Andreas Balzer
Drachentöter Professor Zamorra Hardcover Band 1
ZAUBERMOND VERLAG
Eigentlich wollen Professor Zamorra und Nicole Duval in Hong kong nur an einem wissenschaftlichen Kongress teilnehmen. Doch schon kurz nach ihrer Ankunft werden sie von einer Profi-Killerin attackiert. Die schöne Chin-Li ist die tödlichste Waffe der geheimnis vollen Bruderschaft der Neun Drachen. Der Geheimbund bekämpft einen uralten Dämon, der die Macht in der asiatischen Metropole übernehmen und die Millionenbevölkerung in ein Sklavenheer ver wandeln will. Zamorra und Nicole geraten dabei mitten zwischen die Fronten. Freund und Feind lassen sich bald kaum mehr voneinander unter scheiden. Als wäre das nicht schon genug, ist Hongkong plötzlich vom Rest der Welt abgeschnitten. Und die Toten erheben sich aus ihren Gräbern …
Vorwort Es geschieht relativ selten, dass Professor Zamorra sich in der östli chen Hemisphäre unseres Planeten aufhält. Eigentlich verblüffend, gibt es doch gerade im asiatischen Raum unzählige Mythen und Mysterien. Und auch wenn man dort ein etwas differenziertes Bild von Dämonen pflegt und nicht alles, was als Dämon bezeichnet wird, wirklich böse ist – die dunklen Mächte werfen auch dort ihre Schatten über die Welt der Menschen. In diesem Roman verschlägt es Zamorra und seine Gefährtin nach Hongkong. Natürlich war er schon einige Male dort, aber noch nie wirkte es so auf ihn wie diesmal. So düster und bedrückend … Denn Unheil braut sich zusammen, das nicht nur Hongkong bedroht, son dern darüber hinaus auch die ganze Welt. Zamorra muss sich dieser Bedrohung stellen, selbst um den Preis seines eigenen Lebens. Doch lest selbst. Lasst euch verzaubern von den Neun Drachen, taucht ein in die Welt des Unbegreiflichen und in einen Schrecken, der seine Wurzeln in fernster Vergangenheit hat. Schreibt uns, wie euch dieser Roman gefallen hat, am besten an die Leserbriefseite der Professor ZAMORRA-Heftserie des Bastei-Ver lags, in dem seit fast drei Jahrzehnten alle zwei Wochen ein Roman der zweitgrößten Mystery-Serie der Welt erscheint – oder per E-mail an
[email protected]. Wir freuen uns über jede Zuschrift, ob Kritik oder Lob, denn nur so können wir versuchen, noch besser zu werden. Tschüss bis demnächst – Ihr und euer Werner K. Giesa Altenstadt, im Juni 2003
Prolog
Hongkong Die Stadt schlief nie. Eine seltsame Energie pulsierte durch die Me tropole an der Spitze Südchinas. Eine Energie, die westliche Besu cher immer wieder in Erstaunen versetzte und europäische Groß städte wie Paris oder London wie reine Provinznester erscheinen ließ. Während die Nachtschwärmer auf der Suche nach einem letz ten Drink oder einer schnellen Bekanntschaft für die Nacht ruhelos die unzähligen Bars in den Stadtvierteln Wan Chai, Causeway Bay oder Lan Kwai Fong durchstreiften, wurde anderswo rund um die Uhr gearbeitet. Seine Bedeutung als internationales Handelszentrum verdankt Hongkong insbesondere seinem Tiefseehafen, der als einer der größ ten Containerhafen der Welt gilt. Auch in dieser Nacht herrschte an den Piers noch rege Betriebsamkeit. Ein großes Frachtschiff war ge rade angekommen und wurde sofort entladen. Die Fracht, auf dem chinesischen Festland billig produzierte Textilien, würde am nächs ten Morgen in die USA weiterverschifft. Der Ent- und Beladeprozess war inzwischen weitgehend automatisiert, aber ganz ohne Men schen kam er immer noch nicht aus. Den Arbeitern, die das Entla den steuerten und überwachten, stand die Müdigkeit ins Gesicht ge schrieben, aber ihre Schicht würde noch ein paar Stunden dauern. Niemand bemerkte die seltsame Kreatur, die sich nur wenige Me ter von dem Frachter entfernt über die Kaimauer schob. Das Wesen war etwa einen Meter groß, schwarz und unförmig. Es glich einer gewaltigen Qualle ohne Tentakel, schien seine Form aber permanent zu verändern, während es blitzartig zwischen den haushohen Con
tainerstapeln verschwand. Die Kreatur war uralt, und sie hatte lange auf diesen Moment ge wartet. Jahrhunderte waren vergangen, während sie auf dem Mee resgrund von vergangener Macht und dem Tag ihrer Rückkehr träumte. Die Welt, in der sie sich wieder fand, verwirrte sie. Ein Alb traum aus Lärm, künstlichem Licht und Metall. Die Kreatur ver stand wenig von dem, was um sie herum vorging, aber sie spürte die ungeheure Energie, die von dieser Stadt ausging. Energie, die sie bald in sich aufsaugen würde wie ein Verdurstender das Wasser ei ner frischen Quelle. Das Wesen wartete. Es verspürte nicht die geringste Ungeduld. So lange hatte es auf dem Meeresboden ausgeharrt, dass es jetzt auf ein paar Minuten mehr oder weniger nicht ankam. Dann war es soweit! Nur wenige Meter von der Kreatur entfernt suchte einer der Arbeiter ein stilles Plätzchen zwischen den Contai nern, um sich zu erleichtern. Natürlich gab es auch richtige Toilet ten, aber die befanden sich an einer ganz anderen Stelle des Piers. So ging es einfacher und schneller. Der Arbeiter war ein außergewöhn lich großer, athletischer Chinese Anfang 20. Er hatte mittellanges blondiertes Haar und trug einen großen goldenen Ohrring am rech ten Ohr, der ihm ein leicht piratenhaftes Aussehen verlieh. Das ideale Opfer! Der junge Arbeiter zündete sich eine Zigarette an, nahm einen kräftigen Zug und öffnete seine Hose. Er sah sein Ende nicht einmal kommen! Mit einer Geschwindigkeit, die man einem so plumpen Körper nicht zugetraut hätte, sprang die Kreatur den Arbeiter an. Kein Schrei kam über die Lippen des Chinesen, als das schwarze Etwas ihn zu Boden riss und regelrecht mit ihm verschmolz. Nur das wilde Zucken der Arme und Beine zeugte von den unerträglichen Schmer zen, die der Mann erlitt, während sich die Kreatur ausdehnte, bis sie ihr Opfer vollständig umschloss. Dann drang sie in den Körper ein.
Was sich wenige Sekunden später vom Boden erhob, glich nur noch äußerlich dem jungen Arbeiter. Die Kreatur betastete ihren neuen Körper. Er fühlte sich gut an. So lebendig. Sie verstand jetzt al les, was um sie herum vorging. Denn sie hatte das ganze Wissen, alle Gedanken und Erinnerungen des Mannes in sich aufgesogen und dabei seine Persönlichkeit vollständig vernichtet. Die Kreatur fühlte, wie die Energie ihres Opfers durch ihren neuen Körper strömte, und sie genoss es. Aber das reichte noch lange nicht. Sie musste mehr wissen. Und sie brauchte noch mehr Energie. Viel mehr Energie! Die Kreatur hörte nicht auf die erstaunten Ausrufe der anderen Arbeiter, als sie den Pier verließ. Was kümmerte sie das sinnlose Ge schrei dieser Insekten? Sie hatte Wichtigeres zu tun. Sie musste Hongkong zurückerobern!
1. Mordsparty Die plötzliche Stille irritierte Chin-Li. Die chinesische Profikillerin hockte schon seit Stunden in der Baumkrone und beobachtete die Villa von Wong Siu-Tung. Eigentlich musste die Party noch in vol lem Gange sein. Bis vor wenigen Minuten hatten die wummernden Bässe der bis zum Anschlag aufgedrehten kantonesischen Popmusik selbst ihr Versteck noch leicht erzittern lassen. Doch jetzt war nicht mehr das Geringste zu hören, fast so, als seien alle Gäste auf einmal verschwunden. Aber seit einer halben Stunde hatte niemand mehr das Haus betreten oder verlassen. Seltsam! Chin-Li griff erneut zu ihrem Nachtsichtgerät und suchte nach ei ner Erklärung. Wongs luxuriöse Villa lag in der exklusiven Deep Water Bay, weitab von den dicht bebauten Stadtgebieten der Insel Hongkong. Äußerlich machte das Anwesen einen ganz normalen Eindruck. Nichts deutete darauf hin, dass etwas nicht stimmte. Bis auf diese sonderbare Stille! Vielleicht hält der Verräter nur eine kleine Ansprache, die durch die Musik nicht gestört werden soll, dachte die Kil lerin. Aber ihr Gefühl sagte ihr, dass das nicht der Grund war. Und Chin-Li hatte gelernt, auf ihre Intuition zu vertrauen. Auf den ersten Blick wirkte die 23-jährige Chinesin wie eine at traktive, aber nicht besonders außergewöhnliche junge Frau. Sie war knapp 1,65 Meter groß und durchtrainiert. Ihre Kurzhaarfrisur und ihr fast knabenhafter Körperbau verliehen ihr ein leicht androgynes Aussehen, das viele Männer besonders attraktiv fanden. Unter der anziehenden Oberfläche verbarg sich jedoch eine eiskalte Mordma schine. Nur die Wenigsten überlebten eine Begegnung mit Chin-Li. Und heute würde es Wong Siu-Tung treffen. Wong war einer der angese
hensten Wirtschaftsbosse Hongkongs – und ein hochrangiges Mit glied der Sun-Yee-On-Triade, einer der mächtigsten Gangsterorgani sationen der Stadt. Sein Imperium, das Designermode ebenso um fasste wie Juwelen und eine kleine Bank, war von der Wirtschafts krise voll getroffen worden. Und so hatte Wong Siu-Tung in den letzten Monaten immer mehr von dem, was eigentlich der Triade zustand, für sich selbst abgezweigt. An Warnungen hatte es nicht gefehlt. Aber Wong hatte sie alle ignoriert. Jetzt war es zu spät. Chin-Li würde an ihm ein Exempel statuieren, das alle anderen Gangster in der Stadt lehren würde, sich mit dem zufrieden zu geben, was ihnen zustand. Die Unterwelt war in Hongkong ein straff organisiertes System, das alle Wirtschafts zweige durchdrungen hatte. Wer sich darauf einließ, konnte ein gu tes Leben führen. Aber wer gegen die Regeln verstieß, unterschrieb damit sein eigenes Todesurteil. Und die Regeln bestimmte seit jeher die Bruderschaft der Neun Drachen. Der Geheimbund war der Kopf der hiesigen Unterwelt. Und Chin-Li seine gefährlichste Waffe. Heute Nacht feierte Wong Siu-Tung seinen 50. Geburtstag. Den Verräter an diesem Tag zu exekutieren, bedeutete ein besonderes Ri siko. Um sich vor unliebsamen Überraschungen zu schützen, hatte Wong die Zahl seiner Leibwächter an diesem Abend mehr als ver doppelt. Aber die Signalwirkung der Strafaktion war umso größer, wenn auch eine ganze Armee von Bodyguards Wong nicht vor sei nem Schicksal bewahren konnte. Wer die Neun Drachen verriet, hatte sein Leben verwirkt! Nach der Party, wenn der Verräter sich schlafen gelegt hatte, woll te sich Chin-Li in das Haus schleichen und ihren Auftrag erledigen. Schnell und professionell, wie es ihre Art war. Sie hatte sich auf eine lange Wartezeit eingestellt. Geduld gehörte zu den wichtigsten Tu genden eines professionellen Killers, und Chin-Li war trotz ihrer Ju gend eine der Besten ihrer Branche. Doch die plötzliche Stille zwang sie, ihre Pläne kurzfristig über den Haufen zu werfen. Sie musste wissen, was da los war!
Ein letztes Mal sah Chin-Li durch das Nachtsichtgerät. Doch es hatte sich nicht das Geringste verändert. Seit vor gut einer halben Stunde ein Taxi einen verspäteten Gast abgesetzt hatte, war außer halb der Villa nichts mehr passiert. Chin-Li sah auf die grüne LEDAnzeige ihrer Uhr. Es war 1:23 Uhr, aber offenbar verspürte immer noch keiner der Anwesenden die nötige Bettschwere, um nach Hau se zu gehen. Irgendetwas stimmte da ganz und gar nicht! Chin-Li verstaute das Nachtsichtgerät im Futteral ihres Einsatz gürtels und verließ ihr Versteck. Im Schutz der Dunkelheit näherte sie sich der gut drei Meter hohen Mauer, die Wongs Grundstück vor ungebetenen Besuchern schützte. Theoretisch. Die Profikillerin zog aus ihrem Gürtel eine Druckluftpistole und lud sie mit einem mit Widerhaken versehenen Pfeil, an dem ein langes Nylonseil befestigt war. Sie richtete die Pistole auf einen imaginären Punkt wenige Zen timeter über der Mauerkrone und drückte ab. Mit einem Zischen flog der Pfeil über die Mauer und zog das Seil mit sich. Chin-Li hör te ein kaum wahrnehmbares Geräusch, als das Geschoss auf der an deren Seite ins Gras fiel. Dann zog sie an dem Seil, bis die Widerha ken an der Mauer Halt fanden. Rasch erklomm sie die Mauerkrone. Der Garten lag still und dun kel vor ihr. Katzengleich ließ sich Chin-Li ins Gras fallen. Sie rollte sich ab und zog ihre Beretta. Keine Sekunde zu früh bemerkte sie den heranstürmenden Schat ten! Mit einem trockenen Plopp löste sich der Schuss aus der schallge dämpften Waffe. Die Kugel erwischte den Rottweiler mitten im Sprung. Mit zerschmettertem Schädel fiel das riesige Tier zu Boden. Vorsichtig näherte sich die Killerin der prunkvollen Villa. Natür lich traf jemand wie Wong Siu-Tung Vorkehrungen gegen Einbre cher. Der Unternehmer hatte seinen Garten und sein Haus geradezu gespickt mit Alarmanlagen und anderen Sicherheitsvorrichtungen. Zu dumm nur, dass die Firma, die er mit der Installation beauftragt
hatte, den Triaden gehörte. Chin-Li hatte sich die Pläne genau einge prägt. Mit traumwandlerischer Sicherheit entging sie allen Fallen, die ihre Anwesenheit hätten verraten können. Der zweite Rottweiler wartete an dem kleinen Teich hinter dem Haus auf sie. Er starb, bevor er auch nur zum Sprung ansetzen konnte. Chin-Li hatte den Grundriss des Gebäudes im Kopf. Direkt über ihr, im ersten Stock, befand sich ein zumeist ungenutztes Gästezim mer. Sie hatte Glück. In dem Raum brannte kein Licht. Die Killerin lud die Druckluftpistole mit einem weiteren Pfeil, der diesmal in einem mit einer speziellen Klebeflüssigkeit beschichteten Saugnapf mündete. Dann richtete sie die Pistole auf die Wand ober halb des Fensters und drückte ab. Der Klebstoff war ein wahres Wundermittel. In Sekundenschnelle wurde er an der Wand so hart, dass er ein ganzes Klavier hätte tragen können. Allerdings nur für wenige Minuten. Danach konnte man den Saugnapf mühelos durch einen leichten Ruck am Seil wieder lösen, um keine Spuren zu hin terlassen. Geschmeidig kletterte Chin-Li die Hauswand hoch, bis sie das Fenster erreicht hatte. Das Gästezimmer lag in völliger Dunkelheit vor ihr. Nichts bewegte sich im Inneren. Rasch verschaffte sich die junge Chinesin mit Hilfe eines Glasschneiders Einlass. Chin-Li glitt ins Innere – und wäre beinahe ausgerutscht. Eine zäh flüssige, klebrige Masse bedeckte den Boden. In der Luft hing ein schwerer, widerlich süßlicher Geruch. Chin-Li erkannte ihn sofort. Blut! Die Beretta sprang fast in die Hand der jungen Killerin. Jeder ihrer Sinne war auf Verteidigung eingestellt. Doch nichts regte sich. Es mussten Dutzende von Menschen in dem Haus sein, die zusammen ein rauschendes Fest feierten, doch es war nicht das geringste Ge räusch zu hören. Chin-Li spürte, wie sich ihre Nackenhärchen aufstellten.
Mit der freien Hand griff sie zu der kleinen Stablampe an ihrem Einsatzgürtel. Der Lichtstrahl flammte auf, und dann sah sie es: Ein Pärchen, das sich offenbar zum Liebesspiel zurückgezogen hatte. Ihre nackten, über und über mit Blut bedeckten Körper glänzten im Schein der Taschenlampe. Aus den schreckensverzerrten Gesichtern sprach ungläubiges Entsetzen. Unterhalb des Halses waren die Kör per regelrecht zerfetzt, als sei eine wilde Bestie über sie hergefallen. Chin-Lis Magen revoltierte. Sie atmete einmal kurz durch, dann schaltete sie ihre Emotionen aus, kniete sich zu den Leichen und un tersuchte sie gründlich. Die Leichenstarre hatte noch nicht eingesetzt, das Blut war noch nicht geronnen. Die beiden waren weniger als eine halbe Stunde tot! Der Killer konnte noch im Haus sein! Die Beretta im Anschlag, näherte sich Chin-Li der Tür und lausch te. Nichts! Die junge Chinesin öffnete rasch die Tür und betrat den hell erleuchteten Flur. Der Anblick, der sich ihr bot, traf sie mit der Wucht eines Vorschlaghammers. Der Flur war übersät mit blutüber strömten, schrecklich verstümmelten Leichen. Muss eine Mordsparty gewesen sein, dachte Chin-Li in einem seltenen Anflug von Sarkas mus. Einige der Männer hielten Pistolen in den Händen. Offenbar hat ten sie versucht, sich gegen den Angreifer zu verteidigen. Den An greifer? Der Zahl der Opfer nach zu urteilen, musste hier ein ganzes Killerkommando gewütet haben. Die laute Musik hatte die Schüsse und die Schreie der Opfer offenbar übertönt, sodass Chin-Li in ih rem Versteck nichts davon gehört hatte. Die Killerin nahm sich alle Räume vor. Überall bot sich ihr dassel be Bild des Grauens. Kein einziger Partygast hatte das Gemetzel überlebt. Es mussten weit über hundert Tote sein. Wer immer dieses Blutbad angerichtet hatte, war nicht mehr im Haus. Durch den Haupteingang konnten die Killer nicht entkommen sein. Von ihrem Versteck aus hätte Chin-Li sie unweigerlich gesehen. Also mussten sie irgendwo über die Mauer entkommen und im Schutz der Nacht
verschwunden sein. Im saalartigen Hauptraum im Erdgeschoss fand sie Wong SiuTung. Der Verräter war umringt von den Leichen seiner Leibwäch ter. Der Körper des Unternehmers schien regelrecht von innen auf geplatzt zu sein. Seine Innereien bedeckten den ganzen Raum. Un weit von ihm stand die sündhaft teure Musikanlage. Sie war noch intakt. Offenbar hatte die Musik aufgehört, als die eingelegte CD zu Ende war. Weil niemand mehr lebte, der die Musik hätte wechseln können. Es war unfassbar, aber jemand hatte eine ganze Partygesellschaft ermordet. Vor ihren Augen! Chin-Li merkte, wie sie das Grauen zu überwältigen drohte. Die Killerin hatte in ihrem jungen Leben schon viele Tote gesehen, und die meisten waren durch ihre eigene Hand ums Leben gekommen. Es hatte ihr nie etwas ausgemacht. Doch die Bestialität dieses unbe schreiblichen Gemetzels war selbst für sie zu viel. Mit hämmerndem Herzen ließ sich Chin-Li im Lotossitz auf dem blutbeschmierten Boden nieder. Sie schloss die Augen, verdrängte das Grauen um sich herum und versenkte sich ganz in ihr inneres Selbst. Dank ihrer lebenslangen Meditationspraxis konnte sich die Killerin ohne große Vorbereitung in einen Zustand absoluter innerer Ruhe versetzen. Ihre Panik verschwand, und dann spürte sie, wie ihr Herzschlag eins wurde mit dem des Universums. Sie verharrte eine Weile in diesem Zustand, um dann ganz langsam wieder zur Oberfläche ihres Bewusstseins aufzutauchen. Chin-Li öffnete die Augen. Das Grauen um sie herum war immer noch da, aber es machte ihr nichts mehr aus. Systematisch untersuchte die junge Killerin die Leichen. Keine Waffe, die sie kannte, konnte diese Verletzungen verursacht haben. Bei einigen Opfern waren ganze Gliedmaßen oder die Köpfe abge trennt, als hätte sie jemand wie bei einer Puppe einfach abgerissen. Bei anderen schien das Fleisch geradezu explodiert zu sein. Dagegen
gab es keine einzige Schusswunde und auch keine der typischen Verletzungen, die Hieb- oder Stichwaffen hinterließen. Ein Tier, dachte Chin-Li. Das muss ein Tier gewesen sein. Doch wel ches Tier konnte so ein Blutbad anrichten? Eine Raubkatze? Oder vielleicht ein Bär? Doch wie hätte das Tier hierher kommen sollen, und wo war es geblieben? Außerdem wies keine der Leichen typi sche Klauen- oder Bissspuren auf, und es war nirgendwo auch nur ein einziges Tierhaar zu finden. Und schließlich war mindestens die Hälfte der Gäste bewaffnet gewesen. Also kein Tier. Ein Tier kann man töten. Menschen aber auch! Die Erkenntnis traf Chin-Li wie ein Faustschlag. Aber sie war un ausweichlich. Wer immer dieses Massaker angerichtet hatte, war kein Mensch! Die Killerin hatte das Gefühl, als habe ihr jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Nicht, dass Chin-Li nicht an die Existenz übernatürlicher Mächte geglaubt hätte. Für einen Hongkong-Chine sen war es ganz normal, den Materialismus des 21. Jahrhunderts mit jahrtausendealten Überlieferungen und Traditionen zu verbinden, ohne dabei den geringsten Widerspruch zu empfinden. Kein Ge schäftsmann machte einen wichtigen Termin, ohne vorher seinen Wahrsager zu befragen, und kaum ein Bauherr ließ seinen Architek ten gewähren, ohne einen Feng-Shui-Meister zu Rate zu ziehen. Die Welt der Götter und der Geister war für die meisten Chinesen ein selbstverständlicher Bestandteil ihrer Realität. Für Chin-Li galt das ganz besonders. Die junge Killerin war in ei nem Kloster aufgewachsen. Sie verdankte ihr ganzes Dasein einem göttlichen Auftrag. Doch noch nie war sie mit dem Übernatürlichen so direkt konfron tiert worden. Nie zuvor hatte sie seine verheerenden Auswirkungen auf die Welt der Sterblichen mit eigenen Augen gesehen. Konnte es sein, dass … Chin-Li wagte es nicht, den Gedanken zu Ende zu denken. Es konnte nicht sein, es durfte nicht sein!
Sie wollte das Schlachtfeld schon verlassen, als ihr Blick zufällig auf einen blutverschmierten Spiegel fiel. Es war ein kostbar ausse hendes Stück mit etwas zu kitschigen Verzierungen, die Chin-Li in ihrer wenig schmeichelhaften Ansicht über Wong Siu-Tungs Ge schmack nur bestärkten. Ansonsten war es äußerlich ein ganz ge wöhnlicher Spiegel. Aber etwas daran irritierte Chin-Li, ohne dass sie genau sagen konnte, was es war. Einer Eingebung folgend nahm sie den Spiegel ab – und blickte in das kalte Auge einer Überwa chungskamera. Also hatte Wong Siu-Tung doch Sicherheitsvorkehrungen instal liert, von denen niemand etwas gewusst hatte. Das hat dir auch nichts genützt, dachte Chin-Li grimmig. Aber für sie war diese Kamera vielleicht der Schlüssel zu diesem mörderischen Rätsel. Und wo es eine gab, gab es auch mehrere. Akribisch nahm sich die Killerin noch einmal das ganze Haus vor, bis sie alle 15 Kameras gefunden hatte, mit denen Wong seine Privaträume und seine Gäste über wacht hatte. Im Keller gab es einen kleinen »Regieraum«, in dem alle Aufnah men überwacht und gespeichert wurden. Die Tür stand offen. In dem Drehstuhl vor den Monitoren saß die Leiche eines ziemlich fet ten, bärtigen Chinesen mittleren Alters. Chin-Li kannte den Mann flüchtig. Er gehörte zu Wong Siu-Tungs ständigen Begleitern. Die Augen waren ungläubig aufgerissen, der Unterleib eine einzige Wunde. Der geheimnisvolle Killer hatte wirklich nichts und nieman den ausgelassen. Die Monitore liefen immer noch. Sie zeigten nur Schnee. Ohne jede Gefühlsregung packte Chin-Li den toten Körper, warf ihn zu Boden und setzte sich selbst in den Sessel. Systematisch checkte sie die Videobänder, bis sie gefunden hatte, was sie suchte. Die meisten Aufzeichnungen zeigten eine ganz normale Party. Zu mindest das, was Leute wie Wong Siu-Tung unter einer ganz nor malen Party verstanden. Angeekelt verzog Chin-Li das Gesicht, als sie Zeugin wurde, wie sich Wongs Gäste mit den zu ihrem Vergnü
gen gemieteten Frauen den widerlichsten Ausschweifungen hinga ben. Fast jeder Raum des luxuriösen Anwesens schien sich vor ChinLis Augen in einen Tempel der Perversion zu verwandeln. Doch dann zeigte eine Außenkamera die Ankunft eines Taxis, aus dem ein junger Chinese stieg. Chin-Li erinnerte sich an den Mann. Er war der Letzte gewesen, der das Haus betreten hatte. Aus ihrem Versteck heraus hatte sie ihn nicht genau erkennen können, aber jetzt fiel ihr sofort auf, dass der Neuankömmling sich äußerlich grundlegend von den anderen Partygästen unterschied. Er konnte kaum älter als 25 sein und war für einen Chinesen außerge wöhnlich groß. Chin-Li schätzte ihn auf mindestens 1,80 Meter. Das blondierte Haar war halblang, und der Körper sah durchtrainiert aus, was aber eher auf intensives Bodybuilding als auf Kampfsport praxis schließen ließ, wie Chin-Li mit Kennerblick erkannte. Und vor allem eins fiel ihr sofort ins Auge: Der Neuankömmling war geradezu schockierend leger gekleidet. Er trug ein weißes TShirt, Blue Jeans und Turnschuhe. Das war seltsam. Schließlich leg ten in Hongkong selbst die Gangster äußersten Wert auf Etikette. Niemand würde es wagen, ohne Anzug und Krawatte auf einer Par ty zu erscheinen, sofern sie nicht im allerprivatesten Rahmen statt fand. Aber vielleicht war dieser Mann gar kein Gast, dachte Chin-Li. Und in diesem Moment wusste sie, dass sie den Mörder gefunden hatte. Den Mann, der für das schlimmste Massaker verantwortlich war, das Hongkong in den letzten Jahren seiner nicht gerade unblutigen Geschichte erlebt hatte. War der Mörder also doch ein Mensch? Chin-Li glaubte das keine Sekunde. Das Blutbad um sie herum sprach eindeutig dagegen. Doch Wongs Leibwächter schienen nichts von der drohenden Ge fahr zu ahnen. Der junge Chinese schien auch für sie ein Fremder zu sein. Sie behandelten ihn ohne Respekt und lachten ihn aus. Ihr ar men Idioten. Ihr erkennt den Tod noch nicht mal, wenn er vor euch steht, dachte Chin-Li. Doch noch hielt sich der Fremde zurück. Die Auf
zeichnungen waren stumm. Aber offenbar wollte der Blonde unbe dingt zu Wong vorgelassen werden. Die Bodyguards waren drauf und dran, ihn zu verjagen, aber dann schien sie irgendetwas in den Worten des Fremden zu überzeugen. Chin-Li musste auf ein anderes Band zurückgreifen, als sich das Geschehen nach innen verlagerte. Der Fremde wurde in den großen Saal geführt, im dem sie vor wenigen Minuten Wongs Leiche gefun den hatte. Es war so, als seien die Geister der Verstorbenen zu neu em Leben erwacht, als Chin-Li den Gangsterboss und seine Leib wächter fröhlich lachend an derselben Stelle sah, an der sie ihre Lei chen gefunden hatte. Sie lachten, nicht ahnend, dass sie alle nur noch wenige Minuten zu leben hatten! Sonst hätte Wong Siu-Tung den Fremden vielleicht etwas freundli cher empfangen! Der sonderbare Besucher schien dem Triadenboss ein Angebot zu machen, doch Wong verhöhnte den Neuankömmling nur. Dann gab er einem seiner Gorillas ein Zeichen. Der Leibwächter, ein wahrer Bulle von einem Mann, stürmte auf den Fremden zu. Der riss blitz schnell seine rechte Hand hoch und streckte sie dem Angreifer ent gegen. Der massige Bodyguard prallte zurück, als sei er mit voller Wucht gegen eine unsichtbare Wand gelaufen. Dabei hatte der Fremde ihn nicht einmal berührt. Dann hob der unheimliche Besu cher seine Hand, und eine unsichtbare Kraft packte den entsetzten Gorilla und schleuderte ihn gegen die nächste Wand. Chin-Li glaub te fast, das Knacken zu hören, als die Knochen brachen. Mit seltsam verdrehten Gliedern blieb der Leibwächter auf dem Boden liegen. Aus seinem Schädel lief Blut. Entsetzt starrte Wong den Fremden an. Die anderen Bodyguards zogen wie auf ein Kommando ihre Waffen. An dieser Stelle endete die Aufzeichnung. Doch eine Sekunde bevor das Videobild abrupt in Schnee über ging, blickte der Fremde plötzlich auf und sah in die Kamera, als wisse er genau, wo sie verborgen war. Er starrte Chin-Li direkt an.
Mit Augen, die sich in ihr Gehirn zu brennen schienen. Und er lä chelte. Es war ein kaltes, bösartiges Lächeln, das die Profikillerin auf ihrem Stuhl erstarren ließ. Dann war es vorbei. Nur mühsam bekam Chin-Li ihr Zittern wieder unter Kontrolle. Der dämonische Fremde konnte nicht wissen, dass sie sich das Vi deoband ansehen würde. Er konnte sie nicht gemeint haben. Immer wieder hämmerte sie sich das ein. Aber es überzeugte sie nicht! Zu deutlich hatte sich ihr das Bild dieser furchtbaren Augen einge brannt, die sie über die Zeit hinweg anstarrten. Als hätten sie nur eine Botschaft. Du kommst auch noch dran! Dreh jetzt nicht durch, er ist längst weg, dachte Chin-Li. Aber dieser winzige Moment auf dem Videoband machte ihr mehr Angst als al les, was sie vorher an Entsetzlichem in diesem Haus gesehen hatte. Sie hatte so noch nie empfunden. Chin-Li war eine Kriegerin. Angst spielte in ihrer Programmierung keine Rolle. Und doch bekam sie die Panik, die von ihr Besitz ergriffen hatte, kaum unter Kontrolle. Schnell überprüfte Chin-Li die restlichen Videobänder. Alle Auf zeichnungen endeten exakt beim selben Zeitindex. 0.56 Uhr. Der Minute, in der das Morden begann.
2. Die Neun Drachen Das Flackern der Kerzen tauchte den kargen Raum in ein gespensti sches Licht. Die zuckenden Schatten ließen die neun uralten Männer wie Boten einer anderen Welt erscheinen. Und in gewisser Weise waren sie das auch. Die Greise waren die Köpfe der Bruderschaft der Neun Drachen und die mächtigsten Männer in ganz Hongkong. Sie hatten sich in ihrem Heiligtum versammelt, dem zentralen Saal eines Klosters, das seit jeher als Hauptquartier der Bruderschaft diente. Die durch dicke Mauern von der Außenwelt abgeschottete Anlage stand im dicht be siedelten Stadtteil Mong Kok, und sie war deutlich älter als alle an deren Gebäude in Kowloon, dem auf der Festlandseite liegenden Teil Hongkongs. Das Kloster war der Meeresgöttin Tin Hau gewidmet, die norma lerweise dem Taoismus (Neben dem Konfuzianismus und dem aus Indien importierten Buddhismus die bedeutendste chinesische Denkschule. Der Taoismus ist sowohl Philosophie als auch eigen ständige Religion. Darüber hinaus ist er in die immer noch überaus lebendige chinesische Volksreligion eingeflossen.) zugeschrieben wurde. Aber die Bruderschaft basierte keineswegs auf der Philoso phie des großen Laotse. Die Greise interessierten sich nur wenig für das oberste kosmische Prinzip, das Tao, und sie hatten auch nichts übrig für die Lehre von Yin und Yang oder die Lehre von den Fünf Elementen. Die Neun Drachen waren sehr viel praktischer veran lagt, und sie hatten eine sehr konkrete Aufgabe: Hongkong zu be schützen, um jeden Preis. So wie es Tin Hau schon getan hatte – vor über tausend Jahren. Die neun Greise standen im Halbkreis vor einem dunkelroten Wandbehang, auf dem ein großer stilisierter Drache prangte. Das
gleiche Motiv zierte auch die safrangelben Kutten, die ihre hageren Körper bedeckten. Tiefe Sorge zeigte sich in den faltigen Gesichtern der alten Männer. Jeder von ihnen spürte die heraufziehende Gefahr. Noch war sie dif fus und abstrakt, aber wenn sich ihre Befürchtungen bewahrheite ten, stand der Stadt ein Kampf bevor, gegen den die Verheerungen des Zweiten Weltkriegs und der japanischen Besatzung harmlose Zwischenspiele der Geschichte waren. Was ihnen drohte, war nicht weniger als der Untergang von Hongkong. »Ist er wirklich zurückgekehrt?« Der Sprecher, ein dürrer Mann mit eingefallenen Wangen und einem Lippenbärtchen, stand ganz links. Mit Ende 70 war er der Jüngste in der Gruppe. »Das kann nicht sein«, antwortete ein Zweiter. »Er ist tot. Seit über tausend Jahren schon.« »Er muss es sein. Niemand sonst hat so eine Macht«, widersprach ein dritter Mönch, dessen Stimme unüberhörbar zitterte. »Tin Hau stehe uns bei!«, schob er flüsternd nach. Dann ergriff der Greis in der Mitte das Wort. Er war mit Abstand der Älteste in der Versammlung. Er war völlig kahl, und sein dün ner Bart bestand nur noch aus wenigen Härchen. Aber seine Stimme strahlte eine natürliche Autorität aus, die die anderen sofort ver stummen ließ. Der Alte wurde Meister Shiu genannt, und er war das Oberhaupt der Neun Drachen. »Es scheint, als sei die prophezeite Zeit gekommen. Die Zeit, in der wir die Aufgabe erfüllen müssen, um derentwillen unsere Bruder schaft einst geschaffen wurde. Versagen wir, bedeutet dies das Ende von Hongkong. Und vielleicht sogar der ganzen Welt.« Entsetztes Schweigen erfüllte den Raum. Jeder der neun Männer hatte damit rechnen müssen, dass dieser Tag einmal kam. Doch sie alle hatten angenommen, dass dies nicht in ihrer eigenen Lebens spanne geschah und dass sie ihre Aufgabe an ihre Nachfolger wei tervererben würden, so wie sie an sie vererbt worden war. Doch die Tatsachen sprachen für sich.
Er war zurückgekehrt, der Dämon, von dem viele Anhänger Tin Haus insgeheim längst geglaubt hatten, dass er nur eine Legende sei. Ein schreckliches Märchen aus einer längst vergangenen Zeit. »Wir müssen abwarten«, sagte Meister Shiu bestimmt. »Noch wis sen wir nicht, was der Dämon vorhat und wie er vorgeht. Er soll sich in Sicherheit wiegen, während wir uns auf den Gegenschlag vorbereiten.« Die anderen acht Greise murmelten zustimmend, doch das Dra chen-Oberhaupt war noch nicht fertig. Meister Shiu hob die knochi ge Hand, um den anderen Einhalt zu gebieten. Sofort kehrte wieder Stille ein. »Doch der Dämon ist nicht unser einziges Problem. Ein weißer Zauberer nähert sich Hongkong. Und er hat eine Waffe bei sich, die die Macht der Gestirne in sich trägt. Eine Waffe, die stark genug ist, um die Götter herauszufordern.« Die anderen Mönche nickten. Auch sie spürten eine zweite Er schütterung der kosmischen Harmonie. Ebenfalls außerordentlich mächtig, aber von genau entgegengesetzter Polarität. Und sie wuss ten, dass der Zauberer, dessen Waffe diese Erschütterung hervorrief, schon einmal in Hongkong gewesen war, vor über zehn Jahren. »Wir kennen diesen Mann«, bestätigte Meister Shiu. »Er war es, der sich damals Lao Si-Hüan und seinem teuflischen Verbündeten aus den Tiefen des Weltalls entgegenstellte.«(siehe PZ-Heft 444: »Sparks jagt Zombies« von Robert Lamont) Lao Si-Hüan, allein den Namen dieses Verräters auszusprechen, galt normalerweise als Sakrileg. Si-Hüan war der Dragon – das Oberhaupt – der Triade K-14 gewesen, die sich den Neun Drachen vor gut zehn Jahren offen widersetzt hatte. Bevor die Bruderschaft den Verräter richten konnte, kam ihnen ein Ausländer mit einer mächtigen magischen Waffe zuvor, der – ohne es zu wissen – den größten Teil der Arbeit für sie erledigte. Dieser Mann war genau der ausländische Zauberer, dessen nahende Ankunft sie jetzt so deutlich spürten.
Lao Si-Hüan hatte sich mit einem mächtigen außerirdischen We sen(Ein Agent der DYNASTIE DER EWIGEN, der unter dem Tarn namen Dwight P. Carmichael zum Führungsstab von Tendyke In dustries gehörte) verbündet. Gemeinsam hatten sie den Zauberer nach Hongkong gelockt, um ihn hier mit Hilfe eines wieder belebten Toten umzubringen. Doch der Plan schlug fehl. Der Ewige verglüh te, und Lao Si-Hüan wurde verhaftet. Doch der Triadenboss über lebte seinen dunklen Verbündeten nicht lange. Die Neun Drachen ließen den Dragon nur wenige Stunden, nachdem er mit Hilfe seiner Anwälte wieder auf freien Fuß gekommen war, hinrichten. Seine Organisation wurde vollständig von Verrätern gesäubert und wie der dem Imperium der Neun Drachen einverleibt. »Er hat uns damals gedient, ohne es auch nur zu ahnen. Er war ein nützliches Werkzeug«, sagte das Drachen-Oberhaupt. »Was will er diesmal in Hongkong? Hat es etwas mit seiner Rück kehr zu tun?«, fragte der Jüngste der neun Greise. »Das ist unwahrscheinlich. Er kann es unmöglich wissen«, erwi derte Meister Shiu. Seine Augen schienen in weite Ferne zu blicken, so als könne er dort den weißen Zauberer bereits sehen. »Aber vielleicht könnten wir uns seiner wieder bedienen. Wenn wir ihn auf die richtige Fährte locken, könnte er den Dämon für uns besiegen.« »Nein!«, sagte Meister Shiu entschieden. »Der weiße Zauberer ist uns in der Vergangenheit nützlich gewesen. Aber jetzt stört er allein durch seine Anwesenheit das kosmische Gleichgewicht. Für jede Kraft gibt es im Kosmos eine Gegenkraft, und wir sind der Gegen pol des Dämons, so wie es Tin Hau einst war. Nichts darf uns in un serem heiligen Krieg gegen das Böse schwächen. Der Zauberer hat sich in der Vergangenheit bereits gegen die Triaden gestellt. Wenn er wieder nach Hongkong kommt, um die Triaden zu bekämpfen, dann greift er damit auch uns an. Und nichts wäre im Moment ge fährlicher als ein Krieg an zwei Fronten!« »Aber vielleicht ist er aus einem ganz anderen Grund hier …«
»Wir dürfen kein Risiko eingehen. Der weiße Zauberer ist viel zu mächtig. Aus welchem Grund er auch hierher kommen mag, aus der bevorstehenden Schlacht kann sich niemand heraushalten. Wenn er in den Kampf gegen den Dämon hineingezogen wird, kann seine Macht, falsch eingesetzt, uns alle vernichten!« »Warum weihen wir ihn nicht ein?«, fragte ein anderer Greis. »Dann könnte er sich uns freiwillig anschließen.« »Unmöglich«, sagte das Drachen-Oberhaupt. »Die Neun Drachen haben Diener, keine Verbündeten. Sie erklären sich nie. Und er wür de es auch nicht verstehen. Vergesst nicht, dass der Zauberer aus ei ner anderen Welt kommt, einer weißen Welt, die geprägt ist von den schwächlichen Werten des Christentums. Er würde in uns nur einen Feind sehen, den es zu vernichten gilt.« »Also muss er sterben?« »Er muss sterben!«, bestätigte Meister Shiu. Die anderen acht Greise nickten. Die Worte ihres Oberhaupts hat ten sie überzeugt. Dies war bei weitem nicht der erste Tod, der in diesem heiligen Raum beschlossen wurde. Der weiße Zauberer hatte nichts getan, er hatte ihnen in der Vergangenheit sogar unabsichtlich geholfen. Aber manchmal mussten auch Unschuldige geopfert wer den. Schließlich bedeutete ein Menschenleben nichts, verglichen mit der großen Aufgabe.
Der Dämon bebte vor Energie. Er hatte ein Festmahl hinter sich, und er hatte ein Zeichen gesetzt. Ein Zeichen, dass er zurückgekehrt war. Er, dessen Herrschaft so grausam gewesen war, dass die Menschen es nicht einmal gewagt hatten, ihm einen Namen zu geben. Sie spra chen hinter vorgehaltener Hand immer nur von ihm, der über das Meer, den Himmel und den Sturm gebot. Er war der namenlose Schrecken, der diesen Teil der Welt seit Äonen beherrscht hatte. Bis
sie gekommen war und ihn gestürzt hatte. In die jahrhundertelange Vergessenheit! Das Wesen in der Gestalt eines jungen Chinesen wanderte durch die glitzernden Straßen des nächtlichen Hongkong und staunte, was aus der trostlosen Ansammlung von Fischerdörfern geworden war, die hier einst gestanden hatten. Der Dämon trug jetzt einen schicken anthrazitfarbenen Anzug und einen langen schwarzen Mantel. Er hatte sich die Kleidungsstücke bei der Party von Wong Siu-Tung ausgeliehen. Der frühere Besitzer würde sie nicht mehr brauchen. Der Dämon dachte an das Mädchen, dem er es zu verdanken hat te, dass er tausend Jahre lang so gut wie tot auf dem Meeresgrund gelegen hatte, aller Kräfte beraubt und nur von dem einen Gedan ken erfüllt: genug Kraft zu sammeln, um eines Tages zurückzukeh ren und seinen Machtanspruch zu erneuern. Nie hätte er gedacht, dass er so ein Paradies vorfinden würde, mit Millionen von Men schen, von deren Energie er zehren konnte. Tin Hau – die Himmelskönigin, so wurde seine einstige Todfeindin inzwischen genannt. Der Namenlose wusste, dass das Mädchen in zwischen in Hongkong als eine der höchsten Göttinnen verehrt wur de. Mit jedem Opfer, dessen Lebensenergie er in sich aufnahm, wuchs nicht nur seine Macht, sondern auch sein Wissen über die seltsame Welt, die ihn umgab. Einer Welt voller unbeschreiblicher Wunder. Die Menschen beherrschten heute Dinge, vor denen früher selbst die Götter zurückgeschreckt wären. Sie flogen durch die Luft und reisten bis zum Mond. Selbst das Atom hatten sie schon gespal ten. Und doch waren sie nur dieselben kleinen Würmer, die einst vor ihm im Staub gekrochen waren. Und genau das würden sie wie der tun. Vor ihm kriechen und um Gnade winseln. Denn so sehr er sich auch an der Lebensenergie der sterbenden Partygäste satt gefressen hatte, noch mehr würde er von den Leben den zehren, die ihm freiwillig zu Diensten waren oder aus Furcht vor ihm erzitterten. Und diesmal würden es nicht Hunderte sein, die er in sein Gefolge aufnahm, sondern Millionen. Wie ein Vampir
würde er die Lebensenergie der Stadt aussaugen. Mit dieser gewaltigen Kraft konnte er nicht nur Hongkong, son dern die ganze Welt erobern, während seine einstige Gegnerin Tin Hau in ihrem nassen Grab längst vermodert war. Denn die kleine Zauberin hatte den Sieg über ihn mit ihrem eigenen Leben bezahlt. »Hey Schöner, du siehst einsam aus. Hast du Lust auf ein bisschen Gesellschaft?« Der Dämon in der Hülle eines Menschen blickte auf. Vor ihm stand eine gerade mal 20-jährige Frau in einem sehr knappen Hös chen und einer fast durchsichtigen Bluse, die ihre Brust mehr her vorhob als verhüllte. Der Namenlose lächelte. Aus den Erinnerun gen seiner Opfer wusste er, dass dies eine Nutte war. Solche Mäd chen, die ihren Körper für Geld hergaben, hatte es zu seiner Zeit auch schon gegeben. In der gesellschaftlichen Ordnung standen sie wie damals ganz weit unten. Aber der Dämon wusste, dass Wong Siu-Tung und seine Gäste Frauen wie diese sehr gern gemocht hat ten. Einige waren sogar auf der Party gewesen. »Komm schon, Süßer, für so einen hübschen Jungen wie dich ma che ich einen Sonderpreis«, sagte das Mädchen und fuhr sich mit der Zunge lasziv über die Lippen. »Ist sowieso nicht viel los heute Abend.« »Du willst Sex mit mir?« Das Mädchen lachte ungläubig. »Nein, ich möchte mit dir eine Partie Mahjong spielen. Natürlich will ich Sex mit dir! Und zwar so wilden Sex, dass du nachher nicht mehr weißt, wie du heißt.« »Hier auf der Straße?«, fragte der Dämon. Er war mit den Sitten der modernen Welt noch nicht ganz vertraut. »Natürlich nicht«, gluckste das Mädchen. »Oder stehst du etwa auf so was? Du bist mir ja ein ganz Perverser.« Pervers? Der Namenlose dachte kurz darüber nach. Mit dieser Ein schätzung konnte er leben. »Ich habe ein Zimmer gleich hier um die Ecke. Komm schon, Sü
ßer, ich mache alles, was du willst. Soll ich dir einen blasen? Oder stehst du auf griechisch?« Der Dämon nickte. »Ich komme mit dir.« Er hatte schon reichlich Lebensenergie gekostet heute Nacht. Doch gegen ein bisschen Fast Food war nichts einzuwenden.
Chin-Li war nervös, wie immer, wenn sie ins Heiligtum der Neun Drachen vorgelassen wurde. Die junge Killerin war direkt von Wongs Haus zum Hauptquartier der Bruderschaft gefahren. Sie hat te sich gerade mal Zeit genommen, um sich umzuziehen. Der blut befleckte Einsatzdress hätte sie in Schwierigkeiten bringen können, wenn sie zufällig in eine Verkehrskontrolle geraten wäre. Jetzt trug sie ihre Standardkleidung: schwarzes Jackett, schwarze Hose und eine weiße Bluse. Die obligatorische Sonnenbrille hatte sie aus Re spekt vor den greisen Köpfen der Bruderschaft in die Innentasche des Jacketts gesteckt, direkt neben die Beretta. In einer kleinen Ta sche trug sie die Videos bei sich, die die Ankunft des unheimlichen Mörders und das anschließende Massaker zeigten. Die Polizei gin gen diese Aufzeichnungen nichts an! Ein kahlköpfiger Mönch begleitete die junge Killerin durch die dunklen Gänge des in nächtlicher Stille daliegenden Klosters. ChinLi kannte jeden Winkel des jahrhundertealten Baus. Sie selbst war hier aufgewachsen, ein kleines Mädchen, umgeben und aufgezogen von alten Männern. In anderen chinesischen Klöstern, gleich wel cher Glaubensrichtung, wäre so etwas unmöglich gewesen. Aber die Neun Drachen waren nicht nur in dieser Hinsicht etwas unortho dox. Jetzt wohnte die junge Chinesin in einer schmucklosen kleinen Wohnung im Stadtteil Tsim Sha Tsui an der Spitze von Kowloon. Dort gab es kaum mehr als ein Bett und ein Telefon, und mehr brauchte Chin-Li auch nicht. Denn ihr Leben stand ganz im Dienst der Neun Drachen. Für ein Privatleben gab es da keinen Platz.
