Draculas Eisleichen
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 126 von Jason Dark, erschienen am 10.09.1991, Titelbild: Steve ...
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Draculas Eisleichen
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 126 von Jason Dark, erschienen am 10.09.1991, Titelbild: Steve Crisp
Die Vampire lagen eingepackt im ewigen Eis der Arktis. Sie waren zu einer schlafenden Armee des Schreckens geworden, bewacht von Dracula II, der auf seine Stunde lauerte. Wir waren ebenfalls da. Alarmiert von Wladimir Golenkow, hatten wir den Weg in den Norden gefunden, um Draculas Eisleichen zu vernichten. Das wollte auch Cigam. Dieses magische Kunstgeschöpf des Teufels brachte als Helfer seine lebenden Leichen mit. Vampire gegen Zombies! Es wurde ein Kampf, wie wir ihn noch nie erlebt hatten.
Die Tür flog auf, der scharfe Wind fauchte in den Raum, und Mesrin schlug blitzschnell hintereinander mit beiden Händen auf seinen Schreibtisch, um die dort verteilten Unterlagen festzuhalten, damit sie vom Durchzug nicht weggeweht wurden. Dann knallte die Tür so heftig zu, daß es sich wie ein Schuß anhörte. Iljuk stand in der Baracke. Auf seiner gefütterten Jacke glänzten Schneekristalle. Er starrte auf den Ofen und beschwerte sich mit zitternder Stimme. Mesrin kannte ihn und ließ ihn nicht aus den Augen. So hatte er Iljuk, den Fischer, noch nicht gesehen. Klar, der Mann zitterte nicht nur wegen der Kälte, er hatte Angst. Sein breites Gesicht mit den Bartstoppeln sah grau aus. Die dunklen Pupillen bewegten sich unkontrolliert, es war ihnen unmöglich, sich auf einen Punkt zu konzentrieren. Iljuk trug eine wärmende Hose aus fingerdickem Stoff, die Kapuze der Jacke hatte er nach hinten geschoben. Mesrin blieb ruhig. Er war hier der Chef der kleinen Wetterstation. Ein Mann, der sich bewußt ans Eismeer hatte versetzen lassen, denn dieser Job wurde gut bezahlt. Mesrin brauchte Geld für seine beiden unehelichen Kinder. Natürlich wurde nicht nur das Wetter beobachtet. Hin und wieder nahm Mesrin auch bestimmte Meldungen und Funksprüche entgegen und leitete sie an den KGB weiter. Darin sah er nichts Unrechtes, er diente seinem Land gern, obwohl die UdSSR wirtschaftlich in großen Schwierigkeiten steckte und ein Mann wie Gorbi es verdammt schwer hatte, seinen Kurs durchzusetzen. Mesrin, weit vom Schuß, drückte ihm trotzdem beide Daumen. Er drehte sich auf seinem Stuhl und lächelte Iljuk an. »Was ist denn passiert, zum Teufel?« Der Fischer mußte zunächst tief Luft holen. »Sie müssen mitkommen. Sie müssen sich das ansehen.« In seiner Not siezte ihn der Mann sogar. »Was und wo?« »Am Strand, wo die Boote liegen. Da ist etwas angetrieben worden.« »Und was, bitte?« »Kommen Sie mit!« Iljuk wollte nicht näher darauf eingehen. »Schauen Sie es sich an.« Mesrin überlegte. Während er das tat, fuhr er langsam mit den Fingern durch seinen struppigen Bart, als wollte er nach einem bestimmten Ungeziefer suchen. Iljuk war kein Spinner. Wenn er sich dermaßen aufgeregt gab, mußte ihn schon etwas aus der Fassung gebracht haben. Der Schnee auf seiner Kleidung taute weg. Auf dem Boden bildeten sich kleine Pfützen. Mesrin gab aber auch zu, daß er kaum Zeit hatte. Er mußte einige Berechnungen durchführen. Seit dem Ende des Golfkrieges herrschte überall in den Wetterstationen höchste Alarmbereitschaft, weil von dort die Atmosphäre abgesucht und
untersucht wurde. Da mußten sich irgendwelche Spuren finden lassen. Der Wind würde den gesamten Druck über den Erdball verteilen, so jedenfalls lautete die Prognose der Wissenschaft. »Bitte, Mesrin, du mußt kommen! Du bist der Chef hier. Es ist nicht zu fassen.« »Ja, ist gut.« Der Mann hatte sich entschlossen. Er stand auf und grinste. »Dir kann man ja keine Bitte abschlagen, mein Junge. Ich werde die Sache mal genauer unter die Lupe nehmen.« »Danke.« Mesrin griff zur Jacke. Er hatte sie über einen Haken gehängt. Gemächlich schlüpfte er in die gefütterten Weichstiefel. Iljuks Nervosität nahm zu, er trat von einem Fuß auf den anderen und verdrehte dabei die Augen, ein Zeichen, daß es ihm nicht schnell genug ging. »Nur keine Hast«, sagte der Wissenschaftler und grifi nach der dunklen Brille. Die Ohrenschützer hatte er bereits über den Kopf gestülpt. »Das Etwas wird schon nicht verschwunden sein.« »Es wäre besser, wenn…« »Tatsächlich?« »Ja.« »Dann hätten wir aber keinen Beweis.« Mesrin tippte seinen Zeigefinger gegen Iljuks Brust. »Ist mir auch egal.« Der Fischer drehte sich um und öffnete die Tür. Er stemmte sich gegen den Wind, als er nach draußen ging. Hier oben im Nordwesten der UdSSR war es immer windig. Es gab einfach keine windstillen Tage. Im letzten Winter waren die gewaltigen Stürme ausgeblieben, und auch das Frühjahr hatte sich nicht so schlimm gegeben, obwohl es jetzt, Ende April, noch immer bitterkalt war. Der Schnee lag weiterhin dick und taute nur in der Sonne. Die mächtigen Eispanzer vor der Küste blieben sowieso. Es waren gewaltige Inseln aus Eis, die im grauen Wasser des Meeres dahertrieben. Die kleine Station lag in einer geschützten Talmulde. Mächtige Felsen deckten sie zum Hinterland hin ab. Es gab nur eine Straße, die hatte man in das Gestein sprengen müssen. Einige Kilometer weiter wurde es dann besser, da war das Land flach, sogar bewaldet, wobei der Wald in Richtung Süden immer dichter wurde. Um mobil zu sein, standen den Männern schwere Fahrzeuge zur Verfügung. Aber auch Hundeschlitten gehörten zur Ausrüstung, und das Bellen der Zugtiere war eine ständige Begleitmusik, die über dem schmalen Landstrich in der kleinen Bucht schwebte. An diesem Tag war das Wetter sogar gut. Zwar wehte der Wind, aber er hatte es auch geschafft, die dicken, grauen Wolken des letzten Tages zu vertreiben. Hoch über den Männern präsentierte er sich in einem nahezu strahlenden Blau, nur ab und zu unterbrochen von weißen Wolkentupfern.
Sie gingen über den matschigen Schnee. Weiter vorn, zum Strand hin, bildete er noch eine fast weiße Fläche, gegen die das Sonnenlicht schien, das reflektiert wurde und deshalb so blendete. Ohne dunkle Brille konnte sich hier kaum jemand bewegen. Mesrin kannte den Weg zum kleinen Naturhafen zwar, er ließ den Fischer trotzdem vorgehen und wunderte sich hörbar darüber, daß Iljuk einen anderen Weg einschlug. »Wir gehen nicht zum Hafen. Ich habe die Entdeckung woanders gemacht. Außerhalb.« »Wie weit weg?« »Nicht sehr weit. Wir können auf einen Wagen gut und gern verzichten. Es wird schon gehen.« »Wenn du meinst.« Die Mehrzahl der Fischer befand sich auf dem Wasser. Einen solchen Tag nutzten sie aus. Da waren die Netze meistens voll, wenn sie zurückkehrten. Die Ware wurde verkauft, wenn auch auf beschwerlichen Wegen, denn es mußten immer wieder schwere Lastwagen kommen, um sie abzuholen. Wirtschaftlich lohnte es sich nicht, aber wer dachte in diesem Land schon darüber nach, in dem der Begriff Markwirtschaft noch fast ein Fremdwort war? Die beiden Männer hatten den Bereich der Station kaum verlassen, als sie von der Einsamkeit umschlungen wurden. Der Schnee bildete kleine Hügel, wenn der Wind ihn gegen die rohen Felswände geschleudert hatte. An manchen Stellen war er sehr tief. Seine vereiste Oberfläche knirschte, wenn sie den Druck der Stiefelsohlen spürte. Sie gingen dem Meer entgegen. Mesrin hatte seine Hände in die Taschen der gefütterten Jacke gesteckt, hielt beim Gehen den Kopf gesenkt, schaute aber hin und wieder auf und ließ seine Blicke über den Strand hinweg bis auf die Wasserfläche gleiten, die so breit und irgendwie unendlich erscheinend vor ihm lag. Ein ewiges, wogendes Grau, ein Auf und Ab ungezügelter Massen, die in scharfen Wellen gegen den Strand liefen, oft genug schaumige Kämme bildeten, von aus dem Wasser schauenden Felsen manchmal gebrochen wurden, aber dennoch soviel Kraft besaßen, daß sie donnernd gegen die felsige Küste krachten und als lange Gischtschlangen in die Höhe stiegen, als wollten sie einen gespenstischen Umhang aus Wassertropfen bilden. Das Land war rauh, wild, nur die härtesten Männer konnten hier bestehen, ohne irgendwann einmal Amok zu laufen. Mesrin dachte daran, daß in drei Monaten sein Urlaub begann, der ein halbes Jahr dauern würde. Dann wollte er in den warmen Süden. In Strandnähe war die Schneedecke dünner. An manchen Stellen trat der blanke Fels hervor, doch auch er war oft genug von einer dünnen
Eisschicht bedeckt, so daß die Männer achtgeben mußten, um nicht noch auszurutschen. In den kurzen Sommermonaten taute ein Teil des Schnees weg. Wie aus dem Nichts tauchte dann ein Stück Natur auf, und dünne grüne Pflanzen bedeckten den Boden. Zumeist nur Moose und farnähnliche Gewächse, die im Herbst wieder verschwanden. Wenn sie sich jetzt unterhalten wollten, mußten sie laut schreien, denn das Donnern der Brandung gegen den grauen Fels übertönte alle anderen Geräusche. Iljuk verständigte sich auch mehr durch Zeichen. Des öfteren deutete er nach vorn. »Wo denn genau?« schrie Mesrin. »Mehr nach rechts. Es klemmt in einer Felsspalte.« »Und was ist es, verdammt?« »Eine Eisscholle.« Mesrin blieb stehen. Er glaubte, sich verhört zu haben und legte eine Hand an sein geschütztes Ohr. »Noch mal. Was ist das?« Iljuk kam näher. Er bewegte seine Hände dabei und redete lauter. Mesrin preßte die Lippen zusammen. Er wußte nicht, ob er den Fischer ausschimpfen oder einfach nur weglaufen sollte. Er fühlte sich auf den Arm genommen, einfach hintergangen, denn für eine angetriebene Eisscholle hätte er die Station nicht zu verlassen brauchen. So etwas kam jeden Tag vor. Darum kümmerte sich niemand. Iljuk merkte, was in dem Mann vorging. Er redete jetzt schnell und sprach auch davon, daß es keine normale Eisscholle war. »Was dann?« »Das wirst du sehen.« Mesrin hob drohend einen Finger. »Ja, das will ich auch sehen. Und gnade dir Gott, wenn du mich angelogen hast. Dann binde ich dich auf die Eisscholle.« »Keine Sorge. Dazu wird es nicht kommen.« Der Fischer sprach bereits über die Schulter hinweg, weil er es eilig hatte und schnell weiterging. Mesrin blieb ihm auf den Fersen. Er mußte sich jetzt auf den Weg noch stärker konzentrieren, das die grauen Felsen manchmal aus dem Boden schauten wie Hände, die im nächsten Augenblick zupacken wollten. Sie gingen ziemlich nah am Wasser entlang, ohne daß es sie allerdings erreichte. Der kalte Vorhang aus Gischt wehte ihnen von der linken Seite her entgegen. Sie hatten das Gefühl, von Eiskörnern beworfen zu werden. Über eine Barriere aus Stein, Eis und Schnee kletterte der Fischer hinweg, sprang anschließend in eine kleine Mulde hinein und versank dort bis zu den Waden im Schnee, der unter dem Druck knisterte wie Glanzpapier.
Daß der Mann schon einmal hier gewesen war, erkannte Mesrin an den Spuren, die noch mehr nach links führten und dabei direkt auf das Wasser zu. Es schmatzte und gurgelte heran. Mesrin kam es vor wie die lange Zunge eines Ungeheuers, das nach Beute suchte, um sie vor dem Verschlingen noch zu umfassen. Es war grau, schaumig und dabei eisig kalt. Wer von ihm in die See hineingerissen wurde, hatte keine Chance mehr, am Leben zu bleiben. Beide Männer hatten schon Leichen erlebt, die wie steife Bretter an Land geschwemmt worden waren, und mit etwas Ähnlichem rechnete Mesrin auch jetzt. Manchmal leistete sich die Natur gewisse Extras. So war es auch hier. Eine sehr enge Bucht schnitt wie ein Kanal in die felsige Landschaft hinein, die sich unterschiedlich hoch präsentierte und manchmal gezackt war wie der Rücken eines geflügelten Urtieres. Was nicht schmal genug war und hineingetrieben wurde, mußte einfach festklemmen. Wie die Eisscholle! Sie war hineingetrieben worden und hatte sich so raffiniert verdreht, daß das nachströmende Wasser sie nicht mehr aus dem Gefängnis zu zerren vermochte. Zwar spülten noch auslaufende Reste über das Eis hinweg, doch sie brachten es nicht fertig, die Scholle anzuheben und wieder dem Meer zu übergeben. Auf einer schmalen, nassen, aber nicht vereisten Kante war Iljuk stehengeblieben. Er hielt den Arm ausgestreckt und den Finger gleichzeitig gesenkt, so daß er direkt auf die eingeklemmte Scholle weisen konnte. »Das ist sie!« »Ich sehe es!« erwiderte Mesrin. Er war noch immer leicht sauer. »Scheint mir nichts Besonderes zu sein.« »Komm näher!« Die Stimme des Fischers zitterte leicht, und Mesrin ging den letzten Schritt. Neben seinem Begleiter blieb er stehen und hörte dessen Aufforderung. »Schau genau hin, Mesrin, und dann sag mir, was du siehst, verdammt!« Mesrin bückte sich etwas, um die Distanz zu verringern. Er hatte vorhin bereits den Schatten erkannt, der innerhalb der Eisscholle lag. Es war länglich, und wenn ihn nicht alles täuschte, handelte es sich bei der Gestalt um einen Menschen. Um einen eingefrorenen Mann… Über den Rücken des Betrachters rieselte eine Gänsehaut. Sie war noch kälter als das Wetter. Er preßte die Lippen zusammen und atmete scharf durch die Nase. »Nun?« »Das ist ein Mann.« »Und weiter?«
Mesrin hob die Schultern. »Er ist vom Eis umschlossen und ziemlich leicht bekleidet. Der sieht aus, als hätte er sich in wärmeren Regionen aufgehalten.« »Meine ich auch.« Mesrin fuhr durch seinen Bart. Die Haare waren kalt geworden und fühlten sich struppig an, das merkte er trotz der gefütterten Handschuhe. »Ist schon rätselhaft…« Iljuk lachte lauf auf. »Du hast ja noch nicht alles gesehen, Mesrin, noch nicht alles.« »Wieso?« »Dann tu dir selbst den Gefallen und schau mal genauer hin. Los, bück dich!« Iljuk erschrak über seinen eigenen Tonfall. So scharf hatte er noch nie mit dem Chef der Wetterstation gesprochen. Der nahm ihm den Ton nicht übel und ging vorsichtig in die Knie, als hätte er Angst davor auszurutschen. Die Eisscholle schimmerte graugrün. Sonnenstrahlen fielen durch einen glücklichen Zufall gegen sie und schafften es tatsächlich, sie durchsichtiger zu machen. »Das Gesicht, Mesrin, du mußt dich auf das verdammte Gesicht der Leiche konzentrieren.« »Ja, ja, keine Sorge.« Mesrin drehte sich etwas nach rechts, so daß der Kopf jetzt direkt in seinem Blickfeld lag. Zum Glück hatte der Tote eine rückwärtige Lage eingenommen, das Eis war zwar dick, in Höhe des Gesichts allerdings ziemlich klar, so daß Mesrin die Züge genau erkennen konnte. Es war bleich. Es war eigentlich alles bleich an dieser Gestalt. Die Stirn, die Wangen, das Kinn, die Ohren, selbst die Lippen hoben sich so gut wie nicht von der anderen Farbe ab. Eine Wasserleiche – oder? Nein, da war noch etwas, denn der Mund stand offen. Mesrin schaute schon sehr genau hin, um dies erkennen zu können, und er sah an beiden Seiten etwas schimmern. Es stach aus dem Oberkiefer hervor, war hell und besaß eine gelbliche Farbe. Aber auch spitz. So wie Zähne. Mesrin bekam einen trockenen Hals. Das… das waren keine normalen Zähne, denn diese hier sahen aus wie kleine Messer. Er kannte diese Zähne, obgleich er sie an diesem Tag zum erstenmal sah. Aber er hatte darüber gelesen. In den langen dunklen Nächten gab es für ihn kaum eine andere Beschäftigung, als sich durch dicke Bücher zu ackern, abgesehen von einigen Besäufnissen. Er hatte auch einen Roman von Bram Stoker gelesen, eingeschmuggelt aus dem Westen.
Dracula hieß die Geschichte. Sie drehte sich um Vampire, um Blutsauger. Und die Gestalt im Eis war ein Vampir! »Mein Gott!« flüsterte Mesrin nur. »Mein Gott…« *** Er blieb so starr hocken, als hätte man ihn selbst vereist. Über seinen Rücken rann der kalte Schauer der Furcht, im Magen spürte er den klumpigen Druck, und der Wind kam ihm plötzlich vor wie Säure, die in seine Augen biß. Ein Vampir im Eis. Eine Eisleiche, die nicht tot war. Denn er erinnerte sich daran, daß auch in der Dracula-Geschichte die angeblich Toten wieder zum Leben erwacht waren, um sich auf die Suche nach Menschenblut zu machen. Vampire ernährten sich nun mal vom Blut der Menschen. Aber der lag im Eis. Iljuk sprach mit ihm, aber er hörte nicht hin. Mesrin fühlte sich wie in einem Alptraum gefangen. Er besaß Instinkt, und dieser Instinkt sagte ihm, daß dieser Vampir echt war und keine Puppe, die man eingefroren hatte. Ein Vampir im Eis! Grauenhaft, unvorstellbar eigentlich. Er merkte kaum, daß er sich wieder aufrichtete und starr neben seinem Begleiter stehenblieb. Der Fischer wollte ihn ansprechen, er überlegte es sich und schluckte seine Bemerkung herunter. Irgendwann nickte Mesrin. »Was hast du?« Er sprach nicht über den Fund und sagte nur: »Es war gut, daß du mich gerufen hast.« »Das meinte ich auch.« »Wer weiß noch von dem Fund?« Iljuk erschrak. »Ich… ich habe es niemandem erzählt, glauben Sie mir.« »Natürlich.« Der Fischer deutete auf die Scholle. »Sie klemmt fest, sie wird aber wahrscheinlich auftauen.« »Wann? In einigen Monaten?« »Das Eis…« »Nein, nein, Iljuk, so geht das nicht. Dieser Fund ist der reine Wahnsinn, und wir sind gezwungen, etwas zu unternehmen.« Der Fischer erschrak noch mehr. »Was denn? Willst du das Eis auftauen? Willst du…?« »Ich weiß es noch nicht.«
»Aber du glaubst«, fragte der Fischer und holte dabei schwer Atem, »daß diese Gestalt echt ist, und daß man uns keinen hier untergeschoben hat.« »Wer sollte so etwas tun?« »Das weiß ich nicht.« »Eben.« Iljuk strich über seinen Hals, als wollte er dort unsichtbare Würgeklauen zur Seite drücken. »Aber irgendwoher muß er doch gekommen sein. Der ist nicht vom Himmel gefallen.« »Das stimmt.« Mehr sagte Mesrin nicht. Er war überfragt. Bei Fragen, die seinen Beruf angingen, hätte er Antworten geben können, aber nicht, was diesen Fund anbetraf. Das war einfach nicht zu begreifen. Erschaute gegen den Himmel und damit gegen die Sonne. War sie dunkler geworden, oder kam es ihm nur so vor? Etwas drängte sich über ihnen zusammen. Etwas Unheimliches, das sie nicht erfassen konnten. Der in der Eisscholle steckende Vampir kam ihm vor wie eine erste Warnung. Irgendwo schienen noch andere Wesen zu lauern, bereit für einen Überfall. Daß er sich an den Hals faßte, merkte er kaum. Er dachte daran, daß Vampire ihre Zähne in das dünne Fleisch des Halses hackten, um dort die Schlagader zu erwischen. Sie transportierte das meiste Blut. Er änderte seinen Blick und schaute über das graugrüne wellige Wasser, auf dem breite Eisplatten schwammen, als wären sie dabei, sich für ein Spiel vorzubereiten. Der Küste hier oben waren zahlreiche Inseln vorgelagert. Die meisten davon kaum erwähnenswert, weil sie einfach zu klein waren. Andere wurden hin und wieder von Fischern angefahren, und die Männer berichteten dann von einer Natur, die tot wirkte. Nur Felsen, Schnee und Eis, das auch im Sommer kaum dünner wurde. Unbewohnte Inseln, die sich als Verstecke für irgendwelche subversive Elemente eigneten. Sogar für Vampire, dachte er, wenn diese sich verstecken wollten. Blut bekamen sie allerdings nur in bewohnten Gegenden. Und die Gestalt im Eis dürstete sicherlich danach, wenn sie befreit wurde. Deshalb wollte Mesrin sie unbedingt innerhalb dieser dicken Schicht lassen, so lange jedenfalls, bis die Spezialisten eingetroffen waren, denn allein wollte er den Fall nicht lösen. Der war ihm schon jetzt über den Kopf gewachsen. Der Fischer stand neben ihm und schwieg. Welche Gedanken seinen Kopf durchwehten, wußte Mesrin nicht. Viel anders als die seinen konnten sie aber nicht sein. Die beiden taten nichts, standen nur da. Der Wind schleuderte ihnen ab und zu Gischtwolken entgegen.
Das Wasser brach sich mit donnernden Geräuschen an den grauen Felsen, und es war Iljuk, der die Schultern hob. »Ich werde mich in Zukunft nicht mehr trauen, auf das Meer hinauszufahren.« »Warum nicht?« »Wo einer ist, können auch noch weitere sein.« »Im Wasser?« »Auf einer der Inseln.« Mesrin sagte nichts. Also hatte der Fischer sich mit denselben Gedanken beschäftigt wie er. »Hast du denn einen Plan?« »Nein, den habe ich nicht.« Mesrin schüttelte den Kopf. »Ich kann das nicht entscheiden. Ich muß mich mit anderen Stellen in Verbindung setzen.« »Mit welchen denn?« Mesrin streckte seinen Zeigefinger hoch. »Nach ganz oben, mein Lieber.« »Meinst du etwa Moskau?« »Sehr richtig.« Der Fischer bekam einen Schauer. »Das ist… meine Güte, wenn Moskau das hört…« Er verstummte, denn Moskau war für ihn so weit entfernt wie der Himmel. Wenn er den Namen der Stadt hörte, verging er fast vor Ehrfurcht. Er war nie selbst dort gewesen, hatte nur aus Erzählungen von dieser Stadt gehört, auch mal etwas darüber gelesen. Für ihn war Moskau eben das Größte. »Dann werden Spezialisten kommen, nehme ich an.« Zuerst wußte Iljuk nicht, weshalb der Mann lachte. Sehr bald wurde es ihm klar, »ja, es werden Spezialisten hier erscheinen, darauf kannst du dich verlassen. Nur frage ich mich, ob sie auch in der Lage sind, Lösungen zu bieten. Daran kann ich nämlich nicht glauben. Wer kennt sich denn bei Vampiren aus?« »Ich nicht.« »Ich auch nicht. Moskau wird reagieren müssen.« Er lachte wieder, als würde er sich darüber freuen. »Soll der KGB mal etwas Vernünftiges leisten und nicht immer wieder nur Menschen bespitzeln, die nichts verbrochen haben.« »Das meine ich auch.« Der Stationschef warf noch einen letzten Blick auf die im Eis eingefrorene Gestalt. Zwar lag sie völlig bewegungslos, doch er wurde den Eindruck nicht los, daß sie sich plötzlich erheben würde, wenn der dicke Panzer aufgetaut war. Allein der Gedanke daran bereitete ihm Furcht. Er war versucht, ein Kreuzzeichen zu schlagen, überlegte es sich dann, denn der Vampir würde davon nichts mitbekommen. »Laß uns gehen.«
»Dafür bin ich auch.« Die Stimme des Fischers klang erleichtert. Er drehte sich um, sprang von der Felskante auf die glatte Eisfläche – und rührte sich nicht von der Stelle. Mesrin fiel die Haltung des Mannes erst auf, als er neben ihm stehengeblieben war. »Was hast du?« »D… da… da… da steht einer!« Iljuks Hand zitterte, als er nach vorn deutete. »Wo?« »An dem Felsen.« »Verdammt, ich sehe nichts.« »Ich habe ihn aber…« »Laß uns hingehen«, schlug Mesrin vor. Iljuk hielt den Mann fest. »Und wenn es nun auch ein Vampir ist? Einer, der nicht von einem Eispanzer umgeben ist? Was machst du dann?« Der Stationschef blieb stehen. Daran hatte er gar nicht gedacht. Auf einmal fing er an zu schvvitzen und das trotz der Kälte. Mit der nächsten Frage lenkte er vom eigentlichen Thema ab. »Wie sah diese Gestalt denn aus? Hatte sie auch spitze Zähne?« »Ich glaube nicht.« »War sie eine von uns?« Der Fischer blieb stumm und schüttelte nur den Kopf. »Nein«, flüsterte er dann. »Das war sie nicht.« Mesrin dachte darüber nach, ob sich Iljuk die Gestalt eingebildet haben könnte. Wenn er sich die Umgebung so anschaute, war das gut möglich, denn manche Felskanten und Figuren, die von der Natur willkürlich zusammengestellt worden waren, sahen aus wie Gestalten. Da konnte man schon leicht einer optischen Täuschung erliegen. »Sie war da Chef!« »Dann laß uns hingehen.« Der Fischer zuckte zwar zusammen, sprach aber nicht dagegen und folgte Mesrin. Sie hatten bisher im Licht der Sonne gestanden, nun traten sie in den Schatten der Felsen, deren Wände nie glatt waren. An zahlreichen Stellen hingen Eiszapfen herab wie breite, gefrorene Nasen. In den kleinen Mulden klebte harter Schnee, ebenfalls mit einer Kruste aus Eis überzogen. An einer Stelle bildete die Wand einen Überhang. Auch von dessen Kante wiesen Eiszapfen in die Tiefe. Einige von ihnen erinnerten Mesrin an die Zähne des Vampirs. Und plötzlich war der Fremde da! Keiner der beiden Männer hatte herausgefunden, woher er so unvermutet aufgetaucht war. Vielleicht hatte er in einer der Seinnischen gelauert und den genauen Zeitpunkt abgewartet. Es war eine furchtbare Gestalt.
