Roy Palmer Durchbruch nach Malta
1. Nebliggrau erhob sich der neue Tag über dem östlichen Horizont. Nur träge kroch das...
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Roy Palmer Durchbruch nach Malta
1. Nebliggrau erhob sich der neue Tag über dem östlichen Horizont. Nur träge kroch das schale Licht nach Westen, etwa so, als könne es sich nicht entschließen, auch die Küste von Syrien allmählich zu überfluten. Das Drama, das hier seinen Lauf nahm, verlangte nach den Schatten der Nacht. Bislang hatten sie alles zugedeckt und waren zum Verbündeten der beiden feindlichen Parteien geworden. Jetzt verflogen sie und gaben weiße Wölkchen frei, die vom Ufer des Levantinischen Meeres hochstoben. Das war kein Morgennebel. Es war Pulverdampf. Das Krachen der Musketen und Arkebusen der Männer des Scheichs Manach el Bedi zerriß die morgendliche Stille. Sie knieten auf dem sanft ins Meer abfallenden weißen Sandstrand, hatten ihre Waffen auf Gabelstützen gelegt und sandten dem Seewolf und seiner Crew voll Haß und Erbitterung Kugeln und gehacktes Blei nach. »Ihr gottverdammten Mufties und Hosenscheißer!« Edwin Carberry stand am Steuerbordschanzkleid auf der Kuhl der ›Isabella VIII.‹ und schüttelte erbost die Faust gegen die Feinde. Er machte seiner Wut Luft und ließ den üblichen Schwall von Verwünschungen vom Stapel. Nur - es klang anders als der Sermon, den die Crew regelmäßig über sich ergehen lassen mußte. Carberry meinte es ernst, todernst. Während er und die anderen Männer auf der Kuhl und dem Quarterdeck sich bereits wieder aufrichten konnten, hielten sich Hasard und seine Leute auf dem Achterdeck weiter hinters Schanzkleid geduckt. Das Heck der Dreimast-Galeone befand
sich noch nicht außer Schußweite des Gegners. »Ihr Satansbraten, Höllenhunde, Mistfresser, Stinkstiefel, Drecksäcke und Kanalratten!« brüllte der Profos zum Ufer. »Oh, ihr Affenärsche, ihr verlausten und verwanzten, der Teufel soll euch holen, euch und euren Hurenbock von einem Scheich!« In seine letzten Worte hinein dröhnte der Schußlärm der Drehbasse auf dem Achterdeck. Hasard hatte sie nach sorgfältigem Zielen gezündet. In einer feurigen Lohe stob die Ladung aus dem Rohr der Basse. Sie ruckte in ihrer Gabellafette. Das Ding drohte fast aus seiner Halterung im Schanzkleid zu brechen. Hasard hatte die Pulverladung üppig bemessen, aber für Manach el Bedi und seine Kerle konnte sie nicht kräftig genug ausfallen. Vom Strand stieg plötzlich eine Sandfontäne auf, zwei, drei Meter hoch. Mittendrin wirbelten menschliche Gestalten. Ein einziger Aufschrei brandete durch die Reihen der Verfolger. Hasard hatte die Meute genau in ihrem Zentrum getroffen. »Volltreffer!« brüllte Ferris Tucker. Big Old Shane, Ben Brighton, Pete Ballie und die anderen auf dem Achterdeck grölten ebenfalls vor Begeisterung. Während Ferris seinem Kapitän zu dem meisterhaften Schuß gratulierte, schnellte dieser plötzlich vor und packte Old O’Flynn. Der alte Donegal hatte in seiner hellen Freude den Kopf zu hoch genommen. Hasard konnte ihn gerade noch auf die Planken zurückdrücken, da pfiff auch schon eine Kugel über sie weg. Weitere Schüsse prasselten achtern gegen die Galerie. Ein Bleiglasfenster ging klirrend zu Bruch. Der Rest der Geschosse hagelte zirpend in die See und siebte das Kielwasser der ›Isabella‹. »He!« rief Hasard. »Willst du außer dem Bein auch noch deinen Schädel einbüßen? Dafür bastelt dir keiner eine Prothese!« »Wäre doch nicht schade um die Rübe«, erwiderte der Alte in
einem Anflug von Bitterkeit. »Verdammt, letztlich ist es mir scheißegal, ob ich lebe oder abkratze.« »So darfst du nicht reden. Was soll ich denn sä gen?« »Gar nichts. Du bist jung.« O’Flynn fixierte seinen Schwiegersohn, und ein milderer Zug legte sich auf seine Miene. »Die Zeit heilt Wunden, und für dich geht das Leben weiter.« »Sprüche«, erwiderte Hasard. Seine Stimme klang belegt, unwirklich; »Ich hätte nicht übel Lust, mir eine Kugel durch den Kopf zu jagen.« »Hör auf. Du schaffst es, darüber hinwegzukommen.« »Wir müssen es schaffen«, sagte Hasard zu dem Alten. Die zweite Drehbasse wummerte los, Ferris hatte sie gezündet. Auch seine Kugel riß eine Bresche in die Reihe der Gegner am Ufer. Wenn es auch nur zwei oder drei Kerle waren, die in den Tod befördert wurden was zählte, war die Verwirrung, die entstand. Manach el Bedis Männer liefen aufgescheucht wie die Hühner hin und her. Das Schießen hatten sie fast ganz aufgegeben. Und wer von ihnen noch feuerte, vergeudete ohnehin seine Munition. Die ›Isabella‹ hatte inzwischen mehr Fahrt aufgenommen. Die Distanz zwischen ihr und der Küste wuchs schnell. Sie befand sich jetzt für die Musketen und Arkebusen der Gegner außer Reichweite. Hasard erhob sich. Er blickte mit dem Spektiv zum Ufer und erkannte einen Trupp Reiter, der sich in einer dichten Staubwolke näherte. Das Sonnenlicht gewann die Oberhand über die dämmrigen Schleier, und so konnte er auch erkennen, um wen es sich bei den beiden Männern an der Spitze des Pulks handelte. Manach el Bedi und El Hakim! Manach el Bedi sprang aus dem Sattel, bevor das Pferd richtig stand. Er begann zu toben, als er die Toten und Schwerverletzten liegen sah. Er führte sich wie in einem
Wahnsinnsanfall auf, rannte ziellos auf und ab, trat seinen Männern in den Hintern, schlug sie mit den Fäusten, trampelte auf der Stelle, daß der Sand hochspritzte. Er konnte es nicht verwinden, daß der verhaßte Giaur Killigrew nun doch noch mit heiler Haut entkommen war. Mit dem Schatz des Malteserordens! Und zu allem Überdruß hatte er noch einen Bleigruß entboten, der sich gewaschen hatte! Hasard beobachtete mit grimmiger Miene. Genugtuung empfand er bei Manach el Bedis Auftritt nicht. In diesem Moment begriff er, daß auch das Töten von Manach el Bedi und El Hakim den Schmerz nicht auslöschen konnte, der in seinem Herzen tobte. Diese Seelenqual ließ sich durch nichts beseitigen. Ihr Tod konnte ihm das Leben der Zwillinge nicht wiederschenken. Es war sinnlos. Alles war nutzlos geworden, der Kampf für die Krone, das Erbeuten riesiger Schätze, die Abenteuer, die Entbehrungen - alles. Philip und Hasard waren gerade ein Jahr alt geworden. Dann hatte Stark sie umgebracht. Isaac Henry Burton hatte es dem Seewolf voll Haß und Hohn entgegengespien, bevor auch er das Zeitliche gesegnet hatte. Er, Burton, war von einer giftigen Schlange gebissen worden. Aber statt sich zumindest in der Todesminute zu läutern, hatte er die Zeit nur noch genutzt, um dem Seewolf neue Pein zuzufügen. Das war gewesen, als spucke er sämtliches Schlangengift, das in seinen Adern bis zum Hirn und Herzen kroch, in die Tempelruinen, wo sie den Schatz der Malteser gefunden hatten. Mit diesen Worten hatte er sein Leben ausgehaucht. Auch Stark, der Mörder, war tot. Hasard und die Männer der Crew hatten den Schatz an Bord gebracht und waren westwärts gesegelt. Aber die Männer des Scheichs waren ihnen gefolgt. Nach einem siegreichen Gefecht gegen drei Piratenschiffe hatte Hasard an der Küste geankert und war prompt von der Landseite her überfallen worden - von
Männern des Scheichs, der erfahren hatte, was von Hasard in der Tempelruine erbeutet worden war. Jetzt schien der Kampf endgültig vorbei zu sein, und Hasard fragte sich wieder und wieder, wozu er dies alles überhaupt noch tat. Zuerst Gwen, seine geliebte Frau! Jean Ribault hatte ihm auf Tortuga die Nachricht überbracht, daß sie nicht mehr am Leben war. Gwendolyn Bernice O’Flynn, dieses blutjunge Geschöpf, das von ihm angebetete und zutiefst verehrte Mädchen, die zärtlichste aller Mütter - aus und vorbei. Ihm war zumute gewesen, als habe man ihn der Hälfte seines Körpers und Geistes beraubt. Er hatte kaum noch einen klaren Gedanken fassen können und war wie in lähmender Trance nach Europa zurückgekehrt. Dann die Entführung seiner Kinder! Die Jagd von Frankreich nach Spanien bis ins Mittelmeer, immer den beiden Teufeln Keymis und Burton nach! Sie hatten für ihre Schandtat mit dem Leben bezahlt - und doch hatte Hasard seine Kinder nicht retten können. Tot! schrie es in ihm. Schlag auf Schlag, immer drauf auf den verfluchten Bastard, diesen Killigrew, der kein Killigrew war, diesen ungewollten, unerwünschten Abkömmling eines Malteser-Ritters und einer spanischen Adligen! Er hatte ja Übung darin, Nackenhiebe zu empfangen. Wie es schien, war er dazu verdammt, sein Leben lang durch Schicksalsschläge gegeißelt zu werden. »Mein Gott«, sagte Hasard. »Hört denn das nie auf?« Ben Brighton trat zu ihm. »Glaub mir, ich kann dich begreifen«, sagte er. »Es gibt nichts, womit wir dir jetzt helfen könnten. Aber du mußt wissen, daß wenigstens wir noch an deiner Seite sind deine Freunde.« »Danke, Ben. Himmel, ich würde alle Schätze dieser Welt dafür geben, es rückgängig machen zu können. Burton, dieser
elende Hund! Hätte er das nicht für sich behalten können?« »Es hat ihm doch nur Spaß bereitet, dir noch einen Stich zu versetzen«, sagte Ferris Tucker. »Aas bleibt Aas, auch im Moment des Abkratzens.« Big Old Shane war neben ihnen und musterte sie der Reihe nach. »An eins hat bisher keiner von euch gedacht. Burton könnte gelogen haben. Das wäre ihm zuzutrauen, diesem stinkenden Bastard.« »Der schmort jetzt im Fegefeuer«, sagte Old O’Flynn. »Der kriegt sein Fett für all das, was er angerichtet hat.« Hasard versuchte zu grinsen, brachte es aber nicht zustande. »Danke für euren Beistand«, entgegnete er. »Ihr habt schon genug für mich getan. Ich hatte auch kein Recht, euch in die ganze Geschichte hineinzureißen. Letztlich ging es doch um meine persönlichen Probleme.« »Fängst du jetzt wieder damit an«, sagte Ben. »Wir sind uns doch schon seinerzeit in Algier klargeworden, daß deine Angelegenheiten auch unsere sind, oder?« »Ja. Gut, lassen wir das. Aber eines steht fest.« Hasard sah Old Shane an. »Burton hat nicht gelogen. Ich wünschte, es wäre so. Aber ich glaube einfach nicht daran, daß ein Sterbender noch Unwahrheiten sagt.« »Glauben ist nicht wissen«, erwiderte Shane. »Machen wir uns doch gegenseitig nichts vor, Shane.« »Wie du willst, Hasard.« Sie wurden durch Dan O’Flynn unterbrochen. Er hatte seinen Stammplatz im Großmars erklommen und rundum Ausschau mit dem Kieker gehalten. Jetzt begann er aufgeregt zu gestikulieren. »Ho, wir kriegen Besuch! Mich soll der Schlag treffen, wenn der nicht uns gilt! Mastspitzen, Männer Mastspitzen an Backbord!« Die Männer auf Deck wandten den Blick. Hasard spähte wieder durch sein Fernrohr, aber er vermochte die Mastspitzen
erst später als Dan zu erkennen. Das lag ganz einfach an den unterschiedlichen Höhenpositionen, die sie innehatten. Dann aber tauchten die Stengen und Flögel der fremden Schiffe auch für den Seewolf über der südlichen Kimm auf. Deutlich unterschied er im weißen Morgenlicht sieben Schiffe, davon zwei unterschiedliche Typen. Der Verband rundete eine etwa zwei Meilen ins Meer hinausreichende Landzunge. »Zwei zweimastige Segler und fünf Galeeren«, sagte Hasard. »Sie nehmen Kurs auf die Küste.« »Offenbar haben sie den Scheich und seine Kerle gesehen«, sagte Ben. »Ich würde lachen, wenn die Männer auf den Schiffen Piraten wären. Was meint ihr, ob sie sich nicht lieber an Manach el Bedi halten statt an uns?« Hasard schüttelte den Kopf. »Daß wir es mit Piraten zu tun haben, halte ich für sehr wahrscheinlich. Aber der Scheich arbeitet mit ihnen zusammen. Ich stelle mir folgendes vor: Als wir mit dem Schatz die Bucht verließen, schickte er außer unseren Verfolgern noch einen kleinen Trupp Reiter nach Beirut, um die dort liegenden Piraten um Verstärkung zu bitten. Klingt doch logisch, oder?« »Hölle und Teufel, ja«, sagte Shane. »Natürlich gingen die Halunken sofort ankerauf. Erstens sind wir hier allen Freibeutern ein Dorn im Auge, und sie haben eine Stinkwut auf uns, weil wir eins ihrer Schiffe gekapert haben, um einen neuen Besan zu kriegen.« Bevor die Seewölfe in Syrien gelandet waren, hatten sie sich auf diese rüde Weise Ersatz für den kaputten Kreuzmast verschafft. »Zweitens«, fuhr Shane fort, »dürfte es sich wohl inzwischen herumgesprochen haben, daß dies das Schiff des gefürchteten Seewolfs ist - und daß dieser Seewolf Besitzer sagenhafter Schätze ist. Ein doppelter Grund für die Piraten, uns nachzujagen.« Old O’Flynn trat wütend mit dem Holzbein auf. »Hol’s der Henker, es wird sich aber ja wohl auch herumgesprochen haben, daß wir dem Schurken Uluch Ali das Fürchten
beigebracht haben, oder?« »Den haben die Haie längst gefressen, und seine ScheißGaleere verfault auf dem Meeresgrund vor der algerischen Küste«, sagte Ferris Tucker. »Wenn ihr mich fragt, das zählt nicht mehr. Piraten sind außerdem keine geistigen Leuchten und haben ein miserables Gedächtnis. Was Uluch Ali widerfahren ist, haben die längst vergessen.« »Pech für sie«, sagte Shane grimmig. Da würde ich nicht so sicher sein, dachte Hasard. Er hütete sich aber, es laut auszusprechen. Sein Selbstvertrauen war erschüttert. Gut, sie waren Manach el Bedis Schergen entwischt, sie hatten den Schatz, es gab Gott sei Dank keine Verwundeten. Aber Hasard wertete dies nur als zufällige glückliche Fügung. Der Rest, die Pechsträhne, würde fortdauern. Seine Familie war vernichtet. Sollte er jetzt auch noch seine treue Crew opfern? Diese nagenden Zweifel! Hasard biß sich auf die Unterlippe. Nein, er durfte es seiner Mannschaft nicht zeigen, wie schwach er war. Es hätte ihr Vertrauen in ihn erheblich erschüttert. Das aber wollte er nicht aufs Spiel setzen, um keinen Preis der Welt. Unausgesetzt beobachtete er durch den Kieker die Küste. »Eine der Galeeren hat sich aus dem Verband gelöst«, teilte er seinen Männern mit. »Sie staffelt bis dicht an das Ufer, dreht bei und setzt jetzt ein Beiboot aus. Die anderen sechs wechseln wieder den Kurs und heften sich an unsere Fersen.« »Ich wette, die eine Galeere nimmt den Scheich an Bord«, sagte Ben. »Richtig.« Hasard verfolgte durch die Optik, wie von Land aus zwei Männer ins flache Uferwasser liefen. Sie erreichten das auf den Brandungswellen schaukelnde Beiboot und wurden übernommen. Dann drehte das Boot und wurde zügig zur Galeere zurückgepullt. »Manach el Bedi und El Hakim«, sagte der Seewolf. »Sie
haben den Piraten signalisiert und segeln jetzt mit, weil sie sich die Jagd nicht entgehen lassen wollen.« »Diese Hunde!« rief Old O’Flynn. »Das schaffen die nie!« Dan meldete aus dem Großmars; »Holla, das wird ein Schlag ins Wasser für die Muftis! Der Abstand zwischen uns und ihnen wird immer größer. Und die letzte Galeere als Nachzügler riskiert, ganz vom Verband abgetrennt zu werden.« »Abwarten«, sagte Hasard. »Ich halte es für einen Fehler, die Kerle zu unterschätzen.« Der alte Donegal Daniel O’Flynn trat ganz achtern ans Schanzkleid, blickte zu den Feinden hinüber und spuckte verächtlich ins Kielwasser. »Pah«, sagte er. »Was kann uns denn jetzt noch passieren?« Der Wind blies frisch bis handig aus Südosten. Die ›Isabella VIII.‹ hatte Vollzeug gesetzt und rauschte wie ein stolzer Schwan dahin. Sie gewann ständig an Geschwindigkeit und war dem Gegner tatsächlich haushoch überlegen. Die Verfolgerschiffe nahmen sich klein und kleiner an der Kimm aus. Schließlich verschwanden sie ganz. Hasard hatte schmale Augen. Er traute dem Frieden nicht. »Wir treffen auf jeden Fall unsere Vorbereitungen«, sagte er. * Sein Pessimismus schien wirklich unbegründet zu sein. Der Südostwind dauerte an und blieb den ganzen Vormittag über beständig. Azurblauer, wolkenloser Himmel spannte sich über dem Levantinischen Meer. Hasard ließ sich nicht beirren. Irgendwie war es gut, einen Gegner im Nacken zu haben, so abwegig das klang. Ohne dem wäre er leicht in dumpfes Brüten verfallen, und das war bei seinem derzeitigen seelischen Zustand Gift für sein Gemüt. Also blieb er pausenlos aktiv. Er inspizierte die Gefechtsstationen und sagte zur Carberry:
»Ed, das Schiff bleibt konstant kampfbereit. Daß sich bloß keiner einbildet, jetzt in Schlendrian verfallen zu können.« »Aye, aye, Sir. Wer quertreibt, dem ziehe ich die Haut in Streifen von seinem verdammten ...« »Geschenkt, Profos.« »Aye, aye, Sir.« Hasard gab Batuti und Big Old Shane sowie Al Conroy, Smoky und den anderen Drehbassen-Schützen klare Anweisungen, wie sie sich im Falle einer Auseinandersetzung zu verhalten hätten. Danach begab er sich ins Achterkastell. Er trat von der Kapitänskammer auf die Heckgalerie. Hier stand Ferris Tucker und war soeben dabei, die Arbeiten an den Fenstern abzuschließen. Es gehörte besonderes Geschick dazu, die runden Bleiglasscheiben fachgerecht einzusetzen. Ferris hatte es so perfekt hingekriegt, daß man nicht einmal mehr ahnte, was der Schußhagel der Feinde angerichtet hatte. »Weitere ernste Schäden waren nicht zu verzeichnen«, sagte der rothaarige Riese. »Ich habe den gesamten Schiffsinnenraum kontrolliert, der Vorsicht halber. Nichts. Nicht das kleinste Loch, schon gar nicht unterhalb der Wasserlinie. Die ›Isabella‹ ist fabelhaft in Schuß.« »Darauf kommt es mir an.« Hasard sprach nicht weiter. Er hielt nur die Nase in den Wind und schnitt plötzlich eine besorgte Miene. Ferris sagte nichts. Er verstand. Der Wind schralte. Der Seewolf eilte aufs Achterdeck. Ja, tatsächlich, der Wind drehte von Südost auf Süd - warum, das mochte der Leibhaftige wissen! Immer noch war der Himmel wolkenlos. Die Sonne stand im Zenit und brannte auch jetzt noch, im Herbst 1581, mit solcher Macht .auf diesen Teil des Mittelmeeres, daß die Crew halbnackt und trotzdem schwitzend auf Deck herumlief. Die ›Isabella VIII.‹ lief also jetzt nicht mehr einen
Raumschotskurs, sondern mit halbem Wind. Die Galeone war ein schneller, überaus gut zu manövrierender Segler, aber eben doch überwiegend für raume Winde gebaut. Bei halbem Wind und auf Kreuzkursen hart am Wind segelte sie nicht so schnell. Carberry gab die Bestätigung. »Himmel, Arsch und Zwirn«, fluchte er auf der Kuhl. »Anbrassen, ihr Kanalratten - nicht wegschricken, zum Satan noch mal! Packt doch die verfluchten Schoten richtig an, oder muß ich euch Kakerlaken das erst wieder vorexerzieren? He, ihr Rübenschweine, hat euch die Sonne die Gehirnkästen ausgedörrt? Versteht ihr kein Englisch mehr? Braaaßt an, hab ich gesagt!« »Wir sind doch nicht taub«, gab Blacky zurück. »Aber da ist nichts mehr drin.« »Pete!« rief Hasard. »Sir?« tönte Pete Ballies Stimme aus dem Ruderhaus zurück. »Abfallen nach Steuerbord. Wir gehen auf Kurs WestNordwest.« »Aye, aye, Sir.« Es nützte nichts. Der Wind schralte weiter. Er wehte aus Südwesten, die ›Isabella‹ konnte auch den neuen Kurs nicht halten. Hasard hatte kein Verlangen danach, weiter zu korrigieren und nach Norden abgeleitet zu werden. »Dann landen wir womöglich an der Südküste von Zypern«, sagte er zu Ben Brighton. Sie rollten auf dem Achterdeck die Seekarte aus. Hasard tippte mit dem Finger auf ihre derzeitige Position. Anhand der Navigationsinstrumente, die sie an Bord mitführten, hatte er sie ziemlich genau berechnet. »Dort geraten wir an weitere Piraten. Nein, Ben. Ich will so schnell wie möglich nach Malta, um den Schatz bei den Malteserrittern abzuliefern.« »Bleibt nur noch eins. Wir kreuzen.« »Du hast es erfaßt.« Hasard gab den Befehl. Von jetzt an war es eine beschwerliche Sache, weiter nach
Westen vorzudringen. Kreuzen, das hieß, immer zwei Schritte vor und einen zurück zu tun. Carberrys gebrüllte Kommandos purrten die Männer unablässig an die Brassen und Schoten. Alle hatten ausreichend zu tun, schimpften, schwitzten, malten sich bereits aus, was nun folgen würde. »Geben wir uns keinen Illusionen hin«, sagte Hasard zu Ben, Ferris, Shane und Old O’Flynn. »Der Feind holt jetzt auf. Er ist uns sogar klar überlegen.« »Wir sind gefechtsbereit«, erwiderte Shane. »Das war doch ein kluger Zug von dir, Hasard.« Hasard behielt die östliche Kimm im Auge. Nur etwa eine halbe Stunde verstrich, und schon meldete sich Dan O’Flynn mit einem alarmierenden Ruf aus dem Hauptmars. »Deck! Mastspitzen Steuerbord achteraus!« »Ist gut, Dan!« rief Hasard zurück. »Das sind sie.« »Richtig die beiden Zweimaster!« »Ich hab’s geahnt«, murmelte der Seewolf. Er hob wieder das Spektiv ans Auge. »Die haben gewaltig aufgeholt.« In der kreisrunden Optik zeichneten sich jetzt die Mastspitzen über der Kimm ab. Allmählich schoben sich die feindlichen Segler hervor, so, als stiegen sie geradewegs aus dem Inneren der Erde. Die ›Isabella‹ fuhr gerade einen Kreuzschlag nach Norden. Die beiden Piratenschiffe befanden sich also südöstlich von ihr. Etwas später, als die Galeone den Kurs wechselte, hielten beide Parteien praktisch direkt aufeinander zu. »Sie haben Oberwasser«, sagte Ben Brighton wutentbrannt. »Mit ihren Lateinersegeln sind sie uns überlegen.« Schiffe mit dreieckigen Lateinersegeln waren ausgezeichnete Am-Wind-Segler, denn die Segel an ihren langen Gaffelruten konnten sehr viel weiter dichtgeholt werden als Rahsegel. »Sie spielen ihren Trumpf voll aus«, entgegnete Hasard. »Da, sie laufen jetzt nach Norden ab. Sie wollen uns dort den Weg abschneiden. Für den Fall, daß wir zu kneifen versuchen und
