Das Buch Der Kampf um die Drachenkrone geht weiter: Sebtia ist gefallen und die Nordlandhorden der grausamen Zauberfürs...
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Das Buch Der Kampf um die Drachenkrone geht weiter: Sebtia ist gefallen und die Nordlandhorden der grausamen Zauberfürstin Kytrin wüten durch Muroso und Sarengul. Als der Untergang des zivilisierten Südens droht, stehen selbst die Gefährten um Will Norderstett, allen voran die mutige Prinzessin Alexia von Okrannel, der Krieger Kräh und der junge Magiker Kjarrigan, vor einer schier unlösbaren Aufgabe. Sie sind zwar in Besitz eines Fragments der legendären Drachenkrone, doch angesichts der dunklen Übermacht scheinen all ihr Mut und die Macht ihrer Magik vergebens. Können nur die Drachen Kytrin jetzt noch aufhalten? Doch eine Allianz mit Drachen hat ihren Preis ... Der Autor Michael A. Stackpole wurde 1957 in Wausau, Wisconsin, geboren, wuchs in Vermont auf und studierte an der dortigen Universität Geschichte. Bereits seit 1977 arbeitet der Autor zahlreicher Fantasy- und Science-FictionRomane erfolgreich in der Entwicklung von Computerspielen, 1994 wurde er in die Academy of Gaming Arts and Design's Hall of Farne aufgenommen. Zu seinen größten Erfolgen zählen die Bücher zu den Serien Battletech, Shadowrun und die X-Wing-Romane von Star Wars. Er lebt und arbeitet in Arizona. Eine Liste der im WILHELM HEYNE VERLAG erschienenen Titel von Michael A. Stackpole finden Sie am Schluss des Bandes.
MICHAELA. STACKPOLE
DRACHENZORN DÜSTERER RUHM Fünfter Roman Deutsche Erstausgabe WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/9221 Titel der amerikanischen Originalausgabe WHEN DRAGONS RAGE ------. 2 Teü Deutsche Übersetzung von Reinhold H. Mai ~Das"ül nschlagbild malte Brom. mwelthinweis: ieses Buch wurde auf r- und säurefreiem Papier gedruckt. Deutsche Erstausgabe 01/2004 Redaktion: Joern Rauser Copyright © 2002 by Michael A. Stackpole Originalausgabe by Bantam Books, A Division of Random House Inc., New York (A Bantam Spectra Book) Copyright © 2004 der deutschsprachigen Ausgabe by Ullstein Heyne List GmbH & Co. KG, München Der Wilhelm Heyne Verlag ist ein Verlag der Ullstein Heyne List GmbH & Co. KG. http: / / www.heyne.de Printed in Germany 2004 Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Karte: Erhard Ringer Satz: Schaber Satz- und Datentechnik, Wels Druck und Bindung: GGP Media, Pößneck ISBN 3-453-87541-9 WAS BISHER GESCHAH ... Prinzessin Alexia von Okrannel gelingt es durch eine List, die sofortige Hinrichtung von Kräh zu verhindern und eine neue Gerichtsverhandlung gegen ihn in der oriosischen Hauptstadt Meredo zu erzwingen. Doch die weitab der Front gelegene Stadt ist ein gefährliches Pflaster. Seltsame Personen und Wesenheiten bewegen sich durch ihre Straßen. Bei Krähs Verhandlung erscheint unter dem Schutz der Parlamentärsfahne Nefrai-kesh, der Kommandeur von Kytrins Sullanciri, um gegen ihn auszusagen, während anderenorts ein zweiter Sullanciri versucht, das Fragment der Drachenkrone zu stehlen, das Kjarrigan Lies aus Festung Draconis gerettet hat. Kytrins Handlanger scheitert zwar an dieser Aufgabe, verwundet Will Norderstett aber schwer. Der junge Dieb scheint dem Tod geweiht, bis
Isaura, Kytrins Tochter, an seine Seite gezogen wird und das Gift des Sullanciris neutralisiert. Kjarrigan Lies wäre unter Umständen auch in der Lage gewesen, Will zu retten, doch der wird vermisst. Er wurde von einem geheimnisvollen und mächtigen Magiker namens Rym Ramoch entführt, der von einem nicht minder merkwürdigen Diener begleitet wird, einem malachitfarbenen urZreö namens Bok. Sie sind wegen Kjarrigans Fähigkeit, unglaubliche Magik zu wirken, besorgt, aber auch über den Einfluss, den die Drachenkrone auf ihn hat. Das Urteil gegen Kräh wird schließlich aufgehoben, da aber hat die Ankunft von Prinzessin Sayce von Mu7 roso die Aufmerksamkeit bereits wieder auf das Problem der Heere Kytrins gelenkt, die ungehindert nach Süden marschieren. Mit Sayces Zustimmung, nach Wills Genesung und wieder vereint mit Kjarrigan brechen die Gefährten erneut gen Norden auf, um sich Kytrin ein weiteres Mal zur Rettung der Welt entgegenzustellen ... KAPITEL EINS Hätten sie die Reise von Meredo nach Caledo im Sommer unternommen, so hätten sie die Wahl zwischen zwei möglichen Routen gehabt. Die längere Strecke hätte sie zunächst zurück nach Valsina geführt und von dort südlich an Tolsin vorbei und nach Nordwesten bis ans Ziel. Dann wären sie auf einer breiten Straße gereist, die das Vorankommen erleichtert hätte, und sie wären unterwegs auf genug Unterkünfte gestoßen. Auf der anderen möglichen Route wären sie zunächst nach Narriz, der Hauptstadt Saporitias, gelangt und von dort nördlich nach Caledo. Es war zwar die kürzere Strecke, doch in Saporitia wurden die Straßen nicht allzu gut instand gehalten. Außerdem fand ein Großteil des Handels zwischen Muroso und Saporitia trotz der eigentlich recht kurzen Landverbindung über See um die Loquellyn-Halbinsel statt. Mitten im Winter aber bot es keinen Vorteil mehr, sich an die Straßen zu halten, also zogen sie geradewegs nach Norden, um durch Bokagul abzukürzen. Die hohen, schneebedeckten Gipfel des Gebirges beherrschten den Horizont. Sobald der Wind die Wolken verjagte, sahen sie die langen, dünnen Linien Schnees, die sich die zerklüfteten Felsen herabzogen. Alyx starrte durch den dünnen Schleier, den sie zwischen der Hutkrempe und dem dicken Wollschal um Mund und Nase trug. Der Schleier half, das gleißende Licht des sonnenbeschienenen Schnees zu dämpfen und hielt zudem einen Hauch Wärme fest. In dicke 9 Fellkleidung gehüllt und unter noch dickeren Mänteln in den Sattel geduckt wirkte sie noch animalischer als das Pferd, auf dem sie saß. Sie spürte die Kälte - und Will musste sich wie ein menschlicher Eiszapfen vorkommen. Doch der Dieb beschwerte sich nicht, was sie einigermaßen erstaunte. Der Will Norderstett, den sie in Yslin kennen gelernt hatte, hätte sich beschwert, und zwar lautstark. Inzwischen war Will über solche Kindereien wohl hinaus. Gestern Abend im Lager hatte Will sich zu ein paar Murosonen ans Feuer gesetzt und mit ihnen gesungen. Er hatte sogar neue Texte für alte Melodien vorgeschlagen. Ein Lied, ein Gedicht, an dem er zugegebenermaßen schon seit einiger Zeit arbeitete, handelte von der Schlacht im Swojin-Becken und wie sie und Kräh die Sullanciri Malarkex erschlagen hatten. Die Gesangseinlage bei den Soldaten am Lagerfeuer beeindruckte sie, jedoch nicht annähernd so sehr wie die Bereitschaft, Kerleif und Lüdwin in der Kolonne zu dulden. Ihre Anwesenheit bei der Freien Kompanie war eine große Überraschung gewesen, und zunächst hatte sie die beiden für Swindgers Agenten gehalten. Sie hatte das auch Kräh gegenüber erwähnt, doch der hatte Kerleif nicht das Temperament zum Spion zugetraut - und Lüdwin nicht die Verschlagenheit. Nach ein wenig Nachdenken gab ihm Alyx Recht. Lüdwin hatte sicherlich einen schweren Streit mit seinem Vater hinter sich, wenn er bereit war, die Bequemlichkeiten des Palastes aufzugeben. Im Lager benahm er sich recht unbeholfen und folgte die meiste Zeit über Kerleif wie ein Schatten. Bei den Vorbereitungen für die Nacht hatte er unter den schwer mit Schnee beladenen Ästen eines Baumes Feuer gemacht. Die aufsteigende Hitze hätte den Schnee mit Sicherheit schnell herabstürzen lassen und das Feuer erstickt, doch Qwc flog unbeholfen herum und befreite den Baum vom Schnee. 10 Lüdwin fiel der so ausgelösten Lawine zum Opfer, musste aber doch lachen, als Qwc ihn auch noch mit Entschuldigungen überschüttete. Alyx und Kräh hatten sich zusammen in ein etwas abseits von den anderen aufgestelltes Zelt zurückgezogen, auch wenn es noch innerhalb des Lagers stand. Gleichgültig, wie ernst die anderen diese Ehe nahmen, man respektierte ihre Privatsphäre. Die Nacht war viel zu kalt, um sich aller Kleidung zu entledigen, also drängten sie sich unter den Decken aneinander und wärmten sich gegenseitig. Ihr Liebesspiel in der Herberge war heftig und dringlich gewesen - und recht unbeholfen. Ellbogen waren gelandet, wo sie nicht erwünscht waren, Zähne waren aneinander geschlagen, Finger hatten sich ineinander verhakt, doch jedes Missgeschick war mit einem Lächeln, einem Auflachen oder einer geflüsterten Entschuldigung quittiert worden. Bald genug aber waren Worte überflüssig gewesen. Stöhnen und Keuchen hatte alles Nötige vermittelt. Danach hatten sie nebeneinander gelegen und sich gegenseitig gestreichelt. Sie genoss die Zärtlichkeit, mit der Kräh den Arm um sie legte, sie mit dem Rücken zu sich zog, ihren Nacken küsste. Sie fühlte sich so
willkommen, dass sie sich mit Freuden ganz dieser Umarmung ergeben hätte, um sie nie wieder zu verlassen. Sie wollte nicht so sehr der Welt entfliehen und bei ihm Zuflucht suchen, sondern eigentlich nur von ganzem Herzen bei ihm sein und den Frieden dieser Vereinigung teilen. Unterwegs war er neben ihr geritten, wenn er nicht gerade nach Will sah oder mit Entschlossen sprach - oder sie Peri besuchte. Selbst jetzt, da sie sich nach ihm umschaute, die Schultern unter einem schweren Bärenfellmantel verborgen, nickte er ihr zu, und sie sah das Lachen bis in die Augen blitzen. 11 Wenn sie nicht allein waren, war Kräh zuvorkommend, zugleich jedoch respektvoll. Er bot ihr Hilfe an, bestand aber nicht darauf, ihr bei Problemen behilflich zu sein, mit denen sie auch gut allein fertig wurde. Und wenn sie Hilfe brauchte, fragte er vorher. Er hatte immer ein Lächeln für sie und behielt sie im Blick, ohne ständig ihre Aufmerksamkeit zu verlangen. Diese Distanz zwischen ihnen, so vermutete sie zumindest, lag wohl zum Teil am Altersunterschied. In jener ersten Nacht hatte er ihr von Swarskija erzählt, und dass er sie als Wickelkind im Arm gehalten hatte. Ein Zittern der Stimme verriet sein Unbehagen, so viel älter zu sein als sie. Als er zu einer Entschuldigung ansetzte, küsste sie ihn. »Unsere Herzen kümmert es nicht, wie oft sie schon geschlagen haben. Hauptsache, sie schlagen jetzt im Takt.« Er hatte das mit einem Lächeln aufgenommen. »Weise und schön.« »Weise genug, zu wissen, wie unbedeutend Kleinigkeiten wie das Alter wirken, wenn zwei Seelen füreinander bestimmt sind.« Alyx lächelte, als ihr das Gespräch jetzt wieder durch den Kopf ging, plötzlich aber schnitt ein heulendes Sirren durch die Nacht und forderte Aufmerksamkeit. Qwc blitzte grün vor dem weißen Schnee, kreiste um Will, Sayce, Kräh und Alyx, dann blieb er in der Luft stehen und deutete mit zwei Armen nach Nordwesten. »Flink, flink, kommt flink. Wichtig, sehr wichtig!« Er stieg höher, dann surrte er davon, schnurstracks auf den bewaldeten Eingang eines kleinen Tals zu. Kräh schaute sich zu ihr um. »Die Sprijsa wissen, wann und wo sie gebraucht werden. Wir sollten ihm folgen.« Entschlossen hatte sein Pferd schon gewendet und galoppierte hinter dem Sprijt her. Ohne einen zweiten Gedanken drehte auch Alyx ihr Ross und setzte ihm 12 gleich neben Kräh nach, um von den Schneefontänen nicht getroffen zu werden, die dessen Pferd aufschleuderte. Rechts von ihr, hinter Entschlossen, lief der Panq durch den Schnee, und hinter sich hörte sie, wie sich Will und Sayce der Jagd anschlössen. Sie hetzten über jungfräulichen Schnee in ein kleines Nadelwäldchen. Nach kaum zwanzig Schritt endete eine weitere Schnee-Ebene in einem Steilhang. Nach Norden breitete sich ein bewaldetes Tal aus, in der Mitte eine Wiese. Ein Bach verlief mitten hindurch und wand sich nach Süden, während im Nordwesten die grauen Granitwände Bokaguls eine natürliche Grenze bildeten. Entschlossen stürmte geradewegs über den Rand des Schneefeldes und verschwand. Lombo setzte zu einem großen Sprung an und nutzte den muskulösen Schwanz zur Balance. Alyx sah ihn in den Baumwipfeln verschwinden. Eine Fichte schwankte so heftig unter dem Aufprall, dass sich eine Schneelawine aus den Zweigen zu Boden ergoss. Krähs Pferd folgte dem von Entschlossen, und sie trieb das ihre knapp links davon ebenfalls über den Rand. Schnee stob auf, der fast kahle Abhang bot ihr aber einen ausgezeichneten Ausblick auf den Talboden. Eine kleine Gruppe Reisender wurde von einer Horde Schnatterer angegriffen. Ein paar Frostkrallen umkreisten die Opfer des Überfalls und stießen trillernde Schreie aus, während andere mit Sichelkrallen und Raubtiergebiss grausam zuschlugen. Die Reisenden wehrten sich nach Kräften. Aus den unbeholfenen Bewegungen und der ungewöhnlichen Hautfarbe schloss die Prinzessin, dass es sich um urSreiöi handeln musste. Nach etwa zehn Schritt wurde der Abhang sanfter. Kräh bremste und zog den Silberholzbogen aus dem Köcher. Er legte einen Pfeil auf, spannte und schoss. Der Pfeil zuckte an Entschlossen vorbei und traf einen 13 Schnatterer oben in die Brust. Der ging mit einer Drehung zu Boden und einige Schnatterfratzen schauten den Hang herauf. Gerade rechtzeitig, um Lombo hinabstürzen zu sehen. Der Panq landete mitten unter ihnen und zerquetschte mindestens einen Schnatterer unter sich. Seine Pranken zuckten nach links und rechts, zertrümmerten Knochen, zerfetzten mit den Krallen Haut und Muskeln. Er wirbelte herum, um einen Angreifer zu stellen, sein peitschender Schwanz brach einem ihn anspringenden Aurolanen die Beine. Ein zweiter Pfeil schoss hinab und ein Temeryx starb wild zuckend in einer sich schnell rot färbenden Schneewehe. Dann krachte ein Donnerschlag durch das Tal und hallte von den Bergwänden zurück. Ein Schnatterer wurde vom Boden gehoben und fiel mit zertrümmertem Schädel tot zu Boden, ein Opfer von Dranae und seiner Draconette. Dann war Alyx da. Auf halbem Weg den Hang hinab hatte sie den schweren Mantel beiseite geworfen, dann die rechte Hand aus dem Fäustling gezogen. Der Handschuh baumelte an einem Band vom Handgelenk, als sie die Waffe zog und zuschlug. Helles Rot spritzte über den Schnee und die Flanke des Pferdes. Eine Schnatterfratze sank gurgelnd zu Boden.
Der Schnee behinderte die Bewegung, doch die Rösser waren den Schnatterern an Beweglichkeit trotzdem um einiges voraus. Noch mehr Pfeile regneten herab und wieder rollte der Donner der Draconette durch den Kessel. Nicht jeder Schuss war tödlich, doch das Jaulen und Kreischen der verwunderten Kameraden wirkte auf die Schnatterfratzen ebenso demoralisierend, wie es auch für Menschen gewesen wäre. Die Frostkrallen hatten es mit ihren starken Beinen und schnellen Schritten im Schnee leichter, aber Lombo schien ganz besondere Freude daran zu haben, sie zu 14 töten. Er benahm sich wie ein Fuchs im Hühnerstall, wandte sich von einem verdrehten Kadaver ab, um sich auf das nächste Tier zu stürzen, schleuderte es zu Boden und riss ihm den Kopf ab. Alyx parierte den Schlag eines Langmessers und antwortete mit einem senkrechten Hieb auf den Schädel der Schnatterfratze. Knochen barsten, dann brach sie aus und stieß die Nordlandkreatur fort. Sie zügelte das Pferd und sah, wie sich Entschlossen auf seinem Pferd in einem Kreis von Kadavern drehte. Hinter Alyx schlug Sayce mit dem Säbel um sich, Will stand in den Steigbügeln und warf die Klingensterne, die Entschlossen geschmiedet hatte. Weiter zurück sah sie einen Trupp Rote Lanzers den Hang herabgaloppieren. Sie donnerten geradewegs in den dichtesten Pulk Schnatterer, der die urSreiöi bedrängte. Die Zwerge nutzten diesen Moment zu einem Ausbruch. Zwischen ihnen in der Zange steckend, konnten die fleckigen Pelzkreaturen nur heulen und winseln, bis sie sämtlich niedergemacht waren. Die restlichen Schnatterer flohen, so weit sie konnten, doch die Lanzers und die Freie Kompanie ritten sie nieder. Es waren nur dreißig oder vierzig gewesen, und eine kurze Untersuchung der Kadaver legte den Schluss nahe, dass es sich um Nachzügler oder Deserteure gehandelt hatte, die sich zusammengeschlossen hatten. Die kleine urSreiöi-Gruppe hatte offenbar durch einen denkbar ungünstigen Zufall ihren Weg gekreuzt. Die Prinzessin trottete zu den Zwergen hinüber. Sie zählte zwar zehn, doch mehrere waren verwundet, und mindestens drei urSreiöi lagen tot im Schnee. Eine urSreö, die Haut von der Farbe roten Steins und mit langem, schwarzem Haar, das zu einem dicken Zopf geflochten war, kam herüber und begrüßte Alyx. Sie hatte ihre Beine ähnlich wie Bok zu dürren Stelzen ge15 formt, die Unterarme endeten als Klinge und als stachelbesetzter Streitkolben. »Der Friede Bokaguls sei mit Euch.« In den dunklen Augen glänzten kupferne Flecken. »Ich bin Silide-Tse Jynyn, Warte dieser Domäne.« »Ich bin Alexia von Okrannel.« Sie schaute hinüber zu Will und wollte ihn ebenfalls vorstellen, doch dann bemerkte sie eine offene Wunde an dessen Bein. Sayce war abgestiegen und öffnete die zerrissene Kleidung. Das Blut glänzte dunkel auf Wills braunem Lederzeug und dampfte in der Kälte. Alyx ritt hinüber. »Was ist passiert?« »Nichts.« Sayce knurrte. »Ich habe einen von ihnen durchgelassen. Der hat den Norderstett erwischt. Es ist meine Schuld.« Qwc landete auf Wills Oberschenkel, ging auf alle Sechse nieder und spie einen Klumpen Netzwerk auf die Wunde. Will zog zischend die Luft ein, und Sayce versuchte, den Sprijt zu verscheuchen, doch Qwc flitzte zurück, dann wieder vor, und hantierte mit dem Netz, bis die Wunde ganz bedeckt war. Das Netz wurde rot, zog sich jedoch gleichzeitig zusammen und schloss die Wundränder. Weizen zügelte sein Pferd kurz vor Will. »Mein Fürst, die Schnatterer sind besiegt. Wir haben sie alle erwischt. Ein paar unserer Leute sind verletzt, aber nichts, was einem Mann zur Last würde.« Will nickte. »Nord und Lüdenwig?« »Nord geht es gut, mein Fürst. Lüdenwig hat einen Kratzer abbekommen, doch er wird es überleben.« »Gut. Vielen Dank, Hauptmann Weizen. Du hast persönlichen Einsatz bewiesen. Das ist gut.« Will winkte ihn mit einem Finger heran. »Komm näher.« Der Mann ritt so nah heran, bis das rechte Knie Wills linkes berührte. »Ja, mein Fürst?« 16 Der Dieb strich sich mit dem rechten Zeigefinger über das blutige Hosenbein. Dann streckte er die Hand aus und zog einen dunklen Streifen über den Mittelsteg der Maske, die Weizen am rechten Oberarm trug. »Du darfst deine Maske wieder tragen. Von jetzt an bist du mein Mann. Du wirst mir dienen, so gut du kannst, und mir andere melden, deren Taten sie würdig erscheinen lassen, in meine Dienste zu treten.« Das Lächeln, das sich auf den Zügen des Mannes ausbreitete, war ansteckend. Alyx konnte nicht anders, sie musste ebenfalls lächeln. »Jawohl, mein Fürst. Es ist mir Pflicht, Ehre und Vergnügen, Baron Norderstett.« »Und - Weizen?« »Ja, mein Fürst?« »Falls jemand geheilt werden muss, schick ihn bitte zu Adept Lies. Ich will lebendige Soldaten, keine heldenhaften Leichen. Ich weiß, jede Narbe hat ihre Geschichte, doch die Narben, die er verschwinden lässt, sind zwei Geschichten wert.« »Jawohl, mein Fürst.« Weizen salutierte zackig, dann zog er das Pferd herum und bellte den Freischärlern seine Befehle zu. Will schaute zu Alyx, dann hinab auf die urSreö. »Wie schlimm war es?« Silide-Tse sah sich zu ihrer Gruppe um. »Ich habe vier verloren, eine könnte noch sterben.«
Alyx schaute auf, als Lombo und Kräh herankamen. »Wir brauchen Kjarrigan. Kannst du ihn holen?« Sie hatte zu Kräh gesprochen, doch der Panq nickte und lief los, den Hang hinauf. Die urSreö ging unbeholfen in die Hocke. »Vergebt mir.« Sayce drehte sich um und kniete neben ihr. »Seid Ihr verletzt?« »Erschöpft.« Sie hob die ungleichen Arme. »Die Verwandlung zehrt an den Kräften und wir hatten in der 17 letzten Woche kaum Gelegenheit zum Auszuruhen oder zum Essen.« Die Murosonin stand auf und pfiff einem ihrer Lanzers. »Schafft irgendwie die Schlitten hier herunter. Wir werden da lagern.« Sie drehte sich wieder zu der urSreö um. »Ihr werdet sehr bald etwas zu essen und einen Platz zum Ausruhen haben.« Silide-Tse lächelte, dann hob sie den Streitkolben. »Nein, nein, das ist nicht nötig.« Die Prinzessin hob den Kopf, und ein herrischer Ton trat in ihre Stimme. »Auch wenn wir in Oriosa sind, Ihr werdet die murosonische Gastfreundschaft annehmen.« Die urSreö lachte. »Das Angebot Eurer Gastfreundschaft ist höchst willkommen, und selbst wenn wir in Oriosa wären, würde ich sie sicher nicht abschlagen.« Silide-Tse deutete mit dem Streitkolben nach Nordwesten. »Aber: Dies hier ist mein Zuhause. Eine Wegstunde in die Berge, und ich werde Euch unsere Gastfreundschaft und Dankbarkeit beweisen. Willkommen in Bokagul. Euer Handeln hat bewiesen, dass Ihr Freunde der urSreiöi seid, und in unserem Reich soll es unseren Freunden an nichts fehlen.« 18 KAPITEL ZWEI Die zwingende Notwendigkeit, den verwundeten urSreiöi zu helfen, ließ Kjarrigan die Erniedrigung schnell vergessen, von Lombo über die Schulter geworfen und wie ein Sack Kartoffeln durch den Schnee geschleppt zu werden. Er verzichtete darauf, mit den Armen zu wedeln oder sich zu beschweren, denn es war nicht das erste Mal, dass der Panq ihn so durch die Gegend schleppte, aber noch nie zuvor waren ihm dabei solche Mengen Schnee ins Gesicht gespritzt, dass er sich die Augen ständig freireiben musste. Ihnen folgte Bok, die Truhe auf den Rücken geschnallt. Im Tal angekommen, fand sich der junge Magiker wie ein Sack auf den Boden geworfen wieder. Er wälzte sich auf die Knie und begutachtete die Lage. Drei urSreiöi waren verletzt, doch ihre Verwundungen bestanden nur aus kleineren Kratzern und Abschürfungen. Er kroch hinüber zu zwei anderen urSreiöi, die eine dritte hielten. Die urSreö zwischen ihnen hatte die Hände auf den geschwollenen Bauch gedrückt, und auch ihre Begleiterinnen legten ihr die Hände auf den Leib. Er sah viel Blut. »Wie schlimm ist es?« Die kupferfarbene urSreö, die an den Füßen der Verletzten saß, schüttelte den Kopf. Sie sprach urSrel?, eine Sprache, die er kaum beherrschte, und von der er hier und jetzt noch weniger verstand. Eine andere urSreö, diejenige, die mit Prinzessin Alexia gesprochen hatte, 19 kam durch den knirschenden Schnee herüber und ging in die Hocke. »Sie sagt, eine Frostkralle hat Sulion-Corax den Bauch aufgeschlitzt. Wisst Ihr, was Corax bedeutet?« Kjarrigan kniff die grünen Augen zusammen. »Sie darf Kinder gebären, richtig?« »Ja. Sie ist Sulion-Corax Girsce, und das sind ihre Schwestern und Cousinen. Sie ist im fünften Monat, und die Frostkralle hat möglicherweise das Baby verletzt.« Kjarrigan stieß die Luft aus. »Oh. Das macht die Sache schwierig.« »Für Euch werde ich sie noch schwieriger machen. Falls Ihr den Schaden beheben und beide retten könnt, gut. Falls Ihr dabei das Geschlecht des Kindes erfahrt, behaltet es für Euch. Falls es jedoch ein männliches Kind sein sollte und Ihr nicht beide retten könnt, so rettet sie.« Der Magiker verzog das Gesicht. Er kannte sich gut genug mit den urSreiöi aus, um zu wissen, dass deren matriarchalische Gesellschaft für Männer - abgesehen von der Zeugung der Nachkommen - kaum Verwendung hatte. Trotzdem schien ihm das doch ziemlich hart. »Keine Sorge, ich werde beide retten.« Er nickte Sulion-Corax zu. »Es wird alles gut.« Kjarrigan schloss die Augen und legte seine Hand auf die von Sulion-Corax. Die urSreö zuckte unter der Berührung zusammen, doch die anderen urSreiöi beruhigten sie mit sanfter Stimme. Er konzentrierte sich, dann sprach er den Diagnosezauber. Da es sich um aelfische Magik handelte, floss der Zauber durch ihren Körper wie Wurzelwerk, das sich einen Weg durch die Erde suchte. Seine Ranken wanden sich durch ihren Leib und durch ihn hindurch. Als Gestaltwandlerin war die urSreö von höchst schwacher Natur, doch die Schmerzen, die sie fühlte, gaben ihm genug Anhaltspunkte. 20 Langsam schärfte sich sein Bewusstsein für ihren Körper und er erhielt ein deutliches Bild der Verletzungen. Die Frostkralle hatte, als sie der Zwergin den Bauch aufschlitzte, tatsächlich die Gebärmutter angeritzt, aber das Ungeborene war noch klein. Kjarrigan verstärkte den Zauber und sandte dessen Ranken in das Baby. Er entdeckte keine Schäden, vergewisserte sich aber noch einmal. Nichts. Der Fötus empfand zwar keine Schmerzen, irgendetwas stimmte jedoch trotzdem nicht. Irgendwie schien er ... stumpf, unscharf. Einen Augenblick lang befürchtete Kjarrigan, die Angst der Mutter hätte Auswirkungen
auf das Kind, also setzte er schnell einen Zauber ein, der ihre Schmerzen linderte und die Sorge dämpfte. Das dumpfe Schmerzgefühl, das zurückblieb, deckte sich mit den Verletzungen, aber Kjarrigan war nicht zufrieden. Er schob sein Bewusstsein tiefer in den Fötus und wanderte von dort aus an der Nabelschnur entlang, zeichnete die Verbindung zurück zur Mutter nach. Auf halber Strecke fand er den Schaden. Die Kralle des Temeryx hatte sich ein gutes Stück in die Nabelschnur gegraben und die Blutzufuhr abgeschnitten. Da die Nabelschnur keine Nerven enthielt, konnte sie keine Schmerzen übermitteln. Das erklärte, warum er dies zunächst nicht hatte erkennen können. Langsam und gewissenhaft reparierte Kjarrigan das Gewebe. Er behielt das Kind im Auge und fühlte, wie es lebhafter wurde. Er vergewisserte sich noch einmal, dass alles in Ordnung war, dann zog er sich zurück. Er heilte den Riss in der Gebärmutter, dann den in der Bauchwand der Mutter. Ganz zuletzt schloss er die Hautwunde. Er öffnete die Augen, dann sackte er zurück auf die Fersen und kippte schwer atmend zur Seite. Mit der linken Gesichtshälfte lag er im Schnee, der auf der Haut ein 21 wenig brannte, doch das bemerkte er kaum. Dass er es überhaupt wahrnahm, überraschte ihn, denn die Heilung von Mutter und Kind hätte unglaublich schmerzhaft sein müssen. Nicht ein Quäntchen Schmerz, das Su-lionCorax bei einer natürlichen Heilung empfunden hätte, ließ sich vermeiden. Beim Einsatz der Heilzauber hatte er die Wahl gehabt, ob er ihr die Schmerzen zumuten oder sie auf sich nehmen sollte. Obwohl er ihr die Qualen sicherlich hatte ersparen wollen, hatte er zu keiner Zeit die bewusste Entscheidung getroffen, sie in sich selbst umzuleiten. Er überlegte und verwarf den Gedanken, der Betäubungszauber könnte die Schmerzen abgeleitet haben. Dieser Zauber war so gängig, dass mit Sicherheit schon weit früher jemand diese Lösung entdeckt haben würde, wäre das möglich gewesen. Nach den Gesprächen mit Rym Ramok fragte er sich, ob das Erdulden der Schmerzen möglicherweise eine Behinderung war, die Vilwan den Magikern auferlegt hatte, oder ob hier ein anderer Faktor mitspielte. Lombo schob die riesigen Pranken unter Kjarrigans Schultern und setzte den Magiker auf. »Mehr als müde?« Kjarrigan blinzelte. »Mir geht's gut, Lombo. Danke.« Er schaute sich um und sah die anderen in derselben Position wie zu Beginn der Heilung. Alexia blickte zu ihm herab. »Kannst du ihr helfen?« »Hab ich schon.« Will war herübergeritten und zog überrascht die linke Augenbraue hoch. »Hast du schon? Du hast sie kaum berührt, dann bist du umgekippt. Ein Herzschlag, vielleicht zwei.« »Wirklich?« Kjarrigan schüttelte den Kopf. Er hatte den Zauber genauso eingesetzt wie immer. Nein, warte ... Er war ganz auf die offensichtliche Dringlichkeit des Handelns konzentriert gewesen und hatte keinen Ge22 danken an sich oder die Einzelheiten des Zauberns verschwendet. Er erinnerte sich an die Zauber, die er gewirkt hatte, als sie vor den Piraten geflohen waren, sowohl bei der Evakuierung von Vilwan als auch auf der Flucht aus Port Gold. In beiden Fällen hatte er ungeheure Magik eingesetzt, ohne dass es ihn ermüdet hätte. Auch jetzt war seine Erschöpfung nicht körperlicher Natur, sondern geistig. Was er getan hatte, war selbst unter günstigsten Bedingungen äußerst kompliziert. Dass er es so schnell geschafft hatte ... Seine Gedanken mussten gerast sein, als sie die Magik steuerten, um den Schaden zu beheben. Er war selbst erschrocken darüber, wie schnell er diese Arbeit erledigt hatte. Und gleichzeitig stand er vor einer großen Frage. Ich bin nicht körperlich erschöpft, also kann die Energie für die Magik nicht aus mir gekommen sein. Aber woher kam sie dann? Kjarrigan schaute auf und lächelte. »Tja, da habe ich wohl erst mal Stoff zum Nachdenken.« Er kämpfte sich, schwer auf Lombo gestützt, auf die Beine. Die rote urSreö winkte mit dem Klingenarm zum Gebirge hin. »Bitte, Ihr alle seid willkommen in Bokagul ...« Ihre Stimme verklang zu einem Zischen, als Bok auftauchte, und sie wechselte zu urSrel?. Von dem, was sie noch sagte, verstand Kjarrigan nur das Wort Bok - und es war von Abscheu erfüllt. Er stolperte durch den Schnee zu Bok, der mit um die Knie gelegten Händen auf dem Boden hockte. Er legte eine Hand auf die Schulter des grünen urZreö. »Bok ist mein Diener.« Ihre Augen wurden schmal. »Er ist Bok. Er ist vogelfrei. Ihr werdet ihn in Gewahrsam halten.« Kjarrigan tätschelte sein verfilztes Haar. »Natürlich.« Bok gluckste friedlich. Die urSreö beäugte ihn misstrauisch, dann wandte sie sich zu Prinzessin Alexia um. »Es ist nicht weit und 23 Ihr seid mehr als willkommen. Die Familie Girsce regiert in Bokagul. Ihr werdet feststellen, dass ihre Dankbarkeit keine Grenzen kennt.« Silide-Tse Jynyn stellte sich Kjarrigan vor, dann machte sie ihn mit den Schwestern und Cousinen der urSreö bekannt, deren Kind er gerettet hatte. Er bekam tatsächlich den Eindruck, dass die Rettung des Kindes wichtiger war als die von Sulion-Corax. Die Zwerge erklärten ihm, dass sie eine Woche zuvor einen Traum gehabt hatte, der sie veranlasst hatte, mit ihrem Gefolge auszuziehen, um Schneebeeren aus einem bestimmten Wald zu pflücken. Im Traum hatte sie gesehen, dass diese Beeren die erste feste Nahrung ihres Kindes sein würden, und
das hatte keinen Widerspruch geduldet. Die Schneestürme aus dem Norden hatten sie fern der Kolonie überrascht, und die Aurolanenhorden waren ihnen auf dem Rückweg nach Bokagul über den Weg gelaufen. Die Wagen hinab ins Tal zu bringen, war mit weniger Schwierigkeiten verbunden, als Kjarrigan erwartet hatte. Mit Lombos Hilfe, der urSreiöi und reichlich Seilen und Pferden war der Abstieg schnell geschafft. Peri blieb nicht in ihrem Wagen, während er den Hang herabgehievt wurde, sondern wurde Silide-Tse vorgestellt. Die urSreiöi-Warte beschrieb ihr den Weg zum Eingang der Girsce-Domäne und gab ihr eine Nachricht mit. Die Reise nach Nordwesten dauerte vier Stunden, und bald verdunkelten die Schatten der Berge das Tal. Die Kadaver der Frostkrallen hatten sie auf die Schlitten geworfen. Lombo hatte sie nicht allzu sehr zerfetzt, und angeblich waren sie recht schmackhaft. Kjarrigan hatte ihr Fleisch noch nie probiert, doch Kräh nickte ihm ermutigend zu, also sparte er sich jeglichen Kommentar. Schließlich betraten sie eine schmale Schlucht, die 24 mehrere Windungen durchlief, bevor sie sich zu einem etwas breiteren Tal hin öffnete, das an einer steilen Klippenwand endete. Die Sackgasse war gerade eben groß genug für die ganze Kolonne. Auf dem Ritt durch die enge Schlucht hatte Kjarrigan nach oben geschaut und festgestellt, dass man nur ein paar Bogenschützen gebraucht hätte, diesen Weg zu einer Todesfalle zu machen - eine Überlegung, die auch den urSreiöi sicher nicht entgangen war. Der Eingang nach Bokagul selbst beeindruckte ihn. Die Felswand ragte gut hundert Schritt senkrecht auf und glitzerte. Eis, das sich durch den darüber schmelzenden Schnee gebildet hatte. Am unteren Ende standen vier aus dem grauen Stein geformte Relieffiguren. Die beiden kleineren in der Mitte stellten urSreiöi dar. Die gedrungenen Gestalten berührten mit den Händen den einen runenverzierten Kreis, der den eigentlichen Eingang einrahmte. Über ihnen ragten zwei sehr viel größere, geformte urSreiöi auf, mit Vogelbeinen für das Fortkommen im Schnee. Die Arme glichen Schwingen, deren Flügelspitzen sich über dem Eingang berührten. Silide-Tse erschien neben ihm. »Die urSreiöi glauben, dass es die wahrhaft Begabten unter uns eines Tages schaffen werden, Flügel zu formen und sich in die Lüfte zu erheben, Adept Lies.« Er nickte. »Ich habe von dieser Legende gehört. Es ist ein wunderbarer Traum.« »Ja, das ist es.« Sie lächelte. »Vielleicht wird das Kind, das Ihr gerettet habt, einen ausreichend beflügelten Geist besitzen, dieses Ziel zu erreichen.« »Das würde mich sehr freuen.« Silide-Tse sprang voraus, doch bevor sie die Hand zum Schlussstein ausstrecken konnte, rollte die wuchtige Steinplatte schon zur Seite. Peri trat heraus in die Kälte, herausgeputzt mit zierlichen Goldketten und funkelnden, juwelenbesetzten Ringen, und einem gol25 denen Tuch an Stelle der bescheidenen Kleidung, die sie gewöhnlich trug. Sie lachte sogar, was nicht so selten vorkam, für Kjarrigan aber doch bemerkenswert genug war. Hinter ihr drängte ein Strom von urSreiöi durch das Tor. Sie drängten sich um den Wagen, der für Peri vorbereitet worden war, den sie aber für den Rest des Heimwegs Sulion-Corax überlassen hatte. Das Geplapper der urSreiöi, von dem er kein Wort verstand, wogte in Freude und Mitgefühl auf und ab, und immer wieder hörte er Trauer um die Gefallenen heraus. Entsprechend der urSreiöi-Sitten waren die Leichen der Toten dort zurückgeblieben, wo sie gestorben waren. Man würde ihr Hinscheiden begehen, ihre Körper allerdings weder bergen noch bestatten. Andere urSreiöi, restlos männlich, kamen aus der Kolonie, um die Pferde und Schlitten hineinzuführen. Sie bewegten sich schwerfällig und zaghaft, erledigten ihre Arbeit aber zügig. Einer näherte sich sogar Bok, um ihm die Kiste abzunehmen, und blieb blinzelnd stehen, als der ablehnend knurrte. Silide-Tse rief den urZreö zurück und gab ihm eine andere Aufgabe, die er unbeteiligt erfüllte. Silide-Tse zog die Kerngruppe beiseite, während andere Zwerge die Lanzers und die Freie Kompanie in die für sie vorbereiteten Unterkünfte brachten. Die Warte führte sie 'hell erleuchtete Korridore hinab, die für ein so kleinwüchsiges Volk erstaunlich hoch waren. Das Licht spendeten dicke Kerzen in metallenen Leuchtern. Die Reliefs an den Wänden wechselten sich mit farbenfrohen Mosaiken ab, die neben urSreiöi sämtlich auch Menschen und JElien darstellten. Kjarrigan erinnerte sich dunkel an Geschichten, die entfernte Ähnlichkeit mit einzelnen Szenen hatten, und erkannte, dass diese Bilder aus den urSreiöi-Versionen der Legenden stammen mussten, denn die Zwerge schienen in jedem Fall 26 im Vorteil zu sein - was in den Erzählungen der Menschen eher selten der Fall war. Silide-Tse führte sie in einen erstaunlich großen, seltsam geformten Raum. Ein kurzer, abgerundeter Gang Entschlossen und Dranae mussten sich ducken und Lombo in die Hocke gehen, so niedrig war er - öffnete sich in die erste von zwei kugelförmigen Kammern. Die zweite Kammer war kleiner als die erste, und ihr Boden lag eine halbe Menschengröße höher, obwohl die Decken beider Kammern auf einer Höhe lagen. Aus diesen zwei Kugelkammern führten kreisrunde Türen in weitere Räume, und gleich links neben dem Haupteingang befand sich ein riesiger offener Kamin. Silide-Tse trat an die Feuerstelle und flüsterte etwas, woraufhin die darin aufgehäuften Steine rot aufglühten. Sie ging vor dem Kamin in die Hocke, das Gesicht den Gefährten zugewandt, und breitete die Arme aus.
»Dies ist ein Coric, die typische Wohnung unseres Volkes. Diese untere Kammer ist der Gemeinschaftsraum, von dem die Schlafkammern der Männer abgehen.« Sie warf Bok einen versteckten Blick zu, der sich augenblicklich in einen Schlafraum in der Nähe des Eingangs verzog. »Männliche Besucher, besonders wenn sie gekommen sind, um einer Tochter der Familie ein Kind zu zeugen, werden in der Regel näher an der oberen Kammer untergebracht. Dort wohnen unsere Frauen. Die Coraxoc oder Matriarchin bewohnt den zentralen Raum. Ihre fruchtbaren Töchter haben die Kammern zu beiden Seiten, wir anderen wohnen in den übrigen.« Will zählte ab. »Drei Frauen, acht Männer. Sechs Kammern hier unten. Das wird eng.« Silide-Tse schüttelte den Kopf. »In den Männerkammern können bequem sechs schlafen.« Aus dem Loch, durch das Bok verschwunden war, drang ein Schnaufen. 27 Qwc landete auf Wills Schulter. »Qwc braucht kein Zimmer. Schnarcht auch nicht.« Die urSreö runzelte die Stirn. »Ihr seid Gäste. Es steht Euch frei, zu tun, was Euch beliebt. Es wäre uns eine Ehre, solltet Ihr Euch entscheiden, unseren Konventionen zu folgen.« Kräh nickte. »Wir verstehen. Perrine, du bekommst die Coraxoc-Kammer.« Silide-Tse strahlte. »Ihr versteht tatsächlich. Großartig. In diesem Fall werdet Ihr mich entschuldigen. Ich werde Euch gestatten, Euch einzurichten und bald mit Nahrung zurückkehren.« Kjarrigan wollte eine Kammer mit Bok teilen. Der lange, schmale Raum hatte eine niedrige, runde Decke und keinerlei Dekoration, es sei denn, man zählte unregelmäßige Risse im Putz dazu. Er wählte die Steinpritsche auf der rechten Seite und nahm eine zweite Strohmatratze zum Schutz gegen die Kälte des Steins. Bok hatte die Kiste am Kopfende seines Bettes abgesetzt und sich am unteren Ende eingerollt. Er schlief bereits, und Kjarrigan war versucht, ihm darin zu folgen, doch ein plötzliches Klatschen in der Hauptkammer veranlasste ihn, zurück zur Tür zu watscheln und hinauszuschauen. Silide-Tse war zurück. Sie hatte bereits wieder eine deutlich menschenähnlichere Gestalt angenommen, und führte eine Gruppe urSreiöi an, die aus einer Menge Holzteile in Windeseile einen niedrigen Tisch zusammensetzte. Andere brachten Sitzkissen, die sie um die Tafel verteilten. Danach erschienen Schüsseln, Teller, Becher, Gabeln, Messer und Löffel, und bald darauf waren sämtliche Plätze mit weit mehr Besteck gedeckt als irgendjemand benutzen konnte. Silide-Tse, die das ganze Geschehen überwacht hatte, bellte einen Befehl, und für noch einen Platz wurde gedeckt. Die urSreö winkte alle Gäste in die Hauptkammer 28 und wies ihnen bestimmte Plätze an der Tafel zu. Als sie sich setzten, kamen männliche urSreiöi herein und nahmen jeweils zu zweit hinter ihnen Aufstellung. Andere brachten Terrinen mit Suppe, dampfende Fleischplatten und überquellende Brotkörbe. Kjarrigans Magen meldete sich auf der Stelle mit lautem Knurren, und das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Er stürzte sich wie die anderen auf das Mahl, als hätten sie einen Monat nichts gegessen. Natürlich hatten sie nicht gehungert, aber sie hatten sich in dieser Zeit tatsächlich nur von Tavernenessen und Reiseproviant ernährt, und das war verglichen mit diesem Festessen Dreck. Seltsamerweise bemerkte Kjarrigan, dass zwar das Besteck zwischen den Gängen ausgewechselt wurde, die Teller und Schüsseln jedoch nicht. Die Diener bildeten die Hände für jeden neuen Gang zu geeignetem Servierbesteck aus und zogen sich dann zurück, um sie zu waschen. Der Magiker fragte sich, ob die urSreiöi möglicherweise wenig Verwendung für Besteck hatten, weil sie die Hände beliebig umgestalten konnten. Deshalb stellten sie es ihren Gästen so reichlich zur Verfügung und trugen es zwischen den Gängen ab, statt von ihnen zu erwarten, dass sie sich die Hände wuschen - was ja auch unnötig war, da sie nicht mit den Händen aßen. Müßige Spekulationen dieser Art waren das Äußerste an intellektueller Aktivität, was Kjarrigan sich leistete. Er aß eine Menge und trank noch mehr, denn jeder neue Gang schien köstlicher als der zuvor, und jeder neue Wein offenbarte Nuancen, die er nie zuvor gekostet hatte. Der Nachschub schien nahezu unaufhörlich. Schließlich lehnte sich selbst Lombo zurück und tätschelte den prallen Wanst, bevor er einen Rülpser ausstieß, der laut genug war, den Tisch erzittern zu lassen. Dies war weniger das Ende des Festessens als viel29 mehr dessen Abschluss, und alle lachten, selbst Silide-Tse. Sie klatschte in die Hände und die Dienstboten zogen ab. Die Tafel blieb jedoch mit genug Essen zurück, um die Freie Kompanie zu verköstigen. Die urSreö drehte sich zu Kjarrigan um. »Ich werde das hier lassen, damit Euer Diener sich bedienen kann.« Der Magiker nickte. »Ihr seid zu gütig.« »Wir stehen in Eurer Schuld. Das ist das Mindeste, womit wir uns erkenntlich zeigen können.« Sie lächelte. »Ich werde morgen früh zurückkehren. Schlaft gut, allesamt.« 30 KAPITEL DREI Irgendwie hätte sich Ermenbrecht gewünscht, der Tag wäre nicht kalt und klar angebrochen. Auf die Kälte hätte er so oder so verzichten können. Die eisige Luft drang durch die Kleider, und so viel er sich auch bewegte, es schien ihn nicht zu wärmen. Andererseits bewegte er sich auch nicht gerade schnell. In der ersten Nacht hatten sie das Waffenlager gefunden, das Verum erwähnt hatte. Der Baron Draconis hatte
Vorräte an Feuerdreck und anderem Nachschub rund um die Festung verteilt, wenn auch weniger für den Fall eines Rückzugs als für Einheiten, die hinter den feindlichen Linien operierten. Na, hinter den Linien sind wir in der Tat. Sie hatten im Depot die Vorräte aufgefüllt und sich mit Winterkleidung ausgerüstet. Das Lager hatte eine Reihe Draconetten enthalten, jedoch keine des neuesten Modells. Munition und Feuerdreck funktionierten aber in ihren Vierschüssern ebenso, also versorgte sich jeder mit zweihundert Schuss. Einschließlich Kleidung, Proviant und Waffen schleppte seither jeder durchschnittlich sechzig Pfund Ausrüstung mit. Nur Ermenbrecht war davon ausgenommen, weil ihm der Brustkorb noch immer von dem stark Schlag schmerzte, der ihn getroffen hatte. Jilandessa hatte mit ein paar einfachen Zaubern festgestellt, dass nichts gebrochen war, aber sämtliche Rippen waren geprellt. Sie hatte ihm angeboten, die Verletzung zu heilen, doch er hatte sich geweigert. Falls er lange genug überlebte, würde er sich von selbst erholen. 31 Die anderen teilten sich seine Last, sodass er nur noch einen Vierschüsser mit Dreck und Munition und das Fragment der Drachenkrone trug. Das Fragment war nicht besonders schwer, und so konnte er mit den anderen auf dem Zug nach Süden mithalten. Bei den Vorräten des Depots hatten sie auch Schneeschuhe gefunden, mit denen sie schneller vorankamen. In dieser Kälte war aber jeder Marsch anstrengend. Am ersten Tag der Reise waren sie in einen Schneesturm geraten, über den sie sich sogar gefreut hatten, da er ihre Spuren verwischte. Doch diejenigen der vor ihnen vorbeigezogenen Aurolanenhorden konnte auch der Sturm nicht verdecken. Halb zerfressene Tierkadaver, geraubte Wagen, die am Wegrand zurückgelassen worden waren, als die erschöpften Gespanntiere starben, selbst die in der Kälte erstarrten Körper oder die von ihren Landsleuten getöteten Schnatterer säumten unübersehbar den Weg. Der Anblick der toten Schnatterer überraschte Ermenbrecht nicht. Wintermärsche waren in jedem Fall eine schwere Belastung. Eher erstaunte ihn die geringe Zahl der Kadaver. Ryslin zuckte die Achseln, als er es erwähnte. »Sie kommen aus dem Norden. An Wetter dieser Art sind sie gewöhnt. Möglicherweise finden sie es sogar mild.« »Was ihnen im Winterkrieg einen deutlichen Vorteil verschafft.« Ermenbrecht seufzte. »Was glaubt Ihr, wie lange wird Sebtia durchhalten?« Die Augen des AElfen wurden für einen Moment zu schmalen Schlitzen, dann schüttelte er den Kopf. »Es sind eine Menge Truppen nach Süden gezogen. Wahrscheinlich ist es schon gefallen. Muroso unter Umständen auch. Mit den Draconellen und Drachen ist Kytrin äußerst stark, besonders beim Angriff auf Festungen, die konventionellen Belagerungen standhalten sollen.« Wie die in Oriosa. Ermenbrecht hatte sich lange geweigert, sich seinem Heimatland verbunden zu fühlen. 32 Sein Vater hatte einen Kurs eingeschlagen, den er verachtete. Der Mord an seiner Großmutter hatte in ihm einen lodernden Hass auf Kytrin ausgelöst und die Entschlossenheit, sie zu vernichten. Seinen Vater hatte er entsetzt, und seither tat er alles, was in seiner Macht stand, um sie zu besänftigen. Aus diesem Grund vor allem war Ermenbrecht nach Norden zur Festung Draconis gezogen und hatte seinen Onkel, den Baron, angebettelt, ihn in seine Dienste zu nehmen. Des ungeachtet jedoch blieb er ein Oriose. Auch wenn er für seinen Vater keine Zuneigung mehr verspürte, hieß das nicht, dass er Oriosa nicht noch immer geliebt hätte. Er wollte weder Oriosen sterben noch ihre Häuser niedergerissen sehen. Nicht nur, dass seine Tante mit seinen Vettern in die Heimat evakuiert worden war, auch seine eigene Geliebte und ihr Kind waren nach Süden geflohen. Bei diesem Gedanken kam ihm in den Sinn, dass sie ihn alle beinahe sicher für tot hielten, und das verstärkte seinen Wunsch heimzukehren nur noch. Falls ich es kann. Ihre Lage war prekär, und selbst das nur bei großzügiger Auslegung der Gefahren, denen sie sich gegenübersahen. Der Schneefall des ersten Tages sollte die Aurolanen vermutlich auf Festung Draconis gehalten haben, sodass mindestens ein Abstand von einem Tag zwischen ihnen und den weiter südwärts rückenden Truppen bestand. Dieser Abstand war leicht aufzuholen, bot ihnen aber wenigstens ein schmales Fenster. Am besten wären sie nach Süden vorgestoßen, hätten den Tynik überquert und sich nach Sarengul gerettet. Dort konnten die urSreiöi ihnen Unterschlupf gewähren oder zumindest einen Weg nach Alosa. Ermenbrecht wusste nicht genau, wo das Fragment am sichersten aufgehoben war. Falls sie es weit genug nach Süden schafften, um Croquellyn zu erreichen, 33 konnten sie es den AElfen übergeben. Das hatte Prinzessin Alexia mit dem jeranischen Fragment getan, nachdem sie es den Piraten von Wruona abgenommen hatte. Die AElfen Loquellyns hatten es in Verwahrung genommen, doch der Prinz fragte sich, ob sie damit nicht auf lange Sicht ihren Untergang besiegelt hatten. Ermenbrecht hatte Angst vor einem klaren Tag, denn unter diesen Umständen hinterließen sie eine deutliche Spur, der ihre Gegner leicht folgen konnten. Doch diese Sorge legte sich mit Einbruch der Nacht zumindest teilweise. Sie bogen etwas ostwärts ab, und in einem Mittelgebirgsstück fanden sie die Trümmer einer Einsiedlerhütte. Die Nordlandhorden hatten versucht, sie niederzubrennen, aber das Feuer hatte nur halbe Arbeit geleistet. Ein Teil des Daches hatte den Brand überstanden, und alle vier Blockwände waren erhalten, wenn auch innen schwarz verbrannt.