Die Hälfte des Schädels war abgerissen worden. Entweder durch eine Kugel oder durch eine Hiebwaffe. Geronnenes Blut klebt an seiner Stirn und war bis in das linke Auge gedrungen. Die übrige Haut sah aufgequollen aus, erinnerte an einen pappigen Kunststoff. Die Gestalt trug eine zerfetzte Hose, lief barfuß durch den Schnee und über das Eis hinweg und war nicht einmal mit einem Hemd bekleidet. Das Haar lag flach und verkrustet auf dem flachen Schädel. Der Fischer würgte, während Mesrin nichts sagte und unter dem Grauen litt. Wie aus weiter Ferne hörte er die Worte des Fischers. »Das ist doch Kloptow, der Händler. Aber der… der ist schon seit drei Wochen tot, verflucht…« *** Auch Mesrin kannte den Händler Kloptow, der bei den Fischern erschien und ihnen den Fang abkaufte. Vor einigen Wochen war er tatsächlich spurlos verschwunden. Er wurde allgemein für tot gehalten, aber jetzt stand er hier, obwohl er aussah wie tot. Erst der Vampir und nun dieses Wesen. Beide Männer begriffen die Welt nicht mehr. Sie kamen nicht mehr mit, sie waren geschockt, ihnen fehlte jegliche Erklärung, so verzweifelt sie sich auch darum bemühten. Es war eben alles furchtbar. »Dann ist Kloptow nicht tot«, sagte Mesrin mit einer Stimme, die ihm selbst fremd vorkam. »Doch, doch…« »Aber er…« »Ich weiß es auch nicht!« keuchte der Fischer und schaute zu, wie sich die Gestalt bewegte. Sie tat es sehr langsam, als wäre sie innerlich völlig erkaltet. Sie bückte sich, streckte dabei die Arme aus, um einen Gegenstand hochheben zu können, der in ihrer Nähe lag. Es war ein altes Paddel. De: Lack war im Laufe der Zeit abgeblättert, das Holz zeigte die graue Grundierung bis zu der Stelle, wo sich der scharfe Rand des Paddels befand. Da klebten Flecken, die aussahen wir Rost. Es konnte auch Blut sein! Kloptow hob das Paddel weiter an. Er stemmte es über seinen Kopf. In seinen Händen wirkte es wie eine Waffe. Und es war eine Waffe! Brutal und ohne Vorwarnung schlug er damit zu. Dabei drehte er das Paddel noch, um mit der scharfen Vorderkante das Gesicht des Fischers zu erwischen. Iljuk drehte sich so rasch wie möglich zur Seite. Ersah die Waffe als Schatten und mußte gegen den wilden Schmerz ankämpfen, der sein Gesicht durchtoste.
Er hatte es nicht ganz geschafft. Der scharfkantige Rand war an seiner Nase entlanggeglitten und hatte sie zur Hälfte abgerissen. Zurück blieb nur mehr ein blutiger Klumpen. Mesrin hörte den Mann schreien und sah auch, wie die rote Flüssigkeit den Schnee färbte. Er packte zu, bevor das Untier noch ein zweites Mal zuschlagen konnte. Der Griff schleuderte den schreienden Fischer herum, er rutschte aus und fiel in den Schnee. Der zweite Schlag hackte gegen die Eiskruste, die nicht einmal einen Riß bekam. »Weg!« brüllte Mesrin. Er riß Iljuk auf die Füße und zerrte den Mann hinter sich her. Dennoch tobten sich die Gedanken in seinem Kopf aus. Er dachte wieder an den Vampir im Eis, und er erinnerte sich an die Geschichten über derartige Wesen. Wenn das Sonnenlicht schien, würden sie vergehen, zu Staub zerfallen. Und hier war das Sonnenlicht genau auf die Eisscholle gefallen. Dennoch war die Gestalt nicht verfault. Hatte das Grauen etwa andere Dimensionen angenommen? Stand die Strafe des Himmels dicht bevor? Er war sozialistisch erzogen worden und im kirchlichen Sinne kein gläubiger Mensch. In diesen Augenblicken jedoch kam ihm alles in den Sinn, was er über Tod und Erlösung gelesen hatte. In dieser verdammten Eiswüste erlebte er, was es hieß, wieder einmal zu beten. Er lief, und der Schwerverletzte hielt sich ebenfalls auf den Beinen. Daß er dabei schrie, war ganz natürlich. Er mußte Schmerzen haben, die kaum jemand nachvollziehen konnte. Mesrin hielt die rechte Hand des Mannes fest, die linke hatte der Fischer gegen sein blutendes Gesicht gepreßt. Die Füße des Fischers wurden schwerer, und auch Mesrin merkte, wie das Gewicht des Mannes an ihm zog. Die sehr kalte Luft drang durch seinen Mund tief in die Lungen hinein, sie stach dort wie mit tausend Nadeln versehen. »Ich kann nicht mehr laufen!« würgte der Verletzte hervor, dann brach er endgültig zusammen. Seine Beine konnten das Gewicht nicht mehr tragen, er fiel in den Schnee. Seine Hand löste sich aus der des Retters. Mesrin lief einige taumelige Schritte weiter, bis er sich wieder gefangen hatte, stehenblieb und sich drehte. Ujuk lag im Schnee. Sein Körper war zusammengekrümmt und sah aus wie ein Haufen Lumpen. Die roten Blutflecken waren trotzdem nicht zu übersehen, und sie breiteten sich aus. Mesrin schaute den Weg zurück.
Von der Gestalt mit dem Paddel war nichts mehr zu sehen. Sie mußte sich zwischen den Felsen versteckt halten. Vielleicht lauerte sie dort auf weitere Opfer. Obwohl der verletzte Fischer unbedingt behandelt werden mußte, konnten sie noch nicht weiter. Sie brauchten beide einige ruhige Minuten, um wieder zu Kräften zu kommen. Aus tränenden Augen schaute Mesrin nach vorn. Der Schnee reflektierte die Sonnenstrahlen. Trotz seiner dunklen Brille wurde er geblendet. Dort, wo die Felsen bis direkt an das Wasser reichten und als graue Masse eine Barriere bildeten, mußte irgendwo der Mörder stecken. Er war nicht zu sehen, auch nicht zu hören, nur die heftigen Atemgeräusche untermalten Mesrins Gedanken. Wie konnte jemand in einer derartigen Kälte überleben, der nur mit einer dünnen Hose bekleidet war? Diese Frage ging ihm einfach nicht aus dem Kopf. Sie brannte wie Feuer in seinem Hirn. Er verstand sie nicht, er fand auch keine Antwort und konnte nur die Schultern heben. Ein Vampir war er nicht gewesen, ein normaler Mensch aber auch nicht. Was war er dann? Mesrin zermarterte sich das Gehirn, ohne daß ihm allerdings eine Lösung einfiel. Wenn es eine gab, davon ging er aus, war sie mit dem normalen Verstand nicht zu fassen. Erst der Vampir, dann diese Gestalt. Gehörten beide möglicherweise zusammen? Darüber mußte er noch nachdenken, aber nicht jetzt und hier. Es war zunächst wichtig, sich um den Mann zu kümmern, der jammernd neben ihm lag. Die Laute hörten sich an wie ein schweres Seufzen, dessen Klang Mesrin beinahe das Herz zerriß. Was mußte Iljuk nur leiden! »Komm hoch!« Der Fischer hatte ihn nicht verstanden. Mesrin wollte ihn nicht liegenlassen. Er griff unter die Achseln des Mannes und zerrte ihn in die Höhe. Zum erstenmal sah er dessen Gesicht aus unmittelbarer Nähe und hatte Mühe, ein Erschrecken zu unterdrücken. Die Nase des Mannes war nur noch in ihrem oberen Drittel vorhanden, alles andere fehlte. »Komm, wir verbinden dich. Es ist nicht mehr weit, verdammt! Komm endlich!« Iljuk ließ sich auf die Beine zerren. Er tat nichts dagegen, aber er lief wenigstens mit, als ihn der Freund fortzerrte. Das Rauschen und Donnern der Brandung kam Mesrin vor wie das Brüllen zahlreicher Ungeheuer, die ihre Mäuler weit aufgerissen hatten, um nach einer Beute zu schreien.
In der Station gab es glücklicherweise eine Krankenbaracke und einen Sanitäter, der sich nicht nur um die Mitglieder der kleinen Gruppe aus Wissenschaftlern kümmerte, sondern sich auch der Fischer annahm, wenn sie etwas hatten. Als beide Männer schließlich die Baracke erreichten, schreckten sie den Sanitäter hoch, der eingeschlafen war. »Güter Himmel, was ist das denn?« keuchte der Mann. »Ihm wurde die Nase abgeschlagen.« »Hinlegen, sofort!« Mesrin gehorchte. Er hatte getan, was er konnte. Alles andere war Sache des Sanitäters. Als er noch einmal einen Blick auf den Verletzten warf, stellte er fest, daß dieser bewußtlos geworden war. Das war auch besser für ihn. Mit müden Schritten verließ Mesrin die Baracke. In diesen Minuten fror er wie nie zuvor in seinem Leben… *** Die Nacht hatte den Tag abgelöst. Der Schnee lag da wie eine zusammengepreßte Kunststofffläche, beleuchtet von einigen Natriumdampflampen, die ihr kaltes Licht auf die weiße Oberfläche schickten. Sobald die Dunkelheit eingetreten war, fiel auch die Temperatur. Die Gebäude der kleinen Wetterstation lagen in einer eisigen Stille, als wären sie nicht existent und würden nur eine Spielzeuglandschaft bilden. Aus den Schornsteinen quollen Rauchwolken in den klaren Himmel. Mesrin stand am Fenster und schaute nach draußen. Er hatte diese klaren Winternächte stets geliebt. Da konnte er sehr lange am Fenster stehen, ein Glas mit Wodka in der Hand, und in die scharf konturierte Ferne schauen. An diesem Abend nicht! Zwar stand er auch am Fenster und spürte noch den Alkohol in seinem Mund, doch eine gewisse Entspannung oder gar Fröhlichkeit wollte bei ihm einfach nicht aufkommen. Ihn durchzogen düstere Gedanken, die sich hin und wieder zu finsteren Wahnvorstellungen verdichteten, denn das Prinzip Hoffnung hatte ihn verlassen. Er kam sich in der Station vor wie auf einer finsteren Insel, die von unsichtbaren Feinden belauert wurde. Es waren keine Raubtiere, keine sibirischen Schneetiger, von denen sich vor Jahren mal welche in diese Gegend hin verirrt hatten, nein, es war etwas anderes, das er nicht fassen konnte. Er sah das Fenster vor sich und dachte an einen anderen Vergleich. Mesrin verglich es mit einer Tür ins Dunkel. Wenn er sie aufstieß,
landete er in einer anderen Welt, die mit der normalen nichts mehr gemein hatte. In einer Welt des Schreckens, der Schatten, im Reich der Toten oder im Vorhof der Hölle. Der Mond am Himmel zeigte keinen Kreis. Viel fehlte allerdings nicht mehr, um diese Figur zu bilden. Mesrin dachte wieder an den Vampir. Er wußte, daß dieses kalte Mondlicht den Blutsaugern guttat. Da schöpften sie Kraft für ihre schrecklichen Taten, denen die Menschen zum Opfer fallen sollten. Er hatte sich mit Moskau in Verbindung gesetzt und per Fernschreiber eine codierte Meldung abgesetzt. Sie würden in Moskau landen, in einer bestimmten Straße, in einem gewaltigen Gebäude, der Heimat und dem Sitz des KGB. Es war auch schon eine erste Antwort: Man würde sich darum kümmern, und er, Mesrin, solle auf Antwort warten. Gelacht hatte er. Bitter gelacht. Er kannte dieses verfluchte Warten sehr genau. Das konnte zwei Stunden dauern, aber auch zehn oder gleich zwanzig. Es war zum Heulen. Er stand unbeweglich und ballte seine Hände. Draußen lag alles in einer bedrückenden Stille. Nicht einmal Stimmen waren zu hören. Die Sendemasten und die zahlreichen Antennen glänzten wie lange, spindeldünne Finger aus Eis. Hinter wenigen Fenstervierecken brannte Licht. Durch die Scheiben glitt der Schein nach draußen, wo er auf dem Schnee ein rechteckiges Muster malte, aber nicht sehr lang, denn schon bald fraß es die Finsternis auf. Der Schnee glänzte. Manchmal glitzerte er so stark auf, als wäre er mit kleinen Diamantsplittern bestreut worden. Er hatte sich auch nach dem Fischer erkundigt und erfahren, daß es dem Mann den Umständen entsprechend ging. Eine dumme Antwort, wie er fand. Die hätte er sich auch selbst geben können. Mesrin drehte sich um und ging an seinem Schreib tisch vorbei. Auf dem alten Metallspind hatte er die beiden Flaschen abgestellt. In beiden befand sich Wodka. Der Leiter der Station war ein ziemlich schlanker Mann. Wäre der dichte Bart nicht gewesen, hätte jeder sehen können, wie asketisch seine Züge wirkten, was auch an den eingefallenen Wangen liegen konnte, die aussahen, als hätten sie nach innen gekehrte Beulen bekommen. Er holte die halbleere Flasche vom Spind. Die volle ließ er stehen. Das Wasserglas stand auf dem Schreibtisch. Er ließ Wodka hineingluckern und hörte erst auf, als die Flüssigkeit den oberen Rand beinahe erreicht hatte.
Er trank einen großen Schluck, fluchte und trank wieder. Dann dachte er daran, daß die Kerle in Moskau soviel Zeit hatten, und er stieß wütende Flüche aus. Sein Blick haftete an dem altertümlichen Fernschreiber. Das Ding schwieg. Mesrin stellte sein Glas weg. Es war noch halb voll. Am liebsten hätte er sich betrunken, nach diesen Vorfällen hätte er auch Grund genug gehabt, aber die Vernunft siegte. Wenn er sich betrank und eine wichtige Meldung noch wider Erwarten in dieser Nacht eintraf, dann tat er möglicherweise etwas Falsches. Deshalb nahm er lieber einen Schluck Wasser. Es schmeckte schal. Er hatte die Flasche zur Seite gestellt und wollte wieder zum Fenster gehen, als ihn das Rattern des Fernschreibers herumfahren ließ. Eine Lampe blinkte, und auf der Walze drehte sich die Papierbahn, die noch immer beschriftet wurde. Mesrin atmete tief durch. Zum erstenmal nach langer Zeit lächelte er. Das war schneller gegangen, als er es hatte erwarten können. Als er hinlief, schwieg das Gerät. Die Enttäuschung zeichnete sein Gesicht. Er hatte mit einer längeren Antwort gerechnet. Er riß das Stück Papierbahn ab, lief zum Schreibtisch und schaltete dort die zweite Lampe ein, weil der Druck doch ziemlich blaß geworden war. Er wußte selbst nicht, woher seine plötzliche Aufregung kam. Dabei hatte er den Text der Nachricht noch nicht gelesen, aber im Magen breitete sich plötzlich ein Druck aus, der ihm schon seltsam vorkam. Das dünne Papier geriet in zitternde Bewegungen, als er es mit beiden Händen hielt. Er glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Er hätte zugleich jubeln und schreien können und leistete Moskau und vor allen Dingen den Betonköpfen der KGB-Hierarchie auf der Stelle Abbitte. Fünfmal las er den Text. Beim sechstenmal flüsterte er ihn. »Nichts weiter unternehmen, nur beobachten. Bin so rasch wie möglich bei Ihnen. Wladimir Golenkow.« Er nickte. »Na, das ist doch etwas.« Auch wenn er mit dem Namen Golenkow nichts anfangen konnte, so fühlte er sich doch nicht so allein gelassen. Wenn der Mann aus Moskau eintraf, würde er die Verantwortung übernehmen, dann warMesrin aus dem Schneider. Es ging ihm besser, viel besser. Er lehnte sich auf dem Sitz zurück und spürte in seinem Rücken den Druck der Holzlehne, die sich unter seinem Gewicht nach außen bog. Zwar dachte er noch immer an die Schrecken des Tages, aber sie kamen ihm jetzt nicht mehr so schlimm vor. Mesrin stand auf, griff zum Glas, nahm noch einen kräftigen Schluck. Den hatte er sich auf jeden Fall verdient. Er schaute auf die Uhr.
Noch eine halbe Stunde bis zur Tageswende. Mitternacht, dachte er und spürte plötzlich den Schauer auf seinem Rücken. Keine gute Zeit für abergläubige Menschen. Wenn der eine Tag in den nächsten überging, dann war es so, als würden zwei fremde Welten zusammentreffen. So würde es auch hier sein. Er stand auf. Die alten Geschichten aus seiner Kindheit fielen ihm wieder ein. Seine Großmutter war eine sehr fromme Frau gewesen, hatte aber vor der Tageswende immer Angst gezeigt. Manchmal hatte sie dann die Kerzen auf ihrem kleinen Hausaltar aufgestellt, sich davor gekniet und gebetet. Im flackernden Schein des Kerzenlichts hatte ihr Gesicht oftmals ausgesehen wie das einer Mumie, über die düstere Tücher hinweggezogen wurden. Auch er hatte am vergangenen lag Schreckliches erlebt und war mit Geschöpfen konfrontiert worden, die besser in die Nacht hineinpaßten als in den Tag. In die Nacht also… Er formulierte seine Gedanken. Irgend etwas hakte fest, er wußte nur nicht, was es war. Jetzt verfluchte er sich selbst, so viel getrunken zu haben. Er konnte die Gedanken nicht in die Reihe bringen. In die Nacht… Er schreckte hoch. Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Urplötzlich waren seine Gedanken wieder klar. Die Nacht gehörte all jenen Geschöpfen, die sich in der Dunkelheit wohl fühlten. Auch die Vampire zählten dazu, und sicherlich auch das Wesen, das wie ein Mensch ausgesehen hatte, aber keiner war, sondern ein wildes, mordlüsternes Tier. Die Nacht konnte ihm gehören. Und es wollte Opfer, andere Menschen, was es bei dem Fischer bewiesen hatte. War es möglich, daß es sein Versteck verlassen hatte und nun durch das stille Lager schlich? Auf der Suche nach Beute, auf der Jagd nach dem Tod und dem Grauen. Der Gedanke daran ließ sich einfach nicht vertreiben. Mesrin spürte, wie sein Herz schneller schlug. Er hatte eine trockene Kehle bekommen, der Schweiß trat ihm aus den Poren. Es kam ihm sehr warm in seinem Raum vor, der alte Ofen strahlte eine Hitze aus, die schon nicht mehr normal war. Oder lag es an ihm? Tobte etwa Fieber durch seinen Körper?
Er konnte nicht mehr auf dem Stuhl sitzen bleiben. Selbst seine Fläche schien sich erwärmt zu haben, und deshalb stand er auf. Sehr vorsichtig und so leise, als hätte er Furcht davor, daß jemand anderer ihn hören konnte. Im Gegensatz zu den Mitarbeitern stand ihm als Chef ein Einzelzimmer zu. Er brauchte nicht mehr mit vier Personen auf einer Bude zu schlafen. Dafür war sein Raum auch kleiner. Kaum größer als eine Kabine auf einem der Fischtrawler. Seine Bewegungen wirkten abgezirkelt. Als er ging, hatte er das Gefühl, die Füße würden brennen. Nach draußen gehen, sich überzeugen, ob der schreckliche Verdacht stimmte – oder erst einmal am Fenster stehenbleiben und die unmittelbare Umgebung beobachten? Mesrin entschied sich für die letzte Möglichkeit. In seiner Baracke fühlte er sich einfach sicherer. Mit wenigen Schritten hatte er das Viereck erreicht und blieb davor stehen. Sein Blick glitt durch die Scheibe. Er kannte hier jedes Stück Boden, fast jeden Schneekristall. Er war hier zu Hause, und doch kamen ihm die breiten Stellen zwischen den Häusern fremd und leer vor, obwohl nicht weit entfernt zwei Fahrzeuge abgestellt waren und sich daneben die Umrisse einer Schneeraupe abhoben. Der Schnee glänzte noch immer. Frische Abdrücke konnte er nicht entdecken. Aber er sah die Bewegung. Es war mehr Zufall, weil er dorthin geschaut hatte, wo die Fahrzeuge standen. Neben der Schneeraupe mußte sich jemand aufhalten. Mesrin hielt den Atem an. Sekunden verstrichen in atemloser Spannung. Er rieb über seine Augen, da sie anfingen zu brennen. Sein Atem berührte die Scheibe und hinterließ einen runden nebligen Beschlag. Täuschung oder nicht? Er wußte es nicht und lauerte darauf, daß sich die Bewegung wiederholte. Natürlich konnte alles ganz harmlos gewesen sein. Oft verließen die Männer noch ihre stickigen und dumpfen Buden, um draußen ein wenig frische Luft zu schnappen. Dann aberzeigten sie sich offen und gingen nicht hinter irgendwelchen Fahrzeugen in Deckung. Mesrin sah nichts mehr. Einbildung, Täuschung, ein Streich, den ihn seine überreizten Nerven gespielt hatten. So und ähnlich formulierte er seine Gedanken. Mit der Zunge feuchtete er seine trockenen Lippen an und hoffte, daß diese verdammte Nacht bald vorbei war. Daß der Besuch aus Moskau am nächsten Tag eintreffen würde, war ihm klar. Aber bis dahin würden noch mehrere Stunden vergehen. Die mußte er erst einmal überstehen.
Die Tür ins Dunkel, dachte er. Das Fenster in eine andere Welt. Es lag vor ihm, obwohl es völlig natürlich aussah. Es war kein Viereck, durch das er steigen mußte, um die Hölle zu erreichen. Es war völlig normal, und er dachte daran, daß er sich nur nicht selbst verrückt machen sollte. Nur nicht durchdrehen, kalt bleiben, versuchen, klar und logisch nachzudenken. Aber die Logik verschwand, wenn die Angst begann. Das genau war es, um was sich alles drehte. Die Angst… dieses Gefühl, beobachtet zu werden. Möglicherweise von einem irren Killer, der das nächste Opfer bereits ins Fadenkreuz seiner grausamen Gedanken genommen hatte. Ihn vielleicht? Unsinn, ich… Seine Gedanken rissen abrupt ab. Als wäre jemand in der Nähe, der einfach nicht wollte, daß er weiterdachte. Denn wieder hatte er einen Schatten gesehen. Eine Gestalt – nur diesmal nicht in der Nähe der abgestellten Fahrzeuge, sondern Richtung Krankenbaracke, wo der verletzte Fischer lag. Sein Sichtwinkel war zu schlecht, um die Tür unter Kontrolle halten zu können. Wenn er etwas sehen wollte, mußte er nach draußen gehen, und davor fürchtete er sich. Andererseits dachte er an die Verantwortung, die er für den Fischer übernommen hatte. Er war Chef dieser Station und im Prinzip für alles verantwortlich. Mesrin wollte raus, und er wollte auch allein gehen. Ein entschlossener Zug zeichnete sein Gesicht. Er war ein Mann, der lange vor der Brücke gewartet hatte und nun über den Entschluß froh war, sie überqueren zu können. Leider stand ihm keine Schußwaffe zur Verfügung. Waffenlos wollte er nicht gehen. In seinem kleinen Zimmer, wo das Bett stand, hingen neben alten Fotos und Plakaten auch zwei scharfe Fischermesser an der Wand, mit denen die Männer ihre Beute auftrennten. Das größere wollte er mitnehmen. Es war ihm einmal von einem Mann geschenkt worden, dem er einen Gefallen getan hatte. In seinem Zimmer brauchte er kein Licht. Ein Griff, und er hielt das Messer mit der beidseitig geschliffenen breiten Klinge in der Hand. Wohl fühlte er sich zwar nicht, war aber um einiges beruhigter, als er sich auf den Weg zur Tür machte und im Vorbeigehen noch seine gefütterte Jacke mitnahm. Das Messer steckte er schräg in den Gürtel und achtete darauf, sich nicht selbst zu verletzen.
In der Stille hörte sich das Knarren der Tür einfach zu laut an, als er nach draußen trat, wo ihn augenblicklich die Kälte erwischte und sich wie ein Reif um seinen Körper legte. Es ging kaum Wind, die Kälte drückte arg, sie raubte ihm im ersten Moment die Luft. Der Schnee knirschte überlaut unter seinen Stiefeln. Jeder, der nur ein wenig achtgab, würde ihn jetzt hören können. Um die Sanibaracke zu erreichen, mußte er nach links gehen und sich von seinem Haus ziemlich weit entfernen. In der nächtlichen Stille hatte er das Gefühl, die zahlreichen Antennen summen zu hören, als wären sie erpicht darauf, ein geisterhaftes Eigenleben zu führen und Nachrichten an die Lebenden zu übermitteln. In einer derartigen Situation konnte man sich eben einiges einbilden, und Mesrin fühlte sich überfordert, obgleich er sich darüber ärgerte. Er ging leicht geduckt, hatte die rechte Hand auf den Griff des Fischermessers gelegt. Die Berührung gab ihm ein gewisses Gefühl von Sicherheit, es ließ sich halt besser mit dieser Einbildung leben. Manchmal wehte der Wind über die Schneefläche und schleuderte kleine Wolken aus Schneekristallen hoch, die fahnengleich über das flache Gelände glitten und sich in den Gassen zwischen den Häusern niederlegten, wo sich bereits zahlreiche kleine Schneehügel gebildet hatten. Er ging schneller, nachdem er festgestellt hatte, daß niemand auf ihn lauerte. Dann sah er die Barackentür. Im ersten Augenblick glaubte Mesrin an eine Täuschung. Nein, das konnte nicht sein – die Tür stand offen. Natürlich gab es viele harmlose Erklärungen für diesen Zustand, aber in dieser Nacht, zu dieser Stunde und bei den Vorfällen des vergangenen Tages wollte er einfach nicht daran glauben. Daß die Tür offenstand, hatte etwas zu bedeuten. Sein Atem stand als Wolke vor den Lippen. Wie eine gewaltige Wolke kam ihm auch die Finsternis vor, die so geheimnisvoll erschien und tausend Feinde versteckt hielt. Ihm reichte schon einer. Er huschte so schnell wie möglich über die freie Fläche – ärgerte sich dabei über jeden knirschenden Schritt – , erreichte die Baracke und hörte aus einem der anderen Bauten ein dröhnendes Lachen. Ausgestoßen von einem der dort wohnenden Mitarbeiter. Wahrscheinlich schauten sich die Männer wieder irgendeinen Film an. Entweder Schwanke oder Pornos. Sie hatten sie aus Finnland bekommen, die Grenze war nicht mehr so dicht, und einen Video-Recorder hatte ihnen ebenfalls jemand besorgt. Die Nacht blieb dunkel, sie blieb geheimnisvoll, und Mesrin dachte an die Tür.
