TUCHOLSKY – DREI MINUTEN GEHÖR
ERZÄHLENDE PROSA – VERSDICHTUNG
Kurt Tucholsky
DREI MINUTEN GEHÖR Prosa – Gedichte –...
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TUCHOLSKY – DREI MINUTEN GEHÖR
ERZÄHLENDE PROSA – VERSDICHTUNG
Kurt Tucholsky
DREI MINUTEN GEHÖR Prosa – Gedichte – Briefe
1974 Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig
HERAUSGEGEBEN VON HANS MARQUARDT
EIN MANN GIBT AUSKUNFT
Autobiographie Soweit ich mich erinnere, wurde ich am 9. Januar 1890 als Angestellter der „Weltbühne“ zu Berlin geboren. Meine Vorfahren haben, laut „Miesbacher Anzeiger“, auf Bäumen gesessen und in der Nase gebohrt. Ich selbst lebe still und friedlich in Paris, spiele täglich nach Tisch mit Doumergue und Briand ein halbes Stündchen Schafkopf, was mir nicht schwerfällt, und habe im Leben nur noch einen kleinen Wunsch: die Rollen der deutschen politischen Gefangenen und ihrer Richter einmal vertauscht zu sehen. 1926
Drei Biographien „Sie sind der ungeborene Peter Panter –?“ sagte der liebe Gott und strich seinen weißlichen Bart, der stellenweise etwas angeraucht war. Ich schwamm als helle Flocke in meinem Reagenzgläschen und hüpfte bejahend auf und nieder. „Für Sie gibt es drei Möglichkeiten“, sagte der himmlische Vater und zerdrückte in unendlicher Güte eine Wanze, die ihm über das Handgelenk lief. „Drei Möglichkeiten. Wollen Sie sie bitte überprüfen und mir dann mitteilen, welche Wahl Sie getroffen haben. Es liegt uns viel daran, bei dem herrschenden Streit zwischen Deterministen und Indeterministen es mit keiner von beiden Parteien zu verderben. Suchen Sie hier oben aus, was Sie einmal werden wollen – unten können Sie nachher nichts dafür. Bitte.“ Der alte Mann hielt mir einen großen Pappdeckel vor das Gläschen, auf dem stand zu lesen:
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I. Peter Panter (1.Verarbeitung). Geboren am 15. April 1889, als Sohn armer, aber gut desinfizierter Eltern, zu Stettin auf der Lastadie. Vater: Quartalssäufer, das Jahr hat fünf Quartale. Mutter: Abonnentin des „Berliner Lokal-Anzeigers“. Studiert das Tierarzneiwesen in Hannover und wird 1912 städtisch approbierter Kammerjäger in Halle. Zwei Frauen: Annemarie Prellwitz, edel, Schneckenfrisur, in Flanell (1919-1924); Ottilie Mann, sorgfältig, korrekt, von großem Gebärfleiß, in Ballonleinen (1925-1937). Vier Söhne; danach Anschaffung eines deutschen Perserteppichs. 1931: Reinigung des Bartes von Hermann Bahr, Bahr kommt heil davon, P. wird katholisch. Wird im Juni 1948 nach Wien berufen, um die Wanzen, die sich in der Feuilletonredaktion der „Neuen Freien Presse“ angesammelt haben, zu vertilgen. Da die Operation selbstverständlich mißlingt, wird Kammerjäger P. trübsinnig. Hört in dieser Geistesverfassung am 20. April 1954 einen Keyserling-Vortrag. Tod: 21. April. Panter geht mit den Tröstungen der katholischen Kirche versehen dahin, nachdem er kurz zuvor mit großem Appetit ein Mazze-Gericht verzehrt hat. Beerdigungswetter: leicht bewölkt, mit schwachen, südöstlichen Winden. Grabstein (Entwurf: Paul Westheim): 100,30 Mark, Preis des Marmors: 100 Mark. Stets in Ehren gehaltenes Andenken: acht Monate. „Nun –?“ sagte der liebe Gott. „Hm – “, sagte ich. Und las weiter: II. Peter Panter (2. Verarbeitung). Geboren am 8. Mai 1891 als ältester Sohn des Oberregierungsrats Panter sowie seiner Ehefrau Gertrud, geborener Hauser. Das frühgeweckte Kind hört schon als Knabe auf dem linken Ohr so schwer, daß es für eine Justizkarriere geradezu prädestiniert erscheint. Tritt in das Corps ein, in dem ein gewisser Niedner alter Herr ist – Der liebe Gott behakenkreuzigte sich. Ich las weiter: – und bringt es bald zu dem verlangten korrekt-flapsigen Benehmen, das in diesen Kreisen üblich ist, 1918: Kriegsassessor, gerade zu Kaisers Geburtstag. Schwört demselben ewige Treue. 1919: Hilfsbe7
amter im Staatskommissariat für öffentliche Ordnung; der Staatskommissar Weismann sitzt, aus altpreußischer Schlichtheit, in keinem Fauteuil, sondern auf einer Bank und hält dieselbe Tag und Nacht. Landgerichtsrat Panter leistet der Republik die größten Dienste sowie auch ihrem Präsidenten. Schwört demselben ewige Treue. Beteiligt sich 1920 am Kapp-Putsch, berät Kapp in juristischen Fragen und schwört demselben ewige Treue, Durch das häufige Schwören wird man auf den befähigten Juristen aufmerksam und will ihn als obersten Justitiar in die Reichswehr versetzen. Inzwischen wird Rathenau ermordet, weshalb die Republik einen Staatsgerichtshof über sich verhängt, wo ohne Ansehen der Sache verhandelt wird. Dortselbsthin als Richter versetzt, verstaucht er sich im Jahre 1924 beim Unterschreiben von Zuchthausurteilen gegen Kommunisten den Arm. Eine Beerdigung entfällt, da ein deutscher Richter unabsetzbar ist und auch nach seinem Tode noch sehr wohl den Pflichten seines Amtes nachkommen kann. „Wie kann man so tief sinken –!“ sagte der liebe Gott, weil ich inzwischen auf den Boden des Reagenzgefäßes gekrochen war. Ich wackelte mit dem Schwänzchen, der liebe Gott erriet richtig „Nein!“, bedavidsternte sich und gab mir III. zu lesen: Peter Panter (3. Verarbeitung). Geboren am 9. Januar 1890 zu Berlin mit ungeheuern Nasenlöchern. Seine Tante Berta umsteht seine Wiege und hat es gleich gesagt. Gerät nach kurzen Versuchen, ein anständiger Mensch zu werden, in die Schlingen des Herausgebers S. J., der ihn zu mannigfaltigen Arbeiten verwendet: er darf zu Beginn der Bekanntschaft Artikel und Gedichte schreiben, bringt es aber schon nach fünfzehn Jahren zum selbständigen Briefefrankieren und andern wichtigen Bureauarbeiten. Nimmt nacheinander die Pseudonyme Max Jungnickel, Agnes Guenther, Waldemar Bonsels und Fritz v. Unruh an. Kann aber niemand darüber hinwegtäuschen, daß hinter diesen Namen nur ein einziger Verfasser steht. Wird von Professor Liebermann in Öl gestochen und schenkt ihm als Gegenangebinde einen echten Paul Klee, den Liebermann jedoch nicht frißt. 8
Panter stirbt, als er alles weiß und nichts mehr kann – denn so kann man nicht leben. „Nun –?“ fragte der liebe Gott. „Hm – „ , sagte ich wieder. „Könnte man nicht die drei Biographien kombinieren? Vielleicht so, daß ich als Sohn des Oberregierungsrats Kammerjäger bei der ,Weltbühne’...“ „Beeilen Sie sich!“ sagte Gottvater streng. „Ich habe nicht viel Zeit. Um zehn Uhr präsidiere ich drei Feldgottesdiensten: einem polnischen gegen die Deutschen, einem deutschen gegen die Polen und einem italienischen gegen alle andern. Da muß ich bei meinen Völkern sein. Also – wählen Sie.“ Und da habe ich dann gewählt. 1926
Kurt Tucholsky (Peter Panter, Theobald Tiger, Ignaz Wrobel, Kaspar Hauser)
haßt: das Militär die Vereinsmeierei Rosenkohl den Mann, der immer in der Bahn die Zeitung mitliest Lärm und Geräusch „Deutschland“
liebt: Knut Hamsun jeden tapfern Friedenssoldaten schön gespitzte Bleistifte Kampf die Haarfarbe der Frau; die er gerade liebt Deutschland 1928
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Wie würden Sie sich im Falle eines Krieges gegen die UdSSR verhalten? Ihre Frage, welches meine Stellung im Falle eines imperialistischen Krieges gegen die Sowjetunion sein wird, beantworte ich dahingehend: Im Falle asiatischer Konflikte schwiege ich, weil ich diese nicht übersehen kann. Handelt es sich dagegen um einen europäischen Zusammenschluß von Mächten, die mit Hilfe der Kirche ununterbrochen gegen jenes Rußland hetzen, das ihnen wegen der eigenen Arbeiterbewegungen ein Dorn im Auge ist, so kann meine Stellung nur eindeutig sein: für Rußland gegen jene Mächte, auch dann, wenn es sich um Deutschland handelt. Meine Bereitwilligkeit, in einem solchen Fall für Rußland einzutreten, wird sich nach den Umständen richten, die ich nicht voraussehen kann; ich hielte es nicht für klug, vorher eine Taktik bloßzulegen, die sich, was mich angeht, nicht an legale Mittel gebunden hält. Immerhin bin ich Schriftsteller und kein ausübender Politiker. Ich hielte einen solchen Krieg, dessen Ausgang nicht gewiß sein dürfte, für eine Katastrophe der internationalen Arbeiterbewegung; tritt dergleichen ein, so ist mir keinen Augenblick zweifelhaft, wer der Schuldige ist. 1930
Was würden Sie tun, wenn Sie die Macht hätten? (Rundfrage der „Literarischen Welt“ vom 9. November 1928)
Ignaz Wrobel: Für wen habe ich die Macht –? Eine persönliche Diktatur gibt es nicht; sie ist ein Bürgertraum. Hätte ich die Macht mit den kommunistischen Arbeitern und für sie, so scheinen mir dies die Hauptarbeiten einer solchen Regierung zu sein: 10
Sozialisierung der Bergwerke; Sozialisierung der Schwerindustrie; Aufteilung des Großgrundbesitzes; Absetzung der Länderbürokratie; radikale Personalreform in der Justizverwaltung; Personalreform auf Schulen und Universitäten; Abschaffung der Reichswehr; Schaffung eines sittlichen Strafgesetzes an Stelle jenes in Vorbereitung befindlichen kulturfeindlichen Entwurfs; steuerliche Erfassung der Bauern. Ich glaube, daß im Volk viele Kräfte schlummern, die heute von den Juristen und den uns regierenden Bürovorstehern abgetötet und in der Entwicklung gehemmt werden – mit diesen unverbrauchten Kräften ist auch dann viel zu erreichen, wenn sie „die Bestimmungen nicht kennen“, was ihre Kraft ausmacht. Die von mir genannten Ziele, die heute verlacht werden, weil sie die Wahrheiten von morgen sind, lassen sich nicht auf evolutionärem Wege erreichen – nötig wäre dazu die Revolution, deren Terminologie heute kompromittiert sein mag. Ihre Idee ist unbesiegbar. Wir alle Fünf Die rechts stehende Presse amüsiert sich seit einiger Zeit damit, mich mit allen meinen Pseudonymen als „den vielnamigen Herrn“ hinzustellen, „der je nach Bedarf unter diesem oder unter jenem Namen schreibt“. Also etwa: Schmock oder Flink und Fliederbusch oder so eine ähnliche Firma. Aber wir stammen alle Fünf von Einem Vater ab, und in dem, was wir schreiben, verleugnet sich der Familienzug nicht. Wir lieben vereint, wir hassen vereint – wir marschieren getrennt, aber wir schlagen alle auf denselben Sturmhelm. Und wir hassen jenes Deutschland, das es wagt, sich als das allein echte OriginalDeutschland auszugeben, und das doch nur die schlechte Karikatur eines überlebten Preußentums ist. Jenes Deutschland, wo die alten faulen Beamten gedeihen, die ihre Feigheit hinter ihrer Würde verbergen; wo die neuen Sportjünglinge wachsen, die im Kriege Offi11
ziere waren und Offiziersaspiranten, und die mit aller Gewalt – und mit welchen Mitteln! – wieder ihre Untergebenen haben wollen. Und deren tiefster Ehrgeiz nicht darin besteht: etwas wert zu sein – sondern: mehr wert zu sein als die Andern. Die sich immer erst fühlen, wenn sie einen gedemütigt haben. Jenes Deutschland, wo die holden Frauen daherblühen, die stolz auf ihre schnauzenden Männer sind und Gunst und Liebesgaben dem bereithalten, der durch bunte Uniform ihrer Eitelkeit schmeichelt. Und die in ihrem Empfinden kaltschnäuziger, roher und brutaler sind als der älteste KavallerieWachtmeister. Wir alle Fünf hassen jenes Deutschland, wo der Beamtenapparat Selbstzweck geworden ist, Mittel und Möglichkeit, auf den gebeugten Rücken der Untertanen herumzutrampeln, eine Pensionsanstalt für geistig Minderbemittelte. Wir alle Fünf unterscheiden wohl zwischen jenem alten Preußen, wo – neben den fürchterlichsten Fehlern – wenigstens noch die Tugenden dieser Fehler vorhanden waren: unbeirrbare Tüchtigkeit, Unbestechlichkeit, catonische Strenge und puritanische Einfachheit. Aber es hat sich gerächt, daß man all das nur als Eigenschaften der Herrscherkaste züchtete und den „gemeinen Mann“ mit verlogenen Schullesebüchern und Zeichnungslisten für Kriegsanleihen abspeiste. So sieht kein Mensch einen Hund an wie die regierenden Preußen ihre eignen Landsleute, von deren Steuern und Abgaben sie sich nährten. Und wir hassen jenes Deutschland, das solche Bürger hervorgebracht hat: flaue Kaufleute, gegen die gehalten die alten Achtundvierziger Himmelsstürmer waren – satte Dickbäuche, denen das Geschäft über Alles ging, und die hoch geschmeichelt waren, wenn sie an ihrem Laden das Hoflieferantenschild anheften durften. Sie grüßten noch die leere Hofkarosse und betrachteten ehrfurchtsvoll den Mist der kaiserlichen Pferde. Spalierbildner ihres obersten Commis. Wir alle Fünf lieben die Demokratie. Eine, wo der Mann zu sagen hat, der Freie und der Verantwortungsbewußte. Eine, wo die Menschen nicht „gleich“ sind wie die abgestempelten Nummern einer preußischen Kompanie, jener Inkarnation eines Zuchthausstaates – sondern eine, wo zwischen einem Bankpräsidenten und seinem Portier kein Kastenunterschied mehr besteht, sondern nur ein ökonomischer und einer in der äußern Beschäftigung. Ob sie miteinander Tee
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trinken, ist eine andre Sache. Daß es aber alles beides Menschen sind, steht für uns fest. Jenes Deutschland wollen wir zerstören, bis kein Achselstück mehr davon übrig ist. Dieses wollen wir aufbauen, wir alle Fünf. Und ob das Blatt für die Idioten der Reichshauptstadt und seine geistesverwandte Wulle- und Mudicke-Presse lügt, hetzt oder tadelt: – wir gehören zusammen, wir alle Fünf, und werden sie auf die hohlen Köpfe hauen, daß es schallt, und daß die braven Bürger denken, die kaiserliche Wache ziehe noch einmal auf und der Gardekürassier schlage noch einmal die alte Kesselpauke. Wir sind fünf Finger an einer Hand. Und werden auch weiterhin zupacken, wenns not tut. 1922
Start Wir sind fünf Finger an einer Hand. Der auf dem Titelblatt und: Ignaz Wrobel. Peter Panter, Theobald Tiger. Kaspar Hauser. Aus dem Dunkel sind diese Pseudonyme aufgetaucht, als Spiel gedacht, als Spiel erfunden – das war damals, als meine ersten Arbeiten in der „Weltbühne“ standen. Eine kleine Wochenschrift mag nicht viermal denselben Mann in einer Nummer haben, und so erstanden, zum Spaß, diese homunculi. Sie sahen sich gedruckt, noch purzelten sie alle durcheinander; schon setzten sie sich zurecht, wurden sicherer, sehr sicher, kühn – da führten sie ihr eigenes Dasein. Pseudonyme sind wie kleine Menschen; es ist gefährlich, Namen zu erfinden, sich für jemand anders auszugeben, Namen anzulegen – ein Name lebt. Und was als Spielerei begonnen, endete als heitere Schizophrenie. Ich mag uns gern. Es war schön, sich hinter den Namen zu verkriechen und dann von Siegfried Jacobsohn solche Briefe gezeigt zu bekommen: 13
„Sehr geehrter Herr! Ich muß Ihnen mitteilen, daß ich Ihr geschätztes Blatt nur wegen der Arbeiten Ignaz Wrobels lese, Das ist ein Mann nach meinem Herzen. Dagegen haben Sie da in Ihrem Redaktionsstab einen offenbar alten Herrn, Peter Panter, der wohl das Gnadenbrot von Ihnen bekommt. Den würde ich an Ihrer Stelle...“ Und es war auch nützlich, fünfmal vorhanden zu sein – denn wer glaubt in Deutschland einem politischen Schriftsteller Humor? Dem Satiriker Ernst? Dem Verspielten Kenntnis des Strafgesetzbuches, dem Städteschilderer lustige Verse? Humor diskreditiert. Wir wollten uns nicht diskreditieren lassen und taten jeder seins. Ich sah mit ihren Augen, und ich sah sie alle fünf: Wrobel, einen essigsauern, bebrillten, blaurasierten Kerl, in der Nähe eines Buckels und roter Haare; Panter, einen beweglichen, kugelrunden, kleinen Mann; Tiger sang nur Verse, waren keine da, schlief er – und nach dem Kriege schlug noch Kaspar Hauser die Augen auf, sah in die Welt und verstand sie nicht. Eine Fehde zwischen ihnen wäre durchaus möglich. Sie dauert schon siebenunddreißig Jahre. Woher die Namen stammen –? Die alliterierenden Geschwister sind Kinder eines juristischen Repetitors aus Berlin. Der amtierte stets vor gesteckt vollen Tischen, und wenn der pinselblonde Mann mit den kurzsichtig blinzelnden Augen und dem schweren Birnenbauch dozierte, dann erfand er für die Kasperlebühne seiner „Fälle“ Namen der Paradigmata. Die Personen, an denen er das Bürgerliche Gesetzbuch und die Pfändungsbeschlüsse und die Strafprozeßordnung demonstrierte, hießen nicht A und B, nicht: Erbe und nicht Erblasser. Sie hießen Benno Büffel und Theobald Tiger; Peter Panter und Isidor Iltis und Leopold Löwe und so durchs ganze Alphabet. Seine Alliterationstiere, mordeten und stahlen; sie leisteten Bürgschaft und wurden gepfändet; begingen öffentliche Ruhestörung in Idealkonkurrenz mit Abtreibung und benahmen sich überhaupt recht ungebührlich. Zwei dieser Vorbestraften nahm ich mit nach Hause – und, statt Amtsrichter zu werden, zog ich sie auf. Wrobel – so hieß unser Rechenbuch; und weil mir der Name Ignaz besonders häßlich erschien, kratzbürstig und ganz und gar abscheu14
lich, beging ich diesen kleinen Akt der Selbstzerstörung und taufte so einen Bezirk meines Wesens. Kaspar Hauser braucht nicht vorgestellt zu werden. Das sind sie alle fünf. Und diese fünf haben nun im Lauf der Jahre in der „Weltbühne“ gewohnt und anderswo auch. Es mögen etwa tausend Arbeiten gewesen sein, die ich durchgesehen habe, um diese daraus auszuwählen und alles ist noch einmal vorbeigezogen... Vor allem der Vater dieser Arbeit: Siegfried Jacobsohn. Fruchtbar kann nur sein, wer befruchtet wird. Liebe trägt Früchte, Frauen befruchten, Reisen, Bücher... in diesem Fall tat es ein kleiner Mann, den ich im Januar 1913 in seinem runden Bücherkäfig aufgesucht habe und der mich seitdem nicht mehr losgelassen hat, bis zu seinem Tode nicht. Vor mir liegen die Mappen seiner Briefe: diese Postkarten, eng bekritzelt vom obern bis zum untern Rand, mit einer winzigen, fetten Schrift, die aussah wie ein persisches Teppichmuster. Ich höre das „Ja –?“, mit dem er sich am Telephon zu melden pflegte; mir ist, als klänge die Muschel noch an meinem Ohr... Was war es –? Es war der fast einzig dastehende Fall, daß dem Gebenden ein Nehmender gegenüberstand, nicht nur ein Druckender. Wir senden unsere Wellen aus – was ankommt, wissen wir nicht, nur selten. Hier kam alles an. Der feinste Aufnahmeapparat, den dieser Mann darstellte, feuerte zu höchster Leistung an – vormachen konnte man ihm nichts. Er merkte alles. Tadelte unerbittlich, aber man lernte etwas dabei. Ganze Sprachlehren wiegt mir das auf, was er „ins Deutsche übersetzen“ nannte. Einmal fand er eine Stelle, die er nicht verstand. „Was heißt das? Das ist wolkig!“ sagte er. Ich begehrte auf und wußte es viel besser. „Ich wollte sagen...“, erwiderte ich – und nun setzte ich ihm genau auseinander, wie es gemeint war. „Das wollte ich sagen“, schloß ich. Und er: „Dann sags.“ Daran habe ich mich seitdem gehalten. Die fast automatisch arbeitende Kontrolluhr seines Stilgefühls ließ nichts durchgehen – kein zu starkes Interpunktionszeichen, keine 15
wilde Stilistik, keinen Gedankenstrich nach einem Punkt (Todsünde!) – er war immer wach. Und so waren unsere Beiträge eigentlich alle nur Briefe an ihn, für ihn geschrieben, im Hinblick auf ihn: auf sein Lachen, auf seine Billigung – ihm zur Freude. Er war der Empfänger, für den wir funkten. Ein Lehrer, kein Vorgesetzter; ein Freund, kein Verlagsangestellter; ein freier Mann, kein Publikumshase. „Sie haben nur ein Recht“, pflegte er zu sagen, „mein Blatt nicht zu lesen.“ Und so stand er zu uns, so hat er uns geholfen, zu uns selbst verholfen, und wir haben ihn alle liebgehabt. Wir beide nannten uns, nach einem revolutionären Stadtkommandanten Berlins, gegenseitig: Kalwunde. „Kalwunde!“ sagtest du, wenn du dreiunddreißig Artikel in der Schublade hattest, „Kaiwunde, warum arbeitest du gar nicht mehr – ?“ Und dann fing ich wieder von vorne an. Und wenn das dicke Kuvert mit einem satten Plumps in den Briefkasten fiel, dann hatte der Tag einen Sinn gehabt, und ich stellte mir, in Berlin und in Paris, gleichmäßig stark vor, was du wohl für ein Gesicht machen würdest, wenn die Sendung da wäre. Siehst du, nun habe ich das alles gesammelt... Und du kannst es nicht mehr lesen... „Mensch!“ hättest du gesagt, „ick wer’ doch det nich lesen! Ich habe es ja alles ins Deutsche übersetzt –!“ Das hast du. Und so will ich mich denn mit einem Gruß an dich auf den Weg machen. Starter, die Fahne –! Ab mit 5 PS. 1927
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SPIESSER, SPITZEN UND SATIREN
Gesicht Für George Grosz, der uns diese sehen lehrte
Ein ziemlich gedrungener Kopf, keine allzu hohe Stirn, kühle kleine Augen, eine Nase, die gern in Gläser sich senkt, ein Mund, der kalt befiehlt, und eine unangenehme Zahnbürste, die den Schnurrbart macht – so sieht dieses Gesicht aus. Ein gutfundierter schwarzer Rock, eine mäßig geschlungene Krawatte mit einer Art Perle darin, ein immer sauberer Kragen – das ist auch noch zu sehen. Das Haar ist an den Ohren kurz geschnitten; der ganze Mann ist reinlich, putzt sich morgens die Fingernägel, rasiert sich öder läßt sich rasieren. Schon als junger Mensch drängelte er sich, nicht allzu interessiert, durch die Türen der Kollegsäle; seine Mama sagte: „Hubert, wann kommst du heute nach Hause?“ – und er gab nicht allzu freundlich Auskunft. Büffelte. Bestand Examina. Wurde aufgerufen: „Hubert Soundso...“ Und dann erhob er sich, ein bißchen unterwürfig, ein bißchen angstvoll, nicht sehr aufgeregt, kalt eigentlich. Trat in den Staatsdienst, rückte rasch auf. Lange Vormittage mit schwierigen Aktenarbeiten, mit leeren Pausen, wo das Frühstück aus der Aktentasche genommen wurde – darin lag auch ein Brief, der ärgerlich war, und einer, der für den Abend eine kleine außerdienstliche Freude verhieß. Im übrigen: kalt bis an Herz hinan. Ab und zu mal ein Buch gelesen, das nicht zur Sache gehörte, einmal Spengler versucht, dolles Zeugs –, mit der Briefschreiberin zu Hardts „Tantris“ gegangen. Sehr poetisch. In der Pause: „Möglicherweise werde ich in diesen Tagen in die andere Abteilung versetzt. Na, Gott sei Dank...“ Im Kriege Kompanieführer. Unerbittlich, kalt. Kalt zu den Kanzleidienern, die sich nicht wehren konnten, kalt zu den jungen Assessoren – „Habe das auch mal durchmachen müssen!“ –, kalt zur Welt, kalt zu Gott. Verheiratet. Hat zwei Kinder. Liebt sie auf seine Weise. Lacht gern mal, abends, über einen dicken Witz, weiß noch drei Wirtinnenverse, die andern leider vergessen. Ist felsenfest von der Richtigkeit des Staatsgefüges, der Rechtsprechung, der Kirche und der 18
allgemeinen sittlichen Grundlagen überzeugt. Hat auch weiter nicht darüber nachgedacht. Sieht gar nicht schlecht aus, wenn er am Schreibtisch sitzt und sich, beim Ordnen der vielen Aktenstücke, einmal kurz räuspert... Ist doch wer. Fühlt sich in völliger Harmonie mit Land, Majorität und Volksgemeinschaft. Liebt den preußischen Adel nicht übermäßig – : ist ihm unangenehm. Ist aber tadellos korrekt und höflich, nach oben durchaus kleiner Bürgerlicher. Nach unten: selber Adel. Repräsentiert. Macht Karriere. Wird wohl nächstens irgendein großes Tier werden, Gesandter, Ministerialdirektor, Staatssekretär, was weiß ich. Deutschland? Deutschland. 1924
Die Tür Mein Postamt hat zwei Türen, zwei kleine, braune Türen. Wenn du eine Weile vor diesem Postamt stehst, so siehst du folgendes: Viele Leute gehen auf die linke Tür zu, rütteln an ihr, geben sie mißmutig auf und schlurchen durch die andere. Eine ist immer zu.
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Warum –? Weil, spricht der Weise, der Beamte, der morgens aufschließen darf, wenigstens einmal in seinem Leben „regieren“ muß. Weil er dem Publikum seinen Willen aufzwingen muß. Weil das Amt zeigen muß, daß es auch noch auf der Welt ist. Weil das Postamt nicht dazu da ist, damit wir unsere Briefe und Postanweisungen aufgeben, sondern damit die Beamten regieren können. So hat es den Anschein. Nun geh einmal zu dem höchst entgegenkommenden Geheimrat in der Leipziger Straße und sage ihm das. Er wird freundlich lächeln, dir eine Zigarre anbieten – doch! manchmal tun Geheimräte das! – und wird dir lächelnd auseinandersetzen, daß das mit der Tür doch nur eine kleine Äußerlichkeit sei, nicht der Rede wert, aber wenn du wolltest, so würde er natürlich den Vorsteher anweisen...
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Da lächelst du auch und sagst, das habest du natürlich gar nicht gewollt. Aber, sagst du, eine Äußerlichkeit sei es gerade nicht. Und weil dich der freundliche Geheimrat so fragend ansieht, da stehst du auf und sagst ihm etwa dieses: „Herr Geheimrat! Ihre ganze Beamtenschaft ist zum großen Teil, soweit sie nicht durch diese böse Zeit korrumpiert ist, von erstaunlichem Pflichtbewußtsein und tut ihren schweren Dienst bei ziemlich kümmerlicher Bezahlung. Aber, Herr Geheimrat, sie ist falsch erzogen. Sie ist preußisch erzogen. Gehen Sie einmal, ohne sich zu legitimieren, in ein Anmeldebüro der Polizei, gehen Sie auf Ihre Postämter, gehen Sie in die staatlichen Dienststellen – bei kommunalen ists manchmal etwas besser – und hören und staunen Sie, wie Deutsche von Deutschen behandelt werden. Wie der Beamte in fast allen Fällen nur ,regiert’, was soviel bedeutet wie Schwierigkeiten machen’ – wie er in fast allen Fällen die kümmerlichen Interessen seines kleinen Ressorts viel höher wertet als das, was die Leute von ihm wollen – als das, wozu er eigentlich da ist. Er muß regieren. Er muß, auch wenn er genau weiß, wie zu helfen ist, Leute erst nach Hause schicken, er muß die Dienstvorschriften so genau auslegen, daß kein Haar ungekrümmt bleibt – er muß – schließlich – die zweite Tür zuriegeln, eben – nun, weil er doch etwas zu sagen hat und das den Leuten zeigen muß. Verstehen Sie das, Herr Geheimrat?“ Und der Geheimrat lächelt und sagt etwas von Übereifer der unteren Beamten und räuspert sich, allwas bedeuten soll, daß du nun gehen darfst, und du verabschiedest dich. Und willst zur Tür hinaus. Und da sagt der Geheimrat: „Nicht zu dieser, Herr Wrobel! Diese Tür dürfen nur Beamte benutzen!“ Moral: Solange Preußen sich einbildet, seine Laster wären seine Tugenden, solange wird es wohl auf der Welt nicht recht mitspielen können. 1920
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Was soll er denn einmal werden –? Nämlich Ihr Sohn. Ja, wie ist er denn? Von leichter Trägheit? Mehr schlau als klug? Mehr Sitzfleisch als Charakter? Etwas Intrigant? Kaufmann... nein, Sie haben recht: dazu gehört, trotz der Bürokratisierung der deutschen Industrie, Initiative, wenn er nicht ewig ein Pultknecht bleiben will, Entschlußkraft, Fixigkeit: sonst wird es nichts. Kaufmann – das ist wohl nichts für ihn. Zum Ingenieurberuf hat er keine Neigung? Arzt? Nein? Künstlerische Anlagen – nichts? Seien Sie froh. Aber was sagen Sie da? Es gibt nur eine Sache auf der Welt, die er scheut? Erzählen Sie bitte. Ihr Junge ist der Mensch, der seit seiner frühesten Kindheit „nichts dafür kann“? Der ständig, immer und unter allen Umständen, ablehnt, die Folgerungen aus seinem Verhalten zu ziehen? Der die Vase nicht zerbrochen hat, die ihm hingefallen ist? Der die Tinte nicht umgegossen hat, die er umgegossen hat? Der immer, immer Ausreden sucht, findet, erfindet... kurz, der eine gewaltige Scheu vor der Verantwortung hat? Ja, dann gibt es nur eines. Lassen Sie ihn Beamten werden. Da trägt er die Verantwortung, aber da hat er keine. Nehmen wir einmal an, der Junge werde Lokomotivführer, und da geschieht es ihm, daß er aus Übermüdung nach zehn Stunden Dienst, aus Unachtsamkeit, aus einem jener unerklärlichen Zufälle heraus ein Signal überfährt und seinen Zug auf einen andern setzt. Achtundzwanzig Tote, neununddreißig Schwerverletzte. Wie meinen Sie? Er kann sich auf den Nebel berufen, sich auszureden versuchen...? Ah, Sie kennen Ihr eigenes Land nicht! Es wird ihm alles nichts helfen. § 316 StGB – Gefängnis von einem Monat bis zu drei Jahren; und wenn er auf einen tüchtigen Staatsanwalt trifft, so wird der schon noch etwas andres für ihn herausfinden... haben Sie keine Sorge. Ja, es ist eben ein verantwortungsvoller Posten, und den letzten beißen die Hunde. Als Arzt ist die Sache schon einfacher – eine Verurteilung bei Kunstfehlern ist nur auf Grund von Gutachten möglich, und ehe da einer den andern hineinreitet... aber immerhin: möglich ists schon. 21
Als Kaufmann... bedenken Sie bitte, was geschieht, wenn er in einem großen Betriebe ernsthaft patzt. Ist er ein kleiner Angestellter, fliegt er sofort hinaus – ist er ein großer, so kann er sich zwar drehen und wenden, aber die Börse hat ein wirklich Gutes: sie ist im besten Sinne wundervoll verklatscht, und wer dort einmal als unzuverlässig ausgeschrien wird, der hats sehr schwer. Das Gesetz? Ach, das interessiert die Börsianer nicht so sehr. Sie machen sich ihr Gesetz allein, und es ist besser als das geschriebene, das kann ich Ihnen versichern. Es gibt da so eine Art stillen Boykotts, ganz leise, fast unmerklich – auf einmal ist es mit dem Verfemten vorbei. Die Frage dieser Verantwortung regelt sich ganz von selbst. Überall also, liebe Frau, wird Ihr Junge, wenns hart auf hart geht, für das einstehen müssen, was er angerichtet hat. Das ist schon so im Leben. Nur an einer Stelle nicht. Nur in einer Klasse Menschen nicht. Nur in einer einzigen Position nicht. Als Beamter. Wie das gemacht wird? Und obs auch keiner merkt? In welchem Erdteil leben Sie? Auf dem Mond? Zunächst kommt es zur Erlangung einer Beamtenstellung in zweiter Linie auf die Kenntnisse an. In erster darauf, daß jener dem Beamtenkörper, in den er eintritt, auch paßt, daß er sich mühelos in den Organismus einfügt, der nicht etwa, wie Sie, liebe Frau, zu glauben scheinen, der Zusammensetzung der Bevölkerung entspricht. Dieser Körper hat vielmehr seine eigenen Gesetze, seine von ihm und für ihn erfundenen Tugenden und Fehler, er nimmt nur an, was ihn lebenstüchtiger macht, und er stößt mit unfehlbarem Instinkt ab, was ihn schwächen könnte. Er führt ein Eigenleben. Er schwimmt oben wie Öl auf dem Wasser. Ist es ihm nun gelungen, hier einzudringen, hat er die durchschnittlichen Kenntnisse, und ist er dem Organismus genehm, dann sitzt er so ziemlich wie in Abrahams Schoß. Verstößt er nur nicht gegen die ungeschriebenen Regeln eines stillen Kodex, poltert er nur nicht gegen die ehernen Pfeiler dieses unsichtbaren Doms –: dann wird ihm nichts geschehen.
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Erleben Sie es oft, daß dieser Beamtenorganismus seine Angehörigen an die Strafbehörden ausliefert? Das geschieht fast nie. Also, so denken Sie, liebe Frau, wird da wohl auch nichts vorkommen. Es kommt aber genau so viel vor wie in allen andern Berufen – nur kräht kein Richter danach, weil eine Krähe... nehmen Sie nur einen Stuhl, liebe Frau, und hören Sie gut zu. Wenn zum Beispiel jemand, sehend oder blind, die Valuta seines Landes zugrunde richten läßt, so daß Millionen von Menschen ihr sauer erspartes Vermögen bis auf den letzten Pfennig verlieren; wenn einer die Arbeiter niederschießen läßt, wo sie nur stehen, und wenn er sich brutaldumpf in der Sonne der Gunst uniformierter Verbrecher spiegelt; wenn einer ableugnet, daß es in seinem Bereich jemals Verstöße gegen das Gesetz gegeben hat, wenn seinetwegen die Leute in den Gefängnissen und Zuchthäusern zu Hunderten sitzen; wenn sich einer bei Vergebung von staatlichen Krediten von einem gerissenen litauischen Pferdejuden übers hauen läßt, weil seine in der Beamtenlaufbahn ersessenen Kenntnisse es ihm nicht gestatten, wie ein moderner Kaufmann zu disponieren; wenn einer aus Karrieresucht, aus falsch verstandener Schneidigkeit, aus Autoritätssadismus ein Todesurteil fahrlässig durchdrückt, dessen zugrunde liegende Indizien zusammengeschludert sind.... was meinen Sie, liebe Frau, geschieht mit solchen, wenn ihre Untaten bekannt und erkannt sind? Dann machen sie Erholungsreisen, liebe Frau. Dann fahren sie um die Welt, liebe Frau. Von jenem Schreibersmann Michaelis an, der einer bereits geistesschwach gewordenen Umwelt als Reichskanzler präsentiert wurde, bis zum letzten Kriegsminister –: es ist immer dasselbe. Vorher, wenn sie am Werk sind, reißen sie das Maul auf und weisen auf die schwere Verantwortung hin, die sie tragen. Ja, worin besteht denn die, –? Etwa, wie bei jedem Kaufmann und Chauffeur, in der Möglichkeit, bei fahrlässig herbeigeführtem Mißerfolg strafrechtlich zu büßen, was staatsrechtlich begangen wurde –? Daran kann sich kein Deutscher gewöhnen. Das Äußerste, was sich diese verkorksten Revolutionäre abringen, sind, erschrecken Sie nicht, liebe Frau, „Untersuchungskommissionen“; die kommissionieren und untersuchen und fragen und lassen sich von den Zeugen anschnauzen und kuschen und lassen Protokolle drucken und sitzen dann wieder auf geduldigen Gesäßen... Bestraft wird keiner. Mit 23
seinem Vermögen zahlt keiner. Eingesperrt wird keiner. Ein Versuch, ein einziger, und der deutsche Beamte täte überhaupt nichts mehr. Was? Er soll wirklich und wahrhaftig die Verantwortung tragen, wenn er etwas falsch gemacht hat? Er soll büßen, wenn er etwas ausgefressen hat? Während er doch nur, liebe Frau, ausführte, was ihm seine vorgesetzte Behörde befahl, oder während der Fehler doch nur bei der untergeordneten Behörde lag, oder während es sich nur um einen Kompetenzkonflikt handelte? Liebe Frau –! Wenn Ihr Junge in der Schule nicht versetzt wird, dann darf er mit Ihnen nicht ins Theater gehen. Wenn ein Minister seine Aufgabe bis zum blamablen Zusammenbruch verfehlt hat, Fehler auf Fehler gehäuft, gelogen, aber schlecht gelogen, so schlecht gelogen, daß nicht einmal das Gegenteil von dem wahr war, was er sagte, geschoben, aber dumm geschoben, getäuscht, aber unvollkommen getäuscht –: dann geschieht was? Dann fährt er, unwiderruflich, liebe Frau, ins Ausland. Zur Erholung, liebe Frau. Und so sieht sein Tag aus –: Er erwacht in einem schönen sprungfedrigen Bett, in einem weiten, gut gelüfteten Raum, im Hotel etwa... Er dehnt und streckt sich noch einmal, denn ins Amt braucht er heute nicht zu gehen, sacht erhebt er sich, wäscht sich mit wollüstiger Langsamkeit, so gründlich, wie es in der jeweiligen Familie üblich ist; er bindet sich den Stehkragen um, merkwürdig, welche Vorliebe deutsche Minister für Stehkragen am falschen Ort haben! – und dann wandelt er hinaus ins Freie. Etwa in die südamerikanische Landschaft oder in die asiatische; dort wird er festlich empfangen und hofiert, und Diener machen Verbeugungen, und er besichtigt irgend etwas: ein Nationaldenkmal oder eine Kinderwagenfabrik oder eine Universität für taubstumme Opernsänger... Seine Landsleute umstehen ihn. Und dann wird es plötzlich still um ihn, und er hält eine Rede, und während auf seinem Herzen, der Brief der Deutschen Republik knistert, die ihm mitteilt, daß die fällige Quote seiner Pension, wie verabredet, an die DiscontoGesellschaft überwiesen worden ist, hält er seine Rede und beschimpft sehr vorsichtig, sehr fein, mit jener verschlagenen Dummdreistigkeit, die das hervorragende Kennzeichen seines Standes ist, eben diese Republik. Er weiß: sie wehrt sich nicht. Er war ja die 24
Republik; er kennt sie. Und dann, liebe Frau, fährt er im Auto umher oder in einer Dampfbarkasse und sieht mit seinen runden Brillenaugen die schöne Welt an, die ihm eine Staffage ist, er sieht sie an wie ein besichtigender General, mit jenem Blick, der vorgibt, alles zu sehen, und der doch blind ist bis in den letzten Nerv hinein – und dann setzt er sich mit Muttern, denn Mutter hat er mitgenommen, aufs Schiff und fährt zurück in die liebe Heimat. Und da wird er dann Aufsichtsrat, wegen seiner guten Beziehungen zu den Behörden, und weil er beamtisch sprechen kann; und intriguiert ein bißchen in den politischen Parteien, und wenn er besonders wild ist, dann aspiriert er auf den Präsidentenposten... liebe Frau, die Welt ist so reich. Man nennt das: Studienfahrt. Und währenddessen hocken seine Opfer in den Zellen; und währenddessen schuften die von ihm geschädigten alten Leute wieder in irgendeinem Papiergeschäft oder trappeln als Versicherungsagenten auf den Straßen; und währenddessen prozessieren Tausende seinetwegen und laufen Zehntausende auf ein Amt und klagen Hunderttausende, denen er durch seine Politik das Lebensglück abgeschnürt hat... immer mit der Verantwortung. Die der Blitz verschont hat, stehen mit pfiffigen Mienen herum, nennen ihre charakterlose Schwäche Demokratie und wenn jener Geschichten macht, so sagen sie: „Die Geschichte wird richten.“ Das tut nicht weh. Eher, liebe Frau, bricht sich einer, der auf einen Stuhl steigt, ein Bein, als daß einem deutschen Minister etwas passiert, und wenn er noch so viel Böses angerichtet hat. Es ist das gefahrloseste und das verantwortungsloseste Metier von der Welt. Liebe Frau, lassen Sie Ihren Sohn Beamten werden. 1928
Die Glaubenssätze der Bourgeoisie Die Bourgeoisie ist in keinem Lande sehr erfreulich. Der Nationalcharakter kann ihre spezifischen Eigenschaften mildern oder noch mehr ans Licht treten lassen – es scheint, daß grade diese Vermögens- und Erwerbssphäre eine Geisteshaltung bedingt, die platt macht und hart, chauvinistisch aus Angst, herzlos aus Mangel an 25
Horizont und roh aus Phantasielosigkeit. Darin unterscheidet sich der belgische Spießer nicht vom amerikanischen, der deutsche nicht vom französischen; Menschen, die mehr verdienen, als es die Notdurft erfordert, und nicht genug, um Standesansprüchen zu genügen, die sie übernommen haben, ohne sie zu verstehen, sind eben so. Aus den verschiedenen Schichten des Bürgertums heben sich mannigfaltige Typen ab, die gesondert zu betrachten sind. Niemand kann sie alle kennen, niemand alle beschreiben – sie sind schon in einem einzelnen Lande so zahlreich, daß ein Menschenleben nicht ausreicht, auch nur die Hälfte zu schildern. Das wäre zwar nicht die „Aufgabe“ des Dichters, der kein Schüler ist, – aber eine Aufgabe wäre es schon, und was mich angeht, so interessieren mich die kümmerlichen Visionen braver Schriftstellerknaben viel weniger als die Wirklichkeit, die einer so beschreibt, daß sie zum Greifen nahe gerückt ist. Die verschiedenen Schichten des Bürgertums kristallisieren bestimmte Axiome, deren sich die Axiomträger nicht immer bewußt sind; vielfach leben sie dumpf dahin, ihrer selbst nicht bewußt, wie ja überhaupt die leeren Räume im Denken des Menschen viel, viel größer sind, als man gemeinhin annimmt. Bei dem Satz: „Es gibt einen Gott“ oder „Der Walfisch wirft lebendige Junge“ denken sich die meisten Menschen überhaupt nichts; sie haben das in der Schule gelernt, und so ist es ihnen verblieben. Die Axiome, von denen ich spreche, sind Glaubenssätze, hingenommen in absolutem Gehorsam, ehern errichtet, für das ganze Leben Geltung behaltend. Sie sind nicht zu allen Zeiten dieselben gewesen: der Panzer von Vorurteilen, mit denen sich ein Bremer Bürger aus dem Jahre 1874 umgeben hat, war aus andern Plättchen geschmiedet als der eines bayrischen Gymnasialdirektors aus dem Jahre 1928. Aber sie tragen diesen Kettenpanzer bis zum Tode und legen ihn nie ab. Sie haben ihre Vakua; sie teilen die Welt sehr streng in Groß- und Kleingedrucktes ein, was ferne ist, verschwimmt, und aus den Niederungen ihrer trüben Erkenntnis kommen sie nicht heraus. Das ist immer so gewesen. Weil sie aber heutzutage vom Hochmutteufel besessen sind, der ihnen ins Ohr flüstert, wer die Technik habe, brauche keine Seele und habe sie außerdem schon –: deshalb verlohnt es, aus dem reichhaltigen Herbarium zwei Pflanzen herauszugreifen, die ich mir gepreßt habe. Cha26
rakteristisch für einen Menschen ist das, was ihm selbstverständlich ist. Wollen mal sehen. Frau Emmi Pagel aus Guben (Niederlausitz), Ehefrau des Buchhalters Paul Pagel, der sich in seinen Papieren „Werkbeamter“ nennt. Frau Pagel ist mittelgroß, hat um eine Kleinigkeit zu dicke Beine, breite Hüften, eine frische Gesichtsfarbe, ist gut gewaschen, aber nicht sehr gepflegt; sie hat manikürte dicke Finger, mit einem Siegelring und einem verzierten Ehering. Kurzgeschnittenes Haar. Durchaus keine Kleinstädterin, sondern eben eine Frau, die in einer kleinen Stadt wohnt. Dies sind ihre zehn Glaubenssätze: I. Unter dem Kaiser war alles besser. II. Ein Oberbuchhalter ist mehr als ein Buchhalter. III. Ein Brief darf nicht mit „Ich“ anfangen; das ist unhöflich. IV. Schuld an dem ganzen Elend sind die Juden. Die Juden sind schmutzig, geldgierig, materiell, geil und schwarz. Sie haben alle solche Nasen und wollen Minister werden, soweit sie es nicht schon sind. V. Es gibt natürlich keine Gespenster. Immerhin ist es unheimlich, nachts auf einen Friedhof zu gehen oder allein in einem großen dunklen Haus zu sein. (Mäuse.) VI. Dienstboten sind eine von den Besitzenden verschiedene Rasse; aber sie empfinden das nicht so. VII.
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Wenn man Rhabarber nachzuckert, wird er sauer. (Dieser Satz ist völlig unsinnig; er ist durch ein Mißverständnis entstanden, also unausrottbar.) VIII. Kommunismus ist, wenn alles kurz und klein geschlagen wird. In Rußland werden die Frauen vergewaltigt, sie haben eine Million Menschen ermordet. Die Kommunisten wollen uns alles wegnehmen. IX. Was allen und mir gefällt, ist hübsch; was allen, mir aber nicht gefällt, ist schön. X. Alle Welt ist gegen Deutschland. – aus Neid. Soweit Frau Pagel. Frau Rechtsanwalt Margot Rosenthal hingegen ist ziemlich groß, eine Spur zu mager, um schlank zu sein, sehr gepflegt, sieht aber nicht immer so aus. Das Haar ist nicht fettig, man denkt aber, es sei fettig. Der Teint... „Sie glauben nicht, was ich für den Teint schon alles...“ I. Christen sind dümmer als Juden und werden aus diesem Grunde „Gojim“ genannt. II. Natürlich gibt es keine Gespenster. Immerhin muß man aber nicht gerade nachts allein auf einen Kirchhof... ich muß nicht von allem haben. III. Ein Mensch, der französische Stiche sammeln und kaufen kann, ist ein gebildeter Mensch. IV.
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Kommunismus ist, wenn alles kurz und klein geschlagen wird. Die Kommunisten wollen uns alles wegnehmen, wo man sich Stück für Stück so mühsam zusammengekauft hat. Arbeiter muß es natürlich geben, und man soll sie auch anständig behandeln. Am besten ist es, wenn man sie nicht sieht. V. Alle Welt ist gegen die Juden – aus Neid. VI. Kunst darf nicht übertrieben sein. VII. Wenn man in einem eleganten Hotel sitzt, ist man selber elegant. VIII. Bei Gewitter muß man den Gashahn zudrehen. (Siehe Frau Pagel, Ziffer VII: Rhabarber.) IX. Nach Paris kann man keinen Mann allein schicken, meinen schon gar nicht. Die Axt im Haus... X. Mein Mann ist zu gutmütig. Soweit Frau Rosenthal. Und wer pflückt die andern –? 1928
Der Kontrollierte Da ist die Berliner Straßenbahn... Aber es wird ja auf den anderen Bahnen nicht viel anders sein... Also da sitzen nun die Leute da und träumen und glotzen und unterhalten sich, und manche lesen – –. Auf einmal betritt ein uniformierter Mann den Wagen und sagt: „Die Fahrscheine bitte!“ – Das ist ein Beamter, der hauptsächlich zur Kontrolle der Schaffner angestellt ist. 29
Pflichtschuldig wühlt alles in den Taschen. Alle reichen das Stückchen Papier dem Beamten hin. Nur einer hat seinen Fahrschein verloren. Es ist doch ein Bedientenvolk, das deutsche. Denn nun sehen alle den Mann an, als ob er ein Verbrechen begangen habe. Denn sie bilden sich ein, der Beamte kontrolliere sie. Dabei ist der Beamte höflich und tut eigentlich nichts, was diesen Aberglauben bestärken könnte. Aber sie denken sich das so und sind voller Ehrfurcht und verabscheuen alle den Mann, der seinen Fahrschein verloren hat. Einen Augenblick hat er den ganzen Wagen gegen sich. Manche mögen ja ein bißchen teilnahmsvoll zusehen, wie er sich abmüht, und sie denken sich schaudernd in seine entsetzliche Lage... Sie ducken sich. Sie bekommen einen roten Kopf. Der Verlierer einen dunkelroten. Er entschuldigt sich. Er sagt nicht: „Ich hab ihn verlegt, ich werde meinethalben nachbezahlen...“ Er fühlt sich ertappt. Man sollte nicht denken, einen Erwachsenen vor sich zu haben, der vielleicht eine Frau hat, Kinder, die er erziehen soll, Angestellte, die er anschnauzt... Hier ist er ganz klein. Denn hier ist das Heiligste an einen Deutschen herangetreten: die Uniform. Und da hört der Spaß auf. Eine Kleinigkeit, eine Belanglosigkeit, gewiß. Aber doch wieder eine einfache Beobachtung des täglichen Lebens, die zeigt, wie hier der einzelne gar nicht erst wagt, zu sagen: „Hallo! Hier bin ich!“ – Sondern er bekommt einen roten Kopf, duckt sich und sucht den Fahrschein. Und das ist eine Misere des deutschen Lebens. 1913
Das Mitglied In mein’ Verein bin ich hineingetreten, weil mich ein alter Freund darum gebeten. Ich war allein. Jetzt bin ich Mitglied, Kamerad, Kollege – das kleine Band, das ich ins Knopfloch lege, ist der Verein. 30
Wir haben einen Vorstandspräsidenten und einen Kassenwart und Referenten und obendrein den mächtigen Krach der oppositionellen Minorität, doch die wird glatt zerschellen in mein’ Verein. Ich bin Verwaltungsbeirat seit drei Wochen. Ich will ja nicht auf meine Würde pochen – ich bild mir gar nichts ein... Und doch ist das Gefühl so schön, zu wissen: sie können mich ja gar nicht missen in mein’ Verein. Da draußen bin ich nur ein armes Luder. Hier bin ich ich – und Mann und Bundesbruder in vollen Reihn. Hoch über uns, da schweben die Statuten. Die Abendstunden schwinden wie Minuten in mein’ Verein. In mein’ Verein werd ich erst richtig munter. Auf die, wo nicht drin sind, seh ich hinunter – was kann mit denen sein? Stolz weht die Fahne, die wir mutig tragen. Auf mich könn’ Sie ja ruhig „Ochse“ sagen, da werd ich mich bestimmt nicht erst verteidigen. Doch wenn Sie mich als Mitglied so beleidigen...! Dann steigt mein deutscher Gruppenstolz! Hoch Stolze-Schrey! Freiheit! Gut Holz! Hier lebe ich. Und will auch einst begraben sein in mein’ Verein. 1926
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Die Redensart Als Friedrich, August von Sachsen noch saß auf seinem Thron, da tat die Empörung wachsen – horch, horch – die Revolution! Im Schloß erschrak man nicht wenig, der Kammerherr wurde ganz blaß. Da sagte der gute Geenij: „Ja, dürfen die denn das –“ Der Satz hat sich eingefressen. Ich sag ihn bei Tag und bei Nacht. Ich sag ihn bei Jungdo-Adressen, ich sag ihn, wenn Hitler was macht. Ich sag ihn, wenn Mädchen sich lieben und wenn einer reizt mit dem As und wenn sie um Schleichern was schieben: „Ja, dürfen die denn das –?“ Wie die Deutschen so tiefsinnig schürfen! Jeder Mann ein Berufungsgericht. Nur wer darf, der darf bei uns dürfen – die andern dürfen nicht. Und sitzt in der peinlichsten Lage der Deutsche, geduckt und klein – dann stellt er die deutscheste Frage und schläft beruhigt ein. 1930
Ratschläge für einen schlechten Redner Fang nie mit dem Anfang an, sondern immer drei Meilen vor dem Anfang! Etwa so: „Meine Damen und meine Herren! Bevor ich zum Thema des heutigen Abends komme, lassen Sie mich Ihnen kurz...“
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Hier hast du schon so ziemlich alles, was einen schönen Anfang ausmacht: eine steife Anrede; der Anfang vor dem Anfang; die Ankündigung, daß und was du zu sprechen beabsichtigst, und das Wörtchen kurz. So gewinnst du im Nu die Herzen und die Ohren der Zuhörer. Denn das hat der Zuhörer gern: daß er deine Rede wie ein schweres Schulpensum aufbekommt; daß du mit dem drohst, was du sagen wirst, sagst und schon gesagt hast. Immer schön umständlich! Sprich nicht frei – das macht einen so unruhigen Eindruck. Am besten ist es: du liest deine Rede ab. Das ist sicher, zuverlässig, auch freut es jedermann, wenn der lesende Redner nach jedem viertel Satz mißtrauisch hochblickt, ob auch noch alle da sind. Wenn du gar nicht hören kannst, was man dir so freundlich rät, und du willst durchaus und durchum frei sprechen... du Laie! Du lächerlicher Cicero! Nimm dir doch ein Beispiel an unsern professionellen Rednern, an den Reichstagsabgeordneten – hast du die schon mal frei sprechen hören? Die schreiben sich sicherlich zu Hause auf, wann sie „Hört! hört!“ rufen... ja, also wenn du denn frei sprechen mußt: Sprich, wie du schreibst. Und ich weiß, wie du schreibst. Sprich mit langen, langen Sätzen – solchen, bei denen du, der du dich zu Hause, wo du ja die Ruhe, deren du so sehr benötigst, deiner Kinder ungeachtet, hast, vorbereitest, genau weißt, wie das Ende ist, die Nebensätze schön ineinandergeschachtelt, so daß der Hörer, ungeduldig auf seinem Sitz hin und her träumend, sich in einem Kolleg wähnend, in dem er früher so gern geschlummert hat, auf das Ende solcher Periode wartet... nun, ich habe dir eben ein Beispiel gegeben. So mußt du sprechen. Fang immer bei den alten Römern an und gib stets, wovon du auch sprichst, die geschichtlichen Hintergründe der Sache. Das ist nicht nur deutsch – das tun alle Brillenmenschen. Ich habe einmal in der Sorbonne einen chinesischen Studenten sprechen hören, der sprach glatt und gut französisch, aber er begann zu allgemeiner Freude so: „Lassen Sie mich Ihnen in aller Kürze die Entwicklungsgeschichte meiner chinesischen Heimat seit dem Jahre zweitausend vor Christi Geburt...“ Er blickte ganz erstaunt auf, weil die Leute so lachten.
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So mußt du das auch machen. Du hast ganz recht: man versteht es ja sonst nicht, wer kann denn das alles verstehen, ohne die geschichtlichen Hintergründe... sehr richtig! Die Leute sind doch nicht in deinen Vortrag gekommen, um lebendiges Leben zu hören, sondern das, was sie auch in den Büchern nachschlagen können... sehr richtig! Immer gib ihm Historie, immer gib ihm. Kümmere dich nicht darum, ob die Wellen, die von dir ins Publikum laufen, auch zurückkommen – das sind Kinkerlitzchen. Sprich unbekümmert um die Wirkung, um die Leute, um die Luft im Saale; immer sprich, mein Guter. Gott wird es dir lohnen. Du mußt alles in die Nebensätze legen. Sag nie: „Die Steuern sind zu hoch.“ Das ist zu einfach. Sag: „Ich möchte zu dem, was ich soeben gesagt habe, noch kurz bemerken, daß mir die Steuern bei weitem...“ So heißt das. Trink den Leuten ab und zu ein Glas Wasser vor – man sieht das gerne. Wenn du einen Witz machst, lach vorher, damit man weiß, wo die Pointe ist. Eine Rede ist, wie könnte es anders sein, ein Monolog. Weil doch nur einer spricht. Du brauchst auch nach vierzehn Jahren öffentlicher Rednerei noch nicht zu wissen, daß eine Rede nicht nur ein Dialog, sondern ein Orchesterstück ist: eine stumme Masse spricht nämlich ununterbrochen mit. Und das mußt du hören. Nein, das brauchst du nicht zu hören. Sprich nur, lies nur, donnere nur, gcschichtele nur. Zu dem, was ich soeben über die Technik der Rede gesagt habe, möchte ich noch kurz bemerken, daß viel Statistik eine Rede immer sehr hebt. Das beruhigt ungemein, und da jeder imstande ist, zehn verschiedene Zahlen mühelos zu behalten, so macht das viel Spaß. Kündige den Schluß deiner Rede lange vorher an, damit die Hörer vor Freude nicht einen Schlaganfall bekommen. (Paul Lindau hat einmal einen dieser gefürchteten Hochzeitstoaste so angefangen: „Ich komme zum Schluß.“) Kündige den Schluß an, und dann beginne deine Rede von vorn und rede noch eine halbe Stunde. Dies kann man mehrere Male wiederholen.
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Du mußt dir nicht nur eine Disposition machen, du mußt sie den Leuten auch vortragen – das würzt die Rede. Sprich nie unter anderthalb Stunden, sonst lohnt es gar nicht erst anzufangen. Wenn einer spricht, müssen die andern zuhören – das ist deine Gelegenheit. Mißbrauche sie. Ratschläge für einen guten Redner Hauptsätze. Hauptsätze. Hauptsätze. Klare Disposition im Kopf – möglichst wenig auf dem Papier. Tatsachen, oder Appell an das Gefühl. Schleuder oder Harfe. Ein Redner sei kein Lexikon. Das haben die Leute zu Hause. Der Ton einer einzelnen Sprechstimme ermüdet; sprich nie länger als vierzig Minuten. Suche keine Effekte zu erzielen, die nicht in deinem Wesen liegen. Ein Podium ist eine unbarmherzige Sache – da steht der Mensch nackter als im Sonnenbad. Merk Otto Brahms Spruch: Wat jestrichen is, kann nich durchfalln. 1930
Zeitungsdeutsch und Briefstil Es ist schon einmal besser gewesen: vor dem Kriege. Das heißt nicht etwa, die gute, alte Zeit heraufbeschwören – man blättere nach, und man wird von damals zu heute einen bösen Verfall der deutschen Sprache feststellen. In zwei Sparten ist das am schlimmsten: in der Presse und in den Briefen, die die Leute so schreiben. Was in den Zeitungen aller Parteien auffällt, ist ein von Wichtigkeit triefender und von Fachwörtern schäumender Stil. Die Unart, in alle Sätze ein Fachadverbium hineinzustopfen, ist nunmehr allgemein geworden. Man sagt nicht: „Der Tisch ist rund.“ Das wäre viel zu einfach. Es heißt: „Rein möbeltechnisch hat der Tisch schon irgendwie eine kreisrunde Gestalt.“ So heißt das. Sie schwappen über von „militärwissenschaftlich“, „städtebaupolizei35
lich“ und „pädagogisch-kulturell“. Gesagt ist mit diesem Zeug nicht viel: man weiß ja ohnehin, daß in einem Aufsatz über das Fußballspiel nicht von Kochkunst die Rede ist. Aber der betreffende Fachmann will dem Laien imponieren und ihm zeigen, wie entsetzlich schwer dieses Fach da sei... Die meisten Zeitungsartikel gleichen gestopften Würsten. In den Briefen ist es etwas andres. Da regiert die Nachahmung des flegelhaften Beamtenstils. Es ist rätselhaft, wie dieses Volk, das angeblich so unter seinen Beamten leidet, sich nicht genugtun, kann, ihnen nachzueifern – im Bösen, versteht sich. Ist es denn nicht möglich, höflich zu schreiben? Aber jede Speditionsfirma sieht ihre Ehre darin, Briefe herauszuschicken, die wie „Verfügungen“ anmuten. Da wird ehern „festgestellt“ (damit es nicht mehr wackelt); da wird dem Briefempfänger eins auf den Kopf gehaun, daß es nur so knallt, und das ist nun nicht etwa „sachlich“, wie diese Trampeltiere meinen, die da glauben, Glattheit lenke von der Sache ab – es ist einfach ungezogen. Sie haben vor allem von den Beamten gelernt, jeden Zweifel von vornherein auszuschalten. Liest man die Briefe, so sieht man immer vor dem geistigen Auge: Tagesbefehl 1. Es stehen bereit: 8.30 Uhr vormittags Abteilung Löckeritz auf der Chaussee Mansfeld-Siebigerode... 2. Ich befinde mich im Schloß und so fort – als ob man nicht auch in einem Geschäftsbrief an den entscheidenden Stellen leicht mildern könnte. Aber nein: sie regieren. In erotisch-kultureller Beziehung denke eines solchen Korrespondenten so:
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ich mir den Liebesbrief
Geheim! Tagebuch-Nr. 69/218. Hierorts, den heutigen 1. Meine Neigung zu Dir ist unverändert. 2. Du stehst heute abend, 7 ½ Uhr, am zweiten Ausgang des Zoologischen Gartens, wie gehabt. 3. Anzug: Grünes Kleid, grüner Hut, braune Schuhe. Die Mitnahme eines Regenschirms empfiehlt sich. 4. Abendessen im Gambrinus, 8.10 Uhr. 5. Es wird nachher in meiner Wohnung voraussichtlich zu Zärtlichkeiten kommen. (gez.) Bosch, Oberbuchhalter „An einer Seite Prosa wie an einer Bildsäule arbeiten...“, schrieb Nietzsche. So siehst du aus. 1929
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Bilder aus dem Geschäftsleben „Republiken oder Kaiserreiche – ‘s ist immer das gleiche, immer das gleiche!“
Der Portier Der Portier hat einen Stehbauch und ist ein stattlicher Mann. Er war früher herrschaftlicher Diener oder Schutzmann. Er ist 1,80 Meter groß und hat, wenn er nicht glattrasiert ist, einen martialischen Schnurrbart. Der Portier kennt alle Leute des Hauses und grüßt sie morgens, wenn sie kommen. Er grüßt genau abgestuft: den Chef militärisch, straff und untergeben, mit einer Miene, die besagt: „Wir zwei beide gehören doch zusammen!“ – die unterstellten nachgeordneten Direktoren sehr höflich und mit einer gewissen Anerkennung; die Prokuristen höflich; die gewöhnlichen Angestellten kurz, aber sachlich, die Lehrlinge gar nicht. Die Schreibmaschinendamen werden je nach der Hübschheit von ihm gegrüßt, dabei verklärt ein gewinnendes und väterliches Lächeln seine erhabenen Züge. Der Portier kennt sämtliche Kneipen der Umgebung sowie alle Chauffeure. Der Portier frühstückt in seiner Loge riesige Wurststullen; zu Mittag ißt er große Scheiben Rindfleisch und trinkt dazu aus einem riesigen Glase Bier. Wenn sein Schnurrbart vor Schaum trieft und gerade jemand kommt, zieht er gemächlich schlürfend den Schaum ein und geht majestätisch, um zu sehen, was es da draußen gibt. Der Portier weiß genau, wann wer zu spät kommt. Dann sieht er den Übeltäter befehlshaberisch von oben bis unten an, so daß dem noch übler zumute wird, als ihm sowieso schon war. Der Portier hat nicht gern, wenn gewöhnliche Leute den Fahrstuhl benutzen. Der Portier ist immer im Betrieb, der Fahrstuhl nur, wenn er es wünscht. Der Fahrstuhl ist nur für den Portier und die Chefs da. Portiers sind ein unumgänglicher Schmuck der Fassade. Der Portier nimmt Trinkgeld im Schatten seines riesigen Bauches, stumm, höchstens nur leise einen Dank brummelnd, wie wenn eine feierliche Handlung, die sich von selbst versteht, vonstatten gegangen wäre. Der Portier kommt sich unentbehrlich für den Fortgang des gesamten Betriebes vor.
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Der Angestellte, der etwas werden will Der Angestellte, der etwas werden will, ist von beflissenem Eifer. Er steht kurz vor seiner Beförderung zum (... nach Belieben auszufüllen). Dieser Angestellte ist schon eine Viertelstunde vor Beginn des Dienstes da und geht niemals mit den andern nach Hause, sondern bleibt, sehr wichtig mit einer Feder hinter dem Ohr, bis sieben Uhr des Abends. Der Angestellte, der etwas werden will, steckt auffallend viel mit den Prokuristen zusammen und schielt heimlichsehnsüchtig auf die Sondertoilette, die jene benutzen dürfen. Der Angestellte, der etwas werden will, hat manchmal schon etwas Herablassendes im Ton, wenn er mit den jüngeren Kollegen spricht. Er kritisiert niemals Maßnahmen der Geschäftsleitung, sondern findet selbst für die blödsinnigsten Anordnungen der Chefs immer irgendeinen Entschuldigungsgrund. Wenn das ganze Büro schreit: „Na, das versteh ich nicht!“ – so sagt er mit einer gewissen Überlegenheit: „Wahrscheinlich sind die Chefs der Meinung, daß...“ Der Angestellte, der etwas werden will, arbeitet musterhaft, mit zusammengepreßten Lippen, und achtet sehr darauf, daß kein anderer etwas werden kann. Eines Tages wird seine Mühe gelohnt – er wird befördert. Es überrascht ihn wenig. Er sieht bereits darauf, die nächste Stufe zu erklimmen. Er ist mit Vorsicht zu genießen, weil er beim Klettern gern nach unten tritt. Der Prokurist Der Prokurist ist meistens ein etwas ergrauter Mann, den eine leise Resignation umspielt. Geschäftsteilhaber kann er nicht werden, das weiß er ganz genau. Er hat so ziemlich alles erreicht, was man in diesem Haus erreichen kann: vom Portier zuvorkommend und vertraulich gegrüßt zu werden, von niemand als vom Chef Weisungen entgegenzunehmen, ziemlich selbständig walten zu können, eine ganz angenehme Tantieme zum Abschluß des Bilanzjahres zu beziehen. Er hat kaum noch Wünsche. Der Prokurist hat ein eigenes Zimmer mit einem gediegenen polierten Schreibtisch und ein paar Blumen darauf. Eine bronzene Aschenschale und eine glänzende Papierschere deuten auf ein stattgehabtes Jubiläum. Der Prokurist meldet 39
sich am Telephon nur mit seinem Namen, einfach, stolz-bescheiden, so nach der Melodie: „Ich habe dem nichts hinzuzufügen!“ – Der Prokurist hat Klingeln auf dem Tisch, auf die er regierend drückt. Meist kommt niemand. Der Prokurist ist viel cheflicher als der Chef und handelt sämtliche Ausgaben bis zur Bewußtlosigkeit herunter. Die Chefs wissen, was sie an ihm haben, hüten sich aber, es ihn allzusehr wissen zu lassen. Der Prokurist kennt sämtliche Aktien und Korrespondenzen von Anbeginn der Welt an. Er hat alles, unter anderm eine sehr häßliche Frau, von der man sich nicht denken kann, daß sie jemals jung gewesen ist. Auch vom Prokuristen sich das vorzustellen, ist nicht ganz einfach. Die jüngeren Angestellten flüstern sich zu: „Der hat hier als gewöhnlicher Korrespondent angefangen!“ – Aber das ist nur so eine Façon de parler – eine rationalistische Erklärung des Götterglaubens. Es glaubt auch niemand so recht daran. Der Prokurist war, ist und wird sein. Er gehört zum Haus wie die alte Uhr auf dem Gang und die Eingangstür, deren Muster man im Schlafe sieht. Der Prokurist soll eine kleine Einlage im Geschäftskapital haben. Er hat ein laufendes Konto. Niemand weiß genau, was er eigentlich bezieht. Er kommt sich vollkommen unentbehrlich vor. Die Schreibmaschinendame Das junge Mädchen, das an der Schreibmaschine tippt, ist manchmal hübsch. Sie kommt morgens, zwei Minuten nach neun, ein bißchen atemlos ins Geschäft, weil sie die Straßenbahn versäumt hat, Sie lacht den Portier an und geht rasch an ihre Mitrailleuse. Das Schreibmaschinenmädchen klappt die Maschine auf, ordnet ihre Papiere und raschelt damit. Dann beginnt sie, ihren anwesenden Freundinnen eine lange Geschichte von gestern zu erzählen; sie ist bei ihrer Tante gewesen und hat so schrecklich viel Baumkuchen gegessen, daß ihr heute noch ganz... „Emmi, du hast ja eine neue Bluse an!“ – Start der neuen Bluse. Begeisterungsschreie. Innerliches Gefühl: „Steht ihr gar nicht!“ – Hierauf begibt sich die Schreibmaschinendame mit ihrer besten Freundin auf den Ort, wohin keine Sonn’ mehr scheint, und teilt ihr etwas unter dem Siegel der Verschwiegenheit mit. Es betrifft Franz, der wieder geschrieben hat. 40
Wenn er nicht geschrieben hätte, wäre alles ausgewesen. So ist aber nicht alles aus. Beinahe wäre es aber. Sie kehren mit angeregten Augen auf den Kriegsschauplatz zurück. „Wo waren Sie denn so lange?“ Darauf lautet die Antwort: „Gott. – –!“, was mit drei „t“ auszusprechen ist. Das Schreibmaschinenmädchen nimmt Stenogramme auf und hat ihre erkorenen Lieblinge und Feinde unter den diktierenden Männern. Einer ist schick, einer unangenehm, weil er so schnell diktiert, einen kann sie überhaupt, ohne nähere Begründung, nicht leiden, und von dem, für den sie immer schreibt, möchte sie gern versetzt werden. Sie stenographiert flott, fragt nie und klappert nachher, daß die Funken stieben. Fremdwörter sind ihr ein Greuel; dem Prokuristen, wenn er sie nachher liest, auch. Der Schreibmaschinendame muß man Schokolade mitbringen, am besten von Zeit zu Zeit, weil sie sonst schlecht funktioniert. Mit Schokolade funktioniert sie allerdings nicht besser. Das Schreibmaschinenmädchen hat einen Bräutigam, der gegen Mittag anzutelephonieren pflegt. Die Stimme des Mädchens am Telephon wird dann leise, umgibt sich gewissermaßen mit einem Schutzwall gegen die Zuhörer und hat doch einen zärtlichen Klang des tiefsten Einverständnisses. Nach vier Tagen kauft sich das Schreibmaschinenmädchen dieselbe Bluse wie ihre Freundin. Sie steht ihr. Das Schreibmaschinenmädchen heiratet früher oder später oder wird Sekretärin Die Sekretärin ist eine ausgekochte Dame, der keiner etwas erzählen kann. Das Haus munkelt, sie habe mit dem Chef ein Verhältnis. Das stimmt aber nicht: dazu ist sie viel zu schlau. Die Sekretärin ist zukkersüß zur Gattin des Chefs, was diese mit besonderem Mißtrauen erfüllt. Die Sekretärin ist Herrin über die Zeit des Chefs. Sie sitzt im Vorzimmer und sagt: „Herr Hannemann hat jetzt keine Zeit!“, auch, wenn er gar nicht da ist. Die Sekretärin setzt alles durch, was sie haben will, weil sie im Schatten des Gewaltigen arbeitet. Die Sekretärin ist gerissen, sehr fleißig und lügt weitaus besser als die meisten Leute im Hause. Die Sekretärin weiß genau, was der Chef mag oder nicht mag – sie richtet sich auch in den meisten Fällen danach. Sie 41
hat öfter eine Hornbrille, immer aber eine souveräne Verachtung für den breiten Heerbann der Angestellten. Die Sekretärin wünscht nicht, daß jemand in das Sekretariat kommt. Ihre erste Regierungshandlung ist gewöhnlich, dortselbst ein Schild anzubringen: „Unbefugten ist der Eintritt streng verboten.“. Die Sekretärin hat neben der Schreibmaschine eine reizende, kleine Kaffeetasse, einen Nagelpolierer und ein unpassendes Buch. Sie kommt sich total unentbehrlich vor. Der Chef Der Chef ist ein verheirateter Mann von etwa fünfundvierzig Jahren und einem nie ganz neuen Hut. Der Chef kommt gegen halb zehn ins Büro, fragt: „Was Neues?“, erwartet auf diese Frage keine Antwort und macht sich an die Post. Der Chef hat eine Laune (die andern haben auch eine Laune, bringen sie aber nicht ins Büro mit, sondern geben de in der Garderobe ab). Der Chef ist sehr gewitzt, mitunter klug; in gewissen Sachen dagegen von Gott geschlagen und mit einem Brett vor dem Kopf versehen. Der Chef hat ganz andere Sachen im Kopf, als das Personal denkt. Vor allem denkt er gar nicht so viel an das Personal, wie das Personal annimmt. Der Chef hat seine eigene Meinung über seine Leute, meistens die richtige. Eine falsche ist ihm mit gar keinen Mitteln aus dem Gehirn zu schlagen. Der Chef telephoniert immer. Der Chef hat nie Zeit. Der Chef hört nie zu, wenn man etwas mit ihm bespricht. Der Chef ist imstande, nach einer ganz wichtigen Erklärung eines Angestellten, die sich, der den ganzen Nachmittag über ausgedacht hat, zu sagen: „Sagen Sie mal, haben Sie eigentlich mal das Unkostenkonto durchgesehen?“ – Der Angestellte verliert den Faden, ärgert sich grün, verhaspelt sich und berichtet mit erstickter Stimme über das Unkostenkonto. Der Chef vergißt das meiste, was man ihm sagt, und macht die Sekretärin dafür verantwortlich. Der Chef ist schon als solcher zur Welt gekommen – denn die Karriere eines Chefs ist eine rätselhafte Sache. (Er sagt, er habe es durch eigene Tüchtigkeit soweit gebracht. Manchmal ist das wahr.) Der Chef organisiert von Zeit zu Zeit den Betrieb völlig um. Das schadet aber nichts, weil ja doch alles beim alten bleibt. Der Chef ist einen Tag im Jahr wirklich guter Laune – am Morgen des Tages nämlich, an dem er auf Urlaub geht. Gegen Mittag ärgert er sich dann fürchterlich über seine Sekretärin und verläßt abends 42
voller Wut das Haus. Der Chef geht öfters zu Konferenzen, manchmal frühstücken, und mitunter hat er „Gänge“. Er kommt dann mit kleinen Paketen zurück, die er im Büro liegenläßt. Der Chef sieht resignierend auf die sich öffnende Tür seines Zimmers: Was Gutes erwartet er auf keinen Fall. Der Chef wird abwechselnd als Blutsauger, Wohltäter, verrückter Kerl, maßloser Arbeiter und Halbgott angesehen. Das ist alles falsch! Er ist nur Chef. Der Chef beeinflußt, ohne es zu wissen, den gesamten Ton seines Hauses – wie der Herr, so das Gescherr. Der Chef sagt, wenn er morgens zur Tür hereinkommt: „Das Schild da müßte mal erneuert werden!“ – Noch niemals ist es einem Chef gelungen, diesen Wunsch in die Wirklichkeit umzusetzen. Der Chef will sich immer zur Ruhe setzen und hat häufig den „ganzen Kram satt“. Das sind leere Versprechungen – er macht den Kram bis an sein Lebensende. Dann tritt ein neuer an seine Stelle. Der Alte gewinnt nunmehr die Lichtkonturen eines höheren Wesens und vereinigt in sich alle guten Eigenschaften der Welt. „Ja, wie der Alte noch da war – –!“ Der neue Chef (siehe oben). Der Registrator Der Registrator ist in erster Linie Abteilungsvorsteher und als solcher auf feine Sitten und Gebräuche bedacht. Er registriert die Akten um ihrer selbst willen. Er ist persönlich beleidigt, wenn jemand diese Akten nun auch einsehen will. Ihm genügt das Gefühl, daß alles in Ordnung ist. Er ist stolz und unzugänglich und sieht in sämtlichen andern Abteilungen des Hauses einen bösen Feind. Er behandelt jedermann, als ob er aus einer anderen Firma sei. Der Registrator wahrt die Selbständigkeit seiner Abteilung und würde auch den Kaiser Napoleon, wenn der Wert darauf legte, ihn zu besuchen, unter N ablegen. (Oder unter B – wegen Bonaparte? Erbitterter Streit mit dem zweiten Registrator.) Der Registrator kennt sämtliche Vorgänge, ohne jemals genau zu verstehen, was sie eigentlich bedeuten. Da sich alles bei ihm ansammelt, was im Geschäft passiert, so ist er im Laufe der Jahre zu der Überzeugung gekommen, daß eigentlich er es ist, der alles hervorbringt. Er hat einen glänzenden Bürorock und ist von einer welterschütternden Pedanterie. Es kommt vor, daß in einer Registratur gesuchte Sachen auch gefunden werden. Meistens aber 43
will der Registrator nicht gestört werden. Er registriert. Er kommt sich durchaus unentbehrlich vor. Beschluß Lieber Leser, alles stimmt nicht und kann nicht stimmen. Schüttle nicht gleich mit dem Kopf, wenn es bei dir ein bißchen anders ist – das ist ein Zufall. Wenn du aber sagst: „Das muß ich ausschneiden und Herrn Neumann schicken, dem alten Kamel!“ – dann ist der Autor, wenn man von dem übermäßig berechneten Honorar absieht, reichlich belohnt. 1924
Herr Wendriner telephoniert Der gesamte Postbetrieb des Reiches ruhte am Tage der Beerdigung Walter Rathenaus von zwei Uhr bis zwei Uhr zehn Minuten.
„Wenn er die Faktura nicht anerkennt, dann werde ich ihn eben einfach mal anrufen. Legen Sie die Kuverts inzwischen auf ‘n Stuhl. Welches Amt hat Skalitzer? Amt Königstadt? Na, warte... Nu? Na? Na, was ist –? Fräulein! Warum melden Sie sich denn nicht? Haste gesehen: Sie sagt nicht, warum sie sich nicht meldet! Fräulein! Na, ist denn der Apparat nicht in Ordnung... ? Fräulein Tinschmann, was ist mit dem Apparat? Ist er nicht in Ordnung? Wie oft hab ich Ihnen schon gesagt... Was? Was ist? Der Betrieb ruht? Was heißt das? Warum...? Ach so – wegen Rathenau. Danke, Sie können wieder gehn... Wegen Rathenau. Sehr gut. Sehr richtig ist das. Der Mann ist ein königlicher Kaufmann gewesen und unser größter Staatsmann. Das ist unbestritten. Schkandal, daß sie ihn erschossen haben! So ein effektiv anständiger Mensch! Ich hab noch den alten Rathenau gut gekannt – das waren Kaufleute waren das! Na, er hat eine hervorragende Trauerfeier im Reichstag gehabt! Sehr eindrucksvoll. Glänzend war der Leitartikel heute morgen – ausgezeichnet. Ja, die Regierung wird ja kräftig durchgreifen – eine Verordnung haben sie ja schon erlassen. Ausm Auto raus zu erschießen – unerhört! Die Poli44
zei sollte da... Fräulein! Die zehn Minuten sind noch nicht um. Glänzende Schützen müssen das gewesen sein, die Jungens. Vielleicht Offiziere... Aber das kann ich mir eigentlich gar nicht denken: die Regimentskameraden von Walter waren doch damals alle zu Tisch bei uns – alles so nette und feine Leute! Famose Erscheinungen darunter! Ich hab mich ja damals doch gefreut, wie der Junge Reserveoffizier geworden ist! Fräulein! Fräulein! Ein bißchen länglich die zehn Minuten! Fräulein! Aber wenn sie eine Minute länger streiken als zehn Minuten – ich bin imstande und beschwer mich! Fräulein! Ich muß doch den alten Skalitzer haben! Kateridee, deshalb das Telephon abzusperren! Davon wird er auch nicht lebendig. Solln se lieber die Steuern gerecht verteilen, das war mehr im Sinne des Verstorbenen gewesen! Fräulein! Wer sperrt das Telephon ab, wenn ich mal nicht mehr bin? Kein Mensch! Meschugge, das Telephon abzusperren! Wie soll ich jetzt an Skalitzers ran? Nachher ist der Alte sicherlich zu Tisch gegangen. Schkandal! Mehr Lohn wollen die Leute – das ist alles. Was sind das für Sachen, einem am hellerlichten Tage das Telephon vor der Nase abzusperren! Unterm Kaiser sind doch gewiß manche Sachen vorgekommen – aber so was hab ich noch nicht erlebt! Unerhört! Das ist eine Belästigung der Öffentlichkeit! Solln se sich totschießen oder nicht – aber bis ins Geschäft darf das doch nicht gehn! Überhaupt: ein Jude soll nicht solches Aufsehen von sich machen! Das reizt nur den Antisemitismus. Seit dem neunten November ist hier keine Ordnung mehr im Lande. Ist das nötig, einem das Telephon abzusperren? Wer ersetzt mir meinen Schaden, wenn ich Skalitzer nicht erreiche? Fräulein! Nu hör an – da draußen gehn se demonstrieren! Sieh doch – mit rote Fahnen – das hab ich gar gern! Was singen sie da? Fräulein! Se wern noch so lange machen, bis es wieder Revolution gibt! Fräulein! Mich kann die ganze Republik... Fräulein! Fräulein! Mein politischer Grundsatz ist... Fräulein! Endlich! Fräulein! Königstadt-!“ 1922
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Persönlich „Ich möchte Herrn Regierungsrat persönlich sprechen!“ „Herr Professor Gustav Roethe war persönlich anwesend.“ „Der Chef des Stabes der Reichswehr ist diesen Beschwerden persönlich nachgegangen.“ Was ist denn das? Haben alle diese zwei Persönlichkeiten: eine einfache und eine persönliche? Was bedeutet das? Das bedeutet eine Wichtigmacherei, die auf derselben Etage wie das deutsche Vorzimmer wohnt (am Telephon: „Hier Vorzimmer von Herrn Portier Knetschke!“); wie der Apparat, ohne den es keiner mehr tut („Ich werde das mit meinen Herren besprechen!“ – hat aber nur einen); wie das ganze mißverstandene Brimborium des so gern kopierten überorganisierten Militärbetriebes, der es allen Deutschen zum erstenmal vor die Augen geführt hat, wie man auf möglichst geräuschvolle und kostspielige Weise nichts tun kann. Der Divisionskommandeur arbeitete nicht allzuviel. Aber das wenige, was er tat, tat er durch seinen Adjutanten, durch seine Unterorgane, und nur Orden und Rotwein nahm er persönlich in Empfang. Die privaten Gruppen aller Sorten ahmen ihm selig nach. Der Chef des Betriebes hat den soziologisch umstrittenen Gedanken der Delegierung auf die Spitze getrieben und seine Machtvollkommenheiten so aufgeteilt, daß man ihn schon manchmal, wenns unten gar zu dumm wird, „persönlich“ in Anspruch nehmen muß. Die Männer der Öffentlichkeit kopieren es überglücklich. Sie kommen nicht selbst, sie telefonieren nicht selbst, sie unterschreiben nicht selbst. Daher denn keiner mehr sagt: Ich möchte den Herrn Reichstagsabgeordneten sprechen! – sondern: Ich möchte ihn persönlich sprechen! Immer voller Angst, daß sonst seine Waschfrau käme. Mit der sicherlich oft besser zu verhandeln wäre. Diese aufgeblasene Eitelkeit, die immer und immer mehr bei uns einreißt, diese Sucht, dem gemeinen Haufen nur ja den Aspekt eines zu geben, der über den Wolken schwebt – wie dumm, wie hohl und vor allem: wie unpraktisch ist dies Theater! In Amerika hat jeder für jeden Zeit, solange sich der kurz faßt; in Frankreich ist es nicht gar 46
so schwer, zu den maßgebenden Männern Zutritt zu bekommen; in England denken die Leute an ihre Sache und nicht immer an ihre Person und bestimmt nicht an eine Hahnenwürde; bei uns zu Lande ist es wunder was für eine Geschichte, mit einem besser bezahlten Mann „persönlich“ zu sprechen. Ist die Audienz beendet, so bleibt ein Abglanz des Unerhörten auf dem Empfangenen haften, der strahlend nach Hause stelzt. „Ich habe heute früh mit dem Oberbürgermeister persönlich gesprochen...“ (Du armer Hund hast natürlich nur seinen Sekretär sprechen dürfen oder seinen Portier – ich aber habe ihn persönlich zu fassen bekommen!) Tief wurzelt der Knecht im Deutschen – leise kitzelt es im Rücken und tiefer: Kommt der Fußtritt? Kommt er nicht? Er kommt nicht! Heil! Er hat mit mir persönlich gesprochen und nicht durch einen alten Trichter aus dem Nebenzimmer! Ich bin erhöht. Es gibt Menschen, mit denen möchte ich um keinen Preis sprechen, dienstlich nicht und privat nicht und persönlich schon gar nicht: mit Strafkammervorsitzenden, alten Bataillonskommandeuren, Kriegsgerichtsräten und ähnlichen persönlichen Persönlichkeiten. Lieber Gott! Nimm doch den deutschen Kaufleuten und Beamten diese dumme Sucht, sich als gar so kostbar hinzustellen und sich mit etwas dickezutun, was meist gar nicht da ist: mit einer Persönlichkeit! Den Soldaten kannst du es lassen, sie haben ja selten etwas anderes! Tu es doch, lieber Gott, ja –? Dieses Gebet werde ich mal dem lieben Gott persönlich unterbreiten. 1925
Das Menschliche „Oberes Bild. Von links nach rechts: Generalintendant T., künstlerischer Beirat L., Betriebsdirektor F., Komparseriechef M., Oberspielleiter P., Dramaturg M., Oberspielleiter S., Spielleiter D., Intendanzsekretär B.“ Was ist das –?
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Das ist das arbeitende Deutschland von heute. Anders können sies nicht – anders machts ihnen keinen Spaß. Diese Nummer des deutschen Alphabets mit den Metternich-Kanzleititeln vor ihren Namen halten in Wahrheit nur ein mittleres Stadttheater einer Provinzstadt in Ordnung, was immerhin nicht gar so welterschütternd ist. Aber weil es ja keine Angestellten mehr gibt, sondern ganz Deutschland einer Bodenkammer gleicht (vor lauter Leitern kommt man nicht vorwärts) – „leiten“ sie alle, und wenn es auch nur ein kleines Mädchen an der Schreibmaschine ist, die zusammen mit ihrem Kaffeetopf gern „Abteilung“ genannt wird; die leiten sie dann. Es gibt eine „Vereinigung leitender Angestellter“, offenbar eine Art Obersklaven, die gern bereit sind, unter der Bedingung, daß sie von oben her besser angesehen werden, kräftiger nach unten zu treten. Die Bezeichnung „Chefpilot“ erspart einem Unternehmen etwa zweihundert Mark monatlich. Im Gegensatz zu diesem Unfug, der jeden mittlern Angestellten zu einem Direktor aufbläst, steht, nach des Dienstes ewig falsch gestellter Uhr, eine süße Stunde. Abends, wenn sich die ersten Lautsprecher gurgelnd übergeben, flutet die Muße über das Land herein: der Betriebsdirektor glättet die Dienstfalte seiner Amtsstirn, der Oberspielleiter klopft dem Spielleiter huldvoll auf die Schultern, und nun pladdert das „Menschliche“ aus ihnen heraus. Das „Menschliche“ ist das, was sich anderswo von selbst versteht. Bei uns wird es umtrommelt und zitiert, hervorgehoben und angemalt... Wenn der kleinste Statist unter den weißen Jupiterlampen, fünfundzwanzig Jahre lang die gebrochenen Ehrenworte der Filmindustrie aufgesammelt hat, dann gratulieren die Kollegen „dem Künstler und dem Menschen“, was sie – Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps – sorgfältig zu trennen gelernt haben. Der Künstler ist eines, und der Mensch ist ein andres. Aus dem „Menschlichen“ aber, das man nie mehr ohne Anführungsstriche schreiben sollte, ein eignes Ressort gemacht zu haben, ist den Deutschen vorbehalten geblieben, die sich so ziemlich, im Gegensatz zur gesamten andern Welt einbilden, es gäbe etwas „rein Dienstliches“ oder, noch schlimmer, „rein Sachliches“. Wenn die Herren
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Philologen mir das freundlichst in eine andere Sprache übersetzen wollen – ich vermags nicht. Jede Anwendung dieses törichten Modewortes „menschlich“ bedeutet das Eingeständnis an das „Dienstliche“, das in Deutschland das „Menschliche“ bewußt ausschließt oder es allenfalls, wenn der Vorgesetzte gerade nicht hinsieht, aus Gnade und Barmherzigkeit hier und da ins Amtszimmer hineinschlüpfen läßt. Zu suchen hat es da viel, aber es hat da nichts zu suchen. Es ist ein deutscher Aberglaube, anzunehmen, jemand könne durch künstliche und äußerliche Ressorteinteilungen seine Verantwortung abwälzen; zu glauben, es genüge, eine Schweinerei als „dienstlich“ zu bezeichnen, um auf einem neuen Blatt à conto „Menschlichkeit“ eine neue Rechnung zu beginnen; zu glauben, es gäbe überhaupt irgend etwas auf der Welt, in das sich das menschliche Gefühl, hundertmal verjagt, tausendmal wiederkommend, nicht einschleiche. „Es ist ein Irrtum“, hat neulich in Stettin ein Unabsetzbarer im Talar gepredigt, „zu glauben, die Geschworenengerichte. hätten nach dem Gefühl zu urteilen – sie haben lediglich nach dem Gesetz zu urteilen.“ So sehen diese Urteile auch aus, seit die Unabsetzbaren die Laien beeinflussen – denn ein Urteil „lediglich nach dem Gesetz“ gibt es nicht und kann es nicht geben. Aber das ist die deutsche Lebensauffassung, die die Verständigung mit andern Völkern so schwer macht. Das „Menschliche“ steht hierzulande im leichten Ludergeruch der Unordnung, der Aufsässigkeit, des unkontrollierbaren Durcheinanders; der Herr Obergärtner liebt die scharfen Kanten und möchte am liebsten bis Dienstschluß alle Wolken auf Vorderwolke anfliegen lassen, bestrahlt von einer quadratischen Sonne... Sie haben sich das genau eingeteilt: das „Dienstliche“ ist hart, unerbittlich, scharf, rücksichtslos, immer nur ein allgemeines Interesse berücksichtigend, das sich dahin auswirkt, die Einzelinteressen schwer zu beschädigen – das „Menschliche“ ist das leise, in Ausnahmefällen anzuwendende Korrektiv sowie jene Stimmung um den Skattisch, wenn alles vorbei ist. Das „Menschliche“ ist das, was keinen Schaden mehr anrichtet. Sie spielen Dienst. Eine junge Frau besucht ihren Mann, der ist Kellner in einem kleinen Cafe. In Frankreich, in England, in romanischen 49
Ländern spielt sich das so ab, daß sie ihn in der Arbeit nicht stören wird, ihm aber natürlich herzhaft und vor allen Leuten guten Tag sagt. Bei uns –? Bei uns spielen sie Dienst. „Denn er ist im Dienst und darf nicht aus der Rolle fallen, sonst gibt es Krach mit dem Chef, der hinter dem Kuchentisch steht.“ Er darf nicht aus der Rolle fallen... Sie spielen alle, alle eine Rolle. Sie sind Betriebsdirektoren und Kanzleiobersekretäre und Komparseriechefs, und wenn sie es eine Weile gewesen sind, dann glauben sie es und sind es wirklich. Daß jedes ihrer Worte, jede ihrer Handlungen, ihr Betragen, ihre Ausflüchte und ihre Sauberkeit bei der Arbeit, ihre Trägheit des Herzens und ihr Fleiß des Gehirns vom „Menschlichen“ herrühren, das sie, wie sollte es auch anders sein, nicht zu Hause gelassen haben, weil man ja seine moralischen Eingeweide nicht in der Garderobe abgeben kann –: davon ahnen sie nichts. Sie sind im „Dienst; wenn ich im Dienst bin, bin ich ein Viech, und ich bin immer im Dienst.“ Sie teilen, Schizophrene eines unsichtbaren Parademarsches, ihr Ich auf. „Ich als Oberpostschaffner“... schreibt einer; denn wenn er seine Schachspielerqualitäten hervorheben will, dann schreibt er: „Ich als Mitglied des Schachklubs Emanuel Lasker.“ Der tiefe Denkfehler steckt darin, daß sie jedesmal mit der ganzen Person in einen künstlich konstruierten Teil kriechen; als ob der ganze Kerl Schachspieler wäre, durch und durch nichts als Schachspieler...! „In diesem Augenblick, wo ich zu Ihnen spreche, bin ich lediglich Vormundschaftsrichter“ – das soll er uns mal vormachen! Und er macht es uns vor, denn es ist sehr bequem. Daher alle die Ausreden: „Sehen Sie, ich bin ja menschlich durchaus Ihrer Ansicht“ – daher die im tiefsten feige Verantwortungslosigkeit aller derer, die sich hinter ein Ressort verkriechen. Denn wer einem schlechten System dient, kann sich nicht in gewissen heiklen Situationen damit herausreden, daß er ja „eigentlich“ und „menschlich“ nicht mitspiele... Dient er? Dann trägt er einen Teil der Verantwortung.
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Und so ist ihr deutscher Tag: Morgens steht der Familienvater auf, drückt als Gatte einen Kuß auf die Stirn der lieben Gattin, küßt die Kinder als Vater und hat als Fahrgast Krach auf der Straßenbahn mit einem andern Fahrgast und mit dem Schaffner. Als Steuerzahler sieht er mißbilligend, wie die Straßen aufgerissen werden; als Intendanzsekretär betritt er das Büro, wobei er sich in einen Vorgesetzten und in einen Untergebenen spaltet; als Gast nimmt er in der Mittagspause ein Bier und eine Wurst zu sich und betrachtet als Mann wohlgefällig die Beine einer Wurstesserin. Er kehrt ins Büro zurück, diskutiert beim Kaffee, den er holen läßt, als Kollege und Flachwassersportler mit einem Kollegen einige Vereinsfragen, schält einen Dienstapfel, beschwert sich als Telephonabonnent bei der Aufsicht, hat als Onkel ein Telephongespräch mit seinem Neffen und kehrt abends heim – als Mensch? „Il est arrivè!“ sagte jemand von einer Berühmtheit. „Oui“, antwortete Capus, „mais dans quel état!“ Der deutsche Mensch, der auch einmal „Mensch sein“ will, eine Vorstellung, die mit aufgeknöpften Kragen und Hemdsärmeln innig verknüpft ist – der deutsche Mensch ist ein geplagter Mensch. Nur im Grab, ist Ruh... wobei aber zu befürchten steht, daß er als Kirchhofsbenutzer einen regen Spektakel mit einem nicht konzessionierten Spuk haben wird... Statt guter Gefühle die Sentimentalität jaulender Dorfköter; statt des Herzens eine Registriermaschine: Herz; statt des roten Fadens „Menschlichkeit“, der sich in Wahrheit durch alle Taue dieses Lebensschiffes zieht, die Gründung einer eignen Abteilung: Menschlichkeit – nicht einmal Entseelte sind es. Verseelt haben sie sich; die Todsünde am Leben begangen; mit groben Fingern Nervenenden verheddert, verknotet, falsch angeschlossen... und noch der letzte Justizverbrecher im Talar ist nach der Untat, unter dem Tannenbaum und am Harmonium, in Filzpantoffeln, auf dem Sportplatz und im Paddelboot, rein menschlich ein menschlicher Mensch.
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Worauf man in Europa stolz ist Dieser Erdteil ist stolz auf sich, und er kann auch stolz auf sich sein. Man ist stolz in Europa: Deutscher zu sein. Franzose zu sein. Engländer zu sein. Kein Deutscher zu sein. Kein Franzose zu sein. Kein Engländer zu sein. . An der Spitze der 3. Kompanie zu stehn. Eine deutsche Mutter zu sein. Am deutschen Rhein zu stehn. Und überhaupt. Ein Autogramm von Otto Gebühr zu besitzen. Eine Fahne zu haben. Ein Kriegsschiff zu sein. („Das stolze Kriegsschiff...“) Im Kriege Proviantamtsverwalterstellvertreter gewesen zu sein. Bürgermeister von Eistadt a. d. Dotter zu sein. In der französischen Akademie zu sitzen. (Schwer vorstellbar.) In der preußischen Akademie für Dichtkunst zu sitzen. (Unvorstellbar.) Als deutscher Sozialdemokrat Schlimmeres verhütet zu haben. Aus Bern zu stammen. Aus Basel zu stammen. Aus Zürich zu stammen. (Und so für alle Kantone der Schweiz.) Gegen Big Tilden verloren zu haben. Deutscher zu sein. Das hatten wir schon. Ein jüdischer Mann sagte einmal: „Ich bin stolz darauf, Jude zu sein. Wenn ich nicht stolz bin, bin ich auch Jude – da bin ich schon lieber gleich stolz!“ 1932 52
Werbekunst oder: Der Text unsrer Anzeigen „Sags ihr mit Schmus!“ Henry Ford
Die hängenden Gärten der Semiramis waren ein Weltwunder. Nur ungern läßt die Dame von Welt auch heute noch ihren Büstenhalter auf dem zierlich gedeckten Frühstückstisch liegen. Sie sollte in der Tat nie versäumen, ihn anzulegen; unsachgemäße Behandlung der überaus empfindlichen Haut verstärkt einen Mangel, an dem schon manches Herzensbündnis jäh zerschellt ist. Welch ein Staunen, wenn ein Geschenk auf dem Gabentisch liegt, das mit vornehmem Takt einen geheimen Wunsch errät! Schenken Sie „Tetons Büstenformer“, Marke „Eierbecher“! Die blaue Stunde des Harems naht heran. Vom nahen Minarett ertönt der Gesang des bärtigen Moslems, der dort Allah ehrt, und die zarten Wölkchen der Zigaretten kräuseln sich um die entschleierten Angesichter schwarzäugiger Türkinnen. Der Fachmann atmet ihren Duft ein und spürt sofort am blauen Dunst: „Die gute HaberlandZigarette!“ Unsre besonders bewährten Fachleute eilen im fernen Osten von Tabakfeld zu Tabakfeld und graben selbst die zarten Tabakpflänzchen ein, ordnen die Blätter in alphabetischer Reihenfolge und überwachen ihre sachgemäße Mischung mit den guten heimischen Kräutern der Uckermark. Es ist uns gelungen, den Herstellungspreis unsrer Qualitätszigarette auf 2 Pfennig herunterzudrücken. Versuchen Sie also unsre 15-Pfennig-Zigarette „Bilanz“, und Sie werden eine Zigarette finden, die, edel, schnittig und rassig im Format, ein vornehmes Geschenk darstellt. Keine Qualität, nur Ausstattung! „Was kann es nur sein?“ denkt sich jener Tänzer, um den sich früher die reizvollsten Erscheinungen der großen Salons geschart haben, während er heute allein und verlassen in der Ecke sitzt. Ist es der Tabaksgeruch, den er ausströmt? Oder gar andre Charakterfehler? Nein. Der junge, elegante Mann hat leider vergessen, einen Hosenknopf zu schließen, und indigniert und beschämt sehen die Damen von Geschmack beiseite, weil ein inkonsequenter Charakter auf 53
Frauen keinen Eindruck hervorzuzaubern versteht. Gebrauchen Sie „Automatos“, den selbsttätigen Reißverschluß, und Ihre Haut wird niemals spröde und rissig werden. Ein problematisches Symbol ist für so viele die sitzende Lebensführung bei ernster Berufsarbeit im Amt und Bureau. Unsre Zeit ist eine Übergangszeit, und trutzig ragt manches deutsche Standbild in die deutsche Geschichte, Erinnerung und Wahrzeichen an harte Kriegsläufte und stolze Kämpfe um städtische Freiheit. Daher sollten auch Sie nicht versäumen, „Lissauers Stuhlzäpfchen“ zu gebrauchen, die, rassig, edel und einfach in vornehmer Linienführung, dem Geist unserer Zeit entsprechen. Die Flaschen unseres Jahreskonsums aufeinandergestellt, ergeben die Höhe der Kölner Synagogenspitze. Nur eine Sektmarke international anerkannter Qualität, schnittig, edel und rassig im Geschmack, vermag sich solche Anerkennung zu erringen. Ein zarter Fichtennadelgeschmack ermöglicht es, unsern in Deutschland auf Flaschen gefüllten Sekt auch als Badezusatz zu verwenden. Gehört diese Geste noch in unsre Zeit? So fragen wir uns, wenn wir den deutschen Ritter Götz von Berlichingen am Burgfenster stehen sehen. Der tadellos gepflegte Hauptmann, dem er seinen Gruß hinausruft, wird seiner Aufforderung wohl nicht Folge leisten; sicher ist, daß kein starres Gesetz ihm dies vorschreibt. Jedem ist dieser Ausdruck der Verehrung nach eignem Gefühl überlassen. Wenn aber das Mittelalter schon unser „Altes Lavendel“ gekannt hätte, wird dieses Gefühl zum Gesetz. Verlangen Sie die kreuzweise Packung. Im Banne der Liebe ermüdet man leicht. Die Nerven sind aufs höchste angespannt; die Luft im Raum ist heiß, drückend und schwül mit ü. In solchen Augenblicken erfrischt nichts so sehr wie eine Tasse klarer Nudelbouillon, die Sie aus „Lubarschs Suppenwürfel“ gewinnen können. Ein Täßchen heißer Brühe bringt Ruhe und Sicherheit, vielleicht das Glück! Wenn Baby die Tintenflasche ausgetrunken hat, geben Sie ihm einen Bogen von Hermann Burtes Löschpapier zu essen. Dieses Mittel 54
wird von den Kleinchen erfahrungsgemäß gern genommen, und auch durchnäßte Erwachsene profitieren häufig davon. Gepflegte Kinder in gutbürgerlichen Haushalten sollten von Zeit zu Zeit diese Kur machen – der kleine Steppke, den Sie hier im Bilde sehen, weiß seit seiner Geburt nicht, was Feuchtigkeit ist. Kein Volk ohne Löschpapier! Hermann Burte & Hans Grimm, Löschpapier en gros. Temperamentvolle Frauen halten sich bedeutend länger, wenn man sie nachts auf den Frigidaire legt; sie bleiben auf diese Weise schmackhaft und bekömmlich in jeder Jahreszeit. Die andauernd gleiche und trockene Atmosphäre konserviert jede Dame von Welt; unser Kühlapparat wird an gesundheitlicherWirkung von keiner Ehe übertroffen. Mehr als ein Souvenir – ein Zaubermittel wie vom Hexenmeister Cagliostro ist Rosens Toilettenpapier. Edel, rassig und schnittig in der Linie, hat es sich rasch an die Aristokratie der Eleganz eingeschmeichelt. Vergessen Sie nicht, bevor Sie das zierlich gebundene Paketchen verschenken, die Ecken der einzelnen Blätter umzubiegen: sie geben dadurch Ihrem Geschenk eine persönliche Note. „Ach, wen ihr doch sagen könnte!“ – so jung, so schön und schon so gemieden! Menschen mit unreinem Hauch, selbst wenn er dem Munde entströmt, sind einsam. Unter anderm sträubt sich meine Feder, mehr zu sagen: das junge Mädchen hat nicht „Eukal“ verwendet, und daher wagt niemand, ihr mit Anträgen zu nahen, denen doch gerade ein sportgeübtes Girl unsrer Zeit gefaßt entgegensehen könnte. Schicken Sie uns Ihre Zähne ein – Sie erhalten sie postwendend gereinigt zurück, blitzend und blendend weiß. Wenn Sie im Kranz Ihrer Geschäftsfreunde und schöner Frauen bei wohlgepflegtem, schäumendem Sekt sitzen, während Ihr behaglicher, vornehmer und taktvoller Haushalt Sie umgibt, dann vergessen Sie nicht, unsern Luxusapparat „Kokmès“ bei der Hand zu haben. Die faszinierende Wirkung Ihrer festlichen Geselligkeit wird dadurch noch erhöht; keine elegante und gepflegte Frau von Welt ist ohne denselben denkbar. „Kokmès“ ist ohne jede schädliche Nebenwirkung, weil es überhaupt keine hat. Wir fabrizieren es nur, um die 55
hohen Anzeigenpreise wieder hereinzubringen, und wir inserieren, um fabrizieren zu können. Und so symbolisieren wir, was uns am meisten am Herzen liegt: die deutsche Wirtschaft –! 1927
Der Mensch Der Mensch hat zwei Beine und zwei Überzeugungen: eine, wenns ihm gut geht, und eine, wenns ihm schlecht geht. Die letztere heißt Religion. Der Mensch ist ein Wirbeltier und hat eine unsterbliche Seele sowie auch ein Vaterland, damit er nicht zu übermütig wird. Der Mensch wird auf natürlichem Wege hergestellt, doch empfindet er dies als unnatürlich und spricht nicht gern davon. Er wird gemacht, hingegen nicht gefragt, ob er auch gemacht werden wolle. Der Mensch ist ein nützliches Lebewesen, weil er dazu dient, durch den Soldatentod Petroleumaktien in die Höhe zu treiben, durch den Bergmannstod den Profit der Grubenherren zu erhöhen sowie auch Kultur, Kunst und Wissenschaft. Der Mensch hat neben dem Trieb der Fortpflanzung und dem, zu essen und zu trinken, zwei Leidenschaften: Krach zu machen und nicht zuzuhören. Man könnte den Menschen geradezu als ein Wesen definieren, das nie zuhört. Wenn er weise ist, tut er damit recht, denn Gescheites bekommt er nur selten zu hören. Sehr gern hören Menschen: Versprechungen, Schmeicheleien, Anerkennungen und Komplimente. Bei Schmeicheleien empfiehlt es sich, immer drei Nummern gröber zu verfahren, als man es gerade noch für möglich hält. Der Mensch gönnt seiner Gattung nichts, daher hat er die Gesetze erfunden. Er darf nicht, also sollen die andern auch nicht. Um sich auf einen Menschen zu verlassen, tut man gut, sich auf ihn zu setzen; man ist dann wenigstens für diese Zeit sicher, daß er nicht davonläuft. Manche verlassen sich auch auf den Charakter.