Das Schöne an der Hütte war, dass ihre Wände einen gewissen Schutz vor den aurolanischen Truppen in der Gegend boten. Zumindest hatte Nygal das festgestellt. Verum hatte erwidert, sie hätten nicht den geringsten Wert, falls ein Drache das Vernichtungswerk zu Ende bringen wollte. Das hatte sie alle schnell ernüchtert, bis Ermenbrecht ihnen gestattete, ein Feuer im Kamin zu machen, falls Verum die Hütte für standfest genug befand. Der Gedanke an ein Feuer für die Nacht war ausgesprochen erfreulich. Verum teilte alle zur Arbeit ein, bis auf die AElfen und Jullach-Tse, die während der Nacht Wache halten sollten. Ihre Nachtsicht prädestinierte sie für diese Aufgabe, und keiner der Menschen oder Meckanshii beschwerte sich über diese Arbeitsteilung. Der Prinz rief drei der Nichtmenschen herüber. »Wir sind uns einig, dass wir gen Süden nach Sarengul wollen. Jullach-Tse, seid Ihr sicher, sie nehmen uns auf?« 34 Sie nickte. Ihre grauen Augen standen in krassem Kontrast zur tiefroten Haut und dem schweren schwarzen Wollmantel, in den sie gehüllt war. »Die urSreiöi weisen keinen Besucher ab. Ich war schon früher in Sarengul. So weit von Bokagul ist die Kolonie schließlich nicht entfernt. Ich habe sogar entfernte Cousinen dort. Sie werden möglicherweise nicht gerade erfreut sein, dass wir ein Fragment der Drachenkrone dabei haben, aber sie werden uns weder durchsuchen noch Aufklärung darüber verlangen.« Jilandessa spielte mit ihrem langen schwarzen Zopf. »Ist es wirklich eine gute Idee, sie täuschen zu wollen?« Die urSreö zuckte die Achseln. »Wollt Ihr ihnen lieber Wissen aufdrängen, von dem wir nicht wissen, ob es willkommen wäre? Ja, unser Erscheinen wird den Krieg zu ihnen tragen, aber sie haben kein Verlangen danach, dass Kytrin die Krone wiederherstellt. Vergesst nicht, die urSreiöi erschaffen Gebirge, und die Drachen vertreiben uns daraus. Für jeden anderen sind unsere Kolonien unangreifbar. Sollen sie ihre Schnatterer ruhig auf uns hetzen. Ohne Drachen können sie unsere Berge nicht aufbrechen.« Ryslin schnaubte. »Wir wollen hoffen, weder Turic noch Runyk nehmen eine derartige Selbstsicherheit zum Anlass für eine Lektion.« Jullach-Tse schüttelte den Kopf. »Die Götter können entscheiden, was sie wollen, die urSreiöi in ihrem Felsen zu vernichten, das ist äußerst schwierig.« Ermenbrecht hob die behandschuhte Hand. »Wir wollen davon ausgehen, dass dies so stimmt. Die nächste Frage wäre, wohin gehen wir von dort aus? Prinzessin Alexia hat ein Fragment in Loquellyn gelassen.« Ryslin rümpfte die Nase. »Damit hätte sie Rellaence nicht in Richtung Festung Draconis verlassen dürfen. Es wäre unannehmbar gewesen, hätte sie es mit nach Norden gebracht. Das Risiko wäre zu groß gewesen 35 und hätte Kytrin bei einem erfolgreichen Angriff zu viel in die Hände gespielt.« »Damit hätte sie fünf Bruchstücke gehabt. Das aus Swarskija besitzt sie schon, und eines der drei aus Festung Draconis. Wir haben eines, das jeranische Fragment befindet sich in Loquellyn, und ein weiteres ist... die Götter wissen wo.« Der Prinz verzog das Gesicht. »Wie viele Fragmente gibt es eigentlich?« Ryslin schmunzelte. »Ihr wart der Adjutant des Barons Draconis. Hat er es Euch nicht gesagt?« Jilandessa herrschte den Loqaelfen auf aelfisch an. Die Augen des Kriegers wurden groß, dann errötete er und nickte. Als er die gewöhnliche Farbe wieder angenommen hatte, schaute er Ermenbrecht in die Augen. »Ich bitte Euch um Vergebung. Jilandessa hat mich daran erinnert, dass Ihr ein Recht auf die Euch lange vorenthaltene Information habt. Soweit es irgendjemand sagen kann, gibt es sieben Bruchstücke der Krone.« »Sieben?« Ermenbrecht runzelte die Stirn. »Ich weiß, die Menschen haben fünf erhalten, und ich hörte, eines soll auf Vorquellyn gewesen sein.« Die Harqaslfenheilerin nickte. »Dieses Fragment wurde von der Insel evakuiert, ist aber verschwunden. Manche Stimmen behaupten, die Loqaelfen hätten es den Flüchtlingen abgenommen.« »Das haben wir nicht.« Ryslin schob das Kinn vor. »Ich habe gegen Kri'tchuk gekämpft. Ich habe das Fragment nicht gesehen, aber wärt Ihr damals in Loquellyn gewesen, wüsstet Ihr, dass sein Besitz als großartiger Sieg gefeiert worden wäre.« »Das macht sechs.« Ermenbrecht schaute sich unter seinen drei Begleitern um. »Was ist mit dem siebten?« Ryslin breitete die Hände aus. »Es war lange vor meiner Zeit, doch es heißt, eine kleine Gruppe von Abenteurern sei es gewesen, die Kajrün den Todesstoß versetzt habe. Als sie die Krone fanden, besaß sie die Form 36 eines offenen Diadems. Sie hatten sie nie zuvor gesehen, und erst viel später kamen Geschichten über ein siebtes Bruchstück auf: den Mittelstein. Jedes einzelne Fragment besitzt bereits enorme Macht, wie wir selbst gesehen haben. Doch mit dem siebten ist es möglich, gewaltige Drachenheere zu kontrollieren. Es heißt, sein Einsatz sei äußerst kräftezehrend, aber wenn man seine Feinde derart wirksam auslöschen kann, braucht man sich keine Sorgen ums Ausruhen zu machen.« Der Prinz starrte ihn an. »Soll das heißen, es gab sieben Bruchstücke, aber nur sechs wurden je gefunden, und sie wurden verteilt, ohne zu ahnen, dass der Mittelstein fehlte?« »Es ist wahr, Hoheit.« Jullach-Tse nickte ernst. »Ich bin weit jünger als Ryslin, aber ich habe in Bokagul dieselben Legenden gehört. Es war eine urSreiöi-Goldschmiedin, die nah und fern gereist ist. Sie hat alle Fragmente gemessen und eine Nachbildung der Krone geschaffen, vollendet bis ins Kleinste. Es war offensichtlich unvollständig, und so hat sie herausgearbeitet, wie das fehlende Stück ausgesehen haben könnte. Wir wissen jedoch schlicht und einfach nicht, wo dieses Bruchstück ist. Vielleicht besitzt es Kytrin und
vielleicht hat sie es sogar aus der Krone gestohlen.« Ermenbrecht sackte zurück gegen die Hüttenwand und zog eine Grimasse. Ihm tat die Brust weh, und das lag nicht nur an den geprellten Rippen. »Wenn ihr drei das wusstet, warum wusste ich nichts davon? Oder der Baron Draconis?« Jilandessa hockte sich neben ihn und legte die Hände aufs Knie. »Das liegt am Wesen der Menschen, Hoheit. Betrachtet Festung Draconis einmal nicht als einen Ort, der Kytrin aufhalten sollte, sondern als Machtzentrum. Alle Länder der Menschheit, alle Länder der Hilfen und der urSreiöi haben Truppen für Festung Draconis bereitgestellt und dort gedient. Aber es war ein Mensch, 37 der die Pläne dazu gefertigt hat, und alle Barone Draconis waren Menschen. Menschen streben beständig nach Macht. Als sich herausstellte, dass es ein siebtes Fragment der Krone geben könnte, ein Fragment, das sie funktionsfähig macht, sahen sich AElfen und urSreiöi in einer seltsamen Zwickmühle. Alle bekannten Fragmente befanden sich außer einem in der Hand von Menschen. Man hielt es für denkbar, die Menschen kämen zu dem Schluss, wir hätten sie über die Anzahl der Fragmente belogen und eines zurückgehalten, da wir ihnen nicht trauen. Diese Sicht der Dinge hätte eine wachsende Feindseligkeit geradezu herabbeschworen. Die Menschen hätten sich eingeredet, wir hätten das Fragment zurückgehalten, um auch in den Besitz der übrigen Fragmente zu gelangen und die Drachenkrone neu zu schmieden, um schließlich mithilfe der Drachen die Menschheit auszulöschen.« Ermenbrecht schüttelte den Kopf. »Das ist doch völliger Unsinn.« Die schwarzhaarige AElfe lächelte. »Hoheit, Dir habt die letzten fünf Jahre auf Festung Draconis verbracht. Ehr habt tagtäglich mit AElfen und urSreiöi zusammengearbeitet. Ihr kennt uns. Ihr vertraut uns. Ryslin ist ein Neuzugang auf Festung Draconis, und trotzdem behandelt Ihr ihn so, wie Ihr es tut, weil Ihr gelernt habt, AElfen zu vertrauen.« Auch Jullach-Tse nickte. »Und um ehrlich zu sein, es hat durchaus Gelegenheiten gegeben, bei denen man den Vorschlag in die Debatte geworfen hat, die Krone wiederherzustellen. Ich habe es in den Hallen Bokaguls gehört, und ich zweifle nicht daran, dass es in den Wäldern aller Jilfenheimstätten angesprochen wurde. Die Menschen bedrängen uns. Niemand will die Menschheit auslöschen, doch die Möglichkeit, sie zurückzudrängen ...« Ermenbrecht nickte. »Ich kenne die Geschichte. Ich 38 weiß, die Menschen von Oriosa und die urSreiöi von Bokagul haben bereits Krieg gegeneinander geführt, doch in der jüngeren Vergangenheit haben wir Seite an Seite gefochten. Trotzdem verstehe ich, was Ihr sagen wollt. Diese alten Kriege sind nicht vergessen. Es wäre nicht besonders weit hergeholt, Euch finstere Motive zu unterstellen.« Jilandessa seufzte. »Wir können mit ziemlicher Sicherheit ausschließen, dass Kytrin das siebte Fragment besitzt. Täte sie das, wäre sie erheblich stärker.« »Warum kann sie nicht einfach einen neuen Mittelstein schaffen?« Die urSreö runzelte die Stirn. »Die Juwelen der Drachenkrone sind äußerst selten. In manchen Legenden werden sie als Wahrsteine bezeichnet, doch ich habe keine Ahnung, was damit gemeint ist.« Die beiden /Elfen schüttelten den Kopf. »Falls mein Volk um ihr Wesen weiß«, erklärte Ryslin mit ernster Stimme, »hat man mir nichts davon mitgeteilt. Aber falls Kytrin die Fähigkeit besäße, einen derart wichtigen Teil der Krone zu erschaffen, könnte sie sich eine neue Drachenkrone schmieden. Irgendetwas hat bisher verhindert, dass es dazu kommt.« »Gepriesen seien die Götter.« Der Prinz lehnte den Kopf nach hinten an die Wand. »Wir stehen weiter vor demselben Problem, alles in allem. Wohin gehen wir? Falls die AElfen bereit sind, ein weiteres Fragment zu verwahren, kämen Harquellyn und Croquellyn beide als Reiseziel infrage.« Jilandessa schürzte nachdenklich die Lippen. »Harquellyn sollte die Ausweichlösung bleiben. Ich unterschiede mich vom Großteil meines Volkes. Wir ziehen es vor, Konflikten auszuweichen. Man würde uns willkommen heißen, doch im Austausch gegen einen Friedensvertrag könnte man bereit sein, das Fragment herauszugeben.« 39 »Ryslin, warum hat Euer Volk ein Fragment behalten? Geht es damit nicht ein ungeheures Risiko ein, angesichts der Versessenheit Kytrins, sich diese Steine zu holen?« Der AElfenkrieger lachte. »Mein Freund, es waren die loqaelfischen Schiffe, die Kri'tchuks Flotte versenkten und seine Invasion zum Scheitern brachten. Kytrins Hass ist uns sicher, ganz gleich, was wir besitzen. Wir hätten schlicht auf keinen Fall zulassen dürfen, dass sie das Fragment in die Hände bekommen kann.« »Also Croquellyn?« Die urSreö nickte nachdenklich. »Falls wir es so weit nach Süden schaffen, sind wir nahe an Tsagul. Je nachdem, wo Kytrin dann steht, müssen wir unter Umständen noch weiter südwärts.« Der Prinz verzog das Gesicht. »Viel weiter südwärts ist es nicht mehr möglich.« »Nein, Hoheit, viel weiter nicht.« Jullach-Tse Seegg seufzte schwer. »Wir können nur hoffen, dass es reicht.« 40 KAPITEL VIER
General Markus Adrogans betrachtete das Modell der Drei-Brüder-Zitadellen, die jenseits der Straße durch die Südschlucht standen, und nickte. »Eine ausgezeichnete Arbeit, Herzog Mikhail.« Der dunkelhaarige junge Mann lächelte und neigte dankend den Kopf. »Ich habe Spaß daran, Modelle zu bauen. Es ist natürlich maßstabsgetreu, auch wenn der Schnee nur weiße Farbe ist und nicht so tief, wie ihn unsere Kundschafter gemeldet haben.« Das Modell stellte ein Stück der Straße entlang des Swars dar, wo sie die Südschlucht passierte. Richtung Swarskija machte der Fluss eine Schleife nach Westen und die Straße folgte ihm am östlichen Ufer. Am Scheitelpunkt der Schleife erhob sich die mittlere und größte der drei Festungen, aufgebaut wie eine Torte aus vier gedrungenen, zylindrischen Ebenen, die mit abnehmendem Durchmesser aufeinander lagen. Eine runde Außenmauer schloss das Ganze ein. Ihr gegenüber, in der Mitte des Flusses, erhob sich ein gewaltiger Turm, den ein steinerner Brückenbogen mit der Zitadelle verband. Von dem Turm ebenso wie zwischen Turm und Festung spannten sich dicke Ketten über den Fluss, um den Schiffsverkehr zu blockieren. Eine im Sommer recht wirkungsvolle Maßnahme, die im Winter jedoch völlig nutzlos war, da der Fluss vollständig zugefroren unter einer dicken Schneeschicht lag. Im Süden, woher sie anrücken würden, befand sich die erste der beiden Zugangsfestungen. Beide bestanden aus je zwei rechteckigen Bauten, die sich etwa 41 zwanzig Schritt an der Straße entlang erstreckten, mit Zinnenwällen ringsum und vielen Schießscharten. Tore versperrten die Straße an beiden Enden, und Angreifer, die vorn durchbrachen, saßen in der Festung in der Falle, bis sie hinten ebenfalls durchkamen. Um den Öffnungsmechanismus der Tore zu erreichen, musste man sich durch Horden von Verteidigern und einen dichten Pfeilhagel kämpfen, den die Bogenschützen der Festungen in der Sicherheit dicker Mauern aus nächster Nähe abfeuern konnten. Auch die kleineren Zitadellen besaßen eigene Flusstürme mit Brückenbögen und Uferketten. Jeder Versuch, den vereisten Fluss zu überqueren, war angesichts der überlegenen Stellung zum Scheitern verurteilt, in der sich die Bogenschützen in den Türmen und auf den Brücken befanden. Zudem konnten in der Festung stehende Belagerungsmaschinen Felsen schleudern, um das Eis zu brechen. Das eiskalte Wasser brachte Soldaten schneller um als Pfeile, und der Swar würde die steifen Leichen bei Swarskija ins Kreszentmeer spülen. Weder die Zugangsfestungen noch ihre Flusstürme hatten Sichtkontakt, und ihre Besatzungen verließen sich zur Verständigung auf über die Zentralfestung laufende Flaggenzeichen. Die große Zitadelle fungierte zudem als Garnison für den gesamten Komplex, dessen Festungen nur jeweils eine Viertelmeile auseinander lagen. Die Zentralzitadelle konnte Truppen zur Verteidigung in jede Torzitadelle aussenden, und falls nötig, ließ sich auch aus der jeweils entfernteren Festung zusätzliche Verstärkung anfordern. »Eine beeindruckende Arbeit, doch sie macht mich nicht gerade zuversichtlich.« Adrogans wanderte langsam rund um das Modell und betrachtete es von allen Seiten. Er streckte die Hand aus und hob das oberste Stockwerk der Zentralfestung ab. Die Innenwände waren eingezeichnet und ein schwarzer Kreis repräsen42 tierte die Mitteltreppe. Die Einzelheiten waren so genau dargestellt, dass man selbst die Latrinen durch schwarze Punkte erkennen konnte, und auch, wie viele Soldaten sich normalerweise in den einzelnen Räumen aufhielten. »Ich wünschte, ich hätte die Zeit gehabt, auch den Innenaufbau fertig zu stellen, General. Zwei der Swojiner Flüchtlinge haben in Waralorsk gedient und konnten mir bei den Feinheiten helfen. Sie haben auch bei den kleinen Brüdern geholfen, Darowin und Krakojin.« Michail zuckte die Achseln. »Nach der Schlacht werde ich die Einzelheiten nachtragen.« Adrogans lächelte ihn an. »Ihr unterscheidet Euch sichtlich von Eurer Cousine. Ich kann sie mir bei einer solchen Arbeit nicht vorstellen.« »Alexia?« Der Okraner lachte. »Nein, sie ist eine ernsthafte Persönlichkeit und hat keine Ader für so einfache Vergnügungen wie das Basteln von Modellen. Doch das ist auch in Ordnung, denn sie ist die Zukunft unserer Nation. Was Eure Verdienste in keiner Weise schmälern soll, General. Wir werden Eure Bemühungen, Okrannel von den Aurolanen zu befreien, niemals vergessen.« »Oder die Euren bei den Königsmannen.« Der Jeranser General verengte die Augen. »Ich habe allerdings den Eindruck, Ihr baut lieber Modelle, als Krieg zu führen.« Der Herzog schüttelte den Kopf. »Solange meine Heimat geknechtet ist, kann ich nicht auf Frieden hoffen.« Er atmete tief durch und senkte die Stimme. »Ihr wisst, was damit gemeint ist, wenn ein Okraner auf Traumjagd geht, General?« Adrogans nickte, ohne sich anmerken zu lassen, dass er diese Prozedur närrisch fand. »Ich hörte Gerüchte darüber.« Michail grinste dünn. »Tante Tatjana würde mir bei 43 lebendigem Leib die Haut abziehen lassen, wüsste sie, dass ich Euch davon erzähle, doch Ihr solltet es wissen. Ich habe meine Traumjagd gemeinsam mit Alexia durchgeführt. Ihr Traum ... Nun, ich werde ihr Vertrauen nicht enttäuschen, denn sie hätte ihn eigentlich nicht einmal mit mir teilen dürfen, doch er war ermutigend, was den Kampf gegen Kytrin betrifft. Mein Traum, General Adrogans, war jedoch sehr speziell, und ich muss ihn mit Euch teilen.«
Der Herzog deutete mit der linken Hand auf das Modell. »Ich träumte von den Drei Brüdern, so, wie Ihr sie jetzt hier seht. Hoher Schnee, vereister Fluss, so kalt, dass die Spucke gefriert, bevor sie den Boden erreicht. Wir waren an jenem Tag siegreich. Alle Drei Brüder endeten in unserer Hand.« »Schön, sehr schön.« Adrogans verschränkte die behandschuhten Hände auf dem Rücken. »Wie haben wir das geschafft?« Michail verzog das Gesicht. »Träume sind selten so genau, General. Aber wir haben gewonnen, und ich bin dort gewesen, in Waralorsk. Ich weiß es, weil ich nach dem Traum eine Skizze von dem Turm gezeichnet habe. Dann habe ich mich mit den Männern aus Swojin unterhalten und eine Karte nach ihren Angaben gezeichnet, und als ich die beiden verglich, stimmten sie exakt überein. Und vergesst dabei nicht, General, dass ich die Drei Brüder nie gesehen habe. Ich wurde in Yslin im Exil geboren.« »Dann bin ich Euch für dieses Omen ebenso dankbar wie für das Modell.« Adrogans runzelte die Stirn, dann setzte er das obere Stockwerk Waralorsks wieder auf. »Diese Festungen zu stürmen, wird nicht leicht werden.« »Sicher nicht, General. Niemand hat sie je erobert.« Der Jeranser verzichtete auf eine Bemerkung. Die Drei Brüder waren in die Hände der Aurolanen gefallen, weil 44 sie bei deren Eintreffen leer gestanden hatten. Im Lauf der Jahre hatten sich die verschiedenen Erklärungen zu einem Hauptstrang verdichtet, demzufolge eine Adlige die Garnisonen als Geleitschutz für ihren Rückzug nach Jerana abgezogen hatte. Mancher behauptete, es sei Tatjana gewesen, andere nannten verschiedene andere Adlige, aber nichts davon wurde bestätigt. Die Großherzogin hatte sich zum Zeitpunkt des Rückzugs in Yslin aufgehalten, und während zahllose Adlige aus Okrannel geflohen waren, ist keine von ihnen einflussreich genug gewesen, um die Garnisonen abzukommandieren. Vermutlich waren die Soldaten einfach zu dem Schluss gekommen, dem Tod die Flucht vorzuziehen. Wären die Festungen bereits in der Vergangenheit einmal erobert worden, hätte Adrogans einen Ansatzpunkt für seine Vorbereitungen gehabt. Wie die Sache nun stand, sah er nur eine einzige Schwachstelle, nämlich dass die drei Festungen keinen uneingeschränkten Sichtkontakt hatten. Davon abgesehen waren sie so gut wie unangreifbar. Der Swar schnitt an dieser Stelle eine tiefe Schlucht durchs Gebirge. Die Straße war eng und der Anmarsch auf Darowin erlaubte es nicht, auch nur ansatzweise genügend Belagerungsmaschinen für einen Angriff in Position auf die Zitadelle zu bringen. Ein Rammbock hätte das Tor vielleicht aufbrechen können, aber bis er die Festung erreicht hätte, hätte deren Garnison genug Zeit gehabt, sich auf den Angriff vorzubereiten. Das Abwehrfeuer aus der Festung wäre furchtbar, und falls sie mit Draconellen bestückt war ... »Beal mot Tsuvos Leute haben nichts über Draconellen gesagt, oder?« Michail schüttelte den Kopf, deutete aber auf zwei Öffnungen zu beiden Seiten der Torhäuser. »Vor einer Generation standen hier Ballistas, mit denen man die Straße unter Beschuss nehmen konnte. Inzwischen wurden die Scharten etwas vergrößert, und es möglich, dass 45 es dort inzwischen Draconellen gibt. Die Kundschafter haben nur gesagt, es sei grobe Arbeit. Genaueres weiß ich nicht.« Adrogans nickte und spürte vage, wie ein Schmerz die Krallen sein Rückgrat entlangzog. Die einzige Möglichkeit, herauszufinden, was hinter diesen Öffnungen lauerte, bestand darin, eine ausreichend große Angriffsstreitmacht aufmarschieren zu lassen, um einen Gegenschlag zu provozieren. Adrogans stellte sich die Soldaten hinter den Sturmdächern vor, die anrückten, so schnell die Füße sie trugen, nur um von den Draconellen zerfetzt zu werden. Sie mussten die Drei Brüder erobern oder sie würden Adrogans' Nachschublinie aus Guraskja zerschlagen. Es war denkbar, seine Leute an den Zitadellen vorbei durch die Berge zu schmuggeln, und zwar unter dem Verlust zahlloser Pferde. Doch sie würden die andere Seite des Gebirges schwach und ausgehungert erreichen. Oder schlimmer noch, die Feindtruppen in den Drei Brüdern konnten mit einem Ausfall nach Süden zur Furt vorstoßen und ihm den Nachschub abschneiden. Falls das nicht ohnehin ein neuer Schneesturm erledigte oder sein ganzes Heer in den Bergen einschloss, wo sie elendig verhungern würden. Gelang es ihm, die Drei Brüder einzunehmen und zu halten, konnten sich keine Aurolanen mehr einschleichen und seinem Heer in den Rücken fallen. Dass er von anderen Truppen, die im Süden operierten, nichts wusste, bedeutete keineswegs, dass es sie nicht gab oder dass keine unterwegs waren. Kaum mehr als ein Jahrhundert zuvor hatten die Aurolanen eine waghalsige Invasion über das Kreszentmeer riskiert und Vorquellyn erobert. Eine Wiederholung dieser Strategie konnte ihre Truppen an beliebiger Stelle der Ostküste absetzen, um seine Leute auf dem Amboss Swarskija zu zermalmen. 46 Michail deutete auf sechs Banner, von denen vier über Waralorsk wehten, eines im Norden über Krakojin, und das letzte im Süden über Darowin. »Ich habe sie entsprechend den Beschreibungen gemalt, und keines zeigt Markierungen für Draconellen. Doch ich weiß nicht, ob die auf aurolanischen Bannern je üblich waren. Aber es sind sechs Legionen.« Adrogans nickte. »Eine sechshundertköpfige Garnison, etwas weniger, als das okransche Heer hier in Stellung hatte. In dieser Festungen dürften sie jedoch doppelt, wenn nicht sogar dreifach zählen. Sie werden nicht so dumm sein, zu uns herauszukommen wie an der Furt. Der Fluss wäre die offensichtlichste Anmarschroute, das
ist viel zu riskant.« »Allerdings. Auch wenn der Pegelstand im Winter recht niedrig ist, bleibt der Swar tief genug. Durch die Kälte ist er früher als üblich zugefroren, das Eis ist aber nicht fest genug für Belagerungsmaschinen. Wäre das Flussbett seichter, könnten wir vielleicht ein Katapult hinabschaffen, doch ...« »Die Mannschaft würde erfrieren.« Der jeranische General seufzte. »Der Fluss ist eine einzige, riesige Zielscheibe, und selbst wenn es unseren Leuten gelingen sollte, über ihn zu stürmen und die Straße zwischen Waralorsk und Darowin zu erreichen, was dann? Sie säßen zwischen ihnen in der Falle, und die Waralorsker Truppen schlachteten sie ab.« Ph'fas betrat das niedrige Langhaus, das Adrogans als Hauptquartier requiriert hatte. Er zischte, als er sah, worüber sie brüteten. »Die Drei Brüder. Du kennst die Geschichte?« Adrogans nickte. »Vor langer Zeit stoppten drei Brüder eine Shuskenhorde, die Swarskija plündern wollte. Sie fielen an diesem Pass und die drei Festungen wurden zu ihren Ehren errichtet. Meinst du diese Geschichte, Onkel?« 47 Der Shuskenschamane nickte. »Eine böse Zeit.« Er starrte Michail an, als wolle er den okranschen Adligen zu einer Bemerkung herausfordern. Der junge Mann war jedoch klug genug, den Mund zu halten. Adrogans lächelte. »Warum erinnerst du mich an die Legende, Onkel?« Der alte Mann grinste schief. »Um dir zu sagen, dass die Shusken für dieses Rätsel keine Lösung kennen.« »Danke, ich nehme es zur Kenntnis.« Der General teilte ein Lächeln mit Michail. »Die Schwarzfedern, die Bergläufer und Beals Kundschafter werden uns über Verstärkung auf dem Laufenden halten. Aber wie es scheint ist die beste Lösung - und ich benutze diesen Ausdruck mit großem Vorbehalt - ein Frontalangriff. Das wird nicht nett werden.« Der Herzog nickte. »Die Königsmannen bitten um die Ehre, den Angriff anführen zu dürfen, General.« »Todessehnsucht, Herzog Michail?« Der junge Mann schüttelte den Kopf. »Diese Zitadellen wurden errichtet, um unsere Heimat zu verteidigen. Wie könnten wir von anderen verlangen, für ihre Vernichtung zuerst ihr Blut zu vergießen? Das könnte nur ein Feigling erwarten. Außerdem weiß ich, dass wir siegen werden. Und dass ich es überlebe.« »Aber möglicherweise als Einziger.« Bei dieser Bemerkung erschrak Michail, doch seine braunen Augen trübten sich nur einen Pulsschlag lang. »Dann werde ich es sein, der die Tore erklimmt, die Garnison niedermetzelt und den Weg nach Waralorsk freimacht.« Ph'fas schnaubte. »Wacht auf, Swarskija. Das hier ist kein Traum. Es ist ein Albdruck.« Schmerz senkte die Krallen tief in Adrogans' Hinterkopf, doch er schüttelte die Qualen ab. »Es ist wahrhaftig ein Albtraum, aber wir werden einen Weg finden, ihn zu besiegen.« 48 Michail lächelte. »Ich habe vollstes Vertrauen zu Euch, General. Ich wünschte nur, Alexia könnte hier sein, um uns zu helfen.« »Ich wäre froh darüber.« Adrogans schaute zu Ph'fas, als der Schamane etwas vor sich hin murmelte. »Aber leider könnte das selbst die legendären Fähigkeiten Eurer Cousine überfordern. Bei der Eroberung der Drei Brüder wird mehr Blut als Wasser den Swar hinab fließen. Und falls ich keinen Weg finde, das zu verhindern, wird uns dieser Preis die Einnahme Swarskijas auf immer verbauen.« 49 KAPITEL FÜNF Auf Alyx wirkte die Zeit in Bokagul in mancherlei Hinsicht wie ein Traum. Ein Traum, der die Schrecken des Winters und des Krieges in den Hintergrund drängte. Obwohl sie noch immer ein Drängen verspürte, nach Caledo zu gelangen, verlief die Reise durch die Hallen und Korridore der urSreiöi - sie schaffte es nicht, sie bloß als Tunnel zu betrachten - schneller als erwartet. Die Säle raubten ihr den Atem. Sie war es gewohnt, in einem Berg zu leben, da sie ja in Gyrvirgul aufgewachsen war. Immerhin hatten die urSreiöi diesen Ort für die Gyrkyme geschaffen und bereitwillig den Zorn der AElfen auf sich genommen, um den Geflügelten eine Heimat zu bieten. Dort hatten die urSreiöi riesige, offene Galerien gebaut, die für die Gyrkyme besonders geeignet waren. Doch hätte man sie aufgefordert, die urSreiöi-Architektur einzuschätzen, sie hätte sicherlich nicht erwartet, dass derartig hohe Galerien zu ihrem normalen Baustil gehörten. Wie es schien, bauten die Zwerge jedoch grundsätzlich in heroischen Proportionen und zogen Mauern hoch, deren Oberkanten sich im Dunkel verloren. Ein Stockwerk von Galerien und Baikonen über dem anderen ragte in die Schatten auf, alle verziert mit prächtigen Skulpturen. Der Stein schien weniger behauen als kultiviert, ähnlich der Art und Weise, in der Gärtner Büsche modellierten. Der Witz, der in manchen der Dekorationen steckte, überraschte Alyx. Sie hatte die urSreiöi eigentlich als 50 mürrisch und abweisend abgestempelt, als hart und humorlos. Zugegebenermaßen drehten sich die meisten Geschichten, die sie über die Zwerge kannte, um Kriegerinnen, die ihre Gebirgsfestungen verließen, um in die Schlacht zu ziehen, und das mochte zu diesem recht einseitigen Eindruck beigetragen haben. Sie freute sich über
die Gelegenheit, dieses Volk näher kennen zu lernen. In jeder Nacht der fünf Tage dauernden Reise wurden die Gefährten in einem neuen Coric willkommen geheißen. Perrine erhielt grundsätzlich die Ehrenposition, weil sie besaß, was alle urSreiöi ersehnten: die Fähigkeit zu fliegen. Wenn man sah, wie sie auf Peris Anblick reagierten, konnte man den Eindruck gewinnen, die urSreiöi hätten Gyrvirguk selbst dann gebaut, wenn die AElfen ihnen zur Vergeltung mit offenem Krieg gedroht hätten. Nachts teilte sich Alyx eine Kammer mit Kräh, und die anderen schienen es ihnen zu gönnen, auch wenn Peri sie deshalb neckte, wie es nur eine Schwester gewagt hätte. Alyx freute sich jeden Abend darauf, bei Kräh zu liegen und mit ihm zu flüstern, um die anderen nicht zu stören. Sie liebte es, mit den Fingern durch sein weißes Haar zu streichen oder abwärts durch die Brusthaare und an den drei Narben entlang, die seine rechte Seite zeichneten. Gelegentlich vergaß sie, dass es diese Narben gab. Einmal zuckte ihre Hand zurück, als ihre Finger sie berührten, doch Krähs Hand hielt sie fest. »Es ist in Ordnung, Alexia. Es tut nicht weh.« »Das ist es nicht.« Er schnaufte leise, und sie konnte spüren, wie sich ein Lächeln auf seinen Lippen legte. »Du hast Angst, die Erinnerung könnte schmerzen, oder geschmerzt haben. Ich habe aber nur getan, was ich tun musste, um meine Freunde zu retten. Als sie sah, dass sie mich we51 der brechen noch täuschen konnte, entschied Kytrin, mich zu töten. Dass ich noch immer lebe, ist ein Sieg. Und davon gibt es in dieser Welt wenige genug.« Ihre Finger glitten aufwärts und durch seinen Bart. »Wir werden noch mehr erringen.« Kräh hob die rechte Hand. Sein Zeigefinger strich an ihrem Kinn entlang, dann hob er ihren Kopf. »An dem Tag, als Kytrin das Swarskija-Fragment der Drachenkrone erbeutete, hat sie dich entkommen lassen. Das war vielleicht ihr größter Fehler.« Dann küsste er sie und sie liebten sich. Langsam, sanft und leise vereinigten sie sich, trotz der Leidenschaft, die sie beide fühlten. Verlangen durchzuckte Alyx. Sie wollte fühlen, schmecken, streicheln. Sie wollte seine Bewegungen spüren, unter sich und über sich. Sie wollte ihn fest an sich drücken, von ihm noch fester gedrückt werden. Wollte, dass ihre Welten-verschmolzen lind in einer allumfassenden Leidenschaft ineinander aufgingen, bis es außer ihnen nichts mehr gab. Und eine Zeit lang war es auch so. Danach kam der Schlaf sicher im Schutz seiner Arme. Obwohl ihr das seltsam erschien, denn sie hatte sich nie unsicher oder schutzlos gefühlt. Sie hatte nur immer und überall die Notwendigkeit gespürt, wachsam zu bleiben. Wenn sie mit Kräh zusammen war, war das ganz und gar unnötig. Am nächsten Tag, dem dritten auf ihrer Reise durch die Bokaberge, gelang es Alyx, sich zurückzuziehen und die Kommunion der Drachen aufzusuchen, während sie sich nach der Mahlzeit zurücklehnte und urSreiöiSängerinnen lauschte, die eine Serie melodischer Balladen vortrugen, von denen sie kein Wort verstand. Maroth empfing sie am Steg und brachte sie zur Insel, wo sie den Schwarzen Drachen und zwei weitere Personen fand. Eine war weiblich und schien völlig aus Eis zu bestehen. Alyx fragte sich einen Augenblick, ob es Kytrin irgendwie ge52 schafft hatte, in die Kommunion zu gelangen, aber sie fühlte keine Bösartigkeit von der Frau ausgehen. Die dritte Gestalt war ein Mann ... zumindest schloss sie das aus der Kleidung, die er trug. Von den Stiefeln und der Samthose über die schwere Jacke bis zur schwarzen Samtmütze wirkte sie recht modisch. Jedenfalls hatte sie in Meredo manchen so gekleidet gesehen. Haut sah sie nicht. Der Schwarze Drache begrüßte sie herzlich. »Es ist eine Freude, dich zu sehen. Ich hatte gehört, dass du von Meredo aus nach Norden aufgebrochen bist, aber seitdem nichts mehr.« Alyx warf ihm einen schrägen Blick zu. »Ihr verfolgt mich?« »Ich gestehe ein Interesse an dir, immerhin habe ich dich zur Aufnahme vorgeschlagen. Aber ich habe dir weder nachspioniert, noch habe ich überhaupt nach dir gesucht. Ich nehme an, ihr seid unterwegs nach Muroso? Du hast Meredo in Begleitung seiner Prinzessin verlassen.« Der Unterkiefer des Schwarzen sackte in der Andeutung eines Lächelns herab. »Prinz Lüdwin ist aus der Hauptstadt verschwunden, und man nimmt allgemein an, dass man im Frühjahr seine Leiche im Eis finden wird.« Alyx konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Sie werden außerhalb Meredos suchen müssen, um Lüdwin zu finden. Nur damit Ihr es wisst, ich reise wirklich nach Norden. Momentan durchqueren wir Bokagul. Wir sind vermutlich noch eine Woche von Caledo entfernt.« Der unsichtbare Mann nippte an einem Becher Wein. »In einer Woche wird es noch da sein. Vielleicht sogar noch in zwei.« Die Frau zischte. »Caledo wird weit länger aushalten. Falls es überhaupt fällt.« »Ich hoffe um deinetwillen, Reyf, dass dein Volk sich 53 besser schlägt als das meine. Die Aurolanen stünden bereits vor den Toren Caledos, wäre die endgültige Eroberung Sebtias nicht schwieriger als erwartet. Die Schneestürme arbeiten für sie, aber sie behindern Truppen und Nachschubtransporte. Die Sebtier haben auf dem Rückzug ihre eigene Heimat verwüstet.«
Alyx nickte. »Eure Quelle ist zuverlässig?« Ein herzhaftes Lachen drang aus unsichtbarer Kehle. »Mein liebes Kind, ich bin meine eigene Quelle. Ich bin aus Lurrii geflohen, als es fiel, und kämpfe jetzt auf der Landzunge. Und wenn sich keine Schiffe finden, werde ich dort auch sterben.« Der Schwarze schüttelte den Kopf. »Du stirbst nicht. Dafür bist du viel zu gewieft.« »Meine erfrorenen Zehen - die paar, die ich noch besitze - danken dir, mein Freund.« Die Kleider machten eine Verbeugung vor dem Schwarzen. »Kytrins Heer ist gewaltig. Schnatterer vermehren sich sichtlich schneller, als wir gedacht haben. Ich habe auch Geschichten über andere Kreaturen in ihren Heeren gehört, aber selbst noch keine gesehen. Sullanciri sind ebenfalls gesichtet worden, doch auch das kann ich nicht aus persönlicher Erfahrung bestätigen. Die Stoßrichtung allerdings geht nach Muroso.« Die Frau nickte. »Die sebtischen Flüchtlinge berichten Entsetzliches.« Sie schaute Alyx an. »Meine Schwester ist bei Euch in Sicherheit, hoffe ich?« Die Prinzessin runzelte die Stirn. »Ihr wisst, wer ich bin?« »Nein, aber ich hätte hier nichts verloren, wäre ich nicht in der Lage zu schließen, dass die von Meredo nach Norden ziehende murosonische Prinzessin meine Schwester ist. Unser Vater hat ihre selbst gestellte Aufgabe, den Norderstett nach Caledo zu bringen, nicht genehmigt. Er wird die Hilfe gerne annehmen, aber ihre Abreise hat ihn verärgert.« 54 »Eurer Schwester geht es gut. Sie ist eine tapfere Kriegerin.« »Ein wenig stur, aber sie hat Charakter.« In Reyfs Bemerkung lag eine gewisse Zuneigung, doch die Verärgerung war stärker. »Die Aurolanen rücken auf breiter Front vor. Bis Ihr Caledo erreicht, werdet Ihr nirgends wirklich sicher sein.« »Danke.« Alyx überlegte. Da sie in der Kommunion der Drachen vom aurolanischen Vormarsch erfahren hatte, konnte sie niemandem in der Wirklichkeit davon berichten. Aber nichts hielt sie davon ab, entsprechend zu handeln, und sie konnte dafür sorgen, dass sie beim Verlassen der Berge wachsam waren. Sie schaute sich zum Schwarzen Drachen um. »Irgendwelche Neuigkeiten aus Festung Draconis oder Okrannel?« Er schüttelte den Kopf. »Ich befürchte das Schlimmste für unsere Kommunikanten auf Festung Draconis. In Okrannel herrscht große Geheimhaltung, Adrogans scheint jedoch aurolanische Vorstöße in die GuraninHochebenen zurückzudrängen. Darüber hinaus weiß ich nichts, hoffe aber das Beste.« »Ich auch.« Alyx lächelte. »Ich kehre besser nach Bokagul zurück. Bis wir uns wieder sehen.« Der Unsichtbare hob zum Abschiedsgruß den Becher. »Falls wir uns wieder sehen.« Seine Worte hallten durch ihre Gedanken, als sie mit einem Blinzeln in den Coric zurückkehrte. Kräh reichte ihr einen Becher mit gewürztem Wein. »Alles in Ordnung, Hoheit?« Sie nahm den Wein entgegen und strich heimlich mit der Linken über seinen rechten Handrücken. »Ja, danke.« »Ihr wirktet so abwesend.« »Das war ich, aber ich bin zurück. Komm, setz dich zu mir.« 55 Er beäugte den Chor. »Geteiltes Leid ist halbes Leid?« Sie zwinkerte ihm zu. »Nein, mein Schatz. Geteilte Versuchung ist doppelte.« Will zog die Schultern hoch und den Mantel fester um sich, als das schwere urSreiöi-Portal beiseite rollte. Er kniff die Augen zusammen, denn der makellose Schnee gleißte im Sonnenlicht. Die Kolonne ritt aus einer warmen Bergfestung hinaus ans Ufer eines riesigen Sees im Norden von Bokagul. Ihr Atem dampfte weiß, und an den Nüstern der Pferde bildete sich fast augenblicklich Reif. Silide-Tse Jynyn näherte sich von links und hielt mit ihm und Prinzessin Sayce Schritt. »Der See trägt den Namen Osemyr, was Sternensee bedeutet. Im Sommer kann man in Neumondnächten hierher kommen und in dem dunklen Wasser ein vollkommenes Spiegelbild des Nachthimmels bewundern. Die Sternbilder funkeln, und Sternschnuppen stürzen in die Ewigkeit.« Will schaute an ihr vorbei auf das weite Schneefeld. »Ich bin sicher, es ist wunderschön. So wunderschön wie bitterkalt.« Die urSreö seufzte. »Ich entschuldige mich. Aber der Ausflug ins Freie war nicht zu vermeiden.« Vier Tage waren sie durch die Hallen der urSreiöi gezogen, von einer Domäne zur nächsten. Das ganze Bokamassiv war in Fürstentümer, Baronien und Grafschaften unterteilt, in Großstädte, Kleinstädte und Dörfer. Für Will war es eine äußerst merkwürdige Erfahrung, denn dieses Reich lag vollständig unter der Erde. Die Wege, auf denen sie reisten, entsprachen königlichen Reichsstraßen, aber Dörfer konnten über oder unter ihnen liegen, sodass die Gefährten sie nie zu Gesicht bekamen. Die Corics, in denen sie übernachteten, waren Herbergen, und Delegationen örtlicher Würdenträger ka56 men vorbei, um sie willkommen zu heißen. Doch die Vorstellung, dass jemand einen Korridor entlangreiten und dabei eine Grenze überschreiten konnte, wollte Will einfach nicht in den Kopf. Der Grund für den erzwungenen Aufenthalt an der Oberfläche war Kjarrigans Diener, Bok. Sein Familienname war Jex, und die nächste Domäne auf ihrer Route war seine Heimat. Die Nachricht von seiner Anwesenheit hatte
sich in Windeseile durch ganz Bokagul ausgebreitet, und während die meisten urSreiöi ihn aus Wohlwollen ihren Gästen gegenüber nicht beachteten, hatte die Baronin Yreeu ihnen die Durchreise verweigert. Das zwang sie zum Umweg über die Oberfläche und durch die bittere Kälte. Sayce blickte zu Silide-Tse hinüber. »Es ist nicht Euer Fehler. Es ist verständlich, dass man ihn nicht gerade willkommen heißt.« Will hob die linke Braue. »Tatsächlich? Was hat er verbrochen?« Die urSreö antwortete ihm nüchtern. »Er ist ein Rebell gegen unsere Gesellschaftsordnung, Baron Norderstett. Er hat sich selbst entschieden, ein Leben außerhalb der Gemeinschaft zu führen, und seine Rückkehr ist nicht gestattet.« »Hmm, Ihr sagt, er hat sich entschieden, allein zu leben, aber ich dachte, er hat sich nur entschieden, kein Sklave zu sein. Jedenfalls wurde mir das so erklärt - es bedeutet, als Bok gebrandmarkt zu werden.« Sayce schüttelte den Kopf. »Ganz so einfach ist es nicht. Die Gesellschaft hat Regeln, damit jeder seinen Teil zum Ganzen beitragen kann. In Muroso sind die Menschen an das Land gebunden, das sie für ihren Lehnsherrn bestellen. Sie produzieren Nahrung und Vieh und erwirtschaften damit ein Einkommen für ihren Herrn, der sie im Gegenzug beschützt. Wenn der Krieg vorbei ist, werden Eure Freischärler Euch nach 57 Eori begleiten und das Land bestellen, bis es wieder Zeit für sie wird, Euch als Krieger zu dienen.« »Aber was, wenn sie dazu keine Lust haben?« Die murosonische Prinzessin starrte ihn an. »Keine Lust?« Silide-Tse räusperte sich. »Ich glaube, Baron Norderstett, dass sich die menschliche Gesellschaft etwas von der unsrigen unterscheidet. Bei uns gibt es feste Rollen für Männer. Es gibt Arbeiten, die erledigt werden müssen. Wenn sie die erledigen, erhalten sie Nahrung, Kleidung und Unterkunft. Sie werden gut behandelt, aber sie sind geistig und seelisch recht empfindlich. Eine Auflehnung wie die des Boks ist ein klares Zeichen von Abnormalität.« Will drehte sich im Sattel um und wollte widersprechen, doch genau in diesem Augenblick öffnete Bok weit den Mund und stieß einen Rülpser aus, der von den Bergen widerhallte und vielleicht sogar der Auslöser für eine kleine Lawine am anderen Seeufer war. »Na, vielleicht verhält sich das bei den urSreiöi so, aber für Menschen gilt das nicht.« Er schaute zu Sayce. »Wollt Ihr mir jetzt erklären, dass Muroso auch anders ist, oder dass ich als Dieb ebenfalls ein Gesetzloser bin?« Sie verzog das Gesicht. »Ich wollte Euch nicht beleidigen.« »Ich bin nicht beleidigt.« »Die Schärfe in Eurer Stimme ...« »Was für eine Schärfe?« Sayce schüttelte den Kopf. »Verzeiht. Nein, Baron Norderstett, ich würde Euch nicht beschuldigen, ein Gesetzloser zu sein, jedenfalls nicht in dem Sinne, über den wir uns gerade unterhalten. Ha, als Dieb habt Ihr außerhalb des Gesetzes gehandelt, doch indem Ihr den Mantel annahmt, den Ihr jetzt tragt, beschützt Ihr eben die Gesellschaft, gegen die Ihr Euch einst aufgelehnt 58 habt. Und es könnte sein, dass die Mitglieder Eurer Freien Kompanie für ein Leben als Bauern geeignet sind. Doch es ist nicht jeder in der Lage, die Herausforderungen und Gefahren des Schicksals zu meistern.« »Das verstehe ich, aber es besteht doch wohl ein großer Unterschied zwischen dem, was von gewöhnlichen Menschen erwartet wird und dem, was dem Adel erlaubt ist. Adlige haben zwar die größte Verantwortung, sie zeigen sich ihr jedoch oft keineswegs würdig.« Sayce zuckte unbehaglich mit den Schultern. »Ich bin nicht sicher, ob ich verstehe, was Ihr sagen wollt.« Will seufzte. »Die Fürsten der Welt haben Krähs Leben zerstört, weil sie nicht bereit waren, Verantwortung zu übernehmen. König Swindger hat es so arrangiert, dass Kräh sofort wieder vor Gericht gestellt wird, sollte er je nach Oriosa zurückkehren. Es ist zu viel Hinterlist im Spiel. Das ist nicht richtig.« Die murosonische Prinzessin lächelte verschmitzt. »Dir, ein Dieb, beschwert Euch über Hinterlist?« Will runzelte die Stirn. »Was ich getan habe, war ehrliche Hinterlist.« »Ehrliche Hinterlist.« Der lachende Unterton in ihrer Stimme verhinderte, dass er diese Bemerkung als Beleidigung auffasste. Auch in ihrem Blick lag keinerlei Böswilligkeit. »Von Dieben wird erwartet, dass sie hinterlistig sind. Von Fürsten nicht.« »Das ist wohl wahr, aber die Komplexität der Wahrheit macht es für die Menschen manchmal schwer, die Notwendigkeit bestimmter Maßnahmen zu erkennen.« Sayce seufzte. »Mancher sieht das und hat das Zeug zum Hirten, andere aber können nie mehr als Schafe sein.« Er wollte ihr widersprechen, bremste sich jedoch. In Yslin hatte er selbst Schafe gesehen - Menschenschafe, Vorqschafe - und die Frostkrallen, die Jagd auf sie 59 machten. Er betrachtete sich selbst als eine dieser Frostkrallen. Was bedeutet: Ich akzeptiere, dass sie die Wahrheit sagt, so verhasst mir das auch sein mag. Will seufzte. »Ihr mögt Recht haben, Prinzessin. Aber in dem Fall habe ich eine Frage.«
»Ja?« »Woher wisst Ihr, wem es tatsächlich bestimmt ist, ein Schaf zu sein? Nach Eurer Darstellung müsste ich zu den Schafen zählen, wenn nicht zu Schlimmerem, doch ich bin hier und führe Truppen an, die keineswegs Schafe sind, und zwar auf dem Weg in ein ganz und gar unschafsmäßiges Abenteuer. Ihr mögt Recht haben, doch es könnte in jedem Dorf ein, zwei Schäfer geben, die nie die Chance bekommen, Schäfer zu werden.« Sie setzte zu einer Entgegnung an, dann schloss sie den Mund und runzelte die Stirn. Schließlich sah sie ihn mit schräg gelegtem Kopf an. Eine Strähne des roten Haares fiel ihr übers Gesicht. »Darüber muss ich nachdenken.« »Ja, ich auch.« Der Weg führte sie um ein Viertel des Sees, dann zurück und hinab in den Herrschaftsbereich der Seeggs. Sie wurden begeistert empfangen, und dies aus zwei Gründen. Zum einen bestand Rivalität zwischen den Seeggs und den Yreeus, zum anderen hatten einige urSreiöi aus diesem Herzogtum auf Festung Draconis gedient, einschließlich einer Cousine der Herzogin. Man hatte kein Wort über ihr Schicksal gehört, bewahrte aber allgemein die Hoffnung. Silide-Tse erklärte, dass sie am folgenden Tag die Reise durch Bokagul beenden und nach Nordosten Richtung Muroso Weiterreisen würden. »Ich werde Euch nicht begleiten können, doch meine besten Wünsche werden mit Euch ziehen.« Auf Grund des bevorstehenden Abschieds achteten 60 die Gefährten darauf, die Mahlzeit in ihrem Gästecoric zu Silide-Tses Ehren abzuhalten. Es wurde viel gegessen und getrunken, dann überreichte ihr ein Teil von ihnen Gastgeschenke. Will gab ihr einen Saphirring, den er aus dem Schloss der Piratenkönigin von Wruona hatte mitgehen lassen. Entschlossen schenkte ihr einen seiner Klingensterne, und Kjarrigan nahm ein Stück Holz und formte mithilfe von Magik ein Armband daraus, das mit einer Rune für jeden von ihnen verziert war. Doch Perrines Geschenk stellte sie alle in den Schatten. Sie zupfte eine braune Feder aus der linken Schwinge und überreichte sie der urSreö. »Mit Euch als Führerin sind wir durch Bokagul geflogen. Wenn es Zeit für Euch wird zu fliegen, werde ich diesen Gefallen erwidern.« Sämtliche anwesenden urSreiöi verstummten. Silide-Tse traten Tränen in die Augen und ihr Mund zitterte. Lange sagte sie nichts, dann schaute sie hinab auf den Tisch. »Ohne Euch wäre ich längst tot. Mein Leben gehört Euch, und ich werde es zu Euren Ehren führen, meine Freunde. Ihr sollt auf mich stolz sein.« Will musste schlucken, irgendwie gelang es ihm aber, den Frosch aus dem Hals zu bekommen. Er hob den Weinbecher. »Ihr habt uns Freunde genannt. Ihr habt uns Euer Heim geöffnet. Stolz - das weiß ich nicht, doch geehrter als ich es jetzt bin, könnte ich nicht sein.« Darauf tranken sie alle, es folgte eine Reihe von Trinksprüchen der urSreiöi, und ein neuer Chor stimmte an. Entschlossen, dessen schmerzhaft verzerrte Miene vermuten ließ, dass er kurz davor stand, jemanden umzubringen, schlug vor, statt eines weiteren Liedgenusses sollte Will vielleicht erzählen, wie er an den Ring gekommen war, den er Silide-Tse geschenkt hatte. Das tat er denn auch. Silide-Tse übersetzte, und ihre Gastgeber waren begeistert. 61 Schließlich erhob sich Will erschöpft von der Tafel, und nach seiner Kleidung am nächsten Morgen zu urteilen, war er eingeschlafen, noch bevor sein Körper die Matratze berührt hatte. Doch der Zustand seiner Kleidung war zu diesem Zeitpunkt völlig bedeutungslos, denn als er erwachte, dröhnte ein barbarisches Donnern in seinem Kopf. Er drückte ohne nachzudenken die Hände auf die Ohren und stellte fest: Er hatte weder Kopfschmerzen, wie sie bei einem Kater zu erwarten gewesen wären, noch kam das Donnern von draußen. Er öffnete die Augen und wälzte sich vom Bett. Aus der Hauptkammer drangen Stimmen. Will schob den Kopf aus der Tür und hörte ein erneutes Donnergrollen. »Das klingt wie ...« »Draconellen, ja«, knurrte Entschlossen, der eben aus seiner Kammer trat und dabei war, das Schwert umzuschnallen. In diesem Augenblick rannte Silide-Tse in den Coric. »Die Aurolanen haben die Seegg-Tore durchbrochen. Sie stehen in Bokagul!« 62 KAPITEL SECHS Obwohl sie laut Neskartu auf dem üblichen Weg von seinem Konservatorium nach Muroso reisten, brauchten sie für die siebenhundertzwanzig Meilen weite Strecke nicht einmal eine Woche. Reifreißer zogen die Schlitten mit hohem Tempo über Schnee und Eis. Die gewaltigen, bärenähnlichen Kreaturen mit den krummen, dolchgroßen Fängen, dem dichten weißen Pelz mit den typischen, hellblauen Streifen und den langen Krallen an den breiten Tatzen flößten vielen, die sie sahen, Angst ein - auch den meisten Schülern, die Neskartu mitgenommen hatte. Isaura hatte Reifreißer aber schon als Welpen spielen sehen und ihre Gegenwart ängstigte sie nicht. Es waren ausgezeichnete Zugtiere, auch wenn ihr aufbrausendes Temperament sie zu einer Gefahr für die Fuhrleute machte, sobald Übermüdung bei einer Partei Einzug hielt. In einer Hinsicht war die Reise nach Süden eine Enttäuschung. Ihre kleine Karawane war des Nachts und während eines Schneesturms an Festung Draconis vorbeigezogen, sodass Isaura keine Gelegenheit gehabt hatte,
