Das Ende der Welt ist gekommen und vorüber gegangen und die Lage wird immer schlimmer.
DIE ECLIPSE-TRILOGIE
Eclipse...
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Das Ende der Welt ist gekommen und vorüber gegangen und die Lage wird immer schlimmer.
DIE ECLIPSE-TRILOGIE
Eclipse · 06/4721
Eclipse Penumbra · 06/4722
Eclipse Corona · 06/4723
Der Dritte Weltkrieg verlief glimpflich, wurde zögerlich ge führt. Wer möchte sich schon seine Beute zerstören oder radioaktiv verstrahlen? Das Ergebnis war ein Chaos in Europa, von dem die Rechtsradikalen profitierten: die Neonazis, finan ziert und protegiert von den erzkonservativen christlichen Fundamentalisten in den USA, die das Geld hatten, die Presse zu kaufen und die raffinierten Parolen zu liefern - gegen die Linken, gegen die Farbigen, gegen die Künstler. Eine soge nannte Schutztruppe wurde gebildet und international abge segnet: die SA, die Second Alliance. Mit ihrer Hilfe konnten die Nazis ihre Politik fortsetzen, um in Europa wieder »Recht und Ordnung« herzustellen. Die kläglichen Reste der Zivilisa tion gingen als Neue Resistance in den Untergrund, so auch der ausgebrannte Popmusiker Rickenharp.
JOHN SHIRLEY
ECLIPSE
Ein Lied namens Jugend
Erster Roman
der Eclipse-Trilogie
Deutsche Erstausgabe
Science Fiction
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY
Band 06/4721
Titel der amerikanischen Originalausgabe
ECLIPSE
Deutsche Übersetzung von Peter Robert
Das Umschlagbild schuf Michael Hasted
Redaktion Wolfgang Jeschke
Copyright © 1985 by John Shirley
Copyright © 1991 der deutschen Übersetzung
by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München
Printed in Germany 1990
Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München
Satz: Schaber, Wels
Druck und Bindung: Ebner Ulm
ISBN 3-453-04306-5
Für Alexandra Shirley … und für meine Söhne Byron und Percy, in der Hoffnung, daß ich mir ein falsches Bild von der Welt mache, in der sie aufwachsen werden.
EINE WICHTIGE ANMERKUNG DES AUTORS: Dies ist kein Roman über die Zeit nach dem Holocaust. Es ist auch kein Roman über den Atomkrieg. Mag sein, daß es ein Roman über die Zeit vor dem Holocaust ist.
EINE WICHTIGE ANMERKUNG DES HERAUSGEBERS: Dies ist kein Roman über das Europa, wie wir es heute kennen,
sondern das Europa einer Parallelwelt,
in der wir bis vor kurzem lebten
und in der Ereignisse wahrscheinlicher waren,
wie sie der Autor hier beschreibt.
Wenn uns die Hoffnung nicht trügt.
Das Erschreckende am Rassismus ist: Man kann es so hindrehen, daß er sich wie ein vernünftiges Konzept anhört. JACK BRENDAN SMOKE, Essays für das Jahr 2021,
Zu lange anno Domini (Witcher Press)
PROLOG
DER KLEINE VOGEL WAR AUS METALL. Er hatte mechanische Flügel und ein elektronisches Innenleben, und sein Kopf war eine Kamera. Er sah jedoch fast wie eine Drossel aus und war auch ungefähr so groß. Seine Flügel rüttelten wie die eines Kolibris, als er durch die feuchte, übel zugerichtete Stadt flog. Die Stadt war Amsterdam. Im Winter des Jahres 2020 war Amsterdam von den NATO-Truppen besetzt, denen es fürs erste gelungen war, die Armeen des Warschauer Pakts zu vertreiben. Am Bauch des Vogels befand sich eine Seriennummer. Er war ein Überwachungsgerät, das bei der United Nations Intelligence Regulation Agency registriert war, einer Dienst stelle der Vereinten Nationen zur Koordinierung der Nach richtendienste. Wenn es möglich gewesen wäre, die Serien nummer zusammen mit den korrekten Freigabecodes in einen per Modem mit der UNI-RA verbundenen Computer ein zugeben, hätte man die Information bekommen, daß der Vogel auf den Nachrichtendienst der britischen Marine zugelassen war, der wiederum der Oberaufsicht des Nordatlantischen Verteidigungspakts unterstand. Der batteriebetriebene Vogel war auf Ersuchen des dienst habenden Offiziers des Civilian Law Enforcement – der zivilen Strafverfolgungsbehörde – auf einem britischen Flugzeugträ ger aktiviert worden, der zwanzig Kilometer vor der abbrök kelnden Küste Hollands lag. Das CLE war in einem Wohnhaus in einem der trockeneren Vororte des halb versunkenen Am sterdam untergebracht. Die holländische Kommandoeinheit der NATO-Truppen hatte in dem verlassenen Gebäude ihr provisorisches Hauptquartier aufgeschlagen. Der CLE-Offizier war ein Amerikaner aus Buffalo, New York. Sein Name war Yates. Captain Yates hatte ein Memo der Second Alliance
International Security Corporation (der SAISC, oder kurz, der SA) auf seinem Schreibtisch liegen, in dem es hieß, daß die Nachschublinien der SA ›wiederholt von der zivilen Bande unterbrochen‹ worden seien, ›die sich die Neue Resistance nennt‹. Die SA wies darauf hin, daß sie von Den Haag – jenen Mitgliedern der Vollversammlung, mit denen die NATO hatte Kontakt aufnehmen können – und vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ermächtigt sei, in Amsterdam und den umliegenden Gebieten die Polizeigewalt auszuüben, um die Ordnung unter der Zivilbevölkerung aufrechtzuerhalten und dafür zu sorgen, daß sie von Plünderern und anderen Geset zesbrechern verschont blieb. Um das zu erreichen, fuhr das Memo gereizt fort, müsse die SA in Amsterdam einrücken, und sie könne ihre restlichen Männer erst einrücken lassen, wenn es in Amsterdam genug Vorräte für sie gäbe. ›Ich brau che wohl nicht besonders zu betonen‹, hieß es in dem Memo weiter, ›daß die SA zwar eine zivile, private Polizeitruppe ist, aber trotzdem eng mit den militärischen Streitkräften der NATO kooperieren muß, und Kooperation ist nun einmal ein zweischneidiges Schwert.‹ Yates hatte die Stirn gerunzelt, als er diesen Teil las. Kooperation als Schwert? ›Die als Neue Resistance bekannte Terroristenbande‹, schrillte das Memo, ›ist für die NATO-Armeen eine ebensolche Gefahr wie für die SA – obwohl sie unerklärlicherweise eine besondere Abnei gung gegen die SA gefaßt zu haben scheint –, da sie gemeinhin Vorräte der NATO-Streitkräfte stiehlt und militärfeindliche Traktate verteilt, in denen die Streitkräfte der NATO und der Sowjets auf irrationale Weise in einen Topf geworfen werden, als ob beide in diesem Gebiet die Aggressoren seien.‹ Yates hatte die Achseln gezuckt und ein Kommunique zum nächsten NATO-Schiff geschickt, das mit Überwachungsgerä
ten ausgerüstet war, der Lady Di. Und der Vogel war in die Freiheit entlassen worden. Aber seine Freiheit ging nicht so weit, daß er ziellos herum fliegen durfte. Er flog in einem programmierten Gittermuster über die Wohngebiete der Stadt und hielt Augen und Ohren offen, um ›Ansammlungen von vier oder mehr Personen‹ ausfindig zu machen. Da es nicht mehr viele Menschen in Amsterdam gab, war die Aufgabe nicht so zeitaufwendig, wie es scheinen mochte. Wenn der Vogel Ansammlungen von vier oder mehr Bürgern fand – was nicht sehr oft geschah –, klam merte er sich an der Außenwand des Gebäudes fest, in dem die Versammlung stattfand, und legte ein Ei. Das ›Ei‹ war in Wirklichkeit eine fingerhutgroße Halbkugel, die an den Zie geln, dem Beton, dem Glas oder dem Plasteel haftete und etwas davon auffing, was auf der anderen Seite der Wand war. Es konnte den Herzschlag von Menschen wahrnehmen, und wenn genug Herzen dicht beieinander schlugen, sandte es ein Signal aus. Unter dem Kriegsrecht war es gesetzwidrig, wenn sich mehr als drei Personen unbeaufsichtigt woanders als in den gekennzeichneten Gebieten versammelten. Die gekennzeichneten Gebiete wurden streng überwacht. Der Oberbefehlshaber der niederländischen Einheit hatte diese Vorschrift erlassen, da es einige Probleme mit ›unbedeu tenden terroristischen Verschwörungen‹ gegeben hatte, wie er es nannte. Nachdem Yates die Vögel losgeschickt hatte, um nach ille galen Versammlungen Ausschau zu halten, sandte er ein weiteres Kommunique an die SAISC und berichtete, was er getan hatte. Nur um sie zu beruhigen. Die SA setzte sich nach Eingang der Nachricht mit ihren
Kontaktleuten in der Jumpjet-Aufklärungseinheit der ameri kanischen Air Force in Verbindung. Die dortigen SASympathisanten erhielten die genauen Frequenzen der sen denden ›Eier‹ und wurden ›im Geist der Kooperation‹ drin gend ersucht, ›diese Terroristennester anzupeilen und alles Erforderliche zu tun, um sie auszuräuchern ‹. Der Vogel flog von einem Block zum nächsten und brachte nur dreimal seine Eier an. Nach dem dritten Mal flog er an einem bestimmten Hochhaus vorbei, wo er einen echten Vogel aufscheuchte, eine Krähe, die das Gebäude seit einer Stunde rastlos umkreist hatte. Die Krähe wurde durch diesen Beinahezusammenstoß mit einem UFO empfindlich in ihrem seelischen Gleichgewicht erschüttert und flüchtete sich zur Brüstung der nächsten Terrasse, um sich von dem Schreck zu erholen. Sie ließ sich auf der Brüstung nieder, schaute sich um und stellte erleichtert fest, daß der Vogel mit den Metallflügeln und dem Glaskopf weggeflogen war. Aber am anderen Ende der Terrasse war noch jemand.
Ein Lied
namens
Jugend
ERSTES BUCH
ERSTER TEIL
SMOKE
EINS »DIESE STADT IST TOT«, sagte er laut zu der Krähe. Die Krähe hockte auf der Betonbrüstung, die weitgehend intakt um die mit Schutt übersäte Terrasse herumlief. Sie befanden sich dreißig Stockwerke über der überschwemmten Straße, wo die Abenddämmerung das Flutwasser indigoblau färbte. Die Krähe lauschte mit geneigtem Kopf und starrte ihn an. »Diese Stadt ist tot, und ich bin jemand«, fuhr Smoke fort. »Ich bin immer noch jemand. Hat mir nichts gebracht, hier zu sein.« Seine Worte waren an die Krähe und an die feuchtkalte, ätzende Brise gerichtet – sie roch wie die Batterie eines kaputten Wagens –, die die Ränder des vom Regen verklebten Printoutstapels anhob, den irgendein Plünderer auf die Ter rasse geschmissen hatte. »Ich bin immer noch Smoke, Jack Brendan Smoke, oder Brendan Jack Smoke oder Smoke Jack Brendan. Man kann’s durcheinanderschütteln, wie man will, es ist immer noch da. Ich dachte, es würde hier versickern, Krähe. Als ob …« Er hielt inne, weil er nicht sicher war, ob er das jetzt laut ausgesprochen oder nur gedacht hatte. Was denn nun, fragte er sich. Achselzuckend fuhr er fort: Als ob du eine Schale mit Wasser hättest, sonst nichts, bloß ganz glattes, ruhiges Wasser, und du gießt – sagen wir mal – ein bißchen Tinte rein, und die Tinte breitet sich aus, löst sich völlig auf, und nach ein paar Tagen kannst du sie nicht mehr sehen. Aber es hat nicht funktioniert. Die Tinte ist immer noch da. Ich bin immer noch Smoke … Ich könnte aus Amsterdam weggehen, Krähe. Vielleicht wäre ich an einem Ort, wo es viele Menschen gibt, nicht mehr Jack Smoke.
Vielleicht würde ich da in der Masse verschwinden. Ich könnte nach Paris gehen. In Paris gibt’s immer noch viele Menschen. Die Krallen der Krähe machten ein kratzendes Geräusch, als sie sich an ihrem Platz bewegte. Sie rückte ein Stück näher zu ihm. Smoke stützte sich auf die Brüstung und fühlte, wie die Käl te des Betons in seine Handflächen biß. Er schaute auf seine Hände hinab. Sie schienen Geschöpfe zu sein, die nichts mit ihm zu tun hatten: klauenartige graue Dinger mit hornigen, viel zu langen gelben Nägeln. So sah er aus, von oben bis unten: klauenartig, hager, schwarz vor Dreck, die Schichten erbeuteter Hemden und Jacken und Hosen völlig zerlumpt und einheitlich schmutzfarben, so daß er selbst wie eine Krähe in der Mauser aussah. Er hatte lange, mattschwarze Haare und einen Bart, die glänzenden schwarzen Augen eines Vogels und eine scharfe Adlernase. Er lachte leise in sich hinein und dachte, daß ihn die Krähe vielleicht irrtümlich für einen Art genossen gehalten hatte. »Ich wäre lieber ‘ne Krähe«, sagte Smoke. Er hob den Blick von seinen Händen und schaute über die Brüstung auf die Stadt hinaus, die ein einziger großer Friedhof war. Dieser Teil von Amsterdam war relativ unversehrt geblie ben, wie mumifiziert, und das betonte das Fehlen menschli cher Bewegungen nur noch mehr. Als ob jemand einen Schal ter umgelegt und die Menschen einfach wie ein Holo abge schaltet hätte: klick … schnipp, weg sind sie. Er erinnerte sich an einen Film, den er gesehen hatte: Ein Mann wollte eine Zeitreise in die Vergangenheit machen und schaffte es, indem er sich das Gestern visuell so perfekt vor stellte, daß er wirklich zurückversetzt wurde. Smoke versuch
te sich Amsterdam so vorzustellen, wie es früher ausgesehen hatte. Die Straßen, vor nur fünf Jahren. Ein hektisches Ge wimmel, pulsierender Verkehr auf den Brücken der ›Stadt der 1001 Brücken‹; flache Schiffe, die auf der Amstel und in ruhi gen, von Bäumen beschatteten Kanälen dahinzogen, in denen das Wasser so langsam und dickflüssig wie grünes Kerzen wachs strömte. Eine Stadt der ringförmig angelegten Straßen und Kanäle, die sich ihren alten Baustil mit roten Ziegeln und Giebeln größtenteils so erhalten hatte wie damals im siebzehn ten Jahrhundert, als sie erbaut worden war. Die Stadt hatte nur in bestimmten Zonen ein paar solcher Hochhäuser wie das Gebäude zugelassen, in dem sich Smoke und die Krähe jetzt befanden. Jetzt – und alles war genauso wie vor fünf Minuten, außer daß es eine tintige Schattierung dunkler war. Man konnte nicht zurück in die Vergangenheit reisen. Statt dessen mußte man vorwärts gehen, Sekunde um Sekunde, während die Dinge auseinanderfielen. Der feuchtkalte Wind fuhr seufzend wie Schmerz durch die Betonkorridore; das Meer machte ein hohles wuusch wie ›die See‹, die man in einer Seemuschel hört. Der verhangene Himmel war eine finstere Decke aus schmutzigem Kohlschwarz auf Schwarzgrau; die oberen Stockwerke des Hochhauses verschwanden in den Wolken, als ob das Gebäude mit zunehmender Höhe immer unwirklicher würde und ganz oben nur noch ein reines Phantasiegebilde wäre. Smoke beugte sich über die Brüstung und schaute nach un ten. Das Flutwasser, das den Boulevard füllte, wurde von Strömungen verwirbelt; es bewegte sich und zerrte am gelben Klecks von Smokes Gummifloß, das am Fenstersims im zwei
ten Stock vertäut war. Das Wasser stieg. Vielleicht würde die Zaider Zee wiederkommen, um Holland zurückzufordern. »Oh, man könnte behaupten, daß die Stadt noch lebt«, sagte Smoke zu der Krähe. Er mußte es laut ausgesprochen haben, denn die Krähe schlug als Reaktion darauf mit den Flügeln. »Es gibt nämlich immer noch Menschen hier, die sich da und dort auf höhergelegenem Gelände eingenistet haben. Vielleicht ein paar tausend, vielleicht nur wenige hundert. Das ist Leben, aber das Leben in einer Leiche – Mikroorganismen, die weiter leben, wenn der Wirt schon tot ist. Haare, die noch wachsen, obwohl der Schädel leer ist. Und die SA wird bald hier sein. Also kriegt die Leiche Maden. Und man könnte sagen: »Aber trotzdem, Amsterdam ist tot… New York ist lebendig, Tokio und Kairo sind lebendig, sogar sehr lebendig. Aber diese Stadt hier …« Die Krähe ließ ein Krächzen hören, das irgendwie tadelnd klang. »Was ist los?« fragte Smoke. »Stört’s dich, daß ich Selbstge spräche führe? Wenn man mit ‘nem Vogel oder irgendwas anderem redet, was nicht antworten kann, dann spricht man im Grunde mit sich selbst, nicht? Ist es das? Ich weiß noch, wie ich fünfundzwanzig war und mir die Leute leid taten, die auf der Straße Selbstgespräche führten. Die waren verrückt. Oder senil. Und jetzt mach ich’s selber. Ich sag aber nichts, was Steinfeld gefährden würde. Also bin ich wohl noch nicht ganz durch den Wind, schätze ich. Und ich bin erst fünfunddreißig. Ich seh älter aus, Krähe, aber ich bin’s nicht. Ich glaub wenig stens, daß ich fünfunddreißig bin. Und ‘n paar Zerquetschte.« Die Krähe krächzte wieder, und Smoke fand, daß es mitfüh lend klang.
»Das mit den Selbstgesprächen ist zwanghaft bei mir«, sag te er. »Ich glaub, ich hab mal ‘n Artikel über das Phänomen geschrieben … Ich hab versucht, damit aufzuhören, um mir meine Würde zu bewahren. Aber die Würde …« – er machte eine Geste zu den überfluteten Straßen hinunter– »ist unterge gangen, zusammen mit Rembrandts Haus. Wenn das Wasser in die Häuser eindringt und die Leichen rausschwemmt …« Farbe fiel ihm ins Auge. Ein Fächer Sonnenuntergangsrot, der über eins der Südostfenster des gegenüberliegenden Gebäudes kroch. Fenster auf der Südostseite waren oftmals heil geblieben, weil die meisten taktischen Atombomben im nordöstlichen Teil der Stadt detoniert waren. Und der rote Schimmer erinnerte ihn daran, einen Blick auf seine Strahlen plakette zu werfen. Er wühlte in den Falten seiner vier Hemden herum, die er übereinander trug, und fand den Strah lungsanzeiger, der wie das Schildchen eines Kongreßteilneh mers an sein vergammelndes Jogger-Sweatshirt gepinnt war. Nur eine Ecke der Plakette hatte sich schwach gerötet; das war okay. »Alles in Ordnung«, erklärte er der Krähe. »Voortoven sagt, ihm wär’s lieber, sie hätten ‘ne Große auf Amsterdam ge schmissen, statt uns mit diesem endlosen Krieg zu quälen. Sie haben ihr Versprechen gebrochen, die dritte innerhalb von ein paar Minuten rüberzuschießen. Geht’s dir auch manchmal so? Daß du dir wünschst, sie hätten einfach Schluß gemacht? Willst du ‘n bißchen Brot? Ich glaub, das ist sicher. Ich hab da ‘ne Strahlenplakette drin – Steinfeld hat mir ‘nen ganzen Sack von den Dingern gegeben – hab sie da reingetan – hier ist sie …« Er wühlte in einem schmierigen Rucksack herum. »Hab sie über Nacht dringelassen, kein bißchen rot… Hier.« Er fand das trockene Brot in seiner Plastiktüte, wickelte es vorsichtig aus
und fluchte, als ein paar Krümel herunterfielen. Er leckte einen Finger ab, pappte die Krumen mit dem abgeleckten Finger auf, saugte sie in den Mund und beobachtete die Krähe. Diese sah ihn unverwandt an und hüpfte auf der Betonbrüstung näher heran. Er brach eine Ecke von dem Brot ab und hielt sie der Krähe hin. Ihre Unvorsichtigkeit überraschte ihn. Sie hüpfte herbei und pickte ihm das Brot wie ein Mann aus den Fingern, der einen Streifen Kaugummi annimmt. Lässig und zutraulich. Smoke sah fasziniert zu, wie die Krähe die Kruste auf das Sims legte, sie dann mit einem Fuß festhielt, damit die Brise sie ihr nicht stahl, und das Brot sorgfältig zerpickte, wobei sie den Kopf zurückwarf, um das harte Zeug zu schlucken, bis nur noch Krümel übrig waren, die der Wind mitnahm. »Ich soll Leute anwerben«, vertraute Smoke der Krähe an. »Steinfeld meint, hier gibt’s vielversprechende Kandidaten. ›In einem der Hochhäuser‹, hat er gesagt. Aber in dem hier nicht.« Er schaute auf die Stadt hinaus, sah ihre Blutergüsse im Licht der untergehenden Sonne. Einen Block weiter nördlich war noch ein Hochhaus. Es sah so leblos aus wie dieses. Er spürte eine fremdartige Berührung am Zeigefinger seiner rechten Hand und dachte: eine Bombenspinne, riß die Hand weg und sprang zurück … Die Krähe flatterte auf seinem Finger, hielt sich trotz seiner scharfen Bewegung fest und sah ihn ärgerlich an, während sie sich zurechtsetzte. Er sperrte einen Moment lang Mund und Nase auf, dann lachte er. »Du bist zahm! Du hast jemand gehört!« Die Krähe zuckte auf eine Weise mit den Flügeln, die ihn an ein Achselzucken denken ließ.
Versuchsweise führte er seine Hand zur rechten Schulter, und die Krähe flatterte dort auf einen neuen Sitzplatz und ließ sich nieder, als ob sie sich dort ausnehmend wohl fühlte, und ganz plötzlich sah die Welt für Smoke ein kleines bißchen anders aus.
ZWEI
SMOKE GING IN IHRE FALLE, wartete, bis sie die Schlinge um ihn zugezogen hatten, und gab die ganze Zeit aus Höflichkeit vor, nichts davon zu merken. Er tat so, als würde er die L-5 Kolonie betrachten. Der künstliche Stern funkelte wie ein prächtiges Chronome ter am Nachthimmel, vierzig Grad über dem Horizont. Er sah ihn für zehn Sekunden durch ein Loch in den Wolken, dann wurde er vom Nebel ausgelöscht. Er fragte sich, ob der Krieg schon auf die Kolonie übergegriffen hatte, und wenn ja, ob dort noch jemand am Leben war. Oder ob sie die Schwester stadt von dieser hier war, eine tote Stadt, überschwemmt vom interstellaren Meer. Und dann erstarrte die Krähe und gab einen schnarrenden Laut von sich, der, wie Smoke lernen sollte, soviel bedeutete wie: Paß auf!… und die drei Männer kamen aus drei Richtun gen auf ihn zu. Die Krähe flatterte; er flüsterte ihr etwas zu, und sie beruhigte sich. Es gefiel ihm, wie prompt sie auf ihn reagierte. Er stand an einem Fenster und schaute auf die graue Sta lagmitensilhouette des Hochhauses hinaus, wo er der Krähe begegnet war. »Ich war da drüben in dem Hochhaus«, erklärte er den Männern, »und hab zu dem hier rübergeschaut, und ich konnte weder Licht noch ‘n Feuer oder irgendwas sehen, was sich bewegt hat.« Er hörte, wie einer von ihnen den Hahn einer Waffe spann te.
Und Smoke war trotz seines Gefühls, daß sich die Dinge geändert hatten, immer noch so sehr der alte, daß er sich bei der Hoffnung ertappte, der Mann würde die Waffe benutzen. Aber hinter Smoke sagte ein Mann im Tonfall des Anfüh rers: »Dreh dich um!« Smoke drehte sich langsam um und sah einen gedrungenen jungen Mann Ende Zwanzig oder Anfang Dreißig – aber nein. Falsch. Wenn man sich die scharfen Linien wegdachte, die die Belastungen des Krieges, die Müdigkeit und der Hunger in sein Gesicht gegraben hatten, war der Mann nur ein Junge von vielleicht einundzwanzig Jahren. Mager vom Hunger; Kinn eine Spur zu ausgeprägt, wie in den alten Zeichnungen vom Mann im Mond bei Viertelmond; hohe Stirn, gerade Nase, sarkastischer Mund mit roten Lippen und kleine, von Schlaflo sigkeit geränderte grüne Augen mit dunklen Wimpern. Seine Haare waren strohig und fettig, weil er sich nicht um sie kümmerte. Wenn sie sauber waren, waren sie wahrscheinlich blond. Er war nicht größer als einssiebzig, und sein hagerer Körper steckte in einer verwitterten braunen Fliegerjacke, die aussah, als hätte sie immer nur Schlechtwetterflüge mitge macht, alten ausgewaschenen Jeans und Motorradstiefeln, die von silbernem Klebeband zusammengehalten wurden. Er hielt inne … Smoke machte große Augen. »Wo hast du die alte Weatherby her?« fragte er interessiert. Der Junge hatte eine Weatherby Mark V in der Hand, ein Jagdgewehr. Das Ding mußte dreißig, vierzig Jahre alt sein, dachte Smoke. Ein Mehrlader, 460er Magnum. Fast einen Meter zwanzig lang. Für die Großwildjagd entwickelt. Ziemlich ungewöhnlich, sowas hier zu finden. Der Mann mit den grünen Augen lachte leise und schüttelte
den Kopf. Seine Augen veränderten ihren Ausdruck nicht, als er lachte. Sie blieben ausdruckslos, hart, offen. »Du solltest eigentlich Schiß haben«, sagte er, »statt mich zu fragen, wo ich meine Knarre herhab.« »Mit Waffen kennt er sich also aus«, sagte einer der anderen Männer und trat rechts neben Smoke. Er war groß und breit und sah aus wie jemand, der zu dick gewesen war und so lange am Hungertuch genagt hatte, daß seine Haut davon Knitterfalten bekommen hatte. Er trug einen langen schwarzen Mantel, der vorne offen war. Und zu Smokes Linken war ein menschlicher Geier mit nervös zuckenden Augen, der ge räuschvoll durch den offenen Mund atmete. Er trug einen Regenmantel und darunter etwas so Zerlumptes, daß es nicht zu identifizieren war. Der hungrige Bär hielt ein 22er Gewehr in der Hand, und der Geier hatte eine Art Knüppel aus Nä geln, die an ein langes Rohr geschweißt waren. »Wenn er mit Waffen Bescheid weiß«, fuhr der Bär fort, »dann ist er nicht bloß irgend so’n Rumtreiber.« »Diese Logik ist anfechtbar«, sagte Smoke. »Ein Rumtreiber ist jemand, der früher mal jemand anders war – und als er jemand anders war, könnten Waffen sein Hobby gewesen sein. Ich bin tatsächlich ein Rumtreiber. Das heißt nicht, daß ich nichts zu tun hätte. Ich bin geschäftlich unterwegs. Aber ich bin kein Spion für die Armeen. Und ich bin unbewaffnet.« »Was sind das denn für ›Geschäfte‹?« fragte der mit den grünen Augen, wobei er das Wort Geschäfte spöttisch betonte. Smoke dachte, daß der hungrige Bär eigentlich die große Weatherby haben müßte und Grünauge die 22er, weil er kleiner war und weil er der Anführer war; er hätte es besser wissen müssen. Aber vielleicht war die Waffe hier das Totem
der Macht. Und der König mußte das Zepter tragen. »Also darauf laß ich’s jetzt mal ankommen«, sagte Smoke. »Ich werd euch nichts über meine Geschäfte erzählen. Außer, daß sie keine Bedrohung für euch sind.« Der hungrige Bär trat einen Schritt auf ihn zu, und Smoke schloß die Augen und sagte: »Hoffentlich tun Sie meiner Krähe nichts.« Er war nicht sicher, ob er es laut ausgesprochen hatte. »Jenkins«, sagte Grünauge nicht besonders scharf. Aber es reichte. Der große Kerl blieb stehen, und Smoke wußte auch mit geschlossenen Augen, daß der hungrige Bär Grünauge ansah und auf sein Stichwort wartete. »Schaun wir uns mal seine Sachen an«, schlug der Geier vor.»Könnte was zu essen drin sein.« »Tiere«, sagte Smoke und machte die Augen auf. »Einer ist ‘n hungriger Bär und der andere ‘n Geier, und du erinnerst mich an ‘nen Coyoten oder ‘nen Wolf.« Er sah den Anführer an. Der Bursche ließ wieder das Lächeln sehen, das nicht bis zu den Augen vordrang. »Du bist bloß ‘ne Sitzstange für ‘ne Krähe«, sagte er. »Hast du ‘nen Namen?« »Smoke.« »Hab schon mal was von dir gehört. Wie war das – du dealst rum, Schwarzmarkt oder…« Er zuckte die Achseln. »Was ist daran so geheimnisvoll?« Smoke antwortete nicht, also fuhr der Bursche fort: »Wie heißt deine Krähe?« »Hab mich noch nicht entschieden. Wir haben uns grade erst kennengelernt. Ich schwanke zwischen Edgar Allen Crow oder Richard Pryor.«
Der Grünäugige senkte sein Gewehr, vielleicht nur deshalb, weil es schwer war. »Edgar Allen Crow ist geil. Was soll ›Richard Pryor‹ bedeuten?« »Der war der Lieblingskomiker meines Vaters, und er war schwarz. Das ist alles, was ich über ihn weiß.« »Wir könnten den Vogel essen«, schlug der Geier vor. Er sah den grünäugigen Anführer an. »Laß uns den Vogel essen, Hard-Eyes. Scheiß drauf, hm?« Hard-Eyes. Sein Name war Hard-Eyes. »Nein«, sagte Hard-Eyes. »Da, wo ich herkomme, bringen Krähen Glück.« Die Wolken hatten sich zu Regen verdichtet, und der Regen hatte sich in die zehntausend haarfeinen Risse des Hochhauses vorgetastet und geschlängelt und gedrängt. Jetzt rann er aus den Rissen in der Decke und tropfte mit dem Geruch aufgelö ster Mineralien in eine große Badewanne, die jemand aus ihrer ursprünglichen Verankerung gerissen und hierhergeschleift hatte, nur um den Regen aufzufangen, sowie in eine Holzkiste, die bereits ihre Farbe zu verlieren und zu lecken begann. Die Krähe schlief auf Smokes Schulter. »Wenn wir doch bloß ein gottverdammtes Feuer anmachen könnten«, sagte Pelter. Pelter war der Geier. Sie saßen auf roten Plastikkisten um einen kaputten Fernse her herum. Auf den Bildschirm hatte jemand mit roter Farbe ein Symbol gemalt:
Sie schauten nicht auf den Bildschirm. Aber das Gerät war so etwas wie ein erkalteter Ofen für sie. Sie hatten eine Dose Sardinen und ein Pfund Käse gegessen, die Steinfeld Smoke mitgegeben hatte, ›um sie aufzulockern‹. Smoke hatte die Sachen sofort herausgeholt, als sie in der Bude angekommen waren. »Das ‘s unsere Bude«, hatte Hard-Eyes gesagt, als ob er das Wort Biwak in Smokes Kopf ersetzen wollte, falls Smoke am Ende doch für die Armeen arbeitete. In dem Zimmer war ein wirrer Haufen alter Möbel, myste riöse geometrische Formen im Halbdunkel. Sie hatten das Fenster mit drei Lagen aufgeklebter schwarzer Plastikplanen abgedeckt; die Falten im Plastik machten Glühwürmchen aus dem gelben Licht der beiden Chemolampen. Anämisches Licht, und Smoke sagte: »Ihr braucht ‘n neuen Würfel für eure Lampen. Dieser feste Treibstoff sieht aus, als würde er ewig halten, und dann sitzt man auf einmal im Dunkeln.« »Gefällt mir nicht, wie der Kerl hier redet«, nörgelte Pelter. »Der bringt uns Unglück.« Hard-Eyes ignorierte Pelter. Er schaute Smoke über den Lichtkegel der Lampe hinweg an und sagte: »Du redest nicht bloß vom Treibstoff für die Lampen.« Smoke zuckte die Achseln. »In den Lampen ist alles drin. Energie und Verschleiß und Entropie.« Hard-Eyes kniff die Augen zusammen und schaute skep tisch drein. Dann hellte sich sein Gesicht auf, und er nickte. »Und Glas wird schwarz.« Jenkins und Pelter sahen einander an, dann Hard-Eyes und Smoke, dann schauten sie auf den Boden. »Was bedeutet das Fetisch-Zeichen auf dem Fernseher?« fragte Smoke.
Er deutete mit einem Nicken auf den Bildschirm hin. Vor zehn Jahren hatte er es zum erstenmal gesehen, auf Martini que. Er hatte es auf Anhängern und auf Ghettoblastern auf gemalt gesehen. Niemand hatte es ihm erklärt; sie hatten nur gesagt: »Das bringt Glück.« Als er später in Harlem gesehen hatte, wie kaputte Fernseher in die Sammlung liebgewordener Dinge aufgenommen und damit zu Kunstgegenständen auf gewertet wurden, hatte er sich gedacht, es sei in gewisser Weise die großstädtische Variante des Cargo-Kults *, und noch etwas anderes: eine Beschwörung. Eine Variation des Gitter freund-Zeichens. »Glaubt ihr an Gitterfreund?« fragte Smoke. Gitterfreund, der Gott des globalen elektronischen Gitters. Das Gitter bringt Fernsehen und Nachrichten – Glaube, der sich mit Essen und Unterkunft übersetzen läßt. Bete zu Gitter freund, und deine Rechnung geht in den Computern der Elektrizitätswerke verloren und du kriegst noch einen Extra monat, ehe sie dir den Strom abstellen; bete zu Gitterfreund, und die Interbank macht einen Fehler zu deinen Gunsten und schreibt dir fünfhundert Dollar gut, die du nicht haben soll test. Und vergißt sie dann. Bete zu Gitterfreund, und deine Akte verschwindet aus dem Polizeicomputer. »Das ist nicht das Gitterfreund-Totem«, sagte Hard-Eyes. »Es ist Jenkins’ Ding. Jenkins ruft damit den Großen Organisa tor an, den Gott, der Strukturen erzeugt – und Glück bringt.« »Nur ‘n anderer Gitterfreund. Glaubst du ans Glück?«
religiös-politische Bewegung unter den Bewohnern diverser Inseln im südlichen Pazifik, derzufolge ihre Ahnen eines Tages in Schiffen oder Flugzeugen mit einer Fracht aller benötigten Güter der modernen Zivilisa tion zurückkehren und sie damit von den Weißen unabhängig machen werden. Anm. d. Übers. *
»Das mach ich mir selbst.« Smoke lächelte über den melodramatischen Leinwandhel denton von ›Das mach ich mir selbst‹. »Bist du deshalb hier, Hard-Eyes? In dieser beschissenen Kühltruhe?« Jenkins warf Smoke einen wütenden Blick zu. »Hey, du hast nichts Besseres laufen, du Penner. Du hast nicht mal Lampen. Du solltest nicht über unsere Lampen reden, Mann.« Die Krähe bewegte sich auf Smokes Schulter; Jenkins’ Ton beunruhigte sie. Smoke sang ihr leise etwas ins Ohr. Sie steck te den Kopf wieder unter den Flügel. Er lächelte. »Schaut euch das an. Das ist Erfüllung … Diese Krähe und ich haben uns heute erst kennengelernt, und schon sind wir Freunde. Einfach so. Da könnte man fast an Reinkarnation glauben.« »Wir sollten sie essen«, sagte Pelter und wischte sich mit einem verkrusteten Ärmel einen Streifen Schnodder von der knochigen Nase. Seine Augen waren rot geschwollen, er hustete manchmal, und hin und wieder sank ihm der Kopf nach unten, als ob er im Sitzen einschlafen würde. Smoke dachte, daß Pelter krank war und bald sterben würde. »Eher wird der Vogel dir die toten Augen auspicken«, sagte Smoke und bereute es dann. Aber Pelter hörte es nicht. Sein Kopf war ihm auf die Brust gesunken, und er atmete mit einem blubbernden Geräusch. Jenkins machte ein finsteres Gesicht. »Haste das gehört, Hard-Eyes?« Hard-Eyes zuckte die Achseln. »Smoke mag’s nicht, wenn andere Leute davon reden, sein farbiges Kücken zu braten. Da sagt ‘n Mann schon mal was Fieses.« Smoke lachte. Hard-Eyes gab den kurzen, schnaubenden Laut von sich, der als Machogelächter galt. Aber seine Augen
blieben hart. Der Regen tropfte mit hohlen Plips in die Badewanne. Jenkins und Pelter lagen ausgestreckt auf Pappunterlagen und schliefen. Jenkins schlief mit dem Gesicht in der Beuge seines angewinkelten Arms, wie die Krähe mit dem Schnabel unter einem Flügel. Seine Fäuste ballten sich ab und zu, schlossen sich um etwas, von dem er träumte. Pelter schlief mit offenem Mund. Sein Atem ging rauh. Nur eine Lampe war noch an. Die andere hatte ihren Treib stoff aufgebraucht und war einfach so ausgegangen, als ob Smoke eine böse Prophezeiung ausgesprochen hätte. »Ist bald hin«, murmelte Smoke. »Die andere Lampe?« »Pelter. Die Lampe vielleicht auch.« »Pelter ist krank.« Hard-Eyes nickte. »Ist er schon lange bei euch?« Hard-Eyes schüttelte den Kopf. »Sechs, sieben Wochen. Jenkins ist schon länger mit mir zusammen. Jenkins, der ist nicht blöd. Hat nur ‘n anderen Blickwinkel. Er hat echt was drauf, wenn’s um Chip-Einsätze, Datenzugriff und solche Sachen geht.« »Im Moment kann man in Amsterdam mit Computer kenntnissen nicht viel anfangen.« Darüber lächelten sie matt; es war zu offensichtlich, als daß man es aussprechen mußte, und sie wußten es beide. »Hast du noch Bedenken wegen mir?« fragte Smoke. Hard-Eyes schüttelte den Kopf. »Die Krähe hat für dich ge bürgt.«
»Ich hab ein bißchen Bedenken wegen dir. Du könntest gut einer von deren Leuten im Hintergrund sein, die nach ‘nem Untergrund rumschnüffeln. Oder nach jedem, der so riecht, als ob er wünschte, die Armeen würden sich gegenseitig fertig machen und sich verpissen.« Hard-Eyes zuckte die Achseln. »Willste die Geschichte hö ren?« Smoke nickte. Also erzählte ihm Hard-Eyes seine Geschichte. Ich war in London (sagte Hard-Eyes), und zwar in einem Club namens The Retro. Bei denen lief kulturell alles rückwärts. In diesem Monat hatten sie ein Ska-Motiv, Ska-Musik. Zwei Monate vorher hatten sie Thrash. Und davor Hardcore, und davor Angst-Rock, und davor Meltpop; das war gerade ange sagt, als der Club aufmachte. Wenn’s den Club noch gäbe, hätten sie sich durch die Neunziger, Achtziger, Siebziger und Sechziger bis zum Rockabilly, Bebop und Blues zurückgear beitet. Aber es gibt ihn nicht mehr, weil dieser Teil der Stadt in Trümmern liegt. Ich bin aus San Francisco, Kalifornien, Ju Ess Äi. In England war ich wegen eines Seminars über die Sozial demokratie. Verwässerten Sozialismus. Ich war Student. Ja, ein Student mit ‘ner beknackten Schultasche für seine Bücher. Politische Wissenschaften im Hauptfach. Und völlig damit beschäftigt, den Strukturalismus auf Probleme der Diplomatie anzuwenden. Du dickes Ei. Und dann wurde die Politik für mich Realität. Die Wahrheit hinter der Politik. Aggression und Annexion … Wir waren im Retro am Tanzen, und der DJ schob diesen Meltpopsong ein: ›Dancing with the Soviet Brothers‹. Der gehörte gar nicht zum aktuellen Retro-Motiv,
das hat uns gewundert. Und dann sagte der DJ, der Song sei den russischen Brüdern gewidmet, die mit ihren Panzern grade über die ostdeutsche Grenze nach Westdeutschland vorgedrungen seien. Und wir dachten, der macht Witze, aber dann hörten wir, wie jemand was von ‘ner Sendung im Radio sagte, und wir gingen raus zu Dodys Wagen. Ich war mit diesem Mädchen da, Dody – Mann, was für ‘n Hohlkopf. Aber sie machte sich Sorgen um ihr Geschäft, weil sie mit Entwür fen von ‘nem deutschen Designer handelte. Und in Dodys Autoradio sagten sie, die sowjetische Armee sei aus dem Nichts aufgetaucht, niemand könnte verstehen, wie sie so viele Soldaten an die Grenze bringen konnten, ohne die NATO zu alarmieren. Das war lange bevor allmählich was über die Maxishuttles durchsickerte, die aus dem Orbit runterkamen. Die NATO sah sie landen, aber die Sowjets erzählten ihnen, es sei medizinisches Versorgungsmaterial für einen Notfall, irgendeine Epidemie, und dann waren die Scheißsoldaten auf einmal da … Okay, das ist die Version, die ich gehört hab. Man hört ja verschiedene Versionen … Jedenfalls haben sie Berlin eingenommen. Haben das Hauptquartier der sowjeti schen Westfront nach Berlin verlegt. Und das einzige, woran diese Dody denken konnte, war, daß ihr Geschäft jetzt im Eimer war. Ich hätt sie am liebsten ins Auspuffrohr ihres benzinfreien Jaguars gestopft. Aber schließlich war ich auch nicht besser. Ich hatte nur eins im Kopf, nämlich meinen Arsch zu retten und in die Staaten zurückzukommen. Man konnte nur keinen Flug aus London raus kriegen, die waren alle für den Regierungsge brauch beschränkt oder bis zum letzten Platz ausgebucht. Alle wollten nichts wie raus aus Europa. Haste mal über den Viet namkrieg gelesen? Okay, weißte, so wie damals, als die nord
vietnamesische Armee in den Süden vorgedrungen ist, da gab’s in Saigon einen wüsten Run auf alles, was Räder oder Flügel hatte, um aus der Stadt rauszukommen, die Leute rannten los und klammerten sich an die ganzen Hubschrauber … Und sowas passierte jetzt auf einem ganzen Kontinent, in den Großstädten … Ich ging zum Flughafen, und irgend so’n Kerl verkaufte Flugtickets schwarz; der wollte fünftausend Pfund pro Stück. Die Leute sind übereinander weggeklettert, um dem Scheißtyp die Dinger abzukaufen … Andere wurden in den Botschaften vorstellig, ließen sich nicht abwimmeln, wurden rausgeschmissen und warfen schließlich die Fenster ein, bis man auf sie schoß. Am Flughafen hat jede Stunde irgendwer versucht, ‘ne Flugzeugentführung abzuziehen, Mann. Im Hafen war’s noch schlimmer. Aber ich hab so ‘n Typ mit ‘nem Boot aufgetan, der nach Amsterdam unterwegs war. Sagte, er kennt jemand, der da ‘n Privatflugzeug hätte und uns beide mitnehmen könnte, und aus irgendeinem Grund hab ich ihm die Geschichte abgekauft. Ich war in Panik. Jaa, du lachst – jetzt. Er brachte mich nach Amsterdam und nahm mein Geld, um für uns ›die Connection zu machen‹, und dann kam er nicht wieder, um mich zu holen. Das Geld war eh nicht viel wert. Aber ich hab ihn vor acht Monaten gefunden, und er hatte diese Weatherby; die hatte er aus irgendeinem Haus geklaut. Ich hab ihn mit der 22er erledigt… Aber ich hab ‘ne Menge ausgelassen. Naja, das haste hier ja wahrscheinlich alles selber mitgekriegt. Die NATO-Streitkräfte rufen in Hol land das Kriegsrecht aus. Die Sowjets fallen ein und werden zurückgeworfen. Die Aufstände. Die öffentlichen Hinrichtun gen und die Aufstände wegen der öffentlichen Hinrichtungen, und dann die Hinrichtungen wegen der Aufstände, die nach den ersten Hinrichtungen ausgebrochen sind. Ich hab mir das
Ganze von hier oben aus angesehen. Hab versucht, mich da rauszuhalten. Aber ich will dir mal was Komisches sagen. Für mich war’s fast eine Erleichterung. Die ganze Sache. Sogar der Krieg. Es war, als ob – vor dem Krieg war nichts real. Ich meine … die Leute redeten über Sachen, die in Filmen und Simuls vorka men, als ob es Anekdoten über Leute wären, die sie kannten, und … Es war so, als ob unser Leben nur ein langes Film- oder Fernseh- oder Hololeben wäre, mit allen Einzelheiten … Ich kann’s nicht erklären. Aber ich hatte dieses Gefühl, daß nichts real und alles scheißegal war – bis zum Krieg. Jedenfalls lebte ich mit ‘nem holländischen Mädchen zu sammen, Luka. Eines Tages ging sie raus, weil sie versuchen wollte, was zu essen einzukaufen. Es gab einen Hungerkra wall, und sie wurde angegriffen, weil sie eine Tüte mit Essen hatte – ich hatte mit ihr in der Schlange gestanden, und als die Randale losging, half ich ihr abzuhauen, und sie war dankbar, deshalb hat sie mir ‘ne Bleibe verschafft – naja, okay, vielleicht war’s nicht bloß Dankbarkeit. Sie war einsam – und es war, als ob wir schon immer zusammengewohnt hätten; es gab keine weiteren Fragen. Ihre Haare sahen aus wie … haste schon mal Kornseide gesehen? Sie war ein großes Mädchen, aber hübsch, wie eine Amazone. Hat immer alles saubergehalten. Mütter lich, wie ‘ne Tante, außer im Bett. Sie war … Jedenfalls, nach dem die Sowjets den Hafen mit ihrer Blockade abgeriegelt hatten und die Belagerung losging, breiteten sich die Hunger krawalle vom Markt bis in die Hochhäuser aus. Weißte, die Masse hat meistens ‘ne falsche Vorstellung davon, wer welche Fäden zieht, und sie dachten, die Leute in den Hochhäusern würden Nahrungsmittel horten, aber das war Quatsch; Luka und ich mußten in denselben Schlangen nach unserer Ration
anstehen wie jeder andere auch, aber mit hungrigen Leuten kann man nicht diskutieren. Sie kamen rein und nahmen alles auseinander und … … und warfen sie aus einem Scheißfenster. Aus einem Fenster, und sie fiel vierzig Stockwerke tief, und da hab ich mit meinem Gewehr das Feuer auf sie eröffnet. Ich schoß auf ein Ungeheuer, eine Masse von Armen und Beinen und kreischenden Köpfen; es zog nach draußen ab und ließ ein paar Teile mit meinen Kugellöchern drin zurück, und ich schaute sie mir an und sah, daß es Menschen waren. Ich hatte zwei alte Frauen, einen fünfzehnjährigen Jungen und einen Burschen erschossen, der meinem Bruder Barry ziemlich ähnlich sah, nur daß er keinen Schnurrbart hatte. Es war ein Schock. Was ich erschossen hatte, waren indivi duelle Menschen. Und da war auf einmal alles ganz anders. Der Mob kam zurück, und diesmal hatten ein paar von ihnen Schußwaffen, deshalb bin ich aufs Dach rauf und hab mich im kleinen Häuschen für den Fahrstuhlmotor versteckt, und sie haben mich nicht gefunden. Als sie abhauten, war hier alles weitgehend so, wie du’s jetzt siehst. Zwei Wochen später haben die Sowjets die Verteidigungslinien durchbrochen und sind einmarschiert. Haben die Stadt besetzt. Und es war ein fach bloß ‘ne andere Armee. Viele Leute dachten, die Sowjets wären besser als die NATO-Armeen. Aber es gab nichts zu essen, und noch mehr Leute litten Hunger … Du mußt doch hier gewesen sein … Nein? – Wie lange biste denn schon hier? Ach, du warst damals im Lager … Und dann versuchten die Alliierten, Amsterdam mit taktischen Atomwaffen zurückzu erobern, und wir konnten’s nicht glauben. Kleine Sprengköp fe, kurzfristige Strahlung. Kein großes Problem, stimmt’s? Hat
nur ein Viertel der Einwohner der Stadt umgebracht – wenn man ein Omelett macht, muß man ein paar Eier zerschlagen. Mindestens ein Viertel der Stadt ist dabei draufgegangen. In einer Woche. Und dann wurden die Erdarbeiten durch Sabo tage lahmgelegt, und ein paar Holländer haben tatsächlich auf den Plätzen öffentlich Selbstmord begangen. Innerhalb von ein paar Tagen ist die Arbeit von Jahrhunderten, mit der Holland der See abgerungen wurde, zunichte gemacht worden, und damit wurden sie nicht fertig. An manchen Tagen verstehe ich, warum sie’s getan haben, an anderen nicht. Die Leute sahen, wie sich die alten Männer angezündet haben, und die meisten haben sich nicht drum gekümmert. Aber den Gangs gefiel’s, weil es die Monotonie durchbrach; sie haben sich mit ‘ner großen Show ‘n richtigen Spaß draus gemacht, ihre Brotration an Spießen über der Kohle der Leute zu rösten, die … Ich hab wieder versucht, aus der Stadt rauszukommen, und ein Boot gestohlen, aber NATO-Aufklärer haben mich er wischt. Die waren überzeugt, daß ich im Auftrag der Roten unterwegs war. Die hatten auch Jenkins in den Bau gesteckt. Da haben wir uns kennengelernt. Er hat das Schließprogramm im Knast durcheinandergebracht, und so sind wir entkom men, aber wir konnten nirgends anders hin als hierher zurück … Wir sind gut durchgekommen. Wir haben ‘nen Weg in die Aufklärerlager gefunden und klauen uns ab und zu mal Vorräte. Eines Tages mußten wir ‘n paar Aasgeier abknallen, aber meistens halten wir uns aus Schwierigkeiten raus. Wir halten uns von allem fern, was so aussieht, als ob’s auch nur von weitem für subversiv gehalten werden könnte, deshalb suchen sie uns nicht. Die Armeen … wir machen sie nicht mal mit Worten runter. Keine Seite. Da ist nämlich keine besser als die andere. NATO, die Sowjets, Amerikaner, Briten, Tsche
chen. Jeder nennt sie die Armeen. – Welche Armeen im einzel nen, ist allen egal. Wenn du zu den Militärs gehörst, hast du das Sagen … Smoke schwieg lange Zeit. Er redete nicht einmal mit sich selbst. Er war zu müde. Er wußte, daß da noch viel mehr war, aber danach brauchte er nicht zu fragen. Da war eine Familie in den Staaten, an die Hard-Eyes nicht zu denken, deren Schicksal er aus seinen Gedanken zu verbannen versuchte, weil der Scrambleschirm alle Sendungen abblockte – jedenfalls auf allen zivilen Frequenzen und auch auf vielen anderen – und es folglich keine Möglichkeit gab, Neuigkeiten zu erfah ren. Wozu also sich mit Fragen quälen … mit fruchtlosen Fragen, wie es jetzt in den Staaten aussehen mochte. Aus einer Abschlußarbeit der vierzehnjährigen Gary Krueger aus Cincinnati, Ohio, mit dem Titel ›Der Grund des Krieges‹. Gary bekam dafür eine Zwei plus. Jeder hat so seine eigenen Ansichten darüber, warum der Drit te Weltkrieg anfing. Ich ließ meinen Computer in der Modem gitteranalyse nachschauen, um festzustellen, ob es dort eine Li ste mit Gründen gibt. Er fand drei Gründe, die nicht zusam menpassen, und sie stammen von drei verschiedenen Men schengruppen. Der Grund, der am häufigsten angegeben wird, ist der von den eingetragenen Mitgliedern der Republikanischen Partei. Sie sagen, daß die Sowjetunion ihre Militärmacht jahrelang insgeheim ausgebaut hat. Die Sowjets haben mit unterirdi schen Ausbildungsstätten dafür gesorgt, daß es nach weniger
aussah. Dann haben sie gesehen, daß die NATO seine Stärke in Europa nicht aufrechterhielt und den Vereinigten Staaten die gesamte Last aufbürdete, und da haben sie eine Chance gese hen, diese Schwäche auszunutzen. Die Republikaner sagen auch, daß es Mißernten und industrielle Probleme und andere Probleme in der UdSSR gab und daß die Warschauer-PaktStaaten rebellierten und unabhängig sein wollten. Deshalb dachte die UdSSR, daß ein Krieg die Menschen von diesen Problemen ablenken und die Länder des Warschauer Pakts wieder zusammenbringen würde, weil sie sich gegen einen Feind zusammenschließen müßten. Den Sowjetrussen (sic) gingen die Energiereserven aus, und sie wollten Kohle und Öl und Atomkraftwerke und Hochfrequenz-Empfangsstationen erobern, die orbitale Energie aufnehmen. Sie wollten die Ame rikaner auch in Verlegenheit bringen, wie sie es nach dem ›Kampf in der Schweinebucht‹ (sic) gemacht haben, eine Sache, die den USA im zwanzigsten Jahrhundert passiert ist und sie dazu gebracht hat, der Sowjetunion Zugeständnisse zu ma chen. Die Leute von der Demokratischen Partei sagen größten teils, daß die amerikanische Regierung die russische Regierung dazu getrieben hat, einen Krieg anzufangen, indem sie die mili tärischen Satellitensysteme Milstar I und Milstar II im Orbit installiert hat. Die russischen Satelliten waren nicht so gut und sie bildeten sich ein, daß wir unsere Systeme dazu benüt zen könnten, ihre Raketen abzuschießen, und daß wir so bei ih nen einfallen oder sie angreifen könnten und sie nicht imstande wären, sich zu verteidigen. Deshalb wollten sie in Europa neue Gebiete erobern, um europäische bodengestützte Raketen in die Hände zu bekommen und eine ›Pufferzone‹ zu errichten, um die Invasion aufzuhalten, und außerdem – in diesem Punkt
sind die Demokraten alle einer Meinung – wollten sie ihr Volk gegen einen Feind vereinigen und erreichen, daß es seine Pro bleme vergißt. Die dritte Gruppe sagt, eine ›internationale Verschwörung von Juden und Moslems, um die Vereinigten Staaten zu ver nichten‹ hat die Russen dazu gebracht, es zu tun. Ich finde, das ist Quatsch, weil Juden und Moslems nicht zusammenarbei ten, und wie sollten die Juden die Russen lenken können, wo die Russen sie doch ständig verfolgen? Ich glaube, der Krieg ist aus all den Gründen ausgebrochen, die die ersten beiden Gruppen genannt haben. Anmerkung des Lehrers für Gary Krueger: Das ist eine gute Arbeit, aber ich finde, du stützt dich zu sehr auf deinen Computer. Das tun viel zu viele Schüler! Damit überläßt man dem Computer die Arbeit, die man selbst tun müßte. Wenn du es so machst, wirst du nicht im Kopf behalten, was du lernst. Du mußt auch darauf achten, deine Sätze nicht mit zu vielen unds zusammenzukleistern. Du baust Bandwurmsätze. Das Folgende ist ein Gedicht einer Schülerin aus Gary Krue gers Kurs ›aktuelle Weltpolitik‹, Barbara Wycowski, dreizehn Jahre alt: Joe Smith aß seinen Apfel nicht auf Jane Jones las ihr Buch nicht bis zum Schluß Bob Farmer kam mit seinem Videospiel nicht zu Ende Ann Franklin malte ihr Männchen nicht fertig Jim Banks wickelte sein Geschenk nicht ganz ein Mary beendete ihren Brief nicht mehr
Dan beendete sein Lied nicht mehr Barbara beendete ihr Gedicht nicht mehr Weil die Wasserstoffbomben explodierten und alle starben und die ganze Welt unterging und es das Ende von allem war, vollständig und absolut. Das Folgende stammt aus einer Arbeit von Barbara Wycowksi für ihren Kurs ›aktuelle Weltpolitik‹ mit dem Titel ›Warum es bis jetzt nicht zum Atomkrieg gekommen ist‹: … 1998 unterschrieben die USA und die UdSSR einen Vertrag, der ›Vertrag zur Begrenzung der konventionel len Kriegsführung‹ genannt wurde. Darin vereinbarten sie, daß sie bei einem bewaffneten Konflikt den Einsatz von Atomwaffen auf kleine taktische Sprengköpfe be grenzen würden. Deren Einsatz sollte durch eine Ober grenze beschränkt werden, wie viele eingesetzt werden dürfen. Viele Leute sagten, daß es unmoralisch sei, über haupt einem Krieg zuzustimmen, aber diese Vereinba rung hat bisher verhindert, daß der Weltkrieg zu einem nuklearen Holocaust wurde. Aber ich glaube, es ist nur eine Frage der Zeit, und ziemlich bald wird es zu einem Weltkrieg eskalieren, und dann werden wir alle umge bracht. Deshalb weiß ich nicht, warum ich das schreibe, außer damit ich in der Schule bleiben und meine Mom glücklich machen kann, bis wir alle tot sind … Ihr Lehrer schickte eine Fotokopie von Barbaras Gedicht und ihrem Aufsatz an ihre psychologische Betreuerin in der Schule und schrieb dazu: Ich mache mir große Sorgen um Barbara und
eine Menge anderer Schüler, die anscheinend alle Hoffnung verloren haben, daß sie noch jemals das Erwachsenenalter erreichen. Außer dem gibt es eine weitere Gruppe von Schülern, die auf die Gefahr eines Atomkriegs zu reagieren scheinen, indem sie in einen Hurrapa triotismus ausbrechen, den ich ebenfalls beunruhigend finde … Sie lagen im Dunkeln, jeder in seine amerikanische Armeedek ke vom Schwarzmarkt gehüllt. Die Pappunterlage unter Smokes Decke war kalt und ein wenig feucht; es reichte, um ihn frösteln zu lassen. »Hard-Eyes«, sagte Smoke leise. »Ja.« Klar, der Bursche war wach. Unmöglich, daß er Smoke jetzt schon vertraute. Er lag da, und seine vorzeitig gealterten Augen waren weit offen und glommen im Dunkeln. »Hard-Eyes, manche sind schlimmer als andere. Manche Armeen.« »Meinste echt?« »Ja. Die Second Alliance.« »Das ist für dich ‘ne Armee? Ist doch eher sowas wie ‘ne multinationale Militärpolizei.« »Mh-mh. Die SA wird vom Second Circle geleitet. Weißt du, was das ist?« »Ich hab die NR-Flugblätter gesehen. Da steht drin, es sind Faschisten. Kann sein, aber die nimmt doch keiner ernst. Die sind bloß ‘ne weitere Gang.« »Genau das ist eine Armee, eine große Gang. Die SA ist die Armee des Second Circle. Die NATO benutzt sie, aber sie benutzen auch die NATO … Hast du schon was von der
neuen Kriegsfront gehört?« »Nee.« Die Pappe schabte auf dem Betonboden – die Plün derer hatten den Teppich herausgerissen –, als er sich auf einen Ellbogen hochstützte. »Warste draußen?« fragte HardEyes. Ein anklagender Unterton. Man erwartete, daß ein Reisender von außerhalb der Stadt Neuigkeiten und Gerüchte weitererzählte, die eh nicht zu unterscheiden waren. Ein Überlebensprotokoll. »Bin in diesem Jahr nur einmal aus Amsterdam rausge kommen«, sagte Smoke. »Meistens war ich drüben, wo früher mal der Hafen war. Als ich das letztemal draußen war, haben sie mich in die Logistiklinien der NATO dienstverpflichtet. Ich sollte ‘n ›zivilen Lastenträger‹ mit ‘nem ›Gehalt‹ spielen.« Hard-Eyes schnaubte. »Aber weißt du«, fuhr Smoke fort, »wir haben einmal am Tag zu essen bekommen. Garantiert.« »Das ist in Ordnung. Nicht schlecht. Und du warst hinter der Kampflinie.« »Außer daß ‘n Teil des Lagers ‘ne Dosis NT vierundvierzig abgekriegt hat.« »Neurotoxin vierundvierzig. Das isses bei Pelter, glaub ich. Der hat ‘ne Dosis davon abbekommen. Redete ununterbrochen wirres Zeug, als wir ihn gefunden haben. Hat sein Immunsy stem zu Matsch gemacht.« »Ihr Typen kommt mir nicht gerade wie Freiwillige vom Roten Kreuz vor …« Zwei Sekunden Zögern. »Jenkins kannte ihn«, sagte HardEyes dann. »In mancher Beziehung ist Jenkins ‘n kleiner Schlappschwanz. Es war so, als ob man ‘ne kranke Katze
aufnimmt und sie gesundpflegt, und zum Dank kriegste ‘ne Flechte von dem kleinen Mistvieh oder sowas … Vor ‘ner Weile haste ›wir‹ gesagt. Daß du mit jemand in die Stadt gekommen bist.« »Ich bin mit …« Fast hätte er den Namen genannt. »Mit ei nem Typ gekommen, der noch Connections zu den Alliierten hat. Aber er arbeitet nicht für sie.« »Soviel du weißt.« »Soviel ich weiß«, stimmte Smoke zu. Sie schwiegen ein paar Minuten lang, weil Pelter einen Hu stenanfall bekam. Er keuchte eine Weile, dann ließ der Krampf nach. Seine Lungen rasselten, wenn er einatmete. Smoke fröstelte und zog sich die dreckige Armeedecke en ger um die Schultern. »Also, wie verlagert sich die Front?« kam es plötzlich von Hard-Eyes, eine scharfe Frage aus der Dunkelheit. »Sie verlagert sich vollständig raus aus Europa.« Stille, bis auf das langsame Platschen der Regentropfen in der Badewanne. »Hast du gehört?« fragte Smoke. »Bockmist hab ich gehört.« »Der Typ, von dem ich gesprochen habe, der hat’s direkt vom Funkverschlüsselungsoffizier des alliierten Oberbefehls habers. Die NATO läßt eine Stammtruppe in Amsterdam, Paris und Dresden zurück … Sie haben die Sowjets zurückge worfen, und es heißt, daß die sich neu formieren, um die Front längs ihrer traditionellen Grenzen und um die Länder des Warschauer Pakts herum zu halten. Sie konzentrieren sich auf eine Seeoffensive. Die Sowjets verlieren den Kampf zu Lande
und gewinnen ihn zur See, wer, zum Teufel, weiß da schon, wie sich das ausgleicht…« »Die sowjetische Seeoffensive. Endlich.« Es klang fast über zeugt. »Könnte Gerücht Nummer zehntausendfünfhundert zwei sein.« In Europa während des Krieges wirbelten wider sprüchliche Gerüchte wie Herbstlaub bei einem Hurrikan im Wald durcheinander. »Du weißt, daß es keins ist. Es klingt korrekt.« »Und du glaubst, die SA greift ein.« »Glaubst du, die NATO kann das Hinterland polizeilich überwachen? Ein so großes Territorium? Wer ist denn noch übrig, der das schaffen könnte? Hier bei uns? Paris wird von einer kleineren Polizeitruppe zusammengehalten, als New York für den Central Park hat. Das klappt, weil sie sich auf die militärische Präsenz stützen können. Aber wenn das Militär abzieht, geht alles den Bach runter. Und sie ziehen ab, jeden falls weitgehend. Deshalb heuern sie die SA dafür an, einzu rücken und die Polizeiarbeit zu machen. Und der Sicherheits rat der Vereinten Nationen unterstützt die SA auch noch dabei. Diese ganzen lamettabehängten südamerikanischen Generalissimos, die hat die SA doch allesamt in der Tasche.« »Die SA … das kann die NATO doch nicht machen … ich meine, denen einfach die Macht zu übergeben. Die NATO würde versuchen, provisorische Regierungen nach dem Mo dell der gestürzten einzusetzen.« »So nennen sie’s auch: eine Übergangsperiode zur Phase der provisorischen Regierungen. ›Bis die Autonomie praktika bel ist‹. In der Zwischenzeit liefert die SA das Personal für …« »Nee, Mann. Jeder weiß doch über die SA Bescheid.« »Ist das dein Ernst?«
Stille. Dann: »Sind wohl meistens die Leute im Untergitter, die Bescheid wissen … aber so blöd kann die NATO doch gar nicht sein.« »Bis auf Skandinavien, Spanien, die Überreste von England und die Staaten ist die NATO größtenteils weg vom Fenster. Und wer hat in den Staaten die Fäden in der Hand? SASympathisanten. Trotzdem ist die NATO blöd genug, sich für ‘ne Supermacht zu halten. Wer außer den Russen würde es wagen, den Supermächten auf deren eigenem Grund und Boden ernsthaft den Kampf anzusagen? Ein überdimensionier ter Verein von Sicherheitscops wird ihnen schon nicht…« »Nun mach aber mal ‘n Punkt! Okay, vielleicht ist es wahr. Was dann? Ist die Blockade noch in Kraft?« »Nein, aber die SA wird ermächtigt werden, ›eine Be schränkung der Ab- und Zuwanderung zu verfügen‹.« »Wo haste denn die Phrase her?« »Steinfeld hat einen Printout …« Soll er ruhig glauben, das sei mir so rausgerutscht. O nein, ich hab den Namen genannt. »Steinfeld. Du gehörst zu Steinfeld.« Das Schaben von Pappe, als Hard-Eyes sich nun aufsetzte. »Ich bin bloß ‘n Anwerber«, sagte Smoke etwas zu hastig. »Kein Vollmitglied der NR.« »Scheiße. Ich hab ‘n Agenten der Neuen Resistance in mei ner Bude. Die NATO-MPs werden uns ‘n Besuch abstatten, und dann wandern wir alle ins Arbeitslager.« »Niemand hält mich für ‘n NR-Mann. Ich bin parteilos. Ich kenne Steinfeld schon ‘ne Weile; wir sind zusammen dienst verpflichtet worden. Er hat uns mit seinen MossadConnections da rausgeholt. Und ‘n paar andere auch. Aber ich
bin ihm nicht wie ‘n junger Hund nachgerannt, nicht bloß wegen sowas. Ich bin parteilos, Hard-Eyes, ehrlich. Ich sollte euch in diesem Stadium gar nicht mitbringen. Aber was soll’s? Zum Teufel, kommt doch einfach mit! Wenn’s morgen früh hell wird, bring ich euch zu Steinfeld. Der Mann kann eins für euch tun, als Gegenleistung für ‘n bißchen Arbeit: Er kann euch aus Amsterdam rausholen und euch nach Paris bringen.« »Von einem Bombentrichter zum anderen. Von Fuchsbau zu Fuchsbau. Tolle Sache.« »Also das ist nun echt Bockmist mit amtlichem Siegel. Du weißt, daß es da besser ist. Vielleicht nicht mehr lange, kann sein. Aber ihr müßt ja nicht länger da bleiben.« Darauf gab Hard-Eyes keine Antwort. Sein Schweigen be sagte: Das ist alles Schwindel, von vorne bis hinten. Die Krähe hatte sich jetzt in Smokes Genick gekuschelt. Sie erzeugte dort mit ihrem Körper eine kleine warme Stelle. Einen Kreis aus Wärme und Freundschaft mit einem Durch messer von acht Zentimetern. Vielleicht bringen sie mich einfach im Schlaf um, dachte Smoke zufrieden. Steht fünfzig zu fünfzig. Mit diesem Gedanken konzentrierte er sich auf den Acht-Zentimeter-Kreis und fiel hinein, und es war ein Tor. Smoke setzte sich auf, warf durch das Dämmerlicht einen Blick auf Pelter und wußte sofort, daß er tot war. Die Krähe war fort. Etwas wurde kalt in seinem Innern. Du jämmerliches Arschloch, sagte er zu sich. Du bist wie ‘n Kerl im Knast, der aus ‘ner Kakerlake ein Kuscheltier macht. Jenkins und Hard-Eyes waren verschwunden, aber das war Smoke egal. Außer, dachte er, wenn diese Drecksäcke den Vogel verspeist haben. Aber er hörte ein Rascheln in seinem Rücken, drehte sich
um und sah Richard Pryors Schwanzfedern aus seinem Segel tuchbeutel herausragen. Sein Kopf steckte in einer Tüte mit Brot. Smoke bemühte sich, nicht allzu froh darüber zu sein, aber es hatte keinen Zweck. Er fühlte sich gut. Ein kleiner mattblauer Lichtstrahl stach verdrossen von ei nem Loch in der Decke herab. Wahrscheinlich von einem Fenster im Zimmer darüber. Smoke schaute sich um und sah, daß Hard-Eyes und Jenkins ihre ganzen Sachen mitgenommen hatten. Sie waren eindeutig und endgültig weg. In Wahrheit kümmerte es ihn nicht sonderlich. Obwohl er Hard-Eyes gemocht hatte und wußte, daß dieser die erforderliche Rastlo sigkeit und auch alles andere besaß, wonach Steinfeld suchte. Aber Scheiß drauf! Wenigstens hatte die Krähe angeheuert. »Richard!« rief Smoke. Die Krähe schlug wieder mit den Flügeln und schlüpfte auf ulkige Weise rückwärts aus dem Beutel heraus. Sie sah ihn ohne eine Spur von Reue an. Hör auf, so rumzuschreien, du Arsch, sagte der Blick. Smoke langte an der Krähe vorbei in den Beutel. Die Krähe hüpfte auf sein Handgelenk. »Wer hat dich gezähmt, hm?« Die Krähe ließ in der Kehle einen Laut wie ein Türknarren ertönen. Smoke fütterte sie mit dem Rest von seinem Käse und sagte: »Sieht aus, als hätt ich die Anwerbung vermasselt. Sie sind weg. Ihre Sachen sind auch weg, also kommen sie nicht wie der. Machen wir uns auf den Rückweg zu Steinfeld und fragen ihn, ob wir mit ihm nach Paris gehen können.«
Aber als er sich im Schutz des Morgennebels im Floß von den Strömungen durch die hallenden, rauschenden Ziegel- und Betonschluchten treiben ließ, erhaschte er einen flüchtigen Blick auf ein anderes Boot hinter ihm und auf die silbrig aufragende Weatherby und erkannte, daß Hard-Eyes ihm folgte. Er wollte ihm bloß auf den Zahn fühlen. Und vielleicht würde Smoke seinen Anwerberlohn schließlich doch noch einstreichen können.
DREI
Es WAR VOLLKOMMEN KÜNSTLICH, und es war das natürlichste Ding der Welt. Und die Welt war kein Planet mehr. Die Welt war für die Kolonisten jetzt ein Beziehungsge flecht. Die Welt war das Beziehungsgeflecht zwischen der eigentlichen Kolonie und den mit ihr verbundenen Satelliten, zwischen der Kolonie und den mit ihr verbundenen Satelliten und den Satelliten im freien Orbit, zwischen der Kolonie und den mit ihr verbundenen Satelliten, den Satelliten im freien Orbit, der Mondbasis und diversen Kontrollstationen auf dem Planeten Erde. Die Beziehung wurde durch Laserbotschaften, hochfrequenten Dateninput, Funkwellen und Schiffe mit Fusionsantrieb hergestellt. Jede Informations- und Material einheit dieses Beziehungsgeflechts mühte sich nach Kräften, sich gegen die ständig strömende und anbrandende Höhenund Sonnenstrahlung sowie gegen das Weltraumtreibgut der Meteore zu behaupten. Die Welt war ein Informationsnetz, aber das Netz hatte ein Zentrum: FirStep. Oder einfach die Kolonie. Eine künstliche Welt, in der das Äußere nach innen gekehrt war. Sie war künstlich, aber Dr. Brian Rimpler hatte vor fünf Jahren in seiner Einweihungsrede bei der offiziellen Eröffnung der noch nicht fertiggestellten Kolonie behauptet, daß ein Kunstprodukt von Menschenhand natürlicher sei als ein im konventionellen biologischen Sinn lebendiger Organismus; die Kolonie, hatte Rimpler gesagt, sei eine Steigerung, eine großartige Weiter entwicklung der Natur, sowie ein Ameisenhaufen mit seinen
Ameisen etwas natürlich Gewachsenes sei, das noch mehr Prinzipien der Natur demonstriere als ein Grashalm. Claire bemühte sich, ihrer ersten Grundschulklasse den Ge danken – ein Kunstwerk von Menschenhand als ein Produkt der Natur – in groben Umrissen zu vermitteln, und manche von ihnen verstanden es; andere interessierte es nicht, und wieder andere lehnten die Vorstellung aus einer unbestimm ten, spontanen Abwehrhaltung heraus ab. Claire stand auf einem grasbewachsenen Hügel, der so an gelegt war, daß es aussah, als ob er durch einen geologischen Zufall dort hingekommen sei, und um ihn herum saßen zwölf Kinder. Sechs Jungen und sechs Mädchen, gemäß den Anwei sungen der demographischen Kontrolle. Von außen sah die sechs Meilen lange Kolonie wie ein Zy linder aus, der etwas Großes verschluckt hatte und es nun wie eine Boa verdaute. Die Wölbung in der Mitte war eine Bernal kugel mit einem Durchmesser von anderthalb Meilen. Das konkave Innere der Kugel hatte das hauptsächliche Wohnge biet der Kolonie sein sollen. Sie war lichtdurchlässig. Sie war Mu, das versunkene Atlantis, die hohle Erde. Die Landschaft dehnte sich bis zu einem umgekehrten Horizont, der sich nach oben wölbte, wo er hätte absinken müssen. Die Längsachse der Kolonie war auf die Sonne gerichtet, und das von gewalti gen Spiegeln gefilterte und reflektierte Sonnenlicht fiel durch kreisrunde Fenster am sonnenseitigen Ende des abgeflachten Sphäroids herein und wurde von weiteren Spiegeln am ande ren Ende durch ›Rückfenster‹ zurückgeworfen. Die Hülle schwerer Gase, die von der Eisader-Station künstlich um die Kolonie herum aufrechterhalten wurde, gab dem Licht ab und zu eine rötliche Färbung. Kurz vor Baubeginn der Kolonie
hatte UNIC – der Industrierat der Vereinten Nationen – eine Reihe von Teams in den Asteroidengürtel geschickt, wo Tele skope auf Satelliten im hohen Orbit riesige Klumpen gefrore ner Gase entdeckt hatten; die ›Adern‹ sahen wie riesige Glas murmeln aus, waren in Wirklichkeit jedoch eher so etwas wie interstellare Eisberge. Eine Reihe von Bergbauteams in Raum schiffen der UNIC hatten mit Hilfe der gelenkten Kraft nu kleare Sprengladungen eine Wagnerianische Prozession zehn Meilen dicker Klumpen aus gefrorenem Gas auf den Weg zu einen synchronen Orbit mit der langsam wachsenden Hülle der Kolonie geschickt. Dann bauten sie Fabriken auf die gefro renen Asteroiden, luftdichte Werke, die sich in die kristalline Oberfläche gruben, das Eis in Gas verwandelten, es impften, um die Energieabsorption zu erhöhen, und es mittels elektro magnetischer Felder zur Kolonie beförderten, wo es eine Schutzhülle bildete. Ihr einziger Zweck war das Filtern – sie filterte den Sonnenwind, verringerte die kosmische Strahlung und machte es möglich, daß Menschen in der Kolonie leben konnten, ohne zu erstickend dicken Schichten stark isolieren der Materialien greifen zu müssen. Aus dem All kam ein Kometenschweif aus Gasen, die langsam von den EisaderStationen ausgestoßen wurden, legte sich farbenprächtig schillernd um die Raumstation, so daß sie aussah wie ein planetengroßer himmlischer Tropenfisch, der gerade blitz schnell in die Tiefe tauchen will. Die Kolonie drehte sich alle fünf Minuten einmal um die eigene Achse und erzeugte auf diese Weise eine schwache künstliche Schwerkraft. Hier auf dem Hügel war sie etwas geringer als am Seeufer dreißig Meter unter ihnen. Oben verschwamm das Land hinter hauchzarten Wolken, das Land, das … über ihnen war.
Zur Sonnenseite hin, im willkürlich festgelegten Süden, er zeugte der Unterschied in der atmosphärischen Strömung zwischen den inneren und den äußeren Luftschichten den Effekt eines Hurrikanauges; dort bildeten sich Wolkenspiralen und zerrissen wieder. Vom Hinsehen konnte einem schwind lig werden. Man bekam das Gefühl, zu fallen – nach oben. Wenn man nach ›Osten‹ und ›Westen‹ schaute, fiel der Blick auf eine Szenerie braungrüner Landschaften, die sich hoch wölbten und wie eine niemals brechende Flutwelle aus Erde in sich selbst zurückrollten; die Landschaft war in unregelmäßi gen Abständen von den zentralen Wohnsiedlungen der Kolo nie gesprenkelt. Claire und ihre Klasse saßen auf einer Lichtung direkt über dem Kaktusgarten, zwischen den exzentrischen Formen grau grüner Wolfsmilchgewächse und limonengrüner Sukkulenten. Die Kinder trugen ihre Schuloveralls, aber an den Kleidern klebten und steckten Bänder, Abzeichen der Arbeitssektion ihrer Eltern und Viddyprogramm-Logos, wie es in der techni schen Sektion Tradition war. Die Aufklebermode hatte etwas von Bandenemblemen, eine Ähnlichkeit, die Claire nervös machte. Der populärste Aufkleber warb für Grommet den Gremlin. Grommet war ein Zeichentrickmonster, ein süßes Monster, um Himmels willen, das immer schwachsinnig kicherte, während es die Drähte herauszog, die die Lebenser haltungssysteme in Gang hielten, wenn man es nicht mit Zugriffskredit für Süßigkeitenrationen fütterte. Sein Glubsch augengesicht mit dem Mund, der wie der Schlitz eines Disket tenlaufwerks aussah, grinste idiotisch von den Aufklebern auf den Schultern von elf der zwölf Kinder. Claire Rimpler trug einen weißen Technicki-Overall, eine Art sozialer Tarnkleidung. Aber sie gehörte zu Admin, der
Kolonieverwaltung, und unterrichtete die Kinder auf freiwilli ger Basis – naja, in Wirklichkeit im Rahmen des Programms ihres Vaters, die Beziehungen zwischen Admin und den Technickis zu verbessern. Das tat sie bereits seit zwei Wochen, und sie hatte es jeden einzelnen der vierzehn Tage bereut. Claire war einundzwanzig, sah aber wie sechzehn aus, wenn sie lächelte. Sie war klein und zierlich, und hatte eine leicht rosige Gesichtsfarbe, und ihr weich aussehendes kasta nienbraunes Haar war so kurz wie das eines EVA *-Arbeiters. Ihre Lippen waren eine Spur zu breit für ihr Puppengesicht. Die Augen waren schwarzbraun und manchmal zu aus drucksvoll für die gebotene soziale Zurückhaltung. Ihre Au genbrauen waren ein bißchen zu dick, um feminin zu sein. Die Hände waren ein wenig lang und nervös, und sie hatte abge kaute Fingernägel. Ihre Brüste waren klein, mit ausgeprägten Spitzen. Aber das Ganze zusammen war viel attraktiver, als sie ahnte … Ihr kleiner Wuchs und ihr kindliches Gesicht verleitete die Leute dazu, Fügsamkeit von ihr zu erwarten. ›In Wahrheit ist Claire die Adminfrau ** schlechthin‹, hatte ihr Bruder Terry über sie gesagt. ›Sie befiehlt so selbstverständ lich, wie ein Technicki widerspricht.‹ Ihr Vater hatte Terry wegen seiner ›klassistischen‹ Bemerkungen über Technickis die Leviten gelesen. Nein, sie war nie gefügig gewesen. Aber es hatte Zeiten ge geben, wo sie passiv und nach innen gewandt gewesen war – vor dem Tod ihres Bruders. Bevor Terry bei der dritten EVAKatastrophe zu einer Zahl in einer Statistik geworden war. Vor Abk. für Extra-Vehicular Activity; Aktivitäten außerhalb des Raumfahr
zeugs. Anm. d. Übers.
** Angehörige der Verwaltung resp. Regierung (Administration). – Anm. d.
Übers.
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zwei Jahren hatte ihr Bruder ein Außenbordteam von Tech nickis beim Bau der Sektion D beauftragt, dem der Erde zu gewandten Ende des Zylinders. Ein EVA-Modul war zu nahe an einen mit der Station verbundenen Satelliten herangetrie ben. Eins der Landebeine des Moduls hatte das Kabel des Kommunikationssatelliten durchtrennt, so daß der Satellit in eine Gruppe Bauarbeiter auf der Außenhülle der D-Sek getru delt war und zwei getroffen hatte. Diese hatten sich über schlagen und ihrerseits zwei weitere mitgerissen, ein schwere loser Dominoeffekt. bei dem einunddreißig Mann ins All hinausgewirbelt waren, die meisten davon mit zerrissenen Anzügen. Nur einer von ihnen war lebendig zurückgeholt worden. Sechs hatte man überhaupt nicht mehr gefunden. Der öffentliche Druck auf UNIC hätte fast dazu geführt, daß die Finanzierung der Kolonie eingestellt worden wäre. Claires Vater hatte versucht, als Vorsitzender des Kolonie-Komitees und Planungschef zurückzutreten. Neue Geldmittel waren von UNIC-Mitgliedern aus der Spitzengruppe bestimmter Großinvestoren gekommen. Zum Beispiel von der Second Alliance, der SA … Rimpler war überredet worden, wieder an die Arbeit zu gehen. Aber er war nicht mehr derselbe gewe sen. Er weigerte sich, aus den Bullaugen ins All hinauszu schauen; er hatte Angst, daß er da draußen Terry sehen wür de. Terry, der aufs Glas zuschwebte und ihn anklagend an schaute. Und Claire war danach anders geworden. Die gelegentli chen passiven Stimmungen traten nie wieder auf. Sie gab der Laxheit von Admin die Schuld an Terrys Tod. Das bedeutete, daß sie in die Kolonieverwaltung eintreten mußte, um die Dinge in Ordnung zu bringen. Und jetzt war sie eine Admin. Nahezu mit Leib und Seele.
Claire hatte den Kindern erklärt, warum das Land über ihnen nicht auf sie herunterfallen würde und warum sie, wenn sie geradeaus nach Osten gingen, schließlich wieder aus Westen zu der Stelle zurückkommen würden, von der aus sie aufge brochen waren. Die Kinder ließen das alles geduldig über sich ergehen, außer Anthony natürlich, der die ganze Zeit über ostentativ eine Syntharette rauchte, dabei hoffte, daß sie ihn deswegen tadeln würde, und enttäuscht war, wenn sie sich angelegentlich weigerte, auf dieses Spiel einzugehen. Zu Mittag gab es ausgepreßten Fruchtsaft aus Produkten, die in den Agribehältern der Kolonie angebaut wurden, dazu Sandwiches mit Sojabutter und Marmelade. Als sie fertig waren, sagte Claire: »Wir müssen bald zurück. Also wenn noch jemand irgendwelche Fragen hat …?« Chloe hob eine ihrer kleinen schwarzen Hände und fragte: »Wansense ferminristvon?« Sie zeigte zum arbiträren Norden, dem inneren Teil der von der Sonne abgewandten Seite der Kugel. Dort sah das Land zwischen den spärlichen Gebieten mit fertiggestellten Siedlungen scheckig aus; an manchen Stellen war es braun und gelb, und nacktes blaues Metall lag offen zutage. »Zuerst mal«, ermahnte sie Claire, »stellst du die Frage bitte auf Standard-Englisch. Ihr seid nicht hier, um Technick inglisch zu lernen.« Chloe seufzte und begann mühsam: »Wann … sie sind …« »Wann sind sie.« Das kleine Mädchen gab einen frustrierten Laut von sich und fuhr fort: »Wann sind sie … mit dem … dem Rist – nein, dem Rest davon … fertig?« »Gut! Um deine Frage zu beantworten, die Kolonie ist un
gefähr zu zwei Dritteln fertig. Vielleicht noch fünf Jahre, dann haben wir’s geschafft.« »Aber wer wird in dem neuen Teil wohnen, wenn er fertig ist?« fragte Anthony abrupt und zeigte, daß er das StandardEnglisch beherrschte. Sie hatte mit der Frage gerechnet. Und sie spürte, daß sich ihre Aufmerksamkeit plötzlich von geflüsterten Witzen, Geki cher, Gestichel und Gemecker auf sie verlagert hatte. Jetzt, jetzt hörten sie zu. Vielleicht sollten wir sie erst dann auf solche Ausflüge mit nehmen, wenn wir sie aus den Wohnheimen rauslassen kön nen, dachte sie. Vielleicht frustriert sie das nur. »Jeder wird hier wohnen können«, sagte Claire. »Jeder! Am Anfang wird man’s auslosen.« »Wer programmiert den Lotteriecomputer?« erkundigte sich Anthony, und sie fragte sich, ob er wirklich so altklug war oder ob ihn jemand präpariert hatte. »Der Computer wird von der Admin gestellt«, räumte sie ein, »aber es wird fair zugehen. Jeder wird eine Chance ha ben.« »Aber…« »So«, unterbrach sie, so fröhlich sie konnte, und stand auf. »Gehen wir in die Passage.« »Ich will da nicht hin«, sagte Anthony und schlug die Beine übereinander. Claire steckte einen Daumennagel zwischen die Zähne und begann daran zu kauen, erinnerte sich dann, daß die Kinder sie beobachteten, und zog ihn rasch weg, wobei sie mit einem anderen Finger dieser Hand auf Anthony zeigte. »Tony, hör mit diesem Spielchen auf. Du magst die Passage. Ganze Stun
den hast du dort verbracht. Du hast dich dauernd beschwert, wenn du hierher kommen solltest; du hast gesagt, du bekämst davon Kopfschmerzen. Also komm mir nicht mit diesen Ausflüchten, daß du nicht in die …« »Mir gefällt’s hier, und ich will hier bleiben.« »Anthony, wer hat dir…?« Und dann brach sie ab, als sie die Männer von TechniWave kommen sah. Jetzt verstand sie alles. Sie waren zu dritt. Einer mit dem Camcorder. Neben ihm ein Bursche, der so gelackt aussah, daß er der Sprecher sein mußte. Und ein dritter Typ, ein unbekannter Faktor, vielleicht der Mann, der diese Sache geplant hatte. Der Kameramann trug eine Schulterkamera mit Richtmi krophon, die aus einem Netzteil auf seinem Rücken mit Strom versorgt wurde, roboterhafter Kopf auf seiner Schulter. Er war im Stil der TV-Crews angezogen, der sich über Generationen hinweg etabliert hatte: schäbig. Sie erkannte den Reporter jetzt. Es war Asheem Spengle. Er hatte die modische Irokesenfrisur mit den drei Finnen in den Technickifarben – Weiß, Silber und Gold – und trug dazu einen weißen Ich-bin-bloß-ein-ganz-normaler-Mensch-Overall. Er hatte regelmäßige Züge, war schlagfertig und eine mensch liche Null, und auch das hatte sich über Generationen hinweg etabliert. Der dritte Mann trug einen Flachanzug, bei dem Jackett, Weste und Krawatte falsch waren, nur Aufschläge und ein Krawattenknoten und das Vorderteil einer Weste, alles auf ein einteiliges Kleidungsstück aufgenäht. Er hatte scharfe Augen, und seine Lippen waren leicht gespitzt, so daß er ständig nachdenklich wirkte. Anthony sprang aufgeregt auf, als er sie sah. »Misser Bar
kin!« begann er. »Ich …« Der Mann im Flachanzug schüttelte den Kopf, lächelte An thony jedoch an, wobei er einen Überbiß zeigte. Anthony verstand den Hinweis und hielt den Mund. Der Reporter und der Kameramann blieben knapp zwei Meter vor Claire und der Klasse stehen; der Reporter trat vor die Kame ra, wandte sich ihr zu, wobei er Claire den Rücken zukehrte, und nickte. Der Kameramann hatte sein Gerät schon scharf eingestellt und wartete. Er hatte einen Schalter am Gürtel. An der Seite der kleinen Kamera leuchtete ein grünes Licht auf, und Spengle sagte: »Sndrausm Admin Park umit Adminlehrn Claire Rimplerndirn Schüln zsprechn …« Und so weiter. Wie betäubt und im Geist Wasser tretend hörte Claire zu und übersetzte für sich: Wir sind draußen im Admin Park, um mit der Admin-Lehrerin Claire Rimpler und ihren Schülern zu sprechen. Wir wollen ihre Reaktion auf einen Vorfall hören, der sich unseren Informationen zufolge hier ereignet hat… Soll ich einfach weggehen? fragte sich Claire. Das könnte uns in ein ziemlich schlechtes Licht rücken. Und ich bin für die Kinder verantwortlich. Wenn ich einfach gehe … Vielleicht kann ich es umdrehen und zu unserem Vorteil nutzen. Sonst zitieren sie einfach Anthony. Oder denjenigen, der ihn präpa riert hat. Dann kam jedoch der Gegengedanke: Andererseits – wenn ich mit ihnen rede, werden sie meine Aussage redigieren, damit es so aussieht, wie sie es haben wollen … Aber dann drehte sich Spengle zu ihr um und stellte ihr ei ne Frage. Die Kamera war auf sie gerichtet. Seine Frage war auf Band aufgenommen worden, Claires Antwort würde ebenfalls auf
Band aufgenommen werden – auf ein Band, das für eine an die ganze Technicki-Bevölkerung der Kolonie gerichtete TechniWave-Sendung bearbeitet werden würde. In der Übersetzung aus dem Technicki: Claire: Wenn Sie mit mir reden wollen, muß ich wissen, ob das live ist oder ob es auf Band aufgenommen wird. Spengle: Wir nehmen es auf, Miss Rimpler. Claire: Ich habe zwei Jahre Kommunikation studiert, und ich kenne dieses Gerät; es kann senden. Wenn Sie das hier live bringen, so daß ich mich ohne redaktionelle Bearbeitung äußern kann, werde ich mich einem Interview stellen. Sonst kann ich nicht sicher sein, daß ich eine faire Gelegenheit be komme, zu antworten. Spengle: Ich kann nicht garantieren … Claire: Dann kann ich keine Fragen beantworten. Das ist nicht fair. Spengle beriet sich mit dem Flachanzug. Claire nutzte die Verzögerung, um Admin über ihr Fon an zurufen. Sie erklärte Judy Assavickian bei Central Telecast die Situation. »Sieh dir bloß die Sendung an, Judy. Ruf mich an, wenn sie nicht live rausgeht.« »Alles klar.« Claire steckte das Fon wieder in ihren Rucksack und drehte sich zu Spengle um. »Miss Rimpler«, sagte Spengle, »wir werden in ein oder zwei Minuten live auf Sendung gehen. In der Zwischenzeit …« Er sah die kleine Schar von Kindern an, die das Geschehen mit offenem Mund und verständnislosen Blicken verfolgten.
»Ich habe gehört, daß sich hier jemand geweigert hat, ins Wohnheim zurückzugehen.« »Anthony!« kam es im Chor. »Dassis Anthony!« »Das müssen Sie doch schon längst wissen, Spengle«, sagte Claire. »Ihre Leute haben es doch …« Anthony unterbrach sie, indem er zu Spengle trat und sich dabei halb umdrehte, so daß die Kamera ihn deutlich erfassen konnte. Er war gut trainiert. Ein fingerlanges Richtmikrophon unten an der Kamera schwenkte zwischen Spengle und Anthony hin und her, während sie redeten. »Wir sind live drauf«, sagte der Kameramann und drückte den Ohrstöpsel seines Kopfhörers fest ins Ohr. Spengle nickte, wiederholte sein vorheriges Spiel und bück te sich, um Anthony zu interviewen. In Technicki: »Dein Name ist Anthony Fiorello?« »Das stimmt.« »Du bist eins der Kinder, die sich weigern, in die Wohn heime zurückzugehen …« »Hier weigert sich nur einer!« fiel ihm Claire ins Wort. Spengle ignorierte sie. Und wahrscheinlich nahm das Mikro phon es nicht auf. »Warum tut ihr das, Anthony?« »Da ist es so voll und es stinkt und ich bin genausogut wie die Admin-Leute, und warum darf ich dann nicht im Zentrum mit den Parks wohnen, wo es schön ist, so wie die Admins?« Nur eine Spur mechanisch, ein Hinweis darauf, daß er es auswendig gelernt hatte. »Anthony… wie viele Menschen leben in der Kolonie?
Weißt du das?« »Klar, das haben wir gelernt. Ungefähr zehntausend.« »Und wie viele davon wohnen im Zentrum, in den schönen Wohnheimen oder im Freigelände?« »Tausend.« »Stört dich an der Sache noch etwas, Anthony?« »Naja, ich bin hier rausgekommen, und es sieht alles so leer aus! Da unten sind ein paar Häuser, aber die sind weit weg! Hier ist doch Platz für Techniker und Wartungsleute.« Claire hatte die Nase voll. »Wenn Sie mich interviewen wol len, dann jetzt. Ich muß zurück zur Admin-Zen«, rief sie laut. »Kommt, Kinder! Beeilt euch! Wir müssen gehen.« Ein paar von ihnen bewegten sich, andere blieben stehen und starrten den Kameramann an, hypnotisiert von dem technischen Totem auf seiner Schulter. Die Reporter hatten ihre Autorität über die Kinder an sich gerissen, erkannte sie. Und das war ein schlechtes Omen. »Miss Rimpler«, sagte Spengle, »hat gerade gesagt, daß sie keine Zeit hat, mit uns zu reden.« Eine sarkastische Betonung auf ›keine Zeit‹. »Also müssen wir zu dir in die Zentrale von Techniwave zurückgeben, Ben …« »Das ist nicht wahr!« schrie Claire und rannte zur Kamera. »Das hab ich nicht gesagt! Ich hab ihm gesagt, er soll sich beeilen, sonst nichts …« Und dann hörte sie auf zu reden, hörte einfach auf und kam sich albern vor, als sie merkte, daß das Licht an der Kamera aus war, daß sie nicht mehr sendete, und zwar schon eine ganze Weile nicht mehr. Und Spengle hatte ihr einfach den Rücken zugedreht und ging davon, in eine private, leise Unterhaltung mit dem Flach anzug vertieft.
Eine halbe Stunde später stand Claire allein auf dem Bahnsteig der Haltestelle im Park und sah dem Wagen nach, der auf der Achsenlinie herangekommen war, um die Kinder in die Wohnheime zurückzubringen. Sie sah zu, wie er kleiner wur de, als er die Kinder zum Nordende der Kolonie beförderte, zu den Wohnheimen und dem nicht fertiggestellten Gebiet, während sie auf den Zug wartete, der sie zum arbiträren Süden bringen würde. Sie haßte den grellen Symbolismus dieses Augenblicks. An einem Nagel kauend dachte sie daran, daß Anthony das Interesse am Wohnheimboykott verloren hatte, sobald die Kamera fort war. Er war als erster im Zug gewesen; hatte es gar nicht erwarten können, zu den Passagen zu kommen. Sie war zur Station Richtung Süden hinübergegangen, stand da und schaute zu den riesigen, retinaartigen Fenstern über Admin-Zen. Ein Ring aus Grün umgab die Fenster. Im Innern des Rings stieg Nebel in weichen Spiralen auf und brach das Licht zu matten Regenbögen. Es war still im Park land; eine sanfte, künstliche Brise roch nach Vegetation und nur schwach nach gefilterter Luft, und einen Moment lang sah der Ort wie das Paradies aus, das er hatte sein sollen. Aber dann veränderte sich die Brise, und ihr stieg der Schmutzsok kengestank des überlasteten Luftaufbereiters der Wohnheime in die Nase. Das Paradies war verschwunden. Paradiese waren schon immer eine fragile Sache gewesen. »Japanische Touristen ändern sich nie«, stellte Samson Molt fest. »Die Japaner wahren ihre Traditionen. Ihre Teerituale, ihre Sushischulen, ihre Eßstäbchen und diese japanischen Verpackungen. Und ihr Verhalten im Ausland ist immer das
gleiche. Seit meiner Kindheit hat sich da nichts daran geän dert. Könnte fast dieselbe Reisegruppe sein, die ich als kleiner Junge in New York gesehen hab.« Samson Molt und Joe Bonham saßen gemütlich an einem ›Tisch im Freien‹ am südlichen Ende der Passage. Die sechs Clubs, zwei Videotheken, eine Handvoll Boutiquen und zwei Cafés waren ›Der Strip‹, jener Bereich der Kolonie, bei dem man noch am ehesten von einem offiziellen Nachtleben spre chen konnte. Molt und Bonham zogen das inoffizielle Nacht leben vor. Aber das ging erst in ein paar Stunden los, am Ende der dritten Schicht, wenn die meisten Arbeiter der B-Sektion frei hatten und Kred ausgeben konnten. Die Touristengruppe bestand aus acht für Molts Augen na hezu identischen Japanern mit den modischen um die Stirn gebundenen Kameras. Die ferngesteuerte Scharfeinstellung jeder Kamera war über das rechte Auge heruntergeklappt und verwandelte die Augenhöhle in etwas Reptilienhaftes. Sie trugen einteilige japanische Action-Anzüge, kurz JAAs ge nannt, aus weichem Material in geschmackvollen, leuchtenden Pastellfarben mit Klettverschlüssen. Sie schwatzten und zeig ten mit den Fingern und spannten die Wangenmuskeln, damit die Stirnbandkameras Bilder schossen. Jeder Halt in der Pas sage war eine wahre Orgie von Du-machst-ein-Bild-von-mir und-ich-von-dir, wobei sie wechselseitig Filmkapseln aus tauschten und sich vor allem in Pose stellten, so daß die Hälfte der Fotomotive von ihren Körpern verdeckt wurde. Molt fragte sich, welche von ihnen Industriespione waren. Ihre Führerin war eine hochgewachsene, zurückhaltende Schwarze, die sich tapfer bemühte, ein interessiertes Gesicht zu machen, während sie ihren Text herunterleierte: »… es
dauerte vierundzwanzig Jahre, bis in der Kolonie elementare Lebensbedingungen für nicht-astronautisches Personal vor handen waren …« Blabla »… es begann 1990 …« Blabla »… im Besitz von UNIC, dem Industrierat der Vereinten Nationen, und fünf großen internationalen Konzernen, die ihre Mittel zusammenlegten, um mit den Vereinten Nationen ein gemein sames Finanzierungsprogramm auf die Beine zu stellen …« Blabla »… Die Kolonie stellt Güter her, die nur bei Null schwerkraft oder geringer Gravitation gefertigt werden kön nen, und bedient auch die erste einer Kette interplanetarer Sonnenenergiestationen, die Sonnenenergie aufnehmen und in Mikrowellen umwandeln, die dann zu Empfangsstationen in der Gobi oder der Mojave-Wüste geschickt werden…« Blabla »Obwohl UNIC immer noch in den roten Zahlen ist, geht der Rat davon aus, daß er nächstes Jahr die Gewinnschwelle erreicht und im Jahr darauf erstmals Profite macht… Wir beginnen unsere Tour in der Passage, weil sie die Ankunfts halle für Touristen mit dem Freigelände der Kolonie verbin det, dem Parkgebiet, das, wie Sie gleich sehen werden, fast schon etwas Paradiesisches hat…« Blabla. Die Touristen trotteten knipsend und schwatzend weiter, und ohne den Glanz ihrer Begeisterung war der Strip wieder er selbst. Wie die meisten Korridorbereiche der Kolonie wirkte er verbrauchter, abgenutzter, mitgenommener und schmieri ger als Dinge auf der Erde, obwohl er erst vor ein paar Jahren erbaut worden war. Das überraschte die Besucher immer wieder. Sie erwarteten den makellosen Glanz einer Chipklinik auf dem neuesten Stand der Technik. Aber die Kolonie war fast ein geschlossenes System. Und das Auswechseln irgend welcher Teile oder ein neuer Anstrich war hier teuer … Und jetzt ähnelte der Strip einem seit drei Generationen
weitergereichten Spielzeug in einem schäbigen Kindergarten. Seine Farben waren verblaßt oder von der allzu häufigen Berührung fettiger Finger verschmiert. Er war wie ein längst heruntergekommener Rummelplatz an der See. Gegenüber vom Café Crème, das im französischen Stil gehalten war, befand sich die weiße, seemuschelförmige Metallmarkise des Captain Halfgee-Clubs. Weiche Lichter, die sich fortwährend bewegten, schimmerten hinter den Meer jungfrauen, die auf seine Plastexfenster gemalt waren. Zwei Gäste kamen heraus. An ihren Körpern rann immer noch chloriertes Wasser herunter. Sie hatten Handtücher über die Schultern geschlungen und hielten Plastikbecher mit Drinks in den Händen. Die teflonbeschichtete ›Straße‹ war nur neun Meter breit und schmutzig; die Decke sechs Meter darüber – ungewöhn lich hoch für einen Korridor der Kolonie – war blau. Da und dort waren flockige Wolken aufgemalt. Sie sahen aus, als ob sie eine Wäsche mit einem Bleichmittel nötig hätten. Molts Blick schweifte über die Straße zu dem einen von Admin konzessionierten Kasino, wo sich eine Menschenmen ge sammelte. Er erwog, hinzugehen und Blackjack zu spielen. Aber niemand durfte im Kasino mehr als zehn Neudollar verlieren oder mehr als zwanzig gewinnen, und in Molts Augen konnte man als Spieler unmöglich richtig ins Schwitzen kommen, wenn die Einsätze so niedrig waren. Die anderen Clubs und Cafés waren mit bunten, knalligen, veralteten Zirkusfarben abgesetzt und mit blinkenden Neon lichtern geschmückt, aber sie wurden alle von Admin betrie ben; für Molt sah das Ganze wie eine Miniaturkulisse für Kinder aus, wie eine Nikolausstraße aus dem Kaufhaus.
»Schaut nur, wie die Scheiß-Elfen Spielsachen machen«, murmelte er. Selbst der Pornoshop auf dem Strip war ent schärft, alles nur Softpornos, und dazu noch widerlich gut fotografiert. Geschmackvoll. Brachte echt nicht viel Spaß. Er zündete sich eine Syntharette an, nicht weil er wirklich eine rauchen wollte, sondern weil das hier einer der wenigen Bereiche in der Kolonie war, wo man rauchen durfte. Und weil es sonst nichts zu tun gab. Einfach gar nichts, verdammte Scheiße! Molt war ein schwerer Mann mit ziegelrotem Gesicht, scharfen blauen Augen und einem rostroten Wuschelkopf. Er stützte beide Ellbogen auf den Plastiktisch und hielt den Becher mit dreiprozentigem Bier in beiden Händen. Seine Syntharette mit dem braunen Papier, die zwischen Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand hervorstand, sah wie ein Kamin auf dem Ruderhaus des weißen Bechers aus, dachte er. Vor Jahren hatte er Boote über den Hudson River gelotst, als sie noch mit menschlichen Lotsen gearbeitet hatten. Zwanzig Jahre war das her; damals war er einundzwanzig gewesen. Jetzt war er weit davon entfernt, irgend etwas irgendwohin zu lotsen. Er trug echte, ausgewaschene Levi’s und einen stumpf gelben Pullover aus echter Wolle mit Löchern an den Ellbogen und den Schulternähten. Bonham – ein Mann mit traurigem Blick, sich lichtendem braunen Haar und einer langen Nase – trug eine zweiteilige graue Pilotenuniform ohne Abzeichen. Die kurze Jacke spannte sich straff um seine breite, flache Brust. Er war kein Pilot; aus diesem Grund hatte er auch keine Abzeichen an der Uniform. Sie war reine Angabe. Wie Molt war auch Bonham Copilot, was sie beide zu Mitgliedern der Technikergewerkschaft machte. Sie hatten jedoch beide zwei Jahre auf dem College absolviert und blickten in sozialer
Hinsicht auf Technickis hinab. Aber … aber beide Männer waren Marxisten und betrachteten die Technickis im abstrak ten politischen Sinn als Arbeitskollegen. Bonham hatte so eine Art, wie ein Radio mit einem defekten Frequenzmodulator in Unterhaltungen einzusteigen und sich wieder auszuschalten. Er konnte abwechselnd verträumt und gleich darauf diamanthart analytisch sein. Er saß zurückge lehnt in seinem Stuhl, spielte mit einer Hand an einem leeren Glas herum und war mit den Gedanken ganz woanders. »Bonham«, sagte Molt, beugte sich dabei etwas vor und senkte bedeutungsvoll die Stimme. Wollen wir zu diesem Club, den sie draußen im Freigelände haben?« Bonham starrte mit glasigem Blick zu einer schmutzigen Wolke an der Decke hinauf. »Joe, verdammt!« sagte Molt scharf. Joe riß sich von der Wolke los und senkte den Blick. »Ja, ich hab dich gehört. Japanische Touristen. Echte Nervensägen.« »Ich hab dich gefragt, ob wir in den Club draußen im Frei gelände wollen!« »In die Taverne im Grünen? Draußen im AdminFreigelände? Weißt du, was sie da für Preise haben? Drei Dollar für ‘n Becher Tee.« »Ja? Es ist bloß – ich war da noch nie. Aber jetzt, wo du’s sagst – das ist mir zu teuer. Vergiß es!« »Die Preise sind natürlich ‘ne Methode, dafür zu sorgen, daß der Laden exklusiv bleibt, daß die Techniker und War tungsleute nicht reinkommen. Ich finde, wir tun das Geld raus und lassen uns da mal sehen, ‘n Statement, Mann.« »Lohnt sich doch nicht.«
»Dabei geht’s ums Prinzip.« »Prinzipien kann ich mir nicht leisten. Und ich bin in der Probezeit. Wenn du dich vollaufen läßt und anfängst, Reden zu schwingen, und wir dann mit dem Sicherheitsdienst zu sammenrasseln …« Er schüttelte trübselig den Kopf. »Hey Joe – diese neuen Sicherheitsbullen, die sie da haben, sind fies. Scheiß drauf, laß uns warten, bis die Kaschemmen aufmachen. Dann kannst du ‘n bißchen echte Kohle auf den Kopf hauen und dir was zu trinken besorgen, was richtig reinknallt – bis es dir schlecht wird, wie sich’s für ‘n Mann gehört. Sowas muß drin sein.« Bonham nickte. »Da ist was dran …« Das Gespräch und der Ort waren ganz normal, und das war okay; sie hatten zwischen zwei langen Dienstperioden eine Woche frei, und sie konnten alles ganz lässig angehen. Die Woche brauchte nicht so schnell rumzugehen wie sonst, wenn sie aufpaßten. Aber in zwanzig Minuten würde sich dann alles ändern. »Hast du die neue Sache mit dieser Admintante mitge kriegt?« fragte Bonham. »Eine Tante nach der anderen. Erstmal besuch ich …« »Kelly? Die kostet mehr, als sie wert ist, Molt.« »Sie steht auf mich.« »Huren tun nur so, als ob, Molt, das ist alles. Sie versichern dir, daß du der einzige bist, der’s ihnen so richtig besorgt. Die sind erstklassige Schauspielerinnen, die nur ‘ne einzige Rolle draufhaben: Beim Vögeln eine Show abzuziehen. Versuch nicht, mir zu erzählen, daß sie bei dir gekommen ist…« So redeten sie eine Weile weiter. Keiner von ihnen war da
bei voll bei der Sache. Und in fünfzehn Minuten würde sich alles ändern. »Also, was hast du nun in den Nachrichten gesehen?« frag te Molt schließlich. »Rimplers Tochter. Süßes kleines Ding, aber ‘n richtiger Kühlschrank, hab ich gehört. Sie ist mit ‘n paar Technigören ins Freigelände rausgegangen, und eins hat sich geweigert, zurückzukommen, und ‘n großen Vortrag gehalten, daß sie um ihren gerechten Anteil am Freigelände betrogen würden. Spengle hat sie hingestellt wie …« »Ja. Ja, hab ich von gehört. Im Shuttle hatte jemand ‘n trag bares Gerät, und – ja die Technickis im Shuttle saßen wie angewachsen vor dem Kasten, Mann.« »Cleverer Schachzug, wer immer das ausgeheckt hat«, sann Bonham. »Morgen ist ‘ne Protestversammlung. Willst du mitkommen?« »Vielleicht. Aber … Himmel noch mal, du weißt ja …« Die beiden Männer wechselten mitleidige Blicke und seufzten. Sie würden bei der Demonstration von Technikern umgeben sein, die Technicki quasselten. Aber sie hatten schließlich ihre Prinzipien. Sie waren Marxisten. Molt zuckte die Achseln. »Wo läuft die Sache?« »Korridor D-fünf.« »Ja, okay. Was soll’s?« Er schaute auf die Uhr. »Gehen wir zu Bitchie’s, die haben wahrscheinlich noch ‘ne Weile offen. …« »Denkst du eigentlich nie an was anderes? Paß auf, hast du von den SWS-Werten für die Wohnheimsektionen gehört?« »Den was? Oh. Nein. Was ist damit?«
SWS – das Sonnenwindschild. Die atmosphärische Hülle, die bei der Eisader-Station zwischen der Kolonie und der Sonne erzeugt wurde, um die gefährlichere Sonnenstrahlung herauszufiltern. Die Gerüchte wollten nicht verstummen, daß die Admin-Crews es unterließen, das Regulierungsfeld des Schildes auch über der Technicki-Sektion der Kolonie kontinu ierlich aufrechtzuerhalten. Daß ihnen das Krebsrisiko für die Technickis egal war. »Die Werte gingen gegen Null. Da ist ungefähr so viel Feld, wie meine Mutter Hoden hat.« »Da hab ich so meine Zweifel. Das Feld muß gleichförmig sein, um bei der Kolonie zu wirken.« Die nächsten zehn Minuten diskutierten sie über politische Probleme der Kolonie. Molt war die Stimme der Mäßigung. Der Sozialdemokrat im Vergleich zu Bonhams Trotzkismus. Zumindest so lange, bis er wütend wurde und Gewalt witter te. Aber im Moment war er so ruhig wie eine Bombe vor der Explosion. In fünf Minuten würde alles anders sein. Carla, die Kellnerin, schlenderte an den Tischen vorbei und sammelte gähnend Gläser ein. Sie war eine grobschlächtige, gebleichte Blondine mit der Tätowierung einer Reservatbe wohnerin, die durch ihr Bodystocking halb zu sehen war. Molt und Bonham schäkerten vier Minuten lang mit ihr herum. In einer Minuten würde alles anders sein. Carla ging hinein, um noch zwei leichte Biere herauszu bringen. Eine Minute später kam sie ohne das Bier zurück, die Hand vor den Mund geschlagen. »Was ist denn?« fragte Bonham. »Was ist los, Carla?« fragte Molt. Ihre Fragen vermischten sich.
Sie sah sie mit einem schmerzerfüllten Blick in den blutun terlaufenen blauen Augen an, und ihr Gesicht war noch blas ser als sonst. Sie murmelte etwas durch die Hand. Molt bekam es mit der Angst, als ihm klar wurde, was das bedeuten konnte. Er zog ihr gereizt die Hand vor dem Mund weg und sagte: »Verdammt noch mal, Carla, raus damit!« »Die Sowjets. Ich hab’s gerade im Fernsehen gehört!« »Was ist mit den Sowjets?« fragte Molt und dachte: O Scheiße, vielleicht haben sie jetzt doch noch die Große abge schossen. »Sie haben die Kolonie abgeriegelt. Haben Laserplattformen und Gefechtsstationen aktiviert … Die sind mit Schiffen da draußen … Sie wollen unsere Shuttles nicht durchlassen. Wir sind abgeschnitten.« Bonham war erschrocken, das sah man ihm an. Aber Molts Angst zerschmolz, und er erkannte, daß er darauf gewartet hatte. Er hatte etwas lange Zeit in sich hineingefressen. Dies bedeutete, daß er alles rauslassen konnte. Er konnte ein paar Arschlöcher umlegen … Denn jetzt war alles anders.
VIER DAS GEWITTER WAR WEITERGEZOGEN. Der Himmel hatte sich bis auf ein weichrandiges Wolkenband aufgeklärt und war hell blau vor der dunkelblauen Abenddämmerung. Smoke stand am Fenster, schaute zum Himmel hinauf und kniff die Augen zusammen, als er ein paar Einzelheiten der Kolonie zu erkennen versuchte; aber sie war nur ein blasser Schimmer, ein kurzer Markiererstrich 40 Grad über dem Horizont. »Das Ding da oben haben sie aus Asteroiden und Brocken vom Mond gemacht.« Die Worte waren an Richard Pryor gerichtet, und die Krähe legte den Kopf schief, als ob sie zuhörte. Smoke war dankbar. Selbstgespräche zu führen wirkte nicht ganz so würdelos, wenn man etwas – jemand – hatte, mit dem man nach außen hin redete. (Eine Krähe liegt zwischen etwas und jemand.) Würde. Ein abgehärmter, schmutziger, gebeugter, dürrer, bärtiger Mann, dessen schwarzer Bart mit den grauen Sträh nen verfilzt und dessen Blick aus den von blauen Feuern erhellten Augen zu intensiv war, dessen Hände immer leicht zitterten und so dreckig wie Rattenklauen waren. Und da reden wir von Würde? Aber Würde bedeutete Smoke alles. Hard-Eyes und Jenkins standen hinter Smoke. Sie hatten ihm den Rücken zugedreht und unterhielten sich mit Stein feld, Voortoven und Willow. Yukio war auch da, aber er beteiligte sich nicht am Gespräch. Smoke wußte jedoch, daß Yukio zuhörte.