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Der Mensch zerfällt in zwei Teile: In einen männlichen, der nicht denken will, und in einen weiblichen, der nicht denken kann. Beide haben sogenannte Gefühle: man ruft diese am sichersten dadurch hervor, daß man gewisse Nervenpunkte des Organismus in Funktion setzt. In diesen Fällen sondern manche Menschen Lyrik ab. Der Mensch ist ein pflanzen- und fleischfressendes Wesen; auf Nordpolfahrten frißt er hier und da auch Exemplare seiner eigenen Gattung, doch wird das durch den Faschismus wieder ausgeglichen. Der Mensch ist ein politisches Geschöpf, das am liebsten zu Klumpen geballt sein Leben verbringt. Jeder Klumpen haßt die andern Klumpen, weil sie die andern sind, und haßt die eignen, weil sie die eignen sind. Den letzteren Haß nennt man Patriotismus. Jeder Mensch hat eine Leber, eine Milz, eine Lunge und eine Fahne; sämtliche vier Organe sind lebenswichtig. Es soll Menschen ohne Leber, ohne Milz und mit halber Lunge geben; Menschen ohne Fahne gibt es nicht. Schwache Fortpflanzungstätigkeit facht der Mensch gern an, und dazu hat er mancherlei Mittel: den Stierkampf, das Verbrechen, den Sport und die Gerichtspflege. Menschen miteinander gibt es nicht. Es gibt nur Menschen, die herrschen, und solche, die beherrscht werden. Doch hat noch niemand sich selber beherrscht: weil der opponierende Sklave immer mächtiger ist als der regierungssüchtige Herr. Jeder Mensch ist sich selber unterlegen. Wenn der Mensch fühlt, daß er nicht mehr hinten hoch kann, wird er fromm und weise; er verzichtet dann auf die sauern Trauben der Welt. Dieses nennt man innere Einkehr. Die verschiednen Altersstufen des Menschen halten einander für verschiednc Rassen: Alte haben gewöhnlich vergessen, daß sie jung gewesen sind, oder sie vergessen, daß sie alt sind, und Junge begreifen nie, daß sie alt werden können. Der Mensch möchte nicht gern sterben, weil er nicht weiß, was dann kommt. Bildet er sich ein, es zu wissen, dann möchte er es auch nicht
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gern; weil er das Alte noch ein wenig mitmachen will. Ein wenig heißt hier: ewig. Im übrigen ist der Mensch ein Lebewesen, das klopft, schlechte Musik macht und seinen Hund bellen läßt. Manchmal gibt er auch Ruhe, aber dann ist er tot. Neben den Menschen gibt es noch Sachsen und Amerikaner, aber die haben wir noch nicht gehabt und bekommen Zoologie erst in der nächsten Klasse. 1931
Berliner Ballberichte „Die Gräfin betrat im Glanze ihres Glasauges den Saal.“ Mark Twain
Ball des Reichsverbandes Deutscher Heeresgynäkologen Unter der Leitung seines rührigen Vorsitzenden, des Herrn Geheimrat Ovaritius, bot das Flugverbandhaus am Sonnabend ein wahrhaft mondänes und gleichzeitig vornehm-großstädtisches Bild. Riesige, so gut wie unbeschnittene Taxusbäume in der Vorhalle; um große, runde Tische die Diplomaten, die Spitzen der Behörden sowie alle Prominenten der Reichswehr. Von den hundertvierundfünfzig Admiralen unserer Marine waren etatsmäßig nur zweihundertundachtzehn erschienen. Die Herren in großer Uniform oder schlichtem Frack; eine Fülle schöner Frauen, sehr viel hintere Doppelraffungen aus strahlend leuchtender Chinakreppgeorgettealpaccachinelle. Die Kleider sind durchweg lang, besonders unten; ein Modell der Firma Hammarbach „Westöstlicher Divan“ erregte allgemeines Entzücken. Frau Generalarzt Poschke in Weiß; Henny Porten in Blausa; Prinzessin Adalbert von Preußen (himmelblauer Samt, am Rand mit Gold abgefunden); Frau Generalarzt Drysen (korallenrotes Pastellbrokat); Frau Generaldirektor Rosenthal (doppelkorallenrotes Pastellfeinbrokat); eine Fülle modischer Anregungen und schwirrende Weltsprachen. Wie ich an den Uniformen unsrer Offiziere festgestellt habe, ist die Blume an der Achsel gänzlich passé. Kapellen der fast republikanischen Reichswehr und, soweit sie nicht ausreichten, die Orchester 58
der angeschlossenen Verbände; in der Bierschwemme echt nationalsozialistische Stimmung, Sanitätsstube nebenan. Gedränge und, Gewoge, wahrlich, das Wort des Generaloberarztes Professor Friedrich regierte die Stunde: „Clitoris, die zehnte Muse, hat gesiegt!“ Ball der Berliner Moselblümchen Der Reichsverband deutscher Hausfrauen sowie die angeschlossenen Spitzenverbände hatten am Donnerstag zu einem reizenden Ball geladen. Die deutsche Hausfrau, die deutsche Mutter und die deutsche Abonnentin haben wieder einmal gezeigt, mit wie wenig Mitteln man so ein Fest aufziehen kann, ein Fest, das an Eleganz und Wohlgelungenheit sich dennoch vor keinem Pariser Opernball zu verstecken braucht. Man sah – schlicht um schlicht! – sehr viel schöne Frauen; Schleppkleider von vorgestern, also von heute, in der heutigen Mode wird überhaupt das Frauliche stark unterstrichen, besonders hinten. Ein allgemein interessierendes Rohkostbüfett fand begeisterten Anklang, und die belegten Brötchen mit gestoßenem Koks, von Tannenzweigen garniert, waren im Nu verzehrt. Bei kräftiger Zitronenlimonade stieg die Stimmung bald ins Vornehm-BürgerlichBacchantische; in angeregten Gesprächen besprachen die sorgsamen Hausfrauen die eigne Verdauung sowie die ihres Mannes und auch die Mittel, wie solcher aufzuhelfen sei. Ins Reich der Dichtkunst führte uns der Unterhaltungsteil: Frau Gertrud Bäumer rezitierte vielbejubelte Wirtinnenverse, zwei Zauberkünstler vom Reichsgericht in Leipzig machten reizende Taschenkunststücke vor, und bei der Verlosung schwang unter allgemeiner Freude der Berliner Polizeipräsident ein Päckchen Verbandgaze, das er gewonnen hatte. Kolonialball Im köstlichen Rahmen ein wahrhaft weltstädtisches Bild: die Spitzen der Behörden, Vertreter der großen Schiffahrtsgesellschaften, für die die Kolonien ja in erster Linie wieder eingerichtet werden sollen, der von Fest zu Fest eilende Berliner Polizeipräsident, Repräsentanten von Grund- und Boden-Wucher, und endlich die Hauptperson: die Vertreter aus allen derzeitigen deutschen Kolonien und solchen, die es werden wollen. Unter den jungen Diplomaten dominiert der Girltyp. Der Verein für das Deutschtum im Auslande hatte die Aus59
schmückung des Saales übernommen: überall lustige, auf Kokosblätter gemalte Wandkarten, die uns das moderne Weltbild veranschaulichten: die Brüder, die zu befreien sind, und die Brüder, denen man es noch besorgen muß. Die Tanzbegleitung lag in den bewährten Händen des Orchesters enteigneter Hereros. Eine Fülle rassiger, schöner Frauen zierte das Fest; der Kronprinz wohnte zunächst dem Fest bei. Zwei Kostüme: ein pflaumenfarbenes, mit Goldfäden durchzogenes Abendkleid, vorne so lang wie hinten so hoch, und ein ärmelloses Kleid, das von einem Wattebausch zusammengehalten wurde, werden sicherlich überall für den Gedanken der deutschen Kolonisation werben. Faschingsball der Kolonne „Wedding-Nord“ In den Festräumen der Gaststätten „Zum strammen Hund“ fand am Sonnabend der im ganzen Stadtviertel berühmte Faschingsball der allgemein beliebten Kolonne „Wedding-Nord“ statt. Schöne Frauen, gut aussehende Männer im Frack, in den Ehrenlogen die Spitzel der Behörden; alles jazzte, steppte und wiegte sich nach den schmetternden Klängen des Handgranaten-Orchesters der Schutzpolizei. Der angeregte Abend endete mit einer gut-geglückten Schlägerei, bei der der anwesende Vizepräsident Weiß leicht verletzt wurde, weil er von den eignen Mannschaften erkannt worden war. Ballkalender Dienstag:
59. Stiftungsfest Bibliophiler Hebammen.
Mittwoch:
Ball der Frauenturnriege des Verbandes Monistischer Uhrmacher.
Sonnabend: Tanzkränzchen der Ortsgruppe des Gaues Brandenburg des Reichsbundes Gleichgeschlechtlicher Sachsen (Opposition). Der Ball des Preußischen Richtvereins ist der Einfachheit halber mit dem Ball der „Bösen Buben“ zusammengelegt worden.
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Alpenball des Pen-Klubs Ein entzückender Kostümball vereinte gestern Literatur, Kunst, Wissenschaft und die verwandten Industrien bei Kroll. Man tanzte nach den Kapellen Etté und Rowohlt und sah eine Fülle bezaubernder Kostüme an sich vorbeiziehen: Walter von Molo als Dichter; Arnolt Bronnen als Original-Faschist mit ziemlich schwarzem Hemd und rituellem Monokel; Gerhart Hauptmann in einer vorzüglichen Maske als alter Gerhart Hauptmann; aus Paris zwei Damen: die Colette und Germaine André, und die Stimmung erreichte ihren Höhepunkt, als Ernst Jünger und Kaplan Fahsel einen reizenden Philosophieplattler vorführten. Die Behäbigkeit und Stämmigkeit unserer Börsenmakler brachte die echten Tiroler Kostüme erst voll zur Geltung, ein Beweis, daß Natürlichkeit das Hübscheste ist und bleibt. Zum Schluß des Abends trat in der Kaffeepause, stürmisch akklamiert, Galsworthy für die deutschfranzösisch-englische Verständigung ein, womit sie ja nun wohl Tatsache sein dürfte. Die anwesenden Dichter gelobten, im Frieden Pazifisten zu sein und zu bleiben. Die moderne Literatur hat mit dieser Veranstaltung, der die Spitzen der Behörden und ein Kranz schöner Frauen beiwohnten, bewiesen, daß sie nun endlich repräsentativ geworden ist, ja wir dürfen getrost sagen: nichts als das. Ball der Deutschen Ballindustrie Es war ein bezaubernder Abend voller Stimmung und Schwung: Diplomatie, der Tennisklub Changeant-Weiß, sehr viel Sport, auch boten die anwesenden Ballberichterstatterinnen mit den Brillanten ihres Stils ein reizendes Bild. Herr Generaldirektor A. S. Geyer vom Reichsverband der deutschen Ballindustrie führte in einer zündenden Ansprache aus, daß die Berliner Bälle nicht für die Besucher, sondern für die Veranstalter da seien. Gegen Mitternacht wurden zwei Büsten enthüllt: von Ludwig Pietsch und Alfred Holzbock, den Altmeistern der Berliner Ballberichterstattung. Frau Direktor Marheinicke (weiße Thekla-Seide, mit echt Reptil abgesetzt) zerschlug an Holzbocks Kopf eine Flasche durchaus deutschen Sektes: „Unsre Devise sei“, rief sie aus, „neckisch, aber vornehm – ausgelassen, aber
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mondain! Wir sind nicht dazu da, uns das Leben gegenseitig angenehm zu machen, und darum veranstalten wir die Berliner Bälle –!“ 1930
Gespräch auf einem Diplomatenempfang In langen Kleidern und mit onduliertem Mäulchen zu sprechen.
– „Ei, guten Tag, meine liebe Frau Doktor Zeisig! Wie ich sehe, sind auch Sie zu diesem exklusiven Empfang erschienen! Es ist heute abend sehr interessant!“ – „Ja, es ist sehr interessant. Sehen Sie nur: Dort Frau Fränkel und dort Frau Grünfeld sowie auch Frau Geheimrat Ravené! Es ist wirklich ungeheuer interessant! Und da – traue ich meinen Augen? Ein Japaner! Jetzt setzt er sich. Sicher ein hochstehender Diplomat! Es ist fabelhaft anregend! Die Diplomatie, ist sie doch so recht Kotzpröpfchens Zeitvertreib!“ – „Nichts ist so interessant wie die Welt der Diplomatie. Mein Mann ist Kaufmann, demzufolge Industrieller, kurz, ein Wirtschaftsführer – aber die Diplomatie, sie hebt uns doch ungeheuer. Von allen anständigen Wörtern sage ich am liebsten: Doyen. Wie wohl das tut! Wer ist jener –? Der so interessant hinkt?“ – „Es ist der litauische Gesandte.“ – „P! Randstaaten. Erlauben Sie, daß ich rümpfe.“ – „Wen oder was?“ – „Mein feingeschnittenes Näschen. Hh! Randstaaten! Wir unsrerseits gehen nur in die Botschaften! Nichts, was mich in so angenehme Stimmung versetzt wie das diplomatische Korps! Es hebt mich über mich selbst. Ich habe das auch nötig.“ – „Die diplomatischen Empfänge haben der Judenheit das ChanukaFest ersetzt.“ (Sie tritt sich in den Tüll.) 62
– „Wie bezaubernd Sie heute abend wieder aussehen, meine liebe Frau Doktor Zeisig! Sie sind stets damenhaft, vornehm und diskretelegant! Welche Verwandlung! Wie machen Sie es nur? Am Tage bei der Arbeit, beim Sport und am Volant – und abends eine Wolke von Zartheit und Schmirgelsamkeit. So habe ich es wenigstens in der Zeitung gelesen.“ – „Versteht sich, meine Liebe. Das macht: Ich trage einen Büstenbagger. Unsere neue Mode (sie überreicht ihr Cape einem Kavalier, der so aussieht, als halte er sich für einen Gent), unsere neue Mode ist eine Auferstehung des Bürgertums. Vorbei die Gürl-Ideale der Inflation – die Welt beruhigt sich und wird schöner mit jedem Tag. Ich bin eine geborene Sobernheim, trage einen hochstehenden Kragen und erinnere demgemäß an Dantes Beatrice sowie an die Bilder der Prae-Israeliten!“ (Sie tritt sich in den Tüll.) – „Auch ich kleide mich, wie es die neue Mode gebeut – allerdings so viel Schmuck wie diese Frau da... mein Mann ist kein indischer Nabelbob! Sehen Sie den jungen Menschen? Wer mag er sein?“ – „Der im Zmoking? Es ist der Doktor Florian, ein bekannter Ultimo-Kommunist. Nach dem Ersten, wenn er Geld hat, gehört er wieder zu uns.“ – „Potz. Und wo werden Sie morgen weilen, meine liebe Frau Doktor Zeisig?“ – „Wir gehen in ein dem Herrn Jakob Michael gehöriges Spekulationsobjekt: in ein Theater. Wir haben Plätze direkt unter der ersten Hypothek. Es wird ein Stück im fünffüßigen Rhombus aufgeführt werden. Sie fragen gütigerweise nach dem Autor? Heute ist es noch ein alter Engländer – von wem das Stück morgen sein wird: Wer weiß das! Gott ist verhältnismäßig groß. Auch ist Musik mit dem Stück verbunden: ein Thema mit Vaginationen. Sehen Sie aber dort: wie hochinteressant! Wie aufregend! Der im Frack!“ – „Sicher ein Staatssekretär. Er ist vom A. A. Apropos, wie geht es Ihrem Baby?“
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– „Danke! Es kann schon ‚Einstellung’ sagen. Und Sie? Erwarten Sie nicht ein solches?“ – „Ich bin davon abgekommen... (Sie tritt sich in den Tüll.) Schauen Sie, schauen Sie: lauter Diplomaten! Sie sehen aus, als seien sie von Geheimnissen umwittert, die sie vergessen haben. Waren Sie übrigens neulich dabei, als unsre kleine Botschafterin, die so gut Golf spielt, den Nuntius konzipierte? Es war ein schöner Nachmittag! Und sehn Sie nur – der da! Es ist ein Botschaftssekretär, aus der Rauchstraße. Betrachten Sie ihn – diese Denkerstirn!“ – „Denkerstirn? Schütteln Sie nicht an diesem Wort. Er denkt wahrscheinlich nach, wozu er eigentlich in Berlin ist. Schau, schau! Auch eine Künstlerin pfom Pfilm! Wie sieht sie aus?“ – „Sie sieht aus wie die Weinabteilung eines Bierrestaurants. Jüngst sah ich ihrer vier Stück auf einem Rout. Auch eine ungarische Chansonniere war dortselbst anwesend. Sie bewies mit unerhörter Raffinesse ihre bravouröse Charmanz.“ – „Ja, ja... die schönen Künste... Und Sie selbst? Sie sind sportsausüblich?“ – „Ich laufe ein wenig Gummi-Ski. Sie sprechen heute so ein schräges Deutsch?“ – „Ich muß es wohl. Es ist der Stil unsrer Zeit. Vorbei die karge Sachlichkeit; wir haben die neue Romantik entdeckt, sie bringt unsern Schriftstellern viel Geldes; es füllt die Spalten, mit Verlaub zu sagen. Was macht Francesco?“ – „Gestern brachte mir ein Telegraphenbube seinen fernmündlichen Brief. Nun also will er es ernstlich tun. Er will Kinder gründen.“ – „Er war Ihr Freund?“ – „Er war es. Vorbei. Ich bin eine Wolke von Zartheit und Hilfsbedürftigkeit, aber wenn mir dieses Stückchen Modder noch einmal in die Quere kommt...“ (Sie tritt sich in den Tüll.) 64
– „Was werden Sie tun?“ – „Ein Feuilleton aus ihm machen. Ich kann nicht malen, das habe ich nicht gelernt; ich kann keine Konzerte geben, das kostet viel Geld – aber schreiben... schreiben kann jeder. Das wäre gelacht! Es ist angenehm, man braucht nicht dabei zu denken, und bezahlt wird es auch noch.“ – „Sie sprechen von der Liebe?“ – (fein spöttisch) „Sie waren wohl geistlich abwesend, meine liebe Frau Doktor Zeisig! Die Liebe! Mein Mann, der bekannte Pazifist zu Fuß, erinnerte mich stets an seine französische Freundin, die zu sagen pflegte: On fera l’amour – l’après-midi pour toi, le soir pour moi, le matin pour nous et la nuit pour les pauvres.“ – „Paris, das ist altes Spiel, meine Gute. London! New York! Die angelsächsische Rasse! Der Secks Appiehl! Neulich hörte ich in einem Dancing in Nizza einen armen kleinen Gigolo sagen: Une femme! Une femme! Ça fait pipi avec rien! Ich wollte es nicht gehört haben.“ (Sie tritt sich in den Tüll.) – „Sie taten gut daran, meine liebe Frau Zeisig; alle Männer sind ein Schuft. Mein Gott, wie ist es hier doch interessant! Wie atme ich große Welt! Atmen Sie auch große Welt?“ – „Ich... ja, jetzt atme ich sie auch. Wir alle atmen sie. Denn wir in Berlin wissen doch immer, was sich gehört. (Leise Musik.) Wir in Berlin... wir sind doch das Allerfeinste, wo man hat. Wir sind sozusagen: zweite Klasse im Millionärstil. Wir sind nicht von gestern, wir sind nicht von heute – wir sind schon von übermorgen. Wir hören das Gras auf den Zähnen wachsen, und wir eilen allen voran. Nur dürfen wir uns nicht umdrehen, denn die andern eilen gar nicht mit.“ – „Wir in Berlin stellen glasierten Schund auf einen Sockel, und dann bewundern wir: uns, den Sockel und die Bewunderer. Den 65
Sockel macht uns keiner nach. Wir sind stets up to date – immer auf dem Datum.“ – „Wir in Berlin haben früher, ma chère, französische Brocken ins Gespräch gestreut, und heute streuen wir englische, my darling. Wir müssen immer etwas haben, woran wir uns hinauf ranken. Wir sind nicht. Wir geben an.“ – „Wir in Berlin sind überall dabei, aber wir kommen zu nichts. Wir haben französischen Schick, englischen Sport, amerikanisches Tempo und heimische Hast – nur uns selbst haben wir nie gekannt.“ (Sie atmen große Welt.) – „Sahen Sie den bezaubernden King Charles der Marchesa? Seine Augen sind wie grüne Jalousien, bei denen er aufgewachsen ist. Niedlich, wie er schon das Schwänzchen nach dem Winde hängt! Apropos... dort sehe ich den Reichstagspräsidenten – eilen wir, daß wir ihn sehen, damit wir sagen können, daß wir ihn gesehen haben!“ (Sie treten einander in den Tüll und entschweben.) 1930
Der Fall Mischewski contra Pimbusch Wie der Hergang wirklich war. Frau Mischewski: „Denn lassen Sie doch Ihre Dreckfetzen nich auf den Hängeboden hängen – wir nehm’ nichts weg – Gott sei Dank, wir haben das nich nötig, sie olle Vogelscheuche! Wer weeß, wo Sie die Wäsche überhaupt herhaben!“ Frau Pimbusch: „Sie sollten man iebahaupt janz stille sein – wo Sie nich mal mit Ihr’n Mann sind richtig verheirat’ – das janze Haus weiß ja, wer Sie sind, und außerdem sind Sie ja jehn Ahmt besoffen!“ Frau Mischewski beim Anwalt: „Also so war diß jewesen, Herr Rechtsanwalt: Ich sahre janz ruhig, ich sahre, Frau Pimbusch, sahre ich, ich habe Ihre Wäsche nich jesehen, mir ist nichts von Ihre Wä66
sche bewußt, sahre ich, ich sahre, hier im Hause kommt doch nichs wech, davon kann ja gar keine Rede sein... Ich will Sie aber gern behilflich sein, die Wäsche zu suchen, Frau Pimbusch! Sie wird aber brülln: Sie olle Vogelscheuche, und lauter sone Sachen, wo ich janich hier wiederholn kann, Herr Rechtsanwalt, weil ich als jebillte Frau sone Ausdrücke überhaupt nich kennen tue! So ist das jewesen!“ Frau Pimbusch beim Anwalt: „Ich sahre janz ruhich zu die Person, Herr Rechtsanwalt, ich sahre: Verzeihen Sie, ham Sie meine drei weißen Hemden nicht jesehn, jestern ham se noch auf ‘n Hängeboden jehangen, und heute sind sie weg. Ich sahre, Frau Mischewski, sahre ich, das kann doch nicht mit rechten Dingen zugehn, sahre ich. Da wird die doch brülln: ,Sie olle Vogelscheuche, Sie besoffene Trine’ – und lauter sone Sachen, die ich hier gah nich kann wiederholen, Herr Rechtsanwalt!“ Im Korridor des Amtsgerichts „Also, nich wah, Frau Zippanowski, Sie könn’ doch das beeiden, wo ich jesacht habe, mir ist von Ihre Wäsche nichts bewußt, da hat die jleich jepöbelt, von wegen Vogelscheuche, – nich wahr, das können Sie doch aussahren?“ „Die Person werde ich das schon zeigen! Wie sie schon dasitzt, so richtig frech! Aber, nich wah, Fräulein Holzweg, das sahren Sie man alles, wat Sie jeheert ham – sahren Sie es man janz jenau so – und was die Ausdrücke sind, die die Person benutzt hat, das sahren Sie man alles.“ Vor Gericht Der Anwalt: „...so ist in dem Ausdruck ‚jeden Abend besoffen’ zweifellos ein Beleidigung zu erblicken. Ganz abgesehen davon, daß die Bezeichnung auf meine Klientin nicht zutreffen dürfte, ist als strafverschärfend die Anwesenheit zahlreicher anderer Hausbewohner zu erblicken, die... lassen Sie mich doch mal, Frau Mischewski!... auf die Ehre meiner Klientin ein schlechtes Licht zu werfen geeignet ist!“ (Fünf Minuten später das Urteil: Frau Pimbusch 50 Mk., Frau Mischewski 30 Mk. Geldstrafe.) 67
In Sachsen lebte einmal ein Amtsrichter, der war dafür berühmt, daß er alle Privatbeleidigungsklagen mit einem Vergleich der streitenden Parteien abschloß: Das machte er so: Er musterte mit strengem Blick die Parteien und sprach: „Ja – da werden Sie nun wohl alle beide ins Kefänknis kommen!“ Und dann bekamen die Klagenden gewöhnlich, einen solchen Schreck, daß sie zu allem Ja und Amen sagten, was der übrigens vernünftige Richter ihnen da als Vergleichsformel vorschlug... Aber einmal stieß er auf eine Hartnäckige, die wollte nicht und wollte nicht. Da aber erhob sich der Amtsrichter zu seiner vollen Größe und donnerte: „Was? Sie wollen sich nicht vergleichen? Sie wollen sich nicht vergleichen? Ja – wer soll denn nachher das Urteil machen? Vielleicht ich?“ Privatbeleidigungsklagen sind, in den allermeisten Fällen, für den Juristen das Langweiligste und für den Zuschauer das Komischste, das es gibt. Was zunächst auffällt, ist die bei fast allen Menschen einsetzende Horizontverengung, die wochenlang nur noch das ins Blickfeld treten läßt, was mit dem Streit zusammenhängt, die einzelnen Vorgänge an Wichtigkeit und Bedeutung maßlos übertreibend. Die Welt steht gewissermaßen still, weil sich Frau Karschunke mit Herrn Flußhakker in die Haare geraten ist. Auch neigt der Prozeßführende gern dazu, von der Justiz die völlige, aber auch die völlige Vernichtung des Gegners zu erwarten und zu verlangen: Enthauptung, Stäupung auf offenem Markt, Landesverweisung und Vermögenskonfiskation wären ihm durchaus nicht zuviel... Und auf der andern Seite ist das geradeso. Natürlich gibt es Beleidigungsklagen, die unvermeidlich sind, so, wie es wahrhaft ehrenrührige Vorwürfe gibt, die man zu klären gezwungen ist. Aber das ist viel seltener, als die meisten Leute glauben; und es wäre wirklich klüger, man wendete das Geld für die Durchführung dieser Komödien für bessere und nützlichere Zwecke an. „In fünfzig Jahren“, hat Otto Reutter einmal gesungen, „in fünfzig Jahren ist alles vorbei –“, und Humor und Weltklugheit helfen einem auch über die Unannehmlichkeiten eines Kleinkrieges mit dem bösen, bösen Nachbarn hinüber. Ein vernünftiges Wort zur rechten Stunde hilft fast immer, und man kann sich weit mehr mit seinen Gegnern aussprechen, als man ge68
meinhin denkt. Man tut’s nur nicht immer. Wenn Sie jemand verklagen wollen, dann überlegen Sie es sich, überschlafen Sie die Sache noch einmal, und schenken Sie für das Geld, das Verfahren, Anwalt und Urteil kosten, Ihrer Familie etwas Hübsches. Sie haben mehr davon. 1928
Der Anhänger „Was nützt mich der Mantel, wenn er nich jerollt is!“ Unteroffizier: 1848
Die Franzosen, welches, wie meine Freundin Grete Walfisch sagt, ein degeneriertes Volk ist, treiben mit ihren männlichen Mänteln Schindluder. Ich muß es einmal sagen – seit Jahren krampft sich mir das Herz zusammen, wenn ich sehe, was diese Mäntel leiden müssen. Sie werden zusammengefaltet wie Faltboote, zu dicken Paketen verunstaltet, das Paket wird hinter Stangen auf Bretter gelegt, in den Restaurants treiben sie es so, das heißt, in denen, wo nicht fein sind, ohne „vestiaire“, was Garderobe heißt – es ist furchtbar, mitanzusehen. „Ja, haben sie denn keine Aufhängedinger?“ – Das ist es ja eben – die haben sie, aber wie sehen die aus! Meinen Sie, da sind richtige Haken dran? Oui, gâteau! Da ist so eine Art Haken, aber die enden in Knöpfen! In dicken, kugeligen Knöpfen. Hat man je so etwas... Über diese Knöpfe hängt das degenerierte Volk die Männermäntel. Während ein richtiger Mantel doch an einem Henkel zu hängen hat, der zieht ihn dann so schön nach unten, er verliert leichter die Fasson, er muß öfter aufgebügelt werden, die Schneider verdienen daran – kurz: Volkswirtschaft. Die Franzosen aber... es ist zum Gotterbarmen. Daher denn auch die französischen Schneider solche Anhänger gar nicht herstellen; sie liefern dir den Mantel sine sine. Davon habe ich zwei. Und mit denen bin ich neulich in die Heimat gekommen. Wenn – im vorigen Frieden – der Blitz in eine marschierende Kolonne schlug, und es fiel ein Mann um, dann besah sich der Hauptmann 69
den Schaden und rief: „Natürlich, der Einjährige!“ – Und der kam sich dann noch im Lazarett dämlich vor, weil er eben immer das Karnickel war. So ging das mit mir und mit dem Anhänger. Mit dem Nicht-Anhänger. Ich habe gelitten wie Dante bei Solferino. Es begann bei den Dienstmädchen der befreundeten Familien. „Darf ich abnehmen?...“ – Bitte, Fräulein. [Pause.] „Da ist kein Anhänger dran!“ [Spöttischer Blick. Melodie: Du armes Aas hast wohl keine Dame, die dir das annäht?] Ich traurig ab. Die Kellner in den Restaurants waren schon strenger. Ich bin gerade noch ohne Arrest weggekommen. Aber am schlimmsten waren die Garderobenfrauen in den Theatern. O weh – was habe ich da zu hören bekommen! „Na, is doch wahr! Nachher schimpfen die Herrschaften, daß man die Sachen nicht ordentlich hat aufgehängt – und denn haben sie nich mah Anhänger dran, wie es sich gehört!“ – Dieses Wort schlug wie ein Donnerhall in meine Seele. Nun hatte ich es heraus: es war nicht die kleine technische Unzulänglichkeit, die die Leute so aufbrachte: es gehörte sich nicht –! Das war es. Der fehlende Anhänger war ein Fehler in der Weltordnung. Es regnete höhnische Anerbieten auf mich: ob man mir vielleicht den Anhänger annähen solle? Ich: „Ja.“ Die Wachtmeisterin in der Garderobe: „Na, det hat jrade noch jefehlt!“ mit der anschließenden Frage, ob ich vielleicht Löcher in den Hosen hätte, man könnte die ja auch... es wäre ein Aufwaschen oder vielmehr Aufnähen – aber aus der Näherei wurde nichts; es gab nur Krach. Es gab so viel Krach, daß ich mich gar nicht mehr in die öffentlichen Kunstinstitute hineingetraut habe – auf diese Weise sind in meiner ohnehin kümmerlichen Bildung bedeutsame Lücken in der Abteilung „Klassische Revue mit unruhigem Humor“ entstanden – und ich wanderte ins Kino ab. Da war ich aber vom Regen unter Umgehung der Traufe direkt in die Schokolade gekommen. Mit „Da hängen Sie sich doch uff!“ fing es an. Ich floh, wie von Furien gepeinigt... gejagt... wie von Furien gejagt... und jetzt sitze ich da mit dem Mantel, und was nutzt er mir, wenn er keinen Anhänger hat.
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„Nun sagen Sie – eine Frage. Das näht Ihnen keiner an? Da haben Sie keine... also kein weibliches Wesen in Ihrer Umgebung, die Ihnen diesen kleinen Freundschaftsdienst erweist? –“ – Ach, wissen Sie, mit den kleinen Freundschaftsdiensten... das ist ein weites Feld. Die werden sehr überzahlt. „Na, und Lottchen?“ – Das ist eine berufstätige Frau, wissen Sie. Sie sagt: „Warte, bis du wieder in Frankreich bist – da brauchst du keinen Anhänger.“ Und ich gehe umher, ein Ausgestoßener – ein Mann, der seinen... das kann man eigentlich nicht sagen. Immerhin: Peter Schlemihl. Wenn ein ganzes Volk, Mann für Mann, etwas besitzt, was ein einzelner nicht besitzt –: wahrlich, ich sage dir – aus solchem Holze werden die Märtyrer gemacht. Denn es ist die große Frage, ob die Mäntel wegen der Anhänger da sind oder die Anhänger wegen der Mäntel. Es ist beinahe dieselbe Frage: ob man lebt oder ob man im Dienste eines Apparats gelebt wird. Ein weiser Mann des Fernen Ostens, dem eine solche Frage vorgelegt wurde, sann lange nach. Und dann sprach er: „Wenn Sie mich so fragen – muß ich Ihnen antworten: Ja.“ 1930
Die Unpolitische „Ist Frau Zinschmann zu Hause –?“ fragte der Mann, der geklingelt hatte. Das kleine, runde Kind stand da und steckte die Faust in den Mund. „Aaaoobah –“ „Hier hängt se. Wat jibbs ‘n –?“ sagte die Frau des Hauses. Der Mann an der Tür machte eine Art Verbeugung. „Komm Se man rin“, sagte die Frau. „Es is woll weejn den Jas. Ja, bester Herr...!“ „Es ist nicht des Gases wegen“, sagte der Mann und ließ das Hochdeutsch auf der Zunge zergehen. „Ich komme vom Kriegerverein aus – von Vereins wegen, sozusagen. Sie wissen ja, Frau Zinschmann, der Kriegerverein, dem Ihr Mann angehört. Ja. Es ist wegen... Wir haben beschlossen, daß wir eine Umfrage machen, wie die Frauen unsrer alten Kameraden über die Lage denken... Und auch etwaige 71
Beschwerden zu sammeln. In betreffs der politischen Lage. So ist das.“ „Ja, also was diß anjeht“, sagte Frau Zinschmann und jagte die Katze von der Kommode, „mit Polletik befaß ick mir ja nun jahnich. In keine Weise. So leid es mir tut. Nehm Se Platz.“ „Unrecht von Ihnen, sehr unrecht von Ihnen, liebste Frau Zinschmann. Die Politik greift auch in das Leben der Frau tief hinein.“ „Entschuldjn Se man, det ick Ihnen unterbrechen due – aber wat hier so anjebrannt riecht, det is man bloß die Milch. Es is Magermilch, aba stinken dut se...! Aber wat wollten Sie sahrn –?“ „Ich meinte: sie greift hinein. Und seit unser ehrwürdiger Präsident Hindenburg an der Spitze dieses Staatswesens steht, ists besser um uns bestellt.“ „Na ja“, sagte Frau Zinschmann. „Er ist ja auch man erscht kurze Zeit da. Der ewije Wechsel – det is ja ooch nischt. Wissen Se, da, wo ick frieha reinejemacht habe, bei Hackekleins, Drekta Hackeklein, Se wern velleicht von den Mann jeheert ham – da hatten se ‘n Meechen, mit der wahn se ja nu jahnich zefriedn. Erst jingt ja: Emma hinten und Emma vorn, aber denn waht doch nischt. Nu ham se doch die Lina jemiet, die, die de da bei Rejierungsrats jedient hatte. Fuffzehn Jahr wah se da – keen Mensch im Hause hätte jedacht, det se da ma wechmachen täte. Denn hatte der Olle Pech, er fiel de Treppe runta und wurde pennsioniert, da jing se, Knall und Fall jing se bei Hakkekleins. Se saachte: weh se bekochte, sacht se, det war se janz eejal. Ja, det is nu die Neie. Aber wissen Se: besser kochn dut se ooch nich.“ „Gewiß sind diese Hausangestellten in ihren Dienstobliegenheiten oft nicht recht zufriedenstellend“, sagte der Mann. „Wenngleich... immerhin ist ein Mensch wie unser Außenminister Stresemann...“ „Otto!“ schrie Frau Zinschmann durch das offene Fenster. „Wißte runta von de Schaukel! Der Limmel sitzt den janzen Tach nischt wie uff de Schaukel!“ Und, zum Gast gewendet: „Und dabei kann er nich mal richtich schaukeln –! Aba ick habe Ihn untabrochn!“ 72
„Ich wollte sagen: die Richtlinien unsrer äußern Politik passen sich nur schwer den wirtschaftlichen Belangen an. Der Feindbund... Aber da haben wir ja unsre herrliche Reichswehr mit einem doch recht tatkräftigen Minister und einem Manne, der ihm zur Seite steht...“ Zwei brüllende Kinder brachen in das Zimmer ein. „Mutta! Mutta!“ schrie der größere Junge. „Orje haut ma imma! Er sacht, ick soll mir in Mülleima setzen und die Wacht am Rhein blasn! Wir spieln Soldatn. Ick will aba nich in Mülleima sitzn, Mutta!“ – „Woso laßt du dirn det jefalln, du oller Dösknochen! Oller Schlappschwanz – do!“ Der Junge zog ein kräftiges Licht hoch und sagte: „Wo er doch mein Vorjesetzta is –“ „Entschuldjen Se man“, sagte Frau Zinschmann und warf die Jöhren wieder heraus. „Son langer Lulatsch und noch so dammlich. Herrjott –! Wie meintn Se soehmt?“ „Ja, sehen Sie, Frau Zinschmann, es ist ja vieles faul in dieser – ehimm – Republik. Aber, Gott sei Dank, unser altes preußisches Richtertum, das hält doch noch stand. Das hält stand.“ „Ach, hörn Se mal“, sagte Frau Zinschmann, „wo Se nu doch vom Vaein sind – könn Se ma da valleicht ‘n Rat jehm...? Also – da is doch det Frollein Hauschke, die von dritten Stock, newa –? Wissen Se, wat die is? Wo wir hier alleene sind, kann icks Ihnen ja sahrn: also eine janz jeweehnliche, also det is eene, die, wissen Se, wenn da eena kommt und – also so eene is det. Und nu, seit eine ßwei, drei Jahre... da tut sie so fein und tritt uff int Haus und hat sich feine Pelze anjeschafft, ick weeß nich, wovon. Na, neilich, wie se hier langjemacht kam, da haak se nachjerufn: Ham Se sich man nich so, Sie olle Vohrelscheuche! Ohm ‘n Pelz und ‘n Ding uff n Kopp – aber unten die alten Beene kucken doch raus! Sahrn Se mal: is det strafbar –? Newa, det is doch nich strafbar? Wa? Na, wollt ‘ck meen...!“ „Ihr Mann hat doch gar keine Verbindung mehr mit den Sozialdemokraten?“ nahm der Vereinsabgesandte das Gespräch wieder auf. „Diese verdammten Roten...“ „Na allemal. Nee – Hujo jeht da nich mehr hin, er saacht, et lohnt nich. Neilich, in die kleene Kneipe, wo se imma ham ihrn Zahlahmt, da ham se zwei mächtig vahaun – det wahrn sonst anständche Jeste. 73
Und vatobackt ham sie die! A richtich! ‘n nächsten Morjen ham se noch uffn Hof jelejn. Der Wirt wollte se nich so uff de Straße raustrahrn – bei den Hundewetter... Det is ‘n Jemiet, is der Mann. Ja, un wissen Se: ‘n nächsten Morjn – da ham die beedn doch von jahnischt jewußt! I! die kam ausn Mustopp. So war det.“ „Ja“, sagte der Mann und trocknete sich mit einem Taschentuch die Stirn. „Die sozialdemokratische Bewegung – das ist so eine Sache. Nur gut, daß wir den ehernen Wall der Gutsbesitzer haben! Das Land, Frau Zinschmann! Die preußische, die deutsche Erde –!“ „Entschuldjn Se’n kleen Momang!“ sagte Frau Zinschmann. „Ick heer die Katze wirjn; det Aas hat sich wieda ibafressen. Wissen Se: die frißt, bis se platzt – un denn schreit se vor Hunger! Wißtu! Husch, husch! Pusch! Wat sagten Sie doch jleich –?“ „Ja, ich meine: Wir wollen zusammenhalten, bis wieder einst bessere Zeiten herankommen, herrliche Zeiten, Frau Zinschmann! Frontgeist wirds schaffen!“ – „Na jewiß doch. Na allemal. Da draußen nach den Rummel missn Se jahnich nach hinheern – des sind Meßackers ihre, ‘ne dolle Bande! Siehm Jungs. Aber ick kenn se: jroße Schnauze un nischt dahinter.“ „Nun, Gott befohlen, Frau Zinschmann! Eine schwarz-weiß-rote Fahne haben Sie doch im Hause?“ fragte der Mann, der schon auf der Treppe stand. „Ja, Huro hat eene“, sagte Frau Zinschmann. „Sehn Se sich da draußen vor – det Jeländer is frisch jestrichn, un die alte Farbe kommt imma wida durch. Die neue doocht nischt – et müßte mal ibajestrichn wem! Und nischt fir unjut, Herr Sekretär, nischt für unjut –! Denn sehn Se mal, also mit Polletik – da befasse ick mir nu jahnich –!“ 1925
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„Manoli linksrum –!“ „Das Leben ist nur noch im besoffenem Zustande zu ertragen.“ Goethe
Ein friedlicher Herbstabend dämmerte auf die goldige Stadt Berlin hernieder, und dem Oberwachtmeister auf dem Potsdamer Platz war gerade der linke Arm eingeschlafen, der elektrische Bahnwagen Berlins trillerte sanft vorüber, ein Droschkenpferd ließ eine kleine Ruhrabgabe fallen, ein Auto rollte eilfertig und auf Geschäftsunkosten vorüber – da plötzlich brach etwas Schreckliches über die ahnungslose Stadt herein. Sie wissen doch, daß die elektrische Reklame am Potsdamer Platz – ganz recht, gerade die über Josty –, daß die bisher von Herrn Andreas Kuhlow bedient wurde. Kuhlow war ein ehrsamer Bürger dieses Staates, ein bißchen doof, ein bißchen hinter den Damen her und meistens leicht angetrudelt. Aber seinen Dienst da oben, hoch über den Dächern, hatte er doch ganz gut versehen. Er pflegte da in einem kleinen Kämmerchen zu sitzen und emsig einen kleinen Hebel zu bewegen, der den Passanten die strahlenden Lichtbuchstaben zu vermitteln hatte: Zahnputzmittel, Südweine, Automobilreifen – was da so alles empfohlen wurde... Er tat das mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks und nicht ohne Phantasie. Einmal ließ er vier Zahnputzmittel und zwei Autoreifen aufleuchten, und dann wieder halbe Stunden lang nur Damenartikel und Schnäpse... Ja, Herr Kuhlow war nicht ohne. Das heißt: Bis zu diesem Septemberabend war er nicht ohne. An diesem Abend war er auf einmal mit. War es nun der Schnaps oder die letzte Rosaura, die Herrn Kuhlow beglückt hatte – er pflegte von ihr nicht anders als mit einem leichten Schnalzer zu sprechen – am Abend des fünfzehnten schnappte er endgültig über, und es begab sich das Folgende: Herr Fondsmakler Berserker überquerte gerade den Potsdamer Platz und rechnete, zufrieden ein Liedchen trällernd, aus, was er im Laufe der letzten Stunden dadurch verdient hatte, daß er nichts verkauft... als plötzlich seine bildhübschen schwarzen Augen auf die leuchtende Inschrift da oben fielen: 75
HEIZE MIT KRIEGSANLEIHE! Herrn Berserker fiel vor Schreck die goldene Brille aufs Trottoir. Wie –? Noch einmal hob er den Kopf und sah entgeistert nach oben, und nun war auch schon der ganze Platz aufmerksam geworden, viele blickten nach oben, da war es dunkel, und plötzlich wurde es wieder hell: REGIERE MIT STRESEMANN! Hallo! Da war etwas nicht in Ordnung! Rosselenker rissen an ihren ehemaligen Rossen, dem Oberwachtmeister wachte der linke Arm auf, der elektrische Bahnwagen, den die Stadt Berlin übriggelassen hatte, blieb mitten auf dem Platz stehen und repräsentierte so den Berliner Verkehr. Oben tobte das Licht weiter: POLA NEGRI – DER LEICHTE TOURENWAGEN Allmächtiger Vater! Herr Berserker stand noch immer unten, sein glänzendes schwarzes, stets sorgfältig nach hinten gekämmtes Haar sträubte sich vorsichtig. Er bekam Bromsilberaugen und guckte und guckte – – – KAHLBAUMS likör – DAS KOPFPFLEGEMITTEL und HUMAGSOLAN – DAS BESTE FÜR DIE ZÄHNE und FLATOWS BÖRSENTIPS SIND DIE BESTEN Aber das ging doch zu weit! Eine Panik brach aus. Herr Bezirkspfarrer Ringelnatz fiel in die Rettungssäule, die zum ersten Male in ihrem Leben aufging – die Scheiben splitterten – der Pfarrer fiel gerade auf die innen angebrachte Tragbahre und blieb gleich darin liegen – – der Wachtmeister tutete, Herrn Berserker rutschte ein Dollar aus der Tasche und eine Mark – der Dollar fiel 76
auf die Erde, und die Mark stieg, vom Winde emporgeführt, nach oben – ein seltsames Naturspiel, dem aber jetzt niemand Beachtung schenkte... Beherzte Männer stürzten die Treppen hinauf, in das Kämmerchen zu Kuhlown. Kuhlow schien noch nicht genug zu haben. Da las man: STINNES – DER GROSSE ORIGINALMASCHINENAUFSAUG E R und ASBACH URALT – DAS ZAHNWASSER DER ELEGANTEN WELT! Die beherzten Männer fanden Herrn Kuhlow vor der Kurbel, dämlich vor sich hinlächelnd und selbst für die heutigen Verhältnisse heftig betrunken. Er lallte ununterbrochen vor sich hin: „Wenestri linksrum – Batschari rechtsrum – Manoli andersrum...!“ Man riß ihn von der Maschine. Es war keinen Augenblick zu spät. Denn unten auf dem Potsdamer Platz war die Ehrenvorsitzende des ostpreußischen Heims zur Rettung gestrauchelter, wenn auch noch nicht gefallener Mädchen soeben in eine frische Ohnmacht gefallen, weil da oben zu lesen stand: ES IST JA ALLES SCH– – – – Was es alles ist, hat man nie erfahren. Herr Kuhlow wurde abtransportiert, und der Satz blieb unausgeleuchtet, im Dunkeln. Fünf Minuten später lag der Potsdamer Platz wieder in idyllischer Ruhe, nur hier und da unterbrochen von dem gewaltigen Rollen des Neu-Berliner Verkehrs. 1923
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Hitler und Goethe Ein Schulaufsatz
Einleitung Wenn wir das deutsche Volk und seine Geschichte überblicken, so bieten sich uns vorzugsweise zwei Helden dar, die seine Geschicke gelenkt haben, weil einer von ihnen hundert Jahre tot ist. Der andre lebt. Wie es wäre, wenn es umgekehrt wäre, soll hier nicht untersucht werden, weil wir das nicht aufhaben. Daher scheint es uns wichtig und beachtenswert, wenn wir zwischen dem mausetoten Goethe und dem mauselebendigen Hitler einen Vergleich langziehn. Erklärung Um Goethe zu erklären, braucht man nur darauf hinzuweisen, daß derselbe kein Patriot gewesen ist. Er hat für die Nöte Napoleons niemals einen Sinn gehabt und hat gesagt, ihr werdet ihn doch nicht besiegen, dieser Mann ist euch zu groß. Das ist aber nicht wahr. Napoleon war auch nicht der größte Deutsche, der größte Deutsche ist Hitler. Um das zu erklären, braucht man nur darauf hinzuweisen, daß Hitler beinah die Schlacht von Tannenberg gewonnen hat, er war bloß nicht dabei. Hitler ist schon seit langen Monaten deutscher Spießbürger und will das Privateigentum abschaffen, weil es jüdisch ist. Das, was nicht jüdisch ist, ist schaffendes Eigentum und wird nicht abgeschaffen. Die Partei Goethes war viel kleiner wie die Partei Hitlers. Goethe ist nicht knorke. Begründung Goethes Werke heißen der Faust, Egmont erster und zweiter Teil, Werthers Wahlverwandtschaften und die Piccolomini. Goethe ist ein Marxstein des deutschen Volkes, auf den wir stolz sein können und um welchen uns die andern beneiden. Noch mehr beneiden sie uns aber um Adolf Hitler. Hitler zerfällt in drei Teile: in einen legalen, in einen wirklichen und in Goebbels, welcher bei ihm die Stelle u. a. des Mundes vertritt. Goethe hat niemals sein Leben aufs Spiel gesetzt; Hitler aber hat dasselbe auf dasselbe gesetzt. Goethe war ein 78
großer Deutscher. Zeppelin war der größte Deutsche. Hitler ist überhaupt der allergrößte Deutsche. Gegensatz Hitler und Goethe stehen in einem gewissen Gegensatz. Während Goethe sich mehr einer schriftstellerischen Tätigkeit hingab, aber in den Freiheitskriegen im Gegensatz zu Theodor Körner versagte, hat Hitler uns gelehrt, was es heißt, Schriftsteller und zugleich Führer einer Millionenpartei zu sein, welche eine Millionenpartei ist. Goethe war Geheim-, Hitler Regierungsrat. Goethes Wirken ergoß sich nicht nur auf das Dasein der Menschen, sondern erstreckte sich auch ins Kosmetische. Hitler dagegen ist Gegner der materialistischen Weltordnung und wird diese bei seiner Machtübergreifung abschaffen sowie auch den verlorenen Krieg, die Arbeitslosigkeit und das schlechte Wetter. Goethe hatte mehrere Liebesverhältnisse mit Frau von Stein, Frau von Sesenheim und Charlotte Puff. Hitler dagegen trinkt nur Selterwasser und raucht außer den Zigarren, die er seinen Unterführern verpaßt, gar nicht. Gleichnis Zwischen Hitler und von Goethe bestehen aber auch ausgleichende Berührungspunkte. Beide haben in Weimar gewohnt, beide sind Schriftsteller und beide sind sehr um das deutsche Volk besorgt, um welches uns die andern Völker so beneiden. Auch hatten beide einen gewissen Erfolg, wenn auch der Erfolg Hitlers viel größer ist. Wenn wir zur Macht gelangen, schaffen wir Goethe ab. Beispiel Wie sehr Hitler Goethe überragt, soll in folgendem an einem Beispiel begründet werden. Als Hitler in unsrer Stadt war, habe ich ihn mit mehreren andern Hitlerjungens begrüßt. Der Osaf hat gesagt, ihr seid die deutsche Jugend, und er wird seine Hand auf euern Scheitel legen. Daher habe ich mir für diesen Tag einen Scheitel gemacht. Als wir in die große Halle kamen, waren alle Plätze, die besetzt waren, total ausverkauft, und die Musik hat gespielt, und wir haben mit 79
Blumen dagestanden, weil wir die deutsche Jugend sind. Und da ist plötzlich der Führer gekommen. Er hat einen Bart wie Chaplin, aber lange nicht so komisch. Uns war sehr feierlich zumute, und ich bin vorgetreten und habe gesagt Heil. Da haben die andern auch gesagt Heil, und Hitler hat uns die Hand auf jeden Scheitel gelegt, und hinten hat einer gerufen stillstehn! weil es photographiert wurde. Da haben wir ganz still gestanden, und der Führer Hitler hat während der Photographie gelächelt. Dieses war ein unvergeßlicher Augenblick fürs ganze Leben, und daher ist Hitler viel größer als von Goethe. Beleg Goethe war kein gesunder Mittelstand. Hitler fordert für alle SA und SS die Freiheit der Straße sowie daß alles ganz anders wird. Das bestimmen wir! Goethe als solcher ist hinreichend durch seine Werke belegt, Hitler als solcher aber schafft uns Brot und Freiheit, während Goethe höchstens lyrische Gedichte gemacht hat, die wir als Hitlerjugend ablehnen, während Hitler eine Millionenpartei ist. Als Beleg dient ferner, daß Goethe kein nordischer Mensch war, sondern egal nach Italien fuhr und seine Devisen ins Ausland verschob. Hitler aber bezieht überhaupt kein Einkommen, sondern die Industrie setzt dauernd zu. Schluß Wir haben also gesehn, daß zwischen Hitler und Goethe ein Vergleich sehr zu ungunsten des letzteren ausfällt, welcher keine Millionenpartei ist. Daher machen wir Goethe nicht mit. Seine letzten Worte waren mehr Licht, aber das bestimmen wir! Ob einer größer war von Schiller oder Goethe, wird nur Hitler entscheiden, und das deutsche Volk kann froh sein, daß es nicht zwei solcher Kerle hat! Deutschlanderwachejudaverreckehitlerwirdreichspräsidentdasbestimmenwir! Sehr gut! 1932 80
An die Meinige Legt man die Hand jetzt auf die Gummiwaren? Erinnre, Claire, dich an deine Pflicht! Das geht nicht so wie in den letzten Jahren: Du bist steril, und du vermehrst dich nicht! Wohlauf! Wohlan! Zu Deutschlands Ruhm und Ehren! Vorbei ist nun der Liebe grüner Mai – da hilft nun nichts: du mußt etwas gebären, einmal, vielleicht auch zweimal oder drei! Wir Deutschen sind die Allerallerersten, voran der Kronprinz als Eins-A-Papa. Der Gallier faucht – wir haben doch die mehrsten, und hungern sie, mein Gott, sie sind doch da! Denn sieh: die Babys brauchen Medizinen und manchmal auch ein weiß Getöpf aus Ton, Gebäck, das Milchgetränk – man kauft es ihnen, und dann vor allem, Kind, die Konfektion! Und wer soll in des Kaisers Röcken dienen, umbrüllt vom Leutnant und vom General? Stell du das her: es muß nur maskulinen Geschlechtes sein – der Schädel ist egal. Ins Bett! Hier hast du deine Wickelbinden! Schenk mir den Leo nebst der Annmarei! Und zählt man nach, wird man voll Freude finden sechzig Millionen, und von uns die zwei! 1914
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MÄNNER, FRAUEN, LIEBE
Der andre Mann Du lernst ihn in einer Gesellschaft kennen. Er plaudert. Er ist zu dir nett. Er kann dir alle Tenniscracks nennen. Er sieht gut aus. Ohne Fett. Er tanzt ausgezeichnet. Du siehst ihn dir an … Dann tritt zu euch beiden dein Mann. Und du vergleichst sie in deinem Gemüte. Dein Mann kommt nicht gut dabei weg. Wie er schon dasteht – du liebe Güte! Und hinten am Hals der Speck! Und du denkst bei dir so: „Eigentlich... Der da wäre ein Mann für mich!“ Ach, gnädige Frau! Hör auf einen wahren und guten alten Papa! Hättst du den Neuen: in ein, zwei Jahren ständest du ebenso da! Dann kennst du seine Nuancen beim Kosen; dann kennst du ihn in Unterhosen; dann wird er satt in deinem Besitze; dann kennst du alle seine Witze. Dann siehst du ihn in Freude und Zorn, von oben und unten, von hinten und vorn... Glaub mir: wenn man uns näher kennt, gibt sich das mit dem happy end. Wir sind manchmal reizend, auf einer Feier... und den Rest des Tages ganz wie Herr Meyer. Beurteil uns nie nach den besten Stunden. Und hast du einen Kerl gefunden, mit dem man einigermaßen auskommen kann: dann bleib bei dem eigenen Mann! 1930 83
Sie, zu ihm Ich hab dir alles hingegeben: mich, meine Seele, Zeit und Geld. Du bist ein Mann – du bist mein Leben, du meine kleine Unterwelt. Doch habe ich mein Glück gefunden, seh ich dir manchmal ins Gesicht: Ich kenn dich in so vielen Stunden – nein, zärtlich bist du nicht. Du küßt recht gut. Auf manche Weise zeigst du mir, was das ist: Genuß. Du hörst gern Klatsch. Du sagst mir leise, wann ich die Lippen nachziehn muß. Du bleibst sogar vor andern Frauen in gut gespieltem Gleichgewicht; man kann dir manchmal sogar trauen... aber zärtlich bist du nicht. O wärst du zärtlich! Meinetwegen kannst du sogar gefühlvoll sein. Mensch, wie ein warmer Frühlingsregen so hüllte Zärtlichkeit mich ein! Wärst du der Weiche von uns beiden, wärst du der Dumme. Bube sticht. Doch wer mehr liebt, der muß mehr leiden. Nein, zärtlich bist du nicht. 1931
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Die arme Frau Mein Mann? Mein dicker Mann, der Dichter? Du lieber Gott, da seid mir still! Ein Don Juan? Ein braver, schlichter Bourgeois – wie Gott ihn haben will. Da steht in seinen schmalen Büchern, wie viele Frauen er geküßt; von seidenen Haaren, seidenen Tüchern, Begehren, Kitzel, Brunst, Gelüst... Liebwerte Schwestern, laßt die Briefe, den anonymen Veilchenstrauß! Es könnt ihn stören, wenn er schliefe. Denn meist ruht sich der Dicke aus. Und faul und fett und so gefräßig ist er und immer indigniert. Und dabei gluckert er unmäßig vom Rotwein, den er temperiert. Ich sah euch wilder und erpichter von Tag zu Tag – ach, laßt das sein! Mein Mann? Mein dicker Mann, der Dichter? In Büchern: ja. Im Leben: nein. 1918
Ballade Da sprach der Landrat unter Stöhnen: „Könnten Sie sich an meinen Körper gewöhnen?“ Und es sagte ihm Frau Kaludrigkeit: „Vielleicht. Vielleicht. Mit der Zeit... mit der Zeit...“ 85
Und der Landrat begann nun allnächtlich im Schlafe laut zu sprechen und wurde ihr Schklafe. Und er war ihr hörig und sah alle Zeit Frau Kaludrigkeit – Frau Kaludrigkeit! Und obgleich der Landrat zum Zentrum gehörte, wars eine Schande, wie daß er röhrte; er schlich der Kaludrigkeit ums Haus... Die hieß so – und sah ganz anders aus: Ihre Mutter hatte es einst in Brasilien mit einem Herrn der bessern Familien. Sie war ein Halbblut, ein Viertelblut: nußbraun, kreolisch; es stand ihr sehr gut. Und der Landrat balzte: Wann ist es soweit? Frau Kaludrigkeit – Frau Kaludrigkeit! Und eines Abends im Monat September war das Halbblut müde von seinem Gebember und zog sich aus. Und sagte: „Ich bin...“ und legte sich herrlich nußbraun hin. Der Landrat dachte, ihn träfe der Schlag! Unvorbereitet fand ihn der Tag. Nie hart er gehofft, es noch zu erreichen Und er ging hin und tat desgleichen. Pause Sie lag auf den Armen und atmete kaum. Ihr Pyjama flammte, ein bunter Traum. Er glaubte, ihren Herzschlag zu spüren. Er wagte sie nicht mehr zu berühren... Er sann, der Landrat. Was war das, soeben? Sie hatte ihm alles und nichts gegeben. Und obgleich der Landrat vom Zentrum war, wurde ihm plötzlich eines klar: Er war nicht der Mann für dieses Wesen. Sie war ein Buch. Er könnt es nicht lesen. Was dann zwischen Liebenden vor sich geht, ist eine leere Formalität. 86
Und so lernte der Mann in Minutenfrist, daß nicht jede Erfüllung Erfüllung ist. Und belästigte nie mehr seit dieser Zeit die schöne Frau Inez Kaludrigkeit. 1930
Warum mein Kontoauszug neulich einen Fehler hatte Damit einer liebe, ist es nicht nötig, daß viel Zeit verstreiche, daß er Überlegung anstelle und eine Wahl treffe, sondern nur, daß bei jenem ersten und alleinigen Anblick eine gewisse Übereinstimmung gegenseitig zusammentreffe oder das, was wir hier im gemeinen Leben eine Sympathie des Blutes zu nennen pflegen... Demgemäß ist auch der Verlust der Geliebten durch einen Nebenbuhler für den leidenschaftlich Liebenden ein Schmerz, der jeden andern übersteigt. Schopenhauer
„... bei der Sortenkasse anfragen, ob er da noch was hat... Nein, da hat er ja nichts... Paske, Parmel. Panier... 2645, dann gehen die 500 ab, aha! da ist ja noch ein Eingang, dann schuldet er uns also gar nichts. Doch: 78 Mark – die stehn noch offen. 78... 78... 78... Siebzig, siebzig, siebzig... was sich neckt, das liebt sich... Formular! Also: Ihnen anliegend den Auszug Ihrer werten Rechnung bei uns zu überreichen, abschließend mit einem Saldo von – Es widerspricht ihrer Moral, sagt sie. Na, so ein Zimt! Moral! Moral! Als ob Liebe was mit Moral zu tun hat! Himmelherrgottdonnerwetter – das wär’ mal eine Frau gewesen! Gibt’s das alle Tage? Nein, das gibt’s nicht alle Tage. Eine wirklich vernünftige Person und lustig und frisch wie ein junges Mädchen und in puncto puncti... na, lassen wir das. Wie die hier alle stehn und rechnen – also von den Kollegen versteht ja das Mädel keiner. Keiner. Saldo von... Gleich das erstemal, wie ich sie gesehen habe... also das war wie ein Blitz. Ich hab’s ihr auch gesagt. Doch, man muß das sagen. Und was sagt sie da? Ihre Moral – ! Wirklich, ich habe ein Pech... Kommt schon mal ‘ne leere Drosch87
ke, dann sitzt einer drin! Und das wäre ja alles noch zu ertragen, aber das Gemeinste an der Sache ist: sie liebt ja. Sie ist ja gar nicht so. Sie liebt. Aber verdammt noch mal: einen andern. Und das hat sie mir auch noch erzählt! Mit allem Komfort hat sie mir das erzählt! Nein! Fragen Sie oben in der Registratur! Ich hab’ ihn nicht. Affe! Ja... alles hat sie erzählt. Raffinement? Glaub’ ich nicht. Nö, raffiniert ist die nicht, dazu ist sie wohl zu raffiniert. Aber... sie liebt. Doch – ja. Ich habe ganz frech gefragt: Wo denn? Ich sage: Wo denn? Wenn Mama so aufpaßt? Sie sagt: Gottes Natur ist groß. So, sage ich. Na, kurz und klein: ich habe dann manches aus ihr rausgekriegt. Saldo von... der Teufel soll diesen Panter holen und das ganze Kontokorrent! Ich hab’ es alles rausgekriegt. Und jetzt bin ich seit drei Tagen reine wie besoffen – ich werde das Bild nicht los, ich... werde das nicht mehr los. Ich seh sie immerzu, mit dem. Ein schöner Kerl wird das sein – wahrscheinlich irgend so ein Sportfatzke. Blond, groß... oder klein, vermiekert... hähä... nein, das liebt sie nicht... das kann nicht sein. Blond, groß... Wo hab’ ich denn meinen Spiegel? Ich seh heute gar nicht gut aus... sonst seh ich ganz gut aus... aber heute... kein Wunder. Das Mädel geht mir nicht aus dem Kopf. Und immerzu das, immerzu das Bild. Die gehen Hand in Hand zusammen in den Wald... dann schlenkern sie so mit den Armen dabei, tralala – verflucht, verflucht... und diese Tannen, ganz dunkelgrün, ganz dicht... und sie –. Ich glaube das nicht. Ich glaube das einfach nicht. Das tut sie nicht. Doch, das tut sie doch. Der Kerl ist ja gar nicht da – im Augenblick ist er mal nicht da – also daran ist kein Zweifel, vorläufig bin ich mal da! Aber das nützt mir nichts... das nützt mir gar nichts. Er ist nicht da! Aber er wird dasein. März, April... Mai... noch zwei Monate. Nein, ich fahre weg. Nein, also dann will ich nicht hier sein! Nee – ich nehme dann meinen Urlaub. Dann könnt’ ich ja gar nicht arbeiten, wenn der da ist... Gehen in den Wald und lachen und –. Der Bursche wird ja gar nicht richtig küssen können. Kann er ja gar nicht. Und überhaupt: bei ihm empfindet sie bestimmt nichts. Sicher nichts. Sicher nicht. Das ist unmöglich. Was ist schon dabei... 88
laß sie doch...! Das ist eine leere Formalität. Sie wird ihn über kriegen, und dann komme ich. Dann komme ich. Und dann wird sie sagen: Vor dir habe ich nicht gewußt, was Liebe ist. Sicher. Und dann bleiben wir zusammen. Das Telephon? Vielleicht ruft sie an?... Ist gar nicht für mich... äh – Und immer wieder die beiden... Das ist, glaube ich, Psychoanalyse, ich habe da neulich einen Vortrag drüber gehört... Das wird ja eine fixe Idee, wenn das so weitergeht... Donnerschlag, ich bin doch sonst nicht so, aber diesmal hat’s getroffen. Saldo... zu seinen Gunsten? Nein, zu unseren Gunsten... muß noch mal nachsehen... Aber das ist mal sicher: Von der nichts zu bekommen, ist immer noch hübscher, als mit einer andern zu schlafen! Mit einem Saldo von RM 780,- zu unsern Gunsten, welcher auf neue Rechnung vorgetragen worden ist.“ „Hat angeklingelt und noch einen Brief geschrieben und sich beschwert... Stornieren Sie das! 780 Mark zu unseren Gunsten! Es ist ein Skandal! Das ist jetzt schon das zweitemal! Wie kommt denn das?Was machen Sie denn?“ „Ich weiß es nicht, Herr Direktor. Ich kann es mir nicht erklären. Ich weiß es nicht –.“ 1930
Frauen sind eitel. Männer? Nie –! Das war in Hamburg, wo jede vernünftige Reiseroute aufzuhören hat, weil es die schönste Stadt Deutschlands ist – und es war vor dem dreiteiligen Spiegel. Der Spiegel stand in einem Hotel, das Hotel stand vor der Alster, der Mann stand vor dem Spiegel. Die MorgenUhr zeigte genau fünf Minuten vor einhalb zehn. Der Mann war nur mit seinem Selbstbewußtsein bekleidet, und es war jenes Stadium eines Ferientages, wo man sich mit geradezu wollüstiger Langsamkeit anzieht, trödelt, Sachen im Zimmer umherschleppt, tausend überflüssige Dinge aus dem Koffer holt, sie wieder 89
hineinpackt, Taschentücher zählt und sich überhaupt benimmt wie ein mittlerer Irrer: es ist ein geschäftiges Nichtstun, und dazu sind ja die Ferien auch da. Der Mann stand vor dem Spiegel. Männer sind nicht eitel. Frauen sind es. Alle Frauen sind eitel. Dieser Mann stand vor dem Spiegel, weil der dreiteilig war und weil der Mann zu Hause keinen solchen besaß. Nun sah er sich, Antinous mit dem Hängebauch, im dreiteiligen Spiegel und bemühte sich, sein Profil so kritisch anzusehen, wie seine egoistische Verliebtheit das zuließ... eigentlich... und nun richtete er sich ein wenig auf – eigentlich sah er doch sehr gut im Spiegel aus, wie –? Er strich sich mit gekreuzten Armen über die Haut, wie es die tun, die in ein Bad steigen wollen... und bei dieser Betätigung sah sein linkes Auge zufällig durch die dünne Gardine zum Fenster hinaus. Da stand etwas. Es war eine enge Seitenstraße, und gegenüber, in gleicher Etagenhöhe, stand an einem Fenster eine Frau, eine ältere Frau, schien’s, die hatte die drübige Gardine leicht zur Seite gerafft, den Arm hatte sie auf ein kleines Podest gelehnt, und sie stierte, starrte, glotzte, äugte gerade auf des Mannes gespiegelten Bauch. Allmächtiger. Der erste Impuls hieß den Mann vom Spiegel zurücktreten, in die schützende Weite des Zimmers, gegen Sicht gedeckt. So ein Frauenzimmer. Aber es war doch eine Art Kompliment, das war unleugbar; denn wenn jene auch dergleichen vielleicht immer zu tun pflegte – es war eine Schmeichelei. „An die Schönheit.“ Unleugbar war das so. Der Mann wagte sich drei Schritt vor. Wahrhaftig: da stand sie noch immer und äugte und starrte. Nun – man ist auf der Welt, um Gutes zu tun... und wir können uns doch noch alle Tage sehen lassen – ein erneuter Blick in den Spiegel bestätigte das – heran an den Spiegel, heran ans Fenster! Nein. Es war zu schéhnierlich... der Mann hüpfte davon, ein junges Mädchen, eilte ins Badezimmer und rasierte sich mit dem neuen Messer, das glitt sanft über die Haut wie fein nasses Handtuch, es war eine Freude. Abspülen („Scharf nachwaschen?“ fragte er sich selbst und bejahte es), scharf nachwaschen, pudern... das dauerte gut und gern seine zehn Minuten. Zurück. Wollen doch spaßeshalber einmal sehen –. 90
Sie stand wahr und wahrhaftig nach immer da; in genau derselben Stellung wie vorhin stand sie da, die Gardine leicht zur Seite gerafft, den Arm aufgestützt und sah regungslos herüber. Das war denn doch – also, das wollen wir doch mal sehen. Der Mann ging nun überhaupt nicht mehr vom Spiegel fort. Er machte sich dort zu schaffen, wie eine Bühnenzofe auf dem Theater: er bürstete sich und legte einen Kamm von der rechten auf die linke Seite des Tischchens; er schnitt sich die Nägel und trocknete sich ausführlich hinter den Ohren, er sah sich prüfend von der Seite an, von vorn und auch sonst... ein schiefer Blick über die Straße: die Frau, die Dame, das Mädchen – sie stand noch immer da. Der Mann, im Vollgefühl seiner maskulinen Siegerkraft, bewegte sich wie ein Gladiator im Zimmer, er tat so, als sei das Fenster nicht vorhanden, er ignorierte scheinbar ein Publikum, für das er alles tat, was er tat: er schlug ein Rad, und sein ganzer Körper machte fast hörbar: Kikeriki! dann zog er sich, mit leisem Bedauern, an. Nun war da ein manierlich bekleideter Herr, – die Person stand doch immer noch da! –, er zog die Gardine zurück und öffnete mit leicht vertraulichem Lächeln das Fenster. Und sah hinüber. Die Frau war gar keine Frau. Die Frau, vor der er eine halbe Stunde lang seine männliche Nacktheit produziert hatte, war – ein Holzgestell mit einem Mantel darüber, eine Zimmerpalme und ein dunkler Stuhl. So wie man im nächtlichen Wald aus Laubwerk und Ästen Gesichter komponiert, so hatte er eine Zuschauerin gesehen, wo nichts gewesen war als Holz, Stoff und eine Zimmerpalme. Leicht begossen schloß der Herr Mann das Fenster. Frauen sind eitel. Männer –? Männer sind es nie. 1928
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Herr Wendriner betrügt seine Frau „Nein, Sie stören gar nicht. Kommen Se rein – das ganze Personal ist schon weggegangen. Ja, ich hab noch ze tun. Setzen Sie sich solange dahin, nein, nicht auf die Couverts! Dahin. Ja. Na, was tut sich? Gott, sosolala. Ja, meine Frau ist immer noch in Heringsdorf. Ich hab mich heute mittag verspätet, Welsch war da, wir haben zusammen gegessen, nu muß ich nachholen. Sie sehn nicht gut aus, Regierer – was haben Sie? Ich unterschreibe inzwischen die Post, Sie erlauben doch...? Danke. Nein. Vorigen Sonnabend? Ich? Mich haben Sie in der Scala gesehn? Da müssen Sie sich getäuscht haben. Das muß ein Doppelgänger gewesen sein! Ausgeschlossen. Nu, ich sag Ihnen doch... Nein! Wann soll das gewesen sein, um zehn in der Pause? Mit ‘ner großen Blondine? Lächerlich. Gott weiß, wen Sie da erkannt haben. Sie haben meine Stimme im Gedränge gehört...? Was hab ich gesagt? ,Ich würde gern mal die Probe machen, liebes Kind?’ Das soll ich gewesen sein –? Regierer, ich wer Ihn mal was sagen. Nehm Sie ‘ne Zigarre? Also hörn Se zu, und machen Sie mir da keine Unannehmlichkeiten. Ich hab Ihnen doch gesagt, daß meine Frau erst in acht Tagen wiederkommt. Hier haben Sie Feuer. Da ist der Aschbecher. Also neulich hatt ich bei Kraft zu tun, er zeigt mir da ein paar neue Muster, ich will meiner Frau was anschaffen, wenn se zurückkommt, fürn Winter... der Mann schwimmt im Geld, das sag ich Ihnen... da geht eine fabelhafte Blondine durch. ‘n Mannekäng. Ich sage zu Kraft, wer ist das, sage ich. Also er erzählt, das ist ein Frollein... Name tut ja nichts zur Sache, eine sehr anständige Person, hat einen Freund, natürlich... aber sonst: nich rühr an. Na, dacht ich... Wissen Sie, ich bin sonst gar nicht so – aber in der letzten Zeit, ich weiß nicht, ich fühl mich noch verflucht jung. Jetzt kann ich doch den Brief von Schleusner nicht finden! Also wir reden noch so, Kraft gibt mir sonst immer fünfzehn Prozent, an dem Tag wollt er bloß zehn geben, weiß ich, warum – da wird er ans Telephon gerufen. Er geht raus, und wie ich noch so in den Sachen rumwühl’, kommt die Person rein. ,Ist Herr Kraft da?’ sagt sie. Ich sage: ,Nein, aber wenn Sie mit mir vorliebnehmen wollen?’ Na, ich streichel ihr ‘s Händchen, sie sagt: ,Mit so alten Seegn will ich überhaupt nichts zu 92
tun haben’, so gibt ein Wort das andre – und schließlich hat sie mir dann versprochen, daß sie mit mir zusammen sein will. Na, haben Sie so was gesehn, der Brief ist weg! Wo ist denn der...? Ich hab sie also für Sonnabend bestellt, ausgehen. Sie wollt durchaus in die Scala – ich hab ihr gesagt, das ist doch Wahnsinn, wo mich alle Leute kennen – sie hat gesagt, ach Unsinn, jetzt sind alle Leute weg, ich weiß doch aus dem Geschäft. Da sind wir also zusammen ausgegangen. Ja, also sie ist achtundzwanzig Jahre alt, hat ‘ne Wohnung in der Bayreuther Straße, die bezahlt ihr Freund, der ist Prokurist bei Erdölundfette – übrigens eine sehr gute Sache... nicht Reißner, der ist doch nicht szerjeehs...! sie verdient sehr schön, vierhundert bei Kraft und manchmal Provision, der Freund gibt ihr auch noch tausend, also sie kommt aus. Die tausend versteuert sie natürlich nicht. Ihre alte Mutter wohnt in Landsberg. Der Brief ist weg – autsch, jetzt hab ich mir die Finger geklemmt... Gegessen haben wir in der Rüdesheimer Klause, kennen Se das? Ich kenn das noch von früher, ‘n sehr nettes Lokal und gar nicht teuer. Sie wollt erst zu Heßler, ich hab gesagt, mein liebes Kind, das geht nicht, auch deinetwegen nicht. Das hat sie dann eingesehen. Na, und dann hat sie mir ihre Wohnung gezeigt. Reizend, sag ich Ihnen! Ein kleines Eßzimmer, sehr gemütlich, ein Gelegenheitskauf, noch aus der Inflation, dann ein Rauchzimmerchen, entzückende Kissen, behsch, hauptsächlich – und ein Parfüm! Sie hat mir auch gleich ‘ne Quelle für Parfüms gesagt, ich wer hingehn und meiner Frau ein Fläschen besorgen... Na und wie’s dann soweit war, wah se sehr vernünftig, hat sich gar nicht gesträubt, ach, wissen Se, das kann ich nicht leiden, diese Geschichten, man ist doch schließlich kein grüner Junge mehr, aber sie war wirklich Klasse...! Sie ging raus, und dann kam sie zurück im Pyjama, violett mit unten rosa abgesetzt – famos, eine famose Person! Wissen Sie, mir ist ganz anders geworden, ich hab sie so genommen und hab gesagt:... Sitzen Sie vielleicht auf dem Brief? Nein? Na, und dann hat sie mir ihr Schlafzimmer gezeigt. Ein riesiges Bett, von hier bis da, eine englische Kommode, ‘n sehr schöner Teppich und Fenstervorhänge, Filet, Handarbeit, ich hab sie mir genau angesehn, nachher. Nebenan war gleich das Badezimmer. Na, die Frau – Ihnen gesagt! Grinsen Se nich so, Sie oller Heuchler! Sie hätten auch nicht nein gesagt, wenn sie ja gesagt hätte. Und, wissen Sie, Regierer, ganz unter uns: ich bin noch gar nicht so alt, wie ich immer gedacht habe... Ich habe nachher 93
mit meinem Hausarzt gesprochen, der war sehr vernünftig, er hat mich bei der Gelegenheit untersucht, nein, das nicht, ausgeschlossen, sie ist doch ihrem Freund treu – er hat einen guten Befund festgestellt. Nein, öfter. Das glauben Sie nicht? Lieber Freund, ich habs auch nicht geglaubt. Aber es war so. Morgens hat sie mir Kaffee gemacht, haben wir Kaffee zusammen getrunken, nein, unser Mädchen ist nicht da, sonst hätt ich’s ja gar nicht machen können... Wollt sie nicht nehmen. Nichts zu machen. Ich hab ihr angeboten, zweimal, dreimal – nichts zu machen. Ich wollt ihr erst was schicken, dann dacht ich: Ach... Wirklich: ‘ne famose Frau. Der Brief ist weg. Ja, ich komm gleich mit. Und wissen Se, was Kraft gemacht hat? Er hats natürlich gleich gewußt, weiß Gott, woher – sie hat ihm nichts gesagt, ausgeschlossen –! So, hat er gesagt, aber fünfzehn Prozent kriegen Sie diesmal nicht, Wendriner. Eigentlich müßt ich Ihn noch etwas abziehen, für Platzmiete. Ein Hund. Aber deuten Se nichts zu Hause an, ich will mein Haus rein halten. Ich hab meiner Frau das Kostüm gekauft und eine Flasche Parfüm, se kriegt auch ‘ne Bonbonniere... Was heißt das? Sie hat sich am Strand erholt. Ich hab mich hier erholt. Am meisten hab ich mich über mich selbst gefreut. Da is der Brief. Nein! Ich will mich doch da nicht attaschiern. Vielleicht später mal. ‘n Augenblick! Nur noch die Post! So. Lieber Freund! Wenn Sie jeden Abend Fußbäder nehm müssen, wollen Sie auch mal brausen –!“ 1925
Chef-Erotik „... und dann hat er seine Sekretärin geheiratet.“ Wie war das möglich? Als sie eintrat, war da gar nicht viel – er hat das Mädchen kaum beachtet. Die Diktatprobe hatte genügt, die Referenzen waren gut, das Äußere soweit in Ordnung. Auch spielte damals die Geschichte mit Lux, und er hatte, weiß Gott, den Kopf viel zu voll... „Überhaupt: im eignen Betrieb! Nicht rühr an. Lieber Freund, wenn ich das will, kündige ich und fange mit ihr später was an! Ja.“ 94
Monatelang war gar nichts; sie tat ihre Arbeit, und er ließ sie tun. Die Gewöhnung kam leise und langsam, ganz langsam. Sie war eben immer da, gehörte zum Mobiliar; er merkte das erst, als sie einmal krank wurde, da fehlte etwas im Büro, er konnte gar nicht arbeiten in diesen Tagen. Das fremde Gesicht der Aushilfe... Er atmete auf, als sie wieder da war. Er genierte sich gar nicht vor ihr; er telephonierte in ihrer Gegenwart mit Hanna und auch einmal mit dem dänischen Fratz, der sich damals in Berlin herumtrieb. Sie hörte das unbewegten Angesichts mit an. Das war kein Stenogramm; das ging sie nichts an. Aber auf dem Schreibtisch war noch ihre Hand spürbar, die Art, wie sie die Bleistifte hinlegte, die sanfte Ruhe, mit der sie ihn betreute. Und dann wuchsen die Leiber zusammen. Es lag einfach daran, daß er eines Tages sachte zu fühlen begann, wie auch dies eine Frau sei, mit Beinen, Schenkeln, Oberarmen. Es war nichts, aber auch nichts als die Nähe, die ihn dahin trieb; man kann doch nicht dauernd neben einer Quelle liegen, ohne zum mindesten einmal spielerisch die Hand ins Wasser zu stecken. Durst? Nein. Es war nur eine Quelle da. Befehlen können und hier nicht befehlen können – Chef sein und Mann zugleich wie jeder andre; und eben die leise Gewöhnung. Der spielerische Drang vergessener Knabenjahre war wieder da, den andern einmal genau anzusehen, aus Neugier, aus Langerweile, aus tastendem Grauen... Einmal, einmal muß man hinter jeden geschlossenen Vorhang sehen – das ist so. Und dann hat sie nicht mehr losgelassen. Übrigens hat er es nicht bereut; sie ist ihm eine gute Hausfrau und brave Mutter der Kinder geworden, und in der großen Stadt im Rheinland weiß niemand von der Vergangenheit der Frau, die ja nicht schändet, nein, gewiß nicht, aber es ist ja nicht nötig, nicht wahr? Die Ehe blieb, was sie war: eine Arbeitsgemeinschaft. Ohne die bunten Stunden, aber mit viel Erinnerungen an gemeinsame Campagnen, Geschäftsfreunde, Betriebskollegen... Er hat jetzt einen Sekretär. Oder eine kleine, käsige Tipse. Zur Zeit ist er sterblich verliebt in die Inhaberin eines Modesalons: ein strammes Prachtweib mit weißen, blitzenden Zähnen und schwarz angelacktem Haar. Im allgemeinen ist er seiner Frau treu, 95
ein anständiger Familienvater. Aber er ist so neugierig; er möchte nur ein einziges Mal den Vorhang jenes Kleides heben. Und das wird er ja wohl auch tun. 1927
Wie man’s macht... a) Trost für den Ehemann Und wenn sie dich so recht gelangweilt hat, dann wandern die Gedanken in die Stadt... Du stellst dir vor, wie eine dir, und wie du ihr, das denkst du dir… Aber so schön ist es ja gar nicht! Mensch, in den Bars, da gähnt die Langeweile. Die Margot, die bezog von Rudolf Keile. Was flüstert nachher deine Bajadere? Sie quatscht von einer Filmkarriere, und von dem Lunapark und Feuerwerk, und daß sie Reinhardt kennt und Pallenberg... Und eine Frau mit Seele? Merk dies wichtige: die klebt ja noch viel fester als die richtige. Du träumst von Orgien und von Liebesfesten. Ach, Mensch, und immer diese selben Gesten, derselbe Zimt, dieselben Schweinerein – was kann denn da schon auf die Dauer sein! Und hinterher, dann trittst du an mit einem positiven Wassermann, so schön ist das ja gar nicht. Sei klug. Verfluch nicht deine Frau, nicht deine Klause. Bleib wo du bist. Bleib ruhig zu Hause. b) Trost für den Junggesellen Du hast es satt. Wer will, der kann. 96
Du gehst jetzt häufiger zu Höhnemann. Der hat mit Gott zwei Nichten. Zart wie Rehe. Da gehst du ran. Du lauerst auf die Ehe. Bild dir nichts ein. Du schüttelst mit dem Kopf? Ach, alle Tage Huhn im Topf und Gans im Bett – man kriegt es satt, man kennt den kleinen Fleck am linken Schulterblatt… So schön ist es ja gar nicht! Sie zählt die Laken. Sagt, wann man großreinemachen soll. Du weißt es alles, und du hast die Nase voll. Erst warst du auf die Heirat wie versessen; daß deine Frau auch Frau ist, hast du bald vergessen. Sei klug. Verfluch nicht deine Freiheit, deine Klause. Bleib wo du bist. Bleib ruhig zu Hause. c) Moral Lebst du mit ihr gemeinsam – dann fühlst du dich recht einsam. Bist du aber alleine – dann frieren dir die Beine. Lebst du zu zweit? Lebst du allein? Der Mittelweg wird wohl das richtige sein. 1932
Nichts anzuziehen –! Ich stehe schon eine halbe Stunde lang vor diesem gefüllten Kleiderschrank. Was ziehe ich heute nachmittag an –? Jedes Kleid erinnert mich... also jedes erinnert mich an einen Mann. In diesem Sportkostüm ritt ich den Pony. In diesem braunen küßte mich Jonny. Das da hab’ ich an dem Abend getragen, 97
da kriegte Erich den Doktor am Kragen, wegen frech... Hier goß mir seinerzeit der Assessor die Soße übers Kleid und bewies mir hinterher klar und kalt, nach BGB sei das höh’re Gewalt. Tolpatsch. In dem... also das will ich vergessen... da hab’ ich mit Joe im Auto gesessen – und so. Und in dem hat mir Fritz einen Antrag gemacht, und ich habe ihn – leider – ausgelacht. Dieses hier will ich überhaupt nicht mehr sehn: in dem mußt’ ich zu dieser dummen Premiere gehn. Und das hier...? Hängt das noch immer im Schranke...? Sekt macht keine Flecke –? Na, ich danke –! Und den Mantel – ich will das nicht mehr wissen – haben sie mir beim Sechstagerennen zerrissen! Ich steh’ schon eine halbe Stunde lang vor diesem gefüllten Kleiderschrank: das nackteste Mädchen in ganz Berlin. Wie man sieht: Ich habe nichts anzuzieh’n –! 1926
Lottchen beichtet 1 Geliebten „Es ist ein fremder Hauch auf mir? Was soll das heißen – es ist ein fremder Hauch auf mir? Auf mir ist kein fremder Hauch. Gib mal ‘n Kuß auf Lottchen. In den ganzen vier Wochen, wo du in der Schweiz gewesen bist, hat mir keiner einen Kuß gegeben. Hier war nichts. Nein – hier war wirklich nichts! Was hast du gleich gemerkt? Du hast gar nichts gleich gemerkt... ach, Daddy! Ich bin dir so treu wie du mir. Nein, das heißt... also, ich bin wirklich treu! Du verliebst
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dich ja schon in jeden Refrain, wenn ein Frauenname drin vorkommt... ich bin dir treu... Gott sei Dank! Hier war nichts. ... Nur ein paarmal im Theater. Nein, billige Plätze – na, das eine Mal in der Loge... Woher weißt du denn das? Was? Wie? Wer hat dir das erzählt? Na ja, das waren Plätze... durch Beziehungen... Natürlich war ich da mit einem Mann. Na, soll ich vielleicht mit einer Krankenschwester ins Theater... lieber Daddy, das war ganz harmlos, vollkommen harmlos, mach doch hier nicht in Kamorra oder Mafia oder was sie da in Korsika machen. In Sizilien –meinetwegen, in Sizilien! Jedenfalls war das harmlos. Was haben sie dir denn erzählt? Was? Hier war nichts. Das war... das ist... du kennst den Mann nicht. Na, das werd ich doch nicht machen – wenn ich schon mit einem andern Mann ins Theater gehe, dann geh ich doch nicht mit einem Mann, den du kennst. Bitte: ich hab dich noch nie kompromittiert. Männer sind doch so dußlig, die nehmen einem das übel, wenn man schon was macht, daß es dann ein Berufskollege ist. Und wenn es kein Berufskollege ist, dann heißt es gleich: Fräulein Julie! Man hats wirklich nicht leicht! Also du kennst den Mann nicht! Du kennst ihn nicht. Ja – er kennt dich. Na, sei doch froh, daß dich so viele Leute kennen – biste doch berühmt. Das war jedenfalls ganz harmlos. Total. Nachher waren wir noch essen. Aber sonst war nichts. Nichts. Nichts war. Der Mann... der Mann ist eben – ich hab ihn auch im Auto mitgenommen, weil er so nett neben einem im Auto sitzt, eine glänzende Begleitdogge – so, hat das die Reventlow auch gesagt? Na, ich nenne das auch so. Aber nur als Begleitdogge. Der Mann sah glänzend aus. Doch, das ist wahr. Einen wunderbaren Mund, so einen harten Mund – gib mal ‘n Kuß auf Lottchen, er war dumm. Es war nichts. Direkt dumm war er eigentlich nicht. Das ist ja... ich habe mich gar nicht in ihn verliebt; du weißt ganz genau, daß ich mich bloß verliebe, wenn du dabei bist – damit du auch eine Freude hast! Ein netter Mann... aber ich will ja die Kerls gar nicht mehr. Ich nicht. Ich will das überhaupt alles nicht mehr. Daddy, so nett hat er ja gar nicht ausgesehn. Außerdem küßte er gut. Na so – es war jedenfalls weiter nichts. 99
Sag mal, was glaubst du eigentlich von mir? Glaubst du vielleicht von mir, was ich von dir glaube? Du – das verbitt ich mir! Ich bin treu. Daddy, der Mann... das war doch nur so eine Art Laune. Na ja, erst läßt du einen hier allein, und dann schreibst du nicht richtig, und telephoniert hast du auch bloß einmal – und wenn eine Frau allein ist, dann ist sie viel alleiner als ihr Männer. Ich brauche gewiß keinen Mann... ich nicht. Den hab ich auch nicht gebraucht; das soll er sich bloß nicht einbilden! Ich dachte nur: I, dachte ich – wie ich ihn gesehn habe... Ich habe schon das erstemal gewußt, wie ich ihn gesehn habe – aber es war ja nichts. Nach dem Theater. Dann noch zwei Wochen lang. Nein. Ja. Nur Rosen und zweimal Konfekt und den kleinen Löwen aus Speckstein. Nein. Ich ihm meinen Hausschlüssel? Bist wohl...! Ich hab ihm meinen Hausschlüssel doch nicht gegeben! Ich werde doch einem fremden Mann meinen Hausschlüssel nicht geben...! Da bring ich ihn lieber runter. Daddy, ich habe ja für den Mann gar nichts empfunden – und er für mich auch nicht –, das weißt du doch. Weil er eben solch einen harten Mund hatte – und ganz schmale Lippen. Weil er früher Seemann war. Was? Auf dem Wannsee? Der Mann ist zur See gefahren – auf einem riesigen Schiff, ich habe den Namen vergessen, und er kann alle Kommandos, und er hat einen harten Mund. Ganz schmale Lippen. Mensch, der erzählt ja nicht. Küßt aber gut. Daddy, wenn ich mich nicht so runter gefühlt hätte, dann wäre das auch gar nicht passiert... Es ist ja auch eigentlich nichts passiert – das zählt doch nicht. Was? In der Stadt. Nein, nicht bei ihm; wir haben zusammen in der Stadt gegessen. Er hat bezahlt – na, hast du das gesehn! Soll ich vielleicht meine Bekanntschaften finanzieren... na, das ist doch...! Es war überhaupt nichts. Tätowiert! Der Mann ist doch nicht tätowiert! Der Mann hat eine ganz reine Haut, er hat... Keine Details? Keine Details! Entweder soll ich erzählen, oder ich soll nicht erzählen. Von mir wirst du über den Mann kein Wort mehr hören. Daddy, hör doch – wenn er nicht Seemannsmaat gewesen wäre oder wie das heißt... Und ich wer dir überhaupt was sagen:
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Erstens war überhaupt nichts, und zweitens kennst du den Mann nicht, und drittens weil er Seemann war, und ich hab ihm gar nichts geschenkt, und überhaupt, wie Paul Graetz immer sagt: Kaum hat man mal, dann ist man gleich – Daddy! Daddy! Laß mal... was ist das hier? Was? Wie? Was ist das für ein Bild? Was ist das für eine Person? Wie? Was? Wo hast du die kennengelernt? Wie? In Luzern? Was? Hast du mit der Frau Ausflüge gemacht? In der Schweiz machen sie immer Ausflüge. Erzähl mir doch nichts... Was? Da war nichts? Das ist ganz was andres. Na ja, mir gefällt schon manchmal ein Mann. Aber ihr –? Ihr werft euch eben weg!“ 1931
An die Berlinerin Mädchen, kein Casanova hätte dir je imponiert. Glaubst du vielleicht, was ein doofer Schwärmer von dir phantasiert? Sänge mit wogenden Nüstern Romeo, liebesbesiegt, würdest du leise flüstern: „Woll mit die Pauke jepiekt –?“ Willst du romantische Feste, gehst du beis Kino hin... Du bist doch Mutterns Beste, du, die Berlinerin –! Venus der Spree – wie so fleißig liebst du, wie pünktlich dabei! Zieren bis zwölf Uhr dreißig, küssen bis nachts um zwei. Alles erledigst du fachlich, bleibst noch im Liebesschwur ordentlich, sauber und sachlich: 101
Lebende Registratur! Wie dich sein Arm auch preßte: gibst dich nur her und nicht hin. Bist ja doch Mutterns Beste, du, die Berlinerin –! Wochentags führst du ja gerne Nadel und Lineal. Sonntags leuchten die Sterne preußisch-sentimental. Denkst du der Maulwurfstola, die dir dein Freund spendiert? Leuchtendes Vorbild der Pola! Wackle wie sie geziert. Älter wirst du. Die Reste gehn mit den Jahren dahin. Laß die mondäne Geste! Bist ja doch Mutterns Beste, du süße Berlinerin –! 1922
Frühlingsvormittag Für Mary
Natürlich kommst du erst einmal ein Viertelstündchen zu spät – und dann mußt du lachen, wie du mich da so an der Uhr stehen siehst, und dann sagst du: „Die Uhr geht überhaupt falsch!“ Uhren, an denen sich Liebespaare verabreden, gehen immer falsch. Und dann gondeln wir los. Das ist ein zauberischer Vormittag. Du trägst ein weich gefaltetes, weites Kleid, ganz hell, was dich noch blonder macht, einen kleinen Trotteur, wie ich ihn gern habe, und deine langen, zarten Wildlederhandschuhe; du duftest ganz zart nach irgend etwas, was du als Lavendel ausgibst – und was das Verzaubertste an diesem hellen Tage ist –; wir sprechen nicht ein einziges Mal von Zahlen. Es ist ganz merkwürdig und unberlinisch. Leider: ganz undeutsch. 102
Du sprichst von Kurland. Wie sich auf dem lettischen Bahnhof Männlein und Weiblein und Kindlein einträchtig in der Nase bohrten, der ganze Bahnhof bohrte in der Nase: Gendarmen, Bauern, Schaffner und Lokomotivführer. Ich finde, daß das dem Nachdenken sehr förderlich sei, und das willst du wieder nicht glauben. Doch. Der Ausdruck: „in der Nase grübeln...“ Weiter. Und dann erzählst du von den langen, langen Spaziergängen, die man in Kurland machen kann – und mir wird das Herz weit, wenn ich an das schönste Land denke, das wir beide kennen: Gottes propprer Protzprospekt für ein unglücklicherweise nicht geliefertes Deutschland. Und dann gehen wir an kleinen Teichen vorbei, an einem steht seltsamerweise nicht einmal eine Tafel mit: Verboten – und wir wundern uns sehr. Und du patschst mit deinen neuen Lackhalbschuhen (du freundliche Mühlenaktie!) in einen Tümpel, und ich bin an Allem schuld – und überhaupt. Aber dann ist das vorbei… Und in deinen Augen spiegelt sich der helle Frühlingstag, du siehst so fröhlich aus, und ich muß immer wieder darauf gucken, wie du dich bewegst. Und wieder sprechen wir von Rußland und von deiner Heimat. Was ist es, das dich so bezaubernd macht –? Du bist unbefangen. Und ich will dir mal was sagen: Bei uns tun die feinen Leute alles so, wie es, in ihren Zeitschriften drinsteht – und immer sehen sie sich – photographiert, fein mit Ei und durchaus „richtig“. Ihr überlegt da nicht soviel. Ihr seid hübsch, und damit gut. Und Ihr geht, schreitet, lacht, fahrt und trinkt so, wie es euch eure kleine Seele eingegeben hat – ohne darüber nachzudenken, wie das wohl „aussieht“. Aber Ihr fühlt immer, wie es aussieht – und Ihr wollt immer, daß es hübsch aussehen soll. Und nichts ist euch unwichtig, und alles erheblich genug, um es mit Freude zu tun. Der Weg ist das Ziel. Aber da hält ein Auto, darinnen sitzt Herr Kolonialwarenhändler Mehlhake (A.-G. für den Vertrieb von Mehlhakeschen Präparaten – „Wissen Se, schon wejen der Steuer!“), und so sieht auch Alles aus: Frau Mehlhake ist so schrecklich richtig angezogen, daß wir aus dem Lachen und sie aus der feinsten Lederjacke nicht herauskommt, die kleinen Mehlhakes haben alle Automobilbrillen und schmutzige Fingernägel – und das Auto kostet heute mindestens seine... 103
Aber wir wollten ja nicht von Zahlen sprechen an diesem Frühlingsvormittag. Das Auto staubt davon. Wir gehen weiter, wir Wilden, wir bessern Menschen. Denn mit dem Stil ist das wie mit so vielen Dingen: man hat ihn, oder man hat ihn nicht. 1923
Abends nach sechs „Selig, wer sich vor der Welt ohne Haß verschließt; einen Freund am Busen hält und mit dem genießt. Was von Menschen nicht gewußt oder nicht bedacht, durch das Labyrinth der Brust wandelt in der Nacht.“ Unbekannter Dichter
Abends nach sechs Uhr gehen im Berliner Tiergarten lauter Leute spazieren, untergefaßt und mit den Händen noch mal vorn eingeklammert – die haben alle recht. Das ist so: Er holt sie vom Geschäft ab oder sie ihn. Das Paar vertritt sich noch ein bißchen die Beine, nach dem langen Sitzen im Büro tut die Abendluft gut. Die grauen Straßen entlang, durch das Brandenburger Tor zum Beispiel – und dann durch den Tiergarten. Was tut man unterwegs? Man erzählt sich, was es tagsüber gegeben hat. Und was hat es gegeben? Ärger. Nun behauptet zwar die Sprache, man „schlucke den Ärger herunter“ – aber das ist nicht wahr. Man schluckt nichts herunter. Im Augenblick darf man ja nicht antworten – dem Chef nicht, der Kollegin nicht, dem Portier nicht; es ist nicht ratsam, der andere bekommt mehr Gehalt, hat also recht. Aber alles kommt wieder – und zwar abends nach sechs. 104
Das Liebespaar durchwandelt die grünen Laubgänge des Tiergartens, und er erzählt ihr, wie es im Geschäft zugegangen ist. Zunächst der Bericht: Man hat vielleicht schon bemerkt, wie Schlachtberichte solcher Zusammenstöße erstattet werden: Der Berichtende ist ein Muster an Ruhe und Güte, und nur der böse Feind ist ein tobsüchtig gewordener Indianer. Das klingt ungefähr folgendermaßen: „Ich sage, Herr Winkler, sage ich – das wird mit dem Ablegen so nicht gehn!“ (Dies im ruhigsten Ton von der Welt, mild, abgeklärt und weise.) „Er sagt, ,erlauben Sie mal!’ sagt er – ,ich lege ab, wies mir paßt!’“ (Dies schnell, abgerissen und wild cholerisch.) Nun wieder die Oberste Heeresleitung: „Ich sage ganz ruhig, ich sage, Herr Winkler, sage ich – wir können aber nicht so ablegen, weil uns sonst die C-Post mit der D-Post durcheinanderkommt! Fängt er doch an zu brüllen! Ich hätte ihm gar nichts zu befehlen, und er täte überhaupt nicht, was ihm andere Leute sagten – finnste das –?“ Dabei haben natürlich beide spektakelt wie die Marktschreier. Aber manchmal wars der Chef, und dem konnte man doch nicht antworten. Man hat also „heruntergeschluckt“ – und jetzt entlädt es sich. „Finnste das?“ Lotterien findet es skandalös. „Hach! Na, weißt du!“ Das tut wohl, es ist Balsam fürs leidende Herz – endlich darf man es alles heraussagen! – „Am liebsten hätte ich ihm gesagt: Machen Sie sich Ihren Kram allein, wenns Ihnen nicht paßt! Aber ich werde mich doch mit so einem ungebildeten Menschen nicht hinstellen! Der Kerl versteht überhaupt nichts, sage ich dir! Hat keine Ahnung! So, wie ers jetzt macht, kommt ihm natürlich die C-Post in die D-Post – das ist mal bombensicher! Na, mir kanns ja egal sein. Ich weiß jedenfalls, was ich zu tun habe: ich laß ihn ruhig machen – er wird ja sehen, wie weit er damit kommt...! – Ein scheu bewundernder Blick streift den reisigen Helden. Er hat recht. Aber auch sie hat zu berichten. „Was die Elli intrigiert, das kannst du dir überhaupt nicht vorstellen. Fräulein Friedland hat vorgestern eine neue Bluse angehabt, da hat sie am Telephon gesagt – wir habens abgehört –: ,Man weiß ja, wo manche Kolleginnen das Geld für neue Blusen herhaben!’ Wie findest du das? Dabei hat die Elli gar keinen Bräutigam mehr! Ihrer ist doch längst weg – nach Bromberg!“ Krach, Kampf mit dem zweiten Stock auf der ganzen Linie – 105
Schlachtgetümmel. „Ich hab ja nichts gesagt... aber ich dachte so bei mir: Na – dacht ich, wo du deine seidenen Strümpfe herhast, das wissen wir ja auch! Weißt du, sie wird nämlich jeden zweiten Abend abgeholt, sie läßt immer das Auto eine Ecke weiter warten... aber wir haben das gleich rausgekriegt! Eine ganz unverschämte Person ist das!“ Da drückt er ihren Arm und sagt: „Na so was!“ Und nun hat sie recht. So wandeln sie. So gehen sie dahin, die vielen, vielen Liebespaare im Tiergarten, erzählen sich gegenseitig, klagen sich ihr kleines Leid, und haben alle recht. Sie stellen das Gleichgewicht des Lebens wieder her. Es wäre einfach unhygienisch, so nach Hause zu gehen: mit dem gesamten aufgespeicherten Oppositionsärger der letzten neun Stunden. Es muß heraus. Falsche Abrechnungen, dumme Telephongespräche, verpaßte Antworten, verkniffene Grobheiten – es findet alles seinen Weg ins Freie. Es ist der Treppenwitz der Geschäftsgeschichte, der da seine Orgien feiert. Die blauen Schleier der Dämmerung senken sich auf Bäume und Sträucher, und auf den Wegen gehen die eingeklammerten. Liebespaare und töten die Chefs, vernichten den Konkurrenten, treffen die Feindin mitten ins falsche Herz. Das Auditorium ist dankbar, aufmerksam und grenzenlos gutgläubig. Es applaudiert unaufhörlich. Es ruft: „Noch mal!“ an den schönen Stellen. Es tötet, vernichtet und trifft mit. Es ist Bundesgenosse, Freund, Bruder und Publikum zu gleicher Zeit. Es ist schön, vor ihm aufzutreten. Abends nach sechs werden Geschäfte umorganisiert, Angestellte befördert, Chefs abgesetzt und, vor allem, die Gehälter fixiert. Wer würde die Tarife anders regeln? Wer die Gehaltszulagen gerecht bemessen? Wer Urlaub mit Gratifikation erteilen? Die Liebespaare, abends nach sechs. Am nächsten Morgen geht alles von frischem an. Schön ausgeglichen geht man an die Arbeit, die Erregung von gestern ist verzittert und dahin, Hut und Mantel hängen im Schrank, die Bücher werden zurechtgerückt – wohlan! der Krach kann beginnen. Pünktlich um drei Uhr ist er da – dieselbe Geschichte wie gestern: Herr Winkler will die Post nicht ablegen, Fräulein Friedland zieht eine krause Nase, die Urlaubsliste hat ein Loch, und die Gehaltszulage will nicht 106
kommen. Arger, dicker Kopf, spitze Unterhaltung am Telephon, dumpfes Schweigen im Büro. Es wetterleuchtet gelb. Der Donner grollt. Der erfrischende Regen aber setzt erst abends ein – mit ihr, mit ihm, untergefaßt im Tiergarten. Da ist Friede auf Erden und den Paaren ein Wohlgefallen, der Angeklagte hat das letzte Wort – und da haben sie alle, alle recht. 1924
Wenn die Igel in der Abendstunde Für achtstimmigen Männerchor
Wenn die Igel in der Abendstunde still nach ihren Mäusen gehn, hing auch ich verzückt an deinem Munde, und es war um mich geschehn – Anna-Luise –! Dein Papa ist kühn und Geometer, er hat zwei Kanarienvögelein; auf den Sonnabend aber geht er gern zum Pilsner in ‘n Gesangverein – Anna-Luise –! Sagt’ ich: „Wirst die meine du in Bälde?“, blicktest du voll süßer Träumerei auf das grüne Vandervelde, und du dachtest dir dein Teil dabei, Anna-Luise –! Und du gabst dich mir im Unterholze einmal hin und einmal her, und du fragtest mich mit deutschem Stolze, ob ich auch im Krieg gewesen wär... Anna-Luise –! Ach, ich habe dich ja so belogen! Hab gesagt, mir wär ein Kreuz von Eisen wert, 107
als Gefreiter wär ich ausgezogen, und als Hauptmann wär ich heimgekehrt – Anna-Luise –! Als wir standen bei der Eberesche, wo der Kronprinz einst gepflanzet hat, raschelte ganz leise deine Wäsche, und du strichst dir deine Röcke glatt, Anna-Luise –! Möchtest nie wo andershin du strichen! Siehst du dort die ersten Sterne gehn? Habe Dank für alle unvergesserlichen Stunden und auf Wiedersehn! Anna-Luise –! Denn der schönste Platz, der hier auf Erden mein, das ist Heidelberg in Wien am Rhein, Seemannslos. Keine, die wie du die Flöte bliese...! Lebe wohl! Leb wohl. Anna-Luise –! 1928
Das Lied von der Gleichgültigkeit Eine Hur steht unter der Laterne, des abends um halb neun. Und sie sieht am Himmel Mond und Sterne – was kann denn da schon sein? Sie wartet auf die Kunden, sie wartet auf den Mann, und hat sie den gefunden, fängt das Theater an. Ja, glauben Sie, daß das sie überrasche? Und sie wackelt mit der Tasche – mit der Tasche, mit der Tasche, 108
mit der Tasche – Na, womit denn sonst. Und es gehen mit der Frau Studenten, und auch Herr Zahnarzt Schmidt. Redakteure, Superintendenten, die nimmt sie alle mit. Der eine will die Rute, der andre will sie bläun. Sie steht auf die Minute an der Ecke um halb neun. Und sie klebt am Strumpf mit Spucke eine Masche… und sie wackelt mit der Tasche – mit der Tasche, mit der Tasche, mit der Tasche – Na, womit denn sonst. Und es ziehn mit Fahnen und Standarten viel Trupps die Straßen lang. Und sie singen Lieder aller Arten in dröhnendem Gesang. Da kommen sie mit Musike, sie sieht sich das so an. Von wegen Politike... sie weiß doch: Mann ist Mann. Und sie sagt: „Ach, laßt mich doch in Ruhe –“ und sie wackelt mit der Tasche – mit der Tasche – mit der Tasche – mit der Tasche... Und sie tut strichen gehn. Diese Gleichgültigkeit, diese Gleichgültigkeit – die kann man schließlich verstehn. 1932
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Sehnsucht nach der Sehnsucht Erst wollte ich mich dir in Keuschheit nahn. Die Kette schmolz. Ich bin doch schließlich, schließlich auch ein Mann, und nicht von Holz. Der Mai ist da. Der Vogel Pirol pfeift. Es geht was um. Und wer sich dies und wer sich das verkneift, der ist schön dumm. Denn mit der Seelenfreundschaft – liebste Frau, hier dies Gedicht zeigt mir und Ihnen treffend und genau: es geht ja nicht. Es geht nicht, wenn die linde Luft weht und die Amsel singt – wir brauchen alle einen roten Mund, der uns beschwingt. Wir brauchen alle etwas, das das Blut rasch vorwärts treibt – es dichtet sich doch noch einmal so gut, wenn man beweibt. Doch heller noch tönt meiner Leier Klang, wenn du versagst, was ich entbehrte öde Jahre lang – wenn du nicht magst. So süß ist keine Liebesmelodie, so frisch kein Bad, so freundlich keine kleine Brust wie die, die man nicht hat.