sie zu sehen. So viele Jahre hatte sie immer wieder Erzählungen gehört. Seit frühester Kindheit war die Feste der vorgeschobene Grenzposten des Bösen gewesen, ein Sammelpunkt für Horden, die bis an die Zähne bewaffnet waren und darauf lauerten, marodierend ins Reich ihrer Mutter einzufallen. Es behagte ihr sehr zu wissen, dass dieser Schandfleck gefallen war, und sie hätte die Trümmer gern besichtigt. 63 Als sie sich ihrem Ziel näherten, häuften sich die Hinweise auf die siegreichen aurolanischen Legionen, die Sebtia überrannt hatten. Sie wurden von zwei Sullanciri angeführt, Anarus und Tyhtsai, die ursprünglich einmal die Namen Aren Asvaldget und Jeturna Costasi geführt hatten. Myral'mara hatte die Befriedung des Landes übernommen, und auch wenn es noch immer einzelne Widerstandsnester gab, versicherte man Isaura, dass deren Vernichtung lediglich eine Frage der Zeit war. Einen Tag vor Erreichen der Front in der Nähe der murosonischen Stadt Porjal wurde einer der Kryalniri ihrer Gesellschaft zugeteilt und erstattete Bericht. Isaura fand in dem pelzigen Magiker einen angenehmen Gesellschafter, besonders, wenn sie sich auf aelvisch unterhielten. Er nannte sich Gelt - ein kurzer Ausdruck für Vergeltung. Da er auf Vorquellyn geboren worden war, hatte er das Recht, einen solchen Namen zu wählen, obwohl er, wie er selbst feststellte, im Kampf zu sperrig für Rufe war. Sie erreichten Porjal, an der Nordküste Murosos, mitten in der Nacht. Die Stadt lag am Westufer des Grünen Stroms, der aus Bokagul ins Kreszentmeer floss, und bildete die Grenze zwischen Muroso und Sebtia. Wie schon die Flüchtlinge vor ihnen überquerten die aurolanischen Heere ohne Schwierigkeiten den zugefrorenen Fluss. Sie bezogen Stellungen, durch die die Stadt vom Hinterland abgeschnitten wurde, und begannen mit der Belagerung. Als der Morgen dämmerte, sah Isaura die Stadt zum ersten Mal und war erstaunt, wie klein sie wirkte. Im Herzen erhoben sich Mauern gut dreißig Schritt hoch, und in hundert Schritt Abstand ragten Türme noch zehn Schritt höher auf. Die Mauern beschrieben einen Halbkreis um das Flussufer. Es lagen auch viele Gebäude außerhalb der 64 Mauern, aber dabei schien es sich hauptsächlich um Elendsviertel zu handeln. Da aus ihren Schornsteinen kein Rauch stieg, waren sie wahrscheinlich verlassen. Trotzdem boten die auf den Türmen wehenden Wimpel einen farbenfrohen Kontrast zum Schnee. Isaura schlenderte mit Gelt an den Linien entlang und deutete auf eine Gitterfahne in Gelb und Rot. »Die ist sehr hübsch.« »Sie kündet von der Anwesenheit des Herzogs von Porjal. Das Rot symbolisiert seine Verwandtschaft mit dem Königshaus. Sein Großvater war der Bruder eines früheren Herrschers.« Sie blickte sich überrascht zu ihm um. »Du kennst dich in murosonischer Geschichte aus?« Der Kryalnir schüttelte den Kopf. »Ihr werdet feststellen, dass die Murosonen mit großem Vergnügen ihre Herkunft verkünden, bevor sie in die Schlacht ziehen. Zumindest haben ihre Magiker diese Angewohnheit, und auch der Hofstaat des Herzogs ist in dieser Hinsicht sehr begabt.« »Ich verstehe nicht ganz.« Gelt beschattete mit der linken Hand die saphirblauen Augen, dann deutete er auf zwei schwarze Basaltfindlinge zu beiden Seiten der Straße. »In ganz Muroso werdet Ihr Felsen wie diese beiden sehen. Sie dienen den Magikern als Standorte für ein Duell. Unsere Truppen haben schon viele Magiker, junge wie alte, bei der Verteidigung ihrer Siedlungen getroffen. Sie treten an, geben sich zu erkennen und kämpfen. Ich habe einige Geschwister an sie verloren.« Isaura strich ihm mit der behandschuhten Hand über die Schulter. »Das tut mir Leid.« Gelt schüttelte den Kopf. »Ich war Teil eines großen Wurfs, Prinzessin, und die Besten von uns haben überlebt. Ah, schaut, da kommt gerade einer.« 65 Eine kleine Tür im Stadttor öffnete sich, und eine Gestalt trat allein hindurch. Der Mann trug eine rote Robe, zusammengehalten von einer weißen Kordel, und einen Stock, länger als ein einfacher Zauberstab, doch kürzer als ein Kampfstab. Er zog den weißen Dunst der Atemwolke hinter sich her. Das blonde Haar des Magikers wirkte fast so weiß wie der Schnee, und die Maske über dem Gesicht war von derselben Farbe wie die Robe. Über und hinter ihm schauten Gesichter zwischen den Mauerzinnen hervor. Der Mann ging zum westlichen der schwarzen Felsen und stellte sich mit dem Rücken zum Stein davor auf. Seine Stimme hallte laut und deutlich durch die kalte Winterluft. Die Schnatterer im Lager verstummten, als er sprach, und drehten sich um, weil sie ihn beobachten wollten. »Ich bin Gramn Lyward, Sohn des Con Lyward, Magister von Porjal. Ich bin ein Adept, geschult in der Akademie von Muroso, und biete allen den Tod, die sich mir entgegenstellen wollen.« Eine Kryalni zog ihren Stock aus einer Schneewehe, in die sie ihn gesteckt hatte, und machte sich auf den Weg zu dem Murosonen. Dann aber trat Neskartu aus dem Zelt. Der Kopf der Kryalni flog herum, als habe er an einer unsichtbaren Leine gerupft. Sie verbeugte sich vor dem Sullanciri und zog sich zurück. Aus einem anderen Zelt kamen zwei Lehrlinge Neskartus. Isaura erkannte Corde und einen etwas älteren Mann namens Parham. Sein Alter war schwer zu schätzen, doch in seinem Bart zeigten sich erste Spuren von Weiß. Er trug keinen Stock, sondern einen Satz von fünf Silberringen, die zu einer Kette verbunden waren. Er zog sie von der linken Hand zur rechten, bis die Kette straff gespannt war, dann ließ er sie zusammengleiten. Einer der Ringe
löste sich, obwohl Isaura keine Lücke in ihm sah, und Parham streifte ihn sich 66 über den Kopf, sodass er ihm wie ein Schmuckstück um den Hals lag. Parham näherte sich dem Duellgrund zuversichtlich, jedoch ohne sich aufzuplustern. Er trug ein leuchtend gelbes Hemd und schwarze Hosen. Das Sonnenlicht funkelte auf den Ringen, während es von den Mauern Beleidigungen auf ihn herabregnete. Selbst aus der Entfernung erkannte Isaura an der Haltung Gramn Lywards, dass er von diesem Gegner nicht viel hielt. Er drehte den Stab locker in der Hand, brachte die linke Schulter vor und den in der Rechten wirbelnden Stab hinter den Rücken. Parham verbeugte sich. Dann hob er die vier noch verbundenen Ringe. Der dritte von links leuchtete kurz rot auf, dann schoss eine lodernde Feuerscheibe auf den Murosonen zu. Der Südlandmagiker bewegte die linke Hand und schickte ihr einen grünen Funken entgegen. Grelles Licht wie bei einem Blitzschlag flammte auf, als sie sich trafen, und Gramn lächelte, als der aurolanischen Angriff ihn verfehlte. Von der Mauer jedoch war vielstimmiges Keuchen zu hören. Die Feuerscheibe hatte zwar den Magiker verfehlt, jedoch den Findling getroffen und eine matt glühende Kerbe hinterlassen. Gramn drehte sich ein Stück weit, um sie zu betrachten, und als er sich wieder umdrehte, schien er an Selbstbewusstsein verloren zu haben. Sein Stab wirbelte noch immer in der Rechten, aber nicht mehr so gleichmäßig wie zuvor, und seine Lippen verspannten sich. Parham drehte die Ringe, dann ließ er die Kette einmal um das rechte Handgelenk schwingen, bevor er sie mit der Linken fing und einen weiteren Zauber warf. Diesmal glühte der zweite Ring golden auf. Ein feuriger goldener Adler mit Federn wie Blitze stürzte sich auf den Murosonen, schlug mit ständig wachsenden Krallen nach dem Magiker. 67 Der Stab wurde zu einem hellblau leuchtenden Bogen in der Luft, der den Zaubervogel traf. Federn stoben in alle Himmelsrichtungen. Dann verengten sich Windungen des Bogens, und die leuchtende >8< wurde zu einem dicken Tau aus Licht, das von der Drehung immer enger gezogen wurde, bis es schließlich völlig verschwand und jede Spur des Vogels mit ins Nichts nahm. Gelt nickte. »Sauber gemacht.« Parham schwang die Kette, dann umfasste er mit jeder Hand zwei Ringe. Er drehte sie in Gramns Richtung, so als wären es die Enden eines Rohrs. Die Ringe leuchteten auf und ein gewaltiger Feuerstrahl brach hervor. Die Flammensäule schoss wie Drachenodem geradewegs auf den Murosonenmagiker zu. Gramn trat einen Schritt zurück, mehr konnte Isaura aber nicht sehen, bevor ihn die Flammen trafen. Sie erwartete, dass er verbrannte, doch der Feuerstrom zerplatzte wie ein Wasserstrahl an einer Hauswand. Beim Aufprall auf den Magiker fauchten die Flammen, und selbst auf die beträchtliche Entfernung schlug die Hitze Isaura wie ein warmer Frühlingswind ins Gesicht. Das Feuer erstarb, als Parham vor Erschöpfung zitternd zurücktaumelte. Die Flammen kollabierten zu einer ölig schwarzen Wolke, die schnell in den Himmel hob. Dampf vom aufgetauten Schnee stieg träge vom Boden und hüllte den Duellgrund in Nebel. Einen Augenblick lang war von Gramn nichts zu sehen. Dann erhob sich der Murosone aus dem Nebel. Ein Ende des Stabs brannte, doch er löschte das Feuer in einer Pfütze. Die feuerrote Robe war stellenweise braun und schwarz verbrannt, und von den ausgefransten Säumen an Ärmeln und Unterkante stieg weißer Qualm auf. Seine Maske und das blonde Haar jedoch waren unversehrt - ein kaltes Grinsen lag auf dem rußverschmierten Gesicht. 68 Wieder wirbelte der Stab. Erst langsam, einmal, zweimal. Gramn behielt den Gegner im Auge, der Stab vvurde schneller. Erst nur ein wenig, dann machte er eine Richtungsänderung, bevor er blitzschnell wirbelte. Der Murosone gestikulierte beiläufig mit der Linken und entzündete einen grünen Funken, dann fuhr er mit dem Stab hart am rechten Unterarm entlang. Silberne Flammen hüllten den Stab ein und schössen in einem gleißenden Blitzschlag auf Parham zu. Der aurolanische Magiker ließ die vier Ringe in der rechten Hand herabhängen, während er den fünften über den Kopf hob. Er stieß ihn senkrecht auf den Blitzschlag zu, dann ging er schnell in die Hocke und berührte mit dem Ring den Boden. Der Blitz neigte sich im Flug und traf den Ring. Sein silbernes Feuer glitt in kleinen Flammen über den Boden, verzehrte den von den Pfützen aufsteigenden Nebel und trocknete die Pfützen schließlich aus. Isaura fühlte keine Wärme, aber ein Kitzeln auf der Haut. Vermutlich hatte Gramn Jahre gebraucht, diesen Zauber zu vervollkommnen, und doch war er mit Leichtigkeit abzuwehren gewesen. Was er genau gewusst hat. Sie schüttelte den Kopf. Parham war noch nie ein guter Schüler gewesen und hatte immer nach schnellen Lösungen gesucht statt nach solchen, auf die sich aufbauen ließ. Er war nicht eigentlich dumm, nur faul, und weil sein Intelligenz ihm manches erleichterte, hatte er sich eingebildet, es sei die Mühe nicht wert, den Rest zu lernen. Deshalb hatte er die Ringe geformt und mit Zaubern belegt, die es ihm gestatteten, eine begrenzte Anzahl von Zaubern leicht und mit gewaltiger Kraft einzusetzen. Dass Gramn ihnen hatte widerstehen können, war ein Wunder. Im Gegensatz zu Parhams Tod. Parham hatte sich auf die gewaltige Bedrohung des Blitzschlags konzen-
69 friert, dabei aber den grünen Funken außer Acht gelassen. Der war kurz aufgestiegen, dann zum Kolibri geworden und vorgeschossen. Der magische Vogel blieb in der Luft stehen, drehte nach rechts, dann flog er in Parhams rechtes Ohr hinein und aus dem linken wieder heraus. Dabei gab der Vogel seine Gestalt auf, doch auch Parhams Kopf löste sich auf. Lauter Jubel stieg von den Zinnen auf; Parham sank unter dem Klirren der Ringe zu Boden. Gramn beugte das Knie und legte die Stirn auf den linken Unterarm, Isaura war sich aber nicht sicher, ob das ein Zeichen von Müdigkeit oder nur eine Dankesgeste an irgendeinen Gott war. Jedenfalls stand er schnell wieder auf und wiederholte seine Herausforderung. Corde drehte das braune Haar zu einem kurzen Pferdeschwanz und band es mit einem Lederriemen zusammen. »Mein Fürst Neskartu, ich bitte Euch, gestattet mir, auf diese Herausforderung zu antworten.« Der Sullanciri winkte sie zum Duellgrund. Sie machte sich auf nach Porjal, dann blieb sie stehen und wandte sich um. »Ja, mein Fürst. Ich weiß.« Isaura runzelte die Stirn. Corde trug ein langes weißes Hemd über schwarzen Hosen und Stiefeln. Um die Hüfte hatte sie ein rotes Tuch doppelt geschlungen und an der rechten Seite so verknotet, dass die beiden Enden bis auf Kniehöhe herabhingen. Während sie weiterging, zog sie die Handschuhe aus und ließ sie fallen. »Gelt, sie hat keinen Stab.« »Nein, Prinzessin. Sie hat keinen.« Corde erreichte Parhams Leiche und riss ihm die Ringe aus der Hand. Der einzelne, mit dem er den Blitz abgewehrt hatte, steckte noch im Boden. Sie ließ ihn stecken. Sie musterte die Ringe, drehte jeden mit leisem Klirren, dann schaute sie auf und neigte kurz den Kopf vor Gramn. 70 Der Murosone legte seinen Kopf etwas schräg. »Dieses Spielzeug hat ihm nichts geholfen, Frau. Hol deinen Stab und wir kämpfen.« »Es ist weder der Zauber noch der Stab, auf den es ankommt, sondern die Zauberin, Muroso-Tuk.« Vermutlich wusste Gramn nicht, was die aurolanische Nachsilbe bedeutete, aber Cordes scharfer Tonfall und ihr Gesichtsausdruck ließen keinen Zweifel daran, dass es sich nicht um ein Kompliment handelte. »Ich bin bereit.« »Dann zeig, was du kannst.« Sie nickte Gramn zu, der wieder die Haltung einnahm, in der er sich Parham gestellt hatte. »O ja, das werde ich.« Sie zog die Ringe auseinander und der dritte leuchtete rot auf. Wieder zuckte die rote Feuerscheibe und beschrieb einen Bogen auf Parham zu. Der Murosone schleuderte verächtlich den grünen Funken, der sie abwehrte, diesmal hoch nach oben. Er nickte Corde zu, dann lockte er mit dem Finger, eine Einladung zum nächsten Angriff. Die Ringe klirrten und wirbelten, dann formten sie das Feuerrohr. Die Flammen strömten heiß und schnell. Die Feuersäule war kleiner als zuvor, aber sie hatte mehr Wucht und zwang Gramn zwei Schritte rückwärts. Er wirbelte blitzartig den Stab herum und beschwor einen goldenen Schild, an dem die Flammen zerplatzten. Isaura konnte ihn hinter dem Angriff schwitzen sehen, doch der Zauber hielt. Corde riss die Ringe auseinander und die Feuersäule löste sich auf. Gramn erhob sich am Fuß des Findlings aus der Hocke und lächelte. Weder Stab noch Robe schmorten. Die Zuschauer auf der Mauer juchzten begeistert und sein Grinsen wurde noch breiter. Dann gefror es. 71 Das Jubeln der Menge verwandelte sich in ein Aufheulen. Die so leicht abgewehrte Flammenscheibe war wieder herabgefallen. Wie ihre Vorgängerin traf sie den Findling, doch diesmal schnitt sie ihn sauber in zwei Teile. Der obere rutschte auf dem glutflüssigen unteren herab. Die Vorderkante traf auf den weichen Boden und sank ein, bis sie auf Eis traf, dann kippte der Fels. Gramn wirbelte herum und schlug den Stab gegen den Stein. Blaues Feuer schoss aus dem unteren Ende hervor und drang in die Erde. Der Fels kippte langsamer, dann gar nicht mehr, von der Magik gehalten. Gramns Rücken krümmte sich unter der Belastung. Doch er hielt stand, während seine Füße im Schlamm versanken. Corde klirrte mit den Ringen. Gramm warf ihr über die Schulter einen hastigen Blick zu. »Das würdet Ihr doch nicht...« »Nicht nötig.« Der rechte Fuß des Murosonen rutschte im Schlamm ab. Der Fels schlug mit einer Wucht auf, die den Boden noch unter Isauras Füßen beben ließ. Dicker Schlamm, vermischt mit Blut, spritzte hoch auf. Dunkle Schlieren zogen sich durch braunes Brackwasser und Blasen stiegen an die Oberfläche. Die Entsetzensschreie auf den Mauern hielten länger an als die Luftblasen. Corde wischte sich die Schmutzflecken vom Hemd, dann warf sie die Ringe weg. Sie klirrten laut gegen den Stein und blieben auf der breiten schwarzen Felsfläche funkelnd liegend. Das Sonnenlicht brach sich darauf und zeichnete vier weiße Ringe auf die Mauern von Porjal. Im Zentrum der Aurolanenlinien ertönte ein Befehl. 72
Bevor Corde auch nur ein Viertel der Strecke zu den Truppen zurückgelegt hatte, wummerten die Draconellen und füllten die Luft mit Feuer und Lärm. Ein Dutzend Eisenkugeln hämmerten auf das von den Ringen bezeichnete Mauerstück. Steine barsten, Menschen stürzten in den Tod, und die Eroberung Murosos nahm ihren Anfang. 73 KAPITEL SIEBEN t/in lautes Geschrei weckte Kjarrigan in der Hauptkammer des Corics. Er setzte sich kerzengerade auf. Dann traf ihn ein Schwindelgefühl. Bok streckte die Hand aus und stützte ihn erst, danach zerrte er den jungen Magiker von der Pritsche und schob ihn durch die kleine Türöffnung. Silide-Tse stand in der Hauptkammer und gestikulierte zum Ausgang hin. Entschlossen warf Will einen schweren Beutel zu, in dem Klingensterne klirrten. Kräh schob sich das Hemd in die Hose, während er aus der Kammer trat, die er mit Alexia teilte. Sie folgte schon Sekunden später in einem kurzärmeligen goldenen Kettenhemd, das ihr bis zu den Knien reichte. Lauter Donner dröhnte aus dem Flur herein, und Kjarrigans schlafumnebeltes Gehirn hatte Mühe zu erfassen, aus welchem Grund es im Berg donnern konnte. Dann wurde ihm mit einem Mal klar, dass es sich um das Schussgeräusch einer Draconelle handeln musste. Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Silide-Tse, wie sind sie hereingekommen?« »Verräter!« Sie spie noch ein anderes Wort aus, das wie >Katschadikta< klang, ihm aber überhaupt nichts sagte. »Als unsere Familien vor Jahrhunderten aus Boragul aufbrachen, ließen wir Zeichen für andere zurück, damit sie uns folgen konnten. Diese Wege und Eingänge sind längst vergessen, weil größere Straßen sie überflüssig gemacht haben. Jetzt haben 74 unsere alten Schwestern uns den Feind ins Haus gebracht!« Entschlossen packte sie bei den Schultern. »Wie viele? Wo? Was können wir tun?« »Tötet die Aurolanen. Überlasst die Grauen uns. Wir müssen ihnen Einhalt gebieten. Wir ziehen uns zur Großen Galerie zurück.« Sie schaute sich zu Kjarrigan um. »Dort verlangt man nach ihm.« Der Vorqaelf deutete auf Bok. »Bring Kjarrigan hin. Alle anderen - tötet!« Entschlossens Befehl erschien dem Magiker ausgesprochen überflüssig, erst als er den Coric verließ, ^erstand er seine Bedeutung. Sobald sie den Hauptkorridor betraten, sah er kleine Grüppchen männlicher urSreiöi heulend zur Großen Galerie flüchten. Kriegerinnen mit Armen, die in Schwertklingen, Axtblättern oder Streitkolben endeten, die Körper von Panzerplatten und langen Dornen entstellt, trieben sie weiter und stellten sich dem anrückenden Feind entgegen. Eine Flut von Schnatterern füllte den Gang, und mittendrin wälzten sie kleine Draconellen heran. Auf Festung Draconis hatte Kjarrigan gesehen, welch entsetzliche Zerstörung Draconellen anrichten konnten. Dort waren die Kugeln der Aurolanen von den Mauern abgeprallt und kreuz und quer geflogen, bis sie allen Schwung aufgebraucht hatten. Hier, in der Enge des Korridors, prallten selbst ungezielte Salven ab und pflügten durch die Reihen der Flüchtenden. Eine Kugel barst durch den Brustkorb eines urZreö, der zu einem roten Blutnebel zerplatzte. Andere rissen Gliedmaßen ab und zerquetschten Leiber. Die Opfer blieben kreischend und blutend liegen, bis der nächste Donner sie übertönte. Lombo drängelte sich an Kjarrigan vorbei, dann jagte er auf allen vieren auf die anrückenden Schnatterer zu. Er sprang, die Arme ausgebreitet, die Krallen blit75 zend. Sein Brüllen füllte den Gang, und ein Teil der Schnatterfratzen wich zurück. Hinter ihnen hob jedoch eine Reihe Draconettiere die Waffen und drückte ab. Ein Stakkato von Donnerschlägen begleitete die Feuerwand, die dem Panq entgegenschlug. Lombo zuckte und drehte sich in der Luft, dann schlug er hart auf. Er zerquetschte einige Schnatterer unter sich, blieb aber reglos liegen. Ein Schlag ging durch Kjarrigan, als der Panq zu Boden fiel. Er trat vor, wünschte sich, den Freund aufstehen zu sehen. Er wollte zu ihm laufen und einen Zauber sprechen, um die Verletzungen zu diagnostizieren, dann einen zweiten, um sie zu heilen. Doch um diese Zauber einzusetzen, musste er erst mal dreißig Schritt überwinden. Ein Abstand, in den immer mehr Schnatterer drängten. Hinter Lombo luden die Draconettiere die Waffen nach. Die Mäuler der Schnatterer öffneten sich zu einem zufriedenen Grinsen, ihr schrilles Gelächter schnitt durch den Lärm. Einer spuckte Lombo an, während er das Hörn hob, um die Waffe mit frischem Feuerdreck zu füllen. Kjarrigan ballte die linke Faust, hob sie über Schulterhöhe, dann stieß er sie vor und öffnete sie. Grüne Funken schwärmten aus wie ein Schwärm wütender Wespen. Sie zuckten geradewegs auf die Schnatterer zu. Ein Teil traf die anrückenden Bestien, stach sie und brannte ihnen dunkle Flecken ins Fell. Andere glitten höher oder seitwärts, bevor sie sich auf ihr eigentliches Ziel stürzten. Einer drang in ein Feuerdreckhorn und entzündete dessen Inhalt. Die Explosion riss die Tatze des Schnatterers mit ab, der es gehalten hatte. Andere fielen mit dem Feuerdreck in die Draconettenläufe, woraufhin Feuer aus ihnen herausschlug. Ein Flammen76 strahl traf eine Schnatterfratze im Gesicht und blendete sie, andere sprangen nur zurück und ließen die Waffen
fallen. Dranas legte die eigene Draconette an und drückte ab. Ein kurzes Aufblitzen ging einem längeren voraus, das von einem lauten Knall begleitet wurde. Die Kugel traf einen Schnatterer, der zusammenklappte und zuckend das Leben ausheulte. Der Hüne zog sich einen Schritt zurück, um nachzuladen. Alexia, Kräh, Sayce und Entschlossen formierten sich mit blanker Klinge zu einer Schlachtreihe. Von rechts tauchte eine urSreö mit schiefergrauer Haut auf. Ihre linke Hand bestand aus einem Haken, die rechte aus einem Streitkolben mit halbrunden Ausbuchtungen. Aus Knien, Ellbogen und Schultern ragten Dornen, aber die Panzerung war recht dünn. Die Graue war beachtlich flink, zögerte jedoch, als Silide-Tse sie abfing. Die bokasche urSreö hatte sich in die Miniaturversion eines Panqs verwandelt. Dicke Panzerplatten bedeckten ihren breiten Rücken ebenso wie beide Arme. Die rechte Hand war eine Lanze von urSreiöi-Größe, während der linke Arm in zwei dicke Stacheln auslief. Silide-Tses Beine waren stark geschrumpft und verbreitert, um eine bessere Balance zu gewährleisten. Die Graue knurrte und sprang Silide-Tse an. Der Haken peitschte von links nach rechts, um den Knöchel zu packen, doch die urSreö wich mit einem Salto rückwärts aus und stieß flach über dem Boden zu, als die Graue anrückte. Die Lanze bohrte sich in deren rechten Oberschenkel und sie schrie auf. Die Streitkolbenhand flog herum und traf Silide-Tses linke Schulter, prallte aber wirkungslos ab. Plötzlich stand die BokaSreö innerhalb der Deckung der Grauen. Die Lanze grub sich in die Wunde, dann 77 wurde sie weich und schien sich zu biegen. Sie wurde dicker und verwandelte sich in einen immer länger werdenden Tentakel. Der schlug erst auf den Rücken der Grauen, legte sich dann um ihren Hals und drückte zu. Der Haken hob sich, um ihn wegzuzerren, aber noch schneller flog Silide-Tses linker Arm hoch und trieb die beiden Stacheln in den Brustkorb ihrer Gegnerin. Die Graue kreischte heiser auf, wurde von einem wilden Krampf geschüttelt und versteifte sich. Silide-Tse zog die Stacheln frei, dann zuckte der Tentakel. Die tote Graue flog davon und krachte gegen die entgegengesetzte Wand des Korridors; der Tentakel verteilte, begleitet von der Musik der Draconellen, dunkles Blut über den Boden. Silide-Tse drehte sich um und lächelte triumphierend. Die brutale Gewalt einer Draconellenkugel wischte ihr Lächeln vom Gesicht. Zerborstene Zähne flogen davon und der geköpfte Leichnam wurde in den Knochenpanzer getrieben. Sie überschlug sich zweimal und der Tentakel zuckte wie eine verletzte Schlange, dann rührte sie sich nicht mehr. Nur eine schnell wachsende Blutlache blieb von ihrem Kopf übrig. Gleichzeitig waren noch mehr Kugeln abgefeuert worden. Manche prallten von den hohen Balustraden ab und überschütteten die fliehenden urSreiöi mit Steinsplittern. Andere Zwerge wurden von den Galerien geschleudert und stürzten in den Tod. Ihre Arme flatterten hilflos, halb zu Flügeln geformt, konnten den Sturz aber nicht aufhalten. Die Körper zerbarsten auf dem kalten Felsen. Manche Geschosse donnerten in flacheren Flugbahnen als Querschläger. Eine blutverschmierte Kugel wirbelte in der Mitte des Korridors um die eigene Achse und malte ein rotes Muster auf den Boden. 78 Und während alledem rückten die Schnatterer immer weiter vor. Kjarrigan bemerkte Vylaanz zwischen ihnen, und hier und da auch einzelne größere Kreaturen. Bis auf das schneeweiße Fell wirkten sie aelfisch. Er hatte keine Ahnung, was sie waren, denn er hatte ihresgleichen noch nie gesehen. Entschlossen und die anderen kämpften gegen die Schnatterfratzen. Stahl klirrte, Klingen zeichneten wilde Bögen, zerfetzten Fell und zertrümmerten Gliedmaßen. Ein Beobachter wie Kjarrigan, ohne jede Kampfausbildung, war nicht in der Lage, das Geschehen ganz zu erfassen. Der Kampf verlor sich in einem allgemeinen Chaos, gelegentlich unterstrichen durch Schreie und Gebrüll, Herausforderungen und Warnungen, das dumpfe Klatschen eines auf den Boden schlagenden Körpers oder das hellere Platschen eines herabfallenden Körperteils. Eine Draconette bellte. Prinzessin Sayce flog herum, die Maske halb vom Gesicht gerissen. Ihr Schwert flog davon. Sie schlug hart auf den Boden, ihre Gliedmaßen fielen kraftlos herab. Ein jubelnder Aufschrei ging durch die Schnatterer, doch bevor sie den Vorteil ausnutzen konnten, sprang Will Norderstett in die Bresche. Er schüttelte den Kopf. Blut spritzte von einer Schnittwunde über dem linken Auge, die ihm ein Steinsplitter beigebracht hatte. Mit Stahl in den Händen stellte er sich der Horde entgegen. »Nein!« Man hörte das Knurren sogar über den Lärm hinweg. »Bei meinem Blut, ihr kommt hier nicht vorbei!« Die Wut in Wills Stimme hatte Kjarrigan erwartet, aber nicht das, was die Worte begleitete. Eine Woge purer Magik schlug aus Wills Körper und ließ den Magiker stolpern. Der am nächsten stehende Vylaen schrie auf und erbrach Blut. Andere fielen unter Schmerzen 79 zurück. Die nächste weißpelzige Gestalt kippte bewusstlos um, und - für nur einen Augenblick - stockte der Kampf. Dann warf die nachrückende Menge eine Reihe Schnatterer nach vorne und das Gemetzel ging wieder weiter. Peri bückte sich und hob die sich drehende Draconellenkugel auf, dann breitete sie die Schwingen aus und flog auf. Kjarrigan sah ihr kurz nach, dann deutete er zu Prinzessin Sayce. »Bok, hol sie her. Sofort.« Der urZreö
sprang auf und packte sie an den Schultern, dann zerrte er sie herüber. Qwc umkreiste ihn. »Hier lang, hier lang!« Entschlossen brüllte: »Zurückfallen!« Weiter den Gang hinab, hinter den anstürmenden Schnatterern, feuerte eine Draconelle, doch offensichtlich war etwas schief gegangen. Statt eines Aufblitzens sah Kjarrigan eine Flammenzunge durch die feindlichen Reihen schlagen. Kadaver flogen nach rechts und links, als die Kugel von der Korridorwand abprallte und ihre Richtung änderte. Von links wurde unter den Aurolanen ebenfalls Kreischen laut. Kjarrigan konnte nicht erkennen, weshalb, bis einer der Schneeaelfen aufschrie und sich mit wedelnden Armen in die Luft erhob. Sein Rücken bog sich, dann brach er. Riesige Pranken, eine am Hals, die andere an den Oberschenkeln, bogen ihn nach hinten, bis die Schultern die Hüfte berührten, dann schleuderten sie den Kadaver beiseite. Mit peitschendem Schwanz und reißenden Klauen rempelte sich ein blutüberströmter Lombo durch die Horden. Ein unglückseliger Schnatterer drehte sich um, um nachzusehen, wer ihn angerempelt hatte. Lombos Kopf zuckte vor und biss ihm den halben Kopf ab. Kräh sprang vor und spaltete einen Schnatterer, 80 der den Panq mit einem widerhakenbesetzten Speer durchbohren wollte. Einer von Wills Klingensternen senkte sich in die Stirn eines anderen, und ein bellender Schuss aus Dranass Draconette zerfetzte einem Weißen die Kehle. Kräh zog Lombo zurück zu ihren Linien und die Gefährten traten den Rückzug an. Die Aurolanen drängten weiter und hätten sie mit Sicherheit überwältigt, doch irgendetwas hielt sie auf. Es war, als versperrte ihnen ein stählernes Gatter den Weg. Ein Schnatterer wurde an der unsichtbaren Barriere fast zerquetscht, ein anderer drehte sich und schob die Schulter zwischen die Stangen. Kjarrigan runzelte die Stirn und sprach einen schnellen Zauber, um Magik zu erkennen. Ein Halbkreis aus Punkten, die in einem geisterhaften Grün leuchteten und angeordnet waren wie das Blut auf Wills Gesicht. Bei meinem Blut, ihr kommt hier nicht vorbei. Auf irgendeine Weise hatten Wills Blut und sein Schwur sich zu einem kraftvollen Zauber verbunden. »Will, dein Blut!« Kjarrigan strich sich mit der Hand über die Stirn und peitschte damit, als würde er Schweiß schleudern. Will starrte ihn stutzig geworden an. Aber der Magiker deutete nur vor sich. »Tu es! Spritz dein Blut auf den Boden. An deinem Blut kommen sie nicht vorbei« Die Augen des Diebs wurden groß, dann trat ein grausames Grinsen auf seine blutigen Züge. Er wischte sich mit der Hand über die Wange und bedeckte den Boden mit einem Muster aus Blutspritzern. Anstürmende Schnatterer prallten gegen einen Wald aus ebenso undurchdringlichen wie unsichtbaren Stangen. Will tanzte zur Seite, wischte und spritzte in einer schrägen Linie, die dem aurolanischen Vormarsch den Weg abschnitt. Er lachte, als sie ihn anknurrten, dann schleuderte er sein Blut auf sie. 81 Die so Getauften heulten erbarmungswürdig auf. Es verbrannte sie wie glühende Lava. Fleisch zischte, teilweise brachen offene Flammen aus, manche qualmten nur, während ihre Körper zerschmolzen. Will lachte laut, dann leckte er sich die Lippen und spuckte sie an, brannte einem von ihnen ein Loch durch die Brust. Aber auch wenn die Schnatterer nicht vorbeikamen, außer an den Stellen, an denen sie sich zwischen den Blutstropfen hindurchzwängen konnten, galt dasselbe doch nicht für Draconellen- und Draconettenkugeln oder wütend geschleuderte Waffen. Entschlossen packte Will an den Schultern und zerrte ihn zurück, während er den Stein weiter mit Blut zeichnete. Kjarrigan benutzte seine Magik, um eine Eisenkugel abzulenken, dann riss es ihn nach links, als ein Draconettenschuss ihn an der Schulter traf. Der Treffer schmerzte, doch der Knochenpanzer hatte ihn aufgehalten und nur das Hemd hatte ein Loch. Als sie sich zur Großen Galerie zurückzogen, quetschten ein paar Schnatterer sich hinter ihnen durch, während andere zu den Baikonen hinaufkletterten, die sich am Hauptkorridor entlangzogen. Die urSreiöi Boka- , guls zogen sich, von Wills Blut ungehindert, ebenfalls zurück. Ein paar der BokaSreiöi formten eine Nachhut und schlachteten die wenigen Schnatterfratzen ab, die es durch die Barriere schafften. Sie erreichten die Große Galerie der Seeggs durch den Nordarm des Hauptgangs. Die Galerie bildete im wahrsten Sinne des Wortes den Dreh- und Angelpunkt der Kolonie und erhob sich bis in Schwindel erregende Höhen. Der bereits beachtlich hohe Hauptgang öffnete sich zur unteren Hälfte der Galerie, doch über ihm stiegen noch vier weitere Etagen auf, und diese waren mehr als großzügig ausgelegt. Kjarrigan hatte beim ersten Besuch geschätzt, dass sich die Halle 82 vom Boden bis zur Kuppeldecke siebzig Schritte hob, und als man ihnen den Brunnen im Zentrum des Mosaikbodens zeigte, hatte Silide-Tse diese Schätzung bestätigt. Im Gegensatz zum Stöhnen der Überlebenden und dem Krachen der Draconellen plätscherte der Brunnen fröhlich und spritzte Wasser hoch hinauf - bis knapp unter die Decke. Der Brunnen stellte zwei geflügelte Gestalten dar, die mit ehrfürchtig gesenktem Kopf und kniend die Körper aneinander drückten; ihre Schwingen waren so hoch erhoben, dass ihre Spitzen gute zehn Schritte über dem Boden lagen. Von dort aus schoss die mannsdicke Wasserfontäne senkrecht in die Höhe und regnete funkelnd auf die beiden Figuren herab.
BokaSreiöi-Kriegerirmen führten die Gefährten zu einer der Treppen, die sich spiralförmig um die Galerie zogen. Kjarrigan wollte über die vierte Etage an der Oberkante der Hauptkorridore hinausklettern, die sich hier in der Großen Galerie trafen, doch Bok reichte Prinzessin Sayce an Dranae und zog ihn den breiten Balkon entlang, der vor der Galerie hing. Einen Augenblick lang wehrte sich Kjarrigan, doch dann sah er eine Gruppe urSreiöi-Magikerinnen. Eine mit onyxfarbener Haut lächelte ihn an. »Wir wissen nicht, wie Ihr sie aufgehalten habt, aber wir konnten es bis hierher spüren.« »Ich habe gar nichts getan.« »Bescheidenheit. Das ist gut. Wir brauchen Eure Hilfe.« Sie deutete auf ihre Begleiterinnen. »Wir haben eine Möglichkeit, sie aufzuhalten, aber allein sind wir dazu nicht in der Lage. Werdet Ihr uns helfen?« Kjarrigan nickte. »Sagt mir nur, was ich tun soll.« Sie deutete hinab auf den Brunnen. »Die Skulptur. Ihr müsst sie zerstören.« »Sie zerstören?« Er klammerte sich an die Balustrade 83 und blickte hinab, gerade als der letzte Krieger die Treppe heraufkam. Er sprach einen Zauber und bemerkte die Spur einer Verzauberung auf dem Brunnen, die seinem Telekinesezauber ähnelte. Während er die Magik benutzte, etwas zu packen und zu heben, diente sie hier dazu, etwas festzuhalten. Im Grunde war es derselbe Zauber, nur umgekehrt. Aus dem Hauptgang hüpfte eine Draconellenkugel in die Galerie und prallte vom Brunnenrand ab, Kjarrigan drehte sich um und lächelte der Magikerin zu. »Ich verstehe, was Ihr vorhabt. Seid Ihr sicher?« Sie nickte, dann drehte sie sich zu ihren Begleiterinnen um. »Los!« Sie ließen sich lange Beine wachsen und gingen in Nähe der sieben von acht Hauptgängen, die in der Großen Galerie endeten, in Stellung. Der einzige Eingang, der unbewacht blieb, war der nördlichste. Dort rückte der Feind an. Wie eine urSreö streckten die sieben Zauberinnen den linken Arm und berührten den Schlussstein der benachbarten Torbögen. Magik floss formlos durch die Halle, gerade fassbar genug, um auf der Haut zu kitzeln. Sie bewegte sich im Kreis, von der südlichsten Position aus strömte sie nach rechts. Sie drehte sich schneller und immer schneller, gewann dabei an Kraft. Zunächst fühlte Kjarrigan sie wie einen lauen Frühlingshauch, doch später wurde daraus ein heißer Sommerwind. Am Eingang der sieben Korridore flimmerte die Luft. Mit steigender Hitze verschwamm der Blick auf den Torbogen, dann wurde der Korridoreingang dunkel, versperrt von einem formlosen Nebel, der sich zu einem wallenden Vorhang verdichtete. Dann spannte sich das ätherische Gewebe wie ein pralles Segel im Wind und verschloss alle Eingänge bis auf den zu den anrückenden Aurolanen. 84 Die Onyxmagikerin ergriff Kjarrigans rechte Hand. »Jetzt.« Der menschliche Magiker atmete tief ein, dann ließ er seine magischen Sinne sich mit den ihren verbinden. Hitze floss durch die Verbindung in seinen Geist, ihre Energien schaukelten sich gegenseitig auf, bald legte sich jedoch die Turbulenz, und der Strom floss schnell und gleichmäßig. Wieder kribbelte Kjarrigans Haut, dann strömte die Energie das Rückgrat entlang hinauf in den Kopf. Dort wirbelte sie und baute sich zu einem Mahlstrom auf. Er streckte die linke Hand aus und berührte die Energie der Statue. Seine Finger schlössen sich und spürten Widerstand. Er fasste nach, glitt abwärts zum Fundament, dann erhöhte er den Druck. Er bemerkte eine leichte Überraschung bei der urSreö, atmete aus, biss die Zähne zusammen und zog. Mit einem gewaltigen Krachen riss er die Statue aus dem Herzen des Springbrunnens. Wasser schoss aus dem Loch, stieg als drei Schritt breite Säule zur Decke der Galerie und stürzte wieder herab. Eine kalte Woge schlug über Kjarrigan zusammen und brachte ihn so aus dem Konzept, dass er die Statue losließ und zurückwich. Dann trat er spuckend zurück an die Balustrade und schaute zu, wie die Fluten durch den Saal donnerten. Wie bei allen Springbrunnen stand auch hier das Wasser unter Druck. Die Magik, die er gespürt hatte, hatte es zurückgehalten und nur ein wenig durch die Düse des Brunnens gelassen. Nun, nachdem die Statue zerstört und der Zauber gebrochen war, hielt nichts mehr die Wassermassen auf. Sie stürmten hinab durch die Tunnel, die das urSreiöi-Reich mit Wasser versorgten. Schon war der Wasserspiegel des Osemyrsees zwei Finger breit gesunken. In einer Woche trocknete be85 stimmt ein Fluss in Oriosa aus. Am Ende derselben Woche würde nördlich Bokaguls ein neuer See entstehen und ein Dorf in einem verschlafenen kleinen Tal für immer verschwinden lassen. Hier und jetzt schoss das Wasser jedenfalls durch den einzig möglichen Abfluss: in den nördlichen Hauptgang. Die ersten Aurolanen waren in gewisser Weise die glücklichsten. Sobald die Wand eisigen Wassers über ihnen zusammenschlug, verloren sie durch den Schock das Bewusstsein. Diejenigen weiter hinten, die dieses Glück nicht hatten, kämpften gegen die steigenden Fluten, schlugen um sich und traten keuchend und hustend Wasser, bis die Flutwelle sie gegen die über Wills Blut aufragenden Magiksäulen trieb. Der Druck des Wassers reichte
aus, sie hindurchzuquetschen - wie Schlamm durch ein Filtersieb. Hunderttausende Fässer Wasser donnerten durch den Gang, schwemmten alles davon, was ihnen in den Weg kam. Schnatterer prallten von den Wänden ab. Säulen wurden von der Flutwelle wie Strohhalme zerquetscht. Die Draconellen wurden mitgerissen wie Spielzeug. Ihre schweren Bronzerohre zerschmetterten jene, in die sie geschleudert wurden. Kugeln ergossen sich den Gang hinab wie Kiesel im Strom, Feuerdreck wurde wie Sand von der Gewalt des Wassers davongeschwemmt. Weiter und immer weiter strömte das Wasser, bis es das Tor erreichte, durch das die Aurolanen eingedrungen waren. Es brach sich in einer Sturzflut Bahn, vor der diejenigen, die noch in einer kleinen Schlucht vor dem Eingang warteten, auf den Hängen panisch Schutz suchten. Das Wasser füllte die Schlucht und strömte weiter nordwärts, trat über die Ufer eines kleinen Baches und überschwemmte ein Tal. Kjarrigan schüttelte den Kopf. »Wie lange wollt ihr es fließen lassen?« 86 »Wie lange wird es dauern, ihren Gestank wegzuwaschen?« Die Zauberin schüttelte den Kopf. »Wenn der Osemyrsee leer läuft, dann soll er. Stunden oder Jahrhunderte, dieser Strom der Tränen wird fließen, bis wir nie wieder fürchten müssen, wir könnten gezwungen sein, ihn freizusetzen.« 87 KAPITEL ACHT Will verzog das Gesicht, als Kjarrigan zu ihm herüberschaute. Der Dieb hob die Hand zur Stirnwunde, die Peri genäht hatte. »Ehrlich, Kjar, es ist gut so. Benutz du deine Magik, um jene zu heilen, die es nötig haben.« »Es würde nur einen Augenblick dauern.« Will schüttelte den Kopf. »Eine Narbe ist so schlimm nicht. Ist einen Drink oder zwei wert, wenn ich erzähle, wie ich dazu gekommen bin.« »Wie du meinst, Will.« Der Magiker schüttelte müde den Kopf und machte sich wieder an die Arbeit. Nach der Schlacht waren die Gefährten in einen neuen Coric gebracht worden. In der unteren Hauptkammer hatte sich Kjarrigan mit Boks Hilfe um Lombos Verletzungen gekümmert. Die Draconettentreffer hatten den Panq hauptsächlich das Bewusstsein geraubt, i auch wenn ihn ein paar davon tatsächlich verwundet hatten. Es war dem Magiker weder leicht gefallen, die Kugeln zu entfernen noch die Risse in Lombos knochiger Haut zusammenzufügen, vor allem, weil der Panq sich der Behandlung hartnäckig widersetzte. Schließlich hatten die Proteste Kjarrigan überzeugt, sich um die anderen zu kümmern. Nach Lombo war Prinzessin Sayce am schwersten verletzt. Jetzt ging Will durch die innere Kammer des Corics und dann die Stufen zu den Räumen der Frauen hinauf. Dort trat er an den runden Eingang zur Kammer der Prinzessin. Er zögerte kurz, das Herz schlug ihm bis in den Hals. Sayce lag auf einer weichen Pritsche unter einem wei88 gen Laken, das ihr bis an den Hals reichte. Ihr Kopf lag auf einem Satinkissen, das unter der feuerroten Haarmähne kaum zu sehen war. Die Maske hatte man ihr abgenommen, stattdessen trug sie einen Ersatz aus leichter Spitze. Die Spitze war weiß wie das Laken und unterstrich, wie bleich sie war. Einen Pulsschlag lang fürchtete er, sie wäre tot, doch ihr Brustkorb hob und senkte sich, wenn auch langsam. Erleichterung durchströmte ihn. Der Gedanke, diese Augen könnten sich nie wieder öffnen, war mehr, als er ertragen hätte. Als er sich überzeugt hatte, dass es ihr gut ging, lächelte er. Eine Last war ihm vom Herzen genommen. Will wandte sich zum Gehen, um sie nicht aufzuwecken, aber sie bewegte sich. Er schaute zu ihr hinüber, und langsam drehte sie sich zu ihm um. Von der Türe aus hatte er sie nur von rechts im Profil gesehen, die linke Gesichtshälfte war jedoch fleckig blau und violett, mit gelblichen Rändern. Die Höflichkeitsmaske aus weißer Spitze bot einen starken Kontrast zu der wütenden Farbenpracht. Sie zog die linke Hand unter dem Laken hervor und hob sie, als wolle sie ihr Gesicht berühren. Stattdessen ließ sie den Arm über den Leib sinken. »Will?« »Ja, ich bin's.« Seine Stimme brach und er schluckte. »Ich wollte nur sehen, wie es Euch geht.« Sie schnaubte leise, dann zuckte sie zusammen. »Mein Kopf dröhnt schlimmer, als wenn mich ein Gaul getreten hätte.« »Ich kann Kjarrigan holen.« »Nein, nein. Nicht.« Ihre Stimme wurde etwas stärker und erheblich drängender. »Er hat schon genug für mich getan. Kommt herein. Setzt Euch.« »Ihr solltet Euch ausruhen.« »Ich liege in einer Höhle auf einem Steinbett. Ich 89 komme mir beinahe wie in der Gruft vor.« Ihr rechtes Auge funkelte hell, weit mehr als das blutunterlaufene linke. »Die Vorstellung, halbtot im Grab zu liegen, ist nicht gerade beruhigend.« Will grinste und betrat die Kammer. Einen Moment überlegte er, ob er sich auf die Bettkante setzen sollte, doch die Pritsche war so schmal, dass sie rücken müsste. Stattdessen setzte er sich also mit dem Rücken gegen das Bett auf den Boden und schaute über die Schulter. »Ich bin froh, dass es Euch besser geht.« »Ich hatte Glück. Dranae meint, entweder hat der Draconettier nicht genug Feuerdreck geladen, oder er war
feucht, sodass er nur teilweise verbrannt ist. Die Kugel hat mich links an der Stirn erwischt. Die Maske hat geholfen. Der Schlag war trotzdem noch hart genug, mir den Schädel zu spalten, aber das hat Euer Freund geheilt.« Der Dieb schauderte. Kjarrigan hatte es als Druckfraktur bezeichnet, was auch nichts anderes war als ein umständliches Wort für eine tiefe Delle im Kopf. Der Magiker hatte tatsächlich den Knochensplitter aus dem Kopf zu entfernen und den unmittelbaren Schaden zu beheben vermocht. Es war keine leichte Heilung für ihn gewesen, müde wie er von der Überflutungsaktion gewesen war. Doch er hatte es geschafft. »Er kann sich auch um den Rest kümmern. Ihr seid bald wieder so gut wie neu.« »Warum lasst Ihr Euer Gesicht nicht von ihm heilen?« Will zuckte unbehaglich die Achseln. Eine Narbe an der Stirn machte ihm nichts aus. Nicht, dass er eine nennenswerte Spur erwartete, sobald Peris kunstfertige Naht verheilt war. Die Narbe verband ihn mit Kräh, der sich im Kampf gegen Kytrin ebenfalls Narben verdient hatte. Helden hatten immer Narben, und in gewisser Weise fand Will es falsch, als Held keine Spuren der Kämpfe zu tragen, die er ausgefochten hatte. 90 »Kjarrigan hat Besseres zu tun, als mein Aussehen zu verbessern.« Er lachte. »Als ob das ginge.« Sayce lächelte. Ihre Rechte glitt unter dem Laken vor und strich durch Wills braunen Haarschopf. »Da könntet Ihr Recht haben, Will. Mich besser aussehen zu lassen, wäre harte Arbeit. Meine linke Gesichtshälfte pulsiert.« »Ihr seht großartig aus.« »Ist das ehrliche Hinterlist, Will? Haltet Euch ans Stehlen. Ihr seid kein guter Lügner.« »Ich lüge nicht.« Will runzelte die Stirn und sofort spannten die Nähte. Seine Wangen wurden heiß, dann löste sich das Stirnrunzeln in ein einfältiges Lächeln auf. Er war froh, dass sie ihn nicht sehen konnte. »Ihr seht schon viel besser aus als im Hauptgang, als Ihr gestürzt seid.« Sayce nickte. »Ich weiß, was Ihr getan habt, Will. Ich bin nach dem Treffer nicht ohnmächtig geworden. Nicht sofort. Ich kann nicht behaupten, dass ich mich noch an alles erinnere, aber ich erinnere mich an Eure Stimme.« Ihre Finger spielten weiter mit seinem Haar, ihre Augen aber starrten hinauf zur Kammerdecke. »Ich war schwer getroffen worden. Ich wusste, ich war verletzt. Schwer verletzt. Ich würde sterben. Der Schock ... Der Schmerz ... Ich sah mit dem linken Auge nichts mehr. Ich konnte mich nicht bewegen. Und dann ... Dann, Will, habe ich Eure Stimme gehört. >Bei meinem Blut, ihr kommt hier nicht vorbei. < Mein Leben glitt mir aus den Händen, doch Euer Befehl hat es aufgehalten. Ich schied nicht aus dem Leben. Ich konnte es nicht. Und da wusste ich, ich würde überleben.« Sie schaute wieder zu ihm herab und lächelte. »Kjarrigan ist vorhin hier gewesen und wollte mein Gesicht heilen. Als ich ihn fortschickte, hat er geseufzt.« Will nickte und genoss ihre Finger auf der Kopfhaut. 91 »Er sagte: >Was ist los mit euch Gestalten?< Ich fragte ihn, was er damit meine, und er hat mir erklärt, Ihr hättet Euch auch geweigert, Euch heilen zu lassen. Kjarrigan vermutete, es müsse etwas damit zu tun haben, links am Kopf getroffen zu werden.« Sie wand eine Haarsträhne um den Finger. »Als ich herausfand, dass Ihr die Heilung verweigert habt, entschied ich, es ebenso zu halten.« »Aber Prinzessin, Ihr könntet es gebrauchen.« »Ihr versteht nicht, Will. Eure Leute - die Freie Kompanie - sind bereit, eine Maske von Euch anzunehmen und Euer Zeichen zu tragen, Euch zu Ehren. Ähnliche Wunde, selber Kampf. Ich werde die blauen Flecken zu Ehren Eurer Lebensrettung tragen.« »Aber ich habe Euch nicht...« Sie senkte den Kopf und legte ihm den Finger auf den Mund. »Still. Ihr habt gehandelt, als es nötig war. Denkt an alle Helden, von denen Ihr je gehört habt. Denkt an Kräh. Helden denken nicht über das Heldsein nach, sie handeln einfach. Sie sehen, was nötig ist, und tun es. Wisst Ihr, Will, ich habe nie daran gezweifelt, dass Ihr der Norderstett der Prophezeiung seid. Ich könnte mich möglicherweise gefragt haben, ob Ihr dieser Erwartung gerecht werden würdet, aber auch das ist jetzt vorbei.« Sayce seufzte schwer und ihre Lider flatterten. »Es tut mir Leid, ich werde plötzlich so müde. Ich will nicht unhöflich sein.« Will stand langsam auf, nahm ihre Hand, dann legte er sie auf die Bettkante. »Ruht Euch aus.« »Ihr besucht mich doch wieder?« Bei dieser Frage schlug sein Magen einen Purzelbaum. »Natürlich.« »Gut.« Sie lächelte und schloss die Augen. Ihre Lippen bewegten sich, doch Will konnte nicht hören, was sie sagte. So leise wie möglich verließ er die Kammer und betastete die Naht über dem linken Auge. 92 gr hatte sie als Band zwischen sich und Kräh empfunden, aber nun war sie ein Band zu Sayce. Der Gedanke gefiel ihm. Als er weiter darüber nachsann, vermengten sich die Ereignisse mit dem Traum, den er einmal gehabt hatte. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der er als Will Flinkfuß berühmt werden wollte, als König der Düsterdünen. Ein Rivale der Blauen Spinne hatte er werden wollen. Entschlossen hatte diese Ambition sehr zu Recht schon bei der ersten Begegnung verspottet und ihn dann auf eine unglaubliche Abenteuerreise mitgenommen. Er war auf
Vilwan gewesen und hatte Drachen kämpfen sehen. Er war in Okrannel gewesen und hatte mit angesehen, wie ein Aurolanenheer unterging. Er war in Yslin und Meredo gefeiert und geehrt worden. Er hatte Wruona überfallen und der Blauen Spinne ein Fragment der Drachenkrone gestohlen. Und jetzt war er in den Hallen Bokaguls gewesen und hatte eine murosonische Prinzessin vor einer Horde Schnatterfratzen gerettet. Jedes dieser Abenteuer hätte für sich mehr als ein Heldenlied geschmückt. In weniger als einem Jahr hatte er mehr erreicht, als er in seiner Kindheit je erträumt hatte. Wäre er - so wurde ihm jetzt plötzlich klar - erst heute geboren und dann auf dieselbe Weise aufgezogen worden, so wäre nicht die Blaue Spinne sein Held gewesen, sondern Will Flinkfuß. Und doch, da er seine Kinderträume in nicht einmal einem Jahr übertroffen hatte - wie hohl waren sie gewesen. Prinzessin Sayce hatte Recht. Helden dachten nicht darüber nach, was nötig war, um heldenhaft zu sein, und ebenso wenig über vergangene Heldentaten. Und auch wenn manches, was er geleistet hatte, im Nachhinein heldenhaft erscheinen mochte, während er es getan hatte, war es einfach notwendig gewesen. Und was noch wichtiger war: Hätte er nicht getan, was nötig 93 war, hätte das ein anderer der Gefährten übernommen. In der Gesellschaft, in der er sich befand, war nichts von dem, was er leistete, besonders. Will musste schmunzeln, als irgendwo tief drinnen der kleine Junge von einst vor Wut darüber aufschrie, nichts Besonderes zu sein. Die Zeiten sind besonders, und sie fordern viel von uns. Er schaute sich im Coric um und nickte, als Entschlossen hereinkam und Kjarrigan Lombo anherrschte, endlich still zu halten. Qwc flog herüber und landete auf seiner rechten Schulter. »Alles gut, Will?« »Das ist es, Qwc.« Der Dieb lächelte. »Ich bin müde, zerschlagen, genäht und nicht gerade erfreut über die Aussicht eines Winterzugs nach Meredo. Uns stehen schlimme Verwundungen bevor, und ich fürchte, nicht alle von uns werden es überleben.« »Hört sich nicht gut an, nicht für Qwc.« »Ist es aber, Qwc.« Will nickte ernst. »Dafür sorgen meine Gefährten.« 94 KAPITEL NEUN So sehr er sich auch bemühte, General Markus Adrogans konnte nicht verhindern, dass bei der Eroberung der Drei Brüder mehr Blut als Wasser floss. Der Aufbau der drei Zitadellen hatte seit Jahrhunderten alle Angriffe abgehalten, und die meisten von ihnen hatten sich nicht zusätzlich mit bitterer Winterkälte plagen müssen. Auch ohne Schneefall ließ sie den Marsch nach Norden zu einer Qual werden. Adrogans hatte seine Truppen drei Tage vor dem Angriff in Stellung gebracht und mit der Konstruktion einer Belagerungsmaschine begonnen. Er hatte sich für einen Rammbock mit Sturmdach und verstärkten Seitenwänden zum Schutz der Mannschaft entschieden. Das machte die Maschine ungeheuer schwer und langsam, aber falls Darowin über Draconellen verfügte, konnte die robuste Bauweise des Rammbocks vielleicht ein paar Salven standhalten. Die entscheidende Frage war: Überstand er genug Salven, um das erste Eichentor aufzubrechen? Der Jeranser General hatte die Schwarzfedern eingeteilt, die Wachmannschaften unter Beschuss zu nehmen und zu verhindern, dass sie zur Ruhe kamen. Der Fluss war keine Angriffsroute gegen die Drei Brüder, aber die Eisdecke ermöglichte es Beal mot Tsuvo und ihren Truppen, nach Norden an den Festungen vorbei und die Straße hinaufzuziehen, wo sie Hinterhalte für die Verstärkung, die aus dem Norden zu den Drei Brüdern anrückte, legten. Adrogans kuschelte sich in den dicken Pelzmantel, 95 dann zog er den Schal vom Mund und spuckte aus. Der Speichel gefror knisternd, noch bevor er den Boden erreichte. »Wenigstens war Herzog Michails Traum korrekt, was das Wetter betrifft.« Ph'fas schnaubte. »Du verlässt dich zu sehr auf Swarskija und die Königsmannen.« »Falls dieser Plan funktioniert, dann wegen ihrer Leistung.« Adrogans schaute entlang der Straße zurück. Dank der Anstrengungen des gurolschen Felsenherzbataillons rückte der Rammbock langsam aber stetig vor. Die Gurolanen begleiteten die Arbeit mit einem tiefen, rhythmischen Gesang, guttural und bewegend. Mit jeder Strophe wurde er kräftiger. Der Rammbock, der stark an eine überdachte Brücke auf Rädern erinnerte, schob sich vorwärts. Die schweren Räder walzten den Schnee platt, der Rammbock selbst schwang mit jeder Bewegung vor und zurück, nach links und rechts. Die Krieger hatten ihre runden Schilde an die Außenwand gehängt, und die Wappenbilder in Rot, Blau, Grün und Gold verliehen der Maschine ein wildes, kriegerisches Aussehen. Rösser und Reiter der okranschen Königsmannen warteten um die Ecke vor Darowin. Die Pferde stampften und stießen wütend große Dampfwolken aus. Alle Krieger trugen Lanzen. An einigen Spitzen wehten bunte Wimpel. Sie alle waren in schwere Rüstungen gekleidet und nicht leicht zu töten. Trotzdem aber wusste Adrogans, dass viele von ihnen diesen Angriff nicht überleben würden. Reiter, die innerhalb der Zitadelle in die Falle gerieten, hatten keine Überlebenschance, doch er hatte unmöglich Herzog Michails Bitte abschlagen können, die Speerspitze des Angriffs zu übernehmen.