Doch jetzt hatte die treuste Dienerin der Bruderschaft zum ersten Mal versagt. Du kannst nichts dafür, dass dir jemand zuvorgekommen ist, flüsterte eine leise Stimme in ihrem Kopf. Seifroh, dass der Verräter tot ist. Was willst du mehr? Aber Chin-Li war nicht bereit, sich mit so ei ner billigen Ausrede zufrieden zu geben. Sein Tod hätte von meiner Hand kommen müssen. Es ist direkt vor meiner Nase passiert, und ich habe es noch nicht einmal bemerkt. Ich hätte da sein müssen, dachte sie. Und dann?, fragte die leise Stimme spöttisch. Dann wärst du auch er mordet worden, wie alle anderen in diesem Haus. Besser, als zu versagen! Die Neun Drachen erwarteten sie bereits. Wie immer hatten sie sich im Halbkreis vor dem Wandbehang mit dem riesigen Drachen bild versammelt. Chin-Li kniete demütig vor den greisen Führern der Bruderschaft nieder. Lautlos entschwand ihr Begleiter und ließ sie mit den Neun Drachen allein. »Chin-Li«, sagte Meister Shiu. »Berichte uns, was in dem Haus von Wong Siu-Tung passiert ist. Lass nichts aus. Jede Einzelheit ist wichtig!« Der uralte Mann strahlte wie immer eine unglaubliche Vitalität aus, die sein faltiges Gesicht fast leuchten ließ. Doch Chin-Li entging die tiefe Sorge nicht, die in seiner Stimme mitschwang. Etwas Schreckliches musste passiert sein. Und es hing unmittelbar mit den Er eignissen in der Deep Water Bay zusammen. Sachlich berichtete die junge Profikillerin, was sie gesehen hatte. Sie übergab Meister Shiu die Videobänder und sagte dann leise: »Ich habe versagt, ehrwürdiger Meister. Ich habe mich Eures Vertrauens als unwürdig erwiesen.« »Nein, du hast nicht versagt, Chin-Li«, erwiderte der alte Mann. »Du hast gute Arbeit geleistet. Wir sind sehr zufrieden mit dir.« »Aber ich habe meinen Auftrag nicht erfüllt!«, erklärte Chin-Li fast trotzig. Ihre Ehre verbot es, über einen so schwerwiegenden Fehler einfach hinwegzugehen. »Jemand ist mir zuvorgekommen, und ich habe es noch nicht einmal gemerkt.«
»Diesen Auftrag konntest du nicht erfüllen«, erklärte ein anderer Greis, dessen Gesicht an einen freundlichen Bernhardiner erinnerte. An einen sehr alten Bernhardiner. »Gegen das, was heute Nacht bei Wong Siu-Tung zugeschlagen hat, hättest du mit deiner Waffe nichts ausrichten können. Dich trifft keine Schuld.« Chin-Li nickte untertänig. Sie hätte erleichtert sein sollen, aber das erdrückende Gefühl der Schuld wollte nicht weichen. Sie würde nachher meditieren und zu Tin Hau beten. Vielleicht würde das ihre Seele reinigen. »Und das war erst der Anfang«, sagte Meister Shiu ernst. »Der Be ginn eines langen Krieges. Die Zeit, für die die Neun Drachen einst gegründet wurden, ist gekommen.« »Dann ist es wahr?« Chin-Lis Stimme drohte zu versagen. Sie hatte die Zeichen in Wong Siu-Tungs Haus also richtig gedeutet. »Er ist zurückgekehrt?« »Du wirst alles erfahren, wenn die Zeit gekommen ist«, sagte das Drachen-Oberhaupt mit milder Strenge. »In der Schlacht, die uns be vorsteht, sind andere Waffen gefragt als die, die du so meisterhaft beherrschst. Aber du kannst uns einen weiteren Dienst erweisen. Be vor wir uns dem namenlosen Bösen stellen, das heute Nacht sein grässliches Haupt erhoben hat, muss ein Mann beseitigt werden, der unsere Mission gefährden und damit den Untergang Hongkongs be siegeln könnte. Er ist ein mächtiger Zauberer, aber er ist ein Mensch aus Fleisch und Blut. Sein Name ist Professor Zamorra.«
3. Feindliche Übernahme »Urlaub, ich kann es kaum fassen!« Der Schweiß rann Nicole Duval in Strömen von der Stirn, aber das schien die schöne Französin nicht zu stören. Versonnen stand sie vor dem Ausgang des Hongkonger Flughafens Chek Lap Kok und sog tief die heiße Sommerluft in sich hinein, die wegen der hohen Luft feuchtigkeit und der Abgase so dick war, dass man sie fast schnei den konnte. Professor Zamorra grinste, als er seine Sekretärin, Kampfpartnerin und Lebensgefährtin so zufrieden sah. »Ich will ja kein Spielverderber sein, Nici, aber eigentlich sind wir zum Arbeiten hier«, stichelte er. »Du bist zum Arbeiten hier, mein Lieber. Und du kannst deinen parapsychologischen Kongress auch nach Herzenslust genießen, während ich die heimische Bekleidungsindustrie etwas ankurble. Von uns beiden bist du schließlich der Wissenschaftler.« »Und du bist meine Sekretärin, wenn ich dich daran erinnern darf.« »Die auch mal das Recht auf einen anständigen Urlaub hat. Steht mir vertraglich zu, wenn ich dich daran erinnern darf. Und wenn ich jetzt noch den nicht angetretenen Urlaub der letzten Jahre nachholen wollte, könnte ich gleich die Rente beantragen. Sklaventreiber!« »Sklaventreiber? Ich, der Welt gütigster und großzügigster Arbeit geber?«, tat Zamorra empört. »Der Welt größter Spinner trifft's wohl eher«, erwiderte Nicole und drückte ihrem Chef einen dicken Kuss auf die Wange. »Aber ein verdammt niedlicher Spinner!« Lachend rief Zamorra ein Taxi heran. Sofort hielt ein roter Wagen
mit silbernem Dach. An der Farbgebung war zu erkennen, dass das Taxi sie nach Hong Kong Island oder Kowloon bringen würde, wäh rend blaue Taxis ausschließlich auf der Insel Lantau verkehrten und grüne nur in die New Territories fuhren. Der Fahrer sprang aus dem Wagen, begrüßte seine Fahrgäste knapp auf englisch und verstaute ihr Gepäck im Kofferraum. »Peninsula Hotel«, sagte Zamorra, und das Taxi brauste los. Zum Glück verfügte das Fahrzeug über eine Klimaanlage. Wer kommt nur auf die Idee, im August nach Hongkong zu fliegen?, fragte sich Zamorra. Die Temperaturen kletterten oft auf über 30 Grad Cel sius, und das bei einer Luftfeuchtigkeit um 95 Prozent. Schwüle Hit ze wechselte unvermittelt mit heftigen, lang anhaltenden Regen schauern, und natürlich musste man jederzeit mit Taifunen rechnen. Alles in allem also die ideale Reisezeit, dachte Zamorra schmunzelnd. Andererseits hatte er unzählige Welten kennen gelernt, gegen die das Klima in der asiatischen Metropole geradezu gemäßigt war. Und so hatte er auch keine Sekunde gezögert, als ihm die Einladung zu einem internationalen parapsychologischen Kongress in Hong kong ins Haus geflattert war. Aufgrund seiner Dauerbeschäftigung als Dämonenjäger kam er bedauerlicherweise kaum noch zu seiner wissenschaftlichen Arbeit. Deshalb freute er sich besonders auf die Gelegenheit, sich mit Parapsychologen aus allen Kulturen und Spe zialgebieten auszutauschen. Vielleicht schnappte er dabei ja sogar das eine oder andere auf, das sich für seine praktische Arbeit verwerten ließ. Zamorra selbst hatte einen Vortrag über die »Innenpolitik der Höl le« vorbereitet, der sich mit der hierarchischen Ordnung in den Schwefelklüften beschäftigte. Sein alter Freund-Feind Asmodis hatte sehr gelacht, als er ihm davon erzählt hatte. »Meinst du, dass die Welt dafür schon bereit ist?«, hatte der ehemalige Fürst der Finster nis gefragt. »Und meinst du vor allem, dass du schon genug darüber weißt?« Zamorra hatte sich nicht darum gekümmert. Verunsiche rung und Spott gehörten zu den bevorzugten Waffen des Ex-Teu
fels, die er manchmal auch nur aus reiner Freude einsetzte. Außer dem hatte Zamorra sehr darauf geachtet, nicht zu viel von seinem Wissen in dem Vortrag zu verraten. Es gab tatsächlich Erkenntnisse, auf die die Welt noch nicht vorbereitet war – und die, wenn er sie verkündete, seinen Ruf als wissenschaftlicher Sonderling nur noch verstärken würden. Natürlich freute sich Zamorra auch auf ein paar unbeschwerte Tage mit Nicole. Insofern war ihr Hongkong-Trip tatsächlich eine Art Kurzurlaub. Den hatten sie auch dringend nötig. Schließlich hat te ihnen der Kampf gegen die Mächte der Finsternis in den letzten Monaten kaum eine Pause gegönnt. Und auch nahezu Unsterbliche mussten darauf achten, dass ihr Privatleben nicht völlig zu kurz kam. Über mangelnde Abwechslung konnten sich die Dämonenjä ger zwar nicht gerade beklagen, aber im Grunde war ihr Kampf ge gen die Mächte der Finsternis eine Wiederkehr des immer Gleichen. Kaum schlug man der Hydra einen Kopf ab, wuchsen ein Dutzend weitere nach. So ging es immer und immer weiter. Umso wichtiger war es, die schönen und privaten Momente zu genießen. Sie waren selten genug! Das Taxi brachte sie mit einem irrwitzigen Tempo nach Kowloon. Der 1998 eröffnete Chek Lap Kok International Hong Kong Airport lag im Norden der Insel Lantau. Genau genommen befand er sich gar nicht auf der Insel selbst, sondern davor. Um die riesige Anlage zu errichten, hatten die Behörden ein vorgelagertes Eiland einfach wegsprengen und künstlich wieder errichten lassen. Das mochte ein etwas brachiales Vorgehen sein, aber für die Fluggäste brachte es eindeutig Vorteile mit sich. Früher hatten Hongkong-Besucher näm lich schon bei der Landung einen Herzanfall erlitten. Der alte Air port Kai Tak lag mitten in der Stadt. Bei der Landung waren die Jumbos so dicht über die Hochhausschluchten von Kowloon geflo gen, dass man vom Fenster aus die Wäsche auf den Leinen und das blaue Licht der Fernseher erkennen konnte. Die Piloten steuerten di rekt auf eine Felswand zu, an der eine tennisplatzgroße Tafel ange bracht war, und rissen die Maschine herum, sobald die Tafel das
Cockpitfenster ausfüllte. Nur die erfahrensten Piloten durften den Airport überhaupt anfliegen, und es grenzte an ein Wunder, dass nie etwas passiert war. Das hätte mir gerade noch gefehlt, dachte Zamorra schmunzelnd. Tausend Kämpfe gegen die Hölle überstanden, und dann bei einem simplen Flugzeugabsturz sterben. Er war sich sicher, dass die Bewohner der Schwefelklüfte die Ironie zu schätzen gewusst hätten. »Was für eine beeindruckende Stadt. Ich kann's kaum glauben, dass wir über zehn Jahre nicht mehr hier waren«, sagte Nicole, als sie auf die imposante Tsing-Ma-Brücke fuhren, die Lantau mit Kow loon verband. Mit ihrer Spannweite von fast 1400 Metern übertraf das Bauwerk noch die Golden Gate Bridge in San Francisco. Von hier aus hatten sie einen prächtigen Panoramablick über Hong Kong Island und die Spitze von Kowloon. Umrahmt wurde das Stadtge biet von unzähligen dunkelgrünen Bergen und Hügeln. Der höchste war der legendäre Victoria Peak auf Hong Kong Island, der wegen seiner hervorragenden Aussicht zu den großen Touristenattraktio nen der Stadt gehörte. »Das wäre was für Fooly«, sagte Zamorra grinsend. »Wieso das denn?« Irritiert sah Nicole den Parapsychologen an. Fooly war der tollpatschige Jungdrache, der mit ihnen auf Château Montagne im südlichen Loire-Tal lebte. Durch eine besondere Vor liebe für asiatische Großstädte war er bisher allerdings noch nicht aufgefallen. »Nach der chinesischen Mythologie lebt auf jedem Berg ein Dra che«, erklärte Zamorra. »Da hätte er hier doch ziemlich viele Spiel kameraden.« »Um Gottes Willen, nicht noch mehr von der Sorte«, sagte Nicole lachend. »Mit Fooly an ihrer Spitze würden die in Windeseile Hong kong in Schutt und Asche legen. Ganz aus Versehen natürlich!« Kichernd schmiegte sich Nicole an ihren Lebensgefährten. Zamor ra fühlte durch den dünnen Stoff ihres Kleides die berauschende Wärme ihres Körpers und merkte, wie der Stress der letzten Wochen
von ihm abfiel. Nicoles gute Laune war ansteckend. Selbst der Fahrer konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er das wie frisch verliebt wirkende Pärchen im Rückspiegel sah. Zamorra feixte ihm über den Spiegel zu. Der Mann lachte, und Zamorra wusste, dass der Trip nach Hongkong ihre beste Idee seit langem gewesen war. Er legte seinen Arm zärtlich um Nicoles Schulter und genoss den Blick auf die son nenüberflutete Stadt. Dann verschluckten sie die engen Hochhausschluchten von Kow loon. Hongkong war eigentlich gar keine besonders große Stadt, aber eine sehr hohe und dichte. 6,7 Millionen Menschen drängten sich auf 1098 Quadratkilometern. Ein Hochhaus mit 25 Stockwerken galt da als eher niedrig. Bilder von Hongkong zeigen oft die impo sante, futuristisch anmutende Architektur des Banken- und Ge schäftsviertels Central auf Hong Kong Island. Tatsächlich waren es aber vor allem schäbige, ziemlich versifft aussehende Wohnhäuser, die das Stadtbild prägten. Der Lebendigkeit tat das keinen Abbruch. Im Gegenteil, Hong kong war wohl eine der quirligsten Metropolen der Welt. Und Za morra freute sich darauf, sich mit Nicole in den Trubel zu stürzen, und wenigstens für ein paar Tage Hölle Hölle sein zu lassen. Das Taxi setzte sie vor dem Peninsula ab, und Zamorra entließ den Fahrer mit einem fürstlichen Trinkgeld. Das kompakte dreiflügelige Hotelgebäude im Stadtteil Tsim Sha Tsui gehörte zu den wenigen baulichen Zeugnissen der einstigen kolonialen Pracht. Auch der Mitte der neunziger Jahre eröffnete Hochhausanbau konnte die Wir kung der beeindruckenden klassizistischen Architektur nicht schmä lern. Nicole begeisterte sich allerdings mehr für die unzähligen ex klusiven Modegeschäfte, die in den dreistöckigen Peninsula-Arka den um die Hotelhalle untergebracht waren. »In den nächsten Tagen brauchst du gar nicht erst nach mir zu su chen, Cheri«, flötete sie. »Kommt gar nicht in die Tüte. Wer soll mir dann den Kaffee ko
chen und mir die Manuskripte hinterhertragen?« Nicole bedachte ihren Freund mit einem seltsamen Blick. »Manch mal ist dein Humor echt merkwürdig, Chef. Ich hoffe, du weißt noch, wann du einen Witz machst und wann nicht.« »Witz? Wer hat denn was von Witz gesagt?« Der Knuff war so heftig, dass Zamorra erschreckt aufschrie. »Leg dich nie mit einer starken Frau an«, sagte Nicole mit honig süßem Lächeln. »Käme mir gar nicht in den Sinn«, erwiderte Zamorra und hielt sich die schmerzenden Rippen. Der blaue Fleck würde vermutlich die Ausmaße von Zentralasien einnehmen. In der Lobby stürmte ein leicht dicklicher Chinese um die fünfzig auf sie zu. Er trug eine abgewetzte Cordjacke und einen sehr intel lektuell wirkenden Bart. Die intelligenten Augen hinter der dicken Hornbrille funkelten vergnügt. »Professor Zamorra und Mademoiselle Duval?« »Zu ihren Diensten«, erklärte Zamorra. »Professor Chow, nehme ich an?« »Derselbe!« Der chinesische Wissenschaftler begrüßte erst Nicole formvollen det und ergriff dann Zamorras Hand, die er wie einen Pumpen schwengel schüttelte. Der Mann war eindeutig kein Vertreter der viel zitierten asiatischen Zurückhaltung. Zamorra mochte ihn auf Anhieb. Professor Arthur Chow war der Vorsitzende der Parapsychologi schen Gesellschaft Hongkongs und der Organisator des Kongresses über »Parapsychologische Phänomene im interkulturellen Ver gleich«. Zamorra hatte mit dem chinesischen Parapsychologen bis her nur per E-Mail korrespondiert, aber er kannte einige seiner Auf sätze, die einen brillanten und offenen Geist verrieten. Umso erfreu ter war er, dass Chow auch menschlich einen sympathischen und ausgesprochen herzlichen Eindruck machte. Nichts war Zamorra
mehr verhasst als staubtrockene Gelehrte, die nie aus ihrem wissen schaftlichen Elfenbeinturm herauskamen und dabei jeden Sinn für das menschliche Miteinander verloren. »Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Flug?« »Mein Hintern hat inzwischen die Form des Flugzeugsessels ange nommen. Sonst können wir nicht klagen«, sagte Nicole. Chow starrte sie für einen Moment irritiert an, dann erschien ein fast lausbübisches Grinsen auf seinem Gesicht. »Wird dringend Zeit, dass Cathay Pacific auf Teleportation umstellt, das sage ich ja schon seit Jahren. Aber vielleicht können wir ja in den nächsten Tagen ein bisschen dazu beitragen.« Nicole gluckste. »Und da sagt man immer, Wissenschaftler hätten keinen Sinn fürs Praktische.« Chow half ihnen beim Einchecken und begleitete sie dann auf ihr Zimmer. Die Parapsychologische Gesellschaft hatte sich nicht lum pen lassen und ihnen ein fürstliches Doppelzimmer in der zehnten Etage des Hochhausanbaus reserviert. Von dort hatten sie einen prächtigen Blick auf die imposante Skyline von Hong Kong Island und den Hafen. »Mein Einführungsvortrag beginnt heute Abend um 18 Uhr im großen Konferenzraum. Anschließend gibt es ein gemeinsames Abendessen«, erklärte Professor Chow. »Sie haben also genug Zeit, um sich etwas zu akklimatisieren.« »Danke, das werden wir auf jeden Fall nutzen«, sagte Zamorra. »Und was machen wir jetzt?«, fragte Nicole, als der einheimische Wissenschaftler sie allein gelassen hatte. »Shoppen gehen? Oder ein zweites Frühstück?« »Erst mal müssen wir deinen Hintern wieder in die richtige Form bringen!«, sagte Zamorra ernst und drängte seine Freundin sanft in Richtung Bett.
Teddy Chang zog missmutig an seiner Marlboro, während er am Frühstückstisch die jüngsten Geschäftsberichte studierte. Er hustete ausgiebig, drückte die Zigarette aus und zündete sich gleich eine neue an. Der korpulente Mittvierziger war schlecht gelaunt. Und mit jedem neuen Bericht verfinsterte sich seine Miene noch mehr. Die Geschäfte waren in den letzten Monaten eigentlich gar nicht so schlecht gelaufen. Aber der große Durchbruch fehlte. So wie immer! Teddy gehörte zum »mittleren Management« der größten Verbre cherorganisation Hongkongs, der Triade der Tanzenden Löwen. Er hatte eine durchaus respektable Position als Experte für Geldwäsche und Drogengeschäfte und war weitaus mehr als nur ein kleines Rädchen im Getriebe der Hongkonger Unterwelt. Aber er hatte nicht die geringste Chance, je einer von denen zu werden, die die Maschine bedienten. Und das war ein Problem. Denn Teddy Chang war ehrgeizig. So ehrgeizig, dass er den Frust über seine auf halber Strecke stecken gebliebene Gangsterkarriere körperlich spüren konnte. Der Frust hatte sich so sehr aufgestaut, dass er sich immer wieder in unkontrollierten Gewaltausbrüchen entlud. Wenn der dicke Gangster rot sah, kannte er keine Hemmun gen mehr. Die Leidtragenden waren nicht nur seine Feinde, die er persönlich ausgiebig zu foltern pflegte, sondern auch seine eigenen Angestellten. Wegen geringster Verfehlungen mussten sie mit den schlimmsten körperlichen Züchtigungen rechnen. Aber sich einen anderen Arbeitgeber zu suchen, wäre noch gefährlicher gewesen. Also blieben sie bei ihm und hofften darauf, dass die Gerüchte stimmten, dass die großen Bosse langsam genug von Teddys Eska paden hatten und ihn bald über die Klinge springen lassen wollten. Aber bis es so weit war, mussten sie selbst weiter um ihr Leben bangen. So war es nicht weiter verwunderlich, dass Teddys Diener Wei kreidebleich war, als er sich dem Gangster ehrerbietig näherte. Denn wenn er Geschäftsberichte las, war der gute Teddy besonders schlecht gelaunt. »Was willst du?«, blaffte der Gangster und überlegte kurz, ob er
mit einer halben Pampelmuse nach seinem Diener werfen sollte. Er entschied sich jedoch anders, schüttete Unmengen von Zucker über die aufgeschnittene Frucht und löffelte das Fruchtfleisch so gierig in sich hinein, dass ihm der Saft zu beiden Seiten am Kinn herunterlief. »Ein Besucher, Herr«, sagte Wei untertänig. Teddy hatte das Klin geln gehört, aber gedacht, es sei der Postbote. »Er … er wollte seinen Namen nicht nennen, aber er bestand darauf, vorgelassen zu wer den. Er sagte, er habe ein einmaliges Angebot für Sie.« »Schick ihn weg«, brummte Teddy, während er ein weiteres Stück Pampelmuse verschlang. Beim Sprechen verteilte er kleine Stück chen Fruchtfleisch über den gesamten Tisch. »Ich habe keine Zeit für Bittsteller.« »Sehr wohl«, sagte der hagere Diener, eilte zur Esszimmertür, um den Auftrag auszuführen – und blieb wie vom Donner gerührt ste hen. Ein junger, breitschultriger Mann stand in der Tür. Der dunkel graue Anzug und der lange schwarze Mantel ließen auf einen exqui siten Schneider schließen. Nur das halblange blondierte Haar und der auffallende goldene Ohrring wollten so gar nicht zu dem gedie genen Outfit passen. »Aber nicht doch, Teddy«, sagte der Eindringling. Seine Stimme war irritierend sanft und wirkte auf paradoxe Weise gerade dadurch besonders gefährlich. »Ich bin doch kein Bittsteller. Wie gesagt, ich möchte dir ein Angebot machen. Ein Angebot, das du nicht ableh nen kannst!« Der dicke Gangster starrte den Fremden fassungslos an. Noch nie hatte es jemand gewagt, ohne seine ausdrückliche Einladung sein Haus zu betreten. Es ist also wahr, dachte er. Ein Killer. Sie haben mir tatsächlich einen Killer auf den Hals gehetzt. Aber warum sollte ein Kil ler ihm ein Angebot machen wollen? Teddy war es egal. Er riss die Walther PPK aus dem Holster, das unter der Tischplatte angebracht war, und richtete die Waffe auf den Eindringling. So schnell würden sie ihn nicht kriegen. Nicht in seinem eigenen Haus! Der Fremde sah den dicken Gangster fast mitleidig an. »Was soll
das, Teddy? Ich dachte, wir können uns unterhalten wie erwachsene Menschen.« »Wenn ihr glaubt, ihr könnt mich einfach so umlegen, dann habt ihr euch geschnitten. Teddy Chang lässt sich nicht so einfach umle gen. Merkt euch das!« »Aber Teddy«, sagte der Eindringling tadelnd. »Wer redet denn von umlegen? Ich schlage dir einen Deal vor. Zum beiderseitigen Nutzen. Wenn du nicht willst, na gut, dann hast du schon … Aber du solltest dir meinen Vorschlag lieber anhören. Er könnte dein Le ben verändern!« Der dicke Gangster stutzte. Ein Deal, der sein Leben verändern könnte? Das klang nicht schlecht. Sicher, vermutlich war es nur das Geschwätz eines lebensmüden Angebers. Aber vielleicht sollte er einfach zuhören. Umnieten konnte er den Kerl ja immer noch, wenn er tatsächlich der Spinner war, für den Teddy ihn hielt. Aber er wollte dem Fremden wenigstens eine Chance geben. Eine Chance, Teddy zu überzeugen und damit sein eigenes Leben zu retten. Teddy wedelte unwirsch mit der Walther. »Okay, Klugscheißer, sag, was du zu sagen hast, und bete, dass ich dich dafür nicht den Haien zum Fraß vorwerfe.« »Es ist ganz einfach«, sagte der Fremde, und in seinen Augen blitz te es. »Ich will die Stadt übernehmen. Die ganze Stadt! Du hilfst mir dabei und wirst dafür meine rechte Hand, mit Privilegien und Reichtümern, von denen du bis heute nicht mal zu träumen gewagt hast.« Teddy starrte den Fremden perplex an. Dann lachte er los, so laut und heftig, dass seine Pistole wild herumzuckte und sein Diener vorsichtshalber in Deckung ging. Dicke Tränen kullerten dem feis ten Gangster über die Wangen. »Das ist gut, Mann, das ist wirklich gut. Du bist also der neue Herrscher über Hongkong. Und wie willst du das anstellen?« Der Fremde grinste sardonisch. »Hast du von der Party bei Wong Siu-Tung gehört?«
Wong Siu-Tung! Mit einem Mal war Teddy wieder todernst. Das Massaker in Wongs Villa war das heißeste Thema in der Stadt. Je mand hatte in dem Haus des einflussreichen Geschäftsmannes und Triadenmitglieds ein unbeschreibliches Blutbad angerichtet und un zählige Gangster, Geschäftsleute und Nutten ins Jenseits befördert. Und es gab unheimliche Gerüchte in der Unterwelt, dass dies weder die Tat eines Irren noch eine Strafaktion der Neun Drachen gewesen war. Kein Mensch könne so etwas getan haben, wurde überall im Flüsterton erzählt. Der Mörder müsse direkt aus der Hölle gekom men sein, um Wong und seine Gäste zu richten. Teddy hatte das je doch brüsk als abergläubisches Geschwätz abgetan. Bis heute! Sollte dieser freundlich lächelnde Freak tatsächlich für die Bluttat verantwortlich sein? Unvorstellbar! Und doch sagte ihm etwas im Blick des Fremden, dass es genau so war. »Du warst das?« »Ich war das! Und das war erst der Anfang. Kämpfe an meiner Seite, und du wirst unvorstellbar reich und mächtig. Sei gegen mich, und du stirbst!« Teddy schluckte. Allein diese unverhohlene Drohung wäre Grund genug gewesen, den Fremden einfach über den Haufen zu schießen. Aber eine innere Stimme warnte ihn, dass das ein Fehler wäre. Ein tödlicher Fehler! »Woher soll ich wissen, dass du nicht nur ein durchgeknalltes Arschloch bist, das mich zum Narren hält?« »Du willst einen Beweis?«, fragte der Fremde, und wieder blitzte es tückisch in seinen Augen. »Ich will einen Beweis!«, bestätigte Teddy und deutete mit seiner Waffe in Richtung seines Dieners Wei, der das Gespräch mit wach sender Panik verfolgt hatte. »Wie du willst!« Lächelnd wandte sich der Fremde dem wie Es penlaub zitternden Angestellten zu.
»Nein«, flüsterte Wei heiser. Doch es war zu spät. Die Hand des Fremden schnellte vor. Es war nur eine winzige Geste, aber der Ef fekt war atemberaubend. Ohne dass die Hand Wei auch nur berührt hätte, wurde der Diener von einer unsichtbaren Macht gepackt und gegen die Wand geschleudert. Fast unmerklich bewegte der Fremde seine Finger, als gebe er mit ihnen geheime Befehle, auf die Weis Körper umgehend reagierte. Wei schrie verzweifelt auf, als er in die Luft gerissen und wieder auf den Boden geschleudert wurde. Blut lief ihm aus allen Körperöffnungen, während er in nackter Panik sei nen Peiniger anstarrte. Der machte eine letzte unscheinbare Handbe wegung, und Weis Kopf wurde zur Seite gerissen. Das Genick brach mit einem lauten Knacken. Teddy hatte fassungslos zugesehen. Als sich ihm der Fremde mit einem wölfischen Grinsen zuwandte, sprang er auf und klatschte begeistert in die Hände. »Das ist es, Mann, das ist es. Du hast es echt drauf!« »Haben wir einen Deal?« »Das haben wir. Und ob wir das haben! Damit zeigen wir es die sen vertrottelten Neun Drachen.« Der dicke Gangster blickte in die toten Augen seines Dieners und lachte aus vollem Herzen. Seine Zukunft sah plötzlich sehr viel ver heißungsvoller aus.
Der Kongress begann um 18 Uhr mit einem Vortrag von Professor Chow über den Zusammenhang zwischen parapsychologischen Phänomenen und ihrem jeweiligen kulturellen Kontext. Zamorra fand die Ausführungen des chinesischen Wissenschaftlers ausge sprochen anregend. Allerdings wirkte Chow im Vergleich zu ihrer ersten Begegnung seltsam angespannt und unkonzentriert. Er ver haspelte sich mehrmals und verlor an einer Stelle sogar komplett den Faden. Muss die Aufregung sein, dachte Zamorra. Schließlich war es keine Kleinigkeit, einen Kongress mit renommierten Wissen
schaftlern aus aller Herren Länder zu organisieren. Anschließend gab es ein gemeinsames Abendessen, um den Teil nehmern die Gelegenheit zu geben, sich persönlich etwas näher ken nen zu lernen oder alte Bekanntschaften aufzufrischen. Zamorra hatte sich eigentlich auf den Austausch mit seinen Kollegen gefreut, doch bereits nach zehn Minuten fragte er sich, warum. Er kannte einen großen Teil der anwesenden Parapsychologen zumindest flüchtig von anderen Kongressen oder den Gastvorlesungen, die er gelegentlich an Universitäten hielt, und es erschreckte ihn immer wieder, wie verschlossen und selbstbezogen Wissenschaftler sein konnten, deren Fachrichtung eigentlich eine besondere Aufgeschlos senheit gegenüber dem Neuen und Unbekannten verlangte. Nur die wenigsten Kongressteilnehmer waren von der Offenheit und Herzlichkeit, die Professor Chow an den Tag gelegt hatte. Typi scher war da schon sein amerikanischer Kollege Professor Howard Stringheimer – ein vertrockneter Gelehrter, wie er im Buche stand, der den Franzosen mit einem verkniffen-überheblichen »Na, Zamor ra, immer noch auf Dämonenjagd?« begrüßte. Manchmal fragte sich Zamorra ernsthaft, ob auch nur einer dieser Parapsychologen an die Phänomene glaubte, die sie erforschten. Vermutlich wären die meisten auf der Stelle tot umgefallen, wenn sie wirklich einmal einem Dämon begegnet wären. Als sich dann noch Professor John McSteed aus Glasgow nach dem Essen an ihren Tisch setzte, um ein paar schlüpfrige Witze aus der Welt der Parapsychologie zum Besten zu geben, reichte es Za morra endgültig. »Lass uns verschwinden, Cherie«, flüsterte er seiner Lebensgefähr tin zu. Nicole hatte nichts dagegen. »Ich habe mich schon gefragt, wie lange du es noch bei diesen alten Zauseln aushältst.« »Was heißt denn hier alt? Ich bin schließlich auch schon über sech zig!« »Ja, aber dir merkt man es nicht an, seit du von der Quelle des Le
bens getrunken hast. Und vor allem bist du im Kopf jung geblieben.« »Das liegt nur an dir, mein Jungbrunnen. Du bist die wahre Quelle meines Lebens, an der sich meine nach Liebe dürstende Seele labt!«, deklamierte Zamorra mit falschem Pathos. »Wenn du nicht sofort damit aufhörst, ziehe ich mit diesem Sex prof los, diesem John McSteed«, drohte Nicole kichernd. »Tu, was du nicht lassen kannst. Ich finde schon eine mandeläugi ge Schönheit, die mit mir den Abend verbringt!« Grinsend standen sie auf, während McSteed zum Leidwesen der anderen an ihrem Tisch zu einem weiteren humoristischen Tief schlag ausholte: »Treffen sich eine Jungfrau und ein impotenter Werwolf …« Die Pointe bekamen sie nicht mehr mit.
Es war eine ganze Armee, die sich in Lam Tat-Wahs Haus versam melt hatte. Lam war der Dragon der Triade der Tanzenden Löwen und nicht gerade als besonders ängstlicher Mensch bekannt. Aber das Blutbad bei Wong Siu-Tung hatte selbst die hartgesottensten Gangster der ehemaligen Kronkolonie in Panik versetzt. Und Lam Tat-Wah wollte vorbereitet sein, wenn der Tod auch an seine Tür klopfte. Es gab rund 40 Triaden in Hongkong, doch nur die wichtigsten drei hatten die wirklich großen Geschäfte unter sich aufgeteilt, die anderen mussten sich mit den kleinen Fischen begnügen. Und über allem wachten die Neun Drachen. Die Bruderschaft entschied über Gebiets- und Nachfolgestreitigkeiten, bestrafte Verräter und erhielt von allen Organisationen einen genau festgelegten Anteil ihrer Ge winne. Ein straff durchorganisiertes und gut funktionierendes Sys tem. Doch nach dem Massaker in der Deep Water Bay herrschten Angst und Verwirrung in der Unterwelt. Jemand hatte den Triaden den Krieg erklärt, und niemand wusste, wer es war. Bis auf Teddy Chang!
Teddy hatte Lam vor wenigen Stunden aufgeregt angerufen und behauptet, er sei einer riesigen Verschwörung auf der Spur. Und Lam Tat-Wah sei der Nächste auf der Liste. Der Triadenboss mochte den dicken Gangster nicht besonders. In seinen Augen war Teddy kaum mehr als ein sadistischer Schläger. Aber er hatte Lams Organi sation immer treu gedient, und seine Informationen hatten sich bis her als verlässlich erwiesen. Also hatte der Triadenboss auf Teddys Rat gehört und alle verfügbaren Männer um sich versammelt. Der dicke Gangster hatte ihn beschworen, niemandem etwas zu verra ten, bis er persönlich mit ihm gesprochen hatte. Nicht einmal den Neun Drachen. Lam war das nur recht. Er wollte die Bruderschaft nicht mit vagen, ungesicherten Informationen belästigen. Zuerst musste er mehr wissen. Also saß er umringt von seinen bis an die Zähne bewaffneten Leu ten in seinem Wohnzimmer und rauchte nervös eine Zigarette nach der anderen. Das Läuten der Türglocke war wie eine Erlösung. Lam drückte seine Zigarette aus und sah auf die Uhr. 20 Uhr. Teddy war überpünktlich. Ein Diener führte ihn ins Wohnzimmer. Doch der dicke Gangster war nicht allein! Irritiert registrierte Lam den athletisch gebauten blonden Jüngling, der hinter Teddy eintrat. Der Fremde lächelte ver sonnen, doch dem Triadenboss entging nicht das kurze Aufblitzen in seinen Augen, als er Lams kleine Privatarmee sah – oder zumin dest den Teil davon, der im Wohnzimmer Platz gefunden hatte. »Herr Lam, gut, dass Sie wohlauf sind!«, sagte Teddy mit der krie cherischen Freundlichkeit, die Lam an ihm noch nie hatte ausstehen können. »Ich hatte schon befürchtet …« Der Triadenboss unterbrach ihn mit einer unwirschen Geste. »Wer ist das, Teddy? Und was ist das für eine Sache mit dieser Verschwö rung. Wer hat es auf mich abgesehen?« »Ich«, sagte der Fremde sanft und trat einen Schritt vor. Sofort richteten sich zwei Dutzend Pistolenläufe auf den blondierten Frem den. Lam Tat-Wah lächelte grimmig. Er hatte keine Ahnung, wer
dieser Irre war und was Teddy mit ihm zu schaffen hatte, aber seine Jungs würden mit ihm kurzen Prozess machen. »Du? Und wer bist du?« »Der Mann, der dich töten wird«, erklärte der Unbekannte mit die ser irritierend sanften Stimme. Die unzähligen Waffen, die ihm je derzeit das Gehirn wegpusten konnten, schien er gar nicht zu be merken. Lam lachte ungläubig. »Tja, sieht nicht so aus, als würdest du dei ne Situation richtig einschätzen. Ich glaube, heute Nacht bist eher du es, der bei den Fischen schläft.« Die Augen des Fremden blitzten erneut. »Genau das hat Wong Siu-Tung auch gesagt.« »Das warst du?« Lam spürte, wie ihm heiß wurde. Konnte es wirk lich sein, dass … Aber vor ihm stand ein einzelner Mann. In Wongs Haus musste eine ganze Armee gewütet haben. Der Triadenboss hatte die Spielchen satt. »Okay, Fremder, das ist deine letzte Chance, bevor ich meinen Männern den Befehl gebe, dich auf der Stelle zu erledigen. Was willst du von mir?« »Von dir? Oh, das ist ein Missverständnis«, sagte der Fremde und ließ seine Hand vorschnellen. Entsetzt stellte Lam fest, dass ihn un sichtbare Kräfte packten und vom Boden hochrissen. Und dann schwebte er einen Meter über dem Boden. »Von dir will ich über haupt nichts. Ich brauche nur die Armee, die du hier freundlicher weise für mich versammelt hast.« Das war das Stichwort. Eine Schrecksekunde lang hatten Lams Leute den Fremden nur angestarrt. Dann entluden sich ihre Waffen in einem heftigen Gewitter aus Kugeln und Mündungsblitzen. Doch kein einziges Geschoss erreichte den Eindringling. Alle Kugeln schienen an einer unsichtbaren Mauer abzuprallen, die im Moment der Berührung kurz rötlich aufleuchtete. Schreiend gingen einige der Gangster zu Boden, als sie von Querschlägern getroffen wurden.
Fassungslos sah Lam zu, wie seine Männer auf eine Geste des Frem den mit seiner linken Hand ihre Waffen fallen ließen, so, als seien diese plötzlich glühend heiß. Die rechte Hand hatte der Blonde weiterhin auf Lam gerichtet, und jetzt bewegte er die Finger, so, als sei er ein Puppenspieler und der Triadenboss seine Marionette, die er mit winzigen Bewegungen kontrollierte. Sofort durchzuckte ein brennender Schmerz Lams Körper. Gewaltige Kräfte schienen von allen Seiten an ihm zu rei ßen. Lam spürte, wie ihm Blut aus unzähligen Wunden den Körper herunterlief. Sein Schädel drohte zu platzen! »Teddy, warum tust du das?«, keuchte Lam mit letzter Kraft. »Das ist das Gesetz des Dschungels: Nimm dir, was du brauchst. Wo gilt das mehr als in Hongkong?« »Die Neun Drachen werden euch vernichten!« »Die Neun Drachen sind Geschichte! Sie wissen es nur noch nicht.« »Und nun zu euch«, wandte sich der Fremde direkt an Lams Män ner, die nach ihrer gescheiterten Attacke immer noch völlig verstört waren. »Gibt es einen unter euch, der sein Schicksal teilen möchte?« – er deutete mit der linken Hand auf Lam – »Oder wollt ihr euch lie ber mir anschließen? Uns steht ein Krieg bevor. Der größte in der Geschichte Hongkongs. Und ich kann jeden Soldaten gebrauchen.« Ein kurzes Raunen ging durch die Menge, dann trat Danny Yeh vor, der Lams kleine Privatarmee kommandierte. »Wir sind auf Ihrer Sei te, Herr!« »Das habe ich mir gedacht«, sagte der Fremde trocken. »Dann gute Nacht, Tat-Wah.« Er ballte seine ausgestreckte Rechte zu einer Faust, und Lam schrie vor Schmerz. Er hörte ein fürchterliches Kra chen und Reißen. Er bekam nicht mehr mit, dass es seine eigenen Knochen und Organe waren, die da zerbarsten.
Zamorra und Nicole überlegten kurz, sich einen Wagen zu leihen, entschieden sich dann aber dagegen. Die hauseigene Rolls-RoyceFlotte des Peninsula Hotels war zwar legendär, aber Hongkong war eine Stadt, die sich am besten zu Fuß oder mit öffentlichen Ver kehrsmitteln erobern ließ. Vom bunten Leben in den Straßen bekam man in einer vollklimatisierten Luxuskarosse schließlich nur wenig mit. Erleichtert stellten sie fest, dass eine vom Meer kommende Brise den Aufenthalt im Freien etwas erträglicher machte. Es war zwar immer noch sehr warm, und die extreme Luftfeuchtigkeit nahm den beiden Franzosen nach wie vor noch den Atem, aber der leichte Wind sorgte wenigstens für einen Hauch von Erfrischung. Arm in Arm schlenderten sie die Nathan Road hinunter, deren bunte Ausla gen zahlungskräftige Kunden mit exklusiven Konsumgütern aller Art anlockten. Aber selbst Nicole stand nicht der Sinn nach einer Shopping-Tour. Zärtlich kuschelte sie sich an den Arm ihres Lebens gefährten und genoss die besondere Atmosphäre des abendlichen Hongkong. Schließlich kam es selten genug vor, dass sie einfach mal durch die Straßen bummelten, ohne dass es einen Dämon gab, dem sie auf der Fährte waren. »Hongkong kann so schön sein«, sagte Nicole versonnen. »Warum waren wir bisher immer nur hier, wenn irgendwelche Finsterlinge ihr Unwesen trieben? Ich finde, die Stadt kommt auch ganz gut ohne Zombies und mordlustige Ewige aus.« »Langweilig dürfte es hier auch so nicht werden. Immerhin gibt es noch die Triaden.« »Meinst du, die sind immer noch sauer auf uns?« »Weil wir damals Lao Si-Hüan ins Gefängnis gebracht haben? Ich glaube kaum. Soweit ich weiß, kam das einigen Leuten ganz recht. In der Zeitung stand damals, dass er sofort nach seiner Entlassung ermordet wurde. Offensichtlich hatte der gute Lao Si-Hüan auch in der Unterwelt nicht allzu viele Freunde. Außerdem ist das alles ver dammt lange her. Wenn jemand das dringende Bedürfnis verspürt
hätte, sich an uns zu rächen, hätte er das längst tun können. Frank reich ist schließlich nicht unerreichbar.« Irgendwann bogen sie fast automatisch von der Nathan Road in die kleineren Straßen und Gässchen von Tsim Sha Tsui ein. Hier ging es nicht weniger lebhaft zu, aber der Glamour der ShoppingMeile wich deutlich weniger luxuriösen Wohn- und Geschäftshäu sern, die oft schon ziemlich heruntergekommen aussahen. Zamorra war immer wieder erstaunt, wie dicht protzig zur Schau gestellter Reichtum und bittere Armut in Hongkong nebeneinander lagen. Ei nerseits gab es hier, gemessen an der Zahl der Einwohner, die größ te Rolls-Royce-Dichte der Welt, andererseits war Hongkong be rühmt-berüchtigt für die so genannten Käfigmenschen. Menschen am untersten Ende der gesellschaftlichen Skala, die wie Hühner in winzigen über- und nebeneinander gestapelten Gitterkäfigen da hinvegetierten, die ihnen oft jahrzehntelang als »Wohnung« dienten. In Hongkong zeigte der Kapitalismus sein räuberischstes Gesicht, und niemand schien sich groß daran zu stören. An einem Straßenstand machte Nicole Halt, um etwas Mineral wasser zu kaufen. »Das hilft vielleicht gegen die Kopfschmerzen«, sagte sie. »Kopfschmerzen? Sollen wir zurück ins Hotel?« »Ach was, sind nur ganz leichte. Kaum der Rede wert! Liegt ver mutlich an dieser Affenhitze. Oder an dem Geschwafel deiner lieben Kollegen. Da muss einem ja der Schädel brummen!« Sie suchte eine kleine Flasche aus dem Sortiment aus und legte das Geld passend auf den Tresen. Irritiert stellte Zamorra fest, dass der Wind deutlich stärker geworden war, obwohl die Häuserschluchten um sie herum ihnen mehr Schutz boten als die lang gezogene und breite Nathan Road. »Stürmisch, was?«, fragte der Straßenhändler in gebrochenem Englisch, während er seine Zeitungen festhielt, die ihm wegzuflat tern drohten. »Da braut sich was zusammen. Könnte Taifun geben.«
»Na wunderbar!«, sagte Nicole. »Das hat uns gerade noch gefehlt.« »Nirgendwo gibt es so schöne Taifune wie in Hongkong. Sie ha ben wirklich Glück!«, erklärte der Mann. Im selben Moment entriss ihm der Wind eine Zeitung. Zamorra fing sie ein. Es war eine Son derausgabe der South China Morning Post. »Massaker in der Deep Water Bay – Unternehmer Wong Siu-Tung ermordet« prangte in di cken Lettern auf der Titelseite. »Blutige Sache«, sagte der Straßenhändler freudestrahlend. »Chi nesische Mafia. Schlimm, sehr, sehr schlimm!« Zamorra überlegte kurz, die Zeitung zu kaufen, entschied sich dann aber dagegen. Schließlich waren sie nicht wegen der hiesigen Unterwelt nach Hongkong gekommen. Zumindest nicht diesmal. Als sie zum Hotel zurückgingen, ließ der Wind etwas nach. Dafür öffnete der Himmel seine Schleusen, und sturzbachartiger Regen prasselte auf sie nieder. »Großartig«, murmelte Nicole. »Willkommen in Hongkong!«
4. Leibesübungen »Ihr Tee, meine Dame.« Der livrierte Kellner stellte das inzwischen dritte Kännchen vor Chin-Li ab. Die bunten, zuckersüßen Kuchenstückchen auf ihrem Teller hatte sie kaum angerührt. »Danke«, sagte die schöne Profikillerin und gönnte dem jungen Mann ein Lächeln, das so falsch war wie ihre Maskerade. Chin-Li trug eine schwarze, glatte Langhaarperücke, eine dicke, rot umrandete Sonnenbrille und ein weißes Kleid mit großen roten Punkten. Ihr Gesicht war so dick mit Schminke übertüncht, dass sich die junge Chinesin vorkam wie eine Akteurin in der chinesischen Oper. An der Stuhllehne baumelte ein modisches rotes Handtäsch chen, in dem sich ihre Beretta befand. Denn Chin-Li war keineswegs hier, um Tee zu trinken. Die Profikillerin saß in einem traditionellen Teehaus in Mong Kok. Seit Stunden beobachtete sie den Franzosen und seine Konkubine, die zwei Tische weiter ihr Dim Sum genossen. Diese »Köstlichkeiten für das Herz« bestanden aus vielen kleinen Leckereien wie mit Garnelen gefüllten Teigtaschen, Rippchen in Pflaumensoße oder mit Lotoskernpaste gefüllten frittierten Bällchen, die man nach Lust und Laune zum Tee ordern konnte. Die Auslän der hatten sich entschlossen, sich nicht der Stadtrundfahrt anzu schließen, die die anderen Kongressteilnehmer an diesem Vormittag unternahmen, sondern Hongkong auf eigene Faust zu erkunden. Chin-Li konnte das nur recht sein. »Schmeckt Ihnen der Kuchen nicht?«, fragte der Kellner, der zu Chin-Lis Ärger immer noch an ihrem Tisch verharrte. Er klang selt sam aggressiv, so, als fasse er ihre Appetitlosigkeit als persönliche
Beleidigung auf. Chin-Li hätte dem Kerl gern Manieren beigebracht, aber sie musste in ihrer Rolle bleiben. Also schenkte sie dem Kellner ihr süßestes Lächeln und flötete: »Der Kuchen ist vorzüglich. Ich habe nur keinen großen Hunger.« Der Trottel nickte grimmig und verzog sich endlich. Die Killerin nippte an ihrem Tee und nahm die beiden Franzosen unauffällig wieder ins Visier. Leider verstand sie nicht das Geringste von dem, was die beiden sprachen. Chin-Li sprach zwar neben Kan tonesisch fließend Englisch und Mandarin sowie ein bisschen Japa nisch, aber die französische Sprache war ihr völlig fremd, obwohl sie den melodiösen Klang sehr mochte. Die rothaarige Konkubine lachte laut über etwas, was der Mann gesagt hatte. Dass die Haarfarbe nicht echt war, sah Chin-Li auf einen Blick. Sie mochte es nicht. Verstellung jeder Art kam ihr uneh renhaft vor. Auch in ihrer eigenen Verkleidung fühlte sie sich nicht besonders wohl. Aber ihr Auftrag hatte Priorität, und der Zweck heiligte nun mal die Mittel. Das Zielobjekt, Zamorra, zog die Frau leicht zu sich und küsste sie ausgiebig. Der Kellner und die wenigen anderen Gäste beobachteten indigniert diese Schamlosigkeit und taten dann wieder so, als hätten sie nichts gesehen. Chin-Li starrte das glückliche Paar ebenso faszi niert wie angeekelt an. Sie spürte den Stich, der ihr immer durch die Brust fuhr, wenn sie Verliebte sah. Sie erinnerten sie schmerzhaft an das Opfer, das sie für ihre Aufgabe bringen musste. Denn sie würde dieses Glück nie kennen lernen. Ein weiterer Grund, diesen Franzosen umzubringen, dachte sie in ei nem kurzen Aufflackern von Hass. Doch schnell hatte sie ihre Ge fühle wieder unter Kontrolle. Erstaunt registrierte Chin-Li die Hef tigkeit ihrer emotionalen Reaktion. Gefühlsausbrüche waren eigent lich gar nicht ihre Art. Emotionen waren unprofessionell – und in ih rem Job außerdem sehr gefährlich. Als sie ihren Tee ausgetrunken und die letzten Häppchen ver drückt hatten, zahlten die Franzosen und gingen. Die junge Frau
schüttelte sich, als sie in den Regen hinaustraten, der seit Stunden auf die Stadt herunterprasselte. Dann spannten die beiden die Schir me auf, die sie bei ihrem vormittäglichen Stadtbummel gekauft hat ten, und gingen direkt zurück zum Peninsula Hotel. Die schöne At tentäterin folgte den Ausländern wie ein Schatten. Sie ging als einer der wenigen Passanten ohne Schirm. Chin-Li mochte den warmen Regen, der mit der unerträglichen Hitze auch die Last ihrer Existenz fortzuspülen schien. Die beiden Franzosen gingen auf ihr Zimmer. Wenig später betrat Chin-Li den menschenleeren Flur. An der Tür der luxuriösen Suite hing ein Schild mit der Aufschrift »Bitte nicht stören!«. Die Killerin presste ihr Ohr an die Tür, lauschte – und wurde knallrot. Denn die Geräusche, die zu ihr drangen, waren mehr als eindeutig. Chin-Li erfasste das, obgleich sie den Liebesakt nicht aus eigener Erfahrung kannte und auch nie dabei gewesen war, wenn andere es taten. Und so sollte es auch bleiben! Genieß dein Schäferstündchen, dachte Chin-Li. Es ist dein letztes. Die Killerin fuhr mit dem Fahrstuhl zurück in die Lobby, setzte sich in das hübsche Café in der Eingangshalle und bestellte einen weiteren Tee. Sie würde die beiden Franzosen schon bemerken, sollten sie das Hotel verlassen. Chin-Li hatte keine Ahnung, wie lange Menschen normalerweise brauchten, um zu kopulieren. Doch nach einer Stunde beschloss sie, dass es genug war. Wenn sie die beiden doch noch beim Liebesspiel unterbrach, konnte sie es auch nicht ändern. Diesmal nahm sie die Treppe. In der sechsten Etage hatte sie Glück. Ein junges Zimmermädchen schob gerade einen Wäschewa gen durch den ansonsten menschenleeren Flur. Unauffällig folgte die Attentäterin der hübschen Hotelangestellten bis zu einer kleinen Kammer. Die junge Frau sah sich kurz um, bemerkte Chin-Li und schenkte ihr ein unverbindliches Lächeln. Dann verschwand sie mit dem Wagen in dem kleinen Raum und schloss die Tür. Die Killerin huschte lautlos zu der Tür und lauschte. Ein Feuer
zeug schnippte. Dann atmete jemand langsam und genussvoll aus. Zigarettenpause. Und offenbar eine, von der der Chef nichts wissen sollte. Sehr gut! Chin-Li sah sich schnell um, dann drückte sie die Tür auf. Er schreckt blickte das Zimmermädchen auf, entspannte sich aber wie der, als sie bemerkte, dass sie nicht von einem Vorgesetzten erwischt worden war. »Kein Zutritt!«, sagte sie schnippisch und fügte leicht schuldbe wusst hinzu: »Kann ich etwas für Sie tun?« »Kannst du«, entgegnete Chin-Li und schlug zu. Fintsetzt versuch te das Mädchen, die heranrasende Handkante abzuwehren, aber sie hatte keine Chance. Bevor ein Schrei ihrer Kehle entweichen konnte, sackte die Frau bewusstlos zusammen. Chin-Li fing sie auf und ließ sie lautlos zu Boden gleiten. Sie würde das Zimmermädchen nicht umbringen. Menschen zu töten machte Chin-Li nichts aus. Es war ihr Job. Aber so mitleidlos die junge Killerin auch war, es bereitete ihr nicht den geringsten Spaß, andere Menschen leiden zu sehen. Das unterschied sie von den unzähligen Psychopathen, die in der Stadt unterwegs waren und aus reinem Vergnügen mordeten. Die Hotelangestellte würde sie ohne Perücke und Brille nie wieder erkennen. Also durfte sie le ben. Schnell zog die Profikillerin die Hotelangestellte aus. Etwas nei disch betrachtete sie den schönen Körper der jungen Frau. Vermut lich hat sie viele Liebhaber!, dachte Chin-Li. Sie wusste, dass sie selbst nicht gerade hässlich war. Oft genug zog sie in der Stadt die bewun dernden Blicke der Männer auf sich. Aber nie würde sie dem Ver langen nachgeben, das auch sie manchmal erfüllte. Für Liebe, ja selbst für Freundschaft gab es in ihrem Leben keinen Platz. Die junge Chinesin schlüpfte in die adrette Uniform des Zimmer mädchens, rückte den Rock zurecht und versteckte die Beretta unter ihrer Jacke. Dann war sie bereit. Bereit zu töten!
»Das ist nicht fair!«, maulte Nicole. Die schöne Französin stand am Fenster und zog eine Schnute. Den ganzen Tag schon waren für Westeuropäer schier unermessliche Mengen Wasser auf die Erde geprasselt, und ein Ende war nicht ab zusehen. Nicoles Idee, auf den Victoria Peak zu fahren und die phä nomenale Aussicht zu genießen, war damit erstmal buchstäblich ins Wasser gefallen. Zamorra störte das weniger. Der Dämonenjäger lag nackt auf dem Bett und bewunderte Nicoles makellosen Körper, auf dem immer noch ein paar Schweißperlen von den Aktivitäten der letzten Stunde zeugten. Angesichts der lustvollen Alternativen zu Nicoles Sightsee ing-Plänen hatte Zamorra nichts dagegen, wenn es noch stunden lang weiter regnete. Es kam schließlich nicht gerade oft vor, dass sie etwas Zeit für sich hatten und kein Abgesandter der Hölle ihnen nach dem Leben trachtete. Und Zamorra war entschlossen, diesen Luxus bis ins Letzte auszukosten. »Komm zurück ins Bett, Cherie«, sagte er und klopfte aufmun ternd auf die Matratze. »Schon wieder?«, tat Nicole empört. »Mein Lieber, du bist einfach unersättlich. Haben sie dir vorhin Viagra in den Tee getan?« »Das habe ich nicht nötig!« »Offensichtlich!« Ein keckes Grinsen huschte über Nicoles Gesicht. »Dafür hast du ja mich.« »Du sagst es«, sagte Zamorra, ergriff Nicoles Arm und zog sie zu sich. Laut kichernd landete die nackte Französin auf ihrem Lebens gefährten. »Hey, du Wüstling! Hoteldetektiv!«
Lass
mich
los,
oder ich
»Stehst du auf Dreier?«, fragte Zamorra unschuldig. »Perverses Scheusal!«
rufe den
In dem Moment klopfte es an der Tür. »Mist. Das ist bestimmt dein Hoteldetektiv«, fluchte der Parapsy chologe. »Das hättest du wohl gerne«, erwiderte Nicole breit grinsend. »Wer ist da?«, rief Zamorra. »Zimmerservice.« »Wir haben nichts bestellt!« »Ich habe ein Telegramm für Sie, Sir. Aus Frankreich.« Zamorra sah Nicole irritiert an. »Vielleicht hat Fooly was ausge fressen«, vermutete die Französin, die die verheerenden Scherze des tollpatschigen Drachen, mit dem sie ihr trautes Heim teilten, nur all zu gut kannte. »Oder jemand braucht unsere Hilfe. Besser, ich seh's mir mal an«, sagte Zamorra und sprang missmutig aus dem Bett. Er schlüpfte in Slip, T-Shirt und Bademantel und hängte sich vorsichtshalber auch Merlins Stern wieder um, das magische Amulett, das der legendäre Zauberer Merlin einst aus der Kraft einer entarteten Sonne geschaffen hatte. Dann öffnete er die Tür. Vor ihm stand eine ausgesprochen hüb sche Chinesin in der typischen Tracht eines Peninsula-Zimmermäd chens. Mit ihrer zierlichen Figur und dem kurz geschnittenen Haar hatte sie etwas Knabenhaftes, ohne dabei unweiblich zu wirken. Am meisten faszinierten den Parapsychologen die großen braunen Au gen des Mädchens. Sie strahlten eine seltsame Kälte aus, hinter der sich jedoch etwas anderes zu verbergen schien. Eine tiefe, kaum fassbare Traurigkeit. »Professor Zamorra?« »Live und in Farbe.« Der Blick des Mädchens huschte von Zamorra zu Nicole, die eben falls in T-Shirt und Slip geschlüpft war und sich aus der Minibar eine Flasche Mineralwasser griff. Wortlos überreichte die junge Frau dem Parapsychologen das Telegramm.