die Flucht nach Zypern antreten.« »Die beißen sich in ihren eigenen Hintern!« rief Shane. Hasard schüttelte den Kopf. Er mußte jetzt doch grinsen. Er wies nach Osten, wo in Lee der ›Isabella‹ nun wieder etwas auftauchte - neue Mastspitzen. Shane folgte dem Fingerzeig mit dem Blick, dann schrie er nach oben: »Dan, he, Dan! Pennst du ?« »Hölle, Tod und Teufel!« rief der junge O’Flynn zurück. Er hatte rasch den Kopf gewandt und seinen Fehler erkannt. Für einen Moment war er unaufmerksam gewesen. Arwenack, der Schimpansenjunge, keckerte zurechtweisend. Dans Versäumnis war nicht von Bedeutung. Auch wenn er die neuen Mastspitzen sofort gemeldet hätte, hätte sich an den Gegebenheiten nichts mehr ändern lassen. Zum Ausweichen war es für die ›Isabella‹ zu spät, im übrigen war es ihr seit dem Drehen des Windes gleichsam unmöglich geworden, aus dem Teufelskreis zu entweichen. Die fünf Galeeren waren zur Stelle! Daß sie den Wind von vorn hatten, war für sie unbedeutend. Sie hatten ihre Segel aufgegeit. Und die Rudersklaven pullten, was das Zeug hielt. Die Unabhängigkeit dieser Fahrzeuge von der Windrichtung ließ sie zu einem höllisch gefährlichen Gegner werden. »Die Galeeren versperren uns den Weg nach Süden«, sagte Hasard. »Im Norden haben wir die Zweimaster. Wir befinden uns also in der Zange.« Carberry fluchte fast ohne Atemholen, dann, zwischen einem Kraftwort und dem anderen, wandte er sich an seinen Kapitän. »Warum, zum Teufel, zeigen wir diesen Hosenscheißern nicht, was eine Harke ist?« »Abwarten«, sagte der Seewolf. »Locken wir sie erst mal aus der Reserve.« Sie brauchten nicht lange auf die Aktion des Gegners zu warten. »Sie rücken auf!« rief Dan O’Flynn aus dem Großmars. »Von
beiden Seiten. Sie nehmen Tuchfühlung miteinander.« »Sie sind große Strategen«, sagte Hassard spöttisch. »Das muß ihnen der Neid lassen. Es dauert nicht mehr lange, und sie sind auf Schußweite heran.«
2. Hasard ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er blieb eiskalt. Mit dem Spektiv tastete er die. Gegnerschiffe der Reihe nach ab. Schließlich entdeckte er den Turban von Manach el Bedi und sah neben dem Scheich auch El Hakim auf dem Oberdeck der einen Galeere stehen. »Immer noch dasselbe Schiff«, sagte Hasard leise. »Das wollte ich wissen.« Die ›Isabella‹ hatte den Kurs wieder geändert, trat jetzt aber sozusagen auf der Stelle, weil sie sich weder nach Norden noch nach Süden wenden konnte. Aus südlicher Richtung staffelten die fünf Galeeren heran. Die beiden Schiffe mit den Lateinersegeln pirschten sich von der gegenüberliegenden Seite an. Sie waren über Stag gegangen und steuerten die DreimastGaleone nun hart am Wind mit Kurs Südost an. »Eine denkwürdige Schlacht bahnt sich an.« Hasard setzte den Kieker ab und drehte sich zu den stumm verharrenden Männern um. »Alle Mann an ihre Posten! Zwei Drittel der Crew auf Gefechtsstation. Profos!« »Sir?« »Schiff klar zum Gefecht.« »Aye, aye, Sir.« Da gab es nichts mehr zu brüllen. Längst waren die Stückpforten geöffnet, die Geschütze geladen, die Decks mit Sand bestreut worden, damit die Männer einen festeren Stand hatten. Der Kutscher hatte wie üblich die Kombüsenfeuer gelöscht und Seewasser in hölzernen Kübeln bereitgestellt - für
die Wischer und zur Brandbekämpfung. Die Zugtaljen, die die Culverinen bis zum Abschluß des Ladevorganges hielten, waren bereits gelöst, so daß nur noch die Brooktaue, die den Rückstoß abfingen, die sechzehn 17-Pfünder hielten. Wie gesagt, für Carberry gab es da nichts mehr zu brüllen. Nackte Fußsohlen patschten über Deck - die Männer nahmen ihre Stationen ein. Al Conroy und Smoky waren für die Drehbassen auf der Back zuständig. Die beiden Hinterlader auf dem Achterdeck hatten wieder Hasard und Ferris Tucker übernommen. Big Old Shane bewaffnete sich mit Bogen und Pfeilköcher, dann hastete er nach unten auf die Kuhl. Auch Batuti hielt schon seine Ausrüstung bereit. Zunächst würden sie die Männer an den Geschützen unterstützen. Sobald es die Situation erforderte, verwandelten sich Shane und der GambiaNeger jedoch von Kanonieren in Bogenschützen, die von den Masten der ›Isabella‹ aus ein bedrohliches Feuer auf die Gegner eröffneten. Auf der Kuhl würden dann die Gefährten für sie einspringen. Manöver, die oft geprobt und durchgeführt worden waren. Manöver, bei denen es keiner Absprache mehr bedurfte. Alle Vorbereitungen verliefen schweigend. Auf der Galeone herrschte eine fast unheimliche Stille. Es war die Ruhe vor dem Sturm, unterbrochen nur durch das Knarren der Rahen und Blöcke und das Rauschen des Seewassers an den Bordwänden. Dann ertönte wieder Hasards Stimme. »Pete, wir gehen in den Wind!« »Aye, aye, Sir.« »Geit auf die Segel!« Prompt schwenkte die ›Isabella‹ mit dem Bug nach Südwesten. Die Männer, die noch für die Segelmanöver verblieben waren, nahmen die gesamte Fläche weg - und die Galeone wurde langsamer, bis sie nahezu stoppte. Hasard war mit zwei panthergleichen Sätzen auf dem
Niedergang, der das Quarterdeck mit der Kuhl auf der Steuerbordseite verband. Er verharrte. Sein Blick traf Carberry. Carberry las in den eisblauen Augen des Seewolfs und sah plötzlich tausend Teufel darin tanzen. Ja - das war wieder der alte Philip Hasard Killigrew. Ihr Seewolf, wie er leibte und lebte! »Ich höre, Sir«, sagte der Profos. »Die beiden frechen Hunde mit den Lateinersegeln. Wie weit sind sie deiner Meinung nach noch entfernt?« »Eine gute Meile, Sir.« »Gut, Ed. Und wie sieht es da mit der Schußweite aus?« »Schlecht. Die können uns mal. Auf die Entfernung treffen sie uns nie.« »Ich spreche von unserer Schußweite, Ed.« »Ehm - wir haben doch die überlangen Rohre an den Culverinen.« »Und?« »Wir könnten ihnen durchaus eins verplätten«, sagte Carberry. Plötzlich klang seine Stimme heiser. »Dann los«, sagte Hasard. »Zündet die Lunten! Klar bei Kartuschen! Feuer frei für die Steuerbordseite! Zuerst schießen die vorderen vier, dann die achteren vier Kanonen!« »Hopphopp«, stieß Carberry aus. »Hastig, hastig, ihr Kakerlaken, ihr wollt doch wohl nicht, daß ich jetzt noch laut werde und euch Dampf unter den Affenärschen mache.« »Unverbesserlich«, murmelte Blacky. »Wenn er seine Sprüche nicht anbringen kann, ist er nicht froh.« Feuerstahl schlug auf Feuerstein, Funken sprühten, dann brannten die Lunten. »Feuer!« rief der Profos. Die glimmenden Lunten senkten sich auf die Zündlöcher der Geschütze an der Steuerbordseite der Kuhl. Die Glut fraß sich durch die Kanäle bis aufs Zündkraut, entfachte Feuer - und vier Rohre spuckten rote, wild leckende Zungen aus.
Donnernd jagten die ersten vier Kanonen ihre Ladung über die Wasserfläche auf die Feindschiffe zu. Beißender Rauch breitete sich in Schwaden auf dem Oberdeck der ›Isabella‹ aus. Die Geschütze waren auf ihren Hartholzrädern zurückgerollt und von den Brooktauen aufgefangen worden. Jetzt brachten Blacky und die anderen sie wieder in Ladestellung. Hasard beobachtete durch den Kieker. Drüben beim Gegner splitterte Holz, wirbelten Trümmerstücke durch die Luft - das linke Schiff war getroffen worden! »Drei Einschüsse!« schrie Dan O’Flynn von seinem luftigen Posten. »Weiter so, Männer!« rief der Seewolf. »Laßt diese Halunken nicht zu Atem kommen!« »Feuer!« brüllte Ed Carberry. Die zweiten Geschützführer an der Steuerbordseite, unter ihnen Matt Davies und Batuti, zündeten ihre Culverinen. Wieder ruckten vier Kanonen in ihren Tauen zurück und sandten orgelnd den Gluthauch des Todes zum Gegner hinüber. Sekundenlang standen Matt und die anderen geduckt, mit offenen Mündern, abwartend. Dann brachen sie in Jubel aus. Der rechte Zweimaster erbebte unter den Treffern und schien regelrecht ins Wanken zu geraten. Und wieder segelten Holzteile und andere Fragmente des Schiffskörpers durch die Luft, vermengt mit menschlichen Gliedmaßen. Schreie hallten herüber. Der Aufruhr bei den Piraten war perfekt. Hasard verzog keine Miene. Eine Seeschlacht war eine überaus grausame Angelegenheit, ohne faule Kompromisse wie gelegentlich die Kämpfe an Land. Auf dem Meer gab es keine Versteckmöglichkeiten. Keinen Schutz, und nur selten eine Möglichkeit zum Fintieren. Was blieb, war die harte offene Konfrontation. Aber die Piraten unter Manach el Bedis Führung hatten es ja so haben wollen.
»Fabelhaft, Männer!« schrie Dan O’Flynn. »Dem zweiten habt ihr glatt den halben Vorsteven wegrasiert! Er nimmt bereits Wasser über. Ho, bei den Dreckskerlen herrscht wüster Zustand!« »Ja«, sagte Hasard zu Ben Brighton. »Beide Schiffe versuchen zu manövrieren und aus der direkten Schußlinie zu geraten. Aber da weiß keiner mehr so recht, was er tun und wem er gehorchen soll. Ich sehe zwei Kapitäne, die dem Wahnsinn nahe sind und vergebens ihre Befehle brüllen.« Ben stand neben Hasard und spähte mit einem zweiten Spektiv zu den Galeeren hinüber. »Unschlüssigkeit auf den Galeeren, Hasard. Sollen sie weiter Kurs auf uns halten oder beidrehen und die Taktik ändern? Sie können sich nicht entscheiden. Ich glaube, Mariach el Bedi streitet sich mit dem Kapitän der Führergaleere herum. Jedenfalls sieht es so aus.« »Die Verständigung von Schiff zu Schiff klappt nicht.« Hasard setzte das Fernrohr ab. »Ausgezeichnet. Diese Schwäche des Gegners ist unser Trumpf. Je mehr Zeit sie verlieren, desto mehr gewinnen wir.« »He, ho!« tönte Dans Stimme über ihnen. »Bei der ersten Salve hat auch der vierte Schuß gesessen, Blacky! Seht euch doch mal den linken Zweimaster an!« Sie blickten hin und registrierten, daß das Schiff leicht nach Backbord zu krängen begann. Hasard nahm wieder den Kieker zu Hilfe. Er erkannte, daß die Mannschaft des Zweimasters sich an die Pumpen begeben hatte. Der Kapitän rannte wie ein Wilder hin und her, trat Männern in den Hintern, gestikulierte und warf einen seiner Untergebenen fast über Bord. »Klarer Fall«, sagte der Seewolf. »Die Backbordseite hat einen Treffer unterhalb der Wasserlinie. Und zwar scheint es ein großes Loch zu sein, denn der Kahn nimmt ziemlich schnell Wasser in seinen Bauch auf.« »Hölle, was macht denn der?« stieß Old O’Flynn verblüfft aus.
Hasard, Ben und die anderen begriffen sofort, daß er den nach Osten versetzten Zweimaster meinte - den zweiten also. Rasch fing der Seewolf ihn mit der Optik ein. Dann staunte auch er. »Er dreht und präsentiert uns die Steuerbordbreitseite«, sagte er. »Ist denn das zu fassen?« »Die Scheißhausnelken haben ja nicht mehr alle Becher im Schapp«, knurrte Carberry. Hasard bewahrte eisige Ruhe. »Schnell, Großsegel und Fock setzen! Wir nehmen Nordkurs und halten auf den Feind zu.« »Aye, aye!« schrie Pete Ballie aus dem Ruderhaus. »Bewegt euch, ihr Schnaken!« orgelte Carberrys Baßstimme. Während der eine Zweimast-Segler der Piraten immer weiter herumschwenkte und zum Abfeuern der Breitseite bereit war, vollzog die Crew der ›Isabella‹ das angeordnete Manöver im Eiltempo. Sie brachen in diesem Moment sämtliche Geschwindigkeitsrekorde, die sie selbst aufgestellt hatten, diese verwegenen Burschen. Und am Ende rauschte ihre Galeone mit Bagstagswind auf die ramponierten Widersacher zu, als gelte es, dem Teufel mal wieder ein Ohr abzusegeln. »Jetzt wird’s brenzlig«, unkte der alte O’Flynn. Er hatte recht. Sie gerieten bedenklich in die Schußnähe des Gegners. Aber Hasard wußte die Panik an Bord der Piratenschiffe glänzend auszuspielen. Während hier, auf der ›Isabella‹, weiterhin alles mit der größtmöglichen Gelassenheit verlief, verloren die Kerle drüben endgültig den Rest Nerven, der ihnen noch verblieben war. Dreist pflügte der »elende Giaur«, der Ungläubige, wie sie ihn zu nennen pflegten, auf sie zu. So was hatten sie noch nicht erlebt! Hasard hatte seine alte Selbstsicherheit wiedergewonnen. »Sie drehen total durch«, sagte er. »Wollen wir wetten?« »Lieber nicht«, gab Old Donegal zweifelnd zurück. Dann passierte es. Viel zu früh feuerte der Segler seine Steuerbordbreitseite auf sie ab.
Es hörte sich natürlich bedrohlich an, wie die Geschosse auf die ›Isabella‹ losbrausten. Und Hasard und seine Crew duckten sich selbstverständlich auch hinters Schanzkleid. Aber dann stiegen zischend sechs Wasserfontänen vor dem Bug der Galeone hoch - fast eine Viertel-Kabellänge entfernt! »Sechs«, grölte der Profos. »Die ganze Breitseite! Das halt ich im Kopf nicht aus!« Brüllendes Gelächter brandete von Bord der ›Isabella‹ zu den Gegnern hinüber. Die Seewölfe wollten sich kringelig lachen. Als dann auch der erste Zweimaster eine Breitseite auf sie losließ mit dem gleichen Mißerfolg - schütteten sie sich vor Vergnügen regelrecht aus. Dan O’Flynn fiel fast aus dem Großmars. »Schockschwerenot!« schrie Carberry. »Wollt ihr wohl die Ohren anlegen, was, wie? Oder soll ich die Neunschwänzige auf euren Rücken tanzen lassen?« »Ruhe!« rief Hasard. Sofort wurde es wieder still. Die ›Isabella‹ hielt mit steigender Geschwindigkeit auf die Piraten zu. Hasard sah durch den Kieker, wie der am Steuerbord befindliche Segler ganz nach Nordosten abdrehte und sein Heil in der Flucht suchte. »Shane! Batuti!« Die beiden enterten auf. Shane in den Vormars, der GambiaNeger zu Dan in den Hauptmars. In Sekundenschnelle hatten sie Pfeil und Bogen schußbereit. Hasard schaute zu ihnen auf und sah die kleinen Flammen zucken. Die Pfeilspitzen brannten. * Hasard ließ die ›Isabella‹ auf einen imaginären Punkt zwischen den beiden Zweimast-Seglern zusteuern. Dadurch schlug er zwei Fliegen mit einer Klappe.
Erstens bezog er Nahkampfstellung zu den zwei Seglern. Zweitens rückte er wieder ein Stück vor den fünf Galeeren aus. Sie schoben sich von Süden heran, aber wegen seiner Schnelligkeit und Gewandtheit gewann er wieder etwas mehr Abstand zu ihnen. Die ›Isabella‹ erreichte ihre Position zwischen den Piratenschiffen. Gern hätte der linke ihnen seine zweite Breitseite zu schmecken gegeben. Aber er krängte mehr und mehr und konnte kaum noch manövrieren. Die Seewölfe waren schneller. Und der andere Segler? »Wenn er glaubt, der kann abhauen, hat er sich getäuscht«, sagte Hasard. Er lehnte den Oberkörper etwas zurück, blickte zu Shane und Batuti hoch und rief: »Feuer!« Lautlos stiegen die Brandpfeile in den Himmel auf. Ihre brennenden Spitzen beschrieben eine flirrende Bahn vor dem Azurblau des Firmaments. Batuti hatte sich das in Backbord liegende Schiff zum Ziel genommen, Sahne hatte das zweite gewählt. Die Pfeile senkten sich auf die Segler. Sie fanden mit geradezu unheimlicher Genauigkeit ihr Ziel. Im Nu war das Feuer in den trockenen Takelagen entfacht. Es loderte hell auf, immer höher! Von Backbord waren jetzt knatternde Musketen und Arkebusenschüsse zu vernehmen. Die ›Isabella‹-Crew zog die Köpfe ein. Eine beträchtliche Anzahl von Geschossen strich über das Oberdeck und suchte nach Opfern. Zum Glück hielten die Männer sich so weit geduckt, daß sie weder Kugeln noch gehacktes Blei abkriegten. Wirkungslos schlugen die Projektile in die Planken, die Masten und das Schanzkleid oder jagten gar flach über das Deck weg. »Al, Smoky!« rief Hasard. »Zunder!« Während sie an dem Gegner vorbeistrichen und das Tempo verringerten, schwangen die Rohre der vorderen Drehbassen
nach Backbord herum. Al Conroy und Smoky betätigten sich als Präzisionsschützen. Dumpf krachten ihre Geschütze. Qualm puffte hoch. Zweimal krachte es und knirschte es im Schanzkleid des ersten Piratenschiffes, als habe ein Gigant mit der Faust hineingeschlagen. Männer wurden wie von unsichtbaren Kräften über Deck gefegt und blieben reglos liegen. Smoky und Al jubelten und hieben sich gegenseitig auf die Schultern. Sie hatten fast die Hälfte der Musketenschützen erledigt. Hasard blickte zu dem Schiff an Steuerbord hinüber. Das Feuer stieg als weithin sichtbares Fanal aus der Takelung auf. Keiner der verzweifelten Löschversuche der Piraten fruchtete etwas. Trotzdem setzten sie ihre Flucht fort. Hasard war von dem unbarmherzigen Willen beseelt, diese Burschen nicht entwischen zu lassen. Sie hatten ihn herausgefordert, nicht er sie! Sie verdienten eine Lektion, die sich gewaschen hatte, diese verdammten Hunde. »Feuern wir die Backbordbreitseite ab?« fragte Ben Brighton. »Nein. Noch nicht.« »Sir!« rief der Profos. »Steuerbordbreitseite wieder feuerbereit!« »Gut«, sagte Hasard grimmig. »Pete, anluven. Geh fast bis in den Wind mit dem Kasten. Profos, die Segel wegnehmen, damit sie nicht killen!« »Aye, aye, Sir!« tönte es mehrstimmig zurück. Hasard steckte den Kieker weg und lief zu Ferris. Der rothaarige Schiffszimmermann hatte von Beginn an die beiden Drehbassen des Achterdecks geladen und geduldig die Stellung gehalten. Er hatte das Geschütz der Backbordseite inne. Hasard kroch hinter das zweite. »Es ist soweit«, sagte er. Ferris schlug die Lunte an, Hasard übernahm den Funken auch auf seine Zündschnur. Die ›Isabella‹ drehte mit dem Vorschiff in den Wind, als
wolle sie über Stag gehen. Ihr Heck wandte sich dem Heck des fliehenden Zweimasters zu. Pausenlos flogen die Brandpfeile, und dann rief Hasard seinen Befehl: »Feuer!« Sein Schiff hob und senkte sich auf der leichten Dünung der See. Er paßte den idealen Augenblick ab, entfachte das Zündkraut in der Drehbasse und jagte die Ladung aus dem Rohr. Jetzt zeigte sich, ob er den Lauf richtig justiert und in der Gabellafette festgestellt hatte. Fast gleichzeitig mit ihm schoß auch Ferris. Hart bohrte sich Hasards Geschoß genau in das Ruder des Piratenschiffes und zerfetzte es. Ferris Kugel saß höher, sie rasierte den Süll der Hennegatsöffnung weg und raste tief in den Schiffsleib hinein. Hasard sah zu Ferris. Der Riese grinste. »Und?« sagte er. »Auf sie mit Gebrüll?« »Nicht nötig«, erwiderte der Seewolf. Sie brauchten die beiden Zweimaster wirklich nicht zu entern, um ihnen den endgültigen Garaus zu bereiten. Das immer noch an Backbord der ›Isabella‹ befindliche Schiff sank mit lichterloh brennender Takelung. Die Piraten sprangen ins Wasser. Wer noch lebte, rettete sich aus der Flammenhölle. »Wie die Ratten«, sagte Old O’Flynn. Er schnitt eine gallige Grimasse. »Sollen die Haie sie vertilgen. Verdient haben sie’s.« Shane und Batuti konzentrierten ihren Pfeilbeschuß nun auf das andere Schiff. Die Drehbassen-Kugeln hatten diesem Segler die Ruderanlage zerstört. Manövrierunfähig trieb er vor dem Südwest-Wind her. Nur kurze Zeit dauerte das, dann lief er aus dem Wind und dümpelte wie ein flügellahmer Wasservogel. »Achtung!« rief Big Old Shane. Er richtete sich im Vormars auf, spannte die Bogensehne, als wolle er sie zerreißen und schickte einen besonders dicken Pfeil zum Gegner hinüber. Hasard und die anderen wußten:
Das war eins seiner Spezialgeschosse. Der graubärtige Riese hatte sich ausgetüftelt, daß man die hohlen Schäfte dieser Pfeile auch mit Pulver laden konnte. Durch die brennende Spitze wurde die Explosion herbeigeführt. Der Pfeil ging auf der Back des Piratenseglers nieder - dort, wo noch kein Feuer entfacht war und ein letztes Grüppchen wilder Kerle beisammenstand. Shane hatte erkannt, daß sich unter dem Vordeck die Munitionsdepots befanden. Die Pulverladung des Pfeiles explodierte. Die Explosion fand ihre Fortsetzung, eine wahre Kettenreaktion setzte ein. Donnerschläge rollten über die See, gelblichweiße Blitze zuckten aus dem Vorschiff auf, schwarze Rauchschwaden hüllten die entsetzliche Szene ein. »Zwei Gegner vernichtet«, sagte Hasard. »Und wir haben die Backbordbreitseite immer noch nicht abgefeuert.« Ferris stand auf und wandte sich nach Backbord. »Dazu haben wir jetzt Gelegenheit.« Der Seewolf erhob sich ebenfalls. Die fünf Piratengaleeren rückten heran.