Als der Rammbock allmählich in Sichtweite von Darowin kam, nahm das Treiben auf den Mauern zu. Ein paar Pfeile segelten auf die heranrollende Belage96 rungsmaschine zu, waren aber zu kurz geschossen. Am Fluss trafen ein paar aelfische Bogenschüsse vom fernen Ufer aus den Turm. Ein Schnatterer stürzte mit rudernden Armen hinab in den Schnee, brach aber nicht ein. Die Schneekruste barst unter ihm, ein leichter Nebel aus Pulverschnee stob auf und legte sich über den Kadaver. Ph'fas deutete mit einem Finger auf Darowin. »Sie geben Zeichen.« Die gelbe Fahne über dem vorderen Turm wurde langsam eingeholt, dann stiegen eine rote Fahne und ein schwarzer Wimpel am Mast auf. Am Flussufer meldeten die AElfen mit Signalspiegeln, welche Fahnen auf den anderen Festungen aufgezogen wurden. Waralorsk bestätigte das Signal, indem es die Farbfolge wiederholte, dann zog die Garnison eine grüne Fahne auf. Darowin antwortete durch Senken und erneutes Hissen der rotschwarzen Kombination. Adrogans lächelte. »Rot meldet eine Bedrohung, schwarz bedeutet, sie ist nicht ernst zu nehmen, und Unterstützung wird nicht benötigt. Der Kommandeur Darowins ist zuversichtlich, allein mit uns fertig zu werden. Gut, sehr gut.« Er wandte sich dem Signalmann links von ihm zu. »Er gebe den Schwarzfedern durch, dass sie gegen den Darowin-Flussturm vorrücken sollen.« »Jawohl, General.« Mithilfe der Signalspiegel übermittelte der Soldat den Befehl. Meisterin Gilthalarwin befahl ihren Kriegern, aus dem Unterholz des Ufers zu kommen und als lange Schlachtreihe vorzurücken, die um das Ziel einen Halbkreis bildete. Die Schnatterer feuerten Pfeile auf sie ab. Auch wenn die erhöhte Position den aurolanischen Schützen an sich eine größere Reichweite ermöglichte, machte ihre mangelnde Treffsicherheit diesen Vorteil nutzlos - erst recht gegen den Wind. 97 Der Kommandeur Darowins schickte sofort zusätzliche Truppen über die Verbindungsbrücke in den Flussturm. Die Garnison der Zitadelle musste ungefähr hundert Mann stark sein, und der Flussturm bot genug Raum für den effektiven Einsatz von fünfzig Bogenschützen. Trotz der überlegenen Fähigkeiten der aelfischen Bogenschützen waren ihre Aussichten, gegen den Turm ernsthaft etwas auszurichten, ziemlich schlecht. »Signalmann, die Kriegsfalken.« Der Mann drehte sich und ließ den Spiegel zu dem Berggipfel hoch über den Drei Brüdern aufblitzen. Kein Lichtsignal antwortete, nichts bestätigte den Erhalt der Botschaft. Damit hatte Adrogans auch nicht gerechnet. Statt nach oben zu schauen, blickte er hinüber zum Flussturm Darowins und wartete, vornüber auf das Sattelhorn gestützt. Der erste Gyrkymu, den er sah, flog so schnell, dass der General sicher war, er würde den Sturz nicht mehr rechtzeitig abfangen können. Der geflügelte Krieger hatte die Schwingen fest angelegt und schoss auf den Fluss zu wie ein Selbstmörder, der sich vom Berggipfel gestürzt hatte. Er war nur ein brauner Schemen, bis er plötzlich die Flügel ausbreitete, nach rechts ausbrach, dann nach links, und mit einem schrillen Kreischen am Turmbau vorbeijagte. Er zog plötzlich wieder hoch, rollte in der Luft und glitt zum fernen Flussufer davon. Eigentlich war er bei diesem Flug ein leichtes Ziel, doch im Turm hinter ihm herrschte absolutes Chaos. Der Gyrkymu und seine ihm folgenden Artgenossen trugen Flammhähne, tönerne Ölbehälter mit einem Zündmechanismus, der das Öl entzündete, sobald der Behälter zerplatzte. Die folgende Explosion schleuderte Rauch und Feuerbälle auf. Ein halbes Dutzend Flammhähne traf die Turmspitze und die dort versammelten Bogenschützen wurden 98 augenblicklich zu lebendigen Fackeln. Einige andere verwandelten die Brücke in eine Flammenhölle und schnitten so Rückzug und Verstärkung ab. Eine Gyrkymsu setzte ihr Leben aufs Spiel, indem sie ganz tief anflog und ihren Flammhahn bewusst auf eine Schießscharte im unteren Turmbereich zielte. Offenbar traf der Wurf, denn Flammen schlugen aus den anderen Mauerschlitzen, und auf der entfernten Seite des Turms blieb ein brennender Kadaver in der Schießscharte eingeklemmt hängen. Augenblicklich änderte sich das Flaggensignal auf dem Hauptturm. Schwarz und rot wurden eingeholt und machten zwei langen grünen Wimpeln Platz. Ph'fas kicherte. »Er fordert zwei Legionen Hilfe an. Narr!« Die Königsmannen waren inzwischen weit genug vorgerückt, um von Darowin aus gesehen zu werden, und jauchzten laut, als sie das Signal sahen. Die Gurolanen hatten wohl ebenfalls bemerkt, was geschah, denn ihr Gesang wurde noch lauter und der Rammbock bewegte sich deutlich schneller. Der Gesang weckte neue Kraft, und Adrogans spürte, wie Schmerz darin einstimmte, las das Ziehen in den Muskeln, das Knacken der Sehnen, das scharfe Stechen frierender Zehen. Die Darowiner Ballistas schleuderten ihre Geschosse. Adrogans war erleichtert, sie zu sehen, denn die schweren Pfeile mit den armlangen Spitzen besaßen nicht annähernd die Durchschlagskraft einer einzigen Draconellenkugel. Trotzdem durchschlug ein Teil das Sturmdach, und Schmerz teilte den goldenen Rausch eines von kaltem Stahl aufgespießten Soldaten mit ihm. Einen Pulsschlag lang stockte der Gesang, dann nahmen sie ihn wieder auf, stärker als zuvor, und voller Trotz. Die Königsmannen setzten sich wieder in Bewe-
99 gung, Adrogans aber hob die Hand, um sie aufzuhalten. Er spürte das Drängen im Klirren des Geschirrs und im Zittern der Muskeln, doch er schüttelte den Kopf. »Erst auf mein Zeichen.« Die beiden grünen Wimpel sanken. Als sie wieder aufgezogen wurden, hatte ein dritter sich hinzugesellt. Auf seinem grünen Tuch waren drei weiße Punkte zu sehen. Ph'fas' Augen wurden schmal. »Zauberer.« Adrogans nickte. »Wie wir es erwartet haben.« Der AElfenkundschafter am gegenüberliegenden Flussufer bestätigte, dass Verstärkungen unterwegs waren, einschließlich Vylaenz und eines Kryalnirs. Der Schamane warf den Mantel ab, verschränkte die Finger und hob die so verbundenen Hände mit nach außen gedrehter Handfläche über den Kopf. Die winzigen Amulette, die von seiner ledrigen Haut herabhingen, waren gut zu sehen. Während Ph'fas sonst Ringe aus Gold und anderem Edelmetall trug, hatte er heute kleine, weiß bemalte Steinanhänger angelegt, Knochenstücke und zwei Frostkrallenfedern. Der General grinste. »Bist du bereit?« »Ja.« »Dann bitte.« Ph'fas' Hände teilten sich, blieben aber über seinem Kopf. Die gespreizten Finger zitterten. Sehnen traten hervor, Adern pulsierten direkt unter der Haut. Narben leuchteten auf und wanden sich zu einem Netzwerk, das einer Schneeflocke ähnelte. Sie strahlten weißer als echter Schnee. Dann ballten sich die Hände des Schamanen zu Fäusten. Auf dem Berggipfel ertönte ein hallender Knall. Einen Pulsschlag lang herrschte Stille, danach erhob sich ein leises Grollen. Der Donner wurde schnell lauter, gewaltig, über100 dröhnte den Gesang der Gurolanen, übertönte auch die Schreie aus dem brennenden Turm. Ph'fas war ebenso wie Adrogans mit den Yrün verbunden, aber sein engster Verbündeter war die Luft. Als seine Fäuste sich schlössen, verdichtete sich die Luft auf dem Berggipfel. Sie schlug an mehreren Stellen senkrecht auf den verkrusteten Schnee, trieb ihn in den weicheren, lockeren Pulverschnee darunter. Der Schnee geriet in Bewegung, rutschte schnell über eine tiefer liegende Eisschicht ab. Das Grollen wurde lauter, dann donnerten die Schneemassen in einem weißen Wasserfall abwärts. Schnee, so leicht, dass er aus den Wolken flockig zu Boden sank, schien kaum eine Gefahr, doch jetzt donnerte er schnell und schwer den Berg herab. Tonnenschwer glitt er in einer riesigen Platte talwärts, durchsetzt von riesigen Eisbrocken, entwurzelten Bäumen und vereinzelten Felsen, krachte mit der Gewalt eines Orkans hinab auf die Straße zwischen Waralorsk und Darowin. Die aurolanischen Verstärkungen - alle drei Legionen - wurden Opfer der Lawine. Mehr als drei Mann hoch türmte sich der Schnee auf der Straße, höher als die Mauern Darowins. Die Schneemassen flössen weiter auf den Fluss - und das Eis brach. Der Schnee stürzte in das schwarze Loch und verschwand. Der Rammbock rückte weiter vor und die Schüsse der Darowiner Ballistas kamen schneller. Wieder gab es Tote, doch schon bald trafen die Geschosse aus der Festung nur noch die Mitte, dann das Heck der Belagerungsmaschine. Bogenschützen marschierten über dem Tor auf und feuerten, ihre Pfeile konnten das Sturmdach aber nicht durchschlagen. Adrogans sah das hintere Ende des Rammbocks erst zurückschwingen, dann vor. Der erste Aufprall klang wie das höfliche Klopfen eines Riesen am Tor. Danach 101 hallte ein zweiter Schlag durchs Tal, lauter und kräftiger. Ein dritter, dann ein vierter, wuchtig, dumpf, keinen Widerspruch duldend. Mit genügend Zeit würde das Tor nachgeben. Plötzlich brach auf den Mauern Chaos aus. Schnatterer fielen nach vorne, flogen von den Zinnen und prallten vom Sturmdach des Rammbocks ab. Das Tor öffnete sich, erst zögernd, dann schneller, und der gurolsche Gesang verwandelte sich in eine Kakophonie von Schlachtrufen. Adrogans gab seinem Ross die Sporen. Der Signalgeber und Ph'fas kamen hinterher. Er warf einen Blick zurück zu dem Schamanen. Ph'fas' Haut hatte einen Blaustich, und der alte Mann zitterte, aber seine Augen strahlten hell. Sein Lächeln strahlte noch heller. »Siehst du, Onkel? Es ist geglückt.« Ph'fas nickte. »Das hätten die Shusken auch gekonnt.« »Die Shusken haben es getan. Sie hatten nur Hilfe dabei.« Am Rammbock angekommen, stieg Adrogans ab, zog die Waffe und stürmte durch das Tor. Die Felsenherzen hatten das Tor am anderen Ende der Festung schon erreicht und geöffnet. Ein paar von ihnen rannten hinaus, auf den Schneeberg zu, der die Straße blockierte. Schnatterer lagen verwundet auf der Straße oder versuchten sich an der Schneeoberfläche freizugraben. Die Gurolanen befreiten sie aus ihrem Elend. Der alcidische General Caro erwartete Adrogans, zwar verdreckt, aber mit breitem Grinsen, im Innenhof Darowins. »Es hat perfekt geklappt, mein Fürst. Es ist tatsächlich mehr Blut geflossen als Wasser, aber nur, weil so wenig Wasser geflossen ist.« Die Eroberung der Drei Brüder schaffte im Grunde zwei Probleme. Einerseits musste man die Garnisonstruppen
hinter den Festungsmauern hervorlocken, um 102 sie abzuschlachten. Die Verbindungsstraße bot sich hierfür an. Die Schwarzfedern hätten einen großen Teil des Nachschubs töten können, dazu hätten sie allerdings auf dem Fluss in Stellung gehen müssen. Ohne Deckung konnten sie selbst leicht niedergemetzelt werden. Andererseits musste man unbemerkt bis vor die Festungen anrücken. Zuerst wollte er die Nalisker Bergläufer anweisen, sich vom Massiv abzuseilen, aber auch dann wären sie noch außerhalb der Festungen gewesen und ebenso verwundbar wie Truppen auf der Straße. Solange der Fluss zugefroren war, bestand keine Möglichkeit, Truppen per Schiff zu transportieren, und selbst dann hätten sie noch immer vor den Festungen gestanden. Letztlich hatte Herzog Michail die Lösung geliefert. Seine Nachbauten waren so genau gewesen, dass sie selbst die gemauerten Tunnel zeigten, durch die das Abwasser der Festung in den Swar abfloss. Diese Tunnel waren der Weg hinein - ein Weg, der von vier Schritt Eiswasser blockiert war. Es war mehr Blut als Wasser geflossen, weil fünfzehn Meilen stromaufwärts Shusker Schamanen, deren Yrün das Wasser war, ihre ganze Kraft gebündelt und den Fluss in einen alten Flutkanal umgeleitet hatten. Während der Swar in einen See strömte, waren Caros Aleider Reitergarde, die helurianische Stahllegion und die okranschen Königsmannen unter dem Eis durch das Flussbett zu den Abwassertunneln vorgerückt. Sie hatten sich langsam in die Festungen geschlichen, und dann, als Ph'fas' Lawine ins Tal donnerte, hatten Caros und Michails Truppen Darowin und Waralorsk angegriffen. Ein Mann an der Spitze des Turms rief herunter: »Waralorsk hat einen grünen Legionswimpel gehisst. 103 Die AElfen melden, Verstärkung aus Krakojin ist unterwegs.« »Verstanden.« Adrogans hob die Hand und winkte den Anführer der Truppen, die sich als Königsmannen herausgeputzt hatten, zu sich. »Hauptmann Dmitri, seine Leute sollen den Rammbock hereinschaffen, die Tore schließen und auf Posten gehen.« Der Swojiner nickte, machte kehrt und erteilte seinen Leuten die nötige Befehle. Adrogans schaute zu Caro. »Begeben wir uns nach Waralorsk?« »Nach Euch, mein Fürst.« Gefolgt von Ph'fas wanderten die beiden Generäle über den Schneeberg und hinab zur mittleren Festung. Das kleine Ausfalltor im Südeingang öffnete sich, und die verdreckten Königsmannen winkten sie hastig weiter. Ihr Drängen überraschte Adrogans nicht, denn der grüne Wimpel, der Verstärkung anforderte, war von den Königsmannen gehisst worden, um weitere Aurolanen ins Freie zu locken. Auf Waralorsks Nordwand standen sicher schon Bogenschützen versteckt, um sie abzuschlachten, und darauf freuten sich alle Angreifer. Doch die Königsmannen zeigten keine Begeisterung. »Schnell, Herr General. Der Herzog!« Adrogans trat durch die Tür und folgte ihnen eilends. Sein Führer ging ihm durch Waralorsk voraus. Im Geist lief der General den Weg durch Michails Nachbau. Tief in die Festung, dann aufwärts, immer höher, bis ins oberste Turmgeschoss. Der Soldat deutete auf die Tore zum Quartier des Festungskommandeurs und trat beiseite. Adrogans stieg über den Kadaver eines Kryalnirs und erreichte eine Holzpritsche, auf der Michail aschfahl lag. Auf der dunkelbraunen Kleidung war das Blut zum größten Teil nicht zu erkennen, doch die Hand, die sich der Herzog auf den Leib hielt, konnte die Wun104 de darunter nicht verbergen. Ein brutaler Schwerthieb hatte ihn aufgeschlitzt. Der Jeranser General drehte sich zu Ph'fas um. »Hol mir einen AElfenheiler.« »Nein, General.« Michails Stimme zischte und war kaum lauter als ein Flüstern. »Dafür ist keine Zeit.« Adrogans schaute wieder zum Bett und sah eine Blutspur aus dem Mundwinkel des Herzogs rinnen. Einer der anderen Soldaten im Raum tupfte sie mit einem roten Tuch ab. »Wir haben die Türme erobert. Euer Plan hat ist aufgegangen.« Der sterbende okransche Adlige nickte. »Ich weiß. Es war so, wie ich es geträumt habe.« Adrogans kniff die Augen zusammen. »Habt Ihr auch ...« »Das geträumt? Nein.« Er schnaubte schwach. »Ich bin weder so tapfer, noch so dumm, dass ich mich darauf eingelassen hätte. In meinem Traum haben wir gewonnen. Und wir haben gewonnen. Dann war der Traum vorbei. Jetzt ist mein Leben vorbei.« Von draußen erklang das Brüllen der Bogenschützen, als sie aus der Deckung auftauchten und die anrückenden frischen Truppen niedermetzelten. Ihr Gebrüll war das Signal für die noch versteckten Königsmannen und für den Fall Krakojins. Michail lächelte. »Ihr werdet Swarskija erobern, General. Ich weiß es.« »Ihr werdet dabei sein.« »Nein. Nein, das werde ich nicht. Aber ich werde zusehen.« Michails Augen wurden groß, er biss die Zähne zusammen, als ihn ein Krampf schüttelte. Frisches Blut lief ihm aus dem Mund. »Einen Gefallen.« Adrogans lehnte sich näher, weil die Stimme des Okraners schwächer wurde. »Sprecht.« »Sagt Alexia, dass Träume wahr werden. Sagt ihr, sie soll ihren Träumen vertrauen.« 105
»Das werde ich, mein Freund. Das werde ich.« Noch ein Krampf schüttelte Michail, dann wurde sein Körper schlaff. Adrogans streckte die Hand aus und schloss ihm die Augen. Er sprach ein stummes Gebet für ihn, während Schmerz ihm die Krallen in den Magen schlug. Er zuckte zusammen, dann schaute er zu den anderen Königsmannen auf, die um die Pritsche standen. Sie wirkten bedrückt, und jeder von ihnen hätte sichtlich sein Leben für das des Herzogs gegeben, ohne eine Sekunde zu zögern. Sie halten seinen Tod für ihre Schuld. Er legte Stahl in seinen Blick und Feuer in die Stimme. »Ich will nicht schlecht von Herzog Michail sprechen, doch er hat gelogen. Er war ein mutiger Mann, der Mutigste von allen, denn nur der Mutigste konnte Waralorsk erobern.« Er zögerte einen Moment, als Michails Männer aufblickten und blinzelten. Er wartete, bis sie begreifen konnten, was er sagte, und erst, als er sich dessen sicher war, sprach er weiter. »Der Herzog hat seinen Tod vorausgesehen, wusste jedoch, er war das Opfer, das allein die Drei Brüder bezwingen konnte. Er wusste, dieser Sieg würde uns Swarskija schenken. Niemand soll glauben, sein Tod sei zu verhindern gewesen. Er hat sich für uns alle geopfert. Für Okrannel. Eure Pflicht ist es, die Wahrheit über seinen Tod zu verkünden, damit man noch in Jahrhunderten die Lieder von seinem Mut singt.« Die drei Königsmannen im Zimmer nickten, dann schaute einer von ihnen Adrogans an. »Das ist unsere heilige Pflicht, General.« »Dann überlasse ich den Herrn der Drei Brüder Eurer Obhut.« Adrogans nickte noch einmal und verließ die Kammer. Ph'fas holte ihn nach wenigen Schritten ein. »Warum lügst du für einen Toten?« 106 »Habe ich gelogen, Onkel? Oder hatte Michail diesen Teil seines Traums nur vergessen?« Adrogans' Augen wurden schmal. »Die Erinnerung an ihn wird sie weiter treiben, als er es lebend je gekonnt hätte. Er wollte Swarskija befreit sehen, und auf diese Weise werden wir sein Ziel erreichen. Er hat alles für seine Sache gegeben, und wir wollen sicherstellen, dass diese Mühe auch den gewünschten Erfolg hat.« 107 KAPITEL ZEHN Für einen Augenblick der Unschuld, wie er kürzer nicht hätte sein können, ging Alyx das Herz auf, als sie das strahlende Caledo vor sich liegen sah. Die Stadt aus weißem Stein erhob sich auf der winterlichen Ebene - wie aus Schnee geschaffen. Hohe Türme ragten stolz über den Ecken der achtseitigen Stadtmauern auf, stämmig und in alabasterweiße Haut gehüllt. Innerhalb der Mauern erhoben sich vier weitere Türme, schlank und sanft gebogen, mit hohen Brückenbögen verbunden. Hinter der Stadt glitzerte der Calessasee unter einer Decke von Eis und Schnee. Von den Bergkuppen östlich der Stadt aus betrachtet störten nur zwei Dinge die weiße Pracht: einmal zwei schwarze Felsen in der Nähe des östlichen Stadttors. Alyx hatte gehört, dass murosonische Magiker sich an solchen Steinmalen zum Duell gegenübertraten. Sie hatte diesen Berichten aber keinen Glauben geschenkt. Nun standen sie dort, hoch, tiefschwarz und wuchtig. Der scharfe Gegensatz zur Stadt, sowohl in Farbe wie in Form, machte sie bedrohlich und fehl am Platz. Für Alyx wirkten sie weniger wie ein Zeichen der Macht Murosos, sondern eher wie ein Vorbote des Ansturms Kytrins. Das zweite störende Element war beruhigender. Bunte Banner in Rot und Blau, Grün und Gelb, Violett und Gold hingen aus den Turmfenstern. Wimpel knallten und flatterten lang und hell auf den Turmspitzen. Alyx zügelte das Pferd und betrachtete Caledo, die 108 Stadt und die weite Ebene, auf der sie lag. Sie prägte sich jede Einzelheit ein. Die Majestät der Stadt, ihre sanfte Stärke und die makellosen Mauern. Sie erfreute sich an der Abwesenheit von Aasvögeln und genoss den Frieden der Seeuferstadt. Schnee knirschte unter den Hufen von Krähs Pferd, das neben ihr hielt. »Ein atemberaubender Anblick.« Sie nickte lächelnd. »Ich fürchte, angesichts dessen, was bevorsteht, wird dieses Caledo nur in unserer Erinnerung überleben.« Kräh seufzte und eine Atemwolke stieg auf. »Ob wir siegen oder unterliegen, Kytrins Invasion wird die Welt verändern.« Sie nickte traurig. Sie hatten es in Bokagul gesehen, wo der Schock der Invasion die urSreiöi erschüttert hatte. Sie hatten sich in ihrer Bergfestung unangreifbar gewähnt, doch dieser Irrglaube war ihnen für alle Zeiten genommen. Und auch wenn man unter sich noch heftig stritt, wie viele Truppen man den Südlanden zu Hilfe schicken sollte, war die Entschlossenheit zu handeln doch allen gemeinsam. Schon patrouillierten erste kleine Einheiten durch die Bokaberge und Boten waren unterwegs nach Sarengul, um die anderen Kolonien zu warnen. Alyx war sicher, die BokaSreiöi würden zur Verteidigung Caledos Krieger schicken, denn schließlich war es Prinzessin Sayce gewesen, die sie nach Bokagul gebracht hatte. Ich kann nur hoffen, sie treffen rechtzeitig hier ein. Die urSreiöi hatten sich bei Kjarrigan und den anderen für die Hilfe beim Widerstand gegen die Nordlandinvasion großzügig bedankt. Durch ihre gestalt-wandlerischen Fähigkeiten hatten sie selbst zwar keine Verwendung für Waffen und Rüstungen, trotzdem bewiesen ihre Metallschmiede eine beachtliche
Kunstfertigkeit bei deren Herstellung. Alyx hatte einen breiten Säbel mit verstärktem Heft und leichter Krümmung er109 halten, der schier unglaublich leicht in der Hand lag. Der Stahl, verziert mit einem Spiralmuster, war sehr biegsam, die Schneide blieb immer scharf genug, eine herabschwebende Feder zu spalten. Die murosinischen Truppen ebenso wie die Freie Kompanie hatten leichte Kettenhemden erhalten, die weniger wogen als Seide. Die urSreiöi-Schmiede hatten Entschlossen neue Klingensterne geschmiedet, die er unter äußerst zaghaftem Protest angenommen hatte. Die anderen hatte er sonst immer in den Kadavern stecken gelassen. Diese hier würde er wieder einsammeln müssen. Trotz des Murrens konnte man ihm ansehen, dass er sich freute. Peri hatte einen geflügelten Helm bekommen, leicht genug, um ihn beim Fliegen zu tragen, Kräh einen Satz Pfeile mit breiten Stahlspitzen, hart genug, einen Drachenpanzer zu durchschlagen. Und zusätzlich zu seinem leichten Kettenhemd hatte Will goldene Armschienen erhalten, in die je ein Saphir - so groß wie sein Daumen - eingelassen war. Prinzessin Sayce, Kjarrigan und Bok waren mit einzigartigen Geschenken geehrt worden. Für die murosonische Prinzessin hatten die urSreiöi eine silberne Maske als Ersatz für die lederne gefertigt, die sie getragen hatte, als sie verletzt worden war. In die linke Seite der Maske war zur Erinnerung an die violette Prellung ein Amethyst eingelassen. Trotz der Kälte wollte Sayce die neue Maske auf dem Ritt tragen, und es ließ sich nicht bestreiten, dass sie ihr großartig stand. Kjarrigan hatten die urSreiöi einen Zauberstab verehrt, der aus einem einzigen langen Kristall bestand, der an beiden Enden mit einem goldenen Ring abgeschlossen war, in den ein Dutzend Edelsteine eingelassen waren. Wenn er ihn benutzte, leuchteten einzelne Steine auf, und ihre Farben flössen durch den Stab und in die sichtbaren Effekte der Zauber, die solche Nebenwirkungen besaßen. Alyx hatte keine Ahnung, was das 110 bedeuten mochte, doch Kjarrigan schien begeistert, und das war ihr genug. Bok hatte das erstaunlichste Geschenk von allen erhalten. Seine Gegenwart hatte den urSreiöi Unbehagen bereitet. Sie hätten es vorgezogen, ihn überhaupt nicht zur Kenntnis zu nehmen, doch sie konnten nicht übersehen, dass er Sayce bei der Schlacht in Sicherheit gezerrt hatte. Nach langer Beratung hatten sie die Nachsilbe Bok aus seinem Namen gestrichen. Damit war er genau genommen wieder in die Zwergengesellschaft aufgenommen. Trotzdem hatte man seine Entscheidung, nicht in Bokagul zu bleiben, sondern Kjarrigan nach Nordwesten zur Hauptstadt Murosos zu begleiten, mit Erleichterung gehört. Der Ritt aus dem Bokamassiv durch die Mittelgebirge nach Caledo hatte sechs Tage gedauert. Die Schneestürme hatten in dieser Zeit nachgelassen, doch der bereits gefallene Schnee war schon hinderlich genug gewesen. Gelegentlich waren sie urSreiöi-Streifen begegnet, und einmal hatten sie die letzten Kampfhandlungen eines urSreiöi-Hinterhalts gegen aurolanische Deserteure miterlebt, aber davon abgesehen war nichts von Interesse passiert, und auch sie hatten niemandes Interesse auf sich gezogen. Eine Kompanie von Sayces Lanzers galoppierte an Alyx und Kräh vorbei auf die Stadt zu. Einer der Soldaten hatte den persönlichen Wimpel der Prinzessin an die Lanze gebunden und hielt ihn hoch erhoben. Alyx hatte nichts davon erwähnt, dass Sayces Vater ihren Ritt nach Süden nicht genehmigt hatte. Dass sie diese Abteilung nun vorausschickte, um ihre Rückkehr anzukündigen - und die Ankunft des Norderstett -, mochte die Reaktion des Königs mildern. Alyx trieb das Pferd wieder vorwärts und hinter den Soldaten her den letzten Abhang hinab. »Wie lange, glaubst du, wird es dauern, bis die Aurolanen eintreffen und die Stadt belagern?« 111 Kräh schüttelte den Kopf. »Das ist unmöglich zu sagen, aber alles deutet doch eher auf früher denn auf später hin. Dass Kytrin Truppen gegen Bokagul in Marsch gesetzt hat, bedeutet vermutlich, dass Sarengul schon neutralisiert ist. Das sichert ihre Flanke und verstärkt den Druck auf Swindger. Sie kann sich alle Zeit lassen, Muroso zu erobern. Von hier aus stehen ihr ein Dutzend Wege nach Süden offen, und all das lange vor dem Sommer, wenn der eigentliche Krieg beginnt.« Die Prinzessin hatte insgeheim gehofft, Kräh würde einen Schwachpunkt ihrer eigenen Gedanken aufdecken, doch Kytrin isolierte die Länder des Südens nacheinander und überfiel sie dann einzeln. Und kein Reich hatte ohne Hilfe der anderen eine Chance gegen die geballte Macht ihrer Nordlandhorden und Draconellen. Je weiter die Aurolanen nach Süden vordrangen, desto bevölkerungsreicher wurden die Länder, die sie überfielen. Das bedeutete aber nur, dass die Flüchtlingsströme in den Rest des Südens immer größer wurden. Alyx schüttelte den Kopf. »So wunderschön diese Stadt ist, sie ist völlig ungeeignet, Kytrin standzuhalten. Die Draconellen sind dafür gemacht, Mauern wie diese dort zu zerschmettern. Die Türme werden unter ihrem Beschuss einstürzen. Die Murosonen sind berühmt für ihren Mut, aber Widerstand ist hier völlig zwecklos.« »Wollen wir hoffen, dass König Bomar vernünftiger ist als seine Tochter. Ich habe da aber so meine Zweifel.« Kräh zuckte die Achseln. »Trotzdem gibt es Möglichkeiten für uns, Kytrin zu bremsen. Für uns ist es doch schon ein Sieg, uns mehr Zeit zu erkämpfen.« Noch bevor die Lanzerabteilung die Stadt erreicht hatte, öffnete sich das Osttor und eine größere Reiterabteilung kam ihr entgegen. Die beiden Gruppen, die kleinere in Rot, die größere in Blau, vermischten sich kurz, dann ritt der Hauptteil der größeren Truppe wei-
112 ter ostwärts auf Alyx und die anderen zu, während die Lanzers mit einer Eskorte in die Stadt weiterzogen. Prinzessin Sayce trabte an Alyx' freie Seite. »Das sieht nicht gut aus. Mein Bruder führt die Reiter an. Überlasst das Reden mir.« Das leichte Beben in Sayces Stimme amüsierte Alyx. »Gern.« Schnee stob unter den Hufen der Pferde auf und wurde vom Wind davongeweht, als die Reiter näher kamen. Ein großer, schlanker Mann in schwerer Fellkleidung - zum Schutz gegen die Kälte - schob sich an die Spitze. Der Wind fing sich in der Kapuze seines Mantels, blähte sie erst auf und trieb sie dann nach hinten. Langes braunes Haar wehte auf. Die Maske, die er trug, war ebenso groß wie die, die Sayce getragen hatte, doch statt rot oder auch nur blau, wie die Uniformen seiner Einheit, war sie schwarz. So schwarz wie die Magikersteine am Stadttor. Der Mann zog an den Zügeln und parierte sein Pferd zum Schritt durch. Er hob eine behandschuhte Hand zum Gruß. »Willkommen, Reisende. Ich bin Prinz Murfin vom königlichen Haus Murosos. Ihr dürftet Alexia von Okrannel sein?« Alyx nickte, überrascht, dass er nicht mit seiner Schwester sprach. »Die bin ich. Dies ist Kedyns Krähe. Prinzessin Sayce kennt Ihr wohl.« »In der Tat. Es ist ein Vergnügen, Euch beide kennen zu lernen.« Er beachtete Sayce überhaupt nicht, die sehr still geworden war und sich auch kaum rührte. »Mein Vater, König Bomar, bietet Euch seine Gastfreundschaft an und seinen Dank dafür, dass Ihr eine widerspenstige Tochter heimgebracht habt.« Bevor Alyx antworten konnte, ritt Will heran. »Sie hat eher uns hierher gebracht als andersherum.« Der Prinz lächelte, fast, als hätte er einen solchen Kommentar erwartet. »Und Ihr werdet der Norderstett sein.« 113 »Bis sich ein Besserer findet.« Will lenkte sein Ross vor, bis er Murfins Blick auf dessen Schwester teilweise verstellte. »Ich habe eine Freie Orioser Kompanie mitgebracht, um für Muroso zu kämpfen.« »Euer Beitrag ist höchst willkommen. Sie können sich den anderen Oriosen hier anschließen. Wir sind für Eure Hilfe dankbar.« Einen Moment lang wurde das Lächeln des Prinzen breiter. »Es ist eine große Ehre, Euch alle hier zu sehen, und in Caledo ist ein Empfang vorbereitet. Hauptmann Twynam hier wird Euch in die Stadt und zu Euren Unterkünften führen. Sobald Ihr Gelegenheit hattet, Euch auszuruhen, möchte mein Vater Euch willkommen heißen.« Alyx nickte. »Wir werden erscheinen, sobald er es wünscht.« »Großartig.« Murfin schaute zu Sayce. »Schwester, begleite mich zurück.« Sie nickte und setzte das Pferd in Bewegung. Will wollte folgen, doch sie legte die Hand auf seinen Arm. »Nein, Will, bleibt bei den anderen.« »Aber ...« Will blickte von ihr zu ihrem Bruder und wieder zurück. »Ihr solltet Euch nicht allein in Schwierigkeiten begeben.« »Dieser Gedanke ist alles an Begleitung, was ich benötige.« Sie beugte sich zu ihm hinüber und hauchte einen Kuss auf seine Wange. »Ich wusste von dem Augenblick an, als ich losritt, dass dies geschehen würde. Wir werden uns früh genug wieder sehen.« Mit einem leichten Fersendruck in die Flanken des Pferdes ritt sie los und ein Stück an ihrem Bruder vorbei. Er setzte ihr mit wehendem Mantel nach und hatte sie schnell eingeholt. Keiner der beiden Reiter wurde langsamer, sie versuchte allerdings auch nicht, ihm zu entkommen. Alyx glaubte sogar, Gelächter im Wind zu hören, aber sie war sich nicht sicher. Will knurrte leise: »Dieser Murfin gefällt mir nicht.« 114 Kjarrigans Antwort war ebenso leise. »Dann hast du ihn bemerkt?« »Was bemerkt, Kjar?« »Den Zauber.« Der Vilwaner Magiker verlagerte das Gewicht'. »Ich hätte ihn fast übersehen. Murosonische Magik fühlt sich eigentümlich an, aber er hat einen Spruch über uns alle geworfen, als er kam.« Kräh drehte sich um. »Wann?« »Als er die Hand zum Gruß hob. Es erfordert eine ziemliche Durchtriebenheit, das eine zu sagen und gleichzeitig etwas anderes zu zaubern.« Kräh runzelte die Stirn. »Was für eine Art Spruch?« »Einen Moment.« Kjarrigan schloss die Augen, hob die rechte Hand vom Sattelhorn und bewegte die Finger in einem seltsamen Muster. »Ich bin mir nicht ganz sicher, aber es könnte ein Diagnosezauber gewesen sein.« Alyx hob die rechte Braue. »Hat er nachgesehen, ob seine Schwester verletzt ist?« Kjarrigans Augen öffneten sich weit. »Das könnte es sein, ja.« Sie lachte. »Sehr verdächtig.« »Es gefällt mir trotzdem nicht«, schnaufte Will. »Er war ganz und gar nicht nett zu ihr. Sie sollten ihr dankbar sein.« Kräh zwinkerte ihm zu. »Sie müssen nicht unbedingt wütend auf sie sein. Möglicherweise waren sie nur besorgt.« »Na, wenn sie ihr irgendetwas tun, dann ...«
»Dann was, Will?« Der Dieb seufzte, als er Krähs Frage hörte. »Es ist nicht recht, bei leeren Drohungen nachzufragen. Ich hoffe nur, es geht ihr gut.« »Das wird es bestimmt.« Kräh drehte sich wieder nach vorne, trotzdem sah Alyx sein wunderbares Lächeln. »Deiner Freundin wird nichts geschehen, Will. Du wirst sehen.« 115 Hauptmann Twynam führte die Gefährten in die Stadt und weiter zu den vier Zentraltürmen. Die beiden östlichen Türme waren ein Gebäude, der Königspalast, während die beiden anderen von der Magischen Akademie Caledos und als Gildenhaus benutzt wurden, in dem die meisten Gilden und Zünfte des Reiches Büros unterhielten. Sie ritten durch die Tore des Palasts und drehten dann nach links zum Südturm. Dienstboten nahmen die Pferde in Empfang und brachten sie in die Stallungen, während andere die Reisenden zu ihren Räumen führten. Alyx und Kräh mussten sich trennen, da er woanders einquartiert war als sie. Sie verabschiedete sich mit einer stummen Geste, dann folgte sie einer Frau mittleren Alters mit rosigen Wangen eine Wendeltreppe hoch zu einer kleinen Suite. Der Wohnraum lag nach Osten, mit einer Schlafnische an der linken Seite, komplett mit einem riesigen Himmelbett, auf dem sich die Steppdecken türmten. Rechts schloss sich ein Waschraum mit Toilette an. Ein Faltschirm, mit Jagdszenen bemalt, sorgte in diesem Bereich für Privatsphäre. Als sie den Raum betraten, stand eine schlanke Frau, etwas kleiner als Alyx, im Zimmer. Die Dienerin keuchte auf und sank augenblicklich mit gesenktem Kopf auf ein Knie. »Bitte untertänigst um Verzeihung, Hoheit. Ich hatte keine Ahnung.« Die Frau schüttelte den Kopf. »Macht nichts, Meg. Sie lasse uns einen Augenblick allein. Vielleicht möchte Prinzessin Alexia etwas essen?« Alyx bemerkte einen Hauch von Vertrautheit in den Worten. »Im Augenblick habe ich keinen Hunger.« »Auch gut.« Die Züge der Frau waren schärfer als die von Sayce, aber die Familienähnlichkeit war nicht zu übersehen. Sie wartete, bis die Dienerin gegangen war, bevor sie lächelte. »Willkommen, Prinzessin Ale116 xia. Ich bin Dayley. Ich habe das Gefühl, Euch schon einmal begegnet zu sein.« Alyx nickte und wusste sehr gut, dass dies die Frau war, die sie beim letzten Besuch in der Kommunion kennen gelernt hatte. »Schön, es auch hier zu tun.« Die okransche Prinzessin reichte Dayley die Hand und wurde mit einem festen, warmen Händedruck belohnt. Sie schüttelten einander dreimal die Hände, aber bevor sie loslassen konnte, geschah etwas Seltsames. Alyx fühlte, wie sie sich verschob - ein anderes Wort dafür gab es nicht -, als ob sie in die Kommunion wechselte. Trotz dieses Gefühls blieb sie, wo sie war, im Südturm, bei Dayley. Doch sie waren nicht allein. Östlich von ihnen erschien eine wunderschöne Frau mit schneeweißem Haar und sanftem, unschuldigem Ausdruck. Ihre Augen erregten sofort Alyx' Aufmerksamkeit, denn obwohl die Gestalt durchscheinend war, glitzerten sie silbern. Ihr Mund bewegte sich, Alyx fing Wortfetzen auf. »...- Kesh, die Lage hier ... siegreich ... Verluste ...« Sie sagte noch mehr, aber die Lautstärke wogte auf und ab. Zudem erreichten die Worte sie manchmal langsam und dröhnend, manchmal schnell und zwitschernd. Sobald sie die Hände voneinander lösten, verschwand die Erscheinung. Die beiden Frauen schauten einander an, dann nahmen sie sich wieder bei der Hand, doch diesmal geschah nichts. Dayley runzelte die Stirn. »Ihr habt es natürlich auch gesehen. Was war das?« Alyx schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.« Sie schauderte. Dayley bemerkte es am Zittern ihrer Hand. »Etwas beunruhigt Euch, Alexia. Was ist es?« Die okransche Prinzessin verzog besorgt das Gesicht. »Kesh kann sich nur auf Nefrai-kesh beziehen, Kytrins 117 General. Hat sie mit ihm gesprochen? Ihn gewarnt? Etwas in dieser Art?« Dayley nickte und gab Alexias Hand frei. »Eine logische Vermutung, aber das war nicht der Grund für Euer Zittern. Was war es?« Alyx bewegte unbehaglich die Schultern. »In Meredo hat Will jemanden gesehen. Jemanden, von dem er sagt, sie habe ihm das Leben gerettet. Seine Beschreibung passt auf die Person, die wir gerade gesehen haben.« »Eine mit Nefrai-kesh im Bunde stehende Frau hat dem Norderstett das Leben gerettet?« »So scheint es.« Dayley seufzte tief. »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ob es eine gute Nachricht ist oder eine schlechte. Vielleicht bekommen wir Gelegenheit, es herauszufinden, falls uns die Götter gnädig sind.« 118 KAPITEL ELF Kjarrigan schreckte hoch. Bok presste ihm eine schwielige Hand auf den Mund und unterdrückte so einen Aufschrei. Der Magiker zerrte an der Hand, richtete aber nichts aus. Die Hand des urZreö blieb - ein, zwei Momente länger als nötig - wo sie war, dann zog er sie endlich zurück, als Kjarrigan aufhörte, gegen ihn
anzukämpfen. Der junge Magiker blinzelte. Seine Augen brannten. Er hatte nicht einschlafen wollen. Er hatte sich nur kurz auf dem Bett ausgestreckt, während Bok das Gepäck holte und den Inhalt einräumte. Er erinnerte sich noch, gegähnt und für einen Moment die Augen geschlossen zu haben ... Dann hatte der Druck von Boks harter Hand auf dem Mund ihn aufgeweckt. Rym Ramoch stand am Fußende des Bettes und schüttelte den Kopf. »Ich sagte >Weck ihn auf, BokErschreck ihnPrinzessin, ich kann ihn nicht behalten.« Will 130 schluckte mühsam und konnte kaum glauben, was er sich sagen hörte. Hätte er den Ring gestohlen, hätte er sich als rechtmäßigen Eigentümer betrachtet und bis ins Grab geschworen, er sei ihm über Generationen von Vorfahren vererbt worden, und die bloße Andeutung, er könnte ihn unrechtmäßig in seinen Besitz gebracht haben, wäre eine tödliche Beleidigung. »Bitte, ich eigne mich nicht zum Gutsherren.« Sayce lächelte. »Ihr seid weit edler als geborene Adlige. Das habe ich selbst gesehen. Ihr habt mein Denken verändert, wisst Ihr.« Sie verlagerte das Gewicht und ihr Lächeln wurde breiter. »Und jetzt, in meiner Verzweiflung, bringt Ihr mich zum Lachen. Bei Euch fühle ich mich ... Ich fühle mich wohl.« Sie drückte seine Hände. »Danke.« »Ich habe nichts ...« Will verstummte kurz, fand keine Worte. Doch da war noch mehr. In seinem Bauch schienen Schmetterlinge zu flattern. Ihm wurde heiß, er fühlte die Wangen brennen. Sein Mund war wie ausgetrocknet. Er stand langsam auf, zog die Hände aus ihrem Griff, gleichzeitig widerwillig und irgendwie in dem Bewusstsein, dass es sein musste. Er drehte sich wieder zu dem Tablett um. »Möchtet Ihr etwas Wein, Prinzessin? Es gibt allerdings nur einen Becher.« Ihre Antwort war sanft. »Es wäre mir eine Ehre, falls Ihr bereit wärt, Euren Becher mit mir zu teilen.« Will nickte stumm und goss ein. Es passte ihm gar nicht, dass seine Hände dabei zitterten, und er versuchte, sich
zusammenzureißen. Er stellte den Krug wieder ab, drehte sich um und streckte die Hand aus, um ihr den Becher zu reichen. Sie nahm ihn nicht. Stattdessen griff sie sich an den Hinterkopf und löste den Knoten, der die silberne Maske hielt. Sayce nahm sie zaghaft ab und schaute zu ihm auf. »Will, findet Ihr mich hübsch?« 131 Er konnte nichts sagen. Die Prellung auf der linken Gesichtshälfte war zu einem gelblichen Fleck verblasst, konnte ihrer Schönheit aber nichts anhaben. Die gerade Nase, die hohen Wangen und das starke Kinn in Verbindung mit den blauen Augen, der weißen Haut und dem roten Haar machten sie zu einem Bild der Schönheit. Er hatte schon einen Großteil ihres Gesichtes gesehen, als sie, nur von der Höflichkeitsmaske geschützt, in Bokagul genesen war, die Spitze hatte jedoch die Sommersprossen auf dem Nasenrücken und der oberen Hälfte der Wangen verdeckt. Sie senkte sofort den Blick. »Ihr braucht nicht zu antworten. Euer Schweigen spricht Bände.« »Nein, wartet, Prinzessin ... Nein.« Will sprang auf, der Wein schwappte über. Ihr Kleid blieb unversehrt, durchnässte aber seinen eigenen Ärmel. Und dann war sie bei ihm, legte die rechte Hand über seine linke, sanft, aber bestimmt, und hielt den Becher. Ihre linke Hand fand seine Rechte. Ihre Finger verschränkten sich und sie hob sie an die Lippen. Sie küsste seinen Handrücken. Mehrmals. »Prinzessin ...« Ihre Stimme klang erstickt. »Will, du hast mir das Leben gerettet. Du wirst meine Heimat retten. Du hast mir eine neue Sicht auf mein Leben und die Welt geschenkt. Ich bin nach Meredo aufgebrochen, um jemanden zu holen, der die Welt rettet, die ich kenne. Und ich habe jemanden gefunden, der mir eine völlig neue Welt eröffnet hat.« Sie nahm ihm vorsichtig den Becher aus der Hand und trank. Sie lächelte, dann küsste sie ihn. Er schmeckte den Wein. Ihr Haar strich ihm übers Gesicht, ihr Leib presste sich an den seinen. Der Wein, ihr Duft, die sanfte Berührung des Stoffs an seinen Beinen, selbst der Druck des Gürtelknotens, all das verschmolz 132 mit der Berührung ihrer Lippen und drohte, ihn zu überwältigen. Will legte ihr den linken Arm um die Taille und zog sie fester an sich. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit war ihm nicht mehr kalt. Er fühlte sich kampfbereit. Und als ihre Oberschenkel sich berührten, konnte ihr seine Reaktion nicht verborgen bleiben. Ihm erschien all dies zwar plötzlich, aber ganz und gar passend. Er war ein Held. Sie war eine bildschöne Prinzessin. Er hatte ihr das Leben gerettet. Er würde ihre Heimat retten. Wie hätte sie ihn nicht lieben können, ihn nicht begehren, ihm ihre Dankbarkeit nicht beweisen wollen? Das alles gehörte sich so. In Hunderten, wenn nicht Tausenden von Balladen waren solche Vereinigungen besungen worden, und ganz sicher gehörten sie auch in die Lieder über Will Flinkfuß, den König der Düsterdünen. Noch während er ihre Zuneigung als sein Recht empfand, wurde in ihm leiser Widerspruch wach. Er wusste inzwischen, dass sein Leben kein Lied war. Gut, er hatte ihr das Leben gerettet, und sie gefiel ihm, aber welchen Grund gab es für sie, ihn zu lieben? Weil er gut zu seinen Leuten war? Weil er zu ihrer Verteidigung sein Blut vergossen hatte? All das ließ sich über zahllose andere auch sagen, von denen die weitaus meisten Bürger Murosos waren. Das war Unfug, aber die Gefühle und das Verlangen, die durch seinen Leib wogten, ließen ihm keine Zeit zum Nachdenken. Ihr Kuss wurde leidenschaftlicher, und sie bewegten sich vom Kamin fort zum Bett, ohne einander loszulassen. Wie der Becher auf den Nachttisch kam, hätte Will nicht erklären können, aber mit der frei gewordenen Rechten strich sie ihm durchs Haar. Die Finger dufteten nach vergossenem Rebensaft. Sie spannten 133 sich, zerrten sein Kinn leicht hoch, und dann küsste sie ihn am Hals und unter dem linken Ohr. Danach schlug ihm das Bett in die Kniekehlen und er kippte nach hinten. Er wollte sich aufsetzen, doch Sayce drückte ihn mit einer Hand auf dem Bauch zurück. Als er sich entspannte, zog sie die Hand zurück und streifte das Kleid über den Kopf. Bis auf die weiße Seilschlaufe um die Taille nackt, stand sie vor ihm. Er hatte sie schon vorher für bildschön gehalten, doch ihr nackter Anblick raubte ihm den Atem. Zarte Brüste mit leichten Sommersprossen und knospenden Brustwarzen. Ihre sahneweiße Haut wirkte von den kräftigen Schultern über die schmale Taille bis zu den ausladenden Hüften beinahe durchscheinend. Sie hob das linke Knie auf die Bettkante, und er bestaunte das Muskelspiel am Oberschenkel. »Gefalle ich Euch, mein Fürst?« Will nickte. Feuer schoss durch seinen Leib. »Sehr sogar, Prinzessin.« »Gut. Es ist mein Wunsch, Euch noch weit mehr zu Gefallen zu sein.« Mit unfassbarer Vorsicht und Zartheit löste sie seine Kleidung und bedeckte die bloße Haut mit Küssen und Liebkosungen. Sie drückte ihn nach hinten, als sie zu ihm aufs Bett stieg - auf ihn stieg - und ihn erneut mit Küssen bedeckte. Sie bewegte sich an ihm rauf und runter, ihre Finger, ihr Haar, ihre Lippen, ihre Zunge
brachten sämtliche Fasern seines Leibes zum Kochen. Und dann führte sie ihn in sich ein und ihre Hüften senkten sich auf ihn herab. Sayce küsste ihn hart und tief, drang in seinen Mund ein, stahl ihm den Atem, während ihr Körper vor und zurück schaukelte, ihre Hüften sich hoben und senken. Manchmal verriet sie das Verlangen ihres Leibes und steigerte 134 das Tempo, doch sobald sein Atem stoßartig wurde, wurde sie langsamer, dann verwandelte sich Hast in flüssiges Gleiten. Sie bewegte sich mit ihm und gegen ihn. Ihre Leiber glitten übereinander und aneinander entlang, und schnell glänzte beider Haut vor Schweiß. Schließlich, nach einer viel zu schnell endenden Ewigkeit, konnte Will sich nicht mehr zurückhalten. Sayce drückte sich noch fester an ihn und saugte noch stärker an seinem Hals, während ihr eigener Leib bebte. Sein Stöhnen vermischte sich mit dem ihren, er spürte ihren heißen Atem auf dem Hals, und die Vibrationen ihrer Stimme waren ein Echo seines hämmernden Pulsschlags. Sie lagen nebeneinander. Ihr heftiges Keuchen verklang langsam zu einem leichten, ruhigen Atmen. Irgendwann schlief Will ein. Er wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte, aber als er wieder aufwachte, schlief Sayce ebenfalls, rechts an ihn gedrückt, die Decke war über beide gezogen. Als er versuchte aufzustehen, kuschelte sie sich enger an seine Seite und murmelte etwas. Will verstand nicht, was sie sagte, aber der Ton und die warme Liebkosung ihres Atems auf der Brust lullten ihn wieder ein. Kurz vor Morgengrauen weckte Sayce ihn mit einem Kuss und legte ihm dann die Finger auf die Lippen. »Mein lieber, liebster Will, ich muss gehen. Ich hatte nicht vor, die ganze Nacht zu bleiben, aber ... aber ich habe es nicht über mich gebracht, eher zu gehen.« Er küsste ihre Finger. »Dann bleib.« »Nein, Will, ich kann nicht. Falls mein Vater erführe, dass ich bei dir war ... O nein, Will, das ist es nicht. Ich sehe in deinen Augen, dass du verletzt bist. Nein, mein Vater hat ungeheuren Respekt vor dir. Ich bin es, die er verachtet. Er würde dir erklären, dass ich die Zunei135 gung einer so bedeutenden Persönlichkeit nicht wert bin.« Will blinzelte. Er schlief zwar noch halb, trotzdem wusste er, dass sie Unsinn redete. Ihr Vater sollte sie für seiner nicht würdig halten? Doch wohl eher umgekehrt. »Prinzessin, so etwas kann dein Vater nicht von dir denken.« Sie lachte sehr leise und küsste ihn auf die Schulter. »Doch, das tut er - zumindest im Augenblick. Es ist nicht das erste Mal, aber sein Zorn wird sich legen. Dann, Will. Dann darf er es erfahren, aber nicht vorher. Wenn er wirklich wütend wird, könnte er mich fortschicken, und das könnte ich gar nicht ertragen.« »Nein, das will ich auch nicht.« Sayce strahlte ihn an. »Will, wenn wir einander sehen, müssen wir uns zurückhalten, aber unter uns ...« »Du kommst wieder?« Er versuchte, die Ungläubigkeit in seiner Stimme zu verbergen, dann wurde er rot. Er war sich ziemlich sicher, dass keiner der Helden in den großen Balladen jemals eine solche Frage stellte, zumindest nicht in diesem Ton. »Ob ich wiederkomme? Aber natürlich. Ach, Will, wäre mein Vater nicht, nichts könnte mich von deiner Seite reißen. Ich glaube, ich ...« Sie verstummte. »Was, Prinzessin?« Seine Eingeweide verknoteten sich. Er war sich ziemlich sicher, was sie hatte sagen wollen. Er fand den Gedanken erregend und erschreckend zugleich. »Ich glaube, ich bin ein schlechtes Mädchen, dass ich Euch noch eine weitere Last aufbürden will, Baron Norderstett.« Sie küsste ihn sanft auf den Mund, dann auf die Stirn. »Ich empfinde eine sehr tiefe Zuneigung zu dir, Will. Sehr tief.« »Prinzessin, ich ...« Sie legte die Finger wieder auf seine Lippen. »Sagt 136 nichts, mein Fürst. Sagt nichts. Ich weiß, was in Eurem Herzen steht. Das genügt.« Sayce zog sich schweigend an und lächelte, als sie bemerkte, dass er sie beobachtete. Sie füllte den Becher mit Wein, trank, dann küsste sie ihn noch einmal hastig, bevor sie ging. Will rollte sich auf einen Ellbogen, um ihr nachzusehen. Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, kippte er auf den Bauch. Er wusste nicht, was er denken oder fühlen sollte, aber zumindest körperlich fühlte er sich ausgezeichnet, so viel war sicher. Die Bettdecke roch nach ihr. Er atmete den Duft tief ein, und das brachte den Aufruhr seiner Gedanken zum Schweigen. Lächelnd, in Erinnerungen schwelgend, schlief er wieder ein. Der Diener weckte ihn mit dem Frühstück, das Will am Tisch beim Kamin einnahm, in dem der Dienstbote ein Feuer entzündete, denn Will fröstelte wieder. Nicht einmal ein heißes Bad half gegen die Kälte in den Knochen. Während des Bades wagte Will nicht, an Sayce zu denken, aus Angst, sein Körper könnte ihn vor dem Diener verraten. Doch die Bemühung, nicht an Sayce zu denken, garantierte, dass er an nichts anderes denken konnte. Und insbesondere daran, dass sie das heiße Badewasser mit ihm teilen würde. Obwohl er das Gefühl der Kälte bisher als einen Fluch empfunden hatte, half es ihm jetzt, denn es kühlte seine
Lust und verhinderte sichtbare Anzeichen. Er stieg aus der Wanne und trocknete sich ab, dann zog er sich so schnell und warm wie möglich an. Der Diener hatte seine Bedürfnisse vorhergesehen und die Sachen am Feuer gewärmt. Will zog sie über und lächelte. Nachdem er den Gürtel geschlossen hatte, fischte er eine Goldmünze aus dem Beutel und schnippte sie dem Burschen zu. »Danke.« Der junge Mann, der vielleicht vier Jahre älter war 137 als Will, fing die Münze und starrte sie an. »O mein Fürst. Danke.« »Nichts zu danken.« Will lächelte und band sich die Maske um den rechten Oberarm. »Ich würde sagen, ich bin fertig.« »Ja, mein Fürst. Sehr gut.« Der Diener verbeugte sich. »Es wird mir ein Vergnügen sein, Euch zum König zu geleiten.« 138 KAPITEL DREIZEHN Alyx lächelte, als Will den kleinen Vorraum betrat, in dem die Gefährten versammelt waren. »Gut. Wir sind vollständig.« Der junge Dieb schaute sich in der dunklen Kammer mit den Natursteinwänden um und wurde rot. »Habt ihr auf mich gewartet?« Entschlossen knurrte und rutschte auf einer grob gehauenen Steinbank an einer der Mauern herum. »Wir haben gewartet, aber das müssen wir auch erwarten, wenn der König, der uns empfangen will, über eine belagerte Nation herrscht. Doch ich vermute, selbst dies ist nichts, verglichen mit dem Grund für deine Verspätung.« »Ich habe verschlafen.« Will senkte Stimme und Blick, aber die Röte verblasste, statt zuzunehmen, und Alyx schloss daraus, dass er log. »Niemand hat mir etwas davon gesagt, dass wir heute Morgen erwartet werden.« Kräh grinste und schlug ihm auf den Rücken. »Wir waren alle müde. Wir waren lange unterwegs, da war ein weiches, warmes Bett höchst willkommen.« Alyx nickte zustimmend. »Außerdem haben wir in der Zeit besprochen, wie wir hier helfen können.« Bevor sie das näher erläutern konnte, öffnete sich eine Tür hinter ihr. Ein Mann in der Uniform der königlichen Garde lächelte sie an. Alyx sah keine Rangabzeichen, aber die grauen Strähnen im Bart, die vernarbten Hände und die zahlreichen Bänder auf der mitternachtsblauen Maske 139 deuteten darauf hin, dass er lange genug Soldat war, um höchste Ehren zu erringen. »Wenn Ihr mir folgen würdet.« Alyx übernahm die Spitze. Sie trug hellbraunes Leder mit dem okranschen aufsteigenden geflügelten Ross auf der linken Brust und eine Höflichkeitsmaske aus Spitze. Kräh, der ihr folgte, hatte keine Maske angelegt, ebenso wenig wie Entschlossen, Lombo oder, Qwc. Kjarrigan hatte eine Maske aus schwarzer Spitze erhalten, während Peri, Bok und Dranae weiße Masken trugen. Will hatte die Maske am rechten Oberarm befestigt. Ihr Führer ging durch einen Korridor voraus, dann eine Treppe hinauf, die nach einer Weile die Richtung wechselte und in einen breiten, rechteckigen Raum mit eher niedriger Decke führte. Sie betraten den Raum durch eine der Breitseiten. Der Tür gegenüber befand sich ein großer, offener Kamin. Zu beiden Seiten der Feuerstelle lagen weitere verschlossene Türen, die Wände waren mit Malereien bedeckt. An den übrigen Wänden hingen Karten, und eine Reihe langer, flacher Sandkastentische zeigte taktische Modelle verschiedener Regionen Murosos. Alyx war mit Modellen dieser Art vertraut. In Gyrvirgul hatte sie daran taktische Varianten geschichtlicher Schlachten ausprobiert. In jüngerer Zeit hatte General Adrogans ähnliche Hilfsmittel bei der Vorbereitung des Okrannelfeldzugs benutzt. Auf den Tischen standen kleine, bunt bemalte Holzblöcke, die Truppen darstellten. Magiker betreuten die Tische und Wandkarten. Sie alle hielten Holzbretter, vermutlich Arkantafaln. Irgendwo im Feld kundschafteten andere Magiker den Feind aus und übermittelten die gesammelten Informationen zurück nach Caledo und an König Bomar. Sofern diese Informationen zuverlässig waren, verschafften sie den 140 Murosonen einen bedeutenden taktischen Vorteil über den Feind. »Euer Majestät, Eure Gäste.« Alyx folgte dem Blick des Soldaten zu einem der Tische und erwartete, einer der grauhaarigen alten Männer würde sie begrüßen. Stattdessen reagierte ein großer, schlanker Mann in der schwarzen Robe und Maske eines Magikers. Ein rascher Schritt überbrückte die Entfernung in kürzester Zeit. Aus der Nähe bemerkte Alyx mehrere weiße Strähnen in dem dichten schwarzen Haar und Bart. Davon aber abgesehen schien er in Prinz Murfins Alter zu sein. Ich hätte sie für Brüder halten können. Das überraschte sie, denn König Bomar regierte Muroso, so lange sie zurückdenken konnte, und der Mann, der jetzt vor ihr stand, schien kaum alt genug, Sayces Vater zu sein, geschweige denn der von Prinzessin Dayley oder Prinz Murfin. Einen Magiker hatte sie auch nicht erwartet. Sie hatte Geschichten gehört, die ihn als herausragenden Taktiker beschrieben und sogar ein paar kleinere Schlachten studiert, die er gegen einen seiner Herzöge geschlagen hatte, der rebelliert hatte und Saporitia anzuschließen versuchte. Er hatte ein sicheres Gefühl für das Gelände und die
