleine, von einem Perlenfischer auf der Charlotteninsel erworbene Motorboot aufgerissen, und es versank im flachen Uferwasser. Traven hatte sich erschöpft ans Ufer gerettet, eine Weile geruht, dann den Weg zu den verlassenen Bunkern eingeschlagen und gegen Mitternacht irgendwo hingelegt. Am nächsten Morgen war er zerschunden und kaum ausgeruht erwacht. Im hellen Sonnenlicht musterte er die Umgebung. Die Betonbrocken gehörten zum Rand eines größeren Reservoirs. Überall auf der Insel befanden sich diese künstlich angelegten Seen. Die Wände waren zum Teil geborsten, das Wasser war versickert. Nur am Boden befand sich noch eine seichte Lache. Traven machte erst einmal Inventur. Sein Körper bewies seine Existenz. Er fand sich in einer gespenstischen, öden Landschaft. Überall standen Betonbunker, hier und da hatte eine Palme ihre Wurzeln in eine Spalte gesteckt und preßte 7
das harte Gestein auseinander. In der flimmernden Hitze wirkte das Atoll wie die Ausgeburt einer krankhaften Phantasie. Außer den wenigen Palmen gab es kein Leben auf der Insel. Die Fauna war evakuiert worden, die Kleinlebewesen hatten die Versuche nicht überlebt. Die Zeit schien in dieser unwirklich anmutenden Umgebung stillzustehen. Traven sah nur Ruinen einer eigenartig wirkenden Architektur, Bunker über Bunker, die offensichtlich immer enger werdende Kreise bildeten. Bill Traven benetzte Hemd und Hose mit dem lauwarmen Wasser der Lache und richtete sich wieder auf. Sein Spiegelbild im Wasser hatte ihm einen hageren, bärtigen Mann gezeigt. Er war ohne Vorräte auf die Insel gekommen. Während seiner langen Reise über den Pazifik hatte er stark abgenommen. Er wirkte jetzt wie ein verhungerter Bettler, fühlte sich aber von der Last des Fleisches befreit. Nur der Wille hielt ihn noch zusammen, der drängende Wille, der ihn zur Insel getrieben und alle Strapazen hatte überwinden lassen. Traven wanderte stundenlang umher und inspizierte die verlassenen Bunker. Er überquerte den fast zugewehten Landestreifen, wo die Gerippe der riesigen Bomber lagen. Sie wirkten wie die Kadaver gigantischer Vögel in einer Wüste des Todes. * Bill Traven fand eine enge Straße zwischen rostenden Wellblechhütten. Die waren einmal Erholungsräume für Soldaten gewesen. Traven entdeckte Duschkabinen und 8
sogar eine vollständig eingerichtete Caféteria. Eine Wand der Hütte war eingedrückt und der Sand eingedrungen. Er bedeckte alles. Eine große Musikbox ragte noch aus dem Sand. Sie war halb umgekippt, doch die Platten standen noch in ihren Schlitzen. Hinter den Hütten fand Traven ein ausgetrocknetes Betonbecken. Auf dem Boden lagen verschiedene Körper, Plastikpuppen in Lebensgröße, die nach einem Versuch achtlos in das Becken geworfen worden waren. Die aufgerissenen Leiber und die verbrannten Gesichter wirkten auf ihn wie eine Vision zukünftiger Schrecken. Traven stand lange am Rand der Grube, die einem Massengrab glich. Für ihn waren die verrenkten Glieder, die abgerissenen Beine, Arme und Köpfe kein Spuk, sondern Wirklichkeit. Das Rauschen des Meeres klang über die Dünen hinweg. Traven mied das Ufer. An den Bunkern waren rostige Leitern angebracht. Bill brauchte nur hinaufzuklettern, um einen Überblick über die Insel zu gewinnen. Irgend etwas hielt ihn aber davon ab. Er irrte zwischen den Bunkern umher wie in einer immer enger werdenden Falle. Die schmalen Kameraschlitze waren alle nach innen gerichtet. Bei den Versuchen hatte man Kameras in den Bunkern untergebracht. Traven befand sich noch im äußersten Ring. Zum Zentrum hin gab es weitere Ringe von kleineren Bunkern. In der Mitte mußte die Stelle liegen, an der die Bombe zur Explosion gebracht worden war Für Traven bedeutete das Zentrum der Insel den absoluten Nullpunkt, in dessen Nähe er sich noch nicht wagte. Zum Glück war dieser Nullpunkt von hohen Dünen umgeben und blieb ihm deshalb noch verborgen. 9
* Nachdem er ein paar Nächte unter freiem Himmel verbracht hatte, kehrte Bill Traven wieder zu dem Bunker zurück, in dem er die erste Nacht verbracht hatte. Dieser Bunker war sein Heim, wenngleich dieser Begriff in diesem Zusammenhang nicht recht stimmte. Innerhalb der meterdicken Betonwände empfand Traven ein Gefühl der Geborgenheit, besonders dann, wenn der Wind den losen Sand über die Insel peitschte. Stundenlang saß Bill in dem dunklen Bunker und starrte auf den durch die Türöffnung rieselnden Sand. Das Licht fiel durch die fünf der Inselmitte zugewandten schmalen Schlitze und zeichnete ein bizarres Muster auf die gegenüberliegende Wand. Wenn Traven morgens erwachte, fiel sein Blick immer auf die Wand mit den sonderbaren Lichtsymbolen. Die Tage vergingen langsam Bill suchte noch mehr alte Zeitungen zusammen und machte sich daraus ein Lager. Eines Tages, Traven hatte gerade einen Anfall von BeriBeri hinter sich, fiel sein Blick auf das Bild eines Kindes, eines sechsjährigen Mädchens. Er riß das Blatt aus dem Magazin und befestigte es an der Wand. Das Bild erinnerte ihn schmerzlich an seinen Sohn. Er konnte stundenlang still auf dem Boden sitzen und das Bild des kleinen blonden Mädchens anstarren. Traven blieb wochenlang in seinem Bunker und machte nur sehr kurze Ausflüge in die nähere Umgebung. Die weitere Erforschung der Insel verschob er auf einen anderen Zeitpunkt. Die Bunkerringe waren für ihn symbolhaft. Er 10
befand sich jetzt noch am Rand der Anlagen, also noch weit vom Nullpunkt entfernt. Er lebte nur noch für den Augenblick und vergaß jede Zeiteinteilung. Nach und nach wurde er so schwach, daß er kaum noch auf die Suche nach Nahrung gehen konnte. Er lebte von den kargen Notrationen, die er in den ersten Tagen in den alten Flugzeugen aufgestöbert hatte. Ohne Werkzeuge brauchte er mitunter einen ganzen Tag, um die Büchsen zu öffnen. Sein körperlicher Verfall war nicht mehr aufzuhalten. Traven musterte seine spindeldürren Arme und Beine mit den Augen eines unbeteiligten Zuschauers. Er wollte es nicht anders. Bill vergaß das Meer hinter den Dünen. Seine Welt war eine öde Ansammlung von Bunkerruinen im Mittelpunkt einer leeren Fläche. Nachts hörte er zwar das Rauschen der Wellen, aber dieses Geräusch vermochte bald nicht mehr, die Erinnerungen an die Kindheit zu wecken. Traven lebte zwischen seinem Bunker, den Wellblechhütten und den Flugzeugwracks. Durch die Schlitze in der Wand konnte er die vielen Betondecken sehen. Sie waren einmal mit Wasser und verschiedenen Pflanzen und Tieren angefüllt gewesen. Wissenschaftler hatten die Einwirkung von Atombombenexplosionen auf Pflanzen und Tiere studiert. Die Veränderungen waren aber so besorgniserregend gewesen, daß alles Leben vernichtet werden mußte. Wenn das letzte Abendlicht schräg einfiel, wirkten die wabenförmig angeordneten Becken wie Zierteiche, jeder Bunker war ein Mausoleum. Manchmal sah Traven die Gestalten seiner Frau und seines Sohnes einsam in der Ferne stehen. Sie rührten sich nie von der Stelle und schienen ihn nur zu beobachten. Bill hatte immer das Gefühl, daß sie ihn 11
lockten, obwohl sie nichts sagten und keine Gesten machten. Manchmal rappelte er sich hoch und taumelte auf die beiden Schemen zu. Sie wichen aber stets langsam zurück und verblaßten schließlich. Diese Visionen kamen immer kurz vor Sonnenuntergang, wenn es schnell kühl wurde. Traven kehrte dann immer zitternd und verzweifelt zu seinem Bunker zurück und warf sich auf sein Lager. Sein Leben bestand nur noch aus Warteperioden zwischen den Visionen. Auch wenn er die beiden nicht sah, erinnerte er sich an ihre Gesichter, er träumte und sprach zu ihnen, ohne je eine Antwort zu erhalten. * Erst nach der Entdeckung der Großbunker erkannte Bill, daß er die Insel nie wieder verlassen würde. In diesem Stadium, zwei Monate nach seiner Ankunft, machten sich die Anzeichen des schnellen Verfalls immer stärker bemerkbar. Er hatte kein Gefühl mehr in seinen Händen und Füßen und wurde von Tag zu Tag schwächer. Aber das Zentrum der Insel war noch nicht erforscht. Traven zwang sich immer wieder auf die Beine und torkelte kurze Strecken. Eines Abends hockte er wieder im warmen Sand und starrte in die Ferne. Schatten zwischen einigen schwankenden Palmen täuschten ihm das Bild seiner Frau und seines Sohnes vor, und er eilte auf sie zu. Schon nach fünfzig Metern verlor er die Orientierung und irrte ziellos im Kreis herum. Erst nach Stunden stieß er zufällig wieder auf den 12
versandeten Landestreifen. Dabei trat er auf eine zerbrochene Coca-Cola-Flasche und schnitt sich den rechten Fuß auf. Müde und erschöpft blieb er liegen und faßte den Entschluß, die Suche am nächsten Tag fortzusetzen. Am folgenden Morgen irrte Bill tatsächlich zwischen den Bunkern umher und erreichte die öde Zone zwischen zwei Bunkerreihen. Die Hitze lastete auf der Insel, doch Traven schien die unbarmherzigen Sonnenstrahlen nicht zu spüren. Die kleiner werdenden Kreise der Gebäude sagten ihm, daß er sich dem Mittelpunkt der Insel nähere. Bill Traven war noch nie so weit vorgedrungen. Er stieg ächzend auf einen Hügel und blickte in die Ferne. Er sah eine Ebene, aus der die für die Einstellung der Meßinstrumente bestromten Türme in die Höhe ragten. An den grauen Wänden der Bunker zeichneten sich Figuren ab – die Konturen menschlicher Gestalten, die in der Hitze der Atomexplosionen verdampft waren. Natürlich waren es nur Puppen gewesen, Ersatzwesen aus Plastik und Blech. Die Abdrücke, die sie hinterlassen hatten, wirkten jedoch unheimlich realistisch. Hinter dem ersten Ring auf der anderen Seite erblickte Traven mehrere große Betonkästen. Sie waren größer als die anderen Bunker und wirkten in der flimmernden Hitze wie hingekauerte Elefanten. Bill humpelte in einem weiten Bogen auf diese großen Bunker zu. Er passierte zertrümmerte Häuser und Bunker, die von der Wucht der Explosion mitsamt den tonnenschweren Fundamenten aus dem Boden gerissen worden waren. Die Erde schien hier eine Herde von Megalithen aus ihrem Schoß in eine höllische Welt gestoßen zu haben. 13
Traven kam sich einsam und verloren vor. Er fühlte sich wie ein Insekt zwischen gewaltigen Bauwerken. Etwa zweitausend viereckige Betonklötze waren in perfekter Symmetrie angeordnet. In jedem dieser Betonklötze hatten sich einmal empfindliche Meßinstrumente befunden. Drei Seiten dieser mächtigen Würfel waren völlig glatt, denn nur an der Rückseite hatten sie jeweils eine schmale Tür. Bill taumelte durch die Reihen dieser Betonwürfel wie durch eine gespenstische Traumlandschaft. Von seinem jeweiligen Standort aus konnte er immer nur die Türen einer bestimmten Reihe sehen, denn die anderen wurden immer von den Würfeln verdeckt. Von außen sahen diese Betongebilde alle gleich aus, doch sie hatten verschiedene Wandstärken. Einige der schwächeren Wände waren von dem gewaltigen Explosionsdruck eingedrückt worden und verwitterten schon. Traven verlor jetzt jeden Kontakt zur Realität. Er setzte sich in den Schatten eines Betonwürfels und dachte nur noch an seine Frau und seinen Sohn. Gegen Abend spürte er Hunger. Er mußte wieder zu seinem Stützpunkt zurückkehren. Verwirrt torkelte er in den engen Gassen zwischen den Betonwürfeln umher und verlor jede Orientierung. Später kam er auf den Gedanken, sich nach der Sonne zu richten. Trotzdem fand er sich bald am Ausgangspunkt seiner Wanderung wieder. Irgend etwas hielt ihn fest, zog ihn immer näher an den Mittelpunkt der Insel heran, dorthin, wo die Bombe zur Explosion gebracht worden war. Erst in der Nacht fand Bill einen Ausweg aus dem Labyrinth. Er holte die restlichen Vorräte aus den Flugzeugen, 14
benutzte ein altes Rahmengestell als Schlitten und zerrte seine wenigen Habseligkeiten zum inneren Bunkerring. Er richtete sich in einem halb umgestürzten Bunker ein, indem er das Bild des kleinen Mädchens an die Wand heftete und seine Zeitungen auf den Boden legte. Das Bild fiel fast auseinander und war kaum noch zu erkennen. Von nun an machte Traven lange Wanderungen durch die Gassen zwischen den Betonwürfeln. Es waren sinnlose Wanderungen in einer Totenstadt. Manchmal nahm er eine Wasserkanne mit und blieb drei Tage zwischen den gleichförmigen Klötzen. Die Welt aber schrumpfte auf wenige Begriffe zusammen. Traven hatte erst das letzte Ufer erreicht und bewegte sich jetzt in der Nähe des letzten Bunkers. Bill setzte das Leben zwischen Wirklichkeit und Traum fort. Er sah seine Frau und seinen Sohn jetzt sehr oft. Sie standen abends irgendwo auf den Dünen und beobachteten ihn mit ernsten Gesichtern. Auf seinen Wanderungen entdeckte Bill einige U-BootBunker. Sie befanden sich in einer jetzt ausgetrockneten Bucht. Auf einem Turm blinkte eine rote Warnlampe. Traven kümmerte sich nicht darum und kletterte in die Bunker hinein. Im flachen Wasser schwammen merkwürdige Fische umher, leuchtende Pflanzen erhellten das trübe Naß. Bill fand Schränke mit Vorräten und räumte sie aus. Jetzt hatte er endlich vernünftige Nahrung. Er wanderte von nun an täglich zu den Bunkern und untersuchte alle Kammern sowie die auf der Mole stehenden Hütten. Es handelte sich offensichtlich um eine von Biologen eingerichtete Station. 15
In einer Hütte fand er Zeichnungen und Tabellen mit Angaben über mutierte Chromosomen. Er rollte die Papiere zusammen und nahm sie mit. Die Angaben sagten ihm nichts, aber er amüsierte sich damit, den Zeichnungen Titel zu geben. Eines Tages stieß er zufällig wieder auf die halb von Sand verdeckte Musikbox. Er riß die Plattentitel ab und heftete sie an die Chromosomenkarten, die dadurch eine neue Bedeutung erhielten. * Am 5. August schrieb Dr. C. Osborne in das EniwetokTagebuch: „Habe einen einsamen, scheinbar irren Mann gefunden. Er lebt in einem der vielen Bunker in der Nähe der Inselmitte. Er leidet an einer Überdosis von Radioaktivität und an Unterernährung, ist sich dessen aber nicht bewußt. Er scheint die Welt vergessen zu haben und in einem sehr begrenzten Bereich zu leben. Dieser Mann, er heißt Traven, behauptet, eine wissenschaftliche Arbeit durchzuführen. Ich fürchte, er kennt seine wirklichen Motive sehr genau. Auch die besondere Rolle des Atolls ist ihm bekannt. Die Insel scheint diejenigen anzuziehen, die starke Vorahnungen des Todes empfinden. Er ist ein Besessener und läßt sich nicht beeinflussen. Wahrscheinlich ist er nicht der erste, der heimlich nach Eniwetok gekommen ist. Nach ihm werden bestimmt noch andere kommen.“ *
16
Bill Traven verbrauchte seine Vorräte und beschränkte seine Wanderungen auf sehr kurze Ausflüge zwischen den Bunkern. Sein verletzter Fuß war entzündet und stark angeschwollen. In den Hütten der Biologen lagerten noch einige Lebensmittel, doch Traven hatte nicht mehr die Kraft, den Weg bis dorthin zurückzulegen. Er verlor das Bewußtsein für Raum und Zeit; seine Welt schrumpfte bald auf die wenigen Quadratzentimeter unter seinen Füßen zusammen. Nur einmal versuchte er einen Ausbruch, fand sich aber bald erschöpft im Schatten eines Bunkers. Die Betonwürfel waren eine Falle, aus der er nicht mehr in die Außenwelt fand. In klaren Augenblicken spürte er, daß er zwischen diesen gigantischen Grabsteinen sterben würde. Sein Bein war jetzt schon bis zum Knie stark geschwollen und verursachte ihm starke Schmerzen. Traven lehnte wieder an der Mauer eines Betonwürfels, als er das Geräusch eines Flugzeugmotors hörte. Er taumelte mühsam hoch und wankte durch die Gassen zwischen den Betonwürfeln, die für ihn ein auswegloses Labyrinth darstellten. Er konnte nicht mehr hinaus, nur noch weiter zur Mitte, zum Nullpunkt. Bill blieb eine Weile stehen und sah dem winzigen Pünktchen nach, das allmählich kleiner wurde und schließlich verschwand. * Er lag wieder in seinem Bunker, als er die Stimme hörte. „Wer sind Sie?“ fragte ein blonder Mann, der gerade eine 17
Ampulle mit einem Serum öffnete. „Sind Sie sich darüber im klaren, daß Sie auf dem letzten Loch pfeifen?“ „Ich heiße Traven und bin froh, daß Sie mich gefunden haben …“ „Das glaube ich Ihnen gern“, murmelte der Arzt, der jetzt das Serum in eine Spritze zog. „Sie hätten doch den Notsender benutzen können. Jedenfalls werde ich die Marine benachrichtigen und Sie abholen lasse.“ „Nein!“ Bill richtete sich etwas auf. „H-h-habe eine Genehmigung. Ich erledige einen Forschungsauftrag.“ „Was erforschen Sie denn?“ Dr. Osborne gab Traven die Injektion, verband den Fuß und holte eine Wasserflasche. „Sie haben unser Lager geplündert“, sagte er vorwurfsvoll. Traven schüttelte träge den Kopf „Ich wußte nicht, daß Sie zurückkommen würden.“ „Sie müssen sich schon im Delirium befinden“, murmelte der Arzt. Eine junge Frau kam in den Bunker und sah sich um. Der am Boden liegende Mann schien sie nicht besonders zu interessieren. Dr. Osborne schickte sie mit einem Auftrag hinaus. Traven starrte der jungen Frau nach. War sie das Kind, dessen Bild an der Wand hing? Die Gedanken verschwimmen wieder zu unklaren und unsinnigen Fetzen. * Die junge Frau kam am Nachmittag mit einem Jeep und brachte ein Feldbett, ein Sonnensegel und eine Wasserkanne. Traven hatte inzwischen geschlafen und fühlte sich fri18
scher. Dr. Osborne kehrte etwas später von einem Rundgang zurück. „Was treiben Sie hier?“ fragte die junge Frau. „Ich suche meine Frau und meinen Sohn.“ „Die sind hier auf der Insel?“ Die Frau schien sich trotz dieser Frage nicht sehr zu wundern. Sie sah sich nur um und runzelte die Stirn. „Wo sonst, wenn nicht hier!“ murmelte Traven. Dr. Osborne betrachtete das Bild an der Wand. „Ist das Ihre Tochter?“ fragte er dann. „Nein. Sie hat mich adoptiert.“ Dr. Osborne und die junge Frau konnten den sonderbaren Mann nicht verstehen. Sie gaben sich mit dem Versprechen zufrieden, daß er die Insel verlassen würde, und verschwanden. Sie kamen aber täglich zurück, versorgten die Wunde und unterhielten sich mit Traven. Dr. Osborne fand bald heraus, daß Bill Bomberpilot gewesen war, einer von jenen, denen die Ächtung der Atombomben den Boden unter den Füßen weggezogen hatte. „Ein Schuldkomplex ist mitunter schwer zu beseitigen“, sagte er mitfühlend. „Solch ein Komplex darf aber nicht zur Quelle moralischer Sanktionen werden. Ich fürchte, Sie übertreiben da ein wenig, Mr. Traven. Erinnern Sie sich an Eatherly und seinen Schuldkomplex? Ich glaube, Sie haben Eniwetok zu einem Symbol gemacht.“ Traven schüttelte den Kopf. „Die H-Bombe ist für mich das Symbol für absolute Freiheit“, erklärte er „Sie gibt mir das Recht, alles zu tun, was mir in den Sinn kommt.“ „Das ist eine merkwürdige Logik“, entgegnete Dr. Os19
borne. „Sind wir nicht wenigstens für unser physisches Sein verantwortlich?“ Traven zuckte die Achseln. „Nicht mehr“, antwortete er. „Sind wir nicht alle von den Toten auferstanden?“ Danach mußte er jedoch oft an Eatherly denken, den Prototyp eines Mannes, der die volle Last einer ungeheuren Schuld zu tragen hatte. * Als Traven wieder laufen konnte, verirrte er sich bald erneut zwischen den Betonwürfeln und mußte noch einmal gerettet werden. Dr. Osborne wurde nun ungeduldig und machte Bill Vorhaltungen. „Unsere Arbeit ist bald beendet, Traven“, sagte er ernst. „Wenn Sie hierbleiben, werden Sie umkommen. Was suchen Sie eigentlich?“ Das Grab des unbekannten Zivilisten, den Homo Hydrogenensis, dachte Traven. Zu Dr. Osborne sagte er: „Sie haben das Laboratorium am falschen Ende der Insel aufgestellt, Doktor.“ „Das habe ich schon bemerkt“, antwortete Osborne. „In Ihrem Kopf befinden sich interessantere Dinge als im flachen Wasser der U-Boot-Bunker.“ * Am Tag der Abreise der beiden Biologen fuhr Traven mit ihnen zum Flugplatz hinüber. Er verlor die junge Frau aus den Augen und machte sich auf die Suche. Er fand sie in einem von den Dünen gebildeten Amphitheater. Auf dem 20
Grund der Mulde sah er einen riesigen Trichter aus zerbrochenen Spiegeln. Eine der früher hier gelandeten Forschungsgruppen hatte damit die Sonnenenergie aufgefangen. Die Frau lächelte Traven zu und drehte sich in der Mitte der Anlage. In einigen Spiegeln hatte sie keinen Kopf, in anderen wurden ihre Glieder multipliziert, daß sie wie eine Hindugöttin aussah. Traven wandte sich entsetzt ab und ging zum Jeep. Auf der Rückfahrt zu den Bunkern erzählte Bill von seinen Visionen „Ihre Gesichter sind immer sehr ernst, besonders das meines Sohnes“, sagte er. „Dabei war er gar nicht so. Nur bei seiner Geburt schien er eine Million Jahre alt zu sein und schon alles zu wissen.“ Später winkte die junge Frau Traven zu sich heran und sagte mitfühlend: „Ich hoffe, Sie finden Ihre Frau und den Jungen. Übrigens will Dr. Osborne die Behörden verständigen. Verstecken Sie sich lieber!“ Bill dankte ihr und wankte zu seinem Bunker zurück. Als die Maschine in den Himmel dröhnte, saß er schon im Schatten des Betonklotzes und sah dem entschwindenden Silbervogel nach. * Als die Soldaten an Land kamen, versteckte sich Bill Traven an der einzig sicheren Stelle. Zum Glück suchten die Männer nur sehr oberflächlich. Sie hatten Büchsen mit Bier mitgebracht und betranken sich sinnlos. Die Suche wurde deshalb schon am frühen Nachmittag abgebrochen. Zum 21
Schluß entdeckten sie noch ein Lager mit Benzintonnen und zündeten es an. Traven hörte seinen Namen über die Insel schallen. Die Soldaten hatten Megaphone mit elektrischen Verstärkern bei sich und grölten ununterbrochen. Der Boden bebte bei der Explosion der Benzinfässer, und ein dunkler Rauchpilz stieg in den blauen Himmel. Traven blieb still liegen und lauschte auf die sich entfernenden Stimmen. Er lag auf dem Boden eines ausgetrockneten Beckens zwischen zerfetzten und geschmolzenen Puppen. Während er zwischen verbogenen Gliedern lag und in leblose Augen blickte, hatte er das Gefühl, der Ewigkeit schon sehr nahe zu sein. Er ahnte, daß die rauhen Stimmen der betrunkenen Seeleute die letzten menschlichen Laute waren, die er hörte. Bill kletterte über die kalten Puppen nach oben und irrte wieder zwischen den Bunkern umher. Die Soldaten hatten mit Kreide zotige Bemerkungen in die von der Hitze in den Beton gesengten Umrisse gemalt. Plötzlich sah Traven zwei Gestalten, seine Frau und seinen Sohn. Sie waren kaum zehn Schritte von ihm entfernt und blickten ihm erwartungsvoll entgegen. Er eilte auf die beiden Schemen zu. Seine Frau schien eine Hand zum Gruß zu heben, sein Sohn zeigte das gleiche rätselhafte Lächeln wie das kleine Mädchen auf dem Bild an der Bunkerwand. „Judith! David!“ Traven taumelte auf die beiden zu. Doch im selben Augenblick bemerkte er einen grellen Lichtschein, sah die Kleidung der beiden Gestalten aufflackern und erkannte 22
die schrecklichen Wunden. Die Brust seiner Frau war aufgerissen, und aus dem Genick seines Sohnes ragten blutige Knochensplitter. Bill Traven schrie auf und wandte sich entsetzt ab. Während sich die beiden Gestalten auflösten, raste er, so schnell er konnte, in seinen Bunker zurück, um dem Wahnsinn zu entfliehen. * Diesmal fand er nicht wieder aus dem inneren Bunkerkreis heraus. Er hockte irgendwo an einer heißen Wand und starrte in die glühende Sonne. Die grauen Bunkerwände bildeten die Grenzen der Welt. Manchmal ragten sie wie gigantische Klippen in den Himmel, zuweilen kamen sie näher und schienen ihn zu erdrücken, dann rückten sie wieder von ihm ab. Die Bunker bildeten eine Palisade um ein Stückchen Erde, daß für Traven die letzte Zuflucht geworden war. Jetzt hatte Bill überhaupt kein Zeitgefühl mehr. Für ihn dauerte die glühende Mittagszeit mehrere Stunden, bis plötzlich der Abend kam und die Schatten schärfer und kontrastreicher machte. „Good bye, Eniwetok!“ murmelte er. Einer der Betonwürfel schien plötzlich zu verschwinden. „Good bye, Los Alamos!“ Wieder verschwand ein Bunker und ließ ein Loch im Universum zurück. „Good bye, Hiroshima!“ „Good bye, Alamogordo!“ „Good bye, Moskau, London, Paris, New York …” 23
Traven hörte das Rattern von Elektronenrechnern, sah kleine Lichtpunkte über Skalen tanzen. Doch dann sah er die Sinnlosigkeit seines Tuns ein. Er konnte sich unmöglich von allem verabschieden, denn dazu hätte er jedes Partikelchen des Universums aufzählen müssen. * Die ringförmig angeordneten Bunker begannen wie ein gigantisches Karussell zu kreisen. Traven wurde bis in eine Höhe gehoben, von der aus er die Insel überblicken konnte. Dann sank er durch den nicht mehr vorhandenen Boden wie durch einen Spiegel und sah alles von unten: die flachen Sockel der Bunker, die Becken, die Hütten. Er konnte von unten in die dunklen Betonhöhlen blicken wie in eine aufgeschnittene Bienenwabe. Good bye, Traven! Zu seiner Überraschung mußte er feststellen, daß er durch die Selbstaufgabe kaum etwas gewonnen hatte. Ab und zu hatte er einigermaßen klare Augenblicke. Dann sah er seine abgemagerten Glieder, die hervorstehenden Knochen und die Geschwüre auf der ausgetrockneten Haut. In einem dieser Augenblicke bewußten Sehens blickte er durch den vor ihm liegenden Korridor zwischen den Bunkern auf den Umriß einer Düne. Diese Düne noch vor dem inneren Kreis faszinierte ihn. Trotzdem blieb er noch stundenlang sitzen, ehe er sich aufraffte und durch den losen Sand taumelte. Er war zu schwach, um über die Düne zu steigen, und zog es vor, sie langsam zu umrunden. An der anderen Seite ent24
deckte er natürliche Felsformationen. Der Wind hatte den Sand von dem Kalkgestein geweht und enge Spalten freigelegt. Traven ließ sich fallen und starrte wieder in die sinkende Sonne. Erst nach zehn Minuten wurde ihm bewußt, daß er beobachtet wurde. * Die Leiche des Japaners lag am unteren Ende der Spalte. Seine toten Augen starrten Traven unverwandt an. Er war ein Mann mittleren Alters, von kräftiger Statur. Seine verwitterte Kleidung hing zerfetzt um den mumifizierten Körper. Da es keine Insekten mehr auf der Insel gab, war der Körper noch vollständig erhalten. Traven rutschte auf die Leiche zu. Er konnte keine Anzeichen von Strahlungsschäden erkennen und nahm an, daß der Japaner noch nicht sehr lange in der Spalte lag. Der Tote trug Zivilkleidung, gehörte also keiner der vielen Militärkommissionen an, die gelegentlich auf die Insel kamen, um die Wirkung der Atombombenexplosionen zu untersuchen. In der Nähe der Leiche lag eine verwitterte Kartentasche. Traven suchte nach anderen Ausrüstungsgegenständen und fand einen kleinen Sack mit einem Wasserbehälter und einem Marmeladenglas. Er kroch noch näher zu dem Mann heran, der zum Sterben in die Spalte gekrochen war. Bills Füße berührten die zerbröckelnden Schuhe des Toten. Er achtete nicht darauf und griff gierig nach der Blechkanne. Am Boden befand sich noch ein Rest rostiger Flüssig25
keit. Traven trank die rostige Brühe und schmeckte die aufgelösten Metallsalze auf der Zunge. Die Marmelade war eingetrocknet, aber an dem Glas befand sich eine klebrige Kruste, die sich ablösen ließ. Bill kratzte die süße Masse heraus und steckte die Brocken in den Mund. Dieser Rückfall in die normalen Gewohnheiten war aber bald überwunden. Traven setzte sich neben den Toten, dessen glasige Augen ihn unverwandt und leidenschaftslos anstarrten. Eine Fliege surrte an ihm vorbei und ließ sich auf dem Gesicht des Toten nieder. Traven beugte sich vor, um die Fliege zu töten, hielt aber im letzten Augenblick inne. Vielleicht war die Fliege die Wächterin des Toten, seine treue Gefährtin, die von den aus den Poren tretenden Säften lebte. Bill hielt die Hand still und ermunterte die Fliege damit, auf seine Hand zu krabbeln. In diesem Augenblick begann sein Zwiegespräch mit Dr. Yasuda. „Danke, Traven!“ Die Stimme des Japaners klang rauh und unsicher. Dr. Yasuda mußte sich erst wieder an diese Form des Sprechens gewöhnen. „Es tut mir leid, Doktor“, entschuldigte sich Bill. „Sie wissen doch, es ist eine alte Gewohnheit, und nicht leicht, diese Gewohnheiten zu überwinden. Die Kinder Ihrer Schwester wurden in Osaka getötet. Der Krieg machte ihren Tod erforderlich. Ich will die Notwendigkeiten des Krieges nicht verteidigen, weil ich den Motiven nicht recht traue. Fast alle unsere Motive sind verwerflich. Wir suchen und suchen in der Hoffnung, eines Tages …“ „Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Traven“, un26
terbrach ihn der Japaner verständnisvoll. „Die Fliege hat Glück, mehr Glück als Ihre Frau und Ihr Sohn. Wir betrauern die Opfer und sehen gar nicht, daß jeden Tag Millionen die verlorengegangene Kindheit ihrer Söhne und Töchter betrauern.“ „Sie sind sehr tolerant, Doktor“, murmelte Traven. „Absolut nicht! Ich suche keine Entschuldigung für Ihr Tun. Wir sind alle nur magere Reste der unerschöpflichen Möglichkeiten, die uns das Leben bietet. Ihr Sohn und meine Nichten sind für immer unwandelbar in unserer Erinnerung festgehalten, ihre Identität ist so sicher wie die Existenz der Sterne.“ Traven war nicht ganz davon überzeugt. „Das mag stimmen“, antwortete er unsicher. „Aber führt das nicht zu gefährlichen Folgerungen? Denken wir an diese Insel hier, an die Bunker!“ „Genau das meine ich, Traven“, sagte der Japaner. „Hier zwischen den Bunkern finden Sie ein Spiegelbild Ihres Selbst, frei von Raum und Zeit Die Insel ist ein ontologischer Garten Eden. Warum wollen Sie sich in eine quantitative Welt ausstoßen?“ Die Fliege kroch über das Gesicht des Japaners und setzte sich auf ein Auge, was dem Toten ein verschmitztes Aussehen gab. Traven beugte sich vor und lockte die Fliege wieder auf seine Hand. „Die Bunker mögen ontologische Objekte sein, aber diese Fliege hier …“ „Sie sind ein Sucher, Traven“, antwortete Dr. Yasuda. „Sie wollen die Pluralität des Universums nicht akzeptieren. Warum sind Sie so besessen und suchen nach der letz27
ten Antwort? Sie müssen demütig sein und sich an die Philosophie des Akzeptierens gewöhnen.“ „Warum sind Sie auf die Insel gekommen, Doktor?“ fragte Traven. „Um diese Fliege zu füttern.“ Bill schüttelte den Kopf. „Das hilft mir nicht, meine Probleme zu lösen.“ „Sie müssen wohl Ihren eigenen Weg gehen, Traven“, sagte der Japaner. „Töten Sie die Fliege!“ „Aber …“ „Töten Sie die Fliege!“ Traven schlug die Fliege tot. Diese Tat machte ihn noch unglücklicher. Das war kein Anfang und kein Ende. Hoffnungslos sank er neben dem toten Japaner nieder und schlief ein. * Bill kroch zwischen den Abfällen umher und fand eine Rolle rostigen Draht. Er wickelte den Draht um die Brust des Japaners und zog den Toten aus der Spalte. Dann lud er ihn auf eine alte Metallplatte, die er als eine Art Schlitten benutzen konnte. Er zerrte ihn um die Düne herum und dann zu den Bunkern. Die hohen Beobachtungstürme standen wie Obelisken im Sonnenschein und zeichneten mit ihren scharfen Schatten merkwürdige Symbole in den Sand. Eine Stunde später holte Traven einen Klappstuhl aus seinem Bunker und stellte ihn zwischen den Betonwürfeln auf. Mit großer Mühe setzte er den toten Japaner auf den 28
Stuhl und band die mumifizierten Hände an die Armlehnen. Dadurch erhielt der Tote eine, merkwürdige prophetische und würdevolle Haltung. Traven betrachtete sein Werk und kroch zum Bunker zurück. Dort hockte er sich unter das aufgespannte Sonnensegel und blickte zu der in der prallen Sonne sitzenden Gestalt hinüber. Die Bunker waren tatsächlich sein Garten Eden geworden, seine kleine Welt, in der er sich geborgen fühlte. Die an den Stuhl gefesselte Gestalt des Japaners saß wie ein schützender Erzengel zwischen den Bunkern und dem absoluten Nullpunkt. Die Tage vergingen fast übergangslos. Die Sonne bleichte die Mumie aus und ließ sie langsam zusammenschrumpfen. Traven war jetzt in einem Dämmerzustand, aus dem er nur selten erwachte. Wenn er nachts die einsame Gestalt im Mondlicht sitzen sah, dann lächelte er ein wenig und fiel bald wieder in seinen Dämmerzustand zurück. Oft sah er auch seine Frau und seinen Sohn. Sie kamen ihm immer näher. Bill wartete geduldig auf seine Stunde. Bald würden sie zu ihm sprechen und ihn in ihre Welt aufnehmen. Die Wirklichkeit verschwamm, vermischte sich mit Illusionen und Visionen. Ab und zu sah er noch das Labyrinth der Bunker, das unheimliche Symbol des Todes, das jetzt von dem starren Erzengel bewacht wurde. Während er immer tiefer in die Zeitlosigkeit glitt, nahm er noch das Rauschen des Meeres wahr und sah brennende Bomber durch seine Träume stürzen.