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Die Wirklichkeit hat es noch nie gekonnt, weil sie nichts hält. Und strahlend überschleiert mir dein Blond die ganze Welt. 1919
Ehekrach „Ja –!“ „Nein –!“ „Wer ist schuld? Du!“ „Himmeldonnerwetter, laß mich in Ruh!“ – „Du hast Tante Klara vorgeschlagen! Du läßt dir von keinem Menschen was sagen! Du hast immer solche Rosinen! Du willst bloß, ich soll verdienen, verdienen – Du hörst nie. Ich red dir gut zu... Wer ist schuld –? Du.“ „Nein.“ „Ja.“ – „Wer hat den Kindern das Rodeln verboten? Wer schimpft den ganzen Tag nach Noten? Wessen Hemden muß ich stopfen und plätten? Wem passen wieder nicht die Betten? Wen muß man vorn und hinten bedienen? Wer dreht sich um nach allen Blondinen? Du –!“ „Nein.“ „Ja.“ „Wem ich das erzähle...! Ob mir das einer; glaubt –!“ – „Und überhaupt –!“ 111
„Und überhaupt –!“ „Und überhaupt –!“ Ihr meint kein Wort von dem, was ihr sagt: Ihr wißt nicht, was euch beide plagt. Was ist der Nagel jeder Ehe? Zu langes Zusammensein und zu große Nähe. Menschen sind einsam. Suchen den andern. Prallen zurück, wollen weiterwandern... Bleiben schließlich... Diese Resignation: Das ist die Ehe. Wird sie euch monoton? Zankt euch nicht und versöhnt euch nicht: Zeigt euch ein Kameradschaftsgesicht und macht das Gesicht für den bösen Streit lieber, wenn ihr alleine seid. Gebt Ruhe, ihr Guten! Haltet still. Jahre binden, auch wenn man nicht will. Das ist schwer: ein Leben zu zwein. Nur eins ist noch schwerer: einsam sein. 1928
Danach Es wird nach einem happy end im Film jewöhnlich abjeblendt. Man sieht bloß noch in ihre Lippen den Helden seinen Schnurrbart stippen – da hat sie nu den Schentelmen. Na, un denn –? Denn jehn die beeden brav ins Bett. Na ja... diss is ja auch janz nett. A manchmal möcht man doch jern wissn: Wat tun se, wenn se sich nich kissn? Die könn ja doch nich imma penn...! Na, un denn –? 112
Denn säuselt im Kamin der Wind. Denn kricht det junge Paar ‘n Kind. Denn kocht sie Milch. Die Milch looft üba. Denn macht er Krach. Denn weent sie drüba. Denn wolln sich beede jänzlich trenn... Na, un denn –? Denn is det Kind nicht uffn Damm. Denn bleihm die beeden doch zesamm. Denn quäln se sich noch manche Jahre, Er will noch wat mit blonde Haare: vorn doof und hinten minorenn... Na, un denn –? Denn sind se alt. Der Sohn haut ab. Der Olle macht nu ooch bald schlapp. Vajessen Kuß und Schnurrbartzeit – Ach, Menschenskind, wie liecht det weit! Wie der noch scharf uff Muttern war, det is schon beinah nich mehr wahr! Der olle Mann denkt so zurück: Wat hat er nu von seinen Jlück? Die Ehe war zum jrößten Teile vabrühte Milch un Langeweile. Und darum wird beim happy end im Film jewöhnlich abjeblendt. 1930
Aus! Einmal müssen zwei auseinandergehn; einmal will einer den andern nicht mehr verstehn – – einmal gabelt sich jeder Weg – und jeder geht allein – wer ist daran schuld?
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Es gibt keine Schuld. Es gibt nur den Ablauf der Zeit. Solche Straßen schneiden sich in der Unendlichkeit. Jedes trägt den ändern mit sich herum –. etwas bleibt immer zurück. Einmal hat es euch zusammengespült, ihr habt euch erhitzt, seid zusammengeschmolzen, und dann erkühlt – Ihr wart euer Kind. Jede Hälfte sinkt nun herab –: ein neuer Mensch. Jeder geht seinem kleinen Schicksal zu. Leben ist Wandlung. Jedes Ich sucht ein Du. Jeder sucht seine Zukunft. Und geht nun mit stockendem Fuß, vorwärtsgerissen vom Willen ohne Erklärung und ohne Gruß in ein fernes Land. 1930
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KUNST, LITERATUR UND EIN BISSCHEN POLITIK
Der Mittler Er (Herrmann Löns) erzählte mir, sein Verleger wäre gekommen, hätte ihm ein Gedicht von Rainer Maria Rilke gezeigt und gesagt: „So etwas müßten wir auch mal haben!“ Meine Erinnerungen an Hermann Löns von Elisabeth Löns-Erbeck
Diese Zeit steht im Zeichen des Kommissionärs – auch ihre Kunst wird von ihm regiert. Wir unterscheiden zweierlei Arten von Vermittlern: den künstlerischen und den geschäftlichen Vermittler. Von der Überschätzung des künstlerischen Mittlers – des Regisseurs, des Kapellmeisters – ist viel gesagt worden. Daß seine Schätzung gegen früher gestiegen ist, ist gerechtfertigt: die Werke des Theaters und des Kinos sind immer mehr zu falschen Kollektivkunstwerken geworden, bei denen jeder jedem dreinredet und zum Schluß keiner schuld sein will, wenn es ein Mißerfolg geworden ist. Bei einem Erfolg wollen es alle gewesen sein. Der künstlerische Vermittler drängt das Werk und den Urheber des Werkes völlig an die Wand; das Werk wird Anlaß und Vorwand. Es ist ja ganz gut und schön, daß Beethoven und Shakespeare gelebt haben – vorneweg aber marschieren Karlheinz Martin und Furtwängler, Reinhardt und Bruno Walter. Der Vater des Werkes wird nicht gefragt, sein Wille gilt nichts, sein Kind ist nun im Waisenhaus, und der Vorstand wird das Kind schon schaukeln. Sie dichten auch mit, die Herren, sie lassen fort und fügen ein – sie haben Vaterstelle übernommen. Zu dieser erfreulichen Gesellschaft der plurium gesellt sich der Schauspieler, der heute, wie in allen Zeiten bürgerlicher Schwäche und behördlicher Diktatur, maßlos überschätzt und in seinen Spitzenleistungen ebenso überzahlt wird. Das führt zum Startum, und da die meisten Schauspieler gar nicht imstande sind, ohne die Führung eines gebildeten Tyrannen in den Geist eines Stückes wirklich einzudringen, erleben wir die Vergewaltigung von Kunstwerken oder ihre 116
Ersetzung durch Trapeze, die das garantieren, was jene eine Wirkung nennen. Der Satz Reinhardts: „Das Theater gehört dem Schauspieler“ ist gefährlich und noch dazu unrichtig: der Schauspieler sei Diener am Werk. (Freilich muß eines dasein.) Was der Schauspieler heute treibt, ist in fast allen Fällen Herausstellung der eignen Person, und das ist begreiflich; aber er tut es auf Kosten des Dichters, und das ist ungehörig. Sie scheren sich den Teufel um die Absichten des Dichters – wenns gut geht, um die des Regisseurs, der wiederum seinerseits auf das Opus pfeift, das er da in Szene setzt. Sie sprechen kaum die Sätze ihrer Rolle – „Da sage ich einfach...“ und dann kommt irgendeine Monstrosität, an die der Dichter nicht im Traum gedacht hat. Aber es „wirkt“. Es ist eine leerlaufende Schauspielkunst: in den meisten Fällen versteht der Geschäfts-Schauspieler nicht, was er spricht, es ist ihm auch völlig gleichgültig – er sagts aber schön auf. Früher hat man mit den Rrs gerollt; heute zerlegen sie den unverstandenen Text in tausend kleine und grobe Einzelwirkungen, grob noch in der Diskretion. So ist auch ihr übertrieben großer Einfluß auf das Repertoire und den Wortlaut der Stücke von größtem Übel. Der Star ist ein miserabler Dramaturg. Aber so, wie der Urheber des dramatischen Werks auf den Schauspieler herunterkommt, passiert jeder Künstler eine andre Leidensstation, die weit, weit gefährlicher, peinlicher, übler und hemmender ist: er hat zuvor mit dem geschäftlichen Vermittler zu kämpfen. Der Mann, der aus dem Kunstwerk eine Ware macht, also für den Produktionsprozeß in der Kunst unerläßlich notwendig ist, hat seit langem seine Grenzen überschritten – er maßt sich heute Rechte an, die ihm nicht zustehn. Der Kaufmann ist nicht mehr dienendes Glied in der Kette, nicht mehr gleichberechtigter Faktor auf dem weiten Weg zwischen Künstler und Publikum: er herrscht. Wie macht er das? Er macht das elend schlecht. Damit es hier nun keine Mißverständnisse gibt: ich glaube nicht daran, daß etwa die unentdeckten Talente haufenweise herumlaufen, nur, weil die Kaufleute großkalibrige Dummköpfe sind. Das ist nicht richtig; Genies können untergehn; Talente kommen hoch – man braucht sie nämlich, und man ist meist froh, wenn man sie hat. Jeder 117
Mann vom Bau, der den Posteingang einer Redaktion und eines dramaturgischen Büros kennt, wird mir beistimmen, wenn ich sage: Man brauchte das Zeug eigentlich gar nicht zu lesen; man tuts aus Pflichtbewußtsein, verloren hat man da nicht viel. Die Talente werden also nicht im Dunkel gelassen. Der Kaufmann sieht, was ein Talent ist, – er hörts mindestens von adern, er will ja den Erfolg, an dem er brennend interessiert ist. Aber er verdirbt die Talente. Das schlimme ist, daß er, in der Literatur, am Theater und besonders im Film, den sogenannten Geschmack des Publikums zu kennen glaubt. Er kennt einen: den niedrigsten. Auf dem spekuliert er unaufhörlich herum – und er denkt und rechnet nur in Schablonen. Hat er einmal gesehen, daß im „Potemkin“ eine Szene gewirkt hat, in der man nur Soldatenstiefel in der Großaufnahme sieht, dann will er überall seine Soldatenstiefel haben. Er weiß, daß das vielbeschriene Dienstmädchen in Glauchau gern weint, nun will er seine weinerlichen Schmierszenen... und im niedersten Bezirk der Kunst hat er damit recht. Solange sie noch zynisch sind, gehts ja an. Einer dieser gehauten Jungen hat neulich einmal gesagt: „Hier an dieser Stelle muß sich der Hufschmied verlegen herumdrehn und ein bißchen weinen... das hat das Publikum gern.“ – “Warum hat das Publikum das gern?“ fragte ein intelligenter Schauspieler. „Weils nicht wahr ist“, sagte der Direktor. Ich möchte einmal sehen, was geschähe, wenn sich ein Künstler anmaßen wollte, dem Geschäftsmann in seine Bilanzen hineinzureden. Der würde mit Recht erwidern: „Herr, davon erstehen Sie nichts!“ So ähnlich liegt der, Fall umgekehrt: wenn man von den verschwindenden Ausnahmen jener absieht, die wirklich eine Nase für ihr Geschäft haben, dann bleibt ein Haufe ewig mißmutiger, aufgeregtmüder Menschen, vor denen sich der Künstler eine Frage zu stellen hat: Mit welchem Recht kommandiert der Mann hier eigentlich herum? Weil er Geld in das Unternehmen gesteckt hat? Weil er geerbt hat? Weil er nun einmal da. ist?
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Wie sie in den Betrieb kommen, ist nicht immer klar. Welche anmaßenden Ansprüche sie erheben, ist lächerlich. Ich habe in zwanzig Jahren Literaturarbeit allerhand gesehn. Fast immer saß mir da ein Kaufmann gegenüber, der Geld mit einer Sache verdienen wollte, von der er nicht viel wußte. Er wußte nur das Gröbste, und darauf war er sehr stolz. Fast immer haben wir mit Leuten zu tun, die vor allem nichts riskieren wollen, und das darf ich um so klarer aussprechen, als sie mich nicht schädigen, denn ich will nichts von ihnen. Sie gehen die breit ausgetretenen Bahnen, und dann wundern sie sich, wenn das Publikum nicht mitgeht. Macht einer einen Sportfilm, und hat der Erfolg, dann machen sie, Mann für Mann, Sportfilme und zerstören damit die eigene Konjunktur, weil der Zuschauer diese Art Filme sehr bald satt bekommt. Und man muß sich vor solchen Verlegern, vor solchen Theaterdirektoren, vor diesen Filmkaufleuten nur immer fragen: Ja, haben denn diese Männer so viel Erfolg, daß sie uns rechtens auf die Schulter klopfen dürfen, mit der Zigarre im Mund, und dem berühmten: „Lieber Freund, glauben Sie mir...?“ Ich glaube ihnen nicht; dazu gehen mir zuviel von ihnen pleite. Sie machen aus ihren mehr oder minder kümmerlichen Bildungsbrocken das Maß aller Dinge. Sie halten ihren meist klobigen Verstand für das einzig mögliche Fundament, daher denn das von ihnen propagierte Kunstwerk sehr oft nicht über ein gewisses Niveau herauskommen kann, nämlich das ihre. Und das ist nicht hoch. Und wenn sie selbst etwas mehr Verstand und Bildung haben: wie feige ist diese Gesellschaft! Fünf Proteste, und die Hosen sind voll. Etwas durchsetzen? Etwas der Masse auf zwingen? Ah, gar keine Spur. Und dabei spreche ich jetzt nicht etwa von gewagten und wilden Experimenten, sondern nur von harmlosen Abweichungen aus der Linie, nicht von Möglichkeiten, die einer gern ausprobieren möchte, nicht von Neuem. Sie bestehen aus Angst. Sie fürchten die Behörden, sie fürchten das Publikum und die Presse, sie fürchten die Frauen und die Berufsstände... und so schleift sich denn das, was sie produzieren, so unerträglich ab, daß es einem zermanschten Brei gleicht. Die Ufa ließ 119
einmal triumphierend verkünden, sie habe den „Blauen Engel“ erst einer Delegation des Preußischen Philologen-Verbandes vorgeführt, die denn auch begeistert gewesen sei (weil es ja ein solches Lehrerschicksal nicht gibt). Heinrich Mann hat das Buch, wenn ich nicht irre, keinem Verband vorgelegt. Was sie machen, sieht, um das Wort eines Arbeiters anzuwenden, der vor dem Denkmal der Kaiserin Augusta stand: „Es sieht so eenjal aus.“ Es ist alles dasselbe, und man mag gar nicht mehr hinsehn. Und das wunden einen nicht, wenn man weiß, wie die aussehn, die es machen. Sie sind nicht nur feige – sie sind, was damit eng zusammenhängt, auf das höchste unsicher. Es ist meine feste Überzeugung: wenn man einem von ihnen einen großen amerikanischen Schlager im Manuskript vorlegte, und zwar vor der amerikanischen Uraufführung: sie nähmen ihn nicht. Aber wenn es dann ein Schlager geworden ist, dann kaufen sie ihn für teures Geld. Das rührt daher, daß ihnen keine Vision des Werkes und ihrer Absichten vorschwebt. Und wenn ihnen einer vorher ihren eignen Film zeigen könnte, wie er nun nach allen ihren Tadeln, Nörgeleien, Einsprüchen und Schwierigkeiten werden wird: sie nähmen ihn wieder nicht und lehnten ihn ab. Denn was ein andrer anbringt, erscheint ihnen a priori schlecht. Solch Unternehmer ist unsicher und muß unsicher sein, denn er weiß nicht, was er will. Er kann es nicht wissen, denn er ist niemand. Er bedeutet für die Kunst selbst wenig. Macht es Vergnügen, dieser Sorte etwas anzubieten? Sie auf etwas aufmerksam zu machen? Es macht keinen Spaß; es ist uninteressant. Sie sagen auf alle Fälle zunächst einmal: Nein. Sie ermutigen niemand, sie dopen niemand – sie drücken automatisch und verbreiten schlechte Laune um sich und Nervosität, die aber auch gar nichts mit dem „Tempo der Zeit“ zu tun hat, sondern alles mit ihrer schlechten Verdauung, ihrer Angst und ihrer Unsicherheit. Und dann muß man sehen, was sie machen! Und dann muß man sehen, was sie bejahen, was sie für gut halten, was sie gern haben wollen! Es ist in den meisten Fällen das Plumpste, das Dickste, das Platteste – das geht ihnen ein wie Butter. 120
Es bleibe hier ausdrücklich außer Betracht, was an dieser Frage eindeutig politisch ist. Daß aber diese aufgedonnerten Unternehmungen der Kunstbranche, wie sie gebacken und gebraten sind, dem Künstler grundsätzlich das Verspielte austreiben, ihm im Werk die Stille nehmen, die Feinheit und das Kräftige dazu – das ist bitter. Was bleibt? Das Schema bleibt. Und das ist so, weil diese Art Kaufmann in seinem Betrieb eine Rolle spielt, die ihm nicht zukommt. Zu diesen Kunstkaufleuten gehören übrigens genau die, die sich durch diese Zeilen nicht getroffen fühlen – grade sie. Wie ja ein Halbgebildeter immer gefährlicher ist als ein Kuhkopf. Natürlich soll der Kaufmann, der sein Geld aufs Spiel setzt, eine Schlußentscheidung abgeben; darüber ist ja nicht zu sprechen. Aber er delegiere seine Macht und höre auf Leute, die das gelernt haben, was er treibt, ohne es gelernt zu haben. Es kauft ja auch keiner Dachpappe ein, ohne selber in dieser Branche Lehrling gewesen zu sein oder ohne sehr gute Fachleute gefragt zu haben, sonst meldet er eben Konkurs an. Diese Brüder da aber haben zu allem andern auch noch einen geistigen Hochmut, der durch die Komplimente der Künstler, die sie in Sold und Bewegung setzen, gefördert wird, und das ist schade. Es ist schade, daß ihnen nicht einmal jemand sagt: „Käse verkaufen ist eine nützliche und vernünftige Sache. Auch dazu gehören Verstand, Schnelligkeit der Entschlußkraft, Kombinationsgabe und Überblick. Den hat aber der Kaufmann von heute nicht gepachtet – viele Menschen haben diese Gaben. Du jedoch, du Kunstkaufmann, bist gar keiner; du bist nur ein verrutschter Konfektionär, entlaufen aus einem Getreidegeschäft oder aus dem Tuchhandel oder Gott weiß woher. Du bist nicht legitimiert, mit uns so umzuspringen – du hast nur das Geld, es zu tun. Begegne mir im Mondschein.“ So spricht kaum einer, weil fast jeder diese Vermittler braucht. Es darf gesagt werden, daß sie ihre Stellung überschätzen und überschreiten und daß sie ihre Arbeit lange nicht so gut tun wie jene, deren Arbeit sie vermitteln. Vermitteln ist nötig; aber es ist in den 121
seltensten Fällen eine produktive Sache. Diese Tätigkeit wird überschätzt. Wesentlich für ein Kunstwerk sind Urheber und Empfänger. Was dazwischenliegt, ist ein notwendiges Übel. 1930
Der Bär tanzt Literatur: F. M. Huebner „Das andere Ich“ F. M. Huebner „Das Spiel mit der Flamme“ Wolfgang Wieland „Der Flirt“.
Dürfen darf man alles – man muß es nur können. Es gibt einen großen Bereich der deutschen Literatur, in dem nichts getan wird als: Banalitäten feierlich gesagt, einfache Vorgänge barock dargestellt, das Leben ins „Literarische“ transponiert. Das geht bis hoch hinauf... Unten siehts aber auch ganz munter aus, und so will ich denn aus dem Rinnstein ein paar Blätter auffischen und, sie mit dem Spazierstock betrachtend, an ihnen lernen, wie man es nicht machen soll. Ist es ein Zufall, daß im Werk jedes Klassikers die sexuelle Detailschilderung nur nebenher vertreten ist? Im Zeitalter der Bäumer und Konsorten muß man sich erst aus einer falschen Gesellschaft herauswinden, um zu sagen, daß es gute und zu billigende Gründe gibt, die Koitusschilderungen verbieten. Da ist erst einmal, zu allererst und zu alleroberst, die Empfindsamkeit des Dichters: hat er die nicht, soll er die Hände von dergleichen lassen. Da ist auch, von den paar Fällen genialer Psychopathen abgesehen, der leise Verdacht der Spekulation, eben jenes Motiv, das unsereinen die Halbnacktkunst aller Art ablehnen läßt: man will nicht, frische Luft vorziehend, unter grinsenden Verhinderten sitzen. Jeder echte Kraftüberschuß gehört nicht hierher, nicht die Visionen der vom Geschlecht Besessenen, nicht das Spiel der Erotik. Es besteht aber eine Sorte Literatur, deren Verfertiger verdienen, auf die Finger gehauen zu werden – und diese Beispiele da oben sind geradezu abschreckend schön. 122
Um Huebnern tuts mir leid. Der Mann ist noch unter S. J. ein anständiger und kluger Mitarbeiter der „Weltbühne“ gewesen, und was in ihn gefahren ist, mag der Kuelz wissen. Bei ihm gibt es zunächst, als Vorspeisen, hochfeine Gespräche mit der Dame seines, sagen wir, Herzens. „Sie sprechen in Rätseln.“ – „Die Sie hinlänglich durchschauen.“ – „Sie scheinen sich auszukennen.“ – „Worin?“ – „In diesen Rätseln.“ – „Nur... theoretisch.“ – „Belehren Sie mich.“ – Und so. Des weiteren sind die Gesellschaftsschilderungen, Darstellungen von Pariser Bars, Restaurants – es gibt heute in allen Ländern eine solche Literatur, und immer ist sie nach demselben Rezept gearbeitet. „Der salonartige Raum wies vor der Hand mehr Hausangestellte denn Gäste auf.“ Es ist ein Salon da. „Er schritt zum Kleiderständer, wo im Halter die Auslese javanischer Reitgerten hing...“ Es sind javanische Reitgerten da. „Auf der Kommode, zwischen den hohen altchinesischen Vasen lagen Bücher größern Formats, die Historie des Peuples de L’Orient von Maspero, eine englische Ausgabe des Rubajat und die Reise ins Land der vierten Dimension...“ Es ist überhaupt alles da. Denn dies ist das hervorragende Stigma einer ganzen Literatur: es imponiert ihnen. Josephine Baker tanzt: es imponiert ihnen. Ein Botschafter sitzt in der Loge: es imponiert ihnen. Jemand spielt Polo: sie liegen auf dem Bauch. Und statt erst einmal das, was geschieht, unfeierlich zu sehen, um dann seinen Zauber ganz zu empfinden, umbrodelt die Geschehnisse ein süßer Schmus. Erst imponiert es ihnen; dann aber geben sie sich einen Ruck, machen das hochmütige Gesicht, das der Deutsche vor dem Kellner aufsetzt, wenn ihm nicht ganz wohl zumute ist, und ein lauernder, blitzschneller Blick zum Leser fragt: „Hast du auch bemerkt, wie es mir gar nicht imponiert?“ Und: „Was sagst du nun? Was bin ich für ein Kerl? In welchem Milieu bewege ich mich? Woher habe ich diese feinen Beobachtungen? Imponiert es dir?“ Denn das soll es. Aber es ist ein Irrtum, zu glauben, eine Darstellung werde dadurch beschwingter, daß man einen amerikanischen Mann „Mister“ nennt oder mit fuchtelndem Handgelenk Getränke aufzählt, die in fremden Ländern getrunken werden. Was dem einen seine Weiße, ist dem 123
andern sein Aperitif, und damit muß man nicht protzen. Nichts komischer als diese Berliner Superfranzosen, die mit verzücktem Schmatzen einen, man denke, Dubonnet auf der Zunge zergehen lassen. Dubonnet heißt auf deutsch: Kahlbaum, wir wollen uns da nichts vormachen. Das zweite Mittel, sich interessant zu geben, besteht darin, kein Ding so zu nennen, wie es wirklich heißt. Da hat nun leider, leider von oben her Thomas Mann ein schlechtes Beispiel gegeben; wenn bei dem einmal eine Tasse eine Tasse heißt, dann wird dieses gewöhnliche Möbel gewissermaßen in Anführungsstrichen ausgesprochen, so wie der Polizeibericht gern von einer „Elektrischen“ spricht. Was ist das? Das ist Impotenz. Denn nichts ist schwerer, nichts erfordert mehr Arbeit, mehr Kultur, mehr Zucht, als einfache Sätze unvergeßlich zu machen. „Handwerker trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn begleitet.“ Die Worte mit der Wurzel ausgraben: das ist Literatur. Aber es ist gewiß bequemer, einfacher und imposanter, die Worte abzuschneiden und sie auf Draht zu ziehen. „Ihre Münder bissen sich an den Rändern der schlanken Sektkelche fest...“ So siehst du aus. Aber so sehen auch die Sektgläser nicht aus, und ahnt denn so ein dürftiges, verquollenes Gewächs, wie schwer es ist, von den Zeitungsassoziationen abzusehen, sich ihrer eben nicht zu bedienen und die Wahrheit zu sagen? So ist in dieser Literatur, deren Ab- und Unarten sich bis weit in die Höhen der bessern Autoren verfolgen lassen, das Leben herrlich veredelt. Die Leute gehen nicht, sondern schreiten stelzend Hohe Schule, und was auch immer im Lichtkegel der Betrachtung liegen mag: hohe Politik, Sport oder das Geschäft – alles ist anders als im Leben, alles schwebt zwei Hand breit über dem Boden, und ferne davon, romantisch zu sein, ist dieser Klimbim nur verlogen. Ich sehe keinen an. Das ginge ja noch. Aber wenn diese vollendete Ungrazie, die fetten Dunst für feinen Hauch, überladene Seelenornamentik für Kunst, Barock aus Gänsegrieben für den Inbegriff des Stils hält, wenn diese überstopften Literaten sich mit der Liebe befassen, dann muß das bei dem völligen Humormangel, der ihnen eigen ist, zu einem Unglück führen. Dieses Unglück hats gegeben. 124
Ihre gebügelte Pornographie hat wenigstens einen Vorteil: sie ist unmäßig langweilig, kann also keinerlei Schaden anrichten. In Frankreich wäre dies Zeug ein Lacherfolg, wenn man es überhaupt beachtete – Georges Courteline hat kaum nötig, die Worte zu sprechen: „J’ai l’horreur des grands mots. Ils ne démontrent rien, passent neuf fois sur dix la limite et n’étonnent que les ignorants.“ Für die sind diese traurigen Lustbücher offenbar geschrieben; in diesen, die ich da oben notgedrungen zitiert habe, und in noch einigen, die ich gar nicht zitieren mag, gehts so hoch her, daß man kaum hinaufspucken kann, was so not täte. Pornographie? Ja, aber auf fein. „Und damit hat sie sich wie von ungefähr niedergebeugt und hat sie den Kleidersaum hochgerafft und nestelt sie in der Hüftengegend und schlägt sie jetzt, von den Schenkeln bis hinauf zu den Schlüsselbeinen, mit einem Ruck den Stoff auseinander. Mir knickt vor Wollust der Kopf nach vorn. Ehe ich mich fassen kann, schließt sie die Hülle und ist die Lichterscheinung ausgelöscht.“ Wie man dabei ernst bleiben kann! Wie man das wirklich und wahrhaftig aufs Papier setzen kann, ohne sofort mit einem dicken Blaustift einen beschämten Strich zu machen! Wie man nicht fühlen kann, daß das komisch ist und nichts weiter! Der tanzende Bär kann es – zum Gedudel eines literarisch verstimmten Leierkastens. „Es ist keineswegs der altbekannte Schüttel der Wollust.“ Dieses Wort, das ich in meinen privaten Sprachschatz aufgenommen habe, ist, mit Verlaub zu sagen, ein Griff – und solcher Untergriffe weisen diese Bücher nicht wenige auf. Am heitersten ist der SechserCasanova, wenn er Papierdeutsch schreibt und Orgien meint: „Indessen scheint es, daß sie keinerlei Neigung besitzt, unserer Schäferstunde den Verlauf bloßer Kurzweil zu geben.“ Wenn er gegenständlich wird, ist er unappetitlich, sicherstes Zeichen künstlerischer Mannesschwäche. „Vom Umfassen ihrer Büste hat der Ärmel meines Jacketts ihren Duft mitgenommen. Ich hebe den Ärmel an die Nase.“ Ich auch – aber um sie mir zuzuhalten. Und dann muß ich loslassen, weil man mit zugehaltener Nase nicht gut lachen kann. „Sie rollen wie Ringer umeinander. Einmal ist der eine, dann
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der andre oben, zitterte es aus ihrem Munde.“ So geht es im deutschen Familienleben zu. Was an dieser Sorte Schriftstellerei so außerordentlich erheiternd wirkt, ist ihre den Fabrikanten unbewußte Komik. Es ist unmöglich, solche körperlichen Vorgänge ohne das Bewußtsein von ihrer humorhaften Unzulänglichkeit, von ihrer Tierhaftigkeit, von ihrer Lächerlichkeit zu schildern – es braucht das nicht gesagt zu werden; wenn der Schilderer es nur fühlt, wenn ers nur weiß, wenn er sich nur ein Mal darüber klargeworden ist, daß er in keinem dieser Augenblicke vor seinen Nebenmenschen etwas voraushat, daß er gerade in diesem Moment nicht herrscht, sondern unterworfen ist. Der feierliche Ernst, mit dem Liebesvorgänge als imponierendes Plus des Autors dargestellt werden; der männchenhafte Dummstolz; der Pomp, dem man nur einen Nachttopf an die Seite zu stellen braucht, auf daß alles aus ist – warum kann man Romeo und Julia nicht damit beschämen, daß man das Wort „Bauch“ ausspricht? Weil ihr Pathos ebenso irdisch wie überirdisch ist; weil ihre Leidenschaft nicht klebrig haftet, sondern bei aller Gegenständlichkeit wie Musik zittert und entschwebt, und weil jeder Schimpf auf den Zwischenrufer zurückfiele. „Den Schauspieler möchte ich sehen“, hat der alte Fontane einmal gesagt, „der den Hamlet mit einem weißen Bändchen spielen kann, das ihm aus der Hose heraushängt!“ Diesen Figurinen aber hängt es dauernd heraus, der Autor merkts nicht, und wenn er pathetisch wird, dann muß man lachen. Im Augenblick aber, wo nicht von „Thema“ geredet wird, verläßt den Literasten die Feinheit, ich bin ein Preuße, kennt ihr meine Farben, und das sieht dann so aus: „Die grauhaarige englische Lady, drüben zunächst dem Christbaum, ließ das Spielzeugäffchen, ein Weihnachtsgeschenk von seiten der Geschäftsleitung, aus dem riefen Ausschnitt ihres Kleides heraus...“ Das kann der redaktionelle Hinweis auf das Inserat in unserer achten Beilage auch nicht besser. Unterbrochen wird dieser Unfug durch Entgleisungen, die fast wehe tun. „Mit den Armen biege ich sie in der Taille ab, drücke sie vollends zu Boden, schlage von den Beinen, die sich schon spreizen, die Rockfalten zurück und tue mich gütlich wie der Soldat an seinem Sonntagsschatz.“ Das ist nur mit einer Seekrankheit zu beantworten. 126
Wenn die vorbei ist, muß – leider, leider – gesagt werden, daß in dem „Steppenwolf“ Hesses ähnliche Stellen stehen, deren Peinlichkeit nur durch die Tragik gemildert wird, die das Geschick des Autors darstellt. „Während wir schweigend in die geschäftigen Spiele unsrer Liebe vertieft waren...“ Welche Ungrazie! Es riecht wie in einem überfüllten Dampfbad, man mag das nicht, hinaus, hinaus! Von schlimmeren Auswüchsen zu schweigen. Der Hanswurst, der das Buch über den Flirt geschrieben hat... Es erinnert an die Geschichte von jenem englischen Sergeanten, der an einer dunkeln Hafenmauer ein Mädchen anspricht und ihr gleich zu Beginn der Unterhaltung sein, sagen wir, kurzes Seitengewehr in die Hand drückt. Und sie: „Ach, du Flìrt –!“ Auch muß der Verfasser unbedingt Willi Schaeffers gehört haben, von dem das kurze Wort stammt: „Ich glaube, die läßt sich flirten.“ So ein Buch ist das. Und wie altmodisch diese königlich preußischen Erotiker alle sind! Da wimmelt es von „Taillen“ und „Spitzengeriesel“ – wo rieselt denn das heute noch? „Und so erschöpft sich der aktive Flirt der Frau in Berührungen dieses Gliedes, das auf unauffällige Weise meist schon durch die Hosentaschen erreichbar ist...“ Es sind tobsüchtig gewordene Studienräte der Liebe. Ganz besonders schlimm, wenn sie ihre medizinische Literatur gelesen, halb verstanden, kaum verdaut und unvollkommen vomiert haben. „Danach scheidet sich uns das ganze weite Reich sexueller Beziehungen der heutigen Kulturmenschheit in drei große voneinander scharf getrennte Gebiete.“ Nun? „Beischlaf, Perversität und Flirt.“ Was etwa der Skala: Sozialismus, Beethoven und Stachelbeerkompott entspricht. Aber solche Bücher werden von einem immerhin nicht ganz und gar windigen Verlag verlegt, sie werden wohlwollend besprochen, ausgestellt... nur eines werden sie nicht: sie werden nicht gebührend ausgelacht. Zugegeben: das sind Paradepferde des Geschmackmangels, der Taktlosigkeit, der erhitzten Impotenz. Aber es ist da ein Element, das sich durch Hunderte von Büchern zieht – es ist die offenbare Unfähigkeit des Deutschen, Erotik bildhaft und doch nicht klebrig wiederzugeben. (Bestes Gegenbeispiel gegen diese Schmierer: Heinrich Mann.) Das schwankt zwischen Brutalität und butterweicher Senti127
mentalität hin und her, ist unsicher, bekommt einen roten Kopf und schreibt nun, je nachdem, moralische Bücher oder dumme Schweinereien. Mit Erotik hat das nichts zu tun. Ich habe einmal in Paris einen alten Freund Toulouse-Lautrecs besucht; in seinem Salon hingen einige Originale, Pastell, Öl, Skizzen... Da war auch ein Paar im Bett, achtlos glitten meine Augen darüber hinweg – nichts ging von dem Bild aus oder doch wenig. Aber da war ein Halbakt, eine Frau, die vor der Waschschüssel steht – und eine Wolke von Parfüm, von Frauenduft, von der sinnlichen Nähe des Fleisches kam herüber, und es war doch nichts zu sehen und alles. Man hat es, oder man hat es nicht. Diese sanft aufgeilende Wirkung solcher Bücher aber sind nicht etwa ein „Schandmal unserer Zeit“ – das mag die Deutsche Zeitung und die Generalanzeigerpresse der Provinz ihren Lesern erzählen, deren praktische Erosgymnastik einen verstehen läßt, woher nur solche Schädel und solche staatserhaltenden Gesichter kommen – sie sind einfach schlechte Literatur und verdienen, restlos verlacht zu werden. Beschwingte Heiterkeit, Frechheit, Witz, Ironie, echtes Pathos: alles, alles ist möglich. Nur diese Quadratklacheln nicht, die sich zum Tönen einer Mozartschen Musik auf die Hinterbeine stellen, einen Ring durch die Nase, und brummend, mit offner Schnauze, aus der der Speichel tropft, tanzen, wie ein Bär tanzt. 1928
Viel zu fein! Ein Millionär traf einst ein PekinesenHündchen. Und entschuldigte sich beim Besitzer. Da rief der Mann: „Was! Sie wollen ein Millionär sein und rufen nicht: Bringen Sie mir noch ein Hündchen!’„
Es ist schon ein bißchen besser geworden, aber der Film und mancher Romanautor, sie können’s nicht lassen: es ist bei ihnen alles viel zu fein. 128
Die gnädigen Frauen nehmen ihre Schokolade in einer spitzenüberrieselten Liebesgondel, die Tassen sind innen mit Seide ausgeschlagen, das Stubenmädchen ist so schön wie... (nach Belieben auszufüllen); vorn stehen Diener, hinten stehen Diener, und in der Mitte stehn Silberdiener; Rechtsanwälte gehen in Paquinmodellen auf den Ball und Halbweltdamen nur im Frack ins Bett... oder habe ich das verwechselt – kurz: es ist alles so fein, daß man sich ordentlich nach einer richtigen Schmalzenstulle sehnt. Warum ist es so fein –? Der Wunschtraum – ich weiß schon. Ja, mit dem Wunschtraum... Habt ihr eigentlich in eurer Bekanntschaft viele Leute, die heute noch so töricht, so dumm und so kindlich sind, daß sie auf so etwas hereinfallen – daß sie so etwas wollen? Und man soll die andern Menschen, die um uns herum leben, nun ja nicht für dümmer halten – dergleichen hat sich schon oft bitter gerächt. Der Wunschtraum... Was sind denn das für Träume, die uns die Filmdirektoren und die Romanschreiber da vorträumen? Das sind verjährte Wunschträume. Das sind Ideale in den Formen von gestern und vorgestern und vorvorgestern. Wollen das die Leute? Immer haben sie sich nach Luxus gesehnt, nach Reichtum... gewiß. Aber die Dinge liegen doch in Mitteleuropa heute so, daß die Mehrzahl aller Menschen froh ist, wenn sie folgende Sachen haben: Arbeit, auskömmlichen Verdienst, Brot, ein Dach überm Kopf, Wärme, keinen Hunger und keine Krankheiten... Das ist schon sehr, sehr viel. Wollen die Leute nun diesen Filmzauber wirklich? Und, wenn sie ihn wollen: gibt es nicht auch so etwas wie eine Verantwortung der Film- und Romanindustrie, dem Publikum gegenüber? Was ist das für billiges Opium und für dummes Zeug! Es stimmt nicht einmal. Bei den reichen Leuten sieht es meist ganz anders aus; ich will nicht sagen: snobistisch bescheiden – aber anders. Abgesehen von den ungeheuren Kosten, die solch ein Leben machte, wie es uns da vorgeführt wird: mit den Platinbadewannen, den parfümierten Staubsaugern, den in Brokat eingebundenen Schoßhündchen und den riesigen Säulenhallen vor dem W. C – das ist doch gar nicht der Stil unserer 129
Zeit. Auch nicht bei reichen Leuten – grade bei denen nicht. Ja, es ist denkbar, daß sich ein Industrieller einen besonders großen Reitstall hält; irgendeine Liebhaberei pflegt... einen Sport... gewiß. Aber dieses Theater da... ich glaube nicht. Von der Reklame, die ein offenbar existierender „Weltverband des Ringes der Mädchenhändler“ macht, ganz zu schweigen, denn das geht wirklich auf keinen Perserteppich. Welche Preise...! Ich bin ja ein ehrsamer Mann mit einer so gut wie fleckenreinen Vergangenheit... aber wenn man das so sieht, welches Schicksal diese Undamen im Film erleiden oder vielmehr genießen – welche Preise da verlangt, geboten und gezahlt werden –: Wahrlich, ich ginge hin und täte desgleichen, wenn ich nicht wüßte, daß alles Schwindel wäre und wenn sie mich nicht eben ins falsche Geschlecht hineingeboren hätten. Dafür die vernünftige Aufklärung über Prostitution und dann diese falsche Feinheit: mit Kolliers, Riesen-Schecks, als Liebeslohn immer eine Villa mit Golfteich, Entenpark, Tennisplatz für die Rehe und Auto auf dem Dach? Einer allein kann das gar nicht glauben. Nun weiß man nicht recht... Die Filmdirektoren und die Romanschreiber tun so, als glaubten sie, daß das Publikum glaubt, dergleichen glauben zu müssen. Wirklich? Ja? Ist das so? Wir sehen es fotografiert; wir bekommen es vorgegaukelt, wir lesen das in so vielen Eisenbahnromanen... Sonderbar wirkt solche Kunst ins Leben zurück, aus dem sie gar nicht gekommen ist... In manchen Gerichtsverhandlungen hören wir staunend, was einen Einbrecher oder eine Hochstaplerin bewogen hat, eine „kleine Kiste aufzumachen“. Sie haben einmal so leben wollen, wie sich der Magazin-Herausgeber träumt, daß es sich seine Leser träumen. Und das gibt dann ein böses Erwachen. Noch viele Filme werden wir sehen: mit dorischen Wintergärten, mit Bar-Tischen, die in die Badewanne eingelassen sind; mit ZederholzRuderbooten und silbernen Tabletts, daß es einen graust... Wir ergreifen eines dieser Tabletts, legen ein Kärtchen darauf und drücken dem Stubenmädchen mit dem Häubchen und den unwahrscheinlich schönen Beinen ein kleines Trinkgeld von fünfundsiebzig Mark in
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die Hand: sie möchte unser Kärtchen dem Unternehmer hineintragen. Auf dem Kärtchen steht: VIEL ZU FEIN. WIR DANKEN! 1931
Die Essayisten St. Clou den 25. Juni 1721 ... Ich habe mitt den zeittungen einen grossen brieff bekommen von dem postmeister von Bern, er heist Fischer von Reichenbach; aber sein stiehl ist mir gantz frembt, ich finde wörtter drinen, so ich nicht verstehe, alsz zum exempel: „Wir uns erfrachen dörffen thutt die von I.K.M. generalpost-verpachtern erst neuer dingen eingeführte francatur aller auswärtigen brieffschaften uns zu verahnlassen.“ Dass ist ein doll geschreib in meinem sin, ich kans weder verstehen, noch begreiffen; das kan mich recht ungedultig machen. Ist es möglich, liebe Louise, dass unssere gutte.ehrlicheTeüutschen so alber geworden, ihre sprache gantz zu verderben, dass man sie nicht mehr verstehen kan? Liselotte von der Pfalz
„Ich habe nun bis ins einzelne verfolgt und nachgewiesen, daß letztere Periodizität der Weltanschauungsformen und erstere Periodizität der Stilformen stets Hand in Hand gehen als religiös-philosophische bzw. ethisch-ästhetische Ausdrucksformen und Widerspiegelungen der organischen Entwicklung jedes Kulturzeitalters von seiner Renaissance bis zu seiner Agonie und daß auch wieder die verschiedenen Kulturzeitalter sich als Volksaltersstufen entsprechend organisch auseinander entwickelten, in großen Zügen als patriarchalische Kindheit, feudale Jugend, konstitutionelle Reife, soziales Alter und kosmopolitisches Greisentum der Völker.“ Und davon kann man leben –?
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Offenbar sehr gut, denn dies ist die Lieblingsbeschäftigung vieler Leute: Essays zu schreiben. Die meisten davon sehn so aus wie diese Probe. Es hat sich bei jenen Schriftstellern, die nie aliquid, sondern immer de aliqua re schreiben, ein Stil herausgebildet, den zu untersuchen lohnt. So, wie es nach Goethe, Gedichte gibt, in denen die Sprache allein dichtet, so gibt es Essays, die ohne Dazutun des Autors aus der Schreibmaschine trudeln. Jenes alte gute Wort darf auch hier angewandt werden: der Essaystil ist der Mißbrauch einer zu diesem Zweck erfundenen Terminologie. Es ist eine ganze Industrie, die sich da aufgetan hat, und sie hat viele Fabrikanten. Die Redlichkeit des alten Schopenhauer scheint bei den Deutschen nichts gefruchtet zu haben. Jeder Satz in den beiden Kapiteln „Über Schriftstellerei und Stil“ und „Über Sprache und Worte“ gilt noch heute und sollte, Wort für Wort, den Essayisten hinter die Ohren geschrieben werden, es wäre das einzige Lesbare an ihnen. „Den deutschen Schriftstellern würde durchgängig die Einsicht zustatten kommen, daß man zwar, wo möglich, denken soll wie ein großer Geist, hingegen dieselbe Sprache reden wie jeder Andere. Man brauche gewöhnliche Worte und sage ungewöhnliche Dinge: aber sie machen es umgekehrt.“ Jeder kennt ja diese fürchterlichen Diskussionen, die sich nach einem Vortrag zu erheben pflegen; da packen Wirrköpfe die Schätze ihrer Dreiviertelbildung aus, daß es einen graust, und man mag es nicht hören. Dieser Stil hat sich so eingefressen, daß es kaum einen Essayisten, kaum einen Kaufmann, kaum einen höhern Beamten gibt, der in seinen Elaboraten diesen schauderhaften Stil vermeidet. Das Maul schäumt ihnen vor dem Geschwätz, und im Grunde besagt es gar nichts. Wer so schreibt, denkt auch so und arbeitet noch schlechter. Es ist eine Maskerade der Seele. Der Großpapa dieses literarischen Kostümfestes heißt Nietzsche, einer der Väter Spengler, und die österreichischen Kinder sind die begabtesten in der Kunst, sich zu verkleiden. Es gibt Anzeichen, an denen man alle zusammen erkennen kann, untrüglich.
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Bei Nietzsche finden sich Hunderte von Proben dieses Essaystils, es sind seine schwächsten Stellen. Sie blenden auf den ersten Blick; auf den zweiten erkennt man, welch spiegelnder Apparat die Blendung hervorgebracht hat – die Flamme ist gar nicht so stark, sie wird nur wundervoll reflektiert. Das sind jene bezaubernden Formeln, die sie ihm seitdem alle nachgemacht haben, allerdings mit dem Unterschied, daß die Nachahmer einzig die Formeln geben, während sie bei Nietzsche meist das Ende langer Gedankenreihen bilden – manchmal freilich sind auch sie nur Selbstzweck, ein kleines Feuerwerk im Park. „Sportsmen der Heiligkeit“ – das ist sehr gut gesagt, aber es ist zu spitz gesagt. Auch findet sich in diesem Wort eine Technik angewandt, die sie uns in Wien, also in Berlin bis zum Überdruß vorsetzen: die Vermanschung der Termini. Sie hören in der Lichtsphäre; sie sehen Gerüche; sie spielen sich als gute Fechter auf, aber nur im Kolleg, wo sie sicher sind, daß nicht gefochten wird; sie sind Priester in der Bar, und es ist alles unecht. Nietzsche hat ihnen die Pose geliehen; wieweit man einen Künstler für seine Anhänger und auch noch für die falschen verantwortlich machen kann, steht dahin – Nietzsche hat auf sie jedenfalls mehr im bösen als im guten gewirkt. Von ihm jenes „man“, wo „ich“ oder das altmodische „wir“ gemeint ist; beides hatte einen Sinn, dieses „man“ ist eine dumme Mode. „Man geht durch das hohe Portal in die Villa der Greta Garbo...“ Quatsch doch nicht. Man? Du gehst. Von Nietzsche jene Wichtigtuerei mit dem Wissen, das bei ihm ein organischer Bestandteil seines Humanismus gewesen ist; die Nachahmer aber sind nur bildungsläufig und lassen ununterbrochen, wie die Rösser ihre Äpfel, die Zeugnisse ihrer frisch erlesenen oder aufgeschnappten Bildung fallen; ich empfehle ihnen Plotin, und sehr hübsch ist auch Polybos statt Hippokrates, man kann das nicht so genau kontrollieren. Von Nietzsche jene Pose der Einsamkeit, die bei den Nachahmern nicht weniger kokett ist als der Ausdruck jener Einsamkeit beim Meister; „man“ lese das heute nach, und man wird erstaunt sein, wie blank poliert die Schmerzen aus Sils-Maria sind. Von Nietzsche jene lateinische Verwendung des Superlativs, wo statt der größte: sehr groß gemeint ist. So entstehen diese fatalen Urteile: „das beste Buch des achtzehnten Jahrhunderts“, und um das zu mildern, wird der falsche Superlativ mit einem „vielleicht“ abgeschwächt. Das lesen wir heute in allen Kritiken. Sie haben an Nietzsche nicht gelernt, gut deutsch 133
zu schreiben. Er war ein wunderbarer Bergsteiger; nur hatte er einen leicht lächerlichen, bunt angestrichenen Bergstock. Sie bleiben in der Ebene. Aber den Bergstock haben sie übernommen. Aus der Hegelecke naht sich ein Kegelkönig: Spengler. Von diesem Typus sagt Theodor Haecker: „Das Geheimnis des Erfolges besteht genau wie bei Hegel darin, daß jeder, der keck genug ist, auch mittun kann.“ Und das tun sie ja denn auch. Sie stoßen einen Kulturjodler aus, und die Jagd geht auf. Der Italiener sieht sich gern malerisch: er stellt sich vorteilhaft in den Ort. Der deutsche Essayist sieht sich gern historisch: er stellt sich vorteilhaft in die Zeit. So etwas von Geschichtsbetrachtung war überhaupt noch nicht da. Nur darf man das Zeug nicht nach zwei Jahren ansehn, dann stimmt nichts mehr. Sie schreiben gewissermaßen immer eine Mittagszeitung des Jahres, mit mächtigen Schlagzeilen, und zu Silvester ist alles aus. „Wenn einst die Geschichte dieser Bewegung geschrieben wird...“ Keine Sorge, sie wird nicht. Sie eskomptieren die Zukunft. Und die Vergangenheit wiederum ist ihnen nur das Spielfeld ihrer kleinen Eitelkeiten, wo sie den großen Männern Modeetiketten aufpappen: Grüß di Gott, Caesar! Wos is mit die Gallier? Auf der Kehrseite dieser falschen Vertraulichkeit steht dann das Podest, auf das die alten Herren hinaufgeschraubt werden; und wenn sich einer mit Wallenstein befaßt, dann glaubt er, der Geist des in den Geschichtsbüchern so Fettgedruckten sei ihm ins eigne Gehirn geronnen. Welcher Geschichtsschwindel! Nur wenige Menschen vermögen das, was sie erleben, geschichtlich richtig zu sehn, und ganz und gar kanns keiner. Diese Essayisten tun so, als könnten sies. Wir sehn an alten Kirchen hier und da kleine Dukatenmännchen, die machen Dukaten. So machen sie Geschichte. Kein Wunder, daß dann der Stil, den sie schreiben, so gräßlich aussieht; auf zwei linken Barockbeinen kommt er einhergewankt. „Das Wollen“ gehört hierher. Die geschwollenen Adjektive, denen man kalte Umschläge machen sollte. Die dämliche Begriffsbestimmung, die für jeden Hampelmann eine eigne Welt aufbauen möchte. „Er kommt her von...“ – „Für ihn ist...“ – Der Mißbrauch der Vokabeln: 134
„magisch“, „dynamisch“, „dialektisch“. Diese faden Klischees, die fertig gestanzt aus den Maschinen fallen: „das Wissen um...“ – „wir wissen heute“; der „Gestaltwandel“ und dann: der „Raum“. Ohne „Raum“ macht ihnen das ganze Leben keinen Spaß. Raum ist alles, und alles ist im Raum, und es ist ganz großartig. „Rein menschlich gesehn, lebt die Nation nicht mehr im Raum...“ Man versuche, sich das zu übersetzen: es bleibt nichts, weil es aufgepustet ist. Früher hätte etwa ein Mann, der eine Bücherei leitete, gesagt: „Männer lesen gewöhnlich andere Bücher als Frauen, und dann kommt es auch noch darauf an, welchem Stand sie angehören.“ Viel steht in diesem Satz nicht drin; ich spräche oder schriebe ihn gar nicht, weil er nichts besagt. Heute spricht, nein – der Direktor der städtischen Bücherhallen ergreift das Wort: „Dieser Gegensatz zwischen Mann und Frau ist verschieden, nach dem soziologischen Ort, an dem man vergleicht.“ Dieser soziologische Ort heißt Wichtigstein a. d. Phrase, aber so blitzen tausend Brillen, so rinnt es aus tausend Exposés, tönt es aus tausend Reden, und das ist ihre Arbeit: Banalitäten aufzupusten wie die Kinderballons. Stich mit der Nadel der Vernunft hinein, und es bleibt ein runzliges Häufchen schlechter Grammatik. Und es sind nicht nur jene österreichischen Essayisten, von denen jeder so tut, als habe er grade mit Buddha gefrühstückt, dürfe uns aber nicht mitteilen, was es zu essen gegeben hat, weil das schwer geheim sei –: die Norddeutschen können es auch ganz schön. Zu sagen haben sie alle nicht viel – aber so viel zu reden! Aus einem einzigen Buch: „Abermals ist also der gesamte Komplex der Politik Niederschlag des Kulturgewissens und der geistigen Strömungen unserer Zeit.“ – „Was Klaus Mann erlaubt ist, darf nicht Edschmid erlaubt sein, denn er hat sich nicht nur an den Vordergründen zu ergötzen, sondern um die Perspektiven zu wissen und an der Ordnung des Chaotischen beteiligt zu sein.“ Da bekommt also der vordergründige Edschmid eine Admonition im Chaotischen. Und man höre den falschen Ton: „Charakteristisch waren zunächst die jungen Männer, welche mit gelassener Hand den Fernsprecher ans Ohr legten und ihrem Bankbevollmächtigten Weisung für Ankauf oder Abstoß von Papieren 135
gaben. Begabte, freundliche, quicke junge Burschen, man soll gegen sie nichts Schlechtes sagen.“ – „Junge Burschen...“ das hat der alte Herr Pose selber geschrieben, und diese fett aus dem Wagen winkende Hand ist ein Wahrzeichen vieler Schriftsteller solcher Art. Manchmal winken sie, wenn sie grade in London sitzen, zu Deutschland, manchmal zu den Jungen hinüber, manchmal spielen sie neue Zeit... auf alle Fälle wedeln sie immer mit irgend etwas gegen irgendwen. Aber: „Wie Blüher die Geschichte des Wandervogels, wie er seine eigne schreibt, das alles ist unverfälscht deutsch: gefurchte Stirn, bedeutende Geste, Ernstnehmen des geringsten Umstandes bis zum Bekennen biographischer Intimitäten, stets bestrebt, sogar Belangloses auf letzte Gründe zu untersuchen und sein Ich ohne Rest zu objektivieren.“ Na also! Und dieser Satz schöner Selbsterkenntnis stammt aus demselben Buch, dem alle diese Proben entnommen sind: aus Frank Thiessens „Erziehung zur Freiheit“. „Ein Mann mit zu viel Verstand, um dumm zu sein, mit zu wenig, um nicht schrecklich eitel zu sein; mit zu viel, um jemals Wolken zu einem Gewitter verdichten zu können, er ist kein Dichter; mit zu wenig Verstand, um einen guten Essayisten abzugeben. Doch welche Suada! Welch gefurchte Stirn, bedeutende Geste.... siehe oben. Ich habe eine Sammlung von dem Zeug angelegt; sie wächst mir unter den Händen zu breiten Ausmaßen. „Der vollkommene Sieg der Technik reißt unsere ganze Gesinnung ins Planetarische.“ – „Hier ist dämonisches Wissen um letzte Dinge der Seele mit einer harten, klaren, grausam scheidenden Darstellungskunst vereint – unendliches Mitleid mit der Kreatur kontrastiert großartig mit einer fast elementaren Unbarmherzigkeit der Gestaltung.“ Wo er recht hat, hat er recht, und das hat sich Stefan Zweig wahrscheinlich auf einen Gummistempel setzen lassen, denn es paßt überall hin, weil es nirgends hinpaßt. „Nach den beschreibenden Gedichten der Jugend bemerkt man in dem Gedicht ,Karyatide’ das Eindringen eines stärker dynamisierenden Wortvorgangs; das Motiv schwindet, zerrinnt fast in den zeitflutenden Verben; das zeithaltige funktionsreiche Ich läßt das Motiv vibrieren und aktiviert den Dingzustand im Prozeß; nun lebt das Motiv stärker, doch nur in der Zentrierung in das Ich; die Bedingtheit der Welt durch das lyrische Ich wird gewiesen.“ Dies wieder stammt von Carl Einstein, der bestimmt hat probieren wollen, 136
was man alles einer Redaktion zumuten kann. Und wie die oberen Zehntausend, so erst recht die untern Hunderttausend. Man setze den mittlern Studienrat, Syndikus, Bürgermeister, Priester, Arzt oder Buchhändler auf das Wägelchen dieser Essay-Sprache, ein kleiner Stoß – und das Gefährt surrt ab, und sie steuern es alle, alle. „Der heutige Mensch, so er wirken will, muß innerlich verhaftet sein, sei es in seinem Ethos, in seiner Weltanschauung oder in seinem Glauben, aber er darf sich nicht isolieren durch Verharren in seinem Gedankengebäude, sondern muß kraft seines Geistes seine Grundhaltung stets neu verlebendigen und prüfen.“ Wenn ich nicht irre, nennt man das jugendbewegt. Verwickelte Dinge kann man nicht simpel ausdrücken; aber man kann sie einfach ausdrücken. Dazu muß man sie freilich zu Ende gedacht haben, und man muß schreiben, ohne dabei in den Spiegel zu sehn. Gewiß ließen sich Sätze aus einem philosophischen Werk herauslösen, die für den Ungebildeten kaum einen Sinn geben werden, und das ist kein Einwand gegen diese Sätze. Wenn aber ein ganzes Volk mittelmäßiger Schreiber, von denen sich jeder durch einen geschwollenen Titel eine Bedeutung gibt, die seinem Sums niemals zukommt, etwas Ähnliches produziert wie ein Denkmal Platos aus Hefe, bei dreißig Grad Wärme im Schatten, dann darf denn doch wohl dieser lächerliche Essay-Stil eine Modedummheit genannt werden. Unsre besten Leute sind diesem Teufel verfallen, und der große Rest kann überhaupt, nicht mehr anders schreiben und sprechen als: „Es wird für jeden von uns interessant sein, die Stellungnahme des Katholizismus zu den einzelnen Lebensproblemen und den aktuellen Zeitfragen kennenzulernen und zu sehen, welche Spannungseinheiten hier zwischen traditionsgebundener Wirtschaftsauffassung und der durch die Notwendigkeiten der Zeit geforderten Weiterentwicklung bestehen.“ So versauen sie durch ihr blechernes Geklapper eine so schöne und klare Sprache, wie es die deutsche ist! Sie kann schön sein und klar. Die abgegriffenen Phrasen einer in allen Wissenschaftsfächern herumtaumelnden Halbbildung haben sie wolkig gemacht. Die deutsche Sprache, hat Börne einmal gesagt, zahlt in Kupfer oder in Gold. Er hat das Papier vergessen. 137
Der deutsche Essay-Stil zeigt eine konfektionierte humanistische und soziologische Bildung auf, die welk ist und matt wie ihre Träger. Und das schreibt in derselben Sprache, in der Hebel geschrieben hat! Man sollte jedesmal, wenn sich so ein wirres und mißtönendes Geschwätz erhebt, von Bäumen bis zu Thiess, von Flake bis zu Keyserling, die falschen Würdenträger auslachen. Versuche, einen Roman zu schreiben. Du vermagst es nicht? Dann versuch es mit einem Theaterstück. Du kannst es nicht? Dann mach eine Aufstellung der Börsebaissen in New York. Versuch, versuch alles. Und wenn es gar nichts geworden ist, dann sag, es sei ein Essay. 1931
Rezept des Feuilletonisten Fürs erste: Protze. Du mußt protzen mit allem, was es gibt, und mit allem, was es nicht gibt: mit Landschaften, Frauen, Getränken, teuern Sachen aller Kaliber, noch einmal mit Frauen, mit Autos, Briefen, Reisen und der Kraft der andern, die du müde kennst. Es ist eine eigene Art der Lüge; Franz Blei hat sie, wie so vieles, einmal mit seiner leichtesten Grazie geschildert, in den drei „Briefen an einen jungen Mann.“ Da steht: „Ich sagte ihnen schon: nie lügen. Immer nur so tun. Ihre Rede muß immer sein, daß der Zuhörer das für Sie Angenehmste mit Ihrer leicht nickenden Nachhilfe heraushören kann, aber auf seine Kosten und Gefahr. Sie müssen leichten Herzens in der schwierigsten Situation fragen können: Habe ich jemals gesagt, daß...?“ Nein, der Feuilletonist hat niemals gesagt, daß... Aber er hat den Anschein erwecken wollen, als habe er es gesagt. Immer liegt unter seinen Worten ein leichtes Geheimnis, so, nach der Melodie: Es ist zu privat, als daß ich es hier erzählen könnte – und der Leser denkt dann, wenn er dumm ist, prompt an Schlösser, englische Tänzerinnen, Lustjachten, buschumrauschte Gartenplätze, verschwiegene Bars edschmiedcetera pp. Man muß es nur geschickt machen. Etwa so: 138
„Man legt müde den weißen Bademantel“ – (man! man ist wichtig!), – „den weißen Bademantel ab, winkt dem groom, er solle einmal zum bar-keeper herübergehen, ob jenes gewisse Pumamädchen geschrieben habe. Der Himmel blickt kopenhagenblau durchs Milchfenster – eine leuchtende Erinnerung an Heluan. (Wo aber die Korbstühle weicher und die Frauen härter sind.) Draußen bellen die Hunde. Nicht so sanft wie die in Algerien – nicht so glockentief wie die in Calafat, wo man, träge an der Donau entlanglümmelnd, Serbiens Ufer grüßte. Die bani saßen locker damals... Man wird morgen auf einem Kongreß sprechen, übermorgen den Bericht absenden, in drei Tagen den goldenen Schoß der großen Tänzerin segnend grüßen...“ Preußen phantasiert. Denn wenn du näher hinsiehst, ist er injeladen, nicht uffjefordert, das Ganze spielt zwischen Koblenz und Köln, es soll der Sänger mit dem Kommerzienrate gehen – und jede kleine Reisebeschreibung des graziösen Herrn Sling ist ehrlicher, anständiger und reizvoller als der Talmikram dieser modernen Reisejungens. 1922
Was darf die Satire? Frau Vockerat: „Aber man muß doch seine Freude haben können an der Kunst.“ Johannes: „Man kann viel mehr haben an der Kunst als seine Freude.“ Gerhart Hauptmann
Wenn einer bei uns einen guten politischen Witz macht, dann sitzt halb Deutschland auf dem Sofa und nimmt übel. Satire scheint eine durchaus negative Sache. Sie sagt: „Nein!“ Eine Satire, die zur Zeichnung einer Kriegsanleihe auffordert, ist keine. Die Satire beißt, lacht, pfeift und trommelt die große, bunte Landsknechtstrommel gegen alles, was stockt und träge ist. Satire ist eine durchaus positive Sache. Nirgends verrät sich der Charakterlose schneller als hier, nirgends zeigt sich fixer, was ein gewissenloser Hanswurst ist, einer, der heute den angreift und morgen den.
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Der Satiriker ist ein gekränkter Idealist; er will die Welt gut haben, sie ist schlecht, und nun rennt er gegen das Schlechte an. Die Satire eines charaktervollen Künstlers, der um des Guten willen kämpft, verdient also nicht diese bürgerliche Nichtachtung und das empörte Fauchen, mit dem hierzulande diese Kunst abgetan wird. Vor allem macht der Deutsche einen Fehler: er verwechselt das Dargestellte mit dem Darstellenden. Wenn ich die Folgen der Trunksucht aufzeigen will, also dieses Laster bekämpfe, so kann ich das nicht mit frommen Bibelsprüchen, sondern ich werde es am wirksamsten durch die packende Darstellung eines Mannes tun, der hoffnungslos betrunken ist. Ich hebe den Vorhang auf, der schonend über die Fäulnis gebreitet war, und sage: „Seht!“ – In Deutschland nennt man dergleichen „Kraßheit“. Aber Trunksucht ist ein böses Ding, sie schädigt das Volk, und nur schonungslose Wahrheit kann da helfen. Und so ist das damals mit dem Weberelend gewesen, und mit der Prostitution ist es noch heute so. Der Einfluß Krähwinkels hat die deutsche Satire in ihren so dürftigen Grenzen gehalten. Große Themen scheiden nahezu völlig aus. Der einzige „Simplicissimus“ hat damals, als er noch die große, rote Bulldogge rechtens im Wappen führte, an all die deutschen Heiligtümer zu rühren gewagt: an den prügelnden Unteroffizier, an den stockfleckigen Bürokraten, an den Rohrstockpauker und an das Straßenmädchen, an den fettherzigen Unternehmer und an den näselnden Offizier. Nun kann man gewiß über all diese Themen denken wie man mag, und es ist jedem unbenommen, einen Angriff für ungerechtfertigt und einen anderen für übertrieben zu halten, aber die Berechtigung eines ehrlichen Mannes, die Zeit zu peitschen, darf nicht mit dicken Worten zunichte gemacht werden. Übertreibt die Satire? Die Satire muß übertreiben und ist ihrem tiefsten Wesen nach ungerecht. Sie bläst die Wahrheit auf, damit sie deutlicher wird, und sie kann gar nicht anders arbeiten als nach dem Bibelwort: Es leiden die Gerechten mit den Ungerechten. Aber nun sitzt zutiefst im Deutschen die leidige Angewohnheit, nicht in Individuen, sondern in Ständen, in Korporationen zu denken und aufzutreten, und wehe, wenn du einer dieser zu nahe trittst. Warum 140
sind unsre Witzblätter, unsre Lustspiele, unsre Komödien und unsre Filme so mager? Weil keiner wagt, dem dicken Kraken an den Leib zu gehen, der das ganze Land bedrückt und dahockt: fett, faul und lebenstötend. Nicht einmal dem Landesfeind gegenüber hat sich die deutsche Satire herausgetraut. Wir sollten gewiß nicht den scheußlichen unter den französischen Kriegskarikaturen nacheifern, aber welche Kraft lag in denen, welche elementare Wut, welcher Wurf und welche Wirkung! Freilich, sie scheuten vor gar nichts zurück. Daneben hingen unsere bescheidenen Rechentafeln über U-Boot-Zahlen, taten niemanden etwas zuleide und wurden von keinem Menschen gelesen. Wir sollten nicht so kleinlich sein. Wir alle – Volksschullehrer und Kaufleute und Professoren und Redakteure und Musiker und Ärzte und Beamte und Frauen und Volksbeauftragte – wir alle haben Fehler und komische Seiten und kleine und große Schwächen. Und wir müssen nun nicht immer gleich aufbegehren („Schlächtermeister, wahret eure heiligsten Güter!“), wenn einer wirklich einmal einen guten Witz über uns reißt. Boshaft kann er sein, aber ehrlich soll er sein. Das ist kein rechter Mann und kein rechter Stand, der nicht einen ordentlichen Puff vertragen kann. Er mag sich mit denselben Mitteln dagegen wehren, er mag wiederschlagen – aber er wende nicht verletzt, empört, gekränkt das Haupt. Es wehte bei uns im öffentlichen Leben ein reinerer Wind, wenn nicht alle übelnähmen. So aber schwillt ständischer Dünkel zum Größenwahn an. Der deutsche Satiriker tanzt zwischen Berufsständen, Klassen, Konfessionen und Lokaleinrichtungen einen ständigen Eiertanz. Das ist gewiß recht graziös, aber auf die Dauer etwas ermüdend. Die echte Satire ist blutreinigend: und wer gesundes Blut hat, der hat auch einen reinen Teint. Was darf die Satire? Alles. 1919
Übersetzer Der Deutsche ist – etwa im Gegensatz zum Franzosen – neugierig und will genau wissen, was in anderen Ländern vorgeht. In keinem 141
andern Lande der Welt ist das Interesse an fremden Kulturen und Literaturen wohl so groß wie in Deutschland, was Stärke und Schwäche zugleich bedeutet. Bei uns wird ungeheuer viel übersetzt. Was wird übersetzt? Neben der Übertragung wichtiger und bedeutsamer Erscheinungen neuer und alter Zeit: wahlloser Krimskrams. Liest man so die gängige Marktware des Übersetzungshandels, so muß man doch fragen, ob wir solchen Kitsch nicht auch zu Hause fabrizieren. Und man muß antworten: wir können das sogar viel besser, weil nämlich die deutsche schlechte Literatur für Deutsche berechnet ist und hier wenigstens wirkt. Ich halte es für ganz und gar verkehrt, wenn der erfolgreiche Unterhaltungsroman fremder Länder mit der Verlagsbauchbinde „In Timbuktu 450000 Stück verkauft!“ legitimiert wird. Eintagserfolge der Unterhaltungsliteratur beruhen auf ganz bestimmten Voraussetzungen: auf solchen der Sprache, auf solchen der Gesellschaft; und so, wie es schon schwer genug ist, den Franzosen Proust in Deutschland einzubürgern, weil es die Welt seiner Modelle hier nicht gibt, so ist es unmöglich, französischen oder englischen Kitsch herüberzubekommen: er wird nicht verstanden. [Schulbeispiel: Gentlemen prefer Blonds.] Man braucht nur die umgekehrte Erwägung anzustellen, um ganz klar zu sehen: was sollten die Amerikaner mit den „Briefen des Landtagsabgeordneten Filser“ von Ludwig Thoma anfangen? Was die Franzosen mit der Courths-Mahler? Sie läsen keine Zeile – nicht etwa, weils nichts taugte, sondern weil die Welt, die Ausdrucksweise, die Färbung dieser guten und schlechten Werke an das Entstehungsland gebunden sind: es kommt nichts herüber. So irren sich ja auch häufig deutsche Theaterdirektoren, die in wirrer Hast alles mögliche wild durcheinander übersetzen lassen und sich nachher wundern, wenns keinen Erfolg hat. Ich will nicht prophezeien: aber ich glaube nicht an die großen Erfolge gewisser französischer Boulevardstücke, die wir hier nächstens zu sehen bekommen werden, und ich glaube nicht an die Erfolgsmöglichkeiten amerikanischer Sensationsschmarren. Ja, wenn man sie bearbeitete! Das, Clement Vautel, wäre ganz was anders. Aber dann müßte man wieder bei solchen drittrangigen Göttern so viel fortlassen, hinzusetzen, umbauen und verändern, daß etwas Neues herauskommt. Und das lohnt wieder nicht. 142
Auswahl der Übersetzungen ist also häufig durch einen instinktlosen Geschäftsgeist diktiert. Wie wird übersetzt? Nicht sehr schön. Es ist das ja eine schwere Sache, das ist wahr, und man kann sehr darüber streiten, wie eine ideale Übersetzung eigentlich aussehen soll. Soll die fremde Sprache hindurchschimmern? Soll der Sprachenkundige noch durch den Teig der Übersetzung, womit sie farciert ist, hindurchschmecken? Soll er Redewendungen anklingen hören? Den fremden Pulsschlag noch leise fühlen? Das ist die eine Möglichkeit. Oder soll sich die Übersetzung glatt lesen, so daß es ein Lob bedeuten soll, wenn einer sagt: „Man merkt gar nicht, daß das hier übersetzt ist.“ Das ist die andere Möglichkeit. Eines aber kann man verlangen: daß der Übersetzer beider Sprachen mächtig ist. Nicht immer ist ers. Ich will noch gar nicht einmal davon reden, daß sich in einer Pariser Posse, die hier in Berlin läuft, die Personen mit „Mein Herr“ anreden – was ja wohl in einer Gesellschafts-Konversation nicht gerade üblich ist. Aber schon Christian Morgenstern merkte in seinen herrlichen „Stufen“ an, daß der deutsche Übersetzer holprig und fremd daherstelzt und, wenn er vertraulich tut, die dummen Modewörter seiner Alltagssprache gebraucht, wobei er sich denn auch noch meistens verhaut und so derb wird, wie es drüben, in angelsächsischen und lateinischen Ländern, nicht immer der Brauch ist. Man muß eben nicht nur ein Lexikon, man muß auch Fingerspitzen haben. Die meisten haben nicht einmal ein Lexikon. Ich besinne mich noch sehr gut, wie mir ein Freund einst in Paris ein französisches Manuskript zeigte, das schon kurze Zeit in einem deutschen Verlag gewohnt hatte. Der Übersetzer hatte das Werk des Franzosen bereits mit einem feinen Spinnennetz von Bleistiftanmerkungen überzogen, und da stand: „Dans le bar, il y avait quelques poules...“ Und der deutsche Übersetzer hatte „poules“ unterstrichen und an den Rand geschrieben: „Was heißt das? Keine Ahnung!“ Natürlich, Hühner konnten es nicht sein, die da pickten, und daß es „Mädchen“ mit dem Unterton von „Nutten“ waren, wußte er nicht. Dann sollte er aber nicht übersetzen. „Babbitt“ von Sinclair Lewis soll, wie Fachleute nachgewiesen haben, von Fehlern wimmeln, und
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bei vielen anderen Modebüchern ists gradeso. Woran mag das liegen...? Es liegt daran, wer übersetzt. Übersetzungen werden leider miserabel bezahlt, und so wimmeln auf dem Literaturmarkt Legionen von kleinen Parasiten herum, die den wenigen verdienstvollen Übersetzern das Brot von der Schreibmaschine weg übersetzen. Da gibt es arme Luder, die die sogenannten „Rohübersetzungen“ machen; der Mann mit der anerkannten Übersetzungsfirma „bearbeitet“ das dann, eine ganz und gar abscheuliche Arbeitsteilung, denn schon in der Rohübersetzung kommen die bösesten Dinge vor, und die sind schwer wieder herauszubekommen. Wenn man einmal mit angesehen hat, mit welcher Unverfrorenheit sich die meisten Übersetzer ans Werk machen, mit welch völligem Mangel an Kenntnis von Land, Grammatik und Lebensgewohnheiten der andern, dann wird einem himmelangst, und man wundert sich über gar nichts mehr. Zum Übersetzen von guten Sachen ist der Beste gerade gut genug – machen tuts irgendein Stückchen Unglück, das sich seinen Lebensunterhalt kümmerlich damit verdienen muß, und daher Tempo, Flüchtigkeit und Qualität der Übersetzung. Es ist ein Jammer. Das internationale Urheberrecht hat diese so wichtige Sache kaum geregelt, und wenn es sich nicht um einen sehr mächtigen Autor handelt, dann ist der Schöpfer des Werkes ziemlich ohne Einfluß auf die Gestalt, in der sich sein Kind im andern Lande präsentiert. Wenn er erst erschrickt, ist es zu spät. Da es schon ein großer Kerl sein muß, der die Wogen der heimischen Sprache so überragt, daß sein Kopf auch noch von fern her sichtbar ist, so verlohnt es sich, den Übersetzungen mehr kritische Aufmerksamkeit zuzuwenden. Ob Snobs, die so tun, als hätten sie mit der Mistinguett noch gespielt, wie die so klein war, falsch oder richtig über Frankreich unterrichtet werden, ist ziemlich gleichgültig. Wir andern aber hätten gern Hamsun, Tolstoi, Lewis und Kipling auf deutsch so gelesen, wie sie wirklich geschrieben haben. 1927
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Titelmoden Früher, als ich meiner Mama die ersten Leihbibliotheksbände aus dem Schrank stibitzte, las ich zuerst immer den Titel – und dann wunderte ich mich. Warum hieß wohl dieses Buch „Herbststürme“? Auf der ersten Seite stand etwas vom Frühling... Und jedesmal, bei jedem Buch, dachte ich: ,Wirst du auch verstehen, warum, warum dieses Werk nun gerade so heißt, wie es heißt?’ Manchmal verstand ich es nicht, denn der Titel war das, was Wilhelm Bendow früher zu sagen pflegte, wenn er eine besonders gesalzene Sache gesagt hatte: „Symbolisch“. Wie heißen Bücher –? Kleine Kinder, heißen Emma oder Horst, Lydia oder Lottchen... woher die Leute nur immer wissen, wie die Kinder heißen... aber wie heißen Bücher, und warum heißen sie so –? Thomas Mann ist es gewesen, der, wenn ich nicht irre, einmal gesagt hat, der anständigste Titel sei noch immer ein Eigenname. Dann heißt das Buch nach der Hauptperson seiner Handlung wie ein Mensch – und den symbolischen Gehalt darf sich der Leser selbst heraussuchen. Büchertitel sind der Mode unterworfen, wie alles andere. In grauer Vorzeit hießen Bücher etwa: „Von der grausamen Türken-Schlacht/ so bei Konstantinopul in diesem Jahre stattgeffunden/ und mehr denn dreihunderttausend Menschen erschröcklich umgekommen/ Gettrukkt in diesem Jahre/“. Aber solch ein Buch brauchte man nicht telephonisch zu bestellen. Feme sei es von mir, die Damen mit einer Doktorarbeit zu langweilen: „Zur Geschichte des deutschen Büchertitels von Karl dem Großen bis auf die Gegenwart“, denn so heißen wieder nur Doktorarbeiten. Aber wenn man in der Zeit zurückblättert... Bei den Klassikern und ihren Epigonen des neunzehnten Jahrhunderts hießen die Bücher „Lucinde“ oder „Wilhelm Meister“, „Des Knaben Wunderhorn“ oder „Die Räuber“. Sie trugen also Eigennamen oder eine Etikettenbezeichnung, auf der genau zu lesen war, was den Leser erwartete. Er wußte, was in der Flasche drin war. Das änderte sich. Es änderte sich, als das Buch in den scharfen Konkur145
renzkampf seiner Mitbücher trat. Der Titel war nun mehr als nur Etikettenaufschrift: er sollte anlocken, neugierig machen, das Buch aus den Bücherballen der Saison herausheben. Die Titelmode wurde bewegter und bunter. Das begann, um von den letzten deutschen Jahrzehnten zu sprechen, damit, daß die Eigennamen in den Titeln einen Artikel bekamen. „Das Tagebuch der Susanne Oevelgönne“. – „Der Weg des Thomas Track“, und so fort und so fort. Die Figur wurde damit deutlicher bezeichnet, sie wurde herausgehoben, es war nicht mehr irgendeine Regina, sondern diese Regina, einmalig und nie wiederkehrend. Diese Mode hatte von Anfang an etwas Pretiöses und verfiel rasch, wie alle solche Moden, und da, nach einem Worte Rodas, nicht nur Kleider, sondern auch geistige Moden im Hinterhaus aufgetragen werden, so findet man solche „Dies“ solche „Ders“ heute nur noch bei schlechten und murksigen Romanen aus vierter Hand. Neben solchen Moden lief natürlich stets die Schar der Bücher, die eine ganz brave, und sachliche Bezeichnung trugen: „Der Pfefferhandel in Nord-Guayana“ oder: „Das Schiffereiwesen in Tibet“ und so. Die Mode der Titel aber wandelte sich. Einen gewaltigen Einschnitt gab es, als einer, nein: eine, darauf verfiel, daß man ja als Titel auch einen halben Satz nehmen könnte. Dieses Buch, dessen Titel heute noch herumspukt, hieß: „Briefe, die ihn nicht erreichten“. Was dieser Titel angerichtet hat, das ist nicht zu blasen „Frauen, die den Kranz verloren...“ – „Winzer, die im Herbste winzen“ – (Hans Reimann: „Männer, die im Keller husten“) – „Wollwesten, wie wir sie lieben“... ein Meer von Relativsätzen ergoß sich über den Leser. Kompliziert noch durch die drei Punkte, die man ehedem überall setzte, damals, als die „Skizzen“ in den Tageszeitungen keinen Eigennamen enthielten, sondern so anfingen: „Er sah trübe auf seine ungereinigten Fingernägel und dachte sich sein Teil...“ – in dieser Dreipunkte-Zeit hatten auch die Titel drei Punkte. „Mädchen, die...“ – „Büßer...“ – “Sünde...?“ Und was der Mensch so braucht. Bis auch dieses eines Tages nicht mehr genügte. 146
Die neue Entwicklung begann damit, daß die Titel lockender wurden. Der ausgezeichnete Titel „Mit Blitzlicht und Büchse durch Afrika“ ist geradezu ein Musterbeispiel geworden, und ausnahmsweise ein gutes. Es knallte aber noch nicht genug – und da kam ein ganz Findiger auf den Gedanken: Ein Titel? Ein Titel kann auch ein ganzer Satz sein. Und nun ging es los. „Finden Sie, daß Juckenack sich richtig verhält?“ – „Wer weint um Constanze? – „Blonde Frauen sehn dich an“ – „Gentlemen prefer baests“ –. die Titel wurden immer lauter, immer frecher, immer schreiender, immer lyrischer... Hierzu Alfred Polgar: Ich liebe es nicht, wenn man auf dem Menü Proben der Gerichte sieht. Da ungefähr halten wir. Der Rückschlag ist schon spürbar. Über ein kleines, und die ruhigeren Titel werden wieder modern werden; die lauten, krachenden werden dann wieder nach unten versickern. Noch heißen viele Bücher: „Ich stehe kopf – was tun Sie?“, aber das wird sich legen. Die großen Schriftsteller haben übrigens diese Mode niemals mitgemacht, und das ist gut so. „Literatur ist keine Würfelbude. Moden, Moden. Einmal trug man „... als Erzieher“; einmal: „Goethe und...“; einmal lange Titel und lange Kleider, einmal kurze Kleider und kurze Titel. Das Tagesbuch, das es so gut gibt wie die Tageszeitung, unterliegt der Titelmode; das gute Buch unterliegt dem Zeitgeist, und bei dem großen Kunstwerk ist der Titel Hekuba. 1930
Die hochtrabenden Fremdwörter In der Redaktionspost lag neulich ein Brief. Liebe Weltbühne! Wenn ich diese Zeilen an dich richte, so bitte ich in Betracht zu ziehen, daß ich nicht ein Zehntel so viel Bildung besitze wie deine Mitarbeiter. Ich gehöre vielleicht zu den primitivsten Anfängern deiner Zeitschrift und bin achtzehn Jahre alt. Dieses schreibe ich dir 147
aber nur, damit du dich über meine folgenden Zeilen nicht allzu lustig machst. Aus deinen Aufsätzen habe ich ersehen, daß du trotz aller Erhabenheit über die politischen Parteien doch mit den Linksradikalen am meisten sympathisierst. Schreibst du auch für einen Proleten, der sich in einem Blatt orientieren will, daß er objektiv urteilt? Für den aber ist es, was für den Fuchs die Weintrauben. Also: much to high. Ich selbst bin auch nur ein Autodidakt und muß öfter das Lexikon zur Hand nehmen, wenn ich die Artikel verfolge. Wenn du darauf Wert legst, die Sympathie und das Interesse der revolutionären Jugend und der einfachen Arbeiterschaft zu erwerben, so sei gelegentlich sparsamer mit deinen hochtrabenden Fremdwörtern und deinen manches Mal unverdaulichen philosophischen Betrachtungen. Hochachtungsvoll Erna G. Hm. Hör mal zu – die Sache ist so: Etwa die gute Hälfte aller Fremdwörter kann man vermeiden; man solls auch tun – und daß du keine „Puristin“ bist, keine Sprachreinigerin, keine von denen, die so lange an der Sprache herumreinigen, bis keine Flecke mehr, sondern bloß noch Löcher da sind, das weiß ich schon. Ich weiß auch, daß es wirklich so etwas wie „hochtrabende“ Fremdwörter gibt; wenn einer in Deutschland „phänomenologisches Problem“ schreibt, dann hat er es ganz gern, wenn das nicht alle verstehn. So wie sich ja auch manche Schriftsteller mit der katholischen Kirche einlassen, nur damit man bewundre, welch feinen Geistes sie seien... Soweit hast du ganz recht. Aber nun sieh auch einmal die andere Seite. Es gibt heute in Deutschland einen Snobismus der schwieligen Faust, das Fremdwort „Snobismus“ wollen wir gleich heraus haben. Es gibt da also Leute, die, aus Unfähigkeit, aus Faulheit, aus Wichtigtuerei, sich plötzlich, weil sie glauben, da sei etwas zu holen, den Arbeitern zugesellen, Leute, die selber niemals mit ihrer Hände Arbeit Geld verdient haben, verkrachte Intellektuelle, entlaufene Volksschulleh148
rer, Leute, die haltlos zwischen dem Proletariat der Arme und dem des Kopfes, zwischen Werkstatt und Büro hin- und herschwanken – und denen nun plötzlich nichts volkstümlich genug ist. Maskenball der Kleinbürger; Kostüm: Monteurjacke. Nein, du gehörst nicht dazu – ich erzähle dir nur davon. Und da hat nun eine Welle von „Arbeiterfreundlichkeit“ eingesetzt, die verlogen ist bis ins Mark. Man muß scharf unterscheiden: Schreibt einer für die Arbeiter, für eine Leserschaft von Proletariern, so schreibe er allgemeinverständlich. Das ist viel schwerer, als dunkel und gelehrt zu schreiben – aber man kann vom Schriftsteller verlangen, daß er gefälligst für die schreibe, die sein Werk lesen sollen. Der Proletarier, der abends müde aus dem Betrieb nach Hause kommt, kann zunächst mit so einem Satz nichts anfangen: „Die vier größten Banken besitzen nicht ein relatives, sondern ein absolutes Monopol bei der Emission von Wertpapieren.“ Dieser Satz aber ist von Lenin („Der Imperialismus als jüngste Etappe des Kapitalismus“), und der Satz ist, bei aller Klarheit des Gedankens, nicht für die Straßenpropaganda geschrieben. Denn hier läuft die Grenzlinie: Die einen betreiben den Klassenkampf, indem sie ihre Schriften verteilen lassen, sie wirken unmittelbar, sie wenden sich an jedermann – also müssen sie auch die Sprache sprechen, die jedermann versteht. Die andern arbeiten für den Klassenkampf, indem sie mit dem wissenschaftlichen Rüstzeug der Philosophie, der Geschichte, der Wirtschaft zunächst theoretisch abhandeln, wie es mit der Sache steht. Lenin hat beides getan; der Fall ist selten. Die zweite Art Schriftstellerei kann nun nicht umhin, sich der Wörter und Ausdrücke zu bedienen, die bereits vorhanden sind. Ich habe mich stets über die Liebhaber der Fachausdrücke lustig gemacht, jene Affen des Worts, die da herumgehen und glauben, wer weiß was getan zu haben, wenn sie „Akkumulation des Finanzkapitals“ sagen, und denen das Maul schäumt, wenn sie von „Präponderanz der inneren Sekretion“ sprechen. Über die wollen wir nur lachen. Vergiß aber nicht, daß Wörter Abkürzungen für alte Denkvorgänge sind; sie rufen Gedankenverbindungen hervor, die bereits in den Menschen gleicher Klasse und gleicher Vorbildung schlummern und auf Anruf anmarschiert kommen – daher sich denn auch Juristen oder Kleriker 149
oder Kommunisten untereinander viel leichter und schneller verständigen können als Angehörige verschiedener Gruppen untereinander. Es ist nun für einen Schriftsteller einfach unmöglich, alles, aber auch alles, was er schreibt, auf eine Formel zu bringen, die jedem, ohne Bildung oder mit nur wenig Bildung, verständlich ist. Man kann das tun. Dann aber sinkt das Durchschnittsmaß des Geschriebenen tief herunter; es erinnert das an den Stand der amerikanischen Tagesliteratur, die ihren Ehrgeiz daransetzt, auch in Bürgerfamilien gelesen werden zu können, bei denen kein Anstoß erregt werden darf. Und so sieht diese Literatur ja auch aus. Will man aber verwickelte Gedanken, die auf bereits vorhandenen fußen, weil keiner von uns ganz von vom anfangen kann, darstellen, so muß man sich, wenn nicht zwingende Gründe der Propaganda vorliegen, der Fachsprache bedienen. Keiner kommt darum herum. Auch Lenin hat es so gehalten. Oder glaubst du, daß seine Schrift „Materialismus und Empiriokritizismus“ für jeden Proletarier ohne weiteres verständlich sei? Das ist sie nicht. Wer über Kirchengeschichte des zweiten Jahrhunderts schreibt, kommt ohne die lateinischen Ausdrücke der damaligen Zeit nicht aus. Soll er eine Übersetzung beigeben? Schopenhauer platzte vor Wut bei dem Gedanken, solches zu tun; er wurzelte aber – bei aller Größe – in dem Ideal der humanistischen Bildung seiner Zeit und seiner Klasse; er hatte recht und unrecht. Es gibt heute bereits eine Menge Schriftsteller und Zeitschriften; die jedem fremdsprachigen Zitat die Übersetzung folgen lassen; es ist Geschmackssache. Ich tue es selten; ich zitiere entweder gleich auf deutsch oder manchmal, wenns gar nicht anders geht, lasse ich die fremdsprachigen Sätze stehn – dann nämlich –, wenn ich das, was in den fremden Wörtern schlummert, nicht übertragen kann. Man kann alles übersetzen – man kann nicht alles übertragen. Es gibt zum Beispiel gewisse französische Satzwendungen, Wörter... die sind so durchtränkt von Französisch, daß sie auf dem Wege der Übersetzung grade das verlieren, worauf es ankommt: Klang, Melodie und Geist. Nun kenne ich das Gefühl sehr wohl, das einen beseelt, der solches liest und der nicht oder nicht genügend Französisch kann. Man kommt sich so ausgeschlossen vor. Man fühlt die eigne Schwäche; 150
man wird böse, wütend... und man wälzt diese Wut, die eigentlich der eignen Unkenntnis (verschuldet oder nicht) gilt, auf den andern ab. Ich spreche zum Beispiel miserabel Englisch und verstehe es kaum, und es hat jahrelang gedauert, bis ich mit dem Verstande dieses dumpfe Wutgefühl aus mir herausbekommen habe. Lese oder höre ich heute Englisch, es schmerzt mich, es nicht gut zu verstehen – aber ich bin auf den Schreibenden oder Sprechenden nicht mehr böse. Er kann doch nichts dafür, daß ich es so schlecht gelernt habe. Siehst du, so ist das. Es ist kein Verdienst der Söhne, wenn ihre Väter so viel Geld hatten, daß sie die Söhne aufs Gymnasium schicken konnten, gewiß nicht. Und was in den meisten Fällen dabei herauskommt, wissen wir ja auch. Aber unterscheide gut, Erna, zwischen den beiden Gattungen, die da Fremdwörter gebrauchen: den Bildungsprotzen, die sich damit dicketun wollen, und den Schriftstellern, die zwischen „induktiv“ und „deduktiv“ unterscheiden wollen und diesen Denkvorgang mit Worten bezeichnen, die geschichtlich stets dieser Bezeichnung gedient haben. Die Intellektuellen eines Volkes sollen nicht auf dem Niveau von schnapsdumpfen Gutsknechten stehn – sondern der Arbeiter soll in Stand gesetzt werden, die intellektuellen Leistungen der Gemeinschaft zu verfolgen. Nicht: reinlich gewaschene Körper sind ein Abzeichen von Verrat am Klassenkampf – sondern: alle sollen in die Lage gesetzt werden, sich zu pflegen. Den Körper, Erna, und den Geist. 1930
Der Untertan Aber es wäre unnütz, euch zu raten. Die Geschlechter müssen vorübergehen, der Typus, den Ihr darstellt, muß sich abnutzen: dieser widerwärtig interessante Typus des imperialistischen Untertanen, des Chauvinisten ohne Mitverantwortung, des in der Masse verschwin-
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denden Machtanbeters, des Autoritätsgläubigen wider besseres Wissen und politischen Selbstkasteiers. Noch ist er nicht abgenutzt. Nach den Vätern, die sich zerrackerten und Hurra schrien, kommen Söhne mit Armbändern und Monokeln, ein Stand von formvollen Freigelassenen, der sehnsüchtig im Schatten des Adels lebt... Heinrich Mann 1911
Dieses Buch Heinrich Manns, heute, gottseidank, in Aller Hände, ist das Herbarium des deutschen Mannes. Hier ist er ganz: in seiner Sucht, zu befehlen und zu gehorchen, in seiner Roheit und in seiner Religiosität, in seiner Erfolganbeterei und in seiner namenlosen Zivilfeigheit. Leider: es ist der deutsche Mann schlechthin gewesen; wer anders war, hatte nichts zu sagen, hieß Vaterlandsverräter und war kaiserlicherseits angewiesen, den Staub des Landes von den Pantoffeln zu schütteln. Das Erstaunlichste an dem Buch ist sicherlich die Vorbemerkung: „Der Roman wurde abgeschlossen Anfang Juli 1914.“ Wenn ein Künstler dieses Ranges das schreibt, ist es wahr: bei jedem andern müßte man an Mystifikation denken, so überraschend ist die Sehergabe, so haarscharf ist das Urteil, bestätigt von der Geschichte, bestätigt von dem, was die Untertanen als allein maßgebend betrachten: vom Erfolg. Und es muß immerhin bemerkt werden, daß die alten Machthaber – ach, wären sie alt! – dieses Buch von ihrem Standpunkt aus mit Recht verboten haben: denn es ist ein gefährliches Buch. Ein Stück Lebensgeschichte eines Deutschen wird aufgerollt: Diederich Heßling, Sohn eines kleinen Papierfabrikanten, wächst auf, studiert und geht zu den Corpsstudenten, dient und geht zu den Drückebergern, macht seinen Doktor, übernimmt die väterliche Fabrik, heiratet reich und zeugt Kinder. Aber das ist nicht nur Diederich Heßling oder ein Typ. Das ist der Kaiser, wie er leibte und lebte. Das ist die Inkarnation des deutschen Machtgedankens, das ist einer der kleinen Könige, wie sie 152
zu Hunderten und Tausenden in Deutschland lebten und leben, getreu dem kaiserlichen Vorbild, ganz Herrscherchen und ganze Untertanen. Diese Parallele mit dem Staatsoberhaupt ist erstaunlich durchgearbeitet. Diederich Heßling gebraucht nicht nur dieselben Tropen und Ausdrücke, wenn er redet wie sein kaiserliches Vorbild – am lustigsten einmal in der Antrittsrede zu den Arbeitern („Leute! Da ihr meine Untergebenen seid, will ich euch nur sagen, daß hier künftig forsch gearbeitet wird.“ Und: „Mein Kurs ist der richtige, ich führe euch herrlichen Tagen entgegen.“) – er handelt auch im Sinne des Gewaltigen, er beugt sich nach oben, wie der seinem Gotte, so er seinem Regierungspräsidenten, und tritt nach unten. Denn diese beiden Charaktereigenschaften sind an Heßling, sind am Deutschen auf das subtilste ausgebildet: sklavisches Unterordnungsgefühl und sklavisches Herrschaftsgelüst. Er braucht Gewalten, Gewalten, denen er sich beugt, wie der Naturmensch vor dem Gewitter, Gewalten, die er selbst zu erringen sucht, um andre zu ducken. Er weiß: sie ducken sich, hat er erst einmal das „Amt“ verliehen bekommen und den Erfolg für sich. Nichts wird so respektiert wie der Erfolg; einmal heißt es gradezu: „Er behandelte Magda mit Achtung, denn sie hatte Erfolg gehabt.“ Aber wie wird dieser Erfolg geachtet! Würde er es mit nüchternem Tatsachensinn, so hätten wir den Amerikanismus, und das wäre nicht schön. Aber er wird geachtet auf ganz verlogne Art: Man schämt sich der alten Vergangenheit und beschwört die alten Götter, die den wirklichen Dichtern und Denkern von einst noch etwas bedeuteten, zitiert sie, legt Metaphysik in den Erfolg und donnert voll Überzeugung: „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht!“ Und appelliert an keine höhere Instanz, weil man keine andre kennt. Das ganze bombastische und doch so kleine Wesen des kaiserlichen Deutschland wird schonungslos in diesem Buch aufgerollt. Seine Sucht, Amüsiervergnügen an Stelle der Freude zu setzen, seine Unfähigkeit, in der Gegenwart zu leben, ohne auf die Lesebücher der Zukunft hinzuweisen, und seine Unfähigkeit, anders als nur in der Gegenwart zu leben, seine Lust am rauschenden Gepränge – tiefer ist nie die Popularität Wagners enthüllt worden als hier an einer Lohen153
grin-Aufführung, die voll witziger Beziehungen zur deutschen Politik strotzt („denn hier erschienen ihm, in Text und Musik, alle nationalen Forderungen erfüllt. Empörung war hier dasselbe wie Verbrechen, das Bestehende, Legitime ward glanzvoll gefeiert, auf Adel und Gottesgnadentum höchster Wert gelegt, und das Volk, ein von den Ereignissen ewig überraschter Chor, schlug sich willig gegen die Feinde seiner Herren“) – und vor allem zeigt Heinrich Mann, wonach eben das Buch seinen Namen führt: die Unfreiheit des Deutschen. Die alte Ordnung, die heute noch genauso besteht wie damals, nahm und gab dem Deutschen: sie nahm ihm die persönliche Freiheit, und sie gab ihm Gewalt über Andre. Und sie ließen sich alle so willig beherrschen, wenn sie nur herrschen durften! Sie durften. Der Schutzmann über den Passanten, der Unteroffizier über den Rekruten, der Landrat über den Dörfler, der Gutsverwalter über den Bauern, der Beamte über Leute, die sachlich mit ihm zu tun hatten. Und jeder strebte nur immer danach, so ein Amt, so eine Stellung zu bekommen – hatte er die, ergab sich das Übrige von selbst. Das Übrige war: sich ducken und regieren und herrschen und befehlen. Die vollkommene Unfähigkeit, anders zu denken als in solchem Apparat, der weit wichtiger war denn alles Leben, die Stupidität, zwischen Beamtenmißwirtschaft und Anarchie nicht die einzig mögliche dritte Verfassung zu sehen, die es für anständige Menschen gibt: sie bildet den Grundbaß des Buches. (Und offenbart sie sich nicht heute wieder aufs herrlichste?) Sie können Alle nur ihre Pflicht tun, wenn man sie ducken und geduckt werden läßt; unzertrennlich erscheint Bildung und Sklaventum, Besitz und Duodezregierung, bürgerliches Leben und Untergebene und Vorgesetzte. Sie fassen es nicht, daß es wohl Leute geben mag, die sachlich Weisungen erteilen, aber nimmermehr: Vorgesetzte; wohl Menschen, die für Geld ausführen, was andre haben wollen, aber nimmermehr: Untergebene. Das Land war – war... – ein einziger Kasernenhof. Und noch eins scheint mir in diesem Werk, das auch noch die kleinen und kleinsten Züge der Hurramiene mit dem aufgebürsteten Katerschnurrbart eingefangen hat, auf das glücklichste dargestellt zu sein: das Rätsel der Kollektivität. Was der Jurist Otto Gierke einst 154
die reale Verbandspersönlichkeit benannte, diese Erscheinung, daß ein Verein nicht die Summe seiner Mitglieder ist, sondern mehr, sondern etwas Andres, über ihnen Schwebendes: das ist hier in nuce aufgemalt und dargetan. Neuteutonen und Soldaten und Juristen und schließlich Deutsche – es sind alles Kollektivitäten, die den einzelnen von jeder Verantwortung frei machen, und denen anzugehören Ruhm und Ehre einbringt, Achtung erheischt und kein Verdienst beansprucht. Man ist es eben, und damit fertig. Der Musketier Lyck, der den Arbeiter erschießt – historisch – und dafür Gefreiter wird; der Bürger Heßling, der – nicht historisch, aber mehr als das: typisch – alle anders Gearteten wie Wilde ansieht: sie sind Sklaven der rätselvollen Kollektivität, die diesem Lande und dieser Zeit so unendlich Schmachvolles aufgebürdet hat. „Dem Europäer ist nicht wohl, wenn ihm nicht etwas voranweht“, hat Meyrink mal gesagt. Es wehte ihnen allen etwas voran, und sie schwören auf die Fahne. Kleine und kleinste Züge belustigen, böse Blinkfeuer der Erotik blitzen auf, der Kampf der Geschlechter in Flanell und möblierten Zimmern ist hier ein Guerillakrieg, es wird mit vergifteten Pfeilen geschossen, und es ist bitterlich spaßig, wie Liebe schließlich zum legitimen Geschlechtsgenuß wird. Eine bunte Fülle Leben zieht vorbei, und alles ist auf die letzte Formulierung gebracht, und alles ist typisch, alles ein für alle Mal. Die alte Forderung ist ganz erfüllt: „Wenn nun gleich der Dichter uns immer nur das Einzelne, Individuelle vorführt, so ist, was er erkannte und uns dadurch erkennen lassen will, doch die Idee, die ganze Gattung.“ Leider: so ist die ganze Gattung. Aus kleinen Ereignissen wird die letzte Enthüllung des deutschen Seelenzustandes: am fünfundzwanzigsten Februar 1892 demonstrierten die Arbeitslosen vor dem Königlichen Schloß in Berlin, und daraus wird in dem Buch eine grandiose Szene mit dem opernhaften Kaiser als Mittelstaffage, einer begeisterten Menge Volks und in ihnen, unter ihnen und ganz mit ihnen: Heßling, der Deutsche, der Claqueur, der junge Mann, der das Staatserhaltende liebt, der Untertan. Und aus all dem Tohuwabohu, aus dem Gewirr der spießigen Kleinstadt, aus den Klatschprozessen und aus den Schiebungen – man sagt: Verordnungen; und meint: Grundstücksspekulation –, aus lächerlichen Ehrenkodexen und simplen Gaunereien strahlt die Figur 155
des alten Buck. Man muß so hassen können wie Mann, um so lieben zu können. Der alte Buck ist ein alter Achtundvierziger, ein Mann von damals, wo man die heute geschmähten Ideale hatte, sie zwar nicht verwirklichte, schlecht verwirklichte, verworren war – gewiß, aber es waren doch Ideale. Wie schön ist das, wenn der alte Mann dem neuen Heßling sein altes Gedichtbuch in die Hand drückt: „Da, nehmen Sie! Es sind meine ‚Sturmglocken’! Man war auch Dichter – damals!“ Die von heute sinds nicht mehr. Sie sind Realpolitiker, verlachen den Idealisten, weil er – scheinbar – nichts erreicht, und wissen nicht, daß sie ihre kümmerlichen kleinen Erfolge neben den charakterlosen Pakten jenen verdanken, die einst wahr gewesen sind und unerschütterlich. Und das Buch „Der Untertan“ (erschienen bei Kurt Wolff in Leipzig) zeigt uns wieder, daß wir auf dem rechten Wege sind, und bestätigt uns, daß Liebe, die nach außen in Haß umschlagen kann, das einzige ist, um in diesem Volke durchzudringen, um diesem Volke zu helfen, um endlich, endlich einmal die Farben Schwarz-Weiß-Rot, in die sie sich verrannt haben wie die Stiere, von dem Deutschland abzutrennen, das wir lieben und das die Besten aller Alter geliebt haben. Es ist ja nicht wahr, daß versipptes Cliquentum und gehorsame Lügner ewig und untrennbar mit unserm Lande verknüpft sein müssen. Beschimpfen wir die, loben wir doch das andre Deutschland; lästern wir die, beseelt uns doch die Liebe zum Deutschen. Allerdings: nicht zu diesem Deutschen da. Nicht zu dem Burschen, der untertänig und respektvoll nach oben himmelt und niederträchtig und geschwollen nach unten tritt, der Radfahrer des lieben Gottes, eine entartete species der gens humana. Weil aber Heinrich Mann der erste deutsche Literat ist, der dem Geist eine entscheidende und mitbestimmende Stellung fern aller Literatur eingeräumt hat, grüßen wir ihn. Und wissen wohl, daß diese wenigen Zeilen seine künstlerische Größe nicht ausgeschöpft haben, nicht die Kraft seiner Darstellung und nicht das seltsame Rätsel seines gemischten Blutes. So wollen wir kämpfen. Nicht gegen die Herrscher, die es immer geben wird, nicht gegen Menschen, die Verordnungen für andre machen, Lasten den andern aufbürden und Arbeit den andern. Wir wollen ihnen die entziehen, auf deren Rücken sie tanzten, die, die stumpfsinnig und immer zufrieden das Unheil 156
dieses Landes verschuldet haben, die, die wir den Staub der Heimat von den beblümten Pantoffeln gern schütteln sähen: die Untertanen!– 1919
Der Streit um den Sergeanten Grischa Wenn die Operettenautoren Haskel und Jablononski einen Schmarren „Anneliese von Dessau“ zusammenschustern und ein fetter Tenor, ein bieriger Baß und zwei kreischende Sopran-Nutten unter Zuhilfenahme von etwas Statisterie, bengalischem Licht und einem Eßlöffel voll „Deutschland, Deutschland über alles!“ dergleichen in einem Theatersaal hinter der Rampe aufbauen – dann gehen vierundzwanzig Männer hin und machen Theaterkritik. Ich weiß, daß das Theater ein Massenerlebnis ist, eine lebendige Sache (mit leichtem Schlaganfall) – aber ich vermag nicht einzusehen, warum es gar so wichtig sein soll, wenn Hollaender, denken Sie mal, wieder Ute Neher verrissen hat, er hat was gegen die Neher, überhaupt das Achtuhrabendblatt... „Es wird alles“, spricht der Weise, „maßlos überschätzt.“ Läßt Kerr die Schreibmaschine aufklappen, so reicht das weit über alles Theater hinaus, über den windigen Zank der Leute vom Bau, diese Talmiaufregungen, die schon erkaltet sind, wenn sie noch heiß serviert werden; weit über Nervenkrisen, Telephonattacken, wild gewordene Telegrammformulare... Kunst ist schon kein Selbstzweck – wie sollte Theaterkritik einer sein –! Dies voraufgeschickt, mag von Zeit zu Zeit versucht werden, bedeutende Bücher mit derselben Sorgfalt und derselben Liebe zu betrachten, mit der sie geschrieben worden sind. Denn es ist nicht einzusehen, warum Werke, denen ein begabter und intelligenter Mensch Jahre seines Lebens gewidmet hat, in der Zeitung nur deshalb mit vierzehn Zeilen „Buchbesprechung“ wegkommen, weil sie keine Theaterstücke sind. Das Buch, von dem hier die Rede sein soll, kann sich nicht beklagen; es hat auch in der großen Presse die Beachtung gefunden, die es verdient. Arnold Zweig, Producer, beehrt sich vorzuführen: „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ (bei Gustav Kiepenheuer, in Potsdam, o Ironie des Schicksals!). Ein Kriegsbuch? Ein Friedensbuch. 157
Dem russischen Kriegsgefangenen Grischa Iljitsch Paprotkin glückt ein Fluchtversuch aus dem Lager, er irrt in den weiten Bezirken der Etappe Ober-Ost umher, stößt auf ein Häuflein von Marodeuren und Deserteuren; eine Frau gibt ihm Uniform und Erkennungsmarke eines russischen Soldaten, der in diesem Bezirk beheimatet gewesen ist; wenn Grischa gefaßt wird, soll er angeben, er sei durch die Front gekommen, um seine Eltern wiederzusehen... Er wird gefaßt. Es ist ein Befehl da, wonach sich alle Russen, die durch die Front kommen, binnen drei Tagen bei einer deutschen Etappenbehörde melden müssen. Grischa hat das nicht getan. Er wird, getreu nach dem Befehl von einem Divisionsgericht, zum Tode verurteilt. Da erst erkennt er seine Lage, schreit, wehrt sich, sagt die Wahrheit: er sei er selbst, er sei Grischa, nicht der andre – er sei gar nicht von vorn gekommen, sondern aus einem Gefangenenlager entwischt... Die Akten gehen an den Oberbefehlshaber. Der Sergeant Grischa wird, obgleich er doch gar nicht unter jenen Befehl fällt, erschossen, weil Division und Oberkommando sich nicht riechen können, weil die beiden maßgebenden Offiziere sich im Aktengang anstänkern, weil Ressortkämpfe aufflackern, erlöschen, wieder brennen... Grischa steht am grasigen Abhang und wird, du deutsches Gemüt, er wird „umgelegt“. Da liegt er. Und es ist gar nichts. Ein Russe, du lieber Gott... Daraus hat Arnold Zweig einen Roman gemacht. Wie er in der Nachbemerkung angibt, ist die zugrunde liegende Geschichte wahr. Das wundert keinen, der die Preußen kennt. Was hat nun Zweig aus dieser Sache herausgeholt? Es ist ein gut Stück Kriegswahrheit in dem Buch, ein Teil des Soldatenlebens der Deutschen im Osten: ihr aufgeplusterter Bureaubetrieb, ihre leer laufende Geschäftigkeit, ihr emsiges Nichtstun, ihre faule Betriebsamkeit; ihre Sauberkeit und Fürsorge für sich selbst und, wenn was abfiel, auch für die Bevölkerung, „Panjes“ geheißen; und das Leben der Ostjuden, deren unendliche Überlegenheit über die kriegführenden Parteien, ihre äonenweite Weisheit und ihre tiefe Philosophie. Einzelheiten sind in diesem Roman mit einem gradezu bienenhaften Fleiß zusammengetragen, ein gehobener Naturalismus, die schärfste realistische Beobachtung, sauber stilisiert – man merkt 158
oft, wie der Autor warm geworden ist, nirgends riecht es nach Schweiß. Über die Gesinnung des tapfern Friedenssoldaten Arnold Zweig ist nicht zu reden. Das Buch könnte, bei stärkster pazifistischer Wirkung, schwach sein – es ist sehr stark. Es wird wahrscheinlich mehr Menschen zum Nachdenken über das Wesen des Krieges bringen als alle Propagandaaufsätze der letzten Jahre – es bohrt sehr tief und wendet sich an ganz einfache Empfindungen; es sagt gewissermaßen: „Wir beide wollen uns doch nichts vormachen, wie –?“ Endlich einmal wird der Krieg gar nicht diskutiert, sondern mit einer solchen Selbstverständlichkeit abgelehnt, wie er und seine Schlächter das verdienen. Erst heute –? Es ist merkwürdig genug: nach neun Jahren stößt den Deutschen der Krieg sauer auf. In Frankreich ist das längst vorüber: „Les Croix de Bois“ von Roland Dorgeles und „Gaspard“ von René Benjamin liegen weit zurück; hier haben sie nur noch die aus Amerika importierte Mode der Kriegsfilme; die Literatur beschäftigt sich kaum noch mit dem Krieg. Bei den Deutschen hatten, bitte nach Ihnen, die Generäle den Vortritt: die Pension der Republik gab ihnen die Muße, auf ihren Gütern und in den hohen Zimmern alter Wohnungen ihre Lügengeschichten zu erzählen: trockner Aktenkram, am Schluß mit blechernem Pathos, vertrauliche Briefe oder gestohlene Akten, die ganze Leere dieser Hirne fürchterlich erweisend. Es ist ungemein bezeichnend, daß unter dieser Memoirenliteratur auch nicht ein einziges lesbares Buch ist – sie sind alle gleich schlecht geschrieben, und wenn einer, der sich die Finger nicht am Füllfederhalter schmutzig machen wollte, einen Literaten engagierte, dann ließ er bei der Auswahl seinen Geschmack sprechen, und was herauskam, hieß Karl Rosner. Da haben wir Glück gehabt. Und nun, nachdem das alles vorbei ist und selbst das Geschmier der von der Reichsbahnverwaltung vorzugsweise beförderten Hermine von niemand mehr ausgelacht wird –: nun kommen die Soldaten, die den Krieg am eignen Leibe erlebt haben, und wagen sich hervor und sagen die Wahrheit. Es war die höchste Zeit. Nach neun Jahren... Aber was heute die Reichswehr treibt; was in den kleinen Garnisonen, wo sie unter sich sind, vor sich geht; was da 159
„auf Stube“ gemacht wird und bei den Sportsleuten; was die Werbeoffiziere für Leute sind und die Wehrkreiskommandeure; wie die Leute auf Urlaub gehen und wie sie sich beschweren, und worüber sie sich freuen und worunter sie leiden –: davon hören wir kein Wort. Die Reichswehr fühlt sieh sehr wohl unter diesem Schweigen; sie hat es nötig. Und wir, werden wohl erst in vierzig Jahren, wenn lebendige Wirklichkeit „Geschichte“ geworden ist, einen Roman zu lesen bekommen: „Der Streit um den Sergeanten ,Noske“ oder „Die II. Traditions-Kompanie“. Wir sind gründliche Leute. Wir sind ungefährliche Leute. Warum wird der Roman von Zweig überall gekauft? Weil er ein anständiges Stück Ware ist. Weil er gut gearbeitet ist. Weil das Publikum einen fast untrüglichen Instinkt für sorgsame Mühe hat (die ein Künstler sich gibt) – weil keine Seite, kein Satz hingeschwindelt ist. Ich gehe nicht so weit, wie der vortreffliche Lion Feuchtwanger, zu sagen, daß dergleichen nun die Zukunft der deutschen Literatur sei – im Kielschwert des Zweigschen und des Feuchtwangerschen Detailfleißes liegt die dichterische Kraft; fehlte die, kippte das Fahrzeug im leichtesten Wind. Wie groß der Kunstwille bei Autoren dieser Gattung ist, steht dahin – ihre handwerkliche Anständigkeit ist unbestreitbar. Aber lockert die Schleusen nicht! Ströme von Schweiß ergössen sich durch das Land, denn fleißig sind sie bei uns. Beschütze uns, heilige Staatsbibliothek, vor den Neumännern, die die Geschichte romanisieren! Also so geht das nicht. Die Modeschluderer lassen es allerdings doppelt schätzen, wenn einer arbeitet. Der Dichter Zweig hat gearbeitet. (Daher auch die Vorliebe der angelsächsischen Länder für solche Bücher, bei denen sich der Käufer nicht betrogen fühlt.) Wir hier wissen das, was Zweig uns aus dem Krieg erzählt. Wie viele Männer haben ihn erlebt und gar nicht erlebt; wie viele Frauen ahnen bis auf den heutigen Tag überhaupt noch nicht, was der Krieg gewesen ist. Es sind herrliche, ganz und gar echte Züge in diesem Buch. Der Feldwebel Matz geht auf Zehenspitzen zum Generalmajor Schieffenzahn hinein, um ihm ein Telephonat zu überbringen; Schieffenzahn ist am Schreibtisch vor Müdigkeit eingeschlummert. Matz, auf Zehenspitzen, will ihn nicht wecken. Nun so: 160
„Der siegt für uns, der plagt sich für uns, nu laß ihn man schlafen, Matz. Die Welt wird ja nicht einstürzen und Deutschland nicht ins Wasser fallen, bloß wenn er das ‘ne Stunde später erfährt.“ Absatz. „Damit entnahm er der Zigarrenkiste zwei der großen Brasil, um sich für seine Rücksicht zu belohnen, und kopfschüttelnd, voll aufrichtiger Bewunderung, nach einem letzten Blick auf den Ruhenden, zog er ganz leise die Tür hinter sich zu.“ Neid ist immer ein gutes Kriteritum: Diese Sätze möchte ich geschrieben haben, Ganz echt der Abschied der Arresthauswache von Grischa, als der zum Umlegen geführt wird. Sie haben den Russen lange Monate bei sich gehabt, er hat ihnen die Ofen geheizt, die Zigaretten mit ihnen geteilt, jeder hat den Russen gern gehabt. „Die Deutschen bringen keinen Laut heraus, nur ein junger, blaß und mit aufgerissenen Augen, erwidert ihm“ – ...was? Etwas völlig Blödsinniges, denn er weiß ja, wohin es mit jenem geht – aber etwas ganz und gar Echtes. Er sagt: „Machs gut, Kamerad, leb wohl!“ Es wimmelt von sprachlichen Feinheiten, jede der letzte Extrakt sauberster Arbeit, quellender Einfälle. Bei der Erschießung: „Der Priester murmelt und priestert.“ Einmal, als Grischa in seiner Zelle verzweifelt liegt: „Der Russe sprach mit sich selbst; halblaut und ununterbrochen raunte in seiner Sprache Worte.“ Und sofort die Reaktion des pathoslosen Soldaten daneben: „Er sabbert, dachte Sacht, es läuft ihm vom Munde weg wie Spucke...“ Einmal das ganze deutsche Militär in einem Satz: „Macht der Angeklagte einen guten Eindruck – steht er militärisch stramm und sauber da, geweckt, aber nicht zu intelligent...“ In Ordnung. Ein Dichter ist ein Mensch, der seine Gefühle aufbewahren kann. Welch ein sorgfältiger Arbeiter dieser Zweig ist, zeigt die Stelle, in der beschrieben wird, wie der zum Tode verurteilte Russe sein eignes Grab graben muß. Der Keim zu diesem Thema liegt schon in einer Novelle Zweigs, die hier in der „Weltbühne“ im Jahre 1914 erschienen ist („Die Bestie“), und derentwegen unser Blatt damals vom Oberkommando in den Marken beschlagnahmt worden ist. Da ist es ein belgischer Bauer, der sich sein Grab vor der Erschießung gräbt, und beide Mal ist der schöne dichterische Gedanke ausgeführt, wie den Grabenden die Erde freut: die fette, fruchtbare, saubere BauernErde. 161
Wenn es manchmal mit dem Stil der gesprochenen Sprache für mein Empfinden nicht so recht klappt, so hängt das mit einer sehr, sehr schwer zu entwirrenden Sache zusammen. Ich will nicht von den kleinen Spritzern reden; merkwürdig, wie ein musikalischer Autor so etwas stehenlassen kann: Ein Militär-Lokomotivführer unterhält sich vorn auf der Lokomotive mit seinem Heizer. „Weißt du noch, wie du immer Wild zu sehen glaubtest...?“ Nun gibt es im Volk wenig erzählende Imperfekta; da steht fast allemal das Perfektum, und natürlich hat der Mann gesagt: „Weißt du noch, wie du immer gedacht hast, da war Wild...“ Und daß das Wort „Triumph“ mit einem f geschrieben ist und das Wort „Atmosphäre“ auch: das hat mich einen Löffel Fruchtsalz gekostet. Ich weiß, daß die Sprache fortschreitet und sich wandelt: dies ist kein schöner Wandel, wenn auch ein diskutierbarer. Aber das ist es nicht; es ist nicht nur dieser Satz und jener – es ist etwas andres, schwereres. Es gibt einen Realismus, der mit der photographischen Abbildung der Wirklichkeit eine Freude am Abbilden vereint; einen Naturalismus der Tuchfühlung, des leichten Puffs mit dem Ellenbogen: „Du weißt doch, wie ichs meine?“ Hauptmann hat das im großen Stil; der Vorgang ist so unerklärlich wie jeder biochemische; das, was herauskommt, lebt einfach, ist ein warmer Organismus, der zuckt. Die Gefahr für schwache Autoren ist zu große Nähe des Objekts. Bei Zweig liegt exakteste Beobachtungsgabe zugrunde: sie ist aber häufig in eine Sphäre heraufgehoben, die mir zu „edel“ erscheint. Das Buch fängt so an: „Es steht ein Mann im dicken Schnee, unten am Fuße eines schwarz angekohlten Baumes, der spitzwinklig in gute Höhe ragt mitten im verbrannten Walde, schwarz auf vielfach zertretener Weiße. Der Mensch, gekleidet in viele Hüllen, versenkt die Hände in die Taschen – –„ Nein, so fängt es leider nicht an. Sondern so: „Die Erde, Tellus, ein kleiner Planet, strudelt emsig durch den kohlschwarzen, atemlos eisigen Raum, der durchspült wird von Hunderten von Wellen, Schwingungen, Bewegungen eines Unbekannten, des Äthers, und die, wenn sie Festes treffen und Widerstand sie aufflammen läßt, Licht werden...“ O du mein Deutschland! Aber könnt 162
ihr denn nicht begreifen, daß der liebe Gott benebst anhängendem Kosmos im Zwiebelmuster einer Kaffeekanne zu finden ist und nicht in dem, was ihr als „Relativität“ ausgebt? Wozu das? Entehrt Naturalismus? Erscheint er euch zu niedrig, wenn ihr ihn nicht durch pathetische Beziehungen zum „All“ adelt? Ein neuer Adel. Taugt nicht viel. Und hier ist das Manko des Buches. Die Sache geht noch an, wenn es sich um die Juden handelt; die versteht der Vollblutjude Zweig sehr gut. Schon bei den Soldaten wird die Sache zweifelhafter. Es stimmt alles: er ist der erste Autor, der den Mut hat, zu sagen, daß das Telephongespräch zwischen einer Krankenschwester und einem Schreiber durch einen Mann im Keller vermittelt wird, der da stumpfsinnig stöpselt, er hat einen Brief von seiner Frau bekommen: zu Hause klappt es nicht mit der Kriegsunterstützung... Es stimmt vieles: wie sie geschlafen haben und gegessen; sehr oft, auch wie sie reden; wie die Formationsbureaukratie viel wichtiger war als der ganze Krieg... Alles, was da gegen den dreimal verfluchten deutschen Militarismus steht, stimmt. Aber wenn Zweig von den Offizieren spricht, dann stimmt etwas nicht. Shakespeare ist auch Hamlet. Zweig betrachtet – sehr gehirnlich, sehr überlegen – seine Figuren. Aus weiter Nähe. Natürlich ist er viel zu klug, nun das umgekehrte Militär-Buch zu schreiben: der pechrabenschwarze General und der gute Muschkot; das wäre ja kindisch. Diese Rangordnung hat man nicht umzukehren, sondern zu ignorieren. Das tut er. Er zieht seinen Leuten Zivil an. Aber diese Offiziere sind, Zweig, seien Sie mir bitte nicht böse, sie sind von unten gesehen. Auch Exzellenz von Lychow, geb. Fontane. Sie sind mit den feinsten Mitteln psychologisch erklärt. So waren sie auch – so waren sie nicht. Der Generalmajor Schieffenzahn wird sondiert; er schlummert, wie dargetan, am Schreibtisch ein, nachdem er sich seiner Kadettenjugend erinnert hat, er wird biologisch expliziert, es ist alles in schönster Ordnung. Aber es fehlt das Einfach-Kräftige, das diese Burschen bei aller Schlauheit hatten – Schieffenzahn ist jüdisch gesehen, er ist ganz durchtränkt mit Judentum, und er trägt Schläfenlocken, sozusagen Gardepeies. 163
Es ist zunächst das jüdische Element, das sich hier hindernd einschiebt. Ich spreche gar nicht von der Zuneigung Zweigs zu seiner Figur Posnanski, dem ironischen und Gutes wirkenden Kriegsgerichtsrat und von meiner Abneigung gegen solche Männer: ja, sie waren so witzig und haben es alles durchschaut und die stumpfsinnige Brutalität der Preußen gemildert, wo sie nur konnten, und sie hatten die herrlichsten Talmudworte für alles und waren schnell in der Auffassung und blendend. Und haben mitgemacht. Das Heer aber war in seinen Grundtönen deutsch: bayrisch das Fluchen und niederdeutsch der Furz; plattdeutsch das Schmalzpaket und säcksch das Kaffeegelabber. Eine pommersche Gänsebrust rituell gekocht? Ja, aber es ist nicht „das“. Arnold Zweig hat das beste deutsche Kriegsbuch geschrieben – immer neben Vogels „Es lebe der Krieg!“ Das deutsche Kriegsbuch ist noch nicht geschrieben. Die Küche der Befehlsempfänger, wo die Ordonnanzen und die Reiter und die Chauffeure auf den Bänken lümmeln und dem Stabskoch von weitem ehrfurchtsvoll in die vorgesetzte Suppe sehen; die dicke Luft in der Schreibstube, wo geduckte Schreiber sich das Wohlwollen der niederen Götter durch fingiertes Nichtvorhandensein erkauften, ihnen gegenüber war der fremde, eben eintretende Soldat ein Freier; der Kriegsschauplatz, der stets aufgeräumt sein mußte, ein Hund spielt mit einem Knochen, an einem Ende der Hund, am andern der Gefreite Fulte, und der Unteroffizier König steht dabei und grinst – da kommt der Hauptmann aus dem Unterstand. Hund und Fulte ab wie der Blitz „Uoffzieh Köönch!“ – „Hahaumann!“ – „Was ist das für ein Knochen?“ – „Eh... Da hat wohl der Hund vom Herrn Leutnant mit gespielt!“ – „Der Hund? Na, das kennt man schon –!“ Aus. Keine Spur von Pointe – es ist der vollendete Stumpfsinn aller dreihundertundfünfundsechzig Tage aller vier Jahre. „Wie wars auf Urlaub, Mensch?“ – „Zu kurz! Aber vielleicht hier...!“ (ausgestreckter Arm, geballte Faust, Einknicken des Unterarms: Soldatengeste für einen stattgehabten Beischlaf); die sinnlosen Brocken, die in den schläfrigen Gehirnen hängenblieben – irgend etwas, eine aufgeschnappte Redensart, die tausendmal wiederkam, Fetzen aus einer bekanntgegebenen Feldherrntirade... „Empfangen haben wir drei 164
Büchsen Schmalzersatz, Dörrgemüse, Marmelade, achtzehn Brote – Sie wollen Deutschland niederringen, es wird ihnen nicht gelingen. Nu wer’ck mal jehn, Löhnung empfangen!“ Dixit. Das Soldatengespräch, dessen Charakteristiken war, daß immer einer sprach und drei nicht zuhörten, niemand hörte zu, sondern jeder redete seins, der eine hier lang, der andre da lang... In welchem Buch steht das –? Das Wesen der Offiziere: die Aktiven, mit denen man umgehen konnte, weil sie das Befehlen gewohnt waren und es ihnen kaum noch Spaß machte, so selbstverständlich war es ihnen geworden; die Kasinogespräche, die sich um Gehaltsfragen drehten, unermüdlich, wie eine Töpferscheibe: um Reglementsauffassungen, um Stunk und um Gehaltsfragen, zwitschernd unterbrochen von säuischen Witzen ältester Observanz; dazwischen die sehr klugen schmalen Köpfe des guten Adels und des I a (während der von III b schmutziger war als gerissen; du hast nicht überall gute Schüler gehabt, o Nicolai!); die Reservebolzen, die alle militärischen Vögel der Welt in ihren Köpfen hatten, wo sie sie flattern ließen; die maßlose Wichtigkeit, die sie sich beimaßen, auf den Wogen des Lebens getragen von der Uniform und einem Zuchthausreglement... warum schreibt das keiner? Alle haben es erlebt, viele haben es gesehen, manche könnten es schreiben. Man muß sie erzählen hören; wie das von Echtheit tönt, wie es uns warm und kalt den Buckel herunterläuft; diese Freude, wenn zwei zusammenkommen und in drei Worten, einer kopierten Geste, sich als solche legitimieren, die das Typische erkannt haben – also nicht: „Da hatten wir einen Feldwebel, der...“, sondern, merkwürdig ruhig, unterirdisch, noch grollend: „Machen Sie mal den Knopf zu!“ – warum schreibt das keiner? Weil die Deutschen alles, alles sehen, nur eins nicht. Nur das Einfache nicht. Arnold Zweig unsern Gruß! Sein Buch ist voll wärmster Güte und voller Mitgefühl, voller Skeptizismus und voller Anständigkeit, voller Verständnis und oft voller Humor. Sanft hat er das getan, was im November durch die Schuld und das Unverständnis der Arbeiterführer versäumt worden ist: er hat einem seelenlosen Götzen die Achselstücke und die Knöpfe abgetrennt, nein, sie fallen von selbst ab, so gleichgültig sind sie ihm, und nackt und dumm steht das Ding da und 165
glotzt mit blinden Augen in die Welt. Keine Sorge, die „Tradition“ wird es schon wieder mit rauschendem Leben anfüllen und mit Blut. Mit dem Blut der ändern. Dieser „Streit um den Sergeanten Grischa“ ist ein schönes Buch und ein Meilenstein auf dem Wege zum Frieden. 1927
Tollers Publikum In dem kleinen Theaterraum des Hauses an der Berliner Straße zu Charlottenburg sitzen etwa zweihundert Menschen und starren auf das Stückchen Bühne, das da in fahlem Licht vor ihnen steht. Was denken sie sich? Neben den wenigen Verständigen, neben den Berliner Literaturschiebern saß das kompakte Theaterpublikum, das nie alle wird. Man hörte ordentlich durch die Dunkelheit, wie es in ihren Schädeln knirschte. Sie versuchten, das da oben in ihre Schablonen einzuordnen, und es ging nicht; sie versuchten, Episoden zu erhaschen, Bonmots und geflügelte Worte, und es ging nicht; sie versuchten, dem Ding beizukommen, wie man eben so irgendeinem Theaterstück von Hardt oder Blumenthal oder Schönherr beikommt, und es ging nicht. Es konnte nicht gehen, hier ist völlig Neues. Wenigstens für unsre Zeit Neues – denn es scheint, daß ostasiatische Völker ein solch stilisiertes Theater, das nicht vortäuscht, sondern eine selbständige Sache ist, schon längst haben. Und es ging auch so –! Welche Überraschung: es ging auch so. Es ging ohne die Scharen murmelnder, gleichgültiger, verrosteter und verstaubter Statisten, ohne das Ab und An und Auf von Mimen und Virtuosen, ohne Kulissenkram, ohne Rummel und ohne Spektakel. Es ging. Was nämlich die gesamten Stadttheater Deutschlands zusammen nicht mehr haben: Geist – das war hier. Es war Ernst, und es ging uns etwas an, und eine Faust griff in unsre Brust und preßte das Herz zusammen, das zuckende Bündel. Und wir schwiegen.