Truppenaufstellung bewiesen. Daher hatte sie in ihm einen Krieger gesehen, aber das war offensichtlich ein Irrtum gewesen. »Es freut mich, Euch alle kennen zu lernen.« Der König lächelte freundlich und das Lächeln erreichte auch seine dunklen Augen. Genug, um Alyx' Unbehagen ein wenig zu dämpfen. »Es wird natürlich ein Ball stattfinden, auf dem wir einander formell vorgestellt werden, aber ich weiß auch so, wer Ihr seid. Ich muss mich dafür entschuldigen, wie Ihr hierher geholt wurdet, aber ich bedaure Eure Anwesenheit nicht. Ihr seid in einem entscheidenden Augenblick eingetroffen.« Er drehte sich um und winkte ihnen. Sie folgten ihm 141 zu einem der Sandkästen. Das Modell stellte eine an einem Fluss gelegene Stadt dar. Die aurolanischen Truppen besaßen die dreifache Übermacht über die Murosonen und hatten die Stadt bereits eingenommen. Die murosonischen Truppen waren auf der Straße nach Süden aufgestellt worden, und eine Reihe unbemalter Holzblöcke repräsentierte die Flüchtlinge. »Die Stadt ist Porjal. Einer meiner Vettern hat sie regiert, doch inzwischen ist er tot. Zwei seiner Söhne sind ebenfalls gefallen. Ein dritter ist verwundet und wird fortgebracht. Seine älteste Tochter befehligt das Rückzugsgefecht, während die Flüchtlinge westwärts nach Navval weiterziehen. Es ist sicherlich allen klar, wie schwierig der Marsch wird, vor allem bei diesem Wetter.« Alyx nickte. »Mein Beileid zu Eurem Verlust, Hoheit.« »Zu gütig, Prinzessin Alexia. Wenn ich Zeit finde, werde ich ihren Tod betrauern, ebenso wie den Fall meiner Stadt. Im Augenblick macht mir jedoch mehr Sorgen, was der Fall Porjals heraufbeschwört.« Bomar verschränkte die Arme. »Der Schlüssel zu all dem sind natürlich die Draconellen. Wir haben uns den Angreifern entgegengestellt, wie es unser Brauch ist. Unsere Magiker sind gegen ihre angetreten, haben einige getötet und auch selbst Verluste erlitten. Aller Warnungen zum Trotz jedoch fühlte mein Cousin sich hinter Porjals Mauern sehr sicher. Sie waren durch Zauber verstärkt. Sie haben länger gehalten als die Lurriis in Sebtia, aber irgendwann fällt jede Mauer. Mein Vetter versprach mir einen Monat. Bekommen habe ich eine Woche.« Kräh deutete mit einer Kopfbewegung auf den Tisch. »Wie aktuell sind die Positionen?« »Die Informationen sind im Morgengrauen eingetroffen. Wir sollten in Kürze einen weiteren Bericht erhal142 ten, spätestens heute Mittag. Falls nicht, müssen wir annehmen, dass unsere Signalmagiker gefallen sind. Das Gemetzel wäre unbeschreiblich.« Alyx betrachtete die Lage eingehend. Die Landschaft Murosos bestand hauptsächlich aus Mittelgebirgen, die sich nach Westen zum Meer absenkten, und dann nach Süden zu den saporischen Hochebenen und nach Bokagul im Südosten wieder anstiegen. Das Land war bewaldet und dadurch leichter zu verteidigen als offenes Flachland. Aber die Aurolanen waren an den Winter gewöhnt und das machte diesen Vorteil wieder wett. Außerdem behinderte das Wetter die murosonischen Armeen. Der größte Teil der Bevölkerung, abgesehen von den Bewohnern der beiden größten Städte des Landes, lebte an der Küste. Diese beiden Städte waren Caledo und das etwas weiter südlich gelegene Zamsina. Die Straßen von Saporitia und Oriosa verliefen durch Zamsina, bevor sie gen Norden nach Caledo und von dort westlich zur Küste führten. Die Gefährten hatten auf dem Weg in die Hauptstadt die südliche Stadt umgangen und waren auf halber Höhe auf die Straße nach Norden eingeschwenkt. Die Lage der Verteidiger war alles andere als glücklich. Die Aurolanen hatten zwei Angriffsziele. Das erste waren die Küstenstädte. Porjal hatten sie bereits erobert und konnten von dort aus geradewegs nach Saporitia und bis an die Grenze Loquellyns vorstoßen. So konnten sie Nachschublieferungen über das Kreszentmeer schicken, eine deutlich schnellere Verbindung als über Land an Festung Draconis vorbei. Und sie werden Nachschub brauchen. Wenn sich Stadtmauern verstärken lassen, 'sei es durch zusätzliche Steine, durch Magik oder durch beides, werden die Aurolanen auch zusätzliche Fässer Feuerdreck und Munition benötigen, um die Städte zu erobern. 143 Ein weiterer Vorteil bei der Einnahme der Küstenstädte für die Eroberer aus dem Norden bestand darin, dass sie damit zugleich die Murosonen und das nördliche Saporitia von einer Versorgung über das Meer abschnitten. Aus diesen zwei Gründen war eine Offensive entlang der Küste strategisch äußerst sinnvoll. Das zweite Angriffsziel bot Caledo, als Reichshauptstadt ein herausragendes politisches Ziel. Ein Fall Caledos wäre das Äquivalent einer Enthauptung Murosos. Die Bürger würden den Mut verlieren. Für viele hätte das Reich keinen Bestand mehr. Mancher Adlige würde die Lage dazu ausnutzen, sich entweder mit Kytrin zu verbünden, um seinen Besitz zu retten, oder sich für unabhängig zu erklären - bis die Aurolanen ihn überrannten. Allein der Gedanke, Caledo nicht ausreichend zu verteidigen, war ebenso schlimm wie ein Verlust der Hauptstadt. Falls die Küste fiel, konnte die Stadt noch eine Weile durchhalten. Falls jedoch Caledo fiel, wurde die Aussicht auf Widerstand gegen Kytrin in Muroso hinfällig. Die Regierung konnte sich unter Umständen nach Zamsina retten, aber der Verlust Caledos würde den Nordlandhorden die Küste ausliefern, und das verbliebene, freie Muroso würde langsam verhungern. König Bomar schaute Alyx an und schien ihre Gedanken zu lesen. »Es steht schlimm. Sie rücken gegen die Küste vor, und wir müssen Truppen in Marsch setzen, sie zu verteidigen. Sie rücken gegen Caledo vor, also
müssen wir die Hauptstadt verteidigen. Ich habe nicht genug Soldaten, um beide Gebiete zu verteidigen, und der Verlust des einen ist gleichbedeutend mit dem Verlust des anderen. Kytrins Draconellen werden unsere Mauern zum Einsturz bringen und unsere Truppen abschlachten.« »Dann müssen wir die Draconellen aufhalten.« 144 Alyx blickte sich um. »Leichter gesagt als getan, Will.« »Ich weiß, aber nicht unmöglich.« Der junge Dieb drängte sich neben ihr an den Tisch. »Ich habe Draconellen gesehen. Es gibt nur zwei Methoden, um zu verhindern, dass sie Mauern zerstören. Entweder dickere Mauern bauen - was Ihr wohl gerade versucht, wenn ich das richtig gesehen habe. Oder verhindern, dass sie auf Reichweite an die Mauern herankommen. Falls es nicht gelingt, sie außer Reichweite zu halten, kann man noch versuchen, ihre Durchschlagskraft zu senken.« Der König legte den Kopf zur Seite. »Ich bin nicht sicher, ob ich das verstehe, Baron Norderstett.« Will seufzte. »In Bokagul wurde Sayce von einer Draconette getroffen. Lombo auch. Drange ist der Meinung, dass ein paar der Schnatterer, die mit den Feuerbüchsen hantiert haben, zu wenig Feuerdreck benutzten. Die Kugeln haben nicht so hart getroffen, wie sie hätten treffen können. Für mich heißt das: Wenn sie keinen Feuerdreck besitzen, können sie auch keinen benutzen. Und da Ihr wisst, wo sich ihre Truppen aufhalten, könntet Ihr ein paar Leute dazu abkommandieren, ihren Nachschub zu stehlen.« Alyx lächelte. Sie hatte sich über Wills plötzliche taktische Auslassung gewundert, aber wieder einmal hatte er in Gedanken eine militärische Operation in einen Raubzug verwandelt. »Sehr gut, Will. Ich würde sagen, das war ein ausgezeichneter Vorschlag.« »Wirklich?« Sie legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ja, Hoheit. Will hat Recht. Die einzige Möglichkeit, die aurolanischen Horden aufzuhalten, besteht darin, ihnen den Nachschub abzuschneiden. Das bedeutet, dass Ihre Landsleute auf dem Rückzug alles zerstören müssen, was sie nicht mitnehmen können. Es ist Winter. 145 Das Land liefert keine Nahrung, und selbst ein Aurolanenheer kann nicht nur mit Schnee im Magen marschieren. Das ist eine grausame Taktik, aber alles, was den Aurolanen nutzen könnte, muss vernichtet werden.« Der König nickte. »Wir haben bereits mit dem Abtransport der Vorräte und Viehbestände begonnen. Wir haben auch einige Brücken eingerissen, aber bis jetzt noch keine Dörfer niedergebrannt. Das können wir allerdings tun.« »Das wäre gut. Als zweite Maßnahme müssen wir die Draconellen außer Reichweite der Mauern halten, wie Will es vorgeschlagen hat. Eure Lageberichte machen das möglich. Wir können an Schlüsselpunkten Hinterhalte und Verteidigungsstellungen errichten. Wir greifen die Vorauskommandos der Aurolanen an, stoppen sie und warten, bis sie die schwereren Einheiten heranführen, um sich den Weg freizusprengen. Bevor sie eintreffen, tauchen unsere Verteidiger unter, was unseren Leuten Zeit verschafft, Nachschub zu zerstören. Gleichzeitig zwingen wir die Aurolanen, auf einem Grund und Boden zu warten, der ihnen keine Nahrung liefert.« König Bomar strich sich über den Bart. »Eine so einfache Strategie, dass ich sie auch hätte erkennen müssen. Unser ganzer Stolz ist die Stärke der Mauern und das Können unserer Magiker. Die Städte wurden zum Brennpunkt unserer Verteidigung, aber angesichts eines Gegners, der die Städte überrennen kann, ist deren Verteidigung nur ein Warten auf den Untergang. Ich bin nicht sicher, ob diese Form der Rückwärtsverteidigung Kytrin besiegen kann, aber zumindest wird sie ihre Kräfte bremsen.« Alyx schüttelte den Kopf. »Es ist keine Schande, das nicht gesehen zu haben. Dies ist ein Krieg, wie wir ihn nie zuvor haben führen müssen.« 146 »Aber Ihr habt es gesehen.« Sie zuckte die Achseln. Wie sollte sie ihm erklären, dass sie ihr ganzes Leben damit zugebracht hatte zu lernen, wie man konventionelle Streitkräfte besiegte. Seit frühester Jugend hatte sie um die Vernichtungskraft der Draconellen gewusst, die jede Stadt in Schutt und Asche legte. Eine unbewegliche Festung war eine Einladung zur Vernichtung, und das einzige Mittel gegen die Draconelle war eine hoch bewegliche Streitmacht, die den Vormarsch des Gegners zum Stocken brachte. Sie war immer von Kytrins möglicher Rückkehr überzeugt gewesen, daher war ihr die Notwendigkeit jederzeit bewusst gewesen, eine Abwehrtaktik gegen die Draconellen zu finden. Hier in Muroso boten sich die perfekten Geländebedingungen für eine solide Abwehr. »Wir müssen jetzt erst feststellen, Hoheit, welche Eurer Einheiten sich am besten für welchen Aspekt der Verteidigung eignen. Wir brauchen Garnisonen, um die Städte zu befestigen und zu verteidigen. Wir brauchen eine mobile Abwehrtruppe, die den Feind angreift, aufhält und untertaucht, bevor er zurückschlagen kann. Und wir brauchen ...« »Wir brauchen Jäger.« Entschlossens Stimme hallte laut durch den Saal. »Kräh und ich werden diese Truppen organisieren. Wir haben ein Vierteljahrhundert damit zugebracht, Kytrins Horden aufzulauern. Niemand ist besser dafür geeignet als wir.« Alyx schmunzelte. »Ich habe auch eine gewisse Erfahrung in den Taktiken, die dabei angewandt werden.« Die silbernen Augen des Vorqaelfen hielten ihren Blick fest, ein Schauder überlief sie. »Bitte versteht das nicht als Zweifel an Euren Fähigkeiten oder an Euch persönlich, Prinzessin Alexia, aber Ihr werdet uns nicht
begleiten.« 147 Sie versuchte, sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen. »Warum nicht?« Kräh lächelte. »Weil nur Ihr, Prinzessin, wisst, was genau Ihr von Eurer mobilen Abwehrtruppe erwartet. Dafür werdet Ihr die Verantwortung tragen. Falls sie erfolgreich ist, werdet Ihr wissen, warum. Falls nicht, werdet Ihr dafür sorgen, dass sie es wird. Es ist nicht anders möglich.« Alyx hörte das Bedauern heraus und tröstete sich damit. Sie hatte sich neben ihm reiten sehen. Sie wären dort draußen gewesen, frei und im Kampf gegen die Nordlandhorden. Kämpfer ohne Reich gegen einen Feind, der alle Reiche vernichten wollte. Doch diese Freiheit und Hingabe waren Trug. Vielmehr wollte sie sich der Verantwortung entziehen, für die sie ausgebildet worden war, um an der Seite des Mannes in den Kampf zu ziehen, den sie liebte. An Krähs Tonfall hörte sie, dass auch er sie nicht verlassen wollte. Sie unterdrückte das Lächeln, das sich daraufhin auf ihren Zügen ausbreiten wollte. Sie wussten beide, dass persönliche Wünsche vor der Pflicht zurückstehen mussten. Bis Kytrins Truppen besiegt waren und die Aurolanenherrscherin tot sein würde, blieben Glück und Freude nur ein Traum, der jederzeit von der harten Wirklichkeit zerfetzt werden konnte. Will blickte zu ihr auf. »Keine Sorge, Hoheit. Ich werde gut auf Kräh aufpassen.« Bomar runzelte die Stirn. »Ich hätte gedacht, Baron Norderstett, dass Ihr hier bleibt, um meinem Volk Mut zu machen.« »Keine so gute Idee.« Will seufzte. »Kytrin will meinen Tod, und wenn ich an einem Ort bleibe, mache ich diesen Ort damit zu einem Angriffsziel. Ich werde Kräh und Entschlossen begleiten. Eine Sache ist schlimmer für ihre Truppen, als wenn ich auf sie warte - nämlich wenn ich Jagd auf sie mache.« 148 Kräh schaute hinüber zu Entschlossen und schüttelte den Kopf. »Das ist noch nicht das letzte Wort in dieser Sache, Will. Darüber werden wir noch reden müssen.« »Das dachte ich mir schon, Kräh.« Der Dieb hob die Schultern. »Wir können viel darüber reden, doch am Ende läuft es auf eines heraus: Wir haben einen Plan, Kytrin aufzuhalten, und auch die Leute, ihn auszuführen. Alles, was zwischen uns und dem Blutvergießen steht, ist Zeitverschwendung.« KAPITEL VIERZEHN Uie Angst in den Schreien, die durch Porjal gellten, machte Isaura zu schaffen. Sie verstand die Notwendigkeit, die Stadt zu befrieden. Die Belagerung war erfolgreich gewesen, doch sie waren auf erbitterten Widerstand gestoßen. Der Edle Neskartu hatte schwer daran arbeiten müssen, die Magik zu neutralisieren, mit der man die zerstörten Mauern wieder aufbaute. Die Draconellen hatten sie regelrecht zu Staub und Kies zertrümmern müssen, bevor die Truppen ihrer Mutter die Stadt hatten betreten können. So bald wie möglich war eine schwer bewaffnete Streitmacht aus der Stadt ausgebrochen und davon marschiert, in westlicher Richtung auf die Küste zu. Die aurolanischen Soldaten hatten Porjal daraufhin mit übergroßer Zuversicht betreten, und zwar in der Annahme, es gäbe dort niemanden mehr, der ihnen Widerstand leisten könnte. In gewisser Weise schien das auch richtig, denn es waren nur noch sehr wenige Bewohner in der Stadt geblieben. Aber diese wenigen waren verschlagen, selbstmörderisch und überaus geschickt, wenn es darum ging, Hinterhalte und Fallen zu legen, die ihre Opfer verletzten, Versehrten und gelegentlich sogar töteten. Angesichts der Verluste unter den Zauberern, die Neskartu mitgebracht hatte, war Isaura gezwungen, sich mit um die Verwundeten zu kümmern. Sie arbeitete gemeinsam mit Gelt daran, ein paar Grychodka zu heilen. Einer war in eine mit angespitzten Pfählen gefüllte Fallgrube gestürzt und durchbohrt worden. An150 dere Pfähle in den Seitenwänden waren abwärts gerichtet gewesen und hatten die Versuche seiner Begleiter, ihn herauszuziehen, erschwert. Anderen Opfern hatten herabstürzende Felsen oder Baumstämme Arme zerschmettert oder abgerissen, Schultern zermalmt und Beine gebrochen. Etliche waren in krumm gebogene und in der Mitte verschweißte Eisennägel getreten. Nachdem alle Enden angespitzt waren, konnte man die so entstandenen Gebilde auf den Boden werfen - eine Spitze ragte auf jeden Fall nach oben. Sie hatte nur den Kopf geschüttelt, als sie die Verletzten zum ersten Mal gesehen hatte. Isaura hatte das schmerzverzerrte Heulen und Winseln schon vorher gehört, doch nicht einmal das hatte sie auf das blutverschmierte Fell, das zerfetzte Fleisch und die schmerzhaft aufgerissenen Augen vorbereitet. Die gegen die Schnatterfratzen eingesetzten Waffen waren ganz offensichtlich nicht dazu gedacht gewesen, sie zu töten. Die Stacheln der Fallen waren zu kurz, um ihre Opfer zu durchbohren. Sie sollten verwunden, und das verstand sie nicht. Gelts weißer Pelz war bis zu den Ellbogen in Blut getränkt und auch auf der Brust von roten Flecken bedeckt. Er erklärte es ihr: »Sie haben kein Interesse daran, zu töten, meine Fürstin. Ein toter Krieger erfordert keine Aufmerksamkeit mehr, diese hier benötigen jedoch Hilfe, Nahrung und Unterkunft, bis sie sich weit genug erholt haben, nach Hause oder zurück in den Kampf zu ziehen. Einen Toten kann man liegen lassen, aber ein verletzter Kamerad gehört gerettet, und dabei bringen sich die Retter häufig ebenfalls in Gefahr.« »Aber das ist grausam.« »Deshalb bekämpfen wir sie.« Der Kryalnir blickte sich in dem Meer der Verwundeten um. »Falls es uns nicht gelingt, sie aufzuhalten, werden sie dies unserem Volk antun, wenn sie über uns herfallen.«
151 Vergeltung und Strafe waren schnell und hart gewesen. Der größte Teil der Außenbezirke der Stadt lag in Trümmern. Innenstadt und Flussufer waren aber kaum in Mitleidenschaft gezogen. Trupps hatten die Stadt durchkämmt, die Menschen ausgeräuchert und auf den Plätzen zusammengetrieben. Manche waren lebendig verbrannt worden, und ein Übelkeit erregender Qualm war von den Scheiterhaufen durch die Stadt getrieben, während andere gekreuzigt und ihrem Schicksal überlassen wurden. Ihren Schreien fehlte die kreischende Schrille der Verbrannten, doch im Sterben fingen sie an, entsetzlich zu wimmern. Und ständig verloren neue, lautere Schreie an Kraft und traten an ihre Stelle, wenn sie endlich verstummten. Sie verstand die Unterdrückung und Bestrafung der Stadtbevölkerung. Ohne diese Abschreckung hätten sie ihre Grausamkeiten fortgesetzt. Sie konnte zwar den Wunsch der Südländer begreifen, ihre Heimat zu beschützen, aber ihre Art und Weise - im Leben ebenso wie im Kampf - bewies, dass sie keinerlei Zivilisation besaßen. Es ist unmöglich, mit Primitiven vernünftig zu reden. Doch obwohl sie das wusste, verstörte sie die Vorgehensweise. Kinder wurden mit den Erwachsenen hingerichtet. Isaura glaubte zwar Berichte, dass Kinder die Truppen in Fallen lockten, aber sicher ahmten diese Kinder damit nur die Erwachsenen nach. Der Edle Neskartu hatte einige von ihnen zum Transport nach Hause ins Konservatorium ausgewählt, also besaßen sie das Potenzial, nützliche Mitglieder der Gesellschaft zu werden. Sie fragte sich, ob nicht alle Kinder so geläutert werden könnten, wenn man ihnen nur zeigte, wie fehlgeleitet sie waren. Der Gedanke riss sie aus dem Schlaf. Zumindest wollte sie, dass es dieser Gedanke gewesen war, nicht das ersterbende Echo eines Todesschreis. Sie war ver152 sucht, die Magik einzusetzen, die Nefrai-kesh ihr geschenkt hatte, um ihn von ihrem Unbehagen zu informieren und einen Plan zur Rettung der Kinder vorzuschlagen. Aber sie beherrschte sich. Bei ihrem letzten Bericht hatte sie eine Vision von zwei Frauen gehabt, und das hatte ihr Angst gemacht - obwohl sie nicht verstand, warum. Doch es ließ sie zögern, so spät am Abend, während vor dem Fenster der Wind heulte, mit dem König der Sullanciri zu sprechen. Da sie nicht wieder einschlafen konnte, stieg sie aus dem Bett in einem unbeschädigten Raum der herzoglichen Residenz. Sie zog einen blauen Mantel an und schloss ihn an der Hüfte mit einem goldenen Seidengürtel, dann tapste sie barfuss durch den Palast. Ihr war klar, dass sie damit ein Risiko einging, so nahe an den Kampfhandlungen, doch sie hatte keine Angst. Sie war entschlossen, Neskartu zu finden und das Thema einer möglichen Läuterung der Kinder anzuschneiden. Sie ging tief in das Hauptgebäude und hoch hinauf. Kalte Luft strömte durch geborstene Fenster und ein Loch in der Außenwand bis in die oberen Korridore. Isaura jedoch erschien sie mild. Sie hastete an erschöpften Grychodka vorbei, die auf den unteren Stockwerken Wache schoben. In den oberen Palastetagen waren die Schnatterer größer und kräftiger. Sie trugen saubere Waffenröcke und Kryalniri patrouillierten durch die Gänge. Niemand hielt sie an oder fragte nach ihrem Ziel, und sie erreichte ohne Schwierigkeiten den bescheidenen Raum, in dem der Herzog Audienz gehalten hatte. Die Decke, niedrig genug, um vom Licht der unter ihr lodernden Fackeln erreicht zu werden, ruhte auf acht Säulen. Mythologische Deckengemälde über die Jagd auf Riesenschlangen und temeryxe schauten auf die vier Personen herab. Der Edle Neskartu stand bei den beiden anderen lei153 tenden Sullanciri der Invasion Murosos. Anarus, der einen Wolfskopf hatte und dessen Körper von einem dichten Fell bedeckt war, zog zu einer knurrenden Begrüßung eine schwarze Lippe kraus. Er hatte sie weder eintreten sehen noch gehört. Nur seine Nüstern hatten sich leicht gebläht, als er ihre Witterung bemerkte. Die Begrüßung war freundlich gemeint, aber ein aufblitzender Reißzahn und ein Zucken mächtiger Muskelpakete hätte weit mehr Anstrengung benötigt, um einladend zu wirken. Tyhtsai beugte langsam den Kopf vor Isaura, doch nicht aus Respekt. Wie einige andere Generäle ihrer Mutter war auch sie erst nach dem Tod in die Dienste Aurolans getreten. Die grobe Naht, die den Kopf am Körper befestigte, war unübersehbar, ebenso wie das Fehlen eines rechten Arms aus Fleisch und Blut. Isaura glaubte sich zu erinnern, wie auch der Arm Jahrzehnte zuvor schon angenäht worden war. Später war er durch das erste von mehreren mechanischen Gliedmaßen ersetzt worden, was Tyhtsai zu einer Art Meckansh machte. Ihr derzeitiger Arm schien aus Quecksilber geformt, bis auf diese Eigenheit aber völlig normal. Das vierte Mitglied der Gruppe kniete augenblicklich nieder. Selbst als er den Kopf senkte, war er noch größer als Isaura. Der schwarze Mantel hüllte ihn von den Schultern bis zum Boden ein, und die Dornfortsätze an Schultern, Armen, Knien und auf dem Rücken beulten ihn aus. Das breite Gesicht wirkte trotz der gebogenen Reißzähne und der dunkelgrünen Schuppenhaut weicher und freundlicher als das von Anarus. Die großen, schwarzen Augen blinzelten einmal, dann senkte er den Blick. »Hoheit, welche Ehre.« Isaura nickte ihm zu, und das weißblonde Haar fiel ihr über die Schultern nach vorne. »Naelros, das ist unerwartet. War er nicht auf Festung Draconis?« 154 Naelros hielt den Kopf gebeugt und wagte es nicht, sie anzublicken. »Ich bin nach Süden gekommen, Hoheit,
weil ich versagt habe. Ich habe meine Truppen hierher geführt, um zu helfen und zu suchen. Eines der Fragmente wurde aus Draconis gestohlen. Andere sind ebenfalls auf der Suche, aber es besteht eine Chance, dass die Diebe versucht haben, südwärts zu entkommen. Wir werden sie finden, nur wird unsere Kraft hier benötigt.« »Sie ist höchst willkommen, Naelros.« Anarus schnappte bei dieser Feststellung mit den Kiefern. »Seine Kraft mag willkommen sein, aber er verwässert unsere Kraft mit seinen Vorschlägen.« Der wölfische Sullanciri trat an einen Tisch, auf dem eine große Karte Murosos ausgebreitet lag. Schwere silberne Kerzenhalter hielten die Ecken fest und bei Porjal war bereits Wachs herabgetropft. »Die einzige mögliche Angriffsrichtung ist Caledo. Ist der Kopf erst tot, stirbt auch der Körper.« »Aber gerade weil das die offensichtliche Strategie ist, Anarus, werden sie Maßnahmen dagegen ergreifen.« »Und selbst wenn? Sie können uns nicht aufhalten!« Der Sullanciri beugte die Schultern und fuhr mit Krallenhänden durch die Luft. »Wir sind in der Lage, ihre Hauptstadt zu zerstören - mit oder ohne deine Leute, Naelros.« Naelros erhob sich langsam und ging hinüber zur Karte. Er ging langsam und gleichmäßig, doch seine Beine waren so lang, dass wenige Schritte genügten. Der Tisch reichte ihm bis knapp über die Knie, und er musste sich bücken, um einen krallenbewehrten Finger auf die Karte zu setzen. »Die Küstenstädte sind leichter zu erobern. Sobald wir sie in der Hand haben, können wir Verstärkung und Nachschub empfangen, und sie haben nichts. Wir schließen die Grenze zu Saporitia -und Muroso stirbt.« 155 »Wenn wir Caledo einnehmen, ergeben sich die Küstenstädte.« Anarus drehte sich um und nickte Tyhtsai zu. »Das glaubst du doch auch?« Die Sullanciri sagte nichts, doch ihre rechte Hand ballte sich zur Faust. Die flüssig metallenen Finger bohrten sich durch die Handfläche und traten als Dornen aus dem Rücken. Das Ende des Arms verdickte sich, als die Faust sich in den stachelbesetzten Kopf eines Streitkolbens verwandelte. Ein langer Dorn wuchs aus der Spitze und stieß auf Caledo auf der Karte. Neskartu streckte eine Hand aus und dehnte Arm und Finger über alle normalen Proportionen hinaus. Seine Fingerspitze glitt an der Küste entlang. »Dies sind die besseren Ziele.« Ein dumpfes Knurren stieg aus Anarus' Kehle. »Wovor hast du Angst?« »Vor nichts. Aber die Verluste meiner Schüler, auch die an Feuerdreck, waren größer als erwartet. Wenn wir die Häfen einnehmen, bereichern wir uns und schaden ihnen.« Anarus schnaubte. »Genau deswegen hast nicht du den Befehl über diese Invasion. Bildest du dir ein, es würde augenblicklich Nachschub fließen? Ja, wir können Schiffe aus Vorquellyn schicken, aber diese Invasion werden wir mit dem Nachschub gewinnen, der bereits Überland südwärts fließt. Es gibt hier nichts, was uns aufhalten könnte.« »Du unterschätzt die Magikerei der Murosonen.« »Nein, ich verlasse mich darauf, dass du mir ihre Magiker aus dem Weg räumst.« »Das wird geschehen. Was ist mit dem Norderstett? Was mit Alexia von Okrannel?« Anarus wollte wieder knurren, doch Isauras Keuchen stoppte ihn. »Sie ist hier!« Der Wolfskopf flog herum. »Wer? Eure Mutter?« »Nein, diese Alexia.« Isaura presste die Hände an die Schläfen. Als Neskartu das Bild von Alexia übermittel156 te, hatte es sich mit dem Bild der blonden Frau, die sie bei dem Gespräch mit Nefrai-kesh gesehen hatte, genau gedeckt. »Sie ist in Caledo.« »Woher wisst Ihr das?« Naelros stieß eine Dampfwolke aus. »Selbst ich habe Gerüchte gehört, dass der Norderstett in den Norden nach Muroso gekommen ist. Alexia begleitet ihn. Sie wird ein harter Gegner werden.« »Ein Gegner ohne Draconellen.« Anarus warf Naelros einen schrägen Blick zu. »Ein Gegner ohne dein Volk.« »Das untersteht nicht Eurem Befehl, sondern dem der Imperatrix.« Die dunklen Augen des Drakomorphs wurden schmal, und seine Stimme klang leiser, ohne an Volumen zu verlieren. »Anarus, Ihr habt Porjal eingenommen, aber es dauerte länger als bei jeder anderen Stadt. In Caledo erwarten Euch noch schwerere Verteidigungsstellungen. Ihr bekommt vielleicht Hilfe, aber falls Ihr darauf besteht, die Südländer anzugreifen, wo sie am stärksten sind, wird die Invasion an den Kosten für Eure Siege scheitern.« »Wären deine prophetischen Visionen zutreffend, Naelros, hättest du den Diebstahl des Fragments vorhergesehen. Deine Leistungen behagen unserer Herrin keineswegs. Meine schon, und deshalb führe ich hier den Befehl. Ich freue mich über deine Kraft, doch es ist meine Vision, die uns bis hierher gebracht hat, und sie wird uns auch noch weiter führen.« Er tippte mit dem Finger auf die Karte. »Caledo wird fallen. Keine Findelkindprinzessin aus Okrannel und kein Gossenbastard aus Aleida wird das verhindern. Es ist der Wille der Imperatrix, dass Caledo fällt, und so wird es fallen. Bevor der Frühling sich ankündigt, wird dieses Land unser sein.« 157 KAPITEL FÜNFZEHN Will schaute durch die offene Tür in Prinzessin Alexias Zimmer, um sich zu vergewissern, dass sie allein war,
bevor er an den Rahmen klopfte. »Ich hoffe, ich störe nicht.« Alyx schaute von einem Sessel beim Kamin auf und lächelte. Sie hatte sich darauf vorbereitet, die Kommunion zu betreten, in der Hoffnung, dort etwas über die aurolanischen Aktivitäten außerhalb von Muroso zu erfahren. Doch wegen dem ernsten Ausdruck auf Wills Gesicht verschob sie das gern. »Nein, keine Sorge, Will. Was hast du auf dem Herzen?« Der Dieb zögerte kurz. »Ich habe mich gefragt,... na ja ... ich brauche Eure Hilfe.« Er trat ins Zimmer und hielt ihr mit der rechten Hand ein kleines Pergamentpäckchen hin. »Ich habe diese Nachricht erhalten, aber, na ja, ich kann nicht lesen.« Alyx winkte ihn näher, und er kam zögernd auf sie zu. Das überraschte sie. Er schien bedrückter als üblich, und auf jeden Fall bedrückter, seit sie damit begonnen hatten, die Leute zusammenzustellen, die Kytrins Nachschubroute angreifen sollte. »Kräh hätte sie dir vorlesen können, oder Entschlossen.« Er hob unsicher die Schultern. »Ich hätte sie ja auch gefragt, aber die sind beide beschäftigt. Kjarrigan auch. Ich meine, Ihr seid es natürlich auch, aber ...« »Ist schon gut.« Sie nahm das Päckchen entgegen und drehte es hin und her. Es war mit rotem Wachs versiegelt, doch das Siegel sagte ihr nichts. Die Adresse auf der Rückseite war sauber geschrieben und gab 158 Will Norderstett in Caledo als Empfänger an. Obwohl es keinen Hinweis darauf gab, wer es geschickt hatte, war Alyx sich ziemlich sicher, dass die Adresse von einer Frau geschrieben worden war. Die Besorgnis auf Wills Gesicht ließ sie vermuten, dass er derselben Meinung war, was vielleicht auch erklärte, warum er mit dem Päckchen nicht zu Kräh oder Entschlossen gegangen war. »Es steht nirgends, von wem die Nachricht ist, aber sie ist für dich. Sie ist für dich hierher nach Caledo geschickt worden.« »Dann ist sie nicht von hier?« »Hier?« »Hier, ich meine, aus dem Palast vielleicht?« »Wohl kaum.« Sie schüttelte den Kopf und deutete auf den freien Sessel. »Du darfst dich übrigens setzen.« »Ich kann noch lange genug sitzen, wenn wir losreiten. Ich stehe lieber.« Will schwankte etwas, dann trat er hinter den Sessel und stützte sich auf die Rückenlehne. »Ihr dürft es öffnen.« »Das muss ich wohl, wenn ich es vorlesen soll, oder?« Sie schob den Daumen unter das Pergament und brach das Siegel. Sie zog zwei Bögen Pergament hervor und schaute unten auf das zweite Blatt. »Es ist unterschrieben mit: >Die Ihr gerettet habt.Ihr sollt wissen, dass sich die Menschen in Meredo Eure Worte zu Herzen genommen haben. Eure Freie Kompanie ist ihnen ein Vorbild. Überall gibt es jetzt freie Milizen zur Verteidigung des Reiches. Flüchtlinge werden willkommen geheißen und finden Obdach. Es gibt sogar Stimmen, die Euch auf den Thron setzen wollen, falls keiner der beiden Prinzen überlebt. Ich würde meine Stimme ebenfalls dafür erheben, aber ich halte es für besser, im Verborgenen zu bleiben. Besser für Euch und Eure Sache, der ich auch weiterhin dienen werden« Will sank in die Polster des Sessels und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Danke. Ich sollte ihr wohl antworten. Würde ich auch tun, wenn ich erstens schreiben könnte und zweitens wüsste, wo sie ist.« »Ja, beides ist ein Problem.« Alexia faltete den Brief. »Und nachdem wir das erledigt haben, warum sagst du mir nicht, weswegen du eigentlich hier bist?« Die Augen des Diebes wurden kurz groß, dann 161 setzte er eine Unschuldsmiene auf. »Das war es. Der Brief.« »Will, du bist zu mir gekommen, weil du mir vertraust. Diese Unterschrift, >Die Ihr gerettet habtWas sage ich Sayce, wenn wir uns trennen? Metallermüdung< nennen. Wir werden es müde, Mensch zu sein, weil wir es so offensichtlich nicht mehr sind. Wir versuchen zu vergessen, wer wir waren, weil die Erinnerung an unsere Verletzungen so großes Leid wachruft. Das spürte ich auch, und dazu hatte sich unser Vater verändert, und ich hatte meinen kleinen Bruder verloren. Aber ich hatte Glück und habe meine Frau ge175 troffen ... ich bete zu den Göttern, dass sie noch lebt. Sie hat den Menschen in mir zu neuem Leben erweckt, und es ist diese menschliche Hälfte, die mich zu dir zieht, Bruder. Um dir zu sagen, dass ich nie geglaubt habe, was man über dich sagte.« Der Mann, der Tarrant Valkener gewesen war, schaute auf. »Aber als du vor Tolsin gehört hast, wer ich bin, bist du davongeritten.« »Ja, das bin ich, weil ich mich verraten fühlte.« Sallitts Augen wurden schmal. »Wir waren lange gemeinsam unterwegs gewesen. Du hattest mir das Leben gerettet, und trotzdem hattest du mir nicht anvertraut, wer du bist. Hätte ich es wissen müssen? Du, in der Gesellschaft von Entschlossen, in Begleitung eines Norderstett, jetzt scheint das alles so offensichtlich, aber damals war es das nicht. Du warst Kedyns Krähe, eine lebende Legende. Wärst du ein Oriose gewesen, hättest du eine Maske getragen, und aus welchem Grund auch immer, ich habe die Verbindung nicht gesehen. Aber du hast gewusst, wer ich bin, und du hast mir nicht vertraut. Das hat mich getroffen und mich zweifeln lassen.« Kräh presste einen Moment lang die Lippen zusammen, dann nickte er langsam. »Du hast Recht. Ich habe dir Unrecht getan. Ich hatte mich so lange Jahre geweigert, Tarrant Valkener zu sein, dass ich dein Bruder nicht sein konnte, obwohl ich wusste, dass du mein Bruder warst. Auch das wäre zu schmerzlich gewesen.« »Ich glaube, das kann ich verstehen.« Der ältere Valkener kaute auf der Unterlippe. »Niemand in der Familie hat der Anklage gegen dich geglaubt. Auch wenn Vater nicht über dich gesprochen hat, wir anderen haben es getan, heimlich. Aber ich weiß, er hat es auch nicht geglaubt. Ich vermute, nachdem er dir die Maske abgenommen hat, hat er die Wahrheit erfahren.« 176 Kräh schüttelte den Kopf. »Unser Vater hatte seine eigenen Gründe für das, was er getan hat. Wie ... wie geht es ihnen?«
»Vater ist vor knapp sechs Jahren gestorben. Im Schlaf. Mutter wohnt jetzt bei EUis. Allen anderen geht es gut.« Er lächelte dünn. »Wir werden unterwegs Gelegenheit haben, uns über sie zu unterhalten.« »Vielleicht.« Kräh nickte. Die Geste war erst steif, lockerte dann aber auf. »Ich bin weit länger Kräh, als ich je dein kleiner Bruder war. Ich werde Zeit brauchen, mich wieder an diese Rolle zu gewöhnen.« »An dem Tag, an dem du Valsina verlassen hast, hast du aufgehört, mein kleiner Bruder zu sein. Das habe ich schon bei unserem Wiedersehen auf Festung Draconis gemerkt. Einen kleinen Bruder brauche ich nicht. Aber einen Kameraden, den ich kenne und dem ich vertrauen kann ...« Kräh streckte die Linke aus und packte die natürliche Hand seines Bruders mit festem Griff. »Einverstanden.« Sallitt nickte Alyx zu. »Danke, Hoheit. Ich lasse Euch zwei jetzt allein. Ich habe noch etwas zu erledigen. Viel Glück, Prinzessin.« »Gleichfalls, Oberst.« Der Meckansh zog sich leise zurück, obwohl er halb aus Metall bestand. Alyx lächelte Kräh an. »Ich denke, es war gut, dass du mit ihm gesprochen hast.« »Warum?« »Weil ich weiß, dass dir deine Familie wichtig war, und es ist gut, diese Beziehung zu erneuern.« Kräh seufzte. »Ich kann nur hoffen, du hast Recht. Aber hier und jetzt macht mir vor allem meine neue Familie Sorgen.« »Es hat mich gefreut, dass du mich darin eingeschlossen hast.« »Du bist meine neue Familie.« 177 »Nein, du hast auch Entschlossen genannt, der wirklich auf sich selbst aufpassen kann, und Will.« Sie hob die Hand und strich ihm eine weiße Haarsträhne hinters Ohr. »Und da wir den gerade erwähnen - es könnte sein, dass Will mit dir über Sayce sprechen möchte. Tu ihm den Gefallen und hör ihn an.« Kräh, gerade damit beschäftigt, den Sattelgurt festzuziehen, blickte hoch. »Wieso, was ist mit ihr? Was habe ich verpasst?« »Er und Prinzessin Sayce sind sich näher gekommen. Die Trennung wird nicht leicht für sie werden.« Alyx schluckte. Plötzlich spürte sie einen Kloß im Hals. »Für mich wird sie auch nicht leicht.« »Ich weiß.« Kräh nickte, dann kam er herüber und strich ihr mit dem linken Daumen über die Wange. Alyx schloss halb die Augen und rieb das Gesicht an seiner Hand. »Alexia, ich habe mehr Angst vor dieser Trennung, als ich je davor hatte, in Oriosa hingerichtet zu werden, mehr als vor allem, was mir in meinem Leben jemals Angst eingejagt hat.« Er schenkte ihr ein schmales Lächeln und legte die rechte Hand auf ihre Schulter. »Es hat eine Zeit gegeben Jahrzehnte hat es gegeben, um genau zu sein -, als es mir nichts ausgemacht hat, loszuziehen, um zu tun, was wir jetzt wieder vorhaben. Nicht etwa, weil ich dumm oder lebensmüde gewesen wäre. Es war einfach normal. Es war das Leben, das ich selbst gewählt hatte. Oder vielleicht hatte das Leben mich gewählt. Ich weiß es nicht. Entschlossen und ich zogen einfach los und kämpften gegen Kytrins Bestien, und wären wir nicht irgendwann zurückgekommen, dann wäre es nur ein weiterer gebrochener Schwur gewesen, noch eine Prophezeiung, die sich als falsch herausgestellt hatte. Ich hatte nie den Eindruck, mein Leben sei leer, bis du gekommen bist und mich nach mehr hast verlangen lassen als nur nach Kytrins Untergang. Den will ich 178 immer noch, ja, aber ich will ihn, weil er eine Zukunft für die Welt bedeutet, für uns und für unsere Nachkommen.« Sie zuckte zusammen. »Du würdest Kinder mit mir wollen?« »Wenn all das hier vorüber ist, sollte Will in der Lage sein, selbst für sich zu sorgen. Entschlossen wird wieder eine Heimstatt haben, um die er sich kümmern kann, also brauche ich eine neue Aufgabe.« »Mach bitte keine Witze darüber, Kräh.« »Verzeih mir. Es ist mir ernst.« Wieder strich er ihr mit dem Daumen über die Wange. Die Berührung war rau, aber kräftig, so wie er, und Alyx wusste, ihre Kinder würden seine Kraft und auch ihre eigene erben. Sie würden groß, stark und klug werden und in ihrem Streben unerbittlich sein, die Welt zu verbessern. Sie legte die rechte Hand auf seine Linke und die Linke auf den Bauch. Augenblicklich musste sie daran denken, wie sie sich mit der Hand über den Leib gestrichen hatte, um ihre Tante zu schockieren. Diesmal wollte sie jedoch eine Schwellung fühlen. Sie wollte neues Leben in sich keimen spüren. Das erschütterte sie. Ihr ganzes Leben hatte sie damit verbracht, für den Kampf zu trainieren. Sie war zu einem Werkzeug der Befreiung ihrer Heimat geschmiedet worden. Ja, sie hatte daran gedacht, zu heiraten und Kinder zu bekommen, das war aber immer für irgendwann nach der Befreiung vorgesehen gewesen. Wie eine Menge anderer weiblicher Adliger und Kriegerinnen trug sie ein /Elfenamulett an einem Knöchelkettchen, das eine Schwangerschaft verhinderte, weil Kinder in einem solchen Leben unerwünschte Schwierigkeiten heraufbeschworen. Doch jetzt, hier, mit Kräh, wollte sie Kinder. Sie musste daran denken, und sah sie vor sich, in verschiedenen 179
Lebensaltern. Ein Baby, das an Krähs Brust schlummerte; eine Tochter auf einem Pferd, juchzend vor Begeisterung, das goldene Haar im Wind wehend; und ein Sohn, noch zu jung, um sich täglich zu rasieren, aber schon groß und schlank, im Kettenhemd, bereit, zum Schutz der Heimat in den Kampf zu ziehen. All diese Bilder und mehr schlugen blitzartig über ihr zusammen. »Prinzessin?« Krähs leise Frage holte sie zurück. Sie blinzelte, fasste seine Hand fester, drehte den Kopf und küsste ihn auf die Handinnenfläche. »Ich will das auch, Kräh. Ich will Kinder von dir, gleichgültig, ob ich die Königin von Okrannel bin oder nur eine wandernde Söldnerin in Begleitung des Mannes, den sie liebt.« Sein Grinsen war ansteckend. »Und wir werden Kinder haben, Geliebte, so viele du willst. Und sie werden uns stolz machen. Was wir leisten, wird vor dem verblassen, was sie erreichen werden.« Die Wahrheit dieser Antwort erschien ihr über jeden Zweifel erhaben, obwohl sie wusste, dass Kytrin, ihre Horden und zahllose andere Mächte ihnen und ihren Träumen entgegenstanden. Irgendwie aber erschuf allein die Tatsache, dass er es sagte, diese Zukunft und machte sie zu ihrem Ziel. Niemand würde ihnen diese Zukunft nehmen. »Du hast Recht, Geliebter.« Sie drückte seine Hand, dann schob sie sich in seine Umarmung. »Ich werde dich furchtbar vermissen. Nur das Wissen, dass wir einander wieder sehen werden, um unsere Familie zu gründen und aufzuziehen, wird die Trennung erträglich machen.« Er drückte sie an sich, und sie versank in der Wärme seiner Umarmung. »Das ist es, Prinzessin. Du und ich, und alle anderen hier, wir kämpfen um die Zukunft der Hoffnung. Die Hoffnung kann man nur umbringen, 180 wenn man alles Leben auslöscht. Ich habe kaum einen Zweifel, dass Kytrin dazu bereit wäre, aber selbst sie ist zu so etwas nicht in der Lage.« »Es sei denn, es gelingt ihr, die Drachenkrone wieder zusammenzusetzen.« Er erschauderte. »Ein Grund mehr, sie hier in Muroso aufzuhalten.« Alyx trat zurück. »Du wirst dich doch vorsehen?« Er nickte. »Keine unnötigen Risiken.« Sie musterte ihn streng. »Du warst lange genug mit Entschlossen unterwegs. Was du als nötige Risiken betrachtest, würde Kedyn Herzflattern verursachen.« Kräh schnaubte und küsste sie auf die Stirn. »Ich werde vorsichtig sein. Sei du es besser auch.« »Ich verspreche es, Liebling.« Alyx lächelte verschmitzt. »Schließlich wollen wir unseren Kindern ein gutes Beispiel geben. Und jetzt ist der richtige Augenblick, damit anzufangen.« »Ganz genau.« Kräh lachte sie an. »Ich liebe dich, Alexia. Ich komme zurück. Uns gehört die Zukunft, und nichts und niemand wird sie uns nehmen.« 181 KAPITEL SIEBZEHN Tür Ermenbrecht und seine Leute war es sowohl ein gutes wie ein schlechtes Zeichen, dass sie das Nordtor von Sarengul aufgebrochen fanden. Das Gute daran war: Man konnte ihnen den Zugang nicht verwehren, und jeder Unterschlupf vor der Kälte war ihnen willkommen. Zwei Wochen waren sie südsüdostwärts gezogen, beständig gehetzt von aurolanischen Jägertrupps. Die Berghallen der urSreiöi-Kolonie würden ihnen ein schnelleres Weiterkommen erlauben und mit etwas Glück ermöglichen, den Verfolgern zu entkommen. Aber wohin? Jullach-Tse Seegg war Zeichen gefolgt, für Ermenbrecht völlig unsichtbar, und hatte sie durch ein enges Gebirgstal geführt, das vor dem Tor endete. Schnee häufte sich in dem engen Bergeinschnitt, und falls noch Leichen nach dem offensichtlichen Angriff zurückgeblieben waren, lagen sie tief unter der weißen Schicht begraben. Auch die Reliefs um den kreisrunden Eingang waren von Schnee bedeckt, der die urSreiöiKriegerinnen, die einen Drachen abwehrten, wie mit Zuckerguss überzog. Das Bild war hoffnungsvoll, doch das Tor, das unter dem Bogen in Trümmern lag, dämpfte die aufkommende Freude. Jullach-Tse trat zögernd auf langen Beinen vor. Sie blickte in das schattige Innere des Berges und kam zu den anderen zurück, um Bericht zu erstatten. »Ich sehe nur Schnee, rieche überhaupt nichts und höre allein das leise Pfeifen des Windes. Das hier war nur eines von 182 vielen Besuchertoren. Es könnte sein, dass Angreifer weiter vorgestoßen sind, aber auch, dass die Verteidiger diesen Bereich abgeriegelt haben.« Der Prinz runzelte die Stirn. »Sie haben jedenfalls das Tor nicht zurückerobert, und es sind keine Spuren von Kämpfen in letzter Zeit zu sehen. Das sieht nicht gut aus. Ich möchte lieber nicht daran denken, was nötig war, dieses Tor aufzubrechen.« Ryslin deutete mit dem Bogen zum Eingang. »So stark es auch gewesen sein mag, mit genügend Draconellensalven war es zu durchbrechen.« »Könnte sein«, gestand Verum zu. Er zeigte hinauf zu den hohen Klippen auf beiden Seiten der Schlucht. »Aber ebenso hätten die SarenSreiöi da oben herauskommen und die Angreifer hier unten abschlachten können. Das bedeutet, die Aurolanen sind dort hochgeklettert, haben den Verteidigern aufgelauert und sind dann erst in die Kolonie eingedrungen. Falls sie urSreiöi-Hilfe hatten ...«
Jullach-Tse schüttelte entschieden den Kopf. »Keine urSreö würde ihre Kolonie verraten.« »Es müssen keine SarenSreiöi gewesen sein, Jullach-Tse. Du erinnerst dich an die alten Geschichten, dass die in Boragul zurückgebliebenen urSreiöi sich mit Kytrin verbündet haben sollen?« Ryslin schüttelte nachdenklich den Kopf. »Sie würden sich mit solchen Verteidigungsmaßnahmen auskennen, wie sie hier zu erwarten waren. Sie brauchten die Truppen nur an die richtige Stelle zu führen, und der Hinterhalt würde gelingen.« Die urSreö zögerte, dann nickte sie widerwillig. »Falls das stimmt, falls sie bei Planung und Ausführung Hilfe von den BoraSreiöi hatten, könnte das ausgesprochen böse gelaufen sein. Wären die BoraSreiöi hier aufgetaucht und hätten sich als entflohene Sklavinnen ausgegeben, wären sie bestimmt aufgenommen worden und 183 hätten genug Gelegenheit gehabt, die Verteidigung von innen zu sabotieren.« Jancis Eisenbart schaute zu Ermenbrecht hinüber. »Wie sieht Euer Plan jetzt aus, Hoheit?« Ermenbrecht nahm den Vierschüsser von der Schulter. »Dort drinnen werden wir weniger Spuren hinterlassen als hier draußen, und unter den Bergen durchzumarschieren ist angenehmer als über sie hinweg. Außerdem ist es wichtig, herauszufinden, wie die Lage in Sarengul ist. Wir müssen über Arkantafal einen Bericht abgeben. Im Süden sollen sie erfahren, was hier vorgeht.« Der ^Elfenbogenschütze verengte die Augen. »Angesichts unseres Gepäcks frage ich mich, ob es eine so kluge Idee ist, ein Gebiet zu betreten, das sich unter Umständen in der Hand des Feindes befindet.« »Vermutlich nicht, aber sich durchs Gebirge zu schlagen, ist es noch weniger.« Ermenbrecht schaute sich unter seinen Begleitern um. Die drei AElfen und eine urSreö hatten die zweihundert Meilen weite Reise einigermaßen gut überstanden. Jilandessa war sichtlich am schwersten mitgenommen, versuchte aber auch nach Kräften, die anderen gesund zu halten. Für diese anderen, Alte und Junge, Menschen und Meckanshii, war der Marsch eine harte Prüfung gewesen. Ermenbrecht konnte sich kaum noch erinnern, wann ihm zuletzt warm gewesen war, und überhaupt nicht mehr, wie es war, keine Schmerzen zu haben. Die Gespräche während der kalten Mahlzeiten hatten sich regelmäßig um warmes Essen gedreht, und mit jedem Tag war die Stimmung weiter gesunken. Der Prinz deutete mit der Draconette auf das düstere Loch im Berg. »Seit über zwei Wochen sind wir auf der Flucht. Wir haben Glück gehabt, dass wir den Verfolgern bisher entkommen konnten, und mit Sarengul können wir sie wahrscheinlich endgültig abhängen. 184 Falls es uns unterwegs möglich ist, ein paar Aurolanen zu töten und den urSreiöi in Sarengul zu helfen, ist mir das ganz recht. Falls sie sich im Gegenzug bereit finden, uns zu helfen, haben wir sehr viel bessere Aussichten als bei einem Versuch, über das Gebirge zu marschieren. Wir gehen gemeinsam, so wie wir es immer getan haben.« Der Loqaelf nickte. Er und Finnrisia, die andere Bogenschützin, bewegten sich an die Spitze der Formation. Die zwei huschten so leichtfüßig über den Schnee, dass sie keine für Ermenbrecht sichtbaren Spuren hinterließen. Der Rest der Kompanie stampfte hinterdrein und machte die Vierschüsser klar. Sie steckten Lunten in die Flintenschlösser, und Verum zündete die Enden an, um die Waffen einsatzbereit zu machen. Die beiden AElfen stiegen die Stufen zum Eingang hinauf, dann duckte Finnrisia sich hindurch. Nach ein paar Sekunden folgte Ryslin. Jullach-Tse betrat den Berg als Nächste, dann tauchte die urSreö wieder in der Öffnung auf und winkte die anderen weiter. Das vom Schnee reflektierte Licht erhellte den Gang, sodass sie kleine Verwehungen und einzelne im Tod erstarrte Kadaver erkannten. Ermenbrecht sah ein paar Schnatterer, einen Vylaen, zwei urSreiöi und einen Kryll. Außerdem deutete der Schutt, bis weit in den Gang verstreut, darauf hin, dass die Aurolanen das Tor mit einer Draconelle oder einer Ladung Feuerdreck gesprengt hatten. Während Verum die Krieger in eine sichere Deckung lotste, drehte sich Ermenbrecht zu Jullach-Tse um. »Irgendwelche Vorschläge, wie wir von hier aus weitergehen?« Sie deutete den Hauptgang hinunter, der nach Osten führte. »Dieser Weg führt zu einem der Großen Hauptgänge. Dort geht es nach Norden oder Süden. Ich habe schon einen Teil davon benutzt, aber nur auf dem Weg 185 hier herauf, von Süden aus. Dort trifft er auf die andere Hauptreiseroute nach Nordosten und Südwesten, zwischen Muroso und Nybal. Das ist der kürzeste Weg und der wahrscheinlichste Ort für einen Widerstand.« »Gibt es Alternativrouten?« Sie nickte. »Es liegen überall Dörfer und Städte entlang der Großen Wege. Manche genau auf den Hauptstraßen - die sind auf allen Seiten um den Gang herum angelegt, darüber, darunter, links und rechts. Andere Orte befinden sich abseits und haben eigene Straßen. Es gibt Routen hinab zu den Minen und den Quellen. Die Berge sind durchzogen von einem Netzwerk bekannter Gänge, und vermutlich gibt es noch ebenso viele unbekannte. Das Problem ist, Invasoren könnten entlang des Haupttunnels vorrücken, ohne jemals einen der abgelegeneren Orte zu bemerken, und deren Einwohner könnten den Zugang so verbarrikadieren, dass eine Invasionsstreitmacht ewig brauchte, ihn wieder freizumachen. Mit einem Zugang zu Nahrungsvorräten und Wasser könnte ein Ort einer Belagerung Monate, wenn nicht Jahre, standhalten und hätte währenddessen immer einen Ausgang nach oben.« Der Prinz rieb sich mit einer Hand den frischen Bart. »Falls uns jemand nicht durchlassen will, sitzen wir fest.