3. In breitgefächerter Phalanx rauschten sie von Süden auf die ›Isabella‹ zu, behäbige Schiffe mit jeweils sechzig bis achtzig Ruderern und guten Armierungen. Festungen zur See. Sie hatten die Segel gesetzt und nahmen noch den Wind zu Hilfe, um rascher zu sein. Nach wie vor blies er aus Südwest. Sie hatten ihn also raumschots. Etwa eine halbe Meile trennte sie noch von der ›Isabella‹. »Ein imposanter Anblick«, sagte Hasard. »Wirklich großartig. Wir können uns wenden, wohin wir wollen, sie kriegen uns, weil sie ja nicht vom Wind abhängig sind. Kneifen ist also nicht.«
Da hatte er den wunden Punkt der Mannschaft berührt. »He«, sagte Ferris. »Glaubst du etwa, wir wollen abhauen?« »Willst du das nicht?« Ferris richtete sich vom Nachladen der einen Drehbasse auf. »Sag mal, wofür hältst du mich? Nur weil’s fünf Galeeren sind, mache ich mir längst nicht die Hosen voll.« »Warte aber nicht darauf, daß auch ihre Schüsse wirkungslos in der See verpuffen«, sagte Hasard. »Sie haben beobachtet und den Fehler ihrer Kumpane erkannt. Sie werden sich hüten, ebenfalls so voreilig zu handeln. Sie trachten uns einzuholen, und dann geben sie uns Saures.« Ferris machte schmale Augen. »Hör mal, Sir, und selbst wenn ich bei dem Gefecht meinen verdammten Arsch zukneifen sollte, ich trag’s mit ihnen aus - Auge um Auge, Zahn um Zahn.« Hasard grinste. »Gut gebrüllt, Löwe. Das lobe ich mir.« Ruckartig wandte er sich zu Ben und den anderen um. »Und ihr?« »Du weißt, daß wir der gleichen Ansicht sind«, sagte Ben. Hasard nickte. »Hab’s nur noch mal hören wollen. Pete! He, Pete - abfallen!« »Aye, Aye, Sir.« »Vollzeug setzen!« rief Philipp Hasard Killigrew. »Wir gehen platt vor den Südwest, nehmen soviel Fahrt wie möglich auf und zeigen Manach el Bedi mal kurz die Hacken.« Die Männer gehorchten. Wieder wurde das Manöver mit der gewohnten Schnelligkeit durchgeführt, aber die ganze Zeit über fragten sie sich, was der Seewolf nun eigentlich vorhatte. Wollte er doch ausreißen? Plante er jetzt plötzlich, sich nach Zypern zu verholen, weil ihm die Übermacht des Gegners bedenklich erschien? Dabei hatte die Crew ihm doch versichert, daß sie für ihn durchs Feuer ging. »Nein!« Carberry sprach laut aus, was er dachte. Das war nun
mal seine Art. »So kenn ich den Seewolf nicht. Das ist nicht er. Himmel, Arsch und Zwirn, ich will nicht mehr Edwin heißen, wenn hinter dem Ganzen nicht doch wieder ein höllischer Trick steckt.« »Eben«, sagte eine Stimme hinter ihm. Der Profos fuhr herum. Hasard hatte sich lautlos auf den Niedergang in seinem Rücken begeben. Er lächelte. Wölfisch. Die tausend Teufel tanzten immer noch in seinen Augen, und Carberry fand nichts, aber auch gar nichts in der Miene seines Kapitäns, das jetzt auf Resignation oder Aufgabe schließen ließ. Warum denn auch? »Wir könnten sie abhängen. Wir brauchen bloß immer so platt vor dem Scheiß-Südwest herzuklüsen«, sagte Carberry vorsichtig, fast lauernd. »Aber das tun wir nicht, Ed.« »Sondern?« »Was würdest du an meiner Stelle tun?« Die Stirn des Profos legte sich in tiefe Falten. Dahinter arbeitete es gewaltig. Carberry versuchte wirklich, sich in Hasards Lage zu versetzen. Das hatten sie doch oft genug geprobt! Jeder Mann der ›Isabella‹ mußte in der Lage sein, jede Aufgabe an Bord zu versehen, auch die des Kapitäns. »Ich - ehm - ich würde sie leimen«, sagte Carberry. Entschlossen schob er sein Rammkinn vor. Hasard fragte: »Und wie ?« Carberry kratzte sich am Hinterkopf. Dumm war er nicht, er hatte sich auch schon zurechtgelegt, wie man das anstellen müsse. Aber durfte er seinem Kapitän zuvorkommen? Irgendwas stimmte da nicht. Für Carberry hing die Welt plötzlich schief in ihren Angeln. »Nur zu«, sagte Hasard. »Mut, Ed. Ich habe dich ja nach deiner Meinung gefragt.« Carberry hustete vor Verlegenheit. Es klang ungefähr so wie
eine Muskete, die nach hinten losgeht. Endlich platzte er heraus: »Also meinetwegen. Hölle noch mal, ich würde mächtig Fahrt aufnehmen, daß es so aussieht, als haue ich ab. Dann würde ich nach Steuerbord anluven, hart an den Wind gehen, Kurs Südosten und dann Süden - und zum Schluß würde ich über Stag gehen und dem Gegner in die Seite fallen. Jawohl, das würde ich tun.« Hasard schien das Gespräch mächtiges Vergnügen zu bereiten. Carberry wurde es immer unwohler unter seiner Haut. »Na also«, sagte der Seewolf nach einer Pause, die dem Profos unendlich erschien. »Was tun wir denn anderes als das, wenn ich mal fragen darf?« Carberry blickte verdattert. »Hör mal - das heißt - du hattest von Anfang an vor ...« »Was dachtest du denn, Ed?« »Nichts. Ehrlich, überhaupt nichts. Beim Henker, ich hab nichts als eine Menge Stroh im Kopf.« Hasard verzog den Mund. »Stell dein Licht nicht unter den Scheffel, Ed.. Und keine Angst, ihr kommt schon nicht um euren Spaß, Manach el Bedi und seinen Verbündeten nochmals kräftig einzuheizen.« »Diese verdammten Kümmeltürken«, wetterte Carberry los. »Seit wann breche ich eigentlich eine Schlacht mittendrin ab, Profos?« erkundigte sich Hasard mit strenger Miene, »Seit niemals, Sir.« »Warum zerbrichst du dir dann den Kopf und nörgelst rum?« »Ich - weiß ich nicht, Sir.« »Beschwer dich bloß nicht, wenn dich die Piraten in Stücke schießen. Du bist ja so scharf darauf, deine Haut zu Markte zu tragen. Du mußt auch die Konsequenzen tragen.« »Die was?« »Die Folgen«, sagte Hasard. »Wenn die Rübe einmal ab ist, brauch ich mir keine Sorgen mehr über mich zu machen«, entgegnete Carberry im Brustton
der Überzeugung. »He, Sir, was ist eigentlich los? Hölle und Teufel, warum bringst du mich so ins Schwitzen? Ich versteh die Welt nicht mehr.« Hasard grinste und klopfte ihm auf die Schulter. »Alles in Ordnung, Ed. Ich will nur, daß wir uns verstehen, ja?« »Aye, aye, Sir.« Carberry brüllte es, daß es dem Seewolf in den Ohren dröhnte. »Der Abstand vergrößert sich«, meldete Dan O’Flynn. Hasard schaute zu ihm hoch. Dan beugte sich über die Segeltuchverkleidung des Großmarses, daß er herunterzufallen drohte. »He, Hasard, wir lassen diese müden Schlammpaddler hinter uns zurück!« »Anluven«, kommandierte Hasard. »Ben, Ed - ihr wißt jetzt, was ihr zu tun habt!« Ben Brighton, Hasards Bootsmann und erster Offizier, und Carberry leiteten die Aktionen der Crew. Die ›Isabella VIII.‹ preschte dahin, sie ritt über die See wie ein Schlachtroß. Plötzlich änderte sie ihren Kurs und wandte sich in einem engen Bogen nach Südosten. Die Mannschaft hatte ihre liebe Not, die Segel dicht zu holen. Hasard war wieder auf Achterdeck und verfolgte die Reaktion des Gegners durch den Kieker. Manach el Bedi, El Hakim und die von ihnen befehligten Piraten waren nicht auf den Kopf gefallen. Bei der kurzen Verfolgung hatten sie von Kurs Norden auf Kurs Nordosten gewechselt. Jetzt luvten auch sie ein paar Strich nach Steuerbord an. Ihr Plan war einfach und unverkennbar: Sie wollten den Seewolf abfangen, bevor er sich an ihnen vorbeidrängen konnte. Die ›Isabella‹ hielt jetzt praktisch im spitzen Winkel auf sie zu, und es würde von ihrer Geschwindigkeit abhängen, ob sie den Punkt, an dem sich die Kurslinien trafen, eher hinter sich brachte als die fünf Galeeren. »Wir werden langsamer«, sagte Hasard zu Ben, Ferris und
Old O’Flynn. »Und der Gegner hat jetzt die Luvposition. Daraus können sich fatale Folgen ergeben.« »Was sollen wir tun?« erkundigte sich Dans Vater gereizt. »Wir können doch nicht in die Segel blasen, um mehr Fahrt zu laufen.« Hasard hob den Kopf, es sah witternd aus. Plötzlich lachte er rauh. Ja, er konnte seit Burtons letzter, schrecklicher Mitteilung zum erstenmal wieder richtig lachen. Denn es war ein unvergleichliches Gefühl, dem Tod auf die Schippe und wieder herunterzuspringen und ihm dabei buchstäblich ins Antlitz zu spucken. »Der Wind!« rief er. »Ihr Himmelhunde, merkt ihr denn nicht, daß er wieder dreht?« Donegal Daniel O’Flynn befeuchtete den Zeigefinger und hielt ihn hoch, ein simples, aber wirkungsvolles Mittel, die Windrichtung festzustellen. »Holla«, stieß er hervor. »Ich will sofort auf Grund laufen, wenn wir ihn jetzt nicht aus Westen kriegen.« »Und er springt weiter um, der verfluchte Wind«, schrie sein Sohn aus dem Hauptmars. »West-Nordwest, Männer, das ist doch fast zu schön, um wahr zu sein!« Es stimmte. Hasard blickte zu Carberry. Carberry stand breitbeinig im achteren Bereich der Kuhl, stemmte die Fäuste in die Seiten und ließ einen grollenden Laut des Wohlgefallens vernehmen. Dann donnerte seine Stimme: »Schrickt weg die Schoten, ihr Strandkrebse, dallidalli, wollt ihr wohl die Segel trimmen? Vorwärts, wir zaubern den Muftis jetzt mal was vor, daß sie Stielaugen kriegen!« Prall bauschten sich die Segel der ›Isabella‹. Überraschend schnell nahm sie wieder volle Fahrt auf. Die Piraten wollten dem mit einem entsprechenden Manöver begegnen, aber sie konnten ihre Galeeren gar nicht so schnell herumkriegen, wie der »verfluchte Giaur« ihnen am Bug vorbeizog. »Steuerbordseite - Feuer frei auf den Feind!« rief Hasard.
Diesmal wummerte die komplette Batterie los. Unter dem vehementen Rückstoß der Culverinen krängte die ›Isabella‹ ein Stück nach Backbord, fing sich aber sofort wieder. Acht 17Pfünder Kugeln fegten auf die Galeeren los, eine geballte Ladung, die auch auf größtmögliche Entfernung noch ihre volle Wirkung erzielte. Wieder war Hasard seinem Widersacher überlegen, weil die Distanz für die überlangen Rohre der Culverinen kein Problem war. Der einzige Vorteil des Gegners: Er hielt den Seewölfen den Bug zugewandt und bot so die geringste Fläche als Ziel dar. Vier Kugeln gingen denn auch glatt fehl. Hasard sah es durch das Spektiv. Von den anderen vier erwischte eine das Segel der mittleren Galeere. Plötzlich klaffte ein Loch in dem Tuch. Dem links daneben plazierten Schiff lädierte ein Geschoß den Vorsteven, noch weiter links wurde auf der ganz außen dahin gleitenden Galeere der Mast ramponiert, und demselben Schiff wurden die Backbord-Riemen zu splittrigen Stummeln verkürzt - etwa zwei, drei Dutzend. »Feste drauf!« Carberry reckte die Fäuste. »Teufel auch, ich möchte gern sehen, wie blöd der Obermufti Manach el Bedi in diesem Moment aus der Wäsche schaut.« Hasard suchte mit der Optik des Spektivs die Galeere, auf der er vorher den Scheich und seinen Berater entdeckt hatte. Er fand sie. Es war die mittlere, deren Segel jetzt ein Loch hatte. Auf der von vorn nach achtern verlaufenden Kampfbrücke erkannte er Manach el Bedi und El Hakim, diesen durchtriebenen Hund. Hasard schob den Kieker zusammen, steckte ihn ein und widmete sich seiner Drehbasse auf dem Achterdeck. Ferris hatte sie nachgeladen. Während Hasard das Geschütz in der drehbaren Lafette nach links schwenkte und auf den Gegner ausrichtete, sagte er: »Sie kommen näher. Wenn wir geschickt sind, verpassen wir ihnen im Vorüberziehen noch ein Ding, das
sie so schnell nicht vergessen.« »Nur zu«, sagte der rothaarige Riese. »Irgendwie wird’s schon schief gehen.« * Suef Dschemal hieß der Anführer des Piratenverbandes. Er war ein wild aussehender, über sechs Fuß großer Araber mit schwarzem Haupthaar und dickem, heftig gezwirbeltem schwarzen Schnauzbart. Breitbeinig stand Suef Dschemal auf der mittleren Galeere. Er funkelte Manach el Bedi und El Hakim an, die sich neben ihm auf der Kampfbrücke postiert hatten. Rechts und links unterhalb von ihnen mühten sich die Rudersklaven mit den schweren Riemen ab. Ihre Ketten rasselten, die Aufseher liefen peitschenschwingend auf und ab, Trommler sorgten für die Vorgabe des mörderischen Rhythmus. Suef Dschemal wies mit einer Hand zu dem einzigen Segel der Galeere hoch. Das Loch, das die Kanonenkugel des Gegners gerissen hatte, klaffte wie ein Mahnmal darin. Es war so groß wie zwei, drei Männerköpfe zusammen. »Beidrehen!« stieß der Piratenführer kehlig hervor. »Beim Scheitan, es ist das einzige, was uns bleibt. Der Giaur - der Blitz soll ihn treffen - ist mit dem Leibhaftigen im Bunde. Wir müssen eine neue Position einnehmen, sonst sind wir verloren.« Manach el Bedi hielt seinem Blick stand. Zornig fixierte er den Mann, während El Hakim an seiner Seite betreten auf die Planken blickte und die Lippen zusammenpreßte. »Niemals!« rief der Scheich. »Die Blöße geben wir uns nicht. Es ist schon genug, daß er die beiden Segler versenkt hat. Jetzt müssen wir unnachgiebig gegen ihn vorrücken. Sonst lacht uns dieser Hund ja aus.« »Er zerreißt uns mit seinem Feuer.«
»Warte. Gleich befindet er sich in der Reichweite unserer Geschütze.« »Es hat keinen Sinn ...« »Willst du kneifen, Suef Dschemal?« Manach el Bedis Augen weiteren sich vor Wut. »Hältst du so dein Wort? Und habe ich nicht das Oberkommando über diesen Verband übernommen? Sie haben einen Schatz an Bord, die elenden Ungläubigen, und du wirst großzügig an der Beute beteiligt, wenn wir sie haben. Vergiß das nicht. Du hast keinen Grund, dich groß aufzuspielen.« Suef Dschemal verlegte sich aufs Flehen. »O Allah, so begreife doch. Wir müssen schlau sein, klüger als jene Bastarde. Allah steh mir bei - beidrehen ist das Vernünftigste, so glaube mir doch.« »Nein!« El Hakim, der Mann, der mit richtigen Namen George Coburn hieß, hob den Kopf. Er hatte allen Grund, sich wieder bei Manach el Bedi anzuschmeicheln. Nur durch eine Reihe von Lügen war es ihm gelungen, sein Handeln bei der Suche nach dem Schatz zu rechtfertigen und sich vor dem Scheich zu rehabilitieren. Jetzt sah er eine Gelegenheit, noch mehr zu tun. Wenn er seinem Herrn beipflichtete, hatte er bei ihm wieder einen dicken Stein im Brett. »Suef«, sagte er. »Du kannst dich dem Entschluß meines Herrn nicht widersetzen. Er hat immer recht. Und du begehst einen riesigen Fehler, indem du ...« »Erbarmen!« brüllte Suef Dschemal. »Warum begreift ihr mich nicht? Ihr seid keine Seefahrer. Beim Scheitan, ihr werdet ...« Weiter gelangte er nicht. Etwas krachte, und drüben am Heck der ›Isabella‹ wehten Qualmwolken hoch. Sie wurden vom Wind über das Oberdeck des feindlichen Schiffes geblasen. Scheich Manach el Bedi blickte an Suef Dschemal vorbei. Seine Miene nahm den
Ausdruck äußersten Erstaunens an. Etwas pfiff heran. Der Scheich, sein Berater und der Piratenführer hatten noch Zeit, die Köpfe einzuziehen dann traf die Drehbassenkugel ihr Ziel. Mit dumpfen Schlag bohrte sie sich in den Großmast. Suef Dschemal fluchte, warf sich auf den Bauch und begann mit den Fäusten auf die Planken zu schlagen. Er war ein jähzorniger, impulsiver Mensch, aber in diesem Augenblick hatte er allen Grund, außer sich zu sein. Er begriff, bevor Manach el Bedi und El Hakim die volle Tragweite der Dinge erfaßten. Der zweite Schuß heulte heran und saß ebenfalls. Es knackte, splitterte und barst über den Köpfen der Männer. Manach el Bedi blickte nach oben. Er stieß einen gurgelnden Laut aus. Beide Drehbassenkugeln hatten die Großrah getroffen. Die schwere Spiere war ins Taumeln geraten, sie drohte sich ganz zu lösen und auf Deck zu krachen. »Fort!« schrie der Scheich. »Rette sich, wer kann!« Suef Dschemals Stimme war schrill. »Beim Scheitan, die Hunde sind mit den bösen Geistern im Bund! Sie haben Zauberwaffen!« El Hakim trat ihm mit voller Wucht in die linke Körperseite. »Narr!« rief er. »Hör mit deinen verdammten Schauermärchen auf! Tu lieber was. Willst du, daß wir diese Schlacht verlieren?« Der Pirat faßte sich. Er drehte sich auf den Rücken und schaute nach oben. Sein Blick wurde starr. »Die Rah - schnell, von der Kampfbrücke fort, ehe sie uns alle zerschmettert!« Er wollte sich aufrappeln und, laufen, aber El Hakim trat ihm kräftig auf die Hände. Mit einem Schmerzenslaut ließ Suef Dschemal sich wieder sinken. El Hakim ergriff die Flucht. Er turnte von der Kampfbrücke auf die Plattform zwischen den Ruderern hinunter, hetzte darauf entlang und gelangte zu seinem Herrn zurück. Manach el Bedi hatte am schnellsten Fersengeld gegeben. Das Rundholz löste sich vom Mast und raste aufs Deck
nieder. Ein Aufschrei des Entsetzens löste sich aus den Kehlen der Männer. Die Sklaven duckten sich auf ihren Ruderbänken. Die Aufseher liefen wie aufgescheucht durcheinander, die Trommler ließen ihre Instrumente im Stich. Suef Dschemal erhob sich, aber es war schon zu spät. Die Rahspiere donnerte auf Deck, erwischte ihn im Kreuz und warf ihn zurück auf die Planken. Suef Dschemal wurde unter dem Gewicht des Rundholzes zermalmt, sein Lebenslicht erlosch, das Dasein eines Mörders und grausamen Freibeuters hatte sein Ende gefunden. Dschemal sah nicht mehr, wie Sklaven und Besatzungsmitglieder zerquetscht wurden, wie das spitze Ende der Rah den Bauch eines Mannes glatt durchbohrte. Scheich Manach el Bedi und El Hakim hatten sich unter dem Vordeck verkrochen. Sie blieben unversehrt. Sie hoben die Köpfe, als der Lärm und das Geschrei verebbten, wagten einen Rundblick und sahen, was die Spiere angerichtet hatte. »Suef Dschemal tot«, sagte der Scheich kaum hörbar. »Der Scheitan hat ihn geholt«, erwiderte El Hakim. »Ja. Er hat es nicht besser verdient, dieser Hund.« »Er wollte gegen deinen Befehl handeln. Das ist Meuterei!« »Allah hat ihn gestraft.« »Noch ist nichts verloren«, sagte El Hakim hastig. »Die Geschütze sind geladen, wir haben noch genügend Männer, um sie zum Einsatz zu bringen. Und die anderen vier Galeeren werden uns Beistand leisten.« »Los«, sagte der Scheich. »Auf was warten wir noch?« Sie kehrten auf die Kampfbrücke zurück. Coburn drehte es fast den Magen um, über die zermalmten, stark blutenden Leichen hinwegzusteigen, aber er bezwang sich. Manach el Bedi teilte Befehle aus. Er regierte mit starker Hand und bekam die Lage sofort wieder in den Griff. Die Sklavenaufseher trieben die Ruderer an. Die Galeere nahm wieder Fahrt auf. Ohne sich weiter um die Toten und die liegende Großrah zu
kümmern, eilten die Piraten auf Gefechtsstation. »Beeilt euch, ihr Hunde!« rief der Scheich. »Heizt dem Bastard von einem Giaur die Hölle ein! Er soll schmoren und uns angstschlotternd um Gnade bitten!« El Hakim schaute voraus, entdeckte die stolze DreimastGaleone aber nicht. Wie durch einen Spuk schien sie verschwunden zu sein. Er wandte den Kopf und sah sie weiter rechts segeln. Die beiden in Steuerbord der Führungsgaleere befindlichen Schiffe lösten sich vom Verband und nahmen direkten Kurs auf den Todfeind. Die ganz außen schwimmende hatte dabei erhebliche Schwierigkeiten, weil ihr Mast kaputt war und die Riemen der einen Seite fast zur Hälfte beschädigt worden waren. Auch das war das Werk des Seewolfes - die Hölle sollte sich auf tun und ihn verschlingen! Erst jetzt begriff El Hakim, daß der Anführer der Piraten recht gehabt hatte. Die ›Isabella VIII.‹ war ihnen allen haushoch überlegen! El Hakims blinder Optimismus schwand, Skepsis und Furcht stellten sich ein. Dieser Engländer! Er luvte an, zeigte ihnen seinen Bug und die Galion, dann schwenkte er noch weiter herum und hielt ihnen drohend seine Backbordbreitseite entgegen. »Feuer!«, rief El Hakim. »Feuer!« brüllte der Scheich. »Ihr kriegt die Bastonade, wenn ihr nicht pariert, ihr Schnecken!« Die Geschütze der Galeeren begannen zu krachen und Feuer, Blei und Eisen auszuspucken. Gewiß, es war ein gewaltiger Lärm, aber mit dem Erfolg war es nicht weit her. Der Beschuss war zu unkonzentriert, zu verstreut, und mit der Zielgenauigkeit der Kanoniere war es auch nicht weit her. El Hakim stapfte mit dem Fuß auf. »Es darf nicht sein«, murmelte er immer wieder. »Nein, es darf einfach nicht sein.« Die angeschlagene Galeere ganz rechts außen blieb hinter ihref Nachbarin zurück. Jene war der ›Isabella‹ jetzt am
nächsten. Auch sie hatte das Feuer eröffnet. Und was tat der Seewolf, dieser verwegene Hund? Er schob sich mit seinem Schiff mitten zwischen die beiden Galeeren. Die Backbordbreitseite löste sich explosionsartig ihre Geschosse zerhieben die ohnehin schon beschädigte Galeere vollends. Auch die Steuerbordgeschütze des Engländers waren nachgeladen. Sie spien gegen das erbitterte Feuer der anderen Galeere an, und gleichzeitig ließen die beiden Bogenschützen wieder diese verheerenden Brandpfeile in die Takelage sausen. Manach el Bedi hatte einem der Sklavenaufseher die Peitsche entrissen und drosch damit auf die Geschützführer ein. »Ihr Satansbraten, wollt ihr wohl besser zielen?« »Herr!« rief einer von ihnen verzweifelt. »Wir tun, was wir können, aber wir sind machtlos!« »Machtlos?« Dieses Wort brachte Manach el Bedi erst richtig zur Raserei. »Ich werde euch lehren, was es heißt, gegen meine Anordnungen zu handeln.« Er prügelte weiter auf die Kanoniere, deren Helfer und sogar auf die Sklavenaufseher ein. In seinem ohnmächtigen Zorn begriff er nicht, daß es eine völlig widersinnige Handlung war, die die Besatzung nur hoch verstörter und mutloser werden ließ. George Coburn lief aufs Achterdeck. Er sah die Pistole eines der durch die herabstürzende Rah getöteten Männer liegen. Sie war von der Kampfbrücke bis hierher gewirbelt, niemand hatte sich mehr um sie gekümmert. Coburn las sie auf, desgleichen einen Tschakan, die typische, in Syrien wie in der Türkei verwendete Wurfaxt. Sie glitten auf die ›Isabella VIII.‹ zu. Die hatte inzwischen von den beiden Galeeren abgelassen. Die eine, ganz außen an Steuerbord, wurde bereits von den Fluten aufgenommen. Sie war ein loderndes, stark krängendes Wrack. Auch die andere Galeere brannte und war
quergeschlagen. Schreiend sprangen die Überlebenden des Massakers in die See. Die ›Isabella‹ luvte an, indem sie ihren Bug nach Südwesten richtete. Der Steven der Führungsgaleere wies nach Nordosten. Beide Schiffe liefen aufeinander zu, so nah, daß sie sich zu streifen drohten. Beide Breitseiten warteten darauf, abgefeuert zu werden. El Hakim hatte ein merkwürdiges Gefühl. Ihm wurde weich in den Knien, ja, seine Beine begannen zu zittern. Er wußte genau, was das war und wollte es nur nicht wahrhaben. Angst. Er preßte die Zähne zusammen. Seine Lippen waren ein dünner, blutleerer Strich. Jetzt. Es war soweit. Die Stunde der Vergeltung hatte ihren Höhepunkt gefunden. Für einen Augenblick war Coburn versucht, dem auf der Kampfbrücke tobenden Manach el Bedi den Tschakan in den Rücken zu schleudern. Aber er bremste sich. Erstens konnte er den Scheich verfehlen. Was das für Folgen haben würde, wagte er sich nicht auszumalen. Außerdem mußte er den Tschakan für eine andere, weitaus günstigere Aktion aufsparen. Er mußte den Feind treffen. Den Seewolf. Er wollte diesem Philip Hasard Killigrew den Kopf vom Rumpf trennen oder ihm zumindest den Schädel spalten. Diese Tat würde ihm in Manach el Bedis Gunst für ewige Zeiten einen sicheren Platz schaffen. Noch mehr: Wenn die Engländer ihren verfluchten Kapitän verloren, schlug ihre Euphorie in Panik um. Das konnten die Piraten dann ausnutzen, um die Galeone zu entern, sie niederzumetzeln und sich den Schatz der Malteserritter wiederzuholen. »Komm«, sagte El Hakim. »Komm schon, ich warte auf dich, Seewolf.« *
4. Die Begegnung war da, die Schiffe glitten auf einer Distanz von höchstens zwanzig Yards aneinander vorbei. Manach el Bedi schrie den Kanonieren zu: »Wartet! Ihr feuert erst, wenn ich es euch befehle!« Ein ohrenbetäubendes Krachen ließ seine weiteren Worte untergehen. Der Feind hatte zuerst geschossen, wieder hatte der Scheich die verheerende Wirkung der Drehbassen-Kugeln unterschätzt. Beide Geschosse, von den auf der Back der ›Isabella‹ montierten Geschützen abgegeben, trafen das Vorkastell der Galeere. Das Steuerbordschanzkleid zerbarst, zwei große Lücken klafften plötzlich darin. El Hakim kauerte hinter dem Schanzkleid des Achterkastells und sah voll Entsetzen auf die Bresche, die die Drehbassenkugeln auch in die Reihe der vorn postierten Piraten gerissen hatten. Da wälzten sich Schwerverletzte in ihrem Blut, da lagen mehrere Tote - da nahm die Panik ihren Ausgang. »Scheitan!« brüllte ein Pirat. »Feuer, sonst sind wir alle des Todes!« »Nein!« heulte Manach el Bedi. »Wartet noch, ihr Hunde!« Sie wollten nicht warten, wollten nicht hören. Sie zündeten die Geschütze der Steuerbordseite, als die ›Isabella‹ sich noch nicht auf voller Höhe mit ihnen befand. Der Bugspriet des stolzen Dreimasters hatte gerade erst die Höhe der Mittschiffspartie der Galeere erreicht. Und doch dröhnten die Kanonen der Piraten. Feuer und Rauch stoben dicht über die Wasserfläche dahin. Zwei der insgesamt sechs Geschosse furchten auf halbem Weg das Naß, gingen unter und wurden in ihrer Vorwärtsbewegung gestoppt. Sie hatten nicht genügend Drall, um die Bordwand der ›Isabella‹ unter der Wasserlinie zu erreichen. Außerdem saßen sie zu weit rechts. Zwei weitere orgelten vor dem Bug des Gegners in die offene See hinaus
und brachten fast noch den eigenen Gefährten in Konflikt - die beiden anderen Galeeren. Die hatten gedreht und eilten mit hastigen Ruderschlägen heran. Aber sie kamen zu spät, viel zu spät. Zwei Schüsse von Manach el Bedis Kanonen saßen. Der eine knickte der ›Isabella‹ den Bugspriet weg. Der andere bohrte sich in den Vorsteven, daß es knackte und splitterte. »Weiter so!« schrie der Scheich in einem Anflug von Triumphgefühl. »Narr«, flüsterte El Hakim. »Wir haben keine Zeit zum Nachladen. Was bleibt uns? Das Musketenfeuer? Das ist doch ein Hohn ...« Er warf sich tief hinter dem Schanzkleid in Deckung, weil jetzt die Brandpfeile der Engländer wie ein Hagel auf die Galeere niedergingen. Mit dumpfen Lauten blieben sie in den Planken des Oberdecks stecken. Die Sklaven schrien um ihr Leben. Die Aufseher verloren die Oberhand und konnten sie nicht mehr im Zaum halten. Krachend verkeilten sich die Riemen ineinander. Das Chaos war vollkommen. Das auf Deck liegende Großsegel fing Feuer. Auch die Planken begannen zu lodern. Und dann wummerte die Breitseite der ›Isabella‹ los. El Hakim schützte seinen Kopf mit den Händen, preßte sich flach auf Deck, jammerte und schrie um Erbarmen. Wo der Scheich war, wußte er nicht, es interessierte ihn auch nicht mehr. Die Welt schien mit einem gewaltigen Donnerschlag unterzugehen. Die Galeere wurde zerrissen, in alle Himmelsrichtungen verstreut, vom Meer verschlungen. Jedenfalls erschien es George Coburn so. Trümmer prasselten auf ihn nieder. Sie deckten ihn zu. Er wartete darauf, einen Balken ins Kreuz zu kriegen und sein Dasein auszuhauchen. Es geschah nicht. Der Lärm verebbte. Es blieben das Schreien und Stöhnen der
Verwundeten. El Hakim würgte und spuckte, fühlte sich wieder etwas wohler und befreite sich von den Trümmern, die auf ihm lasteten. Links von ihm lag ein Toter mit starren, gebrochenen Augen. El Hakim sah nicht hin. Seine Augen suchten den Scheich. Da! Manach el Bedi schüttelte die Fäuste gegen den Feind. Er hatte sich mitten in dem Getümmel doch noch unter der Kampfbrücke verkriechen können. Er war unversehrt. El Hakim richtete sich in dem lodernden Inferno des Achterdecks auf und schwang den Tschakan. Die Pistole zu benutzen, hatte keinen Zweck. Dazu war die Entfernung zu groß. Aber er hatte es gelernt, den Tschakan zu schleudern. Bis auf fünfzig Yards konnte er damit einen Baumstamm treffen - oder einen Menschen. Drüben auf der ›Isabella VIII.‹ stand der Oberteufel aller Teufel - Killigrew! Er befand sich achtern, und noch waren beide Achterdecks der Schiffe auf gleicher Höhe. Killigrew schaute nicht zu ihm, El Hakim, er richtete sein Augenmerk vielmehr auf den Scheich. Eine einmalige Chance! El Hakim warf den Tschakan. Fasziniert, wie in Hypnose blickte er dem blitzenden Beil nach. Es zuckte in leicht gekrümmter Bahn zu der Galeone hinüber. Nichts konnte den Seewolf retten. Wirklich nichts? Etwas Ungeheuerliches trat ein. Ein schriller Pfiff drüben auf dem feindlichen Schiff, ein Kreischen, eine Bewegung aus den Luvwanten des Besanmastes - ein kleiner Schatten zuckte auf Killigrew nieder. Er riß ihn zu Boden. Der Tschakan traf den Besanmast und blieb darin stecken. Im selben Augenblick sah El Hakim etwas auf sich zufahren. Es war ein flimmerndes, zuckendes Ding - ein Brandpfeil. Er wollte ausweichen, stand jedoch wie gelähmt. Nur sein Oberkörper pendelte leicht hin und her.