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Der Golem (The Golem) von Avram Davidson Die graugesichtige Person kam die Straße herunter, in der das alte Ehepaar Gumbeiner lebte. Es war ein Nachmittag im Herbst, und die Sonne schien warm. Mrs. Gumbeiner machte ihren Gatten auf die graugesichtige Person aufmerksam. „Was ist mit dem los?“ fragte sie. „Er geht ziemlich spaßig, finde ich.“ „Er geht wie ein Golem“, meinte Mr. Gumbeiner uninteressiert. Die alte Frau war verärgert. „Oh, ich weiß nicht“, sagte sie. „Ich finde, er hat denselben Gang wie dein Cousin Mendel.“ Der alte Mann spitzte ärgerlich den Mund und kaute an seinem Pfeifenstiel. Die graugesichtige Person tauchte am betonierten Weg auf, schritt die Stufen zur Veranda empor und setzte sich in einen Stuhl. Mr. Gumbeiner ignorierte ihn. Seine Frau starrte den Fremden an. „Dieser Mann kommt daher, sagt weder guten Tag noch grüß Gott, sondern setzt sich einfach nieder, als ob er hier zu Hause wäre. – Ist der Sessel bequem?“ fragte sie. „Wünschen Sie vielleicht eine Tasse Tee?“ Sie wandte sich ihrem Mann zu. „Sag etwas, Gumbeiner!“ verlangte sie. „He, bist du aus Holz?“ Der alte Mann lächelte boshaft und triumphierend. 30
„Warum soll ich etwas sagen?“ fragte er und verdrehte die Augen. „Wer bin ich schon? Ein Niemand, das ist es.“ Der Fremde sprach. Seine Stimme klang rauh und monoton. „Wenn Sie erfahren, wer, oder vielmehr, was ich bin, wird sich das Fleisch vor Schreck von ihren Knochen lösen.“ Er entblößte seine Porzellanzähne. „Machen Sie sich keine Sorgen um meine Knochen!“ schrie der Alte. „Eine Frechheit, so mit mir zu sprechen!“ „Sie werden vor Angst zittern“, sagte der Fremde. Die alte Mrs. Gumbeiner hoffte, dies noch zu erleben. Sie wandte sich wieder ihrem Ehemann zu. „Gumbeiner, wann mähst du den Rasen?“ „Die ganze Menschheit …“, begann der Fremde. „Schhhh! Ich spreche mit meinem Mann. – Er redet in einer ziemlich drolligen Art, findest du nicht auch, Gumbeiner?“ „Vermutlich ein Ausländer“, sagte er selbstzufrieden. „Glaubst du?“ Sie blickte flüchtig den Fremden an. „Er hat eine sehr ungesunde Gesichtsfarbe. Ich vermute, er kam nach Kalifornien wegen seiner Gesundheit.“ „Krankheit, Pein, Sorgen, Kummer, Liebe – alles wertlos, zu …“ Mr. Gumbeiner unterbrach die Erklärungen des Fremden. „Gallenleiden“, sagte der alte Mann. „Guinzburg drunten in der Shule sah genauso aus vor der Operation. Zwei Professoren hatten sie für ihn, und eine Privatkrankenschwester – Tag und Nacht.“ „Ich bin kein menschliches Wesen!“ rief der Fremde laut. 31
„Dreitausendsiebenhundertfünf Dollar kostete es seinen Sohn, erzählte mir Guinzburg. ,Für dich, Papa, ist mir nichts zu teuer, nur – werde gesund’, hat ihm der Sohn gesagt.“ „Ich bin kein menschliches Wesen!“ „Ja, das wäre ein Sohn für dich!“ rief die alte Frau und wackelte mit dem Kopf. „Ein Herz aus Gold, aus purem Gold.“ Sie schaute den Fremden an. „Ist schon in Ordnung. Gumbeiner! Ich habe dich etwas gefragt: Wann schneidest du den Rasen?“ „Am Mittwoch, oder der Japaner kommt vielleicht Donnerstag in die Nachbarschaft. Rasenschneiden ist sein Beruf. Meiner ist Glaser – außer Dienst.“ „Zwischen mir und der gesamten Menschheit besteht eine unvermeidliche Feindschaft“, sagte der Fremde. „Wenn ich Ihnen erzähle, was ich bin, wird sich das Fleisch …“ „Sie sagten es, Sie sagten es bereits“, unterbrach ihn Mr. Gumbeiner. „In Chicago, wo die Winter so kalt und bitter wie das Herz des russischen Zaren sind“, begann die Alte, „hattest du noch Kraft genug, die Rahmen mit dem Glas zu tragen – tagein, tagaus. Aber in Kalifornien, wo die goldene Sonne scheint, hast du keine Kraft zum Rasenmähen, auch wenn dich deine Frau darum bittet. Ruf ich vielleicht den Japaner, damit er das Mittagessen für dich kocht?“ „Dreißig Jahre verbrachte Professor Allardyce damit, seine Theorien zu vollenden. Elektronik …“ „Hör zu, wie kultiviert er spricht“, sagte Mr. Gumbeiner bewundernd. „Geht er vielleicht hier auf die Universität?“ „Wenn ja, dann dürfte er auch Bud kennen, oder?“ vermutete seine Frau. 32
„Wahrscheinlich besuchen sie die gleiche Fakultät, und er kam, um ihm bei seinen Studien Gesellschaft zu leisten. Was meinst du?“ „Sicher; er muß wohl an derselben Fakultät sein. Wie viele Fakultäten gibt es dort? Ich glaube, fünf. Bud zeigte sie mir in seinem Programm.“ Sie zählte sie an ihren Fingerspitzen ab. „Fernsehverständnis und Kritik, Modellschiffbau, soziale Anpassung, der amerikanische Volkstanz – der amerikanische Volkstanz … Was noch, Gumbeiner?“ „Zeitgenössische Keramik“, sagte ihr Ehemann und genoß jeden Laut „Bud ist ein feiner Bursche. Ihn als Kostgänger zu haben ist ein Vergnügen.“ „Nachdem er dreißig Jahre mit diesen Studien verbracht hatte“, setzte der Fremde sein Gespräch fort – doch sie beachteten ihn nicht –, „wandte er sich von der Theorie ab und der Praxis zu. Binnen zehn Jahren gelang ihm die gigantischste Entdeckung der Geschichte: Er machte die Menschheit, die ganze Menschheit überflüssig, denn er machte mich.“ „Was schrieb Tillie in ihrem letzten Brief?“ fragte der alte Mann. Die alte Frau zuckte die Achseln. „Was wird sie schon schreiben? Immer das gleiche. Sidney war auf Urlaub vom Heer, Naomi hat einen Freund …“ „Er machte mich!“ „Hören Sie mal zu, Mr. Wie-immer-Ihr-Name-auchsein-mag!“ knurrte die alte Frau. „Vielleicht ist es dort, wo Sie herkommen, anders; aber in diesem Land unterbricht man einen nicht beim Sprechen. Moment mal – was meinen Sie damit, er machte Sie? Was soll der Unsinn?“ 33
Der Fremde bleckte wieder die Zähne. „In seiner Bibliothek, zu der ich nach seinem plötzlichen und noch nicht entdeckten Tod Zutritt hatte, fand ich eine vollständige Sammlung von Androidengeschichten, von Shelleys Frankenstein und Capeks R.U.R. bis Asimovs …“ „Frankenstein?“ fragte der alte Mann voller Interesse. „Es gab einen Frankenstein, der eine Erfrischungsbude in der Halstead Street hatte.“ „Was redest du bloß zusammen!“ sagte Mrs. Gumbeiner tadelnd. „Er hieß Frankenthal, und es war nicht die Halstead Street, sondern die Roosevelt Street.“ „… klar aufgezeigt, die ganze Menschheit hat einen instinktiven Widerwillen gegen Androiden. Es wird daher unvermeidlich zum Kampf zwischen …“ „Natürlich, natürlich!“ Mr. Gumbeiner knabberte geräuschvoll an seiner Pfeife. „Ich habe nie recht, du aber immer. Wie konntest du es aushalten, die ganze Zeit mit so einem Blödmann verheiratet zu sein?“ „Ich weiß es nicht“, erwiderte die alte Frau. „Manchmal wundere ich mich selbst darüber. Ich glaube, dein gutes Aussehen muß schuld daran gewesen sein.“ Sie begann zu lachen. Old Mr. Gumbeiner zwinkerte, dann begann er zu lächeln, und er nahm die Hand seiner Frau. „Verrücktes altes Weib!“ sagte der Fremde. „Warum lachen Sie? Wissen Sie nicht, daß ich gekommen bin, um Sie zu vernichten?“ „Was?“ schrie der alte Gumbeiner. „Halten Sie den Mund, Sie …“ Er schoß aus seinem Stuhl hoch und versetzte dem Fremden einen Schlag mit der flachen Hand Dessen Kopf knallte gegen den Verandapfeiler. 34
„Wenn Sie mit meiner Frau sprechen, dann tun Sie es respektvoll, hören Sie?“ Old Mrs. Gumbeiner, der das Blut in die Wangen geschossen war, stieß ihren Mann in den Sessel zurück. Dann lehnte sie sich vor und untersuchte den Schädel des Fremden. Sie schnalzte mit der Zunge, als sie ein graues, hautähnliches Material zur Seite zog. „Gumbeiner, schau! Er hat nur Federn und Drähte drin!“ „Ich sagte dir ja, er ist ein Golem, aber nein, du hast es mir nicht geglaubt.“ „Du sagtest, er geht wie ein Golem!“ „Wie könnte er wie ein Golem gehen, ohne einer zu sein?“ „Ja, ja, schon gut. Du hast ihn kaputtgemacht, also repariere ihn jetzt auch!“ „Mein Großvater, Gott hab ihn selig, erzählte mir, als MoHaRaL – Morey-nu Ha’Rav Löw –, gesegnet sei sein Angedenken, vor drei- oder vierhundert Jahren in Prag den Golem machte, da schrieb er auf seine Stirn den geheiligten Namen.“ Sie lächelte, als sie sprach: „Und der Golem schnitt des Rabbis Holz und brachte Wasser und bewachte das Ghetto.“ „Nur einmal gehorchte er Rabbi Löw nicht, und dieser tilgte das Shem Ha-Mephorash von des Golems Stirn, und der Golem fiel wie ein Toter zu Boden. Und sie legten ihn in die Mansarde der Shule, und er ist noch dort. – Dies ist nicht nur eine Geschichte“, schloß er. „Avadda nicht!“ sagte die Alte. „Ich selbst habe beide gesehen, die Shule und des Rabbis Grab“, sagte ihr Gatte abschließend. 35
„Ich glaube, der da muß so ‘ne andre Art von Golem sein, Gumbeiner. Schau, auf seiner Stirn steht nichts geschrieben.“ „Wieso; wer sagt denn, er müsse etwas auf der Stirn geschrieben haben? Wer ist dieses Häufchen Elend, das uns Bud aus seiner Klasse mitgebracht hat?“ Der alte Mann wusch sich die Hände, rückte das kleine schwarze Käppchen zurecht und schrieb langsam und sorgfältig vier hebräische Wörter auf die graue Stirn. „Ezra, der Schriftgelehrte, könnte es nicht besser tun“, meinte sie bewundernd. „Aber geschehen ist nichts“, stellte sie fest und starrte auf die leblose Figur, die ausgestreckt im Sessel lag. „Nun, bin ich vielleicht Rabbi Low?“ fragte er mißbilligend. „Nein“, gab er sich selbst die Antwort. Er beugte sich über den leblosen Körper und untersuchte den freiliegenden Mechanismus. „Diese Feder verläuft dorthin – dieser Draht ist mit jenem verbunden …“ Die Figur bewegte sich. „Aber wohin verläuft dieser? Und jener?“ „Laß es gut sein“, meinte seine Frau. Die Figur setzte sich auf und rollte die Augen. „Hör mir zu, Golem!“ Er bewegte den Zeigefinger hin und her. „Hör mir jetzt genau zu! Verstehst du mich?“ „Verstehe …“ „Wenn du hierbleiben willst, mußt du machen, was Mr. Gumbeiner sagt!“ „Muß machen, was Mr. Gumbeiner sagt …“ „So ist’s recht, genauso mag ich, daß ein Golem spricht. Malak, bitte, gib mir deinen Taschenspiegel. Schau her, siehst du dein Gesicht? Siehst du, was auf deiner Stirn ge36
schrieben steht? Wenn du nicht ausführst, was Mr. Gumbeiner sagt, wird er das Geschriebene von deiner Stirn wegwischen, und du wirst nicht mehr leben.“ „Nicht – mehr – leben …!“ „Richtig! Jetzt hör mir weiter zu! Unter der Veranda wirst du einen Rasenmäher finden. Nimm ihn und schneide das Gras! Dann komm zurück! Los, geh jetzt!“ „Geh – jetzt …“ Die Figur torkelte die Stufen hinunter. Plötzlich war das Geräusch des Rasenmähers zu hören. „Nun, was wirst du Tillie schreiben?“ fragte der alte Mr. Gumbeiner. „Was soll ich denn schreiben? Ich werde schreiben, das Wetter ist schön bei uns, und wir beide sind, Gott sei Dank, bei bester Gesundheit.“ Der alte Mann nickte langsam, und sie saßen auf der Veranda in der warmen Nachmittagssonne.
Spielzeug (The little Movement) von Philip K. Dick Der Mann hockte auf dem staubigen Gehsteig und hielt einen kleinen Kasten zu. Der Deckel des Kästchens wurde von innen gegen seine Hände gepreßt, so daß der Mann immer größere Schwierigkeiten hatte, das Kästchen geschlossen zu halten. „Schon gut“, murmelte er und öffnete es ein wenig. Schweißtropfen rannen ihm dabei von der Stirn. Ein metal37
lisches Summen drang aus dem Kasten, ein starkes Vibrieren. Das durch den Schlitz dringende Licht machte dieses Vibrieren noch stärker und ungeduldiger. Ein Kopf zwängte sich durch den Schlitz, winzige Augen spähten neugierig in die Umgebung. Weitere Köpfe tauchten, auf, und kleine Körper wollten aus dem Kästchen ins Freie. „Ich bin der erste!“ rief einer. Die winzigen Gestalten stritten eine Weile und einigten sich schließlich. Der auf dem Gehsteig sitzende Mann nahm die kleine Figur aus dem Kästchen. Seine Hände zitterten dabei. Er zog das Werk auf und stellte den farbenfroh gekleideten Soldaten auf das. Pflaster. Die Arme und Beine der kleinen Figur begannen sich rhythmisch zu bewegen. Dabei entwickelten sie eine so große Kraft, daß der Mann die winzige Blechfigur schnell absetzen mußte. Zwei Frauen kamen näher. Sie unterhielten sich angeregt und bemerkten den Mann erst im letzten Augenblick Sie sahen ihn von oben herab an, und musterten die glänzenden kleinen Gestalten, die er aus seiner Kiste holte. „Fünfzig Cent!“ bettelte der Mann. „Machen Sie Ihren Kindern eine Freude. Nur fünfzig Cent!“ „Nicht die!“ rief eine kaum hörbare Stimme. „Laß sie gehen!“ Der Mann verstummte und hielt seine Figuren zusammen. Die beiden Frauen schauten sich verwundert an und gingen rasch weiter. Der kleine Soldat lief zappelnd hin und her und hielt Ausschau. Plötzlich wurde er ganz aufgeregt. Inmitten der 38
vielen Menschen hatte er einen Mann mit einem kleinen Jungen entdeckt. „Nicht zu dem Jungen!“ flehte der Mann mit dem Kasten. Er wollte den kleinen Soldaten aufhalten, doch der marschierte weiter. Der Mann langte nach der winzigen Gestalt und schrie auf. Die Metallfingerchen hatten sich tief in sein Fleisch gegraben. „Halte sie auf!“ befahl der kleine Soldat und marschierte klappernd und surrend auf den Mann mit dem Jungen zu. Die beiden blieben stehen und sahen interessiert auf das. Spielzeug herab. Der Mann mit dem Kästchen lächelte krampfhaft. Er starrte der kleinen Figur nach, die mit zackigen Bewegungen marschierte und gegen den Schuh des Mannes lief. Das Werk war abgelaufen. Die Arme bewegten sich noch ein paarmal, wurden langsamer und langsamer. „Zieh ihn auf!“ rief der Junge. Der Vater bückte sich und zog den kleinen Soldaten wieder auf „Was kostet er?“ fragte er den Mann auf dem Gehsteig. „Fünfzig Cent.“ Der andere preßte die Kiste mit den übrigen Soldaten krampfhaft an sich. „Machen Sie dem Kleinen die Freude. Nur fünfzig Cent, Sir!“ Der Vater sah sich das Spielzeug an. „Willst du ihn wirklich haben?“ fragte er seinen Sohn. „Sicher will ich ihn haben, Daddy!“ krähte der Junge. „Zieh ihn auf, Vater! Ich möchte ihn marschieren sehen.“ „Na schön!“ Der Vater langte in die Tasche und holte Kleingeld heraus Der Verkäufer nahm das Geld und wich dem Blick des Vaters ängstlich aus.