Schlimmer noch, man könnte uns in eine Falle locken. Wie es scheint, halten wir uns momentan am besten an die Hauptgänge und suchen uns Ausweichmöglichkeiten, wenn wir sie brauchen.« Jullach-Tse stimmte ihm zu. »Es gibt auch eine ermutigende Nachricht: Wir haben nichts von aurolanischer Verstärkung bemerkt, die hierher unterwegs wäre. Kytrin muss glauben, dass die SarenSreiöi entweder besiegt oder zumindest unter Kontrolle sind. Die Aurolanen erwarten nicht, dass ihnen jemand folgt, sonst hätten sie Posten aufgestellt. Wenn wir uns vorsehen, könnten wir es schaffen.« 186 »Ja, das ist zumindest eine Hoffnung.« Der Prinz stand auf und winkte allen, nach Osten weiterzurücken. Er beobachtete stolz, wie seine Soldaten von einer Deckung zur nächsten liefen, angeführt von den AElfen, mit der urSreö als Nachhut. Je tiefer sie in das Massiv eindrangen, desto schwächer wurde das Licht, und die Nachtsicht der AElfen war eine große Hilfe. Die anderen folgten ihnen zügig und erkundeten unterwegs die Gänge und Wohnungen, an denen sie vorüberkamen. Die Verwüstung war unübersehbar; dunkle Blutflecken an den Wänden, Verwesungsgestank lag in der Luft. Jilandessa setzte ein wenig Magik ein, um über einige Opfer herauszubekommen, was sie konnte, erfuhr aber nur, dass sie schon lange tot waren. Nicht ganz so lange, wie die Kompanie auf dem Marsch war. Die Verletzungen der Opfer sprachen eine deutliche Sprache. Der Angriff war entsetzlich brutal gewesen. Kinder waren in den Armen ihrer Mütter gestorben. Ein Kind war demselben Draconettenschuss zum Opfer gefallen, der seine Mutter getötet hatte. Die Toten lagen, wo sie gestorben waren, wie es der urSreiöi-Tradition entsprach, doch Ermenbrecht war sich ziemlich sicher, dass der Angriff der Nordlandhorden es unmöglich gemacht hätte, sie zu bergen, selbst wenn das bei den Zwergen üblich gewesen wäre. Die urSreiöi hatten die Angreifer nicht widerstandslos vorrücken lassen. Auch Nordländerkadaver lagen über die Gänge verstreut, leider nicht annähernd genug, um Ermenbrecht Mut zu machen. Er zählte in Gedanken mit und verglich die Zahl der gefallenen urSreiöi-Kriegerinnen mit den toten Angreifern. Das Ergebnis war bedrückend ... erst recht, wenn er die zivilen Opfer mitzählte. Die Aurolanen waren durchgebrochen und sie hatten ein gnadenloses Massaker angerichtet. Von der Einmündung in die Nord-Süd-Route an 187 nahm die Zahl der Toten deutlich ab. Vermutlich war beim Fall des Tors Alarm gegeben worden, und man hatte die Bewohner entlang der Hauptrouten tiefer in das Massiv evakuiert. Da hätten die SarenSreiöi zumindest die Zahl der Opfer verringern und die Angreifer, mit etwas Glück, vorbeimarschieren lassen können. Am späten Nachmittag fanden sie einen kleinen Kammerkomplex, der von den Bewohnern verlassen worden war. Die Aurolanen hatten ihn geplündert, jedoch nicht systematisch. Jullach-Tse fand Lebensmittelvorräte, Wein und Holz, und es gelang ihnen, die Tür zu verschließen. In dieser Nacht gönnten sie sich eine warme Mahlzeit und schliefen auch warm. Ein warmes Frühstück nach einer guten Nachtruhe weckte neue Lebenskraft in der Kompanie. Die Moral besserte sich langsam, und Ermenbrecht hörte erste Bemerkungen darüber, Jagd auf die Aurolanen zu machen, statt vor ihnen zu fliehen. Sie füllten ihre Proviantbeutel, dann rückte die Truppe vorsichtig wieder aus. Der zweite Tag verstrich ohne besondere Vorkommnisse. Ermenbrecht spürte, wie seine Begleiter schneller vorankommen wollten, denn der Gang, den sie entlangzogen, war hoch, breit und weitgehend frei von Kampfspuren. Gut, die Aurolanen hatten alles, was auch nur entfernt als Verzierung gelten konnte, mit ihrem Kot verschmiert. Doch selbst mit Exkrementen besudelt bot Sarenguls Hauptkorridor noch einen majestätischen Anblick. Ermenbrecht dachte unwillkürlich, dass die Aurolanen Sarengul zwar vielleicht unter ihre Kontrolle bringen konnten, aber besitzen ... Und dass die Kolonie ihre Befreier herzlich willkommen heißen würde. Auch dieser Tagesmarsch endete bei einer Einkehre, wo sie Nahrung und Brennholz fanden. Es überraschte den Prinzen etwas, dass die von hier evakuierten urSreiöi nicht zurückgekehrt waren, nachdem die Au188 rolanen vorbeigezogen waren, sei es, um die Vorräte zu bergen oder sie zu vergiften. Jullach-Tse wusste keine Antwort auf diese Frage, aber die Vorräte waren einwandfrei. Die Kompanie verbrachte eine weitere Nacht einigermaßen in Bequemlichkeit und Sicherheit. Am dritten Tag jedoch, als sie herausfanden, warum keine urSreiöi in den Hauptgang zurückgekehrt waren, verpuffte jede Illusion von Sicherheit. Sie waren nach Süden gekommen, und Jullach-Tse hatte angekündigt, dass sie sich einer der größeren Städte und einer Kreuzung mit mehreren anderen Straßen näherten, ähnlich der, durch die sie die Kolonie betreten hatten. Noch bevor sie im schummrigen Licht sahen, was geschehen war, konnten sie es riechen. Schlimmer noch, sie hörten Fressgeräusche. Kleine Frostkrallen, nicht größer als Hunde, nagten an Leichen. Die riesige, zylindrische Kreuzung - für Straßen aus allen Ecken und Enden des Massivs - war von gewundenen Aufgängen und Abstiegen durchzogen. In den Fels gehauene Pfeile wiesen auf die verschiedenen Ziele hin, die entlang der breiten Gänge erreichbar waren. Obwohl der größte Teil der Kreuzung im Dunkeln lag, konnte man sich vorstellen, wie hier das Leben pulsiert hatte. Jetzt zuckten nur noch Fleischfetzen, als gierige kleine Temeryxe sich in aufgedunsene Leiber fraßen, um sich an den verwesenden Innereien den Bauch voll zu schlagen. Ermenbrecht erfasste sofort, was hier vorgefallen war. Die verteidigenden urSreiöi hatten sich vor dem Angriff
der Aurolanen zurückgezogen. Kytrins Truppen hatten ihnen nachgesetzt und sich keine Mühe gegeben, einem Hinterhalt auszuweichen. Als sie die Kreuzung erreichten, waren die urSreiöi mit geballter Kraft über sie hergefallen. 189 Unglücklicherweise hatte es nicht gereicht. Möglicherweise waren es die Draconellen und Draconetten der Invasoren gewesen, die den Untergang der urSreiöi besiegelt hatten. Er sah viele Anzeichen der Zerstörung, wie sie beide Waffentypen anrichten konnten. Eine entlang eines der Spiralgänge hüpfende Draconellenkugel verbrauchte irgendwann ihren Schwung und kam zum Stillstand, doch bis es so weit war, zerschmetterte sie Arme und Beine. Die Leichen von urSreiöiMagikerinnen waren von Draconettensalven durchsiebt, und ohne sie war der aurolanischen Magik wohl kaum etwas entgegenzusetzen gewesen. Wie es schien, hatten die Krylls die Schlacht entschieden, denn es gab deutliche Spuren ihrer Anwesenheit. Nicht nur lagen überall - von ihren Zaubern schwarz verbrannte - Leichen herum, auch in die Wände hatten sie Löcher geschmolzen. Die Gewalt der Magik, die hier getobt hatte, ließ ihn staunen, und angesichts der skrupellosen Grausamkeit, mit der sie eingesetzt worden war, wurde ihm schlecht. Auf allen Seiten zeigten die Wände die Spuren der Krylls. Magik hatte den Stein zum Schmelzen gebracht, und Überlebende waren mit Armen und Beinen hineingedrückt worden. Dann hatte sich der Fels wieder verhärtet und hatte sie gefangen, mehr oder weniger gekreuzigt. Die urSreiöi hätten zwar theoretisch in der Lage sein müssen, sich durch Gestaltwandlung aus diesen Fesseln zu befreien, aber erschöpft vom Kampf und verwundet, wie die meisten von ihnen es bereits waren, hatten sie dazu nicht mehr genug Kraft gehabt. Gekreuzigt zu werden, das wusste Ermenbrecht, war ein grausamer Tod. Der an den Armen hängende Leib musste um jeden Atemzug kämpfen. Das bloße Gewicht der Organe schlug auf die Lunge und verurteilte das Opfer zu einem langsamen Ersticken. Gnadenschreie wurden langsam schwächer, erst zu Stöhnen, 190 dann zu Winseln, schließlich zu keuchenden Atemzügen und endlich zum Rasseln des Todes. Jilandessa setzte einen Zauber ein, dann schüttelte sie den Kopf. »Die Schlacht hat vor einer Woche stattgefunden. Das ist so ziemlich alles. Die Opfer hier haben noch zwei, drei Tage gelebt, im Höchstfall fünf.« Der Prinz nickte. Der Zylinder musste ihre Todesqualen gesammelt und wie einen verfluchten Wind durch den Berg getragen haben. Niemand, der von dem Angriff gewusst und diesen Ausgang gehört hatte, konnte sich danach noch herausgewagt haben. Die Stille nach dem Tod der letzten Opfer musste eine willkommene Erlösung gewesen sein, aber sie hatte die Überlebenden bestimmt erst recht veranlasst, in ihren Verstecken zu bleiben. Jullach-Tse deutete nach Süden. »Die Aurolanen sind dort hinab. Wenn wir ihnen folgen, werden wir sie bald eingeholt haben.« Ermenbrecht runzelte die Stirn. »Zunächst werden wir eine Unterkunft suchen, dann gehen wir zurück und halten Ausschau nach einer Parallelroute. Nur falls wir keine finden, folgen wir ihnen. Sie werden sich nicht noch einmal in einen solchen Hinterhalt locken lassen, aber was wir hier sehen, bedeutet nicht, dass sie keinen Widerstand mehr zu erwarten haben. Unser Ziel ist es durchzukommen, und irgendwie wird uns das auch gelingen.« Er warf einen letzten Blick auf die Wände. »Wir müssen durchkommen. Falls nicht, werden bald noch viel mehr Städte so oder noch schlimmer aussehen.« 191 KAPITEL ACHTZEHN Alyx hatte schon vor dem Erscheinen der beiden König Bomars gewusst, dass diese Besprechung wichtig war. Wie sich herausstellte, war der Mann, der ihr zuerst als König Bomar vorgestellt worden war, in Wirklichkeit Kronprinz Bomar gewesen. Neben seinem Vater im Kartenzimmer hätte der Unterschied zwischen beiden kaum größer sein können, abgesehen von ähnlichen Masken und den beinahe gleichen Roben. Der ältere Bomar war kleiner als sein Sohn, mit dem Ansatz einer Glatze und gebeugter Haltung. Er erinnerte sie an ihren Großvater. Wenn er sprach, wirkte der König allerdings so jung wie sein Sohn. Er sprach klar und bewies sogar Witz. Er besaß - sie besaßen, korrigierte sich Alyx - einen militärtaktischen Blick für die Lage des Reiches, den die wenigsten anderen Herrscher nachvollzogen oder auch nur hingenommen hätten. Der König schreckte nicht davor zurück, die düsteren Aussichten auszusprechen, die Karten und Sandtische präsentierten. Die Krise, vor der Muroso stand, hatte die beiden Bomars zu einem äußerst gefährlichen und extremen Zauberritual gezwungen. Man erklärte ihr, dass beide auf Grund ihrer Blutsverwandtschaft und langen Jahre der Vertrautheit, in denen der wahre König seinen Erben nicht nur selbst erzogen, sondern auch in den Künsten der Magik unterrichtet hatte, in bemerkenswert gleichen Bahnen dachten. Gemeinsam hatten sie einen Zauber gewirkt, der auf einem Ritual beruhte, das es Magikern gestattete, einen Spruch gemeinsam einzu192 setzen, und das sie aufs Engste verband. Was der eine der beiden wusste, wusste auch der andere. Der Kronprinz stellte an sie gewandt fest: »Es ist nicht so, als wären wir ein Geist in zwei Körpern. Wir teilen nur dieselben Erinnerungen. Wir profitieren von unseren gegenseitigen Erfahrungen. Wenn der eine ruht, arbeitet der andere.« Alyx verstand durchaus den Nutzen dieser Magik, fühlte sich aber dennoch unbehaglich dabei. Einem anderen
Zugriff auf ihre Erinnerung zu geben, wäre niemals für sie infrage gekommen. Das war ein Opfern von Eigenständigkeit, das sie nicht einmal ansatzweise begreifen konnte. Andererseits wurde ich dazu erzogen, ganz und gar dem Wohle meines Volkes zu dienen. Ist das wirklich so anders? Sie hatte vorbehaltlos hingenommen, dass ihr Leben der Sache Okrannels untergeordnet war jedenfalls, bis sie sich in Kräh verliebt hatte. Aber wenigstens hatte sie die Illusion von freiem Willen behalten, was diese Magik beiden Königen verweigerte. Der ältere Bomar studierte die neuesten Karten der Lage bei Porjal. »Die Flüchtlingszüge Richtung Navval melden nur halbherzige Verfolgung. Den Berichten zufolge sammeln die Sullanciri ihr Heer zu einem Angriff südwärts auf Caledo. Das passiert nicht ganz unerwartet, und Prinzessin Alexia war so freundlich, uns eine Gegenstrategie zu liefern.« Er deutete auf eine kleine Einheit etwa sechzig Meilen nordnordöstlich der Hauptstadt. »Hier, mehr oder weniger, befinden sich unsere Freischärler. Wir erhalten keine Berichte von ihnen, um ihre Position nicht zu verraten, aber wir erwarten, dass sie inzwischen ungefähr dieses Gebiet erreicht haben. Sie sind gut vorangekommen, und wenn die Aurolanenhorde südwärts zieht, können sie ihr die Nachschubwege abschneiden.« Bomar der Ältere hob einen kleinen Holzblock auf, 193 der eine Militäreinheit knapp außerhalb Caledos repräsentierte. »Wir werden diese Truppen, den Hauptteil unserer Streitmacht, entlang der Porjalstraße nordwärts zu den Grünen Tälern schicken und die erste Schlacht vorbereiten. Wir lassen sie wissen, dass wir sie erwarten, damit sie sich zu einem Angriff auf unsere Linien aufstellen, dann tauchen wir nach den ersten Schlagwechseln unter und lassen sie ins Leere laufen. Verfolger locken wir in einen Hinterhalt, um ihnen klar zu machen, dass sie vorsichtig sein müssen.« Alyx nickte. Der ältere König Bomar würde sich nicht persönlich an die Spitze dieses Heeres setzen, das aus vier Eliteregimentern bestand. Es verfügte nur über ein Regiment Kavallerie, das aber war das beste Murosos, mit drei Bataillonen leichter Reiterei für die Verfolgung und einer schweren Reiterei für den Sturmangriff. Eines der drei Infanterieregimenter bestand aus Kundschaftern und Waldläufern, die sich in kleine Kommandogruppen aufteilen konnten, um den Vormarsch des Gegners zu stören. Die beiden anderen Regimenter entsprachen mehr dem Standard für Fußtruppen und sollten den Gegner stoppen und binden, falls es erforderlich wurde. Kronprinz Bomar sollte die Armee anführen. Alyx erfuhr, dass die Entfernung beeinflusste, wie schnell sie die Erinnerungen des jeweils anderen lesen konnten. Der König konnte also nicht durch die Augen seines Sohnes blicken. Die Verzögerung belief sich auf etwa eine Stunde pro Meile Entfernung. Arkantafalberichte würden schneller eintreffen, aber weit weniger Details enthalten. König Bomars dunkle Augen zuckten zu Alyx hinüber. »Ihr, Prinzessin, werdet diese zweite Streitmacht die Navvalstraße hinaufführen und parallel zu unserem Heer bewegen. So könnt Ihr nach Osten einschwenken und die Nordlandhorden in der Flanke treffen.« 194 Sie nickte. »Ich kenne meine Rolle.« Es hatte sie ein wenig gekränkt, dass die Murosonen ihre Strategie genommen und ihr dann den kleineren Teil der Streitmacht unterstellt hatten, aber sie hatte diesen Unmut schnell unterdrückt. Sie war Ausländerin, jung, und in den Augen vieler hier ohne jede Erfahrung. Es war schon eine große Ehre, dass man ihr zwei Kavallerieregimenter anvertraut hatte. Sie wünschte, sie hätte ihre Wölfe dabeihaben können, doch die standen in Okrannel und kämpften unter General Adrogans. Die Augen des alten Mannes funkelten einen Moment, und sein Sohn lächelte. »O Prinzessin, wir wissen wohl, dass Ihr die Aurolanen angreifen möchtet, wenn sie sich wieder zur Marschkolonne formieren, um den Vormarsch nach Süden fortzusetzen. Sobald das Aussicht auf Erfolg hat, werden wir es auch gestatten.« »Es würde sie schwer treffen, und ich würde es nur versuchen, wenn es ohne ungebührliches Risiko für meine Einheit möglich ist.« Sie hielt die Stimme ruhig und musste ein Lächeln unterdrücken. Sie hatte den Ausdruck ungebührlich bewusst gewählt, um ihn vor sich selbst von den wahnwitzigen unnötigen Risiken abzugrenzen, die Kräh und Entschlossen eingingen. Der Kronprinz legte die Hände auf den Rücken. »Prinzessin Sayce hat um die Erlaubnis gebeten, sich Eurer Truppe anzuschließen.« Alyx runzelte die Stirn. »Ich dachte, sie wäre von Anfang an als Teil meiner Streitmacht vorgesehen gewesen.« »Das war sie auch, aber ich habe mich dagegen ausgesprochen.« Prinzessin Dayley warf ihrem Bruder einen wütenden Blick zu. »Sayce hat schon mehr als genug getan.« Alyx rieb sich die Augen. Dayley hörte sich an wie eine Mutter, die ihre Kinder beschützte. Falls sie auf dieselbe Weise mit ihrer Mutter verbunden war wie Bo195 mar mit seinem Vater, wollte Alyx lieber nicht darüber nachdenken. Sie blinzelte und erinnerte sich, dass Dayley keine Magikerin war, nur ein Mitglied der Kommunion. Wenn das etwas von Bedeutung wäre, von dem sie wollte, dass ich es erfahre und nicht darüber spreche, hätte sie es mir dort sagen können. Also muss ich davon ausgehen, dass es sich hier um eine rein interne murosonische Angelegenheit handelt. Die okransche Prinzessin verschränkte die Arme. »Es stimmt, Sayce hat eine Menge getan. Sie ist nach Süden geritten, hat den Norderstett gefunden und ihn praktisch hierher nach Norden gezerrt. In Bokagul hat sie tapfer
gekämpft und beinahe den Tod gefunden. Angesichts des drohenden Untergangs, der ihrem Heimatland bevorsteht, bin ich jedoch nicht sicher, ob irgendjemand außer ihr selbst entscheiden kann, ob sie genug getan hat. Die Krieger, die sie nach Süden begleitet haben, waren Mitglieder der Königlichen Roten Lanzers, und sie sind Teil meines Kontingents. Ich glaube zwar nicht, dass sie Sayce als Anführerin oder auch nur Galionsfigur brauchen, aber sie kann beide Rollen ausfüllen, und sie macht ihre Sache gut. Falls es ihr möglich ist, mich zu begleiten, hätte ich sie gerne dabei.« Dayley schüttelte den Kopf. »Das Risiko wäre zu groß, würde sie mit in den Kampf ziehen.« Sie schaute an ihrem Bruder vorbei zum Vater. »Sayce sollte nach Süden, nach Aleida, geschickt werden, oder nach Westen, falls die Loqaelfen sich bereit erklären, sie aufzunehmen und zu beschützen.« »Zu beschützen?« Auf Alyx' Stirn erschienen steile Falten. »Wovon redet Ihr?« Dayleys Mine versteinerte. »Meine Schwester ist schwanger - mit dem Kind des Norderstett.« Alyx' Magen schlug einen Salto. »War das etwa alles ein abgekartetes Spiel? Habt Ihr sie nach Süden geschickt, um Will zu verführen?« 196 Der ältere König schüttelte den Kopf. »Wir haben nichts dergleichen getan.« Er schaute hinüber zu Dayley. »Ich habe sie geschickt.« Kronprinz Bomar war höflich genug, überrascht zu blicken, aber Alyx hätte einen entsetzteren Ausdruck bevorzugt. Dayley lief puterrot an. Alyx schaute von ihr zum Vater und wieder zurück. »Ich weiß nicht, was ich sagen oder denken soll.« »Ihr mögt denken, was Ihr wollt, Prinzessin, aber ich habe nur getan, was nötig ist. Falls die Prophezeiung stimmt, ist die Norderstett-Blutlinie von höchster Bedeutung, und ich wollte sichergehen, dass sie auch weiterhin besteht. Nicht für mein Reich, sondern für die Zukunft.« König Bomar presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. »Ihr habt die Unfähigkeit meiner Mitmonarchen bei der Einschätzung der Bedrohung, die von Kytrin ausgeht, selbst erfahren. Sebtia ist nicht mehr, und niemand hat ein Wort darüber verloren, geschweige denn ein Heer ausgehoben, um es zurückzuerobern. Mein Reich wird überfallen, und abgesehen von Eurer Kompanie und einigen Orioser Freischärlern steht nicht ein ausländischer Soldat hier, um sich den Nordlandhorden entgegenzustellen. Ich mache mir keine übertriebenen Hoffnungen, was die kurzfristige Zukunft meiner Heimat betrifft, aber ich werde tun, was immer nötig ist, um sicherzustellen, dass sich die Prophezeiung in der Zukunft erfüllen kann.« Dayley schaute zu Boden. »Ich sollte eigentlich nach Süden reiten, um den Norderstett zu finden und zu verführen. Meine Schwester, die schon immer eifersüchtig auf mich war, beschloss, loszureiten und den Norderstett nach Muroso zu holen. Sie hat ihn verführt und die Vereinigung hier vollzogen, nur um es mir zu zeigen. Nachdem sie das geschafft hat, will sie weiter die Heldin spielen und Euch begleiten.« 197 Alyx' Blick suchte den Kronprinzen. »Ihr habt von alldem nichts gewusst?« Der jüngere Bomar schüttelte den Kopf. »Ich war vollauf mit dem Krieg beschäftigt und habe nicht in den Gedanken meines Vaters herumgestöbert. Jetzt bin ich froh darüber. Ich habe es nicht gewusst, und hätte ich es gewusst, wäre ich nicht einverstanden gewesen.« »Dein Einverständnis ist nicht erforderlich, Sohn. Mit der Krone kommt die Verantwortung. Wärest du an meiner Stelle, würdest du anders darüber denken.« Alyx konnte nicht glauben, was sie hörte. Sie erinnerte sich an Will, der sie voller Bedenken um Rat gefragt hatte. Er hatte solche Angst, Sayce das Herz zu brechen. Er hatte Angst, sie könnte sich benutzt fühlen, dabei war die ganze Zeit er derjenige, der benutzt wurde. Sie schaute hoch. »Was ist los mit Euch?« »Ich muss an mein Reich denken.« Alyx wischte diese Antwort beiseite. »Ihr versteckt Euch hinter diesem edlen Gedanken, als könnte dann niemand die Lügen sehen, in die Ihr Euch verstrickt habt. Ihr wollt Rache. Falls Muroso fällt, weil ihm außer uns niemand zu Hilfe kommt, wollt Ihr den Norderstett, den sie brauchen, um sich selbst zu retten. Und versucht nicht, es zu bestreiten, denn allein dass Ihr durch Hinterlist dem Norderstett ein Kind anhängt - und noch dazu mit einer Eurer eigenen Töchter - beweist, dass kein nobles Ziel dahinter steckt.« Der ältere Bomar schüttelte den Kopf. »Es war notwendig, das Ganze geheim zu halten, damit Kytrin das Kind nicht ermorden lassen kann.« »Das ist eine dermaßen fadenscheinige Lüge, dass ein Flüstern sie zerfetzt.« Alyx' violette Augen wurden schmal. »Ihr versteht gar nichts. Es geht nicht um einen Norderstett, sondern um den Norderstett. Wäre die Blutlinie so wichtig, hätte sich Will jede Nacht verausgabt, um eine Legion zu zeugen. Ich würde sein Kind tragen.« 198 Plötzlich begriff sie. Sie fuhr herum zu Dayley. »Sayce weiß nicht, dass sie schwanger ist, habe ich Recht? Ihr habt Magik eingesetzt, um es festzustellen.« »Sie weiß es.« »Ihr lügt nicht gut genug, um mich zu täuschen. Wüsste sie es, so würde sie mich nicht begleiten wollen.« Der König beobachtete sie genau. »Ihr wisst es aber jetzt, und trotzdem wollt Ihr sie mit Euch in die Schlacht
nehmen?« »Und das Kind in Gefahr bringen? Ja, aber nur, um Sayce Eurem Zugriff zu entziehen.« Alyx fuhr sich mit gespreizten Fingern durchs Haar. »Erst König Swindger, jetzt Ihr. Sind es die Masken, die Euch zu Intriganten machen, oder was ist es? Ich verstehe das alles nicht und will es auch nicht verstehen. Ihr beschwert Euch, dass andere politische Spielchen betreiben und Euch nicht zu Hilfe kommen, doch Ihr benehmt Euch selbst ganz genauso, und Ihr spielt sie aus gegen einen jungen Mann, der nach Norden gekommen ist, Euer Reich zu retten. Es ist der eine junge Mann, der Euer Reich möglicherweise retten kann\« Bevor ihr jemand antworten konnte, erschien einer der Signalmagiker und stellte mehrere Einheitsmarkierungen am Rand der Karte auf, in Sarengul. Einer stand für aurolanische Einheiten in der urSreiöi-Festung. Das überraschte Alyx nicht, denn sie war davon ausgegangen, dass der Angriff auf Bokagul eine vorherige Neutralisierung von Sarengul entweder durch Eroberung oder ein Bündnis voraussetzte. Dann stellte der Magiker einen zweiten Holzklotz in den Sand, einen erheblich kleineren, ohne Landes- oder Einheitsfarben. »Verzeiht die Unterbrechung, mein König, aber diese Information wurde soeben aus Aleida weitergeleitet. Eine kleine Gruppe aus der Festung Draconis hat Sarengul erreicht und gemeldet, dass die Aurolanen die 199 Kolonie überfallen haben. Die Einzelheiten sind spärlich, aber Teile Sarenguls sind vor zwei Wochen gefallen. Die Flüchtlinge arbeiten sich weiter südwärts vor, wissen aber weder, was sie erwartet, noch, ob sie es wieder ins Freie schaffen.« König Bomar nickte. »Er lasse eine Nachricht an sie weiterleiten, dass sie hierher nach Caledo kommen sollen, falls sie es schaffen.« »Sehr wohl, Hoheit.« Der ältere Bomar schaute zu Alyx. »Mit der Bestätigung, dass Sarengul gefallen ist, wird die Lage noch prekärer. Kytrin kann unbesorgt nach Süden marschieren und ihre ganze Macht auf uns konzentrieren. Ich bedaure keinen Schritt, den ich zum Schutz meines Reiches unternommen habe.« Alyx' Stimme wurde eiskalt. »Ihr wart doch nach dem letzten Krieg daran beteiligt, Tarrants Geschichte herunterzureden, oder? Was habt Ihr mit der Zeit getan, die Ihr Eurem Reich erkauftet?« Der ältere König zögerte und der Kronprinz starrte ihn an. »Du hast gewusst, dass Kytrin kommt? Vater!« »Es war nur eine Vermutung.« Der Kronprinz schüttelte den Kopf. »Mich kannst du nicht belügen. Ich habe deine Erinnerungen an damals. Du wusstest, dass es falsch war. Du wusstest, dass sie zurückkommen würde, und du hast nichts getan!« Der König knickte ein. »Ich hoffe, mein Sohn, du wirst weiser sein, als ich es damals war.« Der Kronprinz nickte. »Das wollen wir beide hoffen, oder die Zukunft - Norderstett-Erbe hin, Norderstett-Erbe her - wird kurz und blutig werden.« Alyx schnaubte. »Das wird sie vermutlich ohnehin.« Kronprinz Bomar schaute sie ernst an. »Dann lasst es ihr Blut und ihre Zeit sein. Ich werde dafür sorgen, dass Ihr auf dem Laufenden bleibt. Ich bin sicher, meine Schwester ist bei Euch sicher aufgehoben.« 200 »Ich werde es ebenso halten, und ich werde auf sie aufpassen.« Alyx starrte den König an. »Nicht um Eurer Zukunft willen, sondern um Wills. Was Ihr getan habt, war schlimm. Wir wollen hoffen, es erweist sich nicht als verheerend.« König Bomar hob den Kopf. »Ich wüsste nicht, was daran schlimm oder verheerend sein könnte.« Sie schüttelte den Kopf. »Ihr habt nur daran gedacht, einen zusätzlichen Norderstett ins Spiel zu bringen, für den Fall, dass dieser hier nicht der Norderstett ist. Aber was, wenn Euer Enkel dank seiner Abstammung jetzt der Norderstett der Prophezeiung geworden ist? Damit hättet ihr Will seine Bedeutung genommen - und alle Macht, die er möglicherweise besessen hat. Der Norderstett hätte da draußen Ruhmestaten vollbringen können. Aber jetzt? Wer weiß? Wie dem auch sei, Will Norderstett wird für Euch tun, was in seiner Macht steht. Falls sich Eure Hinterlist gegen ihn kehrt, werdet Ihr und Euer Reich für diesen Verrat teuer bezahlen.« 201 KAPITEL NEINZEHN Auf Kjarrigan Lies wirkte das ganze Konzept eines Reinigungsrituals für Zauberer eher theologisch als thaumaturgisch. Er verstand, dass man sich von unangebrachten Einflüssen säubern wollte, bevor man einen Gott anbetete, aber Kjarrigan fühlte sich keiner bestimmten Gottheit verbunden. Keine hatte Magiker unter ihre Obhut genommen, und die Magiker ihrerseits waren nicht geneigt, sich einem Gott zu unterwerfen. Möglicherweise hatte Yrulph Kajrün versucht, sich zum Gott zu erheben, aber selbst wenn es ihm gelungen wäre, bezweifelte Kjarrigan, dass er eine große Anhängerschaft hinter sich gebracht hätte. Wenn man tagtäglich mit Wundern zu tun hat, werden die Götter irgendwann ziemlich überflüssig. In der Woche seit ihrer Ankunft in Caledo hatte sich seine Einstellung zu dem Ritual jedoch geändert. Prinz Murfin hatte ihm gezeigt, was er zu tun hatte, auch wenn man ihm den Zweifel, ob irgendjemand aus Vilwan in der Lage war, den Wert darin zu erkennen, deutlich angemerkt hatte. Kjarrigan, der es gewohnt war, von Lehrern jeder Art unterrichtet zu werden, hörte den Anweisungen genau zu und befolgte sie gewissenhaft. Und er hatte das Ritual die letzten fünf Tage jeden Morgen wiederholt. Er ging an dem Tag, an dem er mit
Prinzessin Alexia und ihren Truppen nach Navval aufbrechen sollte, hinab in die Kammer unter dem Palast, er spürte diesmal die Notwendigkeit des Rituals besonders deutlich. Er fühlte sich danach zwar nie gerei202 nigt, aber es erfüllte ihn mit einer gewissen inneren Ruhe. In einer kleinen Nische zog er sich nackt aus und schaute an sich herab. Wegen seines Leibesumfangs hatte er sich unbekleidet nie recht wohl gefühlt. Er hatte auf Vilwan zwar kaum Kontakt mit Gleichaltrigen gehabt, doch hatte er das Tuscheln und Kichern gehört, wenn er vorbeiging. Allerdings hatte niemand gewagt, ihn offen zu beleidigen, schließlich wussten alle genug über seine Macht, um Angst vor ihm zu haben. Aber trotzdem blieben Kinder allen gegenüber grausam, die anders waren als sie. Er hatte sich nie mit ihnen anfreunden oder ihre Meinung über ihn ändern können, und so hatte er den Spott stumm ertragen. Und zum Trost aß er. Er schmunzelte. Er hatte schon früh gemerkt, dass seine Lehrer viel Zeit mit ihm verbrachten, auch während der Mahlzeiten. Und essen durfte er, was immer er sich wünschte. Indem er herausfand, was den Lehrern schmeckte, konnte er sie dadurch belohnen, dass er das Entsprechende auswählte, oder bestrafen, indem er bestellte, was sie anwiderte, ohne sein eigenes Vergnügen zu schmälern. Essen wurde für ihn zu einem Machtinstrument, und mit wachsender Leibesfülle wuchs noch seine Lust darauf. Gleichzeitig bot das Fett seinen Feinden ein gutes Angriffsziel. Kjarrigan war gegen Beleidigungen wegen seiner Korpulenz abgehärtet, oder zumindest hatte er gelernt, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie ihn trafen. Ein so unübersehbares Ziel genügte schließlich den meisten - und sie suchten nicht tiefer nach anderen Schwachstellen ... Angriffen, mit denen er nicht so gut fertig geworden wäre. Er strich sich mit den Händen über die Brust und vergewisserte sich, das dort tatsächlich Haare sprossen. Er hatte keine Aussichten, einen so dichten Pelz wie 203 Kräh oder Dranas zu entwickeln, aber sein Oberkörper war auch nicht mehr so glatt wie bei einem kleinen Kind. Auf Vilwan hatte man ihn ständig wie ein Kind behandelt. Seit er die Insel verlassen hatte und mit anderen Gefährten reiste, näherte sich sein Status jedoch allmählich dem eines Erwachsenen. Und mein Körper stimmt dem zu. Die Haare auf der Brust waren nicht die einzige Veränderung. Er hatte Gewicht verloren. Er hätte nicht sagen können, wie viel, aber er wusste, er war leichter geworden. Er konnte seine Zehen zwar nicht ganz sehen, aber er erhaschte deutlich häufiger einen Blick auf sie, und den Gürtel schnallte er inzwischen zwei Löcher enger. Kjarrigan trat aus der Nische und ging zur ersten Ritualstation. Er hatte festgestellt, dass die Akademie Caledos häufig verschiedene Faktoren in Sprüchen und Ritualen verband. Er kniete sich in einen kleinen Kasten von etwa einem Schritt Seitenlänge und einer Handlänge Tiefe. Sand und Asche darin knirschten leise, als er auf die Knie sank. Er schaufelte mit beiden Händen große Haufen der körnigen schwarzen Mixtur und rieb sich damit am ganzen Körper ab. Der Sand und die Asche repräsentierten die Elemente Erde und Feuer. Das Pulver setzte sich schwarz unter die Fingernägel und färbte ihm die Haut hellgrau. Er rieb es sich ins Haar und über den ganzen Leib, warf es dorthin, wo er nicht hinkam, und massierte es ein, wo es möglich war, bis die Haut kribbelte. Er schmierte sich den letzten Rest auf die Oberschenkel, dann stand er mit einer kleinen Staubwolke auf. Kein Zweifel möglich, jetzt fühlte er sich schmutzig und wollte sich dringend säubern. Er drehte die Füße hin und her und grub sie bis zu den Knöcheln ein, um ganz sicher zu gehen, dass sie ebenfalls bedeckt waren, dann verließ er den Kasten und ging zur nächsten Station. 204 Vor ihm lag ein dampfendes Wasserbecken, in dem Trittsteine in einem Spiralmuster angeordnet waren. Vier Wege führten über das Wasser. Jeder begann mit der Rune eines Elements, und mit jedem Schritt wurden die Steine der Bogenwege größer. Ein Zentralstein lag in der Mitte des Beckens, einen Schritt von den Endsteinen aller vier Spiralwege entfernt. Dampf leckte mit Schwadenzungen aufwärts, und Kjarrigan fühlte, als er sich näherte, deutlich die Hitze. Dampf: Luft, Feuer und Wasser. Die Steine bringen uns zusätzlich in Verbindung mit der Erde. Er betrat die Feuerspirale, nur, weil er diesen Weg noch nie zuvor gegangen war. Bei jedem der acht Schritte atmete er tief ein und rief einen bestimmten Gedanken auf. Auf dem ersten Stein sollte er sich an seine letzte Mahlzeit erinnern, was ihm leicht fiel, auch wenn es kein angenehmer Gedanke war. Caledo hatte die vorhandene Nahrung bereits rationiert, es hatte nur wenig gegeben. Sobald er es sich in Erinnerung gerufen hatte, versuchte er es vollständig auszublenden. Erst als er das geschafft hatte, ging er einen Schritt weiter, und einen weiteren, wobei er sich an immer anderes erinnerte, vom Alltäglichen zum Exotischen, vom Körperlichen über das Emotionale zu Philosophischem. Mit jeder Erinnerung, die er aus seinem Geist verbannte, um einen Schritt weiterzugehen, befreite er sich von einer Belastung und wurde ruhiger. Auf dem vorletzten Stein, dem letzten des Feuerwegs, ließ er sich auf die Knie nieder. Der Stein war keineswegs weich, doch als er sich zurück auf die Fersen sinken ließ und in eine stabile Haltung geriet, fand er ihn unter Knien und Schienbeinen auch nicht besonders hart. Er ließ die Arme locker herabhängen und schloss die Augen. Die sichtbare Welt war ausgeschlossen, er fühlte, wie ihn Dampfschwaden kitzelten und streichelten. Ihnen folgte kühlere Luft, die ihn frösteln
205 ließ, doch schon bald sorgten Dampf und Hitze dafür, dass er in Schweiß ausbrach. Kjarrigan fühlte sich - wie er so auf dem Feuerstein kniete - vor allem dreckig. Er wollte sauber sein. Er wollte, dass seine Haut nicht länger juckte. Als ihm der Schweiß ausbrach, nahm er den Staub und Dreck auf der Haut des jungen Magikers auf. Er fühlte den dreckigen Schweiß an sich hinabtropfen, vom Kinn auf die Brust, den Hals hinab. Wie er sich unter dem Fettwulst über seinem Schoß sammelte. Der Schweiß brannte in den Augen und schmeckte salzig auf den Lippen. Er floss ihm in die Ohren und brannte in den Kratzern, die er sich zugefügt hatte, als er sich mit dem Sand abgerieben hatte. Während der Schweiß lief, sah Kjarrigan, wie Einflüsse und Böses, giftige Gedanken und Einstellungen sowie der Makel der Drachenkrone mit hinweggespült wurden. Zu dem Bedürfnis nach körperlicher Sauberkeit hatte er Verbindungen zu den Dingen geschaffen, von denen er sich geistig befreien wollte. Jetzt ließ er sie mitsamt dem Schweiß davonschwemmen. Nicht alle wurden vollständig weggespült, aber genug, um ihm eine wachsende Erleichterung zu verschaffen. Dann, als er das sichere Gefühl empfand, sauber genug zu sein, erhob er sich und trat auf den Mittelstein. Prinz Murfin hatte ihn den Geburtsstein genannt. Als Kjarrigan ihn zum ersten Mal betreten hatte, hatte ihn der Prinz gewarnt, den Atem anzuhalten, und er hatte sich gefragt, weshalb. Inzwischen wusste er es. Er wappnete sich und hob das Gesicht zur Decke. Das Eiswasser war zunächst ein leichter Schauer, wie ein sanfter Frühlingsregen. Kjarrigan drehte den Kopf, ließ sich vom Wasser Schweiß und Dreck aus den Augen waschen, dann senkte er den Kopf und zog schützend die Schultern hoch, denn was als sanfter Regen 206 begonnen hatte, verwandelte sich in eine Sturzflut. Eiskaltes Wasser platschte in heftigen Wogen auf ihn herab, er keuchte heftig. Eine nach der anderen wuschen sie alle Spuren von Schmutz und Schweiß davon, ließen ihn nach Atem ringend und mit einer Gänsehaut von Kopf bis Fuß zurück. Die Haut brannte und juckte. Ein gewaltiges Schaudern überlief ihn, dabei spritzten Wassertropfen von seinen Haaren über das Becken. Zischend sog er die Luft zwischen den Zähnen ein und ging über die Erdspirale zu einer anderen Nische, wo er eine Decke fand, in die er sich einwickelte. Laut Murfin wurde das für den Geburtsstein benutzte Wasser als Eis am Calessasee geschnitten und von der Sonne geschmolzen, sodass Mutter See und Vater Sonne den frisch Gereinigten bei der Rückkehr ins Leben begrüßten. Er ließ die Haare tropfen und setzte sich. Die Symbolhaftigkeit war ihm schon klar, er fand sie allerdings übertrieben. Er fühlte sich sauber, und das kalte Wasser hatte ihn erst richtig geweckt. Nach dem Ritual fand er auch neue Ruhe und, was noch besser war, er konnte feststellen, dass einzelne Aspekte des Makels, der ihm von der Drachenkrone anhaftete, verschwunden waren. Die Spuren waren eindeutig schwächer als vor den Ritualen, so wie wenn jede Wiederholung sie etwas mehr auflöste. Die genauere Untersuchung des Makels hatte ihn über Möglichkeiten nachsinnen lassen, ein Drachenkronenfragment zu entdecken. Falls es stimmte, was Rym Ramoch angedeutet hatte, musste jemand, der versuchte, ein Fragment zu verbergen, Zauber abblocken oder diejenigen täuschen, die danach suchten. Der Abwehrzauber musste das Bruchstück entweder vor dem Suchzauber verbergen oder diesen überwältigen und stattdessen eine abschlägige Antwort geben. Der Schlüssel lag für beide Arten der Abwehrmagik 207 darin, dass sie den eingesetzten Spruch identifizieren mussten, bevor sie ihn besiegen konnten. Bei dem Gespräch mit Rym hatte er die verschiedensten Dimensionen von Zaubern aufgelistet, mit deren Hilfe es möglich war, sie zu erkennen. Die leichteste Methode, einen Suchzauber zu erkennen, lag in seinem Wesen. Suchzauber suchten ein Ziel und meldeten das Ergebnis der Suche. Wie lange sie dazu brauchten und wie detailliert das Ergebnis war, hing von vielen Dingen ab. Häufig brauchten sie ziemlich lange und lieferten bestenfalls zweifelhafte Neuigkeiten. Kjarrigan hatte gehofft, die Suchzauber der Akademie Caledos würden sich deutlich von denen Vilwans unterscheiden, aber sie waren praktisch gleich. Der Zauber erstellte anhand der Informationen, die der Magiker lieferte, eine ungefähre Suchmaske, dann zog er hinaus in die Welt und suchte nach etwas, das dazu passte. Wollte Kjarrigan zum Beispiel eine Katze finden, dann stellte er sich eine Katze vor und sprach den Zauber. Je mehr Einzelheiten er festlegte, etwa Alter, Name, Haarfarbe, Narben, Geschlecht und so weiter, desto größer war die Wahrscheinlichkeit eines richtigen Treffers. Aber hätte er einen solchen Spruch eingesetzt, wäre er von Katzenmeldungen überflutet worden, und selbst wenn der Zauber genau die Katze gefunden hätte, nach der er suchte, hätte sich die Katze in der Zeit, bis die Meldung ihn erreichte, längst entfernt, und ohne weitere Zauber und angestrengte Suche vor Ort hätte er sie trotz allem nicht in die Hände bekommen. Kjarrigan stellte einen inhärenten Fehler aller Suchzauber dieses Typus fest und war sich ziemlich sicher, dass er auch schon früher jemandem aufgefallen sein musste. Falls dem aber so war, hatten sie keinen Zauber entwickelt, um das Problem zu beheben. Der Fehler war der: Die Sprüche waren langsam und unbeholfen, 208
weil sie blindlings alles erfassten und mit ihrer Suchmaske verglichen. Sobald ein Objekt ausreichend viele der darin festgelegten Bedingungen erfüllte, meldete der Spruch, dass er ein Ziel gefunden hatte. Dementsprechend konnte die Statuette einer schwarzen Katze die Suchbedingungen nach einer schwarzen Katze erfüllen, vor allem, falls der Zauberer, der ihn einsetzte, vergessen hatte, lebend als eine Bedingung festzulegen. Kjarrigan wollte einen Suchzauber entwickeln, der schneller funktionierte. Dazu wollte er die Bedingungen staffeln und alle Objekte, die eine Anfangsbedingung nicht erfüllten, sofort ausblenden. Bei der Suche nach einem Fragment der Drachenkrone beispielsweise würde er zunächst alles aussortieren, was nicht magisch war, dann alles, was keinen Edelstein enthielt, alles von zu geringem Gewicht und alles, was jünger als siebenhundert Jahre war. Genau genommen wollte er die Vorgehensweise des Suchzaubers vom Kopf auf die Füße stellen, und er hoffte, dass diese Methode es ihm gestattete, die versteckten Fragmente zu entdecken, weil deren Tarnzauber das Wesen seines Spruches nicht erkannten und daher nicht darauf reagieren konnten. Besser, er würde den Bericht auch noch genauer fassen. Sobald der Zauber ein Ziel fand, sollte er einen Sekundärzauber auslösen. Dieser zweite, der sozusagen Huckepack auf dem ersten mitlief, sollte dann zwei Kjarrigan war sich nicht ganz sicher, wie er es ausdrücken sollte, und wünschte, Will wäre hier gewesen und hätte ihm mit einem passenden Begriff aushelfen können - zwei Herolde aussenden. Jeder dieser Herolde entfernte sich eine halbe Meile nach Norden beziehungsweise Süden vom Ziel und meldete sich dann bei Kjarrigan. Da sie sich mit einer bekannten Geschwindigkeit bewegten und bei der Rückmeldung Angaben zu Richtung und Zeitpunkt machten, konnte Kjarrigan Entfernung und Standort des Objekts berechnen. Und 209 das Beste daran war, da die Herolde keinerlei Information über das Objekt an sich übermittelten, konnte kein Zauber, der solche Informationen abfangen sollte, sie aufhalten - wie etwa ein Zauber, der Suchsprüche überlagerte und an ihrer Stelle eine Negativmeldung aussandte. Er hatte die Einzelheiten des neuen Zauberspruches noch nicht komplett ausgearbeitet. Die Herolde waren einsatzbereit, doch es schien schwierig, die Hierarchie der Suchbegriffe auszuarbeiten und die Magik so auszuformulieren, dass sie funktionierte wie beabsichtigt. Er war sich ziemlich sicher, dass er in einer Woche fertig sein würde. Dann wollte er den Spruch nach Oriosa losschicken, um nachzusehen, ob sich das rote Fragment noch dort befand. Kjarrigan lächelte und seufzte zufrieden. Er hoffte, Rym Ramoch würde mit seinen Fortschritten ebenfalls zufrieden sein. Es bringt uns dem Ziel einen Schritt näher, Kytrin aufzuhalten, und wenn ihn das nicht freut, weiß ich es auch nicht. 210 KAPITEL ZWANZIG Tür General Markus Adrogans war diese Schlacht kompletter Unsinn. Dort in der Ferne, kaum ein Dutzend Meilen entfernt, lag Swarskija. Er erinnerte sich an eine leuchtende Stadt mit hohen Türmen und mächtigen Mauern - jetzt aber lag die Stadt schwarz und zertrümmert vor ihm. Qualm stieg auf, als hätte die Belagerung die Verteidiger bereits gebrochen. Im Hafen lag eine Flotte, von der er vermutete, dass sie Nachschub gebracht hatte. Vorsichtig war er entlang der Straße nach Norden zur Hauptstadt vorgedrungen. Weitere Truppen waren aus den Guranin-Hochebenen gekommen, um die Drei Brüder zu besetzen. Die Guranin hatten die Vorstellung genossen, und die Sippen hatten hart verhandelt, um sich die Zitadelle zu sichern, von der die meisten ihrer Erzählungen handelten. Erst nachdem sein Rücken sicher war, hatte sich Adrogans nach Norden begeben und General Caro mit der Aleider Reitergarde vorausgeschickt, um das Gelände zu erkunden, während die Hilfen und Beal mot Tsuvos Leute sich über das Land verteilten. Zwischen den Drei Brüdern und Swarskija lag nur ein gutes Schlachtfeld, auf dem die Aurolanen ihn vor Erreichen der Stadt aufhalten konnten. Das Tal, das der Fluss durch die Berge geschnitten hatte, öffnete sich zu einer weiten Küstenebene. Um dem Sumpfland im Osten auszuweichen, führte die Straße auf einer wuchtigen Brücke über den Swar. Diese Swarbrücke war an beiden Ufern mit Befestigungen versehen, die es leicht machten, sie gegen einen Angriff zu verteidigen. 211 Caro und sein schweres Reitereibataillon hatten die Brücke nur leicht verteidigt vorgefunden. Obwohl die Infanterieunterstützung noch Tage entfernt war, hatte Caro die Brücke erobert und sich tapfer darauf eingestellt, sie so lange wie nötig zu halten. Sobald die Nachricht eintraf, die Reitergarde habe die Brücke eingenommen, hatte er dem Infanterieregiment der Aleider Schweren Königsgarde auf entsprechende Bitte einen Vorstoß erlaubt, um ihren Landsleuten zu Hilfe zu kommen. Gyrkyme-Späher und -Boten waren ständig hin und her geflogen, um Adrogans auf dem Laufenden zu halten, doch der größte Teil der Nachrichten hatte nur besagt, alles sei ruhig. Dann plötzlich, als Adrogans und die Hauptstreitmacht seines Heeres nur noch einen Tagesmarsch entfernt waren, hatten die Aurolanen ein leichtes Infanterieregiment südwärts geschickt und einen ersten Angriff auf die Brücke ausgeführt. Die Aleiden hatten diesen Angriff mühelos abgewehrt. Sie hatten dem Feind zwar nur leichten Schaden zugefügt - die Schätzungen beliefen sich auf weniger als hundert Tote und Verletzte -, aber ihre Verluste waren noch geringer. Die Nordlandtruppen hatten sich zurückgezogen, dann waren weitere Einheiten aus der Stadt aufgebrochen, darunter ein Bataillon leichte Kavallerie auf Frostkrallen und ein Regiment schwere Infanterie, einschließlich mehrerer Horgun und Kryalniri.