Smoke bekam bruchstückhaft mit, wie Hard-Eyes und Steinfeld einander ins Verhör nahmen. Seine Aufmerksamkeit schweifte immer wieder ab. Er ließ den künstlichen Funken, der am blauschwarzen Himmel hing, nicht aus den Augen. (Draußen, direkt unterhalb des Fenstersimses, klebte das von Regenwasser glänzende ›Ei‹, das der Metallvogel tags zuvor dort angebracht hatte. Es sendete ein Signal mit dem Inhalt Sie sind jetzt in dem Zimmer…) Smoke schaute zum Himmel hinauf und hörte hin und wieder zu. »Kommen wir doch mal zum Wesentlichen«, sagte HardEyes gerade. »Wir kriegen nichts bezahlt, nicht mal nach der Revolution, falls die überhaupt jemals stattfindet.« »Keine Bezahlung, das stimmt. Aber ich habe nichts von einer Revolution gesagt. Wir sind keine Revolutionäre. Wir sind multinationale Partisanen. Wir wollen die Republiken wieder errichten, die es vor dem Krieg gegeben hat. Es liegt auf der Hand, daß die Voraussetzung dafür die Eliminierung der Zustände der Second Alliance ist…« »Eliminierung«, sagte Jenkins. »Das klingt so nett und sau ber.« Jenkins’ Sarkasmus hatte nichts subtiles. »Wieviel Mann, sagen Sie, hat die SA hier aufgeboten?« Steinfeld zögerte. Smoke konnte ihn nicht sehen, aber er kannte den Mann und seine Manierismen. Ein Bild entstand in seinem Kopf: der stämmige Steinfeld mit seinen müden Au gen, das lange, eisengraue Haar ordentlich in der Mitte ge scheitelt und hinten mit einem Stück Draht zusammengebun den; der schwarze Bart mit den weißen Streifen in der Mitte, so säuberlich abgesetzt, daß er fast wie gefärbt wirkte. Die
kurzen, stumpfen Finger erhoben und direkt über der zer kratzten Schreibtischplatte gespreizt, das sich vertiefende Delta feiner Linien an jedem Auge, als er sich auf seine Antwort konzentrierte. Sein unauslöschliches Sendungsbewußt sein, das ihn nie verließ, ganz gleich, was für Rückschläge und Niederlagen er bei seinen Operationen einstecken, welche Zickzackkurse er einschlagen und wie tief er sich ducken mußte. Wopp – die Hände klatschten flach auf den Schreib tisch, als Steinfeld erwiderte: »Eine halbe Million, heißt es. Und es werden noch mehr.« »Eine halbe Million. Die haben fünfhunderttausend Mann in Europa«, sagte Jenkins mit theatralischer Ungläubigkeit. Steinfeld fuhr fort, die nicht gestellte Frage zu beantworten, die in der Luft hing. »Und die NR könnte alles in allem fünf tausend aufbieten, wenn wir Splittergruppen und Minipartei en mitrechnen. Aber an dieser Widerstandsfront hier greifen wir sie nicht direkt an. Wir machen Sabotageaktionen, führen Guerillaangriffe auf ihre Flanken durch und bringen ihnen eine Menge kleiner Wunden bei, bis sie vom Blutverlust ge schwächt werden.« »Noch mal zurück zu dem Teil mit ›dieser Front hier‹«, sag te Hard-Eyes. »Was ist die andere Front?« »Beistandsverhandlungen. Mit den Japanern. Und anderen. Wir arbeiten dran.« »Was ist mit den Vereinigten Staaten?« fragte Jenkins. »Das soll wohl ‘n beknackter Witz sein, oder was«, sagte Willow. Willow – in olivbraunem Drillich, zerfallenden Ten nisschuhen und mit einem gestohlenen AK-49-Sturmgewehr auf dem Schoß. Dürr wie ein Besenstiel, farbloser Haarschopf, ein Bart, der zu einem uralten chinesischen Kaiser gepaßt
hätte, schlechte Zähne – abgebrochen, geschwärzt und mit einem Belag drauf – ein lakonischer Typ mit monotoner Sprechweise, dem britischen Genöle. »Die Scheiß-Yanks lutschn den Scheiß-Nazis doch ein’ ab.« Er sprach es Nässies aus. »Die finden’s gut, wenn die Faschos ans Ruder kommen – entweder die oder die Kommies, so sehnse das. Un’ die Fa schos ham ihnen dicke Geschäfte versprochen.« »Das alles …« Steinfeld legte den Kopf in den Nacken, so daß sein Bart zur Decke wies. So sah es Smoke vor sich (er beobachtete die ganze Zeit über die fast unmerkliche Bewe gung der Kolonie). »Das alles ist reine Vermutung, Willow. Aber ich glaube tatsächlich, daß sie zu irgendeiner Art von Verständigung gelangt sind.« »Glaub’s mir«, sagte Willow. »Sie ham vor, ‘s verdammte Westeuropa zwischen den Maklern der Macht aufzuteilen.« »Ich denk immer noch über ›keine Bezahlung‹ nach«, sagte Hard-Eyes ausdruckslos. »Woran glaubst du?« fragte Voortoven. Er war ein musku löser Mann mit breiter Brust, immer sauber. Lockige braune Haare. »Was?« fragte Hard-Eyes, ein bißchen verblüfft. »Glaubst du überhaupt an irgendwas? Willst du bloß Kohle, um dir durch Bestechung den Rückweg in die Staaten zu kaufen? Spielst den Rumtreiber, der sich in nichts reinziehen läßt? Oder bist du vielleicht ‘n Söldner?« »Wir sind nicht drüber erhaben, Söldner einzusetzen«, sagte Steinfeld ein bißchen hastig. »›Söldner‹ ist keine Beleidigung.« Voortoven schnaubte. Guter Cop, böser Cop. »Wir können nicht mit Geld bezahlen«, fuhr Steinfeld fort, »aber mit Waren und eventuell mit einem Transport.«
»Ich will wissen, woran er glaubt«, sagte Voortoven. Fünfundvierzig Sekunden Stille, als sie darauf warteten, daß sich Hard-Eyes erklärte. Schließlich sagte Hard-Eyes: »Wenn ich’s rausfinde, werd ich’s wissen.« »Es braucht Zeit, zu erkennen, was wir sind«, sagte Stein feld. Er war zur Hälfte Israeli mit einer langen Geschichte der Zugehörigkeit zu radikalen Bewegungen, aber mit dem Mar xismus war er nie so recht warm geworden. Man nahm an, daß er in Israel eine Familie hatte. Er hatte sie nie erwähnt, aber in seiner Brieftasche waren Bilder, die noch keiner aus der Nähe gesehen hatte. Und es hieß, daß er vom Mossad gelenkt wurde. Das hatte Hard-Eyes auch gehört. »Sie könnten sonstwer sein«, sagte er und sah Steinfeld an. »Ich könnte draufgehen, ohne je zu wissen, für wen ich gearbeitet hab. Für wen ich gestorben bin.« Diesmal blieb es volle siebzig Sekunden lang still. Dann meinte Jenkins: »Sie sagen, wir könnten als Söldner für euch arbeiten und dafür ‘nen Transport kriegen.« Smoke hörte für eine Weile nicht mehr zu. Er konzentrierte sich auf die Kolonie und sagte: »Richard, weißt du, wie viele Tonnen das Ding da oben wiegt? Mehr als die Membranen des Denkens tragen können.« Die Krähe schlug mit den Flügeln und grub an ihrer Brust nach einer Laus. »Du bist nicht beeindruckt? Krähen bringen glänzende Dinge in ihr Nest, Richard. Die Kolonie ist sowohl ein Nest als auch ein glänzendes Ding. Weißt du, wie viele Tonnen dieses Nest wiegt, Richard?«
Die Krähe schüttelte sich. »Ich auch nicht. Hunderttausende. Millionen. Angeblich machen sie’s immer noch größer. Da oben gibt’s keine Krähen …« Als er zur Kolonie hinaufblickte, zu der in den Himmel ge schleuderten Stadt, verspürte Smoke ein saugendes Schwin delgefühl. Er wandte den Blick ab und schaute zur Erde hin unter. Die Krähe und er sahen auf den in Trümmern liegenden Hafen und auf das Ijsselmeer dahinter hinaus, und Smoke hatte das seltsame Gefühl, an einem Ort zu sein, wo er hinge hörte, irgendwo eingekeilt außerhalb des Stroms der Zeit. Bei der Überschwemmung des Hafens waren die Docks und die Holzstege überflutet und halb an den schlammigen Fundamenten der Häuser zerschmettert worden; die Flut hatte Boote in enge Gassen gequetscht, hatte Lkws und andere Wagen in die neuen Behausungen von Tintenfischen und Seeanemonen verwandelt. Es gab einen von kreisendem fluoreszierenden Schaum gekennzeichneten Strudel, wo die abfließenden Strömungen aus den zu Flüssen gewordenen Straßen auf die andrängende Flut der See trafen. Der Ausblick aufs Meer vom Hafen aus wurde von halb gesunkenen Schif fen, Booten und Tankern versperrt, die den Grabsteinen in jenen ungepflegten Friedhöfen ähnelten, in denen die Monu mente schief aus dem Gras stehen. Da und dort, ein gutes Stück voneinander entfernt, war an zwei Stellen ein stumpfro tes Flackern zu sehen, wo Lagerfeuer Streben und Decksinstal lationen auf den hochragenden Aufbauten von zwei gesunke nen Schiffen beleuchteten; ein Besetzerpärchen hier und viel leicht drei Squatter dort hatten da draußen ihr Lager aufge schlagen und fühlten sich auf den Wracks relativ sicher, weil
sie zwischen sich und allem anderen eine weite Fläche kalten Seewassers wußten. Sicherer als in der Stadt, wo Plünderer auf den Dächern herumstrichen oder in Booten durch die engen, überfluteten Straßen skullten. Smokes Blick wurde von einer Bewegung angezogen. Hoch droben bewegte sich ein elektrisches Licht. Ein Flugzeug der Armee. Dort – über dem eingestürzten Dach des Speichers. Ein Jumpjet der US Air Force. Die Maschine schwebte in der Luft und tanzte auf und ab, etwas, wozu ein Düsenjäger nicht in der Lage sein sollte, fast wie ein Drachen. Ihr Suchstrahl blitzte hin und wieder auf und leuchtete in ein Fenster. Wir machen das hier lieber zu, bevor er uns bemerkt, dachte Smoke. Aber dann schwenkte der Jumpjet nach Osten ab und war verschwunden. Stimmengemurmel hinter ihm. Aber seine Aufmerksamkeit war nach draußen gerichtet, auf die Friedhofsstille des Hafens. Ein kalter Luftzug – zu langsam für eine Brise, eher ein Ein sickern als ein Wind – machte Smokes Nase und seine Wangen taub und ließ seine Ohren brennen. Der Luftzug trug den salzigen, fauligen Geruch des Ozeans heran – die Fäulnis des Ozeans war eine saubere Sache; komisch, daß es eine saubere Fäulnis geben konnte, aber in Abwesenheit des Menschen war es so –, außerdem einen Hauch von Öl und Holzrauch. Nebel begann hochzusteigen, schickte gespenstische Vorrei ter aus und ringelte sich zögernd um die Spatenformen eiser ner Schiffsrümpfe und die hölzernen Stümpfe von Masten, um die Kammlinien der Aufbauten von Schlachtschiffen und die Rahnocks von Segelschiffen. In den Schatten unter den Wracks sog das Meer alles Licht auf. Und dennoch regte sich dort
etwas; Smoke hatte ein fast unterbewußtes Gefühl von Bewe gung, als der Nebel sich kräuselte, die Schatten auszufüllen begann und sich windende Formen schuf, wo nichts sein sollte, bis Smoke schließlich die gespenstischen Gestalten von Männern und Frauen zu sehen glaubte, die in Zeitlupe durch Straßen rannten, in denen sich Flammen ausbreiteten … und dieses Trugbild verging und wurde von einer gewaltigen marschierenden Armee ersetzt, einer Armee von Männern mit verspiegelten Helmen, deren Gesichter hinter Kreisen aus Dunkelheit verborgen waren … Jemand redete mit ihm. Schon eine Weile. Er wußte es ganz plötzlich. »Smoke! Sperr die Ohren auf!« Es war Steinfeld. »Vielleicht’ isser knalltaub«, vermutete Willow in aufrichti gem Ton, »vonnen Granaten. Mein Gehör hat auch was abge kricht, als se mit Granaten geschossen ham.« Smoke drehte sich um, und Richard Pryor flatterte bei der jähen Bewegung. »Ich hab bloß nachgedacht«, sagte Smoke. Er merkte nicht, daß seine Stimme immer noch so klang, als ob er noch nicht wieder da sei. »Du träumst vor dich hin«, meinte Steinfeld. »Wenn du jetzt wieder bei uns bist, dann mach das Fenster zu. Am besten, von draußen ist kein Licht zu sehen.« Smoke schloß die ver dunkelten Fenster und verriegelte sie unten. »Und komm hier rüber, Smoke. Du kannst dir deine Unabhängigkeit bewahren, wenn du dir ewig weiter was vormachen willst, aber ich möchte, daß du hier was dazu beiträgst.« Smoke nickte. Er fühlte sich eingesperrt. Seine Wangen und seine Nase kribbelten in der Wärme des chemischen Heiz ofens, der zu seiner Linken Kirschen aus rotem Licht aufglü hen ließ. Der Raum war rechteckig und hatte eine hohe Decke;
früher war er ein Schlafzimmer gewesen, jetzt stand dort ein Schreibtisch aus hellem Holz, dem ein Bein fehlte; die Ecke wurde von aufgestapelten Ziegelsteinen gehalten. An den Wänden in der Nähe des Schreibtischs standen vier kaputte Holzstühle und eine Holzkiste. An beiden Enden des Zimmers war eine Lichtpfütze – eine rötliche vom Heizofen und eine gelbe von Steinfelds Lampe, die auf dem verbeulten Schränk chen hinter seinem Schreibtisch stand. Hard-Eyes und Jenkins standen jetzt an der Wand rechts vom Schreibtisch, weil sie da in der Nähe der Tür waren. Und damit niemand in ihren Rücken gelangen konnte, dachte Smoke. Er fragte sich zum erstenmal, ob es ein Fehler von ihm gewesen war, Hard-Eyes hierher zu bringen. Hard-Eyes war nahezu undurchschaubar. Das vernickelte Jagdgewehr glänzte wie ein gefrorener Blitz in seinen Händen. Jenkins ragte ungeschlacht neben ihm auf, das Gewehr in der Hand. Die Gewitterwolke. Vielleicht wollen diese Männer uns alle töten, dachte Smo ke, und eine Belohnung für unsere Leichen kassieren. Oder vielleicht wollen sie herausfinden, wo Steinfeld seine Schwarzmarktsachen aufbewahrt. Uns dann alle im Schlaf erledigen und die Sachen mitnehmen. Smoke machte sich Gedanken, aber er sagte nur: »Ich hab einen Jumpjet gesehen. USAF, glaub ich. Ist Richtung Osten abgeschwirrt.« Steinfeld runzelte die Stirn. Dann zuckte er die Achseln. »Wir können nicht jedesmal abhauen, wenn der Fuchs hier rumschnüffeln kommt, sonst erwischt er uns draußen vor dem Hühnerstall …« Er lächelte. »Das hab ich von einem amerika nischen Soldaten aus Oklahoma.« Smoke stellte sich an die Wand gegenüber von Hard-Eyes.
»Du hast in beiden Lagern Zutritt, Smoke«, meinte Stein feld. »Die Sowjets behandeln mich am besten«, sagte Smoke in erster Linie zur Krähe. Die Krähe gab einen ratschenden Laut von sich. »Das war für mich auch eine Überraschung«, stimm te Smoke ihr zu. Steinfeld ignorierte Smokes unlogische Folgerungen. »Du hörst ein Menge über die SA. Tragen wir mal zusammen, was wir haben. Für Hard-Eyes und Jenkins.« Steinfeld drehte sich um und sah Hard-Eyes an. »Die SA oder SAISC, wenn dir das lieber ist, wurde von einem Mann namens Predinger gegrün det, einem extrem konservativen amerikanischen Millionär. So weit rechts, wie man sein kann, ohne in der Anstalt zu landen. Er gründete sie irgendwann 1984, passenderweise. Anfangs sollte die Second Alliance sowas wie eine … äh … globale Sicherheitstruppe sein, die von jedem internationalen Unternehmen oder Konglomerat, das sie brauchte, gegen eine Gebühr in Anspruch genommen werden konnte, die nur die Ausgaben der Truppe deckte.« Steinfeld hob die Schultern. »Es wurde bald klar, daß die SA in Wirklichkeit ein antiterro ristischer Geheimdienst war. Allerdings im Privatbesitz. Auf diese Weise brachte Predinger seine politischen Sympathien zum Ausdruck, und zwar direkter als durch Spenden für irgendwelche Kampagnen. Das war natürlich zu einer Zeit, als die Terroristen konzertierte Bombenanschläge und Entfüh rungen gegen das Big Business starteten, besonders wenn es seine Wurzeln in den Vereinigten Staaten oder bei deren Verbündeten hatte …« Steinfeld hielt inne, um einen Schluck aus einer Tasse mit kaltem Kaffee-Ersatz zu nehmen. Er ver zog das Gesicht und fuhr fort: »Es war keine Überraschung, daß die Alliance sich auf Terrorismus von links konzentrierte
und die rechte Variante ignorierte. Sie dehnte ihre Überwa chung auf eine große Zahl von Menschen aus, auf jeden, den sie im Verdacht hatte, mit marxistischen Terroristen oder für die Rechte der Juden eintretenden Extremisten in Verbindung zu stehen. Die SA schenkte den antiisraelischen Terroristen keinerlei Beachtung, wenn es sich bei ihnen nicht eindeutig um antiamerikanische Kommunisten handelte. Nach einer Überwachungsperiode holten sie die ›Verdächtigen‹ zum ›Verhör‹ ab – das entbehrte zwar jeder rechtlichen Grundlage, geschah aber manchmal mit der inoffiziellen Billigung der örtlichen Behörden. Ungefähr zwei Drittel der ›Verdächtigen‹ waren Leute, die linken Ansichten zuneigten, in Wirklichkeit aber nicht die geringste Verbindung mit ›Terroristen‹ hatten. Ihre Inquisitoren waren immer maskiert. Manchmal kamen die Verdächtigen lebendig und nur mit einem blauen Auge davon, manchmal verschwanden sie. Mehr als einmal be schuldigten Journalisten die SA, ›illegale und übereilte Maß nahmen‹ zu ergreifen und dabei mit ›ungerechtfertigter Bruta lität‹ vorzugehen. Aber die Regierungen der Länder, in denen die SA operierte, deckten die Organisation. Die SA behauptete dann immer, sie hätte ein paar ›Übereifrige‹ gefeuert. Die Aufregung legte sich, und die SA kehrte zu ihren alten Aktivi täten zurück … Der Terrorismus eskalierte weiter, und als Reaktion darauf ging die SA dazu über, radikale Führer zu ermorden, die ihrer Meinung nach mit den Terroristen ge meinsame Sache machten. Meistens erwischte es die Gemäßig ten, die die Extremisten in Schach hielten. Kann sein, daß sie das mit Absicht gemacht haben – sie wußten, wenn terroristi sche Extremisten das Vakuum ausfüllten, würde die in Angst und Schrecken versetzte Welt die Aktivitäten der SA tendenzi ell tolerieren und sogar begrüßen. Ihre Respektabilität würde
wachsen, und ihre Kontakte demzufolge auch; mit den Kon takten würden Macht und Einfluß kommen. Und das alles wurde natürlich noch durch Predingers wohlüberlegten Bar geldeinsatz verstärkt. Bestechung gehörte zu den normalen Alltagsoperationen der SA. Sie machte jedes Jahr mehrere neue Büros auf. Einmal wären sie fast zu weit gegangen. Ihr Chef in Buenos Aires erfuhr, daß zwei identifizierte Terrori sten an einer politischen Versammlung der Linken in einem Gewerkschaftssaal in Buenos Aires teilnahmen. Die SA sprengte den Saal einfach in die Luft. Zweihundert Menschen kamen dabei ums Leben. Es wurde nie bewiesen, daß Predin gers Leute dahintersteckten, aber die Identität des Bombenle gers war unter den Eingeweihten allgemein bekannt. Es war ein Mann namens Elevito, der als Auftragskiller für die SA arbeitete. Es gibt ein paar Hinweise darauf, daß die CIA und Argentiniens eigene Geheimpolizei bei der Sache insgeheim mitgeholfen haben …« »Das hört sich nach ‘ner Menge Propaganda an«, unter brach ihn Hard-Eyes. »Linke Verschwörungstheorien und solches Zeug. Die SA ist rechts, klar – viel zu rechts, als daß sie an die Macht kommen darf. Aber bei Ihnen klingt das wie…« Er schüttelte den Kopf. »Sie sagen, es gibt ein paar Hinweise, und dann nennen Sie sie nicht. Genauso wie die Lyndon Larouche Memorial Society * – die reden genauso über Linke.« »Die Larouche Society ist in der Tat eine Tarnorganisation der SA …« Hard-Eyes schüttelte leise lachend den Kopf. »Klar. Genau Der Multimillionär Lyndon Larouche ist der Gründer der amerikanischen Mutterorganisation der rechtsradikalen Europäischen Arbeiterpartei« (EAP). – Anm. d. Übers. *
so wie die behaupten, daß die Welt von einer geheimen Ver schwörung des britischen Geheimdienstes mit jüdischen Bankiers beherrscht wird, stimmt’s?« Steinfeld lächelte. »Wenn man aus den Staaten kommt wie du, dann scheint das alles nur wieder mal irgendwelches Geschwafel in der politischen Geräuschkulisse zu sein, das ist mir klar. Aber die SA ist genau das, was ich sage, und hier in Amsterdam wirst du die SA bald in Aktion sehen können. Sie marschieren ein und lassen sich hier häuslich nieder. Mach ruhig deine Vorbehalte gegen das geltend, was ich dir sage, und warte ab, bis es bestätigt wird. Und denk daran: Ich bin kein Linker. Hier treten wir nur dafür ein, die Verhältnisse vor dem Krieg wiederherzustellen. Ja, das Schlechte und das Gute. Wir sind keine Revolutionäre.« »Warum geben Sie sich solche Mühe, uns zu überzeugen?« fragte Jenkins. »Ich brauche…« Steinfeld zögerte und suchte nach den rich tigen Worten. »Es gibt Menschen, die wie Kristallisationskerne sind. Man wirft sie in die Lösung, und um sie herum bilden sich weitere Kristalle. Solche Menschen brauche ich. Um den … den Kern einer Widerstandszelle zu bilden. Und Smoke hier« – Steinfeld machte eine hilflose Geste –, »der hat ein unheimliches Gespür dafür, solche Leute zu finden. Er hat Voortoven und Yukio gefunden. Und er hat dich empfohlen.« Steinfeld zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht so recht, ob ich mich geschmeichelt fühlen soll«, sagte Hard-Eyes. »Willst du den Rest der … Propaganda hören?« fragte Steinfeld. »Nur zu!«
Wenn jemand einem anderen eine Geschichte erzählt, bleibt vieles unausgesprochen. Dieser nicht ausdrücklich formulierte Teil besteht in der Fracht an Nebenbedeutungen und Reso nanzen, die vom offen dargelegten inhaltlichen Kern der Geschichte mittransportiert wird. Über diesen Teil der Ge schichte wissen die Beteiligten schon Bescheid. Er gehört zu dem Kontext, der für beide gleichermaßen gültig ist. Was nun folgt, ist das, was Steinfeld Hard-Eyes erzählte. Und wir fügen hier den Kontext hinzu, auf den sie sich nicht ausdrücklich beziehen mußten; wir sprechen hier auch das aus, was überhaupt nicht erwähnt wurde. In den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts schritt die Ame rikanisierung der nichtsozialistischen, nicht vom islamischen Fundamentalismus geprägten Welt trotz Amerikas ökonomi schem Abstieg immer stärker voran. Mitte bis Ende der Neun ziger gab es an jedem Ort, wo es eine Bourgeoisie oder ein Kleinbürgertum gab, auch Fernsehen. Und das Fernsehen wurde von Satellitenübertragungen übersetzter amerikani scher Fernsehsendungen dominiert. In jedem Entwicklungs land gab es auch Kanäle, die Sendungen in englischer Sprache brachten; Englisch wurde zunehmend zu einer begehrten Zweitsprache. Amerikanische Werte und die Anziehungskraft des amerikanischen Lebensstils fanden immer mehr Eingang in die Gesellschaften der Dritten Welt. Zu den Dingen, die übernommen wurden, zählte auch das wiedergeborene Chri stentum. Die Prediger der wiedergeborenen Christen erinner ten auf Spanisch, Portugiesisch, Suaheli und in anderen Spra chen sowie auf Englisch immer wieder an die materiellen Belohnungen für Gebete und den Amerikanern wohlgefälliges Verhalten.
Jeder Fernsehsender der Dritten Welt brachte ein Programm mit einem Mann namens Smiling Rick Crandall. Er war einer der jüngsten fundamentalistischen Geistlichen im Land. Mit Zwanzig hatte er bereits sein eigenes international ausge strahltes Programm. Er exportierte die Überzeugungen und Werte der ›moralischen Mehrheit‹ Amerikas in die ganze Welt und hatte damit Erfolg, weil er und seine Verbündeten sie stets mit Reichtum verbanden. Ob Amerika nun auf dem absteigenden Ast war oder nicht, es stand noch immer im Ruf, das reichste Land der Welt zu sein. Und Crandall betonte immer wieder, daß es seine Religion und sein Way of Life seien, die es dazu gemacht hätten. Predinger kaufte den Sen der, der Crandalls Show brachte, verdreifachte das Gehalt des Mannes und gab ihm einen neuen Auftrag. Er sollte bei den Regierungen fremder Nationen und anderen Gruppen, die keine Regierungsgewalt besaßen, aber mit den Zielen der Second Alliance sympathisierten, als eine Art SAISCBotschafter des guten Willens fungieren. Das war Crandalls Job, jedenfalls nach außen hin. In Wahrheit war Crandall jedoch ein Anwerber. Mit seinem internationalen Ruhm oder schlichter Bestechung verschaffte er sich Zugang zu Leuten in hohen Regierungsämtern, in den Randbereichen von Regierungen und in der Opposition und rekrutierte sie für einen neuen Zweig der Alliance. Dieser erhielt den Namen ›Antiterroristische Lobby‹. Aber das war nur Tarnung. Die angemessenere Bedeutung wäre vielleicht ›Rekrutierungsstelle für die SAISC-Armee‹ gewesen. Crandall war Anwerber für einen neuen multinationalen militärischen und politischen Apparat. Die Männer, die in den Apparat aufgenommen wurden, benutzten ihren Einfluß, um per Gesetz einen Fonds einzurichten, durch den ihre Nation zu
einem offiziellen ›SA-Mitglied‹ werden würde. Sie wollten die SA dafür bezahlen, daß sie ihnen half, ihren einheimischen Terrorismus zu bekämpfen, und da sie der SA nur die Kosten erstatteten, ohne daß das Unternehmen dabei Profit machte, erklärten sie sich bereit, Mittel und Menschen zur Eindäm mung des internationalen Terrorismus beizusteuern … Jede ›Mitgliedsnation‹ kommandierte Soldaten ab, die in den Weltblick-Lagern der SA ideologisch gedrillt werden sollten. Es war das erste und vorrangige Ziel der Leiter der Weltblick-Lager, allen ›Kandidaten‹ eine absolute und unaus löschliche Loyalität zur SA einzuimpfen. Sie wurden einer Art Gehirnwäsche unterzogen; man brachte ihnen bei, die SA als ihren wahren Vater und ihre wahre Mutter zu betrachten, als ihre souveräne Nation und – was am wichtigsten war – als ihr Bindeglied zum lieben Gott persönlich. Es durfte nicht vor kommen, daß Männer zu ›Aktionen‹ der Alliance ausgeschickt wurden, die den Zielen der Alliance nicht mit aufrichtiger Loyalität ergeben waren. Die Second Alliance hatte ein Credo für die Öffentlichkeit und eins für den internen Gebrauch. Das interne Credo war der Kern ihrer wahren Identität, zu dem man durch mehrere Zwiebelschichten hindurch vordrang. Die Kandidaten der ersten Schicht in der Second Alliance bekamen so etwas wie die standardisierten leeren Phrasen des wieder geborenen Christentums zu hören. Aber in der zweiten Schicht predigte man den Neulingen eine Art Theologie der Identi tätskirche. Dabei handelte es sich in Wirklichkeit um eine verfeinerte Version des christlichen Revisionismus, der von den Organisatoren der Botschaft des Königreichs gelehrt wurde, die um 1983 herum an die Öffentlichkeit gingen. Ungefähr zur selben Zeit begannen sie Banken und gepanzerte Geldtransporter auszurauben, um den Ankauf automatischer
Waffen und anderer Spielzeuge der rechten ›Survivalisten‹ zu finanzieren. Sie nannten sich ›die Kirche des Christen Jesus Christus‹ oder ›die Verheißung, das Schwert und der Arm des Herrn‹ oder ›die arischen Völker‹ und vertraten die Ansicht, daß Jesus Christus kein Jude, sondern in Wahrheit arischer Herkunft gewesen sei; daß Großbritannien und die Vereinig ten Staaten das wahre gelobte Land seien, das echte Israel, von dem die Bibel sprach; daß Schwarze und andere Minderheiten Mischlinge seien, die keine Seele hätten und geistig auf keiner höheren Stufe stünden als Tiere. Und sie behaupteten, daß Hitler von den Juden zu Unrecht verleumdet worden sei; daß es nie einen Holocaust gegeben habe. 1985 hatten diese Orga nisationen in den Vereinigten Staaten etwas 2500 Mitglieder, vor allem in Washington, Idaho, Oregon und Kalifornien. Viele von ihnen waren in den Gefängnissen rekrutiert worden, die schon immer Brutstätten des Rassismus waren. Angeblich gab es ›mehrere hunderttausend‹ Sympathisanten überall im Land. Einige der rührigeren Mitglieder der Identitätskirche erkannten, daß sie das Image von Bauerndeppen hatten, was ansonsten mit ihnen sympathisierende Menschen davon abhielt, sie ernster zu nehmen. Deshalb gründeten sie eine Geheimgesellschaft namens Secret Aryan Fraternity, die Geheime Arische Bruderschaft. Sie gingen mit geradezu para noider Vorsicht zu Werke, was Publicity und Sicherheit betraf. Die SAF begann ganz behutsam, ihre Leute in die Mittelklas segesellschaft der Städte und der Vorstädte, in Colleges und Country Clubs und Logen und Büros einzuschleusen. Sie begannen politische Kandidaten zu unterstützen oder eigene Kandidaten aufzustellen, ohne ihre wahre politische Einstel lung jemals offenzulegen. Sie gaben sich gemäßigt oder ein fach konservativ, obwohl sie in Wirklichkeit weit jenseits von
›konservativ‹ waren. Sie waren soziale Zeitkapseln schieren Rassenhasses. Manche glauben, daß Predinger zur SAF gehör te. Es ist nie bewiesen worden. Vielleicht ist es reiner Zufall, daß die SAF und die SAISC die ersten beiden Initialen ge meinsam haben. Aber es steht eindeutig fest, daß Crandalls Vater Mitglied von ›die Verheißung, das Schwert und der Arm des Herrn‹ war … Zusammengefaßt: Das allgemeine theologi sche Glaubenbekenntnis der SA, ihre öffentliche Weltanschau ung, ist ein gewöhnlicher christlicher Fundamentalismus ohne offen rassistische Färbung. Aber die Eingeweihten wissen um die Jesus-als-Arier-Variante der Identitätskirche. Eingeweihte stehen an der Spitze der normalen Mitglieder und werden ihrerseits vom Second Circle geleitet. Der Second Circle, der herrschende innere Rat der SA, soll eine intellektuellere rassistische Auffassung vertreten, die nicht auf dem Glauben an das arische Erbgut von Jesus be steht. Für den Second Circle ist Jesus einfach ein willkürliches Symbol, das als Sinnbild genetischer Reinheit gewählt wurde. Und das zu einem Kreis gewundene DNA-Molekül selbst ist der Heiligenschein des Herrn … Politisch ist das interne Credo der SA schlicht und einfach: Faschismus. Und wir verwenden den Begriff Faschismus hier nicht so wie ein ahnungsloser Linker, für den jeder Kriegstreiber ein »Faschist« ist, also als Beleidigung und bloßes Schimpfwort. Wir reden von klar definiertem Faschismus. Predinger und Crandall waren beide insgeheim Bewunderer von klassischen faschistischen und rassistischen Demagogen, und dazu gehör ten auch Mussolini und Hitler selbst. Sie waren antisemitisch und schwarzenfeindlich …
»Schwarzenfeindlich?« unterbrach Hard-Eyes. »Sie haben doch gesagt, die hätten Leute aus Ländern der Dritten Welt rekrutiert.« »Tatsächlich haben sie gewisse schwarze Militärdiktatoren in Afrika durch ihre Täuschungsmanöver dazu verleiten können, ihnen Geld und andere Formen der Unterstützung zukommen zu lassen«, sagte Smoke verträumt und fast beiläu fig. »Ein großer Teil Afrikas wurde kommunistisch; diese Diktatoren hatten Angst. Sie hatten das Gefühl, von Kommu nisten umzingelt zu sein. Ich schätze, es war leicht, diese Angst auszunutzen. Aber sie ließen sie über die wahren politi schen Ziele der SA im unklaren. Und sie rekrutierten keine Soldaten aus schwarzen Ländern.« Jenkins sah Smoke erstaunt an, als er hörte, wie dessen aka demische Seite zum Vorschein kam. Ein Gelehrter, der sich hinter Lumpen und Dreck verbarg. »Die Rekruten aus der Dritten Welt…«, setzte Steinfeld an. Dann brach er ab und lauschte. Er schaute zur Decke hinauf. Sie hörten es alle. Das Dröhnen und Brummen eines Jumpjets ganz in der Nähe. Die Armeen, vielleicht auf der Suche nach der NR … Eine Welle der Angst überlief Smoke, und er dachte: Ich hab Angst vor dem Tod. Wie lange ist es her, daß ich sowas emp funden habe? Was ist los mit mir? Das Geräusch des Jumpjets, das Dröhnen, das Brummen … erstarb. Steinfeld schaute auf seine Hände. Er holte tief Luft und fuhr fort: »Die Rekruten aus der Dritten Welt wurden größten teils von rechten Diktatoren in Mittel- und Südamerika ge stellt. Und dann gab es gewisse Gruppen von Indern und
Pakistanis … Aber der wahre Kern der SA, ihre eingeweihte Führung, bestand aus rechtsextremistischen Amerikanern – darunter auch Sympathisanten bei der CIA –, Engländern, Holländern und nach dem Umsturz in Südafrika auch aus einer großen Zahl von Afrikanern. Als der ANC in Südafrika an die Macht kam, waren die Weißen, die aus dem Land flohen, natürlich verbittert. Es waren Tausende … Sie bilden eine separate Division der Alliance, Elitetruppen. Die Division hat einen deutschen Namen: ›Die Todgeweihten‹. Die Füh rung der SA ist ausschließlich weiß. Weiße Südafrikaner der Elitetruppe führen die weniger wichtigen Divisionen. Diese wiederum bestehen aus Spaniern, Italienern, Guatemalteken, antikommunistischen kubanischen Nationalisten, Pakistanis …« »Vielleicht ist das der Keil«, sagte Yukio. Kurz und bündig und genau im richtigen Moment, ein feiner und definitiver Pinselstrich. So ist er, dachte Smoke. Voortoven nickte. »Wir haben Leute …« Steinfeld schnitt ihm mit einem bösen Blick das Wort ab. Hard-Eyes und Jenkins waren unsichere Kandidaten. Hard-Eyes und Jenkins sahen sich an. Plötzlich wußte jeder im Zimmer, daß Steinfeld Hard-Eyes und Jenkins umlegen lassen würde, wenn er zu dem Schluß kam, daß er ihnen nicht trauen konnte. Und das wäre nicht der Fall gewesen, bevor Voortoven in diesem speziellen Zusam menhang gesagt hatte, ›wir haben Leute…‹ Leute an der richtigen Stelle, Maulwürfe in der Second Alli ance, die hoffen, einen Keil zwischen die ›farbigen‹ Divisionen und ihre weißen Führer treiben zu können. Es war jetzt nicht mehr nötig, das laut zu sagen.
Steinfeld sah Hard-Eyes ein bißchen entschuldigend an. Smoke bemerkte, wie Hard-Eyes’ Knöchel an dem großen Gewehr weiß wurden. Jenkins hatte die Spannung mitbekommen. Er beobachtete Hard-Eyes und wartete auf das Zeichen. Voortoven und Willow und Yukio sahen Steinfeld an. Smoke machte sich bereit, sich zur Seite zu werfen. Seine Vorbereitung zeigte sich nur darin, daß er beinahe träge die Hand hob und sie auf die Krähe legte, damit sie nicht wegflog, wenn er sich zu Boden werfen mußte, falls es eine Schießerei gab. Steinfeld entschied sich dafür weiterzumachen, als ob nichts geschehen wäre. Die Fortsetzung seines Vortrags war eine Methode, sie zu beruhigen. Ein Weg, ihnen zu sagen: Wartet ab! »Predinger soll vor kurzem gestorben sein, obwohl es da widersprüchliche Gerüchte gibt. Jedenfalls sind Crandall und seine Schwester ins Oberkommando der SA befördert worden …« »Seine Schwester?« Hard-Eyes’ Überraschung baute die Spannung etwas ab. Voortoven und Willow ließen ein leises Lachen hören. »Seine Schwester«, bestätigte Smoke. »Ellen Mae Crandall. Anscheinend war sie eine treibende Kraft beim Aufbau der Organisation. Sie hat das ganze Gefeilsche erledigt, als ihr Bruder seine ersten weltweiten Shows bekam.« Steinfeld nickte. »Sie kommen aus einer streng baptistischen Südstaatenfamilie. Crandall ist der geistige Führer der SA, aber er tritt kaum noch öffentlich als Prediger auf – außerhalb
der SA. Er ist auch der Oberbefehlshaber der SA, obwohl sein wichtigster militärischer Stratege ein Mann namens Watson ist. Ein ehemaliger Colonel der südafrikanischen Infanterie, als das Land noch Südafrika hieß. Die SAISC hatte ihren ersten militärischen Testeinsatz in Südafrika. Sie bewährte sich dort nicht, zog jedoch ihre Lehre daraus. Bewährt hat sie sich dann auf militärischem Gebiet bei der Niederschlagung von Auf ständen in Pakistan, Äthiopien, Guatemala …« »Und die NATO will den größten Teil von Westeuropa die sen Leuten überlassen?« unterbrach ihn Hard-Eyes mit einer Spur von Ungeduld. »Einfach so?« »Sie bezeichnen die SA als ›nicht-alliierte Sicherheitstrup pe‹. Sie behaupten, daß sie einfach nur ein internationales Sicherheitsunternehmen damit beauftragen, den Frieden zu sichern – und manche glauben das sogar. Sie brauchen drin gend Ordnung … was grob gesagt der Grund war, warum die Nationalsozialisten in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhun derts in Deutschland an die Macht kommen konnten. Die Leute sehnten sich nach Stabilität. Hitler versprach allen wirtschaftliches Wachstum. Er versprach, mit dem Chaos der Weimarer Republik Schluß zu machen. Und er versprach, Deutschland wiederzuvereinigen.« »Aber da gibt’s ein paar wesentliche Unterschiede«, erwi derte Hard-Eyes. »Die Nazis waren die Repräsentanten einer Massenbewegung der Mittelschichten.« »Die SA besteht im Kern aus den Mittelschichten ihrer di versen Länder. Und die Männer in den Regierungen Europas und Amerikas – besonders die Amerikaner und die Briten –, die das ›SA-Arrangement‹ stützen, gehören zu dem neuen Haufen von Antisemiten und Rassisten. Das ist eine Bewe
gung, die seit Jahrzehnten immer mehr Zulauf bekommt. Apologeten des Faschismus wie die Neue Rechte Frankreichs. Die britische National Front. In Amerika die moralische Mehr heit und die US Labor Party. Die SA hat acht Jahre lang ihre mit Predingers Geld erkauften Medienkontakte genutzt, um das dunkle Gefühl zu erzeugen, es gäbe eine jüdische Ver schwörung, der man die Schuld an allem Unglück der Welt anlasten kann. Und daß an den Verbrechen im Inland die Einwanderer schuld seien …« Hard-Eyes nickte langsam. »Sowas hab ich im amerikani schen Fernsehen gesehen. Sie kommen nie richtig klar und deutlich damit raus, sondern … manchmal machen sie’s fast unterschwellig.« »Diese verfluchte ›Polizeitruppe‹ der SA ist in Italien, Deutschland, England, Belgien und Spanien«, erklärte Willow. »Bald auch in Frankreich. Und hier, Kumpel. Hier!« »Und Sie glauben«, sagte Hard-Eyes und sah Steinfeld auf merksam an, »die und die NATO-Leute, die sie hergeholt haben, planen so ‘ne Art…« Steinfeld nickte. »Einen Militärputsch in ganz Westeuropa.« Es war still; nur das Knarren der Stühle war zu hören, wenn sich jemand anders hinsetzte. Dann fragte Jenkins: »Was meinen Sie, wie weit diese Leute in Hitlers Fußstapfen treten wollen?« Steinfeld holte tief Luft. »Wo sie im Amt sind, haben sie Ju den, Schwarze und Moslems bereits in abgeriegelten Stadttei len isoliert. Es heißt, daß Crandall Moslems noch mehr haßt als Juden …« Hard-Eyes schnaubte und schüttelte den Kopf. »Wenn das stimmt… was wollen Sie dagegen unternehmen?«
Steinfeld hob die Schultern. »Das weißt du doch schon. Wir werden kämpfen. Ein Guerillakrieg. Willst du mehr über unsere Strategie wissen?« Hard-Eyes nickte. Steinfeld schüttelte den Kopf. »Nein.« Und wieder sahen die Männer im Raum ihre jeweiligen Anführer an und warteten auf deren Zeichen. Genau in diesem Augenblick kam ein Mann herein, den Smoke nicht kannte. Es war ein schlanker Schwarzer, der eine Hornbrille auf der Nase und einen Feldstecher um den Hals hatte. An einem Riemen über seiner Schulter hing eine Ma schinenpistole. Er wandte sich an Steinfeld und merkte dann, daß die Ankündigung, die er zu machen hatte, eigentlich an jeden im Raum gerichtet war. Er sah sie alle der Reihe nach an und sagte dann vorsichtig: »Jorge hat’s im Radio gehört. Die Sowjets haben die Kolonie abgeriegelt. Die Raumkolonie. Die orbitalen Kampfstationen sind in höchster Alarmbereitschaft.« Und wieder einmal dachten alle das gleiche, so daß es kei ner aussprach: Vielleicht ist es jetzt endlich soweit. Niemand wurde je das Gefühl los, daß alle Pläne, die man schmiedete, und alle Hoffnungen, die man sich machte, ver geblich waren. Hohl und leer. Als ob man eine Frucht pflückte, sie aufschnitt und feststellte, daß sie im Innern vertrocknet war. Man ging nämlich davon aus, daß sich der konventionel le Krieg früher oder später zu einem Atomkrieg ausweiten würde. Das mochte vielleicht nicht das Ende der Welt bedeu ten, aber es würde dem ziemlich nahekommen. Steinfeld war der erste, der die lähmende Verzweiflung ab schüttelte. »Eine weitere Eskalation.« Er zuckte die Achseln. »Aber sie bringt den Krieg nur auf ein neues Schlachtfeld.«
Jenkins schüttelte den Kopf. »Was soll’s? Wozu noch für irgendwas kämpfen, was in ein paar Monaten radioaktive Asche sein wird?« Hard-Eyes sagte: »Vielleicht ist es …« Er brach ab und schaute zum Fenster. Sie hörten es alle. Ein Jumpjet. Diesmal nahe. Sehr nahe. Die Armeen. Geschrei aus dem Flur und vom Dach. Steinfelds Wachpo sten, die Warnungen riefen. Der Jumpjet war plötzlich ge kommen. Eben noch war der Himmel klar gewesen; im näch sten Moment schwebte ein Jumpjet drei Meter über ihnen auf seinen senkrecht gestellten Schubdüsen. Das Zimmer erbebte unter dem Wimmern und Dröhnen des Jumpjets. Hard-Eyes bewegte sich zur Tür. Der schwarze Wachposten geriet in Panik. Er rannte zum Fenster, legte die Hand auf den Riegel … Steinfeld fuhr hoch, drehte sich zu ihm um und schrie: »Nicht!« Aber es ging im Brüllen des Jumpjets unter… Als der Wachposten die Fenster aufriß. Das Licht ihrer Lampe fiel dem Piloten ins Auge. Aus einem Reflex heraus schauten Smoke und Hard-Eyes, der an der Tür haltgemacht hatte, an dem Wachposten vorbei aus dem Fenster. Jeder im Raum stand wie angewurzelt da und starrte nach draußen. Der Harrier Jumpjet war ein Düsenjäger mit Deltaflügeln, der Anfang der achtziger Jahre entwickelt worden, aber erst Ende der neunziger Jahre in die Massenproduktion gegangen war. Die beiden übergroßen Düsentriebwerke an der Untersei te seiner Tragflächen konnten geschwenkt werden, so daß sie nach unten, nach vorn, nach hinten und zu den Seiten zeigten;
der Jumpjet konnte also praktisch in jede Richtung fliegen. Er schwebte wie ein Helikopter zehn Meter vor dem Fen ster, ein bißchen nach hinten gekippt, so daß man gerade eben die USAF-Insignien an den Unterseiten der Flügel ausmachen konnte. Die Männer konnten seine monströse Technik, seinen präzise verarbeiteten massigen Rumpf fühlen, die Hitze seiner Triebwerke erreichte sie, der chemische Geruch seines bren nenden Treibstoffs füllte den Raum bis zum Ersticken. Als sie ihn jedoch in diesem verdichteten Moment anblick ten, sah ihn Hard-Eyes als Plasteel-Drachen. In Smokes Augen war er ein Insekt. Eine Libelle aus einem japanischen Horrorfilm, um beides zu kombinieren, ein drachenähnliches Insekt. Es stand in der Luft, zwanzig Meter lang, und zitterte wie vor metallener Wut, ein bißchen geneigt, als wolle es gleich seine Krallen in sie schlagen. Vom Sternenlicht beschienen, das perlmuttartig vom Cockpitglas zurückgeworfen wurde, der Kopf des Fliegers ein nichtssagender Bogen aus Dunkelheit in der Raute des Kristalls. Vielleicht war dies eines jener compu tergesteuerten Flugzeuge, in denen der Pilot hauptsächlich mitflog, um seinen Spaß zu haben, nur um eventuell eingrei fen zu können. Und vielleicht traf das Flugzeug die Entschei dung, und nicht der Pilot. Die Entscheidung zu feuern. Die 60-Millimeter-Kanone fuhr aus dem Schacht im Bauch des Flugzeugs aus und schwenkte herum, bis die Mündung direkt auf das Fenster zeigte … die Maschine entfernte sich ein Stück, als wolle sie nicht von der Rückwirkung der Explosion erfaßt werden … Im Raum wich die Lähmung. Steinfeld schnappte sich die Papiere vom Schreibtisch, fegte sie mit der Geschicklichkeit langer Übung in einen Aktenkoffer aus Vinyl, setzte über den
Schreibtisch hinweg und war durch die Tür verschwunden. Willow und Voortoven waren dicht hinter ihm; Jenkins dräng te nach. Hard-Eyes zögerte, rief Smoke etwas zu, Smoke drehte sich um, sah, wie Hard-Eyes die Wetherby hob … Er dachte: Dieser Irre will auf das Ding schießen! Die Wetherby krachte. Kein gewöhnliches Gewehr. Ein bös artiger Schießprügel, und groß. Im angeblich kugelsicheren Glas am Cockpit des Jumpjets erschien ein Stern, der Bogen des Helms ruckte. Das Flugzeug schwankte. Es stabilisierte sich, und die 60 mm-Geschütze richteten sich wieder auf ihr Ziel. Das alles – von Steinfelds Griff nach den Papieren bis zum Gewehrschuß – hatte fünf Sekunden gedauert. Die Krähe flatterte krächzend auf und flog von Smokes Schulter weg. Er griff nach ihr und verlor sie aus dem Blick feld. Sah statt dessen den Wachposten, der immer noch im offenen Fenster stand und entsetzt auf die Maschine starrte. Das Flugzeug hatte keinen Piloten mehr, sondern steuerte sich jetzt selbst kybernetisch. Hard-Eyes versuchte, Smoke durch die Tür hinauszuziehen. Smoke dachte: Wir werden es nicht schaffen! Die Explosion hörte er gar nicht mehr. Als die 60-mm-Kanone feuerte. Es war, als ob der Krach zu laut für seine Hörnerven wäre; er kam nur als Pfeifen wie die Rückkopplung einer Gitarre und als häßliches metallisches Scheppern an. Dann kam die Hitze einer Feuerwand, die sich ausdehnte und das Zimmer erfüllte; ein Spritzer von etwas Nassem; das Blut des Wachpostens, als dieser in Stücke geris sen wurde. Alles nur ein Hintergrundeindruck. Das vorherr schende Gefühl war die Verhärtung der Luft um das Zentrum
der Explosion herum. Die weiche, feuchte Luft war zu einer eiskalten Stahlplatte geworden, die ihn gegen die Wand schmetterte. SCHMETTERTE! Er spürte, wie sein Körper seine Form in den Mörtel einprägte, spürte, wie sich etwas in ihm anspannte, sich verzog – und dann unter der Beanspruchung nachgab; Knochen knirschten und brachen dann, und die Zeit war sadistisch verlangsamt, so daß er mit grauenhafter Deutlich keit in allen Einzelheiten mitbekam, wie sein rechter Arm aus der Gelenkpfanne sprang und sein Becken brach … wie sein Brustbein brach … brach … Ein weißglühender Güterzug voller Schmerzen wälzte sich brüllend auf ihn zu. Und … Er wachte auf und dachte: Wo ist meine Krähe? Er versuchte es laut zu sagen, und ein Stahlhammer schlug in seinem Innern einen Gong an, und er erbebte unter dem Echo der Schmerzen. Er bemühte sich, etwas zu sehen, aber seine Augen waren von einem Schwarm schwarzer Bienen bedeckt. »Gib ihm mehr Morphium«, sagte eine Traumstimme. Steinfelds Stimme. Smoke spürte nichts von der Nadel. Aber ihre Fracht zog eine Decke durchscheinender Taubheit über die Verwüstung in seinem Innern; unter ihr schwelte der Schmerz immer noch, aber gedämpft, wie Kohlen im Nebel. Er schlug die Augen auf; es war, als ob man ein Fenster auf riß, das im geschlossenen Zustand lackiert worden war. Es
strengte seinen Rücken an, die Augen zu öffnen. Er sah durch den Bienenschwarm, der zu einem fiebrigen Nebel verschmolz, eine Ecke eines Kellerraums und ein Stück von Yukio, der gerade an ihm vorbeiging, und hörte HardEyes’ Stimme. »… wir wollen die Garantie, daß wir eine Überfahrt aus Frankreich kriegen, wann immer wir wollen.« »Wenn ihr mein Wort als Garantie akzeptiert, okay. Das ist alles, was ich anbieten kann.« Steinfelds Stimme. »Aber ihr könnt doch keinem was vormachen. Ihr hättet euch absetzen können, als wir abgehauen sind, und wir hätten euch nicht aufgehalten. Du hast auf den Jumpjet geschossen, damit Smoke Zeit hatte, rauszukommen. Wen willst du an der Nase rumführen? Es wäre sicherer für euch gewesen, wenn ihr euch von uns getrennt hättet, und das weißt du! Aber ihr seid bei uns geblieben.« Hard-Eyes gehört jetzt zur NR, dachte Smoke. Ich hab wahrscheinlich innere Blutungen und werde wohl sterben. Keine Ärzte, keine Chirurgen. Die schwarzen Bienen schwärmten wieder über seinem Kopf. Stachen ihn. Das letzte, was er dachte, war: Wo ist mein Vogel?
FÜNF
BENJAMIN BRIAN RIMPLER, zweiundsechzig Jahre alt, Doktor der Philosophie und Vorsitzender des FirStep-Projekts, L-5 Kolonie Eins, kniete im Schlafzimmer seiner luxuriösen Woh nung auf dem weißen Teppich aus echter Wolle und betete eine Göttin in schwarzem Gummi an. Ihr Name war Hermione, Herm für ihre Freunde, aber Her rin Hermione für Rimpler, wenn sie ihr Rollenspiel abzogen. Er zahlte ihr zweihundert Neudollar pro Stunde dafür, daß sie ihm Entspannung verschaffte. Sie war eine gut gepolsterte, sonnengebräunte Amazone mit kupferrot gefärbtem Haar, weißem Lippenstift und weißem Lidschatten, die sich deutlich gegen das hautenge Dominako stüm aus schwarzem Gummi abhoben, das sie von Kopf bis Fuß bedeckte; zwischen den Beinen und an den Spitzen ihrer Brüste waren Stellen herausgeschnitten, um die in kräftigem Rot angemalten Brustwarzen – eine wurde von einem gerin gelten schwarzen Haar verunziert – und ihre ebenfalls rot geschminkten Schamlippen freizulegen. Ihre Brüste, die sich in zwei paßgenaue Gummiformen schmiegten, zitterten bei der leisesten Bewegung. Und wippten geradezu übermütig, wenn sie mit der Autoantenne zuschlug, deren schwarzer Plastik griff fest in ihrer mit Beschlagnägeln geschmückten rechten Hand lag. Die Nägel auf ihrem Handrücken waren in Form eines Verbinde-die-Punkte-Schädels in die Haut implantiert. Rimpler stand auf solche kleinen Comic-Elemente. Und Her mione war eine bessere Schauspielerin als die anderen Mäd
chen von Bitchie’s. Ihr Queens-Akzent unterlief jedoch ir gendwie die erforderliche herrische Attitüde, wenn sie ihm Befehle gab. Aber als sie ihn schlug, spielte der abtörnende QueensSlang keine Rolle mehr. Der auflodernde Schmerz brannte die Risse in der Illusion weg. Sie traf ihn erneut, hart. Diesmal gab Rimpler ein unartikuliertes Wimmern von sich, spürte, wie hinter dem jähen Schmerz Übelkeit aufstieg, und sagte leise: »Warte.« Sie war ein Profi und hielt sich zurück, denn es gab keinen Zweifel, wer hier in Wirklichkeit das Sagen hatte. Rimpler. Klein, blaß, mit blauen Adern, rasierter Glatze und Bauchansatz. Er hatte die Augen jetzt fest geschlossen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Unterkünften in der Kolonie gab es in Rimplers Wohnung im Admin-Zentrum mehr als zwei Zimmer, nämlich drei, wenn man das Bad mitrechnete. Außerdem besaß er noch die Eigentumswohnung draußen im Freigelände. Die benutzte er jedoch nicht mehr. Hier hatte er eingegeben, daß die Schlafzimmerwände rau tenförmig angeordnet sein sollten. Er hatte die Bilder von Big Sur abgeschaltet, die normalerweise von den Wänden leuchte ten, das Licht gedämpft und einen anregenden Hauch Rot hinzugefügt. Pendereckis Passion des Heiligen Lukas tönte klagend aus versteckten Lautsprechern. Hermione schaute auf ihre Uhr und schnitt eine Grimasse. Wann war der alte Scheißkerl endlich soweit? Er schnüffelte wie ein bemitleidenswerter blinder junger Hund an ihrer Möse und jaulte, als sie ihm eins über den knotigen Rücken zog, auf seinen Eierkopf spuckte und ihm erklärte, er sei Kakerlaken scheiße – und er hatte immer noch keinen richtigen Steifen!
»Du bist nicht mit Leib und Seele bei der Sache, du kleines MISTSTÜCK!« zischte sie und verpaßte ihm Striemen zwi schen den Schulterblättern. Und Rimpler entschuldigte sich leise. Hermione hatte recht. Er war nicht richtig dabei. Die aufzuckenden Schmerzen lenkten ihn ab. Er assoziierte frei und ausschweifend, und ein Teil dieser Assoziationen schien sich von der Hauptmasse seiner Gedanken zu lösen und giftige, fernsehäugige Organe purer Bewußtheit zu formen, trügerische mentale Auswüchse, die ihn beobachteten und einem anderen höhnisch grinsenden Teil seines Geistes über ihn Bericht erstatteten. Und anstatt daß die blitzschnellen Schmerzen seinen Geist blendeten, wie sie es hätten tun sollen, anstatt daß sie ihn aus ihm selbst hinaustrugen, wirkten sie diesmal wie eidetische Leinwände eines Autokinos, wie hochragende Stoffbahnen aus leuchtendem Weiß, auf die der höhnische Teil seines Geistes Bilder projizierte … Und er sah das Ding, das er erbaut hatte. Er sah es auf der Leinwand der Schmerzblitze. Er sah FirStep, die Kolonie, die sich schwerfällig drehte, der Form nach so etwas wie ein technologischer Totempfahl; aus dem richtigen Winkel be trachtet, war ihre Silhouette die einer Figur von der Osterinsel vor dem Hintergrund des Alls – das All, schwarz und unend lich leer. Das All, strahlend hell erleuchtet und vor Energie überströmend. Das All, in dem das Spektrum entfesselt war. Und er schien FirStep mit seinen Tausenden von Tonnen auf einer Rißzeichnung zu sehen, die erstklassige Straßenkarte seiner Leitungen, seine Zusammenballungen von Millionen Computerchips, tausend Gehirne für seine tausend Segmente,
die Menschen, die wie E. coli-Bakterien im Bauch eines riesigen Organismus darin herumwimmelten, unabhängig von diesem Organismus, aber in einer Wechselbeziehung mit ihm. Und er sah seine Lebenserhaltungssysteme, die Filteranlagen für Luft und Wasser, die Dutzende ausfallsicherer Schutzmechanis men, die dafür sorgten, daß die Kolonie luftdicht blieb und dem unaufhörlichen Nagen des Vakuums unversehrt widerstand, die Isolationsflächen und die Hülle des atmosphäri schen Sonnenwindfilters. Er stellte sie sich in einem Infrarotscan vor, mit ihren gelben und roten Bereichen für starke Wärme und ihren blaueren Bereichen, wo sie weniger Wärme abstrahlte, mit ihren von absorbierter Energie leuchtenden Sonnenenergiekollektoren … Und er sah das Ding im Skelettzustand, wie es sich langsam entwickelte; etwas, das zwanzig Jahre gedauert hatte, nahm jetzt vor seinen Augen rasch Gestalt an, wuchs um ein Modul nach dem anderen wie ein Korallenriff, um das die Konstruk tionsmodule wie Fische herumflitzten. Es wuchs von Sektion A, einer einsamen Felskuppe in einem endlosen Meer, zu einem Atoll und dann zu einer Insel… A, B, C, D und jetzt E. Jahre der Arbeit, die sich in technologischer Kristallisation materialisierten. Und er hatte es entworfen, hatte seinen Bau überwacht und dafür gesorgt, daß es um ihn herum wuchs. Um ihn herum. Er begriff in diesem furchtbar klaren, schrecklichen Moment, daß es nur die Schale eines Einsiedler krebses war. Etwas, das er sich übergestülpt hatte, in dem er Zuflucht gesucht hatte, um seine Nacktheit zu verbergen. Die Kolonie war nur ein Panzer für Benjamin Brian Rimpler. O ja: Als Kind war er von Satelliten, von der gewichtigen,
göttlichen Majestät des Himmels fasziniert gewesen; damals hatte er den megalomanischen Wunschtraum eines Heran wachsenden gehegt, seinen eigenen, persönlichen Stern in den Himmel zu hieven. Und später, als er voller Entsetzen sah, wie sich die Malaise des Planeten – der fiebrige, in selbstbetrügeri scher Verblendung ausgeführte Selbstmord an seiner Umwelt – bis in den letzten Winkel ausbreitete, hatte er eine Alternati ve erschaffen wollen, ein autarkes, vernünftig kontrolliertes Ökosystem, in dem der Mensch – und die Natur – eine zweite Chance bekommen würde. Eine Antwort auf die Bevölke rungsexplosion, weil es die erste von vielen solcher Alterna tivwelten sein sollte … Jedenfalls war es das, was er sich einredete. Und was er der Presse erzählte. Die Kolonie würde den Armen Arbeit und Wohnung geben. Und der größte Teil der Siedler bestand ja in der Tat aus technischen Arbeitskräften mit niedrigem Ein kommen. Deshalb machte es einen guten Eindruck. Es wirkte selbstlos. Aber jetzt sah er es. Die Kolonie war ein monumentaler Akt der Selbstsucht. Und sein besessener Drang, sie fertigzustellen, hatte seinen Sohn das Leben gekostet. Hier in der 2/3 Schwerkraft-Sektion, im exklusiven Wohnbereich für aller höchste Ansprüche, hatte er ihre ungeheure Tonnage in Schichten von einer kunstvollen Sorgfalt um sich gelegt, die ihm jetzt nur die komplizierte Struktur der Neurose zu spie geln schien. Jedes Lebenserhaltungssystem, jeder ausfallsiche re Schutzmechanismus und jede Schleuse war eine Form seiner jämmerlichen analen Fixierung. Er ließ sich auf die Fersen zurücksinken, schaute zu Her mione hinauf und erkannte, daß er einer Art Parasit erlaubt
hatte, zu ihm in seine Schale zu kriechen. »Verschwinde!« sagte er. »Was? Na warte, du kleiner Wurm …« »Nein, ich meine es ernst. Ich versuche nicht, das Spiel zu intensivieren. Verschwinde!« »Hey, gib nicht mir die Schuld, weil du ihn nicht hoch kriegst. Ein Mann wird nun mal alt, da kann auch die beste Professionelle nichts …« »Raus hier!« Sie trat zurück, ließ ihre Peitsche sinken und schwankte zwischen zwei Polen, der eingeschüchterten Angestellten und der professionellen Domina. »Was? Der Preis ist trotzdem …« »Ich habe dich im voraus bezahlt. Verschwinde!« Hermione erkannte, daß ihre Zulassung widerrufen wurde. Sie wich zurück, drehte sich dann ohne einen Mucks um, ging zum Bett und hob ihren Overall auf. Sein eindringlicher Ton war bei ihr angekommen. Sie nahm sich nicht einmal Zeit, aus dem Gummianzug zu steigen und sich umzuziehen. Der kleine Schwanz! (Und sie meinte ›klein‹!) Aber er war der mächtigste Mann in der Kolonie, vielleicht mit Ausnahme von Praeger. Rimpler konnte sie aus der Kolonie werfen lassen, wenn er wollte. Sie ging ohne ein Wort hinaus und dachte: Ich bin in der Admin-Sektion; ich könnte bei einem Kredfon anhalten und Praeger anrufen. Der steht auf die Herr-undSklavin-Nummer; aber was soll’s, ich kann umschalten … Rimpler sah sie gehen, und eins der versprengten Fragmente seiner Persönlichkeit, der autoerotische, infantile Teil, sah ihr
mit Bedauern nach und jammerte den übrigen Teilen etwas vor. Er gab ihm innerlich eine Ohrfeige und befahl ihm, still zu sein. Denn es war hoffnungslos. Aus dieser Richtung würde es für ihn kein Vergessen mehr geben. Vielleicht durch Drogen. Oder durch Schnaps. Vielleicht… Er sah sich in einem Entleerungsschacht. Die Klappen offen, die Luft strömte aus, es schleuderte ihn nackt ins Nichts … Er schauderte zurück, rollte sich bei dem Gedanken tatsäch lich zusammen und schlang die Arme um sich. Terry war … Auch davor schauderte er wieder zurück und versuchte statt dessen an einen starken Drink und etwas zu essen zu denken … Er saß nackt auf den Fersen, teilweise mit Vaseline einge schmiert, das Gesicht war noch feucht von ihrem Pheromon parfüm, die Striemen auf seinem Rücken schmerzhaft po chend, und kämpfte gegen den Drang an, zur nächsten Luft schleuse zu laufen und sich nackt ins All hinauszuschießen… Das wäre für einen Moment echte Freiheit. »Dad?« Sein Bauch schnürte sich zusammen. Ein Muskel in seinem Rücken zuckte. Angst überspülte ihn, ätzend und kalt. Claire. Claires Stimme. In diesem Augenblick hatte er mehr Angst vor Claire, als er je vor seiner Mutter gehabt hatte, der Eiskönigin. Claire, seine eigene Tochter. Wenn sie Hermione sah … Aber ihre Stimme kam aus dem Gitter an der Eingangstür. Hermione ging durch den Service-Korridor hinaus. Claire
würde sie nicht zu Gesicht bekommen. »Claire – ich komme gleich! Ich bin unter der Dusche«, rief er. Dann drückte er auf den Türöffner und sagte »Sieben-drei« ins Gitter. Die Tür erkannte den Zahlencode, analysierte sein Stimmprofil, bestätigte es und machte ihr die Eingangstür auf, ließ die Tür zu seinem Schlafzimmer jedoch geschlossen. »Ich bin gleich da«, rief er durch die Tür zum Wohnzimmer. Nicht, um sie wissen zu lassen, daß er gleich da sein würde, sondern um sie davon abzuhalten, ins Schlafzimmer zu kom men. Er ging ins Bad, ließ sich von der Ultraschalldusche säubern, zitterte, weil es so kribbelte, und verspürte ein vages Vergnügen, weil er wußte, daß eine Komposition von Stra winski in die Schallwellen eingearbeitet war; er konnte sie auf dieser Frequenz zwar nicht hören, aber fühlen. Trotzdem hätte er gern Wasser gehabt. Aber es würde den Technickis zu Ohren kommen, wenn er sich eine Wasserlei tung installieren ließ. Einer von ihnen würde sie schließlich einbauen müssen. Ihre Kommentatoren würden sich in Leitar tikeln über das verschwenderische Luxusleben der AdminElite auslassen. Admin schwimmingelnser Filtersmarsch, würden sie schreiben. Admin schwimmt im Geld, und unser Luftfilter ist kaputt. Praeger – der Teufel sollte ihn holen – hatte sich eine Was serdusche installieren lassen. Eine Stunde später hatte auch der letzte Technicki darüber Bescheid gewußt. Praeger. Präsident der UNIC-Kommission in der Kolonie. Das übelkeiterregende Gefühl in Rimplers Bauch kam zurück, als er an Praeger dachte. Er stieg aus der Dusche, und sie fuhr wieder in die geflieste Wand ein. Er ging zum Spiegel und drückte auf die 8 in der
numerierten Reihe von Knöpfen unter dem Glas. Der Spiegel drehte sich um und zeigte ihm seine mit Borden versehene Rückseite. Er fand das Betäubungsspray und sprühte damit die Striemen auf seinem Rücken ein, wieder mit einem gewis sen Bedauern. Dann zog er sich einen japanischen Hausanzug aus luftig blauer Seide an und fand Claire im Wohnzimmer. Sein Magen verkrampfte sich, als sie »Hi, Dad«, sagte. Ein durchaus freundliches Lächeln. Kein kritischer Blick. »Wie geht’s dir, Kleines?« Er bückte sich und gab ihr einen Kuß auf die Stirn. Er hatte sie fast zwei Wochen nicht mehr gesehen. Ihre Arbeit als Freiwillige in den Wohnheimen. »Dad – mir geht’s gut, aber …« Er setzte sich gegenüber von ihr hin und dachte: Sie scheint durcheinander zu sein. Claire trug ein leichtes hellgraues Kostüm mit einem Rock aus drei Stofflappen. Sie hatte die Lippen geschürzt, und ihre Wangen waren eingesunken. »Du willst mir wohl noch ein paar Einzelheiten über das tolle Video-Interview erzählen, das du gegeben hast.« Er lachte forsch-fröhlich. »Vergiß es! Es war ein abgekartetes Spiel, das weiß mittlerweile jeder.« »Dad …« Und dann sah er die Anspannung in ihrer Haltung und die weißen Knöchel auf ihren Knien. Verdammt, dachte er, es ist wieder Praeger. »Dad, als du darum gebeten hast, vier Tage zu Hause blei ben zu dürfen …« »Findest du, es war ein ungünstiger Zeitpunkt? Gleich nach dem Schlamassel mit dem jungen Technicki? Ich hab dir doch
gesagt …« »Dad! … Nein. Aber – ich hab gerade erst rausgefunden, daß du eine Anrufsperre in Kraft gesetzt hattest. Ich meine, niemand hatte eine Ahnung, warum du keine Erklärung abgegeben hast…« »Naja, klar. Wie soll ich mich denn zurückziehen und Ur laub machen, wenn mich jeder anruft und mir mit den Pro blemen der Kolonie kommt? Es gibt ein Dutzend Leute, die froh sind, daß …« »Dad …« Diesmal versagte ihr wirklich die Stimme. Er machte große Augen. Daß sie ihre menschliche Empfindsamkeit so zeigte, hatte er seit Jahren nicht mehr erlebt. Seit Terrys Tod nicht mehr. »Um Himmels willen, Claire!« »Als du die Wohnung abgeriegelt hast, Dad, da hast du sie doch für einen LSN offengehalten. Stimmt’s?« In der sarkasti schen Betonung, die sie auf das »Stimmt’s?« legte, lag eine Anschuldigung. Er lachte nervös. »Natürlich!« LSN: Lebenserhaltungs-Sicherheits-Notfall. Es hatte keinen LSN gegeben. Unmöglich. »Es hat einen LSN gegeben, Dad. Ich meine … sowas pas siert dir ständig.« Jetzt war die mütterliche Meckertour dran. »Um dich herum geht alles zum Teufel, und … Dad, es hat einen Knallroten gegeben. Höchste Alarmstufe. Und Praeger hat befohlen, dir nichts davon zu sagen. Ich meine, das weiß ich nicht mit absoluter Sicherheit, aber … es muß so gewesen sein.«
Er merkte, wie ihm flau wurde. »Was war los?« Seine Stimme war barsch. »Dad …« »Wirst du wohl mit dem ewigen ›Dad‹ aufhören und es mir einfach erzählen!« Seine Angst vor ihr verschwand. Er stand jetzt da; seine Arme hingen an den Seiten herunter. »Die Sowjets haben eine Blockade um uns gelegt. Wir sind im Krieg. Das letzte Versorgungsschiff ist geentert und aufge bracht worden. Danach ist keins mehr gekommen. Es gehen auch keine Schiffe raus. Sie stören sogar die Kommunikation. Wir kommen ab und zu durch …« »Warum bist du nicht eher zu mir gekommen? Ich meine – wie lange ist das her?« »Drei Tage. Dad, ich konnte erst heute durch zu dir. Und du hattest deinen Schirm abgeschaltet. Die Krawalle – wir sind wegen der Krawalle nicht durchgekommen.« »Krawalle?« »Ein Mann namens Bonham hat zum Generalstreik aufgeru fen. Vier Leute sind die treibende Kraft bei der Sache – dieser Joseph Bonham, ein Mann namens Samson Molt…« »Ach, sag die Namen nicht mir, sondern dem Sicherheits dienst. Ich bin hier nicht die Gedankenpolizei. Mist.« Er starrte die Karaffen auf seinem Tisch an, wollte etwas trinken und traute sich nicht einmal, über den Tisch zu langen. Er hatte Angst, die Kolonie könnte so zerbrechlich sein, daß sie erbeben und auseinanderfallen würde, wenn er sich bewegte. Seine Schale, sein Panzer. Seine Isolierung von der Erde. »Diese Leute sagen, daß die Technikklasse jetzt, wo wir von der Erde abgeschnitten sind, Rechte fordern müsse, sonst sei
sie völlig ohnmächtig, wenn das Kriegsrecht ausgerufen wird.« »Da ist was dran.« Er lachte bitter. Seine Hände bewegten sich jetzt wie von selbst – Scheiß auf die Kolonie; ich brauche einen Drink – und spritzte Gin in ein Glas. Er kippte ihn hinunter und schüttelte sich. »Praeger wird aufgrund des ›Notstands‹ das Kriegsrecht ausrufen und die Technickis völlig unterwer fen wollen.« »Du stimmst mit diesen Leuten überein?« Mehr tadelnd als überrascht. Er zuckte die Achseln. Schenkte sich noch etwas ein. Lachte. »Krawalle!« Er schüttelte verwundert den Kopf. »Ich hab dieses Ding entworfen …« Er machte eine vage Handbewe gung zu den Wänden und meinte die Kolonie selbst. »Und trotzdem dauert es drei Tage, bis ich erfahre, daß wir abgerie gelt sind. Und daß es hier Krawalle gibt.« »Dad – Praeger wollte nicht, daß du es erfährst.« Sie sahen ein ander an, und die Implikation hing zwischen ihnen in der Luft. Claire faßte sie in Worte. »Ich glaube, es wird einen Putsch geben. Ich denke, daß UNIC die Macht ganz an sich reißen will.«
SECHS
FIRSTEP SCHWAMM IM MEER des Weltraums, eine Stadt, die im Nichts trieb. Und Freezone schwamm im Atlantik, eine Stadt, die im Strom internationaler kultureller Verschmelzung trieb. Freezone lag rund hundert Meilen nördlich von Sidni Ifni, einer schläfrigen Stadt an der marokkanischen Küste, in einer warmen, sanften Strömung vor Anker; das Meer wurde dort nur selten von starken Stürmen aufgewühlt. Die Stürme, die sich hier erhoben, ließen ihre Wut am Labyrinth der Wellen brecher aus Beton aus, die die Verwaltung von Freezone in jahrelanger Arbeit um die künstliche Insel herum angelegt hatte. Ursprünglich war Freezone nur eins der vielen Bohrpro jekte vor der Küste gewesen. Die gewaltige Öllagerstätte eine Viertelmeile unter der künstlichen Insel war immer noch nicht einmal zu einem Viertel ausgebeutet. Die Bohrplattform ge hörte der marokkanischen Regierung und Texcorp, einem in Texas ansässigen Unternehmen für Petroleumprodukte und Elektronik, das Disneyland und Disneyworld und Disney world II gekauft hatte. Alle drei waren im Gefolge von CSD geschlossen worden, der Computer-Speicher-Depression, die man auch als die Auflösungsdepression bezeichnete. Eine Gruppe arabischer Terroristen – das behauptete zu mindest das amerikanische State Department – hatte an Bord einer routinemäßig verkehrenden Orbitalfähre eine Wasser stoffbombe versteckt, diese dann gezündet und damit einen gut plazierten elektromagnetischen Impuls ausgelöst. Die
Fähre wurde bei der Explosion verdampft, ebenso zwei Satelli ten, von denen einer bemannt gewesen war; aber als die CSD zuschlug, nahm sich niemand mehr die Zeit, die Toten zu beklagen. Die orbitale Bombe hätte beinahe Armageddon ausgelöst. Drei Cruise Missiles mußten vorzeitig gesprengt werden, und zwei weitere wurden zum Glück von den Sowjets abgeschos sen, bevor sich die Terroristenzelle zu der Explosion in den oberen Schichten der Atmosphäre bekannte. Die Sprengwir kung der Bombe war größtenteils nach oben gerichtet gewe sen; was jedoch nach unten kam, war der Nebeneffekt der Detonation: der EMP. Ein elektromagnetischer Impuls, der – wie es seit den siebziger Jahren vorhergesagt worden war – auf dem Kontinent unter der H-Bomben-Explosion Tausende von Meilen durch Leitungen und Schaltsysteme jagte. Das Verteidigungsministerium war geschützt, der größte Teil des Bankensystems jedoch nicht. Der Impuls löschte 93 % des gerade erst gegründeten American Banking Credit Ad justment Bureaus aus. ABCAB hatte 76 % der nationalen Kaufund Kredittransferaktionen durchgeführt. Der größte Teil der Einkäufe lief über ABCAB oder über Unternehmen, die mit ABCAB verbunden waren … bis der EMP die Datenspeicher von ABCAB löschte; der Impuls überlastete die Schaltkreise, schmolz sie ein und briet schließlich buchstäblich die Spei cherchips. Und trat der amerikanischen Wirtschaft auf diese Weise die Krücken weg. Hunderttausende von Bankkonten wurden ›gesperrt‹, bis die Unterlagen rekonstruiert werden konnten, was einen Run auf die übrigen Banken auslöste. Die Versicherungsgesellschaften und die staatlichen Bürgschafts programme wurden geradezu erdrückt. Sie konnten die Ver luste einfach nicht abdecken.
Die USA waren schon vorher in Schwierigkeiten gewesen. In den achtziger und neunziger Jahren hatte die Nation die ökonomische Initiative verloren. Ihre schlecht ausgebildeten Arbeiter mit ihrer katastrophalen Allgemeinbildung, ihre korrupten, gierigen Gewerkschaften und ihr niedriger Ferti gungsstandard raubten der amerikanischen Industrie die Fähigkeit, bei dem Produktionsaufschwung in Asien und Südamerika mitzuhalten. Die Annullierung der Kredite durch den EMP stieß das Land über den Rand der Rezession in die Grube der Depression. Und löste in der übrigen Welt Geläch ter aus. Die verantwortliche arabische Terroristenzelle – knall harte islamische Fundamentalisten – hatte aus sieben Mann bestanden. Sieben Mann, die eine Nation lahmgelegt hatten. Aber Amerika verfügte immer noch über sein in aller Welt stationiertes Militär sowie über seine Neuerer auf dem Feld der Elektronik und der Medizin. Und die Kriegswirtschaft hielt das Land in Gang. Es war wie bei einem Mann, der Krebs hat und Amphetamine nimmt, um sich ein letztesmal kraftvoll aufzubäumen. Währenddessen wurden die endlosen Ein kaufszentren und Wohnsiedlungen, die billig hochgezogen worden waren und ständig instandgehalten werden mußten, mit jedem Tag schäbiger, häßlicher, minderwertiger und gefährlicher. Die Staaten waren für die Reichen einfach nicht mehr si cher. Die Bade- und Erholungsorte, die Vergnügungsparks, die exklusiven, reichen Wohngegenden, alles kam unter der zermürbenden Belastung anhaltender Streiks und ständiger terroristischer Anschläge immer weiter herunter. Die seit den achtziger Jahren anschwellenden Massen der Armen verab scheuten die Freizeitgestaltung der Reichen. Und der Puffer der Mittelschichten schrumpfte bis zur Bedeutungslosigkeit.
Es gab immer noch Enklaven in den Staaten, wo man sich im Gebrodel der Medien verlieren, sich von verheißungsvollen Bildern hypnotisieren und in die Trance einer Fernsehversion des amerikanischen Traums versetzen lassen konnte, während zehntausend Unternehmen um die Aufmerksamkeit des geneigten Publikums wetteiferten und es anflehten, zu kaufen und immer mehr zu kaufen. Orte, die von Mauern eingefaßte Stadtstaaten der Mittelschichtillusionen waren, wie der Ort, wo Hard-Eyes herkam. Aber die Reichen spürten, wie ihr Königreich zerfiel. Sie fühlten sich in den Staaten nicht mehr sicher. Sie brauchten einen Ort außerhalb ihrer Grenzen, einen Ort, wo es noch geregelt zuging. Europa war jetzt out; Mittel- und Südamerika waren zu riskant. Das pazifische Theater war ein weiteres Kriegsgebiet. Hier kam Freezone ins Spiel. Ein texanischer Unternehmer, der sein Geld nicht bei ABCAB angelegt hatte, sah die Möglichkeiten in der Gemein schaft, die sich um den riesigen Komplex von Bohrplattformen vor der Küste entwickelt hatte. Eine Halskette künstlicher Edelsteine aus Bordellen, Spielhallen und Kleinkunstbühnen hatte sich auf verlassenen Schiffen kristallisiert, die fest um die Plattformen herum verankert waren. Zweihundert Huren und dreihundert Kartengeber in den Kasinos bearbeiteten die internationale Melange der Männer, die an den Ölbohrern schufteten. Der Unternehmer machte ein Geschäft mit der marokkanischen Regierung. Er kaufte die rostenden Schiffs rümpfe und die schäbigen Nachtclubs. Und er warf alle hin aus. Der Texaner besaß ein Unternehmen, das Plastikartikel her
stellte; es hatte einen leichten, superharten Plastikstoff entwik kelt, den der Unternehmer für die Flöße verwendete, auf denen die neue schwimmende Stadt erbaut wurde. Die Ge meinschaft war nun ein siebzehn Quadratmeilen großes urba nes Floß, das von einer der bösartigsten Sicherheitstruppen der Welt bewacht wurde. Freezone bot angenehme Ablenkun gen für die Reichen im exklusiven Teil der Stadt und für die Technickis von den Ölbohrstationen in den Läden der zweiten Kette am Rand der Stadt. Und die Läden der zweiten Kette boten ein paar tausend halb illegalen Herumhängern und ein paar hundert Künstlern Unterschlupf. Leuten wie Rickenharp. Rick Rickenharp lehnte an der Südwand des Halbleiters, ließ die blendenden Lichter und den Radau des Clubs über sich wegspülen und schrieb im Geist einen Song. Der Song ging etwa so: »Glaring blare, lightning stare / Nostalgia for the electric chair.« Schwachsinniger Mist, dachte er dann. Er tat sein Bestes, um cool, aber verletzlich zu wirken, und hoffte, daß eine der Frauen, die ihren Blick über die Menge schweifen ließen, sich daran erinnerten, ihn gestern abend in der Band gesehen zu haben, und versuchen würden, ihn anzuquatschen und Groupie zu spielen. Aber die meisten von denen fuhren auf Drahttänzer ab. Und es kam überhaupt nicht in Frage, daß sich Rickenharp zum Minimono verdrahten lassen würde. Rickenharp stand auf klassischen Rock. Er trug eine schwarze Motorradlederjacke, die rund fünfundfünfzig Jahre alt war und angeblich John Cale gehört hatte, als der noch bei den Velvet Underground gewesen war. Die Nähte begannen
aufzuplatzen; in den Chromverzierungen fehlten drei Nieten. An den Ellbogen und den Kragenrändern war die schwarze Farbe bis auf die braune Haut des Tiers durchgescheuert, von dem das Leder stammte. Aber das Leder war für Rickenharp wie eine zweite Haut. Er hatte nichts darunter an. Seine kno chige, haarlose Brust schimmerte in durchsichtigem Blauweiß zwischen den kaputten Reißverschlüssen durch. Er trug Blue Jeans, die erst zehn Jahre alt waren, aber älter aussahen als die Jacke, und echte Harley-Davidson-Stiefel. Ganze Trauben von Ohrringen hingen an seinen langen, ein bißchen abstehenden Ohren, und seine rostbraunen Haare sahen wie eine explodie rende Granate aus. Und er hatte eine Sonnenbrille auf. Und er tat das alles, weil es auf schrille Weise altmodisch war. Seine Band zog ihn deswegen auch auf. Sie wollten einen Minimono als Leadgitarristen und Frontman haben. »Wenn wir auf Minimono machen, können wir die beschis senen Gitarren gleich verkaufen und uns verdrahten lassen«, hatte ihnen Rickenharp erklärt. Und der Drummer war so blöd und taktlos gewesen, zu sa gen: »Na Scheiße, Mann, vielleicht sollten wir genau das tun.« »Vielleicht sollten wir uns auch so ‘ne verdammte Drummachine besorgen, du bescheuerter Neandertaler!« hatte Rickenharp gesagt und den Schlagzeughocker umgetreten, so daß Murch mit einem herrlichen Scheppern in die Becken krachte; daraufhin hatte Rickenharp hinzugefügt: »So ‘n guten Sound sollteste aus den Dingern mal auf der Bühne rausholen. Jetzt wissen wir ja, wie’s geht.« Murch hatte Anstalten gemacht, seine Sticks nach ihm zu
werfen, aber dann war ihm eingefallen, daß man sie speziell anfertigen lassen mußte, weil sie nicht mehr hergestellt wur den. »Leck mich am Arsch, Macker!« hatte er gesagt, war aufgestanden und rausgegangen. Nicht zum erstenmal. Aber es war das erste Mal, daß es wirklich etwas bedeutete, und Ponce hatte Murch nur mit intensiven diplomatischen Aktivi täten davon abhalten können, aus der Band auszusteigen. Das Ganze war vom Anruf ihres Agenten ausgelöst wor den. Darum ging es in Wirklichkeit. Die Agentur modernisier te ihr Repertoire. Rickenharp war out. Die letzten beiden LPs hatten sich nicht verkauft, und die Techniker behaupteten tatsächlich, daß echte Drums auf den miniaturisierten Sound kapseln, die jetzt als Platten durchgingen, nicht gut kamen. Rickenharps Holovid und die Videos wurden nicht ausge strahlt. Jedenfalls war Vid-Co wahrscheinlich bald aus dem Ge schäft. Noch eine Branche, die ins schwarze Loch der Depres sion gesaugt wurde. »Ist also nicht unsere Schuld, daß sich das Zeug nicht verkauft«, sagte Rickenharp. »Wir haben unsere Fans, aber der Vertrieb bringt’s einfach nicht. Die kommen nicht an sie ran.« »Quatsch«, hatte José erwidert. »Wir sind raus aus dem Git ter, und du weißt es. Wir sind sowieso nur auf der Nostalgie welle mitgeschwommen. Aus ‘nem Revival holste nicht mehr als zwei Hits raus, Mann.« Julio, Bassist, hatte etwas auf Technicki gesagt, das Ricken harp gar nicht erst übersetzt hatte, weil es so dämlich war – er hatte vorgeschlagen, einen Drahttänzer als Frontmann zu engagieren –, und als Rickenharp ihn nicht beachtet hatte, war er sauer geworden und seinerseits hinausgegangen. Sowieso
immer verdammt empfindlich, diese Technickis. Und jetzt hing die Band in der Luft. Ihr Zug hatte zwischen zwei Bahnhöfen angehalten. Sie sollten als Vorgruppe für eine Drahtie-Nummer spielen, wozu Rickenharp nicht die gering ste Lust verspürte, aber sie hatten einen Vertrag, und in Freezone gab es einen Haufen Rock-Nostalgie-Freaks, also war das vielleicht trotzdem ihr Publikum, und er schuldete es ihnen. Er würde die verdammten Drahties an die Wand spielen. Er ließ den Blick durch den Halbleiter schweifen und wünschte, der Retro-Club wäre noch offen. Im RC waren die Retros stark vertreten gewesen; da hatte es sogar einige Rok kabillies gegeben, und ein paar von denen hatten noch ge wußt, wie Rockabilly wirklich klang. Im Halbleiter hing die Minimono-Szene rum. Das Minimono-Volk hatte lange Haare, die sich zwischen den Schultern fächerförmig ausbreiteten und oben auf dem Kopf zu einer Spitze zusammenliefen; sie waren glatt, absolut glatt und steif, so daß jeder Kopf von hinten wie ein schwar zes, graues, rotes oder weißes Tipi geformt war. Diese mono chromen Farben waren die einzigen, die sie akzeptierten. Matte Töne und keine Strähnen. Ihre Klamotten waren stilisti sche Verlängerungen ihrer Haartracht. Minimono war eine Reaktion auf Flare. Und auf das Chaos des Krieges, die Kriegswirtschaft und die amorphen Veränderungen des Gitters. Der Flare-Stil war im Untergang begriffen; er starb aus. Rickenharp hatte immer verächtlich auf die modischen Fla re-Typen hinabgeschaut, aber sie waren ihm noch lieber als die Minimonos. Flare hatte immerhin Power. Flare hatte sich aus den hochgekämmten, demonstrativ un
gezähmten Frisuren entwickelt, die im letzten Abschnitt des zwanzigsten Jahrhunderts populär gewesen waren. Die Haare eines Flares mußten hochstehen, so weit über den Kopf wie möglich, und das drückte in gewisser Weise etwas aus. Es betonte die Individualität und Originalität seines Trägers. Je bunter, desto besser Man war kein ›Individuum‹, wenn man keinen ausdrucksstarken ›Flare‹, keine auffällige grellbunte Frisur hatte: Spiralen, Haken, Heiligenscheine, vielfarbig übereinandergeschichtete Knoten. Flare-Haarformungs-Salons machten Vermögen und verloren sie wieder, als der Stil all mählich aus der Mode kam. Aber er hatte sich länger gehalten als die meisten Moden; was ihn aufrechterhielt, waren die endlosen Variationsmöglichkeiten und sein Power-Appeal. Viele entzogen sich der Notwendigkeit, eine individuelle Ausdrucksform zu finden, indem sie einen politischen Stan dardflare übernahmen. Forme deine Haare wie die Insignien deines unterdrückten Lieblingslandes der Dritten Welt (da mals, als sie noch unterdrückt waren, vor der neuen Markt achse). Flares kosteten soviel Zeit und Mühe, daß die meisten Leute dazu übergingen, sich Flare-Perücken zuzulegen, die sie tragen konnten, wenn sie ausgingen. Und ihre Drogen waren der Mode entsprechend gestylt. Alle Arten von stimulierenden Neurotransmittern – Antidepressiva, Drogen, von denen man zu glühen schien. Die wohlhabenderen Flares hatten Nimbus gürtel, die künstliche Auroras erzeugten. Die hipperen Flares hielten das für geschmacklosen Narzißmus – für die NichtFlares ein Witz, da alle Flares auffallend eitel waren. Rickenharp hatte sich die Haare niemals gefärbt oder ge formt, außer um seine punkige Stacheligkeit zu unterstützen. Rickenharp war jedoch kein Punk. Er identifizierte sich mit Präpunk, den späten Fünfzigern, Mitte der Sechziger und
Anfang der Siebziger. Er war einfach ein waschechter Rockfreak, der im Halbleiter genauso fehl am Platz war wie Bebop in den Tanzclubs der achtziger Jahre. Rickenharp ließ seinen Blick über die mattschwarzen, matt grauen monochromen Gewänder und Overalls, die schwarzen Armbandfone und die JAAs schweifen, die sich glichen wie ein Ei dem anderen; über die Einheitsbräune und die allge genwärtigen Ohrringe in Form der FirStep-Kolonie (nur einer, immer im linken Ohr). Es hieß, daß die Minomonos mit ihrem High-Tech-Fetischischmus nach einem Platz in der Kolonie strebten, so wie die Rastas von einer Rückkehr nach Äthiopien geträumt hatten. Rickenharp fand es komisch, daß die Sowjets die Kolonie abgeriegelt hatten. Und die normalerweise dröh nigen, jeder Auffälligkeit abholden Minimonos waren eben falls ein ulkiger Anblick, wie sie da stumm auf ihrem Amphe ticool vor sich hin brodelten, in dichten Gruppen zusammen standen und sich zischend und in empörtem Warum-tut-denn niemand-was-Ton über die Sowjets aufregten. Ihre Konservenmusik schallte mit verblödender Regelmä ßigkeit von den Wänden zurück und prallte pulsierend vom Boden ab. Wenn man sich an die Wand lehnte, spürte man ein bohrendes Vibrieren im Rückgrat. Es waren auch ein paar unerschrockene, trotzige Flares da, und sie waren Rickenharps größte Hoffnung auf einen Aufriß. Für gewöhnlich respektierten sie alten Rock. Die Musik hörte auf; eine Stimme dröhnte: »Joel NewHo pe!«, und Spots erhellten die Bühne. Die erste Drahtnummer ging los. Rickenharp warf einen Blick auf die Uhr. Es war zehn. Er sollte vor dem Auftritt des Headliners um halb zwölf spielen. Rickenharp stellte sich vor, wie sich der Club leerte,
wenn er auf die Bühne kam. Er war nicht gerade scharf auf diesen Club. Aber vielleicht würden noch genug andere Leute kommen. Randständige Szenen konnten sich summieren. NewHope kam auf die Bühne. Eine Drahtnummer. Er war ausgemergelt und durch einen chirurgischen Eingriff ge schlechtslos geworden: radikal Minimono. Eine Tatsache, die er durch seine Nacktheit aller Welt verkündete; er hatte nur eine grauschwarze Sprühschicht am Leib. Rickenharp fragte sich, wie der Kerl eigentlich pißte. Vielleicht aus dieser kaum sichtbaren Hautfalte zwischen den Beinen. Ein tanzendes Mannequin. Seine Sexualität war an seinem Hinterkopf ange bracht, eine Chromelektrode, die das Lustzentrums seines Gehirns während der gesetzlich geregelten wöchentlichen Katharsis aktivierte. Aber er war so mager – hey, wer wußte es schon, vielleicht besuchte er ein Schwarzmarkt-Cerebrostim, um mit dem Impulsgeber ins Interface zu gehen. Obwohl Minimonos ja angeblich total auf Recht und Ordnung standen. Die Drähte, die in NewHopes Armen und Beinen und sei nem Rumpf steckten, speisten Impulsübersetzer-Pickups auf dem Bühnenboden, so daß er wie eine Marionette mit herun terhängenden Fäden aussah. Aber er war der Puppenspieler. Die langen, düsteren Töne, die aus verborgenen Lautsprechern heulten, wurden von den Muskelkontraktionen in seinen Armen und Beinen und in seinem Rumpf ausgelöst. Für einen Minimono war er nicht schlecht, dachte Rickenharp gönner haft. Man konnte die Melodie erkennen, die er mit seinem Tanz erzeugte, und sie war eine Spur komplexer, als es bei den M’n’Ms für gewöhnlich der Fall war… Das M’n’M-Volk be wegte sich in seinen geometrischen Tanzkonfigurationen, die irgendwo zwischen Discogehopse und Square Dance lagen; es waren Busby-Berkeley-Kaleidoskope, die nach Regeln zustan
dekamen, deren Kenntnis einfach erwartet wurde, wenn man den Nerv hatte, dabei mitzumachen. Wer versuchte, in ihrer fest verzahnten Choreographie im freien Stil zu tanzen, den würde die in der Körpersprache übermittelte totale soziale Ablehnung wie ein arktischer Wind treffen. Manchmal tanzte Rickenharp nur aus Jux und Dollerei mit ten in der Minimono-Konfiguration wie auf einem LSD-Trip herum, bloß um sich an ihrer Ablehnung zu weiden. Aber seine Band hatte ihn gezwungen, damit aufzuhören. Verscherz es dir bei unserem einzigen Gig nicht mit dem Publikum, Mann. Wahrscheinlich unserem letzten Gig, verdammt… Der Drahttänzer ließ dudelsackähnliche Riffs über die Rhythmussektion vom Band rieseln. Die Wände wurden lebendig. Ein guter Rockclub mußte 1965, 1975, 1985, 1995 oder 2020 klein, dunkel, eng und klaustrophobisch sein. Die Wände hatten entweder total einfarbig – zum Beispiel ganz schwarz oder verspiegelt – oder provozierend grellbunt zu sein. Richtig aufgemotzt, mit der jeweils aktuellen avantgardistischen oder knalligen Graffiti. Der Halbleiter bot beides. Am Anfang kam er in schwulem Schwarz daher, mit glasartigen, dunklen Wänden; während des Konzerts kleidete er sich in tuntige bunte Farben, wenn die klangsensitiven Wände mit Farbstreifen auf die Musik reagierten und Wellenlängen in Oszilloskopmuster umwan delten, Blau-weiß-Schattierungen für hohe Töne, Rot und Purpur für Bass und Percussion. Sie reagierten intensiv und hypnotisch auf jeden Ton. Die Minimonos mochten Reakti onswände nicht. Sie fanden sie kitschig und ›vid‹. Der Tänzer zuckte spastisch über die Bühne, und Ricken
harp sah widerwillig zu und bemühte sich, fair zu sein. Ist eben ‘ne andere Art von Rock ‘n Roll, dachte er, das ist alles. Wie ein Christ, der sich eine buddhistische Zeremonie ansieht und sich einredet: »Ach, naja, letzten Endes sind das alles nur Manifestationen ein und desselben Gottes.« – Aber richtiger Rock ist besser, dachte Rickenharp. Richtiger Rock ist wieder im Kommen, erzählte er fast jedem, der es hören wollte. Aber das wollte fast niemand. Eine Chaotikerin kam herein, und er beobachtete sie und fühlte sich nicht mehr so allein. Chaotiker hatten mit echten Rockfreaks viel mehr gemein. Sie war ein Skinhead mit ange malten Schläfen und einer Tätowierung des GitterfreundZeichens auf der rechten Schulter. Der Rock bestand aus mindestens zweihundert Fetzen aus synthetischem Stoff, die an ihren Ledergürtel genäht waren – eine Art Bastrock aus bunten Schnipseln. Bloße Brüste, die Brustwarzen von dünnen Schrauben durchbohrt. Die Minimonos sahen sie voller Ab scheu an; sie waren prüde, und die Aufmerksamkeit auf die eigenen Brüste zu lenken, galt bei den M’n’Ms eindeutig als ungehörig. Das Mädchen lächelte sonnig zurück. Ihr hübsches semitisches Gesicht war mit willkürlichen Farbstrichen bemalt. Ihr Make-up sah wie ein Gemälde auf einer sich drehenden Leinwand aus. Ihre Zähne waren abgefeilt. Rickenharp schluckte heftig, als er sie ansah. Verdammt, sie war wirklich sein Typ. Nur … nur daß sie einen Blue Mesk-Sniffer um hatte. Das umgekehrte Fragezeichen des Sniffers lief von seinem Haken an ihrem rechten Ohr direkt bis unter ihr rechtes Nasenloch. Ab und zu neigte sie den Kopf und zog sich ein bißchen was von dem blauen Pulver rein.
Rickenharp mußte wegschauen. Er fluchte lautlos. Er hatte einen Song mit dem Titel Trying To Stay Clean ge schrieben. Blue Mesk. Oder Synkoks. Oder Heroin. Oder Ampheta morphin. Oder XTZ. Aber am meisten war er auf Blue Mesk abgefahren. Und Blue Mesk machte süchtig. Und es war sooooo gut. Blue Mesk, auch ›Boss Blue‹ genannt. Es vereinte die besten Wirkungen von Meskalin und Kokain, eingefaßt in die gelati nöse Süße von Qualudes. Aber im Gegensatz zu Koks gab’s hinterher keinen solchen Absturz. Nur … Nur wenn man es eine Weile regelmäßig nahm und dann damit aufhörte, verlor die Welt jede Bedeutung für einen. Es gab keine richtigen Entzugserscheinungen, nur eine tiefe, nachhallende Depressi on, ein Gefühl von Nichtswürdigkeit, das sich wie Staub und Madenkot in jeder einzelnen Körperzelle des Benutzers abzu lagern schien. Nicht dasselbe wie ein Koks-Crash, aber… Aber manche Leute nannten Blue Mesk ›das Selbstmordtik ket‹. Es konnte bewirken, daß man sich wie ein Bergmann fühlte, wenn der Schacht einstürzte; als ob man in sich selbst ver schüttet wäre. Rickenharp hatte eine Therapie absolviert, die seine Eltern bezahlt hatten. Das Geld aus seinem einzigen größeren Hit hatte er in Boss Blues und Dope angelegt. Er hatte es nur mit knapper Mühe geschafft, clean zu werden. Und in letzter Zeit – zumindest vor den Streitereien in der Band – war in ihm wieder das Gefühl erwacht, daß das Leben lebenswert war. Er sah zu, wie das Mädchen mit dem Sniffer an ihm vorbei ging, sah zu, wie sie das Ding benutzte, und fühlte sich nie
dergeschlagen und verloren, als ob er etwas gesehen hätte, das ihn an eine frühere Geliebte erinnerte. Das Ex-User-Syndrom. Der Schmerz, der aus dem Schuldgefühl resultierte, daß man seiner Droge den Laufpaß gegeben hatte. Und er konnte sich das süße Brennen des Stoffs in seinen Nasenlöchern vorstellen, den nachklingenden süßen pharma zeutischen Geschmack am hinteren Teil des Gaumens; oder wenn man es schoß, die Explosion puren, fluoreszierenden Selbstvertrauens, eines Selbstvertrauens, das man körperlich spüren konnte, wie die streichelnden Lippen einer Frau an der Eichel. Die autoerotische Rückkopplungsschlinge von Blue Mesk. Bei dieser Vorstellung spürte er es wie einen Schatten, wie das quälende, verlockende Gespenst des Schubs. In der Erinnerung konnte er es schmecken, es riechen, es fühlen … Der Anblick, wie sie es nahm, rief hundert schillernde Erinne rungen wach. Ein fast unbezähmbares Verlangen. (Während eine leise Stimme in seinem Hinterkopf seine Aufmerksamkeit zu erregen, ihn zu warnen versuchte: Hey, denk daran, das Scheißzeug bewirkt, daß du dich umbringen willst, wenn du nichts mehr hast; denk daran, daß es dich zu einem überheblichen, rüpelhaf ten Blödmann macht; denk daran, daß es deine inneren Organe auffrißt … – eine leise Stimme, die immer leiser wurde …) Das Mädchen sah ihn an. In ihren Augen blitzte eine Einla dung auf. Er schwankte. Die leise Stimme wurde lauter. Erklärte ihm, Rickenharp, wenn du zu ihr hingehst, wenn du mit ihr gehst, wirst du’s auch wieder nehmen. Er gab sich innerlich einen schmerzhaften Ruck und wandte sich ab. Stolperte durch die Flut von Musiklärm, Lichtern und
monochromen Menschen zur Garderobe. Zu seiner Gitarre und seinen Kopfhörern und der sichereren Welt des Schalls. »Sie haben ihn mir gegeben«, sagte Steinfeld, »und ich gebe ihn zurück. Und ich glaube, wir werden ihn beide behalten.« Purchase lächelte und nickte. »Stisky ist ein Fund. Ein Glückstreffer.« Purchase war ein großer Mann mit schlaffem Körper, dünnem Haar und einem breiten Grinsen. Er atmete laut, besonders wenn er schlief. Und er lachte gern, und ihm entging nicht viel. Die beiden Männer mochten sich, obwohl sie aus verschiedenen Gründen bei der NR waren. Steinfeld hatte die NR nach seinem eigenen Idealbild geformt. Sie war eine Erweiterung seiner Überzeugungen – manche würden sagen, seiner fast schon perversen Obsession. Purchase arbei tete für Witcher, Steinfelds hauptsächliche Geldquelle. Aber nein, überlegte Steinfeld, als sie sich in eine Nische der Cock tailbar in Freezone schoben, Purchase arbeitete für sich selbst. Das hätte ihn verdächtig machen müssen, tat es aber nicht. Steinfeld traute ihm mehr als einigen politischen Zeloten der NR. »Irgendwelche Probleme mit den Blockaden?« fragte Pur chase, während er an seiner goldenen Halskette herumspielte. Steinfelds Stirn furchte sich. »Ja und nein. Ich bin durchge kommen, aber diesmal war’s eng. Noch hat keiner auf uns geschossen. Aber sie hätten es getan, wenn sie uns früher aufgespürt hätten. Manchmal möchte ich Witchers Piloten bitten, es mir nicht zu sagen, wenn wir verfolgt werden. Ich will’s lieber gar nicht wissen, wenn ich drauf und dran bin, vom Himmel gepustet zu werden …« »Bringen Sie jemand mit durch?«
»Ein paar Leute. Wir können jedesmal nur eine Handvoll rausholen … und schon bei denen ist es riskant. Ich werde nicht mehr viele solche Flüge machen.« Er schnitt eine Gri masse und wechselte das Thema. »Das ist ein Seidenanzug, oder? Ich kann’s bei dem Licht nicht so gut erkennen, aber ich glaube, er ist blau. Stimmt’s?« »Stimmt. Beides.« Purchase winkte der Kellnerin. »Ich möchte was Großes und Buntes in einem Riesenglas«, sagte er, als die Kellnerin mit verschwollenen Augen gähnend an den Tisch kam und sich die Schläfen rieb. »Was Süßes. So süß wie das, was Sie gestern nacht so lange wachgehalten hat.« Sie lächelte beinahe. »Irgendwas mit ‘ner Meerjungfrau aus Plastik und ‘nem kleinen Papierschirm?« »Aber unbedingt.« »Ich hätte gern einen Scotch, bitte«, sagte Steinfeld. »Mit Eis.« Sie sahen ihr nach. Sie trug ein Kleid, das willkürlich Fern sehsignale empfing, die durch den Raum gingen, und die Bilder der Länge nach auf ihrem grazilen Körper reproduzier te. Eine Collage von Gesichtern – die meisten mit den diversen Mienen, die aufgesetzt wurden, um etwas zu verkaufen oder um Vertrauen zu werben – kräuselte sich über ihren Hintern und die Rückseite ihrer Schenkel. Die Bar war am Rand einer Disco. Minimono dröhnte und wummerte auf der Tanzfläche. Lichter kreisten wie landende UFOs in einem alten Film, den Steinfeld als Junge gesehen hatte. Sie mußten sich über den transparenten Plastiktisch beugen, um sich zu unterhalten. Aber sie hatten sich diese Nische ausgesucht, weil sie abhörsicher war; bei dem Lärm im Hin
tergrund waren Wanzen sinnlos. Die Lichter färbten Purchases Gesicht in immer neuen Farb tönen, als ob ein expressionistischer Maler mit seinem Porträt experimentierte. Er war rosarot mit blauen Tupfen, als er fragte: »Wie hat Stisky auf die Ausbildung angesprochen?« »Wie ein Fisch auf Wasser. Je härter, desto besser. Naja, immerhin war er mal Pfarrer … Hat er schon einen Namen?« »John Swenson. Die Tarnung hat eine gute Grundlage: Es gab einen John Swenson, der im selben Jahr geboren ist wie Stisky. Er starb fünf Jahre später. Sah dem kleinen Stisky damals ziemlich ähnlich. Sein Tod ist in seiner Heimatstadt nicht registriert worden; er starb bei einem Bootsunfall mit seinen Eltern im Urlaub. Sie sind alle ertrunken. Sein Tod wurde in Florida registriert, ist aber nie in den Computer eingegeben worden. Da waren sie damals noch nicht so mo dern. Den Rest haben wir zusammengestellt. Wir haben einen Satz falsche Erinnerungen zur Implantation ausgearbeitet. Ich glaube, wir haben ein paar aussichtsreiche Kandidaten für die Implantate …« Als er den Ausdruck auf Steinfelds Gesicht sah, fragte er: »Haben Sie Bedenken gegen Gedächtnisimplantate?« »Dieses Rumspielen mit den Gehirnen von Menschen … – ist mir gleich, welche Seite das macht – nein, ich mag’s nicht. Es ist…« Er schüttelte den Kopf. »Zu dicht an einem Eingriff in die Seele?« »Ich glaube nicht an die Seele«, sagte Steinfeld. »Aber – ja, es ist zu dicht an einem Eingriff in die Seele.« »Wir stecken in der Klemme. Wir sind zu wenige. Wir müs sen alles benutzen, was wir in die Hände kriegen. Wenn’s Ihnen ein Trost ist, wir nehmen keine Implantationen an unseren eigenen Leuten vor. Wir sollten, aber wir tun’s nicht.
Nur beim Feind.« Steinfeld zuckte die Achseln. »Meinetwegen. Wie hoch oben könnt ihr ihn plazieren?« Purchase druckste herum; er wirkte unsicher. Die Kellnerin kam mit ihren Drinks zurück. Der von Purchase war so etwas wie ein phantasmagorischer Daiquiri. Eine Zeichentrickfigur flog über den Bauch der Kellnerin (Wie hieß sie noch? Grem lin?) und wurde sofort von einem Wagen ersetzt, der frontal in einen anderen hineinkrachte; beide gingen in Flammen auf. »In Ihrem Magen stoßen Autos zusammen«, erzählte ihr Purchase. »Jetzt weiß ich, woher mein Sodbrennen kommt«, erwiderte sie und stippte die Kreditkarte von Willowaws WorldtalkSpesenkonto in das Kredgerät an ihrer Hüfte. Sie gab ihm die Karte zurück und ging davon. Marilyn Monroe winkte ihnen von ihrem Hintern aus zu. Die Brüste der Monroe legten sich für einen köstlichen Moment über die Pobacken der Kellnerin. »Die Leute haben das Gitter jetzt an«, sagte Steinfeld. »Am besten, Sie beten zu Gitterfreund, daß sie nicht auch noch solche Tapeten machen.« Steinfeld lächelte. Das Lächeln war durch seinen Bart kaum zu sehen. Er trug einen billigen schwarzweißen Flachanzug, der hier ein bißchen schäbig wirkte, aber passabel war. »Ich denke … denke, verstehen Sie … ich kann Stisky – oder jetzt Swenson, wenn Sie wollen – ich denke, ich kann Swenson nach einer kurzen … äh … Probezeit im Second Circle selbst plazieren«, sagte Purchase. »Und ich kann ihn da innerhalb von ein paar Wochen reinbringen – naja, nicht direkt rein, aber dicht dran.« Steinfeld sah Willowaw scharf an. Zum erstenmal glaubte
er ihm nicht. »Wir haben drei Jahre gebraucht, um Devereaux in den Second Circle zu kriegen. Und das ging noch schnell. Er war in den unteren Rängen, wie Sie’s genannt haben, und zwar für …« »Ich weiß. Aber…« Purchase beugte sich näher zu ihm. »Aber ich habe Crandalls Schwester kennengelernt. Wir haben eine Computerstudie über die Schriftmuster auf ihren Geschäftspapieren durchgeführt. Sie hat alle zwei Jahre eine Affäre – fast auf den Tag genau! Normalerweise irgendwas mit der heißen Nadel Gestricktes. Rick schiebt die Kerle dann ab, oder Ellen Mae verliert das Interesse. Wir glauben, daß es mit dem nächsten was Ernsteres werden wird. In einer Woche ist es soweit. Dann stelle ich ihr Swenson vor. Sie hat ein wachsendes Bedürfnis nach langfristiger emotionaler Sicher heit. Wir haben ihr Präferenzprofil studiert; Swenson müßte ihr Archetyp sein. Sie lernt Swenson kennen, Swenson macht ihr den Hof – und wir sind uns ja beide einig, daß er das Talent dazu hat – und sie wird ihn mit raufbringen. Und er hat sich in ihren unteren Rängen natürlich sehr gut gemacht.« »Sie sind sich Ihrer Sache sehr sicher. Mir scheint, es ist nicht…« »Ich könnt’s beschwören. Ich würde ‘ne coole Million drauf setzen.« Steinfeld nickte. »Tja, da haben Sie gerade den Gott angeru fen, der Ihnen am meisten bedeutet. Ich bin beeindruckt. In Ordnung. Wenn es so weit geht…« Purchase schüttelte den Kopf. »Sie glauben im Grunde nicht, daß Devereaux es schaffen wird, stimmt’s? Wissen Sie, wer der neue Sicherheitschef der SA ist? Der alte SackvilleWest. Devereaux ist der nervöse Typ. Der alte Sacks hat ‘ne
Nase für sowas.« »Dann wird er vielleicht auch unseren Swenson riechen.« »Glaub ich nicht. Swenson hat Talent. Und er wird viel leicht sogar Ellen Maes Unterstützung haben. Vertrauen Sie mir.« Sie befaßten sich einen Moment lang mit ihren Drinks. Steinfeld schaute nach unten, durch den Tisch und durch den Boden. Der Boden war transparent; die Disco ragte aus der Seite des zweihundert Stockwerke hohen Wolkeneinkaufszen trums heraus, das sich über dem größten Helikopterflughafen von Freezone erhob. Weit unten – und direkt unter ihnen – stiegen funkgesteuerte Kopter auf und landeten, leuchtende Libellen im vom Meer polierten Sonnenlicht. Steinfeld wurde es schwindlig. Er fröstelte und richtete den Blick auf die weite Fläche der kobaltblauen See. »Komisch, wie regelmäßig, perfekt und ordentlich die Wellen von hier oben aussehen. Wenn man unten dicht dran ist, sind sie völlig chaotisch.« Purchase schaute von seinem Drink auf. Ohne den Stroh halm ganz aus dem Mund zu nehmen, sagte er: »Sollte das irgend ‘ne Parabel sein?« »Nein. Aber ich schätze, man kann’s so sehen. Hier oben betrachten wir zu vieles als selbstverständlich.« Die Kellnerin kam vorbei. Auf ihrem Kleid liefen vierzig TV-Kanäle gleich zeitig. Steinfelds Haut begann davon zu kribbeln. »Wie viele von diesen Programmen« – er nickte zu dem Fernsehkleid – »sind Worldtalks Werk?« »Nicht viele von den längeren. Aber ein Haufen kleine, die regelmäßig ausgestrahlt werden. Worldtalk wird sich diese Woche mit dem SA-Bericht beschäftigen. Crandall will natür
lich, daß ich das überwache. Und ich werde meine Sache gut machen müssen. Das wissen Sie.« »Vorläufig, ja. Aber geben Sie sich Mühe, sie nicht im aller besten Licht zu zeigen. Okay?« Worldtalk. Die weltumspannende Publik Relations- und Werbeagentur. Purchase war ein chinesisches Schächtelchen in Menschengestalt. Ein Mann in einem Mann in einem Mann. In einem weiteren. Vom innersten Schächtelchen aus gesehen: sein eigener Herr und doch Witchers Mann; Witchers Mann und doch der von Steinfeld; Steinfelds Mann und doch SAMann. SA-Mann und doch bei Worldtalk. Steinfeld glaubte, daß die Abfolge in dieser Rangordnung der Wichtigkeit ver lief. Er mußte es glauben, weil er Purchase brauchte. Es gab zu wenige wie ihn. Natürlich, da war Devereaux. Der vielleicht völlig sinnlos geopfert werden würde. »Sie können … Swenson in einer Stunde abholen, im …« Er zog einen Hotelschlüssel mit einem Plastikanhänger aus der Tasche und gab ihn Purchase, der den Schlüssel beiläufig, aber rasch einsteckte. »Er wird da sein. Ihr Bericht über seine Pla zierung geht an Bensimon in der israelischen Botschaft. Der hält immer noch zu mir. Und an Witcher. Lassen Sie’s uns wissen, wenn er nah an sie herankommt… an Ellen Mae.« »Hört sich an, als ob Sie selber nicht recht glaubten, daß Devereaux es schafft.« (Das Licht wechselte; Purchases Gesicht wurde grün, dann blau.) »Man muß an alle Möglichkeiten denken.« »Wenn Devereaux es nicht schafft, müssen wir sein Unter stützungsteam ganz schnell abziehen.« »Die werden alleine klarkommen müssen. Ich fliege in ein
paar Stunden ab. Das werden sie schon hinkriegen. Sie sind … ungeschliffen. Aber gut.« Er schaute aufs Meer hinaus und dachte: Wenn Devereaux es nicht schafft… Acht Menschen waren in dem Raum, und jeder von ihnen war auf seine Weise ein Mörder. Nein: Sieben waren Mörder. Der achte war ein Mann, der in der Hoffnung hergekommen war, einer zu werden. In einem Konferenzraum unter dem Meer, viele Stockwerke tief unter Freezone. In Freezones riesigem achteckigen Floß gab es Lufttaschen und Schichten aus Schwimmersynthetik. Die meisten Gebäude im exklusiven Zentralkomplex von Freezone – der durch eine Mauer vom Rest der Stadt abgetrennt war, um den Bewohnern und Besuchern Sicherheit zu garantieren – ragten wegen der größeren Stabilität und der geringeren Windanfälligkeit wie gewaltige Stalaktiten nach unten, bis weit unter die ›Schwimmträgerstruktur‹. In einem dieser Gebäude, dem umgekehrten Keil des Fuji Hilton, führten Richard Crandall und Ellen Mae Crandall den Vorsitz bei der Konferenz. Das Licht im Raum war gedämpft, damit der Instruktions schirm besser zu sehen war. Fünf Männer und die Frau saßen am Tisch. Zwei Sicherheitsleute standen hinter Crandall am Kopfende des Tisches. Alle waren ins kränkliche, elektronisch blaue Licht des Schirms gebadet, der die obere Hälfte der Wand rechts von der Tür einnahm. Auf drei Seiten war es ein normaler Tagungs- und Konfe renzraum, ein zwölf mal fünfzehn Meter großes ›Planungszen trum‹. Die Wände bestanden aus dem üblichen gemaserten
Holzimitat. Der Tisch paßte dazu. Die Drehsessel waren aus Konturschaum. An der Decke waren verstellbare Lampen angebracht, deren weiches Licht jetzt gedämpft war. Ein Feld mit Bedienungselementen für den Schirm und Ruftasten für den Zimmerservice war an einem Ende des länglichen Tisches eingelassen. Ein Raum, der nach neuer, synthetischer Ausle geware und nach Antiseptika roch. Die vierte Wand hinter Crandall war ein Fenster aus dickem Plasglas, das auf die Unterseite der schwimmenden Stadt hinausging. Die mattblaue Szenerie wurde unregelmäßig von flachen weißen Rechtecken aus Licht erhellt, die versetzt an den nach unten ragenden Vorsprüngen anderer Gebäude angebracht waren. Die Bauwerke sahen wie Spiegelungen in einem Teich aus; sie hingen nach unten. Aber wenn man genauer hinschaute, konnte man Menschen in ihrem Inneren sehen. Richtig herum stehende Menschen in verkehrt herum stehenden Gebäuden. Ab und zu schwamm irgendein glän zendes, gestreiftes Ding mit weit offenem Maul in die Nähe der Fenster, vom Licht angelockt; oder Quallen wogten nach oben, wie körperlose Herzklappen pumpend. Devereaux saß am Tisch und schaute in die Unterwasser welt hinaus. Er hielt seine Maske der Geistesabwesenheit sorgfältig aufrecht, konzentrierte sich darauf, nur an Quallen zu denken. Er gestattet sich keinen Gedanken an die Tat, die er gleich ausführen würde. Es war noch nicht an der Zeit, daran zu denken. Am besten dachte er überhaupt nicht daran. Am besten, er ließ es geschehen, so wie ein Wecker zu klingeln beginnt. Von dem blauweißen Schirm drang eine monotone Stimme in den klimatisierten Raum. Sie begleitete die Tabellen und
Zahlen, die dort auftauchten und wieder verschwanden. »Die Zahl der neuen Mitglieder der Alliance in Brüssel stieg in den letzten sechzig Tagen um dreiundvierzig Prozent«, sagte die Stimme. »Der Alliance-Koordinator für Brüssel schreibt diesen steilen Anstieg der antisowjetisch-antiamerikanischen Infor mationskampagne zu. Die Abneigung gegen die ›ausländi schen Kriegsparteien‹ hat eine wachsende Zahl von Belgiern in die Alliance geführt; ihr Eintritt hing stets von der Garantie der Alliance ab, sämtliche Ausländer schließlich auszuweisen. Koordinator Casterman rechnet nur mit einer sehr geringen Abreaktion der belgischen Rekruten während der letzten Phase; er geht davon aus, daß die gründliche Indoktrination im Lager jeden signifikanten Unmut verhüten wird, wenn – um mit dem Resistance-Führer Chartres zu sprechen – ›das Land von Ausländern übernommen wird, die versprochen haben, uns vor Ausländern zu schützen‹.« Crandall drückte auf eine Taste. Der Bericht stoppte; das Bild fror ein. Er machte das Licht wieder hell und wandte sich an Sackville-West, den Chef der Inneren Sicherheit. »Wer hat diesen Bericht verfaßt?« In der autoritären Schärfe seiner Frage war sein leichter Südstaatenakzent kaum wahrzunehmen. Crandall war ein schlanker, fast dünner Mann mit schwarzen, ein wenig tiefliegenden Augen. Sein breiter, beweglicher Mund konnte sich so plötzlich wie eine aus ihrer Deckung auffliegende Taube zu einem strahlenden Lächeln verziehen, konnte sich jedoch auch ebenso leicht zu einer Miene so hefti ger Mißbilligung zusammenpressen, daß er ihn als eisernen Schraubstock benutzen konnte. Sein zurückweichendes Haar lief vorn zu einer Witwenspitze zusammen, und er kompen sierte es mit langen Koteletten. Eine kräftige Nase, vorsprin gende Wangenknochen – ein Gesicht wie ein bartloser Lincoln.
Er trug einen Anzug mit Krawatte aus braunem Leder und weißer Seide. Seine Schwester zu seiner Linken sah ihm in Devereaux’ Augen unangenehm ähnlich. Auch ohne Kotelet ten. Ihr Gesicht war ein bißchen weicher, ihre Lippen roter. Aber sie sah ihm ähnlich. Vielleicht war es der Gesichtsaus druck. »Dieser Bericht…«, murmelte Sackville-West und räusperte sich mehrmals, während er in einem Taschencomputer mit Schnellzugriff nachsah, »äh, dieser Bericht stammt von … äh …« Sackville-West war ein rotgesichtiger Brite mit einem Dreifachkinn und einer kommaförmigen Haartolle in der Stirn. Er schwitzte unaufhörlich, selbst in einem klimatisierten Raum. Man fühlte sich versucht, ihm zu sagen: Warum gehen Sie nicht in eine Klinik und lassen sich ein neues Gesicht verpassen? Sie können sich’s doch leisten. »Swenson hat diesen Bericht geschrieben«, sagte Sackville-West schließlich und blickte von seinem Gerät auf. Devereaux hob beiläufig eine Hand zur Wange und drückte auf den Kontaktstift unter der Haut, direkt unter seinem rechten Wangenknochen. Sein rechtes Auge, ein MossadProdukt, erhöhte die aufgenommene Bildmenge pro Sekunde um 500 Prozent. Er rieb sein linkes Auge, als ob er müde sei, und schloß es, so daß nur das rechte Eindrücke aufnahm. Einzelheiten, die dem menschlichen Auge normalerweise entgingen, kamen in seiner prothetischen Wahrnehmung zum Vorschein: ein Aufflackern von Angst, das so rasch über Sackville-Wests Gesicht ging, daß Devereaux es ohne das Implantat niemals hätte sehen können. Es sagte Devereaux nur, daß sich Sackville-West körperlich vor Crandall fürchtete. Nichts Neues also.