Er verspürte einen Schlag, der von oben, vom Kopf, bis nach unten in die Füße verlief. Gewaltige bronzene Glocken schienen in seinem Schädelinneren zu dröhnen, und gleich darauf riß ihn ein heißer Sog in unbekannte, finstere Gefilde. George Coburn, genannt El Hakim, fühlte schon nicht mehr, wie er rücklings aufs Deck stürzte. Der Pfeil ragte hoch aus seiner Brust auf. Der Schaft vibrierte noch leicht, so, als wolle er alle warnen, die es Coburn gleichtun wollten. Manach el Bedi hatte eine Muskete umklammert, um damit auf den verhaßten Feind zu schießen. Er hatte El Hakims Tod in allen Einzelheiten mitverfolgt. Seine Zunge lag ihm wie ein pelziger Klumpen in der Mundhöhle, und er spürte einen üblen, galligen Geschmack. Eine eiskalte Faust schien nach seinem Herzen zu fassen. Die Galeere trieb führungs- und steuerlos dahin. Sie war ein brennendes Wrack, ein Wunder, das sie überhaupt noch schwamm. Vor Manach el Bedi richtete sich einer der Sklavenaufseher auf. Er wandte sich zu ihm um. Ihre Blicke trafen sich und verfingen sich ineinander. Der Mann legte die Hand auf den Lauf der Muskete. »Nicht schießen, Herr. Du weißt, wie sie reagieren. Ich will nicht auch durch einen Pfeil sterben. Willst du es?« »Ich werde nicht schießen«, antwartete der Scheich mit einer Stimme, die ihm selbst fremd klang. * Hasard kraulte Arwenack den Kopf und das Kinn, das hatte der Schimpanse besonders gern. Der Seewolf hockte auf dem Achterdeck und hielt die Beine weit von sich gestreckt. Arwenack kauerte mit listiger Miene vor ihm. Hasards Blick wanderte zu dem im Besanmast steckenden Tschakan, dann wieder zu Arwenack. »Danke, mein Freund.
Du hast mir das Leben gerettet.« Der Affe schaute ihn an. Sein Blick sagte, daß er verstand, und wenn er die Sprache der Menschen beherrscht hätte, hätte er jetzt wohl erwidert: »Ist doch nicht der Rede wert. Gern geschehen, Sir.« »Unser Arwenack ist ein intelligenter Bursche«, sagte Ben Brighton neben dem Seewolf. »Ich hab’s schon immer gewußt.« »Tja.« Hasard winkte zu Dan O’Flynn und Batuti hoch. Grinsend grüßten sie zurück. Als der Tschakan geflogen war, hatte Dan einen Pfiff ausgestoßen, Arwenack hatte sich aus den Luvwanten des Besanmastes auf seinen geliebten Herrn geworfen, und Batuti hatte den Pfeil auf El Hakim abgefeuert. Arwenacks Aufprall auf Hasards Brust war so heftig gewesen, daß er sich glatt auf den Hosenboden gesetzt hatte. Das war sein Glück gewesen. Hasard erhob sich. Arwenack hoppelte davon, erklomm das Schanzkleid und wieder die Wanten und hangelte nach oben. Hasard blickte mit dem Kieker zum Achterdeck der davonziehenden Galeere. Deutlich konnte er El Hakim liegen sehen. Das hatte der Schurke nun davon! Er hatte ins Gras beißen müssen, für nichts und wieder nichts. George Coburn war ein durchtriebener Hund gewesen, weitaus hinterhältiger und ausgekochter noch als sein Herr Manach el Bedi. Er hatte sich mit Stark und Burton bei der Suche nach dem Schatz verbündet, und gemeinsam hatten sie den Scheich überlisten wollen ... »Deck!« rief Dan O’Flynn. »Da kommen die beiden Nachzügler! Diese Narren bilden sich doch tatsächlich ein, es mit uns aufnehmen zu können.« »Profos!« schrie Hasard. »Alles klar zum Feuern, Sir!« »Ferris!« »Drehbassen achtern nachgeladen.«
»Al!« »Drehbassen Back klar, Sir!« Hasard legte beide Hände als Schalltrichter an den Mund. »Abfallen und dann herum mit dem Kahn! Wollen doch mal sehen, ob sie da mithalten!« Die Crew verfiel in geradezu fieberhafte Aktivität. Hasard schaute ins Ruderhaus - Pete Ballie ließ das Ruderrad wirbeln und nickte ihm grinsend zu. In Sekundenschnelle hatte die ›Isabella‹ den neuen Kurs inne und gewann, platt vor dem Wind laufend, rasch an Fahrt. Hasard hastete durch die Kuhl nach vorn und erklomm die Back. Er wollte sich selbst ein Bild vom Ausmaß des erlittenen Schadens verschaffen. Über die nach vorn abschließende Schmuckbalustrade gebeugt, besah er sich die Bescherung. Vom Bugspriet war nur noch ein Stummel übrig. Die Blinde hatte es auch weggerafft, es flatterten nur noch ein paar traurige Fetzen im Wind, die von den zum Vordeck verlaufenden Verspannungen gehalten wurden. Auch der Vorsteven war angeknackst. Eine breite Scharte klaffte in dem Spant - aber kein Loch. Hasard kehrte aufs Achterdeck zurück. »Schöne Scheiße, was?« sagte Ferris. »Wirst du das wieder hinkriegen, Ferris?« Der hünenhafte Schiffszimmermann verzog den Mund. »Na klar. Hauptsache, wir sind nicht leckgeschlagen. Das muß ich erst noch feststellen. Den Rest biegen Will Thorne und ich schon wieder hin.« Die ›Isabella‹ ging jetzt durch den Wind. Es wurde ein beispielhaftes Manöver. Der Wind blies immer noch handig aus West-Nordwest - und wieder geriet der Gegner ins Hintertreffen. Die ›Isabella‹ beschrieb eine enge Schleife, fiel erneut ab und packte die beiden noch intakten Galeeren schräg von Steuerbord achtern. »Teufel, die kriegen jetzt auch die Abreibung ihres Lebens!«
frohlockte Old O’Flynn. Der Seewolf blickte mit dem Spektiv zum Gegner. Er wartete darauf, daß die Piraten kapitulierten. Die Schlacht war an einem Punkt angelangt, an dem weiteres Blutvergießen vermieden werden konnte. Hasard dachte dabei vor allem an die Sklaven der Galeeren. Sein Vater, der Malteserritter Godefroy von Manteuffel, war ein solcher Rudersklave gewesen, unter dem gefürchteten algerischen Piraten Uluch Ali. Uluch Ali lebte nicht mehr. Auch Godefroy von Manteuffel hatte sterben müssen, doch in Hasards Herz lebte er weiter. Nein. Die Piraten wollten nicht aufgeben und die Flagge streichen. Kanonenböller dröhnten von der in Steuerbord laufenden Galeere. Hasard ging in Deckung, seine Männer duckten sich auf ihren Posten. Wasserfontänen stiegen dicht vor der Backbordwand der ›Isabella‹ auf. Hasard hatte keine Wahl. »Anluven«, befahl er. »Wir feuern die Backbord-Breitseite auf sie ab.« Prompt zog Pete Ballie das Vorschiff wieder an den Wind. Ein Drittel der Crew bemühte sich um die richtige Stellung der Segel, der Rest nahm die Geschützstellungen ein und visierte den Feind an. Zwar liefen die beiden Galeeren etwas in südlicher Richtung ab. Aber den langen Culverinen-Rohren der ›Isabella‹ konnten sie dadurch nicht entwischen. »Feuer!« und »Drauf auf die Kümmeltürken!« schrie der Profos, und die acht Rohre der Backbordseite entließen ihre tödlichen Ladungen. Die in Steuerbord des Restverbandes befindliche Galeere bekam die Breitseite in ihrer vollen Wucht zu spüren. Da ging keine einzige Kugel fehl. Die syrischen Piraten feuerten zurück, aber darüber lachten Hasards Männer nur, denn auch bei diesen Burschen war es mit dem Zielen nicht weit her. Ja, die Seewölfe kämpften, daß die Fetzen nur so flogen, und sie legten alles in die Schlacht hinein: ihr Können, ihren Mut,
ihren Haß auf alle Menschen, die sich mit Burton und Konsorten verbündet hatten und sie immer wieder bedrängten, hier, im Mittelmeer, in der Karibik, überall. Würde das nie zu Ende gehen? Nein. Es würde neue Burtons, Keymis und Starks geben, die ihre Intrigen flochten und sie durch Heimtücke und gemeine Tricks zu schlagen versuchten. Die Welt war voll von ihnen. In diesem Sinne standen die Piraten sogar höher in der Wertschätzung der Seewölfe. Sie waren nur von den Intriganten aufgescheucht und angestachelt worden. Dabei blieb ihre Kampfmethode unverändert - offen, geradeheraus. El Hakim hatte einen üblen Trick anbringen wollen, das sah ihm ähnlich. El Hakim hatte dafür bezahlt. »Brandpfeile!« rief Hasard. Shane und Batuti veranstalteten ein Zielschießen auf die Galeere. Kurz darauf stiegen die Flammen aus dem Segel des Gegners himmelan, und auch auf Deck bildeten sich Feuerstellen. Verzweifelt suchten die Freibeuter, den Brand zu löschen. Aber es war sinnlos. Die Galeere drohte ein Opfer der Flammen zu werden. »Die andere Galeere nimmt die Kerle vom brennenden Schiff über«, meldete Dan O’Flynn. Hasard spähte durch den Kieker. Richtig, die Piraten wechselten von dem lodernden auf das einzige noch unversehrte Schiff über. Dabei besaßen sie zumindest den Anstand, auch die Sklaven loszuketten und mit überzunehmen. Ehe das Feuer auf die intakte Galeere übergreifen konnte, löste sie sich von dem Unglücksschiff und nahm Kurs auf Manach el Bedis Galeere. »Was ist?« rief Carberry. »Jagen wir ihnen nicht nach?« »Nein. Sie haben genug.« Hasard nahm den Kieker nicht vom Auge und wurde nun Zeuge, wie auch Manach el Bedi und ein paar Überlebende von der sinkenden Führungsgaleere übergenommen wurden. Auch Sklaven befanden sich darunter,
er sah es an den Ketten, die von ihren Armen und Beinen baumelten. Manach el Bedi hatte den Gang und das Gebaren eines gebrochenen Mannes. Er hatte die Lektion seines Lebens bezogen. Sollte Hasard ihn verfolgen und ihm den Rest geben? Sollte es das totale Aufräumen sein? Nein. Etwas in ihm sträubte sich dagegen. Wenn Manach el Bedi es auch nicht verdiente, Hasard respektierte in diesem Moment das Gesetz der Fairneß. Und hinter seinem Verhalten verbarg sich auch noch eine zweite Absicht. Der Scheich sollte nach Syrien zurückkehren und dort berichten können, wie ihm der »verfluchte Giaur« zugesetzt hatte. Betrat Hasard das Land noch einmal wieder, so eilte ihm sein Ruf voraus. Und es war gut, wenn gewisse Leute von vornherein wußten, was es bedeutete, sich mit ihm anzulegen. Ben Brighton trat neben ihn und blickte zu den brennenden, sinkenden Galeeren und dem Schiff, das jetzt nach Osten ablief. »Du läßt sie also reisen«, sagte er. »Ich glaube nicht, daß Manach el Bedi dir dafür dankbar ist.« »Das erwarte ich auch nicht.« »Es hat genug Opfer gegeben, nicht wahr?« »Ja, Ben.« Carberry drehte sich auf der Kuhl um und rief: »Ho, da haben wir den Muftis aber anständig die Jacken vollgehauen, was, wie? Männer - ein dreifaches Hurra dem Seewolf!« Die Crew ließ ihren Kapitän lärmend hochleben. Hasard trat an die Five-Rail, den vorderen Querabschluß des Achterdecks, legte die Hände auf die Holzleiste und beugte sich etwas vor. Als das Gebrüll verstummte, sagte er: »Ich danke euch. Fehlt noch, daß ihr mich auf die Schultern hebt. Dabei ist es nicht mein Verdienst, daß wir gesiegt haben. Kutscher, Kutscher!« Der Kutscher eilte aus der Kombüse, er trug Verbandszeug
und einen Holzkübel voll Süßwasser. »Eine Extraration Schnaps für alle«, ordnete Hasard an. »Teil sie sofort aus, und stell dich bloß nicht so geizig mit dem Zeug an.« Der Kutscher schnitt eine ergötzliche Grimasse und wies nach oben. Über ihm turnte Arwenack in den Leewanten des Fockmastes und schwenkte triumphierend eine volle Flasche. Was darin schwappte, war Rum, reiner Rum von Tortuga oder wußte der Teufel woher - der Schimpanse war dem Befehl des Seewolfs zuvorgekommen. Hasard dachte an Arwenacks Rettungsaktion kurz zuvor. Er drückte beide Augen zu.