»Warten Sie!« Zamorra ging zurück, um etwas Trinkgeld zu holen. Irritiert registrierte er, wie die junge Chinesin ihm in den Raum folg te, als Nicole aufschrie. »Vorsicht! Sie hat eine Waffe!« Instinktiv wart sich Zamorra nach vorn. Eine Kugel zischte milli meternah an ihm vorbei und zerschmetterte eine kostbar aussehen de Vase. Der Parapsychologe wirbelte herum. Das falsche Zimmer mädchen hielt eine schallgedämpfte Pistole in der Hand und zielte erneut. Zamorra schnellte vor und versetzte der jungen Chinesin einen ra schen Handkantenschlag. Polternd fiel die Automatik zu Boden. Mit einem Aufschrei rammte die junge Chinesin dem Parapsychologen den Ellbogen so fest in den Magen, dass er keuchend in die Knie ging. Die Killerin wollte gerade die Pistole aufheben, als der Dämo nenjäger ihre Beine ergriff und sie zu Boden riss. Mit einem wohl platzierten Tritt gegen Zamorras Kopf befreite sich die Attentäterin und sprang katzengleich wieder auf die Füße, um mit zwei weiteren Tritten gegen Brust und Beine nachzulegen. Die Chinesin mochte fast noch ein Mädchen sein, aber sie verstand es auch ohne Waffe, einem Gegner hart zuzusetzen. Zamorra be herrschte alle gängigen Kampfsportarten, aber diese Frau war eine mindestens ebenbürtige Gegnerin. Während sie ihn mit kalten Augen belauerte, zog die junge Frau ihre Zimmermädchen-Jacke aus, die sie beim Kämpfen behinderte. Achtlos warf sie das Kleidungsstück zu Boden. Darunter trug die junge Chinesin nur ein knappes schwarzes Top, unter dem sich ihre festen kleinen Brüste deutlich abzeichneten. Am rechten Oberarm prangte ein auffälliges Tattoo, das einen stilisierten chinesischen Drachen zeigte. »Warum willst du mich töten?«, fragte Zamorra. Doch die junge Killerin antwortete nicht und griff erneut an. Knapp entging der Pa rapsychologe einem Schlag, den sie direkt auf seine Augen abfeuer te. Zamorra versuchte es erneut: »Ich will dich nicht verletzen. Gib lieber auf!«
Ein höhnisches Lachen war die Antwort. »Du überschätzt dich, Gweilo!« Gweilo? Soweit Zamorra wusste, war das ein Schimpfwort für westliche Ausländer, das so viel wie »fremder Teufel« bedeutete. »Das glaube ich kaum«, sagte der Parapsychologe und versetzte der jungen Chinesin einen Tritt, der sie gegen die Wand schleuderte. Doch die Killerin hatte Recht. Er würde sich nicht mehr lange halten können. Denn so trainiert er auch war, diese Frau war ihm überle gen. Sie kämpfte so gut, als sei es ihr einziger Lebenszweck, andere Menschen ins Jenseits zu befördern. Und wahrscheinlich war es das auch! Aber Zamorra hatte einen unschätzbaren Vorteil. Er war nicht al lein! Als die Chinesin ihn mit einem Fausthieb, der einen Elefanten gefällt hätte, zu Boden schickte, griff Nicole in das Geschehen ein. Sie traktierte die Attentäterin mit einer furiosen Abfolge von Tritten und Hieben, während Zamorra keuchend wieder auf die Beine kam. »Nici, pass auf!« Doch es war zu spät. Das falsche Zimmermädchen versetzte Nico le einen Tritt, der die Französin quer durch den Raum beförderte. »Okay, das war's, Schätzchen. Das nehme ich persönlich!«, fauchte Nicole. Wütend warf sie sich der Attentäterin entgegen, während Zamorra von der Seite angriff. Das Verhältnis zwei zu eins mochte nicht besonders fair sein, aber sie hatten schließlich nicht mit dem Kampf angefangen. Und im Gegensatz zu ihrer mordlustigen An greiferin wollten sie ihre Gegnerin nur schachmatt setzen. Doch auch zu zweit konnten die beiden Franzosen der scheinbar unermüdlichen Kämpferin kaum beikommen. »Sind wir hier in einem verdammten Bruce-Lee-Film gelandet, oder was?«, beschwerte sich Nicole. »Ich glaube, selbst der alte Bruce wäre bei unserer Freundin hier ganz schön ins Schwitzen gekommen. Und das nicht nur, weil sie ziemlich attraktiv ist«, entgegnete Zamorra und landete einen
Bauchtreffer, der der jungen Chinesin für einen Moment den Wind aus den Segeln nahm. Aber nur für einen Moment! Dann erwischte den Parapsychologen ein Tritt, den er nicht einmal hatte kommen sehen. »Der schattenlose Kick!«, zischte das Mädchen. »Bereite dich auf dein Ende vor, Gweilo!« »Vergiss es, Schätzchen«, sagte Nicole. Sie hatte die Automatik aufgehoben und zielte genau auf den Kopf des Mädchens. »Jetzt ist Schluss mit dem Rumtollen!« Zamorra sah, wie Wut das vorher so unbewegliche Gesicht der jungen Chinesin verfinsterte. Diese Frau würde nicht aufgeben. Und wenn es sie das Leben kostete! »Vorsicht!«, sagte er leise. »Keine Sorge, Chef. Alles unter Kontrolle«, entgegnete Nicole, aber Zamorra hörte, wie angespannt sie war. Die Killerin hob lang sam die Arme. Aber sie hatte noch eine Überraschung in petto. Aus dem Stand sprang sie in einen Salto, kam geschmeidig wieder auf und rannte auf das Fenster zu. Mit einem wilden Schrei stieß sie sich einen Meter vor der Scheibe vom Boden ab. Ungläubig sah Zamorra zu, wie das Glas splitterte und die Killerin sich ins Freie katapultier te. »Das ist Selbstmord«, flüsterte Nicole. Sie rannten zum Fenster und starrten in den Regen. Weit unter sich sahen sie das Dach des älteren Gebäudeteils. Der Abstand be trug mindestens fünf Stockwerke. »Das kann sie nicht überlebt haben«, sagte Nicole. »Sie muss. Oder siehst du irgendwo ihre Leiche?« »Aber sie ist doch nur ein ganz normaler Mensch.« Seit Nicole vor vielen Jahren mit Schwarzem Blut infiziert worden war, konnte sie dunkelmagische Kräfte spüren. Und auch Merlins Stern hätte reagiert, wenn die Kampfkünste magischen Ursprungs gewesen wären.
»Ein Mensch ja, aber sicher kein normaler«, sagte Zamorra nach denklich, während ihm der Regen ins Gesicht schlug. »Offenbar hat sie lange trainiert, Situationen wie diese zu überleben.« Nur am Rande bemerkte Zamorra, wie sich der Raum mit Hote langestellten und neugierigen Gästen füllte, die durch den Kampf lärm angelockt worden waren. In der Ferne ertönte eine Sirene, die sich langsam näherte. Zamorra seufzte. Der Urlaub war also nach gerade mal einem Tag wieder zu Ende. Der ewige Kampf, der ihr Leben beherrschte, ging weiter!
5. Befragungen »Der ausländische Zauberer ist stärker, als wir dachten. Noch nie ist Chin-Li ein Opfer entkommen.« »Der Gweilo hatte nur Glück. Auch Chin-Li können Fehler passie ren. Sie war einfach zu unvorsichtig.« »Oder der Zauberer hat sich mit dem Dämon verbündet.« »Warum sollte er das tun? Er steht nicht auf der Seite des Bösen!« »Jeder hat seinen Preis! Das sieht man doch an Teddy Chang.« Der Disput wurde fast flüsternd ausgetragen, aber der Ton war außergewöhnlich scharf. Im Heiligtum der Neun Drachen hing deutlich spürbar ein Gefühl in der Luft, das hier bislang völlig unbe kannt gewesen war. Angst. Chin-Lis Fehlschlag war nicht das einzige Problem der Bruder schaft. Inzwischen hatten sich die Gerüchte verdichtet, dass Teddy Chang die Organisation von Lam Tat-Wah übernommen hatte, in der er bisher nur eine untergeordnete Rolle gespielt hatte. Für die Neun Drachen bestand kein Zweifel, dass er dahinter steckte. Jetzt stand dem Dämon eine ganze Armee zur Verfügung. Und die hatte sich sofort in die Schlacht gestürzt. Blitzkriegartig hatte sie in der letzten Nacht die Bastionen der anderen Triaden angegriffen und ein Gebiet nach dem anderen übernommen. Die Neun Drachen spürten, wie ihnen die Kontrolle entglitt. Ob wohl sie sich das nie offen eingestanden hätten, wurde immer deut licher, wie hilflos sie den Attacken des Dämons gegenüberstanden. Dabei machte es fast den Eindruck, als spiele der Namenlose nur mit ihnen, denn welches Interesse sollte er an all den Bordellen, Opi umhöhlen und illegalen Spielhöllen haben, die er quasi im Stunden
takt seinem Imperium hinzufügte? Sein Siegeszug führte den Neun Drachen schmerzlich vor Augen, wie wenig sie tatsächlich auf ihn vorbereitet waren. Das Attentat auf Zamorra hatte der Bruderschaft zumindest so et was wie Handlungsfähigkeit suggeriert. Aber durch den Fehlschlag wurde ihr Versagen nur noch deutlicher. »Vielleicht war es ein Fehler, Chin-Li auf den weißen Zauberer an zusetzen«, sagte der Jüngste in der Runde. »Er ist zu gefährlich. Die Macht seiner Waffe kann sich jederzeit gegen uns richten«, entgegnete ein anderer Mönch. »Wir hätten ein Bündnis mit ihm schließen sollen. Vielleicht treibt ihn ja gerade unser Anschlag auf die Seite des Dämons«, vermutete ein Dritter. Meister Shiu hatte der Auseinandersetzung mit finsterer Miene zugehört. Noch nie war es in diesem heiligen Raum zu so einem er bitterten Wortgefecht gekommen. Und das Drachen-Oberhaupt war nicht bereit, auch nur eine Minute länger hinzunehmen, dass die Wiederkehr des Dämons weiterhin Zwietracht unter ihnen säte. »Schweigt still!« Das Stimmengewirr brach abrupt ab. Verstört starrten die Greise ihr Oberhaupt an. Noch nie waren sie so barsch zur Ordnung geru fen worden. Meister Shiu sah jeden einzelnen direkt an, dann ver kündete er mit ebenso leiser wie eindringlicher Stimme: »Die Neun Drachen begehen keine Fehler. Wir sind die Erben Tin Haus, und ihre Weisheit leitet jede unserer Handlungen. Die Entscheidung, den weißen Zauberer zu töten, war richtig. Daran kann es keinen Zwei fel geben!« Das Drachen-Oberhaupt sah streng in die Runde, bevor es fort fuhr: »Aber Zamorra ist im Moment nicht unser dringlichstes Pro blem. Niemand konnte damit rechnen, dass der Dämon sein Ein flussgebiet so schnell ausweiten würde. Der Krieg gegen seine Ar mee der Finsternis erfordert jetzt unsere ganze Kraft. Aber wir wer den die nächsten Schritte des weißen Zauberers weiterhin sehr ge
nau beobachten. Und wenn es auch nur das geringste Anzeichen da für gibt, dass er sich gegen uns stellt, wird unser Schwert ihn doch noch richten!« Aber wenn der Dämon doch mächtiger ist, als wir dachten, könnte uns seine Waffe noch wichtige Dienste leisten. Deshalb war es ein Fehler, Za morras Tod vorschnell anzuordnen. Eine reine Panikreaktion, dachte Meister Shiu. Aber er sprach es nicht aus. Denn die Neun Drachen begingen kei ne Fehler. Und wenn doch, würden sie es nie offen eingestehen!
»Und Sie wissen wirklich nicht, warum man Sie angegriffen haben könnte?« James Tong sah Zamorra skeptisch an. Der Inspector der Hong Kong Police hatte sich mit den beiden Franzosen in einen kleinen Besprechungsraum zurückgezogen, während Glaser in Windeseile die zerbrochene Scheibe im Hotelzimmer reparierten. Eine Instituti on wie das Peninsula Hotel würde einen so offensichtlichen Makel an seiner Fassade nicht länger als unbedingt nötig tolerieren. Der Manager hatte Zamorra durch seine unterkühlte Art deutlich zu verstehen gegeben, dass er in ihm den eigentlichen Verantwortli chen für den peinlichen Zwischenfall sah, und auch Inspector Tong schien wenig geneigt zu sein, der Version des Parapsychologen Glauben zu schenken. »Sie kommen also nach über zehn Jahren zum ersten Mal wieder nach Hongkong, kennen hier keine Menschenseele und werden gleich am zweiten Tag von einer Profikillerin attackiert, und Sie ha ben nicht die geringste Ahnung, wer dahinter stecken könnte?« »So in etwa, ja.« James Tong war ein gut aussehender Mann Mitte dreißig, dessen wache Augen Intelligenz und Misstrauen verrieten. Der Inspector fischte eine Zigarette aus einer zerknüllten West-Packung und zün
dete sie sorgsam an. Er inhalierte tief und sagte dann mit ebenso lei ser wie schneidender Stimme: »Das glauben Sie doch selbst nicht!« »He, wir sind hier die Opfer, nicht die Täter. Wir haben nieman den angegriffen, sondern nur unser Leben verteidigt. Ist das etwa strafbar?«, fragte Nicole. In ihren braunen Augen glitzerten goldene Tüpfelchen. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Dämonenjäge rin äußerst erregt war. »Sicher nicht, Miss Duval« entgegnete Tong gelassen. »Aber wenn diese Killerin wirklich so gut war, wie Sie sagen, wundert es mich schon, dass Sie so ein leichtes Spiel mit ihr hatten. Eigentlich müss ten Sie jetzt tot im Hotelzimmer liegen.« »Das hätten Sie wohl gerne«, schnaubte Nicole. »Leichtes Spiel ist vielleicht nicht ganz der richtige Ausdruck«, sagte Zamorra betont ruhig. Es hatte keinen Sinn, die Situation wei ter eskalieren zu lassen. Deshalb holte er aus seiner Brieftasche ein kleines Lederetui hervor, öffnete es und und reichte es Tong. »Viel leicht erklärt das einiges.« Der Inspector griff danach und studierte das darin verwahrte Do kument aufmerksam. Es war der Sonderausweis des britischen In nenministeriums, der Zamorra einen polizeiähnlichen Status verlieh und ihm gestattete, in den Ländern des britischen Commonwealth eine Schusswaffe zu führen. »Hongkong steht seit 1997 nicht mehr unter britischer Herrschaft«, sagte Tong scharf. »Sie haben hier keinerlei Vollmachten.« »Das ist mir völlig klar. Ich wollte damit nur klar machen, dass Sie uns von der Liste der potenziellen Schurken streichen können. Schließlich sind wir fast Kollegen. Außerdem werden Sie wahr scheinlich sowieso erfahren, dass wir bei unserem letzten Besuch in Hongkong Ärger mit der K-14-Triade hatten. Der Dragon Lao SiHüan wurde durch unser Eingreifen verhaftet und wenig später er mordet.« »Lao Si-Hüan! Das waren Sie?«
Zamorra glaubte so etwas wie Respekt in der Stimme des Inspec tors mitschwingen zu hören. »Das waren wir. Aber ich kann mir kaum vorstellen, dass das wirklich hinter dem Anschlag steckt. Die Triade hätte wohl kaum gewartet, bis wir wieder nach Hongkong kommen, um sich an uns zu rächen.« »Das ist wirklich unwahrscheinlich. Zumal K-14 nach allem, was wir wissen, sofort nach Lao Si-Hüans Ermordung komplett von sei nen Anhängern gesäubert wurde. Man munkelt sogar, Sie hätten Laos Konkurrenz einen großen Gefallen getan.« »Einen Frühstückskorb haben sie mir jedenfalls nicht aufs Zimmer geschickt.« Tong lachte leise, aber sein Blick verriet immer noch tiefes Miss trauen. »Hat Ihr aktueller Aufenthalt in Hongkong irgendeinen dienstlichen Grund, Professor?« »Natürlich hat er das. Aber ich bin als Parapsychologe hier, nicht als Ordnungshüter. Wie Sie wissen, nehme ich an einem Kongress teil.« »Parapsychologische Phänomene im interkulturellen Vergleich«, zitierte Tong den Veranstaltungstitel. Offenbar hatte er sich vor der Befra gung über die beiden Ausländer informiert. »Das heißt, Sie beschäf tigen sich mit Geistern?« Die Frage des Inspectors war gänzlich frei von der Häme, die ein europäischer Polizist bei diesem Thema unweigerlich an den Tag gelegt hätte. »Unter anderem. Aber unsere Angreiferin war ein Mensch aus Fleisch und Blut.« »Und trotzdem überlebt sie einen Sprung aus dem zehnten Stock?« »Zugegeben, das klingt unwahrscheinlich. Aber glauben Sie mir, ich erkenne einen Dämon, wenn ich ihn sehe.« Jetzt sah Tong den Parapsychologen doch etwas ungläubig an.
»Sie meinen, Sie haben praktische Erfahrungen mit diesen Dingen?« »Das kann man wohl sagen.« »Na gut«, sagte der Polizist und drückte seine halb aufgerauchte Zigarette im Aschenbecher aus. »Ihre Version der Ereignisse klingt ausgesprochen phantastisch, aber solange ich keine bessere höre, muss ich Ihnen wohl glauben. Bitte halten Sie sich zur Verfügung und informieren Sie uns, sobald Ihnen etwas Verdächtiges auffällt.« »Sicher.« »Und noch etwas. Wenn Sie hier irgendjemand auf der Abschuss liste hat, sei es nun K-14 oder sonst jemand, sollten Sie lieber davon ausgehen, dass dies nicht der letzte Anschlag auf Ihr Leben war. Die chinesische Mafia ist nicht gerade dafür bekannt, schnell klein bei zugeben. An Ihrer Stelle würde ich schleunigst abreisen!« »Kommt gar nicht in die Tüte«, sagte Nicole entschlossen. »Von ei nem kleinen Attentat lassen wir uns doch nicht den Urlaub verder ben!« »Wie Sie meinen«, entgegnete Tong resigniert. Er war schon fast durch die Tür, als Zamorra noch etwas einfiel. Der Parapsychologe beschrieb dem Inspector die Tätowierung, die er am Oberarm der schönen Attentäterin gesehen hatte. »Drachen sind in China etwas Alltägliches. Sie symbolisieren Glück und Wohlstand«, erklärte der Polizist schließlich. »Das ist mir bekannt. Trotzdem habe ich so ein Gefühl, dass es mit dieser Tätowierung etwas Besonderes auf sich hat. Meinen Sie nicht, dass das ein Erkennungszeichen sein könnte, das zum Beispiel die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gangsterbande oder Sekte si gnalisiert?« »Davon ist mir nichts bekannt«, sagte Tong rasch und ging. Za morra sah dem Polizisten nachdenklich nach. Er hatte den Blick des Inspectors gesehen, als er ihm die Tätowierung beschrieb. Aus ihm sprach nackte Angst!
Der intensive Geruch der Räucherspiralen half Chin-Li, in die ande re Welt einzutauchen. Selbst der stechende Schmerz im Rücken und in den Beinen wurde zu einem unbedeutenden Pochen, als sie in der Meditation versank. Es war ein Wunder, dass sie den Sturz überlebt hatte. Aber die junge Profikillerin wäre lieber gestorben, als dem Feind in die Hände zu fallen. Und Tin Hau hatte wie immer über sie gewacht. Denn für Chin-Li war es noch nicht an der Zeit, diese Welt zu verlassen. Sie hatte noch eine Aufgabe zu erledigen. In dem kleinen Tempel war es angenehm kühl. Vor über 300 Jah ren war die Tin Hau geweihte Anlage direkt am Meer errichtet wor den. Doch dank der unermüdlichen Landgewinnungsmaßnahmen mussten die Gläubigen jetzt am Rande des trubeligen Einkaufs- und Ausgehviertels Causeway Bay den Schutz der Meeresgöttin erbitten. Außergewöhnlich viele Gläubige waren an diesem Morgen ge kommen, um zu Tin Hau zu beten. Chin-Li spürte deutlich die An spannung der Menschen um sie herum, die den Raum fast zum Vi brieren brachte. Am Rande ihrer Wahrnehmung registrierte sie ne ben sich eine junge Frau, die mit geschlossenen Augen einen Behäl ter mit exakt hundert Bambusstäbchen schüttelte, bis schließlich ei nes der Hölzer herausfiel. Mit dem Stäbchen ging die Frau schließ lich zum Wahrsager, um sich die Zukunft vorhersagen zu lassen. Es gab in Hongkong rund 25 Tempel, die der Meeresgöttin ge weiht waren. Doch diese kleine Anlage am Rande des Victoria Parks war Chin-Li die liebste. Sie zog sie selbst dem Kloster der Bruder schaft der Neun Drachen vor, dem heimlichen Zentrum der TinHau-Verehrung. Denn hier war sie ganz für sich, eine unbekannte Gläubige unter vielen. Chin-Li kam oft hierher, um vor der Figur der Tin Hau auf dem Hauptaltar zu beten. Aber sie befragte nie den Wahrsager. Und sie hängte auch nie einen roten Zettel mit einer per sönlichen Bitte an eine der unzähligen Räucherspiralen, die von den rußgeschwärzten Deckenbalken hingen. Wenn die Glut den Weih rauch vollständig in Asche verwandelte und das Papier verglom
men war, stieg der Wunsch zu den Göttern auf, wo er mit etwas Glück erhört wurde. Aber Chin-Li hatte keine persönlichen Wünsche. Und ihre Zu kunft stand seit der Geburt fest. Sie lebte nur, um der Bruderschaft der Neun Drachen bis zur völligen Selbstaufgabe zu dienen, die wiederum nur existierte, um Tin Haus Vermächtnis zu bewahren. So war es und so würde es immer sein. Chin-Li störte das nicht. Im Gegenteil, sie beneidete keinen der unzähligen Hongkonger, die sich auf der Suche nach Erfolg und persönlichem Glück aufrieben und dabei ihre spirituelle Basis verloren hatten. Chin-Li kannte ihren Weg, und das gab ihr Zuversicht und Kraft. Sie kannte ihn, seit sie als junges Mädchen in die Obhut der Bruder schaft übergeben worden war. An die Zeit davor konnte sie sich kaum noch erinnern. Nur ab und zu tauchten vage Eindrücke, Ge sichter und Gerüche in ihren Träumen auf. Doch die Killerin ging ihnen nie nach. Das waren Schatten aus einem anderen Leben. Ihre Eltern hatten sie als Dreijährige zu den Neun Drachen ge bracht, weil ein Wahrsager erkannt hatte, dass sie eine Auserwählte war. Eine Kriegerin, der es bestimmt war, das Erbe von Tin Hau ge gen ihre irdischen Feinde zu verteidigen. Die Bruderschaft hatte Chin-Li alles beigebracht, was ein Mensch über die Kunst des Tötens wissen konnte. Mit 13 erledigte sie ihren ersten Auftrag. Das Opfer war bei den Triaden in Ungnade gefallen. Worin genau seine Verfehlung bestanden hatte, wusste sie nicht, und es hatte sie auch nie interessiert. Es war schuldig geworden, und das reichte. Der Verräter war ein alternder Geschäftsmann mit einer unguten Vorliebe für junge Mädchen gewesen. Chin-Li war in einem aufrei zenden Kleid bei ihm erschienen, angeblich geschickt von einer Agentur, die auf Kunden mit speziellen Neigungen spezialisiert war. Der alte Mann hatte nicht lange Zeit gehabt, die Reize des schö nen Mädchens zu genießen. Chin-Li hatte ihn mit bloßen Händen getötet, als er ihr sabbernd vor Aufregung das enge Kleid ausziehen
wollte. Er war der Erste gewesen, unzählige weitere waren gefolgt. Die meisten Gesichter ihrer Opfer hatte Chin-Li schnell wieder verges sen. Jeder einzelne von ihnen hatte den Tod verdient. Warum sollte sich Chin-Li mit der Erinnerung an diesen unwürdigen Abschaum belasten? Doch das Gesicht des Franzosen im Peninsula Hotel hatte sich un auslöschlich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Und das nicht nur, weil er der Erste war, der eine Begegnung mit ihr überlebt hatte. Sondern auch, weil dieser Zamorra anders war. Chin-Li hatte seine Augen ge sehen. Sie hatte nicht das geringste Anzeichen von Schuld oder Ver derbnis in ihnen entdeckt. Und doch musste dieser Gweilo den Tod verdient haben, denn die Neun Drachen waren allwissend. Sie irrten sich nie! Mit Mühe unterdrückte die junge Killerin den Gedanken an den seltsamen Franzosen und gab sich ganz dem Gebet an Tin Hau hin. Die Meeresgöttin war seit den ersten Tagen ihrer Ausbildung im Kloster der Bruderschaft ihre einzige Vertraute. Die Einzige, an die sie sich in Stunden der Einsamkeit oder der Verzweiflung wenden konnte. Denn auch Tin Hau war vor ihrer Gottwerdung ein Mädchen un ter alten Männern gewesen. Der Überlieferung nach hatte sie vor etwa tausend Jahren als Tochter eines armen Fischers in der Provinz Fujian gelebt. Eines Tages wollte sie verreisen und bat die Fischer des Dorfes, sie mit aufs Meer hinaus zu nehmen. Doch alle Kapitäne weigerten sich. Nur ein armer Fischer hatte Erbarmen und nahm Tin Hau auf seinem kleinen Boot mit. Das war sein Glück. Denn ein ge waltiger Sturm zog auf, der alle Schiffe zerschmetterte. Das kleine Boot mit Tin Hau war das einzige, das das Unwetter heil überstand. Für die Dorfbewohner stand außer Frage, dass das kleine Mädchen über übernatürliche Kräfte verfügte, und so erflehten sie nach ihrem Tod ihren Schutz, wenn sie auf das Meer hinausfuhren. Bald darauf verbreitete sich die Geschichte über die Wundertaten des armen Fi
schermädchens im ganzen Land, bis der Mongolenherrscher Kublai Khan sie schließlich im Jahr 1290 – lange nach ihrem Tod – zur Him melskönigin, auf kantonesisch Tin Hau, ernannte. Das war natürlich nur der offizielle Teil der Geschichte … Kaum jemand wusste von der größten Tat Tin Haus, die sie das Leben kosten sollte. Als die inzwischen zu einer mächtigen Zauberin herangereifte Fischertochter von einem schrecklichen Dämon hörte, der über das heutige Hongkong herrschte, zögerte sie nicht, sich dem Ungeheuer zu stellen, um die versklavten Bewohner zu befrei en. Die erbitterte Schlacht über dem südchinesischen Meer dauerte Tage, doch schließlich gelang es Tin Hau, den Dämon zu besiegen. Um den Preis ihres eigenen Lebens. Doch die bloße Erinnerung an die vergangenen Schrecken waren so schlimm, dass sie die Lippen der Einheimischen versiegelten. Nur im Unterbewusstsein lebte die Erinnerung an Tin Haus Opfer fort, die seitdem in Hongkong mehr verehrt wurde als irgendwo sonst in China. Als Kind, wenn ihr die Bürde ihrer Aufgabe zu schwer geworden war, hatte Chin-Li oft davon geträumt, aufs Meer hinaus zu fahren und nie mehr zurückzukehren. Sie hatte gewusst, dass Tin Hau dort draußen über sie wachen und sie vor jedem Sturm beschützen wür de, der ihr Boot zu zerschmettern drohte. Aber die Tage der Kindheit waren längst vorüber, und Chin-Li wusste, dass sie sich ihrer Verantwortung stellen musste. Sie hatte ein zweites Mal versagt, und für Versager gab es in ihrer Welt kei nen Platz. Die junge Killerin wusste, dass sie nur noch eine weitere Chance bekommen würde, den Franzosen zu töten, und zu ihrem Entsetzen erfüllte sie das mit sehr widersprüchlichen Gefühlen. Ein Teil von ihr brannte darauf, die Scharte auszuwetzen und den Neun Drachen zu beweisen, dass sie immer noch eine würdige Die nerin der Bruderschaft war. Der andere Teil konnte diese Augen nicht vergessen, die gänzlich frei von Schuld waren.
Konnte es sein, dass sich die Neun Drachen irrten? Chin-Li hatte noch nie die Befehle der Bruderschaft in Frage gestellt. Doch jetzt nagten tiefe Zweifel in ihr. Zum ersten Mal.
Inspector James Tong hatte sehr schlechte Laune, als er ins Polizei hauptquartier zurückkehrte. Er zündete sich eine Zigarette an, be stimmt die dreißigste an diesem Tag, brüllte die Sekretärin an, weil kein Kaffee mehr da war, lehnte sich zitternd vor Wut auf die Fens terbank und betrachtete die unzähligen Menschen, die klein wie In sekten vor seinem Fenster vorbeiparadierten. Was war nur los mit ihm? Unkontrollierte Zornesausbrüche waren eigentlich gar nicht seine Art. Warum hatte er Man-Yuk nur ange schrien, und das wegen so einer Kleinigkeit wie Kaffee? Und was war los mit dieser Stadt? Seit letzter Nacht stand Hongkong Kopf. Zu mindest der Teil der Stadt, der sein Geld mit illegalen Geschäften verdiente, und der war nicht gerade klein. Ohne jede Vorwarnung hatte sich Hongkong in ein blutiges Schlachtfeld verwandelt. Noch wusste niemand, was in der Unterwelt wirklich vor sich ging. Aber es war klar, dass sie es hier nicht mit ein paar unbedeutenden Schar mützeln zwischen konkurrierenden Triaden zu tun hatten, sondern mit einem regelrechten Krieg. Die Leichenschauhäuser bekamen schon nach einem Tag Platzprobleme, und ein Ende war nicht abzu sehen. Es war also wirklich nicht so, dass sich Inspector James Tong über Langeweile beklagt hätte. Warum musste ausgerechnet er noch die sen bizarren Fall im Peninsula aufgehalst bekommen. Einen Fall, an dem man sich leicht die Finger verbrennen konnte. Denn natürlich hatte Inspector Tong die Tätowierung erkannt, die dieser Professor Zamorra ihm beschrieben hatte. Es war das Erkennungszeichen der Neun Drachen! Allein der Gedanke an diese geheimnisvolle Vereinigung, über die
in der ganzen Stadt nur im Flüsterton gesprochen wurde, versetzte Tong in Panik. Der lnspector erinnerte sich an die Gerüchte über eine ebenso attraktive wie unbarmherzige Profikillerin, die im Na men der Bruderschaft Verräter exekutierte. Bisher hatte er das im mer für ein Märchen gehalten, eine typische Großstadtlegende, aber offenbar hatte er sich geirrt. Der Inspector wusste nicht, ob er diesem aufgeblasenen Parapsy chologen seine Unwissenheit abnehmen sollte. Immerhin hatte sich Zamorra schon einmal mit den Triaden angelegt. Andererseits war ein Racheakt für die Verhaftung von Lao Si-Hüan wirklich unwahr scheinlich. Schließlich hatte der Triadenboss nicht gerade zu den besten Freunden der Bruderschaft gehört. Aber die Neun Drachen waren auch nicht dafür bekannt, dass sie wahllos Menschen um brachten. Irgendwie musste dieser Zamorra ihnen ganz gehörig auf die Füße getreten sein. James Tong zündete sich eine weitere Zigarette an. Noch nie hatte er sich so auf den Feierabend gefreut wie heute. Aber vorher musste er noch einen Bericht über den Anschlag im Peninsula schreiben. Missmutig setzte sich Tong an seinen Schreibtisch – und erstarrte. Vor ihm, mitten auf der Tastatur, lag ein Brief. Es war ein Standar dumschlag, blütenweiß und ohne jede Beschriftung. Wer konnte ihn dahin gelegt haben? Ein Kollege, die Sekretärin? Tong wusste in stinktiv, dass dem nicht so war. Vorsichtig streckte er die Hand nach dem Brief aus, so als sei er ein gefährliches Tier, das jederzeit zu schnappen konnte. Für einen kurzen Moment überlegte er, den Um schlag einfach zu ignorieren, und nach Hause zu gehen. Aber das ging nicht. Jemand wollte, dass er diese Nachricht las. Dass er sie jetzt las. Sich nicht darum zu kümmern, konnte gefährlich sein. Le bensgefährlich! Kurz entschlossen griff der Inspector nach dem Umschlag und riss ihn auf. In ihm war nur ein Foto. Es zeigte eine hübsche junge Chi nesin. Sie stand fröhlich lachend vor einem der gigantischen Aquari en im Ocean Park, Hongkongs riesigem Freizeitzentrum. Rechts und links von ihr schleckten ein Junge und ein Mädchen versonnen an
riesigen Eistüten. James Tong kannte die Frau und die beiden Kinder. Es war seine eigene Familie! Tong erinnerte sich an die Situation. Jemand musste das Bild bei einem Ausflug im letzten Sommer aufgenommen ha ben, um es ihm bei Bedarf zuzuschicken. Der Inspector merkte, wie ihm schlecht wurde. Hastig zündete er sich eine weitere Zigarette an und inhalierte hektisch den würzigen Qualm. Aber das Zittern seiner Hände wollte nicht aufhören. James Tong verstand die Nachricht nur zu gut. Es war eine Botschaft der Neun Drachen. Und sie war sehr einfach: Halte dich aus unseren An gelegenheiten raus, sonst rächen wir uns an deiner Familie. Ein paar Minuten saß er nur bewegungslos da. Dann holte Tong aus einer Schublade die Flasche Whisky hervor, die er dort für alle Fälle gebunkert hatte. Sie war noch fast voll. Er nahm ein Wasser glas und füllte es bis zur Mitte mit der bernsteinfarbenen Flüssig keit. Die erste Hälfte leerte er in einem Schluck. Dann zündete er sich eine weitere West an und dachte nach. Inspector Tong war kein Mitglied der Triaden, und er hatte in seinem langen Berufsleben trotz mancher Versuchungen und Drohungen jedem Bestechungs versuch widerstanden. Denn James Tong war kein Feigling, und Ehre bedeutete ihm viel. Aber sich direkt mit den Neun Drachen an zulegen, war etwas ganz anderes. Und jetzt bedrohten sie auch noch seine Familie! Inspector Tong leerte das Glas, drückte die Zigarette aus und traf eine Entscheidung. Er hatte Zamorra gewarnt und ihm geraten, Hongkong auf der Stelle zu verlassen. Wenn sich der Para psychologe nicht darum kümmerte, war das nicht sein Problem. Er hatte schließlich genug Ärger mit dem Bandenkrieg. Er musste sich nicht auch noch um lebensmüde Ausländer kümmern.
Die Handwerker hatten ein wahres Wunder vollbracht. In Rekord zeit hatten sie das Zimmer der beiden Franzosen wieder perfekt her gerichtet. Es war nicht mehr die geringste Spur davon zu sehen,
dass hier erst vor wenigen Stunden ein Kampf auf Leben und Tod stattgefunden hatte. Selbst die zerstörte Vase war durch ein exaktes Duplikat ersetzt worden. »Glaubst du, dieser Inspector Tong weiß etwas?«, fragte Nicole, als sie wieder allein waren. »Zumindest hat er das Tattoo erkannt. Ich würde darauf wetten, dass es das Zeichen einer Gang oder eines heimischen Kultes ist.« »Warum fragen wir nicht deine Kollegen? Immerhin ist das Haus voller Parapsychologen. Das sollten wir ausnutzen.« »Gute Idee«, sagte Zamorra. Er hatte selbst auch schon daran ge dacht. Allerdings befürchtete er, dass die meisten Konferenzteilneh mer zu vergeistigt waren, um sich in den Niederungen der hiesigen Unterwelt auszukennen. Aber einen Versuch war es auf jeden Fall wert. »Und mit Professor Chow fangen wir an!« Sie fanden den chinesischen Parapsychologen in der Hotelbar, wo er ziemlich unglücklich in einen Wodka Martini starrte. Und seine Miene hellte sich auch nicht gerade auf, als er die beiden Franzosen erblickte. Von der Herzlichkeit, die der einheimische Wissenschaft ler am Tag zuvor versprüht hatte, war nichts mehr zu spüren. »Dieser Kongress zieht mehr Aufmerksamkeit auf sich als alle an deren Konferenzen, die ich je veranstaltet habe, zusammen«, sagte Chow düster. »Ich habe heute schon drei Zeitungen und zwei Fern sehsendern Interviews gegeben.« Zamorra nickte. Er hatte ebenfalls mehrere Anfragen erhalten, die er aber rundweg abgelehnt hatte. Als Konferenzleiter war Professor Chow in einer weitaus prekäreren Situation. Immerhin war er für das Bild des Kongresses in der Öffentlichkeit verantwortlich. »Und worüber wollten die sich mit mir unterhalten? Will die Öf fentlichkeit etwa etwas über die neuesten Erkenntnisse der Parapsy chologie wissen? Wohl kaum! Alles, was die interessiert, ist Ihr spektakulärer Auftritt.« »Unser Auftritt? Wir wurden angegriffen!«, stellte Nicole klar. Sie
kochte vor Wut darüber, dass offenbar jeder in den beiden Opfern des Mordanschlags die eigentlichen Verantwortlichen für den Zwi schenfall sehen wollte. Professor Chow ging erst gar nicht auf Nicoles Einwand ein. Statt dessen leerte er sein Glas mit einem großen Schluck und bestellte gleich ein neues, das die Bedienung wenige Sekunden später vor sei ner Nase abstellte. Sofort griff Chow danach und kippte die Hälfte des hochprozentigen Inhalts auf einmal runter. Seine Stimme klang schon leicht schleppend, als er mit seinem Lamento fortfuhr. »Ich hatte ja schon gehört, dass Ihre Methoden etwas unorthodox sind, Zamorra. Aber das geht wirklich zu weit. Schießereien, Kung Fu und Stunts, auf die selbst Jackie Chan neidisch wäre. Versteht man das in Europa unter Wissenschaft?« Zamorra hatte nicht die geringste Lust, sich weiter auf diese absur de Diskussion einzulassen. Statt zu antworten, zog er eine Zeich nung hervor, die er aus dem Gedächtnis von dem Tattoo der Killerin angefertigt hatte. »Kommt Ihnen das bekannt vor?« »Ein Drache«, sagte Chow sarkastisch. »Nicht besonders gut ge zeichnet, wenn ich mir die Anmerkung gestatten darf.« Er kippte den Rest seines Wodka Martini herunter und bestellte gleich noch einen. »Drachen sind Glücksbringer in China, wissen Sie?« »Was Sie nicht sagen. Dieser scheinbar nicht«, entgegnete Nicole spitz. »Nein, dieser wohl nicht.« Chow kicherte. Mit dem steigenden Al koholpegel schien sich seine Laune deutlich zu bessern. »Also, fällt Ihnen daran etwas auf?«, insistierte Zamorra, dem sein angetrunkener Kollege zunehmend auf die Nerven ging. »Ja«, murmelte der Professor. »Da ist was …« »Und was?« Langsam wurde Zamorra wirklich ungeduldig. »Es ist weniger der Drache als dieser Schriftzug.« Chow deutete auf die beiden chinesischen Schriftzeichen, die Zamorra der Täto
wierung gemäß unter das Bild des Drachen gezeichnet hatte. »Er be deutet Tin Hau.« »Tin Hau, was ist das?«, fragte Nicole. »Wer ist das! Eine taoistische Meeresgöttin, die besonders in Hong kong als Schutzpatronin der Fischer und der Seefahrer verehrt wird. Ich schätze, dass in der Stadt mindestens 25 Tempel aller Größen Tin Hau gewidmet sind, selbst eine U-Bahn-Station trägt ihren Namen.« »Gibt es hier einen Tin-Hau-Kult?«, wollte Zamorra wissen. »Sie meinen, außerhalb der normalen Verehrung in öffentlichen Tempelanlagen? Keine Ahnung. Aber lokale Kulte sind auch nicht gerade mein Fachgebiet.« »Und was schließen wir jetzt daraus? Dass unsere junge Killerin zur See fährt?«, fragte Nicole spöttisch. »Schon möglich«, entgegnete Chow ernst. »Alle einheimischen Be wohner Hongkongs stammen von vier Stämmen ab, die traditionel lerweise vom Fischfang oder der Landwirtschaft lebten. Vielleicht gehört Ihre Mörderin zu den Tanka oder den Hoklo, und ihre Vor fahren waren Fischer. Oder sie ist selbst noch auf einem dieser Wohnboote im Hafen von Aberdeen aufgewachsen. Aber vielleicht ist ihr die Idee zu dieser Tätowierung auch nur im Suff gekommen.« Wie zur Bestätigung ergriff der Para-Psychologe sein Glas, prostete Zamorra und Nicole mit einem schiefen Lächeln zu und leerte es bis zum letzten Tropfen. »Was auch immer es ist, ich glaube nicht, dass es viel zu bedeuten hat.« »Danke«, sagte Zamorra entmutigt. Vielleicht hatte Chow Recht und die Tätowierung war so aussage kräftig wie eine nackte Frau oder ein Anker auf dem Oberarm eines Seemanns in einer Hafenkneipe in Marseille. Aber sein Gefühl sagte ihm, dass an der Sache mehr dran war. Und seine Intuition trog ihn nur selten. Als sie die Bar verließen, orderte Professor Chow gerade seinen nächsten Drink.
»Der bechert aber ganz schön«, meinte Nicole, als sie außer Hör weite waren. »Ist halt ein spiritueller Typ. Was liegt da näher als der Griff zum Spiritus«, witzelte Zamorra. Aber tatsächlich hatte ihn Chows Ver halten nachdenklich gemacht. Gestern war ihm der chinesische Wis senschaftler nicht gerade wie ein Alkoholiker vorgekommen. Beim gemeinsamen Abendessen der Kongressteilnehmer hatte er kaum mehr als ein Glas Wein getrunken. Und auch der Mordanschlag war eigentlich kein ausreichender Grund für Chows Besäufnis. Schließ lich war er trotz des kurzzeitigen Medienrummels letztlich doch nur sehr indirekt davon betroffen. Aber das Verhalten des Kongressleiters passte zu dem seltsamen Misstrauen, mit dem ihnen der Hotelmanager und Inspector Tong begegnet waren. Vielleicht war es nur Einbildung, aber irgendetwas schien in der Luft zu liegen, das an den Nerven der Leute zerrte. Und Zamorra hatte nicht die geringste Ahnung, was das war. In der Hotelhalle trafen sie auf eine Reihe weiterer Kongressteil nehmer, die die Pause zwischen zwei Vorträgen nutzten, um einen Kaffee zu trinken oder eine Zigarette zu rauchen. Die meisten guck ten etwas betreten, als sie Zamorra und Nicole sahen. Einige grüßten verlegen, andere taten so, als hätten sie ihn gar nicht gesehen. Za morra entdeckte im Café des Foyers zwei Kollegen, die aus Hong kong stammten. Er verwickelte sie unter einem Vorwand in ein kur zes Gespräch und zeigte ihnen schließlich die Zeichnung, aber auch sie konnten ihm nicht weiterhelfen. Langsam fragte sich Zamorra, ob es nicht doch das Vernünftigste wäre, einfach abzureisen. In Hongkong waren sie wie auf dem Präsentierteller, und sie hatten nicht die geringste Ahnung, wer ihr Feind war. Aber Zamorra war noch nie vor einer Gefahr davongelaufen. Er würde jetzt nicht damit anfangen! »Und was jetzt?«, fragte er, nachdem sie sich von den beiden ein heimischen Parapsychologen verabschiedet hatten. »Hast du Lust auf einen Vortrag über das Liebesleben der Poltergeister?« Das war
kein Witz. Professor John McSteed referierte am Abend tatsächlich über »Paranormale Entitäten und ihre Sexualität«. »Nein danke, ich habe schon Kopfschmerzen.« »Schon wieder?« Über dauerhafte Kopfschmerzen hatte Nicole seit Jahren nicht mehr geklagt. Dem Stress, dem sie als professionelle Dämonenjägerin ausgesetzt war, begegnete sie mit bewundernswer ter Gelassenheit und einer phänomenalen Konstitution. »Vielleicht liegt es an diesen dauernden Wetterumschwüngen. Mein Schädel dröhnt, als würde er gleich platzen. Ich brauche drin gend frische Luft und dann was zu essen. Hoffentlich müssen wir nicht zum Restaurant schwimmen!« Zumindest in dieser Hinsicht hatten sie Glück: Der Himmel hatte seine Pforten endlich geschlossen. Aber der Dauerregen hatte nur kurzzeitig für Abkühlung gesorgt. Die dampfende Mischung aus Hitze und extremer Luftfeuchtigkeit nahm den Franzosen sofort wieder den Atem. Der Schweiß lief ihnen in Sturzbächen herunter, als sie die wenigen Meter zum Pier der Star Ferry zu Fuß gingen. Die Star Ferry Line war seit 1898 eine Institution in Hongkong. Tag für Tag fuhren die über hundert Jahre alten grünweißen Fähren mit klingenden Namen wie »Morning Star« oder »Rising Star« im Minutenabstand zwischen Hong Kong Island und der Festlandseite hin und her. Die Fähren waren nicht nur ein preisgünstiges Ver kehrsmittel, das täglich Tausende von Pendlern beförderte, sondern auch bei Touristen sehr beliebt. Denn das Panorama, das sich dem Hongkong-Reisenden bei der Überfahrt bot, war schlichtweg atem beraubend. Normalerweise! Denn als das Boot, auf dem Zamorra und Nicole Platz gefunden hatten, ablegte, zog Nebel auf. Nicht nur der Victoria Peak war wie in weiße Watte gehüllt, sondern auch die Spitzen der kühnen Bau werke in Central, die die berühmte Skyline der Inselseite dominier ten. So war gerade mal die Hälfte des spektakulären Bank of China Towers zu sehen, der wie eine aus Dreiecken zusammengesetzte
Nadel über 300 Meter in die Höhe ragte. »Ich schenke dir nachher eine Ansichtskarte«, versprach Zamorra. »Zu gütig. Hast du nicht irgendeinen Schlecht-Wetterweg-Zauber in deinem Repertoire?« »Nur einen Regentanz, den ich als junger Wissenschaftler bei den Sioux gelernt habe.« »Untersteh dich!« Nicole knuffte ihren Lebensgefährten so fest in die Seite, dass der schmerzerfüllt aufschrie. Später saßen sie in einem netten Restaurant in der überdachten Houston Street in Causeway Bay, die aufgrund ihrer vielen asiati schen und europäischen Restaurants auch Food Street genannt wur de. Sie tranken chinesisches Bier und aßen Huhn auf Sichuan-Art, gewürzt mit teuflisch scharfen roten Chili-Schoten. Nicole ließ sich das Essen sichtlich schmecken. Sie war nicht ge willt, sich die Laune durch eine Bagatelle wie einen Mordanschlag vermiesen zu lassen, und auch ihrem Kopf schien es wieder etwas besser zu gehen. Zamorra hatte weniger Appetit, obwohl das Essen vorzüglich war. Nachdenklich nippte er an seinem Tsingtao. »Ich sollte Ted anrufen.« »Meinst du, er kennt hier jemanden, der uns weiterhelfen kann?«, fragte Nicole, während sie genussvoll mit ihren Stäbchen ein weite res Stück Huhn aufnahm. Die Schärfe, die einen empfindlicheren Gast hätte Feuer spucken lassen, ließ sie kalt. Und auch ihr Verstand arbeitete präzise wie immer. »Er ist ja schließlich eine Art Experte für die hiesigen Schuppen viecher, seit er sich vor einigen Jahren mit dem Clan des Allessehen den Drachen angelegt hat. Außerdem ist er als Reporter darauf an gewiesen, überall in der Welt Informanten zu haben. Vielleicht kennt er jemanden in Hongkong, der uns weiterhelfen kann.« Ted Ewigk war nicht nur seit vielen Jahren ein sehr guter Freund, sondern auch ein zuverlässiger Partner im Kampf gegen die Mächte der Finsternis. Als Reporter besaß Ted ein besonderes Gespür, das
ihm schon zu Beginn seiner Karriere einen fast legendären Ruf in der Branche eingebracht hatte. Ted-Ewigk-Reportagen wurden bald so hoch gehandelt, dass der freischaffende Journalist schon in den ersten Jahren seine erste Million machte. Inzwischen arbeitete er nur noch, wenn ihn eine Sache wirklich interessierte. Ansonsten lebte er mit seiner Freundin Carlotta am nördlichen Stadtrand von Rom. Ted hatte seine eigenen Erfahrungen mit Drachen in Hongkong. Vor einigen Jahren hatte er sich mit einer hiesigen Sekte angelegt, die ihren Götzen, den Allessehenden Drachen, durch ein Dimensi onstor in diese Welt holen wollte. Zu diesem Zweck hatte die Bru derschaft unzählige Menschen geopfert, um eine Statue des Drachen zum Leben zu erwecken. Erst Ted und der Sauroide Reek Norr hat ten dem Spuk ein Ende bereitet. Auch damals hatte die Triade K-14 ihre Hand im Spiel gehabt. (siehe PZ-Heft 424: »Der Drachen-Clan« von Robert Lamont.) »Am besten, ich rufe ihn sofort an«, sagte Zamorra. Das Nichtstun machte ihn nervös. Je eher er aktiv werden konnte, desto besser. In Italien war es gerade früher Nachmittag. Er hatte also gute Chancen, Ted in seiner Villa, dem »Palazzo Eternale«, zu erreichen. Zamorra entschuldigte sich kurz und fragte im Restaurant nach ei nem Telefon. Die hübsche junge Frau hinter der Theke sah ihn fast feindselig an, reichte ihm aber wortlos den schnurlosen Apparat, nachdem der Parapsychologe eine großzügige Summe auf den Tre sen gelegt hatte. Was war nur los? Alle Bewohner Hongkongs schie nen sich verschworen zu haben, kollektiv schlechte Laune zu haben. Von der sprichwörtlichen asiatischen Freundlichkeit war in den letz ten Stunden jedenfalls nicht viel zu spüren gewesen. Vielleicht lag ja auch das am Wetter. Wenn sich wirklich ein Taifun zusammenbrau te, stand der Stadt in den nächsten Tagen noch einiges bevor. Zamorra zog sich mit dem Telefon in eine ruhige Ecke des Restau rants zurück und wählte Teds Nummer. Der Reporter meldete sich nach dem zweiten Klingeln.
»Eternale.« Als ehemaliger Erhabener der DYNASTIE DER EWIGEN, einer mächtigen außerirdischen Rasse, war Ted vor einigen Jahren unter dem Tarnnamen Teodore Eternale in Italien untergetaucht, als seine Nachfolgerin Sara Moon Jagd auf ihn machte. Inzwischen war die Gefahr längst vorüber, aber in Italien behielt der Deutsche seinen Zweitnamen bei. Inzwischen besaß Ted neben seiner deutschen Staatsbürgerschaft sogar einen italienischen Pass, der auf den Na men Eternale ausgestellt war. »Ich bin's«, sagte Zamorra. »Ich fass es nicht. Ist Hongkong so langweilig, dass du nichts Bes seres zu tun hast, als alte Freunde aus dem wohlverdienten Mittags schlaf zu klingeln?«, fragte Ted spöttisch. Er klang nicht so, als habe Zamorra ihn wirklich gerade aus dem Bett geholt. »Langweilig ist nicht das richtige Wort. Zur Begrüßung hat eine schießwütige Kung-Fu-Lady versucht, uns um die Ecke zu bringen.« »Andere Länder, andere Sitten«, entgegnete Ted trocken. »Was ist passiert?« Zamorra berichtete in knappen Worten von dem Mordanschlag. Die Verbindung war erstaunlich schlecht. Ted musste mehrmals nachfragen, weil einige Sätze im Rauschen untergingen. Zamorra schob es auf das schnurlose Telefon. Je komplizierter eine Technik war, desto anfälliger war sie meistens auch für Störungen. »K-14?«, fragte Ted nachdenklich, nachdem Zamorra seinen Be richt beendet hatte. »Glaub ich nicht«, sagte Zamorra. »Mein Gefühl sagt mir, dass wir es mit einem neuen Gegner zu tun haben. Aber ich muss sicher sein. Dazu brauche ich jemanden, der sich vor Ort auskennt. Möglichst je mand mit einem guten Draht zur hiesigen Unterwelt.« »Ich fürchte, da muss ich passen. Gegen den Allessehenden Dra chen hat mir zwar damals diese süße Stewardess geholfen, Lo Yina, aber die lebt längst nicht mehr in Hongkong. Wir hatten noch eine
Weile losen Kontakt, und irgendwann hat sie mir geschrieben, dass sie auf einem Flug einen taiwanesischen Geschäftsmann kennen ge lernt hat, den sie heiraten wollte. Seitdem habe ich nichts mehr von ihr gehört.« »Verstehe«, sagte Zamorra. »Trotzdem danke.« »Halt, warte mal. Dass ich selbst keine Quellen in Hongkong habe, heißt ja nicht, dass ich nicht welche auftun kann. Gib mir nur ein wenig Zeit.« Zamorra grinste. Auf Ted war Verlass. Er zweifelte nicht daran, dass der Reporter Himmel und Hölle in Bewegung setzen würde, um einen brauchbaren Informanten aufzutreiben. Er gab Ted seine Hotelnummer, die er wegen des starken Rauschens noch einmal wiederholen musste, und legte zufrieden auf. Endlich kamen die Dinge in Bewegung. Als Zamorra an den Tisch zurückkehrte, hatte Nicole ihre Mahl zeit schon beendet. »Lust auf Nachtisch?«, fragte sie und klimperte kokett mit den Augenlidern. »Ich dachte, du hast Kopfschmerzen?« »Eben. Und da brauche ich dringend ein bisschen Ablenkung.« Als sie die überdachte Food Street verließen, regnete es wieder in Strömen. Gesichtslose Passanten unter großen Regenschirmen huschten in den Hochhausschluchten an ihnen vorüber. Zamorra fühlte sich für einen Moment in die düstere Welt von »Blade Run ner« hineinversetzt, bis Nicole sich dicht an ihn schmiegte. Die Wär me ihres Körpers vertrieb für einen Augenblick die düsteren Gedan ken. Da sie kein Taxi fanden, gingen sie durch den warmen Regen zurück zum Pier, während sich der Nebel über ihren Köpfen immer mehr verdichtete. Als sie die Fähre betraten, war von Kowloon nichts mehr zu sehen. Die gegenüberliegende Uferseite war ganz im Nebel verschwunden.