»John Swenson«, wiederholte Sackville-West. »SA-Nummer 34.428, aufgenommen im Februar …« »Es gefällt mir nicht, daß er Chartres zitiert«, unterbrach Crandall. »Das kann ich verstehen, Rick.« Er nickte eifrig. Der Ton, in dem er ihn mit ›Rick‹ anredete, bedeutete: Ja, Sir. »Aber ich glaube, es war nur sein Sinn für Humor. Hier steht, daß er einen ausgeprägten Sinn für Ironie hat. Ich würde in der Bemerkung eine Art süffisanter Solidarität mit uns sehen; er macht sich über die Resistance lustig.« »Da bin ich mir nicht so sicher«, sagte Crandall. »Lassen Sie ihn beobachten.« »Geht in Ordnung, Rick. Ich habe schon eine entsprechende Anweisung gegeben.« Er tippte noch etwas in den Taschen computer ein; die winzigen Tasten waren fast zu klein für seine dicken Finger. Devereaux beobachtete Ellen Mae mit seinem Hochge schwindigkeitsauge. Etwas huschte blitzartig über ihr Gesicht und war wieder verschwunden. Aber Devereaux hatte es gesehen: Nervosität. Besorgnis. Um … Um Swenson. Also hatten sie es schon geschafft, ihr Interes se an Swenson zu wecken. Sie warf Devereaux einen flüchtigen Blick zu und schaute wieder weg. Ich darf keine Aufmerksamkeit auf mich lenken, indem ich mein Auge so häufig reibe, dachte er. Er öffnete das linke Auge, tat so, als ob er sich die Wange kratzte, und schal tete damit den Overdrive in der Prothese ab. Devereaux drehte sich zu Crandall um, der dazu überge gangen war, Anmerkungen zu dem Bericht aus Belgien zu machen. »… trotzdem glaube ich, daß die antiamerikanisch
antisowjetische Kampagne sehr gut läuft, und wir sollten mit denselben Mitteln fortfahren, indem wir die umfassende öffentliche Auswertung der Materialien weiterführen. Unsere NATO-Freunde« – er grinste, und das war das Zeichen für ein einträchtiges Geschmunzel am Tisch, das alle pflichtschuldigst sehen ließen – »würden eine solche unterschiedlose Behand lung kaum billigen, wenn es herauskäme.« Devereaux lächelte und nickte, wie es von ihm erwartet wurde. Er warf einen raschen Blick auf die Sicherheitsleute hinter Crandall, die eigentlich reine Leibwächter waren … und fragte sich, ob sie wirklich Leibwächter waren. Die verdamm ten Helme, die ihre Augen verbargen, machten sie auf nervtö tende Weise undurchschaubar. Er glaubte zu spüren, wie sie ihn beobachteten. Nicht nervös werden, sagte er sich. Denk gar nicht an den Job. Du tust es, wenn es soweit ist. Aber Crandall war in hohem Maße paranoid; seine Sicher heitsleute wußten das, und sie wußten auch, daß von ihnen erwartet wurde, jeden als Verdächtigen zu behandeln. Selbst jetzt standen sie hinter ihm, zwischen ihm und dem Fenster, weil Crandall sofort etwas gegen das Fenster gehabt hatte, als er in den Raum gekommen war. »Ich mag’s nun mal nicht, Freunde«, hatte er gesagt. »Jeder könnte bis zum Fenster tauchen und eine Unterwasserrakete durchjagen …« Aber sie waren eh schon im Verzug, und Ellen Mae hatte ihn davon überzeugt, daß das Glas speziell gegen solche eventuellen Versuche, die Sicherheitsmaßnahmen zu durch brechen, verstärkt war und einen direkten Treffer einer 90 Millimeter-Granate aushalten konnte, ohne zu splittern. Und
sie hatten den Raum gründlich geprüft, hatten die Wände, den Fußboden, den Tisch und die Lampen nach Wanzen oder Kameras abgesucht. Wenn sie in einen anderen Raum wech selten, würden sie keine Zeit für einen erneuten Sicherheits check haben. Er hatte widerwillig zugestimmt, den Raum mit der Glaswand zu benutzen. Crandall ließ den Bericht weiterlaufen. Die Stimme leierte Angaben über Truppenbewegungen herunter, bestätigte, daß sich die Sowjets zurückzogen, und meldete die Einnahme wichtiger Frontabschnitte. Als Paris an die Reihe kam, merkte Devereaux, wie der Druck in seinem Innern wieder wuchs. Er fragte sich, ob die Waffe in seinem Aktenkoffer ausrei chend gegen die Entdeckung abgeschirmt gewesen war. Aber wenn nicht, hätten sie ihn inzwischen schon verhaftet. Er fragte sich auch, ob er die Sicherheitsleute vor Crandall er schießen und Crandall trotzdem noch mit Sicherheit erwi schen konnte. Nein. Er würde Crandall zuerst umlegen müs sen. Das bedeutete, daß die Sicherheitsleute ihn erwischen würden. Und Devereaux würde sterben. Er erinnerte sich an ein paar Zeilen von Rimbaud. Mon âme éternelle, Observe ton voeu, Malgrè la nuit seule … * Devereaux’ ganz privates Gebet, als Crandall aufstand, um ein Gebet für die Versammelten zu sprechen.
Meine unsterbliche Seele, / löse dein Versprechen ein / Trotz der Nacht allein … *
Der olivbraune Aktenkoffer aus Simuleder lag neben Deve reaux’ Notizblock auf dem Tisch. Devereaux legte die Hand neben den Aktenkoffer. Es war fast soweit. Crandalls Gebete dauerten ungefähr drei Minuten. Alle Köpfe im Raum waren beim Gebet gesenkt, auch die der Wachposten. Selbst der von Devereaux. Aber sein Finger legte sich an das Schnappschloß an der Ecke des Aktenkoffers. Das Schnappschloß, das sich öffnen und ihm die Waffe in die Hand schleudern würde. Noch dreißig Sekunden, sagte er sich, als Crandall in glatten Rhythmen intonierte: »… bitten wir um Deine Hilfe, Herr, in diesem Deinem Kampf, in dieser Schlacht, um die Erde von den Fesseln der ererbten gesellschaftlichen Sünde zu befreien …« Devereaux hatte noch zwanzig Sekunden. Er ertappte sich dabei, wie er zurückdachte und sich fragte … Hör auf, darüber nachzudenken! befahl er sich. Steinfeld hat’s dir immer wieder gesagt: Du muß handeln, nicht denken! Handeln, nicht denken! Aber er sah sich bei der Versammlung der Neuen Rechten in Nizza, wo er Einwände erhoben, sonderbare Blicke der anderen Mitglieder auf sich gezogen und erkannt hatte, daß er dort nichts mehr verloren hatte. Sah, wie einer von Steinfelds Leuten danach an ihn herangetreten war. Bashung. Bashung hatte gehört, wie er ein paar vorsichtige Zweifel in bezug auf den Vorschlag geäußert hatte, die Forderung aufzustellen, daß die Regierung alle Neueinwanderer aus Frankreich hinaus werfen sollte. Bashung hatte Devereaux mit genau so einer Sehprothese beobachtet, wie er sie jetzt anstelle seines rechten
Auges trug, und er hatte das kurze Aufflimmern von Verwir rung, Sorge, Kummer und Ärger gesehen, das den anderen entgangen war. Es hatte nicht viel Zeit gekostet, ihn zu rekrutieren. Sie ent hüllten eine ganze Anzahl von Dingen über Crandall, die normalerweise geheimgehalten wurden. Sie nahmen Deve reaux mit, als sie die Aussagen von zwei Witwen aufzeichne ten, deren Männer von der SA ermordet worden waren. Bashung und Steinfeld spielten ihm Videos von Crandalls frühe ren Konferenzen mit seinen Koordinatoren vor, bei denen er eine Reihe wahnwitziger Statements in so kühlem und be dächtigem Ton abgegeben hatte, daß sich Devereaux die Nackenhaare sträubten. Devereaux war der Neuen Rechten in erster Linie wegen seines Hasses auf die Sowjets beigetreten. Aber wenn man erfaßte, was Crandall im Schilde führte … Im Vergleich zu Crandall wirkten die Sowjets wie kleine Lausbuben. Crandall war derjenige, auf den manche schon lange voller Sehnsucht, andere voller Furcht gewartet hatten. Derjenige, der – wie alle wußten – irgendwann wieder die Bühne betre ten würde. Und Devereaux war zu dem Zweck rekrutiert und ausge bildet worden, die SA zum Schein mit Leib und Seele zu unterstützen, ihr beizutreten und Karriere zu machen, bis er als Berater für die Machtübernahme der SA in Frankreich hier in diesen Raum gelangte. Devereaux schien erneut die Worte des jungen Dichters zu hören, des Verführers Rimbaud. Mon ante éternelle … Meine unsterbliche Seele … »Und wir danken Dir, Herr«, sagte Crandall gerade, »daß
du uns in unserem Kampf zur Seite stehst. In deine Obhut befehlen wir nun unsere unsterblichen Seelen …« Löse dein Versprechen ein … »Im Namen Jesu, des Erlösers …« Trotz der Nacht allein … »… stemmen wir uns gegen die Armeen der Dunkelheit. Lobet den Herrn, und Amen …« Wie lautete die letzte Zeile der Strophe? Da gab es noch eine Zeile, die Devereaux vergessen hatte. Sie lautete … Ah ja. Er erinnerte sich jetzt, als er auf den Schalter drückte und ihm der kühle Griff der Waffe in die Hand schnellte, während die anderen Amen intonierten. Er sprach die letzten beiden Zeilen laut aus, als er aufstand, sich umdrehte und die Waffe hob, um auf Crandall zu feuern. »Malgré la nuit seule, et le jour en feu.« Trotz der Nacht allein, und des brennenden Tages. Er schoß. Die teflonbeschichteten Kugeln durchschlugen Crandalls kugelsichere Weste, aber die Sicherheitsleute erwi derten bereits das Feuer. Sie hatten ihn tatsächlich beobachtet. Er versuchte die Mündung der Waffe noch zu Ellen Mae herumzuschwenken, aber die automatischen Pistolen in den Händen der großen Männer hatten Löcher in ihn geschlagen, und er spürte eine schreckliche Leere unter seinen Füßen, als ob jemand den Mittelpunkt der Erde herausgerissen, sie ihres Kerns beraubt hätte; dann brach sie auf, und er fiel in die Leere und starb mit dem schmerzhaften Stich der Erkenntnis, daß er Crandall nicht voll getroffen hatte, der Mistkerl würde am Leben bleiben, der Mistkerl würde am Leben bleiben …
SIEBEN
RICKENHARP HÖRTE SICH ein Velvet Underground-Band von 1968 an, ein Sammlerstück. Es war in sein Earmite eingelegt. Der Song hieß ›White Light / White Heat‹. Die Gitarristen machten Sachen, die Baron Frankenstein die Worte »Es gibt Dinge, die der Mensch eigentlich nicht kennen sollte« entlockt hätten. Er schraubte das Earmite ein bißchen tiefer hinein, so daß die Vibrationen die Knochen um sein Ohr herum in Schwingungen versetzten und ihm kalte Schauer über den Rücken jagten, Schauer, die ihn im Gleichklang mit den Gitar renakkorden durchrieselten. Er hatte sich einen Visierclip ausgesucht, der zur Musik paßte: eine Dokumentation über expressionistische Maler. Velvet Underground hören und sich Richard Munch anschauen. Mann! Und dann bohrte sich Julios Finger in seine Schulter. »Glück ist vergänglich«, murmelte Rickenharp, als er das Visier hochklappte. Es sah wie die Spiegelstirnbänder aus, die Ärzte früher getragen hatten, nur daß der Schirm, der über die Augen heruntergeklappt wurde, rechteckig war, wie ein Rückspiegel. Manche waren außerdem mit einem daran befe stigten Kameraauge und Feldstim bestückt. Das Feldstim trug man enganliegend wie ein hauchdünnes Korsett auf dem Rücken. Die Kamera nahm ein Bild von der Straße auf, die man gerade entlangging, und leitete es zum Feldstim, das die Aufnahme zu einem Muster verarbeitete und damit den Rücken kitzelte. Irgendein Teil des Gehirns setzte daraus ein grobes Bild der Straße zusammen. Es war in den achtziger
Jahren für Blinde entwickelt worden und wurde jetzt von Videosüchtigen benutzt, die mit Visieren durch die Straßen liefen oder fuhren und dabei fernsahen, wobei sie ihren Weg mit Hilfe des Feldstims fanden; ihre Augen waren vom Schirm verdeckt, aber sie stießen nie wirklich mit jemandem zusam men. Rickenharp benutzte jedoch kein Feldstim. Deshalb mußte er Julio mit seinen eigenen Augen ansehen. »Was willste?« »‘n zehn«, sagte Julio. Julio, der Technicki-Bastard. In zehn. Sie waren in zehn Minuten wieder dran. José, Ponce, Julio, Murch. Rhythmusgitarre/Backup-Vocals. Keyboards. Bass. Drums. Rickenharp nickte und langte nach oben, um das Visier wieder herunterzuklappen, aber Ponce drückte auf den Schal ter am Kopfteil des Visiers. Das Visierbild schrumpfte wie eine Landschaft, die hinter einem Zug in einem Tunnel verschwin det, und Rickenharp hatte das Gefühl, als ob sein Magen im gleichen Tempo zusammenschrumpelte. Er wußte, was jetzt kommen würde. »Okay«, sagte er, drehte sich um und sah sie an. »Also?« Sie saßen in der Garderobe. Die Wände waren schwarz von Graffiti. Die Garderobenwände aller Rockclubs werden immer schwarz von Graffiti sein, von ihr geschunden und gegeißelt. Da wurde zum Beispiel rundheraus verkündet DIE PARASITEN HERRSCHEN oder fröhlich gemeckert SYMBIOSIS 666 HAT SICH HIER ZU TODE GELANGWEILT, es gab den versteckten Existentialismus von DIE ALKOLOID BROTHERS LIEBEN EUCH ALLE, FINDEN ABER, TOT HÄTTET IHR MEHR VOM LEBEN und die rätselhaften Sprüche wie SYNC 66 KLICKT JETZT. Es sah wie das Muster
einer arg faltigen Tapete aus. Es war übereinandergeschmiert. Es war ein Palimpsest. Eine halluzinatorische Stilisierung, wie eine Aufzeichnung des Elektronenfeuerwerks des visuellen Kortex. Die Wände, soweit sie an ein paar Stellen unter der Graffiti zu sehen waren, bestanden aus grau getünchter Preßpappe. Es war gerade genug Platz für Rickenharps Band. Sie hockten auf Küchenstühlen mit abgebrochenen Lehnen und auf einem dreibeinigen Schreibtischsessel herum. Den Platz zwischen den Sitzgelegenheiten nahmen die Instrumente in ihren Kof fern ein. Die Ränder der Koffer waren abgescheuert, das falsche Leder schälte sich. Die Hälfte der Verschlüsse war kaputt. Rickenharp sah die Band an, schaute im Uhrzeigersinn von einem Gesicht zum nächsten und wertete ihre Mienen wie bei einer Abstimmung: José zu seiner Linken, dessen Augen so aussahen, als hätte ihm jemand draufgehauen, und dessen Augenringe geradezu künstlerisch mit seinen zwei Handvoll Ohrringen harmonierten; seine Haare eine Irokesenfrisur mit drei Finnen, die mittlere rot, die beiden äußeren weiß und blau; ein Ring mit einem Bergkristall an seinem linken Zeige finger, der zu seinen bernsteingelben Bergkristallaugen paßte, was er auch wußte. Rickenharp und José waren eng befreun det gewesen. Sie sahen sich beide ein wenig vorwurfsvoll an. Zwischen ihnen herrschte eine schmollende Verstimmung wie bei einem Liebespaar, obwohl sie nie eins gewesen waren. José war beleidigt, weil Rickenharp sich weigerte, auf die neue Richtung umzusteigen: Rickenharp stellte seinen eigenen Musikgeschmack vor das Überleben der Band. Rickenharp war beleidigt, weil José auf eine Minimono-Drahtnummer umsteigen wollte, ein Verrat am geistigen Ethos der Band, und
weil er bereit war, Rickenharp zu opfern. Ihn durch einen Drahttänzer zu ersetzen. Sie wußten es beide, obwohl es nie ausgesprochen worden war. Das meiste, was sich zwischen ihnen abspielte, wurde semiotisch mit der gekünstelten, indi rekten Art der absolut Coolen übermittelt. Jetzt war Josés Aussehen ein schlechtes Vorzeichen. Sein Kopf war geneigt, als ob er sich den Hals gebrochen hätte. Seine Augen waren glanzlos. Ponce war ein Minimono geworden, zumindest äußerlich, und sie hatten deswegen einen heftigen Streit gehabt. Ponce war schlank – wie alle in der Band – und hatte ein Fuchsge sicht, und jetzt war er von Kopf bis Fuß grau wie ein Schlacht schiff, einschließlich der Haare und der Hautfarbe. In der verräucherten Atmosphäre des Clubs war er manchmal über haupt nicht mehr zu sehen. Er trug silberne Kontaktlinsen und starrte auf eine in zehn Facetten zersplitterte Spiegelpalast-Reflektion in seinen ver spiegelten Fingernägeln. Er wirkte ausgesprochen bedrückt. Julio, ja, der wollte Rickenharp die Hölle heiß machen, und er war für die Auswechslung. Klar, er stand loyal zu Ricken harp – bis zu einem gewissen Punkt. Aber er war auch ein Anpasser. Er würde vielleicht für Rickenharp eintreten, aber schließlich würde er sich der Mehrheit anschließen. Julios üppige, schwarzgelockte Puertoricanerhaare türmten sich wie der Bug eines Schiffes über seinem Kopf auf. Er hatte das Profil und die langwimprigen Augen einer Frau. Er trug einen silbernen Ohrstecker und klassische Retro-Rock-Sachen aus schwarzem Leder, wie Rickenharp. Er drehte den Schädelring an seinem Daumen hin und her, erwiderte dessen Grinsen mit einem finsteren Blick und starrte ihn an, als ob er zutiefst
besorgt sei, daß ihm gleich eins der roten Glasaugen aus imitierten Rubinen herausfallen würde. Murch war ein dicker, bulliger Typ mit einem angesägten Bürstenschnitt. Er war ein mittelmäßiger Drummer, aber immerhin ein Drummer – eine fast ausgestorbene Spezies von Musikern. »Murch ist so selten wie ‘n Dodo«, hatte Rickenharp einmal gesagt, »und das ist nicht das einzige, was er mit dem Tränentier gemein hat.« Murch trug eine Hornbrille und hatte eine Flasche Southern Comfort auf einem Knie. Der Southern Comfort gehörte zu seinem Outfit. Er paßte zu seinen Cow boystiefeln. Fand er jedenfalls. Murch sah Rickenharp mit offener Verachtung an. Er war zu doof, um sich zu verstellen. »Leck mich, Murch«, sagte Rickenharp. »Hä? Ich hab doch gar nix gesagt.« »Brauchste auch nicht. Ich kann riechen, was du denkst. Da würde sogar ‘ne fade Made dran ersticken.« Rickenharp stand auf und sah die anderen an. »Ich weiß, was euch im Kopf rumgeht. Gebt mir bloß eins: einen letzten guten Gig. Danach könnt ihr’s so haben, wie ihr wollt.« Die Spannung hob ihre Flügel und entwich. Ein anderer Vogel senkte sich auf den Raum herab. Ricken harp sah ihn vor seinem geistigen Auge: ein Donnervogel. Er bestand halb aus der Donnervogel-Bemalung eines indiani schen Tipis und halb aus den verchromten Teilen eines Ford Thunderbird. Wenn er die Schwingen ausbreitete, funkelten die Stoppelfedern wie polierte Stoßstangen. Er hatte zwei Scheinwerfer an der Brust, und als die Musiker der Band ihre Instrumente nahmen und auf die Bühne hinausgingen, flamm ten die Scheinwerfer auf.
Rickenharp hatte den schwarzen Koffer mit seiner Stratoca ster in der Hand. Der Koffer war mit silbernem Klebeband geflickt, und verblichene Sticker blätterten ab. Aber die Strat war makellos. Sie war durchsichtig. Ihre Kurven waren so heiß wie die eines Sportwagens. Sie gingen durch einen Korridor mit weißen Plastikziegeln zur Bühne. Der Korridor verengte sich nach der ersten Bie gung, so daß sie seitlich gehen und die Instrumente vor sich hertragen mußten. Raum war kostbar in Freezone. Der Bühnenroadie sah Murch als ersten herauskommen und gab dem DJ ein Zeichen, der die Musik stoppte und die Band über die PA ansagte. So altmodisch, wie Rickenharp es verlangt hatte: »Ladies and Gentlemen, einen kräftigen Ap plaus – hier ist Rickenharp.« Die Menge reagierte nicht mit begeistertem Geschrei. Es gab ein paar schrille Pfiffe und spärliches Geklatsche. Gut, du Miststück, kämpf mit mir, dachte Rickenharp, wäh rend er darauf wartete, daß die Musiker ihre Positionen ein nahmen. Er würde als letzter auf die Bühne gehen. Wenn die Band die Show für ihn eröffnet hatte. Wie immer. Rickenharp kniff in der Kulisse die Augen zusammen, um durch das gleißende Licht in die dunkle Schlangengrube des Publikums zu schauen. Nur noch zur Hälfte Minimonos jetzt. Das war gut; es gab ihm die Chance, die Sache anständig über die Bühne zu bringen. Die Musiker nahmen ihre Plätze ein. Sie drückten auf ihre automatischen Stimmgeräte und fummelten an Reglern her um. Rickenharp war angenehm überrascht, zu sehen, daß die Bühne in sanftes rotes Schweinwerferlicht getaucht war, wie er
es verlangt hatte. Vielleicht gehörte der Oberbeleuchter zu seinen Fans. Vielleicht würde die Band es diesmal nicht ver masseln. Vielleicht würde alles in Ordnung kommen. Viel leicht würde das Schloß an der Käfigtür von selbst in die richtige Kombination flutschen, so daß die Käfigtür aufsprang und der Donnervogel abhob. Er hörte, wie sich ein paar Zuschauer flüsternd über Murch unterhielten. Die meisten von ihnen hatten noch nie einen Drummer live auf der Bühne gesehen, außer bei Salsa-Bands. Rickenharp schnappte einen Fetzen Technicki auf: »Wasma chernmit?« Was macht er denn damit? Es bedeutete: Was sind das für Dinger, die er da zurechtschiebt? Die Drums. Rickenharp nahm die Strat aus dem Koffer und schnallte sie um. Er stellte den Gurt richtig ein und drückte auf das Stimm gerät. Er brauchte die Gitarre nicht anzuschließen; wenn er auf die Bühne ging, würde das Empfängerfeld des Verstärkers ausgelöst werden und die Signale von der Strat an den Mar shallturm hinter dem Drummer übertragen. In gewissem Sinn eine Schande, was die Miniaturisierung der Elektronik ange richtet hatte: Die Amps waren klein, aber trotzdem genauso laut wie die Verstärker und Lautsprecher des zwanzigsten Jahrhunderts. Aber sie sahen nicht mehr so imposant aus. Im Publikum gab es auch Gemurmel über die MarshallVerstärker. Die meisten von denen da unten hatten noch nie altmodische Amps gesehen. »Wozu sind die da?« Murch sah Rickenharp an. Rickenharp nickte. Murch setzte mit einem Viervierteltakt ein und spielte einen Moment lang allein. Dann stieg der Bass ein und legte eine Klangschicht, die so etwas wie ein leicht asynchrones Stolzie ren war. Und die Keyboards öffneten die Weiten der Unend lichkeit.
Jetzt konnte er auf die Bühne kommen. Es war, als wäre ein Abgrund zwischen Rickenharp und der Bühne gewesen, und als hätten der Bass und die Drums und die Keyboards zu sammen eine Brücke über diesen Abgrund gespannt. Er ging über die Brücke und trat in die Wärme der Scheinwerfer. Er spürte die Hitze der Lichter auf der Haut. Es war so, als ob man aus einem klimatisierten Zimmer in die Tropen hinaus träte. Die Musik litt lustvoll an einer tropischen Üppigkeit. Das reine weiße Licht des Spotscheinwerfers erfaßte ihn und hielt ihn fest, verengte sich auf seine Gitarre, als ob er die Anwei sung dazu gegeben hätte, und er dachte, Gott, der Typ am Lichtpult ist wirklich auf meiner Seite. Er hatte den Eindruck, fühlen zu können, was die Gitarre fühlte. Die Gitarre sehnte sich danach, berührt zu werden. Claire saß auf der Couch in ihrer Wohnung, die halb so groß war wie die ihres Vaters, und wartete auf die InterKolonieNachrichten im Fernsehen. Sie wartete mit stiller, kühler Angst. Sie hatte den Hauptraum ihrer Wohnung so eingestellt, daß er jetzt als Wohnzimmer fungierte; die Möbel änderten ihre Form und verwandelten den Raum ins Schlafzimmer, wenn sie es befahl. Die Wände um den Bildschirm herum waren durchsichtig und mit den Grün- und Scharlachtönen des Regenwalds gesättigt. Das Bild wechselte zu einer Regenbö, und die riesigen tropischen Blätter tanzten in dem Schauer; kristallene Perlen rannen an ihnen herab. Ein versteckter Belüfter lieferte den Geruch eines Dschungels im Regen. Sie konnte das herabströmende Wasser beinahe fühlen. Im Fernseher – eine krasse Anomalie in der Projektion des
Dschungels – lief eine Dokumentation über den Europäischen Kongress der neuen Rechten. Der Ton war abgestellt, aber es gab Untertitel, als der Führer der französischen Front National eine ihrer Meinung nach wüste Hetztirade mit der Gelassen heit eines Fernsehkochs vom Stapel ließ, der ein Rezept erläu terte. »… die Unausweichlichkeit des Konflikts zwischen Kulturen mit von Grund auf verschiedenen Wurzeln – zum Beispiel der europäischen und derjenigen des Mittleren Ostens – kann nicht länger vom Tisch gewischt werden«, sagte der angespannte, blasse kleine Mann gerade. »Die guten Absich ten jener, die islamische Fundamentalisten mit Europäern zu versöhnen trachten, haben nur die Funktion, die schmerzhafte Beseitigung eines gesellschaftlichen Mißstands in die Länge zu ziehen. Denn ich versichere Ihnen, diese Beseitigung eines gesellschaftlichen Mißstands ist unumgänglich. Immigranten aus Kulturen, die der unseren fremd sind, haben unsere kultu rellen Gewässer in einen Sumpf verwandelt. Es ist töricht zu glauben, daß wir jemals harmonisch auf einem Staatsgebiet zusammenleben werden. Es ist naiv und unrealistisch. Diese Naivität kostet uns Zeit, Geld und – jawohl – Menschenleben. Wir müssen der Wahrheit ins Gesicht sehen: Manche Rassen werden bis in alle Ewigkeit nicht einträchtig zusammenleben können! Die Antwort ist einfach: Ausweisung. Es liegt nicht an uns, ob wir bei unserer Lösung des Einwandererproblems zur Gewalt greifen müssen. Kulturelle Lebenskraft und rassische Reinheit sind Synonyme …« Angewidert wandte sie sich ab. Sie spürte, daß es einen dunklen Zusammenhang zwischen der Lage in Europa und auf der Kolonie gab, wollte sich jedoch nicht näher damit befassen. Sie machte sich einen Cocktail mit einem antidepressiven
neurohumoralen Transmitter darin, trank mit kleinen Schluk ken und fühlte sich – auf künstliche Weise – besser, während sie auf die Nachrichten wartete. Da waren sie. Sie stellte den Ton lauter. »… Die radikalen Technicki-Führer Molt und Bonham er klärten sich heute ›im Prinzip‹ einverstanden, mit Direktor Rimpler zusammenzutreffen, erklärten jedoch, sie könnten diese Zusammenkunft nicht ohne einen genauen Blick auf die ›Sicherheitsvorkehrungen‹ beider Seiten anberaumen.« Sie schüttelte traurig den Kopf und murmelte: »Sie glauben, wir würden sie bei einer Zusammenkunft festnehmen. So ein tiefes Mißtrauen …« Sie nippte wieder an dem nach Medizin schmeckenden Cocktail und dachte: Alles ist so viel schlim mer, als ich geglaubt hatte … Die Nachrichten brachten die Höhepunkte des letzten Ge sprächs zwischen den Führern der Technicki-Gewerkschaft und der Verwaltung. Da war Barkin, der Bursche mit dem Flachanzug, der sich in seinem näselnden Ton über ›einen Interessenskonflikt zwischen den Leitern der Wohnprojekte der Kolonie‹ ausließ und fortfuhr: »Admin ist eine Marionette von UNIC, die dafür sorgen soll, daß die Dinge nach den UNIC-Prioritäten laufen, und die heißen: Profit. Das bedeutet, daß die Kolonie aus den roten Zahlen herauskommen soll, was ja an und für sich eine gute Sache ist, aber nicht auf Kosten der Technicki-Unterkünfte. Admin behauptet, das TechnickiWohnprojekt im Freigelände würde viel teurer werden als ursprünglich angenommen und sei deshalb abgesetzt worden. Aber den Bau von Admin-Unterkünften haben sie nicht abge setzt. Zugegeben, es gibt weniger Admin-Leute, die unterge bracht werden müssen, aber vielleicht müßten wir einen
proportionalen Abstrich bei den Admin-Behausungen sehen, der dem Defizit bei den Technicki entspricht, oder irgendeine Bemühung, die Wohnqualität der Technicki und ihre Zu gangsmöglichkeiten zum Freigelände der Kolonie zu verbes sern – und da tut sich einfach gar nichts. Wir haben die Tatsa che völlig aus dem Blick verloren, daß die UN ihr gemeinsa mes Finanzierungsprogramm für die Kolonie angeboten haben, weil Professor Rimpler den Benachteiligten der Erde eine Heimat versprochen hat. Und nun kommen die Benach teiligten her und finden sich in überbelegten, schlecht belüfte ten Wohnheimen wieder, in einer Heimat, die noch trostloser ist als jene, die sie verlassen haben.« Claire nickte fast unmerklich. Da war etwas dran … Und nun hatten die Sowjets die Kolonie abgeriegelt und Schiffsla dungen mit Nahrung und anderen notwendigen Versor gungsgütern von der Erde abgefangen. Sie litten noch keinen Hunger, aber die Lagervorräte gingen allmählich zur Neige. Die Technickis reagierten auf die zunehmende Rationierung. Die Versorgung für Admin war ebenfalls rationiert worden, aber die Technickis waren skeptisch – und vielleicht hatten sie recht, dachte Claire. Aßen Praeger und die UNIC-Leute jetzt tatsächlich weniger? InterKolonie zeigte nun einen kurzen Film von den Krawal len in der Kolonie. Einer der Radikalen – wie hieß er gleich noch? Irgendwas mit Molt – Molt mit einem Rohrschlüssel in der Hand an der Spitze eines Angriffs in Korridor D. Vierzig Technicki-Männer und -Frauen hinter ihm. Darunter auch kleine Jungs, die noch keine zehn Jahre alt waren und Dinger in der Hand hatten, die wie Molotow-Cocktails aussahen. Die Gesichter in der Menge wirkten fast wahnsinnig vor Erleichte rung. Die Bilder waren von seitlich oben aufgenommen; sie
vermutete, daß sie von einer der oben in die Wände eingebau ten Überwachungskameras stammten. Molt schrie etwas durch gebleckte Zähne. Er sah die Kamera, die dicht unter der Decke angebracht war, drehte sich zu ihr um, rannte auf den Zuschauer los und warf den Schraubenschlüssel. Der Schrau benschlüssel traf die Kameralinse – Der Schirm wurde schwarz. Ohne sich dessen bewußt zu sein, bewegte sich Rickenharp zur Musik. Nicht zu sehr. Nicht auf die penetrante Schaut-herWeise, die manche Musiker drauf hatten. Mit der sie das Publikum zur Begeisterung zu zwingen versuchten, wobei jede Bewegung künstlich wirkte. Nein, Rickenharp war ein Naturtalent. Die Musik durch strömte ihn physisch, unbehindert von Ängsten oder Egokno ten. Sein Ego war da; es war der Brennstoff für sein privates olympisches Feuer. Aber es war auch so fleckenlos wie der Talar eines Priesters. Die Band spürte das. Rickenharp war heute abend in selte ner Hochform. Weil er befreit war. Die Spannungen waren verschwunden, weil er wußte, daß er das Ende der Fahnen stange erreicht hatte; über die Band war das Todesurteil ge sprochen worden. Jetzt hatte Rickenharp so wenig Angst wie ein echter Selbstmörder. Er hatte den Mut der Verzweiflung. Die Band spürte es und ließ es geschehen. Diesmal war die Chemie da, als Ponce und José in den Strophenteil kamen – José mit einem verwickelten Riff, das er tief unten zupfte, fast schon auf der Chromplatte, die die Saiten zusammenhielt; Ponce mit einem prachtvoll redundanten Thema, das durch den Bläsermodus des Synthesizers geschwemmt wurde. Die
ganze Band spürte die Chemie wie einen angenehmen elektri schen Schlag, den freudigen Schock, mit dem individuelle Egos zu einem Gruppen-Ego verschmolzen. Etwas, das über sexuelles Vergnügen hinausging. Das Publikum hörte zu, wehrte sich aber. Die Leute wollten nicht, daß es ihnen gefiel. Trotzdem, der Laden war voll – wegen des Rufs des Clubs, nicht wegen Rickenharp –, und all diese dicht an dicht stehenden Körper bildeten so etwas wie ein sensibles, atmosphärisches Exoskelett, und er wußte, daß sie das verwundbar machte. Er wußte, wo er sie berühren mußte. Rickenharp spürte, wie es klappte, und wirkte selbstsicher, aber nicht arrogant. Er war zu arrogant, um es zu zeigen. Das Publikum beobachtete Rickenharp wie jemand, der ei nen selbstgefälligen Gegner kurz vor einem Zweikampf an sieht und sich fragte: »Warum ist er so selbstgefällig? Was weiß er?« Er wußte über das Timing Bescheid. Und er wußte, daß es Gefühle gab, die selbst die Reserviertesten unter ihnen nicht beherrschen konnten, sobald diese Gefühle einmal freigesetzt waren; und er wußte, wie er sie freisetzen konnte. Rickenharp schlug einen Akkord an. Er ließ ihn durch den Raum schillern und sah sie an. Er nahm Blickkontakt auf. Es gefiel ihm, die trotzigen Blicke zu sehen, weil das seinen Sieg noch vollständiger machen würde. Er wußte es nämlich. In den letzten zwei Wochen hatte er fünf Gigs mit der Band gemacht, und bei allen fünf Gigs war die Atmosphäre gespannt gewesen, war die Chemie nur wie ein jäher Schub gekommen. Wie bei einer Jakobsleiter, bei der die beiden Pole nicht richtig verbunden waren, so daß der
Funke nicht überspringen konnte. Und es hatte sich wie eine Geilheit in ihnen aufgebaut, wie sexuelle Energie, die hinter ihren privaten Spannungen einge dämmt war; jetzt durchbrach sie den Damm, und die Band schüttelte sich vor Erleichterung, als Rickenharp donnernd in seine Sequenz einstieg und zu singen begann … Das Publikum starrte ihn mit hartnäckiger Feindseligkeit an, aber Rickenharp mochte es, wenn die Frau die Widerspen stige spielte. Ramm es ihnen in die Gehörgänge, Mann! Die Band spritzte Treibstoff in die Brennkammer des Raums. Rickenharp war der Zündfunke bei der Verbrennung; er brachte das Publikum dazu, zu reagieren, den Kolben herunterdrücken, und … sie fuhren ab. Rickenharp hatte das Steuer in der Hand. Er nahm sie irgendwohin mit, und jeder Song war eine Landschaft, durch die er mit ihnen jagte. Er ließ seine Stimmbänder vibrieren und sang:
You want easy overnight action want it casually A neat little chain reaction and a little sympathy You say it’s just consolation In the end it’s a compensation for insecurity That way there’s no surprises That way no one gets hurt No moral question tries us No blood on satin shirts
But for me, yeah for me PAIN IS EVERYTHING! Pain is all there is Babe take some of mine or lick some of his PAIN IS EVERYTHING Pain is all there is Pain is EVERYTHING … Aus ›Ein Interview mit Rickenharp: Der Kleine Methusalem‹, in ›Guitar Player Magazine‹, Mai 2017. GPM: Rick, du sprichst immer wieder von gruppendynami schen Prozessen, aber ich habe das Gefühl, du meinst das nicht im üblichen musikalischen Sinn. RICKENHARP: Der richtige Weg, eine Band aufzubauen, ist, daß sich die Mitglieder schlicht und einfach finden, wie Lie bespaare. In Bars oder sonstwo. Die Mitglieder der Band sind wie fünf Chemikalien, die mit einer spezifischen chemischen Reaktion verschmelzen. Wenn die Chemie stimmt, wird das Publikum in diese, diese Art von – tja, von sozialer chemischer Reaktion hineingezogen. GMP: Könnte das nicht alles eine Illusion sein, die auf dei nen eigenen psychologischen Bedürfnissen beruht? Ich meine, auf deinem Bedürfnis nach einer wahrhaft organischen, ge sunden Gruppe? RICKENHARP (nach einer langen Pause): In gewissem Maß, ja. Stimmt, ich brauche sowas. Ich muß irgendwohin gehören. Ich meine … okay, ich bin ein »Nonkonformist«, aber trotz dem brauche ich auf einer bestimmten Ebene ein Zugehörig
keitsgefühl. Vielleicht sind Rockbands eine Ersatzfamilie. Der Familienverband ist ja total im Arsch, also … ist die Band meine Familie. Ich würde alles tun, um sie zusammenzuhal ten. Ich brauche die Jungs. Wenn ich die Band verlieren wür de, wäre ich wie ein kleines Kind, dessen Mama, Papa, Brüder und Schwestern umgebracht worden sind. Und er sang: PAIN IS EVERYTHING Pain is all there is Babe take some of mine Suck some of his Yeah, said PAIN IS EVERYTHING … Er sang es verächtlich, mit diesem Du-kannst-mich-duMiststück-Ton, bei dem das Ende jeder Note halb Aufschrei und halb Melodie war, und vollzog jenen magischen Akt: eine Melodie hinauszuschreien. Er sah in ihren Gesichtern, wie sich Türen öffneten, selbst bei den Minimonos und den Neutralen, bei all den Flares, den Rebs, den Chaotikern, den Preps und den Retros. Sie vergaßen ihre subkulturellen Klassifizierungen in der organischen, orgasmischen Vereinigung durch die Musik. Schweißüberströmt stand er unter den Lichtern, knete te Klänge mit den Fingern und glaubte spüren zu können, wie die Klänge in seinen Händen Form annahmen, so wie ein Töpfer fühlt, wie der Ton unter seinen Fingern Gestalt an nimmt; und es war, als ob es keine Kluft zwischen dem Sound in seinem Kopf und dem aus den Lautsprechern gäbe. Sein Gehirn, sein Körper, seine Finger hatten die Kluft geschlossen, hatten den superkalten Unterbrecher so lange aufgeheizt, bis
er durchgebrannt war und den Kontakt hergestellt hatte. Ein Teil von ihm hielt Ausschau nach dem Putz der Chaoti kerin, die er zuvor gesehen hatte. Er verspürte eine leise Ent täuschung, als er sie nicht finden konnte. Freu dich lieber, sagte er sich, da bist du gerade noch mal davongekommen; die hätte dich wieder auf Boss Blue gebracht. Aber als er sah, wie sie sich nach vorn durchschob und ihm auf diese blasierte Insiderart ganz leicht zunickte, war er einfach froh, und er fragte sich, was sein Unterbewußtsein da mit ihm vorhatte … All diese Gedanken blitzten nur ganz kurz in ihm auf. Die meiste Zeit war sein Bewußtsein völlig auf den Sound und auf seine Aufgabe konzentriert, ihn zum Publikum rüberzubringen. Er spielte aus Kummer, aus Kummer über den Verlust. Seine Familie würde sterben, und er spielte Me lodien, die bei allen den Akkord des Verlusts anschlugen. Und die Band spielte übernatürlich gut zusammen. Die Ge stalt war da und vereinigte sie, und er schlug ihre Zangen in den kollektiven Körper des Publikums und führte es, wohin er wollte, und er dachte: Die Band kommt gut, aber das wird nichts nützen, wenn der Gig vorbei ist. Es war wie bei einem geschiedenen Paar, das im Bett seinen Spaß hatte, sich jedoch darüber im klaren war, daß dies die Ehe nicht wieder kitten würde. Im Grunde war der Spaß eine Funktion der Tatsache, daß man aufgegeben hatte. Aber in der Zwischenzeit gab es ein Feuerwerk. Beim letzten Song im Set war die Stimmung im Club so aufgeladen, daß sie – wie José einmal im melodramatischen Ton eines Rockmusikers gesagt hatte – »bluten würde, wenn man sie schneiden könnte«. Der Rauch von Dope, Knallkraut und Tabak, der die Luft verpestete, schien sich mit dem Büh
nenlicht verschworen zu haben, eine Atmosphäre magischer Abgehobenheit zu erzeugen. Bei jedem auf den Song abge stimmten Lichtwechsel – von Rot zu Blau zu Weiß zu Schwe felgelb – ging eine emotionale Woge mit korrespondierender Wellenlänge durch den Raum. Die Energie baute sich auf, und Rickenharp entlud sie. Seine Strat war der Blitzableiter. Und dann war der Set zu Ende. Rickenharp drosch die letzten fünf Töne allein hinaus, na gelte einen Höhepunkt in die Luft. Dann ging er von der Bühne. Das Gebrüll der Menge hörte er kaum. Er ertappte sich dabei, wie er halb im Laufschritt durch den weißen, schmieri gen Plastikziegelkorridor hastete, und dann war er in der Garderobe und wußte nicht mehr, wie er hergekommen war. Die Graffiti schien sich an den Wänden zu winden, als ob er eine psychedelische Droge genommen hätte. Alles kam ihm realer vor als sonst. Ihm klingelten die Ohren, als ob Quasimodo in seinem Glockenturm ausflippte. Er hörte Schritte, drehte sich um und legte sich dabei zu recht, was er der Band sagen würde. Aber es war die Chaoti kerin und jemand anders, und dann kam noch ein Dritter herein. Der jemand anders war ein dürrer Typ mit braunen Haaren, die von Natur aus verfilzt und verwuschelt waren, nicht weil es eine der kulturellen Unterströmungen so verlangte. Sein Mund stand leicht offen, und einer seiner Schneidezähne war verfault und schwarz. Seine Nase war windverbrannt, und die Rückseiten seiner knochigen Hände waren knorrig von Adern. Der dritte war Japaner; klein, braune Augen, unauffällig. Sein Gesichtsausdruck war mild, einen Hauch freundlicher als neutral. Der dürre Weiße trug eine Armeejacke ohne Abzei
chen, glänzende Jeans und zerfallende Tennisschuhe. Seine Hände waren nervös, als ob er gewohnt wäre, etwas in ihnen zu halten, was jetzt nicht da war. Ein Instrument? Vielleicht. Der Japaner trug einen himmelblauen und blitzsauberen japanischen Action-Anzug (wer hätte das gedacht!). Seine Hände schienen beruhigend leer zu sein. An seiner Hüfte war jedoch eine Ausbeulung – etwas, das er erreichen konnte, indem er mit dem rechten Arm durch den Reißverschluß vorn an seinem Anzug zur anderen Seite hinüberlangte –, und Rickenharp war ziemlich sicher, daß es eine Schußwaffe war. Es gab nur eins, was alle drei gemeinsam hatten: Sie sahen halb verhungert aus. Rickenharp fröstelte. Die Schweißschicht auf seiner Haut kühlte sich ab. Er zwang sich jedoch zu einem knappen »Wasn-los?« Es klang hölzern. Er schaute an ihnen vorbei und wartete auf die Band. »Die Band ist in der Kulisse«, antwortete die Chaotikerin. »Der Bassmann hat gesagt ›Sachim Snarschiraus‹.« Rickenharp mußte über ihre Nachäffung von Julios Tech nicki lächeln. Sag ihm, er soll seinen Arsch hier raus bewegen. Dann wurde jedoch ein Teil seiner drogenähnlichen Betäu bung weggespült, und er hörte das Geschrei des Publikums und erkannte, daß sie eine Zugabe wollten. »Meine Fresse, ‘ne Zugabe«, sagte er, ohne zu überlegen. »Ist verdammt lang her.« »Ey Mann«, sagte der Dürre im Dialekt eines Briten oder Australiers, »chab dich vor fünf Jahrn in Stonehenge gesehn, als du dein’ zweitn ‘it hattst.« Rickenharp zuckte leicht zusammen, als der Typ sagte: ›dei nen zweiten Hit‹, womit er unabsichtlich die Tatsache unter
strich, daß Rickenharp nur zwei gehabt hatte, und jeder wuß te, daß wahrscheinlich keiner mehr folgen würde. »Ich bin Carmen«, sagte die Chaotikerin. »Das sind Willow und Yukio.« Yukio stand abseits von den anderen, und etwas an der Art, wie er es tat, sagte Rickenharp, daß er unauffällig den Korri dor im Auge behielt. Carmen sah, wie Rickenharp Yukio beobachtete, und sagte: »Die Cops sind im Anmarsch.« »Warum?« fragte Rickenharp. »Der Club hat doch ‘ne Li zenz.« »Nicht wegen dir oder dem Club. Wegen uns.« Er blickte sie an. »He, ich kann drauf verzichten, mich hochnehmen zu lassen …« Er griff sich seine Gitarre und trat auf den Flur. »Ich muß meine Zugabe bringen, bevor sie ‘s Interesse verlieren.« Sie folgte ihm auf den Flur und in das Echo des Zugabege trampels und fragte: »Können wir ‘ne Weile in der Garderobe bleiben?« »Ja, aber die ist kein Heiligtum. Wenn ihr hier reinkommt, können die Cops das auch.« Sie waren jetzt in der Kulisse. Rickenharp gab Murch ein Zeichen, und die Band legte los. »Das sind keine richtigen Cops«, sagte sie. »Solche Läden wie den hier kennen die wahrscheinlich gar nicht. Die suchen uns bestimmt in der Menge, nicht in der Garderobe.« »Du bist ‘ne Optimistin. Ich sag dem Rausschmeißer, er soll hier Position beziehen, und wenn er noch jemand sieht, der nach hinten will, soll er sagen, daß da keiner ist, weil er gerade nachgesehen hat.«
»Danke.« Sie ging zur Garderobe zurück. Er sprach mit dem Rausschmeißer und ging auf die Bühne. Er fühlte sich ausge lutscht; die Gitarre hing schwer an ihm. Er kam jedoch rasch wieder auf den Energielevel im Raum, und er trug ihn durch zwei Zugaben. Er ging von der Bühne, während sie nach mehr schrien, wie es sein sollte, und lief zu seiner Garderobe zurück. Sie waren noch da. Carmen, Yukio und Willow. »Gibt es einen Bühnenausgang?« fragte Yukio. »Zur Gas se?« Rickenharp nickte. »Wartet auf dem Flur. Ich komme gleich raus und zeig’s euch.« Yukio nickte, und sie gingen hinaus. Die Musiker schoben sich nacheinander an Carmen, Yukio und dem Briten vorbei herein, ohne viel Notiz von ihnen zu nehmen. Sie gingen davon aus, daß sie zu dem Treibgut gehörten, das immer hinter der Bühne herumhing. Nur Murch starrte auf Carmens Titten und gab ein bißchen an, indem er seine Drumsticks herumwirbeln ließ. Die Musiker der Band saßen lachend und händeklatschend in der Garderobe und zündeten sich verschiedene Sachen zu rauchen an. Sie boten Rickenharp nichts davon an; sie wußten, daß er nichts nahm. Rickenharp packte gerade seine Gitarre weg, als José sagte: »Warst heute geil drauf, Alter.« »Du meinst, er hat’s dir gut gemacht?« fragte Murch, und José gackerte. »Yeah«, sagte Ponce, »der Typ besorgt’s einem. Geht einem richtig an die Nieren.« »An die Nieren? Rick lutscht deine Nieren? Ich glaub, ich
muß kotzen.« Und das übliche kindische Bandgeschwätz, weil sie immer noch high von dem guten Set waren und verdrängten, was kommen mußte, bis Rickenharp fragte: »Worüber willste mit mir reden, José?« José sah ihn an, und die anderen verstummten. »Ich weiß, daß du irgendwas auf ‘m Herzen hast«, sagte Rickenharp leise. »Naja«, antwortete José, »es ist… da gibt’s so ‘n Agenten, den Ponce kennt, und der Typ könnte uns übernehmen. Er ist ‘n Technicki-Agent, und wir müßten ‘ne Technicki-Tour machen, aber von da könnten wir uns wieder hocharbeiten. Ist ‘ne gute Basis. Aber dieser Typ meint, wir müßten ‘ne Draht nummer bringen.« »Ihr wart ja echt fleißig«, sagte Rickenharp und schloß den Gitarrenkoffer. José zuckte die Achseln. »Hey, wir haben’s nicht hinter dei nem Rücken gemacht. Wir haben erst gestern abend was von dem Typ gehört. Bis jetzt hatten wir keine richtige Gelegen heit, mit dir zu reden, also … äh … machen wir’s in derselben Besetzung, aber wir wechseln die Kostüme und den Bandna men und schreiben neue Songs …« »Wir würden’s verlieren«, sagte Rickenharp. Er war müde und fertig. »Wir würden verlieren, was wir draufhatten. Mit so ‘nem Scheiß werdet ihr’s nicht schaffen, weil’s alles aufgesetzt ist.« »Rock ‘n’ Roll ist doch keine Religion, verdammt noch mal«, sagte José. »Nein, keine Religion, aber ein Sound. Also, hier ist mein
Vorschlag: Wir schreiben neue Songs im selben Stil wie bisher. Wir waren gut heute abend. Es könnte der Anfang von ‘ner Wende für uns sein. Wir bleiben hier und bauen auf der Grundlage des Publikums, das wir uns heute erspielt haben, was auf.« Es war, als ob man Münzen in den Grand Canyon werfen würde. Man konnte sie nicht mal unten aufschlagen hören. Die Band sah ihn einfach nur an. »Okay«, sagte Rickenharp. »Okay. Das haben wir schon zehn beschissene Male durchgekaut. Okay. Das wär’s.« Er hatte eine Abschiedsrede für diesen Augenblick vorbereitet, aber sie blieb ihm in der Kehle stecken. Er drehte sich zu Murch um. »Glaubste, die behalten dich dabei, haben sie dir das erzählt? Blödsinn! Sie werden’s ohne Drummer machen, Mann. Lern lieber Programmieren, und zwar schnell.« Dann sah er José an. »Leck mich, José.« Ganz ruhig. Er wandte sich an Julio, der an die andere Wand schaute, als wolle er ein besonders kryptisches Graffito enträtseln. »Julio, du kannst meinen Amp haben. Ich reise mit leichtem Gepäck.« Er drehte sich um und ging mit seiner Gitarre hinaus. Hin ter ihm blieb es still. Er nickte Yukio zu und brachte die drei zum Bühnenein gang. An der Tür sagte Carmen: »Wie sieht’s aus – könntest du uns helfen, irgend ‘n kleinen Unterschlupf zu finden?« Rickenharp brauchte Gesellschaft, und zwar dringend. Er nickte. »Yeah – wenn du mir ‘ne Nase von dem Mesk gibst.« »Klar«, sagte sie. Sie traten auf die Gasse hinaus.
Sie mußten bei Bitchie’s auf dem Boden Platz nehmen, weil es nicht genug Stühle gab. Und Molt wollte nicht, daß einige auf Stühlen und andere am Boden saßen. Er wollte sie alle auf derselben Ebene haben, wo er leicht Blickkontakt aufnehmen konnte. Es waren zweiundzwanzig, achtzehn Männer und vier Frauen, die im Kreis auf dem von Matratzen bedeckten Boden hockten. Technickis, die gerade von der Schicht kamen oder auf den Schichtbeginn warteten. Der kleine Raum war muffig von ihrem Geruch; der Luftaufbereiter war überfordert. Er hatte ihnen in letzter Zeit eh nur grüne Luft reingeblasen. Wilson redete und redete und fand kein Ende. Sein Tech nickisch verschliff die Sätze miteinander, so daß der Monolog selbst in der Übersetzung wie ein einziger langer Satz klang: »… wir müssen es also auf eine Konfrontation anlegen und dann kurz vor der tatsächlichen Konfrontation haltmachen und mit der Konfrontation drohen damit sie mit uns verhan deln denn wenn wir’s wirklich drauf anlegen und uns auf einen Kampf mit ihnen einlassen werden wir verlieren aber obwohl sie wissen daß sie gewinnen werden wollen sie trotz dem keine Konfrontation glaube ich weil das die luftdichte Integrität der Kolonie gefährden und sie ein paar Männer kosten würde und es teuer wäre alles zu reparieren was ka puttgeht deshalb finde ich wir sollten …« Uns so weiter und so weiter. Molt hatte die Schauze voll. Wilson war klein und stämmig. Seine blonden Haare waren zu einer Korona aufgebauscht worden, verloren jedoch ihre Form wie welker Löwenzahn; er hatte kleine, zusammengekniffene blaue Augen, eine Knollennase und einen kleinen roten Mund, der ununterbrochen in Bewegung war. Wahrscheinlich hatte
er einen guten Draht zu den Pharmazietechnikern und staubte Aufputscher ab. Er trug den schmierigen Overall eines Luftsy stem-Mechanikers. Wilson wollte unbedingt ein Radikalan führer sein. Molt und Bonham und Barkin waren die aner kannten Anführer, und Wilson moserte herum, weil Molt und Bonham keine richtigen Technickis waren; er meckerte mit dem Akzent von jemand, der mit Standard-Englisch aufge wachsen war. Molts Meinung nach war Wilson ein habgieri ger, intriganter Wicht. Molt hatte versucht, Wilson von dieser Versammlung fernzuhalten, aber das kleine Arschloch hatte sich reingedrängelt, hatte seinen Freunden so lange zugesetzt, bis sie Barkin dazu brachten, ihn einzuladen. Das kleine Arschloch hätte seine Großmutter dafür verkauft, dachte Molt. Molt fiel ihm ins Wort. »Vor einer Minute hast du’s genau erfaßt, Wilson, als du gesagt hast, daß sie Angst vor einer Konfrontation haben, obwohl sie dabei gewinnen würden. Aber du bist nicht weit genug gegangen.« Molt sagte es natür lich in Technicki. »Sie haben soviel Angst davor, daß wir sie noch härter treffen, sie angreifen müssen – wir haben mehr Macht, als sie zugeben wollen, weil sie befürchten, daß wir …« »Wir können noch was anderes machen«, sagte Bonham. Molt funkelte ihn an. Er mochte es nicht, wenn er unterbro chen wurde. Und er begann auch Bonham zu mißtrauen. Ihre ganze kumpelhafte Freundschaft hatte sich in Luft aufgelöst, als sie in der neuen Partei zu Rivalen geworden waren. Bonham, der neben Wilson saß – das paßte! –, setzte sich zusam menzuckend anders hin, damit ihm die Beine nicht einschlie fen, fuhr sich mit dieser gottverdammten Che-Guevara-Miene mit den Fingern durch die Haare und fuhr fort: »Wir könnten ‘ne Barrikade bauen. Mehrere sogar. Die Kontrolle über das Herz von Technickistadt übernehmen. Das ist ‘ne Konfrontati
on, und auch wieder nicht. Ich meine, eine große Barrikade. Vielleicht so, daß wir Korridor D völlig blockieren.« »Die säßen uns schon im Nacken, bevor wir halb damit fer tig wären«, sagte Barkin. Kein Flachanzug heute, bemerkte Molt. Der miese kleine Heuchler trug den Overall eines Me chanikers, als ob er je einen Fuß in die Reparaturhangars gesetzt hätte. Er hockte auf eine Art da, die verhinderte, daß er in direkten Kontakt mit der Matratze kam, abgesehen von den Schuhsohlen. Wollte das getrocknete Sperma und den Schweiß von Bitchie’s Gästen nicht an seine Beine kriegen. Ein hüb scher, sauberer Mechanikeroverall. Wahrscheinlich hatte er das Ding beim Kostümverleih erstanden. Lieber Himmel! Bonham schüttelte den Kopf. »Wir inszenieren ein Ablen kungsmanöver, Rauchbomben, was immer, oben an der Hauptkreuzung. Wir haben Gabelstapler und alles bereit, was wir sonst noch brauchen, um das Zeug ranzuschaffen. Das meiste haben wir in Null Komma nichts an Ort und Stelle.« »Wenn du ‘ne Barrikade im Korridor D verteidigen willst«, sagte Molt, »mußt du Waffen benutzen, und du mußt schie ßen, und zwar gezielt, ‘ne Barrikade werden sie nämlich nicht einfach so hinnehmen. Die stürmen sie sofort.« Wilson schüttelte den Kopf wie ein Terrier mit Earmites. »Nein hey ich glaube Bonham hat recht wir feuern einfach ein paar Warnschüsse ab und nehmen ein bißchen Gelände ein da werden sie nicht gleich anrücken weil das bestimmt zu einer Konfrontation führen würde und das wollen sie nicht wenig stens jetzt noch nicht…« »Ich bin nicht so sicher, daß sie das nicht wollen«, sagte Barkin, aber außer Molt hörte ihm niemand zu. Sie brabbelten jetzt alle gleichzeitig. Die Idee mit der Barrikade hatte sie heiß
gemacht. Und dann kam ein Pfiff durchs Interkom, das Zei chen, daß die Bullen durch den Korridor anrückten und eine Razzia bei Bitchie’s durchführen wollten. Deshalb begannen die Radiks, sich ihrem Training entsprechend zu verziehen; Sie gingen auf den kleinen Serviceflur und durch die Küche hinaus. Die Bullen würden den Laden leer vorfinden … Aber woher wußten sie über die Versammlung Bescheid? Molt hatte keine Zeit mehr, darüber nachzudenken. Alle waren auf den Beinen und drängelten zur Tür. »Bleibt ruhig, wir kommen alle raus«, rief Bonham. »Sie sind noch im Korri dor B, da brauchen sie ‘ne Weile, um …« Selbstgefälliger Mistkerl, dachte Molt. Er schob sich durch die Tür in den Serviceflur und fragte sich, wer schlimmer war: Bonham oder Wilson? Einer so beknackt wie der andere.
ACHT Es TAT BEI JEDEM ATEMZUG WEH. Nach einer Weile gehörte dieser eigentümliche Schmerz jedoch zum Rhythmus des Lebens. Er war beinahe beruhigend, und Smoke schenkte ihm nicht mehr viel Beachtung. Die Monotonie, der Irrenhauslärm und die Gerüche des Or tes – das war schwer zu ertragen. Um sich die Zeit zu vertrei ben, versuchte er zu erraten, wo er sich befand und was da vorging. Aber der Gipsverband an seinem Körper (verdammt, wie das juckte!) hinderte ihn daran, sich eingehender umzu schauen. Und anfangs war auch niemand in seiner Nähe, der Englisch sprach. Nach ein paar Tagen bekam er heraus, daß er in einer Art Militärlazarett in Belgien lag, südöstlich von Brüssel. Nachdem sie ihm den Gips angelegt hatten, hatte er nur einmal mit dem Arzt gesprochen. »Zie ‘aben Glück«, sagte der Arzt mit einem starken französischen Akzent. »Wir finden kein Verletzung von Gehirn. Nur innere Blutung, und wir stoppen. Zie ‘aben gebrochen Brustbein, gebrochen Arm, gebrochen Schlüsselbein. Leichte Gehirnerschütterung. Verbrennungen – zweiter Grad, nicht so schlimm. Zie ‘aben Glück, weil wir ‘aben …« Und dann sagte er etwas auf Fran zösisch. »Was ist das?« fragte Smoke. »Ein Maschin, das ein Strömung in die gebrochen Stellen im Knochen bringt und ihnen hilft, schneller zu heilen. Gibt jetzt nur ein paar in Europa. Auf Wiedersehen.« In diesem Auf
Wiedersehen lag etwas Endgültigs, und Smoke sah ihn auch nie wieder, nur aus dem Augenwinkel, wenn er wie ein Ge spenst herein und hinaus und um die Betten anderer Patienten in dem großen Schlafsaal des Lazaretts herumhuschte. »Er ist ein Bastard von einem Belgier«, sagte ein Mann ne ben ihm. Ein Franzose. Das war alles, was Smoke erkennen konnte, weil sein Verband es unmöglich machte, sich so weit zur Seite umzudrehen und ihn anzuschauen. »Die Belgier sind Schwachsinnige. Alle Belgier«, sagte der Franzose. »Und diese Elektrizitätskur, die wird Sie bientôt umbringen.« Da Smoke das Sprechen zu dieser Zeit zu weh tat, antwortete er nicht, und das war ihre gesamte Unterhaltung. Zwei Tage später starb der Franzose. Manchmal spielte Smoke mit den Schmerzen. Sie kamen in Wellen, und wenn eine Welle ihren höchsten Punkt erreichte, war der Schmerz etwas Greifbares. Er hatte immer etwas gehabt, das er sich als seine innere Hand vorstellte. Es war die Gegend tief unten in seiner Brust, wo seinem Gefühl nach das Zentrum seiner Sinneseindrücke lag. Die Stelle, die auf Beloh nungen brennt und sich nach emotionalen Verletzungen sehnt. Manchmal war ihm so, als könne er den Sitz der Sinnensein drücke dort zu so etwas wie einer ektoplasmischen Hand formen – er wußte, daß es kein Ektoplasma war, aber er hatte dieses Bild vor Augen –, und er stellte sich vor, mit dieser Hand in andere Teile seines Körpers greifen zu können, um sie zu prüfen. Greif in das linke Bein, und es wird vor Empfind lichkeit kribbeln. Wenn es weh tat, konnte er hinlangen und den Schmerz berühren. Sobald nun die Schmerzwellen am stärksten waren, streckte er seine innere Hand aus, packte die Schmerzwellen und teilte sie, riß sie auseinander oder preßte sie wie etwas Gallertartiges zwischen den Fingern der inneren
Selbstwahrnehmung zusammen; und dieser ›Kontakt‹ erzeug te vor seinem geistigen Auge so etwas wie einen Regenbogen schimmer auf einer Öllache, den er mit kindlicher Faszination betrachtete. Auf diese Weise wurde der Schmerz in visuelle Begriffe gefaßt, objektiviert und damit neutralisiert, entschärft. Der Schmerz wurde fast schmerzlos. Manchmal überwältigte ihn jedoch das gesammelte Elend der Krankenstation. Die Kranken lagen auf Feldbetten, und die Betten standen überall; in letzter Zeit waren auch Männer auf den Fußboden gelegt worden. Es stank natürlich, und manchmal bekam der üble Geruch noch die beißende Extrano te der Erniedrigung, wenn er zum großen Teil von ihm selbst stammte. Die Schwestern waren ziemlich lax, was seine Bett pfannen betraf. Und der Lärm – er verringerte sich bei Nacht, hörte jedoch nie ganz auf. Ständig stöhnte jemand, und es gab ewig Beschwerden in vier oder fünf Sprachen. Männer brab belten Obszönitäten, ein unaufhörliches Überkochen innerer Häßlichkeit, und das war vielleicht das Schlimmste. Er war auf perverse Weise dankbar für das dumpfe Krachen und die Erschütterungen der Granaten – oder waren es Bomben? –, die hin und wieder in der Gegend um das Lazarett herum ein schlugen. Das ermöglichte ihm, sich eine Welt außerhalb des unendlich monotonen Trotts des Lebens in der Krankenstation vorzustellen. Eine Zeitlang waren manche der Patienten Flüchtlinge, und das Sirenengeheul schreiender Kinder gesellte sich zu der dissonanten Sinfonie der Klagen, die von der Decke widerhall ten. Aber es gab eine Vorschrift, derzufolge das Hospital nur den NATO-Soldaten zur Verfügung stand – Smoke hörte, wie sich eine britische Rotkreuzschwester darüber beklagte –, und die Flüchtlinge wurden in ein Lager verlegt, wo den sehr
Kranken der Tod gewiß war, wie es hieß. In den Flüchtlingsla gern gab es nicht genug zu essen. Und der Einteilung der Behandlungsbedürftigen nach der Schwere ihrer Erkrankun gen entsprechend wurden Kranke im kritischen Stadium ganz einfach nicht mehr gefüttert. Smoke hatte die holländischen Flüchtlinge gesehen. Er hatte die Geschichten gehört … Geschichten über Hunderttausend, Zweihunderttausend, ja sogar Fünfhunderttausend, eine immer weiter anschwellende Zahl von Vertriebenen und Heimatlosen, die auf den Straßen außerhalb der europäischen Städte auf Wanderschaft waren. Zuerst waren sie in Autos vor dem Krieg geflohen, aber Schutt und Krater hatten die Auto bahnen unpassierbar gemacht, und es war ohnehin schwierig, Benzin zu bekommen. Jetzt gingen sie zu Fuß oder zogen Karren hinter sich her, oftmals abgewrackte Autos, deren Motoren fehlten. Ganze Legionen von Menschen, vor Fahr zeugkarosserien ins Joch gespannt, als wären sie zu Dienern der Autos versklavt worden … Im Sommer waren sie Teil einer Staubwolke, im Winter schlurften sie durch eiskalten Schlamm. Sie lernten Fußbrand und Skorbut, Cholera und Gelbsucht, Gangrän und Läuse kennen. Sie bildeten Stämme, um sich zu schützen. Die Stämme waren normalerweise ethnozentrisch, was den Rassismus zum Schwären brachte. Menschen, denen die Rasse ihrer Nachbarn vor dem Krieg gleichgültig gewesen war, hetzten jetzt gegen »intrigante Juden, die Nahrung horten« oder »diebische Araber, die einem das letzte Stück Brot stehlen, wenn man nicht mit der Waffe in der Hand aufpaßt«. Durch eine unausgesprochene Überein stimmung waren die Straßen ein neutraler Ort, wo die Stämme zu einer einzigen Masse wandernden, weinenden, fluchenden Elends mit erloschenen Augen verschmolzen. Andere schifften
sich zu Tausenden ein und fanden Zuflucht im Mittleren Osten, in Israel und Ägypten; ein paar Tausend wurden in Schottland aufgenommen, Tausende andere in Kanada und den USA. Aber die einwandererfeindliche Stimmung in Nord amerika war stark, und die Quote war rasch erfüllt. Der Zu strom der Flüchtlinge nach Amerika wurde zu einem Rinnsal und versiegte dann ganz, als die zivile Luft- und Seefahrt über den Atlantik fast völlig eingestellt wurde. Die meisten Flüchtlinge saßen in Europa in der Falle. Sie waren zum größten Teil kosmopolitische Städter gewesen, die vor dem Krieg in erster Linie den Erwerb eines neuen Video geräts, eines Autos oder das Geld für den Urlaub im Kopf gehabt hatten. Jetzt mußten sie sich um Essen, Wasser, Waffen, eine Unterkunft, Wärme und Arzneimittel kümmern. In den Flüchtlingslagern gab es genug zu essen, um das Leiden zu verlängern, aber nicht genug, um die Energie zu erzeugen, einen Ausweg aus dem Leiden zu suchen. Manche bezeichne ten die Lager als ›die Jauchegruben‹. Die Unterkünfte bestan den aus wasserdichter Pappe, die nur drei, vier Regenschauer lang wasserdicht blieb, wie sich herausstellte. Anfangs waren die Flüchtlingslager sauber und wurden wie Militärbasen geleitet. Sie waren trostlos, aber man konnte dort leben. Aber als sich der Krieg in die Länge zog, wurden die Freiwilligen krank oder verloren den Mut; das Militär konnte keine Män ner mehr abstellen, um auszuhelfen; und die Sowjets ließen keine Nottransporte mit Versorgungsgütern für die Zivilbe völkerung mehr durch, weil sie glaubten, sie könnten auch fürs Militär bestimmt sein. Die SA war am Transport von Hilfsgütern beteiligt, und Steinfeld behauptete, daß sie den größten Teil für ihre eigenen Zwecke abzweigte. Die Lager wurden immer größer und kamen dabei immer mehr herun
ter; sie wimmelten von Menschen, so wie Zysten von Bakteri en wimmeln. Aufstände gegen die Lagerverwaltungen bra chen aus und fielen rasch wieder in sich zusammen. Sie führ ten zu nichts. Kämpfe zwischen den Stämmen, gefolgt von einem Guerillakrieg, wurden jedoch zu einem Bestandteil des Lebens; Flüchtlingsgruppen aus Angehörigen einer Rasse griffen andere an, um Nahrung und Medikamente zu erbeu ten. Und da und dort gab es die vorgeschobenen Agenten der SA, die in aller Stille kleine Nahrungsmengen und große Versprechungen austeilten. Sie rekrutierten jene, die in den Augen der SA ein ›besonderes Potential‹ hatten. Diese ver schwanden aus den Flüchtlingslagern und tauchten später im Dienst der SA wieder auf, unverbrüchlich loyal zu der Organi sation, die sie vor dem Hunger, dem Dreck und der Hoff nungslosigkeit gerettet, ihrem Leben Sinn und Ordnung gegeben und sie auch in ihren liebsten Vorurteilen bestärkt hatte … Smoke fragte sich eine Weile, ob man ihn in eins der Flücht lingslager bringen würde, weil er kein NATO-Soldat war. Aber ein Pfleger, der ihn zur Knochenheilbehandlung rollte, bezeichnete ihn als ›der amerikanische Soldat‹. Vielleicht würde er das Lazarett verlassen müssen, wenn sie den Irrtum bemerkten. Vielleicht hatte ihn Steinfeld aber auch mit fal schen Papieren versorgt. Er konnte sich nicht erinnern, wie er in das Hospital gekommen war, aber er war sicher, daß Stein feld das irgendwie arrangiert hatte. Warum? Es mußte ihn etliche Gefälligkeiten gekostet haben. Warum hatte Steinfeld so viel für ihn getan? Steinfeld war kein impulsiver Altruist. Steinfeld war ein Besessener. Bei seiner Arbeit im Randbereich der NR-Operationen hatte Smoke Bruchstücke von Steinfelds Geschichte aufgeschnappt
und sie zusammengesetzt. Manchmal bekam er Informationen über die NR mit, die nicht bis zu den einfachen Mitgliedern durchdrangen. Er hatte erfahren, daß Steinfeld früher einmal Außenagent des Mossad gewesen war. Steinfeld hatte einen Horchposten betrieben und war dann zum Leiter einer Außenstelle befördert worden, wo er den Einsatz von Agenten organisierte. In dieser Funktion war er öfters auf Agenten der SA, der Second Alliance gestoßen, wenn diese ihre Rekrutierungsaktionen durchführten. Er begann sich für sie zu interessieren und sammelte Beweise dafür, daß sie einen Haufen aktiver Antisemiten in ihren Reihen hatten, darunter Leute, die die senilen NaziKriegsverbrecher vor den Ermittlern der Untersuchungskom missionen zur Aufdeckung von Kriegsverbrechen beschützt hatten. Steinfeld wurde ein bißchen schrill, als er seine Infor mationen über die Gefährlichkeit der SA an den Mossad ausposaunte. Man kam zu der Überzeugung, daß er seine Objektivität eingebüßt hatte. Zusammen mit seiner bekannten Sympathie für die Palästinenser kostete ihn das seinen Posten. Man setzte ihn unter Druck, bis er seinen Abschied nahm. Er baute sein eigenes Netz auf, ›machte sich selbständig‹. Am Anfang erbettelte er da und dort finanzielle Unterstützung, sogar von den Palästinensern, wie manche behaupteten. Jetzt bezahlte ein amerikanischer Geschäftsmann namens Quincy Witcher Steinfelds Rechnungen. Und niemand wußte so recht, warum. Steinfeld hatte seine Sympathisanten beim Mossad; ab und zu spielte ihm einer von ihnen Informationen, ein paar Extra kredits Schmiergeld, Nahrung oder Waffen zu. Die hohen Tiere beim Mossad taten so, als ob sie nichts davon wüßten, weil Steinfeld ihnen immer noch von Nutzen war. Aber er
stand auch auf ihrer gelben Liste, der Liste derjenigen, die liquidiert werden würden, falls die richtigen Umstände zu sammentreffen sollten. Falls Steinfeld als gefährlich betrachtet werden würde. Es gab Leute, die Steinfeld gern auf die rote Liste gesetzt hätten: so bald wie möglich zu ermorden. Ange nommen, er wird gefangengenommen, argumentierten sie. Er hat uns von innen gesehen; er weiß viel. Aber die Dinge haben sich seit Steinfelds Zeit geändert, entgegneten seine Verteidi ger. Die Netze, die damals existierten, gibt es nicht mehr. Und so entschied man beim Tee in Kantinen und beim Wein in den besseren Restaurants von Tel Aviv, daß Steinfeld nicht er schossen, in die Luft gesprengt oder vergiftet werden sollte, jedenfalls nicht sofort. Nicht vom Mossad. Während Smoke wie ein gelähmter Hummer reglos in sei nem Gipspanzer lag und Woche für Woche dieselben Schmutzflecken an der vergilbenden Decke anstarrte, dachte er viel über Steinfeld nach. So war es irgendwie keine große Überraschung, als Steinfeld ihn besuchen kam. Es war, als ob Smoke ihn herbeigezaubert hätte. Steinfeld kam Smoke etwa zu selben Zeit besuchen, als De veraux zum letztenmal mit Crandall zusammenkam. Derweil trafen Yukio, Willow und Carmen Tiestra in Freezone ihre Vorbereitungen, um Deveraux in dem unwahrscheinlichen Fall herauszuholen, daß er jenes letzte Zusammentreffen überlebte. Steinfeld hatte eine blaue Nylonwindjacke an. Sie spannte sich ein bißchen um seinen dicken Bauch. Die NR hatte ihre Operationsbasis jetzt in Paris, wo es im Vergleich zu Amster dam relativ angenehm war. »Sieht so aus, als gäb’s in Paris mehr zu essen«, krächzte
Smoke, als Steinfeld vorsichtig auf einer halbwegs sauberen Ecke von Smokes Bett Platz nahm. Steinfeld lächelte und nickte. Er sah den Tropf an, dann die Wunden an Smokes Unterarm. »Du siehst gar nicht so übel aus«, sagte er. »Bis auf den Arm da. Was ist das?« »Hat sich infiziert«, erwiderte Smoke. »Die Infusionsnadel. Sie haben sie ein paarmal an der falschen Stelle reingesteckt. Haben die Ader nicht getroffen. Schlimmer ist, wenn sie vergessen, die Flasche zu wechseln. Das verdammte Ding leert sich und verwandelt sich in einen Vampir, der mir das Blut aussaugt. Das Blut läuft im Schlauch nach oben. Tut höllisch weh.« »Die haben zu viel zu tun«, sagte Steinfeld. »Ich weiß. Ich beschwer mich nicht – Beschwerden beachten sie sowieso nicht.« Steinfeld sah ihn an. »Aber einmal hast du versucht, ihnen zu erzählen, daß du kein Soldat bist. Daß du nicht hier sein solltest.« »Die hören eh nicht zu, ganz gleich, was man sagt.« »Wenn sie’s getan hätten, wärst du inzwischen wahrschein lich tot. Verspürst du immer noch einen Todeswunsch, Smo ke?« fragte Steinfeld. Smoke schwieg. »Ich glaube ja. Das ist das einzige Problem dabei.« »Wobei?« »Du bist mir jetzt was schuldig, Smoke.« »Ich verstehe«, meinte Smoke mit einem Lächeln. Steinfeld nickte. »Du hast Pläne mit mir«, sagte Smoke.
Jetzt war es Steinfeld, der schwieg. »Das juckt vielleicht in diesem Gips«, sagte Smoke. Es war gut, jemand zu haben, bei dem man sich beklagen konnte. »Ja. Und das Essen hier ist …?« »Scheußlich.« »Erzähl weiter!« sagte Steinfeld. »Sie wechseln selten die Laken«, fuhr Smoke bereitwillig fort, »und sie drehen mich selten um. Ich liege mich wund, und manchmal lassen sie zu, daß sich die Stellen infizieren. Dann geben sie mir ein Breitbandantibiotikum, und die Stellen heilen, und dann vergessen sie wieder, mich umzudrehen, und die Stellen kommen zurück. Und so weiter. Wenn sie mich füttern, tun sie’s widerwillig. Das Essen ist schlecht, und es gibt nie genug. Die Luft stinkt. Es dauert ewig, bis sie mal eine Bettpfanne bringen, und dann lassen sie die manchmal den ganzen Tag da und nehmen sie nicht weg. Und das Ge schrei der anderen treibt mich langsam zu Wahnsinn.« »Ich würde sagen, es ist besser, an einem Ort wie diesem zu sein, als tot in einem ausgeräumten Gebäude in Amsterdam zu liegen – vorausgesetzt, daß man nicht für immer hierbleiben muß. Aber da kommen wir wieder auf das Problem mit dei nem Todeswunsch.« »Sind die anderen am Leben? Hard-Eyes und die übrigen?« »Alle bis auf den Jungen, der am Fenster getötet wurde. Soweit ich weiß. Ich bin schon länger nicht mehr in Paris gewesen.« Da war noch etwas, was Smoke ihn fragen wollte, aber er kam sich albern vor, und an diesem Ort gab es wenig Würde; da hortete man alles, was man zusammenkratzen konnte.
Wie sich herausstellte, brauchte er nicht zu fragen. Steinfeld erriet, was Smoke auf dem Herzen hatte. »Die Krähe hat’s überlebt. Sie ist ins Boot gekommen. Ich hab sie in meiner Wohnung in Paris. Jemand kümmert sich um sie.« Smoke verspürte eine absurd große Erleichterung. Steinfeld stand auf. Er zog einen Schokoriegel und ein Vit aminpaket aus seiner Tasche und legte beides in Smokes heile Hand. »Sie behandeln mich mit Strom, um die Knochen zu hei len«, sagte Smoke, damit Steinfeld noch ein bißchen blieb. »Ein Franzose hat mir erzählt, es würde weh tun, aber ich glaube, es hilft. Die Schmerzen sind viel geringer geworden. Sie haben erst vor ein paar Wochen damit angefangen.« Steinfeld nickte. »Es funktioniert. Wir kommen dich holen, wenn sie beschließen, daß der Gips runter kann.« Er wandte sich zum Gehen. »Erzähl mir was!« sagte Smoke schnell und verzweifelt. »Irgendwas! Ich brauch was, worüber ich nachdenken kann. Du hast Pläne mit mir. Erzähl mir was davon! Oder sonstwas!« »Es gibt nicht viel, was ich hier sagen kann.« »Dann nur das, was du sagen kannst.« Steinfeld nickte zum Tropf hin. »Ich werde mich drum kümmern, daß sie das Ding wieder auffüllen.« »Sag ihnen, sie sollen’s wegnehmen. Ich brauch’s nicht. Er zähl mir was, Steinfeld!« Steinfeld holte tief Luft, zupfte an seinem Bart und stieß den Atem wieder aus. Er sah Smoke an. »Ich weiß, wer du bist. Am Tag, bevor uns der Jumpjet erwischt hat, hab ich’s rausgefun den. Eine Zeitlang hab ich selber geglaubt, daß Smoke ein
Spitzname ist.« »Warte …« Smoke hatte das Gefühl, zu ersticken. Aber Steinfeld fuhr grimmig fort. »Du willst nicht, daß ich drüber rede. Du bist Experte darin geworden, nicht daran zu denken, und du willst nicht, daß ich diese Fähigkeit untermi niere. Trotzdem. Du wolltest was zum Nachdenken haben. Also denk über folgendes nach: Du bist Jack Brendan Smoke. Du bist Amerikaner. Du warst in Amsterdam, als der Krieg ausbrach, um einen Psychiater an der Leydon-Klinik aufzusu chen. Davor hast du den Preis des Literaturkomitees der Vereinten Nationen für deine Suche nach einer zeitgenössischen Wirklichkeit gewonnen. Du warst der Sprecher all jener Men schen, die sich im immer schnelleren Wandel nicht mehr zurechtfanden. Du hast eine zweite Serie von Essays geschrie ben, in denen du im wesentlichen gesagt hast, es gäbe Leute, die das Gitter für ihre politischen Zwecke manipulieren wür den, und du hast Worldtalk genannt. Du hast eine Wiederkehr des Faschismus vorhergesagt und etwas zitiert, das du über den Second Circle gehört hattest, den geheimen inneren Kreis der SA; die Leute, die die langfristigen Ziele der SA festlegen … Dieser Essay ist nie veröffentlicht worden. Offenbar gehörte jemand in deinem Verlag zur SA. Ein paar Männer mit Ski masken sind in die Klinik gekommen. Sie haben dich nachts geschnappt und …« »Bitte…« Ein schweres Gewicht lastete auf seiner Brust. Er bekam kaum noch Luft. »Steinfeld …« »… sie haben dich gefoltert. Sie haben dir eine Droge gege ben, die bei dir das Gefühl ausgelöst hat, zu ersticken …« Er hielt inne, als er sah, daß Smoke würgte. Er wartete. Nach einer Minute hörte der Krampf auf.
Smoke lag da, starrte an die Decke und atmete flach. »Ich werde weitersprechen, Smoke«, sagte Steinfeld. Smoke lag einfach nur da. »Sie wollten wissen, von wem du die Information hattest«, sagte Steinfeld. »Die über den Second Circle. Du hast es ihnen nicht gesagt. Sie versuchten, dich woandershin zu bringen, wo sie’s dir mit Gewalt entlocken konnten. Du bist ihnen unter wegs entwischt und ins Krankenhaus zurückgekehrt, wo du völlig zusammengebrochen bist. Sie haben dich heimlich in eine andere Klinik geschickt. Aber die Männer hätten schließ lich auch diese gefunden und wären wiedergekommen, um dich zu holen – wenn der Krieg nicht gewesen wäre. Das war der Tag, an dem die Panzer des Warschauer Pakts in West deutschland eindrangen. Und bald darauf sind die Sowjets auf Amsterdam vorgerückt und haben die Stadt beschossen. Deine Klinik ist getroffen worden. Fast alle sind dabei ums Leben gekommen …« »Ich war in meinem sicheren, abgeschlossenen Raum«, nahm Smoke den Faden mit dünner Stimme auf. »Aber dann wurde die Wand eingedrückt. Ich ging jemand holen, um die Wand wieder geradezurücken. Sie waren alle tot. Nur Doktor Van Henk nicht. Ich sah ihn; sein Gesicht war blutig. Dieser Anblick – das erschreckte mich. Ich weiß nicht, warum. Ich lief vor ihm weg, und wir verloren uns in den ganzen Bränden aus den Augen. Es war Van Henk, der …?« »Ja. Ich habe das von Van Henk. Er ist noch am Leben. So weit ich weiß.« »Ich bin von dort abgehauen. Ich konnte mich lange nicht erinnern, wer ich war. Als ich mich erinnern konnte, wollte ich es wieder vergessen. Ich wollte jemand anders sein …« Seine
Stimme war gesprungenes Glas. »Manchmal kam mir dein Gesicht bekannt vor«, sagte Stein feld. »Aber unter dem ganzen Dreck … und so, wie ein Mensch verfällt…« Er zuckte die Achseln. »Du wolltest, daß ich dir was erzähle. Also bitte: Du warst ein großartiger Schriftsteller. Ein toller Redner. Du könntest uns helfen. In den Staaten glauben nur diejenigen, daß die Faschisten im Kommen sind, die ihnen zu helfen versuchen. Was die anderen angeht…« Er schüttelte traurig den Kopf. »Bei denen drückt Worldtalk auf die richtigen Tasten. Aber wenn immer wieder Leute im Untergitter den Mund aufmachen … Du könntest uns helfen! Die Leute erinnern sich an dich.« »Ich kann nicht«, sagte Smoke. »Manchmal sehe ich jemand, der gebrochen oder gebeugt ist, und ich weiß, daß er sich nie mehr ändern wird. Daß er nie wieder in Ordnung kommt. Als ich dich mit dieser Krähe gesehen habe« – er lächelte wehmütig –, »wußte ich, daß du wieder in Ordnung kommen würdest. Das hieß, daß die anderen Möglichkeiten, die ich in dir sah, Wirklichkeit werden könnten. Jetzt hast du was, worüber du nachdenken kannst.« Steinfeld nickte einmal zum Abschied und ging. Und Smoke, der zurückblieb, lag einfach nur da und starrte die Decke an. Hard-Eyes und Jenkins gingen durch den Parc Monceau. Der späte Nachmittag neigte sich matt dem Ende zu. Die Bäume standen da wie alte Weiber, blattlos und nackt. Die halb ver flüssigten, abgefallenen Blätter lagen wie abgelegte Nacht hemden um die Knöchel der Alten, dachte Hard-Eyes. Er wußte, daß er die Metapher überstrapazierte, als er sich um
schaute, aber er versuchte, dem Ort etwas von seiner bedrohli chen Wirkung zu nehmen. In Wirklichkeit sah es hier kalt und tot und neblig feucht aus; aus den blauen Schatten und all den Grau- und Brauntönen war jedes Leben herausgesickert. Aber der Geruch der vermodernden Blätter war gut. Er inhalierte ihn mit hungrigen Atemzügen, und die kalte Luft biß in seine wunden Nasenlöcher; seine Wangen kribbelten wie von tan zenden Nadeln. Das HK-21-Sturmgewehr in seinen Händen war so kalt wie ein steinernes Kruzifix und kam ihm auch fast so schwer vor. Er war müde. Eine Mahlzeit pro Tag war nicht genug. »Steinfeld hat uns mehr zu essen versprochen«, beschwerte sich Jenkins. Hard-Eyes hatte das gleiche gedacht, sagte aber: »Wir ha ben Glück, daß wir das kriegen, was sie uns geben. Haste mal einen Blick in dieses Flüchtlingslager draußen vor der Stadt geworfen?« Jenkins grunzte. »Hast recht.« Seine Hände waren rot von der Kälte; sie lagen auf dem blauen Stahl-und-Plastik-Schaft seines Sturmgewehrs. Sie hatten die Weatherby und die 22er gegen praktischere Waffen eingetauscht. Hard-Eyes warf einen Blick über die Schulter. Er wunderte sich, warum die Ausbilder so weit zurückhingen. Und dann blieb er stehen. Er sah sie überhaupt nicht mehr. »Die verarschen uns, Jenkins«, sagte Hard-Eyes. Jenkins blieb stehen, und sie beobachteten den Pfad hinter ihnen. Sie rechneten damit, ihre Ausbilder im Guerillakampf um die Biegung und durch das ausgedünnte, stachlige, bläuli che Buschwerk schlendern zu sehen. Nichts.
Kein Vogel war zu hören. Vor ein paar Minuten hatten noch welche gesungen. Hard-Eyes schluckte. »Diese Typen haben was gegen uns«, sagte Jenkins im Flü sterton. »Was haben sie da über ›Räuberpack‹ gesagt?« »Wir sollten aufpassen, weil der Waffenlärm ›Räuberpack‹ anlocken könnte. Typen, die auf der anderen Seite des Parks in Bretterbuden hausen.« »Scheiße! Glaubste, die haben uns in ‘ne Falle gelockt?« »Steinfeld würd’s nicht riskieren, auf diese Weise Männer zu verlieren.« »Aber ich sag’s dir doch, diese Typen haben was gegen uns. Die sind der Meinung, Amerikaner sind Arschlöcher. Sie denken, wir sind von der CIA oder so’n Scheiß. Und Steinfeld ist nicht hier.« »Sie mögen uns nicht, aber sie würden nie …« Er brach ab und spähte angestrengt durch den Nebel. Aus dem Wald kamen Männer. Rechts vom Gehweg standen die Bäume nicht sehr dicht. Die weit auseinanderliegenden Stämme rückten mit zuneh mender Ferne enger zusammen und wurden nach etwa fünf zig Metern zu einer runzligen grauen Wand. Von hier aus sah sie wie eine massive Mauer aus Bäumen aus. Als die Männer aus dieser massiv wirkenden Wand herauskamen, schienen sie wie mannsgroße Tropfen einer Flüssigkeit herausgepreßt zu werden. Sie sahen genauso grau aus wie die Baumstämme, bis auf orange-rosa Flecken an der Stelle, wo ihre Gesichter sein mußten, und bleistiftdünne Striche aus Blau, Schwarz und Braun in ihren Händen. Gewehre.
Hard-Eyes zählte acht und hörte dann auf zu zählen. Statt dessen schaute er sich nach einer Zuflucht um. Links von ihm lag ein großer Parkplatz mit einer rissigen Asphaltdecke. Da die französische Regierung jetzt kaum noch existierte und ihre skelettartigen Reste kein Geld für die Pflege der Parks hatten, erstickte der Parkplatz unter weggewehten Zweigen und Blättern; hier und dort standen die rostigen Buckel ausgewei deter und herrenloser Autos. Sie waren jedoch zu weit ent fernt, um als Deckung zu dienen. Jenkins und er würden in den Rücken geschossen werden, wenn sie über den Parkplatz rannten. Der Gehweg vor ihnen sah sicherer aus, aber die Ausbilder hatten ihnen erklärt: »Wenn ihr unter Druck geratet, fragt euch folgendes: Ist das eine Situation, wo wir uns verteilen oder neu gruppieren müssen? Die Antwort hängt vom Charakter des Feindes und seiner Position in bezug auf die Führung der Einheit ab.« Wenn Hard-Eyes nach vorn liefe, würde der Feind zu ei nem Keil zwischen Hard-Eyes’ Einheit und der Führung der Einheit werden, den Ausbildern. Die Führung würde in Ge fahr geraten und vom Feind umzingelt werden, und wenn es möglich und nicht ausdrücklich anders angeordnet war, mußten sie sich neu gruppieren, um die Führung zu schützen. Deshalb sagte Hard-Eyes: »Auf dem Weg entlang zurück.« Jenkins sagte: »Scheiße, Mann!« »Komm schon!« Die Meute war nah genug, daß Hard-Eyes die Gesichtszüge in den orange-rosa Flecken erkennen konnte. Er drehte sich um und rannte los. Das ist nicht der Feind, dachte Hard-Eyes, das ist ein Hau
fen halb verhungerter Pariser, die hoffen, daß wir was Wert volles oder was Eßbares dabeihaben. Und er dachte: Die Ausbilder haben uns eine Falle gestellt, so daß das Räuberpack zum ›Feind‹ wird. Als ob das ein Kriegsspiel wäre, bei dem die andere Seite nicht weiß, daß es bloß ein Spiel ist. Und dann dachte er: Die Scheiß-Ausbilder hoffen, daß die uns den Arsch abschießen. … Als er die ersten krachenden Geräusche und die Echos hörte, wie Aluminiumblech, das geschüttelt wird, um Donner zu simulieren. Ein Stück Rasen spritzte neben seinen Füßen auf. Unsinnigerweise machte er einen Satz nach hinten, als ob das Stückchen Boden, das durch die Luft flog, die Bedrohung wäre. Hard-Eyes rannte weiter, und Jenkins war ein kleines Stück hinter ihm. Er fiel weiter zurück. Die Bäume tänzelten ver rückt vorüber. Der Himmel bewegte sich ruckartig, wie ein Scheibenwischer. Er lief an einem Baum vorbei, und dieser spuckte ihm Rinde entgegen; ein Streifen helles Holz war zu sehen, wo die Kugel die Rinde weggerissen hatte. Er hörte, wie Jenkins hinter ihm das Feuer erwiderte, ein dumpfes Rattern; wahrscheinlich bestand keine Hoffnung, daß er irgend jemand traf, er versuchte nur, sie aufzuhalten. Zehn Meter vor ihm verschwand der Pfad im Gestrüpp. Er führte zwischen dichtstehenden blauen Büschen durch. Dort, wo der Pfad sich zwischen den Büschen öffnete, gab es nicht viel Deckung. Wenn das Pack direkt hinter sie gelangte, wür den sie einfach stehenbleiben, den geraden Pfad unter Feuer nehmen und Schweizer Käse aus ihren Rücken machen. Wenn sie die erste Biegung erreichten, die nach links in die
Büsche führte, würden sie es vielleicht schaffen. Aber genau in diesem Augenblick stolperte Jenkins und ging mit einem seltsamen, hohen Schrei zu Boden. Er schlitter te mit klapperndem Gewehr über den eisenharten, eisenkalten Boden. Hard-Eyes wollte weiterlaufen, und ein Teil von ihm dachte sich bereits Entschuldigungen aus. Wo ist Jenkins? würde er fragen. Ich hab ihn im Wald aus den Augen verloren. Hat er’s nicht geschafft? Aber er blieb stehen. Schnaufend und fluchend drehte er sich um … lief stromaufwärts gegen seinen eigenen Impuls – nichts wie weg! – und kämpfte gegen die Strömung in seinem Innern an. Er hörte ein verächtliches Summen und wußte, daß eine Kugel seinen Kopf um ein paar Zentimeter verfehlt hatte. Jenkins kam schweratmend auf die Knie. Wie konnten sie ihn verfehlen? Er war so ein großes Ziel! Hard-Eyes bückte sich und versuchte ihm aufzuhelfen, aber Jenkins schüttelte seinen Arm ab – sie waren beide wütend – und keuchte: »Gib mir bloß Deckung«, während er nach seinem Gewehr griff. Hard-Eyes drehte sich um und eröffnete das Feuer. Das au tomatische Gewehr ruckte in seiner Hand. Er kam sich wie ein Idiot vor, als er sah, daß er sechs Löcher in den Stamm eines Baums zwischen ihm und der Meute geschossen hatte. Dann sah er, wie einer von ihnen von rechts auf ihn zukam. Der Mann blieb zwölf Meter entfernt stehen, hob das Gewehr an die Schulter und zielte wie jemand, der auf Kaninchen schießt. Er hatte eine große Nase, ein weiches Kinn und eingefallene Wangen. Er trug eine löchrige braune Mütze. Hard-Eyes schwenkte das HK-21 herum und feuerte eine weitere Salve aus der Hüfte. Vor seinem geistigen Auge er standen absurde Bilder von ihm selbst als kleinem Jungen, wie
er abwechselnd mit seinem Bruder den Rasen mähte; wenn man den Rasenmäher anwarf, machte er nämlich ein Geräusch wie das Sturmgewehr. Er sah sich, wie er seinen Bruder mit einem Wasserschlauch naßspritzte – mit einer automatischen Waffe zu schießen war manchmal so, als ob man jemanden aus einem Hochdruckschlauch mit Wasser bespritzte; man zielte mit dem Schlauch, schwenkte ihn hin und her und hoffte das Beste. Der Mann mit der braunen Mütze wirbelte halb herum und taumelte, fiel jedoch nicht hin. Er machte ein verwirrtes Gesicht, dann drehte er sich um und rannte weg, wobei er sich die Seite hielt. Er war verwundet. Weitere kamen zwischen den Bäumen heran und verteilten sich. Hard-Eyes schoß das ganze Magazin in kleinen Feuerstößen auf sie leer. Sie gingen hinter Bäumen in Deckung. Und dann bemerkte Hard-Eyes, daß Jenkins auf den Beinen war und zum Gebüsch rannte. Hard-Eyes lief hinter ihm her. Jemand zu seiner Linken schoß auf ihn. Er fühlte so etwas wie einen unverschämten Stups links an seinem Kopf, rein psychosomatisch – das war die Stelle, wo ihn die Kugeln in seiner Vorstellung treffen würden. Er nahm das übelkeiterregende Knacken vorweg, wenn die Kugel einschlug. Jenkins war rund drei Meter vor ihm. Er wälzte sich eher vorwärts, als daß er lief, und seine Koordination war schlecht; er sah aus, als ob er das hinderli che Gewehr wegwerfen wollte. Und dann huschte das Buschwerk an ihnen vorbei, und Hard-Eyes spürte eine Woge der Erleichterung, als er um die Biegung des Pfades flitzte. Für den Augenblick war er aus ihrem Sichtfeld. Vor ihnen führte der Weg ein Stück weit geradeaus. Das war eine gute Stelle, um in den Rücken ge schossen zu werden.
»Jenkins«, zischte er. »Hey – geh die Ausbilder holen! Ich bin hier links im Gebüsch, links von hier aus gesehen, schießt nicht rein, wenn ihr zurückkommt, auch nicht, wenn ihr Schüsse da drin hört, Mann, das bin dann nämlich ich!« Er konnte nicht sicher sein, daß Jenkins zugehört hatte, aber Hard-Eyes glaubte zu sehen, wie er zur Antwort nickte. Er bog abrupt nach links ab, drückte sich tief ins Gebüsch und machte kehrt, um parallel zum Pfad zurückzulaufen. Das Buschwerk hatte hier grob die Form eines Fragezeichens, und er lief den Stiel des Fragezeichens zur Innenseite des Hakens entlang. Die Meute war auf der anderen Seite des Hakens. Er atmete heftig, sowohl aus Angst wie aus Erschöpfung. Der Atem bildete weiße Wölkchen vor ihm, und er dachte törich terweise: Was ist, wenn sie meine Atemwolken über die Bü sche aufsteigen sehen? Dann wissen sie genau, wo ich bin … Er hörte Stimmen, die auf Französisch brabbelten. Er drück te sich am Haken des Fragezeichens in die Wand des Busch werks und biß sich auf die Lippen, um nicht laut aufzuschrei en, als ihm ein Zweig ins rechte Auge stach und andere kleine Äste die Wange, den Hals und die Hände zerkratzten. Er hatte Angst, daß Zweige in die Mechanik des Gewehrs geraten könnten … Er drehte sich zur Seite, um sich tiefer ins Gebüsch zu schieben. Vielleicht ist das dumm, dachte er, vielleicht hält mich das Gebüsch nur fest und ich kann nicht wegrennen; dann bin ich eine leichte Beute. Sie werden mich hier drin entdecken und reinschießen, bis sie mich erwischen. Er kauerte sich zusammen, so daß der dickere Teil des Buschwerks über ihm war, und fühlte sich besser, weil er sich hier bewegen konnte; die Zweige formten Bögen über ihm. Er
hörte Stimmen und Schritte. Er begann sich zwischen den dicken, hornigen Stämmen zur engen Stelle des Gehwegs durchzuwinden, zog das Gewehr mit der rechten Hand hinter sich her und gab sich Mühe, keinen Dreck hineinzubekom men. Er arbeitete sich auf den Ellbogen voran. Der kalte Boden jagte ihm einen Schmerz durch den Ellbogenknochen. Seine Wange juckte wie wild, wo ihn die Zweige getroffen hatten. Sein Auge brannte, wo es den Kratzer abbekommen hatte. Es tat weh, wenn er zwinkerte. Er konnte den Weg jetzt durch den Schirm des Buschwerks sehen. Er brachte das Gewehr nach vorn und verkeilte es in Schußposition an seiner Schulter, ungefähr dreißig Grad von der geraden Linie mit seinem Körper abweichend, den Ellbo gen in den Boden gestemmt, den Verschluß in die Hand gestützt, und nahm den Pfad ins Visier. Und dann hörte er wieder die französischen Stimmen und wußte, daß sie disku tierten. Ein paar wollten den Weg entlanggehen und ins Ge büsch eindringen. Andere hielten das für zu gefährlich. Dann kamen drei von ihnen im Trab den Pfad entlang, fein säuber lich in Formation, wie Bowlingkegel. Er hob das Gewehr noch ein bißchen höher und dachte dann: Scheiße, ich hab keinen neuen Ladestreifen eingelegt! Ich Idiot! Er legte das Gewehr leise und vorsichtig weg, als sie auf seiner Höhe waren. Der erste war nur etwas mehr als vier Meter von ihm entfernt, drei Meter jenseits des schützenden Gebüschs. Hard-Eyes langte hinter sich und fischte in seinem Tornister. Der Winkel war unangenehm. Er knirschte vor Enttäuschung mit den Zähnen. Der Mann ging vorbei. HardEyes tastete immer noch im Tornister herum. Er fühlte etwas metallisch Kaltes unter den Fingern. Er zog es heraus und sah es sich an. Ein voller Ladestreifen. Er warf den anderen Lade
streifen aus und legte den vollen ein – und hörte einen Schuß. Jemand bückte sich, um ins Gebüsch zu spähen. Ein Gewehr bellte, und ein kleiner Zweig zerbrach sauber in zwei Hälften und fiel sanft auf seinen Gewehrlauf. Hard-Eyes zielte auf den Kerl, der auf dem Pfad hockte. Er holte tief Atem und ließ ihn heraus, und als er keine Luft mehr in den Lungen hatte und sein Körper noch vor dem nächsten Atemzug war, zog er den Abzug durch – und zur selben Zeit feuerte der andere Mann. Etwas zischte heiß an Hard-Eyes’ rechter Wange vorbei. Der Mann, der auf ihn geschossen hatte, zappelte ein wenig vor Enttäuschung; er tänzelte zurück – nein, das stimmte nicht, er taumelte zurück, als ihm HardEyes’ Sturmgewehr drei Kugeln in die Brust pumpte. HardEyes rechnete damit, blutige Löcher zu sehen, aber die Stellen, an denen die Kugeln eingeschlagen waren, sahen wie schwar ze Punkte aus. Der Kerl fiel zu Boden. Hard-Eyes feuerte weiter, bestrich den Pfad, nahm die Silhouetten von zwei weiteren wegrennenden Männern ins Visier … Das Gewehr hämmerte gegen seine Schulter. Beißender blauer Rauch verfing sich in dem gewölbten Buschwerk direkt über ihm. Ein Zweig glühte vom Mündungsfeuer. Seine Ohren schmerzten von den Detonationen und Vibrationen. Die Männer rannten nicht mehr. Sie lagen alle auf dem Boden, so wie er, aber auf dem Rücken. Einer von ihnen gab einen quäkenden Laut von sich und strampelte mit den Füßen. Ein anderer drehte sich um und spuckte Blut. Seine Hand krallte sich in den Boden. Er zuckte. Dann bewegte er sich nicht mehr. Hard-Eyes wartete, aber es kam niemand mehr den Weg entlang. Nach einer Weile, als seine Hände steif vor Kälte
waren, seine Ellbogen schmerzten und seine Wange pochte, hörte er Jenkins etwas rufen. Und dann ertönten hinter ihm französische Stimmen, und er erkannte eine: Es war die ver drießliche Stimme eines seiner Ausbilder. Dann kam ein anderes Geräusch: bumm bumm bumm bumm bumm. Er brauchte einen Moment, bis er merkte, daß es sein wild klopfendes Herz war. Es verblüffte ihn, daß er es so deutlich hören konnte. Er robbte nach vorn und schob Kopf und Schultern gerade weit genug aus dem Gebüsch, um in beiden Richtungen den Weg entlang zu spähen. Außer den Toten sah er niemand. Die drei Männer, die er niedergeschossen hatte, waren jetzt alle tot. Sie waren keine Silhouetten mehr. Er sah sie nicht an, außer um sich zu vergewissern, daß sie wirklich tot waren. Aber er konnte nicht umhin festzustellen, daß einer von ihnen nur ein Junge war. Vielleicht fünfzehn. Ein Junge mit einem Gewehr in seinen weißen Händen. Er stand auf und wischte sich Dornen und trockene Blätter ab. Ihm war schwindlig, und er verspürte ein trunkenes Hochgefühl. Eher erstaunt als bedauernd dachte er: Sie hatten bloß Hun ger. Das war alles. Seine Ausbilder kamen mit erhobenem Gewehr um die Bie gung des Pfads. »Nicht schießen!« brüllte Hard-Eyes. Das heißt, er versuchte es. Die Worte kamen als unverständlicher Brei heraus, weil sein Mund taub vor Kälte war. Sein rechtes Ohr fühlte sich ebenfalls sehr kalt an. Komisch: nur das rechte. Sie wurden langsamer und sahen ihn an. Ihre Mienen wa ren finster. Er wußte, daß sie irgendwas an seinem Vorgehen
auszusetzen haben würden. Jenkins hatte recht: Sie hatten was gegen die Amerikaner. Aber Hard-Eyes wußte, daß er es richtig gemacht hatte. Jenkins kam schwerfällig auf ihn zu. Er starrte Hard-Eyes mit offenem Mund an. »Dein Ohr«, sagte er. »Mensch, dir hamse’s Ohr wegge schossen.« Molt ging den Korridor entlang und dachte, er sei auf der falschen Ebene ausgestiegen. Es fühlte sich wie Ebene 02 an. Die Schwerkraft hier war höher, als sie sein sollte. Der Korridor war leer, und das fand er ebenfalls seltsam. War doch eigentlich Arbeitszeit in dieser Sektion. Wilson hatte gesagt, sie würden sich auf Ebene 00 treffen. Das wußte er genau. Er war sicher, daß er auf 00 gedrückt hatte. Aber er sah einen Koordinationsanzeiger, Ebene 03, Korridor C13. Und nirgends ein Funktionsanzeiger. Er befand sich in einem Bereich der Kolonie, in dem er noch nie gewesen war. Die Wände bestanden aus dem gleichen vernieteten grauen Metall, das man unten beim Recycling oder in der Umgebung eines Kraftwerks fand. Ich hab auf 00 gedrückt, dachte er. Das weiß ich genau. Er drehte sich um und wollte sich auf den Rückweg zum Fahrstuhl machen. Ein zehn Zentimeter dicker Abschnitt der Decke glitt herunter und wurde vor ihm zu einer Wand. Zi-ip: so schnell. Es war eine transparente Wand aus Plastik, aber dick, und er wußte, daß er sie nie kaputtkriegen würde. Er starrte sie mit großen Augen an, und Panik keimte in ihm auf, wie er sie nicht mehr verspürt hatte, seit er ein kleines Kind gewesen war und seine ersten richtig schlimmen Alpträume
gehabt hatte. Er berührte die Wand, um sich zu vergewissern, daß sie echt war. Er sah sich um. Seine Eingeweide krampften sich in wach sendem Argwohn zusammen. Er hatte auf 00 gedrückt, aber der Fahrstuhl hatte ihn auf 03 gebracht. Die Mistkerle konnten die Fahrstühle einzeln kon trollieren. Natürlich. Sie hatten ihn hierher gebracht. Er schaute den Gang hinunter. Da waren weitere Dek kenstücke, die so aussahen, als ob sie herunterfahren könnten. Er war sicher, daß er weder auf der Start-Ebene noch bei den Wohnheimen je eine solche Decke gesehen hatte. Aber woan ders. In der Admin-Gegend – wenn man zu Admin ging, um seinen Gehaltsbon abgestempelt zu bekommen, sah man Decken mit solchen Abschnitten und fragte sich, wozu sie da waren … Er wich von der transparenten Wand zurück, drehte sich um und rannte los. Er kam zwölf Meter weit. Drei Meter vor ihm fuhr ein weiteres Deckenteil herunter. Er war eingeschlos sen. Er wurde langsamer. Der Laufschritt wurde zum Trab und dann zum Gehen. Er ging zu der Wand und drückte die Stirn dagegen, schaute in den leeren Korridor auf der anderen Seite. Er atmete schwer, und das durchsichtige Plastik beschlug sich. Er hämmerte mit der Faust an die Wand, dreimal, und brach sich fast die Handknochen dabei. Er wußte, daß er sie nicht einschlagen konnte. Er hämmerte dagegen, um sie wissen zu lassen, wie er sich fühlte. Weil er wußte, daß sie ihn beobach teten. Er betrachtete die leeren Korridorwände zwischen den transparenten Sperren und fragte sich: Was nun? Gas viel
leicht? Vielleicht würde er in den Raum hinausgeschleudert werden. Nein. Die liberalen Waschlappen bei Admin, zumin dest auf Rimplers Seite im Verwaltungsrat, waren nicht ehrlich genug, es auf diese Weise zu erledigen. In einer der Wände war eine Tür. Sie öffnete sich. Sie glitt langsam in die Wand zurück. Ein leises Summen. Ich soll da reingehen, dachte Molt. Ihr könnt mich. Er ging zu einer Stelle, wo er durch die Tür schauen konnte, ohne ihr zu nahe zu kommen. Er sah einen fast leeren Raum. In der Wand war ein rechteckiges Paneel, das zur Liege wer den würde, wenn man es herauszog. Es gab ein Klo, ein Waschbecken, eine Duschkabine. Belüftungsschlitze – nicht groß genug, um durchzukriechen. Das war alles. Eine Arrest zelle. Er setzte sich gegenüber von der Tür hin und lehnte sich an die Wand. Er würde ihnen nicht die Genugtuung verschaffen, ihn da reingehen zu sehen. Nicht sofort. Er fragte sich müßig, warum sie es auf diese Weise gemacht hatten. Wenn sie ihm auf die Spur gekommen waren, warum hatten sie dann nicht die Bullen geschickt, damit die ihn fest nahmen? Die hinterfotzigen Scheißkerle: Wenn sie die Bullen ge schickt hätten, wäre es eine politische Aktion gewesen. Es hätte ihn zum Märtyrer gemacht. Sie mußten es so machen, daß es niemand mitbekam. Auf diese Weise konnten sie Ge rüchte ausstreuen, er sei zur anderen Seite übergelaufen oder hielte sich versteckt. Damit er wie ein Feigling aussah. Wilson. Dieser schäbige kleine Mistkäfer mußte ihn an sie verkauft haben.
Er sah sich um und überlegte, wo die Kameras waren. Er schaute zur Decke hinauf und nickte. Irgendwo in der Decke. Eine dieser Platten war von der anderen Seite durchsichtig. Er stand auf und ließ die Hosen runter. Im Admin-Konferenzraum saßen sie um einen Tisch herum, der wie ein umgekehrtes S geformt war, und beobachteten Molt auf dem Bildschirm. Molt ließ die Hose fallen, nahm seinen Schwanz in die Hand, schwenkte ihn vor ihnen herum, zeigte mit der anderen Hand darauf und formte mit dem Mund deutlich die Worte: Lutscht mir doch einen ab, ihr Wichser. Claire zuckte zusammen und schaute weg. Die Krümmungen des S-Tisches waren sanft geschwungen. Praeger saß auf der Innenseite der Krümmung und links von Claire. Ihr Vater saß in dem Kontursessel ihr gegenüber. Ganzio, der brasilianische UNIC-Vertreter, saß mit finsterer Miene direkt links neben ihr. Er war zu einem Inspektionsbe such hergekommen und hing nun hier fest, seit die Sowjets die Kolonie abgeriegelt hatten. Er wollte nach Hause. Judith Van Kips, die Repräsentantin der Afrikaaner, saß zu Ganzios Linken. Links neben Van Kips saß Messer-Krellman, offiziell der Gewerkschaftsvertreter – von UNIC ernannt, von UNIC gelenkt. Gegenüber von Messer-Krellman vervollstän digte Parker, der Sicherheitschef der Kolonie, die Gruppe. Der Raum war von weichem, schattenlosem, indirektem Licht erhellt. Weit rechts von Claire, an einem Ende des ecken losen, annähernd rechtwinkligen Raumes, war der Bildschirm, und auf dem Schirm war Molt. Links von Claire, gegenüber vom Bildschirm, stand eine Bronzeskulptur eines Vogel
schwarms, der von einem Teich aufflog. Claire warf wieder einen raschen Blick auf Molt, sah, daß er jetzt etwas noch Obszöneres tat, und heftete ihren Blick auf die Skulptur – mit fast ebenso großer Abscheu. Die Skulptur wirkte so falsch, so abstrakt und wohlfeil wie die UNICProteste gegen Gleichmacherei. Hier wird jeder eine Chance bekommen, hatte Admin auf dem InterKolonie-Kanal erklärt. Jeder wird Gelegenheit haben, ins Freigelände zu ziehen, wenn es soweit ist. Wenn die Blockade aufgehoben wird, werden wir über Lohnerhöhungen und höhere Freizeitkredits sprechen. Aber in der Zwischenzeit… In der Zwischenzeit erörterten sie Sicherheitsmaßnahmen. »Die Isolierung dieses Mannes wird die Rebellion nicht iso lieren«, sagte Claire. »Die Rebellion findet breite Unterstüt zung. Und das wird auch weiterhin so sein, solange wir uns in die Tasche lügen. Wir beklagen uns, daß wir kein Geld haben, um ihre Unterkünfte zu verbessern, aber wir haben vier Mil lionen Neudollar für den Ausbau des Sicherheitssystems rausgeworfen – lange vor dem Beginn der Rebellion. Und noch zwei Millionen für die Verbesserung der AdminUnterkünfte …« »Sieht so aus, als hätten wir die Sicherheit keinen Moment zu früh verbessert«, warf Parker ein. »Die Krawalle sind …« »Die Krawalle müßten nicht sein«, sagte Claire müde. »Es gäbe keine Krawalle, wenn die Technickis bekommen würden, was man ihnen in den Artikeln versprochen hat. Die Technik kis sind überzeugt, daß wir ihr Vertrauen mißbraucht haben.« »Was das Wort ›überzeugt‹ betrifft, muß ich Ihnen wider sprechen, Dr. Rimpler«, sagte Praeger. Praeger war halb kahl, und sein rosaroter Kopf erinnerte
Claire immer an einen vom häufigen Gebrauch abgerundeten Radiergummi. Seine Augen waren schlecht, und da er irgend eine Phobie vor Implantationsoperationen hatte, trug er eine dicke, randlose Brille. Seine blutleeren Lippen hatte dieselbe Farbe wie seine Gesichtshaut. Er war stämmig, ein athletischer Mann mit Muskeln unter dem dreiteiligen grauen Anzug, was man nicht denken würde, wenn man seinen Kopf sah. Er hatte dicke Muskelstränge am Hals und breite Schultern. »Sind sie wirklich überzeugt?« fragte Praeger rhetorisch. »Ich glaube nicht. Sie reagieren auf Stimuli, wie es ihrer sozialen Pro grammierung entspricht. Sie könnten ebensogut auf andere Weise reagieren – mit anderen Stimuli. Und wenn wir klug sind, dann liefern wir ihnen diese.« »Und lassen sie nur das wissen, was wir sie wissen lassen wollen«, sagte Rimpler plötzlich. Sein belustigter Ton verblüff te sie. Es war das erstemal, daß er etwas sagte. »Und wenn sie das übrige herausfinden, dann erklären wir ihnen, es sei ein Kommunikationsproblem.« Das ›Kommunikationsproblem‹ bezog sich darauf, daß Praeger es unterlassen hatte, Rimpler über den Notstand zu informieren, als dieser in Urlaub gewe sen war. Praeger hatte behauptet, er hätte einem Untergebenen die Anweisung gegeben, es zu tun, und dieser hätte einfach aus Versehen vergessen, sie auszuführen. Ein ›Kommunikati onsproblem‹, hatte Praeger gesagt. Und zur gegebenen Zeit einen Untergebenen präsentiert, der behauptete, für den Irrtum verantwortlich zu sein. Man hatte dem Mann den Lohn gekürzt. Und ihn wahrscheinlich irgendwie reichlich dafür entschädigt. »Nur ein kleines Kommu-ni-ka-tschons-pro blemmm«, wiederholte Rimpler in einem verträumten Singsang. Claire mußte an die Haselmaus bei der verrückten Teegesellschaft denken. Und sie dachte: Was ist los mit ihm?
Van Kips seufzte. »Ich finde wirklich, es hat keinen Sinn, das wieder aufs Tapet zu bringen, Doktor.« Sie schürzte die Lippen, die strengste Miene, die sie sich gestattete. Oder vielleicht, die Praeger ihr gestattete. Vermutlich betete sie Praeger an. Sie war eine unglaublich schöne Frau, der lebendig gewordene Entwurf eines Künstlers. Metallikblaue Augen; das schmale, elegante Rehgesicht eines Modells. Ihr langes, völlig glattes flachsblondes Haar war in der Mitte gescheitelt und fiel ungeheuer kunstvoll über ihre Schultern. Sie trug ein tauben graues Kostüm und eine weiße Seidenbluse; das Kostüm schmiegte sich an ihren hochgewachsenen, gertenschlanken Körper, wenn sie sich bewegte. Jetzt saß sie jedoch kerzenge rade da, die Hände im Schoß gefaltet, und bewegte nur die Augen, wenn sie jemanden ansah. »Zu diesem Zeitpunkt ist es sinnlos, der genauen Ursache der Krawalle auf den Grund zu gehen«, sagte Praeger. »Zuerst müssen wir die Krawalle, den Vandalismus und die Streiks ersticken. Wenn wir jetzt hinausgehen und sagen, ja, ihr habt recht, wir haben unsere Pflichten vernachlässigt – nun, das würde sie in der Ansicht bestärken, daß Gewalt der richtige Weg ist, zu uns durchzudringen. Wir dürfen der Gewalt nicht nachgeben. Die Gewalt muß aufhören, bevor wir irgendwel che Zugeständnisse machen.« »Ganz meiner Meinung, Bill«, sagte Parker mit seinem leichten Südstaaten-Akzent. Er war ein großer, jungenhaft aussehender Mann mit müden Augen und vielen Furchen in seinem breiten, freundlichen Gesicht. Ein freundliches Gesicht, und er wird fröhlich dabei zwinkern, dachte Claire, wenn er meine Verhaftung anordnet. »Wenn wir jetzt nachgeben, werden wir jedesmal nachgeben müssen, wenn sie uns bedro hen. Dann wird alles nur noch schlimmer – für sie und für uns
auch.« Er setzte sich anders hin und wartete mit einem engel haften Lächeln auf eine Reaktion. Claire erinnerte sich, gehört zu haben, daß er einer dieser wiedergeborenen Christen war. »Für sie und für uns auch?« wiederholte Claire. »Diese ›sie und wir‹-Mentalität ist eins unserer Probleme. Ich schlage vor, wir lassen die vom Sicherheitsdienst während der Krawalle festgenommenen Leute frei, wenn sie sich verpflichten, zu ihrer Verhandlung zu erscheinen. Nur um die Spannung ein bißchen abzubauen. Dann versuchen wir, eine neue Zusam menkunft mit den Radiks zu organisieren, und wir erlauben ihnen, einen Repräsentanten der Technickis zu den Konferen zen zu entsenden. Das sind keine so großen Zugeständnisse.« »Jack hier«, Praeger nickte Messer-Krellman zu, »repräsen tiert sie. Er ist der Gewerkschaftsvertreter, oder nicht?« Mes ser-Krellman war ein Mann mit einem Frettchengesicht und einer gelangweilten Miene. Er hatte die Angewohnheit, nach jeder Äußerung zu seufzen. »Ja, ich glaube mich zu entsinnen. Das ist meine Funktion«, sagte er sarkastisch und seufzte. Er sah Claire mit mildem Tadel an. Claire schüttelte den Kopf. »Es muß ein Repräsentant der Technickis sein! Jemand, der als Technicki geboren und aufge wachsen ist. Der Technicki spricht, weil er damit groß gewor den ist. Jack hat einfach ihr Vertrauen verloren. Es wäre kein Zugeständnis an …« »Doch, das wäre es«, fiel ihr Praeger ins Wort. »Es steht nämlich auf der Liste ihrer Forderungen. Zusammen mit der Freilassung der sogenannten politischen Gefangenen. Seiner Forderungen.« Er wies mit dem Kinn zum Schirm hin. Zu Molt.