Wieder kam ihm der Vergleich in den Sinn, daß hinter der Tür das Grauen einer anderen Welt lauerte. Es hatte sich angeschlichen und lautlos in diese Umgebung hineingedrückt, um sie in Besitz zu nehmen. Für ihn war es schlimm, er starrte auf die Klinke mit der leichten Eiskruste, berührte sie allerdings nicht, sondern drückte seinen Schuh in den Spalt. Durch eine Bewegung nach links konnte er die Tür weit genug aufschieben, um in die Baracke zu gelangen. Ein ungewöhnliches Licht nahm ihn gefangen. Er kannte die Leuchte auf dem Flur, doch in dieser Nacht kam ihm ihr Licht anders vor. Es war längst nicht mehr so hell, viel gelber, als wäre ein Tuch über die Lampe gehängt worden. Es hatte etwas Unheimliches an sich, als wäre selbst der Strom magisch beeinflußt worden. In der Kehle lag noch immer die Dürre. Er hätte sich gern geräuspert, was er aber unterdrückte, denn es war besser, sich ruhig zu verhalten. Etwas stimmte hier nicht, etwas war anders geworden. Ein ungewöhnlicher Hauch lag zwischen den Wänden. Der Hauch des Todes… Mesrin schaute zu Boden. Es war kein bewußter Blick, aber sein Herz schlug plötzlich Purzelbäume, als er die Abdrücke entdeckte, die als feucht glänzende Stellen auf dem dünnen Linoleum zu sehen waren. Wasser, das einmal Schnee gewesen war. Und der mußte an den Schuhen des geheimnisvollen Eindringlings geklebt haben. Er hatte sich doch nicht geirrt. Es war jemand durch das Lager und in diese Baracke geschlichen. Wahrscheinlich um die Tat zu vollenden, die er begonnen hatte. Eisig rann es über seinen Rücken. Dennoch dachte er logisch. Wenn er den Spuren folgte, würde er irgendwann auf den Eindringling treffen. Und dann? Was passierte dann? Mesrin wußte es nicht, aber er zog sein Messer. Er schaute auf die Klinge, die schon durch unzählige Fischkörper geglitten war und nichts von ihrer Schärfe verloren hatte. Ihr hatten auch Menschen nichts entgegenzusetzen, das stand für ihn fest. Er erinnerte sich wieder an den im Eis gefangenen Vampir. Konnte es sein, daß dessen Kräfte für eine Befreiung ausgereicht hatten und er jetzt durch die Nacht schritt auf der Suche nach Blut? Möglich war alles… Mesrin setzte seinen Weg fort. Er hätte gern seinen Atem unter Kontrolle gehalten, dies war nicht möglich. Jeder seiner Schritte wurde von diesem Geräusch begleitet. Es war ansonsten still, zu still für seinen Geschmack, denn auch der Verletzte meldete sich nicht. Und von dem Sanitäter hörte er ebenfalls nichts.
Er unterdrückte den Wunsch, nach ihm zu rufen. Dann wäre aufgefallen, daß sich noch jemand in der Baracke befand, und dies wiederum wollte er unter allen Umständen vermeiden. Der eigentliche Krankenbereich lag am Ende des Flurs. Die übrigen Räume wurden als Lager für Waren benutzt, die nicht unbedingt in der Kälte liegen sollten. Wieder eine Tür. Und wieder das Gefühl, hinter ihr etwas Schreckliches präsentiert zu bekommen. Bisher war sein Traum glücklicherweise nicht wahr geworden, aber würde das auch so bleiben? Er konnte es nur hoffen. Seine Schritte waren kaum zu hören, da er die Kontrolle über sich zurückgewonnen hatte. Die Tür bestand aus hellbraunem Holz; ihre Klinke war aus Metall und schimmerte ebenfalls bräunlich. Mesrins Blick verdüsterte sich. Es war ihm anzusehen, wie stark er litt. Er bewegte den Mund, als würde er irgend etwas zwischen den Zähnen zerkauen, das sehr zäh war. Nichts war zu hören. Kein Atemzug, kein Schnarchen, nur der schwache Lichtschein einer Lampe mit Pergamentschirm dämmerte vor sich hin. Die Furcht floß als kalter Schauer über die Schultern und seinen Rücken hinweg. Die Augen in Mesrins Gesicht wirkten wie ein Punkt. Er wagte nicht, die Tür mit der Hand zu berühren. Die Klinge zitterte plötzlich. Er dachte an Flucht. Statt dessen tat er das Gegenteil, drückte den Fuß vor, kantete ihn auf die Hacke und berührte mit der Spitze die Tür, die sehr langsam und mit quietschenden Geräuschen nach innen schwang. Ein Zimmer, eine andere Welt? Ja, es war eine andere Welt. Eine Welt des Schreckens, der Gewalt, des Grauens, in der das Böse regierte. Der Fischer lag in seinem Bett. Oder das, was der Killer noch von ihm übriggelassen hatte. Mesrin konnte einfach nicht hinschauen. So etwas Schlimmes war ihm nie zuvor begegnet. Dann sah er die Lache und den Streifen, der sich von ihr gelöst hatte. Rechts von ihm bedeckte sie den Boden, und der Streifen floß in seine Richtung, als wollte er ihn auf diese schaurige Art und Weise begrüßen. Mit Zitterknien ging er einen Schritt vor, drehte den Kopf nach rechts und sah den zweiten Toten. Es war der Sanitäter.
Er saß auf seinem Stuhl, der Hals war nur mehr eine einzige große Wunde. Dieser Mann konnte nicht mehr leben. Die Augen zeigten noch den Schrecken der letzten Sekunden seines Lebens. Und dann hörte er die Schritte! *** Ihm war, als hätte sich ein schwerer Sargdeckel über ihm geschlossen. Das Zimmer vor ihm war zu einer Todesfalle geworden. Ein Killer hatte blutige Arbeit geleistet. So etwas hatte er noch nie erlebt, das war ihm unbegreiflich. Die Schritte blieben. Sie waren hinter ihm, aber sie waren auch noch etwas entfernt, denn sie bewegten sich schleifend durch den Gang, obgleich der Unbekannte bei jedem Aufsetzen zuerst mit den Hacken den Boden berührte. War es der Mörder? Der große Schrecken hatte das Gedächtnis des Mannes völlig ausgeschaltet. Er würde nicht mehr logisch handeln können, selbst das Messer in seiner Hand erschien ihm lächerlich, und durch seine Nasenlöcher strömte der Geruch des Todes. Ja, den Tod konnte man riechen. Seine Großmutter hatte dies stets behauptet, und er hatte damals immer darüber gelacht, aber es stimmte tatsächlich. Wieso dachte er jetzt an seine Großmutter? Im Augenblick der höchsten Lebensgefahr. Die Schritte blieben, doch die Abstände, mit denen die Füße aufgesetzt wurden, hatten sich verlängert. Die Pausen der Stille wurden trotzdem von einem anderen Geräusch ausgefüllt. Es drang aus dem Raum vor ihm. War einer der Toten doch nicht tot? Hatte er sich bei diesem furchtbaren Anblick geirrt? Nein, das hatte leider alles seine Richtigkeit. Er hatte nur die dritte Person innerhalb des Zimmers nicht gesehen, weil diese sich versteckt gehalten hatte. Und zwar unter dem Bett. Nun kroch sie aus dem Versteck hervor und produzierte diese Schleifgeräusche. Mesrin glaubte, den Verstand zu verlieren, als er sah, wer da ankam und wer auch der Mörder gewesen sein mußte. Der Tote mit dem halb zerstörten Gesicht! Ihn auf diese Art und Weise unter dem Bett hervorkriechen zu sehen, war für Mesrin unbegreiflich. Der angeblich tote Fischer hielt keine Waffe zwischen seinen Händen, deshalb ging Mesrin davon aus, daß diese Gestalt darauf verzichten konnte. Sie tötete mit den bloßen Händen oder
mit dem, was sie fand. Vielleicht nahm dieses Untier auch seine Zähne zu Hilfe, die Nägel, die Füße – alles war möglich. Was sollte er tun? Schreien und so die nächtliche Ruhe der Station stören? Seine Mitarbeiter alarmieren, damit auch sie an diesen unvorstellbaren Vorgängen teilhaben konnten? Es war wie verhext. In seinem Kopf hämmerte und trommelte es. Einen klaren Gedanken zu fassen, war ihm unmöglich. Er hatte die Tür geöffnet, einen völlig normalen Durchgang, aber sie hatte ihn in die Welt der Furcht und des Todes gebracht. Kloptow kroch weiter. Nichts konnte ihn aufhalten. Er glich einer programmierten Puppe, die eben nur den einen Weg kannte und den sie auch nicht aus den Augen ließ. Mit einer letzten Bewegung zog die Gestalt mit dem halb zerstörten Kopf noch ihre Beine an. Sie hatte den Zwischenraum unter dem Bett jetzt verlassen. Durch den Körper lief ein Ruck. Dabei zog Kloptow den Kopf ein. Ein Auge nur glotzte Mesrin an. Der spürte den Blick wie eine Eisdusche. Er war klar, kalt und gleichzeitig völlig leer. Nie zuvor hatte der Stationsleiter einen ähnlichen Blick erlebt, selbst bei Fischen nicht. Der Herzschlag trommelte noch immer. Seine Augen brannten vom langen Starren. Er konnte sich nicht bewegen, der Schock nagelte ihn regelrecht auf der Stelle fest. Allein war er hilflos. Es würde der Gestalt nichts ausmachen, ihn ebenso zu vernichten wie auch die anderen beiden. Sie kannte nur den Mord, mehr nicht. Da war! Er öffnete den Mund, schrie. Irgendwo konnte er nicht mehr denken, da hatte es einen Riß in seinem Kopf gegeben, doch er hatte die Schritte vergessen, die längst verstummt waren. Jemand stand hinter ihm! Und dieser Jemand schien das Vorhaben des entsetzten Mannes bemerkt zu haben. »Keinen Laut!« befahl er zischend. Mesrin hatte die Worte gehört, er hatte sich auf die Stimme konzentrieren können, und er wußte trotz seines Zustandes, daß er sie noch nie zuvor vernommen hatte. »Hast du gehört? Keinen Laut!« Er nickte, obwohl er es kaum merkte. Sein Augenmerk galt allein dem blutrünstigen Killer. Der hatte es geschafft, sich auf die Füße zu stemmen. Breitbeinig stand er auf der Stelle, den Kopf nach vorn geschoben. Sein Oberkörper pendelte von einer Seite zur anderen. Ein
tumbes Grinsen lag auf seinen Lippen, und er zog sich zurück, als sein Herr und Meister einen zischenden Befehl gab. Nach hinten ging der Mörder. Er blieb stehen, als er die Wand erreicht hatte. »Der wird dir nichts tun, wenn du vernünftig bist«, erklärte der Fremde. »Deine Freunde hier waren es nicht. Aber das ist jetzt egal, mein Lieber…« »Was… was wollen Sie?« »Mit dir reden.« »Und mich dann killen?« »Das kommt auf dich an. Wenn du dich vernünftig verhältst, wird dir nichts geschehen.« »Ich will hier raus!« »Kannst du!« »Jetzt?« »Sicher. Gibt es hier einen anderen Raum, wo wir ungestört reden können?« »Ja.« »Dann geh vor.« Mesrin hatte Furcht davor, den Fremden anzuschauen. Er stellte sich alles mögliche vor, ein Monster, einen Menschen, der mutiert war, ein Tier mit menschlichem Kopf. Beinahe enttäuscht war er, als er sich drehte und erkannte, wer ihn da tatsächlich angesprochen hatte. Ein Mann, der einen dunklen Wintermantel trug, einen hellen Schal umgeschlungen hatte und eisig lächelte, als er in das Gesicht des Stationschefs schaute. Mesrin holte tief Luft. Diesen Mann hatte er noch nie zuvor gesehen. Er wies auch keinerlei Ähnlichkeit mit dem tumben Mörder auf, im Gegenteil, er machte einen nahezu eleganten Eindruck, paßte nicht in diese Gegend. Sein Gesicht war schmal geschnitten, auf den Wangen zeichneten sich Bartschatten ab, die Augen sahen aus wie kalte Tümpel, und die dunklen, glatten Haare paßten zu den Pupillen. Ein Fremder… Und keiner hat ihn gesehen, dachte Mesrin. Keiner aus dem Lager hat den Fremden bemerkt. Der mußte doch irgendwo geblieben sein. Er war nie zuvor aufgefallen und das, obwohl oft genug Wachen durch den Bereich der Station patroulierten. Bisher hatte der Fremde seine Hände in den Manteltaschen verborgen gehabt. Jetzt zog er sie hervor und nickte Mesrin zu. »Gehen wir?« »Sofort.« Mesrin konnte seinen Blick nicht von den Händen wenden. Die langen Finger sahen aus, als könnten sie kräftig zupacken. Gleichzeitig konnte er sich vorstellen, daß sie auch streichelten und Körper sanft berührten.
Er war ein seltsamer, ein ungewöhnlicher Mann, einer, vor dem man Angst bekommen konnte. Sein düsterer Blick traf nicht nur, er glitt auch unter die Haut, als wollte er die Seele des anderen regelrecht verschlingen, um sich selbst neue Energie zuzuführen. »Bitte«, sagte der Fremde und blieb bei seiner kalten Höflichkeit, als er Mesrin den Weg freigab. »Und der… der andere?« »Bleibt bei den Toten.« Mesrin schluckte, als er die lässig dahin gesprochene Aussage hörte. Dieser Kerl tat so, als wäre der Vorgang völlig normal. Er bewegte sich innerhalb des Grauens wie auf einer Insel, von der er sich mittragen ließ. Mesrin passierte ihn. Er war noch völlig durcheinander. Wenn er sprach, bereitete ihm dies Mühe. Sein Geschmack im Mund und in der Kehle war kaum zu beschreiben. Ihr dürstete nach einem Schluck Wasser, doch das war nicht zu bekommen. Es gab noch ein Büro, in das er gehen wollte. Der Sanitäter benutzte es zugleich als Wohnraum. Die Tür war nicht verschlossen. Mesrin machte Licht. Der Lampe hing über dem kleinen Schreibtisch. Dahinter stand das einfache Feldbett mit der grauen Decke. An einem Kleiderständer hingen noch einige weiße Kittel, zusammen mit der Winterkleidung. Der Fremde schloß die Tür. Er hatte sich blitzschnell umgeschaut, mit funkelnden Augen, und er war zufrieden, wie sein Nicken deutlich andeutete. »Noch etwas?« fragte Mesrin. Er wunderte sich über seinen Mut. »Du kannst dich setzen.« Mesrin zog den Schreibtischstuhl heran und nahm darauf Platz. Der unheimliche Besucher blieb mit dem Rücken zur Tür stehen. Er schaute sich um. Ein Fenster gab es nicht. Der kleine Ofen spendete bullige Wärme. Mesrin fand es überheizt, er schwitzte. Das lag möglicherweise auch nur an ihm selbst. Wer konnte das schon sagen? Noch immer wußte er nicht, mit wem er es zu tun hatte und fragte deshalb: »Wer sind Sie?« »Ich heiße Stepanic!« Es war eine klare, eine deutliche Antwort, und Mesrin dachte über den Namen nach. Nein, gehört hatte er ihn noch nie. Sosehr er sich auch den Kopf zerbrach, er kam zu keinem Ergebnis. In seinem Bekanntenkreis existierte kein Mann mit diesem Namen. Außerdem hörte er sich nicht russisch an, sondern mehr jugoslawisch. »Ich kenne Sie nicht.« »Das hatte ich mir gedacht.«
»Und was wollen Sie dann hier?« Stepanic kam vor und nahm auf der Kante des Schreibtisches Platz. Wieder lächelte er, doch es war ein freudloses und kaltes Lächeln, das er seinem Gegenüber schickte. »Ich bin nicht freiwillig gekommen, das können Sie mir glauben. Gewisse Umstände haben mich leider dazu gezwungen, und ich werde dieser Aufgabe nachgehen.« »Ich weiß noch nicht…« »Keine Sorge, Mesrin, du erfährst viel. Zunächst einmal möchte ich dir sagen, daß ich in dieser Station bleiben werde. Du wirst mich verstecken, das muß dir möglich sein. Ich habe mir die Station als Hauptquartier ausgesucht. Die beiden Leichen werden wir noch in dieser Nacht fortschaffen. Wenn nach ihnen gefragt wird, laß dir eine Ausrede einfallen. Das also geht klar.« Mesrin stellte fest, daß dieser Mensch bereits das Kommando übernommen hatte. Zwar lag ihm der Widerspruch auf der Zunge, aber vor den so arrogant gesprochenen Worten schreckte er zurück. Er schaffte es einfach nicht, dagegen zu reden. Er schaute nur in das kalte Gesicht, dessen Haut einen gelblichen Schimmer bekommen hatte. Die Augen schienen dabei noch mehr zurückgetreten zu sein, als wollten sie sich in den Höhlen verkriechen. »Kann ich mich auf dich verlassen?« »Ich… ich werde es versuchen.« »Es muß einfach klappen, sonst bist du der nächste!« Diese einfach dahingesprochene Drohung erschreckte Mesrin. Er ging davon aus, daß sie kein leeres Geschwätz war. Dieser Stepanic wußte genau, was er wollte. »Was noch?« »Nun ja.« Stepanic bewegte seine Finger, sie knackten. Dann schaute er auf seine Hände, dachte nach und hob die Augenbrauen. »Ich weiß, daß Sie bereits etwas entdeckt haben.« »Was denn?« Der Fremde schaute in sein Gesicht. »Den Toten, zum Beispiel, mein Freund. Die Gestalt im Eis. Ich habe dich beobachtet, du bist in die Felsen gegangen.« »Das stimmt.« Stepanic reagierte nicht. Statt dessen schaute er gegen die Wand, wo eine alte Fotografie hing, die das Gesicht einer schon älteren Frau zeigte. Es war die Mutter des Sanitäters, die in Kiew in einem Heim lebte. »Was hast du gedacht?« »Nichts!« Die Antwort kam viel zu spontan, um wahr zu sein. Der Eindringling glaubte sie auch nicht und schüttelte den Kopf. »Es ist Unsinn, was du
da sagst. Jeder Mensch muß reagieren, wenn er zum erstenmal in seinem Leben einen Vampir sieht.« Mesrin schluckte. »Es… es war also doch einer?« »Sicher.« Der Stationsleiter senkte den Blick und schluckte. »Ich weiß nicht, wo er herkam, es ist mir alles ein Rätsel.« »Du brauchst nichts zu wissen. Wichtig ist nur, daß ich Bescheid weiß. Was hast du getan?« »Wieso? Was sollte ich getan haben?« Mesrin begriff es tatsächlich nicht. »Du hast ihn entdeckt, zusammen mit diesem Fischer. Aber der ist tot, der kann nicht mehr reden. Es war ein wenig früh, verstehst du? Er hätte ihn nicht sehen sollen. Jetzt ist daran nichts mehr zu ändern. Du bist noch der einzige Zeuge.« Den letzten Satz hatte er in einem Tonfall gesprochen, der dem Stationsleiter den Schweiß auf die Stirn trieb. Er spürte auch die kalte Hand an seinem Rücken, er senkte den Kopf und schnappte nach Luft. Seine Augen brannten plötzlich, die Hände zitterten, und er hörte das leise Lachen des Fremden. »Keine Sorge, ich werde dich nicht töten, wenn du dich konform verhältst. Wem hast du alles von dieser Entdeckung erzählt?« Das Blut schoß in den Kopf des Mannes. Er fühlte plötzlich den Schwindel. Hätte er nicht einen festen Platz gehabt, wäre er wohl gefallen, so aber blieb er sitzen, ballte die Hände zu Fäusten und hoffte, daß Stepanic nichts von seiner Reaktion bemerkt hatte. Der hatte anderes zu tun und wanderte durch den kleinen Raum. Neben dem Ofen blieb er stehen und drehte sich um. Mesrin hatte sich wieder gefangen. »Nein, Stepanic, ich habe niemandem davon berichtet.« »Ach ja?« Mesrin nickte. »So ist es. Ich… ich… meine Güte, wem hätte ich denn etwas sagen können?« »Ich weiß es nicht.« »Wir waren viel zu geschockt«, sprach Mesrin schnell weiter. »Wir haben Furcht gehabt. Es hätte uns auch niemand geglaubt. Zudem wollten wir keine Panik in der Station.« Stepanic schaute ihn an. Da er im Dunkeln stand und Mesrins Gesicht im hellen Licht lag, konnte dieser nicht erkennen, welche Gefühle sich in den Zügen des Fremden zeigten. »Das kann ich verstehen.« Mesrin entspannte sich. Er strich durch sein Haar. »Ich hatte mir vorgenommen, die Meldung am nächsten Morgen abzusetzen. Das war alles. Und ich weiß auch nicht, ob man mir überhaupt geglaubt hätte.« Von dem Fernschreiben erwähnte er kein Wort.
Stepanic schien ihm zu glauben, denn er nickte und sagte: »Ja, das sehe ich ein.« »Und jetzt?« »Der Betrieb wird so weiterlaufen wie bisher. Nur sei immer gewiß, daß ich in der Nähe bin.« Daran mußte sich Mesrin gewöhnen, so schwer es ihm auch fallen würde. Er hatte noch eine Frage. »Was ist denn mit diesem… diesem Untier?« Stepanic lachte. »Dem Zombie? Er gehört zu mir.« »Nur er?« Der Fremde kam näher. Er ging wie ein Schatten, als er in der Nähe des Lichts geriet. »Kannst du dir vorstellen, daß ich noch einige dieser lebenden Leichen kommandiere?« Mesrin zwinkerte mit den Augen. Er befeuchtete seine Lippen, er spürte das Kratzen im Hals. »Nein, das kann ich mir nicht vorstellen.« »Es ist aber so. Rechne damit, daß ich noch einige Zombies befehlige. Wir weden bald eingreifen und uns auf den Weg zu den Vampiren machen. Wir werden sie vernichten.« »Wie…«, staunte der Stations-Chef. »Das… es gibt noch mehr von diesen Wesen?« »Ja, von beiden Arten.« »Aber warum?« Stepanic lächelte kalt. »Der Grund sollte dich nicht interessieren. Es ist ein Spiel, das nur mich und eine weitere Person angeht. Wir haben uns den Sieg auf die Fahne geschrieben. Wir werden mächtig sein und die anderen Mächtigen stürzen.« Mesrin nickte, ohne daß er begriff. Es war ihm jetzt egal. Er wußte, daß er die Leitung der Station abgegeben hatte. Für ihn zählte jetzt, daß es keine weiteren Opfer mehr gab, und daß der Betrieb so normal wie möglich weiterging. Natürlich würden Fragen gestellt werden, aber er würde sich stur zeigen und so tun, als hätte er mit dem Verschwinden der beiden Männer nichts zu tun. Stepanic zog wieder an seinen Fingern, so daß die Gelenke knackten. »Wir beide werden uns jetzt über die Einzelheiten unterhalten. Wenn das alles in Ordnung ist, kann nichts passieren…« *** Zwei und einen halben lag später! Der große Hubschrauber schien direkt das strahlende Blau des Himmels verlassen zu haben, als er über dem Meer seinen Kurs änderte und gegen das Festland flog.
Aus vier Personen bestanden die Passagiere. Da war einmal der Pilot, ein kleiner gedrungener Mann aus Armenien, der aber den Norden des Landes besser kannte als den Süden. Zum zweiten hockte neben ihm ein blonder Russe, der immer ein wenig kantig wirkte, und der eigentlich in Moskau in seinem KGB-Büro hätte sitzen müssen, der aber froh war, der miefigen Bude zu entkommen. Der Mann hieß Wladimir Golenkow. Er war nicht nur KGB-Agent, sondern auch ein guter Freund der beiden anderen Passagiere, die den Rückraum des Hubschraubers in Beschlag genommen hatten. Einmal ein Chinese namens Suko und von Beruf Scotland YardBeamter, gleichzeitig Spezialist für übersinnliche Fälle, ein Mann, der sich auskannte, wenn es gegen Feinde ging, die aus schwarzmagischen Bereichen und Welten stammten. Blieb der vierte im Bunde. Das war ich, John Sinclair, ebenfalls Yard-Beamter, ebenfalls ein Freund Golenkows, dessen Nachricht uns verleitet hatte, ihn auf seinem neuesten Trip zu begleiten. Es ging um einen Vampir, der in einer Eisscholle eingefroren war. So hatte ein gewisser Mesrin gemeldet, der eine Wetterstation an der Nordostküste der Sowjetunion leitete, an der Barentssee, dem südlichen Ausläufer des Nordpolarmeers. Die größte Stadt in der Nähe war Murmansk, von dort waren wir auch gestartet und nicht in den Frühling hineingeflogen, wie es eigentlich hätte sein sollen, sondern direkt wieder in den Winter. Unter uns breitete sich der Schnee wie eine unendliche weiße Fläche aus. Wir waren auch über das Meer hinweggeflogen und hatten zahlreiche Inseln gesehen, die sich kaum aus den grauen Wogen als ebenfalls graue Flecken abhoben und höchstens von Vögeln bewohnt waren, die dieses Klima vertrugen. Eine Gegend, in die mich niemand freiwillig für längere Zeit hineinbekommen würde, aber wenn es darum ging, den Mächten der Finsternis ein Bein zu stellen, waren Suko und ich immer dabei. Vor allen Dingen dann, wenn uns Freund Wladimir alarmierte. Bisher hatte sich daraus immer ein Fall auf Leben und Tod entwickelt. Der Russe war kein Spinner, der die Pferde scheu machte. Wenn er uns anrief, hatte das seinen Grund. Ich schaute nach hinten, wo unsere Ausrüstung lag. Proviant, dicke Jacken, Werkzeuge, denn wir wußten nicht, was uns in dieser winterlichen Einöde erwartete. Aus der Höhe gesehen, wirkten die barackenähnlichen Häuser der Station wie hingestellte Schachteln. Auch bei ihnen gab es keinen Farbtupfer, sie alle sahen grau in grau aus. Wer hier seinen Job verrichtete, mußte sich vorkommen wie lebendig begraben.
Wir verloren an Höhe, und Wladimir Golenkow drehte sich auf dem Sitz des Co-Piloten um. Er sah mein skeptisches Gesicht und konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. »Was hast du?« »Nicht dein Fall, John, wie?« »So ist es. Ich bin auf Frühling eingestellt, auf blühende Gärten und Wiesen…« »Ist das Wetter in London denn besser?« »Im Moment haben wir Pech. Es ist kalt, es regnet, manchmal hagelt es auch.« »Vergiß den Schnee nicht«, meinte Suko lässig. »Aber nicht so schlimm wie hier.« Golenkow lachte. »In diesem Land gehört er dazu, John, das weißt du doch.« »Sicher.« Man hatte uns bereits anfliegen sehen, und die Wetterstation erwachte zum Leben. Die Männer kamen aus ihren Hütten. Sie versammelten sich auf einem freien Platz und schauten in die Höhe. Nicht weit entfernt entdeckten wir einen kleinen Naturhafen. Boote schaukelten dort auf den Wellen. Jenseits einer aus hohen Steinen errichteten Mauer duckten sich kleine Fischerhäuser gegen das flache Gelände, als hätten sie Furcht davor, den Unbillen der Natur hochaufgerichtet zu trotzen. »Es gibt dort unten in der Station keine Frauen«, bemerkte Wladimir wie am Rande. »Ach du lieber mein Vater.« Ich schüttelte den Kopf. »Da sind die Leute wirklich lebendig begraben.« »Die Arbeit wird gut bezahlt. Außerdem bekommen sie einen besonders langen Urlaub.« »Trotzdem, mich bekämst du für kein Geld in der Welt in diese verfluchte Einöde.« Wir hatten bereits so stark an Höhe verloren, daß die Rotorblätter Schneewolken aufwirbelten, die eine Sicht zunächst unmöglich machten. Und das blieb auch so bis zur Landung. Dennoch setzte der Pilot die Maschine sanft und sicher auf. Er war eben gut. Wir hatten uns losgeschnallt, und Wladimir riß den Ausgang auf. Er verließ die Maschine als erster. Wir bedankten uns für den guten Flug und ernteten ein breites Grinsen des Piloten. Es war kalt. Zwar schien die Sonne, aber die Kälte konnte nicht so leicht vertrieben werden. Ich rieb meine Hände, schaute durch die dunkle Brille und hörte die knirschenden Schritte unseres Freundes Wladimir, der auf eine Gruppe von Männern zuging, sie etwas fragte, wobei sich ein Mann aus der Gruppe löste und Golenkow die Hand reichte. Das mußte der Mann sein, der auch die Meldung an das KGB geschickt hatte. Ich konnte nur hoffen, daß Mesrin Englisch verstand.