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* Die Situation hätte nicht besser sein können. Die kleine Figur lag reglos da und dachte noch einmal über alles nach. Die Umstände waren tatsächlich sehr günstig. Das Kind hätte weitergehen, der Vater kein Geld bei sich gehabt haben können. Vieles hätte schiefgehen können. Die kleine Gestalt wagte gar nicht, daran zu denken. Aber jetzt war alles in bester Ordnung. Der Soldat starrte zufrieden nach oben. Er lag auf dem Rücksitz des Wagens und analysierte die neue Umgebung. Offensichtlich waren die Erwachsenen maßgebend. Die Erwachsenen übten die Macht aus und verfügten über das Geld. Diese Macht, und vor allem ihre Größe, schützten sie. An die Kinder war einfacher heranzukommen, denn die waren kleiner und leichter zu beeinflussen. Kinder akzeptierten alles und wunderten sich über nichts. Der Soldat war in der Fabrik genau unterrichtet worden und hielt sich jetzt an seine Anweisungen. Die Welt war herrlich! Die kleine Figur genoß das weiche Lager und träumte bereits von der Zukunft. * Das Herz des kleinen Jungen schlug aufgeregt. Er rannte mit dem winzigen Soldaten in der Faust nach oben, eilte in sein Zimmer und schloß die Tür hinter sich. Dann setzte er sich auf sein Bett und öffnete die Hand. „Wie heißt du?“ fragte er aufgeregt. „Du hast doch sicher einen Namen.“ 40
Der kleine Soldat antwortete nicht. „Es wird dir hier gefallen“, sagte der Junge. „Ich werde dich allen zeigen, das verspreche ich dir.“ Der Junge legte seine neue Erwerbung auf das Bett und holte eine große Kiste aus seinem Schrank. Die Kiste war bis zum Rand mit Spielzeug gefüllt. „Das ist Bonzo“, sagte er stolz und hob einen blassen und abgeschabten Stoffhasen aus der Kiste Danach nahm er ein Gummischwein heraus. „Das ist Teddo“, erklärte er. Nach und nach schleppte er seine Stofftiere zum Bett und legte sie neben den Soldaten. Es wurde eine Parade trauriger Gestalten, denn vielen fehlte ein Auge oder gar ein Glied. „Aber wie sollen wir dich nennen?“ murmelte der Junge nachdenklich „Wir werden abstimmen“, entschied er. „Aber vorher werde ich dich aufziehen, damit die anderen sehen können, wie du funktionierst und was du kannst.“ Er legte die kleine Figur auf den Bauch, hielt die Arme fest und zog das Werk auf. Dann stellte er den Soldaten vorsichtig auf den Boden. Der kleine Soldat begann sich surrend zu bewegen. Er eilte auf einen Haufen bunter Bausteine zu und errichtete eine Art Treppe. Dann kletterte er nach oben und drehte den Schlüssel im Schloß der Tür um. Der Junge saß stumm auf dem Bett und sah fasziniert zu. „Warum hast du das gemacht?“ fragte der Junge schließlich. Der Soldat kletterte wieder nach unten und kam zum Bett zurück. Dicht neben den Füßen des Jungen blieb er stehen. „Heb mich hoch!“ sagte er mit seiner winzigen Stimme. „Sitz doch nicht herum!“ 41
Dem kleinen Jungen fielen bald die Augen aus dem Kopf. Er starrte auf den kleinen Blechsoldaten und dann auf seine stumm herumliegenden Stofftiere. „Nun mach schon!“ rief der Soldat ungeduldig. Bobby griff nach der kleinen Gestalt. Der Soldat hielt sich mit seinen Blechfingern so fest, daß der Junge aufschrie. „Halt den Mund!“ rief der Soldat. „Stell mich auf das Bett, damit ich mit dir reden kann! Was ich dir zu sagen habe, ist sehr wichtig.“ Der Junge stellte den Blechsoldaten auf die Bettdecke. Die anderen Figuren lagen still und steif da. Nur das Werk des Soldaten surrte leise. „Du hast ein schönes Zimmer“, sagte der Soldat anerkennend. Bobby zuckte zurück. Der Blechsoldat schüttelte den Kopf. „Was ist los?“ fragte er scharf. Dabei legte er den Kopf in den Nacken und sah Bobby herausfordernd an. „Nichts – gar nichts!“ beteuerte der Junge. Der kleine Soldat war nicht befriedigt. „Hast du etwa Angst vor mir?“ fragte er spöttisch. Bobby antwortete nicht und wich noch etwas weiter zurück. „Das ist lächerlich!“ rief die metallisch klingende Stimme. „Ich bin doch nur ein zehn Zentimeter großes Spielzeug aus Blech.“ Der Soldat lachte auf. „Hör zu, mein Junge“, sagte er dann ernsthaft. „Ich werde einige Zeit bei dir wohnen. Ich werde dir nichts tun; das verspreche ich dir. Ich bin sogar dein Freund.“ 42
Die kleine Gestalt schob den Helm etwas nach hinten, um besser sehen zu können. „Du mußt aber ein paar Kleinigkeiten für mich tun. Es macht dir doch sicher nichts aus? Wie viele seid ihr in diesem Haus?“ Bobby zögerte. „Nun rede schon! Wie viele Erwachsene leben hier?“ „Drei“, murmelte Bobby. „Vater, Mutter und Foxie.“ „Foxie? Wer ist das?“ „Meine Großmutter.“ „Also drei“, sagte der kleine Soldat. „Kommen oft Besucher?“ Bobby nickte bereitwillig. „Also nur drei“, wiederholte die kleine Gestalt zufrieden. „Die sind kein Problem. Nach den Angaben der Fabrik sind …“ Er verstummte und wandte sich wieder an Bobby. „Hör gut zu, mein Junge! Du darfst keinem sagen, daß ich sprechen kann. Ich bin dein bester Freund! Das muß aber ein Geheimnis bleiben. Die anderen brauchen nichts davon zu wissen. Ich werde hier bei dir wohnen und dir helfen. Siehst du, ich kann dir viel zeigen. Ich werde dein Lehrer sein und dir so manches beibringen. Was sagst du dazu?“ Bobby schwieg. „Es wird dir schon gefallen. Ich schlage vor, wir fangen gleich an. Sicher möchtest du wissen, wie du mich anreden mußt?“ „Wie soll ich dich denn nennen?“ fragte Bobby verwundert. „Du wirst mich ab sofort ,mein Herrscher’ nennen!“ sagte die kleine Blechgestalt im Befehlston. 43
Bobby schlug die Hände vors Gesicht und taumelte zurück. „Du mußt sofort damit anfangen!“ befahl der Soldat. Seine Arme bewegten sich schon langsamer. „Ich bin fast abgelaufen“, fuhr das dünne Stimmchen fort. „Du mußt mich in einer Stunde wieder aufziehen. Aber vergiß es nicht! Versprichst du mir, daß du mich in einer Stunde aufzie…“ Das Werk war nun endgültig abgelaufen. Bobby nickte ergeben und starrte die kleine Gestalt an. „loh verspreche es“, murmelte er ängstlich. * Am Dienstag darauf stand das Fenster weit offen. Bobby war in der Schule, alle anderen hatten das Haus verlassen. Die Stofftiere lagen in ihrer Kiste. Nur der Blechsoldat saß auf einem niedrigen Schrank und blickte vergnügt in den warmen Sonnenschein. Plötzlich hörte er ein surrendes Geräusch. Ein kleines Flugzeug kam durch das Fenster geflogen, kreiste im Zimmer und landete neben dem Soldaten. Es war ein Spielzeug aus Blech wie der Soldat. „Wie sieht es hier aus?“ fragte das Flugzeug. „Es verläuft alles nach Plan“, antwortete der kleine Soldat stolz. „Was machen die anderen?“ „Nur wenigen gelang es, zu Kindern vorzudringen“, antwortete das Flugzeug niedergeschlagen. „Die meisten sind Erwachsenen in die Hände gefallen Es ist nicht leicht, Kontrolle über Erwachsene zu gewinnen Sie sind zu selbständig und brechen aus. Sie warten einfach, bis das Werk abgelaufen ist und …“ 44
„Ich weiß schon“, sagte der Blechsoldat betrübt „Furchtbar!“ „Das kann man wohl sagen“, fuhr das Flugzeug fort. „Die Erwachsenen haben die meisten von uns zertrampelt Einer ist von einem Hund zerbissen worden Wir können nur mit Hilfe der Kinder an die Macht gelangen. Wie kommst du mit dem Jungen voran?“ „Wie erwartet. Kinder sind ans Gehorchen gewöhnt. Ich bin für ihn nur ein neuer Lehrer, der ihm Vorschriften macht.“ „Bist du schon bei der zweiten Phase?“ „Nein.“ „In der Fabrik werden sie ungeduldig. Wie gesagt, die meisten sind umgekommen. Außer dir sind nur noch zwei am Leben.“ „Nur noch zwei? Das ist entsetzlich!“ „Darum sollst du schon mit der zweiten Phase beginnen. Wir müssen den Durchbruch erzielen.“ „Das sehe ich ein.“ Im Gesicht des kleinen Soldaten spiegelte sich Entsetzen wider. „Nur noch drei!“ murmelte er verzweifelt. „Wenn wir nur größer wären!“ sagte er. Das Flugzeug rollte über den Schrank. „Ich muß weg“, sagte es hastig „Sie warten auf meinen Bericht. Ich komme wieder.“ * Am Abend saß der Junge am Tisch und machte Schularbeiten. Er wurde bald unruhig und klappte seine Bücher zu. Nach kurzem Überlegen ging er zum Schrank, um seine Stofftiere herauszuholen. 45
„Du kannst später mit ihnen spielen“, rief der Blechsoldat vom Schrank herunter. „Ich habe mit dir zu reden.“ Bobby setzte den Soldaten auf den Tisch und wartete. „Du mußt etwas für mich tun“, sagte der Soldat. „Ich gebe dir die Adresse eines Spielzeugladens. Wenn du morgen aus der Schule kommst, mußt du dorthin gehen und etwas abholen.“ „Ich habe kein Geld“, antwortete Bobby. „Du brauchst kein Geld. Es ist alles vorbereitet Du brauchst dem Mann im Laden nur zu sagen, daß du das Paket abholen willst. Kannst du das behalten?“ „Natürlich! Was ist in dem Paket?“ „Geschenke für dich: Panzer und Werkzeuge. Es sind moderne Spielzeuge, die zu mir passen. Mit den Maschinengewehren kann man richtig schießen.“ Auf der Treppe wurden Schritte laut. „Vergiß es nicht!“ sagte der Soldat warnend. „Du mußt es tun! Es ist wichtig!“ Bobby kämmte sich die Haare, setzte die Mütze auf und packte die Schulbücher ein. Dann machte er sich lustlos auf den Weg. Es regnete aber, so daß er zurückkehren und sich einen Regenmantel holen mußte. In Gedanken versunken öffnete der Junge den Schrank und holte seine Stofftiere heraus. Als sie alle nebeneinander auf dem Bett saßen, lächelte Bobby matt und ging wieder. Unterwegs dachte er an den Blechsoldaten auf dem kleinen Schrank. Er war unglücklich, denn dieses Spielzeug war so anders als die weichen Stofftiere. Der Soldat lag indessen zufrieden auf der harten Unter46
lage und träumte von zukünftigen Taten. Wenn er erst die Waffen hatte, konnte er den Kampf beginnen. Stolz erfüllte ihn, denn er war ja einer von denen, die Erfolg hatten. Vielleicht würden er und seine Freunde noch eine zweite Fabrik besetzen können. Es kam darauf an, größere Soldaten und schwerere Waffen zu bauen. Die Bewegung mußte fehlschlagen, weil die Erwachsenen zu groß und mächtig waren. Aber mit größeren Blechsoldaten, mit Panzern, Flugzeugen und Kanonen … Der kleine Soldat schwelgte in Zukunftsträumen. Er hatte ein williges Werkzeug gefunden. Der Junge würde das Paket mit den Waffen abholen, daran zweifelte er nicht. Plötzlich nahm er eine Bewegung wahr. Er traute seinen Augen nicht, denn der dicke Teddybär rutschte vom Bett herunter und kam ungeschickt über den Teppich gekrochen. Auch der Stoffhase und das Gummischwein setzten sich in Bewegung. Der Stoffhase sprang mit einem Satz auf das Fensterbrett und spähte hinaus. „Die Luft ins rein!“ rief er den anderen zu. „Großartig!“ Der Teddy näherte sich dem Schrank und richtete sich auf. „Komm herunter!“ rief er dem Soldaten zu. „Wir haben dich schon zu lange gewähren lassen.“ Der Blechsoldat starrte fassungslos auf das Geschehen. Damit hatte er nicht gerechnet. Das Gummischwein setzte sich behende in Bewegung und quiekte. „Ich hol ihn herunter. Freiwillig kommt er ja doch nicht.“ „Was soll das?“ schrie der Soldat entsetzt. Das Gummischwein nahm einen Anlauf. Die lappigen Ohren flatterten nur so. Es sprang mit einem gewaltigen Satz auf den Schrank und landete neben dem bewegungs47
unfähigen Soldaten. Der Teddy kletterte inzwischen behende an der Schrankecke nach oben. Der Soldat blickte in die Tiefe. Er holte die letzten Reserven aus seinem Werk heraus und kroch etwas zurück. Aber dann sank er kraftlos zusammen. „Das ist es also!“ rief er erschüttert aus. „Eine große Organisation hat uns erwartet.“ Das Schwein schob ihn zur Kante. Tief unten gähnte der Abgrund. Der Soldat konnte sich nicht mehr retten, denn von der anderen Seite kam der Teddy. Das Gummischwein gab dem Soldaten einen Tritt, so daß er über den Rand rutschte. Die Tiere suchten die einzelnen Teile zusammen und schoben sie unter den Teppich. „Das wäre geschafft!“ sagte der Teddy zufrieden. „Hoffentlich machen sie keine größeren Schwierigkeiten.“ „Du meinst das Paket mit den Waffen?“ fragte der Hase. „Keine Angst“, sagte das Gummischwein vergnügt. „Wir schaffen es schon. Erinnert ihr euch an den Burschen im Nebenhaus?“ Der Teddybär lachte und brummte: „Der war zäher als dieser hier. Zum Glück waren noch ein paar große Bären da.“ „Wir werden es schon schaffen“, sagte das Gummischwein zuversichtlich „Mir macht das jetzt schon Spaß.“ „Mir auch“, sagte der Hase und sprang vom Fensterbrett herunter „Bobby wird sich wundern, wenn er nach Hause kommt.“
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Die Dekabrache (The Gift of Gab) von Jack Vance Am Nachmittag flaute der Wind über der Flachsee ab, das Meer wurde ruhig und bekam einen seidigen Glanz. Im Süden hing der Regen wie ein dichter Schleier unter den dunklen Wolken, die den Himmel verdüsterten und die graue Monotonie verstärkten. Dichte Schichten von Wasserpflanzen trieben träge auf der Wasseroberfläche, auf der auch das große Metallfloß schaukelte. Es war zur Ausbeutung des Meerwassers konstruiert worden und maß sechzig Meter in der Länge und dreißig Meter in der Breite. Um vier Uhr begann die Sirene am Mast zu heulen und kündigte den Schichtwechsel an. Sam Fletcher, der Assistent des Superintendenten, kam aus der Messe und schlenderte zum Büroaufbau hinüber. Er schob die Tür auf und blickte in den kleinen Raum. Normalerweise saß Carl Raight um diese Zeit auf seinem Stuhl und schrieb den Produktionsbericht. Jetzt war der Stuhl aber unbesetzt. Fletcher drehte sich um und sah zum Verarbeitungsaufbau hinüber. Raight schien sich aber auch dort nicht aufzuhalten. Das war merkwürdig und auffällig. Fletcher ging trotzdem in das Büro und sah sich die Liste der Tagesproduktion an. Rhodium-Trichlorid 4,01 to Tantalumsulfid 0,87 to Tripyridyl-Rhenichlorid 0,43 to Die Durchschnittsleistung lag bei 5,31 Tonnen pro 49
Schicht, und Fletcher schien seine Wette zu gewinnen Der Monat endete am nächsten Tag. Wenn alles gutging, konnte Fletcher Raights Vorrat an Whisky einkassieren. Er stellte sich schon das Jammern des Superintendenten vor und grinste. Fletcher pfiff leise vor sich hin und war guter Laune. Sein Vertrag über sechs Monate lief in einem Monat ab. Er würde dann mit dem Lohn für sechs Monate nach Starholm zurückkehren. Aber wo, zum Teufel, war Raight? Fletcher sah aus dem Fenster. Er erblickte den vertäuten Hubschrauber, den schlanken Mast, das Gehäuse des Generators, den Wasserbehälter, und am Ende des Floßes die Pulverisieranlage mit Vorratssilos. Ein Schatten fiel in den Raum. Fletcher drehte sich um und erkannte Agostino, den Maschinisten der Tagesschicht. Agostino war gerade von Blue Murphy abgelöst worden. „Wo ist Raight?“ fragte Fletcher. Agostino sah sich in dem kleinen Raum um Und zuckte die Achseln. „Ist er denn nicht hier?“ „Nein. Ich suche ihn gerade. War er nicht drüben bei der Anlage?“ Agostino schüttelte den Kopf „Ich komme gerade von dort.“ Fletcher durchquerte den Raum und öffnete die Tür zum Waschraum. Auch dieser war leer. Agostino drehte sich gähnend um und sagte: „Ich nehme eine Dusche. Übrigens – die Behälter für Seegras sind fast leer.“ „Ich werde sie auffüllen lassen“, antwortete Fletcher desinteressiert. Er ging mit Agostino hinaus, trennte sich 50
aber von ihm und betrat die Verarbeitungsanlage. Dort wurden die verschiedenen Wasserpflanzen und -tiere gemahlen, getrocknet und pulverisiert. Eine besonders starke Mühle zerrieb die an Rhodiumsalzen reichen roten Korallen. Blue Murphy, ein Mann mit einem roten Gesicht und einem spärlichen Haarkranz, machte gerade seinen ersten Kontrollgang. Er prüfte die Lagerstellen, füllte Öl nach und trug die Kontrollen in ein Buch ein. Der Lärm war so laut, daß Fletcher brüllen mußte, um gehört zu werden. „War Raight hier?“ Murphy drehte sich um und schüttelte den Kopf. Sam Fletcher betrat den angrenzenden Raum, wo die Salze von den wertlosen Bestandteilen getrennt wurden. Ein Gewirr von Behältern und Rohrleitungen versperrte ihm die Sicht. Aber auch hier war Raight nicht zu finden. Fletcher ging zum Büro zurück, weil er glaubte, Raight sei inzwischen dort angelangt. Da auch dieser Gang erfolglos war, begab sich Sam zur Messe, wo Agostino gerade eine große Portion Chili verschlang. Dave Jones, ein Steward mit schmalem Gesicht, lehnte sich gelangweilt an den Türrahmen. „Ist Raight hier?“ fragte Fletcher beunruhigt. Jones, der nie ein Wort zuviel redete, schüttelte nur den Kopf. „Warst du schon auf den Barken?“ fragte Agostino. „Vielleicht hat er eine genommen und ist zu den Sandbänken gefahren.“ „Warum sollte er?“ fragte Fletcher. „Das ist doch Mahlbergs Arbeit.“ 51
„Der repariert gerade den Bagger. Ich glaube, er setzt neue Zähne in die Fördereimer ein.“ Das klang einleuchtend. Raight konnte sehr gut mit dem Tender losgefahren sein. Fletcher goß sich beruhigt eine Tasse Kaffee ein und schlürfte das heiße Getränk. „So wird’s wohl sein“, murmelte er vor sich hin. Er setzte sich zu Agostino und fügte grinsend hinzu, „Ich kann mir aber nicht denken, warum er Überstunden macht. Es ist nicht seine Art.“ Jetzt kam Mahlberg in die Messe. „Wo ist Carl? Er muß neue Zähne für die verdammten Eimer bestellen. Sie brechen dauernd aus.“ „Er ist mit dem Tender unterwegs“, sagte Fletcher. Mahlberg setzte sich ebenfalls. „Vielleicht will er einen Aal fangen und sich ein gutes Abendessen bereiten.“ „Dann muß er ihn aber selber kochen“, grunzte Jones. „Vielleicht auch eine Dekabrache“, schwärmte Mahlberg. „Sie schmecken fast wie Seehunde.“ „Wer ißt schon Seehunde?“ knurrte Jones verächtlich. Fletcher stellte seine Tasse ab „Ich möchte wissen, wo er steckt“, sagte er unruhig. Die anderen Männer verhielten sich gleichgültig. Agostino aß seelenruhig weiter, Jones starrte in die Luft, Mahlberg streckte sich wohlig aus. „Bis zu den Sandbänken schafft er es doch in einer halben Stunde“, sagte Fletcher. „Er müßte längst zurück sein.“ „Vielleicht streikt die Maschine“, warf Mahlberg ein. „Allerdings hat der Tender einen guten Motor.“ Fletcher stand auf. „Ich werde einen Ruf senden“, sagte er nervös und ging hinaus. Im Büro schaltete er die Funk52
sprech- und -bildanlage ein und wählte die Nummer T 3, das Erkennungszeichen des Tenders. Der Bildschirm belebte sich aber nicht. Sam wartete eine Weile. Eine Lampe über dem Gerät flammte in regelmäßigen Abständen auf. Das war das Rufzeichen. Es kam keine Antwort. Nun wurde Fletcher noch unruhiger. Eilig verließ er das Büro und fuhr mit dem winzigen Lift zum Mastkorb hinauf. Von dort aus konnte er das Floß und die fünf Morgen große Seegrasinsel übersehen. Jenseits des schwimmenden Pflanzenfeldes erstreckte sich die ruhige See. Im Nordosten, fast am Rand der Flachsee, sah er einen dunklen Punkt. Das war ein anderes Floß, dessen Besatzung eine andere Pflanzeninsel aberntete. Im Süden erblickte er einen hellen Streifen. Dort brandete eine Äquatorialströmung mitten durch die Flachsee. Diese Strömung verhinderte das Abtreiben der systematisch gezüchteten Pflanzeninseln und bildete die natürliche Begrenzung eines Erntegebietes. Im Norden kam das McPhersonRiff bis auf dreißig Meter unter die Oberfläche herauf. Dort gab es auch einige flache Sandbänke, auf denen die großen Fallen für allerlei Meeresgetier aufgestellt waren. Hier und da trieben Tangbüschel dahin. Die größeren Pflanzeninseln waren jedoch fest verankert und trieben nur selten ab. Fletcher hob sein Fernglas an die Augen und suchte die Wasseroberfläche ab. Der Tender befand sich tatsächlich in der Nähe der großen Fallen. Sam verstärkte die Vergrößerung und suchte die Kabine des Tenders ab. Er konnte Raight nicht sehen. Wo mag er nur stecken? fragte er sich. Raight konnte 53
sich natürlich in der Kabine oder an der Maschine aufhalten. Nach einer Weile fuhr Fletcher wieder nach unten und ging nachdenklich über das Metalldeck des Floßes. An der Verarbeitungsanlage blieb er stehen und öffnete die Tür. „Hallo, Blue!“ rief er hinein. Murphy kam heraus und wischte die ölbeschmierten Hände an einem Lappen ab. „Ich nehme eine Barke und fahre zu den Sandbänken hinüber“, sagte Fletcher. „Raight ist mit dem Tender dort draußen. Ich kann ihn aber nicht sehen. Er antwortet auch nicht über die Gegensprechanlage.“ Murphy schüttelte verständnislos den Kopf und begleitete Fletcher zu den Booten. Sam sprang in eine Barke und ließ den Motor an, während Murphy das Tau löste. „Soll ich mitkommen?“ fragte er lustlos. „Hans kann die Maschinen übernehmen.“ „Nicht nötig“, erwiderte Fletcher. „Hoffentlich ist nichts passiert. Ich werde mich beeilen. Setz dich an das Kommunikationsgerät. Ich werde mich melden, sobald ich beim Tender bin. Wenn ich Hilfe brauche, sage ich euch Bescheid.“ Sam setzte sich ans Steuer des kleinen Bootes, schloß die Plastikhaube und schaltete die Pumpe ein. Das Boot sank ein wenig, doch die Plastikhaube blieb noch über der Wasseroberfläche. Das Wasser wurde vorn angesaugt, in einem Generator in Dampf verwandelt und mit hohem Druck aus Heckdüsen gepreßt. Das Floß verschwand schnell hinter dem Boot, während vor ihm der Tender aus dem Dunst auftauchte und scheinbar schnell größer wurde Fletcher verringerte die Geschwindigkeit, ließ sein Boot 54
wieder ganz auftauchen und ging längsseits des Tenders. Haftscheiben sorgten für eine starre Verbindung, so daß die beiden Boote ungefährdet nebeneinander in der leichten Dünung schaukeln konnten. Fletcher öffnete die Haube und kletterte auf das Deck des Tenders. „Carl!“ rief er laut. „Wo steckst du?“ Er bekam keine Antwort. Sam suchte das Deck ab. Raight war ein kräftiger, gesunder Bursche. Immerhin konnte er einen Unfall erlitten haben und vielleicht bewußtlos sein. Im ersten Laderaum lag nur ein großer Haufen schwarzgrüner Muscheln. Der Ladebaum über dem zweiten Laderaum war ausgeschwungen. Wahrscheinlich hatte Raight einen der Fangkörbe heraufziehen wollen. Der dritte Laderaum und die Kabine waren leer. Carl Raight befand sich also nicht mehr an Bord. Fletcher ging an der Reling entlang und blickte hier und da ins flache Wasser. Er sah einen Schatten, aber das war nur eine Dekabrache, die dort unten langsam dahinglitt. Die Dekabrache hatte die Größe eines Menschen, so daß Fletcher für einen Augenblick geglaubt hatte, Raights Leiche im Wasser treiben zu sehen. Er blickte nachdenklich durch den Dunst nach Nordosten, wo das andere Floß träge auf dem Wasser schaukelte. Das Floß gehörte zu einem anderen Unternehmen, das erst vor drei Monaten gestartet worden war. Ted Chrystal, ein junger Biochemiker, hatte sich selbständig gemacht. Früher hatte er ebenfalls für die „Bio-Minerals“ gearbeitet. Der Sabrianische Ozean war unerschöpflich, der Markt für Metalle unersättlich. Die beiden Flöße lagen zwar in Sichtweite neben55
einander, bildeten aber keine Konkurrenz. Fletcher konnte sich nicht vorstellen, daß Chrystal und seine Leute etwas mit Raights Verschwinden zu tun haben sollten. Carl Raight mußte über Bord gefallen sein. Sam kletterte nun zum Mastkorb hinauf, weil er von dort aus die nähere Umgebung besser übersehen konnte. Es war sinnlos; das wußte er. Die Strömung war an dieser Stelle schon stark genug, um jeden ungesicherten Körper schnell fortzutreiben. Fletcher suchte den Horizont ab. Er kannte die hellen Stellen über den Riffen und Sandbänken, sah aber keinen im Wasser schwimmenden Körper. Ein Signal ertönte in der Kabine. Fletcher stieg wieder hinab und meldete sich. Blue Murphys Gesicht erschien auf dem Bildschirm. „Was ist los?“ fragte er besorgt. „Nichts. Raight ist nicht hier.“ Murphy legte seine Stirn in Falten. „Er muß doch auf dem Tender sein.“ „Ist er aber nicht. Wahrscheinlich ist er über Bord gegangen.“ Blue Murphy schüttelte traurig den Kopf. „Wie konnte das geschehen?“ fragte er. „Sind irgendwelche Spuren vorhanden?“ „Ich habe bisher nichts entdeckt“, antwortete Fletcher. „Wir sollten den Laden zumachen“, murmelte Murphy. „Warum?“ „Das sind wir ihm doch schuldig.“ „Wir machen weiter“, entschied Fletcher. „Für Trauerfeiern haben wir keine Zeit.“ „Na schön!“ antwortete Murphy enttäuscht. „Aber wir brauchen Nachschub.“ 56
„Carl hat schon einen Laderaum vollgeladen“, antwortete Fletcher. „Ich mache weiter und bringe das Zeug mit.“ „Haben Sie denn gar keine Nerven, Sam?“ fragte Murphy kopfschüttelnd. „Wir können ihm nicht mehr helfen“, knurrte Fletcher. „Die Arbeit muß weitergehen. Wenn wir trauern, gewinnen wir nichts.“ „Vielleicht hast du recht“, murmelte Blue zweifelnd. „Natürlich! Ich komme in etwa zwei Stunden mit der Ladung zurück. Richtet euch schon darauf ein.“ „In Ordnung, Sam. Aber paß auf!“ „Keine Angst!“ Fletcher schaltete das Gerät ab und ging wieder an Deck. Er war jetzt der Boß. Die neue Mannschaft würde das Floß erst in einem Monat übernehmen. Bis dahin mußte er die Verantwortung tragen, ob’s ihm paßte oder nicht. Fletcher stellte sich an die Winde und zog Gitter um Gitter herauf. Er schwenkte die Drahtgestelle über die Laderäume und ließ sie von automatischen Kratzern säubern. Die angewachsenen Muscheln und Wasserpflanzen fielen in den Laderaum und bildeten einen schleimigen Haufen. Fletcher holte einen Korb nach dem anderen ein, säuberte ihn und senkte ihn wieder auf den Grund des Ozeans hinab. Genau das hatte auch Carl Raight vor seinem rätselhaften Verschwinden getan. Sam wurde nervös. Wie konnte sich der Unfall ereignet haben? Es schien ihm unvorstellbar, daß Carl über Bord gegangen war. Und doch gab es keine andere Erklärung für sein Verschwinden. Fletcher wurde so nervös, daß er den Platz an der Winde 57
verließ, um sich noch einmal genauer umzusehen Plötzlich blieb er stehen und starrte auf das Deck. Da lag ein Tau, zweieinhalb Zentimeter stark, glänzend und fast durchsichtig. Das Ende formte eine weite Schlinge. Sam schüttelte den Kopf, denn das andere Seilende hing über Bord. Was hatte dieses Seil hier zu suchen? Fletcher kannte die Ausrüstungsgegenstände genau. Dieses Seil gehörte bestimmt nicht dazu. Vorsichtig ging er näher an das merkwürdige Seil heran, um es zu untersuchen. Neben der Winde hing ein Schaber mit einer scharfen Klinge. Dieser Schaber wurde immer dann benutzt, wenn die mechanischen Vorrichtungen versagten. Die Schneide mußte scharf sein, um die fest an den Metallgittern haftenden Muscheln abkratzen zu können. Fletcher brauchte nur zwei Schritte zu gehen, um zu dem Schaber zu gelangen. Er mußte allerdings über das Seil hinwegsteigen. Sam machte noch einen Schritt und zuckte zusammen. Die Schlinge bildete nun einen vollen Kreis, zog sich zusammen und schlang sich um das rechte Fußgelenk. Fletcher warf sich instinktiv nach vorn und bekam den Kratzer zu fassen. Er wurde aber mit einem brutalen Ruck umgerissen und ließ den Kratzer fallen. Er strampelte und schrie, aber das Seil hielt ihn fest und zerrte ihn zur Bordwand. Sam lag auf dem Bauch und konnte sich nirgendwo festhalten. Er reckte sich noch einmal und hatte Glück. Seine Hände fühlten das kalte Metall des Schabers. Das Seil zog ihn unbarmherzig weiter. Im nächsten Augenblick würde es ihn durch die Reling ziehen. Fletcher 58