»Schaut ihn euch an«, murmelte Judith Van Kips kopfschüt telnd. »Das ist einer der Technicki-Führer. Wollt ihr so jemand wirklich bei unseren Konferenzen dabeihaben? Hier?« »Er ist im Grunde kein Technicki«, erwiderte Claire. »Kein richtiger … Wir würden uns jemand aussuchen, der mehr …« »Schaut ihn euch an«, wiederholte Van Kips, diesmal mit einem Zischen. Auf dem Bildschirm drehte sich Molt im Kreis und schwenkte seinen Steifen zu jedem Kompaßpunkt. Judith Van Kips gab einen angewiderten Laut von sich. »Der Mann steht offensichtlich unter Drogen.« Rimpler schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht.« Er gluck ste. »Molt weiß, daß wir ihn beobachten, aber er weiß nicht, wo wir sind. Also sagt er ›Leckt mich‹ in jede Richtung, um sicherzugehen, daß die Botschaft auch bei uns ankommt.« »Sie scheinen das zu billigen, Doktor«, bemerkte Ganzio. Er war ein schlanker, dunkelhäutiger Mann mit einem so sauber ausrasierten Schnurrbart, daß er wie mit einer Schablone aufgemalt wirkte, und kleinen, unsteten schwarzen Augen. Er trug einen goldenen Anzug, den alle insgeheim für vulgär hielten. »O nein, nein«, sagte Rimpler leichthin. »Aber man muß seine Frechheit bewundern.« Molt machte jetzt eine noch rüdere Geste, wichste ihnen ins Gesicht und Praeger tippte mit einem Finger auf das Terminal am Tisch. Das Bild auf dem Schirm verästelte sich, faltete sich zusammen und wurde von einem Blick auf den Strip ersetzt. Um ein Café herum hatte sich eine Menschenmenge versam melt, die einem Sprecher zuhörte – jemandem, der auf einem Tisch stand. Praeger gab ein, den Sprecher in einer Nahauf
nahme heranzuholen. Das Bild zoomte ihn heran. Es war Bonham. Sie hatten den Ton nicht eingeschaltet, aber er mußte eine gute Rede gehalten haben; die Menge sah wie hypnoti siert aus. »Also das ist ein Bursche, der Talent hat. Angenom men«, sagte Praeger, »er hätte zu unseren Gunsten gesprochen. Und angenommen, wir würden den Fernsehkanal der Tech nickis kontrollieren. Wenn wir die richtigen Stimuli lieferten, würden die Technickis ihre sinn- und zügellose Rebellion aus eigenem Antrieb beenden. Und zwar gern.« Claire fröstelte. Sie sah ihren Vater an und wünschte, er würde aktiv werden und für ihre Sache eintreten. Er schaute sehnsüchtig zu den Fächern mit den Erfrischungsgetränken in der anderen Wand hinüber. Wahrscheinlich würde er sich gern einen Cocktail genehmigen. Der Teufel sollte ihn holen! Vielleicht war es ein Fehler gewesen, darauf zu bestehen, daß er überhaupt zu der Konferenz kam, dachte Claire. Er hatte sich in den letzten paar Jahren verändert. Im Anfang war ihr Vater von Macht besessen gewesen – über seine Familie, seine Frau und vor allem über die Kolonie. Er hatte in der Kolonie eine Erweiterung seiner selbst gesehen und – wenn überhaupt – mit zu großer Leidenschaft die Verantwortung für ihre Entwicklung und Wartung übernommen. Und dann hatte Mutter ihn verlassen; sie hatte sich geweigert, in die Kolonie zu ziehen. In seinen Augen war das ein Verrat an ihm persön lich gewesen. Bei der Scheidung war Claire wirklich ein Stein vom Herzen gefallen. Sie hatte sich ihrer Mutter nie nahe gefüllt. Die Frau war kalt und nur auf sich bezogen. Wie um den Verrat seiner Frau an seinem Traum zu kompensieren (sie hatte die Kolonie als ›eine beispiellose Nichtigkeit in der
Menschheitsgeschichte‹ und ›ein Monument der Scheußlich keit‹ bezeichnet), war Rimpler zwanghafter denn je auf Macht versessen. Aber nach Terrys Tod begann er sich zu verändern. Im ersten Stadium seiner Veränderung wurde er abwechselnd abweisend, mürrisch und introvertiert. Dieses Stadium war auch von fiebriger Überarbeitung gekennzeichnet. Dann brach er im Admin-Befehlszentrum zusammen, nachdem er zwanzig Stunden lang ununterbrochen die Installation des neuen Computersystems beaufsichtigt und sich um alle Probleme gekümmert hatte, die sich erhoben, während das alte System abgeschaltet war. Er brach vor Überarbeitung zusammen und machte danach eine weitere Veränderung durch, so etwas wie eine manisch-depressive Phase. Claire hegte den Verdacht, daß er seine Zugangsberechtigung zu den pharmazeutischen Lagern allzu freizügig nutzte. Er hatte begonnen, über Mit telsmänner Mädchen aus Bitchie’s und den anderen TechnickiKaschemmen anzuheuern. Und er war bei der Arbeit zuneh mend geistesabwesend, als ob er nur daran dächte, nach Hause zu kommen, zu einem weiteren sexuellen Psychodrama … Trotzdem hatte er getan, was von ihm als Administrator erwartet wurde – bis zu den Krawallen, und bis es sich herum sprach, daß er während eines Lebenserhaltungs-Notfalls auf der Kolonie eine muntere Orgie gefeiert hatte. Er reagierte, als ob die Kolonie selbst ihn abgewiesen hätte. Und er sackte unter der psychologischen Desorientierung zusammen, die der abrupte Machtverlust mit sich brachte. Er wurde kindisch und entwickelte eine Neigung zu Wutanfällen. Claire sah sich jetzt allzu oft in die Rolle der scheltenden Mutter gedrängt. Es schien ihm zu gefallen, sie in dieser Rolle zu sehen – und gleichzeitig hatte er Angst vor ihr. Mehr als einmal merkte sie, wie ihr innerlich vor Selbstekel übel wurde, wenn sie erkann
te, daß er sie in ein fast inzestuöses Rollenspiel verwickelt hatte, in dem ihr die Rolle der Domina zugedacht war. Sie weigerte sich mitzuspielen, und er griff noch mehr zu Drogen und Alkohol und suchte das Vergessen. Und wenn die wirkli che Welt diese Suche störte, reagierte er vollends regressiv und spottete über das Ding, dessen Erbauung er den größten Teil seines Lebens gewidmet hatte … Was hatte Praeger noch gleich gesagt? … die richtigen Stimuli lieferten, würden die Technickis ihre sinn- und zügellose Rebellion aus eigenem Antrieb beenden. Und zwar gern. Claire holte tief Luft. »Gern, sagen Sie. Sie haben sich kri tisch über meine Verwendung des Wortes ›überzeugt‹ geäu ßert. Wenn wir schon dabei sind, über Feinheiten des Vokabu lars zu diskutieren, Mr. Praeger: Das Wort ›gern‹ ist meines Erachtens hier ganz unangebracht. Die Technickis reagieren auf Stimuli, weil sie darauf konditioniert sind. Konditionie rung schließt aus, daß man etwas gern tut. Wenn Sie …« »Der Punkt ist…« »Ich weiß, was der Punkt ist! Sie glauben, sie könnten mit einer breiteren Medienkampagne beeinflußt werden. Das wird nicht klappen.« »Eine Medienkampagne?« Praeger wirkte geistesabwesend. Er lächelte schwach. »Das trifft es nicht ganz. Nichts so Durch sichtiges … Ich glaube, wir haben bei dieser Konferenz das Problem aus den Augen verloren. Das Problem ist Sabotage. Das Problem ist eine Gefährdung der Lebenserhaltungssyste me. Dies ist ein lebensbedrohender Notstand. Um ihretwillen wie auch um – nun, um unser aller willen müssen wir die Zügel
fest in die Hand nehmen. Und zwar alle.« Claire blickte auf den Schirm. »Die sind nicht so dumm, die Lebenserhaltungssysteme zu beschädigen. Sie wollen genau sowenig Vakuum fressen wie wir.« »Wenn Menschen erregt sind«, sagte Praeger ruhig, »ten dieren sie dazu, den gesunden Menschenverstand zu verlie ren. Die Sache könnte außer Kontrolle geraten, viel weiter außer Kontrolle, als es jedem einzelnen von ihnen recht wäre. Ein individueller Technicki denkt logisch. Ein Technicki-Mob nicht.« »Und Sie schlagen vor, sie zu beruhigen, indem wir ihre Medien unter unsere Kontrolle stellen? Das wird sie nur noch wütender machen!« »Sie verstehen mich falsch. Ich meine, wir werden sie indi rekt kontrollieren. Sie werden nichts davon merken, wenn wir’s richtig anstellen.« »Aber das ist …« Ihr fehlten einfach die Worte. Sie sah wie der ihren Vater an. Der stand jedoch auf. »Tja, es war ganz reizend«, sagte Rimpler mit leerem Lä cheln. Er ging zur Tür, ohne noch etwas zu sagen. Er schaute sich nicht einmal um. Ließ sie mit ihnen allein. »Dad!« krächzte Claire. »Verdammt! Du kannst dich doch nicht so einfach aus der Verantwortung stehlen!« Er blieb an der Tür stehen und sah sie mit dem Blick eines kleinen Schlingels an, der bei etwas ertappt wird, was er nicht darf. Sie wandte den Blick ab und sagte verächtlich. »Ach, vergiß es! Geh nur!« Er drehte sich achselzuckend um und machte die Tür auf.
Vielleicht hat er mich manipuliert, dachte sie. Er weiß, daß ich mit diesem Kleiner-Junge-Mist nicht umgehen kann. Und er wußte, das würde mich zwingen, ihn gehen zu lassen … Parker schaute Rimpler nachdenklich nach. Etwas an der Miene, mit der er ihren Vater betrachtete, erschreckte Claire. Rimpler machte die Tür hinter sich zu. Im Endeffekt schloß er die Tür zu seinem Posten in der Kolonieverwaltung. Praegers Blick ruhte auf dem Bildschirm. »Dieser Bonham könnte uns sehr nützlich sein«, sagte er. »Ich glaube, Claire hat vorhin einen Antrag gestellt«, sagte Messer-Krellman. »Unterstützt ihn jemand? Sollen wir dar über abstimmen?« »Bemühen Sie sich nicht.« Claire stand auf und folgte ihrem Vater zur Tür. Sie blieb einen Moment lang stehen, bevor sie hinausging, und schaute über die Schulter zurück. Van Kips und Praeger blickten auf den Bildschirm. Praeger sagte etwas zu Van Kips. Sie nickte. Claire ging hinaus. Sie fühlte sich hilflos.
NEUN RICKENHARP SETZTE SEINE SONNENBRILLE AUF, weil der Walk so verlockend an ihm zerrte. Der Walk wand sich eine halbe Meile durch die miteinander verbundenen äußeren Flöße von Freezone, schlängelte sich in engen Windungen durch eine Haarnadelschlucht übereinan dergeschichteter Arkaden. Die Wände der Schlucht waren mit einer Kruste aus Neonlicht und Glitzerflocken überzogen, und grellbunte Lichter intensivierten das Ganze noch mehr. Rickenharp und Carmen marschierten fast im Gleichschritt durch die stickig-warme Nacht. Yukio ging hinter ihnen, Willow vor ihnen, und Rickenharp fühlte sich, als ob er zur Formation einer Dschungelpatrouille gehörte. Und er hatte noch ein anderes Gefühl: daß sie verfolgt oder beobachtet wurden. Vielleicht war es eine Suggestion, die davon herrühr te, daß er Yukio und Willow hin und wieder einen Blick über die Schulter werfen sah … Rickenharp spürte eine kleine Woge kinetischer Kraft unter seinen Füßen, etwas, das sich wallend hochwölbte, wie ein träger Peitschenhieb durch das flexible Straßenmaterial ging und ihm sagte, daß heute hoher Wellengang herrschte. Die Ablenkplatten um die künstliche Insel herum spürten die Belastung. Die Arkaden erhoben sich drei Stockwerke hoch über die enge Straße. Jedes Stockwerk hatte seine eigene Galerie. An den Geländern standen Leute und schauten auf die zerstückel te Schlange des Straßenverkehrs herunter. Die übereinander
gestapelten Arkaden waren ein Trichter, der Rickenharp mit einer reichen Flut von Gerüchen überschüttete: dem Pommes frites-Duft von Fast Food; das süße Kratzen von Rauch – Knallkrautrauch, Gynorauch, Tabakrauch; die überladene Vielfalt von Parfüms; das Geruchsmischmasch von Fischke bab-Buden, Urin, schalem Bier, Popcorn und Seeluft; und der leichte Ozongeruch der kleinen Elektroautos, die auf der Straße herumkurvten. Als er zum erstenmal hier gewesen war, hatte Rickenharp gedacht, daß hier der falsche Geruch für ein Rotlicht-Cluster herrschte. »Ohne Saft und Kraft«, hatte er gesagt. Dann war ihm klar geworden, daß er die Bassunterlage von Kohlenmonoxid vermißte. In Freezone gab es keine Autos mit Verbrennungsmotoren. Die Geräusche spülten in einer warmen Welle kultureller Fruchtbarkeit über Rickenharp weg. Popsongs aus Dröhnki sten und Beatboxen schwollen in der Lautstärke an, als sie vorbeikamen; die Typen mit den Boxen sahen bedeutungslos aus im Vergleich zu dem Lärm, den sie mit sich herumtrugen, dem hippeligen Gestolper von Protosalsa oder dem kalkulier ten, redundanten Pulsieren von Minimono. Rickenharp und Carmen gingen unter einem mit so viel Graffiti bedeckten Fiberglasbogen durch, daß seine ursprüng liche Gedenkfunktion verlorengegangen war, und schlender ten den milchigen Gehweg unter der Promenade der Arkade im zweiten Stock entlang. Die multinationale Menge wurde dichter, als sie sich dem Herzen des Walks näherten. In dem weichen Licht, das durch den Polystyrolboden nach oben schien, sah die Menge wie in einem Horrorfilm der vierziger Jahre aus; und trotz der dunklen Brille zerrte der Ort mit tausend unterschwelligen, verführerischen Einladungen an Rickenharp.
Rickenharp ritt immer noch auf der Blue Mesk-Brandung, aber die Welle begann zu brechen; er merkte, wie sie unter ihm wegbröselte. Er sah Carmen an. Sie erwiderte seinen Blick, und sie verstanden sich. Carmen schaute sich um und nickte dann zum dunklen Eingang eines ausrangierten Filmtheaters hin, einer sechs Meter abseits der Straße liegenden Nische voller Abfall. Sie traten in den Eingang Yukio und Willow stellten sich mit dem Rücken zur Tür und versperrten den Blick von der Straße her, so daß sich Rickenharp und Carmen jeweils eine doppelte Dosis Blue Mesk einpfeifen konnten. Es lag so etwas wie ein kindliches Vergnügen darin, sich zurückzuziehen und Drogen zu nehmen, ein Hauch von Insiderromantik. Beim zweiten Snief schien sich die Graffiti auf den verriegelten Fiberglastüren bedeutungsvoll zu winden. »Ich hab nicht mehr viel«, sagte Carmen mit einem prü fenden Blick auf ihre Mesk-Flasche. Rickenharp wollte nicht darüber nachdenken. Seine Gedan ken rasten jetzt, und er merkte, wie er in den verbalen Boss Blue-Modus einrastete. »Siehste die Graffiti da? ›Ihr werdet jung sterben, weil euch die UBE die zweite Hälfte eures Le bens geklaut hat.‹ Weißte, was das heißt? Bis gestern hatte ich keine Ahnung, was UBE ist. Ich hab dauernd diese Sachen gesehen und mich gewundert, und dann hat jemand gesagt…« »Irgendwas mit Unsterblichkeit oder so«, meinte sie und leckte Blue Mesk von ihrem Sniffer ab. »Unsterblichkeitsbehandlungselite. Angeblich irgendwelche Typen, die ‘ne Unsterblichkeitsbehandlung für sich behalten, weil die Regierung nicht will, daß die Leute zu lange leben und den Ort Übervölkern. Wieder mal so ‘ne bestußte Ver schwörungstheorie.«
»Glaubste nicht an Verschwörungen?« »Ich weiß nicht – an manche. Aber nicht an sowas weit Hergeholtes. Aber ich denke, daß die Leute ständig manipu liert werden. Sogar hier … dieser Ort zerrt an einem, weißte. Als ob …« »Okay, das Soschologieseminar verschiem wer auf später, klar?« sagte Willow. »Wo ‘s der Platz mit dem Typen, der uns vonner Insel hier runnerschafft, Kumpel?« »Kommt mit!« sagte Rickenharp und führte sie in den Strom der Menschen zurück. Dabei nahm er seinen Blue MeskRap jedoch nahtlos wieder auf. »Ich mein, der Platz hier ist ‘n Times Square, stimmt’s? Habt ihr schon mal die alten Romane über den gelesen? Das war ‘n Archetyp. Oder ‘n paar Plätze in Bangkok. Ich mein, die sind sorgfältig angelegt, vielleicht unterbewußt, aber so sorgfältig wie japanische Blumengebin de, nur mit der umgekehrten Ästhetik. Klar hat jedes winseln de, selbstgerechte, verkniffene Arschloch von ‘nem Prediger, das jemals was abgelassen hat über die teuflische Verfüh rungskraft von solchen Plätzen, in gewisser Weise damit recht gehabt, und zwar absolut recht, weil, yeah, solche Plätze machen die Leute an, verführen sie und saugen sie aus wie Vampire. Yeah, richtige Venusfallen sind das. Architektoni sche Svengalis. Ja zu allen Klischees über den lasterhaften Teil der Stadt. Die ganzen ehrwürdigen Pfaffen – Reverend Iko, Reverend – wie heißt er noch? – Rick Crandall …« Sie sah ihn scharf an. Er fragte sich, warum, aber das Mesk trieb ihn weiter. »… die haben alle recht, aber der Grund, warum sie recht haben, ist auch der Grund, warum sie falsch liegen. Alles hier versucht dir irgendwas anzudrehen, ‘n Haufen Lichter und
Sachen, die sich drehen, das gibt ‘n Sog, der dich verführen soll, deine Energie reinzustecken – in Form von Geld. Die Leute kommen hauptsächlich her, um was zu kaufen oder um sich bis zur Kaufschwelle hochkitzeln zu lassen. Die Spannung zwischen dem Wunsch, was zu kaufen, und dem Widerstand dagegen kann dich echt unter Strom setzen. Da steh ich drauf: Ich laß mich davon anmachen, aber ich kann mich beherr schen, dafür Geld auszugeben. Verstehste? Nur ‘n ständiger Reiz, aber kein Abgang, weil du dein Geld zum Fenster raus schmeißt oder dir ‘ne Geschlechtskrankheit einfängst oder ausgeraubt wirst oder schlechte Drogen angedreht kriegst oder sonstwas … Ich mein, alles, was hier verkauft wird, ist sinnloser Scheiß. Aber heut abend fällt’s mir schwerer, zu widerstehen …« Unausgesprochen: Weil ich stoned bin. »Macht einen empfänglich. Aufnahmefähig für unterschwellige Reize, die im Design der Schilder drinstecken, für diese irre Kinetik und die verdammten Blinklichter – da fallen einem die alten Computerdenkmodelle ein, binomisches Denken, ein/aus, ein/aus, blink blink – diese ganzen Neonröhren, die dich anziehen wie die Spiralanhänger der Hypnotiseure in den alten Filmen … Und was für Farben sie benutzen, die Leucht kraft der Schilder, die Impulsrate, in welchem Tempo die Glühbirnen an- und ausgehen, das richtet sich alles nach psychologischen Prinzipien, von denen die Leute, die’s ausge heckt haben, nicht mal wissen, daß sie sie benutzen, Farben, die auf Drüsensekretionen abzielen, du weißt schon, und auf prickelnde chemische Einspeisungen ins Lustzentrum … wie Obszönitäten aus dem angemalten Mund ‘ner Hure, für die man bezahlt… wie Videospiele … ich meine …« »Ich weiß, was du meinst«, sagte sie und kaufte in ihrer Verzweiflung einen Wachspapierbecher Bier. »Nach dem
Vortrag mußte doch durstig sein. Hier.« Sie hielt ihm den schäumenden Becher unter die Nase. »Ich rede zu viel. Sorry.« Er trank die Hälfte des Biers mit drei Schlucken, holte Luft und trank den Rest aus, und einen Moment lang war es das Paradies in seiner Kehle. Eine Woge des Friedens beruhigte ihn – und verdampfte dann, als sich das Blue Mesk wieder nach vorn brannte. Yeah, er war voll drauf. »Hab nichts dagegen, dir zuzuhören«, sagte sie, »nur daß du vielleicht zu viel erzählst, und ich bin nicht sicher, daß wir nicht abgehört werden.« Er nickte verlegen, und sie gingen weiter. Er zerknüllte den Becher in der Hand und begann ihn unterwegs methodisch zu zerreißen. Rickenharp gab sich genießerisch den Farben des Ortes hin, Farben, die sich vermischten, über die Menschenmenge weg spülten, den Strom von Hüten und Köpfen zu einem lebendi gen, schillernden Ginghammuster machten und die Autos in vielfarbig glänzende, bewegliche Eisklumpen verwandelten. Man nehme das Wort ›grell‹, dachte Rickenharp und lege es roh in einen Bottich, der mit dem Saft des Wortes ›Appeal‹ gefüllt ist. Dort lasse man es eine Weile ziehen, bis die Säuren des Appeals die Farben aus grell ausgebleicht haben, so daß man eine Art Benzinregenbogen an der Oberfläche des Bot tichs erhält. Den entnehme man mit einem Seihtuch, presse ihn in ein Glasrohr aus und verdünne stark mit dem Öl karika turhafter Unschuld und dem Extrakt purer Subjektivität. Dann leite man einen Strom durch das Glasrohr und all die anderen Röhren der Neonschilder, die sich auf Freezones Walk inein ander verflechten.
Der Walk, der sich vor ihnen erstreckte, war selbst fast eine Röhre aus bunten Lichtern, die zu einem Kaleidoskop zusam menliefen. An den konkaven Häuserfronten zu beiden Seiten blinkten und blitzten Dutzende verschiedener Schilder. Der sinnliche Strom von Neondaten in Primärfarben wurde in Abständen von ausgeklügelter Regelmäßigkeit durch schlichte Markenzeichen wie auf dem Times Square unterbrochen: CANON und ATARI und NIKE und COCA COLA und WARNER AMEX und SEIKO und SONY und NASA CHEMCO und BRAZILIAN EXPORTS INT und EXXON und NESSIO. Unter all dem gab es nur einen Hinweis auf den Krieg: zwei nicht beleuchtete Schilder, FABRIZZIO und ALLINNE, eine italienische und eine französische Firma, denen die sowjetischen Blockaden den Garaus gemacht hatten. Die Schilder waren dunkel und tot. Sie kamen an einem TV-Shirt-Laden vorbei. Über die Brust der herauskommenden Touristen flimmerten sich bewegende Videobilder. Mikrofeine Schaltkreise und Chips, die in die Vorderseite der Shirts eingewoben waren, spielten eine Se quenz nach Wahl ab. Straßenhöker aller Rassen verkauften Beta-Süßigkeiten mit einem Schuß Beta-Endorphin, Schellfisch aus Freezones eige nen Fischereigründen, paniert und auf Spießen, Schlüsselringe für Holowürfel-Pornos, Sofortbilder von Ihnen und Ihrer Frau, oder ist das Ihre Freundin … Trotz der Nähe zu Afrika gab es hier nur wenige Schwarzafrikaner. Die Verwaltung von Freezone betrachtete sie als Sicherheitsrisiko. Die Touristen waren zum größten Teil Japaner, Kanadier, Brasilianer, die gerade auf dem Wellenkamm des brasilianischen Booms schwammen, Südkoreaner, Chinesen, Araber, Israelis und ein paar Ameri kaner. Nur noch verdammt wenige Amerikaner, wegen der
Depression. Es herrschte eine Atmosphäre wie im Treibhaus. Der Walk war ein vielfarbiges Dampfbad. Die Luft war schwül, und die Schwaden der verschiedenen Rauchwaren verzerrten das Neonlicht, filterten und verschmierten die Farben der Schilder, der TV-Shirts und des hell glitzernden Schmucks. Hoch oben zwischen den nicht ganz zusammenpassenden Puzzlestücken der Schilder, Lichter und Videotafeln der Freudenhäuser, die unappetitliche Sexszenen zeigten, waren blauschwarze Stücke des Nachthimmels zu sehen. Unten auf der Straße wurde das Durcheinander von den Türen geformt und begrenzt, die sich nach beiden Seiten öffneten, sowie von den Menschenströmen, die sich in beide Richtungen durch diese Türen schoben, um Einkaufspassagen, Stimrauchsalons, Andenkenläden, gemütli che kleine Theater und besonders Prickelgalerien anzutesten. Dealer kamen wie Korallenfische heran, die vorsichtig an einem Köder knabberten und weiterschwammen; hin und wieder blieben sie stehen und machten ihr Angebot: »DH, wollter echt geiles Di Äitsch kaufen?« Direct Hook-up, ein illegales Stimulans für das zerebrale Lustzentrum. Und Dro gen, Kokain und verschiedene Kräuter zum Rauchen, Stims und Downer. Rund die Hälfte der Dealer waren Ablinker, die einem Backpulver oder Pseudostims andrehten. Die Dealer neigten dazu, sich an Rickenharp und Carmen zu hängen, weil sie wie User aussahen und weil Carmen einen Sniffer trug. Blue Mesk und Sniffer waren illegal, aber das waren auch eine Menge anderer Sachen, die die Cops von Freezone ignorierten. Man konnte einen Sniffer tragen und den Stoff dabeihaben, aber die Bedingung war, daß man ihn nicht in aller Öffentlich keit nahm, sondern sich dazu in eine abgeschiedene Ecke verzog.
Und Huren beiderlei Geschlechts flanierten auf der Straße und koberten ganz offen Kunden an. Eigentlich sollte die ganze Prostitution von der Freezone-Verwaltung geregelt werden, aber Freischaffende wurden toleriert, solange jemand die Streifenbullen bezahlte und solange es nicht zu viele wurden. Die vorbeiströmende Menge, die sich hin und wieder lichte te, war eine ununterbrochene Offenbarung menschlicher Mannigfaltigkeit. Sie lichtete sich erneut, und ein Zuhälter erschien, der sich auf Sonderwünsche spezialisiert hatte; er schob zwei Minderjährige vor sich her, einen Jungen und ein Mädchen; sie mußten hoppeln, weil sie in schwarzes BondageGummizeug wie in Zwangsjacken eingeschnürt waren. Ihre Gesichter waren bedeutungslose Reliefs hinter blanken Voll masken aus schwarzem Gummi; Aluminiumgestelle hielten ihre geschminkten Münder weit offen, was einladend wirken sollte. Für Rickenharp sahen sie jedoch wie die Opfer eines wahnsinnigen Orthodontisten aus. In den Straßen waren hier und dort Sicherheitswachleute in kugelsicheren Uniformen postiert, die Rickenharp an BaseballSchiedsrichter erinnerten. Ihre Gesichter waren von Helmen umschlossen, und in ihren mit Kombinationsschlössern verse henen Halftern steckten Schießeisen. Es hieß, daß sie darauf trainiert waren, die vierstellige Kombination innerhalb von einer Sekunde zu öffnen. Meistens standen sie einfach herum und unterhielten sich über Helmfunk. Jetzt hatten zwei von ihnen einen DreiKarten-Montekünstler in der Mache, der sein Spiel auf dem Bürgersteig betrieb. Es war ein verschrumpelter kleiner Schwarzer, der sich das Bakschisch nicht leisten konnte. Sie
stießen ihn zwischen sich hin und her und scherzten mitein ander über ihre Helmverstärker. Ihre Stimmen übertönten das Discogedröhne aus den Lautsprechern der ‘sette-Läden: »WAS ZUM TEUFEL HAST DU IN MEINEM REVIER ZU SUCHEN DU DRECKSTÜCK. HEY BILL WEISST DU WAS DIESER TYP IN MEINEM REVIER MACHT.« »SCHEISSE NEE KEINEN SCHIMMER WAS DER DA ZU SUCHEN HAT.« »DER MACHT MICH KRANK MIT SEINER BESCHISSENEN MONTE-ABZOCKERNUMMER ICH SAG’S DIR.« Einer von ihnen traf den Burschen zu hart mit dem waldo verstärkten Arm seines Straßenkampfanzuges, und der Mon tespieler wirbelte wie ein Kreisel herum, der an Schwung verliert, und ging bewußtlos zu Boden. »JETZT SCHAU DIR DAS AN BILL WIE DER SICH HIER AUF DEN ZONE-STRASSEN RUMLÜMMELT.« »SEH ICH UND ES MACHT MICH KRANK JIM.« Die Bullen schleiften den kleinen Kerl am Knöchel zu einem rautenförmigen Kiosk an der Straße und stießen ihn in eine mannsgroße Kapsel. Sie verschlossen die Kapsel, schrieben einen Bericht und pappten ihn auf die Hartplastikhülle. Dann schoben sie die Kapsel in den Kioskschacht. Von dort wurde sie im Rohrpostverfahren zum Gefängnis von Freezone ge saugt. »Sieht aus, als ob die hier so ‘ne Art Müllbeseitigung benut zen, um die Leute loszuwerden«, sagte Carmen, als sie an den Cops vorbei waren. Rickenharp blickte sie an. »Du warst nicht nervös, als wir
an den Cops vorbeigekommen sind. Die sind’s also nicht, hm?« »Nee.« »Willste mir nicht sagen, wer das ist, dem wir aus dem Weg gehen sollen?« »Mh-mh.« »Woher weißte, daß diese Bullen von auswärts, über die du dir Sorgen machst, nicht zu denen von hier gegangen sind und sich Hilfe besorgt haben?« »Yukio sagt, das tun sie nicht. Sie wollen nicht, daß jemand mitkriegt, was sie hier machen, weil die Verwaltung von Freezone nicht auf die Typen steht.« »Hmmm …« Rickenharp schätzte, daß es sich bei den ›Typen‹ um die Se cond Alliance handelte. Der Vorsitzende von Freezone war Jude. Die Second Alliance konnte sich in Freezone versammeln – der Ort stand vom Konzept her jedem für Versammlungen und zur Erholung offen; jedem, auch Leuten, die den Chef von Freezone vielleicht am liebsten in der Gaskammer sehen würden –, aber sie konnte hier nicht operieren, oder höchstens verdeckt. Die verfluchten SA-Bullen! Scheiße! … Das Blue Mask ver stärkte seine Paranoia. Adrenalin wurde ausgeschüttet, und er bekam Herzklopfen und Platzangst in der Menge. Er begann Muster in den Bewegungen um sich herum zu sehen, Muster mit einer Bedeutung, die ihnen von seinem eigenen, von Furcht elektrisierten Geist aufgeprägt wurde. Muster, die sich mit einem Die SA ist uns dicht auf den Fersen über ihn lustig machten. Er fühlte eine Mischung aus Entsetzen und Hoch stimmung, die seinen Magen in Wallung versetzte.
Die ganze Nacht über hatte er sich alle Mühe gegeben, je den Gedanken an die Band zu unterdrücken. Und an sein Versagen, erfolgreich mit ihr zu arbeiten. Er hatte die Band verloren. Und es war fast unmöglich, irgend jemandem klar zumachen, warum das für ihn so war, als ob er Frau und Kinder verloren hätte. Und da war seine Karriere. All diese Jahre, in denen er sich für die Band abgeschuftet hatte, in denen er dafür gekämpft hatte, ihr einen Programmplatz im Gitter zu verschaffen. Das war jetzt alles beim Teufel. Und seine Identität dazu. Und er wußte irgendwie, daß es vergebli che Liebesmüh sein würde, eine neue Band zusammenzustel len. Das Gitter wollte ihn einfach nicht; und er wollte das Scheiß-Gitter auch nicht. Und die Hochstimmung kam daher, daß sich diese häßliche Grube der Heimatlosigkeit in seinem Inneren schloß, einfach weg war, wenn er an die SA-Bullen dachte. Die Bullen bedrohten sein Leben, und diese Drohung war wie ein Netz, das ihn festhielt und es ihm ermöglichte, die Band zu vergessen. Er hatte einen Ausweg gefunden. Aber das Entsetzen war ebenfalls da. Wenn er sich in diese Sache einließ … wenn ihn die SA-Bullen in die Finger beka men … Scheiß drauf! Was hatte er zu verlieren? Er grinste Carmen an. Sie erwiderte das Grinsen mit einem ausdruckslosen Blick und fragte sich, was es bedeutete. Und was nun? überlegte er. Er mußte zu OmeGaity. Mußte Frankie finden. Frankie war der Schlüssel. Aber des dauerte so lange, dorthin zu kommen. Die Droge pfuscht dir in deinem Zeitgefühl rum, dachte er. Die gesteiger te Wahrnehmungsfähigkeit bewirkt, daß es dir länger er scheint.
Es kam ihm so vor, als ob die Menge dichter, die Luft wär mer und die Musik lauter würde; auch die Lichter schienen heller zu werden. Es machte Rickenharp zu schaffen. Er verlor allmählich die Fähigkeit, zwischen den Dingen in seinem Kopf und den Dingen um ihn herum zu unterscheiden. Er begann sich als Enzymmolekül zu sehen, das in einem makrokosmi schen Blutstrom schwamm. Bei ihm haute es jedesmal so rein, wenn er eine aufputschende Droge in einer Umgebung nahm, die ihn mit Sinnesreizen überschwemmte. Was bin ich? Glühende Pfeile aus orangerotem Neonlicht auf der Marki se über ihm schienen von der Markise herunterzukriechen, an der Wand herab in den Bürgersteig zu gleiten und sich heran zuschlängeln, um sich um seine Knöchel zu legen und ihn in einen Prickelladen zu ziehen. In den Schaufensterholos des Ladens wand sich, grotesk vergrößert, nacktes Fleisch und verschlang sich ineinander, Zungen fuhren gierig über feuch tes faltiges Gewebe, Lippen schlossen sich um eine Klitoris, Schwänze wurden wie Kolben in grell geschminkte Münder gerammt, Brüste und Hinterteile schoben sich zu ihm heraus, Beine spreizten sich – und er reagierte gegen seinen Willen genau nach Klischee, indem er einen Steifen bekam. Visuelle Stimuli; Affe sieht, Affe reagiert. Die Glocke klingelt und der Hund produziert Speichel, dachte er. Er warf einen Blick über die Schulter. Wer war der Typ mit der Sonnenbrille da hinten? Warum trug er nachts eine Son nenbrille? Vielleicht war er von der SA… Neeee, Mann: Ich hab ja auch ‘ne Sonnenbrille auf. Hat nichts zu sagen. Er versuchte die Paranoia abzuschütteln, aber sie war ir
gendwie mit der Unterströmung sexueller Erregung verbun den. Jedesmal, wenn er eine Hure oder ein pornographisches Holo sah, bohrte sich die Paranoia wie der Stachel eines Skor pions im Gefolge seiner jugendlichen Erregung in ihn hinein. Und er merkte, wie sich seine Nervenenden allmählich durch die Haut nach draußen schoben. Wer bin ich? Bin ich die Menge? (Er merkte, wie stark das Blue Mask bei ihm wirkte, nach dem er so lange clean gewesen war.) Er sah, wie Carmen irgendwas auf der Straße anschaute und dann eindringlich mit Yukio flüsterte. »Was ist los?« fragte Rickenharp. »Siehste das silberne Ding da?« flüsterte sie. »Sowas wie ‘n silbriges Geflatter? Da – über dem Taxi … Du mußt’s selber suchen. Ich kann nicht hinzeigen.« Er schaute auf die Straße. Ein Taxi fuhr an den Randstein. Sein elektrischer Motor surrte, als es sich mit der Schnauze in einen Abfallhaufen schob. Die Fenster waren so eingestellt, daß sie wie Quecksilber aussahen und undurchsichtig waren. Darüber und ein Stück dahinter schwebte ein Chromvogel. Seine Flügel waren verschwommene Flecken, wie die eines Kolibris. Er war etwa so groß wie eine Drossel und hatte ein Kameraobjektiv statt eines Kopfes. Auf seiner Aluminium brust war irgendein Abzeichen. Rickenharp konnte es nicht erkennen. »Ich seh ihn, aber ich kann nicht erkennen, von wem der ist.« »Ich glaub, er wird von dem Taxi aus gelenkt. Das sieht ih nen ähnlich. Kommt!« Sie tauchte in eine Prickelgalerie. Willow, Yukio und Rik kenharp folgten ihr. Sie mußten sich Benutzermarken kaufen,
um hineinzukommen. Sie kauften die Mindestmenge, vier Stück pro Person. Am Schalter zählte ihnen ein kahlköpfiger alter Bursche mit Hängebacken die Marken ab, ohne hinzuse hen. Sein Blick klebte auf dem Fernsehschirm an seinem Handgelenk. Dort sagte ein Miniaturnachrichtensprecher gerade mit blecherner Stimme: »… verübte heute einen Mord anschlag auf den SA-Führer Crandall …« Dann ein verzerrtes Gemurmel. »… Crandall liegt schwer verletzt und unter starker Bewachung im Medicenter von Freezone …« Sie nahmen ihre Marken und gingen in die Galerie. Ricken harp hörte, wie Willow leise zu Yukio sagte: »Der Scheißkerl’s noch am Leben.« Rickenharp zählte zwei und zwei zusammen. In der Prickelgalerie dominierten Fleischfarben. Jede ver fügbare senkrechte Fläche wurde von emulgierten nackten Menschenleibern eingenommen. Die Fotos waren größtenteils so scheußlich wie Polaroid-Schnappschüsse. Wenn man von einem Foto oder Holo zum nächsten ging, sah man, daß die Menschen darauf kopfüber hingen, mit gespreizten Beinen dalagen, befummelt wurden oder zu tausend Paarungsvaria tionen angeordnet waren, als ob ein Kind mit nackten Puppen gespielt und sie überall hätte herumliegen lassen. Ein triefend rotes Licht summte in jeder Kabine. Es lockte einen an; seine Wellenlänge war darauf berechnet, sexuelle Neugier zu wek ken. In jeder ›Privatkabine‹ war ein Bildschirm und ein Prickler. Der Prickler sah aus wie der Schlauch eines Staub saugers aus dem 20. Jahrhundert mit einem überdimensionier ten Salzstreuerdeckel an einem Ende. Man sah sich die Bilder an, hörte den Geräuschen zu und fuhr sich mit dem Prickler über die erogenen Zonen. Der Prickler stimulierte die entspre chenden Nervenenden mit einem unter die Haut dringenden
elektrischen Feld, das sehr genau heruntergeregelt war. In den Duschräumen der Fitnessclubs konnte man die Typen sehen, die sich zu lange mit dem Prickler vergnügt hatten: Die Haut derjenigen, die ihn länger als die »empfohlene Obergrenze von fünfunddreißig Minuten« benutzten, sah sonnenverbannt aus und fühlte sich auch so an … Wenn man weitere fünf Marken in die Geräte einwarf, kam eine Sauerstoffmaske aus einem Fach in der Decke herunter, die eine Kombination aus Amyli nitrit und Pheromonen abgab. »Um es auf die klassische Weise auszudrücken«, sagte Yu kio plötzlich, »gibt es hier einen anderen Ausgang?« Rickenharp nickte. »Ja … Der Laden liegt an ‘ner Ecke, also kann’s gut sein, daß er zwei Eingänge hat, einen auf jeder Seite. Und vielleicht gibt’s auch ‘nen Hinterausgang …« Willow starrte den Anreißertext unter einem Stilleben mit zwei Männern, einer Frau und einer Ziege an. Er trat einen Schritt näher und betrachtete die Ziege mit zusammengeknif fenen Augen, als ob er eine gewisse Familienähnlichkeit fest zustellen versuchte, und die Kabine spürte seine Nähe. Die Bilder auf dem Auswahlplakat begannen sich zu bewegen; die Gestalten darauf bückten sich, leckten sich, drangen ineinan der ein und bildeten neue Formationen, alles mit einer seltsam formalisierten Unbeholfenheit. Das rote Licht in der Kabine wurde intensiver. Sie stieß eine aufreizende Pheromon- und Amylnitritwolke aus und versuchte ihn zu verführen. »Na und? Wo ist die andere Tür?« fauchte Carmen. »Hm?« Rickenharp sah sie an. »Oh! Tut mir leid, ich bin so … ah … ich bin nicht sicher.« Er warf einen Blick über die Schulter und senkte die Stimme. »Der Vogel ist uns nicht hier rein gefolgt.«
»Die elektrischen Felder der Prickler bringen das Leitsystem des Vogels durcheinander«, murmelte Yukio. »Aber wir müssen ihnen einen Schritt voraus bleiben.« Rickenharp sah sich um, aber das Labyrinth der schwarzen Kabinen und der Fleischfarben schien sich auf kubistische Weise in sich selbst zurückzuwinden und sich schwerfällig umzustülpen, als ob es sich selbst zerstören wollte … »Ich werde die andere Tür suchen«, sagte Yukio. Ricken harp folgte ihm dankbar. Er wollte raus. Sie eilten durch den schmalen Gang zwischen den Prickel kabinen. Die Kunden schlenderten ernst oder mit übertriebe ner Lässigkeit von einer Kabine zur nächsten, lasen sich die Texte durch, überflogen die Bilder oder blätterten in fetischi stischen Verzeichnissen nach ihren persönlichen Libidocodes, wobei sie einander höchstens peripher ansahen und es sorg sam vermieden, sich zu nahe zu kommen, als hätten sie Angst vor der Unbeständigkeit latenter sexueller Elastizität. Stampfende Stöhnmusik kam von irgendwoher; das Rot licht war wie das Leuchten des Blutes in einer Hand, die man über helles Licht hält. Aber in seinem Hindernisparcours stillschweigender Regeln war der Laden rigoros calvinistisch. Und an den Biegungen der heißen, engen Gänge wippten hier und da gelangweilte Sicherheitsleute in Zivil zwischen den Kabinenreihen auf den Absätzen und ermahnten die unent schlossenen Neugierigen: Bitte stehen Sie hier nicht herum, Sie können vorn am Schalter Marken kaufen. Rickenharp schoß der Gedanke durch den Kopf, daß ihm der Laden seine Sexualität rauben wollte, als ob die Staubsau gerschläuche in den Kabinen seine Orgonenergie absaugen und ihn so kalt wie einen Walfisch zurücklassen würden.
Jetzt aber nichts wie raus hier, verdammt, sagte er sich. Dann sah er das Schild AUSGANG, und sie liefen hin und rannten ins Freie. Sie waren in einer Gasse. Sie schauten nach oben und in alle Richtungen und rechneten halb damit, den Vogel zu sehen. Kein Vogel. Nur die grauen, sich überschneidenden Flächen aus Styrobeton, atemberaubend monochrom nach der hungri gen Farbigkeit der Prickelgalerie. Sie gingen bis zum Ende der Gasse, blieben einen Moment stehen und beobachteten die Menge, die in beiden Richtungen vorbeibrodelte. Es war, als ob man am Rand einer Strömung stünde. Dann traten sie hinein, und Rickenharp bildete sich ein, vom verflüssigten Fleisch der vorbeiwogenden Menschen naß zu werden, während er nur mit dem Instinkt sein eigentli ches Ziel ansteuerte: OmeGaity. Sie schoben sich durch die abblätternden schwarzen Türen aus Preßpappe in die dunkle Modrigkeit der Eingangshalle von OmeGaity, und Rickenharp gab Carmen seine Jacke, um ihre bloßen Brüste darunter zu verbergen. »Ist nur für Männer hier drin«, sagte er, »aber wenn du ihnen deine Weiblichkeit nicht allzu sehr unter die Nase reibst, lassen sie uns vielleicht durch.« Carmen schlüpfte in die Jacke und zog sehr vorsichtig den Reißverschluß zu. Rickenharp gab ihr seine Sonnenbrille. Er klopfte ans Fenster der Überprüfungszelle neben der verschlossenen Tür, die zu den Aufreißräumen führte. Hinter dem Glas blickte jemand von einem Fernsehschirm auf. »Hey, Carter«, sagte Rickenharp. »Hey.« Carter grinste ihn an. Carter war seinem eigenem Eingeständnis zufolge ›ein schicker Schwuler‹. Er trug einen
schlachtschiffgrauen Elastikanzug mit weißen Verzierungen im Minimono-Stil. Aber die echten M’n’Ms hätten sich ver ächtlich von ihm abgewandt, weil er einen leuchtenden Ohr ring trug, der eine Reihe von Worten in winzigen grünen Buchstaben aufblinken ließ: Leckt… mich … wenn’s … euch … nicht… gefällt… Leckt… mich … wenn’s … Das hätten sie für unverzeihlich ›gittrig‹ gehalten. Und überhaupt paßte Carters breites, froschartiges Gesicht nicht zum grazilen MinimonoLook. Er sah Carmen an. »Keine Mädchen, Harpie.« »Ist ‘ne Tunte«, sagte Rickenharp. Er schob einen gefalteten Zwanziger durch den Schlitz im Fenster. »Okay?« »Okay, aber sie geht auf eigenes Risiko rein«, sagte Carter achselzuckend. Er ließ den Zwanziger in seinem kohlschwar zen Bikinihöschen verschwinden. »Logo.« »Haste das mit Geary gehört?« »Nee.« »Hat sich mit China White über’n Jordan geblasen, weil sei ne Pisse grün war.« »O Scheiße.« Rickenharps Haut kribbelte. Seine Paranoia flackerte wieder auf, und um sie zu beruhigen, sagte er: »Also ich hab nicht vor, irgendwem sein Sonstwas zu lecken. Ich such Frankie.« »Das Arschloch. Er ist da, hält Hof oder sowas. Aber du mußt trotzdem Eintritt bezahlen, Schätzchen.« »Klar«, sagte Rickenharp. Er zog weitere zwanzig Neudollar aus seiner Tasche, aber Carmen legte ihm eine Hand auf den Arm und sagte: »Das übernehmen wir.« Sie knallte einen Zwanziger hin.
Carter nahm ihn mit einem leisen Kichern. »Mann, der Schwuchtel ihr’n Kehlkopf ham se aber echt stark hinge kriegt.« Er wußte verdammt gut, daß sie ein Mädchen war. »Spielste noch im …« »Da bin ich raus«, unterbrach ihn Rickenharp im Versuch, den Schmerz abzuwenden. Das Boss Blue hatte den Höhe punkt überschritten, und er fühlte sich jetzt, als ob er im Innern aus Pappe bestünde und unter jeglichem Druck nach geben könnte. Seine Muskeln zuckten hin und wieder, so aufsässig wie die scharrenden Füße unruhiger Kinder. Er stürzte ab. Er brauchte eine neue Dosis. Wenn man drauf war, zeigten einem die Dinge ihre Vorderseite, ihre Oberseite; wenn man den Höhepunkt überschritt, zeigten sie einem ihr scheuß liches Inneres. Und wenn man down war, zeigten einem die Dinge ihre Rückseite, ihre Unterseite. Merk’s dir für’n Songtext. Carter drückte auf den Summer, der die Tür öffnete. Das Geräusch verspottete sie, als sie durchgingen. Drinnen war es halb dunkel, heiß und feucht. »Ich glaub, dein Blue ist mit Koks oder Meth oder irgend was verschnitten«, erklärte Rickenharp Carmen, als sie an den verbeulten Spinden vorbeigingen. »Ich stürz nämlich derber ab, als ich eigentlich sollte.« »Yeah, wahrscheinlich … Was hat er damit gemeint, ›seine Pisse war grün‹?« »Das positive Testergebnis für Aids-drei. Das Aids, das ei nen innerhalb von sechs Wochen umbringt. Man wirft die Testpille in seinen Urin, und wenn der dann grün wird, hat man Aids. Es gibt keine Heilung für das neue Aids, also hat sich der Typ …« Er zuckte die Achseln.
»Was, zum Teufel, is’n das hier eigentlich?« fragte Willow. »Sowas wie ‘ne Badeanstalt für Schwule ohne Bad, Mann«, erklärte ihm Rickenharp mit leiser Stimme, »‘n Aufreißschup pen für Homos. Aber rund die Hälfte der Leute sind Norma los, die in den Casinos ihr ganzes Geld auf den Kopf gehauen haben und das hier als billigen Schlafplatz benutzen, versteh ste?« »Yeah? Un’ wie kommt’s, daß de so genau drüber Bescheid weißt, ey?« Rickenharp grinste. »Willste damit sagen, ich bin ‘n Ho mo?« In einer abgedunkelten Nische auf einer Seite lachte je mand. Willow diskutierte leise mit Yukio. »Gefällt mir einfach nich hier, is alles, die Scheiß-Schwulen ham ‘ne Million beschissene Krankheiten. Irgendso’n Typ, der wie ‘ne gebräunte Speck schwarte aussieht, wird sich an mei’m Bein einen abreiben.« »Wir gehen nur durch und rühren nichts an«, sagte Yukio. »Rickenharp weiß, was wir tun müssen.« Hoffentlich, dachte Rickenharp. Vielleicht konnte Frankie sie sicher aus Freezone rausbringen. Vielleicht auch nicht. Die Wände bestanden aus schwarzer Preßpappe. Es war genau so ein Labyrinth wie in einer Prickelgalerie, aber im umgekehrten Sinn. Das rote Licht war normaler, und in der Luft lag der eigentümliche Geruch, den massenhafte Hautkon takte hervorbringen, dazu der Duft verschiedener Rauchwa ren, Aftershaves und billiger Seife sowie ein tiefsitzender Schweißgestank. Und darunter KY-Gelee und Amylnitrit und ranzig gewordenes Sperma. Die Wände endeten in drei Metern Höhe, und die Schatten verleibten sich weit oben die
Decke ein. Es war eine umgewandelte Lagerhalle mit einer seltsamen Atmosphäre von Schichtung: Klaustrophobie unter Agoraphobie. Sie kamen an moosdunklen Kontakthöfen vorüber. Vor Anonymität undeutliche Gesichter richteten sich prüfend auf sie, als sie vorbeigingen; ihre Mienen waren so kühl wie Fernsehkameras. Läden wie dieser hatten sich seit fünfzig Jahren nicht we sentlich geändert. Manche waren noch schäbiger als andere. In den schäbigeren gab es verstopfte Toiletten, unscharfe 16-mmPornos und betrunkenes Gewinsel aus den Lautsprechern, das Porno-Soundtrack darstellen sollte. Und das OmeGaity war einer der schäbigeren Läden. Sie durchquerten den Spieleraum mit seinen fleckigen Bil lardtischen, den stammelnden Videospielen und aufgebroche nen Automaten. Von den Wänden zwischen den Automaten blätterten Poster von ebenso eindeutig femininen wie überwäl tigend machohaften Männern ab – Karikaturen mit überdi mensionalen Genitalien, Muskeln, die eine eigene Art von Sexualorganen zu sein schienen, und Gesichtern wie kaliforni sche Surfer. Carmen biß sich auf die Knöchel, um nicht über sie zu lachen, und staunte über den eigentümlichen Narziß mus des Ladens. Sie kamen durch einen Aufreißraum, der wie eine Scheune aufgemacht war. Zwei Männer widmeten sich einander auf einer Holzbank in einem ›Pferdestall‹. Feuchte, fleischliche Geräusche. Willow und Yukio wandten den Blick ab. Carmen schaute den Schwulen fasziniert beim Sex zu. Rickenharp ging vorbei, ohne darauf zu reagieren, führte sie durch andere Mitternachtsnester sich befummelnder Männer und vorbei an weiteren Männern, die auf Sofas und Bänken schliefen, verär
gert schnaubten und schläfrig unerwünschte Hände weg schlugen. Und fand Frankie im Fernsehraum. Der Fernsehraum war hell erleuchtet, und die Wände wa ren in fröhlichem Gelb gehalten. Auf kleinen Tischchen stan den die üblichen Motel-Wohnzimmerlampen. Es gab ein Sofa, einen richtigen Farbfernseher, der auf einen Kanal mit Rockvideos eingestellt war, und eine Reihe von Fernsehmonitoren an der Wand. Es war wie ein Aufstieg aus der Unterwelt. Frankie saß auf dem Sofa und wartete auf Kunden. Frankie wickelte seine Geschäfte über ein portables Termi nal ab, das er an eine Gitterkonsole angeschlossen hatte. Der Käufer gab ihm eine Kontonummer oder eine Kreditkarte; Frankie überprüfte das Konto, transferierte den Betrag auf sein eigenes (wo es als ›Beratungsgebühr‹ verbucht wurde) und händigte dem Kunden die Päckchen aus. In die Wände des Raums waren Videomonitore eingelassen; einer zeigte den Orgienraum, ein anderer ein Pornoband, und auf einem dritten lief ein Satellitenkanal des Gitternetzes. Dort jammerte ein Nachrichtensprecher über den Mordversuch, diesmal auf Technicki, und Rickenharp hoffte, Frankie würde es nicht bemerken und keine Verbindung herstellen. Frankie der Spiegel machte mit allem Profit, was ihm unter die Nase kam, und die SA bezahlte für Informationen. Frankie kauerte auf dem zerrissenen blauen Vinylsofa über dem Taschenterminal auf dem Kaffeetisch. Sein Kunde war ein Disco-’mo mit einem blauen Haifinnen-Flare, Steroid muskeln und einem weißen Karatekittel; der Bursche stand etwas seitlich und starrte auf den kleinen schwarzen Lein wandbeutel mit blauen Päckchen auf dem Kaffeetisch, wäh rend Frankie die Transaktion beendete.
Frankie war schwarz. Seine Glatze war mit reflektierendem Chrom bemalt; sein Kopf war ein Spiegel, der die Fernseh schirme wie ein Fischauge im Miniaturformat zurückwarf. Er trug einen dreiteiligen grauen Nadelstreifenanzug. Der war echt, aber zerknittert und fleckig, als ob er darin geschlafen und vielleicht auch gevögelt hätte. Er rauchte ein Nat Sher man-Cigaretello, das bis zum Goldfilter heruntergebrannt war. Seine Synthkoks-Augen waren dämonisch rot. Er warf Rik kenharp ein gelbes Grinsen zu, beäugte Willow, Yukio und Carmen und runzelte spöttisch die Stirn. »ScheißDrogenfahnder – deren Fallen werden immer ausgeflippter. Jetzt haben sie vier Agenten hier eingeschmuggelt. Einer von denen sieht wie mein Freund Rickenharp aus, die anderen drei wie zwei Flüchtlinge und ein Computer-Designer. Aber der Japs da hat keinen Fotoapparat. Das verrät ihn.« »Was is ‘n das für ‘n …«, setzte Willow an. Rickenharp machte eine wegwerfende Geste, die besagte: Er meint’s nicht ernst, Blödmann. »Ich möchte zwei Sachen kau fen«, verkündete er und sah Frankies Kunden an. Der nahm sein Päckchen und verdrückte sich wieder in die Kontakthöfe. »Erstens«, sagte Rickenharp und zog seine Karte aus der Brieftasche, »brauch ich ‘n bißchen Blue Blow. Drei Gramm.« »Ist deins, Kamerad.« Frankie fuhr mit einem Lichtstift über die Karte und gab dann eine Datenanfrage für dieses Konto ein. Das Terminal fragte nach der privaten Codenummer. Frankie hielt Rickenharp das Terminal hin; dieser gab seinen Code ein und löschte ihn dann vom Schirm. Dann ließ er eine bestimmte Summe auf Frankies Konto übertragen. Frankie nahm das Terminal und prüfte den Transfer nach. Das Termi nal zeigte Rickenharps neuen Kontostand und Frankies Ge winn.
»Das frißt dein halbes Guthaben auf, Harpie«, sagte Fran kie. »Ich hab was in Aussicht.« »Ich hab gehört, du hast dich von José getrennt.« »Wie hast du das so schnell erfahren?« »Ponce war hier und hat was gekauft.« »Ja, stimmt. Jetzt, wo ich das tote Gewicht abgeworfen hab, sind meine Aussichten noch besser.« Aber als er es sagte, fühlte er ein totes Gewicht in seinem Bauch. »Ist deine Kohle, Mann.« Frankie griff in die Leinentasche und nahm drei vorher abgewogene Beutel mit blauem Pulver heraus. Er sah ein wenig belustigt aus. Der Gesichtsausdruck gefiel Rickenharp nicht. Er schien zu sagen: Ich wußte, daß du wiederkommen würdest, du trauriger kleiner Schwächling. »Leck mich, Frankie«, sagte Rickenharp und nahm die Päckchen. »Was ist das für ein plötzlicher Anfall von Unzufriedenheit, mein Kleiner?« »Geht dich überhaupt nichts an, du süffisanter Mistkerl.« Frankies Miene wurde dreimal so süffisant. Er warf einen nachdenklichen Blick auf Carmen, Yukio und Willow. »Da ist noch was, stimmt’s?« »Ja. Wir haben ein Problem. Meine Freunde hier – die wol len vom Floß runter. Sie müssen zur Hintertür raus, damit Tom und Huck sie nicht sehen.« »Mmmm. Wer ist hinter ihnen her?« »‘ne private Truppe. Sie werden den Kopterflughafen und alles Offizielle überwachen …« »Wir hatten ‘nen anderen Weg hier raus«, sagte Carmen
plötzlich. »Aber das hat sich zerschlagen …« Yukio brachte sie mit einem Blick zum Schweigen. Sie zuck te die Achseln. »Seeehr geheimnisvoll«, sagte Frankie. »Aber es gibt Si cherheitsgrenzen für die Neugier. Okay. Drei Riesen, und ihr habt drei Kojen auf meinem nächsten Boot nach draußen. Mein Boss schickt eine Mannschaft raus, um eine Ladung reinzuholen. Da kann ich sie wahrscheinlich unterbringen. Es geht aber nach Osten. Kapiert? Nicht nach Westen, Süden oder Norden. In eine Richtung, und nur in eine.« »Das ist genau, was wir brauchen«, sagte Yukio und nickte lächelnd als ob er mit einem Reiseveranstalter spräche. »Nach Osten. Irgendwo ins Mittelmeer.« »Malta«, sagte Frankie. »Die Insel Malta. Das ist alles, was ich tun kann.« Yukio nickte. Willow zuckte die Achseln. Carmen stimmte mit ihrem Schweigen zu. Rickenharp testete seinen Stoff. In die Nase, zum Gehirn und gleich an die Arbeit. Frankie sah gelassen zu. Er war ein Kenner, was die Veränderungen betraf, die Drogen bei Men schen auslösten. Er beobachtete die Veränderung in Ricken harps Miene. Er sah, wie Rickenharp in den Ego-Gang schalte te. »Wir brauchen vier Kojen, Frankie«, sagte Rickenharp. Frankie hob eine Augenbraue. »Überleg dir das lieber noch mal, wenn du wieder von dem Scheißzeug runter bist.« »Das hab ich mir schon überlegt, bevor ich’s genommen hab«, sagte Rickenharp. Er wußte nicht genau, ob das stimmte. Carmen starrte ihn an. Er packte sie am Arm. »Kann ich mal ‘n Moment mit dir reden?« Er führte sie aus dem Zimmer auf
den dunklen Flur. Die Haut ihres Armes war elektrisch süß unter seinen Fingern. Er wollte mehr. Aber er ließ sie los und fragte: »Kannst du die Kohle auftreiben?« Sie nickte. »Ich hab ‘ne gefälschte Karte, damit hab ich Zugriff auf… also, damit kriegen wir genug für uns. Ich mei ne, für mich und Yukio und Willow. Ich müßte erst die Ge nehmigung einholen, dich mitzubringen. Und das kann ich nicht.« »Sonst helf ich euch nicht raus hier.« »Du weißt nicht…« »Doch, tu ich. Ich bin bereit, hier abzuhauen. Ich muß nur noch mal zurück und meine Gitarre holen.« »Die Gitarre wäre eine große Last, wo wir hingehen. Wir müssen in besetztes Gebiet, um dahin zu kommen, wo wir hinwollen. Du müßtest die Gitarre hierlassen.« Das ließ ihn beinahe schwanken. »Ich tu sie in ein Schließ fach. Hol sie irgendwann ab.« Er brachte es sowieso nicht, ohne daß jeder Ton wegen der Schmerzen, die er jetzt über spielen mußte, falsch klang. »Die Sache ist – wenn sie uns mit diesem Vogel beobachtet haben, dann haben sie mich mit euch zusammen gesehen. Sie werden annehmen, daß ich dazugehö re. Sieh mal, ich weiß, was ihr macht. Die SA ist hinter euch her. Stimmt’s? Das heißt also, ihr seid …« »Okay, schon gut. Scheiße, sprich leiser! Paß auf – mir ist klar, wo sie dich möglicherweise bemerkt haben, also mußte auch vom Floß runter. Okay, du kommst mit uns nach Malta. Aber dann …« »Ich muß mit euch zusammenbleiben. Die SA ist überall. Sie haben mich bemerkt.«
Sie holte tief Luft und stieß sie mit einem leisen Pfeifen durch die Zähne aus. Sie schaute auf den Boden. »Das bringste nicht.« Sie sah ihn an. »Du bist nicht der Typ dafür. Du bist ‘n beschissener Künstler.« Er lachte. »Du sagst das, als ob’s die schlimmste Beleidi gung wäre, die dir einfällt. Paß auf, ich bring’s durchaus. Und ich werd’s auch tun. Die Band ist tot. Ich muß …« Er hob hilflos die Schultern. Dann langte er nach oben und nahm ihr die Sonnenbrille ab, blickte in ihre verschatteten Augen. »Und wenn ich dich allein zu fassen kriege, mach ich Mus aus dei nem Gebärmutterhals.« Sie boxte ihn hart gegen die Schulter. Es tat weh. Aber sie lächelte. »Denkste, so’n Gerede törnt mich an? Tja, haste nicht mal unrecht. Aber zwischen meine Beine kommste damit nicht. Und was die Frage betrifft, ob du mit uns mitkommen kannst … Was glaubste, was das ist? Du hast zu viele Filme gesehen.« »Die SA hat mich auf der Liste. Was soll ich sonst machen?« »Das reicht nicht als Grund, um … um bei uns einzusteigen. Du mußt wirklich an die Sache glauben, weil’s nämlich hart ist. Das ist kein Fernsehquiz mit Prominenten.« »Meine Güte. Nun mach mal Pause. Ich weiß, was ich tue.« Das war Quatsch. Er war im Eimer. Er war fertig. Er dachte: Mein Computer fängt sich gerade ‘n Stromstoß ein. Alle Schaltkreise im Arsch. Zum Teufel, soll doch der Rest auch noch ausbrennen. Er lebte in einer Phantasiewelt. Aber er hatte nicht vor, es zuzugeben. »Ich weiß doch, was ich tue«, wiederholte er. Sie schnaubte und starrte ihn an. »Okay«, sagte sie. Und danach war alles anders.
ZWEITER TEIL
KESSLER
ZEHN SEIN NAME WAR JAMES KESSLER, und er ging auf der Vierzehn ten Straße nach Osten. Er war auf der Suche, aber er wußte nicht genau, wonach. Er ging durch einen nebelfeinen No vemberregen, der den kalten Wind noch schneidender machte. Der Wind zerrte an seinem Übermantel aus Acryl. Die Straße war so gut wie leer. Er suchte etwas, irgend etwas; das brutal farblose Wort ›etwas‹ hing schwer in seinem Geist, wie ein leerer Rahmen. Er dachte, daß er ein Dach über dem Kopf suchte, wo er Zu flucht vor dem schlechten Wetter finden konnte; er hegte einen leisen Groll gegen die Stadt New York, weil sie den erneuten Zusammenbruch des Wettermodifizierungssystems nicht verhindert hatte. Wenn man im Regen herumlief, fühlte man sich nackt. Und saurer Regen konnte einen nackt machen, dachte er, wenn man synthetische Stoffe trug, die mit den Säuren reagierten. Ein Stück weiter vorn leuchtete der ewige Neonschmetter ling eines Budweiserschilds in verdrossenem Orangerot und Blau; das Design hatte sich seit irgendwann im zwanzigsten Jahrhundert nicht mehr geändert. Er eilte über den Bürgersteig – zerfressener Beton in der Farbe toter Haut – auf das Schild zu, hin zum Hafen, einer Bar. Der Regen begann bereits zu brennen. Er machte die Augen zu, weil er Angst hatte, er würde ihm die Hornhaut verätzen. Er schob sich durch die arg verschmutzte Tür in die Bar. Der Barkeeper schaute kurz auf, nickte vor sich hin, langte
unter den Tresen und brachte ein Handtuch zum Vorschein, das er Kessler hinüberreichte. Das Handtuch war mit Säureab sorptionsmitteln behandelt. Es half sofort. »Haben Sie was in die Augen gekriegt?« fragte der Barkee per, ohne sonderliche Anteilnahme zu zeigen. »Nein, ich glaube nicht.« Er gab das Handtuch zurück. »Danke.« Die Männer mit den müden Gesichtern, die an der Bar sa ßen und tranken, gönnten Kessler kaum einen Blick. Er war unauffällig: ein rundes Gesicht und kurze schwarze Haare mit blauweißen Strähnen, ein Zeichen, daß er als Videocutter arbeitete; große, freundliche braune Augen und ein weicher roter Mund, der jetzt sorgenvoll verkniffen war; ein graublau er Printout-Anzug von der Stange. Der Barkeeper sagte noch etwas, aber es drang nicht zu ihm durch. Kessler starrte die leuchtend grüne Raute eines Kredit transferkiosks im hinteren Teil der halbdunklen, altmodischen Bar an. Er ging hinüber und trat ein. Die Tür schloß sich zi schend hinter ihm. Der kleine Bildschirm an der Vorderseite des Telefons wurde hell, und die elektronischen Buchstaben fragten ihn: »Möchten Sie einen Anruf tätigen oder wünschen Sie Zugang?« Was wollte er? Warum war er hergekommen? Er wußte es nicht. Aber es kam ihm richtig vor. Ein beruhigendes Gefühl war wie eine Woge über ihn weggespült. Erkundige dich nach deinem Kontostand, flüsterte ihm eine lautlose Stimme ein. Ein weiches, mütterliches geistiges Wispern. Wieder eine Woge der Beruhigung. Aber er dachte: Irgendwas stimmt hier nicht… Er kannte seinen Geist, wie ein Mann seinen unaufge räumten Schreibtisch kennt und es merkt, wenn jemand auf
dem Schreibtisch etwas woanders hingelegt hat. Oder in seinem Geist. Und das hatte jemand getan. Er gab ENTRY ein und wurde nach seiner Kontonummer, seiner Zugangscodenummer und seinem Sicherheitscode gefragt. Er gab alle drei Zahlenreihen ein und erklärte dann, daß er sein Bankkonto sehen wollte. Der Computer bat ihn, zu warten. Eine Zahl erschien auf dem Schirm. $ND 760.000. Kessler starrte sie an. Er verlangte Fehlerüberprüfung und Bestätigung. Der Bankcomputer bestand darauf, daß er 760.000 Neudol lar auf dem Konto hatte. Es hätten nur 4000 sein sollen. Er hatte eine Lücke im Gedächtnis; auf seinem Bankkonto war ein Betrag eingegangen. Sie haben an mir herumgebastelt, dachte er, und mich dann dafür bezahlt. Aber wer? Er fragte nach dem Namen des Überweisers. Die Antwort auf dem Schirm lautete: Nicht verzeichnet. Julie. Sprich mit Julie. Es gab einfach, niemand anderen, mit dem er über seine Projekte redete, bis sie patentiert und auf dem Markt waren. Niemand. Seine Frau mußte es wissen. Julie. Er konnte ihren Namen im Mund schmecken. Er schmeckte wie Galle. Julie war gerade seit ein paar Minuten zu Hause, stellte Kess ler fest, als er die Tür hinter sich zumachte. Ihr Mantel war über die Rückenlehne des Sofas drapiert, gebrochenes Weiß auf gebrochenem Weiß. Sie liebte Sachen in gebrochenem Weiß oder in Grau oder Pulverblau, und so war die Wohnung
auch tapeziert. Kessler mochte warme Erdfarben, aber die hielt sie für vulgär, und damit hatte sich’s. Sie stand gebückt vor dem Minikühlschrank hinter dem Frühstückstresen. Mit einer bereiften Flasche Stolichnaya in der Hand richtete sie sich auf. »Hi, Jimmy.« Sie nannte ihn so gut wie nie Jimmy. Julie kam mit einem Wodka pur samt Limonenschnitz für sie beide heraus. Er hatte Wodka mögen gelernt. Sie tappte ohne Schuhe über den pulverblauen Teppich, nur auf Strümp fen; ihre kleinen Füße sahen sexy aus. Sie war groß und schlank und hatte einen langen Hals. Ihre Haare waren so gelb wie gehacktes Kiefernholz, kurz wie die eines kleinen Jungen und an der Seite gescheitelt. Sie war Engländerin und sah auch so aus; ihre Augen waren makellose blaue Kristalle. Sie trug ihren seidengefütterten, grobfaserigen, gebrochen weißen Abendanzug. Den Anzug ohne Schuhe. In ihren Anzügen sah sie natürlicher aus als in allem anderen. Sie hatte ›legere Sa chen‹ für daheim, aber die zog sie aus irgendeinem Grund nie an. Vielleicht weil das ein Zugeständnis ans häusliche Leben wäre, fast ein Verrat an der großen Familie der Firma, zu der sie gehörte. Wie Kinderkriegen. Was hatte sie noch übers Kinderkriegen gesagt? ›Wenn du nichts dagegen hast, werde ich mich weiterhin dagegen wehren, daß mein biologischer Computer programmiert wird. Wenn die DNA spricht, höre ich nicht zu. Ich habe keine Lust, mich von einem Molekül in irgendwas reinreiten zu lassen.‹ Er zog seinen Mantel aus, hängte ihn auf und setzte sich neben sie aufs Sofa. Der kalte Wodka ohne Eis wartete auf dem gläsernen Kaffeetisch auf ihn. Er nahm einen Schluck und sagte: »Ich habe siebenhundertsechzigtausend Neudollar auf dem Konto.« Er sah sie an. »Was haben sie mir entnommen?«
Ihre Augen wurden ein bißchen glasig. »Siebenhundert sechzigtausend? Ein Computerfehler.« »Du weißt, daß es keiner ist.« Er nahm noch einen Schluck. Der Stoly war sirupartig dick, weil er im Gefrierfach gelegen hatte. »Was hast du Worldtalk erzählt?« »Soll das eine Beschuldigung sein?« Die Worte kamen mit der eisigen Ungläubigkeit der Vassar-Absolventin, als wollte sie sagen, ich kann nicht glauben, daß jemand so peinlich naiv sein kann. »Ich beschuldige Worldtalk. Denen gehörst du ja. Sie ma chen mit dir, was sie wollen. Wenn Worldtalk sagt, es ist nicht produktiv, Kinder zu bekommen, wenn sie sagen, es zeugt von schlechtem Teamgeist, Kinder zu bekommen, dann be kommst du keine. Wenn Worldtalk sagt, spitzt die Ohren nach allem, was nützlich sein könnte, dann spitzt du die Ohren. Sogar zu Hause. Selbst wenn ihre Mißbilligung überflüssig ist: Du hättest den Job nicht aufgeben müssen. Ich kann verstehen, daß du Karriere machen willst. Wir hätten das Kind mit einer Leihmutter oder in einem künstlichen Bauch bekommen können. Ich hätte mich tagsüber um es gekümmert. Bei Worldtalk wollen sie keine Angestellten, sie wollen einen besitzen.« »Es ist kindisch, das alles immer wieder durchzukauen. Worldtalk hat nichts mit meiner Entscheidung zu tun, keine Kinder zu bekommen. Ich habe acht Jahre lang daran gearbei tet…« »Ich kenn’s in- und auswendig: Du hast acht Jahre lang dar an gearbeitet, stellvertretende Leiterin der größten PR- und Werbeagentur des Landes zu werden. Du erzählst mir, Kinder zu bekommen wäre eine Erniedrigung für dich! Acht Jahre, um Grimwald die Stiefel zu lecken! Und dann gehst du zu World
talks Familiensitzungen und läßt dich von denen nach der Arbeit stundenlang seelisch aufrüsten, damit ihnen deine Instinkte nicht in die Quere kommen.« Sie stand auf, die Arme starr an den Seiten. »Na und, war um auch nicht! Betriebsfamilien halten wenigstens.« »Das ist keine richtige Familie. Sie benutzen dich. Schau dir an, wozu sie dich gebracht haben! Was du mir angetan hast!« »Du hast mehr als siebenhunderttausend Neudollar. Das ist mehr, als du je mit einem deiner verrückten Projekte verdient hättest. Wenn du für ein Unternehmen tätig wärst, würdest du zuallererst mal anständig Geld verdienen. Aber nein, du bestehst ja darauf, als Freier zu arbeiten. Deshalb bleibst du draußen vor, und du solltest dankbar dafür sein, was sie …« Sie brach den Satz mit einem kräftigen Zischlaut ab und dreh te sich weg. »Also haben wir die Maske jetzt fallengelassen. Du sagst, ich sollte dankbar sein für das Geld, das Worldtalk mir gege ben hat. Julie – was haben sie entnommen?« »Ich weiß es nicht! Du hast mir nicht gesagt, woran du gear beitet hast. Und überhaupt, ich glaube nicht, daß sie irgend was entnommen haben. Ich… gottverdammt.« Sie ging ins Bad, um ostentativ ihr Restem zu nehmen. Sie machte eine Menge Lärm, als sie die vom Arzt verschriebene Flasche aufmachte, damit er es hörte und wußte, daß sie seinetwegen einen Tranquilizer nehmen mußte. Kessler war mit seinem Anwalt Bascomb in einer Bar. Bascomb war betrunken und auf Droge. Die Unordnung in sei nem Innern übertrug sich auf den Raum um ihn herum: die Tänzer, die Lichter, die Hologramme, die es im rauchigen
Halbdunkel so aussehen ließen, als ob jemand direkt neben einem tanzte, was nicht der Fall war. Ein Touristenpärchen auf der Tanzfläche hielt inne und starrte ein anderes Paar an: Zwei gehörnte Gestalten, halb Menschen und halb Reptilien; die Zunge der Frau schnellte zwischen rotgeschminkten Lippen heraus; aus den abgeflachten Nasenlöchern des Mannes zuck ten Feuerzungen. Das Touristenpärchen überwand seine Verlegenheit mit einem Lachen, als der DJ das Holo abschalte te und das Dämonenpaar verschwand. Bascomb gluckste und saugte etwas von seinem Kokain Fizz durch einen Strohhalm, auf dem winzige Werbung auf strahlte, wenn er benutzt wurde, Schriftzüge, die in leuchten dem Grün flackernd nach oben und unten liefen. Neben ihm wand sich Kessler unbehaglich auf seinem Bar hocker und bestellte sich noch einen Scotch. Es gefiel ihm nicht, Bascomb so zu sehen. Bascomb war jung, sonnenge bräunt und ein Eliteschüler. Er trug einen schillernden japani schen Action-Anzug. Kessler war es gewöhnt, Bascomb als ordentliche Komponente von Featherstone, Pesflestein & Bascomb, Rechtsanwälte, in seinem Büro zu sehen, freundlich, aber nicht zu freundlich, aufmerksam, aber beherrscht. Meine eigene Schuld, sagte sich Kessler; ich bin hinter dem Kerl her, wenn er frei hat, gehe seiner Frau auf die Nerven, bis sie mir sagt, wo er rumhängt, und finde Sachen über ihn raus, die ich gar nicht wissen will. Wie zum Beispiel, daß er bisexuell ist und mit dem Kellner flirtet. Die Bar war rund und drehte sich gemächlich durch den Club. Jetzt ließ sie die Tanzfläche hinter sich und gelangte zu den Aufreißräumen. Während sie sich unterhielten, rotierte sie langsam an holographischem Pornogewühl in pinkfarbenen
Fleischtönen vorbei und schob sich in den Salon mit leiser Musik. Jeder Raum hatte seine eigene charakteristische Dun kelheit, durchsetzt vom abstrakten Glanz der Neonlichter, die im Rot kandierter Äpfel, in heißem Pink und elektrischem Blau wie ein Zeitrafferfoto des nächtlichen Verkehrs in der City an den Ecken hochliefen und zickzackförmig über die Decke schossen. Bascomb drehte sich auf seinem Hocker um und guckte sich die Pornos und den echten Geschlechtsverkehr an. Sein Mund war zu einem schlaffen Lächeln geöffnet. Kessler warf einen Blick über die Schulter. Im Halbdunkel waren die Holos nicht vom realen Geschehen zu unterscheiden; ein betrunkener Swinger versuchte eine Frau mit vier Brüsten zu betatschen, stolperte jedoch nur durch sie hindurch und mußte feststellen, daß sie irreal war. »Müssen wir hier miteinander reden?« fragte Kessler und drehte sich wieder zur Bar um. Bascomb ignorierte die Frage und kam auf eine frühere zu rück. »Es läuft doch darauf hinaus, Jim, daß Sie ein Niemand sind. Wenn Sie – sagen wir mal – ein Nobelpreisträger aus Stanford wären, könnten wir Ihnen vielleicht Ihren Gerichts termin verschaffen; wir könnten eine Grand Jury dazu brin gen, Nachforschungen bei den Worldtalk-Leuten anzustellen …« Er redete, ohne den Blick von dem Mischmasch aus Por nos und live vögelnden Menschen zu wenden. »Aber wie die Dinge stehen, sind Sie ein halbwegs erfolgreicher Videocutter, dessen Hobby darin besteht, sich einen Haufen ziemlich einfältiger Medientheorien auszudenken. Jeden Tag verkündet irgendein Schwachkopf oder jemand, der Aufmerksamkeit erregen will, daß ihm eine großartige Idee aus dem Gehirn gestohlen worden ist, und in neunundneunzig Prozent der Fälle erweisen sie sich als Paranoide oder Lügner oder beides.
Ich sage nicht, daß Sie ein Paranoider oder ein Lügner sind. Ich glaube Ihnen. Ich sage nur, daß ich da wahrscheinlich der einzige sein werde.« »Aber ich habe die siebenhundertsechzigtausend …« »Haben Sie sich nach dem Namen des Überweisers erkun digt?« »Nicht verzeichnet.« »Wie wollen Sie dann beweisen, daß es da einen Zusam menhang gibt?« »Das weiß ich nicht. Aber ich weiß, daß mir eine Idee ge stohlen worden ist. Ich will sie zurückhaben, Bascomb. Und ich kann sie auf mich allein gestellt nicht noch mal neu erarbei ten – es war alles auf Diskette und in schriftlichen Unterlagen. Beides ist weg. Sie haben meine ganzen Notizen mitgenom men, alles, wodurch ich der Sache wieder auf die Spur kom men könnte …« »Mist«, sagte Bascomb mitfühlend. Sie waren zurück in den Salon rotiert. Leute auf Sofas sahen sich Videos an und unter hielten sich leise. Manchmal sprachen sie mit Holos. Man wußte es, wenn man mit einem Holo sprach, weil sie schockie rende Sachen sagten. Sie waren so programmiert, um die erstickende Langeweile der Salonkonversation zu mildern. »Ich will sie zurückhaben, Bascomb«, wiederholte Kessler. Seine Knöchel am Rand des Tresens waren weiß. Bascomb zuckte die Achseln. »Sie sind noch nicht lange in diesem Land; vielleicht wissen Sie nicht, wie es hier läuft. Zuerst müssen Sie einsehen, daß …« Er hielt inne, um an seinem Kokain Fizz zu nippen, wurde fast auf der Stelle leb hafter und schwatzte weiter: »Sie müssen einsehen, daß Sie Ihre Idee nicht auf dieselbe Weise zurückbekommen können,
wie sie Ihnen weggenommen wurde. Wer es auch war, er ist wahrscheinlich reingekommen, während sie schliefen. Was Ihre Theorie, daß Julie damit zu tun hatte, glaubwürdiger macht. Sie bleibt wach – oder tut so, als ob sie schläft –, wartet und läßt sie herein, und die jagen Ihnen die Empfänglichkeits droge rein. Das Schöne an der ED ist, daß sie sofort wirkt und nicht nur das zerebrale Programm empfänglich macht, son dern einen auch sediert. Sie schieben die Drähte und Schläu che durch die Nebenhöhlen rein, machen aber nichts kaputt. Sie haben einen Haufen mikrochirurgisches Zeugs in dem großen Koffer, den sie mitgebracht haben, okay? Sie schauen auf den Bildschirm, den sie aufgebaut haben und der Ihre Impulse in einen Code übersetzt, den sie verstehen können. Vielleicht kriegen sie ein paar freie Assoziationen aus Ihrem Traum rein. Aber das zeigt ihnen, daß sie ›online‹ in Ihrem Gehirn sind. Dann schicken sie eine Anforderung in Form neurohumoraler Transmitter, die sie in ihrem Koffer herstel len, in Ihr Hirn …« »Woher wissen Sie so viel darüber?« fragte Kessler, unfähig, den Hauch von Argwohn aus seiner Stimme zu verbannen. »Solche Fälle wie Ihren kriegen wir ein bis zweimal pro Jahr. Ich habe eine Menge Nachforschungen darüber ange stellt. Die ACLU * hat eine kleine Bibliothek über das Thema. Es macht sie wirklich fuchsteufelswild. Wir haben diese Fälle übrigens nicht gewonnen; ist ziemlich heikel…« Er machte eine Pause, um einen Schluck von seinem Fizz zu nehmen. Seine Augen funkelten, und seine Pupillen waren geweitet. Es nervte Kessler, daß Bascomb seinen Fall wie eine Kuriosität behandelte, wie ein Konversationsthema. *
American Civil Liberties Union; amerikanische Bürgerrechts-Vereinigung. – Anm. d. Übers.
»Kommen wir darauf zurück, was mit mir passiert ist.« »Okay, ah … die haben also eine Anforderung in den biolo gischen Computer eingegeben, den wir Gehirn nennen, ja? Sie haben es gefragt, was es darüber wußte, was sie Ihnen weg nehmen wollten – was immer das war –, und Ihr Gehirn fängt automatisch an, darüber nachzudenken, und schickt Signale an den Kortex der Schläfenlappen oder ans Ammonshorn; die Burschen ›reiten‹ auf den elektrochemischen Signalen mit zu der Stelle, wo die Information gespeichert ist. Sie benutzen Indikatormoleküle, die sich an die chemischen Signale anhän gen. Wenn sie das Ammonshorn oder die Schläfenlappen erreichen, wirken die Indikatormoleküle wie Enzyme, die dem Gehirn befehlen, diesen speziellen chemischen Code einfach aufzuschlüsseln. Sie zerlegen ihn auf molekularer Ebene. Sie entnehmen ein paar Sachen, die damit verbunden sind, und die Gedankenkette, die zu ihm hinführt, aber sie nehmen nicht so viel weg, daß Sie zum Idioten werden, weil ihnen wahr scheinlich daran gelegen ist, daß Ihre Frau kooperiert und bei Worldtalk bleibt. Jedenfalls erlaubt es die Gehirnchemie, dem Gehirn mit neurohumoralen Transmittermolekülen eine Frage zu stellen, aber es geht nicht, daß man dem Gedächtnis plan mäßig etwas aufprägt. Man kann Erfahrungen eingeben, Dinge, die jetzt zu passieren scheinen – man kann sie sogar gebrauchsfertig einpflanzen, so daß sie auf einen bestimmten Stimulus hin nach oben kommen –, aber man kann keine gebrauchsfertigen Erinnerungen eingeben. Wahrscheinlich deshalb nicht, weil Erinnerungen holographisch sind und ganze Komplexe von Zellgruppen beanspruchen. Zum Bei spiel kann man eine Jacke ziemlich einfach aufribbeln, wenn man an einem Faden zieht, aber das läßt sich dann nicht so leicht wieder rückgängig machen … Schauen Sie sich dieses
reizende Geschöpf da drüben an, ist die nicht süß? Der würde ich ganz gern mal was einpflanzen. Ich möchte wissen, ob die echt ist. Äh, wie dem auch sei … Man kann’s nicht wieder reintun. Die nehmen Ihnen selektiv jede Erinnerung an alles raus, was den Verdacht wecken könnte, daß man an Ihnen herumgepfuscht hat, aber eine Menge Leute schöpfen trotz dem Verdacht, denn wenn sie auf vertrauten Gedankenwegen frei assoziieren und dann auf eine Lücke stoßen – tja, das ist ‘n Schock. Aber sie können nichts beweisen.« »Okay, dann kann man’s vielleicht nicht wieder direkt ins Gedächtnis eingeben. Aber es könnte durch ganz normale Induktion neu erlernt werden. Durch Lesen.« »Ja. Das wäre vermutlich besser als nichts. Aber Sie müssen trotzdem noch rausfinden, wer’s Ihnen weggenommen hat. Selbst wenn jemand anders damit rauskommt und es als sein Projekt ausgibt, beweist das nichts. Er hätte es auf dieselbe Weise entwickeln können wie Sie. Und Sie sollten sich folgen des fragen: Warum haben sie’s entnommen? Ging es nur um Profit, oder hatte es einen anderen Grund? Unseren Ermitt lungsergebnissen zufolge werden ungefähr ein Drittel der Ideen, die irgendwem aus dem Gehirn entwendet werden, deshalb gestohlen, weil sich jemand schützen will. Die größe ren Unternehmen haben ein Netz von Agenten. Deren einzige Aufgabe ist es, Leute aufzuspüren, die gerade Ideen entwik keln, die den Status Quo in Gefahr bringen könnten. Sie versu chen die Ideen zu entwenden, bevor sie durch Copyright oder Patent geschützt oder in Zeitschriften publiziert oder in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Sie haben Ihnen die Idee weggenommen und vielleicht ein paar mentale Blockaden eingebaut, damit Sie nicht noch mal auf die gleiche Weise darauf kommen wie zu Anfang. Wenn Sie eine Idee entwickelt
haben, die den Status Quo wirklich gefährdet hätte, Jimmy, dann könnten die nächstesmal weiter gehen, als sie bloß zu löschen. Die spielen nämlich mit harten Bandagen. Wenn Sie darauf bestehen, Ihre Idee zurückzubekommen, könnten die sogar dafür sorgen, daß man irgendwo Ihre Leiche findet.« Aber als er mit dem Fahrstuhl zu seiner Wohnung hinauffuhr, darüber nachdachte, was geschehen war, und damit zurande zu kommen versuchte, erkannte Kessler, daß es nicht der Tod war, der ihn schreckte. Was ihn frösteln ließ, war der Gedanke an seine Frau. Julie hatte gewartet, bis er eingeschlafen war. Hatte vielleicht auf die Uhr auf dem Nachttisch geschaut. War zur vereinbarten Zeit aufgestanden und zur Tür getappt und hatte ganz leise dem Mann mit dem schwarzen Koffer aufge macht … Und sie hatte es getan, weil Worldtalk es von ihr verlangt hatte. Worldtalk war ihr Ehemann, ihre Kinder und ihre Eltern. Vielleicht am meisten ihre schrecklichen Eltern. Und vielleicht war das, was ihm zugestoßen war, letzten Endes nichts anderes, als daß die Auflösungsdepression nun auch ihn erreicht hatte, dachte Kessler, als der Fahrstuhl auf seinem Stockwerk hielt. Jahrzehntelang waren die Strukturen, die Kernfamilien hervorbrachten und erhielten, erodiert und schließlich ganz zusammengebrochen. Ein zerrüttetes Zuhause schuf ein zerrüttetes Zuhause schuf ein zerrüttetes Zuhause. Währenddessen verleibten sich die großen Unternehmen die kleinen ein, und als sie dann riesengroß und nicht mehr lenk bar wurden, suchten sie nach Wegen, sich zu stabilisieren. Sie entschieden sich für den bewährten Erfolgsweg des japani schen Systems: das Unternehmen als eine Erweiterung der
Familie. Man impft seinen Arbeitern ein fanatisches Loyalitäts und Zugehörigkeitsgefühl ein. Man personalisiert alles. Und entweder sie machen mit, oder sie verlieren ihre Jobs. Also hatte es vielleicht mit der Auflösungsdepression angefangen. Jobs waren kostbar. Jobs waren das Leben. Folglich nahm man das neue Unternehmen bereitwillig als Zuhause und Familien system an. Der Zusammenbruch der traditionellen Familien strukturen intensivierte den Prozeß. Und man stellte seinen Arbeitgeber über seine echte Familie. Man ließ dessen Agenten ein, damit diese die neue Karriere des eigenen Mannes zerstör ten … Und da wären wir, dachte er, als er seine Wohnung betrat. Da ist sie und macht uns beiden einen Drink, damit wir – zwei fremde Menschen – wieder einmal nett zueinander sein kön nen, zwei fremde Menschen mit einer schönen gemeinsamen Wohnung und einem angenehmen Geschlechtsleben. »Kommst du nicht ins Bett?« rief sie aus dem Schlafzimmer. Er saß auf dem Sofa, hielt sein Glas ans Ohr und schüttelte es ganz leicht, so daß er das Klirren der Eiswürfel hören konn te. Bei dem Geräusch fühlte er sich wohl, und er fragte sich, warum. Es bewirkte, daß er Windglöckchen aus bereiftem Glas vor sich sah … die Windglöckchen seiner Mutter. Seine Mutter, die auf der Veranda stand, geistesabwesend lächelte und ihm beim Spielen zusah, und ab und zu langte sie nach oben und brachte die Windglöckchen mit den Fingern zum Klingeln … Er kippte noch einen kleinen Schluck Wodka, um den Kreidestrich der Einsamkeit zu verschmieren. »Du solltest wirklich ein bißchen schlafen, Jimmy.« Ein lei ser Ton von Anspannung in ihrer Stimme.
Er fürchtete sich davor, dort hineinzugehen. Das ist doch dumm, dachte er. Ich weiß nicht mit Sicherheit, daß sie es war. Er zwang sich, das Glas hinzustellen, aufzustehen und ins Schlafzimmer zu gehen, und zwar so, als ob er sich nicht mit Gewalt durch die Membranen seines Mißtrauens zwängen müßte. Er blieb in der Tür stehen und sah sie einen Augen blick lang an. Sie trug ihre seidene Unterwäsche und lag mit dem Rücken zu ihm. Er konnte die Spiegelung ihres Gesichts im Fenster auf der anderen Seite sehen. Ihre Augen waren weit offen. Er sah Entschlossenheit und Selbstverachtung darin, und er wußte, daß sie mit ihnen Kontakt aufgenommen hatte und daß die Fremden ihm noch einmal dasselbe antun würden. Sie würden kommen und diesmal noch mehr heraus holen, sein Gespräch mit Bascomb, seine bösen Ahnungen. Sie würden das Schweigegeld nehmen, das sie ihm bezahlt hatten, weil er gezeigt hatte, daß er nicht bereit war, es anzunehmen und auf das zu verzichten, was er verloren hatte … Sie wür den seinen Streit mit Julie löschen … Laß es einfach über dich ergehen, sagte er sich. Das wäre die intelligente Lösung. Sollten sie es doch tun. Süßer Nepenthes, Trank des Vergessens. Der Schmerz und die Angst und die Wut würden zusammen mit den Erinnerungen verschwinden. Und er würde wieder die frühere Beziehung zu seiner Frau haben. So wie sie nun einmal war. Er dachte einen Moment lang darüber nach. Sie drehte sich um und sah ihn an. »Nein«, sagte er schließlich. »Nein, zwischen uns ist nicht genug, als daß es das wert wäre. Nein. Sag ihnen von mir, nächstesmal müßten sie mich schon umbringen.«
Sie starrte ihn an. Dann legte sie sich zurück und schaute an die Decke. Er machte die Schlafzimmertür leise hinter sich zu und ging zum Schrank, um seinen Mantel zu holen. Sie hatten das Geld noch nicht abgehoben. Es lag noch auf seinem Konto. Er war zu einem die ganze Nacht geöffneten Kreditbankkiosk gegangen und hatte sich darin eingeschlos sen. Jetzt sah er die Zahl an, $ND 760.000, und fühlte so etwas wie ein Glühen. Er tippte auf die Telefontasten und rief Char lie Chesterton an. »Wünschen Sie eine optische Verbindung?« fragte ihn der Schirm. »Nein«, sagte er, »noch nicht.« »Sis?« sagte Charlies Stimme. »Wersdanswolnse?« Man brauchte Charlie bloß aus seinem gesunden Schlaf zu wecken, und schon sprach er Technicki. Was ist? Wer ist da, und was wollen Sie? »Sprich Standard mit mir, Charlie. Hier ist…« »Hey, mein alter Freund Kessler! Was ist denn los, Mann! Hey, wieso hab ich kein Bild?« »Ich wußte ja nicht, was du gerade machst. Diskretion ist alles.« Er tippte die Bildverbindung ein, und ein kleines Fern sehbild von Charlie erschien unter der Tastatur des Telefons. Charlie hatte eine Irokesenfrisur mit drei Finnen. Jede Finne hatte eine andere Farbe, und jede Farbe hatte etwas zu bedeu ten. Das Rot in der Mitte besagte, daß er Mitglied der Radika len Technicki-Gewerkschaft war; das Blau rechts stand für seinen Beruf, Videotechniker; und das Grün links für die Gegend, in der er wohnte, New Brooklyn. Eine künstliche
Insel. Er grinste und entblößte dabei Schneidezähne, die seine Initialen in Gold trugen, eine weitere billige Technicki-Mode. Und Charlie hatte ein Video-T-Shirt an, das einen Film zeigte: Fritz Langs Metropolis. Jetzt lief gerade die Flutszene. »Wenn du mit deinem T-Shirt ins Bett gehst, solltest du’s abschalten, sonst sind die Batterien bald leer.« »Lädt sich in der Sonne wieder auf«, sagte Charlie. »Hast du mich angerufen, um mit mir über meine Schlafgewohnhei ten zu reden?« »Ich brauche deine Hilfe. Im Moment muß ich dringend die Kontaktnummern für die Bank in Schanghai haben, die Über weisungen unter einem anonymen Code annimmt…« »Ich hab dir doch gesagt, Mann, das ist hart an der Grenze der Legalität, vielleicht schon jenseits davon. Das machst du dir lieber erst mal klar, ja?« Kessler nickte. »Okay. Stell deinen Schirm auf Aufzeichnung …« In Bascombs Büro war es zu warm; Bascomb hatte Probleme mit dem Kreislauf. Die Wände waren von einem milchigen Gelb, das die Hitze irgendwie zu verstärken schien. Bascomb saß hinter dem Schreibtisch aus hellem Holz. Er trug einen dreiteiligen Anzug mit einem Schablonenmuster und zeigte ein Lächeln höflicher Verblüffung. Kessler saß ihm gegenüber und hatte das Gefühl, in eine Tretmühle geraten zu sein, weil Bascomb nur immer wieder sagte: »Ich bin wirklich ziemlich sicher, daß ein solches Treffen nie stattgefunden hat.« Er gluckste. »Ich kenne den Club sehr gut, und ich weiß, daß ich mich daran erinnern würde, wenn ich gestern abend dort gewesen wäre. War seit einem Monat nicht mehr da.«
»Sie waren nicht gerade begeistert, aber Sie haben mir ge sagt, daß Sie den Fall übernehmen würden.« Aber die Worte wurden in Kesslers Mund zu Asche. Er wußte, was passiert war, weil Bascombs Gesicht nicht einmal die leiseste Spur von Falschheit oder Nervosität zeigte. Bascomb erinnerte sich wirklich nicht. »Dann werden Sie mich in dieser Sache also nicht vertreten«, fuhr Kessler fort. Es war nur halb eine Frage. »Wir haben wirklich keine Erfahrung mit Gehirnbastelei en.« »Ich könnte die Gerichtsakten besorgen, die beweisen, daß Sie doch welche haben. Aber sie würden nur …« Er schüttelte den Kopf. Verzweiflung war etwas, das er riechen und schmecken und fühlen konnte, wie sauren Regen. »Die wür den noch mal an Ihnen herumbasteln. Nur um keinen Zweifel aufkommen zu lassen.« Er eilte aus dem Büro und dachte: Bestimmt überwachen sie das Haus. Aber draußen hielt ihn niemand auf. Charlie hatte sich in eine seiner Amateuranalysen hineinge steigert, und es gab nichts, was Kessler dagegen tun konnte. Er mußte zuhören, weil Charlie ihm half. »… ich meine, es ist doch so«, sagte Charlie, »der normale Technicki spricht Standard-Englisch wie ein Kleinkind, hab ich nicht recht, er kann nicht lesen, und wenn doch, dann höch stens Befehlscodes, und das hat er alles im Fernsehkurs ge lernt, und er ist darauf trainiert, dies und das zu tun und dies und jenes zu reparieren, aber er wird – wie soll ich sagen – durch die gesellschaftlichen Bedingungen am Aufstieg gehin dert, weil die sozioökonomische Elite gutes Standard-Englisch spricht und lesen kann.«
»Wenn sie’s wirklich wollen, können sie alles lernen, was sie brauchen, so wie du«, sagte Kessler gereizt. Er stand am Fenster und blickte auf die leeren, glänzenden Keramikstraßen hinaus. Die künstliche Insel war im Hafen verankert und gehörte zu Brooklyn. Um diese Zeit wirkte sie nahezu verlas sen. Alle waren entweder in die Stadt gefahren, saßen zu Hause vor dem Fernseher oder hockten in der Kneipe. Die schwimmenden Stadtbezirke waren bekannt dafür, daß sich dort Fuchs und Hase gute Nacht sagten. Die kompakten, flachen Schwimmbezirkhäuser mit den abgerundeten Ecken standen still und stumm da, wie eine Reihe von Backenzäh nen. Ein paar Fenster leuchteten in der Dunkelheit wie Radar schirme. Aber sie könnten mich beobachten, dachte Kessler. Sie könnten mich auf hundert verschiedene Arten beobachten, und ich würde nichts davon sehen. Er drehte sich um und ging vom Fenster weg. Charlie hatte die Hände auf dem Rücken gefaltet und marschierte mit gesenktem Kopf auf und ab. Er spielte die Rolle des jungen Führers radikaler Politfreaks, der kühne Theorien aufstellte. Die Wohnung war mit unregelmäßigen Regalen voller Bü cher und Schachteln mit Software, Kassetten und Compact Discs vollgestellt. Charlie hatte Seidentücher in den Drei Farben aufgehängt; sie verbargen die Einzelheiten wie mehr farbiger Rauch. »Ich meine«, fuhr Charlie fort, »weißt du, was sich in Europa abspielt, Mann? Da übernimmt die SA die Macht. Und hier bei uns werkeln sie auch schon tüchtig dran rum. Am Faschismus.« Kessler stöhnte. »Verschon mich mit diesem linken Klischee für alles und jedes. Das ist doch Blödsinn.«
»Wie kannst du das sagen, nach dem, was dir passiert ist?« »Was mir passiert ist, ist ganz alltäglich. Das hat im Grunde nichts mit Politik zu tun.« »Woher weißt du das? Du erinnerst dich doch nicht. Erin nerst du dich?« Kessler zuckte die Achseln. Ihm war danach zumute, das Handtuch zu werfen und Worldtalk den Kampf zu schenken. Vielleicht hatte Julie recht. »Wenn du bloß mit dem Typen reden würdest, mit dem ich dich gern zusammenbringen würde, Mann …« »Ich brauche keine Lektionen von solchen behämmerten linken Theoretikern, die wahrscheinlich ihr rechtes Auge dafür geben würden, so reich und korrupt zu sein wie diejenigen, über die sie sich ständig beklagen.« »Jetzt spielst du den advocatus diaboli, Jimmy. Versuchst du dir einzureden, daß du aufgeben solltest?« Kessler hob die Schultern. Charlie sah ihn an. Dann begann er wieder auf und ab zu gehen und redete weiter. »Der Typ, mit dem ich dich zusam menbringen möchte, ist nicht so einer. Er ist erst eine Woche in der Stadt. Der ist kein Salontheoretiker. Im Grund ist er gar kein … Ich glaub nicht, daß er ein richtiger Linker ist. Ich meine, er ist hergekommen, um finanzielle Unterstützung für den europäischen Widerstand zu beschaffen, und dazu mußte er die Blockade durchbrechen. Sie hätten ihm fast den Arsch aus dem Wasser gesprengt. Sein Name ist Steinfeld, oder jedenfalls nennt er sich so. Er war früher mal … Was ist los?« Ein warnendes Frösteln; und Kessler hatte sich umgedreht und schaute abrupt aus dem Fenster. Drei Stockwerke weiter
unten war sie eine pulverblaue Gestalt in Form eines Schlüs sellochs vor dem schwachen Ölfilm, der die Straße zu überzie hen schien. Sie blieb stehen und sah sich die Hausnummern an. Vielleicht hatte sie einfach geraten, sagte er sich. Sie war Charlie einmal begegnet. Möglicherweise hatte sie seine Ad resse auf der Referenzdiscette herausgesucht. Sie ging zur Haustür. Charlies Glocke schlug an, und er ging zum Schirm. »Es ist deine Frau«, sagte er. »Soll ich ihr sagen, daß du nach Übersee gegangen bist? Nach Japan?« »Laß sie rein.« »Machst du Witze, Mann? Das ist doch ‘n Witz, stimmt’s? Sie war’s doch, die …« »Laß sie einfach rein.« Sie hat sie aus der Adressenliste, sag te er sich. In seinem Innern brodelte ein giftiger Cocktail von Emotionen. Da war die Erleichterung, sie zu sehen, geschüttelt und verrührt mit etwas, das wie Rauchalarm summte, und erst als sie an der Tür war, erkannte er, daß das Gefühl Entset zen war. Und dann stand sie auf der Schwelle, vor dem Licht im Hausflur. Sie war schön. Das Licht hinter ihr erlosch auf einmal – ein Energiespargerät spürte, daß sich jetzt niemand mehr im Treppenhaus befand –, und sie war plötzlich von Dunkelheit umrahmt. Das Summen schäumte nach oben und erstickte die Erleichterung. Sein Mund war trocken. Charlie warf Kessler einen angewiderten Blick zu und schloß die Tür. Kessler starrte sie an. Ihre Augen flackerten, ihr Mund öff nete sich und schloß sich, und sie schüttelte den Kopf. Sie sah erschöpft aus. Und Kessler wußte Bescheid.
»Sie haben dich hergeschickt. Sie haben dir gesagt, wo du mich finden kannst«, sagte er. »Sie – möchten das Geld zurückhaben«, sagte sie. »Sie wol len, daß du mit mir kommst.« Er schüttelte den Kopf. »Kotzt es dich nicht an, eine Mario nette zu sein?« Sie schaute aus dem Fenster. Ihr Gesicht war ausdruckslos. »Das verstehst du nicht.« »Weißt du, warum sie das tun? Warum sie dich in diesem amerikanisierten japanischen Job-Konditionierungskram trainieren? Um Geld zu sparen. Weil es die Gewerkschaften ausschaltet.« »Sicher, sie haben ihre Gründe. Es geht ihnen in erster Linie um Effektivität.« »Ich weiß. Wie heißt der Slogan? Effektivität ist Freund schaft.« Sie sah verlegen aus. »Das ist nicht…« Sie zuckte die Ach seln. »Eine Betriebsfamilie hat genau den gleichen Wert wie jede andere. Das kannst du nicht verstehen. Ich … ich werde meinen Job verlieren, Jimmy. Wenn du nicht mitkommst.« Sie sagte ›meinen Job verlieren‹ auf eine Weise, wie Kessler ›mein Leben verlieren‹ gesagt hätte. »Ich werd’s mir überlegen, ob ich mitkomme, wenn du mir sagst, was es war… was sie entnommen haben.« »Sie … sie haben’s auch aus mir rausgeholt.« »Das glaub ich dir nicht. Ich hab’s nie geglaubt. Ich denke, sie haben in deinem Oberstübchen alles heil gelassen, damit du mich beobachten konntest, um zu sehen, ob ich wieder drüber stolpern würde. Ich denke, du hast sie wirklich dafür
geliebt, daß sie dir vertraut haben. Worldtalk ist Mama und Papa, und Mama und Papa haben dir vertraut…« Ihr Mund verzerrte sich vor Wut. »Du Mistkerl. Ich kann dir nicht…« »Doch, du kannst. Du mußt. Sonst hauen Charlie und ich durch die Hintertür ab, und wir werden Worldtalk endlose Schwierigkeiten machen. Und ich kenne dich, Julie – ich würde es merken, wenn du was erfinden würdest. Also erzähl mir, was es war. Was es wirklich war.« Sie seufzte. »Ich weiß nur, was du mir erzählt hast. Du hast erklärt, daß die PR-Firmen die Medien für ihre Kunden mani pulieren, meistens ohne daß die Öffentlichkeit etwas davon erfährt. Sie benutzen ihre Verbindungen und Kanäle, um Informationen oder Fehlinformationen in Zeitschriftenartikeln, Nachrichtensendungen, Filmen und politischen Reden unter zubringen. Also …« Sie hielt inne, tat ihren Ärger mit einem Achselzucken ab und fuhr dann müde fort: »Also manipulie ren sie die Menschen, und die Öffentlichkeit erhält aufgrund der besonderen Interessen dieser Leute ein verzerrtes Bild von dem, was vorgeht. Du hast ein Computeranalyse- und Video bearbeitungssystem entwickelt, das mögliche Beispiele von … äh … ich glaube, die Formulierung, die du benutzt hast, laute te ›aufgepfropften Informationen‹ oder ›Verzerrungen durch Sonderinteressen‹ aufspürte. Damit sie ausgemerzt werden konnten. Du hast es das ›Medienalarmsystem‹ genannt.« Sie ließ die Luft in einem langen Atemzug heraus. »Ich wußte nicht, daß sie so weit gehen würden. Ich dachte, sie würden dein System aufkaufen. In gewisser Weise haben sie das ja auch getan. Ich mußte es Worldtalk melden. Wenn ich es nicht getan hätte, wäre ich … illoyal gewesen.« Bei dem Wort ›illoy
al‹ zuckte sie zusammen, weil sie wußte, was er denken wür de. Aber es war Charlie, der es aussprach. »Und was ist mit Ih rer Loyalität zu Jim Kessler?« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Im Mo ment kommt es nicht darauf an, ob es falsch oder richtig war. Es ist zu spät. Sie wissen Bescheid… Kommst du nun mit, Jimmy?« Kessler dachte über das Medienalarmsystem nach. Es hörte sich nicht bekannt an – aber es klang richtig. »Nein,« sagte er langsam. »Aber du kannst mir helfen. Wenn du vor Gericht aussagst, können wir sie besiegen.« »Jimmy, wenn ich gedacht hätte, daß sie … Nein, nein. Ich …« Sie brach ab und starrte auf seine Taille. »Sei nicht dumm. Das ist nicht…« Sie trat einen Schritt zurück und steckte die Hand in ihre Handtasche. Kessler und Charlie tauschten einen verblüfften Blick aus. Als Kessler wieder Julie ansah, hatte sie eine Waffe in der Hand. Es war eine kleine Pistole aus blauem Metall. Der Lauf war bleistiftdünn, und das heißt, daß sie Explosivgeschosse abfeuerte. Die hatten sie ihr gegeben. »Wissen Sie, was die Pistole da anrichtet?« fragte Charlie. »Diese kleinen Explosivkugeln werden ihn über die ganze Wand verteilen.« Seine Stimme schwankte. Er machte einen Schritt auf sie zu. Sie drückte sich mit dem Rücken an die Tür und sagte: »Charlie, wenn Sie mir noch einen Schritt näher kommen, erschieße ich ihn.« Charlie blieb stehen. Das Zimmer schien von einem Ultraschallkreischen schierer Bedrohlichkeit erfüllt zu sein. Sie sprach weiter; die Worte kamen wie ein Sturzbach
heraus. »Warum fragen Sie ihn nicht, was dieses Ding in seiner Hand mit mir anstellen würde, Charlie? Sollen wir? Fragen Sie ihn das. Jimmy hat die gleiche Pistole. Mit den gleichen gottverdammten Kugeln.« Ihre Stimme war zu hoch. Sie atmete schnell, und die Knöchel der Hand, in der sie die Waffe hielt, waren weiß. Kessler schaute an sich hinab. Seine Arme hingen an seinen Seiten. Seine Hände waren leer. »Lassen Sie die Waffe sinken, Julie, dann können wir reden«, sagte Charlie sanft. »Ich lasse meine sinken, wenn er seine senkt«, erwiderte sie heiser. »Er hat keine Pistole in der Hand«, sagte Charlie. Ihr Blick war auf einen Punkt etwa neunzig Zentimeter vor Kesslers Brust gerichtet. Dort sah sie die Pistole. Julie, sie haben an dir herumgepfuscht, wollte er sagen, aber er konnte nur krächzen: »Julie …« »Nicht!« schrie sie und hob die Waffe. Und dann bewegte sich alles: Kessler warf sich zu Boden. Charlie sprang Julie an, und die Wand hinter Kessler platzte nach draußen auf die Straße. Zwei heiße Metallhände schlugen um Kesslers Kopf zu sammen, und er schrie vor Schmerz und dachte, er sei tot. Aber es war nur der Krach, das Getöse, mit dem die Wand nach draußen explodierte. Wandsplitter regneten herab; Rauch wurde durch das mehr als einen Meter große Loch in die Winternacht hinausgesogen. Kessler stand zitternd auf. Ihm klangen die Ohren. Er schaute sich um und sah Charlie, der rittlings auf Julie saß. Er hatte die Pistole in der Hand, und sie lag mit dem Gesicht
nach unten da und schluchzte. »Losauabmann«, sagte Charlie und verfiel dabei in Technicki. Sein Gesicht war weiß. »Laß sie los«, sagte Kessler. Charlie stieg von ihr herunter und stand neben ihr auf. »Julie, schau mich an«, sagte Kessler leise. Sie legte den Kopf in den Nacken; ein Ausdruck würde vollen Trotzes hielt sich mühevoll auf ihrem Gesicht. Dann weiteten sich ihre Augen, und ihr Blick zuckte zu seinen Hüften. Sie sah dort eine Pistole in seiner Hand. »Ich habe keine Waffe, Julie. Das haben sie dir eingepflanzt. Aber jetzt werde ich mir eine besorgen … Gib mir die Pistole, Charlie.« Ohne sie aus den Augen zu lassen, streckte er die Hand aus. Charlie zögerte, dann legte er die Pistole in Kesslers offene Hand. Sie zwinkerte und kniff die Augen zusammen. »Dann hast du jetzt also zwei Pistolen.« Sie zuckte die Ach seln. Er schüttelte den Kopf. »Steh auf!« Sie stand mechanisch auf. »Jetzt geh da rüber, zu Charlies Bett. Er hat schwarze Bettlaken. Siehst du sie? Nimm eins davon. Zieh’s einfach runter und bring’s hierher.« Sie setzte an, etwas zu sagen. Um ihren Mund bildeten sich Zornesfalten. Kessler kam ihr zuvor. »Sag jetzt nichts! Tu’s einfach!« Sie ging zum Bett, zog das schwarze Satinlaken ab, zerrte verdrossen daran und schleifte es zu ihm hinüber. Charlie sah mit offenem Mund zu und murmelte, daß die Bullen sie tage- und wochenlang festhalten würden, bis sie genau wüßten, was passiert war, aber Kessler war von einer wütenden Ruhe erfüllt, und er wußte, was er tun würde; und wenn es nicht funktionierte, dann würde er seine Knochen vom sauren Regen bleichen lassen, als War nung an andere Reisende, die zu diesem vergifteten Brunnen
kamen. Zu dieser Frau. Er sagte: »Jetzt zerreiß das Laken – tut mir leid, Mann, ich kauf dir ein neues – und mach eine Au genbinde. Gut. Okay. Jetzt zieh sie mir über die Augen. Nimm das Klebeband auf dem Tisch, um die Binde lichtundurchläs sig zu machen.« Sie verband ihm in Zeitlupe die Augen. Dunkelheit senkte sich flüsternd auf ihn herab. Sie klebte die Binde sorgfältig fest. »So, ziele ich jetzt immer noch mit zwei Pistolen auf dich?« »Ja.« Aber in ihrer Stimme klang Unsicherheit auf. »Jetzt geh einen Schritt zur Seite. Nein, mehrere Schritte, und ganz leise. Lauf ein bißchen rum.« Die leisen Geräusche ihrer Bewegungen. Ein Laut des Erstaunens. »Folgt dir die Pistole überallhin?« »Ja. Ja. Die eine.« »Aber wie sollte das möglich sein? Ich kann dich nicht sehen! Und warum habe ich mir von dir die Augen verbinden lassen, wenn ich bereit und willens bin, dich zu erschießen?« »Du siehst verrückt aus, Mann. Lächerlich und furchtein flößend«, sagte Charlie. »Halt die Klappe, Charlie, ja? Antworte mir, Julie! Ich kann dich nicht sehen! Wie kann ich dir da mit den Pistolen fol gen?« »Ich weiß nicht!« Ihre Stimme schnappte über. »Nimm mir die Pistolen aus den Händen! Erschieß mich! Na los!« Sie gab einen kurzen, zischenden Laut von sich und nahm ihm die Waffe aus der Hand, und er machte sich auf den Tod gefaßt. Aber sie nahm ihm die Augenbinde ab und sah ihn an.