Suko grinste. »Dir scheint es hier nicht besonders zu gefallen«, sagte er. »Dir denn?« Er hob die Schultern. »Ich kann mir auch bessere Plätze vorstellen. Für Menschen ebenso wie für Vampire.« »Wobei wir beim Thema wären.« »Richtig.« Ich winkte ab. »Laß es, wir haben uns schon genügend den Kopf darüber zerbrochen, was einen Blutsauger dazu treibt, sich hier aufzuhalten. Ich jedenfalls weiß es nicht.« »Stimmt.« Unser Freund Wladimir kehrte zurück. Er war in Begleitung eines bärtigen Mannes, der eine dicke Lederjacke trug, die ihm bis zu den Hüften reichte. Das muß dieser Mesrin sein. Wir hatten uns nicht geirrt. Er wurde uns als Chef der Station vorgestellt und sprach sogar englisch, da er bei seiner Arbeit ab und zu auch internationalen Kontakt bekam. Ich schaute ihn mir an. Er machte auf mich einen ruhigen Eindruck. Allerdings täuschte das ein wenig, denn in seinen Augen flackerte doch eine gewisse Unruhe, und er konnte meinem Blick nie so recht standhalten. Irgend etwas stimmte nicht mit ihm. Ich wollte auch nicht mit der Kirche ins Dorf fallen und gab mich allgemein freundlich. Er taute sichtlich auf, sprach davon, daß sich seine Leute um unser Gepäck kümmern würden, und dann bat er uns in sein Büro. Der Pilot wollte nicht mit, er suchte so etwas wie eine Kantine, um den Hunger und Durst zu stillen. Der Mann hatte Order, so lange zu bleiben, bis wir wieder abflogen. Wir gingen durch den Schnee. Unter den versammelten Zuschauern sah ich auch einige Fischer, die uns anstarrten, als wären wir von einem fremden Planeten gekommen. Ich empfand die Stimmung als bedrückend, und auch Suko dachte so. »Irgend etwas stimmt hier nicht«, sagte er. Mesrin hatte die Bemerkung mitbekommen. Er blieb stehen und drehte sich um. »Da haben Sie durchaus recht. Die Stimmung ist auch gedrückt. Es sind zwei Männer verschwunden. Der Sanitäter und ein Fischer namens Iljuk.« »Wann?« fragte ich. »Wahrscheinlich an dem Tag, als ich die Meldung absetzte. Erst am anderen Morgen fiel es auf.« »Haben Sie suchen lassen?« fragte Suko. »Sicher. Leider erfolglos.« »Was denken Sie denn?« »Nichts.« Er drehte sich und ging weiter.
Von Wladimir ernteten wir einen nachdenklichen Blick, auch ihm schien es hier nicht geheuer zu sein. Wenig später betraten wir die Baracke, in der sich Mesrin ausgebreitet hatte. In seinem Büro fanden wir genügend Stühle. Es war viel zu warm; der Ofen bullerte wie ein Weltmeister. Ich zog meine Jacke aus, die Beretta lag jetzt frei. Mesrin schaute sie an und hob dabei die Augenbrauen, ansonsten hielt er sich mit seinem Kommentar zurück. Auf dem Ofen sang das Wasser. Es befand sich in einem Kessel und war für den Tee vorgesehen, den Mesrin aufbrühte. Wir schauten ihm zu, und bei mir verdichtete sich der Eindruck immer mehr, daß dieser Mann vor irgend etwas Angst hatte. Er kam mir vor wie jemand, der sich beobachtet fühlte und sich deshalb sehr langsam bewegte, um nur nichts falsch zu machen. Diese Station konnte durchaus ein Geheimnis verbergen, von dem wir nichts wußten. Er servierte den Tee in großen Tassen. Sein Lächeln kam mir dabei verkrampft vor. Ab und zu schaute er zum Fenster, als würde hinter der Scheibe jemand lauern. Der Tee jedenfalls schmeckte mir gut. Er war bitter und gleichzeitig etwas süß. Und er feuchtete unsere trockenen Kehlen an. Ich gab das Kompliment an den Russen weiter, der daraufhin meinte, daß er wenigstens zu etwas nütze sei. »Warum so deprimiert?« erkundigte sich Wladimir. Auch er hatte seine Jacke ausgezogen. Der Pullover, den er trug, besaß ein Norwegermuster. »Weil ich mir Sorgen um die verschwundenen Männer mache.« »Das ist verständlich«, sagte ich nickend. »Glauben Sie denn, daß ein Zusammenhang zwischen ihrem Verschwinden und Ihrer Entdeckung besteht?« Mesrin hielt sich mit einer direkten Antwort zurück. Er flüsterte statt dessen Golenkow etwas zu, der nickte, lächelte dann und wandte sich an uns. »Hört mal zu, unser Freund hier ist sich über eure Funktion nicht im klaren. Klärt ihn doch auf.« Das übernahm Suko. Er brauchte nicht sehr lange, und Mesrin kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Er redete danach russisch mit Wladimir, der für uns übersetzte. Mesrin wunderte sich darüber, daß seine Meldung derartige Kreise gezogen hatte. Er war aber froh darüber, daß sich zwei Spezialisten des Falles angenommen hatten. Und zu dem wollte ich kommen. Ich beugte mich vor, die Teetasse mit beiden Händen haltend. »Jetzt erklären Sie uns noch einmal genau, was Ihnen und Ihrem Begleiter widerfahren ist.« »Wir haben einen Vampir gesehen. Nicht weit von hier. Man kann den Ort zu Fuß erreichen. Er steckte in einer Eisscholle, die sich von einer
größeren Eisfläche gelöst haben muß. Die Strömung hat die Scholle dann gegen die Küste getrieben, wo das Wasser sie in eine künstliche Bucht hineindrängte und sie dort festklemmte.« »Mehr geschah nicht?« Mesrin senkte den Kopf. Ich hatte denEindruck, als wollte er uns nicht anschauen. »Nein, mehr nicht.« »Gut. Was taten Sie?« Wir bekamen einen Bericht, und der Mann redete wie ein Automat, als hätte er alles auswendig gelernt. Wir hörten aufmerksam zu. Ich spürte, daß auch Suko den Verdacht hegte, daß uns etwas verschwiegen wurde. Aber wir kamen nicht darauf zurück, sondern sprachen über das Verschwinden der beiden Männer. »Können Sie sich vorstellen, daß dieser Vampir etwas damit zu tun hat?« fragte Wladimir. »Nur… nur schwerlich. Dann müßte er sich ja befreit haben, und die Eisschicht war sehr dick.« Ich gab ihm recht. »Kann es sein, daß er sich innerhalb des Eises noch bewegt hat?« »Nein, ich habe nichts Derartiges bemerkt.« Suko sagte. »Wir wollten ihn uns so schnell wie möglich anschauen und ihn auch befreien.« »Was wollen Sie?« rief Mesrin. »Ihn aus dem Eis hacken.« »Und dann?« »Werden wir ihn erlösen.« Mesrin schabte durch seinen Bart. Wohl war ihm bei dem Vorschlag nicht. Er schaute zu Boden, bewegte seine Hände und sagte dann: »Gut, ich werde Sie führen.« Wladimir wollte noch wissen, wie die Strömungsverhältnisse hier verliefen. Wenn er informiert war, konnte er sich ausrechnen, von wo die Scholle eventuell angetrieben worden war. »Darüber können wir später reden«, sagte ich. »Zunächst einmal interessiert mich der Vampir.« »Gut, gehen wir.« Draußen schien die Sonne noch kräftiger. Sie besaß auch schon eine gewisse Kraft. Wo ihre Strahlen das Eis und den Schnee trafen, entstanden schimmernde Wasserpfützen. Wir waren gewarnt worden, und Wladimir hatte für die nötige Ausrüstung gesorgt. Sogar einen Schweißbrenner mit Gasflasche hatten wir mitgenommen. Jeder bekam seinen Packen zu tragen. Unter den Augen der Zuschauer verließen wir die Station, und ich wollte von Mesrin wissen, ob die Mitarbeiter eingeweiht waren. »Nein«, sagte er, »nur der Fischer war es. Aber der ist spurlos verschwunden.« »Auch Sie haben Angst, nicht wahr?«
Er senkte den Blick und schaute gegen den Schnee. »Wieso? Kann man das sehen?« »Ja.« Er atmete tief ein. »Das ist doch natürlich, John Sinclair. Völlig natürlich.« »Sagen Sie einfach John.« »Gut.« »Sie meinen also, daß irgend jemand kommen könnte, der sich auch Sie schnappen will?« »Ja.« »Sie kennen den Jemand nicht.« Er schwieg. Nur das Knirschen unserer Schritte im Schnee war zu hören. »Nein, ich kenne ihn nicht.« »Wenn wir jetzt den Vampir finden, müssen Sie davon ausgehen, daß es noch andere gibt, die Ihr Lager unter Kontrolle halten. Oder sehe ich das falsch?« »Damit rechne ich.« »Kennen Sie denn Orte, wo sich der eine oder andere Blutsauger verstecken könnte?« »Nicht daß ich wüßte. Vampire brauchen doch Dunkelheit – oder nicht?« »Das stimmt.« »Hier ist es immer sehr hell. Die Sonne hat sogar gegen die Eisscholle geschienen. Dann müßte der Vampir doch zerfallen, wenn ich das richtig in meinen Büchern gelesen habe.« »Stimmt. Nur kommt es darauf an, wie dick das Eis war. So kann es seine Zeit dauern.« »Da haben Sie recht.« Die Station lag hinter uns. Vor uns lag die freie Schneefläche. Ihre Ebene wurde hin und wieder von kleinen Erhebungen oder Hügeln unterbrochen, und sie endete dort, wo die grauen Felsen begannen und sich gegen die rauhe See stemmten. Das Gestein war eigentlich überall zu finden, nur wuchs es an einer bestimmten Stelle bis direkt an das Wasser heran und bildete dort ein mächtiges Bollwerk. Die kleine Wetterstation lag dabei sehr günstig, denn hinter ihr wuchsen die Felsen in einem großen, weitgezogenen Halbkreis hoch und schützten sie gegen die Winde aus dem Land. So hatten sie hier einen weit zurückgezogenen Wall gebildet und schlossen zudem noch den natürlichen Fischerhafen mit ein. Aber dort, wo der Vampir im Eis gefunden worden war, reichte sie bis an die Brandung heran, deren Tosen und Donnern unseren Weg begleitete. Starke Winde hatten Schneemassen gegen die Steine geweht. Manchmal klebte die weiße Pracht dort fest, als wollte sie nie mehr weichen. Ich entdeckte genügend Risse und Spalten, die auch mit
bläulich weißem Eis gefüllt waren, so daß einige Stellen wie Spiegel wirkten und das Licht der Sonne reflektierten. Der Boden nahm eine andere Gestalt an. Er wurde unebener. Wir mußten schon jetzt über gewisse Hindernisse hinwegsteigen. Manchmal griff der Wind in die Brandung hinein und schleuderte uns Gischtwellen von der Seite her entgegen. Wenn sie die Haut trafen, wirkten sie wie ein feiner Eisregen. Der Russe hatte bisher geschwiegen. Plötzlich blieb er stehen und deutete nach vorn. Erst als Suko und Golenkow ihn erreicht hatten, begann er mit seiner Erklärung. »Dort ist es.« Sein ausgestreckter Zeigefinger beschrieb einen Halbkreis, damit wir sehen konnten, welche Stelle er genau meinte. Viel war nicht zu erkennen. Im Laufe einer sehr langen Zeitspanne jedoch hatte sich das anströmende Wasser so tief in das Gestein hineingebohrt, daß es ihm gelungen war, so etwas wie einen Kanal oder eine schmale Rinne zu bilden. Die genau meinte der Russe. »Da habe ich die Scholle gesehen. Das heißt, Iljuk führte mich hin.« »Dann hat er den Fund gemacht?« fragte Suko. »So ist es.« Wir verschwendeten keine Zeit mehr. Ein jeder von uns – Mesrin einmal ausgenommen – war gespannt darauf, diesen im Eis steckenden Vampir zu sehen. Natürlich hatte auch ich mir meine Gedanken gemacht. Diese drehten sich letztendlich um Will Mallmann alias Dracula II. Er war derjenige, der den Vampiren eine neue Aufgabe zuteilen wollte. Er war sehr aktiv in der letzten Zeit gewesen, auch wenn er nicht immer selbst in den Vordergrund getreten war. Aber er hatte es geschafft, sich Helfer zu besorgen, die seine Pläne erfüllten. Mallmann wollte den Vampiren eine derartige Macht geben, daß sie es waren, die letztendlich die Geschicke der Welt bestimmten. Daß er dabei anderen Kräften in die Quere kam, nahm er in Kauf. Schon des öfteren war es zwischen ihm und den anderen Wesen zu harten Auseinandersetzungen gekommen. Ich konnte mir gut vorstellen, daß Mallmann in der Einsamkeit des Polarmeeres versuchte, seine Armee aus Blutsaugern aufzubauen. Er hatte schon zahlreiche Diener und Opfer in seinen unmittelbaren Dunstkreis hineingezerrt, sehr viele Menschen sogar, was Suko und ich damals in Marokko leider nicht hatten verhindern können. Diese Wächter eines Harems waren bis heute spurlos verschwunden. Wir hatten nichts mehr von ihnen gehört und gesehen. »Denkst du an Mallmann?« fragte Suko. »Du auch?« »An wen sonst?«
Ich runzelte die Stirn. »Bei ihm ist nichts unmöglich. Seine Heimat ist die ganze Welt.« »O je, wie pathetisch.« Ich winkte ab. »Was willst du machen, Suko. Ich passe mich eben den Gegebenheiten an.« Unser Gespräch verstummte, weil wir uns auf den Weg konzentrieren mußten, der hier, zwischen den Ausläufern der Felsen, doch ziemlich beschwerlich war. Die grauen Buckel ragten als Fallen aus dem Boden. Ihre Oberflächen waren mit einer dünnen Eisschicht bedeckt und höllisch glatt. Über allem stand die Sonne wie ein gleißendes Zelt, ohne es jedoch zu schaffen, den Schnee schon jetzt zu tauen. Im Schatten herrschten noch immer Temperaturen unter dem Gefrierpunkt. Wir kletterten über einige Hindernisse hinweg. Manche Kanten waren scharf wie Messer. An der linken Seite wühlte sich das Meer dem Ufer entgegen. Die mächtigen Wellen rasten nicht mehr ungebremst gegen die Küste. Sie waren bereits von irgendwelchen Vorsprüngen und aus dem Wasser ragenden Klippen gebremst worden. Wir ließen Mesrin vorgehen und blieben in seiner Trittfolge. Er kannte sich aus. Einmal sprang er über einen kleinen Wasserlauf hinweg, der von der See her in die Formation hineingepreßt worden war. Das Gepäck drückte auf unsere Rücken, und als Mesrin stehenblieb, da stieß er einen lauten Ruf aus. Auf mich klang er erleichtert. Mesrin drehte sich, mit dem Zeigefinger wies er in die Tiefe. »Die Scholle klemmt fest!« meldete er. »Der Vampir ist auch hoch da.« Wir standen Sekunden später neben ihm, schauten in die Rinne zwischen den beiden Felsen und sahen die Eisplatte, die sich tatsächlich samt Inhalt dort hineingebohrt hatte. Ja, es stimmte. In der Fläche zeichnete sich deutlich eine dunkel gekleidete Gestalt ab, deren Mund offenstand. Obwohl die Sonne das Eis noch nicht getaut hatte, erkannten wir, daß dort ein Vampir eingeschlossen war… *** In den folgenden Sekunden sprach keiner von uns. Suko und ich waren nicht so abgebrüht, daß uns kein Schauer über Hals und Rücken gelaufen wäre. Einen Blutsauger, in einer Eisscholle eingefroren, hatten wir auch noch nicht erlebt. Immer wieder drückte das Meer salziges, graugrünes, schäumendes Wasser in die Rinne hinein, das auch die Eisplatte überschäumte und
das Gesicht des Vampirs so aussehen ließ, als würde es in den nächsten Augenblicken zerfließen. Ich ging als erster in die Hocke, weil ich mir die Gestalt aus nächster Nähe anschauen wollte. Immer wenn das Wasser wieder der See entgegenfloß, konnte ich ihn besser erkennen. Auch wenn es sicherlich Unsinn war, aber für meinen Geschmack paßte der Blutsauger nicht in diese Gegend. Er war dafür nicht >angezogentauchte< auf. Das geschah ziemlich langsam. Wir alle schauten zu und stellten fest, daß er sich erst zurechtfinden mußte. Er prustete, er stöhnte, er brabbelte etwas vor sich hin, schlug dann die Augen auf – und schaute in Sukos Gesicht. Ein Blick, das Erkennen, dann fast ein Schrei.
Suko hatte eine Hand auf die Brust des Mannes gelegt. »Ich kann deine Freude verstehen, Stepanic, aber reiß dich etwas zusammen. Du bist ja unter Bekannten.« »Chinese…« »Das bin ich. Und daraufbin ich auch stolz. Aus alter Freundschaft gebe ich dir noch einige Minuten. Falls du nicht mit deinen Problemen fertig wirst, kippe ich dir den Rest auch noch über den Kopf. Ist doch nicht übel – oder?« »Hör auf, verdammt!« Suko zog sich zurück, und Stepanic richtete sich auf. An der Kinn- und Halspartie, wo ich ihn erwischt hatte, war die Haut bereits verfärbt. An den Treffer würde er sich noch lange erinnern, davon konnte man ausgehen. »Willst du einen Stuhl?« »Nein.« Suko hob die Schultern. »Schade, ich habe es nur gut mit dir gemeint, mein Freund. Aber jetzt sei du auch gut zu uns und erzähle uns, was dich in dieses nette Land getrieben hat.« »Ich rede nicht!« »Kennst du die Methode dreizehn?« »Nein.« »Du könntest sie aber kennenlernen, Stepanic. Wir wissen alle, daß du eine Bestie auf zwei Beinen bist, sogar schlimmer als die lebenden Leichen, denn du kannst denken, du besitzt Verstand, nehme ich mal an. Und du arbeitest auch nicht gern allein, das wissen wir ebenfalls. Es gibt da einen Freund von dir, den wir überhaupt nicht mögen. Cigam, du verstehst mich hoffentlich. Ich will von dir jetzt wissen, wo er sich aufhält. Er und eure lebenden Leichen.« Stepanic starrte ins Leere. Er tat so, als hätte er nichts gehört. Über ihn hinweg schaute Suko mich an, eine Aufforderung, ihn mit der Fragerei abzulösen. Ich schob meine Beine vor. »Wie war das mit den Inseln? Habt ihr euch welche ausgesucht?« »Wieso?« »Es gibt die Vampire, es gibt die Zombies. Beide sind einander nicht grün, sie stehen auf verschiedenen Seiten. Mallmann hat dem Teufel in die Suppe gespuckt, die dieser jetzt partout nicht auslöffeln wollte. Im Gegenteil, er will hier die Schau abziehen. Mallmann und seine Vampire wollen die Herrschaft, aber das wollen andere auch. So kommt es dann zum Kampf. Wer wird gewinnen? Beide wollen es, und beide haben Anführer, die man als Strategen bezeichnen kann. Ein Blutsauger wurde innerhalb eines Eisblocks angeschwemmt. Wir rechnen damit, daß dies ein Zufall gewesen ist. Eine Laune der Natur, daß die Wellen mit ihrer Kraft es geschafft haben, einen Eisbrocken zu lösen. Wir glauben nicht,
daß dieser Vampir nur eine Einzelperson gewesen ist. Ebenso wie bei deinen Zombies. Deshalb will ich wissen, wo wir sie finden können. Das ist alles.« Er stierte mich an. Seine Wangenmuskeln zuckten. Für mich ein Zeichen, daß ich mit meinen Vermutungen doch nicht so daneben gelegen hatte. Und ich glaubte auch daran, daß sich Mallmann und seine Blutsauger auf einer der Inseln verborgen hielten. Suko hatte denselben Gedanken. »Wir können sie auch abfliegen«, sagte er. »Alle Inseln der Reihe nach. Wäre doch nicht schlecht – oder?« Stepanic hob den Kopf. Plötzlich lachte er, obwohl es keinen Grund für ihn gab. »Was ist denn?« fragte ich. »Tot«, flüsterte er, »ihr seid alle tot. Ihr wißt es nur noch nicht.« Wieder lachte er. Diesmal hörte es sich an wie ein scharfes, grausames Bellen. Wir wurden dadurch verunsichert. Und dann drehte er sich im Sitzen, um auf das Fenster des Büros schauen zu können. Dahinter bewegte sich etwas. Wir erkannten es in dem Augenblick, als die Scheibe mit einem lauten Platzen brach und eine Faust wie ein Rammbock in das Innere der Baracke hineinstach… *** Sie waren da, nur hatte sie niemand gesehen! In ihren Verstecken waren sie gut aufgehoben gewesen, nun aber war ihre Zeit gekommen. Sie hatten die Befehle erhalten. Sie wußten, daß sich ihr Herr und Meister in Schwierigkeiten befand, und sie vertrauten einer Gestalt, die ihr jetziger Anführer war. Es war Cigam, der neue Versuch der Hölle! Ein Geschöpf des Schreckens, eine Gestalt, deren Haut in einem gelben Weiß schimmerte, die gleichzeitig talgig war, fett, aufgedunsen und deren Gesicht keine normalen Proportionen zeigte, denn diese waren so verschoben worden wie ein schlecht zusammengesetztes Puzzle. Das war Cigam! Eine Ausgeburt des Schreckens und mit Kräften versehen, für die der Begriff übermenschlich nicht ausreichte. Cigam konnte verwandeln. Er hatte es geschaft, aus normalen Hunden und Füchsen Riesentiere zu machen, gewaltige Ungeheuer, die Grauen pur abstrahlten. Unter den Zombies fühlte er sich wohl. Sie waren irgendwie wie er, wenn auch anders, denn sie bestanden nicht aus Magie, die menschliche Gestalt angenommen hatte. Wenn Cigam redete, hörte es sich an, als würde ein Flammenwerfer zischen. Er hatte diese kleine Armee aus der Lethargie geschaufelt. Er wollte, daß sie das Lager jetzt überfielen, um anschließend mit einem
Schiff aufs Meer hinauszufahren. Aber er verließ sich nicht allein auf sie. Er hatte seine Kräfte eingesetzt und sich andere Helfer geholt. Es waren die Schlittenhunde, die quirligen, sehr lieben Tiere, die sich in einem Stall zusammendrängten. Drei von ihnen hatte er sich ausgesucht, und sie veränderten sich. Er stand in der Stalltür und beobachtete das schreckliche Wachstum, während seine Helfer die kleine Station bereits umringt hielten. Der Kreis war geschlossen worden. Die Tiere wuchsen. Im Dunkeln sah es aus wie gewaltige Wogen, die immer höher stiegen, ohne allerdings zu zerplatzen. Drei andere Schlittenhunde blieben normal, sie konnten allerdings nicht fassen, was mit ihren Artgenossen geschah. Sie fingen an zu jaulen, sie wollten weg und zwischen den Riesentieren herhuschen. Es blieb dabei. Gewaltige Mäuler standen offen. Schädel senkten sich, Schnauzen verwandelten sich in tödliche Fallen, sie schnappten zu. Sie bissen sich in den Körpern fest. Die Tiere schrien nicht einmal, der Tod kam plötzlich über sie. Und die Hütte brach unter dem Druck der massigen Körper auseinander. Da platzten die Teile weg wie reife Früchte. Sie bohrten sich draußen in den Schnee, und der Kunstteufel Cigam hatte seinen Spaß. An der Spitze der Horde marschierte er auf das Zentrum der Siedlung zu. Er wollte sie überrennen, um anschließend im Fischerhafen ein Boot zu kapern. Wer sollte sie jetzt noch aufhalten? Ihn, die lebenden Leichen und die drei Riesenhunde? *** Zur Faust gehörte ein Arm, zum Arm eine Schulter, zur Schulter ein Hals und dazu ein Kopf. Ein widerlicher eckiger Schädel mit toten, leeren Augen, einer flachen Nase und einem fliehenden Kinn. Es war ein Zombie! Ich schoß zuerst, er war mir am nächsten, und meine Kugel zerschmetterte das Gesicht. Der Zombie kippte trotzdem nach vorn und blieb über dem Fensterkreuz hängen. Stepanic lachte schrill, wir anderen schauten uns an – und hörten zugleich die Schreie der Arbeiter. »Verdammt, sie sind in der Station!« schrie Suko. »Ja, ja!« brüllte Stepanic. »Sie machen alle fertig. Sie werden die Männer fressen!«
Ein kalter Schauer rann mir über den Rücken. Suko und Wladimir wollten raus, um zu retten, was noch zu retten war. Mesrin stand zitternd in der Fxke. Für ihn mußten sich alle Tore der Hölle geöffnet haben. Ich warf einen Blick über den Zombie hinweg und durch die zerstörte Scheibe. Draußen rannten die Männer weg. Erste Schüsse fielen. Ihre Echos knatterten zwischen den Barackenwänden, nur würden diese Kugeln die Zombies nicht aufhalten können. Auch Stepanic wollte verschwinden. Ich war schneller. Nach dem ersten Schritt schon bekam ich ihn zu fassen und schleuderte ihn herum. Er trudelte durch das Büro, krachte gegen die Wand. Ich hatte ihn mit einem Sprung erreicht. Meine Hand bohrte sich förmlich in die dünne Haut unter dem Hals. »Wir bleiben zusammen, Stepanic. Eine bessere Geisel kann ich mir nicht vorstellen.« Er stierte mich an. Es war schon ein Wunder, daß aus seinem Mund kein Schaum sprühte. »Hast du gehört!« »Fahr zur Hölle, Sinclair.« Ich zerrte ihn weg. »Gemeinsam gern!« Ein Plan stand zwar schon fest, wie er sich allerdings entwickeln würde, wußte ich nicht. Wir mußten jedenfalls nach draußen, wo auch weiterhin geschossen wurde. Diesmal klangen die Schüsse anders. Suko und Wladimir feuerten. Sicherlich in die Reihen der lebenden Leichen hinein. Ich riß Stepanic von der Wand weg. Er stemmte sich noch ein, doch ich war stärker. Er taumelte neben mir zur Seite. Ich schaute noch einmal gegen das Fenster und sah dort den riesigen Schatten, der keine menschliche Gestalt, sondern die eines Hundes angenommen hatte. Ein Riesenhund! Erinnerungen stiegen in mir hoch. Ich wußte wieder, daß Cigam in der Nähe war. Er besaß die Kraft, um normale Tiere in riesige Monstren zu verwandeln. Das hatte er in den Staaten ebenso bewiesen wie auf dem Flug nach London, wo uns ein riesiges Fabeltier begleitet hatte, dem es auch gelungen wäre, die Maschine zu zerreißen. Die Schnauze des ehemaligen Schlittenhundes drückte sich durch die Fensteröffnung. Sie war ein wenig geöffnet, die Zunge hing wie ein breiter Lappen hervor. Böse glotzten die Augen des Tieres. Bei ihnen zeigte sich sehr deutlich, welche bösen Triebkräfte in dieser Gestalt steckten. Ich hielt Stepanic mit der linken Hand fest, in der rechten lag die Beretta. Dann feuerte ich.