Adrogans war wirklich überrascht und verwundert, dass sich die Aurolanen weiter nördlich als eigentlich notwendig aufgestellt hatten, und es zuließen, dass die abgesenkte Straße ihren östlichen Flügel von der Hauptstreitmacht trennte. Dadurch saß der Ostflügel zwischen der Straße und dem Fluss in der Falle, was seine Möglichkeiten, in irgendeiner Weise in die Schlacht einzugreifen, ernsthaft einschränkte. Mehr noch, dank der aurolanischen Aufstellung konnte Adrogans seine Truppen 212 über die Brücke schicken und in breiter Formation aufbauen. Die Nordländer luden ihn förmlich zu einer klassischen Feldschlacht ein, bei der er zahlenmäßig und bezüglich des Geländes überlegen war. Das ergab nur dann einen Sinn, wenn sie über Draconellen verfügten. Die Vernichtungskraft dieser Waffen konnte seinen Einheiten in Formation beträchtliche Verluste zufügen, aber ohne sie waren die in der Unterzahl angetretenen Aurolanen verloren. Adrogans betrachtete das Schlachtfeld. Von der Brücke aus sank das Gelände über die Ebene bis zur Stadt allmählich zum Meer hin ab. Schnee bedeckte den Boden, doch nicht genug, um die Straße zu verbergen, die als Hohlweg durch die Landschaft schnitt. Dort, wo sich das Gelände hob, lag die Straße bis zu anderthalb Mannsgrößen tiefer, an anderen Punkten war sie fast gleichauf mit der Umgebung. Hier jedoch schlängelte sich ein anderthalb Schritt tiefer, mit Schnee gefüllter Graben als weiße Spur quer durch die Aurolanen. Eine leichte Brise ließ die Standarten an den Lanzen flattern und zupfte an den Pelzumhängen. Vereister Schnee wirbelte vom Boden auf und prasselte über die Helme. Rösser stampften und schnaubten dicke Dunstwolken, während auf der anderen Seite des Schlachtfelds Frostkrallen den Kopf senkten, um das weiße Brustgefieder zu säubern. Die Horgun schwankten langsam im Wind von einer Seite zur anderen, wie die mächtigen Eichen, aus denen ihre Keulen gefertigt waren. Beide Seiten standen kampfbereit, und Adrogans war es zufrieden abzuwarten. Da die Aurolanen hangaufwärts angreifen mussten, konnte er gelassen darauf warten, dass sie den ersten Zug taten. Unter diesen Bedingungen schien es schwierig, den Schwung eines Ansturms aufrecht zu erhalten, und sobald ihr Angriff ins 213 Stocken geriet, konnte seine Reiterei zuschlagen. Die Aurolanen hatten das Schlachtfeld und ihre Stellungen schlecht gewählt. Er hatte keine Ahnung, worauf sie warteten, aber falls sie nicht doch noch so vernünftig waren, abzuziehen, sollte kaum einer von ihnen diesen Ort lebend verlassen. Dann sah er es, über der Stadt. Ein Feuerball, der einen dichten Schweif weißen Qualms nach sich zog. Er krachte in den höchsten noch verbliebenen Turm und explodierte als Regen flammender Trümmer. Eine Feuersäule schoss senkrecht empor, bis in die tief über dem Land hängenden grauen Wolken, und für einen winzigen Augenblick fühlte Adrogans selbst die herüberschlagende Hitze. Die Nordlandhorden erhoben die Stimmen in einem ohrenbetäubenden Kampfgebrüll und setzten sich in Bewegung. Das war mehr als nur ein Angriffssignal ... Das war die Ankunft von Nefrai-kesh. Adrogans kniff die Augen zusammen. Kytrins General hatte sich in einem zwölf Meilen entfernten Turm der Stadt eingenistet, weitab vom Geschehen, doch mit guter Sicht auf das Schlachtfeld. Er wollte seine Truppen nur beobachten, statt sie anzuführen - was Adrogans ein Rätsel blieb. Der Jeranser General jedoch ließ sich davon nicht stören. Er soll etwas zu sehen bekommen. Adrogans drehte sich im Sattel um und nickte dem Trompeter zu. »Bereit zum Angriff für die Savaresser Ritter und Matraves Reiterei.« Der Mann hob das Hörn an den Mund. Erst blies er das Rufzeichen für die savaressischen Reiter, dann ein anderes für die Söldner. Anschließend gab er das Signal zur Kampfbereitschaft, noch einmal gefolgt von beiden Rufzeichen. Beide Formationen hoben Fahnen, die den Befehl bestätigten. Der Hohlweg war für die Aurolanen sogar ein grö214 ßeres Problem, als Adrogans vorhergesehen hatte. Der komplette rechte Flügel blieb hinter dem Rest des Heeres zurück, und seine westlichsten Ausläufer hatten kaum noch Verbindung zum Zentrum. Der Flügel bestand aus Schwerer Infanterie, doch bei der Überquerung der Straße brach die Aufstellung der Einheiten auf und machte sie verwundbar. »Trompeter, linker Flügel vor.« Der Mann gehorchte, und Adrogans' linker Heerflügel setzte sich in Bewegung. Er bestand hauptsächlich aus der Jeranser Gebirgsgarde, einem schweren Infanterieregiment. Adrogans hatte noch die Swojiner Freiwilligen in Reserve, doch er wollte sie nur sehr ungern in den Kampf schicken. Sie brauchten dringend Erfahrung, aber diese Art Schlacht war nicht der Ort, sie zu sammeln. Die Nordlandhorden wurden schneller, während sie den Hang erklommen. Sie marschierten zum Rhythmus riesiger Trommeln und sangen lauthals in einer Weise, die eindeutig obszön klang. Der General spürte, wie der Schmerz sich von hinten an ihn schmiegte und ihm die Krallen in die Brust schlug. Aber er achtete nicht darauf. Bald würde es mehr als genug Schmerz geben, ein Festmahl für sie, und er konnte die besondere Einsicht, die daraus entstehen mochte, im Augenblick nicht brauchen. Die Trommelschläge und die Bewegungen der Aurolanen wurden immer schneller - im gleichen Maß nahm die Zerfaserung und Isolation ihres Ostflügels immer deutlicher zu. Adrogans gab das Zeichen, und die
bereitstehenden Kavallerietruppen stürmten los. Schnee wirbelte von den hämmernden Hufen auf und Streitrösser rammten die Infanterie in vollem Galopp. Wo noch kurz zuvor jungfräulich weißer Schnee gelegen hatte, brodelte es jetzt blutrot, übersät von zuckenden Körpern auf gesplitterten Lanzen. Pferde, de215 nen der Schlag einer Hörgunkeule das Rückgrat gebrochen hatte, wanden sich im Schnee. Die Gletscherriesen taumelten und fielen, durchbohrt von Dutzenden Lanzen. Manche kippten auf der Straße um, andere wankten erst noch ein Stück zurück und zerquetschen bei jedem Schritt Schnatterer. Kryalniri und Vylaenz schleuderten Zauber, doch Ph'fas und seine shuskischen Landsleute nutzten die Macht der Yrün, um sie zu blockieren. Das kleine Kontingent Vilwaner Kampfmagiker im Heer des Südens setzte eigene Zauber ein. Dabei konzentrierten sich die Vilwaner ganz auf die aurolanischen Magiker und zwangen sie, sich zwischen Selbstverteidigung und Tod zu entscheiden. Eine überraschende Anzahl wählte die letztere Möglichkeit. Noch im Sterben schleuderten sie lodernde Feuerbälle, die Reiter einäscherten oder die Reihen der Infanterie lichteten. Gyrkyme überschütteten die Aurolanen mit Feuer. Bei ihren Sturzangriffen warfen sie Dutzende von Flammhähnen, die vor und zwischen den Nordlandtruppen explodierten. Drei von ihnen trafen einen Hörgun mitten unter den Aurolanen und verwandelten ihn in eine lebende Fackel. Wahnsinnig vor Schmerz zerquetschte er Kameraden, und seine Schreie ließen allen das Blut gefrieren. Andere Flammhähne säten Entsetzen unter den Frostkrallen. Sie töteten einige und versetzten andere in Panik. Sie preschten durch die Reihen der Nordlandreiterei. Die aurolanische Aufstellung zerfiel, die Soldaten jubelten aus voller Kehle. Ihre linke Flanke hatte zugeschlagen und hielt. Die Mitte der Aurolanen war von ihrer Stütze, dem Ostflügel, abgeschnitten, und ihre Flanke lag für einen Sturmangriff der Aleider oder Jeranser Reitergarde offen. Ein Musterbeispiel für eine erfolgreiche Schlacht. Alles verlief so gut für Adrogans, dass ihm unbehaglich wurde. 216 Dann sah er, was es war. Der brennende Hörgun hüpfte und wirbelte, versuchte aber nicht ein einziges Mal, die Flammen zu ersticken, die ihn einhüllten. Stattdessen zerrte er mit den dicken Fingern am Gurtharnisch. Daran war ein schwerer Segeltuchrucksack befestigt, ganz ähnlich den Tornistern, in denen marschierende Truppen Proviant beförderten. Nur trägt die niemand im Kampf. Der an die monströse Größe des Gletscherriesen angepasste Rucksack war groß genug für drei ausgewachsene Stiere, und was auch immer er enthielt, er beulte sich deutlich aus. Adrogans beobachtete das Geschehen noch einen Augenblick länger und fühlte, wie ihm der Schmerz seine Fänge in den Nacken schlug. Er deutete auf den Hörgun und rief Ph'fas eine Warnung zu, doch es war zu spät. Der Rucksack des Hörgun explodierte. Feuer schlug kurz durch die Stelle, wo ihr Brustkorb gewesen war. Dann erschütterte ein Donnerschlag die Landschaft, schleuderte Krieger zu Boden, ließ den Schnee tanzen und sogar die Eisdecke auf dem Fluss bersten. Ein tödlicher Geschosshagel fegte in alle Himmelsrichtungen. Gyrkyme wurden zerfetzt, taumelten vom Himmel, gefolgt von einem Regen blutiger Federn. Einige der Savaresser Ritter waren in den Rücken der aurolanischen Mitte vorgestoßen und wurden von der Detonation voll erwischt. Bleikugeln und spitzkantige Eisensplitter schlugen durch die Rüstungen. Scharfe Tonscherben zerfetzten freiliegende Körperteile, und die Druckwelle alleine reichte aus, Ross und Reiter zu Boden zu werfen. Doch so schwer die Explosion den Savaresser Rittern auch zusetzte, die Auswirkungen für die Aurolanen waren schlimmer. Die Explosion fraß das Herz ihrer Aufstellung. Die sie nicht tötete, Versehrte sie, und die 217 gesamte Infanterie wurde umgeworfen. Benommen, halbtaub und verwirrt kamen sie mühsam wieder auf die Beine. Viele von ihnen drehten sich um, um nachzusehen, was geschehen war. In diesem Augenblick brachen Adrogans' Truppen über sie herein. Niemand hatte ein Angriffssignal gegeben. Eine der umherfliegenden Kugeln hatte das Signalhorn mitsamt der Hand zerschmettert, die es hielt. Aber diese Männer brauchten kein Signal, um zu wissen, wann sie angreifen mussten. Die Detonation hatte ihnen den Atem geraubt und manch einen verletzt, vor allem aber waren sie wütend, und der Feind sollte ihre Wut zu spüren bekommen. Adrogans selbst kämpfte mit den Zügeln seines verschreckten Pferdes, und wischte sich das Blut ab, das ihm ins rechte Auge lief. Irgendetwas hatte ihn getroffen und ihm eine Schnittwunde zugefügt, aber deren Schmerzen waren nichts im Vergleich zu dem, was ihm sein Yrün bescherte. Sie wirbelten wie eine rotierende Feuersäule durch ihn hindurch, und er packte sie, bündelte sie und sandte seinen Blick hinaus über das Schlachtfeld. Dort, links von ihm, zerrte ein anderer Hörgun an seinem Tornister. Die Kreatur brannte nicht, aber ein dünner Rauchfaden stieg aus einer Ecke des Rucksacks auf, als sie ihn über den Kopf hob. Der Gletscherriese schwang den Arm zurück zu einem weiten Wurf, der die tödliche Ladung mitten in die Reihen der Gebirgsgarde schleudern sollte. Adrogans deutete mit der linken Hand auf den Hörgun und ließ den Schmerz fließen. Ungebremste Todesqual geißelte den Aurolanen, brachte seine Muskeln zum Verkrampfen, bog ihm den Rücken nach hinten. Der Sack senkte sich, dann kippte die Kreatur nach hinten. Sie schlug in einer Schneewolke auf den Boden, und der
Rucksack hüpfte einmal, bevor er in die Luft flog. 218 Mit dieser Explosion löste sich der linke Flügel der Aurolanen in Wohlgefallen auf. Ebenso wie das Feuer auf der Turmspitze im fernen Swarskija. Noch ein dritter Hörgun, einer, der schon beim ersten Angriff gefallen war, hatte eine der Sprengladungen getragen. Irgendjemand taufte die Waffe >FeuersackIch lasse euch nicht allein< hören. Keiner von uns will so etwas tun müssen, aber wenn es sein müsste, täten wir es alle.« »Ja, Hoheit. Ich weiß.« »Gut.« Wieder krachte ein Schuss und Verum fluchte. »Verdammt noch mal. Nygal, gib mir deine Draconette.« Ermenbrecht schaute sich zu dem stämmigen Rüstmeister um. »Verfehlt?« Der weißhaarige Krieger schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe es genau getroffen. Mein Fehler war es, zuzulassen, dass es aufsteht, bevor ich geschossen habe.« Er hob den geliehenen Vierschüsser und drückte ab. »Erwischt. Hab ihm das linke Bein gebrochen. Da bin ich sicher.« Verum nickte. »Es kriecht von der Treppe weg.« »Gut. Vielleicht verschafft uns das eine Atempause.« Jilandessa schaute ihn an. »Wird das reichen?« »Wer weiß? Hier und jetzt muss es reichen.« Der Orioser Prinz schenkte ihr ein zuversichtliches Grinsen. »Was wir mit der Zeit anfangen, die es uns verschafft, wird entscheiden, ob es reicht oder nicht.« 264 KAPITEL SECHSUNDZWANZIG Isaura hielt sich die Ohren zu, um die Schreie der brennenden Magikerin nicht hören zu müssen. Die murosonische Zauberin, die Corde herausgefordert hatte, brach in Flammen gehüllt zusammen. Die Bewohner Navvals zogen sich entsetzt von den Mauern der Stadt zurück. Von ihrem Sitzplatz hier vor Naelros Zelt aus, das kaum fünfhundert Schritt vor der Stadt aufgebaut war, konnte Isaura das schmorende Fleisch nicht riechen. Darüber war sie heilfroh. Wenigstens dem entkam sie. Als Kytrins Tochter war sie gezwungen zuzusehen, da alle Schüler des Edlen Neskartu ihr, ihrem Meister und Naelros die Ehre erwiesen, bevor sie in den Kampf zogen. Es hätte die Moral erheblich geschwächt, hätte sie sich entfernt, also saß sie hier und schaute zu. Und es war durchaus nicht so, dass es sie ganz und gar abgestoßen hätte, die Feinde ihrer Mutter sterben zu sehen. Sie hätte es vorgezogen, wenn sie Vernunft angenommen hätten, aber natürlich war eine vor den Mauern
der Stadt lagernde Armee kaum dazu geeignet, Kompromissbereitschaft zu wecken. Doch wie dem auch sei, sie widersetzten sich Isauras Mutter, und das machte sie zu einer Bedrohung, die ausgeschaltet werden musste. Eine Aufgabe, für die sich Magikerduelle auf Leben und Tod recht gut eigneten. Isaura bewunderte den Mut, mit dem sich die Kombattanten beider Seiten dem Kampfplatz näherten. Obwohl sie Todfeinde waren, zeigten sie Respekt vor265 einander. Neskartu hatte die Gegner seiner Magiker mit viel Überlegung ausgewählt. Er hatte die Anzahl und Stärke der Magiker in der Stadt zuvor mit einem Zauber ermittelt und sich danach gerichtet. Die Aurolanen verbuchten ausgezeichnete Erfolge in diesen Kämpfen. Eine Hand voll Kryalniri war zwar gefallen, ebenso wie zwei von Neskartus Schülern. Doch im Gegenzug war ein ganzes Dutzend der Zauberer aus Navval untergegangen, die letzten vier davon einer nach dem anderen. Zwei von ihnen hatte Corde nacheinander erledigt, und sie machte ganz den Eindruck, auch noch einen dritten abfertigen zu wollen. Das schien waghalsig, aber die Murosonen ließen ihre stärksten Magiker immer zuerst antreten, sodass die Gegner im Laufe der Zeit immer schwächer wurden. Neskartu, der keinen Stuhl brauchte, um sich zu setzen, war eine bunt schimmernde Präsenz zwischen Isaura und dem Dracomorph. »Sie haben nur noch Akoluthen, die wir hinwegfegen werden. Du wirst auf keine nennenswerte magische Gegenwehr treffen, Nselros.« Der Dracomorph nickte nachdenklich. Auch er brauchte keinen Stuhl, sondern hockte auf den Fersen. Er war ganz in einen Kapuzenmantel gehüllt, aber Isaura sah die großen Augen im Schatten der Kapuze glitzern. »Es hat keine Eile. Je länger wir warten, desto schwächer werden sie, und desto höher können wir unsere Feuerdreckvorräte aufstocken.« Er sagte das ruhig und entschieden, aber trotzdem lief Isaura dabei ein Schauder über den Rücken. Sie hatte den Sturz Porjals miterlebt, und dessen Unterwerfung war von unglaublicher Brutalität gewesen. Anarus hatte bei dem Angriff die Draconelle auf einen Teil der Mauer konzentriert, um sie zum Einsturz zu bringen, und das Heer war durch die entstandene Bresche geströmt. Der Blutzoll war schrecklich hoch gewesen -und die Stadt war in kürzester Zeit gefallen. 266 Naslros hingegen hatte zwei Wochen für die Einnahme Navvals erhalten und wollte diese Zeit allem Anschein nach bis zur letzten Minute ausnutzen. Die Draconellen waren so aufgebaut, dass sie über die Mauern schössen und die Gebäude dahinter zerstörten, als Beweis dafür, wie nutzlos der Schutz durch die Stadtmauern war. Unter Umständen konnte das die Bewohner der Stadt veranlassen, sich zu ergeben und ihm so Navvals Einnahme ohne eine Zerstörung der Mauern ermöglichen, was eine Rückeroberung der Stadt erheblich erschweren würde. Isaura verstand, dass diese Strategie aurolanische Leben rettete, und war davon sehr angetan. Aber dass der Krieg jene traf, die keine Krieger waren, fand sie nicht richtig. In Porjal hatte sie dasselbe gesehen, dort aber war es der wilde Blutrausch beim Sturm der Stadt gewesen, der dazu geführt hatte. Hier traf der Tod zufällig und sein einziger Zweck bestand darin, die Stadtbewohner so in Schrecken zu versetzen, dass sie zu keinem Widerstand mehr fähig waren. Gleichzeitig fragte sie sich, ob ein solches blindes Gemetzel nicht vielmehr den Widerstand stärkte. Und sie fragte sich außerdem, ob Naelros diese Möglichkeit vielleicht gar nicht sah. Als ein wahrscheinlich jahrhundertealter Dracomorph - auch wenn sein Geist nur Jahrzehnte bewussten Erlebens verzeichnet hatte betrachtete er die Menschen zweifellos anders, als sie es tat. Vielleicht gestand sie ihnen durch die Übungen mit Neskartus Schülern zu große Fähigkeiten. zu, denn schließlich rekrutierten sich die Studenten des Konservatoriums aus den Reihen der klügsten Menschen. Als sie Naelros auf diesen Punkt angesprochen hatte, hatte er sich bei ihr dafür bedankt. »Ich werde mir Eure Gedanken durch den Kopf gehen lassen, Prinzessin.« Seine Stimme hatte ehrlich geklungen, aber sie hatte nichts mehr zu diesem Einwand gehört. Stattdessen 267 konzentrierte er sich auf die Vorbereitungen und schien nicht das Geringste dabei zu ändern. Wieder öffnete sich das kleine Magikerportal im Stadttor Navvals. Ein fülliger, dunkelhaariger Jüngling zwängte sich ins Freie und bewegte sich zum Duellgrund. Er trug eine einfache dunkelbraune Robe, die um den ausladenden Bauch mit einer weißen Kordel geschnürt war. Er versuchte, zügig und zielstrebig auszuschreiten, doch eine Windbö peitschte den Qualm seiner brennenden Kollegin zu ihm hinüber. Er wich unbeholfen zur Seite aus, stolperte kurz und fing sich an dem schwarzen Findling ab. Dann richtete er sich langsam wieder auf. Johlendes Gelächter erklang aus den aurolanischen Reihen, doch das schien ihn nicht zu treffen. Er strich seine Robe glatt und hob das Kinn. »Ich bin Kjarrigan Lies, Adept aus Vilwan. Ich fordere zum Duell.« Er hob die rechte Hand und streckte sie aus. Die Finger waren um die Mitte eines Zauberstabs zur Faust geballt. Die Hand leuchtete kurz blau auf, dann löste sich das Leuchten und wurde zu einer sanft glänzenden Lichtkugel. Sie hüpfte in kurzen, hohen Sprüngen, die sich mit weiten, flacheren abwechselten, über den schneebedeckten Boden zwischen Navval und den Aurolanenstellungen. Sie sprang über die Krieger, dann rollte sie aus und kam vor dem Edlen Neskartu zum Stillstand. Der Sullanciri floss auf ein Knie hinab und schob die Hand unter den Zauber. Seine Finger schlössen sich und glitten durch die Kugel. Einen Augenblick lang spielte eine ähnliche Farbe durch seine Gestalt. Unmittelbar
danach stand er zu voller Größe aufgerichtet, und das ihn durchzuckende Farbenspiel beschleunigte sich. »Höchst seltsam.« Der Dracomorph hob die Hand an den Mund, um ein Gähnen zu unterdrücken. »Wieso?« 268 »Bei der Untersuchung Navvals ist er unentdeckt geblieben. Und der Stab, den er trägt, ist einer, den ich erschaffen und Rahd gegeben habe. Er benutzte ihn dazu, eine alte Bekannte von mir zu töten.« Isaura musterte den jungen Mann. Die braune Robe deutete an, dass sein Spezialgebiet Beförderungszauber waren. Es war allerdings möglich, dass er einfach keine Robe in einer anderen Farbe gefunden hatte. Dass er aus Vilwan stammte und sich in einer murosonischen Stadt aufhielt, war seltsam. Dass er in den Duellkreis getreten war, eine rein murosonische Sitte, war ungewöhnlich, und der Mut, einen Sullanciri herauszufordern, erstaunlich. Jung und närrisch, oder aber jung und von einer weit über sein Alter hinausgehenden Weisheit. Corde, die noch im Kreis stand, drehte sich zu dem Knaben um. »Ich bin Corde vom Konservatorium Aurolans. Ich nehme deine Herausforderung an.« »Nein, Corde.« Neskartus Befehl streifte Isauras Geist kaum, und doch spürte sie ein Kribbeln. Ein Kryalniri, der das Pech hatte, zwischen dem Sullanciri und Corde zu stehen, wurde mit ganzer Stärke getroffen und fiel zuckend zu Boden. Der Schlag traf Corde hart und schüttelte sie durch, doch sie verbeugte sich und zog sich zu den eigenen Reihen zurück. Naelros schlug die Kapuze nach hinten und betrachtete den Sullanciri. »Ihr nehmt diese Herausforderung an?« »Ich habe keinen Grund, sie abzulehnen. Er hat den Stab und das sichtliche Bedürfnis, Orlas Tod zu rächen. Gegen mich hat er keine Chance, und falls er diesen Stab einsetzt, ist es sein sicherer Tod.« Ohne ein weiteres Wort hob der Sullanciri den linken Fuß zu einem weiten Schritt. Sofort war er im Duellkreis, zehn Schritt vor dem Adepten, und die Farben flössen in Tigerstreifen an ihm herab. 269 Naelros schüttelte den Kopf. »Ein Narr.« »Das ist nicht gesagt.« Die Zunge des Dracomorphs züngelte kurz durch die Luft. »Ah, Ihr sprecht von dem Knaben. Ich nicht.« Isaura musterte Kjarrigan aufmerksam. Er wirkte übergewichtig und unbeholfen, aber trotzdem hatte er etwas Besonderes. Nichts, was körperlich anziehend gewesen wäre. Ein paar der Murosonen hatten sie auf diese Weise berührt, aber Kjarrigan weckte nicht den Hauch eines solchen Interesses. Nach kurzem Nachdenken stellte sie fest, dass es weniger an seinem Äußeren lag als an einer anderen Empfindung, die er in ihr weckte. Verwandtschaft. Irgendetwas verband sie, aber dieses Gefühl lag völlig außerhalb ihrer Begriffsmöglichkeiten. Es war, als hörte sie eine Farbe oder schmeckte ein Lied. Sie besaß keine Möglichkeit, zu benennen, was sie da spürte. Neskartu ließ seine Gedanken kreisförmig ausstrahlen. »Er ist der Jüngere. Er hat den ersten Schlag.« Kjarrigan rollte die Schultern, dann verschränkte er die Hände hinter dem Rücken um den Zauberstab. »Ich habe Euch herausgefordert. Ihr habt den ersten Schlag.« Wieder stieg Gelächter aus den Reihen der Aurolanen auf. Naelros' Nüstern bebten. »Ich wittere bei dem Knaben Angst. Aber nicht genug. Nicht annähernd genug.« Isaura schüttelte den Kopf. Sie konnte die Macht fühlen, die sich um Neskartu sammelte. Der Sullanciri zog sie aus reinen, mächtigen Strömen, aber er streifte nur die Andeutungen der Strömungen. Was er für seinen Angriff zusammenzog, war stark, doch nur ein Bruchteil der Macht, die er hätte nutzen können, wäre er für die Wirklichkeit der Magik offen gewesen. Langsam hob sich Neskartus Rechte, und seine Finger flössen durch 270 einige Muster, bevor er sie auf Kjarrigan richtete und den ersten Spruch schleuderte. Das silberne Gleißen des Angriffs überraschte Isaura nicht, denn ihr war klar, dass der Sullanciri seinen Gegner mit dem ersten Schlag überwältigen wollte. Ein Blitz vom Umfang ihres Oberschenkels brannte sich wild peitschend über die Entfernung zwischen den beiden Kontrahenten - während kaum eines einzigen Pulsschlags. Reine Macht setzte die Luft in Brand und verdampfte den Schnee. Der Blitz erreichte den Knaben nicht. Er zuckte vorbei, dann verbog er sich, teilte sich in kleinere Arme ähnlich den Dornen einer Ranke. Sie stießen mit dünnen Silberdolchen nach ihm. Manche bogen sich und formten Haken, die ihn zerfetzen sollten, aber keiner von ihnen traf. Das Blitzgewitter wirbelte immer schneller rund um ihn herum, zog sich zusammen, als wolle es ihn zerquetschen, aber sein Licht verblasste langsam zu einem Ektoplasmanebel, in dem Kjarrigan unberührt, unbewegt und unverletzt wieder sichtbar wurde. Isaura tastete und spürte die sich auflösenden Energien von Neskartus Spruch, aber sie fand keinen Hinweis darauf, was Kjarrigan benutzt hatte, um ihn abzuwehren. Normalerweise hätte er Gleiches mit Gleichem blockieren müssen. Ein guter Magiker war zwar gelegentlich in der Lage, einen Spruch mit einem einfacheren Zauber abzuwehren oder umzulenken, aber das war ein Ergebnis seiner überlegenen magischen Kenntnisse. Was bedeutet, er steht so hoch über Neskartu, dass ... Nein, das ist unmöglich. Kjarrigan nickte bedächtig. »Bitte, Ihr wart ein Magister auf Vilwan. Aus Respekt vor dieser Position biete ich Euch einen zweiten Schlag.« Die Farben, die Neskartu durchzogen, tanzten wie
271 auf der Oberfläche eines sturmgepeitschten Meeres. Aber seine Hände flössen auf Schulterhöhe weit auseinander, sanken und hoben sich wieder. Mit dieser Bewegung sammelten sie neue magische Energie. Der aus dem Schnee aufsteigende Nebel verdichtete sich und wanderte auf Kjarrigan zu. Er stieg als Reif an dessen Robe empor. Schon bald würde er im Eis eingeschlossen sein. Ohne Atemluft mochte er zusammenbrechen und Neskartu würde ihn ersticken lassen. So war es gedacht. Tatsächlich stieg der Nebel zwar auf, und der Saum von Kjarrigans Robe vereiste ein wenig, aber nicht höher als bis zu seinen Knien. Der Dunst stieg weiter, hielt aber nicht an, stieg noch weiter und immer weiter, bis er sich zu einer Pilzwolke auswärts stülpte. Die Wolke über ihm brodelte, bis die Arme des Sullanciri herabfielen und der Nebel sich auflöste. Naelros' dunkle Augen blinzelten. »Jetzt rieche ich große Angst.« »Bei dem Knaben?« »Nein.« Ein drittes Mal beugte der Vilwaner Knabe den Kopf vor Neskartu. »Ihr habt meine Lehrerin gekannt. Ihr seid für ihren Tod verantwortlich. Ich werde Euch noch einen dritten Schlag gestatten, aber keinen darüber hinaus.« Neskartus Wut entlud sich in wortloser Energie. Selbst Isaura schreckte zusammen, doch der Knabe zuckte nicht mit einer Wimper. Der Körper des Sullanciri wogte, als sein Zorn sich aufbaute und er seine ganze Macht zusammennahm. Neskartu wuchs und breitete sich aus. Gewaltige Drachenflügel schoben sich aus seinem Rücken. Farben rasten durch seinen Leib, zuckten darin hin und her, als wären sie in einem Glas gefangen, schmolzen, wechselten. Unglaubliche Energien strömten in ihn hinein, weit mehr als Isaura je geglaubt hätte, fassen zu können. 272 Der Sullanciri drehte sich, hob einen Flügel an dem Findling vorbei, vor dem er stand, und packte den Felsen. Er riss ihn von einer Seite zur anderen wie einen Zahn, den er aus dem Kiefer brechen wollte, dann zerrte er ihn aus dem Boden. Schlammige Dreckklumpen fielen von dem breiten unteren Ende des Steins herab. Er hob ihn über den Kopf und rammte ihn auf den Adepten. Isaura bemerkte keinerlei Versuch Kjarrigans, sich durch Einsatz von Magik zu verteidigen. Unbeholfen und schwabbelnd tänzelte er beiseite. Der Fels schlug mit einem Donnerdröhnen auf. Isaura fühlte den Boden unter ihrem Stuhl erzittern. Der Schlag warf Kjarrigan zurück und er fiel auf seinen fetten Hintern. »Mein!« Neskartus triumphierender Gedankenstoß nahm ihr den Atem. Der riesige Sullanciri bückte sich und packte den Fels erneut. Muskeln tanzten auf seinem Rücken und den Armen. Farben erstrahlten hell und zeichneten sie nach. Wieder würde der Stein sich heben, wieder würde er fallen, und er würde Kjarrigan zerquetschen. Der Stein bewegte sich nicht. Ruhig und gelassen, unbeeindruckt von der wütenden Anstrengung, die den Sullanciri schüttelte, wälzte sich Kjarrigan auf die Knie. Dann stemmte er sich hoch, die Hände auf den Fels gestützt. Obwohl der Stein in den von Zauber und schmelzendem Schnee aufgeweichten Boden gelandet war, hätte Neskartu ebenso gut versuchen können, ganz Navval zu heben. All seine Anstrengung war vergeblich. Kjarrigans Stimme wurde schärfer. »Genug. Ihr hattet Euren dritten Schlag. Ihr hattet einen Schlag für die Herausforderung. Ihr hattet einen Schlag für das, was Ihr gelernt habt. Ihr hattet einen für das, was Ihr getan habt.« Neskartus Krallenhände gaben den Fels frei, in des273 sen Oberfläche tiefe Kerben zurückblieben. Der Sullan-ciri richtete sich auf, hielt die Schwingen aber ausgebreitet, um sich größer zu machen. Die Farben rasten nicht mehr über ihn, sondern flössen in hellen, sich windenden Feldern. »Und nun willst du deinen Schlag?« Kjarrigan nickte langsam und nahm den Stab in die Hand. »Meinen Schlag. Ja.« Das Farbenspiel des Sullanciri beschleunigte sich. Er hatte gesagt, Kjarrigans Einsatz dieses Stabes würde dessen sicheren Tod bedeuten. Isaura wusste, Neskartu bescherte seinen vielversprechendsten und hinterhältigsten Schülern Geschenke wie diesen Stab. Sie verstärkten zwar deren magische Fähigkeiten, aber sie stellten auch eine Gefahr dar. Durch sie konnte der Sullanciri Rebellen vernichten. Isaura wollte dem Jungen eine Warnung zurufen, aber sie konnte es nicht. Ihre Mutter hatte ihr gesagt, sie habe vorausgesehen, dass sie verraten würde, und diese Worte banden Isaura. Ich werde es nicht sein, der sie verrät. Einen Pulsschlag später wusste sie, dass weder Warnung noch Verrat erforderlich waren. Der junge Mann schaute zu der Kreatur hoch, die über ihm aufragte. »Ich weiß zwei Dinge. Falls ich mit diesem Stab zaubere, werdet Ihr mich töten. Falls ich ihn benutze, werde ich Euch töten.« Die Magik strömte mit solcher Gewalt in Kjarrigan, dass Isaura spürte, wie Strömungen ihre Richtung änderten, um ihn zu füllen. Neskartu bereitete Abwehrmaßnahmen für die verschiedensten Kampfzauber vor, doch sie waren fruchtlos. Der Sullanciri hatte den wichtigsten Hinweis auf seinen Gegner übersehen. Hätte er ihn bemerkt, hätte er sich möglicherweise richtig vorbereiten können. Isaura bezweifelte allerdings, dass selbst dies ihm das Leben gerettet hätte. 274
Kjarrigan war kein Kampfmagiker. Er schleuderte keinen Zauber durch den Stab, er schleuderte ihn auf den Stab. Den Stab, den Neskartu selbst verzaubert hatte. Der Spruch beschleunigte den Zauberstab während eines Augenzwinkerns vom Stillstand auf eine so hohe Geschwindigkeit, dass der Blick ihm nicht mehr folgen konnte. Wie ein Pfeil durchschlug er Neskartus Brust. Er beulte die Haut auf dessen Rücken aus und spannte sie zwischen den Schwingen wie ein Zelt. Der Hieb riss den Sullanciri so schnell in die Luft, dass er Arme und Beine wie Wimpel nachzog. Die Drachenflügel knickten ein, und der Körper folgte, bis er nur noch ein schwarzer Strich war, über den wütende Farben tobten. Dann hörte Isaura einen Donnerschlag, spürte ihn bis in die Knochen. Das hintere Ende des Strichs zuckte nach vorne, dann löste er sich komplett in einer weißen Dampfwolke hoch am Himmel auf. Im Nachhall des Donnerschlags herrschte Totenstille. Schrecken stand allen ins Gesicht geschrieben, nur dem jungen Adepten nicht. Er wirkte etwas neugierig, rieb sich die Hände an der Robe über den Beinen ab. Er runzelte die Stirn, als er den neben ihm liegenden Fels betrachtete, dann wedelte er lässig, und der Fels schwebte zurück an die ursprüngliche Position. Rechts von Isaura knurrte ein Feuerhauptmann einen Befehl. Eine Flamme senkte sich ins Zündloch einer Draconelle. Qualm stieg zischend himmelwärts, einen Moment später röhrte das Geschütz. Es spie Feuer und eine Eisenkugel schoss aus dem Lauf. Sie prallte einmal vom Boden ab, ließ Wasser und Gras nach allen Seiten davonspritzen - und traf Kjarrigan. Der junge Mann erstarrte. Die Kugel traf ihn mitten auf die Brust und schleuderte ihn vier Schritt weit. Man hörte ein gewaltiges Juchzen von den Aurolanen, und die Mitglieder der Draconellenmannschaft gratulierten einander begeistert. 275 Dann kämpfte sich der Adept mühselig auf die Beine. Er schwankte, schien aber Kraft aus dem Jubel der Zuschauer auf den Stadtmauern zu ziehen. Er stolperte hinüber zu der dampfend auf dem Boden liegenden Kugel und hob sie unbeholfen auf. Dann watschelte er davon, die Kugel zwischen den Knien. Naelros sprang auf und knurrte die Draconellenmannschaft an. Die Schnatterer maunzten und versteckten sich hinter dem Geschütz. Der Dracomorph drehte den Kopf und schaute Isaura an. »Er wird das Metall der Kugel benutzen, um Abwehrzauber zu sprechen, die alles mit ähnlicher Zusammensetzung aufhalten, habe ich Recht?« Isaura nickte. »Falls alle Kugeln aus derselben Esse stammen, oder ihr Metall vom selben Bergwerk, wäre das durchaus wirkungsvoll.« »Aber nicht unüberwindbar.« »Nach dem, was ich hier gesehen habe, kann ich das nicht einschätzen.« Der Dracomorph nickte nachdenklich. »Das verändert die Sache.« Er setzte sich wieder auf die Fersen. »Das verändert manches.« Die Ruhe in seiner Stimme überraschte sie. »Er hat einen Sullanciri getötet und ist äußerst mächtig. Du kannst nicht ernsthaft erwägen, diese Belagerung fortzusetzen.« Naelros starrte sie aus dunklen Augen an. »Er ist mächtig, aber nicht der Mächtigste. Er hat die Ausgangslage geändert, jetzt sind wir an der Reihe. Mit der richtigen Unterstützung wird Eure Mutter zufrieden sein und Navval mir gehören.« 276 KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG Swarskija lag alt und gebrochen vor Adrogans. Häuser fielen in sich zusammen. Türme waren eingestürzt, hatten die Häuser der Umgebung unter sich begraben und steinerne Narben in der Landschaft hinterlassen. Die Außenstadt hatte einmal einen prachtvollen Anblick geboten, und selbst die sie umgebenden Mauern waren fast eine Zierde gewesen. Mehr als eine Zierde waren sie jetzt auch nicht, denn sie waren längst von Pflanzen überwuchert und lagen zudem unter einer dicken Schneeschicht. Der äußere Mauerring war an so vielen Stellen durchbrochen, dass es schwer fiel, dem Verlauf mit dem Blick zu folgen. Fast hätte man ihn mit einer Hügelkette verwechseln können. Nichts regte sich in der Außenstadt, aber das bedeutete natürlich keineswegs, dass dort nichts lauerte, rief sich Adrogans ins Gedächtnis. Das Straßengewirr war an der schmälsten Stelle eine halbe Meile tief, an der breitesten das Vierfache davon. In dem Vierteljahrhundert seit der Eroberung hatten sich die Straßen durch den Bau neuer Häuser und den Abriss von alten verschoben, aber die verschiedenen Einfallstraßen zur Altstadt waren noch immer deutlich zu erkennen. In der alten, um den Hafen gewachsenen Innenstadt erhoben sich noch immer Türme und hohe Mauern. Prinz Kirills Abzug hatte es den Aurolanen ermöglicht, sie ohne allzu große Zerstörung einzunehmen. Dadurch fiel es dem General leicht, sich die Stadt im 277 Prunk vergangener Zeiten vorzustellen, aber er bezweifelte, dass er sie jemals wieder in solcher Pracht sehen würde. General Caro ritt heran. »Wir wären dann so weit, Herr General. Sie brauchen es nur zu sagen.« Adrogans schnaufte. »Dann können wir ewig hier warten, denn ich weiß nicht, ob ich jemals so weit sein werde, diesen Befehl zu geben.« Er schaute hinauf zu Nefrai-keshs Turm, an dessen Spitze hinter den Fenstern
regelmäßig Flammen flackerten. »Woran denkt er?« Ph'fas lachte rau. »Eine Frage, die du ihm stellen solltest, wen ihm dein Schwert an der Kehle liegt.« »Falls wir es so weit schaffen, Onkel.« Adrogans' ständige Begleiterin, Schmerz, blieb stumm. Sie presste sich weder an ihn, noch durchbohrten ihn ihre Krallen. Sie hing nur wie ein müdes, ihm anvertrautes Kind auf seinem Rücken und erinnerte so gar nicht an das personifizierte körperliche Leiden. Dabei hätte sie so kurz vor der Schlacht besonders wild sein müssen, erfüllt von begeisterter Vorfreude auf eine Orgie der Pein. Adrogans' Gedanken überschlugen sich angesichts des bevorstehenden Blutbades. Jede der schneebedeckten Hütten konnte mit Feuerdreck voll gestopft sein. Falls er die Soldaten dicht beisammen in die Stadt schickte, konnte eine einzige Explosion Hunderte von ihnen töten. Verteilte er sie, um eine solche Katastrophe zu verhindern, mochten konzentrierte aurolanische Verbände seine dünnen Schlachtreihen überrennen und die Krieger abschlachten. Und falls er genug Feuerdreck hat, um all diese Bruchbuden in die Luft zu jagen, fällt mein ganzes Heer. Einerseits brauchten die Aurolanen die Außenstadt kaum zu verteidigen, da die Festungsmauern der Innen278 Stadt noch standen. Adrogans war zu schnell vorgerückt, um Belagerungsmaschinen mitzubringen. Und auch wenn er mit dem Holz und den Steinen der Außenstadt neue bauen konnte, das kostete doch Zeit. Zeit, die für die von See mit Nachschub versorgten Aurolanen arbeitete. Möglicherweise hatte Nefrai-kesh nichts Heimtückischeres im Sinn als Zeit zu gewinnen. Adrogans glaubte dies aber nicht, weil Nefrai-kesh durch den richtigen Einsatz seiner Truppen in den vorhergegangenen Gefechten weit mehr Zeit hätte gewinnen können. Hätte er die Swarbrücke durch eine starke Garnison gesichert, hätte ihm das hinreichend Zeit verschafft und eine Menge von Adrogans' Soldaten das Leben gekostet. Und mit dem Einsatz von Feuersäcken hätte er uns einen Blutzoll abfordern können, der sich gar nicht mehr hätte zählen lassen. Was von meinen Truppen überlebt hätte, hätte er im kommenden Frühjahr mühelos zermalmen können. Es gab so viele mögliche Entwicklungen, auf die Adrogans derzeit keine Antwort hatte. Zwar blieb er durch Arkantafalberichte grundsätzlich auf der Höhe der Lage an der Ostfront, aber er hatte keine rechte Vorstellung davon, wie viele von Kytrins Truppen dorthin abgezogen wurden. Es war durchaus denkbar, dass Nefrai-kesh keine Verstärkungen zu erwarten hatte. Tatsächlich war es möglich, dass seine Truppen nach Muroso verlegt wurden. Unter Umständen war die Eroberung Sebtias Kytrin teurer zu stehen gekommen, als irgendjemand ahnte. Er schaute sich zu Caro um. »Könnt Ihr Euch einen guten Grund dafür denken, dass er uns die Außenstadt kampflos überlässt?« Der Aleider Kommandeur schüttelte den Kopf. Er schob den Helm in den Nacken. »Mit all unseren Dis279 kussionen ist es uns nicht gelungen, seine Gedankengänge zu ergründen. Meine größte Sorge ist, dass er uns in die Stadt lassen will, weil das unsere Bewegungsfähigkeit einschränkt und ihm gestattet, unsere Reihen zu infiltrieren. Schlimmer noch, falls es ihm gelingt, uns in bestimmte Angriffskorridore zu zwingen - und er kann einen Drachen einsetzen -, sind wir verloren.« Adrogans nickte. »Seit allerdings der letzte Drache in der Festung Draconis gestorben ist, hat Kytrin keinen mehr geschickt. Entweder ist ihre Kontrolle zu schwach, oder es gibt nur ein paar, die sie mit dem kleinen Teil der Krone beherrschen kann, den sie besitzt. Und wenn er wirklich einen hätte, den er gegen uns einsetzen kann, hätte er ihn schon an der Brücke oder bei den Drei Brüdern angreifen lassen. Doch Ihr habt Recht. Falls wir einen sehen, müssen wir sofort in die Reihen der Aurolanen vorstoßen, damit er zögert.« Ph'fas kicherte. »Bei den Feuersäcken hat ihn das nicht gestört.« Caro verzog das Gesicht. »Stimmt. Nefrai-kesh scheint entschlossen, uns umzubringen, ganz gleich, wie viele seiner eigenen Leute ihn das kostet.« »Das würde ich ja annehmen, nur ...« Adrogans deutete mit ausholender Geste auf die Außenstadt. »Es weht nicht einmal eine vereinzelte Fahne außerhalb der inneren Stadtmauern.« »Mir gefällt das ebenso wenig wie Euch. Es lässt vermuten, dass er eine Überraschung für uns vorbereitet hat.« »Die einzigen Überraschungen, die mir im Kampf behagen, sind die, die ich selbst bereite.« Adrogans seufzte. Er blickte sich nach rechts zu seinem neuen Trompeter um. »Er blase zum Vormarsch.« Das Hörn ertönte, und die Befreiungsarmee setzte 280 sich in Bewegung. Adrogans hatte sie auf breiter Front antreten lassen. Die Infanterie war in fünf Reihen gestaffelt und bot eine breitere Frontlinie als üblich war. Die Swojiner Partisanen marschierten diesmal vor den richtigen Soldaten. Sie waren sichtlich scharf darauf, in die Hauptstadt zu gelangen, und hielten keine erkennbare Formation. Hinter den Fußtruppen folgte die Kavallerie, die enger formiert war. Wenn Nefrai-kesh die Falle zuschnappen ließ, wollte Adrogans eine wendige Truppe zu einem harten Gegenschlag verfügbar haben. Die Reiterei hielt sich an die breiteren Straßen. Der General ging davon aus, dass sich Feuersackfallen, falls welche da waren, dort befanden. Er hätte sie jedenfalls dort platziert, hätte er die Stadt verteidigen müssen, und ihm blieb nur die Hoffnung, dass die vorausmarschierende Infanterie alle eventuellen Hinterhalte entdeckte und entschärfte, bevor
die Kavallerie in die Stadt ritt. Der Vormarsch verlief flüssig. Adrogans bemerkte keinen Alarm auf den Mauern der Innenstadt, auch auf den Zinnen tat sich unverändert wenig. Banner flatterten, Wachposten machten ihre Rundgänge. Falls sie irgendetwas gesehen oder das Trompetensignal gehört hatten, merkte man es ihnen nicht an. Ein paar Zuschauer tauchten zwischen den Zinnen auf, um den Vormarsch zu beobachten, aber sie wirkten nicht beunruhigt. Jetzt betraten die Partisanen die Stadt. Wie befohlen verschwanden sie in den Häusern und suchten sie nach allem ab, was ungewöhnlich schien. Die Überlebenden von Swojin hatten so viel Zeit im Gassenlabyrinth einer toten Stadt verbracht, dass sie sich dort unten wie zu Hause fühlen mussten. Sie schlichen wie Schimmel durch die Außenstadt, der an einer Mauer hoch wuchs, und meldeten sich nach jedem kontrollierten Häuserblock mit Handzeichen. 281 Dann sicherte die ausgebildete Infanterie die Straßen. Die Trupps suchten nach Anzeichen für Fallen, aber Adrogans bemerkte keinen der roten Wimpel für Gefahr. Dann, als die Reiterei die Trümmer der Außenmauern erreichte, sah er es. Eine schwarz gekleidete Gestalt, ein kleiner Mann, kam die Straße aus der Innenstadt herauf. Sein Umhang floss hinter ihm her wie vierzig Schritt durchscheinende schwarze Seide. An den Säumen flatterten kleine Fetzen in einem Wind, der nicht wehte. Die Gestalt blieb stehen, verbeugte sich, und der Mantel veränderte die Farbe von Schwarz zu Weiß. »Tricks, um Kinder zu belustigen.« Adrogans lächelte Ph'fas zu. »Ein Waffenstillstandsangebot. Vor Swojin hat Nefrai-kesh dasselbe Angebot gemacht.« »Das ist nicht Nefrai-kesh.« »Nein, aber es ist sein Herold.« Adrogans warf Caro einen kurzen Blick zu. »Begleitet Ihr mich auch diesmal, General?« »Aber natürlich, mein Freund.« Ph'fas vervollständigte das Dreiergespann. Sie ritten in die Stadt hinab und nickten den Truppen zu, die ihnen vorausmarschiert waren. Kriegsfalken flogen über ihnen und landeten auf den Dächern der Häuser in der Nähe der breiten Kreuzung, wo der Herold stand. Adrogans wartete auf den Wind, in dem das weiße Cape wehte, doch auch beim Näherkommen spürte er keinen Lufthauch. Die Gestalt deutete eine leichte Verbeugung an. Sie trug eine schwarze Maske, die Haut darunter war von leichenartiger Blässe. Die Augen jedoch lebten. Sie brannten - tatsächlich. Flammen leckten aus den Augenhöhlen. Er verschränkte die behandschuhten Hände vor sich und wirkte eher wie ein freund282 licher Tavernenwirt, nicht wie eine Kreatur von magischer Macht. »Zu Prahlen ich erlaube mir, es begrüßet Euch mein Vater hier, im Turm er sitzt in Pracht. Er wünscht Euch keinen Schaden heut, kein Grund besteht zur Furcht, Ihr Leut, bis es morgen geht zur Schlacht.« Adrogans nickte. »Ihr seid Nefrai-laysh. Ihr seid der Vater des Norderstett.« »Der Titel ist wohl rechtens mein, wird keines Gossenbengels sein, drum was Ihr redet habt wohl Acht. Wenn bald alles ist gelungen, unser Sieg ist erst errungen, hat keinen Unterschied er ja gemacht.« Funken stoben, als der Sullanciri ihnen die Verse entgegenspie. »Erwähnt nicht meinen Sohn, er ist nichts als ein Hohn, und auch nicht hier fürwahr. Doch Ihr sollt von mir lernen, unter Okrannels zahlreichen Sternen, was ist schmerzhaft klar.« Der Sullanciri breitete die Arme aus, und die Geste umfasste die ganze Außenstadt. »Für Euch ist gedeckt, ein Festschmaus perfekt. Fleisch, Wein und Brot, sollt leiden kein' Not. Warme Häuser und Decken, in ruhigem Schlaf mögt Euch strecken. Verbringt die Nacht ohne Sorgen, gekämpft wird erst morgen. Dann wartet der Tod, der Soldaten Not,
283 verwaist Eure Erben, Blut den Boden wird färben.« Der Jeranser General runzelte die Stirn. »Das war alles? Euer Vater hat Euch geschickt, um uns mitzuteilen, dass er uns erst verköstigt, bevor er uns umbringt? Wir bekommen eine Nacht Frieden vor dem Blutbad?« »Die Worte sind mein, die Botschaft ist sein. Er lädt Euch zum Feste, wünscht Euch nur das Beste. Im Morgen, in der Sonne Pracht, erwarten Leid Euch nur und Schmerzen, doch heut in der schattigen Nacht soll wohnen Frieden in den Herzen.« Ph'fas schnaubte verächtlich. »Spielchen und Gerede.« Hat er das Essen vergiftet? Will er meine Soldaten krank und betrunken machen? Adrogans schaute über Nefrailaysh vorbei hinauf zu dem Turm, in dem sein Gegenspieler wartete. Nefrai-kesh erschien im Fenster und winkte herab. Schmerz regte sich nicht und schlief weiter auf seinem Rücken. Adrogans nickte. »Wir nehmen die Gastfreundschaft an. Teilt Eurem Vater unsern Dank mit.« »Er wird es erfahren, vom Sohn, seinem wahren.« Der kleinwüchsige Sullanciri lächelte freundlich. Er winkte mit einer Hand, und sein Mantel schloss sich um ihn. Dann explodierte er - begleitet von einem Schneeflockenschauer. Sie wirbelten zu einer Windhose auf, die Nefrai-laysh in die Luft hob und zurück zur Stadt trug. Caros Miene war besorgt. »Ihr könnt nicht ernsthaft vorhaben, das Essen der Aurolanen zu verspeisen und ihren Wein zu trinken.« 284 »Ich habe keine Angst vor Gift. Nefrai-kesh versucht, sich als Ehrenmann zu beweisen, und ich bin bereit, mich darauf einzulassen. Ich vermute allerdings, er will sich nur deshalb heute als Ehrenmann zeigen, weil er morgen keiner mehr sein wird.« Adrogans seufzte. »Und das, meine Freunde, macht mir eine Heidenangst.« 285 KAPITEL ACHTUNDZWANZIG Alyx stand in der Mitte des Turmzimmers, ohne sich darum zu sorgen, dass die Beleuchtung von hinten ihre Silhouette zur Zielscheibe für aurolanische Draconellen machte. Sie konnte nicht anders, als die Gelassenheit des Nordlandkommandeurs zu bewundern. Nachdem Kjarrigan einen Sullanciri getötet hatte, herrschte in der Stadt Hochstimmung. Die Aurolanen schickten keine Zauberer mehr, und das magische Duell wurde trotz der erschreckend hohen Verluste als handfester Sieg für Navval gewertet. Kjarrigan hatte die Bedeutung der stibitzten Eisenkugel erklärt. Die Schmiede der Stadt hatten sie bereits in über ein Dutzend Bruchstücke zerschlagen. Kjarrigan und andere hatten sie dazu benutzt, Zauber zu sprechen, die auf die Stadt abgefeuerte Salven abwehrten. Man schmiedete Pläne, von Schilden bis zu Magnetsteinen, um die Schüsse auf einen Bereich zu konzentrieren! Das klang alles viel versprechend, und da Kräh den Nachschub an Feuerdreck und Munition der Belagerer aufhielt - ein weiterer Teil wurde für den Angriff auf Caledo umgeleitet -, war die Hoffnung auf einen Sieg hoch. Der aurolanische Kommandeur schätzte die Lage deutlich anders ein, was Alyx gut nachvollziehen konnte. Bei Einbruch der Dunkelheit donnerten Kytrins Draconellen. Sie krachten trotzig und schleuderten ihre eiserne Ladung gegen Navval. Die wartenden Zauberer setzten ihre Magik ein, um die Schüsse abzuwehren und umzuleiten, sodass sie kaum erkennbaren Schaden anrichte286 ten. Sämtliche Versuche, die Stadt aufzubrechen, waren nutzlos. Aber der Befehlshaber der Belagerer erhöhte nur die Feuergeschwindigkeit und ließ die Kugeln schneller und dichter herabregnen. Die Draconellen donnerten salvenweise. Während ein Magiker einen einzelnen Schuss leicht abblocken konnte, war er jetzt gezwungen, aus einem ganzen Schwärm Kugeln zu wählen. Je mehr davon er abzuwehren versuchte, desto anstrengender wurde es für ihn. Allmählich schlugen Kugeln ungehindert durch, weil die Magiker erschöpft zusammenbrachen. Zusätzlich erhitzten die Besatzungen des Gegners die Kugeln im Feuer, bis sie kirschrot glühten. Wenn eines dieser Geschosse bis nach Navval durchkam und ein Haus oder Getreidesilo zertrümmerte, setzte es alles in Brand, was es berührte. Von ihrem Fenster aus sah Alyx Dutzende Feuer lodern. Mit einem vollen Kontingent Magiker hätten sie die Brände unter Kontrolle halten können, aber momentan waren zu wenige Zauberer vorhanden, die schon jetzt überbeansprucht schienen. Und die Draconellenkugeln waren nicht die einzige Waffe, die gegen die Stadt zum Einsatz kam. Allein das pausenlose Donnergrollen der Geschütze reichte aus, den letzten Nerv zu rauben. Alyx war um Mitternacht noch wach, weil sie die Strategie des Gegners untersuchen musste, andere waren es, weil Schlaf bei diesem Lärm
unmöglich war. Außerdem mussten sie davon ausgehen, dass jeder dieser Donnerschläge unter Umständen die einzige Warnung darstellte, bevor eine eiserne Kugel ihr Heim in eine brennende Ruine verwandelte. Schon strömten die Leute zum Hafen. Alyx runzelte die Stirn. Sie war sicher, dass der Feind weder genug Feuerdreck noch Munition hatte, um die287 ses konstante Bombardement lange durchzuhalten, doch der verschwenderische Einsatz der Geschütze stand dazu im Widerspruch. Entweder war der Kommandeur der Belagerer ein waghalsiger Narr oder er wusste von bevorstehenden Nachschublieferungen und hatte keine Angst, den Draconellen könnte das Futter ausgehen. Die offensichtliche Strategie zur Lösung dieses Problems wäre ein Ausfall gegen seine Stellungen, aber sie hatte zu wenig Truppen, um die Aurolanen entsprechend hart anzugehen. Sie reichten zwar aus, die Stadt in erbittertem Gefecht zu halten, aber nicht, um die Belagerung zu brechen. Mehr noch, hätte sie einen Kavallerieangriff angeführt, um die Draconellen zu erobern, so hätte eine Salve feindlicher Draconettiere oder, schlimmer noch, eine flache Draconellensalve, die gesamte Einheit ausradieren können. Sie hasste es, herumsitzen und warten zu müssen, aber sie hatte keine andere Wahl. Solange die Aurolanen einen Teil ihrer Truppen hierher umgeleitet hatten und Nachschub verpulverten, fehlten ihnen diese Truppen und diese Munition beim Angriff auf Caledo. König Bomars Botschaften aus der Hauptstadt wirkten sehr gelassen. Er machte sich keine falschen Hoffnungen, Alexia könnte Navval halten. Er erwartete nur von ihr, dass sie dessen Fall so lange wie möglich aufschob. Es klopfte, und noch bevor sie sich umdrehen und »Herein« sagen konnte, öffnete sich die Tür bereits. Drei Männer und eine Frau, alle von mittlerem Alter und maskiert, traten ein. Sie trugen elegante Kleidung und hatten ihre Mäntel offenbar schon irgendwo abgelegt - alle, bis auf Herzog Thau, dessen Palais dies war. Die Frau trat aus der Gruppe und streckte die Hand aus. Alyx war sicher, sie schon einmal gesehen zu haben, erinnerte sich aber nicht an ihren Namen. »Bei allen Göttern, Prinzessin Alexia, hört uns an.« 288 Der Herzog packte die Frau am anderen Arm und hielt sie zurück. »Prinzessin, vergebt die Unterbrechung. Wir wollen nicht respektlos erscheinen, aber wir müssen Euch sprechen.« Er deutete mit einer Kopfbewegung zum Fenster. »Wie Ihr sicher schon selbst festgestellt habt, so waren die Vorbereitungen, von denen wir uns Rettung erhofft haben, vergebens. Die Stadt brennt. Viele haben ihr Obdach verloren. Es gibt Verletzte. Tote.« »Eure Stadt wird belagert. In dieser Lage sind Todesfälle unvermeidlich.« »Zugegeben, Hoheit. Aber wir müssen doch etwas unternehmen.« Alyx seufzte. »Genau darüber habe ich mir auch Gedanken gemacht. Die Aurolanen werden den Beschuss einstellen. Sie haben nicht genug Munition, ihn noch lange fortzusetzen. Unsere Zauberer werden mehr erreichen können, wenn sie Gelegenheit hatten, sich auszuruhen.« Der Herzog schüttelte den Kopf. »Sie sind zu sehr beansprucht. All die Brände ...« Sie knurrte: »Magik ist nicht die einzige Methode, ein Feuer zu löschen, mein Fürst. Ich habe Truppen abgestellt, Löschtrupps zu organisieren. Das stellt Eure Magiker für wichtigere Aufgaben frei, wie den Kampf gegen die Angreifer.« Sie sprach weiter, ohne dem Herzog Gelegenheit zu einem Einwurf zu geben. »Ich habe über einen Ausfall nachgedacht, aber der macht alles noch schlimmer. Er würde an unseren Kräften zehren, und wenn sie zum Sturm auf die Stadt übergehen, könnten wir sie nicht mehr abwehren. Das Gemetzel wäre unbeschreiblich. Wollt Ihr das?« Die Frau riss sich aus dem Griff des Herzogs los. »Nein, genau das wollen wir vermeiden. Deshalb sind wir hier. Wir möchten, dass Ihr eine Übergabe aushandelt.« 289 »Was?« Einer der beiden anderen Männer breitete die Hände aus. »Ihr habt selbst erklärt, dass die Aurolanen nicht auf die Mauern schießen, um sie für die Verteidigung eines Gegenangriffs intakt zu halten. Wir könnten mit ihnen verhandeln und sie einlassen. Wir würden sie ihnen gegen die Sicherheit unserer Bürger überlassen. Ich bin sicher, sie würden die Weisheit eines solchen Geschäfts erkennen.« Alyx hatte ihm mit offenem Mund zugehört. Jetzt schloss sie ihn und schüttelte den Kopf. »Ist Euch klar, was Ihr da sagt?« Die Frau hob den Kopf. »Es wird das Gemetzel beenden.« »Ihr habt den Verstand verloren. Ich weiß, was es heißt, wenn eine Stadt von den Aurolanen überrannt wird. Swojin war so vergiftet, dass es nach der Befreiung niedergebrannt werden musste. Diese Stadt ist die Heimat für wie viele Seelen? Zwanzigtausend, dreißig ...? Swojin war einmal ebenso groß. Als General Adrogans es befreite, lebten keine fünftausend mehr.« Der Herzog wedelte mit der Hand. »Das war nach fünfundzwanzig Jahren.« Alyx fixierte ihn mit strengem Blick. »Und Ihr glaubt, es würde weniger als ein Vierteljahrhundert dauern, bis irgendjemand zu Eurer Rettung käme?« »Nein, wir erwarten, dass die Aurolanen sich an die Bedingungen halten, die wir mit ihnen aushandeln.« »Und warum sollten sie das tun? Falls Ihr diese Stadt übergebt und falls es Truppen gibt, die Euch retten könnten, werden sie keine Zeit verlieren. Sie werden Euch einfach hier mit den Aurolanen in der Stadt festhalten, und wenn den Schnatterern der Proviant ausginge, würdet Ihr sehr schnell sehen, wie lange Eure Bedingungen