spürte die Einwirkung einer starken Kraft. Er ahnte, daß es keinen Sinn hatte, sich an die Reling zu klammern. Das Seil war stärker als er und würde ihn ins Verderben zerren. Er warf sich mit einem Ruck auf den Rücken, krümmte sich und schlug zielsicher zu. Schon der erste Schlag trennte das Seil in zwei Teile. Das überhängende Ende glitt wie eine Schlange über die Bordwand und klatschte ins Wasser. Sam taumelte hoch und beugte sich über die Reling. Die unruhige Wasseroberfläche verwehrte ihm die Sicht, doch in kaum einem Meter Tiefe bewegte sich eine Dekabrache. Er sah die wie Gold leuchtende Haut und die strahlenförmig angeordneten Arme. Der dunkle Punkt in der Mitte mußte das große Auge sein. Fletcher wich entsetzt zurück. Er war verängstigt und verwirrt. Die Nähe des Todes hatte ihm einen nachhaltigen Schock versetzt. Er ärgerte sich über seinen Leichtsinn. Nach Raights Verschwinden hätte er vorsichtiger sein müssen. Es lag doch klar auf der Hand, daß Carl Raight kaum das Opfer eines Unfalls geworden sein konnte. Raight war umgebracht worden! Fletcher ärgerte sich über seine Dummheit, denn durch seine Indifferenz hatte er den Mörder zu einem zweiten Versuch ermuntert. Er taumelte benommen zur Kabine und setzte die Pumpen in Tätigkeit. Auch der Tender saugte Wasser an und stieß es hinten mit hohem Druck wieder aus. Sam ging wieder an Deck und steuerte den Tender in Richtung Floß, Die Dämmerung hatte eingesetzt, die Atmosphäre nahm eine blutrote Färbung an. Gideon, die größere der beiden Sonnen, versank als gewaltiger roter Ball hinter dem Horizont. Das Licht der blaugrünen Sonne 59
Atreus wurde nun dominant und färbte Wolken und Wasser giftgrün. Aber auch das dauerte nicht lange, denn die zweite Sonne versank ebenfalls hinter dem Horizont. Fletcher richtete sich nach der am Mast des Floßes angebrachten starken Lampe. Diese Lampe diente zur Orientierung der draußen operierenden Boote und erhellte gleichzeitig das Floß. Fletcher sah die Silhouetten der an der Reling wartenden Männer. Die gesamte Mannschaft hatte sich eingefunden. Er erkannte Agostino, Murphy, Mahlberg und all die anderen. Fletcher schaltete die Pumpen ab, steuerte den Tender an das Floß heran, machte ihn fest und stieg über die in den Wasserpflanzenteppich gehauenen nachgebenden Stufen zum Deck hinauf. Die Gesichter der Männer verrieten die Bestürzung über Raights plötzlichen Tod. Fletcher wartete gar nicht erst die Fragen ab und sagte rauh: „Ich weiß, was passiert ist.“ „Wie ist es geschehen?“ fragte einer. „Das war so ein schleimiges weißes Ding. Es sah aus wie ein Seil“, berichtete Sam. „Es kommt aus dem Wasser herauf, bildet eine Schlinge und zerrt sein Opfer mit einem Ruck über Bord.“ „Ist das auch kein Irrtum?“ fragte Murphy scheu. „Es hat mich beinahe erwischt“, antwortete Fletcher. Damon, der Biochemiker, war nicht so leicht zu überzeugen. „Ein lebendes Seil?“ fragte er skeptisch. „Es sah so aus“, bestätigte Fletcher. „Was kann es sonst gewesen sein? Ich sah ins Wasser und entdeckte eine Dekabrache. Sie schwamm dicht unter der Oberfläche.“ 60
Die Männer blickten schweigend auf das Meer hinaus „Dann sind es also die Dekabrachen“, sagte Murphy erschüttert. „Ich weiß es nicht“, erwiderte Sam scharf. „Ein weißes Seil hielt mich fest und wollte mich ins Wasser ziehen. Ich konnte es zerschneiden. Als ich kurz danach über Bord sah, erkannte ich eine unter der Wasseroberfläche schwimmende Dekabrache. Mehr kann ich nicht sagen.“ Fletcher wandte sich ab und ging zur Messe. Die anderen Männer blieben stehen und unterhielten sich im gedämpften Ton über das rätselhafte Ereignis. Immer wieder blickten sie scheu auf das Meer hinaus und spürten das Unheimliche der Situation. Sie sahen aber nichts als die träge treibenden Wasserpflanzen und die weite dunkle Fläche des Ozeans. Später am Abend kletterte Fletcher in das über dem Büro untergebrachte Laboratorium hinauf. Eugene Damon beschäftigte sich gerade mit dem Mikrofilm-Betrachter. Damon war ein dürrer Mann mit schütterem blondem Haar und tiefliegenden fanatischen Augen. Er zeichnete sich durch Fleiß und Gründlichkeit aus. Lange Zeit hatte er im Schatten von Ted Chrystal gestanden, der sich nun selbständig gemacht hatte. Chrystal war ein Genie, dem man die größten Erfolge zu verdanken hatte. Er hatte die Vanadium speichernden Muscheln von der Erde in den Ozean von Sabria gesetzt, andere Meerestiere so gezüchtet, daß sie bestimmte Metalle speicherten, und so die kostspielige und komplizierte Ausbeutung des reinen Meerwassers überflüssig gemacht. Damon arbeitete doppelt soviel wie Chrystal, aber er 61
verfügte nicht über den Einfallsreichtum seines Kollegen. Seine Routinearbeiten führte er sorgfältig aus, aber es war ihm nicht möglich, plötzlich auftauchende Probleme schnell zu lösen. Er sah nur kurz auf und beugte sich wieder über den Projektionsschirm. Fletcher blieb eine Weile an der Tür stehen und fragte dann: „Was machen Sie da, Damon?“ Eugene hatte eine etwas umständliche und pedantische Art an sich, die Fletcher stets irritierte. „Ich studiere den Index und suche eine Beschreibung des durchsichtigen Seiles, von dem Sie gesprochen haben“, sagte er. Sam grunzte eine unverständliche Entgegnung und sah sich den Code an, den Damon bezeichnet hatte. Eugene hatte die Worte „lang“, „dünn“ und „weiß“ als Schlüssel benutzt. Ein Spezialgerät suchte alle Angaben über die Lebensformen auf Sabria heraus und gab die Indexnummern der Lebewesen an, die mit diesen oder ähnlichen Worten gekennzeichnet waren. Zum Schluß hielt Damon drei aus dem Katalog sortierte Angaben in den Händen. „Und?“ fragte Fletcher gespannt. „Nichts“, antwortete Damon „Ich habe noch nicht alle Karten studiert.“ Er führte eine der Karten in den Apparat, der daraufhin den dazu passenden Film abrollte. „Sabrianischer Anelid“, lautete die Typisierung, die Nummer RRS-4924. Danach erschien das Bild eines Gliederwurmes. Die Länge wurde mit zweieinhalb Meter angegeben. Fletcher schüttelte den Kopf. „So ein Ding war es nicht. Es war länger und sah anders aus.“ „Es ist bisher das einzige Lebewesen, das Ihrer Be62
schreibung entspricht“, sagte Damon und sah fragend auf. „Sie waren sicher sehr aufgeregt. Sind Sie sicher, daß das Ding einem Seil ähnlich sah?“ Sam legte die Karten zurück und suchte andere heraus. Anhand des Code-Buches konnte er die von ihm gewünschten Unterlagen schnell finden. Der Selektor trat in Tätigkeit und spannte einen anderen Mikrofilm ein. Fletcher sah eine flache, auf der Wasseroberfläche schwimmende Scheibe und schüttelte den Kopf. Das nächste Bild zeigte ein käferartiges Gebilde mit langen Fühlern. „Das ist es auch nicht“, erklärte Sam. Das dritte Exemplar war eine Molluske mit einer Plasmabasis von Selenium, Silicon, Fluor und Kohlenstoff. Die Schale bestand aus Silicon-Karbid und hatte oben eine Erhebung, aus der ein langer Fühler ragte. Diese Kreatur hatte den Namen „Stryzkal Monitor“ und war nach Esteban Stryzkal, dem berühmten Taxonomisten, benannt, der die Pionierarbeit auf Sabria geleistet hatte. „Das kann es sein“, sagte Fletcher nachdenklich. „Es ist immobil“, wandte Damon ein. „Nach Stryzkal leben diese Mollusken auf dem Grund der Flachsee, zumeist in Verbindung mit Dekabrachen-Kolonien.“ Fletcher las die schriftlichen Angaben. Der lange Fühler war danach ein wichtiges Organ und diente zur Nahrungsaufnahme sowie zum Abtasten der Umgebung. Da diese Mollusken nur in der Nähe von Dekabrachen-Kolonien gefunden wurden, war die Möglichkeit einer Symbiose nicht ausgeschlossen. Damon machte ein fragendes Gesicht. „Was halten Sie davon, Fletcher?“ 63
„Es waren auch Dekabrachen da“, entgegnete Sam nachdenklich. „Sie können aber nicht sicher sein, daß es ein Monitor war“, sagte Damon. „Diese Kreaturen vermögen nicht zu schwimmen.“ „Das hat Stryzkal behauptet“, knurrte Fletcher. Damon wollte etwas sagen, doch irgend etwas in Sams Gesichtsausdruck hielt ihn davon ab. „Auch ein berühmter Wissenschaftler kann sich irren“, sagte er dann bescheiden. „Stryzkal hat in kurzer Zeit eine enorme Arbeit geleistet. Es war ihm sicher nicht möglich, alle hier existierenden Arten genau zu erforschen.“ Fletcher war schon wieder mit dem Apparat beschäftigt. „Hier ist ein Bericht von Chrystal“, sagte er interessiert. „Er hat einen Monitor heraufgeholt und genau untersucht.“ Beide Männer studierten die kurzen Angaben. „Kommerziell uninteressant“, murmelte Fletcher enttäuscht. Damon war sehr nachdenklich geworden. „Ist Chrystal tatsächlich unten gewesen, um so ein Ding zu fangen?“ fragte er gedankenversunken. „Ja. Er benutzte die Wasserwanze. Er verbringt die meiste Zeit unter Wasser.“ „Jeder hat eben seine eigene Methode“, entgegnete Damon unfreundlich. Fletcher richtete sich auf und lächelte verständnisvoll. „Ich weiß, Sie können ihn nicht leiden, Damon. Trotzdem ist er ein guter Biologe. Warum wollen Sie das nicht anerkennen?“ „Wir haben jetzt andere Sorgen“, brummte Eugene. „Keiner hat Zeit, sich auf dem Meeresboden herumzutrei64
ben. Wir haben jetzt nur für die Erhöhung der Produktion zu sorgen. Ich glaube, das ist eine Arbeit, die den ganzen Mann erfordert.“ Sam lachte gutmütig auf. „Ich wollte Sie nicht angreifen, Gene. Sie müssen aber anerkennen, daß viele Wege zum Ziel führen. Die Forschungsarbeiten sind noch lange nicht abgeschlossen. Wir könnten gut und gern vier Spezialisten beschäftigen.“ „Ein Dutzend“, antwortete Damon. „Wir haben es hier mit drei Arten von Protoplasma zu tun. Auf der Erde gibt es nur eine auf Kohlenstoff basierende Art. Selbst Stryzkal hat nur die Oberfläche angekratzt.“ Damon wartete auf eine Antwort. Da Fletcher nichts sagte, fragte Eugene: „Haben Sie eine neue Idee?“ Sam nickte und machte sich wieder an die Arbeit. „Ich möchte mich über die Dekabrachen informieren.“ Damon blieb desinteressiert. „Warum?“ fragte er nur. „Hier auf Sabria gibt es noch viele Rätsel zu lösen“, antwortete Fletcher. „Waren Sie schon einmal unten, um sich eine Dekabrachen-Kolonie anzusehen?“ Eugene schüttelte den Kopf. „Natürlich nicht.“ Fletcher nickte und suchte die Angaben über Dekabrachen heraus. Der Film zeigte Stryzkals Originalzeichnung. Diese Zeichnung war klarer und genauer als die sonst üblichen Farbstereos. Die abgebildete Dekabrache war fast zwei Meter lang, hatte eine bleiche glatte Haut und hinten drei Flossen. Am Kopf befand sich eine Vielzahl von strahlenförmig angeordnetem Armen. Fletcher zählte zehn um das dunkle Auge angeordnete, etwa sechzig Zentimeter lange Arme. 65
Es war auch ein etwas oberflächlicher Bericht über die Lebensgewohnheiten dieser merkwürdigen Kreatur beigefügt. Es handelte sich um Angaben über die Nahrung, die Fortpflanzung und vor allem die Plasma-Klassifikation. Fletcher schüttelte unzufrieden den Kopf. „Viel ist das nicht“, sagte er enttäuscht. „Immerhin scheint es sich um eine der wichtigsten Arten der in diesem Meer lebenden Kreaturen zu handeln. Sehen wir uns die Anatomie an!“ Das Skelett zeigte ein starkes Stützgerüst, das hinten drei flexible Verlängerungen der Wirbelsäule hatte Diese Verlängerungen führten in die Schwanzflossen. Das war alles. „Der gute Chrystal scheint aber auch nicht sehr sorgfältig gearbeitet zu haben“, brummte Damon feindselig. „Er arbeitet immer sorgfältig“, erwidert Fletcher scharf. „Und wo sind seine Angaben?“ Sam zuckte die Achseln. „Keine Ahnung! Es ist doch wohl Ihre Aufgabe, die Unterlagen zu vervollständigen, Damon.“ Er suchte weiter und fand eine Karte mit allgemeinen Kommentaren. Stryzkal hatte drei notiert: „Dekabrachen scheinen zur A-Gruppe zu gehören, also zur Silico-Kohlenstoff-Nitrit-Gruppe. Es gibt aber bestimmte Abweichungen von der Norm.“ Fletcher las noch einige uninteressante Anmerkungen, bis er auf Chrystals Ergänzung stieß. Diese lautete kurz: „Auf die Möglichkeit kommerzieller Ausbeutung überprüft. Nicht empfehlenswert.“ „Hat er sich sehr genau mit den Dekabrachen beschäftigt?“ fragte Damon zweifelnd. „In seiner üblichen Art“, entgegnete Fletcher. „Er tauch66
te mit seiner Wasserwanze auf den Grund hinab und harpunierte eine Dekabrache. Er brachte sie herauf, schleppte sie ins Laboratorium und beschäftigte sich volle drei Tage mit der Sektion.“ „Wenn ich drei Tage an einer Sache arbeite, habe ich mehr darüber zu sagen“, brummte Damon. Sam beugte sich plötzlich über den Apparat und deutete auf eine ausgestrichene Zeile. „Da ist eine ungültig gemachte Anmerkung“, sägte er erregt. „Was mag da gestanden haben?“ „Unerhört!“ knurrte Damon. „Man kann doch nicht einfach etwas ungültig machen, ohne Gründe dafür anzugeben.“ Fletcher kratzte sich nachdenklich am Kinn. „Es ist merkwürdig, sehr merkwürdig“, sagte er mehr zu sich selber. „Ich fürchte, einer von uns muß sich mit Chrystal unterhalten. Warum nicht sofort?“ Er verließ das Labor und kletterte zum Büro hinunter. Dort wählte er die Nummer des anderen Floßes und setzte sich vor den Bildschirm. Chrystal meldete sich. Fletcher sah den Oberkörper eines kräftigen jungen Mannes, ein offenes Gesicht und einen dichten blonden Haarschopf. Chrystal war dick, aber nicht schwammig. Wer je mit ihm zu tun gehabt hatte, der kannte seine Bärenkräfte. Er begrüßte Fletcher mit zurückhaltender Herzlichkeit. „Wie sieht es bei euch aus?“ fragte er interessiert. „Ich wünschte, ich wäre bei euch geblieben. Das selbständige Arbeiten ist kein reines Vergnügen.“ „Wir hatten einen Unfall“, sagte Sam. „Ich halte es für angezeigt, euch zu warnen.“ 67
„Einen Unfall?“ fragte Chrystal „Was ist passiert?“ „Carl Raight fuhr mit dem Tender zu den Sandbänken und kam nicht mehr zurück.“ Chrystal war sichtlich erschüttert. „Wie furchtbar!“ rief er aus. „Wie ist es denn passiert?“ „Irgend etwas hat ihn ins Wasser gezogen. Ich nehme an, es war ein Monitor – Stryzkals Monitor.“ Ungläubig schüttelte Chrystal den Kopf. „Unmöglich!“ sagte er. „War das Wasser dort so flach? Das kann doch nicht sein.“ „Ich verstehe es auch nicht.“ Nervös spielte Chrystal mit einem weißen Würfel. „Ein eigenartiger Unfall“, sagte er betroffen. „Carl ist sicher tot.“ „Wir müssen es annehmen“, antwortete Fletcher. „Ich habe alle meine Leute gewarnt, keiner soll mehr allein hinaus. Sie sollten Ihre Leute ebenfalls warnen.“ Chrystal starrte geistesabwesend auf den Würfel und legte ihn auf den Tisch. „Vielen Dank!“ sagte er dann. „Bisher hat es hier noch keinen Unfall gegeben. Sabria galt immer als besonders sicher. Haben Sie sonst noch etwas bemerkt, Fletcher?“ „Nur Dekabrachen. Eine schwamm neben dem Tender. Vielleicht hatte sie irgend etwas damit zu tun.“ Erstaunt sah Chrystal auf. „Eine Dekabrache? Diese Kreaturen sind harmlos.“ Sam zuckte die Achseln und sagte gleichmütig: „Ich habe mich über diese Viecher informieren wollen und dabei eine eigenartige Entdeckung gemacht. Die in der Mikrobibliothek enthaltenen Angaben sind recht mager. Eine Notiz ist sogar ungültig gemacht worden.“ 68
„Warum erwähnen Sie das?“ fragte Chrystal unsicher. „Weil ich annehme, daß Sie die Zeile unleserlich gemacht haben, Chrystal.“ Der andere war offensichtlich beleidigt. „Warum sollte ich das getan haben?“ fragte er gekränkt. „Ich habe für die verdammte Gesellschaft gearbeitet und viel geleistet, das wissen Sie so gut wie ich. Jetzt arbeite ich auf eigene Rechnung, und das ist nicht immer leicht.“ Unwillkürlich nahm er den weißen Metallwürfel wieder zwischen die Finger. Er bemerkte Fletchers fragenden Blick und schob den Würfel schnell aus dem Sichtbereich. Sam sah dabei ein Buch mit dem Titel: „Handbuch für Konstanten und physische Verwandtschaften.“ Fletcher wartete noch eine Weile und fragte dann: „Haben Sie die Zeile nun gelöscht, oder nicht?“ Chrystal runzelte die Stirn „Ich weiß es nicht genau“, antwortete er zögernd „Ich kann die eine oder andere Anmerkung ungültig gemacht haben Es handelte sich aber bestimmt nicht um etwas Wichtiges Ich erinnere mich jetzt daran. Ich hatte damals unklare Ideen, die sich dann aber als falsch erwiesen.“ „Was waren das für Ideen?“ fragte Fletcher. „Ich kann mich nicht sofort daran erinnern“, entgegnete Chrystal ausweichend. „Es ging wohl um die Nahrungsaufnahme. Ich glaubte, diese Viecher ernähren sich von Plankton. Das scheint aber nicht der Fall zu sein.“ „So!“ „Was soll das eigentlich?“ Chrystal wurde ungeduldig. „Das klingt ja fast wie ein Verhör. Ich stellte fest, daß sich diese Kreaturen immer dicht über den Sandbänken aufhal69
ten und die dort wachsenden Schwämme vertilgen. Aber auch das ist wohl mehr eine Annahme.“ „Ist das wirklich alles?“ „Mir fällt nichts weiter ein.“ Fletcher blickte auf den Metallwürfel. Chrystal hatte ihn unbewußt wieder ins Blickfeld gerückt. „Was haben Sie denn da auf dem Tisch?“ fragte er interessiert „Beschäftigen Sie sich jetzt mit Metallurgie?“ „Nein.“ Chrystal nahm den Würfel in die Hand und zeigte ihn deutlicher. „Es ist nur eine Legierung.“ Er lächelte und schloß mit den Worten: „Vielen Dank für den Anruf, Sam!“ „Haben Sie irgendeine Vorstellung, was Carl zugestoßen sein könnte?“ bohrte Fletcher weiter. Chrystal machte ein erstauntes Gesicht. „Warum, zum Teufel, fragen Sie mich?“ „Weil Sie mehr über die Dekabrachen wissen als irgendein anderer auf Sabria.“ „Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht helfen, Sam. Tut mir leid.“ Fletcher bedankte sich und wünschte seinem Gesprächspartner eine gute Nacht. Er blieb aber vor dem Bildschirm sitzen und dachte nach. Monitor-Mollusken, Dekabrachen, gelöschte Anmerkungen auf dem Mikrofilm – das alles schien irgendwie in eine bestimmte Richtung zu deuten. Er war sich dessen aber nicht ganz sicher und zweifelte noch. Die Dekabrachen schienen aber eine entscheidende Rolle in dieser mysteriösen Angelegenheit zu spielen. Fletcher hatte das sichere Empfinden, Unwahrheiten gehört zu haben. Aber warum schwieg sich Chrystal über irgend etwas 70
aus? Nur ein sehr wichtiger Grund konnte ihn dazu veranlassen. Was war das für ein Metallwürfel? Chrystals Verhalten war jedenfalls auffällig gewesen. Sam holte sein eigenes Handbuch hervor. Da der Würfel neben dem Buch gelegen hatte, ließ sich seine Größe ziemlich genau abschätzen. Wenn dieser Würfel ein Kilogramm schwer war – und solche Würfel wurden oft in einem Gewicht von einem Kilogramm gegossen –, dann ließ sich die Dichte des Materials ungefähr bestimmen. Fletcher rechnete kurz nach und stellte das spezifische Gewicht fest. Danach konnte es sich um irgendeine der vielen Metallverbindungen handeln. Es hatte wahrscheinlich keinen Sinn, sich darauf zu versteifen und irgend etwas zu sehen, das nur in der Einbildung existierte. Nach den Angaben im Handbuch konnte es sich um Nickel, Kobalt oder Niobium handeln. Fletcher schlug das Buch zu und lehnte sich zurück. Konnte es Niobium sein? Dieses Element war selten, weil es nur geringe natürliche Vorkommen gab. Die Gewinnung war zudem sehr teuer und umständlich. Der Markt verlangte nach diesem seltenen Metall, denn der Bedarf stieg ständig und damit auch der Preis. Fletcher verfolgte diesen Gedanken weiter. Hatte Chrystal etwa eine biologische Niobiumquelle entdeckt? Wenn ihm das gelungen war, würde er bald ein reicher Mann sein. Sam entspannte sich. Er fühlte sich erschöpft. Er dachte an Carl Raight, und das Gefühl des Verlustes wurde drückender. Er stellte sich den auf dem Meer treibenden Körper vor. Die Leiche würde bald sinken und Tiefen erreichen, in die kein Licht drang. Warum hatte dieser Mann sterben müssen? 71
Die Plötzlichkeit dieses Todes ärgerte ihn. Carl Raight hatte gewiß ein besseres Schicksal verdient. Die Würdelosigkeit dieses Endes war erschütternd. Warum ließ das Schicksal es zu, daß ein so wertvoller Mensch einfach ertrank? Fletcher stand endlich auf und kletterte wieder zum Laboratorium hinauf. Damon war mit seinen Routinearbeiten beschäftigt und sah kaum auf. Er hatte drei Projekte in Arbeit, die ihn voll beanspruchten. Er wollte eine Alge zur Aufnahme von Platin heranzüchten und einen Schwamm zur Aufnahme von Rhenium bringen. Die angewandte Technik war in beiden Fällen dieselbe. Generation auf Generation wurde herangezüchtet und mit bestimmten Salzen gefüttert. Dadurch wurden Mutationen erzeugt, die schließlich zum gewünschten Resultat führten. Bestimmte Organe sollten beginnen, Metalle zu speichern. Bei dieser Methode brauchten später nur die Lebewesen gefangen und verarbeitet zu werden. Dadurch entfiel die Notwendigkeit riesiger Werke, denn die lebenden Organismen arbeiteten billiger und viel besser. Das Sabrianische Meer enthielt alle nur denkbaren Elemente in gelöster Form. Es war deshalb die Aufgabe der Biologen, Lebewesen zu züchten, die die Ausbeutung des Meeres ermöglichten. Damon war damit beschäftigt, mehrere Glasbehälter mit Algen in einer exakten Reihe aufzustellen. „Was hat er gesagt?“ fragte er, ohne aufzublicken. „Er meint, es handle sich um wieder gelöschte Vermutungen. Er wollte keine Irrtümer fördern.“ „Blödsinn!“ knurrte Damon. Fletcher warf einen nachdenklichen Blick auf die Al72
genbehälter und fragte scheinbar beiläufig: „Haben Sie hier schon einmal Niobium entdeckt, Gene?“ „Niobium? Nun, es gibt Spuren davon. Die Konzentration ist aber äußerst gering. Eine der hier wachsenden Korallenarten enthält etwas Niobium. An einen wirtschaftlichen Abbau ist aber nicht zu denken.“ Jetzt drehte er sich endlich um und legte den Kopf etwas schief. „Warum wollen Sie das wissen, Sam?“ „Nur ein verrückter Gedanke“, antwortete Fletcher. „Demnach war das Gespräch mit Chrystal unbefriedigend“, schloß Eugene scharfsinnig. „Sehr unbefriedigend.“ „Was wollen Sie jetzt tun?“ Sam setzte sich auf die Tischkante. „Ich weiß es nicht genau. Ich kann wohl nicht viel tun, es sei denn …“ „Was?“ „Es sei denn, ich mache einen Versuch. Ich müßte dazu tauchen und mir die Verhältnisse da unten genauer ansehen.“ Damon war entsetzt. „Was erhoffen Sie sich davon?“ fragte er. „Wenn ich das wüßte, brauchte ich nicht zu tauchen“, antwortete Fletcher grimmig. „Chrystal ging jedenfalls nach unten, kam wieder herauf und löschte eine Anmerkung auf dem Mikrofilm. Warum?“ „Das möchte ich auch sehr gern wissen“, murmelte Damon. „Trotzdem halte ich es für äußerst leichtsinnig, einen solchen Versuch zu wagen. Vor allem jetzt, nach Raights Verschwinden.“ „Kann sein.“ Sam rutschte wieder von der Tischkante und ging zur Tür „Ich werde mich morgen erst entscheiden.“ 73
Fletcher ließ Damon allein und stieg zum Deck hinab. Blue Murphy stand wartend am Niedergang. Er machte ein sehr besorgtes Gesicht und fragte nach Agostino. „War er nicht oben im Labor?“ Sam schüttelte den Kopf. „Nein.“ Murphy sah sich ängstlich um. „Er hätte mich vor einer halben Stunde ablösen müssen. Er ist weder in der Messe noch in seiner Koje.“ „Etwa noch einer?“ fragte Fletcher. „Keine Ahnung.“ Murphy blickte scheu auf den Ozean hinaus. „Vor einer halben Stunde soll Agostino noch in der Messe gewesen sein.“ „Wir müssen ihn suchen“, entschied Fletcher und setzte sich in Bewegung. „Er kann ja nur auf dem Floß sein.“ Sie suchten überall, selbst in den Speichern, den Werkzeugkammern, dem Ersatzteillager und in den Booten Einer kletterte sogar zum Mastkorb hinauf. Die Barken lagen alle vertäut am Floß, das U-Boot und der Katamaran schaukelten ebenfalls in der leichten Dünung. Auf dem Vorderdeck stand der Hubschrauber und machte mit seinen herabhängenden Propellerarmen einen etwas traurigen Eindruck. Agostino war nirgends zu finden. Niemand konnte erklären, wo er sein mochte. Fletcher rief die gesamte Besatzung zu einer Konferenz in die Messe Die Männer waren alle nervös und blickten immer wieder durch die Bullaugen nach draußen. „Wir wissen nicht, was uns da bedrängt“, sagte Sam ernst. „Es scheint uns genau zu beobachten und immer überraschend zuzuschlagen. Wir müssen uns vorsehen!“ Murphy hieb mit seiner großen Faust auf den Tisch. 74
„Was können wir denn machen?“ fragte er wütend. „Sollen wir wie lahme Kühe herumstehen und auf den Schlächter warten?“ „Sabria ist bisher ein sicherer Planet gewesen“, antwortete Damon beruhigend. „Nach Stryzkal und dem Galaktischen Index gibt es hier keine feindlichen Lebensformen.“ „Zum Teufel mit Stryzkal!“ murrte der Maschinist. „Ich wünschte, er wäre jetzt hier, um mir das zu bestätigen.“ „Vielleicht könnte er mit seiner Theorie Raight und Agostino zurückholen“, sagte Dave Jones ironisch. Er warf einen Blick auf den Wandkalender und brummte: „Noch einen ganzen Monat …“ „Bis Verstärkung kommt, machen wir nur noch eine Schicht täglich“, entschied Fletcher. „Verstärkung ist der richtige Ausdruck“, bemerkte Mahlberg lakonisch. Sam ließ sich nicht beirren. „Morgen werde ich mit der Wasserwanze tauchen und mich da unten umsehen“, erklärte er. „Ich hege einen bestimmten Verdacht. Ich schlage vor, wir bewaffnen uns mit Beilen und allen übrigen Geräten.“ Ein leises Geräusch drang in die Kabine. Mahlberg sah auf die Uhr und sagte: „Regen! Es ist genau Mitternacht.“ Es prasselte nur so herab. Fächer ging an ein Bullauge und warf einen Blick auf die dichte Regenwand. Im Schein der Lampe wirkten die fallenden Tropfen wie gleißende Schnüre „Ich schlage vor, wir machen Schluß für heute“, sagte er zu den versammelten Leuten. Plötzlich drehte er sich um, raste zur Tür und dann in den Regen hinaus. Die Männer sahen sich verdutzt an. 75