6. Der unmögliche Mr. Jenkins Die Nachrichten kamen aus allen Ecken der Stadt, und sie waren äu ßerst beunruhigend. Die Neun Drachen hatten das Kloster in Mong Kok seit Jahren nicht mehr verlassen. Aber sie verfügten über ein ausgezeichnetes Informationssystem, das sie über alle Ereignisse in ihrer Stadt auf dem Laufenden hielt. Doch war Hongkong über haupt noch ihre Stadt? Der Strom der Boten riss nicht ab, die davon berichteten, wie Teddy Changs Leute in rasender Geschwindigkeit eine Bastion nach der anderen nahmen. Während die Triaden verzweifelt die Zahl der bewaffneten Wa chen in ihren Etablissements erhöhten, hatten die Neun Drachen zauberkundige Mönche eingesetzt, um die Besitztümer der ihnen treuen Banden durch Bannsprüche und Amulette zu schützen. Sie hatten den Dämon keine Sekunde aufgehalten. Die Mönche, die eigenhändig versucht hatten, sich dem Bösen ent gegenzustellen, waren von der Armee des Dämons so zugerichtet worden, dass ihre Körper kaum noch zu identifizieren gewesen wa ren. »Teddys Männer haben Ernies Nachtclub in Yau Ma Tai übernom men«, berichtete ein zutiefst verängstigter Informant. Der Mann war einer von Ernies Barkeepern und ein loyales Mitglied der Triade K14, die den Laden kontrolliert hatte. Jetzt kniete er auf dem Steinbo den im Heiligtum der Neun Drachen und wagte es kaum, in die ver steinerten Gesichter der greisen Führer der Bruderschaft zu schauen. »Sie haben mit allen, die sich ihnen nicht anschließen wollten, kurz en Prozess gemacht. Ich habe mich in einem Schrank versteckt und konnte in einem unbeobachteten Moment entkommen.« Der Mann konnte vor Angst und Scham kaum weitersprechen. »Wenn das so weitergeht, gehört ihnen bald die ganze Stadt!«
»Die legitimen Herrscher über Hongkong sind die Neun Drachen. Das war immer so, und das wird sich nie ändern!«, entgegnete Meis ter Shiu scharf. Wie unter Peitschenschlägen duckte sich der Informant unter den zurechtweisenden Worten des uralten Mönchs. »Selbstverständlich, ehrwürdiger Meister, ich meinte nur …« »Teddy Chang ist ein unbedeutendes Insekt«, sagte ein anderer aus der Reihe der uralten Männer. »Er kann diesen Krieg nicht allei ne führen.« »Bei ihm war ein junger Mann mit blondierten Haaren, den ich noch nie zuvor gesehen habe. Er muss eine Art Zauberer sein. Er hat Ernie mit bloßen Händen umgebracht – ohne ihn zu berühren!« Das Drachen-Oberhaupt nickte. Sie hatten derartige Geschichten in den letzten Tagen immer wieder gehört. Sie passten zu den Vi deoaufzeichnungen, die Chin-Li aus dem Haus von Wong Siu-Tung mitgebracht hatte. Der Dämon hatte also die Gestalt eines Menschen angenommen. Aber das machte ihn kein bisschen weniger gefähr lich! »Er ist es«, sagte ein dritter Mönch. »Er muss es sein!« Verständnislos starrte der Barkeeper den Greis an. Aber Meister Shiu sah keine Veranlassung, den verängstigten Mann aufzuklären. Die Bewohner Hongkongs würden noch früh genug erfahren, wel che Gefahr ihnen allen drohte. Ein paar blutige Auseinandersetzun gen in der Unterwelt waren gegen das, was ihnen noch bevorstand, ein harmloses Vorgeplänkel. Wenn die Neun Drachen das Böse nicht aufhalten konnten, stand der ganzen Stadt ein entsetzliches Schicksal bevor. Meister Shiu wollte den Mann schon wegschicken. Es warteten noch unzählige weitere Boten im Vorraum, die Zeuge geworden wa ren, wie die Armee der Finsternis in atemberaubender Geschwindig keit die Stadt übernahm. Aber der Barkeeper war noch nicht fertig. »Da ist noch etwas«, sagte er mit fast unhörbarer Stimme.
»Sprich!«, sagte das Oberhaupt der Neun Drachen ungeduldig. »Teddys Leute, sie sind nicht mehr dieselben, sie haben sich …« Die Stimme des Mannes zitterte. »Sie haben sich verwandelt.« »Verwandelt? In was?« »Ich weiß es nicht, ehrwürdiger Meister. Aber ich konnte sie durch einen winzigen Spalt sehen, während sie über die Gäste und das Personal herfielen.« Tränen kullerten die Wangen des zitternden Mannes herunter. »Teddy sah aus wie immer. Aber seine Leute, sie waren schrecklich entstellt. Ihre Gesichter sahen aus wie verwach sen. Sie hatten riesige Zähne, und die Haut sah aus wie die von Fi schen …« »Trugen sie Masken?«, fragte Meister Shiu. Er hatte gehört, dass die Schergen des Dämons mit außergewöhnlicher Bestialität vorgin gen, dass sie ihre Opfer regelrecht zerrissen. Aber das war neu! »Nein, es waren keine Masken.« Der kniende Mann weinte jetzt hemmungslos. Sein ganzer Körper erzitterte, während er mühsam weitersprach. »Teddys Leute sind Monster. Sie haben sich alle ver wandelt in schreckliche Monster!«
Nach einem opulenten Frühstück ging Zamorra noch einmal seinen Vortrag durch, als Ted zurückrief. Das Rauschen in der Leitung war diesmal noch schlimmer. Zamorra hatte Mühe, seinen nicht gerade mit einem leisen Organ gesegneten Freund zu verstehen. »Verdammt, was ist nur bei euch los?«, maulte Ted. »Ich dachte, Hongkong sei eine Hightech-Stadt. Das rauscht ja schlimmer als 'ne alte Schellack-Platte.« »Ich weiß auch nicht. Vielleicht liegt's am Wetter«, mutmaßte der Parapsychologe, obwohl er selbst nicht so recht daran glauben konnte. »Wenn wir schon mal so eine Art Urlaub machen, erwischen wir natürlich garantiert die Regenzeit. Und jetzt scheint uns auch noch ein Sturm bevorzustehen.«
»Passt auf, dass ihr nicht ins Meer geweht werdet!« Zamorra lachte. »Ein kühles Bad wäre bei diesen Temperaturen gar nicht so schlecht.« »Vorsicht, im südchinesischen Meer wimmelt es nur so von Hai en.« »Die werden es nicht wagen, sich mit einem waschechten Profes sor anzulegen. Zur Not können sie ja Nicole fressen.« »Oh, weiß deine Freundin, dass du sie loswerden willst?« Teds Stimme klang fröhlich, aber Zamorra entging nicht der kaum wahr nehmbare bittere Unterton. Vermutlich dachte der Reporter gerade an seine eigene Freundin Carlotta. Seit einiger Zeit stimmte mit der heißblütigen Römerin etwas nicht, doch keiner der Freunde wusste, was es war. Seit Monaten versuchte sie, Ted von jedem Einsatz ab zuhalten, oder sie bestand mit ungewöhnlicher Vehemenz darauf, dabei zu sein. Fast so, als habe sie düstere Vorahnungen, über die sie nicht sprechen konnte oder wollte. Aber Zamorra hatte nicht den Eindruck, dass Ted gerade über Carlotta reden wollte, deshalb wechselte er schnell das Thema. »Hast du was rausbekommen?« »Habe ich. Ein chinesischer Bekannter von mir war Redakteur bei der South China Morning Post, bis ihm das Klima dort nicht mehr passte. Seit der Rückgabe Hongkongs an China ist das Blatt auf Ku schelkurs mit den neuen Machthabern. Einige besonders kritische Mitarbeiter mussten sogar gehen. Stanley wartete nicht darauf, dass sie ihn auch rausschmissen, sondern ging von selbst. Heute arbeitet er für die Washington Post. Aber er kennt natürlich noch 'ne Menge Leute von damals. Einer seiner wichtigsten Informanten war ein ehemaliger MI6-Agent namens Jenkins, der nach 1997 in Hongkong hängen geblieben ist und sich jetzt mit windigen Geschäften durch schlägt.« »Ein früherer Mitarbeiter des britischen Auslandsgeheimdienstes? Und die Chinesen lassen ihn einfach so gewähren?« »Oh, ich glaube nicht, dass er bei den Schlapphüten eine beson
ders große Nummer war. Vielleicht wissen die Chinesen nicht ein mal, dass er früher im Geheimdienst Ihrer Majestät seine Brötchen verdient hat. Und die Tommys waren wohl auch ganz froh, dass sie ihn los waren.« »Was soll das denn wieder heißen?«, fragte Zamorra alarmiert. »Na ja, laut Stan ist dieser Jenkins etwas, sagen wir … gewöh nungsbedürftig.« »Gewöhnungsbedürftig?«, echote der Parapsychologe, der das Schlimmste befürchtete. »Inwiefern?« »Das wirst du schon merken«, sagte Ted, und seine Stimme klang ganz unangemessen amüsiert. »Stan behauptet jedenfalls, Jenkins sei ein Typ, den man so schnell nicht wieder vergisst. Aber lass dich von seinem Auftreten nicht täuschen. Seine Informationen sollen sehr zuverlässig sein.« »Deine Worte in Merlins Gehörgang«, sagte Zamorra, doch die Antwort des Reporters ging fast völlig im Rauschen unter. »Verdammt«, fluchte Zamorra, doch sofort war Ted wieder da. »Wer ist verdammt?« »Der chinesische Telefongott, wenn er hier weiter so rumrauscht!« »Sei vorsichtig mit dem, was du sagst. Chinesische Götter sind sehr nachtragend.« Zamorra schrieb sich Jenkins' Nummer auf und verabschiedete sich schnell, bevor die Leitung endgültig zusammenbrach. Sofort im Anschluss wählte er die Nummer des ehemaligen MI6-Agenten. »Ja«, meldete sich nach mehrfachem Klingeln eine misstrauische Stimme. Die Verbindung war ausgezeichnet. Also schien nur der Kontakt nach außen gestört zu sein. »Mister Jenkins?« »Wenn Sie das sagen. Wer ist da?« »Mein Name ist Zamorra. Ich bin Wissenschaftler und brauche Hilfe bei einer Recherche.« Der Parapsychologe hatte die Erfahrung
gemacht, dass sein doch eher spezielles Fachgebiet bei vielen Men schen auf Misstrauen stieß, die in der Parapsychologie nicht mehr sehen wollten als Hokuspokus und Scharlatanerie. Deshalb blieb er in dieser Hinsicht erstmal bewusst vage. Aber auch sein Gesprächs partner schien nicht immer gleich alle Karten offen auf den Tisch zu legen. »Wer hat mich empfohlen?«, fragte Jenkins. Er klang fast pikiert, dass seine Nummer überhaupt weitergegeben worden war. »Mein Freund Ted Ewigk. Er hat die Nummer von einem Kolle gen, der früher bei der South China Morning Post war.« »Oh, der große Ted Ewigk!« Zamorra war sich nicht sicher, ob die Stimme des Ex-Agenten höhnisch oder bewundernd klang. »Der Mann, der fast im Alleingang mit der Bruderschaft des Allessehen den Drachen aufgeräumt hat.« Der Parapsychologe war beeindruckt. Es war damals nicht gerade an die große Glocke gehängt worden, dass Ted dem unseligen Trei ben der Sekte ein Ende bereitet hatte. Außerdem war der Reporter damals unter seinem Tarnnamen Teodore Eternale aufgetreten. Im merhin war Jenkins offenbar verborgen geblieben, dass es eigentlich Reek Norr war, der den Allessehenden Drachen getötet hatte. Und das war auch gut so. Schließlich sollte niemand etwas von der Exis tenz des Sauroiden erfahren. Teds Name schien dem Ex-Agenten als Referenz zu genügen. Sie verabredeten sich für drei Uhr im Foyer des Peninsula Hotels. »Wie erkenne ich Sie?«, fragte Zamorra abschließend. »Ich erkenne Sie. Und bringen Sie Geld mit. Genug Geld!« »Sicher«, erwiderte der Dämonenjäger seufzend.
Das dezent auf einem kleinen Balkon untergebrachte Kammeren semble spielte gefällige Klassikhäppchen von Mozart bis Chopin. Weiß livrierte Kellner huschten umher, um die Gäste des Cafés in
der mit vergoldetem Stuck verzierten Hotelhalle mit Speisen und Getränken zu versorgen. Das 1928 eröffnete Peninsula war einer der wenigen Orte in Hongkong, an denen noch etwas von der Atmo sphäre der früheren Kolonialzeit zu erahnen war. Ansonsten hatte sich Hongkong in den letzten Jahrzehnten baulich so stark verän dert, dass jedes noch erhaltene Gebäude aus dieser Zeit in den Rei seführern einzeln aufgeführt war. Die beiden Franzosen hatten gerade an einem der kleinen Tisch chen Platz genommen, als sich auch schon ein chinesischer Kellner mittleren Alters näherte, um nach ihren Wünschen zu fragen. Seine Hände zitterten leicht, als er den Block zückte, um die Bestellung aufzunehmen. »Tee«, orderte Nicole. »Darjeeling.« Zamorra schloss sich an. Zwar waren die beiden Dämonenjäger eher Kaffeetrinker, aber das gediegene Ambiente ließ eindeutig kei ne andere Wahl zu als Tee. Amüsiert betrachtete der Parapsycholo ge die Heerscharen von Touristen, die auf ihrem Rundgang durch die umliegenden Peninsula-Shopping-Arkaden staunend durch die altehrwürdige Hotelhalle schlichen und mehr oder weniger dezent Fotos machten. Doch nicht nur die Touristen störten das Gesamt bild. Irritiert bemerkte Zamorra, dass sich hier und da Misstöne in das Spiel der drei Musiker auf dem Balkon schlichen. Gestern hatte dasselbe Trio noch mit bemerkenswerter Virtuosität musiziert. Bei einem Stück, einem Walzer von Chopin, vergriff sich der Pianist so gar so sehr, dass das Ensemble neu ansetzen musste. Zamorra dachte an das Rauschen in der Telefonleitung, als er mit Ted gesprochen hatte. Und an Professor Chow, der sich unverse hens von einem herzlichen Gastgeber in einen kiebigen Misanthro pen verwandelt hatte. Seltsam, wie die Misstöne um sie herum stän dig zunahmen. Der Kellner brachte jedem ein großes Kännchen Tee und zog sich diskret wieder zurück. Nicole beobachtete scheinbar müßig die Ho telgäste und Touristen, aber Zamorra wusste, dass sie hellwach war
und in der Umgebung nach ihrer Verabredung Ausschau hielt. Ihm entging aber auch nicht, dass sie offenbar wieder unter heftigen Kopfschmerzen litt, obwohl kein Wort der Klage über ihre Lippen kam. Nicole war niemand, der mit seinem Elend hausieren ging. Aber ein gelegentliches Flackern in ihren Augen verriet, wie schlecht es ihr wirklich ging. Es war bereits kurz nach drei, aber Jenkins ließ sich nirgendwo bli cken. Dann rümpfte Nicole angewidert die Nase. »Stimmt etwas mit deinem Tee nicht, Cherie?«, fragte Zamorra scheinbar besorgt. In Wahrheit hatte er den Grund ihres Missfallens längst bemerkt. »Von wegen! Der Tee ist klasse. Was man von dem Typen da nicht gerade sagen kann!« Nicole war kein Snob, aber sie besaß ein untrügliches Stilgefühl. Und das musste bei dem fast zwei Meter großen Schlaks, der vor ih nen durch die Hotelhalle schlurfte, entsetzt aufschreien. Der Typ hatte leicht gelocktes, kurz geschnittenes blondes Haar und einen Magnum-Schnurrbart und war selbst für Zamorras Verhältnisse ganz unangemessen leger gekleidet. Er trug ein armfreies graues TShirt mit dem Aufdruck eines Tauchclubs in Los Angeles und aus geleierte graue Shorts. Seine nackten Füße steckten in braunen San dalen. Dass in Hongkong überall größter Wert auf korrekte Klei dung gelegt wurde, schien den Zwei-Meter-Mann nicht zu interes sieren. Stumpf ließ er seinen Blick durch die Hotelhalle wandern, so als könne er die Pracht einer längst vergangenen Epoche gar nicht verarbeiten. »Hat wohl seine Reisegruppe verloren und weiß jetzt nicht, wie er zurück in sein Hotel kommen soll«, lästerte Nicole. »Das glaube ich kaum«, erwiderte Zamorra grinsend. Denn er hat te das kurze, fast unmerkliche Aufblitzen in den Augen des Schlak ses bemerkt, als sein Blick scheinbar teilnahmslos über die Franzo sen hinweggeglitten war. Und tatsächlich schlurfte der gewagt ge kleidete Hüne scheinbar zufällig auf ihren Tisch zu.
»Nein«, stöhnte Nicole. »Sag mir, dass das nicht wahr ist.« Viel leicht war sie ja doch ein Snob. Manchmal jedenfalls. »Ich fürchte doch, Cherie. Aber du wirst doch einen Menschen nicht nur nach seinem Äußeren beurteilen wollen?«, stichelte Za morra. »Der Kerl sieht nicht aus wie ein Geheimagent, sondern wie der letzte amerikanische Tourist.« »Sähe er aus wie ein Geheimagent, wäre er ja nicht mehr geheim. Außerdem können ja nicht alle im Secret Service aussehen wie Pier ce Brosnan.« »Warum denn nicht?«, fragte Nicole genießerisch. »Ich wäre sehr dafür.« »Ist hier noch frei?«, unterbrach der Schlaks sie und setzte sich, ohne eine Antwort abzuwarten. »Mein Gott, ist das heiß draußen«, stöhnte der Hüne und schnüf felte angelegentlich an seiner linken Achselhöhle. »Da kommt kein Deo der Welt mit. Man schwitzt wie Sau und stinkt nachher wie der letzte Mensch.« »Offensichtlich!«, erwiderte Nicole freundlich. »Mister Jenkins, nehme ich an?«, fragte Zamorra und bedachte sei ne Freundin mit einem scharfen Blick. Sie wollten ihren Informanten schließlich nicht gleich wieder vertreiben. Doch Mr. Jenkins hatte seinerseits eine recht eigenwillige Auffassung von Höflichkeit. »Mein Gott, ein Schnellmerker. Kein Wunder, dass sie Professor sind und ich nur ein lausiger Informant. Gibt's hier nichts zu trin ken?« Gab es. Der Kellner war sofort zur Stelle. Der Blick, mit dem er den schwitzenden Barbaren vor sich betrachtete, verriet offene Feindseligkeit. Mein Gott, was ist nur los mit dieser Stadt? Drehen hier langsam alle durch?, dachte Zamorra. Jenkins' Bestellung war nicht gerade dazu angetan, seine Sorgen zu zerstreuen. »Bier! Aber nicht die Katzenpisse, die ihr sonst hier serviert!« Mit
einem verächtlichen Zucken in den Mundwinkeln nahm die Bedie nung die Bestellung auf und knallte wenig später eine Flasche ame rikanischen Gebräus auf den Tisch. Mit offensichtlichem Behagen gönnte sich Jenkins einen großen Schluck der geschmacklosen Flüs sigkeit, die Zamorra nur mit einigem Widerwillen als Bier bezeich nen mochte. Der Parapsychologe kam schnell zur Sache. Er holte die Zeichnung hervor, die er von der Tätowierung der Killerin angefertigt hatte. »Kennen Sie das?« Jenkins warf nur einen Seitenblick auf das Papier, bevor er sich wieder hingebungsvoll seinem Bier widmete. Aber Zamorra hatte wieder das Blitzen in seinen Augen gesehen. Und ein Blick zu Nico le überzeugte ihn davon, dass sie es auch gesehen hatte. Der Brite war alles andere als der tumbe Barbar, den er ihnen hier vorspielte. Auf die Nerven ging er Zamorra trotzdem. Und zwar mit jeder Se kunde mehr. »Das Zeichen der Bruderschaft der Neun Drachen. Der Schriftzug da unten bedeutet Tin Hau. Das ist ihre Schutzgöttin«, sagte Jenkins leichthin. Doch trotz seiner zur Schau gestellten Gleichmütigkeit wirkte der Ex-Agent plötzlich sehr angespannt. »Wo haben Sie das her?«, fragte er misstrauisch und nahm einen ordentlichen Schluck Bier. »Dieses hübsche Schuppentier schmückt den Arm einer jungen Chinesin. Sie wollte mich gestern umbringen.« Jenkins spuckte sein Bier vor Schreck über den ganzen Tisch. Fas sungslos starrte er die beiden Franzosen an, die ihn seelenruhig an sahen. »Die Neun Drachen?«, fragte Nicole. »Was sind das für Vögel?« »Eine der unzähligen Geheimgesellschaften hier in Hongkong und wahrscheinlich die älteste und mächtigste von ihnen. Es soll sie schon gegeben haben, als hier gerade mal ein paar armselige Fi scherdörfer standen. Gegen die ist die Sekte, mit der Ihr Kumpel Ewigk zu tun hatte, die reinste Folkloretruppe.«
»Das heißt, sie stehen auf der Seite des Bösen«, schlussfolgerte Za morra. »Nicht unbedingt, aber das kann man in Hongkong nicht immer so einfach unterscheiden. Die Neun Drachen haben auf jeden Fall seit jeher enge Verbindungen sowohl zur politischen und wirtschaft lichen Elite als auch zu den Triaden. Viele vermuten sogar, dass sie es sind, die in Wahrheit Hongkong regieren und schon immer re giert haben. Früher, unter den Briten, und jetzt unter diesen gottver dammten Kommunisten. Aber Genaues weiß niemand. Und jeder, der etwas weiß, hütet sich, darüber zu sprechen. Wenn Sie mit de nen Krach haben, sollten Sie schleunigst von hier verschwinden.« »Das kommt gar nicht in Frage«, stellte Zamorra klar. »Bitte, es ist Ihr Leben«, erwiderte Jenkins und rülpste laut und vernehmlich. »Aber lassen Sie mich bitte da 'raus. Ich möchte mit den Brüdern nichts zu tun haben.« Der schnurrbärtige Hüne stand auf. »Setzen Sie sich wieder hin!«, sagte Zamorra. »Warum sollte ich? Damit die mich wegen Ihrer Naivität zu Chop Suey verarbeiten? Nein danke!« »Kann Sie das vielleicht überzeugen?«, fragte Zamorra und schob unauffällig einen kleinen Briefumschlag über den Tisch. Jenkins nahm den Umschlag auf, sah kurz hinein und pfiff leise durch die Zähne. Zamorra hatte sich nicht lumpen lassen. Wenn der Ex-Agent das hielt, was Teds Kollege versprochen hatte, kam es ihm auf ein paar hundert Hongkong-Dollar mehr oder weniger nicht an. Sicher war er sich hinsichtlich Jenkins' Qualitäten freilich immer noch nicht. »Nicht schlecht, Mister. Aber umbringen lasse ich mich für die paar Kröten trotzdem nicht«, sagte Jenkins, machte aber keine An stalten, den Umschlag zurückzugeben. »Das verlangt auch niemand. Sie sollen nur ein bisschen die Ohren offen halten und ein paar Dinge für uns rauskriegen.«
»Zum Beispiel?« »Warum wollten die Neun Drachen mich umbringen? Und wie kann ich Kontakt mit ihnen aufnehmen?« »Kontakt? Sind Sie lebensmüde?« Zamorra grinste. »Nicht im Geringsten. Gerade deshalb möchte ich diese feinen Gentlemen fragen, warum sie es auf mich abgesehen haben.« »Und dabei nicht nur Ihr Leben, sondern auch das dieser schönen Lady hier riskieren? Sie spinnen, Mann! Kratzen Sie die Kurve, so lange Sie noch können.« »Die schöne Lady kann ganz gut auf sich selbst aufpassen«, fauch te Nicole. »Ist ja schon gut, Mädchen! Emanze, was?« Nachdenklich holte Jenkins eine Rolle Pfefferminz aus seiner Shorts und nahm drei her aus, ohne den beiden Franzosen eins anzubieten. »Hab aufgehört zu rauchen«, murmelte er, während er die dünnen Plättchen mit lau tem Knacken zerbiss. Schließlich nahm er den letzten Schluck Bier, spülte damit das Pfefferminz herunter und stand auf. »Wie Sie meinen«, sagte er und steckte den Umschlag ein. »Wenn Sie das Gleiche noch mal drauflegen, sind wir im Geschäft.« Zamorra nickte. »Sobald Sie die Informationen für uns haben!« »Ich rufe Sie an«, sagte Jenkins. »Ich gebe Ihnen unsere Nummer.« Der Ex-Agent winkte ab. »Ich erreiche Sie schon. Aber Sie sollten sich wirklich vorsehen. Diese Stadt hat sich verändert.« »Wie meinen Sie das?«, fragte Zamorra. Er dachte an das seltsame Misstrauen und die latente Aggression, die ihnen seit ihrer Ankunft entgegenschlugen. Und an das Massaker in der Deep Water Bay, von dem er in der Zeitung gelesen hatte. »In der Unterwelt rumort es, offenbar befinden wir uns mitten in einem Bandenkrieg. Aber das allein ist es nicht. Es sind die Leute, die … irgendwie anders sind. Es ist, als hätte sich ein unsichtbarer
Schatten über Hongkong gelegt. Ich merk's an mir selbst. Ich bin ei gentlich ein ganz umgänglicher Typ, wissen Sie. Aber ob Sie's glau ben oder nicht, in letzter Zeit bin ich ziemlich unausstehlich. Und das kann einem wirklich Angst machen.« Grußlos drehte sich der Ex-Agent um und ging. Während die bei den Franzosen ihm nachsahen, verpatzte der Geiger auf dem Balkon seinen Solopart in einem Trio von Beethoven. Das Fluchen war bis hinunter ins Foyer zu hören.
Der Geruch von asiatischen Gewürzen, getrocknetem Fisch und ge bratenen Speisen vermischte sich in der dampfenden Hitze des Ta ges zu einem intensiven Duftgebräu, das empfindlichere westliche Nasen vielleicht als penetrant empfunden hätten. Zamorra genoss dagegen das exotische Flair der engen, mit Marktständen und Gar küchen voll gestopften Gassen des Western Districts. In direkter Nachbarschaft zum Banken- und Geschäftsviertel Central mit seinen futuristisch anmutenden Wolkenkratzern tauchte der Hongkong-Be sucher in eine Welt ein, wie sie chinesischer nicht hätte sein können. Doch so sehr Zamorra die trubelige Atmosphäre des Viertels auch mochte, so deutlich spürte er, dass das geschäftige Treiben um ihn herum nur Fassade war. »Diese Stadt hat sich verändert«, hatte Jen kins gesagt. Der Parapsychologe begriff immer mehr, was der ExAgent gemeint hatte. Eine lähmende Mischung aus Furcht und Misstrauen schien sich über Hongkong gelegt zu haben. Die Bedro hung war nicht greifbar, aber sie zeigte sich in jedem Blick, jeder Geste der Einheimischen. Ein verdächtiges Flackern in den Augen, ein kurzes Zögern – mehr war es oft nicht, und doch waren die Zei chen unübersehbar. Etwas stimmte mit dieser Stadt nicht! Sie waren spazieren gegangen, weil Nicole immer noch unter un erträglichen Kopfschmerzen litt, die selbst eine halbe Packung Aspi rin nicht hatte lindern können. Doch die vor Hitze flirrende, von
Feuchtigkeit durchtränkte Luft brachte kaum Erfrischung, und auch von dem bunten Treiben um sich herum mochte sich Nicole nicht ablenken lassen. Seit dem Treffen mit Jenkins war es ihr permanent schlechter gegangen. Selbst ein Abstecher in ein paar Luxusbou tiquen hatte sie nicht auf andere Gedanken gebracht, und das war wirklich beunruhigend. Schließlich gab es für Nicole kaum eine grö ßere Freude, als auf Kosten ihres geplagten Freundes extravagante Fummel zu kaufen, die dann kaum getragen in den Schränken von Château Montagne verstaubten. »Ich hasse Hongkong!«, murmelte Nicole, die missmutig neben Zamorra hertrottete. »Unseren Urlaub habe ich mir wirklich anders vorgestellt. Und es ist viel zu laut hier.« »Zu laut?« Besorgt sah Zamorra seine Freundin an. Sicher, Hong kong war vermutlich eine der lautesten Städte der Welt, aber bisher hatte sich Nicole nicht als besonders lärmempfindlich erwiesen. »Ja, einfach zu laut!« »Sollen wir zurück ins Hotel?« »Red keinen Bockmist! Sehe ich aus wie ein Weichei?« Zamorra zuckte mit den Achseln. Wenn Nicole in so einer Stim mung war, ließ man ihr am besten ihren Willen. Während sie sich weiter durch die engen Gassen zwängten, konzentrierte sich Zamor ra auf das allgegenwärtige Gemurmel um sie herum. Aufgrund ei ner seltsamen, ihm selbst kaum verständlichen Gabe konnte sich der Parapsychologe in fast allen Sprachen der Welt verständigen. Inner halb kürzester Zeit »fühlte« er sich mühelos in fremde Idiome ein. Obwohl er in seinem Leben nie eine Stunde Kantonesisch-Unterricht gehabt hatte, verstand er deshalb so gut wie alles. Vor ihnen schimpfte ein dicker Familienvater, dass ihm seine Frau und seine drei Kinder die Haare vom Kopf fräßen, neben ihnen fühl te sich ein junges Mädchen von ihrem Freund vernachlässigt, den sie außerdem verdächtigte, eine Geliebte zu haben. Ein paar Schritte weiter zeterte eine alte Frau über die Regierung, die sie angeblich alle ausspionierte.
Scheinbar ganz normale Gespräche. Aber Zamorra hörte nirgend wo ein nettes Wort, eine Liebeserklärung oder ein Kompliment. Er spürte deutlich, wie sich die Furcht selbst in die alltäglichsten Dinge einschlich und die Seelen vergiftete. Zu laut. Und plötzlich wusste Zamorra, was mit Nicole los war. Alarmiert drehte er sich zu seiner Lebensgefährtin um. Aber Nicole nahm ihn gar nicht mehr wahr. Sie war kreidebleich und sah stier geradeaus, so, als blicke sie durch die unzähligen Menschen, die sich ihr entge gendrängten, einfach hindurch. Sanft griff er nach ihrer Schulter. Mit leerem Blick starrte Nicole ihn an. »Nici, komm zu dir! Wir müssen zurück ins Hotel!« »Zu laut, Chef, es ist einfach …«, stöhnte Nicole. Dann brach sie zusammen.
Teddy Chang sah angewidert zu, wie seine Leute die Gäste auffra ßen. Ein widerliches Schmatzen und Schlürfen erfüllte die verwüste te Bar, als die zu Monstern mutierten Gangmitglieder riesige Fleischstücke aus den toten Körpern rissen und gierig hinunter schlangen. Teddys Gesicht hatte jede Farbe verloren. Der dicke Gangster unterdrückte mühsam ein Würgen, bis er es nicht mehr aushielt. Fasziniert sah der Fremde zu, wie sich Teddy in die Spüle erbrach. Wie konnte jemand, der so wenig Skrupel hatte, nur so zart besaitet sein? Schließlich hatte Teddy Chang nicht das Geringste gegen Ge walt. Er genoss es sogar, wenn er andere Menschen quälen und fol tern durfte. Aber die schrittweise Verwandlung seiner Bande und ihr zunehmend stärker werdender Hunger nach Menschenfleisch ging ihm schwer an die Nieren. Die Bestialität dieser Kreaturen war selbst für ihn zu viel. Nicht, dass Teddy Mitleid mit seinen grässlich entstellten Leuten
oder ihren Opfern gehabt hätte. So etwas lag ihm fern. Er wollte nur nicht dabei sein, wenn die Bestien ihr blutiges Geschäft verrichteten. Ihm reichte es ganz und gar, die Früchte ihres Sieges zu genießen. Weichling, dachte der Fremde angewidert. Er hatte darauf bestan den, das Teddy mitkam, um sich an seinem Entsetzen zu weiden. Aber er wusste nicht, wie lange er den dicken Gangster noch ertra gen konnte. Teddys Grausamkeit war kindlich und dumm. Er besaß nicht den geringsten Sinn für die wahre Schönheit des Schreckens. In einer Ecke der zerstörten Bar in Tsim Sha Tsui hockte eine jäm merliche Gruppe verstörter Gangster, die dem Treiben entsetzt zu sah. Das Orchid war ein beliebter Treffpunkt der Triaden. Der Frem de hatte die Hälfte der Gäste und des Personals massakrieren lassen. Die anderen hatte er vor die Wahl gestellt, sich entweder seiner Ar mee anzuschließen oder zu sterben. Nur zwei hatten den ehrenvol len Tod gewählt. Die anderen wollten leben. Sie würden leben! Aber wie, davon machten sie sich keine Vorstel lung. Obwohl sie es wohl langsam ahnten, während sie mit schre ckensgeweiteten Augen zusahen, wie die Bestien über ihre toten Ka meraden herfielen! Der Fremde lachte, als er an das Schicksal dachte, das diesen jäm merlichen Insekten bevorstand. Und das war erst der Anfang! Ein warmer Strom durchfloss den Dämon. Jedes Opfer erhöhte sei ne Macht. Ihr Tod war wie ein heftiger Energiestoß, der aber nicht lange vorhielt. Viel mehr Kraft floss ihm von denen zu, die sich – ob freiwillig oder nicht – seiner Armee anschlossen. Sie versorgten ihn mit einem konstanten Energiestrom, der mit der rasch wachsenden Zahl seiner Soldaten immer stärker wurde. Und auch die diffuse Angst der ganz normalen Bewohner Hongkongs, die unbewusst sei ne Rückkehr spürten, ohne wirklich zu wissen, was es war, das ih nen die Brust zuschnürte, gab ihm neue Nahrung. Wie ein Parasit ernährte sich der Dämon von Lebensenergie, von Schmerz und von purer Angst. Und er wurde dabei mächtiger als je
zuvor! Genau das war der Grund, warum er nach und nach ein Gebiet der Neun Drachen nach dem anderen übernahm, obwohl er für die unzähligen Bars und Bordelle nicht die geringste Verwendung hatte. Aber so verbreitete sich die Furcht wie ein Lauffeuer in der Stadt. Und das war auch der Grund, warum er immer wieder Augenzeu gen entkommen ließ, wie diesen jämmerlichen Barkeeper in Ernies Bar, der sich in einem Schrank versteckt und tatsächlich geglaubt hatte, er hätte ihn nicht bemerkt. Er war nur ein nützliches Werk zeug. Ein Bote, der von der rasanten Ausweitung seiner Schreckens herrschaft berichtete. Und so die Furcht immer weiter in die Herzen der Menschen trieb!
Als Nicole erwachte, war die Sonne bereits untergegangen. Zamorra hatte seine Freundin mit einem Taxi ins Peninsula transportiert. Die Hotelangestellten hatten zwar etwas sparsam geguckt, als er die be wusstlose Französin aufs Zimmer getragen hatte, aber nachdem er sein Portemonnaie gezückt hatte, stellten sie keine weiteren Fragen. Allerdings reagierten sie doch etwas entsetzt, als er ihr Angebot, einen Arzt zu rufen, rundweg ablehnte. Aber Zamorra wusste, dass irdische Medizin Nicole nicht helfen konnte. Trotzdem unterzog er sie vorsichtshalber selbst einer schnel len Untersuchung. Im Laufe der Jahre hatte sich der Dämonenjäger ein rudimentäres medizinisches Wissen angeeignet, das in Situatio nen wie dieser von unschätzbarem Wert war. Nachdem er sich da von überzeugt hatte, dass Nicoles Körperfunktionen normal waren, zog er sich einen Sessel neben das Bett und machte selbst für ein paar Minuten die Augen zu. »Chef?« Schlagartig war Zamorra wieder wach. Mit schmerzverzerrtem Blick sah Nicole ihn an. Sie versuchte ein Lächeln. Es gelang ihr nicht allzu gut.
»Was ist passiert?« »Du bist zusammengeklappt. Mitten auf der Straße.« »Oh«, sagte Nicole leise. »Ich erinnere mich. Muss an diesem ver dammten Wetter liegen.« »Nein«, sagte Zamorra. »Das Wetter hat nicht das Geringste damit zu tun.« Und er erklärte ihr seine Theorie. Es ist, als hätte sich ein unsichtbarer Schatten über Hongkong ge legt, hatte Jenkins gesagt. Und genau das war passiert. Etwas Böses braute sich in dieser Stadt zusammen, und die Menschen konnten es unterbewusst spüren. Etwas »sickerte« in sie ein und machte sie misstrauisch, ängstlich oder aggressiv. So wie Professor Chow, In spector Tong oder Jenkins selbst. Zamorra und Nicole waren zwar durch mentale Barrieren vor Hypnose oder ähnlichen Beeinflussun gen geschützt, aber Nicole war auch Telepathin. Und so nahm sie auf diesem Weg unbewusst all die negativen Emotionen um sich herum in sich auf. »Es ist wie ein Einfallstor«, erklärte Zamorra. »Da dein Gehirn die sen Ansturm nicht verarbeiten konnte, reagierte es mit immer uner träglicheren Kopfschmerzen. Und als du in Western(gängige Abkür zung für Western District) von anderen Menschen quasi umzingelt warst, wurde es endgültig zu viel, und du bist zusammengeklappt.« »Eine Überdosis an bad vibrations!« »Ganz genau.« »Scheint so, als bringe jede Gabe automatisch ihren Fluch mit sich«, sagte Nicole zerknirscht. »Aber wenn es ein Tor ist, kann man es verschließen. Was schlägst du vor?« »Eine hypnotische Blockade.« Nicole nickte. Am Flackern ihrer Augen erkannte Zamorra, dass es ihr kaum besser ging als vor ihrem Zusammenbruch. Nur mit Mühe konnte sie sich auf das Gespräch konzentrieren. Sie mussten schnell handeln, bevor Nicole mental nicht mehr in der Lage war, sich auf
die Hypnose einzulassen. Zamorra löschte das Licht bis auf ein paar kleine Lämpchen im Hintergrund, sodass im Raum ein angenehmes Halbdunkel herrsch te. Nicole setzte sich direkt vor Zamorras Sessel auf die Bettkante. Das sonst so gepflegte Haar hing ihr in wirren Strähnen ins Gesicht. Sie fingen mit ein paar Entspannungsübungen an. Sie würden Nico le nur kurzfristig Erleichterung bringen, aber das genügte für ihre Zwecke schon. Dann ließ Nicole ihre mentale Barriere fallen, die sie vor telepathi schen oder hypnotischen Beeinflussungsversuchen schützte. »Du wirst jetzt sehr müde. Du nimmst nichts mehr um dich herum wahr außer meiner Stimme«, befahl Zamorra. Er brauchte kein Pen del, um Nicole in Trance zu versetzen. Das war ein Theatereffekt für Scharlatane. Aber er bekam Unterstützung von Merlins Stern. Auf geheimnisvolle Weise verstärkte die handtellergroße Silberscheibe Zamorras hypnotische Kraft. Als Nicole in Trance war, blockierte Zamorra ihre telepathischen Fähigkeiten. Sie konnte jetzt nicht mehr die Gedanken anderer Leute lesen, blieb aber auch von deren negativen Ausstrahlungen unbeein flusst. Mit einem posthypnotischen Befehl konnte er die Blockade später jederzeit wieder aufrieben. »Schlaf jetzt«, sagte Zamorra, als er fertig war. Sofort sackte Nicole in sich zusammen. Der Parapsychologe fing sie sanft auf und legte sie wieder ins Bett. Dann konzentrierte er sich erneut und blockierte seine eigenen telepathischen Fähigkeiten per Selbsthypnose. Zamor ra war selbst nur ein äußerst schwacher Telepath, und im Gegensatz zu Nicole war er bislang von negativen Auswirkungen verschont geblieben. Aber sicher war sicher. Denn was immer mit dieser Stadt passierte, es würde noch schlim mer werden!
7. Eine Frage der Gerechtigkeit Der Sohn des Himmels betrachtete aufmerksam den Horizont. Sein Name war Di Zheng und er war auf der Flucht vor den mongolischen Horden, die das Reich der Mitte überrannten. Obwohl er noch nicht das Mannesal ter erreicht hatte, ahnte der Kaiser tief in seinem Inneren, dass er der letzte Herrscher der Song-Dynastie sein würde. Hier, auf dieser fast unbewohn ten Halbinsel an der Südküste Chinas, hatte er mit seinen Getreuen vor übergehend Zuflucht gesucht. Der Blick des Kaisers schweifte über die grüne Gebirgslandschaft. Er brauchte etwas, an dem er sich festhalten konnte. Das ihm Kraft gab in die sen Stunden der Verzweiflung. »Acht Berge«, sagte er schließlich. »Acht Berge und acht Drachen.« Die Beamten, Diener und Soldaten, die den Himmelssohn auf der Flucht vor den Mongolen begleiteten, nickten eifrig. Schließlich wusste jedes Kind in China, dass auf jedem Berggipfel ein Drache wohnte. Und auch wenn das nicht so gewesen wäre, hätte es natürlich niemand gewagt, dem Kaiser zu widersprechen. »Acht Drachen«, wiederholte Di Zheng. »Wir sollten diesen Ort nach ih nen benennen.« Wieder nickten alle, diesmal noch viel eifriger. Schließlich brachten Drachen den Menschen Glück und Wohlstand. Diesen trostlosen Ort am Ende der Welt nach ihnen zu benennen, würde ihnen sicher Mut geben und ihnen helfen, die Strapazen der Flucht besser zu ertragen. »Eure Majestät, wenn Euer nichtswürdiger Diener dies bemerken darf: Es sind tatsächlich neun Drachen«, sagte plötzlich ein dicklicher Mann aus dem kaiserlichen Gefolge. Es war ein ranghoher Beamter, der in seiner Karriere vor allem durch ausgiebige Speichelleckerei aufgefallen war. Di Zheng mochte ihn. Umso schockierter war er, dass er ihm offen wider sprach, hier, vor all seinen Untertanen. Auch die Umstehenden waren blass geworden. Niemand widersprach
dem Kaiser! Das war ein ungeheuerliches Sakrileg. »Deine Augen ähneln denen eines alten Greises«, sagte der minderjähri ge Kaiser scharf. »Es sind nur acht Berge. Zähl nach!« »Nie würde ich es wagen, Eurer allumfassenden Weisheit zu widerspre chen, Majestät«, sagte der Beamte unterwürfig und verbeugte sich so tief dass seine Stirn fast den Boden berührte. »Es sind tatsächlich acht Berge …« »Na also, was faselst du dann von neun?«, herrschte ihn der Sohn des Himmels an. »In Eurer unvergleichlichen Bescheidenheit habt Ihr unerwähnt gelassen, dass Ihr auch ein Drache seid. Und wenn ich mir in aller Ehrfurcht die Anmerkung gestatten darf, der herrlichste von allen.« Der Hofstaat atmete merklich auf, und auch der Zorn des Kaisers war mit einem Mal verraucht. »Das ist wahr«, sagte Di Zheng geschmeichelt. Der dicke Beamte hatte tatsächlich Recht. Schließlich war der Drache auch das Symbol des Kaisers. Nicht umsonst sprach man vom Drachenthron. »Neun Drachen, also. So wollen wir diesen Ort nennen. Neun Drachen. Gau Lung!« Amüsiert legte Meister Shiu das Buch zur Seite, in dem er gerade gelesen hatte. Jeder in Hongkong kannte diese Geschichte. Die Ein heimischen hatten sie einst den Briten erzählt, als die fremden Teu fel wissen wollten, warum die Halbinsel vor der Insel Hongkong Gau Lung genannt wurde. Und in ihrer barbarischen Sprache, ihrem Englisch, hatten die Ausländer aus Gau Lung Kowloon gemacht, wie die Halbinsel bis heute hieß. Auch die anrührende Geschichte über den Kaiser und die neun Drachen lebte fort. Die chinesische Bevölkerung hatte sie so oft gehört, dass viele Ein heimische inzwischen selbst daran glaubten. Aber natürlich war sie eine Lüge! Ein aus der Situation heraus erfun denes Märchen, das unerwartet die Jahrhunderte überdauert und Eingang in zahllose Bücher gefunden hatte. Meister Shiu war das nur recht. So mächtig die Bruderschaft war, so wenig Wert legte sie auf öffentliche Aufmerksamkeit. Und schon
gar nicht sollte die Welt erfahren, dass es die Bruderschaft war, die der damals kaum bewohnten Halbinsel vor rund tausend Jahren ih ren Namen gegeben hatte. Nach Tin Haus Tod hatten sich die neun mächtigsten Zauberer der Region im heutigen Kowloon zusammen geschlossen und einen Eid geschworen. Sollte der Dämon je zurück kehren, um die Welt aufs Neue zu unterjochen, würden sie zur Stel le sein und ihm im Namen von Tin Hau entgegentreten. Meister Shiu war bereits das 34. Oberhaupt der Neun Drachen. Doch die Bruderschaft hatte sich im Laufe der Jahrhunderte verän dert. Hatten die Begründer des Ordens allein auf ihre Magie ver traut, so waren ihre Nachfolger von der Notwendigkeit überzeugt gewesen, ein Imperium aufzubauen, um auf die Wiederkehr des Bö sen vorbereitet zu sein. Denn auch der Dämon hatte eine große An hängerschaft um sich geschart, als er einst über Hongkong ge herrscht hatte. Und da keiner der Neun Drachen über die Macht Tin Haus verfügte, wollten sie der Armee der Finsternis nicht schutzlos gegenüberstehen. Je mehr die Erinnerung an die Herrschaft des Namenlosen ver blasste, umso mehr konzentrierte sich die Bruderschaft darauf, ihre irdische Machtbasis zu vergrößern. Den Anstoß dazu gaben ausge rechnet die fremden Teufel. Als die Engländer Hongkong in ihren Besitz brachten, schlug auch die große Stunde der Neun Drachen, denen sich durch die explosionsartige Entwicklung des einst unbe deutenden Fleckchens Erde zu einem internationalen Handels- und Bankenzentrum ganz neue Möglichkeiten eröffneten. Die weißen Teufel merkten nicht einmal, dass die Neun Drachen überhaupt existierten. Natürlich wussten sie von der Existenz diver ser Geheimbünde und der Triaden, aber das wahre Ausmaß der Un terwanderung erfuhren sie nie. Und selbst wenn es ihnen enthüllt worden wäre, hätten sie es in ihrer Einfältigkeit und Arroganz nie geglaubt. Doch auch die Neun Drachen waren vor Selbstüberschätzung nicht gefeit. Sie hatten die Macht des Namenlosen unterschätzt und
einen fatalen Fehler begangen, als sie Chin-Li befohlen hatten, den weißen Zauberer zu töten. Aber noch war Zeit, den Fehler zu korrigieren.
Es war kurz nach zehn, als Nicole aufwachte. Als sie Zamorra an strahlte, wusste Zamorra, dass die Hypnose Erfolg gehabt hatte. »Wie fühlst du dich?« »Wie neugeboren!«, sagte Nicole und kuschelte sich an ihn. »Scha de, dass du nicht die ganze Stadt hypnotisieren kannst.« »Das würde wohl selbst für einen Unsterblichen etwas zu lange dauern. Außerdem hätten wir damit die Ursache noch nicht besei tigt.« »Ja, aber was ist die Ursache?« »Wenn ich das wüsste, wäre mir um einiges wohler!« »Ob diese seltsamen Neun Drachen dahinter stecken?« »Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Wenn das stimmt, was uns Jenkins erzählt hat, dann regieren sie Hongkong schon seit Jahrhunderten. Womit wir es jetzt zu tun haben, ist offenbar etwas ganz Neues. Etwas, das vermutlich auch den Neun Drachen eine Heidenangst einjagt. Vielleicht findet Jenkins ja etwas raus.« Nicole lachte freudlos. »Wenn der Typ unsere letzte Hoffnung ist, können wir gleich einpacken!« »Gib ihm eine Chance. Immerhin scheint er gute Kontakte zu ha ben. Er wird schon was rausbekommen.« »Und was machen wir in der Zeit?« »Oh, da wird uns schon was einfallen«, sagte Zamorra, während seine Hände scheinbar zufällig über Nicoles wohl geformten Körper strichen. »Da bin ich ganz sicher«, gurrte Nicole. Sie küssten sich leidenschaftlich. Dann sah Zamorra seiner Freun
din tief in die Augen. »Bereit zum Abheben?« »Mit dir immer, Captain!« In dem Moment klingelte das Telefon. Mit einem Fluch griff Za morra zum Hörer. Es war Jenkins! »Ich hoffe, ich störe nicht«, dröhnte es ihm entgegen. »Nein, überhaupt nicht«, log der Parapsychologe, während er traurig auf das herunterblickte, was von seiner Hochstimmung üb rig geblieben war. »Hätte gar kein besserer Zeitpunkt sein können.« »Ich glaube, ich hab' was für Sie«, sagte der Ex-Agent. »Schießen Sie los.« »Nicht am Telefon. Seien Sie um 13 Uhr im American Restaurant in Wan Chai, Lockhart Road.« »Eine Burgerbude im Rotlichtviertel?« Zamorra hätte beinahe laut aufgelacht. Er konnte sich den Briten vortrefflich in so einem Laden vorstellen. »Sie werden überrascht sein!«, sagte Jenkins und legte auf.