Schaute ihm in die Augen. Sie ließ die Pistole zu Boden fallen. »Siehst du’s jetzt?« sagte Kessler leise. »Das haben sie dir angetan. Dir, einem Mitglied der ›Familie‹. Die Betriebs-›Familie‹ bedeutet denen absolut gar nichts.« Sie schaute auf seine Hände. »Keine Pistole. Keine Pistole.« Verträumt. »Die Pistole ist weg. Alles ist anders.« Sirenengeheul, das sich näherte. Sie fiel auf die Knie. »Sie bedeutet ihnen absolut gar nichts«, sagte sie. »Absolut gar nichts.« Ihr Gesicht legte sich in Falten. Sie sah aus, als ob sie in sich zusammengefallen wäre, als ob jemand ein inneres Gerüst weggetreten hätte. Sirenen und Lichter draußen. Ein chromglänzendes Flattern in der rauchigen Lücke, wo die Wand herausgesprengt wor den war; ein Überwachungsvogel der Polizei. Er sah wie ein Vogel aus, der sich mit seinen übergroßen Kolibriflügeln aus Aluminium an Ort und Stelle hielt; aber statt eines Kopfes hatte er ein kleines Kameraobjektiv. Aus dem Gitter an seinem silbrigen Bauch kam eine eintönige Stimme: »Hier ist die Polizei. Sie werden jetzt beobachtet und gefilmt. Versuchen Sie nicht, die Wohnung zu verlassen. Die Haustür ist aufgebro chen worden. Polizeibeamte werden jeden Moment eintreffen, um Ihre Aussagen aufzunehmen. Ich wiederhole …« »Oh, ich hab’s gehört«, sagte Julie mit dumpfer Stimme. »Ich werde eine Aussage machen, darauf könnt ihr euch verlassen. Ich habe eine Menge zu sagen. O ja.« Sie lachte traurig. »Ich werde eine Aussage machen …« Kessler bückte sich und berührte sie am Arm. »Hey… Ich …« Sie wich vor ihm zurück. »Faß mich nicht an! Faß mich
nicht an! Du liebst es ja so, recht zu haben. Ich werd’s ihnen erzählen. Faß mich bloß nicht an!« Aber er blieb bei ihr. Charlie und er standen da und schau ten den blauen Rauch, der durch das gezackte Loch in der Wand hinaustrieb, und den mechanischen Vogel mit dem Kameraauge an, der ihren Blick erwiderte. Er blieb bei ihr, wie er es immer tun würde, und sie horch ten auf die Schritte draußen vor der Tür. »Warum sollen wir gehen, wenn wir nicht wissen, wer uns auf Kaution herausgeholt hat?« fragte Julie. Sie saß zusammengesunken und hohläugig da. Auf irgend eine Weise schien sie durchzuhalten. Kessler nickte. »Es könnten Leute von Worldtalk sein, Char lie.« Charlie schüttelte den Kopf. »Ich hab den Burschen im Vor zimmer gesehen. Das ist einer von uns.« »Einer von deinen Leuten, Charlie«, sagte Kessler. »Nicht von meinen.« Sie saßen müde auf den Plastikstühlen vor dem grauen Me tallschreibtisch in Detective Bixbys Büro. Das Deckenlicht summte; vielleicht unterhielt es sich mit dem Bildschirm an der Konsole rechts auf dem Schreibtisch, der leise vor sich hinsummte. Der Bildschirm war von ihnen weggedreht. Auf den Handregalen stapelten sich Software, Kassetten, Bündel von Printouts und Fotos. Die Wände waren in dem schmieri gen, stumpfen Grün gehalten, das an solchen Orten üblich war. Bixby war hinausgegangen, um sich mit den Detectives der neuen Großhirnkidnapping-Abteilung zu beraten. Der
Abteilung, die sich mit illegalen Entnahmen aus dem Ge dächtnis befaßte. Die Tür war verschlossen, und sie waren allein. »Hier sind wir zumindest geschützt«, sagte Julie und grub ihre Fingernägel in ihre Handflächen. Charlie schüttelte wieder den Kopf. »Ich hab Siebzehn an gerufen. Er sagt, Worldtalk könnte hier drin an uns rankom men.« »Wer, zum Teufel, ist Siebzehn?« fauchte Kessler. Er war müde und reizbar. »Mein NR-Kontaktmann …« Er brach ab und schaute zum Schreibtisch. Die Konsole stand auf einer Drehscheibe, die in die Schreibtischplatte eingelassen war; der Bildschirm fuhr zu ihnen herum. Bixbys rundes, gerötetes Gesicht füllte den Schirm fast ganz aus. »Geht klar«, sagte er. »GK übernimmt Ihren Fall. Ihre Video aussagen sind auf Band, und man hat Kaution für Sie gestellt. Die wird erstattet, sobald wir den Hauseigentümer dazu bewegen können, die Anzeige wegen der rausgesprengten Wand zurückzuziehen. Dürfte kein Problem sein. Wenn Sie in Schutzhaft genommen werden möchten, sprechen Sie mit dem diensthabenden Polizisten. Die Tür ist offen.« Als er das sagte, hörten sie ein Klicken, und die Tür sprang ein paar Zentimeter weit auf. Sie waren frei und konnten gehen. »Viel Glück«, sagte Bixby. Sein Gesicht verschwand vom Bildschirm. »Na los!« sagte Charlie. »Machen wir, daß wir rauskom men, bevor die Scheiß-Tür sich’s anders überlegt.« Der Kellerraum war matt erleuchtet, feucht und alt; die Wände hatten Risse. Ein Mann wartete dort auf sie. Er saß direkt unter
der einzigen Glühbirne auf einem zerbrochenen, dreibeinigen Holzstuhl, und zwar verkehrt herum; seine Arme ruhten auf der Rücklehne, und er hatte ein Bein ausgestreckt, um das fehlende Stuhlbein zu ersetzen. Er lächelte und nickte ihnen zu. Kessler sah Charlie an, und Charlie schüttelte den Kopf. »Ist er von Worldtalk?« fragte Kessler. Julies Stimme war dumpf. »Ich kenne ihn nicht. Ich weiß nicht. Vielleicht haben sie ihn angeheuert.« »Ich arbeite für Worldtalk«, sagte der Mann. »Ich arbeite für die SA. Und ich arbeite mit Steinfeld zusammen. Aber nicht in dieser Reihenfolge.« Er war ein großer Mann mit einem wei chen Körper, und er war zu selbstgefällig. Er hatte die neutrale blaugraue Haarfarbe eines Managers mit nur einer weißen Strähne, die besagte, daß er sich ›von ganz unten hochgearbei tet‹ hatte, daß er vielleicht als Buchhalter oder Aufseher des Schreibkräfte-Pools angefangen hatte. Er war dazu berechtigt, die Strähne auszuwaschen, aber manche Manager behielten ihre ersten Rangabzeichen als eine Art Warnung: Ich hab mich nach oben gekämpft, und ich bin immer noch kampfbereit, also leg dich nicht mit mir an … Er trug einen taubengrauen Anzug, einen echten, und die enge Goldkette, die in den Oberklassen die Krawatte ersetzt hatte. »Mann, Sie sehen echt nicht so aus, als ob Sie hierher gehörten«, sagte Charlie. Der Keller war an einem Ende leer; das andere wurde von einem Müllhaufen beherrscht, dem gesammelten Abfall des alten Wohnhauses oben, der bereits schimmelgrau war und aussah wie Das Ding, das im Keller lebte. »Ich bin Purchase«, sagte der Mann mit der Goldkette. Das weiche, blasse Fleisch an seinem Hals hing über die Kette wie
die Haut einer Bulldogge über ein enges Hundehalsband. Er streckte die Hand aus, und sie schüttelten sie reihum. Aber niemand anders nannte seinen Namen. Purchases Hand war warm und feucht. Charlie zuckte die Achseln. »Das muß der Typ sein.« Purchase schaute auf seine Armbanduhr. »Vielleicht haben Sie jemand erwartet, der wie John Reed * aussieht?« Kessler sah Charlie an. »Gibt es kein Paßwort oder einen Codesatz oder sowas?« Purchase antwortete für ihn. »Der Treffpunkt ist das Paß wort. Wer sollte denn sonst hier unten sein?« Kessler starrte Purchase an. »Ich mag keine undurchsichti gen Geschichten. Ich meine, nach allem, was ich weiß, sehe ich Sie in Wirklichkeit gar nicht. Vielleicht sind die Kerle letzte Nacht gekommen, und haben Charlie, Julie und mich behan delt, so daß wir alle die gleiche Illusion haben. Vielleicht versuchen sie eine Propagandaaktion zu starten – daß Revolu tionäre in Wahrheit ein Haufen dicker Bonzen sind. Wie damals die Sache mit den IRA- und PLO-Bossen, die einen Haufen Geld auf dem Schwarzmarkt gemacht haben sollten. Vielleicht sind Sie gar nicht hier, und ich rede mit einem leeren Stuhl.« Purchase nickte. »Das ist nicht unmöglich, aber ziemlich unwahrscheinlich. Sie haben letzte Nacht Wachen aufgestellt, nehme ich an. Wie dem auch sei – ich bin kein Revolutionär. Ich bin ein Angestellter. Ich arbeite für Steinfeld, während ich *
linker amerikanischer Reporter und Schriftsteller (1887–1920), der Augenzeuge der Oktober revolution war und eins der populärsten Bücher über sie schrieb (›Zehn Tage, die die Welt erschütterten‹). Er wurde von Warren Beatty in dessen Film ›Reds‹ verkörpert. – Anm. d. Übers.
so tue, als ob ich für die SA arbeite, wobei ich nach außen hin für Worldtalk arbeite. Die SA hält mich für ihren Mann bei Worldtalk; aber ich bin Steinfelds Mann in der SA. Ich bin aber kein Radikaler. Vor zwei Tagen hab ich das Worldtalk-Memo über Mr. Kesslers Programm bekommen. Ich weiß zufällig, daß Steinfeld an einer ähnlichen Sache arbeitet. Er möchte, daß Sie zu uns kommen. Himmel noch mal, was für ein Unfug. Es ist kalt in diesem Loch. Müssen wir das hier besprechen? Oben ist ein großer und komfortabler Van, gleich auf der anderen Straßenseite. Wir können uns unterwegs unterhalten.« Kessler zögerte. Vielleicht sollte er trotzdem zur ACLU ge hen. Aber Charlie und Julie waren der Meinung, sie müßten sich verstecken. »Wird dieser Steinfeld mir helfen, es zurück zubekommen?« »Er wird Ihnen helfen. Wenn Sie ihm helfen.« Sie gingen nach oben.
DRITTER TEIL
SWENSON
ELF
ELLEN MAE CRANDALL stand am Kopfende des Tisches in Konferenzraum B im siebzigsten Stock des Worldtalk Buil ding. Es war ein länglicher Tisch in einem länglichen Raum mit den üblichen Wandvertäfelungen aus Holzimitat und einem dicken dunkelbraunen Teppich. Hier gab es nur schwache Spuren der Abnutzung – Flecken auf dem trans parenten Tisch, ein Verblassen der Farbe der Wände und des Teppichs –, unter der solche Räume nach bemerkenswert kurzer Zeit leiden. John Swenson saß zu ihrer Rechten und beobachtete sie, ohne sie direkt anzusehen. Er fand, daß Ellen Mae Crandall eine unerfreulich starke Ähnlichkeit mit ihrem Bruder hatte. Die angenehm maskulinen Züge ihres Bruders wirkten bei ihr grobschlächtig. Sie hatte die dichten Augenbrauen, die tieflie genden, intensiven, schwarzbraunen Augen und das breite, abrupt aufblitzende Grinsen, das eine Klaviatur von perfekten, makellosen Zähnen zeigte, in der alle schwarzen Tasten fehl ten … Swenson lächelte bei dem Gedanken. In der Second Allian ce gab es keine schwarzen Tasten. Aber ein paar Hämmer des Klaviers waren schwarz. Sie benutzen jeden, den sie benutzen mußten. Ellen Mae trug ein schwarzes Kostüm und eine Bluse mit einem weißen Spitzenkragen. Sie sah blaß aus, und ihre Augen lagen noch tiefer in den Höhlen als sonst. Swenson, der sich seiner Jugend und seines guten Ausse
hens bewußt war und beides herunterzuspielen versuchte – das letzte, womit er sich herumschlagen wollte, war von Neid ausgelöster Argwohn –, saß Colonel Watson gegenüber. Wat son war einer jener alterslosen Männer, die ihr Leben weitge hend im Freien verbracht hatten und ebensogut fünfundvier zig wie fünfundsechzig sein konnten. Sein gerötetes Gesicht, das im Verlauf von vierhundert Feldzügen im Rahmen des letztendlich vergeblichen Versuchs, die SWAPO zu unter drücken, von der südafrikanischen Sonne gegerbt worden war, hatte die Resolutheit eines Briten; es war geradezu klas sisch britisch. Seine rauchblauen Augen zuckten nach links und rechts, registrierten Reaktionen, Verhaltensweisen und Kompetenzabstufungen. Swenson hielt ihn für die Nummer Zwei der SA. Neben Watson saß der korpulente, nervöse Sackville-West, der Chef der Inneren Sicherheit. Er atmete geräuschvoll durch den Mund und machte sich Notizen, die er mit einer gewölb ten, teigigen Hand abschirmte, wie ein hochnäsiger Schuljun ge, der seinen Nachbarn verdächtigt, bei den Prüfungen zu schummeln. Der Rest des Tisches wurde von Spengler, Gluckman und Katzikis sowie ihren Sekretärinnen eingenommen. Da der in den Tisch eingebaute Aufzeichnungscomputer Kopien aller Äußerungen lieferte, wurde keine der Sekretärinnen ge braucht; sie saßen nur zur Angabe da, und Swenson beachtete sie nicht. Er war mit den Gedanken bei Ellen Mae. Swenson würde vorsichtig vorgehen, leise und feinfühlig. Nach dem Mordversuch war er einmal überprüft worden, und er hatte es überstanden und war sogar gestärkt daraus hervor gegangen. Aber zwei Überprüfungen würden eine zuviel sein.
Und Sackville-West traute niemandem außer Crandall. Ellen Mae rief die Versammlung zur Ordnung. Sie lächelte und sagte: »Als erster Tagesordnungspunkt möchte ich euch mitteilen, daß Rick nicht mehr auf der Liste der kritischen Fälle steht und daß sein Zustand jetzt nur noch als ernst be zeichnet wird. Dr. Wellington hat mich jedoch informiert, daß sich Rick rasch und gut erholt; er rechnet damit, daß er in zwei Wochen wieder auf den Beinen ist.« Am Tisch erhob sich das erwartete Germurmel erleichterter Freude. Swenson fügte vorsichtig seinen eigenen glücklichen Seufzer hinzu. »Nun, normalerweise« – nur eine Spur von Verschmitztheit in ihrer Stimme, eine Mutti mit einer Weihnachtsüberraschung – »würde ich das einleitende Gebet selbst vorsprechen. Aber heute wird es Rick tun.« Köpfe fuhren hoch. Ein paar Leute aus den unteren Rängen gaben ein besorgtes Murmeln von sich. Swenson wartete mit unbewegtem Gesicht, er ahnte, was nun kommen würde. Ellen Mae tippte auf der Tastatur, die vor ihr in den Tisch eingelassen war, einen kurzen Befehl ein. Ein waferdünner Videoschirm sank summend aus einem Schlitz in der Decke hinter ihr herab. Sie trat beiseite. Es wurde dunkel im Raum; der Bildschirm leuchtete auf. Rick Crandall erschien lächelnd auf dem Schirm. Die Farben waren ein wenig ausgebleicht, und das Bild war an den Rän dern ein bißchen verschwommen. Er sah blaß aus, aber besser, als Swenson erwartet hatte. Make-up? Wahrscheinlich. Cran dall lag von ein paar Kissen gestützt im Krankenhausbett. Ein Infusionsschlauch führte von einem Fach in der Wand zu seinem Arm.
Crandall lächelte. Als Reaktion darauf ging eine Bewegung durch den Raum. Das Lächeln war fast ein Grinsen, aber es war fest und sicher, und jeder von ihnen spürte, wie ihn eine Welle der Beruhi gung überlief. »Guten Morgen, Freunde«, sagte Crandall mit seinem ei gentümlichen weichen Südstaatlerakzent. Er war so weich, daß er fast nicht vorhanden war. »Ich möchte euch allen danken, daß ihr mir in dieser Zeit zur Seite gestanden und die Festung für mich gehalten habt. Ich habe hier einen Bericht« – er machte eine Handbewegung zu etwas außerhalb des Blick winkels der Kamera hin –, »der mich darüber informiert, daß ihr alle treu die Wachtürme bemannt habt. Ich fühle mich schon eine ganze Ecke besser und freue mich darauf, in zwei oder drei Wochen wieder mit euch zusammen an Unser Werk gehen zu können – das heißt, wenn der Arzt nicht doch De mokrat oder Jude ist! Und ich schätze, wenn er das eine ist, ist er auch das andere.« Eine Welle des Gelächters ging durch den Raum. Dieser Rick! »So, wenn ihr mir jetzt bitte …« Swenson sprach es im Geist mit, so oft hatte er es gehört: »›So, wenn ihr mir jetzt bitte eure Aufmerksamkeit für die wichtigste Sache der Welt schenken würdet: Wir wollen ein Gebet sprechen.‹« »… schenken würdet«, sagte Crandall, »wir wollen ein Ge bet sprechen.« Er schloß die Augen und senkte den Kopf ein wenig. Jeder im Konferenzraum tat es ihm gleich. »… Herr, wir flehen zu Dir: Laß uns aus unseren Fehlern
lernen; wir wollen uns so intensiv umeinander kümmern, daß wir es unseren Brüdern nicht erlauben, auch nur einen Mo ment lang an Unserem Werk irre zu werden, welches Dein Werk ist. Gib uns die Kraft, in diesem Moment der Verwund barkeit auszuharren; daß wir den Teufel erkennen, wenn er unter uns ist. Herr, Du hast den Teufel unter uns gesandt, um uns eine strenge Lektion zu erteilen. Du hast mir die Wund male des modernen Christlichen Kriegers geschlagen, um mich zu demütigen und die Größe Unseres Werks zu erhellen; Herr, wir flehen zu Dir …« Das Gebet kam rhythmisch, fast monoton, aber es war kei neswegs dahergeleiert. Es vermittelte Eindringlichkeit, aber es war keineswegs hysterisch. Crandall war verletzt und krank, und dies kostete ihn wahrscheinlich eine Menge Kraft, aber eins mußte man dem Kerl lassen, dachte Swenson, er hatte den Bogen raus. Er konnte vom Krankenhausbett aus eine Predigt hinlegen und einen immer noch bis ins Mark erschauern lassen. Er erklärte Dinge in dem Gebet auf schlichte und endgültige Weise: Der Attentäter war der Mann des Teufels gewesen, so einfach war das. Um zu verhindern, daß so etwas noch einmal geschieht, um ein erneutes Eindringen des Teufels zu verei teln, müssen wir uns und jene in unserer Umgebung prüfen; wir müssen die Sicherheitsmaßnahmen verstärken und einan der wie Falken beobachten. Verräter sind unter uns. Und Crandall hatte Wundmale erwähnt. Ohne es direkt zu sagen – das wäre ein Sakrileg gewesen –, hatte er es geschafft, anzu deuten, daß ihn die Schußverletzung zum Märtyrer gemacht hatte, daß er in gewissem Sinn ein Stellvertreter Jesu Christi war.
Und Swenson wußte, daß sie es ihm abkaufen würden. Das Wort ›Wundmale‹ würde in ihren Köpfen eine Kette von Asso ziationen auslösen, wie Crandall wußte, und früher oder später würden sie ihn zum Messias erklären. Und Swenson dachte: O Scheiße, Devereaux. Oh, zum Teu fel, Steinfeld, Devereaux’ Mission ist total in die Hose gegan gen. Ich hatte ihnen gesagt, sie sollten eine Bombe benutzen. Die Mission hätte ein Selbstmordkommando sein müssen. Ich hab’s ihnen gesagt – eine Bombe. Als das Gebet endete und das Licht wieder anging, sah Swenson, daß Sackville-West ihn mit einem harten Blick beobachtete. Der alte Mann wirkte wie ein inkompetenter Tattergreis, und Swenson hatte sich mehr als einmal gefragt, ob er das mit Absicht vortäuschte, damit seine Feinde ihn unterschätzten. Sackville-West wußte nämlich, was er tat. Und im Moment beobachtete er Swenson, und dieser dachte: Ich bin aus der Rolle gefallen. Steinfeld hat mich gewarnt. Du bist ein Idealist, John, und zu motiviert, um weit vorzudringen. Sie werden es spüren, sie werden es an dir riechen, weil du’s nicht tief genug in dir begraben kannst. Aber Swenson war der Mann für diese Aufgabe gewesen, weil Ellen Mae ihn in ihrer Nähe haben wollte. Also gab es keine andere Möglichkeit. Swenson zwang sich, wieder in seine Rolle zu schlüpfen. Er legte eine Hand vor die Augen, dachte an Crandall und sah ihn als seinen Onkel Harry, den er geliebt hatte und der an Krebs gestorben war. Das Method Acting drückte auf die richtigen Tasten, und ihm kamen die Tränen. Er hörte rasch damit auf. Übertreib’s nicht. Ellen Mae lächelte auf ihn herunter. Sie stand dicht neben ihm; ihre knochige Hüfte preßte sich gegen seinen Arm. Sie
langte nach unten und drückte ihm beruhigend die Schulter. In ihren Augen glitzerten ebenfalls Tränen. »Er kommt wieder. Er ist bald wieder da«, sagte sie leise. »Ich weiß«, sagte Swenson und dachte: Ja. Ja, verdammt, ich weiß. Synchronizität lacht, wenn wir sie sehen und wenn wir sie nicht sehen. Genau in diesem Augenblick sagte Rickenharp: »Ja, ver dammt, ich weiß.« Carmen hatte nämlich eben gesagt: »Was haste denn erwar tet? Es ist nicht leicht, es ist kein Vergnügen und es ist auch nicht romantisch. Ich meine«, fuhr sie fort, »haste gedacht, daß es sowas wie ‘ne Abblende im Fernsehen geben würde, wenn wir uns die Hände reichen, weil wir einverstanden sind, dich mitzuneh men, und dann vielleicht ‘n schnellen Schnitt zur Action, irgend ‘n Straßenkampf, bei dem du den Feind wegpustest, und dann Schnitt zu der Szene, wo du deine Medaillen kriegst? Hm?« »Nee, verdammt, das hab ich nicht erwartet«, knurrte Rik kenharp. »Aber das hier ist doch der letzte Heuler. Ich hatte keine Ahnung, daß es solche Rosteimer überhaupt noch gibt.« Yukio zuckte die Achseln. »Das ist ein typischer maltesi scher Fischtrawler.« Yukio, Willow, Rickenharp und Carmen kauerten elend im Laderaum eines Fischerboots. Eine Laterne schwang mit dem Rollen des knarrenden Bootes hin und her. Irgendwo hinter ihnen ratterte und hustete eine Maschine. Der Laderaum stank
nach verfaultem Fischblut, und Rickenharp wartete immer noch darauf, daß er sich daran gewöhnte, aber es gelang ihm nicht. Jeder Atemzug war ein Kampf mit dem Kotzen. Er fror. Der Laderaum war klamm. Die Wand hinter ihm saugte ihm die Wärme aus dem Leib. Aber wenn er sich in die Mitte oder woandershin setzte, wurde er seekrank. Er hatte sich schon zweimal in der anderen Ecke übergeben, und er wollte nicht mehr so trocken würgen. Von der schaukelnden Laterne wurde ihm übel, aber er wollte auch nicht, daß es dunkel wurde. Seit Stunden saß er nun so zusammengekauert da. Es mußten zwischen fünf und zwölf Stunden sein – wahrschein lich eher fünf –, und es kam ihm wie Tage vor. Er hustete und fühlte sich ein wenig fiebrig. Ich krieg ‘ne Scheiß-Erkältung, dachte er. Aber er hatte sich schon einmal beklagt, und er wollte sich nicht gehenlassen und sich noch einmal beklagen, denn Carmens Ton sagte ihm, daß sie kurz davor war, ihn zu verachten. Und das Schlimmste, der absolute Tiefpunkt war, daß die Drogen alle waren. Sie saßen in einem Boot, das Frankie zum Drogenschmuggeln benutzte, aber es hatte seine Fracht abge liefert und war jetzt leer, und von Carmens Vorrat und Rik kenharps drei Gramm war nichts mehr übrig; anderthalb Gramm waren von einer überschwappenden Welle ruiniert worden, als sie vom Ruderboot an Bord gegangen waren … Den Rest hatten sie aufgebraucht, und jetzt fühlte er sich ausgebrannt und geschwächt, und er balancierte auf einem Drahtseil über den Abgründen seiner privaten Hölle, Abgrün den, die er so gut kannte, wie ein Mann nach sechs Monaten Einzelhaft seine winzige Zelle kennt. Wie lange noch? wollte er fragen.
Ist es noch lange bis Denver, Mami? Dein Vater kann es wirklich nicht mehr hören. Spielt doch Schif feversenken oder irgendwas, Kinder. Das Fieber stieg und wärmte ihn, und er sank in ein ange nehmes Delirium; er fuhr mit seinen Eltern durchs Land, und er konnte fast das Vinyl der Autositze an seiner Wange fühlen … Wir kommen nie da an, jammerte der kleine Junge. »Wir kommen an.« Carmens Stimme, von irgendwoher. »Oder wir gehen unter, und dann macht’s auch nichts mehr.« »Nationalismus ist der Schlüssel zu jeder Nation«, sagte Wat son. »Gerade jener Impuls, der normalerweise dazu dient, Fremdherrschaft auszuschließen, kann den Erfolg von Fremd herrschaft sicherstellen – wenn der Schlüssel innerhalb des Ziellandes betätigt wird.« Watson stand an dem Miniterminal, wo Ellen Mae gestan den hatte; gegenüber von ihm tippte Swenson hin und wieder sein eigenes Handterminal an und gab damit den Hinweis Besondere Hervorhebung ein, wenn Watson Dinge sagte, die von besonderem Interesse waren. Später würde er es an einen Drucker anschließen, und dieser würde die komplette Ab schrift und dann die hervorgehobenen Notizen ausgeben. »Wir haben die Erlaubnis der NATO«, fuhr Watson fort und warf einen Blick auf seine Notizen, »Polizeiorgane in Belgien, Frankreich, Norwegen, Spanien, Griechenland, Italien und sehr bald auch Holland zu installieren. England wird in absehbarer Zukunft weiterhin von der National Front verwal tet werden, aber« – er lächelte – »die Unterscheidung ist über flüssig.« Geschmunzel am Tisch; Swenson lächelte leutselig.
»Bei der Installierung Unseres Werks …« Mit ›Unser Werk‹ war nun die volle Kontrolle über die Länder gemeint, in denen die SA etabliert war. Es bedeutete die Machtübernahme. »…bei der Installierung Unseres Werks in diesen Ländern geht es schlicht um die Nutzbarmachung des Nationalgefühls der jeweiligen Zielnation, eines Gefühls, das überall stärker denn je ist. Im folgenden will ich Ihnen einen kurzen Über blick über das Szenario geben, wobei sich versteht, daß die später noch zu ergänzenden Details sehr wichtig sind: In jedem Zielland herrscht bereits ein verzweifeltes Bedürf nis nach Ordnung. Wie im Libanon im letzten Jahrhundert sind die politischen Kräfte unfähig, selbst im Innern Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten, und haben um Unterstützung von außen gebeten. Da die SA die einzige ausreichend große ›unabhängige‹ Polizeitruppe ist, die außerdem auch noch multinational und im Prinzip ein Unternehmen ohne politi sche Bindungen ist…« Hier hielt er inne, um zu lächeln, und sie durften wieder schmunzeln. »… bekam sie von den Vereinten Nationen den Polizeiver trag für die Zielländer ohne bedeutsame Gegenstimmen. Unsere Truppen waren letzten Freitag um Mitternacht größ tenteils an Ort und Stelle. Paris bleibt eine Ausnahme; der Krieg hat die logistischen Kanäle nach Frankreich hinein stark beeinträchtigt. Die Truppen werden auf dem Luftweg einge flogen, sobald das Neutralitätsabkommen mit der UdSSR unter Dach und Fach ist. Wenn wir erst einmal dort sind, werden die Sowjets schon sehen, wie ›neutral‹ wir nun eigent lich sind…« Watson machte eine Pause für die nächste Runde
höflichen Geschmunzels. Bei Crandall bestand nie die Not wendigkeit für eine solche Höflichkeitsgeste; die Gruppe reagierte ganz von selbst liturgisch und ehrlich auf ihn. Aber Watson war natürlich ein typischer britischer hoher Militär und Langweiler. »… Jede Zielnation hat einen einheimischen Verbindungsmann ernannt, um die Polizeiarbeit zwischen der SA und der Regierung beziehungsweise der provisorischen Regierung des Ziels zu koordinieren. Ich bin stolz, bekanntge ben zu können, daß unser Verbindungsmann in jedem einzel nen Fall vom Advance Services Bureau der SA bestellt worden ist. Es ist einer von uns. Und es ist immer ein Mann, der in der Öffentlichkeit den Ruf genießt, nationalistisch eingestellt zu sein. Unser Mann in Frankreich ist Le Pen, der Enkel des berühmten Gründers der Front National aus dem letzten Jahrhundert. Die allgemeine nationalistische Stimmung ist in Frankreich wie auch in den anderen Ländern infolge des Zustroms von Einwanderern stärker geworden, die den Ein heimischen die Arbeitsplätze wegnehmen und ihnen ihre Wohngegenden entfremden; und wegen des Dritten Welt kriegs selbst, der natürlich nicht gerade dazu beigetragen hat, daß die einfachen Leute ein gutes Verhältnis zu Ausländern entwickeln. Von dieser Stimmung getragen, ist der junge Le Pen nur noch einen Schritt davon entfernt, Präsident zu werden. Unsere Vorgehensweise in Frankreich wird in groben Zü gen die folgende sein: Zunächst werden unsere Truppen dort eintreffen und die Ordnung wiederherstellen. Die Randalierer, die es auf Le bensmittel abgesehen haben, die Plünderer, die Diebesbanden und die diversen Terroristen und radikalen Fraktionen wer
den verhaftet; zumindest werden ihre Aktivitäten stark einge schränkt. Zweitens werden wir alles so arrangieren, daß die Wieder herstellung der Ordnung Le Pen als Verdienst angerechnet wird. Drittens wird eine Informationskampagne die Öffentlich keit davon überzeugen, daß Le Pen die SA-Truppen vollstän dig unter Kontrolle hat und daß die Anwesenheit der Truppen mit dem Triumph des französischen Nationalismus gleichzu setzen ist. Das Problem besteht natürlich darin, daß die mei sten SA-Soldaten Ausländer sein werden. Dieser Widerspruch wird dadurch ausgemerzt, daß wir immer mehr sympathisie rende französische Nationalisten in die SA-Streitkräfte auf nehmen und die Illusion erzeugen, daß die SA das Werkzeug des französischen Volkes ist und vollständig unter dessen Kontrolle steht. Viertens werden französische Truppen, die gründlich in der Denkweise der SA geschult sind, nach und nach die Mann schaften der auf der Straße sichtbaren SA-Truppen ersetzen. Ihre Vorgesetzten werden jedoch letztlich richtige SA-Leute sein. Nun …« Er machte eine dramatische Pause, ließ den Blick über den Tisch schweifen und nahm Blickkontakt mit den Anwesenden auf. »Nun, wenn wir dieser schlichten Formel folgen, und zwar in allen tausendundeinen notwendigen Einzelheiten, werden wir in nicht einmal fünf Jahren jedes einigermaßen wichtige europäische Land beherrschen. Um es klipp und klar zu sagen: Europa wird uns gehören. Und wir werden anfangen, dort aufzuräumen. Die Verschwörung der Zionisten und des KGB, die den halben Kontinent in ihrer
Gewalt hat, und die islamische Verschwörung, die den Rest beherrscht, werden eliminiert werden, und zwar ein für alle mal. Die Lösung ist greifbar nahe.« Hard-Eyes und Jenkins saßen nebeneinander an Schülerpulten aus Stahl und Holz, die aus dem zwanzigsten Jahrhundert stammten. Jenkins gab ein ziemlich klägliches Bild ab. Er war zu groß für das Pult. Hard-Eyes fühlte sich wohl. Er war satt; sie kamen gerade vom Lunch. Das Essen hier war gut, wie Steinfeld versprochen hatte, und das Zimmer war warm; es wurde von einem Ölkessel im Keller der alten Pariser Schule – einer école supérieur – beheizt. Die Lüftungsschlitze gaben träge Wellen warmer Luft und einen leichten Petroleumgeruch von sich, eine Art industrielles Parfüm, das Hard-Eyes irgendwie tröstlich fand. Er hatte es warm und war wohlgenährt. An einem vom Alter dunklen schwarzen Brett an einer Wand hingen Poster aus der Zeit vor zwanzig Jahren, die für irgend einen französischen Kurs in Staatsbürgerkunde auf Franzö sisch die Vorzüge der Demokratie priesen. Während HardEyes Steinfelds langatmigem Vortrag über die Organisation von Guerillazellen lauschte, bearbeitete er entweder seinen rechten Daumennagel, den er am liebsten in die Mangel nahm, oder fuhr mit der anderen Hand nervös die Kerben der ins helle Holz der Pultplatten eingeritzten Initialen ab. Er hatte das Gefühl, am Rande des Abgrunds herumzutaumeln, der seine Zukunft war. »Innere Kader formieren sich zu Zellen von jeweils drei Personen, wobei nur einer der drei mit der Führung oder anderen Zellen in Kontakt steht«, erklärte Steinfeld gerade. »Die Drei-Personen-Zelle ist die Standardformation, die in
klassischen Guerillabewegungen benutzt wurde …« Während er redete, zeichnete er ein Schaubild an die Tafel. Und Hard-Eyes führte seinen inneren Dialog weiter. Sie sind Lügner, dachte er. Alle Geheimdienste beschäftigen Lügner oder machen die bei ihnen Beschäftigten zu Lügnern. Das muß so sein, es ist eine Fähigkeit, die für diese Arbeit unverzichtbar ist. Steinfeld könnte also für jeden arbeiten, auch für den verdammten KGB. Für wen arbeite ich also in Wirklichkeit? Was macht es für einen Unterschied? Du weißt, warum du es tust. Für Essen und Unterkunft und in der Hoffnung, Kon takte zu knüpfen, die dich in die Staaten zurückbringen. Klar, okay, aber die Second Alliance könnte diese ganze Sa che hier finanzieren und lenken, vielleicht als eine Art Desin formationssystem; oder vielleicht verschafft ihnen der An schein eines Widerstands irgendwie die Rechtfertigung, noch mehr Gewalt anzuwenden, was ihre Macht in der Region festigen würde. Waaas? Ist doch hirnrissige Paranoia! Ich meine, also ehrlich. Ja? Man kann gar nicht paranoid genug sein. Und dann zwang er sich, Steinfeld zuzuhören, der über be waffnete und unbewaffnete Propagandateams sprach, die die Herzen und Seelen der Menschen gewinnen sollten. Eine Woche später waren sie auf einem Dach und schauten durch einen dünnen, nebligen Regen auf den Place Clichy. An diesem späten Nachmittag waren keine Autos auf der Place. Als Vorbereitungsmaßnahme für die Demonstration hatte die Polizei den Verkehr um den Platz herumgeleitet; es gab eh
nicht mehr viel Verkehr, weil das Benzin knapp und ein Vier tel aller Straßen in der Stadt wegen der Trümmer unpassierbar war, die der sowjetische Beschuß hinterlassen hatte. Aber der Platz war voll; er quoll über von Menschen jeden Alters und jeden Berufs – aber es waren größtenteils Leute, die zur Mittelschicht oder zur unteren Mittelschicht gehört hatten, sagte Steinfeld. Und über dem alles Weiße. Steinfeld hockte neben Hard-Eyes und Jenkins und dem kleinen Jean-Pierre und Hassan mit dem schwachen Lächeln, der aus Damaskus gekommen war, um bei der Neuen Resi stance mitzumachen. Hassan sagte manchmal, daß die Heilige Moslem-Allianz Truppen schicken würde, um Steinfeld zu helfen, weil die SA bereits angefangen hatte, Pariser Moslems zu registrieren, und weil die Front National alle Moslems aus Frankreich vertreiben wollte … Aber diese islamischen Trup pen kamen nie, und Hard-Eyes vermutete, daß sie sich nicht überwinden konnten, Befehle von einem Juden entgegenzu nehmen. Sie kauerten in einer kleinen Nische zwischen einem Giebel fenster und einem mit Ornamenten geschmückten Balkonge länder – Schmiedeeisen, von dem der Lack abgeblättert war, so daß der Rost durchkam – und schauten an den glitschigen, rinnenförmigen Dachziegeln vorbei auf die Demonstration hinunter, die sich auf der Place Clichy formierte. In der Mitte des Platzes stand eine Statue, aber sie war hinter Flaggen und Plakaten und Transparenten und französischen Fahnen ver borgen. Hunderte von Menschen in der Menge schwenkten kleinere Fahnen; die Oberfläche der Menge war in den franzö sischen Farben gefiedert, als ob die kollektive Wesenheit der Demonstration eine Art Vogel sei, der seine Schwanzfedern
zeigte, um sich anderen von der gleichen Art zu offenbaren. Im Vordergrund stand eine provisorische Holzbühne, etwa zehn Meter breit und zwei Meter hoch, die an diesem Morgen aufgebaut worden war. Darüber spannte sich ein weißes Stoffdach. Und den Hintergrund bildete ein Laken aus dem selben weißen Material, so daß sie den Redner auf der Bühne nicht sehen konnten. Aber sie konnten ihn hören. Seine schwülstigen Worte dröhnten aus der Bühnen-PA und hallten von den Gebäuden um den Platz herum wider. Und sie konn ten seinen Schatten sehen. Das Bühnenlicht warf ihn auf den weißen Bühnenhintergrund und zeichnete seine Konturen so scharf wie in einem japanischen Schattenspiel. Und der Schat ten, den er warf, war überlebensgroß, sechs Meter hoch, ein Schattengoliath, der mit den Armen wedelte und gestikulierte und mit einem zitternden Finger zum Himmel zeigte. Es war der gigantische Schatten von Le Pen, dem Kandidaten der Front National, dem Enkel von Le Pen, der ebenfalls Kandidat der Front National gewesen war … Aber wenn sich die Kriegs lage so weit änderte, daß eine Wahl möglich war, würde dieser Le Pen eine gute Chance haben, gewählt zu werden. Das hatte Steinfeld jedenfalls behauptet… Steinfeld übersetzte die Rede für Hard-Eyes und Jenkins, als sie ihrem dramatischen Höhepunkt zusteuerte. »Er sagt… ›Und jetzt liegt ein großer Teil des Edelsteins von Europa in Schutt und Asche. Wer ist schuld daran? Zweifellos sind die Sowjets dafür verantwortlich. Sie haben den Krieg angefan gen, sind in fremdes Staatsgebiet einmarschiert und haben versucht, Paris einzunehmen! Aber wer hat die Metros sabo tiert, die Kraftwerke in die Luft gejagt und das Hauptquartier der zivilen Verteidigung niedergebrannt? Die Diener der Sowjets, die Sklaven des KGB! Woher kommen sie? Aus der
Dritten Welt, dem mittleren Osten, wo die Sowjets die Macht haben! Die Ausländer, die wir in unserem Land aufgenommen haben und die uns das mit ihrer kulturellen Umweltver schmutzung, mit Spionage und Sabotage gedankt haben. Alles, um den Boden für die Zerstörung unserer Stadt durch die Sowjet union zu bereiten! Die Moslems, die Juden, die schwarzen Kommunisten, die portugiesischen Kommunisten – das Gift! DAS GIFT!‹« Die Menge reagierte mit donnerndem Beifall. »Das glauben die wirklich?« fragte Jenkins ungläubig. »Al les bricht zusammen, und da geben sie den Einwanderern die Schuld?« »Du bist zum Kern ihrer Argumente durchgedrungen«, sag te Steinfeld trocken. Hard-Eyes fragte sich einen Moment lang, ob Steinfeld kor rekt übersetzte. Vielleicht gab er die Worte des Sprechers verzerrt wieder … Aber Hard-Eyes konnte echten Zorn im Fäusteschütteln der Menge erkennen, in der übertrieben energischen Art, wie die Fahnen geschwenkt wurden, in ihren Stimmen, und vor allem in der Haltung dieses riesenhaften Schattens … Und er konnte die Männer von der Vorausabteilung der SA am Rand der Menge und hinter der Bühne sehen, die Arme vor ihrer uniformierten Brust verschränkt … Und er wußte wieder, was die Wahrheit war, als er die Re aktion der SA auf die Gegendemonstration sah, die sich in der Seitenstraße näherte. Die Gegendemonstration bestand aus einem halben Hundert bebrillter Studenten und Algeriern mit dunklen Gesichtern, die skandierten: »Fascisme, non! Fascisme, non!«
»Tapfer und dumm«, murmelte Steinfeld. … als die SA-Leute knüppelschwingend losrannten, um sie abzufangen, und dabei auch Schußwaffen zogen. Zwanzig SABullen in Keilformation krachten in die Gegendemonstration hinein; Gummiknüppel sausten nieder. Die Menge machte kehrt, um ihnen zu folgen. Der Kandidat rief etwas, das im Gebrüll der Menge unterging … Die reguläre Polizei, die genaue Anweisungen für diesen Fall bekommen hatte, hielt ihre Positionen an den Straßenecken … »Wenn ihr scharf hingeschaut habt, habt ihr vielleicht gese hen, daß zwei Teilnehmer der Gegendemonstration kurz vor dem Angriff der SA durch ihre eigene Demo nach hinten abgehauen sind«, sagte Steinfeld. »Sie haben die Gegende monstranten, die ihnen im guten Glauben gefolgt sind, in eine Falle gelockt. Die sind entweder von der SA oder Agenten von Le Pen. Oder beides …« Er fuhr mit der kühlen Objektivität eines Fernsehkommentators fort, der über den Niedergang und Fall von Rom sprach. Und an demselben Tag sammelten sich die Barbaren vor den Toren Roms … »Was ihr da seht, gehört zur ›Strategie der Spannung‹.« »Das war ‘ne Strategie, die von den linken Terroristen an gewendet wurde«, sagte Jenkins. Er hatte sich von dem Tu mult unten auf der Straße abgewandt und zündete sich eine Zigarette an. Hard-Eyes schaute weiter fasziniert bei den Krawallen zu. »Die Propagandisten der extremen Rechten haben den Begriff geprägt und auf die Linke gemünzt, ja. Aber es ist die Rechte, die mit dieser Strategie arbeitet. Terror und Zerrüttung erzeugen eine Atmosphäre der Spannung, mit der die Macht übernahme der Rechten vorbereitet wird. Sie liefern die Be
gründung für die Liquidierung einer ›linken Gefahr‹. Agents provocateurs infiltrieren die Linken, drängen auf terroristische Bombenattentate, fälschen Beweismaterial und belasten die Linke mit ihren ›Geständnissen‹ nach ihren ›Verhaftungen‹. Es hat in Europa früher schon andere Terrorgruppen der extre men Rechten gegeben. Eine davon, die im letzten Jahrhundert von Stefano Delle Chiaie gegründet wurde, ist sehr groß geworden und einfach in der SA aufgegangen. Die war im zwanzigsten Jahrhundert nicht sehr gut organisiert. Sie hatte keinen zentral koordinierten Mitgliederverband, nicht einmal ein Hauptquartier. Sie war im Grunde ein lockerer Freundes kreis von Neofaschisten und Nazis der alten Garde. Manchmal wurde sie von der CIA unterstützt, weil sie glühend antikom munistisch war. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat der ameri kanische Geheimdienst Nazis rekrutiert und geschützt, wißt ihr. Solche, die für ihn wertvoll waren. Diese Nazis haben überlebt und weitergemacht. Sie wurden Mitglieder der locke ren rechten Organisation, die damals in mehrere Fraktionen zerfiel; das hat verhindert, daß sie effektiv arbeitete – bis Crandall kam. Er hat ein Talent dafür, einen gemeinsamen ideologischen Nenner zu finden. Er brachte sie alle unter seinen Fittichen zusammen. Und jetzt sind sie hier und tun ihre Arbeit. Da unten, vor euren Augen …« Als Hard-Eyes auf den Tumult, die Fahnen und die hocher hobenen, blutigen Knüppel hinunterschaute und jetzt auch das dumpfe Krachen von Schüssen hörte, hatte er eine seltsa me Offenbarung. Eine persönliche, innere Offenbarung. Sie war seit Tagen in seinen Geist eingesickert. Er hatte sich ge fragt, warum er das machte, warum er bei Steinfeld blieb. Es gab Gerüchte über eine Route nach Freezone, und von Freezo ne aus konnte man in die Staaten zurück gelangen. Es war
riskant, aber nicht so riskant, wie in Paris zu bleiben. Warum tat er es also? Weil er seine ganze Jugend damit zugebracht hatte, gegen ein Gefühl der Unwirklichkeit anzukämpfen. Gegen ein Ge fühl der Bedeutungslosigkeit, der Vergänglichkeit. Zum Teil lag es am Gitter, dem Mediennetz, das die ganze Welt um spannte. Es formte die vorherrschende Ikonographie, den Hintergrund, mit dem Hard-Eyes aufgewachsen war, das städtische Amerika der Mittelschicht. So wie es vor dem Krieg London und Paris geformt hatte, Tokio, Neu-Delhi, Kapstadt, Rio de Janeiro, Hongkong … Wie es sich zwei Jahrzehnte lang sogar in der UdSSR ausgebreitet hatte. Steinfeld war der Meinung, daß das Gitter – vielleicht auf der Ebene des kollek tiven Unbewußten – der wahre Grund für die Aggression der Sowjets war. Sie hatten Angst vor dem Gitter. Vor den Satelli tenübertragungen, die sämtliche Frequenzen des Gitters wie ein Tuch über die Erde legten, sie einhüllten, einwickelten. Überall in der UdSSR tauchten illegale Satsend-Empfänger auf; der diesbezügliche Schwarzmarkt boomte unkontrollier bar. Die westliche Verführung unterminierte die soziale Dy namik der Sowjetunion, den ganzen sowjetischen Zeitgeist. Sie drohte, die Sowjetunion mit ihren Verlockungen, ihren Ange boten, dem saugenden Mahlstrom der strahlenden westlichen Konsumgesellschaft von innen zu zerfressen. Selbst mitten in der Auflösungsdepression – oder wegen ihr vielleicht sogar fieberhafter denn je. Und Hard-Eyes hatte volles Verständnis für ihre Angst vor dem Gitter. Der Minimono-Star Callais wird eine heiße Nummer. Über Nacht ist sein Bild überall. Er taucht in Videos und Holos auf;
er tanzt und singt im herzergreifend traurigen Minimono-Stil auf T-Shirts und Playbackbrillen und Postern und in Autos und Bussen und Zügen und Flugzeugen und im Radio. Oder jemand versucht einen neuen Kleidungsstil durchzusetzen. Computerdesign für einen per Computerauswertung ermittel ten Subtypus: Westerclothes für das unverwechselbare Rauh bein. Über Nacht wird ein Typ kreiert. Er ist ein WesterclothesMann! Ein gewisser Prozentsatz der Bevölkerung trägt auto matisch Westerclothes und hält sich deshalb für Individuali sten. Politiker arbeiten weiterhin mit der Formel, die in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts konkretisiert wurde: Kandidaten, die wie Schokoriegel vermarktet werden, wie eine Kleider- oder Zigarettenmarke. Was für ein Mensch der Politi ker wirklich ist, welche politischen Ansichten er vertritt, ist nahezu undefinierbar. Worldtalk, das seine Glashautfinger in den Nachrichten und Printouts hat, das die Informationen formt und färbt. Illusionisten im bezahlten Dienst spezieller Interessen. Es gab einen Untergrund in Amerika – aber man wußte nie genau, wer in Wahrheit der Feind war. Die ameri kanische Regierung hatte stets gleichzeitig recht und unrecht. Wer war denn schließlich verantwortlich für die Depression, die Slums und die Blasiertheit, mit der in zunehmendem Maße akzeptiert wurde, daß die USA ein Staat im inneren Belage rungszustand waren, der die Barrikaden mit den wachsenden Legionen gemieteter Cops, herumstreunender Cops und Renta-Cops bemannte, uniformierten Schlägern, die die Reichen vor den Armen schützten? Das Gitter warf einen Schatten auf all das, so daß man es nicht mehr klar erkennen konnte. Propaganda zur Unterstüt zung des Krieges. Sprechweisen, die von Figuren aus Fernseh sendungen populär gemacht wurden. Eingängige Sprüche, die
zielstrebig von den Moderatoren von Fernsehshows erfunden wurden. Von den Medien propagierte intellektuelle Moden, Gesundheitsmoden und Kunstmoden. Moden auf Moden innerhalb von Moden, ausgegossen vom riesigen Füllhorn des Gitters. Alles vergänglich, die sich täglich wandelnde Form des nationalen Selbstbilds. Jeder Mensch auf den Status eines einzigen Pixels in einer Fernsehsendung reduziert. Die senso rische Überlagerung des Gitters. Nichts davon war real. Und jetzt, in diesem Sekundenbruchteil, erkannte HardEyes mit einem blitzartigen Einblick in seinen privaten seeli schen Kosmos, warum er hierbleiben und an Steinfelds Seite kämpfen würde. Weil dies hier … … die knüppelnden SA-Bullen mit ihren Chitinhelmen, die Konfrontation mit dem Raubtier, mit einem klar erkennbaren Bösen, die drohende Gefahr einer Entscheidung mit tödlichem Ausgang … … WEIL DIES HIER REAL WAR! Bonham stand in der Schlange und starrte die plastikverklei dete Metallwand an. Die Piloten nannten die Wände der Kolonie ›Schotten‹, und die genervten Kolonisten nannten die Piloten Schottendeppen. Für Bonham war es eine Wand, und als er auf den Shuttles der NASA gearbeitet hatte, waren die ›Schotten‹ der Schiffe für ihn Wände gewesen. Ihm gefiel weder der NASA-Jargon noch seine Arbeit bei der NASA, und er entschloß sich, nicht mehr außerhalb der Kolonie zu arbei ten. Sie bezahlten ihm nicht genug für solche Risiken. Viel leicht machten die Sowjets den nächsten Schritt und gingen
von der Blockade dazu über, Schiffe abzuschießen, und Bonham hatte nicht die geringste Lust, seinen Arsch einmal im Monat für eine Handvoll Neudollar zu riskieren. In einem Teil von Bonhams Kopf liefen wütende freie Asso ziationen ab; eine Stufe tiefer beobachtete er die Schlange vor dem Hauptladen, verlor allmählich die Geduld und dachte: Da drin gibt’s bestimmt nur noch Schrott, bis ich dran bin. Es muß doch eine Möglichkeit geben, eher reinzukommen. Er sah Caradine und Kalafi in der Schlange im Gang weiter hinten. Er machte das Handzeichen, das besagte: Ich starte gleich eine Widerstandsaktion, seid ihr dabei? Caradine und Kalafi signalisierten ihre Unterstützung. Sie erkannten ihn als Führer an, und das tat gut. Also holte Bonham tief Luft, trat aus der Schlange und mar schierte zum Drehkreuz, ohne den stirnrunzelnden Verkäufer zu beachten. Er drehte sich um, schaute an der Schlange ent lang und rief: »Wollt ihr wissen, was hier in Wahrheit los ist, Leute? Sie benutzen die Blockade als Rechtfertigung dafür, Vorräte zu horten! Aber die Admin-Typen kriegen alles, was sie brauchen! Die einzige Möglichkeit für uns, zu kriegen, was wir brauchen, ist, uns zu nehmen, was wir wollen!« Sie erwiderten seinen Blick ängstlich und mit einer Mi schung aus Gier und Unsicherheit. Aber das Kühlsystem war schon wieder halb hinüber, sie standen hier seit anderthalb Stunden, und die Schlange bewegte sich wie ein sterbender Tausendfüßler voran, und dabei wollten sie doch nur das gottverdammte Klopapier und ihre Proteinbasis-Ration und ihre Kaninchenfleischration und vielleicht etwas gefrorenen Orangensaft… Als Kalafi und Caradine also zu ihm stießen – sie drängel
ten sich alle drei ganz nach vorn durch, schoben sich an dem Verkäufer am Drehkreuz vorbei, holten sich die Einkaufswa gen und begannen den Laden auszuräumen –, folgte die ganze verdammte Schlange ihrem Beispiel. Bonham verspürte eine Woge adrenalingespeister Freude, an vorderster Front der Randale zu stehen … Die Aufrührer jubelten und lachten; ein fieberhaftes Raffen und Grapschen setzte ein, ganze Armvoll Lebensmittel wanderten in ihre Wagen und Taschen; als sie so viel hatten, wie sie tragen konnten, rannten sie an dem Kon trolleur vorbei, traten dabei aus Jux und Dollerei Tische mit Dosen um, nur um sie herumfliegen zu sehen und scheppern zu hören, und jagten dem regulären Wachmann, einem alten Mann in Uniform, einen mordsmäßigen Schrecken ein. Aber irgendwo in Bonhams Kopf tauchte die Frage auf, wo Molt war. Und er horchte auf die verstärkten Stimmen von Sicherheitsbullen. Deshalb verließ er den Laden, sobald sein Wagen voll war, gerade als die guten Sachen allmählich zur Neige gingen, die Menge ihre ausgelassene, kindliche Ferienlaune verlor und eine ernsthaft grimmige Stimmung aufkam. Bonham packte das Beste von seinen Lebensmitteln in eine Schachtel, nahm sie unter den Arm und machte, daß er wegkam, keine dreißig Sekunden, bevor der Sicherheitsdienst da war. Die Kameras schwenkten herum und hielten seinen Abgang im Bild fest. »Schade, daß ihr Paris nie kennengelernt habt«, sagte Besson. Sie saßen in einem Café im achtzehnten Arrondissement am Fenster, Hard-Eyes und Jenkins und Besson. Besson erinnerte Hard-Eyes an Baudelaire. Er hatte den dicken Kopf und diese vernachlässigte Frisur, bei der die Haare fielen, wohin sie
wollten, den verletzten, anklagenden Blick, den bitteren Mund und die abgewetzte, stutzerhafte Eleganz. Er trug einen alt modischen Kammgarnanzug mit Weste und eine Fliege. Eine vergoldete Uhrenkette hing ihm über den dünnen Bauch. Die Uhr selbst hatte er vor einem Jahr verkauft, als die Sowjets die Stadt abgeriegelt hatten und die ersten Hungersnöte wüteten. Seine Schuhe waren an drei Stellen ganz herum überklebt, und er hatte das Klebeband schwarz gefärbt, damit es aussah, als ob es zum Schuh gehörte. An seiner Weste fehlten drei Knöp fe, und er war unrasiert. Unter seinen Nägeln waren schwarze Viertelmonde zu sehen. Aber er war elegant; er war trotzdem elegant. Er rauchte die scheußliche C-Ration-Zigarette herunter, bis sie ihm die gelb verfärbten Finger verbrannte. Dann seufzte er, drückte sie sorgfältig aus und legte den drei Millimeter langen Stummel in eine Prinz-Albert-Dose, die er in einer Tasche seines Jacketts aufbewahrte. »Die Mistkerle von YankeeSoldaten haben mir eine einzige Zigarette gegeben. Nicht mal eine Tafel Schokolade. Ich seh wohl nicht gut genug aus, hm?« Er ließ ein humorloses Lachen hören. Wie aufs Stichwort kam ein Lastwagen voller amerikanischer Soldaten geräuschvoll die Straße entlang. Der Laster wurde von komprimierten Hydratkristallen angetrieben; er zog eine faulig riechende Methanwolke hinter sich her, als der Fahrer herunterschaltete und mit knirschendem Getriebe um die Ecke fuhr. »Die meisten von denen werden morgen weg sein«, sagte Besson, und in seiner Stimme lag kein Bedauern. Jenkins und Hard-Eyes sahen sich um. Hard-Eyes zuckte die Achseln. In Amsterdam hatten sie oft daran gedacht, sich den ameri kanischen Soldaten zu stellen. Aber es hieß, daß sie einen nicht
nach Hause schickten. Sie preßten einen in zivile Arbeits trupps. Oder schlimmer, die befehlshabenden Offiziere waren befugt, einen vom Fleck weg einzuziehen. Aber war das wirklich schlimmer als das, was ihnen hier bevorstand? »Ihr habt Paris nie gesehen«, sagte Besson traurig. Er mach te eine verächtliche Handbewegung zu der müden Stadt um ihn herum. Das Café ging auf eine schmale, gepflasterte Straße unterhalb von Sacré Cœur hinaus. Die Zwiebelkuppel der alten Kathedrale war gerade eben über den roten Ziegeldä chern zu sehen. Der bedeckte Himmel riß in der Brise des späten Nachmittags auf; Propaganda-Flugblätter flatterten im Rinnstein dahin. Die hohen, imposanten Gebäude – schmale, dicht an dicht stehende Häuser aus grauem Stein und roten Ziegeln – hatten leere Augenhöhlen und bargen kein Leben. Die meisten Kamine waren stumm; sie gaben keine Worte aus Rauch von sich. Die Bürgersteige waren von ganzen Abfall halden verschorft, eine Vernachlässigung, die es in Paris vor dem Krieg nie gegeben hatte. Das Café selbst war fast leer. Da es keine Vorräte gab, wurde weder Bier noch Schnaps ausge schenkt, nur dünner Tee und ein paar exorbitant schlechte Weine. Die großen kupfernen Espressopumpen waren leer; die Pariser klagten ebensosehr über den Verlust ihres täglichen Koffeins wie über den Hunger. Der Besitzer hielt sein Café in erster Linie aus Gewohnheit geöffnet. An der Wand standen zwei elektronische Flipper, tot und kalt wie Grabsteine; es gab keinen Strom. Aber die kürzlich angekommenen SA-Techniker hatten die Erdgaspumpen wieder in Gang gebracht. Es gab Gas, um den Tee zu kochen, den Hard-Eyes, Jenkins und Besson an dem von Fliegen verdreckten Fenster schlürften. »Das Café hier quoll um diese Zeit immer von Menschen über«, sagte Besson. »Im Raum nebenan haben sie sich ihre
Salatteller gefüllt und gegessen, und dann kam die Kellnerin und erzählte ihnen, was auf der Tageskarte stand … Sie tran ken Wein dazu und hinterher Café, köstlichen schwarzen Café … Les Halles, ich habe in Les Halles gewohnt. Ich hatte einen Buchladen. Ich kannte euren Steinfeld damals sehr gut. Er kam immer herein, und wir haben uns unterhalten …« In Bessons Augen leuchtete einen Moment lang echte Freude auf. »Und Les Halles – die Touristen waren das Lebenselixier der Ge gend, und es gab Musiker und Jongleure, die den Touristen Geld abknöpften. Die französischen Musiker versuchten, amerikanische Songs zu singen, und die in Paris gestrandeten Amerikaner wagten sich an französische Chansons. Oder Paris in einer Regennacht – du läufst durch fast leere Straßen und bist von der Romantik deines Elends erfüllt. Gerade wenn du den Regen verfluchst, siehst du, wie dir der Lichtschein einer Brasserie entgegenlacht. Da gab es einen Brotverkäufer namens Prochaine. Es hieß, daß er wundervolles Brot buk; sein Brot war so berühmt, daß die Leute zwei Stunden Schlange stan den, um einen Laib von diesem Brot zu kaufen, das es nur in seinem Geschäft gab. Es war ein schweres Brot, nicht dunkel und nicht hell, ein bißchen sauer, aber auch süß, und es war feucht und … kristallin. Compris? Ein sehr schlichtes Brot, und wie es schmeckte, mes amis! Man nahm einen Bissen und hatte den Geschmack eine Stunde lang im Mund. Dieses pain Pro chaine, das war Paris. Vor nur fünf Jahren, meine Freunde … Prochaine ist jetzt tot, und sein Sohn auch; und als die Sowjets die Stadt besetzt hatten, bombardierten die Alliierten ein großes Geschütz in Les Halles, eine Flugabwehrkanone, und jetzt ist das Viertel …« Er hob die Schultern und trank einen Schluck von seinem Tee. »Und jetzt ist die SA hier«, sagte Jenkins.
Auf der anderen Straßenseite brachte ein Mann ein Plakat an. Er zog die Schutzfolie ab und drückte es auf die große graue Steinwand neben der breiten Steintreppe, die terrassen förmig zur Kathedrale hinaufführte. Der Plakatkleber war ein pummeliger Teenager in einem schäbigen Sweatshirt. Seine Haare waren zu einem Flarekno ten auf seinem Kopf hochgezwirbelt, eine Imitation der Vor jahresmode in Amerika; aber die Tönung hätte schon vor sechs Monaten dringend einer Auffrischung bedurft, und er hatte die Form mit Gummibändern erhalten müssen. Besson seufzte. »Warum schickt ihr Amerikaner uns eure albernen Haarmoden herüber?« Hard-Eyes übersetzte sich mühselig den Text auf dem Pla kat. Er lautete: DIE FRONT NATIONAL IST GEKOMMEN, UM DAS FRANZÖSISCHE VOLK ZU RETTEN! ACHTET AUF DIE SOLDATEN DER STRATÉGIE ACTUELLE UND ARBEITET AN IHRER SEITE AM WIEDERAUFBAU VON PARIS! DIE STRATÉGIE ACTUELLE HAT DIE GASVERSORGUNG WIEDERHERGESTELLT! KÄMPFT GEGEN DIE VERSCHWÖRUNG DER AUSLÄNDER!!!!!!!!!! Der Junge ging weiter den Block hinunter, zog die Schutzfo lie von den Plakaten ab, klebte sie an und ließ die glatte brau ne Folie auf dem rissigen Bürgersteig liegen, wo sie sich wie überdimensionale Bleistiftspäne aufrollte. Er brachte drei weitere Plakate an, die alle verschieden und doch gleich wa ren.
Auf dem zweiten stand: WARUM HABEN WIR DEN ZIONISTEN ERLAUBT, PARIS ZU SCHÄNDEN? Das war alles. Auf dem dritten hieß es: PARIS IST EIN GEFÄNGNIS, UND DIE AUSLÄNDER SIND DIE WÄRTER … ABER FRANKREICH HÄLT DEN SCHLÜSSEL IN DER HAND! Ein viertes lautete: NAHRUNG UND FREIHEIT SIND UNTERWEGS! LASST SIE EUCH NICHT VON MOSLEMS, JUDEN ODER LÜGNERN RAUBEN! Jeder Text war auf andersfarbigem Papier gedruckt, immer in einer neuen Schrift. Die Plakate waren alle unterschiedlich groß. Sie hätten fast von verschiedenen Organisationen ange klebt worden sein können. »Wenn’s wieder Strom gibt, werden sie mit der Propaganda im Radio anfangen«, sagte Jenkins. Besson schnaubte. »Wie denn? Die Sowjets haben doch die Kraftwerke gesprengt.« »Ich hab welche draußen beim Südwerk rumhantieren se hen, am Rond Point Victor Hugo«, sagte Jenkins. »Die hatten so ‘nen Empfänger auf ‘nem Laster, ‘nen MikrowellenenergieEmpfänger. Kann sein, daß einer der Energiekollektorsatelliten der SA gehört. Vielleicht strahlen sie’s hier runter. Wird zwar nicht für ‘ne ganze Stadt reichen, aber – sagen wir mal – für ‘n Fünftel der Stadt an zwei Tagen pro Woche. Die Leute werden über alles froh sein, was sie kriegen. Und sie werden wissen, wem sie’s zu verdanken haben …« »Und die SA kann die Versorgung abbrechen, wann sie will. Wenn’s ihnen in den Kram paßt«, ergänzte Hard-Eyes. »Dieses Geschwätz widert mich an«, sagte Besson. »Ihr ent täuscht mich. Ihr sprecht über Politik. Ich dachte, ihr wärt
kultivierte Menschen. Glaubt ihr, wir wären durch Politik in diese Situation gekommen? Nein, meine Freunde. Es war Aggression. Politik ist nur das Schnauben des Stiers, bevor er angreift… Aber ich sehe schon, daß Steinfeld mit euch eine gute Wahl getroffen hat.« Hard-Eyes sah ihn scharf an. Besson lachte. »Ich habe doch recht, nicht? Steinfeld, dieser Bastard, sucht sich Männer aus, von denen er weiß, daß sie die Krankheit ebenfalls bekommen werden. Der heimliche Idea list, hm? Jemand – Jean Francois – hat mal zu mir gesagt: ›Warum sollte ich mit Steinfeld zusammenarbeiten? Er ist ein Ausländer, der vorgibt, für Frankreich zu kämpfen. In seinen Einheiten gibt es Yankees und Briten. Vielleicht gehören sie zur CIA oder zum britischen Geheimdienst… Warum sollten die für uns kämpfen?‹ Aber ich sagte ihm, er sollte an den deutschen Widerstand denken. Ich habe ein Buch gelesen – ich sage euch, in Deutschland haben sich Menschen jeder Couleur am Widerstand gegen die Nazis beteiligt. Ein breites Spek trum, von den Kommunisten bis zu den Konservativen. Auch Ausländer und sogar fanatische deutsche Nationalisten.« »Und warum sind Sie nicht dabei, Besson?« fragte Jenkins. »Weil ich nicht gern bei Paraden mitmarschiere. Auch nicht bei heimlichen Paraden. Ich schaue lieber vom Fenster aus zu. Als meine Frau … starb … da …« Er starrte aus dem Fenster und versuchte den Kummer hinunterzuschlucken. »Dieser Teil von Paris ist jetzt vergiftet. Wir werden nicht die großen Bomben benutzen, haben sie sich geeinigt, hm? Deshalb be nutzen sie die kleinen Atombomben. Wie nennt ihr sie?« »Taktisch«, sagte Hard-Eyes. »Ja. Sie verbrennen nur eine Quadratmeile oder so. Drei
Quadratmeilen am Rand von Paris, eine in der Innenstadt. Vergiftet. Radioaktiv. Es ist also in Ordnung, uns nur ein bißchen zu vergiften, Stück für Stück? Das ist so, als ob man einen Menschen lieber zu Tode foltert, anstatt ihn schnell und sauber zu töten …« Er stand abrupt auf, wobei er seinen Stuhl umwarf, und ging steif in den nebligen Regen hinaus. Hard-Eyes schlang die Arme um seinen Körper. Er fröstelte. »Ist schon verrückt, hier zu sein«, sagte Jenkins. Aber es klang nachdenklich. Es lag keine versteckte Andeutung darin. Deshalb nickte Hard-Eyes. Warum tun wir das? dachte er. Und die Antwort lautete: Damit die Welt eine Bedeutung bekommt. Der Junge kam ins Café und fragte den Besitzer, ob er ein Plakat ins Fenster hängen dürfe. Der Besitzer schüttelte einmal kurz den Kopf und zeigte mit dem Daumen zur Tür. Der Junge machte eine große Show daraus, als er sich die Adresse des Cafés aufschrieb. So weit ist es doch wohl noch nicht, dachte Hard-Eyes, be stimmt noch nicht so bald … Doch als sie am nächsten Tag zum Café kamen, weil sie Besson dort zu finden hofften, vernagelte der Besitzer die Fenster gerade traurig mit Brettern. Jemand hatte die Scheiben eingeschlagen, und an der Wand neben dem kaputten Fenster war in Französisch aufgesprüht: Er kollaboriert mit den Feinden Frankreichs! Also gingen sie schweigend zu dem Hotel zurück, in dem Steinfelds Leute sie untergebracht hatten. Sie kamen an einem Supermarkt vorbei, den man bei den Plünderungen leerge räumt hatte; er war ausgebrannt, und die Plakate hingen überall.
ZWÖLF IM HAUS A DER Second Alliance International Security Corpo ration, gegenüber vom Worldtalk Building in Manhattan, tippte John Swenson eine verschlüsselte Mitteilung an einen Mann namens Purchase in seinen Computer. Er befahl dem Terminal, die Botschaft zu Purchases Terminal zu schicken, über die Straße und vierzig Stockwerke nach oben. Die Mittei lung war eine Botschaft in einer Botschaft an einen Mann, der ein Agent in einem Agenten in einer Agentur war. Botschaft eins teilte Worldtalk mit, daß die Sicherheitsvorplanung der SAISC für den Achten Internationalen Kongreß der Orbitalfa brikanten fertig war. Die zweite Botschaft, die in den Signalen für die erste verborgen war, stammte vom Second Circle der SA, dem Leitungskomitee, und war an Purchase, den SAAgenten, gerichtet. Soweit die SAISC wußte, war Purchase einer von achtzehn Worldtalk-Managern, die eine mehr oder weniger loyale Einstellung zur Second Alliance hatten. Die dritte Botschaft, die sich in der zweiten versteckte, kam von Swenson, dem NR-Agenten, und ging an Purchase, den NRAgenten. Sie enthielt den Hinweis, daß die SAISC Pläne schmiedete, Worldtalk vollständig zu übernehmen – die größte Public Relations-Firma der Welt und vielleicht das mächtigste Propagandawerkzeug, das der Mensch der Ge genwart kannte … Swenson seufzte und fragte sich, ob es gut gewesen war, sie über ein SAISC-Terminal abzuschicken. Wie aufmerksam überwachte Sackville-West alles, was hinausging? So etwas
wie einen nicht zu knackenden Code gab es nicht. Er schaute auf seine Uhr. Ellen Mae müßte jetzt allein in ihrem Büro sein. Er nahm ein Blatt eines Computerausdrucks und ging über den Flur. Ihre Tür stand offen. Er klopfte an den Rahmen und trat ein. »Was haben wir denn hier?« fragte Ellen Mae mit ihrer me lodischsten Stimme, als Swenson den Printout auf ihren Schreibtisch legte. »Das hätten Sie mir doch schicken können«, fügte sie mit einer Kopfbewegung zu dem Terminal auf ihrem Schreibtisch hinzu. Sie lächelte. Sie hatte es gesagt, um ihm seinen Anknüpfungspunkt zu geben. Swenson lächelte weich. »Vielleicht liegt es daran, daß mir jeder Vorwand, Sie persönlich zu sehen …« Er zuckte die Achseln. Sie errötete, bei Gott, sie errötete tatsächlich! Und er fragte sich, ob er zu weit gegangen war. Sie richtete den Blick hastig auf den Bericht. »Oh, die Kolo nie. Kommt das von Praeger?« Sie runzelte die Stirn. »Warum hat er das nicht direkt an mich geschickt?« »Er hat es an den Leiter des Nachrichtendienstes der Kolo nie geschickt – der seit heute morgen meine Wenigkeit ist.« »Oh – das hatte ich vergessen! Ach, da ist so viel, was ich ohne Rick …« Ein Seufzen. Sie spielte jetzt das hilflose Weib chen. Er legte ihr die Hand auf den Arm, befahl sich, die übermä ßig vielen schwarzen Haare zu ignorieren, die dort wuchsen, und sagte: »Er wird bald wieder bei uns sein.« Sie schluckte und wurde nervös, gab jedoch nicht zu erken nen, daß er seine Hand wegnehmen sollte. Purchase hat sie richtig eingeschätzt, dachte Swenson.
Sie überflog den Bericht. »Worum geht es hier?« Er richtete sich auf und steckte die Hände in die Taschen seines Jacketts. »Keine große Sache. Sie kriegen nur kurze Sendungen durch, und in letzter Zeit immer weniger, weil die Sowjets stören … Oh, Rimpler steht möglicherweise so unter Druck, daß er zusammenbricht. Er ist sowieso labil. Er hat breite Unterstützung in der Öffentlichkeit, aber bei den Tech nickis gibt es zwei andere Männer, mit denen Praeger Rimpler ersetzen zu können glaubt. Auf der Ebene der Technickis, natürlich. Rimplers Tochter ist ein Problem …« Sie hörte nicht zu, sondern starrte mit einem unübersehbar künstlichen Ausdruck geradeaus, so als wäre ihr eben etwas Wichtiges eingefallen. »O Mannomann.« O Mannomann? dachte Swenson. Laut sagte er: »Stimmt irgendwas nicht?« »Mir ist gerade klar geworden, daß ich Rick morgen einen umfassenden Bericht über diese Sache abliefern muß. Ich hab ihm gesagt, er soll nicht arbeiten, aber er… na, Sie wissen ja, wie er ist. Man kann ihn nicht davon abhalten. Wenn er im Krankenhaus läge, dann könnten wir ihn vielleicht dazu bewegen, es langsam angehen zu lassen, wissen Sie, da haben die Ärzte eine gewisse Autorität. Aber er ist draußen auf der Cloudy Peak Farm, und er ist genauso, wie Daddy früher war – sobald er auf der Farm ist, ist er der Farmer, und er läßt sich von keinem mehr was sagen!« Swenson schmunzelte und dachte: Vielleicht ist das ewige höfliche Geschmunzel das Schwerste an der ganzen Sache. »Ich hab ihm versprochen, daß er sie kriegen würde – mei ne Analyse, wissen Sie. Aber ich glaube nicht, daß ich’s alleine schaffe, bei all dem anderen…« Sie drehte sich zu ihm um, als
ob ihr gerade eine Idee gekommen wäre. »John, könnten Sie nicht heute abend mit zur Farm rauskommen, was denken Sie? Wir könnten bis in die Nacht arbeiten, so daß ich die Analyse morgen früh fertig hätte.« »Wäre mir eine Ehre«, sagte er, und in gewisser Weise stimmte das auch. Und diesmal verzichtete er bewußt darauf, ihr die Hand auf den Arm zu legen. Es war alles eine Frage des Timings. »Der Sicherheitsdienst wird uns um sechs am Vorderein gang abholen«, sagte sie lebhaft. »Okay?« Gewollt geschäfts mäßig. »Ich werde pünktlich wie die Uhr auf der Matte stehen.« Er wußte, daß sie altmodische Phrasen mochte. Er lächelte ihr zu und ging zu seinem Büro zurück. Und es gelang ihm nicht, einen Anflug von Mitleid mit ihr zu unterdrücken. Als der Helikopter über der Cloudy Peak Farm herunterging, klammerte sich Swenson an den Gurten fest und schloß die Augen. Er hatte nichts gegen das Fliegen; er fürchtete sich nur vor dem Start und der Landung. Es war nicht der Himmel, sondern der Erdboden. Der Erdboden konnte fliegenden Dingen feindlich gesonnen sein. Er zerschmetterte sie, wenn sie nicht aufpaßten. Und er hatte die Farm schon gesehen, als der Helikopter mit dem Anflug begann. Ein Fluß schnitt eine purpurne Schneise durch die vom Mondlicht vereisten Bäume. Eine weite Rasen fläche; die glitzernden Schneckenspuren der beiden Stahlzäu ne. Die Baumgruppe um das Haupthaus und die seitlich davon gelegenen kleineren Häuser für die Bediensteten her um. Das anmutige, verlängerte Komma der Auffahrt von der
Kontrollstelle an der Straße. Es gab ein paar Kühe, einige Schafe und Pferde, aber es war eigentlich keine richtige Farm mehr. Es war »eine Kombination aus einer idyllischen religiö sen Zufluchtsstätte und einem Planungszentrum der Second Alliance«, um Purchases Formulierung zu verwenden … Er spürte eine jähe, Übelkeit erregende Leere in seiner Ma gengrube, die ihm sagte, daß der Kopter in Spiralen nach unten ging. Vor seinem geistigen Auge sah er ihn abstürzen … sah, wie er selbst bei lebendigem Leib in den Trümmern verbrannte … Er spürte, wie ihm der kalte Schweiß auf die Stirn trat, sagte sich inbrünstig: »Das ist doch albern«, und merkte dann, daß er es laut ausgesprochen hatte. Aber das dumpfe Knattern der Rotoren hatte es übertönt. Wenn sie mich jetzt fragen würden, jetzt in dieser Sekunde, wer ich bin und was mein Job ist, dann würde ich es ihnen sagen, dachte er. Ich würde alles ausplaudern. Mein wahrer Name ist John Stisky, und ich bin Geheimagent der NR, einer Organisation, die euch vernichten will, euch alle. Na, was sagt ihr nun? – Weil ihn die Angst verrückt machte, weil sie be wirkte, daß er mit allem herausplatzen, ihnen mehr erzählen wollte, als sie wissen wollten. Ein Geständnis, das gar nicht mehr aufhörte … Tunk. Ein enttäuschtes Winseln, als der Motor abgestellt wurde. Er machte die Augen auf – und zuckte erschrocken zurück. Vor ihm stand ein Mann mit Augen wie ein Falke, einem Zinken von einer Nase und einem Spalt als Mund und sah ihn an, starrte ihn an; er hätte der imaginäre Verneh mungsbeamte sein können. Swenson hätte beinahe gesagt, mein wahrer Name ist John Stisky, und … Und dann sagte Falkengesicht: »Alles in Ordnung mit Ih nen, Sir?«
Swenson sah die mattschwarze Sicherheitsuniform des Mannes, und die Panik verging. Nur ein Sicherheitswachmann der SA. Er stieß die Hände des Mannes von seinem Sicherheitsgurt weg, schnallte sich selbst los und stand auf. Ihm zitterten die Knie; dann fanden sie ihre Kraft wieder. Er holte tief Luft und stieg aus, wobei er unnötigerweise den Kopf unter den lang sam kreisenden Rotorblättern einzog. Er stand in nassem, knöcheltiefem Gras und spürte, wie die Erleichterung über ihn wegspülte. Dann war er wieder John Swenson, ganz in seiner Rolle, als Ellen Mae ihm die Hand auf den Arm legte und ihn zum Haus führte. »Sind Sie in Ordnung, John?« »Mir geht’s gut. Einen Moment lang war mir ein bißchen schwindlig – Schwierigkeiten mit dem Gleichgewichtssinn im Innenohr. Passiert nur, wenn ich zu schnell aus der Höhe runtergehe. Kein Problem.« »Vielleicht ein Glas Wein und was zum Abendessen. Da nach können wir arbeiten.« »Das läßt sich hören.« Sie drückte seinen Arm, erfreut über seinen ungezwunge nen Ton, und er dachte: Ich mache es richtig. Memo von Frank Purchase an Quincy Witcher Betrifft: John Stisky … war von März 1998 bis Juni 2003 Priester der Heiligen Römischen Kirche. Er war der Diözese von Managua in Nicaragua zugeteilt. Innerhalb von drei Wochen nach seiner Ankunft in Managua kam er in Konflikt mit sei nem unmittelbaren Vorgesetzten, Pater Gostello (siehe
beigefügte Abschrift von aufgezeichneten Telefongesprä chen), als er um Urlaub bat, um an einer Demonstration vor der amerikanischen Botschaft teilzunehmen, mit der gegen die Weigerung der amerikanischen Besatzungsar mee protestiert werden sollte, einen Zeitplan für die Wahl einer Regierung in Nicaragua ins Auge zu fassen; Stisky nahm trotz Gostellos Ablehnung an der Demon stration teil. Er wurde im Verlauf von gewalttätigen Aus einandersetzungen festgenommen und lernte im Ge fängnis Pater Encendez kennen. Encendez war von der Kirche viermal wegen nicht genehmigter politischer Ak tivitäten überprüft worden. Er wurde später seines Prie steramtes enthoben (eine versöhnliche Geste gegenüber den amerikanischen Besatzungstruppen), als er einen Ar tikel in einer amerikanischen Zeitung veröffentlichte, in dem behauptet wurde, General Cranston, der Leiter der Nicaraguanischen Besatzungstruppen, »steht mit antise mitischen und antikatholischen Organisationen in Ver bindung und hat in seiner Jugend mehrmals an Ver sammlungen des Ku Klux Klan teilgenommen … hat als junger Lieutenant möglicherweise daran mitgewirkt, Na ziverbrechern bei der Flucht vor einem Ermittlerteam von Interpol zu helfen …« Encendez setzte seine Tätig keit als Organisator nach der Amtsenthebung fort und wurde im April 2003 erschossen in einem schlammigen Graben zehn Meilen südlich von Managua aufgefunden. Stisky drängte auf eine Untersuchung und beschuldigte Cranston, geschäftliche Verbindungen mit der Second Alliance Corporation zu haben, was ihn der Einflußnah me durch bestimmte Interessen ausliefere. Crandalls Kir che hatte bereits mit ihren Rekrutierungen in Managua
begonnen. Es war die einzige amerikanische Kirchenor ganisation, die sich dort ungehindert betätigen konnte. Stisky wies darauf hin, daß Cranston Mitglied dieser Kir che war, und verlangte seine Abberufung. In der Folge wurde er aus dem Priesteramt verstoßen … Es gibt keine schlüssigen Beweise für eine homosexuelle Beziehung zwischen Stisky und Encendez, aber Stiskys Collegeun terlagen zeigen, daß er vier Monate lang Mitglied der Bi sexuellen-Liga an der Universität von New York war… Er verließ die Universität 1994, um ins Seminar einzutre ten … Stiskys Vater war Jude und seine Mutter Halbjü din, aber die Eltern waren beide Atheisten und Konzept künstler. Seine Hinwendung zur Kirche könnte vielleicht als intellektuelle Rebellion gegen die Philosophie seiner Eltern und ihren chaotischen Lebensstil betrachtet wer den … Seine Beziehungen zu Frauen sind typischerweise kurz und heftig … Im Juli 2003 begab er sich nach einem Nervenzusammenbruch in psychiatrische Behandlung und verbrachte zwei Monate im Fairweather Rehabilita tion Center … Seine Instabilität ist ein zweischneidiges Schwert. Sie hängt mit seiner extremen Motivation – sein Haß auf die SA ist mit der stärkste, dem ich je begegnet bin – und seiner Neigung zusammen, in quasi pathologische Subcharaktere zu schlüpfen. Letztere Nei gung ist, wenn sie ausgebildet wird, bei einer verdeckten Operation eindeutig von Nutzen, erhöht jedoch seine Unberechenbarkeit. Stisky ist im Grunde ein begabter Amateur. Trotzdem zeigte Ellen Mae Crandall bei ihrer zufälligen Begegnung am 6. August letzten Jahres ein ausgeprägtes Interesse an ihm, das …
»Ich glaube, wir könnten das ganze Problem in drei Schritten lösen«, erklärte Claire ihrem Vater. Sie saßen im Wohnzimmer von Professor Rimplers Wohnung. Rimpler kauerte in sich zusammengesunken auf der anderen Seite des programmier ten Höckers im Boden, den er als Kaffeetisch benutzte. Auf dem Höckertisch stand ein Tablett mit Schnaps in Kristallka raffen; die Wände waren auf Hellgrün eingestellt, und das Licht war so justiert, daß es dem indirekten Einfall von Son nenlicht durch das Geäst im Wald ähnelte. Claire saß in einem Konturschaumsessel; ihre Hände umklammerten ihre Knie, und sie beobachtete ihren Vater mit wachsender Sorge und dachte: Er geht aus dem Leim. »Der erste Schritt«, fuhr sie in dem verzweifelten Versuch fort, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, »ist ein Gespräch mit diesem Molt. Er war einer ihrer obersten Organisatoren. Wir können ihn davon überzeugen, daß wir auf seiner Seite sind. Zweitens lassen wir ihn frei, und er geht zu den Technickis und spricht für uns. Drittens machen wir ein paar Zugeständnisse, um unseren guten Willen zu zeigen. Wir entlassen die Plünderer aus der Haft und nehmen eine doppelte Überprüfung der Feldstärke um die Technicki-Wohnbereiche herum vor, um sicherzustel len, daß sie keine zusätzliche Strahlung abbekommen. Ich meine, warum nicht? Die ganze Sache wird sich entspannen …« »Wie kommst du auf die Idee, daß wir auf deren Seite sind?« Sie sah ihn schockiert an. »Was?« »Du hast mich schon verstanden. Ja, die Technickis werden in der Tat in gewissem Maße diskriminiert. Und ich will dir noch was sagen: Praeger und seine Leute haben dafür gesorgt,
daß Schwarze, Juden und Moslems bei Admin nicht mehr befördert werden. Ich weiß mit Sicherheit, daß er vorhat, Admin unter dem einen oder anderen Vorwand vollständig von ihnen zu säubern, wenn die Blockade aufgehoben wird. Da hast du deine Diskriminierung. Aber wir haben nicht den Mumm, das laut zu sagen; wenn Praeger stürzt, sind wir nämlich erledigt. So weit ist es schon.« Seine Stimme war müde und zynisch. Er schenkte sich einen Tequila ein, gab Limonensaft und Grenadine dazu, trank dann die Hälfte und starrte trübe ins Leere. »Das Ozymandias-Prinzip«, sagte er in erster Linie zu sich selbst. »Je größer das Unternehmen ist, desto lächerlicher sieht man aus, wenn man erkennt, daß alles umsonst war, wenn die Entropie einen Witz daraus macht…« Claire stand auf und setzte sich neben ihren Vater. Er sank noch mehr in sich zusammen. Er hatte nur weiße Shorts an, die allmählich gelb wurden; sein Hemd mit Knöpfen war oben offen und gab den Blick frei auf die Stahlwolle seiner Brust haare – und Striemen. Er roch sauer. Sein Blick war nur auf seinen Drink gerichtet. Er hob das Glas ins Licht; das mit Perlen verzierte Kristallglas wurde von einem smaragdgrünen Strahl durchbohrt. Sie legte ihm einen Arm um die Schultern. Sie fühlten sich dünn und knochig an. Er wich vor ihrer Berührung zurück, und sie ließ den Arm sinken. »Dad«, sagte sie in der Parodie eines Lehrervortrags, »wenn ein kleiner Meteor die Außenhül le der Kolonie durchschlägt, wird das Leck mit der RimplerLegierung versiegelt. Eine Schicht der Rimpler-Legierung durchzieht die gesamte Hülle. Wenn die Legierung bei zwei undneunzig Grad gehalten wird, ist sie flüssig; wenn die Kälte des Weltraums eindringt, erstarrt sie sofort. Sie füllt das Loch und stellt die luftdichte Integrität wieder her. Diesen kleinen
Vortrag halte ich den Kindern, wenn ich mit ihnen einen Ausflug zur Observationsstation in der Hülle mache. Professor Rimpler hat diese Legierung erfunden, erkläre ich ihnen, er hat diese Heimat im Weltraum entworfen und bemüht sich fortwährend, alles für sie zu verbessern. Aber wenn hier ein Bürgerkrieg ausbricht, Dad, dann gibt es keine Legierung, die den Riß wieder kittet. Wir müssen ihn kitten. Und sie erwarten von dir, daß du das tust. Sie brauchen deine Legierung. Du mußt im Fernsehen zu ihnen sprechen. Du mußt die Löcher für sie stopfen.« Er drückte das kalte Glas an seine Stirn. »Wenn du Molt da zu bringst, uns zu helfen«, sagte er tonlos. »Aber rechne nicht damit. Sie sind vor einer Stunde runtergegangen, um ihn zu verhören.« Sie stand auf und trat von ihm zurück. Sie sah ihn scharf an und versuchte, aus ihm schlau zu werden. »Woher weißt du das alles, Dad? Praegers ›rassische Säuberung‹ … ihre Pläne mit Molt…« Er machte eine vage Geste zur Konsole. »Als ich das Kom munikationssystem entwarf, habe ich ein paar … ah … Schutzvorrichtungen eingebaut. Ich kann Praegers Anweisun gen mithören. Sie werden alle automatisch zu mir durchge stellt; ich habe auch seinen Code.« Er zuckte die Achseln. »Wenn du Molt rausholst, spreche ich zu den Technickis. Aber das tu ich nur für dich. Nicht, weil ich mir was aus ihnen mache. Die sind ein Haufen E. coli-Bakterien im Bauch der Bestie.« Claire drehte sich um und sprach zur Türfüllung; diese glitt beiseite, und sie ging über den Flur zu ihrer Wohnung. Dort schlüpfte sie in den Overall, der sie als Mitglied des Admin
Leitungskomitees auswies, und heftete sich ihren Sicherheits paß an den Kragen. Sie mußte wie eine Autoritätsperson aussehen. Dann fuhr sie mit dem Privataufzug ihres Vaters drei Ebenen zur Verwaltung hinauf. Das gesamte Stockwerk unterhalb von Admin galt als Sicherheitsebene – wie ein Burggraben. Als der Lift anhielt, leuchteten auf einem Feld über der Tür in Rot die Worte SICHERHEITSBEREICH. ZUTRITT NUR MIT PASS auf. Ihre Handflächen waren feucht. Sie wischte sie sich an den Hüften ab und redete sich ein: »Du hast hier das Sagen.« Die Tür öffnete sich, und sie trat auf den Flur hinaus. Eine Kamera war auf sie gerichtet. Claire hielt ihren Paß hoch, damit sie ihn sehen konnte. Nichts hielt sie auf, als sie den Flur entlangging. Bei den Glastüren zögerte sie. Jemand hatte FROHE FERIEN und einen Haufen Palmenblätter mit einer Schablone auf die Scheiben gesprüht, und ihr fiel wieder ein, daß dem nächst Weihnachten war. Bald würden sie den großen künstli chen Baum im Freigelände aufstellen. Aber nein, dafür hatte es zu viel Vandalismus gegeben. Die Technicki-Vandalen wür den ihn völlig zerstören. Sie ging durch die Tür. Der junge Mann hinter dem Glas sinpult lächelte zu ihr hoch. Vier kleine Fernsehmonitore rechts von ihm zeigten alle vier Zugangskorridore zum Si cherheitsbereich. Eigentlich brauchte er sie gar nicht im Auge zu behalten; das machten die Computer schon allein, und zwar sehr effektiv. Aber wo es möglich war, hatte ihr Vater dafür gesorgt, daß ein Mensch die kybernetischen Funktionen überwachte. Die anderen Ingenieure hatten zu verstehen gegeben, daß dieses Arrangement mit einem Menschen im
Hintergrund irrational, ja sogar exzentrisch sei. Aber alle machten ihre Schichten, und sie fragte sich, ob er es so geplant hatte, weil es beruhigend wirkte und das Gefühl vermittelte, mit eigener Hand an allen Funktionen der Kolonie beteiligt zu sein. Wenn man etwas selbst bediente, fühlte man sich als Besitzer. Man kümmerte sich mehr darum. Der junge Mann in der mattschwarzen SAISC-Uniform hör te nicht auf zu lächeln, als er fragte: »Was kann ich für Sie tun, Miss Rimpler?« Er hatte ein hübsches Gesicht, fast effeminiert wie ein Homosexueller, aber seine Hand lag auf dem Pult in Reichweite der Ruftaste. Claire und ihr Vater waren bei einer UNIC-Konferenz in Denver gewesen, als Praeger den Sicher heitsdienst auf Vordermann gebracht hatte. Bei ihrer Rückkehr stellten sie fest, daß Leute von der Second Alliance Internatio nal Security Corporation überall neue Überwachungsgeräte und Postenteams installierten; die düsteren grauschwarzen Uniformen waren nun an jeder Verbindungsstelle der Korri dore zu sehen. Der ganze Verein kam ihr zu geheimnisvoll vor; sie fand ihn fast schon kultisch. »Ich brauche vier Mann als Eskorte für einen Häftling aus dem Gefängnis«, sagte sie und bemühte sich, selbstbewußt zu klingen. »Samson Molt.« Das Lächeln des Portiers gefror. »Mal sehen, was ich tun kann …« Er drehte sich zum Ter minal um und tippte eine Telefonnummer ein; ein Gesicht erschien auf dem Schirm. Claire konnte es aus diesem Winkel nicht genau sehen, glaubte aber, daß es das von Parker war. Der Portier wandte sich an die höchste Stelle; das kam ihr ungewöhnlich vor. »Miss Rimpler ist hier. Sie bittet um Er
laubnis, einen Häftling besuchen zu dürfen, Samson Molt…« »Um ihn hier herauszubringen«, fiel ihm Claire ins Wort. »Ich möchte die Verantwortung für ihn übernehmen. Er soll in meine Obhut überstellt werden. Ich brauche ein paar Leute, die mir helfen …« Wie sein Gesicht auf dem Schirm war auch Parkers Stimme zu flach, zu unaufrichtig. »Die Situation ist gefährlich instabil. Molts Entlassung wür de den Informationen widersprechen, die wir der Öffentlich keit schon gegeben haben. Wir mußten mehrmals versichern, daß wir nicht wissen, wo er ist…« »Das glaubt doch sowieso keiner!« »Tut mir leid, Claire, aber wenn Sie ein formelles Überstel lungsersuchen einreichen wollen, werden wir es bearbeiten und uns bemühen, Ihnen innerhalb von zwei bis drei Wochen eine Antwort zu geben.« »Das ist ja lächerlich, Parker. Ich möchte Sie unter vier Au gen sprechen.« Aber der Schirm wurde dunkel. »Tut mir leid«, sagte der Portier. Das Lächeln war jetzt vollkommen verschwunden. »Er ist gerade unterwegs. Wenn Sie einen Termin …« Sie drehte sich um und ging hinaus, ohne es richtig zu merken. Es war, als ob sie von etwas weggeschwemmt und in den Fahrstuhl gespült würde, und erst als sie bei Central Telecast war und Judy in der Kantine gefunden hatte, nahm sie wieder Notiz von ihrer Umgebung. Claire sah sich zwinkernd um, seufzte dann und ließ sich auf den rissigen blauen Plastikstuhl gegenüber von Judy Assavickian sinken. Judy war klein; sie hatte fast völlig
schwarze Augen und hüftlanges, lockiges schwarzes Haar, das für die Arbeit zu einem Zopf geflochten war, der über eine Schulter fiel und vor ihrem weißgoldenen Kostüm herunter baumelte. Judy mochte Sachen in Weiß und Gold; ihre Ohr ringe bestanden aus Elfenbein an goldenen Drähten. Direkt über den Mundwinkeln und den blassen Lippen war die Andeutung eines Schnurrbarts, aber es war nicht viel mehr als ein Schatten. Sie war eine attraktive Frau, attraktiv und stark. Claire und sie hatten eine kurze Affäre miteinander gehabt, dann hatte Claire achselzuckend gesagt: »Ich schätze, ich bin eben heterosexuell.« Jetzt waren sie Freunde, aber wenn im Gesprächsverlauf gewisse Themen aufkamen, wurde Judys Ton ätzend. Der Raum war zu hell erleuchtet, wie das bei Cafeterias schon immer der Fall war; die in die Wände eingebauten Verkaufsautomaten summten, und das eingeschweißte Essen mit den Vitamininjektionen hinter dem Glas sah in diesem Licht wie Wachsimitationen aus. »Du siehst genervt aus«, sagte Judy. »Und wie.« Claire erzählte ihr, was am Sicherheitsposten des Zentrums passiert war. »Vor zwei Jahren wäre sowas unerhört gewesen. Damals haben die Leute für meinen Vater gearbeitet – für die Kolonie. Aber jetzt…« Judy nickte langsam. Ihr Blick war nach innen gerichtet. »Die SAISC wird geholt, wo es ein Machtvakuum gibt. Wo jemand vorhat, das Vakuum zusammen mit ihr zu füllen.« Sie sah Claire an. »Ich hab mit einer Frau gesprochen, der Mutter eines Jungen, den sie festgenommen haben. Sie hat den Jungen seit einem Monat nicht mehr gesehen. Sie wollen ihr keine Besuchserlaubnis geben. Sie glaubt, daß da irgendwas faul ist.
Daß sie ihm was angetan haben. Vielleicht ist er tot. Sie haben ihm drei Hiebe mit einem RU-Knüppel verpaßt. Er war drei zehn Jahre alt.« »Was ist ein RU-Knüppel?« »Rückschlags-Umsteuerung. Der Rückschlag, den man normalerweise spürt, wenn man auf irgendwas draufhaut, die kinetische Energie, wird einen Sekundenbruchteil später wieder zur Aufschlagstelle zurückgeleitet. Es ist so, als ob dich der Knüppel zweimal trifft, wenn sie dich nur einmal damit schlagen. Der Kerl, der ihn benutzt, kann nicht beurteilen, wieviel Kraft er eingesetzt hat…« »Lieber Himmel. Wann hast du mit ihr gesprochen?« »Vor zwei Tagen. Wir haben Material für eine Story darüber gesammelt, aber ich bin nicht sicher, ob wir die Genehmigung kriegen.« Sie hob die Schultern. »Es läuft darauf hinaus, Claire, daß UNIC deinem Vater alles aus der Hand nimmt.« Claire sagte: »Ich glaube nicht, daß es das ist … Äh, ich glaube nicht, daß die Dinge …« Sie zuckte die Achseln und schüttelte gleichzeitig den Kopf. »Du willst rein und Molt besuchen?« Claire nickte. »Und du willst, daß ich dir helfe?« Claire nickte wieder und sah Judy an. Die Bitterkeit war da. Judys Ton besagte: Ich habe früher schon versucht, dich darauf hinzuweisen. Du hättest mir vertrauen und auf mich hören sollen. Hättest bei mir bleiben sollen. Judy stand auf. »Dann mal los! Gehen wir meinen Kursus holen.«
Sie waren zu viert, Judy, Angie, Belle und Kris. Belle und Kris waren Schwestern, beide hochgewachsen und schwarz. Angie war Schwedin, blond und blauäugig, mit einem ewig wüten den Gesicht; sie war eine stämmige, grobknochige Frau mit hohen Brüsten, die gut in eins der nationalsozialistischen Gemälde mit arischen Bauern aus dem letzten Jahrhundert gepaßt hätte. Aber Angie, Judys Lehrerin, war eine überzeugte Marxistin. Sie waren Admins und hatten Standard-Englisch gelernt. Aber sie sympathisierten stark mit der Sache der Technickis. Sie trugen schwarze Trainingsanzüge, Fechtmasken und einen gerippten Brustschutz. Sie sahen wie Schiedsrichterin nen beim Damenbaseball aus, dachte Claire. Nur daß Angie und Judy Nuchakos dabeihatten. Angie hatte Claire immer mit einer gewissen Geringschät zung angesehen, als wollte sie sagen ›Deine Zeit kommt auch noch‹; als Claire jetzt die Führung übernahm, zog sie ihre Maske herunter, nur damit Angie diesen Ausdruck sah. »Ich gehe zuerst rein«, sagte Claire. »Ich lasse die Tür offen. Wenn ihr mich schreien hört, dann kommt schnell!« Judy schüttelte vehement den Kopf. »Ich finde, wir sollten lieber gleich mit dir zusammen reingehen.« »Ich will sie nicht provozieren. Es ist besser, wenn ich Molt durch reine Autorität rausbekomme. Wenn’s nicht klappt, hört ihr von mir …« Sie tippte auf den Komm-Knopf an ihrem Kragen. Mit einem leichten Schwindelgefühl wandte sie sich zur Tür. Das ist dünne Luft für mich, dachte sie. Gottverdammt, Dad, wenn du hier wärst…
Sie nahm den Codeschlüssel aus ihrer Tasche und schaute auf den Koordinationsindikator: Ebene 03, Korridor C13. Nahe bei der Außenhülle. Als sie das sah, fühlte sie sich schwerer; am äußeren Rand der Kolonie war die Gravitation ein wenig höher. Der Codeschlüssel sah wie eine kleine Handfeuerwaffe mit einer Kristallmündung aus; sie stellte die beiden Regler auf der Rückseite des Schlüssels auf 03 und C13 ein. Dann drückte sie den Codeschlüssel an das Schließfeld. Tür und Schlüssel traten in Kontakt miteinander, und die Tür ging auf. Sie rechnete damit, auf der anderen Seite einen Wachmann zu sehen, aber es war niemand da. Zwölf Meter weiter vorn versperrte ihr ein dünnes, transparentes Wandsegment aus Plastik den Weg. Sie wußte jedoch, was das war: eine der Sicherheitsvorkehrungen ihres Vaters. Und sie war vorbereitet hergekommen. Sie stellte den Codeschlüssel ein und drückte ihn an die Trennwand. Ein kleiner roter Pfeil, der nach oben zeigte, leuchtete am unteren Regler auf. Sie preßte den Schlüssel weiter fest an die Wand und bewegte ihn nach oben; er klin gelte. Sie hielt den Schlüssel ganz still und stellte ihn auf ÖFFNEN. Der Codeschlüssel trat mit dem Regulator auf der anderen Seite der Trennwand aus Plastik in Kontakt, und sie glitt nach oben. Sie ging mit klopfendem Herzen weiter und fühlte sich wie eine Einbrecherin. Auf der rechten Seite stand eine Tür offen. Aus dem Innern des Raums hörte sie einen einzelnen langgezogenen Ton, und einen Moment später identifizierte sie ihn als den Laut einer menschlichen Kehle: ein hoher flötenartiger Ton, der von
Angst in Verzweiflung umschlug – und dann abrupt abbrach. Und dann eine Stimme, die Stimme eines anderen: »Das Einfachste wäre gewesen, einen neurohumoralen Extraktor raufzubringen und alles direkt rauszuholen.« »Parker hatte einen angefordert, Doc.« Eine andere Stimme. »Aber man kriegt nichts durch die Blockade, und die Dinger sind sowieso schwer zu beschaffen. Absolut illegal. Gibt Schwierigkeiten mit dem Zoll.« »Sind die jetzt illegal? Ich bin schon zu lange hier oben. Das wußte ich gar nicht.« Sie zwang sich zu der offenen Tür zu gehen und hineinzu schauen. Es waren drei, die so aussahen. Gesichtlos, mit Helmen. Und der Horror ihrer gesichtslosen Köpfe war ein dreifacher: Einer hätte sie nervös gemacht, aber drei ließen ihren Willen zer splittern. Die Helme auf ihren Köpfen verbargen ihre Gesich ter hinter undurchsichtigen blaugrünen Sichtscheiben. Sie sahen wie Dinge aus Chitin aus. Und sie dachte, ›Sicherheits bullen‹ ist falsch; es sind Insekten, Insekten in Menschengröße. Sie waren über den Mann gebeugt, der ans Bett geschnallt war. Molt. Sie sah, was sie mit ihm gemacht hatten, und biß sich auf die Lippe. Auf einer Seite machte ein weißhaariger Arzt im weißen Kittel ein etwas verdrossenes Gesicht, als er von seinen Instrumenten zu ihr aufschaute. Wie etwas, das beim Fressen erschreckt worden war. Sie trat zurück, drehte sich um, preßte sich an die Korri dorwand neben der Tür und hörte auf zu denken. Sie rief in ihren Komm-Knopf. Sie hörte Schritte in der Zelle, und eine Helmstimme sagte: »… keine Ahnung, aber wir werden’s garantiert rausfinden.«
Sie starrte an die andere Wand und erinnerte sich an eine Zeit, als sie ein kleines Mädchen gewesen und bei ihren Eltern ins Zimmer geplatzt war, und ihr Dad war von oben bis unten mit dünnen weißen Seilen verschnürt gewesen, und ihre Mutter stand mit einer Peitsche über ihm, und Daddys Gesicht war völlig zerschlagen, und da sie das Sexspiel nicht verstand, hatte sie gedacht: Wenn Mommy das mit Daddy machen kann, dann könnte sie mir auch weh tun. Es hatte ihr Weltbild auf den Kopf gestellt. Und jetzt fühlte sie sich genauso. Die Kolonie war für sie etwas Mütterliches, und jetzt tat die Kolonie ohne jeden Grund ihren Kindern weh. Ein jäher, grausamer Schmerz in Claires rechter Schulter; sie drehte den Kopf und sah, wie das leere Chitingesicht ihr Spiegelbild verzerrte. Der Schmerz kam von seiner Hand, die sie festhielt. Sie sah eine Insektenklaue vor sich, die sich in ihre Schulter krallte, und stieß einen Schrei aus; und dann kam der behelmte Kopf hoch und schaute an ihr vorbei, und wie durch Zauberei bekam der Panzer in der Mitte einen Sprung. Angie war gekommen. Ihr Nunchako blitzte erneut auf, und Angie ließ ihm einen Karatetritt folgen. Der Mann taumelte zurück und ließ Claires Arm los. Die anderen Frauen kamen heran, als der zweite und der dritte der behelmten Wachleute aus der Tür traten und ihre elektrischen Betäubungsstäbe schwangen. Aber Judy stieß Claire aus dem Weg; Claire fiel nach hinten, und im Fallen sah sie etwas Seltsames: Judy und Kris schlugen mit der flachen Hand zart auf die Rückseite der Chitinhelme. Es sah auf seltsame Weise wie eine jener hilflos-weiblichen Gesten aus, die sie verabscheuten. Dann schlug Claire auf den Boden. Sie blieb einen Moment lang still liegen und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Dann setzte sie sich auf und machte große Augen: Die Bullen schlugen selbst die Hände
auf die Köpfe; sie schrien, wanden sich auf Händen und Knien und versuchten ihre Helme herunterzureißen. Judy und Kris hatten mit den damenhaft wirkenden Klapsen Hochfrequenz heuler an den Helmen befestigt. Schmerz verursachende Klangwellen hallten im Innern der Helme wider. Dann standen Judy, Angie und Kris um die zu Boden ge gangenen Männer herum und bearbeiteten sie mit ihren Nun chakos, ließen die Knüppel mit den Ketten daran auf die ungeschützten Stellen zwischen den Panzersegmenten in den mattschwarzen Uniformen niedersausen. Als sie in ihren Fechtmasken und dem Brustschutz mechanisch mit den Nun chakos zuschlugen, sahen die Frauen ebenso unmenschlich aus wie die Sicherheitsbullen. Jetzt brüllte sie einfach: »Hört auf hört auf hört auf!« Dann schaute Angie durch das Fliegenaugengitter der Fechtmaske auf sie herunter. »Was hast du da vorhin über deine ›reine Autorität‹ gesagt?« fragte sie. »Halt den Mund, Angie!« sagte Judy. Sie half Claire auf die Beine, und Claire zwang sich, hineinzugehen und ihnen zu helfen, Molt vom Bett loszumachen. Sie sah die bewußtlosen Männer am Boden nicht an. Molt sah sie, als sie den Raum betraten, und schrie. Er zerrte an seinen Fesseln und versuchte, von ihnen wegzukommen.
DREIZEHN Es WÄRE EIN ECHTER FEHLER, Ellen Mae Crandall zu unter schätzen, sagte sich Swenson, während er zusah, wie sie über Satvid mit dem Rekrutierungsstab der SA in Los Angeles sprach. Sie spielt gern das schüchterne Pflänzchen, Nimm mich-in-deine-starken-Arme, aber das ist vielleicht nur ein Spiel für sie, ein nachempfundenes Erlebnis, fast wie die Lektüre eines Liebesromans. Aber vielleicht stimmt das auch nicht. Vielleicht ist es echt, wenn sie sich verändert, wenn sie weich und nachgiebig wird. Vielleicht ist sie beides. »Stellen Sie nur wirklich hundertprozentig sicher, daß es eine klare Trennung der Überwachungsaktivitäten zwischen den ersten beiden Stufen und der dritten gibt. Im Bilde sein ist der Dreh- und Angelpunkt der Organisation«, erklärte sie dem Mann auf dem Schirm. Swenson hockte über dem Bericht, der auf dem langen Holztisch verteilt war, und schaute erneut zu dem Kreuz aus rostfreiem Stahl auf dem antiken Schrank an der gegenüber liegenden Wand hinauf. Seine Augen wurden immer wieder davon angezogen, und er wußte, daß das gefährlich war. Das Ding saugt an mir, bis ich aus meiner Rolle falle, dachte er. Und zu Stisky werde. Er hatte halbwegs damit gerechnet, Hakenkreuze an den Wänden der Cloudy Peak Farm zu finden. Porträts von Hitler. Irgendwas. Aber da war nur das kleine Eiserne Kreuz, das
kaum auffiel, eingearbeitet in den Schnittpunkt des knapp einen Meter hohen Christenkreuzes auf dem Ständer aus Ahornholz. Der lange, schmale, von Büchern gesäumte Raum war im Blockhausstil gestaltet. Halbe Baumstämme innen und außen verbargen die elektrischen und elektronischen Innereien der Wände. Auf den imitierten Gaslampen mit den geschwunge nen Haltern, die an den Wänden hingen, saßen TiffanyLampenschirme aus gefärbtem Glas. An einem Ende des Raumes war ein riesiger Kamin mit Steinplatten. Swenson hatte zweimal hingeschaut, um sich zu vergewissern, daß die Scheite, die im Kamin brannten, echt waren. In den USA mit ihrem sauren Regen war es verboten, Bäume zu fällen und zu Feuerholz zu verarbeiten. Für diesen Luxus waren einfach nicht mehr genug Bäume da. Das Haus trug sein Holz, wie standesbewußte Damen der Gesellschaft früher ihren Nerz getragen hatten. Es war »aus dem Holz der Bäume, die hier auf diesem Grund und Boden gewachsen waren, so wie mein Bruder es wollte«, hatte Ellen Mae ihm erklärt. »Er mag natürliche und schlichte Dinge, so wie Gott sie mag.« Das ist sein Problem, dachte Swenson. Er verwechselt das, was er mag, mit dem, was Gott mag, und zwar von A bis Z. Und dann schalt er sich, weil er aus der Rolle fiel. Solche Sachen darfst du nicht mal denken. Sie stand jetzt über ihm, und er schaute ihr ins Gesicht, ein Gesicht, das in dem ungleichmäßigen Licht kantiger denn je aussah, und verspürte eine leise Verzweiflung. Nicht nur, daß ich mit dieser Frau schlafen muß, ich muß es auch gut machen. Ich muß erreichen, daß sie mehr will.
»Na, wie sieht’s aus?« fragte sie. Er suchte einen Moment lang nach Worten, dann wurde ihm klar, daß sie den Bericht meinte. »Ähm – ich glaube, er ist so gut wie fertig.« Sie stützte sich mit einer Hand dicht bei seinem Ellbogen auf den Tisch und beugte sich über ihn, um einen Blick auf den Bericht zu werfen. Ihr Arm lag um ihn herum wie der einer Lehrerin, die sich die Arbeit ihres Lieblingsschülers ansieht. Seine Haut knisterte, so nah war die leichte Behaarung ihrer Wange. Er fühlte eine Welle des Ekels und fast gleichzei tig sexuelle Erregung, und wunderte sich, wo die herkam. »Sieht gut aus«, sagte sie, während sie die Seiten durchblät terte und rasch überflog. Wahrscheinlich schaute sie über haupt nicht hin. Ihr Atem roch wie Eisen. Sie richtete sich auf und legte ihm die Hände auf die Schul tern. »Gehen wir zu Rick, dann können wir ihm das geben.« Ach du Scheiße, dachte er. »Gern!« So lebhaft, wie er nur konnte. Er schob die Papiere zusammen, legte sie in eine Mappe und sagte: »Aber vielleicht will er lieber einen Printout davon haben. Ich könnte die Korrekturen auf Discette …« »Er will es heute abend haben, wenn’s geht.« Sie seufzte. »Er sollte nachts nicht arbeiten. Er sollte überhaupt nicht arbeiten. Aber versuchen Sie mal, ihn davon abzuhalten.« Ihre Worte klangen ehrfurchtsvoll. Es war, als ob man einen Geheimgang fände, der von einem Haus in ein Hospital führte. Sie bogen um eine Ecke, wo der holzverkleidete Korridor endete, und standen in einem langen weißen Flur: weißer
Fliesenboden, weiße Wände; da und dort standen glänzende medizinische Apparate auf Stahltischen mit Rollen, die auf feindselige Weise geheimnisvoll aussahen und darauf warte ten, in Crandalls Zimmer geschoben zu werden, wenn die Ärzte sie brauchten. Es waren drei Ärzte da, drei Spezialisten, die in Cloudy Peak blieben, während Crandall sich erholte. Swenson fragte sich, ob die Ärzte SA-Leute waren. Sie muß ten welche sein, schon aus Sicherheitsgründen. Es gab eine verblüffend große Zahl gebildeter Menschen in der SA. Sogar Intellektuelle. Aber andererseits waren die Intellektuellen der neofaschistischen Neuen Rechten in Frankreich deren treiben de Kraft. In der Tür stand ein SAISC-Wachmann, dessen Gesicht hin ter einem dunklen, grünblauen Helm versteckt war. Er stand mit gespreizten Beinen da, eine Hand um das Handgelenk der anderen geklammert. Er wirkte wie eine lebende Schußwaffe. Als er Ellen Mae sah, trat er jedoch beiseite. Sie warf ihm nicht einmal einen flüchtigen Blick zu; es war, als ob er eine Tür sei. Und dann folgte Swenson ihr hinein, und Crandall lächelte zu ihnen hoch. Swenson erwiderte das Lächeln. Aber er konnte Crandall nicht in die Augen schauen. Deshalb sah er sich im Zimmer um. Auf den Tischen neben dem Bett standen gerahmte Fotos, ein paar von Ellen Mae allein, eins mit Ellen Mae und ihren Eltern, die angeblich auf einer Ranch irgendwo in New Mexico lebten. Auf dem Bild saß Ellen Mae zusammen mit ihren Eltern auf der Bank an einem Picknicktisch. Ellen Mae sah ihrem Vater ähnlich. Und sie sah Crandall ähnlich. Crandall hatte ein hageres,
wölfisches Gesicht; abgesehen von der durchschimmernden Persönlichkeit, die es auf subtile Weise verwandelte, hätte es einem schwachsinnigen Hinterwäldler gehören können. Die Persönlichkeit, Güte auf der Basis schierer Selbstsicherheit, verlieh diesem nach Inzucht aussehenden Bauerngesicht eine magnetische Wirkung. Crandall war nie verheiratet gewesen. Er sagte, er sei mit seiner Mission verheiratet. Aber da waren insgesamt vier Bilder von Ellen Mae, und Swenson fragte sich, ob es so etwas wie eine verdrängte Unterströmung von Inzest zwischen Ellen Mae und dem lächelnden Rick Crandall gab. Eine Reihe von Instrumenten klickten und piepten an der Wand hinter Crandall. Aus einem davon hatte sich ein Schlauch geschoben, um seinen einzelnen silbernen Reißzahn in Crandalls linken Unterarm zu schlagen. Das Zimmer war in weichem Weiß gehalten; auf den Schränken gegenüber vom Bett standen Töpfe mit einem kleinen Blumenwald. Swenson stellte sich vor, wie der Bom benspürtrupp der SA jede Vase durchsuchte und die Blumen hinterher wieder sorgfältig so wie vorher anordnete, und hätte beinahe laut gelacht. Dann spürte er die Spannung, die ihm die Brust verkrampf te; er konnte die Hysterie, die ihn zu erfassen drohte, wie den verkürzten Horizont am oberen Rand einer fernen Steilwand sehen. Er kämpfte dagegen an, indem er Wurzeln in seiner Rolle schlug, in Swenson. Der Trick ist folgender, hatte ihm Purchase erklärt. Du mußt eine perfekt getarnte Wanze in einem Telefon sein. Wenn man es richtig anstellt, könnte das Entwanzungsteam das Telefon auseinan
dernehmen, ohne die Wanze zu finden. Du mußt wie ein Telefon funktionieren, wie ein Telefon klingeln, alles tun, was das Telefon tut, ganz genau so, und erst dann etwas übertragen, wenn es soweit ist, und selbst dann darfst du nicht die Illusion zerstören, daß du nur ein Telefon bist. Du mußt bis zu diesem Moment denken, daß du ein ganz normales Telefon bist. Aber er dachte trotzdem: Ich könnte dem Wachmann die Waffe entreißen und sie beide jetzt und hier töten. Mich op fern. Es hinter mich bringen. Nur würde das die SA nicht stoppen. Da waren immer noch Watson und die anderen. Also sah er Crandall an und sagte sich: Dieser Mann ist ein Held. Dieser Mann ist ein Märtyrer. Dieser Mann ist in einer Heiligen Mission für Gott hier. Dieser Mann ist hier, um die Welt zu reinigen. Und wenn man Crandall so sah, war es nicht schwer, das zu glauben, ganz gleich, was er tat. Selbst als er sich aufsetzte und sie die Verbände sehen konnten, die seine knochige Brust umhüllten, und als er leise vor sich hin murmelnd an der Fernbedienung herumfummelte, um den nur ein paar Zenti meter dicken Fernsehschirm aus der Decke ausfahren zu lassen. »Da kommt gleich was im Fernsehen. Ich möchte, daß ihr’s euch alle anschaut«, sagte er. Der Fernsehschirm beherrschte seinen Teil des Zimmers. Er zeigte ein bläuliches, leicht verwaschenes Bild von einem auftauchenden U-Boot. Das Wasser teilte sich wie spitzenbe setzte Bühnenvorhänge. »… Nahezu gleichzeitig mit der Technik, den Ozean ›transparent‹ zu machen«, sagte der Kommentator, »verbessern sich die Techniken, sowjetische U
Boote leiser zu machen. Dieser sowjetische ›Grundkriecher‹ ist mit einem neuen Geräuschdämpfer ausgestattet, der den Lärm der lauten Kühlvorrichtung seines Atomreaktors absorbiert, wenn er Fahrt macht und nicht gerade mit seinen Gleitflächen am Meeresboden dahinkriecht, so daß er mit dem Geräusch überwachungssystem der Hydrophone, die die Navy längs des nordamerikanischen Kontinentalschelfs installiert hat, praktisch nicht mehr entdeckt werden kann. Sowjetische Sabotageteams kämmen die Schelfe mit Grundkriechern durch und zerstören die faseroptischen Sensorkabel, die sie finden, was unsere Fähigkeit, feindliche U-Boote zu entdecken, noch mehr reduziert. Berichten der NSA zufolge wird die Fähigkeit der Sowjets, unsere U-Boote zu entdecken, von einem neuen System in den Meeresgrund versenkter Computer erhöht, die Bodenerschütterungen überprüfen und nach Turbulenzvibra tionen suchen, die typisch für U-Boote sind. Diese Entwick lungen bedrohen das fragile Gleichgewicht der Abschreckung, das den Einsatz strategischer Atomwaffen im Krieg zwischen der Sowjetunion und der NATO verhindert. Wenn die Sowjets mit Atomwaffen bestückte amerikanische U-Boote aufspüren können, dann sind sie auch imstande, diese auszuschalten, wodurch ein sowjetischer Erstschlag praktikabler wird.« Crandall schaltete den Ton ab. Bilder von militärischen Tiefseeungeheuern zogen lautlos über den Schirm. »Na ja«, sagte Crandall gedehnt, »kann sein, daß Mrs. Anna Bester mit der Veröffentlichung dieses Materials nur mehr Geld fürs Militär rausschinden will. Ich hatte ja so meine Befürchtungen über eine Frau als Präsidentin, aber mein lieber Scholli, die Frau ist alles andere als ein Sensibelchen … Aber wenn das mit dieser neuen Gefahr für unsere U-Boote wirklich stimmt, dann hat die SAISC vielleicht ein ›Gelegenheitsfenster‹, wie man’s
früher genannt hat. Unsere geheime Überwachungsabteilung hat sich was Neues ausgedacht, was wir dem Verteidigungs ministerium vielleicht als Gegenleistung für ein bißchen Auf geschlossenheit gegenüber Unserem Werk in Europa verkau fen können. Wenn wir von denen mehr logistische Unterstüt zung bekämen, hätten wir die Lage in Europa fest im Griff.« Mein Gott, dachte Swenson. Es traf ihn wie ein Schlag in den Magen. Sie haben ihre Finger bald überall drin. »Das Verteidigungsministerium hat ein gewisses Interesse an der Neuigkeit aus unserer Rüstungsabteilung gezeigt«, sagte Ellen Mae. »Sie würden den Jaegernaut gern mal im Feldversuch sehen …« Crandall warf einen raschen Blick auf Swenson – und Swenson fröstelte. »Ich finde, wir sollten das jetzt lieber nicht weiter vertiefen, Ellen Mae, Schatz«, sagte Crandall. Weil ich nicht die höchste Unbedenklichkeitsbescheinigung vom Sicherheitsdienst der SA habe, dachte Swenson. Oder steckt da mehr dahinter? Purchases Leute hatten sich alle erdenkliche Mühe gegeben, eine Identität für John Swenson aufzubauen. Eine Geburtsur kunde und Bilder von ihm als Baby in einer kleinen Stadt im Mittelwesten. Raffinierte Pläne, um echte Empfehlungsschrei ben von Mitgliedern und Förderern der SA zu erhalten, die man glauben machte, daß sie Swenson kannten, obwohl das gar nicht stimmte: Purchase hatte Zugang zu den Systemen, mit denen Worldtalk im Gedächtnis der Menschen herumpfu schen konnte. Er impfte den Leuten, die solche Empfehlungen abgeben sollten, falsche Erfahrungen ein. Sie glaubten Swen sons rechte politische Einstellung kennenzulernen, glaubten zu
erleben, wie er ihnen half, ihnen mit seinem unschätzbaren Rat zur Seite stand und sich für die Sache aufopferte. Und was sie zu erleben glaubten, wurde zu Erinnerung … Sackville-West hatte sechs Stunden Interviews mit SASympathisanten auf Videoband, die sich an Swenson ›erinner ten‹. Und sämtliche Urkunden waren vorhanden … Aber vielleicht roch Crandall den Schwindel. In Crandalls Augen war nur ein ganz schwacher Funke des Argwohns aufgeblitzt, der auf irgendeine Weise völlig zu seinem Lächeln paßte, als er Swenson die Hand gegeben hatte. Swenson fragte sich, ob es Argwohn war … oder Eifersucht. Crandall würde wissen, daß Swenson und Ellen Mae drauf und dran waren, ein Paar zu werden. Plötzlich wurde Swenson unangenehm bewußt, daß der bewaffnete Wachmann hinter ihm stand, so still wie ein Mö belstück, und so tödlich wie ein elektrischer Stuhl. Crandall wechselte das Thema, und Swenson zwang sich, seiner Tirade gegen die drohende Liberalisierung der ironisch so bezeichneten Antigewalt-Gesetze von 1997 zuzuhören. »… Das Prinzip ist sehr simpel, wie ich es sehe, John«, sagte Crandall. »Und seit es per Abstimmung Gesetz geworden ist, haben die Gewaltverbrechen im Lande abgenommen. Ich kenne die genauen Statistiken nicht…« Er sah Swenson an. Swenson wußte, daß er geprüft wurde. Der von Purchase erschaffene John Swenson war angeblich Experte für die Antigewalt-Gesetze. Sie hatten ihn damit vollgestopft. Er kannte die Statistiken, und wie. »Die Rate der Gewaltverbrechen ist in den ersten fünf Jah ren der Erhebung um zwanzig Prozent, bis zum Ende der zweiten fünf Jahre um achtunddreißig Prozent und mittlerwei
le um einundvierzig Prozent gesunken«, sagte Swenson. »Soweit ich weiß, verlangt das Programm in seiner gegenwär tigen Fassung die Todesstrafe für das zweite Tötungsdelikt – für das erste, wenn dabei Sadismus oder Folter im Spiel war – und für das dritte Delikt, bei dem niemand ums Leben ge kommen ist, das aber trotzdem ein Gewaltverbrechen war. Nach der zweiten Verurteilung gibt es kein verfassungsmäßi ges Recht auf Berufung mehr. * Der Verurteilte muß innerhalb von vierundzwanzig Stunden nach dem Urteilsspruch hinge richtet werden, und zwar mit so geringem Kostenaufwand wie möglich. Senator Chung und Senatorin Judy Sanchez stehen an der Spitze des Kampfes für die Aufhebung des Gesetzes …« Swenson machte eine Pause. Er fragte sich, ob sein Vortrag zu gut war. Da Ellen Mae jedoch strahlte und ermutigend nickte, fuhr er fort: »Sie weisen, glaube ich, auf… äh … Stati stiken hin, denen zufolge immer mehr Menschen hingerichtet werden, die sich später als unschuldig erweisen … Aber es versteht sich ja von selbst« – und er hob überschwenglich die Schultern, als könne er gar nicht begreifen, wie sie so dumm sein und das Offensichtliche übersehen konnten – »den Archi tekten des Programms muß völlig klar gewesen sein, daß durch die Beschleunigung des gerichtlichen Verfahrens im Nebeneffekt mehr Unschuldige verurteilt werden würden … Da das Programm jedoch Gewaltverbrechen reduziert, indem es eine stärkere Abschreckung erzeugt und Killertypen nicht nur von der Straße, sondern gleich ganz aus der Welt schafft, Im März 1990 – knapp fünf Jahre nach Erscheinen dieses Romans – hat der Oberste Gerichtshof der USA Forderungen zum Tode Verurteilter abgelehnt, ihre Verfahren aus Verfassungsgründen auf Bundesebene neu aufzurollen, nachdem die Rechtsmittel auf der Ebene des jeweiligen Bundesstaates erschöpft sind. – Anm. d. Übers.