Die Tropfen stachen in Fletchers Gesicht und behinderten die Sicht. Trotzdem konnte er etwas Weißes auf dem Deck liegen sehen. Es sah wie ein weißer Plastikschlauch aus, gehörte aber bestimmt nicht auf das Floß. Im nächsten Augenblick wurde Sam Fletcher an einem Fußgelenk gepackt und auf das nasse Metalldeck geschleudert. Er hörte Schritte und Flüche, dann ein metallisches Geräusch. Dann war er plötzlich wieder frei und konnte dankbar aufatmen. Er taumelte hoch und hielt sich am Mast fest. „Da ist etwas im Verarbeitungsraum!“ rief er den Männern zu. Sie rannten sofort weiter. Fletcher eilte hinterher und drängte sich nach vorn. Die Tür stand offen, doch das mußte nicht unbedingt etwas bedeuten. Der große Raum war jedenfalls leer. Fletcher sah nur die Mühlen, die Trockenwalzen und die anderen Geräte. Hinter den Maschinen führten sechs verschiedenfarbige Rohre zu den Silos. Sam legte den Hauptschalter um und schaltete damit sämtliche Maschinen ab. „Wir schließen zu und gehen wieder zur Messe zurück“, sagte er zu seinen Leuten. „Wenn wir uns übet Nacht einschließen, sind wir wahrscheinlich sicher.“ * Am nächsten Tag hingen dichte Wolken tief über dem Wasser, scharfe Böen fegten über die Oberfläche und wirbelten Schaumkronen auf. Fletcher frühstückte in der Messe und zog sich dann einen wasserdichten, heizbaren Overall an. Die Wasserwanne hing an der Ostseite des Floßes in den Davits – eine 76
durchsichtige Plastikmuschel mit einem starken Antriebsmotor. Mit der Wasserwanze konnte eine Tiefe von einhundertfünfzig Metern erreicht werden. Die Tauchzellen waren so konstruiert, daß immer ein Druckausgleich eintrat. Sam kletterte in die Kabine und setzte sich ans Steuer. Murphy, stülpte ihm den Helm über und verband die Schläuche mit den eingebauten Luftbehältern. Die Kabine wurde zugeschraubt, Mahlberg und Hans schwangen die Davits aus und senkten die Wasserwanze langsam auf die Oberfläche hinab. Murphy stand an der Reling und starrte unablässig auf Fletcher, dar sich seine Erregung nicht anmerken ließ. Als die Wasserwanze schwamm, setzte Sam die Pumpen in Tätigkeit. Er tauchte aber nur bis dicht unter die Oberfläche und kontrollierte Steuerung und Druckausgleich. Erst danach löste er die Kabelverbindung und tauchte schräg nach unten. „Der hat Nerven!“ sagte Murphy seufzend und starrte auf die Stelle, an der die Wasserwanze untergetaucht war. „Ich möchte nicht in seiner Haut stecken.“ „Vielleicht ist er in dem Ding sicherer als wir hier oben“, bemerkte Damon finster. Blue Murphy schlug dem Biologen freundschaftlich auf die Schulter „Klettern Sie doch in den Mastkorb, alter Junge! Dort oben ist es bestimmt, sicherer.“ Er blickte zu dem Mastkorb in dreißig Meter Höhe empor und fügte grinsend hinzu: „Wenn mich jemand mit Nahrung versorgt, steige ich selber hinauf und mache es mir da oben bequem.“ Hans deutete auf das Wasser „Da sind Blasen!“ rief er. „Sam taucht unter dem Floß weg und fährt nach Norden.“
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* Der Tag gestaltete sich sehr ungemütlich. Der Wind wehte Schaumwolken über das Deck. Wer hinausgehen mußte, war schon nach wenigen Schritten klatschnaß. Die Wolken verdunkelten die Sonnen, so daß die durchdringenden Strahlen eine gespenstische Atmosphäre erzeugten. Gegen Mittag wurde es plötzlich sehr still. Der Wind legte sich, das Meer wirkte wie eine spiegelglatte Fläche. Die Männer saßen in der Messe, tranken Kaffee und unterhielten sich gedämpft. Damon wurde bald unruhig und stieg zum Laboratorium hinauf. Nach kurzer Zeit kam er aber wieder herunter und stürmte in die Messe. „Dekabrachen!“ brüllte er. „Sie sind unter dem Floß! Ich konnte sie genau erkennen!“ „Vor mir sind sie sicher“, knurrte Murphy. „Ich möchte eine fangen“, sagte Damon erregt, „lebend!“ „Haben wir nicht schon so genug Schwierigkeiten?“ nörgelte Dave Jones. Damon ließ sich jedoch nicht von seinem Plan abbringen und redete auf die Männer ein. „Wir wissen noch nicht viel über diese Viecher“, erklärte er. „Es handelt sich um eine hochentwickelte Art. Chrystal hat die schon vorhandenen Informationen unkenntlich gemacht. Ich möchte eine Dekabrache untersuchen und mir ein eigenes Urteil bilden.“ Murphy stand mürrisch auf. „Vielleicht können wir ein Netz auswerfen“, sagte er lustlos. „Versuchen Sie es!“ antwortete Damon begeistert. „Ich werde inzwischen einen großen Behälter aufstellen.“ 78
Die Besatzung des Floßes ging freudlos an Deck. Der große Ladebaum mit dem Rahmennetz wurde ausgeschwenkt. Hans betätigte die Motorwinde und ließ das Netz langsam ins Wasser gleiten. Murphy beugte sich über die Reling und gab Hans Zeichen. Kurz darauf schoß ein bleiches Gebilde unter dem Floß hervor „Hochziehen!“ brüllte Murphy erregt und winkte mit beiden Händen. Das Seil spannte sich augenblicklich, die Seiten des Netzes klappten hoch. Im Wasser neben dem Floß entstand ein schäumender Wirbel. Das fast zwei Meter lange Ungetüm sah sich gefangen und suchte verzweifelt nach einem Ausweg. Hans zog das Netz aus dem Wasser. Es hing unter dem Gewicht der gefangenen Dekabrache durch. Der Ladebaum wurde wieder nach innen geschwenkt, so daß das triefende Netz mit dem gefangenen Tier über dem Deck hing. Damon hatte einen Plastiktank aufgestellt und mit Wasser gefüllt Jetzt zog er an einer Leine, und die gefangene Dekabrache plumpste in das aufspritzende Naß. Wenn das verzweifelte Tier gegen eine Wand prallte, buchtete sich das zähe Material aus, hielt aber dem starken Druck stand. Nach einer Weile beruhigte sich die Dekabrache und blieb reglos im Wasser liegen. Die langen Fühler und die Arme hielt sie fest gegen den glatten Körper gepreßt. Die Männer scharten sich um den Behälter und blickten durch die transparenten Wände. Das große dunkle Auge der Dekabrache starrte unheimlich zurück. „Was machen wir jetzt?“ fragte Blue Murphy. 79
„Können wir den Behälter auf das Deck neben dem Laboratorium stellen?“ wollte Damon wissen. „Dort oben kann ich besser arbeiten.“ Der Behälter mit der gefangenen Dekabrache wurde hochgewunden und an die bezeichnete Stelle gebracht. Damon konnte nun mit seiner Arbeit beginnen. Die Besatzung stand noch eine Weile herum und beobachtete die gefangene Kreatur. Dann verloren die Männer aber das Interesse daran und zogen sich wieder in die Messe zurück. Zwei Stunden vergingen. Der Wind wurde wieder stärker und peitschte das Wasser zu hohen Wellen auf. Plötzlich wurde ein pfeifendes Geräusch hörbar. Es kam aus dem am Mast hängenden Lautsprecher. Fletcher meldete sich. „Ich komme zurück“, gab er durch. „Ich befinde mich jetzt etwa drei Kilometer nördlich vom Floß. Bereitet alles zur Übernahme vor!“ „Er hat’s tatsächlich geschafft“, sagte Murphy erleichtert. „Und ich Idiot wollte vier zu eins dagegen wetten!“ rief Mahlberg „Zum Glück hat keiner eingeschlagen.“ Zehn Minuten später kam die Wasserwanze herangefegt. Fletcher verminderte die Geschwindigkeit und manövrierte sein Gefährt geschickt unter die Davits. Magnetscheiben packten die Metallstreben und hielten die Wasserwanze fest. Gleich darauf begannen die Winden zu arbeiten. Fletcher schaltete die Pumpen ein und beförderte das noch in den Ballasttanks befindliche Wasser hinaus. Er wirkte übermüdet und dennoch sehr aufgeregt. Nachdem die Ka80
bine aufgeschraubt worden war, stieg Sam aus, setzte den Helm ab und reckte sich. „Da bin ich wieder“, sagte er grinsend. „Überraschend, was?“ „Ich hätte meinen gesamten Besitz dagegen gesetzt“, sagte Mahlberg ehrlich. „Was haben Sie gefunden?“ fragte Damon wißbegierig. „Eine Menge“, antwortete Sam. „Aber ich will mich erst umziehen. Ich bin mächtig in Schweiß geraten.“ Er erblickte den Behälter mit der gefangenen Dekabrache und wandte sich fragend an Damon. „Wann ist das Ding an Bord gekommen?“ „Gegen Mittag“, antwortete Murphy. „Wir fingen es mit dem Netz. Damon will sich damit beschäftigen.“ Fletcher stand mit hängenden Schultern da und blickte zu dem Behälter hinauf. „Stimmt etwas nicht?“ fragte Damon nervös. „Macht nichts“, sagte Sam kopfschüttelnd. „Wir können die Lage kaum schlimmer gestalten, als sie ohnehin schon ist.“ * Die Männer saßen wartend in der Messe. Fletcher kam erst zwanzig Minuten später herein und goß sich eine Tasse Kaffee ein. „Ich glaube, wir sind in ernster Gefahr“, sagte er unvermittelt. „Wegen der Dekabrachen?“ fragte Murphy ahnungsvoll. Fletcher nickte. „Das habe ich mir gedacht!“ knurrte Murphy. „Man 81
kann den Viechern ansehen, daß sie etwas Böses im Schilde führen.“ Damon runzelte die Stirn Er hielt nicht viel von Gefühlsausbrüchen „Sagen Sie uns, was Sie denken“, forderte er Fletcher auf. Sam wählte seine Worte sehr bedachtsam. „Es sind Dinge geschehen, von denen wir keine Ahnung hatten. Die Dekabrachen bilden eine organisierte Gemeinschaft.“ „Sie sind intelligente Lebewesen?“ Fletcher zuckte die Achseln. „Das kann ich nicht mit Gewißheit behaupten, aber fast scheint es so. Möglicherweise gehorchen sie jedoch auch nur Instinkten wie die Insekten.“ „Erklären Sie endlich!“ sagte Damon erregt. „Was haben Sie …?“ Sam hob abwehrend die Hände. „Ich werde alles in der richtigen Reihenfolge erzählen. Fragen können Sie später stellen.“ Er starrte gedankenvoll ins Leere und trank noch einen Schluck Kaffee. „Ich war natürlich etwas nervös“, sagte er dann. „Ich fühlte mich einigermaßen sicher, rechnete aber mit unvorhersehbaren Ereignissen. Und dann geschah auch etwas sehr Merkwürdiges. Ich war kaum untergetaucht, da sah ich Dekabrachen. Es war ein Schwarm von sechs oder sieben Stück.“ „Was machten sie?“ Damon konnte sich nicht zurückhalten. „Nicht viel. Sie schwammen in der Nähe eines großen Monitors, der an einem Seegrasbüschel hing. Der lange Arm hing senkrecht nach unten. Ich steuerte langsam darauf zu, um die Reaktion der Dekabrachen zu testen. Sie 82
zogen sich scheu zurück. Ich hielt mich nicht lange auf und fuhr nach Norden. Nach einigen hundert Metern sah ich etwas Merkwürdiges und zog eine große Schleife, um die Sache genauer zu betrachten. Etwa zwölf Dekabrachen hatten mich darauf aufmerksam gemacht.“ „Was war es denn?“ fragte Murphy atemlos. „Ein riesiger Monitor. Dieser Bursche war ein Gigant, sage ich euch. Er hing an Ballonen oder Luftblasen. Ich konnte es nicht genau feststellen. Er hing jedenfalls an diesen Dingern und wurde von den Dekabrachen in Richtung auf das Floß geschoben.“ „Hierher?“ Murphy wurde unruhig und trank schnell einen Schluck Kaffee. „Was haben Sie getan?“ fragte Damon. „Vielleicht war es nur eine harmlose Sache“, fuhr Fletcher fort. „Ich wollte aber kein Risiko eingehen und steuerte auf die Blasen zu. Sie zerplatzten bei der Berührung, und der riesige Monitor sackte wie ein Stein ab. Sein Arm war unheimlich stark. Ich glaube, er hätte die Wasserwanze mühelos zerdrücken können. Die Dekabrachen kümmerten sich nicht mehr um ihn und verschwanden. Ich nahm natürlich an, eine Runde gewonnen zu haben, und setzte meine Fahrt fort. Zwei Kilometer weiter erreichte ich den Rand der Flachsee. Der Meeresboden fällt dort leicht ab. Bis dahin war ich etwa drei Meter unter der Wasseroberfläche gefahren. Ich ging bis auf hundert Meter hinunter und schaltete die Scheinwerfer ein. Das Licht ist dort unten schon sehr schwach. Es ging immer an Korallenbänken vorbei. Die Korallen sind schon hier oben recht bizarre Gebilde, aber nichts im Vergleich mit den weiter unten 83
wachsenden Bänken. Das liegt wahrscheinlich an den anderen Strömungsverhältnissen und der besseren Nahrung. Die Korallen bilden dort über hundert Meter hohe Türme mit phantastischen Spitzen, Plattformen, Höhlen und ähnlichen Formationen, und sie sind von verschiedener Farbe – weiß, blau, grün und gelb. Es ist eine wahre Märchenwelt. Ich gelangte an das Ende des Riffs und bekam einen Schrecken. Der Übergang erfolgte zu plötzlich. Eben noch hatte ich die leuchtenden Gebilde im Licht der Scheinwerfer gesehen, doch nun sah ich nichts mehr. Ich hing über der ungeheuren Tiefe und wurde etwas ängstlich. Das war natürlich unsinnig, denn die Wasserwanze blieb immer in der gewünschten Tiefe. Am Tiefenlot las ich viertausend Meter ab. Es gefiel mir nicht sonderlich, über diesem Abgrund herumzugondeln, und ich kehrte wieder um. Plötzlich bemerkte ich Lichter. Das machte mich natürlich sehr neugierig. Ich schaltete die Scheinwerfer aus und fuhr langsam auf die Lichter zu. Unter mir sah ich unzählige Lichtpunkte, Es war wie ein Flug über eine große Stadt.“ Fletcher nahm noch einen Schluck aus der Kaffeetasse und sah einen nach dem anderen an. „Und es war eine Stadt!“ sagte er bedeutungsvoll. „Eine Stadt der Dekabrachen?“ fragte Damon atemlos. Sam nickte. „Sie haben eine Stadt gebaut und sogar Beleuchtungsanlagen entwickelt? – Unmöglich!“ Fletcher war sich dessen nicht sicher. „Das ist schwer zu entscheiden“, erklärte er. „Die Korallen bilden dort sehr viele Hohlräume. Die Dekabrachen benutzten diese Hohl84
räume wohl als Wohnungen. Was sie sonst noch darin tun, ist mir ein Rätsel. Jedenfalls brauchen sie die Höhlen nicht als Schutz gegen den Regen. Die Grotten sind nicht so gebaut worden wie unsere Häuser, das ist klar. Die eigenartigen Formen können aber keinesfalls auf natürliche Weise entstanden sein. Ich glaube, die Dekabrachen vermögen die Korallenbänke nach ihren Wünschen wachsen zu lassen.“ „Wenn das stimmt, dann sind sie intelligente Wesen“, sagte Murphy. „Nicht unbedingt“, schränkte Fletcher ein. „Die Höhlen sind kein Beweis dafür. Auch Wespen bauen kunstvolle Nester. Ihr Instinkt zwingt sie dazu.“ „Sie haben diese Gebilde gesehen“, warf Damon ein. „Sie können sich deshalb ein Urteil bilden. Was halten Sie davon, Sam?“ „Ich weiß einfach nicht, was ich sagen soll“, antwortete Fletcher. „Wir richten uns immer nach unserem Standard Wir sind spezialisiert, zu spezialisiert, denke ich.“ „Nicht so kompliziert, Sam!“ tadelte Murphy. „Sind die Dekabrachen nun intelligente Viecher, oder nicht?“ Fletcher blieb unsicher und fragte humorlos: „Sind Menschen intelligent?“ „Sie behaupten es jedenfalls von sich“, antwortete Murphy lachend. Sam ging bereitwillig darauf ein. „Ich will nur sagen, daß wir die Intelligenz der Dekabrachen mit anderen Maßstäben messen müssen. Für diese Wesen gelten völlig andere Werte. Wir benutzen andere Hilfsmittel: Werkzeuge, Kunststoffe und organische Stoffe. Wir bedienen uns hauptsächlich der toten Materie. Warum soll es nicht eine 85
Zivilisation geben, die lebendige Werkzeuge benutzt, spezialisierte Kreaturen, die nur Hilfsdienste verrichten und der herrschenden Art das Leben leichter machen? Ich nehme an, daß die Dekabrachen eine derartige Zivilisation entwickelt haben. Sie zwingen die Korallen, die zweckmäßigste Form anzunehmen; sie benutzten andere Tiere als Fallensteller. Denkt an Raights und Agostinos Schicksal!“ „Also doch intelligente Wesen“, bemerkte Damon zufrieden. „Es ist eine Frage der Definition“, wandte Fletcher ein. „Vielleicht können wir überhaupt nicht erfassen, was die Dekabrachen tun.“ „Das ist mir zu hoch“, grunzte Murphy. Damon war fasziniert und ließ nicht locker. „Ich bin weder Metaphysiker noch Semantiker“, sagte er nachdenklich. „Wir sollten einen einfachen Versuch machen und die Intelligenz der Dekabrachen testen.“ „Wozu? Das ändert doch nichts an den Tatsachen“, sagte Murphy. „Vielleicht doch.“ Fletcher hatte begriffen, was Damon meinte. „Es ist eine Frage des Rechts.“ „Aha!“ Murphy schüttelte den Kopf. „Da sind wir also wieder beim alten Thema!“ „Wir kennen die Doktrin“, sagte Fletcher ernst. „Wenn wir intelligente Lebewesen verletzen oder töten, können wir von diesem Planeten gejagt werden. Solche Fälle hat es schon gegeben.“ „Ich weiß“, murmelte Blue gutmütig. „Ich war auf Alkaid, als zwei Männer von der Graviton-Gesellschaft in ähnliche Schwierigkeiten gerieten.“ 86
„Deshalb müssen wir wachsam sein“, erklärte Fletcher „Es gefällt mir gar nicht, daß ihr während meiner Abwesenheit eine Dekabrache gefangen habt.“ „Es ist noch nicht entschieden, ob es sich um intelligente Lebewesen handelt“, wandte Mahlberg ein. „Darum müssen wir eben einen Versuch machen“, sagte Damon beharrlich. Die Männer sahen ihn erwartungsvoll an. „Was für einen Test?“ fragte Murphy. „Eine Verständigungsprobe.“ Die meisten nickten zustimmend. Dieser Vorschlag klang vernünftig. Damon wandte sich wieder an Fletcher und fragte: „Haben Sie Anzeichen einer Verständigung zwischen den Dekabrachen erkannt, Sam?“ Fletcher verneinte. „Morgen werde ich eine Kamera und ein Tonaufnahmegerät mitnehmen“, entschied er. „Dann werden wir es bald wissen.“ Damon kratzte sich nachdenklich am Kinn. „Warum haben Sie eigentlich nach Niobium gefragt?“ „Chrystal hatte einen Metallwürfel auf seinem Schreibtisch liegen. Nach meiner Schätzung kann es sich um Niobium gehandelt haben. Aber warum kommen Sie darauf?“ Eugene machte eine lange Pause, ehe er sich vorsichtig äußerte. „Es kann natürlich ein Zufall sein“, sagte er gedehnt. „Die Dekabrachen enthalten ungewöhnlich viel davon.“ Sam sprang unwillkürlich auf. „Ist das wahr?“ „Es ist hauptsächlich im Blut enthalten“, antwortete Damon. „Einige Organe dienen als Speicher. Jede Dekabrache schleppt ein kleines Vermögen mit sich herum.“ 87
„Würde sich die Ausbeutung lohnen?“ Fletchers Stimme zitterte bei dieser Frage. „Jeder Organismus enthält etwa hundert Gramm Niobium“, antwortete Damon. Fletcher setzte sich wieder „Interessant!“ murmelte er und starrte in seine Kaffeetasse. Während der Nacht prasselte wieder der Regen auf das Floß nieder. Das Meer wurde aufgewühlt, der Wind peitschte den Gischt vor sich her. Die meisten Männer lagen schon in ihren Kojen und schliefen. Nur Dave Jones und Manners, der Funker, saßen noch in der Messe und spielten eine Partie Schach. Es dauerte einige Zeit, ehe sie das Geräusch heraushörten. Es wurde aber bald so laut, daß es den Sturm übertönte. Es klang wie ein metallisches Stöhnen, wie ein gespenstischer Seufzer. Manners sprang auf und ging zu einem Bullauge. „Der Mast!“ rief er entsetzt. Durch den Regen konnte er den wie ein Schilfrohr schwankenden Mast sehen. Die Schwankungen wurden immer stärker und bedrohlicher. „Was ist da zu machen?“ fragte der Steward ängstlich. „Im Augenblick nichts“, entgegnete Manners „Wahrscheinlich ist ein Spannseil gerissen.“ Jones drehte sich um und wollte zu den Schlafräumen eilen. „Ich werde Fletcher informieren“, sagte er unruhig. „Er ist der Boß.“ Der Mast schwang noch stärker aus, blieb plötzlich in einem unglaublichen Winkel hängen und krachte wenig später auf die Verarbeitungsanlage. 88
Fletcher kam verschlafen in die Messe und blickte durch ein Bullauge nach draußen. Da die starke Lampe nicht mehr auf das Deck schien, konnte er nicht viel erkennen. Er zuckte die Achseln und wandte sich vom Fenster ab. „Jetzt ist sowieso nichts mehr zu machen“, sagte er gelassen. „Bei dem Wetter kann ich keinen Mann hinausschicken.“ * Die Inspektion am nächsten Morgen ergab eine erstaunliche Tatsache Zwei Halteseile waren mit irgendeinem Werkzeug sauber gekappt worden. Der Mast wurde von den Männern in Teile zerlegt und an Deck festgezurrt. Das Floß sah jetzt merkwürdig flach und nackt aus. „Wer kann uns diesen Streich gespielt haben?“ fragte Fletcher und bückte nachdenklich auf das Meer hinaus. „Irgend jemand oder irgend etwas will uns in Schwierigkeiten bringen …“ Unwillkürlich blickte er dabei in die Richtung, in der er Chrystals Floß vermutete. „Sie denken doch nicht etwa an Chrystal?“ Damon blickte ebenfalls in diese Richtung. „Ich hege einen bestimmten Verdacht“, antwortete Fletcher gedehnt. „Für mich ist es kein Verdacht mehr, Sam.“ Fletcher schüttelte bedächtig den Kopf. „Es ist eine schwere Anklage. Der Verdacht allein genügt nicht. Wir müssen Beweise finden. Was kann sich Chrystal davon erhoffen?“ „Oder was können die Dekabrachen gewinnen?“ 89
„Ich weiß es nicht“, gab Sam offen zu. „Darum werde ich noch einmal tauchen.“ Er ließ Damon stehen und ging in seine Kabine, um sich umzuziehen. * Die Wasserwanze hing schon startklar in den Davits. Fletcher baute noch eine Kamera an und installierte ein Unterwassermikrophon. Das Aufnahmegerät war empfindlich genug, um alle in einem Umkreis von einigen hundert Metern ertönenden Laute zu registrieren. Das Unterwasserfahrzeug wurde wieder hinabgelassen und tauchte schnell unter. Die Mannschaft sah der Blasenbahn noch eine Weile nach und machte sich dann an die Reparatur der eingedrückten Aufbauten der Verarbeitungsanlage. Außerdem wurde eine Notantenne aufgerichtet. Der Tag verging schnell. Schon kam das eigenartige Zwielicht der Dämmerung und machte die Männer unruhig. Kurz vor Anbruch der Dunkelheit klang aber Fletchers Stimme aus dem Lautsprecher. „Macht euch fertig! Ich komme zurück!“ Die Männer versammelten sich an der Reling und starrten erwartungsvoll in die Dunkelheit, bis sie endlich einen glitzernden Gegenstand erkennen konnten. Fletcher schaltete die Pumpen ab und ließ sich von den Wellen zum Floß tragen. Die Wasserwanze wurde hochgezogen, das Wasser lief aus den Balasttanks in den Ozean zurück. Sam kletterte mühselig aus der Kabine und lehnte sich an die Wand des Deckaufbaus. Er hatte lange Zeit in der engen Kabine hocken müssen und war müde. 90
Damon konnte aber nicht warten und bestürmte Fletcher mit Fragen. „Was haben Sie herausgefunden, Sam?“ stieß er erregt hervor. „Ich habe alles gefilmt“, antwortete Fletcher erschöpft „Ich werde euch den Film zeigen, wenn ich mich etwas erholt habe.“ Fletcher legte die Kleider ab, duschte lange und zog sich bequeme Sachen an. Dann ging er in die Messe und ließ sich von Jones ein kräftiges Essen vorsetzen. Manners, der Ingenieur, war gerade damit beschäftigt, den automatisch entwickelten Film in den Projektor einzulegen. „Ich habe zwei Feststellungen gemacht“, berichtete Fletcher kauend „Die Dekabrachen sind zweifellos intelligente Lebewesen. Sie verständigen sich miteinander auf eine uns unbekannte Art und Weise. Aber seht euch den Film an und entscheidet selbst!“ Manners ließ den Projektor anlaufen und löschte das Licht. „Die ersten Meter zeigen nicht viel“, erklärte Fletcher. „Ich fuhr direkt zum Ende des Riffs und kreuzte über dem tiefen Wasser. Es war wie eine Fahrt am Rande der Welt. Fünfzehn Kilometer weiter fand ich eine große Kolonie, fast eine Stadt.“ „Die Existenz einer Stadt beweist das Vorhandensein einer Zivilisation.“ Fletcher zuckte die Achseln „Wenn Zivilisation die Manipulierung der Umwelt bedeutet, dann handelt es sich um eine Zivilisation.“ „Aber wie verständigen sich die Dekabrachen?“ wollte Damon wissen. „Das werden Sie gleich sehen.“ 91
Auf der Leinwand erschien das grüne Licht des Ozeans. „Ich hatte die Scheinwerfer abgeschaltet und fuhr langsam heran“, erklärte Fletcher die Bilder. Lichter wurden sichtbar und dann die Umrisse größerer Korallenbänke. Phantastische Türme tauchten auf und verschwanden wieder im Halbdunkel. Das Bandgerät gab Fletchers Eindrücke wider. „Die Formationen sind bis zu hundert Meter hoch und bilden eine mehrere Kilometer lange Wand“, erklärte Sam. Die Bilder wurden heller. Die Männer sahen jetzt dunkle Löcher in den bizarren Korallenwänden. Bleiche Körper glitten in diese Löcher oder kamen gerade heraus. „Weiter unten befindet sich eine Plattform, offenbar ein Vorratsgelände“, erläuterte Fletcher. „Ich gehe etwas tiefer, um dieses Gelände besser ins Bild zu bringen.“ Die Szenerie wurde dunkler. Fletcher sagte dazu: „Die Bilder sind besser als meine eigenen Eindrücke. Ich konnte nicht so gut sehen wie die Kamera. Das Licht dringt dort unten nicht sehr weit durch das Wasser.“ Die Männer erblickten eine Art Balkon. Der Vorsprung war etwa zwei Meter breit und führte am Riff entlang. Jenseits des Vorsprungs fiel das Riff steil in die schwarze Finsternis der Tiefsee ab. „Dieser Vorsprung ist künstlich gebaut worden“, sagte Fletcher. „Ich wurde neugierig und tauchte noch tiefer hinab.“ Jetzt war klar zu erkennen, daß es sich bei dem Vorsprung um eine Terrasse handelte. Verschiedene Farben bildeten scharf abgegrenzte Gebiete „Die Farben bedeuten verschiedene Pflanzenkulturen“, fuhr Fletcher fort. „Es 92
scheint sich um Gärten zu handeln. Ich fahre jetzt noch näher heran.“ Riesige Monitoren wurden sichtbar. Etwas später tauchten aalähnliche Gebilde auf, doch die Seiten dieser Tiere waren mit scharfen Sägezähnen bestückt. Dann erblickten die Männer lange Würmer, die wie Spiralbohrer aussahen. Sie hielten sich alle mit Saugnäpfen fest und schwankten leicht in der Strömung. „Warum bilden diese Tiere Gruppen?“ fragte Damon erstaunt. „Fragen Sie die Dekabrachen“, erwiderte Fletcher. „Das würde ich gern tun. Aber wie?“ „Bisher sehe ich noch keinen Beweis für die Intelligenz dieser Kreaturen“, warf Murphy ein. „Abwarten“, sagte Fletcher unbeirrt. Jetzt kamen zwei Dekabrachen ins Blickfeld geschwommen. Die dunklen Augen schienen die in der Messe versammelten Männer anzustarren. „Ich hatte die Lampen ausgeschaltet“, fuhr Fletcher mit seinen Erklärungen fort. „Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sie mich wohl noch nicht gesehen. Sie schienen aber die Vibrationen der Pumpen zu spüren.“ Die Dekabrachen drehte sich plötzlich um und tauchten zum Vorsprung hinab. „Paßt auf!“ sagte Fletcher erregt. „Die beiden standen vor einem Problem und kamen zum gleichen Entschluß. Ich konnte aber keine hörbare Verständigung wahrnehmen.“ Die Dekabrachen verschwanden im Schatten des Riffs und waren kaum noch zu erkennen. „Ich hatte keine Ahnung, was geschehen würde“, fuhr Sam fort. „Plötzlich 93
hörte ich dumpfe Schläge. Irgendwer schien Steine auf die Wasserwanze zu schleudern. Aber dann sah ich, was geschah. Ein torpedoartiges Gebilde mit einer unheimlich spitzen Nase schoß direkt auf mich zu. Mir blieb nur die schnelle Flucht. Ich wollte den Dekabrachen nicht die Gelegenheit geben, wirksamere Waffen auf mich zu hetzen.“ Die Leinwand wurde jetzt dunkel. „Ich befinde mich jetzt über der Tiefsee“, sagte Fletcher. Dunkle Schatten huschten schnell vorüber, waren aber nicht erkennbar. „Ich fuhr weiter und fand die gestern schon entdeckte Kolonie“, setzte Fletcher seinen Bericht fort. Es wurde wieder heller. Türme, Bögen und dunkle Löcher wurden sichtbar. Das Boot fuhr dicht an die Wand heran, genau auf einen der Höhleneingänge zu. Plötzlich wurde es gleißend hell. Fletcher hatte die starken Scheinwerfer eingeschaltet und in die Höhe geleuchtet. Die Männer erblickten eine zylindrische Kammer, deren Wände mit farbigen Kugeln ausgekleidet waren. Diese Kugeln wirkten wie farbenprächtige Weihnachtsbaumkugeln, nur noch kunstvoller. Eine Dekabrache schwebte genau in der Mitte der Kammer. Aus den Wänden kamen leuchtende dünne Fühler mit kugelförmigen Enden und schienen den glatten Körper der Dekabrache zu massieren. Die Dekabrache zog sich nach dem Aufflammen der Scheinwerfer tiefer in die Höhle zurück, die zuckenden Fühler fuhren augenblicklich in die Wände ein. Fletcher leuchtete in die nächste Höhle hinein. Auch in dieser Kammer befand sich eine Dekabrache. Sie nahm einen rosa Ball vor das große Auge und verhielt sich völlig 94