Wan Chai war bei Hongkong-Besuchern eine Legende, spätestens seit Richard Mason in seinem Bestseller »Suzie Wong« das sündige Leben rund um die Lockhart Road beschrieben hatte. Von der plü schigen Puffromantik der fünfziger Jahre war freilich nicht mehr viel übrig geblieben. Zwar lockten nach Einbruch der Dunkelheit immer noch zahlreiche leicht bekleidete Mädchen Seeleute und Tou risten mit ihren eindeutigen Angeboten, tagsüber hatte sich die Lockhart Road aber längst in ein Einkaufsparadies verwandelt, des sen Schaufenster und Auslagen prall gefüllt waren mit dem vielfälti gen Warenangebot Hongkongs. Das American Restaurant war ein unauffälliges, fensterloses Lokal am unbelebten Anfang der »sündigen Meile« Hongkongs. Als Za morra und Nicole das Restaurant betraten, waren sie die einzigen Gäste in dem kleinen Speiseraum. Ein hagerer Kellner undefinierba
ren Alters popelte sich ungeniert in der Nase und blickte kaum auf, als sich die beiden Neuankömmlinge an einen der runden Tische setzten. Zamorra mochte den Laden auf Anhieb. Nicole war sich offen sichtlich nicht so sicher. »Wenn die hier so kochen, wie dieser Jen kins aussieht, dann gute Nacht.« »Hey, was ist los mit dir, Nici. Du bist doch sonst nicht so etepete te. Wo ist deine Abenteuerlust geblieben?« »Die Lust hat mir Mister Jenkins gestern gehörig ausgetrieben«, grummelte Nicole. »Du bist nachtragend.« Zamorra grinste. »Und du zu nachsichtig. Ich muss mit Ted ein ernstes Wort reden, wenn wir wieder zurück sind. Sonst denkt er noch, er hätte uns einen Gefallen getan mit diesem Schmierenkomödianten.« In diesem Moment sprang die Tür auf, und Jenkins trat ein. Der Brite hatte sein Outfit geändert, was ihm aber nur bedingt zum Vor teil gereichte. Das graue Shirt war einem schreiend bunten Hawaii hemd gewichen, die Shorts waren rosafarben, und den Kopf des ExAgenten schmückte ein apartes gelbes Stoffhütchen. Mit einem strahlenden Lächeln nahm Jenkins seine Sonnenbrille ab und rief: »Willkommen im Mekka der asiatischen Kochkunst.« Nachdem er sich gesetzt hatte, fand auch der Kellner endlich Zeit, sich um seine einzigen Gäste zu kümmern. Bedächtig schlurfte er heran und brachte drei Speisekarten. Nicole wollte schon nach einer greifen, aber Jenkins winkte ab. »Lassen Sie mich das machen, Mäd chen.« In lupenreinem Kantonesisch ratterte der ehemalige MI6-Mann seine Bestellung runter. Eine sehr große Bestellung, wie Zamorra fand. Offensichtlich hatte Jenkins längere Zeit nichts mehr gegessen. Doch nicht nur der Hunger des Ex-Agenten beeindruckte den Para psychologen, sondern auch dessen Sprachkenntnisse. Viele selbst er nannte Auslandsspezialisten, seien sie nun Geheimagenten, Diplo
maten oder Journalisten, sahen es keineswegs als selbstverständlich an, die Sprache des Landes zu lernen, in dem sie operierten. Und Jenkins war, soweit er wusste, keineswegs ein zweiter James Bond gewesen, sondern nur ein kleines Licht im Secret Service einer zur Arroganz neigenden Kolonialmacht. »Das Essen ist wirklich gut hier«, sagte Jenkins fast entschuldi gend, als er seine Bestellung beendet hatte. »Beste Pekingküche, und das zu einem Spottpreis, zumindest für Hongkong.« Der Kellner brachte Tee und chinesisches Bier, stellte die Getränke wortlos auf den Tisch und schlurfte wieder von dannen. »Also, was haben Sie für uns, Jenkins?«, fragte Nicole ungeduldig. »Oder wollten Sie uns nur nett zum Essen ausführen?« Von Ausführen konnte wohl keine Rede sein, dachte Zamorra amüsiert. Er glaubte kaum, dass der Ex-Agent auch nur einen Cent der Rechnung selbst übernehmen würde. »Rausgefunden?«, sagte Jenkins und fischte ein Pfefferminz aus seiner Hosentasche, auf dem er ebenso bedächtig wie lautstark rum zukauen begann. Plötzlich wirkte der polternde Hüne sehr nach denklich. »Ich fürchte, mehr als mir lieb ist …« »Der Bandenkrieg, von dem Sie gesprochen haben?«, warf Nicole ein. »… ist voll entbrannt. Und zwar viel schlimmer, als ich erwartet hätte. Sie bekommen als Ausländer nichts davon mit, aber da drau ßen tobt eine richtige Schlacht, und glauben Sie mir, die machen kei ne Gefangenen.« Der Kellner unterbrach sie, indem er unzählige kleine Platten in die Mitte des Tischs stellte, gefüllt mit Pekingente, Teigtaschen, ge backenem Fisch, Hühnchen süßsauer und unzähligen anderen Köst lichkeiten. Begeistert langte Jenkins zu und schaufelte sich das etwas ölige, aber sehr schmackhafte Essen mit seinen Stäbchen ohne Zwischen stopp über das kleine Schälchen vor ihm direkt in den Mund. Die
beiden Franzosen häuften sich dagegen von jedem eine Kleinigkeit in ihr Schälchen und sahen mit einer Mischung aus Staunen und Entgeisterung zu, wie der Brite in atemberaubender Geschwindig keit Unmengen von Essen in sich hineinstopfte und zwischendurch noch zwei große Flaschen Tsingtao leerte. »Wenn das so weitergeht, gibt es bald in Hongkong außerhalb des Friedhofs keinen einzigen Gangster mehr«, sagte Jenkins, während er Nicole das letzte Stück Ente vor der Nase wegklaute. »Ein mittel mäßiger Mobster namens Teddy Chang scheint ein größeres Stück vom Kuchen abhaben zu wollen, und weil es ihm freiwillig keiner geben will, nimmt er es sich eben mit Gewalt. Das ist eigentlich sehr merkwürdig, denn die Triaden haben alles genau aufgeteilt. Wer daran rütteln will, muss schon ziemlich mächtig sein, und das trifft auf Teddy Chang sicher nicht zu. Der Typ ist 'ne Wurst auf zwei Bei nen; rücksichtslos und brutal, aber ohne jede Klasse.« »Also hat er Unterstützung.« »Genau da wird die Sache schwierig«, sagte Jenkins und angelte sich mit den Stäbchen ein großes Stück gebackenen Fisch, das er auf einmal hinunterschlang. »Ich weiß es nicht. Es heißt, er habe immer einen jungen Chinesen bei sich. Keiner weiß, wer er ist, alle nennen ihn immer nur den Fremden.« »Ein Leibwächter?«, fragte Nicole. »Eher ein Partner. Man munkelt sogar, er sei der eigentliche Boss und der gute alte Teddy nur seine Marionette. Aber die Leute reden viel. Einige dichten diesem Typen sogar übernatürliche Fähigkeiten an, sagen, er sei eine Art Dämon oder so was. Uhuhuhu.« Kichernd füllte Jenkins sein Bierglas und leerte es mit einem gewaltigen Schluck. »Was für übernatürliche Fähigkeiten?«, fragte Zamorra. Konnte es sein, dass dieser geheimnisvolle Fremde für die seltsamen Verände rungen in der Stadt verantwortlich war? »Keine Ahnung. Aber ich habe noch nie so viel Angst in der Stadt gespürt. Da brennt bei einigen schon mal die Sicherung durch, und
sie reden wirres Zeug. Dazu kommt noch das Wetter. Bei dieser Mi schung aus Sintflut und Affenhitze sind die Leute eh schon ganz rammdösig. Würde mich nicht wundern, wenn wir bald noch'n Tai fun bekommen.« »Da haben wir uns ja ein richtiges Urlaubsparadies ausgesucht«, sagte Nicole sarkastisch. »Ich weiß gar nicht, was du hast, Nici«, stichelte Zamorra. »Aben teuerurlaub ist doch voll im Trend.« Nicole grinste. »Unser Leben ist ja auch sonst so ungeheuer lang weilig.« »Wenigstens kannst du nicht behaupten, ich würde dir nichts bie ten.« »Das kannst du wohl auch nicht«, entgegnete Nicole, und es klang mehr als nur ein bisschen anzüglich. Jenkins starrte irritiert von einem zum anderen und wartete dar auf, dass sich die beiden turtelnden Franzosen wieder auf ihn kon zentrierten. »Was also den Bandenkrieg betrifft …«, versuchte er es vorsichtig. »Ich dachte, Kämpfe zwischen rivalisierenden Banden seien in Hongkong nichts Ungewöhnliches«, warf Zamorra ein. Von einer Sekunde auf die andere war er wieder ganz bei der Sache. »Das gilt wohl vor allem fürs Kino. Dort sind Gangsterfilme der Renner. In Wirklichkeit kommt es zwar auch immer wieder zu be waffneten Auseinandersetzungen, aber nur auf den unteren Ebenen. Diesmal greift jemand das System selbst an. Und damit die Neun Drachen. Das wagt niemand, der noch alle Tassen im Schrank hat.« »Gut«, sagte Nicole, »kommen wir zum entscheidenden Punkt. Was hat das alles mit uns zu tun? Offensichtlich ist Hongkongs Un terwelt gerade genug mit sich selbst beschäftigt. Warum schicken die uns eine Killerin auf den Hals?« »Das ist genau das Problem«, seufzte Jenkins. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie Sie da ins Bild passen. Vielleicht sagen Sie's
mir. Wie ich hörte, hatten Sie mal Ärger mit K-14 …« »Das ist lange her«, sagte Zamorra. »Das hat mein Informant in der Triade auch gesagt. Von einer Strafaktion gegen Sie wusste er nichts. Aber irgendwie müssen Sie die Neun Drachen mächtig verärgert haben.« »Ich wüsste nicht wie. Bis gestern hatte ich keine Ahnung, dass es diese geschuppten Brüder überhaupt gibt«, sagte Zamorra, während es hinter seiner Stirn fieberhaft arbeitete. Vielleicht waren sie einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Dieser merkwürdige Fremde in Teddy Changs Gefolge war offenbar ein Magier oder Dämon. Wenn die Neun Drachen spitzgekriegt hatten, dass er selbst mit Merlins Stern ebenfalls eine mächtige magische Waffe besaß, sahen sie in ihm vielleicht eine weitere Bedrohung, die sie eliminieren wollten, bevor sie sich zu einer ernsthaften Gefahr auswuchs. In ei nem Krieg war es schließlich nur logisch, jedes potenzielle Risiko von vornherein auszuschließen. Aber das waren alles nur Spekula tionen. Es gab eigentlich nur eine Möglichkeit, mehr Licht in die An gelegenheit zu bringen. Sie mussten die Neun Drachen persönlich fragen! »Wie kommen wir an diese Bruderschaft ran?« »Gar nicht. Das ist viel zu gefährlich!« »Das sollten Sie wirklich unsere Sorge sein lassen«, sagte Nicole. »Ich kann Ihnen trotzdem nicht helfen. Wie gesagt, das ist ein ziemlich exklusiver Club. Die inserieren nicht gerade in der Zeitung, wann und wo sie sich treffen.« »Das ist ein bisschen wenig«, erwiderte Zamorra scharf. »Für Ihr Honorar müssen Sie schon mehr bieten.« »Regen Sie sich nicht gleich auf, Professor«, sagte Jenkins gleich mütig und ließ mit genüsslichem Schmatzen den Rest Hühnchen in seinem Mund verschwinden. »Ich habe etwas anderes für Sie. Mein Informant bei K-14 hat mir gesteckt, dass sich heute eine Abordnung der Neun Drachen mit Teddy Chang trifft. Großes Gangster-Gipfel
treffen! Und Sie können live dabei sein!« »Das klingt schon besser«, sagte Zamorra grinsend. »Und wann und wo treffen sich diese sauberen Herrschaften?« »Um elf in einem alten Steinbruch in den New Territories. Und es würde mich gar nicht überraschen, wenn Sie da auch eine alte Be kannte wieder sehen würden.«
Für Rupert Jenkins war alles eine Frage der historischen Gerechtig keit. Obwohl er sich oft wünschte, dass die Geschichte nicht ausge rechnet ihn als ihren Erfüllungsgehilfen auserwählt hätte. Aber sie hatte es getan, und er hatte keine andere Wahl gehabt, als sich auf die Sache einzulassen. Zumindest redete er sich das immer wieder ein, wenn nachts seine ureigenen Dämonen aus den Schatten kro chen und ihn einen Verräter nannten. Doch was hätte er tun sollen? Als sie bei ihm aufgekreuzt waren, um ihm ihr Angebot zu machen, war er gerade mit einer weiteren grandiosen Geschäftsidee gescheitert, einem Wellness-Hotel für Ras sehunde. Kurz, er war pleite und hatte keine Ahnung, wovon er die nächste Miete bezahlen sollte. Im Geheimdienst Ihrer Majestät woll te ihn längst keiner mehr haben, und seine ehemaligen Geschäfts partner drohten, ihn umzubringen, wenn er nicht sofort seine Schul den samt saftigen Zinsen bezahlen würde. Also hatte er sich wider willig auf die Sache eingelassen, und sie hatten Wort gehalten und ihm ein Leben in bescheidenem Wohlstand ermöglicht. Aber sie hat ten nie einen Zweifel daran gelassen, dass sie die Herren waren und er nur ein geduldeter Gweilo. Jetzt war er auf dem Weg zu einem weiteren Treffen und sinnierte zum wohl tausendsten Mal über den Niedergang des großen briti schen Empires, das mit Hongkong seine letzte bedeutende Bastion in der Welt verloren hatte. Wenigstens den Linksverkehr haben sie gelas sen, dachte der Ex-Agent missmutig, während sich sein schrottreifer Plymouth durch den zähen Verkehr von Kowloon kämpfte. Das war
nicht eben viel, was von über 150 Jahren britischer Herrschaft übrig geblieben war, aber es war immerhin etwas. Einer Herrschaft, die auf Drogenhandel und Gewalt begründet war! Was hatte es für Befürchtungen gegeben, was China mit Hong kong anstellen könnte, wenn es sich die ehemalige britische Kronko lonie einverleiben würde. Jenkins grinste, als er daran dachte, wie viele Kritiker das Ende von Demokratie und Menschenrechten her aufbeschworen hatten. Tatsächlich vollzog sich die Anpassung sehr viel schleichender, als die meisten vermutet hatten. Allzu viel Druck war gar nicht nötig. Die Volksrepublik konnte sich darauf verlassen, dass sich viele Unternehmen ganz von selbst anpassten, um es sich nicht mit den neuen Machthabern zu verderben. Schließlich wollten sie ja lukrative Geschäfte mit dem Festland machen. Und Geschäfte waren in Hongkong schon immer wichtiger als alles andere, dachte Jen kins mit einem grimmigen Grinsen, während er mit den Zähnen die letzten Pfefferminzdrops aus einer Papierrolle pulte. Die Packung ließ er achtlos auf den Boden fallen, während er die weißen Tablet ten alle auf einmal zerknackte. Sie sind gute Lehrlinge, aber wir waren die Meister. Wenn es ums Ge schäftemachen ging, hatte das gute alte England schließlich noch nie Skrupel gehabt. Im 19. Jahrhundert war China durch die Kolonial mächte quasi enteignet worden. Und die Engländer hatten als be sonders lukrative Einnahmequelle den Opiumhandel entdeckt. Das Rauschgift wurde in Indien angebaut und illegal in China verkauft, sehr zum Missfallen des Kaiserreiches, das mitansehen musste, wie immer mehr seiner Anhänger der Droge verfielen. Als sich China gegen die ausländischen Dealer wehrte, antwortete England mit Ka nonen. Nach dem Sieg der britischen Kriegsflotte musste China 1842 21 Millionen Silberdollar »Entschädigung« zahlen – und die Insel Hongkong abtreten. In der neuen Kronkolonie wurde der Drogen handel natürlich sofort verboten. Die Diener der neuen Herren soll ten schließlich einen klaren Kopf behalten.
Aber der Kolonialmacht reichte ihre Beute nicht. Nach dem Ende des zweiten Opiumkriegs erzwang sie 1860 die Übergabe Kowloons, und schließlich pachtete sie 1898 noch die so genannten New Terri tories sowie 235 Inseln für 99 Jahre. Die neuen Machthaber machten aus dem unbedeutenden Eiland innerhalb kürzester Zeit ein florie rendes Handelszentrum, und mit der Zeit ließen sie sogar die ein heimische Bevölkerung, die sie vorher gnadenlos ausgebeutet hat ten, ein wenig an dem Wohlstand teilhaben. Die Macht teilten sie freilich nicht. Die ersten freien Wahlen fan den 1995 statt, als die Übergabe an China längst beschlossene Sache war. Immerhin ein guter Schachzug, dachte Jenkins. So konnte sich good old England noch mal als Mutterland der Demokratie feiern lassen, ohne dabei etwas zu riskieren. Natürlich hatten die Briten ihre Kolonie weit weniger unter Kon trolle gehabt, als sie selbst geglaubt hatten. Mit der Übernahme Hongkongs durch die Krone hatte sich auch ein verschworener klei ner Orden zu einer mächtigen Organisation mit unzähligen Unterta nen entwickelt, ohne die keine wichtige Entscheidung in der Stadt getroffen wurde. Und es war wohl nur konsequent, dass mit Rupert Jenkins nun auch ein ehemaliger Agent Ihrer Majestät auf der Lohn liste der Neun Drachen stand. Auch wenn er oft mit seinem Schick sal haderte, fand Jenkins den Gedanken doch tröstlich, dass er ei gentlich kein Verräter war, sondern nur einen bescheidenen Beitrag leistete, um die Jahrhundertelange Ausbeutung der Chinesen durch die Briten zu sühnen. Es war, wie gesagt, alles nur eine Frage der historischen Gerechtigkeit. Der Ex-Agent stoppte den Plymouth in einer dunklen Seitengasse vor einem heruntergekommenen Haus, in dessen Erdgeschoss sich eine Imbissbude befand. Grußlos betrat Jenkins den kleinen Laden. Er war leer bis auf zwei abgewrackt aussehende Typen, die gelang weilt an einem dreckigen Tisch herumlümmelten. Der Inhaber, ein mittelalter Kerl in einem fleckigen weißen Kittel, kratzte sich ausgie big im Schritt und beachtete ihn nicht weiter.
Jenkins ging nach hinten durch und betrat durch einen schwarzen Vorhang das Hinterzimmer. Eine junge Chinesin mit kurz geschnit tenen Haaren erwartete ihn. Sie trug ein schwarzes Jackett, eine schwarze Hose und eine weiße Bluse. Auf dem wackelig aussehen den Tisch vor ihr lag eine Beretta. Die Augen waren hinter einer Sonnenbrille versteckt, aber Jenkins wusste, dass ihnen nicht die ge ringste Bewegung entging. »Was hast du zu berichten?«, fragte Chin-Li. Und Rupert Jenkins legte los.
Es war kurz vor sieben, als sie das Hotelzimmer verließen. Zamorra wollte gerade abschließen, als ihnen ein äußerst aufgebrachter Pro fessor Chow entgegenstürmte. »Oh je, jetzt gibt es Ärger«, sagte Nicole. Sie trug jetzt ihren »Kampfanzug«, wie sie den hautengen schwarzen Lederoverall nannte, den sie aus reiner Gewohnheit mit eingepackt hatte. Leider fehlte der Blaster, der normalerweise an einer Metallplatte am Gür tel befestigt war. Aber die Energiewaffe aus der Schmiede der DY NASTIE DER EWIGEN hätten sie, nicht ganz ein Jahr nach dem Flugzeugattentat auf das New Yorker World Trade Center und das Pentagon, kaum durch die Sicherheitskontrollen des Flughafens be kommen. Und natürlich hatten sie auch nicht damit gerechnet, dass sie in Hongkong mitten in einen Bandenkrieg geraten würden. Ob wohl uns ja eigentlich immer irgendjemand irgendwo um die Ecke bringen will, dachte Nicole resigniert. Professor Chow schien da keine Ausnahme zu machen. Wut schnaubend baute sich der kleine Mann vor dem sehr viel größeren Parapsychologen auf und funkelte ihn wütend an. »Was kann ich für Sie tun, Herr Kollege?«, fragte Zamorra bemüht höflich, obwohl Nicole ihm ansah, dass er Chow am liebsten einfach stehen gelassen hätte. Sie hatten schließlich Wichtigeres zu tun, als sich mit rasenden Kongressleitern herumzuschlagen!
»Was Sie für mich tun können? Wissen Sie überhaupt, wie spät es ist?« »Sicher«, sagte Zamorra irritiert und sah auf seine Uhr. »Elf Minu ten vor sieben. Aber Sie sind doch sicher nicht zu mir gekommen, weil Sie die Zeit … Oh!« Die plötzliche Erkenntnis ließ ihn innehal ten. »Der Vortrag!« »Der Vortrag!«, keifte Professor Chow. »Er hätte vor zwanzig Mi nuten beginnen sollen. Alle warten schon gespannt darauf, was der große Gelehrte aus Frankreich« – Chows Stimme troff vor Ironie – »über die ›Innenpolitik der Hölle‹ zu berichten hat, und wo sind Sie?« »Nicht da?«, schlug Zamorra zögerlich vor. Sie hatten den Vortrag bei all der Aufregung glatt vergessen. »Nicht da! Es reicht Ihnen offenbar nicht, dass Sie diesen Kon gress, dessen Vorbereitung mich Monate gekostet hat, durch eine Bruce-Lee-Show in Verruf bringen. Jetzt drücken Sie sich auch noch vor Ihren wissenschaftlichen Pflichten! Sie sind eine Schande für die Parapsychologie, Zamorra!« Nicole wusste, dass die übermäßige Aggressivität, die Chow ihnen gegenüber an den Tag legte, dieselbe Ursache hatte wie ihr eigener Zusammenbruch. Der tobende Kongressleiter war kaum mehr Herr seiner Sinne. Wenn sich der unsichtbare Schatten über Hongkong verzogen hatte, würden sie vermutlich wieder vernünftig mit ihm reden können. Aber die dunkle Bedrohung würde nicht von selbst verschwinden. Und genau deshalb mussten sie jetzt gehen! »Tut mir Leid, Professor Chow. Aber ich muss dringend weg«, sagte Zamorra. »Es hat ein paar unvorhersehbare Ereignisse gege ben …« »Sie sind ein einziges unvorhersehbares Ereignis. Und Sie bleiben hier! Ich will den Vortrag, verstehen Sie? Ich will den Vortrag! Und ich weiche nicht von Ihrer Seite, bis ich ihn bekomme!« »Sie wollen den Vortrag?«
»Das sage ich doch die ganze Zeit.« »Moment!« Zamorra verschwand im Hotelzimmer und tauchte 30 Sekunden später wieder auf. Er hatte einen Stapel eng beschriebener Compu terausdrucke dabei, die er dem verdutzten Kongressleiter in die Hand drückte. »Was ist das?« »Der Vortrag! Viel Spaß damit.« »Was soll ich denn damit anfangen?« »Was weiß ich? Meinetwegen können Sie ihn selbst halten oder lustige kleine Papierhütchen daraus basteln, ganz wie Sie wollen. Wir müssen jetzt jedenfalls weg. Komm, Nicole!« Sie gingen, ohne sich weiter um den wütenden Parapsychologen zu kümmern, der aufgebracht hinter ihnen herschrie.
8. Verhandlungen Chin-Li war angespannt. Sie mochte diesen Job nicht. Er machte sie nervös. Die junge Profikillerin war es gewöhnt, alleine zu arbeiten und die volle Kontrolle über einen Einsatz zu haben. Als Teil eines Teams fühlte sie sich – unsicher. Die junge Chinesin saß auf dem Beifahrersitz einer schwarzen Mercedes-Limousine, die sich den Weg durch die Hügel der New Territories, dem noch stark ländlich geprägten Hinterland von Kow loon, bahnte. Zwei weitere Limousinen fuhren dicht hinter ihnen. Sie waren auf einer Friedensmission, und auch das widersprach ih rem Wesen. Chin-Li war eine Kriegerin. Das Geschwätz der Diplo maten war ihr zutiefst fremd. Aber diese Mission konnte über die Zukunft von Hongkong entscheiden, und so fügte sie sich klaglos in ihr Schicksal. Im Fond der Limousine saßen drei Mönche der Bruderschaft der Neun Drachen. Alte, grauhaarige Männer mit langen dünnen Bär ten, die in der Hierarchie der Bruderschaft gleich unter den neun Oberhäuptern standen und nach deren Tod zu ihren Nachfolgern gehören würden. Chin-Li kannte die drei Greise seit ihrer Geburt. Sie alle hatten ihren Anteil an der Ausbildung der jungen Killerin gehabt, hatten sie gelehrt zu kämpfen, zu meditieren und sich in De mut zu üben. In den anderen beiden Wagen befanden sich die Verhandlungs führer der von den Neun Drachen kontrollierten Triaden. Ihr Spre cher war Johnny Lau, der Dragon der K-14-Triade. Sie waren unter wegs zu einem Treffen mit Teddy Chang. Ganz unerwartet hatte der Verräter sich bei seinen früheren Freunden gemeldet und einen Frie densvertrag in Aussicht gestellt. »Wir sollten uns nicht weiter ge genseitig abschlachten. Gemeinsam gehört Hongkong uns«, hatte er
gesagt. Chin-Li wusste, dass es eine Falle war. Jeder wusste das. Aber sie hatten keine Wahl. Das Morden musste aufhören. Sie hatten in den vergangenen Tagen mehr Leute verloren als in den letzten zehn Jah ren zusammen. Wenn es so weiterging, würde es auf Seiten der Triaden bald niemanden mehr geben, der dem Schlachten ein Ende bereiten konnte. Wenn es auch nur die kleinste Chance gab, den Bandenkrieg zu beenden, mussten sie sie ergreifen. Aber vor allem mussten sie wissen, ob der Fremde in Teddys Ge folge tatsächlich der Dämon war, von dem die alten Legenden be richteten. Und dieses Treffen war die einzige Möglichkeit, mehr über diesen geheimnisvollen Mann zu erfahren, der Hongkongs Un terwelt mit einer nie da gewesenen Dreistigkeit und Brutalität auf mischte. Wenn das Böse wirklich zurückgekehrt war, waren alle Friedens bemühungen vergebens, und sie mussten versuchen, seinen Sieges zug heute Nacht ein für alle Mal zu beenden. Wahrscheinlicher ist, dass wir heute Nacht alle sterben, dachte Chin-Li. Sie hatte nichts dage gen, ihr Leben zu geben, um den Dämon aufzuhalten. Aber wenn der Fremde wirklich so stark war, wie ihre Informanten berichteten, würde ihr Opfer völlig umsonst sein. Die Limousinen bogen auf einen holprigen Schotterweg ein. Vor ihnen lag ein alter Steinbruch, der von den Triaden gerne für Treffen auf neutralem Boden genutzt wurde. Hier hatte niemand einen Heimvorteil, und sie blieben unbehelligt von der Polizei oder zufäl ligen Passanten. Sie waren die Ersten. Im Zentrum des Steinbruchs gab es eine große freie Ebene, die früher unter anderem zum Parken und Ran gieren benutzt worden war. Im Hintergrund erhob sich drohend die Hochhauskulisse von Kowloon. Chin-Li wies den Fahrer an, so zu parken, dass sie den Platz im Blitzstart verlassen konnten. Die bei den anderen Wagen hielten hinter ihnen. Die Killerin sah auf die Uhr. Es war zwei vor zehn. Noch zwei Minuten!
Pünktlich um zehn durchstachen grelle Scheinwerferpaare die Finsternis vor ihnen. Es waren ebenfalls drei Wagen, genau wie aus gemacht. Unwillkürlich fuhr Chin-Lis Hand zu der Beretta unter ih rem schwarzen Jackett, als die Fahrzeuge auf den Platz fuhren und langsam auf sie zukamen. Wieder spürte sie diese seltsame Angst, die sie zum ersten Mal im Haus von Wong Siu-Tung wie ein gefähr liches Tier angefallen hatte. Eine Angst, die ihre Sinne zu lähmen drohte. Und sie war nicht die Einzige. Chin-Li hatte auch bei anderen An zeichen dieser schrecklichen Furcht entdeckt, nicht nur bei ihren Be gleitern bei diesem Himmelfahrtskommando, sondern auch bei den Mönchen im Tempel und selbst bei den einfachen Menschen auf der Straße. Sie alle spürten instinktiv die drohende Gefahr, aber nie mand traute sich, darüber zu sprechen. Und auch Chin-Li hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als ihre Angst offen einzugestehen. Die drei Limousinen hielten in einer Reihe direkt vor der Abord nung der Neun Drachen. Die Wagenkolonnen der verfeindeten Par teien erinnerten an zwei sich belauernde Raubkatzen, die nur den richtigen Augenblick abwarteten, um übereinander herzufallen. Die Scheinwerfer von Teddys Wagen blendeten Chin-Li. Sie konn te die Insassen nicht erkennen. Nichts geschah. Unruhig rutschte der Fahrer neben der jungen Chinesin hin und her. Seine Waffe hatte er neben sich auf den Beifahrersitz gelegt. »Also gut«, murmelte Chin-Li und stieg aus. Ihre Hände hielt sie leicht erhoben, damit jeder sehen konnte, dass sie in friedlicher Ab sicht gekommen war. Die Leibwächter in den beiden hinteren Li mousinen taten es ihr gleich. Die Mönche und die Verhandlungsfüh rer der Triaden blieben in den Fahrzeugen, bis sicher war, dass kei ne Gefahr drohte. Immer noch passierte auf der Gegenseite nichts. Jetzt, da sie ausge stiegen war und etwas zur Seite trat, also nicht mehr direkt von den Scheinwerfern geblendet war, konnte sie die Insassen konturenhaft erkennen. Stumm glotzten die Silhouetten in den Wagen sie an. Ver
dammt, dachte Chin-Li. Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht. Die Killerin signalisierte den anderen Leibwächtern, zurückzublei ben. Langsam näherte sie sich dem vorderen Wagen, als plötzlich mit einem lauten Knall die Beifahrertür aufsprang. Chin-Li konnte sich gerade noch davon abhalten, instinktiv zur Waffe zu greifen. Und dann stand Teddy auch schon vor ihr. »Chin-Li, welch eine Freude!«
»Leck mich, das ist Teddy!« Jenkins zerbiss geräuschvoll ein Pfeffer minz, während er weiter durch das Nachtsichtgerät starrte. »Wieso in aller Welt wagt der sich ohne seine Leibwächter aus dem Wagen?« »Vielleicht kann er sich kein Personal mehr leisten. So ein Krieg ist schließlich teuer«, mutmaßte Nicole. »Oder da ist etwas oberfaul«, murmelte der Ex-Agent und fischte ein weiteres Pfefferminz aus der Tasche seines ausgebeulten dunkel grauen Jackets. Er zerknackte es so laut, dass sich Zamorra sicher war, alle Gangster Hongkongs müssten es gehört haben. Sie lagen auf einer Erhöhung oberhalb der großen Freifläche, auf der das Gangster-Gipfeltreffen stattfand. »Und da ist auch deine spezielle Freundin«, unkte Nicole. Zamorra hatte die junge Chinesin, die ihn im Peninsula Hotel tö ten wollte, längst erkannt. »Wenigstens kann man nicht behaupten, dass die Triaden nicht auch Frauen attraktive Jobs anböten. Das nen ne ich echte Emanzipation!« Nicole sah ihren Lebensgefährten kopfschüttelnd an. »Chef, habe ich dir schon mal gesagt, dass du manchmal ein echter Spinner bist?« Zamorra grinste. »Aber deshalb liebst du mich doch, oder?« »Hey Leute, ist ja schön, dass ihr euch nach all den Jahren noch liebt wie die Turteltäubchen, aber wollen wir uns nicht erst mal um
die Vögel da unten kümmern?«, unterbrach Jenkins die Neckerei der beiden Franzosen. Er wirkte ausgesprochen nervös. Aber das war auch kein Wunder. Immerhin hatten sich in Blickweite ein paar der übelsten Gangster Hongkongs zu einem kleinen Pläuschchen ver sammelt. »Sie haben Recht, Jenkins«, sagte Zamorra. »Ich werde mir das mal aus der Nähe ansehen.« »Was? Sind Sie übergeschnappt? Das sind Gangster!« »Was Sie nicht sagen. Dann werde ich ganz besonders aufpassen.« Jenkins sah den Parapsychologen an, als habe er einen entsprunge nen Irren vor sich. »Sie verstehen nicht«, sagte er verstört. »Das hier ist Hongkong. Wenn die Sie in die Finger bekommen, bringen die Sie ohne mit der Wimper zu zucken um. Wenn Sie Glück haben!« »Was könnte schlimmer sein, als umgebracht zu werden?«, fragte Nicole. »Wissen Sie, was die chinesische Folter ist? Glauben Sie mir, das ist nichts gegen das, was sich die Experten der hiesigen Triaden ha ben einfallen lassen. Wenn die Sie in die Mangel nehmen, wünschen Sie sich, nie geboren worden zu sein.« »Danke für den Rat, Jenkins«, sagte Zamorra und erhob sich vor sichtig. »Sie gehen trotzdem?«, fragte der Brite ungläubig. »Natürlich. Wir haben keine andere Wahl. Schließlich wollen wir wissen, worüber da unten gesprochen wird.« »Haben Sie wenigstens eine Waffe?« »Sind die in Hongkong nicht verboten?«, fragte Zamorra todernst und musste sich ein Grinsen verkneifen, als ihn der Ex-Agent mit of fenem Mund anstarrte. Der Dämonenjäger war tatsächlich unbe waffnet. Die Beretta, die sie der Killerin im Hotel abgenommen hat ten, hatten sie Inspector Tong übergeben. Aber Zamorra glaubte auch nicht, dass ihm eine Schusswaffe viel helfen würde. Gegen Teddys Jungs nützte sie nicht viel, und gegen die Abordnung der
Neun Drachen hätte er allein in einem Feuergefecht auch keine Chance. Außerdem mochte Zamorra Pistolen nicht besonders. Er hatte seine eigenen Methoden. Jenkins war davon freilich noch nicht so überzeugt. »Prof, ich flehe Sie an, bleiben Sie hier!« »Sie sind ja wirklich besorgt«, sagte Nicole erstaunt. »Natürlich bin ich das! Wer zahlt mir mein Honorar, wenn Sie hopsgehen?« »Auch wieder wahr«, sagte Nicole grinsend. »Ich weiß Ihre Sorge durchaus zu schätzen, Jenkins. Aber mir wird schon nichts passieren.« Aufmunternd klopfte Zamorra dem schnurrbärtigen Hünen auf die Schulter. Fassungslos starrte Jenkins den Parapsychologen an, der sich ge gen jede Vernunft völlig wehrlos in die Höhle des Löwen begab. »Ihr Franzosen seid wirklich absolute Spinner!«, murmelte er ver stört und zerknackte ein weiteres Pfefferminz.
Wie ein Honigkuchenpferd grinsend, breitete Teddy die Arme aus, als wolle er Chin-Li umarmen und fest an sein Herz pressen. Allein die Vorstellung bereitete der Kriegerin Übelkeit. »Chin-Li! Es ist lange her, dass wir uns gesehen haben!« »Das ist es, Herr Chang.« »Deine Schützlinge können ruhig herauskommen. Hier droht ih nen keine Gefahr. Ich verspreche es!« »Ich will nicht respektlos erscheinen, Herr Chang, aber was ist mit Ihren Leuten. Warum bleiben sie im Auto?« Teddy lachte. »Sie wollen niemanden erschrecken. Sie kommen schon noch. Vertrau mir!« Nichts lag Chin-Li ferner. Aber sie hatten kaum eine andere Wahl. Schließlich waren sie hier, um zu verhandeln. Und wenn Teddy
Chang sie tatsächlich in eine Falle gelockt hatte, würden ihnen die Autos auch nicht viel Schutz bieten. »Also gut«, sagte sie. Teddy grinste fröhlich, als Chin-Li ihren Kol legen mit einem knappen Handzeichen signalisierte, dass keine un mittelbare Gefahr drohte. Mit wachsamen Blicken halfen die ande ren Leibwächter den Triadenmitgliedern und den Mönchen aus den Wagen, immer darauf bedacht, ihre Schützlinge mit ihren Körpern vor möglichen Attentätern zu verdecken. Die Hände am Revers, dort, wo unter dem Jackett die Waffen steckten, flankierten sie die Abordnung, die sich langsam Teddy Chang näherte. Die Vertreter der Triaden sahen sich irritiert um. Sie waren gestan dene Kämpfer, aber das hier war mit Sicherheit das ungewöhnlichs te Gangstertreffen, das sie je erlebt hatten. Wie alles in der chinesi schen Gesellschaft liefen auch Verhandlungen zwischen Gangstern nach strengen Ritualen ab. Und dass der Boss der gegnerischen Par tei ihnen ohne Leibwächter oder andere Getreue entgegentrat, war absolut unüblich. Chin-Li dachte an die Gerüchte, die sie über Ted dys Leute gehört hatte. Gerüchte, nach denen sie sich in schreckliche Monster verwandelt hatten. War das der Grund, warum sie im Auto blieben? Teddy jedenfalls schien sich seiner Sache sicher zu sein. Viel zu sicher. Schließlich hätten sie ihn ohne Probleme erledigen können. ChinLi überlegte, ob das nicht die beste Lösung wäre. Wenn ein rebellie render Triadenboss getötet wurde, waren seine Leute normalerwei se kein Problem mehr. Je nach der Größe ihres eigenen Verrats wur den sie entweder nach und nach erledigt, oder man gestattete ihnen, reumütig in den Schoß der Familie zurückzukehren. Eine Gefahr waren sie in der Regel nicht mehr. Doch diesmal war es anders. Denn offenbar war Teddy selbst nur eine Marionette, die jemand ganz anderes kontrollierte. Der Fremde. In den Gesichtern der Mönche glaubte Chin-Li unter der offen zur
Schau gestellten Arroganz, die sie allem Weltlichen gegenüber an den Tag legten, eine tiefe Verunsicherung zu erkennen. Auch bei Chin-Li wuchs das Gefühl der Bedrohung mit jeder Sekunde. Wie ein dicker Klumpen ballte sich die Angst in ihrem Magen zusam men und verursachte einen kaum noch zu unterdrückenden Brech reiz. Nur mit eiserner Disziplin konnte sie sich davon abhalten, die Waffe zu ziehen und den Rückzug anzuordnen. Aber dann wäre eine Eskalation unvermeidlich gewesen. Und auch wenn Chin-Li ihr eigenes Leben nicht viel bedeutete, wollte sie doch alles tun, um die ihr Anvertrauten hier lebend wieder rauszubringen. Wortlos baute sich die Abordnung der Neun Drachen vor Teddy auf. Der dicke Gangster grinste feist. »Meine lieben Freunde, es freut mich, dass ihr meiner Einladung gefolgt seid. Darf ich euch meine Leute vorstellen?« Ohne nach hinten zu sehen, hob er leicht den rechten Arm. Wie von einer Hand wurden in Teddys Konvoi mehrere Autotüren ge öffnet, und die unheimlichen Gestalten stiegen aus. Mit seltsam schleichenden Schritten näherten sie sich der Mitte des Platzes. Als die Scheinwerfer ihre Gesichter erfassten, wurden Chin-Lis schlimmste Befürchtungen Gewissheit. Keines von ihnen war menschlich!
Fassungslos starrte Chin-Li die Monster an, die sich ihr langsam nä herten. Es war also wahr! Bisher hatte sich ihr Verstand geweigert, wirklich zu glauben, dass die Gerüchte über Teddys Armee wahr sein könnten. Aber hier waren sie, direkt vor ihrer Nase. Unterhalb des Kopfes wirkten sie fast normal, obwohl ihr Gang etwas Tierhaftes hatte. Teddys Männer trugen dunkle Anzüge und lange Mäntel, genau so, wie sich die Gangster in Hongkong zu uniformieren pflegten. Doch was sich darüber befand, hatte mit einem Menschen nichts mehr zu tun. Die Köpfe waren verformt, als hätten die Knochen unkontrol
liert zu wachsen angefangen. Aus den riesigen Mäulern ragten ge waltige Hauer, die einen erwachsenen Menschen auf Anhieb hätten töten können. Die schuppige, an Fische erinnernde Haut schimmerte im Licht der Scheinwerfer in den unterschiedlichsten Farben. Der Gestank der sich nähernden Kreaturen war unerträglich, und ihr rasselnder Atem erinnerte an einen Lungenkranken im Endstadium. Doch das Grauenvollste war, dass sich Teddys Leute nicht voll ständig verwandelt hatten. Wie Karikaturen waren in ihren mons trösen Gesichtern noch Reste der alten Gesichtszüge zu erkennen. Chin-Li musste hart schlucken, als sie unter den Ungeheuern gleich mehrere alte Bekannte entdeckte. »Was ist das?«, keuchte Johnny Lau verstört. Der smarte Mittvier ziger war der Ranghöchste der Verhandlungsführer der Triaden und eigentlich durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Doch jetzt ver riet seine Stimme schiere Panik. Auch in den Augen der anderen spiegelte sich das blanke Entsetzen. »Wir müssen hier raus!«, kreischte Mark Leung, einer der unterge ordneten Triadenführer. Doch schon hatten die grauenvollen Krea turen die Abordnung der Neun Drachen umzingelt und ihr den Weg zu den Wagen abgeschnitten. »Wir schießen uns den Weg frei!«, brüllte Johnny Lau. Chin-Li rea gierte blitzschnell. Wie ein Schraubstock legte sich ihre Hand um Laus rechten Arm, der zum Schulterhalfter fuhr. »Nein!«, sagte Chin-Li bestimmt. »Wir hätten keine Chance. Wir müssen mit ihnen reden.« Lau wollte sie zurückstoßen, doch dann gewann seine Vernunft die Oberhand. »Also gut«, sagte er und schluckte mühsam die Mi schung aus Furcht und Zorn herunter, die ihn zu überwältigen drohte. »Reden wir!« »Aber, aber, meine Freunde«, sagte Teddy Chang jovial. »Nie mand muss hier vor irgendetwas Angst haben. Wir sind hier doch unter Freunden.« Der dicke Gangster kicherte debil, als habe er einen besonders gu
ten Witz gemacht. Mit jeder Faser signalisierte Teddy Chang, wie sehr er es genoss, absolute Macht über die zu haben, für die er nie mehr gewesen war als ein besserer Handlanger. »Lass die Spielchen!«, fuhr Lau ihn an. Fast bewundernd stellte Chin-Li fest, dass sich der Triadenboss wieder ganz unter Kontrolle hatte. Es gab kaum etwas Disziplinier teres als ein Mitglied der chinesischen Mafia. »Warum hast du uns herbestellt? Um uns deine ekelhafte Freaks how vorzuführen?« Teddy prustete laut los. Spucketropfen landeten mitten in Chin-Lis Gesicht. Die junge Killerin verzog keine Miene, obwohl sie sich den Speichel am liebsten sofort angewidert abgewischt hätte. »Johnny, Johnny, was denkst du nur von mir? Ich habe euch her gebeten, um mit euch über die Bedingungen zu sprechen, damit endlich wieder Frieden herrscht in Hongkong. Und es gibt nur einen, der diesen Frieden garantieren kann. Ich möchte, dass ihr einen guten Freund von mir kennen lernt. Wahrscheinlich habt ihr schon von ihm gehört.« In dem Moment, in dem eine weitere Autotür aufsprang, war Ted dy Chang vergessen. Alle Augen richteten sich auf die Gestalt, die sich der eingekesselten Gruppe näherte. Diesmal war es kein Mons ter, was die Scheinwerfer erfassten, sondern ein junger, gut ausse hender Mann, der mit maliziösem Lächeln in den Kreis trat. Chin-Li erkannte ihn sofort. Sie hatte ihn schon einmal gesehen: auf einem Videofilm im Haus von Wong Siu-Tung! Die Killerin erstarrte, als sie die Augen des Fremden erneut durchbohrten. Diesmal war wirk lich sie es, der dieser furchtbare Blick galt. Und es gab keinen Bild schirm zwischen ihnen, der sie schützen konnte. »Wer bist du?«, fragte Johnny Lau, obwohl er die Wahrheit ahnen musste. »Wie ist dein Name?« »Ist das wichtig?«, fragte der Fremde mit einer Stimme, die kaum mehr war als ein Flüstern und doch den ganzen Platz zu erfüllen schien. »Viel wichtiger ist doch, was ich bin.«
»Und was bist du?«, blaffte Lau. »Ich bin die Zukunft. Ich bin die Zukunft und, wenn es sein muss, auch das Ende von Hongkong. Ich bin der Schrecken, von dem in den dunkelsten Ecken nur flüsternd gesprochen wird. Ich bin der Albtraum, den ihr nie zu träumen gewagt habt!« »Lass das Gesülze, Mann«, zischte Lau, doch Chin-Li hörte deut lich, wie seine Stimme zitterte. »Im Grunde ist es mir auch völlig egal, wer oder was du bist, aber offensichtlich hast du hier ja jetzt das Kommando. Also sag, was du willst. Was sind deine Bedingun gen für einen Frieden? Was ist dein Preis?« »Nun, wie wär's mit deinem Leben?«, fragte der Fremde leichthin. Johnny Lau schnappte nach Luft, aber der Fremde kicherte nur lei se in sich hinein. »Nur ein kleiner Scherz, Johnnyboy, nur ein kleiner Scherz. Ein Tod allein würde niemals ausreichen, um meinen Hun ger zu stillen. Ihr wollt Frieden? Ihr werdet ihn bekommen. Durch eure totale Vernichtung!« »Du willst eine Kapitulation?«, fragte Johnny fassungslos. Es gab nichts, was für einen chinesischen Mafioso ehrverletzender gewesen wäre. Damit er das Gesicht wahren konnte, musste der Gegner zu mindest der Form halber ein paar Zugeständnisse machen. Doch Chin-Li wusste, dass der Dämon gar nicht von Kapitulation gesprochen hatte. Seine nächsten Worte bestätigten das. »Falsch, Johnny«, sagte der Fremde mit dieser beängstigend sanf ten Stimme. »Ich will euren Tod! Wie ein Krebsgeschwür haben sich die Neun Drachen mit ihren Anhängern in Hongkong breit ge macht, und wie ein Krebsgeschwür werde ich sie vernichten. Ihr werdet alle sterben. Und eure Kinder und eure Kindeskinder auch!« Das war's. Wie auf ein geheimes Signal zogen alle Leibwächter und Unterhändler ihre Waffen. Beruhigend spürte Chin-Li das Me tall ihrer Beretta in der Hand, obwohl sie bezweifelte, dass Blei et was gegen diese Monster ausrichten konnte. Die Mönche murmelten mit geschlossenen Augen Beschwörungs
formeln. Chin-Li wusste, dass die drei Greise mächtige Magier wa ren. Aber sie hatten ihre Zauberkraft noch nie im Kampf gegen einen jahrtausendealten Dämon beweisen müssen. »Okay«, rief Chin-Li. »Zu den Wagen, und dann nichts wie weg hier!« Der Dämon lachte nur. »Wisst ihr, was wirklich schade ist? Dass niemand von euch erleben wird, wie ich wieder der rechtmäßige Herrscher über Hongkong werde. Tötet sie!« Mit markerschütterndem Heulen und Fauchen stürzten sich die Ungeheuer auf die eingekreiste Gruppe. Chin-Li riss die Beretta hoch und feuerte auf den Fremden. Doch die Kugeln erreichten den Dämon gar nicht. Sie prallten an einer unsichtbaren Wand ab, die im Moment der Berührung kurz rötlich aufschimmerte. Während sie eine der Bestien ins Visier nahm, die sich auf Lau stürzte, sah sie, wie ihre Gefährten um sie herum niedergemacht wurden. Die Mons ter zerfetzten ihnen mit bloßen Klauen und Zähnen die Kehlen und rissen riesige Fleischbrocken aus ihren Körpern. Die Kugeln, mit de nen sie durchlöchert wurden, schienen sie nicht einmal zu spüren. Auch Johnny Lau hatte nicht die geringste Chance. Mit einem gur gelnden Geräusch brach er blutüberströmt vor Chin-Li zusammen. Immer lauter wurde das Gemurmel der Mönche, und dann ent stand ein grünes Band zwischen ihnen, das aus reiner Energie zu be stehen schien. Es pulsierte immer stärker und stärker, bis plötzlich ein gebündelter Energiestrahl daraus hervorschoss. Direkt auf den Fremden zu! Der riss nur seine rechte Hand hoch und schleuderte sie dem magischen Blitz entgegen. Eine Art Schockwelle durchlief den Energiestrahl und sprang auf die drei Mönche über. Ein grünli ches Glühen überzog die Körper der Greise, die aus tiefster Qual zu schreien begannen, wie Chin-Li noch nie einen Menschen hatte schreien hören. Entsetzt sah die junge Chinesin zu, wie die heiligen Männer vor ihren Augen zu Asche verbrannten. Dann hörte sie das grässliche Lachen. Teddy! Der miese kleine Gangster weidete sich an dem grauenhaften Ende der drei Mönche.
Doch er war auch nur ein Mensch. Ihn konnte sie töten! Chin-Li feuerte. Doch im selben Moment taumelte ein sterbender Gangster gegen sie. Es war Mark Leung. Teddy brüllte auf, als die verrissene Kugel seine Seite streifte. »Ich bin verletzt. Die kleine Fot ze hat mich verletzt!« »Hör auf zu jammern!«, befahl der Fremde. »Die Kleine ist mehr wert als all deine Kretins zusammen. Sie ist eine wahre Kriegerin. Und deshalb gebührt ihr auch die Ehre, von mir persönlich getötet zu werden.« Mit einem fast verträumten Lächeln hob der Dämon die Arme. Den grausamen Tod der Mönche vor Augen, erwartete Chin-Li das Ende. »Mach schon, du Bastard!«, flüsterte sie, als der Fremde plötzlich aufschrie. Ein silberner Blitz war aus dem Nichts auf ihn zugeschos sen. Der Schutzschirm hatte die magische Attacke zwar gestoppt, ihre Wucht aber nicht völlig neutralisiert. Verstört taumelte der Dä mon zurück. »Wer war das? Wer wagt das?«, schrie er, während weitere Blitze auf ihn einprasselten. Plötzlich materialisierte sich vor Chin-Li ein Mann, der sich dem Fremden unerschrocken näherte. Vor seiner Brust hing eine hand tellergroße Silberscheibe, die mit fremdartigen Zeichen bedeckt war. Das Amulett musste eine mächtige magische Waffe sein. Aus ihr zuckten immer mehr silberne Blitze, die den Dämon langsam zu rücktrieben. Chin-Li kannte den Neuankömmling. Sie hatte ihn vor zwei Tagen zu töten versucht. Es war Professor Zamorra!
Sobald Zamorra Nicole und Jenkins verlassen hatte, machte er sich »unsichtbar«. Den Trick hatte er vor vielen Jahren bei einem tibeta
nischen Mönch gelernt, lange bevor er sein Leben dem Kampf gegen die Finsternis gewidmet hatte. Der Parapsychologe wurde dabei nicht wirklich unsichtbar. Aber er begrenzte seine Aura auf seine körperlichen Abmessungen, sodass sie von anderen nicht wahrge nommen werden konnte. Er war damit für andere Menschen nicht mehr sichtbar, es sei denn, sie berührten ihn zufällig. Aber auch dann vergaßen sie ihn sofort wieder, wenn er weiterging. Der Dä monenjäger konnte sich so den aufgeregt diskutierenden Gangstern nähern, ohne sich selbst in Gefahr zu begeben. Er war noch zu weit weg, um etwas von dem, was unten gesprochen wurde, zu verste hen. Aber offensichtlich kam Bewegung in die Sache. Zamorra sog scharf die Luft ein, als sich auf einen Schlag ein knappes Dutzend Autotüren in Teddys Konvoi öffnete und eine Gruppe sehr sonder barer Gestalten sich der Mitte des Platzes näherte. Sie trugen lange Mäntel, wie er es von Gangstern aus dem Kino kannte. Und doch sah Zamorra auf einen Blick, dass dies keine Menschen waren. So fort umzingelten die unheimlichen Kreaturen die Abordnung der Neun Drachen. Zamorra war noch viel zu weit weg, um einzugrei fen. Doch noch ließen die Bestien die eingekreiste Gruppe in Ruhe. Sie schienen auf etwas zu warten. Und Zamorra ahnte, was das war. Denn der wichtigste Mitspieler hatte die Bühne noch nicht betreten. Aber er war bereits da! Je mehr sich der Dämonenjäger dem Ort des Geschehens näherte, desto stärker erwärmte sich sein Amulett. Teddys Schergen waren allerhöchstens unbedeutende Unterdämonen. Fußvolk im Dienste der Hölle, nicht mehr. Und doch glühte Merlins Stern fast. Das konn te nur eins bedeuten. Das Amulett reagierte auf den Fremden. Vermut lich saß er noch in einem der Autos. Der Parapsychologe beschleunigte seinen Schritt, aber der Unter grund verhinderte ein schnelles Vorankommen. Der Boden bestand aus lockerem Gestein. Jeder unbedachte Schritt konnte Geräusche verursachen, die in der Stille der Nacht kilometerweit zu hören wa ren.
Zamorra fluchte leise, als der Weg ihn zwang, um einen Abhang herum zu gehen, der ihm die Sicht auf den Platz versperrte. Als er wieder ein freies Blickfeld hatte, war er bereits da. Der Fremde! Abgesehen von seiner für einen Chinesen recht großen Statur und den auffälligen blondierten Haaren sah er ganz normal aus. Genau so, wie ihn Jenkins beschrieben hatte. Doch Zamorra ließ sich von der harmlosen Fassade keine Sekunde lang täuschen. Und dann sah der Dämonenjäger, wie die Abordnung der Neun Drachen zu den Waffen griff und zu den Wagen stürzte. Doch sie hatten keine Chance. Das Gemetzel begann! Zamorra rannte, was das Zeug hielt. Es war ihm jetzt völlig egal, ob ihn jemand hörte. Außerdem über tönten die Kampfgeräusche seine Schritte sowieso. Als er die Autos erreichte, war die Schlacht schon so gut wie entschieden. Überall la gen Leichen von Priestern und Verhandlungsführern der Triaden. Der Fremde stand in der Mitte des Kampfgetümmels und schien das Massaker um sich herum regelrecht zu genießen. Es sah so aus, als werde er mit jedem Opfer mächtiger, das neben ihm zu Boden ging. Zamorra schrie auf, als ihn etwas am rechten Oberarm traf. Heißer Schmerz durchlief seinen Körper, und sein Jackett färbte sich rot. Eine verirrte Kugel hatte ihn gestreift. Der Dämonenjäger ignorierte den brennenden Schmerz und näherte sich dem Fremden. Es nützte nichts, sich mit dem Fußvolk abzugeben. Er musste den Urheber dieses Wahnsinns stoppen! Mit äußerster Konzentration zwang der Parapsychologe Merlins Stern, nicht von sich aus in das Kampfgetümmel einzugreifen. Der Dämon war offensichtlich außerordentlich mächtig. Zamorra durfte den Vorteil der Überraschung nicht verschenken! Dann hatte er den Fremden erreicht. Neben ihm jammerte Teddy, den ebenfalls eine Kugel getroffen hatte. Aber der Dämon beachtete ihn gar nicht. Mit bösem Lächeln sah er auf eine junge Frau herab.
Es war die Killerin aus dem Hotel! Dann hob der Fremde langsam die Arme. »Mach schon, du Bastard!«, flüsterte die Chinesin. In dem Moment riss Zamorra sein Hemd auf und ließ Merlins Stern freie Bahn. Ein mächtiger silberner Blitz schoss hervor – und wurde wenige Zentimeter vor der Brust des Dämons gestoppt. Der Fremde taumelte zurück, war aber offenbar nicht verletzt. Ein magischer Energieschirm, schoss es Zamorra durch den Kopf, der im Moment des Angriffs wieder sichtbar geworden war. Nur die wenigsten Höllendiener waren stark genug, um der Kraft des Amu letts zu widerstehen. Und ausgerechnet dieser gehörte dazu! Aber zumindest schien ihn die Attacke geschwächt zu haben. Also griff Zamorra erneut an! Eine ganze Salve von Blitzen prasselte auf den Dämon ein. Wü tend brüllte der Fremde auf und riss seine rechte Hand hoch. Im sel ben Moment wurde Zamorra selbst zurückgeschleudert. Die magi sche Attacke hätte ihn vermutlich zerrissen, wenn nicht Merlins Stern sofort einen eigenen Schutzschirm aufgebaut hätte. Grünlich leuchtete das magische Energiefeld auf, als die Kräfte der Hölle da gegen anstürmten. Fassungslos sah die junge Chinesin von einem zum anderen, als Zamorra aufsprang und auf sie zuhechtete.