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Das Publikum aber war stumm. Nach jener fürchterlich-herrlichen Szene, wo die fünf Soldaten – blutendes Quintett – sich parallel aus den stinkenden Kissen erhoben und nur Eine Stimme aus ihnen schrie, nur Ein Mund aus ihnen sprach. Ein Herz klopfte, Eine Lunge atmete: da weinten einige Frauen in weißen handgestickten Blusen. Die lieben Frauen –! Haben sie im Kriege geweint? Haben sie damals geweint, als die ,Lusitania’ torpediert wurde? Als auf hoher kalter See Leute gemordet wurden? Wasser schluckten und versanken? Als Tausende und Tausende in den Stacheldrähten hingen, in den Ackergräben verröchelten? Sie weinten vielleicht, wenn ihr Junge, ihr Mann, ihr Geliebter dabei war. Wußten sie Den in Sicherheit, dann jauchzten sie und freueten sich, denn siehe! das Hauptquartier hatte eine gewonnene Schlacht gemeldet. Und der Begriff „französische Mütter“ war hierorts ausgelöscht. Die lieben Frauen –! War ihr Herz nicht immer bei den Siegern? Bei Denen, die obenauf waren? Bei den Starken? Da standen sie, die drei Krankenschwestern auf der kleinen Bühne, und da saßen die Andern unten im Parkett – aber nur Die da oben brachen mit einem Wehlaut zusammen vor dem, was da in den Betten lag. Die Blusendamen weinten. Es war so rührend. War es das? War es das wirklich? Hätten nicht dieselben Damen einer Kriegsliteratur zugejubelt, die Gott behüte enstanden wäre, wenn dieser Krieg gewonnen worden wäre? Sie hätten gejauchzt, wenn die Witze auf die feigen Franzosen und ekelhaften Engländer und schmutzigen Russen nur so gehagelt wären. Keine Sorge: sie haben gejauchzt. Besinnt Ihr euch noch auf die Knegspossen des Kriegsanfangs? Zwei Reihen vor mir saß ein Mann mit materialischem Kragen und furchterregenden Schmissen im Gesicht, getränkt von Offensivgeist. Was dachte er sich? Wie muß er ein Stück gefühlt haben, das seine heiligsten Güter in den Staub zog, oder wie man zu sagen pflegt? Er folgte dem Judenjungen da oben noch allenfalls, wenn der in der Idee „Vaterland“ aufging – höher hinauf reichte es bei ihm nicht. Phrasen. Drückebergerei. Utopie. Das Publikum blieb stumm. Doch: einmal lachten sie. Das war, als der Medizinprofessor den Todkranken Rhizinus verordnete. Ach, wir haben nicht gelacht, als uns das bei lebendigem Leibe passierte. Schade: ich hätte es lieber gesehen, wenn dieser Menschenarzt nicht 167
zur Marionette stilisiert worden wäre – er hätte einen gut sitzenden Gehrock tragen müssen oder, noch besser, eine prall sitzende Uniform, und das Gehirn des Publikums hätte ihn durchaus ernst nehmen sollen. Schade: er war durchsichtig dumm. Und daß seine große Rede („Die Rüstungindustrie schlägt das analytische Verfahren, wir, die Ärzte, das synthetische ein“) eine blutige Parodie auf das salbungsvolle Pathos dieser Helfershelfer zum Morde war: das merkte keiner von denen. Man muß ihre Götter nicht travestieren. Es genügt, sie darzustellen. Das Publikum blieb stumm. Ergriffenheit? Du lieber Gott, auch die Kuh bleibt stumm, wenn man ihr die Neunte Symphonie vorspielt. Sie rupft ihr Gras. Und Realforscher schreiben einen gelehrten Essay über die Wirkung der Musik auf die pflanzenfressenden Tiere. Das Publikum blieb stumm. Und da oben riß Einer sein Herz auf und predigte das Evangelium der Liebe – zum wievielten Mal auf dieser Welt? Und ich dachte: Aber es ist ja nicht neu. Es ist ja immer Dasselbe, von Christus bis Tolstoi immer dasselbe, nur, daß der es wieder einmal als erschütternd neu und lebendig gefühlt hat, daß das Erstarrte sich in ihm zu lösen begann, und daß er die alten Worte durchblutete und zu neuem Leben aufschrie. Das Publikum blieb stumm. In diese Köpfe geht nichts mehr, Verdummt, eingeschüchtert, verängstigt, durch ein vierjähriges Trommelfeuer von Lügen und Übertreibungen eines verlogenen PresseApparates zugrunde gerichtet, lassen sie apathisch alles vorbeigehen, was gepredigt wird, und wachen erst auf, wenn das Straßenbahnabonnement erhöht wird. Und vor einem kleinen Stückchen Holz, vor ein paar schwarzen Vorhängen stand Einer und schrie Das hinaus, was uns alle angeht, was unsre Sache ist, was wir wollen und sind und erstreben und nicht erreichen. Schrie von dem Haß, mit dem allein es nicht getan sei... und ich wurde ganz klein auf meinem Stuhl. Ich bekenne: ich habe gehaßt, vier, fünf, sechs Jahre lang, und ich hasse heute noch mit der ganzen Kraft, deren ich fähig bin. Ich weiß, daß es nicht recht ist. Ich weiß, daß ich so nur das Korrelat eines alldeutschen pensionierten Obersten bin. Ich weiß, ich weiß. Und doch hasse ich den Typ des Deutschen, wie er sich in diesen Stabsärzten, in diesen Offizieren, in diesen Verwaltungsbeamten, in 168
diesen Subalterngeistern darstellt, und fühle mich dem letzten slawischen Bauern näher als Diesen da. „...und hätte der Liebe nicht.“ Auch diese seien arme, verblendete Menschen, sagt Toller. Vergib mir. Vor wem sprechen diese Gestalten? Vor wem öffnet sich ein Herz weit, weit, vor wem strömen Blutbäche, rinnen Adernbahnen? Vor einem Parkett, das auch nicht auf der untersten Stufe zu dieser Leiter steht. Vor Leuten, die zum allergrößten Teil und bestenfals dem „Kommis des Tages“ nachlaufen, den brandhaarigen, argumentgewandten Podiumssatrapen, die heute so können und morgen so. „Marschiert! Marschiert!“ sagt da oben der Mann des Stückes zur Masse. Aber zuvor: Habt den Geist! Ein freundlicher Imperativ. Und eine blanke Unmöglichkeit. Das Stück gehört nicht in dieses Theater. Es ist ein Wagnis gewesen, es aufzuführen, und ein dankenswertes Wagnis. Ein gekrümmter Knöchel schlug an verschlossene, dicke Bohlentüren. Es ward nicht aufgetan, Toller telegraphierte aus dem Gefängnis, in das man ihn geworfen, weil nach § 9 b des Gesetzes über den Belagerungszustand vom Jahre 1851 die derzeitige Revolution als beendet anzusehen war: sein Stück gehöre den Arbeitern, nicht den Bürgern. Himmel, entsinnt Ihr Euch, welche unglaublichen Charakteristiken über Ernst Toller durch die Blätter gingen, als er in München politisch tätig war? Ein lächerlicher Verbrecher. Ein verrückter Schwarmgeist. Ein Hanswurst. Ein Rowdy. Ein eitler Geck, der Napolium äfft. Gott schenke uns viele Solche. Das Stück gehört den Arbeitern. Wenn die’s nicht verstehen, ist es ein Schmarrn. Wenn sie’s nicht ganz verstehen, nicht auf den ersten Anhieb verstehen: so mögen sie es zweimal sehen und es lesen und sich erklären lassen. Aber in der Masse gärt und brodelt es, der Zahlabend der Bezirksorganisationen gibt bei keiner Partei – auch bei den Unabhängigen nicht – die geistige Nahrung, die not täte und die dem jungen ringenden Arbeiter Brot schenkte und Segen. Das Stück gehört vor die richtigen Augen, vor die richtigen Köpfe, vor die richtigen Gehirne. Hier ist es bestenfalls eine kleine Sensation. „Wenn wir das gewußt hätten“, sagte hinter mir eine junge Dame zur andern jungen Dame, „dann wären wir nicht hingegangen! Sonst sieht man doch immer am Titel, was los ist – aber hier...!“ 169
Laß mich noch kämpfen, Toller. Kämpfe du mit dem Kreuz, ich kann es noch nicht. Ich will zu dir kommen und dir sagen, wenn ich den langen Weg gegangen bin, der zur Liebe führt. 1919
Jakob Wassermann und sein Werk „Es ist wahr“, erwiderte Angelus, „ohne zu sehen, bist du gegangen, ohne zu wissen, hast du gehandelt, Keinem hast du vertrauen dürfen.“ Renate Fuchs
Die Frau Jakob Wassermanns, Julie Wassermann-Speyer, hat ein kleines Buch über ihren Mann geschrieben, das den Titel trägt: „Jakob Wassermann und sein Werk“ (und im Deutsch-österreichischen Verlag zu Wien erschienen ist). Schopenhauer hat einmal gesagt, man solle jedem Buch das Bildnis des Verfassers voransetzen, und es ist ja auch wahr, daß uns bei großen Männern das Menschliche ungeheuer nahegeht: Wie sieht er aus, wie sah er als Kind aus, wie wohnt er, wo lebt er, was tut er am Tage? Das Beste an diesem Buch ist sein erstes Kapitel: das Leben Wassermanns. Der kleine Abschnitt, der mit ein paar schönen Jugendbildern versehen ist, bestätigt, was die Bücher längst ausgesagt haben: Wie hat sich dieser Mensch gequält! Gequält mit sich, mit der Umgebung, mit dem Schicksal, mit Hunger, Kälte und Arbeitslosigkeit, mit dem Unvermögen, sich in die rohe Welt des platten Geldverdienens hineinzufinden und in die verlogene der unordentlichen Bürger mit der Samtjacke oder der Hornbrille – Qual und Unschlüssigkeit, Verzweiflung und Selbsthaß, Verlorenheit innen und Hohn außen. Der Lebensabriß hat etwas Erschütterndes. Schichtweise hat sich das in den Büchern abgelagert; es wäre törichte Philologie, dem im einzelnen nachzuspüren – man fühlt so oft den eigenen Herzschlag dessen, der es schrieb. Die seltsame Blutmischung, die in Wassermann lebt, hat sein Schicksal sicherlich beeinflußt: von Franken nach Wien, zwischen den beiden Nationen lebend und keiner gehörig, Deutscher und Jude, lebte er schutzlos, ohne 170
Hülle, jedem Nadelstich und jedem Hammerschlag doppelt preisgegeben. Und setzt sich nach Irrfahrten, Enttäuschungen, verlorenen Schlachten und entsetzlichen Hungerjahren in Österreich fest. „Es geht nicht ums Können, Daniel Nothafft, es geht ums Sein“, heißt es an der entscheidenden Stelle im „Gänsemännchen“. Was Wassermanns Frau der Lebensgeschichte noch an literarischen Betrachtungen anfügt, ist nicht sehr wesentlich. So unwesentlich wie alle ästhetischen Untersuchungen seines Werkes. Zweifellos ist die himmlisch unfertige „Renate Fuchs“ ein besseres Buch als der blendend gemachte „Christian Wahnschaffe“, es gibt Fehlschläge, leere Seiten, Dinge in seinem Werk, die man nicht mag. Aber es gehört mit dazu. Er ist ein Stück unsres Lebens. Man hat ihm vorgeworfen, daß er, der Jude, deutscher sei als die Deutschen – sicher ist, daß er der deutschen Seele zu einem Ausdruck ihrer selbst verholfen hat, und daß er so weit fort ist von dem Deutschtum dieser Tage. Wie die dunkle Landschaft unter seinen Händen zu singen anfängt –! Wie Musik, Wälder, Maschinen, Bauernwirtschaft und steinerne Straßen aussagen, was sie sind, was sie ihm sind und was sie uns sind –! Er hat das Unsagbare gesagt, er ist das, was der Franzose „bourdon“ nennt, die tiefe, große Kirchenglocke. Der ungeheure Fleiß dieses Mannes ist es nicht allein, der einen mit Respekt erfüllt (obgleich das heute, als eine Ausnahme, angemerkt zu werden verdient). Ich habe einmal die Geschichten aus den „Schwestern“ mit dem Neuer Pitaval verglichen, dem der Stoff teilweise entnommen ist: welche Feinheit in der Verkürzung, welche unmerkliche Umgruppierung der Geschehnisse, Personen und Verknüpfungen – es ist alles geblieben, und doch anders, doch geheimnisvoller, tiefer, menschlicher. Wie er nun gar das ungeheure Material des Caspar Hauser gemeistert hat, ist ein Rätsel, ein Wunder schon in der Bewältigung des quantitativen Stoffs. (Man weiß vielleicht, daß die Literatur über das aenigma sui temporis heute noch nicht eingeschlafen ist.) Durchtränkt von der Melodie, sehen wir seine Welt auf Schritt und Tritt. Man muß nur die Augen aufmachen. Einmal war er mir ganz nahe. Ich kam an einem Uhrmacherladen vorbei, draußen hatte der Inhaber seine Uhr aufgehängt, und statt der Zahlen 171
hatte er die Buchstaben seines Namens um das Zifferblatt herumgeschrieben: es waren genau zwölf, es ging grade auf. Der Mann hieß: JOHANNES QUAL. Und wie alle Bitterkeit im Schaffen aufgelöst ist, wie kein häßlicher Bodensatz zurückgeblieben ist in ihm! Die Frau spricht von seinen ersten Anfängen; Wassermann war damals, um sich ein paar Groschen zu verdienen, Sekretär bei Ernst von Wolzogen. So spricht er über ihn: „Es war der erste Mensch, der mich ermunterte, der erste überhaupt, der mich als Dichter uneingeschränkt ernst nahm, und das bedeutete für mich soviel wie Rettung und Erlösung.“ Seitdem ist viel Blut die Marne heruntergeflossen, und bei Wolzogen liest mans in den Lebenserinnerungen, mit denen sich meines Wissens Westermann besudelt hat, ungefähr so: Ein kleiner schiefer Jude suchte mich damals viel auf – meine Frau öffnete immer das Fenster, wenn er gegangen war: es war Jakob Wassermann. Werk ist auf Werk gefolgt, unbeirrbar, unerschütterlich, mag der Wert hier und da geschwankt haben, hügelauf und hügelan ist der Mann sich gleichgeblieben. Der letzte große Wurf war: „Golowin“, die Novelle aus dem „Wendekreis“, mit dem unsterblich schönen und tiefen Nachtgespräch zwischen der russischen Frau und dem revolutionären Matrosen, in dessen Verlauf der Satz steht: „Haben – welch ein häßliches Wort! Was heißt denn haben, wenn nicht gegeben wird!“ Es ist kein Wunder, daß in diesen Büchern der Traum eine so große Rolle spielt. Ich mißtraue dem literarischen Traum – in der Traumschilderung ist der Dichter unkontrollierbar, entzieht sich der Wertung und schlüpft immer hinter die Ausrede: es war ein Traum. Bei Wassermann ist Leben und Schlaf gleich traumhaft, die Grenzen sind dünnwandig, traumhaft der Rhythmus dieses einzigen Stils, von so viel Vätern befruchtet geht es immer wieder zum Vater hin. Es ist gut, wie in dem Büchlein die Vaterschaft Wassermanns herausgearbeitet ist – neben dem „Michael Kramer“ ist er fast der einzige, der abseits der weiten Mutter-Poesie den Vater fast schmerzlich betrachtet: den, ders gemacht hat, den, der dabeisteht, dem es aus der Hand wächst, der so gern umarmen möchte und Scheu hat vor Werk und Sohn. 172
Er ist am Licht. Aber zu denken, daß Hunderte und Hunderte von Wassermanns sich im Dunkel quälen, sich mühen, untergehen, weil es nicht langt, oder weil sie nicht den glücklichen Zufall treffen, also weil ihr Schicksal es nicht will, weil sie keine Marktware sind, und weil ja Kunst wirklich etwas Überflüssiges, Störendes und Sinnloses bedeutet... Ich wundere mich über jeden, der noch nicht verhungert ist. Denn der „große Krumme“, gegen den die Wassermanns heute angehen, der, der auch gegen sie angeht, hat kaum noch romantische Züge. Der Fette aus der „Ulrike Woytich“, der mit der entzückenden, aufgeschwemmten Kunstgewerbewohnung, ist der letzte romantische Typus für lange Zeit. Nach ihm kommt der Gleichgültige, der Tüchtige, der, der seinen Frieden mit der Welt gemacht hat – der „es nicht so schlimm findet“. Man ist vernünftig geworden. In der Ecke krepieren unterdes Träumer und Selbstquäler, Verzweifelnde und Verzweifelte. Wer Jakob Wassermanns in Liebe und Respekt gedenkt, mag einen ehrfurchtsvollen Gruß ins Dunkel senden. 1924
Schwarz auf Weiß Gut geschrieben ist gut gedacht. Der Deutsche ist ein „Bruder Innerlich“ und entschuldigt gern einen ungepflegten Stil mit der Tiefe des Gemüts, aus der es dumpf heraufkocht... Gott sieht aufs Herz, sagt er dann. Der Künstler sieht auch auf den Stil. Seit Nietzsche dem Deutschen wieder eine Prosa gegeben hat, wissen zwar noch lange nicht alle Schriftsteller, was es heißt: „an einer Seite Prosa wie an einer Bildsäule zu arbeiten“ – aber viele wissen es. Alfred Polgar zum Beispiel weiß es. Was ich an diesem Mann neben der untadligen Reinheit der Gesinnung und dem Takt des Herzens so liebe, ist eben, daß er „gut schreibt“ – das heißt: daß er zu Ende denkt, reinlich denkt, hell und klar denkt und ein gepflegtes, durch alle Regeln der Grammatik mühelos schlüpfendes Deutsch schreibt. Ich liebe an der Literatur auch das Handwerk, das kein Ziel ist, aber eine Voraussetzung. Dieses Handwerk braucht vielerlei: Lehrzeit, Ruhe, Geduld und Gefühl für die Sprache. 173
„Alfred Polgar“, hat Siegfried Jacobsohn einmal gesagt, „ist ein Kelterer.“ Das ist wahr: Er keltert den Wein der deutschen Sprache, die schön ist – aber diese Schönheit muß ihr abgerungen werden. Mit Arbeit soll man nicht prahlen – aber man darf sagen, daß es das nur in ganz seltenen Ausnahmefällen gibt: „aus dem Ärmel schütteln“. Im Ärmel ist nicht viel: höchstens ein paar Staubfäserchen und Wollflocken... geschüttelt wird hier nicht; wir wollen arbeiten. Die Frauen, für die dieses Blatt gemacht ist, werden Polgar noch mehr zu schätzen wissen, als ich es tun kann: er ist, neben vielen andern, ein im allerbesten Sinne homme de lettres à femmes; auch, wenn er gar nicht von den Frauen spricht, fühlt jede sofort: dieser weiß, wie ich bin, versteht mich, streichelt mich, fürchtet mich, liebt mich, ist für mich da. Vor dieser Zartheit kommt sich unsereiner vor wie der rauhe Jäger, der den Hirsch im wilden Forst jagt... Und dennoch hab’ ich harter Mann die Liebe, auch gefühlt... Polgars neuer Auswahlband „Schwarz auf Weiß“ (bei unserm gemeinsamen Verleger Ernst Rowohlt erschienen) enthält Kostbarkeiten über Kostbarkeiten. Und ist gut geschrieben. Ich kenne den Schaffensprozeß Polgars nicht und weiß nicht, ob er im Hirn korrigiert oder auf dem Papier, das soll uns auch nicht kümmern. Eine überwache Aufmerksamkeit verhindert auch den leisesten Schwupper; nie drängeln sich die Worte vor der Hirnpforte des Lesers, sie gleiten hinein, verbeugen sich artig voreinander und sind höflich und glatt wie die Japaner... Auch hat Polgar den innern Rhythmus der deutschen Prosa begriffen: es gibt stakkatone Stücke; Allegro und Scherzo wechseln miteinander ab, aber meist ist es ein bezauberndes Andante, darin die Spitzen der Ironie einer längst ins Heitere gewandelten Qual und einer nicht immer süßen Erkenntnis auffunkeln. Manchmal rührt sich die Trommel des Scherzes: „Es wäre peinlich, wenn sie von diesem Abend sagten: Heute war ich zweimal bei einer Vorlesung Polgars: zum ersten- und zum letztenmal.“ Von Arne Borg: „Er schwimmt nicht, was zu sagen ja wirklich naheläge: wie ein Fisch. Nein, ein Fisch schlechtweg reicht nicht aus zum Bilde. Er schwimmt wie ein gehetzter Fisch, wie ein Eilfisch, poisson rapide, wie ein aus der Pistole geschossener Fisch.“ Paukenschlag: „Tiere, 174
außer man zwingt sie dazu, haben keinen Beruf.“ Traum über das traurige Dasein eines Liftpagen – wenn man ihm das ganze Hotel schenkte...? Sollte man eigentlich... „wenn auch vielleicht eine seiner ersten Chef-Anordnungen wäre, Personal und Lieferanten die Benützung des Aufzuges zu verbieten.“ Dann die bezaubernde Studie über den „Fensterplatz“ – was so der Reisende im Zug denkt, nicht denkt, sanft dahindämmernd in den Wolken der Heniden und oft den Fensterplatz mit einem Gemeinplatz vertauschend. Schau, da pflügt ein Bauer seinen Acker –! „Sinnend blickst du, Stadtmann, dem Landmann nach, der dir sinnend nachblickt.“ Das wahre Kennzeichen eines guten Stils ist seine Gedrungenheit – es kann einer breit schreiben, aber er soll nicht auswalzen – die Kürze ist nicht nur die Würze des Witzes, sie ist die Würze jedes guten Stils. Auch ein Roman von sechshundert Seiten kann kurz sein. Schneider Polgar, wir arbeiten in derselben Innung – ich habe es nicht leicht, Ihnen eine Liebeserklärung zu machen. Nicht nur, weil Sie mir überlegen sind – wackeln Sie nicht mit der Schere –, Sie sind es, und warum soll sich ein Läufer nicht vor Nurmi beugen –? Ich beuge mich. Ich weiß, wie Sie manches nähen, welchen Zwirn Sie verwandt haben, bei wem Sie das Rohmaterial einkaufen... aber wenn es nachher fertig ist, dann ist es doch unbegreiflich und überraschend, und ich befühle die Nähte und die Knöpfe und den Besatz und frage mich: Wie macht er das –? Manchmal weiß ich es: so, wenn eine winzige Bosheit, scheinbar verkleidet und leise vor sich hin pfeifend, mit den andern Gedanken, als sei gar nichts geschehen, vorbeispaziert... Von Egon Friedell: „Er raucht lange Pfeife, schwimmt wie ein Meisterschwimmer, liebt die Geselligkeit und das Einschlafen im muntern Kreise...“ Aber in tausend andern Fällen weiß ich nicht, wie Sie nähen. Ich weiß nur, daß es „gut geschrieben“ ist. Weil es sauber ist und gesinnungsvoll; voller Eleganz und Charme, weil die Fäden der Arbeit nicht mehr erkennbar sind, und weil Sie der deutschen Sprache nie etwas Böses tun. Sie haben ihr nur viele prächtige Kinder gemacht. 1929 175
Maximilian Harden Maximilian Harden ist tot. Es ziemt sich, auf das Grab dieses großen Schriftstellers einen Kranz zu legen. Aus welchen Blumen –? S. J. pflegte, wenn von Harden die Rede war, zu sagen: „Dem schreibe ich einmal meinen schönsten Nekrolog –!“ Er hätte es getan; denn er kannte ihn nicht nur ganz, sondern er hatte auch die so seltene Gabe, einem Toten nachrufend ein Leben zu rekonstruieren und eine Figur auf ihre platonische Idee zurückzuführen. Diesen Nekrolog nun hat er nicht schreiben dürfen. Ich glaube, daß wir damit eine der besten Charakteristiken Maximilian Hardens verloren haben – niemand hat das Zwiespältige, das in diesem Essayisten war, so gut erkannt wie sein Freundfeind S. J. Aus welchen Blumen sei der Kranz –? Es wird bei fünfzigsten und sechzigsten Geburtstagen so viel zusammengelogen, daß wir angesichts eines Todes aussagen wollen, als gäbe es keinen Schmerz. Also die Wahrheit. Harden ganz zu begreifen und abzuschildern, vermag nur der, der mit ihm groß geworden ist. Er ragte in unsre Generation hinein wie ein Turm: ein historisches Bauwerk. Das Mordattentat, das deutsche Offiziere auf ihn verübt hatten, war nicht der Grund seines letzten Schweigens – es war der Anlaß. Er verstand diese neue Welt sehr gut, weil er ihre geschichtliche Entstehung kannte – aber er verstand diese Welt nicht mehr, von der er behauptete, sie liefe falsch. Das gibt es nicht. Die Realität ist niemals falsch. Sie ist. Maximilian Harden hat den Deserteur Wilhelm bekämpft, als der noch Kronprinz war – „Phaeton“ nannte er ihn –, und es kostete auch damals schon allerhand, die Wahrheit zu sagen: Harden hat seine Festungsstrafe abgesessen. Sein glitzernder Feind war sein eignes Widerspiel: er fiel fast automatisch zusammen, als der nicht mehr war; sein Gleichgewicht war von Stund an gestört, ihm fehlte etwas. Er hat über Ebert die erfreulichsten Sätze geschrieben – ein Ersatz war der nicht. Wenn Schriftsteller Analogien im Tierreich haben –: dieser war eine Schlange. Schön, gefährlich, giftig, böse, im Jagdeifer herrlich anzu176
sehen, nimmersatt. Er stand turmhoch über den deutschen Journalisten, deren erster er war – die Gockel des Leitartikels, die ihn heute bekrähen und sich überlegen dünken, nur, weil jener tot ist und sie leben, dürfen auch nicht im selben Zimmer mit ihm genannt werden. Sein Fachwissen war fast so schmerzlich groß wie seine Personalkenntnis, und es spricht für die ganze Dumpfheit und Beschränktheit der deutschen Beamtenkaste unter zwei Regimen, daß kein Amt mit diesem Mann jemals zusammengearbeitet hat. In Frankreich hätten ihm alle politischen Karrieren offengestanden – niemals haben die Franzosen solche Begabungen in fressender Negativität verkümmern lassen. In Deutschland – Freilich: er hatte kein Konsulatsexamen gemacht. Maximilian Harden war einer der wenigen deutschen Journalisten, die eine Macht bedeuteten. Davon gibt es nicht viele: der deutsche Zeitungsbesitzer will keine Macht, sondern Geld verdienen (daher ist die deutsche Zeitung im allgemeinen sauber und wenig korrupt) – der deutsche Journalist braucht nicht bestochen zu werden, er ist so stolz, eingeladen zu sein, ein paar Schmeicheleien... Er ist schon zufrieden, wie eine Macht behandelt zu werden. Er übt sie nicht aus. Zu Harden floß der breite Strom der Information, die Abwässer des Klatsches, die Springbäche der witzigen Verleumdungen... er wußte alles. Und er verwertete es auf eine gradezu meisterhafte Weise. Wie das Gehörte in der Klammer wiederkehrte, in kleinen fingierten Gesprächen aufblitzte, wie eine Intimität unsicher machte, die dem Angegriffenen zeigte, daß der Angreifer längst innerhalb der Festungsmauern stand, während die Besatzung ihn noch draußen wähnte – das wurde nur abgeschwächt durch einen Stil, mit dem sich unsereiner niemals hat befreunden können. Der Stil war nicht der Mann. Karl Kraus, der „Den im Grunewald“ vernichtend geschlagen hat, hat nicht die ganze Armee besiegt – da waren noch Reserven, die nicht im Kampf gestanden hatten. Der Mann war überhaupt nicht zu schlagen, weil er zu vielfältig, zu gespalten, zu vibrierend war – er war niemals ganz zu fassen. Zu fassen war der Stil, jener belächelte, nachgeäffte, parodierte, übersättigte und überpfropfte Stil, von dem ein Boshafter einmal gesagt hat, er sei eine Landschaft, durch die Mayonnaise fließe. Manchmal aber trug der Strom klarstes Gebirgswasser, und merkwürdigerweise al177
lemal dann, wenn Harden nicht für sein Blatt schrieb. So ist zum Beispiel sein Nachruf auf Erzberger – als echte Journalistenarbeit in der stärksten Eile für das Berliner Acht-Uhr-Abendblatt geschrieben – ein Meisterstück schärfster und feinster Charakterisierung. Er konnte so schreiben, daß ihn auch der Mann auf der Straße verstand. Hätte er stets so geschrieben –: er wäre keines natürlichen Todes gestorben. Der junge Harden ist Schauspieler gewesen, der alte ist es geblieben. Aber seine zweite Natur war ihm zur ersten geworden, und was vielen als Pose erschien, war seine Art, sich zu geben – die war ganz echt. Freilich war er nie liebenswerter und bezaubernder wie dann, wenn er sie verließ. Dann... wie war er dann? Ich habe Maximilian Harden erst nach jenem Mordversuch kennengelernt, bei dem übrigens der preußische Justizminister gefragt werden darf, ob denn die Attentäter, deren schmutzige Gesinnung aus jedem Wort sprach, ihre Strafe auch zu Ende abgesessen haben. Es sollte mich nicht wundern, wenn sie im Dunkel der Verwaltungsmaßnahmen heimlich begnadigt worden wären... Damals also sah ich ihn zum erstenmal, und was mir da entgegentrat, war ein Europäer. Abneigung hin, Kritik her –: ich habe jedesmal wieder diesen kleinen Schauer der Ehrfurcht gehabt, wenn ich mit ihm sprechen durfte. Das war jemand. Das war einer, der die Unterhaltung wie eine Florettklinge führte – seine Ähnlichkeit mit Josef Kainz war nicht nur äußerlich. Er sprach nicht so schnell, nicht mit jenem Furor der Rede – er dachte, wie Kainz sprach; aber er sprach langsam, überlegt, die Pointen liefen haardünn aus, oben blitzte das Licht und ein Tröpfchen Gift, wenn er wollte. Es kitzelte, tat kaum weh – erst zu Hause merkten die Opfer, daß sie tödlich getroffen waren. Er liebte es, in ernste Gespräche bewußt grobe Berlinismen zu flechten; sie wirkten in seinem Munde niemals roh, er veredelte noch die derbsten Wörter, es war etwas sehr Seltsames. Einen Eindruck aber wurde man niemals los, wenn man mit ihm sprach – und ich besinne mich noch genau, wie erschütternd das besonders in der Inflation gewirkt hat: er war ein Europäer. Verknüpft mit allen Ländern dieses Kontinents, geistig verwandt mit den Geistigen, die sie leiteten – er bewegte sich mühelos unter ihnen, war 178
kein Geduldeter, kein geschmeicheltes Schreiberchen, das von der Atmosphäre in Genf schon beschimpft wurde – ein Gleichberechtigter unter Gleichen, so lebte er dahin. Und das wußten sie. Harden hat unter allen deutschen Journalisten das größte Echo im Ausland gehabt – er gehörte zu ihnen, sie fühlten das, hier war eine Brücke zu dem sonst unzugänglichen Deutschland. Sie glaubten ihm; sie verstanden die Methodik seines Denkens, seine Dialektik, seine Bildungselemente – er war ihnen vertraut. Nie hat das einer genützt. „Ein Zeitungsschreiber...“ hieß es bei den Kaiserlichen. „Ein Außenseiter...“ bei den Republikanern.. Er verachtete beide. Wenn der Schriftsteller packte, dann packte er mit Zangen. Unvergeßlich ist mir der Jugendeindruck, den ich bei der Lektüre seines Artikels über den sadistischen Erzieher Dippold empfing. Der hatte einen Jungen des Bankdirektors Koch zu Tode gequält – und wie Harden die Herren Eltern hernahm, wie er sie öffentlich auspeitschte, weil sie aus Unachtsamkeit, aus Lässigkeit, aus Faulheit ein junges Leben hatten zerstören lassen... das erinnerte an die besten Pamphlete aller Literaturen. „Jede Proletarierfrau“, so stand da ungefähr, „wäre auf einen Notschrei ihres Kindes sofort zum Tatort gefahren. Frau Rosalie Koch schrieb einen Brief.“ Mene mene tekel – – so ein Satz stand wie ein Flammenzeichen am dunkeln Himmel der Bourgeois. Was bleibt davon –? Es bleibt immer viel weniger als man glaubt. Die Geschichtsfälscher sind schon an der Arbeit, und die emsigen Handlanger des Herrn Eulenburg schreiben ein wackres Buch nach dem andern; welcher Historiker wird die Warnungsrufe Maximilian Hardens nachschlagen; seine Prophezeiungen (Frühjahr 1914: „In diesem Sommer wird Schicksal“) – wütenden Angriffe, seine Hiebe und seine Attacken? Moritz Heimann hat einmal von Maximilian Harden gesagt: „Er lügt nicht. Er ist eine Lüge.“ Hart: wenn es ein ethisch vernichtendes Urteil ist. Wahr: wenn es den Schein meint, der dieser Mann war, eine Zwiebel, deren Blätter du abstreifen konntest, immer wieder neue Blätter, immer wieder – und was kam dann? Dann kam nichts. Er ist nie weise geworden wie etwa der alte Clemenceau, dessen Lebenserfahrungen zum Schluß eine Art Extrakt ergeben haben. 179
Maximilian Harden ist nicht alt geworden – er war, als er starb, nicht mehr jung. Mit ihm ist ein Typus dahingegangen, der für die nächsten fünfzig Jahre kaum wiederkehren wird: ein Einzelgänger von Format und Einfluß. Er hat in den letzten Jahren seines Lebens wiederholt davon gesprochen, die „Zukunft“ wieder aufleben zu lassen – ich glaube nicht, daß diese Gattung Zeitschrift in Mitteleuropa heute möglich und wünschenswert ist. Denn es kommt nicht mehr darauf an, die Welt originell, isoliert, ganz von oben zu sehen – gegen alle zu sein und fern von allen –: sondern es kommt darauf an, bei der Masse zu bleiben, mit ihr zu sein – als Führer oder Widersacher oder Aristokrat oder Mönch – aber bei der Masse. Die Zeitschrift, in der es einer „allen aber gehörig sagen kann“, ist eine gute Sache; die Tat, die man mit allen und für alle tun kann, eine bessere. Eine „Zukunft“ ist Vergangenheit geworden. Ihrem Schöpfer gebührt, als einem Gulliver unter Pygmäen, die Ehre, die die mittlern Beamten der Journalistik und der Politik ihm nur formal und aufatmend gewähren werden. Sie waren sein – aber „er war nicht unser“. Wir grüßen das Andenken Maximilian Hardens. 1927
Dem Andenken Siegfried Jacobsohns Gestorben am 3. Dezember 1926
Die Welt sieht anders aus. Noch glaub ichs nicht. Es kann nicht sein. Und eine leise, tiefe Stimme spricht: „Wir sind allein.“ Tag ohne Kampf – das war kein guter Tag. Du hasts gewagt. Was jeder fühlt, was keiner sagen mag: du hasts gesagt. Ein jeder von uns war dein lieber Gast, 180
der Freude macht. Wir trugen alles zu dir hin. Du hast so gern gelacht. Und nie pathetisch. Davon stand nichts drin in all der Zeit. Du warst Berliner, und du hattest wenig Sinn für Feierlichkeit. Wir gehen, weil wir müssen, deine Bahn. Du ruhst im Schlaf. Nun hast du mir den ersten Schmerz getan Der aber traf. Du hast ermutigt. Still gepflegt. Gelacht. Wenn ich was kann: Es ist ja alles nur für dich gemacht. So nimm es an. 1926
Schrei nach Lichtenberg „Ehret eure deutschen Meister!“
Im vorigen Frieden – als ich noch ein kleiner Junge war und sehr verliebt –: da ging mir eines Tages das Geld aus. Das kann vorkommen. Und Kitty brauchte eine goldne Armbanduhr. Und da ging ich hin... ich schäme mich ja furchtbar, aber es ist doch wahr... und verkaufte einen Arm voller Bücher. Und kaufte ihr die Uhr und bekam einen dicken Kuß, und es war alles sehr schön. Unter den Büchern war auch eine alte, zwölfbändige Ausgabe von Georg Christoph Lichtenbergs gesammelten Werken. („Lichtenberg? Von dem habe ich doch mal Aphorismen...“) Ganz recht, der. Und jetzt möchte ich mir die gesammelten Werke wieder kaufen, und dabei stellt sich heraus, daß es im gesamten deutschen Verlags181
buchhandel keine gute Neuausgabe seiner Werke gibt. Keine. Ehret eure deutschen Meister! Es gibt: „Lichtenbergs Aphorismen“. Ausgewählt von Alexander von Gleichen-Rußwurm (erschienen bei der Deutschen Bibliothek in Berlin). – „Aphorismen“, herausgegeben von Josef Schirmer (erschienen im Hyperionverlag in München). Es gibt (wenn sie nicht inzwischen vergriffen sind): „Aphorismen“ nach den Handschriften, herausgegeben von Albert Leitzmann (erschienen in Behrs Verlag, Berlin). Diese letzte Ausgabe umfaßt drei Bände – das ist die beste. Der Rest ist sanfte Auswahl für den Hausgebrauch. Bei Eugen Diederichs in Jena hat es eine von Wilhelm Herzog besorgte Auswahl aus den Werken Lichtenbergs gegeben; die ist vergriffen und nicht wieder aufgelegt. Dafür drucken sie Diotimas „Schule der Liebe“... schweig still, mein Herz, sonst müssen sie hier eine Unterhaltungsbeilage anbauen... aber den Lichtenberg legen sie nicht neu auf. Gott segne die Verleger! Dieses aber ist eine Affenschande. Was! Einen Kerl nicht wieder neu zu drucken, der einen Verstand gehabt hat wie ein scharf geschliffenes Rasiermesser, ein Herz wie ein Blumengarten, ein Maulwerk wie ein Dreschflegel, einen Geist wie ein Florett... das muß man sich bei den Antiquaren mühsam zusammensuchen? Diesen herrlichen Mann, der einen Buckel voll Witz, Sentimentalität, Klugheit, guter Laune, Lust, aus Schmerz geboren, mit sich herumzutragen hatte – das liegt brach? Es ist vielleicht kein „Geschäft“... ich weiß das nicht; ich bin kein Kaufmann. Aber wer Lichtenberg ist, das weiß ich. Ein Uhu, der Sekt gesoffen hat, nun nachts durch den Wald flattert und „Schuhu!“ macht, die Mäuse erschreckt, sie fängt und mit dem Ruf „Nicht fett genug...!“ wieder wegwirft – es ist etwas ganz Einzigartiges. Morgenstern plus Hebbels Tagebüchern plus französischer Klarheit plus englischer Groteske plus deutschem Herzen – das soll man sich noch einmal suchen. Sein Witz war grob und fein, wie er es wollte. „Graf Kettler“, notiert er einmal: „seine Aussprache war so wie des Demosthenes seine, wenn er das Maul voller Kieselsteine 182
hatte.“ Oder: „Ihr Unterrock war rot und blau, sehr breit gestreift und sah aus, als wenn er aus einem Theatervorhang gemacht wäre. Ich hätte für den ersten Platz viel gegeben, aber es wurde nicht gespielt.“ Dazwischen ganz und gar morgensternsche Bemerkungen, die man nur nachschmecken, deren Reiz man nicht erklären kann. „Ich habe noch niemanden gefunden, der nicht gesagt hätte: es wäre eine angenehme Empfindung, Stanniol mit einer Schere zu schneiden.“ Wer die Gewohnheit hat, in Büchern etwas anzustreichen, der wird seine Freude haben, wie sein Lichtenberg nach der Lektüre aussieht. Das beste ist: er macht gleich einen einzigen dicken Strich, denn mit Ausnahme der physikalischen und. lokalen Eintragungen ist das alles springlebendig wie am ersten Tag. Nur ein wirklich frommer Mensch darf so gute Witze über die Religion machen wie dieser hier. „Die Allmacht Gottes im Donnerwetter wird nur bewundert entweder zur Zeit, da keines ist, oder hintendrein beim Abzuge.“ Das strahlt in allen Regenbogenfarben ernsthaften Witzes. Manchmal reißt er ganze Bände der Entwicklungsgeschichte, in einem einzigen Aphorismus zusammen. „Es ist ein großer Unterschied zwischen etwas noch glauben und es wieder glauben. Noch glauben, daß der Mond auf die Pflanzen wirke, verrät Dummheit und Aberglaube, aber es wieder glauben, zeugt von Philosophie und Nachdenken.“ Und der Herr Universitätsprofessor in Göttingen, der Gottfried Bürger begraben geholfen hat, war zu allem andern ein Stück verschütteter Dichter. „So traurig stund er da wie das Trinckschälgen eines crepierten Vogels.“ Und so hundertmal. Von dem, was in diesen „Sudelbüchern“, wie er das genannt hat, an Witz heute verschüttet liegt, leben andre Leute ihr ganzes Leben. „Er hatte ein paar Stückchen auf der Metaphysik spielen gelernt.“ Und: „Er trieb einen kleinen Finsternis-Handel.“ Und so in infinitum. Nein, die Welt ändert sich nicht, und dies ist ein sehr aktueller Schriftsteller; er ist niemals etwas andres gewesen. Die Leute zitieren immer seine Beschreibungen zu Hogarths Bildern, die recht gut sind, und seine Schilderung des Garrickschen Hamlets, die besser ist – aber das Wesentliche dieses einzigartigen Geistes liegt in seinen Aphorismen. Und in seinen Briefen. Der Brief zum Beispiel, den er 183
geschrieben, als ihm sein kleines Blumenmädchen, mit dem er zusammen lebte, starb, reicht an jenen Lessings heran, den der nach dem Tode seiner Frau schrieb. Lichtenberg hatte ein heißes Herz und einen kalten Verstand. Und fand dann solche Schlußformeln wie diese, die einem Wappenspruch gleicht und einer Grabschrift und einem Satz, den man seinem Kinde mit auf den Lebensweg geben kann: Der Weisheit erster Schritt ist: Alles anzuklagen. Der letzte: sich mit allem zu vertragen. In Deutschland erscheinen alljährlich zigtausend neue Bücher. Wo ist Lichtenberg –? Wo ist Lichtenberg –? Wo ist Lichtenberg –? 1931
Babbitt Hier sind die amerikanischen Buddenbrooks. Wenn Hanno nicht frühzeitig am Typhus gestorben wäre, sondern eine ehrbare Lübecker Kaufmannstochter geheiratet hätte, deren zweiter Sohn dann später – „wegen einer häßlichen Geschichte, weißt Du?“ – nach Amerika ausgewandert wäre: dieser Herr Babbitt von Sinclair Lewis (bei Kurt Wolff in München erschienen) könnte ganz gut fünfzig Jahre nach den Lübecker Stammeltern gelebt haben. Nämlich heute. Es ist der aktuellste Roman, der mir in der letzten Zeit unter die Finger gekommen ist – er ist durchaus aus unserer Zeit. Und es ist sehr fesselnd, zu bemerken, daß der Autor diesen Eindruck nicht mit Wortverdrehungen und Verrenkungen, nicht mit wilden Masturbationsphantasien junger Herren erreicht, die da glauben, Alaska als Schauplatz einer Handlung zu wählen, sei schon eine Tat für sich, und die das Verhältnis zwischen Mann und Frau so aufplustern wie ein Hahn ohne Hennen sein Gefieder. Babbitt ist ein ganz bürgerlich erzähltes Buch, und es enthält endlich einmal unser Leben genau so,
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wie wir die Sache immer angesehen haben: fast ohne Pathos, wissend, schmunzelnd, verzweifelt, mit Kopf schütteln. Die ersten hundertundfünfzig Seiten des Romans sind die Schilderung eines Geschäftstages des Herrn Babbitt. Das ist eine Meisterleistung. Vom Aufwachen bis zum Schlafengehen keinmal eine alberne Übertreibung, keinmal der große soziale Fluch: Ha, Bürrrger! Lewis erzählt, stellt fest, überall ist Herr Babbitt zunächst nur, Herr Babbitt, ein voller, saftiger, bunter Kerl, daneben allerdings noch viel mehr. Aber das wird nicht gesagt. Das Buch riecht nach Wahrheit. Es kann nicht nur wahr sein: es muß wahr sein. Es muß deshalb wahr sein, weil wir die Wahrheit kontrollieren können. Früher, vor den achtziger Jahren, wuschen sich Romanhelden grundsätzlich überhaupt nicht – sie wandelten durchs Leben, wie man heute noch bei Tagore durchs Leben wandelt. Dann kam eine Zeit, da taten sie nichts als sich waschen: das nannte man Naturalismus. Und jetzt ist man wieder im besten Zuge, die Maschinerie entweder zu leugnen oder härter zu machen, als sie ist, oder sie zu umkleiden; aber Pathos und Wasserspülung zu mischen, das ist gar nicht beliebt. Bei Lewis guckt die Apparatur des täglichen Lebens durch alle Luken, und hier ist der Mensch unsrer Tage, der Ford-Automobile, Pear-Soap, ScotchWhisky und Kalodont benutzt, so, wie er wirklich ist: unfeierlich. Guck mich mal an, Leser, und sei aufrichtig! „Das Auswechseln des Tascheninhalts vom grauen Anzug zum braunen war ein richtiges Ereignis, es war ihm sehr ernst mit diesen Dingen. Sie waren von welterschütternder Bedeutung, genau wie Baseball oder die Republikanische Partei. Da war seine Füllfeder und sein silberner Bleistift (bei dem immer die Minen fehlten), die in die rechte obere Westentasche gehörten. Ohne sie hätte er sich nackt gefühlt.“ Na, wir wollen uns nichts erzählen... Es ist ein beliebtes Mittel unsrer Literaten, die Maschinerie der Zivilisation den großen Gefühlen gegenüberzustellen, die noch die Bezeichnungen der alten griechischen Tragödie tragen: Badewanne und Trauer um die Geliebte, Haß und Buttersemmeln. Beliebtes Mittel, das einer komischen Wirkung nie entbehrt, aber es spricht doch eigentlich mehr gegen die Benennung der Gefühle als gegen die Buttersemmel. Es gibt eben keinen einfarbigen, alles andre ausschließenden Haß mehr (wenn es ihn je gegeben hat), und man packt sich nicht umsonst für die Bedürfnisse sei185
nes Lebens einen Apparat auf, der langsam Selbstzweck geworden ist. Die Seele hat ihn nicht verdaut und kann ihn nicht verdaut haben; auch in den hehrsten Momenten erinnert eine kleine Gehirnkolik daran, daß sich der Herr Mensch im Zivilisatorischen etwas überfressen hat. Worauf Herr Babbitt ins Geschäft geht – „produzieren, produzieren!“ Dabei produziert er gar nichts. „Er fabrizierte nichts Nennenswertes, weder Butter noch Schuhe noch Lyrik, aber er war geschickt in seinem Berufe, Häuser für weit höhern Preis an die Leute zu verkaufen, als diese eigentlich bezahlen konnten.“ Autofahrt ins Büro, Wettrennen mit der Straßenbahn – „ein selten schönes, kühnes Spiel“ –, Einmarsch in das große Bürogebäude, das mit Recht ein selbständiges „Dorf“ genannt wird, mit Dorfbewohnern, einem Marktplatz und Seitengassen – Arbeit! Die Szene, wie Babbitt einen Brief diktiert, ist von einer Komik, die wir in der ganzen modernen deutschen Literatur suchen können: hier ist endlich einmal ein Chef für hundert gesehen, ohne deshalb ein Atom weniger konturiert, weniger klar geschildert zu sein. Wie sich das Geschwabbel des nervösen, im Zimmer herumstapfenden Babbitt durch die Sekretärin in einen modernen Geschäftsbrief auflöst, mit dem der Diktator selbstverständlich unzufrieden ist – „Ich wünschte wirklich, sie würde nicht immer an meinem Diktat herumverbessern!“: das lohnt allein schon die Lektüre dieses einzigartigen Buches. Folgt die weitere Geschäftstätigkeit Babbitts. Auf jeder einzelnen Seite möchte man dreimal hurra schreien. Ein nationaler Kritiker der Deutschen Zeitung, glaube ich, hat einmal geschrieben: „Wenn man den Namen Rudolf Presber hört, nimmt man unwillkürlich Haltung an.“ Vor Lewis müßte man die Wache herausrufen. Zum Beispiel, weil er klar und unerbittlich alle Vorstellungen über Geschäfte, die in dem Kopf eines modernen Kaufmanns vorhanden sind, herausgekratzt und sie wie synthetische Perlen auf einer Zuckerschnur aufeinandergereiht hat. „Eine gute Gewerkschaft ist nützlich, weil man dadurch kommunistischen Gewerkschaften, die jeden Privatbesitz unterdrücken würden, ausweicht.“ Und: „Als Babbitt zweiundzwanzig Jahre alt war, hatte ihm jemand gesagt, alle Senkgruben seien ungesund, und er eiferte seitdem noch immer dagegen.“ Ach, meine Brüder: wie viele solcher Senkgruben gibt es 186
auch bei uns! Nachdem Babbitt solchergestalt meditiert hat, verfügt er sich an die Geschäfte. „Er befolgte die Regeln seines Clans und führte nur solche Unredlichkeiten aus, die durch Präzedenzfälle sanktioniert waren.“ Heilige Börse! Und nachdem sie geschoben, betrogen, sich übers Ohr gehauen haben, daß es nur so kracht, Lewis: „Die große Arbeit der Welt war im Gange. Lyte hatte etwas über 9000 Dollars verdient, Babbitt steckte 450 Dollars Vermittlungsgebühren ein, Purdy erhielt mit Hilfe des feinfühligen Mechanismus der modernen Geschäftswelt ein Geschäftsgebäude...“ Ja, Sombart, da staunste –! Frühstück. „Babbitts Vorbereitungen, um das Büro während seiner anderthalbstündigen Frühstückspause sich selbst zu überlassen, waren etwas weniger kompliziert als die Ausarbeitung eines allgemeinen europäischen Krieges.“ Das muß man selbst nachlesen: wie er frühstücken geht; wie er sich unterwegs im Auto ausrechnet, was er in diesem Jahr verdient hat – „Die Folge dieses kühlen Vermögensüberschlages war, daß er sich siegreich und wohlhabend und gleichzeitig erschreckend arm vorkam“ –; wie er sich einen elektrischen Zigarrenanzünder für den Wagen kauft, wegen arm – „Er hatte nun die Möglichkeit, seine Zigarre anzuzünden, ohne anzuhalten, was ihm in ein bis zwei Monaten gewiß zehn Minuten ersparen würde.“ Und dieser Babbitt ist gar kein Literaturclown. Jeder mittlere Prokurist einer Berliner Bankfirma darf getrost über die falschen Schilderungen der Herren Dichter lachen, die ihn und seine Tätigkeit niemals begriffen haben. Babbitt ist ein Mensch, der in den Einzelheiten seiner Geschäfte vom Autor durchaus richtig beurteilt wird, der sich das Rauchen abgewöhnen will, seine Kinder auf seine Manier liebhat, ins Büro fährt, arbeitet, vom Büro kommt, badet und wieder ins Büro fährt. Zum erstenmal ist in der großen Schilderung seines Arbeitstages die Gehirntätigkeit eines solchen Menschen richtig wiedergegeben: wie in ganz wichtigen Augenblicken, immer wieder irgendeine Albernheit auftaucht; wie durcheinandergedacht wird; wie die Zivilisation über ihn dahinpurzelt; und wie seine Vorstellungen alle eindimensional sind – Rasieren, Familienliebe, Geschäfte, Zigarrenanzünder und eine vage Mischung von Kommunistenangst und Gottesdienst. Dazwischen – was ebenso angelsächsisch wie menschlich ist –: das Jungenhafte im Mann. Babbitt in der Badewanne: „Er 187
patschte ins Wasser, und die Lichtreflexe zersprangen, schwankend und funkelnd. Er war kindisch und zufrieden. Er spielte. Er rasierte einen Streifen an der Wade seines dicken Beines herunter... Er seifte sich ein und wusch sich ab und rieb sich streng und nüchtern trocken, er fand ein Loch im türkischen Handtuch, steckte gedankenvoll einen Finger durch und marschierte, ein ernster und unbeugsamer Bürger, ins Schlafzimmer zurück.“ Und dann schläft er ein. Und hier hat Lewis den grandiosen Abschluß dieses amerikanischen Tages gefunden: er spielt die große Arie Gleichzeitigkeit, er singt „In solcher Nacht“ und malt lauter kleine Bilderchen an die Wand. „Im selben Augenblick saßen...“ Denn das ist schrecklich und lustig und merkwürdig zugleich, wie alles nebeneinander liegt, hängt, zappelt. „Im selben Augenblick schliefen in der Stadt dreihundertundvierzig- oder – fünfzigtausend alltägliche Menschen wie ein ungeheurer, undurchdringlicher Schatten. In einer Spelunke jenseits der Eisenbahn öffnete ein junger Mann, der sechs Monate lang vergeblich Arbeit gesucht hatte, den Gashahn und tötete sich und sein Weib.“ Und nun erst schläft Babbitt richtig ein. „Und im selben Augenblick drehte sich George F. Babbitt schwerfällig im Bette um – ein letztes Zeichen des Bewußtseins, mit dem er andeutete, daß er jetzt genug gehabt hätte von diesem unruhigen Einschlafen und allen, Ernstes ans Werk gehen wollte.“ Gute Nacht. Es ist ein wahres modernes Buch. Es scheut sich nicht, Annoncenteile mitten im Text zu haben; es gibt endlich einmal die ganz natürlichen Seiten des Daseins, um die wir so viel Brimborium machen, indem wir sie pathetisch verklären oder pathetisch vereinfachen – so ist da die Reproduktion des kleinen Zettels, der das Resultat einer angestrengten geistigen Abendarbeit Babbitts darstellt: ein Geschmier von ein paar Schlagwörtern, einen gekritzelten Männerkopf, ein paar Zinszahlen und dem aus Langerweile hingemalten Namensmonogramm. Denn so sehen wir aus, wenn wir arbeiten. Babbitt schaukelt langsam in die Politik, er wird ein beliebter Redner; wie ist die soziale Angst geschildert, die so ein Individuum vor jeder Gruppe und ihren Machtträgern hat, diese Feigheit, mit der sich das durchsetzt... Und dann verläßt Babbitt langsam den Photographie-Rahmen seiner Gattung, und aus der Schilderung der Type wird eine Geschichte.
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Es ist eigentlich keine rechte Geschichte mit Einleitung, Höhepunkt und Abklang – es ist wie ein Stück Flaubert, was da steht: es zieht so vorbei. Wie Babbitt mit seinem besten Freund in die Sommerferien geht, endlich allein! endlich ohne Familie, wie er kindisch, etwas sentimental und etwas dämlich diese Sommerwochen verlebt, wie er wieder zurückgehen muß, aber nicht will; der Freund schießt auf die eigne Frau, kommt ins Gefängnis, Babbitt wird der heiligen Gesellschaftsordnung beinah untreu (hier ist die dünne Stelle des Buches), er fängt ein Verhältnis an – wie unerotisch ist das gezeichnet! –, verbummelt beinahe, demütigt sich vor kleinen Mädchen, möchte gern, kann nicht und redet sich daher ein, nicht mehr zu möchten, findet wieder nach Hause zurück und bleibt da, wo wir ihn angetroffen haben. Babbitts Frau wird krank, Babbitts Frau, mit der er sich gar nicht mehr gestanden hat die letzten Monate hindurch, weil sie alt und schlaff und fett geworden ist und die andre vielleicht jünger schien, weniger schlaff, dünner – und überhaupt die andre ist. Die Krankheit treibt die beiden wieder zusammen. Und wie die alte Frau auf einmal und trotz allem wieder ein Kind wird, seine Hand ergreift und vor der Operation, die sicherlich nicht gut übertragbare Romanphrase sagt: „Ich fürchte mich, so ganz allein ins Dunkel hineinzugehen“ – da liegen leise Lächerlichkeit und leise Liebe so eng beieinander, daß man erst merkt, wer dieses Buch geschrieben hat. Und Babbitt weiß, daß es nun aus ist mit seinen Eskapaden, und daß er bei ihr bleiben wird bis zum letzten Tag. Das hört sich so an: „Grimmig erkannte er, daß dies sein letzter verzweifelter Ausbruch gewesen war, bevor er sich in die schwerfällige Zufriedenheit des Alterns schickte. ,Na’, und hier grinste er boshaft, ,es war doch eine verdammt lustige Affäre gewesen, solange es eben gedauert hatte!’ Und was würde die Operation wohl kosten? ,Das hätte ich mit Doktor Dilling genau ausmachen müssen – aber nein, hols der Teufel, es ist mir ganz egal, es kostet eben, was es kostet!’“ Und dann bleibt er bei Muttern. Dies ist Babbitt, das Buch vom modernen Amerika. Ich habe eine Amerikanerin gefragt, eine Dame, bei der die ausgezeichnete Alice Salomon drüben zu Gast gewesen ist, was sie von Lewis hielte. Sie sagte: „Ich habe ,Main Street’„ – das ist ein zweites, in Amerika nicht minder bekanntes Werk von Lewis – „gar nicht zu Ende lesen 189
können; so hat es mich geärgert, und so wahr ist es!“ Und das ist auch eine Empfehlung. Dieser Amerikaner scheint mir weit, weit über Sternheim und Leonhard Frank zu stehn, die den Bürger bekämpfen, beschimpfen, verlachen, kalt schildern – und die ihn nicht ordentlich kennen. Meinethalben: seine Seele oder seine Seelenlosigkeit. Nie und nimmer seinen Apparat, seine Welt, seine Kulissen. Hier sind keine religiösen Ausbrüche, hier sind keine Bürgerschemen, hier ist kein Schutzmann und kein Kanzlist, die sich so benehmen, wie sich Schutzleute und Kanzlisten seit Menschengedenken nicht aufgeführt haben: hier ist einfach ein Lebewesen, das nicht anders sein kann. Nicht sehr dumm, nicht einmal übermäßig beschränkt, vielleicht etwas weniger vollgepfropft mit wissenschaftlichen und gebildeten Redensarten als andre Leute – aber eben ein Zivilisierter. Das Buch, in einer nichtssagenden grauen Antiqua gedruckt, ist ganz gut übersetzt. Gescheitert ist die Übersetzerin nur am Slang. Es gibt keinen reichsdeutschen Slang; wenn die Leute sich hier in der Sprache gehenlassen, dann fallen sie unbedingt in irgendeine lokale Dialektfärbung. Unglücklicherweise hat die Übersetzerin hierfür das Wienerische gewählt, das für ein amerikanisches Buch besonders ungeeignet ist. „Da schaun’s her“ und „so ein Strizzi!“ im PullmanWagen ausgerufen: das will mir nicht recht einleuchten. Der Rest ist aber treffend herausgekommen. Dieser Publikation fehlt nur eins. Auf der letzten Anzeigenseite müßte die Ankündigung eines gleichen deutschen Werkes stehen. Die Deutschen werden über den Amerikaner lachen. Aber nimmermehr begreift Herr Wendriner, daß auch er ein Babbitt ist; daß auch seine Vorstellungen, Gedanken, geläufigen Begriffe so lächerlich wirken können, wenn man sie still und freundlich aufreiht, ohne etwas dazu zu sagen; daß es gerade die Dinge sind, die ihm selbstverständlich erscheinen, über die er gar nicht mehr diskutiert, und die in ihrer Würde so unbegreiflich albern sind; daß seine Dresdner Bank, sein Opernball, seine Literatur, seine Sinfoniekonzerte, seine elektrische Wohnungseinrichtung und seine Geschäfte genau, genau, genau dasselbe Maß an Widersinn und Sinnlosigkeit ergeben, wie es bei Babbitt der Fall ist. Bei Babbitt, dessen Autor uns eine Gestalt gegeben 190
hat, eine für Millionen, um ihn herum ein hinreißendes Buch und – so ganz nebenbei –: Amerika. 1925
Anatole France in Pantoffeln In Paris ist ein kurioses Buch erschienen, das in einem Monat fünfzig Auflagen erreicht hat: „Anatole France en pantoufles“ von JeanJacques Brousson (bei G. Crès et Cie. Paris). Brousson war Sekretär bei France. Er schildert in kleinen Geschichten und Anekdoten tausend Charakterzüge, Eigenheiten, persönliche und häusliche Szenen aus dem Privatleben des Meisters. Vielleicht hätte er lieber „Anatole France im Käppchen“ schreiben sollen, weil das ja charakteristisch für den großen Mann war. Das Buch ist – um seinen Vorzug zuerst zu nennen – unendlich amüsant. Manches geht für uns deutsche Leser verloren; da findet sich viel französischer Literaturklatsch (die französische Literatur ist um vieles verklatschter als die deutsche; jeder weiß jedes von jedem, und neulich stand sehr ernsthaft in der Zeitung auseinandergesetzt, welchen Likör der Preisträger des Prix Goncourt den Besuchern kredenzt hat). Es finden sich aber außerordentlich viel Anekdoten und Bemerkungen des alten Herrn, die auch einem deutschen Leser ohne weiteres verständlich sind. Darunter sind reizende Geschichten. So die von der nicht mehr ganz jungen Dame, die sich vor France niedlich machte, ihn fast mit Gewalt in den Wagen nötigte und dort ein neckisches Spiel mit ihm anhub. Bis es dem Meister zuviel wurde und er sie fragte, ob sie mit ihm wohl ein kleines Spiel spielen würde. „Wenn es unschuldig ist“, sagte die Schelmin, „gewiß!“ – „Na, dann“, sagte France, „wollen wir einmal alle spielen, daß wir die Hände hübsch an den Wagentüren halten!“ – Worauf sie den Wagen halten ließ und er sehr freundlich „Guten Abend, gnädige Frau!“ sagte. Es finden sich viele interessante Bemerkungen über Literatur aufgezeichnet sowie eine Fülle maßlos unziemlicher Geschichten, die auch nicht andeutungsweise übersetzt werden können.