ruhig. In dieser Höhle kamen keine Fühler aus den Wanden, um die Dekabrache zu massieren. „Diese Dekabrache zog sich nicht vor mir zurück“, erklärte Fletcher. „Ich kann nicht sagen, ob sie Angst hatte, schlief oder sich in einem Zustand der Hypnose befand. Ich drehte um und wollte wieder nach oben, da bekam ich einen gewaltigen Stoß. Die Wucht des Stoßes war so stark, daß ich nicht mehr hoffte, heil davonzukommen.“ Die Männer erlebten alles mit. Das Bild begann plötzlich stark zu schwanken, und ein mächtiger Schatten huschte vorüber. „Ich blickte sofort nach oben“, fuhr Fletcher fort. „Ich sah nur ein paar Dekabrachen. Sie hatten wohl einen mächtigen Brocken mitgeschleppt und auf mich herabfallen lassen. Nach diesem Erlebnis kehrte, ich sofort um und machte mich eilig auf den Heimweg.“ Damon war stark beeindruckt „Das läßt auf eine gewisse Intelligenz schließen“, sagte er nachdenklich. „Und irgendwelche Laute waren nicht zu hören?“ Fletcher schüttelte den Kopf. „Ich hatte den Verstärker eingeschaltet. Während der Zeit unter Wasser hörte ich verschiedene Geräusche, aber kein einziges, das auf eine Kommunikation zwischen den Dekabrachen schließen läßt.“ „Vielleicht sind es Telepathen“, bemerkte Fletcher. „Ich habe sie sehr genau beobachtet. Sie machen keine Geräusche und keine auffälligen Bewegungen.“ Manners dachte sofort an eine technische Lösung. „Vielleicht strahlen sie Radiowellen aus“, sagte er ernsthaft. Damon schüttelte enttäuscht den Kopf. „Ich habe alles 95
versucht. Die Dekabrache im Plastikbehälter gibt keinerlei Frequenzen ab.“ Murphy nahm nun wieder einen Schluck Kaffee und murmelte; „Dann sind sie auch nicht intelligent. Alle intelligenten Wesen verständigen sich irgendwie miteinander.“ Eugene Damon nickte zustimmend. „Dabei kommt es nicht auf die Methode an. Es kann sich um eine Sprache, um Lichtsignale oder einfach um Geräusche handeln. Aber irgendwie verständigen sie sich alle.“ „Dann bleibt nur Telepathie“, warf Hans ein. Damon kratzte sich zweifelnd am Kinn. „Das ist unwahrscheinlich“, murmelte er. „Wir sind noch nie auf Lebewesen gestoßen, die sich mittels Telepathie verständigen.“ „Wahrscheinlich haben diese Kreaturen nicht einmal ein Zeitbewußtsein“, murmelte Fletcher. „Es ist schwierig, den Grad ihrer Intelligenz zu bestimmen. Das Fehlen eines Kommunikationsmittels muß jedenfalls eine furchtbare Behinderung sein.“ „Wirklich?“ Mahlberg blickte nervös durch ein Bullauge nach draußen. „Sie machen uns mächtig zu schaffen, mit oder ohne Verständigung untereinander.“ „Aber warum?“ Murphy knallte seine Tasse hart auf den Tisch. „Wir haben sie nicht belästigt. Plötzlich verschwindet Raight, und in der Nacht darauf Agostino. Dann kippt unser Mast um und zertrümmert die halbe Verarbeitungsanlage. Wer von uns kann sagen, was heute nacht passieren wird?“ „Er wird mir morgen einige Auskünfte geben müssen“, sagte Fletcher grimmig und stand auf. 96
„Wer?“ fragte Murphy. „Chrystal Ich habe das bestimmte Gefühl, daß er etwas damit zu tun hat.“ * Fletcher zog sich einen frischen Arbeitsanzug an und ging an Deck. Murphy und Mahlberg hatten schon die Halteseile des Hubschraubers gelöst und nahmen nun die Schutzhaube ab. Sam kletterte in die Maschine und schaltete die Prüflampe ein. Auf der Schalttafel leuchtete es grün auf. Alles war in Ordnung. „Soll ich nicht besser mitkommen, Sam?“ fragte Murphy besorgt. „Vielleicht gibt es Ärger.“ „Ärger? Warum sollte Chrystal Schwierigkeiten machen?“ „Der Kerl hat Haare auf den Zähnen“, knurrte Murphy. „Das weiß ich. Er wird aber keine Schwierigkeiten machen.“ Sam gab den beiden ein Warnzeichen und startete die Maschine. Die an den Propellerenden angebrachten Düsen setzten die drei Blätter in Bewegung, und die Maschine hob leicht vom Floß ab. Die See war wieder ruhig und sah von oben wie ein blanker Spiegel aus. Fletcher flog schnell. Der Tag war ihm zu still und drückend. Wahrscheinlich würde es bald wieder einen elektrischen Sturm geben. In Abständen von mehreren Wochen brachen diese Stürme los, wobei sich die atmosphärische Energie in furchtbaren Gewittern entlud. Schon nach kurzer Zeit konnte Sam das andere Floß sehen. Zehn Kilometer vor dem Floß überholte er eine Barke. 97
Zwei Männer hockten in der Plastikkabine. Anscheinend hatte Chrystal seine Leute gewarnt. Das Floß unterschied sieh nicht wesentlich von dem anderen. Der Mast stand noch aufrecht, und an Deck wurde gearbeitet. Fletcher konnte keine Anzeichen irgendwelcher Störungen erkennen. Er landete auf dem etwas überhöhten Flugdeck und schaltete die Maschine ab. Chrystal kam sofort aus dem Büro. Er war groß und etwas füllig, ein kraftvoller, herzlich wirkender junger Mann. Fletcher sprang vom Flugdeck Herab und begrüßte Chrystal. „Hallo Ted!“ sagte er freundlich. Der andere lächelte ebenfalls sehr freundlich und schüttelte Fletcher die Hand. „Hallo, Sam! Wie kommt ihr voran? Lohnt es sich diesmal? Ich freue mich, daß du uns hier besuchst.“ Sam zögerte. Die Besatzung lungerte herum und beobachtete ihn. „Können wir ins Büro gehen?“ fragte er Chrystal. „Natürlich.“ Ted drehte sich bereitwillig um und ging voran. Im Büro warf er noch einen Blick nach draußen und schloß die Tür. Er bot Fletcher einen Drink an und goß sich auch ein Glas voll. Fletcher wartete nicht lange. „Wir haben ernste Schwierigkeiten, Ted“, sagte er ruhig. „Wir sollten uns darüber unterhalten.“ „Gern.“ Chrystal blieb gelassen „Worum geht es?“ „Ich habe dir schon von Carls Verschwinden erzählt. Jetzt ist auch Agostino weg.“ Chrystal war sichtlich erschüttert. „Wie ist denn das passiert?“ fragte er entsetzt. 98
„Das wissen wir nicht. Er verschwand einfach.“ Ted ging mehrmals in der Kabine auf und ab. „Das verstehe ich nicht“, sagte er betroffen. „Wir konnten hier auf Sabria immer in Ruhe arbeiten.“ „Bei euch hat sich nichts Ungewöhnliches ereignet?“ Chrystal antwortete nicht gleich. Dann sagte er zögernd: „Nichts Besonderes. Ich habe deine Warnung beachtet und Wachen ausgestellt.“ „Die Dekabrachen sind dafür verantwortlich“, sagte Fletcher unvermittelt. Ted blickte zu Boden und sagte nichts. „Ihr habt Dekabrachen gefangen, nicht wahr, Ted?“ Chrystal ging wieder auf und ab und machte fahrige Bewegungen. „Was soll das, Sam?“ fragte er erregt. „Es spielt doch keine Rolle, ob wir Wasserpflanzen, Muscheln, Polypen oder Dekabrachen fangen. Deine Frage ist nicht fair. Natürlich haben wir Geschäftsgeheimnisse.“ „Ich will keine Geheimnisse erfahren“, antwortete Fletcher noch immer sehr ruhig. „Ich will euch nur warnen. Die Dekabrachen sind anscheinend intelligente Kreaturen, ich glaube, Carl läßt sie wegen des Niobiums fangen. Sie schlagen jetzt zurück und fragen nicht danach, ob sie Schuldige oder Unschuldige treffen. Zwei unserer Leute sind umgekommen. Ich habe also berechtigten Anlaß, der Sache auf den Grund zu gehen.“ Chrystal nickte. „Ich verstehe dich, Sam“, sagte er nervös. „Es fällt mir aber schwer, deinen Gedankengängen zu folgen. Du hast selber gesagt, daß Carl von einem Monitor ins Wasser gezogen worden ist. Jetzt willst du die Dekabrachen dafür verantwortlich machen. Was veranlaßt dich 99
eigentlich zu der Annahme, daß wir Niobium haben wollen?“ „Machen wir uns nichts vor, Ted“, entgegnete Fletcher. Der andere war sichtlich verärgert. Er fühlte sich in die Enge getrieben und sah keinen Ausweg. „Als du noch für unsere Gesellschaft arbeitetest, beschäftigtest du dich natürlich auch mit Dekabrachen, Ted“, sagte Fletcher. „Es gehörte ja zu deinen Aufgaben. Du stelltest fest, daß die Dekabrachen viel Niobium enthalten Anfangs warst du ehrlich und schriebst einen Bericht. Dann kam dir eine bessere Idee, und du …“ „Meine Sache!“ knurrte Chrystal aufgebracht. „Nicht ganz“, antwortete Fletcher. „Du hast dir finanziellen Rückhalt verschafft und die Ausbeutung der Dekabrachen aufgenommen. Du hast von Anfang an nichts anderes getan.“ Ted lehnte sich an die Tür und beobachtete Fletcher. Seine Stimme klang plötzlich eiskalt. „Sind das nicht allzu voreilige Schlüsse, Sam?“ „Du brauchst meine Vermutungen nur zu widerlegen“, antwortete Fletcher kühl. „Deine Haltung gefällt mir nicht, Sam.“ „Ich bin nicht hergekommen, um dir zu gefallen, Ted. Wir haben zwei Männer und den Mast verloren Ein Teil unserer Maschinen ist zum Teufel, so daß wir die Arbeit einstellen mußten.“ „Das tut mir leid.“ „Wirklich?“ fragte Fletcher ironisch. „Bisher hatte ich noch Zweifel, Ted. Ich nahm an, daß du die Dekabrachen unterschätzt hast und nichts von ihren Fähigkeiten weißt. 100
Ich will anerkennen, daß du guten Gewissens gehandelt hast. Jetzt muß ich dir aber sagen, daß alle intelligenten Lebewesen geschützt sind.“ „Und?“ „Du weißt genau, was ich sagen will, Ted.“ „Das sind recht erstaunliche Neuigkeiten, Sam“, erwiderte Chrystal selbstsicher. „Du streitest alles ab?“ „Selbstverständlich!“ „Ihr verarbeitet keine Dekabrachen?“ „Das habe ich nicht gesagt, Sam. Ich muß dich warnen! Du kannst nicht einfach auf mein Floß kommen und den wilden Mann spielen. Hier bestimme ich und kein anderer!“ Fletcher sah Chrystal verächtlich von oben bis unten an. „Du willst dich jetzt sogar vor einer klaren Antwort drücken“, murmelte er. „Ich habe kaum etwas anderes erwartet.“ Chrystal setzte sich und schlug gelassen die Beine übereinander. „Ich bin niemandem Rechenschaft schuldig“, sagte er kalt. Die Barke, die Fletcher vor kurzem überholt hatte, machte jetzt am Floß fest. Sam hörte die Rufe der Männer und sah interessiert auf. „Was haben die Leute gebracht, Ted?“ fragte er herausfordernd. „Das geht dich nichts an!“ Sam stand auf und ging zu einem Bullauge. Chrystal protestierte, doch Fletcher kümmerte sich nicht darum. Die beiden Männer befanden sich noch in der Kabine der Barke. Sie warteten offenbar auf die Gangway, die jetzt einge101
schwungen wurde. Fletcher pfiff überrascht durch die Zähne, denn die Gangway war keine der üblichen Konstruktionen, sondern eine aus Sperrholz gefertigte große Rinne. „Was hat das zu bedeuten?“ fragte er scharf. Chrystal kaute auf der Unterlippe. Sein Gesicht war vor Erregung gerötet. „Sam, du kommst her und schreist mir Anklagen ins Gesicht. Zwei von euren Leuten sind verschwunden; das allein macht deine Erregung verständlich. Ich werde dir einige Dokumente zeigen und damit beweisen, daß …“ Er murmelte unverständliche Worte und kramte in den auf dem Schreibtisch liegenden Papieren herum. Fletcher blieb am Bullauge stehen und beobachtete die Vorgänge auf dem Deck. Die merkwürdige Gangway wurde in die richtige Position gebracht und verdeckte Sam die Sicht. Er hielt es deshalb für angebracht, die Kabine zu verlassen. Ted fuhr herum. Sein Gesicht wirkte plötzlich bleich und hart. „Ich warne dich, Sam!“ sagte er drohend. „Gehe nicht hinaus!“ „Warum nicht?“ „Weil ich es so haben will.“ Fletcher ging zur Tür und öffnete sie. Chrystal wollte sich erst auf ihn stürzen, zuckte dann aber nur die Achseln und blieb stehen. Sam schloß die Tür hinter sich und ging zur Barke. An der Tür der Verarbeitungsanlage stand ein Mann, der ihm heftig zuwinkte. Fletcher zögerte. Der Mann wollte ihn offenbar warnen. Trotzdem ging Sam bis zur Reling. Die Gesten des Mannes 102
wurden noch heftiger. Fletcher beugte sich über die Reling und blickte in den offenen Laderaum der Barke. Sein Verdacht bestätigte sich. Er erblickte mehrere bleiche Dekabrachen. „Gehen Sie in die Kabine, Sie Narr!“ brüllte der Mann und schlug die Tür zu. Sam lief nicht weg, sondern warf sich schnell aufs Deck. Keinen Augenblick zu früh, denn ein kleines Objekt kam aus dem Wasser genau auf ihn zugeschossen. Es sauste dicht über seinem Kopf hinweg und prallte gegen eine Wand. Es war ein torpedoähnlicher Fisch mit einer langen, nadelartigen Spitze. Der Fisch zappelte über Deck auf Fletcher zu. Sam erkannte die Gefahr, sprang auf und rannte geduckt zum Büro zurück. Zwei weitere Pfeilfische flogen dicht an ihm vorbei. Die Tür war noch geschlossen. Fletcher riß sie auf, taumelte in den Raum und schloß die Tür mit einem heftigen Ruck. Chrystal saß an seinem Schreibtisch. „Ich habe dich gewarnt“, sagte er kalt. „Zu schade, daß sie mich nicht erwischt haben, nicht wahr?“ keuchte Fletcher. Er ging zum Bullauge und spähte hinaus. Die Dekabrachen wurden jetzt durch die Rinne direkt zur Verarbeitungsanlage befördert. Ein dichter Schwarm von Pfeilfischen kam aus dem Wasser geschossen. Die glitzernden, zappelnden Körper prallten mit voller Wucht gegen die Rinne und die Deckaufbauten. Sam wandte sich erschüttert ab. „Ich habe die Dekabrachen gesehen!“ sagte er anklagend. „Deine Leute haben sie gefangen.“ Ted war jetzt Herr der Situation. Er fühlte sich offensichtlich sehr sicher. „Und?“ fragte er geringschätzig. 103
„Es handelt sich um intelligente Lebewesen.“ Ted Chrystal gab keine Antwort und lächelte nur. Fletcher wurde zornig. „Du ruinierst alles!“ brüllte er den anderen an. „Sie werden uns von Sabria jagen!“ Chrystal winkte ab. „Es handelt sich nur um Fische, Sam.“ „Aber diese Fische sind intelligent genug, sich zur Wehr zu setzen.“ „Ist das Intelligenz?“ Sam hielt sich zurück, bis er sich wieder in der Gewalt hatte. „Ja, das ist Intelligenz“, sagte er entschieden. „Woher willst du das so genau wissen? Hast du dich mit ihnen unterhalten?“ „Das natürlich nicht.“ „Na, also!“ sagte Chrystal triumphierend. „Diese Fische leben in Gemeinschaft. Das tun unsere Robben auch.“ Fletcher stellte sich dicht vor Chrystal. Seine Wangenmuskeln zuckten vor Erregung. „Ich will nicht mit dir streiten, Ted. Es geht mir nicht um Definitionen. Die Jagd auf Dekabrachen muß sofort abgebrochen werden, damit es nicht noch weitere Opfer gibt!“ „Du kannst mich nicht einschüchtern, Sam“, antwortete Chrystal entschlossen. „Meinst du?“ Fletchers Haltung wurde noch drohender. „Zwei Männer sind schon umgekommen. Ich habe eben noch einmal Glück gehabt. Denkst du, wir riskieren unser Leben, damit du deine Taschen füllen kannst?“ „Du vermagst mich nicht daran zu hindern, Sam“, entgegnete Chrystal unbeirrt. Er hatte plötzlich eine kleine Pistole in der Hand und richtete sie auf Fletcher. „Hier 104
kommandiere ich, Sam!“ sagte er drohend. „Dies ist mein Floß, vergiß das nicht!“ Sam Fletcher reagierte überraschend schnell und hatte Erfolg damit Chrystal hatte sich zu sehr auf die einschüchternde Wirkung der Waffe verlassen. Sam packte Teds Handgelenk und drückte es kraftvoll nach hinten. Ein Schuß löste sich; die Kugel riß eine tiefe Furche in die Schreibtischplatte. Dann ließ Chrystal die Waffe fallen und taumelte. Er wollte sich nach der Pistole bücken, doch Fletcher warf sich mit voller Wucht gegen ihn und drückte ihn über den Stuhl. Chrystal riß ein Bein hoch und traf Fletcher im Gesicht. Sam ging für einige Sekunden in die Knie, taumelte dann aber wieder hoch. Beide Männer sprangen auf die Waffe zu. Fletcher bekam sie zu packen, wirbelte herum und bedrohte Chrystal. „Dieser Fall ist jetzt geklärt“, sagte er keuchend. „Gib die Waffe her!“ forderte Chrystal. Fletcher schüttelte grimmig den Kopf. „Du kommst mit, Ted! Ich werde dich bis zur Ankunft des Inspektors einsperren.“ Chrystal wurde noch bleicher „Was willst du tun?“ fragte er verstört. „Ich nehme dich mit. Der Inspektor wird in drei Wochen hiersein und sich um dich kümmern.“ „Du bist wahnsinnig, Sam!“ brüllte Chrystal in ohnmächtiger Wut. „Nein, das bin ich nicht. Raus jetzt!“ Fletcher deutete mit der Waffe zur Tür. Ted Chrystal verschränkte die Arme vor der Brust und 105
blieb stehen. „Ich denke nicht daran!“ antwortete er entschlossen. „Nun, ich wüßte auch nicht, wie du mich dazu zwingen willst. Mit der Waffe schüchterst du mich nicht ein.“ Fletcher zielte und drückte ab. Der Feuerstrahl versengte Chrystal am rechten Oberarm. Ted zuckte entsetzt zurück und starrte seinen Widersacher mit aufgerissenen Augen an. „Die nächste Kugel wird besser sitzen!“ drohte Fletcher. Chrystal fühlte sich wie ein in die Enge getriebenes Raubtier. „Das wirst du büßen!“ knurrte er. „Entführung ist ein strafwürdiges Verbrechen!“ „Ich entführe dich nicht“, sagte Fletcher ruhig. „Ich nehme dich unter Arrest.“ „Das wird deiner Gesellschaft teuer zu stehen kommen!“ murmelte Chrystal haßerfüllt. Sam schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht, Ted“, sagte er gelassen. „Bio Minerals wird dich verklagen. Immerhin bist du für den Tod von zwei Männern verantwortlich. Also los jetzt!“ * Die gesamte Besatzung hatte sich auf dem Deck versammelt und sah dem landenden Hubschrauber entgegen. Chrystal sprang sehr selbstbewußt heraus und musterte seine ehemaligen Arbeitskollegen. „Ich habe euch etwas mitzuteilen“, sagte er von oben herab. Keiner erwiderte ein Wort. Ted deutete mit dem Daumen auf Fletcher und erklärte: „Sam hat einen schweren Fehler begangen. Ich habe ihn gewarnt. Wenn ihr ihm helft, macht ihr euch mitschuldig 106
und werdet ebenfalls dafür büßen müssen. Überlegt euch das genau! Ich gebe euch den guten Rat, Fletcher rechtzeitig zur Vernunft zu bringen. Wenn ich sofort zurückfliegen kann, werde ich diesen unerfreulichen Vorfall vergessen.“ Er blickte einen nach dem anderen an, traf aber nur auf kalte Feindschaft. „Was sollen wir mit diesem Stinktier machen, Sam?“ fragte Murphy angewidert. „Sperrt ihn in Carls Kabine!“ entschied Fletcher. Nachdem Chrystal eingesperrt worden war, versammelten sich die Männer wieder in der Messe. Sam war sehr ernst und warnte seine Mitarbeiter. „Chrystal ist sehr gefährlich“, erklärte er. „Unterhaltet euch nicht mit ihm und laßt euch auf keine Tricks ein. Der Bursche ist intelligent und wird natürlich alles versuchen, um wieder auf sein Floß zu kommen.“ „Bewegen wir uns nicht in etwas gefährlichen Regionen?“ fragte Damon ängstlich. „Wenn Sie einen besseren Vorschlag machen können, werde ich ihn mir gern anhören“, antwortete Fletcher. Eugene dachte kurz nach. „Vielleicht erklärt er sich bereit, die Jagd auf Dekabrachen einzustellen“, sagte er hoffnungsvoll. „Ich habe ihn darum gebeten. Er lehnte ab.“ „Dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig“, murmelte Damon. „Wir müssen ihm aber kriminelle Handlungen nachweisen“, fügte er hinzu. „Dem Inspektor ist es gleichgültig, daß er die Bio-Mineral betrogen hat.“ „Ich übernehme die volle Verantwortung“, sagte Fletcher entschieden „Ihr habt nichts zu befürchten.“ 107
„Kommt nicht in Frage!“ begehrte Murphy auf. „Wir sind alle gleichermaßen beteiligt. Wir haben keine andere Wahl. Wir sollten den Kerl über Bord werfen. Es wäre doch interessant, zu sehen, was die Dekabrachen dann machen werden.“ * Nach der Konferenz stiegen Fletcher und Damon zum Laboratorium hinauf. Die Dekabrache schwamm mit an den Körper gelegten Armen in der Mitte des Behälters und blickte die beiden Männer mit großem Auge starr an. „Ist diese Kreatur nun intelligent oder nicht?“ fragte Damon. „Warum versucht sie nicht, sich irgendwie verständlich zu machen?“ „Wenn die Dekabrache intelligent ist, dann interessiert sie sich für uns wie wir für sie“, antwortete Fletcher „Hoffentlich irren wir uns nicht. Wenn wir jetzt einen Fehler begehen, kann Chrystal uns das Leben schwermachen.“ „Das fürchte ich auch“, sagte Damon nervös. „Inspektor Bevington hat nicht viel Phantasie und hält sich streng an seine Paragraphen.“ Fletcher blickte unverwandt durch die Plastikwand. „Sie ist intelligent“, sagte er beharrlich. „Aber wie soll ich das beweisen?“ „Jedes intelligente Wesen kann sich verständlich machen“, knurrte Damon. „Dieses vielleicht nicht. Wir müssen den ersten Schritt tun.“ „Wie denn?“ 108
„Wir müssen der Dekabrache beibringen, wie man sich verständigt“, sagte Sam ernsthaft. Damon faßte sich an den Kopf. Er starrte Fletcher so entgeistert an, daß dieser auflachte. „Das ist keinesfalls ein Witz, Damon“, sagte er. „Es hörte sich aber so an.“ Damon war ein wenig gekränkt und ließ sich das auch anmerken. „Was Sie eben gesagt haben, ist so einmalig, so unvorstellbar …“ „Kann sein.“ Fletcher wirkte sehr entschlossen. „Wir müssen es jedenfalls versuchen. Welche Sprachkenntnisse haben Sie, Damon?“ „Nicht der Rede wert.“ „Ich bin leider auch kein Sprachgenie“, murmelte Fletcher enttäuscht. Sie standen beide vor dem Behälter und blickten in das dunkle Auge der Dekabrache, die reglos im Wasser schwamm. „Wir müssen das Tier am Leben halten“, sagte Damon schließlich „Wir müssen es füttern. Die meisten Lebewesen essen.“ „Sicher“, antwortete Fletcher „Fotosynthese kommt bei dem schwachen Licht da unten kaum in Frage. Hat Chrystal nicht etwas über Schwämme geschrieben?“ Fletcher lief zur Leiter. Damon sah ihm nach und fragte. „Wollen Sie etwa zu Chrystal?“ „Was bleibt mir übrig? Er ist am besten über Dekabrachen informiert.“ „Er wird Ihnen keine Auskunft geben“, sagte Damon lakonisch. Fletcher kehrte nach zehn Minuten zurück und machte einen zufriedenen Eindruck. 109
„Nun?“ fragte Damon. „Die Dekabrachen leben von zarten Schwämmen, bestimmten Wasserpflanzen, Würmern und Wasserorangen.“ „Das hat Chrystal freiwillig preisgegeben?“ fragte Damon zweifelnd. „Hat er.“ Fletcher grinste. „Ich habe ihm gesagt, daß wir eine Dekabrache zu Gast haben. Ich eröffnete ihm, daß wir ihn wie die Dekabrache behandeln werden. Er wird nur Nahrung erhalten, wenn wir die Dekabrache füttern können.“ * Zwei Tage später standen Fletcher und Damon wieder vor dem Behälter und beobachteten die Dekabrache bei der Nahrungsaufnahme. „Wir sind in zwei Tagen keinen Schritt weitergekommen“, sagte Eugene mürrisch. Sam war weniger pessimistisch. „Wir haben allerhand in Erfahrung gebracht“, sagte er zufrieden. „Wir wissen jetzt, daß die Dekabrache keine Töne hören kann. Sie hat offensichtlich auch keine Organe zur Erzeugung von Geräuschen. Wir müssen uns deshalb auf optische Zeichen beschränken.“ „Ich beneide Sie um Ihren unerschütterlichen Optimismus“, erwiderte Damon mutlos. „Dieses Vieh hat nicht zu erkennen gegeben, daß es sich verständigen kann oder auch nur den Wunsch dazu hat.“ „Geduld“, sagte Fletcher mahnend. „Die Dekabrache hat vielleicht noch nicht begriffen, was wir wollen. Wahrscheinlich fürchtet sie sich vor uns.“ 110
„Hoffentlich wissen Sie, worauf wir uns da eingelassen haben“, sagte Damon ergeben. „Wir müssen dem Vieh erst einmal verständlich machen was wir wollen; und dann eine Sprache erfinden.“ „Richtig“, antwortete Fletcher grinsend. „Machen wir uns an die Arbeit!“ Sie standen lange vor dem Behälter und blickten in das starre dunkle Auge der Dekabrache. Es war kein Auge im üblichen Sinne, sondern eine dunkle Fläche, die Fletcher und Damon für ein Auge hielten. „Wir müssen visuelle Zeichen erfinden“, erklärte Sam. „Die zehn Arme der Dekabrache sind sehr empfindliche Glieder und werden wahrscheinlich vom am höchsten entwickelten Teil des Gehirns kontrolliert. Wir müssen deshalb ein Signalsystem entwickeln, das sich auf die Möglichkeiten dieser Arme gründet.“ „Es wird ein sehr begrenztes System sein“, murmelte Damon. „Das macht nichts.“ Fletcher ließ sich nicht von seinem Plan abbringen. „Die Arme sind flexibel und können verschiedene Stellungen einnehmen. Diese zehn Arme ermöglichen mindestens hunderttausend verschiedene Stellungen.“ „Das sollte ausreichen“, bemerkte Damon. „Es ist jetzt unsere Aufgabe, ein sinnvolles Zeichensystem zu entwickeln. Ich bin Ingenieur, Sie sind Biochemiker. Wir sind beide nicht für solche Aufgaben ausgebildet und müssen improvisieren. Es wird nicht leicht sein, Gene.“ „Das fürchte ich auch.“ Damons Abneigung gegen diesen Plan wurde aber von einem immer stärker weidenden Interesse verdrängt. „Es ist wohl nur eine Frage der Ge111
duld“, sagte er nachdenklich. „Wenn die Dekabrache intelligent ist, wird sie bald begreifen, was wir beabsichtigen.“ „Wenn wir es nicht schaffen, sind wir erledigt“, entgegnete Fletcher ernst „Chrystal wird uns ruinieren und von Sabria vertreiben.“ Die zwei Männer setzten sich an den Labortisch, um ihren Plan genauer zu fixieren. Damon fuhr sich nervös mit den Fingern durch das Haar „Wir nehmen an, die Dekabrachen haben keine Sprache. Dafür gibt es aber keinen ausreichenden Beweis. Wir wissen wenig, unsere Mittel sind beschränkt. Vielleicht kennen diese Tiere telepathische Methoden, vielleicht strahlen sie irgendwelche Frequenzen aus, die wir mit unseren Geräten nicht festzustellen vermögen. Sie können Methoden anwenden, die uns nicht im Traum einfallen werden.“ Fletcher nickte. „Möglich ist alles“, sagte er ergeben. „Wir müssen erst herausfinden, ob die Dekabrachen überhaupt in der Lage sind, irgendeine Form der Kommunikation zu begreifen. Unter Umständen leben sie tatsächlich wie die Insektenvölker nur nach Instinkten.“ „Wenn das der Fall ist, können wir einpacken“, sagte Damon trocken „Man kann Ameisen oder Bienen keine Sprache beibringen, das wissen wir mit Sicherheit. Die Gruppe hat eine gewisse Intelligenz, nicht aber das Individuum. Wir können also nur hoffen, daß die Dekabrachen ein uns unbegreifliches System der Kommunikation entwickelt haben. Unsere Sinne sind nicht in der Lage, diese Art der Verständigung zu erfassen.“ „Das ist immerhin eine Hypothese“, antwortete Fletcher. „Immerhin gibt uns das eine Arbeitsgrundlage. Bisher gibt 112
es nicht das geringste Anzeichen für einen Kommunikationsversuch der Dekabrache.“ „Deshalb müssen wir das Schlimmste befürchten“, grunzte Damon. Fletcher ging nicht darauf ein. „Wenn wir mehr über die Lebensgewohnheiten dieser Tiere wüßten, wäre uns schon sehr geholfen.“ „Wir wissen leider nur sehr wenig.“ Damon ging in eine Ecke und hob die Nachbildung eines Dekabrachenkopfes auf. Manners hatte sie hergestellt und zehn Arme aus flexiblem Rohr daran befestigt. „Wir werden die zehn Arme numerieren“, sagte Damon. „Wir haben dann die Zahlen null bis neun. Außerdem legen wir fünf Positionen fest vorwärts, diagonal nach vorn, aufrecht, diagonal nach hinten und gerade nach hinten. Wir geben diesen Positionen die Bezeichnungen A, B, K, X, Y. K ist die Normallage.“ „Das klingt vernünftig“, sagte Fletcher zustimmend. „Wir fangen am zweckmäßigsten mit Zahlen an.“ Die beiden Männer arbeiteten ein Zahlensystem aus und schrieben eine Tabelle folgenden Inhalts: Zahl: Sign.