Die Killerin schrie auf, als der Parapsychologe ihren Arm packte und sich das grünliche Leuchten auf sie ausdehnte. Jetzt wurde auch sie durch das Amulett geschützt. »So sieht man sich wieder!« Die junge Frau wollte sich befreien, aber Zamorra hielt sie fest um klammert. »Keine Bewegung, oder du bist tot! Das grüne Feld schützt dich vor seinen Attacken. Aber du musst dicht bei mir bleiben, sonst
funktioniert es nicht.« Die Chinesin starrte ihn einen Moment unverwandt an, dann nick te sie. Einen Sekundenbruchteil später riss sie eine weitere Attacke des Dämons fast von den Beinen. »Stell dich hinter mich«, befahl Zamorra. Die Killerin gehorchte, ohne weiter nachzufragen. »Wie rührend«, höhnte der Fremde. »Ihr Weißen seid so voller Mitleid, so unendlich hilfsbereit. Aber sag mir eins, fremder Zaube rer, was zur Hölle willst du hier?« »Dir das Leben schwer machen, das siehst du doch.« Ein weiterer Blitz schoss aus Merlins Stern hervor und ließ den Fremden zurücktaumeln. Er wird schwächer, dachte Zamorra. Er ist unglaublich stark, aber auf Dauer ist er den Attacken des Amuletts nicht gewachsen. Mit einem grimmigen Grinsen richtete sich der Dämon wieder auf. »Sieht so aus, als hätten Tin Haus schwächliche Erben nicht viel zu bieten, wenn sie sich einen Gweilo zur Hilfe holen müssen. Das Mädchen hat mich zur Weißglut getrieben, damals, vor tausend Jah ren, aber das hat sie nicht verdient, dass solche Verlierer in ihrem Namen auftreten!« »Tin Hau? Die Meeresgöttin?«, fragte Zamorra. Er dachte an das Tattoo der jungen Chinesin hinter ihm und an das, was Jenkins über die Schutzpatronin der Neun Drachen erzählt hatte. Offenbar war Tin Hau tatsächlich viel mehr als eine Gestalt aus alten Sagen und Legenden. »Oh je, du weißt gar nicht, um was es hier geht, oder?«, fragte der Fremde fast mitleidig, während er einen weiteren Angriff startete. Diesmal spürte Zamorra die Attacke kaum. Der Fremde schien seine Kräfte im Kampf gegen Merlins Stern rapide zu verbrauchen. »Vielleicht erklärst du's mir?« Der Fremde lachte schallend. »Da musst du schon selbst drauf
kommen. Aber vielleicht hilft dir ja das kleine Kätzchen da auf die Sprünge.« Zamorra spürte, wie sich Chin-Li hinter ihm bei der Be merkung versteifte. »Ich fürchte, ich muss jetzt gehen. Aber vergiss nicht, das Spiel hat gerade erst begonnen!« Mit diesen Worten packte er den wie Espenlaub zitternden Teddy Chang und schoss wie eine Kanonenkugel davon. Gleichzeitig sto ben die Bestien auf dem Platz mit wildem Geheul auseinander und verschwanden in der Dunkelheit. Merlins Stern schoss einigen der fliehenden Monster tödliche Blitze hinterher, aber die meisten entka men im Schutz der Nacht. »Verdammt, warum kann er das?«, murmelte Zamorra, der dem verschwundenen Fremden immer noch fassungslos hinterherstarrte. Fliegende Dämonen, wo gab's denn so was? Langsam begann er, Hongkong aufrichtig zu hassen! Im selben Moment, in dem der Dämon verschwunden war, hatte sich auch das grünliche Schutzfeld aufgelöst. Zamorra sah sich um. Sie waren die einzigen Überlebenden auf dem Platz. »Und jetzt zu uns!«, sagte der Dämonenjäger und wollte sich zu der jungen Killerin umdrehen. In dem Moment spürte er einen dumpfen Schmerz am Hinterkopf. Dann wurde um ihn herum alles schwarz.
9. Der Feind meines Feindes Zu vertrauensselig, hämmerte es in Nicoles Kopf. Du bist einfach viel zu vertrauensselig! Stöhnend kam die Dämonenjägerin auf die Beine. Ihr Kopf fühlte sich an, als feiere LUZIFER persönlich darin mit sei nen höllischen Heerscharen eine Riesenparty. Ansonsten war sie okay. Die Stelle an der Stirn, an der sie der Schlag getroffen hatte, blutete nicht einmal! Jenkins! Der windige Brite hatte sie niedergeschlagen, als sie ge bannt das Geschehen auf dem Platz beobachtet hatte. Sie hatte hin ter sich ein Geräusch gehört, war herumgefahren und hatte gerade noch gesehen, wie ein Stein auf sie niedersauste. Dann hatte sie das Bewusstsein verloren. Der Kerl hat dich reingelegt wie eine blutige An fängerin, fluchte Nicole innerlich. Sie hatte den schrulligen Ex-Agen ten von Anfang an nicht gemocht. Aber sie hatte keinen Grund ge habt, ihm wirklich zu misstrauen. Vielleicht hätte sie ihn beim ersten Treffen trotzdem telepathisch durchleuchtet, wenn sie diese furcht baren Kopfschmerzen nicht abgelenkt hätten. Und nachdem Zamor ra ihre telepathische Gabe per Hypnose blockiert hatte, gab es dazu keine Möglichkeit mehr. Nicole warf einen Blick auf die Uhr. Sie konnte nicht länger als fünf Minuten ohnmächtig gewesen sein. Aber offenbar waren es die entscheidenden fünf Minuten. Sie hatte noch gesehen, wie Zamorra den Dämon in die Flucht geschlagen hatte. Und dann hatte dieser britische Judas zugelangt. Jetzt lag der Steinbruch still und verlassen vor ihr. Nichts regte sich im kalten Licht der Scheinwerfer, die wie lange, dünne Finger ins Nichts sta chen. Dann hörte sie das Geräusch! Schnell griff Nicole zu dem Nacht sichtgerät, das neben ihr im Dreck lag. Jenkins hatte es in der Eile
wohl vergessen. Da unten war doch noch jemand! Der Atem stockte Nicole, als sie sah, wie Jenkins und diese chinesische Killerin einen leblosen Körper zu einem der Autos trugen. Es war Zamorra! Er schien ohne Bewusstsein zu sein, aber bis auf eine kleine Wunde am rechten Arm war er offenbar unverletzt. Dass ihr Lebensgefährte noch lebte, stand für Nicole außer Frage. Das innere Band zwischen ihnen war so eng, dass sie es sofort gespürt hätte, wenn Zamorra schwer verletzt oder sogar getötet worden wäre. Hilflos beobachtete Nicole, wie die beiden Triadendiener den Pa rapsychologen auf die Rückbank einer Limousine verfrachteten. Die Chinesin setzte sich ans Steuer, während sich der schlaksige Brite auf den Beifahrersitz wuchtete. »Verdammt«, murmelte Nicole. Wenn das feine Pärchen jetzt ent kam, fand sie es vermutlich nie wieder. Zu ärgerlich, dass wir die Blas ter nicht mithaben, dachte die Dämonenjägerin nicht zum ersten Mal. Mit der Laserwaffe aus der Schmiede der DYNASTIE DER EWIGEN hätte sie das flüchtende Duo vielleicht aufhalten können. Aber so hatte sie keine Chance, Zamorra aus den Klauen der Gangster zu be freien. Unten sprang der Motor der schwarzen Limousine an. Nicole sprang auf und hastete auf der anderen Seite den Abhang hinunter. Nach einem Blick auf Jenkins' altersschwachen Plymouth hatten sie für den Einsatz ein Auto gemietet. Der dunkelblaue Nissan stand hinter einem Abhang versteckt, sodass man ihn von der Freifläche aus nicht sehen konnte. Hastig warf sich die Dämonenjägerin hinter das Steuer. Der Schlüssel! Natürlich hatte Jenkins ihn mitgenom men. Aber der Ex-Agent hatte vermutlich nicht die geringste Ah nung, wie einsatzerprobt die beiden Franzosen wirklich waren. Ni cole wartete, bis sie den Mercedes aus dem Steinbruch zurück auf die Straße preschen hörte. Dann schloss sie den Nissan mit geübten Fingern kurz und gab ebenfalls Gas. Langsam steuerte sie den Wagen aus seinem Versteck. Die Schein werfer ließ sie aus. Es gab nur eine Straße, die das Gangsterduo in
Richtung Kowloon nehmen konnte, und auf der war um diese Zeit niemand mehr unterwegs. Nicht gerade ideale Bedingungen für eine Verfolgung, aber immerhin schlängelte sich die Straße in un zähligen Kurven durch das hügelige Gelände und sorgte so über weite Strecken für eine natürliche Deckung. Sollte der Mercedes nicht unerwartet irgendwo abbiegen, konnte sich Nicole weit zu rückfallen lassen, ohne Angst haben zu müssen, die beiden zu ver lieren. Als sie sich der Stadtgrenze näherten und sich die Straße langsam füllte, schaltete Nicole die Scheinwerfer ein und schloss etwas auf, achtete jedoch darauf, immer ein paar andere Fahrzeuge zwischen sich und dem Mercedes zu haben. Als sie in das Gewimmel von Kowloon eintauchten, wechselte Nicole mehrfach die Spur, um nicht entdeckt zu werden. Doch der Mercedes verließ bald die belebteren Straßen. Sie fuhren durch unzählige schäbige Seitenstraßen, in de nen von der Glitzerwelt Hongkongs nicht mehr viel zu sehen war. Nach wenigen Minuten hatte Nicole die Orientierung verloren. Sie vermutete, dass sie irgendwo in Mong Kok waren, aber gewettet hätte sie darauf nicht. Dann hatten sie ihr Ziel erreicht, einen uralt wirkenden, von einer hohen Mauer umgebenen Gebäudekomplex. Die schmucklose Anla ge sah aus wie ein Kloster. Nicole hatte keinen Zweifel daran, dass es sich bei dem düsteren Gebäude um das Hauptquartier der Neun Drachen handelte. Wie von Geisterhand glitt das imposante Tor auf, als sich der Mercedes dem Kloster näherte. Während das Fahrzeug der Entführer im Inneren des Klosters verschwand, stoppte Nicole den Nissan in sicherer Entfernung. Sie hatte den Sitz der geheimnisvollen Bruderschaft also tatsäch lich gefunden. Jetzt musste sie nur noch hineinkommen! Von außen sah die Anlage so uneinnehmbar aus wie eine mittelal terliche Trutzburg. Das Tor bestand aus massivem Metall. Außer dem war es gut möglich, dass der Eingang von innen bewacht wur de. Also musste sie es von einer anderen Seite versuchen.
Nicole umrundete das Kloster, und schließlich fand sie, was sie suchte. An der rund zweieinhalb Meter hohen Mauer parkte kein einziges Fahrzeug. Offenbar wussten die Einheimischen, dass die nähere Umgebung des Klosters für sie tabu war. Aber etwas die Straße runter stand ein ziemlich abgewrackt aussehender Kastenwa gen mit der halb abgeblätterten Aufschrift eines Speditionsunter nehmens. Das Auto aufzubrechen, war ein Kinderspiel. Zum Glück hatte das Fahrzeug keine Lenkradsperre. Nicole löste die Hand bremse und schob. Schwerfällig setzte sich der Wagen in Bewegung. Es kostete Nicole einige Mühe, das Auto an die richtige Stelle zu bugsieren, aber sie konnte nicht riskieren, das Fahrzeug kurzzu schließen. Das Risiko, dass jemand den Motor hörte, war zu groß. Schließlich stellte sie das Gefährt direkt vor der Klostermauer ab. Dann kletterte sie auf das Dach und schätzte die Distanz zur Mauer ab. Es würde knapp werden, aber es konnte klappen. »Gut, dass ich in den letzten Wochen viel Zeit im Fitnessraum ver bracht habe«, murmelte Nicole. Dann nahm sie Anlauf, stieß sich von der Kante des Wagendaches ab und schaffte es mit einem gewagten Salto haarscharf über die Mauer. Geschmeidig kam sie auf der anderen Seite auf – und blickte in das erstaunte Gesicht eines Mönchs. Doch der Schreck hielt nur eine Sekunde an, dann griff der glatzköpfige Kuttenträger an. Nicole hechtete zur Seite, als der Mönch sie mit einem blitzschnellen KungFu-Tritt von den Beinen holen wollte. »Verdammt, kann das denn jeder hier? Gibt es hier keine ganz normalen Leute mit Bierbauch und Bewegungsallergie?«, blaffte die Französin den verdutzten Mönch an. Dann ging sie zum Gegenan griff über. Der Mönch kämpfte nicht schlecht, aber gegen die chine sische Killerin, die sie im Hotel attackiert hatte, war er der reinste Anfänger. Irritiert stellte er fest, dass die weiße Frau ihm kampfs porttechnisch weit überlegen war. Mit ein paar schnellen KickboxAttacken schickte Nicole den Mann ins Reich der Träume. »Das soll dich lehren, nachts nicht über fremde Frauen herzufal
len!«, murmelte Nicole, während sie den bewusstlosen Mann mit seinem eigenen Gürtel fesselte und schließlich mit einem Stück Stoff von seinem Gewand knebelte. Im Hosenbund des Mönchs steckte eine Sig Sauer. Nicole nahm die automatische Pistole an sich und sah sich um. Sie befand sich in einem Garten aus sorgsam angeord neten Steinen und penibel gepflegten kleinen Bäumen und Sträu chern. Dunkel ragte das Hauptgebäude des Klosters vor ihr auf. Der Mönch war offensichtlich ein Wächter. Und vermutlich war er nicht allein. Die Waffe im Anschlag, schlich Nicole um den düsteren Bau. Auf der gegenüberliegenden Seite bewachte ein zweiter Mann eine kleine Tür. Offenbar hatte er von dem Kampf nichts mitbekommen. Der Mönch war kaum älter als zwanzig und offenbar hundemüde. Er starrte stumpf vor sich hin und gähnte herzhaft. Nicole nahm lautlos zwei Kiesel aus einem der kunstvollen Gar tenarrangements. Dicht an das Gebäude gepresst, schlich sie sich nä her an den Wachposten ran. Als sie nur noch zwei Meter von ihm entfernt war, warf sie die Kiesel. Sie landeten vor den Füßen des Mönchs auf dem Gehweg. Verschreckt zog der Mann seine Waffe, doch da war Nicole schon hinter ihm. »Überraschung!«, rief sie, als der Mönch herumwirbelte, und ver setzte ihm einen kräftigen Schlag aufs Kinn. Nicole fing den ohn mächtigen Mann auf und fesselte ihn wie den ersten Mönch. Seine Waffe behielt sie ebenfalls. Dann untersuchte sie die Tür. Sie war unverschlossen. »Jetzt geht's euch Drachen an den Kragen!«, murmelte Nicole und schlüpfte durch die Tür in das dunkle Gebäude.
Zamorra erwachte mit gewaltigen Kopfschmerzen. Er lag auf einem harten Steinfußboden in einem großen, von flackernden Kerzen be leuchteten Raum. Stöhnend rappelte der Dämonenjäger sich auf, blickte hoch – und sah in die Mündung einer automatischen Pistole. Die junge Chinesin, die er gerade noch aus den Klauen des Fremden
gerettet hatte, starrte ihn emotionslos an. Und Zamorra zweifelte nicht daran, dass sie abdrücken würde, wenn er ihr den geringsten Anlass dazu gab. Immerhin hatte sich die attraktive Killerin offen bar entschlossen, ihn nicht sofort umzubringen. Bei ihrer ersten Be gegnung hatte sie nicht so viele Umstände gemacht. Aber seitdem hatten sich die Dinge offenbar verändert! »Nette Art, sich zu bedanken. Haben Sie eigentlich viele Verabre dungen?« »Schweig, Gweilo! Entweihe diesen heiligen Ort nicht durch dein sinnloses Geschwätz!«, befahl eine Ehrfurcht gebietende Stimme. Erst jetzt bemerkte Zamorra, dass er mit der Killerin nicht allein war. In einem Halbkreis umringten sie neun uralte Chinesen. Die Neun Drachen! Es war ihm also wirklich gelungen, ins Zentrum der geheimen Bruderschaft vorzudringen, die angeblich Hongkong regierte. Doch der Parapsychologe wusste nicht, ob er sich darüber freuen sollte. Denn sein Leben schien plötzlich keinen Pfifferling mehr wert zu sein. Gesprochen hatte der mittlere der Neun Drachen. Offenbar war er das Oberhaupt der Bruderschaft. Der trotz seines Alters äußerst vital wirkende Greis stand vor einem Vorhang, auf dem ein riesiger stili sierter Drache abgebildet war, den Zamorra schon von der Tätowie rung der jungen Killerin kannte. Dasselbe Symbol prangte auch auf den safrangelben Kutten der neun greisen Männer. Um sie herum standen riesige Kerzenleuchter, die den ansonsten leeren Raum in ein schummriges Licht tauchten. Zamorra sah sich nach Nicole um. Er konnte seine Lebensgefährtin jedoch nirgendwo entdecken. Offenbar war wenigstens sie den Neun Drachen nicht in die Hände gefallen. Immerhin etwas, dachte Zamorra. Statt seiner Freundin entdeckte er im Hintergrund jedoch eine an dere vertraute Gestalt.
Jenkins! Der schlaksige Ex-Agent wirkte in diesem würdevollen Ambiente seltsam deplatziert. Jenkins sah Zamorra unglücklich an, schien aber selbst kein Gefangener zu sein. Der Parapsychologe wusste sofort, was das bedeutete: Der windige Informant hatte sie an die Neun Drachen verkauft! »Hallo, Jenkins, wie viel zahlt man Ihnen für Ihren netten kleinen Verrat?« Der Tritt war so schnell, dass Zamorra ihn nicht einmal kommen sah. Der rechte Fuß der Attentäterin traf den Parapsychologen hart am Kinn und schleuderte ihn zurück auf den Boden. Der Lauf der Pistole hatte sich dabei keinen Millimeter bewegt. Zamorra schmeckte Blut. Auch die Wunde am Arm brannte wieder wie Feu er. »Du solltest lernen, zu gehorchen, weißer Mann«, sagte das Ober haupt der Neun Drachen. »Gehorchen entspricht leider gar nicht meinem Naturell«, erwi derte Zamorra. Er wusste, dass es vernünftiger war, die Greise nicht zu provozie ren, aber er hatte nicht die geringste Lust, sich weiter rumschubsen zu lassen. Außerdem gab es in China nichts Schlimmeres, als sein Gesicht zu verlieren. Je mehr Schwäche er zeigte, desto schlechter war seine Verhandlungsposition. »Warum sollte diese hübsche Lady hier mich töten? Oder ist das nur ein Hobby von euch, harmlose Ausländer umzulegen?« Die Miene des Drachen-Oberhauptes verhärtete sich, und Jenkins sah plötzlich noch sehr viel unglücklicher aus. Offenbar war der Verräter eine empfindsame Seele. Dann nickte der greise Sprecher der Bruderschaft fast unmerklich. »Du hast ein Recht, es zu erfahren. Du bist ein großer Zauberer, Za morra – in deiner Welt.« Ihre Hausaufgaben hatten die Greise also gemacht.
»Na fein, dann haben wir die Vorstellungsrunde ja schon mal ab gehakt. Aber über eure Definition von Gastfreundschaft müssen wir uns noch mal unterhalten.« »Hongkong ist in Gefahr«, fuhr das Drachen-Oberhaupt unbeirrt fort. »Das Böse ist zurückgekehrt, um uns alle zu vernichten!« »Du redest von dem Fremden?« »Er ist ein Dämon. Der schlimmste, der unsere Welt je bedroht hat. Vor vielen Jahrhunderten hat er schon einmal hier geherrscht, bis Tin Hau seinem Schreckensregiment ein Ende bereitete.« Tin Hau! Immer wieder stieß Zamorra auf diesen Namen. Lang sam bedauerte er, dass er sich vor der Reise nicht intensiver mit der chinesischen Götterwelt beschäftigt hatte. »Seit sie sich im Kampf gegen den Namenlosen für uns opferte, bewahrt unsere Bruderschaft ihr Erbe, damit das Böse in Hongkong nie wieder sein hässliches Haupt erhebt.« Zamorra hätte fast laut aufgelacht. Zur treibenden Kraft hinter dem organisierten Verbrechen zu werden, war aus westlicher Sicht eine doch sehr eigenartige Methode, dem Bösen Paroli zu bieten. Jenkins hatte wohl recht. Hongkong war anders. »Schön, und was habe ich damit zu tun?« »Du warst einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort, Zamorra. Wir mussten sicherstellen, dass du unseren Kampf gegen das Böse nicht gefährden würdest. Jeder Angriff gegen die Triaden hätte uns geschwächt.« »Was interessieren mich die Triaden? Ich bin wegen eines Kon gresses hier!« »Wir mussten sichergehen. Manchmal muss ein unbedeutender Einzelner geopfert werden, damit das Ganze nicht in Gefahr gerät.« Zamorra spürte, wie Wut in ihm aufstieg auf diese alten Männer, die sich zu Herren über Leben und Tod aufschwangen. »Wenn das so ist, warum hat eure Killermieze dann noch nicht ab gedrückt?«
Die junge Chinesin funkelte ihn zornig an, und Zamorra bemerkte, dass sie leicht rot wurde. Vermutlich war sie so einen lockeren Um gangston nicht gewohnt. Vor allem nicht von ihren potenziellen Op fern. »Die Dinge ändern sich, weißer Zauberer. Chin-Li …«, der Greis deutete auf die junge Chinesin, »… hat uns von deinem mutigen und ehrenvollen Verhalten berichtet. Und auch Mister Jenkins hat sich sehr für dein Fortleben eingesetzt.« »Das war aber sehr freundlich von Ihnen«, sagte Zamorra sarkas tisch. »Man tut, was man kann«, erwiderte der Ex-Agent lächelnd. Er schien sich aufrichtig über das Lob zu freuen. »Der Dämon ist stärker als je zuvor«, fuhr das greise Oberhaupt der Neun Drachen fort. »Wenn er Hongkong in seine Macht ge bracht hat, wird eure Welt sein nächstes Ziel sein.« Dann würde er sich aber auch mit den anderen Kreaturen der Höl le anlegen müssen, die ihre Einflusszonen dem Fremden nicht kampflos überlassen würden, dachte Zamorra. Die Politik der Be wohner der Schwefelklüfte war in dieser Hinsicht nicht anders als die der irdischen Mächte. Aber er teilte die Einschätzung der Greise, dass der Fremde unter allen Umständen gestoppt werden musste, auch wenn er Verbrecherorganisationen – und nichts anderes waren die Neun Drachen für ihn – zutiefst verabscheute. In dieser Hinsicht galt wohl für beide Seiten der alte Spruch: Der Feind meines Feindes ist mein Freund – zumindest vorübergehend. Dass die Greise offenbar eine Allianz im Sinn hatten, bewies, wie sehr sie den Fremden fürchteten. Nach dem Fiasko im Steinbruch war ihnen wohl endgültig klar geworden, dass sie Hongkong allein nicht schützen konnten. Wahrscheinlich hatte Jenkins ihn überhaupt nur zu dem Treffen geführt, weil die Neun Drachen gehofft hatten, er würde bei der unvermeidlichen Konfrontation den Fremden töten – oder wenigstens selbst getötet werden. Sie hatten ihn wie eine Ma rionette manipuliert, aber offenbar ohne den gewünschten Erfolg.
»Ihr braucht also meine Hilfe.« »Die Neun Drachen brauchen niemandes Hilfe, Gweilo. Wir regie ren Hongkong seit tausend Jahren.« »Ja, aber damit könnte es bald vorbei sein. Der Fremde ist eine Nuss, die ihr nicht knacken könnt.« Chin-Lis Pistole ruckte ein paar Millimeter höher und zielte nun genau auf Zamorras Stirn. Jenkins war schweißgebadet. »Machen Sie sich nicht unglücklich, Zamorra. Das ist Ihre einzige Chance, hier lebend rauszukommen«, sagte er. Es klang fast flehentlich. »Es rührt mich, wie besorgt Sie um mein Wohlergehen sind, Jen kins. Vielleicht hätten Sie Ihre philanthropische Ader entdecken sol len, bevor Sie mich den Drachen zum Fraß vorwarfen!« »Sie verstehen das nicht, Professor. In Hongkong funktionieren die Dinge nicht so wie im alten Eluropa. Hier lässt sich die Welt nicht so einfach in Gut und Böse aufteilen.« »Du solltest auf deinen geschwätzigen Freund hören, weißer Zau berer«, sagte das Drachen-Oberhaupt. »Die Werte deiner verweich lichten Welt gelten hier nicht. Wer gegen Ungeheuer kämpft, muss manchmal selbst zum Ungeheuer werden.« In dem Moment brach die Hölle los.
Zamorra sah nur einen Schatten, und dann war Nicole auch schon in der Mitte des Raumes. Chin-Li riss die Pistole hoch, doch Zamorra kickte der Killerin das rechte Bein weg. Die Kugeln verfehlten Nico le um Haaresbreite. Bevor Chin-Li erneut schießen konnte, drückte die schöne Franzö sin dem ihr am nächsten stehenden Priester eine Automatik an den Hals und richtete eine zweite Waffe auf die chinesische Killerin. Patt, dachte Zamorra. Es war genau wie in diesen HongkongGangsterfilmen, in denen jeder jeden mit der Waffe bedrohte und niemand zu schießen wagte. Die Frauen belauerten sich über die
Läufe ihrer Pistolen hinweg, während sich in den Gesichtern der Neun Drachen schieres Entsetzen abzeichnete. Vermutlich hatte es bisher noch niemand gewagt, gewaltsam in ihr Heiligtum einzu dringen. »Eine falsche Bewegung, Schätzchen, und Opi kann seinen Ahnen persönlich seine Ehrerbietung erweisen«, zischte Nicole. Ihr fester Blick verriet, dass sie nicht zögern würde, ihre Drohung wahr zu machen. »Du kommst hier nie lebend raus, weiße Schlange!«, erwiderte Chin-Li kalt. In ihren Augen sah der Parapsychologe dieselbe Ent schlossenheit. Phantastisch, dachte er, während der Fremde Hongkong in Schutt und Asche legt, metzeln wir uns hier gegenseitig nieder. »Hi Nici, nett dich zu sehen. Ich hatte mich schon gefragt, wo du bleibst.« »Sorry, unser sauberer Mister Jenkins hier hat mich vorüberge hend ins Reich der Träume geschickt.« »Scheint hier eine Spezialität zu sein«, grinste Zamorra. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie der Ex-Agent sich unauffällig in den hinteren Teil des Raumes zu verdrücken versuchte. Möglicher weise gab es da noch einen Ausgang. Nicole hatte es auch gesehen. »Einen Schritt weiter, Jenkins, und Sie sitzen auf einer Wolke mit einer Harfe in der Hand!« Kreidebleich erstarrte der Verräter mitten in der Bewegung. Zamorra wurde es langsam unbequem auf dem Boden. Vorsichtig versuchte er, sich aufzusetzen. Weit kam er nicht. »Rühr dich noch einmal, Gweilo, und deine Konkubine stirbt!« »Konkubine?«, fauchte Nicole. »Du spinnst wohl, Lady.« »Du bist in das Heiligtum der Neun Drachen eingedrungen. Dafür wirst du sterben, das schwöre ich!« »Langsam, Mädels«, sagte Zamorra beschwichtigend. »Wir haben schließlich denselben Feind. Können wir uns nicht wie zivilisierte Leute miteinander unterhalten?«
»Was verstehst du schon von Zivilisation, weißer Barbar?«, zischte die junge Chinesin. »Wir waren schon eine Hochkultur, als ihr noch auf den Bäumen hocktet.« »Diskutieren Sie nie mit einem Chinesen über Kultur, da sind die eigen«, warf Jenkins ein. Schlagartig richteten sich alle Blicke auf ihn. »Ich meine ja nur«, nuschelte der Brite kleinlaut und verfiel wie der in betretenes Schweigen. »Der weiße Zauberer hat Recht«, sagte das Drachen-Oberhaupt schließlich. Trotz der bedrohlichen Situation klang seine Stimme im mer noch fast feierlich. »Wir dürfen unsere Kräfte nicht vergeuden, indem wir uns gegenseitig bekämpfen. Die Armee des Dämons steht kurz vor dem Sieg. Viele unserer Bastionen sind schon gefallen. Nur vereint können wir das Ende Hongkongs noch verhindern.« »Wir sind dazu bereit«, sagte Zamorra. »Ich mag eure Methoden nicht. Aber in diesem Krieg werden wir auf eurer Seite kämpfen.« »So sei es, Zamorra«, sagte der greise Sprecher der Bruderschaft. »Lass die Waffe sinken, Frau. Du hast ein großes Sakrileg begangen, aber du hast auch den Mut einer Kriegerin bewiesen. Du hast von uns nichts zu befürchten.« Nicole rührte sich nicht. »Nicole!« »Du glaubst dem Friedensgesäusel doch nicht, das der alte Zausel uns da einflüstert? Das sind eiskalte Killer!« Zamorra seufzte. Nicoles Respektlosigkeit war nicht immer geeig net, eine brenzlige Situation zu entschärfen. »Doch, ich glaube ihm!«, sagte er entschieden. »Ich habe den Fremden erlebt. Die Geschichten über ihn sind nicht untertrieben. Wir müssen ihn unter allen Umständen stoppen!« Selbst wenn wir dafür einen Pakt mit dem Teufel schließen müssen, fügte er in Gedanken hinzu. »Auf deine Verantwortung, Chef«, sagte Nicole und ließ die Waf fe, die den greisen Priester bedrohte, sinken. Die zweite Pistole zielte
unverändert auf die chinesische Killerin. »Chin-Li!« Auf den Befehl des Drachen-Oberhauptes senkte die junge Profi killerin langsam ihre Waffe, zeitgleich mit Nicole. Doch immer noch belauerten sich die beiden Frauen mit ihren Blicken. »Endlich!«, meinte Zamorra und sprang auf die Füße. Diesmal hielt ihn niemand auf. »Warum konnten wir das nicht gleich bei ei nem Tässchen Tee besprechen?« »Tee wäre jetzt nicht schlecht!«, sagte Jenkins. Wenn Blicke töten könnten, hätte der Brite auf der Stelle das Zeitli che gesegnet.
»Wer war dieser Kerl? Ich werde ihn vernichten! Ich werde ihn mit meinen eigenen Händen zerreißen und dann sein Blut trinken! Ja, das werde ich!« Gelangweilt blickte der Fremde zu Teddy Chang. Obwohl er einer der wenigen Menschen in dem luxuriösen Penthouse war, führte sich der Gangster auf wie der letzte Abschaum der Schwefelklüfte. Die dick mit Verbandsmaterial bedeckte Schusswunde behinderte ihn dabei kaum. Tatsächlich war sie kaum mehr als ein Kratzer. Schade, dachte der Fremde. Der Dämon ertrug den aufgeblasenen Bandenchef kaum noch. Sobald er keine Verwendung mehr für ihn hatte, würde er den pausbäckigen Gangster mit Vergnügen zum Frühstück verspeisen. Bis dahin hatte er andere Möglichkeiten, Teddy zum Schweigen zu bringen. »Halt's Maul«, sagte der Namenlose genervt und winkte fast un merklich in Richtung des Gangsterbosses. Entsetzt schrie Teddy auf, als ihn unsichtbare Kräfte packten und ihn direkt vor die raumhohe Fensterfront schleuderten, die einen atemberaubenden Ausblick auf den Hafen und Kowloon bot. Mit schmerzverzerrtem Gesicht kam
der Gangster wieder auf die Beine, sagte aber kein Wort. Er hatte die Warnung verstanden. Der Fremde hätte ihn auch einen Meter weiter schleudern können, und dann wäre der gute Teddy durch die Glas scheibe gekracht und fast zweihundert Meter in die Tiefe gestürzt. Ein unwürdiger Tod für einen Triadenboss. Aber genau das Richtige für eine Ratte wie Teddy Chang, dachte der Fremde und grinste. Selbst Teddys engste Getreue hatten von diesem Penthouse in Causeway Bay nichts gewusst. Hier hatte sich der Gangster wohl weislich eine komfortable Zuflucht geschaffen für den Fall, dass er einmal in Ungnade fiel und schnell untertauchen musste. Hier gab es alles, was der Triadenboss von heute so brauchte: Geld, Drogen, Lebensmittel – und jede Menge Waffen. »Aber dieser Kerl mit der Silberscheibe …«, versuchte es Teddy kleinlaut noch einmal. »Hat unsere Pläne ganz schön durcheinander gewirbelt, was?« Leise in sich hineinlachend erhob sich der Dämon von dem Sessel, in dem ihn zwei von Teddys Gespielinnen ausgiebig verwöhnt hatten. Da er einen Körper aus Fleisch und Blut übernommen hatte, wusste der Fremde irdische Genüsse durchaus zu schätzen. Die nackten mandeläugigen Schönheiten waren außer Teddy die einzigen Men schen in dem Penthouse. Sie in schleimige Höllenkreaturen zu ver wandeln, wäre reine Verschwendung gewesen. Befriedigt zog der Fremde seine Hose hoch und ging zu der Pan oramascheibe. Verängstigt zuckte Teddy zurück, doch der Dämon beachtete den fetten Gangster gar nicht. Er genoss den prächtigen Blick über das nächtliche Hongkong. Teddy musste für diese einma lige Aussicht in der verbauten Metropole ein Vermögen bezahlt ha ben. Der Dämon sog das Panorama in sich auf. Das alles hatte einst ihm gehört, und es würde bald wieder seins sein. Auch der ausländische Zauberer würde daran nichts ändern. Sein unerwartetes Auftauchen in dem Steinbruch hatte den Fremden völ lig überrascht. Mit einem dermaßen mächtigen Gegner hatte er nicht
mehr gerechnet. Aber der Dämon war nicht erzürnt. Ganz im Ge genteil – er schätzte die Herausforderung. Die meisten Höllenbe wohner waren zutiefst feige Kreaturen, die bevorzugt durch List und Intrigen zum Ziel kamen und sich nur ungern selbst in Gefahr begaben. Der Namenlose war da anders. Er liebte es, sich mit einem würdigen Gegner zu messen. Schleimige Kriecher wie Teddy Chang widerten ihn dagegen nur an. Der Dämon dachte an Tin Hau. Sie war eine würdige Gegnerin ge wesen, das kleine Fischermädchen, das er lange unterschätzt hatte, bis es zu einer mächtigen Zauberin herangereift war, die es selbst mit ihm hatte aufnehmen können. Wie hatte er ihre endgültige Konfrontation genossen, als magische Urgewalten über dem südchinesischen Meer aufeinander geprallt waren und die Nächte taghell erleuchtetet hatten. Die Neun Dra chen würden ihm dieses Vergnügen nicht bieten. Wären sie nur halb so mächtig, wie sie glaubten, hätten sie ihn schon längst vom Antlitz der Erde gefegt. Doch die selbst ernannten Hüter des Erbes von Tin Hau waren selbstgefällig und feige geworden. Sie schickten lieber andere vor, als sich selbst dem Feind zu stellen. Aber dieser weiße Magier schien keiner ihrer Büttel zu sein. Eine dritte Partei, das machte das Spiel noch sehr viel interessanter! Und der Fremde wusste, wie er darauf reagieren musste. Er erhöhte den Einsatz. Unvermittelt riss der Dämon die Arme hoch und beschwor die Ur gewalten der Hölle. Seine Augen glühten, als müsste jeden Augen blick Feuer aus ihnen hervorschießen. Mit einem gewaltigen Knall zersprang die Fensterfront. Scharf gezackte Glasscherben regneten in die Tiefe und würden denen, die sie trafen, verheerende Verlet zungen zufügen. Den Fremden kümmerte das nicht. Er rief den Taifun, auf den Hongkong seit Tagen wartete. Dicke, tiefschwarze Wolken ballten sich über dem Penthouse zusammen. Der Wind schwoll zu einem ohrenbetäubenden Rauschen an. Und dann brach der Sturm los.
Teddy Chang kauerte auf dem Fußboden und starrte verstört auf die entfesselten Naturgewalten. Im Zentrum des Sturms war nicht der geringste Windhauch zu spüren, doch um sie herum richtete der Taifun furchtbare Schäden an. Teddy beobachtete, wie Fensterschei ben zerbarsten, Autos durch die Luft gewirbelt und Baugerüste von den Gebäuden gerissen wurden. Und dann sah er, wie es eines der Häuser selbst erwischte. Ganz in der Nähe von Chek Lap Kok. Möglicherweise war der obere Bereich des Gebäudes nicht stabil genug konstruiert. Jedenfalls brachen gan ze Wandstücke aus ihm heraus, wurden davongewirbelt, teilweise in Richtung Flughafen. Damit nicht genug, blitzte es plötzlich explo sionsartig auf. Gasexplosion, durchfuhr es Teddy. Das Leitungsnetz muss zerrissen worden sein, ein Funke genügt … Von einem Moment zum anderen entstand eine Flammenwand, eine Feuerwalze, die auf den gesamten Häuserblock übergriff. Ted dy glaubte, das Schreien der Menschen zu hören, die sich in lebende Fackeln verwandelten, die aus aufplatzenden Fenstern geweht wur den oder in die Tiefe sprangen, um dem Feuer zu entgehen. Unglaublich schnell breitete sich das flammende Inferno aus. Es sprang von einem Gebäude zum anderen. Fette schwarze Qualm wolken stiegen auf und verdunkelten den Himmel. Teddy Chang zitterte. Menschenleben hatten ihm nie viel bedeu tet. Ihm war es egal, wenn andere sterben mussten, damit er weiter kam. Aber in den brennenden Häusern mussten sich hunderte, viel leicht über tausend Menschen befunden haben, darunter viele Frau en und Kinder. Das war sogar für einen skrupellosen Verbrecher wie ihn zu viel. Doch der Fremde hatte für die Opfer nur Hohn übrig. Sein un menschliches, grausames Gelächter übertönte selbst das Tosen des Taifuns und musste noch in Kowloon zu hören sein, wo dicke
Rauchwolken über der Unglücksstelle in den Himmel stiegen. Teddy Chang fühlte sich erbärmlich. Zum ersten Mal, seit er sich mit dem Fremden eingelassen hatte, war er sich sicher, einen furcht baren Fehler begangen zu haben. Dabei konnte der dicke Gangster von seiner Warte aus das wahre Ausmaß der Zerstörung nicht einmal erahnen. Mit unglaublicher Gewalt fegte der Taifun durch die Hochhausschluchten und zer schmetterte jeden, der sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte. Schon nach wenigen Minuten glich die einst so stolze Me tropole einem Schlachtfeld. Überall zeugten Trümmer, Tote und Verletzte von der Katastrophe, die über Hongkong hereingebrochen war. Doch dann geschah etwas Sonderbares. Als sei der Sturm ein intel ligentes Wesen, verließ er die Stadt und legte sich wie ein Wall um Hongkong. Dann verdichtete er sich zu einer gewaltigen, von Blitzen durchzuckten Wand, die Hong Kong Island, Kowloon und Lantau umschloss. Im selben Moment brachen alle Telefon-, Funk- und In ternetverbindungen zusammen. Hongkong war von der Außenwelt abgeschnitten.
10. Versuchungen »Pfefferminz?« Es war dieses eine Wort, das das Fass zum Überlaufen brachte. »Lassen Sie mich mit Ihrem verdammten Pfefferminz zufrieden, Judas, sonst stopfe ich es Ihnen sonst wohin!«, fauchte Nicole. Die Neun Drachen hatten ihnen ein paar ungenutzte Räume im Kloster zur Verfügung gestellt, die man mit viel gutem Willen als Gästezimmer bezeichnen konnte. Sie hatten miterlebt, wie der Sturm durch Hongkong gefegt war. Der massive Klosterbau hatte nicht viel abbekommen, aber in der Stadt mussten die Schäden erheblich sein. Außerdem waren seit Stunden alle Kommunikationswege unter brochen. Zamorra hatte mit den Mitteln des technisch erstaunlich gut ausgestatteten Klosters versucht, einen Fernsehsender auf den Schirm zu bekommen, um mehr über die Situation in der Stadt zu erfahren. Vergeblich. Alle Kanäle waren tot. Ebenso wie die Telefonund Internet-Verbindungen. Das muss irgendjemand da draußen bemerken, dachte Zamorra. Aber er glaubte nicht, dass ihnen das viel nützte. Die Zukunft Hongkongs wurde hier entschieden. Und sie waren dabei ganz auf sich allein gestellt. Die Führer der Bruderschaft hatten sich zurückgezogen. Zamorra und Nicole hatten darauf bestanden, gemeinsam einen Schlachtplan zu erarbeiten. Aber die Greise hatten sich dem schlicht verweigert. Sie wollten erst meditieren und dann ihren Gästen das weitere Vor gehen erläutern, hatte Meister Shiu erklärt. Zamorra vermutete, dass die neun Greise einfach nicht wussten, wie es weitergehen sollte. Aber sie konnten dies nicht zugeben, ohne ihr Gesicht zu verlieren.
Deshalb hockten sie jetzt in dieser kargen Zelle und warteten. Und alles, was Jenkins einfiel, war Pfefferminz! Jenkins nickte. »Sie haben Recht, Miss Duval. Der Weltuntergang ist nicht der richtige Zeitpunkt, um mit dem Rauchen aufzuhören.« Nicole schnaubte wütend, während der schlaksige Ex-Agent aus den unerfindlichen Tiefen seiner Hosentaschen ein zerdrücktes Päckchen Pall Mall hervorholte. »Habe ich immer dabei, für alle Fäl le«, erklärte er, obwohl ihm niemand zuhörte. Jenkins zündete sich einen Glimmstängel an und inhalierte genussvoll. »So schnell geht die Welt nicht unter«, sagte Zamorra, obwohl er sich da nach den Ereignissen der letzten Stunden selbst nicht mehr ganz sicher war. »So, meinen Sie? So wie ich das sehe, haben die alten Knacker ihr Pulver längst verschossen. Jetzt greifen sie in ihrer Not nach dem letzten Strohhalm, und das sind Sie. Aber nehmen Sie's mir nicht übel, ich habe keine Ahnung, wie uns ausgerechnet ein Franzose aus dem Schlamassel helfen könnte.« »Meine Vorfahren waren Spanier.« »Das ist ja noch schlimmer!« »Ich trau' diesen Neun Zauseln nicht«, sagte Nicole grimmig. »Im merhin haben sie versucht, uns umzubringen. Außerdem stecken sie mit den Triaden unter einer Decke.« »Nobody's perfect«, grinste Zamorra. »Vielleicht solltest du die Blockade wieder aufheben. Dann könnte ich sie telepathisch abchecken.« Zamorra schüttelte den Kopf. »Viel zu gefährlich, Nici. Das menta le Gift, das dich umgehauen hat, dürfte eher noch stärker geworden sein, und ich brauche dich jetzt in Topform. Wir können es nicht ris kieren, dass du wieder zusammenklappst. Außerdem vermute ich, dass sich die Brüder gegen telepathische Attacken abschirmen kön nen. Wer so lange an der Macht ist, wird sich nicht so leicht in die Karten gucken lassen. Ansonsten glaube ich, dass unser guter Mister
Jenkins hier Recht hat. Die Neun Drachen sind auf diese Schlacht nicht vorbereitet und mit der Situation völlig überfordert. Sie sind eine Art Gralshüter, die ebenso wie viele ihrer Vorgänger sicher nie damit gerechnet haben, dass sie ihren Schatz wirklich mal mit ihrem Leben verteidigen müssen. In den letzten Jahrhunderten sind aus mächtigen Magiern Herrscher geworden, die ihr Imperium gegen sehr irdische Konkurrenz verteidigt haben. Das Bündnis mit den Triaden, das ihre Machtbasis eigentlich verbreitern sollte, hat sie so in Wahrheit geschwächt, zumindest was ihr spirituelles Potenzial betrifft und damit ihre Fähigkeit, gegen den Fremden zu bestehen.« »Kurz und gut, sie haben keine Chance«, murmelte Jenkins resi gniert. »Ich fürchte nicht«, bestätigte Zamorra. »Aber das ist noch kein Grund, den Kopf hängen zu lassen. Nicole und ich sind schließlich auch nicht ganz unerfahren in diesen Dingen.« Der Brite sah Zamorra skeptisch an, aber bevor er etwas entgegnen konnte, wurden sie von Chin-Li unterbrochen, die fast lautlos den Raum betreten hatte. Die junge Kriegerin brachte ein Tablett mit ve getarischen Speisen und Getränken. »Haben die hier kein Bier?«, maulte Jenkins, als er sich eine Schale Tee angelte. »Alkohol ist im Kloster streng verboten«, sagte Chin-Li und be dachte den Briten mit einem strengen Blick. »Zigaretten auch!« »Ist ja schon gut«, murmelte Jenkins und trat die Kippe auf dem Boden aus. Chin-Li starrte ihn an. Hastig griff sich der Ex-Agent den Stummel und steckte ihn in die Zigarettenschachtel, die er missmu tig wieder in seiner Hose verschwinden ließ. Zamorra sah der jun gen Frau nachdenklich nach, als sie grußlos den Raum verließ. ChinLi war ihm ein Rätsel. Äußerlich war sie fast noch ein Mädchen, doch innerlich war sie kalt wie Eis. Wenn es stimmte, was er vermu tete, war sie einzig und allein aufgezogen worden, um das Imperi um der Neun Drachen an vorderster Front zu verteidigen. Vermut lich hatte sie nie die Chance auf ein normales Leben gehabt. An der
Tatsache, dass sie eine skrupellose Mörderin war, änderte das aller dings nichts. Seit die Dämonenjäger sich mit der Bruderschaft gegen den Dä mon verbündet hatten, behandelte Chin-Li den Parapsychologen mit strenger Kühle. Über den Vorfall im Peninsula Hotel hatte sie kein einziges Wort verloren. Doch manchmal blitzte etwas in ihren Augen auf, das er nicht einordnen konnte. Irgendetwas rumorte un ter dieser harten Schale, doch Zamorra hatte nicht die geringste Ah nung, was es war. Die drei Europäer hatten seit Stunden nichts mehr gegessen. Ent sprechend ausgehungert stürzten sie sich auf das Tablett. Doch die Freude währte nicht lange. Jenkins verzog angewidert das Gesicht, und auch Zamorra fand die Speisen reichlich fade. Nur Nicole schaufelte unverdrossen den ungewürzten Gemüsereis in sich hin ein. So viel Wert Zamorras Lebensgefährtin auch auf Mode und Li festyle legte, wenn es darauf ankam, war sie der genügsamste Mensch der Welt. Und wenn es kein besseres Essen gab, dann war das eben so. Nie wäre es ihr eingefallen, deswegen zu nörgeln. Ihre Laune in Bezug auf die Neun Drachen konnte allerdings auch ein gefüllter Magen nicht verbessern. »Ich finde nicht, dass die Neun Zausel unsere Hilfe verdient ha ben«, sagte sie, nachdem sie den letzten Rest aus ihrem Schälchen verputzt hatte. »So wie ich das sehe, sind die Brüder kaum besser als dieser Dämon. Sie gehen schließlich auch über Leichen, um ihre Zie le zu erreichen. Ich fürchte, wir treiben hier den Teufel mit dem Be elzebub aus.« »Das kann manchmal sehr effektiv sein«, entgegnete Zamorra. »Denk nur an unsere Bündnisse mit Asmodis.« »Genau das tue ich ja!« Um größere Gefahren abzuwehren, hatten sich die beiden Dämo nenjäger auch schon vor Asmodis' Abkehr von der Hölle mehrfach mit dem ehemaligen Fürsten der Finsternis verbündet. Für Nicole war der Ex-Teufel auch nach seinem Rückzug aus den Schwefelklüf
ten ein rotes Tuch, während sich zwischen Zamorra und Asmodis – oder Sid Amos, wie er sich inzwischen nannte – so etwas wie eine vorsichtige Freundschaft entwickelt hatte. »Wir sollten die Drachenbrüder lieber sich selbst überlassen und uns diesen Fremden alleine vorknöpfen«, meinte Nicole. »Schließ lich sind die Neun Zausel selbst jetzt kaum bereit, zu kooperieren. Sie sprechen ja nicht mal mit uns!« »Aber sie kennen Hongkong und den Dämon sehr viel besser als wir«, erwiderte Zamorra. »Wir könnten ihr Wissen noch brauchen, wenn es hart auf hart kommt.« »Manchmal bleibt einem nichts anderes übrig, als mit dem Teufel zu frühstücken, auch wenn man dazu einen sehr langen Löffel braucht, Miss Duval«, sagte Jenkins, während er sich die letzte Teig tasche in den Mund stopfte und sichtlich angeekelt hinunterwürgte. »Vor allem hier in Hongkong!« »Das habe ich doch schon mal gehört!« »Und man kann es nicht oft genug sagen«, versicherte der ExAgent, der seinen Vorsatz, nicht mehr zu rauchen, jetzt offenbar ganz aufgegeben hatte. Ungeachtet der Ermahnung durch Chin-Li steckte er sich einen weiteren Glimmstängel an, der ihm offenbar sehr viel besser schmeckte als das fade vegetarische Essen. »Gut und Böse lassen sich hier in Asien für einen Europäer nicht immer leicht unterscheiden. Nehmen Sie zum Beispiel mich. Sie hal ten mich wahrscheinlich für ein skrupelloses Schwein.« »Ziemlich gut ausgedrückt!« Jenkins war keineswegs beleidigt. »Und trotzdem bin ich hier ei ner von den Guten. Die Neun Drachen mögen vieles tun, was uns nicht gefällt, aber sie sind in Hongkong ein Garant für Sicherheit und Wohlstand, während der Fremde nur Chaos, Tod und Zerstö rung bringt.« »Das macht Sie noch lange nicht zu einem strahlenden Ritter!« »Sicher nicht«, Jenkins kicherte, verschluckte sich an dem Rauch
der Zigarette, hustete und kicherte nur umso lauter. »Aber ich habe immerhin ihren hübschen Arsch gerettet.« Der Brite sah rechtzeitig Nicoles warnenden Blick. »Ich wollte sagen, ich habe meinen bescheidenen Beitrag dazu ge leistet, dass Ihr wertes Hinterteil und das von Monsieur nicht allzu großen Schaden erlitten haben. Es waren immerhin nicht zuletzt meine Berichte, die die Bruderschaft davon überzeugt haben, dass Sie keine Gefahr darstellen und vielleicht doch nicht eliminiert wer den müssen.« »Na, schönen Dank auch«, sagte Nicole sarkastisch, obwohl sie wi der Willen grinsen musste. »Trotzdem können mir alle Drachen die ser Welt gestohlen bleiben! Langsam kann ich verstehen, warum der Heilige Georg(legendärer Drachentöter) einen solchen Rochus auf die Viecher hatte.« »Aber da liegt genau das Problem, Verehrteste. Besser könnte man den kulturellen Unterschied gar nicht auf den Punkt bringen. In Eu ropa sind Drachen etwas Gefürchtetes, absolut Böses. Hier in China symbolisieren sie dagegen Glück und Wohlstand. Und das passt einfach nicht zusammen. Sie, Professor Zamorra, sind, wenn ich es richtig verstanden habe, so etwas wie ein moderner Drachentöter. Ein Georg unserer Tage.« »Das könnte man wohl so ausdrücken«, sagte Zamorra. Er ahnte, worauf der Ex-Agent hinauswollte. »Aber in Hongkong stehen Sie damit automatisch auf der falschen Seite. Denn hier gibt es kein größeres Sakrileg, als einen Drachen zu töten!« »Lass uns ein paar Drachen erlegen!« Teddy Chang schreckte auf. Über ihm hockte der Fremde. Seine Augen glühten, als wollten sie die ganze Welt in Brand setzen. Und Teddy hatte keinen Zweifel daran, dass sie es konnten. Stöhnend kam der dicke Gangster auf die Beine. Er musste für ein paar Minu ten eingenickt sein. Für den Fremden zu arbeiten, war anstrengen der, als er gedacht hatte. Und langsam zweifelte er daran, ob er je
die versprochene Belohnung bekommen würde. Herrscher über Hongkong wollte der Fremde sein, mit Teddy an seiner rechten Sei te. Aber wenn der Dämon so weitermachte, war von der Stadt bald nicht mehr viel übrig, über das man herrschen konnte. Und Teddy hatte das Gefühl, dass das dem Fremden völlig egal war. Es war inzwischen tiefe Nacht. Der Häuserblock, in dem es zu der Gasexplosion gekommen war, brannte immer noch. Der Rest der sonst durch unzählige Leuchtreklamen auch nachts taghell erleuch teten Stadt war in tiefe Finsternis getaucht. Mit zitternden Fingern zündete sich Teddy eine Zigarette an und inhalierte nervös. Das war nicht mehr das Hongkong, das er kannte und liebte. Das war ein Friedhof! Ein widerliches Schmatzen ließ den dicken Gangster herumfahren. Drei der Bestien aus ihrem Gefolge machten sich über zwei blutige Kadaver her. Mit Entsetzen erkannte er, dass es die beiden Nutten waren, mit denen sich der Fremde noch vor wenigen Stunden ver gnügt hatte. So dankst du es also deinen Leuten, Arschloch, dachte Ted dy und lächelte den Dämon schleimig an. »Was kann ich für dich tun, Meister?« »Magst du eigentlich Friedhöfe, Teddy?« »Na ja, solange ich nicht selbst draufliege …«, sagte Teddy mit ge quältem Grinsen. Hatte der Fremde ihm gerade gedroht? Aber der Dämon schien bester Laune zu sein. »Gute Antwort, Teddy, sehr gute Antwort. Zumindest für so ein dummes kleines Insekt wie dich.« »Danke, Meister!« Der Fremde stellte sich vor die zersplitterte Fensterscheibe und sah hinaus in die Nacht. »Es ist nicht so, dass ich immer nur Menschen töte, um zu meinem Ziel zu kommen, Teddy. Ich kann auch Leben schaffen! Oder es zu mindest denen zurückgeben, denen es ein unbarmherziges Schicksal viel zu früh genommen hat. Wer war schon dieser Jesus, den diese
Gweilos so bewundern. Er holte nur Lazarus zurück. Ich werde Hunderten das Leben schenken!« Der Dämon riss die Arme hoch, und unzählige Blitze fuhren aus der drohend-schwarz über der Stadt hängenden Wolkendecke her ab. Dumpfes Donnergrollen erfüllte die Luft, und ein plötzlich auf kommender Wind umtoste das Penthouse. »Hunderte, Teddy. Die Toten werden Hongkong übernehmen und diesen verdammten Neun Drachen endlich zeigen, wer der Herr dieser Stadt ist. Wir verwandeln ihr schönes kleines Königreich in die Hölle auf Erden, und dann werden wir diesen vertrottelten Greisen selbst einen klei nen Besuch abstatten!«
Zamorra streckte sich auf der harten Pritsche aus. Der Dämonenjä ger war unruhig. Alles in ihm drängte danach, den Gegner direkt anzugreifen. Aber wo steckte der Fremde? Er hatte nicht die ge ringste Ahnung! Hongkong war groß, und der Dämon konnte sich theoretisch überall versteckt haben. Die Neun Drachen gingen davon aus, dass der Dämon bald zu schlagen würde. Der Fremde musste die Bruderschaft besiegen, um endgültig die Macht in Hongkong zu übernehmen. Also war es das Sinnvollste, zu warten und etwas Energie zu tanken. Zamorra schmeckte das gar nicht, aber etwas Besseres fiel ihm auch nicht ein. Nicole und er hielten abwechselnd mit den Mönchen und zur Hil fe geeilten Triadenkämpfern Wache. Die Neun Drachen hatten sie mit automatischen Pistolen und Schnellfeuergewehren ausgestattet. Dem Parapsychologen war nicht ganz wohl dabei. Gegen Dämonen konnten normale Kugeln nichts ausrichten, und Menschen zu töten, wollte er unter allen Umständen vermeiden. Aber der Armee des Fremden unbewaffnet entgegenzutreten, war sicher auch keine gute Idee. Immerhin hatte Zamorra noch das Amulett. Der Dämonenjäger bezweifelte jedoch, dass Merlins Stern als Waffe gegen den immer
mächtiger werdenden Dämon ausreichen würde. Nicht zum ersten Mal verfluchte er sich dafür, dass sie nicht mindestens die Dhyarras mitgenommen hatten. Der Parapsychologe sah auf seine Armbanduhr. Es war kurz nach drei. Nicole hatte vor einer Viertelstunde die Wache übernommen, während Zamorra in der kleinen Mönchszelle vergeblich versuchte, etwas Schlaf zu finden. Andere hatten in dieser Hinsicht mehr Glück. Aus der Nachbarzel le drang Jenkins' dröhnendes Schnarchen, das Zamorra mit jeder Minute mehr in die Verzweiflung trieb. Es war so laut, dass es selbst mit dem nächtlichen Getöse von Fooly locker konkurrieren konnte. Und das sollte etwas heißen! Ein Geräusch ließ Zamorra hochschrecken. Schnell griff der Dämo nenjäger zu der Pistole, die neben ihm auf der Pritsche lag. Der Arm schmerzte bei der Bewegung kaum noch. Seit er vom Wasser der Quelle des Lebens getrunken hatte, verfügte Zamorra über außerge wöhnlich gute Selbstheilungskräfte. Die Tür wurde einen Spalt weit aufgeschoben, und eine dunkle Gestalt huschte in die kleine Zelle. Wer konnte das sein? Nicoles Schicht war noch lange nicht beendet. Aber Merlins Stern reagierte nicht. Also musste es ein Mensch sein, der sich Zamorras Bett näher te. Lautlos glitt der Dämonenjäger von der Pritsche und schnellte vor. Ein erstickter Aufschrei erklang, als er den Eindringling packte und gegen die Wand schleuderte. Der ungebetene Gast trug nur ein hauchdünnes Gewand. Und er war eindeutig weiblich! Irritiert stellte Zamorra fest, dass seine linke Hand auf einem wohl geformten Busen ruhte. Der Moment der Unkonzentriertheit reichte. Mit einem geschickten Griff entwand sich der Eindringling. Polternd fiel die Pistole zu Boden. Die Frau schleuderte den Parapsychologen zurück aufs Bett, warf sich auf ihn – und küsste ihn. Es war definitiv nicht Nicole, die da auf ihm lag und sich in ein
deutiger Absicht an seiner Hose zu schaffen machte. »Chin-Li!« Mit einem Ruck warf sich der Parapsychologe herum, sodass er jetzt auf der schönen Killerin lag. Das irritierte die junge Chinesin jedoch überhaupt nicht. Während ihre Zunge forsch in Za morras Mund eindrang, zog sie seine Hose herunter. Hektisch befreite sich der Parapsychologe und sprang aus dem Bett. »Chin-Li, was soll das?« Die Chinesin antwortete nicht. Zamorra hörte, wie Stoff zu Boden glitt, dann kniete sie nackt vor ihm. Das ging jetzt eindeutig zu weit. Mühsam zog Zamorra die liebestolle Profikillerin wieder auf die Beine. »Hör sofort auf damit!« Die Chinesin sah ihn eindringlich an. Selbst in der Dunkelheit glaubte Zamorra, das Funkeln in ihren Augen zu erkennen. »Du hast mein Leben gerettet«, flüsterte sie mit ernster Stimme. »Gern geschehen. Du kannst mich ja mal zum Essen einladen!« »Du verstehst nicht! Ich wollte dich töten. Doch du hast mich ge rettet, ohne einen Vorteil davon zu haben. Du bist ein Mann von Ehre, und ich stehe tief in deiner Schuld.« »Wenn du dich bedanken willst, könntest du vielleicht in Zukunft keine wildfremden Menschen mehr umbringen. Ist sowieso eine schlechte Angewohnheit.« »Nein«, sagte Chin-Li leicht irritiert. »Es gibt nur ein Geschenk, das ich dir dafür geben kann. Meine Jungfräulichkeit!« »Was?« Zamorra war perplex. Sollte dieser wunderschöne Körper tatsäch lich noch nie von einem Liebhaber berührt worden sein? »Mein Leben gehört den Neun Drachen. Als Dienerin der Bruder schaft ist es meine Pflicht, in Keuschheit zu leben.« »Das sieht mir jetzt aber nicht besonders keusch aus«, sagte Za
morra, während er einen weiteren Angriff ihrer rechten Hand auf seinen Unterleib abwehrte. »Manchmal muss man eine Pflicht über die andere stellen, weißer Zauberer. Du wirst an unserer Seite gegen den Dämon kämpfen und wahrscheinlich für uns sterben. Mich dir hinzugeben, ist das Ge ringste, was ich tun kann.« »Aber ich habe gar nicht vor, zu sterben. Ich weiß dein Angebot zu schätzen. Das ist wirklich sehr schmeichelhaft, aber …« »Liegt es an deiner Konkubine?«, fragte Chin-Li scharf. »Von mir aus kann sie dabei sein. Das stört mich nicht!« Zamorra wusste nicht mehr, was er sagen sollte. Chin-Li war wirk lich eine äußerst attraktive Frau, und in früheren Jahren hätte er ver mutlich keine Sekunde gezögert, mit ihr zu schlafen. Aber so locker sie im Umgang mit Sexualität auch waren, Zamorra und Nicole wäre es nie in den Sinn gekommen, sich mit einem anderen Partner einzulassen. Und so reizvoll ein Dreier auch sein mochte, für die bei den Dämonenjäger kamen solche Spielarten nicht in Frage. Außer dem störte es Zamorra mächtig, dass sich die junge Chinesin ver pflichtet fühlte, mit ihm ins Bett zu gehen. Sex sollte schließlich im mer eine freiwillige Sache sein und nicht im wahrsten Sinne des Wortes eine Pflichtübung. Chin-Li verstand, dass sie bei ihm auf Granit biss. Zamorra sah, wie Scham, Enttäuschung und Zorn in ihrem sonst so unbewegten Gesicht miteinander rangen. Die junge Chinesin hatte ihm das größ te Geschenk geben wollen, zu dem sie fähig war, und er lehnte es rundweg ab. Ihr Stolz war zutiefst verletzt. Und sie reagierte entsprechend! Mit einem heiseren Aufschrei riss Chin-Li die Pistole vom Boden hoch und drückte sie Zamorra gegen den Hals, während sich ihr nackter Körper an ihn presste. Beunruhigt stellte der Meister des Übersinnli chen fest, dass zumindest sein Körper durchaus auf die Reize der schönen Killerin reagierte. »Schlaf mit mir, oder ich töte dich!«, zischte Chin-Li. Ihre Stimme
bebte vor Wut. »Das geht nicht, sieh das doch ein. Und tot nütze ich euch nichts gegen den Fremden.« Eine schreckliche Sekunde lang dachte Zamorra, Chin-Li würde abdrücken. Dann schleuderte sie die Waffe weg und nahm ihr Ge wand auf. »Chin-Li«, sagte Zamorra und berührte sanft die Schulter der Krie gerin. Mit einer raschen Bewegung entzog sie sich ihm. »Ich wecke dich bei Sonnenaufgang!« Dann war sie verschwunden.