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Und hier steckt der Nachteil des Buches. Es ist das erste undelikate französische Buch, das mir in die Finger fällt. Ganz abgesehen davon, daß manches etwas reichlich massiv ist und sogar durch die französische Sprache kaum gemildert erscheint, hat doch dieser Ekkermann seinen Posten nicht taktvoll aufgefaßt. Er stellt Frau France hin... das muß man gelesen haben, welche Rolle sie in diesen Schilderungen spielt. Gut – das mag noch angehen. Aber daß Herr Brousson Dinge veröffentlicht, die France ihm – und sicherlich nicht in dieser Form – von Mann zu Mann anvertraut haben mag, das geht übers Bohnenlied. In Frankreich verliert France durch diese kleinen Skandalgeschichten nichts, bei uns wäre er unten durch. Aber es schmeckt nicht gut, das Gericht; es bleibt ein unangenehmer Nachgeschmack auf der Zunge, man hat ein bißchen gelacht, und hinterher wird man ärgerlich. Denn alles paßt zu dem Andenken an diesen einzigen Schriftsteller: nur keine plumpe Vergröberung seiner erotischen Erlebnisse. Solche Dinge kann man vielleicht einmal sagen – aber man kann sie nicht in fünfzig Auflagen drucken lassen. Hier folgt mit der Genehmigung des Verlages Crès et Cie. eine Probe aus dem trotz allem lesenswerten Buch (das übrigens wegen seines ungepflegten Stils und wegen seiner mangelnden Tiefe auch bei französischen Kritikern Widerspruch gefunden hat). Die Übertragung ist frei; außerdem muß man sich immer vergegenwärtigen, daß es sich hier um unkontrollierbare Gesprächswiedergaben handelt. Als Clemenceau Ministerpräsident war, hat Anatole France seinen Posten bei der „Neuen Freien Presse“ in Wien übernommen. Frau France hatte die Sache abgeschlossen. Alle Woche, an jedem Mittwoch, wiederholte sich um 5 Uhr nachmittags folgende Szene: Frau France: „Der Mann ist da von der ‚Neuen Freien Presse’.“ Herr France: „Was will der Mann von der ‚Neuen Freien Presse’?“ „Er will den Artikel. Er muß heute abend noch nach Wien weg, sonst kommt er nicht mehr rechtzeitig an.“ „Heute abend noch? Ja, wer hält ihn denn zurück?“
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„Du. Ich habe dich schon ein paarmal daran erinnert, aber du hörst ja nicht auf mich.“ „Deine häßlichen Beleidigungen zerreißen mir das Herz. Häßlich und außerdem durchaus ungerecht...“ „Rede nicht. Man braucht dich nur um etwas zu bitten, schon machst du das Gegenteil. Der Mann muß diesen Artikel mitnehmen, du hast eine halbe Stunde Zeit.“ „Gut. Schick den bösen Mann von der ‚Neuen Freien Presse’ in die Küche und gib ihm ein Glas Wein, er soll das hübsch langsam austrinken. So, und mir gib den ‚Figaro’ und die ‚Humanité’ und...“ Die Zeitungen wurden in aller Hast zusammengesucht. Alle Mann sind an Deck. Anatole France, Frau France, der Sekretär. Die Zeitungen fliegen nur so herum, wie in einem Garten, wenn es windig ist. „Also, vor allen Dingen möchte ich gern wissen: Was ist das wichtigste Ereignis der Woche?“ „Kommst du vom Mond? Wo lebst du? In Frankreich oder bei den Hottentotten? Und außerdem weißt du ganz genau, das wichtigste Ereignis ist das, worüber du schreibst. Die Leute in Wien werden das genießen, was du die Gnade hast ihnen zu schicken, es wird ihnen eingehen wie Butter.“ „Aber nun hilf mir doch! Diese ‚Neue Freie Presse’ ist die Pein meines Alters. Wenn ich nur wüßte, warum ich diesen Sklavendienst auf mich genommen habe!“ Aus den Zeitungen werden die wichtigsten Stellen mit der Schere ausgeschnitten. „Wozu soll ich da eigentlich noch etwas ändern?“ sagt Anatole France. „Das wird einfach übersetzt.“ Nächste Szene. Die Vorigen. François, der Kammerdiener. „Gnädige Frau, der Bote von der ‚Neuen Freien Presse’...“ „Geben Sie ihm noch ein Glas Wein.“ Mit großer Mühe hat France den ersten Absatz fertig. Dann kommt ein riesiges Zitat. Der Meinung von „La Croix“ stellt Frau France (mit der Schere) ein anderes Zitat aus der „Humanité“ gegenüber. 193
Was ich (der erzählende Sekretär) aufgekritzelt habe, wird mir aus den Händen gerissen. Das macht alles zusammen eine Spalte aus. Nächste Szene. Die Vorigen. François. „Der Mann von der ‚Neuen Freien Presse’... Er sagt, er muß mit dem Artikel los, sonst verfehlt er den Zug!“ „Er soll noch ein Glas Wein...“ „Gnädige Frau, er hat schon die ganze Flasche ausgetrunken.“ „Was war es für welcher? Weißer oder roter?“ „Roter, gnädige Frau!“ „Dann geben Sie ihm weißen! Und halten Sie ihn noch eine Viertelstunde auf. Und, François, wenn er Hunger hat, dann soll er Schinken und Käse bekommen... Was hast du nun inzwischen gemacht, während ich so kostbare Zeit für dich gewonnen habe? Du hast inzwischen kleine Mädchen gezeichnet! Und dabei soll das Ministerium gestürzt werden! Das ist, um sich aus dem Fenster zu werfen!“ „Da gibt es eine Stelle bei Lamennais...“ „Du hast nur noch eine Viertelstunde Zeit. Ich kenne dich doch. Du brauchst mindestens acht Tage, um eine Stelle oder sonst etwas zu finden. Was sagt denn dein Lamennais vom Ministerium? – Na ja, dann schreib’s hin.“ Nächste Szene. François (wie oben): „Der Mann von der ,Neuen Freien Presse’ sagt, er hat keine Lust, entlassen zu werden, er geht jetzt. Übrigens ist er voll wie ein Omnibus!“ France signiert den Artikel. „Schade um den schönen Artikel!“ sagt er. „Jetzt hat der Mann einen sitzen und wird ihn im Rinnstein verlieren!“ 1925
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An Lukianos Freund! Vetter! Bruder! Kampfgenosse! Zweitausend Jahre – welche Zeit! Du wandeltest im Fürstentrosse, du kanntest die Athener Gosse und pfiffst auf alle Ehrbarkeit. Du strichst beschwingt, graziös und eilig durch euern kleinen Erdenrund – Und Gott sei Dank: nichts war dir heilig, du frecher Hund! Du lebst, Lucian! Was da: Kulissen! Wir haben zwar die Schwebebahn – doch auch dieselben Hurenkissen, dieselbe Seele, jäh zerrissen von Geld und Geist – du lebst, Lucian! Noch heut: das Pathos als Gewerbe verdeckt die Flecke auf dem Kleid. Wir brauchen dich. Und ist dein Erbe noch frei, wirfs in die große Zeit. Du warst nicht von den sanften Schreibern. Du zogst sie splitternackend aus und zeigtest flink an ihren Leibern: es sieht bei Göttern und bei Weibern noch allemal der Bürger raus. Weil der, Lucian, weil der sie machte. So schenk mir deinen Spöttermund! Die Flamme gib, die sturmentfachte! Heil? ich auch, weil ich immer lachte, ein frecher Hund! 1918
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Fratzen von Grosz Der Zusammenhang zwischen der bildenden Kunst und dem Leben ist nicht ganz aufgeklärt. Es ist noch nicht heraus, ob die Damen in England um 1830 so ausgesehen haben, weil Burne Jones sie so hingehaucht hat, oder ob er so malte, weil sie so aussahen. Jedenfalls waren sich beide einig: der Maler und seine Zeit, und so war Alles in bester Ordnung. Der Karikaturist hats noch schwerer. Nach ihm richtet sich Keiner. Im Gegenteil: der Getroffene – und grade der Getroffene – erkennt sich nicht einmal, und jeder Fleischermeistcr erklärt, solche Specknacken gäbe es überhaupt nicht. Und doch richtet sich Einer nach dem Zeichner mit dem Zerrstift. Der Sehende richtet sich nach ihm. Sicherlich hat Spitzweg Viele veranlaßt, mit seinen Augen zu sehen – und was der (alte) ,Simplicissimus’ auf diesem Gebiet geleistet hat, wißt ihr noch Alle: sahen wir nicht Gulbranssons Spießer mit den Korkzieherhosen und dem Wellenbauch, Thönys feisten Agrarier und dann die Herren Leutnants...? Lang, lang ists her. Der ‚Simplicissimus’ ist tot. Thoma lebt in der Nähe ländlicher Sauställe, und ein Witzblatt von Gesinnung haben wir nicht mehr. Aber einen Karikaturisten, der sie alle, die von damals, überragt, einen, der mit Monokel, Mikroskop und zwei gesunden Augen neu, neu und noch einmal neu sieht: George Grosz. Fünfundfünfzig politische Zeichnungen sind von ihm unter dem Titel ,Das Gesicht der herrschenden Klasse’ im Malik-Verlag erschienen. Neben der Mappe: ,Gott mit uns’ das meisterlichste Bildwerk der Nachkriegszeit. Die deutschen Gesichter haben sich verhärtet. Schärfer sind die Kinne geworden, verbissener die Lippen, brutaler die Unterkiefer. („Haifische“ nennt der Italiener seine Blutgewinner.) Und ich weiß Keinen, der das moderne Gesicht des Machthabenden so bis zum letzten Rotweinäderchen erfaßt hat wie dieser Eine. Das Geheimnis: er lacht nicht nur – er haßt. Das andre Geheimnis: er zeichnet nicht nur, sondern zeigt die Figuren – welche patriotischen Hammelbeine! welche 196
Bäuche! – mit ihrem Lebensdunst, ihrer gesamten Lebenssphäre in ihrer Welt. So, wie diese Offiziere, diese Unternehmer, diese uniformierten Nachtwächter der öffentlichen Ordnung in jeder einzelnen Situation bei Grosz aussehen: so sind sie immer, ihr ganzes Leben lang. Sie sind alle da: die brutalen Mordoffiziere und Nachfahren eines Ludendorff, die allesamt nicht ertragen können, in Zivil zu arbeiten, und die vorziehen, in Uniform zu töten – so das Blatt: ,Prost Noske! Die Revolution ist tot!’, eines der stärksten politischen Pamphlete unsrer Zeit; früher machte das lächerlich, heute wird man, wenn man nur sonst ein guter Gustav ist, Oberpräsident –; die Kaufleute, die gar nichts andres sehen als Geschäft, und deren Kinne zeigen, wie man lebt, und deren Lippen, wie man leben läßt; die Viechskerle von Soldaten, Bulldoggen und Sergeanten des kaiserlichen Heeres; Herren und Generäle; einen bezaubernden, immer wiederkehrenden Typus eines Waschlappens: Demokraten, mit Pelerine, Umhängebart, Schlapphut, Regenschirm und der jeweils nötigen Überzeugung; Studentenschnösel und Klassenmediziner – und der Letzte, nicht der Beste: Erich Ludendorff-Lindström. (Grosz hat sich liebevoll in dieses Gesicht versenkt – es ist dem Gesicht nicht gut bekommen. Aber Vater Hindenburg ist auch nicht ohne.) Und all das ist von neuer Formulierung. Ob Grosz der erste war, weiß ich nicht. Er muß Väter gehabt haben: Primitive, die ersten Expressionisten, Alle, die aus der Haut und aus der Samtjacke fuhren und die Malerei wieder den geistigen Künsten zuführen wollten. Aber er ist doch der Erste von ihnen Allen. Und alle Blätter – die man bald bestellen möge, bevor sich eine deutsche Strafkammer mit einem Beschlagnahmebeschluß vor ihnen blamiert – rufen uns jene Zeit ins Gedächtnis, wo Alles zusammenzubrechen schien und alles blieb; wo so viel verpaßt wurde und so viel geschont; die uns dreihundert oppositionelle Führer kostete und Mörder: Exekutive, Militär und Richter am Leben ließ. Guten Abend, deutsche Revolution! Der Hakenkreuzgastwirt, der Wenn-und-aber-Demokrat, der verhetzte Student, der gefügige Staatsanwalt, der grauenhafte sture Kleinbauer – sie werden das Heft nie zu sehen bekommen, weil bei uns ja 197
alle nebeneinander leben und zumal unbequeme geistige Regungen gern unbeachtet bleiben. Was nützt Groszens Pazifismus und all das? Ungestört singen die Kindergärtnerinnen ihr: „Ja, mit Herz und Hand...“; ungestört lehren wildgewordene Oberlehrer ehrwürdige Geschichtslügen; ungestört toben Justiz und Universität. Vom Kapital zu schweigen. Und wohin du blickst: Fratzen von Grosz. All diese Gesichter kann man auch zum Sitzen benutzen. Wir aber wollen in dies Bilderbuch sehen und jener Jungfrau Germania gedenken, die mit jedem Offizier – bis zum Feldwebel abwärts – gehurt hat. Und sprechen: „So siehst du aus!“ 1921
Heinrich Zille Zweeter-Uffjang, vierta Hof wohnen deine Leute; Kinder quieken: „Na, so dof!“ jestern, morjn, heute. Liebe, Krach, Jeburt und Schiß... Du hast jesacht,’ wies is. Kleene Jöhren mit Pipi un vabogne Fieße; Tanz mit durchjedrickte Knie, er sacht: „Meine Sieße!“ Stank und Stunk, Berliner Schmiß... Du hast jesacht, wies is. Jrimmich wahste eijntlich nich – mal traurich un mal munta. Dir war det jahnich lächalich: „Mutta, schmeiß Stulle runta –!“ Leierkastenmelodien... Menschen in Berlin. 198
Int Alter beinah ein Schenie – Dein Bleistift! na, von wejn...! Janz richtich vastandn ham se dir nie – die lachtn so übalejn. Die fanden dir riehrend un komisch zujleich. Im übrijen: Hoch det Deutsche Reich! Malen kannste. Zeichnen kannste. Witze machen sollste. Aba Ernst machen dürfste nich. Du kennst den janzen Kleista – den ihr Schicksal: Stirb oda friß! Du wahst ein jroßa Meista. Du hast jesacht, wies is. 1929
Einer aus Albi Zugabe. Über Toulouse muß gefahren werden – da kann der kleine Abstecher nur Freude machen. Um so mehr, als Toulouse um drei Karat häßlicher ist als Lyon. Reste schöner Architektur stehen museal dazwischen. Unglücklicherweise ist es auch noch Sonntag, und auf den Straßen spazieren: achthundert Frank Monatsgehalt und neuer Sonntagsanzug; kalte Verlobung mit Wohnungseinrichtung; achtundvierzig Jahre Buchführung mit kleiner Pension und eigener Zusatzrente – die Leute wissen nicht recht, was sie mit ihrem freien Nachmittag anfangen sollen, sie gehen so umher: kurz, eine Stadt, wie Valéry Larbaud formuliert, où l’on sent tout l’aprèsmidi une désespérante odeur d’excrément refroidi. Also: Albi. Als ich abends ankomme, liegt der Ort grade in tiefem Dunkel, nur am Gefängnis brennt einladend eine kleine Laterne. Es muß doch nicht leicht sein, ein Elektrizitätswerk zu leiten. Im Hotel brennt eine Kerze auf einem Tisch. Ich trete in die Tür, strahlendes Licht flammt auf – kein schlechter Auftritt. Im Speisesaal tagt noch eine schöne 199
Table-d’hôte, dieser Kotillon der Mahlzeiten. Alle Provinzherren stopfen sich die Serviette in den Hals und werden nun hoffentlich gleich rasiert. Am nächsten Morgen gehe ich langsam durch die gewundenen Straßen, an den Häusern de Guise und Enjalbert vorüber, zwei Renaissancebauten mit herrlichen Portalen. Da steht die Kathedrale. Ich bin kein weitgereister Mann und kann nicht nachlässig hinwerfen: „Das Haus des Dalai-Lama in Tibet erinnert mich an der Nordseite an die Peterskirche in Rom...“ Diese Kathedrale in Albi hat mich an gar nichts erinnert – doch: an eins. An Gott. Ihr Anblick schlägt jeden Unglauben für die Zeit der Betrachtung knock-out. Wie ein tiefer Orgelton braust sie empor. Sie ist rot – die ganze Kirche ist aus rosa Ziegeln gebaut, und sie ist eine wehrhafte Kirche, mit dicken Mauern und Türmen, ein Fort der Metaphysik. Hier ist der Herrgott Seigneur in des Wortes wahrster Bedeutung. Ihr Bau wurde im dreizehnten Jahrhundert begonnen, ihr Stil ist so etwas wie eine Gotik aus Toulouse. Der riesige Turm verjüngt sich nach oben, seine Fenster werden immer kleiner und täuschen eine Höhe vor, die in Wirklichkeit gar nicht da ist. Ach was... Wirklichkeit! Diese Kathedrale ist nicht wirklich. Sie ist, im Gegensatz zu den Ereignissen in Lourdes, ein wahres Wunder. Und rosa schimmern die Bischofsgebäude, die danebenstehen, der Himmel nimmt eine rosa Färbung an. – Innen ist die Kathedrale nicht so schön, es gibt zwar gute Einzelheiten, aber es ist eben eine hohe Kirche, deren Raum man leider aufgeteilt hat. Ich trete wieder heraus und gehe zwergenhaft von allen Seiten an dieses Monstrum heran. Es ist zum Erstarren. Die Gärten des erzbischöflichen Schlosses liegen im Herbstlaub, mit rosa Ziegel als Fond. Von drüben schimmert der Fluß, le Tarn, ich sauge das alles in mich auf. Im erzbischöflichen Schloß ist ein Museum, eine Bilderausstellung; ach, wer wird denn das jetzt sehn wollen! Aber da fällt mein Blick 200
auf ein kleines Ausstellungsplakat... Ich muß mich wohl verlesen haben. Nein. „La Galerie de Toulouse-Lautrec.“ Toulouse-Lautrec? Hier? Im Bischofsschloß? Hier im Bischofsschloß. Und da stak ich nun den ganzen Tag. In Albi ist Toulouse-Lautrec geboren, in Albi ist er gestorben (1901). Und ihm zu Ehren haben sie diese Ausstellung in drei Sälen zusammengebracht. Da hängen die großen Plakate mit Aristide Bruant, das rote Tuch verachtungsvoll-königlich um den Hals; La Goulue, die die Beine wirft, daß man ihr in eine Wäscheausstellung sehen kann; ein altes Schwein, das sich über ein junges Gemüse beugt; die harten Fressen strahlend blonder Luder; der Urgroßvater des Jazz: Cakewalk in einer Bar; ein Kostümball, auf dem Börsenmakler als Marquis Posas mit Pincenez zahlend amüsiert schwitzen; ein kalkiger Jüngling auf grauem Karton, ein schlaffer, käsiger Mensch, sein ganzes Leben ist auf den paar Quadratzentimetern aufgezeichnet – und Yvette. „Yvette Guilbert, saluant le public.“ Ich bin kein Bilderdieb – außerdem ist das Bild zu groß gewesen. Sie stand da, den Oberkörper etwas vorgebeugt, und stützte sich mit einer Hand am zusammengerafften Vorhang. Die langen schwarzen Handschuhe laufen in Spinnenbeine aus. Sie lächelt. Ihr Lächeln sagt: „Schweine. Ich auch. Aber die Welt ist ganz komisch, wie?“ Durchaus „halb verblühende Kokotte, halb englische Gouvernante“, wie Erich Klossowski sie charakterisiert hat. Es ist da in ihr ein Stück Mann, das sich über die Frauen lustig macht, selber eine ist, durchaus – und ganz tief im Urgrund schlummert ein totes, kleines Mädchen. Dieser Mund durfte alles sagen. Und er hat alles gesagt. Und auf jedem zweiten Blatt immer wieder das Theater – das Theater, das Toulouse-Lautrec mit Haßliebe verfolgt hat, ausgezogen, wieder angezogen, abgeschminkt, geküßt, geschminkt und verhöhnt hat. Weiche Mimen legen vor einem Spiegel Rouge auf; ist das eine lächerliche Profession, sich abends, wenn die Lampen brennen, in schmutzigen kleinen Ställen Butter ins Gesicht zu schmieren! Da liegt eine Palette, dort ein Lithographiestein mit dem Bart Tristan Bernards. Spitze Schreie steigen von diesen Blättern auf, Brunst, 201
Inbrunst, Ekel, Genuß am Ekel, in der vollendeten Verkommenheit liegt der Ton auf vollendet. Ein weher Mund sieht dich an, sah ihn an – alles andere in diesem Frauengesicht ist dann dazugeworfen, wegen dieser Lippen ist er gezeichnet. Zarte Pastellkartons: ein weißes Jabot ist so auf Grau gesetzt, daß man den hauchdünnen Stoff abheben kann, und alle ernsthaften Bilder zeigen, was dieser Mann an technischem Können, an Fleiß, an Gewissenhaftigkeit des Handwerks in sich gehabt hat. Den Ungarn, die ihm heute in Paris frech nachschmieren, sollte man ihre Blätter um die Ohren wischen – es genügt eben nicht, in ein „Haus“ zu gehen und grinsend zu kolportieren. Ah, davon ist hier nichts. Tierstudien sind da, von einer Einfühlung in die Form, Porträts, kleine Landschaften... und immer wieder Pferde, deren Bewegung er so geliebt hat. Dazwischen alte Kanaillen, mit halb entblößter Brust; wie haargenau sind die Quantitäten von Verfall, gesundem Menschenverstand, ja selbst von so etwas wie anständigem Herzen ausbalanciert...! Eine hat etwas Mütterliches. Und ein ganzer Salon ist da, der große Empfangssalon im Parterre, da sitzen die Damen, bevor sie nach oben steigen. Ein Salon –? Es ist der Salon. Die Totenmarie und die Stupsnase und das dicke, hübsche Mädchen, und die Gleichgültige und die, die ewig nackt umherläuft... Und das Schönste von allem: „Etude de Femme 1893.“ Ein junges Ding läßt frierend das Hemd gleiten, eine Brust sticht gespitzt in die Luft. Ein herbstlicher Frühling. Drum herum Gemälde. Zweimal: seine Mutter, Porträts des Malers, Porträts anderer: ein bärtiges Gesicht mit Kneifer und aufgeworfenen Lippen. Einmal eine Verspottung seines verwachsenen Körpers. Er ist in Albi geboren und gestorben. Wo? Die Straße heißt heute „Rue de Toulouse-Lautrec“, es ist das Haus Nummer 14. Außen eine glatte Front, eine hohe verschlossene Tür... Sein Vetter, der Doktor Tapie de Céleyran, empfängt mich. Es ist ein älterer Herr mit schwarzem Käppchen auf dem Kopf; er führt mich ins Allerheiligste. Da liegt in Kästen das Oeuvre Lautrecs: die Lithographien, die Originale und viel Unveröffentlichtes. Und er 202
zeigt mir eine Geschichte, die der Knabe illustriert hat – seltsam gemahnen die angetuschten Federzeichnungen an Kubin. Er hat so viel gearbeitet... Und ich bekomme zu hören, daß die Familie und der Hauptverwalter des Nachlasses, Herr Maurice Joyant in Paris, der an einem großen Werk über den Maler arbeitet, seine Einschätzung durch das Publikum nicht lieben. „Er ist nicht nur der Zeichner der Dirnen gewesen, des Zirkus, des Theaters –! Er hat so viel andres gekonnt!“ Zugegeben, daß sich ein Teil seiner Bewunderer stofflich interessieren. Aber hier liegt das Einmalige des Mannes, der bittere Schrei in der Lust, der hohe, pfeifende Ton, der da herausspritzt... Daß dahinter eine Welt an Körperschaft lag, wer möchte das leugnen –! Und daß Toulouse-Lautrec kein wollüstig herumtaumelnder Zwerg war, oder ob er es war... gebt volles Maß! Und wir scheiden mit einem Händedruck. Nachmittags bekomme ich im Museum zu sehen, was nicht ausgestellt ist: Entwürfe über Entwürfe, hingehuschte Skizzen, Angefangenes, Wiederverworfenes und Schulhefte, in denen die lateinischen und griechischen Exerzitien ummalt sind von Girlanden und Figuren. Da ist die Feder träumerisch übers Papier geglitten, weit, weit weg von Cicero und hat Pferde im Sprung aufgefangen. Füchse – die Männerchen, die der hier gemalt hat, sind schon kleine Menschen. Und als der freundliche Konservator alles wieder zusammengepackt hat, gehe ich noch einmal in die hohen Zimmer und nehme Abschied, von Yvette Guilbert, von den zarten Farben und von dem dröhnenden Schlag eines Spazierstockgriffs auf einen Sektkühler. Es gibt das alles nicht mehr; man ist heute anders unanständig. Mit der Zeit – das geht so schnell! – sinken Gefühle zu Boden, optische Anspielungen, nur von denen einmal verstanden, die sich mitgekitzelt fühlten. Vor manchem stehe ich nun und kann es nicht mehr lesen. Aber ich verstehe es mit dem andern Nervensystem, dem Solarplexus – es springt da etwas über, von dem ich nur weiß, daß es zwinkernd, züngelnd und doch nicht verrucht ist. Es ist das Knistern, das entsteht, wenn sich Menschen berühren: Haßknistern, Spott... und eine etwas lächerliche Formalität. Die Liebe after dinner. Von Albi sehe ich dann gar nichts mehr. Oder wenigstens: ich habe alles vergessen. Ich weiß nur noch, daß ich in eine Flaschenfabrik 203
hineingehen wollte, wie mögen wohl Flaschen gemacht werden, dachte ich – und da standen zwei ältere Arbeiter vor dem Portal. Sie sagten: „Heute nicht.“ – “Warum nicht?“ fragte ich. „Es wird gestreikt“, sagten sie, „Marokko.“ Nun, es war das ein Teilstreik, und sie wußten das auch sehr genau. Sie sagten, es nütze ja doch nichts. Ich schwieg – denn ich bin in Frankreich. Aber ich wußte: es nützt immer. Nichts ist verloren. Es ist ein Steinchen, wenn ein paar Fabriken gegen den Staatsmord protestieren, wenn sie nicht mehr wollen, wenn die Arbeiter ihre Söhne nicht mehr hergeben wollen... Und dann fuhr ich nach Toulouse zurück. Da wohnte noch jemand, den ich zu besuchen hatte. Eine feine alte Dame empfing mich in ihrer Wohnung, die in einer stillen Straße liegt. Die Comtesse de Toulouse-Lautrec ist heute vierundachtzig Jahre alt. Sie geht langsam, sie ist frisch, freundlich, gut. Da kam sie auf mich zu, sah mich durch ihre Stahlbrille an... und dann begann sie von ihrem Sohn zu sprechen. Sie spricht von seiner Jugendzeit, als er so fleißig in Paris gelernt hat; von seinem festen Willen, und –: „Er war ein so guter Schwimmer, wissen Sie!“ sagt sie. Nur eine Mutter kann das sagen. Und nun wird sie lebhafter und macht mich auf die Kohlezeichnungen aufmerksam, die da hängen: die Köpfe zweier alter Damen, es sind die Großmütter Lautrecs. Wieder sehe ich: In der Kunst gibt es kein Mogeln. Der Mann war in seiner Ausbildung ein Handwerker, ein Akademiezeichner wie Anton von Werner, und auf diesem Grunde hat er gebaut. Wissen die Leute, daß George Grosz zeichnen kann wie ein Photograph? Man kann nur weglassen, wenn man etwas wegzulassen hat. Mogeln gilt nicht. Und die Mutter zeigt kleine Bildchen, Illustrationen zu einem Werk Viktor Hugos, niemals vollendet; der Verleger machte Geschichten, und Lautrec zerriß langsam das Bild, das er grade unter den Händen hatte. Und ein Album mit den ungelenken Zeichnungen des Knaben, schon sieht hier und da etwas andres heraus als nur die Kinderhand, die das Zeichnen freut. Und sie spricht von seinem Leben und erzählt seine kleinen Schulgeschichten. Wie er stets gearbeitet hat... „Ich bin immer nur ein Blei204
stift gewesen, alle meine Tage“, hat er einmal von sich gesagt – und wie er niemals ohne sein Notizbuch ausging, in das er eine Unsumme von Details aufzeichnete; wie er lebte, und wie sie ihn doch nicht lange gehabt hat. Er starb mit siebenunddreißig Jahren. Zum Schluß, als er so krank gewesen ist, hat sie eine Reise nach Japan mit ihm machen wollen; er liebte Japan, da hängt noch ein japanischer Druck, den er sich gekauft hat. Aus der Reise ist nichts mehr geworden. Und die alte Dame sagt: „Il est si triste d’être seule.“ Und dann gehe ich von der, die diesen Meister geboren hat. Wenn Er bläst: wird das Jüngste Gericht gerechter sein als die Verwaltungsbehörden auf Erden, die sich für Gerichte ausgeben? Wenn Er bläst, wird auch dieser kleine, etwas vornehme Mann erscheinen. „Henri de Toulouse!“ ruft der Ausrufer. „Huse –“ macht es. „Lautrec!“ ruft der Ausrufer. „Meck-meck!“ – lachen die kleinen Teufel. Da steht er. „Warum hast du solch einen Unflat gemalt, du?“ fragt die große Stimme. Schweigen. „Warum hast du dich in den Höllen gewälzt... deine Gaben verschwendet... das Häßliche ausgespreizt – sage!“ Henri de ToulouseLautrec steht da und notiert im Kopf rasch den Ärmelaufschlag eines Engels. „Ich habe dich gefragt. Warum?“ Da sieht der verwachsene, kleine Mann den himmlischen Meister an und spricht: „Weil ich die Schönheit liebte –“, sagt er. 1926
Massary und Roberts In einem Tal bei armen Hirten erschien mit jedem jungen Jahr, sobald die ersten Austern schwirrten, ein Mädchen, schön und wunderbar... Für jede Frau ist eigentlich ein ganz besonderer Laut charakteristisch, den sie und nur sie hat: Manche müssen keifen, um ganz sie selbst zu sein, manche trällern und manche leise seufzen. Wenn man an die Massary denkt, stellt sich gleich diese Vorstellung eines tiefen Kehllauts ein, der alles mögliche bedeuten kann: vor allem so viel 205
Ironie. Es wäre ein Hauptspaß, einmal mit anzuhören, wie dieses Bündel überlegener Nerven auf acht verschiedene Liebeserklärungen reagiert... Aber ‚Prinzessin Olala’ soll weniger uns Vergnügen als dem Berliner Theater volle Häuser machen – und es ist sehr viel, daß sich strekkenweise beides vereinigen lassen wird. Bei den Operetten muß ich immer an das alte Wort des nunmehr zu seinen Vätern versammelten Portiers des Deutschen Theaters denken: „Man hat sich so viel Mühe damit genommen gehabt!“ Ein paarmal glaubte ich die Meisterhand Rudolf Bernauers zu spüren, und wenn der liebe Gott klug ist, läßt er ihn am Auferstehungstag den Chorgesang der Engel textieren. Dann bleibt Keiner liegen. Ja, also die Massary kann Alles, macht Alles – und mit welcher Leichtigkeit macht sie es! Einmal hebt und senkt sie die Schultern und wackelt im Lied so ein bißchen mit – eine entzückende Parodie auf allen Operettentanz der Welt. Wofür man ihr immer wieder zu danken hat, das ist ihre Diskretion, die nie, nie über die Rampe haut. Was hätten Soubretten mittlerer Gattung mit dem durchaus auf Freud fußenden Chanson: ,Auf der Höhe der Situation’ angefangen! (Das heitere Liedchen behandelt in populären Versen die Divergenz der Lustkurven bei den Geschlechtern. Na, lassen wir das.) Sie ist, wie stets, das Beste, was es in diesem Genre augenblicklich gibt – und der ihr so oft Kränze geflochten hat, möchte auch diesmal nicht verfehlen, ihr so viel gelbe Rosen zu überreichen, wie er nur kaufen kann... Sonst versank in solchen Stücken Alles neben ihr. Da sie nicht schwächer, sondern eher stärker geworden ist, muß Einer schon ein Kerl sein, daß man den ganzen Abend zwei Menschen auf der Bühne sieht. (Das ist übrigens ein Vorteil des Stücks und der Besetzung – welche Schauspieler mögen das wohl einsehen!) Dieser Andre ist Ralph Arthur Roberts. Eine solche Vereinigung guter Schauspielkunst und grotesker Körperkomik war noch nicht da. Man hat ihn oben am Schnürboden an Fäden aufgehängt, seine Gelenke sollten in Kollegs vorgezeigt werden, und wo er am Abend sein Schwergewicht läßt, ist noch nicht heraus. Einmal glitschte er über eine Apfelschale, mit einer Handbe206
wegung entschuldigte er sich bei ihr, gab gleichzeitig zu verstehen, es sei gewissermaßen peinlich, daß Apfelschalen auf der Welt sind... Die besten englischen Exzentrics haben keine ausdrucksfähigere Mimik in den Knochen. (Und das ist ein Lob. Wenn nur Alles, was sich bei uns literarischer Schauspieler nennt, so viel Witz, so viel Begabung, so viel Ausdrucksfähigkeit hätte!) Auch er von bewundernswerter Diskretion – man hat noch im tollsten Überschwang den Eindruck: Ein Chevalier, der sich herbeiläßt, Ulk zu machen – ein Ruck, und er fällt wieder in die Menschlichkeit zurück. Man lacht über ihn nur, wenn er will. Auch ihm ein Sträußchen: aus Petersilie und edel geflochtenem Sellerie. Am Schluß gab es eine boshafte kleine Monarchenverulkung – hier und da im Publikum stiegen leise Bedenken auf: Darf man auch darüber lachen? Nun, der Lehrer war gerade mal herausgegangen, und so amüsierte sich die Klasse – wenngleich mit einem leisen Anflug von Gewissensbissen – erheblich. Auch eine Musik kommt in dem Stück vor. Die Beiden aber... Sie teilten jedem einen Zippel, dem Komik und dem Grazie aus – der Jüngling und der Greis am Knüppel, ein jeder ging beschenkt nach Haus! 1921
Chaplin in Kopenhagen Die dänische Fähre rauschte davon, und die Eisenbahnwagen und ich – wir machten ein ziemlich dummes Gesicht, weil wir nicht wußten, wie uns das bekommen würde. Vor Warnemünde die Wellenbrecher sahen wir gar nicht an – welch ein bezügliches Wort... ! Aber nun befahl der Kapitän den Kolben, zu stampfen, und die langen D-ZugWagen begannen leise zu zittern, Kellner sprangen im Speisesaal auf und ab, Hühner waren geschlachtet worden, Heringe hatten sich in Zuckeressig gewälzt, Bier war auf Flaschen gezogen worden, die Fähre fuhr, und die dänische Eisenbahn rollte, und ein Hotelbett war gedeckt, Staubsauger heulten, der Panter stolperte durch Kopenhagen und merkte kaum, daß er angekommen war – denn dieser ganze 207
Aufwand wurde vertan, weil in der Stadt ein kleiner Mann mit Hütchen auf einer Filmleinwand das deutsche Heer aber gründlich besiegte und Kaiser, Kronprinz und Hindenburg total gefangennahm... Hin. Die Sache spielte sich in einem Kinotheaterchen achtundvierzigsten Grades ab – die anderen siebenundvierzig hatten schon gelacht, seit zehn Jahren hatten sie gelacht... General Chaplin ließen auf sich warten: zwei amerikanische Filme schoben sich vorüber, Gott behüte uns, und nahmen nie ein Ende, und immer, wenn ich geglaubt hatte, nun aber perfekt dänisch zu können, zeigte sich, daß das nächste Bild etwas ganz anderes besagte als der vor mir hin und her übersetzte Text. Und zwischendurch schlief ich ein und gedachte wehmütig der Schule der Weisheit und fuhr mit einem leichten Schrei wieder auf, und dann war es immer noch nicht aus, und die Monate gingen vorüber, es wurde Herbst und wieder Winter, und immer waren da noch die beiden Großaufnahmeköpfc auf der Leinwand zu sehen, und will sich nimmer erschöpfen und leeren... Und dann, und dann kam Er. Es beginnt mit einer vollendeten Verhöhnung des Militärs – so etwas von schiefen Kehrtwendungen und Gewehrjonglierübungen und Getrapple... pfui Deubel, Herr Major! Worauf der junge Rekrut Charlot in einem Zelt zu träumen beginnt... Er stand im Schützengraben, hinter ihm schlugen die Granaten ein, was ihn jedesmal zu einem schmerzlichen Zusammenzucken bewog... man hat seine Nerven – und wenn eine Flasche nicht zu entkorken war, hob er sie hoch, und der böse Feind schoß den Hals ab, und wenn es eine Zigarette zu entzünden galt, hob er sie hoch, und Krupp schoß sie in Brand – es war alles in bester Ordnung. Regnete es? Dann stak der ganze Unterstand im Wasser, aber jeder Mann, wie man das gelernt hatte, lag ordnungsmäßig zugedeckt, zweimal: mit der Decke und mit Wasser, einer sah nur noch mit dem Mund und den Zehen heraus, und dem trieb Charlie ein Bootchen mit dem Nachtlicht hin, auf daß es ihm die Füße briete... Tats, ergriff den Lautsprecher und zog sich unter das Wasser zurück, durch die Röhre atmend... Läuse? Für Läuse hat der Soldat ein Reibeisen, das man an die Wand nageln kann: zwecks Rückenschubberung. Der Krieg war restlos erledigt. 208
Dann ein echter Chaplin-Augenblick: Alle bekommen Post, nur er nicht. Da lehnt er traurig am Unterstandspfosten und guckt verstohlen einem Soldaten, der den Heimatsbrief liest, in das Papier... und lacht mit, wenn es etwas zu lachen gibt, und ist ernst und gefaßt und heiter – alles auf der Nebenleitung, bis es der andre merkt und ihm hinter die Ohren haut, und dann ist es aus. – Sturmangriff! Sieh da, die Deutschen! Es sind derartige Schießbudenfiguren, daß sich ein ernster Mensch nicht gut verletzt fühlen kann, es sei denn, er wäre humorlos wie ein deutscher Beamter. Diese Soldaten da haben Bärte wie die Urwälder und sind dick wie die Tonnen oder lang wie die Zäune, nur der kleine Leutnant, der sie alle in den Hintern tritt, ist ein kurzer Daumen. (Wahr ist vielmehr, daß der deutsche Offizier seine Soldaten nicht in den Hintern, sondern in die Seele getreten hat.) Na, und dann läuft Chaplin zum Feind über und überlistet denselben mit Tücke und einer Kostümierung als Baumstumpf (der beinahe gefällt wird), und die Deutschen halten immerzu die Hände hoch und werden ununterbrochen besiegt, beinah so wie die Franzosen in dem Weltkriegsfilm des Herrn Hugenberg. Der Unterschied zwischen den beiden Filmen ist überhaupt nicht so sehr groß – nur ist Chaplin seiner eine Spur seriöser. Und dann erscheint ein Auto, und die beiden Chauffeure haben breite Mützenbänder mit Adlern drauf, aber was Sie denken, ist nicht. Kein Kronprinz wird hier gefangengenommen, kein Kaiser wird hier gefangengenommen, kein Hindenburg wird hier gefangengenommen. „Ein“ Offizier... Ja, wir wahren unsre Würde im Ausland. Es gibt kaum eine deutsche Auslandsvertretung, die offen und ehrlich zur Republik steht, und es gibt überhaupt keine, in der etwas von Demokratie zu merken wäre – aber unsrc Würde, die wahren sie. Wir trauen uns nicht, die Fahne der Republik im Ausland zu zeigen, denn unsre Republik ist auf den Feiern des Reichsbanners soo groß und in der Gösch soo klein – aber nun haben sie glücklich die Filmbilder, in denen Hindenburg und die andern erscheinen, herausgestrichen, und nun wirkt der Film wirklich deutschfeindlich, obgleich ers gar nicht ist. Denn während vorher die Farce durch die vollkommene Sinnlosigkeit übersteigert war, sich so von der Wahrheit gänzlich entfernend, liegt nun eine Spur von Gesinnung in dem zusammengeschnittenen Film, von dem Chaplin nichts weiß. Es geht nichts über Diplomatie. 209
Und wie ich mir so die Lachtränen wegwische, denke ich, was das für eine Nummer von Republik ist. Wenn zum Beispiel ein höherer deutscher Polizeibeamter in Kopenhagen mit seinen französischen, dänischen, schwedischen Kollegen am Tisch sitzt, dann läßt er als Tafelfähnchen die alten Farben seines Kaisers aufziehen... „Die Herren lieben die neue Farbe nicht", sagt der Wirt. „Sie nennen sie: Heringssalat." Mit dem Takt ist das so eine Sache: man hat ihn, oder man hat ihn nicht. Wozu sollte ihn dieser haben? Die Republik bezahlt ihm sein Gehalt, das er grinsend einstreicht, Achtung verlangt sie nicht von ihm, und es geht nichts über die Lümmelhaftigkeit von nationalen Deutschen, die sich im Ausland herumtreiben. Über Ernst Tollers Aufenthalt in Kopenhagen gibt es nur eine Stimme des Lobes. Aber das ist freilich ein Landesverräter, der hier den billigen Ruhm verschmäht hat, vor Fremden auf Deutschland zu schelten. Ein Beamter darf das tun, und er tut recht daran. Mancher verdients nicht anders. Der Film „Das Gewehr über!" aber sollte an einer Stelle gespielt werden, wo er noch nie gespielt worden ist, und wohin er gehört. Ob dieser Film heute noch im Ausland von jener innern Aktualität ist, die seine Wiederaufnahme rechtfertigt, ist Sache seiner Beschauer. Auf einen Fleck Erde aber gehörte er, vor einer Gattung Menschen, die den Mut nicht aufbringen, zu Ende zu denken, die in Lüge leben und in Kompromissen. Dieser helle Film gehört in das dunkelste Deutschland. Übern Rhein, Chaplin, übern Rhein –! 1927
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WEIMARER BILDERBOGEN
FEIND IM LAND
Das Heil von außen Was wir bereits gestorben glaubten, ist, hols der Teufel, wieder da: die alten achselstückberaupten Kommis der Militaria. Das wandelt wie in alten Tagen, für alles Neue gänzlich taub: man trägt nur manches auf dem Kragen und ist ein Kerl mit Eichenlaub. Das sind doch alles Kleidermoden: der Ärmelschmuck und wie das heißt... Man stellt sich einfach auf den Boden der neuen Welt – im alten Geist. Und haben wir den Krieg verloren: die Herren, silberig besternt, verschließen ihre langen Ohren – sie haben nichts dazugelernt. Und nur ein Friede kann uns retten, ein Friede, der dies Heer zerbricht, zerbricht die alten Eisenketten – Der Feind befreit uns von den Kletten. Die Deutschen selber tun es nicht. 1919
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Die Reichswehr Dies soll hier nur stehen, um in acht Jahren einmal zitiert zu werden. Und auf daß ihr dann sagt: Ja – das konnte eben Keiner voraussehen! Ich halte es für meine Pflicht, noch einmal die beiden sozialdemokratischen Parteien auf die Gefahr aufmerksam zu machen, die von der Reichswehr droht. Die Truppe, in hundert und aberhundert überflüssige Detachements gegliedert – überflüssig ihrer Quantität, überflüssig ihrer Qualität nach –, liegt hauptsächlich in kleinen und kleinsten Orten. Damit die Herren unter sich sind. Der Drill ist genau so wie unter dem Kaiser –, nein, er ist schlimmer, verschärfter, bösartiger, der Zeit noch mehr ins Gesicht schlagend als schon damals. Ich habe Nachrichten, die alle dasselbe besagen: viele Offiziere politisieren, schikanieren, sind Gegner der Republik – und die Leute fürchten sich. Sie fürchten sich vor dienstlichen Unannehmlichkeiten; sie fürchten sich, vor eine Republik zu treten, die diesen Schutz gar nicht haben will und die sie gegen die vorgesetzten Monarchisten nicht schützt; sie fürchten sich vor der Entlassung und vor noch Ärgerm. Wer die Verhältnisse kennt, wird diese Andeutung verstehen. In den Soldatenzimmern wimmelt es von kaiserlichen Abzeichen, von Kaiserbildern, von nationalistischen Broschüren und Zeitungen. Die Offiziere, ältere Generalstäbler und sehr junge Herren, pflegen genau dieselbe Lebens- und Staatsauffassung, deren Rückständigkeit uns in jenes Unglück gestürzt hat. Ihre politische Zuverlässigkeit verträgt keine Prüfung. Der Milliarden-Etat geht Jahr um Jahr, mit schönen Sparsamkeitsreden begleitet, im Reichstag durch – die Abgeordneten der Mehrheitssozialdcmokratie versagen bei Wehrfragen in den Ausschüssen und im Plenum. Die Unabhängigen allein schaffens nicht. Wirklich sachverständige Militär-Spezialisten scheint es nicht zu geben. Jedenfalls merkt man nichts von ihnen. Fast gänzlich unbeachtet, in aller Stille, reift hier ein Werk, das heute noch abzutöten ist. Über die Notwendigkeit einer Reichswehr läßt sich streiten – über die Beschaffenheit dieser Reichswehr gibt es nur eine Meinung: sie muß geändert werden. Geßler zählt nicht – denn er 213
ist nicht Herr über seine Leute. Er hat alle Eigenschaften Noskes – ohne dessen schlimme. Also gar keine. Einst wird kommen der Tag, wo wir hier etwas erleben werden. Welche Rolle die Reichswehr bei diesem Erlebnis spielen wird, beschreiben alle Kenner auf gleiche Weise. Der Kapp-Putsch war eine mißglückte Generalprobe. Die Aufführung ist aufgeschoben. Die Realpolitiker, viel klüger und erfahrener als wir Outsider, werden mir antworten, der Staat habe jetzt keine Zeit – er müsse seine ganze Kraft an die außenpolitischen Probleme wenden. Ich will aber nicht in acht Jahren hier eine Serie Standgerichte haben, die die gewissen raschen Kneifer nicht, wohl aber alle andern treffen werden. Ich will nicht meine Steuern für Menschen ausgeworfen wissen, die nichts anderes im Kopf haben als ihre überlebte Zeit und ihre Ideale – Ideale, deren Unwert nur noch von ihren forschen Vertretern übertroffen wird. Ich will nicht. Viele wollen nicht. Und ich halte es für eine Pflichtverletzung der beamteten und gewählten Volksvertreter, sich auf Meldungen zu verlassen, die verlogen sind, und auf Gruppen zu hören, die warten und warten... Ihre Zeit kommt. Bedankt euch in acht Jahren bei dieser Regierung, diesem Staatsrat, diesem Reichstag. 1922
Ist es denn nun wirklich wahr, was man hat vernommen – daß sich die feindlichen Hauptquartiere im Kriege auf gegenseitige Vereinbarung geschont haben? Es galt nicht als fair, die Oberste Heeresleitung und das GQG. mit Fliegerbomben zu belegen – das war gegen die Spielregeln. Wenn das wahr ist, dann haben wir hier einen der zahllosen Beweise dafür, daß für die Militärkaste der Krieg Selbstzweck ist. Herr von Seeckt hat einmal in einem Vortrag auch uns Pazifisten einiges erzählt – neu war es nicht, gescheit war es nicht, richtig war es nicht. Nur die braven Demozeitungen fielen auf ihn herein, weil ihre Re214
dakteure nicht reiten können. Seeckt ließ wieder erkennen, wie sich jeder Mensch eine Welt zu formen sucht, in der er den Mittelpunkt abgibt, daher denn ein Weltbild niemals etwas andres aufzeigt als die Beschaffenheit des Apostels. Seeckt braucht den Krieg – in ihm liegen seine Fähigkeiten. Wir wollen den Frieden – in ihm liegen die unsern. Die Schonung des feindlichen Hauptquartiers wird von den Kriegshetzern sicherlich als Ritterlichkeit ausgelegt; sie war aber grade von deren Standpunkt aus Landesverrat und persönliche Feigheit der Generalstabsoffiziere auf beiden Seiten. Der Krieg: das ist für sie so etwas wie ein blutiges Schachspiel gewesen; man wirft nicht das Brett um, man zieht. Um ungestörter ihre Mannschaften in einen Tod zu schicken, den sie niemals gekostet haben, erklärten sie ihre Blutzentren für tabu. Das ist nicht nur im nationalen Sinne ein Verbrechen, wie gleichgültig könnte uns das sein! Es ist eine hundsgemeine inkonsequente Konsequenz von Anschauungen, die immer und unter allen Umständen als verbrecherisch anzusehen sind. Einbrecher, die ihr Werkzeug nicht rosten lassen wollen. Wir wollen es ihnen schartig machen, wo wir nur können. 1929
Olle Kamellen? Vor der Front ein junger Bengel, Er moniert die Fehler, die Schlappheit, die Mängel. Im Gliede lauter alte Leute. ... Schlechter Laune der Leutnant heute... „Das kann ich der Kompanie erklären: Ich werde euch Kerls das Strammstehen schon lehren! Nehmen Sie die Knochen zusammen, Sie Schwein!“ Und das soll alles vergessen sein? Drin im Kasino ist größer Trubel. Gläserklingen. Hurragejubel… Sieben Gänge, dreierlei Weine. 215
Der Posten draußen hat kalte Beine. Er denkt an Muttern, an zu Haus; die Kinder, schreibt sie, sehn elend aus. Drin sind sie lustig und krähen und schrein – Und das soll alles vergessen sein? Und das sei alles vergeben, vergessen? Die Trine nach unten? der Diebstahl am Essen? Bei Gott! das sind keine alten Kamellen! Es wimmelt noch heute von solchen Gesellen! Eingedrillter Kadaverrespekt – wie tief der noch heut in den Köpfen steckt! Er riß uns in jenen Krieg hinein – Und das soll alles vergessen sein? Nicht vergessen. Wir wollen das ändern. Ein freies Land unter freien Ländern sei Deutschland – mit freien Bewohnern drin, ohne den knechtischen Dienersinn. Wir wollen nicht Rache an Offizieren. Wir wollen den deutschen Sinn reformieren. Sei ein freier Deutscher – Bruder, schlag ein! Und dann soll alles vergessen sein! 1919
Nebenan Im Schankzimmer einer Berliner Kneipe. Nach der Polizeistunde. Der Wirt döst hinter der Theke. Aus den Zapfhähnen fallen monoton Tropfen auf das Blech. Im spärlichen Licht der zwei trüben Gasflammen kauert eine dunkle Gestalt an einem Tisch. Aus dem Extrazimmer tönen Stimmen. Der Wirt (fährt auf): Na, Willem – nu jeh man nach Hause –! Feierahmt!
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Die Gestalt: Laß mir noch ‘n bisken, Paul! Bei mir zu Hause frier ick zu Puppenlappen. Wir ham keene Kohlen. Du sitzt ja hier doch noch... Wejen die da... Wie lange kann ‘n diß noch dauern? Der Wirt: Na, die machen noch lange! Wat ‘n richtja Kriejerverein ist, der hört nich vor morjens sechsen uff. Uah... Die Gestalt: Sei ma stille! Hör ma –! (Im Extrazimmer klopft jemand an ein Glas. Es wird still.) Eine Stimme: Karaden! Im Andenken an das zweite Garderement zu Fuß bitte ich Sie, mit mir unsrcs allerhöchsten Kriegsherrn und seiner Paladine zu gedenken. Wer wie wir vier Jahre lang Schulter an Schulter im Felde gestanden hat, wer wie wir die gleichen Gefahren, die gleichen Entbehrungen ausgehalten hat – der hat die Pflicht, die über das Reich hereingebrochene rote Gefahr... Die Gestalt (ist aufgestanden. Alter Mantel mit weiten Ärmeln, abgeschabt und ärmlich): Watn? Wer issn det –? Die Stimme:... auch fürderhin die Säulen von deutscher Sitte und deutscher Art zu vertreten die Ehre haben. Von hinten erdolcht, hat unser tapferes Heer, die ungeheuren Opfer nicht scheuend, bis zum letzten Hauch von Mann und Roß... Die Gestalt: Nanu? Die Stimme kenn ick doch... Det is doch... Paule...! Der Wirt: Wat hastn? Die Stimme: Wir Offiziere voran, hat das zweite Garderement zu Fuß immer seinen Mann gestanden, wenn es galt, die Fahnen unsres allerhöchsten Kriegsherrn... Die Gestalt; Paul! Der Wirt: Schnauze! Wat machste hier sonnen Krach? Die Gestalt (nähert sich der Tür): Det is er! Det is er! Und wenn ick hunnert Jahr alt wer, die Stimme vajeß ick nich! Det is er! Der Wirt: Wißte leise sein! Wer is det –? Die Gestalt: Unsa olla Kompanieführer! Is det son kleena Dicka? 217
Der Wirt: Ja doch – mit Jlupschoogen! Die Gestalt: Det is er! Natürlich is er det! Wat saacht er da? Die Stimme: Folgen Sie auch weiterhin meinem Vorbild, unserm Vorbild, und seien Sie eingedenk... Die Gestalt: Paul – er hat se alle in Kasten jesteckt! Wer eenen Fußlappen zuwenig hatte: rin in Kasten! Paul! er hat se anbinden lassen, vastchste... die Beljier immer munter drum rum... die ham jelacht, die Äster... er hat ooch jelacht. Wir hatten ihn in Jarneson..., ick ha damals Wache jeschohm. Jede Nacht kam er mit ‘ne andre Sau ruff – ick hab immer missen präsentieren! Wat saacht er? Die Stimme: Solange Deutschland solche Männer hat wie Ludendorff und seine Offiziere, kann es nicht untergehn –! Die Gestalt: Ick hau...! Der Wirt: Willem! Jeh von de Dhiere wech! Mach dir nich unjlicklich! Die Gestalt: Ick habe zweendreißich Mark Rente – un der? Der Wirt: Wißte von de Dhiere wech! Die Stimme: Un so bitte ich Sie, mit mir anzustoßen auf das Wohl... Die Gestalt: Hab keene Angst, Paule. Ick kann ja die Dhiere janich uffkriejen. Ick... (er schwenkt seine weiten Ärmel. Sie sind leer). Das Nebenzimmer: Hurra! Ra! Rra –! 1922
Der Mann am Schlagzeug Der kleine fast dreieckige Mund tut sich ein wenig auf. Du nur du – raubst mir meine Ruh –
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Rammpammpammpamm – klatschen die Schlägel auf das trockne Holz des Paukenrandes. Viele Paare tanzen; die Sitzenden sehen zu und sind, weil sie sitzen, ironisch-überlegen; Gents gehen durch den langen Raum, die Hände lässig in den Hosen, mit gelangweiltem Gesicht und einer leichten Angst vor dem Ober. Dein, nur dein – will ich sein singt der Mann am Schlagzeug. Seine Augen liegen tief in den Höhlen, er hat eine kantige Reiternase, schwere Lider, einen runden Verbrecherkopf. Singt Idiotien. Das ist dieselbe Stimme, die damals in Lichtenberg auf dem Hof herumgebrüllt hat: „Komm her, du Aast Da stell dich hin! Du Sau! Deine Frau kann zusehen, wie wir mit euch Arbeiterschweinen umgehen! Hund, verfluchter...“ Und ein Schuß. Über das leichte Fettkinn steigen die Melodien: Ich erwart sich schon in Yokohama – Die eisesglatte Kälte des Rhythmus klappert; die ganze Kapelle zusammen ist nur wenig älter als das Opfer von damals, auf dem Hof. Es war nicht das einzige... Denn das ist so hübsch mit anzusehen: Die Verbrechernaturen, die den Drang, ihre Orgasmen mit Blut zu ölen, dadurch legitimierten, daß sie in die Freikorps eintraten, sind unbestraft; der Volkskörper hat sie aufgesogen, sie sind alle noch da. Und arbeiten. Und sind Weinagenten. Und Bahnhofs-Gepäckträgcr. Und Schlagzeugmänner. Nur manchmal, wenn der Tag schön war und das Lebensgefühl stärker, steigt eine kleine Erinnerung auf. Wie Stimmengewirr schlägt es an ihr inneres Ohr. „Gnade! Ich war das nicht! Meine Frau! Meine Kinder!“ Und: „Halt die Fresse, du Bolschewisten-Sau! Halt Schnauze! An die Wand! Schwein! An die Wand!“ In Nischni-Nowgorod da gibts kein Kußverbot – Der Mann am Schlagzeug bricht mit einem gestopften Laut ab, die Melodie auch. Vornehm erhebt er sich, ein fataler Duft von Jodoform 219
ist um ihn. Er geht mit jenem seltsamen Schritt durchs Lokal, wie ihn Leute haben, die nie genau wissen, ob sie gerade Lakaien oder Herren sind. Er ist sauber rasiert, dreieckig hängt sein Taschentuch aus der Brusttasche, ein Herr... Ein Wunder, daß er keine Pension bezieht. 1927
Rosen auf den Weg gestreut Ihr müßt sie lieb und nett behandeln, erschreckt sie nicht – sie sind so zart! Ihr müßt mit Palmen sie umwandeln, getreulich ihrer Eigenart! Pfeift euerm Hunde, wenn er kläfft –: Küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft! Wenn sie in ihren Sälen hetzen, sagt: „Ja und amen – aber gern! Hier habt ihr mich – schlagt mich in Fetzen!“ Und prügeln sie, so lobt den Herrn. Denn Prügeln ist doch ihr Geschäft! Küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft! Und schießen sie –: du lieber Himmel, schätzt ihr das Leben so hoch ein? Das ist ein Pazifisten-Fimmel! Wer möchte nicht gern Opfer sein? Nennt sie: die süßen Schnuckerchen, gebt ihnen Bonbons und Zuckerchen... Und verspürt ihr auch in euerm Bauch den Hitler-Dolch, tief, bis zum Heft –: Küßt die Faschisten, küßt die Faschisten, küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft –! 1931 220
NIE WIEDER KRIEG!
Drei Minuten Gehör! Drei Minuten Gehör will ich von euch, die ihr arbeitet –! Von euch, die ihr den Hammer schwingt, von euch, die ihr auf Krücken hinkt, von euch, die ihr die Feder führt, von euch, die ihr die Kessel schürt, von euch, die mit den treuen Händen dem Manne ihre Liebe spenden – von euch, den Jungen und den Alten –: Ihr sollt drei Minuten innehalten. Wir sind ja nicht unter Kriegsgewinnern. Wir wollen uns einmal erinnern. Die erste Minute gehöre dem Mann. Wer trat vor Jahren in Feldgrau an? Zu Hause die Kinder – zu Hause weint Mutter... lhr: feldgraues Kanonenfutter –! Ihr zogt in den lehmigen Ackergraben. Da saht ihr keinen Fürstenknaben: der soff sich einen in der Etappe und ging mit den Damen in die Klappe. Ihr wurdet geschliffen. Ihr wurdet gedrillt. Wart ihr noch Gottes Ebenbild? In der Kaserne – im Schilderhaus wart ihr niedriger als die schmutzigste Laus. Der Offizier war eine Perle, aber ihr wart nur „Kerle“! Ein elender Schieß- und Grüßautomat. „Sie Schwein! Hände an die Hosennaht –!“ Verwundete mochten sich krümmen und biegen: kam ein Prinz, dann hattet ihr strammzuliegen. Und noch im Massengrab wart ihr Schweine: Die Offiziere lagen alleine! 221
Ihr wart des Todes billige Ware... So ging das vier lange blutige Jahre. Erinnert ihr euch –? Die zweite Minute gehöre der Frau. Wem wurden zu Haus die Haare grau? Wer schreckte, wenn der Tag vorbei, in den Nächten auf mit einem Schrei? Wer ist es vier Jahre hindurch gewesen, der anstand in langen Polonäsen, indessen Prinzessinnen und ihre Gatten alles, alles, alles hatten – –? Wem schrieben sie einen kurzen Brief, daß wieder einer in Flandern schlief? Dazu ein Formular mit zwei Zetteln... wer mußte hier um die Renten betteln? Tränen und Krämpfe und wildes Schrein. Er hatte Ruhe. Ihr wart allein. Oder sie schickten ihn, hinkend am Knüppel, euch in die Arme zurück als Krüppel. So sah sie aus, die wunderbare große Zeit – vier lange Jahre... Erinnert ihr euch –? Die dritte Minute gehört den Jungen! Euch haben sie nicht in die Jacken gezwungen! Ihr wart noch frei! Ihr seid heute frei! Sorgt dafür, daß es immer so sei! An euch hängt die Hoffnung. An euch das Vertraun von Millionen deutschen Männern und Fraun. Ihr sollt nicht strammstehn. Ihr sollt nicht dienen! Ihr sollt frei sein! Zeigt es Ihnen! Und wenn sie euch kommen und drohn mit Pistolen –: Geht nicht! Sie sollen euch erst mal holen! Keine Wehrpflicht! Keine Soldaten! Keine Monokel-Potentaten! Keine Orden! Keine Spaliere! Keine Reserveoffiziere! 222
Ihr seid die Zukunft! Euer das Land! Schüttelt es ab, das Knechtschaftsband! Wenn ihr nur wollt, seid ihr alle frei! Euer Wille geschehe! Seid nicht mehr dabei! Wenn ihr nur wollt: bei euch steht der Sieg! – Nie wieder Krieg – 1922
Krieg dem Kriege Sie lagen vier Jahre im Schützengraben. Zeit, große Zeit! Sie froren und waren verlaust und haben daheim eine Frau und zwei kleine Knaben, weit, weit –! Und keiner, der ihnen die Wahrheit sagt. Und keiner, der aufzubegehren wagt, Monat um Monat, Jahr um Jahr... Und wenn mal einer auf Urlaub war, sah er zu Haus die dicken Bäuche. Und es fraßen dort um sich wie eine Seuche der Tanz, die Gier, das Schiebergeschäft. Und die Horde alldeutscher Skribenten kläfft: „Krieg! Krieg! Großer Sieg! Sieg in Albanien und Sieg in Flandern!“ Und es starben die andern, die andern, die andern... Sie sahen die Kameraden fallen. Das war das Schicksal bei fast allen: Verwundung, Qual wie ein Tier, und Tod. Ein kleiner Fleck, schmutzigrot – und man trug sie fort und scharrte sie ein. Wer wird wohl der nächste sein? Und ein Schrei von Millionen stieg auf zu den Sternen. Werden die Menschen es niemals lernen? 223
Gibt es ein Ding, um das es sich lohnt? Wer ist das, der da oben thront, von oben bis unten bespickt mit Orden, und nur immer befiehlt: Morden! Morden! Blut und zermalmte Knochen und Dreck... Und dann hieß es plötzlich, das Schiff sei leck. Der Kapitän hat den Abschied genommen und ist etwas plötzlich von dannen geschwommen. Ratlos stehen die Feldgrauen da. Für Wen das alles? Pro patria? Brüder! Brüder! Schließt die Reihn! Brüder! das darf nicht wieder sein! Geben sie uns den Vernichtungsfrieden, ist das gleiche Los beschieden unsern Söhnen und euern Enkeln. Sollen die wieder blutrot besprenkeln die Ackergräben, das grüne Gras? Brüder! Pfeift den Burschen was! Es darf und soll so nicht weitergehn. Wir haben alle, alle gesehn, wohin ein solcher Wahnsinn führt – Das Feuer brannte, das sie geschürt. Löscht es aus! Die Imperialisten, die da drüben bei jenen nisten, schenken uns wieder Nationalisten. Und nach abermals zwanzig Jahren kommen neue Kanonen gefahren. – Das wäre kein Friede. Das wäre Wahn. Der alte Tanz auf dem alten Vulkan. Du sollst nicht töten! hat einer gesagt. Und die Menschheit hört’s, und die Menschheit klagt. Krieg dem Kriege! Und Friede auf Erden. 1919 224
Rote Melodie Für Erich Ludendorff Gesungen von Rosa Valetti
Die Frau singt: Ich bin allein. Es sollt nicht sein. Mein Sohn stand bei den Russen. Da fuhr man sie, wie’s liebe Vieh, zur Front – in Omnibussen. Und da – da blieb die Feldpost weg – Haho! Er lag im Dreck. Die Jahre, die Jahre, sie gingen trag und stumm. Die Haare, die Haare sind grau vom Baltikum... General! General! Wag es nur nicht noch einmal! Es schrein die Toten! Denk an die Roten! Sieh dich vor! Sieh dich vor! Hör den brausend dumpfen Chor! Wir rücken näher ran – Kanonenmann! Vom Grab – Schieb ab –! Ich sah durchs Land im Weltenbrand – da weinten tausend Frauen. Der Mäher schnitt. Sie litten mit mit hunderttausend Grauen. Und wozu Todesangst und Schreck? Haho! Für einen Dreck! Die Leiber – die Leiber – sie liegen in der Erd. Wir Weiber – wir Weiber – wir sind nun nichts mehr wert... General! General! 225
Wag es nur nicht noch einmal! Es schrein die Toten! Denk an die Roten! Sieh dich vor! Sieh dich vor! Hör den brausend dumpfen Chor! Wir rücken näher ran, Kanonenmann! Zum Grab! – Schieb ab –! In dunkler Nacht, wenn keiner wacht – : dann steigen aus dem Graben der Füsilier, der Musketier, die keine Ruhe haben. Das Totenbataillon entschwebt – Haho! zu dem, der lebt. Verschwommen, verschwommen hörst dus im Windgebraus. Sie kommen! Sie kommen! und wehen um sein Haus... General! General! Wag es nur nicht noch einmal! Es schrein die Toten! Denk an die Roten! Sieh dich vor! Sieh dich vor! Hör den unterirdischen Chor! Wir rücken näher ran – du Knochenmann! – im Schritt! Komm mit –! 1922
Der Graben Mutter, wozu hast du deinen aufgezogen? Hast dich zwanzig Jahr mit ihm gequält? Wozu ist er dir in deinen Arm geflogen, 226
und du hast ihm leise was erzählt? Bis sie ihn dir weggenommen haben. Für den Graben, Mutter, für den Graben. Junge, kannst du noch an Vater denken? Vater nahm dich oft auf seinen Arm. Und er wollt dir einen Groschen schenken, und er spielte mit dir Räuber und Gendarm. Bis sie ihn dir weggenommen haben. Für den Graben, Junge, für den Graben. Drüben die französischen Genossen lagen dicht bei Englands Arbeitsmann. Alle haben sie ihr Blut vergossen, und zerschossen ruht heut Mann bei Mann. Alte Leute, Männer, mancher Knabe in dem einen großen Masscngrabe. Seid nicht stolz auf Orden und Geklunker! Seid nicht stolz auf Narben und die Zeit! In die Gräben schickten euch die Junker, Staatswahn und der Fabrikantenneid. Ihr wart gut genug zum Fraß für Raben, für das Grab, Kamraden, für den Graben! Werft die Fahnen fortl Die Militärkapellen spielen auf zu Euerm Todestanz. Seid ihr hin: ein Kranz von Immortellen – das ist dann der Dank des Vaterlands. Denkt an Todesröcheln und Gestöhne. Drüben stehen Vater, Mütter, Söhne, schuften schwer, wie ihr, ums bißchen Leben. Wollt ihr denen nicht die Hände geben? Reicht die Bruderhand als schönste aller Gaben übern Graben, Leute, übern Graben –! 1928 227
Vor Verdun Längs der Bahn tauchen die ersten Haustrümmer auf – ungefähr bei Vitry fängt das an. Ruinen, dachlose Gebäude, herunterhängender Mörtel, Balken, die in die Luft ragen. Nur eine kleine Partie – dann präsentiert sich die Gegend wieder ordentlich und honett, sauber und schön aufgebaut. Viele Häuser scheinen neu. Der Zug hält. Auf dem Nebengleis steht ein Waggon. „FUMEURS“ steht an einer Tür. Ein Pfosten verdeckt die ersten beiden Buchstaben, man kann nur den Rest des Wortes lesen. Verdun, eine kleine Stadt der Provinz. Hat in der neuen Zeit schon einmal daran glauben müssen: im Jahre 1870. Die Besatzung, die damals mit allen militärischen Ehren kapitulierte, zog ab, und die Stadt kam unter deutsche Verwaltung. Der deutsche Beamte, der ihr und dem Departement der Meuse vorgesetzt war, trug den Namen: von Bethmann Hollweg. Man kann eine kleines Heft kaufen: „Verdun vorher und nachher“. Es muß eine hübsche, nette und freundliche Stadt gewesen sein, mit kleinen Häuserchen am Fluß, einer Kathedrale, dem Auf und Ab der Wege auf dem welligen Terrain. Und nach jedem Bild von damals ist ein andres eingefügt. So schlimm sieht es jetzt nicht mehr aus: vieles ist aufgebaut, manche Teile haben gar nicht gelitten, das Rathaus ist fast unversehrt geblieben. Aber es handelt sich ja nicht um Verdun, nicht um die kleine Stadt. Um Verdun herum lagen vierunddreißig Forts. Gleich am Ausgang der Stadt die Zitadelle. Sie ist in den Fels gehauen, eine riesige Anlage mit Gängen, die in ihrer Gesamtlänge sechzehn Kilometer ausmachen. Dies und jenes darf man sich ansehen. Schlafräume der Soldaten und Offiziere, heizbar und mit elektrischem Licht. Hier, in diesem Verschlag, hat der General Pétain geschlafen. Ein kleiner Raum, mit Holzwänden, oben offen – Waschgeschirr, Eimer und das Bett stehen noch da. Daneben lagen in kleinen Kabinen zu vieren die Offiziere. In einem Saal steht ein langer Tisch. Auf dem standen in Särgen die Überreste von acht unbekannten Kadavern, und ein Militär legte einen Blumenstrauß auf den einen: das wurde der soldat inconnu, der heute unter dem Arc de Tri228
omphe zu Paris begraben liegt. Die sieben andern ruhen in einem gemeinschaftlichen Grab auf dem Kirchhof Faubourg Pavé bei Verdun. Das Bombardement hat der Felszitadelle nichts anhaben können – außen haben sich wohl Mauersteine gelockert, innen ist alles intakt geblieben. Und dann fahren wir hinaus, ins Freie. Es ist eine weite, hügelige Gegend, mit viel Buschwerk und gar keinem Wald. Immer, wenn man auf eine Anhöhe kommt, kann man weit ins Land hineinsehen. Hier ist eine Million Menschen gestorben. Hier haben sie sich bewiesen, wer recht hat in einem Streit, dessen Ziel und Zweck schon nach Monaten keiner mehr erkannte. Hier haben die Konsumenten von Krupp und Schneider-Creuzot die heimischen Industrien gehoben. (Und wer wen dabei beliefert hatte, ist noch gar nicht einmal sicher.) Auf französischer Seite sind vierhunderttausend Menschen gefallen; davon sind annähernd dreihunderttausend nicht mehr auffindbar, vermißt, verschüttet, verschwunden... Die Gegend sieht aus wie eine mit Gras bewachsene Mondlandschaft, die Felder sind fast gar nicht bebaut, überall liegen Gruben und Vertiefungen, das sind die Einschläge. An den Wegen verbogene Eisenteile, zertrümmerte Unterstände, Löcher, in denen einst Menschen gehaust haben. Menschen? Es waren wohl kaum noch welche. Da drüben, bei Fleury, ist, ein Friedhof, in Wahrheit ein Massengrab. Zehntausend sind dort untergebracht worden – zehntauscndmal ein Lebensglück zerstört, eine Hoffnung vernichtet, eine kleine Gruppe Menschen unglücklich gemacht. Hier war das Niemandsland: drüben auf der Höhe lagen die Deutschen, hüben die Franzosen – dies war unbesetzt. Lerchen haben sich in die Luft hinaufgeschraubt und singen einen unendlichen Tonwirbel. Ein dünner Fadenregen fällt. Der Wagen hält. Diese kleine Hügelgruppe: das ist das Fort Vaux. Ein französischer Soldat führt, er hat eine Karbidlampe in der Hand. Einer raucht einen beißenden Tabak, und man wittert die Soldatenatmosphäre, die überall gleich ist auf der ganzen Welt: den Brodem von Leder, Schweiß und Heu, Essensgeruch, Tabak und Menschenausdünstung. Es geht ein paar Stufen hinunter.
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Hier. Um diesen Kohlenkeller haben sich zwei Nationen vier Jahre lang geschlagen. Da war der tote Punkt, wo es nicht weiter ging, auf der einen Seite nicht und auf der andern auch nicht. Hier hat es Halt gemacht. Ausgemauerte Galerien, mit Beton ausgelegt, die Wände sind feucht und hassen. In diesem Holzgang lagen einst die Deutschen; gegenüber, einen Meter von ihnen, die Franzosen. Hier mordeten sie, Mann gegen Mann, Handgranate gegen Handgranate. Im Dunkeln, bei Tag und bei Nacht. Da ist die Telephonkabine. Da ist ein kleiner Raum, in dem wurde wegen der Übergabe parlamentiert. Am 8. Juni 1916 fiel das Fort. Fiel? Die Leute mußten truppweise herausgehackt werden, mit den Bajonetten, mit Flammenwerfern, mit Handgranaten und mit Gas. Sie waren die letzten zwei Tage ohne Wasser. An einer Mauer ist noch eine deutsche Inschrift, mit Schwarzer Farbe aufgemalt, schwach zu entziffern. Und dann gehen wir ins Verbandzimmer. Es ist ein enges Loch, drei Tische mögen darin Platz gehabt haben. Einer steht noch da. An den Wänden hängen kleine Schränke. Oben ist, durch eine Treppe erreichbar, der Alkoven des Arztes. Ich habe einmal die alte Synagoge in Prag besucht, halb unter der Erde, wohin sich die Juden verkrochen, wenn draußen die Steine hagelten. Die Wände haben die Gebete eingesogen, der Raum ist voll Herzensnot. Dieses hier ist viel furchtbarer. An den Wänden kleben die Schreie – hier wurde zusammengeflickt und umwickelt, hier verröchelte, erstickte, verbrüllte und krepierte, was oben zugrunde gerichtet war. Und die Helfer? Welcher doppelte Todesmut, in dieser Hölle zu arbeiten! Was konnten sie tun? Aus blutdurchnäßten Lumpen auswikkeln, was noch an Leben in ihnen stak, das verbrannte und zerstampfte Fleisch der Kameraden mit irgendwelchen Salben und Tinkturen bepinseln und schneiden und trennen, losmeißeln und amputieren... Linderung? Sie wußten ja nicht einmal, ob sie diese Stümpfe noch lebendig herausbekämen! Manchmal war alles abgeschnitten. Die Wasserholer, die Meldegänger – wohl eine der entsetzlichsten Aufgaben des Krieges, hier waren die wahren Helden, nicht im Stabsquartier! –, die Wasserholer, die sich, mit einem Blechnapf in der Hand, aufopferten, kamen in den seltensten Fällen zurück. Und der nächste trat an... Wir sehen uns in dem leeren, blankgescheuerten 230
Raum um. Niemand spricht ein Wort. Oben an dem Blechschirm der elektrischen Lampe sind ein paar braunrote Flecke. Wahrscheinlich Rost... Vor dem Tor hat man für einige der Gefallenen Gräber errichtet, das sind seltene Ausnahmen, sie liegen allein, und man weiß, wer sie sind. An einem hängt ein kleiner Blechkranz mit silbernen Buchstaben: Mon mari. Und an einem Abhang stehen alte Knarren, die flachen, schiefgeschnittenen Feldflaschen der Franzosen, verrostet, zerbeult, löcherig. Das wurde einmal an die durstigen Lippen gehalten, Wasser floß in einen Organismus, damit er weiter morden konnte. Weiter, weiter –! Drüben liegt das Fort Douaumont, das überraschend fiel; da die Höhe 304; da das Fort de Tavannes. Teure Namen, wie? Einem alten Soldaten, der hier gestanden hat und lebendig herausgekommen ist, muß merkwürdig zumute sein, wenn er jetzt diese Gegend wiedersieht, still, stumpf, kein Schuß. Weit da hinten am Horizont raucht das, was dem deutschen Idealismus 1914 so sehr gefehlt hat: das Erzlager von Briey. Und wir fahren weiter. Die Sturmreihen sind in die Erde versunken, die armen Jungen, die man hier vorgetrieben hat, wenn sie hinten als Munitionsdreher ausgedient hatten. Hier vorn arbeiteten sie für die Fabrikherren viel besser und wirkungsvoller. Die Rüstungsindustrie war ihnen Vater und Mutter gewesen; Schule, Bücher, die Zeitung, die dreimal verfluchte Zeitung, die Kirche mit dem in den Landesfarben angestrichenen Herrgott – alles das war im Besitz der Industriekapitäne, verteilt und kontrolliert wie die Aktienpakete. Der Staat, das arme Luder, durfte die Nationalhymne singen und Krieg erklären. Gemacht, vorbereitet, geführt und beendet wurde er anderswo. Und die Eltern? Dafür Söhne aufgezogen, Bettchen gedeckt, den Zeigefinger zum Lesen geführt, Erben eingesetzt? Man müßte glauben, sie sprächen: Weil ihr uns das einzige genommen habt, was wir hatten, den Sohn – dafür Vergeltung! Den Sohn, die Söhne haben sie ziemlich leicht hergegeben. Steuern zahlen sie weniger gern. Denn das Entartetste auf der Welt ist eine Mutter, die darauf noch stolz ist, das, was ihr Schoß einmal geboren, im Schlamm und Kot umsinken 231
zu sehen. Bild und Orden unter Glas und Rahmen – „mein Arthur!“ Und wenns morgen wieder angeht –? Land: da hinten, da ganz hinten lag das Quartier des Kronprinzen. Ein bißchen fern vom Schuß – aber ich weiß: das bringt das Geschäft so mit sich. Und das war früher auch so: die Söhne hatten schon damals die Zentrale für Heimatdienst. Bäume stecken ihre hölzernen Stümpfe in die Luft, die Verse von Karl Kraus klingen auf: „Ich war ein Wald. Ich war ein Wald.“ Das Buschwerk sprießt, überall zieht sich Stacheldraht zwischendurch. An einer Stelle steht ein Denkmal, ein verendeter Löwe. Das war der Punkt, bis zu dem die Deutschen vorgedrungen sind. (Übrigens findet sich nirgends auch nur die leiseste Beschimpfung des Gegners – immer und überall, in den Schilderungen, den Beschreibungen, den Aufschriften wird der Feind als ein kämpfender Soldat geachtet und niemals anders bezeichnet.) Bis hierher ging es also. Das Reich erstreckte sich damals von Berlin bis zu dieser Stelle. Abschiedsküsse auf dem Bahnhof, die Fahrt – 8 Pferde oder 40 Mann – und dann der Tod in diesen Feldern. Dies war der letzte Zipfel. Und dahinter das Land. Da lag dieses ungeheure Heerlager, dieser Jahrmarkt der Eitelkeiten, diese Konzentration von Roheit, Stumpfsinn, Amtsverbrechen, falsch verstandener Heldenhaftigkeit; da fuhren, marschierten, rollten, telephonierten, schufteten und schossen die als Soldaten verkleideten Uhrmacher, Telegraphensekretäre, Gewerkschaftler, Oberlehrer, Bankbeamten, geführt und führend, betrügend und betrogen, mordend, ohne den Feind zu sehen, in der Kollektivität tötend, die Verantwortung immer auf den Nächsten abschiebend. Es war eine Fabrik der Schlacht, eine Mechanisierung der Schlacht, überpersönlich, unpersönlich. „Die Division“ wurde eingesetzt, hineingeworfen – die Werfer blieben draußen –, sie wurde wieder herausgezogen. Achilles und Hektor kämpften noch miteinander; dieser Krieg wurde von der Stange gekauft. Und archaistisch war nur noch die Terminologie, mit der man ihn umlog: das blitzende Schwert, die flatternden Fahnen, die gekreuzten Klingen. Landsknechte? Fabrikarbeiter des Todes. Der Horizont ist grau, es ist, als sei kein Leben mehr in diesem Landstrich. 232
Da kämpften sie, Brust an Brust: Proletarier gegen Proletarier, Klassengenossen gegen Klassengenossen, Handwerker gegen Handwerker. Da zerfleischten sich einheitlich aufgebaute ökonomische Schichten, da wütete das Volk gegen sich selbst, ein Volk, ein einziges: das der Arbeit. Hinten rieben sich welche voller Angst die Hände. Ein Mauerwerk taucht auf, das ist das Denkmal über der Tranchée des Baionettes. Am 11. Juni 1916 wurde hier die Besatzung dieses Grabens – es war die zweite Linie – verschüttet. Keiner entrann. Man fand sie so, unter der Erde, nur die Bajonette ragten aus der Erde. Der Graben ist seit diesem Tag so erhalten; ein Amerikaner, Herr Georges F. Rand, hat einen großen grauen Steinbau darüber errichten lassen. Unten, auf dem zugeschütteten Graben, stehen ein paar Kreuze, liegen Kränze und ragen die Bajonette. Drei Mann müssen außerhalb des Grabens postiert gewesen sein; die Läufe ihrer Gewehre ragen ein paar Zentimeter hoch aus dem Boden, man stolpert über sie. Eine Mutter kann ihr Kind hierherführen und sagen: „Siehst du? Da unten steht Papa.“ In der Nähe ist ein ossuaire, eine kleine Holzhalle, wo man die Gebeine der Soldaten, die nicht mehr zu identifzieren waren, gesammelt hat. Sie ruhen da, bis eine große Grabkapelle für sie fertiggestellt ist. Die Überbleibsel sind nach Sektoren geordnet. (Was die Offiziere aller Länder anbetrifft, so scheinen sie sämtlich an anstekkenden Krankheiten zugrunde gegangen zu sein – denn warum hat man sie so oft von den Mannschaften abgesondert?) Stereoskope sind aufgestellt mit Bildern aus den Mordtagen. Auf einem ist unter Steintrümmern ein Bein zu sehen. Ein abgerissenes Bein, der Benagelung nach ein deutsches. Auf einem anderen Bild sieht man einen deutschen Gefangenen, einen bärtigen, schlecht genährt aussehenden Mann. Er steht bis zu den Hüften im Graben, er hat kein Koppel mehr, er wartet, was nun noch mit ihm geschehen kann. Im Vordergrund ragen ein paar Stiefel aus dem Schlamm und ein halber Körper. Den kann man nicht mehr gefangen nehmen. Die Franzosen und der Deutsche stehen da zusammen, der Betrachter muß glauben, einen Haufen Wahnsinniger vor sich zu haben. Und das waren sie ja wohl auch. 233
Jetzt regnet es in dichten Strömen. Der Wagen rollt. Der Schlamm spritzt. Und immer wieder Stacheldraht, Steinbrocken, verrostetes Eisen, Wellblech. Ist es vorbei –? Sühne, Buße, Absolution? Gibt es eine Zeitung, die heute noch, immer wieder, ausruft: „Wir haben geirrt! Wir haben uns belügen lassen!“ Das wäre noch der mildeste Fall. Gibt es auch nur eine, die nun den Lesern jahrelang das wahre Gesicht des Krieges eingetrommelt hätte, so, wie sie ihnen jahrelang diese widerwärtige Mordbegeisterung eingebläut hat? „Wir konnten uns doch nicht beschlagnahmen lassen!“ Und nachher? Als es keinen Zensor mehr gab? Was konntet ihr da nicht? Habt ihr einmal, ein einziges Mal nur, wenigstens nachher die volle, nackte, verlaust-blutigc Wahrheit gezeigt? Nachrichten wollen die Zeitungen, Nachrichten wollen sie alle. Die Wahrheit will keine. Und aus dem Grau des Himmels taucht mir eine riesige Gestalt auf, ein schlanker und ranker Offizier, mit ungeheuer langen Beinen, Wickelgamaschen, einer schnittigen Figur, den Scherben im Auge. Er feixt. Und kräht mit einer Stimme, die leicht überschnappt, mit einer Stimme, die auf den Kasernenhöfen halb Deutschland angepfiffen hat, und vor der sich eine Welt schüttelt in Entsetzen: „Nochmal! Nochmal! Nochmal –!“ 1924
Die brennende Lampe Wenn ein jüngerer Mann, etwa von dreiundzwanzig Jahren, an einer verlassenen Straßenecke am Boden liegt, stöhnend, weil er mit einem tödlichen Gas ringt, das eine Fliegerbombe in der Stadt verbreitet hat, er keucht, die Augen sind aus ihren Höhlen getreten, im Munde verspürt er einen widerwärtigen Geschmack, und in seinen Lungen sticht es, es ist, wie wenn er unter Wasser atmen sollte –: dann wird dieser junge Mensch mit einem verzweifelten Blick an den Häusern hinauf, zum Himmel empor, fragen: „Warum –?“
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Weil, junger Mann, zum Beispiel in einem Buchladen einmal eine sanfte grüne Lampe gebrannt hat. Sie bestrahlte, junger Mann, lauter Kriegsbücher, die man dort ausgestellt hatte; sie waren vom ersten Gehilfen fein um die sanft brennende Lampe herumdrapiert worden, und die Buchhandlung hatte für dieses ebenso geschmackvolle wie patriotische Schaufenster den ersten Preis bekommen. Weil, junger Mann, deine Eltern und deine Großeltern auch nicht den leisesten Versuch gemacht haben, aus diesem Kriegsdreck und aus dem Nationalwahn herauszukommen. Sie hatten sich damit begnügt – bitte, stirb noch nicht, ich möchte dir das noch schnell erklären, zu helfen ist dir ohnehin nicht mehr – sie hatten sich damit begnügt, bestenfalls einen allgemeinen, gemäßigten Protest gegen den Krieg loszulassen; niemals aber gegen den, den ihr sogenanntes Vaterland geführt hat, grade führt, führen wird. Man hatte sie auf der Schule und in der Kirche und, was noch wichtiger war, in den Kinos, auf den Universitäten und durch die Presse national vergiftet. So vergiftet, wie du heute liegst: hoffnungslos. Sie sahen nichts mehr. Sie glaubten ehrlich an diese stumpfsinnige Religion der Vaterländer, und sie wußten entweder gar nicht, wie ihr eignes Land aufrüstete: geheim oder offen, je nach den Umständen; oder aber sie wußten es, und dann fanden sies sehr schön. Sehr schön fanden sie das. Deswegen liegst du, junger Mann. Was röchelst du da –? „Mutter?“ Ah, nicht doch. Deine Mutter war erst Weib und dann Mutter, und weil sie Weib war, liebte sie den Krieger und den Staatsmörder und die Fahnen und die Musik und den schlanken, ranken Leutnant. Schrei nicht so laut; das war so. Und weil sie ihn liebte, haßte sie alle die, die ihr die Freude an ihrer Lust verderben wollten. Und weil sie das liebte und weil es keinen öffentlichen Erfolg ohne Frauen gibt, so beeilten sich die liberalen Zeitungsleute, die viel zu feige waren, auch nur ihren Portier zu ohrfeigen, so beeilten sie sich, sage ich dir, den Krieg zu lobpreisen, halb zu verteidigen und jenen den Mund und die Druckerschwärze zu verbieten, die den Krieg ein entehrendes Gemetzel nennen wollten; und weil deine Mutter den Krieg liebte, von dem sie nur die Fahnen kannte, so fand sich eine ganze Industrie, ihr gefällig zu sein, und viele Buchmacher waren auch dabei. Nein, nicht die von der Renn235
bahn; die von der Literatur. Und Verleger verlegten das. Und Buchhändler verkauften das. Und einer hatte eben diese sanft brennende Lampe aufgebaut, sein Schaufenster war so hübsch dekoriert; da standen die Bücher, die das Lob des Tötens verkündeten, die Hymne des Mordes, die Psalmen der Gasgranaten. Deshalb, junger Mann. Ehe du die letzte Zuckung tust, junger Mann: Man hat ja noch niemals versucht, den Krieg ernsthaft zu bekämpfen. Man hat ja noch niemals alle Schulen und alle Kirchen, alle Kinos und alle Zeitungen für die Propaganda des Krieges gesperrt. Man weiß also gar nicht, wie eine Generation aussähe, die in der Luft eines gesunden und kampfesfreudigen, aber kriegablehnenden Pazifismus aufgewachsen ist. Das weiß man nicht. Man kennt nur staatlich verhetzte Jugend. Du bist ihre Frucht; du bist einer von ihnen – so, wie dein fliegender Mörder einer von ihnen gewesen ist. Darf ich deinen Kopf weicher betten? Oh, du bist schon tot. Ruhe in Frieden. Es ist der einzige, den sie dir gelassen haben. 1931
Die Herren Eltern Ist ein Schullehrer Pazifist und sagt, wie es in Wahrheit im Kriege ist – : daß Generale Kriegsinteressenten sind, ganz gleich, wer verliert; ganz gleich, wer gewinnt... dann – sollte man meinen – freun sich die Eltern für ihr Kind? Jawoll! Dann erhebt sich ein ungeheures Elterngeschrei: „Raus mit dem Kerl! Das ist Giftmischerei! Unser Junge soll lernen, wie schön die Kriege sind! Wir warten schon drauf, wann wieder ein neuer beginnt – und dazu liefern wir gratis und franko l Kind! Jawoll!“
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Die Elternbegeisterung ist ganz enorm. Die Mütter: aus Liebe zur Uniform. Die Väter, die Lieferanten für den Schützengraben, denken: warum sollen denn diese Knaben es besser als unsereiner haben? Nicht wahr? Die Fabrikation eines Kindes ist nicht sehr teuer. Aber erhöh mal ein bißchen die Umsatzsteuer – : Dann kreischen die Herren Eltern, daß der Ziegel vom Dache fällt. Man trennt sich leicht vom Kind. Aber schwer vom Geld. Bekommt das Kind einen Bauchschuß? Das macht ihnen keine Schmerzen. Doch ihr Geld – das lieben die Herren Eltern von Herzen. Jawoll! Mitleid mit den Opfern, die da fallen für Petroleum, für Fahnen, für Gold –? Die Herren Eltern haben es so gewollt. 1932
Deutsche Kinder in Paris Im Pariser Gewerkschaftshaus, in der rue Grangeaux-Belles lärmt der große, braungraue Versammlungssaal. Kinder, überall Kinder. In einer Ecke stehen Pakete, Kisten, Rucksäcke: Nahrungsmittel, Stoffe, kleine Käfige mit Meerschweinchen und Kaninchen – das wird jetzt auf die Bahn geschafft. Frauen sitzen auf den Bänken, Arbeiterfrauen. Man sieht viele verheulte Gesichter. Hier wird Abschied genommen: ein Transport deutscher Kinder, die sechs Monate zu Besuch bei den französischen Genossen waren, nimmt Abschied. Die Internationale Arbeiterhilfe, die dieses wundervolle Werk organisiert und ermöglicht hat, hat damit den deutschen Proletarierkindern sechs materiell sorglose Monate bereitet. Selbstverständlich machte die deutsche Regierung ihre traditionellen Kindereien: sie setzte dem Werk der Völkerversöhnung zunächst die Schwierigkeiten entgegen, die sie in ihrer Jämmerlichkeit immer macht, wenn 237
etwas gegen die Diktatur der Industrie- und Militärkaste in Deutschland geschieht. In aufopfernder Arbeit verteilten die französischen Genossen – insbesondere der Genosse Detilleuil – die Kinder auf viele französische Städte. Sie sprechen alle Französisch, manche noch stockend, nicht ganz richtig; alle verstehen es. Es ist drollig, zu hören; wie eine lebend erlernte Sprache so ganz anders in die Gehirne eindringt – man fühlt ordentlich, wie die Worte „petite fille“ ein einziger Begriff sind, wie keine Grammatik die Formung geprägt hat. Die Kinder sehen ausgezeichnet aus: blühend, gesund, gepflegt, aufgepäppelt. Ein kleines Mädchen, das artig neben ihrer französischen Pflegemutter sitzt, hat sechzehn Pfund zugenommen: sie ist jetzt nur normal – wie traurig muß sie früher ausgesehen haben! Sie stammt, wie das Pappschildchen auf ihrem kleinen Bauch sagt, aus Berlin. „Freust du dich, wieder zurück nach Hause zu kommen?“ Ich hätte das nicht fragen dürfen. Nein, sie freut sich gar nicht. Die Frau sagt: „Sie hat keine Mutter mehr.“ Aber einen Vater? Ja, einen Vater... „Mais il n’estpas très doux!“ Und sie will wiederkommen, wissen Sie, sie wird wiederkommen... Die Kleine sieht die Frau an. Ich spreche mit den Jungen. Ja, sie haben es hier besser gehabt als zu Hause, sie waren so zufrieden; sie erzählen, was sie alles geschenkt bekommen haben, was sie mitnehmen dürfen. Ein kleiner Dicker ist da, der hat als Delegierter der Kinder bei den Franzosen eine Rede gehalten – er ist sehr stolz darauf. Ein kleines Mädchen: „Und ich habe ein Armband bekommen, aus richtigem Silber – und ich habe meine schlechtesten Kleider angezogen, die guten habe ich alle eingepackt!“ Und Hamburger Jungen sind da, und einige fangen, wenn das Französische nicht so recht will, behaglich an zu sächseln. Die Pflegemütter sitzen auf den langen Bänken, sie sprechen wenig. Viele weinen. Immer wieder umarmen sie die Mädchen, die Jungens – sie dürfen sie nur noch zum Bahnhof begleiten, aber man läßt sie nicht mehr auf den Perron, weil sie das vorige Mal nicht von den Kindern zu trennen gewesen sind. Es hat herzzerreißende Szenen gegeben. Es sind ihre Kinder geworden in den sechs Monaten. Noch einmal gibt es Abendbrot, dann ordnet sich der Haufe zur Abfahrt 238
(den die Deutsche Botschaft in Paris liebevoll und mit großer Tatkraft unterstützt hat). Noch einmal sitzen alle Pfleglinge auf der linken Seite des Saals, die Mütter auf der rechten, gleich sollen die Namen noch einmal aufgerufen werden. Immer wieder fliegen Kußhändchen herüber und hinüber, Koseworte, Rufe... Da tritt ein Redner auf die kleine Tribüne und spricht: zu den Kindern deutsch, zu den Eltern französisch. „Habt ihr euch wohl gefühlt?“ Und alle Kinder im Chor: „Oui!“ – „Dann vergeßt das nicht“, sagt der Redner, „und seid dankbar für die Gastfreundschaft und bewahrt an diese Monate ein gutes Andenken. Und wenn euch später einmal eure Offiziere aufrufen und euch befehlen wollen, auf die französischen Freunde zu schießen, dann tut das nicht und antwortet ihnen: ‚Macht euch euern Krieg alleine –’„ Und dasselbe zu den Eltern in ihrer Sprache. Und Detilleuil spricht zu ihnen im gleichen Sinn. Und dann fahren sie fort, nach Deutschland, und es ist ein schwerer Abschied. Proletarier pflegen ja auch sonst manchmal durch Europa zu reisen – aber nur in größeren Horden und mit einem Schießeisen auf dem Buckel. Hier ist der Beginn eines wahren Friedenswerkes. Hier ist internationale Solidarität der arbeitenden Klassen zur Wirklichkeit geworden, nicht zum ersten Mal, aber in stärkstem Ausmaß. Wenn nicht alles täuscht, so werden diese Kinder schlechte Soldaten werden. Denn was ihnen Bücher und Vorträge nur anzudeuten vermögen, das haben sie nun mit eigenen Augen gesehen: Daß drüben hinter den Schützengräben keine „Feinde“ wohnen, sondern Eltern, sondern Väter, Mütter, Kameraden. Daß man diese Eltern auf beiden Seiten betrogen und belogen hat, wenn man ihnen sagte, auf der andern Seite stehe der Gegner. Er steht ganz, ganz woanders. Die Kinder werden nach Hause kommen, und man wird auf dem deutschen Bahnhof wiederum nicht erlauben, daß sie photographiert werden, damit keiner in Deutschland zu sehen bekommt, wie die Franzosen, die Menschenfresser, Kinder pflegen – diese Kinderstube braucht ihren schwarzen Mann mit den roten Hosen. Soldaten rüsten, Industrien stellen sich um, Richter versuchen, mit ihren kläglichen Formeln die Wahrheit zu drosseln – es nützt nichts. Wenn das Proletariat stark bleibt. 239
Es nützt nichts – wenn die Arbeiter einsehen, daß ein Parteivorstand keine Partei ist; daß es keine Disziplin, sondern Schlafmützigkeit ist, den abgerutschten Göttern von 1914 immer noch zu glauben. Wenn sie einsehen, daß die wichtigtuerischen Reisen offiziös beauftragter Sozialdemokraten eitel Zeit- und Geldverschwendung und zu nichts gut sind; daß der Pazifismus nicht mit taktischen Bedenken und mit greisenhaften Resolutionen erstritten werden kann, sondern nur mit der schärfsten aktiven Resistenz: mit der absoluten Verweigerung des Dienstzwanges und mit dem Generalstreik in den Waffenfabriken; daß die proletarische Energie nicht in den dummschlauen Kommissionen mit den strategischen Winkelzügen aufgefangen und verpulvert werden darf – daß man die volle Wahrheit sagen muß. Die herrschende Klasse in Deutschland will den Krieg. Sie bereitet ihn vor – alle ihre Anhänger dulden ihn schweigend, wenn er da ist; nehmen die östlichen Absatzgebiete aufs Korn, bewilligen den ungeheuerlichen Reichswehretat; lassen die Künder der Wahrheit verhaften. Das muß man erkannt haben, es in der vollen Schwärze sehen, es aussprechen. Und dann muß man nicht gutgläubig in den pazifistischen Friedensgesellschaften sanft schlummern und ehrgeizig primadonnenhaft den Vorsitz führen; dann muß man nicht böswillig in dem kleinbürgerlichen Haufen der Sozialdemokratie die Wahrheit auf morgen verschieben, die andern für dümmer halten, als man selbst ist, sie zu betrügen versuchen, ihnen die Wahrheit verheimlichen, sich eine Rolle anschwindeln, zu Hause mit den „Auslandsbeziehungen“ protzen und, alle Mann hoch, im gegebenen Augenblick das Maul halten – dann muß man zuschlagen. Im Pariser Gewerkschaftssaal saß ein Teil von Deutschlands Jugend. Sie sollen noch oft nach Frankreich kommen. Aber nicht als Stiefelputzer ihrer Etappenkommandanten, um Frauen zwangsweise ärztlich auf Geschlechtskrankheiten zu untersuchen, um Möbel zu stehlen, um Zivilbevölkerung zur Arbeit zu treiben, um Menschen erschießen zu lassen – sie sollen wiederkommen, um ein einziges Wort zu ihren französischen Arbeiterkamcraden zu sagen: Brüder. 1925 240
JUSTITIA
Justitia schwooft! Für Berthold Jacob
Nachts im Treppenhaus des Berliner Kriminalgerichts. Die Justitia, die tagsüber in Stein gehauen dasteht, löst sich von der Wand und tappt, mit verbundenen Augen, einige Schritte vorwärts. Im Halbdunkel leuchtet auf dem Boden ein weißer Strich. Sie geht darauf. Die Justitia: Diese verdammte Binde –! Fort mit dem Zeug – jetzt siehts ja keiner! Ratsch – da liegt die Waage – ich weiß doch, wie gewogen wird – und – Bautsch! da das Schwert! Hol doch der Teufel diesen ganzen Betrieb! Ein netter Aufenthalt soweit – wo ist der Spiegel? (Sie spiegelt sich in einer Glastür. Ordnet ihr Haar. Legt Rot auf, Puder, Lippenstift.) Sie trällert leise vor sich hin: Von vorne – von vorne – da ist er ganz von Hörne – von hinten – von hinten... Die Uhr: Bim – Bam – Bum! Die Justitia: Hab ich mich erschrocken! Das.. das war nur die Uhr...! Na, Uhr – wie gehts denn? Die Uhr: Bum – Die Justitia: Wir beide werden auch nicht jünger, wie? Na, wieviel schlägts denn jetzt bei dir, in der Republike? Die Uhr: Bum – bim – bam – bum – bim – bam – bum – bam – baum – bim – baum – bum – bum! Die Justitia: Dreizehn! Allerleihand! Und ich halte mich hier mit politischen Gesprächen auf! – Wo bleibt er denn? Ei, dort kommt er ja just –! Der Staatsanwalt (pfeift auf zwei Fingern) 241
Die Justitia: Ludwig! Wo bleibst du so lange! Der Staatsanwalt: Meechen...! (Kuß) Wo ick so lange bleibe? Akten ha’ck jeschmiert... Bolschewistensachen! Die Justitia (an seiner Schulter): Du sorgst so nett für Kundschaft, Luichen! Der Staatsanwalt: Allemal. Det du mir die Brieder bloß richtig behandelst! Die Feinen fein – und die Kerls, na: Reichsgericht. Die Justitia: Luichen – mach ichs vielleicht nicht richtig? Marburg? Marloh? Frag mal in Leipzig, warum daß die Talare von meine Reichsgerichtsräte so rot sind – Der Staatsanwalt: Dette mir den Ledebour freijesprochen hast – det kann ick da heute no nich vasseihn! Die Justitia: Nich haun! Der Staatsanwalt: Seh dir vor, Meechen! Treib ick dir dassu die Kundschaft zu? Watt ziehste dir aus? Zieh doch die Jungens aus! Wozu hab ick dir denn det Jeschäft lern lassn? Die Justitia: Luichen! Wo machen wir denn heute ahmt hin? Der Staatsanwalt: Heute nacht? Jehn wa schwoofn! Ins Auditorium Maximum von de Universität! Die janzen Rektoren sind da – lauter orntliche Leute – Reserveoffiziere und so. Kannste was erben! Benimm dir! Die Justitia: Ick wer dir schonst keine Schande machn! Ich will auch immer dein braves Mädchen sein... Mich sieht keiner nackt, aber ich seh sie alle. Du süßer Paragraphen-Lehrling! Der Staatsanwalt: Streiker und Revoluzzer und Demokraten und Spartakisten und Unabhängige und Pennbrüder und Pazifisten und Schriftsteller und Kommunisten und all das Pack – wohin? Die Justitia: Ins Kittchen, Luis! Der Staatsanwalt: Und die Offiziere? Und die feinen Leute? Wohin? Die Justitia: Raus aus die Anklagebank, Luis!
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Der Staatsanwalt: Und wenn sie Republik spielen – was tun wir? Die Justitia: Wir bleiben unserm Kaiser treu! Der Staatsanwalt: Denn was haben wir? Die Justitia: Wir haben die Unabhängigkeit der Justiz! (Achtunddreißig Hühner treten auf, lachen und trippeln wieder ab.) Der Staatsanwalt: Und die Waage? Die Justitia: Hängt schief. Der Staatsanwalt: Und die Binde? Die Justitia: Hat Gucklöcher. Der Staatsanwalt: Und das Schwert? Die Justitia: Ist zweischneidig. Komm, Luis, gehn wir tanzen! Der Staatsanwalt (mit Überzeugung): Du süße Sau –! (Er pfeift auf zwei Fingern.) Beide: Justitia geht schwoofen! – Haste so was schon gesehn! – Sie biegt sich und schmiegt sich – man läßt es geschehn! – So tief duckt kein Knecht sich – wie diese Nation – Justitia, die rächt sich – für die Revolution! – Die Deutschen, die dofen – die geben schon Ruh – Justitia geht schwoofen – sie hats ja dazu –! (Beide keß tanzend ab.) 1928
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Die Tabelle Von deutschen Richtern wurden in der letzten Zeit verurteilt: Angeklagte
Vergehen
Strafe
Junker von Kähne
Überfall auf ein harmloses Reiseautomobil. Drei Gewehrkugeln.
10000 M. Geldstrafe
Heinrich Berth Otto Jungermann
Streichen nachts ein Hohenzollerndenkmal rot an. Dummerjungenstreich
Beide je 2 Jahre Gefängnis
Oberamtmann Frick, ehem. Leiter der bayerischen Polizei
Bezeichnet Redakteure eines USP-Blattes als „Schweinehunde“. Äußerung zum Betriebsrat: „Geht ihnen doch an die Kehle!“
200 M. Geldstrafe
Reichswehrsoldaten Fischer und Standke
Geben die letzte Bitte eines Sterbenden weiter; benachrichtigen den Vater des toten Kameraden über die Gründe des Selbstmordes seines Sohnes.
43 Tage Gefängnis 3 Wochen Arrest
Gräfin Eleonore von Schlieffen, Hanns Heinrich von Schlieffen
Dingen einen Mörder, um einen Verwandten, den sie beerben können, aus dem Wege zu räumen.
2 Jahre Gefängnis 1 1/2 Jahre Gefängnis
Rössel
Der gedungene Mörder.
3 Jahre Gefängnis
USP-Redakteur Bergholz
Hat den Ausdruck „Klassenjustiz“ gebraucht.
5 Monate Gefängnis
So sieht die Rechtsprechung dieses Landes aus. Der sehr rührige Preußische Richterverein, der ebenso vorschnell mit Berichtigungen wie seine Mitglieder mit Verurteilungen bei der Hand ist, möge sich diese Tabelle hinter den Spiegel stecken. Wagt er es, die zweierlei Tonarten, die hier deutlich herauszuhören sind, zu bestreiten? 244
Wir haben es satt. Die Fälle da oben, von denen besonders die Geschichte mit den Reichswehrsoldaten die weitesten Kreise aufgeregt hat, zeigen deutlich, wie diese politische Justiz zu bewerten ist. Ich behaupte: Das Volk hat zu diesen Richtern, wenn es sich um politische Strafprozesse handelt, kein Vertrauen mehr. Und ist es denn ein Wunder? Warum sollen wir denn auf einmal, mit dem Tage des Anstellungszettels, mit dem Tage der Titelverleihung Achtung vor einer Objektivität haben, die – nachweisbar – keinen Tag vorher bestanden hat? Woher kommen denn diese Richter? (Das zu untersuchen kitzelt bei einer Kaste, die alles, alles ihrem Spruch beugen will.) Woher kommen sie –? :“Anton soll studieren!“ sagt der Vater, ein mittlerer Beamter, voller Stolz. Deshalb geht Anton auf ein Gymnasium, lernt dort eine Radau- und Hurra-Geschichte seines Landes, von der außer den Eigennamen kein wahres Wort in den Geschichtsbüchern steht, lernt dort die Autorität verehren – und Autorität ist alles, was grade Macht hat – und kommt dann auf die Universität. Ihr müßtet nur einmal die Vorlesungen eines preußischen Professors über Staatsrecht mitangehört haben, um zu hören, was es alles auf der Welt gibt. „Der Staat ist mächtig, allmächtig, heilig, verehrenswert, Ziel und Zweck der Erdumdrehung – der Staat ist überhaupt alles.“ Und vor allem: er trägt vor niemand eine Verantwortung! Was Wunder, daß den jungen Herren der Kamm schwillt, wenn sie sich vorstellen, daß sie einmal einem solch mächtigen Wesen Handlangerdienste leisten dürfen! – Vorläufig saufen sie noch auf Deutschlands hohen Schulen, trampeln etwelche Juden, wenn die in der Minderzahl sind, heraus und sind überhaupt forsche Kerle. Und dann kommt das Referendarexamen, das in die armen Köpfe einen ungeheuern Wust von trocknen Daten hineinstopft, und sie lehrt, die Dinge durch den Paragraphen zu sehen. Und dann kommen die vier Referendarsjahre... In dieser Zeit darf der aufstrebende Richtergeselle auch bei der Staatsanwaltschaft arbeiten – und was das heißt, kann nicht jeder so leicht würdigen. Dort lernt er das knappe Auftreten, die schneidige Redeweise, die tiefe Verachtung des Pöbels, und weil er niemals aus seiner Klasse, dem Mittelstand, herauskommt, bildet er sich nun 245
langsam ein, dessen Ansichten und Gebräuche seien die ewigen Gesetze der Welt. Und dann wird er Richter. Und ich soll nun – von diesem Tage ab, von dieser Minute ab – glauben, daß ein so vorgebildetes Wesen nun auf einmal all seine Klassenideale, seine Klassenvorstellungen, seine kleinbürgerliche Denkungsart und seine politische Engstirnigkeit vergessen habe? Ein Untertan bleibt ein Untertan, auch wenn er den Talar anzieht und sich eine weiße Binde vorklebt. Auch Richter sind Menschen. Was für welche – zeigt die Tabelle. Und alles, was hier von den Richtern gesagt ist, gilt in viel höherem Maße von den Staatsanwaltschaften: eine gefährliche, ungezügelte Nebenregierung der Republik. Wir alle leiden darunter. Die Justizkaste sperrt sich ab. Durch ein niederträchtiges Siebesystem gelingt es ihr, sogar Schöffen (auf dem Lande) und vor allem die Geschworenen so auszuwählen, daß sie sich in den schlimmsten Fällen immer auf die angebliche „Volksjustiz“ berufen kann, die keine ist: der Arbeiter fehlt fast immer. Für diese Richter bildet folgendes einen wirren Knäuel: Bolschewismus – Proletarier – Sozialdemokratie – Erzber-ger – Juden – Gewerkschaften – Streikende – Dadaismus – Republik – Betriebsräte – die neue Zeit. Und wie auf Stichwort sausen die Urteile herunter. Neulich ist ein betrügerischer Privatdetektiv verurteilt worden: „mit Rücksicht auf die Gefährlichkeit derartiger Eingriffe in die Rechtspflege...“ Retourkutschen fahren zwar nicht – aber manchmal fahren sie doch. Einen Arbeitswilligen anzutippen, kostet ein Drittel des Preises, für den ein Junker den „Bürgerlichen“ ein paar Kugeln um die Ohren knallen darf. „Schweinehunde“, auf Sozialisten gemünzt, sind billig – sie stellen sich auf 200 M. das Stück; teuer ist nur der Ausdruck „Klassenjustiz“. Ich weiß sehr wohl, daß es Elemente unter der Richterschaft gibt, die dieses Treiben auf das heftigste mißbilligen. Warum treten sie nicht öffentlich dagegen auf? Hat man schon einmal auf den Richtertagen davon gehört, daß solche Männer das falsche Klassengefühl durch246
brochen und sich offen über die politische Seite solcher Prozesse ausgesprochen haben? Was man deckt – dafür ist man auch verantwortlich Über die Tabelle da oben ist kein Wort zu verlieren. Ihr besinnt euch alle auf die Fälle – und es müßte eine amüsante Aufgabe sein, einmal zusammenzustellen, was man alles in Deutschland für ein Jahr Gefängnis oder für 500 M. Geldstrafe tun darf. Ihr würdet euer blaues Wunder erleben. Es ist unstatthaft, diesen Richtern vorzuwerfen, sie ließen sich bei den Urteilsprüchen, die da auf uns niedersausen, von böswilligen, politischen Erwägungen leiten. Das ist mir ganz gleichgültig. Es interessiert mich gar nicht, ob sie subjektiv oder objektiv oder sonstwie zu diesen Sprüchen gekommen sind. Die Sprüche sind da – die Sprüche sind falsch – und sie haben dafür einzustehen. Was auf dem Lande, wo abends die Herren Juristen um den runden Stammtisch herum fachsimpeln, auf diesem Gebiet alles vor sich geht – welch horrende Strafen dort ausgesprochen werden für alles, was man auch nur von weitem als „Auflehnung“ ansieht – das spottet jeder Beschreibung. Die Tabelle ließ sich seitenweise fortsetzen. Und wahrlich, ich sage euch, eher hat noch der größte Duckmäuser Chance, bei diesen Gerichten durchzuwischen, als ein geistig selbständig denkender Mensch oder gar ein Arbeiter. Wir haben es satt. Herr Radbruch, der Justizminister, kann nicht helfen – denn was vermag einer gegen so viele? Sie pochen alle auf eine Unabhängigkeit des Richterstandes, die nicht da ist: denn kein Mensch wandelt in der Luft, sondern ist im Fühlen, Denken und Meinen Produkt seiner Klasse. Dieser da in jeder Beziehung einer höchst mittleren Klasse. Neulich hat beim Amtsgericht Berlin-Schöneberg ein Mann ein Urteil zugestellt bekommen, auf dem stand, statt „Im Namen des Königs“, wie damals, als wir noch unseren Deserteur hatten: „Im Namen des Pöbels.“Später erschien bei dem Empfänger dieses Kulturdokuments ein Beamter des Gerichts, um sich zu entschuldigen. Er hätte es nicht tun sollen. Denn jeder muß selbst wissen, was er ist. 1922 247
Deutsche Richtergeneration 1940 Zum Hakenkreuz erzogen, das damals Mode war, vom Rektor angelogen – so wurdst du Referendar. Du warst im tiefen Flandern Etappenkommandant. Du spucktest auf die andern auch hier, im Vaterland. Ihr spieltet Wilhelms Stützen; das Korps ersetzt das Heer. Gäb’s Keine ohne Mützen: Ihr wäret gar nichts mehr. Nach steifen Amtsvisiten der Landsgerichtsstation kam dann nach alten Riten die Doktorpromotion. Es kam das Staatsexamen, Ihr seid emporgerückt, Ihr setzt nun vor den Namen den Titel, der euch schmückt. Nun, deutsche Jugend, richte! Hier Waage! Da das Schwert! Räch dich für die Geschichte! Zeig dich des Kaisers wert! Würg mit dem Paragraphen! Benutz den Kommentar! Du mußt den Landsmann strafen, der kein Teutone war. Setz auf das Samtbarettchen! 248
Das Volk, es glaubt an dich, Justitia, das Kokettchen, schläft gern beim Ludewich. Du gibst dich unparteilich am Strafgesetzbuchband... Du bist es nicht. Nur freilich: Juristen sind gewandt. Du wirst des Rechtes Künder. Dich kriegt man nicht – für Geld. Gott gnade dem armen Sünder, der dir in die Finger fällt! Ich grüße dich, wunderbare Zukunft der Richterbank! Du nennst das einzig Wahre: Rechtsspruch nach Stand und Rang! Ihr wählt euch eure Zeugen! Ihr sichert den Bestand! Wo sich euch Rechte beugen, ist euer Vaterland! 1921
Gegen die Arbeiter? Allemal –! „Richtet nicht, auf dal? ihr nicht gerichtet werdet!“ Matthäus 7,1.