0 0Y 10 0Y, 1Y 20 100 0X, 1X
1 1Y 11 0Y, 1Y:1Y 21 101 0X, 1Y:1X
113
2 2Y 12 0Y, 1Y:2Y 22 102 0X, 1Y:2X
usw. „ „ „ „ „ „
Nach einer Stunde hatten sie eine lange Tabelle angefertigt und betrachteten ihr Werk. „Logisch, aber umständlich“, bemerkte Damon. „Jede Zahl erfordert verschiedene Signale, die erst begriffen werden müssen.“ „Dabei ist das Zahlensystem relativ einfach“, sagte Fletcher seufzend. „Jetzt müssen wir ein Vokabular entwickeln. Wir können aber nicht einfach eine neue Sprache entwickeln.“ „Ich wünschte, ich hätte mich mit solchen Problemen beschäftigt“, murmelte Damon verzweifelt. „Diese Aufgabe ist selbst für Spezialisten eine verdammt harte Nuß.“ „Wie wäre es mit unserer eigenen Sprache?“ fragte Fletcher. „Wir müßten sie natürlich weitgehend vereinfachen. Es kommt jetzt vor allem darauf an, die Möglichkeit einer Kommunikation zu beweisen. Die Feinheiten können später ausgearbeitet werden. Wenn die Dekabrachen überhaupt aufnahmefähig sind, werden sie unsere Sprache ohnehin modifizieren. Ich schlage vor, wir arbeiten ein einfaches Vokabular aus. Wir müssen uns auf wenige Grundbegriffe beschränken, damit die Anzahl der Signale nicht zu groß wird.“ Die Ausarbeitung der Liste dauerte dann doch einige Stunden. Schließlich stellten Fletcher und Damon den nachgebauten Dekabrachenkopf neben dem durchsichtigen Wasserbehälter auf und richteten die künstlichen Arme ein. „Mit einer Maschine könnten wir die Arme automatisch einstellen“, sagte Damon nachdenklich. „Das würde die Arbeit erleichtern. Wir brauchten die Signale nur auf einen Streifen zu tippen.“ 114
Fletcher schüttelte bedauernd den Kopf. „Wenn wir die dazu notwendigen Apparaturen an Bord hätten, würde der Umbau einige Wochen dauern, Damon. Wir müssen diese Aufgabe noch vor der Ankunft des Inspektors bewältigt haben. Schaffen wir es nicht, können wir einpacken.“ Sie machten sich geduldig an die Arbeit. Die Dekabrache schwamm reglos im Behälter und beobachtete das Tun der beiden Männer. Zur Fütterungszeit warf Fletcher die von den Korallenbänken heraufgeholten Leckerbissen in den Behälter, während Damon das Signal „Nahrung“ einstellte. Danach wiederholten sie das Spiel an dem Modell. Sie stellten das Schlüsselwort ein und schoben Nahrung in das Aufnahmeorgan des Modells. Die Dekabrache blieb still und starrte die beiden Männer unablässig an. * Zwei Wochen später ging Fletcher zu Chrystal, der sich in Carl Raights Kabine aufhielt und gerade einen Mikrofilm betrachtete. Chrystal schaltete das Gerät schnell aus und richtete sich auf. „Der Inspektor wird in wenigen Tagen ankommen“, sagte Fletcher zurückhaltend. „So?“ „Ich will die Möglichkeit nicht ausschließen, daß du dich nur geirrt hast, Ted.“ „Ach nein!“ „Ich will dich nicht in eine unglückliche Lage bringen, 115
Ted“, fuhr Fletcher fort. „Du kannst immerhin guten Glaubens gehandelt haben.“ „Sehr großzügig!“ Chrystal lächelte spöttisch. „Was willst du, Sam?“ „Deine Mitarbeit. Wenn du bereit bist, die Dekabrachen als intelligente Lebewesen anzuerkennen, werde ich dich nicht anklagen.“ „Das nenne ich Großmut!“ antwortete Chrystal ärgerlich. „Und ich soll wohl auch auf eine Anklage verzichten, was?“ „Wenn die Dekabrachen intelligent sind, kannst du mich nicht anklagen, Ted.“ Chrystal blickte Fletcher prüfend in die Augen. „Du scheinst nicht besonders glücklich zu sein, mein Freund. Die Viecher spielen wohl nicht mit?“ Sam beherrschte sich und antwortete ruhig: „Wir sind noch bei der Arbeit.“ „Aber ihr zweifelt schon“, sagte Chrystal triumphierend. Fletcher ging wieder zur Tür. „Die Dekabrache kennt bereits vierzehn Zeichen und lernt jeden Tag zwei oder drei dazu.“ Chrystal sprang auf und hielt Fletcher zurück. „Warte!“ rief er aufgeregt. „Warum?“ „Ich glaube dir nicht.“ „Das ist deine Sache“, antwortete Fletcher ungerührt. „Ich will den Beweis sehen“, verlangte Chrystal. Sam schüttelte den Kopf. „Du bist hier besser aufgehoben, denke ich.“ „Du bist unfair“, knurrte Chrystal. 116
„Bin ich das? Fehlt dir etwas. Ted?“ Chrystal antwortete nicht und warf sich auf das Bett. Er schaltete den Projektor wieder ein und kümmerte sich nicht mehr um Fletcher. Sam Fletcher verließ die Kabine und verriegelte die Tür. In diesem Augenblick sprang Chrystal behende auf, eilte zur Tür und lauschte angestrengt. Fletchers Schritte verklangen in der Ferne. Chrystal eilte zu seinem Bett zurück und langte unter das Kopfkissen. Er holte zwei aus der Lampe montierte Drähte hervor, an deren Enden zwei Bleistifte hingen. Er hatte das Holz durchgeschabt und benutzte die Minen als Elektroden, die Glühbirne als Widerstand, um einen verräterischen Kurzschluß zu vermeiden. Mit schnellen Bewegungen schloß er die beiden Elektroden an den Stromkreis an und setzte seine heimliche Arbeit fort. Das Deck war leer. Chrystal stellte sich auf sein Bett und drückte die Elektroden an das Fenster, denn nur so konnte er das Beryl-Silica-Glas zerschneiden. Es war eine schwierige und langwierige Arbeit. Der Lichtbogen war natürlich sehr schwach, die aufsteigenden Dämpfe verursachten Hustenreize und brannten in den Augen. Chrystal legte immer wieder Pausen ein, um zu horchen. Er mußte am Tag arbeiten, denn bei Dunkelheit hätte ihn der Lichtbogen verraten. * Die Tage vergingen. Jeden Morgen tauchten die beiden Sonnen nacheinander aus dem Ozean auf und verbreiteten das merkwürdige Mischlicht, an das sich die Männer nie 117
richtig gewöhnen konnten. Da der Mast zerstört war, hatte Manners eine Notantenne aufgerichtet. An einem Nachmittag setzte er die Sirene in Tätigkeit und gab drei kurze Signale. Er hatte einen Ruf von Raumschiff LG 19 empfangen, das den Inspektor brachte. Schon am nächsten Abend würden die Fähren in einen Orbit gehen und mit dem Inspektor sowie Vorräten und einer neuen Mannschaft landen. In der Messe ging es hoch her. Die Männer freuten sich auf das Ende der langen Arbeitsperiode und feierten das Ereignis. * Die kleinen Fährschiffe landeten genau zum festgesetzten Zeitpunkt Zwei gingen neben dem einen Floß nieder, zwei dicht neben dem anderen. Die Mannschaften warfen Leinen aus und machten die auf dem Wasser schaukelnden Fähren fest. Inspektor Bevington kam als erster an Bord. Er war ein agiler kleiner Mann in einer strahlend blauen Uniform mit goldenen Abzeichen. Er war der Vertreter der Regierung und überwachte die Einhaltung der vielen Gesetze und Bestimmungen. Es war auch seine Aufgabe, kleinere Übertretungen sofort zu ahnden, Kriminelle festzunehmen und alle Unregelmäßigkeiten zu untersuchen. Außerdem mußte er sich um die Arbeitsbedingungen der Mannschaften kümmern, Steuern kassieren und Bestimmungen erläutern. Bevington verfügte also über eine große Macht. Ein sorgfältig ausgeklügeltes Überwachungssystem hinderte 118
die Inspektoren aber daran, selbstherrlich oder parteilich zu handeln. Inspektor Bevington war wegen seiner humorlosen Pedanterie sehr unbeliebt. Seine absolute Korrektheit sicherte ihm aber wenigstens den Respekt aller Beteiligten. Bevington galt als gewissenhaft und unbestechlich. Er war kein Tyrann, aber er richtete sich stets nur nach dem Wortlaut der Gesetze. Fletcher begrüßte ihn sehr freundlich. Bevington wurde natürlich sofort mißtrauisch. Er hatte gelernt, die kleinen Anzeichen zu deuten. Sam grinste, denn er dachte daran, wie es sein würde, wenn plötzlich ein Monitor nach Bevingtons Beinen langte, um ihn ins Wasser zu zerren. Es ereignete sich aber nichts Dramatisches. Der Inspektor konnte das Floß ungestört betreten. Er schüttelte Fletcher die Hand und sah sich um. „Wo ist Mr. Raight?“ Sam war verwirrt. Er hatte sich schon an Raights Abwesenheit gewöhnt. „Er – er ist tot“, sagte er dumpf. Bevington war entsetzt. „Tot?“ „Kommen Sie ins Büro“, sagte Fletcher. „Ich will Ihnen alles in Ruhe erklären. Wir haben eine schwere Zeit hinter uns.“ Sam blickte unwillkürlich zum Fenster von Raights Kabine hinüber. Er vermutete, das Gesicht Chrystals dort zu sehen. Jetzt bekam er aber einen gehörigen Schrecken und rannte sofort davon. „Was ist denn mit Ihnen los?“ rief Bevington verblüfft. „Bleiben Sie hier, Fletcher!“ „Kommen Sie mit!“ rief Sam über die Schulter zurück und rannte weiter. Er riß die Tür der Messe auf und blickte 119
in den Raum. Dann trat er einen Schritt zurück und sah wieder zu dem herausgeschnittenen Fenster hinüber Wo konnte Chrystal stecken? Bevington folgte Sam. Er war verärgert und verlangte eine Erklärung. Chrystal mußte sich irgendwo auf dem Floß befinden. Fletcher drehte sich um und eilte zur Verarbeitungsanlage. „Kommen Sie!“ rief er Bevington zu. Der hielt Sam jedoch am Arm fest und forderte energisch eine Erklärung. „Was ist hier los?“ fragte er schärf. Fletcher riß sich los und eilte weiter. Die Besatzung der Fähre war bereits mit der Übernahme der in Barren gegossenen Metalle beschäftigt. „Habt ihr einen großen, blonden Burschen gesehen?“ fragte Fletcher atemlos. Einer der Männer deutete auf die Verarbeitungsanlage. „Er stürmte eben hinein.“ Fletcher riß die Tür auf und stieß auf Hans, der sich gerade vom Boden erhob. „Ist Chrystal hier vorbeigekommen?“ fragte Fletcher. „Wie ein Orkan“, knurrte Hans „Er gab mir einen gewaltigen Kinnhaken.“ „Wo ist er hin?“ „Zum Oberdeck.“ Sam eilte wieder hinaus. Bevington war ihm immer auf den Fersen und verstand gar nichts. „Sagen Sie mir endlich, was hier los ist!“ fauchte er hilflos. „Seid ihr denn allesamt verrückt geworden?“ „Ich habe jetzt keine Zeit“, gab Fletcher zurück. Er rannte zu den Booten, doch die waren alle noch da. Plötzlich 120
fiel ihm der Hubschrauber ein Aber der ruhte noch, fest vertäut und zugedeckt, auf dem Flugdeck. Murphy kam herbeigeeilt und rief aufgeregt: „Er ist zum Labor hinaufgestiegen!“ Fletcher wurde bleich. Er konnte jetzt nur hoffen, daß Damon oben war. Er eilte zur Leiter und kletterte nach oben. Schon der erste Blick bestätigte seine Vermutung. Das Wasser hatte jetzt eine bläuliche, trübe Färbung, und die Dekabrache zuckte mit wilden Schwanzschlägen hin und her. Die zehn Arme waren plötzlich merkwürdig verkrampft. Sam sprang mit einem Satz in den Behälter und wollte die Dekabrache hochheben. Der glatte Körper rutschte aber immer wieder aus seinem Griff. Fletcher versuchte es immer wieder und schaffte es endlich. Er stemmte die Dekabrache empor und rief Murphy heran, der verblüfft nach oben gefolgt war. Damon kam ebenfalls ins Labor gestürmt. „Was ist passiert?“ rief er erregt. „Gift!“ antwortete Fletcher kurz. „Chrystal hat es getan.“ Damon und Murphy hielten die zappelnde Dekabrache fest und legten sie auf den Tisch. Fletcher löste die Klammern an der Seite des Behälters und öffnete eine Seite. Mehrere Kubikmeter Wasser überfluteten plötzlich den Boden der Kabine. Fletchers Haut begann fürchterlich zu brennen. „Säure!“ rief er Damon zu. „Holt Wasser und wascht mich ab!“ Damon schaltete die Pumpe ein, nahm einen Schlauch und richtete den scharfen Strahl auf Fletcher. Danach spülte er auch die Dekabrache ab. Diese lag nun fast leblos auf 121
dem Tisch. Nur die drei Schwanzflossen zuckten noch leicht. „Wir müssen es mit Sodiumkarbonat versuchen!“ rief Fletcher. „Vielleicht können wir die Säure neutralisieren. Vor allem müssen wir Chrystal fangen. Er darf uns nicht entgehen!“ Zu aller Überraschung kam Chrystal jetzt in das Laboratorium. Er machte ein verblüfftes Gesicht und stieg auf einen Stuhl. „Was ist denn hier los?“ fragte er in gespielter Ahnungslosigkeit. „Das wirst du gleich erfahren“, sagte Fletcher grimmig. „Murphy, halt ihn fest!“ „Elender Mörder!“ fauchte Damon seinen Kollegen an. Der Zustand der Dekabrache bereitete ihm ernste Sorge. Chrystal zog die Augenbrauen hoch. „Mörder?“ fragte er erstaunt. „Was soll das nun wieder heißen?“ „Es gibt da sehr präzise Gesetze“, antwortete Fletcher eisig. „Die Tötung eines intelligenten Lebewesens ist immer Mord!“ Sam spülte den Behälter aus, klammerte die offene Seite wieder zu und füllte Wasser ein. „Die Dekabrache muß schnell wieder hinein!“ rief er Damon zu. Der Biochemiker schüttelte betrübt den Kopf. „Es hat keinen Sinn mehr, Sam. Sie ist erledigt.“ „Trotzdem!“ „Wir sollten Chrystal mit ins Bassin stecken und ihn ersäufen“, sagte Damon haßerfüllt. „Lassen Sie das!“ herrschte Bevington ihn an. „Ich weiß nicht, was hier geschieht. Nach Ihren harten Worten zu urteilen, ist es aber nichts Angenehmes.“ 122
Chrystal gab sich völlig unbeteiligt. „Ich habe auch keine Ahnung, was die eigentlich von mir wollen, Inspektor“, sagte er mit unschuldiger Miene. Fletcher, Murphy und Damon hoben die Dekabrache vom Tisch und senkten sie vorsichtig ins Wasser. Es war erst zwanzig Zentimeter hoch und stieg nur langsam weiter. „Sauerstoff!“ rief Damon und schloß eine Atemmaske an eine Flasche an. „Weißt du immer noch nicht, was hier geschieht?“ wandte sich Fletcher an Chrystal. „Ein Fisch krepiert“, antwortete Ted geringschätzig. „Was ist schon dabei?“ Sam nahm die Atemmaske und preßte sie gegen die Öffnung unter dem Auge der Dekabrache. Blasen kamen aus den Kiemenöffnungen geperlt. „Mehr Sodiumkarbonat ins Wasser!“ ordnete Fletcher an. „Wir müssen die Säure neutralisieren.“ „Wird das Tier am Leben bleiben?“ Bevington stellte sich dicht vor den Behälter und betrachtete das leblose Geschöpf. „Ich weiß es nicht“, antwortete Sam entmutigt. „Was können wir nur machen? Mit einem Schluck Brandy würden wir sie wahrscheinlich umbringen.“ Die Arme der Dekabrache wurden plötzlich steif. Fletcher übergab Damon die Maske, um sich etwas auszuruhen. Dabei hörte er Chrystal, der sich mit dem Inspektor unterhielt. „Fletcher muß verrückt geworden sein, Inspektor. Ich habe drei Wochen lang um mein Leben gebangt. Er muß sofort von einem Psychiater untersucht werden.“ 123
Chrystal bemerkte Fletchers harten Blick und verstummte. Bevington wirkte unentschlossen. Er war unsicher und wußte nicht, wie er sich entscheiden sollte. „Mr. Chrystal hat eine schwerwiegende Anklage gegen Sie erhoben, Mr. Fletcher. Sie müssen sich verantworten. Die Anklage richtet sich gegen Bio-Mineral und vor allem gegen Sie persönlich.“ „Ich verlange die sofortige Inhaftierung dieses Wahnsinnigen!“ fügte Chrystal heftig hinzu. Bevington zuckte die Achseln und wandte sich an Fletcher. „Was haben Sie dazu zu sagen? Ich muß selbstverständlich eine Untersuchung einleiten.“ „Er hat mich mit Waffengewalt von meinem Floß entführt!“ rief Chrystal. „Seit drei Wochen hält er mich hier gefangen!“ „Damit er keine weiteren Dekabrachen morden kann“, erklärte Fletcher ruhig. „Was ist dabei?“ begehrte Chrystal auf. „Wir fangen Meerestiere und verarbeiten sie. Kein Gesetz verbietet das.“ Sam beachtete diesen Einwand nicht und sagte mit fester Stimme: „Dekabrachen sind intelligente Kreaturen und stehen unter dem Schutz des Gesetzes. Chrystal weiß das genau. Ich glaube, er würde auch Menschen zermahlen, um sich an dem gewonnenen Kalzium zu bereichern.“ „Lügner!“ knurrte Chrystal. Bevington hob abwehrend die Hände. „So geht das nicht, Gentlemen!“ tadelte er. „Ich will auf den Grund dieser Angelegenheit kommen und benötige weiter nichts als Fakten.“ 124
„Er ist nur neidisch“, warf Chrystal ein. „Er fürchtet die Konkurrenz meines Unternehmens, das ist alles.“ Fletcher deutete auf die im Behälter schwimmende Dekabrache. „Das ist mein Beweis“, sagte er ruhig. „Chrystal wußte es genau und wollte sie deshalb töten.“ Bevington wandte sich an Chrystal. „Haben Sie Säure in den Behälter gegossen oder nicht?“ Ted verschränkte die Arme vor der Brust und antwortete: „Diese Frage ist doch unsinnig.“ „Keine Ausflüchte, Mr. Chrystal!“ sagte Bevington scharf. „Haben Sie es getan?“ Chrystal zögerte einen Moment Doch dann sagte er entschieden: „Natürlich nicht! Niemand kann es beweisen.“ Bevington wandte sich an Fletcher: „Sie sprachen von Fakten. Um welche Fakten handelt es sich?“ Sam trat an den Behälter. Damon war noch immer damit beschäftigt, Sauerstoff durch die Kiemen der Dekabrache zu drücken. „Wie sieht’s aus?“ „Sie verhält sich eigenartig“, antwortete Eugene betrübt. „Vielleicht hat sie etwas von der Säure geschluckt.“ Fletcher blickte lange Zeit auf den glatten Körper der Dekabrache. „Wir müssen alles versuchen“, sagte er zu Damon. „Es ist unsere einzige Chance.“ Er ging in eine Ecke und rollte den Modellkopf heran. Chrystal lachte überheblich auf. „Was soll das bedeuten?“ fragte Bevington. „Ich will die Intelligenz der Dekabrache beweisen“, entgegnete Fletcher. „Diese Kreatur ist in der Lage, sich mit uns zu verständigen.“ Bevington sah sich die Liste mit den Codeworten an und 125
beschäftigte sich eingehend mit dem Modell. „Fangen Sie an!“ sagte er nach einigen Minuten „Ich bin sehr gespannt.“ „Muß ich mir diesen Blödsinn ansehen?“ fragte Chrystal. „Es handelt sich offensichtlich um einen primitiven Betrugsversuch.“ „Bleiben Sie lieber hier, Chrystal“, sagte Bevington. „Niemand außer Ihnen selbst kann Ihre Interessen vertreten.“ Sam begann die Arme des Modells einzustellen. „Ich gebe zu, es sieht alles ein wenig primitiv aus“, sagte er. „Mit besseren Mitteln werden wir natürlich bessere Resultate erzielen. Das kostet aber viel Geld, und vor allem Zeit.“ „Sogar Hasen lassen sich dressieren“, äußerste Chrystal geringschätzig. Fletcher richtete sich etwas auf und sagte gedehnt: „Wir werden einen sehr schwierigen Versuch machen. Ich werde die Dekabrache fragen, wer die Säure in den Behälter geschüttet hat.“ „Lassen Sie das nicht zu!“ forderte Chrystal den Inspektor auf. „Diese Methode ist nicht erlaubt.“ Bevington zog gelassen ein Notizbuch aus der Tasche und kümmerte sich nicht um Chrystals Protest. „Wie wollen Sie die Dekabrache fragen, Fletcher?“ erkundigte er sich kühl und unparteiisch. „Wir werden die Dekabrache verhören, Sir. Es gibt zwei verschiedene Methoden. Leider haben wir nur ein sehr begrenztes Vokabular zur Verfügung. Wir werden die Methode der Interrogation anwenden. Das bedeutet die Frage: 126
Hat ein Mann heißes Wasser ins Becken geschüttet? Wir benutzen den Begriff heißes Wasser, weil die Dekabrache die Bezeichnung für Säure nicht kennt.“ Bevington nickte zustimmend. „Fangen Sie an!“ Fletcher gab die entsprechenden Signale. Die Dekabrache wurde sofort unruhig. Sie hatte offenbar Schwierigkeiten, die Arme zu bewegen. Trotzdem brachte sie das Antwortsignal zustande. „Ein Mann!“ rief Fletcher atemlos aus. Bevington verglich die Stellung der Arme mit der Liste und nickte. „Aber welcher Mann?“ Sam wies Murphy an, sich vor den Behälter zu stellen. Dann formulierte er seine Frage. Die Antwort der Dekabrache fiel negativ aus. Jetzt trat Bevington vor den Behälter. Auch diesmal war die Antwort negativ. Nun kam Chrystal an die Reihe. Er bewegte sich nur zögernd. „Das ist doch ein leicht durchschaubarer Trick“, sagte er zu Bevington. „Stellen Sie sich vor den Behälter!“ befahl der Inspektor kühl. Chrystal gehorchte widerwillig Sogleich nahmen die Arme der Dekabrache eine andere Stellung ein. „Mann geben – heißes – Wasser“, las Bevington von der Liste der Signale ab. Ted protestierte heftig, doch Bevington ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Wir wiederholen den Versuch“, entschied er. Chrystal mußte sich noch einmal dicht vor den Behälter stellen. Diesmal lautete die Antwort der Dekabrache: 127
„Mann – gelber Kopf – geben – heißes – Wasser.“ Keiner sagte ein Wort. Bevington steckte sein Notizbuch ein und wandte sich an Fletcher. „Sie haben den Beweis erbracht“, sagte er befriedigt. „Das ist noch lange kein Beweis!“ protestierte Chrystal. „So leicht lasse ich mich nicht vertreiben!“ „Seien Sie still!“ herrschte der Inspektor den Biochemiker an. „Die Tatsachen sprechen für sich.“ „Das denke ich auch.“ Chrystal hielt plötzlich eine Pistole in der Hand. „Ich habe mir in weiser Voraussicht eine Waffe besorgt. Fletcher hat sie auf seinem Schreibtisch liegenlassen.“ Mit diesen Worten richtete er die Waffe auf die in dem engen Behälter schwimmende Dekabrache. Murphy reagierte schnell und warf einen Eimer nach Chrystal. Ted fuhr herum und wollte auf Blue schießen. Diesen Augenblick nutzte Fletcher aus und sprang auf Chrystal zu. Ein Schuß löste sich und streifte Damon. Der schrie auf und stürzte sich nun auch auf Chrystal. Es gelang den Männern, Chrystal zu überwältigen und ihm die Waffe zu entreißen. „Jetzt sind Sie in einer üblen Lage“, sagte Bevington grimmig. „Mit dieser Handlung haben Sie sich selbst überführt.“ „Er hat Hunderte von Dekabrachen getötet und ist indirekt für den Tod von Carl Raight und Agostino verantwortlich“, sagte Fletcher keuchend. „Er wird sich dafür verantworten müssen.“
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* Die neue Mannschaft hatte das Floß übernommen. Fletcher, Damon, Murphy und die anderen saßen in der Messe und dachten an die vor ihnen liegenden sechs Monate. Sie hatten viel Geld verdient und würden sich nun lange ausruhen können. Damon trug den rechten Arm in einer Schlinge und rührte seinen Kaffee mit, der linken Hand um „Ich weiß nicht recht, was ich tun werde“, sagte er nachdenklich. „Ich habe gar keine Pläne gemacht.“ Fletcher stand auf und blickte durch ein Bullauge auf die spiegelglatte See. „Ich bleibe hier“, sagte er ruhig. „Habe ich richtig gehört?“ fragte Murphy ungläubig. Sam kam zum Tisch zurück und setzte sich wieder. „Ich verstehe es selber kaum“, murmelte er. Murphy schüttelte den Kopf. „Das kann doch nicht wahr sein, Sam!“ „Doch!“ Fletcher war sehr nachdenklich geworden. „Ich bin Ingenieur“, sagte er. „Ich habe nicht den Ehrgeiz, das Universum zu verändern. Aber wir haben hier etwas begonnen, das zu einem guten Abschluß gebracht werden muß. Ich fühle mich dafür verantwortlich.“ „Sie wollen den Dekabrachen eine richtige Sprache beibringen?“ fragte Damon. Fletcher nickte. „Chrystal hat sie angegriffen und gezwungen, sich zur Wehr zu setzen. Er hat das Leben dieser Geschöpfe verändert. Damon, wir beide haben eine Dekabrache beeinflußt und ihr Leben revolutioniert. Aber das war nur der Anfang. Denken Sie an die unüberschaubaren Möglichkeiten dieser Entwicklung! Stellen Sie sich eine 129
auf einem fruchtbaren Planeten lebende Bevölkerung vor! Diese Wesen sind intelligent, aber sie haben nie eine Sprache entwickelt. Plötzlich kommt einer und gibt ihnen einen Stimulus, führt sie in eine unbekannte Welt ein. Denken Sie an die Reaktionen dieser Geschöpfe! Die Dekabrachen befinden sich jetzt in dieser Lage. Wir haben einen Anstoß gegeben, der unübersehbare Folgen haben kann. Ich möchte diesen Geschöpfen helfen, die größten Schwierigkeiten zu überwinden. Ich war nie für halbe Arbeit zu haben, Gene.“ Damon grinste verständnisvoll „Ich glaube, ich bleibe auch hier“, sagte er schlicht. „Lauter Verrückte!“ Jones stellte seine Tasse auf den Tisch und stand auf. „Ich verschwinde lieber, sonst steckt ihr mich noch an“, sagte er lachend. „Ich kann gar nicht schnell genug von diesem verdammten Floß herunterkommen.“ * Drei Wochen später ging alles wieder seinen gewohnten Gang. Die Mühlen arbeiteten Tag und Nacht, die Trockenpressen dampften, die Silos füllten sich mit kostbaren Rohstoffen. Fletcher und Damon beschäftigten sich unablässig mit der gefangenen Dekabrache. Sie waren nervös und gespannt, denn der Tag des wichtigsten Experiments war gekommen. Der Behälter wurde auf das untere Deck gestellt. Fletcher baute das Modell auf und gab das letzte Signal. „Wir zeigen noch mehr Zeichen. Kommen mit anderen Dekabrachen, damit wir euch unterrichten können.“ 130
Die Dekabrache signalisierte ihre Zustimmung. Auf Fletchers Kommando wurde der Behälter ins Wasser hinabgelassen. Die Dekabrache schwamm wieder frei in ihrem Element und blieb dicht unter der Oberfläche. „Da schwimmt Prometheus“, sagte Damon sinnend. „Er nimmt das Geschenk der Götter mit.“ „Sagen wir schlicht und einfach: das Geschenk der Sprache“, antwortete Fletcher. Der helle Körper verschwand im tieferen Wasser. „Der Superintendent hat fünfzig zu zehn gegen die Rückkehr der Dekabrache gewettet“, murmelte Damon. „Ich bin gespannt, ob Sie die Wette gewinnen werden, Sam.“ „Ich hoffe es“, sagte Fletcher ernst. „Und was soll werden, wenn die Dekabrache nicht wieder zu uns kommt?“ Fletcher zuckte die Achseln. „Dann fangen wir eine andere und wiederholen das Spiel. Irgendwann muß es mal klappen.“ Drei Stunden später senkte sich Nebel auf das Meer, Regen prasselte herab und beeinträchtigte die Sicht. Damon und Fletcher standen noch immer an der Reling und blickten unablässig in das Wasser. Damon deutete plötzlich nach unten. „Ich sehe eine Dekabrache!“ rief er. – „Aber ist das unsere?“ Immer mehr Dekabrachen tauchten auf. Eine schwamm dicht an das Floß heran und faltete die Arme zu einem bestimmten Signal. Fletcher klopfte Damon freundschaftlich auf die Schulter und sagte erleichtert: „Ihre erste Klasse, Professor. An die Arbeit!“ 131
Alles andere ist nichts (Forsaking all others) von Lester del Rey Jeden Sonntagabend, wenn die Sonne schon dicht über den Hügeln stand, kam der hochgewachsene junge Mann vom Angeln zurück. Sylva hatte ihn einen Sommer lang beobachtet, ihn kommen und gehen sehen. Jetzt kletterte die Baumnymphe aus der Baumkrone zum untersten Ast herab, setzte sich und sah auf den zum Bach führenden Pfad hinunter. Er kam wieder zurück. Sein Kopf mit den welligen Haaren tauchte auf, dann die breiten Schultern. Über Sylva rauschten die Blätter der uralten Eiche im leichten Abendwind. Die Baumnymphe hob beschwörend ihre Hände und wiederholte die schon so oft ausgesprochene Bitte: „Muttergöttin, mach mich sichtbar!“ bat sie. „Ich habe alle Instruktionen befolgt und diesen Baum alt und kräftig gemacht. Der Sterbliche kennt ihn, denn er hat oft in seinem Schatten geruht. Die Blätter haben mir erzählt, daß er diesen Baum allen anderen vorzieht. Nimm bitte den Schleier von seinen Augen, damit er mich erkennen kann.“ Ein leichter Wind wehte aus dem Osten über die Hügel und setzte die Blätter der Eiche in raschelnde Bewegung. Die Nymphe lehnte sich gegen den mächtigen Stamm und wünschte sich, endlich von dem Mann gesehen zu werden. Sie war so intensiv mit ihrem Wunschdenken beschäftigt, daß sie die nahenden Schritte nicht hörte. 132
„Oh, Mutter Ishtar!“ rief sie flehend. „Öffne seine Augen!“ Ihr Gebet war schon erhört, aber sie bemerkte es nicht. Der junge Mann mit dem bronzebraunen Gesicht stand hinter ihr und musterte sie wohlgefällig. „Hallo!“ rief er sie freundlich an. „Wie kommst du hierher?“ Die Baumnymphe drehte sich rasch um und griff vor Schreck nach ihrem Halskettchen aus Eicheln. Sie errötete leicht und antwortete: „Ich wohnt hier. Es ist so einsam“, fügte sie rasch hinzu. „Kannst du nicht bei mir bleiben und mir Gesellschaft leisten? Sag mir deinen Namen und wohin es dich zieht.“ „Einen Augenblick!“ Der junge Mann kratzte sich verwundert am Kopf. Er musterte den zarten Körper des nur mit einem dünnen Schleier bekleideten Mädchens. Ihre Figur war reizvoll und jugendlich, das Lächeln naiv und elfenhaft rein. Ihre Offenheit nahm ihm die Verlegenheit und machte ihn mutig. Er grinste die Nymphe freundlich an und stellte sich vor. „Ich bin Paul Brandon. Meine Mutter wartet mit dem Abendessen auf mich. Es wird ihr aber nichts ausmachen, wenn sie sich heute eine halbe Stunde länger gedulden muß. Du bist ein eigenartiges Mädchen.“ „Ich heiße Sylva“, sagte das Mädchen unbefangen, sprang von dem niedrigen Ast herab und stand nun neben Paul Brandon. „Ich kenne keine Männer“, sagte sie. „Du bist sehr nett. Was muß man zu Männern sagen, Paul? Erzähl mir von dir!“ Paul Brandon grinste amüsiert. Einem solchen Mädchen war er noch nicht begegnet. „Du machst es schon richtig“, 133
sagte er. „Macht es dir etwas aus, wenn ich rauche?“ Er zündete seine Pfeife an und erklärte: „Ich bin ein gewöhnlicher Durchschnittstyp, Sylva. Siehst du das kleine weiße Haus am Ortsrand? Dort wohne ich zusammen mit meiner Mutter und meinem Hund Pete. Als mein Vater starb, mußte ich mein Studium aufgeben und die kleine Farm übernehmen. Im Winter arbeite ich als Verkäufer in einem Store, im Sommer versorge ich eine Tankstelle und unser Land. Sonntags gehe ich immer zum Bach und fange ein paar Fische. Willst du noch mehr wissen?“ Sylva lehnte sich an den großen jungen Mann und sah zu ihm auf. Sie genoß den Geruch des Tabaks und seines männlichen Körpers. Ein wohliges Gefühl durchströmte ihren Körper. „Wohnt deine Familie hier in der Nähe?“ fragte Paul Brandon. „Was machst du übrigens hier draußen?“ „Ich habe keine Familie“, antwortete die Nymphe. „Ich wohne hier in diesem Baum.“ Paul klopfte seine Pfeife aus. „Du bist wohl ein Waisenkind? Dir scheint es nicht gut zu gehen. Du kannst doch nicht auf Bäumen schlafen. Komm mit! Wir haben noch ein Bett für dich frei.“ Die Nymphe schüttelte den Kopf. Paul zuckte die Achseln. „Wie du willst“, sagte er. „Aber wir werden für dich sorgen. Meine Mutter wird dir Lebensmittel bringen.“ „Ich brauche keine Lebensmittel“, antwortete Sylva und preßte sieh noch fester an seinen Körper. „Du sollst nur kommen.“ Paul Brandon wurde etwas verlegen. „Du bist sonder134