Wie der Atem des Bösen fegte der Wind durch die Stadt. Sonst be wegte sich kaum etwas. Nur hier und da nutzten ein paar Plünderer die Gunst der Stunde und gingen auf Beutezug. Doch selbst die meisten Kriminellen hatten viel zu viel Angst, um sich auf die Straße zu trauen, jeder in Hongkong spürte die unheimliche Macht, die von der Stadt Besitz ergriffen hatte, und suchte verzweifelt Schutz in der vertrauten Umgebung des eigenen Heims. Doch plötzlich, wie auf ein geheimes Signal, bewegte sich etwas an den Orten, an denen man es am wenigsten vermutet hätte – den Friedhöfen. Aufgrund der permanenten Platznot wurden in Hong kong Feuerbestattungen bevorzugt. Doch es gab immer noch genug Menschen, die sich in der Erde beisetzen ließen, sei es, weil ihnen ihr Glaube das Verbrennen ihres Leichnams verbot oder weil sie es sich schlicht und einfach leisten konnten. Sie hätten diese Entscheidung wohl bereut, wenn sie gewusst hät ten, was ihren sterblichen Überresten bevorstand. Es begann auf einem kleinen exklusiven Friedhof am Fuße des Victoria Peaks. Die Erde hatte sich durch die tagelangen Regenfälle in einen sumpfigen Matsch verwandelt. Plötzlich erschütterte eine leichte Bewegung den Morast. Weitere Erschütterungen folgten, als
etwas aus den Tiefen des Erdreichs mit aller Macht nach oben drängte. Und dann stieß eine ledrige Hand aus dem Erdreich her vor. Eine zweite folgte, und schließlich kämpfte sich ein ganzer Kör per aus dem matschigen Boden. Das Wesen, das sich jetzt schwankend aufrichtete, hatte nur noch entfernte Ähnlichkeit mit einem lebenden Menschen. Die Bewohner des Erdreichs hatten ihr Zerstörungswerk schon weit vorangetrie ben. Blanker Knochen schimmerte an vielen Stellen durch die ge spannte Haut, die halb verwesten Organe lagen fast frei. Mit leeren Augen blickte sich der lebende Tote um, dann verharrte er, als lau sche er einem für menschliche Ohren unhörbaren Ruf. Um ihn her um geriet die Erde der benachbarten Gräber in Aufruhr, als sich weitere von unheiligem Leben erfüllte Leichen aus dem befreiten, was eigentlich ihre letzte Ruhestätte hätte sein sollen. Auf allen Friedhöfen in ganz Hongkong geschah genau dasselbe. Und dabei blieb es nicht. Unzählige Opfer des Bandenkriegs lagen noch in den Leichenschauhäusern und Trauerhallen, wo sie auf ihre Beisetzung warteten. Auch sie erhoben sich jetzt von ihren Bahren oder befreiten sich aus den Kühlfächern, in denen sie zu Untersu chungszwecken eingelagert worden waren. Selbst nach Happy Valley kehrte das Leben zurück. Das »glückli che Tal« war durch zwei Attraktionen berühmt geworden. Da gab es zum einen die große Pferderennbahn, auf der an den Renntagen un zählige Wettbegeisterte ihre Favoriten anfeuerten. Andererseits la gen dort jedoch auch vier bemerkenswerte Friedhöfe aus der frühen Kolonialzeit, die aufgrund ihrer historischen Bedeutung ebenfalls Anlaufpunkt vieler Hongkong-Besucher waren. Briten, Chinesen, Deutsche, Franzosen und Russen lagen hier friedlich nebeneinander, Christen hatten hier ebenso ihre letzte Ruhestätte gefunden wie Ju den, Moslems oder Parsen. Der Tod hatte ihnen alle Unterschiede, die sie im Leben voneinander getrennt hatten, genommen. Die meisten der hier bestatteten Körper waren längst verfallen, doch es gab einige, die aufgrund einer besonderen Beschaffenheit
des Bodens oder einer Einbalsamierung nach dem Tod nur mumifi ziert oder sogar nach über hundert Jahren kaum verändert waren. Auch sie kehrten nun zurück in eine Welt, die sie längst vergessen hatte. Die Toten sammelten sich auf den Friedhöfen zu kleinen Gruppen, die stumm in die Ferne starrten, als warte dort ein Ziel auf sie, das nur ihre toten Augen erblicken konnten. Dann setzten sie sich alle gleichzeitig in Bewegung. Mit staksenden Schritten verließen sie die Orte des Todes, um die Welt der Lebenden zu erobern.
11. Die Apokalypse
Rom »Nun setz dich endlich ruhig hin! Du machst mich ganz wahnsin nig.« Ted Ewigk, der seit Minuten vor dem Fernseher auf- und ab geti gert war, hielt inne und starrte seine Freundin an. Die Nachrichten aus Hongkong waren mehr als beunruhigend. Aber Carlotta tat so, als ginge sie das alles nichts an. Irgendetwas stimmte mit seiner Le bensgefährtin nicht. Schon seit Wochen verhielt sie sich ausgespro chen merkwürdig. Und Ted hatte nicht die geringste Ahnung, wor an das lag. »Sie sind da draußen, Carlotta, und ich werde nicht hier sitzen und mir ihren Tod zur besten Sendezeit im Fernsehen ansehen.« »Wer redet denn von Tod? Zamorra und Nicole sind erfahrene Kämpfer, Teodore Eternale! Sie werden damit schon alleine fertig. Sie brauchen keine hyperaktiven Pseudoitaliener, die ihnen das Händchen halten!« Ted konnte es kaum fassen. Früher hätte Carlotta nie versucht, ihn davon abzuhalten, Freunden in Gefahr beizustehen. Die heißblütige Römerin hatte immer Verständnis für seine Einsätze gehabt. Und jetzt wollte sie ihn mit den fadenscheinigsten Argumenten davon abhalten, nach Hongkong zu fliegen. Was ist nur los mit dir, Carlotta?, dachte der Reporter mit der Wikinger-Statur traurig. Wieso hast du dich nur so verändert? Verdrossen griff Ted zur Fernbedienung und zappte sich erneut durch die Kanäle. Alle Sender brachten Sonderberichte über Hong
kong. Der Kontakt zu der Stadt war exakt um 0.23 Uhr Ortszeit ab gebrochen. Fischer, die nachts aufs Meer hinausgefahren waren, hat ten beobachtet, wie sich in Sekundenschnelle direkt über Hongkong ein schwerer Sturm zusammengebraut und offenbar schwerste Ver wüstungen angerichtet hatte. Doch dies war kein normaler Taifun gewesen, da waren sich die mit den Stürmen des südchinesischen Meers nur allzu vertrauten Augenzeugen überraschend einig. Die ser Sturm habe sich verhalten wie ein lebendiges Wesen, hatte einer der Fischer den ungläubigen Reportern berichtet. Er sei geradezu planvoll über die Stadt hinweggefegt, als werde er von einem teufli schen Willen beherrscht. Und dem waren Menschenleben offenbar egal. Doch das war erst der Anfang. Denn bald hatte sich der Sturm zu einer massiven Wand verdichtet, die Hong Kong Island, Kowloon und Lantau umschloss. Seitdem gab es keinen Kontakt mehr. Sämtli che Telefon-, Funk- oder Internet-Verbindungen waren auf die Se kunde zur selben Zeit abgerissen. Und niemand wusste, was hinter der geheimnisvollen Barriere geschah. Der mutige Kapitän eines sofort herbeigeeilten Schnellbootes der chinesischen Marine hatte versucht, die Sturmwand zu durchdrin gen. Seitdem fehlte von dem Schiff und seiner Besatzung jede Spur. Nein, das waren ganz und gar keine guten Nachrichten. Und er, Ted Ewigk, einst Erhabener der DYNASTIE DER EWIGEN, saß hier auf dem Sofa und sah fern. Ein schlechter Witz! Die Reporter, die auf Schiffen rund um das eingeschlossene Hong kong in Stellung gegangen waren oder sogar im sicheren Peking sa ßen, hatten nichts Neues zu berichten. In den Fernsehstudios produ zierten eilig einberufene Expertenrunden Unmengen heißer Luft und machten dabei immer wieder nur eines deutlich: Niemand wusste, was in Hongkong wirklich geschah. Dieser bizarre Sturm war kein normales Naturphänomen, so viel war sicher. Ansonsten reichten die Spekulationen von Vulkanausbrüchen über einen terro ristischen Anschlag bis zu zaghaft geäußerten – und von den meis
ten Experten sofort als »unseriös« abgetanen – Vermutungen, Au ßerirdische könnten für die Barriere verantwortlich sein. Ted hielt diese Erklärung ebenfalls für sehr unwahrscheinlich. Der Reporter war überzeugt davon, dass bei diesem Sturm die Hölle ihre Hand im Spiel hatte. Dass sich Zamorra und Nicole gerade in Hong kong aufhielten, mochte reiner Zufall sein. Aber es konnte sich auch um einen gezielten Anschlag handeln. Dass dabei eine Millionen stadt in Gefahr geriet, würde die Bewohner der Schwefelklüfte kaum stören – Dämonen kümmerten sich nicht besonders um Kolla teralschäden. »Unzählige Schiffe, Flugzeuge und Helikopter kreisen vor Hong kong. Fernsehsender aus aller Welt sind ebenso vor Ort wie chinesi sches Militär und internationale Hilfsorganisationen«, berichtete ge rade eine taff aussehende CNN-Reporterin. Die blonde Mittzwanzi gerin stand offenbar auf dem Deck eines hochseetauglichen Fischer bootes. Im Hintergrund war die dunkle Wand zu sehen, die Hong kong vom Rest der Welt abschnitt. Dann zoomte die Kamera direkt auf die Barriere. Sie war so dunkel, dass sie das Licht der Umgebung zu absorbieren schien. Nur ab und zu wurde die absolute Schwärze aufgerissen, wenn ein gewaltiger Blitz die massiv wirkende Wand durchzuckte und für einen Moment die nähere Umgebung erhellte. »Oh mein Gott!«, keuchte Carlotta. Die schwarzhaarige Römerin war blass geworden. »Das sieht ja aus wie die Apokalypse. Ob da überhaupt noch jemand lebt?« »Verstehst du jetzt, dass ich dahin muss?«, fragte Ted, der fast kör perlich spürte, wie die inneren Kämpfe seine Freundin schier zerris sen. »Ted, bitte!« Carlotta presste sich an Ted. Sie ergriff seinen Kopf mit beiden Händen und zog ihn zu sich, so dass ihre Gesichter nur wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. Ihre dunklen Au gen schienen ihn fast zu durchbohren. »Ich will dich nicht verlieren!« »Das wirst du auch nicht!«
»Bist du dir da sicher?«, fragte die schöne Römerin leise. »Carlotta, was ist nur los mit dir? Manchmal verstehe ich dich wirklich nicht.« Es war kein Vorwurf, nur die verzweifelte Frage ei nes Mannes, der ohnmächtig zusah, wie ihm der Mensch, der ihm am meisten bedeutete, zusehends entglitt. Je mehr Carlotta sich an ihn klammerte, desto fremder wurde sie ihm. Und das machte Ted Ewigk mehr Angst als alle Bewohner der Hölle zusammen. Dann hatte sich Carlotta wieder gefangen. Mit festem Blick sah sie ihn an. »Okay, du musst da hin, das verstehe ich. Entschuldige, dass ich dich aufhalten wollte.« »Schon gut, Liebes«, sagte Ted und drückte seine Freundin fest an sich. »Ich komme mit!« »Was?« »Du hast mich sehr gut verstanden. Ich komme mit!« »Das kommt überhaupt nicht in Frage!« Carlotta hatte schon an vielen Einsätzen teilgenommen, aber an Kampferfahrung war sie ihrem Lebensgefährten weit unterlegen. Vor allem aber wurde sie durch ihre Stimmungsschwankungen langsam zu einem unberechenbaren Risikofaktor. Nähme er sie mit, brächte er damit nicht nur ihr, sondern auch sein Leben und damit die gesamte Mission in Gefahr. Sanft küsste Ted seine Freundin auf die Stirn. »Ich muss los!« »Nein, Ted, bitte, nimm mich mit!« Sie presste sich so fest an ihn, als wolle sie ihn nie wieder loslassen. »Nein! Es geht nicht. Nicht dieses Mal!« Dann löste er sich sanft, aber entschieden von ihr und ging.
Hongkong Das Frühstück bestand aus einem undefinierbaren Brei, den selbst Nicole nach wenigen Löffeln angewidert stehen ließ. Anschließend bestand Zamorra darauf, mit den Neun Drachen zu sprechen. Die Nacht war ruhig verlaufen, aber das bedeutete nur, dass es bald los gehen würde. Vielleicht hatten die Neun Drachen inzwischen Infor mationen, die ihnen weiterhalfen, eine Strategie zu entwickeln. Nach der kargen Mahlzeit führte Chin-Li die beiden Franzosen in den großen Saal, in dem sie am Abend zuvor noch mit Waffen auf einander gezielt hatten. Jenkins zog es vor, noch eine Runde zu schlafen. Zamorra war das nur recht. So konnte der Brite wenigstens keinen Unsinn anstellen. Die greisen Köpfe der Bruderschaft erwarteten sie bereits vor dem großen Drachenbild. Das Oberhaupt der Neun Drachen – Meister Shiu, wie Zamorra inzwischen erfahren hatte – lud sie mit einer huldvollen Geste ein, näher zu kommen. »Unsere Befürchtungen haben sich bestätigt, weißer Zauberer«, sagte der alte Mann. »Der Fremde hat rund um Hongkong eine Mauer aus Sturm und Nebel errichtet, die wir nicht durchdringen können. Wir haben drei Diener verloren, die es versucht haben.« Zamorra nickte. Er hatte es befürchtet. Sie waren vollständig von der Außenwelt abgeschnitten. »Was ist mit der Bevölkerung?« »Die Menschen haben sich fast alle in ihren Wohnungen und Häu sern verkrochen und warten ab, was passiert. Der Sturm hat ein paar Opfer gekostet.« »Ein paar?« Zamorra merkte, wie sich sein Magen zusammen krampfte. »Was darf ich darunter verstehen?« »Ein paar hundert …« Nicole sog hörbar die Luft ein. »Wir müssen ihn aufhalten, Chef. Egal wie, wir müssen ihn sofort aufhalten, bevor so etwas noch ein mal passiert!«
Zamorra nickte. Er wollte gerade etwas erwidern, als ihn tu multartige Geräusche an der Tür ablenkten. Ein junger Chinese mit schweißnassem Gesicht und wirren Haaren redete auf einen unter geordneten Mönch ein, der den Eindringling rüde zurückstieß. »Die Toten!«, wiederholte der zitternde Mann immer wieder. Er mochte kaum älter als 18 sein. »Die Toten!« »Entweiht das Kloster nicht durch dieses unwürdige Geschrei!«, donnerte Meister Shiu. »Bring den Mann her!« Hektisch stürzte der Junge in den Saal. Er stolperte, fiel fast und warf sich dann vor den Neun Drachen bäuchlings auf den Boden. »Ehrenwerte Meister, Euer unwürdiger Diener bittet um Verzei hung, dass er Euch auf diese ungebührliche Weise stört.« »Was ist passiert?«, fragte Zamorra. Sie hatten keine Zeit für die endlos langen Demutsfloskeln, die in China so beliebt waren. Aber der Junge hörte ihn gar nicht. Er zitterte so sehr, dass Zamorra be fürchtete, er würde vor ihren Augen kollabieren. »Lung!«, sagte das Oberhaupt der Neun Drachen streng. »Beant worte die Frage. Was ist passiert?« Die natürliche Autorität in der Stimme des Mönchs brachte den Jungen zur Besinnung. Zitternd be richtete er, was er gesehen hatte. Hunderte, vielleicht Tausende von Toten hatten ihre Gräber verlassen und zogen durch die Stadt. Of fenbar bewegten sie sich wie in einem Sternmarsch auf ein gemein sames Ziel zu: das Bankenviertel in Central! »Da muss er sein! Dort hält sich der Dämon versteckt«, sagte Meis ter Shiu. »Oder er will, dass wir das denken«, erwiderte Zamorra. Dann wandte er sich wieder an den zitternden Lung. »Greifen sie Men schen an?« Das hätte ihnen gerade noch gefehlt! Eine Armee von Zombies, die auf die hilflosen Bewohner der Millionenstadt losging. Dagegen wä ren selbst sie machtlos. Doch der Junge schüttelte zu Zamorras Beruhigung den Kopf.
»Nein, das tun sie nicht. Sie kümmern sich gar nicht um die Men schen. Ein paar von ihnen sind direkt an mir vorbeimarschiert, als wenn ich Luft wäre. Ihre Augen waren so … leer. Und dieser Ge stank!« Der Junge verfiel in hysterisches Schluchzen. Zamorra legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. »Schon gut, es ist vorbei. Hier bist du in Sicherheit!« Zumindest vorerst, fügte er in Gedanken hinzu. »Was nicht ist, kann ja noch kommen«, sagte Nicole düster. »Die fauligen Gesellen haben sich sicher nicht nur aus ihren Gräbern er hoben, um zwischendurch mal ein bisschen Luft zu schnappen.« Ihr war genauso wie Zamorra klar, dass sie endgültig die Kontrolle zu verlieren drohten. »Wenn in der Hölle kein Platz mehr ist, kommen die Toten auf die Erde zurück«, murmelte Chin-Li. »Was?« Irritiert starrte Zamorra die junge Kriegerin an. »Alte chinesische Weisheit.« »Oh!« Der Parapsychologe war sich ziemlich sicher, den Spruch von der Werbekampagne eines berühmten Zombiefilms zu kennen. Aber vielleicht war der Regisseur ja ein Fan fernöstlicher Philoso phie. »Denkst du dasselbe wie ich, Chef?«, fragte Nicole. Zamorra nickte. »Es ist ein Ablenkungsmanöver. Der Fremde will uns von hier fortlocken.« »Das heißt, der Angriff auf das Kloster steht kurz bevor.« »Sieht ganz danach aus. Die Neun Drachen sind das letzte Hinder nis, das seiner Herrschaft noch im Wege steht. Außer uns, natürlich. Er will uns schwächen, indem er uns an verschiedenen Fronten kämpfen lässt.« »Er wird keinen Erfolg haben!«, verkündete Meister Shiu feierlich. »Wir haben uns seit Jahrhunderten auf die Rückkehr des Dämons vorbereitet. Wir sind ihm überlegen!«
Zamorra sah den Greis skeptisch an. Er spürte genau, dass der Alte nicht annähernd so selbstsicher war, wie er sich gab. Das leichte Zittern in der Stimme war ihm nicht entgangen. Die Neun Drachen hatten Angst! »Trick oder nicht, wir können hier nicht einfach untätig rumsitzen, während unzählige Zombies über die Stadt herfallen!«, sagte Nicole bestimmt. »Du hast recht. Aber wenn wir das Kloster verlassen, tun wir ge nau das, was er will.« »Deine Sorge ist ehrenvoll, aber unberechtigt, weißer Zauberer«, erklärte das Oberhaupt der Bruderschaft und ließ sich zu einem schmalen Lächeln herab. »Uns stehen Kräfte zur Verfügung, die du nicht einmal erahnst.« Zamorra blieb skeptisch. Aber er wusste, dass sie keine andere Wahl hatten. Das Risiko, durch Abwarten ein Blutbad unvorstellba ren Ausmaßes zuzulassen, war einfach zu groß. »Also gut. Machen wir uns auf den Weg. Wir brauchen ein Auto.« »Dein Wunsch sei dir gewährt.« »Ich komme mit!«, sagte Chin-Li. Der Parapsychologe sah die jun ge Chinesin zweifelnd an. Seit ihrem nächtlichen Erlebnis hatte sie jeden Blickkontakt gemieden. Doch jetzt sah sie ihm fest in die Au gen, mit einem Blick, der keinen Widerspruch duldete. »Ihr kennt euch in Hongkong nicht aus. Ihr braucht einen Führer. Einen, der es versteht, mit einer Waffe umzugehen.« Zamorra sah Meister Shiu fragend an. Der Alte nickte: »So sei es! Wir haben genug Krieger hier, die das Kloster bewa chen können.« Zamorra nickte. »In Ordnung. Dann lasst uns den Toten unsere Aufwartung machen!«
Vor Hongkong Es war eine ganze Armada, die vor Hongkong zusammengekom men war. Die Bordinstrumente der Hornisse registrierten Dutzende von Schiffen, deren Größe vom Schnellboot bis zum Schlachtschiff reichte. Dazu kamen unzählige Hubschrauber und Flugzeuge und sogar U-Boote, die den Luftraum und das Meer vor der Sturmwand füllten. Wie Ted aus den nicht abreißen wollenden Medienberichten erfuhr, hatte die amerikanische Marine gerade ein gemeinsames See manöver mit dem südkoreanischen Militär durchgeführt, eine wei tere Drohgebärde in Richtung Nordkorea. Die Schiffe hatten sich so fort in Bewegung gesetzt, um Hongkong zur Hilfe zu eilen, und auch die Regierung in Pjöngjang hatte ihre Unterstützung zugesagt. Selbst Hilfsangebote aus Taiwan waren von der Regierung in Peking erstaunlicherweise nicht gleich barsch zurückgewiesen worden. In der Krise schienen alle politischen Differenzen vergessen zu sein. Wenn auch nur für einen Moment. Wahrscheinlich wäre die Hornisse in dem Getümmel kaum aufgefallen, dachte Ted, der sich entschieden hatte, Hongkong unter Wasser an zusteuern. So entging er nicht nur den Schiffsradars, sondern ver mied auch, von den Besatzungen oder den unzähligen Fernseh teams zufällig gesehen zu werden. Das zweisitzige Raumschiff stammte aus einem vergessenen Arse nal der DYNASTIE DER EWIGEN, das Ted vor Jahren in einer Di mensionsfalte, einer kleinen Welt neben der Welt, in den Kellerräu men unter seiner Villa entdeckt hatte. Neben einer Reihe weiterer Hornissen enthielt das Arsenal jede Menge Waffen. Mit dem zylin drischen Mini-Raumschiff, das eigentlich für interstellare Flüge mit Überlichtgeschwindigkeit konzipiert war, ließ sich die Strecke um den halben Erdball extrem schnell zurücklegen. Kurz vor Hongkong drosselte der Reporter die Geschwindigkeit. Unbemerkt von den unzähligen militärischen und zivilen Beobach
tern glitt die Hornisse durch das südchinesische Meer, während Ted mit Hilfe des bordeigenen Universalübersetzers den hektischen Funkverkehr verfolgte. Die Lage hatte sich nicht verändert. In einer seltsamen Allianz hatten die Amerikaner und die Chinesen ver sucht, die Nebelwand mit einer unbemannten Spionagedrohne zu durchdringen. Der Kontakt war weniger als eine Sekunde nach dem Eintritt des Flugkörpers abgebrochen. Inzwischen waren auch ver einzelte Wrackteile des chinesischen Schnellbootes gefunden wor den, das einen ersten Versuch unternommen hatte, die Barriere zu überwinden. Keines von ihnen war länger als einen Meter. Weder Infrarot noch Ultraschall, Sonar oder Radar durchdrangen die geheimnisvolle Wand, und selbst Spionagesatelliten bissen sich daran die Zähne aus. Auch mit den der irdischen Technologie weit überlegenen Bordinstrumenten der Hornisse konnte Ted nicht erken nen, was hinter der Barriere vor sich ging. So oft er es auch versuch te, er empfing kein einziges Signal aus der Sieben-Millionen-Metro pole. Vielleicht gibt es hinter der Wand einfach niemanden mehr, der ein Signal aussenden könnte, dachte Ted bitter. Es half nichts. Er musste selbst versuchen, die Barriere zu durch stoßen. Und dann sah er sie auch schon. Wie eine riesige Mauer tauchte sie vor ihm auf. Offenbar reichte sie bis zum Meeresboden hinab. Wider alle Naturgesetze durchzuckten selbst unter Wasser riesige Blitze den schwarzen Nebel. »Das ist ja eine schöne Scheiße«, murmelte der Reporter. Er zog die Nase des Mini-Raumschiffs hoch, bis die Hornisse knapp unter der Wasseroberfläche auf die Barriere zuglitt. Dann erhöhte er die Geschwindigkeit. In Sekundenschnelle füllte die schwarze Sturm wand das gesamte Sichtfeld des holografischen Bildschirms aus. Ted dachte an das zerrissene Schnellboot und die verschwundene Droh ne. Und er dachte an Carlotta und ihre düsteren Vorahnungen. Viel leicht sollte sie diesmal Recht behalten. Aber jetzt war es zu spät, um über Alternativen nachzudenken. Die Hornisse drang in die Nebelwand ein. Sofort griffen unvorstell
bare Kräfte nach dem winzigen Raumschiff. Und Ted Ewigk wusste, dass er einen Fehler gemacht hatte! Es war, als habe die Faust Gottes das kleine Raumschiff gepackt, um es wie ein lästiges Insekt zu zerschmettern. Aber es waren bestimmt keine himmlischen Kräfte, die hier am Werk waren! Als er von einer Sekunde auf die andere die Kontrolle über die Hornisse verlor, wusste Ted, dass er es nicht schaffen würde. »Carlotta, es tut mir Leid!«, flüsterte er. Dann hörte er Metall bers ten und schmeckte salziges Meerwasser. Aus, dachte Ted. Das war's!
Hongkong Hongkong war nicht wieder zu erkennen. Mit stoischer Miene lenk te Chin-Li den offenen Jeep durch die leer gefegten Straßen von Kowloon. Ab und zu sahen sie Plünderer, für die sich die Stadt in ein Selbstbedienungsparadies verwandelt hatte. Wahrscheinlich wussten sie noch gar nicht, dass sich die Toten aus ihren Gräbern er hoben hatten, um in einer makabren Parade durch die Straßen zu ziehen. Oder es war ihnen einfach egal. Überall zeugten Trümmer und umgeworfene Autos von dem ver heerenden Sturm, der in der Stadt gewütet hatte. Jetzt war es fast windstill. Über ihnen verdeckte eine dunkle, von Blitzen durchzuck te Wolkenmasse den Himmel, die Hongkong wie eine Glocke einzu schließen schien. »Da vorne!«, schrie Jenkins. Zamorra hatte den windigen Briten eher widerwillig mitgenom men. Aber der Ex-Agent hatte darauf bestanden, auch wenn ihm die Vorstellung, bald waschechten Zombies gegenüberzustehen, den Angstschweiß auf die Stirn trieb. Immerhin hatte er die beiden Dä
monenjäger und die chinesische Killerin kämpfen sehen, während er den Neun Drachen in dieser Hinsicht offenbar nicht allzu viel zu traute. Chin-Li bremste scharf. Was sie sahen, war keine Armee von Un toten. Aber das war keine Beruhigung. »Oh Gott!«, entfuhr es Nicole, die mit Jenkins im Fond saß. Sie war bleich geworden. Jenkins starrte mit weit aufgerissenen Augen nach vorn und murmelte unablässig: »Ach du Scheiße! Ach du Scheiße!« Chin-Li sagte nichts, aber Zamorra sah deutlich, dass auch sie nicht unberührt blieb von dem schrecklichen Anblick, der sich ihnen bot. Es war eine Sache, von einer Gasexplosion zu hören. Die unmittel baren Folgen zu sehen, war eine ganz andere. Die Nathan Road, sonst die beliebteste Einkaufsmeile Kowloons, schien sich in den Vorhof zur Hölle verwandelt zu haben. Der ganze Block stand auch Stunden nach der Katastrophe noch in Flammen, unzählige Trüm mer bedeckten die Straße. Einige mutige Feuerwehrleute und Sanitäter hatten sich tatsäch lich 'rausgewagt, aber auch sie konnten das Inferno nicht bändigen. Zamorra sah das Entsetzen, die schiere Fassungslosigkeit in den Ge sichtern der Helfer, die genau wussten, dass alles, was sie taten, ver gebens war. Zamorra stieg aus dem Jeep. Ihm war schlecht. Er hatte schon viel Schreckliches in seinem Leben gesehen, aber das hier übertraf fast alles davon. Zamorra schloss die Augen, um das Grauen vor ihm nicht mehr sehen zu müssen. Wir sind so machtlos, so schrecklich machtlos!, hämmerte es in seinem Kopf. Der Dämonenjäger nahm kaum wahr, dass sich Nicole zu ihm ge sellte. Sanft berührte sie ihn. »Wir haben es nicht verhindert, Nici«, sagte Zamorra gepresst. »Wir haben sie einfach sterben lassen.« »Wir sind nicht allmächtig, Chef,«, erwiderte Nicole. Er spürte ihre Wärme. Sie tat ihm gut. »Wir haben mächtige Waffen, aber auch wir haben unsere Grenzen. Wir können nur den, der das getan hat, zur
Rechenschaft ziehen!« Zamorra sah sie lange an. Dann nickte er. »Worauf warten wir noch?« Schweigend fuhren sie weiter, bis sie den Cross Harbour Tunnel erreichten, der Kowloon mit Hongkong Island verband. Hier trafen sie wieder auf Menschen. Eine Reihe von Flüchtlingen kam ihnen entgegen, mit dem Auto, auf dem Fahrrad oder sogar zu Fuß. Tiefes Entsetzen hatte sich in ihre Gesichter eingegraben. Offenbar waren sie der Armee der Toten begegnet. Chin-Li musste mehrmals ausweichen, um nicht mitten in die flie hende Menge zu fahren. Zamorra sah, wie die Mundwinkel der jun gen Chinesin vor Anspannung zuckten. Sie litt genauso wie die an deren unter dem unvorstellbaren Grauen um sie herum, aber sie würde ihr Entsetzen nie offen zur Schau stellen. In all den Jahren im Kloster hatte Chin-Li gelernt, aus ihrem Herzen eine Mördergrube zu machen. Und das eine Mal, als sie ihre Gefühle offen gezeigt hat te, gestern Nacht in seinem Schlafgemach, da hatte sie eine herbe Abfuhr erlitten, dachte Zamorra bitter. »Er hat noch nicht gesiegt«, sagte er leise. »Wir kriegen ihn, verlass dich drauf!« Chin-Li starrte ihn an. Dann sagte sie mit rauer Stimme: »Hong kong hat viele Krisen überlebt. Es wird auch diese überstehen!« Dann verfiel sie wieder in tiefes Schweigen.
Die Dämonenjäger hatten das Kloster kaum eine halbe Stunde ver lassen, als die Truppen des Fremden zuschlugen. Eine mächtige Ex plosion zerriss die Friedhofsruhe in Mong Kok. Die Granate, die das Haupttor des Klosters zerfetzte, war das Angriffssignal. Von allen Seiten eröffneten Teddys Leute mit Maschinenpistolen und Granat werfern das Feuer. Die Bruderschaft hatte rund um die Anlage Ver teidigungsstellungen errichtet, aber die Mönche und ihre Diener
wurden von der zahlenmäßigen Übermacht der Angreifer schier überrannt. »Macht sie kalt!«, rief Teddy den monströs entstellten Gangstern zu. »Legt sie alle um, diese verdammten Mönche! Macht sie fertig!« Teddy verfolgte den Angriff aus einer sicheren Position auf einem nahe gelegenen Flachdach. Neben ihm stand der Fremde, der das Geschehen mit einem sardonischen Lächeln beobachtete. »Davon habe ich mein Leben lang geträumt, diesen hochnäsigen Greisen mal so richtig in den Arsch zu treten!«, jauchzte Teddy. »Meine Jungs zeigen diesen senilen Wichsern, was 'ne Harke ist. Sind sie nicht großartig?« Er hüpfte vor Begeisterung auf und ab. »Ein ganzes Leben?«, höhnte der Fremde. »Das reicht nicht, um den Hass richtig auszukosten. Was glaubst du, wie lange ich auf die sen Tag gewartet habe?« Der Blick des Dämons schien Teddy zu durchbohren. »Und es sind nicht deine Jungs!« Der dicke Gangster schluckte und sah betreten zu Boden. Der Fremde drehte sich auf dem Absatz um und ging zu einer Feuer treppe, die runter auf die Straße führte. Teddy griff sich seine MP und eilte seinem Meister hinterher. Auf der Straße ging der Fremde direkt auf das zerstörte Tor der Klosteranlage zu. Aus dem Inneren des Gebäudes und dem Garten waren noch wilde Feuergefechte zu hören, die ab und zu von der Explosion einer Granate übertönt wur den. Auch auf den umliegenden Dächern hatten sich Schützen bei der Seiten postiert. Dass die Polizei den Angriff störte, war eher un wahrscheinlich. Die meisten Ordnungshüter hatten sich wie die üb rigen Bewohner Hongkongs in ihren Löchern verkrochen. Und diese verdammten Franzosen und diese Nutte Chin-Li waren anderweitig beschäftigt. Teddy Chang prustete vor Lachen, als er an die Falle dachte, die sie den Dämonenjägern gestellt hatten. Kein Zweifel, der Fremde wusste, wie man eine gute Party feierte. Als sie sich dem Tor näherten, wurden sie von allen Seiten unter Beschuss genommen. Der Dämon schien das gegnerische Feuer gar nicht zu bemerken. Mit einem fast verträumten Lächeln schritt er
durch den Kugelhagel. Sobald ihm ein Geschoss zu nahe kam, prall te es an seinem Schutzschirm ab. Geduckt huschte Teddy hinter seinem Herrn her und betete, dass der Schutzschirm auch ihn einschloss. Der Streifschuss im Stein bruch hatte ihm gereicht. Entsetzt schrie er auf, als eine Handgrana te direkt vor seinen Füßen landete. Die Explosion war ohrenbetäu bend. Ungläubig lachte der dicke Gangster auf, als er an sich herun tersah. Kein einziger Splitter hatte ihn getroffen. Nicht einmal seine Haare hatte die Druckwelle durcheinander gebracht. »Das war wohl nichts!«, schrie Teddy, riss die MP hoch und be deckte das Fenster, aus dem die Granate gekommen war, mit einer tödlichen Garbe. Das Todesröcheln des Angreifers war Musik in sei nen Ohren. »Ich bin unsterblich!«, murmelte Teddy. »Ich bin wirk lich unsterblich!« Begeistert richtete er sich zur vollen Größe auf und nahm die nächsten Gegner auf einem nahe gelegenen Dach ins Vi sier. »Ich krieg euch alle, ihr kleinen Ratten, ich krieg euch alle!«, schrie er, während seine Waffe Tod und Verderben spuckte. »Na, lacht ihr noch über den dicken Teddy, der es nie zu was bringen wird? Ich sag euch was, heute kommt Teddy und tritt euch gewaltig in den Arsch!« Dann hatten sie das Tor erreicht. Der dahinter liegende Hof war übersät mit Leichen. Die Toten waren ausschließlich Mönche und den Neun Drachen treu ergebene Triadenmitglieder, denn Geschos se konnten der Armee des Fremden nichts anhaben, und die Wun derwaffen der Mönche hatten sich als wenig wirkungsvoll erwiesen. Das schloss Teddy zumindest aus den abgerissenen Armen, die noch magische Kreide umklammert hielten, und den zertrümmerten zaubermächtigen Reliquien, die überall herumlagen. Aus dem wuchtigen Gebäude vor ihnen drangen jetzt nur noch vereinzelte Kampfgeräusche. Einige Mönche setzten sich noch zur Wehr, aber die Schlacht war längst entschieden. Das eigentliche Kloster wurde durch eine Geisterschwelle ge schützt. Jeder Neuankömmling musste über eine kleine Erhöhung
im Boden treten und stand dann direkt vor einer Mauer. Erst wenn er um die Mauer herum ging, konnte er das Gebäude betreten. Sol che Hindernisse waren in China selbst in älteren Privathäusern an zufinden. Denn Geister konnten nach traditioneller chinesischer Überzeugung weder die Knie heben noch um die Ecke gehen. »Abergläubisches Pack!«, schnaubte der Fremde verächtlich und stieg über die Schwelle hinweg. Im Inneren bot sich ihnen ein grau envolles Bild. Überall hockten die dämonischen Bestien über den zum Teil noch lebenden Anhängern der Bruderschaft und rissen große Fleischstücke aus ihren Körpern, die sie gierig hinunterschlan gen. Teddy wandte sich angewidert ab. An diesen Anblick würde er sich nie gewöhnen können. Zielstrebig durchschritt der Dämon die von den Schreien der Ster benden erfüllten Gänge und Säle der gewaltigen Anlage. Er schien genau zu wissen, wohin er wollte. Sie kamen an einer riesigen TinHau-Statue aus purem Gold vorbei. Die muss Millionen wert sein, dachte Teddy beeindruckt. Aber der Fremde hatte an materiellen Werten kein Interesse. Er ging geradewegs auf ein Stahltor am Ende des Ganges zu. Davor lagen die Leichen weiterer Mönche, die ver geblich versucht hatten, das, was hinter dem Tor lag, zu beschützen. Das Stahltor selbst wirkte wie ein Fremdkörper in dem uralten Klos ter. Es bestand aus einer massiven Metallplatte, die aus der Decke herabgelassen worden war. Teddy vermutete, dass es nur zum Ein satz kam, wenn die Neun Drachen angegriffen wurden. »Was soll das?«, murmelte der Dämon. »Glauben die, mich damit aufhalten zu können?« Dann ließ er seine Rechte vorschnellen, und mit einem gräßlichen Kreischen riss das Metall in der Mitte durch. Wie Papier rollte sich der Stahl zu den Seiten auf, bis der Weg frei war. Mit großen Augen starrte Teddy die zerfetzte Tür an. Er hatte schon viele Machtdemonstrationen des Fremden gesehen. Aber es verblüffte ihn immer wieder, welche Kräfte der Dämon mit einem bloßen Fingerschnippen entfesselte.
»Angst, Teddy?«, höhnte der Fremde. Verdammt!, dachte der feiste Gangster. Es war, als ob der Dämon die Schwäche der Menschen um sich herum riechen konnte. Und vermutlich war das auch so. »Nicht direkt«, stotterte der dicke Gangster. »Ich frage mich nur, ob die Brüder nicht doch noch was in petto haben.« »Oh, das haben sie. Das haben sie ganz bestimmt!«, sagte der Dä mon. »Aber wenn es zu einfach wäre, würde es doch keinen Spaß machen, oder?« »Sicher«, murmelte Teddy gegen jede Überzeugung. Auf diese Art Spaß konnte er wirklich gut verzichten!
Vor Hongkong Er lebte! Ted hatte keine Ahnung, wie er es geschafft hatte, aber er lebte. Buchstäblich in letzter Sekunde war es ihm gelungen, den Dhyarra-Kristall aus seiner Hosentasche zu holen und um sich her um eine schützende, mit atembarer Luft gefüllte Sphäre zu schaffen. Die Dhyarras waren blau funkelnde Kristalle mit ungeheurer ma gischer Macht, die ihre Energie aus den Tiefen des Weltraums hol ten. Mit ihnen konnte der Benutzer fast alles, was er wollte, unmit telbar Realität werden lassen. Voraussetzung war allerdings, dass er eine klare, bildhafte Vorstellung davon hatte. Ted besaß einen Dhyarra 13. Ordnung, der höchsten Ordnung, die es überhaupt gab. Jemandem mit einem geringeren Para-Potenzial hätte die Benutzung des Machtkristalls auf der Stelle das Gehirn ausgebrannt. Mit schier unmenschlicher Konzentration war es Ted gelungen, sich die schützende Sphäre vorzustellen, während der Sturm die Hornisse zerriss. Wütend zerrten die dämonischen Mächte an der
Luftblase, um sich ihr Opfer doch noch zu holen, und es kostete den Reporter das letzte bisschen Kraft, die Sphäre aufrecht zu erhalten. Den Sternenstein mit beiden Händen fest umklammert, schwebte Ted in der Luftblase durch das aufgewühlte Wasser in Richtung Küste. Der Schweiß lief ihm in Strömen von der Stirn, und er hatte das Gefühl, als müsse sein Kopf jeden Moment platzen. Ted konzen trierte sich so auf die Sphäre, dass er kaum merkte, wie das Tosen um ihn herum langsam abnahm. Doch schließlich realisierte der Re porter, dass sich das Meer um ihn herum beruhigt hatte. Er hatte es geschafft! Erschöpft löste Ted die Sphäre auf und tauchte mit kräftigen Stö ßen nach oben, bis er die Wasseroberfläche durchstieß. Gierig saugte er die Luft in seine brennenden Lungen. Dann schaute er sich um. Die dunkle Barriere lag weit hinter ihm. Vor sich sah Ted in einiger Entfernung die Küstenlinie von Hongkong. »Verdammt«, fluchte Ted. »Ich werde langsam zu alt für so was!« Einige hundert Meter von ihm entfernt schwamm etwas im Was ser. Eine kleine Motoryacht. Und sie war nicht das einzige Wasser fahrzeug, das führerlos auf dem Meer trieb. Ted entdeckte eine Rei he weiterer Boote und sogar ein paar kleinere Schiffe. Einige von ih nen waren gekentert oder drohten zu sinken. »Was zur Hölle ist hier passiert?«, murmelte der Reporter. Er wür de es erst erfahren, wenn er in Hongkong war! Mit kräftigen Zügen schwamm Ted auf die Motoryacht zu. Er ver drängte den Gedanken an die Haie, die sich im südchinesischen Meer tummelten. Sollte es doch einer der gefräßigen Meeresbewoh ner auf ihn abgesehen haben, besaß er immerhin noch den Blaster, mit dem er sich verteidigen konnte. So viel Ärger ihm die Bekannt schaft mit der DYNASTIE DER EWIGEN eingebrockt hatte, auf ihre Waffen hätte er nicht mehr verzichten wollen. Mit letzter Kraft erreichte Ted das Boot und kletterte über eine kleine Leiter am Heck an Bord. Die Yacht war tatsächlich verlassen. Offenbar hatte sie sich im Sturm losgerissen und war dann abgetrie
ben. An der Reling entdeckte Ted die Reste der zerfetzten Taue, mit denen das Boot am Kai befestigt gewesen sein musste. Offenbar wa ren riesige Wellen über die Yacht hereingebrochen. In der Kajüte schwappte knöchelhoch das Wasser. Ansonsten schien das Boot in takt zu sein. Der Reporter startete den Motor und hielt auf Hong kong zu.