5. Bis zum Abend sprang der Wind nicht mehr um, sie mußten aufkreuzen, um ihren alten Kurs beibehalten zu können. Unausgesetzt war ein Teil der Crew mit dem Bedienen der Segel beschäftigt. Mal wurde ein Kreuzschlag nach Norden, mal einer nach Süden gefahren, es war nun mal unumgänglich. Auch sonst konnte sich die Mannschaft nicht über Arbeitsmangel beklagen. Zunächst hatte der Kutscher die Verletzten versorgt. Zum Glück gab es nur leichte Blessuren zu verzeichnen. Es genügte, diese Wunden auszuwaschen und zu verbinden, danach wurden sie von Hasard zum Schlafen ins Vorschiff geschickt. »Zur Deckswache um Mitternacht seid ihr hoffentlich wieder auf dem Damm«, sagte er zu Smoky. Smoky hatte ein paar Kratzer an den Armen und Schultern davongetragen. »Aye, aye, Sir«, erwiderte er grinsend. »Von den Mückenstichen geht schließlich keiner ein.« Ferris Tucker in seiner Funktion als Zimmermann und Will Thorne, der Segelmacher, kümmerten sich um die
Instandsetzung des vorderen Schiffsteils. Hasard ließ Ferris freie Hand, er durfte sich als Helfer aussuchen, wen er wollte. Der ganze Nachmittag war von eifrigem Sägen, Hobeln, Hämmern und sonstigem Werken erfüllt. Will fertigte eine neue Blinde an. Ferris war heilfroh, daß die ›Isabella‹ keine Treffer unter der Wasserlinie erlitten hatte. Natürlich hatte er wieder einen ausgiebigen Inspektionsgang unternommen. Mit dem Ergebnis war er zufrieden. »Das hier«, sagte er zwischen einem Hammerschlag und dem anderen, »ist gar nichts. Wir können in aller Ruhe arbeiten. Schlimmer wär’s gewesen, wenn wir auch noch lenzen und verdammte Löcher in der Schiffswand hätten verdübeln müssen. Will, wie weit bist du mit der Blinde?« »Bald fertig«, erwiderte Will, ein ruhiger, besonnener Mann. Ferris lachte. »Hey, dann bind sie dir solange um den Bauch wir sind nämlich noch nicht soweit.« Matt Davies, der mit zu Ferris Gruppe gehörte, entblößte seine Zähne. »Hör mal, Will.« »Ja?« »Mit so einer Blinde vor dem Bugspriet kriegst du einen sicheren, schnurgeraden Gang.« Die Männer bogen sich vor Lachen, und Will Thorne sagte: »Fahrt zur Hölle.« Ferris schuftete mit ein paar Helfern sogar noch während der Nacht. Am nächsten Morgen war der Vorsteven repariert. Der neue Bugspriet wurde angepaßt und von Ferris mit Akribie befestigt. Danach - endlich konnte Will Thorne auch die neue Blinde setzen. Sie verlieh dem Schiff mehr Stabilität beim Kurshalten und sorgte dafür, daß die ›Isabella‹ nicht aus dem Ruder lief. Wieder ließ der Seewolf eine Extraration Rum austeilen. Die Männer betranken sich nicht, sie befanden sich nur in einem konstanten Zustand der Heiterkeit. Hasard war froh darüber. Schließlich konnte er nicht von
ihnen erwarten, daß sie jetzt ständig mit Leichenbittermienen herumliefen und ewig mit ihm um den Verlust der Zwillinge trauerten. Wie hatte Old O’Flynn doch gesagt? »Die Zeit heilt Wunden.« Es klang wie ein billiger Spruch, war aber ein echter Erfahrungsgrundsatz. Und letztlich war gerade der alte Donegal alles andere als ein Schwätzer. Der Wind, unberechenbar wie immer, drehte erneut und blies aus südlichen Richtungen. Dem Seewolf blieb keine Wahl, er mußte Kurs Nordwesten nehmen, um den Wind voll ausnutzen zu können. So hielt er zwar nicht mehr direkt auf sein Ziel Malta zu, aber er verlor keine Zeit mehr durch nervenaufreibendes Kreuzen. Alle Reparaturen waren ausgeführt. Die ›Isabella VIII.‹ bot wieder das übliche schmucke Bild. Sie war ein fortschrittlich gebautes Schiff, ihrer Zeit eigentlich voraus, und die Seewölfe waren ungemein stolz auf sie. Sie hatte sich bewährt. Noch etwas: Sie hatten sie gekauft und nicht gekapert, sie war wirklich und wahrhaft ihre ›Isabella‹. Unter diesem Aspekt gab es noch einen Grund mehr, sie mit Klauen und Zähnen zu verteidigen und sie wie ein Juwel zu pflegen. Nie hatten sich Hasards Männer mit einem Schiff so verbunden gefühlt. Hasard betrat kurz die Kapitänskammer und steckte die neue Position auf einer seiner Karten ab. Rhodos war nicht mehr fern. Wenn sie diesen Kurs beibehielten, segelten sie unter Umständen noch am Abend an Karpathos und Kasos vorbei, passierten Kreta und hielten wieder auf Piräus zu. Nichts zog ihn dorthin. Er baute darauf, daß der Wind wieder wechseln würde. Er setzte sich hin und verfiel wieder in seine Grübeleien. Godefroy von Manteuffel, sein Vater, Gwen, seine über alles geliebte Frau, die Zwillinge Philip und Hasard - sie tauchten vor seinem geistigen Auge auf. Er sprang auf und stieß dabei den Stuhl mit den Kniekehlen zurück. Klappernd kippte er zu Boden. Hasard marschierte auf
die Galerie hinaus, kehrte wieder zurück, begab sich von der Kammer aus auf Oberdeck und schritt mit auf dem Rücken gekreuzten Händen auf und ab. Er glich einem gereizten Tiger. Keiner wagte ihn anzusprechen. Die Männer gingen ihm aus dem Weg. Es war besser so, sie spürten es. In die bedenkliche Stimmung hinein platzte plötzlich Dan O’Flynns Ruf. »Steuerbord voraus treibt was! Himmel, was in aller Welt ist denn das?« Sofort waren die Männer am Schanzkleid und hielten Ausschau. Hasard schreckte aus seinen finsteren Gedanken hoch, eilte aufs Achterdeck und nahm den Kieker zu Hilfe. Nach einer Weile erblickte auch er das Etwas, das Dan ausgemacht hatte. Es dümpelte auf der schwach gekräuselten Wasserfläche. Sonnenlicht, von den Wellenkämmen glitzernd reflektiert, blendete Hasard ein wenig. Trotzdem glaubte er identifiziert zu haben, um was es sich handelte. »Ein Stück Treibholz mit einem Tier darauf«, sagte er zu den Männern. »Wenn wir nicht sofort beidrehen, rauschen wir daran vorbei.« »Donnerkeil!« schrie Dan aufgeregt. »Das ist ja eine Katze, Freunde!« »Eine Katze«, wiederholte Matt Davies mürrisch. »Der Teufel soll sie holen.« »Es ist das erste Mal, daß ich eine Katze auf offener See treiben sehe«, sagte Blacky. Angestrengt spähte er über die Wasserfläche. Die schwimmende Planke hob sich jetzt deutlicher ab. Man konnte auch mit bloßen Augen die Umrisse des Tieres erkennen. Offenbar lief es auf seinem Untersatz hin und her. Carberry kratzte sich am Kinn. Das erzeugte ein Schaben, als marschiere eine ganze Kolonie Kakerlaken über trockenes Laub. »Hol’s der Henker«, murmelte er. »So was ist mir noch nicht passiert. Was tun wir denn jetzt?« »Wir haben schon genug Viehzeug an Bord, wenn du das
meinst«, sagte Matt. »Hab ich dich gefragt?« »Nein. Aber ich sag’s dir noch mal ...« »Schnauze«, fuhr der Profos Matt an. »Deine Ansicht ist nicht maßgebend. Jeder weiß, daß Katzen Angst vor Wasser haben und glatt ersaufen, wenn sie reinfallen.« »Affen auch«, erklärte Batuti. »Affen halten sich immerhin noch wie Hunde durch Paddeln an der Oberfläche«, mischte sich nun Smoky ein. »Ihr erinnert euch doch noch, wie Arwenack mal außenbords gegangen ist und fast vom Hai verschluckt wurde, oder? Also, wenn das der Katze passieren würde - sie wäre verloren.« »Das arme Ding«, sagte Carberry. Matt grinste schief. »Mensch, daß ein Klotz von Kerl wie du ein so weiches Herz hat, hätte ich nicht gedacht.« »Tu doch nicht so dämlich, Matt.« Smoky tippte ihm mit dem Finger vor die Brust. »Du hast genauso viel Mitleid mit Tieren wie wir. Du willst es bloß nicht zugeben. Dabei hast du Arwenack längst ins Herz geschlossen.« »Pah«, sagte Matt. Er beschrieb eine Gebärde mit seiner Hakenprothese. »Daß ich nicht kichere. Das Biest von einem Affen kann von mir aus ...« Er sprach nicht weiter. Batuti hatte sich drohend vor ihm aufgebaut. Der Rest der Crew schnitt Gesichter, die auch nichts Gutes verhießen. »O Mensch, Matt.« Batuti rollte mit den Augen, daß das Weiße zu sehen war. »Batuti haut dir aufs Hirn, wenn du herummotzt.« Matt schwieg. Er hatte keine Lust, von allen Keile zu beziehen, wenn auch die Mannschaft wußte, daß er meistens genau das Gegenteil mit seinem Gemecker ausdrücken wollte. Während des Palavers hatte Hasard unausgesetzt durch den Kieker geschaut. Die Katze befand sich in einem erbarmungswürdigen Zustand. Sie war bis auf die Knochen abgemagert, konnte sich
anscheinend kaum noch auf den Beinen halten und öffnete hin und wieder das Maul zu einem Maunzen. Hasard setzte das Spektiv ab. »Wir halsen«, befahl er. »Wir fahren eine Schleife, luven dabei wieder an, gehen fast bis in den Wind und nehmen so Fahrt aus dem Schiff.« »Los!« polterte der Profos. »Matt, du ganz besonders, sonst stauche ich dich zusammen, daß du dir wünschst, niemals von deiner Mutter im Linksgalopp an die Wand ...« »Ich laufe ja schon!« schrie Matt. Er rannte quer über die Kuhl, packte eine Schot und baute sich breitbeinig auf. In den nächsten Minuten wurde fortlaufend die Segelstellung korrigiert. Pete Ballie arbeitete beflissen mit dem Ruderrad, die ›Isabella‹ zog ihr Heck durch den Wind wie eine hochnäsige Lady. In bogenförmigem Kurs schob sie sich auf Dans Fund zu. Sie beschrieb einen Halbkreis, verringerte ihre Fahrt - und schließlich konnten die Seewölfe in Lee ein Beiboot abfieren, um das Tier überzunehmen. Hasard enterte mit Blacky, Batuti und Stenmark in das Boot hinüber. Sie legten ab, pullten auf das Stück Treibholz zu und holten die Riemen wieder ein, als sie nahe genug heran waren. Das Boot lief aus. Hasard brauchte nur noch die Hände auszustrecken, um die Katze zu greifen. Sie rückte von ihm weg, ein klägliches, schwarzweißes Ding mit ängstlich blickenden Augen. Offenbar glaubte es, die Männer wollten ihm etwas zuleide tun. Obwohl es das Wasser so sehr scheute, wich es bis an den äußersten Rand seines Untersatzes zurück - stemmte sich hoch, krümmte den Rücken und sträubte sämtliche struppigen Haare. Hasard lachte. »Mach doch kein Theater«, sagte er. »Komm, wir wollen dich vor dem Verhungern bewahren. Der Kutscher gibt dir ein paar Brocken Fleisch und hat, wenn du Glück hast, vielleicht auch ein bißchen Milch parat.« Er bekam sie zu fassen. Geschickt packte er sie bei der Nackenhaut, hob sie hoch und zog sie zu sich an die Brust.
Schließlich war es nicht das erste Mal, daß er eine Katze auflas. Auf Arwenack-Castle hatte es eine halbe Streitmacht rüder Kater und wohlgenährter Katzenweibchen gegeben. Er hatte schon als Kind gern mit ihnen gespielt. Die schwarzweiße Katze war leicht wie eine Gänsefeder. Aber sie war immer noch kampfbereit und übte sich in panischem Widerstand. Hasard hielt sie fest, und sie zerkratzte ihm die Brust. Hasard lachte nur darüber. Blacky fischte das Stück Treibholz auf. Sie nahmen es mit zur ›Isabella‹. Die Erfahrung lehrte, daß man in solchen Dingen nicht pingelig genug sein konnte. Oft waren solche Trümmerstücke die Überreste von Booten oder Schiffen. Man konnte manchmal Rückschlüsse aus ihnen ziehen, was die Herkunft betraf. Während die Männer das Boot zur Galeone zurückpullten, streichelte Hasard die kleine Katze. Tatsächlich beruhigte sie sich. Hasard konnte sie nun auf einer Handfläche halten, ohne daß sie verrückt spielte. Deutlich war wieder zu sehen, wie ausgemergelt das Tier war. »Nun schau dir das an«, sagte Stenmark. »Da krampft sich einem doch das Herz zusammen.« »Allein hat sie sich nicht auf die Reise begeben, das steht fest«, erwiderte Blacky. »Wenn sie ausgesetzt worden ist, ist der, der das getan hat, ein großer Schweinehund.« »Ein Riesendreckskerl, jawohl«, fügte Batuti bekräftigend hinzu. Sie wurden von der ›Isabella‹ übergenommen und enterten an der Jakobsleiter auf. Die Crew holte das Beiboot ein, hievte es auf Deck, zurrte es wieder in seinen Laschings fest. »Wir gehen auf den alten Kurs zurück«, sagte Hasard. »Aye, aye, Sir«, erwiderte der Profos. »Auf den alten Kurs. Matt, nun sieh dir das arme Tier an. Was bist du für ein elender Grobian! Deine Schuld, wenn es ersoffen wäre.« »Jetzt macht aber mal einen Punkt«, protestierte Matt Davies.
Hasard setzte sich auf die Kuhlgräting, streichelte die magere Katze wieder und betrachtete sie. Erst jetzt stellte er fest, daß sie etwas am Hals trug. Einen etwa fingerdicken Rohlederstreifen. Es mußte Mühe gekostet haben, ihn zusammenzuknoten. Rohleder in dieser Dicke war widerspenstiges Material. Hasard begann, den Knoten aufzudröseln. Was erwartete er davon? Er wußte es nicht. Aber er spürte, daß dieses Halsbändchen der Schlüssel zu einem furchtbaren Geheimnis war. War die Katze die einzige Überlebende eines Schiffsunterganges? Möglich war alles. Ein Schatten schwebte über den Seewolf weg - Arwenack in einem losen Fall. Er ließ sich auf Deck nieder, tappte heran und blieb verwundert stehen. Langsam stützte er sich auf seine langen Arme, beugte sich etwas vor, stülpte die wulstigen Lippen vor und kräuselte die Stirn. Er legte den Kopf schief und betrachtete die Katze wie ein Weltwunder. Die Katze krümmte wieder den Rücken. Sie fauchte, riß sich von Hasard los und lief in Richtung Achterkastell. »He!« rief der Seewolf. Es war ihm nicht gelungen, den Rohlederstreifen aufzuknoten. Aber er wollte wissen, was es damit auf sich hatte. Deshalb lief er hinter dem Tier her. Arwenack stürmte hinterdrein. Es folgten Carberry, Blacky, Batuti, Smoky und fast die ganze Crew. Matt Davies stand da wie vom Donner gerührt. »Nun sieh dir das an. So ein Aufstand um eine biestige Katze. Muß an der Sonne liegen. Hölle, ich wette, das Biest bringt uns nichts als Unglück.« Die Katze hatte sich in den hintersten Winkel des Achterkastells zurückgezogen. Es war ein Quergang neben der Kapitänskammer, in dem man sich wegen der Dunkelheit den Schädel einrammen konnte. Carberry strauchelte und stürzte beinahe. Er fluchte.
Hasard war immer noch an der Spitze des Trupps. Er verharrte, kniete sich hin und hielt angestrengt Ausschau. »Aha«, sagte er schließlich. »Sie sitzt in der Nische da. Verflixt, da reiche ich mit der Hand nicht ganz ran.« »Laß sie doch«, sagte Blacky. »Irgendwann huscht sie wieder heraus. Über Bord springt sie ganz bestimmt nicht.« Arwenack fletschte die Zähne und gab ein gackerndes Geräusch von sich. Prompt reckte sich der Katzenbuckel, das Fauchen ertönte. »Batuti, nimm doch mal Arwenack«, sagte Hasard. Der Gambia-Neger hob den Schimpansen auf seine Arme. Er redete ihm leise in seiner Muttersprache zu. Jemand näherte sich schlurfenden Schrittes. Matt Davies. Er trug etwas in der rechten Hand. Als er neben Batuti und Arwenack war, verhielt er, blickte sie an und grinste. »Sieh mal an. Der Vater und sein Sohn.« »Giftknilch«, grollte Batuti. »Laßt mich mal durch, ja?« »Was willst du, Matt?« fragte Carberry angriffslustig. Sie rückten auseinander, Matt konnte bis zu Hasard treten und sich ebenfalls niederkauern. Er setzte sein Mitbringsel ab. Es war eine kleine hölzerne Schale. Mit Milch darin. »Ich hab’s gewußt«, sagte Matt spöttisch. »Große Töne spucken, aber in Wirklichkeit von Tieren keine Ahnung haben. Ich bin mal kurz in die Kombüse geflitzt und hab den Kutscher gefragt, ob wir noch Milch vorrätig haben. Da mußt eben erst der alte Matt kommen, um die richtigen Mittel und Wege zu finden.« »Bist du fertig, ja?« erkundigte sich Carberry. »Ja.« »Dann halt jetzt deine vorlaute Klappe.« »Tu ich doch.« Edwin Carberry ballte die Hände. Er wollte schon wieder aus der Haut fahren, aber der Seewolf drehte sich um und legte den
Finger gegen die Lippen. Schweigen breitete sich aus. Hasard schob die Schale mit der Milch in die Nische. Es war ein denkwürdiger Vorgang. Ein ganzer Trupp rauhbeiniger, von hundert Wettern gehärteter Männer bemühte sich geradezu rührend um ein kleines Geschöpf. Arwenack blickte beleidigt drein. Er hatte eine Rivalin gefunden. Die Sache paßte ihm gar nicht. Die Katze gab das Fauchen auf, schnupperte - roch die Milch. Jetzt hielt sie nichts mehr. Sie schnürte auf die Schale zu. Hasard ließ sie die Milch auflecken, dann griff er sie und trug sie aufs Oberdeck zurück. Als er sie streichelte, wurde er plötzlich von der Seite berührt. Jemand zupfte an seinem Hemd. Hasard wandte den Kopf. »Arwenack! Himmel, was ist denn bloß los?« Der Schimpanse, immer noch in Batutis mächtigen Armen, blähte die Lippen, gestikulierte, keckerte und brabbelte unverständliches Zeug. »Verstehe«, sagte Hasard sehr ernst. »Du bist eifersüchtig. Aber dazu besteht kein Grund. Du bist nach wie vor Nummer eins an Bord der ›Isabella‹. Also los, stell dich nicht so kindisch an.« Arwenack blieb stur. Er steckte dem Kätzchen die Zunge heraus und machte ihm mit den Vorderpfoten eine lange Nase. Endlich gelang es dem Seewolf, den Knoten des Rohlederriemens zu lösen. Der Kutscher erschien und setzte dem kleinen Vierbeiner einen ganzen Napf mit Fleischresten und anderen Sachen vor. Vorerst war die Katze vollauf beschäftigt. Die Männer sahen zu, wie sie heißhungrig die Brocken in sich hineinschlang. Die Stimmung war fast als andächtig zu bezeichnen. »Langsam«, sagte Smoky sanft. »Du erstickst ja, wenn du
alles unzerkaut runterwürgst.« »Hör dir das an«, sagte Matt wie im Selbstgespräch. »Jetzt reden die Burschen schon mit dem Vieh. Wie finde ich denn das? Albern wie die alten Jungfern, sage ich ...« Old O’Flynn hob eine Krücke und tickte ihn damit an. »Sag nicht noch mal Vieh, klar?« »Nun hört doch endlich auf«, sagte Ben Brighton. Hasard drehte und wendete den Lederstreifen, beugte sich schließlich tief darüber und schien sich auf etwas zu konzentrieren. Ferris Tucker hatte zwischenzeitlich die nasse Planke untersucht, von der sie die Katze gerettet hatten. »Das Ding stammt von einem Boot«, sagte er. »Schaluppe, wie mir scheint. Kann aber auch eine Kaiki gewesen sein. Auf jeden Fall verwette ich meinen Kopf, daß das Boot nicht mehr schwimmfähig ist. Dieses Stück stammt nämlich aus dem Mittelteil und muß in Kielnähe ausgebrochen sein.« Hasard schaute überrascht auf. »He, hört mal alle her! Hier steht ein Name eingeritzt - Guiliano Salce.« »Spanier?« fragte Carberry. »Puh«, sagte Jeff Bowie. »Lernst du denn nie, die Sprachen zu unterscheiden?« »Es hört sich spanisch an!« brüllte der Profos zurück. In seinen Augen war dieses Trompeten ganz normales Reden. »Es kommt dir spanisch vor«, sagte Al Conroy grinsend. »Italiener«, erklärte der Seewolf. »Seid ruhig, verdammt noch mal. Wer ist dieser Giuliano Salce? Wir wissen es nicht. Zweifellos aber gehört ihm die Katze, und er hat hier noch etwas aufgekritzelt.« Wieder vertiefte er sich in die winzigen Aufzeichnungen. »He - das sieht mir ganz nach einer Positionsangabe aus. Und hier ...« Er sprang auf. Gebannt schauten die Männer ihn an. »Das Kreuz der Malteser!« rief der Seewolf aus. »Dieser Salce muß dem Orden angehören, und er hat das Tier mit der Botschaft ausgeschickt, weil er sich in Not befindet.«
»Ein Schiffbrüchiger«, sagte Ferris Tucker. »Hoffen wir, daß er noch kein Opfer der See geworden ist.« »Auf was warten wir?« rief Carberry. »Nichts wie hin!« Old O’Flynn sah ihn tadelnd an. »Wohin denn, du Salzhering?« Carberry rieb sich den Hinterkopf.
6. Hasard suchte unverzüglich das Ruderhaus auf. Hier war der Kompaß angebracht - für die Seewölfe nicht nur eine Zierde. Sie wußten, im Gegensatz zu vielen anderen Seefahrern, auch damit umzugehen. Hasard hatte jedem einzelnen in mühseliger Kleinarbeit beigebracht, wie präzise man mit diesem und anderen Hilfsmitteln navigieren konnte. »Unser genauer Kurs, Pete?« »West-Nordwest.« »Danke, Pete.« Hasard eilte in seine Kammer, holte die Karten und Hilfsmittel, nahm auf dem Achterdeck Aufstellung und bemaß genau die Position. Er bediente sich des Astrolabs, des Quadranten und des Jakobsstabs, stellte seine Berechnungen an und zeichnete die Position seines Schiffes auf der Karte ein. Danach suchte er die auf dem Rohlederstreifen angegebene Position und steckte sie mit einer Nadel ab. Er verband beide Punkte durch eine Linie und hatte jetzt den Kurs, den sie nehmen mußten. »Weiter abfallen, Pete! Neuer Kurs Nordwest.« »Nordwest, Sir.« »Ben«, sagte Hasard. »Der Punkt, den wir jetzt anlaufen, liegt etwa dreißig Seemeilen in nordwestlicher Richtung zwischen den Inseln Rhodos und Saros.« »Demnach ist dort die Schaluppe oder das Kaiki
untergegangen.« Ben beugte sich über die Karten. »Was mag aus Giuliano Salce geworden sein?« »Die Frage stelle ich mir im Moment gar nicht.« »Eigentlich ist es ein Wunder, daß wir auf die Katze gestoßen sind, findest du nicht auch?« »Ja. Eine nach Süden verlaufende Strömung hat das Treibholz in unsere Nähe befördert. Mit der Windrichtung hatte das nichts zu tun.« Hasard rechnete wieder. Am Ende meinte er: »Also, wenn der Wind nicht umspringt und das Wetter weiterhin so ruhig bleibt, müssen wir am frühen Abend die Zielposition erreicht haben.« »Bei unserem durchschnittlichen Etmal bestimmt«, erwiderte Ben. Ein Etmal war die Tagesleistung eines Schiffes. Shane gesellte sich zu ihnen. »Was denkt ihr, könnte es nicht auch ein Trick von Piraten sein, um Schiffe anzulocken und über sie herzufallen?« Hasard schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Natürlich kennen die Freibeuter des Mittelmeeres das Malteserkreuz und können es auch zeichnen. Aber von fachgerechter Navigation haben sie keine Ahnung. Sie fahren alle mehr oder weniger nach Instinkt und ›mit Gott‹ oder ›mit Allah‹, je nach Herkunft. Dieser Mann aber, Giuliano Salce, scheint sich auf Positionsbestimmungen bestens zu verstehen. Demzufolge muß er erstens ein intelligenter Mann sein. Zweitens wird die Wahrscheinlichkeit groß, daß er ein echter Malteserritter ist, denn der Orden beschäftigt sich eingehend mit Navigation und Nautik.« Shane griff sich mit der Hand in sein graues Bartgestrüpp. »Hm. Mit anderen Worten, du bist deiner Sache ganz sicher.« »Ja.« »Ich hab da so ein blödes Gefühl, Hasard ...« »Eine Ahnung, es könnte mehr dahinterstecken als ein Unglück? Die habe ich auch, Shane. Aber es hat keinen Zweck, darüber nachzusinnen. Warten wir ab, bis wir vor die
Tatsachen gestellt werden.« Hasard drehte sich abrupt um, weil er Geräusche in seinem Rücken vernommen hatte. Die Katze! Einem Blitz gleich sauste sie quer über das Achterdeck, erreichte den Backbordniedergang, jagte ihn hinunter. Im nächsten Moment tauchte auch die Ursache für die Flucht auf: Arwenack. Keckernd, mit gebleckten Zähnen, raste er dem Tierchen nach. Hasard und die anderen auf dem Achterdeck hörten es nur noch auf den Stufen poltern, dann war der Spuk verschwunden. Sie lachten. »Arwenack vergeht vor Eifersucht«, sagte Hasard. »Ist denn das zu fassen?« »Hoffentlich erwischt er die Katze nicht und zerrupft sie«, meinte Ben. »Bestimmt nicht«, erwiderte der Seewolf. Minuten darauf erhielten sie die Bestätigung dafür, daß er recht hatte. Arwenack kam wieder, humpelte zu Hasard und klammerte sich jammernd an seinen Beinen fest. Mitleidheischend rieb er sich die Nase, stöhnte, verdrehte die Augen. Er hatte einen blutigen Kratzer aus der Schlacht davongetragen. * Im ausklingenden Dämmerlicht gelangten sie an die Position, die Hasard auf der Karte abgesteckt hatte. Sie entpuppte sich als ein winziges, knapp zwei Quadratmeilen messendes Eiland ohne Vegetation. Bemerkenswert war die Reaktion der schwarzweißen Katze. Sie lief zu Hasard, strich ihm schnurrend um die Beine und begann zu miauen. Er hob sie auf und streichelte sie, während er aufmerksam zu der kahlen Insel blickte.