Die Kugel jagte in das Maul des Tieres. Es sah aus, als würde er sie schnappen. Uns brandete ein irres Geräusch entgegen. Ein bösartiges Schreien, dann ruckte der Schädel hoch. Der Hals riß den oberen Fenstersturz aus dem Gefüge und ebenfalls einige Bretter aus der Wand. Von draußen her drang eine Kältewelle in das offene Büro hinein. So wie das Gebäude jetzt aussah, besaß es nur noch Schrottwert. Ich aber konnte mich auf meine Silberkugel verlassen. Sie war in der Lage, die Bestie zu vernichten. »Es sind noch mehr!« brüllte Stepanic mir ins Ohr. »Es sind noch mehr, verdammter Bulle!« Ich zerrte ihn in den Gang. »Das weiß ich. Aber auch ich habe noch mehr Kugeln!« »Das schaffst du nicht. Ihr schafft sie nicht alle!« Er tobte noch weiter, was mich nicht störte. Solange er nicht versuchte, mich zu killen, war mir alles egal. Nur mußte ich beim Hinauslaufen achtgeben. Ich durfte auf keinen Fall von einer verirrten Kugel getroffen werden. Im Freien tobte die Hölle. Die Echos der Schüsse wurden hin und wieder sogar von einem knirschenden Brechen übertönt, wenn Teile der Baracken zusammenbrachen. Ich dachte an die zahlreichen Arbeiter, und mir kamen die ersten Bedenken darüber, ob wir es wohl tatsächlich schaffen würden. Über diesen Ort hatte sich eine Wolke des Schreckens zusammengeballt, die kaum zu zerstören war. Ich schob Stepanic als ersten hinaus. Plötzlich sah ich eine Gestalt. Ein zerfetztes Gesicht ohne Nase, ein Zombie, der hineinwollte und sich mit einer Eisenstange bewaffnet hatte. Ich schoß ihn nieder. Über den starren Körper hinweg kletterten wir hinweg. Ich hatte mir die Hauptstraße vorgenommen, vielmehr den breiteren Weg, der das Lager in zwei Hälften teilte. Wahrscheinlich würde sich dort alles abspielen. Denn da hatten die Zombies und auch die Riesentiere Platz. Noch brannten einige Laternen und beleuchteten eine schreckliche Szenerie. Der weiße Schnee diente als Untergrund. Auf ihm bewegten sich die Akteure. Aber was wie ein makabres Spiel aussah, war in Wirklichkeit blutiger Ernst. Zombies jagten Menschen! Die untoten Geschöpfe konnten sich nicht so schnell bewegen wie ein normaler Mensch. Eigentlich ein Vorteil für die Opfer, aber die Zombies besaßen eine Ausdauer, die nicht zu beschreiben war. Für sie existierte das Wort Erschöpfung nicht. Sie kamen immer wieder hoch, sie gingen ständig weiter, sie waren dabei, ihre verdammten Vorsätze
durchzuführen. Sie gingen mit schwankenden Bewegungen und griffen nach allem, was sich in ihrer Nähe bewegte und nach Leben aussah. Sie kannten keine Gnade. Wen sie zu fassen bekamen, den töteten sie, wobei sie auch ihre Zähne als Waffen einsetzten. Die Menschen wehrten sich, sie flohen. Manche schlugen mit Eisenstangen gegen die Wesen, und sie schafften es auch, sich die Untoten vom Hals zu halten. Ich sah sie kippen. Diese seelenlosen Wesen fielen im Zeitlupentempo zu Boden, aber sie standen wieder auf. Ihre Körper spürten weder Hitze noch Kälte, bei ihnen war alles neutral. Stepanic wollte sich losreißen. Ich schlug ihm den Lauf der Beretta in den Nacken. Er sackte in die Knie. Über ihn hinweg feuerte ich auf eine hochaufgeschossene Gestalt, die es geschafft hatte, ihre Hand im Liegen um den Knöchel eines Fliehenden zu klammern. Der Mann fiel und schrie. Dann durchbohrte meine Kugel den Schädel des Zombies. Stepanic kniete vor mir. Er tastete mit gespreizten Händen über den kalten Boden. Ich zerrte ihn hoch und preßte ihm die Mündung an den Kopf. »Sag ihnen, daß sie aufhören sollen, verdammt! Gib ihnen den Befehl!« »Das kann ich nicht!« »Wieso nicht?« »Sie gehorchen Cigam!« Für einen Moment erstarb in mir alles. Dann hatte ich mich wieder gefangen. »Und wo steckt er?« »Weg, er ist schon weg! Im Hafen!« Stepanic kreischte plötzlich und wollte sich ausschütten vor Lachen. Ich aber spürte den bitteren Geschmack der Niederlage in meinem Mund… *** Es gab nicht nur die geweihten Silberkugeln, die es schafften, die lebenden Leichen auszulöschen. Auch mit anderen Waffen konnten sie vernichtet werden. Suko besaß eine solche. Es war die Dämonenpeitsche! Den Kreis hatte er längst geschlagen. Die drei Riemen aus der Haut des Dämons Nyrana waren hervorgerutscht und schleiften durch den harten Schnee. Sie waren vor ihrem Freund John Sinclair ins Freie gerannt und erlebten die meisten Zombies noch im Freien zwischen den Häusern. Wladimir Golenkow keuchte: »Das darf doch nicht wahr sein! Das ist ja irre!«
Das Grauen lief im Wechselspiel zwischen Licht und Schatten ab, das die Umgebung auszeichnete. Wenn die Gestalten die Schatten verließen, dann sah es aus, als wären sie der Hölle direkt entstiegen. Und sie waren nicht allein. Zwischen zwei Baracken brach eine Riesengestalt hervor. Ein bösartiger dämonischer Hund, der sein Maul so weit wie möglich aufgerissen hatte und nach Opfern suchte. Die Wände der Bauten wackelten, als er es endlich geschafft hatte, sich auf die breite Fläche zu zwängen. Ein Mann lief auf ihn zu, schaute aber zurück und sah das Riesentier noch nicht. Der Hund schnappte zu. Er senkte dabei den Kopf und hätte den Schädel des Fliehenden zwischen die Zähne bekommen, aber die Silberkugel aus Sukos Waffe war schneller. Von der Seite her jagte sie in den Schädel hinein. Für einen Moment blitzte es an der getroffenen Stelle auf, dann war die Gestalt erledigt. Sie kippte um und rührte sich nicht mehr. Auch Wladimir feuerte. Er erwischte einen Untoten, bevor dieser in seine Schulter beißen konnte. Die Gestalt sank in den Schnee. »Weiter!« rief Suko, als er sah, daß Wladimir stehenbleiben wollte. »Wir müssen helfen.« Die beiden verließen die Nähe der Chefbaracke. Sie mußten sich einfach in den Kampf hineinstürzen, um freie Bahn zu haben. Und sie kämpften sich vor. Daß sie es geschafft hatten, den Riesenhund zu erledigen, hatte ihnen einen regelrechten Schub gegeben. Beide waren hochmotiviert. Immer wieder wurden sie von Schreien angelockt, immer wieder retteten sie Menschen aus höchster Lebensgefahr, und sie blieben auch zusammen. Silberkugeln und Peitsche räumten furchtbar auf, und die beiden Männer merkten sehr bald, daß die Untoten ein bestimmtes Ziel anvisierten. Es war ein düsteres Gebäude, das nicht einmal vom Schein einer Laterne erreicht wurde. Aber es war fester gebaut worden als die anderen, bestand aus Stein und besaß eine Metalltür. »Die Energiezentrale«, sagte Wladimir keuchend. »Das muß einfach die Zentrale sein. Die Menschen haben sich dort hineingeflüchtet, weil sie hoffen, daß die Zombies die Mauern nicht überwinden können.« »Die nicht«, sagte Suko. »Aber?« »Schau nach links!«
Wladimirs Gesichtsmuskeln erstarrten. Auch er sah den gewaltigen Schatten, den der Riesenhund warf, als er sich ausgerechnet diesem Bau näherte. »Verdammt!« keuchte Suko. Der Schnee stob unter den übergroßen Pfoten des Tieres auf. Es spielte keine Rolle, daß er bei seinen Sprüngen auch Zombies aus dem Weg schaufelte. Er schleuderte sie auf den weißen, harten Boden, wo sie sich sofort wieder erhoben und auf ihr Ziel zuschwankten. Suko hatte keine Kugel mehr im Magazin. Aber er mußte das Tier vernichten. Wladimir wollte ihm noch etwas nachrufen, aber der Inspektor war nicht zu stoppen. Er hatte die Peitsche und damit die Macht. Er schrie den Hund an, um ihn abzulenken. Zwar waren die Mauern des Baus stabil, das Dach war es nicht. Es konnte leicht von der Wucht der Pranken eingeschlagen werden. Suko vernichtete noch einen Untoten, als dieser sich gegen ihn fallen lassen wollte. Die drei Riemen drehten sich um die Gestalt, bevor sie den Zombie zu Boden rissen. Suko löste die Peitsche und schrie gegen den Riesenhund. Das Tier war schon bereit, sich mit seinem gesamten Gewicht auf das Dach zu stürzen, um es einzurammen. Der Schrei erreichte den Hund. Als er den Kopf drehte, schlug Suko bereits zu. Der Hund war größer als er. Sein Maul schaffte es, Menschen zu verschlingen, und die drei Riemen der Dämonenpeitsche erwischten den Hund unter dem Bauch. Ein furchtbarer Laut drang aus dem Maul. Ein irres Schmerzgeräusch, wie es ein Mensch niemals hätte ausstoßen können. Der Hund krachte in sich zusammen. Seine Beine bewegten sich hektisch, die Krallen zuckten über den Schnee und rissen die Fläche auf, so daß die Wolken wie Nebelbänke in die Höhe stoben. Suko war zur Seite gewichen. Er wollte nicht unter dem stürzenden Körper begraben werden. Und der Hund verging. Die Magie der Peitsche brannte ihn förmlich aus, sein Fell nahm eine andere Farbe an, so daß es irgendwann aussah wie kalte Asche. Die Knochen fielen zusammen, begleitet von den Tönen einer knackenden Melodie. Er drehte sich um. Der Russe war bereits auf die Eisentür zugelaufen. Dort standen drei Zombies etwa einen halben Schritt von dem Eingang entfernt. Sie taten allesamt das gleiche, hoben die Arme in einem bestimmten Rhythmus an und hämmerten mit ihren flachen Händen gegen das Metall. Jeder Aufprall klang wie ein dumpfer Glockenschlag.
Suko sah auch die Waffe in Golenkows Hand. Er hatte etwas dagegen. »Nein, nicht schießen!« Wladimir drehte sich. Beim Näherlaufen winkte Suko mit der Peitsche. Der KGB-Mann verstand das Zeichen und trat zurück. Die Zombies ließen sich nicht stören. Sie sahen aus wie sich immer gleich bewegende Schatten, die nichts anderes vorhatten, als dieses Hindernis aus dem Weg zu räumen. Da konnten sie noch drei Tage schlagen, es würde nicht reichen. Die Eisentür hielt. Um die Beute kümmerten sie sich nicht. Suko hatte sich in ihrem Rücken aufgebaut. »Ja?« sagte Wladimir, wobei er seine Waffe nachlud. »Mach sie fertig. Sie dürfen nicht an die Menschen heran.« Seine Stimme war gehört worden. Der mittlere Zombie drehte sich um. Es war eine nackte Frau mit zerfetztem Gesicht, an dem die Haut herabhing wie dicke Haarsträhnen. Sie erwischte Suko als erste. Die drei Riemen trafen sie auf einmal und rissen sie von den Beinen. Sie fiel strampelnd in den Schnee. Ihre Lippen zuckten. Sie sah aus, als wollte sie nach Luft schnappen, und Suko schlug bereits zum zweitenmal. Der Untote wurde durch die Wucht des Treffers nach vorn geschleudert. Mit dem Gesicht klatschte er gegen das Eisen. Es hörte sich an, als hätte jemand mit einem Pfannkuchen dagegengeschlagen. Den dritten Zombie erwischte es in der Drehung. Er wurde beinahe hochgehievt, so hart umwickelten die Peitschenarme seinen Körper. Erst jetzt sahen Suko und Wladimir, daß seine Hände bluteten. Es mußte das Blut eines Opfers sein, und es hinterließ dunkle Spuren auf der weißen Oberfläche des Schnees. Mit den Füßen drückte Wladimir die Untoten zur Seite. Er starrte auf den Knauf, denn die Tür besaß keine Klinke. Ein breiter Außenriegel war zurückgeschoben worden. Das Schloß hing zerfetzt an einem Haken. »Ob welche es geschafft haben?« fragte der Russe. »Wir werden es gleich sehen.« Suko versuchte, den Knauf zu drehen. Er schaffte es nicht. Sein Fluch sorgte dafür, daß Wladimir ihm zu Hilfe kam. Auch mit gemeinsamen Kräften war es nicht zu schaffen. Dafür hörten sie von innen eine laute Stimme. »Ihr kommt nicht rein, ihr Teufelsbrut. Ihr werdet draußen bleiben! Zurück in eure Gräber, ihr Verdammten!« Wladimir, der rasch übersetzte, gab ebenso rasch die Antwort. »Wir sind es, verflucht!« »Und die Toten?« »Haben wir vernichtet.«
»Verdammt, wir glauben euch nicht! Wo ist Mesrin?« »In seinem Büro!« Es vergingen abermals Sekunden, bis die Männer überzeugt waren. Sie lösten die innere Sperre. Die Tür flog den beiden fast entgegen, dann stürmten sie über die Schwelle, hinein in eine flackernde Welt aus Licht und Schatten, in der sich die Gesichter der Männer wie geisterhafte Gemälde abzeichneten. Die Männer hatten sich bewaffnet. Sie trugen alles, was ihnen in die Hände gefallen war. Knüppel, Stangen, Sägen und Äxte. Auf ihren Zügen lag das nackte Entsetzen, das sich auch in den Augen der meisten abzeichnete. Viele hatten es nicht geschafft, sich der Kälte entsprechend anzuziehen. Ihre Kleidung war viel zu dünn. Lange hätten sie es hier nicht aushalten können. Einige standen zwischen den Generatoren, die nach Öl und Fett rochen. Überhaupt lag ein strenger Geruch in diesem Bau. Manche Leute würden sagen, daß es nach Arbeit stank. Suko und Wladimir drehten sich um. Mit hektischer Stimme fragte der Russe nach lebenden Leichen. »Hier nicht.« »Da bist du sicher?« »Ja!« »Was ist mit den anderen? Ihr seid doch nicht alle – oder?« »Nein. Es werden einige nicht geschafft haben, glaube ich.« Der Sprecher senkte den Kopf, als würde er sich wegen seiner Antwort schämen. Das hatten Wladimir und Suko befürchtet. Sie standen da, schauten sich an, und nickten zugleich. Jetzt mußte jedes Haus durchsucht werden, sonst konnte es im nachhinein zu einer Katastrophe kommen. »Da war noch etwas.« »Ja bitte?« »Es sind welche durch unser Lager gelaufen und haben sich zum Hafen hingewandt.« Wladimir hörte aufmerksam zu. Er schrak zusammen, als ihm der Sprecher die Beschreibung einer bestimmten Person nicht vorenthielt. Aus Sukos und Johns Berichten wußte er, daß es sich nur um Cigam handeln konnte. Er redete mit Suko darüber, nachdem er den Redefluß des Mannes durch eine entsprechende Handbewegung gestoppt hatte. Suko ballte eine Hand zur Faust. »Das hatte ich mir gedacht!« flüsterte er. »Verdammt, das mußte ja so kommen.« »Dann sind die Fischer auch in Gefahr.« »Im Prinzip ja«, sagte der Inspektor. »Es kann auch sein, daß Cigam und seine lebenden Toten etwas anderes vorhaben. Im Hafen liegen Schiffe. Er ist eisfrei, sie können auslaufen. Du darfst nicht vergessen,
daß hinter diesem Angriff ein noch größeres Ziel steht. Cigam und Stepanic gehorchen dem Teufel. Sie wollen dessen Feinde, die auch ihre sind, vernichten. Das sind nun mal die Vampire.« »Ich verstehe.« Wladimir nickte. Er wischte über seine Stirn. Trotz der Kälte lagen dort Schweißtropfen. »Aber ich kann nicht bleiben, ich muß zum Hafen.« »Gut, geh. Laß dich nicht erwischen! Ich bleibe hier und schaue mich in den Häusern um.« »Abgemacht.« Golenkow erklärte den Männern noch, daß sie im Energiehaus bleiben sollten, bis Entwarnung gegeben wurde. Dann machte er sich auf den Weg. Auch Suko ging. Er hoffte, daß John Sinclair Stepanic unter Kontrolle hatte. Wenn einer weiterhelfen konnte, dann war es der ehemalige Arzt und Zombiemacher. Stepanics Lachen klang wie das hohle, triumphierende Gelächter des Höllenherrschers. Ich war drauf und dran, dieser zweibeinigen Bestie was vors Maul zu geben – irgendwo ist man auch ein Mensch und hat Gefühle –, da brach das Gelächter ab. Ein Grinsen blieb. Irgendwie war es scharf in die Züge des Mannes eingezeichnet und verzerrte die Lippen wie rissige, schmale Gummischläuche. Er funkelte mich an. »Damit hast du wohl nicht gerechnet, wie?« Ich blieb cool, auch wenn es schwerfiel. Vom Einsatz meiner beiden Freunde hatte ich nicht viel mitbekommen, aber es war viel ruhiger geworden. Sie schienen doch große Lücken in die Reihen der untoten Gestalten gerissen zu haben. »Du schweigst?« »Ja, denn ich glaube nicht, daß deine Zombies den großen Sieg errungen haben.« »Abwarten.« »Heißt das, du verläßt dich auf Cigam?« Er verzog seinen Mund noch weiter. Wahrscheinlich wollte er wissend grinsen. »Das ist möglich, das ist sogar sehr gut möglich. Denke daran, daß wir wie Zwillinge sind. Wo der eine ist, da befindet sich auch der andere. Die veränderten Hunde sind seine Sprache gewesen, die Zombies waren meine Erklärung.« »Wo steckt Cigam?« »Such ihn!« Er ging mir nicht nur auf den Wecker, er brachte mich durch seine Rederei auch zur Weißglut. Ich packte ihn mir und schüttelte ihn heftig durch. »Hör zu, Stepanic, auch wenn es für dich ein Spaß sein sollte, für mich ist es keiner. Hier geht es um Menschenleben, und ich lasse mich
von dir nicht verarschen. Sollten wir Tote finden – echte Tote – ergeht es dir schlecht.« »Hör auf zu reden.« Ich stieß ihn vor. Plötzlich wollte ich nicht mehr hier stehenbleiben und nichts tun. Stepanic mußte mit mir gehen. Ihn jetzt aus den Augen zu lassen, wäre einer Todsünde gleichgekommen. Der brachte es fertig und mobilisierte auch den Rest. Der Vergleich ist zwar schlimm, aber irgendwo stimmte er. In dem Camp sah es aus wie auf einem Schlachtfeld. Die dunklen Körper hoben sich von der weißen Schneedecke ab und sahen aus wie dahingestreut. Niemand bewegte sich, und ich mußte zugeben, daß Suko als auch Wladimir ganze Arbeit geleistet hatten. Kein Mensch befand sich unter den Toten. Die reglosen Gestalten gehörten ausnahmslos zu den Zombies, was mich natürlich zufrieden machte, Stepanic aber mit den Zähnen knirschen ließ. Ich hatte meine linke Hand in seinen Jackettkragen gekrallt und führte ihn regelrecht ab. »Nun, was ist mit deinen großen Helfern? Hast du gesehen, wie sie liegen? Sie regen sich nicht, sie werden sich niemals mehr regen.« Er schwieg verbissen. Ich schaute genauer hin. Die meisten waren durch geweihte Silbergeschosse erledigt worden, aber ich sah auch einige, die innerlich verbrannten. Tiefe Wunden zierten deren Haut. Sie waren von den Riemen einer Peitsche hinterlassen worden. Für mich ein Beweis, daß Suko zu seiner stärksten Waffe gegriffen hatte. Über dem Lager lag eine gespenstische Ruhe. Die Antennen schimmerten, ich hörte nur das Echo unserer Schritte, sonst hielten sich alle Lebenden versteckt. Mir war klar, daß wir die Häuser durchsuchen mußten, Zombies konnten sich versteckt halten. Rechts neben mir knarrte eine Tür. Ein Geräusch, das mich augenblicklich warnte und die Spannung wie einen Stromstoß in mir hochschießen ließ. Sofort blieb ich stehen, riß auch Stepanic zurück und preßte ihn fast gegen mich. »Angst, Sinclair?« »Nein, ich bin nur vorsichtig.« Er kicherte völlig unmotiviert, schielte aber zur Tür hin, die jetzt offenstand. Eine Gestalt kam aus dem Haus. Sie blutete, sie trug zudem die Kleidung eines Lagerarbeiters. Ihr Gang war schwankend, und als ich die Wunde sah, da wußte ich, daß der Mann eigentlich hätte tot sein müssen. Er war es nicht, ihn hatten die Zombies erwischt, getötet und damit den grausamen Fluch
ausgesprochen, daß derjenige, der von einem Zombie umgebracht wurde, selbst zu dieser Gestalt regenerierte. Wo sich sein Bauch befand, sah ich nur ein zuckendes, dunkles Loch. Ich erledigte ihn. Dicht vor unseren Füßen brach er zusammen. Geschossen hatte ich nicht, sondern meinen Dolch genommen. Ich richtete mich wieder auf und schaute Stepanic an. »Ist was?« »Der geht auf dein Konto«, flüsterte ich. »Und ich schwöre dir, ich werde dir das Handwerk legen.« Sein Gesicht bekam einen arroganten Zug. »Das glaube ich kaum, Sinclair.« »Abwarten.« Jemand kam. Er schlich herbei, dennoch hörten wir seine Schritte. Mesrin durchquerte den Lichtschimmer einer Laterne. Er sah aus, als hätte er sich übergeben. Gelb und grün im Gesicht. Auch dem Vergleich mit einem Zombie hielt er mühelos stand. Da er jedoch nach Luft schnappte, konnten wir davon ausgehen, daß sie ihn nicht erwischt hatten. Zitternd blieb er neben uns stehen. In seinen Augen lag so etwas wie Fieber. »Ist es vorbei? Ich… ich höre keine Schreie und Schüsse mehr.« »Wahrscheinlich.« »Und die Männer, die…?« Ich antwortete in seine Frage hinein. »Das weiß ich noch nicht genau, wir müssen abwarten und erst einmal sehen, was Suko und Wladimir Golenkow geschafft haben.« Er nickte und preßte beide Arme um seinen Körper. »Ja«, hauchte er, »das wird wohl besser sein.« Die Stille lag wie ein dickes Bleipaket über der Station. Deshalb waren auch andere Geräusche so gut zu hören. Zum Beispiel die Schritte in meinem Rücken. Ich drehte mich um. Ein Zombie kam nicht. Wenn der ging, das hörte sich anders an. Aus einer schmalen Gasse erschien eine Gestalt, die etwas Längliches in der rechten Hand hielt. Es war Suko mit seiner Peitsche. Ich winkte ihm zu. Da ich mich scharf von dem hellen Untergrund abhob, konnte er mich gut erkennen. Und ich sah sogar, wie er tief und fest durchatmete. Er war froh, mich gesund und heil zu sehen. Mir erging es ebenso. Suko starrte Stepanic ins Gesicht. »Und das«, so flüsterte er, »haben wir alles dir zu verdanken. Aber das hier ist kein Sieg. Stepanic, nicht einmal ein Teilsieg. Du hast dich mit dem Falschen verbündet, und du wirst immer auf seifen der Verlierer stehen.« »Bist du sicher?«
»Ja.« »Er denkt an Cigam«, sagte ich. Suko nickte. »Daran denke ich auch, John. Und Wladimir hat ihn ebenfalls nicht vergessen. Wir haben auch gesehen, daß dieses Lager von den lebenden Leichen durchquert worden ist. Nicht eben wenige sind zum Hafen hingelaufen.« Ich hatte begriffen. »Ist Wladimir ihnen auf den Fersen?« »Richtig.« Ich hatte plötzlich Angst um den Freund. »Verdammt, Suko, nichts gegen ihn, aber das kann ins Auge gehen.« »Er wird vorsichtig sein, das hat er versprochen.« Suko winkte ab, für ihn war das Thema erledigt. Er kam statt dessen auf die Durchsuchung der Station zu sprechen. »Sie sollten wir nicht vernachlässigen.« Ich stimmte ihm zu. »Kann ich mit euch gehen?« fragte Mesrin. »Sicher.« Suko lächelte. »Die meisten sind übrigens in Sicherheit. Sie haben sich im Energiezentrum verbarrikadiert. Einige werden wir trotzdem noch finden.« »Hoffentlich lebend«, flüsterte Mesrin. Er war so schnell gegangen wie möglich, aber nicht gerannt, denn Wladimir Golenkow wußte genau, daß er vorsichtig sein mußte, weil er den Untoten alles zutraute. Die lebenden Leichen holte er nicht mehr ein. Er sah sie auch nicht, obwohl der Schnee unter dem dunklen Mantel der Nacht eine helle Fläche bildete und der KGB-Mann relativ weit sehen konnte. Es wuchsen einfach zu viele Hindernisse in die Höhe. Da waren die Felsen wie Barrieren, da gab es Mulden und kleine Erhebungen, und das Meer rauschte in diese Stille hinein wie ein nie abreißender Donner, der gegen die Küste wuchtete. Er kam sich so verdammt allein vor. Wenn er daran dachte, was hinter ihm lag, erwischte ihn noch jetzt der kalte Angstschauder. An die nahe Zukunft wollte er gar nicht denken. Auf keinen Fall wollte er in die Falle der Untoten hineingeraten. Daß diese eine aufgebaut hatten, damit mußte er rechnen. Er wußte genau, welchen Weg er nehmen mußte, da sich die Spuren der lebenden Leichen auf dem Schnee abmalten. Sie hatten ihn aufgeschürft, sie hatten ihn eingedrückt und Bahnen hinterlassen, die den Russen an eine Spur des Todes erinnerten. Er dachte an die Fischer in ihren kleinen Häusern, die einem Angriff der lebenden Leichen wohl kaum Widerstand entgegensetzen würden. Wen sie haben wollten, den bekamen sie auch. Wladimir blieb nicht einmal die Zeit, die Menschen zu warnen.