*
gibt es auch weniger Opfer von Gewaltverbrechen. Und zwar so viel weniger, daß die steigende Zahl von unschuldig Verurteil ten dadurch ausgeglichen wird. Die Opfer von Verbrechen sind ja ebenfalls unschuldig.« Swenson räusperte sich entschuldigend, als wollte er sagen: Tut mir leid, daß ich euch so vollgequatscht habe. Er sah Crandall bescheiden an und wartete auf das Urteil. Crandall grinste. »Guter Gott, was sagt man dazu! Der Mann kann ja reden!« Er wandte sich an Ellen Mae. »Ich wüßte ja gern, ob sich unser Mr. John Swenson wohl dazu überreden ließe, eine kleine Aussage für die KSO zu machen, wenn die sich nächsten Monat zur Unterstützung der Antige walt-Gesetze äußert …?« »Tja, schau mich nicht an!« sagte sie lachend. »Warum fragst du ihn nicht? Da steht er.« Crandall senkte seine Stimme zu einem bühnenwirksamen Flüstern. Er tat so, als ob er hinter vorgehaltener Hand mit ihr spräche. »Meinst du, das kann’ch riskiern?« Sein Akzent wurde stärker, damit der Humor besser zur Geltung kam. Ellen Mae kicherte. Die KSO, dachte Swenson. Die Kommission für soziale Ordnung. Kontrolliert von der SA. Finanziert von Freunden der SA. Verfechter einer ›großzügigeren‹ Auslegung der Verfassung … Verfechter der Anwendung des Kriegsrechts in Gebieten mit hoher Verbrechensrate. Die weitaus meisten Soldaten des Landes, darunter der größte Teil der Reserve und der Nationalgarde, kämpften entweder in Übersee gegen die Sowjets oder waren an den Küsten der USA massiert. Die Anwendung des Kriegsrechts würde die Heranziehung einer paramilitärischen, von Söldnern gebildeten oder privaten
Polizeitruppe zur Ergänzung der städtischen Polizei erfordern. Und die größte derartige Organisation war die SA. Swenson staunte über das Ausmaß von Crandalls Ambitio nen. War es Crandall, oder war es Watson? Oder gab es da noch jemand, der nicht so im Blickpunkt der Öffentlichkeit stand? »Tja also, John, mein Junge, ich frage mich gerade …«, be gann Crandall und dehnte seine Worte dabei, um ihm sein Stichwort zu geben. Swenson schmunzelte und sagte: »Zufällig hab ich das eben mitgehört. Es wäre mir eine Ehre, für die KSO auszusagen.« Und er würde es mit voller Überzeugung tun. Er war zwei Jahre lang ein echter Jesuit gewesen, und er hatte nie an Gott geglaubt. Da konnte er auch ein intellektueller Faschist sein. Er war ein guter Schauspieler. Er konnte jeder sein, nur kein Mann namens Stisky. Nur fünf Minuten nach Mitternacht kam sie zu ihm. Sie spielte jetzt das verwirrte, schwache Weib. Im matten Licht vom Flur waren ihre Augen groß und glänzend. Sie trug einen zu großen, auffallend unerotischen Bademantel. Sie hatte ein Glas warme Milch in der Hand, und ihre Stimme war ein wenig nuschelig. Sie roch nach Brandy. »Ich … Könnte ich mit Ihnen über etwas sprechen? Tut mir leid, wenn Sie schon geschlafen haben. Wir müssen wirklich nicht reden, ich wollte bloß…« »Tatsächlich konnte ich nicht einschlafen«, sagte er und trat von der Tür zurück. Swenson trug einen Bademantel über seinem Pyjama. Er
hatte ein komisches Gefühl, aber das schien in diesem Haus durchaus angemessen zu sein. In seinem Zimmer gab es nicht einmal eine Computerkonsole. Ellen Mae sah nach, ob der Flur leer war. Dann tappte sie ins Zimmer. Er machte die Tür hinter ihr zu. Einen Moment lang herrschte peinliches Schweigen. Sie hielt das Glas zwi schen ihnen hoch. »Das … das müssen Sie wirklich mal pro bieren. Es ist ein Rezept meiner Mutter …« Er lächelte und nahm es dankbar an, froh, daß er seine Arbeit nicht tun mußte, ohne etwas intus zu haben. Er nippte daran und hätte es vor Überraschung beinahe wieder ausgespuckt. Es war ein Eg gnog, dick und sahnig. Er dachte an Sperma. Er schmeckte stark nach Brandy. »Wow«, sagte er. »Das ist gut.« »Ein Schnäpschen dann und wann verlängert das Leben, hat meine Großmutter immer gesagt.« Jetzt zitiert sie schon ihre verdammte Oma, dachte er. Und dann: Schlüpf in deine Rolle! Sie rieb sich die Augen. »Meine Augen sind so müde. Wenn man den ganzen Tag auf den Bildschirm starrt…« Swenson wußte, was sie meinte. Er drehte sich um und dimmte das Licht herunter. »Wie ist es jetzt?« »Besser.« »Kommen Sie, setzten Sie sich und erzählen Sie mir alles.« Im Halbdunkel gefiel sie ihm beinahe. Oder vielleicht war es der Brandy. Sie setzte sich neben ihn. Das Bett knarrte nicht; so etwas gab es nicht mehr. Er nahm ihre Hand in seine, lächelte und sagte: »Erzählen Sie.«
Seine Stimme sagte alles. Er merkte, wie sie sich vor Freude ein wenig wand. »Also, Sie wissen ja, ich liebe Rick. Ich glaube wirklich ganz fest und tief, daß er von Gott für eine besondere Mission ausersehen ist. Ich würde das nie in seiner Gegenwart sagen, weil er es nicht leiden kann, wenn jemand ein großes Getue um ihn macht, aber ich glaube ehrlich, daß er heute der wich tigste Mensch auf der Welt ist. Nicht wegen dem, was er ist, sondern was er sein wird. Aber… ich muß auch noch mein eigenes Leben haben, jenseits von Rick.« Sie gab einen leisen Laut des Schuldbewußtseins und der Unentschlossenheit von sich. »Ich weiß nicht – vielleicht ist es falsch von mir, sowas zu wollen …« Wieder erkannte er sein Stichwort. »Ganz und gar nicht.« »Aber – Mutter hat immer gesagt: ›Folge deinem Herzen.‹« Er hörte ihr erstaunt zu. Sie konnte munter und voller Sachkenntnis über demographische Erhebungen, die Organi sation von Geheimzellen und Sicherheitstechniken sprechen. Und aus demselben Mund kam nun dieses unglaubliche sentimentale Zeug. »Hat… hat Rick denn Einwände dagegen, daß Sie Ihr eige nes Leben führen?« »Nun … ah … er mißbilligt alle Intimitäten – Sie wissen schon – außerhalb der Ehe. Und ich muß mit dem Heiraten sehr vorsichtig sein, weil das ein Medienereignis wäre.« »Natürlich. Aber wenn Sie diskret sind …« Er konnte fast fühlen, wie sie errötete. »Ja, aber … es ist eine Sünde.« Mhm, dachte er.
Er glaubte auch nicht einen Moment lang, daß sie oder Crandall sich nicht im wahrsten Sinne des Wortes den Teufel um die Sünde scherten. Außer vor der Kamera. »Ich verstehe«, sagte er sanft und drückte ihre Hand. »Aber … Gott hat bestimmt Verständnis für Ihr spezielles Dilemma. Und schließlich hat ja auch Jesus gesagt, daß selbst den schlimmsten Sündern vergeben wird, wenn sie ehrlich darum bitten. Ihnen wird vergeben werden.« »Oh …« Jetzt schmolz sie dahin. Er hatte die richtigen Wor te gewählt. Sie ließ den Kopf zur Seite sinken und lehnte ihn an seine Schulter, wobei sie ihn gerade genug nach oben wandte. Er ließ ihre Hand los, legte ihr den rechten Arm um die Taille und bückte sich, um ihr einen Kuß auf die harten Lippen zu drücken. Er hatte Angst gehabt, daß er bei ihr keinen hochkriegen würde. Aber seine Vorstellungskraft bewirkte das Wunder. Tatsächlich war ihr eckiger Körper nicht so anders als der des Jungen mit der kupfernen Haut, des Jungen, den man in einem Straßengraben mit so vielen Löchern im Leib gefunden hatte wie der von Pfeilen durchbohrte Heilige Sebastian … Es war das Bild des Heiligen Sebastian, der sich in seinem Martyrium wand, die Pfeile so steif und maskulin in seinen Wunden, das Swenson steif und maskulin werden ließ und es ihm möglich machte, sie zu durchbohren und zu heucheln, innerhalb der Heuchelei zu heucheln … Als Rickenharp aus der Bewußtlosigkeit erwachte, setzte er sich auf – und wäre vor Schwäche beinahe umgefallen. »Noch nicht«, sagte Carmen und drückte ihn zurück. Er leg
te sich hin und fühlte sich besser. Immer noch schwach, aber der an seiner Seele nagende Horror war weg. Außer der Schwäche fühlte er jetzt nur noch eins: Hunger. Die Welt um ihn herum schüttelte sich, als ob sie lachte, ein knurrendes Lachen, und dann setzte er es zusammen. Er war hinten in einem Lastwagen. Sie lagen auf der Pritsche. Das Licht kam von der Lücke zwischen der Ladeklappe und der Plane über den rostigen Leisten. Es war bläulich, und er dachte, es könnte das Licht der Morgendämmerung sein. Die Luft in seinem Gesicht war kalt, aber vom Motor drang Wärme und ein schwacher Methange ruch herauf. »Ich hab tierisch Hunger«, sagte er. Sein Hals war trocken, merkte er, als er zu sprechen versuchte. Es kam als ein Kräch zen heraus. Aber sie verstand ihn. »Wir haben nichts zu essen. Viel leicht beim nächsten Halt, mit Chance … Jedenfalls scheinste kein Fieber mehr zu haben.« »Wo sind wir?« »Italien. Nördlich von Neapel. Du warst vier Tage lang weggetreten. Willow …« Sie hielt inne, und er sah ihre Zähne aufblitzen. »Willow wollte dich loswerden. Mehr als einmal. Ich war geneigt, ihm zuzustimmen. Ist nicht sinnvoll, dich bei uns zu behalten. Aber Yukio sagt, du bist so ‘n Samurai-Typ. Er will dich dabeihaben.« Sie zuckte die Achseln. Italien. Total irre. Er schloß die Augen und stellte sich Wurstschnüre und Teller mit dampfender Pasta vor. Jetzt konnte er das Meer in der Brise riechen, als sie eine Kurve nahmen und ein frischer Wind sie traf.
Was hatte sie da eben gesagt? Willow wollte dich loswerden. Mehr als einmal. Ich war geneigt, ihm zuzustimmen. Sie hätten ihn im Mittelmeer fast über Bord geworfen. »Meine Fans«, murmelte er. »Was?« Aber er hatte ihr nichts zu sagen. Zur Hölle mit ihr! Ellen Mae war fort, als Swenson aufwachte. Auf den Kissen neben ihm lag eine Rose aus Seide. Das Glas mit dem BrandyEggnog war weg. Er hatte einen schlechten Geschmack im Mund. Swenson setzte sich auf. Er hatte pulsierende Kopfschmer zen. Blasses Sonnenlicht drang durch die Fenster mit den gelben Vorhängen zu beiden Seiten des Bettes. Draußen klopfte jemand diskret an die Tür. Er stöhnte in nerlich und dachte: Nicht sie schon wieder! Aber er zog seinen Bademantel an und sagte: »Herein.« Es war ein Hausboy, ein alter Mann mit vom Alter getrüb ten Augen, der stumm (bis auf sein rasselndes Atmen) das Frühstückstablett hereinrollte und den Kaffee einschenkte. Irgendwie überraschte es Swenson, daß der alte Mann nicht schwarz war. Aber er dachte: Natürlich nicht, sie würden schwarzen Dienern nicht trauen; es könnten ja Eindringlinge sein. Der Alte schlurfte hinaus, und Swenson hob den alten Sil berdeckel vom Teller. Rührei mit Schinken und Brötchen. Nichts davon sah synthetisch aus. War bestimmt interessant, wie das schmeckte.
Aber der Schinken wäre ihm fast im Hals steckengeblieben. Man konnte richtig das Tier darin schmecken. Auf dem Tablett lag eine Nachricht in einem Briefumschlag. Er nahm an, daß sie von ihr war, aber das stimmte nicht. Willkommen, John! wir treffen uns um 8.00 Uhr draußen
am Haupttor.
– Watson Watson war also hier. Swenson schaute auf die Uhr. Fast acht. Er würde zu spät kommen. Er stand auf, zog sich an und murmelte dabei: »Acht Uhr. Scheiße.« Aber er rannte beinahe, um noch rechtzeitig da zu sein. Der Himmel hatte die Farbe von Granit, und die Sonne war ein verschwommener Messingfleck hinter den Wolken. Die Haupttore waren wirklich aus Granit, altem Granit, das vor dreihundert Jahren den alten Hügeln New Englands entrissen worden und jetzt von Flechten großenteils leuchtend gelb und rot gefärbt war. Die alte Steinmauer zu beiden Seiten des Tors war da und dort eingestürzt. Aber das machte nichts; ein kleines Stück hinter der Steinmauer erhoben sich die Stahl drahtzäune in zweifacher Ausfertigung, gekrönt von Stachel drahtrollen. Zwei deutsche Schäferhunde liefen rastlos zwi schen den beiden Zäunen auf und ab; als sie Swenson sahen, warfen sie sich gegen die Maschen, so daß der Zaun wie ein Kettenpanzer klirrte, als er sich der ersten Kontrollstelle näher te. Er rechnete damit, daß die Hunde bellen würden, aber das taten sie nicht. Sie knurrten, zogen die Lefzen hoch und fixier ten ihn mit ihren starren gelben Augen. Er erinnerte sich an den intensiven Geschmack des Schinkens, und ihm wurde flau im Magen.
Die Achatbeschichtung der Auffahrt knirschte unter seinen Schuhen. Ein unbehelmter SAISC-Wachmann musterte ihn mit einer abgeschwächten Version des Blicks, mit dem ihn die Hunde angesehen hatten. Der Wachmann trat aus einem kleinen Holzschuppen auf der anderen Seite des Durchgangs in dem sturmsicheren Zaun und sagte: »Name, bitte?« Stisky. Er hätte es fast ausgesprochen. Und was ihm Angst einjagte: Es wäre kein Versehen gewesen. Der Wachmann war blond und blauäugig. Die blauen Au gen waren jetzt schmal geworden, weil Swenson gezögert hatte. »John Swenson.« Der Wachmann nickte. Die Augen waren immer noch schmal. »Der Colonel ist schon weitergegangen. Sagte, Sie könnten ihn in der Kapelle finden.« Die ausdruckslosen blauen Augen beobachteten ihn un verwandt. Das Funkeln war verschwunden; jetzt taxierten sie ihn nur noch unerschrocken. Die Augen waren von weißblon den Wimpern gesäumt, lang und weich wie die eines kleinen Jungen. »Wo ist die Kapelle?« Der Wachmann zeigte hin. Sie lag ein Stück entfernt im Nordwesten, halb versteckt unter den Eichen, die das Grund stück umgaben. Bei ihrem Anblick fühlte Swenson, wie ihm ein Eiszapfen in den Bauch drang. Die Kapelle war hübsch. Und er fürchtete sich vor ihr. Aber er machte sich wie ein Spielzeugsoldat auf den Weg. Es war eine schlichte Kapelle aus weißem Holz. Fenster aus
bemaltem Glas. Er konnte von hier aus nicht erkennen, was die Figuren auf dem bemalten Glas darstellten. Die Kapelle stand beinahe gelassen in einer Gruppe von Eichen, die mit zotteligem Moos und Mistelzweigen bewach sen waren. Er überquerte eine Rasenfläche, und seine Schuhe wurden vom Tau im würzigen Gras durchnäßt. Er fröstelte. Es war ein kühler, klammer Morgen. Unter den Eichen hingen noch geisterhafte Nebelfahnen. Abgefallene Blätter raschelten leise unter seinen Füßen, als er zu den Stufen am Eingang der Kapelle ging. Sie war größer, als er gedacht hatte. Platz für zweihundert Menschen. Ein Windstoß ließ die Eichen leise knarren. Eichen, dachte er. Druidisch. Er machte die grün gestrichene Tür der Kapelle auf. Zwei Nazis knieten vor dem Altar, die Schädel mit den kurzgeschorenen Schweineborsten zum Gebet gesenkt. Auf einer Seite stand Colonel Watson in einem ordentlichen grauen Anzug und Trenchcoat, das Gesicht von der Kälte gerötet. Auf der anderen saß Sackville-West mit gesenktem Kopf in einer Bank, den Hut in der Hand. Über dem Altar war ein etwa dreieinhalb mal zweieinhalb Meter großes Ölgemälde, professionell gemalt, aber kitschig, das Jesus auf seinem Thron zeigte, das Gesicht in uncharakte ristisch finstere Urteilsfalten gelegt. Auf dem Kopf hatte er einen Kranz aus Eichenblättern. Zu seinen Füßen saßen Rick und Ellen Crandall, beide nur ein wenig geschönt und in weißen Gewändern. Unter dem Gemälde stand ein Stahlkreuz auf einem Ständer aus hellem Holz, und an der Nahtstelle seiner Balken war ein Eisernes Kreuz, nicht größer als ein Silberdollar. Auf beiden Seiten des erhöhten Bereichs waren
zusammengerollte Fahnen: eine Flagge der USA und eine andere, die er nicht erkannte, weil die Insignien eingerollt waren. Weiße Tulpen standen in einer silbernen Vase auf dem Altar, eine Blumensegnung. Der Raum war in rötliches Licht getaucht, das durch das bemalte Glas hereinfiel. Swenson sah sich die Figuren auf dem Glas an und konnte sie nicht identifizieren. An den Wänden zu beiden Seiten der Kirchenbänke waren ebenfalls Malereien. Er konnte sie von hier aus nicht erkennen; er sah nur, daß sie auf neurotische Weise verschlungen und allegorisch waren. Gestalten, die im Himmel schwebten, in halluzinogenen Gruppen. Swenson war nicht imstande, sich zu bewegen. Er stand wie festgenagelt im Eingang. Sei nicht albern, sagte er sich. Benimm dich nicht wie ein kleines Kind. Aber er war zu keiner Bewegung fähig, bis Watson her überschaute und ihn zu sich winkte. Dann ging er durch den Mittelgang an den leeren Kirchen bänken vorbei auf die braun gekleideten Rücken der beiden in voller Uniform am Altar knienden Nazis zu, die stumm bete ten. Watson verließ den Altarraum und ging mit der übertriebe nen Lautlosigkeit eines Mannes, der sich eines heiligen Mo ments bewußt ist, den äußeren Gang hinunter. Dann gab er Swenson ein Zeichen, sich drei Bänke weiter hinten zu ihm zu setzen. Die beiden Männer nahmen nebeneinander auf den calvini stisch harten Holzbänken Platz. »Sackville-West will Sie dabeihaben«, sagte Watson. Es war mehr ein Murmeln als ein Flüstern.
»Wobei?« Watson schnaubte und nickte zu den beiden Nazis hin, Ge stalten aus einem Propagandagemälde. »Wir werden die beiden Schwachköpfe da ›einweihen‹.« Er zuckte die Achseln, und die brüske Bewegung verriet Swenson, daß der Colonel verärgert war, beinahe wütend. »Ein Bursche namens Carlyle aus Idaho – er war bei einer unserer Versammlungen draußen in Orange County. Durch einen verwaltungstechnischen Fehler ist dieser Carlyle zu den Treffen der Eingeweihten zugelassen worden, hat den Spezialgottesdiensten beigewohnt und all das. Hat ihn ganz aus dem Häuschen gebracht. Nun stellt sich raus, daß er zur Nationalsozialistischen Partei des Weißen Volkes gehört hat. Wir hatten natürlich keine Ahnung. Wir brauchen keine plumpen Dummköpfe bei den Eingeweih ten. Aber irgendwie ist er durch die Prüfungen geschlüpft. Er hat seinem Kumpel da Bescheid gesagt, und sie sind hier rausgekommen. Sind einfach heute früh ans gottverdammte Tor gefahren und haben den Wachen erzählt, sie wollten Rick Crandall sprechen. Sie hätten von dem Mordversuch gehört und wollten seine Leibwächter werden!« Seine Stimme triefte vor Verachtung. »Sie waren so rausgeputzt wie jetzt. Herr im Himmel, wenn da irgendein Reporter rumgehangen hätte …« Er schüttelte den Kopf. »Natürlich haben wir sie nicht zu Rick gelassen. Die Wachen haben Sackville-West angerufen, und der alte Sacks hat mich aus meinem gesunden Schlaf geklin gelt, und wir sind zu Rick gegangen. Er sagte, sie sollten ihren Frieden mit Gott machen, und hier sind sie nun. Ich weiß nicht, warum Sacks Sie dabeihaben wollte …« Swenson spür te, daß Watson ihn ansah. »Aber ich denke, es ist auch für Sie sowas wie eine Einweihung.« Swenson nickte. Er saß da, als wäre er aus dem Holz der
Bank geschnitzt, und dachte an den Second Circle, an die Gottesdienste mit ihrem leeren Prunk und daran, wie er sich fast vergessen hätte … Auszug aus einem Memo Von Frank Purchase an Quincy Witcher Dachte mir, der folgende Brief Stiskys an Encendez wür de Sie interessieren. Pater Encendez saß im Gefängnis, als der Brief geschrieben wurde. Er ist nie abgeschickt wor den. Wir fanden ihn, als wir Stiskys Habe durchsuchten. »… die Wahrheit ist, daß ich nie an Gott geglaubt habe. Als ich in die Kirche eintrat, setzte ich meine Ungläubig keit zeitweilig ›außer Kraft‹, wie man es tut, wenn man einen Roman liest. Man glaubt an die subjektive Welt des Romans, während man ihn liest, aber man weiß natür lich, daß alles reine Erfindung ist. Man zieht es jedoch vor, während des Lesens daran zu glauben, weil man die Komplexität, das Wunderbare, die raffinierte Ablenkung liebt. Genauso geht es mir mit der Kirche. Die Kirche ist weiblich, und ich habe mich einmal in eine Frau verliebt und wußte, daß sie mich all ihren Beteuerungen zum Trotz nicht liebte – nicht wirklich. Die Liebe, die ich mir vorstellte, war irreal, und ich wußte das, aber ich zwang mich, daran zu glauben, weil es eine köstliche Beruhi gung war. Die Kirche besitzt tausend Bände mit Liebes briefen, die sie sich selbst geschrieben hat, in Form der Apologien und all ihrer Manifestationen. Die Kirche ist eine schöne Lüge. Ich sah keine Gefahr darin, die erfor derliche Kasuistik zu lernen. Und sie gab mir eine
Grundlage, auf der ich arbeiten konnte. Ich wollte unter die Menschen gehen, die mich brauchten, und sie brachte mich dorthin. Ich mache mir allerdings Gedanken über meine Motive. Der Pomp und das Gepränge der Kirche, die glanzvolle Patina der Rituale; die angenehm modrige Heimeligkeit einer jesuitischen Bibliothek; die Askese, die so sehr von unserer Selbstzufriedenheit belastet wird. Aber vor allem der leere Prunk, wie der aufgetakelte, knallige Putz der Pariser Huren, die Rituale, die Staffage, all das verführt mich …« Wie Sie sehen, hat unser ›Swenson‹ ein tiefgreifendes psychologisches Bedürfnis nach Ritualen. Je dramatischer das Ritual ist, desto besser. Auch hier sind seine Vorlie ben wiederum ein zweischneidiges Schwert. Ich mache mir Sorgen, daß er in den Bann der SA gerät, wenn er das Ausbildungsprogramm des Second Circle mitmacht und die neofaschistische Pracht ihrer Gottesdienste sieht. Pri vat hat er seinen Glauben geleugnet und war rebellisch, aber seine Handlungen zeugten letztlich von einer starken Loyalität zur Kirche, Lüge hin oder her, bis er aus dem Priesteramt entfernt wurde. Wenn er die gleichen neurotischen Bindungen an die Rituale des inneren Krei ses der SA entwickelt, könnten wir seine Loyalität gänz lich verlieren … Sie liefen durch den sich langsam auflösenden Nebel unter den Eichen. Ein SA-Wachmann mit Helm und herunterge klapptem Visier ging mit einem Gewehr in der Hand wie der Spitzenmann einer Militärpatrouille voraus; dann kamen Swenson, Watson und die beiden Nazis links von Watson.
Hinter ihnen folgten zwei weitere gesichtslose SA-Gardisten. Unter einem Flechtwerk feuchter schwarzer Zweige, die wie alte Elektrokabel aussahen, schlenderten sie einen Weg entlang. Winterwelke Farne bogen sich tropfend auf beiden Seiten; es roch nach fauligem Holz und Pilzen. Eine einsame Amsel tirilierte geschwätzig vor sich hin. Swenson fror. Er zog den Reißverschluß seiner Jacke zu und ballte die Hände in den Taschen zu Fäusten. Er glaubte die Blicke der Wachmänner in seinem Rücken fühlen zu können. Die Nazis hatten jetzt ihre glänzenden Schirmmützen auf. Der eine war ein junger Bursche mit buschigen Brauen und fliehendem Kinn, und der ältere hatte ein Gesicht wie ein alter Astknorren. Beide sprachen mit westlichem Akzent. Sie kamen aus dem nördlichen Idaho, dem Pfannenstiel, wie sie sagten. Da draußen besaßen sie beide ein Geschäft, aber sie fanden das hier wichtiger. Ein Mann müsse manchmal zwischen Profit und Pflicht wählen, hatte der Junge gesagt. Ganz gleich, was sie sagten, Swenson tat so, als ob alles völlig richtig sei. Er nickte und machte ab und zu »Mhmm«. Ihre Galauniformen waren perfekt, mit messerscharfen Bügelfalten und makellos sauber. Ihre Stiefel waren mit Spucke poliert. Armbinden mit Hakenkreuzen vervollständigten das Ganze. Swenson sah, wie Watson zusammenzuckte, wenn sein Blick auf die Armbinden fiel. Die beiden Männer schienen nicht zu begreifen, was vor ging. Nur der Ältere warf hin und wieder einen nervösen Blick über die Schulter auf die Wachmänner. Sie kamen zu einem weiteren Stahldrahtzaun. Ein Posten
ließ sich von seinen beiden angeleinten Wachhunden zwi schen dem inneren und dem äußeren Zaun entlangziehen. Der Pfad schwenkte nach links ab und führte im Bogen zur Kapelle zurück, und sie bogen ab und folgten ihm. Sie gingen schweigend noch etwa dreißig Meter weiter und machten auf einer kleinen Lichtung halt. Um die Lichtung herum war dichtes Buschwerk gewachsen. Auf einer Seite stand eine Holzbank, die aus einem Baumstamm geschnitten worden war. Watson lächelte die Nazis müde an und sagte: »Setzt euch, Jungs!« Sie warfen einen unschlüssigen Blick auf den Baumstamm; die Feuchtigkeit würde ihre Uniformen schmut zig machen. Aber sie setzten sich hin. Plötzlich schaute der Ältere auf, leckte sich die Lippen und sagte: »Vielleicht hättnwa nich einfach so herkommen solln. Schätze, wir hättn anrufen solln. Aba die ham uns anner Nase rumgeführt, als ich versucht hab zu schreim. Ich dachte, da müßt ich direkt zum Reverend Crandall gehn. Aba wenn Sie sagen, wir solln gehn, gehnwa wieder.« »Niemand hat was davon gesagt, daß ihr gehen sollt«, ant wortete Watson in neutralem Ton. Er zog ein säuberlich gefal tetes Taschentuch aus seiner Manteltasche und schneuzte sich hinein. »Seht ihr«, fuhr er fort, »nu ham wir da so ein Pro blem.« Sein Wechsel zur bäurischen Sprache war mehr freund lich als spöttisch. »Nämlich folgendes. Ihr hattet Zugang zu Dingen, zu denen ihr eigentlich keinen Zugang haben solltet. Da ist was schiefgelaufen. Im Grunde unsere Schuld. Aber Leute auf eurem Aktivitätslevel dürfen nicht mit Reverend Crandall in Verbindung gebracht oder mit ihm gesehen wer den. Das ist keine gute Werbung. Ihr solltet nicht mal wissen, wo ihr ihn finden könnt. Ich hoffe und bete nur, daß euch
keiner gesehen hat, als ihr in dem Aufzug hier rausgekommen seid. Nun, wir können nicht das Risiko eingehen, daß ihr hier wegfahrt und noch mehr von euren Leuten erzählt, wo man Rick finden kann. Darüber hinaus stellt ihr auch in anderer Hinsicht ein Sicherheitsrisiko dar. Wir wollen keine Leute rumlaufen haben, die sich vielleicht abgewiesen fühlen und anfangen, sich über den Reverend zu ärgern. Erst recht keine Leute, die als Bombenleger vorbestraft sind.« Er sah den jungen Mann an, der blaß wurde. »Siehst du, junger Mann, wir wissen bereits alles über dich. Wir wissen, wo deine Freunde und deine Familienangehörigen sind … Wie vielen anderen habt ihr’s, erzählt?« »Keinem!« sagte der ältere Nazi indigniert. »Ich wußte ja, dasses top secret is.« Watson lächelte. Er warf Sackville-West einen Blick zu. Der alte Mann zuckte die Achseln. »Ich glaub’s euch«, sagte Watson. »Aber … das werden wir nachprüfen müssen.« Der Jüngere hatte eine Weile gebraucht, um das Ganze zu kapieren, aber nun platzte er heraus: »Sie sagen, wir solln uns was schämen, in dem Aufzug herzukommen? Die Uniform symbolisiert unsere Aufopferung für die arische Sache! Wir sind Parias und wir wissen’s, und wir tun’s, weil’s richtig is! Überall auf der Welt kreuzen sich Menschen mit Tiern! Weiße Fraun und Männer ham Geschlechtsverkehr mit schwarzen Tiern und verstänkern ihr Blut mitm Blut von Affn!« »Sehr farbig ausgedrückt«, sagte Watson, während er sich mit dem Taschentuch geziert die Nase abtupfte. »Weißt du, in gewissem Sinn stimme ich dir fast zu.« »Fast!« Der junge Nazi schaute in die teilnahmslosen Ge
sichter um ihn herum, auf die gesichtslosen Helme, und seine Stimme wurde schrill vor Erbitterung. »Hey Leute, jetz aba ma klipp und klar! Glaubt ihr nu an den Triumph der Weißn Rasse oda nich?« Watson schaute sinnend in sein Taschentuch. »Ich glaube, du verdienst wenigstens eine Antwort… Und die heißt ja und nein, mein Junge. Ich glaube daran, aber nicht so wie du. Siehst du, ich glaube zufällig, daß Neger tatsächlich in gewis sem Sinn eine minderwertige Rasse sind. Zum Beispiel gibt es auf genetischer Ebene keine Entwicklung ihres Intelligenzquo tienten. Aber über diese Schlußfolgerung läßt sich streiten, weißt du, und ich wäre bereit, zuzuhören, wenn mir jemand beweisen will, daß sie vielleicht doch genauso intelligent sind wie wir. Vielleicht sind sie’s ja. Vielleicht sind sie keinen Deut minderwertiger. Ich weiß es nicht. Rick Crandall weiß es auch nicht. Und abgesehen davon ist es uns auch völlig egal. An der Rassenmischung stört uns nämlich in erster Linie, daß sie zu genetischer Unreinheit führt, aber nicht, weil die anderen Rassen minderwertig sind, sondern weil dadurch zu viele unkontrollierbare Variablen im genetischen Prozeß entstehen.« »Im genetischen Prozeß! Ihr glaubt an die Evolution?« sprudelte der Jüngere heraus. Der Altere hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt und den Kopf in die Hände gelegt. Er stöhnte und schüttelte den Kopf. »Zieh uns da lieber nich noch tiefer rein, Elwood.« »Nun ja, wir glauben, daß die Genetik das Werkzeug Gottes ist«, sagte Watson. Er schmunzelte über einen Witz, den nur er verstand, und fuhr fort: »Am Anfang schuf Gott die Welt in sieben Tagen. Wie es in der Bibel steht. Aber danach, nachdem er Adam und Eva aus dem Paradies verstieß, benutzte er die
Genetik, um einen Teil seiner Arbeit hier zu tun…« Er räusper te sich, und Swenson, der ihn beobachtete, war sicher, daß Watson nicht an die Lehre von der Erschaffung der Welt durch einen allmächtigen Schöpfer glaubte. Swenson war benom men. Er hätte beinahe laut gelacht. »Wir glauben in der Tat« – Watson erwärmte sich jetzt für sein Thema –, »daß der sogenannte Rassismus ein Instrument der Verwaltungspolitik der kommenden Weltregierung sein sollte. Und wir wissen genau, wie wir uns das soziale Phäno men, das Historiker als ›Faschismus‹ bezeichnen, zunutze machen können, um diesem Ziel näherzukommen. Aber ihr habt den fatalen Fehler gemacht, Gentlemen, das Mittel für das Ziel zu halten. Und die … Tracht, die ihr euch ausgesucht habt, ist nicht mehr angemessen. Sie ist sozial vergiftet von den peinlichen Gestalten, die sie damals getragen haben.« »Peinliche Gestalten?« Der junge Mann war geschockt. »Sprechen Sie von Adolf Hitler?« Seine Empörung war mit Händen zu greifen. »Verdammich, Elwood«, stöhnte der ältere Nazi, »halt’s Maul. Halt’s Maul, zum Teufel!« »Hitler?« Watson hob die Schultern. »Hitler war ein Irrer. Schlimmer, er war plump und ineffektiv. Schön, man könnte dagegenhalten, daß er sich sehr effektiv der sechs Millionen Juden entledigt hat, und damit hat er uns natürlich allen einen Gefallen getan. Diese Leute sind klüger, als ihnen gut tut – und uns auch. Aber ansonsten …« Der junge Mann sprang auf. Ihm standen Tränen in den Augen. »Das hör ich mir nich länger an!« »Brauchst du auch nicht«, sagte Watson sanft. Er trat zu rück.
Sackville-West trat ebenfalls zurück und machte den Weg frei. Swenson folgte ihm mechanisch dichtauf. Sie nicht, Swenson. Sie gehen dahin, wohin die beiden auch ge hen. Swenson erstarrte. Und dann erkannte er, daß er es im Kopf gehört hatte. Nie mand hatte etwas zu ihm gesagt. Die Stimme war ein Produkt seines unterdrückten Entsetzens, der lähmenden Angst, daß man ihn hier heraus gebracht hatte, um … Die beiden Nazis waren aufgesprungen und wollten los rennen. Die Wachmänner zielten auf sie und eröffneten das Feuer, und das Schreckliche daran war, daß es fast völlig lautlos vor sich ging. Die automatischen Waffen waren schallgedämpft. Sie gaben nur ein leises, stotterndes Zischen von sich, als die beiden Nazis von ganzen Salven getroffen wurden und explodierten. Es sah aus, als ob ein Zauberer lauter kleine Wasserhähne bei ihnen aufgedreht hätte, aus denen es rot herauslief, sie dann zum Tanzen und Kreiseln gebracht hätte … in der Stille … Dann brachen sie zusammen und hingen nebeneinander schlaff über dem Stamm. Ich sollte mich freuen, dachte Swenson. Zwei Nazis weni ger. Von ihren eigenen Leuten umgebracht. Steinfeld mußte nicht mal Kugeln für sie verschwenden. Aber er fühlte nur so etwas wie eine nagende Taubheit. Er dachte, daß er sich vielleicht übergeben müßte. Er schien den Körper eines schönen jungen Mannes mit kupferbrauner Haut zu sehen, der tot in einem Graben lag, von Kugeln durchsiebt.
Und dann sah er das Bild des Heiligen Sebastian vor sich, aufgespießt von Pfeilen … O nein, dachte er. O Gott, nein. Ich hab eine Erektion. Und dann verging die Übelkeit. Ein vierter Wachmann kam dazu. Er hatte zwei Leichensäk ke dabei. »Wo wird er sie hinbringen?« hörte Swenson sich benommen fragen. »Wir haben hier einen prima Verbrennungsofen«, sagte Watson. »Das Beste ist gerade gut genug.« »Zeitverschwendung, das ganze Geschwätz«, sagte Sackvil le-West. Er war berüchtigt für seine Schweigsamkeit. Watson lächelte. »Wo bleiben Ihre Gefühle, Sacks? Die bei den hatten das Herz immerhin auf dem richtigen Fleck.« »Wir konnten also gar nicht danebenschießen.« Ein paar Sekunden lang sagte niemand etwas. Swenson spähte nach oben durch die miteinander verflochtenen Zweige und versuchte die Sonne zu sehen. Der Himmel über den nackten Ästen war von eintönigem Stahlgrau. Der Wald war still. Nur das verblüffend unnatürliche Geräusch, wie die Reißverschlüsse der beiden Leichensäcke zugezogen wurden, war zu hören.
VIERZEHN »HEY – WIE WÄR’S, wenn ihr mir ‘ne Knarre hierlassen würdet«, sagte Rickenharp. »Verdammt noch mal.« Carmen, die schon ein Bein über die Heckklappe des La sters geschwungen hatte, hielt inne und schaute zu ihm zu rück. Sie hatte gerade gesagt: Bleib hier und rühr dich nicht, und wenn jemand was zu dir sagt, stellste dich doof. Wir schauen nach, ob der Paß offen ist. Jetzt war sie eine stachlige, schwarze Silhouette vor dem tiefen Indigo des späten Abendhimmels. Selbst die kalte Fahne ihres Atems war als Silhouette zu sehen. Und Rickenharp saß mit dem Rücken an dem kalten Stahl, und seine Muskeln verkrampften sich vor Kälte. Sie gab einen ungeduldigen Laut von sich und kletterte wieder auf die Ladefläche. Sie kauerte sich vor ihren Ruck sack, und er hörte das trockene Rascheln von Nylon. Sie zog einen Keil aus Dunkelheit aus dem Rucksack, kam wie eine Krabbe herüber und hockte sich neben ihn. Er merkte, wie ihm etwas Kaltes und Schweres in die Hän de gedrückt wurde. Sie war eine dunkle Gestalt, die ihm ein Mittel zum Töten gab. »Das ist ‘ne Maschinenpistole«, sagte sie. Ihre Hände lagen immer noch an der MP, und die MP lag in seinen Händen. Es war der Segen eines Meuchelmörders. Sie berührte ihn durch die Waffe.
Ein leises, klares Klicken ertönte in der Dunkelheit.
Die MP leuchtete in seinen Händen auf.
Die Waffe war transparent. Der Rahmen bestand aus rost
freiem Stahl; die inneren Teile waren aus komprimiertem Plastik. Er konnte ins Magazin schauen, konnte die Kugeln sehen, die im Ladestreifen wie eine Reihe von Roboterlarven aneinandergereiht lagen. Ein winziges Licht im Kolben und ein weiteres unter dem Verschluß ließen die Waffe in einem unheimlichen blauen Licht glühen. Sie tickte mit ihrem schwarz lackierten Fingernagel gegen einen Stift direkt über dem Abzugsbügel. »Das ist die Siche rung. Rauf ist aus. Danach brauchste nur noch zielen und auf den Abzug drücken. Das sind zweiundzwanzig Schuß. Nicht groß, aber sehr präzise. Weil die Munition so klein ist, haste mit einem Ladestreifen vierzig…« »Mach das verfluchte Licht aus da drin!« zischte Willow an der Heckklappe. »Und komm jetzt!« Sie zeigte Rickenharp den Lichtschalter an der Rückseite des Kolbens und schaltete ihn aus. »Das Licht verrät deine Position. Ist nur für den Fall, daß du mal ‘n Blick auf die Knarre werfen mußt und in Deckung bist, wo man dich nicht sehen kann. Schieß erst, wenn du sicher bist, daß jemand auf dich schießt oder es gerade tun will. Diese Plastikdinger sehen wie Kinderspielzeug aus. Sind sie aber nicht.« Sie entfernte sich und schlüpfte aus dem Laster. Er wollte sie fragen: Woher weißt du so genau, daß ich nichts von Waffen verstehe? Aber ihm wurde bewußt, daß es eine dumme Frage war. Mit vorsichtigen Bewegungen hob er die MP hoch, so daß er sie vor dem Hintergrund des Nachthimmels über der Heck
klappe sehen konnte, nahm den Griff in die Hand und steckte den Finger in den Abzugsbügel. Er betrachtete sie einen Moment lang. In der Dunkelheit sah sie wie eine Verlängerung seines Arms aus. Und in seinem Innern ging eine Tür auf; etwas kroch heraus und hinterließ eine Spur der Erregung. Rickenharp drückte die Waffe mit beiden Händen fest an seine Brust und schaute in die Nacht hinaus. Ab und zu mußte er sich tiefer in seine Jacke kuscheln, um das Frösteln loszuwerden. Er atmete mit tiefen Zügen, ver suchte, Sauerstoffeuer in seinem Inneren zu entzünden, und dachte: Mein Gott! Vielleicht bin ich im Drogendelirium und halluziniere. Unten in Freezone, in dem Dreckloch von mei nem Hotelzimmer. Oder vielleicht bin ich wirklich irgendwo in den Alpen mit ‘ner MP in den Händen. Er dachte an Ponce und die Band! Diese Szene ist nich real, ihr Gitternuckler! DAS HIER ist real! Gitterfreund helfe mir, DAS HIER IST REAL! Er wischte sich die Nase am Ärmel ab und horchte. Kein Laut, nur das leise Seufzen des Windes und die klat schenden Geräusche, wenn der Wind in die Plane fuhr. Die Minuten verstrichen – oder vielleicht auch nicht. Er wußte nicht genau, wieviel Zeit vergangen war, als er die Stimmen hörte. Gutturale Stimmen. Eine fremde Sprache. Sowjets, dachte er. Willow hatte davon geredet, so abfällig, wie ein Trucker über die Autobahnpolizei spricht. »Paar Teile der Alpen sind sowjetisch, andre nich, und die verfluchten Grenzen ändern sich dauernd. Was heute NATO-Gebiet is, kann morgen schon
Sowjetgebiet sein und umgekehrt, nich«, hatte er gesagt. Das Knirschen von Schritten. Ich hätte Schüsse gehört, sagte er sich. Nicht unbedingt. Yukio, Willow und Carmen hätten direkt in eine Falle laufen und gezwungen worden sein können, sich zu ergeben, ohne einen Schuß abzufeuern. Vielleicht lagen sie jetzt gefesselt und geknebelt hinten in einem anderen Lkw eine Meile weiter unten an der Straße. In einem sowjetischen Lkw. Oder einem von der SA – noch schlimmer. Und die SA konnte überall ein. Das Reden draußen hatte aufgehört. Knirsch. Wieder Schrit te. Näher. Er schwenkte die MP herum und stützte den Ellbogen auf sein rechtes Knie. Er richtete sie auf die Rückseite des Lasters. Die Sowjets foltern heutzutage jeden, um Informationen zu be kommen, hatte Willow erklärt. Selbst Schafhirten. Er griff oben über die Waffe und entsicherte sie. Wieder die gutturale Stimme. Er versuchte die Sprache ge nau zu identifizieren, konnte sie aber nicht deutlich genug verstehen. Ein Knirschen, als jemand auf die hintere Stoßstange stieg. Zwei Umrisse, die dort hinten verschmolzen. Wieder die gutturale Stimme, und dann wurde es hell hinten im Laster … Stroboskopblitze erhellten ihn, vier Stück, die wie Blitzlich ter aufflammten und die Vorgänge am hinteren Ende des Lasters zu einer Filmsequenz in Einzelbildern machten: Car men, die Hand über die Augen erhoben, den Mund zum Schreien geöffnet, neben ihr ein fremder Mann mit einer blauen Strickmütze und weit aufgerissenen Augen; Carmen
mit zwei roten Löchern in der Brust; Carmen mit nach oben geworfenen Armen; Carmen, wie sie nach hinten fiel. Die Rückwand des Lasters warf ein metallisches Lispeln als Echo auf jeden Schuß zurück. Und Rickenharp erkannte, daß er auf den Abzug gedrückt hatte. Er dachte: Willow hat doch gestern was davon gesagt, daß sie ein paar Freunde aus der Schweiz treffen wollten. Der Bursche hat schweizerisch gesprochen, dachte er. Und dann: Ich habe Carmen erschossen! »… die Wahrheit ist«, sagte Molt, »daß es bei Admin zwei Fraktionen gibt. Eine Fraktion ist im Prinzip dafür, das Kriegs recht in der Kolonie auszurufen. Ihre Meinung lautet in etwa, daß die Gefahr für die Lebenserhaltungssysteme der Station … zu groß ist, wenn sie den Dingen einfach ihren Lauf lassen …« Bonham saß in der Kaschemme und sah sich Molts Rede in einem alten Fernseher mit Dreißig-Zentimeter-Bildschirm an, der bündig in die Wand eingelassen war. Er dachte: Molt klingt müde. Mechanisch. Kurz vor dem Zusammenbruch. Und der Fernseher in Pregos Kaschemme war auch müde und kurz vor dem Zusammenbruch. Das Bild von Molts sprechendem Kopf verzerrte sich zum Umriß einer Erdnuß, was Molt noch müder aussehen ließ. Bonham lehnte sich bequem in den Sessel zurück. Der Ses sel nahm das halbe Zimmer ein. Wie alles andere in dem Raum war er abgenutzt und schmutzig, und die Nähte waren aufgeplatzt. Die Wände waren mit verblassenden Pornobil dern tapeziert: Mädchen und Jungen mit Heftklammern im
Bauchnabel. Neben dem Fernseher stapelten sich HardcorePornovideos, und hinter dem Sessel lag eine Matratze, die mit einem ekelhaften Potpourri von Ausscheidungen befleckt war. Manche benutzten sie als Unterlage zum Ficken, wenn Pornos liefen. An diesem Ende der Kolonie gab es irgendein Problem mit der Wärmeübertragung, und Prego hatte zum Ausgleich einen Raumheizer bekommen. Die Wärme stieg hoch, und ihre Wellen lüpften die Blätter mit den papierenen Mädchen und Jungen an den Ecken, so daß diese einen herbeizuwinken schienen; die Wärme hatte den ins Papier eingebauten Zerfall faktor aktiviert, so daß der Unterdruck durchschimmerte: ZEIT, MICH ZU RECYCELN. Neben dem Fernseher lag Pregos Wäsche auf einem Haufen. Ihr saurer Geruch beherrschte den Raum. In Pregos Kaschemme gab es drei Zimmer. Die anderen beiden waren größer. Ungefähr zehn Leute saßen in dem Durcheinander in den anderen Räumen am Boden und tran ken Pregos widerliches Selbstgebrautes – fermentierter Müll, hatte Molt dazu gesagt –, rauchten Stim und hörten Minimo no. Bonham hatte die Tür zugemacht und den Fernseher so laut gedreht, wie es ging; er mußte sich anstrengen, um Molt zu hören, als dieser fortfuhr: »… Die andere Fraktion ist auf richtig – das glaube ich jedenfalls – daran interessiert, einen Kompromiß mit den Streikenden auszuhandeln. Die Blockade ist ein Ausnahmezustand, in dem wir alle zusammenarbeiten sollten, um zu überleben …« Er machte eine Pause, um einen Blick auf seine Notizen zu werfen. Molt wurde von Asheem Spengle ersetzt. Die drei Irokesen finnen des Moderators wurden durch die Verzerrung in der oberen Hälfte des Bildschirms auf komische Weise verformt. Er sagte etwas auf Technicki, was am unteren Rand des
Schirms in Untertiteln übersetzt wurde: »… Und das war unser Ausschnitt aus der Pressekonferenz mit dem Radikfüh rer Molt, die dieser gestern nach seiner Entlassung aus der Inhaftierungssektion der Kolonie gab. Wie wir feststellen mußten, las der Radikführer Molt bei seiner Erklärung mehr als einmal von einem schriftlich vorliegenden Text ab. Wir können nicht umhin, die Frage zu stellen, wer diesen Text geschrieben hat. War es tatsächlich der Radikführer Molt? Oder wurde er von der Kolonieverwaltung für ihn verfaßt? Auf Molts Erklärung folgte eine Bestätigung von Professor Rimpler, dem Gründer der Kolonie, und seiner Tochter Claire … Molts Verbindung mit diesen beiden hohen Admin-Figuren wirft eindeutig einen Schatten des Zweifels auf die Ehrlichkeit seiner …« »Dummes Zeug«, murmelte Bonham und schaltete auf ei nen anderen Kanal um. Eine weitere Nachrichtensendung, diesmal in StandardEnglisch, vornehm artikuliert von einer Moderatorin, die aussah, als ob sie eigentlich Farsi sprechen müßte: »… haben ihre Forderungen in einem Dokument bekräftigt, das heute Admin-Funktionären per Fernschreiber übermittelt wurde. Der Rat der Radikführer fordert einen Zeitplan für die Integra tion der Technickis in die Admin-Wohnprojekte im Freigelän de, die Aufnahme von Repräsentanten der Technickis in alle Admin-Leitungskomitees, Garantien für verbesserte Lebens bedingungen in den vorhandenen Technicki-Wohnbereichen, Beteiligung der Technickis am Admin-Untersuchungs ausschuß zur Lebensmittelrationierung während der Blocka de, offene Gespräche über die Möglichkeit einer Lohnerhö hung für Technickis und den Abzug der ›Konfliktverhütungs posten‹ der SAISC von Versammlungsorten und Korridoren
der Technickis …« Bonham beugte sich vor und sah sich selbst auf dem Schirm. Das Bild war ein bißchen wacklig, und ein statisches Knistern verwischte die Worte der Moderatorin. »…Bonham, der Vorsitzende des Rats der Radikführer, sprach heute…«, schnappte er auf. Dann hörte er seine eigene Stim me. Es gefiel ihm gar nicht, wie sie im Fernsehen klang. Sie hörte sich blutleer an, viel zu hoch. Und Pregos verdammter Schirm verzerrte sein Bild, so daß sein Kopf wie eine Seifen blase zitterte. Er hörte sich sagen: »… erstaunt mich, daß sie glauben, wir könnten mit doppeldeutigem Gerede wie bei Orwell manipuliert werden – mit Worten wie zum Beispiel ›Konfliktverhütungsposten‹. Sturmtruppen sind Sturmtrup pen.« Bonham zuckte die Achseln. Es war okay. Manchmal nah men sie ein Stück, in dem man wie ein Idiot klang. Aber das hier kam genau auf den Punkt. Die Moderatorin ging zu etwas über, was sich nicht direkt auf Bonham bezog, und er begann das Interesse zu verlieren. »… Admin-Techniker haben heute die Energieversorgung der obersten vier Subebenen trotz der Sabotageanschläge von streikenden Technickis auf die Kabelstränge instand ge setzt…« »Kabelstränge«, sagte Bonham. »Das Wort benutzt doch kein Mensch mehr.« Er trat mit der Spitze seines Cowboystie fels gegen den Schalter und sah traurig zu, wie sich das hüb sche Arabergesicht zusammenfaltete und verschwand. Er schaute auf seine Uhr. Ich bin spät dran, dachte er. Gerade richtig. Er stand auf, streckte sich und bahnte sich seinen Weg durch das Zimmer und das Gewirr von Beinen im nächsten,
wobei er geschickt denjenigen auswich, die ihn absichtlich zu Fall zu bringen versuchten. Er blinzelte in den Rauch, wobei es ihm so vorkam, als ob sich der Rauch zur Musik bewegte (aber das war eigentlich unmöglich, oder?), und fand die Tür. Die Kaschemme war illegal, und Admin begann bei solchen Läden hart durchzugreifen, weil sie vollkommen zurecht für Brutstätten radikaler Umtriebe gehalten wurden. Deshalb vergewisserte er sich zuerst, ob im Foyer Bullen waren, indem er Pregos getarnte Fernsehkameras in beide Richtungen schwenkte. Alles klar. Bonham machte die Tür auf, trat hindurch und schloß sie rasch hinter sich. Er rieb sich die Augen und eilte durch den Korridor zum nächsten Durchgang. Er kam an einer Gruppe von Technickids vorbei, die die Korridorwand mit Graffiti besprühten. Sie erstarrten, als er um die Ecke bog, und sahen ihn über ihre Schultern hinweg an. Er lächelte und zuckte die Achseln, und sie grinsten und entspannten sich. Es waren vier, und er stellte belustigt fest, daß sie alle verschiedene Hautfarbe hatten: Einer war spanischer Herkunft, einer schwarz, einer weiß und der vierte war vielleicht Koreaner, vielleicht auch Chinese oder Vietnamese. Alle waren zirka elf Jahre alt. Ihre Overalls waren mit Buttons und Aufklebern verschönt – Aufklebern mit der technischen Einstufung ihrer Eltern, Hochglanzbuttons mit trübselig dreinschauenden Minimono-Drahttänzern, die so unwirklich aussahen wie die Buttons mit Zeichentrickfiguren. In diesem Korridor wimmelte es nur so von Graffiti. An manchen Stellen waren die Wände fast schwarz. Die ersten Slogans waren von einer dicken Schicht aus Obszönitäten, Taggernamen und Bandensymbolen überdeckt. Die Banden
graffiti hatte in letzter Zeit zugenommen, und er fragte sich, ob man die Banden von Technickids schon als ernsthafte Bedro hung ansehen mußte. Die Tür zum Durchgang ins Freigelände war von Vandalen aus den Angeln gerissen worden. Mitten im Durchgang stand ein SAISC-Posten und versperrte den Weg. Vielleicht war der Wachmann so weit von der Tür entfernt, weil diejenigen, die direkt in der Tür standen, geradezu eine Aufforderung dar stellten, ihnen einen Sprengsatz vor die Füße zu werfen. Bonham hatte selbst einmal einen Molotowcocktail geworfen und dann gedacht: Bin ich nicht mehr ganz dicht? Wenn der Laden hier abgefackelt wird, kann man nirgends mehr hin. Konnte die Kolonie brennen? Manche sagten ja, andere nein. Einige behaupteten, Teile davon schon; es könne sein, daß es in den Wänden brennbares Isolationsmaterial gäbe, und wenn eine brennbare Leitung bis zu dieser brennbaren Isolierung durchschmoren würde, könnte sich der Bereich mit Rauch füllen. Obwohl es theoretisch genug Gasmasken und Schutz anzüge gab, um so etwas zu überstehen, ging das Gerücht, daß ungefähr ein Drittel davon mutwillig zerstört oder wegen Überalterung unbrauchbar war. Während Bonham auf den gepanzerten Wachmann zuging, dachte er konzentriert über diese Dinge nach und versuchte damit seinen Bammel loszu werden, aber das machte es nur noch schlimmer. Er konnte nicht in dieses blaugrüne Krummspiegelgesicht hinaufschauen, das brachte er einfach nicht. Deshalb richtete er den Blick auf die Mitte der grauschwarzen Brust und sagte: »Bonham, Sicherheitspaß 4555.« Der Bulle tippte etwas in die Konsole an seinem Handge lenk. »Wiederholen Sie.«
Bonham wiederholte es für den Stimmenanalysator. Der Analysator übertrug es zum Computer der Sicherheitszentrale, der das registrierte Stimmprofil mit dem von Bonham ver glich, die Codenummer prüfte und ein Bild von Bonham auf den winzigen Schirm rechts im Helm des Wachmanns proji zierte. »Gehen Sie durch, Sir. Und schönen Spaziergang«, sagte der Bulle und trat beiseite. Bonham ging an ihm vorbei und schaute auf die Uhr. Er beschleunigte seine Schritte. Sie war dort, wo sie gesagt hatte, und sie hatte nur einen Leibwächter dabei. Judith Van Kips stand genau im Zentrum der Baustelle. Das Fiberplasgerüst des unfertigen Hauses ragte wie ein Käfig um sie herum auf. Es war ein goldener Käfig, weil das Licht im Freigelände gefiltert und rotgolden getönt worden war, um einen Sonnenuntergang zu simulieren; in einer Stunde würde es dunkel sein. Das Licht in den Korridoren wurde normaler weise ebenfalls dunkler, um reguläre 24-Stunden-Rhythmen zu erzeugen. Aber seit den Streiks und den Krawallen waren sie ständig gut beleuchtet… Das Licht, das durch das zur Sonne zeigende Glas herein fiel, warf schwarze Schattenbalken über die rote Erde der Baustelle, über Judith Van Kips’ langes, glattes, flachsblondes Haar und die schwarze Uniform des behelmten Wachmanns hinter ihr. Mit klopfendem Herzen trat Bonham durch den Türrahmen und dachte: Wenn ich’s mir jetzt anders überlege und wieder rausgehe, wird mich der Bulle schnappen, und sie werden dafür sorgen, daß mich keiner rausholt, so wie Molt.
»Das ist nah genug«, sagte sie. Bonham blieb drei Meter vor ihr stehen. »Gefällt mir nicht, daß der Bulle zuhört.« »Er ist mein Persönlicher. Wir können ihm vertrauen. Halten Sie jetzt still.« Er wartete unbeweglich und schwitzend, während der SAISC-Wachmann mit einem Waffendetektor über seinen Körper fuhr und ihn dann abtastete. Der Bulle steckte die Geräte wieder in den Beutel an seinem Gürtel und zog seine Waffe. Judith Van Kips lächelte, als sie die Angst in Bonhams Gesicht sah. »Nur für den Fall«, sagte sie. Bonham zuckte die Achseln, als ob er nicht ganz kurz davor gewesen wäre, im Reflex auf die Waffe loszuspringen. »Sie und Praeger haben Spengle gekauft, diesen Blödmann.« Darauf erwiderte sie nichts. »Ich bin teurer als Spengle«, fuhr er fort. Sie wartete. Die künstliche, sorgfältig gesteuerte Brise spielte mit den exakt geschnittenen Spitzen ihrer flachsblonden Haare und wehte sie über ihr künstliches, sorgfältig modelliertes Gesicht, ein Gesicht, das zu perfekt war, um natürlich zu sein. »Ich will das Geld, und ich will raus. Nach Hause. Zur Erde. Vielleicht…« Er hob die Schultern. »Trinidad wäre ganz nett. Oder Freezone.« »Die Blockade.« Ihre Stimme war beinahe tonlos. »Reden Sie keinen Stuß. Ich weiß über den Vertrag Be scheid. Die Sowjets werden Lieferungen in begrenztem Um fang durchlassen. Nahrungsmittel, lebenswichtiges Versor
gungsmaterial. Nur das Minimum. Kein Import, kein Export. Sämtliche Transporte werden eingefroren. Aber Schiffe, die reinkommen, müssen auch wieder raus. Einige Ihrer Leute werden mit denen zurückfliegen. Ich will auch mit.« »Wo haben Sie von dem Vertrag gehört?« Jetzt war er an der Reihe, zu lächeln. In ihrer Stimme lag eine Spur Bestürzung. »Einer von meinen Jungs – vielleicht sollte ich ihn meinen Persönlichen nennen – hat ‘n Händchen für so was, und Gitterfreund ist immer bei ihm. Er hat eure Komleitungen angezapft. Er und ich sind die einzigen, die Bescheid wissen. Außer …« Er zuckte die Achseln. »Außer er plappert’s aus. Aber ich glaub nicht, daß er das tut.« »Sein Name.« Bonham schüttelte den Kopf. »A-ah.« Sie sah den Bullen an, als erwäge sie, den Namen aus Bonham herausquetschen zu lassen. Aber dann überlegte sie es sich anders. Praeger hatte Pläne mit Bonham. Schließlich zuckte sie die Achseln. »Behalten Sie Ihren Freund im Auge. Und passen Sie auf, daß niemand etwas von dem Vertrag erfährt. Wir haben uns alle Mühe gegeben, daß es nicht in die Medien kommt.« »Die gestörten Sendungen von der Erde – seid ihr das?« »Manche Frequenzen ja, manche nein. Was Ihren Flug zur Erde betrifft, so läßt sich das vielleicht machen. Ich werde mit Praeger sprechen. Wenn er es genehmigt, erfahren Sie es durch eine codierte Nachricht. Der gleiche Code wie beim letztenmal.« »Ich will das Geld in einer versiegelten Kreditkassette. Einer pfuschsicheren Kredette. Verstanden? Fünfundzwanzigtau send Neudollar.«
»Das sind fünftausend mehr als vereinbart.« »Ich setze nicht nur mein Leben aufs Spiel. Ich begehe Ver rat … Ich werfe mein Leben hier weg.« »Sie verraten nichts, woran Sie wirklich geglaubt haben, sonst wären Sie gar nicht fähig, das alles zu tun. Ich werde die zusätzlichen Fünftausend persönlich genehmigen. Aber mehr gibt es nicht.« »Okay. Also, was soll ich nun genau tun?« »Erstens bekräftigen Sie Spengles Andeutung, daß Molt un ter fremder Kontrolle stehen könnte. Zweitens – was am wichtigsten ist – treten Sie gegen jeden Kompromiß mit Ad min ein. Bestehen Sie darauf, daß es alles oder nichts sein muß.« Bonhams Magen drehte sich vor schierem Ekel um. Ekel vor ihnen – und vor sich selbst, weil er wußte, daß er die Sache durchziehen würde. Wenn er die Radikführer der Technickis in eine ›Alles oder Nichts‹-Haltung trieb, würde es so ausse hen, als ob Admin zur Ausrufung des umfassenden Kriegs rechts, zu Massenfestnahmen und Razzien in den TechnickiWohnbereichen ›gezwungen‹ gewesen wäre. Und zu Hinrichtungen. Rechtlich gesehen stand es in Admins Macht, das Kriegs recht zu verhängen. Sobald es ausgerufen war, waren sie ermächtigt, jeden hinzurichten, den sie als Bedrohung der luftdichten Integrität und des umfassenden Lebenserhal tungsprofils der Kolonie betrachteten. Der Angeklagte hatte das Recht auf eine Anhörung. Danach konnte die Exekution nach Gutdünken des Rates durchgeführt werden. So stand es im Kleingedruckten im Vertrag jedes Angehöri gen der Kolonie, und zwar deshalb, weil die Kolonie trotz aller
Technik und aller Sicherheitsmaßnahmen ein fragiles Gebilde war. Einen ausgewachsenen Aufstand würde sie nicht überle ben. Einige Technickis wußten das. Andere hielten es für Admin-Propaganda, mit der man das Proletariat unter Kon trolle halten wollte. »In Ordnung«, sagte Bonham schließlich. »Aber ich möchte, daß Sie wissen, warum ich das mache.« Sie schnaubte leise. »Ach ja? Dann sind Sie ein Waschlap pen. Aber schießen Sie los.« Dann sind Sie ein Waschlappen. Er wollte ihr sagen, sie solle sich ins Knie ficken, aber er mußte mit seiner Rationalisierung fortfahren. Der Drang war überwältigend stark. Er wußte, daß es jämmerlich war, aber er konnte nicht verhindern, daß es herauskam. »Ich werd’s tun, weil die Kolonie ein hoffnungsloser Fall ist. Weil sie’s nicht schaffen wird. In spätestens einem Jahr ist sie ‘n totes Wrack. Dann ist hier drin niemand mehr am Leben. Also macht’s eh nichts aus.« Sie sah ihn unverwandt an. »Wissen Sie etwas, was wir nicht wissen? Zum Beispiel, daß jemand eine große Bombe gebaut hat?« Er schüttelte den Kopf. »Sowas ist es nicht. Ich glaube, ihr geht ein Risiko ein, das euch aus der Hand gleiten wird. Ich glaube, ihr unterschätzt die Wut und die Irrationalität dieser Leute, und wie weit sie gehen würden.« »Sie unterschätzen Praeger.« Eine diskrete Verehrung in ihrer Stimme, als sie ›Praeger‹ sagte. »Er ist auf – all so etwas vorbereitet. Ich bin befugt, Ihnen mitzuteilen, daß Praeger eine hohe Meinung von Ihrer Fähigkeit hat, Menschenmassen zu beeinflussen. Sie haben Talent. Ob auf der Erde oder in der
Kolonie, wir werden weiterhin Verwendung für Sie haben. Sie können das als Garantie nehmen, daß Sie wie versprochen bezahlt werden.« Sie drehte sich um und ging davon. Der Bulle blieb, wo er war, zwischen Bonham und Van Kips. Aufmerksam. Bereit. Bonham wandte sich ab, verließ die Baustelle mit blei schweren Beinen und ging durch das lange Gras in die wach senden Schatten des Parks im Freigelände. Eine Sicherheitspa trouille der SA fuhr in einem kleinen Fahrzeug wie einem Golfwagen vorbei und leuchtete mit Handscheinwerfern in die dunklen Ecken. Leuchtet damit in mein Inneres, dachte Bonham. Die Patrouille leuchtete ihn kurz an und fuhr weiter. Wahr scheinlich waren sie bereits informiert, daß er eine Genehmi gung hatte. Sie wußten genau, wo er war. Sie würden weiterhin Verwendung für ihn haben, hatte sie gesagt. O nein! O Scheiße! O Gott! Er trat durch das Tor in den Durchgang und ging den Kor ridor aus durchsichtigem Plastik entlang, der zur Wohnbe reichsebene der Technickis führte. Da war der Wachposten, auf halbem Wege … Nein. Er stand jetzt dichter bei der Tür. Ein bißchen vorge beugt. Er horchte. Ein Ruf von der Tür jenseits des Wachpostens hallte durch den Korridor. Der Wachmann machte sich auf den Weg dort hin. Bonham kämpfte gegen den Drang an, ihn zu warnen. Der Wachmann kam zur Tür, zog seinen Knüppel und
schaute hinaus. Ein flackerndes rotes Licht flog durch die Luft. Ein Sprengsatz, dachte Bonham, als ein Molotowcocktail mitten auf der Brust des Wachmanns explodierte; ein zweiter zerplatzte an seinem Helm. Sein Schrei wurde von seinem Helmmikro verstärkt. Er taumelte wild um sich schlagend zurück. Er war bereits eine menschliche Fackel, ein Mensch aus Feuer wie ein Wesen aus der Vision eines Apostels. Er krallte die Finger in den Feuerlöscher an seinem Gürtel, aber das Gelee des zweiten Sprengsatzes war über seine Sichtscheibe gelaufen, und er konnte nicht genug sehen, um ihn zu benutzen. Die Anzüge der Wachen sollten eigentlich feuerfest sein, aber die Techni ker des Untergrunds hatten einen neuen Brennstoff entwickelt, der sich geradewegs durch das ›nicht brennbare‹ Synthetikma terial fraß, aus dem der Panzer der Wachen bestand. Das Feuer erreichte die Sprengladungen der Tränengasgranaten im Beutel des Wachmanns, und sie explodierten und jagten ihm Schrapnells in den Leib. Er stürzte um sich schlagend zu Boden, und ein dritter Sprengsatz traf ihn. Bonham wich zurück, als er die Hitze auf seinem Gesicht spürte. Er roch eine Petroleumbase und bren nendes Plastik. Das Geräusch von brutzelndem Plastik, zer schnitten von Schreien. Die Sensoren in den Trennwänden der Kolonie entdeckten das Feuer und aktivierten Sirenen, mechanische Schreie, die jene des Mannes vervielfältigten. Die Sprinkleranlagen traten in Aktion – aber nur sporadisch, da und dort im Gang. Sie waren zerstört worden. Die feuerlöschenden Flüssigkeiten kamen nicht an den brennenden Wachmann heran.
Die Sichtscheibe des Wachmanns schmolz und legte sich auf sein Gesicht. Bonham dachte: Jemand hat bei ihren Rü stungen gespart. So leicht dürften sie eigentlich nicht brennen. Teile des Helms waren weggebrannt, und ein Teil des Ge sichts lag bloß. Waren das meine Leute? fragte sich Bonham. Oder waren es Praegers Agenten, die alles für das Kriegsrecht vorbereiteten? Hat die Rüstung dieses Burschen so leicht gebrannt, weil man ihm einen Anzug gegeben hat, der bren nen sollte? Und als Bonham sich umdrehte, um wegzulaufen, dachte er: Wenn der Anzug brennt, kann man sehen, daß ein Mensch drinsteckt. Ein Mensch. Hinter ihm hörte der Mann auf, um sich zu schlagen. Die Schreie verstummten. SAISC-Wachleute trafen in Patrouillen karren ein. Der aufsteigende Rauch war schwarz wie Zorn.
FÜNFZEHN DER SEX LIEF IN PHASEN AB. In der ersten Phase tat Swenson routinemäßig das Erforderliche, ließ in seinem Kopf Filme ablaufen, damit er nicht abschlaffte, und kam sich vor, als ob er in einem Fitnesszentrum wäre und sich auf der Drücker bank abarbeitete; in der zweiten Phase entdeckte er eine ange nehme Vertrautheit in ihren Kanten und Flächen und vertiefte sich in das geistlose Vergnügen mechanischen Rammelns; in der dritten Phase begann er zu halluzinieren. Er sah Dinge. Und er tat Dinge. Mit ihr und mit dem kup ferbraunen jungen Priester, den er nicht von Ellen Mae lösen konnte. Er sah … Sie war eine hartleibige Frau, aber bei aller Eckigkeit dehn bar und gelenkig, und Swenson sah sich über ihr aufragen – und dann sah er einen Hammer, der einen Nagel in ein Brett trieb. Und jetzt einen Hammer, der einen Nagel durch die Hand eines Mannes trieb. Zurück von dieser durchbohrten Hand, so daß der Arm des Mannes auf dem rohen Holz ins Bild kam, sein zusammenge sunkener Körper vor dem aufgerichteten Kreuz. Noch weiter weg, und jetzt eine Rückblende: Er sah das erste schmerzhafte Geheimnis. Swenson hatte als Pater Stisky nicaraguanischen Kindern beigebracht, einen Rosenkranz zu beten. Er hatte erklären müssen, daß die Rezitation jeder ›Dekade‹ von der Betrachtung der fünfzehn Geschehnisse der Geheimnisse
begleitet wurde. Die freudenreichen Geheimnise, die schmerz haften Geheimnisse, die glorreichen Geheimnisse. Manchmal hatten sich die Kinder gefürchtet, wenn er von den schmerzhaften Geheimnissen sprach. Vielleicht hatte ihnen etwas in den Augen des guten Paters Angst eingejagt. Die schmerzhaften Geheimnisse erzählten vom Todeskampf Jesu … Das erste schmerzhafte Geheimnis war Jesus im Garten von Gethsemane, ein spanischer Jesus mit kupferner Haut, der für die Sünden der Welt betete. Weiter zum zweiten schmerzhaf ten Geheimnis, in dem Jesus von den Wachen und den gehäs sigen Juden gegeißelt wird, die ihn zur Kreuzigung verurteil ten. Weiter zum dritten schmerzhaften Geheimnis, der Krö nung mit den Dornen. Weiter zum vierten schmerzhaften Geheimnis, und Swenson sah Jesus das Kreuz den Hügel nach Golgotha hinaufschleppen. Weiter zum schmerzhaften Ge heimnis der Kreuzigung: Jesus wird ans Kreuz genagelt, die Nägel dringen in Seine Hände, ins Holz, der Hammer schlägt die Nägel ein, treibt Sein Blut in das Fleisch eines Baumes, treibt die Nägel ins Holz, treibt die Nägel hinein, hinein, bis das Blut… Er schrie, als er kam. Es war ein Schmerzensschrei. Er sah die beiden Nazis in der Kapelle knien, sah die Kugel löcher in ihren Rücken wie Wundmale erscheinen. Sie sterben für ihre Sache, obwohl sie es nicht wissen, dachte er. Und dann verging es, als Ellen Mae, die keuchend unter ihm lag, fragte: »Alles in Ordnung mit dir?« »Ja. Es ist erledigt.« »Was? – Was ist erledigt?« »Ich … ich weiß nicht. Ich kann nicht richtig denken. Du machst mich fertig.«
Was hatte er mit ›Es ist erledigt‹ gemeint? Er hatte etwas wiederholt. Etwas, das Watson gesagt hatte. Sie waren zur Hintertür hereingekommen und in der Küche gewesen. Ellen Mae war gerade dabei, Brote für den Lunch zu schmieren. Das gehörte zu ihren morgendlichen Tätigkeiten. Sie sagte, es sei ihre ›Meditationszeit‹. Sie hatte Swenson gar nicht angesehen. Sie knetete Teig, schaute kurz auf, warf Watson einen flüchtigen Blick zu und sagte geistesabwesend: »Habt ihr euch um diese schrecklichen Männer gekümmert?« Watson nickte. »Es ist erledigt.« »Oh, gut. Ich mag solche Hinterwäldler-Miniaturausgaben von Hitler nicht hierhaben. Sie regen Rick auf. Möchtet ihr Kaffee?« Swenson hatte zugehört und war sicher gewesen, daß sie nicht gemeint hatte: ›Habt ihr sie weggeschickt?‹ Sie hatte ge meint: ›Habt ihr sie getötet?‹ So beiläufig wie eine Bauersfrau ihren Mann fragt, ob er ein Schwein für die Koteletts zum Abendessen geschlachtet hätte. Er und Watson – nur sie beide – hatten in der Frühstücksek ke der Küche gesessen, Kaffee getrunken und süße Brötchen gegessen. Auch damals hatte Swenson routinemäßig das Erforderli che getan. Jetzt kam es ihm mehr und mehr so vor, als ob er sich selbst auf einem Bildschirm beobachtete. Stisky beobach tete Swenson, und Swenson war nicht mehr Stisky, und Stisky wußte nicht, ob er Swenson noch unter Kontrolle hatte … »Ich hab Sie eine Weile beobachtet, John«, hatte Watson mit seinem onkelhaftesten Lächeln gesagt. Swenson sah Watson forschend ins Gesicht und suchte nach
einer hintergründigen Bedeutung, sah jedoch nichts als das Lächeln. »Wir haben Sie beim Gottesdienst überwacht. Das heißt, der alte Sacks hat’s getan. Mit Drähten in Ihrer Kleidung. Um Ihre Reaktion zu testen. Jeder Anwärter ist vor seiner Aufnahme in den Circle überprüft worden. Sie haben von allen die positiv ste Reaktion gezeigt. Ihre Lustzentren haben Überstunden eingelegt. Ihr Puls war oben, wo er sein sollte, und … na ja, ich will Ihnen die ganzen Details ersparen. Es genügt zu sagen, daß wir Sie für besonders geeignet halten, Diakon im Second Circle zu werden.« Er sah aus wie ein Vater, der seinem min derjährigen Sohn gerade erzählt hat, daß er zum Geburtstag einen neuen Mercedes bekommen würde. Swenson machte ein entsprechend dankbares Gesicht. Und als er jetzt neben Ellen Mae lag, dachte er: Sie wissen nicht, wer ich bin. Sie glauben, ich bin Swenson. Ich bin Stisky. Aber sie wissen trotzdem besser als Steinfeld, wer ich bin. Sie kennen mich. Gott helfe mir! James und Julie Kessler saßen zusammen auf dem Sofa und sahen fern. In dem Hotelzimmer gab es einen der neuen dualen Fernseher mit einem Holowürfel für die Holokanäle über dem Bildschirm, aber Kessler hatte die Holofunktion ausgeschaltet. Er hatte nichts dafür übrig, dreidimensionale Miniaturmenschen jenseits des Kaffeetischs durch DeoWerbespots springen zu sehen. Beim normalen Fernsehen konnte man leichter auf Distanz bleiben; wenn die Figuren dreidimensional waren, wirkten sie irgendwie realer, auf dringlicher, und man fühlte sich genötigt, zu kaufen, was
immer sie verkauften – oder sie anzuschreien, einen in Ruhe zu lassen. Und sie konnten einen natürlich nicht hören. Also sahen sie sich die Sendungen für die unteren Einkom mensklassen an. »Wieviel Uhr ist es?« fragte Julie. Kessler verspürte einen Anflug von Ärger. »Was macht das schon? Wir sind mindestens noch bis morgen abend hier. Es ändert sich nichts. Wir erwarten niemand und wir können nicht raus.« »Ich möchte’s bloß wissen«, sagte sie sanft und legte ihm die Hand auf den Arm. Er legte seine Hand über ihre und seufzte. »Dieses Rumsit zen und Nichtstun macht mich ganz nervös.« »Auf die Gefahr hin, dich noch mal zu ärgern – was hat Purchase gestern abend genau gesagt?« Er zuckte die Achseln. »Im wesentlichen, daß wir warten sollen. In der Zwischenzeit beschützen sie uns. Sie werden mit uns Kontakt aufnehmen.« »Ich meine nicht ›im wesentlichen‹.« »Na ja – er hat gesagt, das Hotel gehört seinen Leuten. Und daß die Leute von Worldtalk nach uns suchen. Worldtalk ist von der SAISC übernommen worden. Die SA hat ihren eige nen Nachrichtendienst… Die Leute von der Neuen Resistance bauen eine Art ›Untergrundstrecke‹ – allerdings in Form eines Lear-Jets – zu irgendeiner Insel in der Karibik auf.« »Soweit hab ich das verstanden, aber – zu welcher Insel? Und wie wird es da sein? Ich meine – nach allem, was wir wissen, könnte es ein Gefängnis sein.« »Das glaube ich nicht. Steinfeld war… Ich glaube ihm. Wir werden ein kleines Haus auf dem Land haben und beschützt
werden, und ich werde mit seinen Leuten zusammenarbeiten, um mein Testprogramm zu entwickeln. Sie können es dazu benutzen, der SA-Propaganda entgegenzuwirken, und das ist für ihn von großem Wert. Sie werden uns wohl kaum brutal behandeln, wenn sie auf meine Kooperation angewiesen sind. Das ergäbe keinen Sinn. Aber sie werden uns nicht sagen, wo es genau ist, denn wenn uns die SA vor dem Abflug findet…« Er hob die Schultern. Sie rutschte in den Kissen herum, und ihre Hand spannte sich fester um seinen Arm. »Vielleicht sollten wir … ich weiß nicht… uns allein irgendwohin aus dem Staub machen. Nach Kanada, zum Beispiel. Vielleicht gehen wir ein Risiko ein mit diesen Leuten, die – na ja, was wissen wir schon über sie?« »Ich war von Steinfeld beeindruckt. Wir müssen unsere Ge fühle in bezug auf Menschen wichtig nehmen, und zwar jetzt mehr denn je. Außerdem kenne ich Charlie seit Jahren. Er gehört dazu, und er kommt mit uns.« »Könnte es nicht sein«, sagte sie, »daß es dir schmeichelt, was für große Stücke Steinfeld auf dein Programm hält? Daß es eine Ego-Entscheidung ist?« Er machte den Mund auf, um es abzustreiten. Dann über legte er es sich anders. »Das vielleicht auch. Was macht es schon für einen Unterschied, wohin wir gehen? Flucht ist Flucht, und Sichverstecken ist Sichverstecken.« Sie schwieg eine Weile. Er versuchte, sein Interesse auf das Fernsehen zu richten. Auf Kanal 50 lief die Übertragung einer Versammlung zur Hebung des Nationalgefühls. Fünfhundert Grundschulkinder in Rot, Weiß und Blau marschierten in Formation über ein Footballfeld und bildeten mit den Fahnen, die sie trugen, eine
Adlergestalt. Auf den Rängen über ihnen hoben hundert weitere Karten hoch, die zusammen ein Bild des mütterlich gütigen, freundlichen, aber strengen Gesichts von Mrs. Anna Bester ergaben, der Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika. Die Kinder sangen den Pophit »Wir treten unseren Feinden in den Hintern!«, bis ein großes Holo von Mrs. Bester lächelnd und winkend auf der Bühne erschien … Kessler schaltete um. Auf Kanal 55 beendete der junge Country-Pop-Sänger Billy Twilly gerade einen Song mit einer feierlichen Unterstützung von ›Annas neuem Programm‹. Während seine Band leise hinter ihm spielte, schlenderte er mit gesenktem Kopf und einer Hand in der Tasche über die Bühne, wie ein einfacher Mann, den die große Verantwortung, die man ihm auferlegt hat, ein wenig in Verlegenheit bringt. Er blieb stehen, hob den Blick ins Licht und sagte: »Annas neues Programm ist mehr als nur ein neues Ausweissystem. Es bedeutet Sicherheit – Sicher heit für jeden Amerikaner vor der Bedrohung durch den Terrorismus. Letztes Jahr wurden in unserem Land mehr als tausend Menschen von den Bomben der Terroristen getötet. Es gibt nur einen Weg, diese Anschläge mit Sicherheit zu stoppen, nämlich indem wir die Identität jedes Menschen eindeu tig und fehlerfrei feststellen. Manche haben das als Konformi tät bezeichnet. Ich nenne es Freundschaft – und Vertrauen. Vertrauen in Anna Bester. Und in diese unsere Vereinigten Staaten. Jetzt möchte ich gern einen Song bringen …« Kessler schaltete um. Kanal 58 war ein Technicki-Kanal. »… unnasachter, wassumtoiflmeinsmit?« sagte der Komiker und fuhr sich mit der Hand nervös über seine vier Irokesen
finnen. »Unnersacht, hey…« Kessler schaltete um. Es war ein Zeichentrickfilm. Grommet der Gremlin zeigte grinsend seine Zahnlücken, und seine Sinuswellenaugen funkelten, während er enge Loopings um eine dichte Formati on sowjetischer Gleitbomber drehte und mühelos herabtauch te, um ihnen die Nieten aus den Flügeln zu ziehen. Die Flügel fielen ab, und als die Flugzeuge für einen Mo ment in der Luft hingen, als könnten sie sich nicht zum Ab sturz entschließen, sahen die Sowjetpiloten einander konster niert an. Einer von ihnen meinte: »Ich hab’s euch doch gesagt, Genossen, wir hätten in Amerika gebaute Maschinen haben müssen!«, und dann trudelte das Zeichentrickflugzeug in Spiralen abwärts, explodierte und ging in Flamen auf, und der Kopf und die Arme des Piloten flogen blutspritzend davon und wirbelten durch die Luft, und Grommet der Gremlin schlug mit dem blutigen Stumpf des abgetrennten Arms eines Piloten wie mit einem Baseballschläger auf einen abgetrennten Kopf ein und zermanschte ihn zu … Julie schaltete um. Auf Kanal 70 flüsterte ein Mann mit einem Kopfhörer ver schwörerisch: »Ich verpasse nie etwas im Gitter! Mit meinem tragbaren Satellitenempfänger Marke Gitterfeund kann ich alle …« Kessler schaltete um. Er schaute nicht nach, welchen Kanal er jetzt erwischt hatte. Wieder ein Werbespot. Eine junge Frau im Bikini schlenderte über ihre Sonnenterrasse. Der Mann neben ihr sah sich nervös um und fragte: »Bist du sicher, daß es ungefährlich ist, ein Sonnenbad zu nehmen? Ich meine …« »Aber ja! Absolut! Wir haben hier den Sicherheitsdienst der
Second Alliance! Der bewacht unsere Siedlung! Seit die SAISC da ist, hat es hier keinen Heckenschützen mehr gegeben.« Eine vertrauenerweckende männliche Stimme intonierte im Kom mentar: »Second Alliance International Security Corporation – Die einzig wahre Sicherheit ist umfassende Sicherheit!« Kessler schaltete den Fernseher aus. Sie saßen einen Moment lang da und schauten auf den lee ren Bildschirm. »Du bist deprimiert«, sagte sie. Er zuckte die Achseln und drückte ihre Hand. »Mach dir deswegen keine Sorgen.« »Ich muß dir was sagen. Der Grund, weshalb ich mir über unser Ziel Gedanken mache …« Er sah sie an. Er wußte es. Ihn überlief eine Woge der Freu de, eine Woge purer Angst, eine Woge der Nervosität, eine Woge der Freude … … als sie sagte: »Ich glaube, ich kriege ein Baby.« Hard-Eyes und Jenkins trieben im Nebel dahin. Sie überquer ten eine Brücke über die Seine. Hier war der Morgennebel am dicksten. Er stieg vom Fluß auf und verbarg den größten Teil der Stadt vor ihnen. Die Sonne war eine heiße Perle im Osten. »Das Problem mit diesem Schwarzmarkt-Wichser ist«, sagte Jenkins, »daß er heute nicht da ist, wo er gestern war. Aber mit ‘nem bißchen Glück …« »Kommt er an Kaffee ran?« »Er sagt ja. Behauptet, daß er auch genetische Medikamente besorgen kann. Epinephrin, Norepinephrin, Neurotransmit ter…«
»Wo kriegt er den Stoff her?« »Die amerikanische Armee spickt das Essen mit Kombina tionen von dem Zeug, um die Männer kampfbereiter zu ma chen, ‘n Haufen adrenokortikotroper Hormone … Ein paar der experimentellen Truppen sind mit periodischen Injektoren ausgerüstet. So kleine Kästchen, die in der Nähe der Niere aufgeklebt sind und ihnen ‘ne Dosis Chemocourage drücken, wie sie’s nennen. Auch PCP, bei einem Angriff. Sie experimen tieren noch. Versuchen eine Kombination zu finden, die sie vorsichtig, aber nicht paranoid macht, und aggressiv, aber nicht so, daß sie möglicherweise auf ihre Offiziere losgehen …« »‘n Haufen beschissener Kotzbrocken.« »Yeah. Jedenfalls arbeitet dieser Typ im Lager der Yanks …« »Du nennst die auch Yanks? Du bist selber ‘n verdammter Yank, mein Junge.« »Ja. Aber… wenn du genug von diesem Scheiß siehst, haste da keinen Bock mehr drauf.« Sie blieben stehen und lauschten. Dumpfe, hohle Geräusche in der Ferne. Ein langes, zitterndes metallisches Kreischen. Eine rasche Folge von Explosionen. Stille. »Was meinste, wie nah das ist?« fragte Jenkins nervös. »Ein paar Meilen weit weg. Schwer zu sagen bei dem Nebel, aber es klang, als ob’s aus dem Norden der Stadt gekommen wäre.« »Scheiße. Die Kämpfe verlagern sich wieder in die Stadt. Na toll.« »Zum Teufel mit diesem Kaffeedealer. Sehen wir nach, ob
Steinfeld wieder da ist. Gestern abend haben sie gesagt, er käme zurück.« »Das sagen sie jeden Abend, schon seit ‘ner Woche.« »Schauen wir mal rein … Mist, da kommt ‘n Streifenlaster.« Sie sahen die schwarze Silhouette eines Streifenlasters der SA, nur eine quadratische, dunkle Masse im Nebel. Jenkins war als erster über dem Geländer, Hard-Eyes eine halbe Sekunde später. Sie hingen vom Geländer herab, die Köpfe unterhalb des Steinrands; der Pfahl einer Brückenlater ne verdeckte sie, und ihre Stiefelspitzen standen auf einem fünf Zentimeter breiten Sims und trugen einen Teil ihres Gewichts. Der Lkw kam ächzend näher und näher. Der Fluß rauschte und gurgelte unter und hinter ihnen. Sie spürten seine Kälte am Hintern und am Rücken. Sie hörten das Plätschern des Flusses, das vom Brückenbogen verstärkt wurde. Auf dem Fahrerhäuschen des Lasters flammte ein Licht auf; er wurde langsamer, und der schmale Scheinwerferstrahl schnitt wie ein Säbel durch den Nebel und glitt über sie hinweg, und HardEyes dachte: Sie werden uns sehen. Es gab eine Sekunde der Ungewißheit. In dieser Sekunde wurden ihm zwei Dinge klar: erstens, daß Jenkins und er nicht geschnappt werden durften. Die SA suchte in einer großangelegten Polizeiaktion nach allen, die nicht eindeutig als Franzosen, US-Soldaten oder Soldaten der NATO-Truppen identifiziert werden konnten. Und selbst die Franzosen waren verdächtig, wenn sie keine Mitglieder der Front National waren oder wenn es sich bei ihnen um Juden, Moslems oder Kommunisten handelte. Die Festgenommenen verschwanden im Vorbeugehaftzentrum der SA. Es hieß, daß die SA bei manchen den Extraktor, bei ande
ren Folter anwandte. Gerüchte sprachen von Massenhinrich tungen, aber es gab keine Beweise. Und es gab keine Enthül lungsjournalisten, die welche suchten. Unter Berufung auf ihre von der NATO gewährte Befugnis, das Kriegsrecht zu verhän gen, hatte die SA die Redaktionen der Magazine und Zeitun gen einfach geschlossen. Die Fernsehsender waren von den Sowjets zerstört worden. Wenn Hard-Eyes und Jenkins ge schnappt wurden, würde die SA alles erfahren, was sie über die Neue Resistance wußten. Es gab keine Möglichkeit, etwas vor einem Extraktor geheimzuhalten. Deshalb erkannte Hard-Eyes in dieser Sekunde, daß er und Jenkins in den Fluß springen mußten, falls sie entdeckt wur den. Seine zweite Erkenntnis war, daß sie den Fluß wahrschein lich nicht überleben würden. Zu dieser Jahreszeit war der Wasserstand hoch, und das Wasser war kalt. Sie würden an Unterkühlung sterben oder von der Kälte in die Tiefe gezogen werden, bis sie ertranken. Und das war der Grund, warum er bei der NR war. Weil dies hier … Der vorbeifahrende, immer langsamer werdende Laster, der mit seinem Scheinwerfer nach ihnen suchte, die Konfrontation mit dem Raubtier, die drohende Gefahr einer Entscheidung mit tödlichem Ausgang … … weil dies hier real war. Der Laster hielt an. Der Scheinwerferstrahl bewegte sich weiter. Das Licht strich über die Steingeländer, schwenkte über Hard-Eyes und Jenkins weg, fuhr hoch und ruhte einen Mo ment auf einer der im Nebel schwitzenden Statuen aus
schwarzem Metall, die auf Säulen am Geländer angebracht waren. Als ob diese Gestalten aus der Mythologie unter Ver dacht stünden. Und dann rollte der Lastwagen weiter. Sie warteten, während ihre Finger an der Steinbalustrade anfroren, bis die roten Hecklichter des Lasters vollständig vom Nebel verschluckt worden waren. Dann kletterten sie steif über das Geländer, schoben taube Finger in ihre Jackentaschen und gingen stumm weiter nebeneinander her. Aber tief in seinem Innern, unter der Schicht des Schwei gens, war Hard-Eyes ein wenig berauscht. Als Hard-Eyes und Jenkins beim Versteck ankamen, hofften sie beide, daß Levassier etwas zu essen besorgt hätte. Ihre Mahlzeiten waren auf eine pro Tag reduziert worden, und selbst die eine war an den letzten beiden Tagen ausgefallen. Sie fanden Levassier im dritten Stock. Der dritte Stock des Verstecks war zu einer Krankenstube geworden. Der alte Kasten war im neunzehnten Jahrhundert erbaut und seit Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts nicht mehr renoviert worden. Man passierte zwei alte, gußeiserne Türen mit Messingknöpfen in der Mitte und kam in einen Hof. Man wußte, daß man sowohl beim Näherkommen als auch beim Eintreten beobachtet wurde, obwohl man niemand sah, der einen beobachtete – keine Kameras, niemand an den Fenstern. Die weiß gestrichenen, hölzernen Fensterläden standen immer offen. Die Vorhänge waren nicht zugezogen. Selbst in den Giebelfenstern unter den roten Ziegeldächern war Licht zu sehen. Man gab sich alle Mühe, das Haus so aussehen zu lassen, als berge es keine Geheimnisse. Die SA benutzte flie
gende Kameras, die ferngesteuerten Vögel; falls eine Kamera einmal an ein Fenster heranflattern, dort wie ein übergroßer Aluminiumkolibri in der Luft stehen und hineinschauen sollte, würde sie Kerosinlampen oder – wenn in der Gegend gerade die genehmigte Stromrationsperiode lief – ein paar eingeschal tete elektrische Lichter sehen. Der Operator an der Fernbedie nung, der durch das Kameraauge des Vogels blickte und im SA-Zentrum höchst gelangweilt auf einen Fernsehschirm schaute, würde ein banales, schäbiges Zimmer sehen, in dem sich vielleicht ein blasses Kind befand, das sich die Propagan dasendung im Radio anhörte, oder zwei alte Frauen, die sich gegenseitig etwas vorjammerten. Levassier, Steinfelds Adju tant, machte sich Sorgen, irgendein aufgeweckter Inspektor könnte feststellen, daß die Zimmer für das Volumen und den Stil des Hauses zu klein wirkten, und erkennen, daß es Zim mer gab, die er nicht sah. Es gab keine ausgeklügelten Ge heimgänge; nur eine Tür in der Rückwand eines Schranks. Nachdem sie beide Inspektionen passiert hatten, gingen Hard-Eyes und Jenkins durch einen solchen Schrank und betraten die Krankenstube. Dort sollte Levassier gerade bei seinen Patienten sein. Levassier war Arzt und ein Radikaler, ja, ein Marxist, aber Steinfeld hatte gesagt: »Ich sehe ihm seine politische Einstel lung aus Dankbarkeit für seine moralischen Prinzipien nach.« Die seltsame Wahrheit war, daß Politik in diesem speziellen politischen Kampf irrelevant war. Auch aus diesem Grund blieb Hard-Eyes in Paris. Die Krankenstube war ein langer, fensterloser Raum, der ständig belegt, schlecht belüftet und deshalb stickig war. An der Wand klebten verblichene Tapeten mit einem Lilienmu
ster, die an den oberen Ecken Wasserflecken hatten. Auf der anderen Seite des blau gestrichenen Holzbodens teilte die von Steinfelds Leuten hochgezogene Wand das ursprüngliche Zimmer in zwei Hälften; sie war ein häßliches Ding aus Schlackensteinen und tropfendem Mörtel. Zwischen den Fußenden der fünf gebrauchten Krankenbetten und der tape zierten Wand war kaum genug Platz, um durchzugehen. Der Raum wurde von zwei matten Glühbirnen an der von Spinn weben überzogenen Decke erhellt, eine auf jeder Seite des Raumes. Levassier war gerade dabei, über den Mangel an angemessenem Licht zu fluchen. Er beugte sich über einen Mann mit einem Brustverband im mittleren der drei belegten Betten. Levassier war ein ernsthafter, vogelartiger Mann mit einer großen Nase. Er war blaß, und seine Augen wurden von den dicken Gläsern einer randlosen Brille vergrößert. Er schniefte ständig aufgrund einer Erkältung, mit der er sich herum schlug, seit Hard-Eyes ihn kannte. Er hatte die verkniffenen Lippen eines Fanatikers und wie die meisten Marxisten keinen Sinn für Humor. Jetzt trug er einen weißen Arztkittel, wahr scheinlich weil dieser für die Patienten einen psychologischen Wert hatte. »C’est la merde«, murmelte er, »c’est la merde.« Hard-Eyes fand ein Feuerzeug in seiner Tasche. Es war fast leer, und es gab kein anderes, deshalb hoffte er, daß Levassier es zu schätzen wissen würde. Er ging zum mittleren Bett hinüber, beugte sich über den Patienten und ließ die Flamme aufleuchten. Sie warf eine kleine Pfütze gelben Lichts in den grauen Halbschatten auf dem Verband des Patienten. »Eh?« Levassier blickte auf, verärgert über die Störung.
»Licht für Ihre Arbeit«, sagte Hard-Eyes. »Ihr werdet bald essen; schleiche dich nicht bei mir an«, sagte Levassier. »Es heißt einschmeicheln oder anschleimen«, grinste HardEyes. »Arrête! Du machst das Vogel Angst! Widerlich, es hier zu haben, aber er will nicht, daß wir es wegbringen …« Dann sah Hard-Eyes den Vogel, eine große schwarze Krähe, die auf dem grauen Stahlrohrrahmen am Fuß des Bettes hock te. Sie stellte den Kopf schief, und das Licht der Feuerzeug flamme spiegelte sich in ihren Augen. Sie krächzte und zeigte dabei ein kleines Stück rosaroter Zunge. Hard-Eyes ließ die kleine Flamme erlöschen und steckte das Feuerzeug weg. Er sah sich den Mann im Krankenbett jetzt genauer an. »Smoke?« Smoke nickte und lächelte sehr schwach. »Smoke, ja. Schön zu sehen, daß du noch bei uns bist, Hard-Eyes. Ich bin erst vor drei Tagen aus Brüssel gekommen. Ich warte auf Steinfeld. Niemand hat mir was gesagt.« »Du siehst so anders aus«, sagte Jenkins. »Ich meine, du siehst gar nicht wie du aus.« »Ich hab Gewicht angesetzt. Sie haben mich saubergemacht. Mir die Haare geschnitten.« Hard-Eyes starrte Smoke an. Er fand, daß er ohne den Schmutz und den Bart ein eindrucksvolles Gesicht hatte. Ein bißchen verkniffen und mit tiefliegenden Augen, aber aristo kratisch; und es hatte etwas Leuchtendes. Das Wort ›heilig‹ kam ihm in den Sinn, und Hard-Eyes versuchte vor lauter Verlegenheit, es wegzuschieben, aber es wollte nicht weichen. Heilig.
Er wandte den Blick ab. »Wen haben wir hier noch?« Ein Mädchen lag entweder schlafend oder im Koma auf dem Rücken. Ihre Brust war verbunden. Ihr Mund stand offen und sah ausgetrocknet aus. Sie hatte kurze, stachlige Haare. »Das ist Carmen«, sagte Smoke. »Sie hat Schußverletzun gen. Ein Unfall.« Der dritte Patient schaute herüber, als er das hörte. Er war hager und hatte große Augen; sein Gesicht war beweglich, zu elastisch. Der ist am Rand des Wahnsinns, dachte Hard-Eyes. Er saß auf dem Rand eines Betts. Vielleicht war er gar kein Patient. Er trug eine Lederjacke. Seine Haare waren kurz und gesträhnt, hatten jedoch ihre Form verloren, welche es auch gewesen sein mochte. Er sah irgendwie bekannt aus. Wegen dem Ohrring, der Jacke und wie er so zusammengesunken auf der Bettkante hockte, hielt Hard-Eyes ihn für einen Retrorok ker. Er hatte die übliche verdrossene Haltung eines Rockmusi kers, der seine Bühne und die Aktivität seiner Szene vermißte. »Das ist Rickenharp«, erklärte Smoke. »Er hat seit drei Ta gen kein Wort gesagt. Seit er mit ihr hergekommen ist. Er hat sie selbst niedergeschossen. War ‘n Unfall. Anscheinend wußte er nicht genau, wen er vor sich hatte, wollte aber eigent lich gar nicht schießen; sein Finger hat am Abzug gezuckt. Ein nervöses Zucken.« Smoke hob die Augenbrauen als Ersatz für ein Achselzucken. »Er zieht ‘ne große Show ab, daß er sich’s nicht vergeben kann. Hat versucht, Wache zu halten und nicht einzuschlafen. Gestern nacht hat er’s nicht mehr durchgehal ten, der arme Kerl. Er ist sehr – dramatisch. Aber Rickenharp ist ja auch ‘n Bühnentyp.« Smoke redete so, daß Rickenharp ihn hören konnte. Viel leicht versuchte er, ihn aus seiner trüben Stimmung zu reißen.
»Rickenharp«, wiederholte Hard-Eyes. »Der Gitarrist?« Rickenharp blickte mit einer nahezu unendlichen Dankbar keit zu ihm auf, und eine Freundschaft war geboren. »Was du begreifen mußt, liebe Claire«, sagte Rimpler, »ist, daß wir alle durch unser früheres Selbstbild auch jetzt noch in unserer Haut gefangen sind.« »Dad …« Aber sie wußte nicht recht, wie sie es sagen sollte. Sie waren in der Wohnung ihres Vaters im AdminWohnbereich von FirStep, der Kolonie, und hatten sich gerade die InterKolonie-Abendnachrichten angeschaut: ein Bericht über die von der Blockade verursachte Knappheit an Luftfil tern, die für die nachlassende Luftqualität verantwortlich war. Kleine Protestbrände, die hier und dort in der Kolonie gelegt worden waren, verschlimmerten die Lage noch. (Die Luft hier ist gut, dachte Claire. Admin hat ein anderes Belüftungssy stem. Die Filter gehen an Admin.) Meldungen über weitere Krawalle. Festnahmen. Drei Randalierer waren ins Hospital eingeliefert worden. Überall dieser Bonham, der Öl ins Feuer goß, ohne daß die Polizei ihn je anrührte, obwohl sie die meisten anderen Anführer verhaftet hatten. Rimpler hatte die Nachrichten mittendrin ausgeschaltet und sich einen Drink gemacht. Er trug noch die alten Shorts und denselben schmutzigen Bademantel. Er hatte sich nicht rasiert. Er saß auf dem Teppich neben dem Sofa, machte sich einen neuen Drink und summte vor sich hin. Sie sah zu, wie er eine Tablette aus der Tasche seines Bademantels nahm und sie in den Drink fallen ließ. Es sprudelte. »Dad – was tust du da in deine Drinks?«
»Ein bißchen was, das ihnen mehr Pfeffer gibt…« Er nahm einen Schluck und erschauerte. Dann wurden seine Augen müde, die Lider sanken herab, und er begann zu sprechen. »Wenn man ein junger Mann oder eine junge Frau ist, ver sucht man, etwas aufzubauen. Geschäfte oder Häuser oder einen Ruf als Schriftsteller oder Raumstationen oder … philo sophische Schulen. Als junger Mensch hat man die Wahl; da stehen einem fast alle Möglichkeiten offen. Oder jedenfalls relativ viele. Wenn man älter wird, baut man auf dem auf, was man bereits aufgebaut hat, dann darauf und so weiter; man geht eine unlösbare Verbindung damit ein und schafft so etwas wie ein Netz von … von richtigen und falschen Auffas sungen von der Welt. Recht oder unrecht, diese Ideen nehmen um einen herum feste Gestalt an und engen einen ein. Man tut Dinge in Übereinstimmung mit den Ideen, und dann muß man seine Taten rechtfertigen, wenn man mit sich im reinen bleiben will. So verringern sich die Wahlmöglichkeiten, bis man gar keine Wahl mehr trifft, sondern nur noch ein Muster auf das andere setzt. Es ist wie bei dem Mann, der mit eigenen Händen einen Wolkenkratzer baute – als Junge habe ich sowas mal in einem Zeichentrickfilm mit Popeye gesehen –, bis er in die Wolken hineinreichte, und er war da oben, an der Spitze, aber er hatte keine Treppen eingebaut, und es gab keinen Weg nach unten oder raus, also mußte er weiterbauen, höher, immer höher … Keine Ahnung, wo er das Material herkriegt, und da bricht die Analogie zusammen …« Er schwafelt nur noch ziellos vor sich hin, dachte Claire. »Dad – wir müssen uns entscheiden, wo wir in dieser Sache stehen.« »Aber das hab ich dir doch eben zu erklären versucht. Ich
hab mich in Admin eingebaut, und ich muß Admin unterstüt zen. Recht oder unrecht. Ich bin so weit mit dir mitgegangen, wie ich kann.« »Du weißt, daß es kein ›recht oder unrecht‹ gibt. Sie sind schlicht und einfach im Unrecht.« »Ja.« Verträumt. »Ich glaube, das stimmt.« »Aber es ist dir egal.« »Ich kann nichts tun.« »Selbst wenn du nicht offen Position beziehen willst, kannst du mir auf andere Weise helfen. Ich bin jetzt von den Ratssit zungen ausgeschlossen. Du nicht.« »Ich werde dir erzählen, was ich erfahre … wenn sie mich laufen lassen«, nickte er. »Wie kannst du das so passiv akzeptieren!« »Bitte schrei nicht.« »Früher warst du nicht so.« »Nein. Aber inzwischen hab ich ihr wahres Gesicht gese hen. Ich hab in sie hineingeschaut. Und dieser Molt muß verschwinden. Daß er hier ist, gefährdet den Frieden meines Zufluchtsortes.« Er gestikulierte mit seinem Drink in das Zimmer. »Meiner… Einsiedlerklause. Mein liebes, liebes Kind. Du verstehst nicht, wie ernst es unser Praeger meint. Weil du nicht weißt, wer er ist. Praeger ist einer der Bosse der Second Alliance. Sie möchten die Kolonie zu ihrem Welthauptquartier machen – wenn die Blockade aufgehoben ist. Crandall will hierherkommen. Er fühlt sich hier sicherer. Eine Ironie, so wie es im Moment hier aussieht. Aber wenn es ihnen gelänge, alles vollständig unter Kontrolle zu bekommen, könnten sie die Station in einen perfekten Polizeistaat verwandeln. Sie würde
›vor Harmonie summen‹, um Praegers bezaubernde Formulie rung zu gebrauchen. Crandall wäre hier in Sicherheit.« »Woher weißt du das?« Ihre Stimme war ein Krächzen. »Ich hab ihre Kommunikationsleitungen angezapft. Sie ha ben fest verankerte Satelliten nach draußen geschickt, um Sendungen an der Blockade vorbeizuschleusen … zu Cran dalls Farm. An einen Mann namens Swenson. Und einen Watson. Selbst ihre Namen hören sich für mich gleich an. Swenson und Watson. Praeger und Jaeger. Diese Leute sind die Vektoren der neuen Konformität, und vielleicht ändern sie alle ihre Namen, damit sie gleich klingen, Watson, Wilson, Winston; Crandall, Kendali, Randall, Ren …« »Dad – willst du damit sagen, daß die Sicherheitsabteilung eine politische Organisation ist?« »Sie wird von einer geleitet.« Die Tür ging auf. Claire hob den Blick schockiert zum Eingang. Eigentlich sollte niemand die Tür mit einem Schlüssel von draußen öffnen können, niemand außer … Außer dem Sicherheitsdienst. Zwei Sicherheitsbullen standen in der Tür, einer mit einem Gesicht, der andere gesichtslos. Aber der mit dem Gesicht hätte ebensogut einen Helm tragen können, wenn es danach ging, was seine Miene ihnen sagte. Sie war freundlich, mit einem leisen Anflug höflichen Bedauerns. Der Mann war ein Sicherheitsadministrator, an dessen Namen sich Claire nicht erinnern konnte. Er war hier, um das Dekorum zu wahren. Professor Rimpler war schließlich nicht irgendein Technicki tölpel. »Professor Rimpler«, sagte der Administrator höflich, »Claire Rimpler. Ich muß Sie auf Anweisung der Koloniefüh
rung ersuchen, mit mir zu kommen. Sie sollen im Zusammen hang mit einem Ausbruch aus einer Arrestzelle und der Ver krüppelung von drei Wachleuten verhört und in Gewahrsam genommen werden.« »Darf ich vorher noch austrinken?« fragte Rimpler gelassen, als wüßte er nicht ganz genau, daß diese Männer gekommen waren, um ihn ins Gefängnis zu bringen; als wüßte er nicht, daß er nie wieder aus diesem Gefängnis herauskommen würde. »Natürlich, Sir«, sagte der Administrator lächelnd. »Sie haben eine ganze Weile gebraucht, um zu dem Schluß zu kommen, daß sie mit unserer Verhaftung politisch durch kommen würden«, sann Rimpler und ließ das Eis in seinem Glas klirren. »Oder vielleicht brauchten sie einfach Zeit, um den entsprechenden politischen Hintergrund zu arrangieren.« »Dazu kann ich nichts sagen, Sir«, meinte der Administrator und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. In diesem Moment erkannte Claire, daß sie die Dinge in ih rer Umgebung kaum je wahrnahm, nicht einmal die augenfäl ligen physischen Dinge; sie hatte sich auf ihren Vater konzen triert, und sie hatte ihn, den Fußboden um ihn herum, den Tisch und die Kristallkaraffen mit Schnaps gesehen. Jetzt schien der ganze Raum mit einemmal plastisch her vorzutreten. Die Wände waren so eingestellt, daß sie eine weiche Struktur mit kleinen Vertiefungen hatten, die sie an eine gepolsterte Zelle erinnerte. Die beiden Männer, die im Türbogen standen, waren bemerkenswert detailliert; sie sah jede Faser ihrer gepanzerten Anzüge, jeden Beschlagknopf an ihren Gürteln, jeden Beutel, jeden Verschluß und jede Falte. Sie bemerkte, wie das Licht über die Sichtscheibe des Mannes
links von ihr spielte. Sie hörte das leise Quietschen und Ra scheln des synthetischen Materials, als er sein Gewicht verla gerte. Über seinen Helmverstärker konnte sie ihn sehr leise atmen hören, obwohl dieser ganz heruntergeregelt war. Sie horchte auf etwas anderes. Molt. Molt war im Zimmer nebenan und schlief. Er schlief immer, wenn sie ihn ließen, und nahm Tränke mit einem Mittel gegen Träume ein. Die beiden hatten ihn nicht erwähnt; sie hatten nicht ins Schlafzimmer geschaut. Sie wußten nicht, daß er hier war. Claire hatte sich Mühe gegeben, sie glauben zu lassen, daß Molt sich irgendwo hinter den Barrikaden in Korridor D bei den anderen Radikalen versteckte, Technickis und Admins wie Judy und Angie und Belle und Kris, die mit den Technik kis sympathisierten. Sie sah den RU-Knüppel am Gürtel des Wachmanns an. Seine rechte Hand lag am Knauf. Nicht dro hend. Ein Stück hinter dem Knüppel steckte die Pistole in ihrem verschlossenen Halfter. Claire horchte … Molt stöhnte manchmal im Schlaf. Professor Rimpler leerte sein Glas, seufzte und stellte es mit einem Klack ab. Er stand auf. »Also, wollen wir gehen, Claire?« Der Sicher heitsadministrator lächelte beifällig. Die Schlafzimmertür ging auf. Der Administrator schaute hin, und sein Lächeln erlosch. Der Bulle zog seinen RU. Ein leises Zischen ertönte. Ein kleines Loch mit einem Durchmesser von einem Zenti meter erschien mitten auf der Brust des Wachmanns. Er rief
irgendein bedeutungsloses einsilbiges Wort. Der Administrator warf sich zu Boden. Wumpf! Der Anzug des Wachmanns blähte sich wie ein Bal lon auf und ließ die Brust im Bruchteil einer Sekunde zum Vierfachen ihres normalen Umfangs aufquellen. Blut spritzte in einem sauberen Bogen aus dem winzigen Loch. Die Arme des Bullen zuckten einmal nach oben und wieder nach unten, und er fiel nach hinten um. Er schlug mit einem nassen Ge räusch auf den Boden des Korridors. Eine Blutfontäne schoß in dünnem Strahl aus dem einzelnen Loch. Sein Anzug begann langsam zu schrumpfen. Molt kam durch die offene Schlafzimmertür herein und richtete das Ding in seinen Händen auf den Administrator am Boden. Der Mann rappelte sich gerade auf die Knie hoch, und jetzt war in seinem Gesicht die Wahrheit zu sehen: Es war von nackter Angst verzerrt. »Nicht!« rief Claire. Aber das Ding in Molts Händen – in ihren Augen sah es wie eine Fahrradpumpe aus, die sie als kleines Mädchen besessen hatte – zischte erneut, und ein Loch erschien im Rücken des Mannes. Der Anzug blähte sich auf; Blut spritzte aus dem Kragen hervor. Der Mann versuchte zu schreien, aber es kam nur ein Gurgeln heraus. Und das Blut. Es ist so rot, dachte sie. So viel, und alles so rot. Sie wandte den Blick ab. Der Mann kratzte an etwas auf dem Boden, zuckte krampfhaft… nasse Geräusche … Dann wurde es still im Raum. Molts massiges Gesicht war tot. Seine Augen waren leblos. Er sprach undeutlich. »Esch funktschioniert, wie Schie ge schagt haben, Rimpler. Geht voll durch den Antschug.«
Rimpler nickte. Er hielt den Kopf schräg. »Das einzige in der Kolonie. Soweit ich weiß. Aber vielleicht auch nicht: Prae ger hat Explosivgeschosse angefordert. Nicht daß alle Explo sivgeschosse unbedingt aus so einer …« »Wie könnt ihr so reden! Wie Jäger über totes Wild!« platzte Claire heraus. In ihrem Magen rumorte es. Sie schrie, damit sie sich nicht übergeben mußte. »Das ist ein Weg, damit fertigzuwerden«, sagte Rimpler und bückte sich, um sich einen Drink zu machen. Ein heißer Blitz durchzuckte sie. Sie schlug ihm die Hand herunter, und sein Glas zersplitterte am Tisch. Er starrte die Scherben demütig an. »Dad, wir müssen abhauen! Sofort!« »O nein. Du und Molt, ihr haut ab. Ich werde melden, daß dies das Werk von Aufständischen war.« »Das werden sie dir nicht abnehmen. Sie werden dich ver haften, und sie werden dich nicht in Ruhe lassen. Die arbeiten nicht mit dem Extraktor, Dad. Die foltern.« Er seufzte. »Ich vermute … sie werden mich nicht in Ruhe lassen.« Molt schleifte die Leichen in die Wohnung. »Die haben einen Sender im Anzug«, sagte Molt. »Wenn er unterbrochen wird, löst er einen Alarm aus, und sie schicken jemand, der nachforscht.« Claire sah die leckenden Anzüge, die Leichen und dann ih ren Vater an. »Also los, hauen wir ab!« sagte sie. Mehr als alles andere wollte sie weg von hier. Als sie den Flur entlanggingen – Claires Vater in seinen ab
surden Shorts, den Sandalen und dem Bademantel, Molt in einem schmutzigen Technicki-Overall, sie selbst in ihrem Admin-Overall –, erkannte Claire, daß sie nicht nur aus dieser Ecke der Kolonie herauswollte, sondern weiter weg. Raus aus der Kolonie. Nach unten. Zur Erde.