Es gibt Mädchen, die verkaufen ihren Leib, weil die Not sie dazu zwingt, und wer ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein auf sie. Und es gibt Mädchen, die geben sich mit fünf Kerlen auf einmal ab, weil ihnen einer nicht genug ist und weil fünf mehr schenken als einer. Und es gibt solche, die die Nächte durchtanzen, und solche, die wegen des dünnsten Ringes einem Mann auf die Bude gehen – in dieser Hinsicht gibt es alle Sorten. Und weil der Körper das Eigentum des Menschen ist, so hat das jede mit sich abzumachen. Peinlich 249
wird die Angelegenheit erst dann, wenn eine Liebe und Reinheit vortäuscht und mit der Seele kokettiert, wo sie doch die neuen Stiefeletten meint, die ihr jener kaufen soll – ungemein unangenehm wird’s erst dann, wenn eine sich rein, unberührt und anständig gibt – im Grunde ihres Herzens aber ein verdorbenes Frauenzimmer war ihr lebelang. Aber ich wollte ja etwas von der deutschen Justiz erzählen. Die Mitglieder der studentischen Verbindung „Thuringia“ bewahrten bis zum 1. September dieses Jahres in ihrem Klubhaus Waffen auf, die sie von einer „Eisernen Eskadron“ erhalten haben wollen, also von einem jener ungesetzlichen Verbände, die so viel Unheil und Blutvergießen in Deutschland angerichtet haben. Die Studenten führen vor Gericht an, ihre Harmlosigkeit gehe schon daraus hervor, daß sie von den Waffen beim Kapp-Putsch keinen Gebrauch gemacht hätten. Das ist gütig und sicherlich ein mildernder Umstand – ja, es wäre zu erwägen, ob man solche Herren nicht aus dem $ 51 wegen mangelnder Zurechnungsfähigkeit freisprechen soll. Denn wer Waffen hat und auf die Regierung nicht schießt... Mehrere Arbeiter, die von diesem Waffenversteck hören, holen die Waffen heraus, wozu sie keine Berechtigung hatten – sie geben sich als Beamte aus – die Waffen verschwinden. Und jetzt werden beide Gruppen unter Anklage gestellt: die Studenten und die Arbeiter. Beide haben genau das gleiche ausgefressen: Sie haben Waffen verheimlicht und so das Entwaffnungsgesetz übertreten. Die Studenten werden freigesprochen. Einer der Arbeiter erhält wegen Diebstahls und Vergehens gegen das Entwaffnungsgesetz vier Monate Gefängnis und 1000 Mark Geldstrafe. Soweit das Amtsgericht Charlottenburg. Der Fall ist sehr charakteristisch. Einzig ist er nicht. Die vierte Strafkammer des Berliner Landgerichts I hat eine Reihe Arbeiter zu mehrmonatigen Gefängnisstrafen verurteilt, weil sie unberechtigterweise Waffen verheimlicht hatten. Lohnt es wirklich, zum tausendsten Male nachzuweisen, wie hier klare und arbeiterfeindliche Politik getrieben wird? Wie diese Dinge uns schaden, ist klar; wie das gegen uns die Entente aufbringt, die
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doch immerhin das Heft in der Hand hält (sie und nicht die Reichswehr!) – ist jedermann verständlich. In Sachsen ereigneten sich solche Waffenfunde – die französischen Berichterstatter konnten sich nicht genugtun in Berichten; die Waffen heckten, es wurden immer mehr – und die Wirkung auf die Pariser Nationalisten war erreicht. Wie geht es denn bei uns zu –? Das Ding fängt beim Ermittlungsverfahren an. Die Organe der Staatsanwaltschaft haben gelernt, in jedem Arbeiter einen Feind des Staates zu sehen, der von der Obrigkeit – also von ihnen – mit allen Mitteln heranzukriegen ist. Wer mißt den Eifer eines Staatsanwalts, wenn er gegen die Arbeiter und wenn er gegen eiserne Eskadronisten vorgeht? – Für den Richter sind jedenfalls die Akten das Alleinseligmachende, die Kammer, die den Eröffnungsbeschluß macht, ist damit leichter bei der Hand, als wenn sich’s um ein Wiederaufnahmeverfahren handelt – und das Gericht...? Das Gericht ist zuverlässig. Zuverlässig republikanisch natürlich. Was dachten Sie –? Eine Regierung, die tatsächlich keine Macht und keine willigen Organe besitzt, um die Entwaffnung ehemaliger Offiziere und Freikorpsführer durchzusetzen, die keinen einzigen militärischen KappKerl in ihre Gewalt gebracht hat, die kommunistische Wasserträger aus dem Ruhrrevier fängt und Herrn Boldt, Herrn Vogel, Herrn Kapp, Herrn Erhardt laufen läßt: diese Regierung sieht sich politische Heldentaten deutscher Richter an, die so aussehen: Die Brigade Erhardt hat eine „geheime Kampforganisation“ und eine „Feme“, die sich über ganz Deutschland erstreckt; Bestrafungen erfolgen nicht. – Vier junge Revolutionäre aus Wilhelmshaven, W. Bock, K. Jörn, Fr. Tetens und Fr. Weiland, werden zu insgesamt 23 Jahren Festung verurteilt. Sie haben in den ersten Unruhen der Revolution, deren staatsrechtliche Bedeutung nie geklärt worden ist, „Hochverrat“ begangen. – Ein Chemnitzer Schneider gibt einer Münchener Entente-Kommission verborgenes Kriegsmaterial an: Er bekommt ein Jahr Gefängnis wegen Verrats militärischer Geheimnisse (die diese militärisch gänzlich bedeutungslose Reichswehr gar nicht mehr hat). Die Verheimlicher der Waffen werden nicht ge251
nannt. – Borkumer Badegäste, darunter Angehörige der besseren Stände – vielleicht auch Richter? vielleicht auch Staatsanwälte? – reißen die schwarzrotgoldene „Judenfahne“ von allen Strandburgen und prügeln die Insassen heraus. Eine Bestrafung erfolgt nicht, auch dann nicht, als eine Teilnahme von Reichswehrsoldaten an diesen Vergehen nachgewiesen wird. – In Hamburg reißt ein deutschnationaler Student die Fahne der Republik bei einer Universitätsfeier herunter; der Staatsanwalt schreitet nicht ein. – In Düren holen drei Sozialdemokraten die Fahne Wilhelms II. herunter, mit der die Deutsche Volkspartei am Beisetzungstage der Exkaiserin gegen die Republik demonstriert. Sie erhalten jeder drei Monate Gefängnis. – Der kommunistische Parteisekretär Ewert sitzt sechs Monate in strengster Untersuchungshaft, dann wird er vom Reichsgericht von der Anklage des Hochverrats freigesprochen. – Ein Kriegskrüppel, der mit Zigaretten handelt, schlägt einen halben Pfennig auf die Zigarette zuviel auf und wird vor Gericht gestellt. – Zwei Beamte der Sicherheitspolizei, Schreiber und Donaty, „beschlagnahmen“ widerrechtlich Zigaretten (das heißt also: rauben sie) und verkaufen den Raub. Sie erhalten Mindeststrafen und Strafaufschub. – Die belanglosesten Mitläufer des mitteldeutschen Aufstandes erhalten drakonische Strafen. – Adlige Waffenschieber werden sofort aus der Haft entlassen – eine Bestrafung erfolgt nicht. So sieht die deutsche Justitia aus. „Die Republik“, sagt Linke-Pool in seinem außerordentlich witzigen Band „Der deutsche Maskenball“ (bei S. Fischer), „die Republik war von einem weisen Mann aus dem Ausland ins Heilige Römische Reich gebracht; was man mit ihr machen sollte, hatte er nicht gesagt; es war eine Republik ohne Gebrauchsanweisung.“ Sie fehlt eben, und so stehen denn noch heute alle diese Regierungsrepublikaner herum und ahnen nicht, daß die schlimmste, die tödlichste Gefahr in ihren eigenen Ämtern hockt. Streng auf dem Boden der gegebenen Tatsachen. Jagt die Republik einen solchen Richter fort? Ach, die Unabhängigkeit der Richter –! Und wie ist es mit der Unabhängigkeit der Gerechtigkeit? Die Zwei-Klassen-Gerechtigkeit sitzt in den Köpfen jener Juristen so tief, daß sie sich gar keine Vorstellung mehr davon machen können, 252
wie schief die Dame Justitia ihre Achtgroschen-Waage hält. Unverbindliche Gespräche gutgedrillter Korpsstundenten sind doch „seffaständlich“ keine Delikte – wüstes Kneipengejohle verhetzter Arbeiter wird unnachsichtlich verfolgt. Preußische Minister des Innern hängen keinen, sie hätten ihn denn zuvor – nun, ein Bilderbuch von George Grosz (aus dem Malik-Verlag) „Das Gesicht der herrschenden Klasse“ haben sie – und schon ist es beschlagnahmt. (Die karikierten Opfer des genialen Zeichners laufen alle noch frei umher.) „Es scheint mir überhaupt ein Erbfehler der Deutschen“, hat der junge, im Kriege getötete Otto Braun einmal gesagt, „ihre Gemeinheiten immer ethisch rechtfertigen zu wollen“. Wir dürfen hinzufügen: Auch juristisch tut man es. Die Wirkung ist ganz, wie sie Roda Roda einmal, es war im Jahre 1906, geschildert hat: Ein Mann erfindet ein Justizklavier, man stellt die Hebel ein, drückt – und unten fällt das fertige Urteil heraus. Aber... „Pedale muß das Justizklavier haben. Lassen Sie auf das Pianopedal etwa eine fünfzackige Krone malen, und auf das Fortepedal lassen Sie schreiben: Sozialdemokrat!“ – Das Mädchen Justitia spielt munter auf dem Klavier. Piano und forte, wie es trifft. Es ist ein feines Mädchen. Mild ist sie gegen Adel, Studenten, Offiziere. Nationale. Da wird nicht zugeschlagen. Aber gegen die Arbeiter? Allemal. 1921
Gebet für die Gefangenen Herrgott! Wenn du zufällig Zeit hast, dich zwischen zwei Börsenbaissen und einer dämlichen Feldschlacht in Marokko auch einmal um die Armen zu kümmern: Hörst du siebentausend Kommunisten in deutschen Gefängnissen wimmern? Kyrie eleison –! 253
Da sind arme Jungen darunter, die sind so mitgelaufen, und nun sind sie den Richtern in die Finger gefallen; auf sie ist der Polizeiknüppel niedergesaust, der da ewiglich hängt über uns allen... Kyrie eleison –! Da sind aber auch alte Kerls dabei, die hatten Überzeugung, Herz und Mut – das ist aber vor diesen Richtern nicht beliebt, und das bekam ihnen nicht gut... Kyrie eleison –! Da haben auch manche geglaubt, eine Republik zu schützen – aber die hat das gar nicht gewollt. Fritz Ebert hatte vor seinen Freunden viel mehr Angst als vor seinen Feinden – in diesem Sinne: Schwarz-RotGold! Kyrie eleison –! Herrgott! Sie sitzen seit Jahren – in kleinen Stuben und sind krank, blaß und ohne Fraun; sie werden von Herrn Aufseher Maschke schikaniert und angebrüllt, in den Keller geschickt und mitunter verhaun... Kyrie eleison –! Manche haben eine Spinne, die ist ihr Freund; viele sind verzankt, alle verzweifelt und sehnsuchtskrank – Ein Tag, du Gütiger, ist mitunter tausend Jahre lang! Kyrie... Vielleicht hast du die Freundlichkeit und guckst einmal ins Neue Testament? Bei uns lesen das die Pastoren, aber nur sonntags – , in der Woche regiert das Strafgesetzbuch und der Landgerichtspräsident. ... eleison –! Weißt du vielleicht, lieber Gott, warum diese Siebentausend in deutsche Gefängnisse kamen? 254
Ich weiß es. Aber ich sags nicht. Du kannst dirs ja denken. Amen. 1930
Die lebendigen Toten „Ich bleibe dabei: nur eine gute Kinderstube gibt uns Fonds fürs Leben. Baron Frimmel, Oberleutnant Berghammer – aber in Zivil und ich wir gingen einmal im Prater spazieren. Eigentlich kein Spaziergang, sondern ein Gewaltmarsch zum Zweck des Lokalwechsels drei Uhr früh und wir hielten einander um die Schultern gefaßt, um nicht den Anstrengungen des Tages zu erliegen. Drei Uhr früh. Frimmel hatte eine Dogge mit, Berghammer einen Gummiknüppel und ich etwas Jiu-Jitsu. Hierauf wurden wir verhaftet, weil der Raseurgehilfe Kamillo Lendecke (ledig, katholisch, Novaragasse 26) mehrfache Verletzungen davongetragen hatte. Vom Moment der Verhaftung an hatten wir kein Wort miteinander gewechselt. Trotzdem sagten wir, einzeln befragt, übereinstimmend aus: Lendecke habe sich, unserm gütlichen Zureden zum Trotz, mit dem Kopf in einen Zaun von Stacheldraht gelegt. Die drei identischen, mit ruhiger Sicherheit vorgetragenen Aussagen bewirkten denn auch unsere Freilassung. Und wir hatten uns doch gar nicht verabreden können. War auch nicht nötig. Was ein taktvoller Mensch ist, wird sich in jeder noch so diffizilen Lebenslage richtig zu benehmen wissen.“ Roda Roda
Cause fameuse im Großen Schwurgerichtssaal: Mordprozeß in Sachen Liebknecht und Rosa Luxemburg. Die Anklagebank gesteckt voll: acht Offiziere und ein Mann, aber was für einer! Das Bild, das unser frechster und bester Karikaturist George Grosz von dem Husaren Runge gezeichnet hat, ist eine Schmeichelei, der Mann sieht noch viel übler aus: kleine schiefe Augen, eine niedrige Stirn, roh und ungeschlacht. Die Herren daneben – sie befinden sich in der besten Gesellschaft – die üblichen Offiziersgesichter: Köpfe, wie man sie auf Sekt- und Zigarettenplakaten zu sehen pflegt. Die Marineoffizie255
re meist brav und stumpf, mit Ausnahme von Pflugk-Harttung, der so gescheit aussieht, wie er sich später benimmt. Es geht los. Die Angeklagten werden vernommen. Runge legt Pathos und bieder vibrierenden Schmerz, in seine Stimme: als er der Luxemburg und Liebknechts ansichtig geworden sei, habe ihn eine solche Wut über sein zertretenes Vaterland erfaßt... Auch habe Liebknecht ihm, dem Dreher Runge, früher einmal eine Pistole auf die Brust gesetzt, mit der Drohung, wenn er noch weiterarbeiten würde... Die Offiziere „weisen die Anklage aufs schärfste zurück“. Die Pflugk-Harttungs (es sind zwei Brüder) am gewandtesten, Vogel und Weller am ungeschicktesten. Vogel ist eine Katastrophe für jede Monarchie, so dumm benimmt sich der Mann, Er gibt zu, falsche Angaben gemacht zu haben, „um die Division nicht zu kompromittieren“. Weller tapst durch die Materie, als sei es ein Kinospaß und kein Mordprozeß. Stolz steht er da im strahlenden Schmuck seiner Orden, versehen mit viel Vaterlandsliebe und einer leeren Revolvertasche... Die Zeugen fahren auf... Aber was wird denn hier gespielt? Eine Tragödie? Rache und Sühne? Kaum, höchstens deren fünfter Akt. Vier Akte, vier lange, dunkle Akte sind vorhergegangen, und man kann nur vage ahnen, was in ihnen geschehen, und vor allem, was nicht geschehen ist. Geschehen ist dies: Die Wilmersdorfer Bürgerwehr, brave Einwohner einer westlichen Berliner Gemeinde, die am übelsten und reaktionärsten von allen regiert wird, gründeten in den bewegten Revolutionstagen des Januar einen kleinen Feuerwehrverein zur Aufrechterhaltung gottgewollter Abhängigkeit und begaben sich – ohne einen Auftrag, ohne einen Befehl, ja ohne das geringste Recht dazu zu haben – in die Wohnung, in der sich damals grade Liebknecht und Rosa Luxemburg aufhielten. Sie verhafteten beide. Das war ungesetzlich. Es ist notwendig, darauf hinzuweisen, weil sich unsre Ordnungshüter, denen Ordnung über die Freiheit geht, nicht genug mit Gesetzeszitaten aufspielen können und sich gar sosehr über den Doktor Kurt Rosenfeld erbosen, der ein Revolutionstribunal für diesen Fall gefordert hat. Die Angeklagten dürften ihrem ordentlichen Richter nicht entzogen werden, sagen die Leute. Aber er soll, meine Geehrten, seinem außerordentlichen Richter entzogen werden! Dies hier 256
ist ein Kriegsgericht, zusammengesetzt aus Kameraden der Angeklagten. Und es tut nicht gut, nun beständig mit den Anschauungen zu wechseln: einmal heißt es, wir hätten eben Revolution gehabt – so muß die ungesetzliche Verhaftung erklärt werden – , und einmal heißt es wieder, es müsse alles laufen wie im tiefsten Frieden. Hier klafft ein Widerspruch. Liebknecht und Rosa Luxemburg also wurden verhaftet, ins Edenhotel gebracht, und aus diesem Paradies sollten sie ins Gefängnis transportiert werden. Liebknecht wurde unterwegs erschossen, Rosa Luxemburg kam abhanden und fiel in den Landwehrkanal. Während ich dies schreibe, ist das Verfahren noch nicht abgeschlossen. Die Dinge stehen so, daß im Falle Liebknecht, außer den üblichen kleinen Disziplinarvergehen nicht viel herausspringen wird – non liquet. Im Falle Luxemburg hat Vogel den großen Unbekannten eingeführt, der, von hinten auf den Wagen aufspringend, die von Kolbenschlägen Runges Halbtote erschoß – die Herren warfen sie, die ihnen zum Transport übergeben worden war, ins Wasser. Der Fall liegt also wesentlich schwerer, und es besteht die Wahrscheinlichkeit, daß das Gericht hier zu einer Verurteilung gelangen wird. Denn das Gericht ist des besten Willens voll. Der Verhandlungsleiter ist ein sympathischer, jüngerer Mahn, der mit viel Takt und Umsicht arbeitet, wenn ihm auch hier und da einige Suggestionsfragen durchrutschen. Aber was nutzt das alles? Ich bin des trocknen Tones nun satt, und es soll einmal gesagt werden, was zu sagen bitter not tut: Wir pfeifen auf ein solches Verfahren. Wir kennen nun alle, meist aus eigner Anschauung, die Schliche und armseligen Pfiffe dieses Militarismus, der sich hinter die Maske der tadellos korrekten „Meldung“ verkriecht, nachdem er seine Schiebungen inszeniert hat. So, wie damals auf die Angaben Vogels hin die gesamte deutsche Presse über den Hergang bei der Ermordung belogen worden ist, so kann es diesmal wieder gehen – wer garantiert uns, daß nicht wieder bei den Angeklagten „Zweckmäßigkeitsgründe“ maßgebend sind? Wir lassen uns nicht dadurch fangen, daß uns gesagt wird, „zwei gewählte Vertrauensleute der Garde-Kavallerie-Schützen-Division“ säßen unter den Richtern. Wer beim Militär gewesen ist, weiß, wie Wahlen 257
zustande kommen – man denke nur an die berüchtigten Küchenkommissionen. Und wenn sie selbst richtig und ordentlich gewählt sind: sind sie nicht befangen? Sind nicht ihre Kameraden, die Angeklagten, tausendmal in der oppositionellen Presse auf das heftigste angegriffen worden? Wer ist denn heute noch Soldat? Die Besten sinds nicht, die da Unterkommen und Arbeitsersatz suchen, und die Idealisten auch nicht. Und die sollen richten? Man nennt das: In eigner Sache. Die Formation urteilt über sich selbst. Man stelle sich doch nicht das, was wir hier meinen, so ungeheuer plump und simpel vor: Gewiß ist der untersuchende Kriegsgerichtsrat nicht nachts beim Schein einer düster qualmenden Lampe zu den Angeklagten in den Kerker geschlichen und hat ihnen dort kleine Zettel zugesteckt! Gewiß hat keiner das Stubenmädchen bestochen, das gehört haben wollte, wie ein Offizier gesagt hat: „Die Herren werden unten im Tiergarten erwartet, um Liebknecht zu begrüßen“ – gewiß hat keiner den Jäger gemeuchelt, der gesehen hat, wie Vogel auf Frau Luxemburg schoß. So einfach ist das nicht. Aber diese unwägbaren Dinge, die da mitsprechen, geben den Ausschlag: die Formulierung eines Protokolls, der Verzicht auf diesen oder jenen Zeugen, die lange Zeit, die verstrich – am 15. Januar wurden die beiden ermordet, am 15. April wurde der Beschluß zur Hauptverhandlung ausgesprochen. Umsonst sind die Mitglieder der USPD, über deren Mitwirkung bei der Voruntersuchung sich der Verteidiger so sehr entrüstete, nicht zurückgetreten. Sie hatten das Gefühl, mit dem großen Krummen zu kämpfen, dem noch jeder unterlegen ist, der ihm nicht mit seinen eigenen Waffen zu Leibe ging: mit schärfster Rücksichtslosigkeit. Es sind zwei Welten, die da zusammenstoßen, und es gibt keine Brücke. Hüben wir. Drüben die Offiziere alten und ältesten Stils – kein Klang der aufgeregten Zeit drang je in diese Einsamkeit. Von Liebknecht wird nur als dem „Feind“ gesprochen; einer bedauert, daß er nicht unter der schimpfenden Menge gestanden habe und nur Begleitmann war – sie leben wie in einer Glaskugel. Der Verhandlungsleiter war – von seinem Standpunkt aus mit Recht – bestrebt, die Politik bei dem Verfahren auszuschalten. Aber es geht nicht. Sie hatten alle, alle den politischen Dolus eventualis. Die Luft, 258
die im Gerichtssaal wehte, war für sie und gegen Liebknecht. Und käme heute wieder solche Gelegenheit – sie täten es noch einmal: sie würden schießen und ertränken und verheimlichen und stünden da als die Retter des Vaterlands. Ihres Vaterlandes, denn unsrcs ist das nicht. Ist das nur ein Einzelfall? Nein, es ist keiner. Der Militarismus ist nicht tot, er ist nur verhindert. Die kümmerlichen Reste verkriechen sich in die Noskegarden, die deshalb so unendlich schädlich sind, weil da unter der neuen Flagge die alten Ideale hochgehalten werden. Da ist wieder dieser falsche Kollektivgeist, der „die Division“, diesen fabelhaften Begriff, höher stellt als alles Menschliche – da ist die Schiebung, aber immer unter der Tünche der Korrektheit – da ist die alte, schlechte Gesinnung, die wir nicht mehr wollen. Eben das lehnen wir ab und werden es bekämpfen, bis keine Spur mehr davon vorhanden ist: den Zusammenschluß einer Gruppe von Menschen als Staat im Staate, das Pochen auf den angeblich makellosen Ehrenschild, dessen beschmutzte Kehrseite wir alle kennen, das Über- und Unterordnen von lebenden Menschen, die nicht fähig sind, zusammenzuarbeiten – kurz: Kasernenhof. Es gibt keine Brücke. Sind es nicht alles nette und ordentliche Menschen? War der Verhandlungsführer nicht sauber? Sind es nicht alle brave, ehrenhafte Männer? Es sind nicht einmal Männer, diese Offiziere, die eine wehrlose Frau und einen verwundeten Mann in majorem patriae gloriam beseitigen. Ich glaube nicht, daß das unter die Rubrik „Tapferkeit“ fällt. Nichts gleichgültiger als das Urteil. Blut kann nicht durch Blut gesühnt werden, das ist ein Wahn. Was wir aber können und was wir tun werden, ist dieses: Wir wollen bis zum letzten Atemzuge dafür kämpfen, daß diese Brut nicht wieder hochkommt. Wir wollen ebenso konsequent sein wie sie und nicht vergessen: Eulenburg nicht, der nicht im Zuchthaus sitzt, weil er ein Fürst ist, den Grafen Arco nicht, der Eisner erschoß, und diese Herren nicht, die sich nur einmal in ihrem Leben mit einem gewöhnlichen Mann ganz verstanden haben: auf der Anklagebank. Es ist völlig uninteressant, zu wissen, ob Noske im guten Glauben handelt oder im schlechten. Er ist ein Schädling, denn schlimmer als die exploitierenden Reichen sind ihre Handlanger, schlimmer als der 259
Großbauer ist sein Hund. Der Helm muß und wird heruntergeschlagen werden. Hetzen wir? Sind wir nicht sachlich genug? Nur einmal noch, nur dieses eine Mal noch erlaubt mir, daß mein Herzblut spricht und nicht das Gehirn. Das soll euch werden: die kälteste und klarste Sachlichkeit. Aber dieses Mal nicht. Aus ihren Gräbern rufen zwei Tote. Ihr könnt die Schreie nicht hören, denn ihr seid taub. Wir aber hören sie. Und vergessen sie nicht. Was da in dem großen Saal unter dem Bildnis „Seines“ glorreichen Großvaters, Kaiser Wilhelms des Großen, vor sich gegangen ist, ist in unsre Herzen eingebrannt. Und eben, weil alle feinen Leute noch für den letzten Verbrecher und Rohling eintreten, wenn er nur Liebknecht totschlägt, und eben weil die schlechtesten Deutschen aufatmeten, als zwei Idealisten ermordet wurden, eben deshalb bewahren wir unsre Trauer und unsern Schmerz und vergessen nicht. Die drüben kleben zusammen wie die Kletten – wir sind aneinander geschmiedet durch das Gedächtnis an Eisner und seine Brüder. An unsre Brüder. Und haben weder Zeit noch Lust, euren dicken Aktenbänden zu folgen, euren Plädoyers und euren Proklamationen. Das Ding liegt so: da steht der Militarismus, da stehen wir. Und weil die Welt nicht in Staaten, wohl aber in Fortstrebende und Zurückzerrende zerfällt, müßt ihr beiseite gehen, in voller Uniform, in Feldbinde, Ordensschmuck und Helm. Und was die Toten rufen, ruft unser Herz: Ecrasez l’infâme! 1919
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Prozeß Harden Holzapfel: Man hält Euch hier für den allerstupidesten und fähigsten Menschen, um Konstabler bei unsrer Wache zu sein; darum sollt Ihr die Laterne halten. So lautet Eure Vorschrift: Ihr sollt alle Vagebunten irritieren; Ihr seid dazu da, daß Ihr allen und jedem zuruft: „Halt! in des Prinzen Namen!“ Zweite Wache: Aber wenn nun einer nicht halten will? Holzapfel: Nun seht Ihr, da kümmert Euch nicht um ihn, laßt ihn laufen, ruft sogleich die übrige Wache zusammen und dankt Gott, daß Ihr den Schelm los seid. „Viel Lärm um nichts“ Erster Mörder: Mein König, wir sind Männer. Macbeth: Ja, im Verzeichnis lauft ihr mit als Männer! Macbeth
Das muß man gesehen haben. Da muß man hineingetreten sein. Diese Schmach muß man drei Tage an sich haben vorüberziehen lassen: dieses Land, diese Mörder, diese Justiz. Der deutsche politische Mord der letzten vier Jahre ist schematisch und straff organisiert. Die Broschüre „Wie werde ich in acht Tagen ein perfekter nationaler Mörder?“ sollte nicht auf sich warten lassen. Alles steht von vornherein fest: Anstiftung durch unbekannte Geldgeber, die Tat (stets von hinten), schludrige Untersuchung, faule Ausreden, ein paar Phrasen, jämmerliches Kneifertum, milde Strafen, Strafaufschub, Vergünstigungen – „Weitermachen!“ Am dritten Juli 1922 wurde Maximilian Harden auf offener Straße von einem frühern Oberleutnant angefallen und mit einem eisernen Gegenstand bearbeitet. Er erhielt acht Schläge auf den Kopf. Der Oberleutnant entfloh, sein Komplice, der Schmiere gestanden hatte, wurde verhaftet. Harden schwebte vierzehn Tage in Lebensgefahr. Er ist heute einundsechzig Jahre alt. Die Voruntersuchung stellte – in fünf Monaten – nur fest, daß ein deutschvölkischer Mann in Oldenburg, der sich Buchhändler nannte, die beiden zum Mord angestiftet hatte. Das bezeugte der Briefwechsel, worin alle Beteiligten dauernd von „Erledigen“ und „Beseitigen“
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sprachen. Briefe, in denen nicht von Geld die Rede ist, existieren nicht. Eine Welt stinkt auf. Hinter der Schranke stehen zwei Mann (der Ausdruck „Menschen“ wäre übertrieben): ein sexuell verbogener Wandervogel mit Schillerkragen, hehren Überzeugungen und ungewaschenen Füßen – und ein Hütejunge für eine Kuhherde mittlern Grades. Der Hütejunge sagte, er hätte die „Zukunft“ gelesen und wäre, mit ihren Ausführungen nicht immer zufrieden gewesen; der Wandervogel will sein kassubisch-slawisch-friesisch-wendisch-germanisches Blut rein erhalten und möchte nicht in die Grenadierstraße einheiraten. Infolgedessen mußte Harden ermordet werden. Grenz chartert zwei Mann: den Oberleutnant Ankermann und den kleinen Weichardt. Warum grade diesen? Weichardt habe in einer Versammlung der ernsten Bibelforscher gegen „kommunistische Sturmtrupps großen Mut und völkisches Gebaren“ gezeigt; der andre kam wohl mehr aus finanziellen Rücksichten. Das Spiel beginnt. Die beiden Mörder fahren nach Berlin. Sie wohnen zunächst in einem Absteigequartier und verjuchheien den Vorschuß auf die Seligkeit ihres Opfers. „Außer mit weiblichen Personen“, so wird eingestanden, verkehren sie in Berlin mit niemand. Die Kosten für den stattgehabten Verkehr bestreitet Grenz. Woher der das Geld hat, ist nicht klar. Ist auch schließlich gleichgültig. Ob es wirklich aus dem Münchner Verbrecherkeller kommt, oder ob er die Scheine aus völkischen Kassen zusammengekratzt hat, um sich bei seinen Mannen einen Namen zu machen, so leuchtend wieder von Luther, Ludendorff, Bismarck oder Techow – das steht nicht fest. Ein von ihm rekonstruierter Brief, den er aus München erhalten haben will, zeigt allerdings die fatal echte Stelle: „Einige deutschblütigc Herren haben sich zu dieser Aufgabe zusammengefunden und sind bereit, Opfer zu bringen; sie selbst sind leider zu alt, um selber daran teilnehmen zu können...“ Auch Grenz war unabkömmlich: er wurde in Oldenburg zu wichtigern Aufgaben benötigt – sonst hätte er sich wohl das Geld selbst verdient, von dem er jetzt nur die Prozente nimmt. Genug: er schickt. Nicht ohne dauernd zu mahnen, nun aber endlich einmal an die Buletten zu gehen. Die Terminologie seiner und ihrer Briefe ist 262
eine anmutige Mischung von mittelalterlicher Feme und modernem Konfektionsgeschäft. „Und wollen Sie den Ihnen aufgetragenen Mord freundlichst bis zum achtzehnten dieses promptest effektuicren.“ Aber zunächst effektuieren sie gar nicht. Herr Oberleutnant Ankermann borgen die Berliner Huren an, ohne ihnen die Mark, die jene dem deutschen Volk aus den Knochen gesogen haben, wiederzugeben – der seltene Fall eines doppelten Ludentums. Denn seine Auftraggeber neppt er ähnlich – er nimmt ihr Geld, liefert aber nichts. Der kleine Weichardt immer mit. Herr Oberleutnant Ankermann wird allgemein als „Vorgesetzter“ bezeichnet. Kein Deutscher ohne einen solchen. Offenbar ein tüchtiger Herr. Weil er einmal verheiratet war, bekommt er von Grenz, wahrscheinlich als Kinderzulage, eine höhere Löhnung als Weichardt. Suum cuique. Inzwischen bummeln die beiden durch Berlin. Sie wohnen in einem Zimmer. Sie saufen in einer Bar. Sie leben zum Schluß aus einem Koffer. Aber Weichardt wußte nichts von einem Mordplan. Der Chef vons Ganze war Ankermann. So steht es wahrscheinlich in den „Richtlinien für deutsch-nationale Mörder und solche, die es werden wollen“ – und so wird es auch gehandhabt. „Ich habe immer Wert darauf gelegt, nicht zu wissen, worum es sich handelt“, sagt der kleine Weichardt. „Was mag das wohl sein?“ sagte die Jungfrau – da bekam sie ein Kind. Und mittlerweile geht das Geld zur Neige. Anzüge werden versetzt, der erste Koffer ist schon bei Peten. Jetzt oder nie! Beide beobachten tagelang Hardens Haus, Hardens Spaziergänge. Beide gehen stets gemeinschaftlich in den Grunewald und wieder zurück. Beide gehen schließlich am dritten Juli in die offene Feldschlacht (von hinten). Beide mit Totschläger und Messer. Ankermann führt acht Schläge auf den Wehrlosen. Besinnt sich dann auf die Kriegsartikel („Mut in allen Dienstobliegenheiten“) und kneift aus. Weichardt wird in unmittelbarer Nähe des Tatorts aufgegriffen. Gesteht fast alles, was er weiß. Verrät sofort Ankermann und Grenz. Sitzt in Untersuchungshaft und bohrt gedankenvoll in der deutsch-nationalen Nase. 263
„Sind das die Früchte seiner tadellosen Erziehung?“ fragt der Verteidiger. Sie sind es. Denn diese Pädagogik, die heute in weiten Kreisen des deutschen Bürgertums betrieben wird, erzieht den jungen Menschen zur Verachtung des Geistes, zur Sturheit und Stumpfheit, zum tobenden Haß auf alles, was den nationalistischen Bezirksverein und den Fußballklub überragt. Gegner Hardens? Aber diese Jammerkapaune, die da drei Tage lang so ungeschickt logen, daß sich Balken und Protokolle bogen, wissen ja nicht, wo Gott wohnt. Sie haben nicht einmal eine Ahnung von den geistigen Problemen, die dieser Politiker sein Leben lang behandelt hat – geschweige denn von seiner Stellungnahme zu ihnen. Für sie genügte: „Es lag Auftrag vor.“ Grenz hatte es mit der Rasse-Reinheit. Bei ihm wurden Nacktphotographien beschlagnahmt, die so scheußlich gewesen sein sollen, daß der Abgeordnete Nuschke im Preußischen Landtag gesagt hat: „Meine Herren, Sie sehen doch, daß diese Rasse durch Juden nur veredelt werden kann!“ Soweit Wotan mit dem Hängebauch. Was den kleinen Weichardt angeht, so hatte er erst im März dieses Jahres zwei Jahre Gefängnis wegen fahrlässiger Tötung bekommen; er hatte mit seinem Revolver hantiert und ein Kind getötet. („Ich habe alles getan, um es wiedergutzumachen. Ich habe die Beerdigungskosten bezahlt!“) Er erhielt natürlich eine Bewährungsfrist. Aber nun kam etwas Überraschendes zutage. Ich glaubte erst, nicht recht gehört zu haben – aber der Verteidiger bestätigte es in seinem Plädoyer: Weichardt wollte sich mit der Mordtat bei seiner Familie rehabilitieren! Er wollte seinem lieben Vater eine Freude machen!! „Hier, Pappi, bringe ich dir zu Weihnachten den toten Maximilian Harden! Na, wie bin ich?“ – „Brav, mein Sohn, brav!“ Familienleben im Hause Weichardt. Für die Mordgesellen traten drei Leumundszeugen an. Diese Germanen hätte man photographieren sollen. (Aber, Gott behüte, nicht so wie Grenz.) Modelle für Raemakers. Der ehemalige Schuldirektor Weichardts sagte aus, daß das gutartige Kind während der Schulzeit niemals auf Spatzen und deutsche Schriftsteller geschossen habe. Der aufgeweckte Knabe hat also den Auftrag für die „nationale Sache“ nur angenommen, weil er – seffaständlich – dachte, es handle 264
sich um Gefangenenbefreiung oder um Waffenschiebungen, Arbeiten, an denen kein national denkender Mann von heutzutage vorbeigehen sollte. So standen sie vom zwölften bis zum vierzehnten Dezember vor dem Schwurgericht des Landgerichts III zu Berlin. Solch eine Verhandlung hat die Welt noch nicht gesehen. Verteidigt wurden die Angeklagten von zwei Rechtsanwälten und dem Vorsitzenden. Der Mann ist Jude. In seinem Unterbewußtsein schlummerte der Wunsch nach „Objektivität“, diese grauenhafte Angst vor der „Parteilichkeit“. Dieser Herr Rippner war weder in repräsentativer noch in menschlicher Hinsicht den Anforderungen dieser klaren und einfachen Verhandlung gewachsen. Er versagte nicht nur. Er verdarb alles. Die Atmosphäre im Saal war die eines freundlichen Fünf-UhrTees. Die Angeklagten machten auch nach den fünfzehn Stunden des dritten Tages keineswegs einen ermüdeten Eindruck – sie hatten auch gar keine Veranlassung dazu. Man hatte mit ihnen geplaudert; und nett geplaudert. Keine Vorhaltungen, keine Bedrängungen, kein böses Wort – nichts. In den ersten drei Stunden war nur von Geld die Rede. Später ging man zu andern fesselnden Dingen über: ob die LaPlata-Zeitung nationalistisch sei oder nicht; wie Herr Thimme zu Herrn Harden stehe; ob nicht Herr Harden ein Schädling des deutschen Volkes sei... Von Mord wurde weniger gesprochen. Der Vorsitzende hatte in seinen heftigsten Momenten etwas von einem Oberlehrer, der einem Jungen nachweisen will, daß er eine Fensterscheibe kaputtgeschlagen habe. Ich weiß nicht, ob Herr Rippner eine Tochter hat. Wenn er aber eine hat, dann gönne ich ihm nicht, daß er als Nebenkläger einer Verhandlung beiwohnen muß, in der gegen den Vergewaltiger seiner Tochter verhandelt wird, und in der ein solcher Vorsitzender, wie er einer ist, paradiert. Am Ende des zweiten Verhandlungstages sagte Herr Rippner: „Wie ich höre, ist der Gesundheitszustand des Herrn Weichardt nicht ganz zufriedenstellend – wir wollen doch vertagen!“ Auf dem Korridor stand das Opfer des Mordanfalls, ein einundsechzigjähriger Mann, der Stunden und Stunden im Gerichtsgebäude zugebracht hatte. Einen Situationsplan des Tatorts hatten sie. Einen Verhandlungsplan hatten sie nicht. Ich habe so etwas von Prozeß überhaupt noch nicht erlebt. 265
Zugegeben, daß die Voruntersuchung auf derselben Höhe stand. Aber was dieser Vorsitzende aus dem kümmerlichen Untersuchungsmaterial machte, unterbot doch deren Niveau noch tief. Die Angst vor den Revisionsgründen ist freilich traditionell. Aber dies hier war schmachvoll zu sehen. Der Vorsitzende hat nicht erkundet, auf welcher geistigen Stufe die Angeklagten standen, um festzustellen, was sie eigentlich von Harden wußten. Der Vorsitzende hat nicht gefragt, auf welchem Postamt Grenz das mysteriöse Schreiben in Frankfurt abgeholt habe, um so vielleicht herauszubekommen, ob er geblufft worden sei. Der Vorsitzende hat bescheiden die Behauptung hingenommen, Grenz sei nur nach München gefahren, „um die Alpen zu sehen“. Der Vorsitzende hat nicht aufgeklärt, welche Rolle Weichardt eigentlich am Tatort gespielt hat. Der Vorsitzende hat eine Bardame nach den Zechen der beiden Mörder gefragt. Bevor sie antworten konnte, fiel er ein: „Das wissen Sie wohl nicht mehr?“ – „Nein, das weiß ich nicht mehr!“ flüsterte sie. Es war nicht die einzige Ausrede, die er zur gefälligen Benutzung herüberreichte. Der Vorsitzende hat nicht die primitivsten Fragen gestellt: wann die merkwürdigen Ratenzahlungen eingelaufen seien, wie das Geld im einzelnen verwandt worden sei – nichts, nichts, nichts. Erheblich schien ihm, daß der Angeklagte Weichardt einen Brief bekommen hatte, in dem etwas von einem kranken Familienmitglied stand. Nicht erheblich die Frage, ob denn die Angeklagten nicht in allen Zeitungen gelesen hätten, daß Harden seine Amerikareise längst aufgegeben hatte. Erheblich war die Verlesung einer längern Kriegsstammrolle Weichardts – nicht erheblich war und abgelehnt wurde die Frage, wie denn die Mörder den behaupteten „Denkzettel“ austeilen wollten: Harden konnte ja gar nicht wissen, daß dieser Überfall eine Warnung wegen der Reise bedeuten sollte. Erheblich waren die Fehler. Nicht erheblich der Vorsitzende. Man gebe ihm seine Ehescheidungskammer. Zu einem Schwurgerichtsvorsitzenden langt es nicht. Soweit dieser deutsche Richter. Der Staatsanwalt war nicht vorhanden. An seiner Stelle saß ein älterer Herr, der mit leiser Stimme und freundlichen Allüren hier und da sehr vorsichtig in die Verhandlung eingriff. Einmal, stockend: „Die Mordtaten, wie ich sie nenne...“ 266
.In keinem ändern Saal des Hauses, darunter, nebenan, ringsherum – in keinem Saal wird solche Behandlung Angeklagter je erlebt. Ich halte es für löblich, Angeklagte nicht wie die Rekruten zu behandeln und ihnen – wie es sich von selbst versteht – die Anrede „Herr“ zu belassen. Für Moabit ist dieser Brauch etwas ungewöhnlich. Man muß so ein Stück Elend von Proletarier in jenen unzähligen anonymen Prozessen sehen, in denen keine Presse zugegen ist, um die sich kein Mensch kümmert, in deren Verhandlungssälen sich nur ein paar Kriminalstudenten anwärmen – man muß sehen, wie sich da die Katerschnurrbärte sträuben, mit welch apodiktischer Gewißheit die Urteile heruntersausen, wie da Vorsitzender und Staatsanwalt in schöner Gemeinsamkeit auf ihren Opfern herumhacken. „So, Sie wissen nicht mehr, wo Sie in der Nacht jewesen sind? Na, da will ich mal Ihrem Jedächtnis ‘n bißchen aufhelfen!“ Davon war bei diesem Gericht nichts zu spüren. Angst? Es wäre keinem zu verdenken. Aber es war wohl nicht einmal Angst. (Es sei denn jene im Unterbewußtsein des Vorsitzenden schlummernde.) Hier mag eine Bemerkung eingeschaltet werden. Ich weiß, daß solche Aufschreie in Deutschland nur selten zu einer Besserung führen. Die Folge mag wohl die sein, daß Herr Rippner mit hochrotem Kopf und der „Weltbühne“ zu seinem Landgerichtspräsidenten läuft und in einer längern Konferenz erwägt, ob hier nicht etwas zu „machen“ sei. Klagt weniger! Reformiert mehr. Der Angeklagte Harden... Der Nebenkläger Harden konnte sich hier besser wehren als damals auf der Straße, sonst wäre er zum Angeklagten herabgesunken. Dieser stille Vorwur£ daß er noch am Leben sei, diese Frechheit, ein Opfer zu „beleuchten“, wo es sich um eine bezahlte Mordtat politischer Tröpfe handelte, diese vollkommene Vernachlässigung der Interessen des Nebenklägers und damit der Gerechtigkeit – das war mein Moabit, das Haus der Lieder! Nichts wurde herausgearbeitet, nichts klargestellt, nichts für die Geschworenen sauber präpariert. In diesem juristischen Tohuwabohu stand Harden am dritten Tage auf. In diesem Wirbel einer Justiz, die vor lauter Paragraphen das Recht nicht sieht; in diesem Verfahren, in dem ein Opfer nicht genü267
gend Mitleid erweckte, weil es nicht – wie bei den Kriegsmusterungen – mit dem Kopf unter dem Arm ankam; in diesem Prozeß, der bewies, wie nötig (und wie schimpflich) das Gesetz zum Schutz der Republik gewesen ist, jenes klarste Mißtrauensvotum gegen die deutschen Richter; in diesem Irrgarten des Rechts, in dem vom ersten ermittelnden Landgendarmen bis herunter zum Staatsanwalt alle, alle mit dem Herzen auf der Seite solcher Mörder stehen – in diesem Gewirr von Unrechtsfragen stand Harden auf. Und hielt die stärkste Rede, die wohl jemals in Moabit gehalten worden ist. Es sprach unser letzter Europäer von Ruf. Es sprach ein Mann, mit dem noch einmal eine verklungene Welt aufstand, der Repräsentant einer fast verschollenen Epoche, einer, der noch an Recht, an fair play, an Sine und Anstand auch im Kampf der Meinungen glaubte. „Ich habe den Kaiser immer bekämpft, vom ersten Tage an – aber getötet wurde doch unter seiner Regierung nicht.“ Er wuchs weit über sich hinaus. Über die Köpfe dieser Kleinbürger hinweg, die da um ihn herumsaßen, sprach einer, der die Sprache der Welt, nicht die Sprache dieses Deutschland redete. Er sprach davon, wie eine Nation zu seiner Lebensarbeit idiotisch lallend den Refrain „Isidor!“ anstimmte. (Und dabei hieß er niemals Isidor, sondern früher einmal Felix.) Er sprach von dem unverjährbaren Delikt seines Judentums und von der unverjährbaren Dummheit eines Regimes. Er focht Schläger, schwere Säbel und zwei Floretthiebe, die eine der unangenehmsten Erscheinungen im Saal pfeifend trafen. Lächelnd zog er zurück. Eine Courtoisie...? Ein Stoß ins Herz. Er forderte die Geschworenen auf, wenigstens offen für Freisprechung zu stimmen, wenn sie der Meinung wären, daß man anbequeme Geistige – und besonders Juden – totschlagen dürfe. Er sprach von der Mordhetze in den nationalen Zeitungen, von dem Unglück, das der Parvenü in Doorn angerichtet hatte – er redete aus einem heißen Herzen und aus einem kalten Verstand. Und mit Erstaunen und mit Grauen hörten’s die Ritter und Edelfrauen. Da saß die alte Scheuerfrau von der „Deutschen Tageszeitung“, einer von jener Gattung Journalisten, die alle Prämissen zu einer Mordhetze (auch in den – Tagen dieses Prozesses!) aufkritzeln, aber den Mord „durchaus verurteilen“, zu vorsichtig, die letzte Conclusio; Töte ihn! zu rufen. Es ist erwiesen, daß grade solche Glossen und 268
Aufsätzchen, die strafrechtlich nicht zu fassen sind, diese Mordtaten hervorgerufen haben. Deutsche Männer. Harden sprach. Wer ein Herz im Leibe hatte, war aufs tiefste erschüttert. Aber wenn du mit Engelszungen redetest... An den Brillengläsern dieser Geschworenen prallte alles ab: Geschichte, Europäertum, Vernunft und Suggestion, Verstand und die Stimme des Herzens. Eindruck im Ausland? „Wat heißt hier Ausland?“ Das muß man gesehen haben. Da saßen sie. Da saßen jene Zwölf, die das deutsche Volk in einer solchen Sache repräsentierten. Da saßen die erkürten Zwölf, die bei den drei Siebungen – von denen die wenigsten Laien etwas wissen – unten herausgefallen waren: der muffigste Mittelstand, die Untertanen, die kleinen Gewerbetreibenden, die Besitzer, die Steuerzahler. Ich kenne keinen Geistigen, der jemals Geschworener war. Wie die Zuchthäusler sind wir ausgeschaltet. Unbarmherzig wird alles - ferngehalten, was einigermaßen nach eignem freien Urteil schmeckt. Das ist kein Volksgericht. Man muß diesen Mittelstand kennen, der zur Polizei läuft und flennt, wenn ihm nur eine Spiegelscheibe eingehauen wird. Ein Mordversuch? Der Kerl lebt ja. Bezahlte Mordgesellen? Der Mensch hat ja Artikel geschrieben. Schwere Kopfverletzungen? Isidor! Isidor! Gewiß: aus dieser miserabel geleiteten Verhandlung konnten die Geschworenen nicht viel entnehmen. Gewiß: man belehrte sie eine Stunde lang umständlich über theoretische Rechtsfragen, deren Abschrift sie während der Belehrung nicht in Händen hatten. Es ist ausgeschlossen, daß sie, die Laien, Das verstanden haben, was man ihnen in der Rechtsbelehrung gesagt hat. Gewiß: nach deutschem Recht befinden sie sich nicht während der ganzen Verhandlung in Klausur –. drei Tage lang lief ein deutsch-nationaler Umhängebart umher und bearbeitete die Geschworenen in den Pausen; sicherlich nicht strafbar, sicherlich sehr illoyal. Gewiß: sie beantworten die Fragen fast ohne Kenntnis der rechtlichen Folgen ihrer Beantwortung. Sie fallen unfehlbar in die Fangnetze der Paragraphen und verzappeln darin. So daß also dieselben Richter, zu deren Kontrolle diese sogenannten Volksgerichte eingesetzt sind, ihre Kontrolleure 269
Biestimmen ausschalten, ernennen und sie in jeder Weise beeinflussen können. Volksgericht? Eine Farce. Die Angeklagten haben das letzte Wort. Ich hebe die Feder, um Weichardts Aussagen zu notieren. Ich lasse sie mutlos wieder sinken: es ist entwaffnend. Der Hütejunge stammelt einiges: er habe nicht gewußt, wer Harden eigentlich sei, und dann: „Ich nehme die Tat mit dem Ausdruck des Bedauerns zurück!“ Das kann man nicht erfinden. Grenz „steht zu seiner Sache“. Dieser Provinzhorizont! Diese dürftige Phraseologie! Es geht um einen Mordversuch, und Grenz sagt aus, er habe noch nie ein deutsches Mädchen verführt. Es geht um einen Mordversuch gegen einen politisch Andersdenkenden, und Grenz sagt: „Fünfzig Prozent des deutschen Volkes stehen hinter mir!“ Das ist richtig. So verlumpt, so amoralisch, so verkommen ist ein Teil dieser Nation. Er kennt sie. Reue? Noch zuletzt, noch nach diesen Tagen, sagt er: „Harden-Witkowski“. Und spricht: „Die Geschworenen werden wissen, was sie dem deutschen Volke schuldig sind!“ Sie wußten es. Sie verneinten alle gefährlichen Schuldfragen, sprachen Weichardt mildernde Umstände zu und verknackten den andern nur wegen Anstiftung zu einer gefährlichen Körperverletzung. Es lagen vor: mündliche und schriftliche Geständnisse beider, in denen die Worte „erledigen“, „beseitigen“ und „töten“ klar und deutlich enthalten sind. Zusammen: ein paar Jahr Gefängnis. Der Angeklagte Harden kann gehen. Und nun muß Das gesagt werden, was mir in der ganzen Verhandlung die Seele abgedrückt hat: Das ist keine schlechte Justiz. Das ist keine mangelhafte Justiz. Das ist überhaupt keine Justiz. Dieser Artikel erscheint gleichzeitig im Ausland. Und vor dem Ausland und für die Verständigen im Ausland sage ich: Es gibt in Deutschland noch eine Reihe Männer, die sich solcher Deutscher, die sich solcher Justiz schämen. Die andrer Meinung sind als jene Zwölf, unter denen sich bestenfalls ein paar Verständige befunden haben, und die doch in ihrer Gesamtheit dem Unrecht zum Sieg verholfen haben – ein wahres Abbild des deutschen Volkes, wie 270
es sich in den Augen des Auslands spiegelt. Es gibt in Deutschland noch Männer, die in unsäglicher Verachtung diesen Praktiken zusehen, wie man Mörder wiederum auf uns losläßt und den deutschen Namen in der Welt schändet. Es gibt hier Männer, die glauben, daß die gutmütig schwabbelnden Demokraten nichts erreichen werden mit ihrer scheinbaren Objektivität, die Hasenfurcht heißt. Es gibt noch eine Reihe Männer, die jedes Vertrauen zur deutschen Strafjustiz in politischen Prozessen verloren haben, und für die diese Sprüche nichts mehr bedeuten. Ich habe Harden vor der Verhandlung geraten, nicht hinzugehen, weil ich Moabit kenne. Ich bedaure, daß er seine Zeit, seine Kraft und seinen Geist an diese Männer, an diese Tage, an diesen Saal gewandt hat. Sie sind es nicht wert gewesen. Aber in der Welt schwält der Spruch. Balkan und Südamerika werden sich einen Vergleich mit diesem Deutschland verbitten, wo selbst die 180 Mann starke Fraktion der Sozialdemokraten nichts ausrichten kann. Von dem moralischen Freispruch der LiebknechtMörder, über Eisner, Erzberger, Landauer und die Behandlung der Toller und Mühsam bis zu Fechenbach, der für die Verbreitung bekannter Tatsachen elf Jahre Zuchthaus erhielt: eine Kette der Schmach. Schon sind die Einpeitscher für die „Große Koalition“ am Werke. Und über allem thront dieser Präsident, der seine Überzeugung in dem Augenblick hinter sich warf, als er in die Lage gekommen war, sie zu verwirklichen. Der Urteilsspruch ist klar. Er bedeutet: „Weitermachen!“ Er ist ein Anreiz für den nächsten, wie der ähnliche Spruch gegen den Mordbuben Hirschfeld, der Erzberger anfiel, ein solcher Anreiz gewesen ist. Reißt dieser Justiz die falsche Binde herunter! Wir haben keine Justiz mehr. Il y avait des juges á Berlin. 1922
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Für Carl v. Ossietzky General- Quittung Carl von Ossietzky geht für achtzehn Monate ins Gefängnis, weil sich die Regierung an der „Weltbühne“ rächen will, rächen für alles, war hier seit Jahren gestanden hat. Ossietzky geht ins Gefängnis nicht nur für den Mitarbeiter, der den inkriminierten Artikel geschrieben hat – er geht ins Gefängnis für alle seine Mitarbeiter. Dieses Urteil ist die Quittung der Generale. Der Hexenprozeß wurde unter sehr erschwerenden Umständen geführt. Um Ossietzky zu verhindern, beizeiten loszuschlagen, wurde die Anklage auch wegen militärischer Spionage erhoben, ein Delikt, das nicht vorgelegen hat; der einschlägige Paragraph bestimmt aber, daß wie bei einem Prozeß der westfälischen Feme oder wie in einem Verfahren der Inquisition die Öffentlichkeit nicht einmal von der Erhebung der Anklage etwas wissen darf. Ossietzky konnte sich also vor dem Prozeß überhaupt nicht zur Wehr setzen. Der Prozeß fand hinter verschlossenen Türen statt. Die Angeklagten hatten vor der Öffentlichkeit nichts zu befürchten – die Regierung alles. Die Angeklagten hatten ein gutes Gewissen. Die Regierung hatte das nicht. Den Angeklagten und den Verteidigern wurde strenge Schweigepflicht auferlegt; es durfte nichts über das, was Gegenstand der Verhandlung gewesen war, veröffentlicht werden – auch nicht nach dem Urteilsspruch. Es ist eine Frage der Taktik und des Temperaments, ob man das befolgt. Ossietzky hat alle diese Schweigegebote nicht nur befolgt – er hat sich in gradezu heroischer Weise hinter die Sache gestellt. Vom ersten Augenblick an bis heute gibt es keinen Satz, den dieser Mann geschrieben oder gesprochen hätte, wo er sich beklagt, sich rühmt, sich herausstellt. Ossietzky hat mir, als das Urteil herausgekommen ist, ebenso freundschaftlich wie fest verwehrt, ihn „anzusingen“ – ich habe also damals nicht sagen können, was alle Beteiligten längst wissen: wie er noch im Prozeß versucht hat, sich vor den Schreiber 272
des Artikels zu stellen; wie er versucht hat, die ganze Schuld auf sich zu nehmen, und wie phrasenlos und still er diese böse Wartezeit durchgestanden hat. Nicht wissen, was morgen mit einem geschieht – und dabei seine Arbeit tun: das ist nicht leicht. Das hat Ossietzky seit etwa zweieinhalb Jahren getan. Es ist nun nachträglich versucht worden, den Erlaß der Strafe oder die Umwandlung der Gefängnisstrafe in eine Festungshaft auf dem Gnadenwege zu erreichen, und dazu ist folgendes zu sagen: Carl von Ossietzky hat, während diese Bestrebungen im Gange waren, selbstverständlich nicht nur Groener, sondern auch den Mann, der letzten Endes über das Gnadengesuch zu entscheiden hat, dauernd angegriffen. Er hat gegen Hindenburg geschrieben, also genau das Gegenteil dessen getan, was man als Opportunismus bezeichnen könnte. Diese Angriffe hat er mit seinem Namen gezeichnet. Grund genug, um nach gewissen Begriffen deutscher Ritterlichkeit zu argumentieren: „Er greift uns ja doch an – wozu soll man so einen begnadigen?“ Ein Funke von Ritterlichkeit auf der amtlichen Seite wäre vielleicht zu erwarten gewesen – ich habe das nie erwartet, und es hat auch nicht gefunkt. Der „alte Herr“ versteht in Sachen der Armee keinen Spaß, die „Weltbühne“ auch nicht – und Ossietzky geht ins Gefängnis. Die meisten Begnadigungsgesuche sind dem Reichspräsidenten gar nicht erst vorgelegt worden. Nach Kenntnis der ausländischen Pressestimmen fasse ich zusammen: Die behaupteten Tatsachen sind wahr. Das Reichswehrministerium hatte Butter auf dem Kopf. Es ist gar nichts verraten worden – und zwar deshalb nicht, weil die behaupteten Tatsachen, insbesondere bei den Franzosen, bekannt gewesen sind. Es ist also auch vom Standpunkt des Militärs der deutschen Republik kein Schade entstanden. Nicht die Enthüllung hat geschadet – die Tatsachen haben geschadet. Die gegnerische Presse tut so, als wollte Carl von Ossietzky für sich eine Extrawurst gebraten haben. Das ist unrichtig. Die Begnadi273
gungsaktion will geschehnes Unrecht mildern, weiter nichts. Denn hier ist ein schweres Unrecht geschehn. Für dieses Delikt, das keines ist, über einen solchen Mann wie Carl von Ossietzky diese Strafe zu verhängen, das ist eine Schande. Sie auf sich zu nehmen ist keine. Die Strafe ist und bleibt nichts als die Benutzung einer formalen Gelegenheit, einem der Regierung sehr unbequemen Kreis von Schriftstellern eins auszuwischen. Die Mitarbeiter und die Leser der „Weltbühne“ haben in der Tat etwas getan, was den faschistischen Gegner bis aufs Blut gereizt hat: er ist hier ausgelacht worden. Hier ist gelacht worden, wenn andre gedonnert haben. Hier sind jene nicht ernst genommen worden. Und sie können ja vieles. Aber eines können sie nicht. Sie können nicht erzwingen, daß man zu ihnen anders spricht als von oben nach unten. Im geistigen Kampf werden sie auch weiterhin so erledigt werden, wie sie das verdienen. Und das muß doch gesessen haben. Denn sonst wären jene nicht so wütend und versuchten es nicht immer, immer wieder. Es wird ihnen nichts helfen. Es ist mir unmöglich, einem so unpathetischen und stillen Kameraden wie meinem Freunde Ossietzky markige Abschiedsworte zuzurufen; wir sind keine Vereinsvorsitzende. Ich wünsche ihm im Namen aller seiner Freunde, daß er diese Haft bei gutem Gesundheitszustand übersteht. Alle anständig empfindenden Menschen werden die Begnadigung fordern. Gummiknüppel sind keine Argumente. Und weiter ist dieses Urteil nichts. Das Blatt aber wird, getragen von dem gewaltigen Auftrieb, den ihm Carl von Ossietzky gegeben hat, das bleiben, was es immer gewesen ist. Anderthalb Jahre Gefängnis für eine gute Ware erhalten zu haben – das kann bescheinigt werden. Die Ware wird weitergeliefert. 1932
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Die Mordkommission Das Berlinerpolizeipräsidium hat eine Mordkommission, die, wenn ein Mord entdeckt wird, an den Tatort fährt und dort die ersten Feststellungen macht. Sie besteht aus Regierungsräten, Gerichtsärzten und Kriminalschutzleuten. Die Mordkommission ist jederzeit, Tag und Nacht, erreichbar und arbeitet prompt. Der preußische Militarismus hat Mordkommissionen, die, wenn ein Pazifist entdeckt wird, an seinen Wohnort fährt und dort die nötigen Veranstaltungen trifft. Sie bestehen aus Offizieren, Soldaten, Gendarmen und Spitzeln. Die Mordkommissionen sind jederzeit, Tag und Nacht, erreichbar und arbeiten prompt. Hans Paasche ist auf seinem Gut im Kreis Arnswalde ermordet worden. Das heutige Deutschland hat nicht mehr die Macht, das Leben seiner Bürger in allen Fällen zu schützen. Die Ermordung Paasches unterscheidet sich juristisch in gar nichts von einer Mordtat durch irgendeinen versoffenen Landstreicher – nur daß in diesem Falle, wie es sich von selbst versteht, der staatsanwaltliche Apparat zu spielen anfängt und Verwaltung und Justiz sich alle Mühe geben, den Täter zu fassen und ihn unschädlich zu machen. Der Fall Paasche liegt in doppelter Hinsicht schwerer. Die Tat ist erstens niedriger als die eines Penners, der gerade Geld braucht und einen reichen Bauern erschlägt. Die Tat ist deswegen gemeiner, weil sie unter dem Deckmantel einer dienstlichen Verrichtung begangen wurde, also feiger ist. Niemand ist feiger als der deutsche Militarist von heute. Diese Mordtat beruht wie fünfzig andere, die vorhergegangen sind, auf der drehwurmartigen Vorstellung des Deutschen, daß eine „Diensthandlung“ überhaupt niemals unrecht sein könne. Im Augenblick, wenn ein „wachhabender und diensttuender“ Offizier einen Kordon ziehen läßt, im Augenblick, wenn Befehle und Kommandos ertönen, wenn abgesperrt und verhaftet wird, so vergißt ein halbes Land, daß im Grunde nichts weiter vorgegangen ist, als daß eine Rotte beauftragter Menschen einen andern ergriffen und getötet habe. Mit Dienst hat das gar nichts zu tun. Der Fall liegt zweitens deshalb schwerer, weil Verwaltung, Militärgerichtsbarkeit und Regierung seit dem November achtzehn in diesen 275
Fällen wie gelähmt sind. Wir wollen uns da nichts vormachen: sie wollen nicht. Keine Formalität ist zu dumm, als daß man sie nicht heranzieht, um die bunten Mörder zu retten, keine Ausrede zu kindisch, keine Entschuldigung zu leer. Das letzte Buch Franz Werfels heißt „Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig!“. So weit sind wir gekommen, daß heute fast die gesamte reaktionäre Presse kein Wort der Verurteilung gegen die Mörder findet, wohl aber mit Naserümpfen und verurteilendem Tonfall Herrn Paasche bescheinigt, er sei Kommunist und extremer Pazifist gewesen. Dann freilich durfte er wohl ermordet werden. Daß die Kugel eines Verbrechers einen Falschen getroffen hat, daß Hans Paasche längst ein gebrochener und weicher Mann war, der aus persönlichen und sachlichen Gründen an einer von ihm vertretenen guten Sache fast verzweifelt war, daß er nur noch matt und hier und da leichte und belanglose politische Dinge tat – : das ist den alten Preußen gleich. Er war Offizier gewesen, er hatte einmal gewagt, an der Gottähnlichkeit des militärischen Apparats zu zweifeln, und das verzeihen sie nie. Diese Banden unterscheiden sich in nichts von Räubergesellschaften in Rußland, die, ohne nur eine Vorstellung von der Idee des Bolschewismus zu haben, unter seiner Flagge Erpressungen und Mordtaten begangen, haben mochten. Ich stelle fest: Die Militärmacht Deutschlands besteht aus der Reichswehr, aus den Sicherheitswehren, aus der Gendarmerie, aus dem Ortsschutz und den Einwohnerwehren. Die ressortmäßig feine Unterscheidung zwischen ihnen ist völlig belanglos – es glaubt kein Mensch im Ernst, daß die militärisch organisierten Sicherheitssoldaten keine Soldaten, sondern Beamte, wie etwa Steuerbeamte, seien. Diese Militärmacht stößt Mörder aus ihren Reihen nicht aus. Es darf also ausgesprochen werden: In der deutschen Militärmacht dienen Mörder. Die Regierung schweigt. Tief sitzt ihnen in den Knochen die alte Sehnsucht zum Tempelhofer Feld, tief die alte Ehrfurcht vor dem Offizier, dem sie mit Wonne salutieren. Weiß der Wachtmeisterssohn nicht, wie ein politisch-militärischer Bericht zustande kommt? Weiß er nicht, daß nur wirtschaftlich und moralisch faule Existenzen sich zum Spitzeldienst hergeben, und daß sehr viel Menschenkennt276
nis und noch mehr Takt dazu gehört, Agentenberichte richtig zu verwerten? „Das Wehrkreis-Gruppenkommando meldet...“ Es lügt – denn es geht um die Wurst: um seine Existenz. Wir dürfen dieser Gesellschaft selbst den guten Glauben absprechen. So treiben wir dem Bürgerkrieg zu. Zögernde Ängstlichkeit hüben und resolutes Zufassen drüben. Wer ist eigentlich im letzten Jahr ermordet worden? Monarchen, Heerführer, reaktionäre Politiker? eine Reihe fortgesetzter Mordtaten gegen die Führer der oppositionellen Parteien, eine Kette ekelhafter Blutflecke, ein ausgeführter Hochverrat, Schüsse aus dem Hinterhalt, Erschießungen auf der Flucht und Schläge mit der geistigen Waffe Preußens, dem Seitengewehr, – sie haben die bürgerliche Gesellschaft nicht zu belehren vermocht, daß Verbrechertum und Gewaltpolitik rechts sitzen. Sie stieren nach links wie der Frosch auf die Schlange. Auch dieser Mord wird ungesühnt bleiben. Auf das leere Klappern des offiziösen Apparates brauchen wir kaum noch hinzuhören. „Die Mörder mußten annehmen... sie befanden sich in dem Glauben... es liegt insofern ein Mißverständnis vor...“ Blut schreit zum Himmel. Ein Ermordeter liegt da und verwest, mit gebrochenen Augen, den Kinnladen heruntergeklappt, das weiße Gesicht nach oben gekehrt. Und eine Frage steigt auf aus der Erde: Warum? Mein Gott, warum? Weil wir es uns gefallen lassen. Weil keiner da ist, der einem in ohnmächtiger Wut geballten Volk den Weg zeigt, diesem Lande zu helfen. Ist keiner da? Rechts steht, dunkel und entschlossen, die Masse von Militärs und Geldleuten, die wissen, was sie wollen und wen sie wollen. Auf die Demokraten ist mit geringen Ausnahmen kein Verlaß. Das wackelt im Winde auf und nieder, berichtet schaudernd von den Taten des einen Hölz und weiß nichts von denen, die Hunderte von Offizieren dauernd begehen. Diese Demokratie hat einen doppelten Boden. Die rechtssozialistischen Arbeiter wachen langsam auf, ihre Führer in den Ämtern schlafen. Ist keiner da? Wir sind da. Und brauchen uns nur auf unsre Kraft zu besinnen und darauf, daß diese ganzen bewaffneten Organisationen 277
nicht gottgegebene Notwendigkeiten, sondern irdische Jammergesellschaften sind – wir brauchten uns nur zu besinnen. Lebe wohl, Hans Paasche. Der Tod eines Menschen sei kein Wahlplakat. Aber du sollst nicht umsonst gefallen sein. 1920
An den Botschafter der Vereinigten Staaten ist folgendes Schreiben abgegangen: Euer Exzellenz! Ich habe die Ehre, Ihnen folgende Angelegenheit zu unterbreiten: Wie in politischen Kreisen bekannt ist, hat der Oberste Gerichtshof in Boston in den Vereinigten Staaten die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen die Arbeiter Sacco und Vanzetti abgelehnt, so daß formal einer Vollstreckung des Todesurteils nichts mehr im Wege steht. Als Herausgeber einer Wochenschrift, die seit langen Jahren für die Gerechtigkeit und die Freiheit eingetreten ist, erlaube ich mir, Euer Exzellenz den Protest eines großen deutschen Kreises von Intellektuellen und Angehörigen der arbeitenden Klasse gegen die geplante Hinrichtung dieser beiden Männer zu übermitteln. Wenn ich das tue, so liegt mir nichts ferner, als mich in die innerpolitischen Verhältnisse der Vereinigten Staaten einmischen zu wollen. Als Angehöriger eines Volkes aber, das Justizirrtümer und Schlimmeres aus eigner Anschauung kennt, möchte ich zu bedenken geben, wie das Ansehen jedes Staates, also auch der Vereinigten Staaten, durch solche Vorkommnisse leiden muß. Selbst wenn Sacco und Vanzetti Taten begangen haben sollten, die nach dem amerikanischen Gesetz strafbar sind, was bei der Qualität der belastenden Zeugenaussagen auch nach amerikanischen Presseäußerungen nicht feststeht, scheint mir und meinen Freunden die jahrelange Todesangst dieser Leute eine ausreichende Kompensation für ihre Handlungsweise zu sein. Ich darf Euer Exzellenz ergebenst darauf aufmerksam machen, daß die Sympathie politisch denkender und aktiver Schichten Deutschlands durchaus auf seiten der Verurteilten ist. Die Verletzung der 278
einfachsten Menschenrechte bedarf einer Reparatur; die Begnadigung der beiden Leute ist in unsern Augen das mindeste, was von der amerikanischen Regierung erwartet wird. Wir protestieren auf das schärfste gegen die beabsichtigte Hinrichtung von Sacco und Vanzetti. Ich erlaube mir hinzuzufügen, daß dieser Protest in der nächsten Nummer meines Blattes erscheinen wird. Ich bin mit den besten Empfehlungen Euer Exzellenz ergebener Kurt Tucholsky 1927
7,7 Sieben Jahre und sieben Minuten mußten zwei Arbeiterherzen bluten. Sieben Jahre? Zellenenge, Nächte – Luft! Visionengedränge. Zehnmal in die Todeskammer – zehnmal den allerletzten Jammer – zehnmal: Jetzt ist alles aus. Zehnmal: Grüßt uns die zu Haus! Zehnmal: vor der eignen Bahre. Zum Tode verurteilt sieben Jahre. Sieben Minuten: Das Blut gerinnt. Wißt ihr, wie lang sieben Minuten sind –? Sieben Minuten Krampf und Qual, Muskeln zucken noch einmal – Blut kocht in Venen – Hebelgekreisch – es riecht nach angesengtem Fleisch – irr drehn sich Pupillen – das Ding sitzt gebunden 420 lange Sekunden...
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Strom weg. Tot? Hallelujah! Bravo! Bravo, USA –! Sieben Jahre und sieben Minuten mußten zwei Arbeiterherzen bluten. Sieben Minuten und sieben Jahre – Diesen Schwur an ihrer Bahre: Alle für zwei. Ihr starbt nicht allein. Es soll ihnen nichts vergessendem. 1927
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VON DEUTSCHER REPUBLIK
Was wäre, wenn...? Und den Mordstahl seh ich blinken Und das Mörderauge glühn; Nicht zur Rechten, nicht zur Linken Kann ich vor dem Schrecknis fliehn. Schiller: Kassandra
Und wenn alles vorbei sein wird: die rauschenden Durchzüge der Truppen mit Militärmusik, die Schüsse, das Geschrei, die wild hochgehenden Preise, die Gerede-Republiken an den Ecken, die so bald und so blutig zerstreut wurden, wenn sogar die Börse wieder funktioniert und die ersten Zeitungen scheu und zensurverängstigt aus der Ecke kriechen – dann werden sich die Leute ansehen und überlegen: Was ist denn vorgegangen? Angefangen hatte es... Ja, angefangen hatte es eigentlich gar nicht. Man las in den Zeitungen täglich von großen Demonstrationen der Monarchisten – aber weil das. Polizeipräsidium und „alle in Frage kommenden Dienststellen“ übereinstimmend erklärt hatten, damit habe es nichts auf sich, beruhigte man sich bald wieder und fuhr friedlich in die Sommerfrische. (Wie damals vor der großen Zeit, als Klio die Reisenden auf dem Stettiner Bahnhof überfiel...) In den heißen Strandburgen lasen Herr Müller und Herr Meier von den Versammlungen am Johannistag – Ludendorff hatte in Caub die Republik verhöhnt, in Berlin hetzte Wulle, die Polizei stand Gewehr bei Fuß, und Niemand in der Republik wagte einzuschreiten. Hatte sie gar keine Beamte, auf die sie sich verlassen konnte? Der Seewind ließ knisternd Sand in die sonnenbeschienenen Zeitungspapiere rinnen – da lagen sie, und niemand bekümmere sich darum. In Borkum besprengten die Hunde die schwarz-rot-goldene Flagge – die Republik schwieg. Und dann kamen die Meisten nach Hause zurück, weil es Mitte August war und die Kinder wieder in die Schule mußten – und dann... 281
Ja, sie waren einfach eines Nachts da. Woher sie kamen und wie und warum, und wer das vor altem war, der da die Straßen füllte und eine Menge Leute aus den Betten holte – “Sofort öffnen! Oder wir schlagen die Tür ein!“ – : das wußte man Alles gar nicht. Man wußte nur Eines: Sie waren da. Der graue Regenmorgen war so verhängt wie alle Berliner Fenster. Die Straßen brütend still. Keine Bahn, kein Wagen, nichts. Nur die Schritte vieler Fußgänger trappten auf den Trottoirs. Im Zentrum der Stadt Alles abgesperrt – die freien Straßen schwarz von Menschen. Es brauste von Gerüchten. Vieles war übertrieben. Aber so viel hatte man doch bald heraus: Die neue Regierung hatte sich in aller Stille in Bayern konstituiert. München war sofort ab- und umgefallen. Ostpreußen hatte mit der Abtrennung gedroht und so alle Beamten auf seine Seite gebracht. Vom flachen Land lauteten die Nachrichten verschieden. Die Truppensammlungen hatten zu „Manöverzwecken“ stattgefunden, die höhern Offiziere der Schutzpolizei hatten sich „zur Verfügung“ gestellt – und die Regierung? Der Regierung war es nicht gut gegangen. Die Automobilstraßen hatte man dieses Mal sorgfältig abgesperrt: so konnte sie nicht wieder – wie damals beim Kapp-Putsch – nach Dresden verreisen. Ein Minister war erschossen worden; wie es hieß, bedauerte das die Regierung – schon aus dem Grunde, weil sie ihnen allen den Prozeß machen wollte. Sie saßen sämtlich hinter Schloß und Riegel. Die Menge summte. Und sah sich in Berlin um. Ganze Viertel hatten Schwarz-Weiß-Rot geflaggt. Kleine Kolonnen gingen umher und verlangten stürmisch die Entfernung der Accents aigus von dem Wort „Café“ – seufzend stiegen die Cafetiers auf die Leitern, die sie schon im Jahre 1914 zu gleichem Zweck angesetzt hatten... Konsumenten-Stimme: Gottes Stimme. Es wimmelte von Uniformen. Bunte Friedensuniformen und feldgraue Kriegsuniformen und ganz veraltete Zoll- und GendarmerieUniformen – und alle Herren mit schleppendem Säbel und blitzendem Monokel und einem weithin strahlenden Blick: „Jetzt sind wir 282
dran!“ Besonders in den westlichen Vororten tauchten viele Männer im Stahlhelm auf – sie trugen eine Binde am Arm und gehörten den verschiedensten „Wehren“ an. Sie forderten Ausweise ab, schnauzten, kommandierten und waren ständig von einem Rudel bewundernder Straßenjungen umschwärmt, denen ihr martialisches Aussehen mächtig imponierte. Und Alle, Alle hatten eine Waffe. Es war ganz merkwürdig, woher auf ein Mal nur alle diese Gewehre und Revolver und Pistolen gekommen waren. Ohne Blutvergießen war es nicht abgegangen. Man hatte in Berlin insgesamt 124, nach anderen Nachrichten 154, radikale Führer erschossen, ohne Verhör, ohne Verfahren, „standrechtlich“, wie es hieß – offenbar nach vorher angefertigten schwarzen Listen. Die Leichen der Erschossenen wurden gefleddert, die Wohnungen der Opfer waren verwüstet, ausgeraubt, dann versiegelt worden – die Angehörigen befanden sich sämtlich in Haft. Straßenkämpfe hatte es an zwei Stellen gegeben – einen im Norden und einen im Osten (der mit Barrikaden). Beide Male waren die tapfern, aber überraschten Arbeiter von den Maschinengewehren hingemäht worden. Darunter auch Frauen. Vom Bürgertum wurde keine gewaltsame Gegenwehr versucht. Das Leben hatte sich schon nach fünf Tagen merkwürdig verwandelt. Der alte preußische Kasernenhofton griff verheerend um sich. In den Amtszimmern, in den Betrieben, in den Büros der Kaufleute – überall behandelte der Vorgesetzte seinen Untergebenen wieder wie weiland der Reserve-Offizier seinen Putzer. Tausend und aber Tausend wilhelminischer Kriegsabzeichen glänzten auf fadenscheinigen Rökken, die Schnurrbärte waren streng nach oben gebürstet. Und alle, alle sagten es: „Gott sei Dank! Das hört jetzt auf! Jetzt kommt hier ein andrer Zug in die Bude!“ Und er kam. Mit der Aufhebung des Achtstundentages und des Betriebsräte-Gesetzes begann es – und in einer völligen Veränderung des allgemeinen Verkehrstones sickerte die Wandlung nach unten in die Regionen des täglichen Lebens. Das Land war ein einziger Kasernenhof. Bakunin hatte den Ausdruck für das geprägt, was jetzt begann: L’empire Knouto-Germanique. Nur auf den Gerichten ging der alte Betrieb weiter – das waren die Einzigen, die sich nicht erst umzustellen brauchten. Sie waren richtig. 283
Das Telephon war völlig gesperrt und nur Dienstgesprächen zugänglich. Viele Leute waren unauffindbar. Demokratische Führer öffneten nicht, wenn man an ihre Türe pochte. Nun waren sie vor denen weggelaufen, die sie so oft in Presse und Parlament verteidigt hatten. Die Zeitungen erschienen wieder. Langsam, ganz langsam ebbte die ungeheure Aufregung ab. Und man erfuhr: Der Rektor der Universität Berlin hatte in einer zündenden Ansprache die neue Regierung willkommen geheißen, und die alldeutschen Verbände der Studentenschaft, die schon unter der Republik an den Tafeln der Vorhalle „Für Kaiser und Reich!“ annonciert hatten, schienen jauchzend zugestimmt zu haben. Hier zeigte sich, wie gut und sorgfältig man vorgearbeitet hatte: fast alle Studenten waren bewaffnet bis an den Stehkragen. Selbstverständlich war Ludendorff mit von der Partie. Zwei Tage hatte er sich vorsichtig im Hintergrund gehalten – als er die Stabilität des neuen Unternehmens sah, trat er offiziell, in voller Kriegsbemalung, hervor. Die Presse drückte sich äußerst zaghaft aus. Die Zeitungsunternehmer hatten in einer gemeinsamen Konferenz ihrem Wunsch Ausdruck gegeben, nach dem ersten Choc der Unterbrechung vor allem einmal wieder zu erscheinen – „die Presse sei grade in dieser harten Zeit notwendig wie das liebe Brot“. Sie wurden alle unter Vorzensur gestellt. Und erschienen. Und spiegelten ihre Zeit. Und so sahen sie auch aus. Die Rechtspresse jubelte ungehemmt. Sie, die vorher von nichts gewußt hatte, die alle Warner und Propheten verhöhnt hatte, „sie hätten vielleicht den Hitzschlag“ – sie floß über die Ränder vor Freude. Las man ihre Artikel, so mußte man glauben, Deutschland sei vier Jahre hindurch von blindwütigen Bolschewiken regiert worden und käme nun endlich wieder an die einzige rechtmäßige Gewalt. Spaltenlang berichteten die nationalen Blätter im alten Hofstil von Ordensverleihungen, Empfängen und würdevollen Ausfahrten. Die Bevölkerung sei, mit Ausnahme der Häftlinge, vollständig auf Seiten der neuen Regierung. „Auch unter den Arbeitern dämmerte es.“ Es ging zu wie im Krieg. 284
Die Presse war notwendig wie das liebe Brot. Das liebe Brot kostete in den ersten Tagen der Aufregung 48 Mark – aber das hatte sich bald gelegt, als die Wulle-Garden vier jüdische Bäcker aufgehängt hatten. Von da an kaufte man – mit einer Handgranate – bei den Juden umsonst; bei den andern kostete das Brot mit Genehmigung der Behörden 50 Mark. Der Boden der gegebenen Tatsachen war überfüllt. Sie standen Alle darauf. Sie paßten sich an. Sie arbeiteten am Wiederaufbau des Vaterlandes. Holzbock beschrieb die Schnurrbärte der neuen Regierungsmänner und verwechselte in der Aufregung noch mehr Fremdwörter als sonst. Andre alte Frauen trugen die Regiments-Abzeichen ihrer Söhne als Broschen, was ihnen ein wikingisches Aussehen verlieh. Die Kinos gaben den hundertfünfundsiebzigsten Teil von Fridericus Rex und machten damit – wie sooft im menschlichen Leben – ein gewaltiges Geschäft. Bejahrte apoplektische Männer sah man durch die Straßen stapfen – sie sangen Lieder von Theodor Körner, dem bekannten christlichen Lissauer, und fühlten sich trotzdem ganz gesund. Die Haltung der Entente war zweifelhaft. England schien das Unternehmen aus einer gewissen Rivalität gegen Frankreich sanft unterstützt, zum mindesten stillschweigend geduldet zu haben – nachweisbar war das natürlich nicht. Aber da waren so gewisse Anzeichen... Und bevor wir nun sehen werden, wie sich diese neue Gesellschaft von Revanche-Schreiern aus der Affäre ziehen wird – denn nun heißt es doch: cash down! –; während wir jetzt Alle warten, was die Entente antworten, und ob sie mit den Neuen genauso zusammengehn wird wie mit Horthy-Ungarn; während wir hier sitzen, wollen wir noch einmal überlegen: Wie war das möglich? Das war möglich, weil die Republik vier Jahre hindurch geschlafen hatte. Das war möglich, weil man sich darauf verlassen hatte, daß ein großer Teil des Bürgertums und fast die gesamte Arbeiterschaft gut republikanisch sei – was ja auch stimmte. Aber man hatte nichts, nicht das Geringste getan, um diese Leute zu unterstützen. Warnten 285
sie, so hatte man abgewiegelt. Zeigten sie mit dem Finger auf ein Malheur, etwa auf den Reichswehrminister, oder auf die Polizei, auf das platte Land, auf die noch immer fort bestehenden Verbände – so hatte man überlegen gelächelt. Vor lauter feiner Taktik kam die Wilhelmstraße zu gar nichts. Gewiß gab es Republikaner. Aber sie waren dazu da, um in Landtagsreden erwähnt zu werden, wo man ihnen – “unsre treffliche Arbeiterschaft!“ – die Rolle zuwies, die Karre aus dem Dreck zu ziehn, wenns schief gegangen wäre. Gewiß gab es Republikaner. Wurde einer von ihnen ermordet, so entging der Mörder der Verfolgung, und wurde er gefaßt, so sprachen ihn die Richter frei. Der Reichswehrminister duldete nicht nur die monarchistischen Treibereien unter seinen Leuten, sondern er förderte sie, indem er unaufhaltsam mahnte, nur ja die „Traditionen“ des kaiserlichen Heeres nicht zu vergessen. Er hatte nie verstanden, was die neue Zeit eigentlich von ihm wollte. Einem Hochverräter und alten Soldatenschinder gab er das Kommando eines Kreuzers. „Parteigezänk ausschalten“ – das hieß für ihn: stramm militaristisch, monarchistisch und altpreußisch denken. Papa war Wachtmeister gewesen – es lag im Blut. So war er, so waren seine Offiziere. Und die Republik schlief. Im November 1918 hatte sie geschlafen, nach dem Kapp-Putsch hatte sie geschlafen – sie hatte immer geschlafen. Und immer den Apparat über die Sache gestellt. Und nichts dazugelernt. In der Polizei hatte es von staatsfeindlichen Offizieren nur so gewimmelt – aber das ging in keinen dieser Köpfe, daß ein Monarchist auch einmal die Rolle des Staatsfeindes spielen könnte. Angestammt und rechtmäßig war ihnen nur der Nationalist. Man hatte sogar zugegeben, daß ein großer Teil der Polizeioffiziere monarchistisch sei – man male sich das Umgekehrte für die Kaiserzeit aus! Es war so weit gekommen, daß der Regierung eingestandenermaßen keine zuverlässigen Polizeioffiziere für politische Aufgaben diffiziler Natur zur Verfügung standen – es wurde Alles verraten, bevor es zur Ausführung gelangen konnte. Die Waffenträger hatten sich, wie so oft, selbständig gemacht. Und bis zuallerletzt hatte die Regierung beschwichtigt: „Auf keinen Fall aber könne man behaupten, daß die Dinge schon so weit gediehen seien.“ Schon so weit... Und so hatten sie die Republik verwaltet. 286
Die Republikaner selbst waren untereinander uneinig. Bei der großen Demonstration „Nie wieder Krieg!“ hatten die Sozialdemokraten ihre Mitwirkung versagt, weil irgendwelche Parteibonzen Kompetenzschwierigkeiten entdeckt hatten. Und die waren schließlich wichtiger als die Sache. Die Sache der Republik. Dahinter stand wie eine graue Mauer der farblose Teil des Bürgertums, Kaufleute, die keine andre Sorge kannten als eine Unterbrechung ihrer Geschäftstätigkeit. „Die 54 geht nicht? Unglaublich!“ Das war ihre Anschauung der politischen Lage. Zu feige, etwas zu unternehmen, zu feige, sich jemals herauszustellen, und immer nur in der Angst vor Pogromen oder Zwangsbeschlagnahmungen auf dem Kurfürstendamm, umgeben von frech scharwenzelnden Arbeitnehmern, die das Äußerste aus ihren Herren herausschlugen, ohne jemals etwas Prinzipielles zu verlangen – so lebten sie dahin und kümmerten sich den Teufel um Republik oder Monarchie. Ob ihre Kinder die Wehrpflicht wiederbekämen oder nicht („Bei meinen Beziehungen!“); ob die Schulen den schlimmsten Preußen ausgeliefert wurden; ob auf den Polizeiwachen geprügelt wurde: sie lebten in einer andern, glatt geschmierten, schnellern Welt. Und stierten nach der Burg-Straße. So war es gekommen. Und so war es abgelaufen. Als sich die Blutwelle gelegt hatte, machte man Bilanz: Es fehlten so ziemlich Alle, die etwas Radikales gewirkt hatten – im ganzen 2060. Ihre Gräber waren fast alle unbekannt. Man hatte sie irgendwo verscharrt. Das Reich atmete schwer. Und wartete auf sein Urteil von draußen. Auf das Urteil der Welt, das nicht zweifelhaft sein konnte. Vorläufig waren Jene an der Gewalt, Jene, die vier Jahre hindurch im geheimen gerüstet und die einmal zu früh losgeschlagen hatten. Das Unternehmertum nahm langsam Fühlung mit den neuen Herren, soweit es sie nicht schon vorher durch ihre Finanzierung genommen hatte. Die Besetzung des Ruhr-Reviers…? Sie war Manchem nicht so unangenehm, wie es den Anschein haben mochte. Und die Kapitalisten schalteten schon bei der ersten Annäherung die Extremisten aus und die Wotan-Teutschen und arbeiteten in Gemeinschaft mit einem Nationalliberalismus, der deshalb so gefährlich war, weil er so biegsam sein konnte. Die neue Regierung mit dem Reichsverweser wartete. 287
Ein Kaiser stand im Hintergrund. Im Zentrum grollte es: es war ein protestantischer. Die Bevölkerung lag, in schweren Ketten gefesselt, am Boden. Und dankte einer Republik, die nichts für sie getan hatte. 1922
Heimgefunden Na, Gott sei Dank! Nun sind wir ja so weit, daß jeder: Hoch die Republike! schreit – es war auch höchste Zeit. Ja, früher! Ohne daß du es verlangst, da hatten alle vor dem Dingrichs Angst – man kann nie wissen, wie? Sie schlichen dumm mißtrauisch um den neuen Balg herum. Und faßten leise tappend auch mal hin... Beißt sie? Beißt sie nicht? Beißt sie? Beißt sie nicht?... Der armen Republik war nicht danach zu Sinn. Die biß nicht, als der Wilhelm kniff; die biß nicht, als der Kapp was pfiff; die biß nicht, als Erzberger fiel, als Rathenau fiel, und als Haase fiel – die biß keine Reichswehrkompanie – die biß nie. Hat sich, im Gegenteil, schön gewandelt. Hat nachgelassen und kuhgehandelt, mal lag sie unten, mal lagen die andern oben, und heute darf jeder das Dingrichs loben. Kaiserreich? Republik? Welches von beiden? Sie sind kaum noch zu unterscheiden. Und nun kommen in hellen Haufen alle, alle angelaufen. 288
Die schlimmsten, ältesten Reaktionäre, Pastöre, Generale – ganze Heere– – ist das ein Konjunkturisten-Rennen! Man darf sich, ob Sie’s glauben oder nicht, ruhig zur Republik bekennen. Die ist nicht aus Eisen – die ist aus Holz. Und die Republikaner sind noch so stolz –! Gut ausgestopft und richtig gemischt. Gehn Sie ruhig ran. Die tut Ihnen nischt. 1927
400 000 Invaliden und l Gesunder Dein eines Bein ist in Flandern, das andre mit dir in Berlin; du kannst aber mit dem andern nicht die Bettelwege ziehn. Du hast keine gute Prothese. Deine Lungen sind dir zerschossen, du brauchtest eine Kur, auf Inseln, meerumflossen, und sei es auf Monate nur... Du hast aber kein Geld. Du tastest dich tappend weiter, Blinder. Du lachst nie mehr, und du ersehnst so einen Begleiter – du hast nur deinen Hund. Mit dem sprichst du. Eure Gesundheit, Kuren, Prothesen frißt Einer für sich allein. Er ist euer Kaiser gewesen und (von hinten) die Wacht am Rhein. 289
Hört ihr die Zahl, Verdammte? Sechshunderttausend im Jahr zahlen kaisertreue Beamte dem Feigling mit Kaiseraar! Er führt sein altes Leben, er ist der alte Fex, von teuern Nullen umgeben: Imperator Rex. Er kann sich Pelze kaufen, sein Vermögen steigt hoch, hoch, hoch! Ist einer von euch entlaufen, der sitzt im Zuchthausloch. Ihr und eure Frauen, elender Abfall vom Krieg – : Bedankt euch bei dieser flauen bei dieser Republik –! 1925
Vor und nach den Wahlen Also diesmal muß alles ganz anders werden! Diesmal: endgültiger Original-Friede auf Erden! Diesmal: Aufbau! Abbau! und Demokratie! Diesmal: die Herrschaft des arbeitenden Volkes wie noch nie! Diesmal. Und mit ernsten Gesichtern sagen Propheten prophetische Sachen: „Was meinen Sie, werden die deutschen Wahlen im Ausland für Eindruck machen!“ Und sie verkünden aus Bärten und unter deutschen Brillen – wegen Nichtkiekenkönnens – den höchstwahrscheinlichen Volkeswillen. Sprechen wird aus der Urne die große Sphinx: Die Wahlen ergeben diesmal einen Ruck nach links. 290
So: Diesmal werden sie nach den Wahlen den Reichstag betreten, diesmal werden sie zum Heiligen Kompromisius beten; diesmal erscheinen die ältesten Greise mit Podagra, denn wenn die Wahlen vorbei sein werden, sind sie alle wieder da. Diesmal. Und mit ernsten Gesichtern werden sie unter langem Parlamentieren wirklich einen Ruck nach links konstatieren. Damit es aber kein Unglück gibt in den himmlischsten aller Welten, und damit sich die Richter nicht am Zug der Freiheit erkälten, und überhaupt zur Rettung des deutsch-katholischen-industriellen Junkergeschlechts machen nach den Wahlen alle Parteien einen Ruck nach rechts. So: Auf diese Weise geht in dem deutschen Reichstagshaus alle Gewalt nebbich vom Volke aus. 1928
Briefe an einen Fuchsmajor „Meiningen hat ganz recht. Wir kommen schon von selbst in unsre Positionen, die ein für allemal für uns da sind. Wir übernehmen dazu einfach die bewährten Grundsätze, die Verwaltungsmaximen unsrer Väter. Wir wollen von gar nichts anderm wissen, Wozu –?“ ...Der junge Reisleben begann jetzt zu kotzen. Leben und Treiben der Saxo-Borussen, aus Harry Domela „Der falsche Prinz“
Im fröhlichen Herbst, als ich mit unserm Carl von Ossietzky in Würzburg bei schwerem Steinwein saß, fiel mein Blick auf eine kleine Broschüre „Briefe an einen Fuchsmajor, von einem alten Herrn“. [Verlag Franz Scheiner, Graphische Kunstanstalt, Würzburg.] Ich habe das Heftchen erstanden und muß dem anonymen 291
Verfasser danken: Außer dem „Untertan“ und den gar nicht genug zu empfehlenden Memoiren Domelas ist mir nichts bekannt, was so dicht, so klar herausgearbeitet, so sauber präpariert die studentische Erziehung der jungen Generation aufzeigt. Selbst für einen gelernten Weltbühnenleser muß ich hinzufügen, daß alle nun folgenden Zitate echt sind, und daß ich, leider, keines erfunden habe. Unter den Milieuromanen der letzten Jahrzehnte gibt es zwei, die besonders großen Erfolg gehabt haben, wenn ich von dem seligen Stilgebauer absehe, der butterweichen Liberalismus mit angenehm erregender Pornographie zu vereinigen gewußt hat. Das sind Walter Bloems „Krasser Fuchs“ und Poperts „Hellmuth Harringa“. Beide Bücher taugen nichts. Sie sind aber als sittengeschichtliche Dokumente nicht unbrauchbar. Bloem, ein überzeugungstreuer Mann, außer Walter Flex einer der ganz wenigen nationalen Literaten, die für ihre Idee im Kriege geradegestanden haben, gibt sanft Kritisches, das er für scharf hält. Popen, ein hamburgischer Richter, dessen sicherlich gute antialkoholische Absichten die Hamburger Arbeiter damit karikierten, daß sie in der Kneipe sagten: „Nu nehm wi noch ‘n lütten Popert!“ (statt Köhm) – ist im politischen Leben eine feine Nummer und als Schriftsteller ein dicker Dilettant. Der Erfolg seines Buches basierte auf dem angenehmen Lustgefühl, das es in dem nicht inkorporierten Wandervogel wachrief, der nach solchen Schilderungen studentischen Lebens getrost sagen durfte: „Seht, wir Wilden sind doch bessere Menschen!“ Er hat mit seiner Sittenfibel so recht, daß man ihm nur wünschen möchte, er hätte es nicht: einer der nicht seltenen Fälle, in denen ein unsympathischer Anwalt eine sympathische Sache vertritt. Die „Briefe an einen Fuchsmajor“ sind nun kein Roman, sondern eine durchaus ernstgemeinte Anweisung, junge Füchse zu brauchbaren Burschen und damit zu Mitgliedern der herrschenden Kaste zu machen. Es ist wohl das Schlimmste, das jemals gegen die deutschen Korpsstudenten geschrieben worden ist. Daß das Heft die Mensur verteidigt und damit das Duell, braucht nicht gesagt zu werden. Nun halte ich das zwar für wenig schön, jedoch kann ich mir kluge, gebildete und anständige Männer denken,
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die in der Billigung dieser Einrichtung aufgezogen sind. Der „Alte Herr“ begründet seinen Standpunkt folgendermaßen: Wo Hunderte, gar Tausende von jungen, lebensfrohen, heißblütigen Männern eng und dicht nebeneinander leben, wie auf Universitäten, da kann es nie und nimmer stets und jederzeit friedlich zugehen; wollte da jeder wegen jedes kleinen und großen Wehwehchens zum Richter laufen, so gäb’s eine Atmosphäre der Angeberei, des Denunziantentums und aller ekelhaften Nebenerscheinungen, die nicht zum Aushalten wäre. Die üblichen Verbitterungen und Feindschaften brächten letzten Endes den Knüppelkomment, das Recht des rein körperlich Stärkeren, der zahlenmäßig Mächtigeren mit sich. Wem wäre das noch nicht in Paris, in Oxford und in deutschen Fabriken aufgefallen! Was es wirklich mit dem Waffenstudententum auf sich hat, das sagt uns der „Alte Herr“ besser, boshafter, radikaler, als ich es jemals zu tun vermöchte. Das hier ist zum Beispiel ein Argument für, nicht gegen das Duell: Mit verhimmelnder Begeisterung werden lange Feuilletonspalten, geduldige Broschüren oder gar dickleibige Bücher gefüllt, wenn irgendein deutscher Intellektueller bei irgendeinem fernen Volksstamm, seien es Ostasiaten, Südseeinsulaner oder Buschmänner, irgendwelche Überreste alter Gebräuche, alter Traditionen entdeckt. Aber daß bei uns noch mitten im Alltagsleben eine derartige Tradition voll hoher und idealer Ziele lebendig ist – das zeigt allerdings, aus welcher Zeit sie stammt: aus der Steinzeit. Nur sehen die Schmucknarben der Maori hübscher aus als die zerhackten Fressen der deutschen Juristen und Mediziner. Es ist selten, daß man so tief in das Wesen dieser Kaste hineinblikken kann wie hier. In den Korpszeitungen geben sie sich offiziell; manchmal rutscht zwar das Bekenntnis einer schönen Seele heraus, aber es ist doch sehr viel Vereinsmeierei dabei, sehr viel nationale und völkische Politik, Wut gegen die Republik, die die Krippen bedrohen könnte und es leider nicht tut – kurz: jener Unfug, mit dem sich die jungen Herren an Stelle ihres Studiums beschäftigen. Hier aber liegt der Nerv klar zutage. 293
Man bedenke, was diese Knaben einmal werden, und ermesse daran die Theorie von der Gruppenehre: Wenn Herr Wilhelm Müller schlaksig mit den Händen in der Hosentasche, Zigarette im Mund, mit einer Dame spricht, interessiert das keinen, wenn aber ein Fuchs von Guestphaliae dasselbe tut, so ist für alle, die das sehen, Guestphalia eine Horde ungezogener Rüpel. Wie da das Motiv zum anständigen Betragen in die Gruppe verlegt wird; wie das Einzelwesen verschwindet, überhaupt nicht mehr da ist; wie da eine Fahne hochgehalten wird – , wie unsicher muß so ein Einzelorganismus sein! Das sind noch genau die Vorstellungen von „Ritterehre“, über die sich schon der alte, ewig junge Schopenhauer lustig gemacht hat. Noch heute liegt diese Ehre immer bei den andern. Wenn ohne Widerspruch erzählt werden kann, daß ein Waffenstudent oder gar einige Vertreter des Korporationslebens beschimpft oder verprügelt worden sind, so bleibt damit ein Fleck auf der Ehre des einzelnen und des Bundes. Nach diesem Aberglauben kann also die Gruppe ihre Ehre nicht nur verlieren, indem sie schimpfliche Handlungen begeht, sondern vor allem einmal durch das Handeln andrer Leute. Diese Ehre hats nicht leicht. Die Ehre des Bundes steht bei jedem Gang der Mensur auf dem Spiel. Dahin gehört sie auch. Der Kulturdichter Binding hat in seinen wenig lesenswerten Memoiren über die Korporationen mit jenem gutmütigen Spott des Liberalen geschmunzelt, der älteren Herren so wohl ansteht: billigend, mit einer leichten Rückversicherung der Ironie fürs Geistige, und überhaupt fein heraus. Gefochten muß sein. Gesoffen aber auch. Dieser Satz ist nicht von Heinrich Mann: Ich schrieb einmal früher: Das Kommando „Rest weg“ muß über der Kneipe schweben wie das „Knie beugt“ über dem Kasernenhof. In der Praxis sieht das dann so aus: 294
Unser gemeinsamer Freund R., der schon mehrere Semester herzkrank und schwer nervös studierte, wurde, eine unscheinbare, wenig repräsentative Erscheinung, nur auf Grund sehr dringlicher Empfehlungen aufgenommen, er fand Freunde und Kameraden im Bund, die ihn richtig leiteten, so daß er körperlich und geistig gesundend aufblühte, seine Mensuren focht, rezipiert und später sogar Chargierter werden konnte. Er hatte auf seiner Rezeptionskneipe, obwohl er sonst vom regulären Trinken wegen seiner schwächlichen Gesundheit dispensiert war, sehr kräftig seinen Mann gestanden. Bis in tiefster Nachtstunde hielt er sich in jeder Hinsicht tadellos aufrecht, daß niemand ihm den schweren Grad seiner bereits herrschenden Trunkenheit anmerkte. Ich sehe noch den gespannten Blick, als gegen Morgen der letzte fremde Gast die Kneipe verließ. Im Augenblick, als die Tür zuging und mithin nur wir unter uns waren, brach er bewußtlos zusammen... In ihm müssen wir das Musterbeispiel eines Menschen verehren, der in jeder Hinsicht den Sinn der waffenstudentischen Erziehung verstanden hatte. Stets habe ich mich gewundert, warum die Engländer keine Erfolge in ihrer Politik aufzuweisen haben; warum es mit Briand nichts ist; was an Goethe und Wilhelm Raabe und Tolstoi und Liebknecht eigentlich fehlt. Jetzt weiß ich es. Die Luft, in der sich diese Erziehung abspielt, ist schwerer Gerüche voll. Man erfinde so etwas: Füchse haben, entgegen einem Verbot, nach der Kneipe noch ein Lokal aufgesucht. Da können sie von einem Angehörigen andrer Korporationen gesehen werden. Was wird der nun denken –? Wie leicht wird er bei einer gelegentlichen Frage über den Bund einmal äußern: „Fuchserziehung scheint nicht sehr straff zu sein.“ Hört ihr den Tonfall dieser Stimme –? Die Sexualfrage wird unauffällig gelöst: Soweit er es mit seinen früher schon besprochenen Pflichten als Aktiver unauffällig vereinbaren kann, ist dies letzten Endes Privatangelegenheit jedes einzelnen. Wenn wir auch den Grundsatz 295
festhalten, daß ein ausschweifend vergnügtes Leben in sexueller Hinsicht, eben was wir burschikos als „Weiberbetrieb“ zu bezeichnen pflegen, mit der Aktivität unvereinbar ist, so haben wir andrerseits keinesfalls mit unsrer Rezeption ein Keuschheitsgelübde abgelegt. Wie recht er hat, das lese man in dem ausgezeichneten Aufsatz Friedrich Kuntzes nach, den die „Deutsche Rundschau“ jüngst veröffentlicht hat: „Über den Werdegang des jungen Mannes aus guter Familie einst und jetzt.“ Sehr bezeichnend übrigens, wie auch an dieser Stelle, nach ungewollt vernichtenden Schilderungen der herrschenden Klasse der Vorkriegszeit, die Bilanz gezogen wird: „Seine äußerste Probe hat dieses System im Kriege bestanden. Er ist verlorengegangen, gewiß; aber wenn ein Chauffeur sein Automobil gegen einen Baum fährt – muß dann die Schuld am Konstrukteur liegen?“ Wofür, ihr Männer in den Kalkgruben Nordfrankreichs... wofür –? Zurück zum „Alten Herrn“, der ein feingebildeter Mann ist, besonders wenn es sich um die Frauen handelt, deren diese Gattung nur zwei Sorten kennt: Heilige und Huren. Denn Heinrich Heines „berühmtes“ Verschen: „Blamier mich nicht, mein schönes Kind...“ ist nicht nur zierliche Spötterei, es ist zynische Gemeinheit. Und nun wollen wir uns in die Politik begeben. Oder ist das am Ende gar nicht möglich? Sind denn diese Bünde überhaupt politisch? Die Korpszeitungen, die Akademikerzeitungen, die Broschüren brüllen: Ja! Der „Alte Herr“ weiß zunächst von nichts. „Die waffenstudentischen Korporationen sind fast ausnahmslos im Prinzip unpolitisch.“ In welchem Prinzip? Seid verträglich, sagt er, denn: Du weißt ja auch nicht, wie bald ihr in Ausschüssen und Ehrengerichten, vielleicht auch bei der Technischen Nothilfe oder gar unter Waffen mit ihnen allen zusammen am gleichen Strang zieht. O ahnungsvoller Engel du –! 296
Es ist der Strang des Galgens: der Strang von Mechterstädt, wo unpolitische Studenten Arbeiter ermordet haben und nicht dafür bestraft worden sind – wahrscheinlich studieren sie noch fröhlich oder sind schon Referendare und Medizinalpraktikanten und Studienassessoren und werden nächstens auf die deutsche Menschheit losgelassen. Die Protektionswirtschaft der Korporationen wird verklausuliert zugegeben. Im übrigen ist der „Alte Herr“ liberal und das, was man so in seinen Kreisen „aufgeklärt“ und „modern“ nennt. Man stelle sich so etwas unter gebildeten Menschen vor: Geh auch ruhig einmal mit den Füchsen „offiziell“ ins Theater, ein gutes Konzert oder gar in ein Museum. Erschrick nicht über diese Ketzerei, probiere es einmal. Wenn das nur gut ausgeht – diese stürmischen und überstürzten Reformen sind doch immerhin nicht unbedenklich: wie leicht können sie im Museum so einen gleich dabehalten! Auch sollte man nicht Leute beschimpfen, spricht jener, wenn sie einer bürgerlichen Partei angehören – ja, dieser Revolutionär geht noch weiter. Füchse, geht mal raus – das ist nichts für euch. Nur Domela darf drinbleiben. Jeder einzelne von uns kann an der innern Gesundung der Sozialdemokratie mithelfen und mitwirken, wenn er auch nur einen einzigen ihrer Angehörigen von der fixen Idee internationaler Einstellung heilt. Mag er... Parteivorstand, hör zu! Mag er Sozialdemokrat sein und bleiben, wenn er nur in seiner Partei als ein Fünkchen mit daran wirkt und arbeitet, daß der Völkerverbrüderungsrummel, die Klassenkampfidee, die international gerichtete, zum großen Teil sogar landfremde Führerschaft am Boden verliert. Dann mag er. „Alter Herr“, du bist viel, viel näher an der Wahrheit, als du es wissen kannst. Und du bist doch nicht etwa Pazifist? Du scheinst so weich...