gelten.« Der vierte Mann, ein weißhaariger Magistrat, ließ 290 einen drohenden Unterton in seine Stimme einfließen. »Wir haben anderes, was wir ihnen übergeben könnten. Wertvolles.« »Und das wäre?« Alyx verengte die violetten Augen zu drohenden Schlitzen. »Mich? Die Mörderin einer Sullanciri? Was genau wollt Ihr damit sagen, Magistrat?« »Ihr wisst sehr genau, was ich sagen will.« »Ich aber nicht, Magistrat. Vielleicht sagt Ihr es besser mir!« Sayce stand im Türrahmen. Blanke Wut lag in ihren Worten. »Deutet Ihr etwa an, Ihr wäret bereit, dem Feind zwei Menschen zu übergeben, die aus freien Stücken hierher gekommen sind, um Euch zu retten?« Der Magistrat schaute sie von oben herab an. »Eure Sicherheit wäre garantiert, Prinzessin.« »Nicht in Eurer Gegenwart, so viel steht fest.« Sayce schob sich zwischen den vieren hindurch und stellte sich zwischen sie und Alyx. »Ihr würdet mich ebenfalls verhökern, nachdem die anderen sich als zu wenig herausgestellt hätten, und dann würden die anderen Euch verkaufen.« Die Frau flehte sie an. »Die Alternative ist der Tod.« »Ja, das ist sie!« Die Hände der murosonischen Prinzessin schnitten durch die Luft. »Wie schwer von Begriff seid Ihr denn? Die Aurolanen sind gekommen, um uns zu vernichten. Sie sind wie ein Orkan über Sebtia gekommen, und weshalb? Was haben die Sebtier Kytrin je getan? Nichts. Mit uns ist es dasselbe. Wir haben nichts getan, um diese Invasion herauszufordern, außer, dass wir ein gutes Land voll ehrenwerter Menschen sind, die hart arbeiten, um mit ihren Familien das bestmögliche Leben zu leben. Schaut Euch an. Ihr tragt Masken. Seid Ihr sie denn wert? Eure Vorfahren würden sie Euch vom Gesicht reißen und anschließend die Haut darunter abziehen. Ihr seid zu genau der Art Menschen verkommen, die unsere Vorväter gestürzt haben, als sie diese Masken aufsetzten.« 291 Der Herzog versteifte sich empört. »Ihr irrt Euch in uns.« »Nein, das tue ich nicht, Herzog Thau. Nicht im Mindesten. Ich sehe Euch so, wie Ihr in Wahrheit seid. Genauso wie Ihr bereit seid, Prinzessin Alexia oder Kjarrigan an die Aurolanen zu verkaufen und vorzuschützen, es sei zum Wohle des Volkes, so würdet Ihr auch zu Eurem eigenen Wohl das Volk verkaufen. Ihr würdet das als angemessenen Preis betrachten und diejenigen mit Eurem Lob überschütten, die dieses Opfer bringen, aber Euer eigenes Leben wäre Euch in jedem Fall viel zu kostbar, für das Reich und die Stadt, um Euch selbst dem Feind auszuliefern.« Angesichts dieser ungebremsten Wut duckten sich die vier. Sie wurden bleich, und die Frau schlug die Hände vor die Maske. Ihre Schultern bebten, als weine sie. Alyx aber erschien die Gestik übertrieben. »Wir werden es so machen.« Sayce zog die Lippen zurück und fletschte die Zähne. »Ich werde Eure Sicherheit garantieren, da sie Euch offensichtlich so teuer ist. Ich werde jedem von Euch ein paar Lanzer zur Bewachung zuteilen und gebe Euch die Garantie, sollte die geringste Gefahr bestehen, dass Ihr in die Hand des Feindes geratet, so werden sie Euch töten und Euch die Erniedrigung ersparen, von den Schnatterern abgeschlachtet zu werden.« Der Magistrat starrte sie mit vor Schreck geweiteten Augen an. »Ihr könnt uns nicht mit Mord drohen!« »Nicht?« Sayces Blick spießte ihn auf. Sie hob den Kopf und verschränkte die Arme unter den Brüsten. »Besser eine Drohung mit Mord als eine Anklage wegen Hochverrats. Die Wahl liegt bei Euch. Ich persönlich würde Letzteres vorziehen, da in diesem Fall all Euer Besitz an die Krone fiele. Eure Kinder würden zwar zu Bettlern, aber wenigstens dürften sie überleben.« 292 Der Herzog schnaubte. »Soll die Krone meine Ländereien ruhig bekommen. Kytrin wird sie sich bald genug holen.« Alyx trat vor und legte Sayce die Hand auf die rechte Schulter. »Ihr sagt es selbst, Herzog Thau. Kytrin wird sich Euer Land und Eure Stadt bald genug holen. Die Frage ist, welchen Preis wird sie dafür zahlen? Ihr könnt sie ihr aushändigen und werdet keinen Dank dafür ernten. Oder Ihr widersetzt Euch ihr - mit uns. Wenn Ihr auch nur einen Schnatterer tötet, verkauft Ihr Euer Leben teurer, als Ihr Euch jemals vorstellen könntet, und der Preis, den sie zu zahlen hätte, wäre höher, als sie eigentlich aufbringen kann.« Die rothaarige Prinzessin nickte. »So ist es. Zeigt Euch Eurer Maske würdig und beweist die Treue, die Euer Vaterland verdient, oder zeigt Euer Gesicht und versinkt in verdientem Vergessen. Besser ein Tod in Freiheit als ein Leben in Sklaverei.« Die vier starrten sie fahl und geduckt, mit ausdrucksloser Miene an. Sayce zeigte zur Tür. »Raus!« Sie zogen stumm ab, ohne Verbeugung oder Entschuldigung. Sayce drehte sich zu Alyx um. »Ich schäme mich für mein Heimatland und dafür, dass Ihr das mit ansehen musstet.« »Ihr meint, wie Ihr eine Bande Feiglinge zusammenstaucht?« Alyx lächelte. »Das ist ein ganz neuer Aspekt, von dessen Existenz ich bisher nichts geahnt habe.«
Die kleinere Frau nickte. »Ich weiß. Als ich in Meredo eintraf, habe ich keinen guten Eindruck hinterlassen. Ihr wart nicht, was ich erwartet hatte. Will war es auch nicht. Nichts war, wie ich es mir vorgestellt hatte. Aber Ihr habt mir bewiesen, dass Ihr mehr seid, als ich mir hätte erträumen lassen. Will hat das ebenfalls getan, und Kräh auch.« Sayce senkte den Blick, ihre Stimme 293 wurde nachdenklicher. »Ich habe Gerüchte über Euch alle gehört, bevor ich nach Meredo kam. Der Überfall auf Wruona. Die Marsch aus Festung Draconis. Ich habe mir einen Heldentrupp ausgemalt, was nichts mit dem zu tun hatte, was Ihr wirklich seid. Ihr seid weniger eine Kompanie als eine Familie. Es schmerzt Euch, von Kräh getrennt zu sein, nicht wahr?« Die Frage überraschte Alyx mehr, als es der Vorschlag des Herzogs getan hatte. »Es gefällt mir nicht, nein.« »Es geht ihm doch gut da draußen?« Sayce warf ihr einen schrägen Blick zu. »Ihr würdet es spüren, wenn ihm etwas zustieße, oder? Ist das nicht so, wenn man liebt?« »Ich bin sicher, ich würde es spüren, ja. Und er würde es spüren, wäre ich hier in Gefahr.« »Ich wüsste es bei Will genauso.« Alyx ließ sich nichts anmerken. Warum verglich Sayce ihre Gefühle für Will mit ihren eigenen für Kräh? Sayce hätte das sagen können, um sich ihre Sympathie zu verschaffen, aber wozu das? Sie saßen beide in derselben Stadt, wurden von derselben Armee belagert, mit Feinden vor den Toren und Nattern dahinter. Alle möglichen Differenzen zwischen ihnen erschienen angesichts dieser Lage belanglos. Die einzige Erklärung, die dafür möglich wäre, ist ... Ein eiskalter Schauder überlief sie. »Ihr liebt ihn wirklich, oder?« Die murosonische Prinzessin blickte hoch, dann nickte sie. »Eigentlich sollte meine Schwester nach Meredo reiten und Will verführen, um ihn nach Muroso zu holen. Ich hasste diese Vorstellung, deshalb bin ich selbst losgeritten. Ich war bereit, mich ihm anzubieten, wenn es nötig war, aber ich wollte ihn überreden, aus freien Stücken zu kommen. Ich habe ihn mir ganz anders vorgestellt, wie sein Halbbruder gebaut, mit Entschlossens 294 Auftreten. Er war aber nicht so. Er war still und lustig. Und so unglaublich nett, als er gekommen ist und mir Gesellschaft geleistet hat, während ich mich von der Verletzung erholt habe. Ich hatte nie erwartet...« Sie wischte sich eine Träne ab, doch ihre Mundwinkel zitterten. »Hört Euch das an, ich klinge wie ein kleines Mädchen, das zum ersten Mal verliebt ist. Aber ich träume von ihm, wisst Ihr, und ich mache mir Sorgen. Die letzten Tage ist mir richtig schlecht gewesen, wenn ich aufwachte. Und jetzt, wo sie nach Sarengul unterwegs sind, weiß ich nicht, was ich denken soll. Worauf ich hoffen soll.« »Was Ihr fürchten sollt.« Sayce nickte. »Das ist das Schlimmste.« »Ich weiß.« Alyx nahm sie in den Arm. »Ich würde sagen, wir fürchten dasselbe wie sie. Ja, einander nie wiederzusehen, das ist eine große Angst, doch schlimmer wäre es, zu versagen und ihnen Schande zu machen. Ich weiß, das wird Kräh nicht zulassen.« »Will auch nicht.« »Dann ist diese Angst schon einmal überflüssig.« Sie drückte Sayce. »Und was die Angst betrifft, sie nicht wieder zu sehen: Nun, die Einzigen, die uns daran hindern könnten, sind die Belagerer dort draußen. Und soweit es mich betrifft, ist das Grund genug dafür zu sorgen, dass sie scheitern.« 295 KAPITEL NEUNUNDZWANZIG /\m Morgen verdrängte Adrogans die seltsamen Geschehnisse des Vortags. Das von den Aurolanen vorbereitete Essen war etwas bescheiden, aber sättigend gewesen. Der Wein schmeckte ausgezeichnet, er war zum großen Teil aus den Kellern Swarskijas oder aus Sebtia importiert. Adrogans schien zwar nicht begeistert, aurolanische Kriegsbeute zu trinken, aber sie hatten es sich mit Trinksprüchen auf den kommenden Sieg versüßt. Caro hatte erklärt, besser sie tranken den Wein als irgendwelche Aurolanen, und dagegen hatte Adrogans kein Argument gefunden. Der Morgen kam schnell und schmerzhaft - aber nicht auf Grund eines Katers. Seine Geliebte, die den gestrigen Tag verschlafen hatte, ritt ihn jetzt mit Klauen und Sporen. Die bevorstehende Schlacht versprach große Qualen auf beiden Seiten, und wenn er sich nicht konzentrierte, würde Schmerz ihn durchbohren und zerfetzen wie seine Truppen den Feind. Aber er konzentrierte sich, denn die Aufgabe, die vor ihm lag, war alles andere als leicht. Man konnte nur schlecht in die Innenstadt gelangen. An zwei Stellen waren die Mauern seit der Eroberung aufgebrochen. Die Breschen waren mit Barrikaden verschlossen, die aus Balken und sonstigem Schutt Swarskijas gezimmert waren. Die Bresche westlich des Haupttors war unpassierbar. Im Osten häufte sich der Schutt zu einer Rampe, die zu einem breiten Loch führte. Dort gab es auch eine Barriere, sie schien aber nachlässiger gebaut. Er konnte nicht sagen, ob das Absicht war, um Angrei296 fer in eine Falle zu locken, musste aber zumindest mit dieser Möglichkeit rechnen. Trotzdem blieb dies der schwächste Punkt in der Verteidigung der Stadt. Das Haupttor stand offen, seit Jahrzehnte zuvor die riesigen Torflügel eingeschlagen worden waren. Auch dort vor dem Tor waren aus Schutt Barrikaden angehäuft worden und sperrten so wie viele kleine Mauern die
Hauptstraße. Die dahinter aufgestellten Truppen konnten nicht lange überleben, aber die Mauern bremsten alle angreifenden Einheiten, und das machte sie äußerst anfällig für Angriffe von Bogenschützen und Draconettieren. Darüber hinaus war Adrogans gezwungen, sich um Steilschleudern, Donnerkugeln und Feuersäcke zu sorgen. Richtig aufgestellt konnten sie sein Heer vernichten, und er besaß keine Möglichkeit, sie zu entdecken oder auszuschalten. Wenn er so vorsichtig vorging, wie die von ihnen ausgehende Bedrohung es verlangte -und sie waren gar nicht vorhanden -, kostete der Angriff weit mehr Zeit als gut war. Andererseits konnte er sein Heer abschreiben, wenn er drauflos stürmte - und sie waren in Stellung. Es gab keinen Mittelweg. Ich muss mit Blut erkaufen, was ich lieber mit Strategie gewonnen hätte. Als wäre das alles noch nicht schlimm genug, war ihnen das Wetter alles andere als gewogen. Schon vor dem Morgengrauen heulte ein kalter Nordwind durch die Straßen und brachte Schneegestöber mit. Der Schneefall war nicht allzu dicht, aber der Wind trieb ihn nach Süden, sodass seine Leute dagegen anmarschieren mussten. Schlimmer noch, sie mussten ihre Pfeile gegen den Wind abfeuern, und das Schlimmste von allem: Düstere Wolkenmassen näherten sich der Stadt und kündigten noch weit mehr Schnee an. »Vorrücken.« 297 Der Trompeter stieß ins Hörn. Andere Signalmänner fingen das Zeichen auf und wiederholten es. Über dem Schlachtfeld schwebten die ihm verbliebenen Kriegsfalken. Sie stießen immer wieder auf die Mauer über dem Haupttor hinab. Flammhähne explodierten mit leuchtendem Widerschein, Speere und Pfeile spießten aurolanische Verteidiger auf. Brennendes Öl strömte lodernd von der Mauer, und die Männer juchzten, als sei das ein Siegeszeichen. Die Soldaten marschierten vorwärts. In dichten, breiten Reihen rückte die Infanterie vor. Aurolanische Truppen am Haupttor standen auf und schössen Pfeile ab oder schleuderten Speere. Ein Teil der Soldaten fiel, doch die Pfeile und Speere, mit denen sie antworteten, trieben die Verteidiger auseinander. Diejenigen, die dazu noch in der Lage waren, zogen sich zurück und rannten in die Innenstadt davon, dann erreichten die vordersten Reihen der Kaiserlich Helurianischen Legion von Stahl die erste Mauer. Sie stiegen hinüber und marschierten weiter, obwohl ein neuer Geschosshagel sie traf. Im Osten führte Beal mot Tsuvo die zwölf Kompanien ihrer Sippe in einem selbstmörderischen Sturmangriff die Rampe hinauf zur Mauerbresche. Adrogans hatte ihr diese Position nicht überlassen wollen. Er fand, es sei eine zweifelhafte Ehre, diesen Angriff anzuführen, erst recht, da die ersten Truppen, die dort die Mauer durchbrachen, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in den Tod marschierten. Aber sie hatte darauf bestanden. Ihre Rolle beim Marsch auf Swarskija war zwar entscheidend gewesen, Adrogans hatte sie und ihre Truppen jedoch während dieses Anmarsches aus den großen Schlachten herausgehalten, und ihr Hochlandtemperament verlangte nach einer Gelegenheit, sich zu beweisen. Dort an dem Durchbruch flogen die Pfeile dichter als 298 die Schneeflocken. Krieger, die runden Schilde erhoben und mit Pfeilen gespickt, preschten die Rampe hoch. Soldaten rutschten aus und stürzten, manche standen nie wieder auf. Andere kämpften sich wieder hoch und weiter vor. Als die Guranin nahe genug heran waren, flogen die Eisenhaken und verfingen sich in den Barrikaden. Stämmige Hochlandkrieger packten die daran herabhängenden Seile und zogen, ohne sich von den Pfeilhageln abschrecken zu lassen, die viele von ihnen niederstreckten. Sobald sich die erste Lücke in der Barrikade zeigte, fluteten die Krieger vorwärts. Sie sprangen über fallende Balken, schlugen fliegende Steine beiseite und griffen die Schnatterer an, die sich ihnen entgegenstellten. Adrogans wartete darauf, dass die Explosion eines Feuersacks die Guraninkrieger in blutige Fleischklumpen und Geister verwandelte, aber nichts geschah. Dann wartete er auf den Donner von Draconellen, der den Morgen mit lautem Krachen und grellem Blitzschein erhellte. Mit Schrot geladen, würden sie seine Soldaten zerfetzen und die Bresche mit Blut taufen. Die Infanterie näherte sich dem Haupttor. Die Jeranser Krongarde war durch die ausgedünnten Reihen der Legion von Stahl vorgedrungen und stieß weiter in die Stadt vor. Sie hatte die zweite Mauerbarriere erobert -und auch die dritte. Nur noch eine lag vor dem Haupttor. Dort oder weiter stadteinwärts oder vielleicht unmittelbar auf der anderen Seite konnten Draconellen und Bogenschützen seine Truppen zerreißen. Feuersäcke konnten qualmende Krater als einzige Spur ihrer Existenz zurücklassen. Er suchte nach Hinweisen, dass seine anderen Pläne aufgingen, fand aber keine. Die Exilokraner hatten ein Bataillon Leichte Infanterie ausgehoben, und er hatte es mit den Swojiner Partisanen kombiniert. Er hatte der gemeinsamen Einheit den Befehl erteilt, sich durch die 299 Kanalisation in die Stadt einzuschleichen, in der Hoffnung, sie könnten die Verteidiger aus deren Rücken angreifen. Auch dieses Unternehmen war Selbstmord, nicht minder als Beal mot Tsuvos Sturmangriff, aber die Okraner hatten sich davon ebenso wenig abschrecken lassen. Als könnte es sie unverwundbar machen, hatten sie leise gemurmelt »Träume können wahr werden« - und den Auftrag angenommen. Schmerz versengte ihn, als seine Krieger fielen, mit schneidend scharfen Gefühlen. Er spürte die Panik der Ertrinkenden in dem eiskalten Abwasser. Die Hoffnungslosigkeit des sterbenden Soldaten, der versuchte, sich die Eingeweide zurück in den Leib zu stopfen, erreichte ihn mit kristallener Klarheit. Von Verbrennungen und
Schnittwunden bis zu zerschmetterten Gliedmaßen und durchbohrten Organen fluteten die Wahrnehmungen auf ihn ein. Er hasste solche Schlachten. Was auch immer geschah, Adrogans konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass er bereits verloren hatte. All dieses Blut wird sinnlos vergossen - für einen Zweck, der mir mit Sicherheit nicht gefällt. Er schaute hoch zu Nefrai-keshs Turm und dem dort oben lodernden Feuer. Ich bin besiegt, aber ich weiß weder wie, noch warum. Plötzlich explodierte im Westen auf einer der Barrikaden ein Flammhahn. Er lächelte und zeigte hinüber. »Möglicherweise wendet sich unser Glück.« Caros Blick folgte dem ausgestreckten Arm, und er nickte. »Dann sehen wir uns in der Stadt.« »Ja. Waidmannsheil.« Adrogans zog das Pferd herum und ritt nach Westen, wo seine Reitergarde zusammen mit den Okraner Königsmannen wartete. Als er sich der Kavallerie näherte und das gurolsche Felsenherzbataillon auf die brennende Barrikade zutrottete, sah er den dahinter tobenden Kampf. Irgendwie hatten 300 es die Swojiner Partisanen durch die Kanalisation geschafft und griffen die aurolanischen Truppen an der Mauerbresche an. Die Felsenherzen rannten den Schutthang hinauf und trafen auf wenig Gegenwehr. Wie die Guranin im Osten setzten sie Seilhaken ein, um den lodernden Schutt beiseite zu ziehen. Sowie ihre vorderen Reihen sich teilten, stürmte die dahinter wartende Legion vor und kämpfte sich durch die Bresche. Die anderen Legionen verbreiterten sie noch zusätzlich, dann trabte Adrogans mit der Kavallerie heran. Mit jedem Hufschlag erwartete Adrogans, dass sich die Schutthalde in einen Vulkan verwandelte. Er suchte im Schneegestöber nach dem ersten Lichtblitz und dem ersten Anzeichen von Wärme. Er wartete darauf, dass die Männer fielen, weil der Boden unter ihren Füßen explodierte. Er wusste, Feuer und Stein würden erst sie zerfetzen und anschließend würde ein Felsenhagel seine Reiter zermalmen. Immer näher ritten sie. Sie waren nahe genug, dass er Krieger mit Schnatterern ringen und Vylsenz aufspießen sah. Äxte hoben und senkten sich, Langmesser blitzten. Leichen und Kadaver flogen blutend und zerfetzt davon. Schmerzschreie und Geheul tönten lauter als das Kampfgebrüll, das aber noch zu hören war. Als sein Ross einen Huf auf die Rampe setzte, stimmte er ein. »Für Herzog Mikhail!« Adrogans zog das Schwert und lehnte sich vor, trieb das Pferd an. Kraftvolle Muskeln schwollen an, als sich das Tier vorwärts warf. Steine kamen ins Rutschen, doch das Streitross hielt das Gleichgewicht, sprang vorwärts, zog zur Seite und rannte weiter. Schaum flockte vom Gebiss und die Flocken flogen gegen Brust und Hals des Tieres, dann endlich hatten sie die Kuppe erreicht. Adrogans nahm sich einen Augenblick Zeit, das Herz von Swarskija zu betrachten. Er hatte Ruinen er301 wartet, denn die Mauern und die einzelnen Türme, die sie hoch genug überragten, hatten diesen Eindruck erweckt. Doch seine Erwartung wurde enttäuscht. Die Straßen waren frei, die Häuser trotz verblichenem Anstrich und aufgeplatztem Putz gut erhalten. Nach Swojin und der Außenstadt war er auf einen so ordentlichen Anblick nicht vorbereitet gewesen. Wenn man nicht genau hinschaut, könnte man glauben, diese Stadt habe nie einen Kampferlebt. Aber er schaute genau hin. Die Rampe herunterreitend bemerkte er überall Spuren der Schlacht. In der Gosse lief dick das Blut, das Kopfsteinpflaster war übersät mit Toten. Manche der verdrehten Kadaver brannten, andere waren in Stücke gehackt. Die Verletzten zuckten, heulten und krochen in Deckung, zu den auf den Boden gefallenen Waffen, irgendwohin, wo sie sich Trost versprachen. Hinter ihm preschte die Reitergarde durch die Bresche. In der Stadt angekommen, bogen sie nach Osten. Im Galopp, dichtauf gefolgt von den Okraner Königsmannen, erreichten sie schnell das Haupttor. Dort fanden sie die aurolanische Infanterie, die zur Abwehr des Sturmangriffs durch das Tor zusammengezogen war. Die Kavallerie donnerte von hinten in ein Bataillon, ritt die Nordlandtruppen nieder, schlug nach beiden Seiten um sich. Dann stürmten sie vorwärts in das nächste Bataillon. Die Königsmannen schnitten nach links und vernichteten die letzten beiden wartenden Bataillone. Die Straßen der Innenstadt zwängten die Aurolanen ein und nur die hintersten Ränge konnten fliehen. Sie kamen jedoch nicht weit und hatten nicht die geringste Chance, den wütenden Kriegern zu entkommen, die nach einer Generation im Exil zurückgekehrt waren, um ihr Heimatland zu befreien. Abgesessene Krieger flogen die Treppen hinauf und in die Räume über dem Tor. Die dort wartenden Auro302 lanen hätten geschmolzenes Blei oder siedendes Öl auf hereinstürmende Truppen gießen können. Sie hätten sogar einen zündfertigen Feuersack bereithalten können. Doch die Reitergardisten brachen mit blutigen Schwertern in die Kammer, und nur Minuten später kehrten sie triumphierend zurück. Adrogans teilte andere Männer ein, das Haupttor freizuräumen, dann trabten Caro und seine Aleider Reitergarde herein. Sie verteilten sich in der Stadt und gingen auf die Jagd. Weiter östlich ritten die Savaresser Ritter und Matraves Söldner durch die von der Tsuvosippe freigeräumte Bresche. Trotz des Erfolgs stimmte etwas nicht. Dessen war sich Adrogans sehr bewusst. Er hatte Soldaten verloren, aber nicht annähernd so viele, wie er erwartet hätte. Nirgends waren sie auf Draconellen gestoßen, nicht in der Stadt
und nicht an der Brücke oder bei den Drei Brüdern. Der Feind hatte viel zu wenig Truppen aufgeboten. Und die Stadt war makellos. Ph'fas tauchte neben ihm auf. »Der Turm.« Adrogans schaute hoch und sah das Feuer lodern. Dann erhob es sich in die Luft. Die beiden Dunklen Lanzenreiter, Vater und Sohn, saßen auf einem Ross mit Drachenschwingen aus Feuer. Sie galoppierten in die Luft hinaus, umkreisten den Turm einmal, dann verschwanden sie nach Nordosten. Nefrai-kesh winkte Adrogans zu. Nefrai-layshs Gelächter verspottete ihn. Nachdem die Stadt gesichert war, betrat Adrogans zusammen mit Caro, Ph'fas, einigen anderen Shusken und zwei von den Okranern, die sich um den sterbenden Herzog Mikhail gekümmert hatten, den Turm. Die Gruppe stieg vorsichtig höher. Sie hielten misstrauisch Ausschau nach Fallen und rechneten bei jeder Stufe mit einem Angriff. 303 Schmerz schlief wieder, und Adrogans verspürte keine Angst. An der Spitze des Turms, in einer Kammer mit offenen Fenstern, die trotzdem irgendwie vor den Elementen geschützt war, fanden sie einen gedeckten Banketttisch, auf dem das Essen noch warm war. Die Kerzen waren halb niedergebrannt, und hätten sie den Turm sofort nach dem Abzug der Sullanciri betreten, hätte sie eine elegante Szenerie erwartet. Ph'fas schnaubte abschätzig. »Zu viele Stühle.« Adrogans trat ans Kopfende der Tafel. Dort war an Stelle eines Gedecks ein Bogen Pergament mit einem Dolch aufgespießt. Die Schrift war elegant und flüssig, doch der General fand die dunkelbraune Farbe der Tinte beunruhigend. Blut. Dass es stellenweise feucht war, verstörte ihn noch mehr. Adrogans stützte sich schwer auf den Tisch, legte das ganze Gewicht auf die ausgestreckten Arme und las vor. »Mein lieber General Adrogans, ich gratuliere Euch zu einem brillant geführten Feldzug. Weder ich noch meine Herrin hielten Euch für fähig, einen Winterkrieg zu führen. Daher habt Ihr mich ohne Verstärkungen oder Nachschub überrascht, die sämtlich im Osten benötigt wurden. Ihr habt Okrannels Freiheit errungen. Ich war hier, als es fiel, und obwohl es mich betrübt, meine Herrin zu enttäuschen, indem ich es verliere, gönne ich dem okranschen Volk seine Heimat. Sie werden einen Frieden finden, den ich nicht gefunden habe und wohl auch nicht mehr finden werde. In tiefer Hochachtung verbleibe ich, Nefrai-kesh.« Caro starrte ihn an. »Das kann da unmöglich stehen.« »Lest es selbst.« Der Aleider General schnitt ein Gesicht. »Wir haben gewonnen, weil wir wagten anzugreifen, während sie ihre Truppen woanders hatte?« 304 »Eine Scharade. Die vor Lurrii oder Porjal eingesetzten Draconellen hätten binnen fünf Tagen gut hierher verschifft werden können. Für die Truppen gilt dasselbe. Es ist fast einen Monat her, seit wir die Drei Brüder eingenommen haben. Die Stadt hätte vor Schnatterern aus den Nähten platzen müssen.« Caro seufzte schwer und starrte aus dem Fenster hinaus auf die Mauer. »Wozu dieses Theater? An der Brücke hätte er uns abschlachten können. Hier hätte er es gekonnt. Warum hat er es nicht getan?« Ph'fas streckte die Hand aus und drehte eine Keule von einem Braten, der nach Huhn aussah. »Spielt das eine Rolle? Die Hexe hat die Stadt verloren.« »Du irrst dich, Onkel. Sie hat sie nicht verloren.« Adrogans runzelte die Stirn. »Sie hat sie eingetauscht. Aber wogegen?« Der Shuskenschamane zuckte die Achseln. »Das wird sich zeigen.« »Das wird es.« Adrogans schauderte. »Aber ich glaube nicht, dass es ein erfreulicher Anblick sein wird.« KAPITEL DREIßIG Auf gewisse Weise, überlegte Ermenbrecht, war es schade, dass der Aurolanenpfeil nicht vergiftet gewesen war. Er hatte ihm den rechten Oberschenkel durchbohrt. Jilandessa befand die Verletzung für nicht allzu schlimm, und er hatte ihr nur gestattet, die Blutung zu stillen und die Wunde zu schließen. Ihre Fähigkeiten wurden anderenorts gebraucht, für ernstere Verletzungen, und er konnte sich auch so noch gut genug bewegen, wenn er auch humpelte. Wäre der Pfeil vergiftet gewesen, so wäre er jetzt tot. Und seine Nase und Wangen, Ohren, Zehen und Finger wären nicht halb erfroren. Seine Eingeweide würden sich nicht vor Angst verknoten, das Fragment der Drachenkrone könnte in feindliche Hände fallen. Er wäre nicht mehr hungrig oder müde oder hätte irgendeine der anderen Schwierigkeiten ertragen müssen, die die Lebenden von den Toten unterschieden. Ihre Flucht hatte Opfer gekostet. Jullach-Tses Plan hatte funktioniert, und sie hatten es ohne allzu große Probleme in den Zuführschacht geschafft. Beim Aufstieg hatte sich jedoch Verum freiwillig gemeldet, um zurückzubleiben. Ermenbrecht hatte noch Schüsse gehört, als er den Schacht verlassen hatte, und er gestattete sich die Hoffnung, dass der Meckansh irgendwie und irgendwo in Sarengul noch lebte. Jullach-Tse führte sie auf einem Südsüdwestkurs durch die Berge. Sie wollte zu einem Pass, auf dem eine Seilbrücke über eine tiefe Schlucht führte. Es war Jahre her, dass sie hier gewesen war, aber alle Wegzeichen,
306 die ihr die Orientierung erleichterten, befanden sich noch am selben Platz. Die Schlucht zweiteilte im wörtlichsten Sinne eines der Herzogtümer Sarenguls, und wenn die Aurolanen sie unterirdisch überholen wollten, mussten sie dazu einen beträchtlichen Umweg in Kauf nehmen. Sie alle hofften darauf, dass die Nordlandhorden noch nicht so tief in die Zwergenkolonie vorgedrungen waren. Um den Verfolgern ganz zu entkommen, brauchten sie nur die Brücke zu erreichen und sie hinter sich zu zerschneiden, sobald sie die Schlucht überquert hatten. Jullach-Tse hatte die Schlucht als steil und bodenlos beschrieben. Ob er das Drachenkronenfragment hineinwerfen sollte? Die Aurolanen setzten ihnen weiter nach, und das ohne Gnade. Im Morgengrauen waren sie in einen Hinterhalt geraten, bei dem drei Mann gefallen und vier verwundet worden waren, aber glücklicherweise war keiner dieser vier versehrt. Von zwölf Mitgliedern war seine Truppe damit auf nur noch sieben geschrumpft, was angesichts all dessen, was sie hinter sich hatten, immer noch bemerkenswert war. Doch die Müdigkeit, der Hinterhalt und der Verlust seiner Leute so kurz vor dem endgültigen Entkommen raubte ihm den Mut. Der Wind peitschte durchs Gebirge und trieb den Schnee nach Süden. Ermenbrecht zog Rückenwind vor, wenn er es auch ausgesprochen schwierig machte, und noch dazu schmerzhaft, auf Verfolger zu achten. Durch das treibende Schneegestöber sah er Schnatterer. Manche folgten ihnen am Boden, andere kletterten über die Felsen. Der Wind riss alle Pfeile davon, aber das hielt die Schnatterfratzen nicht davon ab, sie trotzdem abzufeuern. Und wie immer folgte ihnen das Monster im Kapuzenmantel. Es bewegte sich unbeholfen, aber es beweg307 te sich. Der Wind zerrte an dem roten Mantel, doch es blieb nicht stehen. Es duckte sich kein einziges Mal zu Boden, um dem Wind zu entgehen, hob nicht einmal die Hand vors Gesicht. Was die Sache noch schlimmer für Ermenbrecht machte, war der nagende Eindruck, dass der vor zwei Tagen noch abgerissene Arm nachzuwachsen schien. Jullach-Tse deutete nach Süden und dann nach rechts. »Da, man kann die Öffnung zur Schlucht erkennen. Jetzt ist es nicht mehr weit.« »Also müssen sie was tun, wenn sie nicht wollen, dass wir ihnen den Weg abschneiden?« »Ja.« Die urSreö senkte den Blick. »Hoheit, ich bin von uns für die Berge am besten gerüstet...« »Ja, natürlich.« Ermenbrecht wollte den Gurtharnisch abstreifen, der das Drachenkronenstück sicherte. »Nimm das und beeile dich.« Sie legte eine braune Hand auf seinen Arm und hielt ihn auf. »Nein, Hoheit. Was ich sagen wollte, war: Ihr solltet Euch beeilen und mich sie aufhalten lassen.« »Kommt nicht infrage.« Er schaute sich zu den anderen um. »Wir wollen keine Zeit mehr verlieren. Je schneller wir vorankommen, desto besser. Sobald wir über die Brücke sind, sind wir in Sicherheit. Rys, Finn, los!« Die beiden AElfen liefen durch das enger werdende Tal voraus und den sich serpentinenartig windenden Einschnitt hinauf, der zur Schlucht und zu ihrer Rettung führte. Der Wind dämpfte den Ruf eines Schnatterers hoch auf einem der Gipfel, aber die anderen hörten ihn und wurden schneller. Weitere Rufe ertönten von den Felsenhöhen, und Ermenbrecht schloss daraus, dass zusätzliche Aurolanen aus dem Berginneren eingetroffen waren. Jullach-Tse half ihm zurück, so schnell es mit dem verletzten Bein möglich war. Er hielt den Vierschüsser 308 in der linken Hand und hatte ihr den rechten Arm um die Schultern gelegt. Sein rechtes Bein ließ sich kaum bewegen, der Fuß zog nach und hinterließ eine lange, gewundene Spur im Schnee. Hier und da fielen ein paar schwarze Pfeile. Ryslin hob einen auf, legte ihn auf den Silberholzbogen und schickte ihn den Schnatterern zurück. Weiter rannten sie nach Westen das Tal hinunter. An der schmälsten Stelle verengte es sich auf zwanzig Schritt und machte kurz hintereinander vier enge Schlenker, was es erleichterte, die Verfolger wenigstens kurz aufzuhalten. Hinter den Serpentinen erstarb der Wind. Ermenbrecht hörte das Knirschen der Schritte im Schnee und das zischende Grummeln seiner verletzten Kameraden auf dem Weg nach Westen. Auch die Vorfreude wuchs, denn das Tal weitete sich deutlich und machte einen großen Bogen nach Süden. Dort würden sie die Schlucht und die Brücke finden. Und sie fanden sie. Aber es war alles nicht ganz so wie erwartet. Die Schlucht selbst wirkte fast so, wie Jullach-Tse sie beschrieben hatte. Das Tal neigte sich ihr kaum fünfhundert Schritt voraus langsam entgegen. Als sie es zuletzt gesehen hatte, war es Sommer gewesen, und der Wiesenboden hatte wie ein üppig grüner Teppich ausgesehen, geschmückt mit roten, gelben und blauen Blumen. Jetzt ragte grauer Stein aus dem Schnee, und Eis hing in frostigen Gardinen herab. Die Schlucht selbst, gut zweihundert Schritt breit, hatte ihren eigenen Schnee- und Eisbelag an den Kanten und erinnerte fast an einen dunklen Graben zwischen zwei Schneewehen. Ermenbrecht schaute sie an. »Als du gesagt hast, es ist eine Weile her, dass du zuletzt hier warst: Über welchen Zeitraum redeten wir da genau?« »Siebzig Jahre oder so. Damals hat man davon gesprochen, es zu machen, aber das ging schon eine Ewig309 keit.« Ihre Züge spannten sich zu einem streifigen Braun. »Ich hatte keine Ahnung.«
Die Seilbrücke, die ihre Rettung hatte werden sollen, war längst durch einen stolzen, mächtigen Brückenbogen ersetzt worden, der breit und fest über die Schlucht führte. Schwere Steinquader, mit Marmor verkleidet. Entsprechend der urSreiöi-Tradition war die Brücke mit prächtigen Skulpturen und Friesen verziert. Teile des Bogens waren schneebedeckt, aber größtenteils lag er frei. Freundliche Steinwächter begrüßten die Reisenden mit einem breiten Lächeln auf dem Weg, der breit genug war, um vier Reiter nebeneinander passieren zu lassen. Ermenbrecht schüttelte den Kopf. Selbst mit allem Feuerdreck, den sie noch hatten, hätten sie nicht einen einzigen Quader dieses Baus lossprengen können. »Und sie ist zu breit, um sie gegen unsere Verfolger zu verteidigen.« Ryslin, der zwanzig Schritt voraus angehalten hatte, schaute sich um. »Was machen wir jetzt?« Bevor Ermenbrecht antworten konnte, traf den JEU ein Pfeil an der Schulter. Blut spritzte in den Schnee, aber Ryslin hielt sich auf den Beinen. Der Schuss hatte ihn nur gestreift. Er wich mit einer schnellen Drehung einem zweiten Pfeil aus, dann tänzelte er zurück, während er selbst einen Pfeil auf die Sehne legte. Ermenbrecht gab Jullach-Tse einen Stoß. »Hol Nygal.« Der Prinz drehte sich um, zielte auf einen der vorderen Schnatterer und zog den Abzug des Vierschüssers durch. Nichts geschah. Der Wind hatte den Feuerdreck aus der Zündpfanne geblasen. Er zog den Hammer zurück, griff sich das Dreckhorn und schüttete ruhig nach. Die Schnatterer griffen heulend und bellend an. Ihre Langmesser funkelten in der klaren Bergluft. Von rechts feuerte Jancis einen Schuss ab, der einen Schnatterer zu Boden streck310 te, aber das reichte nicht annähernd, die heranstürmende Horde aufzuhalten. Selbst wenn jeder Schuss für zehn zählen würde ... Wieder drückte er ab. Der Hammer zuckte, der Zündstaub zischte. Einen Pulsschlag später krachte die Draconette und rammte seine Schulter. Feuer und Qualm schlugen aus der Mündung. Ein anstürmender Schnatterer fiel. Und dann noch einer. Der Donner baute sich stetig weiter auf, hallte von den Talwänden zurück. Da, links und rechts von ihnen, standen Draconettiere zwischen den Felsen auf. Meckanshii! Ermenbrecht traute seinen Augen nicht. Wo kommen die denn her? Eine winzige geflügelte Gestalt summte vor sein Gesicht. Die vier heftig schlagenden Flügel zerteilten den Qualm, als sie in der Luft stehen blieb. »Schnell, Hoheit, schnell. Komm schnell.« Der Sprijt packte ihn an der linken Schulter und zerrte. Der Prinz machte kehrt und rannte so schnell er konnte. Hinter ihm heulten die Schnatterfratzen, doch jetzt vor Enttäuschung. Als er sich umschaute, sah er sie abziehen. Ein gutes Dutzend Kadaver blieb in sich ausbreitenden roten Lachen im Schnee liegen. Ein Mann erreichte ihn. Obwohl er eine schwarze Maske trug, erkannte ihn Ermenbrecht an den Narben auf der Wange und dem weißen Haar. »Kräh! Was macht Ihr hier?« »Der Sprijt, Qwc. Wir wussten, dass ein Fragment der Drachenkrone durch Sarengul unterwegs ist, und Qwc wusste, wo man ihn braucht. Wir sind ihm nur gefolgt.« Kräh drehte sich um und deutete mit einem Silberholzbogen zur Brücke. »Der Rest unserer Leute ist mit den Pferden auf der anderen Seite. Wir haben unsere Meckanshii hier herübergebracht, die anderen bewachen den Weg hier heraus.« 311 An den Rändern des Tals begannen die Meckanshii den Rückzug. Am Nordeingang drängten sich die Schnatterer zu einem Pulk. Sie schienen nicht allzu wild darauf, einen neuen Vorstoß zu wagen. Dann betrat die Kapuzengestalt das Tal. Die Schnatterer machten ihr ängstlich Platz. Das Monster kam näher, beachtete die Draconettensalven nicht, die vor seinen Füßen den Schnee aufspritzen ließen. Er blieb weit vor den Kadavern stehen, hob die linke Hand und streckte sie auffordernd aus. »Nun gut, euer Leben für den Wahrstein. So viel habt ihr euch verdient.« Will trat neben den Prinzen. »Was ist das?« Ermenbrecht schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung, aber es verfolgt mich seit Festung Draconis. Wir haben es durchlöchert - und noch Schlimmeres getan - aber nichts hält es auf.« Kräh klopfte ihm auf die Schulter. »Zeit, sich zu verabschieden.« Er drehte sich um und gab den anderen ein Zeichen. »Abmarsch!« Die Kapuzengestalt sprach erneut. »Ich biete euch ein zweites Mal das Leben an. Hört auf mich, und ihr braucht nicht zu sterben.« Ermenbrecht richtete sich auf und schlug den Mantel zurück, sodass der blaugrüne Stein in dem Gurtharnisch auf seiner Brust deutlich zu sehen war. »Dein Leben, nicht unseres, für diesen Stein.« Er schloss erneut den Mantel und wandte sich zur Brücke. Hinter dem Prinzen erklang ein trauriges Heulen, erfüllt von Sehnsucht und Angst, aber zugleich auch von unfassbarer Macht. Der Klang ließ Ermenbrecht im Innersten erstarren und zwang ihn auf die Knie. Er fiel hart gegen Kräh, und auch der stürzte zu Boden. Der Klang rief Ängste wach, die mit der lähmenden Gewalt von Albträumen frühester Kindheit über ihm zusammenschlugen. Er bebte vor Entsetzen. Ermenbrecht schlug mit dem verletzten Knie auf und
312 der Schmerz riss ihn zurück ins Bewusstsein. Er wünschte, er hätte wieder entkommen können. Als er den Kopf hob, fiel sein Blick auf die Brücke. Ein gewaltiger, kreuzförmiger Schatten, dessen Ränder über die Felsmauern des Tales waberten, zog über ihm vorbei. Über ihm glitt eine Gestalt ins Sichtfeld. Er hatte ihresgleichen schon früher gesehen, aber noch nie aus diesem Blickwinkel. Und noch nie hatte er sich so sehr wie eine hilflose Beute gefühlt. Der Drache, dessen gehörnter Schlangenkopf im Sonnenlicht kupferrot glänzte, segelte träge und mit der Leichtigkeit eines Falken vorbei. Ermenbrecht konnte die Berührung seines Blickes wie einen Peitschenhieb spüren. Falls die Echse ihn töten wollte, würde sie das auch machen, und es gab nichts, was er dagegen tun konnte. Das Maul des Drachen öffnete sich. Einen Moment lang sah er riesige elfenbeinweiße Fänge, bevor ein brodelnder Feuersturm sie umhüllte. Wild und gewaltig fauchten die rotgoldenen Flammen über die Mitte der Brücke. Die steinernen Wächter am diesseitigen Ende zerschmolzen wie Kerzenwachs. Für einen kaum messbaren Augenblick sah Ermenbrecht Dranae und die anderen als Schattenriss auf der Kuppe des Brückenbogens, dann stürzten sie mit einem Strom geschmolzenen Steins in die Schlucht. Der Drache zog im Flug einen Nebel aus geschmolzenem Schnee hinter sich her. Er glitt über die Schlucht, faltete dann die Schwingen ein und landete auf der gegenüberliegenden Seite. Krallen senkten sich auf den Felsen, zertrümmerten die darauf liegenden Eisschichten. Die Kreatur machte es sich bequem und legte die Flügel an. Ihre Augen blinzelten, dann sprach sie mit zischender Stimme. Die Worte weckten von neuem Ermenbrechts Urängste. Sie wimmelten madengleich über die 313 Haut und im Schädel. Er verstand sie nicht, und war sicher, es bliebe ewig jenseits seiner Möglichkeiten, sie zu verstehen. Und er wusste, wäre er ein Jahr und einen Tag den grausamsten Foltern ausgesetzt worden, er hätte keine tiefere Verzweiflung fühlen können als in diesem Augenblick. Hinter ihm sprach die Kapuzengestalt. »Gagothmar sagt, er möchte den Wahrstein. Es würde ihn ausgesprochen verärgern, wenn er gezwungen wäre, ihn von deiner Asche zu säubern.« 314 KAPITEL EINUNDDREIßIG Kjarrigans Augen brannten wie in Öl getaucht und angezündet. Er hatte seit mehr als einem Tag nicht mehr geschlafen. Nach dem Tod des Sullanciri war er nach Navval zurückgekehrt und hatte daran gearbeitet, die Stadt vor den Draconellen zu beschützen. Die besseren der noch verbliebenen Magiker der Akademie hatten Bruchstücke der Kugel erhalten, die er geborgen hatte, und benutzten sie nun, um die anfliegenden Salven abzulenken. Andere Stücke verzauberte er zu Magneten, die das Geschützfeuer auf bestimmte Ziele wie Schutthalden zogen, wo sie keinen nennenswerten Schaden anrichten konnten. Sobald die Mühen der Magiker Wirkung zeigten, begannen die Aurolanen, die Verteidiger der Stadt mit Zaubern anzugreifen. Kjarrigan war gezwungen gewesen, die Arbeit an den Draconellensalven abzubrechen und seine Kräfte zum Schutz der anderen Zauberer einzusetzen. Glücklicherweise arbeiteten die Magiker des aurolanischen Konservatoriums jeder für sich, sodass ihre Sprüche in ausreichendem Abstand eintrafen und er sich um jeden einzeln kümmern konnte. Damals auf Vilwan hätte ihn die Vorstellung entsetzt, so viele Ziele gegen Zaubersprüche von so vielen Angreifern verteidigen zu müssen. Magikerduelle entschieden sich häufig mit der Wahl der perfekten Antwort auf einen Angriff. Gelang es dem Abwehrzauber nicht, die Energie des Angriffs vollständig abzublocken, drohte eine Verwundung. Da nur die wenigsten Magiker gut genug waren, um die Energie eines sie angreifenden 315 Zaubers zu messen, wendeten sie allzu häufig zu viel Kraft für Abwehrsprüche auf. Solange einer der Kontrahenten die Initiative behielt und auch die Kraft dazu hatte, konnte er so lange angreifen, bis sein Gegner erschöpft war. Die Dimensionen eines Zaubers ermöglichten eine andere Art der Verteidigung. Er stoppte Angriffszauber, indem er auf bestimmte Aspekte ansprechende Gegenzauber schleuderte. Sobald sein Spruch den betreffenden Aspekt entdeckte, hängte er sich an den Zauber und teilte ihm mit, er habe sein Ziel getroffen. Der Angriffszauber gab seine Energie dann frei, ohne Schaden anzurichten. Das wirkte gegen Neskartus Schüler ebenso wie gegen ihn selbst. Er arbeitete die ganze Nacht hart durch, trotz des Donners der Draconellen und dem Fauchen der Brände. Auch die Schreie und das Stöhnen der Opfer zerrte an seinen Nerven, doch er zwang sich, es auszublenden. Mit fest geschlossenen Augen konzentrierte er sich und projizierte sein Bewusstsein in den Äther um Navval. Hin und wieder näherten sich Zauber aus dem Aurolanenlager. Manche schössen schnell heran, lodernd wie Draconellenkugeln. Andere flatterten langsam wie Schmetterlinge auf der Suche nach einer Blüte. Sobald er einen Zauber entdeckte, konterte er ihn. Die meisten Sprüche erkannten den Gegenzauber als Zielsurrogat und entluden sich zu früh. Ein paar waren etwas fortgeschrittener, und vom frühen Vormittag an überprüften alle die Zielinformation, sodass er gezwungen war, ihnen echte Alternativziele anzubieten. In die entluden sie sich dann und töteten verschiedenes Ungeziefer, das er Bok zu diesem Zweck hatte sammeln lassen.
Zu gleichen Teilen erschöpft und zufrieden hatte Kjarrigan gefrühstückt, unmittelbar nachdem das Bombardement der Draconellen aufgehört hatte. Manche 316 Häuser in der Stadt brannten noch und viele waren zertrümmert, aber die Stadtmauern hielten. Auch die Bevölkerung trotzte den Aurolanen. Zuschauer versammelten sich auf den Mauern, um die Belagerer zu verspotten. Die feindlichen Zauberer hatten den Angriff ebenfalls eingestellt, aber Kjarrigan wusste genug über Kriegführung, um das nicht als Kapitulation zu deuten. Ohne Zweifel waren Kytrins Magiker ebenso erschöpft wie die Verteidiger Navvals. Sie hatten sich zurückgezogen, um auszuruhen, so wie ihre Gegenspieler, um einander beim nächsten Angriff wieder entgegentreten zu können. Trotz der Existenz von Kampfmagikern auf Vilwan und der kriegerischen Traditionen unter den Zauberern Murosos spielten Magiker abgesehen von ihren Duellen in der Kriegführung traditionell nur eine unbedeutende Rolle. Die magischen Kontingente der verfeindeten Armeen neigten dazu, einander zu neutralisieren. Ihre Zauber konnten einem General zwar Informationen verschaffen, aber der eigentliche Kampf wurde weiterhin mit Stahl ausgetragen. Ganz abgesehen davon, dass ein einzelner, gut gezielter Pfeil oder ein Schwerthieb in der Regel völlig ausreichten, um die militärische Laufbahn eines Zauberers jäh zu beenden. Nach den Gesprächen mit Rym Ramoch fragte sich Kjarrigan jedoch, ob das wohl schon immer so gewesen war. Yrulph Kajrün war mächtig genug gewesen, um die Drachenkrone zu erschaffen und hatte ein Heer von Drachen kommandiert. Dann war er gegen den Süden marschiert, um die Welt zu erobern. Waren es nur die Drachen gewesen, auf denen seine Macht geruht hatte, oder war er in der Lage, eine Schlacht durch Einsatz von Magik zu gewinnen? Stammte die kriegerische Tradition Murosos aus jener Zeit, bevor Vilwan befrie317 det worden war? Oder war sie als Rückversicherung gegen die Wiederkehr militanterer Magiker entstanden? Er fand keine Antworten auf diese Fragen, während er fades Brot und wässrigen Wein frühstückte. Keins von beiden schmeckte, aber Bok hatte nichts anderes gebracht. Eigentlich sehnte er sich vor allem nach Schlaf, doch bevor er sich ins Bett verkriechen konnte, wurde er ins Herzogenpalais zu Alexia gerufen. Er betrat die oberste Kammer des Nordturms, gefolgt von Bok. Alexia bot in ihrem goldenen Kettenhemd einen prächtigen Anblick, der ihn unwillkürlich lächeln ließ. Ihr langes Haar war im Nacken zu einem dicken Zopf geflochten. Die Höflichkeitsmaske aus schwarzer Seide verbarg ihre Züge kaum, schenkte ihr aber einen Hauch von Geheimnis, der sie noch verführerischer machte. Sayce und mehrere andere örtliche Militärs leisteten ihr Gesellschaft. Sie standen alle um einen niedrigen Tisch in der Mitte des kreisrunden Zimmers, auf dem eine Karte ausgebreitet war. Im Hintergrund standen mehrere Signalmagiker mit Arkantafaln. Ein Balkon zog sich rund um den Turm, auf den im Osten und Westen je eine Tür führte. An der Nordwand, beim Fenster, führte eine Treppe zu einer Falltür, durch die man auf das mit Zinnen bewehrte Dach gelangte. Alexia schaute auf und lächelte. »Ah, Adept Lies. Du sollst wissen, was auch immer noch geschieht, ohne dich wäre Navval schon vor Stunden gefallen.« »Tatsächlich?« Es gelang ihm nicht, die Überraschung aus seiner Stimme zu halten. Er wusste, sie hätte ihn nicht angelogen, doch das Nicken und der dankbare Ausdruck auf den Mienen der anderen erstaunte ihn. »So viel habe ich doch gar nicht getan.« Leises Lachen ertönte auf diese Bemerkung hin, aber Alexia stimmte nicht ein. »Es gab einzelne Personen, 318 die glaubten, bis zum Morgen wäre von der Stadt nicht mehr viel übrig. Sie wollten sich den Aurolanen ergeben. Deine Mühen sind nicht unbemerkt geblieben, und wir wissen sie zu schätzen.« Einer ihrer Ratgeber, ein murosonischer Magister, der am Tag zuvor zwei Aurolanenzauberer getötet hatte, nickte ernst. »Ich besitze weder das Können noch die Kenntnisse, zu beschreiben, was Ihr geleistet habt, Adept Lies, aber wenn ein einfacher Adept von Vilwan dazu in der Lage ist, so gibt es noch Hoffnung für die Welt.« »Oh. Danke. Ich habe getan, was ich konnte.« Alexia winkte ihn an die Karte. »Ich weiß, du brauchst Ruhe, aber ich habe nachgedacht. Im Kampf werden Zauberer meist dazu eingesetzt, andere Zauber zu neutralisieren. Wäre es dir möglich, Sprüche zu werfen, die gewaltig und mörderisch erscheinen, sodass ihre Magiker sich darauf konzentrieren, sie abzuwehren, während die anderen hier ihre Zauber auf bestimmte Ziele richten?« Der beleibte Magiker verschränkte die Arme und klemmte die Finger unter die Achseln, während er nachdachte. »Das müsste machbar sein. Ich müsste einen recht einfachen Zauber tarnen. Die darüber liegende Tarnung würde sich als weit stärkerer Spruch präsentieren. Ich könnte auch noch ein paar andere Dinge versuchen, um sie glauben zu lassen, es wären eintreffende Konservatoriumszauber und, oh, wenn ich den Heroldszauber modifiziere und dann etwas an ihnen vorbeischleudere, das einen Massenangriffszauber auslöst, könnte ich sie glauben machen, sie würden aus dem Osten angegriffen. So, als hätten wir Truppen in ihrem Rücken.« Alexia zog die rechte Braue hoch. »War das ein Ja?« Er schaute auf, dann nickte er, dass seine Wangen schwabbelten. »Ich kann es. Ich werde etwas Zeit zur 319 Vorbereitung brauchen. Und Schlaf. Und ich brauche etwas Anständiges zu essen.«
Sayce nickte Alexia zu und machte sich sofort auf den Weg. Die okransche Prinzessin lächelte. »Ich weiß nicht, wie viel Zeit wir haben.« Ein lautes Heulen drang von Osten her in die Turmkammer, Kjarrigan konnte es nicht identifizieren, doch bei seinem Klang krallte sich die Angst mit eisigen Klauen in seine Gedärme. Er hatte das Gefühl, er hätte es erkennen können, wäre er nicht so müde gewesen. Andererseits, wäre ich nicht benommen vor Müdigkeit, so wäre ich vermutlich starr vor Angst. Plötzlich mischten sich Kreischen und Angstschreie aus der Stadt in das erste Geräusch, dann wurden sie so laut, dass sie ihn übertönten. Die Gruppe bewegte sich geschlossen zur Ostwand und trat auf den Balkon. Kjarrigan war das Schlusslicht und fand sich kurz darauf auf der Südseite des Turms neben Alexia. Sie schauten nach Osten. Ein Drache, dessen tiefviolette Schuppen von einem goldenen Rand abgeschlossen wurden, landete hinter dem Aurolanenlager. Er faltete die Schwingen, dann schwenkte er den Kopf am Ende des langen, biegsamen Halses und schaute über die linke Schulter. Ein halbes Dutzend humanoide Gestalten saß langsam ab. Erst als sie am Boden ankamen und die Perspektive sich änderte, erkannte er, dass es riesige Hörgun waren. Was bedeutet, dass der Drache gigantisch ist. »Ah, Hoheit. Bevor Ihr fragt, die Antwort ist: >NeinDie verflixten Temeryxen< nennen. Die verflixten Temeryxen sind nicht leicht zu tricksen, nein. Temeryxen, müsst Ihr wissen, mögen Eis und Schnee allein. Baut ein Feuer, gar nicht teuer, lasst ihr schwarzes Herz verglühen. Macht sie kalt, tief im Wald, mit 'nem Messer, ohne Mühe. Den langen Schwanz, zerhackt ihn ganz, nehmt 'ne Axt, die eignet sich. Den Kopf gießt zu mit Blei im Nu, dann kann er nie wen reißen mehr. Ihr könnt sie hetzen, einwickeln in Netze, dann habt Ihr fürs Erste Ruh. Streitkolben aus Eisen können beweisen, dass der richt'ge Hieb sie tötet im Nu. Mit Fallen sogar, fangt euch ein Paar,
macht sie dem einen oder andern zum Mahl. Stopft ihnen das Maul mit Socken faul, dass sie dran ersticken voll Qual. Spickt sie mit Pfeilen, bevor sie enteilen, mit Speeren, mit Bolzen ohn' Ende. Füttert sie mit Läusen, vielleicht ein paar Mäusen, lasst sie Männchen machen fix. ||i Die verflixten Temeryxen kann man tricksen schon. Doch habet Acht, wenn einen Fehler Ihr macht, verspeisen sie Euch zum Lohn.« Will musste laut lachen. »Noch mal! Ich will es noch mal hören.« Dravothrak lächelte. »Das könnte schwierig werden. Ich kann es versuchen, aber die Magik, die ich dazu einsetzen müsste, würde ihn an dich binden. Im Augenblick kann ich ihn wieder verschwinden lassen, aber 371 später bin ich dazu vielleicht nicht mehr in der Lage. Willst du das riskieren?« »Sicher, was kann schon passieren?« Der Dieb grinste, und seine Augen funkelten, als er seinen Vater beobachtete. Unter der Maske über seinen Zügen leuchtete die Freude hervor. Will bemerkte auch eine Spur von Arroganz, aber das war sein Vater, nicht das Ding, zu dem Kytrin ihn gemacht hatte. Wieder hauchte Dravothrak. Die Gestalt erstarrte, dann begann sie ihre Wanderung von vorne. Boleif Norderstett wiederholte das Gedicht und der Kreislauf begann erneut. Will konzentrierte sich und nach der dritten Wiederholung kannte er das Gedicht auswendig. Nach der vierten wurde es ihm allmählich über und er wedelte dem Geist seines Vaters vor dem Gesicht. »Genug, es reicht.« Der Geist wanderte auf ihn zu, und Wills Hand glitt geradewegs durch ihn hindurch. Dem Dieb lief es kalt über den Rücken, dann verschwand der Geist. »Was ist passiert?« Dravothrak lachte. »Es ist dein Blut. Er ist genau hinter dir. Du kannst ihn nicht sehen, gleichgültig, wie schnell du dich umdrehst, aber er ist da. Keine Sorge. Er sollte in ein, zwei Tagen verblassen. Bis dahin ...« »Verfolgt er mich. Ich weiß.« Will zuckte die Achseln und schloss die Augen. Er rief sich das Gesicht seines Vaters ins Gedächtnis und hörte dessen Stimme. Er erkannte etwas von seinem eigenen Gesicht wieder, und er bemerkte auch Anklänge seiner eigenen Stimme in der seines Vaters. Verbindungen zeigten sich. Bis zu diesem Augenblick war er der Norderstett gewesen, weil man ihm gesagt hatte, dass er es war. Orakel hatte es ihm gesagt und mit ihrer Magik bestätigt. Kytrin hatte versucht ihn zu töten, Kräh und Entschlossen hatten ihn gefunden, Sayce hatte ihn gesucht, Swind372 ger hatte ihm die Maske gegeben, all das waren äußerliche Zeichen dafür gewesen, dass er der Norderstett war. Und Will hatte den Mantel dieser Verantwortung angezogen, weil er sich der Verantwortung gewachsen fühlte. Aber bis zu diesem Augenblick hatte er nie wirklich geglaubt, dass er der Norderstett war. Er war bereit gewesen, dessen Part zu übernehmen, und er hatte seine Sache gut gemacht. Aber jetzt, nachdem er seinen Vater gesehen hatte, ihn gehört hatte, bestätigte das die Norderstett-Prophezeiung. Er akzeptierte nicht nur die Aufgabe, zum ersten Mal wusste er, dass sie seine Bestimmung war. Er war die Erfüllung der Prophezeiung. Er öffnete die Augen. Einen Augenblick fröstelte er, dann schaute er Dravothrak an. »Danke.« »Nichts zu danken.« »O doch. Alles zu danken.« Will lächelte und legte die Hand auf eine Zehe des Drachen. »Ich bin der Norderstett. Ich werde Vorquellyn befreien, und ich werde die Geißel des Nordens erschlagen.« »Ach ja, die Prophezeiung.« Dravothraks Stimme vibrierte vor Macht, und der Hall brachte Wills Brust zum Beben. Ein Norderstett, sie zuführen Unsterblich, in Flammen gebadet Siegreich vom Meer bis zum Eis. Des Nordens Macht wird er brechen, eine Geißel erschlagen, dann Vorquellyn erlösen. Der Dieb grinste. »Wenn du es sagst, hört es sich viel gewaltiger an.« »Das liegt nicht an mir. Die Macht entspringt der Prophezeiung und all denen, die sie zu ihrer Erfüllung herangezogen hat.« 373 Will nickte. »Also ich wurde als Kind aus einem brennenden Haus geholt und der Überfall auf Wruona dürfte unser Sieg auf dem Meer sein. Ich schätze, ich werde Truppen nach Norden ins Eis führen müssen, um Kytrin zu besiegen, und dann können wir Vorquellyn erlösen.« Der Drache hob den Kopf und blickte auf Will herab. »Arbeit genug für ein ganzes Leben. Selbst ein Drachenleben.« Dravothrak blickte an ihm vorbei und zischte.
Will drehte sich um und sah einen Dracomorph mit gebeugtem Kopf im Eingang stehen. Er zischte Dravothrak an, aber auf sehr höfliche Weise. Ein Antwortzischen ließ ihn sich wieder aufrichten und warten. Hinter Will sprach Dravothrak. »Will, bitte begleite diesen Kleinen zur Kongresskammer. Die anderen werden sich dort zu dir gesellen, einschließlich Kjarrigan. Ich muss einen anderen Weg nehmen und meinen Platz im Kongress einnehmen.« Will schaute über die Schulter. »Was müssen wir tun?« »Ihr werdet Fragen beantworten, die man euch stellt. Antwortet einfach wahrheitsgemäß und alles wird gut werden. Kytrin hat wenig Freunde im Kongress, und selbst die misstrauen ihren Absichten. Falls wir Erfolg haben, wirst du Verbündete beim Kampf gegen sie finden.« »Keinen Tag zu früh.« Will nickte. »Noch einmal, danke.« »Es war mir ein Vergnügen, Wilmenhart Norderstett.« Will verließ die Kammer hinter dem Dracomorph. Er wunderte sich nicht darüber, dass Dravothrak seinen vollen Namen benutzt hatte. Er verspürte allerdings den Wunsch, sich umzudrehen und das Gespenst in seinem Rücken zu fragen, warum es ihm einen so 374 fürchterlichen Namen gegeben hatte. Und er bezweifelte, dass er eine Antwort bekommen hätte. Da ihn sein Vater während einer Sauftour durch Aleida gezeugt hatte, war er sich nicht einmal sicher, ob der überhaupt von seinem Sohn gewusst hatte, geschweige denn, dass er seinen Namen ausgesucht hatte. Außerdem, weder sein Vater, wie er jetzt war, noch sein Vater, wie er damals gewesen war, waren derselbe Mann wie dieser Geist. Sein Gespenst war fröhlich und frei. Man sah ihm nichts von der Tragik an, die sein Leben bestimmt hatte. Das Gedicht, das er aufgesagt hatte, war fröhlich und spielerisch gewesen, und so stellte Will ihn sich vor. Das habe ich von ihm geerbt. Das ist das Fundament, das mich zum Norderstett macht. Der Dracomorph führte ihn auf eine halbrunde Felsplattform, die in einen See aus Flammen ragte. Will trat an den Rand der Plattform und sah eine Runeninschrift, die an der Kante entlang verlief. Er konnte sie nicht lesen, aber er spürte die Macht, die von den Zeichen ausging. Dann hob er den Kopf. Die Hitze des Feuers ließ die Umgebung vor den Augen schimmern und wabern. Er hauchte, so wie Dravothrak es am Höhleneingang getan hatte, und sah den Atem kurz die unsichtbare Wand nachzeichnen, die die Hitze zurückhielt. Er grinste und schaute hinaus auf den See. An mehreren Stellen - auf großen, flachen Felsen, auf hohen Türmen und in Nischen in den Wänden der Kammer -sah er Drachen. Viele Drachen, und manche von ihnen blickten ihn an. In der Ferne sah er Dravothrak Platz nehmen, aber er verzichtete darauf, ihm zuzuwinken. Qwc schoss an ihm vorbei, und für einen Moment hatte Will Angst, er würde durch die Barriere brechen. »Qwc, pass auf!« Der Sprijt hielt kurz vor der unsichtbaren Wand an und drehte sich um. »Heiß, heiß. Qwc weiß. Sehr heiß.« 375 »Ja, wirklich richtig heiß.« Will zwinkerte ihm zu, dann drehte er sich um und lächelte die anderen an, die sich auf der Plattform zu ihm gesellten. »Ich habe mit Dravothrak gesprochen. Sobald Kjarrigan hier ist, sollen wir Fragen beantworten, die sie uns stellen werden. Wenn wir unsere Sache gut machen, könnten sie uns gegen Kytrin zu Hilfe kommen.« Kräh starrte an ihm vorbei und wurde bleich. »Will, was ist das da hinter dir?« »Du solltest ihn kennen. Es ist mein Vater. Dravothrak hat ihn sichtbar gemacht. Er wird bald wieder verschwinden, aber ich habe ihn ein Gedicht vortragen hören. >Die verflixten Temeryxen