Hongkong Sie hatten fast den berühmten Statue Square erreicht, als sie die To ten sahen. Wie eine wohl geordnete Armee marschierten die leben den Leichen auf den zentralen Platz im Bankenviertel zu, an dem seit Mitte der achtziger Jahre die Gesetzgebende Versammlung von Hongkong ihren Sitz hatte. Zamorra lief es kalt den Rücken runter, als er die Untoten durch das Zentrum der Hochfinanz stapfen sah. Die mit feuchter Erde bedeckten Körper wiesen alle Stadien der Ver wesung auf, vom frisch beerdigten Leichnam bis zum blanken Ske lett. Der schwere, fast süßliche Geruch, der ihnen entgegenschlug, war unerträglich. Verdammt, es sind einfach zu viele, dachte Zamorra. Wir brauchten eine ganze Armee, um mit denen fertig zu werden. »Wo wollen die bloß hin?«, fragte Nicole. »Ist doch egal, wir sollten jedenfalls schleunigst von hier ver schwinden, bevor sie uns bemerken. Sonst enden wir alle noch als Zombie-Frühstück«, sagte Jenkins unglücklich. Der Brite ver schwand im Fond fast zwischen den Sitzen. In seltener Übereinstim mung sahen die beiden Frauen den Ex-Agenten voller Verachtung an. »Wenn Sie sich vor Angst in die Hose machen, hätten Sie im Tem pel bleiben sollen. Die Neun Zausel hätten Ihnen sicher gerne das Händchen gehalten und ein Gute-Nacht-Lied vorgesungen«,
schimpfte Nicole. Chin-Li funkelte Zamorras Lebensgefährtin ob dieser Beleidigung der Bruderschaft wütend an, sagte aber nichts. Zamorra war sich fast sicher, dass die junge Killerin die Ehre der Neun Mönche vor wenigen Tagen noch mit der Waffe verteidigt hätte. Aber die Dinge änderten sich auch in dieser Hinsicht. »Überhaupt haben Sie sich das alles selbst zuzuschreiben. Es hat Sie schließlich niemand gezwungen, den Triaden-Büttel zu machen. Sie könnten ja auch in aller Ruhe in England Rosen züchten. Für Ju das ist die Sache auch nicht gut ausgegangen, wissen Sie …« »Nici, bitte!«, sagte Zamorra. Er hatte Mitleid mit dem schrulligen Briten. Der Anblick, der sich ihnen bot, war selbst für ihn schwer er träglich, und er hatte in seinem jahrzehntelangen Kampf gegen die Mächte der Finsternis schon viele unvorstellbare Dinge gesehen. Wie sollte jemand wie Jenkins dieses Erlebnis verkraften? Nicole sah das allerdings anders. »Nimm den Verräter nicht auch noch in Schutz, Chef«, fauchte sie. »Was machen wir jetzt?«, unterbrach Chin-Li die Konversation. Ihre Stimme war belegt, aber sie kontrollierte ihre Angst mit eiserner Disziplin. Zamorra konnte nicht gutheißen, was die Neun Drachen aus einem unschuldigen Mädchen gemacht hatten. Aber Chin-Li war keine gewöhnliche Verbrecherin. Sie war eine echte Kriegerin, und ihr Mut zollte ihm Respekt ab. »Wir können sie nicht alle wieder zurück in die ewigen Jagdgrün de schicken«, sagte Zamorra. »Selbst wenn Merlins Stern Überstun den machen würde, wären wir damit wohl Monate beschäftigt.« »So ein Mist, dass wir die Dhyarras nicht dabeihaben«, sagte Nico le. »Aber die ruhen natürlich friedlich bei uns zu Hause im Safe.« »Wir müssen wissen, was sie vorhaben«, erwiderte Zamorra. »Bis her haben sie scheinbar noch niemanden angegriffen. Mal sehen, ob das so bleibt. Wir müssen näher 'ran.« Der Parapsychologe sah das kurze Aufflackern in Chin-Lis Blick,
aber dann drückte die junge Chinesin entschlossen das Gaspedal durch. Der Jeep preschte vorwärts, mitten auf die Reihen der stumpf vor sich hin trottenden Untoten zu. »Das ist wirklich widerlich!«, jammerte Jenkins im Fond. »Wenn ich tot bin, lasse ich mich verbrennen, ganz bestimmt!« »Wenn Sie so weitermachen, können Sie das gleich haben!«, schimpfte Nicole. Zamorra grinste. Wenn Nicole erst einmal jeman den gefressen hatte, wurde der seines Lebens nicht mehr froh. As modis konnte ein Lied davon singen. Sie hatten sich den Zombies bis auf wenige hundert Meter genä hert, als eine sichtbare Veränderung durch die Reihen der Untoten lief. Sie erstarrten mitten in der Bewegung, als lauschten sie einem geheimen, für die Lebenden unhörbaren Befehl. Mit einem Ruck drehten sie sich um. Hunderte untoter Gesichter starrten die heran preschenden Dämonenjäger an. Und dann setzten sich die lebenden Leichen wieder in Bewegung. Direkt auf den Jeep zu! Und das war nicht alles: Auch aus den Seitenstraßen strömten plötzlich unzählige Untote, die vorher den Blicken verborgen geblie ben waren. »So viel zu der Frage, ob das eine Falle war«, sagte Zamorra. »Wir müssen von hier weg, Chin-Li. Schnell!« Die Chinesin riss das Lenkrad so scharf herum, dass sich Zamorra festhalten musste, um nicht aus dem Wagen geschleudert zu wer den. Jenkins schrie entsetzt auf, als er das Gleichgewicht verlor. Dann rasten sie in die entgegengesetzte Richtung davon. Genau auf eine Mauer aus Zombies zu. »Wo kommen die denn plötzlich her?«, jammerte Jenkins. »Die ha ben uns eingekesselt!« »Schnellmerker«, entgegnete Nicole spitz. Die Dämonenjägerin griff unter den Rücksitz und holte drei Sturmgewehre hervor, die sie aus der gut gefüllten Waffenkammer der Neun Drachen mitgenom men hatten.
»Chef?« Zamorra fing die Militärwaffe aus chinesischer Produktion in der Luft auf. Eine Waffe behielt Nicole selbst, die dritte drückte sie Jen kins in die Hand. »Hier Judas, machen Sie sich auch mal nützlich.« »Gerne, nur … ich kann nicht schießen«, gestand der Brite klein laut. »Wie bitte? Was für eine Art Agent waren Sie eigentlich?« »Einer, der die meiste Zeit am Schreibtisch sitzt und Anträge bear beitet.« »Anträge? Was für Anträge?« »Anträge für Dienstfahrten, neue Büromöbel und so weiter.« »Das darf nicht wahr sein!«, stöhnte Nicole. »Wehe, wenn ich Ted in die Finger kriege. Der kann was erleben!« Sie deutete auf den Ab zug. »Okay, Sie drücken einfach da drauf und versuchen, keinen von uns zu treffen. Alles klar?« »Ich geb mir Mühe«, murmelte Jenkins. »Na fein. Dann kann ja nichts passieren.« Sie hatten den Wall aus toten Körpern fast erreicht. Merlins Stern glühte förmlich. Zamorra holte die handtellergroße Silberscheibe hervor und ließ sie frei vor seinem Hemd baumeln. Sofort ging das Amulett zum Angriff über. Silberne Blitze schossen hervor und fuh ren in die Leiber der Untoten, die mit grässlichen Schreien aus ihren halb verwesten Kehlen zu Staub zerfielen. Doch für jeden erledigten Toten kamen Dutzende nach. Nicoles Sturmgewehr ratterte los. Normale Kugeln konnten den von einer dämonischen Kraft wieder belebten Körpern nichts anha ben, und im Gegensatz zu populären Zombie-Streifen nützte es auch nichts, ihnen in den Kopf zu schießen. Aber die Wucht der Einschlä ge warf die Untoten zumindest zurück und gab den Dämonenjägern ein bisschen mehr Spielraum. »Wir müssen durchbrechen«, rief Zamorra, während er sein Ge
wehr hochriss und ebenfalls feuerte. Chin-Li nickte angespannt, während sie ihre Beretta aus dem Holster holte. Sie behielt die Waffe in der rechten Hand, während sie weiter das Lenkrad umklammerte. Es gab einen dumpfen Aufprall, als der Jeep mit der ersten Reihe der Untoten kollidierte. Die von dem Wagen getroffenen Leiber flo gen zur Seite, als seien sie aus Papier. Aber hinter ihnen standen un zählige Reihen weiterer Zombies. Der Geländewagen wurde durch geschüttelt, als er sich mühsam durch die Reihen der untoten Kör per kämpfte, während die lebenden Leichen von allen Seiten nach dem offenen Fahrzeug und seinen Insassen griffen. »Das darf nicht wahr sein, das darf alles nicht wahr sein«, murmel te Jenkins unablässig. Er schrie entsetzt auf, als sich eine faulige Hand wie ein Schraubstock um seinen rechten Arm legte. Dann hat te der Zombie auch seinen zweiten Arm gepackt. Mit übermenschli cher Kraft zog der halb verweste Kadaver den verzweifelt stram pelnden Ex-Agenten zu sich heran. »Nein! Bitte nicht!«, gellte Jenkins' Entsetzensschrei durch das Kampfgetümmel. Aber da war auch schon Nicole bei ihm. Mit ei nem kräftigen Tritt beförderte sie den Untoten zurück auf die Stra ße, wo er sich mit seltsam verrenkten Gliedern gleich wieder erhob, um den Angriff fortzusetzen. »Das schaffen wir nicht«, sagte Chin-Li nüchtern. »Es sind zu vie le.« »Wir schaffen das!«, sagte Zamorra, obwohl er angesichts der dä monischen Übermacht selbst nicht wusste, woher er seinen Optimis mus nahm. »Wir sind schon aus sehr viel schwierigeren Situationen wieder rausgekommen.« Ein Zombie sprang direkt vor Zamorra auf die Motorhaube und packte den Dämonenjäger. Merlins Stern reagierte automatisch und vernichtete den Angreifer. Zugleich baute sich um Zamorra ein grünlich leuchtender Schutzschirm auf, der ihn vor weiteren direk ten Angriffen schützte. Zamorra ergriff Chin-Lis Schulter und der
magische Energieschirm umhüllte auch sie. Die junge Chinesin ach tete kaum darauf. Sie musste sich um wichtigere Dinge kümmern. Chin-Li brachte das Kunststück fertig, gleichzeitig den Wagen durch die Masse aus untoten Leibern zu steuern und mit einer Präzision zu schießen, die manch anderen Profischützen hätte erblassen lassen. Nicole und Jenkins waren zu weit weg, um ebenfalls durch den magischen Schirm geschützt zu werden. Inzwischen feuerte auch der Brite, was das Zeug hielt. Die Not machte auch aus dem größten Angsthasen einen Krieger. Dann waren sie durch. Die Masse der Zombies lag hinter ihnen. Nur noch einige versprengte Untote wankten vor ihnen über die Straße. Zu wenige, um ihnen noch gefährlich zu werden. »Ein klassisches Ablenkungsmanöver, und wir sind drauf reinge fallen«, sagte Nicole bitter. »Hoffen wir, dass die Untoten es sich nicht anders überlegen und aus Frust über unsere Flucht über die Bevölkerung herfallen«, sagte Zamorra. »Zum Glück befindet sich kaum noch jemand auf der Stra ße.« »Ja, aber wo wollen sie sich verstecken, wenn die ganze Stadt zur Todesfalle geworden ist?« Zamorra nickte. Nicole hatte Recht, letztlich gab es in Hongkong keinen Ort, der sicher war vor der Armee des Fremden. Also muss ten sie der Sache ein Ende bereiten, bevor es endgültig zur Katastro phe kam. »Wir fahren zurück!«, sagte er bestimmt. »Wir müssen zum Klos ter!«
Die Neun Drachen spürten mit jeder Faser ihrer gealterten Körper, wie die Schlacht um sie herum verloren ging. Sie hatten nicht erwar tet, dass die Verteidigungslinien so schnell durchbrochen würden. Doch noch war der Kampf nicht entschieden. Die Bruderschaft hatte
sich jahrhundertelang auf diesen Tag vorbereitet, und sie würden nicht versagen! Nur tief in ihren Herzen gestanden sich die Greise ein, dass es ein Fehler gewesen war, den ausländischen Zauberer und seine Gefähr tin wegzuschicken. Aber daran ließ sich jetzt nichts mehr ändern. Die neun uralten Männer hatten sich im Halbkreis aufgestellt. Ein leises Summen erfüllte den Raum, das langsam zu einem gewaltigen Gesang anschwoll, einem Lied, das den Geist von Tin Hau be schwor. Die Göttin hatte die Erde schon einmal von dem Dämon be freit. Sie würde ihnen auch heute beistehen, wenn sie ihn, wie es vorherbestimmt war, endgültig vom Antlitz der Erde tilgten. Ohne dass sich die Körper der neun Greise berührt hätten, ver schmolz ihr Geist zu einem einzigen. Ein grünes Leuchten entsprang der Stirn des Oberhauptes, dehnte sich aus auf den ganzen Körper und sprang dann von einem Mönch zum nächsten, bis die ganze Gruppe in ein fluoreszierendes grünes Licht getaucht war. Das Oberhaupt murmelte uralte Beschwörungsformeln, während seine Brüder weiter die Hymne zu Ehren von Tin Hau sangen. Mit einem gewaltigen Knall zerbarst das Stahltor, das zu Beginn des Angriffs herabgelassen worden war, um das Heiligtum der Neun Drachen zu schützen. Und dann war er da. Äußerlich sah der Mann, der den düsteren Saal betrat, nicht besonders Furcht einflö ßend aus. Aber seine Augen straften sein harmloses Äußeres Lügen. Eine erbärmlich wirkende Gestalt huschte schlotternd vor Angst hinter dem Fremden her. Teddy Chang! Geduckt suchte er hinter dem Körper des Dämons Deckung. Sein weißer Anzug und das fet tige Haar waren schweißgetränkt. »So«, sagte der Fremde leichthin, als sei er gerade zu einer Verab redung zum Tee erschienen. »Jetzt ist es also endlich so weit: die Mutter aller Schlachten. Jetzt heißt es ich oder ihr, was?« Der Dämon imitierte ironisch die Pose eines Boxers und kicherte dabei leise in sich hinein. »Um ehrlich zu sein, bin ich etwas enttäuscht«, fuhr er in demsel
ben Plauderton fort. »Seid ihr wirklich das Beste, was diese Stadt zu bieten hat? Ich will euch ja nicht zu nahe treten, aber seht euch doch an. Ihr seid alt und verbraucht. In eurem Alter sollte man Mahjong spielen und auf die Enkel aufpassen und sich nicht mit den Kräften der Hölle anlegen. Das ist was für die Jugend!« »Ist dieses dumme Geschwätz alles, was du zu bieten hast, Dä mon?«, fragte Meister Shiu mit aller Würde, die er in dieser Situati on aufbringen konnte. »Nicht ganz. Ich werde gleich jedem von euch bei lebendigem Lei be die Gedärme einzeln rausreißen. Und der liebe Teddy hier wird sie vor euren Augen verspeisen, während ihr euren letzten Atemzug aushaucht.« Der dicke Gangster wurde leichenblass und schien sich jeden Mo ment übergeben zu müssen, aber der Dämon achtete gar nicht auf ihn. »Aber wisst ihr was? Das ist gar nicht nötig! Ihr könnt es euch auch einfach machen. Warum gebt ihr nicht einfach auf? Ihr könnt nur gewinnen. Ein schneller Tod, und das war's. Keine unerträgli chen Qualen, kein Leiden bis ans Ende dieser Welt. Das Licht geht aus, peng!, und ihr seht euch im Jenseits wieder und seid von allen irdischen Sorgen befreit!« »Du verführst uns nicht, Dämon! Im Namen von Tin Hau werden wir die Welt ein für alle Mal von deiner Schreckensherrschaft befrei en!« »Tin Hau, natürlich«, sagte der Dämon. »Beeindruckendes Mäd chen. Ihr hättet sehen sollen, wie heroisch sie starb. Es hätte einem das Herz brechen können. Und doch war sie nur die Tochter eines armen Fischers. Mächtig, sicher. Aber was wusste sie schon von der Welt? Ich habe ihr angeboten, an meiner Seite zu herrschen. Aber die dumme Göre hat abgelehnt. Kein Wunder, dass sie nie einen Kerl ins Bett bekommen hat! Wer will sich schon mit so einer Zicke einlassen? Ich mache euch jetzt dasselbe Angebot, und ich hoffe, ihr seid nicht so dumm! Oder wollt ihr wirklich euer Schicksal von den
Launen eines dummen Fischermädchens abhängig machen?« Meister Shiu spürte, wie ihm der Zorn fast die Kehle zuschnürte. Nie zuvor hatte es jemand gewagt, Tin Hau so zu verhöhnen. »Wir fallen auf deine faulen Tricks nicht rein, Dämon. Tin Hau mag nur ein armes Fischermädchen gewesen sein, aber sie vereinig te in sich die Weisheit der ganzen Welt! Und sie wusste, wie Ausge burten der Hölle wie du vernichtet werden können!« »Ach ja? Nun, ich bin hier und sie nicht, oder? Die arme Tin Hau! Während ich auf dem Meeresgrund auf den Tag meiner Rückkehr wartete, konnte ich dabei zusehen, wie sich neben mir die Fische an ihr satt fraßen und das, was sie übrig ließen, langsam verrottete. Kein besonders würdiges Ende für eine Göttin!« »Genug!«, schrie Meister Shiu. Er riss seine Arme hoch, und aus dem grünlichen Glühen, das die Mönche umgab, schoss ein magi scher Blitz hervor. Doch er erreichte sein Ziel nicht! Der Dämon stieß die rechte Hand vor, und vor ihm baute sich eine rötlich schimmern de Wand auf, an der die magische Energie wirkungslos abprallte. Dann schlug er zurück! Aus beiden Händen schossen rote Blitze hervor, die mit unvor stellbarer Gewalt auf die Aura der Neun Drachen trafen und durch ihre Wucht die Greise fast von den Beinen rissen. Die Bruderschaft antwortete mit einem weiteren Energiestoß, der aber deutlich schwächer ausfiel als der erste. Der Dämon schien dagegen mit jeder Attacke stärker zu werden. Er lachte laut auf, als seine Blitze ohne Unterlass auf die Neun Drachen einprasselten. Als die Schutzhülle der Mönche unter dem Ansturm magischen Feuers schließlich zerplatzte, wurde für die Neun Drachen Gewiss heit, was sie eigentlich immer schon gewusst, sich aber nie einzuge stehen gewagt hatten. Sie hatten von Anfang an keine Chance gehabt! Kalt lächelnd beugte sich der Dämon über die neun Greise, die mit schmerzverzerrten Gesichtern am Boden lagen und sich keinen Mil
limeter rühren konnten. Und dann, als sie spürten, wie sein Geist in sie eindrang und ihnen die Lebensenergie entzog, begriffen sie. Nein, er würde sie nicht töten. Nicht heute und auch später nicht. So wie eine Spinne ihre Beute in ihr Netz einwob, wo sie reglos darauf warten musste, gefressen zu werden, hatte der Namenlose sie einge sponnen in eine Art magisches Netz. Der Dämon würde von ihrer Lebensenergie zehren, sie aussaugen wie ein Vampir das Blut seiner Opfer trank. Doch sie würden nicht sterben! Sondern ihm als Nahrung dienen, bis eines Tages die Welt selbst unterging. Und in den Seelen der Männer formte sich ein grässlicher Schrei, der ebenso wie sie selbst ein Gefangener ihrer zur Bewegungslosig keit verdammten Körper blieb.
Sie hatten den Tunnel nach Kowloon gerade verlassen, als ein ge waltiges Brüllen die Luft erfüllte. Der fast zum Erliegen gekommene Sturm erwachte zu neuem unheilvollem Leben. Die dunkle Wolken decke schien sich zusammenzuziehen und über einem bestimmten Teil der Halbinsel zu konzentrieren. »Da tut sich was«, rief Nicole gegen das Tosen des Windes Zamor ra zu. »Das Zentrum scheint direkt über dem Kloster zu liegen.« »Ich seh's. Sieht so aus, als bereite sich unser Freund auf das große Finale vor!« Der Jeep machte einen Satz, als Chin-Li das Gaspedal bis zum Bo den durchdrückte. Beunruhigt beobachtete Zamorra das immer be drohlicher wirkende, von unzähligen Blitzen durchzuckte Wolke nungetüm, als eine gewaltige Energiesäule vom Boden in die geball te Schwärze fuhr und den Himmel sekundenlang rot färbte. »Was zum Teufel ist das?«, fragte Jenkins verstört. »Die Neun Drachen«, keuchte Chin-Li, die sich jetzt keine Mühe mehr gab, ihr Entsetzen zu verbergen. »Er hat die Neun Drachen be
siegt. Das ist das Ende!« »Nein, das ist es nicht!«, sagte Zamorra bestimmt. »Wir leben noch, und so lange wir das tun, ist das Spiel noch nicht vorbei!« Chin-Li entgegnete nichts, aber Zamorra sah, dass sie leicht zitter te. Ihre sonst so undurchdringlichen Augen glänzten feucht. Der Dä monenjäger hatte Mitleid mit der schönen Chinesin, der mit dem Untergang der Bruderschaft gerade das Zentrum ihres Lebens ge nommen worden war. Obwohl sie eine Mörderin war, musste sich Zamorra eingestehen, dass er Chin-Li wirklich mochte. Sie würden sich um die junge Frau kümmern müssen, wenn sie das hier hinter sich hatten. Falls es ihnen wirklich gelingen sollte, den Fremden zu besiegen, und sie nicht beim Versuch sterben würden! Der Optimismus in ihrer Gruppe war in dieser Hinsicht leider nicht besonders ausgeprägt. »Wir müssen abhauen!«, jammerte Jenkins. »Wir müssen hier weg, bevor es uns auch noch erwischt!« »Keine Chance, Jenkins!«, sagte Zamorra bestimmt. »Vor dem Fremden gibt es kein Entkommen. Ob wir wollen oder nicht, wir müssen ihm entgegentreten.« »Sie sind wahnsinnig!«, keuchte der Brite. »Kann schon sein«, erwiderte Zamorra mit einem grimmigen Grinsen. »Aber in einer Welt, in der der Wahnsinn regiert, kann das manchmal ganz vernünftig sein.« Jenkins sah den Parapsychologen an, als habe er einen entsprunge nen Irren vor sich. Dann brummelte er sich etwas von »völlig durch geknallt« in den Schnäuzer und steckte sich eine weitere Pall Mall an. Nach drei Zügen warf er den Glimmstängel angewidert aus dem Wagen. »Was ist nur aus dieser Stadt geworden? Selbst das Rauchen macht keinen Spaß mehr!« Je näher sie dem Tempel kamen, desto stärker war die Präsenz des Bösen körperlich spürbar. Jenkins musste sich während der Fahrt übergeben, ansonsten hielt er sich weitaus besser, als Zamorra er
wartet hatte. Dann hatten sie den Sitz der Bruderschaft erreicht. Die Spuren der gewaltigen Schlacht, die um den Tempel herum getobt hatte, waren unübersehbar. Chin-Li keuchte, als sie die Leichen ihrer Kameraden erblickte. Das massive Tor, das das Kloster von der profanen Außen welt trennte, schien von einer Gigantenfaust zerfetzt worden zu sein. Zamorra ließ sein Gewehr im Jeep. Für das, was jetzt kam, würde er eine ganz andere Waffe brauchen. Merlins Stern brannte sich fast in seine Brust. Bei seiner ersten Begegnung mit dem Fremden hatte das Amulett dem Dämon deutlich zugesetzt, ihn aber nicht sofort vernichten können. Und inzwischen war der Fremde noch sehr viel stärker geworden. Aber sie hatten keine Alternative. »Dir ist klar, dass das Wahnsinn ist, was wir hier tun, Chef?«, frag te Nicole, als sie durch das zerstörte Tor die Tempelanlage betraten. »Weißt du eine bessere Möglichkeit?« »Du meinst, außer schreiend wegzulaufen? Leider nicht.« »Dann lass es uns durchziehen!« Nicole nickte. Sie war angespannt, aber Zamorra entdeckte in ih rem Gesicht nicht das geringste Anzeichen von Panik. Selbst wenn sie gegen alle Heerscharen der Hölle auf einmal antreten müssten, würde Nicole nicht von seiner Seite weichen. In Momenten wie die sen wurde ihm noch bewusster als sonst, dass die Begegnung mit dieser Frau das Beste war, was ihm je passiert war. Niemand hielt sie auf. In den mit Leichen übersäten Gängen des Klosters stießen sie auf ein paar der dämonischen Bestien aus Ted dys Gefolge, doch keine der Kreaturen griff sie an. Sie belauerten die Neuankömmlinge nur mit tückischen Augen, während sie in das In nere der Anlage vorstießen. Als Merlins Stern von selbst eines der Monster, das Zamorra zu nahe kam, mit einem silbernen Blitz ver nichtete, stoben seine Gefährten auseinander und brachten sich in Sicherheit. Offenbar hatten sie den strikten Befehl, die Eindringlinge selbst aus Notwehr nicht anzugreifen.
Der Fremde erwartete sie im Heiligtum der Bruderschaft. Die Sze ne war ebenso verstörend wie unwirklich. Die Neun Drachen lagen mit weit aufgerissenen Augen erstarrt am Boden. Zu seiner Verwun derung bemerkte Zamorra, dass sich die Pupillen minimal beweg ten. Die Mönche waren noch am Leben! Drei Meter über ihnen schweb te im Lotossitz der Fremde. Milde lächelte er die Neuankömmlinge an und hieß sie mit einer Geste willkommen. Hinter ihm hockte Teddy Chang auf dem Boden und wühlte ver zückt in einer großen Kiste, die offenbar die materiellen Schätze der Bruderschaft enthielt. Zamorra sah mit Edelsteinen verzierte Kultge genstände aus Gold und Silber sowie unzählige Münzen. Ohne den Dämon oder seinen menschlichen Handlanger zu beach ten, stürzte sich Chin-Li auf die paralysierten Mönche. »Sie leben!«, rief sie ungläubig. »Sie sind gelähmt, aber sie leben!« »Sicher tun sie das«, sagte der Fremde. In einer fließenden Bewe gung wechselte er aus dem Lotossitz in eine aufrechte Haltung und sank zu Boden. »Zamorra …« Weiter kam er nicht. Merlins Stern griff an, bevor der Dämon wei terreden konnte. Unzählige Blitze prasselten auf den Fremden ein, die jedoch alle an seinem Schutzschirm abprallten. Und diesmal wurde das magische Energiefeld nicht schwächer. Zamorras Be fürchtung stimmte. Der Dämon war seit ihrer ersten Begegnung sehr viel stärker geworden. Per Gedankenbefehl stoppte der Para psychologe das magische Gewitter. Es nützte nichts, Kraft mit sinn losen Attacken zu vergeuden. »Du weißt, wer ich bin«, sagte Zamorra. »Gut. Das spart lange Be grüßungen.« »Sie wissen es«, erwiderte der Dämon und wies abschätzig auf die am Boden liegenden Neun Drachen. »Und was sie wissen, weiß ich auch. So langsam werde ich wirklich zum wandelnden Lexikon.« »Dann weißt du auch, dass dein Weg hier zu Ende ist.«
»Große Worte für jemanden, der gerade seinen letzten Trumpf ausgespielt hat. Aber du bist mutig. Ich respektiere das, wirklich! Und du bist ein Mann mit Idealen. Sehr bewundernswert in dieser materialistischen Zeit. Wenn auch vielleicht ein bisschen altmo disch.« »Altmodisch?«, fragte Zamorra. »Und das sagst ausgerechnet du, der einen jahrhundertealten Machtanspruch erneuern will?« »Ich hänge eben an meinen Schäfchen. Sie mussten so lange ohne mich auskommen, weil diese Schlampe Tin Hau die große Spielver derberin geben musste!« Für einen Moment fiel der Dämon aus der Rolle und ungefilterter Hass sprach aus seinen Augen, aber sofort hatte er sich wieder unter Kontrolle und mimte den charmanten Plauderer. Nur eine Spur von Schärfe in der Stimme hätte einem un beteiligten Beobachter seine Gefährlichkeit verraten. »Nenn mich einen Nostalgiker, aber wir hatten eine höllisch gute Zeit damals. Aber was ist mit dir, Zamorra? Ich weiß, du bist in dei ner Welt eine ziemlich große Nummer, aber trotzdem verstehe ich dich nicht.« Der Fremde schüttelte mitleidig den Kopf, und es klang, als mische sich ernstes Bedauern in seinen Spott. »Ich meine, was tust du hier? Was soll dieser Kreuzzug?« »Ich werde dich daran hindern, dass du aus den Menschen in die ser Stadt willenlose Marionetten machst!« »Oh, das ist nun wirklich sehr nobel von dir. Aber glaub mir, das ist verlorene Liebesmüh. Ihr mit euren westlichen Idealen, eurer christlichen Tradition von Mitleid und Nächstenliebe, ihr versteht einfach nichts von Asien. Ihr kommt hierher und glaubt, ihr müsstet uns eure Lebensweise aufpfropfen. Und wir sollen euch dafür auch noch dankbar sein.« »Du bist wohl kaum ein glaubhafter Repräsentant des unterdrück ten chinesischen Volkes«, höhnte Nicole. »So weit kommt's noch, dass uns jetzt schon die Dämonen Imperialismus vorwerfen!« »Schweig still, Weib!«, fauchte der Dämon. »Schweig still, Weib? Ich werde dir gleich …«
Ohne Nicole auch nur anzusehen, hob der Fremde seinen rechten Arm. Eine unsichtbare Hand schien Nicole am Hals zu packen und in die Höhe zu reißen. Einen Meter über dem Boden schnappte sie verzweifelt nach Luft, während ihre Beine hilflos im Nichts zappel ten. »Hör auf damit!«, schrie Zamorra. »Warum sollte ich?«, fragte der Fremde. »Sie hat unsere anregende kleine Konversation gestört.« »Lass sie runter! Sofort!«, forderte Zamorra und ließ ein Gewitter aus magischen Blitzen aus Merlins Stern auf den Dämon einprasseln. »Also gut«, sagte der Fremde, völlig unbeeindruckt von der magi schen Attacke. »Ihr werdet sowieso sterben. Auf ein paar Minuten mehr oder weniger kommt es nicht an.« Die unsichtbare Kraft ließ Nicole einfach los. Unsanft knallte Za morras Gefährtin auf den Boden. Der Dämonenjäger half ihr wieder auf die Beine. »Geht schon«, krächzte Nicole. »Glaub mir, Zamorra«, fuhr der Fremde ungerührt fort, als sei nichts geschehen, »dein missionarischer Eifer fällt nicht gerade auf fruchtbaren Boden. Niemand versteht dich hier!« »Du willst mir doch nicht erzählen, dass sich das chinesische Volk gerne von dir versklaven lässt?« »Aber sicher. Für einen Chinesen gibt es nichts Größeres, als sich ganz und gar seinem Herrn zu unterwerfen und in der Masse aufzu gehen. Früher war es der Kaiser, dem sie gedient haben, dann Mao und die große Kommunistische Partei. Und selbst hier, im wesdich geprägten Hongkong, können sie ganz im Kollektiv ihrer Firmen aufgehen, die mit ihrer Arbeitskraft das große Geld machen. Nennst du das Ausbeutung? Falsch! Sie wollen es gar nicht anders. Allein sein macht unglücklich. Sieh sie dir doch an, diese Heerscharen von Unglücklichen, die bereits von eurem Virus der Individualität infi ziert sind, wie sie allein in ihren winzigen Wohnzellen hocken und sich vom Dauergeriesel des Fernsehers betäuben lassen wie einst von eurem Opium. Glaub mir, mein Freund, die Freiheit macht sie
nicht glücklich, sie macht sie nur krank. Nur die Gemeinschaft gibt ihnen Geborgenheit und Wärme!« »Wortgeklingel eines Sklaventreibers! Du gibst ihnen keine Wär me. Du saugst sie nur aus und verurteilst sie zu ewiger Verdamm nis!« »Ach komm, Zamorra. Sei nicht so Ignorant. Nimm nur einmal Chin-Li. Unsere kleine Freundin hier hat ihr ganzes Leben im Dienst der Neun Drachen zugebracht. Hat sie das etwa unglücklich ge macht? Im Gegenteil, sie hatte ein Ziel und eine Aufgabe.« »Menschen, die sie nicht einmal kannte, umzubringen!« »Und wenn schon! Sie hat damit Hongkong gedient. Und es hat ja wohl keinen getroffen, der es nicht verdient hatte.« »Ich stand auch auf ihrer Abschussliste.« »Ja«, sagte der Dämon grinsend. »Da hätte sie mir einiges an Ar beit abgenommen. Aber andererseits, wo wäre denn da der Spaß ge blieben?« Mit drei Schritten war der Fremde bei Chin-Li, die vor dem erstarrten Körper von Meister Shiu kauerte. Sie blickte nicht auf. Zamorra sah, wie der stolzen Kriegerin dicke Tränen über das Gesicht liefen. »Und schau sie dir jetzt an!« Sanft strich der Dämon Chin-Li über die Wange. Die Chinesin zuckte zurück, als sei seine Hand mit Kot beschmiert. »Ganz verwirrt ist sie, die Kleine, jetzt, wo die Neun Dachen nicht mehr Autorität haben als ein Topf mit gedämpftem Gemüse. Meinst du, sie freut sich über ihre neu gewonnene Freiheit? Über ihre Individualität?« Er sprach das Wort aus, als sei es eine Ob szönität. »Nein, sie sucht nach einer neuen Aufgabe, nach einer neu en Gemeinschaft, in der sie aufgehen kann. Chinesen sind wie Ameisen.« »Und du bist der Ameisenbär!«, fauchte Nicole, die sich von der Attacke wieder erholt hatte. Wütend funkelte der Dämon sie an, griff aber nicht erneut an. »Im Gegenteil. Ich bin ihre Königin. Und ich mache unserer klei
nen verwirrten Ameise hier ein Angebot, das sie nicht ablehnen kann!« Verstört starrte Chin-Li den Fremden an. Aber Zamorra sah, wie sich ihr Blick klärte, als kehre sie nach ihrem Schock langsam in die reale Welt zurück. Der Fremde hockte sich neben sie. Seine eindring liche Stimme war fast hypnotisierend. »Der Schmerz in dir frisst dich fast auf. Das muss nicht sein, kleine Chin-Li. Du kannst Teil meiner Gemeinschaft sein. Du musst kein schlechtes Gewissen deinen alten Herren gegenüber haben. Die Bru derschaft der Neun Drachen ist Geschichte. Ich bin jetzt der legitime Herrscher über Hongkong. Ich verspreche dir ewiges Leben an mei ner Seite. Und du wirst dich nie wieder fragen müssen, ob dein Le ben einen Sinn hat, denn du wirst ihn in mir finden. Du musst mir nur einen kleinen Gefallen tun!« Der Dämon drückte der Killerin die Beretta in die Hand, die sie achtlos neben Meister Shiu fallen gelassen hatte. Dann strich er ihr wieder über die Wange. »Töte diese weißen Teufel. Sie sind nicht deine Freunde. Sie wollen dich und dein Volk nur ins Unglück stür zen. Töte sie!« Trotzig wischte sich Chin-Li die Tränen aus dem Gesicht und stand auf. Jenkins japste entsetzt. Aus dem Augenwinkel sah Za morra, wie der Ex-Agent panisch sein Gewehr hochriss. Mit sanfter Gewalt drückte Nicole den Lauf der Waffe wieder runter. Chin-Li sah von einem zum anderen. An Zamorras Gesicht blieb ihr Blick hängen. Der Dämonenjäger sah den tiefen Schmerz in ihren schönen dunklen Augen. Und die ungeheure Wut, die sich mit einem Mal Bahn brach! »Töte sie!« »Nein!«, schrie Chin-Li. Mit vor Zorn funkelnden Augen sah die junge Chinesin den Dämon an. »Ich werde kein Teil deiner Sklaven armee werden. Ewiges Leben an deiner Seite? Lieber sterbe ich!« Dann riss sie ihre Waffe hoch und feuerte. Die Kugeln prallten wirkungslos am Energieschirm des Fremden ab und jaulten als
Querschläger durch den Raum. Chin-Li schien das gar nicht zu be merken. Sie schoss das ganze Magazin leer und zog den Stecher selbst dann noch durch, als nur noch ein leises Klicken ertönte. Dann warf sie ihre leer geschossene Waffe mit einem Aufschrei dem Fremden entgegen. Die Beretta wurde ebenfalls vom Schutzschild des Dämons gestoppt und fiel polternd zu Boden. »Das war ein Fehler!«, sagte der Fremde. Dann griff er an!
Der Fremde schoss zur Decke des Saals, während sein Körper rot zu glühen begann. Dann stürzte der Dämon wie ein Habicht auf ChinLi herab. Er hatte die junge Kriegerin fast erreicht, als ihn ein blass roter Strahl zurückschleuderte. Zamorra wirbelte herum. Er konnte kaum glauben, was er sah. Vor dem zerfetzten Stahltor stand Ted Ewigk und schoss mit seinem Blaster erneut auf den Fremden, der sich brüllend vor Wut vom Bo den erhob. Ted in Hongkong, wie konnte das sein? Aber für Fragen war jetzt keine Zeit! »Nett, dass du vorbeischaust«, sagte Zamorra lapidar. »Wir könn ten etwas Hilfe gebrauchen.« »Das habe ich mir gedacht«, antwortete Ted grinsend. »Hier, Nico le!« Der Reporter warf der Dämonenjägerin seine Energiewaffe zu, die Nicole geschickt auffing. Dann vereinten sie ihre Kräfte! Weder Merlins Stern noch der Blaster konnten dem Fremden wirk lich gefährlich werden. Aber jetzt holte Ted Ewigk seinen Dhyarra hervor. Richtig eingesetzt, konnte der Machtkristall eine Welt aus den Angeln heben. Dhyarra- und Amulett-Magie harmonierten nicht miteinander, aber der Blaster entstammte derselben Welt wie
der Machtkristall. Und jetzt nutzte der Reporter die Dhyarra-Magie, um die Wirkung der Strahlenwaffe zu verstärken! Der Fremde brüllte vor Schmerz, als der hochenergetische Strahl des Blasters seinen Schutzschirm zerstörte. Wütend riss er die Arme hoch, aber Ted neutralisierte mit seinem Machtkristall auch die At tacken des Dämons. »Nein, Zamorra, so wird es nicht enden! Hongkong gehört mir! Ihr werdet mich niemals besiegen!«, schrie der Fremde. »Verlass dich nicht drauf!«, sagte Zamorra. Er nickte Ted zu. Der Reporter verstand und überließ Zamorra das Feld. Sobald der Dhyarra deaktiviert war, schossen unzählige Blitze aus Merlins Stern hervor. Ohne seinen Schutzschirm war der Dämon der todbringenden Mischung aus Amulett-Magie und Blasterstrahlen hilflos ausgeliefert. Der Fremde wand sich unter unerträglichen Schmerzen. Dann platzte seine äußere Hülle förmlich weg. Unter der menschlichen Fassade kam das wahre Wesen des Dämons zum Vorschein. Eine amorphe schwarze Masse, die an einen riesigen Ein zeller oder eine deformierte Qualle erinnerte. Wilde Zuckungen durchliefen den Körper des Dämons. Dann war es vorbei! Die schwarze Masse sackte in sich zusammen und zerfiel in Sekundenschnelle zu Staub. »Nette Freunde habt ihr«, sagte Ted, während er sich den Schweiß von der Stirn wischte. Die Benutzung des Dhyarras hatte ihn viel Kraft gekostet. »Ist er wirklich tot?«, fragte Nicole skeptisch. »Sieht so aus«, sagte Zamorra. »Und diesmal hoffentlich für im mer.« Hinter sich hörte er ein leises Röcheln. Meister Shiu richtete sich mühsam auf. Auch die anderen Greise waren aus ihrer Starre er wacht. Chin-Li half den Neun Drachen auf die Beine. Nicole sah sich suchend um. »Wo ist Teddy?« Den dicken Gangster hatten sie im Eifer des Gefechts ganz verges
sen. Aber ein Blick auf die Schatzkiste, in der er eben noch verzückt gewühlt hatte, sprach Bände. Sie war halb leer. »Sieht so aus, als habe er sich verdrückt. Und einen guten Teil der Beute mitgenommen«, meinte Zamorra. »Sucht ihr den hier?« Zamorra fuhr herum. Es war Jenkins. Grinsend schob er mit sei nem Sturmgewehr Teddy Chang vor sich her. »Die Ratte wollte stiften gehen. Aber da hat sie die Rechnung ohne den lieben Onkel Rupert gemacht.« »Jenkins, Sie sind ein Held«, sagte Nicole. »Das versuche ich Ihnen doch die ganze Zeit klar zu machen, Gnä digste.« Der Brite schien sich ernsthaft geschmeichelt zu fühlen. »Ich kann nichts dafür, der Fremde hat mich gezwungen. Er wollte mich umbringen, wenn ich ihm nicht helfe!«, jammerte Teddy, dessen Jacken- und Hosentaschen bis zum Überquellen mit Kostbarkeiten voll gestopft waren. »Erzähl das den Neun Drachen. Die haben sicher noch ein Hühn chen mit dir zu rupfen«, fauchte Nicole. Teddy wurde blass. »Die Neun Drachen leben? Sie müssen mich vor ihnen beschützen, bitte. Das sind Gangster!« »Was Sie nicht sagen!«, erwiderte Nicole verächtlich und ließ den schlotternden Fettwanst stehen. »Erklärst du mir mal, was das alles zu bedeuten hat?«, fragte Ted. »Später, bei einem guten Glas Rotwein«, sagte Zamorra. »Wie hast du uns überhaupt gefunden?« »Oh, das war nicht weiter schwierig. Nachdem ich eine Weile ziel los durch Hongkong geirrt bin, hat euer schwarz-blütiger Freund dankenswerterweise sein kleines Leuchtfeuer veranstaltet. Das hat mich geleitet wie ein dämonischer Stern von Bethlehem. Also habe ich ein Auto aufgebrochen und mich auf den Weg gemacht. Der Be sitzer möge es mir verzeihen.«
»Das wird er. Immerhin hast du vermutlich sein Leben gerettet. Und das von knapp sieben Millionen anderen.« »Nicht schlecht für einen einzigen Tag.« »Kann man wohl sagen«, erwiderte Zamorra grinsend. Während die Neun Drachen sich von ihrer Tortur erholten, durch forsteten Zamorra, Nicole und Ted das Kloster. Auf Seiten der Ver teidiger gab es nur wenige Überlebende, die sie notdürftig versorg ten. Die Armee des Fremden war mit dem Tod ihres Meisters zu sammengebrochen. Überall in den Gängen und Sälen fanden sie die reglosen Körper der Angreifer. Mit dem Ende des dämonischen Ein flusses hatten sie ihr menschliches Aussehen wiedererlangt. Sie wa ren ohne Bewusstsein, aber sie lebten! Zamorra hoffte, dass sie sich an nichts erinnern konnten, wenn sie wieder zu sich kamen. Schließlich waren die zu Monstern mutierten Gangster letztlich auch nur Opfer des Dämons gewesen. Die Erinne rung an ihre bestialischen Bluttaten würden vermutlich selbst die Hartgesottensten unter ihnen nur schwer verkraften. Schließlich kehrten sie ins Heiligtum der Neun Drachen zurück. Meister Shiu war noch etwas wackelig auf den Beinen, aber in seiner Miene zeigte sich bereits wieder die alte Mischung aus Vergeisti gung und Überheblichkeit. Das Drachen-Oberhaupt lächelte milde, als es den Parapsychologen erblickte. »Chin-Li hat uns erzählt, was geschehen ist, Zamorra. Du hast der Bruderschaft einen großen Dienst erwiesen.« »Wir haben das hier nicht für euch getan, sondern für die Men schen in Hongkong. Menschen, die immer noch von euch ausgebeu tet werden.« Jetzt, wo der gemeinsame Feind besiegt war, gab es nichts mehr, was ihn noch mit der Bruderschaft der Neun Drachen verband. »Du verstehst Hongkong immer noch nicht, weißer Zauberer«, entgegnete Meister Shiu. Es klang fast nachsichtig. »Vielleicht. Vielleicht versteht ihr aber nicht, dass eure Art der
Herrschaft der Vergangenheit angehört.« Das Drachen-Oberhaupt sah den Dämonenjäger durchdringend an. »Das Ende der Neun Drachen ist noch lange nicht gekommen, Zamorra. Das chinesische Volk ist nicht empfänglich für eure hohlen Phrasen über Freiheit und Individualität. Es braucht eine starke Hand, die es sicher in die Zukunft führt.« Zamorra konnte es kaum glauben. Noch vor wenigen Minuten hatte der Fremde ganz genauso argumentiert. Plötzlich fühlte sich der Dämonenjäger entsetzlich müde. Er sehnte sich nur nach einer warmen Mahlzeit und einem Bett. Aber eine Sache musste er vorher noch klären. »Ich überlasse euch Teddy Chang. Aber ich möchte, dass ihr ihn den Behörden übergebt.« »Wir richten Verräter, wie es bei uns Brauch ist«, erwiderte Meis ter Shiu streng. »Diesmal nicht! Ihr dürftet genug gegen ihn in der Hand haben, um ihn bis ans Ende seiner Tage ins Gefängnis zu schicken. Aber ich will, dass er einen fairen Prozess bekommt und nicht mit einer Ku gel im Kopf in einer dunklen Seitengasse gefunden wird. Es hat schon genug Tote gegeben.« »Du verlangst viel …« »Ich bin noch nicht fertig! Ihr werdet auch seine Leute verschonen. Diejenigen, die der Dämon zu seinen Sklaven gemacht hat, sind nicht freiwillig zu Monstern geworden.« »Aber sie haben gegen uns gekämpft. Damit haben sie ihr Leben verwirkt.« Zamorra hatte das Gefühl, sich innerlich immer weiter von dem Mann zu entfernen, mit dem er gerade noch Seite an Seite gekämpft hatte. Aber er war nicht bereit, klein beizugeben. »Ohne uns gäbe es die Neun Drachen nicht mehr!« Die Miene des Drachen-Oberhauptes verfinsterte sich. Doch dann entspannten sich seine Züge. »Wir sind es nicht gewohnt, dass man
uns Forderungen stellt, Zamorra. Aber du hast den Neun Drachen wirklich einen großen Dienst erwiesen. Es sei so, wie du gesagt hast!« Zamorra nickte. Dann wandte er sich Nicole und Ted zu, die der Auseinandersetzung gespannt gelauscht hatten. »Lasst uns gehen!« »Gute Idee, Chef«, sagte Nicole, die genauso müde aussah, wie Za morra sich fühlte. Gegen den völlig erschöpften Ted wirkte sie frei lich wie der reinste Jungbrunnen. »Ich fahre euch«, sagte Chin-Li. Zamorra bemerkte Meister Shius missbilligenden Blick, aber der Alte erhob keinen Einwand. »Gute Idee«, erwiderte Zamorra lächelnd. Und Chin-Li lächelte zurück.
Epilog »Chin-Li, es freut uns, dass es dir gut geht.« Meister Shius faltiges Gesicht verzog sich zu einer Art von Lä cheln, als er auf die junge Kriegerin herabsah, die vor ihm auf dem Steinfußboden kniete. Die ganze Szenerie hatte für Chin-Li etwas Irreales. Die Neun Dra chen empfingen sie in ihrem Heiligtum, wie sie es seit ihrer Kindheit unzählige Male getan hatten, um ihr ein neues Ziel zu nennen. Als sei nichts geschehen. Als hätten der Fremde und seine Scher gen nicht das Kloster verwüstet, seine Verteidiger massakriert und die Neun Drachen in lebende Energiequellen verwandelt. Das war gerade mal eine Woche her. Inzwischen waren fast alle Schäden am Kloster beseitigt. Außer den Köpfen der Bruderschaft hatte kaum einer der Mönche das Massaker überlebt. Sie waren alle längst durch andere Anhänger ersetzt worden. Das Reservoir der Neun Drachen war schier unerschöpflich. Chin-Li hatte die letzten Tage fast ausschließlich mit Meditation verbracht. Und sie hatte lange über das Gespräch nachgedacht, das sie mit Zamorra und seiner Konkubine – seiner Freundin, korrigierte sie sich in Gedanken, Nicole – vor deren Abflug geführt hatte. Und jetzt war sie wieder hier. Wie so oft. Um einen neuen Auftrag entgegenzunehmen. »Wir waren sehr zufrieden mit dir, Chin-Li«, sagte Meister Shiu würdevoll. »Du hast der Bruderschaft einen unschätzbaren Dienst erwiesen.« Das war das größte Lob, das ihr je zuteil geworden war. Das größ te, das von der Bruderschaft überhaupt zu erwarten war. Doch es ließ Chin-Li vollkommen kalt.
»Ich war nur ein unwürdiges Werkzeug«, erwiderte sie mit einer Demut, die sie längst nicht mehr empfand. »Den Sieg über den Dä mon verdanken wir Zamorra und Nicole Duval. Und ihrem Freund Ted Ewigk.« »Die Ausländer haben ihren Teil dazu beigetragen, den weisen Plan der Neun Drachen zu erfüllen«, sagte ein anderer aus der Gruppe der uralten Männer. Chin-Li musste an die paralysierten Körper der Greise denken, die dem Dämon hilflos ausgeliefert wa ren. Plan? Die junge Chinesin hätte beinahe laut aufgelacht. »Die Fremden waren wie du ein nützliches Werkzeug der Vorse hung, mein Kind«, fuhr Meister Shiu fort. »Aber jetzt, wo der Dä mon besiegt ist, müssen wir unseren Blick wieder in die Zukunft richten. Der Bandenkrieg hat Tod und Chaos über die Stadt ge bracht. Die Armee des Bösen ist besiegt, aber die Wunden, die sie Hongkong geschlagen hat, sind noch lange nicht verheilt. Es ist Auf gabe der Neun Drachen, wieder für Sicherheit und Ordnung zu ga rantieren!« Die Aufgabe der Neun Drachen? Chin-Li traute sich nicht, die nahe liegenden Fragen zu stellen, die sie seit Tagen umtrieb. Hatte sich die Aufgabe der Neun Drachen mit dem endgültigen Tod des Dä mons nicht erfüllt? Welche Existenzberechtigung gab es jetzt noch für die Bruderschaft? Hatte es überhaupt je eine gegeben? Schließ lich war es ihr nicht gelungen, das Böse aufzuhalten. Die Neun Dra chen hatten versagt! Weil sie sich immer nur um ihre eigenen Ziele gekümmert und dabei immer mehr von ihrer eigentlichen Aufgabe entfernt hatten! Doch das Drachen-Oberhaupt schien von solchen Zweifeln gänz lich unberührt zu sein. »Nicht jeder hat die richtigen Lehren aus den vergangenen Ereig nissen gezogen«, sagte der greise Mönch, und eine Spur von Schärfe mischte sich in seine leise, fast flüsternde Stimme. »Du kennst Cheung Kar-Fei?« Chin-Li nickte. Cheung war ein junger Triaden-Unterboss, der
einen Teil des Drogenhandels in Mong Kok organisierte. Sein unbe streitbares Talent mischte sich mit einem brennenden Ehrgeiz, der ihn jetzt offenbar in Schwierigkeiten brachte. »Wir haben erfahren, dass er das Chaos nach dem Bandenkrieg ausnutzt, um auf eigene Rechnung zu arbeiten. Er gibt sich immer noch als loyaler Diener der Bruderschaft, aber hinter unserem Rücken baut er ein eigenes Dealer-Netz auf. Kümmere dich um ihn!« Es war nur einer von unzähligen ähnlichen Aufträgen, die sie in den letzten zehn Jahren bekommen hatte. Doch diesmal war alles anders. Etwas hatte sich verändert. Sie hatte sich verändert. »Nein!« »Was sagst du da?«, fragte Meister Shiu mit fast tonloser Stimme. Verwirrt sahen sich die anderen Greise an. Etwas Ungeheuerliches war geschehen. Jemand hatte ihnen in ihrem eigenen Heiligtum wi dersprochen. »Nein«, wiederholte Chin-Li und stand auf. Sie war erstaunt, wie leicht es ihr fiel, sich den Männern, die bisher der Mittelpunkt ihres Lebens gewesen waren, zu widersetzen. Sie dachte an Zamorras letzte Worte, bevor er sich verabschiedet hatte. Du musst dieses Leben nicht führen, hatte er gesagt. Dein Leben gehört ganz allein dir. Niemand hat das Recht, darüber zu bestimmen. Es war ihr absurd vorgekommen, aber sie hatte lange darüber nachgedacht. Und einen Entschluss gefasst! Die junge Killerin zog ihre Beretta. Entsetzt starrten die neun Grei se sie an. Chin-Li sah die nackte Angst in ihren Gesichtern. Neun alte Männer, die eben noch ohne mit der Wimper zu zucken einen Mord befohlen hatten und jetzt um ihr eigenes Leben zitterten. Doch Chin-Li hatte nicht die Absicht, ihnen ein Leid anzutun. Sie legte die Waffe vor Meister Shiu auf den Steinboden. Sie hatte sie nicht mehr nachgeladen, seit sie das Magazin auf den Dämon leer
gefeuert hatte. »Ich werde nie wieder töten. Nicht für Euch und nicht für irgend jemand anderen. Zamorra und Nicole Duval haben mir gezeigt, dass es falsch ist, blind zu tun, was einem befohlen wird, auch wenn es jahrhundertealte Tradition ist. Hätte ich Zamorra wirklich erschos sen, wie Ihr es mir befohlen hattet, dann wäre Hongkong heute in der Hand des Fremden.« »Das war alles Teil der Vorsehung!«, krächzte Meister Shiu. »Nein, das war es nicht. Es war reines Glück, dass ich versagt habe und Zamorra am Leben geblieben ist. So etwas darf nie wieder ge schehen!« Chin-Li zögerte. »Ich bin Euch dankbar für alles, was Ihr für mich getan habt, und ich werde Euch immer achten und ehren. Aber ich kann so nicht mehr leben!« Dann drehte sie sich um und ging, ohne sich noch einmal umzu drehen. Sie wusste, dass die Neun Drachen ihre Entscheidung nicht akzeptieren würden. Sie war jetzt ein weiterer Eintrag in der langen Liste der Verräter. Und ein anderer Diener der Bruderschaft würde den Auftrag erhalten, sie zu beseitigen. Aber das machte ihr nichts. Sie hatte keine Angst. Denn Chin-Li hatte gelernt, zu überleben.