Sein Atem stand wollig vor den Lippen. Die Luft war sehreisig geworden. Wenn er einatmete, durchsägte sie seine Lungen wie eine Fräse, die alles zerstören wollte. Während des Laufs band er sich den Schal vor die Lippen. Jetzt wurde die Luft beim Einatmen etwas angewärmt, und ihm ging es besser. Der Himmel war zu einem schwarzen Tuch geworden. Hell und ungemein klar spannte er sich über einem Land, das an Weite und Größe kaum zu begreifen war und das einen innerlichen Umsturz erlebte wie nie zuvor. Dann sah er die ersten Häuser. Vielmehr deren Dächer, denn die Mauern hoben sich kaum ab. Sie waren einfach noch zu niedrig und versteckten sich im Gelände. Er war auch zur See hingelaufen, die ewige Brandung empfand er jetzt lauter als sonst. Die ersten großen Wellen wurden von der natürlichen Felsbarriere vor dem kleinen Hafen schon gebrochen, so nahm man ihnen die große Wucht. Er blieb stehen, als er die Häuser besser sehen konnte. Es brannte kein Licht. Sie lagen wie hingemalt unter dem kalten, eisigen Licht der unzähligen Sterne. Ein schöner Himmel, eine klare Nacht, aber Wladimir hatte dafür keinen Blick. Ihn interessierten auch nicht mehr die Häuser, denn er hatte anhand der Spuren gesehen, daß sich die restlichen Zombies in Richtung Hafen gewandt hatten. Wollten sie tatsächlich verschwinden? Bei dieser Frage überkam ihn eine Gänsehaut. Er dachte an die Vampire und auch an die Theorien, die seine beiden Freunde John und Suko entwickelt hatten. Im Prinzip waren die Zombies wohl nur erschienen, um die Blutsauger zu vernichten, obwohl beide zu den schwarzmagischen Wesen gehörten. Zum Glück für die Menschen gab es auch unter ihnen Streitereien und Haß, so daß sie sich nicht allein um die Menschheit kümmern mußten. Möglicherweise hatten sie erst den Haß unter der Bevölkerung des blauen Planeten gesät, so waren die negativen Gefühle und die damit verbundenen Taten auch eben ein Zeichen dafür, daß es die Hölle und ihre zahlreichen schwarzmagischen Diener tatsächlich gab. Golenkow wischte seine trüben Gedanken fort, denn er mußte unbedingt den Hafen erreichen. Nach wenigen Schritten nur hörte er ein ihm sehr bekanntes Geräusch. In der Stille klang es noch lauter als sonst. Es war ein Tuckern, hervorgerufen von einem Schiffsmotor. Alles deutete darauf hin, daß eines der im Hafen ankernden Schiffe dabei war, das Gebiet zu verlassen.
Natürlich mit den verdammten Blutsaugern an Bord, eine andere Möglichkeit gab es für ihn nicht. Er hatte es plötzlich eiliger als vorhin, lief schneller und hielt den Blick dabei zu Boden gerichtet, denn hin und wieder tauchten gefährliche Eisinseln auf. Sie sahen aus wie trübe Augen auf dem grauen Pflaster, das diesen Teil des Hafens bedeckte. Man hatte es teilweise vom Schnee geräumt, das Eis aber gelassen. Der Blick des Russen war dorthin gerichtet, wo auch die Schiffe lagen, deren Masten sich im Rhythmus der anrollenden Wellen bewegten. Die Bootskörper rieben gegeneinander und erzeugten ungewöhnliche Geräusche, die durch die Stille drangen. Für Wladimir hörte es sich an, wie der hohle Donner aus einer Schlucht. Ein Boot scherte aus. Er hatte zuerst nur den Motor gehört, jetzt bekam er mit, wie sich der Kahn schwerfällig von seinem Anlegeplatz her löste, um den Hafen zu verlassen. Wladimir Golenkow blieb stehen. Er atmete heftig. Mit seiner Hand fuhr er über das Gesicht und erstickte dabei den Fluch zu einem Brabbeln. In der Eile hatte er vergessen, die Handschuhe überzustreifen. Seine Finger wirkten wie Eisstangen. Er zog die wärmenden Fäustlinge über, lief noch einige Schritte auf die kleine Mole zu, um den Trawler besser erkennen zu können. Die Fischer kümmerten sich nicht darum, daß eines ihrer Boote auslief. Sie blieben in den Häusern. Vielleicht ahnten sie auch etwas und hatten Angst. Das Bild erinnerte Golenkow an eine Postkarten-Szene. Sie war unbeweglich, bis eben auf den einen Trawler. Wo wollte er hin? Jedes Schiff mußte zunächst den Hafen verlassen, bevor es den richtigen Kurs einschlagen konnte. Da dieser Trawler ohne Positionsleuchten fuhr, würde er bald von der Dunkelheit verschluckt werden. Es war schwer festzustellen, wo sich Meer und Himmel trennten. Noch war der Kahn gut zu erkennen. Scharf zeichneten sich die beiden Masten ab. Einer war höher als der andere. Darunter lag das Ruderhaus wie ein Würfel. Und auf seinem Dach stand die Gestalt. Im Licht der Gestirne sogar ziemlich deutlich zu erkennen. Sie stand da wie eine Eisfigur, ohne sich zu bewegen. Ein kleiner Mensch, ein Wesen? Es starrte nicht zum Land zurück. Der Blick war gegen das wogende Meer gerichtet, dessen Wellen weiße, lange Schaumstreifen zierten, als wären es Bänder aus wertvollen Diamanten, die dann
auseinanderstoben, wenn sie gegen die Felsen prallten und als Brandung verzischten. Die Gestalt wirkte wie ein König. Wie jemand, der genau wußte, was er vorhatte. Und Wladimir wußte nicht, wer den Fischtrawler steuerte. Von allein würde der Kahn kaum den Weg zum Ziel finden. Aber in diesem verdammten Fall war einfach alles möglich. Allmählich verschwand das Boot aus seinem Blick. Es zerfloß mit den Konturen des Wassers und des Himmels. Golenkow stand noch immer da und dachte über den Einsamen auf dem Ruderhaus nach. Er hatte ihn in dieser Nacht zum erstenmal gesehen, aber er wußte trotzdem, wer er war. John und Suko hatten über ihn gesprochen, er war jemand, der ihnen viel Ärger bereitet hatte, der auch einen Namen besaß. Cigam! Er flüsterte ihn vor sich hin. Schon allein das Aussprechen des Namens ließ bei ihm eine Gänsehaut zurück. Er hörte sich schlimm an, er war eigentlich furchtbar, er versprach das Böse, das Chaos und die Zerstörung. Noch hörte er den Motor, aber der Klang mischte sich schon bald in das Geräusch der brechenden Wellen. Golenkow drehte sich um. Seine Bewegungen gaben seinen inneren Zustand wieder. Sie wirkten matt, deprimiert. Er hätte ihn gern gestellt gehabt, aber er war zu spät gekommen. Statt dessen tuckerte der Trawler mit den zahlreichen Zombies an Bord bereits dem neuen Ziel entgegen, bestimmt einer der zahlreichen Inseln. Golenkow wollte wieder zurück. Er mußte mit den anderen reden. Sie konnten auch nicht bis zum Hellwerden warten. Jede Minute, die untätig verging, war eine verlorene. Er drehte sich um – und hörte das Geräusch. Wo die Gestalt bisher gelegen oder gelauert hatte, war ihm unklar. Vielleicht hinter den vier oder fünf Fässern, die in seiner Nähe standen und von einer dicken Eiskruste überzogen waren. Sie stieß beim Gehen noch gegen ein Faß, hatte Mühe mit dem Gleichgewicht, obwohl der Boden nicht glatt war, und Wladimir Golenkow zerrte bereits seine Handschuhe von den Fingern. Er wußte, wer ihm da entgegenkam. Ein Zombie, der das Schiff verpaßt und es nicht geschafft hatte. Er mußte das Fleisch gerochen haben, er folgte seinem Trieb, um den Menschen zu zerfetzen. Wladimirs Hände waren noch immer zu steif. Er konnte die Waffe kaum halten, deshalb mußte er die zweite Hand zu Hilfe nehmen, um den Arm abzustützen.
Er war plötzlich unsicher geworden. Diese eine bleiche Gestalt bereitete ihm mehr Unbehagen als die Masse der Untoten, als sie das Lager überfallen hatten. Es war sogar eine Frau. Sie hatte wenig Haare, quer über ihren Kopf zog sich eine Blutspur. Von der Stirn fehlte ein Teil. Dafür schimmerte dort ein dunkler Keil. Er ging in die Knie. Wladimir hatte das Gefühl, diese Haltung einnehmen zu müssen, er hätte sonst vorbeigeschossen, weil er sich einfach zu unsicher war. Dann schoß er. Der Knall, das Echo, und der Treffer verschmolzen zu einer Einheit. Er sah, wie die lebende Leiche wankte, zurückfiel und dann gegen die Fässer krachte, da sie sich noch in ihrer Nähe befunden hatte. Die Händen sanken nach unten. Der Russe hörte sich selbst atmen. Er war erleichtert, er hatte die Klippe geschafft, vor der er sich unnötigerweise gefürchtet hatte. Die Zombies waren entkommen, er aber hatte wenigstens für sein Ego einen Sieg errungen. Hinschauen wollte er nicht mehr. Es war unnötig. Die Silberkugel sorgte eben für das Ende. Und so ging er zurück. Nicht denselben Weg, diesmal nahe an den Häusern der Fischer vorbei, die innen nicht so tot waren, wie sie von außen wirkten. Einige Fenster zeigten Eiskrusten, die das Glas im unteren Drittel bedeckten. Darüber sah er hin und wieder ein ängstliches Gesicht mit ebenso ängstlichen Augen. Einmal blieb er stehen und winkte. Der Mann hinter der Scheibe zuckte erst zurück, schließlich überwand er sich, das Fenster zu öffnen. Wladimir sprach ihn ah. »Der Schrecken ist vorbei.« »Ja, ja, wir haben sie kommen sehen und wegfahren hören. Es waren die Günstlinge der Hölle. Der Teufel hat sie freigelassen. Er kündigt das Ende der Welt an.« »Nein, Alter, nein. Es ist der Anfang.« Wladimirs eiskalte Lippen zeigten ein Lächeln. »Es ist der Anfang und gleichzeitig der Beweis dafür, daß der Schrecken vorbei ist.« »Hoffentlich.« Der alte Mann streckte seine Hände aus dem Fenster und drückte die des KGB-Mannes. Der aber ging weiter. Nicht erfreut, nicht beruhigt, denn er wußte genau, daß der große Kampf noch vor ihnen lag. Als er auf die Uhr schaute, waren es noch knapp eine Stunde bis Mitternacht. Ob das etwas zu bedeuten hatte? Jedenfalls wußte er, daß die Tageswende auch gleichzeitig die Stunde der Vampire war…
*** Wir hatten das Gelände durchsucht, in die einzelnen Häuser hineingeschaut und konnten eigentlich zufrieden sein, denn den Zombies war es nicht gelungen, weitere Opfer zu finden. Daß wir es nicht waren, lag daran, daß einer fehlte. Ihn hatten wir nicht entdecken können. »Ich weiß auch nicht, wo der Pilot stecken könnte«, sagte Mesrin. »Sollte er nicht bei seiner Maschine bleiben?« »Da war er aber nicht«, murmelte ich. »Vielleicht hat er sich versteckt.« »Das wäre zu hoffen. Nur hätte er jetzt längst erscheinen können. Warum hat er das nicht getan?« »Sie befürchten Schlimmes?« »Leider ja.« Mesrin schaute betreten zu Boden. »Dann werden wir wohl nicht von hier wegkommen, wenn…« Ich winkte ab. »Keine Sorge. Mein Freund kann einen Hubschrauber lenken und ich ebenfalls.« Das beruhigte ihn. Ich drehte mich um. Der feine Schnee stob gegen mein Gesicht, weil er von einem Windstoß hochgewirbelt wurde. Selbst der dunkle Himmel sah für mich eisig aus. Suko kam mit dem Wind. Er hatte die Augen verengt, ein Zeichen, daß auch ihm nicht gefiel, was hier vorgefallen war. »Wenn der Pilot nicht zu finden ist, dann gibt es nur eine Möglichkeit: Er ist zu einem Zombie geworden und mit den anderen gegangen. Oder wie denkst du darüber, John?« »Ähnlich.« Mesrin zog die Nase hoch. »Sie reden darüber, als wäre alles normal hier in der Station.« Ich hob die Schultern. »Manchmal ist das Unnormale eben normal. Gerade in unserem Beruf.« »Sie machen das auch nicht erst seit gestern?« »Bestimmt nicht.« Mesrin schüttelte den Kopf. »Ich hätte nie gedacht, daß es so etwas überhaupt gibt.« »Da kommt Wladimir«, sagte Suko. Er war nicht allein. Zusammen mit den Arbeitern aus dem Camp fand er seinen Weg. Die Männer hatten sich jetzt überwunden, das Energiehaus zu verlassen, die Gefahr war vorbei. Dennoch bewegten sie sich unsicher und scheu.
Wladimir sprach noch einige Worte, bevor er zu uns kam. An seinem Gesicht lasen wir ab, daß er keinen Erfolg gehabt hatte. In den nächsten Minuten bekamen wir es von ihm bestätigt. »Hast du unseren Piloten gesehen?« fragte Suko. »Nein, wieso?« »Er ist verschwunden.« Golenkow schluckte. »Einfach so? Oder ist er zu einem Opfer der Zombies geworden?« »Das wollen wir nicht hoffen«, erwiderte ich. »Wir müssen uns nur damit abfinden, selbst zu fliegen.« »Das kannst du, John.« »Richtig.« »Nur ist dies ein russischer Hubschrauber. Da möchte ich dich doch bitten, daß ich das Steuer übernehme.« »Freiwillig?« »Ja, denn ich bin darauf ausgebildet worden.« Wir lachten. Selbst Mesrin sah erleichtert aus. Er traute seinem Landsmann mehr zu, verständlich. Suko war dafür, so schnell wie möglich zu starten, und er traf auf keinen Widerspruch. Nur Mesrin überlegte es sich im letzten Augenblick. »Nicht daß ich Angst hätte«, sagte er, »die habe ich zwar auch, wenn ich ehrlich sein will, aber ich möchte doch bei meinen Leuten bleiben, wenn Sie verstehen. Ich glaube, die brauchen mich jetzt.« »Das ist sehr gut gedacht«, lobten wir ihn und hörten dann noch, wie er uns alles Glück der Welt wünschte. Das konnten wir auch gebrauchen… *** Es war eine Höhle des Schweigens und des schleichenden Grauens! Eine Welt für sich, die eine Laune der Natur vor langen, langen Jahren geschaffen hatte. Ein mit Eis gefülltes Rund, über das Lichtreflexe der Fackeln tanzten, die verteilt in den Wänden steckten, oberhalb der den Boden bedeckenden dicken Eisfläche, in der die Körper lagen wie in einer grauenhaften Tiefkühltruhe, die versuchte, ihren Inhalt für die Ewigkeit zu bewahren. Es waren keine Menschen, obgleich sie eine menschliche Gestalt besaßen. In der dicken Eisschicht steckten Vampire, gefährliche Blutsauger, die auf ihre Zeit warteten. Vor der Höhle schäumte das Meer. Mit gewaltiger Kraft wuchteten die hohen Wogen gegen das Stück Felsen, das wie eine gekrümmte Riesenhand aus dem Wasser hervorschaute, umgurgelt von schaumigen Streifen, den Kräften der Natur schutzlos preisgegeben, denn auf dem Fels wuchs kein Baum, kein Strauch. Da lag der Schnee, der teilweise
zu einer dicken Eisschicht geworden war. Wenn sie wegtaute, zeigte sich ein zaghaftes Grün, gebildet aus Moosen und Flechten, die sich mit diesem kargen Boden zufriedengaben. Selbst die zahlreichen Vögel mieden dieses Eiland. Über die anderen Inseln schwebten sie hinweg, landeten auch hin und wieder, aber diese wurde nicht einmal überquert. Da schlugen sie große Bögen, als würden sie das Grauen spüren, das sich in den Steinen verbarg. Es existierte kein Leben auf diesem leeren Fleck. Wirklich kein Leben? Doch, es bewegte sich jemand in der Höhle. Ein Mensch, nur beim ersten Hinschauen. Schwarz gekleidet, einen engen Mantel um die Gestalt geschlungen, obwohl diese Person weder Kälte noch Hitze wahrnahm. Sie besaß überhaupt keine Gefühle, denn sie war innerlich eingefrostet. Wenn man ihr etwas nachsagen konnte, dann war es die Gier nach Blut, dieses wilde Verlangen, einen Menschen auszusaugen, die Zähne in die Halsschlagader zu schlagen, um das Blut zu trinken. Diese Gestalt war Vampir! Ein Untoter, ein ehemaliger Mensch, eine bleiche Gestalt mit schwarzen Haaren, die glatt zurückgekämmt waren. Dunkle Augen mit flackernden Pupillen, einem verkniffenen Mund und einer hohen Stirn, auf der hin und wieder das Stigma erschien. Ein Buchstabe nur – ein D! Das Zeichen für ihn, das Stigma für Dracula, denn diese Gestalt war Dracula II. Sie hieß eigentlich Will Mallmann, hatte in ihrem normalen Leben als BKA-Beamter Geld verdient und war nur durch einen dämonischen Zufall in den Kreislauf des Grauens hineingeraten. Dann aber mit allen Konsequenzen, denn der ehemalige Beamte Will Mallmann wollte an sein früheres Leben nicht mehr erinnert werden. Er hatte sich dazu auserkoren, die Nachfolge des legendären Vlad Dracula anzutreten, er wollte die Macht haben über das Blut der Menschen, er wollte alle Menschen, er wollte die Herrschaft der Vampire verwirklichen. Er hatte es geschafft, seine Diener aus Marokko herauszubekommen und sie dann einfrieren zu lassen. Er brauchte sie als eine stille Reserve, denn seine Feinde gehörten nicht zu den Menschen, sondern auch zu den Kräften, die man als höllisch bezeichnete. Er stand nicht auf der Seite des Teufels, weil dieser den Machtgelüsten des Blutsaugers entgegen wirkte. Der Satan wollte nicht, daß jemand so hoch hinauskam. Beide versuchten, den anderen zu treffen. Mallmann hatte seine Vampire, der Teufel würde zurückschlagen, ebenfalls mit starken Kräften, mit einer kleinen Armee, das wußte der Vampir, und er hatte es geschafft, sich zu verbergen.
Nicht für ewig, sondern so lange, bis neue Pläne in seinem Gehirn entstanden waren. Oberhalb seiner Vampire bewegte er sich über eine schmale Galerie. Er hatte Leitern gebaut, die an verschiedenen Stellen von den Wänden herab in die Tiefe führten und auf dem Eis endeten. Das alles hatte Zeit in Anspruch genommen, doch in den letzten Wochen hatte sich Mallmann auf diese Aufgabe konzentrieren können, denn seine Begleiterin Nadine Berger war ihm von seinem Todfeind John Sinclairwieder geraubt worden. Im Horrorhaus von Pratau war es zu einem gewaltigen Kampf gekommen, und Sinclair hatte es tatsächlich geschafft, Nadine wieder von ihrem Schicksal zu erlösen. Sie lebte jetzt irgendwo als Mensch, und Mallmann hatte sich vorgenommen, sie auch zu finden. Allerdings später, wenn einiges gerichtet worden war. Geschmeidig bewegte er sich auf der schmalen Felsleiste. Er besaß zwar große Kräfte, kam sich aber trotzdem ausgedörrt vor, denn auch er brauchte hin und wieder Blut, um sich regenerieren zu können. Seine rechte Hand war in der Manteltasche verschwunden. Die Finger umklammerten dort einen Stein, der aus festem Blut bestand. Es war der Blutstein und gewissermaßen ein Erbe des uralten Vampirs Dracula, aus dessen stockigem Blut dieser Stein entstanden war. Sein Besitz war für Mallmann wichtig. Er machte ihn gewissermaßen unabhängig, da war er sogar resistent gegen geweihtes Silber. Es hatte ihn viel gekostet, diesen Stein in Besitz zu bekommen, und er würde ihn nie mehr hergeben. Neben einer Leiter blieb er stehen und auch nicht weit von einer Fackel entfernt, deren Feuer sich bewegte und über die Gestalt des Vampirs ein Muster warf, das sich hektisch bewegte. Er schaute nach unten, wo sie in der Eisfläche lagen und sich nicht rührten. Eisleichen, seine Armee, seine Helfer, seine große Reserve. Eigentlich hätte alles gut sein können und müssen, das allerdings war es nicht. Mallmann spürte genau, wie sich etwas über ihm zusammenbraute. Da war er äußerst sensibel. Schon die kleinste Abweichung vom Normalen wurde von ihm genau registriert. Er turnte die Leiter hinab. Dabei strafte er viele Beschreibungen Lügen, in denen zu lesen stand, daß sich ein Vampir nur sehr langsam und eckig voranbewegen konnte. Mallmann turnte sehr geschmeidig die Stufen hinab und erreichte die dicke Eisfläche, ohne auf ihr auszugleiten. Er ging über seine Helfer hinweg. Dabei hielt er den Blick gesenkt, als wollte er sich jeden einzelnen noch einmal genau ansehen. Das Eis besaß eine graugrüne Farbe. Es war trotzdem durchsichtig, und er warf seinen Blick in jedes Gesicht.
Bleiche Fratzen lauerten dicht unter dem Eis. Den Mund mal geschlossen, dann wieder geöffnet. Aus den offenen Mündern schauten die spitzen Vampirzähne hervor, als würden sie darauf warten, sie in die Hälse der Opfer schlagen zu können. Es waren nur Männer mit dunklen Gesichtern, denn sie stammten aus dem nördlichen Afrika. In einem Horror-Harem hatten sie sich aufgehalten, und Mallmann hatte sie dann in Sicherheit bringen können. Eingefroren lagen sie hier. Bisher hatte er sie nicht gebrauchen können, aber der Zeitpunkt ihres Erwachens lag nahe. Er durfte ihn nicht länger hinausschieben, da er merkte, daß die Gefahr sich unaufhörlich näherte. Und auch die Natur stand nicht mehr hundertprozentig auf seiner Seite. Genau dort, wo die mächtigen Wellen der Brandung gegen den Eingang der Höhle schlugen, hatten sie sich ihren Weg gebahnt und es tatsächlich geschafft, ein Stück Eis aus der Formation herauszubrechen. Es war ziemlich groß, ein Vampir hatte in diesem Teil Platz gehabt, und die mächtigen Wellen hatten es dank ihrer Kraft hinaus in das offene Meer gerissen. Sie arbeiteten weiter. Mallmann, der sich auf die Höhlenöffnung zubewegte, erkannte mit Schrecken, daß schon sehr bald weitere Eisstücke abbrechen würden. Mindestens drei seiner Helfer würden dann wieder in die offene See hinausgeschleudert werden. Drei weniger! Mallmann ärgerte das. Nicht allein deshalb, weil er jeden seiner Blutsauger benötigte, es gab auch noch ein zweites Kriterium, vordem ersieh noch mehr fürchtete. Diese in Eis eingepackten Blutsauger konnten sehr leicht gefunden werden. Sie hinterließen Spuren, man würde nachdenken, man würde etwas unternehmen. Daß Sinclair international arbeitete, war auch ihm bekannt. So konnte es durchaus möglich sein, daß der Geisterjäger seine Spur fand und hier auftauchte. Nicht daß sich Mallmann direkt davor fürchtete, er wollte den Kampf jedoch hinausschieben. Er mußte einfach noch warten, denn es brauchte Zeit, um die Vampire aus dem Eis hervorzuholen. Das Auftauen würde nicht einfach werden. In der Nähe des Ausgangs donnerte die Brandung noch stärker gegen die Felsen. Mallmann bewegte sich vorsichtig über das Eis hinweg. Wasser floß auf die Fläche und verteilte sich dort. Es umspülte seine Füße, es machte das Eis noch glatter. Er hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Vor dem Höhlenloch stemmte sich ein Vorhang aus Gischt hoch und nahm ihm einen Großteil der Sicht.
Es war Nacht, da konnte er sowieso nicht viel sehen, aber er hatte das Gefühl, daß die große Gefahr sich immer mehr über ihm zusammenzog wie ein Netz, an dem jemand zerrte. Mallmann wollte nicht länger in der Höhle bleiben. Er wartete eine günstige Gelegenheit ab und huschte nach draußen. Dabei trat er auch auf die Eisplatte, die mit der Gesamtmasse nur mehr dünn verbunden war, und er spürte bereits, wie sie sich unter seinen Füßen leicht bewegte. Noch in dieser Nacht würde sie abgespalten werden. Bevor der nächste Gischtvorhang den Eingang verdecken konnte, war Dracula II schon draußen. Es gab genug Höcker und Vorsprünge, auf denen er balancieren konnte, aber er mußte stark achtgeben, daß er auf den glatten Stellen nicht abrutschte. Dracula II nahm den Weg, der ihm bekannt war. Er wandte sich nach links, um dort durch eine Rinne an der Felswand der Insel in die Höhe zu klettern. Das Gestein besaß an gewissen Stellen so etwas wie die Formation einer Treppe. Er kam gut voran. Die eisige Luft umwehte ihn. Auch der Wind fand seinen Weg in diese Rinne. Ein Mensch hätte gefroren, Mallmann merkte nichts. Er kletterte unverdrossen weiter und tauchte immer höher in den Kanal. Dann hatte er es geschafft! Er stand auf seiner Insel an einem ziemlich hohen Punkt und konnte den Blick schweifen lassen. Er glitt über das Ufer hinweg, er verlor sich über den dunklen, anrollenden Wellen der gewaltigen Dünung, und Mallmann begann damit, die Insel zu umrunden. Er wollte nicht nur in eine Richtung schauen, wichtig war für ihn die südliche, denn von dort konnte möglicherweise die Gefahr kommen. Da lag die gewaltige Küste der UdSSR, ein irrsinnig großes Stück Land, zu dem auch diese Inseln gehörten. An das Brausen der Brandung, an ihr regelmäßiges Donnern, hatte er sich längst gewöhnt, so daß er sich sogar auf andere Geräusche konzentrieren konnte und sie auch hörte. Wie das permanente Tuckern eines Schiffsdiesels. Mallmann erstarrte. Ein Vampir, der Gefühle zeigte, das war selten. Er schaute zuerst gegen den Himmel, wo der Mond wie eine bleiche Scheibe stand, die noch nicht ganz rund geworden war. Umrahmt von zahlreichen funkelnden Sternen, bildete dieser Himmel ein Bild, wie es ein Maler nicht perfekter hätte schaffen können. Darunter wogte die See. Es war eine klare, eine kalte Nacht, die trotz der Dunkelheit auch Konturen schaffen konnte. Sie stachen scharf
voneinander ab, wenn sich etwas Fremdes in dieses Bild hineinschob, war es deutlich zu sehen. Und dieses Fremde kam! Mallmann gratulierte sich dazu, genau in die entsprechende Richtung geschaut zu haben, denn wie gezeichnet und leicht über den Wellen schwebend tuckerte das Boot auf die Insel zu. Es hatte kein Positionsleuchten gesetzt, es schob sich im Dunkeln über das Wasser, und Dracula II unterdrückte das eisige Lächeln nicht. Er wußte genau, was da auf ihn zukam. Sie hatten ihn gefunden! Er wußte Bescheid, obgleich er niemand an Deck sah. Dieser Besuch galt allein ihm, seine Feinde hatten zurückgeschlagen, sie würden kommen und die Insel stürmen, auch wenn sie sich nicht offen zeigten. Es war einer der Fischtrawler, der sich den Weg durch die anrollenden Wellen bahnte. Er hatte schwer zu kämpfen, weil das Meer ziemlich wild geworden war. Hoch schäumte die Bugbrandung. Die Gischtfahnen sahen aus als wollten sie über Deck gurgeln, um an den beiden Masten in die Höhe zu klettern. Manchmal senkte sich der Bug stark nach unten und tauchte dann in ein Wellental ein, als wollte er dort niemals wieder hervorkommen. Aber das Boot sank nicht. Es stampfte weiter, es geriet auch in die Nähe der Brandung, wo die Wellen noch höher und unkontrollierbarer waren. Sie spielten mit dem Schiff, sie hätten es eigentlich zurückschleudern müssen, aber es wurde auf Kurs gehalten. Mallmann fragte sich, wer es wohl steuerte. Es mußte ein besonderer Mann sein, der sich auskannte. Das Boot blieb auf Kurs. Es wollte die Klippen und gefährlichen Strömungen an der schmalen Inselküste überwinden, um dann Anker zu werfen. Minuten verstrichen. Unbeweglich stand Mallmann auf dem hohen Fels und beobachtete die Bemühungen. Manchmal sah es so aus, als würde es das Boot nicht schaffen, weil die gewaltigen Brecher es immer wieder zu fassen bekamen und es zurückdrückten. Aber der Steuermann war gut. Er nutzte die kurzen Ruhepausen der See aus, um in die entsprechenden Lücken zu stoßen, hinein in gurgelnde, schmatzende Kanäle, in die Strömung, die gegen den Bootskörper schlug, an ihm vorbeigurgelte, an ihm zerrte und den Bootskörper mit schaumigen Kreiseln verzierte. An Deck bewegte sich etwas. Für einen Moment entdeckte Mallmann die kleine Gestalt. Er hatte sie leider nicht deutlich erkennen können, so wußte er nicht, wer dort das Kommando übernommen hatte. Ein
schwarzmagisches Wesen auf jeden Fall, kein Vampir, eine Ausgeburt der Hölle, ein Günstling des Teufels. Daß eine Ankerkette rasselte, ahnte Mallmann nur. Aber der Anker war geworfen worden. An einer relativ ruhigen Stelle zwischen den Klippen sollte das Boot anlegen. Nicht weit genug, um trockenen Fußes auf das Eiland zu gelangen, aber das würde die Besatzung bestimmt nicht daran hindern, ihr Ziel zu erreichen. Noch geschah nichts. Mallmann sah nur die Gestalt, die sich auf dem schaukelnden Deck bewegte. Sie schritt hin und her, auf und ab, als wollte sie etwas suchen. Sie blieb nicht allein. Plötzlich kamen sie aus ihren Verstecken. Der beobachtende Vampir wechselte seinen Platz, um besser sehen zu können. Es war schon der Wahnsinn, was sich dort abspielte. Dracula II folgte mit seinen starren Blicken sehr genau den Bewegungen der Gestalten, die aus dem Bauch des Schiffes hervorgekrochen waren. Die meisten von ihnen trugen nur Fetzen als Kleidung, als hätte man irgendwelche Totenhemde zerrissen und die Teile dann an die Körper gepappt. Viel zu dünn für diese noch eisigen Temperaturen. Davon spürte die Besatzung nichts. Sie war resistent gegen die Unbilden der Witterung, und Mallmann wußte bereits nach Sekunden Bescheid, wer sich da auf dem Deck tummelte. Leblose Wesen auf zwei Beinen, furchtbare Geschöpfe, für die es einen bestimmten Begriff gab. Es waren Zombies! Mallmanns Hände bewegten sich. Unruhe erfaßte ihn. Er wußte jetzt, daß seine dämonischen Feinde hinter dieser Attacke standen, daß sie versuchen würden, ihn mit den eigenen Waffen zu schlagen. Blutsauger contra lebende Leichen! Ein wahrer Irrsinn, wie Mallmann zugeben mußte. Eine verrückte Szenerie, inszeniert vom Teufel persönlich, der hier seine giftigen Klauen mit im Spiel hatte. Sie krochen aus ihren Verstecken, sie taumelten über das Deck, es gelang ihnen nicht immer, die Schwankungen des Trawlers auszugleichen, deshalb rutschten sie aus und fielen hin. Aber sie stemmten sich immer wieder hoch. Es war kein Geräusch zu hören. Dem beobachtenden Vampir bot sich ein unheimlicher, ein lautloser Vorgang. Auf dem Boot blieben sie nicht. Es ging weiter, es mußte weitergehen, damit ein Ziel erreicht werden konnte.