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Stelle beispielsweise einmal zur Überlegung anheim, daß noch vor wenigen Jahrhunderten die Möglichkeit für den einzelnen, unbewaffnet und ohne Schutz von Stadt zu Stadt, von Land zu Land zu ziehen, eine Unmöglichkeit war, und daß ein Prophet, der damals die persönliche Abrüstung vorausgesagt hätte, als Phantast und Narr verlacht, bei praktischer Ausübung seiner Ideale und Utopien verprügelt, ausgeraubt und totgeschlagen worden wäre, sowie er die schützenden Mauern seiner Stadt, die Grenzpfähle seines Ländchens überschritt. Und doch reisen wir heute unbehelligt durch den größten Teil der Welt, gesichert und geschützt durch selbstverständlich gewordene Gesetze aller zivilisierten Völker. Wenn jemand also heute pazifistische Ideale vertritt, so ist er deswegen kein Schuft, Lump und ehrloser Vaterlandsverräter, sondern seine hohen Ideale allgemeiner Völkerversöhnung werden hoffentlich in ferner Zukunft auch einmal Wahrheit werden! Ich denke: Nanu? Nanu? denk ich... Aber er ist heute sicher ein Schädling, gegen den energischsachlich Front gemacht werden muß und dessen Anschauung im Keime zu ersticken Notwendigkeit der Selbsterhaltung für unser gesundes, noch nicht degeneriertes Volk ist. Als Schwärmer und Phantasten müssen wir ihn und die praktischen Folgen seiner Ideen bekämpfen und seine Anschauungen unschädlich machen, als Person können wir ihn trotzdem hochschätzen und ehren. Alles in Ordnung. Früh übt sich, was ein Reichsgerichtsrat werden will. Hält man dergleichen für möglich? Ein Blick in die Gerichtssäle, in die Kliniken, in die Ministerien – und man hält es für möglich. Und das hat Zuzug, stärker als vor dem Kriege – das blüht und gedeiht, nie waren die Korps zahlenmäßig so stark wie heute. Und muß das nicht so sein? Hier ist nun die klarste Formulierung dessen, was seit dem Versailler Friedensvertrag in Deutschland vor sich gegangen ist. Hier ist sie: Denkt... auch etwas daran, daß jeder junge Deutsche nach Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht sein eigner Unteroffizier 298
sein, daß die Folge der Verödung der Kasernenhöfe das Entstehen von Hunderttausenden neuer, kleiner und kleinster idealster Kasernenhöfe sein muß, wenn das deutsche Volk noch nicht verfault ist bis ins Mark hinein. Und nun will ich euch einmal etwas sagen: Wenn man bedenkt, daß Zehntausende junger Leute so, sagen wir immerhin: denken wie das hier (und man sehe sich die Photographie an, die dem Buch voranprangt) – wenn man bedenkt, daß das unsre Richter von 1940, unsre Lehrer von 1940, unsre Verwaltungsbeamten, Polizeiräte, Studienräte, Diplomaten von 1940 sind, dann darf man wohl diesen Haufen von verhetzten, irregeleiteten, mäßig gebildeten, versoffenen und farbentragenden jungen Deutschen als das bezeichnen, was er ist: als einen Schandfleck derNation, dessen sie sich zu schämen hat bis ins dritte und vierte Glied. Die Professoren sind nicht schuld. Sie sind nicht so dumm, wie sie sich größtenteils stellen – sie sind feige. Denn der wüsteste Terror schwebt über ihnen; wehe, wenn sie sich auch nur für diese Republik betätigen! Was ihnen geschehen kann? Aber die gefährliche Vorschrift, daß ihre Einkünfte von den Kolleggeldem abhängen, besteht noch heute – und wenn selbst ein freiheitlicher akademischer Lehrer Mitglied einer Prüfungskommission ist: die Studenten boykottieren sein Kolleg, sie kaufen seine Bücher nicht, gehen an eine andre Universität, und das riskiert ein verheirateter, mäßig besoldeter Mann nicht gem. Die Professoren sind nicht allein schuld. Die Ministerien sinds schon mehr. Der preußische Kultusminister tut allerhand, mitunter sogar sehr viel. Aber in wie vielen Fällen läßt man diejenigen, die für ihre Republik eingetreten sind, glatt fallen – so daß sich also so ein armer Ausgelieferter mit Recht sagt: „Dann nicht!“ und den Kampf aufgibt. Der Formalsieg, den der Staat mit der Auflösung der Deutschen Studentenschaft errungen hat, ist noch gar nichts. Was es auszurotten gilt, ist nicht ein Verband oder dessen offizielle Rechte – : es ist eine Gesinnung und eine Geisteshaltung. Ich glaube, daß diese Studentenkämpfe das Wesen des Studierenden völlig verkennen; sie machen aus einem Lernenden einen Stand; tatsächlich ist etwa drei 299
Viertel der Energie, mit der diese läppischen Vereinskämpfe geführt werden, vertan. Ihr sollt nicht verwalten – ihr sollt studieren. Diese Melodie ist nicht aktuell. Sie war es im Jahre 1920, und sie wird es im Jahre 1940 wieder sein – wenns solange dauert. Es ist ein hohler Raum entstanden, in dem die Klagerufe eines Teiresias überlaut widerhallen; billig zu sagen: „Es wird halb so schlimm sein!“ Es ist achtfach so schlimm. Denn das Schauerliche an dieser Geistesformung ist doch, daß sie den Deutschen bei seinen schlechtesten Eigenschaften packt, nicht bei seinen guten; daß sie das anständige, humane Deutschland niedertrampelt; daß sie sich an das Niedrige im Menschen wendet, also immer Erfolg haben wird; daß sie mit Schmalz arbeitet und einem Zwerchfell, das sich atembeklemmend hebt, wenn das Massengefühl geweckt ist. Und daß sie kopiert wird. Diese Studenten sind Vorbild für alle jungen Leute, die keinen sehnlicheren Wunsch haben, als an möglichst universitätsähnlichen Gebilden zu studieren und es denen da gleichzutun, mit hochgeröteten Köpfen den Korpsier zu markieren und einer im tiefsten Grunde feigen Roheit durch das Gruppenventil Luft, zu schaffen. Der Abort als Vorbild der Nation. Und der da soll im Jahre 1940 Arbeiter richten dürfen? Ein solches Biergehirn, in dem auch nicht ein Gedanke über den sauren Muff seiner Kneipe reicht, entscheidet über Leben und Tod? Über Jahre von Gefängnis und Zuchthaus? Das will Provinzen verwalten? Ein solch minderwertiges Gewächs vertritt Deutschland im Ausland? verhandelt mit fremden Staaten? wird gefragt, wenns ernst wird? hat zu bestimmen, wenns ernst wird? Das ist der Boden, auf dem die Blüten des deutschen Richterstandes gedeihen, welche Blumenlese! Man wundert sich bei Gerichtsverhandlungen und bei der Lektüre von Urteilsbegründungen oft, woher nur diese abgestandenen Vorurteile, die unhonorige Art der Verhandlungsführung, die überholten Anschauungen einer kleinbürgerlichen Beamtenschaft stammen mögen. Hier, auf den Universitäten, ist der Boden, in dem eine Wurzel dieser Produkte steckt. Niemand reißt sie aus. 300
Denn diese setzen sich durch. Die herrschen. Die kommen dran. Ich kann beim besten Willen nicht sehen, wo die aufhebende Wirkung der vielgerühmten Jugendbewegung ist, die Ignorieren für Kampf hält; wo das Gegengewicht steckt, wo die andre Hälfte der Nation bleibt, jenes andre Deutschland, das es ja immerhin auch noch gibt. Wenns zum Klappen kommt, ist es nicht vorhanden. Ungleichmäßig sind bei uns Gehirn und Wille verteilt: der eine hat den Kopf und der andre den Stiernacken. Es gibt kaum eine intelligente Energie. Sie haben nicht nur das größere Maul, die dickern Magenwände, die bessern Muskeln, die niedrigere und frechere Stirn: sie haben mehr Lebenskraft. Kein Gegenzug hält sie in Schach. Keine deutsche Jugend steht auf und schüttelt diese ab. Keine Arbeiterschaft hat zur Zeit die Möglichkeit, die Herren dahin zu befördern, wohin Rußland sie befördert hat. Sie herrschen, und sie werden unsre Kinder und Kindeskinder quälen, daß es nur so knackt. Diesem Land ist immer nur ein Heil widerfahren, und was nicht von innen kommt, mag getrost von außen kommen. Niederlage auf Niederlage, Klammer auf Klammer – Napoleon hat mehr für die deutsche Freiheit getan als alle deutschen Saalrevolutionen zusammen. Aber manchmal tuns auch die Niederschläge nicht, kein fremder Imperialismus hilft gegen den eignen. So tief ist das Laster eingefressen, daß der begreifliche Wunsch derer, die ihre Heimat lieben und ihren Staat hassen, umsonst getan ist. Deutschland ist im Aufstieg begriffen. Welches Deutschland? Das alte, formal gewandelte; eins, das mit Recht nach seinen bösen Handlungen und nicht nach seinen guten Büchern beurteilt wird, und das bis ins republikanische Herz hinein frisch angestrichen ist, umgewandelt und ungewandelt: die wahrste Lüge unsrer Zeit. Das Deutschland jener jungen Leute, die schon so früh „Alte Herren“ sind und die für ihr Land einen Fluch darstellen, einen Alpdruck und die Spirochäten der deutschen Krankheit. 1928
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Brief an Herbert Ihering 18. Oktober 1929
Lieber Herr Ihering, ich habe Ihre Aufsätze im Börsencourier und im Tagebuch gelesen, die sich mit dem Deutschlandbuch∗ befassen. Der Ton der beiden Arbeiten entspricht genau meiner Erinnerung, die ich aus S. J.’s Zeiten an Sie habe: rein, sauber, klar und sachlich. Wer so viele Leute kritisch schlachtet wie unsereiner, darf nicht empfindlich sein. Die gute Hälfte Ihrer Vorwürfe halte ich für diskutierbar (den vom „Genießer“ nicht – der ist aus einer Kanone geschossen, die Sie so scharf ablehnen). Ich habe mir selbst in der Weltbühne attestiert, daß dieses Buch etwas Anachronistisches hat; es ist gewissermaßen eine abschließende Bilanz – von der Schwierigkeit, seelische Situationen mit Photos zu belegen, ganz zu schweigen. Unter den zahlreichen Kritiken, den negativen und den positiven, die das Buch erhalten hat, steht die Ihre weitaus am höchsten. In einem Punkt aber gehen wir auseinander. Sie gebrauchen die Worte: „Nun schreibt er immer wieder dieselben Aufsätze...“ Lieber Herr Ihering, waren Sie in den letzten Monaten einmal auf einem deutschen Gericht oder in einer deutschen Strafanstalt? Das sollten Sie nicht versäumen. Ich habe mir im letzten Jahr vieles in Deutschland angesehen, worüber ich nirgends referiert habe, und was mich erschreckt hat, das ist die Fortdauer einer wilhelminischen Gesinnung, die zwar die Zierate des Gardehelms abgelegt hat, aber in karger neuer Sachlichkeit brutal und kalt Schweinereien verüben läßt, schlimmer als unter dem Seligen, wo durch eine gewisse Bordeaux- oder Biergemütlichkeit manches gemildert wurde. Natürlich wird in der Provinz und in Berlin ehrlich von links her dagegen angekämpft. Mit welchem Erfolg –? Nicht das ist das Gefährliche, daß mich Ihre Aufsätze etwa vor der „Deutschen Zeitung“ kompromittieren; wäre das so, dann müßten wir uns ständig gegenseitig für Genies ∗
„Deutschland, Deutschland über alles.“
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erklären, aus Angst, die Nationalisten könnten einen Tadel gegen uns auswerten. Die Gefahr steckt vielmehr darin, daß in der allgemeinen Beruhigung ein ordentlicher, glatter Nationalismus, ein sauber rasierter Kapitalismus, eine fein gebügelte Unterdrückung der Arbeiter überall zu spüren ist – also auch in den Kreisen der bürgerlichen Intellektuellen. Risiko? Mir scheint das Risiko eines „Stellungnehmenden“ erheblich kleiner zu sein als das eines Schriftstellers, der hart zuschlägt – jenem erwidert höchstens der Gegner mit einem schönen Aufsatz – diesem schlagen sie, wenn sichs macht, die Knochen entzwei. Lehnt einer diese deutsche Welt, so wie sie da ist, in Bausch und Bogen ab und tut er das noch in einer ästhetisch unbefriedigenden Form, dann steht er jenseits der „seriösen“ Leute. Mir macht das nichts, und sosehr ich Ihnen recht gebe, wenn Sie schreiben, daß dem Buch der Hinweis darauf fehlt, daß es ja anderswo genauso ist, sosehr vermisse ich in ihren Aufsätzen Gefühl für Blut und Tränen. Hören Sie das nicht? Hören Sie nicht den unterirdischen Schrei, der oft keinen künstlerischen Ausdruck findet und den man mit allen raffinierten Mitteln unterdrückt, wo man nur kann? Im Rundfunk dürfen wir nicht, in der Presse sollen wir nicht, im Kino können wir nicht – bleibt das Buch. Immer wenn ich schreibe, denke ich an das Leid der Anonymen, an den Proletarier, den Angestellten, den Arbeiter, an ein Leid, von dem ich durch Stichproben weiß. Das wissen Sie auch – Sie müssen das wissen, und ich will lieber den Vorwurf auf mir sitzen lassen, künstlerisch nicht befriedigt oder aus Empörung Über das Ziel hinausgeschossen zu haben, als ein Indolenter zu sein. Und glauben Sie mir – : wenn ich immer dasselbe schreibe, so tue ich das bewußt. Es ist vielleicht langweilig, Jahr um Jahr Salvarsankuren zu machen; Kamillentee wäre vielleicht abwechslungsreicher – aber man muß das wohl. Auch die Spirochäten bleiben ewig dieselben. Ich werde mich freuen, Ihnen während meines Berliner Aufenthaltes zu begegnen, und bin mit den besten Grüßen Ihr wie stets ergebener Tucholsky
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Brief an Herrn A. Klemich, Halle 13.Oktober 1926
Sehr geehrter Herr, Siegfried Jacobsohn übergibt mir Ihren Brief vom 20. September, der sich mit meinen Ausführungen über das Reichsbanner befaßt. Ton und Takt dieses Schreibens bewegen mich, Ihnen zunächst für das Interesse zu danken, das Sie an den Tag legen, und Ihnen zu antworten: wie ich hoffe, ebenso ritterlich und unpersönlich, wie Sie mich angegriffen haben. Ich brauche Sie also nicht zu bitten, die Schärfen der nachfolgenden Zeilen nicht anders aufzufassen, als sie gemeint sind: nämlich sachlich. Sie schreiben, das Reichsbanner trage die Farben der Republik ins kleinste Dorf. Das ist richtig. Der Satz setzt aber, stillschweigend voraus, als sei das bereits ein Verdienst – während doch Millionen von Arbeitern sich mit Recht fragen: „Was hat uns, den Unterdrückten, die Republik Besseres gebracht? – “ Gerechtigkeit statt Justiz? Nein. Saubern Schulunterricht statt Verdummung? Nein. Änderung der deutschen Denkart? Nein. – Erlauben Sie also bitte einem Zweifler, die „Farben der Republik“ als eine oft begrüßenswerte Sache anzusehen, weil nämlich die Gegner mitunter schlimmer sind – aber nicht als mehr. Diese Republik ist nicht die meine. Ich verachte die Verfassung dieser Republik nicht – ich verachte aber jene, die da glauben, dieser Lappen Papier würde irgendwo in Deutschland auch nur annähernd befolgt. In Wahrheit ist diese Verfassung weniger als eine Polizeiverordnung – sie hat den praktischen Wert einer moralischen rein abstrakt gebliebenen Vorschrift, durchdringt aber nirgends Judikatur, Verwaltung, Exekutive. Vielleicht lesen Sie einmal die Rechte der Deutschen daraufhin durch – können Sie das ohne bittres Lächeln, wenn Sie das Leben um sich herum sehen? Hat der Deutsche seine sogenannten verfassungsmäßig begründeten Rechte wirklich? Und daß diese kümmerliche Republik nach dem Kriege auf das schwerste gefährdet war, wie Sie schreiben, ist leider nicht richtig. Von wem hätte sie das sein sollen? Sie war es leider nicht von den 304
betrogenen Arbeitern, die von Ihren Führern verraten worden sind – keine Geschichtsklitterung kann aus der Welt schaffen, daß Fritz Ebert mit den Generalen, Noske mit den Offizieren, Heine mit den übelsten Reaktionären gemeinsame Sache gemacht haben, aus Angst, aus Charakterlosigkeit, aus Unfähigkeit, zu begreifen, was eigentlich „Revolution“ ist. Revolution ist: Luftreinigung – ist: von vorn anfangen – ist: „Wohlerworbene Rechte“ über den Haufen werfen – ist genau das Gegenteil von dem, was diese Republik in der Nachkriegszeit hat tun lassen. Und gegen die paar Leute, die sich – oft mit falschen Mitteln – dagegen aufbäumten, hat sie Maschinengewehre auffahren lassen – und ich weiß, daß viele der SPD-Schlafmützen, die damals versagt haben, heute noch der Meinung sind, sie hätten den Staat gerettet. Das haben sie auch. Für wen –? Für eine regierende Kaste, die längst begriffen hat, wie harmlos, wie artig, wie ungefährlich die Republik ist und daß es sich ganz gut mit ihr leben läßt. Was „konstruktiver Pazifismus“ ist, ahne ich nicht. Vermutlich ein schönes deutsches Wort. Wenn er aber bedeutet, heute noch von ausgebeuteten und betrogenen Menschen, die für den Stumpfsinn von 1914 ins Verderben getrieben worden sind, als von besondern Wesen, als von Frontsoldaten zu sprechen –: dann lehne ich ihn ab und bleibe bei meinem radikalen Pazifismus. Eben das, daß der Angehörige einer Gruppe nach diesem blutigen Bankrott des wilhelminischen Zeitalters schreiben kann: „Das Reichsbanner wird sich niemals vorschreiben lassen“ – beweist, daß sich nichts gewandelt hat. Hier will ja niemand vorschreiben – aber was ist das für eine Denkart – , die die sog. „Selbständigkeit“ der Gruppe für das höchste hält! Dies allerdings scheint mir ein Punkt, dessen Erörterung den Angreifer leicht in die Rolle des Bekämpfers der Hexenprozesse drängt: ein ganzes Land starrt ihn fassungslos an und versteht nicht. Sie glauben an den Sieg des republikanischen Gedankens? Sagen Sie, was ist das eigentlich: der republikanische Gedanke? Daß es keinen König geben soll? Als ob es darauf ankäme? Daß der „Tüchtige freie“ usw. haben solle? Hat er die? Liegt die Republik nicht machtlos unter dem wirtschaftlichen Finanzkoloß, der sie bedrückt – kann sie denn überhaupt etwas tun? Kann sie denn Fürsorgeerzie305
hung, Schule, die überflüssige Reichswehr, die Landgüter, die Schande der polnischen Saisonarbeiter, die Gefängnisse, die verbürgerten Amts- und Landsrichter – kann sie das alles bessern? Ja, will sie denn überhaupt? Züchtet sie nicht neuen Gruppenstolz, nimmt sie nicht den Faden genau da auf, wo ihn der Ausreißer aus Doorn hat fallenlassen? Hat nicht nur das Vokabularium gewechselt? Ich hoffe, daß ein so aufrechter und sachlich debattierender Mann das noch erleben wird – und ich hoffe es um so mehr, als Sie ein uninteressierter Kämpfer sind, der ja nichts will, der wahrscheinlich nur Unbequemlichkeiten und Arbeit von seiner anständigen Gesinnung hat. Der aber zuviel erwartet, der optimistisch ist, und, halten zu Gnaden: kein Revolutionär. Hochachtungsvoll Tucholsky
Opposition! Opposition! Jetzt gehts aber los! Jetzt werden wir was erleben! Jetzt wird sich eine Opposition erheben: Da werden die Mäuler aufgerissen! Da schlägt das nationale Gewissen, da schütteln sich Fäuste im ganzen Land, gegen Hindenburg! Da wackelt die Wand. Jetzt ist alles freiheitlich und sozial... Auf einmal –? Auf einmal: Verteilung des Steuergewichts? Auf einmal taugt der Geßler nichts? Auf einmal: Freiheit der Denker und Dichter? Auf einmal: die Schande der deutschen Richter? Hohn, Satire und Ironie? Das war doch noch nie... „Für die Freiheit der Schule! Der Republik ein Spalier!“ Ausgerechnet ihr. Im Kampf gegen die Militärschweinerein 306
standen wir jahrelang ganz allein. Da war keiner von euch zu sehn. Wann sind denn die schlimmsten Dinge geschehn? Als ihr an der Macht wart. Mit euern Leuten. Das hat auf einmal nichts zu bedeuten. Jetzt, wo es in euern Parteikram paßt, tut ihr, als ob ihr mit, uns haßt, was hassenswert zwischen Rhein und Weichsel. Ihr hieltet dem Karren acht Jahre die Deichsel. Ihr habt erst ermöglicht, was heute geschehn. Ihr laßt Kinder in diese Schulen gehn. Ihr habt Arbeiterblut vergossen. Ihr habt auf alles, was frei war, geschossen. Die sich da die Macht erschoben: ihr habt sie erst in den Sattel gehoben; die da lasten auf Arbeitermassen: ihr habt sie erst in die Ämter gelassen. Scherz, Satire und Ironie? Ihr seid genau, genauso wie die: Untertanen. Zu allem erbötig. Opposition –? Ihr habts nötig. 1927
Sozialdemokratischer Parteitag Wir saßen einst im Zuchthaus und in Ketten, wir opferten, um die Partei zu retten, Geld, Freiheit, Stellung und Bequemlichkeit. Wir waren die Gefahr der Eisenwerke, wir hatten Glut im Herzen – unsre Stärke war unsre Sehnsucht, rein und erdenweit. Uns haßten Kaiser, Landrat und die Richter: Idee wird Macht – das fühlte das Gelichter... 307
Long long ago – Das ist nun heute alles nicht mehr so. Wir sehn blasiert auf den Ideennebel. Wir husten auf den alten, starken Bebel – Wir schmunzeln, wenn die Jugend revoltiert. Und während man in hundert Konventikeln mit Lohnsatz uns bekämpft und Leitartikeln, sind wir realpolitisch orientiert. Ein Klassenkampf ist gut für Bolschewisten. Einst pfiffen wir auf die Ministerlisten... Long long ago – Das ist nun heute alles nicht mehr so. Uns imponieren schrecklich die enormen Zigarren, Autos und die Umgangsformen – Man ist ja schließlich doch kein Bolschewist. Wir geben uns auch ohne jede Freite. Und unser Scheidemann hat keine Seite, nach der er nicht schon umgefallen ist. Herr Weismann grinst, und alle Englein lachen. Wir sehen nicht, was sie da mit uns machen, nicht die Gefahren all... Skatbrüder sind wir, die den Marx gelesen. Wir sind noch nie so weit entfernt gewesen von jener Bahn, die uns geführt Lassall’! 1921
Fabel Da stand der Hund vor der Hundehütte, sein Fell war gesträubt wie die Borsten einer Bürste, er lauschte in die weite Nacht. Aus der Nacht ertönte ein Geheul. Es begann hinter dem Wald, und es pflanzte sich zur Schlucht hinüber fort, sacht ansteigend; wenn es dort angekommen war, antwor308
tete eine heulende Stimme, die so jäh anstieg, daß der Hund zitternd in sich zusammenkroch. Dann begann er zu bellen. Er bellte, gleich heiser einsetzend, so aufgeregt war er; Schaum troff ihm aus dem Maul, er bellte mit der Seele, seine Flanken flogen, obgleich er gar nicht gelaufen war, er stemmte alle vier Pfoten fest auf die Erde, um bessern Halt zu haben – und Geifer, rasende Tobsucht und Wut waren in seiner Stimme... Da erwachte sein Herr... „Das sind die Wölfe“, sagte der Mann hinter sich in die Hütte und band den Hund los, der ihm nicht von den Hacken wich; er schritt in die Hütte zurück, entsicherte das Gewehr, das an der Wand hing, und legte sich zu seinem Weib. Das Herdfeuer glomm; der Hund träumte. Wenn das Geheul draußen von neuem einsetzte, richtete sich der Hund schnaufend auf, ein kurzer Ruf des Mannes zwang den Knurrenden in die Ruhestellung. Da lag er. Da lag der Verräter. Da lag der, der sich vor achttausend Jahren von den Wölfen losgemacht hatte: für Fressen, Sicherheit und einen wannen Platz in der Hütte. Sie hätten ihn zerrissen, wenn sie ihn bekommen hätten – mit ihren Zähnen zerknirscht, zermalmt, zunichte gemacht. Er gab vor, sie zu verachten; aber er haßte sie, weil er sie fürchtete. Der Herr nannte ihn treu und wachsam – es war ganz etwas andres. Um ganz etwas andres ging der ewig währende Kampf zwischen den wilden Hunden und dem gezähmten Hauswolf. Der Kampf ging um die Seele. Anklage und Urteil war ihr Erscheinen; tiefster Vorwurf ihre Witterung; Donnerspruch ihre Stimme; Glanz des Himmels vor dem Sünder in der Hölle ihre Gestalt – er krümmte sich, wenn er nur an sie dachte. Er wand sich: denn sie hatten recht! sie hatten recht! sie hatten recht! Er war abgefallen, zum Feind übergegangen: aus Feigheit, aus Verfressenheit, aus Faulheit; aus hündischem Stolz, sich in der Gunst seines Herrn sonnen zu dürfen, und womit war diese Gunst erkauft! Er haßte sie um ihrer Freiheit willen – er war zu schwach, die noch zu wollen. Er ließ sie entgelten, was er nicht hatte werden können. Sie hatten die Freiheit, die herrliche Freiheit und ein hartes Leben – 309
aber sie sollten gar nichts haben! Er haßte sie, weil sie nicht in der Wärme fressen wollten wie er, und er haßte sie, weil es ihm alles, alles nichts genutzt hatte: der Verrat nicht, die Wachsamkeit nicht, die gebratenen Fleischstücke nicht. Er war ein Verschnittener; was da draußen rief, war die Manneskraft, waren die Treue, der Wille und das Herz – was war ihm geblieben! Eine Hundehütte war ihm geblieben. Ein besonders schriller Schrei drang in die warme Finsternis. Diesmal konnte der am halbverglommenen Feuer nicht an sich halten – laut bellend fuhr er in die Höhe. Mit einem jaulenden Schmerzenslaut duckte er sich nieder: ein Stück Holz war ihm krachend in die Weichteile gefahren. Der Wille des Herrn hatte gesprochen. In hohen Tönen wimmernd lag er gekauert und horchte auf die Stimme der Natur, auf die Stimme der ungebändigten Freiheit, auf die mahnende Stimme, anmahnend das verpfuschte Leben seiner Generationen. Da lag er: ein wohlgenährter Verräter. Ein in Sicherheit lebender Verräter. Ein zutiefst unglücklicher Verräter. Nun war es ganz still geworden. Der Hund schlief. Zwischen Otto Wels und Lenin bestehen gewisse Gegensätze. 1929
Feldfrüchte Sinnend geh ich durch den Garten, still gedeiht er hinterm Haus; Suppenkräuter, hundert Arten, Bauernblumen, bunter Strauß. Petersilie und Tomaten, eine Bohnengalerie, ganz besonders ist geraten der beliebte Sellerie. Ja, und hier –? Ein kleines Wieschen? Da wächst in der Erde leis das bescheidene Radieschen: außen rot und innen weiß. 310
Sinnend geh ich durch den Garten unsrer deutschen Politik; Suppenkohl in allen Arten im Kompost der Republik. Bonzen, Brillen, Gehberockte, Parlamentsroutinendreh... Ja, und hier –? Die ganz verbockte liebe gute SPD. Hermann Müller, Hilferlieschen blühn so harmlos, doof und leis wie bescheidene Radieschen: außen rot und innen weiß. 1926
An einen Bonzen Einmal waren wir beide gleich. Beide: Proleten im deutschen Kaiserreich. Beide in derselben Luft, beide in gleicher verschwitzter Kluft; dieselbe Werkstatt – derselbe Lohn – derselbe Meister – dieselbe Fron – beide dasselbe elende Küchenloch... Genosse, erinnerst du dich noch? Aber du, Genosse, warst flinker als ich. Dich drehen – das konntest du meisterlich. Wir mußten leiden, ohne zu klagen, aber du – du konntest es sagen. Kanntest die Bücher und die Broschüren, wußtest besser die Feder zu führen. Treue um Treue – wir glaubten dir doch! Genosse, erinnerst du dich noch? Heute ist das alles vergangen. Man kann nur durchs Vorzimmer zu dir gelagen. 311
Du rauchst nach Tisch die dicken Zigarren, du lachst über Straßenhetzer und Narren. Weißt nichts mehr von alten Kameraden, wirst aber überall eingeladen. Du zuckst die Achseln beim Hennessy und vertrittst die deutsche Sozialdemokratie. Du hast mit der Welt deinen Frieden gemacht. Hörst du nicht manchmal in dunkler Nacht eine leise Stimme, die mahnend spricht: „Genosse, schämst du dich nicht –?“ 1923
Eines aber möchten wir in absehbarer Zeit gewiß nicht hören; das jammervolle Geächz der aus der Regierung herausgeworfenen Sozialdemokraten, weil man sie dann grade so behandeln wird, wie sie heute den Reaktionären helfen, die Arbeiter zu behandeln. Eines Tages wird es soweit sein. Die furchtbare Drohung, sich nunmehr bald an die frische Luft zu verfügen, wird von der Partei wahrgemacht werden, wahrscheinlich eine halbe Minute, bevor man sie auch in aller Förmlichkeit bitten wird, den Tempel zu räumen. Und dann wird sich die Führung besinnen: Jetzt sind wir in der Opposition. Mit einem großen O. Wie macht man doch das gleich... ? Da werden sie dann die Mottenkisten aufmachen, in denen – ach, ist das lange her! – die guten, alten Revolutionsjacken modern, so lange nicht getragen, so lange nicht gebraucht! Werden ihnen zu eng geworden sein. Und dann frisch als Sansculotten maskiert, vor auf die Szene. „Die Partei protestiert auf das nachdrücklichste gegen die Gewaltmaßnahmen...“ Herunter! Abtreten! Faule Äpfel! Schluß! Schluß! Die werden sich wundern. Und sie werden keinen schönen Anblick bieten. Denn nichts ist schrecklicher als eine zu jedem Kompromiß bereite Partei, die plötzlich Unnachgiebigkeit markieren soll. Millionen ihrer Anhänger sind das gar nicht mehr gewöhnt; die Gewerk312
schaftsbureaukratie auch nicht, für die uns allerdings nicht bange ist: es findet sich da immer noch ein Unterkommen. Wären die Stahlhelm-Industriellen nicht so maßlos unintelligent – sie könnten sich das Leben mit denen da schon heute wesentlich leichter machen. Sie werden es sich leicht machen. Alles gut und schön. Aber erzählt uns ja nichts von: Recht auf die Straße; Polizeiwillkür; Verfassung; Freiheit... erzählt sonst alles, was ihr lustig seid. Aber dieses eine jemals wieder zu sagen – : das habt ihr verscherzt. 1931
Braut- und Sport-Unterricht Ein katholischer Pfaffe wandelt einher, als wenn ihm der Himmel gehöre; ein protestantischer Pfaffe hingegen geht herum, als wenn er den Himmel gepachtet habe. Heine
Wenn im Folgenden von der „Kirche“ die Rede ist, so wird damit von den politischen Gruppen gesprochen, die, unter Benutzung von Gottesdiensten, mit Berufung auf ältere theologische Schriften und durch geistliche Agenten Politik machen. Das ist ihr Recht. Keinesfalls aber ist es ihr Recht, sich allemal dann, wenn diese Politik angegriffen wird, hinter der vorgeblichen Heiligkeit ihrer Bestrebungen zu verkriechen und so für sich und ihre Leute ein Ausnahmerecht zu statuieren. Solange der kirchliche Gnostiker seinen Menschenbruder auf den Tod vorbereiten will, wird sich jeder geschichtlich geschulte Denker vor der ungeheuren Masse von Erfahrung, philosophischem Wissen und metaphysischer Bestrebung beugen, die in den Schriften der Kirche, besonders in denen der katholischen Kirche, angehäuft sind. Im Augenblick aber, wo die Kirchen in den politischen Tageskampf eintreten, müssen sie sich gefallen lassen, genau wie jede andere politische Gruppe beurteilt und kritisiert zu werden. Einen Anspruch
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auf eine Sonderstellung haben sie nicht. Kein Staatsanwalt kann daran etwas ändern. Was an der Haltung beider Landeskirchen auffällt, ist ihre heraushängende Zunge. Atemlos jappend laufen sie hinter der Zeit her, auf daß ihnen niemand entwische. „Wir auch, wir auch!“, nicht mehr, wie vor Jahrhunderten: „Wir.“ Sozialismus? Wir auch. Jugendbewegung? Wir auch. Sport? Wir auch. Diese Kirchen schaffen nichts, sie wandeln das von andern Geschaffene, das bei andern Entwickelte in Elemente um, die ihnen nutzbar sein können. Wohin geht die Jugend am Sonntag? In die Kirche? Nein: auf die Sportplätze. Die Geistlichen warteten in ihren leeren Kirchen; es kam niemand. Da erhoben sie die Soutanen und Talare und wandelten ernsten Schrittes hinaus auf die Sportplätze, und sie lehrten dorten das Wort Gottes inmitten der Sprungseile und der Wurfkugeln. Mohammed war zum Berge gekommen. Das wäre den Herren früher als eine Ketzerei erschienen; die Kirche hat nachgegeben; sie hat sich nicht gewandelt, sie ist gewandelt worden. Die Protestanten: „Sportpredigten und Sportansprachen, herausgegeben von Gerhard Kunze, Studentenpfarrer in Leipzig“ [erschienen bei C. Ludwig Ungelenk in Dresden]. Das ist eine recht armselige Sache. Lobend mag angemerkt werden, was diese Schrift nicht ist: sie ist keine nach kaltem Tabak riechende Muckerei. Dieser Prediger sieht seine Zeit so, wie sie ist – er sieht sie nur erschreckend flach, und aus jenem herbstlichen Kartoffelfeuer, das einmal in Luther gebrannt hat, ist eine sanft regulierte Zentralheizung geworden. „Wenn die protestantische Religion“, steht bei Heine, „keine Orgel hätte, wäre sie überhaupt keine Religion.“ Ob es sich nun um Gleichzeitigkeit oder Beeinflussung handelt: die kleine Schrift erinnert fatal an das Unsäglichste, was an Religion zur Zeit auf diesem Erdhall hergestellt wird: an die Clownerien amerikanischer Pfaffen, die ja wohl das Äußerste und Letzte an Entwürdigung der Religion leisten. Der Pfarrer Kunze hat zunächst andre Sorgen. „Der Inhalt der Verkündigung an Sport und Sportler kann kein andrer sein als das Evangelium selbst. Die Gefahr heidnischer Idealisierung in ‚christlicher’ 314
Verbrämung liegt besonders nahe.“ Ach nein – sie liegt leider gar nicht nahe. Wären die Herren noch heidnisch! Aber tausend einexerzierte Bankbeamte und Warenhausverkäufer, die im freien Sonnenlicht Stabübungen machen, sind noch lange nicht heidnisch – das ist ein Irrtum. Nun, im Vorwort geht’s sehr philosophisch zu, aber schon hier springt die irre Furcht der Kirche in die Augen: Nur nicht zurückbleiben l Nur mit der Zeit gehen! wir auch! wir auch! Und so tritt sie denn zur Predigt an. „Kommandorufe, Predigt beim Eichenkreuz-Bezirksturnfest in Mettmann.“ Diese Predigt beginnt folgendermaßen: „Kehrt marsch! Stillgestanden! Rieht Euch! Rührt Euch! Kommandorufe tönen über den weiten Turnplatz, und alsbald wenden sich die marschierenden Abteilungen... Ihr Turner seid mit Lust dabei. Auch in dieser Stunde hören wir Kommando. Der Ruf Gottes wendet sich...“ In einem medizinischen Prüfungskollegium saß einmal ein Zoologe, der war dafür berüchtigt, nur über sein Spezialfach, die Würmer, zu prüfen. Eines Tages aber stieß ihn der Bock, und er fragte einen nichtsahnenden Kandidaten etwas von den Elefanten. „Der Elefant“, sagte der Kandidat nach kurzem Nachdenken, „frißt so gut wie gar keine Würmer. Die Würmer...“ So auch dieser Pfarrer. Und was er dann nach den kleinen Kunstgriffen der Einleitungen seinen jungen Leuten zu sagen hat, das ist leer, platt und, da die Orgel fehlt, überhaupt keine Religion. Es sind, wenn man genauer hinsieht, Leitartikel vernünftiger Demozeitungen, brave Allgemeinplätze, Ermahnungen zur Fairneß, zum anständigen Leben, hygienische Mahnungen, mit seinem Körper kein Schindluder zu treiben – alles sehr beherzigenswerte und mäßig formulierte Ansprachen. Aber was das mit einem Glauben, mit der Kirche, mit der Religion zu tun hat – : das geht aus dem Bändchen nicht hervor. Diese Kirche wird sich sehr dranhalten müssen, wenn sie der Konkurrenz des großen Bruders und der zahlreichen kleinen Sektenbrüder nicht erliegen will. Der große Bruder – der Katholizismus – fängt das nun schon ein wenig anders an. „Brautunterricht. Eine praktische Einleitung für den Seelsorgsklerus. Von Doktor Karl Rieder, Pfarrer in Reichenau“ [erschienen bei Herder & Co. in Freiburg im Breisgau]. Kratze das Heiligenbildchen, und du findest den Stimmzettel. 315
Über die Auffassung der Ehe, wie sie in diesem von der kirchlichen Behörde gutgeheißenen Heftchen dargetan wird, kann man diskutieren. Ich kann nicht in den Chorus jener miteinstimmen, die in jedem kirchlich denkenden Menschen einen schwachsinnigen Reaktionär sehen; so einfach wollen wir uns den Kampf nicht machen. Es ist sehr wohl möglich, daß ein katholisch erzogener Mann mit seiner Lebensgefährtin in der Ehe jenes Sakrament sieht, von dem die Kirche spricht; wenn ihr Glaube, der nicht vom Himmel gefallen, sondern der geschichtlich gewordene Ausdruck einer Klasse ist, sich als stärker erweist als unsre ökonomischen Verhältnisse, so mögen das diese Menschen mit sich abmachen. Vielleicht sind sie sehr glücklich, auch dann noch, wenn ihre Ehe es nicht ist. In diesem Heft wird nicht gemuckert; der Geschlechtsverkehr in der Ehe wird vernünftig abgehandelt, bis auf einen – den entscheidenden Punkt. Und hier allerdings ist kein Wort zu scharf, um eine Propaganda abzuwehren, die unendliches Unheil über die Leute bringt. Wenn ein Pfarrer, der das Leben zu kennen hat, in so einer Unterrichtsstunde für angehende Frauen allen Ernstes den Satz proklamiert: „Besser zehn Kinder auf dem Kissen als nur eines auf dem Gewissen“ – so darf man ihn denn doch fragen, ob er nicht weiß, daß es Zehntausende von deutschen Familien gibt, die dieses Kissen überhaupt nicht besitzen. Es ist wie ein Hohn, den Sklaven der Fabriken und der Hütten, der Warenhäuser und der Mänteljunker zu predigen: „Es müssen darum die Eheleute entweder die Ehe recht gebrauchen, so daß Gott die Empfängnis eines Kindes daran knüpfen kann, oder aber die Eheleute müssen wie Bruder und Schwester vollständig enthaltsam leben ohne Befriedigung der sinnlichen Lust.“ Was also darauf hinauslaufen dürfte, daß der Generaldirektor eines chemischen Betriebes der sinnlichen Lust frönen darf, weil er die Kissen für die Kinder besitzt, die er nicht auf dem Gewissen haben soll – daß hingegen seine Arbeiter ihre Frauen nur heiraten dürfen, um nach dem zweiten Kind brüderlich neben ihr zu liegen. Armut ist ein großer Glanz von innen... Hier fehlt die wirtschaftliche Betrachtungsweise ganz; die kapitalistische Weltordnung wird als „göttlich“ gegeben, dagegen auflehnen darf man sich, wie wir gleich hören werden, nicht, und daher haben Mann und Frau auf eine Betätigung zu verzichten, die doch von einer 316
Macht gegeben ist, die die Katholiken so gern im Mund führen: vom Naturrecht. Das gilt hier nicht. Der Brautunterricht, der hier erteilt wird, ist politisch. Daß die Ziviltrauung nur zähneknirschend angeführt wird, versteht sich von selbst. Ja, es gibt sie... ja, gewiß... „Vor Gott und euerm Gewissen seid ihr aber durch die standesamtliche Trauung noch nicht Eheleute. Denn das heilige Sakrament der Ehe ist nur der Kirche zur Verwaltung übertragen worden, nicht dem Staate. Die Kirche allein bestimmt darüber, wie die Ehe rechtmäßig und gültig eingegangen werden kann.“ Was in dieser Form falsch ist. Ganz klar und eindeutig aber wird an einer Stelle die Rolle des als Geistlichen verkleideten politischen Agenten: „Katholischen Geist atme die Zeitung, die in euerm Hause gelesen wird, da es gegen den katholischen Glauben verstößt, neutrale oder gar kirchenfeindliche Zeitungen zu unterstützen. Das gleiche gilt auch von den Büchern, die im Hause gelesen werden. Katholisch sei der Umgang in der Zugehörigkeit zu den katholischen Vereinen, da es jedem Katholiken verboten ist, Organisationen oder Vereinen anzugehören, welche“ – hör gut zu! – „den Klassenkampf oder das Machtprinzip oder einen heidnischen Nationalismus auf ihre Fahne geschrieben haben oder das wirtschaftliehe Leben loslösen wollen von den Grundsätzen des Christentums mit dem Schlagwort: Religion ist Privatsache!“ Da haben wir sie ganz. Abgesehen von der Komik, die darin liegt, daß eine auf der schärfsten Autorität und Unterordnung ruhende Organisation das „Machtprinzip“ als solches ausschließt und nur das Prinzip jener Macht verbieten will, die nicht von ihr selber ausgeht – : hier haben wir sie ganz. Es ist Politik, die so gemacht wird, klare, eindeutige Tagespolitik. Und nicht nur gegen diese Politik wenden wir uns. Wir wehren uns dagegen, daß eine politische Gruppe, ohne die in Deutschland zur Zeit nicht regiert werden kann, sich allemal dann kreischend hinter, den Staatsanwalt flüchtet, wenn ihr der politische Kampf unbequem wird. Man kann spielen, aber man soll beim Spiel nicht mogeln. Entweder ihr macht Politik, wie die Kommunisten, wie die Nazis, wie die Deutsche Volkspartei, und das tut ihr –: dann müßt 317
ihr euch gefallen lassen, genauso umstritten zu werden wie jene. Ihr wollt nicht das Kreuz umschrien haben? Dann müßt ihr es nicht im politischen Kampf schwingen. Wer will euch ans Kreuz? Die politischen Gegner wollen euch an den Stimmzettel, den ihr mit dem Kreuz deckt. Und ihr habt nicht das Recht, eure moralischen Forderungen, die weder im Naturrecht basieren noch von Gott gegeben, sondern Menschenwerk sind, andern aufzudrängen, die sie aus ebenso reinlicher Überzeugung ablehnen, wie ihr sie statuiert. Nicht die Gebundenheit ist das Primäre – die Freiheit ist es. Ihr lebt vom metaphysischen Bedürfnis der Massen. Ihr seid uns kein Bedürfnis. 1930
Brief an eine Katholikin Es kommt in der Politik nicht darauf an, wie eine Sache ist; es kommt darauf an, wie sie wirkt.
Sehr geehrte gnädige Frau, Sie hatten die Freundlichkeit, einmal das zu tun, was in Deutschland so selten ist: über den trennenden Graben hinüber nicht mit faulen Äpfeln zu werfen, sondern Briefe von Verstand zu Verstand zu schreiben. Händedruck und Dank. Die Unterhaltung zwischen Freidenkern und Katholiken geht gewöhnlich nach folgendem Schema vor sich. Die einen sagen: „Heuchler! Reaktionäre! Volksverdummung! Dämlicher Aberglaube! Es lohnt nicht, mit diesen Leuten auch nur ein Wort zu wechseln“, und die andern sagen: „Heiden! Gottlose! Volkszersetzung, Verkommenheit der neuen Zeit! Es lohnt nicht, mit diesen Leuten auch nur ein Wort zu wechseln.“ Auf so tiefer Ebene wollen wir unsere Unterhaltung nicht führen – Ihr letzter Brief zeigt mir das. Ich will ihn öffentlich beantworten. Der Ausgangspunkt unsres Briefwechsels war der Artikel Carl von Ossietzkys „Das lädierte Sakrament“ (erschienen in der Nummer 49 318
des vorigen Jahrgangs dieser Zeitschrift). Sie und die Zentrumspresse sind recht böse gewesen: böse über den Titel und böse über den Inhalt, darin gesagt wird, daß die katholische Reichstags-Fronde gegen die Neuregelung der Ehescheidungsvorschriften nicht zu entschuldigen ist. Es wird von der Ehenot gesprochen. „Wenn das katholische Muckertum“, ist da gesagt, „noch immer tut, als handele es sich hier um Einzelfälle, die durch ein Abschreckungsgesetz sogar noch vermindert werden können, so muß der gesunde Menschenverstand endlich die Gegenfrage aufwerfen nach den wenigen kostbaren Exemplaren beiderlei Geschlechts, die noch niemals neben die Ehe gegangen sind.“ Und: „Die heilige Kirche hat im Laufe ihrer langen wechselvollen Geschichte die Gebresten der Zeit auch nicht immer mit der gleichen Härte verfolgt, sie hat, wenn es sich um vornehme Beichtkinder handelte, das Laster oft mehr mit der Puderquaste gegeißelt als mit der Stachelpeitsche und im ganzen die schweren Pönitenzen dem niedern Volk vorbehalten.“ Und: „Der Begriff der Adultera, ob in eifernder Verhetzung oder romantischer Verherrlichung gebraucht, ist dahin und tot wie die Beichtmoral vom Escorial oder von Schönbrunn.“ Und darum Schwefel und Höllendrohung und die ganze Verachtung, die – mit welchem Recht? – eine sehr mäßige kirchliche Dialektik für jene aufbringt, die nicht ihrer Meinung sind? Welche Rolle spielt Ihre Kirche? Was will sie? Sie will in erster Linie sich. Dagegen wäre nichts zu sagen, wenn nicht stets der fatale Kunstgriff angewandt würde, mit Berufung auf irrationale Größen Rationales zu verlangen. Sie wissen, daß in der jungkatholischen Bewegung, die die Kirche nicht sprengen und nicht wandeln wird, bei aller verehrungsvollsten Anerkennung des kirchlichen Dogmas die Tagespolitik des Zentrums auf das schärfste abgelehnt wird: diese Bewegung, die den Weg aller katholischen Reformbewegungen gehen wird, nämlich den nach Rom, will die Wechsler aus den Tempeln verjagen. Es wird ihr nicht gelingen. Was die Ehe angeht, so machen es sich Ihre Leute etwas leicht. Die Jesuiten statuieren in der „Germania“ ein „Naturrecht“, auf dem die Ehe basiere – das wird behauptet, aber nicht bewiesen, und an keiner Stelle wird deutlich, wie sehr diese Anschauungen von der Familie der einer Klasse entspringen; diese Anschauungen sind gültig und 319
nützlich für die bürgerliche Klasse, und sie sollen gültig sein für die von den Bürgern beherrschte Schicht, die sich heute frei machen will. Darüber wäre zu reden. Worüber gar nicht zu reden ist, ist dieses: Die Kirche rollt durch die neue Zeit dahin wie ein rohes Ei. So etwas von Empfindlichkeit war überhaupt noch nicht da. Ein scharfes Wort, und ein ganzes Geheul bricht über unsereinen herein: Wir sind verletzt! Wehe! Sakrileg! Unsre religiösen Empfindungen... Und die unsern –? Halten Sie es für richtig, wenn fortgesetzt eine breite Schicht des deutschen Volkes als „sittenlos“, „angefressen“, „lasterhaft“, „heidnisch“ hingestellt und mit Vokabeln gebrandmarkt wird, die nur deshalb nicht treffen, weil sie einer vergangenen Zeit entlehnt sind? Nehmt Ihr auf unsre Empfindungen Rücksicht? Ich zum Beispiel fühle mich verletzt, wenn ich einen katholischen Geistlichen vor Soldaten sehe, munter und frisch zum Mord hetzend, das Wort der Liebe in das Wort des Staates umfälschend – ich mag es nicht hören. Wer nimmt darauf Rücksicht? Ihre Leute nicht, gnädige Frau. Die gehen neuerdings mit der Zeit mit, wie ein Kriegsgefangener, den ein übermütiger Husar ans Pferd gebunden hat. Zur Zeit haben Sie es mit dem Sozialismus. Man wird dabei ein peinliches Gefühl nicht los: es ist ein Interesse, das die Kirche an den Arbeitern nimmt, dem gleich, mit dem sich eine Hausfrau für die Wanzen interessiert. Ihr fühlt die Not – aber Ihr könnt sie nicht beheben, weil Ihr ihre Quelle nicht sehen wollt. Sie wissen, wer auf dem rechten Flügel des Zentrums sitzt: Großindustrielle. Mit denen macht man keine soziale Politik. Das will der neue Berliner Bischof nicht wahrhaben. Mit großem demagogischem Geschick hat sich der Mann in seiner Rede im Sportpalast zu Berlin eingeführt; das Ganze ging unter der Spitzmarke „Der Volksbischof für Berlin“ vor sich, und es war viel von den arbeitenden Massen, der Wohnungsnot und der Arbeitslosigkeit die Rede. Das ist zunächst ganz echt, und dafür habt ihr einen strahlenden Beweis in eurer norddeutschen Geschichte. Und zwar sind das nicht nur, wie Sie mit Recht schreiben, die zahllosen katholischen 320
caritativen Verbände, die Anstalten, Klöster, Schulen, Priester, Krankenhäuser, die Tausende von selbstlos arbeitenden katholischen Krankenschwestern, die tätig sind bis zum letzten Hauch der Kraft – es ist das ein für den Berliner sichtbar gewesener Manni der leider zu früh dahingegangen ist: es ist Carl Sonnenschein. Was dieser Mann Gutes getan hat, darf ihm nicht vergessen werden. Von der andern Seite wird dann sogleich eingewendet: „Aber nicht umsonst. Was wird hier gemacht? Proselyten werden hier gemacht.“ Nun, das halte ich nicht für richtig. So gewiß sich die offizielle katholische Caritas ihre Zuwendungen oft politisch bezahlen läßt (daher auch die ständige katholische Aspiration nach dem Volkswohlfahrtsministerium, das die Verteilung der großen Fonds bestimmt): so gewiß haben Sonnenschein und die ihm geistig verwandten Katholiken keine Proselyten gemacht und machen wollen. Wie ja denn überhaupt der allgemein verbreitete Glaube, die katholischen Priester lauerten nur darauf, Andersgläubige einzufangen, eine Bilderbuchvorstellung ist. Die katholische Kirche versucht zwar stets mit den schärfsten Mitteln, bei gemischten Ehen den protestantischen Teil und vor allem die Kinder zu sich hinüberzuziehen – aber die Bekehrungssucht im ganzen ist doch in Europa bei ihr recht schwach ausgebildet. Man wird eher im Gegenteil finden, daß katholische Priester dem Renegaten gegenüber sehr zurückhaltend, sehr skeptisch und sehr abwartend sind – mit Recht übrigens. Ihr habt viel Gutes getan; man soll es euch danken und nicht hinter jeder wohltätigen Handlung die kalte Berechnung des Kundenfangs sehen. Sonnenschein hat sie nicht gehabt; der Berliner Bischof hat sie vielleicht, wenn man an weite politische Betrachtungsweise denkt – im ganzen habt ihr sie nicht. Ihr wollt wiedereinfangen; einfangen wollt ihr nicht. Der Bischof und Sonnenschein nun machen einen gewaltigen Fehler: sie denken nicht zu Ende. Man sehe sich daraufhin die große Rede des Bischofs an (publiziert in der „Germania“ vom 2. November), und man wird finden: Diagnose richtig, Therapie unzureichend. Da sieht der Kommunismus viel weiter, der richtig lehrt, daß noch niemals eine herrschende Klasse ihre Privilegien freiwillig abgegeben habe – nicht einmal die Kirche hat das getan. Sehr gut steht in jenem 321
Aufsatz Ossietzkys: „Man sieht: wo die Kirche einer unaufhaltsamen Entwicklung gegenüberstand, da zog sie der folgenschweren Auseinandersetzung stets das Arrangement im stillen vor.“ Das heißt: sie verhandelte, und sie verhandelte, wie auf der Welt immer verhandelt wird: von Macht zu Macht, niemals von Macht zur Machtlosigkeit. So ist es auch im großen Wirtschaftskampf: Werkgemeinschaft und sozialer Ausgleich im Guten und alles das sind Fliegenfänger; die Dummen bleiben daran hängen und summsen nachher mächtig, weil sie klebengeblieben sind. Das Christentum braucht nur ein Jahrtausend in seiner Geschichte zurückzublättern: am Anfang war es wohl die Güte, die diese Religion hat gebären helfen – zur Macht gebracht hat sie die Gewalt. Von der wollte Carl Sonnenschein nichts wissen. Mit einer Opferbereitschaft, die nicht alltäglich ist, wirkte er Gutes, wie er es verstand; an seiner Reinheit, an seiner Uneigennützigkeit ist kein Zweifel erlaubt. Aber... Wenn ein Ehepaar, das sich in einer Zweizimmerwohnung auseinandergelebt hat, so ein Kapitelchen wie „Ehescheidung“ liest, das in Sonnenscheins „Notizen“ zu finden ist (erschienen im Verlag der „Germania“, Berlin) – so ist dem Ehepaar damit nicht geholfen. Auch uns andern ist mit Carl Sonnenschein nicht geholfen. Die Kirche hat zu allem Nicht-Katholischen ein sonderbares Verhältnis, an dem das Peinlichste ein durchaus falsch angebrachtes Mitleid ist. So hat Sonnenschein das Imperium Romanum vor Christi Wirken beurteilt: „Nirgendwo mehr ein aufrechter Mann. Nirgendwo mehr eine keusche Familie“... Man kann das damalige bäuerliche Leben nicht gut falscher sehen, und genauso mitleidigverachtungsvoll sieht er auf die Großstadt, auf „Berlin“, in welchem Worte bei ihm viel provinzielle Nebenbegriffe mitschwingen. Wie da geraubte Jungfräulichkeit, Syphilis, Unkeuschheit und mangelnder Kirchenbesuch in dieselbe Reihe gesetzt werden; wie die wirtschaftliche Basis des Großstadtelends fast überall nur gestreift, nie aber ernstlich bekämpft wird –: das läßt einen denn doch eiligen Schritts in die Front des Klassenkampfes gehen. Manchmal lüftet sich der Vorhang...
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„Hausfrauen aus jüdischen, rationalistischen Familien haben mir gesagt, daß sie Dienstboten mit Jenseitsdressur denen mit Diesseitskultur vorziehen. Daß sie im Eventualfall katholische Hausangestellte, die jeden Sonntag in die Messe und Ostern zu den Sakramenten gehen, in Kauf nahmen. Statt monistischer, die sich ganz auf das Diesseits einrichten.“ Das hätte einmal unsereiner schreiben sollen! Nicht schlafen können hätte man nachts vor dem Geheul und Gebelfer eifriger Katholiken. Aber Sonnenschein hat zutiefst recht: dieser Glaube ist gut. Nämlich gut für die dienenden Klassen. So verharren sie im Gehorsam. Der neue katholische Bischof Berlins wird mitsamt der von Herrn Klausener emsig betriebenen Katholischen Aktion, die an Geistigkeit von der auf den Index gesetzten Action Francaise meilenweit entfernt ist, viel Gutes tun, und es wird nicht ausreichen. Mir will dieser Pseudosozialismus nicht eingehen, diese Zwangsbewegung einer Gruppe, die mit dem Herzen bei den kleinen Leuten und mit dem Portemonnaie bei den Großen ist. Sie, verehrte gnädige Frau, leben in Berlin und werden vielleicht die katholische Provinz nicht so kennen, die deutsche Provinz mit ihren unsäglichen frommen Käsblättchen. Die kompromittieren Ihre Religion, die sie ununterbrochen im Munde führen, und das mit einer Unduldsamkeit, die so gar nicht christlich anmutet... Neulich habe ich in Wiesbaden einen Vortrag gehalten; tags darauf tobte sich in der „Rheinischen Volkszeitung“ und im „Neuen Mainzer Journal“ ein Mann aus (wie man mir erzählt hat, ein getaufter Jude), namens Karl Goldbach. „Er hat den Katholizismus mit einem Klosett mit Wasserspülung verglichen“, schrieb er. Kein Wort davon ist wahr – aber so sieht in Mainz die geistige Polemik der Katholiken aus. So wie Sonnenschein bei den patriotischen Kriegskatholiken steht, nicht bedenkend, daß Opfer an sich noch gar nichts sind, wenn die Sache, für die sie gebracht werden, nicht gut ist – so steht ein Teil der Zentrumspresse in verdächtiger Nähe der Nationalsozialisten, die diese Kameradschaft gar nicht wünschen. Aber die Fronten des Zentrums wechseln... im ganzen ist es wohl so, daß diese Partei immer wartet, wer beim Kampf die Oberhand behält; bei dem ist sie dann. Sonnenschein drückt das anläßlich der Ereignisse von 1918 so aus: „Jede Obrigkeit kommt von Gott.“ Und der Bischof Schreiber so: „Dann kam die Revolution. Als Auflehnung, als ge323
waltsame Auflehnung gegen die damalige rechtmäßige Autorität war sie ein Unrecht. Dann aber haben die regierenden Fürsten ihre rechtmäßige Gewalt in die Hände des Volkes gelegt und haben dem Volk auf Grund ihrer früheren rechtmäßigen Gewalt die Entscheidung übergeben über die Festsetzung der Staatsform, ob die Monarchie bleiben solle oder ob eine andere Staatsform an ihre Stelle treten solle.“ Die Nachfolge Christi... die Nachfolge der Hohenzollern... Und wenn die Fürsten diese Formalität nun nicht erfüllt hätten, dann könnte der Bischof Schreiber sich nach einer neuen Ausrede umsehen, weshalb er heute „bejahend zum Staat“ steht. Der übrigens der Kirche gibt, was der Kirche ist, und noch ein bißchen mehr. Nein, so geht es nicht. Gewiß, gnädige Frau, Sie und Ihre Leute stehen mitunter groß da, weil Sie so kleine Gegner haben. Von Ludendorff soll unter vernünftigen Menschen nicht die Rede sein, nicht von seiner Stammtischphantasie, die den Jesuitismus, das Freimaurertum und die Päpste wild durcheinanderwürfelt, wie es nur ein bierbeglänzter Generalsschädel auszudenken vermag... das gehört nach Bayern und soll nur dort bleiben. Auch die etwas klobigen Gottes- und Kirchenlästerungen, denen Sie manchmal ausgesetzt sind, haben nicht meinen Beifall. Damit, daß man die Kapläne als Mädchenverführer und heuchelnde Köchinnenbeischläfer hinstellt, ist keiner Sache gedient – nicht der unsern, nicht der der Arbeiter. Aber wie kommt es, daß Sie so wenig Ihnen ebenbürtige Gegner in der großen Tagespresse haben? Sie erlauben mir hier ein notwendiges Wort über die deutschen Juden. Deren Toleranz der Kirche gegenüber setzt sich zusammen aus Pogromangst und einer innern Unsicherheit, die bis zum bösen Gewissen geht. Hätten die deutschen Nationalisten nicht diese fast tierische Stalldumpfheit von pommerschen Bereitern aus dem vorigen Jahrhundert: sie hätten längst auf die allerdings zugkräftige Volksparole „Haut die Juden!“ verzichtet – und dreiviertel der deutschen Juden säßen heute da, wo sie klassenmäßig hingehören: bei der Deutschen Volkspartei. Sie tun es nicht, weil sie der Antisemitismus abstößt; sie tun es zum Teil doch, weil ihnen ihr Bankkonto lieber ist als eine Religion, von der sie nur noch das Weihnachtsfest und die „Frankfurter Zeitung“ halten. Von der winzig kleinen Minorität der Natio324
nal-Juden unter Führung eines schon von Siegfried Jacobsohn rechtens vermöbelten Herrn Naumann will ich gar nicht sprechen: gefüllte Milz mit einem Stahlhelm ist wohl nicht das Richtige. Aber jene friedlich dahinverdienenden Hausjuden, die aufatmen, daß wenigstens Lenin nicht einer der Ihren gewesen ist, jene israelitischen Familienblättchen, beschnittene Gartenlauben, errichtet im Stil von Sarah Courths-Mahlersohn... diese Leute sollen dem deutschen Volk das rituelle Schächtmesser in den Rücken gestoßen haben? Dazu sind sie viel zu feige. Nie täten sie das. Und diese Sorte, die da glaubt, Unauffälligkeit sei ein Kampfmittel, hat vor nichts so viel Furcht wie vor öffentlichen Diskussionen mit andern Religionen. Kurt Miller hat den endgültigen Trennungsstrich gezogen: den zwischen Aron-Juden und Moses-Juden. Von den Aron-Juden hat der Katholizismus nichts zu befürchten. Die große Presse ist sehr ängstlich, wenn es um die Konkordate geht, um die Sabotage der Reichstagsarbeiten durch das Zentrum bezüglich der Ehescheidung – es ist sehr still in diesen Blättern, wo es sonst so sehr laut ist. Angst, Angst... Und so berührt es denn doppelt komisch, wenn der Bischof Schreiber und seine Blätter sich nicht lassen können: Ungeschmälerte Parität! auch wir verlangen unsern Platz an der Sonne... als ob es nicht dunkel wäre in Deutschland, weil eine Soutane das Sonnenlicht schwärzt. Ihr habt, was ihr braucht, aber es genügt euch nicht. Und eben dagegen wehrt sich die Arbeiterschaft. Vielleicht manchmal ein bißchen plump, vielleicht zu grob, weil sie den feinen Mitteln, mit denen ihr die Frauen des kleinen Mittelstandes bearbeitet, nicht gewachsen ist. Diese eure Arbeit ist systematisch: auch drüben in Frankreich sind besonders die Jesuiten in der Arbeiterschaft am Werk („Christe dans la banlieue“ – Christus in der Vorstadt), überall in der Welt geschieht es. Ihr macht Politik. Ihr greift in die Politik ein? Die Politik antwortet euch. Stellt die Orgeln ab und schreit nicht, man habe euch verletzt. Auch ihr verletzt die andern, auch ihr verletzt uns. Sie sehen, sehr verehrte gnädige Frau, daß hier kein patentierter Freidenker spricht. Keiner, der da glaubt, mit einer Feuerverbrennungskasse sei die Glaubensfrage gelöst. Solange aber die katholi325
sche Kirche in allen entscheidenden Fragen bei den Unterdrückern ist, solange sei es jedem verständigen und klassenbewußten Arbeiter, jedem Angestellten empfohlen, aus der Kirche auszutreten. Auch gegen die Gefühle ihrer Frauen, die zu erziehen sind – so, wie ihr sie verzogen habt. Ich schmähe die Kirche nicht, ich schmähe ihre Diener nicht. Beschränkt ihr euch auf das geistige Gebiet, so sei Diskussion zwischen uns, Debatte und Gedankenaustausch. Macht ihr reaktionäre Politik –: auch dann ist die Sauberkeit Eurer Überzeugung und die Heiligkeit einer Sache zu ehren, die andern nicht heilig ist. Dann aber sei zwischen uns Kampf. Der Sieg wird nicht bei euch sein – sondern bei den Werktätigen der ganzen Welt. 1930
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ES LEBE DIE REVOLUTION!
Rußland 1919 Es brodelt, es brabbelt, es raunt in der Welt: Rußland! Rußland! Sie morden! Sie plündern! Sie rauben das Geld! Rußland! Rußland! Wie sie die Fürsten durch Gossen schleifen – das wird auf den Nachbarn übergreifen! Sie arbeiten nicht! Alles bleibt stehn! Das Chaos! So kann das nicht weitergehn...! Sperrt die Grenzen ab! Der Prolet wird begehrlich! Rußland – Rußland ist gefährlich. 1931 Es brodelt, es brabbelt, es raunt in der Welt: Rußland? Rußland? Der Fünf jahresplan glückt! Das System, es hält! Rußland? Rußland? Wie sie arbeiten! Wie ihre Pläne reifen! Das kann auf den Nachbarn übergreifen! Es geht ihnen besser... Was wird da gesehehn? Wenn sie exportieren? Das kann nicht gehn. Nieder mit Rußland! Die Kerls sind nicht ehrlich! Rußland – Rußland ist gefährlich, Sie toben, vom wilden Affen gebissen. Rußland ist ihr schlechtes Gewissen. Propaganda glüht. Und sogar den Papst haben sie bemüht. 327
Ist etwas auf Erden schief und krumm, dann riecht es bestimmt nach Petroleum. 1931
November-Umsturz Die deutsche Revolution hat im Jahre 1918 im Saale stattgefunden. Das, was sich damals abgespielt hat, ist keine Revolution gewesen: keine geistige Vorbereitung war da, keine Führer standen sprungbereit im Dunkel; keine revolutionären Ziele sind vorhanden gewesen. Die Mutter dieser Revolution war die Sehnsucht der Soldaten, zu Weihnachten nach Hause zu kommen. Und Müdigkeit, Ekel und Müdigkeit. Die Möglichkeiten, die trotzdem auf der Straße gelegen haben, sind von Ebert und den Seinen verraten worden. Fritz Ebert, den man nicht dadurch zu einer Persönlichkeit steigern kann, daß man ihn Friedrich nennt, ist so lange gegen die Errichtung einer Republik gewesen, als er nicht merkte, daß hier ein Posten als Vorsitzender zu holen war; der Genosse Scheidemann è tutti quanti sind verhinderte Regierungsräte gewesen. Weisen wir auf diesen Verrat an der eigenen Klasse hin, so wird uns ununterbrochen versichert, Ebert habe keine silbernen Löffel gestohlen. Wenn man so unbegabt ist, hat man ehrlich zu sein – das wäre ja noch schöner! Es ist auch nicht richtig, daß damals nichts zu machen gewesen ist. Die SPD hat nicht GEWOLLT, weil sie keinen Mut, keine Charakterstärke, keine Tradition mehr hatte – wer vier Jahre hindurch Kriegskredite bewilligen mußte, konnte das freilich nicht mehr haben. Folgende Möglichkeiten sind damals ausgelassen worden: Zerschlagung der Bundesstaaten; Aufteilung des Großgrundbesitzes; revolutionäre Sozialisierung der Industrie; Personalreform der Verwaltung und der Justiz. Eine republikanische Verfassung, die in jedem Satz den nächsten aufhebt, eine Revolution, die von wohlerworbenen Rechten des Be328
amten des alten Regimes spricht, sind wert, daß sie ausgelacht werden. Die deutsche Revolution steht noch aus. Bereiten wir sie gegen alle jene Parteien vor, die ein wirtschaftliches oder ideologisches Interesse haben, sie zu verhindern – die Gefährlicheren unter ihnen sind die, die so tun als ob –, und die unter alten Flaggen neue, aber verfaulte Ware verkaufen: überaltert, feige, verlogen und seelisch korrupt. Gesetze fallen nicht vom Himmel. Erst wenn dem Deutschen die revolutionäre Idee über das Gesetz, über die Bestimmung und über seine eigene Wichtigkeit geht, werden wir einen 9. November erleben, der keinen Noske, keinen Ludendorff und keinen Otto Wels übrigläßt. Nieder mit den lebenden Leichnamen! Es lebe die Revolution! 1928
Wohltätigkeit Sieh! Da steht das Erholungsheim einer Aktiengesellschafts-Gruppe; morgens gibt es Haferschleim und abends Gerstensuppe. Und die Arbeiter dürfen auch in den Park... Gut. Das ist der Pfennig. Aber wo ist die Mark –? Sie reichen euch manche Almosen hin unter christlichen frommen Gebeten; sie pflegen die leidende Wöchnerin, denn sie brauchen ja die Proleten. Sie liefern auch einen Armensarg... Das ist der Pfennig. Aber wo ist die Mark –?
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Die Mark ist tausend- und tausendfach in fremde Taschen geflossen; die Dividende hat mit viel Krach der Aufsichtsrat beschlossen. Für euch die Brühe. Für sie das Mark. Für euch der Pfennig. Für sie die Mark. Proleten! Fallt nicht auf den Schwindel rein! Sie schulden euch mehr, als sie geben. Sie schulden euch alles! Die Länderein, die Bergwerke und die Wollfärberein... sie schulden euch Glück und Leben. Nimm, was du kriegst. Aber pfeif auf den Quark. Denk an deine Klasse! Und die mach stark! Für dich der Pfennig! Für dich die Mark! Kämpfe –! 1929
Arbeit für Arbeitslose Herrn Ebermayer zur Beschlagnahme freundlich empfohlen
Stellung suchen Tag für Tag, aber keine kriegen. Wer kein Obdach hat, der mag auf der Straße liegen. Sauf doch Wasser für den Durst! Spuck aufs Brot – dann hast du Wurst! Und der Wind pfeift durch die Hose – Arbeitslose. Arbeitslose. Schaffen wollen – und nur sehn, wie Betriebe schließen, zähneknirschend müßig gehn... 330
Bleib du nicht am Reichstag stehn –! Geßler läßt was schießen. Zahl den Fürsten Müßiggang; friere nachts auf deiner Bank. Polizeiarzt. Diagnose: Arbeitslose. Arbeitslose. Wart nur ab, Es kommt die Zeit, darfst dich wieder quälen. Laß dir von Gerissenheit nur nichts vorerzählen: Klagen hilft nicht, plagen hilft nicht, winden nicht und schinden nicht. Dies, Prolet, ist deine Pflicht: Hau sie, daß die Lappen fliegen! Hau sie bis zum Unterliegen! Bleib dir treu. Die Klasse hält einig gegen eine Welt. Auf dem Schiff der neuen Zeit, auf dem Schiff der Zukunft seid ihr Soldaten! Ihr Matrosen! Ihr – die grauen Arbeitslosen! 1926
Asyl für Obdachlose! Und stehst du einmal am Ende und hast keine Bleibe, kein Brot – dann falte zufrieden die Hände, man sorgt für deine Not. Es gibt für solche Zwecke ein Asyl – da findet der Mob ein eisernes Bett, eine Decke 331
und einen alten blechernen Topp. Hast du dein ganzes Leben geschuftet wie ein Vieh; und geht’s dir im Alter daneben, entläßt dich die Industrie – dann heißt es noch lang nicht: Verrecke! Der Staat gibt dir sachlich und grob ein eisernes Bett, eine Decke und einen alten blechernen Topp. Manche auf diesem Planeten leben bei Sekt und Kapaun. Ja, solln sie vielleicht dem Proleten einen Palast aufbaun –? Andre verrecken im Drecke. Du hast’s noch gut – na, und ob! Du hast im Asyl eine Ecke, ein eisernes Bett, eine Decke und einen alten blechernen Topp! Wohltaten, Mensch, sind nichts als Dampf. Hol dir dein Recht im Klassenkampf –! 1928
Fragen an eine Arbeiterfrau Bist du sein guter Kamerad und stehst an seiner Seite –? Und bist du ihm auf jedem Pfad im Kampf mit diesem Klassenstaat Gesellschaft und Geleite –? Hat er die Frau, die ihn versteht? Ist euch ein Lied erklungen? Und weißt du auch, warum er spät noch abends in Versammlung geht: 332
für dich und deinen Jungen –? Und ist dein Herz denn auch dabei? Seid ihr die richtige Zweiheit? Und machst nicht nur die Kocherei? und tust auch was für die Partei? für Licht und Luft und Freiheit –? Und hilfst du ihm auch für und für im Wirken und im Schaffen? Und bildest du dich nach Gebühr? und stehst nicht an der Kirchentür? und hörst auf keinen Pfaffen –? Und hältst du ihn auch nicht zurück, wenn rote Fahnen rufen –? Er kämpft für euer Lebensglück! Geh mit ein Stück! Geh mit ein Stück! Empor zu neuen Stufen –! Du, Mutter, halt den Alten jung! Es kann ihm gar nichts schaden. Du, Frau, trägst viel Verantwortung. Und hoch ertönt im neuen Schwung das Lied – das Lied vom guten Kameraden –! 1929
Warte nicht! Du, Frau an der Falzmaschine, sieh in den Himmel hinauf! Du nähst am Fenster, Mädchen – sieh in den Steinhof hinab! Denkt ihr über das Schicksal nach? über gestern, heute und morgen? 333
Kopf hoch! Es gibt einen Spruch, der strahlt über alle Sorgen: Warte nicht zu lange, warte nicht zu lang! Lausch deinem innern Klange, die Zeit geht ihren Gang. Jeder hat im Leben eine Melodie... Und was du dir nicht selber nimmst, das erreichst du nie –! Du, junge Arbeiterin, liebst einen, der dich liebt. Sollst du ihn nehmen? Ist er ein Gewinn? Hat er zu geben, wenn er gibt? Mach reinen Tisch und entscheide dich – Süden oder Norden! Ja oder Nein! – aber bleib nicht stehn, noch keine ist jünger geworden... Warte nicht zu lange, warte nicht zu lang –! Lausch deinem innern Klange, die Zeit geht ihren Gang. Jeder hat im Leben eine Melodie... Und was du dir nicht selber nimmst, das erreichst du nie –! Du, Kämpfer für die Freiheit deiner Klasse! laß dich nicht einschläfern! Von den Reden der Wichtigtuer, der Schreiberseelen, der falschen Führer! Manches Jahr ging ungenützt hin, laß dir nichts prophezein! Deine Klasse wartet auf dich – hilf sie vom Joch befreien! Warte nicht zu lange! warte nicht zu lang –! 334
Lausch dem Weltenklange – die Zeit geht ihren Gang. Jeder hat im Leben eine Melodie... Und wenn du dir vom Lebensbaum die Früchte nicht einmal an dich reißt – bekommst du sie nie –! 1931
Monolog mit Chören Ich bin so menschenmüde und wie ohne Haut. Die andern mag ich nicht – sie tun mir wehe. Wenn ich nur fremde Menschen sehe, lauf ich davon – wie sind sie derb und laut! Ich bin so müde und wie ohne Haut. (Chor der Arbeitslosen): Das ist ja hervorragend interessant, Herr Tiger! Ich spinn mich selig in die Schönheit ein. Schönheit ist Einsamkeit. Ein stiller Morgen im feuchten Park, allein und ohne Sorgen, durchs Blattgrün schimmert eine Mauer, grau im Stein. Ich spinn mich selig in die Schönheit ein... (Chor der Proletariermütter): Wir wüßten nicht, was uns mehr zu Herzen ginge, Herr Tiger! Ich dichte leis und sachte vor mich hin. Wie fein analysier ich Seelenfäden, zart psychologisch schildere ich jeden und leg in die Nuance letzten Sinn... (Chor der Tuberkulösen): Sie glauben nicht, wie wohl Sie uns damit tun, Herr Tiger! Ich dichte leis und sachte vor mich hin... (Alle Chöre): Wir haben keine Zeit, Nuancen zu betrachten! 335
Wir müssen in muffigen Löchern und Gasröhren übernachten! Wir haben keine Lust, zu warten und immer zu warten! Unsre Not schafft erst deine Einsamkeit, deine Stille und deinen Garten Wir: Arbeitslose, welke Mütter, Tuberkelkranke wollen heraus aus euerm Dreck in unser neues Haus! Wir singen auch ein Lied. Das ist nicht fein. Darauf kommts auch gar nicht an. Und wir stampfen es euch in die Ohren hinein: Völker, hört die Signale! Auf zum letzten Gefecht! Die Internationale erkämpft das Menschenrecht –! 1925
Deutschland erwache! Daß sie ein Grab dir graben, daß sie mit Fürstengeld das Land verwildert haben, daß Stadt um Stadt verfällt... Sie wollen den Bürgerkrieg entfachen – (das sollten die Kommunisten mal machen!) daß der Nazi dir einen Totenkranz flicht –: Deutschland, siehst du das nicht –? Daß sie im Dunkel nagen, daß sie im Hellen schrein; daß sie in allen Tagen Faschismus prophezein... Für die Richter haben sie nichts als Lachen – (das sollten die Kommunisten mal machen!) daß der Nazi für die Ausbeuter ficht – : 336
Deutschland, hörst du das nicht –? Daß sie in Waffen starren, daß sie landauf; landab ihre Agenten karren im nimmermüden Trab... Die Übungsgranaten krachen... (das sollten die Kommunisten mal machen!) daß der Nazi dein Todesurteil spricht – : Deutschland, fühlst du das nicht –? Und es braust aus den Betrieben ein Chor von Millionen Arbeiterstimmen hervor: Wir wissen alles. Uns sperren sie ein. Wir wissen alles. Uns läßt man bespein. Wir werden aufgelöst. Und verboten. Wir zählen die Opfer; wir zählen die Toten. Kein Minister rührt sich, wenn Hitler spricht. Für jene die Straße. Gegen uns das Reichsgericht. Wir sehen. Wir hören. Wir fühlen den kommenden Krach. Und wenn Deutschland schläft – : Wir sind wach! 1930
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HEIMWEH NACH DEN GROSSEN STÄDTEN
Die Kunst, falsch zu reisen Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die – “Alice! Peter! Sonja! Legt mal die Tasche hier in das Gepäcknetz, nein, da! Gott, ob einem die Kinder wohl mal helfen! Fritz, iß jetzt nicht alle Brötchen auf! Du hast eben gegessen!“ in die weite Welt!
Wenn du reisen willst, verlange von der Gegend, in die du reist, alles: schöne Natur, den Komfort der Großstadt, kunstgeschichtliche Altertümer, billige Preise, Meer, Gebirge – also: vorn die Ostsee und hinten die Leipziger Straße. Ist das nicht vorhanden, dann schimpfe. Wenn du reist, nimm um Gottes willen keine Rücksicht auf deine Mitreisenden – sie legen es dir als Schwäche aus. Du hast bezahlt – die andern fahren alle umsonst. Bedenke, daß es von ungeheurer Wichtigkeit ist, ob du einen Fensterplatz hast oder nicht; daß im Nichtraucher-Abteil einer raucht, muß sofort und in den schärfsten Ausdrücken gerügt werden – ist der Schaffner nicht da, dann vertritt ihn einstweilen und sei Polizei, Staat und rächende Nemesis in einem. Das verschönt die Reise. Sei überhaupt unliebenswürdig – daran erkennt man den Mann. Im Hotel bestellst du am besten ein Zimmer und fährst dann anderswohin. Bestell das Zimmer nicht ab; das hast du nicht nötig – nur nicht weich werden. Bist du im Hotel angekommen, so schreib deinen Namen mit allen Titeln ein... Hast du keinen Titel... Verzeihung... ich meine: wenn einer keinen Titel hat, dann erfinde er sich einen. Schreib nicht: „Kaufmann“, schreib: „Generaldirektor“. Das hebt sehr. Geh sodann unter heftigem Türenschlagen in dein Zimmer, gib um Gottes willen dem Stubenmädchen, von dem du ein paar Kleinigkeiten extra verlangst, kein Trinkgeld, das verdirbt das Volk; reinige deine staubigen 339
Stiefel mit dem Handtuch, wirf ein Glas entzwei (sag es aber keinem, der Hotelier hat so viele Gläser!) und begib dich sodann auf die Wanderung durch die fremde Stadt. In der fremden Stadt mußt du zuerst einmal alles genauso haben wollen, wie es bei dir zu Hause ist – hat die Stadt das nicht, dann taugt sie nichts. Die Leute müssen also rechts fahren, dasselbe Telephon haben wie du, dieselbe Anordnung der Speisekarte und dieselben Retiraden. Im übrigen sieh dir nur die Sehenswürdigkeiten an, die im Baedeker stehen. Treibe die Deinen erbarmungslos an alles heran, was im Reisehandbuch einen Stern hat – lauf blind an allem andern vorüber, und vor allem: rüste dich richtig aus. Bei Spaziergängen durch fremde Städte trägt man am besten kurze Gebirgshosen, einen kleinen grünen Hut (mit Rasierpinsel), schwere Nagelschuhe (für Museen sehr geeignet) und einen derben Knotenstock. Anseilen nur in Städten von 500000 Einwohnern aufwärts. Wenn deine Frau vor Müdigkeit umfällt, ist der richtige Augenblick gekommen, auf einen Aussichtsturm oder auf das Rathaus zu steigen; wenn man schon mal in der Fremde ist, muß man alles mitnehmen, was sie einem bietet. Verschwimmen dir zum Schluß die Einzelheiten vor den Augen, so kannst du voller Stolz sagen: Ich hab’s geschafft. Mach dir einen Kostenvoranschlag, bevor du reist, und zwar auf den Pfennig genau, möglichst um hundert Mark zu gering – man kann das immer einsparen. Dadurch nämlich, daß man überall handelt; dergleichen macht beliebt und heitert überhaupt die Reise auf. Fahr lieber noch ein Endchen weiter, als es dein Geldbeutel gestattet, und bring den Rest dadurch ein, daß du zu Fuß gehst, wo die Wagenfahrt angenehmer ist; daß du zu wenig Trinkgelder gibst; und daß du überhaupt in jedem Fremden einen Aasgeier siehst. Vergiß dabei nie die Hauptregel jeder gesunden Reise: Ärgere dich! Sprich mit deiner Frau nur von den kleinen Sorgen des Alltags. Koch noch einmal allen Kummer auf, den du zu Hause im Büro gehabt hast: vergiß überhaupt nie, daß du einen Beruf hast. Wenn du reisest, so sei das erste, was du nach jeder Ankunft in einem fremden Ort zu tun hast: Ansichtskarten zu schreiben. Die An340
sichtskarten brauchst du nicht zu bestellen: der Kellner sieht schon, daß du welche haben willst. Schreib unleserlich – das läßt auf gute Laune schließen. Schreib überall Ansichtskarten: auf der Bahn, in der Tropfsteingrotte, auf den Bergesgipfeln und im schwankenden Kahn. Brich dabei den Füllbleistift ab und gieß Tinte aus dem Federhalter. Dann schimpfe. Das Grundgesetz jeder richtigen Reise ist: es muß was los sein – und du mußt etwas „vorhaben“. Sonst ist die Reise keine Reise. Jede Ausspannung von Beruf und Arbeit beruht darin, daß man sich ein genaues Programm macht, es aber nicht innehält – hast du es nicht innegehalten, gib deiner Frau die Schuld. Verlang überall ländliche Stille; ist sie da, schimpfe, daß nichts los ist. Eine anständige Sommerfrische besteht in einer Anhäufung derselben Menschen, die du bei dir zu Hause siehst, sowie in einer Gebirgsbar, einem Oceandancing und einer Weinabteilung. Besuche dergleichen – halte dich dabei aber an deine gute, bewährte Tracht: kurze Hose, kleiner Hut (siehe oben). Sieh dich sodann im Raume um und sprich: „Na, elegant ist es hier gerade nicht!“ Haben die andern einen Smoking an, so sagst du am besten: „Fatzkerei, auf die Reise einen Smoking mitzunehmen!“ – hast du einen an, die andern aber nicht, mach mit deiner Frau Krach. Mach überhaupt mit deiner Frau Krach. Durcheile die fremden Städte und Dörfer – wenn dir die Zunge nicht heraushängt, hast du falsch disponiert; außerdem ist der Zug, den du noch erreichen mußt, wichtiger als eine stille Abendstunde. Stille Abendstunden sind Mumpitz; dazu reist man nicht. Auf der Reise muß alles etwas besser sein, als du es zu Hause hast. Schieb dem Kellner die nicht gut eingekühlte Flasche Wein mit einer Miene zurück, in der geschrieben steht: „Wenn mir mein Haushofmeister den Wein so aus dem Keller bringt, ist er entlassen!“ Tu immer so, als seist du aufgewachsen bei... Mit den lächerlichen Einheimischen sprich auf alle Fälle gleich von Politik, Religion und dem Krieg. Halte mit deiner Meinung nicht hinterm Berg, sag alles frei heraus! Immer gib ihm! Sprich laut, damit man dich hört – viele fremde Völker sind ohnehin schwerhörig. 341
Wenn du dich amüsierst, dann lach, aber so laut, daß sich die andern ärgern, die in ihrer Dummheit nicht wissen, worüber du lachst. Sprichst du fremde Sprachen nicht sehr gut, dann schrei: man versteht dich dann besser. Laß dir nicht imponieren. Seid ihr mehrere Männer, so ist es gut, wenn ihr an hohen Aussichtspunkten etwas im Vierfarbendruck singt. Die Natur hat das gerne. Handele. Schimpfe. Ärgere dich. Und mach Betrieb. Die Kunst, richtig zu reisen Entwirf deinen Reiseplan im großen – und laß dich im einzelnen von der bunten Stunde treiben. Die größte Sehenswürdigkeit, die es gibt, ist die Welt – sieh sie dir an. Niemand hat heute ein so vollkommenes Weltbild, daß er alles verstehen und würdigen kann: hab den Mut, zu sagen, daß du von einer Sache nichts verstehst. Nimm die kleinen Schwierigkeiten der Reise nicht so wichtig; bleibst du einmal auf einer Zwischenstation sitzen, dann freu dich, daß du am Leben bist, sieh dir die Hühner an und die ernsthaften Ziegen, und mach einen kleinen Schwatz mit dem Mann im Zigarrenladen. Entspanne dich. Laß das Steuer los. Trudele durch die Welt. Sie ist so schön: gib dich ihr hin, und sie wird sich dir geben. 1929
Das falsche Plakat von Paris „Etrangers qui venez ici, on ne vous montre pas Paris. On vous traine dans une foire...“ Kabarett-Gedicht
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Neulich unterhielt ich mich mit einem Ungarn, der, verheiratet und wilder Entschlüsse voll, zum zwanzigsten Male nach Paris gekommen war. Er sagte: „Nicht wahr? Sie bummeln hier gewiß Tag und Nacht?“ Ich sah ihn an. Und dachte an eine Szene in einer Pariser Revue, wo ein Bureauchef seine „Dactyla“ auf den Knien hielt: im seidenen Höschen, mit Wuschelkopf und langen seidenen Strümpfen... So stellt sich die Welt immer noch Paris vor. Jeder sagt: Ich nicht. Aber die Reisenden, die nur zu Prunier gehen, und die, die nach zwei Tagen erklären: „Bei Prunier kann man nicht essen – da gehen ja nur Fremde hin!“ – scheinen mir beide in einem großen Irrtum befangen. Denn einerseits ist Paris nun einmal eine Gaststadt für die Welt, es bietet eine Menge Dinge, die für die Fremden und zum Vergnügen der Fremden gemacht sind, und die man ruhig kennenlernen soll, weil auch die Aufmachung dieser Industrie interessant genug ist – und andererseits sollte man ja nicht denken, daß hinter diesem Fremdenrummel nun andere, nur noch unerhörtere, ganz verschwiegene Genüsse für die Einheimischen und Kenner verborgen liegen. Das Wort von: „Paris, der größten Provinzstadt der Welt“, enthält eine tiefe Wahrheit. „Mais vous ignorez Paris!“ sagt das kleine Kabarettlied, das da oben zitiert ist, und zählt dann auf, was es hier noch alles gibt: die einfachen kleinen Leute und das Leben in den Vororten am Sonntag – die Schilderung ist ein bißchen sentimental, voll jener Sentimentalität, die es überall gibt (Vorort: Wien) – und an der doch viel echte Heimatliebe hängt. Paris ist, wenn man genau hinsieht, unter anderm auch eine große kleine Stadt. Unter anderm. Denn man darf ja nicht vergessen, welche großen geistigen Bewegungen hier ihren Anfang genommen haben. Seit der Revolution hat man hier vielerlei ausgeheckt, das nachher Europa auf dem einen oder dem andern Gebiet umgestülpt hat: Impressionismus und Naturalismus und Moden und vieles andere noch. Aber Paris bleibt davon unberührt – Paris ändert sich nicht, und man nimmt diese Neuerungen hier wohl freundlichst zur Kenntnis – aber dann bleibt wieder alles beim alten. Auch gehen diese geistigen Bewegungen nicht so stoßweise und ruckend vor sich wie bei uns. Immer ist die Linie gewahrt, Frank343
reich macht keine Hopser – und wenn es wirklich einmal einen großen Ausbruch gibt, dann kann man darauf schwören, daß dahinter eine sehr langsame, sehr sorgfältige geistige Vorbereitung gesteckt hat. Das Plakat, das sich alle fünf Erdteile von dieser Stadt zurechtgemacht haben, kennt der Franzose genau und duldet es, gutmütig lächelnd. In Unruhs „Franz Ferdinand, Prinz von Preußen“, sagt eine Hofdame zum Jungen: „Komm mit. Du kennst Paris nicht – da laufen die Leute nackt herum!“ – Denn auf Paris hat sich die sexuelle, erotische und modische Sehnsucht von Kontinenten konzentriert, und alles, was das enge Zuhause nicht duldet oder nicht zur vollen Entfaltung kommen läßt, wird, im Wunschtraum, hierher verpflanzt. Und dann muß man die Wirklichkeit sehen –! Ich kann es den geradezu lächerlichen Ausstreuungen kenntnisloser Nationaler gegenüber nicht oft genug wiederholen: es gibt wohl kaum ein arbeitsameres Volk als die Franzosen. Ob man ihnen in allen ihren Methoden zustimmen kann, ob sie als Kaufleute in allen Punkten hieb- und stichfest sind, das zu beurteilen getraue ich mich nach ein paar Monaten Aufenthalt nicht. („Die Einwohner dieser Stadt haben rote Haare und stottern.“) Aber sicherlich gibt es kein bürgerlicheres Volk als die Franzosen, und Paris macht da keine Ausnahme. Der ungeheure Strom der Fremden passiert, wird aufgenommen und ändert nichts. Man müßte glauben, die ganze Stadt sei ein einziger Jahrmarkt, damit nur ja die lieben Fremden zufrieden sind. Davon kann keine Rede sein. In den Vierteln, die nicht gerade von den großen Boulevards durchschnitten werden, spielt der Fremde nur in einzelnen Enklaven eine Rolle: die Skandinavier im Montparnasse, die Juden in manchen Zentrumsvierteln, die Deutschen sind meist um die Oper herum aufhältlich, viele kleine Amerikaner auf der rive gauche... der Rest beherbergt wohl Fremde, läßt sich aber nirgends von ihnen grundlegend beeinflussen. Und so ist das oberflächliche Bild, das der Fremde von Paris empfängt, nicht einfach als falsch zu bezeichnen – aber es ist unvollständig. Und meistens macht er sich von dem dahinterliegenden eine unrichtige Vorstellung.
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Eine gewisse Sorte Deutscher hat sich ja nun noch ein Spezialplakat geschaffen. Die „Vossische Zeitung“ hat erst neulich das Bild von den Franzosen kopiert, das der General von Lieben sich und andern ausgemalt hat: „Die Franzosen sind an sich keine kriegerische Nation, sie sind der Masse nach friedliche Philister, ruhige Landwirte, die ihr Domino und Ecarté spielen und ihren Absynth dazu trinken wollen.“ Nun gibt es in Frankreich ganz wenig Absynth, und der Rentier trinkt ihn nicht und hat ihn nie getrunken. Aber auf dem Niveau der Weltbildung stehen ungefähr alle nationalen Schilderungen, und dieser General, der während des Krieges seinen Aufenthalt in fremden Ländern bedauerlicherweise nicht dazu benutzt hat, seine Kenntnisse zu erweitern, scheint nicht zu wissen, daß es auch kriegerische Philister gibt. Die heute noch ihren Anhängern – so was hat Anhänger – erzählen, die Franzosen seien dekadent. Wohl ungefähr das Törichtste, was man überhaupt über dieses Volk sagen kann. Ihre Literatur von vor dreißig Jahren (die durch nichts aus manchen deutschen Köpfen zu verwischen ist), hat solche Elemente enthalten – sie sind so gesund, daß sie sich das leisten konnten. Alles, was hier heute geschrieben wird, ist meilenweit von diesen Dingen entfernt – man „trägt“ hier kein Kokain mehr, und wenn man weiß, daß es auch andere Kraftäußerungen gibt als den schwellenden Biceps, dann erkennt man, daß auch dieses Volk gesund und ganz unausgehöhlt ist. Strammheit kann häufig Schwäche verbergen. Jede Nation hat sich immer und überall auf der Welt von den andern ein vereinfachendes Plakatbild gemacht, das meist so vergröbert ist, daß es überhaupt nicht mehr stimmt (und es gibt nur einen Fall, Herr General, wo die Karikatur milder ist als das Urbild). Engländer haben Backenbart und karierte Hosen; die Amerikaner legen die Beine auf den Tisch, Deutsche essen Sauerkraut – immer, in allen Lebenslagen – und die Franzosen? Die haben’s mit den Weibern – man weiß das ja! –, trinken Champagner und sind leichtfertige Windhunde. Es ist wie mit den Kinoplakaten. Draußen jagt ein wilder Reiter, quer über seinem Pferd hängt eine nackte Frau, ihr Haar schleift am Boden, und eine Horde tobsüchtig gewordener Sioux-Indianer rast dem kühnen Retter nach. Im Hintergrund loht der Horizont in Flammen. Kommt man aber hinein, dann hopst da ein mageres Pferdchen über 345
einen Graben, unweit Wannsee, die Dame ist durchaus bekleidet, und der Cowboy heißt Harry Piel. Man sollte jedem Deutschen noch fünfhundert Mark dazugeben, damit er ins Ausland reisen kann. Er würde sich manche Plakatanschauung abgewöhnen – wenn er vorurteilslos genug ist, die Augen aufzumachen. 1924
Das menschliche Paris „Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps.“ Deutsches Soldatenwort „Vous m’excusez, monsieur, que je vous dérange...“ Eine französische Bettlerin
Worin besteht der Zauber von Paris? In der Architektur? In der silbrigen Luft? In der Mode? In den Frauen? Im Sekt? In all dem zusammen? Nein. Das, was die einzige Atmosphäre dieser Stadt ausmacht, ist ihre Menschlichkeit. Wenn man aus Deutschland kommt, versteht man es erst gar nicht. Wir sind doch gewöhnt, daß ein Gasbeamter ein Gasbeamter ist und weiter nichts – daß ein Gerichtsdiener Gerichtsdiener, ein Schaffner Schaffner und ein Billettverkäufer Billettverkäufer ist. Wenn sie wirklich die starre Maske des „Dienstes“ ein wenig lüften, so geschieht das meistens, um Unhöflichkeiten zu sagen. Herr Triebecke hat sich eine bunte Mütze aufgesetzt, und Herr Triebecke ist völlig verschwunden: vorhanden ist nur noch einer, der „seinen Dienst macht“. Ja, die freiwillige Einordnung in jede Kollektivität, in der man sich geborgen fühlt, geht so weit, daß man in deutschen Diskussionen oft zu hören bekommt: „Ich als Schleswig-Holsteiner“, „Ich als mittlerer Beamter“ und sogar: „Ich als Vater...“ Nur, einfach: „Ich“, ich als Mensch – das ist selten...
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Es ist sehr bequem so. Aber hinter den Bergen wohnen auch Leute, und sie denken darin ganz anders. Es ist sehr preußisch gedacht, wenn man sich nach dem Ausschluß der starren Dienstauffassung gleich das Chaos vorstellt. Entweder – oder. „Na, soll vielleicht der Weichensteller im Dienst Zeitungen lesen?“ – Nein. Aber er soll ein Mensch sein, der Weichen stellt, und kein Beamter, der – an besonders hohen Feiertagen – auch „mal Mensch“ ist. Paris hat Herz. Das geradezu lächerliche Zerrbild, das der Völkische sich und andern von Franzosen an die Wand malt, ist nicht einmal eine Karikatur – es ist blanker Unsinn. Es ist objektiv so falsch wie etwa eine Schilderung der Eskimos, die besagte: „Der Eskimo ist ein stiller Privatgelehrter, der sein Leben in den kleinen überhitzten Kollegräumen seiner Universität verbringt.“ Der Franzose ist kein Spiegelaffe – der Franzose ist ein Mensch. Und lebt sein Leben mit einer leichten Freude, mit einer Innigkeit, mit einer herzlichen Liebe zur Natur und den anderen Menschen, die wir fast vergessen haben. Es ist mir bekannt, daß unsere entsetzlichen wirtschaftlichen Zustände da herangezogen werden. Das ist nicht ganz richtig. Ich habe das Berlin vor dem Kriege sehr genau gekannt – es konnte sich auch damals mit Paris nicht vergleichen. Ich will Ihnen ein paar Beispiele geben: Die Pariser Metro ist stippevoll. In der zweiten Klasse quetschen sich die Leute wie die Heringe – wir Berliner kennen das. Sie hören fast nie ein böses Wort. Es mag wohl hier oder da einmal vorkommen, daß eine ganz leise, ganz höfliche Diskussion anhebt... Aber die körperliche Berührung gilt hier nicht als eine Beleidigung, die – unter Rittern nur mit Blut abgewaschen werden kann, sondern es drängen und pressen sich gewissermaßen Mitglieder einer Familie. Man ist nicht gerade übermäßig vergnügt, so zu stehen – aber man nimmt es hin. Auch ist man nicht so von Offensivgeist durchtränkt wie in Deutschland. Ich besinne mich, kurz vor meiner Abfahrt in einem Charlottenburger Bäckerladen gewesen zu sein – es war in einer sehr feinen Gegend, am Reichskanzlerplatz – , und da war alles aufeinander böse: die Kunden, der Meister, die Bäckerjungen und die Hörnchen. Ohne jeden Grund übrigens. Das habe ich hier noch nie gefunden. In der Elektrischen, draußen im Südosten der Stadt, gab neulich 347
eine dicke Frau mit vielen Markttaschen dem Schaffner eine Handvoll Kirschen – und niemand fand etwas dabei, es war die natürlichste Sache von der Welt. Und das war kein Trinkgeld oder seine Ersparnis – es war einfach Nettigkeit, die der Schaffner auch ganz richtig auffaßte: er freute sich, weil die Kirschen so schön rot waren, steckte sie ein, und alle Passagiere hätten sicherlich ebenso wie die dicke Frau gehandelt. Natürlich. Und es ist eben nicht jene übertünchte Höflichkeit, hinter der weiß Gott welche Bestie steckt, gezähmt durch die gedrechselten Formen französischer Tradition. Das ist nicht wahr. Denn es ist sehr bezeichnend, daß gerade der kleine Mann, der Handwerker, die Gemüsefrau, der Arbeiter – daß gerade sie fast immer höflich, herzlich und natürlich sind. Und das Familiäre guckt überall hindurch – man begegnet selten der absolut abweisenden Härte. Obgleich es die sicherlich auch gibt. Denn es wäre grundverkehrt, nun die Franzosen zu Idealmenschen zu stempeln, und ich mag diese deutschen Literaten und Reisenden gar nicht, die hier in jedem Aschenbecher ein „echt französisches Dokument alter Tradition“ sehen. (Besonders die Kunsthändler sollte man in dieser Beziehung einzeln und sorgfältig totschießen.) Ich finde den Typus dieser bedingungslos begeisterten Franzosenlecker genauso übel wie die vorpommerschen Landrichter, die von Frankreich zwar nichts wissen, aber furchtbar darauf schimpfen. Man muß die Dinge auch einmal abseits von der Ruhr und abseits von Picasso sehen können. Und da sieht Paris so aus: Der Franzose ist ein bürgerlicher Mensch. Ein Mensch, der, weil es so viele Fremde in Paris gibt, sehr höflich und nett mit aller Welt ist, aber im Grunde sehr abgeschlossen und sehr zurückhaltend lebt. Es gibt in allem Ausnahmen. Es gibt auch hier Postbeamte, die vor lauter Beamtenhochmut nicht antworten, wenn man sie außerhalb ihrer Dienststunden etwas fragt – aber sie sind nicht der Typus. Es gibt auch hier sicherlich Mißgriffe, Irrtümer, menschliche Niederträchtigkeiten... Ich bin keine Frau und weiß nicht, inwieweit eine alleinstehende Dame in einem Arbeiterviertel geschützt ist. Mein Eindruck ist, daß ihr unter normalen Verhältnissen kein Mensch etwas tun wird – ich habe hier noch nie beobachtet, daß man eine anständige 348
Frau auf der Straße belästigt hätte. Was aber viel, viel wichtiger als alles dieses ist: Die Leute sind nicht nur höflich, sie sind herzlich. Fragen Sie um Rat – Sie werden ihn fast immer, auch von wildfremden Leuten bekommen. Ich bin in Vierteln, die ich nie gesehen hatte, in die Läden gegangen, habe eine Kleinigkeit gekauft und die Leute nach den dortigen Wohnungsverhältnissen gefragt – sie haben mir immer ausführlich, der Wahrheit gemäß und entgegenkommend geantwortet. Was sie nicht „nötig“ hatten – nein, gewiß nicht. Aber hier ist, primär, ein Mensch zum andern erst einmal höflich – und nur, wenn es einen Zwischenfall gibt, weicht das. Zwei-, drei-, viermal ist es mir begegnet, daß ein kleiner Ladenbesitzer nicht das Gewünschte führte. Immer – ohne jede Ausnahme – hat man mir freundlich Bescheid gesagt, wo ich die Ware sonst kaufen könnte – mitunter kam der Mann oder die Frau selbst mit heraus und zeigte mir Richtung und Weg. Dazu kommt ein anderes. Der Pariser führt sein Leben, ganz ehrlich, so, wie es ist, so, wie er es sich leisten kann. Nicht darüber und nicht darunter. Ein Freund erzählte mir, daß ihm im Zuge nach Paris der Sohn eines reichen Seidenfabrikanten Auskünfte über die Lokale in Paris erteilt hätte. Über manche wußte er nicht Bescheid. „Ça – c’est pour les gens du monde.“ Dazu zählte er sich nicht. Die Gens du monde waren für ihn nicht höher und nicht tiefer – aber anders. Und aus dieser menschlichen Natürlichkeit, die soundsooft zu erkennen gibt: Dazu haben wir kein Geld – entspringt eine viel größere Ehrlichkeit im Verkehr. In den allermeisten Fällen kann man darauf schwören, daß das sichtbare gesellschaftliche Milieu auch der wirklichen Vermögenslage entspricht – denn es gibt keinen, für den man ein andres vorzutäuschen hätte. Sie leben ihr Leben ohne Anführungsstriche – sie verteilen ihre Ausgaben anders als wir, geben zum Beispiel für die Wohnung prozentual mehr Geld aus – aber das tun alle, und so gleicht sich das aus. Und auch in den Familien findet man hier einen viel natürlicheren Ton als bei uns. Ich spreche nicht von den großen Salons, in denen sehr reiche, sehr bekannte Leute von Welt verkehren – sondern gerade von Frau Machin und Madame Chose. Da ist alles viel natürli-
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cher, viel freier – nicht gespreizt und nicht feierlich oder prätentiös aufgemacht. Es ist eine Stadt der Menschlichkeit. Und man fühlt in Paris nach einiger Zeit, wenn man gemerkt hat, daß einem keiner an den Nerven zerrt, daß alles glatt und angenehm vonstatten geht, daß das Dasein gleitet und nicht hackt – man empfindet, wie einfach im Grunde das Leben ist. Was wollen wir denn alle Großes? Gesundheit; die Mittel, die nötig sind, um in unserer Klasse zu leben; keine übermäßigen menschlichen Katastrophen in der Liebe oder mit den Kindern – schließlich, so erheblich sind unsere Ansprüche gar nicht. Und anfangs empfand ich das Pariser Glück immer als etwas Negatives: keine Nervosität und keine unhöflichen Menschen in der Untergrundbahn und keine endlosen Schwierigkeiten, wenn ich einmal nachts nach Hause fahren wollte, und keine Rempeleien in Lokalen. Heute weiß ich, was es ist: Es ist die einfache, leichte und natürliche Menschlichkeit des Parisers. 1924
Die Rue Mouffetard Paris, im Juni
Nun, man soll Paris nicht mehr „entdecken“ – ich weiß schon. Aber erstens haben wir zehn Jahre blockiert gelebt (wenn sich seit 1914 die Völker besuchten, so taten sie das meist mit der Flinte in der Hand...), und zweitens habe ich etwas Merkwürdiges gefunden. Wenn Sie wieder einmal nach Paris kommen – was ich Ihnen von Herzen wünsche –, so versäumen Sie nicht, es sich auch einmal anzusehen. Da ist also das Pantheon. Eine kalte Sache, vorn mit einem Gitter und vielen zähnefletschenden Amerikanerinnen, die alle nachsehen, ob auch Murray recht hat, ob alles an seinem Platz steht und ob Zola noch da liegt. Und wenn sie das festgestellt haben, dann gehen sie befriedigt wieder ins Hotel. Wie sagt die alte Berliner Posse: „Aber sonst hat’s keenen Zweck –!“
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Das Pantheon also lassen Sie liegen, und hinter dem Pantheon, an der Polytechnischen Hochschule, da fängt eine Straße an, die heißt die Rue Mouffetard. Und in der können Sie einen kleinen Begriff bekommen, wie Paris einmal gewesen ist. Es ist eine ziemlich lange, sehr enge und krummgewundene Straße. Kaum, daß einmal ein Wagen durchfährt – alle Menschen gehen auf dem Damm. Und wieviel Menschen! Es wimmelt von Frauen und Männern und Kindern und Katzen. Da wohnen ganz kleine Leute – Handwerker, Kleideraufkäufer, Althändler, Gott weiß, wo sie da alle wohnen. Da gibt es ein Restaurant, in dem bezahlt man zwei Sous, und dann darf man mit einer mitgebrachten Holzgabel auf gut Glück in einem Kessel umherfischen, in dem die noch einmal aufgekochten Abfälle aus den großen Restaurants schmoren... Ein Art Eßlotterie. Und obgleich es sehr arme Leute sind, die da wohnen, so wirkt doch nichts eigentlich verkommen – es hat alles seinen Schick und seine Ordnung – da sind Schlächterläden und Obstläden und Milch- und Gewürzhandlungen und Kramereien... Und die Hausfrauen kaufen richtig ein. Welche Häuser! Es sind ein paar alte darunter, auf der Wand von Nr. 9 steht noch eine Inschrift aus dem 17. Jahrhundert – tief in einem Hausflur liegen ein paar alte Grabsteine... und Höfe können Sie da sehen! Bringt sie der Film, so sagt man: „Herr Maler, Sie müssen nicht übertreiben, so etwas hat es wohl einmal gegeben, aber das existiert nicht mehr!“ – Doch, das gibt es noch. Höfe, die nur eine Art Lichtschacht sind, mit Wäschestücken, an Stricken aufgehängt, mit Gebälk und Latten und verrostetem Eisen und nassen, schlüpfrigen Wänden, mit Kindern und Katzen, Katzen und Kindern. Die Menschen schlafen da in den unwahrscheinlichsten Verschlagen – was sehr romantisch aussieht, wenn man nur vorbeigeht und nicht selbst da schlafen muß – und, übrigens, von Apachen gibt es nichts zu sehen. (Das ist auch so eine Unsitte der Durchreisenden, daß sie gleich auf dem Bahnhof diese vier Dinge haben wollen: Apachen, Mongmarta, Muhläng Rusch und ein Maitresse. Auf dem Bahnhof.) Viele Häuser sind sehr alt – und was vor allem diese Straße so anziehend macht, das ist ihr fast südliches, bewegtes und ganz und gar 351
ungezwungenes Straßenleben, wie man es sonst hier eigentlich nicht überall sieht. Das Ganze wirkt schon ein kleines bißchen „interessant“ – nicht etwa, daß sich die Leute so vorkämen, die bewegen sich wie immer, bummeln da entlang, handeln, feilschen, arbeiten und schwatzen... Nein, aber wenn man aus der Straße herauskommt – oben bei der Kirche St-Medard, wo sich einstmals die jansenistischen Verzückten in hysterischen Gebeten wälzten –, wenn man da oben herauskommt, dann sieht man die Avenue des Gobelins herunter, und da ist wieder das normale Ansichtskarten-Paris, mit den breiten Straßen, bäumebepflanzt, den elektrischen Bahnen... Und man guckt sich erstaunt um, wo man denn eben gewesen ist. Da ist noch der enge Eingang zur Rue Mouffetard, und hier ist alles freigelegt, hier sind moderne Häuser mit Radioantennen drauf... Was war das –? Was das war –? Ein Stück altes Paris. 1924
Der 14. Juli Eine Stadt, die tanzt –! Eine ganze Stadt, die tanzt –! Nun ganz so happig ist es damit nicht. Die Elektrischen tanzen nicht, die Untergrundbahn fährt und ist denn doch so voll, daß es – Zeichen und Wunder! – ganz kleine Ansätze von Krachs gibt, lange Straßenzüge liegen leer und undurchrummelt. Aber man darf doch sagen, daß ganz Paris auf den Beinen ist. Die Nachricht von der Erstürmung der Bastille, deren sich ältere Abonnenten noch aus dem Jahrgang 1789 der „Vossischen Zeitung“ entsinnen, wird in Paris alle Jahre einmal aktuell. Dieses Mal gab es richtige kleine Sommerferien: Sonnabend, den 11., fing die semaine anglaise an, Sonntag war Sonntag, und weil Dienstag der Nationalfeiertag war, so bildete Montag einen „pont“, der für viele Berufe ein freier Tag war. Und Mittwoch... es gibt auch blaue Mittwoche. Vier Tage, vier freie Tage! – Eine Völkerwanderung in die Umgebung begann, hier hat fast jeder ein Häuschen, ein Grundstückchen, eine Holzhütte – und wenn nicht er sie hat, so gibt es jemand in der 352
Familie, der Eigentümer ist. Und auch draußen die kleinen Kommunen hatten ihr Feuerwerk, ihre Illumination, ihr Clairon- oder Harmonika-Orchester... Das Zentrum der Feier aber war Paris. Sonnabendabend schon fing es an. Da waren an vielen Ecken Tanzplätze frei gemacht oder ganz einfach improvisiert, die Kapellen saßen in Holzpavillons oder in den Cafés oder auf der Straße. Nun löst sich alles in Paris in Quartiers auf, Generalparolen sind selten, und wenn man sie gibt, werden sie kaum befolgt. Der Franzose ist ein Frondeur. Und die Quartiere sind untereinander verschieden wie Kleinstädte. Im vierzehnten tanzen die Fabrikarbeiter und ihre Mädchen, im dreizehnten ganz kleine Leute, Handlanger und Krämer, in einem Teil des fünften Provinzler, sie tanzten ihre heimischen Tänze, in Tracht und nach ihrer Musik, im zwanzigsten eine brodelnde Kleinbürgerlichkeit, im achtzehnten allerhand Straßenhändler und auch Leute mit dunkler Hautfarbe. Im sechzehnten tanzen die Mädchen der feinen Leute, im siebenten sind viele Fensterläden heruntergelassen, die Herrschaft ist auf dem Land, am Strand, in den Bergen... adlige Damen und pensionierte Herren tanzen selten auf der Straße. In der Rue Montagne-Sainte-Geneviève tanzen sie. Es sind Leute darunter, die nicht übermäßig vertrauenerweckend aussehen, aber es geht – wie überall – sehr anständig zu. Wer hier „Romantik“ erwartet, wäre heftig enttäuscht. Nichts verkehrter, als die Pariser für einen Haufen romantisch zappelnder, ungebärdig lärmender und schießender Kinder zu halten. Ein tiefer Zug von Bürgerlichkeit geht durch diese Stadt, bis hinunter in die tiefsten Schichten. Und noch ein anderer Zug: der von Fröhlichkeit. Da haben sie nun die Fahrpreise erhöht, und das Gas, das Wasser, das Licht, die Posttarife... die Arbeiter, deren Gehälter noch nicht mitgehen, merken das. Aber niemand ist verzweifelt, das Gleichgewicht ist überall da, die Freude, am Leben zu sein, und diese Spanne, die gegeben ist, auszunutzen. Diese kleinen Volksfeste da bestehen äußerlich in nichts weiter als in ein bißchen Musik, ein paar Glas Wein (man sieht sehr wenig Betrunkene), Tanz und eben jener Atmosphäre, die nicht zu exportieren ist. Sie erinnert etwa an die Luft mittlerer deutscher Kurorte vor dem Kriege, wenn abends Reunion 353
war: durchaus nicht der ganze Ort nahm daran teil, friedlich schlenderte man durch die halbdunklen Straßen, aus einem Saal klang Tanzmusik, das berührte aber keinen sehr, es war eine große, stille, ruheliebende Gemeinschaft. So gehen hier feiertags die Leute herum. Und alle, ohne Ausnahme, bis zum letzten Bettler herunter, sind nicht unglücklich. Das ist die Grundstimmung. Paris tanzt also. Befreit tanzen die jungen Gymnasiasten, die „distribution des prix“ ist vorüber, jene feierliche Schulhandlung zum Schluß des Semesters, wo irgendein Abgeordneter, ein Minister, ein politischer Beamter eine Rede redet. (So sprachen der ehemalige Unterrichtsminister François-Albert und Herr Herriot; beim Vortrag dieses mußten erst ein paar reaktionäre Lärmmacher an die frische Luft gesetzt werden.) Um die kleinen Orchesterchen drehen sich die Paare (hier wird nicht so gut wie in Berlin, aber vergnügter getanzt, unsachlich, freundliche Dilettanten) – die halbe Straße guckt vergnügt zu. Es tanzen die Feuerwehrleute auf ihrem Hof in der Nähe der Place de la Nation, man kann hereinspazieren und zusehen, es tanzen Soldaten, Ladenmädchen, Bäckerfrauen und – auf dem Montparnasse – Schweden, Norweger, Polen und Amerikaner aller Couleuren. Nach den Vorstädten zu werden die Damenbeine krummer, die Farben bunter, die Eleganz ist – wenn es welche gibt – aus zweiter. Hand. In Montrouge begießen die alten Laubenkolonisten friedlich ihren Kohl und s’en fichent um den vierzehnten Juli, auf Gartenplätzen drehen andere auch hier ein Tänzchen. Im Viertel von La Villette spielen die Musiker: „On fait une petite bellote“, den Schlager der Mistinguett, einen Java, den sich die Leute zum gemütlichen Walzer gemodelt haben, und alle Fenster sind besetzt: im ersten Stock viele Kinderköpfe, im zweiten ein hemdsärmeliger Mann, der die kräftigen Unterarme auf das kleine Eisengitter stützt, im dritten eine dicke Frau mit ungemachten Haaren. Die Champs-Elysees brodeln. Der „Cours de Flambeau“ ist eben vorüber: schweißtriefend, eine Fackel in der Hand, ist der siegreiche Läufer einpassiert; die Staffeln sind in der Nacht von Verdun aufgebrochen, wo ein Kriegsverletzter ihnen die Fackeln angezündet hat, nun bringen sie das Feuer, von Staffel zu Staffel, über die zweihun354
dertvierzig Kilometer nach Paris, zum Grab des unbekannten Soldaten. Die lange Prachtstraße herauf rast der Sieger, hinter ihm, zweihundert Meter hinter ihm, der Zweite. Feuer? Neues Feuer zum alten? Hoffentlich nur eine Erinnerung. Da gehen sie spazieren. Alte Herren, mit einem steifen Hütchen und selbstverständlich – einem Bändchen im Knopfloch, man vermißt die Jahreszahl an ihnen: 1890; kleine verschmierte Kinder, die Blumen verkaufen; Mehlwürmer mit kleinen Täschchen und blitzenden Blikken; Fremde; Pariser Kleinbürger; langsam wandelnde Ehepaare. Manche stehen um ein Kasperletheater herum, und da, am Straßenrand, paukt ein Mann auf einer Trommel, ganz allein auf einer Trommel ohne Orchester. Der Mann hat nur einen Arm, am Stumpf des andern ist ein Schlegel angebunden, und der trommelt nun, unermüdlich, auf das Kalbfell, welch ein herzerweckendes Symbol! Am Etoile stauen sich die Menschen. Abends flammt die Stadt auf. In der Ausstellung strömt es hin und her, Lichter spiegeln sich im Wasser, ein Feuerwerk steigt auf, noch eines, noch eines, Scheinwerfer spielen. Oben, vom Montmartre aus gesehen, erscheint der riesige Häuserhaufen wie in Zauberlichter getaucht: Brennpunkte, Flammen, weiße Lichtbögen, Flammenstraßen... Vor dem Parlament zittern die Flämmchen der Gasillumination: „R. F.“ – der Wind spielt in den Emblemen der französischen Republik. Sogar der Eiffelturm leuchtet auf, und weil man seine Stahlkonturen nicht sieht, so stehen die Lichter auf dem schwarzen Hintergrund der Nacht. Ein ganzes Volk ist fröhlich und guter Dinge, quandmême. Und alle Leute sind nett zueinander, nirgends ein böses Wort, fast nirgends Spektakel. Nie auch nur die leiseste Bewegung gegen die Fremden, niemals ein auch nur passiver Widerstand gegen deutsche Laute. Das interessiert sie gar nicht. Sie wollen in Frieden leben. Die Feier des vierzehnten Juli in Paris ist nicht militaristisch, nicht imperialistisch, nicht ruhmredig. Zu Feiertagen darf man Nationen etwas wünschen. 355
Ich für mein Teil wünsche dem französischen Volk Frieden mit Deutschland, Frieden, Zusammenarbeit und Verständigung. 1925
Park Monceau Hier ist es hübsch. Hier kann ich ruhig träumen. Hier bin ich Mensch – und nicht nur Zivilist. Hier darf ich links gehn. Unter grünen Bäumen sagt keine Tafel, was verboten ist. Ein dicker Kullerball liegt auf dem Rasen. Ein Vogel zupft an einem hellen Blatt. Ein kleiner Junge gräbt sich in der Nasen und freut sich, wenn er was gefunden hat. Es prüfen vier Amerikanerinnen, ob Cook auch recht hat und hier Bäume stehn. Paris von außen und Paris von innen: sie sehen nichts und müssen alles sehn. Die Kinder lärmen auf den bunten Steinen. Die Sonne scheint und glitzert auf ein Haus. Ich sitze still und lasse mich bescheinen und ruh von meinem Vaterlande aus. 1924
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Dank an Frankreich „Ich vermisse von Ihnen noch immer den hemmungtlosen und kritiklosen, tiefen und erlösenden Aufschrei über das unendliche Glück, in Frankreich leben zu dürfen.“ Aus einem Freundesbrief
Der lange D-Zug-Wagen schaukelt sanft von der Gare d’Austerlitz bis zur Gare d’Orsay. Ohne Ruck hält er. Das weiße Deckchen auf dem Polster ist verrutscht, ich streiche es sorgsam glatt. Und steige aus. Da rollt und flimmert Paris. Die kleinen roten Lampen an den Autos glitzern wie funkelnde Rubine, die Hupen gellen, hinterher seufzen sie so sonderbar erschöpft auf; der kleine Nebenton sagt: Guten Tag! – Guten Tag, sage ich. Und da gehe ich ganz allein über die Brücken der Seine und sehe, wie die Ausstellung noch immer illuminiert ist, und wie der Concorde-Platz im bleichen Licht daliegt, auf ihm die Inselchen der rollenden Wagen... Guten Tag. Und jetzt, wo niemand es hört, bewegen sich ganz leise meine Lippen, eine warme Welle schießt mir zum Herzen auf, und ich sage: Dank. Dank, daß ich in dir leben darf, Frankreich. Du bist nicht meine Heimat, und ich bin kein alter Franzose, der auf einmal kein Deutsch versteht. Ich habe deine Kinderverse nicht auswendig im Kopf, ich muß mir erst vieles übertragen – nicht bei dir habe ich Männerchen auf die Zäune gemalt und eine lange ungehörige Zeichnung auf das Häuschen an der Ecke. Nicht bei dir bin ich verliebt durch die Straßen gelaufen, mit einem kleinen Brief in der Brusttasche und einem großen Schauder über den Rücken... Keine Ecke sagt: hier bist du einmal... kein Haus sagt: hier oben hat sie einmal... Und doch bin ich bei dir zu Hause. Du warst gastlich vom ersten Tage an. Du hast niemals den Fremden verspottet, wenn er Vokabeln, Bräuche, Stadtviertel verwechselte. Du hast dich nie gespreizt, aber du hast dich nie versagt. Wer dich zu suchen ausgeht, kann dich finden. Du siehst von außen mitunter besser aus, als du bist – in einer Parfümfabrik riecht es nicht immer sehr gut. Du liegst in Europa, man 357
kann dich nicht losgelöst von Europa betrachten, und du bekommst es nun zu fühlen, daß du dazugehörst, auch wenn du dich einen Teufel um das Fremde scherst. Ich kann nicht zu allem, was hier geschieht, ja sagen – hätte man mich nach meiner Meinung gefragt. Auch du hast deine, Justiz, deine Verwaltung, deine Eisenhüttendirektoren und deine Arbeiter... Das ist deine Sache. Darüber schwieg ich stets – aus Liebe. Und ich bekam es von zu Hause nicht schlecht zu hören: Franzosenliebling, Französling, landfremdes Element, Undeutscher. Und ich bekam nicht schlecht zu hören: er lobt nicht alles, was in Paris geschieht – er versteht nichts von dieser himmlischen Stadt. Nein, ich lobte nicht alles in dieser himmlischen Stadt. Aber heute abend, wo ich auf der Brücke stehe und ins strahlende Wasser sehe, heute abend, wo ich wieder da bin, diese feine graue Luft einatmen darf, das Brausen der Stadt höre, die Laute, die ich kenne und zutiefst fühle – heute abend laß mich dir danken. Ja, du hast das größte Glück gegeben, das eine Umgebung verleihen kann. Lieben kann man überall, Geld gewinnen kann man überall, das äußre Wohlsein erreichen kann man überall. Aber über nichts glücklich sein, durch die Straßen streichen und die Häuser mit dem Blick umfangen: Gott sei Dank, daß ihr alle da seid! zum Nachbar ja sagen, immer nur runde Ecken vorfinden, betrunken sein, weil man diese Luft einatmet: das kann man nur bei dir. Deine Vergnügungen sind es nicht, deine Frauen sind es nicht, deine Kunstwerke sind es nicht. Nichts ist es und alles zusammen – du bist es. Und deine Menschen sind es. Oft, wenn wir an die Frage kamen: „Und Sie sind... Engländer?“, und ich sagte dann das Wort, dann entstand eine winzig kleine Pause, und eine Welt war in der Stille. Eine Welt von vier Jahren. Aber nie, nie, nie mehr als das – nie ein böses Wort, nie eine heftige Anspielung, ein Versuch, den Krieg nun noch einmal unter vier Augen zu gewinnen. Wer nicht mit Deutschen umgehen will, tut es nicht. Wer sich über den Nationalkram hinwegsetzt, tut es. Die Majorität ist neutral und hat Herzenstakt.