bar“, murmelte er. „Vielleicht hast du die Geschichten von Peter Pan zu ernst genommen und treibst dich jetzt im Wald umher. Aber gut, ich werde morgen wiederkommen.“ „Bis morgen abend“, sagte sie dankbar und hob die Angelrute vom Boden auf. Dann sah sie ihm nach und winkte. Später setzte sie sich unter den Baum und lehnte sich an den mächtigen Stamm der alten Eiche. Eine scharfe Stimme riß sie aus ihrem genußvollen Schweigen. „Dummkopf! Du hast mit dem Feuer gespielt, Schwester Sylva. Und du hast dich daran verbrannt!“ Sylva sprang behende auf und rannte um den Baum herum. Sie sah Verda, die Fichtendryade. Verda hatte früher in einer Fichte gewohnt, die in einer Stadt stand, und das Treiben der Sterblichen studiert. Seitdem hielt sie sich für sehr überlegen und fühlte sich oft bemüßigt, die im Wald lebenden Nymphen zu belehren. Es gab Gerüchte über ein Verhältnis zwischen ihr und einem Dichter. Die Sache hatte ein jähes Ende gefunden, als andere Sterbliche den Baum verbrannten. Sylva ärgerte sich über die Schärfe der Anklage. „Ich habe mich nur mit ihm unterhalten“, verteidigte sie sich. „Er ist jung und stark und anders als die furchtbaren Sterblichen, die mit Sägen und Äxten kommen, um Bäume niederzuschlagen. Er denkt gar nicht daran, unsere Wohnungen zu zerstören.“ „Und er ist so nett“, spottete Verda. „So nett, daß du selber eine Sterbliche sein möchtest, nicht wahr? Du möchtest doch in so einem Haus leben und dich für ihn abplagen. Dann kannst du Kinder kriegen, waschen, kochen, bügeln und alt werden. Du kannst dann zusehen, wie ihm Haare 135
und Zähne ausfallen, wie seine Haut welk wird und seine Kraft schwindet. Er wird dann wie ein Apfel aussehen, der zu lange am Baum gehangen hat. Laß die Finger von den Sterblichen, Sylva!“ „Aber ich … Ich meine … Du hast doch selbst einmal …“ „Ja, ich habe es am eigenen Leibe zu spüren bekommen.“ Verdas Augen hatten jetzt nicht mehr den harten Glanz. Sie kam etwas näher und wurde freundlicher. „Es ist schwer, meine Kleine“, sagte sie mitleidig. „Ich muß dich warnen. Ich liebte den Mann sehr. Mutter Ishtar zwang mich aber zu dem Eingeständnis, daß ich nur eine Dryade bin. Schließlich glaubte er mir, und …. Du hast ja gehört, was dann passiert ist. Laß ihn allein, Sylva“, sagte sie beschwörend. „Du willst einen schweren Weg gehen. Wenn du es tust, wirst du leiden und schließlich alles bereuen. Es wird dir das Herz brechen. Verbinde dich meinetwegen mit einem Faun, aber nie mit einem sterblichen Menschen! Geh jetzt schlafen und denk nicht mehr an den Mann!“ Sylva hörte aber nicht auf Verda. Sie lehnte sich an ihren Baum und blickte zu dem weißen Haus hinüber. Ein Fenster war erhellt. War das sein Zimmer? Sylva dachte unablässig an den wunderbaren Mann in dem kleinen weißen Haus am Ortsrand. Verdas Mahnung hatte sie längst vergessen. Endlich ging das Licht aus. Eine Wolke schob sich vor den Mond und verdunkelte das Land. Sylva seufzte schwer und stieg wieder in ihren Baum. *
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Wieder kam ein Sonntag. Paul war diesmal aber nicht angeln gegangen. Als die Sonne sank, packte Paul Brandon die Reste und das Geschirr in den Korb. Dann legte er sich in den Schatten des Baumes und umarmte Sylva, die sich eng an ihn schmiegte und seinen kräftigen Oberarm als Kopfkissen benutzte. Paul rauchte genießerisch seine Pfeife, und wieder empfand Sylva den scharfen Geruch als ein wunderbares Geschenk der Wirklichkeit. „Warum kommst du nicht mit?“ fragte Paul unzufrieden. „Es mag romantisch sein, auf Bäumen zu schlafen und nur Früchte zu essen. Es ist aber nicht das richtige Leben für ein Mädchen wie dich, Sylva. Ich weiß immer nicht, was ich meiner Mutter sagen soll, wenn sie mich ausfragt. Außerdem weiß ich nicht genug über dich. Du bist immer etwas geheimnisvoll, fast wie eine Fee.“ Sylva umarmte ihn leidenschaftlich. Sie wollte den schrecklichen Augenblick hinauszögern. „Du hast deiner Mutter von mir erzählt? Sie ist mir wahrscheinlich sehr böse.“ Paul schüttelte den Kopf. „Da kennst du meine Mutter schlecht“, sagte er grinsend. „Sie hält dich für eine Mischung von unschuldigem Baby und reinem Engel. Wenn du nicht über deine Vergangenheit sprechen willst, werden wir keine Fragen stellen. Der Mensch zählt, nicht das, was er einmal erlebt oder getan hat. Meine Mutter verläßt sich auf mein gesundes Urteilsvermögen.“ „Du hast eine wunderbare Mutter“, sagte Sylva traurig. Sie biß sich auf die Lippen und sammelte Mut. Sie hatte Verda ein Versprechen gegeben und wollte es halten. „Ich muß dir etwas sagen, Paul“, begann sie schüchtern. „Du 137
wirst es nicht glauben wollen. Ich muß es dir aber sagen, weil es die Wahrheit ist. Ich bin nicht das Mädchen, für das du mich hältst.“ „Ich glaube nur, daß du ein süßes kleines Geschöpf bist“, antwortete Paul grinsend. „Alles andere ist unwichtig.“ „Nein, Paul!“ Ihre Stimme klang jetzt sehr ernst und traurig. Sie preßte ihr Gesicht auf seinen Oberarm und schluchzte heftig. „Ich bin nicht … Wie soll ich es nur sagen …? Ich bin nicht so wie du, Paul. Ich habe nie in einem Haus gewohnt und vor dir nie mit einem Menschen gesprochen. Du sprichst immer von der Schule, von allen möglichen Erlebnissen und Freunden Ich kenne das alles nicht. Ich bin das, was du mich immer nennst: ein Waldgeist.“ Paul hob ihren Kopf und blickte in die traurigen Augen. Er unterbrach sie aber nicht und schwieg. „Ich bin mit diesem Baum aufgewachsen“, fuhr Sylva fort. „Mein Leben lang habe ich für den Baum gesorgt, über die Eicheln gewacht, Wasser beschafft, Blätter gesäubert und was alles zur Pflege gehört. Ich habe den Baum beschützt und zu dem gemacht, was er jetzt ist. Dieser Baum ist mein Leben. Im Herbst trage ich ein farbenfrohes Kleid, im Winter ein graues, und im Sommer ein grünes. Ich bin ein Teil dieses Baumes, Paul. Ich habe weder Vater noch Mutter. Dryaden sind anders als Menschen. Nur Sterbliche werden von Eltern aufgezogen. Ishtar hat mich geschaffen und mir den Dienst zugewiesen. Was ich kann und weiß, ist mir schon bei der Geburt mitgegeben worden. In euren Märchenbüchern kannst du von uns Dryaden le138
sen. Wir sind Wesen, die es eigentlich gar nicht geben dürfte. Eure Welt glaubt nicht mehr an uns.“ Sylva klammerte sich verzweifelt an Paul. Sie hatte sich ihm offenbart und spürte nun eine schreckliche Angst. Verda hatte ihr gesagt, was nach diesem Geständnis kommen würde. Es kam aber anders. Paul hielt sie fest. „Wenn du das glaubst, will ich dich nicht auslachen“, sagte er verständnisvoll. „Ich glaube aber nicht daran. Soll ich dir sagen, was ich denke? Du hast irgendwann einmal etwas Schreckliches erlebt. Du leidest an einem Schock. Wahrscheinlich hattest du das Gedächtnis verloren und bist fortgelaufen. Das Bewußtsein kehrte erst hier an diesem Baum zurück. Um das irgendwie zu erklären, hast du dieses Märchen ersonnen. Es klingt nämlich verdächtig nach Kinderbüchern und Sagen. Du hältst diese Einbildungen aber für Wirklichkeit, mein armer kleiner Waldgeist.“ „Aber wenn es doch wahr ist?“ „Es ist nicht wahr“, sagte Paul mit Bestimmtheit. „Aber wenn es wahr wäre, würde es mich nicht stören. Du bist meine geliebte Sylva.“ Pauls Pfeife war ausgegangen. Er machte eine Pause, um sie wieder anzuzünden. „Wir können natürlich auch zu einem Psychiater gehen. Vielleicht vermag er dich von diesen Zwangsvorstellungen zu heilen. Das machen wir natürlich nur mit deinem Einverständnis.“ Sylva schüttelte den Kopf. „Lassen wir es dabei“, sagte Paul. „Für einen süßen kleinen Waldgeist bist du aber recht hartnäckig. Ich werde meiner Mutter die Geschichte von dem Schock erzählen. 139
Sie wird dann keine unnötigen Fragen stellen, wenn du zu uns kommst.“ „Ich soll euch besuchen?“ „Natürlich! Am Dienstag schon. Meine Mutter will dich endlich kennenlernen. Sie lädt dich ein, am Dienstag mit uns zu essen.“ „Ich kann nicht!“ Paul sah die Angst in ihren Augen und blickte schnell weg. „Du kommst!“ sagte er hart. „Ich werde meiner Mutter sagen, daß du einverstanden bist. Sie wird dich nicht fressen, das verspreche ich dir. Außerdem ist sie eine sehr gute Köchin und wird sich dir zu Ehren besondere Mühe geben.“ Paul stand auf, hob den Korb vom Boden auf und klopfte sich die welken Blätter von der Jacke. „Wirst du mich morgen wieder besuchen?“ fragte Sylva schüchtern. „Ich komme zur üblichen Zeit.“ Sie sah ihm trübsinnig nach. Das weiße Haus in der Ferne wirkte jetzt wie ein Gefängnis. Verda stand plötzlich neben ihr. Sie wollte das Resultat der Unterredung erfahren. Jetzt erkannte sie die Trauer in Sylvas Augen und schwieg. An diesem Abend blieb Sylva lange draußen und sah zu dem Haus hinüber. Erst als die letzten Lichter verloschen, kroch sie in den Baum zurück, ohne ihm eine gute Nacht zu wünschen. *
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Verda trat einen Schritt zurück und musterte kritisch ihre Arbeit. Sylva war hübsch, dagegen gab es nichts zu sagen. Verda hatte nur ein sehr knappsitzendes Kleid machen können. Paul hatte zwar mit Material ausgeholfen, doch die Arbeit mußte in einer einzigen Nacht geschafft werden. „Es wird schon gehen“, sagte Verda brummig. „Wenn du dich unbedingt lächerlich machen mußt, dann bitte! Ich kann dich ja nicht anbinden. Ich kann mir aber sehr gut vorstellen, was Mutter Ishtar davon halten wird. Wir sind nicht für den Verkehr mit Sterblichen geschaffen, Sylva. Ich habe meinen Baum nie verlassen, aber ich hatte größte Schwierigkeiten, als er verbrannt worden war. Mutter Ishtar war aufgebracht und wollte mir keinen neuen geben.“ Sylva ließ sich nicht von ihrem Plan abbringen. „Er will, daß ich seine Mutter besuche“, sagte sie hartnäckig. „Wenn ich ihn nicht verlieren will, muß ich es tun.“ „Du mußt es tun?“ Verda lachte höhnisch auf. „Nicht einmal die sterblichen Frauen springen, wenn die Männer es verlangen. Im Gegenteil, sie nutzen die Männer aus und lachen heimlich über sie. Was soll bloß aus dir werden, Sylva? Geh in deinen Baum zurück und bitte Mutter Ishtar, wieder den Schleier über seine Augen zu legen, damit er dich nicht mehr sehen kann.“ Sylva machte eine ungeduldige Gebärde. „Er kommt!“ sagte sie aufgeregt. „Ich höre seine Schritte. Verda, ich habe Angst! Wenn seine Mutter mich haßt? Ich habe doch nie etwas Unrechtes getan. Ich weiß schon jetzt, daß alles schiefgehen wird. Ich will aber nicht, daß Paul sich meiner schämen muß.“ „Kopf hoch, Sylva!“ Verda erkannte, daß sie Sylva nicht 141
zurückhalten konnte. „Du wirst es schon schaffen. Wenn der Kerl nachher nicht stolz auf dich ist, werde ich meinen eigenen Baum entwurzeln und auf ihn stürzen lassen. Zeig ihnen, wer du bist, Sylva! Du bist viel zu gut für einen Sterblichen.“ Verdas Augen funkelten. „Ich werde inzwischen auch für deinen Baum sorgen.“ Sylva warf schuldbewußt einen Blick auf die Eiche. Dann biß sie aber die Zähne zusammen und wandte sich ab. Es mußte sein! Sie würde zum erstenmal weit von ihrem Baum entfernt sein und ihn kaum noch sehen. Es war ein schmerzliches, wehmütiges Gefühl. Nur die Liebe zu Paul war stärker und konnte dieses Gefühl verdrängen. Paul kam heran und küßte sie „Fertig?“ fragte er lächelnd. Sylva nickte stumm. „Du siehst gut aus“, sagte er bewundernd. „Ich habe mit meiner Mutter gesprochen. Sie kann zwar nicht verstehen, warum du nur eine Stunde bei uns bleiben darfst, aber sie wird sich beeilen.“ Sylva zögerte ängstlich. „Wenn sie mich nun nicht sehen kann, Paul? Vielleicht bist du der einzige Mensch, der das vermag.“ „Fängst du schon wieder mit dieser Geschichte an?“ Paul seufzte. „Vergiß das endlich! Ich kann dich sehen, also bist du keine Dryade. Ich habe mich genau erkundigt. Baumnymphen sind für uns unsichtbar. Wahrscheinlich sind sie Märchenfiguren, an die nur naive Gemüter glauben können.“ Sylva sagte nichts und begleitete Paul den Weg hinab. Das weiße Haus wurde immer größer und drohender. Syl142
vas Schritte wurden gleichzeitig kleiner und langsamer. Ein starker Instinkt warnte sie. Am liebsten wäre sie sofort zum Baum zurückgelaufen, denn dort war sie sicher. Sie drehte sich aber nicht um und ging langsam weiter. Dann sah sie Pauls Mutter. Die etwas dickliche ältere Frau mit den weißen Haaren und dem Schalk in den Augen stand am Gartentor und wartete. „Schon zurück?“ fragte sie erstaunt. „Aber wo …?“ Sie wischte sich mit der Hand über die Augen und lächelte. „Natürlich, da ist sie ja! Herzlich willkommen, mein Kind!“ „Das ist also mein kleiner Waldgeist“, sagte Paul stolz und schob Sylva nach vorn. Sylva zögerte. Sie mußte erst die Furcht niederkämpfen, ehe sie über die Schwelle ins Haus trat. Da war eine unsichtbare Barriere, die ihr starken Widerstand entgegensetzte. Aber dann war sie im Haus und spürte Pauls kräftige Hand auf ihrer Schulter. Das machte sie etwas sicherer. Zwischen den dicken Wänden und den spiegelnden Fenstern fühlte sie sich gefangen und eingeengt. Die Angst kam wieder zurück. In dem Haus fühlte sie sich wie eine schnell welkende Blume. Wo waren der Wind, die frische Luft und die vielen kleinen Geräusche des Waldes? In dem Haus gab es keine Vögel und keine Käfer. Alles war tot und steril. Sylva riß sich zusammen. Sie mußte sich Paul zuliebe bezwingen. Der Hund kam ins Haus und beschnupperte sie neugierig. Nach einer Minute entspannte er sich und wedelte mit dem Schwanz. 143
„Pete mag sie auch“, sagte Paul lachend und streichelte seinen Hund. „Natürlich mag er sie“, sagte seine Mutter. „Warum auch nicht?“ Es gab Tee und kleine Kuchen, die Pauls Mutter gebacken hatte. Sylva probierte sie zaghaft und war begeistert. Das Gespräch drehte sich um belanglose Dinge. Anfangs spürte Sylva noch unsichtbare Barrieren, doch sie überwand sie schnell und paßte sich an. Ihre Gastgeber waren nur Sterbliche, aber freundlich und gutmütig. Von Pauls Mutter hatte sie nur Liebe zu erwarten, das spürte sie genau. Die Enge des Raumes wirkte zwar noch bedrückend, aber dieses Gefühl wurde durch die Freundlichkeit von Paul und dessen Mutter aufgehoben. Sylva war trotzdem froh, als die Stunde vorüber war und sie mit Paul über den Gartenweg zum Tor gehen konnte. „Mom hat dich in ihr Herz geschlossen“, erklärte Paul glücklich. „Ich habe es ja gleich gesagt. Sie hat sich immer eine Tochter gewünscht.“ „Deine Mutter ist sehr nett“, antwortete Sylva. „Ich wünschte, ich wäre ihre Tochter.“ Paul blieb stehen. „Das kannst du doch sein, mein kleiner Waldgeist. Nichts ist leichter als das.“ „Du meinst …?“ „Du verstehst mich schon“, sagte Paul grinsend. Sylva verstand ihn. Aber jetzt erinnerte sie sich plötzlich an die trennenden Unterschiede. Für kurze Zeit hatte sie nicht daran gedacht. „Es geht nicht, Paul“, sagte sie betrübt. „Du bist ein Sterblicher. Ich bin aber eine Baumnymphe. Du willst mir nicht glauben, aber es ist tatsächlich so.“ 144
„Wenn schon!“ Paul lachte. „Mir ist es gleichgültig, wofür du dich hältst. Ich weiß jedenfalls, woran ich mit dir bin.“ „Das macht mich glücklich“, entgegnete Sylva. „Aber die Kinder aus solchen Verbindungen sind Faune und noch wilder als ich.“ „Ich kenne diese Märchen“, sagte Paul und umarmte sie. „Du meinst die Satyre – halb Ziege, halb Mensch. Dann werden wir eben keine Kinder haben.“ „Es geht nicht, Paul.“ Sylva befreite sich aus seiner Umarmung. „Du lachst noch. Insgeheim zweifelst du aber schon. Ich spüre es, Paul. Solche Verbindungen sind noch nie glücklich gewesen.“ Sie schlenderten langsam zur großen Eiche hinauf. Die Blätter hingen schlaff herab. Aber als Sylva den Stamm berührte, schoß neue Kraft in die Blätter, so daß sie wieder im Wind raschelten. „Vielleicht sagst du die Wahrheit“, bemerkte Paul nachdenklich. „Trotzdem will ich dich und keine andere. Wir sind nicht das erste Paar dieser Art. Wenn die griechischen Sagen stimmen, waren solche Verbindungen einmal sehr häufig. Überleg es dir, Sylva! Ich werde morgen eine Antwort von dir verlangen.“ Sylva nickte traurig. „Wenn du mich morgen siehst, werde ich mit dir gehen“, sagte sie mit Bestimmtheit. „Vielleicht ist es aber besser, wenn du mich nicht mehr sehen kannst.“ Paul ging zum Haus zurück Sylva sah ihm noch eine Weile nach und eilte dann zu den anderen Bäumen. Sie riß sich das Kleid vom Leib und rief nach Verda. 145
Die andere Baumnymphe stand sogleich neben ihr. „Es ist passiert!“ sagte Sylva unglücklich. „Ich weiß es längst“, antwortete Verda verständnisvoll. „Wir sind beide Närrinnen, meine Kleine. Aber du hast eine bessere Wahl getroffen als ich. Du kannst nicht mehr zurück.“ „Was soll ich denn tun?“ fragte Sylva verzweifelt. „Bleibe bei ihm! Vielleicht findest du dort etwas Glück. Ohne ihn wirst du nie wieder glücklich sein, mein Kind. Geh aber erst in den Hain und rufe Mutter Ishtar an! Manchmal kommt sie und gewährt besondere Vergünstigungen. Sie wird aber einen Preis verlangen. Die Götter schenken nicht, sie handeln. Immerhin ist dein Fall nicht hoffnungslos. Ishtar weiß, was starke Gefühle bedeuten.“ * Der Halbmond stieg bleich über den Horizont und warf sein mildes Licht auf die Erde. Sylva wartete die richtige Stunde ab und ging in den Hain. Sie mußte sich mühsam einen Weg durch das dichte Gestrüpp bahnen. Im Wald wimmelte es von kleineren Geistern, die emsig bei der Arbeit waren und nur von anderen Waldgeistern gesehen werden konnten. Sylva erreichte eine Lichtung, überquerte sie und setzte sich auf einen bemoosten Stein. Sie betete aber nicht, denn sie wußte, daß die Götter kaum auf Gebete achteten. Sie war jetzt von der Laune der Göttin Ishtar abhängig und konnte nur hoffen. Nach einigen Minuten verdichtete sich das Mondlicht über der Lichtung zu einer Gestalt. Ein Nebelfetzen wehte 146
heran und machte die Gestalt noch deutlicher. Irgendwo in einem Baum zirpte ein verschlafener Vogel. Sylva gewahrte die fleischlose Gestalt. Das Licht des Mondes schien durch den Körper und machte ihn zu einer feenhaften Erscheinung. Sylva hörte das Gurren unzähliger Tauben und stand auf. Sie ging auf die Erscheinung zu und küßte den Saum des durchsichtigen Kleides ihrer Göttin. Die Stimme Ishtars war sanft und tief, verriet aber etwas von der ungeheuren göttlichen Kraft. „Ich kann nicht allein entscheiden“, sagte Ishtar mitleidig. „Du mußt noch auf einen anderen warten.“ Sie wandte sich um und winkte eine andere Gestalt heran. „Komm zu uns, Pan, Vater aller Götter!“ Diesmal sah Sylva eine reale Gestalt. Das Mondlicht fiel auf das dunkle Gesicht des Herantanzenden. Sylva hörte die schrillen Töne der Hirtenflöte und spürte das Beben des Waldbodens. Die Nähe des mächtigen Gottes flößte ihr Angst ein. Dann war er neben Ishtar und blickte mit seinen leuchtendroten Augen auf Sylva herab. „Mondmutter, du hast mich gerufen“, sagte er zu Ishtar. „Befiehl deiner Tochter, mir in die Augen zu sehen!“ Sylva gehorchte dem Wink der Göttin und blickte auf. Dabei bebte sie vor Angst. Die Nähe der gewaltigen Götter beeindruckte sie stark. „Dein Herz ist schwer, meine Tochter“, sagte Ishtar mitleidig. „Ich sehe einen, der nicht zu uns gehört. Du bist gekommen, um uns um eine Gnade zu bitten.“ „So ist es, Mutter Ishtar“, antwortete Sylva demütig. Die Götter wußten natürlich alles. Sie brauchte ihren Wunsch 147
gar nicht näher zu erklären. „Oh, Mutter Ishtar, gib mir eine Seele und laß mich eine Sterbliche werden!“ bat sie flehentlich. „Das geht nicht!“ Die donnernde Stimme Pans rollte über die Lichtung. „Jede Seele muß wachsen und sich formen. Selbst wir Götter haben keine Macht über die Seelen.“ Ishtar nickte. „Als eine Sterbliche wirst du den Samen in dir finden, aus dem du die Seele formen mußt. Sie ist von deinen Gedanken und deinen Taten abhängig. Wir wollen dir helfen, mein Kind. Aber du mußt einen Preis zahlen.“ „Das weiß ich, Mutter Ishtar“, sagte Sylva leise. „Ich will gern jeden Preis zahlen.“ Die Göttin wirkte traurig. „Nicht wir fordern den Preis, mein Kind. Wir sind nur die Sprecher desjenigen, der über uns steht. Aber der Preis ist nicht höher als die Gunst, die du erbittest. Ich muß dich warnen, meine Tochter. Als ich dich schuf, hauchte Pan dir das Leben ein. Wer so entstand, bleibt immer wild. Wenn dein Wunsch aber stärker ist als alles andere, wenn du alle anderen aufgeben willst, dann werden wir deinen Wunsch erfüllen.“ „Mein Wunsch ist stärker, Mutter Ishtar“, sagte Sylva fest. „Ich bin bereit, alles aufzugeben.“ Ishtar streckte ihr leuchtendes Zepter aus. Ein zartes, unwirklich scheinendes Gebilde floß aus Sylvas Körper in den Stab zurück. Auch Pan streckte eine haarige Hand aus, griff in Sylvas Brust und holte ein grünes Amulett heraus. Sein Gesicht blieb dabei aber mild und gütig. „Wir haben zurückgenommen, was unser ist“, sagte er dumpf. „Schick dieses Kind zu den Sterblichen, damit es 148
die Seele suchen kann, die es von uns gefordert hat, Ishtar.“ Sylva verbeugte sich demütig und zog sich zurück. Hinter sich hörte sie Pan bekümmert sagen: „Sie ist schwach, und die Bürde ist schwer, Mondmutter.“ „Sie ist wie ihr Baum, stark und beständig“, antwortete Ishtar. „Sie war die Dryade einer Eiche, Pan, Die Wurzeln der Eiche ragen tief in den Boden und widerstehen dem stärksten Sturm. Vielleicht ist der Preis nicht höher als die Gunst. Sie muß selber entscheiden.“ Sylva hörte noch die schrillen Töne der Hirtenflöte, fühlte den Boden unter ihren Füßen beben und sah wallende Nebel aufsteigen. Und dann stand sie plötzlich unter ihrem Baum. Die Blätter hingen wieder schlaff herunter und blieben so hängen. Sylvas Gegenwart gab dem Baum keine neue Kraft, denn sie war nun eine Sterbliche. Der Wind fächelte nicht mehr zart um ihren Körper, sondern wehte kalt und schneidend heran. Die Eiche war jetzt nicht mehr ihre schützende Wohnung, sondern nur ein Baum. In einem Zimmer des weißen Hauses brannte noch Licht. Sylva setzte sich auf den Boden und blickte seufzend zu dem Haus hinüber, bis das Licht ausging. * Die Sonne war kaum aufgegangen, da kam Paul zur Eiche herauf und umarmte Sylva. Ihr Lächeln verscheuchte seine Angst. Sie war ein Wesen aus Fleisch und Blut wie er. Paul bemerkte kleine Veränderungen, gewöhnte sich aber 149
schnell daran. Sie war sein Mädchen. Er hob sie hoch und schwenkte sie in einem wilden Freudentaumel herum. Etwas später machte sich Sylva für einen Augenblick frei und ging zu ihrer Eiche zurück. Sie lehnte sich an den Stamm und küßte die rauhe Borke. Über sich hörte sie das Rauschen der Blätter. Doch dann drehte sie sich schnell um und eilte mit Paul den Weg zum Haus hinab. „Ich habe mich entschieden“, sagte sie glücklich. Paul war nicht weniger glücklich. „Mom erwartet uns schon“, jubelte er. „Wir haben den Priester und einige Freunde ins Haus bestellt. Es soll eine ruhige Hochzeit im kleinen Kreis werden.“ Sylva lächelte dankbar. „Ich bin froh, daß du so fest mit dieser Entscheidung gerechnet hast“, sagte sie. „Aber ich komme als eine Fremde zu euch. Ich weiß nichts von euren Lebensgewohnheiten, von euren Sehnsüchten und Schwächen. Vielleicht habe ich falsch gehandelt. Ich will mir jedenfalls Mühe geben, dich glücklich zu machen.“ „Das genügt, mein kleiner Waldgeist“, antwortete Paul fröhlich und preßte ihre zarte Hand. Sylva wollte sich umdrehen und zurückschauen. Sie tat es aber nicht und blickte nur nach vorn. Hinter ihr lag die Vergangenheit, vor ihr die Zukunft. Sie sah das kleine weiße Haus, den gepflegten Garten, die Garage. Sie würde Mom und Paul bei der Arbeit helfen und ein neues Leben führen. Vielleicht würden bald kleine Jungen und Mädchen durch den Garten tollen. Nun dachte Sylva auch an das Alter und an den Tod. An ihn hatte sie nicht gedacht, als sie in den Hain gegangen war. Sie empfand aber keine Reue. Als Kreatur der Wildnis 150
hatte sie den Tod zwar nie erlebt, aber oft gesehen. Sie wußte, daß der Tod der Sterblichen nicht immer grausam, sondern oft barmherzig und erlösend war. Ihre Schritte wurden immer kürzer. Paul wäre gern zum Haus gestürmt, doch er respektierte Sylvas wehmütige. Stimmung und hielt sich zurück. Dann waren sie aber doch am Gartentor. Sylva blieb stehen und betrachtete die bunten Blumen. Das Haus wirkte wieder beengend wie ein Gefängnis. Aber sie war jetzt eine Sterbliche; Wind und Regen waren nicht mehr sanfte Freunde. Sie brauchte jetzt den Schutz der starken Mauern und der spiegelnden Fenster. Sylva spürte eine ungewisse Beklemmung. Sie mußte jetzt mit anderen Sterblichen leben, mußte sich wie sie benehmen. Sie gehörte jetzt dazu. Sie spürte, daß es anfangs schwer sein würde. Sie mußte umdenken und sich in die Welt der Sterblichen einfügen. Sie durfte nicht von Ishtar, Pan und Dryaden reden. Paul hielt sie fest und faßte ihr unters Kinn. „Bist du sicher, daß du richtig gewählt hast, mein kleiner Waldgeist?“ fragte er ernst. Sylva drehte sich nun doch um und blickte zurück. Sie sah die sterbende Eiche und dahinter Verda, die ihr zuwinkte. Und über Verda schwebten zwei weitere Gestalten: der Hirtengott Pan und die Göttin Ishtar. Die Mondgöttin hielt ihren Stab segnend ausgestreckt. Die Formen verschwammen allmählich, wurden zu Silhouetten, zu langsam zerfließenden Nebeln. Sylva sah nur noch die reale Welt: den sterbenden Baum, dessen Blätter nun schon schlaff und welk herabhingen. 151
Das war also der Preis! Der Schmerz war stark, aber nicht anhaltend. Sie hatte den Baum geopfert und sich einer neuen Welt verschrieben. Sie war nun ein Kind dieser neuen Welt und empfand nicht mehr wie früher. Sylva reichte Paul die Hand und wandte sich wieder dem kleinen weißen Haus zu. Ihre Stimme klang fest und bestimmt. „Gehen wir, Paul“, sagte sie. „Wir wollen deine Mutter nicht länger warten lassen.“
Utopia-Zukunftsroman erscheint wöchentlich im Verlagshaus Erich Pabel GmbH. & Co. 7550 Rastatt (Baden), Pabel-Haus. Einzelpreis 0,70 DM. Anzeigenpreise laut Preisliste Nr. 16. Die Gesamtherstellung erfolgt in Druckerei Erich Pabel GmbH. 7550 Rastatt (Baden). Verantwortlich für die Herausgabe und den Inhalt in Österreich: Eduard Verbik; Alleinvertrieb und -auslieferung in Österreich: Zeitschriftenvertrieb Verdik & Pabel KG – alle in Salzburg, Bahnhofstraße 15 Nachdruck, auch auszugsweise, sowie gewerbsmäßige Weiterverbreitung in Lesezirkeln nur mit vorheriger Zustimmung des Verlegers gestattet. Gewerbsmäßiger Umtausch, Verleih oder Handel unter Ladenpreis vom Verleger untersagt. Zuwiderhandlungen verpflichten zu Schadenersatz. Für unverlangte Manuskriptsendungen wird keine Gewähr übernommen. Printed in Germany 1965. – Scan by Brrazo 06/2008 – TERMINAL BEACH von J. G. Ballard, © 1964, by J. G. Ballard; OR ALL THE SEAS WITH OYSTERS von Avram Davidson, published by arrangement with Berkley Publishing Corporation, 15 East 26th Street, New York, N. Y. 100 10, © 1962, by Avram Davidson; A HANDFUL OF DARKNESS von Philip K. Dick, © by Rich and Cowan; FUTURE TENSE von Jack Vance, © 1964, by Jack Vance; AND SOME WERE HUMAN von Lester del Rey, © 1943 by Street & Smith. Gepr. Rechtsanwalt Korn
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Der rote Wahnsinn (A Brand New World) von Ray Cummings Mit dem Auftauchen des Planeten Xenephrene im SolSystem ziehen Angst und Schrecken auf der Erde ein. Der Fremdkörper drängt die Erde aus ihrer Bahn. Kontinente werden unbewohnbar. Schnee und Eis decken irdische Metropolen mit den klirrenden Mantel des Frostes zu. Die Eiszeit in New York treibt die Menschen zur Flucht. Panik, Aufstände, Massenhysterie sind die unheilvollen Zeichen dieser Zeit. In dieser allgemeinen Verwirrung werden zwei Ereignisse zu wenig beachtet. Die Warnung des schwebenden Mädchens mit dem silbernen Haar und den treuherzigen dunklen Augen und – der rote Wahnsinn. Versäumen Sie nicht, sich diesen SF-Thriller des beliebten amerikanischen Autors Ray Cummings zu besorgen; nächste Woche liegt er bei Ihrem Zeitschriftenhändler für Sie bereit. UTOPIA-ZUKUNFTSROMANE SIND DAS TELESKOP, MIT DEM SIE IN DIE WELT VON MORGEN BLICKEN.
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