SECHZEHN
DER NACHRICHTENVERSCHLÜSSLER arbeitete folgendermaßen: Swenson schickte per Modem eine Botschaft aus der Verwal tung der SAISC an Purchase bei Worldtalk. Es war eine nicht klassifizierte Mitteilung bezüglich der Übernahme von Worldtalk durch die SA-Corporation. Die Nachricht wurde in Si gnalgruppen übertragen, die jeweils eine Gruppe von Buch staben repräsentierten. Das Intervall zwischen der Übertra gung von zwei Buchstabengruppen sollte immer gleich sein. In das Sendeprogramm eincodiert war ein zweiter, in die Software eingebauter Befehlssatz. Bestimmte Buchstaben gruppen kamen um Mikrosekundenbruchteile verspätet an. Eine halbe Mikrosekunde Verspätung entsprach einem be stimmten Wort; eine zehntel Mikrosekunde Verspätung ent sprach einem bestimmten Buchstaben, eine elftel einem ande ren und so weiter. Purchase verfügte über Empfangssoftware, die dazu ausgerüstet war, die codierten Verspätungen heraus zuhören. Er erhielt zuerst die vorgeschobene Mitteilung. Dann sicherte er seine Kommunikationsleitung und befahl seiner Konsole, die Verspätungen zu ermitteln, die Buchstaben- und Wortentsprechungen festzustellen und die entschlüsselte Botschaft auszudrucken. Die Botschaft vom Second Circle der SA an den SA-Eingeweihten Purchase lautete: Joseph Bonham, auszubildender politischer V-Mann, Ankunft auf vertraglich vereinbartem sowjetischem Aus tauschschiff von der Kolonie, Transfer zur SA-Fähre Or
bit L2, 2.10. 8.0h EST, Ankunft Seehafen New Brooklyn 11.00h EST. Unter doppelten Sicherheitsvorkehrungen abholen, Transfer Bonham zur Haftanlage Drei zwecks Extraktion und Implantation überwachen. In der zweiten Botschaft war eine dritte versteckt. Nachdem die zweite Botschaft decodiert war, wurde sie vom Computer zum Drucker übertragen; ein weiteres Entschlüsselungsgerät im Drucker hörte einen weiteren Satz minimaler Verzögerun gen in der Übertragung der Signalgruppen heraus, so etwas wie ein bedeutungsvolles Computerstottern, und übersetzte sie in die dritte Botschaft, die er nach der zweiten ausdruckte. Die Mitteilung von Swenson, Mitglied im Second Circle der SA, an Purchase, Mitglied im Second Circle der SA, enthielt eine Botschaft von Stisky/Swenson, dem Agenten der Neuen Resistance, an Purchase, den Agenten der Neuen Resistance. Die Botschaft lautete: Sie präparieren mich für eine Aussage vor dem Senat ge gen die Reform der Antigewalt-Gesetze von 1997. Haben mich aufgefordert in Cloudy Peak zu bleiben. Ich halte nicht mehr lange durch. Psychologischer Druck zu groß. Gebt mir Befehle oder holt mich raus! Sie versuchen, Ex perten für Gedächtnisextraktionen zu bekommen. Sie planen auch, dem Verteidigungsministerium im Aus tausch gegen verdeckte staatliche Unterstützung für SAProjekte neue U-Boot-Schalldämpfungstechniken zu liefern. Sagt mir, was ich tun soll, laßt es mich tun und holt mich raus! Wiederhole, holt mich raus! Sie werden bald einen Gottesdienst abhalten.
Purchase las sich den Computerausdruck zweimal durch. Nach außen hin sah er wie ein Geschäftsmann aus, der sich über eine plötzliche Belastung durch zusätzliche Arbeit ärger te. In Purchases Innern brachen Brücken zusammen, rissen Spanndrähte und stürzten Decken ein. Er schaute zerstreut zur Bürotür, als ließe er einfach nur seine Blicke herumschweifen. In Wahrheit sah er nach, ob jemand auf dem Flur war. Niemand. Er stand auf und machte die Tür zu. Er nahm die Discette aus dem Computer, steckte sie in ein Gerät, das mit hoher Priorität verstümmelte Mittei lungen sendete, leitete die Botschaft durch ein codiertes Mo dem – er hatte es erst aus seinem Versteck im Schrank holen und an sein System anschließen müssen –, und sandte die Nachricht über Joseph Bensimon, den NR-Kontaktmann in der israelischen Botschaft, an Steinfeld. Bensimon würde die Nachricht an den Mossad weiterleiten, der sie per Satellit Steinfeld schicken würde, falls sie durch die verschiedenen statischen Blocks kam. Es gab noch ein Falls: Falls Steinfeld noch in der Gunst des Mossad stand. Die Israelis hatten nach dem Zweiten Vertrag von Kairo 1992 eine Generation lang Frieden gehabt; Jordani en, Kuweit, Ägypten, Irak, der Libanon, die Saudis und die PLO hatten den Vertrag unterzeichnet, nachdem sich Israel verpflichtet hatte, Palästina unter Einhaltung eines strikten Zeitplans den Palästinensern zurückzugeben und einen Teil der eroberten Gebiete unter gemeinsame Verwaltung zu stellen. Der Iran hatte sich ebenfalls angeschlossen, nachdem das Ayatollah-Regime 1993 von CIA-kontrollierten Reformi sten gestürzt worden war. Die DAR (Lybien; in der Phase nach dem Terror der Jahre unter Ghaddafi, als es seine Wunden leckte, nannte es sich Demokratische Arabische Republik)
folgte 1994. Israel hatte die Zeichen an der Wand des islami schen Fundamentalismus gesehen; um dem Fundamentalis mus etwas entgegenzusetzen, liierte sich der jüdische Staat mit den gemäßigten Arabern und erkaufte sich deren Unterstüt zung schamlos mit den Früchten seiner boomenden HighTech-Computerindustrie. 1992 hatten in der Knesset die Ge mäßigten dominiert, gewählt von einem Volk, das den Krieg und den Terror satt hatte und jedes Weltbild ablehnte, das sie als dermaßen bedroht betrachtete, daß sie vielleicht noch einmal Krieg führen müßten. In der Konfrontation zwischen den USA und den Sowjets blieben sie neutral, selbst als sich der Krieg in den Mittleren Osten verlagerte, weil die Sowjets Ölfelder der wenigen arabischen Nationen zu erobern suchten, die mit dem Westen verbündet waren. Bisher hatten die So wjets Israel verschont. Sie waren vorsichtig, und Israels Gren zen waren massiv befestigt. Und Steinfeld wurde als Unruhestifter betrachtet, als Fana tiker, der unter jedem Bett Nazis sah. Purchase schickte die Botschaft los, nahm dann das Spezi almodem ab und packte es in einen Behälter aus Styropor und Pappe in seinen Schrank, so daß es wie ein normales Ersatzge rät für sein eigenes aussah, falls dieses den Geist aufgab. Dann setzte er sich an seinen Schreibtisch und trank kalten Kaffee aus einer Plastiktasse. In der Tasse war ein haarfeiner Riß; Kaffee sickerte durch und tropfte ihm auf die Hand. Er sah es sich an und dachte: Bis wir Nachricht von Steinfeld bekommen, wird es zu spät sein. Er seufzte. Stisky war sein Projekt gewesen. Seine Passion. »Der Bursche ist fast zu gut, um wahr zu sein«, hatte Witcher gesagt. Und er hatte recht gehabt. Stisky/ Swenson hatte an
der letzten Planungssitzung mit Steinfeld teilgenommen, bevor sie ihn in den Second Circle der SA eingeschmuggelt hatten. Das war ein Fehler gewesen. Stisky wußte einiges. Und sie hatten jetzt einen Mann für die Gedächtnisextrakti on. Sackville-West würde nicht zögern, die Extraktion anzu wenden; das Routineverfahren, bei dem das Gedächtnis gele sen, aber nicht gelöscht wurde. Sie würden eine Routineextraktion bei jedem vornehmen, und wenn sie Stisky/Swensons Erinnerungszentrum die rich tigen Fragen stellten, würden sie alles über Purchase erfahren, und sie würden herausbekommen, wo Steinfeld war. Swenson war deine Idee, dachte er. Nun übernimm auch die Verantwortung. Er drehte sich zur Konsole um und teilte dem Computer mit, daß er eine Nachricht an die Cloudy Peak Farm schicken wollte. Rickenharp bemühte sich, alles zu verstehen. Die Unterhal tung am Konferenztisch fand teilweise auf Französisch, teil weise auf Englisch und Holländisch statt. Er hatte mitbekom men, daß die Franzosen es übelnahmen, wenn bei den Treffen Englisch gesprochen wurde, aber Jenkins hatte darauf hinge wiesen, daß mindestens die Hälfte der aktiven Mitglieder der Pariser NR – mit ›aktiv‹ waren jene gemeint, die darauf vorbe reitet waren, zu den Waffen zu greifen – Englisch sprachen, und sie übersetzten alles. Dann hatte sich der Franzose – in Wirklichkeit ein algerischer Immigrant – beschwert, daß dieser Steinfeld nur die falschen Leute rekrutiere, und gemeint, sie sollten Steinfeld vielleicht durch einen Franzosen ersetzen.
Aber als Steinfeld hereinkam und auf dem leeren Sessel am Kopfende des Tisches Platz nahm, verstummte der Franzose schlicht und einfach. Alle verstummten. Sie waren wie Kinder, die sich zankten, bis der Lehrer wieder in die Klasse kam. Es war auch ein Schulzimmer, der Konferenzraum der Leh rer in der alten école mit dem rissigen Putz an den Wänden und der öligen Wärme seines Ofens. Die Schulzone erhielt gerade ihre Stromration, und so gab es heute elektrisches Licht; die alten Leuchtstoffröhren summten. Der Raum war nur noch halb so groß wie ursprünglich und hatte keine Fen ster. Die Fenster waren von einer falschen Wand verdeckt, um die Spionagevögel zu täuschen. Zwei Wachposten standen an den beiden Türen an jedem Ende des Raums. Jeder hatte eine alte Uzi über der Schulter hängen. Die Aktivisten am Tisch waren nur mit dem bewaffnet, was sie tragen konnten, ohne daß man es sah. Es galt als plump, seine Waffen zu zeigen, außer bei einem richtigen Feuergefecht. Aber die größeren Schußwaffen waren ganz in der Nähe, in einer Kiste unter dem Garderobenständer. Und sie waren geladen. Es waren vierzehn Personen, die auf wackligen Plastikstüh len an dem langen, grau lackierten Metalltisch saßen und von Kaffee träumten. Vier Frauen und zehn Männer. Smoke saß zu Steinfelds Rechten, Yukio links von ihm. Hard-Eyes saß neben Rickenharp, Jenkins auf der anderen Seite. Die beiden schwie gen gelangweilt. Yukio und Willow saßen gegenüber am Tisch. Carmen war da; sie saß neben dem Arzt an der Ecke rechts gegenüber. Sie hatte darauf bestanden. Rickenharp warf ihr verstohlene Blicke zu. Sie sah grau aus, hielt sich jedoch aufrecht und gerade. Sie hat ihre Aufmachung geändert,
dachte Rickenharp. Dann erkannte er, daß es keine ›Aufma chung‹ war. Sie trug Arbeitsklamotten und eine Flakjacke, weil sie vorhatte, zu kämpfen, und weil sie wollte, daß jeder es wußte … Sie hatte kein Wort mit Rickenharp gesprochen, seit sie wieder zu Bewußtsein gekommen war. Er hatte natürlich versucht, sich zu entschuldigen (und dabei gedacht: Wie entschuldigt man sich bei jemand dafür, daß man ihm Löcher in die Brust geschossen hat?). Sie hatte so getan, als hätte sie es nicht gehört. Dabei war sie weder wütend noch frostig gewe sen. Es war, als ob sie zu dem Schluß gekommen sei, daß er nicht existierte. Ich bringe sie in Verlegenheit, dachte Rickenharp. Irgendwo in Italien (und irgendwo in seinem Innern) hatte er den Entschluß gefaßt, sich bei der ersten Gelegenheit so schnell wie möglich auf den Rückweg in die Staaten oder nach Freezone zu machen. Er hatte mit dem Gedanken gespielt, ein Guerillero zu sein, und fast daran geglaubt, besonders wenn er sich vorstellte, wie er der Band davon erzählte … Aber in Wirklichkeit hatte er nicht die Absicht gehabt, das bis zum Ende durchzuziehen. Nicht nach dieser Fahrt in dem Boot. Und dann die Knarre. Das Gefühl, daß sie ein Instrument war, das er spielen lernen wollte. Und dann … Er schloß die Augen ganz fest, aber das Bild kam. Carmen, nach hinten fallend, diese kleinen, sauberen runden Löcher in ihrer Brust … Aber jetzt war es anders. Jetzt wollte er zur NR. Es war, als ob man ihn mit einer Ohrfeige geweckt hätte. Er saß mit ge schlossenen Augen da und dachte: Bis zu meinen Schüssen auf Carmen habe ich geschlafen; ich bin wie ein Schlafwandler durch Ego-Spielchen getaumelt.
Der Rest der Welt war unwirklich gewesen, abgesehen von der Art, wie sie auf ihn reagiert hatte; wie Frauen reagiert hatten, oder ein Publikum. Aber jetzt – es war, als ob er eine Ohrfeige bekommen hätte … »Und wer ist das? Schläft er?« Steinfelds Stimme, und Rik kenharp wußte plötzlich, daß Steinfeld von ihm sprach. Rickenharp machte die Augen auf und sah am Tisch ent lang. Alle erwiderten seinen Blick, nur Carmen nicht. »Ich schlafe nicht«, sagte Rickenharp. »Das Gebäude hier ist keine Schule mehr, jedenfalls nicht im traditionellen Sinn. Also schlafen Sie nicht drin«, sagte Steinfeld. Seine Stimme war sarkastisch. Ein paar von ihnen lachten, und Rickenharp merkte, daß es ein Scherz gewesen war. Steinfeld lachte jedoch nicht. Er wartete. »Ich bin Richard Rickenharp«, sagte er. Die Worte kamen ihm schwerfällig über die Lippen. »Ich bürge für ihn«, sagte Hard-Eyes. Carmen sah Hard-Eyes an, und Rickenharp mußte lächeln. »Ich auch«, sagte Jenkins. Steinfeld zupfte heftig an seinem Bart, als fragte er sich, ob er falsch sein könnte. »Aber ist das nicht der junge Mann, der …?« Er sah Carmen an. O Gott, dachte Rickenharp. Aber er räusperte sich (um Himmels willen, dachte er, dei ne Stimme darf auf keinen Fall schwanken!) und sagte: »Der bin ich. Ich hab sie niedergeschossen. Ich übernehme die Verantwortung. Ich hätte nicht drauf bestehen dürfen, eine Waffe zu kriegen …«
»Ich bin keineswegs sicher, daß Sie dafür verantwortlich sind«, sagte Steinfeld, was nur Rickenharp überraschte. Carmen schaute auf ihre gefalteten Hände auf dem Tisch. Sie nickte. »Es war meine Schuld. Ich hätte sie ihm nie geben dürfen. Ich wußte, daß er nicht damit umgehen konnte. Es war kein Notfall.« Steinfeld nickte. »Trotzdem – wenn er ein Aktiver werden soll …« Er zuckte die Achseln. »Wir haben zehn Tage in den Katakomben eingelegt«, sagte Hard-Eyes. »Rickenharp arbeitet hart. Er würde denselben Fehler nicht noch mal machen.« Die Katakomben. Rickenharp schien die Echos der Schüsse, die von den gewölbten Steinwänden widerhallten, fast hören zu können. Der feuchte Mineralgeruch da unten, daneben der leichte Abwassergestank, dann der Geruch von Schießpulver. Der weitläufige unterirdische Schießstand aus kaltem grauen Stein mit seinen verwahrlosten, zerfetzten Holzsilhouetten. Die Kälte der Waffe in seinen steifen Händen, dann das Ge fühl, wie sie sich durch die verdichteten Detonationen in ihrem Innern erwärmte. Der Hagelschauer ausgeworfener Hülsen, die auf den Boden prasselten. Das Bild einer Gitarre vor seinem geistigen Auge, während er das Maschinengewehr in den Händen hielt und gegen den Drang ankämpfte … »Er hat schnell gelernt. Er kann die Waffen auseinander nehmen und wieder zusammensetzen. Er ist sorgfältig. Er ist vorsichtig. Wir arbeiten am Nahkampf; Jenkins unterrichtet ihn im Fernmeldewesen. Er gibt sich große Mühe.« … zu lachen. »Mais oui, maintenant!« sagte der Arzt. Leises Gelächter am Tisch.
»Mr. Rickenharp ist… Bühnenkünstler, soweit ich weiß«, sagte Steinfeld. »Wir spielen hier kein Theater, Mr. Ricken harp.« »Das weiß ich. Ich …« »Versuchen Sie, Ihre Schüsse auf Carmen wiedergutzuma chen, indem Sie hart daran arbeiten, einer von uns zu wer den?« Rickenharp spürte, daß Steinfeld eine solche Motivation für unzureichend hielt. Er spürte jedoch auch, daß Steinfeld es merken würde, wenn er log. »Zum Teil. Aber …« Er suchte nach Worten und konnte keine finden, stürzte sich jedoch trotzdem in den Versuch, es zu erklären. »Es ist mehr. Alles ist anders, wenn man … na ja – es ist so, als ob man … wie in dieser Geschichte von Poe, wo der Typ auf einen Tisch gefes selt ist, und überall um ihn rum sind Ratten. Aber in meiner Version ist es so, als ob der Typ geschlafen hat, und es ist jemand da, der ihn loszubinden und vor den Ratten zu retten versucht, und eine Ratte beißt den Typ, der gefesselt ist, und … äh … als er von dem Schmerz aufwacht, schlägt er um sich und verletzt aus Versehen den, der ihn befreien will, und dann wird ihm klar, was er getan hat, deshalb will er die Ratten töten, aber auch deswegen, weil er dabei etwas erkannt hat, wissen Sie, was er vorher noch gar nicht bemerkt hatte: Die Ratten sind überall um ihn rum …« »Himmelherrgott noch mal, hör doch mit dem Gelaber auf!« fiel ihm Carmen ins Wort. Sie schaute ihn jetzt ganz eindeutig an, schaute ihm zwei runde, saubere Kugellöcher in den Leib … Aber Steinfeld bebte, bebte stumm, und nach einem Au genblick der Verwirrung erkannte Rickenharp, daß er lachte.
»Also …« Steinfeld versuchte zu sprechen, aber das Lachen verhinderte es. Er rang einen Moment lang keuchend nach Luft. Dann zupfte er an seinem Bart, hörte mit einer Anstren gung auf zu lachen und schüttelte den Kopf. Sein Gesicht war rot. »Also das ist eine wundervoll … ah … barocke Erklärung, mein Freund. Und das Schreckliche daran ist, daß ich genau weiß, was du meinst!« Ein paar der anderen lachten jetzt – jene, die Englisch spra chen. Diejenigen, die Französisch sprachen, schauten verwirrt drein. Carmen gestattete einem Lächeln, sekundenlang einen ihrer Mundwinkel hochzuziehen. Rickenharp sah sie so wie damals im Club, mit bloßen Brü sten und den kurzen Stoppeln auf ihrem Kopf. Er wollte sie haben, und er wußte, daß er sich nun garantiert nicht mehr an sie heranwagen würde. Steinfeld hob die Hand, und das Gelächter erstarb. Rickenharp fühlte eine seltsame Mischung aus Demütigung und tiefer Erleichterung. »Bürgt sonst noch jemand für unseren jungen singenden Poeten hier?« fragte Steinfeld. »Ja, ich«, sagte Yukio. »Yeah«, erklärte Carmen. »Ich auch. Wenn Yukio es sagt.« Sie zuckte die Achseln. Rickenharp sah sie an und hatte das Gefühl, als ob ihm die Kreuzigungsnägel aus den Händen gezogen worden seien. Er saß den Rest des Treffens über schlaff vor Erleichterung da und hörte zu. »Die Bürgen sind für die weitere Schulung, Instruierung
und Ausbildung dieses Mannes verantwortlich«, sagte Stein feld jetzt ganz geschäftsmäßig. Er holte ein Taschentuch heraus und wischte sich die Stirn ab. »Heiß hier drin … Nun: Zuerst die guten Neuigkeiten. Ich hab ein bißchen Kaffee und ein paar andere Sachen für die Aktiven mitgebracht.« Er gab dem Arzt ein Zeichen, und dieser übersetzte für die jenigen, deren Englisch nicht reichte. »Il fait chaud ici…«, begann Levassier. »Nur die wichtigen Sachen, Claude«, unterbrach ihn Stein feld. Der Arzt nickte kurz und übersetzte den Teil mit dem Kaf fee. Er wartete, während Steinfeld fortfuhr: »Was jedoch unsere festen Vorräte angeht…« Steinfeld erklärte ihnen, daß die Nahrungsmittelration um ein Drittel reduziert, dafür aber zweimal am Tag ausgegeben werden würde. Das Heizöl wurde knapp. Es würden Maß nahmen ergriffen werden, um alle Vorräte zu konservieren … Und er erzählte ihnen, daß die Sowjet/NATO-Front unver ändert vierzig Meilen nördlich von Paris stand. Beide Seiten zeigten große Zurückhaltung beim Einsatz von taktischen Atomwaffen, was bedeutete, daß die Gefahren von radioakti vem Fallout im Moment sehr gering waren. Der Sitz von Frankreichs Mitte-Rechts-Regierung war nach Orleans verlegt worden, ungefähr hundertzwanzig Kilometer südlich von Paris. Die Regierung hatte momentan sehr wenig Einfluß auf die Geschehnisse in Frankreich, abgesehen von Orleans und den Provinzen Guyana und Provence. Die ande ren nicht von den Sowjets kontrollierten Provinzen waren
unter den Einfluß unbedeutender lokaler Demagogen geraten, deren Macht in Wirklichkeit von ihrer funktionierenden Be ziehung zur Second Alliance abhing. Das arg dezimierte, von Desertionen geplagte französische Militär war hauptsächlich damit beschäftigt, die Logistik für die NATO-Truppen an der Front aufrechtzuerhalten und die Regierung in Orleans zu schützen. Die wenigen französischen Soldaten, die sich noch in Paris aufhielten, waren zum Polizeidepartment abkom mandiert und wurden effektiv von der Second Alliance absor biert, da die SA die Befehlsgewalt über die Polizei erhalten hatte. Um die nationalistischen Hardliner zu beschwichtigen, war Le Pen zum Innenminister ernannt worden, und sein hauptsächliches Aufgabengebiet war nun die Aufsicht über die Polizei. Die Polizei und die SA-Truppen waren weitgehend damit befaßt, alles hochzunehmen, was der Geheimdienst der SA als ›kriminelle oder zersetzende Elemente‹ bezeichnete, das hieß: Kommunisten, dunkelhäutige Einwanderer (für die passende Verbrechen erfunden wurden), linke Juden und alle Arten von Dissidenten. Und wenn sich’s gerade ergab, auch Plünderer und konventionelle Verbrecher. »Die Front in Frankreich wird noch eine Weile halten, wür de ich denken«, fuhr Steinfeld fort. »Außer wenn es den So wjets gelingt, Milstar auszuschalten.« Milstar. Das in den frühen achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelte orbitale militärische Warn-, Kom munikations- und Observationssystem wurde von einer Reihe orbitaler Kampfstationen geschützt und von einem ›Zaun‹ fest verankerter Satelliten überwacht. Der sowjetische Rückstand in der Raumtechnologie hatte Milstar bisher sicher abgeschot tet.
»Unsere Quelle im Pentagon teilt uns mit«, sagte Steinfeld, »daß die Sowjets im Begriff sind, neue Antisatellitenwaffen mit dem speziellen Ziel zu starten, Milstar auszuschalten. Wenn sie Erfolg haben, wird es der NATO schwerer fallen, zu beobachten, was in ihrem Rücken geschieht; und wie wir schon zu Beginn des Krieges festgestellt haben, ist der Welt raum ihr ›Rücken‹. Die Sowjets könnten mit Raumfähren Truppen hinter die NATO-Linien bringen…« Er machte eine Pause für den Übersetzer. Dann: »Die Stadt würde erneut zum Schlachtfeld werden. Genauer, sie würde sich sehr bald in einen Trümmerhaufen verwandeln. Wenn das passiert, wird sich die SA hinter den NATO-Linien verschanzen. Wir werden der SA folgen, wo immer sie hingeht. In der Zwischenzeit werden wir …« »C’est suffit!« sagte der Algerier. »Ich muß wissen folgendes: Worauf wir haben gewartet? Wir tun nichts als Papiere und Plakate drucken … C’est merde. Warum wir nicht kämpfen? Wir setzen den Sprengstoff und die Schußwaffen nicht ein, wir behalten alles wie ein gieriges Kind, das sein Spielzeug ver steckt! Warum wir warten? Eh? Warum wir warten!« »Ganz einfach«, sagte Steinfeld mit einem frostigen Lächeln. »Ihr habt auf mich gewartet. Das Warten ist vorbei. Ich bin da.« Korridor D quoll über vor Schutt, üblen Gerüchen und der atmosphärischen Spannung unablässiger Gefahr. »Wir nennen es die Alphabetstadt«, hatte Belle zu Claire gesagt. »Nach einer Wohngegend im alten New York, wo die Straßen A, B, C, D und so weiter hießen. Wo die Armen lebten …« Beim Anblick des Korridors hatte ihr Vater wie ein kleiner
Junge gekichert, der sich ein Kleid ansah. »Wundervoll!« »Ja, wundervoll.« Claire hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Sie betrachtete die geplünderte Ladenstraße mit den lose in den Angeln hängenden Türen und den Schaufenster puppen, die sich mit nach hinten gedrehten Köpfen in den heruntergerissenen, versengten Dekorationen verheddert hatten. Die Scherben der Tafelglasfenster knirschten unter ihren Füßen, als sie daran vorbeigingen, eine kalt glitzernde Splitterwüste, die auf höhnische Weise die Sterne draußen nachäffte (und in ihr den Wunsch weckte, zur Observatori umskuppel zu gehen, sich die Sterne anzuschauen und alles andere zu vergessen. Aber die Kuppel lag im Admin-Gebiet). »Das einzige, was sie nicht getan haben, ist, die Scheiße aus ihren Windeln zu kratzen und damit Bilder an die Wände zu malen.« Rimpler hatte sie mit hochgezogenen Augenbrauen angese hen. Aber, verdammt noch mal, sie war in der Kolonie aufge wachsen. Sie wollte weg von hier – sie erkannte jetzt, daß sie schon immer weggewollt hatte –, aber auf irgendeine Weise war die Kolonie ein Teil von ihr. Sie war ganz einfach ihre Heimat. D war einer der Hauptkorridore. Er war siebeneinhalb Me ter hoch, vom Fußboden bis zu dem Leuchtstreifen in der Mitte der Decke, und fünfzehn Meter breit. Ein zweieinhalb Meter breiter Fahrweg in der Mitte des Korridors war mit gelben Hubbeln markiert. Vor der Barrikade hatte dort lebhaf ter Verkehr geherrscht: Busse, kleine Elektrolaster, die eine Kette von Anhängern mit Versorgungsmaterial oder Festmüll hinter sich herzogen, Fahrräder, Tribikes und elektrische
Mopeds waren dort gefahren. Jetzt standen hier zwei Lastwa gen Schnauze an Schnauze quer über den Korridor und bilde ten einen Teil der vorderen Barrikade. Sie bestand hauptsäch lich aus Fiberplas oder Kisten voller zerkleinertem Asteroi dengestein, die aus den Lagerschuppen der Hüttenwerke im Süden entführt, mit Gabelstaplern an Ort und Stelle gebracht und bis auf ein paar Zentimeter unter die Decke gestapelt worden waren. Die schwachen Stellen der Barrikade waren mit Sandsäcken, Schlackensteinen und Fiberplasbrettern verstärkt worden, die man von den Baustellen im Freigelände gestohlen hatte. Die Führerhäuser der Lkws dienten außerdem als Beobachtungsstände. Der Posten machte die Tür an der Fahrerseite auf und stieg ein. Dann rutschte er über den Sitz und stützte sich auf der Beifahrerseite auf den Fensterrahmen, um den Korridor durch das Fenster in der Tür und durch eine Lücke in den Sandsäcken zu beobachten, die auf der anderen Seite des Lasters aufgestapelt waren. Der Posten hatte auch ein Gewehr. Die rückwärtige Barrikade versperrte den Zugang von der hinteren Start-Ebene am Ende des Korridors, sechzig Meter hinter der Hauptbarrikade. Vierzig Meter jenseits der vorderen Barrikade war ein Si cherheitsposten gewesen. Das 9. Revier, wie Belle ihn nannte. Er war nach den ersten Krawallen ausgebrannt und aufgege ben worden, und ein Sicherheitsbulle war in Panik geflohen, ohne die kleine Waffenkammer des Postens auszuräumen. Sie hatten vier 30.06er – halbautomatische Gasdrucklader mit computerisierten Zielfernrohren – und eine Kiste mit Munition gefunden. Sie hatten eine 22er mit einem Magazin von dreißig Explosivgeschossen gefunden. Sie hatten einen Werfer für Tränengasgranaten und vier Schußwaffen gefunden, mit denen man Gummmigeschosse abfeuern konnte.
»Die meisten Bullen in der Kolonie benutzen ihre Kanonen nur sehr ungern, weil die Gefahr besteht, daß Querschläger das Lebenserhaltungssystem der Station beschädigen«, hatte Bonham bei der Versammlung um das Freudenfeuer am Rand des Freigeländes gesagt. »Aber die Wände sind massiv ver stärkt. Die Bullen sind übervorsichtig. Brauchen wir aber nicht zu sein. In den meisten Bereichen besteht keine echte Gefahr für die Lebenserhaltungssysteme, weder durch Kugeln noch durch Sprengstoff. Die Station ist so gebaut, daß sie eine ganze Reihe innerer Zerstörungen abkriegen kann.« Rimpler hatte leise in sich hineingelacht, als er das hörte. Claire hatte das Gefühl gehabt, etwas sagen und ihnen erklä ren zu müssen, daß die Kolonie fragiler war, als sie ahnten. Aber sie war Admin; sie wurde mit knapper Not geduldet. Sie und ihr Vater wurden auf Schritt und Tritt beobachtet, und Claire fühlte sich nur sicher, wenn Angie bei ihr war. Also dachte sie bloß: Ich wünsche euch viel Glück. Und schwieg. Und jetzt? Jetzt saß sie mit dem Rücken an der Wand und schob ›Barrikadendienst‹. Vier weitere hatten ebenfalls Dienst. Zwei Technicki-Männer standen oben auf den Leitern und schauten durch die Kerben am oberen Rand der Barrikade; die Ausguckposten waren rundliche rotblaue Teddybärgestalten in dicken Nylonschichten zum Schutz gegen die Kälte. Angie und Kris saßen unten in den Führerhäuschen der Lastwagen und spähten in den leeren Korridor vor den Barrikaden her aus. Claire wußte, daß Angie still und inständig hoffte, jemand kommen zu sehen. Jemand, auf den sie schießen konnte. Claire war die Aufgabe zugedacht, als Botin und Handlan gerin für die Barrikadenwachen zu fungieren. Meistens ging sie Kaffee holen.
Der Korridor hier war eine einzige Müllhalde. Das meiste war zertrampelt und so dreckig, daß man es nicht erkennen konnte. Das Zeitungspapier war noch immer vom Wasser aus den Straßenkampfschläuchen durchtränkt, die die Bullen vor dem Bau der Barrikade eingesetzt hatten; leere Notrationsbe hälter schepperten jedesmal unter ihren Füßen, wenn sie zur Korridortoilette ging und ein Klo zu finden versuchte, das nicht verstopft war. Die Graffiti an den Wänden war meisten teils grün und unten am Boden am dicksten, wie Sediment schichten in einem Teich. Und die Luftreinigung arbeitete mit einem Viertel ihrer Leistung. Die Luft roch faulig wie Maden kotze. Der Gestank traf hinten in ihrem Hals auf den Rauch aus den leeren, rostenden Schmieröltonnen, die unter der Lüftung auf der anderen Seite des Korridors brannten. TechnickiDesperados standen um das Faß herum und wärmten sich die Hände, spuckten in die Flammen, um sie zischen zu sehen, lachten und sabberten dummes Zeug. Die Lüftung saugte den größten Teil des schwarzen Rauchs ab – Rauch, der nach dem in der Tonne brennenden Abfall roch und sie an den Gestank von brennenden Müllhalden erinnerte, der ihr bei einem ihrer Ausflüge zur Erde auf einer Fahrt durch New Jersey in die Nase gestiegen war –, aber ein zu großer Teil entkam, kräusel te sich unter der Decke und verstärkte ihr Gefühl, unter Was ser zu sein und zu ersticken … Sie knöpfte ihren Jackenkragen auf und steckte die Hände rasch wieder in die Taschen. Die Kälte, die aus dem Weltraum einsickerte, wenn die Iso lierung der Schutzwände ausfiel, hatte eine ganz andere Qualität als die Kälte auf der Erde. Sie war nicht nur intensi ver. Sie erzeugte ein Gefühl in den Knochen, in dem Gedanken an den Tod mitzuschwingen schienen, den absoluten, endgül
tigen Tod. Die Scheißbullen. Die Scheißbullen hatten die zentrale Wärmezufuhr abgestellt. Es gab örtliche Heizgeneratoren, die von lokalen Sonnenkollektoren außen an der Hülle versorgt wurden. Aber das reichte nicht. Es war nur für Notfälle ge dacht. In unregelmäßigen Abständen forderte sie eine freundliche weibliche Stimme – eine Admin-Stimme – auf Technicki auf, die Barrikaden abzubauen und wieder an die Arbeit zu gehen, damit Admin die Heizung wieder einschalten und darangehen konnte, die Luftqualität zu verbessern. Und was machte ihr Vater? Er schmunzelte. Er schaute sich um und schmunzelte. »Es war alles ein Experiment«, erklärte er. »Die Kolonie ist ein riesiger experimenteller Organismus. Wie eine neue Baumart. Man entwickelt eine neue Baumart, sieht sie schon im Schößlingsstadium eingehen und lernt etwas aus ihrem Absterben, und man sagt: ›Aha‹. Und dann: ›Warum hab ich das nicht schon früher bemerkt?‹ Das hier« – er zeigte auf die Barrikade – »ist Arteriosklerose. Bei einem großen Baum aus Metall. Was mich zum Lachen bringt, ist die Vermischung der Metaphern.« Sie hatte ihm einen Blick zu geworfen, und er war fortgefahren: »Du willst wissen, warum ich nicht wütend darüber bin, was sie dem Ding antun, das ich gebaut habe. Weil wir es getan haben. Wir haben es wachsen lassen, wir haben den Orangenbaum mit den Parasitenranken gekreuzt… Ich war wütend. Praeger hat mich dauernd wütend gemacht. Erinnerst du dich?« Ein Schmunzeln. »Manchmal geht’s mir jetzt noch so. Aber es ist nicht die Wut von jemand x-beliebigem. Wenn ich überhaupt etwas bin, dann ein geläu terter Mensch.« Dabei zog er seinen schmutzigen Bademantel
über die Overalls, die man ihm gegeben hatte – ein Mann mit verfilzten Haaren, einem Kinn wie ein Kaktus und gelben Zähnen, die schon grün wurden. »Der köstliche, komplizierte Zorn eines geläuterten Menschen hat etwas Exquisites. Es ist ein hochfliegender Zorn. Ein Zorn, der nicht gleich zu Boden fällt wie ein unebener Stein, wenn man ihn wirft, sondern sich hoch emporschwingt. Ein Zorn, der in belüftete Zwischen räume eindringt wie … Kennst du dieses Gemälde ›Nackte, die eine Treppe herabkommt‹? Duchamp. Der Zorn von Duchamp, nicht der von S. Clay Wilson. Der Zorn, der ›Zur Hölle mit allen Kindern‹ auf jeden Ballon schreibt, der aus dem VenusPalast von DisneyCity aufsteigt, wenn sie die Plastiktraube loslassen … Vielleicht hätte ich sowas wie einen großen Ver gnügungspark aus der Station machen sollen … Ja, beim nächstenmal …« Und er war davongeschlendert, als ob seine Füße seiner freien Assoziationskette folgen würden. Sie hatte einen Platz gefunden, wo sie sich verstecken konn te, eine Ecke des leeren, kaputten Gefrierschranks im geplün derten Supermarkt, und hatte sich zum Weinen gebracht, um es herauszulassen. Mein Vater ist verrückt, und ich glaube nicht, daß er je wieder normal wird. Und dann war sie in den Korridor herausgekommen, und Angie hatte ihr gebieterisch erklärt: »Du hast Barrikaden dienst.« Jemand stand über ihr. Sie schaute auf. Bonham. Sie senkte den Blick. »Wir haben die Mikrowelle in der Cafeteria repariert«, sagte Bonham. »Da gibt’s was Warmes zu essen. Sie können hingehen, wenn Sie wollen. Ihr Vater ist auch da.«
»Danke«, sagte sie hölzern. Sie stand auf und wandte sich zum Gehen. Sein Ton hielt sie auf »Sie sehen ziemlich unglücklich aus. Es könnte alles schlimmer sein. Die wollten Sie als Geisel nehmen.« »Admin würde keinen Zahnstocher für uns geben.« »Das hat Molt ihnen auch gesagt.« Sie warf einen Blick auf Molt, der auf einer zerrissenen Ma tratze in der Nähe des Feuers saß. Er hielt die Pistole in der Hand, mit der er die Wachmänner erschossen hatte, und musterte die Graffiti wie ein Archäologe, der eine rätselhafte Hieroglyphe zu entziffern versucht. »Überrascht mich, daß er überhaupt was gesagt hat.« »Wir mußten ihn fragen, was er denkt. Er hat sich geändert. Früher war er mal … ‘n wilder Typ. Seit er hier ist, hab ich ihn zweimal reden hören. Zweimal. Beide Male hat er auf Fragen geantwortet. Er…« Bonham schüttelte den Kopf. »Das zeigt, was Folter anrichtet.« Sie schwieg und wartete darauf, daß er sie gehen ließe. Er hatte hier das Sagen. »Sie wollen raus«, sagte er plötzlich. Plötzlich und leise, ein Flüstern. Sie sah ihn an. Er beantwortete ihre unausgesprochene Frage. »Ja, raus aus der Kolonie. Weg. Runter. Zur Erde.« Sie sah ihn weiter abwartend an. Er beugte sich zu ihr vor. Er war zu hager, zu hungrig, und sein Atem roch nach Eintopf aus der Dose. »Claire – ich kann Sie rausholen. Ich hau selber ab.« Er
machte Anstalten, einen Blick über die Schulter zu werfen, merkte dann, daß es feige aussah, und hielt mitten in der Bewegung inne. »Die Blockade«, sagte sie. »Es gibt einen Weg dran vorbei. Ist alles arrangiert. Wenn ich jemand mitnehmen würde – es wäre gefährlich, aber … Ich hab ‘nen Paß für die Landedocks. Es gibt einen Weg.« »Warum? Warum wollen Sie das Risiko eingehen, mich mitzunehmen?« »Ich hab Sie lange beobachtet.« Er zögerte und suchte nach einem Ausweg aus der Peinlichkeit seines Begehrens. Da es keinen gab, sagte er unverblümt: »Ich wollte dich. Ich will dich jetzt.« Ihr Herz pochte. Ihr Magen zog sich zusammen, entspannte sich und zog sich wieder zusammen. Raus. Weg. Hinunter! Das war das Pochen. Aber mit ihm. Das war das Zusammenziehen. Abscheu. Er hatte sie alle verraten. Sie wußte es und hätte es den an deren beinahe gesagt. Jetzt war sie froh, daß sie es nicht getan hatte. Weil sie raus wollte. Raus. »Ich muß einen anderen Weg nehmen, als die wollen«, sag te Bonham. »Jemand auf deren Seite hat mich gewarnt. Die SA wird mich schnappen, wenn ich auf ihrem Weg runtergehe. Die werden mir ‘ne Gehirnwäsche verpassen. Wenn wir auf meinem Weg runtergehen, können wir über die NR einen Fluchtweg kriegen.« »Was ist die NR?«
»Die Neue Resistance. Antifaschisten.« Sie schnaubte. »Wissen die, an wen Sie sich hier verkauft haben?« Er bekam rote Flecken im Gesicht. »Ich … ich hab’s getan, weil die Station zum Untergang verurteilt ist. Sie wird sterben. Ich weiß das, und du weißt es. Also tu ich, was ich tun muß, um wegzukommen.« Weg. »Gibt es … einen Handel, den wir machen müssen?« »Eine Vereinbarung.« »Okay«, sagte sie und haßte sich zum erstenmal in ihrem Leben. »Ich will weg hier.« Hinunter.
SIEBZEHN DIE BOTSCHAFT WAR AN Watson gerichtet, aber Ellen Mae war als einzige im Zimmer, als sie über Telex auf der Cloudy Peak Farm einging. Das Telex und die Hauptkonsole standen im Wohnzimmer; unter dem Hirschgeweih und dem Dachsfell sahen sie in ihrem polierten Glanz inmitten von soviel Holz fremdartig aus. Ellen Mae war gerade auf dem Weg in die Küche, um Brot zu backen, wobei sie im Kopf die Einzelheiten für den bevorstehenden Gottesdienst durchging, da leuchtete das Telex auf und begann zu rattern, als ob sie es im Vorüber gehen aufgeweckt hätte. Sie überflog die Botschaft, sah, daß sie für Watson war, und hätte beinahe das Interesse verloren. Aber dann fiel ihr der Name Swenson ins Auge. Daraufhin las sie sich alles aufmerksam durch. Die Botschaft kam von Purchase und besagte, daß die An wesenheit von John Swenson im Worldtalk Building in New York erforderlich sei. Einer der dortigen Manager habe Swen son kennengelernt, einen Narren an ihm gefressen und wolle ihn zum permanenten Verbindungsmann zwischen der SAISC und Worldtalk machen. Diese Zusammenkunft sei sehr be deutsam, um die zügige Übernahme von Worldtalk zu erleich tern; deshalb müsse Swenson unbedingt sofort nach New York kommen … Unsinn. Worldtalk war bereits so gut wie übernommen. Purchase machte einen Kotau vor seinem Boss bei Worldtalk, das war alles. Und vergaß dabei, wem er in Wirklichkeit ver
antwortlich war. Sie riß die Botschaft ab und warf sie ins Kaminfeuer. Dabei richteten sich ihre Nackenhaare auf. Das war gegen die Vor schriften. Rick würde es nicht billigen. Watson würde es nicht billigen. Sackville-West würde ausgesprochen grantig werden. Aber sie sah zu, wie sich die Botschaft in den gelben Flam men zusammenrollte. Dann nahm sie einen Schürhaken, zerdrückte sie zu Fetzen und sah zu, wie diese flatternd wie Schmetterlinge im Rauchfang hochstiegen. Danach ging sie zur Konsole und schickte Purchase eine Nachricht: John Swenson hat hier bei uns Wichtigeres zu tun. Nehmen Sie keinen Kontakt mehr mit uns auf, wenn es nicht wirklich dringend ist. Und sie unterschrieb mit Crandall. Nun, sie war ja schließlich auch eine Crandall, oder nicht? Mit einem herrlich spitzbübischen Gefühl ging sie Brotteig anrühren. Ich hab’s genauso gemacht wie die Vamps in den alten Filmen, dachte sie und lächelte dabei. Swenson saß allein in der Kapelle. Draußen herrschte dichtes Schneetreiben. Der fallende Schnee ließ das Licht jenseits der Fenster flackern, so daß die Buntglasfiguren zu erbeben schie nen, als wollten sie sich gleich in Bewegung setzen. Es war kühl hier drin. Er hatte die Hände in die Achselhöh len gesteckt und betrachtete die Figuren auf dem bunten Glas. Nachdem er sie lange angesehen hatte, kam er zu dem Schluß, daß eine davon eindeutig Charles Darwin war. Eine andere war Gregor Johann Mendel. Wie vereinbarte Crandall das mit dem christlichen Fundamentalismus? Mit dem Kreatianis
mus *? Er versuchte es gar nicht erst. Das Christentum, das Crandall der Öffentlichkeit zeigte, war nicht das Christentum, das er privat praktizierte. Das Christentum des Second Circle war fast so etwas wie ein verkapptes Druidentum. Seine Vorstellungswelt war pastoral. Seine Interpretation der Genetik war fast schon eine Anbetung der Fruchtbarkeit. Im intellektuellen Bereich hatte es einige Anleihen bei den Soziobiologen gemacht, auf dem Feld der Apologie jedoch noch mehr bei Nietzsche und Bergson. Es hatte seine eigene Mythologie. Seine eigene Zukunfts vision. Die Zukunftsvision des Second Circle kam zusammen mit Watson in die Kapelle. Und es war ein kleiner Junge. Watson hatte einen schweren Wollmantel an. Auf seinen Schultern schmolzen Schneeflocken. Der Junge trug eine ganz entzückende Miniaturausgabe einer grau-schwarzen SAUniform, bis hin zum Übermantel und den schwarzen Hand schuhen. Eine schwarze Strickmütze hing halb aus Watsons Manteltasche heraus. Der Junge hielt seine eigene Mütze mit dem schwarzen Schirm in den Händen. Sie blieben am hinte ren Ende des Durchgangs zwischen den letzten Bankreihen stehen, ein paar Meter rechts von Swenson, und schauten sich um. Watson ließ seinen Blick durch die Kapelle schweifen, als ob er sie noch nie gesehen hätte. Er stand hinter dem Jungen, eine vom Wetter gerötete Hand auf seiner Schulter. Auf dem College hatte John Stisky einmal einen Aufsatz Christliche Lehre, derzufolge Gott jede einzelne Seele direkt aus dem Nichts erschafft. Unter Berufung auf den Kreatianismus haben amerikani sche Fundamentalisten Klagen dagegen angestrengt, daß im Biologieunter richt an den Schulen die Evolutionstheorie gelehrt wird. – Anm. d. Übers.
*
über die faschistische Ideologie geschrieben. Als er jetzt Wat son und den Jungen sah, erinnerte er sich an einen Satz des englischen Faschisten James Barnes: Die gegenwärtige Weltan schauung * des Faschismus läßt sich wohl in einem Wort zusammen fassen – Jugend. Er war ein bißchen überrascht, daß die Haare des Jungen braun waren. Er hätte blonde erwartet. Aber andererseits hatte Crandalls Vision der staubgeborenen Reinheit des amerikani schen Faschismus ihren Ursprung im ländlichen Amerika, besonders im Westen. Crandall sammelte Originale von Fre deric Remington. Und Cowboys hatten auf Bildern meistens braune Haare. Aber seine Augen waren blau, o ja, und seine Züge stamm ten aus einer anderen Sammlung Crandalls: seinen Norman Rockwells. Von dem Bild eines gescheiten, toleranten, neugie rigen Pfadfinderjungen aus der weißen Oberschicht. »Das ist doch Darwin, oder?« fragte der Junge mit einem Blick auf das bunte Glas. Watson lächelte. »Sehr gut.« Sein Lächeln wich einem leicht besorgten Stirnrunzeln, als er sich umdrehte und Swenson ansah. »Fühlen Sie sich heute morgen nicht wohl, John?« »Mir geht’s gut, danke. Ich denke bloß nach. Bin ein bißchen durcheinander. Es … es gibt so viel zu tun.« »Ich weiß, wie Ihnen zumute ist«, sagte Watson und fuhr völlig ernsthaft fort: »Kann einem schon schwindlig werden bei der Aufgabe, die vor uns liegt. Der Formung einer ganzen Welt.« *
Im Original deutsch. – Anm. d. Übers.
Swenson erkannte, daß Watson wegen des Jungen so prä tentiös daherredete. »Ich vermute, das ist…?« »Das ist der Bursche«, sagte Watson stolz. »Jebediah An drew Jackson Smith.« Der Junge schaute bescheiden zu Boden. »Unser neuer junger Diakon«, sagte Swenson. »Willkom men.« Und während er das sagte, dachte er: Vielleicht sollte ich lieber den hier umbringen. Jebediah Smith war Crandalls großes Experiment. »Die Probe aufs Exempel«, hatte Crandall gesagt, »und der Beste vom ganzen Haufen.« Jebediah gehörte zu einer Gruppe zehnjähriger Jungen und Mädchen, die in Colton City aufgewachsen waren, der ›Ideal stadt‹ der SAISC. Swenson war nie dort gewesen; er hatte erst vor kurzem die Unbedenklichkeitsbescheinigung bekommen, die es ihm ermöglichte. Aber er hatte Bilder gesehen. Es sah wie der Heimatstadt-USA-Teil von DisneyCity aus. Außer daß man im Hintergrund die Wachtürme sehen konnte. Colton City lag in einem Gebiet mit ›geringer FalloutWahrscheinlichkeit‹ im Nordwesten Kaliforniens. Es war stark geschützt und isoliert, und Touristen hatten dort keinen Zu tritt. Das Motto der Stadt lautete: »Colton City: Schön, Behag lich, Sicher und Christlich.« Jeb und zwölf andere waren im Christlichen Gemeindezentrum der Stadt erzogen worden. Jebediah war angeblich ›tief und fest von unseren Prinzipien erfüllt‹. »Ich spüre eine Kraft an diesem Ort«, sagte der Junge. Er ging allein und furchtlos den Mittelgang entlang und stieg zum Altar hinauf. Dort blieb er stehen, legte eine Hand
auf den Altar und sah sich um. »Ich spüre hier eine Kraft«, sagte Jebediah. »Dies ist der Ort für einen Anfang.« Ach du heilige Scheiße, dachte Swenson, der ehemalige Priester. In der Stimme des Jungen lag nämlich keine Spur eines fal schen Tons. Da war nichts, was theatralisch oder einstudiert klang. Es kam wirklich tief aus seinem Innern. Gott helfe ihm, dachte Swenson. Was haben sie mit ihm gemacht? »Schau dich nur nach Herzenslust um, mein Sohn.« In Wat sons Stimme lag jetzt ein Hauch von Ehrfurcht. Er sah erschüt tert aus. Er nahm neben Swenson Platz und sagte leise: »Der Junge versetzt mich immer noch in Erstaunen.« Swenson nickte. Watson sah ihn an. »Wollen Sie mit mir darüber reden, John?« Swenson wollte. Er wollte ihm sagen, was ihm wirklich Sorgen machte: Sackville-West würde ein paar von ihnen unter den Extraktor setzen, und einer davon würde John Swenson sein; sie würden ihm Fragen zu seiner Person stellen und rausfinden, daß seine Geschichte falsch war, und dann würden sie ihn über seine richtige Geschichte ausfragen und alles über die NR und Steinfeld und Purchase erfahren. Und es würde ein Blutbad geben … Sie sehen also, Watson, würde Swenson sagen, ich hab einfach hier rumgesessen und mir überlegt, ob ich vielleicht einen Grund erfinden sollte, in die Stadt zu fahren, und dann versuchen sollte, mir einen Wagen zu leihen, durch die Tore zu kommen, abzuhauen und mich zu verstecken. Nur hab ich so das Gefühl, Watson, daß die
mich vor der Informationsextraktion nicht mehr weglassen werden. Aber das war nicht das Schlimmste daran. Nicht für Swen son. Das Schlimmste war, daß er langsam das Gefühl bekam, hierher zu gehören, in diese Kapelle. So als ob er ihnen eigent lich alles erzählen sollte. Er beobachtete den kleinen Jebediah, der zu dem Ölgemäl de hinaufschaute, auf dem Crandall bei Jesus saß … der Junge fragte sich vielleicht, wo er in das Bild passen würde … ein Junge mit einem Gespür für das Schicksal … »Wollen Sie nicht darüber reden, John?« fuhr Watson fort. Kein Argwohn in seinem Ton. Aber Swenson wußte, daß er schnell reagieren mußte. Wat son spürte, daß etwas an ihm nagte. Sie wußten natürlich alle über Ellen Mae und ihn Bescheid. Um so mehr ein Grund, ihn sehr genau zu überwachen. Er mußte Watson etwas geben … Swenson seufzte. »Vielleicht muß ich wirklich mit jemand drüber reden. Ich glaube, ich mache mir Sorgen, daß wir den kleinen Jebediah hier und all die anderen jungen Leute verra ten könnten. Vielleicht sind wir zu schnell vorgegangen. Haben uns übernommen. Was mich beunruhigt, ist der Krieg. Wir setzen Tausende von Soldaten in einem Kriegsgebiet ein – und das Risiko, daß sich der Kriegsverlauf ändert, daß sich die Front wieder zurückverlagert und zum Beispiel Paris einbe zieht … daß unsere Außenposten von den Sowjets überrannt werden…« Er schüttelte den Kopf. »Es kommt mir wie ein gewaltiges Risiko vor. Wie ein Hasardspiel.« Watson nickte verständnisvoll. »Sie sind ein kluger junger Mann. Wir riskieren eine ganze Menge – aber nicht alles. Wenn die Sowjets den Krieg nicht gerade gewinnen, werden
wir uns behaupten, John. Im Moment steuern sie auf eine Niederlage zu. Wissen Sie, der Krieg arbeitet uns einfach schon dadurch in die Hände, daß es ihn überhaupt gibt. Er wirkt wie eine Art… eine Art von Eclipse, eine Verfinsterung, die elementare Werte und herkömmliche Moralvorstellungen verdeckt und die Menschen für Extreme öffnet, die sie sonst nie in Erwägung ziehen würden. Nehmen Sie zum Beispiel den Ersten Weltkrieg. Nach dem Vertrag von Versailles wußte man in Europa nicht mehr weiter. Es war ein Schrottplatz. Alle suchten nach jemand, dem sie die Schuld für ihre Misere geben konnten. In Deutschland lag der Nationalstolz in Scherben. Die Menschen waren verzweifelt auf der Suche nach einer Richtung, einer Identität. Der Nationalsozialismus lieferte ihnen einen Sün denbock: die Juden und die Plutokraten. Er lieferte ihnen Stolz: in der nationalen Identität. Er lieferte ihnen einen Aus weg aus der Depression und der Not: die Nation würde die Verantwortung für den Wiederaufbau übernehmen, würde ihnen Arbeit und Brot geben. Aber dazu, erklärten die Nazis den Leuten, brauchen wir die Macht. Die sozialistische Macht. ›Aber denkt nur nicht, daß wir Marxisten sind! Wir sind Nationalsozialisten …‹« Watson zuckte die Achseln. »Jetzt haben wir die gleiche Situation. Seit Beginn des Krieges gibt es Millionen von Heimatlosen. Die Flüchtlingslager schwellen an; unsere Anwerber finden dort in der Tat einen sehr fruchtbaren Boden vor. Wissen Sie, was ein Flüchtlingslager ist? Es ist ein Mikrokosmos. In den Lagern findet automatisch eine Rassen trennung statt. Das ist Instinkt. Die Kameltreiber auf der einen Seite, die Afrikaner da drüben und die Einheimischen hier. Aber das Rote Kreuz und die anderen Leute, die die Lager leiten, verteilen die Nahrungsmittel gleichmäßig. Und es gibt
wirklich nicht genug. Also sehen die hungrigen Europäer, die hier geboren sind, daß die Einwanderer – Dunkelhäutige in verschiedenen Abstufungen – einen großen Teil der Nah rungsmittel kriegen. Das gefällt ihnen gar nicht … und sie hören sich an, was wir zu sagen haben.« Watson kam jetzt in Fahrt. Er knetete seine Hände wie ein Mann, der eine Walnuß zu knacken versucht. Jebediah war zu ihnen gekommen, um zuzuhören; er stand ernst neben ihnen und nickte, als ob er alles genauso verstünde wie ein Erwachsener. Und wer wußte, wieviel sie am Gehirn des Jungen herumgebastelt hatten? Vielleicht hatten sie ihm seine Kindheit geraubt, dachte Swen son. Vielleicht verstand er es wirklich. »Ich will Ihnen sagen, was diese Leute sind«, fuhr Watson fort. »Sie sind schlichter Lehm! Sie sind formbar!« »Welche Form werden wir dem Lehm geben?« fragte der Junge und verblüffte sie damit beide von neuem. »Die Form der Erlösung«, sagte Watson. »Erlösung für den Lehm, den wir formen. Wir lehren sie, stark zu sein und Ge schmack an Reinheit zu finden. Das ist die Grundlage des Überlebens! Unsere Menschen – ja, weiße Menschen, die Menschen der westlichen Zivilisation – werden besser überle ben und gedeihen, wenn sie fremde Verunreinigungen aus stoßen. Verunreinigungen des Blutes, der Religion, der Kultur und der Wirtschaftsphilosophie; die Dekadenz, in der wir alle gelebt haben, ist wie die … die Ausscheidung dieser fremden Einflüsse, die den ganzen Organismus vergiften …« Swenson nickte und klopfte Watson mit der richtigen Porti on Bewunderung auf die Schulter, um glaubwürdig zu wir ken. »Sie könnten selbst Prediger sein. Und zwar ein guter.« Watson schmunzelte. »Oh, Rick reicht als Prediger doch
völlig aus. Aber es stimmt natürlich auch, ich schreibe … äh … helfe ihm, seine Predigten zu schreiben.« Watson grübelte einen Moment lang stumm vor sich hin. Swenson rutschte auf der harten Bank herum. Er merkte, daß ihm die Beine einschliefen; seine Füße waren taub vor Kälte. Er wollte zum Haus zurück, aber dies schien für Watson ein heiliger Augenblick zu sein, und er spürte, daß es am besten war, zu warten, bis es sich von selbst ergab. »Die Ironie daran ist«, sagte Watson, »daß es nicht darauf ankommt, ob wir besser sind als sie oder nicht. Das habe ich auch den beiden Trotteln aus Idaho erzählt. Es ist egal, ob wir besser sind als die Juden oder die Kameltreiber. Wir sind anders, und …« Er machte eine Handbewegung zu der Bunt glasfigur von Darwin. »Und wir müssen gegen sie kämpfen und sie besiegen, müssen zeigen, wer der Stärkste ist. Nicht der Höherstehende oder Bessere. Der Stärkste.« Swenson sagte: »Ja, ich glaube, ich …« Watson drehte sich abrupt zu ihm um. »Ja? Verstehen Sie wirklich? Mag sein, daß die Sowjets einige unserer Stellungen überrennen – aber in der Zwischenzeit pflanzen unsere Män ner den Samen der neuen Form bei den einfachen Menschen. Dem schlichten Lehm. Wir knüpfen Kontakte, bauen Bezie hungen auf. Wir spinnen Fäden. Und wenn die neue Form Gestalt annimmt … Wieder eine Ironie, wenn man an die jüdische Legende vom Golem denkt, das Menschending aus Lehm … Wenn unser Golem Gestalt annimmt, wird er nur auf uns hören.« In Jebediahs Augen leuchtete ein Verständnis, das die gei stigen Möglichkeiten eines zehnjährigen Jungen hätte über steigen müssen.
Wenn Steinfeld diesen Jungen sähe, dachte Swenson, würde er Angst bekommen. Er würde wollen, daß ich ihn töte. Aber er wußte, daß er dazu nicht fähig war. Watson sah den Jungen mit einer Art stillem Staunen an. Und vielleicht mit einer Spur von Furcht. Swensons Befürch tungen hatte er vergessen. Er stand auf, streckte sich und sagte überschwenglich: »Na schön! Gehen wir zum Haus zurück, wo es hübsch warm ist, und trinken eine Tasse Kakao, was meinst du?« Er wandte sich an Swenson. »Kommen Sie mit, John? Wie wär’s mit ein bißchen heißem Kakao, hm?« Swenson lächelte, schlüpfte wieder in seine Rolle und über ließ ihr für eine Weile das Ruder. »Genau das, was mir der Arzt verschrieben hat.« Er erhob sich und stampfte ein paarmal auf, um wieder Ge fühl in die Beine zu bekommen, dann folgte er ihnen nach draußen und hörte Watson sagen: »Siehst du, Jeb? Wir sind hier alle eine große Familie.« Sie waren den ganzen Tag über eingetroffen. Bis zum Sonnen untergang waren es vierzig. Zwölf davon Kinder; sie waren ernst, sprachen mit leisen Stimmen und wurden von allen Seiten verhätschelt. Ein paar Minuten nach acht an diesem Abend machten sie sich erneut auf den Weg zur Kapelle, diesmal als Teil einer Prozession. Alle hatten den grauschwarzen Kapuzenmantel an und trugen eine rote Kerze in einem schwarzen Holzhalter. Die Nacht war fast windstill; die Flammen flackerten nur leicht, als sie über die verschneite Wiese zwischen dem Haus und der Kapelle stapften. Swenson hielt den Blick beim Gehen auf den Boden gerich
tet, als ob er Angst hätte, zu stolpern. Und die hatte er auch: Angst davor, daß er hinfallen würde, wenn er zur Kapelle hochschaute. Aber Ellen Mae schloß zu ihm auf und flüsterte ihm in dem Ton, der ihre Visitenkarte war, zu: »Sieh dir die Kapelle an! Sie ist wunderschön!« Also mußte er hinschauen. Sie hob sich leuchtend gegen den Hintergrund des Waldes ab. Das Licht aus den Fenstern warf einen unterbrochenen Regenbogen durcheinanderge mischter Farben auf die unberührte Schneefläche. Der Schnee schimmerte kristallin und makellos rein. »Der Schnee um die Kapelle herum sieht wie eine reine Seele aus«, sagte sie, und es hätte ihm innerlich alles vor Verach tung zusammenziehen müssen. So ein süßliches Gesülze. Das Schaufenster eines Ladens, in dem religiöse Artikel und Sou venirs verkauft wurden. Aber es war ein Maßstab für seine Stimmung, seine Empfänglichkeit, daß er den Schnee anschau te und dachte: Ja, wie eine reine Seele. »Unsere Fußabdrücke darauf sind wie Sünden«, erwiderte er. Er sagte Dinge, die ihn damals im Seminar hätten loskichern lassen. »Und bis zum Morgen wird uns Gott der Herr von neuem Schnee schicken, der alles überdeckt. Seine Erlösung kommt vom Himmel.« Sie streckte die Hand aus und drückte kurz seinen Arm. Er spürte eine Aufwallung von Gefühlen. Echten Gefühlen. Gefühle für sie, für die Kapelle und die Prozession. Und zugleich dachte er: Holt mich doch endlich hier raus! Das Licht der Kapelle fiel aus der Tür und den Fenstern. Ein Scheinwerfer strahlte das Stahlkreuz oben auf dem Dach an. Ein Ding aus Stahl, dachte er. Vor seinem geistigen Auge sah er Jesus – nein, es war Rick Crandall – bis zum Bauch in Hor den unreiner Moslems und Juden, zwergenhafter Gestalten,
die ihm nur bis zur Hüfte reichten und ihre Klauen nach ihm ausstreckten, und Crandall hatte das stählerne Kreuz in den Händen und benutzte es wie eine Streitaxt, um sie aus dem Weg zu fegen; er schlug damit auf sie ein, Blut spritzte… Er schüttelte sich, um das Bild loszuwerden. Ein bißchen heißes Wachs tropfte ihm auf die Hand, und er war dankbar für dessen brennenden Tadel. Der Schnee knirschte unter seinen Füßen. Der Singsang be gann, als sie den halben Weg zur Kapelle zurückgelegt hatten. Crandall und Watson, die an der Spitze der Prozession gingen, waren die Vorsprecher bei der Litanei. Die Invokation: Wer ist unser Herr? Die Antwort: Jesus ist unser Herr. Die Invokation: Was ist Sein Wille? Die Antwort: Sein Wille ist Reinheit. Die Invokation: Was reinigt Er? Die Antwort: Die Welt reinigt Er. Die Invokation: Was ist Sein Schwert? Die Antwort: Unsere Nation ist Sein Schwert. Die Invokation: Wer ist unser Herr? Und so weiter. Crandall und Watson intonierten die Invo kation. Die anderen antworteten. Swenson auch. Er merkte, wie seine Stimme vor Emotionen bebte, und glaubte, ein fernes Donnern zu vernehmen. Nein, er hatte eine einzelne Schneeflocke im Wald fallen hören. Denn Gott der Herr hört alles. Holt mich raus!
Die Kinder intonierten die Antwort: Unsere Nation ist Sein Schwert. Und dann sah Swenson den kupferbraunen Jungen. Swenson riß die Augen weit auf und blieb einen Moment lang stehen, so daß jemand hinter ihm gereizt tsk machte, und Ellen Mae nahm seinen Arm und flüsterte: »Ist alles in Ord nung mit dir?« Swenson ging mechanisch weiter, starrte aber den kupfer braunen Jungen an, der mit der Prozession Schritt hielt, ohne jedoch die Beine zu bewegen; seine Füße berührten nicht ganz den Schnee. Seine Haltung änderte sich nicht. Er stand nackt und mit herabhängenden Armen da und sah Swenson mit einem verwirrten Lächeln an. Ellen Mae schaute in die Richtung, in die Swenson blickte. »Was ist da?« Sie sieht ihn nicht, dachte er. Er schüttelte den Kopf und stapfte weiter, starrte den Jun gen an und wartete darauf, daß das Trugbild verschwand. Eigentlich kein Junge mehr. Auf der Schwelle zwischen ei nem Jungen und einem Mann, bald zwanzig. Er war frühreif gewesen, hatte seinen Abschluß an einer Oberschule in Mana gua bereits mit sechzehn gemacht und war dann gleich darauf ins Jesuitenkloster eingetreten … Tot in einem Straßengraben gefunden; wo sich der Schlamm mit seinem Blut mischte und Pflanzen in seinem verwesenden Fleisch zu wachsen begannen … Swenson … Swenson/Stisky… sah den heiligen Sebastian schweratmend im Schnee liegen, in einer Art Ekstase der Selbstkasteiung, und bei jedem Atemzug drangen die Pfeile tiefer in seinen Leib …
Aber es war nicht der heilige Sebastian, es war der kupfer braune Junge mit den blutenden Wunden, die ihm die roten Pfeile mit der Befiederung aus Kerzenflammen geschlagen hatten, und er sagte: »John, du hast mir einmal einen Brief geschrieben, über die Kirche … in dem stand: ›Das einzige, was etwas bedeutet, sind die Rituale. Sonst nichts. Die historische Ver teidigung von Jesus bedeutet nichts. Die christliche Philosophie bedeutet nichts. Der Glaube bedeutet nichts. Für mich sind es die Rituale, die Verdichtung der Symbole, die Grenzbefestigungen unserer zur Apotheose erhobenen Sehnsucht nach Sicherheit… das Gefühl, eine Familie zu haben, irgendwohin zu gehören … und der Glanz der so herrlich absurden Artefakte der Kirche … Das ist es, was mir etwas bedeutet, was mich hält. Es ist eine Art Fetischismus‹, hast du gesagt, John, weißt du noch? ›Ein schrecklicher Zwang, der völlig unabhängig von meinen politischen Überzeugungen auf mich wirkt. Ach hasse die Kirche so, wie ein Junkie seinen Dealer hassen kann…‹ Erinnerst du dich? Aber es bedeutet doch etwas, John!« »Ein Ritual ist ein Ritual«, sagte Swenson. »Was?« flüsterte Ellen Mae. Er schüttelte den Kopf und sah die Kapelle an. Sie waren fast da. Er fühlte, wie die Tür der Kapelle an ihm zerrte. Er sah einen Fisch in einem Fluß vor sich, der an einen Damm gelang te und in die Überlaufrinne gesogen wurde … Dann der Sturz in einen schimmernden See, der rundum von Ufern umschlos sen ist, so daß man nie wieder weiterwandern muß … »Nein«, sagte der kupferbraune Junge. »Du mußt gegen den Sog ankämpfen. Er ist deine Krankheit.« Swenson schaute hin, und der Junge war jetzt wie ein Priester bei der Messe geklei det. Das Schwarz, das Gold. »Geh nicht dort hinein, oder du
wirst mich verlieren«, sagte der Junge. Aber jetzt war es Pater Encendez. »Diese Leute haben mich ermordet, John.« Was reinigt Er? Die Welt reinigt Er. Durch die offene Tür sah er die holographische Projektion, die über dem Altar in der Luft stand: ein leuchtendes Molekül der DNS, der Desoxyribonukleinsäure, des DoppelhelixModells, das sich drehte und wie ein Christbaumbehang glänzte, dahinter die Bilder von Jesus und Rick Crandall. Wenn ich hineingehe, bin ich verloren, dachte er. Aber die Strömung war unentrinnbar; sie kam aus seinem Innern, und gegen sich selbst kommt man nicht an. Die Strö mung schwemmte ihn mit. Die Prozession führte ihn in die Kapelle, und das Ritual be gann. Sie hatten die Straßen verbarrikadiert, die aus den Einwande rerghettos im zwanzigsten Arrondissement herausführten: dem algerischen, kongolesischen, pakistanischen und den anderen Ghettos. In den Eckwohnungen der Häuser, von denen aus man die Kreuzung im Blickfeld hatte, saßen Beob achtungsposten der SA. Im Ghetto fuhr die SA mit der ›Regi strierung‹ aller im Ausland Geborenen sowie derjenigen fort, deren Eltern im Ausland geboren waren. Einwanderer durften sich nur dann außerhalb der Ghettos aufhalten, wenn sie eine Arbeitsgenehmigung und einen Fotoausweis der SA besaßen. Einmal pro Woche kamen ›Polizeiprüfer‹ mit Listen ins Ghet to, die sie von Kollaborateuren erhalten hatten; ›erwiesene und potentielle‹ Aufrührer wurden dann zusammengetrieben und in zwei Lastern an den Straßensperren, den Kontrollstellen
und den Beobachtungsposten vorbei in die mondhellen Stra ßen unter dem kalten Glitzern des Winterhimmels hinausge bracht. Um halb neun in einer solchen Nacht fuhren die grauen und olivbraunen Viertonner der SA mit ihrer Ladung Gefan gener die Rue Hermel entlang zur Rue Ordener und bogen bei der Kirche gegenüber der mairie des achtzehnten Arrondisse ments ab. Die alte Bürgermeisterei hatte früher eine Polizeiwa che beherbergt; jetzt war sie eine ausgebombte Ruine. Die Gebäude hier in den Straßen unterhalb des Hügels von Montmartre waren größtenteils zu architektonischen Krusten geworden; in den Silhouetten der steinernen Reihenhäuser lag nur noch Schutt. Die Fassaden der Gebäude waren altersgrau vor Verlassenheit; ihre Fenster waren im Schatten tiefblau, ihre Karniese und verzierten Steinsimse wurden vom frostigen Aluminiummond in bleiches Licht getaucht. Eine Spur der Rue Ordener war von Trümmern freigeräumt worden. Die Laster fuhren an der ehemaligen Metrostation vorbei … In den Ruinen der mairie legte Steinfeld einen Schalter um. Drei Meter vor dem ersten Laster beulte sich die Straße auf und erhob sich in die Luft. Der Lkw kam schleudernd am Rand des Kraters zum Stehen. Flammen leckten zu seinem Kühlergrill hoch. Er versuchte zurückzusetzen, aber der zwei te Lastwagen hielt gerade dicht hinter ihm an und war ihm noch im Weg. … Hard-Eyes war als erster aus dem Eingang im Osten draußen, Yukio im Westen, gefolgt von Jean-Pierre und Rik kenharp. Hinter Hard-Eyes kamen Jenkins, Willow, Hassan und Shimon. Hard-Eyes lachte. Die ganze aufgestaute Anspannung
schäumte jetzt über. Er hatte ein mit einem M-83-Granatwerfer ausgerüstetes Gewehr in den Händen, bog nach links und ging hinter der Straßenlaterne in Stellung, die wie der einzige noch lebende Baum nach einem Waldbrand in den Trümmern stand. Die gepanzerten Fenster des Lasters öffneten sich, und der Lauf der Waffe des Fahrers wurde sichtbar, als Hard-Eyes den M-83 auf einen Metallkragen am Pfahl stützte und auf den Kotflügel vorne rechts zielte. Er hörte ein Knistern in seinem Kopfhörer, und Steinfelds Stimme befahl den anderen: »Erst feuern, wenn ihr seht, daß sie aus dem Laster raus sind, und wenn Hard-Eyes …« Hard-Eyes zog den Abzug durch. Die Mündung des Ge wehrs ruckte, der Granatwerfer zischte, und RUMMS! – ein prächtiger Knall wie beim Feuerwerk am 4. Juli, und der rechte Vorderreifen des Lasters zerplatzte zu Gummifetzen und wurde von einem Feuerball ersetzt. Das Chassis des Lasters hob sich wie ein schwerfälliger Stier, der den Kopf zurückwirft und mit dem Huf aufstampft; die Flamme der Explosion erhellte eine volle Sekunde lang ein Stück der Straße und die Unterseite des Lasters, dann fiel er auf die Flammen zurück, löschte sie und stieß einen Rauchring aus. Hard-Eyes sah, daß die Achse verbogen und der Motorblock unnatürlich schief in seinem Gehäuse hing, wodurch die zerrissene Küh lerhaube nach hinten gepreßt wurde; der ölverschmierte Motor sah wie ein urzeitliches Küken aus, das sich halb aus seinem Metallei herausgearbeitet hatte. Dann stieg Rauch um den Motor herum auf, und kleine Flammen züngelten hinterher. Hard-Eyes fühlte, wie sich in seinem Inneren eine Blase der Hochstimmung ausdehnte und platzte. Er lachte erneut, und
all seine Sinne summten wie ein Verstärker gleich nach dem Einschalten. Die kalte Nachtluft kribbelte auf seinen Händen und seinem Gesicht. Der Geruch von etwas Brennendem, von Kordit und Nitro und Blut ließ sein Herz heftig schlagen … Er legte gerade eine weitere Granate ein, nicht größer als zwei Finger, als Yukio das Feuer auf die SA-Leute im zweiten Wagen eröffnete – oder vielleicht feuerte der Feind zuerst, das war schwer zu sagen; die Flammen schienen gleichzeitig aus den Mündungen zu springen. Hard-Eyes zielte und feuerte ohne nachzudenken – das war nicht nötig –, und dann explo dierte das rechte Vorderteil des zweiten Lasters. Direkt über seinem Kopf sprühten Funken von dem alten Eisenpfosten weg. Er brauchte einen Augenblick, aber dann wußte er, daß sie ihn gesehen hatten und auf ihn schossen, und seine Deckung war dürftig. Seine Kopfhaut zog sich vor Angst zusammen. Er hörte Steinfeld rufen: »Gebt Hard-Eyes Deckung!« Er sah mit einem raschen Blick, daß Rickenharp auf den Beinen war, auf den Laster zulief, mit seiner Uzi-3 – einer doppelläufigen Maschinenpistole – aus beiden Läufen feuerte und dabei irgendwas brüllte … Hörte einen Schrei; die Tür des Lasters flog auf, ein Mann fiel heraus … Auf der anderen Seite sprang ein Mann aus dem Laster, legte eine Maschinenpistole über die Kühlerhaube und erwiderte Rickenharps Feuer, und Rickenharp rannte zur Rückseite des Lkws … 9-mmGeschosse schlugen hinter Rickenharps Hacken Splitter aus dem Straßenpflaster. »Hard-Eyes, wenn du klar bist, lauf hinter der Wache rum«, rief Steinfeld, »komm hinten zum Lastwagen und überwach die Befreiung …« Hard-Eyes rannte los und dachte: Jetzt werd ich gleich wis
sen, wie sich’s anfühlt, wenn man ‘ne Gewehrkugel in die Schläfe kriegt. Vielleicht merkt man gar nichts. Vielleicht treffen sie mich weiter unten mit ‘nem Explosivgeschoß; das Ding schlägt in meinen Körper, tut ein bißchen weh, und dann sprengt’s mich innerlich … Dann war er hinter dem Lastwagen, und Yukio war vor ihm; er hatte die Ketten durchtrennt, die sich durch die Stahlö sen zogen (wo war Rickenharp? Er hörte das rasende Rattern der Uzi-3, erkannte, daß er hinter den Kerl gelangt war, der über die Haube wegfeuerte, und ihn durchsiebte … hörte Willow hinter dem zweiten Laster irgendwas rufen, er brüllte die Gefangenen an, rauszukommen, aber wo waren die Bur schen, die sie bewacht hatten? Paß auf, paß bloß auf, die Typen müssen …). Die Gefangenen, dunkle Gesichter, spran gen heraus, sahen sich mit großen Augen um … Plötzlich war ein Mann ohne Gesicht da, ein Bulle in voller Rüstung, der seine Pistole auf Jean-Pierre richtete. Auf den kleinen Jean-Pierre mit seiner schwarzen Mütze und dem geschwärzten Gesicht, den komischen kleinen Kerl, der immer ein teuflisches Geschrei machte, wenn man ihn beim Schach schlug, und einen um eine Revanche anbettelte. Er stand zwischen Hard-Eyes und dem Bullen, mit dem Rücken zu letzterem. Yukio drehte sich um und versuchte an Jean-Pierre vorbeizuschießen. Der Bulle zielte mit irgendwas, es war im Schatten des Lasters schwer zu erkennen – Hard-Eyes ver suchte eine Position zu finden, aus der er feuern konnte – aus dem dunklen, tödlichen Ding in der Hand des Bullen spritzte weißes Feuer. Jean-Pierres Kopf explodierte, Stücke flogen davon und nahmen die Mütze mit … Yukio feuerte, und der Bulle taumelte. Aber er war gepan
zert, war immer noch auf den Beinen und richtete die Waffe jetzt auf Yukio. Wenn ich ihn auf diese Distanz mit einer Granate erwische, dachte Hard-Eyes, dann bringe ich Yukio damit ebenfalls um. Dann kam Rickenharp hinter dem Bullen angerannt, drück te dem Kerl seine Kanone ins Genick und schob sie unter den Helm – auf diese Distanz würde keine Rüstung was nützen … Der behelmte Kopf wurde vom Feuer hinter ihm erhellt und kippte in einem seltsamen Winkel vom Hals weg … der Bulle taumelte und stürzte … Die Gefangenen rannten in wilder Hast zur U-Bahn-Station … Jenkins und Willow trieben sie vor sich her… Sporadische Schüsse, als die anderen sich ein Feuergefecht mit zwei Bullen lieferten, die über die Straße gelaufen waren und nun im Schutt kauerten. Hard-Eyes entdeckte sie hinter einer umgekippten Steinbank; sie feuerten auf jemand, den er nicht sehen konnte. Er hob den M-83, legte eine Granate ein und zielte, bis er die kleine innere Glocke läuten hörte, die ihm sagte: Du hast sie im Visier. Er feuerte, und die Bank flog rückwärts weg, vielleicht fünfhundert Pfund Stein, die nach hinten sprangen und die Männer zerschmetterten. Verdammt, es gab einem das Gefühl, übermenschliche Kräfte zu haben … Steinfelds Rufe: »Rückzug! Da kommen Wagen!« Hard-Eyes rannte durch Rauchschleier hindurch und sah jemand auf den Knien liegen, der aufzustehen versuchte; er war durch den Rauch nur undeutlich zu erkennen, aber – das ist einer von uns! Hard-Eyes bückte sich, um ihm hochzuhelfen – oh, es ist Hassan – eine Kugel durchs Bein, sah aus, als ob sie
ihm das Knie weggerissen hätte; er würde eine Stütze brau chen … Dann liefen sie beide wie beim Dreibeinrennen, das man manchmal bei einem Picknick veranstaltete … Hinunter in die Metrostation; die Lichtstrahlen der Taschen lampen schwenkten wild hin und her, weil ihre Träger rann ten … Jemand anders – Rickenharp – half ihm mit Hassan, der vor Schmerz Allah anrief… Dann hatten sie die Station er reicht, waren auf den Gleisen in der Lichtpfütze unter den Lampen. Sympathisanten, die dort gewartet hatten, luden Hassan auf eine Bahre. Der Araber versuchte, nicht vor Schmerz zu weinen, und gab dann seinen Widerstand auf. Sie hasteten durch den Tunnel zum getarnten Eingang, der zu den Abwässerkanälen und dem Fluchtweg führte, und Hard-Eyes dachte, mein Mund ist so trocken. Die Lippen sind aufge sprungen. Jetzt hätte ich gern ein Bier. Er ging durch den Flur des Hauses auf der Cloudy Peak Farm. Der kupferbraune Junge war verschwunden. Aber eine kleine, leise Stimme versuchte Swenson einzureden: Das hier ist deine Chance, geh raus und setz dich in einen Wagen, brich durch die Tore, Stisky, flieh … Der Wachmann ging vor ihm her über den Flur. Er eskor tierte ihn zur Extraktion. »Nur eine routinemäßige CCExtraktion, Sir.« Eine cerebrochemische Extraktion. Wir saugen Ihnen nur ein bißchen Gehirnflüssigkeit ab, Sir, durch einen Strohhalm, Sir, wird überhaupt nicht weh tun, Sir, schadet Ihnen nicht und löscht nichts, es wird uns nur genau zeigen, was Sie vorgehabt haben und daß Sie nicht der sind, als der Sie sich ausgeben, und wer alle Ihre Verbündeten sind. Sir.
Sie hatten versucht, alle noch vor dem Gottesdienst dran zunehmen. Aber Swenson hatte als letzter auf der Liste ge standen, und sie waren spät dran, weil sich herausgestellt hatte, daß einer der Bediensteten Mitglied der Kommunisti schen Partei gewesen war; den mußten sie sich erst einmal gründlich vorknöpfen, obwohl seine Mitgliedschaft aller Wahrscheinlichkeit nach eine längst verjährte Laune war und vieles dafür sprach, daß er Crandall gegenüber völlig loyal war … Es war fast Mitternacht. Der Wachmann hatte ein Gähnen hinter vorgehaltener Hand verborgen. Hatte auf Swensons Frage »Hat das nicht Zeit bis morgen?« entschuldigend die Achseln gezuckt. Der Wachmann trug keinen Helm, ein Zei chen, daß dies mehr oder weniger eine Formalität war. Seine Schußwaffe, die Explosivgeschosse abfeuerte, war an seinen Oberschenkel geschnallt. Entsichert. Er hatte Stisky den Rük ken zugekehrt. Der größte Teil des Hauses schlief. Stisky – Swenson – konnte sich die Waffe greifen, den Mann nieder schießen, zur Garage rennen, sich einen Wagen besorgen und mit ein bißchen Glück abhauen. Und warum tat er es dann nicht? Es war, als ob er sich noch in der Prozession befände. Er schwebte dahin, hatte immer noch den Gottesdienst vor Au gen und die DNA-Ikone, die dort langsam rotierte; was für eine wunderbare Sache, als der kleine Jebediah vor den Altar trat und sich das Holobild des Moleküls herabsenkte, um ihn zu umschließen, und sich zu drehen begann; als der Singsang einen Höhepunkt erreichte, die hölzerne Schale mit dem Eichenblatt darin herumgereicht wurde und jeder ein bißchen Blut hineintropfen ließ, so daß das Eichenblatt im Blut
schwamm, als die Schale bei Swenson … Stisky… Swenson ankam … »Schluß mit allen Kriegen«, erklärte ihnen Rick Crandall, »wenn jedes Geblüt vom selben Blut ist, wenn es nur noch eine Rasse gibt. Wird diese Rasse mit sich selbst uneins sein? Nein, das wird sie nicht.« Flieh, Stisky! Die Schönheit der Kinderstimmen, die sich zu einer Hymne erhoben und sangen: Unsere Nation ist das Schwert… Und sie waren alle vereint in ihrem gedankenlosen, blinden Glauben an Rick Crandall. Ich war das Haar in der Suppe, dachte Swenson/Stisky. Ich war die Schlammspur im weißen Schnee. Ein Mann, der mit sich selbst uneins ist. Flieh! Der Wachmann machte ihm die Tür auf, und er ging hin durch, getragen von der Strömung, und es war zu spät, um innezuhalten. Er sah die Techniker nicht an. Er sah Ellen Mae am Fußende des Bettes im Flüsterton eindringlich auf Sackvil le-West einreden; der alte Mann runzelte die Stirn, während er zuhörte, und schüttelte dann den Kopf. Sie will nicht, daß er das mit mir macht, erkannte Swenson. Weil sie Angst hat, daß sie Einzelheiten unserer Beziehung aus mir herausholen, daß sie all die Dinge erfahren, die wir getan haben … Arme Ellen Mae. Er dachte an den Jungen, der tot im Straßengraben lag, zog sein Hemd aus und legte sich aufs Bett. Sie machten ihre Taschen und ihre schwarzen Koffer auf, zogen ihm eine Sauer stoffmaske aus Plastik übers Gesicht, und er roch den Geruch des Schlafs.
… Er konnte sich nicht an einen Übergang erinnern. Die Maske hatte sich auf ihn herabgesenkt, er war bewußtlos geworden, und sie hatten die Extraktion vorgenommen. Jetzt fühlte er sich, als ob sein Kopf ein halb mit Luft gefüllter, schlaffer Ballon wäre, der sich langsam aufblähte, und dabei straffte sich eine Empfindung in seinem Kopf. Schmerz. Eine andere Empfindung war in seiner Brust. Tiefes, unverfälschtes Bedauern. Als er aufwachte, sah er das Zimmer durch eine Gelatine schicht und hatte den Geschmack von Eisenspänen im Mund. Er hörte einen Techniker sagen: »Er kommt schneller wieder zu sich als die anderen …« Aber sie hatten es. Er konnte es in Ellen Maes Gesicht sehen, als sie ihn voller Entsetzen anstarr te, den Kopf schüttelte und Sackville-West erklärte, das sei ein Irrtum. Er hörte sich sprechen. »Ich habe euch ebenso verraten, wie ich Steinfeld verraten habe, als ich zuließ, daß sie die Extrakti on vornahmen … Und ich habe es zugelassen. Macht euch das klar. Sagt es Rick. Ich hätte einen Ausweg finden können. Ich hätte fliehen können! Aber es war mein Geständnis.« Er sah den Wachmann dicht am Bett stehen und Handschellen vom Gürtel nehmen. Der Mann war Linkshänder. Seine Pistole hing an seiner linken Hüfte. »Ich hab dich gern gehabt, Ellen Mae«, hörte er sich sagen. »Komm und sag mir auf Wiedersehen. Ich hab nur getan, wozu ich ausgebildet war. Also komm und sag auf Wiederse hen.« Sackville-West zuckte die Achseln. Ellen Mae kam zur linken Seite des Bettes herum. Der Wachmann zu Swensons Rechten öffnete die Handschellen.
Das verschwommene Bild vor seinen Augen wurde scharf. Meine Arme funktionieren nicht sehr gut, dachte er, als er sie hob, um Ellen Mae zu umarmen, und ihre nasse Wange an seiner spürte. Aber es wird reichen. Sie hatten ihm beige bracht, wie man mit diesen Waffen umging. Purchase hatte ihn zum Schießtraining geschickt. Armer Purchase. Jetzt würden sie ihn schnappen. Sackville-West kam zur linken Seite des Bettes herum, um Ellen Mae wegzuziehen. Die Empfindung in seiner Brust war ein scharfer, hoher Ton, eine Geige, die das hohe C spielte. Der Geiger hörte auf zu spielen, aber die Saite klang weiter nach, als er sie mit dem Wirbel straffte, er spannte sie, spannte sie, die Saite war im Begriff, zu reißen, sie war so straff gespannt, daß sie gleich reißen würde, sie dehnte sich … bis … Er langte nach oben, zog die Waffe aus dem Halfter des Wachmanns und hörte jemand eine Warnung rufen, als er die Pistole zwischen sich und Ellen Mae preßte und den Abzug zweimal durchzog. … dehnte sich bis zum Zerreißen – und riß. Als die Geschosse explodierten, dachte er: Ich hätte Sackvil le-West erschießen … Er hatte nicht einmal Zeit, den Gedanken zu Ende zu denken, ehe der Donner ihn verschlang. Der Donner einer einzi gen Schneeflocke, die am Boden auftraf.
ACHTZEHN HATTE SIE GESCHLAFEN? Sie wußte es nicht genau. Doch, sie mußte geschlafen haben, denn ihr Vater lag nicht mehr in seinem Schlafsack, und wenn sie wach gewesen wäre, hätte sie gemerkt, wie er wegging. Claire setzte sich auf und ließ den Blick über die Verklei dungen aus rostfreiem Stahl und Fiberplas im Küchenbereich der Cafeteria schweifen. Sie hatten den Müll tags zuvor weg geräumt. Die Küche war weitgehend sauber, aber die Luft war stickiger denn je. Das Licht war zum Schlafen herunterge dimmt. Angie und Judy hatten sich unter der Theke hingelegt. Sie schliefen in einem Schlafsack. Also waren sie jetzt ein Liebespaar. Und wenn schon. Dann spürte sie ein flaues Gefühl im Bauch, gefolgt von ei nem kratzenden Ärger, als sie merkte, daß sie ihre Tage hatte. Sie konnte es fühlen: klebrig, ein bißchen feucht. Prima. Im Schlafsack würden Blutflecken sein, in ihrer Unterwäsche ebenso, und sie hatte nur das eine Höschen. Und – verdammt! – sie hatte auch keine Tampons. Es waren keine mehr da. Sie griff ganz nach unten in ihren Schlafsack, wo sie eine Rolle Klopapier verstaut hatte, weil sie wußte, daß es wertvoll sein würde, wenn ihnen das ebenfalls ausging. Mit einem Blatt wischte sie sich Blut von den Innenseiten der Schenkel, dann rollte sie etwas von dem weichen, synthetischen Papier um zwei Finger, machte sich eine behelfsmäßige Binde und setzte sie ein. Sie seufzte, rollte ihren Overall aus, den sie als Kissen benutzt hatte, und schlüpfte hinein. Dann ging sie nachschau
en, ob das Wasser abgestellt war; sonst konnte sie nämlich ihre Unterwäsche auswaschen. »Oh, danke, Gitterfreund«, murmelte sie, als sie sah, daß die Toilette nicht verstopft war. Irgendein Technicki-Klempner hatte also endlich bewiesen, daß er seine Berufsbezeichnung zu Recht trug. Sie ging aufs Klo und probierte dann die Ab saugspülung. Sie funktionierte! Und aus dem winzigen Was serhahn im winzigen Waschbecken des winzigen Waschraums kam ebenfalls Wasser. Aber nicht mehr lange, dachte sie, während sie ihre Unterwäsche auswusch. Da der HeißluftHandtrockner funktionierte, trocknete sie ihre Sachen damit. Zumindest weitgehend; sie waren immer noch klamm, als sie sie anziehen mußte, weil jemand an die Tür hämmerte. Sie stieg in den Overall, was bei dem beschränkten Platz gar nicht so einfach war, und ging hinaus. Es war Angie. »Heute funk tioniert alles.« »Morgen stellen sie das Wasser ab, sagt dein Vater.« Angie ging an ihr vorbei in den Waschraum. »Woher weiß er das?« fragte Claire durch die geschlossene Tür. »Vermutet er. Wir haben ihn geweckt und gebeten, zu einer Planungssitzung mitzukommen und uns zu sagen, was Ad min seiner Meinung nach unternehmen wird oder wie wir an Vorräte rankommen. Aber er ist nicht gerade ‘ne große Hilfe. Redet die Hälfte der Zeit wirres Zeug. Die werden alle lang sam sauer auf ihn, weil sie glauben, daß er nur so tut.« »Die sind ja bescheuert«, sagte Claire. Was nun? Sollte sie ihren Vater suchen? Aber er machte sie ebenfalls wütend … Sie war gerade im Begriff zu gehen, als sie Angie rufen hörte: »Ihr Scheißtypen!«
Und dann kam die Stimme der freundlichen Lady aus den Wandlautsprechern. »Korridor D, Ihnen ist soeben das Wasser abgestellt worden. Als nächstes folgt der Strom, dann die Luftzufuhr. Die Luft, die Sie haben, ist schlecht, aber nicht so schlecht wie gar keine Luft. Es ist Zeit, nach Hause zu kom men. Diejenigen unter Ihnen, die Sportfans sind, interessiert es vielleicht zu erfahren, daß morgen die Ausscheidungsspiele zur Eröffnung der Meisterschaftsserie der Jai AlaiTechnickiteams stattfinden. Diejenigen, die heute heraus kommen, werden vollständig begnadigt und erhalten Freikar ten für die Spiele. Diejenigen, die nicht herauskommen, wer den verhaftet, vor Gericht gestellt und verurteilt.« Mütterli ches Bedauern in ihrer Stimme: Es tut mir mehr weh als euch. Sie wiederholte die Mitteilung auf Technicki. »Arschlöcher«, sagte Claire leise. Hinter ihr krachte es, und Angie schoß aus dem Wasch raum. Ihr Gesicht war rot, und ihre Augen zwinkerten zu oft, wie immer, wenn sie ihre Wut im Zaum zu halten versuchte. »Dein Vater lügt uns absichtlich an!« schrie sie. »Er hat gesagt, wir würden heute Wasser haben.« »Du hast selber gesagt, daß er’s bloß vermutet hat.« Angie schob sich an ihr vorbei und stieß Claire mit der Schulter zur Seite, und Claire schaute ihr im Schock der plötz lichen Erkenntnis nach, daß sie bei diesen Leuten nicht mehr lange sicher war. Als sie zu ihrem Platz unter den Mikrowellen zurückkam, wo ihre Schlafsäcke gewesen waren, sah sie Bonham und ihren Vater zusammen den Gang entlangkommen. Waren sie be trunken? So wie sie gingen … Nein, ihr Vater war verletzt, und Bonham half ihm beim
Gehen. Gar nicht so ein übler Typ, dieser Bonham, dachte sie. Und fragte sich dann, ob sie sich nur darauf einzustellen versuchte, seine Hure sein zu müssen. Professor Rimpler grinste sie an – wodurch seine zerschla gene Lippe und sein geschwollenes Auge noch schlimmer aussahen. Er war barfuß, und einer seiner Füße sah geschwol len aus. »Dad …« Sie merkte, wie ihr die Stimme versagte. »Was hast du diesmal wieder angestellt?« Sie und Bonham halfen dem alten Mann auf seinen Schlaf sack. Er drehte sich sofort ächzend auf die Seite, weg von ihr. Bonham nahm ihren Arm, führte sie ein kleines Stück bei seite und blickte sich um. Sie waren allein. »Ich glaube, er hat sie absichtlich provoziert. Sie waren schon feindselig, aber… er hat ihnen erzählt, daß sie sterben würden, daß die Bullen alle Karten in der Hand hätten …« Er hob die Schultern. »Dann fing er an, herumzuplappern. Irgendwas über einen Einsied lerkrebs, wir seien alle Einsiedlerkrebse, die um ein Gehäuse kämpfen, wir sollten aufgeben und wegkrabbeln. Molt hat ihm eine reingehauen. Du kennst Molt. Ich hab versucht, sie auf zuhalten, aber es ging alles zu schnell. Jemand hat ihm mit einem Kolben auf den Fuß geschlagen. Dann fing dein Vater an zu lachen, ein hysterisches Gelächter. Sie wichen vor ihm zurück. Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, dein Vater übertreibt sein … sein mentales Problem. Kann sein, daß er einen Nervenzusammenbruch hatte, aber jetzt spielt er’s, und außerdem ist er reichlich zugeknöpft. Also erwarten sie nicht viel von ihm.« Sie starrte ihn an und dachte darüber nach. Dann sagte sie langsam: »Vielleicht hast du recht. War Angie da, als sie ihn
verprügelt haben?« »Nein. Warum?« »Sie war mal meine Freundin. Judy und Angie. In letzter Zeit…« Sie zuckte die Achseln. »Was jetzt?« Er schaute sich wieder rasch um, verschränkte die Arme vor der Brust und beugte sich ein bißchen näher zu ihr. »Wir hauen ab, wenn das Licht ausgeht… In ein oder zwei Tagen werden sie das Licht abstellen. Ich hab ‘ne Taschenlampe. Wir gehen zur hinteren Start-Ebene.« »Die ist geschlossen und wird bewacht.« »Sie werden uns erwarten. Das gehört zum Abkommen.« Ihr Magen drehte sich um, aber sie sagte: »Okay. Rechnen sie damit, daß wir zu dritt kommen?« Sie sah ihn bedeutungsvoll an und wartete darauf, daß er sagte: Dein Vater kann nicht mit. »Die rechnen nur mit mir. Aber sie werden uns durchlas sen, wenn ich drauf bestehe. Ich hab einen Prioritätspaß, und das heißt, jeder kann mit, der meine Genehmigung hat.« Er zögerte. »Ja? Was noch?« »Molt. Ich mach mir Sorgen wegen Molt. Ich glaube, er ahnt was.« Er zuckte die Achseln. »Kann ich nichts gegen machen …« Er brach plötzlich ab und trat von ihr zurück. Angie kam auf sie zu. Wenn das Licht ausgeht, dachte Claire. »Weißte, was komisch ist?« sagte Rickenharp. »Daß du dich an den Beschuß gewöhnen kannst. Um dich rum explodieren Granaten und nach ‘ner Weile kommt’s dir vor wie Verkehrs
lärm.« »Da gewöhn ich mich nie im Le’m dran, verdammich«, murmelte Willow. Sie waren im Keller des Verstecks, winzige Räume mit ei nem Boden aus festgetretener Erde, die früher zu les caves gehört hatten, dem Weinkeller, als in dem Haus noch jemand gewohnt hatte. »Trotzdem, ich meine, es ist einfach so, als ob ich’s mir bloß eingebildet hätte«, sagte Rickenharp. »Irgendwas schlägt ein, alles bebt, und von der Decke rieselt ‘n bißchen Staub runter. Du merkst, wie ‘ne Vibration durch dich durchgeht… Klingt nur anders, als ich dachte. Manchmal. Nach der Explosion kommt so’n Gewinsel. Ich glaub, das ist zerreißendes Metall…« »Rickenharp«, sagte Hard-Eyes plötzlich, »du hast dich jetzt bei drei Angriffen bewährt. Du warst Spitze. Das findet jeder. Du hast Mumm. Aber jetzt halt endlich die Klappe, zum Teufel!« Rickenharp zuckte die Achseln und hielt die Klappe. Hard-Eyes war weit davon entfernt, sich an den Granatbe schuß gewöhnt zu haben. Er machte ihm mehr Angst als ein Feuergefecht, obwohl die Wahrscheinlichkeit, getötet zu werden, hier vermutlich geringer war. Der Beschuß machte ihm Angst, weil er hilflos war. Der ganze Plunder konnte runterkommen und ihm auf den Kopf fallen, und es hatte keinen Zweck, zurückzuschießen. Es gab keine andere Strate gie, als zu einem Loch zu rennen und sich drin zu verstecken. Man saß einfach da und wartete, ob seine Nummer gezogen wurde. Es machte einen rasend. Die Front hatte sich zurückverlagert. Die US Army war
nach Paris zurückgedrängt worden, und jetzt beschossen die Sowjets die Stadt. Legten diese ganze Historie in Schutt und Asche. Die Bevölkerung der Stadt war auf ein Viertel geschrumpft, vielleicht noch weniger. Immer mehr Menschen, die vor dem Granatbeschuß flohen, strömten nach Süden, verstopften die Flüchtlingslager und tauschten eine Art von Leiden gegen eine andere ein. Er sah die anderen im Licht der Laterne an und versuchte, seine Gedanken davon zu lösen. Rickenharp, Willow, Yukio, der Arzt, Jenkins, Carmen. Die übrigen saßen in anderen Kellern. Alle schauten mürrisch drein oder machten den Eindruck, als versuchten sie zu verhindern, daß man ihnen ihre Angst ansah. Alle außer dem gottverdammten Ricken harp, dem hirnamputierten Arschloch. Er hatte einen Aus druck im Gesicht wie ein Kind, das sich ein Feuerwerk an schaute. Mal sehen, ob du auch noch soviel Spaß hast, Freund chen, wenn die Decke runterkommt. Links neben der Tür war noch ein wenig Platz. Hard-Eyes war überrascht, daß Smoke nicht da war. Smoke hing für gewöhnlich immer mit Yukio zusammen. »Wo sind Smoke und …« Er brach ab, als sie das dumpfe Krachen hörten, die Erschütterung spürten, die durch den Raum lief, und mit den Zähnen klapperten, als sie von ihr erfaßt wurden. Schmutz rieselte von der Decke herab. »Smoke ist in die Staaten gegangen«, sagte Carmen. »Du warst draußen bei ‘nem Anschlag; du bist nicht dabeigewesen. Steinfeld hat…« Ein weiteres Krachen, eine weitere häßliche Vibration. Diesmal fühlte es sich näher an.
Sie redete weiter und bemühte sich, ihre Stimme normal klingen zu lassen. Rickenharp sah sie an. Er lächelte jetzt nicht. Er dachte, was Hard-Eyes dachte: Carmen hat Angst; sie wünscht sich, in die Arme genommen und festgehalten zu werden, aber ihr Stolz läßt es nicht zu. »Steinfeld hat ‘ne Route organisiert und alles«, sagte sie. »Smoke wird in den Staaten ‘n bißchen um Unterstützung für uns werben.« »Der alte Kaputtnik?« sagte Jenkins. »Steinfeld sagt, Smoke ist kein Kaputtnik«, erwiderte Car men. »Er war sowas wie ‘n reisender Reformist. Philosoph und Schriftsteller. Dann ist was Übles passiert, und ich glaub, er hat aufgegeben und ist ausgeklinkt… Aber er ändert sich, meint Steinfeld. Sagt, er hätte früher immer Selbstgespräche geführt. Jetzt redet er nur noch mit der Krähe oder mit Men schen. Er schreibt was in Notizbücher … Steinfeld sagt, er hat irgend so ‘n besonderes Talent…« Hard-Eyes dachte an die Vogelscheuche, die Smoke bei ih rer ersten Begegnung gewesen war. Er nickte. »Yeah, er hat sich verändert.« Sie schwiegen eine Weile. Die Kanonen ebenfalls. Der Algerier kam mit einer Laterne in der Hand an die Tür. »Okay ici? Con, Steinfeld dis, ›C’est fini‹.« »Was weiß ‘n der davon?« sagte Willow gereizt. »Woher willer’n das wissen?« »Seine Lauschstation im Norden«, sagte Yukio. »Er hat ihre Kommandos über Funk mitgehört. Wir haben den Code.« Hard-Eyes merkte, wie sich etwas in ihm löste. Er würde noch einen Tag weiterleben.
Er ertappte sich dabei, wie er Carmen ansah, und dachte: Komisch – gerade eben wärst du fast abgekratzt, und schon willst du wieder ficken. Oder gerade deshalb … Aber sie sah Willow an. Hard-Eyes zuckte die Achseln. Über Geschmack läßt sich nicht streiten. Kesslers erste Eindrücke von der Insel waren eine seltsame, fast konturlose Flachheit und das grelle Licht. Julie stellte ihr Handgepäck ab und fischte die Sonnenbrille aus ihrer Handtasche. »Dieses Licht ist toll für meine Kopf schmerzen«, murmelte sie und setzte die dunkle Brille auf. »Es war ein langer Flug«, sagte Kessler. »Du wirst dich bes ser fühlen, wenn du dich ein bißchen ausgeruht hast.« »Ich kann im Flugzeug einfach nicht schlafen. Ich habe Angst, es stürzt inzwischen ab.« »Das wäre der beste Zeitpunkt dafür, falls … ah, da sind sie.« Er sah Charlie in einem dreirädrigen Bus auf den Lear-Jet zukommen. Der Busfahrer war ein Insulaner mit so dunkler Haut, daß sie fast schon purpurn war, wie eine Aubergine. Der Pilot und der Steward kamen die Metalltreppe hinter Kessler herunter. Der Pilot richtete eine Streichholzschachtel aus Plastik auf das Flugzeug und drückte auf einen Knopf; die Treppe fuhr surrend ein, und die Tür schloß sich selbsttätig. Der Bus hielt an, Charlie sprang heraus, grinste hinter sei ner verspiegelten Sonnenbrille und schwenkte Kesslers Hand wie einen Pumpenschwengel. »Wie geht’s, wie steht’s, Mann!« »Hi, Charlie … Das ist unser ganzes Gepäck. Bloß was wir mit in die Maschine nehmen konnten.«
»Shit, ich bin mit noch weniger hergekommen. Na, kommt mit!« Sie fuhren mit dem Bus über den klebrigen schwarzen As phalt, der nach heißem Teer roch, durch den Hitzeglast zu dem kleinen Flughafengebäude mit der Glasfront. Es gab keinen Zoll. »Diese Insel gehört uns, Jimmy«, sagte Charlie. »Hier kommt niemand außer NR-Leuten her. Und wenn doch, dann werden sie festgenommen und unter einen Extraktor gesetzt…« Kessler verzog das Gesicht. »Ja, ich weiß«, sagte Charlie. »Ich mag die Scheißdinger auch nicht. Wir haben auch nur den einen. Jedenfalls, wenn jemand zufällig mal auf die Insel kommt, dann nehmen sie ihn in Schutzhaft – aber sie lassen ihn später wieder laufen, wenn er sich unter dem Extraktor als echt erweist.« »Hat diese Insel einen Namen?« »Merino. Keine Regierung, nur ‘ne kleine Polizeitruppe, und Witcher fungiert als sowas wie ‘n lokaler Richter, wenn er hier ist. Er ist jetzt oft hier. Wird langsam paranoid. Offiziell gehört Merino zu … ähm … ich darf eigentlich keinem sagen, wozu’s gehört. Wenn du nämlich unter ‘nen Extraktor kämst, wüßten sie, in welcher Gegend sie suchen müßten. Ich hab’s rausgekriegt, indem ich die Einheimischen gefragt hab. Und dann hab ich echt was zu hören bekommen. Wenn’s darum geht, unter dem Extraktor zu bestehen, ist Unwissenheit Sicherheit. Jedenfalls hat Witcher einen Deal mit dem Land gemacht, dem die Insel gehört. Jetzt gehört sie ihm – die Scheiße ist, daß sie nur rund fünfunddreißig Quadratmeilen groß ist.« Kessler zuckte die Achseln. Er war abgespannt und ziem
lich erledigt, als sie in eine Limousine einstiegen. Nach der Hitze draußen war es hier drin kalt. »O Gott, eine Klimaanla ge«, sagte Julie dankbar. Sie fuhren eine Straße aus weißem Muschelschotter zwischen Palmenreihen entlang, parallel zu einem strahlend weißen Sandstrand. Das Meer war ein riesen großer blauer Edelstein. Unter dem unentwegten Blick von Fernsehkameras, die sich langsam drehten, um sie zu beobachten, passierten sie dann zwei Kontrollstellen, elektrische Zäune mit Stacheldrahtkro nen und Wachposten mit Gewehren. Julie sah ihn an, und er drückte ihre Hand. Er wußte, was sie dachte. Daß sich dies als eine Art Gefängnis für sie erwei sen könnte. »Charlie – lassen die uns nach Belieben kommen und ge hen?« fragte Kessler. »Absolut. Aber sie geben euch eine Liste mit Themen, über die ihr mit den Einheimischen reden könnt. Die sprechen so ‘ne Art Dialekt, zur Hälfte Spanisch, zur Hälfte Englisch. Aber sie verstehen euch.« Sie fuhren jetzt durch ein gärtnerisch gestaltetes Landgut. Zu beiden Seiten blühten Kakteen und exotische Pflanzen, die er noch nie gesehen hatte. Ein Brunnen. Ein Tennisplatz. Aber in Abständen: Betonbunker, in denen die Schnauzen schwerer Maschinengewehre und kleiner Geschütze zu sehen waren. Sie kamen durch ein Tor und in so etwas wie ein kleines Dorf. Häuschen, zwei Cafés, zwei Bars. Sie hielten vor einem weißgetünchten Häuschen mit roten Fensterläden an. Sonnen kollektoren auf dem Dach. »Das ist euer Haus«, sagte Charlie stolz. »Größer als eure Wohnung in New York. Witcher hat dafür gesorgt, daß wir’s
hier echt nett haben.« Sie betraten das Häuschen. Kühl, komfortabel. Korbmöbel, ein altmodisches, vierbeiniges Holzbett. Julie ließ sich auf das Bett fallen, nahm ihre Sonnenbrille ab und legte einen Arm über die Augen. Kessler wußte jedoch, daß sie zuhörte, als er sich mit Charlie unterhielt. »Witcher ist in Ordnung«, sagte Charlie. »‘n bißchen spie ßig. Ein Kapitalist – aber das bist du ja auch. Er ist… Du weißt schon – kriegt seine Kohle von ‘ner privaten Wachfirma, die in Konkurrenz zur SA steht, und durch Patente auf Überwa chungsgeräte. Seine Leute haben die Kameravögel erfunden. Da isses ja klar, daß er spießig ist. Aber er ist ‘n guter Typ.« »Warum macht er das? Warum finanziert er die NR?« »Das weiß nicht mal Steinfeld so genau. Witcher sagt, er haßt Rassisten, und geschäftlich ist die SA immerhin sein größter Konkurrent. Aber ich weiß es nicht… Es ist einfach so, daß man ihm vertrauen kann. Das spürt man.« »Ist Steinfeld hier?« »Nein. Der steckt in Europa. Vielleicht tief in der Scheiße … Das Ganze kriegst du später noch zu hören. Da kommt so ‘n Typ, Jack Brendan Smoke.« »Ja. Den hab ich gelesen. Er war allen anderen weit voraus …« »Stimmt. Er wird mit dir zusammen an einem Gegenmittel gegen die unterschwelligen Botschaften von Worldtalk und die PR für… Erfährst du alles nach dem Abendessen.« »Okay. Aber …« Kessler zögerte. Er war nicht sicher, was er eigentlich sagen wollte. Was ihn beunruhigte, war schlichte Desorientierung, nahm er an. Und Besorgnis: Konnte er diesen Leuten wirklich vertrauen?
»Hey, Jim.« Charlie legte Kessler die Hände auf die Schul tern. »Ich will dir was sagen: Du bist zu Hause. Du wirst nicht ewig hierbleiben müssen, aber eins mußt du begreifen: Das hier ist dein Zuhause! Die Leute hier haben alles durchge macht – mit Worldtalk, der SA oder der CIA, diesem Scheißla den. Hier gibt’s eine Frau, die ist von Worldtalk unter einen Extraktor gesetzt worden. Du kannst mit ihr reden. Glaub’s mir. Die Zäune sind dafür da, den Feind draußen zu halten, nicht uns drinnen zu halten. Du bist zu Hause, Mann. Du bist zu Hause.« Purchase saß in einem der Videokonferenzräume von Worldtalk und überlegte, daß er wieder mal zum Enzymologen gehen und seinen Magen entsäuern lassen mußte, als Fremont auf Schirm Eins sagte: »Hören Sie, reduzieren wir das Problem doch mal auf seinen Kern. Es gibt Journalisten, Kongreßabge ordnete, alles mögliche – nicht besonders viele, aber anderer seits ist einer schon zuviel –, die die SAISC beschuldigen, antisemitisch zu sein, im Kriegsgebiet rassistische Pogrome anzuzetteln, UN-Gelder zu mißbrauchen und – zum Teufel! – sonstwas zu tun.« »Sie deuten praktisch an, daß die SA-Bosse Nazis sind, ob wohl den Begriff nur selten einer benutzt«, sagte Chancelrik auf Schirm Drei. »Nun, in der Tat – ich weiß nicht, ob Sie diesen Bericht gesehen haben, daß eine Gruppe, die sich die Neue Resistance nennt, verantwortlich ist für …« – er machte eine Pause, um etwas von einem Printout abzulesen – »fünf unddreißig militärische Angriffe auf Stationen und Personal der SAISC in sechs europäischen Hauptstädten, und dieser Quelle hier zufolge verbreiten sie eine Propaganda, in der die
SA offen als ›Nazis‹ bezeichnet wird …« »Okay«, sagte Fremont, »darauf läuft es hinaus. Aber man muß anmerken, daß sich neunzig Prozent der Beschuldigun gen auf Vorkommnisse im Kriegsgebiet beziehen. Wir können aufzeigen, daß Dinge aus dem Kriegsgebiet nur verstümmelt zu uns durchdringen, weil es schwierig ist, klare Informatio nen durch die sowjetische Blockade zu bekommen, bei den ganzen Antisat-Verschlüsselungen und allem. Was meinen Sie denn dazu, Purchase, alter Knabe? Wir haben bis jetzt kaum einen Pieps von Ihnen gehört.« »Nun ja«, erklärte Purchase den Gesichtern auf den Schir men – Fremont wurde aus LA übertragen, Chancelrik aus Chicago und Barley aus Miami –, »ich glaube, Sie sind auf der richtigen Spur, Sammy, und … äh …« Er überlegte verzweifelt und brachte hervor: »Ich denke, wir sollten über unsere Kanä le zu den Zeitungen in ein paar Leitartikeln andeuten, daß es hier so etwas wie eine schädliche Haltung gibt, die hinter diesen Anschuldigungen steht, denn … äh … unsere Frau Präsidentin hat sich als Unterstützerin des Polizeiprogramms der UN erwiesen, also … äh … geht es im Grunde darum, daß die Demokraten ein Thema aufgreifen, eine Menge Gerüchte ausstreuen und … äh …« An der Art, wie Barley sich ein bißchen zu laut in seinem Kopfhörer räusperte, erkannte Purchase, daß es in die Hose ging. Barley sagte: »Ich denke – korrigieren Sie mich, wenn ich mich irre –, daß ich diesen Punkt bereits zur Sprache gebracht habe, und zwar in bemerkenswert ähnlichen Worten …« Er machte sich in seiner humorigen, gedehnten Sprechweise über ihn lustig. »Natürlich«, sagte Purchase, »tut mir leid – ich bin heute
mit den Gedanken ganz woanders. Kleines persönliches Problem. Äh … tatsächlich müßte ich da mal eben einen Anruf tätigen; meinen Sie, daß …« »Hey, nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie wollen, Purcha se, alter Knabe«, sagte Fremont. »Sicher! Nur zu!« stimmten die anderen beiden ein. »Danke.« Aber er wußte, sobald er aus dem Zimmer war, würden sie sagen: Ist es nicht schade um Purchase, der Bur sche hat’s nicht mehr richtig im Griff. Er stand auf und schaltete seinen Schirm auf Warteposition, dann ging er über den Flur zu seinem Büro. Wahrscheinlich ist es dumm, einfach abzuwarten, dachte er. Er hatte auf eine Nachricht von Swenson gewartet – oder über Stisky. Die Bestätigung, daß Stiskys Tarnung aufgeflogen war. Aber vielleicht war es ein Fehler, zu warten. Vielleicht sollte er fliehen – jetzt sofort. Er sagte sich, daß er hier zu tun hatte. Es war eine kritische Zeit. Wenn er einen Weg finden konnte, die über Worldtalk laufende Propagandakampagne der SA zu stoppen … Nein. Er traf eine Entscheidung. Das Risiko war zu groß. Er würde verschwinden – würde nach Merino fliegen, zu den anderen. In Wirklichkeit blieb er nur aus reiner Trägheit hier. Aus Gewohnheit. Seit acht Jahren kam er jeden Werktag in sein Büro, ohne einmal Urlaub gemacht zu haben, und alte Gewohnheiten … Der Gedanke brach auseinander und schraubte sich zur Ironie hinauf: Sind schwer totzukriegen. Denn als er das Büro betrat, sah er die beiden SA-Bullen in voller Rüstung zu beiden Seiten der Tür stehen. Er sah ihr
Spiegelbild im Fenster hinter seinem Schreibtisch. »Mr. Purchase«, sagte einer von ihnen. Er hatte den Helm auf, den sie trugen, wenn sie jemanden abholen kamen. »Okay«, sagte Purchase. »Ich verstehe.« Er dachte: Soll ich versuchen, die Cops zu rufen? Diese Typen waren rechtlich im Grunde nur dazu befugt, ihn festzuhalten, solange er sich nicht zur Wehr setzte. Aber sie würden nie zulassen, daß er die Cops rief. Sie hatten vor, ihn irgendwohin mitzunehmen, wo sie ihn dann in aller Ruhe verhören und schließlich um bringen konnten. Er drehte sich lächelnd zu ihnen um. »Gehen wir.« Er mach te Anstalten, zwischen ihnen zur Tür hinauszugehen – dann blieb er stehen und schnippte mit den Fingern, als ob ihm gerade etwas eingefallen wäre. »Äh – haben Sie was dagegen, wenn ich das Bild meiner Frau vom Schreibtisch mitnehme?« Einer der Wachmänner drehte seine dunkle Sichtscheibe zum Schreibtisch. »Auf dem Schreibtisch steht kein Bild, Sir.« »Es ist in der Schublade«, sagte er und drehte sich so gelas sen zum Schreibtisch um, wie er konnte. Sein Herz klopfte, und Schweiß trat ihm auf die Stirn. »Ich mag’s nicht, wenn sie da auf dem Schreibtisch steht und mich den ganzen Tag an klagend anstarrt, drum bewahre ich sie in der Schublade auf…« Ein kleines, plump vertrauliches Lachen. »Aber ich hätte das Bild gern bei mir« – er zog die Schublade auf – »um es mir ab und zu anzuschauen.« Er langte hinein. »Mr. Purchase, ich empfange einen immer schneller wer denden Herzschlag und ein Respirationssignal von Ihnen, das mich ein bißchen beunruhigt. Ich denke, Sie halten jetzt ganz still …« Als Purchase sich mit der Pistole in der Hand umdrehte.