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Und es sind besonders „die kleinen Leute“, die so liebenswert sind – Gevatter Epicier und Handschuhmacher, Herr Un Tel, Herr Chose, Herr Machin. Sie denken mit dem Herzen, sie fühlen mit dem Kopf, es sind vor allen Dingen einmal Menschen – on s’arrange. Ja, es gibt sogar höfliche Polizeikommissare. Manchmal habe ich fast vergessen, wie gut ichs hatte. Es begann, selbstverständlich zu sein, und ich fing an, undankbar zu werden. Ich will das wiedergutmachen. Ich habe mich nicht in dir verloren – ich habe mich wiedergefunden, wenn ich mich verloren hatte. Du hast gegeben und gegeben, geliehen und verschenkt – ich war so arm. Ich bin so reich. Und nun gibt es keine Vorbehalte mehr, keine Kritik und keine Betrachtungsweisen –: da stehe ich auf der Brücke und bin wieder mitten in Paris, in unser aller Heimat. Da fließt das Wasser, da liegst du, und ich werfe mein Herz in den Fluß und tauche in dich ein und liebe dich. 1927
Riviera Es gibt so viele süße Schilderungen der französischen Riviera; sauer macht lustig, warum soll man nicht einmal... Die Riviera liegt da und sieht aus. Sie ist die zweidimensionalste Landschaft, die sich denken läßt: für den Küstendampferpassagier ist sie ein Traum, für den, der auf einer Klippe steht und in die Bucht hineinsieht, ein Paradies – man darf nur nicht in das Paradies hineingehen. Dann ist alles aus. Die französische Riviera ist nur gemalt, und zwar auf Blech. Da, wo freie Plätze und Sanatorien für arbeitende Menschen stehen sollten, liegen Privatbesitzungen, die Gott im Zorn geschaffen hat. Die Flora erinnert an einen verkrüppelten Grunewald, in den sich einige unglückliche Palmen verirrt haben; sie stehen da herum, sich mit den übrigen Bäumen unterhalten können sie nicht, und nun blühen sie unentwegt afrikanisch vor sich hin. Auch sieht man Agaven 359
mit fetten, harten Blättern, auf denen, mit dem Messer geritzt, eingewachsen zu lesen steht: „Yvonne et son Alphonse 1925.“ Abends sieht die Landschaft aus wie die Kulisse einer Operette beim Finale des zweiten Aktes: kleine Lichtpünktchen zwinkern an den Uferstraßen, die Konturen liegen in tiefem Schwarz-Blau gebettet, und während sich das zerzankte Paar mit den rudernden Armen flehend-verliebt zuwinkt, fällt langsam der Vorhang. Am Ufer des Meeres zieht sich die „corniche“ hin, eine Autostraße, deren Sausen alles mit sich reißt: Stille und Luft und Atmosphäre. Dahinter pfeift die Eisenbahn, denn die ganze Riviera ist nur ein paar Meter breit. Dann kommen die guten Felsen und die schlimmen Häuser. Hier und da treten die Besitzungen etwas zurück und lassen Platz für staubige Straßen. Wenn ein Kasino dabeisteht, ist es eine Ortschaft mit vielen großen Hotels. Diese Hotels sind gar keine Hotels. Sie spielen alle Hotel. „Von prominenten Gästen der letzten Jahre“, sagte der Hotelprospekt, „sind zu nennen: Der Präsident der französischen Republik, Paul Deschanel; die Prinzessin Luise; die Herzogin von Argyll; Sarah Bernhardt... Die große Schauspielerin“, sagt der Prospekt, „saß eines Tages auf einer Loggia in der zweiten Etage, wo man nur den Himmel, Blumen und das Meer sieht; da sagte sie in ihrer poetischen Art, daß man sich hier auf dem Bug eines großen Schiffes wähnte.“ Und dann keine Brause im Badezimmer. Vor der Hoteltür steht ein Portier, der der erste Mann des Unternehmens ist; er ist so mächtig, daß ihn das Los, letzter Mann zu werden, niemals treffen könnte, denn in die Toilettenräume ginge er gar nicht hinein. In der hall stehen Palmen und vielhundertjährige Engländerinnen; wenn man sie herumwirtschaften sieht, so ist immer nur zu fragen: „Wer arbeitet eigentlich in England für alle diese Frauen?“ Der Mittelpunkt eines modernen Hotels, in dem Leute ruhen und schlafen wollen, ist eine Musikkapelle. Man stelle sich vor, jemand sei genötigt, zu Pfingsten in einer Eberswalder Ausspannung zu übernachten; zu Hause wird er dann davon erzählen wie er nachts beständig vom Grölen der Kutscher 360
und von einem Orchestrion gestört worden sei. Ähnliches erlebt er in einem modernen Hotel, nur ist es an der Riviera um eine Kleinigkeit teurer, dafür ist aber das Essen in Eberswalde besser. Natürlich darf man nicht vergessen, daß in der Ausspannung keine vorgedruckte Speisekarte auf dem Tisch liegt; wenn es eine dünne Suppe, ein Pastetchen, bejahrten Fisch und ein bejammernswertes Huhn mit Kartoffeln gibt, so sieht das Menü so aus: Potage à la Potage Vol-au-Vent à la Valéry Sole à la Reine de Portugal Volaille à la Poule Pommes à la Pomme Fruits Der letzte Plural ist eine Übertreibung. Dazu spielt das Orchester in das Vichy-Wasser hinein, das sich die Engländer in den Magen gießen, es gluckert empört, wenn es unten ankommt, und schwappt leise im Takt der Musik. Diese Musik der französischen Kapellen, die Jazz spielen, hört sich an, wie wenn einer mit halbwegs richtiger Aussprache Englisch vom Blatt liest, ohne ein Wort zu verstehen. Erst, wenn sie den aktuellen Walzer aus der „Lustigen Witwe“ zersägen, fühlen sie sich wieder im nationalen Element. Je schlechter das Essen, desto lieblicher der maître d’hôtel, der sich über mich wie über einen Kranken beugt: ob es mir denn schmecke, und ob es mir munde, und ob ich zufrieden sei... Lieber Gott, gib mir doch den Mut, daß ich ihm einmal, nur ein einziges Mal, mit der Gabel in den Bauch pieke...! Es sind viele Deutsche da. Sie haben ein bißchen Angst vor der feinen Umgebung, und das sollen sie ja wohl auch. Sie sind auch unsicher vor den Fremden: den Franzosen, den Amerikanern, den Engländern – aber wenn sie merken, daß sie es mit deutschen zu tun haben, dann entspannen sich ihre Glieder, eine leichte vertrauliche Frechheit steigt in ihnen auf, denn, denken sie mit Recht, was kann an einem schon dran sein, der auch nur ein Deutscher ist! (Diese Familienvertraulichkeit teilen die Deutschen noch mit einer anderen 361
Rasse.) Im großen ganzen aber bemühen sie sich, ihr mondänes Leben den illustrierten Zeitschriften anzupassen, in denen es abgebildet ist. Aus den Hotels können die feinen Leute nur noch in ihre Autos steigen, die, lang wie ein Haus, vor dem Haus brummen. Einen Schritt darüber hinaus, und sie stapfen in Staub, ungepflegten Wegen, an grauenvollen Straßenfronten vorüber – denn die Riviera ist dreckig, ohne pittoresk zu sein; unmalerischer Schmutz. Man hat in allen Ortschaften das Gefühl, hinter Filmkulissen zu stehen; kein Mensch glaubt daran, die einheimischen Komparsen nicht, die Fremden eigentlich auch nicht, sie machen aber ein krampfhaft vergnügtes Gesicht und wagen nicht, sich einzugestehen, daß es an hundert andern Küsten schöner, weiter, kräftiger und naturhafter ist. Sie erliegen rettungslos der Zwangsvorstellung „Riviera“. Der Höhepunkt dieser fixen Idee ist Monte Carlo. Monte Carlo ist ein frisch erhaltener Naturschutzpark aus dem Jahre 1880. Es ist ein lebendiger Anachronismus; ich war versucht, die Menschen anzufassen und an ihren Haaren zu ziehen, ob sie auch wirklich und wahrhaftig echt sind und nicht zu Staub zerfallen, wenn man sie anrührt. Also das ist das Paradies, wo in unsrer Jugendzeit die Defraudanten mit „Weibern und Champagner“ ihr Geld durchbrachten! So blödsinnig fingen sie das an! so völlig von Gott und allen guten Geistern verlassen! Da ist der kleine Park, in dem man verzweiflungsvoll umherzuirren hatte, wenn alles hin war, an diese Palmen konnte man sich hängen, von diesen Felsen herunterstürzen, über diese Grasflächen knallte abends der kleine Schuß, der einem verpfuschten Leben... heiliger Lokal-Anzeiger! Die Spielsäle sahen aus wie das selige Palais de Danse – gequollene Ornamente gerinnen an den Wänden, Puttengel stoßen mit Recht in vergoldete Posaunen, und ölgemalene Gemälde zeigen an, wovon unsere Väter nachts geträumt haben, wenn Mutter schon, mit aufgesteckten Zöpfen, schlief. An den Tischen spielen sie. Spieler sind auf der ganzen Welt gleich. Hier muß man die Leidenschaft noch durch sechs dividieren, denn wenn sie Zehn Francs set362
zen, dann sind es nur eine Mark und fünfzig, und so was stört sehr. Auch ist heute die Flucht in die Romantik des Spieles minder groß als damals, als dein Papa und deine Mama hierher mit dir ihre Hochzeitsreise machten: Heereslieferanten, Kriegsgewinnler, Börsenspieler, Inflationisten: es gibt heute so viele Monte Carlos! Viele Spielende tragen in Bücherchen ein, was die kleine Kugel zusammenkugelt – und es ist besonders lustig, die Damen über ihre Kurven gebeugt zu sehen; sie haben keinen Schimmer von Wahrscheinlichkeitsrechnung, richten sich aber streng nach ihr. Auf diese Weise erzielt die Bank ihren Umsatz. Die Fassade des Kasinos in Monte Carlo stammt von Granier, dem Erbauer der Pariser Oper. Diese Fassade sieht aus... „Herr Graf, was denken Sie von mir? Ich bin eine anständige Frau!“ – Komm mit mir in den kleine Pawilljoohn! – Mit schmetternder Faust und mit trocknem Pulver – Wigalaweia – „Ich war mit ihr im Chambre-Séparée, und sie hat mit ihren Diamanten meinen Namen in den Spiegel gekratzt“ – Valse Bleue und Amoureuse, und das von Zigeunern... – Spitzengeriesel und die Dessous und Frou-Frous – Wasmuths Hühneraugenringe in der Uhr – Eine Rokokoquadrille bei Hof – Ein Kuß ohne Schnurrbart ist überhaupt kein Kuß! – „Und sehn Sie wohl, darum ich bin: die Gigerlkönigin!“ – Der Herr Kommerzienrat strich sich die braunen Favoris und sah den Besucher ernst durch seinen goldenen Kneifer an – Ein Weib mit so einem Busen! – Ihr Hochzeitsdiner hatte vierundzwanzig Gänge – Ich will auch mal Viere lang fahren! – in Laque und Claque – Schenk ihr doch Dahns Kampf um Rom! – Die königlichen Herrschaften begaben sich mit den Majestäten elastischen Schrittes – „Donnerwetter, Donnerwetter, wir sind Kerle!“ – Ihre Tochter ist jetzt im Pensionat in Lausanne – Hier muß noch ein Pendant hin – Erst hat er sie verführt und dann...geschnürt, in Lackstiefeletten – „Eine Dame kann doch nicht Veloziped fahren!“ – Spitzentanz und Mondesglanz, und Grete findet ihren, sagen wir, Hans – so sieht die Fassade des Kasinos in Monte Carlo aus. Übrigens erinnert Monte Carlo (1880) stark an Deutschland (1923). Eine leise, kaum wahrnehmbare Wolke von Inflation zieht durch die Promenaden: in den Augen der Leute liegt ein sanft flackernder 363
Wahnsinn, die Menschen gehen in indifferentem Gleichgewicht einher, die Anziehungskraft der Erde funktioniert hier nicht recht, alles ist so anders, und man tut gut daran, seine Uhr festzuhalten. Gemeine Gesichter werden ungeniert dem Tageslicht präsentiert; armselige Hürchen spielen große Welt, und eine fette polnische Riesendame in tiefem Violett geht mit einem Mann einher, der aussieht wie Professor Makart und ebensolchen blonden Vollbart und solche weichen Hände hat... Hier trägt Europa seine alten Moden auf. Unten, am Meer, zerschießen sie Tauben; der kleine Grasplatz ist ganz besät von den weißen Flaumfederchen. Oben, auf dem Fels, liegt der Besitz des Mannes, für den sie alle an den Tischen arbeiten: das Palais des Fürsten von Monaco, zwei gekreuzte Nullen im schwarzroten Wappen, mit dem Spruch: „Passe ou Manque – Vive la Banque!“ Und das tut sie denn auch. Abends werden die Bürger in großen Autos nach ihren Hotels abgefahren, sie rollen durch die Nacht, sie sind müde, sie haben ein bißchen gewonnen und viel verloren und sind an der Riviera gewesen. Am Tage aber scheint über alles dies eine leuchtende Sache, die sie alle, alle gepachtet haben, für die sie sich bezahlen lassen, und derentwegen wir hierhergefahren sind: die Sonne. Während am Alexanderplatz, wo das schönste, weil treffendste Denkmal Berlins gestanden hat: die dicke Berolina, der Modder so hoch aufspritzt, daß die Fußgänger, wenn sie in die erleuchteten Autos hineinsehen, soziale Gefühle bekommen; während es in Kopenhagen in der Forhabningsholmsallee so friert, daß sich der lange Name der Straße vor Kälte zusammenzieht; während in Paris das Schnupfenwetter durch die Fensterritzen zieht und der Kamillentee hoch im Preise steigt; während die Eskimos ihre letzte Lebertranlampe anzünden und Knud Rasmussen lesen, um sich endlich über sich zu informieren –: währenddessen scheint an der Riviera die Sonne. Sie wärmt, sie strahlt; ich trage mich in Hellgrau und Marineblau und habe nur einen Sommerbauch; wenn ich jetzt noch jenen kleinen Schnurrbart hätte, von dem alle Männer glauben, sie glichen darin Adolphe Menjou, während sie in Wahrheit aussehen wie die Verbrecher – welch mondäner Lenz! Der Frühling, der lange Lulatsch, schwebt über die begrünten Hügel, der maître d’hôtel beginnt 364
zu knospen, das verhältnismäßig blaue Meer leuchtet, und sanft vor sich hin neppend, verdämmert im Sonnenglast die leuchtende Küste der Riviera. 1928
Marseille „Wenn das hier mal alles vorbei sein wird“, sagt einer der in Nordafrika gequälten französischen Strafgefangenen, die Albert Londres jetzt geschildert hat, „wenn das hier mal alles vorbei ist, und wenn wir erst wieder in Marseille auf dem Kai stehen, und wenn dann der Hauptmann Etienne und der Sergeant Flandrin mit dem Schiff ankommen, um ihre Mutter zu besuchen – dann tragen wir ihnen das Gepäck gratis und franco bis an den Bahnhof Saint-Charles! Was, Jungens?“ – Der Bahnhof Saint-Charles liegt im Norden der Stadt, von da ist es nicht mehr weit bis an das Herz von Marseille: an den Hafen. An einem Triumphbogen vorbei – der Triumphbogen der französischen Städte ist das Schillerdenkmal der deutschen – durch belaubte Straßen... Das Gewimmel ist nicht gar so bunt, wie man es sich vorgestellt haben mag. Noch im Jahre 1901 konnte ein französischer Reiseschriftsteller, André Hallays, von dem „turbulenten Nichtstun“ in Marseille sprechen – das ist anders geworden. Die Stadt hat wahrscheinlich viel von ihrer Buntheit der Menschen, aber nichts von ihrer malerischen Großartigkeit der Anlage verloren. In den Straßen klingelt die Elektrische, gehen und kommen die Leute, verkaufen kleine Buden Zuckerzeug und Zeitungen; wenn man morgens durch einen Spalt der Fensterläden hindurchsieht, unterscheidet sich das Ganze nicht gar sosehr von Görlitz. („Herr Panter! Dazu fahren Sie nach Marseille, um eine Ähnlichkeit mit Görlitz festzustellen?“ – „Lieber Freund, Sie ahnen gar nicht, wie sich die Welt überall gleicht!“) Allerdings: man sieht Kolonialsoldaten, mit einem weißen Tuch um den Helm geschlungen; man sieht Afrikaner im Burnus, dieser Toga des Südens – aber auf einer Elektrischen. Und dann ist da also der Hafen. 365
So träumt man. Das ist der erste Eindruck. Diese beängstigende Fülle der Häuser, die sich um ein breites Wasserbecken türmen, schmale, enge, fast drohende Häuser, immer eine Reihe über der andern, hügelig aufgebaut, rings um den Alten Hafen. In dem liegen Segelschiffe und Dampfer, nicht die ganz großen; die ruhen sich anderswo aus, im Bassin de la Joliette, hinter einem langen Molendamm, der sie vom Meere trennt. Der Schiffsverkehr hat erst zwei Drittel der Vorkriegszahl erreicht; er wird heute etwa 12000 Fahrzeuge mit rund 15 Millionen Tonnen jährlich betragen. Hier, im Alten Hafen, der bis zum Jahre 1844 der einzige Hafen der Stadt war, liegen die kleineren Schiffe. Die Hafengassen gehen alle fast bis unmittelbar ans Ufer, sie verlieren sich hügelan in einem engen südlichen Gewirr von Wäsche, die quer über die Straße gehängt ist, Salatkörben, Vogelkäfigen, Häuserwänden... Um von der Gestalt des Hafens einen Begriff zu bekommen, mag man etwa an das Alsterbecken in Hamburg denken, er ist kleiner. Wenn man vor ihm steht, schaut man links hoch oben die Basilika von Notre-Dame de la Garde, eine gleißend goldene Figur, die über die Stadt schützend blickt. (So grüßt über Paris Sacré-Coeur, das böse Menschen Sucré-Coeur nennen und von dem mir einst ein Pariser Universitätsprofessor sagte: „Wir wünschten, es grüßte uns da ein anderes Symbol herunter!“) – Und vorn, grade da, wo die letzten Fortifikationen das Becken vom offenen Meer trennen, erhebt sich der riesige Pont transbordeur, die Überladebrücke. Das ist ein feines Geflecht aus vielen Eisen- und Stahlstreifen, das man im Jahre 1905 erbaut hat: sie ist 52 m hoch, und oben gleitet eine große Schiene hin und her, an der durch zahlreiche Stahltrossen eine Fähre aufgehängt ist. Die Fähre schwebt über dem Wasser, so daß Ruderboote noch unter ihr passieren können, sie nimmt Wagen und Menschen auf, die vom einen Ufer zum andern herüberwollen. Ein Fahrstuhl führt hinauf. Oben gibt es einen überwältigenden Rundblick. Ich für mein Teil hasse Aussichtstürme, und es gibt kaum einen, um den ich nicht schon einen großen Bogen geschlagen hätte. Aber dies hier ist doch ein ander Ding.
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Da liegt ganz Marseille – viel größer, als man es sich von einer Stadt mit einer halben Million Einwohner gedacht hat; über die Hügel verstreut, von Baumgruppen unterbrochen, klettern die Häuser vom Rand des Meeres bis auf die entfernten Berge. Die Alte Kathedrale hebt sich hervor, die Neue, Gassen und Gäßchen. Man kann auf die befestigten Inseln sehen, wo schwarze Soldaten Wache halten, ein Militärgärtner hat auf einer einen bunten Stern im Rasen angelegt. Vom Meere her kommt ein frischer Wind herüber. Ein leises Geräusch unter den Füßen läßt aufmerken: das ist die Gleitschiene der Fähre, die unten, winzig, mit einem Automobil befrachtet, über das Wasser gleitet. Durch die Bohlen kann man grade hinuntersehen; das Wasser ist grünlichblau. Gegenüber setzt La Cannebière ein, die Hauptverkehrsstraße der Stadt. La Cannebière, die Sehnsucht der Franzosen in Nordafrika, La Cannebière, Pforte zu den Freuden und Vergnügungen des Heimatlandes, da beginnt Frankreich. Im Meere liegen Inseln, Forts und jenes berühmte Château d’If, auf dem der bändereiche Graf von Monte Christo gesessen oder nicht gesessen hat. Der neue Hafen ist zu sehen, viele große Dampfer liegen darin, und der Anfang der Promenade de la Corniche, einer gewundenen Straße auf den Felsen, am Meer entlang. Und dann ist es Abend, und nachdem ich in einem provenzalischen Restaurant, dessen Vorbau ganz von einer Plache verhüllt ist, die tiefen Geheimnisse der Bouillabaisse zu ergründen versucht habe, fahre ich hinaus aufs Meer. Die Küste leuchtet fahl, die ersten Lichter glimmen, ein Nebel verhüllt den nördlichen Teil der Stadt. So träumt man. Die Stadt droht von ihren Hügeln herab, schweigt, sieht den Reisenden, der von draußen kommt, stumm an. An der Küste, nach l’Estaque hinüber, kann man noch schwach die Viadukte der Pariser Strecke unterscheiden, da liegen die ersten, fast gebirgigen Vorstadtstraßen. Still ist es. Der Schiffer ruft einen Kameraden vom andern Boot an, sie sprechen etwas, das sich wie eine Mischung von Spanisch und Italienisch anhört mit vielen Vokalen: Provenzalisch. Dann kommt die Nacht, nur die Dächer glänzen noch herüber, der gewaltige Leib des Meeres atmet ruhig und gleichmäßig. In dem großen Spiegclsaal des „Alcazar“, dem größten Varieté der Stadt, drängen sich die Leute. Auffallend viel Männer, wenig Frauen. 367
Was Paris abgibt für die Provinztournee, feiert hier Triumphe – nie sah ich Pariser Publikum so dankbar und so aufmerksam. Clowns und eine Jüdin, die ihre Stimmlosigkeit für Diskretion ausgibt; Nachahmer der göttlichen Fratellinis und Marie Valente, eine Italienerin, die alles kann und alle hinreißt: sie tanzt, spielt sämtliche Instrumente, meckert und wirbelt über die Bühne, und ein Sturm erhebt sich, als sie abhüpft – „Bis! Bis!“ – Schlußmarsch, die Menschenwoge zerteilt sich, einige Bars halten noch offen. Dann wird es – zum ersten und einzigen Mal in vierundzwanzig Stunden – einigermaßen still auf den so geräuschvollen Straßen, auf denen jeder Chauffeur so viel hupt wie die ganze Place de l’Opéra in Paris nicht an einem Nachmittag – die großen Bäume der Rue de Rome rauschen leise. Morgen geht ein Zug an die Küste. 1924
Wer kennt Odenwald und Spessart? „Ich hab’mein Herz...“
Was ein richtiger Deutscher ist, so kennt der sein Italien und Sizilien und die Riviera und Schweden und Norwegen... aber ob er auch sein eigenes Land genau kennt, das steht noch sehr dahin. Wer ist schon einmal auf der Kurischen Nehrung gewesen? Wer kennt die naturerfüllte, menschenleere Struktur des böhmisch-bayrischen Waldes? Deutschland hat zwischen Holstein und Zugspitze mehr Schönheiten, als sich seine Schulweisheit träumen läßt. Was das Herz in Heidelberg anbetrifft, so haben wir davon genug gesungen, der Mensch besteht nicht nur aus dem Herzen allein, und drumherum ist es auch ganz schön. Von Heidelberg nach Nordosten zu gibt es viel zu sehen, noch mehr zu wandern und allerhand zu trinken. Das sieht nun so aus: Wer diese süddeutschen Waldgebirge im Auto bereisen will, was fast mühelos zu machen ist, der richte sich so ein, daß er hübsch langsam fahren kann, er wird sonst wenig Genuß von seiner Fahrt haben. Reisen ist eine Kunst – mit dem Auto zu reisen ist eine große Kunst.
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Wer Spessart und Odenwald aber zu Fuß durchwandern will, wird wahrscheinlich den größeren Genuß davontragen. Er wird drei Schönheiten in sich aufnehmen können: den Wald, den Wein und die kleinen Städte. Diese kleinen Städte – am Main und am Neckar – sind in jeder Jahreszeit schön, am schönsten aber im Herbst, wenn die Luft klar über den alten Dächern steht und die Architektur sich scharf gegen den hellen Himmel abhebt. Wundervoll, wie Fluß und Landschaft fast immer zusammenstehen, wie organisch so ein Städtchen um den Fluß herum und an ihm entlang gewachsen ist, so daß sich das breite Flußbett mühelos in das Bild einordnet. Selten nur stört ein Fabrikschornstein oder ein verständnislos angelegtes Gebäude den Gesamtaspekt, den man nicht: „malerisch“ nennen sollte, sondern: „natürlich“ – die Städtchen sind in diese Natur hineingewachsen, gehören ihr einfach an und bilden mit ihr ein Ganzes. So am Neckar, so die alten kleinen Orte am Main, die noch oft ihren alten Charakter voll bewahrt haben. Für sie alle gibt es nur einen einzigen Wink an den Reisenden: man laufe keinen echten oder eingebildeten „Sehenswürdigkeiten“ nach, sondern lasse die Musik dieser süddeutschen Landschaft auf sich wirken wie einen Orgelklang. Wer sich vor der Reise in ein paar Landschaften Dürers versenkt, tut vielleicht mehr für eine gute Vorbereitung als der emsige Geschichtsjäger mit dem Führer in der Hand; es gibt ja Reisende, bei denen man das Gefühl nicht los wird, daß sie nur ausziehen, um zu sehen, ob auch noch, alles da ist... Besonders der Norddeutsche wird diese Gegend lieben, weil sie so anders ist als seine Heimat; sie ist, fast möchte ich sagen, gelassen, menschliche Ansiedlungen sind der Natur nicht abgerungen, sondern ruhen friedfertig im Grünen; bei allem Fleiß der Bevölkerung ist etwas Leichtes in der Luft, die Sorgen wiegen, scheint’s, nicht so schwer, und jeder freut sich, daß er auf der Welt ist. Manchmal trifft man’s ganz idyllisch: Kloster Bronnbach ist wie eine Fermate an Stille, nicht einmal der nahe Eisenbahndamm kann uns stören, Klosterhof und berankte Mauer atmen Ruhe und Beschaulichkeit; es sind das jene Flecken, die in jedem Großstädter unweigerlich den Wunsch erwecken: hier sollte man... hier müßte man... Und dann geht man weiter. 369
Das süddeutsche, spielerische, farbenfrohe Barock ist hier überall zu finden – es knallt mitunter vor Buntheit wie ein bunter Bauernstrauß, ist aber fast immer in künstlerischer Zucht gebändigt. Nebeneinander liegen stets der alte Fachwerkbau der Bürger, der Zünfte, der Arbeitenden – und das feierlich-prunkhafte Barock der damals Herrschenden, der Bischöfe, der kleinen Fürsten. Es stimmt aber gut zusammen, weil dieses Bürgertum seinen Stolz nach oben gehabt hat, man sieht’s an der Architektur, die ja überall für den, der sehen kann, einen soziologischen Wertmesser ersten Grades darstellt. Oft liegt eine Burg über dem Ort, ihn beschirmend, beherrschend, für sich reklamierend – wer Zeit hat und vor der Reise ein bißchen gelesen hat, wird erkennen, wieviel deutsche Geschichte hier über das Land gefahren, gezogen, marschiert, gestürzt und getobt ist. Es ist auch etwas von ihr hängengeblieben, wie ja immer etwas zurückbleibt; man fühlt hier ungeheuer intensiv, was das ist: Deutschland. Man fühlt’s auch in den Wäldern. Hier herrscht der Laubwald vor, und wenn er auch nie mehr das werden kann, was. er nach den alten Jagdberichten einmal gewesen ist: ein Ort, strotzend von Getier, erfüllt vom Kreischen, Singen, Kriechen, Hüpfen und Röhren der Tiere, wenn unser Wald fast überall schon eine mäßig belebte und bewegte Holzkammer geworden ist, so atmet er doch sehr viel deutsche Luft. Der Spessart hat stellenweise noch den Charakter der alten Wildparks bewahrt, die einmal in ihm gewesen sind, auch laufen noch viele Wildsauen herum (aber fürchten Sie sich nicht, gnädige Frau, sie tun nichts; nur der einzelgehende Eber ist ein böser Bureauvorsteher des Waldes; wenn Ihnen aber eine dicke Mama mit ihren kugeligen Kindern über den Weg trudelt, bergen Sie sich nur getrost an der Brust Ihres Gemahls, dem zwar auch nicht ganz wohl dabei ist, der es aber doch nicht so zeigen darf...) – der Laubwald also herrscht vor, hügelig aufgebaut, mit hohen, weiten Wipfeln; manchmal, bei grauem Wetter, steht so eine dunkelgrüne Masse starr und still in der Luft, ruhend, unbeweglich... Es liegt ein musikalischer Friede auf den Waldschneisen, weite sonnenbetupfte Wege gibt es, über die irgendein kleines Tier hoppelt, dann ist es wieder ganz still, und wenn nicht gerade, was selten ist, ein Flieger über die hohen Bäume dahindonnert, dann können Sie die Zeit vergessen und, wenn Sie wollen, auch sich selbst. 370
Ja, und dann der Wein. Wer den Bocksbeutel gut kennt, dem werde ich nichts erzählen; wer ihn aber nicht gut kennt, der sei gewarnt. Er hat keine Blume, und man merkt ihm nicht so ohne weiteres an, was in ihm steckt – aber er hat’s in sich. Man trinke ihn möglichst auf den Weindörfern, und wenn die Zeit danach ist, versäume man niemals, den Most zu probieren (jeder verträgt davon ein Glas weniger, als er glaubt) – und auch den jungen Wein des Vorjahres trinke man, den es überall offen zu kaufen gibt. Der Wein ist kräftig, hart, eine richtige Männersache – für die mitwandernde Dame werden Sie, in den meisten Fällen, irgend etwas Nasses bestellen, aber nicht gerade Steinwein. Wenn Sie einen ganz besonders schönen und süffigen Wein gefunden haben, dann nehmen Sie sich ein paar Flaschen mit oder lassen Sie ihn sich nach Hause schicken, wohin er in dieser Qualität fast niemals dringt. Es ist keine Leierkastenpoesie in dieser Landschaft, und die dummen Kitschlieder haben im Grunde nichts mit dem Odenwald, nichts mit dem Spessart, nichts mit den süddeutschen Waldgebirgen zu tun. Wer zwischen dem Dreieck: Frankfurt-Würzburg-Heidelberg einmal langsam im Auto reist oder zu Fuß wandert, der hat an Wein, Städtchen und Wäldern ein Erlebnis, das ihn ins Mark Deutschlands führt, in jenes Deutschland, das der Deutsche nicht so gut kennt, wie es das verdient. 1928
Fahrt ins Glück Ich ziehe meinen Rolls-Suiza aus dem Bootsschuppen, prüfe die Propeller und reite ab. Der Landweg führt durchs Holsteinische, vorbei an dem Dörfchen Lütjenburg, wo im Jahre 1601 Jakob Wasa mit Georg dem Heizbaren die berühmte Schlacht bei Lütjenburg schlug, in der ihm sechs Pferde unter dem Leib... vorüber; Baumwipfel und kleine Kuppen grüßen – und da liegt Mütterchen Ostsee. Die Straße führt durch Hafkrug, Scharbeutz, Timmendorfer Strand. Wir sind im Herbst, und Villen, Hotels und Kurhäuser stehen leer; nur hier und da ragt noch ein Strandkorb mit Wimpeln und einer 371
Fahne; die Manikür-Fräulein sitzen gelangweilt vor den Frisiersalons in der Sonne und putzen sich selber die Nägel, um nicht aus der Übung zu kommen; Hunde lungern herum und schnüffeln in alten Zeitungen, lesen und heben ein Bein; die Ostsee ist eigentlich schon zugedeckt. Und je weiter ich komme, desto mehr blähe ich mich auf; ich nehme zusehends zu, vor Schadenfreude bekomme ich fast einen kleinen Bauch... Was tat der Marquis de Sade? Er röstete kleine Mädchen und bestreute sie mit gestoßenem jungem Mann? Das ist gar nichts. Ich – ich genieße eine Sommerfrische, die ich nicht zu genießen brauche. Meine wollüstige Phantasie bevölkert diese leeren Straßen und Häuser; es ist heiß, eng und staubig, alles ist besetzt, und die Wirte sind frech wie die Aasgeier, die nur noch aus Übermut fressen. „Ein einzelnes Zimmer geben wir nur an achtköpfige Familien ab –!“ Die Ostsee liegt faul da, wie ein alter Tümpel; sie stinkt widerwillig vor sich hin, das gefangene Raubtier, und die Leute sagen: „Nein, wie erfrischend es hier aber ist –!“ Eine Wolke von fataler Ausdünstung lagert über Scharbeutz, Timmendorfer Strand und Hafkrug; Teller rasseln, Hunde bellen, Kinder quäken, und ein Brei des Geredes ergießt sich über den Strand: „Geh doch ma rrüber, bei Rrröper – sach man, es wehr für uns!“ – „Nu sehn Sie sich bloß mal Frau Lahmers an, wie sie heut wieder aussieht! Wie macht die Frau das bloß?“ – “Kuck mal, ‘ne Judsche!“ – „Einen Umchain haben diese Goiten!“ – „Wer mir an meinen Strandkorb rankommt und will die schwarz-weiß-rote Flagge runterholen, den hau ich – na, das wär gelacht! Wir sind doch hier zur Erholung hier!“ – „Hab ich nötig, Schwarz-Rot-Gold aufzuziehen? Wir sind doch zur Erholung hier...!“ – „Hat er dich für heute abend hinbestellt? Würd ich nicht gehen... Elli, das kannst du nicht tun! Oder du nimmst mich mit!“ – „Das kommt ganz auf die Umstände an, gnäjjes Frollein!“ – „Auf welche Umstände, Herr Assessor? – „Nero! Nero! Komm mal her! Komm mal hierher! Komm mal hier mal her! Nero! Pfuit! Pfuiiiit! Kannst du nicht hören! Nero!“ – „Mama, Lilly schmeißt mit Popeln!“ – „Frau Doktor! Frau Doktoor! Sie haben Ihren Büstenhalter vergessen!“ – „Schrei doch nicht so!“ – „Na, meinste, man sieht das nicht, daß sie ein hat...?“ – „Mir ist die ganze Reise verleidet!“ – „Meines Erachtens nach beruht die Rettung Deutschlands wesentlich auf den Kolonien. Also, meine Herren, 372
England...“ – „Ein kleiner Kaffee zwei vierzig, ein Teelöffel achtzig, ein Glas Wasser fünfzig, ein Tasse dreißig, Kuchen haben Sie nicht gehabt, macht vierzig, zusammen...“ – „Donnerwetter, hat die Frau Formen – “ Und ich bin nicht dabei. „Mir ist die ganze Reise verleidet –!“ Mütter tosen, bei denen man sich aussuchen kann, ob sie zuwenig geliebt oder zuwenig geprügelt worden sind; die Zuckungen in Unordnung geratener Gebärmütter vergiften ganze Existenzen. Kinder heulen, Väter fluchen, die Hunde kneifen gleichfalls den Schwanz ein, und die Grundlage des Staates ist, woran kein Zweifel, die Familie. Jetzt bin ich aufgepumpt wie ein Ballon, das Gas der Gemeinheit erfüllt meine kleinsten Poren – ah, nicht dabei sein müssen, wenn sich diese Menschheit zwecks Erholung zu scheußlichen Klumpen zusammenballt wie vereinbaren Sie das Herr Panter mit Ihrer sozialen Gesinnung da erholen sich diese armen Leute so gut sie das können und Sie halt die Schnauze es gibt Flammri, der zittert vor Ekel über sich selbst auf dem Teller, alles ersauft in derselben Sauce, abends knallt eine dolle Nummer von Sekt an den Tischen der Réühniong und fließt derselbe in Strömen aus Schmerz über den Schmachfrieden von Versailles... weil sie sich am Morgen in die wehrlose Ostsee stippen, waschen sie sich nun überhaupt nicht mehr, wieso, wo wir doch morgens baden, Emmy, du bist ein Ferkel, es ist heiß, es ist staubig, es riecht nach Milch und kleinen Kindern und Pipi, es ist überhaupt so schön, wie es nur die Natur und der Bürger vereint zustande bringen – und ich bin nicht dabei. Hochkragige Fememörder mit Holzfressen, in deren kalten Augen eine stets parate Grausamkeit glitzert; sich erholende Buchhalterinnen für sechs Mark fünfzig den Tag zuzüglich Getränke; sie tragen eine Liebenswürdigkeit im Herzen, die nur für einen ausreicht – dem Rest gegenüber sind sie sauer und so unfreundlich... Manchmal ist es schön, allein zu sein. Manchmal ist es schön, keinem Verein anzugehören. Manchmal ist es schön, vorbeizufahren. Der Herbsttag ist blau, die hohen Bäume rauschen, und violett vor Schadenfreude passiere ich die sommerlichen Stätten der Lust, die nicht so groß sein kann wie meine, an ihr nicht teilnehmen zu müs373
sen. Falscher Nietzsche; der Kollektivismus; der typische bürgerliche Intellektuelle; eine Frechheit; im Namen der Arbeitsgemeinschaft der Reichsverbände Deutscher Ostseebäder-Vereine; der Pariser Jude Peter Panter; eine Geschmakkklosigkeit, antisemitische Äußerungen zu bringen; wo erholen Sie sich denn, Herr? wir lebhaft bedauern müssen, diesem Artikel in unserm Blatt die Aufnahme zu verweigern, das Nähere siehe unter Inserate; Sie haben eben keine Kinder; wo liegt eigentlich Scharbeutz? wir waren dieses Jahr in Zinnowitz, Gottseidank judenrein; wir waren dieses Jahr in Westerland, also wirklich ein sehr elegantes Publikum – versteh ich einfach nicht, was er hat – – der Herbsttag ist blau, die hohen Bäume rauschen, die Ostsee sächselt, und ich fahre selig durch die holsteinischen Wälder des Herbstes, hindurch, vorbei, vorüber. 1928
Auf der Reeperbahn nachts um halb eins Im „Grenzfaß“, da, wo Preußen an Hamburg stößt, gibt es morgens um halb fünf eine herrliche Hühnerbrühe, die guttut, und nun tanzen sie nicht mehr, nirgends – nun hat es sich ausgetanzt. In der „Finkenbude“ dürfen sie auch nicht schlafen – sie dürfen überhaupt nicht mehr in den früheren Logierhäusern schlafen, fast nirgends mehr – die Kommunalbehörden haben das aufgehoben, Gott weiß, warum. In der „Finkenbude“ (Finkenstraße) war, als wir eintraten, jener schnelle kühle Luftzug durch das Lokal geflitzt, der immer hindurchzuziehen pflegt, wenn Leute eintreten, die da nichts zu suchen haben – telegraphisch geht ein unhörbares Klingelzeichen durch den Raum: „Achtung! Polente!“ Und dann sehen die Leute so unbefangen drein, und die Kartenspieler spielen so eifrig und so harmlos, und alle sind so beschäftigt... Mit vielen „Hähäs“ setzte uns ein langer Berliner auseinander, daß er nun bald wieder Arbeit auf einem Schiff annehmen würde... „Denn, nicha, Herr Wachtmeister – schöne Aussicht hier – was?“ Der Mann redete glatten Unsinn zusammen – so verlegen war er. Gott weiß, was sie da kochten...
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Im chinesischen Restaurant sangen sie beim Tanzen, die ganze Belegschaft, einstimmig und brausend: „Gern hab ich die Fraun geküßt“ – eine kleine Blonde hatte eine Kehle aus Blech – es klang wie aus einer Kindertrompete. Südamerikaner tanzten da und Siamesen und Neger. Die lächelten, wenn die kleinen Mädchen kreischten: „Marsch, ins Bett; mein Schatz...“ Ich suchte, ob die Somali von Hagenbeck Vertreter entsandt hätten – aber so schön war hier niemand... Im „Hippodrom“ trabten die Pferde für zwanzig Pfennig, und wenn man eine Mark aufwendete, durfte man sie galoppieren lassen; der Stallmeister drehte sich unentwegt um sich selbst, als stände er auf einer rotierenden Scheibe, und wippte mit der Peitschenschnur, die er manchmal aufknallen ließ... Die Pferde hatten müde, traurige Augen, weil sie nachts hier unten, ein paar Kellerstufen unter dem Trottoirpegel, herumlaufen mußten, ohne jemals ans Ziel zu kommen... Es waren nicht nur Nachtbräute da, auch Tagesdamen und Familien mit Schwägerin, Tante und Großmama, denn es war Sonnabend. Da, an der Ecke, wollte uns der Portier hineinlocken – die Damen seien alle in Schwimmhosen, versicherte er. Aber das konnten wir uns gar nicht vorstellen... Und in der rechteckig gewinkelten kleinen Gasse, die auf beiden Seiten durch Tore abgeriegelt war, standen und latschten viele junge Leute; und vor dem Eingang, an der „Kleinen Freiheit“, stand ein Zettelverteiler von der Deutschen MitternachtsMission und sprach die jungen Leute an: Hier, in den Häusern mit den verschlossenen Fensterläden, hätten sie nichts zu suchen... „Was suchen Sie hier?“ stand auf seinen Traktaten. Um den Redner herum standen zwanzig Menschen, und wenn sie ihn angehört hatten, gingen sie alle, einer nach dem andern, durch das Tor. So leid es mir tut: Sankt Pauli ist sehr brav und fast gut bürgerlich geworden. Der stöhnende Trubel der Inflation ist dahin; und es gibt keine „Sailors“ mehr, die vier Monate auf dem Meer mit dem Schiffszwieback und den Ratten und dem Kapitän allein waren und vier salzige Monate lang keine Frau mehr gesehen hatten; und es gibt nicht mehr diese tobenden Nächte und nicht die bunten Verbrechen... Oder liegt es an uns, an unsern Augen –?
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Menschen sind romantisch. Gegenstände sind es nicht. Die Romantik liegt im Auge des Beschauers. Sieh die jungen Leute an, die da mit ihren Mädchen Sankt Pauli durchziehen – es ist ganz unleugbar, daß der Sport auch hier Wellen schlägt. Das sind neue Leute, unromantisch auch sie. Die älteren haben den Krieg gesehen, und alle die Inflation, und sie wundern sich so leicht nicht mehr. Bei aller Naivität: es wundert sie so leicht nichts mehr. Der Schauer vor dem „Laster“ ist dahin, und die Geheimnisse und vieles andere noch. Kühler sind die Augen, härter die Falten um den Mund, kälter und glatter die Gesichter. Die Polizeirapporte sind nüchterner – auch, weil es den Leuten etwas besser geht. Und es ist gut so. Denn ich wünschte, daß wir die Reeperbahn, nachts um halb eins, so ansehen, wie man gesellschaftliche Vorgänge jeder Art nun einmal ansehen soll: sachlich, kühl, möglichst unromantisch – klar. Mit den Geschlechtskrankheiten ist es erst besser geworden, seitdem man ohne Schauer, ohne dummes Grinsen, ohne moraltriefendes Gewäsch davon und darüber sprechen darf – das ist mühsam erkämpft worden, aber es hat genützt. Tausende sind so bewahrt worden – Hunderttausende leichter geheilt. So soll man auch soziologische Vorgänge: Prostitution, Arbeitslosigkeit von Angehörigen der Handelsmarine; Konzessionsentziehungen; Zwistigkeiten zwischen Leuten, die unter Polizeiaufsicht stehen, und der Polizei; Wohnungsnot; Alkoholkonsum; Vergnügungsbetrieb –: kurz, Sankt Pauli – so soll man auch dies sachlich betrachten. Man kommt weiter damit. (Und das ist mit dem Rationalismus nicht anders.) Längst bin ich aus Altona fort – ich stehe auf dem nächtlich leeren Gänsemarkt zu Hamburg und sehe eine kleine enge Gasse herunter, die brav und bieder geworden ist, seitdem sie die öffentlichen Häuser hier geschlossen haben. Niemand steht dort mehr in den Haustüren und winkt; wenn man herunterging, plapperte die ganze Gasse mit einem Male. „Na Kleiner! Komm! Dich kenn ich doch noch aus Honolulu!“ Ich war niemals in Honolulu... es muß eine Personenverwechslung vorliegen... In meinen Ohren klingt noch wirre Musik von der Reeperbahn, nachts um halb eins. 1927
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Reise in die kleine Stadt – „Nein, nicht gerade älter oder gebeugter, Vater, das ist es nicht. Sie ist anders geworden, ganz anders!“ Aus einem alten Stück
Schwerin – Sie brauchen nicht zu wissen, wo Schwerin liegt. Ich wüßte es auch nicht, wenn ich nicht vor acht Tagen eine Reise dorthin getan hätte, wissen Sie, eine jener kleinen Reisen, auf denen man restlos glücklich ist, weil die Dame neben einem blond und froh und jung ist, und wo noch das Hühnergegacker im Garten des Stationsvorstehers Spaß macht, weil es dazugehört und weil eben alles Vergnügen und Freude macht. Ja, also Schwerin. Schwerin liegt in Mecklenburg, oben in der Nähe der Ostsee, und es war früher eine kleine stille Residenz, früher, als der Großherzog von Mecklenburg dort noch im Schloß regierte. Ach, das war eine schöne Zeit! Der Großherzog fuhr aus und rollte in leichtem Wagen durch die Stadt: er fuhr zwischen großherzoglichen Hoflieferantenschildern und grüßenden Hoflieferantentöchtern schnell dahin, um die Stadt lag das flache Land unbeschreiblich idyllisch, fett und auf das ungerechteste verwaltet da – aber die liebe Sonne beschien das alles, und jedermann hatte seine Freude daran. Der deutsche Revolutionsersatz machte den Großherzog nun auch äußerlich zu dem, was er immer gewesen war: zu einem reichen Gutsbesitzer; aus dem Schloß ist ein Museum geworden, und Schwerin ist leer, still und verlassen. Kaum einen Wagen sieht man durch die Stadt fahren, keine Wache ruft mehr „Heraus!!“ – keine Polizisten hüten das Schloß – – aus. Vorbei. Wir bummeln durch die Stadt. Vor zehn Jahren war ich zum letzten Male hier. Ja, es ist noch dieselbe Stadt. Sie ist auch nicht älter geworden, nicht umgebaut oder ehrwürdiger – aber anders ist sie geworden, ganz anders. Und während wir so durch Schwerin gehen, muß ich an alle kleinen deutschen Städte denken, die ich in den letzten Jahren sah, und plötzlich fällt mir ein, wie sie sich allesamt verwandelt haben und warum sie sich verwandelt haben. Es sind gar keine kleinen Städte mehr. Früher hatte der Großstädter so eine Art mitleidiges Lächeln auf den Lippen, wenn er eine kleine Stadt bereiste. – „Was kostet das ganze Unternehmen?“ stand auf seinen Mie377
nen zu lesen. Er ließ sich herbei, das Städtchen zu besichtigen – sie hatten eine „richtige“ Elektrische, ganz wie die Erwachsenen, sie hatten eine Wasserleitung, wie die Großen, und wenn’s ganz nobel zuging, auch ein steinernes Theater. Aber im übrigen waren es doch brave Ackerbürger, für die die Welt weit, weit dahinten lag, und die das alles nichts anging... Es ist nicht müßig, den Unterschied von heute und damals festzustellen – man versteht schließlich sonst die Welt überhaupt nicht mehr. Heute sind die Leute in den kleinen Städten genauso gewitzt wie die in den großen und vielleicht noch gewitzter. Heute führen sie alle genau dieselben Gespräche wie die in den großen: das Zahlengespräch (es gibt kaum noch ein deutsches Gespräch, in dem keine Zahlen vorkommen) – und das Gespräch, wieviel jeder hat, wieviel jeder nicht hat und wo man dies und jenes bekommt... Heute sind viele Bauern unendlich reicher, unendlich fundierter, unendlich besser daran als die Großstädter, in deren Bereichen der hinter dem Pflug früher, scheu die Mütze drehend, zur Decke und an den Häusern entlang hochschaute... Der Sturm hatte – die dicken Stadmauern eingerissen, die ja früher auch noch da bestanden, wo man sie längst niedergelegt hatte. Heute haben sie ihr Kabarett und ihre Tanzdiele und ihren schlechten Sekt – Hallo! Heute wuchern sie und werden bewuchert, schieben und werden geschoben, ganz wie in Berlin, und ihr Pulsschlag zittert, wenn die Börsenzeiger ausschlagen... Gibt es überhaupt noch kleine Städte? In Norddeutschland kaum, in ganz Norddeutschland ist die kleine Stadt uniformiert: in allen herrscht der gleiche Lebensbetrieb (Leben kann man das kaum nennen) – in allen klafft der gleiche harte und unerbittliche Gegensatz zwischen oben und unten – in allen ist die gleiche stupende Unkenntnis von allem, was da im Ausland vor sich geht – das deutsche Weltbild ist zur Zeit ganz monoman. Frankreich ist der letzte Schuft der Welt (wie früher einmal das „krämerische England“, wie früher Italien, wie früher... die Deutschen brauchen immer einen, der an allem schuld ist) – „die Welt ist neidisch auf Deutschland, weil es gar so tüchtig und arbeitsam ist“ – und im übrigen: „Was kostet heute die Butter?“ – Sie kostet viel. Sie kostet so viel, weil alle kleinen Städte zusammen, weil ein ganzes Volk nicht einsieht, wie eben diese falsche und lärmende Betriebsamkeit das Unglück gebracht hat, wie sich die Mark und das Mark immer mehr verschlechtern, weil beide krank sind. 378
Der Wirt des Kurhauses bei Schwerin hebt zum Abschiedsgruß den Hut. Er hat uns bis zum letzten Pfennig ausgezogen, wir haben Koffer und Mäntel gerettet und verlassen fluchtartig die Gegend. In der Stadt liegt der Pfaffenteich; er ist zugefroren, und die Leute gehen darüber hin. Sie sehen nicht vergnügt aus und haben kummervolle Gesichter. Sie rechnen... Durch alle Ritzen und Vorhänge schleicht es herein. Wir spielen „kleine Stadt“ und wollen vergessen, was draußen ist. Aber es ist aus damit – die kleine Stadt sperrt sich und gibt knapp die Kulissen her. (Und auch die nur gegen hohe Leihgebühr.) Früher sprangst du wohl aus der Zeit – Heute ist 1923 überall. Welch ein Jahr! Und es bleibt dir nichts übrig, als dich in der kleinen Stadt und in einem kleinen Land damit zu trösten, daß hinterm Berg auch noch Leute wohnen, sie zu grüßen, wenn sie reinen Herzens, und ihnen über die Grenzpfähle die Hand zu drücken, wenn sie deine Geistes- und Gesinnungsfreunde sind. 1923
Kleine Station „–’menau!“ rufen die Schaffner, „–’menau!“ Mit dem Ton auf der letzten Silbe. Wir sehen hinaus. Da rauschen ein paar Bäume, der Stationsvorsteher hat sich Sonnenblumen gezogen, die aus der Zeit herrühren, wo er noch nicht Fahrdienstleiter hieß, da steht „Männer“ dran und da „Frauen“, und für die Zwitter ist auch noch ein Güterschuppen da. Die Lokomotive atmet. Niemand steigt aus. Niemand steigt ein. Aber hier ist: Aufenthalt. Von „ –‘menau“ ist nichts zu sehen, das liegt wohl hinter den Bäumen. Doch, hier ist ein kleines Stückchen Straße, wenn nicht alles täuscht: die Bahnhofsstraße, maßlos häßlich, hoffen wir, daß es da hinten hübscher aussieht. Sicherlich tut es das. Da steht ein Schillerdenkmal (1887) und ein Kriegerdenkmal – nein, zwei: eins von dunnemals und eins von heute, eins mit einer Zuckerjungfrau und eins mit einem Stahlhelmmann. Eine Kaiser-WilhelmStraße ist da, und die lange Chaussee trägt den Namen der nächsten 379
großen Stadt. Die Kirche ist aus romanischem Stil und das Postamt aus Backsteinen. Einer ist der reichste Mann von „–’menau“ – einer muß doch der Reichste sein. Er ist viel in der Stadt und weilt nicht oft im Orte, wie das Blättchen schreibt. Am Stammtisch sorgen der Amtsrichter, der, ach Gottchen, Referendar, der Apotheker und der Postinspektor für die Aufrechterhaltung der Republik, wie sie sie auffassen. Manchmal darf da auch der Redakteur sein Bier trinken. Wenn Markt ist, schwitzen dicke Bauerngesäße in der Kneipe, alles ist voller Dunst und Rauch und Geschrei. Der Lehrer hat ein bißchen die Tuberkulose, aber das macht nichts: im Sommer fällt ohnehin der Unterricht so oft aus, wie der Gutsbesitzer die Kinder zur Feldarbeit braucht. Es ist ein Arzt da, der viele Kinder hat, merkwürdig. Am Marktplatz wohnt Fräulein Grippenberg, sie spielt Klavier; wenn nachts der Mond geschienen hat, singt sie am nächsten Tage, die Hunde haben das nicht gern. Ein Polizeibureau ist da, worin es grob und säuerlich riecht; der amtierende Polizist hat hervorstehende Augenbrauen, fast kleine Buschen; er war aktiver Wachtmeister, seine Einjährigen hatten nichts zu lachen, aber er hatte was. Wo die Liebespaare wohl hingehen? Wahrscheinlich in die Felder. Die Gemeinde zählt 1245 Seelen, da heißt es fleißig sein; der Kaiser braucht Soldaten... ach nein! Ja doch. Telephonieren kann man beim Doktor, sonst im Gasthaus, aber da ist das Telephon kaputt. Auf einem brachliegenden Felde in der Gemarkung VIII des Kätners Römmelhagen steht ein Runenstein. Schadt nichts, laß ihn stehen. Möchte man hier leben –? Auf dich haben sie nicht gewartet; sie haben ihre Schicksale, sterben, saufen, handeln, lassen Grundstückseintragungen vornehmen, prügeln ihre Kinder, stecken der Großmama Kuchenkrümel in den Mund und verzweifeln – höchst selten – an der Welt. „–’menau!“ Ja, und dann fahren wir wieder. 1926
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Der Markt des Schweigens Er liegt im Nordosten von London: Sie fahren mit der gut gelüfteten Untergrundbahn hin, das ist am billigsten. Wenn Sie oben sind, ein Stückchen rechts... und noch ein Stückchen rechts... und da, wo der Schutzmann steht, ist der Markt, der Caledonian Market. Auf einem großen eingezäunten Platz stehen die Händler, vor sich die Ware meist auf die Erde gebreitet, auf Tücher oder auch auf kleinen Tischen. Was es da gibt –? Bitte, fragen Sie, was es nicht gibt. Es gibt: Silberwaren, versilberte Alfenid, verzinktes Silber, garantiert echtes Silber, gestempeltes Silber. Großvaterstühle, Nachtstühle, gewöhnliche Stühle. Neue Gebisse. Ganz leicht gebrauchte Gebisse. Kinderwagen-Ersatz-Räder. Alte Stiefel sowie ein Bild des Generals Kitchener. Noch viel mehr alte Stiefel. Eingeweide von Sofas. Schauerliches Nippes aus Original-Kitschwood. Ein lebendiger kleiner Junge steht in einem überlebensgroßen Goldrahmen: Man weiß nicht genau, wer von beiden zu verkaufen ist. Delfthundchen. Nachttöpfe. Ein Quadratkilometer Bücher. Schnürsenkel sowie Bonbons und Limonaden – merkwürdig, daß alle billigen Dinge auf der Welt so schreiende Farben haben! Wenn man die geradegezogenen Gänge alle herauf- und heruntergehen wollte: diese Meilen zu bewältigen, würde Stunden dauern. Es hört nie auf. Diese Kleinhändler kaufen unter anderem alten Hausrat auf, ich sehe sie auf den Boden gehen und mit einem mißmutig-prüfenden Blick das ganze Gerümpel überblicken. „Drei Pfund“, sagen sie. Wenn ich sie aber frage, was der alte Zinnkrug da kosten soll, dann loben und preisen sie ihn, streicheln ihn mit den Blicken und sagen: „Beautiful, indeed!“ Und er kostet siebzehn Schillinge, gut und gern. Aber das ist nun auch alles, was sie sagen. Sie strampeln nicht, sie preisen nicht übermäßig an – es ist der leiseste Markt, den ich jemals getroffen habe. Manchmal hörst du einen Ausrufer, er ruft seine Worte aber mehr für seine Waren und über seine Waren aus, damit die wissen, was sie wert sind – um die Käufer kümmert er sich scheinbar gar nicht. Manchmal ein Grammophon. Horch! 381
„And the Germans say: Ja – ja! and the Frenchmen...“ Leise schieben sich die Leute an den aufgehäuften Waren vorbei – es ist fast nichts zu hören, welch ein leises Volk! Falsch. Im Theater braust das Publikum, dieses dankbarste Theaterpublikum... fast hätte ich gesagt: Europas, aber England liegt nicht in Europa, das ist ein geographischer Irrtum. England liegt in England. Beim Boxen neulich, in Blackfriars Ring, welch ein Klamauk! Aber hier, auf dem Markt, da sind sie leise – man darf gar nicht an südländische Märkte denken – nicht an den Pariser Flohmarkt... hier ist es still, ganz still. Mich wundert, daß nicht an einem Stand Schweigen verkauft wird: ironisches Schweigen; lüsternes Schweigen; dummes Schweigen; beredtes Schweigen, noch wie neu – aber Schweigen wird nicht verkauft. Ob ich etwas gekauft habe –? Nein, ich habe nichts gekauft. Alles, was ich gesehen habe, fand ich mäßig und teuer. Seid ihr auch so mißtrauisch, wenn euch einer erzählt, er habe auf so einem Markt eine echte chinesische Vase, dreiundzwanzigste Kung-Dynastie nach Christi Geburt, gefunden, der Ochse, der Händler, habe das natürlich nicht gewußt, welches Kleinod...? Hier, sehen Sie mal an! Für vier Schilling! Hm. Margarete zeigte mir nachher ein Silberschälchen, das hatte sie da erstanden, für ein Butterbrot – dabei essen die Engländer doch gar keine Butterbrote. Margarete glaubt an ihre Silberschale und hält sie für Silber. Sie trägt einen kleinen Stempel auf dem Bauch, die Schale. Aber wer kennt sich in den englischen Gewichten aus –! Die Engländer haben für alles ihre eigenen Maße, und daß sie die Jahre nach Jahren rechnen, daß das englische Jahr nicht dreizehn und einen halben Monat hat, das ist ein großes Wunder. Die Schale war wohl vier Yard schwer und sollte eine Guinee kosten, was natürlich einundzwanzig Schilling bedeutet – es ist gar nicht so einfach mit dem englischen Leben. Dieser Markt findet sicherlich schon seit Wilhelm dem Eroberer statt. Alle besseren Sachen in England datieren aus dieser Zeit und werden infolgedessen auch nicht geändert. Und wenn man näher zusieht: auf diesem Markt, im Parlament und anderswo, dann stellt sich leise, ganz leise heraus, daß die meisten Dinge hier ihre endgül382
tige Form angenommen haben. Ändern sie sich –? Manchmal ändern sie sich auch. Aber sie ändern sich in England nie mit einem Ruck, sondern langsam, fast, ohne daß man es merkt – schweigend. Es wird gehandelt, daß es nur so raucht – schweigend. England hat die stillste Börse der Welt; kennen Sie das Gebrüll um die Pariser Börse? So ist die englische Börse nicht. Aber natürlich kann man nicht mit leeren Händen nach Hause kommen. Wie stände ich dann vor meinen Bekannten da?? Da habe ich denn etwas gekauft, was man in jedem Haushalt dringend gebraucht –: einen Londoner Souffleurkasten. Raten Sie, was ich gegeben habe! Die Hälfte. Er ist ein Prachtstück. Ich weiß nur noch nicht, was ich damit anfangen soll. Immerhin ist er eine schöne Erinnerung an den Caledonian-Markt. Anmerkung: Londoner Theater haben keine Souffleurkasten. 1931
Die beiden Flaschen In Wells... Nein, nicht in Wales – Wales ist, wenn er gut angezogen ist. In Wells... Auch nicht: well – das ist das, was die Engländer sagen, um erst einmal den nötigen Vorschlag des Satzes zu haben; denn hier fängt kein Mensch seinen Satz mit der Hauptsache an. Die Hauptsache steht im Nebensatz. Ich habe neulich in London einen jungen Herrn gefragt, ob hier, an dieser Stelle, wo auch er warte, der Omnibus 176 halte. Was sagte er? „I hope so“, sagte er. Ja wäre zu bestimmt gewesen, man kann nie wissen, vielleicht hält er nicht, und die englische Sprache, die so präzis sein kann, liebt die zierlichen Hintertüren, nur so als Notausgang, sie macht wohl selten von ihnen Gebrauch. Sie setzt aber gern hinzu, daß und wann es ganz ernst wird. „Was ist der Unterschied“, fragte neulich in einer Revue einer, „zwischen einem Schutzmann und einer jungen Dame? – Wenn der Schutzmann ,Halt’ sagt, dann meint er das auch.“ Also Wells. 383
Wells ist eine kleine süße Stadt im Somersetschen. Das kann man aber nicht sagen; man sagt wohl: im Hannoverschen – aber das heißt: in Sommerset. Wells hat eine schöne Kathedrale und so eine geruhige Luft...! Dabei ist die Stadt nicht traulich, sie ist brav und beinah modern und ordentlich, und alles stimmt, und es ist so nett da! Da spaziere ich also herum und sehe mir statt der Sehenswürdigkeiten die Schaufenster an, das sind so meine Sehenswürdigkeiten, man kann da immer eine Menge lernen. Bei einem Antiquar stand Glas im Fenster, und wenn Glas im Fenster steht... wie sagt ein altes berlinisches Couplet? „Wer Bildung hat, wird mir verstehn!“ Ich kaufe also in Gedanken alles Glas, was da steht – und schließlich sehe ich zwei dunkelgrüne, bauchige, lustige Flaschen. Sie haben ein metallnes Etikett um den Hals gehängt, alle beide, auf der einen steht: Whisky und auf der andern: Gin Gin ist ein entfernter Stiefzwilling von Genever – und was Whisky ist, weiß jeder bessere Herr. Und weil mein Whisky immer in diesen, langen Flaschen wohnt, in denen man ihn kauft, so beschloß ich, diese grüne Flasche, die, wie man sofort sehen konnte, mit Vornamen Emilie hieß, käuflich zu erwerben. Hinein. Die Engländer haben eine unsterbliche Seele und schrecklich unregelmäßige Verben. Ich sagte einen Spruch auf – wenn das mein englischer Lehrer gehört hätte, hätte er mich bestimmt hinter die Ohren gehauen. Aber der Verkäufer verstand mich, er sagte viel, was ich verstand, und noch einiges, was ich nicht verstand – diese Engländer haben manchmal so einen komischen Akzent, wie? Und nun begann der Handel. Sehr teuer war die Flasche nicht. („Was hast du gegeben? Mich interessiert das nämlich, ich habe nämlich meinem Mann auch so eine Flasche...“ – Sei doch mal still. Du immer mit deinen Zahlen!) Teuer war sie nicht. Aber, aber: Diese Whiskyflasche war nicht allein zu haben. Sie war ein Illing – man mußte die Gin-Flasche dazukaufen. „Warum?“ fragte ich den Mann. (Dies war der einzige ganz richtige 384
Satz, den ich in dieser Unterhaltung von mir gegeben habe.) Warum –? Und da gab der Mann mir eine Antwort, die so schön war, daß ich sie hier aufschreiben muß, eine Antwort, mit der man ungefähr halb England erklären kann, wenn es einen danach gelüstet. Man hätte denken können, er werde antworten: weil ich die andere nicht allein verkaufen kann. Oder: weil ich dann mehr verdiene. Oder: Diese beiden Flaschen und diese sechs Gläser und dieses Tablett bilden eine Garnitur... ich kann sie nicht auseinanderreißen. Nichts davon – Gläser und Tablett waren ja auch gar nicht da. Der Mann sagte: „Because they were always together.“ Weil sie zusammen waren. In dieser Antwort ist alles, was im Engländer ist: die unverrückbare Festigkeit, mit der Gefügtes stehenbleibt, bis es von selber einfällt, zum Beispiel: Because they were always together. Weil sie immer zusammen waren, sind sie denn auch noch heute zusammen: der Engländer und sein Cricket, jener für den Fremden völlig rätselhafte Vorgang, ein Mittelding zwischen Schachspiel und Religionsübung; zusammen sind der Mann und die Farbe seiner Universität; zusammen der Herr und der Frack, wenn es Abend wird; der Richter und seine Perücke; das Land und die Macht. Because they were always together. Und da ergriff mich ein Rühren, ich dachte, was geschehen könnte, wenn ich die Flasche Emilie von der Flasche Martha risse, wie Martha weinen würde, und daß ich das nicht alles verantworten könnte. Und da habe ich sie alle beide gekauft. Because they were always together. Möchte vielleicht jemand die andere Flasche haben –? 1931
Eine schöne Dänin „Daß die Leistungsfähigkeit der Kühe unter diesen Umständen sehr gering war“, stand in dem schönen Führer durch Dänemark, den man mir freundlicherweise im Außenministerium gegeben hatte, „ist selbstredend. Die durchschnittliche Milchleistung pro Kuh – “ Gut. 385
Wovon aber gar nichts in diesem Buche zu lesen war, das waren die Frauen des Landes. Nordische Frauen –! Was habt ihr doch für einen falschen Ruf! Da heißt es von der Französin, sie sei locker, kokett, der Liebe ergeben, und was weiß ich. Und ist doch das treueste Heimchen am Herd, daß sich denken läßt – es gibt keinen Frauenberuf in Frankreich – keinen! oh, ihr nordischen Schwestern – in dem das nicht zu spüren wäre. Ihr hingegen... Das ist ein weites Feld. Guten Tag, Kopenhagen! Wohlschmeckend schritten die jungen Damen dahin und guckten Esperanto und sprachen ihre Sprache. Wenn die Dänen das, was sie zu sagen haben, auf Schilder gedruckt dem Fremdling entgegenhielten, ließe es sich allenfalls erraten – so viel Plattdeutsch und Englisch verstehen wir auch bei Regenwetter. Zum Sprechen eignet sich die dänische Sprache weniger – sie zerschmilzt den Hiesigen auf der Zunge und eilt leichtsilbig dahin, und alles ist ein einziges Wort, und es ist sehr schwer. Und wenn man also im „Fiske-Restaurant“ gar nichts sagt, bekommt man zu viel zu essen, und wenn man etwas sagt, erstickt man in kalten und warmen Speisen; und ich glaube: wenn einer richtig Dänisch kann und etwas bestellt, dann bekommt er den Wirt in Gelee. Gott segne die dänischen Kalorien. Ja, die Frauen... Ich war den ganzen Tag herumgelaufen und freute mich auf den Abend. Für den Abend hatte ich mir etwas ausgedacht. Da stand an einem Tanzlokal – soviel konnte ich lesen –, daß da also getanzt werden würde und daß da zwei Orchester spielten, und dann: INGEN PAUSER „Ingen“ – das war wohl die dänische Form für „Inge“ –, welch ein schöner Name! Ingen Pauser... Wie mochte sie aussehen? Lang, weiß, schlank, blond – mit einer Schnuppernase und fest im Fleisch. Ja, das wollten wir also wohl einmal sehen. Inzwischen war Lange Linie zu besichtigen und im Hafen herumzufahren, und es waren alle jene netten Überflüssigkeiten zu exekutieren, die im Führer stehen. Nach der vierten begann ich zu schwänzen... es war viel amüsanter, Klatsch zu hören und den Nebel, in dem die dänischen Berühmtheiten für uns dahinschreiten, sich zerteilen zu 386
sehen – und siehe da: da hatten sie hochgeschnürte kleine Provinzbusen und lispelten und schielten und waren dreimal geschieden, und ein Glitzerwerk von Ironiegeflitter ging über die Armen dahin, vor denen ich zu Hause, vor dem Bücherschrank, so eine große Hochachtung gehabt hatte. Richtig – Inge! Ich würde nach den ersten Formalitäten „Inge“ sagen – “Ingen“ das ist nichts. Wenn sie einen Funken Nettigkeit im Leibe hat, besitzt sie eine Tante auf Jütland. Wir wollen nach Jütland fahren – in Kopenhagen ist sie vielleicht zu bekannt. In Jütland soll eine kleine Stadt dastehen mit einem Backsteinkirchturm und abendlich erdunkelnden Bäumen auf dem Marktplatz... Vor dem Schlafengehen spazieren wir ein bißchen durch die Sträßchen und Straßen und dann einen Feldweg entlang, und Inge erzählt von ihrer Schwester, die in Amerika lebt, und von einer Reise nach London – dann blinzelt der erste Stern herunter, und dann sagen wir gar nichts mehr... Ja, sie kann Deutsch. Natürlich kann sie Deutsch. Sie spricht es auf diese entzückende Art, in der es hier viele Leute sprechen: lehrreich und bezaubernd falsch. „Soll ich das Essen heißen?“ – fragen sie, und – warum soll man das eigentlich nicht sagen? Wenn es „erwärmen“ gibt – warum soll es nicht „heißen geben? Und sie sagt mir: „Kopenhagen ist selbstfroh“, was wohl so etwas wie „mit sich zufrieden“ bedeutet – und es tut den Ohren und allen Sinnen wohl, Deutsch auf eine so neue und so überraschende Art zu hören. Es ist, wie wenn jemand die Sprache neu zu schaffen unternähme... Schmeckt ihr Kuß salzig? Das werden wir ja sehen. Das werden wir ja alles sehen – Das Gold auf dem Rathaus erglänzt im letzten Sonnenlicht. Aus den Schaufenstern der Kinos blicken geschmalzte Photographien auf die Straßen, und die Gesichter der Stars sehen süß und fett aus wie die dänischen Kuchen, und vor dem Tivoli steht ein Mann und singt ein Lied, das ich schon einmal gehört haben muß... „B.Z.“, sagt er – Und im Tivoli hängt in den Bäumen die Sehnsucht aller dänischen Matrosen, die gerade auf hoher See sind, „Tivoli“ denken sie, wenn sie in die Wanten klettern, und „Tivoli“ in den Kohlenbunkern und 387
„Tivoli“ auf dem Broadway... Und hoch oben, gegen den hohen blauen Abendhimmel, steht ein deutscher Artist im weißen Trikot, bereit, zu einem Looping abzuspringen: „Achtung!“ ruft er – und da lachen Leute vor einem Freilicht-Kino, und da kreischen sie auf der Rutschbahn... Und ich denke an Inge. Ingen Pauser – Und bei Vivel wedeln die Kellner ungeduldig mit den Servietten, und wenn jetzt der Oberkellner mit dem Finger winkt, dann ergießt sich aus dem doppelt geöffneten Tor eine ganze Heringsflottille hervor, man möchte ein Hering sein, nur um zu wissen, wie ein dänischer Magen von innen aussieht, es ist nicht vorstellbar. Jetzt aber ist es neun Uhr, und nun will ich zu Inge gehen. Ja, und wenn wir in der jütländischen Stadt angekommen sind, dann soll aus dem geöffneten Fenster der kleine Walzer „Always“ herausklingen, das denke ich mir besonders hübsch, und dabei wollen wir einschlafen. – – – Schade. „Ingen Pauser“ ist kein Name. Es heißt „Keine Pause“ – und pausenlos spielen die beiden Orchester in dem Tanzlokalchen, es ist gar keine Inge da, und auf leicht flach innen gesetzten Füßen stiefle ich ins Freie, sanft begossen vom Schein des Mondes und einer umsonst geliebten Liebe. 1927
1372 Fahrräder Ein Polizeipräsidium... das ist so ein muffiger Kasten mit langen Korridoren, mit unzählig vielen Türen, und alle Zimmer sind schlecht gelüftet, die Leute sind unfreundlich, und man ist froh, wenn man wieder draußen ist. Ausnahmen gibt es vielleicht. Eine Ausnahme gibt es sicher: das ist das Polizeipräsidium in Kopenhagen. Ein bezauberndes Stück Architektur. Ein Riesengebäude, das zwölfeinhalb Millionen Kronen gekostet hat; sauber, sachlich, einfach und praktisch. Es hat einen kreisrunden Hof, der zum schönsten gehört, was man sich denken kann. Wenn, wie man mir erzählt hat, der Geist der Verwaltung ebenso ist wie diese Architektur... glückliches Dänemark! 388
Und in diesem Polizeipräsidium haben sie unten im Erdgeschoß die verlorenen Fahrräder eingesperrt. Da hängen sie. Kopenhagen, wie männiglich bekannt, ist die Stadt der Fahrräder; es soll Kopenhagener geben, die keines besitzen, aber das glaube ich nicht. Wenn die Kinder anderswo zur Welt kommen, schreien sie – in Kopenhagen klingeln sie auf einer Fahrradklingel. So viele Fahrräder gibt es da. Im Polizeipräsidium hängen 1372 Fahrräder, alle mit dem Kopf nach unten, wenn das nicht ungesund ist! Alte und junge, fröhliche und traurige, auch die Kinderabteilung: da hängt ein kleiner „Roller“, mit dem die Kinder spielen, und drei Motorräder sind auch da. Alles das wird monatlich einmal verauktioniert. „Ja, holen sich denn die Leute ihre Räder nicht ab?“ – „Nein“, sagt der dicke Mann vom Präsidium, „viele nicht. Sie kaufen sich einfach ein neues. Ein Fahrrad, was ist denn das!“ In Kopenhagen scheint es den Wert eines Zahnstochers zu haben. Die langen Räume des Polizeipräsidiums, in denen die Fahrräder hängen, erinnern an einen Hundezwinger. Verlaufene Räder... ich rühre eines an, leise dreht sich das Vorderrad... wem gehörst du? Schade, daß Fahrräder nicht mit dem Schwanz wedeln können. So ein Rad bringt nachher auf der Auktion nicht viel ein, zwanzig Kronen etwa. Dafür kann man es schon wieder verlieren. Wenn man es aber nicht verliert, dann fährt man damit, und in Kopenhagen kann man sich für sein Fahrrad Luft kaufen. Wie bitte? Luft kaufen, ganz richtig. Der Fahrradmann geht an eine automatische Pumpe, wirft fünf Oere hinein und pumpt sein Rad voll. Das trinkt, und dann rollt es vergnügt weiter. So ein Land ist das. Da hängen sie alle. Alle an langen Gestellen, und sie sind doch so verschieden voneinander. Manche sehen zornig aus, manche heiter, manche schlafen. Man müßte Andersen bitten, hier einen Nachmittag lang herumzugehen – was gäbe das für ein hübsches Märchen! Ob Fahrräder lebendige Junge bekommen? Da hängen sie. Sauber und freundlich ist es, praktisch und vernünftig eingerichtet. Schade, daß in den Staaten der Welt nicht alles so gut funktioniert wie die Fundbureaux. Es wäre eine Freude, zu leben. 389
Hundert Meter weiter, im selben Haus, werden Menschen aufbewahrt: Untersuchungsgefangene. Und das sieht dann gleich anders aus. Mit 1372 Fahrrädern ist eben leichter fertig zu werden als mit vier lebendigen Menschen. Wenn Sie aber nach Kopenhagen kommen, dann versäumen Sie nicht, sich das Polizeipräsidium anzusehen. Man wird es Ihnen gern zeigen, und Sie werden an Paris denken müssen: an jene staubige Festung auf der Cité, wo geronnener Angstschweiß an den Wänden klebt und wo man Ihnen einen Unterricht in französischer Unhöflichkeit gibt, einer sehr seltenen Sache, daher wird sie den Fremden auch zuerst gezeigt. Ja, Kopenhagen... Ob Fahrräder schwimmen können? Es wäre ja denkbar, daß die 1372 eines Nachts ausbrächen, dann rollen sie mutterseelenallein durch die Stadt, an den Hafen, stürzen sich ins Wasser, durchschwimmen die See, von der ich nie lernen werde, wie sie heißt: Kattegat oder Großer Belt oder Kleiner Belt, und dann fahren sie dahin, nach dem Festland, wo sie gleich in eine politische Partei eingereiht werden. Am nächsten Morgen kommt der dicke Mann in den Fahrradzwinger, findet ihn leer und kratzt sich hinter den Ohren. Am Abend sind alle Fahrräder wieder da: es hat ihnen drüben nicht gefallen. Das kann man keinem verdenken. Grüß Gott, Kopenhagen...! 1932
Die „dummen“ Schweden Hier oben in Schweden habe ich etwas Merkwürdiges entdeckt. Nämlich:. Alle Deutschen sagen allgemein und überall: „Die dummen Schweden.“ Wußten Sie das? Ich auch nicht. Als ich dies zum ersten Male hörte, hielt ich es für einen Irrtum – den abseitigen Gedankengang eines Einzelgängers... aber nein! Viele Schweden haben mir das bestätigt: es sei eine Art schwedischer Volksmeinung, daß es ein deutscher Volksbrauch sei, von den 390
„dummen Schweden“ zu sprechen. Woher mag das nur kommen? In meinem Leben habe ich so etwas noch nicht gehört. Wir sagen: „Alter Schwede“, das ist schon ein bißchen altmodisch – aber das Wörterbuch von Sanders gibt hier mit Recht an: „alter Schwede, volkstümlich = alter Freund, ehrlicher Kerl“. Wir denken, wenn wir an Schweden denken, fast automatisch an: Streichhölzer; dann an gutes Essen; an Kälte und Schwedenpunsch; dann eine ganze Weile an gar nichts; dann an Stockholm... an ihren tennisspielenden König... hier lösen sich die Gedankenverbindungen auf; es kommt darauf an, wer denkt. Aber die gewöhnlichen Kollektivvorstellungen die Reaktionen, die auf den Zuruf des Reizwortes „Schweden“ erfolgen, können bei ehrlicher Selbstkontrolle keine anderen sein als diese da. Von geschichtlichen Erinnerungen sehe ich hierbei ab. Und nun ist eines zu beachten: Es gibt kein deutsches Normalgehirn, das bei dem Gedanken „Schweden“ andere als angenehme, freundliche, gute Gedanken hätte. Wir wissen gemeinhin nicht so sehr viel von den Schweden, nicht genug von ihrem Leben, von ihrer sozialen Struktur – wir wissen, daß sie eine sehr gute Sozialgesetzgebung haben: furchtbar viele Telephone; daß die Männer gute Sportsleute sind und der Frauentypus sehr schön ist... wenn wir nachdenken, wissen wir auch, was diese Nation im Kriege für Deutschland getan hat... wie sie während der Inflation deutsche Kinder unterstützt hat... nun werde ich fast feierlich. So ernst ist die Sache ja gar nicht. Kein diplomatischer Zwischenfall steht am Himmel – es ist alles in bester Ordnung... Wir wollen nur einmal nachsehen, wie mitten in Europa ein Volk vom anderen, ein paar Seestunden voneinander entfernt und nur eine Flugstunde – wie das solche Märchen glauben kann. Das ist natürlich eine ganz belanglose Geschichte. Die Schweden sind viel zu klug, um störend in die große Politik einzugreifen; sie sind froh, wenn man sie zufrieden läßt – und es ist ein schöner Friede, in dem sie leben. Auch hat diese kleine, falsche Idee niemals ernsthaft die Handelsbeziehungen oder sonstige Verbindungen der beiden Völker gestört, natürlich nicht. Ein Pickelchen... Aber solche Pickelchen können von bösartigen und interessierten Pfuschern zu Geschwüren herangezüchtet werden. Ich weiß schon: so entstehen keine Kriege. Kriege wer391
den viel mehr gemacht, als sie entstehen – wer da mit magischen Geschichten kommt, hat viel zu gewinnen im Kriege – und wenig zu verlieren. Es ist nur an dem, daß kleine, simple Irrtümer – wie dieser da – böse ausgebeutet werden können, so jemand ein Interesse daran hat, sie auszubeuten. Sie wissen ja, wie man gute Propaganda machen kann, wenn man die Vulgärvorstellungen über fremde Nationen in Rücksicht zieht. „Alle Franzosen sind Windbeutel.“ – „Spanier sind stolz“ (den ganzen Tag über). „Engländer reden mit keinem Menschen...“ und so in infinitum. Gewöhnlich sind diese Urteile falsche Verallgemeinerungen richtiger Beobachtung von Einzelzügen – ganz richtig sind sie niemals. Und woher das nur mit den „dummen Schweden“ kommen mag... Es widerspricht auch noch so ziemlich allem, was wir von den Schweden denken. Die gelten bei uns – rechtens – als durchaus gebildet, intelligent; dazu als schweigsam, wie die Leute aus dem Norden sein sollen (das ist aber nicht ganz richtig); alles, alles, was Sie nur wollen – nur nicht dumm. Gott weiß, wer das aufgebracht hat. Man kann auch in einem Kubikmillimeter die Beschaffenheit des Meerwassers erkennen. Man kann auch in so einem winzigen Wörtlein die internationalen Irrtümer erkennen, an denen Europa dann leidet, wenn sie große Ausmaße annehmen. Auf einmal ist so ein Wort da; niemand weiß, woher es kommt; jedermann sagt’s weiter – und dann sitzt es fest. Und eher holst du den Teufel aus der Hölle als dies Wort und diese Wahrheit, die niemals eine gewesen ist, aus den Gehirnen. Inzwischen wollen wir an Strindberg denken, der ja allerdings kein typischer Schwede gewesen ist, aber dennoch... an den großen Chemiker Berzelius, der einer gewesen ist – an die Lagerlöf; an so viele gute Stunden, die uns die schwedische Kunst bereitet hat, sowie an die herzerhebende Tatsache, daß die Schweden ihre Mahlzeiten mit Käse anfangen – und wollen sprechen: Die klugen Schweden. Die klugen Schweden. 1929
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Heimweh nach den großen Städten Manchmal, wenn ich der Ostsee den Rücken wende, der alten Frau, sehe ich in das schwedische Land Schonen hinein, die Ostsee plätschert, ich guck gar nicht hin. Denn wir sind verheiratet, seit... zig Jahren – wir kennen uns, lieben uns, haben uns ganz leicht über, gehen mitunter ein bißchen auseinander, betrügen um (ich sie mit der Nordsee, sie mich mit der Literatur auf Hiddensee – ) – vor mir liegt Schonen. Ein hübsches Land; hier, wo ich sitze und meins in die Schreibmaschine klappere, ist es leicht gewellt, gar nicht so „flach wie ein Eierkuchen...“ Manchmal wohnen da Menschen, aber es sind hierorts nicht viel; das Badepublikum setzt sich aus 6 (sechs) Häuptern zusammen. Meinst du, es wäre eine hübsche Frau dabei? Keine ist dabei. Aber so ist es immer. Und ich gucke auf die Hügel, einer heißt „Kleiner Stein“, einer heißt „Steinkopf“, wie soll man denn heißen, wenn man Hügel ist... Es gibt fett zu essen, alles ist prächtig und gut, sogar über den rationierten Alkohol wäre hinwegzukommen, wenn nur nicht einer den Schweden etwas von Kaffee erzählt hätte. Das ist schier unausdenkbar, was sie damit machen. Sie – Geh mal raus, ich trau mich gar nicht, das laut zu sagen – sie – Also: sie kochen den Kaffee, den lebendigen Kaffee kochen sie in Wasser! Als ich diese Prozedur zum ersten Male sah, erschrak ich bis ins innerste Gebein; sie kochten den Kaffee, wie man Aal kocht oder Wäsche, und ließen diese braune Sache eine Stunde lang auf dem Herd stehen. Dann kamen lebendige Menschen und tranken das, bitte, ich habe es selbst gesehen. Seitdem koche ich mir meinen Kaffee allein, aber die Bohnen müssen auf dem Meeresgrund gewachsen sein, es ist kein Kaffee... nun, lassen wir das. Wenn aber der harte Abend über den schwarzen Bäumen verdämmert, wenn das elektrische Licht rot glüht, wenn mein Nachtleben beginnt, das da heißt: Flaubert, Swift und was der Mensch so braucht, dann habe ich Sehnsucht, Sehnsucht nach den großen Städten. Da wühle ich ein bißchen in der Bücherkiste. „London“ liegt da; „London, Liebe zu einer Stadt“ von Wolf Zucker (erschienen bei Williams u. Co., Berlin-Grunewald). Ein hübsches Buch. 393
Ich kenne London nicht; in unermeßlicher Faulheit bin ich noch niemals hingemacht, also erfüllt das Buch seine Aufgabe, einem Unbefangenen den Eindruck einer Stadt zu geben. Dies ist nun Zuckern seine erste große Stadt; der Autor, den ich für ein beachtliches journalistisches Talent halte, hat sich natürlich prompt in sie verliebt, aber das ist schön, man sieht dann nämlich mehr. Nicht alles: aber er hat genau das geschildert, was er von seinem Standpunkt aus sehen konnte, und er hat nicht dazu gelogen. Das verdient angemerkt zu werden. Wahrscheinlich ist London tausendmal komplizierter, und wenn einer dort dreißig Jahre lebt, wird er vermutlich anfangen, die Stadt zu begreifen. Zucker gibt ein Mosaik kleiner Züge, die sich zu einem höchst bezaubernden Bild zusammensetzen; er zeigt vor allem etwas, das der Fremde am Engländer am wenigsten vermutet: die Gelokkertheit des englischen Charakters, sagen wir: des Londoners – das Natürliche, das Einfache, das Reibungslose. Durch das lesenswerte Buch geht eine reizende Melancholie, der Herr hätte sich in London einmal verlieben sollen, und das nicht nur in die Stadt; der Verfasser ist so schön allein mit sich und ganz London, und es glücken ihm oft subtile Formulierungen. (So, wenn er einmal von dem prachtvollen Jack Hylton sagt: „Dieses Singen, in dem es keine Arien und keine lauten Effektstellen gibt, das dahingesungen wird, einfach und doch unendlich abschattiert, wie das Klingen eines Kristalleuchters, der sich leise bewegt, weil im Nebenzimmer Musik gemacht wird, dieses Singen ist die Freude Londons.“) Und wußten Sie, daß der Londoner Rundfunk in seinem Programm eine Musik angesetzt hat, nur für die Leute, die in den photographischen Ateliers warten müssen! Ich wußte das nicht. Das Buch Zuckers ist wie ein Präludium zu... ja, wozu? Das werden wir hoffentlich noch sehen. Ein hübsches Buch. Ganz still ist es im Zimmer, still vor dem Haus, still in Schonen. Mein Trommelfell, auf dem soviel herumgetrommelt wird, ruht aus; die Luft schwingt nicht, kein Hund macht wuffwuff und baubau; keine Sängerin heult über den Tasten; mein Grammophon liegt bescheiden unter dem Bett und wedelt artig mit der Kurbel. Horch, die schöne Stille – 394
Und dann liegt in der Bücherkiste eine Bilderfibel, die haben sie mir hierhergeschickt: die heißt „Paris“, ist erschienen im AlbertusVerlag zu Berlin und enthält über 250 Photos jener einzigen Stadt. Und weil ich auf dem Boulevard des Italiens vor mich hinstolperte, sanft „Schweden! Schweden!“ murmelnd, blättere ich nun hier in diesem Buch und will, auch ohne die Unterschriften zu lesen, erkennen, was Herr Mario von Bucovich, der Berliner Photograph, da abgebildet hat. Er hat’s gut gemacht. Das alte Paris ist leicht zu fangen – das neue Paris, das lebende, lebendige Paris ist schwer zu fassen. Anschaulich sind alle Bilder; „malerisch“ leider einige; pariserisch die meisten, und verfehlt wohl keines. Nun hat freilich jeder von uns sein Paris, das ist wahr – und worin das allemal besteht, wird schwer zu ergründen sein. Das Album ist sozusagen neutral – jeder kann sich sein Paris heraussuchen. Es ist alles da – und wenn mich der Herr Photograph fragt, warum ich denn so ein Gesicht mache und was mir denn fehle, so kann ich’s ihm nicht sagen. Immerhin kann man diese Stadt nun aufblättern, und Anhaltspunkte zur Erinnerung wird man nicht vermissen. Freilich: „das“ – das kann man wohl nicht photographieren. Unter die Brücken hat er seinen Apparat gehalten, und Plätze hat er hergenommen und Spatzen und Versailles und immer wieder die Seine – und bei dieser Gelegenheit habe ich endlich gelernt, wie es im Schloß zu Fontainebleau aussieht, wo ich gewohnt habe. Aber wir alten Fontainebloher gehen nicht in das Schloß... und das erinnert mich daran, daß ich einmal einem alten Pariser den Eiffelturm gezeigt habe, er war noch nie oben gewesen, und vor lauter Freude kaufte er auf der Plattform eine Flasche Sekt, die ich brühwarm... die Erinnerung übermannt mich, lassen Sie mich einen Schluck Kaffee trinken. Und nun wird es noch schlimmer. Ja, ich blättere das Album von vorn nach hinten durch, es ist ganz still in der Stube, eine Libellentänzerin schwirrt um die Lampe, und ich muß mich besorgt fragen, in welchem Tanzbund sie organisiert ist… ich blättere. Die Brücken sehe ich und die Place des Vosges, die ich anders sehe; und die großen Plätze am Louvre und Passy, und hier ist dies gewesen und da jenes, und ich rieche die graue Luft der 395
Stadt und den Dunst und den scharfen Rauch – und die nassen Flächen auf dem glitschigen Asphalt sehe ich, man kann auch im Asphalt wurzeln. Alles, alles kann man entbehren. Die Literatur: schwer; den Whisky: schon schwerer; Lisa, Musch, Mara, Margot: am schwersten. Aber eines kann unsereiner nicht entbehren: die große Stadt, die abends die Lichter anzündet, die Stadt, wo man sich anonym in seine Bestandteile auflösen kann; wo so viele da sind, daß keiner mehr da ist, und wo zwar nichts wächst, aber wo es gekocht wird, alles miteinander. Schilt mir den Landmann nicht, er... ich weiß. Aber du, schilt mir die Städte nicht, die Chronometer der Zeit, Wasserstandszeiger und Dampfdruckmesser in einem. Schön ist es in Schweden; schön ist es auf dem Lande. Die Luft ist rein, mein Herz ist klein... Über ein kleines’ aber, und ich stehe auf dem Bahnhof, der Zug ruckt an, bald durchwühlen schwarze Zöllnerhände meine Koffer, und sie spielen: Europa, diese Herren aus der politischen Postkutschenzeit, und da sind die blauen Träger mit den Kappen, und ich bin zu Hause, zu Hause. 1928
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INHALT EIN MANN GIBT AUSKUNFT Autobiographie ................................................................................... 6 Drei Biographien ................................................................................ 6 Kurt Tucholsky................................................................................... 9 Wie würden Sie sich im Falle eines Krieges gegen die UdSSR verhalten..................................................................................... 10 Was würden Sie tun, wenn Sie die Macht hätten?............................ 10 Wir alle Fünf .................................................................................... 11 Start .................................................................................................. 13
SPIESSER; SPITZEN UND SATIREN Gesicht.............................................................................................. 18 Die Tür ............................................................................................. 19 Was soll er denn einmal werden –? .................................................. 21 Die Glaubenssätze der Bourgeoisie.................................................. 25 Der Kontrollierte .............................................................................. 29 Das Mitglied ..................................................................................... 30 Die Redensart ................................................................................... 32 Ratschläge für einen schlechten Redner........................................... 32 Zeitungsdeutsch und Briefstil........................................................... 35 Bilder aus dem Geschäftsleben......................................................... 38 Herr Wendriner telephoniert............................................................. 44 Persönlich ......................................................................................... 46 Das Menschliche .............................................................................. 47 Worauf man in Europa stolz ist ........................................................ 52 Werbekunst oder: Der Text unsrer Anzeigen ................................... 53 Der Mensch ...................................................................................... 56 Berliner Ballberichte ........................................................................ 58 Gespräch auf einem Diplomatenempfang ........................................ 62 Der Fall Mischewski contra Pimbusch ............................................. 66 Der Anhänger ................................................................................... 69 397
Die Unpolitische............................................................................... 71 „Manoli linksrum –!“ ....................................................................... 75 Hitler und Goethe ............................................................................. 78 An die Meinige ................................................................................. 81
MÄNNER; FRAUEN; LIEBE Der andre Mann................................................................................ 83 Sie, zu ihm ........................................................................................ 84 Die arme Frau ................................................................................... 85 Ballade.............................................................................................. 85 Warum mein Kontoauszug neulich einen Fehler hatte..................... 87 Frauen sind eitel, Männer? Nie –! .................................................... 89 Herr Wendriner betrügt seine Frau................................................... 92 Chef-Erotik ....................................................................................... 94 Wie man’s macht.............................................................................. 96 Nichts anzuziehen –! ........................................................................ 97 Lottchen beichtet 1 Geliebten........................................................... 98 An die Berlinerin ............................................................................ 101 Frühlingsvormittag ......................................................................... 102 Abends nach sechs.......................................................................... 104 Wenn die Igel in der Abendstunde ................................................. 107 Das Lied von der Gleichgültigkeit.................................................. 108 Sehnsucht nach der Sehnsucht........................................................ 110 Ehekrach ......................................................................................... 111 Danach............................................................................................ 112 Aus! ................................................................................................ 113
KUNST, LITERATUR UND EIN BISSCHEN POLITIK Der Mittler ...................................................................................... 116 Der Bär tanzt................................................................................... 122 Viel zu fein!.................................................................................... 128 Die Essayisten ................................................................................ 131 398
Rezept des Feuilletonisten .............................................................. 138 Was darf die Satire ......................................................................... 139 Übersetzer....................................................................................... 141 Titelmoden...................................................................................... 145 Die hochtrabenden Fremdwörter .................................................... 147 Der Untertan ................................................................................... 152 Der Streit um den Sergeanten Grischa ........................................... 157 Tollers Publikum ............................................................................ 166 Jakob Wassermann und sein Werk................................................. 171 Schwarz auf Weiß........................................................................... 174 Maximilian Harden......................................................................... 176 Dem Andenken Siegfried Jacobsohns ............................................ 181 Schrei nach Lichtenberg ................................................................. 182 Babbitt ............................................................................................ 185 Anatole France in Pantoffeln.......................................................... 192 An Lukianos ................................................................................... 195 Fratzen von Grosz........................................................................... 196 Heinrich Zille.................................................................................. 199 Einer aus Albi ................................................................................. 200 Massary und Roberts ..................................................................... 207 Chaplin in Kopenhagen .................................................................. 209
WEIMARER BILDERBOGEN Feind im Land Das Heil von außen ........................................................................ 214 Die Reichswehr .............................................................................. 215 Ist es denn nun wirklich wahr, was man hat vernommen –............ 216 Olle Kamellen?............................................................................... 217 Nebenan.......................................................................................... 218 Der Mann am Schlagzeug .............................................................. 220 Rosen auf den Weg gestreut ........................................................... 222
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Nie wieder Krieg! Drei Minuten Gehör ....................................................................... 223 Krieg dem Krieg ............................................................................. 225 Rote Melodie .................................................................................. 227 Der Graben ..................................................................................... 228 Vor Verdun..................................................................................... 230 Die brennende Lampe..................................................................... 236 Die Herren Eltern ........................................................................... 238 Deutsche Kinder in Paris ................................................................ 239 Justitia Justitia schwooft ............................................................................. 243 Die Tabelle ..................................................................................... 246 Deutsche Richtergeneration 1940................................................... 250 Gegen die Arbeiter? Allemal –! ..................................................... 251 Gebet für die Gefangenen............................................................... 255 Die lebendigen Toten ..................................................................... 257 Prozeß Harden ................................................................................ 263 Für Carl v. Ossietzky...................................................................... 274 Die Mordkommission..................................................................... 277 An den Botschafter der Vereinigten Staaten ist folgendes Schreiben abgegegangen.......................................................... 280 7,7 ................................................................................................... 281 Von deutscher Republik Was wäre, wenn…?........................................................................ 283 Heimgefunden ................................................................................ 290 400 000 Invaliden und 1 Gesunder................................................. 291 Vor und nach den Wahlen .............................................................. 292 Briefe an einen Fuchsmajor............................................................ 293 Brief an Herbert Ihering ................................................................. 304 Brief an Herrn A. Klemich, Halle................................................... 306 Opposition! Opposition!................................................................. 308 Sozialdemokratischer Parteitag ...................................................... 309 400
Fabel ............................................................................................... 310 Feldfrüchte...................................................................................... 312 An einen Bonzen ............................................................................ 313 Eines aber ....................................................................................... 314 Braut- und Sport-Unterricht ........................................................... 315 Brief an eine Katholikin ................................................................. 320 Es lebe die Revolution! Rußland .......................................................................................... 329 November-Umsturz ........................................................................ 330 Wohltätigkeit .................................................................................. 331 Arbeit für Arbeitslose ..................................................................... 332 Asyl für Obdachlose ....................................................................... 333 Fragen an eine Arbeiterfrau............................................................ 334 Warte nicht! .................................................................................... 335 Monolog mit Chören ...................................................................... 337 Deutschland erwache...................................................................... 338
HEIMWEH NACH DER GROSSEN STADT Die Kunst, falsch zu reisen ............................................................. 341 Das falsche Plakat von Paris........................................................... 344 Das menschliche Paris.................................................................... 348 Die Rue Mouffetard........................................................................ 352 Der 14. Juli ..................................................................................... 354 Park Monceau................................................................................. 358 Dank an Frankreich ........................................................................ 359 Riviera ............................................................................................ 361 Marseille ......................................................................................... 367 Wer kennt Odenwald und Spessart?............................................... 370 Fahrt ins Glück ............................................................................... 373 Auf der Reeperbahn nachts um halb eins ....................................... 376 Reise in die kleine Stadt ................................................................. 379 Kleine Station ................................................................................. 381 401
Der Markt des Schweigens ............................................................. 383 Die beiden Flaschen ....................................................................... 385 Eine schöne Dänin.......................................................................... 387 1372 Fahrräder................................................................................ 390 Die „dummen“ Schweden .............................................................. 392 Heimweh nach den großen Städten ................................................ 395
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