Arwenack hatte sich in den Vormars zurückgezogen und ließ sich nicht mehr blicken. Er war beleidigt. Sogar mit seinem Liebling Dan O’Flynn schmollte er. Auf dem kleinen Fleckchen Erde war nichts zu erkennen. Hasard überlegte. Die Position befand sich ungefähr in der Mitte der Passage zwischen Rhodos, Karpathos und Saros. Sollte er sich am Ende verrechnet haben? Die Katze wurde immer aufgeregter. Sie maunzte jämmerlich, hob eine Pfote und kratzte verlangend an Hasards Brust. Wollte sie ihn auf etwas hinweisen? Er war überrascht. Eigentlich hatte er Katzen nicht für so hochempfindsame Tiere gehalten. »Beidrehen«, sagte er entschlossen. »Wir gehen hier vor Anker.« Minuten später lag die ›Isabella‹ eine Kabellänge vom Ufer der Insel entfernt vor Buganker im Wind und hatte das Eiland somit an Backbord. Hasard ließ ein Beiboot abfieren und bemannte es mit Carberry, Batuti, Smoky, Gary, Shane und Stenmark. Er selbst enterte ebenfalls ab und nahm auf der Heckducht Platz, um die Ruderpinne zu bedienen. Die Katze hatte er mitgenommen. Er hatte sie sich einfach ins Hemd gesteckt. Sie spürte seine Körperwärme und fühlte sich geborgen. Ben übernahm das Kommando über die Galeone, während der Seewolf abwesend war. Vorsichtshalber wurden die Culverinen und Drehbassen gefechtsklar gestellt - und auch die Bootsbesatzung war mit Pistolen, Musketen und Arkebusen bewaffnet. Das Beiboot glitt auf die Insel zu. Es wurde dunkler, die Konturen nahmen sich schemenhaft aus. »Pullen«, sagte Carberry. »Keine Müdigkeit vorschützen.« »Wenn er nicht bellt, ist er nicht gesund«, raunte Gary. »Was faselst du?« Die Stimme des Profos wurde grollend. »Nichts, Sir.« »Dein Glück.«
»Ruhe«, sagte Hasard. »Wollt ihr wohl eure verdammten Mäuler halten?« Der Rest der Anfahrt verlief stumm. Kaum hatten sie die seichten Brandungswellen passiert und flaches Uferwasser erreicht, verließ der Seewolf die Heckducht und rutschte in die Fluten. Die Katze bekam es jetzt doch mit der Angst zu tun. Er hielt sie unter seinem Hemd fest, ging an Land und schaute sich um. In seinem Rücken landete das Boot. Die Männer stiegen aus und zogen es auf den düsteren Strand. Die Insel erhob sich wie ein häßlicher Buckel vor ihnen. Die Aura des Unheimlichen umgab sie - eine Ausstrahlung, die auf die Manner übergriff. »Mist«, flüsterte der Profos. »Das gefällt mir nicht.« Hasard antwortete nicht. Er schritt voran. Die Katze schlüpfte jäh unter seiner Hand weg, krabbelte aus dem Herndausschnitt, ließ sich auf den Boden fallen - und verschwand im Dunkel. Ei folgte ihr. Nur schwach war zu erkennen, wo sie sich vor ihm bewegte. Er lief, um sie nicht ganz aus den Augen zu verlieren. Die Bootscrew schloß so dicht wie möglich auf. Hasard erreichte den Hang, hastete hinauf und sah die Katze über die Kuppe laufen. Dann, einen Augenblick später, verharrte er auf der Kuppe und schaute erschüttert auf den jenseitigen Hang. Etwas kroch aus einer Vertiefung, einer Art Erdloch, hervor. Ein Mensch! Die Katze maunzte, sprang auf ihn zu und begrüßte ihn auf ihre Art. Der Fremde konnte sich nicht einmal auf allen vieren halten. Er brach auf dem Bauch zusammen. Seiner Kehle entrang sich ein schwaches Stöhnen. Die Katze leckte sein Gesicht, krabbelte auf ihm herum. Es war eine ergreifende, tragische Szene. »Mein Gott«, sagte Hasard. »Von dem armen Teufel droht
wirklich keine Gefahr.« Er legte die letzten Schritte zurück und bückte sich nach dem Bedauernswerten. Carberry stand indes auf der Kuppe, an der Spitze des kleinen Trupps. »Moment«, sagte er. »Haltet die Waffen bereit. Es könnte doch eine Falle sein!« Kurze Zeit darauf ließ auch er seine letzten Zweifel fallen. Sie hoben den Mann aus dem Erdloch auf und trugen ihn zum Beiboot. Er war vor Schwäche ohnmächtig geworden. Im Grunde stellte er das menschliche Abbild der Katze dar - bis auf die Knochen abgemagert. »Verdammt«, sagte Smoky. »Bei dem kann man ja jede Rippe zählen.« »Er ist mehr tot als lebendig«, fügte Gary Andrews hinzu. Und Carberry meinte: »Es ist ein Wunder, daß er überhaupt noch atmet. Wer weiß, wie lange er hier schon schmachtet.« Im Boot plazierte Hasard den Bewußtlosen vor sich zwischen zwei Duchten. Die Katze kauerte sich neben den Mann. Rasch schoben die Seewölfe das Boot in die Brandung zurück, enterten übers Dollbord auf ihre Plätze und pullten zur ›Isabella‹ zurück. Das kahle Eiland, trostlos und menschenabweisend, blieb hinter ihnen zurück. Um den Besinnungslosen so behutsam wie möglich an Bord der Galeone zu befördern, ließ Ben Brighton eine einfache, von Ferris Tucker hergestellte Trage abfieren. Hasard und seine sechs Begleiter schnürten den Fremden darauf fest, ohne daß die Tampen in seine schlaffe Haut schnitten. Hasard nahm die Katze wieder an sich, dann erteilte er das Zeichen, den Mann hochzuhieven. Später, als auch das Beiboot und seine Besatzung wieder an Bord der ›Isabella‹ waren, kauerten sich alle um den halb Verhungerten. Der Kutscher flößte ihm Milch und Fleischbrühe ein. Es war
kein einfaches Unterfangen, denn erstens war der Mann ohne Bewußtsein, und zweitens schien er die Nahrungsaufnahme verlernt zu haben. Andererseits durfte er nicht länger ohne Essen und Trinken bleiben. »Da reichen ein paar Stunden«, sagte der Kutscher, »und er ist endgültig dahin.« Die ersten Löffel Flüssigkeit spuckte der Mann wieder aus. Er hustete, verschluckte sich - kam zu sich. Hasard half ihm auf, stützte seinen Oberkörper, daß er sitzen konnte, und jetzt fruchteten die Bemühungen des Kutschers endlich etwas. Gierig schlürfte der arme Teufel Milch und Brühe in sich hinein. Er benahm sich dabei so hastig, daß er sich wieder zu verschlucken drohte. »Halt«, sagte Hasard. »Legen wir eine Pause ein, sonst richten wir Schaden an, statt ihm was Gutes zu tun.« Der Kutscher nickte. Man mußte einen total ausgelaugten, dem Hunger und Dursttod nahen Menschen erst wieder an Nahrung gewöhnen, bevor man ihn richtig füttern konnte. Flehend streckte der Ausgemergelte die Hände nach den Näpfen aus. »Gleich«, sagte Hasard beschwichtigend. »Atme erst mal richtig durch.« Der Mann wandte den Kopf und sah ihn aus glasigen, in tiefen Höhlen liegenden Augen an. »Che cosa dici was sagst du?« fragte er heiser. »Englisch versteht er nicht«, sagte Ben Brighton. »Italienisch kann keiner von uns, von ein paar Brocken abgesehen.« »Versuchen wir es mit Spanisch« sagte Hasard. Diese Sprache beherrschten sowohl er als auch Ben fließend. Und der Rest der Crew hatte auch wochenlang Vokabeln gepaukt, um sich verständigen und gegebenenfalls mal in die Rolle der »Dons« schlüpfen zu können. »Wer bist du?« fragte Hasard den Mann, »Giuliano Salce?«
»Ja. O Jesus - meine Micia.« Er antwortete auf spanisch. Er streichelte die Katze mit zittriger Hand. Erst jetzt hatte er sie neben seinen Beinen entdeckt. »Micia? Heißt sie so?« Hasards Blick forschte in dem totenkopfgleichen Gesicht des Mannes. Welche Entbehrungen, welche Qual hatte dieser Italiener wohl durchgemacht? Salce nickte. »Ja. Ich - ich habe sie auf einer Planke ausgesetzt. Meine letzte Hoffnung, ich - das Herz brach mir, so etwas zu tun - aber es war meine letzte Chance ...« »Begreiflich«, sagte Hasard leise. »Es hat dir ja auch etwas genutzt. Wir haben deine Micia aus der See gefischt, dann habe ich die Botschaft auf ihrem ledernen Halsband entziffert. Verstehst du mich?« »Ich bin des Spanischen mächtig wie meiner Muttersprache.« »Gut.« »Darf ich wieder etwas trinken?« Hasard gab ihm Brühe und Milch zu schlürfen, danach brach der Kutscher Schiffszwieback, und Salce verleibte sich auch diesen ein. Er hätte wohl Stunden so weitergemacht, wenn die Seewölfe ihn nicht erneut zu einer Unterbrechung gezwungen hätten. »Du bringst dich selbst um, wenn du so schlingst«, sagte Carberry. »Ja. Ich werde vernünftig sein«, erwiderte der Italiener. »Wie bist du auf die Insel gelangt?« fragte Hasard. »Hast du Schiffbruch erlitten?« »Ja. O Gott, wenn ich euch all das erzähle ...« Seine Stimme geriet ins Stocken, er brach ab. »Was ist?« sagte der Profos. Hasard blickte zu ihm. »Die Erinnerung. Der Schock. Es ist nicht einfach, das Erlebte zu überwinden. Versuche, es zu verstehen.« »Ja. Natürlich.« Drängen half nichts, sie konnten nur abwarten.
Die Schleier der Nacht färbten sich tintenschwarz. Wolken hatten sich über der ›Isabella‹ zusammengeschoben, kein Mondlicht fiel auf die See. Der Wind, immer noch aus südlicher Richtung einfallend, nahm zu. Giuliano Salce aß, als könne ihm dies über die Vergangenheit hinweghelfen. Geduldig harrten die Seewölfe an seiner Seite aus. Sie befanden sich allesamt auf der Kuhl, wo sie den mageren Mann hingebettet hatten - auch Dan O’Flynn, denn Gary Andrews hatte ihn im Hauptmars abgelöst. Arwenack belegte nach wie vor den Platz im Vormars - schmollend. »Eins habe ich nicht bedacht«, sagte Giuliano Salce schließlich. »Micia hätte auch meinen Todfeinden in die Hände fallen können. Allmächtiger, wenn das geschehen wäre ...« »Denk nicht daran«, erwiderte Hasard. »Es ist ja nicht eingetreten. Warum willst du dich über Dinge aufregen, die dir jetzt nicht mehr widerfahren können?« »Wer seid ihr?« Angst flackerte wieder in den Augen des Italieners auf. »Engländer.« »Aber keine Handelsfahrer.« »Warum erschrickst du darüber?« »Ihr seidPiraten?« Hasard schüttelte den Kopf. »Korsaren Ihrer Majestät, der Königin Elisabeth von England.« »Ist das nicht das gleiche?« »Da besteht ein gewaltiger Unterschied.« »Ich begreife nicht ...« »Wir sind keine Halunken, die aus purem Eigennutz friedliche Kauffahrer kapern und plündern«, erklärte Hasard. »Damit solltest du dich vorerst zufriedengeben. Später, wenn es dir wieder besser geht, setze ich dir noch genau auseinander, wie wir uns verstehen und wie unser Auftrag lautet. Bei uns bist du jedenfalls in Sicherheit. Hätten wir dir wohl geholfen, wenn wir darauf aus wären, dir die Kehle durchzuschneiden?«
Salce zuckte zusammen. Hasard fragte sich in diesem Moment, ob er nicht zu brutal vorgegangen war. Immerhin stand der Italiener unter Schock, und die Holzhammermethode konnte sich als grundlegend falsch erweisen. Aber nein - Salce fing sich und stammelte: »Natürlich, das sehe ich ein. Verzeiht mir. Ich habe Schreckliches erlebt.« »Du bist Malteserritter?« fragte Hasard. »Ja.« »Wer verfolgt dich? Du hast von Feinden gesprochen.« »Der Teufel höchstpersönlich ist mir auf den Fersen«, sagte Giuliano Salce. Seine Augen weiteten sich wieder.
7. Das Rauschen des Windes nahm zu und wurde zu einem Heulen. Die ›Isabella VIII.‹ schwojte an ihrer Ankertrosse. Immer heftiger bewegte sie sich auf den höher und höher steigenden Wellen. Als Giuliano Salce seine Schilderung begann, lief manchem der Seewölfe unwillkürlich ein eisiger Schauer über den Rücken. Es war keine Schwäche - es war der Beweis für die Intensität, mit der sie den Bericht des armen Teufels verinnerlichten und nachempfanden, wie man ihn mißhandelt hatte. »Ich stieß vor einem Jahr zum Orden der Malteserritter«, begann Salce. »Gebürtig bin ich aus Livorno. Zwischen meiner Heimatstadt und Valletta auf Malta besteht ein reger Schiffsverkehr, und eines Tages machte ich meinen alten Traum wahr, einmal die Insel zu besuchen und den Palast des Ordens der Kavaliere zu besichtigen. Ich wurde durch dieses Erlebnis so überwältigt, daß ich um Aufnahme in den Orden
bat. Man gab meinem Anliegen statt, und ich diente zunächst als Praktiker, um nach drei Monaten dann zum Adepten und schließlich, nach fünf Monaten, zum Ritter ernannt zu werden.« Er stopfte sich wieder Schiffszwieback und Schinken in den Mund, spülte mit Dünnbier nach. Der Kutscher bediente ihn. Salces Hunger schien unendlich zu sein. Aber die Crew knapste das, was er so gierig vertilgte, gern von ihren Rationen ab. Jeder von ihnen wußte, was Hunger und Durst bedeuteten. Salce fuhr fort, unterbrach sich im Verlauf der Geschichte aber immer wieder, um zu essen und zu trinken. »Ich will mich kurz fassen«, sagte er. »Vor etwa einem Monat unternahmen ein paar andere Ritter und ich zusammen mit einigen Muschelfischern einen Ausflug zum Süden der Insel. Wir suchten zunächst das Uferwasser nach kleineren Muscheln ab, später fuhren wir mit zwei Booten die Steilküste ab, um nach Austern und Miesmuscheln zu forschen. Wir waren so sehr in unsere Tätigkeit vertieft, daß wir den Zweimaster erst bemerkten, als es zu spät war.« »Ein Zweimaster?« wiederholte Hasard. »Mit Lateinersegeln?« »Ja. Ein schlankes, sehr schnelles und manövrierfähiges Schiff. Kennst du es?« »Wir haben einen Zusammenstoß mit solchen Schiffen gehabt, aber sie waren bestimmt nicht mit jenem identisch.« Giuliano Salce musterte ihn in einer Mischung aus Furcht und Neugierde. »Entschuldige, wenn ich weiterbohre, Kapitän ...« »Philip Hasard Killigrew. Meine Männer nennen mich Hasard.« »Woher stammten die Schiffe, die du erwähnt hast?« »Aus Beirut in Syrien. Sie werden nie wieder dorthin zurückkehren. Wir haben sie mitsamt ihren Besatzungen, den Piraten, auf den Grund der See befördert.« »Geschieht ihnen recht!« Salce ballte die Hände, daß das
Weiße an den Knöcheln hervortrat. »Ich habe ein Gelübde gegenüber dem heiligen Johannes von Jerusalem, unserem Schutzpatron, abgelegt, aber das hindert mich nicht daran zu sagen: Der Teufel soll alle Piraten des Mittelmeeres holen.« »Es waren also Piraten, die euch auf Malta überraschten?« wollte Hasard wissen. »Ja. Sie griffen uns an. Wir setzten uns zur Wehr, so gut es ging, aber sie waren uns haushoch überlegen. Einen meiner Kameraden töteten sie. Den Rest unserer Gruppe, zwölf Männer, nahmen sie gefangen. Sie entführten uns an Bord ihres Seglers, legten uns in Ketten, sperrten uns in finstere, stinkende Schiffsräume und ließen uns ohne Essen und Trinken.« »Wohin wandten sie sich?« »Wir waren mehrere Tage unterwegs. Dann ankerten wir in der halbkreisförmigen Bucht einer felsigen Insel. Wir wurden an Land gebracht, und bald standen wir ihren Anführern gegenüber - dem gefürchteten Sizilianer Lorusso und den noch gefährlicheren Brüdern Aradschy. Besonders von Lorussos Schandtaten hatte ich schon in Italien vernommen. Ich brauche euch wohl nicht zu erzählen, welche Genugtuung er empfand, sogar einen Landsmann auf seine Insel verschleppt zu haben.« Hasards Miene war starr geworden, »Diese Hunde sind alle gleich. Ich kann mir also vorstellen, wie er sich an eurer Qual weidete. Und? Was hatten die Schufte mit euch vor?« »Das fragten wir uns auch. Reichtümer trugen wir nicht bei uns. Ich erkundigte mich offen bei Lorusso, was der Zweck des Unternehmens sei, aber ich erntete dafür Schläge.« Salce holte tief Luft. Die Erinnerung an das Erlittene setzte ihm wieder zu. »Nun, wir wurden in Gefängnishöhlen geschafft, erhielten jetzt aber wenigstens Nahrung.« »Sie bewirteten euch bestimmt nicht aus Menschlichkeit«, sagte der Profos. »Das kann ich mir einfach nicht vorstellen.« Salce lachte bitter auf. »O Himmel - es war nur der Auftakt zu noch größeren Grausamkeiten. Am nächsten Tag wurden
wir zur Inselmitte geführt. Unsere Ketten durften wir nicht ablegen. Wir empfingen Werkzeuge und begannen unter der Sonne zu schuften. Wir mußten einen Stollen graben, ihn abstützen und immer tiefer in die Lavaerde der Insel vordringen. Tagelang ging das ohne Unterbrechung. Wir schwitzten, schmachteten, waren schmutzig und voller Ungeziefer - wie die Tiere. Was die Piraten bezweckten? Nun, Lorusso bildet sich ein, auf der Insel Silber finden zu können. Er ist von dieser Idee geradezu besessen.« »Und?« hakte Hasard ein. »Seid ihr auf Silber gestoßen?« »Nein. Doch wir mußten weiterarbeiten.« »Sie zogen Lorusso mit der Geschichte auf. Aber er blieb unbeirrt. Wir Gefangenen lagerten in erbärmlichen Hütten neben dem Mineneingang, manchmal mußten wir auch im Stollen schlafen. Zu essen und zu trinken erhielten wir gerade so viel, daß wir nicht zusammenbrachen und noch graben konnten.« »Diese Schweine«, sagte Ferris Tucker. »Man sollte sie selbst zu lebenslanger Zwangsarbeit verdonnern.« »Von Zeit zu Zeit erschienen die drei Anführer, um nach dem Fortgang der Dinge zu schauen«, fuhr Giuliano Salce fort. »Dann begann Lorusso regelmäßig zu toben, zu treten und zu brüllen, wir wären der letzte Dreck und würden uns nicht genügend anstrengen. Die Aradschys hingegen wiesen ihn darauf hin, daß sie eine ›bessere Verwendung‹ für uns hätten.« Hasard hob den Kopf. »Welche denn?« »Das erfuhren wir nicht.« »Blieb Lorusso von seiner fixen Idee besessen?« forschte Hasard. »Ja. Er hatte uns nur von Malta entführen lassen, um Arbeiter für seine Mine zu haben.« »Ließ sich nicht herausfinden, wo diese verdammte Insel liegt?« Salce aß wieder, dann nickte er eifrig. »O doch. Wir
belauschten ein Gespräch der Piraten, in dem sie sich darüber unterhielten. Wir befanden uns auf Santorin. Sie gehört zu den griechischen Kykladen. Unsere Bezwinger waren Italiener, Griechen, Türken, Syrer - ein wilder, bunt durcheinander gewürfelter Haufen.« »Wann gelang dir die Flucht?« Der magere Mann blickte den Seewolf erstaunt an. »Woher weißt du das?« »Ich kann es mir denken.« »Das war vor einer Woche. Ich hatte mir eine Karte und ein einfaches Gerät zum Beobachten des Himmels besorgen können. Wir berieten kurz untereinander, dann stand unser Plan fest: Nur einer konnte den Teufeln entweichen. Einer der Muschelfischer, Fausto, hatte eins der Werkzeuge entwenden können, obwohl die Piraten Abend für Abend unsere Hilfsmittel wieder einsammelten. Damit öffneten die Freunde mir die Ketten. Ich floh. Am Ostufer der Insel erbeutete ich ein Kaiki.« »Du fuhrst in die Nacht hinaus«, folgerte der Seewolf. »Du solltest versuchen, Hilfe zu holen und auch deine Kameraden zu befreien.« »So ist es«, erwiderte der Malteserritter. »Unmittelbar nach meinem Ablegen bemerkte ich eine Bewegung in dem Boot. Ihr glaubt gar nicht, wie ich erschrak. Als ich dann die schwarzweiße Katze erkannte, atmete ich natürlich auf. Wir freundeten uns an. Ich taufte sie Micia. Eins der Piratenschiffe hatte sie irgendwann mit auf die Insel gebracht. Seither streifte sie dort über Land und ernährte sich von dem, was ihr die Kerle hinwarfen und was sie durch Jagd erbeutete. Wir hatten sie manchmal an der Mine vorüberlaufen sehen.« »Bemerkten Lorussos und Aradschys Leute deine Flucht nicht?« wollte Carberry wissen. »Pennten denn da sämtliche Posten?« »Ich war etwa eine Viertelmeile von Santorin entfernt, da
hörte ich Gebrüll«, antwortete Giuliano. »Ich hatte das Segel gesetzt, gelangte gut voran, pullte aber noch zusätzlich, um den Abstand mehr und mehr zu vergrößern.« »Natürlich hetzten die Piraten dir mit ihren Schiffen nach«, sagte Hasard. »Aber in der Dunkelheit fanden sie dich nicht. Unmöglich. Du bekamst einen guten Vorsprung.« »Ja. Am Morgen stellte ich fest, daß ich mich auf offener See befand und daß weit und breit kein Land zu sehen war. Ich hatte keinen Proviant. Micia wollte den Kaiki verlassen, erschrak vor dem Seewasser, das uns umgab, und begann jämmerlich zu klagen. Ich setzte alle Hoffnung auf die richtige Orientierung. Meine spärlichen Mittel waren mir dabei von großem Nutzen. Schon in Livorno hatte ich die Schule für Seefahrer besucht, und bei den Malteserrittern hatte ich meine Kenntnisse vertieft. Kurz: Ich wußte, wie ich nach Rhodos gelangen konnte. Dort hoffte ich, Hilfe zu finden.« Er lehnte sich in einem Schwächeanfall zurück. Hasard fing ihn auf. Der Kutscher reichte Salce einen Muck mit zwei Fingerbreit Rum. Dankbar netzte der ausgemergelte Mann seine Lippen. »Der Sturm ereilte mich am Abend«, berichtete er weiter. »Ich konnte nur noch Micia an mich klammern und zum Herrgott beten. Unter den furchtbaren Brechern kenterte das Kaiki, wurde gegen Riffs geworfen, die sich nördlich des winzigen Eilandes befinden. Ich muß dem heiligen Johannes danken, daß wir nicht ertranken. Wir wurden von den Wogen auf den Strand des öden Inselchens gespült. Dort blieben wir liegen.« »Das Kaiki wurde zerschmettert, die Trümmer in allen Richtungen der See verstreut, nehme ich an«, sagte Hasard. »So ist es. Nur ein paar Plankenreste wurden angetrieben. Nach dem vierten Tag auf dieser entsetzlichen Insel setzte ich Micia auf einem Stück Holz aus. Ich hatte die Position berechnen können und kritzelte alle Angaben mit letzter Kraft
auf den kleinen Rohlederstreifen, den ich dem Tier um den Hals knotete. Mein Gebet begleitete die Katze, als sie von der Strömung erfaßt und davongetragen wurde, und, ich gebe es ehrlich zu, ich weinte.« Carberry schniefte und wischte sich die Nase mit dem Handrücken. »Verfluchte Sauerei. Wegschwimmen konntest du nicht - wegen der Haie. Dabei hattest du Rhodos die ganze Zeit praktisch vor der Nase. Ein verfluchter Zustand! Ein Floß konntest du auch nicht bauen. Es gibt ja nicht mal einen Baum oder wenigstens einen Strauch auf der Scheißinsel.« Giuliano Salce nickte. »Ich hoffte auf eine glückliche Fügung des Schicksals. Am sechsten Tag begann ich, auf den Tod zu warten, denn ich hatte jede Zuversicht aufgegeben.« Der Seewolf erhob sich. Breitbeinig stand er auf den Planken und glich die Schiffsbewegungen mit den Beinen aus. »Männer, wir nehmen Kurs auf Santorin. Wir befreien die übrigen elf Geiseln der Piraten und bringen Lorusso und den Aradschy-Brüdern das Fürchten bei. Setzt Vollzeug! Lichtet den Anker! Wir gehen vor den Wind und segeln die ganze Nacht hindurch! Giuliano wird uns führen!« * Während die ›Isabella‹ sich in einem imposanten Manöver vor den stürmischen Wind drehte, sah Giuliano Salce den Seewolf fast unverwandt an. Hasard stand wie festgenagelt auf dem tanzenden Deck, gab seine Befehle, prüfte die Segelstellung, ließ keine Kleinigkeit außer acht. »Das willst du für uns tun?« sagte der Malteserritter schließlich ehrfürchtig. »Du willst wirklich gegen diese Teufel antreten? Weißt du, was du dabei riskierst?« »O ja«, sagte Hasard grimmig. »Aber das schreckt mich nicht ab. Du sollst wissen, was ein Korsar Ihrer Majestät wert ist, was er zu leisten imstande ist -
wofür er kämpft.« »Aber das kann doch nicht der einzige Grund für deinen Einsatz sein«, rief der Italiener entsetzt aus. »Nein.« Hasard sah ihn an. »Hilfst du mir jetzt, den Kurs zu bestimmen?« »Ja doch, ja.« In der nun folgenden Stunde lief die ›Isabella‹ zunächst nach Nord-Nordwest ab und ließ das winzige Eiland weit hinter sich. Als Salce einen entsprechenden Hinweis gab, ließ Hasard anluven. Sie passierten Saros im Norden und segelten fortan bei südlichen Winden über Steuerbordbug direkt auf die südlichen Kykladen zu. Das Wetter blieb stürmisch, aber die Galeone ritt es meisterhaft ab, zumal kein richtiger Orkan daraus wurde. Tintenschwarze Wolken ballten sich am Himmel, man konnte kaum die Hand vor Augen sehen, und die Luft war drückend. Die Seewölfe warteten darauf, daß die See in einem tosenden Pandämonium explodierte. Es trat jedoch nicht ein. Dieses Harren auf den richtigen, großen Sturm war fast schlimmer als das Durchstehen eines echten Orkans. Danach folgte wenigstens die übliche Ruhe. Hier aber befand sich die Crew in einem andauernden Zustand der Ungewißheit. Hasard schaute auch immer wieder mißtrauisch um sich. Gegen Mitternacht begab er sich in seine Kammer, um noch einmal den Kurs auf der Karte zu überprüfen. Dabei schritt er an der Kammer vorbei, in der er den Malteserritter untergebracht hatte. Nach dem Passieren von Saros hatte der erschöpfte Mann die Koje aufgesucht. Jetzt trat er plötzlich aus dem Raum und gesellte sich zu dem Seewolf in die Kapitänskammer. Er mußte sich setzen, so schwach war er noch. »Das ist dumm von dir«, sagte Hasard. »Du solltest lieber in die Koje zurückkehren.« »Ich kann nicht schlafen.«
»Hast du Hunger? Durst? Nur keine falsche Bescheidenheit.« Der Italiener mußte lachen. »Nein, das ist es nicht. Es liegt auch nicht an dem Wetter. Nach dem, was mir im Kaiki widerfahren ist, lasse ich mich so leicht nicht mehr beeindrucken.« »Also, was ist es dann?« Salce musterte ihn aufmerksam. Sein Blick hatte etwas von dem Gehetzten, von der maßlosen Panik verloren, die vorher daringelegen hatte. »Philip Hasard Killigrew«, sagte er. »Dieser Name ist mir nicht neu. Ich glaube, ich habe ihn daheim in Livorno schon mal vernommen. Bist du nicht der Mann, der mit Drake in die Neue Welt gefahren ist und dann den Spaniern ihren Gold und Silberreichtum empfindlich geschmälert hat?« Hasard grinste. »Die Philipps sind nicht gut auf mich zu sprechen. Aber jetzt habe ich mal eine Frage an dich.« Er wurde sofort wieder ernst. »Der Name Godefroy von Manteuffel - sagt er dir etwas ?« »Augenblick.« Giuliano Salce sann nach. »Doch«, erwiderte er dann. »Dieser Name wird in den Chroniken im Palast des Großmeisters unseres Ordens geführt. Von Manteuffel ist ein Malteserritter, der dem berüchtigten algerischen Piraten Uluch Ali in die Hände fiel. Was aus ihm geworden ist, wird nur vermutet. Er soll als Galeerensklave sogar bei Lepanto dabeigewesen sein, wurde in Valletta erzählt.« »Das ist wahr«, erwiderte der Seewolf. Er berichtete, was sein Vater 1571 in der Schlacht bei Lepanto getan hatte, um sich gegen das Joch der Muselmanen aufzulehnen und der Heiligen Allianz zu helfen, dem Osmanischen Reich einen nachhaltigen Schlag zu versetzen. Er hatte damals seinen Riemen zerbrochen und gemeutert. Hasard erzählte alles, was er wußte und schließlich in Algerien erlebt hatte. Der Italiener war erschüttert.