Aber der Wachmann zu seiner Rechten, der gesprochen hat te, war einen Schritt näher getreten und hatte seinen RUKnüppel draußen. Der Knüppel sauste bereits herunter, und Purchase kam nicht einmal mehr dazu, die Pistole zu entsi chern. Er spürte den krachenden Aufschlag und die Explosion von Schmerz, dann nichts mehr. Der Bulle hatte ihn ein bißchen zu hart getroffen – vielleicht wegen der Waffe –, und Purchase lag sechs Monate später immer noch im Koma in einem SA-eigenen Krankenhaus, als der Euthanasierichter nach dem vierten vergeblichen Extrakti onsversuch die Papiere unterschrieb und Worldtalk den Stecker herauszog. Dann endlich durfte Purchase sterben. Die radikalen Technickis kontrollierten nur einen relativ kleinen Teil der Kolonie. Den hinteren Teil von Korridor D und eine Weile auch etwa die Hälfte der TechnickiWohnheime. Am siebenundzwanzigsten Tag der Besetzung, etwas mehr als zwei Monate, nachdem die Sowjets die Kolonie abgeriegelt hatten, stürmte die Sicherheit die verbarrikadierten Wohnheime und eroberte sie zurück. Rund 20% der Radikalen wurden gefangengenommen. Und der Sicherheitsdienst fand den verwesten Leichnam von Guy Wilson in dessen verschlos senem Schlafraum. Wilson war totgeprügelt worden, ›wahr scheinlich mit einem Gewehrkolben‹. Admin klagte Molt offiziell und in absentia des Mordes an Wilson an, ohne Bewei se vorzulegen. Sie warnten die Technickis über InterKolonie und Intercom, daß Molt ›noch auf freiem Fuß‹ sei. Tatsächlich waren Molt und der harte Kern der Radiks in den Korridor D zurückgetrieben worden. Sie riegelten den Korridor hinter sich ab und besetzten jetzt die ausgebrannte
Einkaufszone, die Cafeteria und deren Küchen sowie den Hauptdurchgang des Korridors. Sie standen jedoch über hastig improvisierte Telefonleitungen mit TechnickiSympathisanten außerhalb des verbarrikadierten Bereichs in Verbindung. Und aus dieser Quelle erreichte Bonham und Molt die Nachricht, daß die Bullen jetzt in großer Zahl aus jedem Hauptzugang kamen und sich hinter der Biegung des Korridors sowie in dem Quergang massierten, der von den Wohnheimen in den Korridorbereich führte. Sie hatten Ta schenlampen und Gewehre dabei. Zehn Minuten, nachdem diese Meldung durchgekommen war, ging im Korridor D das Licht aus. Sofort erscholl panisches Geschrei, daß niemand in Panik geraten solle, nur keine Panik, und die Strahlen von Taschen lampen stachen auf die Decke und die Wände ein, als ob sie hindurchzuschauen und den unsichtbaren Feind ausfindig zu machen versuchten. Bonham kannte den genauen Zeitpunkt, wann der Strom abgestellt werden würde. Claire und er hatten sich an der Kreuzung von Korridor D und Quergang 67 getroffen, vierzig Meter hinter der vorderen Barrikade. Die vordere Barrikade, die zur Admin-Seite, war am schwersten bewacht. An der hinteren Barrikade waren nur drei Leute postiert, weil die Sympathisanten draußen keine signifikante Aktivität des Sicherheitsdienstes an diesem Ende des Korridors gemeldet hatten. Die Radiks hatten den Quergang, der zum hinteren Barrikadenbereich führte, mit Sabotageaktionen zerstört. Da kamen die Bullen nicht durch, ohne große Trümmerhaufen wegzuräumen. Und das würde sie viel Zeit kosten. Es gab nur eine andere Möglichkeit, von hinten zu kom
men, nämlich über die rückwärtigen Start-Ebenen. Die Sicher heitsbullen konnten durchaus mit Modulen oder Reparatur fähren vom Admin-Bereich aus durch den Raum dorthin fliegen und auf diesem Weg an die hintere Barrikade heran kommen. Aber die rückwärtigen Start-Ebenen waren viel kleiner als die Admin-Start-Ebenen. Sie konnten nur zwei kleine Fahrzeuge zugleich aufnehmen. Und die kleine Luft schleuse ließ jeweils nur rund fünf Mann durch. Auf diesem Weg Männer hereinzubringen, wäre zeitraubend und könnte über das grob improvisierte Fernsehüberwachungssystem der Radiks verfolgt werden. Aber die Stromsperre hatte sowohl das Licht als auch die Überwachungsgeräte der Radiks außer Betrieb gesetzt. Sie waren nach hinten hin blind. Die drei Männer auf der hinteren Barrikade diskutierten, was sie tun sollten; das von den Radiks besetzte Gebiet würde eindeutig von vorn angegriffen, argumentierte einer von ihnen, also müßten sie dorthin gehen und die vordere Barrikade verstär ken. Die anderen waren dafür, zu bleiben, wo sie waren. Bonham und Claire warteten in einem dunklen Torweg auf einer Seite und hörten sich die Diskussion an. »Was ist, wenn sie auf der Barrikade bleiben?« flüsterte Claire. »Sie werden mich durchlassen. Die sind dran gewöhnt, mich als Anführer zu betrachten.« Aber in seiner Stimme lag keine Sicherheit. Durch den pechschwarzen Korridorbereich zuckten Lanzen aus Licht. Lichtpfützen tanzten über Wände und die Decke und zitterten so aufgeregt wie die gerufenen Richtungsanga ben, die Einwände und weiteren ›Keine Panik!‹-Rufe. Und zehn Meter links von Claire rief der Älteste der drei Wachpo
sten: »Na schön, verdammt, bleiben wir eben hier, aber wenn Molt…« Der Rest war nicht zu verstehen, weil ihm die ande ren ins Wort fielen. Claire schmiegte sich an die kalte Metallwand, kaute auf einem Knöchel und suchte in den die Dunkelheit zerstückeln den Lichtflecken nach ihrem Vater. »Gottverdammt, wo ist Dad? Hol ihn der Teufel! Ich hab’s ihm gesagt und es ihm aufgeschrieben, wo wir sind …« »Du hättest ihn mitbringen sollen.« »Molt hat mich zum Barrikadendienst eingeteilt. Es war nicht sicher für Dad, da draußen bei mir zu sein, wo ihn jeder sehen konnte. Wenn er angefangen hätte rumzuschwafeln, dann hätten sie …« Sie zuckte die Achseln. Er sah das Achsel zucken in der Dunkelheit nicht, aber er verstand sie. Der alte Mann kauerte unter dem großen Mischtisch in der Küche der Cafeteria und lächelte geistesabwesend in die Dunkelheit. Es war fast völlig finster. Hin und wieder fiel ein Lichtschein auf die Wand gegenüber, wenn jemand mit einer Taschenlampe vorbeilief. Seine Welt war dunkel, aber gele gentlich blitzten Lichter auf; sie waren kalt, und trotzdem war ihm fieberheiß, und das war wie der Weltraum selbst: schwarz, aber lichtgesprenkelt, kalt, aber von radioaktiver Hitze erfüllt. Vielleicht ist das ein altmodisches Omen, dachte er. Ein Vorgeschmack von dem, was kommt, wenn sich das Innere der Kolonie nach außen stülpt und wir alle ins Nichts verstreut werden. Der Rücken tat ihm weh. Ohne nachzudenken, setzte er sich anders hin, um den Schmerz zu mildern – und drehte sich dabei so weit um, daß er das leuchtende Zifferblatt der Ta
schenuhr sehen konnte, die Claire für ihn organisiert hatte. Automatisch registrierte er die Uhrzeit und sah, daß er zu seinem Treffen mit Claire zu spät kommen würde. Die Uhrzeit verlangte eine Entscheidung. Und sie kam wie von selbst, eine Entscheidung, die seit Tagen aus ihm heraus gewollt hatte. Seit einer Stunde saß er jetzt dort im Dunkeln und dachte an nichts Besonderes; aber die ganze Zeit über hatte ein Teil von ihm – ein untergeordneter Computer – nachgedacht und war zu einem absolut unausweichlichen Schluß gekommen. Er hatte eine enorme Verantwortung gehabt, die er bereitwillig übernommen und genauso bereit willig abgelegt hatte. Über Bord geworfen hatte. Und jetzt würde er versuchen müssen, sie wiederzufinden. Es war egal, daß es unmöglich war und daß es zu spät war. Er würde versuchen müssen, sich ihr von neuem zu stellen. Er überlegte, ob er versuchen sollte, es ihr zu erklären, da mit sie verstand, was er tun mußte. Wie würde er es formulie ren? ›Claire – ich habe es Tausenden von Menschen ermög licht, in eine andere Welt zu ziehen und einen neuen Anfang zu machen, und sie haben sich gegen mich gewandt. Und ich habe die Welt verloren, die ich erschaffen hatte …‹ Er konnte sich ihre Reaktion darauf vorstellen. ›Willst du mir erzählen, daß man Jehova die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt hat?‹ Sie hatte mehr von ihrer Mutter, als sie sich eingestehen woll te. ›Ich habe geschlafen, Claire. Ich habe einen Teil von mir wegen dem, was Terry zugestoßen ist, in Schlaf versetzt – und weil das Ding, dessen Errichtung mein Lebenswerk war, aus den Fugen geraten ist. Jetzt werde ich wieder die Verantwor tung übernehmen und alles richten!‹ Was würde sie dazu sagen? Sie würde sagen, daß es ein
kindisches Hirngespinst sei. Daß es nicht klappen würde. Und er wußte, daß es wahrscheinlich nicht klappen würde. Er erinnerte sich daran, wie er Claire von dem Turm erzählt hatte, zu dem man mit den Jahren wurde. Dem Turm der Überzeugungen, Gewohnheiten und nicht in Worte zu fassen den Entscheidungen. Er sah seinen eigenen, höchstpersönli chen Babylonischen Turm vor Augen, und in der Vision sah er ihn schwanken und allmählich auseinanderbrechen … Und das Problem war, daß er sich nicht allein in diesem Turm befand. Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind in der Kolonie waren dort oben bei ihm. Er tastete sich an der Wand entlang von der Küche in die Cafeteria. Vor ihm war die Tür zum Korridor D. Dort tanzten die Lichter und die Rufe miteinander. Er trat mitten hinein. Und hinaus in die kühleren offenen Bereiche des Korridors. Jemand ragte über ihm auf. Ein großer, wütender Mann mit einer Schußwaffe in der einen und einer Taschenlampe in der anderen Hand. Molt. »Von wo werden sie kommen, Rimpler? Woher werden die Bullen kommen? Aus den Quergängen zu den Wohnheimen? Von hinten? Von vorn?« »Wahrscheinlich von vorn«, antwortete Rimpler nervös. »Jedenfalls die meisten. Ich habe vor, ihnen gegenüberzutreten und ihnen zu sagen, daß ich wieder die Leitung übernehme und daß es folglich keinen Grund zur Besorgnis gibt. Ich schicke sie zurück, und wir werden eine Regelung mit euch aushandeln. Sie wird auch eine Amnestie einschließen.« Molt starrte ihn mit offenem Mund an. Rimpler hatte ganz vergessen, daß er ein heruntergekommener alter Mann war, schmutzig, mit verfilzten Haaren und stoppeligem Kinn. Daß
er sich tagelang wie ein Halbverrückter benommen hatte. Es war, als ob ein Penner von der Bowery in das Büro des Bür germeisters im Rathaus marschierte und verkündete, er werde jetzt die Amtsgeschäfte übernehmen. »Du erbärmliches, aus rangiertes altes Wrack!« platzte Molt heraus. »Jetzt bist du wirklich total übergeschnappt.« Rimpler schnaubte. »Ich bin also verrückt? Ihr seid hier drin eingeschlossen, umzingelt von feindlichen Berufskriegern, die doppelt so gut ausgerüstet sind als ihr. Ihr habt fast kein Licht, und bald werdet ihr auch keine Luft mehr haben. Sie selber werden wegen Mordes gesucht. Und ich bin irrational? Sie haben sich selbst da reingeritten, Molt. Sie sind ein ruhmsüch tiger Blutsauger, der einen Haufen mutloser Leute mit in die Scheiße gezogen hat, die Ihre natürliche Heimat ist. Jetzt gehen Sie und sagen Sie denen, daß ich …« Aber Molt hörte nicht mehr zu. Er schaute sich um. Sein Gesicht, das von unten durch die Taschenlampe in seiner Hand beleuchtet wurde, war grimmig vor Argwohn. »Wo ist Bonham?« fragte er mit einemmal. Er packte Rimpler am Genick, schüttelte ihn und warf ihn zu Boden. »Wo, zum Teufel, ist Bonham? Das Licht ist aus, die Bullen kommen – und Bonham verschwindet!« Rimpler saß halb betäubt am Boden. Molt langte hinunter und zerrte ihn auf die Beine, schüttelte ihn erneut. Rimpler hatte das Gefühl, daß alles schiefgegangen war, daß all die außer Rand und Band geratenen Kräfte um ihn herum in Molt verkörpert waren und ihm die Schulter ausrenkten, ihn schüt telten, ihn anbrüllten. »Wo ist Bonham?« schrie Molt. »Er ist weg!« Die Antwort kam tief aus seinem Innern. »Weg! Claire und er sind hinten raus abgehauen – inzwischen
sind sie weg! Den können Sie vergessen!« »WAS? Du altes Schwein! Warum hast du nicht…?« Er fand keine Worte mehr für seine Empörung. Molt schrie in wortlo sem Zorn auf und ließ die Taschenlampe von oben hart auf Rimplers Kopf herunterkrachen. Rimpler sah sie kommen, und die Zeit schien sich zu ver langsamen, so daß er den Anblick auskosten konnte. Der leuchtende elektrische Komet kam im Bogen auf ihn herab, ein brausendes Licht, das ihn genau zwischen den Augen treffen würde. »Terry!« rief Rimpler. Er hörte ein Knirschen und dann ein hallendes Krachen, als ob der Babylonische Turm in sich zusammenstürzte. Claire sah das leuchtende Zifferblatt von Bonhams Armband uhr, als er sie hob, um nachzuschauen, wie spät es war. »Jetzt ist es gleich soweit«, sagte er. Fünf atemlose Sekunden verstrichen. Dann hörten sie das Rattern halbautomatischer Gewehre bei der vorderen Barrika de, gefolgt von dem fetten, matschigen HUH-UMP einer Explosion, als die Bullen eine Erschütterungsgranate in einen der Lkws der Barrikade feuerten. Ein Gepolter, als ein Teil der Barrikade zusammenbrach. Weiteres Rattern von Gewehrfeu er, das zunehmende Flackern von Flammen im vorderen Teil des Korridors. Ein wüster mechanischer Lärm, gefolgt von einem SCRIIEEHH, als die Sicherheit die Erzkisten mit irgend einem Bulldozer aus dem Weg räumte. Wieder Gewehrfeuer, Stroboskopblitze, eine weitere Explosion, deren Erschütterung sie im Metall der Wand spüren konnte. Ihre Nägel gruben sich in ihre Handflächen, und die Augen taten ihr vor Anstren gung weh, als sie ihren Vater in dem Durcheinander von
rennenden Menschen, aufblitzenden Lichtern und miteinander fechtenden Taschenlampenstrahlen auszumachen suchte. Instinktiv rannte sie nach vorn und rief: »Dad!« Jemand packte sie an den Armen und riß sie zurück. Einen Moment später wußte sie, daß es Bonham war. »Das kannst du nicht machen«, flüsterte er ihr eindringlich ins Ohr. »Du wirst erschossen, wenn du da hinausgehst! Schau – die da hinten sind weg!« Die Detonation im vorderen Teil hatte die Wachposten von der hinteren Barrikade abgezogen. Er schleifte sie zu einem der Busse, die als Ausguck und Barrikadenstütze verwendet wurden. Sie hörte auf, sich gegen Bonham zu wehren, als sie sah, wie Molt auf sie zugerannt kam. »Bonham!« schrie Molt. »Der alte Mann hat’s mir erzählt, du Schwein! Bonham! Du gehst nirgendwohin, Mann!« Molt war noch zwanzig Meter entfernt, als er stehenblieb und das Gewehr hob. Das Licht um Molt herum war ein einziger Flickenteppich. Einen Moment lang stand er da, mit dem Rücken zur Feuers brunst bei der Barrikade, wie ein Mann in einer Höhle, der sich als Silhouette vor einem Lagerfeuer abzeichnet. Flackern des Licht umriß seine Konturen, sein Gesicht lag im Dunkeln. Dann erhellte das Mündungsfeuer sein Gesicht, als er auf Bonham schoß – drei Kugeln, die alle drei danebengingen und Dellen in das Metall des Busführerhauses schlugen. Bonham ließ sie los und drehte sich um, kletterte in den Bus und zur anderen Seite der Barrikade hindurch. Claire stand wie das Kaninchen vor der Schlange und starr te Molt an, der wieder auf sie zukam und das Gewehr auf ihre
Brust richtete … Schreie von der vorderen Barrikade. Die Bullen waren durchgebrochen. Claire sah sieben, vielleicht acht Sicherheits bullen in voller Rüstung, deren undurchsichtige Visiere das ungleichmäßige Licht einfingen, als sie hinter Molt angelaufen kamen und mit verstärkten Stimmen riefen: »SAMSON MOLT, LASSEN SIE DIE WAFFE FALLEN, SIE SIND VERHAFTET!« Molt wirbelte herum, richtete sein Gewehr auf den nächsten Bullen und feuerte. Der Mann taumelte, kam jedoch weiter auf ihn zu; er hob seine eigene Waffe und eine Taschenlampe. Molt warf das Gewehr weg und zog eine Pistole. Explosivge schosse, dachte sie. Sie hörte Bonham hinter sich rufen: »CLAIRE! Komm! Sie warten hier draußen auf uns!« Molt schoß mit der Pistole, und einer der Wachmänner fiel. Seine Rüstung blähte sich auf, und sein verstärkter Schrei hallte ohrenzerreißend schrill von den Stahlwänden wider … Molt rannte auf die Wachleute zu … die Strahlen von Ta schenlampen zuckten um ihn her … Claire suchte nach ihrem Vater … Bonham schrie von hinten auf sie ein … Molt blieb stehen, als ihn ein Schuß von einem der Wach leute traf. Er schien überrascht zu sein, daß ihn die Kugel nicht sonderlich verletzt hatte. Dann lachte er und lief wieder auf sie zu. Und während er mit erhobener Pistole und brüllendem Ge lächter auf sie zurannte – explodierte er. Das kleine Explosiv geschoß in seinem Inneren war detoniert, und das Rot des Explosionsblitzes mischte sich mit dem Rot des auseinander spritzenden Blutes. Wir vergessen, daß wir hauptsächlich aus
roter Flüssigkeit bestehen, dachte sie. Aber jetzt, als Molt sich in eine Wolke roter Flüssigkeit verwandelte, wurde ihr vor Augen geführt, daß es so war. Sie fühlte, wie ein paar heiße rote Tropfen auf ihre Stirn klatschten. Sie sah, wie die Bullen auf sie zukamen. Ihre Stimmen dröhnten. »CLAIRE RIMPLER, SIE SIND VERHAFTET!« Dad ist nicht da, dachte sie. Es ist hoffnungslos. Sie drehte sich um, kletterte hastig durch den Bus, der in die Barrikade eingebaut war, und versuchte sich durchs Fenster auf der anderen Seite hinauszuwinden. Sie rechnete damit, den Griff einer gepanzerten Hand um ihren Knöchel zu spü ren und zurückgerissen zu werden. Aber statt dessen packten Bonhams Hände ihre Handgelenke und zogen sie durchs Busfenster aus der Barrikade heraus. Sie lag auf den Knien im Halbdunkel. Dann verstärkte Rufe hinter ihr: »CLAIRE RIMPLER …« »Warum versuchen die, mich festzunehmen?« fragte sie Bonham keuchend. »Du hast gesagt, du hättest alles arran giert.« »Das Arrangement mußte geheim bleiben. Nur ein paar von ihnen wissen Bescheid. Komm!« Bonham half ihr hoch, und sie rannten um eine Ecke, durch einen Quergang und eine hallen de Metalltreppe hinauf, folgten dem Lichtklecks von Bonhams Taschenlampe, der über die Wand hüpfte, und kamen beim Zugang zum Start-Deck heraus. Hier war alles hell erleuchtet, und Uniformierte standen mit gelangweilten Gesichtern herum und warteten auf sie. Claire schrie vor Frustration auf. »Schon in Ordnung«, sagte Bonham. »Die arbeiten für Van Kips. Das gehört zum Abkommen.«
Einer der Männer fragte: »Haben Sie die Transportgeneh migung?« »Ja ja … äh … hier ist sie …« Er gab dem Mann ein Papier. »Okay. Kommen Sie!« Und Claire brach in Tränen aus. Ihr Vater war nicht da. Sie hatte ihn im Stich gelassen. DRINGEND: WITCHER AN STEINFELD Entschlüsselt: Man hat Stisky unter den Extraktor gesetzt. Stisky ist an geblich tot. Sie sind in Gefahr: Die kennen Ihren Aufent haltsort. Wiederhole, sie haben Paris als Aufenthaltsort der NR-Führung ausgemacht. Botschaft mit Befehlen von Watson abgefangen, Paris abzuriegeln; die Stadt soll ›au seinandergenommen werden, wenn nötig‹. Neue Waffen eingesetzt. Verlassen Sie Paris, wiederhole, verlassen Sie Paris … DRINGEND: BENSIMON, ISRAELISCHE BOTSCHAFT, AN WITCHER Entschlüsselt: Botschaft an Steinfeld weitergeleitet; sowjetische Beschä digung alliierter Satelliten und andere Faktoren machen Empfang Steinfeld jedoch unwahrscheinlich. Computer bericht: Wahrscheinlichkeit nur 7%, daß Steinfeld Bot
schaft erhalten hat. Gute Neuigkeit: Beschluß in Tel Aviv auf hoher Ebene, der auf neuem Material des Geheim dienstes beruht, bestätigt extreme antisemitische Aktivi tät SA. Mossad schaltet sich aktiv ein. Wir tun, was wir können, um Steinfeld herauszuholen.
VIERTER TEIL
HARD-EYES
NEUNZEHN HARD-EYES UND RICKENHARP suchten sich gerade ihren Weg durch die Ruinen von Paris, um das Landemodul zu überprü fen, das – wie Steinfeld behauptete – einen Kilometer nordöst lich herunterkommen sollte, als sie sahen, wie Besson die letzten beiden Finger seiner linken Hand briet. Sie konnten Besson durch das vom Feuer zu einer Blase verzogene Plastikfenster des ausgebrannten Mac-Donald’s sehen. Sein Bild war verzerrt, aber er war zu erkennen. Er war gerade dabei, mit Hilfe der zurückgelassenen Propangasfla sche des Grills etwas zu braten, was sie nicht sehen konnten. Erwartungsgemäß war er nur zwei Blocks vom Arc de Tri omphe entfernt auf der Champs-Elysees – oder dem, was von ihr übrig war – untergekrochen. Er entfernte sich nie sehr weit von dem Bogen. Seine Frau war ein paar hundert Meter von dem Monument entfernt lebendig begraben worden, als ihr Wohnhaus einen direkten Treffer abbekam. Und Besson kehrte nachts zu der Ruine des Hauses zurück, um mit seiner Frau zu sprechen. Rickenharp behauptete, sie selbst gesehen zu haben; durchsichtig und leuchtend sei sie über den Trümmern ge schwebt und habe rätselhaft gelächelt. Sagte er jedenfalls. Vielleicht hatte er sie wirklich gesehen. Denn zwei Tage, nach dem sich die Front wieder nach Norden verlagert hatte und Paris erneut der SA, der Stratégie Actuelle und ein paar belager ten Polizisten in die Hände gefallen war, hatte Rickenharp einen Deal mit einem Schwarzmarkthändler gemacht und ein antikes Armband aus Jade und Silber (»Das erste, was ich von
den Tantiemen für meinen ersten Hit gekauft hab. Alle ande ren haben sich ‘nen Wagen angeschafft.«) gegen eine halbe Unze Blue Mesk eingetauscht. Wenn man genug Blue Mesk einpfiff, sah man alles, was man wollte. Es war ein feuchter, kühler Abend, aber vom perlgrauen Abendlicht durchflutet. In den blauen Schatten der Ruinen mauern sammelten sich Nebelfetzen und verwoben sich ineinander. Sie standen draußen vor dem zerstörten MacDonald’s. Der Stahl des belgischen Sturmgewehrs wurde in Hard-Eyes’ Händen kalt, während die Abenddämmerung in die Nacht überging. An seiner rechten Hüfte hing ein 45er in seinem Halfter. Rickenharp trug eine Waffe, die er sich aus einem Munitionsdepot der SA geholt hatte: eine automatische Schrot flinte, Modell drei aus dem Heckler & Koch Close Assault Weapon System. Ein rückstoßunterstützter Gasdrucklader im Bullpup-Design. Es war eine knapp neunzig Zentimeter lange Waffe mit einem Mündungsfeuerdämpfer, gedrungen, aus leichtem Permaplast, einem Kunststoff, der härter war als Stahl. Ein zwanzigschüssiges Stangenmagazin. Rickenharp hatte einen Beutel mit sieben vollen Ladestreifen dabei und übte, sie ins Magazin einzusetzen, bis er dabei so schnell war, daß das Auge nicht mehr folgen konnte. Die CAWS war bis auf eine Distanz von 150 Metern tödlich. »Was meinste, Hard-Eyes?« sagte Rickenharp. »Laß uns mal reinschauen, wie der alte Besson klarkommt. Wir sind die einzigen Zivilisten, die’s in Paris noch gibt, wenn man die Kannibalen in Pigalle nicht mitrechnet.« Hard-Eyes hob die Schultern. »Das wird Steinfeld nicht ge fallen. Wir müssen vor den Faschos bei dem Ding sein, Har
pie.« »Ist wohl gar kein Landemodul gewesen, was die Aufklärer da gesehn haben, Mann. Wie wahrscheinlich ist das? ‘n Modul aus’m Orbit? Na logo. War wohl eher ‘n Helikopter der Fa schos.« »Yukio hat das Sensor-Profil gesehen, und der kennt sich mit Raumsachen aus. Aber meinetwegen, schauen wir bei Besson rein. Fünf Minuten.« Er betrat das Mac-Donald’s, während er sprach. »Höchstens fünf Minuten, und … ach du Scheiße!« Er sah, was Besson briet. Seine Finger. … Sie waren mehr als einmal ins Flüchtlingslager gegangen, um Leute anzuwerben, und hatten dort Dinge gesehen, die … Nun, das hier hätte Hard-Eyes eigentlich nicht soviel ausma chen dürfen, wie es der Fall war. Seine Eingeweide zogen sich zusammen, als er sah, wie Besson seine Finger auf eine Gabel spießte, sie zum Mund führte und mit leerem Blick zu kauen begann. Eine Maschi nenpistole – ein sowjetisches Modell, das er irgendeiner Leiche abgenommen hatte – hing an einem Riemen über seiner rech ten Schulter. »Hey, Besson, Mann … äh …«, sagte Rickenharp leise. »Leg deine Knarre und – alles weg. Du kommst mit uns. Wir besor gen dir ‘n paar Rationen, Mann. Wir wußten nicht, daß es dir so dreckig geht.« Das war dummes Zeug: Es ging allen drek kig. Rickenharps blasses, scharfgeschnittenes Gesicht hatte einen grimmigen Ausdruck angenommen; sein Adamsapfel hüpfte an seinem langen Hals auf und ab, als er schluckte, um nicht kotzen zu müssen. Besson sah sie an – und knurrte.
Als Hard-Eyes in Bessons kleine rote Augen schaute und die offenen Wunden in seinem ausgezehrten Gesicht sah, die dunkel verkrusteten Stellen, wo nicht nur die Haare fehlten, sondern auch die Kopfhaut, da wußte er, daß Besson ver brannt war. Ausgerastet und durchgedreht. Er war in die von Nervengift gesättigtem Staub verseuchten Gassen gegangen, vielleicht ohne es zu wissen, und hatte in den Trümmern nach etwas zu essen gescharrt, und nun brachte ihn das Zeug langsam um; als erstes machte es ihn verrückt, wozu es ja auch gedacht war … Und jetzt zielte er mit der Maschinenpistole auf sie; er hielt sie mit seiner unversehrten Hand gegen seine Hüfte. Einen seiner verkohlten Finger hatte er noch zwischen den Zähnen. Er knurrte erneut – eine Warnung, wie ein Hund, dem man einen Knochen streitig macht. Wahrscheinlich würde er auf sie schießen, wenn sie sich bewegten, selbst wenn sie sich zurückzogen. Das wurde aus einem Menschen, wenn er vom gelben Staub verseucht war, dem das Neurotoxin die Schaltungen im Gehirn zersetzte. Also tat Rickenharp so, als ob er in Ohnmacht fallen würde. Er brach seufzend zusammen und blieb lang ausgestreckt auf dem von Splittern übersäten Boden liegen. Besson gaffte ihn verwirrt an. Der verkohlte Finger fiel ihm aus dem Mund. Schließlich traf sein ausgebranntes Gehirn eine Entscheidung: Etwas hat sich bewegt, und selbst wenn es nur hingefallen ist, schieß lieber drauf. Also senkte er die MP und richtete sie auf den am Boden liegenden Rickenharp. Hard-Eyes zog seine Pistole und tat Besson einen Gefallen. Besson brach mit einem kleinen runden Loch in der Stirn
zusammen, und Rickenharp begann zu schluchzen. Hard-Eyes fühlte sich innerlich völlig leer. Er langte nach unten und zog Rickenharp auf die Beine. »Was machste, wenn wir in Carmens Patrouille reinlaufen und sie dich so sieht?« sagte er mit stockender Stimme. »Hör auf damit, verdammt noch mal!« Rickenharp stolperte zur Tür hinaus und atmete die kalte Nachtluft in tiefen Zügen ein. Hard-Eyes kam heraus und blieb neben ihm stehen. »Später bringen wir seinen Leichnam zu seinem alten Haus«, sagte Rickenharp, »und begraben ihn bei seiner Frau.« »Okay… Es ist besser so für ihn, Harpie.« »Yeah. Kann sein.« Er zog eine alte, reich verzierte Schnupf tabaksdose aus seiner Tasche, öffnete sie und schöpfte mit einem Daumennagel, den er für diesen Zweck besonders lang hatte wachsen lassen, eine starke Dosis Blue Mesk heraus. Er sniefte den Stoff und sagte, während er ihn noch in seine Nebenhöhlen hochzog: »Yeah …« Schniefen. »Wahrscheinlich ist er jetzt besser dran …« Schniefen. »Als seit Jahren.« Schnie fen. »Komm!« Hard-Eyes ging voran. Sie entfernten sich durch eine kleine Seitenstraße, in der die Häuser auf der anderen Straßenseite zum größten Teil unversehrt waren, und gingen wieder nach Nordosten. »Glaubste an ein Leben nach dem Tod, Hard-Eyes?« »Weiß ich nicht.« Er glaubte überhaupt nicht daran, aber das wollte er Rickenharp nicht gerade jetzt sagen. »Ich schon.« Schniefen. »Du solltest mit dem Mesk-Scheiß aufhören.«
»Ich sag’s dir, Hard-Eyes: Ist die Gehirnfäule.« Er grinste. Seine Züge waren hager, schmutzig, eingefallen und zäh, und sein Grinsen verzog sein Gesicht zu etwas, das sogar einem Horrorfilm-Maskenbildner kalte Schauer über den Rücken gejagt hätte. Aber als Hard-Eyes nicht auf das Grinsen reagierte, erlosch es, und Rickenharp sagte: »Na ja – ich hab schon zweimal mit dem Zeug aufgehört. Letztesmal für lange Zeit. Aber ich schätze, hier macht’s nichts aus, ob ich mir meine Gesundheit ruiniere, denn wie lange werd’ ich die hier schon noch ha ben?« »Hey, hör zu! Steinfeld sagt, wir sollen nicht reden, wenn wir draußen sind, wenn’s nicht unbedingt sein muß, weil die Faschos überall Horchposten haben. Nicht bloß Funk; die benutzen auch Richtmikros. Okay?« »Biste sauer auf mich?« »Nein.« »Ich meine, wir befolgen das doch nie …« »Rickenharp …« »Ich weiß. Halt deine verdammte Klappe! Richtig?« Hard-Eyes lächelte. Sie kamen in eine Gegend, in der die Häuser dem Erdboden gleichgemacht worden waren, und sahen die katzengroßen grauen Ratten durch die geborstenen Mauerreste und den endlosen Schutt schlüpfen, und HardEyes wurde den Gedanken nicht los, daß Bessons Tod ein schlechtes Omen war. Daß die Axt herabsauste und daß er soeben das Pfeifen gehört hatte, das sie dabei verursachte. Sie bogen um eine Ecke, und da war die geschwärzte Wüste des Parc de Buttes Chaumont. »Da ist der Park«, flüsterte er.
Er drückte sich an die Ecke eines Hauses und spähte über die Avenue Simon Bolivar zum Park hinüber. Eine schwarze Rauchdecke hing über der zernarbten Erde. Die Straße war von Autos verstopft; manche waren ausgebrannt, andere umgeworfen, und alle waren von einer Aschenschicht bedeckt. Nichts regte sich. Unter ihren Blicken schien sich die Dunkel heit herabzusenken und die Schatten miteinander verschmel zen zu lassen. »Okay«, sagte Rickenharp. Sie gingen auf dem Bürgersteig entlang und bahnten sich ihren Weg durch die Trümmer einer geplünderten Ladenfront. Ziegelsplitter und Glas knirschten unter ihren Füßen (zu laut, verdammt!). Draußen auf der Avenue fühlten sie sich verwundbar, als sie sich zwischen die Autos duckten und zum Park hinüberliefen. Wir bewegen uns wie die verfluchten Ratten, dachte Hard-Eyes. Wir werden ihnen immer ähnlicher. Dann waren sie im Park und stapften zwischen den Kratern und durch den Schutt hindurch. Es roch verbrannt. Sie sahen eine Gruppe grauweißer Skelette mit abgetrennten Gliedma ßen in einem geschwärzten Jeep der US Army, der keine Räder mehr hatte. »Scheiße«, sagte Rickenharp. »Da ist kein gottverdammtes Landemodul.« Aber es war doch eins da. Es war am anderen Ende des Parks heruntergekommen, hinter einem Wäldchen mit runzli gen und schwarzen Bäumen, die wie abgebrannte Streichhöl zer aussahen; hinter Hügeln, die von den Granatexplosionen aufgeworfen worden waren; hinter den Wracks explodierter Panzerfahrzeuge und einer knochentrockenen Grube, die einmal ein Ententeich gewesen war. Auf der einzigen relativ
ebenen Fläche, die es in dem Park noch gab, saß ein sechsbei niges Landemodul wie eine mechanische Spinne von mythi scher Größe dampfend in einem Kraterrand, den seine eigenen Bremsdüsen aufgeworfen hatten. Ein kleines Stück davon entfernt war ein ungewöhnlicher Fleck aus silbrigem Gewebe; die zusammengesunkene Hülle des Fallschirm-Ballons, der den Abstieg des Moduls abgebremst hatte. Das Modul war nur eine Silhouette vor den schädelbleichen Ruinen am Rand des Parks. Aus seinen gerippten Luken in der Nähe des dik ken, verkohlten Hitzeschilds fielen schräge Schindeln aus rotem Licht herab. Sie konnten den Treibstoff und das heiße Metall riechen – und sie sahen schattenhafte Gestalten, die sich in der Nähe der gegliederten Beine bewegten. Die Schattenmenschen traten unter dem Modul hervor. Es waren drei, die auf den Überresten des Asphaltwegs auf sie zukamen. Hard-Eyes verließ den Weg. Rickenharp ging dahin, wohin Hard-Eyes ging. Das war so, seit sie sich kennengelernt hatten. Sie hockten sich hinter die Wölbung eines Kraterrands, beo bachteten die Fremden und schauten sich um. Warum waren die Faschos nicht gekommen? Vielleicht waren sie beschäftigt. Die Mitgliederzahl der Pariser NR hatte zugenommen; rund die Hälfte jeder Gruppe von Gefangenen, die sie befreiten, blieb bei ihnen. Die Stadt sah tot aus, aber es ging eine Menge darin vor. Steinfeld gab den Faschos viel zu tun. Die drei Fremden kamen näher. Der an der Spitze hatte eine Taschenlampe; ihr blauweißer Lichtstrahl schwang wie der Stock eines Blinden über die narbige Erde. Hard-Eyes checkte sein Gewehr, stellte es auf Automatik, hob es und spähte gleichzeitig mit zusammengekniffenen Augen ins Dunkel, um
zu sehen, was für Uniformen die Fremden trugen. »Mensch, Hard-Eyes, was ist, wenn Jaegernauts am Stadt rand stehen, wie Steinfeld gesagt hat?« flüsterte Rickenharp. »Wenn die Dinger aktiv sind, fangen sie die Wärmeabstrah lung des Landemoduls auf. Dann kommen sie her.« »Immer mit der Ruhe, Mann. Du bist ja paranoid. Das ist das Blue … Psst!« Die Fremden auf dem Weg waren jetzt auf gleicher Höhe und gingen vorbei. Hard-Eyes stand auf, hob das Sturmgewehr und bellte: »Keine Bewegung! Laßt eure Waffen fallen!« Die Fremden erstarrten. Zwei Seitenwaffen fielen auf den Kies. Hard-Eyes trat näher heran und ging vor ihnen herum. Er hielt das Gewehr auf sie gerichtet. Eine Frau und zwei Män ner. Er sah im Schein der Taschenlampe in der Hand der Frau, daß sie ungefähr zwanzig war, mit kurzgeschnittenem, weich aussehendem kastanienbraunen Haar; ein Elfengesicht; eigen artig puppenähnliche Lippen; und große, intelligent drein schauende dunkle Augen. Sie war klein und schlank und trug den grauen, einteiligen Overall des Koloniepersonals. Sie kam ihm bekannt vor. »Wir sind neutral«, sagte der dicke Mann neben ihr. Er hat te eine klobige Nase, kleine Augen und einen aschfarbenen Bürstenschnitt. Er trug einen Pilotenoverall und hatte einen schweren Rucksack auf dem Rücken. »Flüchtlinge von FirStep. Der Kolonie.« »Zu wem … äh … gehört ihr?« fragte der zweite Mann. Ein dünner Bursche, braune Haare, traurige Augen.
Rickenharp hatte es ausnahmsweise einmal die Sprache verschlagen. Er starrte das Mädchen an. »Richte das Licht auf den Boden!« sagte Hard-Eyes. Sie hielt die Taschenlampe nach unten. Er trat vor, um die Waffen an sich zu nehmen. Zwei kleine Pistolen. Eine davon für Explosivgeschosse. »Dann rückt auch mal die Munition raus«, sagte Hard-Eyes. Der Dünne warf einen raschen Blick auf die anderen und gab ihm dann ein in Segeltuch gehülltes Päckchen von der Größe eines Kartenspiels. Hard-Eyes verstaute die Waffen in seinem Gürtel. Der Dünne trat einen Schritt auf ihn zu … Rickenharp legte es falsch aus. Er drückte den Kolben der CAWS in die Höhlung seiner Schulter, zielte auf die Brust des Langen und schnarrte: »Willst du wohl deinen neutralen Arsch still halten, Freundchen!« Der Mann wurde zu einer Statue. Aber zu einer sprechen den Statue. »Ja, schon gut. Ich bin Frank Bonham. Das hier ist Brett Kurland, unser Pilot. Und das ist Claire Rimpler. Sie’s die Tochter von Dr. Benjamin Rimpler.« Hard-Eyes schnalzte mit der Zunge. Er erinnerte sich. »Ich dachte schon, daß ich … Yeah, okay.« Er senkte das Gewehr. »Alles klar, Harpie«, sagte er zu Rickenharp. Rickenharp behielt seine Waffe im Anschlag. »Was sagste?« »Ich hab gesagt, du kannst die Knarre wegstecken. Ich kenne sie. Ich …« Es war ihm peinlich, es auszusprechen. »Ich hab mal ‘n Papier über das Verwaltungssystem der Kolonie ge schrieben, für ein Soziologieseminar. Ich hab mir ein Interview mit Rimpler und seiner Tochter angeschaut. Sie ist es. Die sind von der Kolonie. Neutral.«
»Neutral? So’n Quatsch.« Aber er senkte die Schrotflinte. »Neutralität bedeutet ‘n Scheißdreck, wenn sie der SA in die Arme laufen«, fuhr er fort. »Den Faschos ist es egal, ob du ‘n Russe, ‘n Amerikaner, ‘n Australier oder ‘n Hund bist. Wenn du kein Fascho bist, dann bist du ihr Feind. In Paris jeden falls.« »Faschos?« fragte das Mädchen. »Erzähl ich euch alles unterwegs«, sagte Hard-Eyes mit ei nem Blick zum Himmel. Er hatte etwas gehört. »Unterwegs wohin?« fragte Bonham. »Zu unserem Bunker.« Hard-Eyes ließ den Blick über die Dächer schweifen. »Hey«, sagte Rickenharp wie ein Kind beim Picknick, das den Picknickkorb seiner Tante betrachtet, »habt ihr irgendwas Leckeres in dem Modul da? Kaffee zum Beispiel? Was Ge friergetrocknetes? Frisches Wasser?« »Ist alles hier in meinem Rucksack«, sagte Kurland lebhaft. Er bemühte sich, einen hilfsbereiten Eindruck zu machen. »Licht aus!« sagte Hard-Eyes plötzlich. Claire schaltete die Taschenlampe aus. Sie blickten in die Richtung, in die er schaute. Lichter näherten sich über der verwüsteten Skyline. »‘n Jumpjet«, sagte Rickenharp. »Die Laster werden gleich danach kommen.« Er drehte sich zu Hard-Eyes um. »Laß uns zur Metro laufen!« »Los!« zischte Hard-Eyes. »Schnell! Der Mistkerl kommt hierher!« Die Keilform des Jumpjets kam näher. Er bewegte sich wie eine Libelle, schoß nach vorn, hielt inne und schoß wieder
nach vorn. Er blieb in der Luft stehen und leuchtete mit seinen Scheinwerfern auf den Boden, flog dann langsam weiter und folgte dem Weg mit seinem Licht. Als er über dem Modul schwebte, hielt er an. Hard-Eyes und Rickenharp, Claire, Bonham und Kurland rannten durch die Schatten. Sie liefen in einer fast zwei Meter tiefen Erosionsspalte zur Rue Botzaris. Jenseits der Straße ging es durch ein Labyrinth herrenloser, verrottender Möbelstücke, die sich hinten aus einem verlassenen Möbellaster ohne Räder ergossen hatten, dann durch die Rue de la Villette zur Metrostation. Sie schwitzten vor Anstrengung. Hard-Eyes hörte Claire zwischen keuchenden Atemzügen fluchen. Das war bestimmt nicht das, was sie auf der Erde zu finden gehofft hatte. Als sie zum Eingang der Metro kamen, den Hard-Eyes nehmen wollte, schaltete Claire die Taschenlampe ein, und sie liefen die Stufen hinunter. Im Schutt am unteren Ende mach ten sie Halt, um Atem zu schöpfen. Im Lichtschein der Ta schenlampe war es ein unheimlicher, deprimierender Ort. »Wir müssen auf Händen und Füßen durch den Schutt hier kriechen«, sagte Rickenharp, »aber nach ein paar Metern ist der Weg frei, dann können wir laufen.« Claire ließ die Taschenlampe fallen und schluchzte im Dun keln. Bonham hob die Lampe auf und strich ihr übers Gesicht, um sie zu trösten. Hard-Eyes hatte ein seltsames Gefühl, als er das sah. Es gefiel ihm nicht, daß Bonham sie anfaßte. Ihr auch nicht. Sie schlug seine Hand weg. Ihre Stimme war brüchig, als sie sagte: »Ich … es ist blöd, jetzt zu weinen.« »Ist ‘n ebensoguter Zeitpunkt wie jeder andere«, sagte Hard-Eyes. »Nur zu. Hey – setz dich für ‘n paar Minuten hin.«
Er zupfte an ihrem Handgelenk, und sie hockte sich auf eine geborstene Betonplatte auf dem Schutthaufen. Die Taschenlampe war nach unten gerichtet; er konnte ge rade eben ihre Schultern beben sehen, als sie schluchzte. »Ich weiß nicht…«, murmelte sie. »Aber Herrgott… ich wollte unbedingt wieder runterkommen … Aber es ist so merkwür dig hier, es ist wie … es ist bedrückend und kalt und unge schützt… und es ist schlimmer als in der Kolonie …« »Nicht schlimmer«, sagte Rickenharp. »Wir haben hier ‘n Himmel. Und es gibt jede Menge Ecken auf dem Planeten, wo der Krieg nicht hingekommen ist. Wenn du nicht schlapp machst, kannste hinfliegen.« Hard-Eyes schwieg. Sollte sie es ruhig glauben. Aber aller Wahrscheinlichkeit nach würde keiner von ihnen lebend aus Paris herauskommen. »Okay«, sagte sie nach einer Weile. »Gehen wir.« Ihre Stimme war jetzt fest. Hard-Eyes nahm die Taschenlampe, und sie gingen weiter. Sie liefen durch den Tunnel. Das Licht der Taschenlampe ließ die roten Augen von Ratten aufleuchten und strahlte faustgro ße mutierte Kakerlaken an. Rickenharp seufzte melancholisch, als Claire zu Hard-Eyes aufschloß und neben ihm herging. »Was ist in eurem … Hauptquartier?« fragte sie. Hard-Eyes schnaubte. »Das ›Hauptquartier‹ besteht aus hundert zerlumpten Typen und ‘n paar Frauen, die im Keller eines ausgebombten Wohnhauses hocken. Sie reinigen Waffen, diskutieren über Politik und lesen. Oder spielen mit Karten, die so abgenutzt sind, daß man schon durchschauen kann. Und sie warten auf den Befehl, loszuschlagen. Es gibt noch andere Zellen. Die werden über Funk koordiniert. Wir ändern
unsere Funkfrequenz nach einem vorher festgelegten Code. Insgesamt sind wir vielleicht tausend. Leute jeder Nationalität … Die meisten sprechen Englisch. Ist nicht gerade gemütlich da unten, aber wir haben ein paar chemische Heizöfen, KaffeeErsatz und ‘n kleinen Vorrat an Dosenfraß. Ab und zu finden wir in den Ruinen Sachen, die irgendwer gehortet hat … Wir müssen den Tunnel hier nehmen, da lang kommen wir nicht weiter, weil der eingestürzt ist…« »Dein Freund hat was von der SA gesagt.« »Faschos. Neofaschisten.« »Die Second Alliance.« Er sah sie an. »Stimmt.« Sie lachte bitter. »Diese spezielle Sorte von Kakerlaken gibt’s auch bei uns in der Kolonie. Sie haben die Macht über nommen. Ein Staatsstreich. Sie bezeichnen es als ›Polizeiaktion unter den Bedingungen des Ausnahmezustands‹ Als wir abflogen, hatten sie alles überrannt. Die haben jetzt die volle Macht da oben. Da herrscht Kriegsrecht. Praegers kleine Diktatur. Mein Vater …« »Ich wollte dich schon fragen, ob er noch … wie es ihm geht.« »Er ist gestorben, glaub ich. Er …« Sie schüttelte den Kopf. Ihre Augen waren geschlossen. Einen Moment später machte sie die Augen wieder auf und sagte: »Bonham hatte einen Paß für ein abfliegendes Schiff, aber wir mußten das Modul ent führen, als wir zur Station Eins kamen. Sie hatten es so ge plant, daß wir in den Staaten landen sollten, und ich bin ziemlich sicher, daß mich die SA dort festgenommen hätte. Und Bonham glaubt, daß sie ihm eine Gehirnwäsche verpas sen wollten. Also mußten wir ein außerplanmäßiges Modul
klauen, und wir waren zufällig gerade über Europa, und Bonham hatte gehört, daß die NR in Paris ist…« Sie schüttelte wieder den Kopf. Ihre Stimme war trocken, so trocken, daß sie brach. »Wir hatten keine Ahnung, daß es hier so aussieht.« »Bis vor einer Woche war’s noch nicht so schlimm. Dann haben sie die Stadt abgeriegelt. Keiner kommt rein oder raus, außer vielleicht, wenn man den ganzen Weg kriecht. Sie haben Wind davon bekommen, daß Steinfeld hier ist …« »Du erzählst ‘ne ganze Menge, Mann«, sagte Rickenharp scharf. »Leck mich!« knurrte Hard-Eyes. »Die sind nicht von der SA. Außerdem weiß die SA sowieso schon alles, was ich gesagt hab.« »Steinfeld ist euer Führer?« Hard-Eyes nickte. »Die haben die Stadt auf der Suche nach ihm dem Erdboden gleichgemacht. Haben methodisch ver sucht, ihn aufzustöbern. Habt ihr keinen Treibstoff mehr in dem Modul?« Sie schüttelte den Kopf. Er zuckte die Achseln. Die Faschos hatten es eh schon. »Ich kann nicht glauben, was sie mit Paris angestellt ha ben«, sagte sie. »Das meiste davon haben die Sowjets und die Amerikaner auf dem Gewissen. Rickenharp dort und ich, wir waren Ame rikaner. Wir haben dem ganzen Scheiß abgeschworen.« »Was für Leute sind in der Armee der Second Alliance? Hier in der Gegend, meine ich.« »‘n Mischmasch. Viele von denen sind Spanier oder Italie ner, aber keiner von den Latinos kommt weit nach oben. Hier
herum sind’s größtenteils Briten, ›christliche‹ Falangisten aus dem Libanon und Weiße aus Südafrika. Afrikaander. Tausen de.« »Und was wollt ihr nun tun?« Er schüttelte grimmig den Kopf. »Ihr habt euch ‘ne schlech te Landezone ausgesucht. Seid in ‘ne Bärenfalle getreten. Wir warten einfach ab und hoffen, daß ein paar von unseren Ver bündeten durchkommen. Einmal haben sie versucht, einen Chopper für Steinfeld reinzuschmuggeln; der ist abgeschossen worden. Sie werden’s noch mal probieren. Na ja, und dann ist da noch was …« »Mann, Hard-Eyes, sie könnte gefangengenommen wer den!« Hard-Eyes nickte. »Aber ich werd’s ihr trotzdem erzählen. Die Frau ist in diese Scheiße hier runtergekommen, da hat sie ein Recht drauf, Bescheid zu wissen. Glaubst du, wir könnten denen irgendwas verheimlichen, wenn sie uns schnappen – bei der Ausrüstung, die sie haben? Sie würden’s auch von uns erfahren, Harpie.« »Na los, dann plauder’s halt aus! Scheiße!« sagte Ricken harp leise. »Unsere Leute rücken aus den anderen Hauptstädten an. Sie wollen durchbrechen, um zu Steinfeld zu kommen. Wenn wir anderen hier nicht auch in der Falle säßen, würde Steinfeld ihnen sagen, sie sollten es vergessen und ihn abschreiben, glaub ich. Weil’s wahrscheinlich nicht klappen wird. Die SALinien um die Stadt rum sind dicht geschlossen und gut befestigt. Und sie haben die Jaegernauts.« »Was ist das?« »Eine – Mordmaschine. Schwer zu beschreiben. Jedenfalls
haben wir in drei Wochen dreimal unsere Operationsbasis gewechselt. Sie schließen einen immer engeren Ring um uns. Vielleicht beziehen wir einfach beim Bogen Stellung und lassen sie wissen, daß wir dort sind. Dann bringen wir’s hinter uns und nehmen ein paar von ihnen mit, und die übrige NR kann mit ihrer Arbeit weitermachen. Wir wären Märtyrer. Gute politische Strategie – wenn jemand was davon erfährt.« »Du meinst, ihr tretet offen gegen sie an und laßt euch von ihnen umbringen?« »Mhm.« »Wie die dreihundert Spartaner. Romantisch.« »In gewisser Weise ist es romantisch, ja. Aber vor allem macht’s einen fertig.« »Warum … warum wollt ihr am Bogen Stellung beziehen? Du meinst den Arc de Triomphe, stimmt’s?« »Mhm.« Er hob die Schultern. »Vielleicht ist es albern. Blö der politischer Symbolismus. Ein Versuch, die Franzosen hinter uns zu kriegen. Der Bogen ist einer der wenigen Plätze des alten Paris, die noch weitgehend intakt sind. Deshalb ist er das Symbol der NR. Er ist auf der NR-Fahne. ‘n Gefangener hat uns erzählt, daß die Faschos planen, den Bogen mit Jae gernauts abzureißen. ›Um unseren Widerstandsgeist zu bre chen‹, sagt Steinfeld. Manchmal macht er solche Sprüche. Hält Reden über einen sinnvollen Tod. Wir machen uns darüber lustig, aber …« Er brach verlegen ab. Er brauchte ihr nie zu erklären, was Jaegernauts waren. Später sagte er nur eins, nämlich: »Sie sind von einer Tochter gesellschaft der Second Alliance gebaut worden, die Waffen produziert, einer deutschen Firma, die von einem Kerl namens Jaeger geleitet wird.« Er mußte es nicht erklären, denn als sie
in Clichy aus der Metrostation kamen, hörten sie das Dröhnen eines Jaegernauts, das die ganze Welt erfüllte. Sie sahen ihn dann ein paar Minuten später, als sie ein paar Blocks vom neuen Versteck entfernt auf dem Bürgersteig entlangtrabten. Rickenharp und Hard-Eyes sahen sich an. Und rannten los. Claire hatte jedoch den Eindruck, daß sie in die falsche Richtung liefen. Sie rannten in die Staubwolke hinein, die den Jaegernaut umgab. Der Boden bebte und die Luft vibrierte vom Lärm der Mordmaschine – KRRUNK-Ratter-KRRUNK-Ratter. Das Krachen, das Quietschen von zerreißendem Metall; kristalli sierter Stahl, der Steine zu Staub zermalmte … Sie sahen ihn ein Stück weiter vorn, die Beleuchtung längs der Achse; gelbe und rote Lichter, die die Staubwolke zum Glühen brachten, so daß sie Claire in Verbindung mit der Form des Jaegernauts selbst an die leuchtenden Gase des Krebsnebels erinnerte … Der Jaegernaut ragte über ihnen auf, ein fünf Stockwerke hohes doppeltes Hakenkreuz, das die Staubwolke wie einen Mantel der Macht trug. Hard-Eyes blinzelte zu ihm hinauf; seine Augen brannten und seine Lungen schmerzten vom Rauch, der aus dem Schutt in der Lücke aufwallte, wo das Haus gewesen war. Das Haus, das ihr Hauptquartier beherbergt hatte. Der Jaegernaut war fertig. Er hatte sie nicht bemerkt. Als er krachend abzog, pflügte er durch massive Gebäude wie ein Panzer durch ein Holzhaus. Ziegel regneten zu beiden Seiten herab, wie Gischt am Bug eines Bootes. Er machte die Steine und den Stahl mit gebündelten Mikrowellenstrahlen mürbe, während er sich durchzwängte.
Die Maschine war eine Art Rad. Sie ähnelte zwei Wagenrä dern ohne Felgen mit achtgliedrigen Speichen auf jeder Seite. Mit ihren Hydroplas-Muskeln wühlte, grub, furchte und pflügte sie sich durch alles hindurch. Für manche sah sie wie eine Bodenfräse aus – aber wie eine fünfzig Meter hohe. In der Achse zwischen den beiden Gruppen von Bohrspeichen saß die nukleare Kraftquelle, und man würde es bereuen, wenn man diesen Teil in die Luft sprengte. Jede Speiche war vier Meter dick. Die Energiequelle blieb stationär; die Felge drehte sich um sie herum. Die Maschine sah schon furchteinflößend aus, bevor sie sich in Bewegung setzte. Das ideale Terrorin strument. Ein halbes Dutzend davon konnten eine Stadt in nerhalb eines Monats dem Erdboden gleichmachen. Sie zer malmen und in Schutt und Asche legen. Und es war gemein schwer, sie zu Fall zu bringen. Hard-Eyes fand zwei tote NR-Wachposten auf der Straße vor dem plattgewalzten Hauptquartier. Man hatte ihnen die Kehlen durchgeschnitten. Rickenharp und Hard-Eyes zwangen sich, über den stehen gebliebenen Mauerrest zu klettern. Hustend arbeiteten sie sich durch den Rauch und den Staub. Sie fühlten die Vibrationen des abziehenden Jaegernauts und hörten sein infernalisches Kreischen und Rasseln; die Luft wurde so stark erschüttert, daß es war, als ob sie sich durch ein anderes Medium beweg ten, eine Art Schockwellen-Flüssigkeit. Sie kletterten in die rauchende Höhle hinab, wo das Hauptquartier der Neuen Resistance gewesen war. Eine Lederjacke brannte in einem kleinen Feuer, wo der chemische Heizofen zertrümmert wor den war. Außer dem Flackern des Feuers regte sich nichts. Der Rauch stieg in kleinen Wölkchen auf, wie die scheidenden Geister der Toten. Hier und dort waren Hautfetzen, Haarbü
schel und zerfetzte Drillichanzüge. Eine blutüberströmte, aber dennoch blutleere Hand ragte wie eine Klaue aus einem der Schutthaufen. Blutige schwarze Halstücher waren jetzt unun terscheidbar mit dem Fleisch und dem Gehirn ihrer Träger verschmolzen. Der Jaegernaut war mehr als einmal über das Haus gefah ren. Hard-Eyes bekam einen Schock, als er die Überreste von Jenkins fand. Sein Herz verwandelte sich zu Schlacke. »Sie sind alle tot«, sagte Rickenharp. Seine Stimme klang wie die eines Kindes, das sich verirrt hatte. »Alle tot.« Hard-Eyes schüttelte den Kopf. Das war ein Traum. Er ver suchte sich auszumalen, wie es in Wirklichkeit gewesen war. »Die Posten … die Faschos schicken Kommandos los, um die Posten zu töten. Dann bringen sie den Jaegernaut mit leisen Lkws her. Bauen die Teile vielleicht einen Block von hier automatisch zusammen. Sie aktivieren ihn, er entfaltet sich – das Ding ist ziemlich kompakt, wenn es zusammengelegt ist… Und er kommt über sie, bevor sie wissen, wie ihnen geschieht …« Rickenharp gab sich Mühe, seine Stimme ausdruckslos klingen zu lassen. »Der macht ‘ne Menge Lärm, wenn er kommt. Selbst wenn er ganz in der Nähe war – ein paar von ihnen müssen aus dem Haus rausgekommen sein. Garantiert.« Sie schauten sich ein wenig um, fanden aber nichts Leben diges. Nur Stücke ihrer Freunde. Das Geräusch des Jaegernauts wurde jetzt immer leiser. Wie ein Gußstück aus Eisen, das sich mit schweren Schritten ent fernte. Ein anderes Geräusch. Ein Brummen, das Knirschen von
Getrieben. Jeeps. Lastwagen. »Die Faschos kommen nachschauen, Mann«, sagte HardEyes. Rickenharp sah sich nur mit starrem Blick um. Sein Mund stand offen, und in seinen Augen schwelte ein Zorn, der beim geringsten Anlaß losbrechen würde. Hard-Eyes legte Ricken harp sehr behutsam eine Hand auf den Arm. Rickenharp wirbelte herum, richtete die Schrotflinte auf ihn und zog zähnefletschend den Abzug durch. Das Gewehr war gesichert. Hard-Eyes schluckte, um sein Herz, das ihm bis in den Hals gesprungen war, wieder in die Brust hinunterzuzwingen, und sagte: »Ich bin’s, Harpie.« Rickenharps Augen strömten über. Tränen streiften den Schmutz auf seinen Wangen. »Mann, sie sind alle …« »Ich weiß. Vielleicht haben ein paar von ihnen abhauen können. Hey, die Faschos sind im Anmarsch. Wir können sie besser allemachen, wenn wir – wenn wir auf höheres Gelände kommen. Okay?« Rickenharp ließ sich von Hard-Eyes am Arm fassen und aus der Ruine führen. Der Lärm der Lastwagen wurde lauter. Hard-Eyes sah ein Licht suchend durch den Rauch stechen. »Scheiße, wo sind …?« Dann kamen Claire, Bonham und Kurland hustend durch den Rauch gerannt. »Da sind Soldaten«, keuchte Bonham. »Sind die …« »SA«, sagte Hard-Eyes. »Kommt!« Er führte sie die Straße entlang, weg vom Lärm der näherkommenden Männer. Aus der dicken Rauchwolke heraus und in eine der gewundenen, sechs Meter breiten Seitenstraßen hinein.
Hier blieben sie stehen, um Atem zu schöpfen. »Scheiße, bin ich erledigt«, sagte Claire. Hard-Eyes schaute nach vorn und sah die Silhouette eines Mannes am anderen Ende der Gasse. Er trug eine Waffe. Hard-Eyes hob sein Sturmgewehr. Aber der Mann winkte und breitete die Arme aus, hielt die Waffe zu einer Seite und bot seine Brust als Ziel dar – eine Geste der Kapitulation. Er kam näher. Dann sagte Rickenharp: »Na sowas!« Es war Yukio. Er trug eine Khakiuniform und ein schwarzes Halstuch und hatte ein Gewehr mit einem aufgesetzten M-83 in der Hand. Er kam mit ausdruckslosem Gesicht auf sie zu und senkte die Arme. Hard-Eyes legte Yukio eine Hand auf die Schulter. Der Japaner war starr vor Kummer. »Außer mir haben es noch zwei geschafft. Aber alle anderen im Hauptquartier sind tot. Das ist die zweite Familie, die ich durch sie verloren habe.« »Wer hat’s geschafft?« fragte Rickenharp. »Willow und Carmen. Sie sind rausgegangen, um … für sich zu sein. Wir feierten gerade eine Party. Deshalb – wir hatten zuviel getrunken. Sonst hätten wir ihn kommen hören. Steinfeld hat uns die letzte Kiste Wein gegeben.« Er lächelte schwach. »Ihr habt die Party verpaßt.« »Eine Party?« Rickenharps Stimme war ungläubig. »Was soll das denn heißen, verdammt?« »Für Steinfeld. Zehn Minuten, nachdem ihr draußen wart, kommt ein Anruf durch: Die Israelis haben einen Jumpjet gekapert. Platz für zwei Passagiere. Sie haben ihn für Steinfeld und Doktor Levassier hergeschickt. Steinfeld geht weg, um den Angriff zu leiten, mit dem sie uns rausholen wollen. Es wird nicht klappen.« Er zuckte die Achseln. »Aber Steinfeld ist
draußen. Er kann weitermachen. Es tat ihm weh, wegzugehen. Ich hab’s gesehen. Aber er hat keine großen Worte gemacht. Er weiß, wo seine Arbeit ist. Er ist gegangen.« »Steinfeld ist draußen!« rief Rickenharp. Seine Stimmung wechselte erneut und abrupt. Er tanzte umher und tat so, als ob er auf der Schrotflinte Gitarre spielte. »Echt GEIL!« »Nicht so laut, Harpie«, mahnte Hard-Eyes. Yukio starrte die Neuankömmlinge an. »Aus dem Modul? Leute von der Kolonie.« Hard-Eyes nickte. »Sehen wir zu, daß wir hier wegkom men!« »Wohin?« fragte Claire. Sie lehnte schlaff an einer Wand. »Erst mal einen Unterschlupf suchen«, sagte Hard-Eyes. »Bis wir uns einer anderen Zelle anschließen können.« »Gimme Shelter, sagt er«, gluckste Rickenharp. »Gimme, gimme, gimme. Ich weiß einen Platz. Wart’s ab, Hard-Eyes! Du wirst schon sehen. Kommt! Ist nur ein Block.« Hard-Eyes saß mit dem Rücken zur Wand, sein automatisches Heckler & Koch-Sturmgewehr auf den Knien. Es war eine alte Waffe, Ende zwanzigstes Jahrhundert, die in der NRWerkstatt zweimal repariert worden war. Sie hatten ihr Lager in der Ruine einer ehemaligen Musikalienhandlung aufge schlagen. Yukio, Hard-Eyes und die Flüchtlinge von der Kolonie hockten hinter dem Verkaufstresen. Eine aufgebro chene elektronische Registrierkasse lag wie der Schädel eines enthaupteten Roboters auf der Seite, und verstreute Notenblät ter vergilbten auf dem Boden; sonst war nur das schwache Glimmen einer Coleman-Lampe und das Flackern des chemi
schen Heizofens hinten in dem Gang zu sehen. Wie sich her ausstellte, hatte Rickenharp die Lampe und den Heizkörper hier versteckt. Hierher war er immer gekommen, wenn er verschwunden war. Das Mädchen lag im Gang auf einem Bett aus Notenblättern dicht bei dem chemischen Heizofen und schnarchte leise. Bonham und Kurland saßen in ihrer Nähe und unterhielten sich flüsternd. Gegenüber von Hard-Eyes saß Yukio mit dem Kopf auf den Armen, die Arme auf die Knie gestützt, die Knie an die Brust gezogen, und murmelte im Schlaf auf Japanisch vor sich hin. »Rickenharp?« flüsterte Hard-Eyes. Rickenharps Stimme kam von der anderen Seite des Tre sens. »Ich bin noch wach, Mann. Bin zu aufgedreht. Schlaf ‘ne Runde! Ich halte Wache.« Hard-Eyes machte es Yukio nach, legte den Kopf auf die Arme und versank in einen unruhigen Halbschlaf. Ab und zu wurde er von leisen Geräuschen geweckt. Er hörte, wie Rik kenharp etwas sniefte; wahrscheinlich Synthamorph diesmal, um dem Blue die Wirkung zu nehmen und nicht zu viel an seine Freunde zu denken, die während ihrer einzigen Feier seit sechs Monaten abgeschlachtet und zu Brei zermalmt worden waren. Hard-Eyes ließ sich treiben … Das nächste, was er hörte, war eine Diskussion zwischen Bonham und Kurland. Er konnte Kurlands Akzent jetzt deut lich hören. »Aber wir können nicht wissen, ob diese ›Faschos‹ wirklich so sind … äh … na, du weißt schon« – er senkte die Stimme –, »wie ihre Gegner behaupten. Ich meine, die Opposi tion stellt die Gegenseite immer als böse und als blutige Ty rannen dar. Wenn wir diesen Second-Alliance-Leuten erklä ren, daß wir keine Subversiven sind, sondern neutral, dann
werden sie bestimmt… also ich finde, wir sollten zu ihnen gehen und …« »Ach, sei nicht albern«, sagte Bonham. »Sie würden mich identifizieren; die wissen, daß ich ihnen von der Schippe gesprungen bin. Sie würden mich in eins ihrer Rehabilitationslager bringen. Dich würden sie als möglichen Komplizen ansehen. Du hast dich von uns bestechen lassen, also hast du für jemand anderen gegen sie gearbeitet. Claire hat auch gegen sie gearbeitet, also wollen sie sie haben. Vergiß es!« »Aber ich sag dir …« »Ich sagte, vergiß es!« Eine Menge Autorität im Ton des schmächtigen kleinen Burschen, wenn er wollte. Bonham war also ein Kollaborateur. Hard-Eyes registrierte es und schlief wieder ein. »Verdammt, Hard-Eyes, wach auf!« Hard-Eyes setzte sich kerzengerade auf und zuckte zu sammen. Sein Rücken schmerzte von der kalten Betonwand. »Wasnlos, Mann. Soll ich etwa Wache schieben?« »Nein, Yukio steht Posten … Komm mit!« Hard-Eyes stand auf, streckte sich und folgte Rickenharp mit dem Sturmgewehr in der Hand durch den Gang und an den Kolonieflüchtlingen vorbei, die um das Metallgehäuse des chemischen Heizofens herum schliefen. Hard-Eyes warf einen raschen Blick auf Claire. Im Schlaf sah ihr Gesicht wie auf einem präraffaelitischen Gemälde aus. Bei ihrem Anblick spürte er ein angenehmes Ziehen. Er lächelte, als er sah, daß sie mit der Maschinenpistole schlief, die Yukio ihr gegeben hatte; sie drückte sie im Schlaf an ihre Brust wie ein kleines
Mädchen seine Puppe … Sie gingen vorbei, hielten sich links und stiegen die Treppe zu einem muffigen Lagerraum im Keller hinab. Rickenharp ließ eine Taschenlampe aufleuchten. »Ich hab hier mal rumgestöbert. Hab gesehen, daß diese Bretter so aussahen, als wären sie erst kürzlich angenagelt worden. Als ob jemand hier drin was verstecken wollte.« Er legte die Taschenlampe oben auf einen Stapel von Pappkar tons, so daß der Strahl an die Wand fiel und eine Tür hervor hob. Die Tür war vernagelt. Er zerrte an den Brettern, und sie ließen sich mühelos lösen. Er hatte sie vorher schon losgehe belt und dann wieder festgemacht, wobei er die Nägel nur lose eingeschlagen hatte. Er warf die Bretter mit einem Getöse beiseite, das HardEyes zusammenzucken ließ, und leuchtete mit der Taschen lampe in die niedrige Öffnung. »Geh rein und sieh’s dir an!« Hard-Eyes bückte sich und ging hinein. Rickenharp folgte ihm mit der Taschenlampe. Es war ein kleiner Raum, sechs mal anderthalb Meter, im Grunde ein langer Schrank. Voller Musikinstrumente. Größtenteils Gitarren, Verstärker, Lautsprecher, Mikrophone und PA-Equipment. Eine Intuition und das Gefühl, am falschen Ort zu sein, ließen Hard-Eyes erschauern, als er das gehortete Zeug anschaute. Für Ricken harp war es der Schatz von Tutenchamun. »Eyes, mein Alter, das ist Kismet«, sagte er in überzeugtem Ton. Seine Stimme klang völlig ernst, als er fortfuhr: »Schick sal. Ich sollte die Sachen hier finden. Ich fühl mich wie Ali Baba … Ich glaub, das waren sowas wie Vorführmodelle, die der Musikladen hier unten versteckt hat, als die Sowjets mit
dem Beschuß loslegten. Da drüben ist sogar ‘ne Tuba. Ist das zu glauben? Ich hab’s bei zwanzig Musikläden probiert, Mann, bis ich was fand, was nicht im Arsch war. Aber ich wußte, daß es in einem rumlag und auf mich wartete …« »Schade, daß du’s nicht benutzen kannst. Kein Strom. Und die Faschos würden’s hören.« Das Grinsen erhellte seine Ecke des Raums wie ein Lichtbo gen. »Ach ja? Sieh dir das an!« Er streckte die Hand aus. Ein Chromwürfel glitzerte in seiner Handfläche. »Weißte, was das ist? Das ist ‘n Firestormer, von Marshall Amps. In dem kleinen Ding ist Batteriestarkstrom für den größten Amp konzentriert. Teuer, das Teil. Reicht für fünf Tage, wenn man die Anlage voll aufreißt. Und wirf mal ‘n Blick hier rüber: Kopfhörer. Zwei Paar. Die steckste in den Amp. Eingebaute Lautstärke regler. Ich kann spielen, und die Faschos hören keinen Ton. Willste mal was hören? Ich hab die Gitarre schon gestimmt…« Hard-Eyes fühlte sich, als ob er einem Verhungernden Nah rung verweigerte. »Äh, jetzt nicht, Mann. Ich bin echt müde. Und ich hab Kopfschmerzen.« »Kopfschmerzen? Na prima. Setz einfach die Kopfhörer auf. Ich puste dir die Kopfschmerzen raus. Dafür wird in deinem Schädel kein Platz mehr sein. Ich hab hier ‘ne alte Telecaster, zirka zwanzig Jahre alt, die ist astrein … Ich reiß das Teil so weit auf, klink mich da rein und steck die Batterie hier rein …« Das Licht des Verstärkers leuchtete im Halbdunkel hellrot auf. Rickenharp hatte die Taschenlampe am Boden liegen lassen. Er bückte sich neben ihr, um eine lange Linie Blue Mesk von seinem Handrücken zu sniefen. Die Taschenlampe gab ein bläuliches Licht ab, das sein Gesicht gespenstisch akzentuierte, als ob er von der Droge glühen würde.
Hard-Eyes setzte seufzend den Kopfhörer auf und regelte die Lautstärke herunter. Er bereitete sich darauf vor, sich eine zwanzigminütige, hemmungslos weitschweifige und langwei lige elektrische Egoblähung anzuhören, vielleicht eine endlose Variation von einem von Rickenharps Lieblingssongs aus dem zwanzigsten Jahrhundert. Rickenharp schnallte sich die Gitarre um und setzte den Kopfhörer auf, damit er selbst hören konnte … Ein Summen im Kopfhörer … Der erste Akkord klang wie eine Kirchenglocke. Lang und langsam und voll. Der zweite zitterte bluesig wie der Klagege sang einer schwarzen Frau bei einer Beerdigung auf dem Friedhof, wo die Glocke läutete. Rickenharp spielte ein Trauer lied für ihre Freunde, die unter dem Stiefel aus kristallisiertem Stahl den Tod gefunden hatten … Und dann spielte er ein Thema, in dem Zorn, Rachsucht und neu auflebende Zielstre bigkeit widerhallten; er beschleunigte das Tempo, arbeitete mit Double-Picking, um die Rhythmussektion zu ersetzen, und dann rockte er los, aber richtig. Die Töne dröhnten und perlten, stürmten in die Abschweifung eines Speed-Rappers, jagten weiter, hielten inne wie Lenny Bruce, der eine Pointe zum richtigen Zeitpunkt setzte, schienen dann einen Monolog zu halten, dessen Rhythmus Rickenharps Sprechweise ähnelte, gingen danach ohne Pause wieder in das thematische Riff über und – okay, okay, Hard-Eyes war beeindruckt. Schließlich war Rickenharp fertig. Hard-Eyes nahm den Kopfhörer ab. »Rickenharp, Mann, ich hatte keine Ahnung …« »Das ist mein Instrument. Ist wie speziell für mich ge macht.« Hard-Eyes klangen die Ohren.
»Willste ‘ne Nase von dem Blue hier, Eyes?« »Nee, komm, du müßtest mich besser kennen. Aber spiel noch was. Ich bin noch nicht ganz taub.« Er setzte den Kopf hörer wieder auf. Rickenharp und Hard-Eyes lächelten, als sie aus dem Hinter zimmer herauskamen. Auf dem Gang war niemand. Hard-Eyes runzelte die Stirn und entsicherte das HK. Er ging durch den Gang voran und dachte: Bei dem ganzen Krach in den Kopfhörern könnte hier draußen sonstwas passiert sein, ohne daß wir’s mitgekriegt hätten. Sie gingen zum Tresen. Hörten ein Rascheln, ein eindringli ches Flüstern, konnten jedoch nicht verstehen, was gesagt wurde. Geduckt schlichen sie um den Tresen herum und sahen in den Hauptraum hinaus. Der Raum war mit FiberplasKisten, den Innereien eines zertrümmerten Klaviers und zerbrochenem Glas übersät. Ein kleines Licht fiel von den eingeschlagenen Fenstern links herein. Eine Bewegung rechts, hinter den Kisten. Rickenharp drehte sich dorthin herum … Und trat dabei aus der Deckung des Tresens heraus. Dann sah Hard-Eyes die Männer links im Eingang. »Harp …«, setzte er an. Aber Rickenharp trat ins Freie hinaus, und der Mann schoß ihn nieder. Der Bulle schoß ihn einfach nieder! Die Dunkelheit wurde von aufblitzendem Mündungsfeuer zerrissen; das Krachen der automatischen Waffen hallte von den Wänden wider. Rickenharp wirbelte um die eigene Achse
und brach zusammen. Zwei verirrte Kugeln schlugen in das kaputte Klavier und erzeugten zwei klagende, dissonante Töne … Hard-Eyes stieß einen Schrei aus und sprang vor, um mit dem HK auf die Tür zu feuern. Es ruckte in seiner Hand und leitete seinen Zorn ab. Der Raum wurde von Stroboskopblit zen von der Mündung erhellt. Einer der Männer schrie heiser auf und ging zu Boden. Hard-Eyes zog sich instinktiv in die Deckung des Tresens zurück. Im Stroboskoplicht des Gewehrs hatte er Bonham und Kur land mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden liegen sehen, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Die Männer waren hereingekommen, hatten sie vielleicht im Hauptraum gesehen. Sie hatten sich ergeben … Wo war Claire? »Rickenharp? Rickenharp!« zischte Hard-Eyes. »Ich … bin okay, Mann.« »Beweg dich nicht!« Hard-Eyes spähte über den Rand des Tresens zur Tür. Er sah niemand. Er duckte sich, huschte in die Mitte des Raums hinaus und tastete herum, bis er Rickenharp fand. »Wo hat’s dich er wischt?« »Bein. Hüfte.« »Ich hab dich.« Er hängte sich das Sturmgewehr über den Rücken und bückte sich, um Rickenharp zu helfen. Von der Tür stach Licht herein. Ein Mann bellte: »Keine Bewegung! Laßt eure Waffen fallen!« Hard-Eyes blinzelte ins Licht. Über dem grellen Schein konnte er drei Männer mit schußbereiten Waffen hereinkom
men sehen. Reguläre SA-Soldaten. Keine schweren Körper panzer. Aber sie hatten ihn im Visier. »Harpie …« »Zeigen wir’s ihnen«, sagte Rickenharp. Rickenharp hatte seine CAWS über der Brust. Mit schmerz verzerrtem Gesicht setzte er sich auf und feuerte über seinen Körper hinweg auf die Männer an der Tür. Die automatische Schrotflinte donnerte wie eine kleine Kanone, sie dröhnte und ruckte in seinen Händen, und der Mann an der Spitze wurde von vier Zwölfergeschossen auf eine Distanz von zehn Metern in Fetzen gerissen. Sein linker Arm löste sich von seiner Schul ter; sein Körper schien sich zu verflüssigen und klatschte auf die anderen zurück. Dann hörte das Gedröhn auf, und Rik kenharp zischte: »Das Scheißding hat Ladehemmung!« Hard-Eyes versuchte, sein HK in Schußposition zu bringen, aber es war zu spät. Die anderen SA-Leute feuerten. NeunMillimeter-Kugeln pfiffen so dicht an seinem Kopf vorbei, daß er die Reibungshitze spürte, und jede Sekunde würde eine … Claire sprang wie ein Schachtelmännchen hinter einer Kiste auf. Die Maschinenpistole in ihren Händen flammte auf und ratterte. Sie nahm die Tür aufs Geratewohl unter Feuer. Die beiden Männer brachen zusammen. Die Taschenlampe lag im Eingang; sie leuchtete noch und machte aus der Blutlache eine spiegelnde Pfütze. Hard-Eyes zitterte. Das Herz hämmerte in seiner Brust. Beruhige dich, beruhige dich, sagte er sich. Er ging mit wei chen Knien zur Tür, hob die Taschenlampe auf und wischte das warme, glitschige Naß daran an einer SA-Uniform ab. Er richtete sich auf – und der Lichtstrahl fiel auf Yukio. Er schien jemanden zu umarmen.
Er lag mit dem Gesicht nach unten auf dem SA-Soldaten. Seine rechte Hand umklammerte noch das Messer, das im Hals des Toten steckte. Seine Seite war blutig. Sein linker Arm war durchschossen, ein Mischmasch von Blut und herausra genden Knochensplittern. Aber er atmete. Claire kam von hinten herbei. »Kurland ist zum Fenster ge gangen, um mal einen Blick nach draußen zu werfen«, sagte sie. »Yukio hat ihm befohlen, wieder hineinzugehen. Sie haben sich gestritten, und dann kamen die SA-Männer. Yukio hat einen von ihnen erschossen. Ein anderer hat Yukio getroffen, und Yukio hat seine Pistole fallenlassen und ist zu Boden gegangen. Aber als der Kerl ankam, um sich zu vergewissern, daß er tot war, ist Yukio aufgesprungen und hat ihn erstochen, und dann sind sie beide hingefallen. Dann kamen noch mehr SA-Leute, und Kurland hat sich ergeben … Und dann bist du gekommen …« Sie zuckte die Achseln. Ihre Stimme war dumpf. Ihr Gesicht war ausdruckslos. Hard-Eyes blickte zu Rickenharp hinüber. Kurland sprühte gerade einen Verband aus dem Erste-Hilfe-Päckchen in seinem Rucksack auf Rickenharps Wunden. Claire holte ein weiteres Medipack aus einem Beutel an ihrem Gürtel und bückte sich, um zu sehen, was sie für Yukio tun konnte. Hard-Eyes ging zur Tür und schaute auf die Straßen hinaus. »Wahrscheinlich war’s nur eine Patrouille. Vielleicht sind wir hier ganz gut aufgehoben.« Er ging wieder hinein. Kurland und Bonham trugen Rik kenharp ins Hinterzimmer. Sie legten ihn neben den chemi schen Heizofen. Er war bewußtlos und blutete aus der rechten Schläfe. »Der Bursche hat ‘nen Querschläger abbekommen, viel
leicht bloß ‘nen Splitter, nach der Größe der Eintrittswunde zu urteilen«, sagte Kurland. »Diese zweite Salve, nachdem er auf sie geschossen hat… ist aber vielleicht nicht allzu schlimm. Kann sein, daß es ihn bloß gründlich ausgeknipst hat.« Hard-Eyes und Claire schleiften die toten Angehörigen der SA-Patrouille in den hinteren Teil des Hauptraums und ver steckten sie hinter dem umgestürzten Klavier. Claires Gesicht war aus Stein, aber sie packte tüchtig mit an. Sie legten Yukio neben Rickenharp. Er starrte an die Decke und knirschte vor Schmerz mit den Zähnen, gab jedoch anson sten keinen Laut von sich, bis Hard-Eyes ihm einen Schuß Synthamorph aus dem Medipack verpaßte. Dann stieß er einen langen, leisen Seufzer aus und schlief fast augenblicklich ein. Hard-Eyes benutzte einen Feldverband-Pack, um Yukios gebrochenen Arm mit einem provisorischen Gips zu schienen. Die Wunde in Yukios Seite war nicht so schlimm. Gegen vier Uhr morgens wachte Rickenharp auf und bat Hard-Eyes, ihm mit der Taschenlampe in die Augen zu leuch ten. Seine Stimme schnarrte. Hard-Eyes zuckte die Achseln, stand auf und leuchtete Rickenharp ins Gesicht. »Na los, Hard-Eyes. Leuchte mich an!« »Mach ich doch schon, Mann.« Und da wußten sie, daß er erblindet war. »Wahrscheinlich ‘n Knochensplitter«, sagte Rickenharp und bemühte sich, kühl und analytisch zu klingen. »Hat den Seh nerv durchtrennt. Oder vielleicht ‘n Blutgerinnsel.« »Scheiße, Mann, wir bringen dich raus; sie werden dich operieren …«
»Blind«, sagte Rickenharp. Er horchte dem Wort nach. Zu erst war er eher erstaunt als entsetzt. »Blind. Ist ja ‘n Hammer, Mann, ‘n Anti-Hammer. Blind.« Die Kugeln in Rickenharps Bein hatten Fleischwunden ge schlagen und die Arterien verfehlt. Aber er war geschwächt; er lag auf dem Rücken beim chemischen Heizofen, den Kopf auf Hard-Eyes’ zusammengerollte Jacke gebettet, spielte auf der Telecaster und hörte sich selbst über Kopfhörer zu. Ein Stück hinter ihm stand der kleine Verstärker. Sein rotes Licht leuch tete wie das Auge von Rickenharps Dämon, der schützend in seiner Nähe kauerte. Nach einer Weile hörte er auf zu spielen, schien jedoch im mer noch auf etwas zu horchen. Er lächelte leicht. »Hey, HardEyes«, krächzte er. Hard-Eyes kam und hockte sich neben ihn. »Ja, Mann?« »Nimm mir den Kopfhörer ab. Setz ihn auf und hör zu.« Hard-Eyes nahm den Kopfhörer und lauschte. Er hörte sta tisches Rauschen und – ganz leise – eine Stimme. »Das ist Willow!« platzte Hard-Eyes heraus. »Willows Stimme! … Das Ding fängt eine unserer Frequenzen auf!« »Ja, das kommt schon mal vor. Hörste, was er sagt?« »Ja, er wiederholt’s ja immer wieder. Alle Einheiten ver sammeln sich bei Treffpunkt zwanzig, um neun Uhr. Ver dammt – was war noch mal T-zwanzig?« »Das hätteste auswendig lernen sollen, du Experte! Es ist der Bahnsteig der Metro Franklin Roosevelt, wo die Bahn nach Süden abfährt. Das ist auf der Champs-Elysees – nicht weit vom Triumphbogen. Neun Uhr. Morgen früh … Weißte, alles
passiert richtig symmetrisch, Hard-Eyes. Wir haben ‘n bißchen Glück, ‘n bißchen Pech und ‘n bißchen Glück. Der neueste glückliche Umstand ist, daß wir diese NeugruppierungsBotschaft aufgefangen haben. Das neueste Pech, daß wir auf der falschen Seite von dem beschissenen Bogen sind. Drüben auf der Champs-Elysees-Seite umlagern sie das ganze Ding. Wir könnten zum Bogen kommen, aber nicht dran vorbei. Auf der einen Seite ist die Gelbstaubzone, auf der anderen Seite haben die ihr Hauptquartier. Die Straßen sind alle verbarrika diert; wir könnten nur direkt unter dem Bogen durchmar schieren … Also wie kommen wir da durch, um uns bei Fran kie Roosevelt neu zu formieren?« »Uns wird schon was einfallen.« »Hey, das war ‘ne rhetorische Frage. Mir ist nämlich schon was eingefallen, Mann. Ich will, daß du mir versprichst, mir das nicht zu versauen. Versprich’s mir! Mein letzter Gig, Hard-Eyes. Hör zu …« »Das ist doch total hirnrissig«, brummte Kurland. Eine Stunde vor Tagesanbruch. Sie stapften durch die ver wüsteten Straßen, durch blauschwarze Schatten und silbrig schimmernde Nebelfetzen, durch Trümmer, verbrannte Dinge und den kalten Geruch von Asche. Auf dem Rücken schlepp ten sie Lautsprecher und Verstärker. Hard-Eyes konnte es selbst kaum glauben. Aber als Kur land fortfuhr, sich zu beschweren, sagte er: »Er will es sich nicht ausreden lassen. Wir werden’s machen. Also halt endlich deine verdammte Klappe!« Rickenharp, der sich auf Claire stützte, grinste. »Schön zu hören, daß du das mal zu jemand anderem sagst, Hard-Eyes.« »Und du hältst auch deine verdammte Klappe!«
Claire trug eine Gitarre und ein Medipack. Kurland schleppte die Hochtonhörner der PA. Yukio trug Waffen – und eine Rhythmusbox. Bonham war mit Kabeln und Mikros, diversem Kleinkram und Rickenharps Schrotflinte beladen. Hard-Eyes hatte sich zwei tragbare Verstärker auf den Rücken geschnallt, hielt das Sturmgewehr in den Händen und hatte den M-83 über einer Schulter hängen. Sie schleppten die Sachen durch den verbogenen Stummel eines Wolkenkratzers, zwischen phantastischen Formen aus geschmolzenem Glas und Plastik hindurch; durch das Gerippe einer Kathedrale; durch einen Schindanger voller verstümmelter Schaufenster puppen, wo ein Kaufhaus gestanden hatte. Der Schweiß, der ihnen unter den Kleidern hinablief, war eiskalt. »Total absurd«, knurrte Kurland. »Der Krieg ist absurd«, sagte Claire. »Rassismus ist absurd. Das hier…« Sie zeigte auf das Trümmerfeld von Paris. Sie brauchte den Satz nicht zu beenden. »Ich hoffe nur, daß mir der Regen keinen Strich durch die Rechnung macht«, sagte Rickenharp. Sie versteckten sich zweimal vor vorbeikommenden Pa trouillen und schlichen dann im Schutz des Nebels, der Nacht und der megalomanischen Selbstüberschätzung der Faschos weiter. Und dann kamen sie zum Étoile, dem Stern. Der Triumph bogen stand trotzig im Zentrum des zwölfspitzigen Sterns, wo die Avenuen zusammenliefen. Von Napoleon 1808 per Dekret beschlossen, im selben Jahr von Chalgrin begonnen, aber erst 1836 fertiggestellt. Fünfzig Meter hoch, vierundvierzig Meter breit und zweiundzwanzig Meter dick. Aus massiven Stein blöcken errichtet. Die Fassaden waren mit verschlungenen
Verzierungen geschmückt, und der Bogen schützte die Flam me des unbekannten Soldaten. Sie war schon längst erloschen, überwältigt vom Wind von tausend mal tausend unbekannten Soldaten, die den Tod gefunden hatten. Auf der zur ChampsElysees weisenden Seite war die Hochreliefgruppe, die den Abmarsch der Kriegsfreiwilligen darstellte. Im Mittelpunkt die Gestalt der Marseillaise mit ihren ausgebreiteten Schwingen und ihrem vorgereckten Schwert, die ihnen den Weg wies, den Mund zu einem ewigen Schrei geöffnet, einem in Stein gemei ßelten Schrei… Der Arc de Triomphe war von Kugeln total verschrammt, stand jedoch noch. Es dämmerte fast. Der Nachthimmel wurde ein bißchen weicher und ließ ein wenig Blau ein. Der größte Teil der Fa schisten lagerte auf der anderen Seite des Bogens. Um zum NR-Treffpunkt zu gelangen, mußte Hard-Eyes an ihnen vor bei. Auf dieser Seite des Triumphbogens hielten ein paar Posten Wache, aber zwischen Hard-Eyes und den Posten boten um gestürzte Lastwagen, abgestürzte Hovercars, zerstörte Panzer, Schutt und lange Schatten Deckung. Unter ihren Lasten ächzend, überquerten sie den Étoile; während sie sich duckten und zwischen den verborgenen Wracks hindurchhasteten, stand es Kurland und Bonham ins Gesicht geschrieben, was sie dachten: Das ist irrational; es ist Irrsinn. Gleich hinter der zum Treppenschacht führenden Tür in einer der massiven Säulen des Bogens hockten zwei Neofa schisten bei einem mattgelben Chemofeuer. Hard-Eyes kauerte sich hinter einen Lkw und schraubte den Schalldämpfer auf sein Sturmgewehr. Er kroch um den kreis
runden Bordstein herum, der den Bogen umgab, bis er außer Sicht der Posten war, dann rannte er zur Säule zurück und drückte sich flach gegen den Stein. Er horchte. Leise, sorglose Stimmen aus dem Innern. Ein Trapezoid schwefelgelben Lichts fiel aus der Tür zu seiner Linken auf den Beton. Sie dürfen keinen Schuß abgeben, sagte er sich. Leise, du mußt leise sein. Er schob sich zur Tür vor. »Die verfluchte Resistance ist doch ‘n mieser Witz, ver dammt«, sagte jemand drinnen. »Reine Zeitverschwendung, hier wegen ‘ner Horde ausgetickter Franzmänner und Kamel treiber rumzuhocken.« Hard-Eyes lächelte. Er drehte sich um seine eigene Achse, trat durch die Tür, schwenkte das Gewehr herum und zielte genau, während die Männer aufschauten und ihn mit offenem Mund anglotzten. Der Schalldämpfer schluckte das Krachen der Schüsse. Einer der Männer fiel hintenüber; aus seiner Brust spritzten Blutfontänen. Der zweite richtete eine Maschinenpi stole auf Hard-Eyes, und dieser dachte: Genau ins Gehirn, damit er im Fallen keinen Schuß mehr abgeben kann. Er ließ seine geübten Finger die Arbeit tun. Das HK spuckte Feuer, zischte und riß dem Burschen den oberen Teil des Kopfes weg. Der Mann wirbelte herum. Blut spritzte in Spiralen aus seinem zerschmetterten Schädel. Die Waffe fiel klappernd zu Boden; das war das einzige Geräusch, das sie von sich gab. Und der Arc de Triomphe gehörte ihnen. Sie trugen die Anlage Stück für Stück nach oben, die Treppe im Innern des Bogens hinauf zur Aussichtsplattform auf seiner Krone. Claire und Hard-Eyes halfen Rickenharp die Treppe hoch. Sie bauten die Anlage auf und stöpselten Rickenharps
Gitarre ein. Rickenharp saß auf dem Amp und stimmte zur allgemeinen Verwunderung seine Gitarre ganz präzise über Kopfhörer, während ihm der kalte, feuchte Wind durch die Haare fuhr … Schwarzgeränderte Wolken mit silbernem Kern hinter ihm. Rickenharp lächelte schief; er sah schwächer und bleicher aus denn je. Yukio saß neben ihm. Er stellte den Granatwerfer auf und legte die automatischen Waffen zurecht. Hard-Eyes zog jedem von ihnen zwei Injektionen in den Spritzen aus dem Medipack auf; jede Injektion enthielt eine Lösung aus einem Teil Blue Mesk, einem Teil Synthamorph und einem Teil energiespendender Vitamine. Nur damit sie durchhielten. Er mischte sie in einem Meßbecher aus Zinn. Kurland machte große Augen, schwieg jedoch. »Rickenharp«, sagte Hard-Eyes, als er die Spritzenkolben herauszog, um die Lösung durch die Nadel einzusaugen, »eine Operation könnte dir das Augenlicht zurückgeben. Oder eine Transplantation. Eine Prothese.« »Laß gut sein, Mann. Diese ganze Seite meines Körpers wird taub. Ich hab noch Kraft in meinen Armen und meinen Fingern. Aber nicht mehr lange. In meinem Gehirn ist irgend was kaputt, Hard-Eyes. War schon immer so.« Er grinste. »Aber jetzt ist es endgültig im Eimer. Ihr werdet nicht durch kommen, wenn Yukio und ich die da unten nicht ablenken. Und Yukio und ich – wir sind sowieso im Arsch. Er wird seinen Bogen nicht mehr verlassen. Hat sich dazu ent schlossen, als die anderen plattgemacht worden sind. Diese Japaner sind völlig irre!« Es klang bewundernd. »Und Yukio fühlt sich beschissen, Mann, weil’s ihn nicht auch erwischt hat. Und …« Er lächelte schief. »In Wirklichkeit ist es aber die Band. Stimmt’s, Rickenharp?
Du hast dir in den Kopf gesetzt, daß deine Karriere zu Ende ist. Und darauf ist deine ganze Identität aufgebaut. Also glaubst du, daß es mit dir auch zu Ende gehen muß. Mensch Kumpel, es ist doch blöd, zu …« »Nein, Hard-Eyes«, fiel ihm Rickenharp ins Wort. »Erzähl mir nicht, daß mein großer Augenblick blöd ist. Nein, das verstehste nicht. Ich hab das Gefühl, daß es richtig ist. Es ist so, als ob ich mein ganzes Leben lang für diesen Gig geprobt hätte.« »Harpie …« »Nein, ich mein’s ernst. Ich hoffe nicht, daß mir jemand die Sache ausreden will. Jetzt paß mal auf, Mann …« In seiner Stimme klang wieder etwas von der früheren Erregung auf. »Die Jaegernauts haben Kameras, im stationären Teil der Achse, richtig? Du kannst sehen, wie sie aus dem Schacht ausfahren, wenn sie ‘ne gute Aufnahme brauchen, die sie den Truppen bei der Ausbildung im Fernsehen zeigen können, um diesen Mist mit dem ›Triumph des Willens‹ unter die Leute zu bringen. Weißt du? Sie werden uns aufnehmen, wie wir unter gepflügt werden, und den Film – mit Ton, Mann! – zu dieser neofaschistischen Heimatstadt in Kalifornien rüberschicken und es den Kids und den jungen Leuten zeigen, und die Kids werden mich sehen, sie werden die Songs hören, und kann ja sein, daß sie anders drauf reagieren als die Faschos erwarten, oder?« »Ja, kann sein, Harpie.« Er glaubte keine Sekunde daran. Aber er wollte Rickenharp seinen Wunschtraum nicht rauben. »Jedenfalls wollte ich schon immer mal live im Fernsehen spielen. Sie haben uns immer mit Playback aufgenommen.« Er grinste irre, und auf seinen Zähnen war Blut.
Also gab Hard-Eyes Yukio die vorbereiteten Spritzen, um armte ihn und Rickenharp und ging die Treppe hinunter. Kurz bevor er durch die Tür hinaustrat, schaute er noch einmal zurück. Er sah, wie Yukio ein rotes Band aus seiner Jacke holte, es um die Stirn schlang und sich im Schneidersitz auf eine Shinto-Zeremonie vorbereitete. Hard-Eyes und die Flüchtlinge versteckten sich in einem Gewirr aus kaltem, verbogenem schwarzen Panzerstahl und warteten auf das Tageslicht. Sie befanden sich im hinteren Teil eines ehemaligen alten Halbkettenfahrzeugs. Einmal versuchte Bonham, Claires Hand zu nehmen. Sie entriß sie ihm und schloß die Augen. Seine Miene wurde hart, aber er sagte nichts. Nach einer Weile kletterte er hinten aus dem Halbket tenfahrzeug und ging vorne herum, wo er im Schutz eines umgestürzten Lastwagens gegen den Motor pißte. Hard-Eyes konnte nur einen bläulichen Ausschnitt von Claires Gesicht sehen. Es reichte, um zu erkennen, daß sie wach war. »Angenommen, wir kommen durch«, sagte er. »Was willst du dann machen? Wenn du überallhin gehen und alles tun könntest… Blöde Frage, schätze ich: Du wirst versu chen, in die Staaten zurückzukommen.« »Nein. Wo ist das Hauptquartier von denen? Von der SA?« »Das militärische Hauptquartier? Das größte soll auf Sizili en sein.« »Warum greift ihr die Insel dann nicht an?« »Wir haben nicht genug Leute – und auch nicht genug Schiffe. Die Insel steht unter dem Schutz der NATO. Aber Steinfeld hat an einem Weg gearbeitet, da reinzukommen, bevor sie ihn gefunden haben.«
»Früher oder später wird er’s versuchen.« »Mhm.« »Ich will Praeger. Wenn wir dem Oberkommando der SA zu Leibe rücken, können wir Praeger zu fassen kriegen.« »Wer ist Praeger?« »Wenn wir lebend aus Paris rauskommen, erzähl ich’s dir.« Es dauerte nicht lange, dann wurde es hell. Bleiernes Blau säumte die ausgefranste, verstümmelte Skyline, als sie den ersten verstärkten Ton über den Platz perlen hörten. Es war wieder diese bizarre Kirchenglocke; sie läutete einen neuen, elektrischen Morgen ein. Sie hörten aus einer Entfernung von zehn Metern, wie der Captain, als eine Neofaschisten-Patrouille auftauchte, hervor stieß: »Zum Teufel, was ist das denn?« Claire kamen vor laut losem Lachen beinahe die Tränen. Rickenharp drosch als erstes ›Transmaniacon‹ von Blue Oy ster Cult herunter, bretterte dann in ›London Burning‹ von The Clash hinein und ging bruchlos zu Lou Reeds ›White Light/White Heat‹ über. Er hatte ein Mikro an einen der Ver stärker angeschlossen und brüllte die Texte mit einer Stimme heraus, die Hard-Eyes mit Sicherheit sagte, daß Yukio ihnen die Schüsse verpaßt hatte. Rickenharp war im Begriff, zum letztenmal in seinem Leben high zu werden. Die Rhythmus box setzte ein; sie hämmerte einen martialischen Beat heraus, der wie gebändigter Donner zitternd von den Fassaden der Ruinen um den Étoile herum zurückprallte. Es war noch dunkel genug, daß Hard-Eyes die anderen durch die Schatten an der Peripherie des Étoile, in den Ruinen
und über den nicht mehr funktionierenden Brunnen zur Champs-Elysees führen konnte. Rickenharp spielte jetzt ›Slave‹, eine alte Stones-Nummer von etwa 1981. »I don’t wanna be yo’ slave«, heulte er. Dann kam ›Street-Fighting Man‹. Jeder Akkord spreizte sich wie ein Pfauenschwanz in wundervolle Verzerrung und hallte über die weiten, luftigen, zerstörten Flächen des Étoile. Hard-Eyes lachte leise in sich hinein und hob sein Sturm gewehr. Er hatte haltgemacht; sie waren hinter einem umge kippten Truppentransporter in Deckung gegangen. Er spähte zwischen einem verbeulten Kotflügel und dem Kühlergrill zur Einmündung der Straße hinüber. Dort hatten sich Dutzende von SA-Leuten verschanzt, die zum Triumphbogen hinauf starrten. Vielleicht hatte sich Rickenharp geirrt, was ihre Reaktionen betraf… Rickenharp jagte durch ein paar Songs aus der Mitte der achtziger Jahre. The Clash, Dead Kennedys, The Fall, New Order, U2, The Call. Und das ›Requiem‹ von Killing Joke. Dann ging’s in die Neunziger mit ›Sometimes It’s Better to Die‹ von Obsession. Er machte ein Pause, ließ einen Akkord betrunken schwan ken und schrie: »Hey! Habt ihr Angst vor ‘ner Gitarre, ihr jäm merlichen Feiglinge?« Er brüllte so laut, daß der Verstärker seine Stimme verzerrte. Aber sie verstanden ihn. Jetzt noch lauter: »IHR DA! IHR SCHLAFFEN, ARROGANTEN DARMWÜRMER! YEAH, IHR DA, IHR SCHEISSEFRESSEN DEN ARSCHGESICHTER MIT DEN WEICHGESPÜLTEN HIRNEN! ICH MEINE EUCH, IHR SCHWULEN NAZI DAUMENLUTSCHER DA DRÜBEN BEIM METROSCHILD! HABT IHR ANGST VOR ‘NER GITARRE, IHR SCHLAPPSCHWÄNZE?«
Der Truppenführer der Faschisten gab den Befehl. Sie stürmten auf den Triumphbogen los und bestrichen seine Krone mit ihren automatischen Waffen. Staub und Steinsplit ter wirbelten auf. Yukio wartete, bis die Neofaschisten den halben Weg zu rückgelegt hatten, ehe er das Feuer auf sie eröffnete. Er hatte zwei Granatwerfer aufgebaut und bereits die Reichweite eingestellt. Drei Explosionen vor dem Bogen, wie riesige Flammenhän de, die sich abrupt öffneten. Metall- und Betonfragmente regneten herab. Eine Staubwolke erblühte … und löste sich wieder auf. Zwölf Mann der SA-Sturmtruppe lagen mit ver renkten Gliedmaßen regungslos am Boden. Sechs stürmten weiter vor. Yukio stoppte sie mit kurzen, präzisen Salven aus seinem Maschinengewehr. Dann kam eine weitere Welle, suchte in Granattrichtern Deckung und begann das Feuer zu erwidern. Yukio war ständig in Bewegung; er hielt den Kopf unten und feuerte pausenlos. Er hatte einen besseren Schuß winkel als sie. Er feuerte eine Granate aus dem M-83 über den Étoile; sie ging im Zelt des Truppenführers hoch und setzte es in Brand. Dann noch eine und noch eine. Die SA-Leute rannten Hals über Kopf in Deckung. In ihre Linien waren Breschen geschla gen worden. Vierzig Meter hinter dem brennenden Zelt konnte HardEyes den Metroeingang sehen, zu dem er wollte. »Los!« rief er. »Rennt wie der Teufel!« Er packte Claire am Ellbogen, und sie sprinteten über die offene Straße zum Bürgersteig auf einer Seite der ChampsElysees. Sie waren fast schon dort, ehe die Wachposten, die
sich neu formierten, sie sahen. »Runter!« rief Hard-Eyes. Claire und er warfen sich hinter einem umgestürzten Laternenpfahl zu Boden. Bonham warf sich gleich hinter ihnen flach auf den Bauch. Kurland geriet in Panik. Er starrte wild um sich und rief: »Wir müssen zurück, wir müssen …« Eine Maschinengewehrsalve traf ihn in den Mund, trieb ihm die oberen Zähne durch die Nebenhöhlen ins Gehirn und aus dem Hinterkopf heraus, und er brach wie eine Marionette zusammen, der man die Fäden durchgeschnitten hat. Das Maschinengewehr stand in einem ehemaligen Zei tungskiosk. Seine Mündung flammte über Fetzen von Plaka ten auf, die für Le Opera warben. »HEY, DU DA IM ZEITUNGSKIOSK!« dröhnte Ricken harps Stimme. Er hielt inne und kicherte ins Mikro. Ein ver stärktes Kichern, das durch das Krachen der Schüsse zu hören war. »HEY, DU MIT DEM MASCHINENGEWEHR! NA LOS! NUN ZEIG MIR MAL, WAS DU DRAUF HAST!« Hard-Eyes lächelte. Das Maschinengewehr verstummte einen Moment lang. Die Mündung schwenkte zum Triumphbogen herum. »Kümmer dich nicht um das Arschloch, du verdammter Idiot!« rief irgendein Offizier. »Schieß auf die …« Aber es war zu spät. Hard-Eyes war auf den Beinen, rannte im Zickzack und dachte: Vielleicht finde ich diesmal raus, wie sich’s anfühlt, eine Kugel in den Kopf zu kriegen. Vielleicht ist es der gottverdammt geilste Kick, den man sich vorstellen kann. Während 7,2-Millimeter-Kugeln dicht bei seinen Knöcheln jaulend von der Straße abprallten …
Aber er erreichte den Kiosk, lief um ihn herum, fand ein Loch in der Seite, schob den Lauf seines Sturmgewehrs hin durch und feuerte sein ganzes Magazin ab, wobei er das Gewehr hin und her schwenkte. Die Mündung des Maschi nengewehrs kippte nach oben und stieß ein Rauchwölkchen aus. Claire und Bonham waren ebenfalls auf den Beinen und kamen zu ihm gerannt. Er schob ein neues Magazin in das Sturmgewehr. Yukio feuerte, um ihm Deckung zu geben, als er zum Metroeingang lief. Verschwommene, flüchtige Ein drücke von SA-Soldaten … das Pfeifen der Kugeln, die ganz in seiner Nähe durch die Luft zischten … Und dann waren sie die Treppe hinuntergelaufen und in Deckung. »O Scheiße«, keuchte Bonham. »Der Eingang ist verbarrika diert.« »Sieht so aus, stimmt aber nicht«, sagte Hard-Eyes. »Das haben wir so hingebaut … Grabt mal da drüben. Bei dem Stein mit dem Farbspritzer drauf. Zieht ihn raus und fangt an zu graben. Ist bloß Tarnung.« Bonham und Claire begannen zu graben. Hard-Eyes drehte sich um und ging wieder die Treppe hin auf, um über das mit Metall übersäte Schlachtfeld zum Tri umphbogen hinüberzuschauen. Und zu Rickenharp. Eine winzige Gestalt dort oben, fast unsichtbar. Aber hörbar. Seine Stimme und seine Gitarre, durch diese bösartigen kleinen Marshalls gejagt, waren selbst durch das Gewehrfeuer hörbar. Das war jetzt irgendein Song von ihm selbst, vermutete HardEyes. Er konnte den Text nicht verstehen, aber er wußte, wovon er handelte. Er hatte ihn über die Jahre in tausend
Variationen gehört. Es war eine Hymne, und sie sprach davon, wie es war, jung zu sein. Vielleicht hätte sie ›Jugend‹ heißen sollen. Und dann rollten die Jaegernauts von Osten und Westen heran. Es waren zwei, und ihr Ziel war der Triumphbogen. Sie kamen wie die neofaschistische Kriegsmaschine selbst. Sie kamen wie der Tod. Aus dieser Perspektive sahen sie wie fünfstöckige Speichenräder aus; die Speichen gruben sich in alles hinein, was im Weg stand. Staubwolken wallten auf, Ziegelsteine regneten herab. Die Neofaschisten zerstreuten sich jubelnd und zogen sich zurück. Yukio schoß weiterhin auf sie, und mehr als einer fiel. Die Echos seiner Schüsse rollten wie Baßlinien zu Ricken harps elektrischem Geheul. Rickenharp hatte die Verstärker jetzt voll aufgerissen; er war über dem Quietschen der näher kommenden Jaegernauts zu hören. Die beiden Klänge paßten gut zusammen. Die Zerstörung war monumental. Die beiden Jaegernauts kamen von entgegengesetzten Seiten auf den Triumphbogen zu und begannen ihn zu zermalmen; zuerst drehten sie sich wie im Schlamm steckengebliebene Jeepräder an Ort und Stelle, dann bissen sie in die Ecken und krachten herunter, als die Mikrowellenstrahlen dem Stein die Widerstandskraft raubten. Yukios Kugel prallten heulend von den Sicheln aus blauem Metall, den Speichen des Jaegernauts ab. Metall schnitt mit einem Kreischen in Stein, das eine andere Art von Heavy Metal-Solo über Rickenharps letzte Akkorde legte: Dicke blaue Funken sprühten von den mahlenden Stacheln der Maschine weg; Risse zogen sich wie negative Blitze durch das riesige Monument; der zweihundert Pfund schwere Kopf einer Wal
küre löste sich von seinem steinernen Hals und stürzte sich überschlagend in die Tiefe, prallte von einem Steinsims ab, fiel auf das Grab des unbekannten Soldaten und zerbrach; die gewaltige Krone des Bogens neigte sich, senkte sich nach innen … und die ganze Zeit über spielte Rickenharp weiter, immer weiter, spielte ein Solo, so schnell er konnte, klagend und aufsteigend, Rickenharp, der Musiker, legte alles hinein, was er hatte … die Risse breiteten sich weiter aus … die Mi krophone fingen das Knacken, Knirschen und Bersten des Monuments auf… ein letzter wütender und trotziger Gitarren akkord und ein Feuerstoß vom Dach des Triumphbogens, dann stürzte er in sich zusammen – und wurde für einen Augenblick von einer gewaltigen Staubsäule und einer mono lithischen Stille ersetzt. Meine Freunde sind tot, dachte Hard-Eyes. Nach außen hin zeigte er keine Gefühlsregung. In seinem Inneren entlud sich eine Regenwolke. Die Jaegernauts stampften über die Trümmer weg, vor und zurück, und zermahlten die Überreste des Monuments zu Pulver. Zu Pulver und Blut. Der Arc de Triomphe, das Wahrzeichen der Neuen Resi stance, das Symbol des Kampfes gegen die Neofaschisten, war zerstört und dem Erdboden gleichgemacht. Den Arc de Tri omphe gab es nicht mehr. Aber Hard-Eyes wußte, wer triumphiert hatte. Als er sich umdrehte, um in den Tunnel zu gehen, glaubte er das Echo von Rickenharps letztem Akkord weiter und weiter klingen zu hören.
EPILOG
»ICH HABE GUTE NEUIGKEITEN für Sie, Smoke«, sagte Witcher. Witchers Privatjet hatte eine halbe Stunde über Manhattan gekreist, während er auf die Landeerlaubnis für den John F. Kennedy International Airport in Queens wartete. Das Innere des Flugzeugs war sauber und hell erleuchtet, und es roch neu. Die einzigen Passagiere außer dem Personal waren Wit cher, Witchers Sekretärin – die sich im Schlafabteil hingelegt hatte – und Smoke. Und Smokes Krähe. Es gab einen Salon mit einem großen Aussichtsfenster, und Smoke saß an der Bar und schaute aus dem Fenster auf die Insel Manhattan hinunter, die im asketischen Sonnenschein eines wolkenlosen Wintertags schmucklos glänzte. Witcher war Ende sechzig, hatte aber einen guten Drüsen arzt, gute Enzymologen und gute Homöopathen und sah wie vierzig aus. Er ließ jedoch zu, daß seine schulterlangen, sauber geschnittenen braunen Haare und sein kurzer, ebenso ordent licher Bart von ein wenig Silber gestreift wurden. Er trug einen braunen Anzug mit ledernen Schultereinsätzen. Seinen breiten Mund, die flache Nase und die tiefliegenden braunen Augen hatte er behalten. Er hätte sich etwas leisten können, was mehr hermachte. »Welche guten Neuigkeiten?« fragte Smoke, ohne den Blick von der Stadt zu wenden. »Schauen Sie.« Witcher schob Smoke einen glänzenden Computerausdruck über die Messingbar hin. Er hatte ihn gerade aus seinem Büro im hinteren Teil des Jets mitgebracht. Smoke überflog den Printout. Das Flugzeug legte sich ein wenig schräg; Smokes Glas mit Club Soda rutschte von ihm weg. Er ließ es rutschen. Der schwarze Barkeeper gab sich Mühe, seine Verärgerung zu
verbergen, als er das Glas festhielt, bevor es zu Boden fiel. Witcher warf ihm einen kurzen Blick zu. »Gehen Sie nur nach oben ins Schlafabteil und ruhen Sie sich aus, Jerry, wenn Sie mögen.« Als er fort war, sagte Witcher: »Das Schlimme ist, daß Jerry schon seit zweiundzwanzig Jahren bei mir ist. Er ist absolut loyal. Wir sollten in seiner Gegenwart eigentlich offen sprechen können – aber wegen der Extraktoren …« Er tat es mit einer Geste ab. »Loyalität ist ohne Bedeutung.« Während er den Printout las, holte Smoke tief Luft und ließ sie langsam wieder heraus. Dann lächelte er. »Steinfeld, HardEyes, Carmen, Willow, Levassier, Hernandez … Wer sind die anderen?« »Anscheinend Flüchtlinge von FirStep. Das Mädchen gibt an, Claire Rimpler zu sein, Professor Rimplers Tochter. Sie hat sich der NR angeschlossen. Sie sagt, ihr Vater sei in der Kolo nie ermordet worden. Wir haben von der Kolonieverwaltung keine Bestätigung dafür bekommen. Der andere Bursche – dieser Bonham – versucht irgendeinen Handel mit uns zu machen. Ich weiß noch nicht genau, worum es dabei geht. Hinter dieser Sache mit den Kolonieflüchtlingen steckt eine Geschichte. Die können wir bei der Nachrichtenkonferenz anbringen.« Smoke wandte sich an die Krähe in ihrem Käfig am Boden. »Hörst du? Steinfeld, Hard-Eyes und viele von den anderen – sie sind durchgekommen!« Die Krähe neigte den Kopf und schien die Achseln zu zuk ken, als sie sich aufplusterte. Smoke drehte sich wieder zu Witcher um. »Wie haben sie das gemacht?« »Steinfeld nennt es ›Zangenbewegung‹. Die hinter den Lini
en gefangenen Einheiten haben die Straßensperren der SA gleichzeitig mit Steinfelds Leuten draußen angegriffen. Zwei Drittel der in Paris eingeschlossenen NR-Leute sind durchge kommen und konnten fliehen. Sie liegen jetzt irgendwo in den französischen Alpen. Hier ist eine Liste der bestätigten Opfer.« Smoke nickte, sah sich die Liste jedoch nicht an. Er trug einen leichten, aschgrauen Baumwollanzug, den sie in Freezone für ihn ausgesucht hatten. Komplett mit einem modischen gerippten Rollkragenpullover – eine Alternative zu der engen Goldkette. Smoke war immer noch hager. Aber sie hatten ihn auf eine Rehabilitationsdiät gesetzt, und seine Augen glänzten. Sie hatten sogar seine Zähne in Ordnung gebracht und neue implantiert, um die Lücken zu füllen. Er würde in New York auf der Straße herumlaufen können und als wohlhabender Bürger durchgehen. Aber er fühlte sich deplaziert. Verloren. Anscheinend identifizierte er sich mit dem Wrack, das er einmal gewesen war. »Wie lange bleiben wir in New York?« fragte Smoke. »Vier Tage. Wir können nicht lange bleiben; es ist riskant, wenn Sie sich in der Öffentlichkeit blicken lassen. Man wird Sie natürlich schwer bewachen, aber …« Smoke nickte. »Ich weiß. Wohin geht’s danach?« »Auf die Antillen. Eine kleine Insel, wo … Sie werden se hen.« »Ist dieser Kessler dort?« »Ja, mit seiner Frau. Ihr beide werdet eng zusammenarbei ten – das hofft Steinfeld zumindest.« »In mancher Hinsicht ist Steinfeld sehr – praktisch. Aber er
ist auch ein Idealist mit einem Hang zum Extremen, wie ein zwanzigjähriger Collegeschüler. Wenn ich an seinen Wunsch traum denke, das Gitter neu zu strukturieren.« Smoke schüt telte den Kopf. »Glauben Sie, das geht nicht?« »Ich glaube, daß es unwahrscheinlich ist, fast so wie ein nu klearer Holocaust. Aber…« Er lächelte matt. »Aber wir wer den’s natürlich versuchen.« Er schaute aus dem Fenster auf New York City hinunter. »Warum tun Sie das, Witcher? Sie können aus der Sache keinen Profit schlagen. Und Sie machen mir nicht den Eindruck, ein … ähm …« »Ein Humanitätsapostel zu sein? Bin ich auch nicht. Ich be wundere tapfere Menschen, aber … aber in erster Linie geht’s ums Geschäft. Die SAISC hat dreimal versucht, Witcher Airli nes und Witcher Computers zu übernehmen – jeweils dreimal. Die SAISC ist ein Raubtier in Gestalt eines Unternehmens. Die haben angefangen – ich wehre mich bloß.« Smoke schüttelte den Kopf. »Das ist nicht der Grund.« Er versuchte zu erkennen, was oben auf dem Worldtalk Building war. Das Flugzeug lag schief; es umkreiste die Südspitze der Insel und schwenkte nach Queens herum, und er hatte das Gefühl, als ob ein unsichtbarer Faden die Spitze des Gebäudes und das Flugzeug verbände, so daß das Flugzeug wie ein Kinderspielzeug an dem Faden kreiste … »Nun ja«, sagte Witcher, »Sie sind ein scharfsinniger Mann. Das hat Steinfeld schon gesagt. Sie haben recht: Es ist nicht der wahre Grund. Vielleicht verrate ich Ihnen den eines Tages. Wenn es sicher ist.« Ein leerer Fernsehschirm hinter der Bar flackerte, leuchtete dann auf und zeigte ein Fischaugenbild des Cockpits. Der
Copilot drehte sich um und sah sie an. »Wir haben Landeer laubnis, Sir; wir gehen jetzt in den Landeanflug über.« Witcher nickte zum Schirm. »Wird auch Zeit. Vergewissern Sie sich noch einmal, daß unser Sicherheitsdienst zur Stelle ist.« »Ja, Sir.« Der Schirm wurde wieder dunkel. »Die guten Neuigkeiten aus Paris sind natürlich auch schlechte Neuigkeiten«, meinte Smoke. »Sie besagen nämlich, daß die SA Paris jetzt ganz in der Hand hat. Und das heißt, das besetzte Gebiet ist noch größer geworden.« »Sie hatten die Stadt auch schon vorher in der Hand. Die Mehrheit der Franzosen war auf ihrer Seite.« Witcher zuckte die Achseln. »Und der Rest von Europa marschiert auch bald im Gleichschritt.« »Steinfeld ist noch in Frankreich«, murmelte Smoke. »HardEyes auch. Und die anderen. Sie haben nicht aufgegeben.« Das Flugzeug überflog die Stadt, und Smoke erhaschte ei nen raschen Blick auf das Verkehrsgewühl in den Straßen … Der Organismus der Stadt summte vor Leben … »Diese Stadt ist sehr lebendig«, sagte Smoke leise. »Aber das war Amsterdam auch, vor noch gar nicht so langer Zeit.« ENDE DES ERSTEN BUCHES
Es folgt
ECLIPSE PENUMBRA
(HEYNE SF & F 06/4722)