Sie hatten die neuen Befehle erhalten und näherten sich den beiden Seiten des Kahns. Und dann sprangen sie. Nein, sie kugelten förmlich über Bord und wuchteten ihre Körper in die schaumige See. Mallmann schaute zu. Es war einfach faszinierend, dies mit ansehen zu können, obwohl er wußte, daß es seine Feinde waren. Die alten, schon halbverwesten Körper tauchten in das eisige Wasser, dessen Wellen mit ihnen spielten. Sie wurden in die Tiefe gedrückt, wieder hochgehoben, gerieten in die Rinnen zwischen den kantigen Felsen, wo die schaumige Strömung mit ihnen spielte, als wären sie Korken. Sie wurden herumgedreht, angehoben, zur Seite geschleudert, prallten gegen die Felsen, die an manchen Stellen scharf wie Messer waren, die dann in die welke oder auch aufgedunsene Haut der lebenden Toten hineinschnitten. Das alles baute sich ihnen als Hindernis auf, aber es hielt sie nicht davon ab, ihren Weg zu schwimmen oder zu verfolgen. Dafür sorgte schon die Strömung. Sie schob die Körper hinein, sie drückte sie durch Rinnen, in die gurgelnden Kanäle, die wie die Arme eines riesigen grauen Monsters wirkten, das alles an sich heranziehen wollte, wenn etwas nur in etwa nach einer Beute aussah. Mallmann mußte zugeben, daß der Anführer den Ankerplatz gut gewählt hatte. Die Strömung schob die Zombies heran, sie brachte sie immer weiter auf das Ziel zu, und es gab eigentlich nichts, was sie noch stoppen konnte. Mallmann mußte sich etwas einfallen lassen. Aber mußte er das wirklich? Was wollten die Untoten? Klar, sie würden über seine Vampire herfallen, diese wiederum lagen im Eis, das um ihre Gestalten herum einen Schutzpanzer errichtet hatte. Es würde die Zombies Kraft, Mühe und Arbeit kosten, sie von diesem Druck zu befreien. Die ersten lebenden Leichen waren bereits an die Insel geschwemmt worden. Sie wuchteten gegen die harten Felsen, manchmal sah es aus, als hätten sie ihre Arme bewußt aus dem Wasser geschleudert, um sich am Gestein festzuhalten. Es lohnte sich nicht, denn die Hände rutschten immer wieder ab. Zudem spülte das Wasser ihre Körper in die Höhe, und sie kamen kaum weiter. Doch sie gaben nicht auf, und sie erreichten ihr Ziel. Die ersten gerieten bereits in den flacheren Teil des Wassers, wo sie schon stehen konnten. Zwar fielen sie auch jetzt durch den Druck der Wellen, aber sie kamen nun leichter wieder hoch und näherten sich dem Eingang der Höhle. Mallmann konnte das nicht beobachten, sein Blickwinkel war einfach zu schlecht. Aber er wollte es sehen und huschte geduckt weiter, bis zu
dieser steilen Küste der kleinen Insel, wo er sich auf dem Bauch niederließ, noch ein Stück über den harten Boden kroch, um dann in die Tiefe schauen zu können. Unter sich sah er sie. Einige von ihnen hatten bereits die Höhle betreten. Sie würden auf der Eisfläche einhergleiten und dann versuchen, an die Blutsauger heranzukommen. Der Vampir hatte sich einen Plan zurechtgelegt. Er würde zunächst nur beobachten, aber nicht von dieser Stelle aus. Mallmann hatte sich einen Geheimgang angelegt, von dem aus er die Höhle betreten konnte. Er huschte auf die Inselmitte zu. Dort lagen zwei Felsplatten in einem bestimmten Winkel zueinander, so daß sie ein kleines Dach bildeten. Die Öffnung reichte soeben noch aus, um einen Menschen hineinkriechen zu lassen. Mallmann tat es. Er schlängelte sich zwischen die Platten und tauchte kopfüber in die Öffnung. Seine Hände bekamen das rauhe und starre Seil einer Strickleiter zu fassen, die ihm den nötigen Halt gab. Er schaffte es, sich in dem Schacht so zu drehen, daß er mit den Füßen voran in die Tiefe steigen konnte. Unter ihm lag die Höhle. Unter ihm flackerten die Fackeln. Und unter sich hörte er die Geräusche der lebenden Leichen, die über das Eis schritten. Manchmal hörte es sich an, als hätte jemand Schlamm gegen eine Wand geworfen. Sie traten stets sehr hart auf, die fielen auch hin, weil das Eis an den nicht aufgerauhten Stellen zu glatt war, aber sie kamen immer wieder hoch. Mallmann kletterte weiter. Furcht spürte er nicht, nur eine innere Spannung, denn er wollte wirklich erleben, wie es weiterging. Er wollte auf keinen Fall schon jetzt in den zuckenden Lichtschein der Fackeln hineingeraten, sein Beobachtungsplatz im Dunkeln war ideal. Und dort blieb er auch. Die Zombics wankten über das Eis. Schaurige Gestalten mit bleichen Körpern, die ab und zu Verletzungen zeigten. Aus den Wunden war das Blut gequollen, aber längst eingetrocknet. Sie trommelten mit Händen und Füßen gegen das dicke Eis, unter dem sich die Blutsauger abzeichneten. Auch sie mußten bemerkt haben, daß sich etwas verändert hatte, denn sie waren ja nicht tot, aber sie reagierten nicht. Starr blieben sie liegen. Mallmann glaubte nicht daran, daß auch nur einer von ihnen seine Lippen oder die Augen bewegte. Wenn sie aber freikamen, dann würden sie den Zombies einen gnadenlosen Kampf bieten, das stand fest.
Nur, wie sollten die lebenden Leichen seine Diener aus der dicken Eisschicht befreien? Da sie selbst eine tödliche Kälte ausstrahlten, würde es auch nicht klappen, wenn sie versuchten, das Eis aufzutauen. Er mußte warten… Mallmann hatte seinen Platz gut gewählt. Um zum Eingang hinschauen zu können, brauchte er den Kopf nur um eine Idee zu drehen. Noch immer schäumte das Wasser hinein und fraß sich in das Eis. Und noch immer brachte es Gestalten von draußen, die mit mühevollen Bewegungen den Eispanzer erkletterten. Auch ein anderer kam. Er – der Anführer! Das Wesen stand nicht im Licht, es bildete nur mehr eine Silhouette, dennoch wußte Mallmann, daß es sich bei ihm nicht um einen normalen Menschen handelte. Das war ein schwarzmagisches Produkt. Er hatte ihn noch nie zuvor zu Gesicht bekommen, aber er spürte genau deren Strahlung. Sie wehte ihn wie ein Hauch an, und er wußte auch, daß beide Todfeinde waren. Dieses Wesen haßte seine Diener, es wollte die Vampire nicht, es wollte sie vernichtet sehen. Sie aber lagen im Eis, und die dicke Fläche würde er nicht ohne Werkzeuge durchschlagen können. Wie Mallmann feststellte, war er damit nicht bewaffnet. Er ging trotzdem vor und machte auf Dracula II einen sehr sicheren Eindruck. So konnte sich nur jemand geben, der von seinem Vorhaben hundertprozentig überzeugt war. War der Panzer sicher genug? Noch zweifelte Mallmann nicht, aber ein böses Feeling breitete sich aus. Diese Wesen hatten es geschafft, ihn zu finden. Damit würden sie sich nicht zufrieden geben. Sie würden auch ihren Auftrag bis zum bitteren Ende durchführen. In der Höhlenmitte blieb die für Mallmann namenlose Person stehen. Er konnte den Anführer besser erkennen. Das Gesicht sah irgendwie verschoben aus, er war nicht übermäßig groß, wirkte wie eine graue Maus und strahlte eine Boshaftigkeit aus, die einen Menschen in den Wahnsinn treiben konnte, bei Mallmann jedoch Alarmsirenen anklingen ließ. Es kletterten keine Zombies mehr in die Höhle. Sie alle hatten jetzt den Weg vom Boot her geschafft und auch Halt auf der glatten Fläche gefunden. Sie schwankten noch ein wenig, denn wenn sie sich bewegten, konnte es leicht geschehen, daß sie ausrutschten. Nur der Anführer bewegte sich nicht. Er hob seine Arme!
Es war ein Zeichen. Auch für Mallmann stand fest, daß er beginnen würde. Plötzlich regte sich niemand mehr. Im Schein des Fackelfeuers wirkten die Zombies wie Gestalten aus einer anderen Welt, die versehentlich in die Höhle hineingeraten waren. Zum Leben erwachte Gespenster, die einen mörderischen Haß gegen alles einsetzten, was nicht so war wie sie. Noch immer hielt der Anführer die Arme hoch. Dann sprach er. Sein Mund bewegte sich wie eine Klappe, er zischte die Worte hervor, aber sie waren laut genug gesprochen, um von jedem in der Höhle verstanden zu werden. Auch von Mallmann! »Ich bin Cigam. Ich bin ein Geschöpf des Teufels! Ich bin die reine Magie in menschlicher Form! Ich werde siegen! Meine Kräfte sind übergroß! Ich werde zerstören! Ich werde meine Gegner zerreißen und zerfleischen lassen!« Cigam hatte diese Sätze dermaßen überzeugend gesprochen, daß selbst Dracula II zusammenschrak. Er glaubte diesem Wesen jedes Wort, vor allen Dingen was den Teufel anbetraf. Asmodis und Mallmann waren zu Feinden geworden. Der Satan selbst, auch wenn er jede beliebige Gestalt annehmen konnte, hielt sich lieber im Hintergrund. Er schickte seine Vasallen vor, stattete sie mit höllischen Kräften aus und fand immer wieder neue Diener, die für ihn die Kastanien aus dem Feuer holten. Wie eben Cigam, dessen Arme nach unten sanken! Er bewegte sich dabei sehr langsam, als wollte er die Bewegung genießen. Auf halber Höhe kamen sie zur Ruhe. Dann spreizte er die Hände. Für Mallmann sah es so aus, als wollte er sich auf jeden Finger einzeln konzentrieren. Die Spannung verdichtete sich. Mallmann fühlte sich unwohl. Er glaubte, daß eine fremde Kraft von seinem kleinen Imperium Besitz ergriffen hatte. Eine Kraft, die so stark war, daß sie auch zerstören konnte. Und Cigam begann! Auf einmal umschwirrte zitterndes Licht seine Hände. Es war ein bläulicher und gleichzeitig leicht rötlicher Schein, in den die gespreizten Finger gebadet wurden. Das Licht konzentrierte sich allein auf die Hände; an den Gelenken hörte es auf. Es stand ruhig, es flackerte nicht, es zitterte allein in seinem Innern. Und es fiel plötzlich nach unten. Wie ein Trichter breiteten sich beide Strahlen aus. Dennoch kamen sie Mallmann scharf gebündelt vor. Kein Licht, ein Feuer. Das Feuer der Hölle. Mal heiß, mal kalt, wie es halt gebraucht wurde.
Hier mußte es die Hitze abstrahlen. Feuer gegen Eis. Es lag auf der Hand, wer verlieren würde. Und zum erstenmal spürte Dracula II so etwas wie Furcht… *** Wladimir Golenkow hatte nicht übertrieben. Er konnte tatsächlich mit einem Hubschrauber so gut umgehen, als würde er ein solches Ding jeden Tag fliegen. Suko und ich waren beruhigt. Mein Freund saß neben dem KGB-Mann auf dem Sitz des Co-Piloten. Ich hatte im hinteren Bereich der Maschine meinen Platz gefunden, und neben mir hockte Stepanic. Er haßte mich, ich mochte ihn ebenfalls nicht. Nur hielt ich mich bedeckt, während er mir ab und zu giftige Blicke zuwarf und mir am liebsten die Kehle eingedrückt hätte. Wir waren in Richtung Norden geflogen. Die Inseln mußten sich, laut Karte, wie ein Band vor der Küste ausbreiten. Manche waren größer, andere wiederum kleiner, und sie sahen aus wie mehr oder weniger große Flecken, wenn wir über sie hinwegflogen. Ich hatte versucht, Stepanic zum Reden zu bringen. Die Antwort seinerseits war ein verbissenes Schweigen gewesen. Um es zu dokumentieren, hatte er zusätzlich die Lippen hart zusammengepreßt und mich nur tückisch angefunkelt. Auch jetzt sprach ich wieder mit ihm. Die Navigation überließ ich Suko und Wladimir. »Wir werden Cigam und deine anderen Freunde finden, Stepanic, und wenn wir es einmal geschafft haben, wird es für sie keine Gnade geben.« Er sagte nichts, rückte weiter von mir ab, als wollte er sich in den Sitz verkriechen. Es war nicht seine Zeit. Es gab hier keinen Friedhof in der Nähe, wo er seine Helfer hätte aus den Gräbern hervorholen können. Diesmal diktierten wir das Geschehen. »Welche Insel?« Seine Lippen zuckten, die Nasenflügel vibrierten. »Sucht sie«, sagt er, »sucht sie.« »Das werden wir auch.« Ich schaute aus dem Fenster. In der Maschine war es kalt. Eine Heizung gab es nicht. Unter uns lag das Meer. Wir hatten vor dem Flug noch einmal aus dem Reservekanister aufgetankt und uns auch kurz über das Verschwinden des Piloten unterhalten. Für sein Leben gab keiner von uns mehr einen Pfifferling. Ihn mußte es einfach erwischt haben.
Noch flogen wir den nördlichen Kurs. Ich hatte mir die Gegend ebenfalls auf der Karte angeschaut und festgestellt, daß wir irgendwann abbiegen mußten, um die Inselkette auch so überfliegen zu können, wie wir es uns vorgestellt hatten. Wladimir tat es auch. Ruckartig bewegte sich der Hubschrauber, als wir an Höhe verloren und die dunkle, sich bewegende Wasserfläche näher kam. Rechts von mir erstreckte sich eine Insel. Sie sah aus wie eine dunkle Zunge, auf der sich nichts bewegte. An ihrer Nordseite flogen wir entlang und blieben auch weiterhin auf Kurs. Ich schaute hin und wieder in Stepanics Gesicht, das allerdings ausdruckslos blieb. Mit keiner Reaktion gab er zu erkennen, ob wir uns dem Ziel bereits genähert hatten oder nicht. Fs war ja nicht so, daß wir allein die Insel suchten, auch das Boot konnte nicht verschwunden sein. Es mußte sich zwischen diesen Eilanden aufhalten, wo es auch Platz genug gab. Noch hatten wir es nicht gesehen. Wir waren so froh, daß wir mit der Maschine zurechtkamen. Leider war sie nicht mit einem Suchscheinwerfer ausgerüstet. So blieb uns nichts anderes übrig, als relativ dicht über die Wasserfläche zu fliegen und die Wogen unter Kontrolle zu halten. Glücklicherweise bewegten sich in dieser Küstennähe keine Eisberge durch die Fluten. Die wanderten noch weiter nördlich einher. Wladimir hatte auf die Karte geschaut und änderte abermals seinen Kurs. Wobei ich nicht glaube, daß er dies bewußt tat, er wollte eben alle Inseln abfliegen. Suko drehte sich um. Er schaute über den Sitz hinweg und mußte laut sprechen, um von mir überhaupt verstanden zu werden. »Es muß einfach hier in der Nähe sein, John. So weit kann dieser komische Trawler gar nicht gefahren sein.« »Bist du sicher?« »Ja.« »Was sagt der Pilot?« »Der ist sauer, daß wir noch erfolglos geblieben sind.« »Das wird schon klappen.« Manche Inseln lagen dicht beisammen. Durch die Lücke schoß das Wasser dann wie ein gurgelnder Strom, der auf der Oberfläche schaumigweiß schimmerte, als wäre diese von fließenden Leichentüchern bedeckt. Die Spannung ließ mich nicht los, es gab keinen Grund, aber ich wurde den Eindruck nicht los, dicht vor dem Ziel zu stehen. Hier irgendwo unter uns mußte es einfach sein, wenn wir davon ausgingen, daß dieses Boot nicht gesunken war.
Schräg vor uns entdeckten wir einen dunklen Fleck, der sich förmlich aus dem Wasser hervorbog. Diese Insel sah aus wie der gekrümmte Rücken eines Ungeheuers, das sich gebückt hatte und dabei noch mit beiden Beinen auf dem Grund stand. Als sich Stepanic neben mir bewegte, wurde ich aufmerksam. Er zwinkerte mit den Augen, schluckte, sah mein Grinsen und hörte auch meine Frage. »Nun, haben wir das Ziel erreicht?« »Ich habe nichts gesagt.« Dafür sagte Suko etwas, und dieser Satz alarmierte mich. »John, da unten liegt das Boot!« »Wo?« »Rechts, nahe der Insel. Es sieht so aus, als wäre es zwischen den Klippen festgeklemmt worden.« »Gesunken?« »Keine Ahnung.« Ich drehte den Kopf. Das Gesicht ließ ich dicht vor der Scheibe und machte den Hals lang, um genau etwas erkennen zu können. Suko hatte sich nicht geirrt. Das Boot ankerte. Wir erkannten nicht nur den Umriß, sondern schon die beiden Masten. Aber wir entdeckten auf dem Deck keine Bewegung. Alles war dort wie tot. »Ich gehe tiefer!« kündigte Golenkow an. Keiner widersprach. Ich kümmerte mich um Stepanic, der alles mitbekommen hatte und leise Worte vor sich hin flüsterte. Ich konnte ihn nicht verstehen, aber er hatte die Hände geballt, so daß seine Knöchel weiß und scharf hervortraten. »Wir haben ihn!« »Noch nicht!« »Abwarten.« Wladimir ging mit der schweren Maschine behutsam um, so daß wir uns vorkamen wie auf Kissen gebettet. Als Pilot war er wirklich toll, und auch sonst konnten wir uns auf unseren russischen Freund voll und ganz verlassen. Wir konzentrierten uns auf das Boot. Tatsächlich bewegte sich jemand an Deck. »Da ist noch einer!« rief Wladimir. »Aber kein Zombie.« Er schaffte es, über dem Boot in der Luft stehenzubleiben. Suko riß den Ausstieg auf, ohne den Hubschrauber zu verlassen. Er blieb angeschnallt. Die kalte Luft fegte in die Maschine und zerwirbelte die wärmere Temperatur. Der Motorenlärm war so groß, daß er auch Sukos Schreien verschluckte. Ich beobachtete nur. Die Gestalt auf dem Deck deutete auf die Insel. Sie tat dies mit hektischen Bewegungen, und plötzlich erkannte ich den Mann. Es war der von uns so schmerzlich vermißte Pilot. Wie er sich bewegte, mußte er es geschafft haben, den Zombies zu entwischen.
Jedenfalls war er kein lebender Toter. Wahrscheinlich hatten sie ihn als Steuermann für ihre Fahrt benutzt. Suko rammte den Ausstieg wieder zu. Er drehte sich um und nickte einige Male. »Was ist?« »Wir müssen auf der Insel landen, John. Hast du die Bewegungen des Piloten gesehen?« »Klar.« »Es gibt kein anderes Ziel.« Der Meinung war auch Wladimir, denn er stieg höher und nahm direkten Kurs auf die Insel. Ich hatte schon zuvor einen schnellen Blick über sie hinweggeworfen, aber keine Zombies entdeckt, die sich über das flache, bäum- und strauchlose Gelände bewegten. Wladimir ließ sich noch Zeit. Er drehte die Maschine, so daß er an der Seite der Insel entlangfliegen konnte, die dem ankernden Schiff zugewandt lag. Das Gestein erhob sich grau und naß aus den Fluten. Es war zerklüftet, es war rissig, es zeigte aber auch an einer Stelle eine große Öffnung, die zu einer Höhle führte. Das Wasser schäumte gegen die Klippen vor der Öffnung, die Wucht wurde ihm genommen, so daß es nachher nur als Strudel in das Innere strömte. »Gesehen?« rief Suko. »Und ob.« Stepanic sagte nichts. Er saß neben mir wie jemand, der auf seine Sekunde wartete, um losschlagen zu können. Sein Gesicht glühte, obwohl es bleich war. »Die Chancen sinken, Stepanic!« erklärte ich ihm. Er schüttelte den Kopf. »Nein, sie sind da.« »In der Höhle?« »Ja, in der Höhle.« »Und was haben sie dort gefunden?« Er ließ sich mit seiner Antwort Zeit. Wir huschten nahe der Felswände vorbei, die Schatten gegen die Karosserie des Hubschraubers warfen und die auch über die Fenster hinwegglitten. »Vampire – Eisleichen?« Er würgte die beiden Worte hervor, als würde er sich vor jedem einzelnen ekeln. »Draculas Eisleichen? Mallmanns Diener?« »So heißt es wohl!« Ich holte tief Luft. Die Lösung war so einfach, sie lag so nahe, und ich wußte nun Bescheid. Mallmann also! Er hatte es geschafft, er hatte seinen Blutsaugern ein neues Versteck gegeben.
Lange genug hatten wir uns darüber den Kopf zerbrochen, wo er sie hingeschafft hatte, als ihm die Flucht aus Marokko gelungen war. Auf diese Idee wäre ich nie gekommen. Eingefroren in eine dicke Eisschicht, um sie zur gegebenen Zeit wieder auftauen zu können. Ein Vampir hatte sich von der Masse gelöst, nur deshalb waren wir ins Spiel gekommen. Ein glücklicher Zufall, eine Laune der Natur. Aber ich dachte einen Schritt weiter, an Cigam, das Kunstgeschöpf der Hölle und natürlich an dessen lebende Leichen, für die Stepanic gesorgt hatte. »Wo steckt Cigam? Befindet er sich ebenfalls auf dieser verdammten Insel?« »Er ist da.« »Dann war er auch auf dem Schiff?« Stepanic nickte. »Er führt sie an.« »Danke.« Wir sanken dem Inselboden entgegen. Endlich wieder festen Boden, zunächst einmal unter den Kufen. Die Maschine schwankte leicht, als Wladimir sie aufsetzte. Der felsige Untergrund war nicht eben, er besaß genügend Buckel und Mulden, aber wir standen, und Golenkow stellte den Motor aus. Die Rotorblätter falteten sich zusammen. Suko und Wladimir verließen die Maschine als erste. Sie sprangen in die Kälte hinein. Beide zogen sicherheitshalber ihre Waffen. Stepanic und ich folgten ihnen in die kalte Einsamkeit dieser Landschaft hinein. Über uns lag der Nachthimmel wie ein dunkles Zeltdach, in das Löcher hineingeschnitten worden waren, hinter denen kaltes, gelbliches Licht schimmerte. Ich hielt Stepanic fest im Griff. Soweit wir beim ersten Rundblick feststellen konnten, war die Insel leer. Wenigstens auf ihrer Fläche, in ihrem Innern jedoch tat sich etwas, das stand fest. »Wie kommen wir in die Höhle?« schrie ich Stepanic an. Der lachte und sagte: »Nur von außen!« »Gut, du wirst uns führen!« Er wollte einen Schritt zurück, ich drückte fester zu, so daß er bleiben mußte. »Der Weg ist gefährlich. Er… er ist nichts für Menschen, die zum erstenmal auf der Insel sind. Man kann abstürzen, besonders in der Dunkelheit. Man muß ihn…« »Rede nicht, wir…« »John, sei ruhig!« Suko hatte die Worte ausgestoßen. Er stand einige Schritte von uns entfernt hatte den Kopf dabei schiefgelegt und sah so aus wie jemand, der nach irgendwelchen Geräuschen lauschte, die aus der Tiefe hervorströmten. »Was ist denn?« »Schreie, John. Laute Schreie!« »Unten?«
»Ja.« »Und was denkst du?« »Daß es zu einem Kampf zwischen Vampiren und Zombies gekommen ist.« Er blickte mich an, und seine Augen glänzten. »Ich schätze, daß sich beide zerfleischen werden…« *** Will Mallmann alias Dracula II, hing auf der Strickleiter, schaute in die Tiefe und konnte einfach nicht fassen, was sich dort unten alles abspielte. Bisher hatte er dieses Versteck und seine eingefrorenen Diener sicher geglaubt. Nun mußte er feststellen, daß die Hölle Kräfte aufgeboten hatte, die noch stärker waren als er selbst. Cigam war vom Teufel geschickt und mit einer unheimlichen Macht ausgestattet worden. Er schmolz das Eis. Er ging über die Fläche wie ein Zirkusdirektor, der alles im Griff hatte. Aus seinen Handflächen und den Fingern strömte das Höllenfeuer auf direktem Weg gegen das dicke Eis und brachte die Schicht tatsächlich zum Tauen. Die grünliche feste Masse bekam Schlieren, sie bildete auf der Oberfläche zitternde Wasseraugen, und ihr Inneres wurde weich und weicher. An einigen Stellen zerknackte das Eis, es bekam Risse, es bröckelte auseinander, es wurde weich, es zerfloß, und es gelang den ersten Vampiren sehr schnell, sich zu bewegen. Und Mallmann schaute zu. In ihm kochte es. Zum erstenmal kam er sich hilflos vor. Sein Instinkt sagte ihm, daß er gegen Cigam nicht ankommen würde. Diese Gestalt war einfach zu mächtig. Wenn er ihr gegenüberstand, würde sie es sogar schaffen, ihn zu verbrennen. Sein Feuer war gnadenlos. Wasser umspielte ihn und die Zombies. Eisstücke schwammen wie in einem riesigen Whiskyglas. Sie bewegten sich und klackten zusammen, stießen auch mal gegen die Beine der lebenden Leichen oder glitten an deren Hüften entlang. Und die Blutsauger kamen frei. Es war kein fließendes Wasser, das sie vernichtet hätte. Auch wenn es sich bewegte und Wellen warf, so stand es doch fast wie ein See. Cigam ging weiter. Eine Gestalt, deren Proportionen so unfertig wirkten und wo das Gesicht an eine nicht korrekt sitzende Maske erinnerte. Er trat gegen einen der Blutsauger, der ihm im Weg lag.