»Komm«, sagte Hasard. »Ich zeige dir etwas.« Er führte Salce in die Frachträume der ›Isabella‹ hinunter und wies im flackernden Licht einer Öllampe auf die Reichtümer, die sie hier gehortet hatten. Giuliano, der Mann aus der Toskana, geriet plötzlich wieder ins Wanken und mußte sich festhalten. Das lag diesmal aber weder an seiner Schwäche noch an den rollenden und stampfenden Bewegungen des Schiffes. »Allmächtiger!« stieß er hervor. »Ich will verdammt sein, wenn ich diesen Schatz nicht kenne. Diese Truhen, die Art der Beschläge, die einzelnen Stücke - das ist ja der Schatz des Malteserordens!« Hasard blieb gelassen. »Woher willst du das wissen?« »Es gibt Beschreibungen. Ich selbst habe ihn nie gesehen, denn er wurde vor meinem Eintritt von den Rittern irgendwo im Mittelmeergebiet versteckt.« »In Syrien«, erwiderte Hasard. »Ich konnte ihn an mich reißen, bevor Unbefugte ihre gierigen Klauen danach ausstreckten und darauflegten. Jetzt bringe ich ihn nach Malta.« Der Toskaner ließ sich auf eine der Truhen sinken. »Unglaublich. Du hättest dies alles für dich behalten können.« Er machte eine ausschweifende Handbewegung. »Der Orden hätte niemals davon erfahren.« »Mag sein. Aber er steht seinem rechtmäßigen Besitzer zu.« »Hasard«, sagte Giuliano ergriffen. »Einer so edlen und uneigennützigen Haltung ist nur ein Malteserritter fähig.« »Was willst du damit sagen?« »Von deiner Gesinnung her verdientest du es, in unseren Orden aufgenommen zu werden.« Hasard hob die Hand. »Sprich nicht weiter. Ich schätze es sehr, daß du eine so gute Meinung über mich gewonnen hast. Aber ich weiß nicht, ob der Großmeister der Malteserritter auch so überzeugt sein wird.«
»Aber sicher doch!« Giuliano wurde aufgeregt und gestikulierte mit seinen dürren, spinnenartigen Händen. »Falls wir den Kampf gegen die Piraten gewinnen, falls wir jemals von Santorin nach Malta gelangen, werde ich dem Großmeister erzählen, wie du mir das Leben gerettet hast und meinen Freunden zu Hilfe geeilt bist und wie dankbar wir dir zu sein haben. Und das hier?« Er wies wieder auf den Schatz. »Spricht nicht allein dies für sich?« »Ja, schon«, erwiderte Hasard. »Aber ich beweihräuchere mich nicht gern selbst. Ich bin mehr für Bescheidenheit.« »Du brauchst dein Licht weiß Gott nicht unter den Scheffel Zu stellen«, protestierte der Toskaner. »Nein, das tue ich auch nicht. Versuche aber, mich zu verstehen, Giuliano. Die Zeit ist nicht reif für gewisse Dinge. Ein Bündnis mit deinem Orden würde mich zu Auflagen verpflichten, die zu erfüllen ich jetzt nicht imstande bin. Ich muß frei bleiben, frei in jeder Beziehung. Ich will den Schatz nur in Malta abliefern, danach werde ich sofort das Mittelmeer verlassen.« »Schade«, sagte Salce. Er sah enttäuscht aus. Hasard klopfte ihm auf die Schulter. »Komm jetzt. Ich habe dir gesagt, was es über mich und meine Crew mitzuteilen gibt. Jetzt bist du an der Reihe. Ich brauche eine genaue Beschreibung der Insel Santorin und des Piratennestes. In allen Details.« »Gut. Gehen wir. Ich fertige dir eine Zeichnung an«, sagte Giuliano Salce. Sie kehrten nach oben in die Kapitänskammer zurück. Hasard ertappte sich bei dem Gedanken an die ferne Karibik und an Siri-Tong, die Rote Korsarin. Ärgerlich verwischte er die Bilder, die vor seinem geistigen Auge erschienen. Fühlte er sich denn wirklich in die Neue Welt gezogen? Lag nicht hier in Europa seine wahre Heimat? Andererseits - alles, was ihn hier gehalten und ihm etwas
bedeutet hatte, existierte nicht mehr. Seine Familie war vernichtet. Wer blieb? England hatte ihm einen miserablen Empfang bereitet, als er endlich seine immense Schatzbeute in London abgeliefert hatte. Eben: Er und seine Crew, sie hatten sich drüben in der Karibik wohler und fast sicherer gefühlt. Dort herrschten andere Gesetzmäßigkeiten. Die Alte Welt wollte Philip Hasard Killigrew, den verdammten Bastard, nicht. Selbstmitleid? Oh, er war weit davon entfernt. Nur Fernweh verspürte er - und wollte es doch nicht wahrhaben.
8. Die Kykladen, die faszinierendste Inselgruppe der Ägäis, empfingen die ›Isabella‹ mit freundlichem Sonnenlicht. Verflogen waren die düsteren Wolkentürme - sie hatten sich unter während der Nacht jäh wechselnden Winden weit hinter die südliche Kimm zurückgezogen. So unberechenbar war die Wetterlage im Mittelmeer, und trügerisch waren die Ruhe und der Frieden, die auf die bewegte Nacht folgten. Hasard stand am Ruderrad der ›Isabella‹. Es kostete ihn viel Kraft und Überwindung, sein Schiff auf den Bestimmungsort zuzusteuern, denn ihm war hundeelend zumute. Alle paar Augenblicke krempelte sich ihm fast der Magen um, und er hatte das dringende Verlangen, zum Schanzkleid zu stürzen und der See zu opfern. Aber es gelang ihm nicht. Er schaffte es einfach nicht, sich zu übergeben. Die ›Isabella‹ war zu einem Geisterschiff geworden. Außer dem Seewolf befand sich niemand mehr an Deck - nicht einmal Arwenack oder Micia. Leergefegt war das Oberdeck. Das Knarren von Blöcken und Rahen, das Rauschen des Wassers an den Bordwänden und das Pfeifen des Windes in den Luvwanten und Pardunen nahmen sich überlaut aus.
Vor Hasard lagen die Inseln. Santorin - einstmals hatte sie die »Runde« geheißen, wie Hasard von Giuliano Salce erfahren hatte. Der Toskaner war ein gescheiter, belesener Mann. Er kannte sich im ganzen Mittelmeer aus und wußte viel über die Kykladen zu berichten. Santorin umschloß ein Loch, seit eine Explosion vor Tausenden und Abertausenden von Jahren offenbar den Vulkan zum Ertrinken gebracht hatte, dessen Krater sie war. An drei Stellen war das Meer eingebrochen und hatte gegenüber der Hauptinsel die Resteilande Thirasia und Aspronisi zurückgelassen. Mitten im Kratermeer lag die Vulkaninsel Paläa Kaimeni. Die Griechen nannten diesen gewaltigen Kraterkessel Kaldera. Die Kaldera war etwa dreihundert Yards tief und bot keinen Ankergrund. Hasard manövrierte die ›Isabella‹ am Südwestzipfel von Santorin vorbei. Grauschwarz und abweisend ragten die Lavawände in Steuerbord empor. Tiefblau war das Wasser im Inneren des Kraterloches. Dicht unter Land lag ein zweimastiges Schiff. Seine Lateinersegel waren an den Gaffelruten aufgetucht. Lange Festmachertrossen verbanden es mit dem steinigen Ufer. Hasard kniff die Augen zusammen. Nach Giulianos Beschreibung war es Lorussos Schiff. Aber wo waren die beiden Karavellen - Prisenschiffe der Brüder Aradschy? Der Toskaner hatte behauptet, daß auch sie in der Kaldera direkt neben dem Zweimaster Lorussos vertäut lägen. Hasard sah keinen Grund, daran zu zweifeln. Aber in der Zwischenzeit mußte etwas eingetreten sein, das die Piraten zu einer Veränderung veranlaßt hatte. Befanden sich die Karavellen weiter westlich hinter den Nachbarinseln, wo der Seewolf sie nicht entdecken konnte? Hatten sie Santorin gerundet? Befanden sie sich überhaupt noch in der Nähe?
Fragen, auf die er keine Antwort fand. Er hoffte nur inständig, daß diese unangenehme Überraschung nicht seine Pläne durchkreuzte. Er krümmte sich, hustete, spuckte - ihm war wirklich sterbenselend zumute. In diesem Moment verfluchte er den Kutscher. Das Gefühl, eine ganze Quallenfamilie im Leib zu haben, die seine Magenwände auf und ab kroch, beraubte ihn fast seines logischen Verstandes. Schließlich war er es gewesen, der die Idee gehabt hatte! Der Kutscher hatte die ganze Nacht hindurch gebraut und gemischt und die Kombüse der ehrbaren ›Isabella‹ gleichsam in die Küche eines Alchimisten verwandelt. Dann hatte der Kutscher stolz das Ergebnis seiner Bemühungen vorgewiesen: einen Trank, der abscheulich stank. »Hölle«, hatte Carberry ausgestoßen. »Was ist das? Gekochter Abfall, gerührter Menschenkot?« »Laß dich nicht weiter aus«, hatte der Kutscher erwidert. »Es ist ein Senf-Extrakt darin, vor allem sehr viel Senf. Der Rest ist mein Geheimniss.« Hasard hatte das dampfende, pestilenzialisch riechende Zeug in eine Muck gegossen. »Bist du auch sicher, daß wir damit den gewünschten Effekt erzielen?« »Und ob! Sir Anthony hat mir den Trick verraten, als ich noch Kutscher bei ihm war - unter dem Siegel der Verschwiegenheit.« »Mach’s doch nicht so spannend, du Stint«, hatte der Profos geknurrt. »Ruhe!« hatte Hasard sich barsch erbeten. »Und jetzt erklärst du mir in etwa die Wirkung des Teufelsgebräus, Kutscher.« »Aye, aye, Sir. Im Grunde ist es ganz einfach. Durch die Essenz werden die gleichen Symptome erzeugt, die auch die Hepatitis viralis herbeiführt. Ed, ich weiß ja, daß du kein Wort verstehst - du stierst wie eine Kuh kurz vorm Kalben. Also, mit einfacheren Worten, es ist das Erscheinungsbild der
Gelbsucht.« »An Gelbsucht stirbt man, oder?« hatte Hasard zurückgefragt. »Jawohl.« »Und sie kann eine ganze Schiffsmannschaft dahinraffen, nicht wahr?« »Ganz gewiß«, hatte der Kutscher geantwortet. Deshalb hatte Hasard das Gebräu mit großer Überwindung die Kehle hinuntergestürzt. Er wußte, daß ihm jetzt nicht nur kotzübel zumute war, sein Gesicht war auch tatsächlich gelb angelaufen. Er hatte sich im Spiegel der Kapitänskammer betrachtet. O Himmel, was für ein Monstrum war aus ihm geworden! Der Zweimaster der Piraten rückte näher. Hasard fuhr nur mit Großmarssegel, aber auch das war zuviel, denn der jetzt handig aus Südwest blasende Wind drückte ihn rasch direkt auf das Felsenufer zu. Er laschte das Ruderrad fest, taumelte auf Deck, löste die Fallen für das Großmarssegel und geite mühselig auf. Seine Knie waren weich wie Brei. Er sank auf die Planken. Ihm war so speiübel, das er sich nicht mehr auf den Beinen hielt. Hatte er einen Fehler begangen? Hatte der Kutscher die Dosis zu hoch bemessen? Hölle, er hatte doch behauptet, die Wirkung würde nach, zwei bis drei Stunden wieder verfliegen! Nebel wallten vor seinen Augen. Er fühlte, daß er ohnmächtig wurde. Er riskierte alles, sein Leben, sein. Schiff, das im Auslaufen an den Lavafelsen zerschellen konnte, aber er wußte, daß dies die einzige Möglichkeit war, an den Teufel Lorusso heranzugelangen - eine Kriegslist ... * Santorins Steilwände waren von Höhlen durchsetzt, von vielen Höhlen unterschiedlicher Größe. Lorusso, der
Piratenführer, hatte sich in der geräumigsten auf einem schmutzigen Lager ausgestreckt und schlief seinen Rausch der vergangenen Nacht aus. Er lag auf dem Rücken, mit offenem Mund. Sein Schnarchen wurde von den Grottenwänden zurückgeworfen und vervielfacht. Er war ein großer, massiv gebauter Mann, dieser Lorusso, nur Knochen und Muskeln, kein Quentchen Fett auf dem Leib. Sein Haarwuchs war auf Brust und Beinen üppig, auf dem Haupt spärlich. Er trug auch nur den Ansatz eines Vollbartes. Die kantige, wuchtige Form seines Schädels kam voll zur Geltung. Seine Augen waren blau - eine Ausnahme für einen Sizilianer. In dem offenen Mund waren seine untadelig gewachsenen Zähne sichtbar. Iride, eins der Mädchen, die die Piraten auf die Insel geholt hatten, betrat die Höhle. Sie war Lorussos Geliebte und die einzige, die es wagen durfte, ihn zu wecken. Sie kniete sich neben ihn hin, packte ihn an der Schulter und rüttelte ihn. Lorusso reagierte nicht darauf. Erst, als sie rabiat wurde, brach sein Schnarchen ab, und er setzte sich mit unwilligem Laut auf. »Was willst du? Verschwinde.« Er warf einen langen Blick in ihren Brustausschnitt, knurrte dann aber nur. »Jetzt nicht. Ich hab keine Lust dazu. Hau ab.« »Sei nicht kindisch«, erwiderte sie. Ihre dunklen Augen musterten ihn ernst. »Ich kenne deine Gewohnheiten und hätte dich in Ruhe gelassen, wenn nicht etwas Unerwartetes passiert wäre.« »Was?« Seine Augen leuchteten plötzlich voll Gier. »Diese maltesischen Hunde - haben sie etwa eine Silberader entdeckt?« »Nein. Ein Schiff hat die Insel angelaufen. Deine Männer haben Boote zu Wasser gebracht, haben es geentert und längsseits des Zweimasters gebracht.« »Geentert? Was ist das für ein Schiff?«
»Keine von unseren Verbündeten befinden sich an Bord.« »Es hat also einen Kampf gegeben.« Lorusso sprang auf, band sein Beinkleid mit einem Gurt zu, stopfte sich die Waffen in den Bund. »Und? Wie ist es ausgegangen? Teufel, warum ruft ihr mich erst jetzt?« Iride verzog höhnisch den Mund. »Du Narr, die Männer haben ja Alarm gerufen, aber du lagst so tief im Schlaf wie ein Toter. Beruhige dich, auf dem Schiff hat es keinen Widerstand gegeben. Es befindet sich nur ein Mann an Bord.« »Was?« Lorusso eilte ins Freie. Zu seinen Füßen fiel das Land in schmalen Terrassen bis zu dem primitiven Anleger ab, den die Piraten bebaut hatten. Der Zweimaster hob und senkte sich wie eh und je auf der schwachen Dünung, aber neben ihm lag jetzt dieses großartige, majestätisch anmutende Schiff mit den drei Masten vertäut! Lorusso verschlug es glatt die Sprache. Er hustete bellend, holte Luft, wankte vor Überraschung. »So ein stolzer Kahn - das gibt’s doch nicht.« Iride trat neben ihn. »Worauf warten wir? Sehen wir uns unseren Fang nicht an?« »Schweig.« Der Sizilianer setzte sich in Marsch und stapfte die grob ins Lavagestein gehauenen Stufen hinunter, die Terrasse mit Terrasse verbanden. Auf den Flächen liefen die Mädchen zusammen, die während des Entermanövers selbstverständlich auf der Insel geblieben waren. Lorussos Männer indes, sechzehn wüste Kerle, veranstalteten auf dem Oberdeck des Beuteschiffes einen Tanz. In ihrem Freudentaumel bemerkten sie kaum, wie ihr Anführer zunächst den Zweimaster und dann die Galeone betrat. »Basta!« schrie Lorusso. »Schluß. Herhören. Was ist das für ein Kahn?« Ovidio antwortete ihm. Er war ein hagerer, verschlagener Mann aus Kalabrien, am längsten mit Lorusso zusammen und
daher sein engster Vertrauter. »Der Himmel hat uns diese goldene Kuh geschickt, Lorusso, wirklich, der Himmel. Wir brauchen sie nur noch zu melken. Sieh doch.« Zwei Piraten waren in den Schiffsbauch gestiegen. Sie öffneten jetzt vom Frachtraum aus die Kuhlgräting, schoben sie ein Stück beiseite und hievten dann eine schwere Truhe auf Deck. Es gab einen dumpfen Laut, als sie sie absetzten. Lorusso gingen fast die Augen über. Er trat vor die Truhe hin. Ihm und keinem anderen stand es zu, dieses Behältnis zu öffnen. Beinahe behutsam zog er den Deckel hoch - und stieß einen gebrüllten Freudenruf aus. »Gold! Silber! Juwelen! Hölle und Teufel, wir sind reich! Ihr Mistfresser, ihr Bastarde, was meint ihr, wieviel das Zeug hier wert ist?« Er griff mit beiden Händen in die Truhe. Er faßte ins Volle, hob Schmuck, Perlen, Diamanten hoch und ließ sie wieder zurückprasseln. Er war verzückt wie ein kleines Kind. Ovidio grinste. »Das ist noch nicht alles. Sieh mal in den Frachtraum.« Lorusso tat es - und er sah, welches Ausmaß der Schatz hatte. Sein Geschrei lockte Iride und die anderen Mädchen an. Sie eilten gleichfalls auf die Galeone, tanzten mit den Piraten und es hätte nicht viel gefehlt, und Lorusso hätte gleich hier eine wilde Orgie begonnen. Jählings aber hielt er inne. Er stieß Iride von sich. Jetzt endlich hatte er den Mann auf dem Quarterdeck entdeckt. Der Mann lag auf dem Rücken und regte sich nicht. »He«, sagte Lorusso. »Ist das die Besatzung?« Ovidio nickte. »Ja. Der war schon bewußtlos, als wir das Schiff kaperten. Kurz vor seiner Ohnmacht muß er noch das Steuerruder festgestellt und das Segel aufgegeit haben. Der Ausguck oben auf dem Felsen hat’s gesehen, wie er das Großmarssegel wegnahm.« »Komisch. Wo steckt der Rest der Mannschaft?« »Das wissen wir nicht. Wie sollen wir denn ...«
Lorusso schnitt Ovidios Worte mit einer Gebärde ab. »Merkwürdig«, sagte er. »Da stimmt doch was nicht.« Er ging aufs Quarterdeck, betrachtete den Liegenden - und prallte zurück. »Quittengelb«, sagte er. »Verdammt und zugenäht, der Kerl ist krank. Wasser her!« Kurz darauf entleerte er selbst die Segeltuchpütz mit Wasser, die Iride ihm gebracht hatte, über dem Bewußtlosen. Klatschend ging das Naß auf Deck nieder. Hasard schüttelte sich, dann richtete er sich prustend halb auf. »Por Dioas, bei Gott - was ist mit mir geschehen?« sagte er. »Ho, ein Spanier!« rief Lorusso. Er stieß Hasard vorsichtig mit dem Fuß an. »Wie heißt du, du Hund? Was ist mit der Besatzung passiert? Los, rede schon.« Hasard würgte und spuckte, daß es selbst den Piraten schlecht wurde. Dann stieß er mühsam hervor: »Diaz de Veloso ist mein Name.« Diesen Namen hatte er schon in der Neuen Welt benutzt - mit großem Erfolg. »Wir - waren von Malaga zur Republik Venedig unterwegs - da brach die Gelbsucht an Bord aus - in wenigen Tagen alle außer mir, dem Kapitän, dahingerafft - der See übergeben - ein Sturm brachte mich vom Kurs ab. Wo bin ich?« »Gelbsucht«, wiederholte Lorusso. »Die ist so schlimm wie die Cholera. O verflucht.« »Was stehen wir herum?« rief Ovidio. »Bringen wir das Schwein um, bevor es uns anstecken kann.« »Schweig!« brüllte Lorusso zurück. Er sah den vermeintlichen Diaz de Veloso wie einen von Schwären bedeckten Aussätzigen an, dann schrie er: »Der Schatz! Woher stammt er? Rede, du Hund, oder ich jage dir mein Messer in die Brust!« »Der Schatz - aus der Neuen Welt«, ächzte Hasard. »Ein Geschenk für Venedig - damit die - Heilige Allianz gefestigt ...«
»Schwafle nicht!« fuhr der Piratenführer ihn an. Wieder traf sein Fuß Hasards Körper, diesmal heftiger. »Ist das alles, was du zu sagen hast? Gibt es noch mehr von dem Zeug? Andere Schiffe mit Gold, Silber, Juwelen? Rede!« »Eine zweite Galeone - zwei Tage nach uns ausgelaufen. Sie sollte Zwischenstation einlegen, um einen Lotsen zu übernehmen - auf auf ...« »Wo?« brüllte der Sizilianer. Hasard brach wieder zusammen. Ihm war nach wie vor übel, doch der Ohnmachtsanfall war nur gespielt. Er hörte also, wie die Piraten lärmten, und spürte sehr deutlich, wie Lorusso ihm wieder und wieder in die Seite trat. »Du Hund, bist du etwa tot?« schrie er. Ovidio bückte sich nach Hasard. Auch er hatte Angst vor der Krankheit, aber mehr Respekt noch empfand er vor dem tobenden Sizilianer. Der wollte herauskriegen, wo sich das zweite Schatzschiff befand. Um jeden Preis. Ovidio horchte an Hasards Brust, dann sagte er: »Sein Herz schlägt noch.« »Wasser!« befahl der Sizilianer. Iride und die anderen Mädchen zogen Holzkübel mit Seewasser von außenbords herauf. Die Piraten begossen den Seewolf, als wollten sie ihn ersäufen. Aber es nutzte nichts. Er kam nicht wieder zu sich. »Wir müssen abwarten«, sagte Ovidio vorsichtig. Lorusso stampfte mit dem Fuß, daß es durch den Schiffsrumpf dröhnte. »Ich will auch das zweite Schiff, verflucht. Wenn wir es zu packen kriegen, haben wir für den Rest unserer Tage ausgesorgt. Will dir das in den Kopf, Ovidio?« »Aber klar doch.« »Gut.« Der Sizilianer sog schnaubend Luft durch die Nase ein. »Wir brauchen nur noch zu wissen, wo der zweite Kahn Station eingelegt hat. Dann können wir ihn entweder dort
überraschen oder seiner Route folgen, wenn nicht, tappen wir im dunkeln.« Er massierte sich grübelnd das Kinn. »Auf, auf er hat ›auf‹ und nicht ›in› gesagt, dieser Hund de Veloso. Das bedeutet, er meint eine Insel, keine Stadt.« »Richtig«, sagte Iride. »Darauf wäre ich nicht gekommen. Wie klug du bist, mein großer, starker Bär.« Lorusso grinste. »Darum bin ich ja euer Anführer.« Er blickte wieder in Hasards Gesicht, und sein Grinsen fror ein. »Gelb wie eine reife Zitrone ist er, der Himmelhund. Wir müssen noch warten, daß er uns den Namen der Insel verrät, bevor wir ihn töten. Aber in der Zwischenzeit könnte er uns mit dem Übel verseuchen, das in ihm steckt. Gelbsucht! Gelbsucht bringt den Tod.« Plötzlich wirbelte er herum. »Ovidio, Osman, Kemil und wie ihr alle heißt - bringt ihn schleunigst zur Mine. Werft ihn in den Stollen zu den Sklaven. Da soll er schmachten, bis er wieder zu sich kommt und reden kann.« »Aber er wird unsere Gefangenen anstecken«, gab Ovidio zu bedenken. Der Sizilianer lachte teuflisch. »Soll er! Um die ist es nicht schade. Jetzt, da wir den Schatz haben, pfeife ich auf das Silber. Sollen die Bastarde allesamt verrecken. Wir schmeißen sie ins Meer und räuchern anschließend den Stollen der Mine aus, um die Keime der Krankheit von Santorin zu vertreiben.« »Holt Segeltuch!« rief Ovidio. »Wir schlagen ihn darin ein und schleppen ihn an Land, ohne ihn dabei mit den Fingern zu berühren.« Hasard lag reglos. Er hatte jedes Wort in sich aufgenommen. Teil eins seines Planes hatte funktioniert. Gewiß, er hatte hoch gesetzt. Hätte Lorusso ihn gar nicht erst angehört - die Folgen waren nicht auszudenken! Doch jetzt hatte er Aufschub gewonnen, verfügte über eine gewisse Karenzzeit - und nicht einmal in seinen kühnsten Erwartungen hatte er zu hoffen geglaubt, daß sie ihn
mit den Geiseln zusammensteckten. Besser hätte es nicht kommen können. Wäre er in einem kühnen Raid mit der kompletten Crew auf Santorin gelandet, dann wäre ein Blutvergießen auf beiden Seiten nicht zu vermeiden gewesen. Hasard aber wollte seine Crew vor derartigen Opfern bewahren. Daher sein Plan. Zufrieden stellte er fest, daß die Übelkeit sich ein wenig zu legen begann.
9. Ben Brighton hatte mit neun Mann das erste Beiboot der ›Isabella‹ eingenommen, die übrigen zehn Crewmitglieder, Giuliano Salce, Arwenack und Micia saßen in der zweiten Schaluppe, geführt von Edwin Carberry. Sie pullten auf die Ostküste von Santorin zu - flachen Strand aus schwarzer Lavaerde. Ben rechnete die ganze Zeit über fest damit, daß ein Ausguckposten sie entdecken würde. Aber kein Alarmruf ertönte. Kein Schuß wurde auf sie abgegeben. Sie konnten in aller Seelenruhe in einer kleinen, versteckt liegenden Bucht landen. Sie vertäuten die Schaluppen unter einem zwei Yards hoch aufragenden Stück kahler Böschung. Vom Inneren der Insel aus konnten die Boote jetzt nicht mehr gesehen werden. »Beim Klabautermann«, sagte der Profos. »Hoffentlich laufen wir nicht in eine Falle.« »Glaube ich nicht«, erwiderte Ben. »Weißt du, was ich annehme? Die Piraten sind durch Hasards Auftauchen, seine Schau und vor allen Dingen durch den Schatz viel zu sehr in Anspruch genommen, um noch an die Sicherheit zu denken. Der Posten ist wahrscheinlich mit dabei, den Schatz zu begaffen.« »Na, hoffentlich.«
»Nicht unken, Ed«, sagte Ben. Carberry grinste wie ein hungriger Hai. »Ich bereite mich nur innerlich auf jede Möglichkeit vor, verstehst du? Damit ich nicht platt bin vor Überraschung, falls die Halunken aus ihren Löchern schlüpfen. Damit wir uns nicht überfahren lassen, sondern ihnen ...« »Nicht schon wieder«, sagte Blacky. Carberry maß ihn mit einem vernichtenden Blick. »Sondern ihnen die Schädel eindellen, wollte ich sagen. Was dachtest du denn?« »Nichts.« »Dann unterbrich deinen Profos nicht, du Barsch«, knurrte Carberry. »Kommt«, sagte Giuliano Salce. »Ich zeige euch den Weg zur Mine.« Er setzte sich, nachdem sie die Schaluppen verlassen hatten, an die Spitze des Trupps und schritt aus, so gut es seine noch schwachen Beine erlaubten. Vor einem mit dunklem Geröll übersäten, schmutzigrot gefärbten Hang blieb er schließlich stehen. »Von hier aus geht es immer geradeaus weiter«, erklärte er. »Wir können den Stollen gar nicht verfehlen.« Ben hatte eine Höhle entdeckt, er wies darauf. »Du ziehst dich in dieses Versteck hier zurück, Giuliano. Nein, keine Widerrede. Kommt überhaupt nicht in Frage, daß du weiter mitmarschierst. Wenn du dich jetzt zu sehr anstrengst, vergeudest du an Kraft alles, was du dir in der kurzen Zeit bei uns mühsam angefuttert hast.« Der Toskaner hielt seine Katze auf dem Arm fest. »Ihr denkt hoffentlich nicht, ich will kneifen.« »Sei doch nicht albern«, entgegnete Carberry. »Batuti, du bleibst mit Arwenack bei ihm, einverstanden?« »Jawoll«, sagte der Neger. Arwenack fletschte die Zähne. Er saß auf Batutis mächtigen Schultern und gab sich alle Mühe, sein Mißfallen
auszudrücken, aberes nutzte ihm nichts. Er mußte auch in die Höhle und sie mit Micia teilen. Ben ließ den beiden Männern genügend Waffen zurück. Dann trennten sie sich. Giuliano und Batuti fungierten als Posten, sie würden selbstverständlich ein Zeichen geben, falls sie Piraten sahen oder sonst etwas Unerwartetes eintrat. Ben Brighton und seine Männer erklommen den Hang, strebten über ein großflächiges Plateau und lernten die Charakteristik des Inselinneren kennen. Mineralgestein äderte in noch nie gesehenen Farben. Pechschwarze Hügelkuppen sie sahen aus, als habe sie der Blitz des Zeus verkohlt wechselten mit steil abfallenden Schluchten in Mennigerot ab. Die Seewölfe nutzten jede Deckungsmöglichkeit aus, die sich ihnen bot. Überall konnte Gefahr lauern, irgendwann konnten sie durch einen dummen Zufall doch entdeckt werden. Sie waren auf der Hut. Nach etwa einer halben Stunde Marsch erreichten sie einen Krüppelkieferwald. Jenseits des westlichen Saumes ging es plötzlich in einem steilen Abbruch in die Tiefe. Die Männer verharrten. Sie stellten fest, daß die steile Wand nur einen oder eineinhalb Yards abfiel, danach ging sie in eine Geröllhalde über. Am Fuß der Halde waren einfache Hütten aus Strauchmatten errichtet worden - drei Stück. Ein gegenüberliegender Hang verwandelte den Platz in einen kleinen Kessel von ovaler Form. Drüben gähnte ein Loch in der Wand, so groß wie der Umfang von drei bulligen Männern. »Der Eingang zur Silbermine«, raunte Gary Andrews. »Silber ist gut«, zischte Al Conroy. »Bisher haben sie doch noch keins gefunden, oder?« »Hm, tja«, sagte Smoky verhalten. »Dann wird wohl auch nichts mehr daraus. Dieser Lorusso muß ein Schwachkopf sein.«
»Ein gefährlicher Schwachkopf«, verbesserte Ben Brighton. »Still jetzt.« Im Schatten der Hütten hockten bewaffnete Männer. Es waren nur zwei. Sie unterhielten sich auf türkisch miteinander. Die Seewölfe verstanden kein Wort, aber Ben Brighton entnahm dem Tonfall, daß sie sich über etwas beschwerten wahrscheinlich darüber, daß sie den Schatz nicht mit besichtigen durften. Wo die Gefangenen steckten, ließ sich nur vermuten. Ben tippte auf die Mine. Er wies hinüber. Carberry nickte ihm zu. Er dachte das gleiche. Sie prüften die Ladung ihrer Schußwaffen. Musketen, Arkebusen, Tromblons und Pistolen hatten sie von Bord der ›Isabella‹ mitgenommen. In ihren Gurten steckten zusätzlich Entermesser, Degen, Säbel und Dolche. Carberry hatte einen Morgenstern mitgeführt. Big Old Shane hielt den Tschakan, mit dem El Hakim den Seewolf hatte töten wollen. Sie waren, wie man so schön sagt, bis an die Zähne bewaffnet. Hasards Plan lautete, daß Ben mit seinem Trupp die Gefangenen befreien sollte, während er am Westufer die Piraten hinhielt. Aber es kam anders. Ben, Carberry, Shane, Ferris und die anderen bereiteten sich schon auf den bevorstehenden Kampf vor, da vernahmen sie Geräusche. Vorsichtshalber duckten sie sich noch ein Stück tiefer. Eine Handvoll Piraten erschien im Kessel, drüben, an der Westseite, gab es eine Felsenbresche als Zugang. Der Profos stieß Ben mit dem Ellenbogen an. Da! Die Ankömmlinge trugen etwas, das in Segeltuch gehüllt war. Vor dem Stolleneinlaß hielten sie und kippten ihr Mitbringsel aus dem Stoff. Das war ein Mann. Der Seewolf.
Das Segeltuch ließ erschreckende Rückschlüsse zu. Tote wickelte man darin ein, bevor man sie der See übergab. Carberry hob unwillkürlich seinen Morgenstern. Shane hielt ihn zurück. »Nicht. Bist du verrückt?« »Wenn die Hasard umgebracht haben ...« »Ich schätze, er ist nur bewußtlos. Oder nicht mal das. Vielleicht markiert er nur.« »Kutscher«, flüsterte Edwin Carberry. »Wenn du dich mit deinem Gebräu vertan hast, reiße ich dir den Achtersteven auf, jawohl, ich schwör’s.« Die Piraten versetzten dem Seewolf einen Stoß, daß er in die Finsternis des Minenstollens kollerte. Sie lachten, drehten sich um und gingen zu den beiden Wächtern. Einer sprach die Posten auf italienisch an, das verstanden die Seewölfe halbwegs. »He, macht doch nicht so dämliche Gesichter. Ihr kriegt den Schatz noch früh genug zu sehen. Der Kerl hier hat die Gelbsucht im Leib, deswegen haben wir ihn auf Lorussos Befehl zu den Sklaven gesteckt. Bald wacht er auf. Er weiß, wo wir noch mehr Kostbarkeiten finden, darum wird er erst sterben, wenn er’s uns verraten hat.« »Das heißt, wir gehen ab und zu nachschauen, ob er die Augen auf tut?« erkundigte sich einer der Wächter. Er sprach jetzt auch italienisch. »Ja. Wir wechseln uns ab.« »Ist gut, Ovidio.« Mit Ovidio hielten sich jetzt sechs Piraten in dem engen Kessel auf. Sechzehn Männer zählten insgesamt zu Lorussos Meute, wie Giuliano Salce zu berichten gewußt hatte. An der Kraterbucht hielten sich zur Zeit also elf Kerle auf, mit dem Sizilianer. Hinzu kamen die Huren, sieben oder acht an der Zahl. Wo die Aradschys mit ihren Banden herumstrolchten, mochte der Teufel wissen. Ben Brighton und seine Freunde hofften inständig, es nicht auch noch mit diesen Burschen zu tun zu
kriegen. * Hasard rutschte ein beträchtliches Stück auf dem Stollenboden. Gleich hinter dem Eingang fiel der Grund recht steil ab, und er stieß sich den Kopf, die Schultern, Arme und Beine, bevor er zum Halten kam. Sein Magen rebellierte weiter wie wild. Er hustete, keuchte und spuckte. Es war so stockfinster, daß er nicht einmal seine rechte Hand sah, die er sich dicht vor die Augen hielt. »He«, sagte eine krächzende Stimme. »Da ist wer.« Englisch! Hasards Herz vollführte einen Freudensprung. Er antwortete sofort. »Nicht so laut. Ich bin euer Freund. Giuliano schickt mich, euch zu retten.« »Allmächtiger«, sagte der Engländer. »Wie heißt du?« fragte Hasard gedämpft. »David. Wo ist Giuliano?« »Später. Bist du Malteserritter?« »Ja. Bei mir sind ein anderer Ritter, Ronald, sowie drei Fischer, unter ihnen Fausto, der Giuliano aus den Ketten geholfen hat.« »Hat er mir erzählt«, gab Hasard so leise wie möglich zurück. »Aber verdammt - wo sind die anderen sechs?« »Fort. Von den Aradschy-Brüdern verschleppt.« Hasard war erschüttert. Das hatte er nicht erwartet. Aber er konnte an den Tatsachen nichts mehr ändern. Seine vordringliche Aufgabe war es, diesen armen Teufeln aus ihrer mißlichen Lage zu helfen. Er rückte auf sie zu, drückte ihre knochigen Hände. Im Flüsterton schilderte er ihnen, wie sie Giuliano Salce gefunden hatten und wie er Lorusso durch die vorgetäuschte Gelbsucht überlistet hatte.
»Großartig«, sagte David. »Wer bist du?« fragte Ronald. »Mein Name ist Philip Hasard Killigrew.« »Der Seewolf?« »So nennt man mich.« »Ich habe von deinen Taten gehört«, wisperte Ronald. »Auf uns kannst du zählen!« Sie beratschlagten. Etwas später begann David mit seinen Ketten zu rasseln und zu rufen. Daraufhin näherte sich einer der Piraten raschen Schrittes. Er führte ein Talglicht mit. Es verbreitete rötlichen, flackernden Lichtschein, der bizarre Muster auf die Stollenwände zauberte. Die Sklaven durften nicht bei Licht arbeiten, denn Lorusso befürchtete, sie könnten mit dem Feuer von Lampen irgend etwas anrichten. Hasard lag verkrümmt auf der linken Körperseite. Das Licht näherte sich und zeichnete die Züge von David, Ronald, Fausto und den anderen beiden. Auch ihre Namen hatte er inzwischen erfahren: Samuele und Alof. Sie sahen zum Gotterbarmen aus. Ausgemergelt, abgezehrt, schmutzig, mit struppigen Barten - fast schlimmer noch als Giuliano. Hasard empfand kalte Wut gegen die Piraten. Der Mann, der sich vor ihnen aufbaute, war Ovidio. »Was ist?« »Dieser Kerl«, sagte Ronald. »Er übergibt sich dauernd. Wer ist das?« »Ein goldener Ochse, der Schätze scheißt«, erwiderte Ovidio höhnisch. »Ist er aufgewacht?« »Ja.« »Wo liegt das zweite Schatzschiff?« fragte Ovidio den Seewolf auf spanisch. »Insel«, flüsterte Hasard. Ovidio beugte sich zu ihm herab, weil er kaum verstand. »Den Namen, rasch, wenn dir dein Leben lieb ist.« »La«, lallte Hasard.
»Was?« Der Kalabrese brachte sein Ohr noch näher an seinen Mund. »Lampedusa, und der Teufel soll dich holen!« stieß Hasard aus. Im selben Augenblick packte er zu. Er hatte keine Waffen bei sich, Lorusso und seine Kerle hätten sie ihm sowieso abgenommen. Aber er nahm den Piraten in eine Klammer, die so hart wie Eisen war. David schlang die Kette, die seine Arme gefesselt hielt, um Ovidios Gurgel. Er zog zusammen, daß der Pirat zu röcheln begann. Fausto hatte das Talglicht aufgefangen, bevor es erlöschen konnte. Hasard sah Ovidio in die angstgeweiteten Augen und raunte: »Keinen Laut, sonst bist du des Todes.« Er nahm ihm die Steinschloßpistole und das Messer ab, glitt zum Stolleneingang und beobachtete aus dem Dunkel heraus die übrigen fünf Piraten bei den Hütten. Er schob sich die Waffen in den Gurt. Die Übelkeit ließ jetzt mehr und mehr nach. Der Kutscher hatte tätsächlich recht gehabt, als er die Wirkung des Trankes beschrieb. Hasard grinste verwegen, legte die Hände an den Mund und ahmte den Ruf einer Möwe nach. Keine Sekunde verstrich, und ein ähnlicher Laut kehrte von oberhalb des Kessels zurück. Die Piraten schauten verwundert auf und suchten mit den Blicken die Meeresvögel. Hasard sprang ins Freie. Er stand in den Knien gebückt, streckte die Beutepistole vor und rief: »Keine Bewegung! Ergebt euch!« Einer der türkischen Piraten federte hoch, zückte seinen Schiffshauer und unternahm einen Ausfall gegen Hasard. Ein Schuß nur steckte in Hasards Steinschloßpistole, gab er ihn ab, konnten sie alle über ihn herfallen. Darauf lief das Kalkül des Türken hinaus. Hasard sah den Schiffshauer auf sich zuzucken. Er ließ sich nach links fallen, rollte sich ab, kam wieder hoch und schoß.
Krachend brach der Schuß, Rauch stieg auf. Der Türke riß die Arme hoch und stürzte zu Boden. Er rührte sich nicht mehr. Die Kugel saß im Herzen. Jetzt geriet Bewegung in die anderen vier. Aber plötzlich huschte etwas von oben heran und blieb zitternd vor ihnen im Erdboden stecken. Der Tschakan des El Hakim! Sie erstarrten vor Schreck. Sie wandten sich um und schauten zu den neunzehn Männern auf, die da über ihnen an der Geröllhalde erschienen waren. Sofort ließen sie die Waffen fallen und leisteten keinen Widerstand mehr. Shane hatte den Tschakan geworfen. Die in Anschlag liegenden Schußwaffen der Seewölfe vermittelten eine ebenso deutliche Sprache. »Fesseln wir sie«, sagte Hasard. »Shane, Ferris - ihr befreit die Sklaven. Leider sind es nur fünf, die anderen sechs sind von den Aradschys fortgebracht worden.« * Alle hatten den Schuß vernommen. Grollend rollte das Echo über die Insel Santorin. Lorusso, immer noch an Bord der ›Isabella‹, hob den Kopf. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. »Fünf Mann mit mir«, sagte er. »Der Rest bleibt hier, als Wache.« Er setzte sich an die Spitze seines Trupps und eilte die Terrassen hoch. Sie rannten an den Wohnhöhlen vorbei, gewannen immer mehr Höhe. Unter ihnen schimmerte die Kaldera blauviolett. Sie hatten die erste Bergkuppe erreicht, da tauchte plötzlich Ovidio vor ihnen auf. Er winkte ihnen zu. »Keine Sorge!« rief er. »Ich habe geschossen.« »Bist du des Teufels?« brüllte der Sizilianer. »Der Spanier ist zu sich gekommen und hat den Namen der
Insel ausgespuckt. Daraufhin habe ich ihn mit einer Pistolenkugel niedergestreckt. Die Mariner tragen seine Leiche zum Meer.« »Du hättest mich rufen sollen!« schrie Lorusso. »Die Insel heißt Lampedusa.« Lorusso verhielt, ein Grinsen breitete sich auf seinem kantigen, häßlichen Gesicht aus. »So. Das trifft sich gut. Das Eiland liegt in der Nähe von Malta, und dorthin wollten wir ja eigentlich, um die Aradschys bei dem Kampf gegen Valletta zu unterstützen. Aber ich denke, wir werden jetzt nur den Schatz des zweiten Schiffes holen und dann weitersegeln ...« Gestalten wuchsen jählings links und rechts neben dem Kalabresen hoch. Männer mit Musketen, Arkebusen, Tromblons, Pistolen. Und mitten unter ihnen stand der Gelbsüchtige - Diaz de Veloso. »Verrat!« schrie Lorusso. »Ovidio, du Hund!« »Sie haben mich dazu gezwungen!« kreischte der Kalabrese. Lorusso war nicht mehr zu halten. Er stürmte gegen den Kalabresen vor, wollte ihn niederreißen, ihm sein Messer in die Brust rammen. Aber da war mit einem Mal ein Schatten zwischen ihnen. Ein großer, schrankbreiter Schatten war das, und der Piratenführer sah für den Bruchteil einer Sekunde eisblaue Augen vor sich blitzen. Eine Sprengladung schien unter seinem Kinn zu explodieren, den Rest spürte er nicht mehr. Lorusso, von Hasards Fausthieb gefällt, streckte sich auf dem Rücken aus. »Keine Dummheiten«, warnte Ben Brighton die übrigen Piraten. »Diesmal schießen wir, wenn ihr nicht pariert.« Sie senkten den Blick. Plötzlich war ihr ganzer dreister Mut dahin, sie ließen die Waffen aus den Händen gleiten. Wenn Lorusso nicht gegen diese fremden Männer bestehen konnte, dann konnten sie erst recht nichts ausrichten. Die Bande war ihres Kopfes beraubt. Smoky, Stenmark, Matt Davies und Al Conroy packten den Sizilianer an Armen und
Beinen und trugen ihn am Kopf der Gruppe nach unten. Es war eine einmalige Prozession, die sich da den Schiffen näherte. Die restlichen vier Piraten enterten auf ihren Zweimaster über und stellten in Windeseile die Geschütze gefechtsbereit. Hasard blieb eiskalt. Er trat mit seinen Männern bis vor den Anleger. Auf seinen Wink hin wurde Lorusso auf dem Boden abgelegt. Hasard richtete seine Waffe auf den Bewußtlosen. Es war die doppelläufige sächsische Reiterpistole. Ben hatte sie ihm ausgehändigt, als sie oben an der Silbermine zusammengetroffen waren. »Versucht es!« rief der Seewolf auf spanisch. »Schießt, und ich bereite dem fluchwürdigen Dasein eures Führers ein Ende.« Lorusso kam zu sich. Er setzte sich auf, rutschte auf dem Hosenboden rückwärts. »Nein - nicht - das darfst du nicht! Ich will nicht sterben.« Seine Augen weiteten sich unnatürlich, dann brüllte er: »Ergebt euch! Streicht die Flagge! Das ist ein Befehl!« Die Piraten gehorchten. So endete unblutig, was Hasard unter Einsatz seines Lebens begonnen hatte. Er ließ die Piraten in Ketten legen und auf den Zweimaster verfrachten. Inzwischen trafen auch die Nachzügler ein: Blacky und Sam Roskill mit den gefangenen Piraten von der Silbermine, David, Ronald, Fausto, Samuele und Alof, die nur mühsam zu gehen vermochten Giuliano Salce, Batuti, Arwenack und Micia, die schwarzweiße Katze. Auf dem Oberdeck des Zweimasters fiel Iride vor dem Seewolf auf die Knie. Ihre Hände umklammerten seine Hose. »Bitte«, flehte sie ihn an. »Hab Erbarmen mit uns Mädchen. Wir haben nichts Schlechtes getan. Wir könnten auch einiges wiedergutmachen, wenn du willst ...« Hasard grinste sie an. »Danke für das Angebot, Blume von Santorin. Meine Männer machen wohl gern Gebrauch davon. Im übrigen sind wir Frauen gegenüber nicht brutal auch wenn sie die größten Kanaillen sind. Das ist eine Frage des Prinzips.«
»Du bist ein feiner Kerl«, sagte Iride. »Was ist mit den anderen sechs Gefangenen geschehen? Sind die wirklich von den Aradschys nach Malta entführt worden?« »Ja. Die Piratenbanden haben sich gegen Malta verschworen. Eine ganze Flotte wird den Kampf auf Valletta eröffnen.« »Wann?« »Vielleicht schon morgen. Ich weiß es nicht genau.« »Und was sollen die Sklaven?« erkundigte sich Hasard, obwohl er es schon ahnte. »Sie dienen als Faustpfand. Wenn Valletta nicht kapituliert, schneiden die Aradschys den sechsen der Reihe nach die Kehlen durch«, erklärte Iride. »Verräterin«, sagte Lorusso. Iride spuckte verächtlich vor ihm aus. »Du Narr. Hätte ich es nicht gesagt, hätten sie es aus dir rausgezwungen. Wäre dir das lieber gewesen? Außerdem hast du doch ohnehin die Hosen voll.« Hasard ballte die Hände. Geiseln, Erpressung - das war wohl die niederträchtigste Art, einen Kampf zu entscheiden. Er war voll Haß gegen die Aradschy-Brüder und deren Mitstreiter. »Wir brechen so schnell wie möglich nach Malta auf«, sagte er.
ENDE
Die Piratenfalle von Roy Palmer Eine Flotte von dreißig Schiffen - Galeeren und Karavellen, geführt und bemannt von den härtesten Piraten des Mittelmeers, das war schon ein Brocken, bei dem einem
friedlichen Handelsfahrer speiübel werden konnte. Philip Hasard Killigrew dachte da anders, und wie stets in einer nahezu ausweglosen Situation, hatte er wieder einen Trick bereit, wie er und seine Seewölfe dem Feind die Zähne zeigen konnten ...