Die Gestalt wurde durch den Druck vom Rücken auf die Seite gerollt, kam hoch. Weit offen stand der Mund. Aus ihm löste sich ein Gurgeln, vermischt mit einem heiseren Fauchen. Cigam reagierte sofort. Er nahm das Gesicht des Vampirs zwischen seine Hände. Einen Augenblick später zerfloß der Kopf wie heiß gewordenes Gummi. Als Rest sank der Blutsauger wieder in das Wasser hinein und glitt unter große Eisstücke. Mallmann regte sich nicht. Er hätte jetzt eingreifen müssen, denn er hatte den Tod einer seiner Diener so hautnah miterlebt. Aber er war auch vorsichtig. Wahrscheinlich wartete Cigam nur darauf, daß er sich zeigte, um ihm das gleiche Ende zu bereiten. Der erste Erfolg hatte die lebenden Leichen mobil gemacht, und sie stürzten sich auf die Blutsauger. Es sah so aus, als wären Menschen dabei, irgendwelche Fische mit bloßen Händen zu fangen. Die meisten der Zombies hatten sich hingekniet. Sie schaukelten auf den noch vorhandenen dicken Eisplatten, hatten Mühe mit dem Gleichgewicht, rutschten auch oft genug ab in das kalte Wasser und griffen nach den Blutsaugern, als wären es ihre letzten Strohhalme zur Rettung. Auch die Vampire wehrten sich. Als bleiche Wesen wurden sie aus dem Wasser hervorgezerrt, schauten gegen die Fratzen der Untoten, sahen deren Hälse und hackten ihre Zähne hinein. Dabei hatten sie sich oft genug ineinander verkrallt und rollten so durch die Fluten. Sie tauchten unter, sie schoben die Eisplatten zur Seite, sie kamen wieder hoch, und die Vampire merkten, daß sie an die Falschen geraten waren. Wenn sie sich wieder trennten, hingen oft genug Hautfetzen an ihren Zähnen, die sie in ihrer wilden Beißwut kurzerhand von den Hälsen abgerissen hatten. Es war einfach furchtbar. Mallmann erlebte das Grauen pur. Er mußte mit ansehen, wie seine Diener, wobei jeder für sich sehr stark war, von den Zombies unterdrückt wurden. Und zwischen allem schritt Cigam, das magische Kunstgeschöpf, der Vernichter, wie ein König umher. Er tötete. Sein Feuer verbrannte die Blutsauger. Er ließ es aus den Händen strömen, als Machtpotential der Hölle. Er zeigte Mallmann jetzt, wie dumm es war, sich den Teufel zum Feind zu machen. Dabei ging er mit einer eiskalten Präzision vor. Er wartete, bis es einer der Blutsauger geschafft hatte. Sie alle wirkten wie bleiche Puppen, sie
stemmten sich aus dem Wasser in die Höhe, sie knieten oder lagen auf schaukelnden Eisplatten, suchten nach Feinden, gierten nach Blut, hielten ihre Mäuler offen, um ihre Zähne in Fleisch und Adern zu hacken. Aber es war hier nicht das Fleisch der gesunden Menschen, sondern die faulige Masse der Zombies. Totes, altes Fleisch… So hatten sie keine Chance, denn Cigam, der Vernichter, hatte es auf jeden von ihnen abgesehen. Er wollte, er würde keinen Blutsauger entwischen lassen. Für ihn war es ein tödliches Großreinemachen. Oft halfen ihm die Zombies dabei. Sie hielten die noch schwachen Blutsauger an den Armen fest. Und er vernichtete. Reihenweise sackten und schmolzen sie unter seinen höllischen Feuerhänden zusammen. Sie zerliefen, sie zerfaulten, und ihre Reste schwemmte das schaukelnde Wasser weg. Einer saß und schaute. Einer kochte. Einer verging fast vor Wut! Aber er schrie nicht. Er klammerte sich an der Leiter fest und spürte nur, daß in seinem Innern eine wahre Hölle tobte. Haß und Zorn, der ihn beinahe verbrannte. Mallmann konnte nichts machen. Dracula II war ausgeschaltet. Der Supervampir erstickte beinahe an seiner Hilflosigkeit. Hätte er weinen können, wären sicherlich Tränen aus seinen kalten, dunklen Augen geflossen. Dann aber hörte er etwas. Über ihm war das Geräusch entstanden, und der hohle Schacht hatte es gut bis an seine Ohren geleitet. Schritte? Er wußte es nicht. Ihm war nur klar, daß da oben ebenfalls eine Gefahr lauerte und er eingekesselt war. Und dann blitzte plötzlich der Strahl einer Lampe auf! *** Sollten wir diesen gefährlichen Weg nehmen, oder nicht? Wir waren uns noch unschlüssig, wollten Vor- und Nachteile abschätzen, dachten auch daran, uns zu trennen, als Stepanic plötzlich durchdrehte. Er hatte bestimmt angenommen, daß wir zu stark mit uns beschäftigt waren, und er nutzte die Chance zur Flucht. Plötzlich riß er sich los. Er hatte mich damit überrascht. Als ich zugreifen wollte, war er schon zur Seite gelaufen, hatte sich geduckt und rammte Suko seinen Schädel in den Magen. Damit hatte der Inspektor nicht gerechnet.
Er kippte zurück, prallte dabei noch gegen Wladimir, der ebenfalls taumelte und Stepanic passieren lassen mußte. Wie ein Schatten jagte er in die Dunkelheit hinein. Er lief im Zickzack, um ein möglichst geringes Ziel zu bieten, was tatsächlich der Fall war, denn wir würden ihn kaum mit einer Kugel erwischen. Dann war er weg. Wir hörten noch einen dünnen Schrei, der in der Luft stand wie ein Stück Eis, das nur allmählich wegtauchte. Der Schrei brach ab, die Brandung hatte den Körper geschluckt. »Er ist gesprungen!« keuchte Wladimir. »Verdammt, der ist tatsächlich über die Klippe hinweg in den Tod gesprungen.« Der Russe schüttelte den Kopf. »Warum nur?« »Ich weiß es nicht.« »Vielleicht war es ein Trick«, vermutete Suko. »Ja, das kann sein.« Golenkow nickte. »Ich schaue nach. Bleibt ihr so lange hier?« »Zumindest in der Nähe«, sagte ich. Als seine Trittgeräusche verklungen waren, konnten wir uns wieder auf die Umgebung konzentrieren. Wir hätten natürlich den Abstieg schon längst gesucht, aber uns hielten diese ungewöhnlichen Geräusche in Atem, die aus einer Öffnung hervor aus der Erde drangen und sich anhörten, als hätte sich in einem schmalen Schacht ihre Lautstärke verdoppelt. »Wo kommen sie her?« fragte Suko. Ich hob die Schultern. Beide schauten wir uns um. Der Untergrund sah völlig normal aus, ein Teppich aus grauem Fels, mit kleinen, schneegefüllten Mulden und eisbedeckten Rinnen verziert. Keine Pflanzen, kein Grün, nichts, nur eben die Steine, über die der kalte Wind hinwegpfiff. Er aber hatte die Geräusche nicht produziert. In der Erde… von unten. Suko war einige Schritte vorgegangen und winkte mir zu. Er stand vor einem ungewöhnlichen Gebilde, vor einer Schöpfung der Natur. Durch irgendwelche Drücke mußten sich von verschiedenen Seiten her zwei Felsenstücke aus dem Boden geschoben haben. Sie waren ziemlich flach und standen so zueinander, daß sie ein Dach bilden konnten. Unter diesem Dach war der Zwischenraum groß genug, um einen Menschen hindurchzulassen. Suko hatte sich gebückt, kam wieder hoch und grinste schief bis siegessicher. »Da müssen wir rein.« »Ist dort ein…?« »Ja, ein Loch. Sieht aus wie eine Schachtöffnung.« Bevor er sich noch einmal bücken konnte, lag ich schon auf den Knien und schob mich unter die Platten. Ich kam mir tatsächlich vor wie in einem Zweimannzelt. Und ich sah das Loch, ich hörte die Geräusche, ich
tastete über den Rand hinweg, fühlte das rauhe Gebilde einer Strickleiter, die sehr straff nach unten hing, wahrscheinlich deshalb, weil sie irgendwo belastet worden war. »Was ist, John?« »Moment.« Ich griff in die Tasche und fummelt nach meiner kleinen Lampe. Sie funktionierte auch in dieser Kälte. Der Strahl stach sehr scharf in die Tiefe und erwischte auch ein Ziel. Es war ein bleiches Gesicht, das wie eine Fratze in der Finsternis des Schachts schwamm. Ich hatte den Eindruck, den festen Boden unter dem Körper zu verlieren. Das Gesicht kannte ich. »Mallmann!« keuchte ich… *** Auch der Supervampir hatte die Worte gehört. Obwohl er nicht erkennen konnte, wer hinter der grellen Lichtquelle hockte, war ihm diese Stimme doch bekannt und verhaßt. Er hätte sie unter Tausenden herausgehört, er hatte mit dem Erscheinen dieser Person nicht gerechnet. »Sinclair!« Dieses eine Wort war mehr ein irrer, schriller, haßgetränkter Schrei. In ihm vereinigten sich die Gefühle, die Mallmann seinem Todfeind entgegenbrachte. Und er wußte auch, wie hilflos er in dieser Lage war. Vor einer geweihten Silberkugel brauchte er sich nicht zu fürchten, der Blutstein gab ihm den nötigen Schutz, aber Sinclair besaß nicht nur diese eine Waffe, er trug auch noch das Kreuz bei sich, und das konnte ihn brutal vernichten. In seinem Innern toste eine Hölle. Durch Mallmanns Adern floß kaum Blut, er hätte nicht rot werden können, dennoch zeichnete sich seine Erregung auch nach außen hinab, denn auf seiner Stirn glühte das D wie ein blutiges Fanal. Er sah auch, wie sich der Lichtstrahl bewegte. Ein Zeichen dafür, daß auch Sinclair nicht ruhig blieb. Mallmann mußte etwas tun, um dem Geisterjäger zu entwischen. Nach oben konnte er nicht, da wäre er ihm in die Arme gelaufen, und in der Tiefe lauerte Cigam, der Vernichter. Trotzdem entschied er sich für den zweiten Weg. Er ließ die Leiter los und sich fallen. Plötzlich sackte er durch den Schacht. Er fiel zwar senkrecht, bekam aber noch so viel Drall, daß er rechts und links immer wieder gegen die beiden Wände prallte, was ihm nichts ausmachte.
Aus der Decke jagte er nach unten. Mallmann besaß noch die Kraft, sich umzuschauen. Das heißt, er starrte in die Tiefe. Für wenige Sekunden konnte er das Bild aufnehmen, das sich ihm bot. Es waren kaum mehr Zombies vorhanden. Die Gestalten schwankten und wankten bereits dem Ausgang der Höhle zu, und auch von seinen Dienern sah Mallmann nichts mehr. Sie waren verbrannt, zerschmolzen, vernichtet. Das Wasser hatte ihre Reste weggeschwemmt. Ab und zu schaukelten noch Teile auf den Wellen. Mal ein Stück Kopf, mal Knochen, dann wieder der Teil einer Hand oder ein schwarz verbranntes Bein. Der Aufschlag war brutal hart. Mallmann verspürte keine Schmerzen. Er war direkt auf eine Eisscholle geprallt, zusammengesunken wie ein Bündel alter Kleider, dann wieder hochgekommen und ausgerutscht. Er glitt über die schaukelnde Eisplatte hinweg und wäre beinahe über ihren Rand hinweggefallen und im Wasser verschwunden. Dicht davor kam er zur Ruhe. Wo steckte Cigam? Auch er stand auf einer Platte. Der Zufall spielte mit beiden Gegnern. Das Wasser trieb innerhalb der Höhle die beiden Platten aufeinander zu. Nur noch wenige Handlängen waren sie voneinander entfernt, dann würden sie zusammenkrachen. Und Cigam erlebte seinen Triumph. Für ihn stand schon jetzt fest, wer hier als Sieger die Höhle verlassen würde. »Mallmann, Dracula II – der Teufel persönlich hat dir mich ans Herz gelegt. Ein Traum geht für mich in Erfüllung. Ich habe mir gewünscht, dich zu vernichten. Ich werde dich verbrennen, ich werde dich einfach auslöschen. Schau auf meine Hände!« Mallmann sah hin. Gleichzeitig aber ließ er seine Rechte in die Tasche des Mantels gleiten und umklammerte den Blutstein. »Großer Ahnherr!« flüsterte er, nur für ihn hörbar. »Jetzt mußt du zeigen, was in dir steckt…« *** Plötzlich war Mallmann weg. Einfach verschwunden, abgesackt wie ein schwerer Stein. Es hatte keinen Sinn, daß ich mir Vorwürfe machte, denn ich hätte bei ihm mit einer geweihten Silberkugel kaum etwas ausrichten können. Mein Kreuz wäre die einzige Waffe gewesen, die ihn vernichten konnte.
Um aber die Kette über den Kopf zu streifen, benötigte ich Zeit, und die hatte Mallmann genutzt. »Was ist denn?« Suko hatte nichts mitbekommen, ich erklärte auch nichts, sondern sagte nur: »Ich muß runter!« »In den Schacht?« »Ja.« »Aber…« »Es gibt eine Leiter!« Ich bewegte mich bereits wie eine Schlange, um in die Öffnung eintauchen zu können. Es war nicht einfach, man mußte schon gelenkig sein. An der Leiter hing kein Gewicht mehr. Ich konnte sie bewegen und auch hochziehen. Daß ich mich selbst in große Gefahr begab, darüber dachte ich nicht nach, als ich die ersten Schritte tastend hinabging. Ich rutschte ab, schlug mit der Stirn gegen den Fels, fand dann wieder den nötigen Halt und kletterte weiter. Dunkelheit umhüllte mich für die ersten Meter. Sehr schnell wurde es besser, da strömte nämlich der Widerschein einiger Fackeln von unten her in den Schacht. Über mir hörte ich Suko. Auch er befand sich auf der Leiter. Ich hoffte stark, daß sie unser Gewicht auch aushielt. Wenn sie riß und wir in die Tiefe stürzten, konnten wir uns den Hals brechen. Ich rutschte, ich kletterte, ich hatte es eilig, ich geriet durch das Deckenloch und hatte freie Sicht in die Eishöhle. Die Leiter reichte nicht bis zum Boden. Sie schwebte einige Meter über den auf dem Wasser treibenden Eisschollen und noch immer verdammt hoch, beinahe schon lebensgefährlich. Ich sah beide. Mallmann und Cigam. Und die zwei haßten sich nicht nur, sie trugen den Kampf auch aus. Jeder wollte jeden vernichten… *** Eine Welle trieb von außen her heran, schwemmte zwei Zombies wieder in die Höhle, brachte gurgelnden Schaum, auch starke Wasserbewegungen und ließ die Eisschollen tanzen. Mallmann zerrte seine Hand aus der Tasche. Hart umschlossen die Finger den Blutstein. Und Cigam brüllte ihn an, obwohl aus seinem Maul mehr ein Zischen drang. Dann schickte er das Feuer. Kaltes, brutales, grausames Höllenfeuer wie schlimme, tötende Gedanken. Er jagte es auf Will Mallmann zu, es sollte der Hölle und
Asmodis zu einem großen Triumph verhelfen und es sollte ihn so vernichten wie zuvor die anderen Vampire. Doch Dracula II besaß den Stein. Er drückte seinen Arm hoch, drehte die Hand, so daß Cigam auf die Fläche schauen mußte. Und er starrte auf den Blutstein! Ein kaltes, dunkelrotes Leuchten jagte in das ebenfalls kalte Licht des Feuers hinein. Beide Energien prallten zusammen, beide waren mächtig, auf beide konnten sich die schwarzmagischen Todfeinde verlassen. Aber eine mußte einfach siegen. Nein, es lief nicht so ab. Sie waren gleich stark, und sie schafften es tatsächlich, sich zu neutralisieren. Es passierte nichts. Weder mit Mallmann noch mit Cigam. Als der erste Angriff vorbei war, standen sie sich gegenüber und starrten sich an. Sekunden dehnten sich für beide und entwickelten sich zu kleinen Ewigkeiten. Dann wuchtete sich Mallmann vor. Er wollte nicht auf der schwankenden Eisscholle bleiben. Er kam trotz der Glätte auch weg, sprang Cigam an, der nicht ausweichen konnte. Beide fielen auf die Platte, rollten ineinander verschlungen herum, kippten über den Rand und waren verschwunden. Für immer? *** Das dachte auch ich, und meine Befürchtungen steigerten sich ins Unermeßliche. Sukos Gedankengang war dem meinen sehr gleich. »Wir müssen hier weg!« brüllte er. »Wie denn?« »Springen!« Ich dachte für einen Moment nach. »In das eisige Wasser oder auf einer Eisscholle landen?« »Siehst du eine andere Chance?« »Ja, die Galerie. Vielleicht können wir hinschwingen. Halte dich fest, ich fange an.« Es war verdammt schwer, die Leiter in Bewegung zu bekommen. Es klappte nach einigen Versuchen und auch deshalb, weil mich Suko dabei unterstützte. Wir schwangen hin und her, gaben uns immer mehr Schwung, und die Zeit rann dahin.
Weder von Mallmann noch von Cigam hatten wir etwas entdeckt. Sie waren wohl aus der Höhle hinausgespült worden. Ich konnte mir vorstellen, daß fließendes Wasser beiden nichts ausmachte. Es gab nicht nur die Galerie, auch Leitern, die nach unten führten. Natürlich mußten wir beide Glück haben, wenn wir uns auf dem flachen Vorsprung halten wollten. Deshalb war es besser, auf eine der Leitern zuzuschwingen. Feuerhauch streifte mich wie heißer Höllenatem. Ich sah plötzlich die Leiter dicht vor uns – und griff zu, bevor ich wieder zurückschwang. Die Gegenkraft riß mir beinahe den Arm aus dem Schultergelenk. Eisern hielt ich fest, prallte wieder zurück und schlug mit dem Oberkörper vor die harten Sprossen, die unter meinem Gewicht anfingen zu zittern. Aber es klappte, ich schaffte es, ich konnte mich halten, fand auch mit den Füßen einen festen Tritt und nahm mir die Zeit, um sekundenlang nach Atem zu ringen. Suko probierte dasselbe wie ich. Nur etwas höher, und er bekam die Leiter zu fassen. Wir schauten nach unten. Das Wasser bewegte sich. Auf der Oberfläche schaukelte das restliche Eis. Dazwischen sahen wir das, was von Draculas Eisleichen zurückgeblieben war. Mallmann selbst sahen wir nicht. Auch von Cigam war keine Spur zu sehen. Suko nickte mir zu. »Okay, klettern wir nach unten.« Es war nicht einfach, weil die Sprossen der Leitern ebenfalls vereist waren. Dreimal rutschte ich aus, stieß mir einmal das linke Schienbein, danach die Ellbogen. Suko erging es kaum besser, aber wir standen bald auf dem relativ trockenen Boden, denn fast an der Höhlenöffnung hatte sich so etwas wie ein Steinstrand gebildet, den nur jede vierte oder fünfte Welle überschwemmte. Wenn wir die Höhle verlassen wollten, mußten wir durch den Ausgang und den Vorhang aus kalter Gischt. Wir hörten das Donnern der Brandung, das Brausen der zersprühten Wellen und dazwischen noch ein anderes Geräusch, das keine natürliche Ursache hatte. Der Motor des Hubschraubers! Wir erbleichten wie auf Kommando. »Wer haut denn damit ab?« keuchte Suko. »Mallmann?« »Das befürchte ich auch…« ***
Wladimir Golenkow hatte mit seiner Stableuchte noch die äußere Felswand abgeleuchtet, so gut ihm dies möglich gewesen war, aber er hatte nichts gefunden. Keine Spur von Stepanic. Wenn er tatsächlich in die Tiefe gefallen war, dann mußte ihn die schäumende Brandung verschlungen haben. Sie würde ihn auch nicht mehr wieder hergeben. Der KGB-Mann richtete sich wieder auf. Er lief zu der Inselseite, von wo er auch das Schiff sehen konnte. Der alte Kahn schaukelte auf den Wellen, aber er sah noch einen zweiten. Ein Boot, auf dem Meer, nicht mehr als eine Nußschale, die von dem Piloten gerudert wurde. Er hatte es auf dem Trawler nicht mehr ausgehalten und wollte sich in Sicherheit bringen, denn in der Brandung tauchten plötzlich die Zombies auf. Hatte der gute Mann noch eine Chance? Er ruderte um sein Leben, aber die lebenden Leichen waren schneller. Wie sie es schafften, konnte Wladimir nicht genau erkennen, plötzlich aber waren sie bei ihm und enterten das Boot. Er glaubte, die Schreie des Piloten zu hören, aber das war wohl ein Irrtum. Sie packten ihn, sie drückten ihn zu Boden, aber sie schlugen ihn nicht, denn ein anderer enterte das Boot ebenfalls. Es war der Anführer. Und er persönlich ruderte zurück. Sein Ziel war erneut der Trawler. Damit war er gekommen, damit wollte er flüchten. Irgend etwas mußte in der Höhle schiefgelaufen sein. Und was war mit dem Vampir? Existierte dieser Mallmann noch, der sich so großspurig Dracula II nannte? Wäre Mallmann ein Mensch gewesen, hätte Wladimir ihn sicherlich keuchen hören, als er sich an ihn heranschlich. So verdankte er es mehr seinem Instinkt, daß er sich plötzlich umdrehte, weil er aus den Augenwinkeln einen Schatten gesehen hatte. Mallmann stand vor ihm. Und er schlug zu. Golenkow war zu überrascht, um der Faust ausweichen zu können. Sie bohrte sich in seinen Magen und trieb das Würgen bis hoch in seine Kehle. Er taumelte zurück, die Gestalt des Vampirs drehte sich vor seinen Augen, dann holte Mallmann noch einmal aus. Diesmal explodierte etwas an der Schläfe des Russen. Die Sterne platzen weg, dachte Wladimir noch, bevor er rücklings zu Boden fiel und sich nicht mehr rührte. Mallmann stand über ihm.
Die Gier nach Blut tobte in seinem Innern. Aber er dachte in diesem Fall rational. So gern er den Russen ausgesaugt hätte, es hätte ihn zuviel Zeit gekostet. Da stand der Hubschrauber, und Mallmann gehörte zu den Leuten, die eine solche Maschine auch fliegen konnten. Von seiner BKA-Ausbildung hatte er nichts vergessen. Das Festland würde er bestimmt erreichen können, von dort würde er sich dann durchschlagen. Er enterte die Maschine, zog den Ausstieg zu. Er freute sich über das Geräusch, denn es sagte ihm, daß er diesen Fall hinter sich gelassen hatte. Ein kurzer Check, es war alles okay. Sekunden später startete er. Der Krach war für ihn die herrlichste Musik. Tropfnaß wie eine ins Wasser gefallene Katze hockte er auf dem Pilotensessel und stieg in die Luft. Cigam hatte ihn nicht bekommen, aber Cigam lebte noch. Er würde Mallmann weiterhin jagen. Nun aber war er gewarnt und konnte sich darauf einrichten. Ein letztes Lachen drang aus seinem Mund, dann verschluckte der Himmel den Hubschrauber und Mallmann mit ihm… *** Wir hatten Wladimir gefunden und waren froh darüber, daß er noch lebte. Nur saßen wir auf der Insel fest. Der Hubschrauber war verschwunden, der Trawler ebenfalls, und wir sahen aus wie Menschen, die alles verloren hatten. Vorbei das Spiel… Zum Glück trugen wir dicke Kleidung, und wir gingen auch davon aus, daß Mesrin irgendwann einen Alarmruf abgeben würde und daß man nach uns suchte. Bis dahin suchten wir. Im Morgengrauen wurden wir fündig. Stepanic lag zwischen den Felsen. Das Wasser spielte mit seiner Leiche. Er sah furchtbar aus. Beim Aufprall war der Kopf völlig zerschmettert worden. »Jetzt ist Cigam allein«, sagte Suko, als er auf die Leiche schaute. »Und er hat verdammt viel gelernt.« »Leider.« »Was meinst du, John? Wie viele Zombies sind noch bei ihm?« »Ich weiß es nicht.« »Dafür hat Mallmann keine Vampire mehr.« Suko sprang über einen spitzen Felsen hinweg auf mich zu. Der kalte Wind wühlte sein Haar auf. »Ich habe sie für gefährlicher gehalten.«
»Beide sind schlimm.« Mein Freund lachte bitter und legte mir die Hand auf die Schulter. Gemeinsam tigerten wir den Weg wieder hoch. Wladimir wartete auf uns. Seinen Kopf schmückte ein Verband aus Taschentüchern. »Und was sagt ihr eurem Chef?« fragte er. »Er kann uns austauschen«, erwiderte ich. »Dann nehmt mich mit.« »Ich wüßte auch schon, was wir machen könnten«, meinte Suko. »Nämlich Toilettenmänner.« »Warum gerade das?« fragte Wladimir. »Ganz einfach. Weil wir doch alle so scheißfreundlich sind…« Wir lachten beide nich und konnten uns erst dann freuen, als die ersten Suchhubschrauber am Horizont erschienen. Wenigstens brauchten wir nicht bis zum Festland zu schwimmen… *** Eines möchte ich hinzufügen. Die Suche nach dem Trawler blieb erfolglos. Wahrscheinlich war das Schiff irgendwo im Meer versenkt worden, damit wäre auch der Pilot gestorben. Was wir von Cigam und seinen Zombies sicherlich nicht behaupten konnten. Wir würden bestimmt noch von ihnen hören. Irgendwann…
ENDE